CELINE KAISER/ MARIE-LUISE WÜNSCHE (HG.)
Die >>Nervosität der Judenpsychischen Systems< in eine >persönliche<
und eine...
10 downloads
312 Views
14MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
CELINE KAISER/ MARIE-LUISE WÜNSCHE (HG.)
Die >>Nervosität der Juden<< und andere Leiden an der Zivilisation Konstruktionen des Kollektiven und Konzepte individueller Krankheit im psychiatrischen Diskurs um 1900
Unter Mitarbeit von CHRISTINE ScHAFFRATH
2003
Ferdinand Schöningh Paderbom
·
München
·
Wien Zürich ·
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Umschlagabbildung : Susan Hiller, Heimlichlhomely. Detailansicht aus: From the Freud Museum.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaiUierte bibliografische Daten sind im lntemet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier 8 ISO 9706
© 2003 Ferdinand Schöningh, Paderbom (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH, Jühenplatz I, D-33098 Paderbom) Internet:
.sch oeningh.de
www
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fallen ist ohne vorherige
Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Satz: Rhema -Tim Doherty, Münster Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderbom ISBN 3-506-72369-3
Inhalt
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . .
7
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . .
9
Da.n.ks.agu.ng Einleitung
TEIL
I: KONSTRUKTIONEN
DES KOLLEKTIVEN
VOLKER ROELCKE Kultur, Religion und Rasse
im
psychiatrischen Diskurs um 1900 . . . . . . .
23
WALTER BRUCHHA USEN
Sind die »Primitiven« gesünder? Völkerkundliche Perspektiven um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
ÜTNIELDROR
. . . . . . . . . . . . . . . .. .
57
. . ..
75
der Nervositätsdebatte um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
Deceiving Bodies: Metaphor, Knowledge, and Nerves LAURA 0TJS
Das organische Gedächtnis: Ein Mythos der Literatur und Biologie CELINE KAJSER Ursprungsszenarien
in
BARBARA SCHELLEWALD Susan Hiller »From the Freud Museum«
. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .
After the Freud Museum. A conversation with Susan Hiller
TEIL II: KONZEPTE INDIVIDUELLER
............
111 121
KRANKHEIT
UL� CH SCHULTZ VEN� -
Ernst Simmel und Vtktor von Weizsäcker: Zwei Pioniere der
psychosomatischen Medizin des 20. Jahrhunderts im wissen schaftshistorischen Vergleich
. . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. ..
13 3
Inhalt
6 MARlE-LUISE WÜNSCHE
Ernst Simmels Konzept der Zivilisationskrankheit
im
Kontext
psychoanalytischer Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
RAINBR-M. E. JACOBI Erzählung und Heilung. Krankheit und Krankengeschichte bei Viktor von Weizsäcker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181
ÜERRIT HOHENDORF Felix Deutsch und die Entwicklung der psychosomatischen Medizin. Ein Wiener Internist
im
Spannungsfeld von Psychoanalyse,
akademischer Innerer Medizin und Erbbiologie . . . . .
........ ....... .....
207
HELMUT SIEFERT Religiosität und Spiritualität bei Georg Groddeck . . . .
....... ............
227
MAITRIAS ßORMUTH Medizin zwischen Wissenschaft und Magie. Richard Kochs »Zauber der Heilquellen« . . . . . . . . . . . . . . .
....... ........ ....... ...........
239
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
Danksagung Dieser Sammelband geht auf eine interdisziplinäre Tagung am Bonner Sonder forschungshereich Judentum- Christentum. Konstituierung 11nd Differenzierung in
Antike und Gegenwart zurück, die vom 11. bis 12. Oktober 2001 unter dem Titel Jenseits der Metapher? Soziale Realität, kollektive Erinnerung und gesellschafiliche Krankheit um 1900 in Bonn stattgefunden hat. Die Tagung verdankte ihre Entstehung einer Reihe von Kooperationen, die für die thematische Ausgestaltung und interdisziplinäre Breite der Beiträge bedeutsam waren. Zunächst wurde die Tagung von den beiden thematisch dif
ferenzierten Unterprojekten des medizinhistorischen Forschungsprojektes von Heinz Schott konzipiert - eine Zu sammenarbeit, die sich in der Aufteilung
des Bandes in zwei Sektionen wiederspiegelt Die erste Sektion verdankt sich darüber hinaus der anregenden Kooperation mit dem Historiker Moshe Zim mermann (Hebrew University, Jerusalem), der als assoziierter Teilprojektleiter des Sonderforschungsbereiches in die Planung der Tagung einbezogen war. Moshe Zimmermann hielt im Rahmen der Tagung einen Vortrag über den
Nationalismus als Heilpraktik fiir das nervöse Judentum, der leider ebenso wie der Vortrag des Sielefelder Historikers Joachim Radkau zur Rolle der Juden im Nervendiskurs um 1900 nicht im Samm elband veröffentlicht werden konnte. Schließlich verdanken wir der interessanten und erfolgreichen Zusammenar beit mit Barbara Schellewald vom Kunsthistorischen Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und mit Harald
Uhr vom
Bonner Kunst
für die Abendveranstaltung mit der Künstlerin Susan Hiller. Dem Bonner Kunstverein gilt unser herzlicher Dank für die Bereitstellung der verein den Rahmen
schönen Räumlichkeiten. Schließlich gilt unser Dank Heinz Schott und den Mitarbeitern des medizin historischen Institutes der Rheinischen Friedrich-Wtlhelms-Universität Bonn
für die freundliche Unterstützung in der Planung und Durchführung der Tagung, wie auch Eva Kirch vom Sonderforschungsbereich, die uns stets mit Rat und Tat
zur
Seite stand. Unser besonderer Dank gilt Christine Schaffrath,
die uns nicht nur bei der Organisation der Tagung tatkräftig geholfen hat, son dern auch durch ihre gründliche Durcharbeitung der Manuskripte wesentlich an der Entstehung des Tagungsbandes mitgearbeitet hat. Bonn im August
2002
CELINB KAISER, MA.Iu:E-LUISB WÜNSCHE
Einleitung
Als C.G. Jung 1936 den ihm
Begriff des kollektiven Unbewu.ßten definierte, ging es
darum, seine Zweiteilung des >psychischen Systems< in eine >persönliche<
und eine >nicht-persönliche< Komponente zu plausibilisieren. Während die eine Seite grundsätzlich der Erfahrung und dem Bewusstsein zugänglich ist, ver schließt sich die andere Seite weitgehend einem solchem Zugriff. Sie
im Laufe des Lebens erworbener Erfahrungsschatz oder
ist nicht
-Struktur, »sondern
wird ererbt« 1• Die jeweilige Gestalt, die Jung diesem kollektiven Erbe gibt,
findet ihren Niederschlag in seiner berühmten T heorie der Archetypen. Nur
kurze Zeit später reagierte Sigmund Freud auf Jungs Konzept des >kol
lektiven Unbewußten< - just in einer Schrift, die sich ausführlich mit der Idee einer transgenerationalen psychischen Struktur befasste: Der Mann
Moses und
der Monotheismus, die in den Jahren zwischen 1937 und 1939 entstand. In
dieser Schrift, die in einem großangelegten kulturhistorischen Entwurf die spe zifischen Eigenheiten des Monotheismus und des Judentums herausarbeiten wollte, folgt Freud selbst der Vorstellung, dass man den Sprurig vom Individu ellen ins Kollektive nachvollziehen könnte, wie in kaum einem anderen seiner Texte. Dennoch formuliert er einen Vorbehalt, der sich direkt an die Adresse Jungs richtet: Es
wird uns nicht leicht, die Begriffe der Einzelpsychologie auf die Psychologie der Massen zu übertragen, und ich glaube nicht, daß wir etwas erreichen, wenn wir den Begriff eines >kollektiven< Unbewußten einführen. Der Inhalt des Unbewußten ist ja überhaupt kollektiv, allgemeiner Besitz der Menschen. Wtr behelfen uns also vorläufig mit dem Gebrauch von Analogien. 2 Der
Übergang vom Individuellen
zum Allgemeinen lässt sich nicht lücken
los darstellen oder gar beweisen, so dass man sich begnügen muss. die
zum
mit Analogiebildungen
Was beide Seiten verbindet sind somit vor allem Metaphern,
einen zwischen Einzel- und Massenphänomen und
zum
anderen zwi
schen unterschiedlichen Diskursen kursieren. Der Sprung vom Individuellen ins Kollektive ist somit eine grundlegende Gedankenfigur eine Rolle nicht nur
um
1900. Sie spielt
im Kontext der um die Jahrhundertwende entstehenden
Psychoanalyse, sondern auch in Bereichen wie beispielsweise der Politik (insbe sondere
im Zusammenhang mit dem erstarkten Nationalismus), der Biologie,
Medizin, Ethnologie und Literatur. I
Jung, Begriff des koUektiven Unbewußten, 56.
2 Freud, Mann Moses, 241.
Einleitung
10
Der vorliegende Band beschäftigt sich mit den Figuren dieses Überganges, wie sie um 1900
im Spannungsfeld von Konzepten individueller K.rankenheit
auf der einen und Konstruktionen des Kollektiven auf der anderen Seite auf treten. Eine zentrale Fragestellung ist dabei, inwiefern die Einzelfallanalyse, wie sie insbesondere innerhalb des psychoanalytischen Diskurses und den auf diesem aufbauenden psychosomatischen Modellen der individuellen Kran kengeschichte ausgearbeitet wurden, immer auch eine Transzendierung des singulären Falles auf ein Gemeinschaftliches hin bewerkstelligt und inwiefern zugleich jene Diskurse, die wie etwa die V ölkerpsychologie, Rassenanthropo logie, Ethnologie, Politik, Kulturtheorie und -historie auf die Bestimm ung des Kollektiven abzielen, jeweils von Modellen des Einzelfalles ausgehen müssen. Dieser wechselseitigen Verwiesenheil des einen auf das andere wird dabei - aus gehend von medizinischen und insbesondere psychiatrischen und psychoana lytischen Theorien der Zeit - in einer Reihe von angrenzenden Diskursen und Arbeitsfeldern nachgegangen.
1 Konstruktionen des Kollektiven Fragt man nach der
Art und Weise, in der Ende des 19. und Anfang des
20. Jahrhunderts das Über-Individuelle in den Blick geriet und wie die jewei ligen Konstruktionen des Kollektiven aussahen, dann sind nicht nur kultu relle Differenzen, sondern auch religiöse, nationale und ethnische Merkmale von zentraler Bedeutung. In der Markierung solcher Unterscheidungen spiel ten einerseits politische und andererseits medizini sche Deutungsmuster eine wesentliche Rolle. Neben Wissenschaftszweigen, die wie die Rassenanthropolo gie und -hygiene schnell an Bedeutung gewannen, war die sich neu etablierende Psychiatrie ebenfalls tonangebend, wenn es darum ging, gesellschaftsrelevante
Differenzen zu formulieren und wissenschaftlich zu untermauern. Die besondere Stellung, die der psychiatrische Diskurs in einer Reihe von Aufsätzen einnimmt, ist somit in erster Linie dadurch begründet, dass die Psychiatrie um die Jahrhundertwende mit einem besonderen Geltungsanspruch auftrat, der sich über den eigentlichen Gegenstandsbereich psychiatrischer Arbeit hinaus auf soziale, politische und kulturelle Fragen erstreckte. Wie Vol ker Roelcke in seinem Beitrag aufzeigt, hatten professionspolitische Beweggrün de Ende des 19. Jahrhunderts
zur
Folge,
dass sich die Psychiatrie von einer
stärkeren Reflexion auf gesellschaftliche Faktoren zu einer Orientierung an der naturwissenschaftlichen Medizin wandelte und dadurch - paradoxer Weise als Deutungsmacht auch in allgemein-gesellschaftlichen Fragen an Autorität gewann. Dieser Paradigmenwechsel der Psychiatrie um 1900 zeigt sich beson ders in der Bewertung derjenigen Krankheitseinheit, die wie keine andere als Ausdruck des kollektiven Zustands im Fin de Sieeie gewertet wurde: der Neu rasthenie. W ährend in den 1860er Jahren das Neurastheniekonzept von George
Einleitung
11
M. Beard begierig und weit über medizinische Kreise hinaus aufgegriffen wurde, um
sich vor allem über die Auswirkungen der modernen Zivilisation auf den
Einzelnen zu vergewissern, setzte sich in den folgenden Jahrzehnten zuneh
Lesart der Neurasthenie durch, die sich am Biologismus orientierte. Deutung der Zivilisationskrankheit überwog die Vorstellung einer erb
mend eine In jener
lichen Disposition und damit die Ansicht, dass manche Gruppen besonders anfällig für diese Krankheit seien. Dabei kommt der Fokussierung bestimmter Kollektivkörper eine wichtige Rolle zu, denn das >besondere Kollektive<, das
um
1900 vor
allem
als
Jüdische< in den Vordergrund tritt, stellt eine beliebte Projektionsfläche
>das dar,
anband derer man den Übergang vom individuellen Fall zum kollektiven Cha rakter durchzuspielen versucht. Dass die T hematisierung des Jüdischen zwar besonders prominent ist, aber nicht die einzige Kontrastfolie
für den westeu
ropäischen und U S-amerikanischen Blick darstellt, wird offenbar, wenn man auch den kolonialgeschichtlichen Kontext um 1900 berücksichtigt.
Für den kolonialärztlichen Blick zeigt die Untersuchung von Walter Bruch hausen, dass in der Beurteilung der >Negerpsycbe< ein
Minimum
an konkre
ter, forschender Annäherung einem Maxim um an Spekulation Tür und Tor
geöffnet hatte. Einerseits spielten stereotype Idealisierungen des >Primitiven< in
der medizinischen Kolonialliteratur eine gewisse Rolle, andererseits war das Interesse,
Grundannahmen
der westlichen Medizin anband anderer Gesell
schaftsstrukturen zu überprüfen oder gar infrage zu stellen, eher gering ausge bildet. Von wesentlicher Bedeutung für die kolonialärztliche bzw. die westliebe Sicht auf die >primitiven Kulturen< war dabei, in welcher Weise man sich den Zusammenhang von Eigenem und Fremdem evolutionstheoretisch vorstellte. Während ein polygenetischer Ansatz von vomeherein die Ungleichheit der Menschenrassen proklamierte, mündete eine monogenetische Perspektive in der Problematik, Differenzen mithilfe unterschiedlicher Entwicklungsstufen zu erklären. Wie Bruchhausen anband von V ölkerpsycbologie, früher Ethnologie und der Freudschen Psychoanalyse zeigt, führt letzteres häufig zu einer Gleich setzung von Schwarzen, Kindem und Neurotikern, die
dazu
beitragen kann,
die westliche Theoriebildung gegen kritische Selbstreflexion zu immunisieren. Die Pathologisierung des jeweils Anderen, gleich ob die Abgrenzung nach religiösen oder ethnischen Gesichtspunkten oder aufgrund von Geschlechter differenz vorgenommen wird, spielt
in
der Psychiatrie der Jahrhundertwende
eine große Rolle. Die Konstruktionen des Kollektiven sind dabei nicht zuletzt
angetrieben von dem Wunsch, dem eigenen,
idealiter als
>normal< bestimmten
Kollektiv, ein anderes, tendenziell pathologisches entgegenzusetzen. Als eine Schlüsselidee im psychiatrischen Diskurs des beginnenden 20. Jahr hunderts kann man in diesem Zusammenhang die Vorstellung von einer beson
deren Emotivität betrachten, worunter man sich eine erhöhte affektive Reizbar keit vorstellte, die zu augenscheinlich unkontrollierter Erregungsabfuhr führen
12
Einleitung
sollte. Unter das Verdikt, eine besondere emotionale Konstitution z u haben, fie
len nicht nur einzelne Patienten, sondern es wurden vielmehr ganze Gruppen wie etwa Hysteriker, Neurastheniker,
aber auch Frauen allgemein und gesell·
im besonderen konstruiert, die wie etwa Juden und Schwarze im deutschsprachigen und angloamerikanischen Raum per se durch schaftliehe Randgruppen
eine besondere Emotionalität gekennzeichnet wären. Dass die Emotionalität des Patienten
im naturwissenschaftlich geprägten
Kontext experimenteller und klinischer Arbeit als das auszuschließende Dritte
firmierte, zeigt Otniel Drors Studie zum Verhältnis von Affektivität und Klinik in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie macht deutlich, dass die klinische Medizin auf den irritierenden Befund, dass ihre laborerprobten Techniken und Messinstrumente keine absolut verlässlichen Ergebnisse sicherstellten, sondern vielmehr die letzteren von der emotionalen Lage des Untersuchten hochgradig abhängig waren, nicht mit einer Korrektur der Untersuchungsvoraussetzungen reagierte. Der Befund, dass Affekte Körpersignale verändern und somit den Untersuchenden täuschen und zu Fehlinterpretationen führen können, sowie die klinische Tatsache,
dass es einen emotionsfreien Körper und damit die
Grundlage experimenteller Untersuchungen schlichtweg nicht gtbt, verführte eher zu kollektiven Stereotypenbildungen, als dazu, dass man die Art und Weise, wie Körper und Emotion im postviktorianischen Zeitalter aufein postulierte
ander bezogen wurden, infrage gestellt hätte.
misreadings von Körperzeichen, wie sie Dror für die Medi zin im angloamerikani schen Raum herausarbeitet, ist auch T hema des literatur Die Gefahr des
wissenschaftlichen Beitrages von Laura Otis. Wie sie am Beispiel von Thomas
Tess ofthe D'Urbervilles zeigt, führt das Ineinanderverwoben sein von Einzelschicksal und kollektiver Her kunft zu Fehlinterpretationen, die Hardys Roman
sich den Paradigmen des Gedächtnisdiskurses Ende des 19. Jahrhunderts ver danken.
Anhand einschlägiger Diskurse aus Naturwissenschaft, Medizin, Psy
choanalyse und Literatur demonstriert sie, dass der Sprung ins Kollektive auch
Fragen danach aufwirft, wie sich Kollektivkörper historisch gebildet haben
mögen. Die weitverbreitetste Antwort auf diese Frage bestand zunächst in einem Rückgriff auf den Lamarckismus, der bis zur allgemeinen Anerkennung
von Darwins Evolutionstheorie wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche
Kreise dominierte. Die Metaphorik des organischen Gedächtnisses, die dazu verhelfen sollte,
eine Brücke zwischen der kollektiven Geschichte und den Erf ahrungen des Ein zelnen ins Bild zu setzen, fand immense Verbreitung. Der Wunsch, einen Ort
im Körper auszumachen, in welchem sich die erworbenen Eigenschaften des Einzelnen archivieren lassen und sodann den folgenden Generationen weiter
vererbt werden können, verfuhrt jedoch leicht
dazu, das Missinglink zwischen
individuellem Erleben und dem Kollektivem allzu wörtlich z u nehmen. Die Einschreibung von erworbenen Merkmalen in den Körper dient einerseits der Lesbarrnachung des Kollektiven
im [ndividuellen, sie
kann aber andererseits,
13
Einleitung wie Otis anband zeitgenössischer Reflexionen aufzeigt, mal als National-,
mal
als Stamm es- oder Rassekörper konzipiert werden. Die politische Brisanz der Metaphorik zeigt sich insbesondere dann, wenn sie fiir ethnische Differenzen in Anschlag gebracht und hypostasiert wird.
im psychiatri im Beitrag von
Wie eine solche Konstruktion von kollektiven Rassekörpern
schen Diskurs der Jahrhundertwende aussehen kann, wird
Celine Kaiser exemplifiziert. Die Lektüre einer frühen medizinhistorischen Arbeit über den kollektiven, pathologischen Charakter des Judentums, die
im
Kontext der Pariser Psychiatrie um 1900 entstanden war, zeichnet die
verschiedenen Manöver nach, mit Hilfe derer Analogien zwischen einzelnen Krankengeschichten und einem als neurasthenisch etikettierten Kollektivkörper
hergestellt werden. Dass die Hypostasierung dieses Kollektivcharakters über eine Erzählung der Entwicklungsgeschichte des Judentums von den antiken Ursprüngen ausgehend angegangen wird, zeigt nicht nur- wie auch von Otis thematisiert- die Gefährlichkeit der Metaphorik, sondern auch eine besondere Nähe zu Sigmund Freud, der in einer Reihe von Beiträgen des Sammelbandes ein wichtiger Referenzpunkt ist. Freuds Begriff der >Urszene< umzirkelt innerhalb der psychoanalytischen
T heorie genau jenen Punkt, an welchem der Sprung vom Individuellen ins Kollektive plausibilisiert werden soll. Dass dieser Sprung, wie eingangs notiert, immer nur >behelfsmäßig< durchgefiihrt werden kann und sich Freud der Schwierigkeiten, die aus einer allzu wörtlichen Auffas sung des Umschlags
punktes resultieren können, bewusst war, zeigt sich nicht zuletzt arn reflektier
ten Umgang mit denjenigen Metaphern, die als Vehikel den Übergang vom einen ins andere bewerkstelligen sollen. Ein zentrales Metaphernfeld, das Freud in diesem Kontext beleiht, ist das
jenige der archäologischen Arbeit und Sarnmeltätigkeit. In der Parallelisierung
von Einzelfallanalyse durch den Psychoanalytiker und archäologischer Spuren suche werden individuelle und kollektive Ursprünge und Transformationspro zesse menschlicher Kultur in einem kulturhistorischen Großentwurf miteinan der verschaltet. Die Bildlichkeit archäologischen Samm elns
ruft jene Kontexte
auf, die einerseits mit der Archivierung und Musealisierung kultureller Über lieferung und andererseits mit individuellen Narrationen und Erinnerungen verbunden sind. In ihrer Arbeit
After the Freud Museum
greift die Konzeptkünstlerin Susan
Hiller diese Aspekte der Freudschen Psychoanalyse auf und gestaltet sie, indem
sie einzelne archäologische Samm etboxen in einer Vitrine anordnet. Diese Arbeit, in die Barbara Schellewald einführt, spielt mit grundlegenden Struk turelementen der Psychoanalyse: dem Traum, der Assoziation, der individuel len Erinnerung, aber auch mit Freuds kulturhistorischen und ethnologischen Prämissen. Strukturell erinnert Hillers Installation an eine Bemerkung von Jacques
Lacan über die Psychologie des Sarnmelns, in der es ihm vor allem um
14
Einleitung
eine Differenzierung zwischen dem Objekt der Samm etleidenschaft und dem Objekt innerhalb der Psychoanalyse geht. Während er letzteres als »Punkt einer
imaginären Fixierung« definiert, sieht er ersteres in reinster Form
in
Jacques
Preverts Sammlung von Zündholzschachteln manifestiert:
... es waren alles die gleichen Schachteln, sehr gefallig angeordnet, nämlich so, daß eine jede Schachtel in die Nähe der nächsten gebracht war mit Hilfe einer leichten Verrück:ung des Innenschubers. Eine an die andere gereiht, ergab das gewissermaßen ein zusammenhängendes Band . . . . 3 Was nun Susan Hillers Arbeit trotz ähnlicher
Grun danlage
ganz augenschein
lich von der strikten Anordnung leerer Boxen unter- und nebeneinander unter scheidet� ist, dass ihre Schachteln mit Objekten gefiillt sind, die als Artefakte der Alltagswelt die Aufgabe übernehmen,
für den jeweiligen Betrachter Kno
tenpunkte von Bedeutungen anzubieten. Wie das Gespräch mit Susan Hiller, das in transkribierter Form im Sammelband wiedergegeben wird, zeigte, spielt gerade die Auswahl der Objekte eine Schlüsselrolle
in
ihrer kritischen Ausein
andersetzung mit der Freudschen Archäologiemetaphorik und Freuds eigener
Sammlung antiker Kulturgegenstände. Darüber hinaus sind es gerade die tri vialen Objekte der Alltagskultur, die nicht nur Anlass geben
zu
einer Refle
xion über die kollektive Bedeutung von Erinnerung und Vergessen, über high und low-culture-Unterscheidungen etc., sondern insbesondere den individuel len Betrachter mit seinen eigenen Assoziationen und Erinnerungsfacetten in den Deutungsprozess involvieren.
H.
Konzepte individueller Krankheit
Bereits 1890 charakterisierte Sigmund Freud Hypnose und kathartische Metho de, zwei Anwendungen, denen sich seine zu der Zeit noch kaum im Entstehen begriffene Technik der Psychoanalyse wesentlich verdanken sollte,
als
Verfah
ren, die eine Heilung seetischer oder körperlieber Störungen »von der Seele aus . . . mit Mitteln, welche zunächst und unmittelbar auf das Seelische des Menschen einwirken« 4, intendierten.
Während Freud selbst in den folgenden Jahrzehnten die psychoanalytische
Technik konsequent
zur
Methode ausbaut, die Heilung vor allem bei Neuro
sen verspricht, nimmt er zugleich interessiert wahr, wie neben den T heorien Abrahams und Ferenczis, also den Beiträgen aus seiner
unmittelbaren
Anhän
gerschaft, weitere psychophysische Modelle konzipiert werden, die die Psy choanalyse mit ihrem Primat des Unbewussten in unterschiedlicher Intensität
3 Lacan, Ethik der Psychoanalyse, 141.
4 Freud, Psychische Behandlung, 17. Die erste Veröffentlichung die.ser Schrift wurde lange Zeit irrtümlicherweise mi t dem Jahr
1905 datiert.
15
Einleitung
auch auf die Behandlung organischer Leiden anzuwenden suchen. So wendet sich etwa Georg Groddeck, Vertreter eines holistischen Panspychismus, in dem das Es regiert, in einem Brief vom 27. Mai 1917 mit den Worten an Freud: »Zu meinen - oder soll ich sagen Ihren - Anschauungen bin ich nicht durch das Studium von Neurosen gekommen, sondern durch die Beobachtung von Leiden, die man körperlich zu nennen pflegt.«5 Freud heißt Groddeck in sei nem Antwortschreiben vom 5. Juni 1917 im »wilden Heer« der Analytiker willkommen, mahnt allerdings Groddecks Hang Unbewussten,
im
zur
Mystik an und erkennt
im
»Ubw die richtige Vermittlung zwischen dem Körperlichen
und dem Seelischen, vielleicht das langentbehrte >rnissing link<«. 6 Ernst Sim mel, neben Groddeck ein weiterer Pionier psychoanalytischer Psychosomatik, der wie Felix Deutsch heute immer noch - selbst in Fachkreisen - weitge hend unbekannt ist, obwohl beide
zur
endgültigen Etablierung der psycho
analytischen Psychosomatik im amerikanischen Exil Wesentliches beitrugen, publiziert im Jahr darauf, also 1918, das nicht nur von Freud sehr beachtete Werk
Kriegsneurosen und »Psychisches Trauma«.
Vtktor von Weizsäcker, unbe
stritten ein sehr eigenwilliger Rezipient psychoanalytischer T heorie, der sie in Richtung auf seine nicht unumstrittene, aller erst noch nische Anthropologie
zu
zu
generierende medizi
transzendieren suchte, publiziert im Jahre 1926 nicht
nur in der von ihm mitbegründeten Zeitschrift
Die Kreatur seinen Aufsatz Der Arzt und der Kranke. Stücke einer medz i inischen Anthropologie. Im selben Jahr, in dem von Weizsäcker Freud in Wien besucht, erscheinen auch seine Beiträge
Über neurotischen Aufbau bei inneren Krankheiten und Der neurotische Aufbau bei den Magen- und Darmerkrankungen. Felix Deutsch schließlich hält auf dem Ber liner Allgemeinen ärztlichen Kongress für Psychotherapie 1927 einen Vortrag zu dem Thema Psychoanalyse und innere Medizin. Bei allen Differenzen dieser diversen Versuche, das Organische, den Körper also, als bevorzugtes Ausdrucksforum seelischer Dynamik zu etablieren und in der Versprachlichung der psychischen
Qual
eine Heilmethode
zu
erkennen,
verbindet sie alle, dass sie sich mal affirm ativ, mal kontrastiv mit der Psychoana
lyse Freuds und ihren zentralen T hesen vom Unbewussten, der Verdrängung, dem Widerstand und der Konversion auseinander setzen. Auf dieser Basis ent stehen weitere dynamische Konzepte individueller Krankheit, die mit Freud drei zentrale Quellen des Leidens in der äußeren Natur, dem menschlichen Körper und den Unzulänglichkeiten des sozialen Lebens sehen. Die in diesem zweiten Teil des vorliegenden
Sammelbandes von ganz unter
schiedlichen Standpunkten aus diskutierten psychophysischen K rankheitskon zepte der eben erwähnten Ärzte stellen somit einerseits eine echte Alternative zu
manchen der epochentypischen Diskurse dar, die im ersten Teil
im
Zen
trum des Interesses standen, da sie, anders als etwa die Völkerpsychologie und S Freud/Groddeck, Briefwechsel, 9.
6 Ebd., 15.
16
Einleitung
vor allem die
Rassenanthropologie in erster Linie nicht auf die Bestimm ung
eines Kollektiven oder gar auf die pathologische Bedeutung des Hereditären
abzielen. Stattdessen wird das Subjekt mit seinen lebensgeschichtlich bedingten Phantasmen, Katastrophen, Träumen und Traumata, dessen Ich-Instanz frei lich nicht mehr >Herr
im eigenen Hause< ist, in den Mittelpunkt des Interesses
gerückt. Gleichwohl wird die individuelle Krankengeschichte von Fall zu Fall auf spezifische Weise - etwa mit der Einführung des Unbewussten und des
Ödipuskomplexes als Universalien - in Bezug gesetzt zu allgemein mensch lichen Seelenstrukturen. Das je favorisierte Konzept individueller Krankheit korrespondiert so auf ebenso signifikante Weise mit verschiedenen anthropo logischen Modellen und ihren Konstruktionen des Kollektiven.
Die einzelnen wissenschaftlichen Anreizpunkte und ersten Zusammen schlüsse in Verbänden, die
für die Entstehung der Psychoanalyse und Psy
chosomatik relevant waren, skizziert Ulrich Schultz-Venrath, unter Berücksich tigung der Bedeutung dieser frühen psychophysischen Modelle heutigen
für die den
Klinikalltag dominierenden Theorien. Vor diesem Hintergrund wird
es möglich, die beiden Pioniere psychosomatischer Medizin Ernst Simmel und Vlktor von Weizsäcker kritisch' zu portraitieren. Im Zentrum des Interesses
dabei einerseits ein singulärer Bezug von Weizsäckers auf Simmel, der dessen Schilderung einer Behandlungsgeschichte zum Ausgang dafür nimm t, die psychoanalytische Grundlage des Erfolgs nicht als das Wesentliche aufzu steht
fassen, so dass sich unter anderem in diesem Kommentar von Weizsäckers ambivalentes Verhältnis
zur
Psychoanalyse zeigt.
Es wird deutlich, dass der
vielseitig begabte Arzt VJ.ktor von Weizsäcker die Psychoanalyse mehr als ein Sprungbrett begreift, von dem aus eine medizinische Anthropologie in Rekurs auf Philosophie und Theologie erreichbar scheint. Andererseits kann eine Aus einandersetzung mit Vlktor von Weizsäcker eigentlich nicht darauf verzichten, dessen potentielle Verstrickung mit dem Nationalsozialismus zu thematisie ren, wenngleich dieses Unterfangen angesichts der Quellenlage kein leichtes ist. Die
Affinität mancher Äußerungen von Weizsäckers zu der Sprache der
Nationalsozialisten - dies wird nur zu deutlich - ist allerdings evident. Für die Psychosomatik bleibt die Aufgabe, sich mit ihrer heiklen Vergangenheit auseinander zu setzen und die in Lehrbüchern nach wie vor kaum eine Rolle spielenden Beiträge ihrer jüdischen Pioniere zu integrieren. Ernst Simmels frühe Adaption der Psychoanalyse steht auch
im Mittel
punkt des Interesses bei Marie-Luise Wünsche, die den Versuch unternimmt, sein Konzept der Zivilisationskrankheiten Kriegsneurose und Antisemitismus
im Kontext psychoanalytischer Rhetorik zu kommentieren. Diese Analyse berücksichtigt einerseits eine frühe Parodie psychoanalytischer Theorie, die Ernst Simmel bereits in den zwanziger Jahren verfasste, welche jedoch erst
in
den neunziger Jahren von Ulrich Schultz-Venrath als Quellentext in der Zeit
Luzifer-Amor publiziert wurde. Andererseits werden signifikante Passa gen aus Freuds Schriften berücksichtigt, so dass die starken Aflinitäten, aber
schrift
Einleitung
17
auch die Differenzen der Position Simmels zu der des Begründers der Psy choanalyse siebtbar werden. Es zeigt sich, dass der Ödipuskomplex auch hier innerhalb der Phylogenese und Ontogenese Geltung beansprucht. Er steuert gleichsam vom ionersten Wmkel des Seelenapparates aus Sozialisation und Kulturalisierung aller Individuen und verweist zugleich auf allgemein mensch liche Strukturen des Unbewussten. Kr ankheit wird so beschreibbar als >Schutz vorrichtung gegen eine in irgendeiner Form unerträgliche Wrrklichkeit<, wie es Ernst Sirnmel selbst einmal formulierte. Den Schriften des Heidelberger Neurologen, Internisten und Naturphilo sophen Vtktor von Weizsäcker nähert sich Rainer-M. E. Jacobi in seiner kri tischen Lektüre von einer anderen Perspektive aus an. Hier steht das Verste hen mit einer mehr als entfernten Ähnlichkeit zur werkimmanenten Methode und einer exzellenten Nähe zur Hermeneutik Gadamers im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses. Vlktor von Weizsäckers schon im Jahre 1925 formulierte Forderung einer >Medizinische[n] Anthropologie< erweist sich als Forderung nach einer neuen Medizin mit breiteren Fundamenten und einem anderen, einem ins Anthropologische gewendeten Naturbegriff der Krankheit, den mit dem Naturbegriff der naturwi ssenschaftlich ausgerichteten Medizin so gut wie nichts mehr verbindet. Die Aufgabe zukünftiger Medizin läge dann vor allem, um es mit von Weizsäckers eigenen Worten auszudrücken darin, >den Menschen zu einem richtigen Menschen hinzuführen<. Dies hat auch Konsequenzen für das Wesen der Therapie. Mit Rekurs auf Walter Benjamins Formel Erzählung und Heilung gelingt es, die therapeutische Dimension des Erzählens und damit die zentrale Position, die Narration und Biographik bei von Weizsäcker einnehmen, nachzuzeichnen. Gerrit Hohendorf versteht in seinem Beitrag zu Felix Deutsch dessen an Freuds Psychoanalyse variierend andockende psychosomatische Theorie, die im W ien der zwanziger Jahre entstand, als einen >individualhistorischen Zugang zum Körper und seinen Krankheiten<. lm Umfeld entsprechender Fallbeispiele einerseits und der von Freud eingeführten Modelle körperlicher Symptom bildung andererseits, gelingt es, die programm atische Erweiterung des Kon versionsbegriffes durch Felix Deutsch eindrucksvolJ zu rekonstruieren. Wenn es also gilt, den Körper des Individuums als Projektionsfläche und Sprachrohr seiner ureigenen seelischen Leidensgeschichte ernst zu nehmen, so erweist sich diese psychoanalytische Psychosomatik durchaus als Gegenentwurf zu jenen Theorien ihrer Zeit, die das kollektive Moment der Körperlichkeit betonten und rassische respektive biologische Archetypen des Organischen zu plausibi lisieren hoffien. Nichtsdestrotz dokumentiert ein hier von Hohendorf erstmals vorgestelJtes und kritisch kommentiertes Typusskript des Wiener Internisten und Psychosomatikers f<elix Deutsch, dass auch er sich in einer mit seinen psychosomatischen Bemühungen kaum in Einklang zu bringenden Weise um 1922 herum an der merkwürdigen These einer neuropathischen Konstitution der jüdischen Rasse versuchte. Während Felix Deutsch den Begriff der Konver-
18
Einleitung
sion derartig
zu
reformulieren versteht, dass sein psychosomatisches Modell
streng genommen kaum mehr den dualistischen Konversionstheorien, son dern eher den monistischen Versuchen über das Verhältnis von Seele und Leib
zuzurechnen
ist, favorisierte der Scbweninger Schüler Georg Groddeck
mit seiner Lehre des in allem und jedem gegenwärtigen
Es von vornherein
einen holistischen Zugang zu diesem Problem. Der Bedeutung, die Religio sität und Spiritualität innerhalb dieses Heilkonzeptes erlangen, spürt Helmut
im Umfeld entsprechender Zitate nach. Dabei erstaunt und irritiert es zunächst vielleicht, dass für Groddeck Psychoanalyse ein Weg zur Religion ist und dass demjenigen, der sich ein wenig mit ihr beschäftigte, die >Evangelien Siefert
neu lebendig< würden. Doch wenngleich Groddeck bereits 1917 einen Beitrag
Psychische Bedingtheit und psychoanalytische Behandlung von organischen Leiden herausgab, so sind doch die Differenzen seines Mystizismus zu Freuds Theorie offensichtlich. Auch die therapeutischen Grundsätze, die in
unter dem T itel
dem 1900 in Baden-Baden gegründeten Sanatorium dieses Arztes herrschten,
als jene, die in Wien galten. So gewinne n Spiritualität und Religio sität auch Relevanz als Heilmittel, indem sie den Patienten durch das Prinzip
sind andere
des Gegenwärtig-Seins und der Transzendierung des Individuellen in die Lage versetzen können, sich selbst
zu
heilen.
Auch der Medizintheoretiker Robert Koch, zugleich Begründer des Frank
furter medizinhistorischen Institutes, war Schweninger-Schiller. Seine Theo zu
rie wird hier abschließend kontrastierend
den psychosomatischen Konzep
ten individueller Krankheit in den Blick genommen. Koch wollte anders als
Groddeck seinen Versuch, die Magie wieder in die Medizin einzuführen, deut lich von psychotherapeutischen Bestrebungen seiner Zeit abgegrenzt wissen. Matthias Bormuth setzt sich mit seinem Konzept von Individualität und geis tiger Gemeinschaft auseinander. Die Lektüre des noch 193 3 in Deutschland
Zauber der Heilquellen zeigt, dass nach Koch eigentlich jeder Versuch der Systematisierung zum Scheitern verurteilt ist, da der Heil faktor im Geheimnisvollen liegt. ln diesem Zusamm enhang spricht er dem >prophetischen Pneuma< eine entscheidende Rolle zu und en twirft eine ins erschienenen Buches
medizinische gewendete Kritik, die sich gegen die vermeintlichen >Verfalls erscheinungen der modernen Medizin< richtet.
Literatur [1937-39], in: 1999, 101-246.
Freud, S., Der Mann Moses und der Monotheismus Bd.
16, London/Frankfurt am
Main
-, Psychische Behandlung (Seelenbehandlung) band, F rankfurt am
- /G.
Main 2000, 14-35. Groddeck, Briefe über das Es, hg. von
[1890], in:
Ge sammelte Werke,
Studienausgabe, Ergänzungs
M. Honegger, F rankfurt am
Main 1988.
Einleitung
19
Jung, C.G., Der Begriff des kollektiven Unbewußten, in: Gesammelte Werke, Bd. IX/1: Die Archetypen und das kollektive Unbewußte, Olten 1976. Lacan, 1.1 Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan, Buch 7: 1959-1960, Weinheim 1996.
TEI L 1: KONSTRUKTIONEN DES KOLLEKTIVEN
VOLKER ROELCKE
Kultur, Religion und Rasse im psychiatrischen Diskurs um 1900
Nervosität und Degeneration sind Begriffe aus der Psychiatrie und Nerven
heilkunde, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auch in den Dis
kussionen anderer akademischer Disziplinen, insbesondere in der Historiogra phie, Pädagogik und Jurisprudenz, aber auch in Technik und Politik Eingang gefunden und eine erhebliche Wrrkung entfaltet haben. 1 Die Konnotationen dieser beiden Begriffe, wie etwa
Leistung
und Ermüdung, Erregbarkeit und
Kreativität, Delinquenz und Dekadenz bilden quasi die Koordinaten bei der Selbstthematisierung der bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit im Fin de Siede. Zeitlich noch vor den Begriffen und Theoremen der Eugenik und Rassen hygiene sind damit Kategorien aus Biologie und Medizin in das Vokabular der weiteren Gesellschaft aufgenommen und dort
wirksam geworden.
Diese Kate
gorien profitierten vom hohen zeitgenössischen Prestige der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften und der Technik. Sie lieferten Deutungs angebote
für
gesellschaftliche Herausforderungen, und - geknüpft an diese
Deutungen - auch Handlungsvorschläge, und sie entfalteten auf diese Weise eine enorme kulturelle und politische Dynamik. Die Psychiatrie, aus der diese Begriffe stammen, zeigt sich dabei in den Jahr
zehnten vor und nach 1900 als eine offenbar besonders kreative medizinische Disziplin. Durch den fiir diese Disziplin konstitutiven Blick auf die individu
elle Befindlichkeit, auf Inhalte und Formen von Denken und Erleben, befand sie sich direkt am
Puls
der Zeit. Aus dem Fundus von Philosophie und Bio
logie, Psychologie und Religion hatte sie ein reichhaltiges und differenziertes
das
Vokabular zur Verfügung, Publikums darstellte. 2
sozusagen die »Antennen«
fiir Stimmungen des
Im Kontext der psychiatrischen Diskussionen um Nervosität und Degene ration, um
das Verhältnis
des »modernen Lebens«
zum Auftreten
psychischer
Störungen spielten auch die Begriffe Kultur, Religion und Rasse eine wichtige Rolle. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, veränderten sich das Verständnis
1 Vgl. dazu Rabinbach,
Human
Moter; Radkau, Zeitalter der Nervosität; Roelcke, Krankheit und
Kulturkritik. 2 So lässt sich z. B. der Begriff »Degeneration« auf die Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts, die idealistische Geschichtsphilosophie sowie die französische Theologie und Sozialphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts zurückverfolgen, vgl. Rheinberger, Buffon; Roelcke, Krankheit und Kulturkritik. 83-88; eine »historische Semantik« der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts steht allerdings noch aus.
24
Volker Roelcke
und die Bewertung dieser Begriffe in der Zeit zwischen 1880 und 1914. Es ist die Hypothese der folgenden Ausführungen, dass diese Veränderungen als eine Antwort auf eine Reihe von Herausforderungen verstanden werden können und zwar auf Herausforderungen, die sich auf den Status, die Identität und die Bedeutung der Disziplin der Psychiater, auf diejenige der weiteren sozialen Gruppe des Bildungsbürgertums und schließlich auf die gesamte Gesellschaft, bzw. die Nation beziehen.
Die folgenden Ausführungen sind in zwei Teile gegliedert: Der erste Teil
stellt eine Übersicht zur Situation der Psychiatrie und der Psychiater in der
dar. Im zweiten Teil wird die The matisierung der hier zentralen Begriffe Kultur, Religion und Rasse im psychia
Zeitspanne zwischen etwa 1880 und 1914
trischen Diskurs analysiert und als Antwort auf die zeitgenössischen Problem wahrnehmungen dieser sozialen Gruppen verstanden.
I. Zur Situation der Psychiater zwischen 1880 und 1914 Um 1880 war die Psychiatrie zwar als wichtiger Ordnungsfaktor für die Obrig
keit und als Institution humanitärer Bemühungen um die sogenannten »Irren«
Curri culum veranker tes universitäres Fach. 3 Im Vergleich zu den körpermedizinischen Disziplinen hatte sie kaum von den finanziellen Ressourcen und vom kulturellen Kapital der
etabliert; sie war jedoch bis 1901 kein im medizinischen
neuen Laborwissenschaften (insbesondere der Physiologie und der Bakterio logie) profitieren können. Von den meisten Fachvertretern wurde der fehlende Konsens über Terminologie, Klassifikation und effektive Interventionsmöglich keiten beklagt. Auch die Erstellung zuverlässiger Statistiken für Bedarfspla nungen zur psychiatrischen Versorgung - eine zentrale Dienstleistung Staat - war schwierig,
fur den
da eben dieser fehlende Konsens statistische Aussagen
höchst problematisch machte. 4 Zu dieser allgemeinen Situation kamen zwei spezifisch auf die Disziplin als soziale Formation bezogene Entwicklungen, die als innere und äußere Infrage stellung der psychiatrischen Gruppenidentität aufgefasst werden können: Der Streit zwischen Universitäts- und Anstaltspsychiatern und die Entstehung des Arbeitsfeldes der Neurologie.
Der Streit zwischen Universitäts- und Anstaltspsychiatern lässt sich bis in
die 1860er Jahre zurückverfolgen: 1865 wurde neuer Lehrstuhl
an
der Berliner Universität ein
fur Psychiatrie und Nervenkrankheiten geschaffen.5 Wtlhelm
Griesinger, der neu berufene Ordinarius, knüpfte die Annahme des Rufes an die 3
4
S
Vgl. dazu Eulner, Entwicldung; Eogstrom, Birth of Clinical Psychiatry. Vgl. dazu Roelcke, Statistik. Vgl. zwn Folgenden Engstrom, Birth of Clinical Psycbiatry; Sammet, Irrenanstalten. Entwicklung.
Roelcke,
Kultur, Religion und Rasse im psychiatrischen Diskurs um 1900
25
Klinik und Ambulanz fiir Nervenkranke an der Cha rite. Diese Forderung nach einer neuen Klinik war verbunden mit einem umfas Einrichtung einer neuen
senden Programm zur Reform der psychiatrischen Versorgung, aber auch der Forschung und Ausbildung. Dabei ging es um kleine städtische Einrichtungen statt großer, ländlich abgelegener Anstalten, um stationäre Behandlung auch auf Wunsch von Patienten bzw. Angehörigen und nicht nur nach Beschluss der Obrigkeit, damit Ausdehnung des Kompetenzanspruchs der Psychiater vom klassischen Klientel der Anstalten auf die Übergangszustände zwischen gesund und kr� spezifisch auf ein städtisches, bildungsbürgerliches Klientel sowie schließlich um den Anspruch, die Ausbildung von Medizinstudenten und psychiatrischen Experten von den Asylen auf diese akademischen Ein richtungen
zu
verlagern. Diese Forderungen von Griesinger und einigen Mit
streitern führten zu heftiger Kontroverse in der Berufsgruppe der Psychiater
und zur Gründung einer zweiten Fachzeitschrift, dem Archivfür Psychiatrie und
Nervenkrankheiten, neben der bereits seit über zwei Jahrzehnten etablierten A llgemeinen Zeitschriftfür Psychiatrie. Auch die als extern wahrgenommene Bedrohung des Berufsstandes der Psychiatrie hatte Zusammenhänge mit der Formierung universitärer Abtei lungen und
Kliniken fiir Psychiatrie und Nervenkrankheiten. So entstanden
- ausgehend sowohl von der Psychiatrie als auch von Physiologie, Patho logie und Innerer Medizin - in den 1 860er und 1870er Jahren zunehmend Arbeitsgruppen, die sich speziell mit dem somatischen Substrat von psychi schen Störungen und »Nervenkrankheiten« beschäftigten. Auch kamen jen seits des klassischen Klienteis der »[rren«anstalten vermehrt diejenigen Perso nengruppen
ins Blickfeld der Medizin, die an eher diffusen und oft reversiblen
Befindlichkeitsstörungen litten und solche Beschwerden im Kontext der Anfor derungen des »modernen«
Lebens in der aufkommenden Industriegesellschaft
interpretierten. Parallel zur Zunahme eines solchen, sich sehr häufig aus dem Bildungsbürgertum rekrutierenden Klienteis entstand ein ausgeweitetes Ange
bot zur medizinischen Beratung und Behandlung solcher leichteren Befindlich keitsstörungen. Dieser Markt war noch nicht durch Vorgaben von Kranken versicherungen oder formalisierte Facharzt-Weiterbildungen reguliert, so dass viele Ärzte nach einer vorübergehenden Tätigkeit im universitären Bereich, oder an anderen Kliniken eine Praxis in der Stadt, oder auch kleine private Nervensanatorien eröffneten. 6 Neben Ruhekuren, Balneo- und Hydrotherapie entstand in diesem Milieu auch eine Konjunktur der Therapie mit elektrischen Strömen, in
An.knüpfung einerseits an neuere Erkenntnisse der Elektrophysio
logie des Muskel- und Nervensystems, andererseits aber auch an ältere und nach wie vor populäre Vorstellungen von Magnetfeldern und energiegeladenen Fluida. 7 6 7
Vgl. dazu Shorter, Private Clinics. Vgl. dazu Schott, Mesmers Heilungskonzept.
Volker Roelcke
26
Um 1880 kam es zu ersten Ansätzen der lnstitutionalisierung dieses interdis
ziplinären Arbeitsgebietes der Nervenheilkunde, so etwa 1882 zur des
Centra/blattsfür Neurologie
Gründung
sowie zu ersten neurologischen Habilitationen.
Inhaltlich zentral war hier die Verknüpfung von Begriffen und Theorien aus der Psychiatrie (insbesondere Griesingers Konzepte von neuropathischer Dis position und reizbarer Nervenschwäche) mit solchen aus Physiologie, Neuro pathologie und Innerer Medizin. Was bedeutete es nun in dieser Situation, Psychiater und nicht Neurologe zu
als eine spezifisch psychiatrische Krankheit gelten? Auf einer zweiten, breiteren Ebene kann auch eine Krise der Identität jener
sein? Und was genau sollte
sozialen Formation diagnostiziert werden, aus der die Psychiater sich wesent lich rekrutierten: nämlich eine Krise in der Identität des Bildungsbürgertums. Diese Gruppe
sah
sich politisch von zwei Seiten bedroht: Einerseits bildete
sich in den 1880er Jahren eine
Allianz
von adligen Großgrundbesitzern und
Vertretern des Wirtschaftsbürgerturns unter der
Führung
des Reichskanzlers
Bismarck. Auf der anderen Seite organisierte sich die Arbeiterbewegung in Reaktion auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen gesellschaft. Als Resultat
sah
in
der frühen Industrie
sich das Bildungsbürgerturn in seiner politischen Bedeutung und seinen Mitgestaltungsansprüchen in Frage gestellt. 8 Zusätzlich
kam
es durch neue kollektive Erfahrungen in der Industriegesellschaft und
durch neue technische Möglichkeiten
zu
einem Verlust der Bindungskraft bis
her gültiger bürgerlicher Werte und Normen, wie etwa der Ideale von rationaler
Lebensführung und Selbstdisziplin sowie Bildung im Sinne des Neuhumanis
mus. Sowohl in der künstlerischen Avantgarde der 1880er und 1890er Jahre
als auch durch den enormen Prestigegewinn der Naturwissenschaften wurden diese Werte in Frage gestellt. So gab es etwa im Reichstag Debatten darüber,
dass statt der klassischen Bildung die Naturwissenschaften ins Zentrum des
Schulunterrichts treten sollten. Statt »Bildung« und »Kultur« sollten die 1871 neu geschaffene »Nation« und die Naturwissenschaften Identität und Orientie rung vermitteln. 9 Diese Verschiebungen von öffentlichen Wahrnehmungsweisen und Debat ten hatten
ihr
Korrelat in einer staatlichen Politik, die auf den Aufbau einer
neuen nationalen Identität abzielte, mit einer Strategie der Abgrenzung und Betonung der Differenzen nach außen sowie einer Homogenisierung nach
zwischen An wissenschaftliche
innen. Wichtig wurde nun die Suche nach Differenzkriterien gehörigen der »deutschen Nation« und Fremden, und die Legitimierung solcher Kriterien und Einordnungen.
8 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 768, 934-938. 9 Vgl. dazu vom Bruch/Graf/ Hübinger, Einleitung; BoOenbeck, Bildung und Kultur, 225-289.
Kultur, Religion und Rasse im psychiatrischen Diskurs um 1900
27
2. Psychiater als Experten für Kultur, Religion und Rasse In dieser Situation veränderten
sich die Theorieansätze und Begrifflichkeiten in
der Psychiatrie in spezifischer Weise. Eine erste Entwicklung betriffi dabei die »Verwissenschaftlichung« der psychiatrischen Krankheitslehre, d.h. die Neu konfiguration in Orientierung an den Naturwissenschaften. Unter einer Reihe von ähnlichen Ansätzen erschien in der zeitgenössischen Wahrnehmung der Psychiater offenbar die Konzeption von
Emil
Kraepelin die plausibelste und
brauchbarste zu sein. In den beiden Jahrzehnten nach
1900 war sie zur dominie
renden Auffassung nnerhalb i der deutschsprachigen Psychiatrie mit enormer, auch internationaler Ausstrahlung geworden . 1 0
Anknüpfend an die experimentelle Psychologie von Wtlhelm Wundt formu
lierte Kraepelin Anfang der 1 880er Jahre die Umrisse seiner Krankheitslehre. 1 1
Wesentliche Prämisse war dabei die Vorstellung von klar abgrenzbaren, durch die Biologie des Gehirns determinierten Krankheitseinheiten. Diese Vorstellung war verbunden mit dem Postulat einer spezifischen Krankheitsverursachung (Ätiologie), spezifischer krankhafter Veränderungen
im
Gehirngewebe (patho
logischer Anatomie) und spezifischer klinischer Erscheinungsformen (Psycho pathologie)
für jede
existierende Krankheitseinheit. Nach Kraepelins Wissen
scbaftsverständnis erfasste eine solche, auf der »physiologischen Psychologie« aufgebaute Psychiatrie die Tatsachen, wie sie wirklich sind. Sie bedürfe, wie er 1882 schrieb, »keiner metaphysischen Annahme, wie derjenigen einer Seele<<, sondern sei »im strengsten Sinne des Wortes eine empirische Wissenschaft«. 1 2 Nach Kraepelins Prämissen waren psychische Störungen biologische Entitäten, die nach Möglichkeit mit den Methoden der Naturwissenschaften
zu
unter
suchen waren. Die psychischen und sozialen Dimensionen von Befindlich keitsstörungen wurden systematisch marginalisiert. Kraepelins Krankheitslehre erhielt ihre Anziehungskraft somit nicht durch neue Entdeckungen, sondern ganz wesentlich durch eine Plausibilität, die von der konsequenten Problemformulierung in Kategorien der Naturwissenschaf ten herrührte sowie durch die Aussicht, an der zeitgenössischen Konjunktur dieser Wissenschaften teilzuhaben. Das in der Zeit rasch wachsende Anse hen der Laborwissenschaften war verbunden mit einer staatlichen Politik, die große finanzielle Ressourcen
für
die neuen empirischen Wissenschaften
Verfügung stellte. Die Naturwissenschaften wurden auf diese Weise gesellschaftlich wichtigen Deutungsinstanz
für Fragen der
zu
zur
einer
Welt- und auch der
Gesellschaftsinterpretation. Die Krankheitslehre Kraepelins stellte den Psych iatern in Aussicht, nicht den Anschluss an die übrigen medizinischen Fächer zu
10
II
verlieren. Umgekehrt gewann die Psychiatrie in den Augen der breiteren
Vgl. dazu Roelcke, Entwicldung. Vgl. zum Folgenden Roelcke, Laborwissenschaft
1 2 Kraepelin, Grundzüge, 120.
28
Vollcer Roelcke
Gesellschaft über diese an den Naturwissenschaften orientierte
Krankheitslehre
eine große Kompetenz. Sie stellte einen Fundus von Begriffen und Theorien
für soziale Problem Verfügung. Die Psychiatrie kann in diesem Sinne als zunehmend
zur Einordnung von Befindlichkeitsstörungen, aber auch
lagen zur
anerkannte und relevante kulturelle Deutungsinstanz verstanden werden.13
Die Resonanz auf diese Neuformulierung war äußerst positiv: Im Jahrzehnt
nach der Jahrhundertwende wurde verbundene Klassifikation
zu
Kraepelins Krankheitsjehre und die damit
dem dominierenden Paradigma der deutschspra
chigen Psychiatrie. Das Fach hatte nun erstmals zu einer einheitlichen Sprach regelung gefunden, und die neue Theorie bot eine Reihe von Ansatzpunkten
für eine empirische, an den prestigeträchtigen Naturwissenschaften orientierte Forschung. Parallel zur Stabilisierung der psychiatrischen Theoriebildung und der professionellen Identität
kam es zu einer
rasanten
tung des psychiatrischen Anstaltswesens: Die
institutionellen Auswei
Zahl der Patienten in psychia trischen Institutionen stieg zwischen 1880 und 1910 um das fünffache (die Gesamtbevölkerung wuchs in der gleichen Zeitspanne etwa um die Hälfte).14
Im gleichen Zeitraum wurden 1 5 Ordinariate für das Fach eingerichtet und es entstanden etwa ebenso viele Neubauten
für psychiatrische Universitätsldi
niken. 1901 wurde - wie bereits erwähnt - die Psychiatrie als obligatorisches
Prüfungsfach in der Medizinerausbildung eingeführt.15
Kraepelins neue Krankheitslehre entfaltete ihre Wrrkung etwa ab der Mitte
ihre zunehmende Bedeutung innerhalb des Fachs ist an sich schon ein Indikator für eine Akzentverschiebung hin zur Biologie; sie hatte aber darüber hinaus auch Konsequenzen für die der 1890er Jahre. Diese Neuformulierung und
Diskussion über den Zusammenhang zwischen modernem Leben und dem Auftreten psychischer Störungen. Die Krankheitskategorie der Neurasthenie und das in der zeitgenössischen psychiatrischen Theoriebildung weit verbreitete Konzept der Degeneration sind in diesem Zusammenhang zentrale Begriffe
für diese zunehmende Bedeutung
der Psychiatrie. In beiden Begriffen bündeln sich die psychiatrischen Diskus sionen über den Zusammenhang zwischen »modernen« Lebensbedingungen und Befindlichkeitsstörungen. Beide Begriffe stehen in einer engen Beziehung, boten aber auch spezifisch eigene Anschlussmöglichkeiten an weitere Diskurse.
1 3 Vgl. dazu Roelcke, Krankheit und Kulturkritik; Kaufmann, Neurasthenia.
14 In Preußen etwa zwischen 1880 und 1910 von 27 000 auf 143 000; dabei war die gesamte Bevölkerungszahl nur um ca. 50% gestiegen, von ca. 27 Mio. auf40 Mio Blasius, Seelenstönmg, 74-75. 1S Vgl. Eulner, Entwicklung; Engstrom, Birth of Clinical Psychiatry; Roelcke, Entwicklung. .•
Kultur, Religion und Rasse im psychiatrischen Diskurs um 1900
29
2.1 Eine Neurophysiologie der Kultur: Das »nervöse Zeitalter« Der Begriff Neurasthenie (oder Nervenschwäche) wurde um
1870 von
dem
amerikanischen Elektrotherapeuten George M. Beard geprägt und um 1880 in die deutsche Diskussion eingeführt , wo er sofort auf eine enorme Resonanz stieß. Er stellte eine Verknüpfung älterer Konzeptionen, wie etwa derjenigen von der »neuropathischen Disposition«, mit den zeitgenössisch hoch
im
Kurs
stehenden Diskursen aus der Neurophysiologie und der Elektrizitätslehre
dar.
Mit der deutschen Übersetzung von George M. Beards Monographie zur Neurasthenie im Jahr 1881 setzte im deutschsprachigen Raum eine hitzige Dis kussion über den Zusammenhang zwischen »modernem« Leben und Befind lichkeitsstörungen ein.16 Überlegungen dazu hatte es natürlich bereits früher gegeben. Im Unterschied zu dieser neuen Diskussion waren frühere Überle gungen aber nicht auf ein Krankheitsbild fokussiert, sondern bestanden in der unterschiedlichen argumentativen Unterfütterung des alten Topos vom Zusam menhang zwischen »Kopfarbeit und Sitzberuf« einerseits, und dem Auftreten von Nervenleiden andererseits. »Cultur« oder - synonym damit - »Civilisa tion« wurde in dieser »alten« Diskussion als
ein unspezifischer Krankheitsfaktor unter vielen anderen, wie Geschlecht, Klima, Ernährung für alle psychischen Erkrankungen in den psychiatrischen Lehrbüchern aufgelistet. Beard postulierte mit seinem Neurasthenie-Konzept dagegen eine spezifi sche Zivilisationskrankheit, nämlich die Nervenschwäche. Der hohe Kräftever brauch im modernen Großstadtleben führte demnach zu einer kritischen Ver minderung der Energie im Nervensystem, das als System elektrischer Leitungs bahnen gedacht wurde. Der Verbrauch von Energie an einem Ort führte kon sequenterweise zum Abzug von Energie aus anderen Körperteilen. Vorüber gehende Ruhe, Bäder,
Klimawechsel
und Elektrotherapie waren demnach die
sinnvollsten Mittel der Therapie. Beards Krankheitskonzeption verknüpfte ein neurophysiologisches Modell
für die Pathogenese {den Prozess zwischen erster Ursache und Auftreten der manifesten Symptome) mit einem Verursachungsmodell (Ätiologie), das offen war für soziologische Faktoren, ja diesen sogar eine wesentliche Bedeutung zuordnete. Die moderne Gesellschaft war der zentrale Bedingungsfaktor
für
dieses Leiden. Die schon Ende der 1 850er Jahre in der französischen Psychia trie formulierte Degenerationstheorie, die zentral auf eine progrediente Erblich keit von psychischen Störungen abzielte, spielte für Beards Neurasthenie-Kon zept keine Rolle. 1 7 Auch in der frühen deutseben Rezeption der Neurasthenie, etwa bei Paul Julius Möbius oder Wtlhelm Erb, stand die soziologische Inter pretation der Krankheits verursachung völlig
im
Vordergrund, der Aspekt der
16 Vgl. dazu Bea.rd, American Nervousness; ders., Pract:ical Treatise; Möbius, Nervosität; Roelcke, Krankheit und Kulturkritik, 1 12-137. 17 Vgl. dazu Roelcke, Krankheit und Kulturkritik, 1 1 8-120.
Volker Roelcke
30
Erblichkeit blieb marginal. Die »moderne« Kultur oder - synonym damit Zivilisation war demnach die maßgebliche erste Ursache der Krankheit, die dann eine Kaskade pathophysiologischer Abläufe im Nervensystem auslöste. 18 Die Nervenärzte hatten damit in den 1880er Jahren ein Deutungsangebot zur Verfügung, das gerade
für das urbane Publikum eine deutliche Entlastung
von den Anforderungen des »modernen« Lebens darstellte und das auch begie
rig von diesem Publikum aufgenommen wurde. Die breite Thematisierung der Neurasthenie (oder Nervosität) in populären Zeitschriften dokumentiert dies sehr deutlich. 19 Der Arzt konnte nun als Therapie
für Befindlichkeitsstörun
gen einen vorübergehenden Ausstieg aus den Zwängen verordnen, die durch die Hektik neuer Verkehrsmittel, Kommunikationsmöglichkeiten und das Wirt schaftsleben verursacht waren. Ein interessanter
Punkt in diesem Kontext besteht darin, dass die Neur
asthenie außer von »traditionellen« Psychiatern ganz wesentlich von »Nerven ärzten« diagnostiziert wurde, also von Vertretern des neuen Arbeitsfeldes der
im Kontext ambulanter medizinischer Angebote. Der Neurasthenie-Begriff kann damit einerseits als Erweiterung des psychiatrischen Diagnosespektrums und damit psychiatrisch-nervenärztlicher Deutungskom Neurologie und zwar
petenz verstanden werden. 20 Auf einer anderen Ebene trug die Konjunktur dieser Diagnose aber auch zur
Aktualisierung des bereits vorher existieren
den Konflikts zwischen den in Ambulanzen tätigen Universitätspsychiatern und -intemisten und niedergelassenen »Nervenärzten« sowie diesen gegenüber dem Gros der etablierten (Anstalts-)Psychiater bei.
2.2 Veränderte Wahrnehmungen: Degeneration, Rasse und die Geburt der psychiatrischen Genetik
In der Zeit einer fiir soziologische Bedingungsfaktoren sehr offenen Krankheits auffassung war auch der Rasse-Begriff völlig marginal. So zeigt das Sachregister der Jahrgänge 1882 bis 1893 der Allgemeinen Zeitschriftfür Psychiatrie nur einen Eintrag unter dem Schlagwort Rasse. Der Beitrag, auf den dabei verwiesen wird, ist die Übersetzung eines amerikanischen Aufsatzes über psychische Erkran kungen bei amerikanischen Schwarzen. 2 1 Im nächsten Registerband, der den Zeitraum zwischen 1 894 bis 1 903 umfasst� ergibt sich
dann jedoch bereits ein
deutlich anderes Bild: Es gtbt keinen einfachen Eintrag Rasse mehr, vielmehr findet sich stattdessen ein ganzes Arbeitsfeld, die »Rassenpsycbopathologie«.
18 Vgl. dazu 19 Vgl. dazu
Möbius, Nervosität;
Erb, Nervosität; Roelcke, Krankheit und Kulturkritik, 122-137.
Schmiedebach. Neurasthenia.
20 So insbesondere Kaufmann, Neurasthenia. 2 1 Witmer, Geisteskrankbeil.
Kultur. Religion und Rasse im psychiatrischen Diskurs um 1900
31
Diese Veränderung ist signifikant: Sie verweist darauf, dass Rasse ab Mitte der 1 890er Jahre zu einem immer wichtigeren Referenzbegriff und Erklärungs faktor für psychische Störungen wurde. Die Biologie, nicht die moderne Gesell schaft oder Kultur stand nun am Anfang der Kausalketten, die für die Entste hung der Krankheiten postuliert wurden. Ab etwa 1900 taucht auch der Begriff »Rassenpsychiatrie« auf. 22 Damit war ein Arbeitsfeld gemeint, in dem das Auftreten psychischer Krankheiten in Abhängigkeit von der Rassenzugehörig keit die zentrale Frage darstellte. Die Behauptung einer Assoziation zwischen »jüdischer Rasse« und hoher Anfälligkeit für nervöse Zustände ist ein häufiger Befund solcher Betrachtungen und Fragestellungen, das vermeintlich äußerst seltene Vorkommen der progressiven Paralyse bei Afrikanern, Arabern und asiatischen »Rassen« ein anderer. 23 Exemplarisch für diese neue Fokussierung und Aufwertung des Rassebe griffs in der Psychiatrie soll hier kurz aufzwei Texte eingegangen werden. Beide beschäftigen sich mit dem Auftreten psychischer Störungen in niederländisch lndonesien/Java: Es handelt sich einerseits um einen längeren Text des nie derländischen Psychiaters Piet van Brero, den dieser 1 897 in der Allgemei nen Zeitschriftfor Psychiatrie publizierte und andererseits um zwei zusammen gehörige Publikationen von Emil Kraepelin, in denen er 1904 über seine Reise nach Java berichtet. 24 Van Brero war zur Zeit seiner Veröffentlichung als Arzt an der Staatsir renanstalt Buitenzorg in Java tätig. In seinem Aufsatz thematisiert er zunächst ausführlich die psychischen Ausnahmezustände, die fast ausschließlich in der lokalen Kultur anzutreffen seien (und die noch heute in der internationalen Psychiatrie unter der Kategorie Culture-bound syndromes diskutiert werden), insbesondere Amok und Latah. 25 ln Bezug auf Amok (»plötzlicher Anfall mit aggressivem Verhalten« und »Neigung zum Morden« sowie »anschließende Artmesie«) diskutiert er seine eigenen Beobachtungen im Zusammenhang mit den ätiologischen Spekulationen aus der Fachliteratur. Dabei kann er sich nicht für eine einfache Zuordnung zu den Kategorien der westlichen Psychiatrie ent schließen und plädiert vielmehr für die Untersuchung jedes Einzelfalls, um zu unterscheiden, ob es sich um eine eigenständige »transitorische Geistes krankheit«, lediglich das Symptom einer Psychose oder Ausdruck einer »psy chopathischen Minderwertigkeit« handelt. Neben einer von anderen Autoren postulierten »geringen Beherrschung von Leidenschaften und Neigungen bei den Bewohnern des indischen Archipels« ist van Brero der Auffassung, dass Vgl. dazu Adam, Rassenpsychiatrie; Pilcz., Beitrag; Rüdin, Paralysefrage, 704. 23 Vgl. dazu de Rocha, Bemerkungen; Kraepelin, Vergleichende Psychiatrie; Rüdin, Paralysefrage sowie zur >jüdischen Rasse< Tschoetschel, Diskussion. 24 Vgl. dazu Kraepelin, Vergleichende Psychiatrie und ders., Java; zu K.raepelins Reise nach Java vgl. Bendick, Kraepetins Forschungsreise. 25 Das Folgende in van Brero, GeisteslcranJcbeiten. 28-32. 22
32
Volker Roelcke
auch »geringe Bildung und unzweckmässige Erziehung« eher als die von ande ren postulierte »Rassendegeneration« zur Entstehung von Amok beitragen. Zur
Prävention hätten »Bildung und Veredelung« sicher »segensreiche« Folgen. 26
Im Zusammenbang mit der Darstellung seiner Befunde zu den »Psychosen«
diskutierte er dann die ihm vorliegenden Beobachtungen über die Entstehungs bedingungen der progressiven Paralyse. Hier findet er ein Zusammenwirken von Erbfaktoren und Erziehung sowie Umweltbedingungen, wobei er den letz teren die Priorität zugesteht. Den verbreiteten Opiumkonsum sieht van Brero weder als Ursache noch als Symptom von psychischer Krankheit, sondern - so lange er sich bei Einzelpersonen quantitativ
im
Kultur normales Verhalten. 27 Als eine besondere den Kranken stellt der Autor die -
im
Vergleich
als ein in der Auffälligkeit im Umgang mit
Rahmen hält zu
-
Buropa - große Spärlich
keit mitgeteilter Wahnvorstellungen fest. Als plausibelste Erklärung
für
dieses
Phänomen führt er die Problematik der Kommunikation zwischen den Kran ken und dem europäischen Arzt an, insbesondere »Unkenntnis und Scham« auf Seiten der Befragten, sowie die möglicherweise nicht sachgemäße »Frage stellung in der Erkundigungsliste« auf Seiten der Untersucher. 28 Weiter seien die Inhalte von Wahn- und Zwangsvorstellungen jeweils vom »Geistesleben« einer Kultur geprägt, eine angemessene Eruierung solcher Inhalte setze also entsprechende Vorkenntnisse beim untersuchenden Psychiater voraus. 29 Kraepelin befasst sich nur wenige Jahre später mit den Kranken der gleichen Anstalt Buitenzorg der niederländischen Kolonialverwaltung in Java. 30 Seine Schlussfolgerungen haben aber deutlich andere Schwerpunkte: Ein wichtiges Thema ist
fur ihn
die nach seinem Eindruck niedrigere AnHilligkeit der Java
ner fur die progressive Paralyse. Die Unterschiede gegenüber den Europäern sieht er am ehesten durch »Rasseneigentümlichkeiten<<, in zweiter Linie auch durch den in Buropa höheren Alkoholkonsum erklärt. 3 1 Die Existenz der in seiner Krankheitsklassifikation postulierten Krankheitseinheiten wird von Kraepelin einfach vorausgesetzt. Allerdings hält er den Eindruck fest, »als ob eine Verschiebung in der Häufigkeit der einzelnen Unterformen« vorliege. Die »Zurückfiihrung dieser Unterschiede auf die verschiedene Reaktionsweise der Gehirne« findet er >>nicht ganz unwahrscheinlich« und erklärt auf dieser biologischen Ebene auch die »Seltenheit der Gehörstäuschungen« und »die Geringfügigkeit der Wahnbildungen«. 32 Die Schwierigkeiten der Kommunika tion zwischen Arzt und Patient und die Psychologie des Befragten als metho-
26 Ebd., 39. 27 Ebd., 70-71. 28 Ebd., 65. 29 Ebd., 35. 30 Vgl. Kraepeün, Vergleichende Psychiatrie, 434. 3l Ebd., 435. 32 Ebd., 436.
Kultur, Religion und Rasse im psychiatrischen Diskurs um I900
33
disehe Schwierigkeiten bei der Gewinnung solcher weitreichenden Aussagen werden von Kraepelin - im Gegensatz zu van Brero - in keiner Weise the matisiert. Die Fokussierung des Blicks und der Einordnung vorgefundener Phänomene auf vermeintlich biologische Fakten sowie die weitgehende Ver nachlässigung von Kultur als relevantem Phänomenbereich wird bei Kraepelin auch dadurch deutlich, dass er die religiösen Vorstellungen der Javaner, aber auch ihre »Sitt.en, geistigen und künstlerischen Leistungen« als Ausdruck von »Rasseneigentümlichkeiten« interpretiert. 33 Beim Vergleich zwischen van Breros Text aus der Mitte der 1890er Jahre und Kraepelins Position nur wenige Jahre später lassen sich einige deutliche Verschiebungen verzeichnen: Kultur und Religion werden zu Derivaten, zu abhängigen Variablen von der Biologie des Menschen. Auch Verhaltensweisen, die nicht mit den Normen der zeitgenössischen europäischen Gesellschaften übereinstimmen, wie etwa der Opium-Konsum, werden als pathologisch und tendenziell als abhängig von der andersartigen Rassezugehörigkeit der Betrof fenen erklärt. In Kraepelins Lehrbuch der Psychiatrie aus dem Jahr 1903 (7. Auflage) findet sich im Register unter dem Stichwort »Rasse« der Verweis auf einen Abschnitt »Volksart und Klima«, wobei Volksart, wie im Aufsatz über Java, ganz offensichtlich synonym mit Rasse verwendet wird. 34 Hier werden »die Juden« als besonders offensichtliches Beispiel dafür angeführt, dass »wirklich die Eigenart der Völker selbst« eine erhebliche Rolle für die »Neigung<<, oder die Häufigkeit des Auftretens psychischer Störungen spielen kann: ». . . wenigs tens in Deutschland und in England [sind] die Juden in erheblich größerem Maße zu geistiger und nervöser Erkrankung veranlagt als die Germanen<<, wobei »außerordentlich stark jene Störungen in den Vordergrund [treten], die wir auf erbliche Entartung zurückzuführen pflegen«. 35 Ähnlich führt auch etwa Kraepelins Kollege Richard von Krafft-Ebing den religiösen Eifer der Juden als Ausdruck jüdischer Rasseneigenschaften auf. 36 Auch andere Psychiater und Mediziner anderer Fachrichtungen hatten in der Zeit eine spezifische Krank heitsanfälligkeit für Mitglieder der »jüdischen Rasse« angenommen. 3 7 Kraepe lin fügt - auch hier ähnlich wie viele seiner zeitgenössischen Fachkollegen diese Assoziation zwischen Rasse und Anfälligkeit für psychische Störungen in ein Geschichtsmodell ein: Die »besonders weit gediehene Domestikation« der Juden, mithin die besonders große Entfernung von einem postulierten Natur33 Ebd 437. 34 Kraepelin, Psychiatrie.,
7. Auflage, Bd. l, 106; ähnlich, jedoch ohne Rekurs auf den Begriff der Entartung bei WoUenberg, Dementia paraJytica, 358. .,
35 Ebd 36 Vgl. Efron, Defenders, 27-28, der auch ausführlieb thematisiert, dass zeitgenössische jüdische Mediziner oft ähnliche Auffassungen vertraten. 37 Vgl. dazu E.fron, Defenders sowie speziell in Bezug auf die Psychiatrie ders., Kaftanjude. .
34
Volker Roelcke
zustand, macht sich in einer »fortschreitenden Verschlechterung der Rasse«, nämlich der Entartung oder Degeneration bemerkbar. 38
Die Degeneration
wird damit
nun
von Beard geprägten Begriffs - auch
- in
zum
einer zweiten Rezeptionsphase
des
zentralen Erklärungsmodell für die
Neurasthenie. Kraepelin etwa hatte die vorherige Krankheitseinheit Neurasthe nie in der 5. Auflage seines Lehrbuchs (1 896) aufgeteilt und einerseits der Kate
gorie »Entartungsirresein«, andererseits den pathologischen »Erschöpfungs zuständen« zugeordnet. Bei anderen zeitgenössischen Autoren, wie etwa Willy Hellpach, findet sich eine Kompromissformel, die Erb- und Umweltfaktoren als gleichermaßen relevant impliziert. 39 Kraepelin hatte zuvor die Bedeutung von Umweltfaktoren zwar eingeräumt, sie aber als weitgehend irrelevant
fiir mögli
che Interventionen auch entwertet und an den Rand des Blickfeldes gescho
ben. 40
Diese Einschätzung von Kultur, Religion und Rasse im psychiatrischen Dis
kurs, insbesondere
in
der Zeit nach
1900, hat ihre Entsprechung in breiteren
sozialen und kulturellen Entwicklungen der Zeit um die Jahrhundertwende: Kultur und Religion waren nun keine gegebenen und selbstverständlichen Kategorien mehr, sondern
zum
Gegenstand von öffentlichen Kontroversen
bis hin zur grundsätzlichen Infragestellung geworden. sich genau in dieser Zeit sowohl die Soziologie
als
Es
ist kein Zufall, dass
auch die Religionswissen schaft als eigenständige akademische Disziplinen herausbildeten. 41 Dies kann als Resultat einer systematisierten Reflexion über die Geschichtlichkeit von Gesellschaft, Zivilisation und Religion interpretiert werden.
3. Schlussfolgerungen: Psychiatrische Professionspolitik die Biologisierung des Sozialen Wie können nun die dargestellten Veränderungen interpretiert werden? Der neue Ansatz in der Krankheitslehre, der mit dem Namen Kraepelin verbunden ist, stiftete auch eine neue Einheit des Arbeitsfeldes Psychiatrie und zwar auf der Grundlage der Naturwissenschaften. Auch konnte die Psychiatrie nun in der breiteren Öffentlichkeit als Deutungsmacht mit p.lausibler, an die
Naturwissenschaften anschlussf ähiger Methodik und Termin ologie
zur
Identi
fizierung, Einordnung und Lösung von aktuellen Herausforderungen im politi schen Raum auftreten. Im Gegensatz zu früheren Anläufen, die Psychiatrie auf
38
Kraepelin, Entartungsfrage, 750; vgl. dazu Roelcke, Biologizing Social Facts. 39 Vgl. Hellpach, Soziale Ursachen; dazu Roelcke, Krankheit und Kulturkritik. 166-168. 40 Vgl. Kraepelin, Psychiatrie, 5. Auflage, 349. 41 Vgl. dazu K.ippenberg, Entdeckung; vom Bruch/Graf!Hübinger, Einleitung; vom Bruch, Sozial ethik.
Kultur, Religion und Rasse im psychiatrischen Diskurs um 1900
35
eine naturwissenschaftliche Grundlage zu stellen, 42 war durch das Postulat einer Spezifität von Krankheitsursache, Symptomatologie und Hirnpathologie für die angenommenen Krankheitseinheiten
auch eine
em pirisch-klinische Forschung
möglich, - allerdings um den Preis einer weitgehenden Marginalisierung der Subjektivität der Kranken und der sozialen chen Wirkfaktoren
für die
Rahmenbedingungen
als wesentli
Entstehung und den Verlauf psychischer Störungen.
Wenn die soziale Ebene im Kontext dieser neuen Krankheitslehre thematisiert wurde, dann
ganz
überwiegend
als
Ausdruck, Folge oder Symptom biolo
gisch verursachter und erklärbarer Zustände. So meint etwa Kraepelin, »die Berufslosigkeit (Landstreicher, Gewohnheitsverbrecher u. s. f.)«, aber auch der Lebenswandel, etwa der »Dirnen«, sei »vielfach durch unvollkommene oder
krankhafte Entwicklung der Persönlichkeit bedingt«, also Folge eines biologisch verstandenen und durch (Erb-)Anlage vermittelten Krankheitsprozesses. 43
Im Gegensatz zum frühen Neurasthenie-Konzept, das die Gesellschaft als erste Ursache und die Elektrophysiologie sozusagen als vermittelnde Ebene zwischen sozialer Außenwelt und Psyche verstand, fokussierte das neue Krank heitsmodell, auch der dadurch veränderte »sekundäre« Neurasthenie-Begriff,
im wesentlichen den Körper des Kranken und den seiner Vorfahren. Die Krankheit kam aus dem Körperinneren, genauer gesagt aus der »Erbanlage«,
die Außenwelt wirkte allenfalls durch »Keimgifte« wie Alkohol und Syphilis auf diese Erbanlage ein. Die Kultur oder Zivilisation hatte allenfalls akzessori schen Charakter, indem sie die durch die Anlage oder auch durch die Rasse vorgegebenen natürlichen Reizschutzmechanismen reduzieren konnte. 44
Das neue, ganz wesentlich auf Erblichkeit rekurrierende Krankheitskonzept
konnte nun dem soziologisch-elektrophysiologischen Konzept der Neurologen gegenübergestellt werden. Aus
ihm
ließ sich eine konsistente Terminologie und
Klassifikation entfalten, und neben einem empirisch-klinischen Forschungspro
gramm auch ein neues Feld der Intervention: Erblichkeit, Degeneration und
Rasse als Referenzbegriffe, die den Blick auf psychische Störungen prägten, lenkten die Aufmerksamkeit und das Interesse wie von selbst auf die menschli che Reproduktion und ihre Kontrolle. Die Fortpflanzung der »Degenerierten« und somit biologisch »Minderwertigen« konnte durch Kasernierung, Ehever bote oder auch Sterilisation verhindert werden; komplementär konnten auch Anreize zur Paarung von »hochwertigen« Individuen werden. Ein solches Krankheitsmodell schloss spruch
für soziale
zur
dabei keineswegs
Verfügung gestellt einen Deutungsan
Phänomene aus. Solche Phänomene wurden nun aber, - da
sie als Symptome und
damit
Folge von körperlichen Zuständen verstanden
42 Gemeint sind hier der »physiologische<<
Griesingers, auch der »neuropathologische<< Ansatz, der etwa von Fachvertretern wie von Gudden, Flechsig oder Meynert verfolgt wurde. 43 Kraepelin, Psychiatrie, 7. Auflage, Bd. l, 1 1 1- 1 1 3 . 44 Vgl. dazu Krapelin, Vergleichende Psychiatrie sowie etwa Rüdin, Paralysefrage, 707. Ansatz
36
Volker Roelcke
wurden - in biologische Herausforderungen transformiert: Die Anstrengungen der Psychiatert und auch der staatlichen Obrigkeit mussten sich nach diesem Verständnis
darauf richten, die biologischen Prozesse zu dokumentieren und
zu analysierent die solche sozialen Probleme hervorbrachten. Der in die Krankh eitslehre integrierte Rasse-Begriff machte die Psychiater auch zu Experten ien und
für
die Identifizierung und Bewertung von Rassemerkma
damit verknüpften Dispositionent letztlich fur soziale Inklusion und
Exklusion. Dieses Thema und eine solche Expertise waren von großer Bedeu tung in einer historischen Situation, die durch neu aufkommenden Nationa lismus und die damit verbundenen Abgrenzungsbestrebungen gegenüber den europäischen Nachbarn, den kolonisierten Völkern außerhalb Europas, aber auch den innerhalb des Deutschen Kaiserreichs lebenden Juden gekennzeich net war.
Im Programm der
sich
im Jahrzehnt nach 1 900 formierenden deutschen ras
senhygienischen Bewegung wurden alle diese Anliegen und Denkansätze auf genommen und systematisiert: Die Methoden der aktuellen Biologie, insbeson t dere der Vererbungswissenschaf en und der Statistik sollten fruchtbar gemacht werdent um die augenscheinlich dringenden gesellschaftlichen und politischen Probleme der Zeitt wie die vermeintlich zunehmende Delinquenz, sexuelle Normabweichungen, Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten, Zunahme der Suizide und den drohenden Rückgang der Reproduktionsf abigkeit sowie Gegenmaßnahmen
zur
zu
erklären
Rettung und Stärkung der vom Untergang be
drohten Nation und Rasse ergreifen zu können. 45 Zum Redaktionsstab des
1904 gegründeten Archivsfür Rassen- und Gesellschiifisbiologie und den Mitbe gründern der eng damit verbundenen (Deutschen) Gesellschaft fur Rassenhy giene gehörte Ernst Rüdin, Mitarb eiter und später Stellvertreter Kraepelins an der Münchener Universitätsklinik. K.raepelin selbst fasste seine Üb erlegungen zur droh enden »Verschlechterung der Rasse«
1908 in einem progr amm atischen
Aufsatz Zur Entartungsfrage zusammen: Hier wird ganz breit der Anspruch for muliert, zeitgenössische soziale Herausforderungen
.in
den Kompetenzbereich
der Psychiatrie einzugliedern. Die Fokussierung und Begrifflichkeit, mit der die geseiJschaftlichen Phänomene betrachtet werden, geschieht allerdings bereits in Rückkoppelung mit der zeitgenössischen psychiatrischen Krankheitslehre und (Kriminal-)Anthropologie. Soziale Probleme werden auf diese Weise
in biologi
sche Probleme transformiert. Adäquate Methoden der wissenschaftlichen Bear beitung und therapeutischer oder präventiver Interventionen müssen demnach in der Biologjet insbesondere in der Anthropologie und entstehenden Genetik sowie deren Hilfswissenschaftent wie etwa Statistik, gesucht werden. Kraepelin schließt seine Überlegungen hier mit dem Verweis auf die Notwendigkeit »ausdes Archvsfür i Rassen- und Gesellschojlsologie bi (l 904) sowie weiter Kraepelin, Entartungsfrage; Rüdin, Geis teskrankheit und Kultur; von Gruber/Rüdin, Fortpflanzung.
45 Vgl. den Untertitel sowie die Einleitung der Herausgeber im Jahrgang I, Heft
J
Kultur, Religion und Rasse im psychiatrischen Diskurs um 1900
37
gedehnter und sorgsamer, über Jahrzehnte sich erstreckenden Untersuchun gen«, die »nur mit Hilfe des Staates« ausgeführt werden könnten . 46 Damit ist
der durch Degenerationsängste und das Vertrauen in Maßnahmen der Rassen
hygiene inspirierte Umriss einer dem Staat zuarbeitenden, letztlich dem Wohl der Rasse verpflichteten psychiatrischen Epidemiologie und Genetik formuliert. In Weiterentwicklung dieses Programms formulierte Rüdin
1911
eine
umfas
sende Methodik psychiatrischer Erbforschung. 47 Rüdin, der bald einer der Protagonisten der eugenischen und rassenhygienischen Bewegung sprachigen Raum wurde, war parallel ab weltweit ersten Forschungsinstitution
1917
(und bis
für psychiatrische
1945)
im
deutsch
der Leiter der
Genetik, der Genealo
gisch-Demographischen Abteilung an der von Kraepelin gegründeten DeuJschen Forschungsanstaltfür Psychiatrie. 48 In der untrennbar miteinander verknüpften Geschichte von psychiatrischer Genetik, Eugenik und Rassenhygiene spielten der Zeit zwischen etwa
damit die Akzentverschiebungen
1880 und 1 9 1 0 sowie insbesondere die Konzeptualisie
rungen und Programmatiken von Kraepelin eine wichtige Rolle. Die weiteren Entwicklungen, auch in der Zeit nach
1933,
knüpfen somit in vieler Hinsicht
an diese Rekonfiguration psychiatrischer Begriffe und Theorien sowie Weft
setzungen um 1900 an; sie wurden aber keineswegs durch das Denken und HIUldeln der Psychiater um 1900 in un umkehrbarer Weise determiniert.
Literatur49
Actam, G., Zur Rassenpsychiatrie, in: Allgemeine Zeitschrift
für
Psychiatrie 60 ( 1 903)
281-283.
Beard, G.M., A Practical Treatise on Nervous Exhaustion (Neurasthenia), New York 1 880.
-, American Nervousness, its causes and consequences, New York 1881. Bendick, Cb., Emil Kraepelins Forschungsreise nach Java im Jahr 1904. Ein Beitrag zur Geschichte der Ethnopsychiatrie, Köln 1989. Blnsius, D., »Einfache Seelenstörung«. Geschichte der deutschen Psychiatrie 1 800-1945, Frankfurt am Main 1994. Bollenbeck, G., Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main 1 994. Brero, P.C.J. van, Einiges über die Geisteskrankheiten der Bevölkerung des maJaüschen Archjpels. Beiträge zur vergleichenden Rassenpsychopathologie, in: Allgemeine Zeit schrift für Psychiatrie 53 (J 897) 25-78. 46 Kraepelin, Entartungsfrage,
750-751.
47 Vgl. Rüdin, Familienforschung. 48 Vgl. Roelcke, Programm . 49 Auf Wunsch des Autoren wird das Literaturverzeichnis gisch geordnet. Anrn. der Hrsg.
nicht gemäß den PI., sondern chronolo
38
Volker Roelcke
Bruch, R. vom, Von der Sozialethik zur Sozialtechnologie? Neuorientierungen in der deutschen Sozialwissenschaft um 1900, in: G. Hübinger/R. vom Bruch/F.W. Graf (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften wn 1900, Bd. 2: Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997, 260-276. Bruch, R. vom/F.W. Graf/G. Hübinger, Einleitung. Kulturbegriff, Kulturkritik und Kul turwissenschaften um 1900, in: R. vom Bruch/F.W. Graf/G. Bübinger (Hg.), Kultur und Kultunvissenschaften um 1900. Krise der Modeme und Gbube an die Wissen schaft, Stuttgart 1989, 9-24. Efron, J.M., The »Kaftanjude« and the »Kaffehausjude«: Two Models of Jewish Insanity. A Discussion ofCauses and Cures among German-Jewish Psychiatrists, in: Year-book ofthe Leo Baeck Institute 37 (1992) 169-188. -, Defenders of the Race. Jewish Doctors and Race Science in Fin de Sieeie Europe, New Haven/London 1994. Engstrom, E., The Birth of Clinical Psychiatry: Power, Knowledge, and Professionaliza tion in Germany, 1867-1914, Ph.D. Thesis University of North Carolina, Chapel Hili 1997. Erb, W., Ueber die wachsende Nervosität unserer Zeit, Heidelberg 1893. Eulner, H.-H., Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Universitäten des deutschen Sprachgebietes, Stuttgart 1970. Gruber, M. von/E. Rüdin, Fortpflanzung, Vererbung, Rassenhygiene. Katalog der Grup pe Rassenhygiene der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1 9 1 1 in Dresden, Mün chen 1 9 1 1 . Hellpach, W., Soziale Ursachen und Wtrkungen der Nervosität, in: Politisch-anthropo logische Revue 1 (1902/1903) 43-53, 1 26-134.
Kaufmann, D., Neurastbenia in Wilbelmine Germany: Culture, Sexuality, and the De
mands of Nature, in: M. Gijswijt-Hofstra/R. Porter (Hg.), Cultures of Neurasthenia. From Beard to the First World War, Amsterdarn/New York 2001, 161-176. Kippenberg, H., Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Modeme, München 1997. Kraepelin,, E., [Rezension zu] Grundzüge der Physiologischen Psychologie von Wtlhelm Wundt, Leipzig 1880, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 38 (1882) 1 1 1-121. -, Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Leipzig 5 1 896. -, Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Leipzig 71903.
-, Vergleichende Psychiatrie, in: CentTalblatt fiir Nervenheilkunde und Psychiatrie 27 (= N.F. 15) ( 1904) 433-437. -, Psychiatrisches aus Java, in: Centratblatt fur Nervenheilkunde und Psychiatrie 27 ( N.F. 15) (1904) 468-469. =
-, Zur Entartungsfrage, in: Centratblatt fur Nervenheilkunde und Psychiatrie 3 1 ( N.F. 19) (1908) 745-75 1 . Möbius, P., Die Nervosität, Leipzig 1882. Pilcz, A., Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiatrie, Wien 1906. Rabinbach, A., The Human Moter. Energy, Fatigue, and tbe Origins of Modernity, New York 1990. Radkau, J., Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bis,marck und Hitler, München 1998.
Kultur, Religion und Rasse im psychiatrischen Diskurs um 1900
39
Rheinberger, H.-J., Buffon: Zeit, Veränderung und Geschichte, in: History and Philoso phy ofthe Life sciences 12 ( 1990) 203-223. Rocha, F. de, Bemerkungen über das Vorkommen des Irreseins bei Negern, in: Allge meine Zeitschrift für Psychiatrie 55 ( 1 898) 133-150. Roelcke, V., Biologizing Social Facts. An Early Twentieth Century Debate on Kraepe lin's concepts of cu]ture, neurasthenia, and degeneration, in: CuJture, Medicine, and Psychiatry 21 ( 1 997) 383-403.
-, Krankheit und KuJturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlieben ZeitaJter, 1890-1914, Frankfurt am Main 1999.
-, Laborwissenschaft und Psychiatrie: Prämissen und Implikationen bei Emil Kraepetins Neuformulierung der psychiatrischen Krankheitslebre, in: C. Gradmannf.f Sehtich (Hg.), Strategien der Kausaliät. t Konzepte der Krankheitsverursachung im 19. und 20. Jahrhundert, Pfaffenweiler 1999 (Neuere Medizin- und Wissenschaftsgeschichte. Quellen und Studien, Bd. 5), 93-116. -, Die BotwiekJung der Psychiatrie zwischen 1 880 und 1932: Theoriebildung, Institutio nen, Interaktionen mit zeitgenössischer WISsenschafts- und Sozialpolitik, in: R. vom Bruch/B. Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnah men zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhun derts, Stuttgart 2002, 109-1 24.
-, Programm und Praxi s der psychiatrischen Genetik an der Deutschen Forschungsan staJt für Psychiatrie unter Ernst Rüdin: Zum Verhä1tnis von Wissenschaft, Politik und Rasse-Begriff vor und nach 1933, in: Medizinhistorisches Journal 37 (2002) 21-55.
-, Statistik und die Etablierung der Psychiatrie als wissenschaftliche Disziplin: Emil Krae pelins Reorganisation der psychiatrischen Klassifikation und Praxis, in: E. Engstrom/ V. Roelcke (Hg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen lnstitutionen, Debatten und Praktiken im deutseben Sprachraum, Basel 2003 (im Druck). Rüdin, E., Zur Paralysefrage in Algier, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 67 (191 0) 679-73 1 .
-, Über den Zusammenhang zwischen Geisteskrankh eit und Kultur, in: Archiv für Ras sen- und Gesellschaftsbiologie 7 ( 1 9 1 0) 722-748. -, Einige Wege und Ziele der Familienforschung, mit Rücksicht auf die Psychiatrie, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 7 (191 1 ) 487-585. Sammet, K., »Ueber IrrenanstaJten und deren WeiterentwickJung in Deutschland«. Wtlhelm Griesinger im Streit mit der konservativen Anstaltspsychiatrie 1865-1 868, Münster 2001. Schmiedebach, H.-P., The Public's view ofNeurastbenia in Germany: Looking for a New Rhythrn of Life, in: M. Gijswijt-Hofstra/R. Porter (Hg.), CuJtures of Neurasthenia. From Beard to the First World War, Arnsterdam/New York 2001, 2 1 9-238. Schott, H., Mesmers Heilungskonzept und seine Nachwirkungen in der Medizin, in: H. Schott (Hg.), Pranz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus, Stuttgart 1985, 233-252. Shorter, E., Private Clinics in Centrat Europe 1 850-1933, in: Social History of Medicine 3 ( l 990) 159-195. Tschoetschel, M., Oie Diskussion um die Häufigkeit von Krankheiten bei den Juden bis 1920, Diss. med. Mainz 1 990.
40
Volker Roelcke
Wehler, H.-U., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der »Deutschen Doppetre.. volution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1 849- 1 9 1 4, München 1995. Witmer, A.H., Geisteskrankheit bei der farbigen Rasse in den Vereinigten Staaten, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 47 (1891) 669-677. WoUeoberg, R., Die Dementia paralytica, in: 0. Binswanger/E. Siemerling (Hg.), Lehr buch der Psychiatrie, Jena 1 9 1 1 , 330-372.
WALTER BRUC irnAUSEN
Sind die »Primitiven« gesünder? Völkerkundliche Perspektiven
um
1900
Im Hinblick auf die körperliche Gesundheit stand für die europä ischen Ärzte zur Zeit des Kolonialimperialismus fest, dass »die schwarze Rasse« wider standsf ähiger sei. Bei ihr heilten Wunden weitaus besser 1 und Krankheiten wie Krebs kämen überhaupt nicht vor. Staunende Berichte über den Erhalt von
Funktionen bei Schädelverletzungen und das Ertragen von Schmerzen bei Ope
rationen garnieren die kolonialärztliche
Erinnerungsliteratur. 2
Diese robustere
Konstitution der Dunkelhäutigen, die als Urwüchsigkeit gedeutet wurde, recht fertigte nicht zuletzt unterschiedliche Lebensverhältnisse und Gesundheitsver sorgung
für
Farbige und Europäer
im
kolonialen System. Allerdings machte
doch ihre Lebensweise und ihre Umwelt die »Eingeborenen« anfalliger
für
Krankheiten, so dass ihr körperlicher Gesundheitszustand insgesamt schlech ter
als
der von Europäern eingeschätzt wurde: trotz besserer konstitutioneller
Voraussetzungen also schlechtere Ergebnisse. Für den Bereich des Seelischen hätte der Befund eher wngekehrt lauten können. Da weit weniger von der Zivilisation betroffen, hätte die psychische Gesundheit nach damals herrschender Lehrmeinung in
afrikanischen
Gesell
schaften eigentlich besser gewesen sein müssen. Doch in diesem Falle wurde die psychische Konstitution der Farbigen und insbesondere die des
Afrikaners
als zweifelhaft beurteilt. Letztlich ergab sich kein einheitlich stereotypes Bild,
viehnehr bestand eine Auswahlmöglichkeit aus verschiedenen kultur- und ras
sentheoretischen Ingredienzien. Eine herzhafte und deshalb hier ausführlicher
behandelte Kostprobe bietet Dr. Oetker. Karl Oetker war Amateurpsycho
loge und ehemaliger Bahnbauarzt in Deutsch-Ostafrika und verfasste zwei ein
1 908 publizierte er Die Seelenwunden des Kulturmenschen vom Standpunkte moderner Psychologie und Nervenhygiene. Gedanken zu einer wissenschaftlichen Religion, worin er, ohne Freudianer zu sein, das Hauptpro blem der europäischen Gesellschaft in unterdrückter Sexualität sah und des schlägige Bändchen.
halb als Rezept vorehelichen Geschlechtsverkehr und Empf angnisverhütung verordnete - letzteres ausdrücklich per weiblichem Pessar, denn das Kondom
würde Nervosität nur steigern. Bin Jahr zuvor hatte er in Die Neger-Seele
und die Deutschen in Afrika. Ein Kampfgegen Missionen, Sittlichkeits-Fanatismus und Bürokratie vom Standpunkt moderner Psychologie festgestellt: I Vgl. die Literaturdiskussion bei Buschan, Chirurgisches, 40. 2 Z.B. Becker, Sturm- und Drangperiode, 147-148.
Waller Bruchhausen
42
Bei der grossen Labilität des Negers sollte man annehmen, dass eine Krankheit, deren
hauptsächliches Anzeichen gerade dieser Wanketsinn ist, nämlich die Hysterie, unter ihnen geradezu grassieren müsste. Wer jedoch Hysterie studieren will, darf nicht nach Afrika gehen
.
. . .
[Es ist]
sehr fraglich, ob das, was wir unter hysterischem Charakter
verstehen, bei Negern, die von der Kultur noch nicht geradezu angekränkelt sind,
überhaupt vorkommt. . . . [Der Grund ist, dass] die Affekte selber als auch ihre Anzeichen und Aeusserungen in den weitaus meisten Fällen in so ungekünstelter Weise und dem Reiz adäquater Dauer und Stärke entstehen und anhalten; und so natürlich und gründlich ablaufen, dass später in dem Unterbewußtsein nichts mehr
davon haften bleibt. 3
Primitive haben also demnach zwar weniger »Seelenwunden«, da »der Busch neger [ ] keine sexuellen Wünsche zu verdrängen braucht«, 4 sie sind aber . . .
auf andere und letztlich grundlegendere Weise trotzdem im Nachteil: bei ihnen ist Labilität nicht Krankheitssymptom, sondern Wesenseigenschaft oder umge kehrt, mit Dr. Oetkers Worten ausgedrückt: ihre »ausgesprochene Beeinfluß barkeit« und »das prompte Abreagieren aller Affekte« wären beim Europäer »psychisch minderwertig«. 5 Solche bestimmt vorgetragenen Beurteilungen sollten nicht darüber hin
wegtäuschen, dass es in der europäischen Medizin und Wissenschaft kei zu
einer einmütigen oder gar einheitlichen Erklärung des »primiti
Gesundheit
in schriftlosen Völkern hätte die Auffassung von der überragenden
neswegs
ven« Seelenlebens kam . Eine eingehendere Beschäftigung mit der psychischen Bedeutung der modernen Zivilisation für die Entstehung bestimmter psychi scher Krankheiten vielleicht tatsächlich überprüfen können und dann wohl auch revidieren müssen. Beides geschah nicht. Einigen
Gründen dafür möchte
ich im Folgenden unter verschiedenen Aspekten nachgehen und auch die Fel der beleuchten, auf die man gewissermaßen auszuweichen pflegte. Zuerst wird es um die Frage gehen, wie es mit dem praktischen Interesse und damit auch der empirischen Basis für die Einschätzung von »primitivem« Seelenleben und
seinen Erkrankungen bestellt war. Anschließend werden die großen theoreti
schen Themen aufgerollt, in deren Schnittpunkt dieses Problem wie kaum ein anderes stand: dem Verhältnis von Natur und Kultur, von Individuum und
Gesellschaft, von Determinismus und Freiheit, von Fortschritt und Atavismus. Und es ist natürlich die Unabschließbarkeit dieser prinzipiellen Positionsbe
stimrnungen, die damals keine Lösung erlaubte und die das Grundproblem,
über seine konkreten Aporien in der kolonialen Peripherie der damaligen Dis kussion über Gesellschaft und psychische Gesundheit hinaus, bis heute höchst aktuell bleiben lässt.
3 Oetker, Neger-Seele, 17-18.
4 Oetker, Seelenwunden, 188. 5 Oetker, Neger-Seele, I I .
Sind die '>Primitiven« gesünder? Völkerkundliche Perspektiven um 1900
43
Praklisches Desinteresse Die Frage nach der seelischen Gesundheit der Eingeborenen stand nicht im Mittelpunkt europäischen Interesses an den Ländern in Übersee. Vor der Ära des Kolonialimperialismus finden sich in Berichten von Reisenden, Ärzten und Missionaren entsprechende Passagen nur spärlich. 6 Die große Ausnahme bil
den spektakuläre Phänomene, die nicht zuletzt auch die Darstellungen von pro minenten deutseben Gelehrten beeinflussen und so eine intellektuelle Tradition
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schreibt der vielgelesene Göttinger Philosophieprofessor Cbristoph Meiners ( 1747- 1 8 1 0) den überseei schen Völkern recht allgemein sympathetische Reizbarkeit bis hin zu Krämpfen begründen:
und Bewusstlosigkeit, Verzweiflungs- und Wutausbrüchen zu. 7 Noch fast ein Jahrhundert später sieht die Beurteilung durch zwei in diesen Fragen
führende
ähnlich aus. Der »berühmte Historiogeograph der Med. und Hygieniker«8 August Hirsch (1817-1894) sieht bei den Menschen
Berliner Hochschullehrer
»in den polaren Breiten der östlichen Hemisphäre« die größte Häufigkeit von krankhafter Reizbarkeit, differenziert aber
für den pazifischen, afrikanischen
und südamerikanischen Raum bereits recht genau ein uneinheitliches Vertei
lungsmuster. 9 Der Völkerpsychologie-Professor und frühere Schiffsarzt Adolf Bastian (1 826-1905) beschäftigt sich intensiv mit Besessenheitsphänomenen und deren magisch-ekstatischer Heilung, die er als Phänomene psychischer Pri mitivität ansieht.10 Und so beschreiben auch das erste medizinethnologische Übersichtswerk von 1 893 1 1 und die gängigste Anleitung für Forschungsrei sende von 190612
im Abschnitt Geisteskrankheiten fast ausschließlich höchst
exotische Phänomene: den indonesischen Amok-Lauf, andere zentralasiatische und ozeanische Formen von Raserei und besonders Lallah, einen vorwiegend
bei Frauen zu beobachtenden Nachahmungszwang auf Java und in Malacca bei den Orang utan 13 - wohlgemerkt den Menschen und nicht den gleich benannten Affen.
6 Vgl. Hennanns, Psychiatrie in Tansania. 3 1 -32. 7 Vgl. Beuchelt, Ideengeschichte, 9. 8 Page!, Lexikon. 739. 9 Hirsch, Pathologie, 553-556. 10 Vgl. Bastian, .Beobachtungen. I I Vgl. Bartels, Medicin, 212-218. 12 Vgl. Plehn!Piebn, Heilkunde, 237. 13 Vgl. Bartels, Medicin, 218.
44
Walter Bruchhausen
Mangelnde kolonial-praktische Bedeutung Auch die umfassende Verantwortung Deutschland erst nach spektive.
Es
für große überseeische
Schutzgebiete,
in
1885, brachte keine grundlegende Änderung der Per
gab, durch die Erfolge der neu entstandenen Bakteriologie und
der älteren Hygiene verstärkt, nun erst recht eine Tendenz zur geographischen Aufteilung der vordringlichen Gesundheitsprobleme nach dem Muster: Infek tionskrankheiten bei ihnen, Nervenkrankheiten bei uns. Für diese Ausblen
dung psychischer Krankheit in Übersee gJbt es verschiedene Gründe, zu denen besonders die Begrenztheit der Interessen von M edizin, Kolonialverwaltung und auch Ethnologie gehört. Die Ärzte im Kolonialdienst, selbst solche, die auf diesem Gebiet durch Vorerfahrungen wie nervenärztliche Weiterbildung 14 oder psychologisches Dissertationsthema 15 eine gewisse Qualifikation besa ßen, gingen in ihren Schriften über
afrikanische Gesellschaften auf die
psychi
sche Gesundheit nicht in nennenswerter Weise ein. 16 Dieses Desinteresse gilt nicht nur für die Psychiatrie, sondern
für
psychische Phänomene überhaupt.
Während ethnographische Anleitungen andere Themen der Völkerkunde und auch der Medizin schon seit über hundert Jahren abgefragt hatten 17, finden
sich im deutschsprachigen Raum vergleichbare Hinweise zur völkerpsychologi
schen Forschung erst zur
1908 veröffentlicht 18 und ein entsprechender Fragebogen Individualpsychologie nicht vor 1914 formuliert. 19
Dieses Desinteresse dürfte daran liegen, dass Geisteskrankheiten nicht zu denjenigen Gesundheitsproblemen Einheimischer gehörten, die koloniale Inter essen entscheidend störten: sie gef ährdeten in nennenswertem Ausmaß weder das europäische Kolonialpersonal, wie es manche Infektionskrankheiten - etwa Pest, Malaria und Cholera - taten, noch die einheimische Arbeitskraft und Bevölkerungsentwicklung, wie Wurmerkrankungen, Schl afkrankheit und Tu berkulose. Im riesigen Bereich der gesamten deutschen Schutzgebiete gab es nur eine einzige Einrichtung
fUr
Geisteskranke. Dieses Irrenasyl in Lutindi,
Deutsch-Ostafrika, wurde nicht von der Kolonialregierung, sondern von einer evangelischen Missionsgesellschaft betrieben.
Es ging hier auch
nicht um zeit
genössische psychiatrische Therapien, sondern um eher ordnungstherapeuti14 Z. 8. der Kaiserliche Resident in Ruanda, Richard Kandt, war zuvor 1894 und 1896 »Aushilfsarzt an
der Kreisirrenanstalt zu Bayreuth(( gewesen; vgl. Bindseil, Ruanda, 37-1 79.
1 5 Z. 8. der Stabsarzt in der Kaiserlichen Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika Wolfgang Weck; vgl. seine medizinische Dissertation, Weck, lntelligenzprüfung.
16 Für eine allgemeine Bibliographie zur deutseben Kolonialmedizin vgl. Eckart, Kolonia lismus, 564-60 I, auch verfügbar unter http://www.uni-heidelberg.de/institutelfak5/igm/g47/ eck_trop.htm.
1 7 Vgl. Questions par Ia Societe de Medicine, a MM. les voyageurs qui accompagnent M. de Ia Perouse, Iues dans Ia seance du 3 1 mai 1785, in: La Perouse, Voyage, Bd. l , 180-196.
18 Vgl. Dempwolff, Methode.
1 9 Vgl. Westermann, Rez. Vorschläge.
Sind die >>Primitiven« gesünder? Völkerkundliche Perspekliven um 1900
45
sehe Maßnahmen der Diakonie im Hinblick auf Arbeit und Lebensfiihrung. 20 Zudem gehörten psychische Alterationen, häufig als Besessenheit interpretiert, sicher zu den Störungen, mit denen sich Afrikaner - von sich aus - besonders selten an europäische Ärzte wandten. Aus
all dem
resultiert, dass es im deutschen Kaiserreich keine Diskussion
über die psychische Gesundheit außereuropäischer Völker gab, die der über ihren physischen Zustand auch nur
im
Mindesten entsprach. Im Gegensatz
zu Ansätzen in englisch- und französischsprachigen Schutzgebieten hat sich
im ganzen deutschen Sprachraum so auch kein eigentlicher kolonialpsychiatri scher Diskurs entwickelt. Immerhin war bei dem gelegentlich als Begründer der modernen Psychiatrie apostrophierten Emil Kraepelin
( 1 856-1927) die Irrita
tion durch Existenz und Beschreibungen fremder Völker so stark, dass er sich veranlasst sah, den universalen Anspruch seiner Einteilung psychischer Krank heiten durch eine Java-Reise zu belegen. 2 1 Doch selbstverständlich fand er nur, was er aufgrund seiner ätiologischen Postulate suchte. Auch Asiaten sind dem nach grundsätzlich von denselben Krankheitsentitäten wie Europäer betroffen, nur würde »die Eigenart eines Volkes . . . auch in der Häufigkeit und in der klinischen Gestaltung seiner Geistesstörungen
zum Ausdruck
kommen«. 22
Fehlende kolonialpraktische Bedeutung der Geisteskrankheiten, die zum weitgehenden Fehlen psychiatrischer Einrichtungen führten, anders gelagerte, nämlich »bakteriologisch« ausgerichtete kolonialärztliche Forschungsinteressen und selektives einheimisches Patientengut verhinderten also in den überseei schen Schutzgebieten, dass die Frage seelischer Gesundheit der Eingeborenen
zum medizinisch-wissenschaftlichen Thema wurde.
Tropenneurasthenie: Zivilisationsmangel der Weißen? Neben der psychischen Gesundheit von Naturvölkern gab es ein weiteres, im Gegensatz
dazu
allerdings eingehend diskutiertes Thema aus der kolonialen
Situation, das die Behauptung, die Zivilisation sei der Hauptverursacher von Neurasthenie, hätte relativieren können. Es handelt sich um die Diskussion der seit 1905 »Tropenneurasthenie« genannten Problematik, di.e sich ausschließlich
auf Weiße bezog. Ihre Bedeutung gewann sie als Bestandteil des heftig umstrit
tenen
Akklimatisationsproblems,
in dem es um die kolonialpolitisch zentrale
Frage ging, ob die Tropen von der »weißen Rasse« zu besiedeln seien. 23 In die
- für die medizinische Diskussion schon sehr früh 1813 in James Johnsons The influence of tropical dimates on European consti-
sem Zusammenhang war
20 Vgl. Diefenbacber, Psychiatrie, 86-9 I .
21 Vgl. Bendick, Forschungsreise. 22
23
Kraepelin, Vergleichende Psychiatrie, 437. Zur deutseben Akklimatisatioosdiskussion vgl. Eck:art, Kolonialismus, 74-77.
Walter Bruchhausen
46
tutions der Begriff der Degeneration als Ursache von Krankheiten verwendet worden. 24 Johnson (1777- 1845), weitgereister irischer Schiffsarzt, äußerte den Verdacht, das Tropenklima führe dazu, dass die Nachfahren weißer Einwande rer allmählich degenerierten. Verbunden mit der Zahl von drei Generationen als höchster Spanne, die eine weiße Nachkommenschaft fortpflanzungsf ähig bleiben könne, wurde dies später, in der deutschen Kolonialdebatte nach
1 885,
als Vrrchows Regel bekannt. Die Bedeutung der sozialen Lebensverhältnisse in den Kolonien, d. h.
in diesem
Falle gerade der Verlust an äußerer und dann
auch innerer Zivilisation, wurde
für die Entstehung von Nervosität einerseits
und der darauf basierenden Neurasthenie andererseits zwar ebenfalls immer
wieder angefiihrt . 25 Doch blieb das Klima mit Hitze, Feuchtigkeit und Sonnen
einstrahlung die dominierende Erklärung für das Krankheitsbild der Tropen neurasthenie. Dieses war durch Konzentrations- und Erinnerungsschwäche, Müdigkeit und Reizbarkeit (bis
hin
zum Tropenkoller) gekennzeichnet In
der Beschreibung unterschied sich die Tropenneurasthenie damit nicht von den europäischen Formen, nur in der postulierten Ursache. Differenzierungen äußerlich gleicher Krankheitsbilder aufgrund unterschiedlicher Verursachung
kannte die zeitgenössische Diskussion in Neurologie und Psychiatrie bereits zu Genüge, etwa bei der Unterscheidung von neurasthenischer Disposition und Neurasthenie Erbgesunder. Damit war aber die Neurasthenie-Debatte gegen
Irritationen von tropenhygienischer Seite bereits immun. Hirtz brachte die Dis kussion
1916
zu
einem vorläufigen Abschluss. Er bezweifelte nicht nur, dass
eine spezielle Nervosität in den Tropen existiert, sondern auch, dass es dort überhaupt mehr Nervosität als in Deutschland gäbe. 26
Theoretische Spekulationen Die europäischen Kenntnisse über psychische Erkrankungen in außereuropäi schen Gesellschaften waren also vor dem Ersten Weltkrieg - und sicher nicht nur damals - als höchst bescheiden
zu
bezeichnen. Erste Versuche einer ver
gleichenden Rassenpsychiatrie, bezeichnenderweise von Psychiatern aus dem Vielvölkerstaat der Donaumonarchie durchgeführt, nämlich von Alexander Pilcz
(1871-1954) und Bela Revesz (1 876-1 944), beklagten dies ausdrück
Lich. 27 Trotzdem, oder vielleicht gerade wegen der damit gegebenen Freiheit für Spekulationen, finden sich oft recht bestimmte Zuschreibungen.
24 Vgl. Johnson, lnfluence of Tropical Climates, 2. 25 Z. 8. bei Hirsch, Pathologie, 557; Rasch, Einfluß des Tropenklimas, 474 und Sargent, Tropical Neurasthenia, 275. 26 Vgl. Hintze, Einfluß; Sargent, Tropical Neurastheni� 281. 27 Vgl. Revesz, Erfahrungen; Pilcz, Beitrag.
Sind die >>Primitiven<( gesünder? Völkerkundliche Perspektiven um 1900
47
Natur und Kultur
Biologischer Evolutionismus Die dominierende Zuschreibung um 1900 war die darwinistisch inspirierte Auffassung von der entwicklungsbiologisch bedingten geistig-seelischen Min derbefähigung der Naturvölker, die man gleichsam als eine psychologisch-neu rologische Fortführung der Evolutionslehre ansehen kann . Zuvor hatten viele Anthropologen deutscher Universitäten, von Johann Friedrich Blumenbach in Göttingen Ende des 18.28 bis Felix von Luschan in Berlin Anfang des 20. Jahrhunderts 29, gegen alle Versuche, andere Ras sen grundsätzlich als der kaukasischen unterlegen einzuschätzen, mit erstaun lieber Hartnäckigkeit an der Einheit des Menschengeschlechts und zu deren Begründung an der Abstammung der Menschheit von einem Elternpaar, der Monogenie, festgehalten. Mit dieser moralisch motivierten biologischen Lehre, die insbesondere gegen Rechtfertigungsversuche der Sklaverei eingesetzt wor den war, entstand aber im darwinistisch geprägten intellektuellen Klima des späten 19. Jahrhunderts ein Folgeproblem. Es sollte kaum weniger verheerend wirken als die polygenetischen Abstammungstheorien der Sklavenhalter: Hatte man nur eine Menschheit, dann auch nur eine Menschheitsentwicklung und alle lebenden Menschen mussten sich auf ihren verschiedenen Stufen einord ne[\ lassen. Verschiedene Entwicklungswege waren damit nicht vorgesehen, es gaQ nur ein mehr oder weniger weit auf dem Weg zu dem von den Weißen err�ichten Stand. So korrelierte der Arzt und anthropologische Schriftsteller Georg Buschan in §einen einschlägigen Arbeiten von 1904 und 1906, die Cultur und Gehirn Bi'�· Gehirn und Kultur betitelt waren, die Größe des Schädelinhalts bzw. das Ge)lirngewicht mit Kulturleistungen. >>Culturgüter« stellten demnach fur die Scttwarzen ein >>Danaergeschenk« dar, das sie überfordern und daher ver derben würde. 30 Nicht nur beim anthropologischen Theoretiker, auch beim praktisch tätigen Arzt fanden solche Vorstellungen von der biologisch-psychia trisch niedrigeren Entwicklungsstufe der Naturvölker zunehmend Anklang. Auf einem psychiatrischen Kongress 1 9 1 2 in Tunis wurde die Erwartung geäußert, die Kolonialpsychiatrie könne doch »die Psychopathologie der ersten Tage unserer Zivilisation wieder vor unseren Augen auferstehen lassen.«31 In den 1930er Jahren gipfelte dies in der biologistischen These von der Unterentwick-
28
Vgl.
Hannaford, Raoe, 277, 279, 306, wo Blumenbachs Argumentation plakativ als >raoe is nothing< betitelt wird. 2 9 Vgl. zum späten 19. Jb. Mas-sin, Vlfcbow, 86-94. 30 Buschan, Cultur, 133. 3 ! Cazanove, zit. nach Diefenbacher, Psychiatrie, 32.
48
Walter Bruchhausen
afrikanischen Hirnrinde, wie sie etwa in der Schule von Algier unter dem französischen Psychiater Antoine Porot vertreten wurde. 32 Wenn allerdings bei konsequenten Darwinisten die Monogenie nicht mehr im Vordergrund stand, so waren auch andere Thesen a1s die von der bloßen lung der
Unterentwicklung möglich. Nicht nur der eingangs breit zitierte Oetker schloss aus einer Mischung von Darwinismus und Lamarckismus auf die andersartige Entwicklung der Neger. Die Entwicklung - so lautet ein Fazit Oetkers - hätte sie
in
zu
ihrer lebensfeindlichen Umwelt ganz anderen Menschen
a1s
die
Europäer werden lassen, ohne »Gefühl des Mitleidens« und Solidarität. 33 Sie erscheinen hier gleichsam
a1s
ein anderer Zweig der Evolution und eine
europäische Lebensweise könnte ihnen nur schaden.
Biologisch-kulturelle Ambivalenz Doch
zum
evolutionären Denken gehört nicht nur die von Fortschrittsgläubi
gen beschworene Minderwertigkeit des entwicklungsgeschichtlich Früheren, sondern auch der zumindest von einer romantischeren Perspektive aus zu bedauernde Verlust von Früherem durch weitere Entwicklung. Zumeist bestand die Tendenz, diesen Verlust als vergleichsweise unbedeutend zu bewerten. Doch immer wieder tritt die Spannung von Verlust und Gewinn doch her vor. Im widersprüchlichen Erbe der Aufklärung begegnet sie uns als auf und
ab von kulturpessimistischer Zivilisationskritik und kulturoptimistischem Fort schrittsdenken. In Sigmund Freuds kulturtheoretischen Schriften erscheint die
ser Gegensatz als notwendige Ambivalenz der Kultur oder - synonym - Zivili sation selbst: Sie fungiert, um es mit Roelcke zu formulieren, »als Medium zur Ermöglichung von sozialem Leben, und als restriktive Instanz mit Zwangscha rakter« zugleich. 34 Im Blick auf die vermeintlich ursprünglicheren, »primitiven« GeseiJschaften entfaltet sich diese Spannung zum Paradox: nämlich der frem den Gesellschaft vorzuwerfen, sich nicht entwickelt zu haben, und der eigenen
gleichzeitig entgegenzuhalten, eben dies getan
zu
haben.
Kulturelle Apartheit Auch dort, wo als Erklärung für die Differenz zwischen weißen und farbi gen Völkern biologische Argumentationen zurücktreten und Kultur als Faktor höher bewertet wird, muss man keineswegs zwangsläufig darauf verzichten, vermeintlich
allzu
unterschiedliche Lebensweisen nicht mehr strikt separie-
32 Vgl. ebd., 142. 33 Vgl. Oetker, Seelenwunden 108-110; ders,. Neger-Seele, 16. 34 Roelcke, Krankheit, 199.
i um 1900 Sind die ''Primitiven« gesünder? Völkerkundliche Perspektven
Als beispielsweise Lord Lugard nach 1900 für Afrika und Asien das Konzept der Indirect Rule
49
ren zu wollen.
die Britischen
Kolonien in
entwickelte, 35
stand
dahinter
die an Herder erinnernde Vorstellung, dass ein Mensch nur
nach den Regeln seiner eigenen Kultur und Gesellschaft gut leben, also nur durch eigene Autoritäten angemessen regiert werden könne. Die Folgen dieser Vorstellung waren insbesondere in Gesundheitsfragen offensichtlich: Es waren nicht mehr so sehr die biologischen Gegebenheiten wie tropische Parasiten, die Menschen in Afrika krank machten, sondern Deculturation und Detribalization,
die Zerstörung ihrer bewährten Lebensweise. 36 Dies führe - so die verbreitete Meinung britischer Kolonialbeamter - zur Ausbreitung von Geschlechtskrank heiten, Hakenwurm und Tuberkulose, Alkoholismus und auch psychischen
Erkrankungen. Dass Zivilisation krank machen kann , hatte sich demnach auch auf dem kolonialen Felde erwiesen.
Individuum und Gesellschaft Unabhängig davon, ob Natur oder Kultur
als
Ursache
afrikanischer
Anders
artigkeit, vielleicht sogar Rückständigkeit angeschuldigt wurden, waren sich viele europäische Experten
für
darin
einig, dass die europäische Zivilisation sich
Afrikaner und ihre Gesellschaften schädlich auswirke. Das musste Fragen
nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aufwerfen. Dass ein
zelne Afrikaner den Weg in die europäische Gesellschaft schaffen konnten, war nach den Erfolgen schwarzafrikanischer Gelehrter system des
18. Jahrhunderts nicht zu
im europäischen Bildungs bezweifeln. 37 Doch für Afrikaner als
Gruppe sollte die Unüberbrückbarkeif der Differenz gelten. Alfred Vierkandt
(1 867-1953) sah 1 896 in seinem Werk NaturvölkerundKul
turvölker den entscheidenden Unterschied zwischen beiden Gesellschaftsfor men in der Bedeutung des Individuums »als Substrat der Vollkultur«38, in »der freien Individualität überhaupt, die wir erst
im
Bereiche der Vollkultur antref
fen.«39 Und auch die Frage, ob gesellschaftliche Verhältnisse krank machen oder gar selbst als krank zu bezeichnen sind, hängt unweigerlich
darnit zusam
men, wie das Verhältnis von Individuum und Gruppe gesehen wird. Verläuft cille stark von der Gruppe zum Einzelnen, so hat dieser das Determinierungsgef wenig Hoffnung, einer »kranken Gesellschaft« »gesund« zu entkommen. Damit ergibt sich dann auch die Frage nach der sozialen und psychopathologischen
35 Zur britischen Rassenpsychologie in der ersten Hälfte des 19. Jh.s u.a. Lugards »separate but equal<<, vgl. Ricbards, >Race<, 200-214. 36 Vgl. Vaughan, Curing, 29-54. 37 Vgl. das entsprechende Zitat von Blumenbach bei Richards, >Race<, 2-3. 38 Vierkandt, Naturvölker, 447. 39 Ebd., 184.
50
Waller Bruchhausen
Anwendbarkeit des biogenetischen
Grundgesetzes
von Ernst Haeckel
(1 834-
1 9 1 9), das um 1900 im deutschsprachigen Raum bei naturwissenschaftlich
Vorgebildeten die verbreitete Grundlage zur Bestimmung des Verhältnisses von Einzelnem und Menschheit darstellte. Erlaubt der Satz, dass die Ontogenese die Phylogenese rekapituliert, den Umkehrschluss auf die »Soziale Krankheit«? Wenn die Einzelnen bestimmte (normale) Entwicklungsmerkmale aufweisen, weil Stamm bzw. Gesellschaft sie hatten, muss die Gesellschaft
dann
auch
pathologisch sein, wenn die Einzelnen es sind?
Individual- und Völkerpsychologie In den frühen Phasen von Völkerpsychologie und Ethnologie interessierte fast
ausschließlich die soziale Determinierung des Menschen. Der bereits ange sprochene Inhaber des ersten deutschen Lehrstuhls
für
Völkerkunde, Adolf
Bastian, bestimmte den Forschungsgegenstand so, dass die Anthropologie das
Individuum als physische Hälfte des Menschenwesens betrachte, während die Ethnologie das Gemeinschaftswesen als psychische Hälfte des Menschen erfor sche. 40 Dieser einseitigen Beschränkung des Psychischen auf das Soziale konnte sich die als eigene Disziplin entstehende Psychologie kaum anschließen und
Grundlage von indi Sigmund Freud (1 856-
eigentlich am allerwenigsten dort, wo eine Psychologie als vidueller Behandlung angestrebt wurde, also etwa bei
1939). Im Vorwort zu Totem und Tabu von 1 9 1 3 bezeichnet Freud die vier darin gesammelten Aufsätze als Versuch von meiner Seite, Gesichtspunkte und Ergebnisse der Psychoanalyse auf ungeklärte Probleme der Völkerkunde anzuwenden. Sie enthalten also einen methodi
schen Gegensatz einerseits zu dem groß angelegten Werke von W. Wundt, welches die Annahmen und Arbeitsweisen der nicht analytischen Psychologie derselben Absicht dienstbar macht, und andererseits
zu
den Arbeiten der Züricher psychoanalytischen
Schule [von C.G. Jung; W.B.], die umgekehrt Probleme der lnd.ividualpsychologie
durch Heranziehung von völkerpsychologischem Material zu erledigen streben. 41
Mit Jung teilt Freud also - noch? - den Rahmen der Psychoanalyse, mit Wtlhelm Wundt glaubt er die Zielrichtung, nämlich die Bereicherung der Völkerpsychologie durch die Individualpsychologie gemeinsam zu haben. Doch wie steht es um die vermeintlichen Übereinstimmungen zwischen Wundt und Freud tatsächlich? Die Absichten beider scheinen sich nicht ganz so gleich gerichtet zu verhalten, wie es Freud glauben machte. Denn
zumindest
einige
Absichtsbelrundungen von Wundt laufen auch in umgekehrter Richtung, also
40 Vgl. Bastian, Begriffe, 516. 4 1 Freud, Totem, 291.
Sind die »Primitiven« gesünder? Völkerkundliche Perspektiven um 1900
51
in der C. G. Jung (1875-1961) zugeschriebenen, nämlich vom Volk zum Indi viduum. Im Vorwort zum vierten Band seiner Völkerpsychologie von
1 905
schreibt Wundt, dass der nächste Zweck dieses Werkes nicht etwa der ist, die Mythologie durch die Psy chologie zu berichtigen, sondern der psychologischen Forschung selbst, soweit ich
es vermag, die Quellen einer für das Studium der Phantasievorstellungen wie der
Gemütsbewegungen unschätzbaren und unersetzbaren Erkenntnis zuzuführen . 42
Es handelt sich also im Entwurf, nicht unbedingt in allen Teilen der Ausfiih rung, 43 ausdrücklich eher um eine ethnologische Bereicherung der Psychologie als um die von Freud behauptete Anwendung der Individual- auf die Völkerpsy
chologie. Natürlich steckt darin auch das Moment der Prüfung psychologischer Hypothesen am ethnographischen Material, aber eben eher solcher mehr oder
weniger wissenschaftlichen psychologischen Vorannahmen, wie sie unbewusst
oder reflektiert ohnehin schon in Mythologieforschung und Religionsgeschichte am Werke sind und nicht primär um die Einfiihrung neuer. Gehen
damit
Wundt und Freud nun entgegengesetzte Wege? Wohl auch
nicht ganz, denn so wie Freud mit dieser Vereinfachung Wundts Ansatz einsei tig reduziert hat,
für
so
tat er es auch mit seinem eigenen. Das gilt nicht unbedingt
die kulturtheoretischen Schriften, die tatsächlich eine relativ einheitliche
Stoßrichtung von der Individualpsychologie zur Völkerpsychologie aufweisen. Sicher aber gilt das
für
die Entwicklung der psychoanalytischen Theorie ins
gesamt, die ohne mythologisches Material, in dem es ja keineswegs bloß um intraindividuelle Spannungen geht, kaum denkbar gewesen wäre. Offenbar war das Wechselspiel zwischen Kollektivem und Individuellem auch in der damali gen psychologischen Forschung doch komplizierter als es Freud hier eingeste hen wollte. Und das würde natürlich auch ein neues Licht auf die vermeintlich einfache Abgrenzbarkeit von
Primitiven
und Zivilisierten, von Natur- und Kul
turvölkern werfen.
Die ethnologische Rezeption der Psychoanalyse Freuds nicht zuletzt von Haeckel und frühen britischen Ethnologen beein flusster Evolutionismus wurde schon früh kritisiert. Ethnologen wie Richard Thumwald
(1 869-1954)44 haben Analogien zwischen Neurotikern und Primi
tiven entschieden zurückgewiesen. Andere Ethnologen dagegen beschäftigten
sich mit den allgemeinen psychischen Mechanismen bei Freud, adaptierten und
42 Wundt, Völkerpsychologie, Bd. 4, VI. 43 Besonders die Diskussion von Voluntarismus vs. lnteUektualismus, Wundt, Völkerpsychologie, Bd. 4, 55-64, steUt eher umgekehrt eine Kritik an veralteten ModeDen der Völkerpsychologie
aus den Ergebnissen neuerer lndividualpsycbologie dar. 44 Vgl. Thumwald, Ethnologie.
52
Wa/ter Bruchhausen
relativierten zentrale Lehrstücke wie den Ödipuskomplex
für
fremde soziale
Kontexte und begründeten so die bis heute lebendige Tradition der Ethnopsy choanalyse. 45
Es wurde nicht zuletzt von Seiten dieser Ethnopsychoanalyse immer wie der betont, dass Freud in seinen späteren kulturtheoretischen Schriften, insbe sondere in Die Zukunft einer ntusion von
1927, Abstand vom ethnologischen
Evolutionismus genommen habe. Tatsächlich vem1eidet Frcud hier platte For mulierungen und greift mit der Verwendung des Begriffs »Kulturkreise« die zentrale Kategorie der kulturhistorischen Schule auf, mit der im deutschspra chigen Raum die unilineare Entwicklungskonzeption angegriffen wurde. Doch
die Vorstellung einer gesetzmäßigen kulturellen Weiterentwicklung durch Inter nalisierung von Zwang bleibt. Zudem war einer der militantesten Vertreter der kulturhistorischen Schule, der Steyler Missionar Pater Wtlhelm Schmidt
(1868-1 954), bei den Wiener Auseinandersetzungen im Vorfeld der klerikal beeinflussten austrofaschistischen Diktatur ab 1933 einer von Freuds promj nentesten Gegnern im kulturwissenschaftlichen Bereich. 46 Freud hatte also weder aufgrund seiner frühen wissenschaftlichen Prägung noch seiner aktuellen
persönlichen Erfahrungen Grund, eine von Entwicklungsgesetzen bestimmte
Sicht auf primitive Gesellschaften aufzugeben. Das sollte sich in seiner späteren außerethnologischen Rezeptionsgeschichte
( 1897-1 990) vertritt in seinem erst spät beach teten Werk Über den Prozeß der Zivilisation diese These eines Kulturfortschritts durch Internalisierung von Zwängen, einer »Straffimg und Differenzierung« der auswirken. Auch Norbert Elias
»Affekt- und Kontrollstrukturen«. 47 Die ethnologische Reaktion blieb ebenfalls nicht aus. Hans-Peter Duerr (*1943) versucht in seiner ebenfalls mehrbändigen Antwort, den »Mythos vom Zivilisationsprozess« zu widerlegen, und behaup tet, dass »es aller
Wahrscheinlichkeit
nach zumindest innerhalb der letzten
vierzigtausend Jahre weder Wtlde noch
Primitive,
weder Unzivilisierte noch
Naturvölker gegeben hat.«48 Ohne ein Urteil über die jeweilige Auswahl und Behandlung der Quellen zu wagen, sei nur noch ein Mal darauf hingewiesen, dass der Erfolg von Elias' Ansatz und die Heftigkeit der ethnologischen Kri tik von einem anhaltenden Problem zeugen, wie der jüngst erschienene große Gegenangriff auf Duerr belegt. 49
45 Vgl. Reichmayr, Ethnopsychoanalyse, 28-81.
46
Vgl. Schmidt, Evolutionismus, insbesondere 397, wo sich Schmidt auch explizit gegen Freud wendet; zur Konfrontation Schmidt/Freud vgl. Reichmayr, Ethnopsychoanalyse, 39-40. 47 Elias, Prozeß, Bd. 1, IX. 48 Duerr, Nacktheit, 12. 49 Vgl. Hinz, Zivilisationsprozess.
Sind die >>Primitiven« gesünder? Völkerkundliche Perspektven i um 1900
53
Suggestion und Hypnotismus Einen weiteren naturwissenschaftlich-medizinischen Versuch, die Differenz zwischen
Primitiven
und Europäern zu markieren, ermöglichen die Konzepte
von Hypnotismus und Suggestion. Ob Hypnotismus
als krankhaft
anzusehen
ist, weil er in Verbindung mit Hysterie auftritt, wie es Jean Martin Charcot.s
(1825-1 893) Pariser Schule vertrat, oder aber als Resultat von Suggestion prin zipiell bei jedem zu induzieren ist, was Hippolyte Bernheim (1840-1919) in Nancy postulierte und praktizierte, war in den Jahren nach 1880 heftig umstrit ten. Auch fiir die Erklärung hypnotischer Phänomene bei Naturvölkern, die
doch so spektakulär imponierten, ist diese Frage von großer Bedeutung. Der Schweizer Nervenarzt Auguste Forel
(1848-1931) hatte 1 890 vor der Gesell
schaft deutscher Naturforscher und Ärzte die Überzeugung geäußert, dass die Qualifizierung von Hypnotismus als Neurose bzw. Hysterie allgemein über
(1821-1902) demonstrierte fiir die Sicht außereuropäischer Völker ein Jahr später das Gegenteil. Kehren wir dazu noch wunden sei. 5° Doch Rudolf Virchow
einmal zu den Orang utan nach M.alacca zurück. Vrrchow, Pathologe, Politiker
und Prähistoriker, war bekannt dafür, dass er in seinem ltberalen Bemühen, die Einheit des Menschengeschlechts zu betonen, alle größeren Abweichungen von der zeitgenössischen europäischen Norm
als
pathologisch klassifizierte.
bas galt f ür den Neanderthaler-Schädel, in dem er gegen den Bonner Ana
tomen Herm.ann Schaaftbausen
( 1 818-1893) nur krankhafte Veränderungen
und keine Art-Verschiedenheit zu sehen bereit gewesen war. 5 1 Und es galt nun
fiir die Erklärung von
Lattah bei den Orang utan. Vrrchow diagnostizierte
es als »eine Neurose, welche dem Hypnotismus mit Neigung zur Suggestion nahe verwandt ist.« 52 Oetker hatte, wie eingangs zitiert,
1907 in der Labilität, was mit Sugges
tibilität damals nicht selten synonym verwendet wurde, kein Krankheitssym ptom, sondern eine Rasseeigenschaft gesehen. Doch zumeist wurde - in selbst wiederum suggestiver Weise - offengelassen, ob es sich beim verbreiteten afri kanischen Hypnotismus um Pathologie oder bloße physiologische Differenz handelte. Ein Kolonialarzt in Deutsch-Ostafrika kommt in einem ethnographi schen Beitrag
191 1 zu dem Schluss, dass
wie alle Kenner der Negerpsyche übereinstimmend erklären (s. auch Ratzel, Völker kunde) das Unterscheidungsvermögen zwischen Wahrheit und Phantasieprodukt ebenso wie bei unseren Kindern oder manchen hysterischen Individuen wenig ent wickelt ist. 53
50 5 .1 52 53
Vgl. Forel, Therapie, 317. Vgl. Zängi-Kumpf, Scbaaflbausen, 193. Vrrcbow, Malacca, 838. Vut, Beitrag, 510f. Ein anderer Sanitätsoffizier in Deutscb-Ostafrika. der spätere Professor für ethnologische Linguistik Otto Dempwolff, Methode, I077, hatte dagegen 1908 die Ansicht
54
Waller Bruchhausen
Die Projektionen halten an Zum Abschluss sei ein etwas unvern:tittelter, doch nicht rein assoziativer Sprung in die jüngere Gegenwart und ins Subjektive gewagt. Denn ich beschreibe eine eigene Erfahrung zur Antithese Die » Wilden« und die »Zivilisierten« - um nicht nur Urs Bitterfis gleichnamigen Buchtitel, sondern auch einen Teil seiner Ana
l tnis einer früheren Zeit aufzugreifen. lysen zum europäisch-afrikanischen Verhä
In den
1994 war ich überwiegend, aber eben nicht ausschließlich in Ruanda gewesen. Die Diskrepanz zwischen Erfahrungs zwei Jahren nach dem Genozid
berichten dort und der veröffentlichten Meinung hier, die gerade auch von
Intellektuellen bereitwillig aufgegriffen wurde, hat meine eigene Einstellung zum europäischen Denken nachhaltig geprägt. Hinweise auf den planmäßigen, also technisch-»zivilisierten« Charakter des Geschehens vor und nach dem April
1994 wurden immer wieder durch Phantasien vom primitiven Stammeskrieg und ungezügelten Volkszorn verdrängt. Die Buchhaltung des Todes mit schwar zen Listen und eingestempeltem T im Pass angeblicher Abatutsi, die gewalttätig durch die Straßen marschierenden und in Häuser eindringenden Männerka meradschaften, deren Selbstbezeichnung »lnterabamwe« man mit »die Reihen fest geschlossen« übersetzen könnte, rassentheoretische Untermauerung von Neidgefühlen gegenüber Ökonomie- und Bildungseliten und deren politische
Instrumentalisierung, demagogische Reden im Radio und staatlich inszenier
Afrika-Bild und wurde Afrika noch immer oder
ter Führerkult - all das passte nicht zum deutschen entsprechend eher unterdrückt. Offensichtlich dient
immer wieder als Projektionsfläche, wenn es darum geht, uns bei aller Zivilisa
tionskritik unseres Gewinns an Humanität durch Zi vilisation zu versichern.
Literatur Bartels, M., Die Medizin bei den Naturvölkern, Leipzig 1893. Bastian, A., Allgemeine Begriffe der Ethnologie, in: P.F.A. Ascherson!G.B. Neumayer (Hg.), Anleitung
zu
wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen: mit besonderer
Rücksicht auf die Bedürfnisse der kaiserlichen Marine, Berlin 1875, 5 1 6-550. -, Ueber psychische Beobachtungen bei Naturvölkern, in: Schriften der Gesellschaft für Experimental-Psychologie zu Berlin, 2. Stück (1 890) 6-9. Becker, A., Aus Deutsch-Ostafrikas Sturm- und Drangperiode. Erinnerungen eines alten Afrikaners, Halle 1 9 1 1 .
Bendick, C., Emil Kraepelins Forschungsreise nach Java im Jahre 1904. Ein Beitrag zur Geschichte der Ethnopsychiatrie, Feuchtwangen 1989 (Kölner medizinhistorische Beiträge 49).
»>die Eingeborenen sind Kinder<« den »allgemeinen, vulgärpsychologischen Bewertungen der Negerpsyche<< zugeschrieben und »wissenschaftlicher Völkerpsychologie« entgegengesetzt.
Sind die ))Primitiven« gesünder? Völkerkundliche Perspektiven
um
1900
55
Beuchelt, E., Ideengeschichte der Völkerpsychologie, Meisenheim/Glan 1974 (Kölner Beiträge zur Sozialforschung und angewandten Soziologie 13).
Bindseil, R., Ruanda und Deutschland seit den Tagen Richard K.andts, Berlin 1988. Bitterli, U., Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzüge einer Geistes- und Kultur geschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1976.
Buschan, G., Chirurgisches aus der Völkerkunde, Leipzig 1902.
-, Cultur und Gehirn, in: Correspondenz-Biatt der Deutschen Gesellschaft für Anthro pologie, Ethnologie und Urgeschichte 35 ( 1 904) 127-133. -, Gehirn und Kultur, Wiesbaden 1906 (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens, hg. von L. Loewenfeld, Heft 44).
Degerando, J.-M., Considerations sur les divers methodes a suivre dans l'observation des peuples sauvages, Paris 1796; zit. nach: Moravia, S., Beobachtende Vernunft.
Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, Frankfurt am Main 1989, 219-
251.
Dempwolff, 0., Methode für völkerpsychologische Erkundungen, in: Deutsches Kolo nialblatt 1 9 (1908) 1 077-1078. Diefenbacher, A., Psychiatrie und Kolonialismus. Zur » lrrenfursorge« in der Kolonie Deutsch-Ost.afrika, Frankfurt am Main 1 985.
Duerr, H.P., Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Frankfurt arn Main 1 994.
Eckart, W.U ., Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1 884-1945, Paderborn
1997. Elias, N., Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bem 2 1 969. Fore!, A., Zur suggestiven Therapie, in: Verhandlungen der Gesellschaft deutscher Natur forscher und Ärzte. 63. Versammlung
zu
Bremen 15.-20. September 1890, Leipzig
1890, 3 1 7-325.
Freud, S., Totem und Tabu [1913], in: Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt arn Main 2000,
287 444.
Hannaford, 1., Race. The History of an ldea in the West, Washington D.C.!Baltimore
1996.
Hermanns, L., Zu den Anf angen westlicher Psychiatrie in Tanzania um 1900 - Auf bau und Entwicklung des evangelischen lrrenasyls Lutindi, in: Nachrichtenblatt der DGGMNT 27, 2 (1 977) 3 1 -32. Hintze, K., Welchen Einfluss hat das Tropenklima auf Angehörige der weissen Rasse?, in: Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene 20 (1916) 9 1 - 1 04, 122-138, 148-172.
Hinz, M., Der Zivilisationsprozess: Mythos oder Realität? Wissenschaftssoziologische Untersuchung zur Elias-Duer-Kontroverse, Opladen 2002. Hirsch, A., Handbuch der historisch-geographischen Pathologie, Bd. 2, Erlangen 18621864. Johnson, J ., The in.fluence of tropical climates on European constitutions, Loodon 1813. Kraepelin, E., Vergleichende Psychiatrie, in: Centratblatt für Nervenheilkunde und Psy chiatrie 27 (1904) 433-437.
La Perouse, J. F. de, Voyage autour de monde, Paris 1797. Massin, B., From Vrrchow to Fischer. Physical Anthropology and >Modern Race Theo ries< in Wtlhelmine Germany, in: G.W. Stocking Jr. (Hg.),
Volksgeist as
Method and
56
Waller Bruchhausen
Ethic. Essays on Boasian Ethnography and the German Anthropological Tradition, Madison/umdon 1996 (History of Anthropology 8), 79-154. Oetker, K., Die Neger-Seele und die Deutschen in Atiika. Ein Kampf gegen Missio nen, Sittlichkeits-Fanatismus und Bürokratie vom Standpunkt moderner Psychologie, München 1907. -, Die Seelenwunden des Kulturmenschen vom Standpunkte moderner Psychologie und Nervenhygiene. Gedanken zu einer wissenschaftlichen Religion [1908], Leipzig 21909. Page!, J., Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 1901. Pilcz, A., Beitrag zur vergleichenden Rassen-Psychiatrie, Wien u.a. 1906. Plehn, A./F. Plehn, Heilkunde, in: G. Neurneyer (Hg.), Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen. Hannover 1906, 154-238. Rasch, C., Über den Einfluß des Tropenklimas auf das Nervensystem, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 54 (1898) 745-775. Reichmayr, J ., Einführung in die Ethnopsychoanalyse: Geschichte, Theorien. Methoden, Frankfurt am Main 1995. Beiheft 5 des Revesz, B., Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen und ihre Lehren Archivs für Schiffs- und Tropenhygiene 1 1 (1915). Richards, G., >Race<, Racism and Psychology. Towards a reflexive history, London/New York 1997. Sargent, F., Tropical Neurasthenia: Giant or Wmdmill?, in: Environrnental Physiology and Psychology in Arid Conditions. Reviews of Research, Paris 1963 (Arid Zone Research 22), 273-314. Schmidt, W., Die Abwendung vom Evolutionismus und die Hinwendung zum Historis mus in der Amerikanistik, in: Anthropos 16/17 (1921-1922) 487-519. Thumwald, R., Ethnologie und Psychoanalyse, in: H. Prinzhorn/K. Mittenzwey (Hg.), Krisis der Psychonanalyse, Leipzig 1928, 1 1 4-133. Vaughan, M., Curing their llls. Colonial Power and African Dlness, Carnbridge/Oxford 1991. Vierkandt, A., Naturvölker und Kulturvölker. Ein Beitrag zur Socialpsychologie, Leipzig 1896. Vtrchow, R., Die wilden Eingeborenen von Malacca, in: Zeitschrift fiir Ethnologie 23 (1891) 837-847. Vtx, (K.?), Beitrag zur Ethnologie des Zwischenseengebiets von Deutsch-Ostafrika, in: Zeitschrift für Ethnologie 43 (191 1) 502-515. Weck, W., Die Intelligenzprüfung nach der Ebbinghausschen Methode, Berlin 1905. Westermann, D., Rez. Vorschläge zur psychologischen Untersuchung primiti ver Men schen, gesammelt und herausgegeben vom Institut fiir angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung, 1. Teil. Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sarnmelforschung, in: Mitteilungen des Seminars für orientalische Sprachen (1914) 261-263. Wundt, W., Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Spra che, Mythus und Sitte [1905], Leipzig 31920. Zängi-Kumpf, U., Hermann Schaaflhausen (1816-1893). Die Entwicklung einer neuen physischen Anthropologie im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1990. =
ÜTNIEL E. DROR
Deceiving Bodies: Metaphor, Knowledge, and Nerves• I believe now that we should tend to interpret the excessive pallor or excessive redness of the gastric mucosa on the basis of the emotional concomrnitant associated with the patient's anticipation of the procedure before making the interpretation of an atrophic or hypertrophic gastritis. Kauvar, n.d. 1 This essay studies a crisis in clinical knowledge that took form during the late nineteenth and early twentieth centuries
This
in
the Anglo-American context.
crisis explains why, to this day, quantitative, objective, and instrument
dependent clinical measurements are contingent upon the affective states of subjects and patients; or why patients have to attain or are made to assume a specific emotional con.figuration in order to be constituted as objects of clinical knowledge. I will argue that exactly at that moment when physiology was in •
full swing of
its >laboratory revolution< and medicine was rapidly becoming >scientific< - as its ardent reformers were eager to emphasize - emotions becarne centrat to clinical knowledge. 2 This
turn to emotions in clinical
medicine paralleled a sim.ilar turn
to emotions in experimental physiology, which - as I have argued elsewhere was implicated
in a broader late nineteenth-century crisis in knowledge and the
emergence of a post-Victorian culture of emotions. 3
In speaking of emotions I will focus on those emotions (and their bodily expressions) that were considered normal - the comrnon emotions of everyday life - not the pathological. As Pranz Alexander explained in the late 1930s:
•
1
I gratefully acknowledge the support of a RockefeUer Archive Center Research Grant.
»Peptic Ulcer< & >Ulcerative Colitis<: transcripts of talks delivered by HGW,< folder 5, box 14, n.d., Harold G. WolffPapers, Archives, New York Weill Comell Center ofNew York Presbyterian Hospital, New York. 2 For the general background on experimental physiology during this period, see Coleman/ Holmes, lnvestigative Enterprise. For the British context, see Geison, Michael Foster. For the American context, see Geison. Physiology, and Fye, American Physiology. 3 This paper is part of a !arger historiographical project which studies the modern biomedical sciences in light of the bistory of emotioos. See Dror, Creating the Emotional Body; Dror, Affect of Experiment and Dror, Scieotiiic Image.
58
Otniel E. Dror aU our emotions we express by physiological processes . .
.
.
All emotions are followed
by physiological changes, fear by heart palpitation; anger by increased heart activity and elevation ofblood pressure and a change in carbohydrate metabolism. .. . [These]
processes belong to our normal life and have no ill effects. 4
These normal emotions, however, were discovered to inflect the body and blur the fundamental distinction between the normal and pathological. Emotions
created a deceitful or deceiving body, and positioned the patient/examinee outside of the realrn of the clinically-relevant normal or pathological. 5
Nervous Bodies During the late nineteenth and early twentieth centuries a cohort of Anglo American physiologists and clinicians challenged the standards, knowledge, and norms of clinical medicine. They argued that the routine practices of the clinic,
such as physical exarnination, anamnesis, or various diagnostic procedures,
evoked emotions in patients and examinees, and that these emotions were expressed
in the body as sudden pbysiological changes - in blood pressure,
glucose Ievel, basal metabolic rate, and more. Thus, the material configuration and functional state ofthe patient's body during the encounter in the physician's office depended significantly on
his or her momentary emotional state.
Asserting that previous generations of clinicians bad ignored the emotional dimension of clinical encounters, this ernerging cohort called for a re-evaluation of previous knowledge and practice. Their main contention was that numerous cases defined in the past as pathological were, in fact, normal and merely
reflected the transient nervous state of the patient during the examination.
Promulgating this new perspective on nervousness and the clinical encounter were two distinct groups. To the fi.rst group belonged physiologists and clinicians who directly pursued the emotions for extended periods of time, such as George W. Crile from Case Western Reserve, Walter C. Alvarez at the Mayo Clinic, Walter B.
Cannon from Harvard University, Harold G. Wolff and Stewart Wolf
4 F. Alexander, >Psycbological Aspects of Medicine,< March 10, 1938, F. Alexander to A. Gregg, 3.9.38, fotder 46, box 4, Institute for Psychoanalysis, Reports (6), 1938-1941, 216 A, Series 2 1 6, Record Group: 1.1, Projects, RockefeUer Foundation, RockefeUer Archive Center, Sleepy Hollow. Emotions were not only normal, but some normal processes of the body depended on
emotions. See Cannon, Bodily Changes, 3. On Alexander's connections with Gregg, see Brown,
Alan Gregg. On Alexander's work and the Chicago Institute of Psychoanalysis, see Alexander, Medical Value; Alexander/Ross, 20 Years of Psychoanalysis; Alexander/Szasz, Psychosomatic
Approach; see also Ten Year Report, Review for the Year 1933-1934, Five Year Report. On the history of psychosomatic medicine; see, e.g., PoweU, Healing and Wboleness, and Levenson, 5
Mind. Body, and Medicine.
For the conceptual and historical aspects ofthe distinctioo between the normal and pathological, see
Canguilhem, Normal.
Deceiving Bodies: Metaphor, Knowledge, and Nerves
59
from Comell Medical Center, and others. To the second group belonged phys iologists and clinicians, such as Artbur Grollman or Francis Gano Benedict, who had only a passing
interest in
emotion and who turned their attention to
nervous borlies only because it interfered with clinical encounters. 6 Conceptually, these two groups argued for and contrasted between two possible states of the body: one, emotionally excited - identified with false pathologies and mis-diagnoses; the other, emotion-free - identified with true and reliable knowledge. The conceptual chasm separating these two possible
states of the body was, however, easily traversed by patients or exarninees on the more mundane Ievel of the clinic. George van ness Dearborn expressed well the concems with the emotion
ally-excited body and the precarious nature of reliable clinical knowledge in his
1 9 1 6 discussion of blood pressure measurements: 20 millimeters upward is no uncommon rise [in blood pressure] from a spontaneous, unpleasant thought or unpleasant momentary grief; 30 odd millimeters is often seen in records when the grief is recent and acute, for example, in tbe case of a young woman whom I quite unintentionally reminded of the recent deatb of her mother. But do observe tbat such memories (and otbers far different, but not Jess dynamic) are liable to come into the minds of patients in your own offices, at any instant, thus entirely destroying the significance of the measurement. 7 The emotionally excited or nervous patient
deceived
the physician. What
seemed pathological was normal emotional excitement disguised as pathology. The emotional body presented the clinician with an object that blurred these fundamental distinctions in clin.ical medicine. It positioned the patient outside of the
realm
of the clinically-relevant normal or pathological.
Pathological findings during emotional excitement, such as glycosuria, elevated blood pressure, atrophic or hypertrophic gastritis, or increased metabolic rate were defined by these physicians as >transient emotion< or
>emotional concommitant[s].< T hese were pseudo-pathologies that materialized
and de-materialized with the passage of emotion. 8 As a
1935 editorial in the
Journal ofthe American Medical Assodalion explained, the variations observed in the body during emotional excitement verged on the pathological. 9
6 Specific references will appear below.
7 Dearborn. Practical Notes, 489. For a similar argument, see also Jones, Archives. 8 Treadgold, Blood Pressure, 739; ••Peptic Ulcer< & •Ulcerative Colitisc: transcripts oftalles delivered by HGW,< o.d., Harold G. Wolff Papers. Dr. Kauvar was a discussant of tbe paper presented by Harold G. Wolff. See also Oskar Diethelm to Ellsworth Moody, June 25, 1941, folder 2, box 4, Harold G. WolffPapers; and Feinblatt, Hyperglycemia, 504-505. 9 Anonymus, Emotional Excitement, 123. Tbe editors were referring to an article by Don P. Morris. The essay by Morris demonstrated that the emotional content of the medical encounter was responsible for marked changes n i the bodies of patients and their families. See Morris, Emotional Excitement.
Otniel E. Dror
60
The nomenclature that designated these pseudo-pathological moments sometimes conveyed the intemal tensions inherent to these embodied emotions - >benign glycosuria<, >accidental< heart murmurs, or >physiological variation.<
This nomenclature fused a term which signified a pathology with an adjective that signified a normal process, such or >accidental.< 10
as
>benign,< >physiological,< >temporary,<
During the first four decades of the twentieth century pseudo-pathologies during emotion were observed in: body temperature, blood pressure, white and red blood cell counts, gastric secretions, intestinal motility, Ievels of various
enzyrnes, thyroid functions, blood glucose Ievels, basal metabolic rate, and more. Conversely, thougb much less frequently, normal findings during emotional excitement were defined as pseudo-normal. For example, elongated P-Rs on the E. C. G. Like their pseudo-pathological counterparts which materialized with emotion, these elongated pathological P-Rs disappeared from nervous bodies. 1 1 The nervous individual concealed pathologies under the guise of a normal and healthy body. Correct diagnosis and, more generally, the distinction
between normal and pathological demanded and bad meaning only in a body
devoid of emotions.12 In articulating these conceptual concerns with nervous bodies clinicians adopted a variety of approaches. They promulgated their views in clinical joumals and textbooks, private correspondence, dass lectures, and various oral presentations.
10 Goodale, Clinical Interpretation, 133; Loeb, Martini's Principles, 128; and Bauer, Differential Diagnosis, 586. I I Bruenn, Mecbanism. 420-42 1; and G. Draper/H.G. Bruenn/C.W. Dupertuis, >Cbanges in the Electrocardiogram as Criteria of Individual Consritution Derived from its Pbysiological Panel,< George Draper to Allen Gregg, June 5, 1937, fotder 932, box 77, 200 A Columbia University - Constitutional Disease, 1937-1941, Series 200 United States, Record Group: 1.1 Projects, Rockefeiler Fouodation. 12 The imperative to eliminate emotions in order to see and observe things as they truly are was also a central motif in the Iiterature that focused on pathology and pathological emotions. Though this Iiterature is not tbe focus of our study, it, too, emphasized lhe need to eliminate emotions from bodies as part of seeing tbe true body. Like the Iiterature tbat we have exarnined, this Iiterature focused on the detrimeotal effects of rnistaking an emotion for other pbenomena and on the slcills required for differentiating between organic and emotional manifestations of tbe body the difficulty of 1recogniz[ingj the differential diagnosis between certain functional disturbances of the colon due to emotional conflict, and a dangerous intestinal obstruction calliog for an emergency operation.< See Perry, Emotions, 123. See also, e.g., the papers presented at lhe symposium on emot1ons and disease, Journal of tbe American Medical Association, Werley, Heart Symptoms; draft of Ietter to The Board of Di:rectors, The Josiah Macy Jr. Foundation, April 8, 1941, box 3, folder I I , Harold G. Wolff Papers; and >Neurology Consultation Book, NYH, 1937-1957,< folder 12, box 16, Harold G. Wolff Papers.
Deceiving Bodies: Metaphor, Knowledge, and Nerves
61
One cornmon platform for articulation was the case-report or an anecdote drawn from the medical history of a patient. These reports told of repeated misinterpretations and, specifically, of a normal body that was deceptively pathological-like. Often the site of correct clinical diagnosis was contrasted with other sites in which the observing physician saw the nervous patient. These case-histories, it is important to note, did not target the skills, instruments, materials, expertise, or laboratory procedures of other pbysicians; only their neglect of emotions. As Walter Alvarez wrote to Walter B.
Cannon in the Jate 1 920s:
A man was examined by an exceUent clinician here and no sugar was found [in the urine]. It was found later at the hospital where he went for Operation. The physician [here] doubted this and looked in vain for sugar several ti.mes after the patient bad recovered. The man went to be examined for life insurance and that nervous strain again brought out sugar and he was rejected. 13 lmplicit to numerous of these Observations was a privi.leged site of know
Jedge, characterized by its opposition to those sites in which the examinee was nervous.
First visits to the physician's office or first time experiences with various
diagnostic tests were also targeted for their unreliability, because of nervousness. As H. I. Schou explained in the mid 1 930s:
it is knowo that the first metabolic tests perforrned on a pt. for diagnostic purposes are almost always too high. lf the pt. is examined daily, as is the rule in carefuJ examinations, the metabolic rate will fall until a definite, fixed Ievel is reached. Only then the actual, basal metabolism is arrived at. The cause of the fall is the emotioo. . . . Only when ... [the patieot] has become familiar with these procedures will the anxiety disappear and the measuring become correct. 14 Or as J. P. U. McLeod and J. D. Hjghsmith argued in their paper, entitled E.ftect
of Fear on Diagnosis, fear raised the »normal blood count . . . introducing an error in diagnosis, causing the removal of many innocent appendices.« 15
13
Walter AJvarez to Walter Cannon, August 24, 1915, folder 1514, box 1 1 0, Walter Bradford
Cannon Papers (H M S c40), Rare Books and Special Collections, The Harvard Medical Library
in the Francis A. Countway Library of Medicine, Boston, Mass.
14
Schou, lnvestigations, 32. For similar arguments concenting other organs and functions of the
body, see ibid., 52-53, 93. See also >Institute of Child Welfare, University of Califomia, Report
of progress, December 1933,< p. 5, folder 454, box 43, Series 3,
15
Memorial, Rockefeiler Archrve Center, Sleepy HoUow.
Laura Speiman RockefeUer
In tbe original paper the authors pose this problern as a rhetorical question, rather than in
statement form. McLeod/Highsmitb, Fear, 9. See also Hyman, Emotions in Disease, 684; Groll· man
, Physiological Variations; AJvarez/Hinshaw, Abdominal pains, 402; and Gorham, Anxious
Thougbt, 40.
Otniel E. Dror
62
Visual aids, such as graphs and numeric tables, depicted the co-dynamics of affective and bodily states during the clinical encounter and provided supporting
evidence for the new practices of the clinic. 16
The determination of and distinction between the normal and pathologi
cal demanded a particularistic, non-standardized, and dispersed approach to the object of knowledge. For example, in order to acquire normal blood for white blood ceU determinations from university students, the blood bad to be procured >before the responsibilities of dass work< began (because during the
academic year and, especially, during the examination period students were nervous and lymphocyte counts were elevated); or
in order to obtain normal
blood for glucose determinations in Christian populations, the blood had to be
procured off Christmas day or Easter (because the excitement of the holidays shifted sugar tolerance curves from their normal values - see Fig. 1). 1 7 Though
this radical approach to knowledge was rarely promulgated as a coherent thesis, clinicians irnplicitly suggested this extreme form of medicine in their daily practices, correspondence, and lectures.
,
l SZ>
llloo'\. "'"tchA�fJ1.1 UhtJjfl.ll ..
.stFig.
IE!a.•0
-
1: Sugar tolerance curves during >Xmas,< >Easter,< and >when there was insufficient recreation.< These seemingly pathological inßections of the normal curve are normal during emotional excitement. 18
16 Dearbom, Practical Notes, 490.
17 Farris, lncrease, 300; dass tecture, May 21, 1936, fotder 7 (new/fotder 16), box 14, Harotd
G. Wolff Papers. See also Walter Alvarez to Walter Bradford Cannon, August 16, 1927, fotder 1516, box I I 0, Walter Bradford Cannon Papers; and Gillespie, Relative lnfluence, 426, for the argument that L. Hili observed >an increase in btood-pressure as tbe result of what be cautiousty caUs >mental excitement< - the result of bis ordinary day's work of tecturing, etc. as compared -
witb bis btood-pressure on a holiday.< 18 Class tecture, May 2t, 1936, fotder 7 (oew/folder 16), box 14, Harold G. WoUIPapers, Archlves, New York Weill ComeU Center of New York Presbyterian Hospital, New York.
Deceiving Boliies: Metaphor, Knowledge, and Nerves
63
Manipulating Ajfodllnterpreting Bodies
The descriptions of the ways in which emotions permeated the clinical en counter were often coupled with practices for creating and maintaining an emotionless state. As one physician explained in the l 920s: [Blood pressure] readings must be repeated frequently in order to get a basic reading.
The first reading taken in the office is often from 20 to 30 points higher than readings
taken on subsequent days. One can occasionally talk the patient out of20 to 30 points
of systolic blood pressure. 19
Or as a textbook on Clinical Diagnosis by Laboratory Examina/ions instructed technicians performing basal metabolic rate determinations:
In the case of nervous and apprehensive individuals, and especially children, the apparatus shouJd be shown and a mock test conducted in order to allay all apprehen sion . . . . The technologist should not onJy be sk:illful, but kindJy, unhurried and very
careful in conversation in order that no undue importance be placed on the test by the patient. 20
Pbysicians re-structured elements of tbe doctor-patient interaction and in cotporated practices for managing emotions into their clinical encounters: th�y deferred various measurements to subsequent examinations, delayed
SO.Jne of their clinical Observations to the end of the encounter, repeated th�ir examination several times, talked their patients out of various pseudo pathological manifestations, and ignored numerous >pathological< findings on
�t determination.
Occasionally, it was the patient who eliminated emotions from his or her
bofiY, allowing the physician to distinguish between the normal and patho logical. The physician prescribed the appropriate state of mind and the patient/
exa.minee was required to actively attain and maintain bis or her emotional
state. As a laboratory manual instructed its readers: in tak:ing blood pressure rneasurements »the musdes of the arm are to be relaxed and the mind put at ease as much as possible.« 2 1 Or as a 1925 article in The American Magazine described a routine Basic Metabolie Rate determination: At the hospitaJ they put BiO into a room witb severaJ other patieots, took off most of
his clothes and laid him down on a cot. Then tbe attending laboratorian told him and those with
him
to be as composed as possible, and not to be frigbtened or annoyed.
19 1Discussion.< This was a symposium on emotions and djsease, followed by a djscussion. See Journal of the Arnerican MecJjcaJ Association. I 023. 20 Kolmer, Clinical Diagnosis, 183. 21 LevedahVBarber, Laboratory Experiments, 1 1 1.
64
Otniel E. Dror ... correct results could be got only if tbe patients were both serene and practically
motionless. 22
At times it was impossible to eliminate emotions.
As
various physicians ex
plained: the patient's emotions were not necessarily engendered by the encoun ter, but often depended on his or her life beyond the clinic. Here physicians introduced an interpretive strand and argued that the physician's deep famil
iarity with the patient enabled him or her to compensate for, not eliminate, the emotional state of the patient when interpreting the results. As one physician explained: we adrnitted a white woman, aged fifty-two, for removal of a small Iipoma from the back.
.. . A
routine blood count showed white blood cells 12,600 witb 82 percent
polymorphonuclears. . . . knowing her to be a very high-strung and anxious type of
patient, the white blood cell count was overlooked. 23
Interpretation often depended on an explicit coupling of the available affective and Jocal knowledge of the patient with Jaboratory or instrument-dependent results. Every objective physiological reading was interpreted and controlled by a subjective and simultaneous mental evaluation. Thus, two records were kept: one of physiological results; the other of the flow of emotional excitement. This was not an exercise in psychobiology or mind-body interaction, but a clinical observation. As H. I. Schou protested in the mid 1930s: »it is objectionable and
misleading to perform a number of laboratory examinations without . . . stating
a corrective of the error of exarnination resulting from emotional unrest.« 24
Some physicians attempted to fonnalize the inclusion of affective inforrna tion in the medical fiJe and demanded that the medical record contain affective cues and notations. This affective inforrnation, they argued, would be available for the attending physician who would decipher laboratory results and clinical signs in light of this affective key. As one physician put it in criticizing the existing medical record: tbe clinical record makes no note of tbe mental perturbation caused by anxiety over the outcome of one's illness, or by a disturbing visitor, or tbe emotional upset resulting from exasperation with an orderly, yet these circurnstances may exert a deterrnining influence upon the blood sugar curve. 25
Psychological interpretation of various biological and clinical findings was an activity that physicians performed on a daily basis. These daily interpretations of laboratory and clinical data were not only significant for physicians, but 22
Smith, Emotions, 32. 23 These physicians excluded obvious organic ca.uses for the lymphocytosis. As we shall see below, the patient's personality was irnportant for interpreting clinical findings. For the citation, see McLeod/Highsmith, Fear, 9. See also Grollman, Pbysiological Variations, 586. 24 Schou, lnvestigations, I 00. 25 Feinblatt, Hyperglycemia, 503.
Deceiving Bodies: Metaphor, Knowledge. and Nerves
65
impacted the lives of particul.ar pa.tients and examinees in important ways. One illustrative example can be gleaned from Walter B. Cannon's private diaries: the discovery of trace amounts of sugar in Cannon's own urine during a routine medical examination was the opening salvo for weeks offrustration in Cannon's life. While Cannon interpreted these findings as (normal) manifestations of an unpleasant painful experience, his insurers attnbuted the same findings to a possible pathology. 26 The psychological imperative also resonated with a broader typological dis course on emotional >types.< If the significance of clinical Observations and laboratory tests depended on the emotional state of individuals, then the psy cbological make-up or >personality< of patients could determine the significance of clinical and laboratory results. Descriptive terrns, such as >neurotic,< >nervous,< >delicate,< >refined,< and >sensitive,< designated a class of difficult patients. These were individuals who, in spite of their unavoidably (and inappropriately) excited emotional state, bad to yield reliable clinical knowledge. Physicians who supported and adopted a more interpretive approacb argued that their familiarity with these patients allowed them to compensate for the patient's personality when interpreting laboratory results. Physicians who adopted a more manipulative stance proposed their own solutions to >nervous< types. As one physician explained: ln making basal metabolic rate determinati.ons of psychoneurotic persons, several technical points must be observed, in order that more eflicient results may be obtained. The generat appearance of tbe apparatus, for instance should present as simple an arrangement as possible, so that it may arouse no suspicion in the mind of the patient. . . . l t is best that the pipes and most of the connections be concealed from view, and tbat the bed upon which the patient is to rest appear but little different from the hospital cot to which he is accustomed. 27
A standard Basic Metabolie Rate determination did not imply a standard procedure. >Personality< inflected clinical protocols (and clinical protocols re inscribed the differences between normal and psychoneurotic individuals). A similar framework was also adopted in discussions that focused on other emotional types. As some clinicians argued, >insane< or >psychotic< individuals also demanded an interpretive approach in deciphering their physiology. These individuals, they suggested, were either hyper- or hypo-emotional (i. e., their pathology was simply a form of augmented or decreased form of normal emotions; thus they were situated on a continuous scale with normal human 26 27
Entries for August 6, 7,
1 1, 15, 23, 30 and September 9, 1914, Diary 191 1 -1914, box 167, Walter
Bradford Cannon Papers.
183. lt is important to oote that Levioe was also a co-author with Ziegler of a paper that adopted an inte.rpretive approacb. See Ziegler/ Levine, Technic, 73. See also K.olmer, Oinical Diagnos.is,
Levine, Emotional Reactions.
66
Otniel E. Dror
emotions). Their borlies would, thus, sirnply mirror the dominant emotion goveming their psychopathology. 28 As one physician explained in discussing
the interpretation of laboratory results in manic-depressive individuals:
their
bodies manifested their true normal values only during the depressive pbase (i. e., during the absence of emotion). During their manic phase they would yield pseudo-pathologies. 29 jewish, black, and women's bodies were of pru:ticular concern. Various physicians perceived these groups as posing fundamental problems for the construction of reliable clinical knowledge. They were, by their very nature, emotionally excited, and their borlies presented the clinician with an object that was deceptive and less reliable as an object of knowledge; or, alternatively, their pathologies were more often pseudo-pathologies. This depiction of Jewish, black, or women's borlies - as demanding an alter native interpretive framework - was not articulated by physicians in order to construct a woman-, Jewish-, or black-based clinical medicine. Rather, physi cians expressed their concerns with the deceptive nature of these bodies in order to alert the community of clinicians to the pseudo-pathological nature of >positive< findings. As William Howell explained in his
1896 A merican Text-Book ofPhysiology:
The influence of emotion upon the beart's contractions is well known . . the practicing physician soon learns that the heart's rate is more easily affected by comparatively slight causes, emotional or otherwise, in women . . . than in men - a fact of some importance in diagnosis. 30 .
Or as Walter Alvarez and Corwin Hinshaw wrote in their description of an »educated, prosperous-looking Jewish mercbant, forty years of age«: »if the patient is nervous, worrisome, temperamental and Jewish, the physician should be particularly reluctant to start on a course of optimistic but probably useless operating.«31 And finally, as Wtlliam Marston explained in bis
1921
Harvard rlissertation:
»The writer attributes the greater normal blood pressure variability of women and the still greater variability of negroes to a less controlled and therefore more constantly active emotional life.«32
This
critique of bodies - as byper-emotional-qua-unreliable - drew on
existing and sometimes long-standing traditions. 33 The hyper-emotionality of 28 Folin/Denis/Smillie, Observations, 519; Gagnon, Emotions; and Milborat/Small/Diethelm, Leukocytosis. 29 Schou, lnvestigations, 95. 30 Howell, Text-Book, 413. 31 Alvarez!Hinshaw, Abdominal pains, 400-402. 32 Marston, Systolic ßlood Pressure, 6. 33 For some oftbe Iiterature oo this traditioo, see, e.g., Pfister, Cooceptualiziog tbe Cultural History; and Lunbeck, Psychiatrie Persuasion.
Deceiving Bodies: Metaphor, Knowledge, and Nerves
67
women's, black's, and Jewish subjectivity was now recast in the language and practices of scientific medicine as a fundamental problern in the construction of reliable knowledge. Modern medicine implicitly conceived its ideal subject in the image of the masculanized - emotionally stable and self-controlled - body and asserted the need for more control and interpretation of Jewish, black, and women's bodies. Most of the published literature that focused on emotions during the clinical encounter appeared in journals. Some medical and physiological textbooks also voiced similar concems, at least from the 1920s. The dominant domain in which these issues appeared in medical textbooks was under diagnosis or differential diagnosis. This is not surprising, for as we have seen, the concem with emotions in the clinical context focused on the distinction between the normal and pathological. The important question was how to differentiate between true and false pathologies. Textbooks simply reiterated the joumal Iiterature in summarized form: the need to distinguish and differentiate between nervous states and t:rue patholo gies; the unreliability of first consultations; the need to eliminate nervousness in order to observe the normal physiology of the individual; the techniques for
eliminating emotions (such as repeated measurements or waiting for the patient to
caim down); and the difficulties
posed by >high-strung persons< who tended
to present false pathologies. 34
Emotional Mimicry: Laboratory vs. Clinic The focus on the elimination of emotions in the clinic and, especially, the cünic's frequent failures to eradicate emotions implicated the laboratory. As I have argued elsewhere, the contemporaneous laboratory was often represented as an ideal emotion-free space. Though some clinicians attempted to mirnie the
laboratory's success in producing emotion-free encounters, others portrayed the clinic as a space that rarely achieved
full emotional
elimination. These latter
clinicians and experimenters implicitly const:ructed an emotional gap between the laboratory (represented as emotion-free) and the clinic (often tainted by emotions). This emotional gap between laboratory and clinic harbored a potential threat to the very existence of the laboratory - its marginalization.
lf
the labora
tory produced ideal subjects and ideal knowledge, while the clinic functioned 34
My discussion in this section s i based on the fol!owing textbooks: Goodale, Clinical Interpreta tion; Walker, Physica1 Diagnosis; Bauer, Differential Diagnosis; Adams, Physica1 Diagnosis; Todd/ Sanford, Clinica1 Diagnosis; Judge/Zuidema, Pbysica1 Diagnosis; Kolmer, Clinical Diagnosis; Loeb, Martini's Principles; Major, Physica1 Diagnosis; Howell, Text-Book, 413; and Morrison/ Chenowetb, Physica1 Diagnosis.
68
Otniel E. Dror
in an emotion-rieb spaee, then the laboratory's Knowledge was coneeivably incommensurate with that of the elinie. 35 The ideal (emotion-free) knowledge produced in the laboratory was irrelevant for the emotional bodies of clinical encounters. The potential underlying tension between: the laboratory as a loeus for tbe production of ideal knowledge and new faets, and the laboratory as a loeus for the production of ciinically-relevant knowledge was, however, not expressed by contemporary experirnenters or elinicians. Most laboratory-based experirnenters focused on the privileged status of the laboratory and did not raise tbe question of how an ideal de-emotional locus could contribute to the real and non-ideal world of the clinic. A few experirnenters, however, did address this controversial issue, albeit
indirectly, by comparing between those moments during whieh the labora tory's control over emotions was violated and the clinie. Put simply, wben the laboratory forfeited its ideal de-emotional status (e. g., apprehensive labo ratory subjeets) then the emoti.onality of the elinie and that of the laboratory was comparable and the laboratory recreated, for an instant, unreliable (i. e., clinical) knowledge. Thus the laboratory was identified with the elinic only wben the laboratory
mimieked the emotional states of social aetors (rather than ideal subjects).
These laboratory moments of emotion-tainted readings and measurements were represented as the elinie's truth, not the laboratory's. Nonetheless, even as experimenters were constructing the ideal emotional gap between inside and outside, they did not preclude the possibility that the clinie could, and sometimes d.id,
mirnie the laboratory and produce ideal subjects. 36
Conclusions For the clinieian of the late nineteenth and early twentieth century, nervous, emotionally-excited bodies, signified a disruption or a d.isorder in the pro duetion of elinical knowledge. Modem medicine implieitly defined an ideal clinical body whose major eharacteristie was immunity to emotional or nervous perturbations.
35 It is important to note that the emphasis on the gap between laboratory and clinic was not an attempt by clinicians to marginalize the laboratory. lt was the experimenter, not the clinician, wbo emphasized the laboratory-clinic gap. Clinicians, as we have seen, targeted other clinicaJ sites, but not tbe laboratory. 36 DiebJ/Lees, Variability; Diehl/Sutherland, Systolic Blood Pressure, 166-168 and Fig. 1 3 on 172; GroUman, Physiologie Variations, VI and IV.
Deceiving Bodies: Metaphor, Knowledge, and Nerves
69
The identi.fication of emotionally excited bodies with unreliability and de ceptiveness drew on and depended upon a nurober of nineteenth century de velopments. Here, I
will point
to four different contexts that provide the initial
purvey into the developments that I have described. The first and broadest context comes from the Iiterature on the social history of emotions. This Iiterature argues that during the period of circa
1 880 to 1920,
a new post-Vtctorian culture of emotions emerged in the United States. One of the more recognizable changes was the generat increase in the restraint on emotional expression and display. In contrast to Vtctorian culture, which sanctioned intense emotional expression in numerous social settings, modern culture constrained emotional display in all but a few social enclaves. Modern culture thus presented a social topography or a mosaic of emotional expression and restraint As one moved between different social sites, one traversed lines of emotional demarcation. These demarcations dictated the rules of emotional expression and reflected and re-inscribed irnportant social distinctions between, for example, private and public or Ieisure and work. 37 The clinic mirrored and contributed to
this
broader cultural scheme of
emotion/non-emotion. lt was represented as a void for emotions and was distinguished from other social setrings by its capacity to eli.minate emotions
from bodies. The representation of the clinic as an emotion-free space was crucial for its unique status as knowledge producer. A second important and related development concerns the relationships between bodies and emotions. Emotions or nervousness were practicaUy always defined, identified1 measure� and recorded in these clinics in terms of the body and its material presentations. One of the important developments that these embodied representations of emotions heralded and mirrored was the modern
reversal of what
Peter Stearns has characterized as the Victorian
spiritualization of >key emotions.< As Stearns has argued, nineteenth century Victorians were fascinated with emotional fervor, on the one hand and were »bent on disciplining the body,« on the other band. During the twentieth century the Vtctorian penchant to dis-embody emo tions, to mak:e emotions »more abstract« would be rejected, as emotions were re-embodied. If the Victorians controlled their bodies while maintaining an
active affect, the moderns could control their bodies only at the price of disci plining emotion. The discipline ofthe clinical body thus demanded a disciplined a.ffect. This radical embodied representation of emotions was also visible
in art
and literature, as Stephen Kern has recently argued in his analysis oflove during
the Vtctorian and modern periods. 38
The third context concems the broader representation of emotionally excited bodies as disruption or as a failure to mechanize tbe body. This notion of 37 Stearns, American Cool; Kern, Culture of Love; and Stearns/Lewis., Emotional History.
38 See my discussion of this transformation in Dror, Creating the Emotional Body.
Otniel E. Dror
70
emotion as perturbing the body-machine was also visible in the new ecologies of Iabor, efficiency, and the new managerial sciences of the body. As I have argued elsewhere, histories of early twentieth-century attempts to manage bodies usually focus on the psychologically- or managerially-oriented sciences. Hugo Münsterberg, Elton Mayo, Charles Myers, and Frederic Taylor are
a few of the major figures in these narratives.
We are less familiar, however, with an alternative approach to human sub
jectivity and the body- or worker-machine that developed in physiology. Unlike Mayo, Myers, or Münsterberg, physiologists spoke of emotions in terms oftheir biological, rather than their psychological, implications for the body-machine. They argued that during emotion the body did not function as a machine. The fundamental attributes of machine-like bodies - their standardized, re plicable, and predictable output - were disrupted during emotion. Thus, the relationship between emotion and work, like that between clinical knowledge
and emotion, was construed in terms of the de-mechanization of the body, and its unreliability as a standardized and predictable object. 39 The fourth and last context relates to developments that were speci.fic to clinical medicine. Recent literature has described the institutional, professional,
ideological, and intellectual aspects of the opposition between two basic and
contrasting medical cosmologies as these emerged during the late nineteenth
century: medicine as applied science vs. medicine as clinical art. Implicated in this dichotomy of medical cosmologies were issues of power, ethos, identity, morality, social status and mentalite. 40 The clinicians that I have studied in this essay contributed to (and reflected) some of these tensions and transformations. They expressed their concems
in
the language of emotions, and though their motivations, affiliations, and theories were often at cross-purposes, they found common ground in rejecting the dichotomy between science and art, instrum ent and emotion (or laboratory and
local knowledge). Instead they developed a unique form of knowledge-making that fused the instrumental and ideological approach of the new laboratory
39 Dror, Counting tbe Affects. 40 Recent historiography bas described tbe institutional, professional, ideologicaJ and intell�tual aspects of these transformations and has argued for the emergence of two basic and contrasting cosmologies: medicine as applied science (instruments, mechanization, tbe disappearance of the patient, etc.) and medicine as clinicaJ art (experience, sanctity of the doctor-patient relationship, incommunicable and locaJ lcnowledge, etc.). lmplicated in this dichotomy of medical cosmologies were issues of power, etbos, identity, moraJity, social status and mentalite. For this literature, see Lawrence, lncommunicable Knowledge; Warner, Ideals of Science; Geison, Divided We Stand; Geison, Louis Pasteur, 234-256; Hall, The Critic and the Advocate; Latour, Pasteurization; and Evans, Losing Touch. See also Marks, Notes. See also Cross, Albury, and Lawrence for the cbaracterization ofthe inter-war period as a >eulture of crisis< - tbe concem with instrumentation, mecbanization, depersonalization, and the nature and future of ci vilization - in tbe United States and tbe United Kingdom. Lawrence, Still Incommunicable; and Cross/Albury, Walter B. Cannon.
Deceiving Boclies: Metaphor, Knowledge, and Nerves
71
sctences (e.g., machine-mediated, emotional-detachrnent, disinterestedness, aperspectival view) with the feelings and emotions of personal interactions,
local
knowledge, and individual experience. 41
They fashioned these elements
of the clinician's art into essential components of scientific medicine's practice and knowledge. 42
Literatur Adams, F.D., Cabot and Adams Physical Diagnosis, Baltimore 131942.
Alexander, F., The Medical Value of Psychoanalysis, New York 1932.
Alexander, F./H. Ross (Ed.), 20 Years of Psychoanalysis. A Symposium in Celebration
of the Twentieth Anniversary of the Chicago Institute For Psychoanalysis, New York
1953.
Alexander, F./T.S. Szasz, The Psychosomatic Approach in Medicine, in: F. Alexander/H. Ross (Ed.), Dynamic Psychiatry, Chicago 1952. Alvarez, W.C.IH.C. Hinshaw, Severe Abdominal pains that Follow an Emotional Storm, in: Medical Clinics of North America 19 (September 1935) 399-402. Anonymus, Effects of Emotional Excitement (Editorial), in: Journal of tbe American Medical Association 105 (1935). Bauer, J., Differential Diagnosis of lnternal Diseases: Clinical Analysis and Synthesis of Symptoms and Signs, New York 1950. Brown, T.M., Alan Gregg and the Rockefeller Foundation's Support of Franz Alexan der's Psychosomatic Research, in: Bulletin of the History of Medicine 61 (1987)
155-182. Bruenn, H.G., The Mechanism of Impaired Auriculoventricular Conduction in Acute Rheumatic Fever, in: American Heart Journal 13 (1937) 41 3-425. Canguilhem, G., The Normal and the Pathological [1966], New York 1991.
Cannoo, W.B., Bodily Changes in Pain, Hunger, Fear, and Rage: An Accouot of Recent Researches into the Function of Emotional Excitemeot, New York!Loodon 2 1 929. Coleman, W./F.L. Holmes (Ed.), The lnvestigative Enterprise: Experimental Physiology in Nineteenth-century Medicine, Berkeley 1988.
Cross, S.J.IW.R. Albury, Walter B. Cannon, L. J . Henderson, and the Organic Analogy, in: OSIRIS 3 (1 987) 165-192.
41 For a discussion of local knowledge in the clinical realm, see Wamer, Therapeutic Perspectjve, 76-80. 42 I bave also suggested. in passing, that particular solutions depended. arnong other thmgs, on tbe nature of the interaction that individual physicians had with their medical clientele. Thus physicians wbo bad long-term relationships witb tbeir patients often opted for a more interpretive
approach; while pbysicians who had short-term interactions with their examinees often opted for more manipulative strategies.
A strict division between >manipulative< and >interpretive<
physicians would, bowever, be unwarranted and would rrusrepresent the complexity of choices that various physicians made in managing emotions.
As I
have argued elsewbere, laboratory
based physiologists also occupied a new and paradoxical position between what Ricbard Frencb has defined as >two world-views.< See Dror, Affect of Experiment.
72
Otniel E. Dror
Dearbom, G.V.N., Some Practical Notes on Blood-Pressure, in: Medical Record 90 (September 1916) 487-491. Diehl, H.S./H.D. Lees, The VaTiability ofBiood Pressure: II. A Study ofSystolic Pressure at Five Minute lntervals, in : Archives of lotemal Medicine 44 (1929) 230-237. DiehJ, H.S./K.H. Sutherland, Systolic Blood Pressure in Young Men, in: Archives of lotemal Medicine 36 (1925) 1 51-173. Dror, O.E ., The Affect of Experiment: The Turn to Emotions in Anglo-American Physiology, 1900-1940, in: lsis 90 (June 1999) 205-237. -, Counting the Affects: Discoursing n i Numbers, in: Social Research 68 (Summer 2001) 357-378. -, Creating the Emotional Body: Confusion, Possibilities, and Knowledge, in: P.N. Stearns/J. Lewis (Ed.), An Emotional History of the United States, New York 1998, 174-193. -, The Scientific Image of Emotion: Experience and Technologies of lnscription, in: Configurations 7 (September 1999) 355-401. Evans, H., Losing Touch: The Controversy over tbe lntroduction of Blood Pressure Instruments into Medicine, in: Technology and Culture 34 (1993) 784-807. Farris, E.J., lncrease in Lymphocytes in Healtby Persons Under Certain Emotional States, in: American Journal of Anatomy 63 (193) 297-323. Feinblatt, H.M., Hyperglycemia - Based upon a Study of 2000 Blood Cbemical Analyses, in: Journal of Laboratory and Clinical Medicine 8 (1923) 500-505. Five Year Report: October 1, 1932 to September 30, 1937, Institute for Psychoanalysis. Folin, 0./W. Denis!W.G. Smillie, Some Observations on >Emotional Glycosuria< in Man, in: Journal ofBiological Chemistry 17 (1914) 519-520. Fye, W.S., The Development of American Physiology: Scienti.fic Medicine in the Nine teenth Century, Saltimore 1987. Gagnon, G., The Emotions and some of their Effects on the Slood, Ph.D. thesis, The Catholic University of America Press, 1952. Geison, G., Divided We Stand: Physiologists and Clinicians in the American Context, in: M.J. VogeVC.E. Rosenberg (Ed.), The Therapeutic Revolution: Essays in the Social History of American Medicine, Philadelphia 1979, 67-90. -, Michael Foster and the Cambridge School of Physiology: The Scientific Enterprise in Late Victorian Society, Princeton 1978. - (Ed.), Physiology in the American Context 1850-1 940, Saltimore 1987. -, The Private Science of Louis Pasteur, Princeton 1995. Gillespie, R.D., The Relative lnfluence of Mental and Muscular Work on the Pulse-Rate and Slood-Pressure, in: Journal of Physiology 58 (1924) 425-432. Goodale, R.H., Clinical lnterpretation of Labaratory Tests, Philadelphia 1949. Gorham, G.E., An.x:ious Thought: Its RoJe in Functional Disease, in: Albany Medical Annals 42 (February 1921) 37-47. Grollman, A., Physiological Variations in the Cardiac Output of Man: fV. The Effect of Psychic Disturbances on the Cardiac Output, Pulse, Blood Pressure, and Oxygen Consumption of Man, in: American Journal of Physiology 89 (1929) 584-588. Hall, D.L., The Critic and the Advocate: Contrasting British Views on the State of Endocrinology in the Early 1920's, in: Journal of the History of Siology 9 (1976) 265-285.
Deceiving Bodies: Metaphor, Knowledge, and Nerves HoweU, W.H.
73
(Ed.), An American Text-Book of Physiology, Philadelphia 1896.
Hyman, H.T., lbe Emotions in Disease, in: Hygeia 18 (August 1940) 683-684. Jones, H.M., Archives of Interna! Medicine 27 (1921) 48-60. Journal ofthe American Medical Association, 89 (September 1927) 1013-1025. Judge, R.D./G.D. Zuidema, Physical Diagnosis: A Physiologie Approach to the Clinical Examination, Boston 1968.
Kern, S., lbe CuJture ofLove: Victorians to Moderns, Cambridge/London 1992.
Kolmer, J.A., Clinical Diagnosis by Laboratory Examinations, New York/London 1943.
Latour, B., The Pasteurization of France, Carnbridge 1988.
Lawrence, C., lncommunicable Knowledge: Science, Technology and the Clinical Art in Britain 1850-1914, in: Journal of Contemporary History 20 (1985) 503-520. -, StiU Incommunicab1e: Clinical Knowledge Between the Wars, (paper presented at the conference on >The Holistic Turn in Western Biomedicine, 1920-1950,< May 4-6,
1995, McGill University, Montreal). Levedahl, B.H./A.A. Barber, Laboratory Experiments in Physiology, Saint Louis 1967. Levenson, D., Mind, Body, and Medicine: A History of the American Psychosomatic Society, American Psychosomatic Society 1994. Levine, B.S., The Technic of Basal Metabolie Rate Determinations in Psychoneurotic Patients, in: Journal of Laboratory and Clinical Medicine 8 (1922) 73-79.
Loeb, R.F.
1935.
(Ed.),
Martini's Principles and Practice of Physical Diagnosis, Philadelphia
Lunbeck, E., The Psychiatrie Persuasion: Knowledge, Gender, and Power in Modern America, Princeton 1994.
McLeod, J.P.U./J.D. Highsrnith, Effect of Fear on Diagnosis, in: Medical Record 153
(1941) 9-10.
Major, R.H., Physical Diagnosis, Philadelphia 3 1945. Marks, H., Notes from the Underground: lbe Social Organ.ization of lberapeutic Research, in: R.C. Maulitz/D.E. Long of Interna! Medicine, Philadelphia 1988.
(Ed.),
Grand Rounds: One Hundred Years
Marston, WM., Systolic Blood Pressure and Reaction Time Symptoms of Deception and Constituent Mental States, PhD. Dissertation, Harvard University I 921. Milhorat, A.T./S.M. Small/0. Diethelm, Leukocytosis During Various Emotional States, in: Archives ofNeurology and Psychiatry 47 (1942) 779-792. Morris, D.P., lbe Effects of Emotional Excitement on Pulse, Blood Pressure, and Blood Sugar of Normal Human Beings, in: Yale Journal of Biology and Medicine 7 (1935)
401-420. Morrison, W.R./L.B. Chenoweth, Normal and Elementary Pbysical Diagnosis, Philadel phia 1928. Perry, J.S., Emotions as Functional Factors in the Etiology and Prognosis of Diseases, in: Journal ofthe National Medical Association 25 (1933) 123-127. Pfister, J., On Conceptualizing tbe CuJtural History of Emotional and Psychological Life in America, in: J. Pfister/N. Schnog
(Ed.),
lnventing the Psychological: Toward a
CuJtural History of Emotional Life in America, New Haven 1997. PoweU, R.C., Healing and Wholeness: Helen Flanders Dunbar (1902-1959) and an Extra-Medical Origin ofthe American Psychosomatic Movement, 1906-1936, Ph.D. thesis, Duke University 197 4.
74
Otniel E. Dror
Review for the Year
1933-1934, Insti tute
For Psychoanalysis.
Scbou , HJ., Some lnvestigations into the Ph ysiology of Emotions, in: Acta Ps ych a i trica
1 4 (1937) 3-1 1 1 .
Et Neurologi� Suppl.
Srnith, E.H., Your Emotions Will Get You if You Don't Watch Out, in: The American Magazine
100 (1925) 32-33, 72.
Stearns, P.N., American Cool: Constructing a Twentieth-Century Emotional S t yle, New York/Loodon
1994.
Stearns, P.N./J. Lewis
1998.
(Ed.),
Ten Year Report, October Todd, J.C./A.H. Sanford
An Emotional History of tbe United States, New York
1, 1932 t o September 30, 1942,
(Ed.),
Institute For Psycboanalysis.
Clinical Diagnosis by Labarat ory Methods: A Working
Manual of Clinical Pathology, Philadelphia
1937.
Treadgold, H.A., Blood Pressure in tbe Health y Young Male Adult, in: Lancet i
(8. April
1933) 733-740. Walker, H., Elmer and Rose Physical Diagnosis, St. Louis
8 1 940.
Wamer, J.H., Ideals of Science and thei r Discontents i n late 19th-century American Medicine, in: Isis
82 (1991) 454-478.
-, The Therapeutic Perspective: Medical Practice, Knowledge, and Identity i n America,
1820-1885, Princeton 1986. Werley, G., Heart Symptoms due to Emotions, in: Southwestern Medicine 1 5 (Janu ary
1931) 23-37. Ziegler, L.H./B.S. Levine, The Influence of Emotional Reactions on Basal Metabolism, in: American Journal of Medical Seiences
169
(Januar y
1925) 68-76.
Archive Walter B radford Cannon Papers , Rare Books and Special Collections, Francis A. Count way Library of Medicine, Boston. RockefeUer Foundation, RockefeUer Archive Center, Sleepy Hollow. Harold G . Wolff Papers, Archives, New York Weill Cornell Center of New York Pres byterian Hospital, New York.
LAuRA Ons
Das organische Gedächtnis: Ein Mythos der Literatur und Biologie
Die Theorie des organischen Gedächtnisses, die sich in Buropa und in den Vereinigten Staaten zwischen 1870 und 1930 entwickelte, nahm an, dass >Ver
Prinzip dasselbe meinen, nämlich die Fähigkeit des menschlichen Körpers, Auskunft über die Vergangenheit zu speichern und zu reproduzieren. 1 Schriftsteller und Naturwissenschaftler, die weder die bio
erbung< und >Gedächtnis< im
logischen Grundlagen der Vererbung noch die des Gedächtnisses kannten, haben das eine benutzt, um das andere zu erklären. Eine Äquivalenz herstel lende Metapher hat sich als Wissen etabliert. Bis heute, obwohl wissenschaftlich längst verworfen, dient die Vorstellung von einem organischen Gedächtnis noch
vielfach als Grundlage für Ideen zur Funktion des Körpers und zum Gang der Geschichte.
Um die Wurzeln und die Entfaltung dieser Metapher historisch freizulegen und um den Weg zu öffnen
für das Verständnis einer spezifischen Denkfigur, die
nicht an ein bestimmtes akademisches Wissensfeld gebunden ist, sondern die angestammten Grenzen zwischen WiSsensgebieten durchdringt, vergleiche ich
im Folgenden Beispiele für ihre Verwendung in der Biologie, der Psychologie und der Literatur des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhun derts. In jeder Wissenschaft sind Metaphern von epistemologischer Bedeutung. In ihrer Studie
Metaphors We Live By schreiben George Lakoff und Mark
Johnson: »formal scientific theories are attempts to consistently extend a set
of ontological and structural metaphors« und: »much of cultural change arises from the introduction of new metaphorical concepts and the loss of old ones.« 2 Bei der folgenden Analyse des organischen Gedächtnisses handelt es sich um eine Fallstudie, mit der versucht werden soll, der Verbreitung der Metapher des organischen Gedächtnisses zu folgen. Zunächst geht es um die Frage nach dem organischen
Ort von Geschichte.
Geschichte findet sich in den Erinnerungen von Individuen, also in ihren Körpern. Problematisch dabei ist weniger die Frage nach ihrer Anwesenheit, I
Eine frühere Version dieses Textes wurde als Vortrag am 26. November 2001 im medizinhisto rischen Kolloquium des Sonderforschungsbereichs Judentum - Christentum an der Universität Sonn gehalten. Ich danke dem Max-Planck-Jnstitut tür WJSSenschaftsgeschichte in Berlin, das mich in den Jahren 2000--2002 als Gastwissenschaftlerin aufgenommen hat. Eine ausfuhrliebe Behandlung des Themas findet sich n i meiner Studie, Organic Memory. 2 Lakoff/Johnson, Metaphors We Live By, 220, 145.
76
Laura Otis
sondern die nach dem Zugang. Ist es möglich, die in einem Körper abgelegte Vergangenheit auf irgend
zu
lesen? Die Hypothese, dass im Körper eines Individuums
eine Weise die Erinnerungen seiner Ahnen eingeschrieben sind, geht
Hand in Hand mit dem Bedürfnis des Literaturwissenschaftlers, den Körper als Text
zu
lesen.
Wenn es denn eine >Logik< des organischen Gedächtnisses gibt, so ist es
diese: Wenn ein Mensch die Nase seiner Großmutter erben kann, warum dann nicht auch
ihre
Phillips diese Idee in Nineteenth Century abdrucken
Erinnerungen? Im Jahr 1906 hat Forbes
der damals viel gelesenen englischen Zeitschrift lassen:
I ask, is there not such a thing as ancestral memory? That a child should present certain features of bis father and mother, and reproduce certain weU-known gestures
and mannerisms of bis grandfather, is looked upon as something very ordinary. ls it not possible that the child may inherit sometbing of his ancestor's memory? That
these flashes of reminiscence are the sudden awakening, the caiJing into action of
something we have in our blood; the discs, the records of an ancestor's past life,
which require but the essential adjustment and conditions to give up their secrets?
lf so, then we have in ancestral memory a natural answer to many of life's puzzles, without seekiog the aid of Bastern theology. 3
Das Konzept eines vererbten Gedächtnisses erschien PhiDips als des Rätsels Lösung. Die Idee der Erbbarkeit und Vererbbarkeil der Erinnerungen der Vorfahren ist natürlich schon vor den Naturwissenschaften und der Literatur des neun zehnten Jahrhunderts formuliert worden. Im Jahre 1870 allerdings nahm diese Idee die Formen einer Theorie an. Gemeint ist der 1870 gehaltene Vortrag des Wiener Physiologen Ewald Hering:
Function der organisierten Materie.
Über das Gedächtnis als eine allgemeine
Zu jener Zeit war Hering ein bekannter
Gegner der Helmholtzschen Theorien über Farb- und Raumwahrnehrnung: Hering nahm an, dass die F ähigkeit des Gehirns, Wahrnehmung von Farbe und Raum zu interpretieren, angeboren war. Helmholtz hingegen behauptete, dass sie
im
Verlaufe der ersten Lebensjahre erlernt würden. Im oben genann
ten Vortrag argumentiert Hering, dass der Begriff Gedächtnis bislang viel
zu
eng definiert worden sei. Seiner Meinung nach handelte es sich dabei um ein »Urvermögen« jedweder »organisierten Materie«, womit Hering die Rheto
rik
der Naturphilosophie neu belebte. Auch die Fähigkeit des menschlichen
Körpers, in ihm enthaltenes WISsen
zu
reproduzieren, basierte Hering zufolge
auf diesem Urverrnögen, gleich, ob es sich dabei um die Wiederherstellung der Erinnerung eines individuellen Erlebnisses handelte oder um den Instinkt, der über Generationen hinweg entwickelt worden war. In Herings eigenen Worten :
3 Phillips, Ancestral Memory, 980.
Das organische Gedächtnis: Ein Mythos der Literatur und Biologie
77
Bedenken wir jetzt noch, wie jedes organische Wesen, welches heute lebt, nur das Endglied einer unabsehbar langen Reihe organischer Wesen bildet, deren eines aus dem andem entsprang, eines von dem andern einen Theil seiner erworbenen Eigen schaften erbte . . . So steht scbliesslicb jedes organische Wesen der Gegenwart vor
uns als ein Product des unbewussten Gedächtnisses der organisierten Materie, wel
che immer wachsend und immer sich theilend, immer neuen Stoff assimilierend und anderen der anorganischen Welt zurückgebend, immer Neues in ihr Gedächtnis auf nehmend,
um
es wieder und wieder
zu
reproducieren, reicher und immer reicher
sich gestaltete, je länger sie lebte. 4
Die bewusste Erinnerung beruht auf der Einschreibung der Erlebnisse eines Individuums; die Instinkte - die unbewussten Erinnerungen - auf der Ein
Art. Drittel des 19. Jahrhunderts rasch verbreitende
schreibung der Erlebnisse einer Die sich im letzten
Idee der
Gleichsetzung von Gedächtnis und Vererbung blieb keineswegs auf Österreich QQer Deutschland beschränkt. Der englische Schriftsteller und Amateur-Bio loge Samuel Butler hat Herings Vortrag übersetzt und in sein Buch
cious Memory {1880)
übernommen. Butler, der einen eigentümli chen
Uncons Sinn für
Humor besaß, hat das Verhältnis zwischen Vererbung und Gedächtnis recht ironisch beschrieben, Herings Idee dabei aber stark unterstützt. Butler schlug vor, dass nicht nur die Definition des Begriffes Gedächtnis ausgeweitet wer den müsste, sondern auch die des Begriffes Wissens. Was sollte der Unter schied sein, fragt sich Butler, zwischen Aussagen, wie etwa jenen, dass man die Mondscheinsonate
zu
spielen >wusste<, dass ein Küken seinen Weg aus der
Eierschale zu picken >wusste<, dass das Herz Blut
zu
pumpen >·wusste<, oder
dass ein Embryo den richtigen Entwicklungsweg zum erwachsenen Organis mus >wusste Die Fähigkeit, etwas
zu
leisten, war ja der beste Nachweis, dass
jemand - oder etwas - etwas >wusste<. Zwischen dem bewussten Wissen und dem unbewussten Instinkt musste es demzufolge einen unmittelbaren Zusam menhang geben. Auch in Frankreich und in der Schweiz fand die Idee des vererbten Gedächt nisses überzeugte Anhänger und wortstarke Verfechter. Der Psychologe Theo
dule Ribot zum Beispiel argumentierte in seiner bekannten Studie Les Maladies
de Ia memoire (1881),
dass das Gedächtnis »par essence, un fait biologique;
par accident, un fait psychologique« war. 5 Zudem nahm Ribot an, dass das geeignetste Modell zum Verständnis von Erinnerung in der Psychologie, das der Erhaltung der
Kraft
in der Physik war. Kein Eindruck, der einmal ein
geprägt worden war, würde je wieder verschwinden. Die Frage war aber, wie
1884 erklärte der Psychologe August Forel in seinem Vortrag Das Gedächtnis und seine Abnor mitäten: »Man kommt fast un willkürlich dazu, wie Hering und Ribot, . . . die
sollte man Zugang zu diesem Eindruck bekommen? Im Jahre
4 Hering, Über das Gedächtnis, 17-18. 5 Ribot, Les Maladies de Ia memoire, I.
78
Laura Otis
Vererbung als Artgedächtnis dem eigentlichen oder Individuum-Gedächtnis anzureihen«6•
Auch
fiir Fore) konnten Art wie
Individuum gleichermaßen ein
Gedächtnis haben. Das Konzept des organischen Gedächtnisses ist an eine ganz bestimmte Interpretation des Begriffes Vererbung gekoppelt: Jean Baptiste de Lamarcks Hypothese der Vererbung erworbener Eigenschaften. Nach Lamarck enthält ein Tier die über die Zeit hinweg angesammelten Erlebnisse seiner Vorlahren. Jedes Individuum leistet damit seinen Beitrag zum Erinnerungsarchiv seiner Spezies. Nach Charles Darwins Hypothese von der natürlichen Auslese, dient
das Verhalten des Individuums ausschließlich seiner Fortpflanzung. Ein Indi viduum hinterlässt >Erinnerungen< nur in so fern, als es mehr oder weniger Nachkommen hinterlässt. Nur mit Lamarcks Version der Evolution ist die Überlieferung von >Erinnerungen< wörtlich zu verstehen. Hier ist möglicher weise der
Grun d
zu finden, der
erklärt,
weshalb die Hypothese erworbener
Eigenschaften bis 1900 so viel mehr Anhänger um sich scharen konnte als die Vorstellung von der natürlichen Auslese. Lamarcks Bild der Vererbung hingegen betonte das Verhalten des Einzelnen und damit die Bedeutung des Individuums in der Geschichte. In den 1 870er und 1 880er Jahren, also zu einer Zeit, da die Experimente von Gregor Mendel breiteren Kreisen noch nicht bekannt waren, lag der biologi sche Mechanismus der Vererbung noch im Dunkeln. Es ist interessant, dass die
Modelle zur Heredität, die zu dieser Zeit vorgeschlagen wurden, die zeitgenössi schen Diskussionen von Physikern über die Natur des Lichts aufnahmen: Das
Gedächtnis bestand demzufolge entweder aus Wellen oder aus Partikeln. In seinem 1868 erschienenen Werk
The Variation of Animals and P/ants under
Domestication vermutete Charles Darwin, dass jede Zelle des Körpers aufjeder Stufe ihrer Entwicklung Gemmu/es (kleine Partikel) aussendet, die dann von den Keimzellen angezogen würden, sich in diesen sammelten und
arn
Ende
einen vollständig gebildeten Organismus hervorbrachten. In seinem Versuch, den Mechanismus der Vererbung zu erldären, hat Darwin sich auf die Metapher der Einschreibung verlassen:
lt is probable that hardly a change of aoy kiod affects either parent, without some mark being left on the germ. But on the doctrine of reversion. [the spontaneous reappearance of an ancestral type) . . . the genn becomes a far more marvelous object, for, besides the visible changes which it undergoes, we must believe that it is crowded with invisible characters, ... and these characters, like those written on paper with invisible ink, Lie ready to be evolved whenever the organization is disturbed by certain known or unknown conditions. 7
6 Forel, Das Gedächtnis und seine Abnormitäten, 32. 7 Darwin, Variation of Animals and Plants, Bd. 2, 35-36.
Das organische GedächJnis: Ein Mythos der Literatur und Biologie
79
Darwin war mit dieser, von ihm selbst so genannten »Pangenesis«-Hypothese niemals zufrieden und war sich stets darüber im klaren, dass sie mit Lamarcks Standpunkt eher vereinbar war als mit seinem eigenen. Im Jahre 1876 schlug der Biologe Ernst Haeckel einen ganz anderen Mecha nismus vor, indem er auf lokale, statt auf zentralisierte biologische Aktivität setzte. Haeckel sprach von der »Perigenesis der Plastidule<<. Haeckel zufolge war der Inhalt des Gedächtnisses sowohl vererbt als auch in Form charak teristischer Wellenbewegungen kleinster lebendiger Partikel (den Plastidulen) abgespeichert. »Die Anpassung ist Abänderung der Plastidui-Bewegung<<, vermu tete Haeckel, »in deren Folge die Plastidule neue Eigenschaften erwirbt«. 8 Ein jedes Erlebnis war im Stande, die Bewegungen der Plastidulen zu verändern. Dieser Bewegungszustand sollte dann von der jeweils nachfolgenden Genera tion reproduziert werden können. Aber wie beeinflusste die Umgebung den Körper, gar die Zellen des Tierkör pers? In seinem Versuch, sich die Einwirkung der Umgebung vorzustellen, hat Darwin eine zweite Metapher verwendet: die der Verbreitung von Krankheit: Particles of infectious matter, so small as to be wafted by the wind or to adhere to smooth paper, will muJtiply so rapidly as to infect within a short time the whole body of a !arge animal . . . Bach animal and plant may be compared with a bed of soil full of seeds, some of wruch soon germinate, some lie dormant for a period, whilst others perish. When we hear it said that a man carries in his constitution the seeds of an inherited disease, there is much truth in the expression. 9 .
Die Theorie, dass Mikroorganismen ansteckende Krankheiten verursachten, war bis in die späten 1 870er Jahre nicht durch unwiderlegbaren experimen tellen Nachweis gestützt. Aber auch jene Ärzte und Schriftsteller, welche die Entstehung von Krankheiten in Miasmen vermuteten, also die Ursache von Krankheit im Lokalen sahen, verstanden die »Absorbierung« einer Umgebung als eine Art von Erinnerung. Ansteckung ist eine Leitmetapher, zum Beispiel in den Rougon-Macquart Romanen Ernile Zolas zur >experimentellen< Untersuchung der Vererbung. Von der experimentellen Medizin Oaude Bernards inspiriert, versuchte Zola den Zusammenhang zwischen Vererbung und der Wrrkung der Umgebung auf den Menschen zu analysieren. In 20 Romanen stellte er dem Leser über vier Generationen Vertreter aus verschiedenen sozialen Nischen der französischen Gesellschaft zur Zeit Napoleon III. vor und >beobachtete< die Folgen spezifi scher Umgebungseinflüsse auf die ausgewählten Personen. So gibt es in der Familie Rougon-Macquart ein »Felure« (wörtlich >Riss< und von Zola als >Mutation< gemeint), das pathologische Wege einschlägt, je nach den Umständen unter denen die betrachtete Person lebt. Jn L'Assommoir 8
Haeckel, Die Perigenesis der Plastidule, 46. 9 Darwin, Variation of Animals and Plants, Bd. 2, 397-399.
Laura Otis
80
( 1 877) etwa, neigt die Figur Gervaise, die Waschfrau, zum Alkoholismus. Zum Ausbruch kommt »Felure« aber nur in Kombination mit Umwelteinflüssen
und sich
dann wenn aufnimmt : zwar
Gervaise
gleich
zu
die Unsitten ihres Arbeiterviertels in
Elle en avait pour une heure rien qu'a etaler le linge sale de tout ce peuple, les gens couches comme des betes, en tas, peres, meres, enfants, se roulant dans leur ordure.
Ab! elle en savait, Ia cochonnerie pissait de partout, � empoisonnait les maisons
d'alentour! Oui, oui, quelque chose de propre que l'homme et Ia femme, dans ce coin de
Paris, ou l'on
est les uns sur les autres, a cause de Ia misere! On aurait mis
les deux sexes dans un mortier, qu'on en aurait tire pour toute marchandise de quoi fumer les cerisiers de la plaine Saint-Denis .1o
Gervaise wiederum übermittelt das »Felure« an ihre Tochter Nana - die künf tige Prostituierte, die schließlich die Mächtigen ansteckt - auch mit all dem »Dreck«, wie Zola sagt, den sie aus ihrer sozialen Umgebung absorbiert hat. Entsprechend dem Bild der Vererbung bei den Biologen der 1 870er Jahre ist auch Zolas Vererbung eine
Ansammlung von
absorbierten Eindrücken.
In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts haben Metaphern des Gedächtnisses und der Vererbung auch Wege eröffnet, die Überlieferung von Kultur
in
Worte
ver Erinnerung werden konnte.
zu
zu
In
fassen. Sprache und Kultur schienen einer
Art
kollekti
ähneln, die von einer Generation zur nächsten übermittelt
diesem Fall war die Frage danach, in welchem Sinne Kul
tur >vererbt< wurde, wörtlich oder metaphorisch verstanden worden. Obwohl jene Geisteswissenschaften, die die Entwicklung der Sprache und der Literatur analysierten, oft versuchten, die Überlieferung der Kultur von der biologischen Vererbung
zu
trennen, blieben beide Weisen der Überlieferung doch durch
gemeinsame Begrifflichkeiten miteinander verbunden. 1859 gründeten der Berliner Philosoph Moritz Lazarus und der Philologe Heymann Steinthai die
Zeitschriftfür Völkerpsychologie und Sprachwissenschaji.
Im ersten Band argumentierten sie, dass es eine Wissenschaft des Volksgeistes geben sollte - analog
zur
Psychologie des Individuums -, die die Entwicklung
des Volksgeistes analysieren solle, so als ob es sich dabei um ein organisches Wesen handele.
Lazarus und
Steinthai haben den Volksgeist als etwas verstan
den, das von der natürlichen Umgebung eines Volkes weder völlig bestimmt noch völlig abhängig davon war. Im einleitenden
Artikel
der neuen Zeitschrift
liest man: Die Natur gestaltet den Geist nicht: das ist festzuhalten; aber der Geist gestaltet sich selbst so oder anders je nach der Anregung, die ihm die Natur gewährt . . . . Kein Volksgeist ist Erzeugnis der Natur; und keiner ist so, wie er ist, ohne Mitwirkung der
Natur. Es ist nicht gleichgültig für den Volksgeist, ob das hauptsächlichste Nahrungs
mittel des Volkes in Fleisch oder Kartoffeln besteht; aber daß dieses oder jenes der
10 Zola, IJAssom.moir, 314.
Das organische Gedächtnis: Ein Mythos der Literatur und Biologie
81
Fall ist, hängt schon selbst wieder von dem, noch durch ganz andere Verhältnisse bestimmten, Volksgeist ab. Weil der Irländer den irischen Volksgeist hat, ist er durch solche Schicksale gegangen, und aus beiden Gründeo lebt er von Kartoffeln. Jetzt ist, in folge der Rückwirkung, der irische Volksgeist durch die Kartoffel mitbestimmt. 1 1
Obwohl hier das Konzept des Volksgeists der materialistischen Weltanschau ung gegenübergestellt wird - d. h. der Idee, der Mensch sei von seinem ererbten Charakter und seiner physischen Umgebung vollkommen bestimmt - ist die Beschreibung des Irländers von Zolas Beschreibung Gervaises nicht sehr weit entfernt. Der Irländer isst Kartoffeln, weil er einen spezifisch irischen Volksgeist in sich trägt und die Kartoffe� die er isst, prägen wiederum seinen Geist. Ger vaise trinkt Absinth, weil sie eine angeborene Neigung dazu verspürt und weil Alkohol fester Bestandteil ihrer sozialen Lebensumstände ist: Sie >überliefert< ihre Neigung an ihre Kinder nicht allein durch ihren Körper, sondern auch durch ihr Verhalten. Weder Zola noch die Begründer der Völkerpsychologie hatten vor, vererbte Eigenschaften an den Begriff der Menschenrasse zu binden. Lazarus und Stein thai waren deutsche Juden und hielten ihr Konzept des Volksgeists in diesem Punkt offen: Unabhängig von der Abstammung waren Menschen Träger eines Volksgeistes. Als Antwort auf den zunehmenden Antisemitismus in den 1870er Jahren schrieb Lazarus 1880 in seinem Aufsatz Was heisst naJiona/1: Übrigens ist diese ganze Blut- und Racentheorie ein Ausfluss des grobsinnlichen Materialismus der Welt- und Lebensanschauung überhaupt ... . Eine Folge, zuweilen wohl auch Ursache, immer also Begleiterin dieses Materialismus, ist die Erregung des niedrigsten und gemeinsten Widerwillens unter den Menschen, die Erregung des Raceo- oder Stammeshasses. leb nenne ihn den niedrigsten und gemeinsten, weil er der thierische ist, der unter den Thierarten entbrennt aus keinem anderen Grunde, als wegen ihrer Verschiedenheit das Blut bedeutet mir blutwenig, der Geist und geschichtliche Ausbildung bedeutet mir fast Alles, wenn es sich um den Werth und die Würde des Menschen, der Einzelneo oder eines Stamm es handelt! 1 2 . . .
Lazarus nahm an, dass die Vorstellung von einem biologisch vererbten >Ge dächtnis< eines Volks zu einem rassistischen, ausschließenden Verständnis von Nationalidentität führen konnte. Die Theorie des organischen Gedächtnisses kann genau dieses zur Folge haben, besonders dann, wenn sie allzu wörtlich genommen wird. Obwohl epistemologisch durchaus nützlich, ist die Metapher des organischen Gedächtnisses eben auch, wie Lazarus sagt, eine besonders gef ahrliehe Metapher. Hier liegt vielleicht einer der Gründe, weshalb es die Schriftsteller waren und nicht die Biologen oder Psychologen, die die Grenzen dieser Metapher schließlich freilegten. Romanschriftsteller, die mit Metaphern und ihrer Funk tion in der täglichen Schreiberfahrung zu kämpfen gewohnt sind, haben die I I Ia za rus/Steintbal, Einleitende Gedanken, 39. 12 Iazarus, Was heisst national?, 21-22.
Laura Otis
82
Theorie des organischen Gedächtnisses viel effizienter und radikaler in Frage gestellt als die Naturwissenschaften, die vielfach sich widersprechende Thesen in die Debatte eingebracht haben. Kein anderer hat das Wechselspiel zwischen biologisch und kulturell über
Charakter ironischer dargestellt als Thomas Mann. In seinem 1926 veröffentlichten Aufsatz Lüheck als geistige Lebensform hat er den Regen und den roten Backstein der Stadt als von »lächerlicher Herkunft« bezeichnet. Sich liefertem
selbst vergleicht er mit Lübecker Marzipan, ein Zivilisationsprodukt exotischer Früchte (seine Mutter ist in Brasilien aufgewachsen), das die Höhen deut scher Kultur und die Profanität eines Lebensmittels in sich vereint. I n einem Interview
im
Jahre 1925 behauptete Mann: »meine
den Rougon-Macquarts
Buddenbrooks haben mit nichts anderes gemein, als eine Familiengeschichte zu
sein« 13 . Dennoch steht Mann Zola wahrscheinlich näher als er selbst zugeben wollte.
Buddenbrooks,
wie L'Assommoir, illustrieren gleichermaßen den Verfall
einer Familie. In den Rougon-Macquart Romanen von Zola, so hat Gilles Deleuze bemerkt, ist der Protagonist kein individueller Charakter, sondern das »Felure«, die Mutation selbst. 14 Der Protagonist in den Buddenbrooks ist die Familie insgesamt, nicht ein einzelnes Familienmitglied. Und wie Zola versucht Mann
im
Detail darzustellen, wie die Umgebung seine Charaktere bestimmt.
Die Übereinstimmungen zwischen Zolas und Manns »Studien« zur Verer bung allerdings halten sich in Grenzen . Mann, der sein Projekt weit ironischer angeht als Zola, interessiert sich
für den
>Inhalt< der kulturellen oder biologi
schen Erbschaft. Mit dem Niedergang der Buddenbrooks stellt sich die Frage: >Was ist es genau, das biologisch oder kulturell überliefert wird?< Die phy siologischen Merkmale der Buddenbrooks (kurze Finger, kein musikalisches Gehör) kommen derart amüsant daher, dass der Verfall - und die Vererbung selbst - eher einer Komödie als einer Tragödie gleicht. Ist es denn wirklich ein Verlust, muss der Leser sich am Ende fragen, wenn eine bürgerliche
Familie
mit kurzen Fingern und ohne musikalisches Gehör allmählich ausstirbt? Wie Lazarus' und Steinthais Beschreibungen des Volksgeistes, ist Manns Darstellung der »geistigen Lebensform Lübeck« ein metaphorisches Gewebe aus biologischen und kulturellen Elementen. Bei den Buddenbrooks verbindet sich Sprache mit aufgenommener Nahrung, also Biologisches mit Geistigem,
ein Zusammenhang den Lazarus strikt ablehnte.
Man saß auf hochlehnigen, schweren Stühlen, speiste mit schwerem Silbergerät schwere, gute Sachen, trank schwere, gute Weine dazu und sagte seine Meinung. Man war bald bei den Geschäften und verfiel unwillkürlich mehr und mehr dabei in den Dialekt, in diese behaglich schwerfällige Ausdrucksweise, die kaufmännische
1 3 Mann, Frage und Antwort, 89. 14 Deleuze, Zola el la reture, 7-8.
Das organische Gedächtnis: Ein Mythos der Literatur und Biologie
83
Kürze sowohl
wie die wohlhabende Nachlässigkeit an sich zu haben schien und die hie und da mit gutmütiger Selbstironie übertrieben wurde. 15 Das wiederkehrende Wort >schwer<, welches die Möbel, das Essen und den Wein charakterisiert, gibt einen Hinweis auf die Prägung des Geists durch die materielle Umgebung. Sprache und die dazugehörende
Art
zu
denken bildet
sich aus >schweren< Umständen. In den Augen von Thomas Buddenbrook, der seine Erbschaft viel ernster
als der Verfasser zu nehmen scheint, ist von Buddenbrookscher Herkunft
zu
sein kein besonderer Wert, sondern bedeutet Kontinuität an sich:
Er [hatte] sieb die Fragen der Ewigkeit und Unsterblichkeit historisch beantwortet und sich gesagt, dass er in seinen Vorfahren gelebt habe und in seinen Nachfahren leben werde. Dies hatte nicht allein mit seinem Familiensinn, seinem Patrizierselbstbe wusstwein, seiner geschichtlichen Pietät übereingestimmt, es hatte ihn auch in seiner Tätigkeit, seinem Ehrgeiz, seiner ganzen Lebensfiihrung unterstützt und bekräftigt. 16 Das Gefühl, der Träger von Erinnerungen
zu
sein - im biologischen wie im
kulturellen Sinne -, verleiht Thomas Buddenbrooks Leben Bedeutung. Der Autor des Romans lässt damit offen, welcher
Art
und von welchem Wert
Vererbtes ist. Der englische Dichter Thomas Hardy, den das Thema der Vererbung eben falls faszinierte, hat sich wie Thomas Marm ironisch Roman,
Tess ofthe D'Urbervil/es (1891)
dazu
geäußert. Hardys
illustriert, wie das Leben eines Men
schen mehr von falschen Vorstellungen über die Vererbung als durch eigentliche biologische Erbschaft geprägt sein kann. In seiner Wrrklichkeit ist das attraktive Bauernmädchen Tess Durbeyfield die Nachfahrin der seit langem niedergegan genen aristokratischen Familie D'Urberville. Vermutlich - wenn man der kul turellen Erbschaft von fragmentarischen Legenden glauben kann - haben die reichen und mächtigen D'Urbervilles vergewaltigt und getötet. In der ländli chen Viktorianischen Gesellschaft ist Tess' »aristokratisches Blut« denn auch
weniger als wertlos. Wegen der daran gekoppelten Erwartungen ihrer sozialen Umgebung war solches Blut sogar von Nachteil für Tess. In der Hoffnung, finanzielle Unterstützung chen Cousin Alec D'Urberville
zu
für
ihre Familie von ihrem rei
bekommen, besucht die Protagonistin den
jungen Marm. Als sie darm sein Gesicht betrachtet, versucht sie die Kennzei chen der D'Urbervilles
darin
zu
lesen, aber Tess kann den »Text« der erhoff
ten Geschichte nicht entziffern. Kein Wunder, denn Alec D'Urberville teilt ihr aristokratisches Blut nicht. Er stammt aus einer erfolgreichen bürgerlichen Familie, die den Adelstitel D'Urberville schlicht und einfach gekauft hat. Von Tess' schönem Körper - eine Erbschaft der unaristokratischen Mutter - ange-
15 Mann, Buddenbrooks, 29. 1 6 Ebd., 652.
Laura Otis
84
zogen, vergewaltigt Alec schließlich die unschuldige »Cousine«. Der daraus
entstandene Nachwuchs bleibt nur wenige Tage am Leben. Die zweite tragische
Fehlinterpretation betrifft Tess' Ehemann, Angel Clare.
Hardys Beschreibung des ersten Zu sammentreffens von Tess und Angel soll
erklären, dass die in einem Körper lesbare Geschichte immer die ist, die schon von vornherein vom Leser erwartet wird. Als Angel - wie Alec bürgerlich versucht, eine geeignete Tanzpannerio auszuwählen, kann er Tess von auder en Bauernmädchen nicht unterscheiden:
The young man thus invited glanced them over and attempted some discrimination; but as the group were aU so new to him he could not very well exercise it. He took almost the fust that came to band, which . . . [did not] happen to be Tess Durbeyfield. Pedigree, ancestral skeletons, monumental record, the D'Urberville lineaments, did not help Tess in her life's battle as yet, even to the exteot of attracting to her a dancing-partner over the heads of the commonest peasantry. So much for Norrnan blood unaided by Victorian lucre. 17 Als Angel Tess später (nach dem Tod ihres Kindes) kennen lernt, konstruiert er seine eigene Interpretation von Tess' Körper und schreibt eine eigene Version ihrer Geschichte. In Angels Augen ist sie nun ein rein.es, unschuldiges Kind der Natur. Er heiratet sie und ist nicht enttäuscht, als er schließlich bemerkt, dass sie eine D'Urberville ist. Als er dann aber herausfindet, dass sie ein außereheliches
Kind gehabt hat, verlässt er sie, mit der Erklärung, »You were one person: now
you are another. . . . I repeat, the woman I have been loving is not you. . . . [She is] another woman in your shape« 18 • Wer Tess ist, bestimmt der, der sie betrachtet und das, was er von
ihr will.
Gezwungen, ihre Familie zu unterstützen, kehrt Tess schließlich zu Alec
zurück, der sie als Liebhaberin akzeptiert, sie aber zugleich verachtet. Als Angel seine Entscheidung schließlich bereut, und sich ihr zuwenden mag, ersticht Tess Alec und verbringt ihre letzten Tage mit Angel. Hardy schließt seinen Roman
mit einer Referenz an das klassische Schicksal: »The President ofthe Irnrnortals . . . had ended his sport with Tess.« Am Ende bleibt es dem Leser überlassen, zu entscheiden, ob Tess' Gewaltausbruch eine Folge aristokratischer Erbei genschaften ist oder eine der sozialen Umstände und der damit verbundenen Fehlinterpretationen sowohl der eigenen als auch anderer Personen. In der Psychoanalyse des
20. Jahrhunderts war es unentbehrlich nicht nur
Gesprochenes, sondern auch den Körper des Patienten zu »lesen«, um Ver gangenes freizulegen.
Es
ist denn auch nicht überraschend, dass die Idee des
organischen Gedächtnisses in Sigmund Freuds Theorien eingeflossen ist. In
Der Mann Moses und die monotheistische Religion hat Freud am Ende seiner Karriere ausgeführt, wie sehr die Psychoanalyse von der Annahme bestimmt
17 Hardy, Tess oftbe D'Urbervilles, 9. 18 Ebd., 179.
85
Das organsche i Gedächtnis: Ein Mythos der Literatur und Biologie
ist, dass Individuen die Vergangenheit in sich tragen - nicht nur die eigene Vergangenheit, sondern auch die der Menschheit insgesamt: Unsere Sachlage wird allerdings durch die gegenwärtige Einstellung der biologischen Wissenschaft erschwert, die von der Vererbung erworbener Eigenschaften auf die
Nachkommen nichts wissen will. Aber wir gestehen in aller Bescheidenheit, daß wir
trotzdem diesen Faktor in der biologischen Entwicklung nicht entbehren können.
Es handelt sich zwar in beiden Fällen nicht um das Gleiche, dort um erworbene
Eigenschaften, die schwer
zu
fassen sind, hier
um
Erinnerungsspuren an äußere
Eindrücke, gleichsam Greifbares. Aber es wird wohl sein, daß wir
uns
im Grunde
das eine nicht ohne das andere vorstellen können. Wenn wir den Fortbestand solcher
Erinnerungsspuren in der archaischen Erbschaft annehmen, haben wir die Kluft zwi schen Individual- und Massenpsychologie überbrückt, können die Völker behandeln wie den einzelnen Neurotiker. 19
Im Jahre 1939, als Freud dies schrieb, war die Vererbung erworbener Eigen schaften biologisch nicht mehr haltbar - auch nicht in der Sowjetunion, wo sie Teil der offiziellen Ideologie geworden war, indem sie die Vorstellung stützte, dass entsprechend motivierte Individuen die Erbschaft ihrer Vergangenheit durch sozialistisches Verhalten abzuschütteln in der Lage sein sollten. Emest Jones, der eine detaillierte Freud-Biographi e geschrieben hat, behauptet, dass
er den 83-jährigen Psychoanalytiker gebeten hat, dessen Aus führungen über erworbene Eigenschaften übergehen zu dürfen, weil »no respectable biologist regarded [the theory] as tenable any longer. . . . [But] all he would say is that they were
a11 wrong and
the passage must stay« 20• Obwohl das Konzept eines
organischen Gedächtnisses biologisch unbegründet war, blieb es als Denkfigur der Psychoanalyse erhalten. Dass das Individuum die Vergangenheit »enthielt«, war ein Grundprinzip der Lehre Freuds. Die Herausforderung war lediglich, die Geschichte dieser Vergangenheit lesbar
zu
machen.
Es gibt darüber keinen Zweifel, dass Freud Ewald Herings Formulierung der Theorie
kannte.
Herings Mitarbeiter Joseph Breuer hat mit diesem den
Mechanismus des Respirationsrefle){es untersucht, und als der Medizinstudent Freud
im Labor Ernst
Brückes arbeitete, hat Hering ihm eine Stelle in seinem
Prager Laboratorium angeboten. 2 1 In einer 1 904 erschienenen Rezension von Richard Semons
Die Mneme, nannte
Freud Herings Verständnis des Gedächt
nisses »geistreich und kritisch«. Im Jahre 1 920, in .
Jenseits des Lustprinzips, die-
.
nen die Uberlegungen Herings als biologisches Argument für die Hypothese, dass der Mensch von gegeneinanderwirkenden erotischen und aggressiven Nei gungen getrieben wird. Freud zitiert Herings Vortrag von 1870 und nennt eine »Meisterleistung«:
19 Freud, Mann Moses, 207. 20 Jones, Sigmund Freud, Bd. 3, 313.
2 1 Jones, Sigmund Freud, Bd. I , 222.
ihn
86
Laura Otis Nach der Theorie E. Herings von den Vorgängen in der lebenden Substanz lau fen in ihr unausgesetzt zweierlei Prozesse entgegengesetzter Richtung ab, die einen aufbauend - assimilatorisch, die anderen abbauend - dissimilatorisch. Sollen wir es wagen, in diesen beiden Richtungen der Lebensprozesse die Betätigung unserer beiden Triebregungen, der Lebenstriebe und der Todestriebe, zu erkennen? 22
Freuds Beschreibung der genannten Triebe als »Ureigenschaften der lebenden
Materie«23 erinnert an Herings Auffassung vom
Gedächtnis als eine allgemeine
Fundion der organisierten Materie. Die Idee, dass individuelle Vergangenheit über das Unbewusste zugänglich
ist, war für Freud entscheidend, da er die Psychoanalyse als Werkzeug zu benut zen beabsichtigte, die Urgeschichte des Menschen
und Tabu
zu
rekonstruieren. In
Totem
( 1 9 1 3 ) beschreibt er den hypothetischen urzeitliehen Vatermord und
befindet:
zunächst niemandem entgangen sein, daß wir überall die Annahme einer Massenpsyche zugrunde legen, in welcher sich die seelischen Vorgänge vollziehen wie im Seelenleben eines einzelnen. Wrr lassen vor allem das Schuldbewußtsein wegen einer Tat über viele Jahrtausende fortleben und in Generationen wirksam bleiben, welche von dieser Tat nichts wissen konnten. 24 Es kann
Freud ist nicht überzeugender als Mann oder Zola, wenn er zu erklären ver sucht, wie solche Schuldgefühle übermittelt werden und in welcher Form sie im individuellen Körper abgebildet sind. Diese anthropologische Dimension ist in den psychoanalytischen Theorien von C. G. Jung - der mit Freud im Jahr von
Totem und Tabu
gebrochen
hatte - entschieden weiter entwickelt worden als von Freud selbst oder von seinen anderen Nachfolgern.
Es
sind Jungs Schriften, und in den 1960er Jah
ren der Strukturalismus, die die Idee eines organischen Gedächtnisses als ein »kollektives Unbewusstes« verbreiteten. Wie die Biologen des 19. Jahrhunderts vermutete Jung: »[W]ahrscheinlich geht kein einziger noch so kleiner Eindruck
verloren; denn jeder hinterläßt eine (wenn auch ganz feine) Gedächtnisspur« 25 . Das gleichsam durch
Akkumulation
von Gedächtnisspuren hervorgebrachte
Ergebnis waren »jene ältesten Formen menschlichen Geistes, die wir nicht erworben haben, sondern die uns seit nebelhaften Urzeiten vererbt sind« 26 .
Hinsichtlich dessen, was vererbt wurde, war Jung weitaus spezifischer als Freud.
daß die Vorstellungen vererbt die Möglichkeit des Vorstellens, was ein beträchtlicher
Jung mahnte: »Damit behaupte ich keineswegs, würden, vererbt wird nur
Unterschied ist«27. Jung zufolge haben die Menschen aller Kulturen der Welt 22
23 24 25 26 27
Freud, Jenseits des Lustprinzips, 53.
Ebd., 54. Freud, Totem und Tabu, 189. Jung, Kryptomnesie, 1 1 2. Jung, Struktur der Seele, 174. Jung, Psychologie des Uobewußten, 70.
87
Das organische Gedächtnis: Ein Mythos der Literatur und Biologie
- geprägt durch die gemeinsame Erfahrung - eine Tendenz geerbt, Erfahrung mit denselben Bildern und Erzählformen auszudrücken.
Es
lolmt sich, die Entwicklung und die Verbreitung der Idee eines organi
schen Gedächtnisses zu untersuchen, da sie als psychologische und anthropo logische Denkweise erhalten blieb. Wie bereits in anderem Zusammenhang
gesagt, birgt sie aber auch Gefahren. Dass der Körper die Vergangenheit »enthält«, ist eine Annahme der gegenwärtigen Genetik. Auf welchen Wegen der Zugang zu dieser Vergangenheit gefunden werden kann - und ob diese überhaupt vollständig zugänglich gemacht werden sollte - ist derzeit eine hoch
umstrittene Frage. Beruft sich Identität - schlimmsten Falles nationale Iden tität - auf vererbte Eigenschaften, dann kommt, wie Moritz
Lazarus gemahnt
hat, der Ethnizität tragende Bedeutung zu. Seit dem Ende des kalten Krieges ist
der »Starnmeshass« noch immer eine der Hauptursachen kriegerischer Ausein
andersetzungen, ganz gleich, ob in Europa,
Afrika oder Zentralasien.
Die Idee
eines vererbten Gedächtnisses an sich hat nie Krieg verursacht, aber sie hat den Sinn geschärft Menschen .
für wesentliche und unüberbrückbare
Gegensätze zwischen
•
Vor diesem Hintergrund sind Thomas Manns und Thomas Hardys literarische Behandlungen des organischen
Gedächtnisses
besonders einsichts
voll. Die Perspektive des Romanschriftstellers und damit auch die des Lite raturwissenschaftlers ist unverzichtbar,
will
man den mannigfaltigen Verwen
dungsmöglichkeiten der Idee von der vererbten Erinnerung näherkommen. Die an die Vorstellung von einem vererbten Gedächtnis gekoppelten Frage stellungen sind
im Grunde
hermeneutischer Natur. In der Genetik und
in
der
Psychoanalyse kommt es wie bei einem schriftlichen Text darauf an, herauszu finden, auf welche
Art und Weise zu lesen und zu
interpretieren sei, ohne dabei
die eigenen Erwartungen auf den jeweiligen Text zu projizieren. Diese Technik der Literaturwissenschaften ist deshalb ein essentielles Werkzeug
für
fast alle
Wissensbereiche.
Literatur Darwin, C., Tbe Variation of Animals and Plants under Domestication [1868], New York 1890. Deleuze, G., Zola et la felure, in: E. Zola, La Bete humaine, Paris 1977. Forel, A., Das Gedächtnis und seine Abnormitäten, Zürich 1885. Freud, S., Jenseits des Lustprinzips [1920], in: Gesammelte Werke, Bd. l3, London/ Frankfurt am Main 1978, 3-69. -, Der Mann Moses und die monotheistische Religion [1939], in: Gesammelte Werke, Bd. 16, London/Frankfurt am Main 1978, 103-246. -, Totem und Tabu [1913], in: Gesammelte Werke, Bd.4, London/Frankfurt am Main 1978.
88
Laura Otis
Hardy, T., Tess ofthe D'Urbervilles [1891), New York 1991. Haeckel, E., Die Perigeoesis der Plastidule, Berlio 1876.
Hering, E., Über das Gedächtnis als eine allgemeine Function der Organisierten Materie, Wien 1876. Jones, E., The Life aod Work of Sigmund Freud, New York 1953-1957.
Jung, C.G., Kryptomnesie [1905), in: Gesammelte Werke, Bd. 1 , Zürich 1966, 103-1 15.
-, Die Struktur der Seele [1928], in: Gesammelte Werke, Bd. 8, Zürich 1966, 1 63-183. -, Über die Psychologie des Unbewußteo, in: Gesammelte Werke, Bd. 7, Zürich 1966,
9-99.
Lakoff, G./M. Johnson, Metaphors We Live By, Chicago 1980. Lazarus, M., Was heisst national?, Berlin 1880.
Lazarus, M./H. Steinthal, Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie, als Einladung zu
einer Zeitschrift fur Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, in: Zeitschrift für
Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 1 (1 860) 1-73.
Mann, T., Buddeobrooks [1901), Frankfurt am Main 1989. -, Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909-1955, Harnburg 1983. Otis, L., Organic Memory. History and the Body in the Late Nineteenth and Early Twentieth Centuries, Lincoln 1994. Phillips, F., Ancestral Memory. A Suggestion, in: Nineteenth Century 59 (1906) 977-
983.
Ribot, T., Les Maladies de la memoire [1881], Paris 1893. Zola, E., I.:Assommoir [ 1877), Paris 1983.
CELINE KAISER
Ursprungsszenarien in der Nervositätsdebatte
um
1900
L Szene
Beginnen wir mit dem Begriff der Urszene, der bekanntlich in seiner theore tischen Valenz durch die Psychoanalyse geprägt wurde. 1 Wie Sigmund Freud in seiner Schrift Aus der Geschichte einer infantilen Neurose von 1918 ausfiihrte, meint der Terminus Urszene zunächst und zumeist ein in der Psychoanalyse (re-)konstruiertes Erlebnis, auf das sich die spätere pathologische Struktur wie auf einen Kernpunkt zurückführen lässt. Wenngleich es im Wesen der psycho analytischen Spurensuche liegt, dass sie stets nur nachträglich, gleichsam im Krebsgang, zu diesem Ursprungspunkt gelangen kann und darüber hinaus auch die Erinnerungsarbeit des Patienten durch eine grundsätzliche Nachträglichkeit geprägt ist, es also unmöglich scheint, ein Ereignis >so wie es gewesen ist< bzw. >so wie es seinerzeit erlebt worden ist< in Reinform zu extrapolieren, so ist es Freud doch - in Absetzung gegen Jung - wichtig, dass man an der Urszene als solcher festhält Ja, diese aufzuspüren wird zu einem wesentlichen Ziel der Analyse, da mit der wiederhergestellten Erinnerung oder zumindest der Plausi bilisierung, dass just dieses Ereignis stattgefunden haben muss, der eigentliche Heilungsprozess erst beginnen kann. So ging Freud gemeinsam mit Josef Breuer in der frühen Schrift Studien zur Hysterie davon aus, dass die sprachliche Rekonstruktion verdrängter Traumen eine kathartische und damit heilende Wtrkung habe. Dasjenige, was in der The rapie affektvoll erinnert werden soll, wird fernerhin als ein Ereignis gedacht, welches dem bewussten Gedächtnis der Patienten vollständig abhanden gekom men ist. 2 Im Laufe der Jahre entwickelte Freud jedoch eine tiefergreifende Skepsis, inwiefern die erinnerten Szenen, so wie sie in der Analyse rekonstru iert werden, auch tatsächlich stattgefunden haben. 3 Weit entfernt davon, ein 1 Gemäß dem Diktum Vicos: »Doctrines must take their beginning from that of the matters of
whicb they treat.« (Vico, New Science, 92, Paragraph 314). Gefunden bei Said, Beginnings, 347. 2 Siebe Freud/Breuer, Studien über Hysterie, 85-88. 3 Eine eingehende Nachzeichnung der Entwicklung des Konzeptes der Ursze.nen in der Theorie Freuds findet sich in der Arbeit von Laplancbe/Pontalis, Urphantasie. Mit Kennetb Reiobard könnte man die Entwicldungslinien der Freudscben Theorie wie folgt zusammenfassen: »This cbange retlects Freud's shifting tbeorization of psycboanalysis' therapeutic motor from catharsis (1 895), to interpretation (1900), to transference (l910s), and finally, in his last writings, to a notion of techoique intlected by his theorization of corutructioo.« (Reinbard, Freudian Things, 68).
Ciline Kaiser
90 statischer
terminus technicus
zu
sein, lässt sich gerade am Begriff und Konzept
der Urszenen die Theorieentwicklung der Psychoanalyse verfolgen und ins besondere die zunehmende Reflexion Freuds darauf ablesen, welchen Anteil
der Analytiker mittels seiner Deutungen an der Erinnerung von Urszenen hat. Etwa in den
Konstruktionen in der Analyse,
einem Text Freuds aus dem Jahre
1937, stellt er die Frage, welche Aufgabe der Psychoanalytiker beim »dyna mischen Prozeß« der Erinnerungsarbeit des Patienten übernimmt . U ud seine Antwort lautet: »Er hat das Vergessene aus den Anzeichen, die es hinterlassen, zu
erraten oder, richtiger ausgedrückt, zu konstruieren.«4
Trotz der konzeptionellen Unterschiede findet sich mit erstaunlichem Behar
rungsvermögen eine Metapher von den frühen bis in die späten Texte Freuds wieder, die den Stellenwert der Urszenarien
umkreist.
Die Deutungsarbeit des
Analytikers wird immer wieder als archäologische Arbeit umschrieben. 5 Diese berühmte Metapher, die Kenneth Reinhard eine »crucial yet ambiguous trope« 6 nennt, findet sich bereits in einem frühen Brief, den Freud am
21. Dezember
1 899 an Wtlhelm Fließ richtete: Tief unter allen Phantasien verschüttet fanden wir eine Szene aus seiner Urzeit (vor 22 Monaten) auf, die allen Anforderungen entspricht, und in die alle übrig gelassenen Rätsel einmünden; die alles zugleich ist, sexuell, hannlos, natürlich etc. Ich getraue mir noch kaum, daran ordentlich zu glauben. Es ist, als hätte Schliernano wieder einmal das fur sagenhaft gehaltene Troja ausgegraben. 7 Die Auslegung der >rätselhaften Funde aus der Urzeit< stellt
ihre eigenen Anfor
derungen und wird von Freud gelegentlich mit der Übersetzung von Hierogly phen verglichen. 8 Sie zeigen die nämliche Schwierigkeit an, die bereits mit der Bergung urzeitlieber Funde verbunden wurde, denn » . . . if the relics of anti quity speak to the analytic reader, they always speak of something other than the moment which they were intended to represent, and always in the foreign
4 Freud, Konstruktionen, 45. 5 So auch noch in den Konstroktionen: »Seine [die des Psychoanalytikers] Arbeit der Konstruktion
oder, wenn man es so lieber hört, der Rekonstruktion, zeigt eine weitgehende Übereinstimmung mit der des Archäologen, der eine zerstörte und verschüttete Wohnstätte oder ein Bauwerk der Vergangenheit ausgräbt . ... [Der) Hauptunterschied der beiden Arbeiten liegt darin, daß fur die Archäologie die Rekonstruktion das Ziel und das Ende der Bemühungen ist, fur die Analyse aber ist die Konstruktion nur eine Vorarbeit.« (Ebd., 45-47). Zur Geschichte der archäologischen Metapher im Werk Freuds siehe insbesondere die Studie von Mertens/Haubl, Psychoanalytiker als Archäologe, aber auch den von Stephen Barker herausgegebenen Sammelband ExcavaJions and Their Objects. Freud's O:JIIecrion ofAntiquity.
6 Reinhard, Freudian Things, 57. 7 Freud, Anfänge, 326f.
8 Dieser Zusammenbang findet sich wunderbar in Szene gesetzt in der frühen Schrift zur Äiiologie
der Hysterie. Siebe Freud, Ätiologie der Hysterie, 426f.
Ursprungsszenarien in der Nervosilätsdebatte um 1900
91
and stony tongue of untimely epitaphs.« 9 Das Moment der Nachträglichkeit ist ihnen unumgänglich eingeschrieben. Freud begnügt sich
nun nicht,
als psychoanalytischer Archäologe die indi
viduellen Urszenen auszugraben. In seinem Konzept der Urszene kommt zugleich eine andere Dimension des Erinnems
zwn
Tragen, die wie ein troja
nisches Pferd in die Einzelfallanalyse eingespeist wird. Gemeint ist hier Freuds so häufig diskutierter, kritisierter und ebenso vernachlässigter Rückgriff oder vielmehr Kunstgriff der phylogenetischen Urszenerien. In seinen zur
Einfiihrung in die Psychoanalyse,
die
in
zeitlicher Nähe
Vorlesungen
(1917) zum oben
erwähnten Fall des Wolfsmannes entstanden, demonstriert Freud diesen Über gang deutlich:
leb meine, diese Urphantasien ... sind phylogenetischer Besitz. Das Individuum greift in ihnen über sein eigenes Erleben hinaus in das Erleben der Vorzeit, wo sein eige nes Erleben allzu rudimentär geworden ist. Es scheint mir sehr wohl möglich, daß alles, was uns heute in der Analyse als Phantasie erzählt wird, die Kinderverführung, die Entzündung der Sexualerregung an der Beobachtung des elterlieben Verkehrs, die Kastrationsdrohung ... in den Urzeiten der menschlieben Familie einmal Rea lität war, und daß das phantasierende Kind einfach die Lücken der individuellen Wahrheit mit prähistorischer Wahrheit ausgefüllt hat. Wtr sind wiederholt auf den Verdacht gekommen, daß uns die Neurosenpsychologie mehr von den Altertümern der menschlieben Entwicklung aufbewahrt hat als alle anderen Quellen. 10 Die Einzelfallanalyse wird somit transzendiert und auf die grundlegenderen
>Altertümer< der Menschheitsgeschichte zurückprojiziert, so dass es den An
schein hat, als würden in diesem kollektiven Erinnerungsreservoir die >wahren< Urszenen des psychischen Erlebens zum Vorschein kommen. 1 1 Was veranlasst Freud zu diesem Sprung ins KoUektive? Was ist für die Ein zelfallanalyse gewonnen, wenn man sie auf eine kollektive Ebene zurückbie
gen kann ? Und was für die Beschreibung koUektiver Prozesse? Entgegen den
Warnungen, Freuds Rückgriff auf die Phylogenese sei eine Schwachstelle des
Freudschen Denkens, die entweder eine Naivität 12 oder aber seine Verhaftung
im Denken der abendländischen Metaphysik höchst unvorteilhaft zum Aus-
9 Reinhard, Freudian Things, 61.
10 Freud, Vorlesungen, 386.
I I ln diesen Zusammenhang wurde auch Freuds eigene Antikensammlung verschiedentlich gestellt, siehe Reinbard, Freudian Things, 58: »Freud's extensive coDection of antiquities has often been regarded as a kind of objective correlative for the archaeological metapbor, the fragments of a phylogenic past which symbotize t.he retrieved secrets of indi..idual ontogeny . . .«.
1 2 Siehe Laplanche/Pontalis, Urphantasie, 8, wo sie sich die Aufgabe stellen ».. . das Denken Freuds
weder zu verfal schen noch zu schematisieren, sondern seine Ansprüche, die Verdrängungen und Umkehrungen. die Zweideutigkeiten und vielleicht sogar >Naivitäten< (die Hypothese von der Phylogenese) zu e.meuem zu versuchen . .«. .
92
uline Kaiser
druck bringe, 1 3 möchte ich mich im Folgenden mit den Konstruktionen einer vererblichen, kollektiven Erinnerung befassen.
Laura Otis bat in ihrer Studie Organic Memory den Stellenwert des Lamarck· sehen Gedankens, dass sich Erfahrungen von Generation zu Generation kollek
tiv vererben, im wissenschafts- und kulturhistorischen Kontext des ausgehen den 19. Jahrhunderts untersucht. 14 Dabei hat sie eine gemeinsame Stoßrichtung der Theorien eines zugleich kollektiven und im Körper des Einzelnen veran kerten Gedächtnisses herausgestellt: »The association ofheredity with memory in the nineteenth century grew out of a fascination with origins that manife sted
itself in the simultaneaus rise of nationalism, philology, biology, and W zssen
schafl in general.« 1 5
Die besondere Faszination, die von den Ursprungsmodel
len ausgeht, hat demnach zur Folge, dass die großen Erzählungen, welche es sich wie Philologie, Nationalismus und Biologie zum Ziel gesetzt hatten, kollek tive Identität herzustellen, diese zugleich einer wissenschaftlichen Beobachtung zugänglich machen wollten. Die Verlagerung des Kollektiven in eine vererbliche Erinnerungsspur, die sich im individuellen Körper manifestiert, dient im Sinne von Otis, seiner Lesbarmachung: »Whether individual or cultural,
all accounts
of the organic memory theory depended not only on associating memory with a place but on retrieving and reading it.« 16 Im Folgenden möchte ich den Versuch unternehmen, eine solche Erzähl ung
exemplarisch zu analysieren. Dabei wird das eigentümliche Zu sammenspiel von Konzepten wie Heredität, Konstitution, Erinnerung, Gedächtnis und Ereig nis im Hinblick auf die Konstruktion kollektiver Urszenarien näher zu beleuch ten sein.
D. Szene Am Anfang steht die Erinnerung an eine Szene, die zunächst wie eine Urlaubs impression wirkt. Während eines längeren Aufenthaltes in Algerien, so wird uns berichtet, ergab sich »die Gelegenheit, eine gewisse
Anzahl
arabischer
Juden zu beobachten, die offensichtlich nervös belastet waren (Symptome der Neurasthenie, der Hysterie und psychische Störungen)« 17• Der Beobachter und 1 3 Derrida, Schrift und Differenz, 303: »[Die Freudscben Begriffe) gehören alle ohne Ausnahme
der Geschichte der Metaphysik an ... . . . . Deshalb darf es nicht darum gehen, weder Jung noch dem Freudschen Begriff einer vererbliehen Erinnerungsspur zu folgen. Der Freudsche Diskurs ... deckt sich sicherlich nicht mit diesen notwendigerweise metaphysischen und traditionellen Begriffen. Er erschöpft sich gewiß nicht in dieser Zugehörigkeit.« 14 Siebe auch ihren Beitrag in diesem Band. 15 Otis, Organic Memory, 3. 16 Ebd., Xi. 17 Wulfing, Contribution, 5: ». . . l'occasion d'obse.rver un certain nombre de Juifs arabes presentant
des tares nerveuses manifestes (symptömes de neurasthenie, d'bysterie et troubles psycbiques).«
Ursprungsszenarien in der Nervositätsdebatte um I 900
93
zugleich Berichterstatter dieser Szene ist Georges Wulfing, ein im Jahre 1881 in Paris geborener angehender Doktor der M edizin an der Salpetriere. Der Hin weis auf die Schlüsselszene findet sich an prominenter Stelle, nämlich in der Vorrede seiner Dissertation, die Wulfing 1906 unter dem Titel Gontribution a I' etude de Ia Pathologie nerveuse & mentale chez /es Anciens Hebreux et dans Ia Race juwe seinem Doktorvater Jules Joseph Dejerine - Professor für Geschichte der Medizin und seit 1894 Chefarzt an der Salpetriere in Paris - einreicht. Und im Rahmen eben dieser berühmten Institution erfährt die beiläufige Wahr nehmung einiger arabischer Juden in Algerien eine nachträgliche Deutung, die sich dem Besuch der Vorlesungen Jean Martin Charcots, »jenen gelehrten klini schen Dienstagslektionen an der Salpetriere« 1 8, verdankt. Charcots D iktum, die Juden seien ein neurasthenisches Volk par excel/ence, macht Wutfing die Trag weite seiner Beobachtungen aller erst bewusst. 19 Doch der eingehenden eth nopathologischen Untersuchung der neurasthenischen und hysterischen Züge von Juden weltweit oder doch zumindest jenseits der Grenzen Frankreichs steht ein Hindernis gegenüber. Wutfing klagt : Da wir nicht eine einzige Notiz über unsere Kranken gemacht haben, sind unsere Erinnerungen unglücklicherweise nicht ausreichend genau, um uns zu erlauben, die detaillierten Beobachtungen und Erinnerungen an unsere Objekte aus dem Kopf zu rekonstruieren. 20
Die unzureichende Archivierung verhindert somit die wissenschaftliche Ana lyse seiner Urszene und damit die Untersuchung der globalen Reichweite von Neurasthenie unter den Juden. Stattdessen richtet Wutfing sein Augenmerk auf die weitaus besser dokumentierte Geschichte der Juden, um nunmehr eine Untersuchung zum zeitenübergreifenden pathologischen Charakter des Judentums anzugehen. Hierfür muss er sich nicht auf seine persönlichen Erin nerungen verlassen, er kann sich vielmehr auf die Schrift schlechthin, auf die Bibel beziehen. Seine Dissertation gliedert sieb dementsprechend in zwei Teile, die in etwa gleich ausführlich auf die Frage nach einer Pathologie nerveuse & mentale bei den antiken Hebräern und in der jüdischen Rasse eingehen. Der erste Teil entwi ckelt entlang der Aufteilung in Nerven- und Geisteskrankheiten Stigmata der Die Übersetzung der TextausZÜge aus Wulfings Dissertation wurde von mir besorgt. Auch im
Folgenden werde ich die entsprechenden Stellen der französischen Ausgabe in den Fußnoten
beisteuern, da der Wutfingsehe Text nicht so leicht in Deutsc.bland einzusehen ist. Ein herzliches
Dankeschön gilt Barbara Wolf-Braun, die einen kritischen Blick auf die Übersetzung geworfen
l8 l9
bat. Ebd.: »... de ses savantes >l�ns ctiniques du mardi, de Ia Salpetriere<«.
Sander Gilman hat sich mit dem Stereotyp des Juden in Charcots psychiatrischer Position näher
beschäftigt, siehe Gilman, Jew's Body,
78.
20 Wulfing, Contribution, 5: »Malheureusement, comme nous n'avions pris aucune note sur nos
malades, nos souvenirs ne sont plus suffisament m precis pour nous permettre de reconstituer, de memoire, Jes Observations detailJees et Jes commemoratifs de nos Sujets«.
Gline Kaiser
94
Neurasthenie und der Hysterie und umfasst eine Reihe von Fallgeschichten, die Wulfing anhand des Alten Testamentes resp. der Thora konstruiert. Der zweite Teil beginnt mit einer Darstellung der Forschungslage, die wiederum gesplite tet in Nerven- und Geisteskrankheiten die einschlägige zeitgenössische Debatte um eine besondere Disposition von Juden für Nervenkrankheiten kompiliert. 2 1 Hieran schließen sich Falldarstellungen aus der Klinik und der Fachliteratur an, um abschließend generalisiert zu werden. Das Fazit seiner Untersuchung, die wesenhafte und außerordentlich ausgeprägte Nervosität der Juden, steht dabei allerdings von vomeherein fest: Bei den Hebräern, einem seiner Natur nach nervösen Volk, konnten die Neurosen nicht unbemerkt bleiben. An verschiedenen Stellen der Bibel finden wir Beschrei bungen, die eine sehr große Ähnlichkeit zu den Phänomenen, die wir bei der Hysterie beobachten, aufweisen. 22 Wulfing setzt zum ersten Teil seiner Untersuchung, der retrospektiven Dia
gnose von Neurasthenie und Hysterie 23 bei den antiken Hebräern an, indem er praktisch in einem Schnelldurchlauf eine Reihe von Propheten und Pro phetinnen (auch Jesus Christus wird rnitbedacht) untersucht und einschlägige Symptome dingfest macht. Um die Struktur seiner Argumentation deutlich zu machen, soll im Folgenden eine exemplarische Fallgeschichte, der Fall des Propheten Elija, eingehender dargestellt werden. Daran anschließend wird kurz Wulfings Rekurs auf die Mythologie thematisiert werden, um zu zeigen, wie er sich die Brücke zwischen antiker Bibellektüre und modernen Klinikfällen in der Diagnose >Neurasthenie< denkt.
ll. 1 Der Fall E/ija Wulfing beginnt die Fallgeschichte Elija mit den klassischen Eckdaten seiner Biographie: Geboren in Tisbe zur Zeit des Königs Ahab (ca. 917-887 v. Chr.). Von hier aus kommt er sodann zu einer ersten Diagnose: »Wie alle Propheten
21
Wulfing berücksichtigt eine Vielzahl von Texten, die für die Frage nach der Neurasthenie bei den
Juden auch und gerade in Deutschland relevant sind. Eine Darstellung der wesentlichen mente dieser Debatte findet sich bei Tschoetschel, Diskussion,
22 23
234-375
Argu
und in allgemeinerer
Hinsiebt be.i Steiner, »Das nervöse Zeitalter«.. Wulfing, Contribution,
12 f.: »Chez Ies Hebreux, peuple essentieUement
nerveux, Ies nevroses ne
devaient pas passer inaperyues. En differents endroits de Ia Bible, nous trouvons des descriptions qui presentent une tres graode analogie avec les phenomenes que nous observons dans l'bysterie«. Ich werde im Folgenden die Phänomene Hysterie und Neurasthenie weitgehend zusammen
fassen, wenngleich sie im zeitgenössischen Diskurs in der Regel als eigenständige nosologische Einheiten verhandelt werden. Die Entscheidung, beide
Krankheitsphänomene zusammenzu
fassen, liegt darin begründet, dass sie in der Darstellung Wulfings nicht wirklich differenziert
werden.
95
Ursprungsszenarien in der Nervositätsdebatte um 1900
2 war er ein hochmütiger Mensch, ein impulsiver Wanderer.« 4 Ein erster Beleg dieser Einschätzung ist für Wulfing die Ankündigung der großen Dürre aus Könige 17; 1 : »So wahr Jahwe, Israels Gott, lebt, er,
in dessen
Dienst ich stehe,
es soll diese Jahre weder Tau noch Regen fallen, es sei denn auf das Wort
hin,
das ich spreche.« 25 Diese Prophezeiung charakterisiert Elija - aus der Perspek
frühzeitig
tive Wulfings -
nicht nur als einen hochmütigen, sondern vielmehr
bösartigen Menschen. Sein Hochmut bestehe in erster Linie darin, dass er sich
für »einen Abgesandten Gottes, den Dolmetscher Jahwes« hält, und als solcher die »fixe Idee« habe, dessen »Befehle zu überbringen«. 26 Bedenklich scheint Wulfing darüber hinaus, dass Elija infolge dieser >fixen Ideen< auch der Ansicht
zu sein scheint, die eintretende Dürre oder etwa das Feuer auf dem Berg Karmet stünden in einem kausalen Zusammenhang mit seinen Prophezeiun
gen, sprich: seinen eigenen Worten. Die besondere Bösartigkeit des Propheten hingegen - die
ihn
im Duktus der Psychopathologie als einen geistig Degene
rierten kennzeichnet - sieht er dokumentiert in der Geschichte vom Mehl- und Ölwunder. Angekommen in Zarephta verlangt Elija von einer Witwe, die ihm am Stadttor begegnet, sie solle ihm Wasser und Brot bringen. Als diese ihm
für sich und ihren Sohn nicht ausreichend, antwortet ihr gesagt habe. »Ohne Zweifel«, so resümiert Wutfing
antwortet, sie selbst habe er, sie solle tun was er ,
diese Szene, »infolge dieser Überspanntheiten und Skandale muss er wohl, ebenso wie die Priester Jahwes, häufig mit der Justiz zu tun gehabt haben«. 27 Nicht berichtet wird allerdings, dass sich im Bibeltext hieran das eigentliche Wunder anschließt: Witwe und Sohn haben von nun an nie versiegende Mehl und Öltöpfe. Diese eigenwillige Paraphrasierungstechnik ist insgesamt kennzeichnend
für
Wulfings Quellenarbeit: Einerseits ist ihm der Text des Alten Testaments Beleg einer Fülle von Hinweisen auf die neurotische Psyche der Hebräer, andererseits trennt er sich in dem Moment von seinem Fallmaterial, wo dieses doch ganz offensichtlich den Halluzinationen, fixen Ideen etc. Glauben schenkt. Elijas Krankheit nimmt im weiteren einen ungünstigen Verlauf. Unglückli cherweise wird der Prophet in einem fort von Gehörshalluzinationen geplagt, die ihm auftragen, er solle mal hierhin, mal dorthin wandern. Und Elija, der an seine inneren Stimmen (= Jahwe) glaubt, wandert an den Bach Kerit, nach
Zarephta, nach Karm et usw. Insgesamt dreizehn Reisen zählt Wutfing und
24 Wulfing, Contnbution, 38: »Comme tous les prophetes, iJ fut surtout un orgueilleux, un voyageur impuls.if«.
25 Die Bibel, Könige 17,1, 445. 26 Wulfing, Contnbution, 38: »D se croit, lui aussi, l'envoye de Dieu, l'interprete d'Iahve, et comme
tel, il transmet ses ordres: c'est lä son idee fixe<<. 27 Ebd., 40: »Sans doute, a la suite d'extravagances et de scandales, il dut, ainsi que les nabis d'lahvC, avoir de nombreux demeles avec lajustice ...«.
96
Ciline Kaiser
beziffert sie auf summasummarum 1 .722 Kilometer. 28 Sein Gesamtzustand ver schlechtert sich unter diesen Bedingungen kontinuierlich. Zusätzlich zu seinen größenwahnsinnigen und egozentrischen Eigenheiten entwickelt er im Kontext der Begegnung auf dem Berg Karmet und der damit verbundenen Auseinan dersetzung mit den Anhängern Baals einen Verfolgungswahn. Im Laufe seiner Flucht vor Isebels Häschern wandert er wieder weiter und verfallt in zuneh mend finstere Stimmung. i e Erkrankung steigert sich von Tag zu Tag; er verf . . . seine geistg allt immer mehr in die Demenz mit so gewaltsamen und so lang anhaltenden Halluzinationen, Zwangs vorstellungen und plötzlichen Eingebungen, dass sein Schüler Eliscba es für sehr unvorsichtig hält, den Priester sich selbst zu überlassen. 29
Schließlich am Ufer des Jordan angekommen, verschwindet Elija in der Lesart Wulfings auf mysteriöse Weise. Und während die Bibel uns eine farbenfrohe Vorstellung von feurigen Wagen und feurigen Rossen, die Elija im Sturmwind gen Himmel heben, gibt, lautet Wulfings lakonischer Kommentar: »Und Elija verschwand, ohne dass man ihn wiederfinden konnte. Es ist äußerst wahr scheinlich, dass er sich, plötzlich vom Drang zum Selbstmord ergriffen, in den Jordan stürzte.«30 0.2 Le JuifE"an t
Die Fallgeschichte des Elija ist insofern von Interesse, als sie bereits alle wesent lichen Punkte enthält, die Wulfing im zweiten Teil seiner Abhandlung auf die zeitgenössische Situation der jüdischen Rasse anwenden wird. Im Zusammen hang mit seinen Ausfiihrungen zur Pathologie nerveuse rekurriert er allerdings noch auf einen weiteren Quellenbereich: die Mythologie. »Der Vater der Neur astheniker«, so heißt es bei ihm, »scheint uns der Ewige Jude aus der Legende gewesen zu sein . . . «. 31 An dieser Stelle seiner Q ualifikationsarbeit bezieht er sich auf eine ältere Dissertation, die von Henry Meige ebenfalls an der Salpetriere eingereicht worden war und die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, das neurasthenische Judentum als Ausprägung der mythologischen Figur des
28 Ebd 39. 29 Ebd 41: »Cependant, son affection mentale s'aggrave de jour en jour; il tombe de plus en plus .,
.,
dans Ia demence avec des hallucinations, des obsessions et des impulsions si violentes et si tenaces que son disciple Elischa juge tres imprudent de laisser Je nabi Iivre a lui-meme . «. 30 Ebd., 42: »Et Eliyabou disparut sans qu'on put Je retrouver. D est fort vraisemblable que, pris soudain d'une impulsion au suicide, il se precipita dans l'lardin (Jourdain}«. 3l Ebd 63: »[Le] pere des neurastbeniques nous semble avoir ete Je Juif-Errant de Ia legende . «. .
.,
.
..
,
Ursprungsszenarien in der Nervositätsdebatte um I 900
97
Ahasver darzustellen. 32 Der Ewige Jude, der im Französischen treffender Le JuifE"ant genannt wird, sei - so lautet die Quintessenz, die Wutfing aus die ser Arbeit zieht - »Prototyp jener in der Welt umherreisenden, neurotischen Israeliten« 33, die
angezogen vom Renommee eines berühmten Mediziners, in vollstem Vertrauen und Zuversicht in seine Verordnungen, aber sehr bald misstrauisch und enttäuscht, ihren vorherigen Glauben aufgeben, um allerorts »mächtigere Zauberer zu suchen, ohne sie jemals zu finden«. 34 Die Parallele, die
mir hier angerlacht zu sein scheint, beruht wohl darauf,
dass der Ewige Jude der Legende nach erst dann von seinem Schicksal eines rastlosen Lebens und den damit verbundenen Leiden befreit sein wird, wenn er dem Messias beim Jüngsten Gericht wiederbegegnet Auch er ist also, wie jene misstrauischen Patienten, auf der unablässigen Suche nach Heilung. 35
Wulfing macht sich die Mühe, die scheinbar banale Alltagserfahrung des Klinikers, der zufolge insbesondere Juden medizinische Einrichtungen >heim suchten<, 36 anband der Mythologie als Volkscharakter der Juden herauszu streichen und insbesondere in den verschiedenen Überlieferungen des Mythos
vom Ewigen Juden nachzuweisen. Zur Dignität seiner mythologischen Quellen
äußert er 3.2
Siehe
sich hinreichend beruhigt. Sie enthalten seiner Meinung nach einen
dazu
n i sbesondere Goldstein, Wandering Jew,
534-545 sowie Gilman, Rasse, 291 und
ders., Jew's Body, insbesondere das Kapitel »The Jewish Psyche. Freud, Dora, and the Idea of
33
the Hysterie«,
60-103.
Wulfing, Contribution, 63: )))Le Juif-Errant, nous dit le Dr Meige, est une sorte de prolotype des lsraelites nevropathes peregrinant de par le monde«<.
34 Ebd., 65: ».
..
attires par le renom d'un medecin celebre, pieins de confiance et d'espoir dans
ses prescriptions, mais bientot me.fiants
et desabuses, abandonnent leur ancienne croyance >pour
ehereher partout de plus puissants encbanteurs, sans jamais les trouver<«.
35
lnteressanterweise wurde etwa Charcot gerade im Kontext der Hysterie und Neurasthenje magi
sche Heilkraft nachgesagt: >>Die frühen Magnetiseure hatten schon scheinbar wunderbare Hei
lungen zustandegebracht, indem sie hysterische Patienten magnetisierten, und, wie wir schon
gesehen haben, kam Charcot dadurch n i den Ruf eines großen medizinischen Zauberers, daß er m.it Hilfe von Suggestion im Wachzustand schwere hysterische Lähmungen heilte.« (Eilenberger, Entdeckung,
36
2 1 1 ).
Siehe etwa Shorter, Geschichte der Psychiatrie, 277-287.
So heißt es auch auf Seiten jüdischer
Nervenärzte, dass vor allem osljüdische Patienten gehäuft in die Praxis kämen, siehe z. B. bei Toby
Cohn: »Unter den ... Ostjuden herrscht eine das Durchsclullttsrnaß übersteigende Fürsorge für ihre leidenden Angehörigen, und [sie bringen) die erdenklichsten pekuniären Opfer, um bei wirk lichen oder vermeintlichen Krankheitsfallen ärztlichen Rat und ärztliche Hilfe dort zu erl.angen, wo sie nach ihrer Meinung am besten zu haben sind. ... Das trifft für die Psychoneurosen natur
gemäß in besonders hohem Grade zu, da im Wesen dieser Erkrankungen ohnehin ein häufiger
Wechsel des Arztes und des Heilsystems und nach manchen Mißerfolgen ein letztes Vertrauen
auf einen bestimmten
Arzt
od.er ein bestimmtes Sanatorium begründet liegt. Es wird unten
gezeigt werden, inwieweit auch eine hypochondrische Komponente bei dieser Erscheinung mit
spielt.« (Cohn, Nervenlcranlcheiten, 73). Siebe auch Engländer, Krankheitserscheinungen; Becker,
jüdische Nervosität und ders., Nervosität bei den Juden.
98
Geline Kaiser
Kern >historischer Wahrheit<, um eine Begrifflichkeit Freuds aufzugreifen, denn
»wie alle Legenden, leitet auch die Legende des Ewigen Juden ihre Herkunft von
volkstümlichen Beobachtungen ab, die auf handgreiflieben Tatsachen beru
hen.«37
D.3 Aus der Kiinik
Es überrascht nicht, dass auch Wulfings klinische Fallbeispiele dem Schema, das er anband des Alten Testamentes und der Legende vom Ewigen Juden etabliert hat, folgen. Die klassischen Symptome der Hysterie und die ohnehin etwas unscharfen Stigmata der Neurasthenie treten in seinen klinischen Fällen eher in den Hintergrund. 38 Stattdessen werden immer wieder Merkmale der Patienten
in extenso zusammengetragen, die für den kollektiven Charakter ihrer
Neurasthenie aussagekräftig zu sein scheinen. Zu diesen gehören die Folgeer scheinungen eines rastlosen Wanderlebens, von denen sich die Patienten erst durch die erzwungene Ruhe
im Krankenhaus langsam erholen. 39
So wird beispielsweise vom Patienten Moses C. 40 - 3 8 Jahre alt und als polnischer Jude in der Nähe von Warschau geboren - berichtet, dass er, nach dem er von seinen Vorgesetzten gezwungen werden sollte, seinen jüdischen Glauben abzulegen, das russische Militär verlassen hätte und nunmehr seit 15 oder 1 6 Jahren ohne Beruf sei.
Von da an beginnt er ohne Ziel und feste Absicht von Land zu Land umherzuirren. Er heiratet in Budapest, wo er einige Zeit verweilt. Aber der Drang zu reisen quält ihn unaufhörlich. Er lässt seine Familie in Jerusalem zurück, wohin er nur alle fünf Jahre zurückkehrt und beginnt durch die Welt zu wandern. Die Begründung seiner Reisen: »Das geschah, sagte er, um Abhilfe gegen das Leiden zu finden, unter dem ich seit dem 25. Lebensjahr leide, ein Leiden, das mich keine Ruhe und keine Rast finden lässt und um dessen willen ich sämtliche Spezialisten der Welt aufgesucht habe.«41 37 Wulfing,
Contribution,
63: »Comme toutes les legendes, ceUe du Juif-errant tire son origine d'
observations populaires reposant sur des faits materiels«.
38
Wenn man eine besondere Affinität zu einer bestimmten Konzeption von Neurasthenie ausma
chen kann, dann wohl zu
zu
derjenigen von Pierre Janet. »Janets Neurosenkonzept gehört weder
den rein >organistischen< noch
zu
den rein >psychogenetischen< Theorien. Bei der Hysterie
und der Psychasthenie stellte er einen psycbogenetischen Prozeß heraus, der von Erlebnissen und >fixen Ideen< ausging, aber auch von einem organischen Substrat, d. h. einer Prädisposition zur
39
40
Neurose.« (Eilenberger, Entdeckung des Unbewußten, 514).
Siehe Wulfrng, Contnbution, 68.
Zum Folgenden siehe ebd., 73 f.
Der FaD des Moses C. wurde von Wulfing ebenfalls der
tation von Meige entnommen.
41 Ebd., 73: »Des lors, il se mit a errer de pays en pays sans but bien
arrete. 0 se marie
Disser
ä Budapest
ou iJ sejourne pendant quelque temps. Mais le besoin de voyager le tourmente sans cesse. ll
famille a Jerusalem ou iJ ne reviendra que de cinq en cinq ans, et se met ä peregriner a travers le monde. La raison de ce.s deplacements: >C'etait, dit-il, pour trouver un remede au laisse
sa
•
Ursprungsszenarien in der Nervositätsdebatte um /900
99
Neben dem Wunsch, einen geeigneten Arzt zu finden, der einen von seinen Leiden befreien könnte, tritt in den klinischen Fallgeschichten gehäuft noch ein anderes Moment auf, das einen Begrtindungszusammenhang
für
die
zahlrei
chen Reisen liefert: Die jüdischen Patienten, so will es Wutfing scheinen, leiden in besonderem Maße an der Vorstellung, verfolgt zu werden. Und auch wenn er Faktoren wie etwa schlechte Lebensbedingungen, unter denen insbesondere Os�uden zu leiden haben, oder den Einfluss von tatsächlicher Verfolgung und Antisemitismus gelten lässt, überrascht er uns damit, dass diese Größen des individuellen Erlebens lediglich den Stellenwert eines akzidentellen Ereignisses zugesprochen bekon1nnen.
Dabei würde die traumatische Erfahrung von Verfolgung und Antisemitis
mus eine hinreichende Begründungsfolie
für die
Rastlosigkeit, die Wulfing in
seinen klinischen Fällen ausfindig macht, abgeben können. Der Gedanke eines
fiir die Ätiologie der Hysterie auch im Rolle. 42 Und im Sinne der zeitgenössischen
veranlassenden Traumas spielt
Kontext
der Schule Charcots eine
Theorie
movens für die Herausbildung von Hys terie dar. Für Freud und Breuer ist ein herausstechendes Charakteristikum von Hysterie die allen Symptomen zugrundeliegende Unfähigkeit, erlittene 'frau mata angemessen zu erinnern und zu versprachlichen. 43 Darüber hinaus bietet das Freudsche Traumamodell von 1895 mehr als eine eindimensionale kausale Verknüpfung zwischen auslösendem Ereignis und pathologischer Reaktion. Es liefert eine invasive Struktur, die die Wiederholung der Abwehrreaktion des Freuds stellt sie ein ganz wesentliches
Kranken über lange Zeiträume hin erklären kann.
[Der) kausale Zusammenhang des veranlassenden psychischen lraumas mit dem hysterischen Phänomen ist nicht etwa von der Art, daß das Trauma als agent pro vocateur das Symptom auslösen würde, welches dann, selbständig geworden, weiter bestände. Wtr müssen vielmehr behaupten, daß das psychische Trauma, respektive die Erinnerung an dasselbe, nach Art eines Fremdkörpers wirkt, welcher noch lange Zeit nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes Agens wirken muß . . 44 . .
Der gleichermaßen innerhalb und außerhalb des psychischen Erlebens befind
liche Fremdkörper setzt die pathologische Wiederholungsstruktur frei, die die Symptomatik der Hysteriker und Neurastheniker prägt.
mal dont je souffre depuis l'äge de 25 ans, mal qui ne me laisse ni treve ni repos et pour lequel j'ai consulte tous les specialistes du monde<<<.
42 So etwa bei Paul Richer. Siehe Ellenberger, Entdeclrung, 2 1 1 : »Halluzinationen und Handlungen
des Patienten in der hysterischen Krise, sagt Richer, können eine Reproduktion irgendeines psychischen Traumas sein, das der Patient früher einmal erUtten hat . «. 43 So heißt es bei ihnen, »der Hysterische leide größtenteils an Reminiszenzen« (Freud/Breuer, Studien über Hysterie, 86) und >>daß diese Erinn erungen lraumen entsprechen, welche nicht genügend >abreagiert< worden sind . . .« (ebd., 89). .
44 Ebd., 85.
.
100
Geline Kaiser lli. Szene
Entgegen diesen Erklärungsmustem, mit Hilfe derer einzelne Fälle von Neur asthenie und Hysterie analysiert werden könnten, zeigt sich
Wulfing
an der
Erklärung individueller Fallbeispiele wenig interessiert. Was er von Anfang an herausarbeiten
will,
ist der kollektive Charakter der Neurasthenie. In diesem
Sinne schreibt Wulfi.ng zu den »Gründe[n]
für den
Wahnsinn der juden«:
Den verschiedenen Autoren zufolge, die sich mit dieser Frage auseinandergesetzt haben, ergibt es sich, dass die Ursache für die häufigsten Psychopathien in den speziellen Charakteristika, die der jüdischen Rasse inhärent sind, gesucht werden muss. Verfolgt von aßen Seiten, gejagt durch alle Länder und dies seit Jahrhunderten hatten diese ständigen Verfolgungen schnell eine Entartung des Nervensystems zur Folge, ein Verfall, der sich im weiteren Verlauf bei den Nachkommen fortpflanzt. 45 Wie hat man sich dies nun aber vorzustellen? Wie kommt es, dass »die Juden im Speziellen für die Krankheit unserer Epoche prädisponiert sind?«46 Einerseits denkt Wulfing sich den Zusammenhang von Antike und Gegen wart, den er in seiner Dissertation herstellt, strikt im Sinne der Paradigmen des Degenerationskonzeptes von Benedict Augustin Morel. Von Generation zu Generation verschlechtert sich der Gesundheitszustand kontinuierlich. Diese Anleihe am Degenerationsdiskurs des
19. Jahrhunderts ist für die Psychia
20. Jahrhunderts keinesfalls ungewöhnlich. 47 Die latenten Beeinträchtigungen, die sich Morels Theorie zufolge akkumulativ weiterverer
trie zu Beginn des
ben, werden im Kontext des modernen Lebens - das heißt unter den Einflüssen der modernen Zivilisation - lediglich in Form von Neurasthenie und Hysterie sichtbar. Andererseits lassen sich keine organischen Besonderheiten feststellen, die eine hinreichende Begründung
45
Wulfing, Contribution
,
für die besondere Häufigkeit der Erkrankungen
86f.: »Causes de Ia jolie chez !es Juifs. - D apres les differents auteurs '
qui ont etudie cette question, iJ resulte que la cause Ia plus frequente des psycbopathies doit etre recherchee dans les
cteres sp6ciaux inherents a Ia race juive. Persecute de toutes parts,
cara
traques dans tous les pays,
et cela depuis des siecles, ces persecutions incessantes amenerent
rapidement une decheance du systeme nerveux, decheance qui se reproduisit par la suite, chez les descendants«.
46 Ebd., 61: »Les Juifs sont tout particulierement predisposes au mal de notre epoque«.
47
Henry F. Elleoberger relativiert die Bedeutung des Degenerationsdiskurses für die Psychiatrie der
Jahrhundertwende in Frankreich. ln Bezug auf Pierre Janets Theorien schreibt er: »[Die Prädis
position zur Neurose] schrieb er konstitutioneUen und erblieben Faktoren zu, die in Frankreich am
Ende des
19. Jahrhunderts unter d.er unangebrachten Bezeichnung >degeneration mentale<
zusammengefaßt wurden, einem Ausdruck, den man von More! übernommen hatte; er hatte aJJe Bedeutung verloren, wurde aber noch routinemäßig verwendet.« (EUenberger, Entdeckung des Unbewußten,
514 f.). Auch Freud hatte die RoDe der Konstitution in seinen frühen Schriften
betont, wenngleich er im Gegensatz
zur
»neuropathischen Disposition« die >>sexueUe Konstitu
tion« als wesentliche Differenz hervorhob. Vgl. Freud, Ansichten,
154f.
Ursprungsszenarien in der Nervositätsdebatte um 1900
101
bei Juden liefern könnten. Und doch verbindet Wulfing die Beobachtung, die Juden seien, »wie der Volksmund sagt, >ganz Nerv«< mit ihrer
2000 jährigen
Geschichte der Verfolgung. 48 Mit anderen Worten: Das, was sich im jüdischen Volkskörper vererbt, das sind die kollektiven Erfahrungen, die das jüdische Volk als Ganzes geprägt haben und nun in Form von Erkrankungen weiter prägen. Nicht die individuelle Erfahrung von Verfolgung, Antisemitismus und unsicheren sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen, sondern die kollektive Erfahrung der Jahrtausende ist der eigentlich pathogene Faktor.
Wulfings
Dissertation nimmt weder hinsichtlich der Voraussetzungen, die
er macht, noch bezüglich der Stigmatisierung der Juden als außerordentlich neurasthenisches Volk eine Sonderstellung im zeitgenössischen Diskurs ein. 49 Was seinen Text allerdings von der weitverbreiteten psychiatrischen Diskussion unterscheidet, ist die Tatsache, dass er den Versuch unternimmt, die idee - Neurasthenie
als
Grund
erbliche Eigenschaft der Juden schlechthin - auszu
buchstabieren und bis in die Antike zurückzuprojizieren. Insofern er hierfiir auf das Konzept der kollektiven Erinnerungen zurückgreift, um anhand ein zelner Stationen der jüdischen Geschichte nachzuweisen, dass die Juden
als
Kollektivkörper neurasthenisch sind, weist sein Beitrag über die psychiatrische Forschung hinaus auf die kulturhistorischen Arbeiten Sigmund Freuds. Freud hat bekanntlich in seiner späten Schrift
Monotheismus den
Der Mann Moses und der
Versuch unternommen, die Geschichte des Judentums und
der jüdischen Religion vom psychoanalytischen Standpunkt aus zu rekonstru ieren, indem er seine Einsichten aus der Analyse der Neurosen auf kulturge schichtliche und religiöse Kontexte anwandte. so Dabei ging er davon aus, dass - wie schon in
Totem und Tabu
- der Ursprung von Zivilisation und Religion
in einem traumatischen, kollektiven Erlebnis (dem Mord onsstifter)
zu
arn
Urvater/Religi
suchen ist. Diese Urszene von Zivilisation und Religion wird als
gemeinschaftsstiftende
Erfahrung
von Generation zu Generation weitervererbt
und begründet somit als kollektive psychische Struktur den Zivilisationspro zess. SI Wenngleich Freud die Nachbarschaft von Religion und Neurose gelegent lich hervorhob und er auch die Lamarckschen Grundannahmen mit Wutfing teilte, muss man dennoch sehen, dass er die Kulturgeschichte nicht als eine schlichtweg pathologische Angelegenheit konzipierte und dass Wutfing dage gen die Geschichte des Judenturns als einen seit der Antike beobachtbaren
48 Wulfing, Contnbution, 6 1 f.: »Persecute et abuse pendant 2,000 ans, Je peupJe juif devint un peupJe chez Jequel Je systeme nerveux l'emporte sur Je systeme musculaire: iJ est, pour parJer comme Je vulgaire, >tout nerfs<«. 49 Dagegen für den deutschsprachigen Raum, Radkau, Zeitalter der Nervosität, 350-387. SO Vgl. Freud, Vorlesungen, 404. SI Diese Zusammenfassung ist freilich grob schematisch. Siehe Freud, Mann Moses und ders., Totem und Tabu.
102
Ge/ine Kaiser
Entwicklungsgang zunehmender Degeneration auffasst. Der Zusammenhang zum Zivilisationsprozess spielt auch bei Wutfing eine Rolle, zumal das Krank heitsbild der Neurasthenie seit der Rezeption von Beards Schriften auch Buropa als Zivilisationskrankheit
par exce/lence
in
betrachtet wurde. 52 Doch die
starken Anleihen, die Wulfing am Degenerationsdenken macht, fOrdern eher eine kulturpessimistische Sicht� wie sie etwa durch den modernen
Ahnher
ren der Zivilisationskritik, Jean-Jacques Rousseau, initüert wurde. Rousseau hatte bekanntlich in seinen kritischen wie in seinen pädagogischen Schriften die Einflüsse der Zivilisation als schädlich und einer naturgemäßen Entwick lung des Menschen abträglich beschrieben. Mit dieser Position war er
für
die
Entwicklung des Degenerationsdenkens des 19. Jahrhunderts auch und gerade in der Psychiatrie wegweisend. 53
Wutfing beleiht implizit dieses kulturpessimistische Modell; allerdings spielt
für ihn keinerlei
Rolle, was im Sinne Rousseaus den notwendigen Kontrast zur
Zivilisation ausmacht: Rousseau hatte dem tendenziell degenerierten Kultur menschen einen ursprünglichen Menschen im Naturzustand gegenübergestellt. Mit der Vorstellung vom Naturzustand ist ein Moment in die geschichtsphilo sophische Theorie eingebaut, das dem »Prozeß der Entartung«54 vorausgehen soll. Jacques Derrida hat in einer seiner Rousseau-Lektüren aufgezeigt, inwie fern Rousseau hier eine Urszene der Zivilisation konstruiert und die theoreti schen Konsequenzen dieses Modells analysiert.
Um also ein Bild von der deskriptiven Vergehensweise Rousseaus zu geben, die keine Tatsachen restaurieren, sondern eine Abweichung ermitteln will, ist es vielleicht rat sam, jenen Punkt, von dem aus die Abweichung ermittelt oder die Struktur gezeichnet wird, nicht Nullpunkt oder einfachen Ursprung zu nennen. Der Nullpunkt oder der Ursprung implizieren einen einfachen Anfang, der nicht auch Anbruch einer Entar-
tung ISt .... 55 •
Wie Derrida demonstriert, hat Rousseau »alle von unserem Logos konstituier ten Rechte auf seiner Seite« 56, mit anderen Worten: die gesamte Geschichte der abendländischen Metaphysik, wenn er darauf besteht, dass dieser ursprüngliche
Punkt oder Anfang allen weiteren Unterscheidungen entrückt und im strikten Sinne vorgängig sei. Die Konstruktion der Urszene der Zivilisation, wie sie Rousseau unternommen hat, hat damit den funktionalen Aspekt inne, einen
52 Siebe etwa Beard, Nervous Exhaustion; ders., American Nervousness. Dazu auch Roelcke,
Zivilisationskrankheiten, der sich nicht nur eingehend mit der Nervositätsdebatte, sondern auch mit der Freudschen Psychoanalyse befasst.
53 Vgl. Bayertz!Weingart/KroU, Rasse, Blut und Gene; zu Rousseau als Paten des Degenerations gedankens insbesondere 42-46; allem 47-50.
54 Derrida, Grammatologie, 417. 55 Ebd 56 Ebd 418. .
.,
zu
Morel und der frtiben deutschen Psychiatriegeschichte
vor
Ursprungsszenarien in der Nervositätsdebaue um I900
Punkt
zu
103
markieren, von dem aus die Unterscheidung Natur vs. Zivilisation
ihre Dynamik entfalten kann. Gleichzeitig
gilt
es aber festzuhalten, dass die Versuche, einen Nullpunkt
oder Ursprung aufzusuchen, stets nur ex post erfolgen können. Es handelt sich
um
Konstruktionen, die wie bei jeder Deutung durch eine grundsätzliche
Nachträglich.k:eit geprägt sind und auf diese Weise den Sachverhalt, den sie zu beobachten vorgeben, überhaupt erst herstellen. 57 Auch
für Jean Laplanche und
Jean- Bertrand Pontalis steht in ihrer Feeud
Lektüre im Vordergrund, dass die Konstruktion von Urszenen
dazu dient,
Grunddifferenzen des psychoanalytischen Denkens zu begründen und zu plau sibilisieren. So sehen sie etwa in seiner Konzeption des Primärprozesses die Urszene der Wunschbildung: Was Freud in der Tat zu erfassen vorgibt, indem er eine bildliehe Darstellung . . . davon gibt, ist genau die Zeit der Entstehung des Wunsches. Es handelt sich dabei um eine analytische »Konstruktion« oder um eine Phantasie, die den Moment der Spaltung in ein vorher und nachher zu erreichen sucht, einen Moment, der noch beide in sich enthalten soll: ein mythischer Augenblick der Disjunktion . . . . 58 Was hier
für die Bewegung zwischen »Befriedigung« und »Wunscherfiilu l ng«,
zwischen dem »realen Erlebnis« und seiner »halluzinatorische[n] Wiederbe lebung« konstatiert wird, 59 gilt nach Laplanche/Pontalis gleichermaßen für die
Gründungsgeste anderer zentraler Differenzen im Freudschen Theorie
gebäude. 60 Den Urphantasien kommt dabei die Funktion zu, »als Augenblicke der Emergenz, als Ursprung einer Geschichte . . . das
[zu dramatisieren], was
dem Individuum als eine Realität vorkommt, die nach einer Erklärung verlangt, nach einer >Theorie<.«6 1 Denkt man an die eingangs zitierte Passage aus Freuds
Vorlesungen, 62 in der er die Phantasietätigkeit des Kindes damit erklärte, dass
es sein eigenes Erleben mittels prähistorischer Wahrheit ergänzend ausgestalte, wird deutlich, dass Freud hier Schlüsselbegriffe seiner Theorie in Szene setzt:
57 Vgl. Derrida, Schrift und Differenz. 327: »[Die Rekonstitution des Sinns im Nacbherein] hin·
teräßt l eine wirkende Spur, die nie in ihrer Gegenwartsbedeutung, das heißt bewußt, wahrgenom men und erlebt wurde. Das Post-scripturn, das die vergangene Präsenz als solche konstituien, begnügt sich nicht dabei, wie Platon, Hegel und Proust vielleicht gedacht haben, sie in ihrer Wahrheit zu erwecken oder zu enthüllen. Es erzeugt sie. . . Nur mit Verspätung wird die Wahr· nehrnung der Urszene - Wirklichkeit oder Phantasma, darauf kommt es hier nicht an - in ihrer Bedeutung erlebt; .. «. 58 Laplanche/Pontalis, Urphantasie, 54 f. 59 Ebd., 55. 60 Derrida hat diese Ursprungsfigur ebenfalls fur die Begründung des Gesetzes bei Freud heraus· gearbeitet, vgl. Derrida, Prejuges, insbes. 49-52. 6 1 Laplaoche/Pontalis, Urphantasie, 42. 62 Siehe Fußnote 10. .
.
104
Ciline Kaiser
Urphantasien: in der Urszene wird der Ursprung des Individuums bildlich dargestellt; in der Verfiihrungsszene ist es der Ursprung, das Auftauchen der Sexualität; in den Kastrationsphantasien ist es der Ursprung des Geschlechterunterschieds. 63 Ex
post
wird in den zentralen Szenarien das Vokabular der Psychoanalyse
in seiner Dynamik
für
die Freudsche Theorie verankert. Dabei spielen »die
Begriffe der >Nachträglichkeit< und der >Verspätung«<, wie Derrida betont, auch
für den
Überschlag ins Kollektive eine zentrale Rolle. Ihre
. . . Entdeckung setzt Freud bis in ihre letzten Konsequenzen und über die Indi vidualpsychologie hinaus ins Werk. Die Kulturgeschichte muß sie seiner Meinung nach bestätigen. In Moses und der Monotheismus (1931) umfaßt die Wrrkung der Verspätung und der Nachträglichkeil weite historische Zwischenräume. 64 Was veranlasst Freud nun aber, von der Bedeutung der Begriffe des Ereignisses und der Nachträglichkeit
für
die Einzelfallanalyse auf die Ebene
religionshistorischer Erwägungen
zu
kultur-
und
wechseln? Handelt es sich lediglich um
den Versuch, einer klinischen Beobachtung Rechnung zu tragen? Wenn etwa Freud seinen Rückgriff auf eine phylogenetische Erklärung damit begründet, dass ihm in der
Praxis
der Analyse gehäuft Fälle begegnen, in denen
ähnli
dann damit eine kollektive Typenbildung und Pontalis sind in ihrer Urphantasie die
che Urszenen konstruiert werden, ist hinreichend motiviert? Laplanche
ser Frage nachgegangen. Entgegen Freuds eigener Argumentation, die »hinter der Verschiedenheit der individuellen Fabulierungen gewisse >typische< Phan
tasien entdecken« will, welche mit der »Ereignisgeschichte des Individuums« nicht erklärbar seien, und somit ein »primum movens« voraussetzen, das als
ein >>Vorgängiges Schema . . . , . . . als [ein] >Organisator< vermuten sie einen systematischen
Grund: 65
zu
wirken vermag«,
Die in die Prähistorie des Menschen verlegten Szenen, . . . hat Freud wohl weniger deshalb herangezogen, um eine Realität aufzufinden, die sich ihm auf der Ebene der Individualgeschichte entzieht, als vielmehr deshalb, um ein Imaginäres zu begrenzen, das se in eigenes Organisationsprinzip nicht in sich selbst enthalten und somit auch nicht den >Kern des Unbewußten< bilden kann. 66 In diesem Sinne wird der Wunsch,
in
der (Re-)Konstruktion der Urszenerlen
ein Reales aufzufin den, auf das sich alle folgenden Entwicklungen zurückführen
lassen, zu einem Unterfangen, das zur erkenntniskritischen Sicherung der Psy choanalyse als WiSsenschaft beitragen soll. Die Rolle der hereditären, kollek tiven Erinnerungen wäre demnach einerseits als Rückversicherung gegenüber den letztlich nicht kontrollierbaren individuellen Fabulierungen verständlich.
63 Laplanche/Pontalis, Urpbantasie, 42. 64
Derrida. Schrift und Differenz, 312. 65 Sämtliche Stellen aus Laplanche/Pontalis, Urphantasie, 37. 66 Ebd ., 38.
Ursprungsszenarien in der Nervositätsdebatte um 1900 Hinter der pseudowissenschaftlichen Maske der Phylogenese,
105
im
Verweis auf die hereditären Erinnerungsspuren, müßte man folglich die Notwendigkeit erkennen können, die Freud dazu zwingt, die Vorgängigkeil einer bezeichnungsgebenden Orga
im Hinblick auf die Wtrksamkeit des Ereignisses und der Gesamtheit des Bezeichneten . zu postulieren. In dieser mythischen Prähistorie der Gattung kommt nisation . .
.
. .
der Anspruch auf eine dem Subjekt unzugängliche Prä Struktur zum Ausdruck, die sich seinen Zugriffen und Initiativen . . . entzieht. 67 -
Andererseits bleibt es unentscheidbar, inwiefern die (Re-)Konstruktion einer Urszene auf tatsächlich Erlebtes oder aber eine Phantasie zurückgeht. Daher »muß man dasjenige, worauf die Phantasie letztlich gründet, in ein Jenseits verlegen, in etwas, das zugleich das individuell Erlebte und das Vorgestellte transzendiert.« 68 Abseits der Überlegungen, welchen systematischen Stellenwert man der Urszene
im Freudschen
Denken zumessen will, stellt sich die Frage, auf welche
Weise man den Unterschied zwischen Fakt und Fiktion in der Erzählung von Urszenen dingfest machen will oder ob man dieser Differenz überhaupt noch Bedeutung ergiebiger,
zumisst. 69 Statt hier auf eine Entscheidung zu drängen, scheint es die Art und Weise der jeweiligen Urszenarien in ihrer narrativen
Struktur in den Blick zu nehmen.
Epilog Bei allen Parallelen, die man zwischen den Ansätzen Freuds und Wultings
sehen kann, ist es dennoch notwendig, auf die grundlegenden Unterschiede der Konzepte
hinzuweisen.
Dass Wulfings Text nicht das
Raffinement
und
die Selbstreflexivität von Freuds Argumentationen besitzt, sei nur am Rande festgehalten. Vielversprechender scheint es
mir, die strukturellen
Unterschiede
der beiden Ansätze genauer zu beobachten.
67 Ebd ., 38f. 68 Ebd ., 35. Entgegen der Darstellung von Laplancbe/Pontalis betont Sigrid Weigel den Ereignis charakter flir die Freudsche Theorie. Siehe Weigel, Telescopage, 56: »Freud selbst [hat] in seinen verwickelten Erörterungen zum Trauma das Ereignis nur im Kontext seiner Verführungstheorie zur Disposition gestellt. Einzig m i Kontext seiner Verfuhrungstheorie, nicht aber in seiner The matisieruog von Kriegsneurosen, Unfalltraumata und der Struktur des Wiederholungszwangs, der die Ökonomie traumatischer Erinnerung bestimmt, schwankt Freud in der Frage, ob das
Trauma sich aufein reales oder phantasiertes Ereignis bezieht. Diese ist gleichwohl nicht mit einer lndifferenz der Theorie gegenüber dem Ereignis zu verwechseln, sondern spricht flir ein Wissen um die Grenzen der Analyse und die DunkclsteUen theoretischer Kläru.ngsmöglicbkeiten«.
69 Derrida hat sie imGegensatz zu Laplanche/Pontalis als unwesentUch betrachtet, siebe die bereits oben zitierte SteUe zum Fall des Wolfsmanoes: »Nur mit Verspätung wird die Wahrnehmung der Urszene -
Wirklichkeif oder Phamasma, daraufkommt es hier nichf an - in ihrer Bedeutung
erlebt« (Derrida, Schrift und Differenz, 327; Hervorhebung von mir).
106
G/ine Kaiser
Wenngleich Wulfing sich die Mühe macht, die Geschichte des neurasthe nischen Judenturns von der Antike her zu (re-)konstruieren, so fehlt seinem Ansatz jedoch ein
im
Sinne der Freudschen Konzeption sehr wesentlicher
Gesichtspunkt: Dasjenige, was Wulfing aufzeigt, ist nicht etwa eine Urszene jüdischer Neurasthenie als solche. Nicht eine traumatisierende oder den wei teren Verlauf motivierende Szene steht am Anfang seiner Bibellektüren. Statt dessen zeigt er uns eine lange Reihe sich unermüdlich wiederholender Merk male, die seiner Meinung nach den Charakter der Neurasthenie hinreichend umschreiben. Letztlich entwickelt Wulfing zwar eine große Erzählung über das neurasthenische Judentum, aber er verzichtet gänzlich darauf, eine Urszene als solche, also im Singular, einen Anfangspunkt herauszuarbeiten. Die sachliche Konsequenz dieser Vorgehensweise ist, dass es gemäß Wulfings Darstellung in der gesamten Geschichte des Judentums keinen Zeitpunkt gibt, an dem es nicht bereits >von Natur aus< neurasthenisch gewesen wäre. Strukturell könnte man diesen fundamentalen Unterschied - Freuds Ur
für deren Ein nachher wesentlich
sprungsdiskurs dient der Einfuhrung zentraler Begrifflichkeiten, satzpunkt die Unterscheidung von einem
vorher und einem
ist, bei Wulfing wird eine solche Unterscheidung gar nicht erst eingeführt als den Unterschied zwischen Anfang auf der einen und Beginn auf der ande ren Seite reformulieren. So hat Heidegger die Differenz zwischen Anfang und Beginn einmal wie folgt formuliert: »Beginn« - das ist etwas anderes als »Anfang«. Eine neue Wetterlage mit einem
z.
B. beginnt
i Anfang aber ist die vorauswirkende, völlige Umwandlung der Sturm, hr
Luftverhältnisse. Beginn ist jenes, womjt etwas anhebt, Anfang das, woraus etwas ent springt. Der Weltkrieg fing an vor Jahrhunderten in der geistig-politischen Geschichte des Abendlandes. Der Weltkrieg begann mit Vorpostengefechten. Der Beginn wird alsbald zurückgelassen, er verschwindet
im
Fortgang des Geschehens. Der Anfang,
der Ursprung, kommt dagegen im Geschehen allererst zum Vorschein und ist voll da erst an seinem Ende. 70
Diese Unterscheidung scheint zunächst nicht viel mehr zu bedeuten als die klassische Unterscheidung von kausaler und konsekutiver Verbindung zweier Ereignisse. Dennoch implizieren die Begriffe verschiedene Ebenen: »First is the notion of beginning as opposed to
origin, the latter divine,
mythical and privile
ged, the former secular, humanly produced, and ceaselessely re-examined.« 71 Wenn man, wie eingangs in bezug auf die Thesen von Laura Otis angemerkt, davon ausgeht, dass die Faszination
für Ursprungsszenarien im ausgehenden
19. Jahrhundert nicht zuletzt darauf beruhte, das kollektive Gedächtnis im Körper lesbar zu machen, dann sind die korrespondierenden Erzähltechniken 10 Zitiert nach Düttmann, Gedächtnis des Denkens, 145, aus dem Kapitel »Widerwendigkeit des Anfangs«, 145-183; das Zitat im Zitat stammt aus: Heidegger, Vorlesung über »Hölderlins Hymnen )Germanien< und )Der Rhein«< von 1934/35. 71 Siehe die Jnrroduction von Michael Wood, in: Said, Begi.nnings, xviii.
Ursprungsszenarien in der Nervositätsdebatte um 1900
107
von wesentlicher Bedeutung. Die Bedeutung der Unterscheidung von Anjäng und Beginn einer Narration, wie etwa jene großangelegten, kultur- und reli gionsgeschichtlichen Darstellungen Freuds und Wulfingst ist
dann näher zu
bestimmen. J. Hillis Miller definiert in Reading Na"ative die Unterscheidung
im Sinne von Ursprung auf der einen und Beginn auf der anderen Seite als unterschiedliche narrative Strukturen: zwischen Anfang
The beginning must be both inside the story as part of its narrative and at the same time outside it, prior to it as its generative base, the father ofthe line offiliation, or the mothering spider from whose beUy the thread is spun. lf inside, theo the beginning is no base, oo origin. lt is an arbitrary starting, like beginning a bridge in midspan, with no anchor to the sbore. lf outside, theo the beginning is not really part of the narrative line. lt is clisconnected from that line, like a tower piling or abutrneot of no help in building this particular bridge. Any beginoing in narrative cunoiogly covers a gap, an absence at the origin. This gap is both outside the textuaJ line as its Iack of foundation and visible withio it as loose threads of incomplete information ravelling out toward the unpre sented past. 72 In diesem Sinne könnte man sagen, dass Wulfings Modell die Geschichte eines
Anfangs erzählt, der innerhalb einer sich ständig wiederholenden Erzählstruktur verbleibt. Was er
zu
eliminieren oder invisibilisieren sucht, ist ein Jenseits, ein
Außerhalb seiner Narration. Während man dem Freudschen Modell vorhal
ten kann, dass es sich hinsichtlich seiner Begriffli chkeit und insbesondere der kollektiven Urszenarien innerhalb der Grenzen abendländischer Metaphysik bewegt, so zeigt sich doch anhand des
Wulfingschen Versuches, die Geschichte
der Neurasthenie des Judenturns >von Beginn an< zu erzählen, dass seine Dar stellung überhaupt keinen Deutungsspielraum mehr lässt. Ohne die Konstruk
tion eines Anfangs wird die Rekonstruktion einer pathologischen Struktur zu einem unentrinnbaren Schicksal, das sich >von jeher< in der naturhaften Ver fasstheit des jüdischen Kollektivkörpers eingeschrieben hat. Dem Leser des Wulfingschen Textes bleibt es anheim gestellt, sich zu fragen, welcher eigentümlichen Wunscherfiillung seine Stigmatisierung des kollekti ven jüdischen Körpers dienen mag. Wenngleich man auf der argumentativen
Ebene des Textes keine Urszene ausmachen kann, so kann man doch deutlich
sehen, dass Wulfings eigenes Schreiben durch eine Urszene motiviert wurde. Der Algerienaufenthalt wird als Anfangspunkt seines Interesses markiert, den Kollektivkörper der Juden zu beschreiben. Er wird zum Anlass, die zeitgenössi schen Theorien auf die Bibel zurückzuphantasieren, wobei er nicht nur eine wiederkehrende Reihe von pathologischen Merkmalen der Juden aufzeigt, son-
12 Miller, Reading Narrative, 58 f. Seine Definition erinnert an die Dialektik zwischen einem Inner halb und einem Außerhalb, wie sie in der oben zitierten Freud-SteUe bezüglich der besonderen Stellung des traumatisierenden Fremdkörpers in der Hysterie angeklungen war. Siebe Fußnote 44.
108
Q/ine Kaiser
dem auch seine eigene Darstellungsweise mit keinem anderen Mittel so sehr arbeitet wie mit der Wiederholung.
Literatur Barker, S. (Hg.), Excavations and Their Objects. Freud's CoUection of Anriquity, New York 1996. Beard, G.M., American Nervousness, its causes and consequences, New York 1 8 8 1 . -, A Practical Treatise on Nervous Exhaustion (Neurasthenia), New York 1880.
Becker, R., Die jüdische Nervosität, ihre Art, Entstehung und Bekämpfung, Zürich 1918.
-, Die Nervosität bei den Juden. Ein Beitrag zur Rassenpsychiatrie für Ärzte und gebildete Laien, Zürich 1919. Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes, Deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel, hg. von D. Arenhoevel/A. Deissler/A. Vögtle, Freiburg/Basel/Wien I O 1 968.
Cohn, T., Nervenkrankheiten bei Juden, in: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden. Neue Folge 1 ( 1925) 7 1 -86.
Derrida, J., Grammatologie, Frankfurt
arn
Main 5 1 994.
-, Prejuges. Vor dem Gesetz, Wien 1992. -, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 4 1 989. Düttmann, A.G., Das Gedächtnis des Denkens. Versuch über Heidegger und Adorno, Frankfurt
am
Main 1991.
Ellenberger, H.F., Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfangen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Bem 2 1 996. Engländer, M., Die auffallend häufigen Krankheitserscheinungen der jüdischen Rasse, Wien 1902. Freud, S., Aus den Anf angen der Psychoanalyse. Briefe an Wtlhelm Fließ, Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902, London!Frankfurt am Main 1950. -, Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen [ 1 905], in: Gesammelte Werke, Bd.5, London/Frankfurt
am
Main 1999, 147-159.
-, Zur Ätiologie der Hysterie [ 1 896], in: Gesammelte Werke, Bd. 1 , London/Frankfurt am Main 1999, 423-459. -, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose [ 1 9 1 8], in: Gesammelte Werke, Bd. 12, London/Frankfurt
am
Main 1999, 27-157.
-, Konstruktionen in der Analyse [ 1 937], in: Gesammelte Werke, Bd. 16, London/Frank furt am Main 1999, 41-99.
-, Der Mann Moses und der Monotheismus [1937-1939], in: Gesammelte Werke, Bd. 1 6, London/Frankfurt am Main 1999, 1 0 1 -246.
-, Totem und Tabu [ 1 9 1 2], in: Gesammelte Werke, Bd.4, London/Frankfurt
am
Main
1999. -, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [ 1 9 1 6/1917], in: Gesammelte Wer ke, Bd. 1 1 , London/Frank:furt am Main 1999. - /J. Breuer, Studien über Hysterie [ 1 895], in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Londonl Frankfurt
am
Main 1999, 75-312.
Urspnmgsszenarien in der Nervositiitsdebaue um 1900
109
Gilman, S., The Jew's Body, New York/London 1991. -, Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur, Reinbek bei Harnburg 1992.
Goldstein, J ., The Wandering Jew and the Problem of Psychiatrie Anti-semitism in Fin-de-Siecle France, in: Journal of Contemporary History 20 (1985) 521-552. Laplancbe, J./J.-B. Pontalis, Urphantasie. Phantasien über den Ursprung - Ursprünge der Phantasie, Frankfurt am Main 1992.
Mertens, W./R. Haubl, Der Psychoanalytiker als Archäologe. Eine Einführung in die Methode der Rekonstruktion, Stuttgart u.a. 1996. Mitler, J.H., Reading Narrative, Norman 1998.
Otis, L., Organic Memory. History and the Body in the Late Nineteenth & Early Twen tieth Centuries, Lincoln/London 1 994.
Radkau, J ., Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 2000.
Reinhard, K., Tbe Freudian Things: Construction and the Archaeological Metapher, in: S. Barker (Hg.), Excavations and Their Objects. Freud's CoUection of Antiquity, New York 1996, 57-79, 138-140. Roelcke, V., Die »Entdeckung« der Zivilisationskrankheiten. Natur, Kultur und Zivilisa tionskritik in der Geschichte der Psychiatrie und Psychotherapie, 1 790-1914, Habili tationsschrift Bonn 1997. Said, E., Beginnings. Intention and Method. With an Introduction by M . York 1985.
Wood,
New
Shorter, E., Geschichte der Psychiatrie, Berlin 1999. Steiner, A., »Das nervöse Zeitalter«. Der Begriff der Nervosität bei Laien und Ärzten in Deutschland und Österreich um 1900, Zürich 1964 (Zürcher medizingeschichtliche Abhandlungen, Neue Reihe 21). Tschoetschel, M., Die Diskussion über die Häufigkeit von Krankheiten bei den Juden bis 1920, Med. Diss. Mainz 1990.
Vico, G., The New Science of Giambattista Vico. Revised Translation of tbe Third Edition (1 744) by T.G. Bergin and M.H. Fisch, lthaca/New York 1968.
Weigel, S., Telescopage im Unbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbe
griff und Literatur, in: E. Bronfen/B.R. Erdle/S. Weigel (Hg.), Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln 1999, 51-76. Weingart, P./J. KroD/K. Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 1988.
Wulfing, G., Contribution a l'etude de Ia Pathologie nerveuse & mentale chez les Anciens Hebreux et dans la Race juive, Paris 1906.
BARBARA SCHELLEWALD
Susan Hiller »From the Freud Museum« Die Arbeit From the Freud Museum befindet sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Tate Modem in London. 1 Eine große, in zwei Ebenen geteilte Glasvitrine zeigt 50 geöffnete Schachteln, die in der Innenseite des Deckels wie in der Schachtel unterschiedliche Texte und Objekte darbieten. Auf dem Deckel findet sich ein Titel auf einem weißen Etikett. Zwei in ihren Grundmaßen analoge, in ihrer Ausrichtung von quer zu oblong wechselnde Schachtelformate sind in einem gänzlich regelmäßigen Rhythmus arrangiert.
Abb. 1: Detailansicht von Susan Hiller, Prom the Preud Museum, Tate Modem, London.
Rein formal lassen die Behältnisse ein unmittelbares Bezugsfeld dieser Arbeit aufscheinen: Gewöhnlich dienen sie Archäologlnnen bei Grabungen, um das vorsortierte und von der Erde bereinigte Material nach einer ersten Systemati sierung, die in kleinen Beschriftungen ihren Niederschlag findet, aufzunehmen. Die An-Sammlung der von ihrer Genese her sehr unterschiedlichen Texte, Objekte und Bilder ist in der Vitrine wie eine Art Archiv konstruiert, das auf grund der Heterogenität der Materialien unterschiedliche Lesarten oder auch Erzählungen provoziert. Die Art der Darbietung mutet gleichwohl traditionell an: Sie rekurriert auf Rezeptionserfahrungen, wie wir sie etwa in naturkund lichen Museen schon lange machen konnten: Langsam folgt man dem Lauf der Vitrine und sucht über die spezifische Klassifizierung der Gegenstände Erfahrungen und Erkenntnisse über vergangene Epochen zu gewinnen. Dies könnte man zumindest als die allgemeinste Konditionierung unserer BetrachI Grundlegend zu dieser Arbeit: Hiller, Freudsche Objekte und dies., Freud Museum.
112 tung
Barbora Schellewald
anführen.
Dem entgegen steht jedoch die gleichwohl ästhetisierte bzw.
rhythmisierte Präsentation, die einen ersten Bruch mit dieser Tradition anzeigt.
An
gilt es, die Genese dieser Arbeit zu rekonstruieren, die ihrem originären Titel At the Freud Museum gemäß 1994 im ehemaligen Wohn erster Stelle
und Arbeitsort des exilierten Sigmund Freud in London 20, Maresfield Gar den, beheimatet war und strukturell wie auch inhaltlich auf diesen Ort Bezug
nimmt . 2 Freuds Haus war Wohnort und Praxis des Psychoanalytikers. Mobiliar, Bibliothek und seine in das Exil gerettete Sammlung sind
als
sichtbare Spuren
museal inszeniert. Zugleich ist der Ort atmosphärisch getränkt durch die
ihm
zugewiesenen Erinnerungen an Freuds Tätigkeit als Begründer oder Vater der Psychoanalyse. Die
Aura
des Ortes ist konstitutiv
Hiller. In erster Linie adaptiert sie die Idee
für
für
die Arbeit von Susan
eine Sammlung. Freud hatte
eine auf seinem antiquarischen Interesse basierende Sammlung kleiner antiker
Skulpturen unterschiedlichster Herkunft angelegt, die in Glasvitrinen präsen
tiert wurde. Das Sammeln dieser Objekte beruhte auf deren Wertschätzung als Ausdruck kultureller Emanationen, als Bilder vergangener Kulturen, mittels
derer sich eine Annäherung an diese vollziehen lässt. Gemeinhin gelten die
Objekte als wertvoll. Pomian hat grundsätzlich jede Art von Sammlung als eine
Zusammenstellung von Gegenständen definiert, die ausgestellt werden, um den Blick auf sich zu ziehen und vom Sichtbaren
zum
Unsichtbaren zu vermitteln. 3
Während Freud, individuelle Vorlieben eingeschlossen, Objekte sammelt, die konsensual einem kulturellen Gedächtnis angehören, vereint Hiller Objekte, die in ihrer Fragmentarisierung, in ihrer scheinbaren Wertlosigkeit eher zu den Abfallprodukten unserer Kultur zählen - wir werden allerdings gleich einräumen, dass diese Aussage letztlich nicht zutriffi, zumal wenn man den zeitgenössischen Kunstdiskurs in Rechnung stellt. Die Arbeit von Susan Hiller versteht sich weniger als Gegenmodell, denn als Anspruch, als umfassender psychoanalytisch argumentierender Kommentar zu fungieren. Da die antike Plastik
für
Freud die Unvergänglichkeit unserer Emotionen dokumentiert, 4
wird auch auf der Objektebene ein Bezug zwischen Freud und Hiller denkbar. Die Hillers Arbeit zugrundeliegende Begrifflichkeif verdankt sich konstitutiv der Lektüre Freuds, die
Akkumulation
von Texten wie auch Objekten einer
Bezogenheit auf diesen Ort. Gleichermaßen bedeutsam ist der Konnex zu der Autorio Susan Hiller, deren Kommentar mittels der Buchpublikation eines Teils dieser Schachteln wie auch durch eine Reihe von Interviews
mitgelesen werden kann .
inzwischen
2 Angesichts der Datierung der einzelnen Schachteln ist erkenntlich, dass die Arbeit an diesem Projekt bis in das Jahr 1 991 zurückgeht. 3 Pomia n, Ursprung, 13-45. »Ohne Ausnahme spielen sie alle die RoDe von Vermitdem zwischen den Betrachtern und einer unsichtbaren Welt . . .« (ebd., 45). 4 Assmann, Krypta, 99.
Susan Hil/er )>From the Freud Museum«
113
Die Loslösung von diesem originären Ort in verschiedene Ausstellungen in
From the Freud Museum wie auch der letztvollzogene Wechsel in die Tate Modem hat zwangsläufig einen Rezeptions wandel, divergierende Lesarten nach sich gezogen, wenngleich die genetischen Spuren unweigerlich durch die Titelgebung an den Ursprungsort zurückfuhren. London und New York mit dem Titel
Zu differenzieren ist ferner zwischen dem Angebot durch die Präsentationsfor men wie auch die weiteren Lektürevorgaben durch die Autorin, einem ersten Text und einem zumindest zweiten Text, der auf der Rezipientinnenebene ent steht. Dieser zweite Text oder
Erzählung bildet so viele Varianten wie Leser
da er auf ihren unterschiedlichen Dispositionen gründet. So sind Infor mationen über die Künstlerin, ihre Vita als Anthropologin, Wissenschaftle� aus,
über die Herkunft der Objekte, die diversen Interessensfelder, über Einstellun
gen zur Differenz zwischen Wissenschaft und Kunst u. a. mehr erhellend. Bei
den Rezipientinnen ist überdies die intellektuelle Vorprägung konstitutiv. Der durch den Titel provozierte Rekurs auf Freud kann je nach Vorwissen frucht bar gemacht werden. Grundsätzlich divergieren die potentieUen Erzählungen,
so dass meine im Folgenden nur als Einfiihrung und auf wenige Beispiele konzentrierte Lektüre letztlich nur Aufschluss über mich und den meinen Aus sagen unterlegten Anspruch bietet. Meiner Konditionierung als (Kunst-)Histo rikerin entsprechend vermerke ich neben der schon angesprochenen Genese
der gesamten Arbeit die Chronologie der Schachteln, die mit 1991 beginnt,
1994 die Zahl von 27 erreicht und inzwischen bis an die 50 angestiegen ist.
Eine mögliche Lektüre könnte allein der Frage nachgehen, ob innerhalb die ses längeren Entstehungsprozesses eine
Akkumulation von Bedeutungsebenen
erzielt wird. Das Entstehungsdatum der jeweiligen Schachtel scheint jedoch
für die Darbietung innerhalb der Vitrine allenfalls von sekundärer Relevanz, da im Katalog die als erste verzeichnete Schachtel NAMA-MA (mother) in der oberen Vitrinenetage erst an zehnter Stelle rangiert. s Provoziert wird diese Frage nicht zuletzt durch die in der Publikation vorgenommene chronologi sche Auflistung. 6 Folge ich im zweiten Schritt meiner Neugier, etwas über die Genese der hier versammelten Materialien
zu
erfahren, kann ich auf die als
Kommentar verfassten Texte von Susan Hiller zurückgreifen: Partiell entstam men die Objekte ihren Reisen an entlegene, mit Mythen verbundene Orte:
5
6
Diese Divergenz ist durchaus aufschlussreich: Die Arbeit Hillers kann grundsätzlich (s.u.) der sogenannten Spurensicherung zugeordnet werden. Ein konstitutives Phänomen für diese sind die aus den WISSenschaften entlehnten Strategien. Chronologische Aufzählungen, fundiert durch entsprechend lineare EntwicklungsmodeUe, sind noch immer integraler Bestandteil historisch ausgerichteter Disziplinen. Die Publikation der Schachteln folgt derartigen Prinzipien, bietet somit einer sieb enseits j des Ortes vollziehenden (wissenschaftljchen?) Lektüre ein vertrautes Ordnungsschema an. Die museale, »künstlerische« Präsentation hingegen sucht eben diese Chro nologie zugunsten formaler, d.h. ästhetisch begründeter Ordnung zurückzustellen. Da mein kurzer Text ausschließlich einfUhrenden Charakter hat, muss an dieser Stelle auf eine derartige Lektüre verzichtet werden. Ich werde an anderem Ort darauf zurückkommen.
1 14
Barbara Schellewald
Lethe und Mnemosyne etikettierten G lasfläschchen - die Schachtel firmiert unter dem Titel Eaux-de-Vie (spirits) - bewahrte Wasser den
So ist das in den als
in Böotien gelegenen Quellen entnommen. Die Kenntnis ihres Namens ver danken
wir
den Angaben des antiken Autors Pausanias. Die Mitnahme von
Flüssigkeiten von bedeutsamen Orten, sei es Öl oder Wasser, gemahnt auch an die christliche Praxis des Reliquienerwerbs auf Pilgerreisen. 7 Die in der Schachtel
RELEQUIA (relic) (sie!) offerierte künstliche Ansteckblume kenn
zeichnet ein Etikett als »Made in Germany, USSR occupied«. Ein Zitat Walter Benjamins, das Verhältnis von Geschichte als Wahrheit und ihrer Rekonstruk
ähigkeit in Hinblick tivität betreffend, assoziiert das Objekt mit seiner Aussagef auf Geschichte bzw. richtiger das kulturelle Gedächtnis. Die nicht nur dem Reliquienerwerb dienende Pilgerreise vollzieht sich unter anderem in der Vorstellung, die Heilsgewissheit über das Ende des irdischen Daseins
zu
stärken, so wie sie gleichzeitig der Erlangung eben dieses Heils
dienlich ist. 8 Beziehen wir an dieser Stelle den Kontext >Freud< ein, so bleibt
zu vergegenwärtigen, dass die hier versammelten, scheinbar wertlosen Relikte Metaphern wie auch Assoziationsfelder bereitstellen, die in der Psychoanalyse fruchtbar gemacht werden können. Die Analyse wäre somit
als
Pilgerreise
interpretiert, die einer irdischen »Erlösung« von Traumata dienlich ist. Die Schachtel
MOROR (bitter) birgt zwei aus Nordafrika stammende Bü
cher, die sich aus historischer Perspektive mit den arabisch-jüdischen Bezie hungen auseinander setzen. Die Schachtel
NAMA-MA (mother) enthält in klei
nen Kosmetikdöschen geschlossene, aus der australischen Wüste stammende natürliche Erdpigmente, die Susan Hiller von Papunya-Künstlem gezeigt wor den sind. So finden sich eine Vielzahl, durch Heterogenität gekennzeichnete 7 Erinnert sei etwa an PilgerampuUen, von denen sieb in Monza eine ganze Reihe von Objekten
überliefert haben. Formal imitieren sie die von Pilgern auf ihre Reise mitgenommenen Wasser flaschen. In den Pilgerampullen wurde Öl bewahrt, das z. 8. mit den loca sancta des HeiUgen Landes in Berührung gekommen war. Die Orte selbst waren z. 8. durch den Kontakt mit dem Körper Christi ausgezeichnet (vgl. Mietke, Pilgerandenken). Auch bei anderen Objekten ist die ser Verweis auf eine derartige Praxis nicht zu übersehen. So birgt die Schachtel EuxiJ (prayer)
eine Reihe von Steinen aus einer Felshöhle von der Mani, ein Ort, der mit dem Eintritt von Aeneas n i die Unterwelt n i Verbindung gebracht wird. Ein aus dem 6./7. Jahrhundert stam mendes Kästchen, das sich heute in den Vatikanischen Sammlungen befindet (ursprünglich aus der päpstlichen KapeUe Saneta Sanctorum), zeigt in einem Kreuz und ein dieses diagonal durchschneidendes zweites Kreuz arrangierte, in Mörtelmasse eingebettete Steine. die, wie ihre Beschriftungen markieren, aus dem Heiligen Land kommen. Die christologischen Bilder des Deckels dienen der kontextuellen Rückfuhrung der Objekte, so wie bei Hiller eine in das Decke linnere gelegte Landkarte den originären Ort der Steine anzeigt (zum vatikanischen Kästchen 8
vgl. Mietke, Pilgerandenken mit Abb.). Erinnert sei auch an die mit Reliquien verbundenen Ablasspralctiken, d.h. durch den Besitz der Reliquie bzw. die Berührung dieser wird, insbesondere ab dem 13. Jahrhundert, eine Reduktion der Aufenthaltsdauer im Fegefeuer erzielt, die endgültige Erlösung rückt näher (vgl. Angenendt, Reliqu.ien; Legner, Reliquien).
Susan Hiller »From the Freud Museum«
1 15
Spuren einer fragmentarisierten, partiell in Vergessenheit geratenen, auch mar ginalisierten, in Sonderheit auch jüdischen Geschichte. Die Relikte gehören der eigenen wie auch unterschiedlichen fremden Kulturen an. Diese kulturel len »Sprünge« vollziehen sich vordringlich zwischen den Schachteln, innerhalb der einzelnen Schachtel divergieren die Objekte zumeist aufgrund ihres eher privaten bzw. öffentlichen Status in Hinblick auf ein kulturelles Gedächtnis. Dominant bleibt in der einzelnen Schachtel eine
Erzählung
Akkumulation
von Objekten,
FÜHRER (guide) provoziert uns mit einer Publikation über jüdische Geschichte bis 1935, die eine auf Kohärenz angelegte
geriert. Die Schachtel
die Susan Hiller aus dem Abfall geborgen hat. Daneben finden sich Kar ten, Kopien von Texten, aber auch Bilder und andere Objekte, wie etwa als Milchkännchen dienende Kuhporzellanfigürchen. 9
Die metaphorische Struktur ergibt sich durch das Zusammenspiel von
Text und Objekt bzw. Bild, das in den einzelnen Schachteln unterschiedlich gewichtet ist. Auffällig bleibt die Dominanz der Sprachen, englisch, hebräisch, deutsch, die Sprache der Aborigines, wobei die Aneignung auf dieser sprachli
chen Ebene partiell akzentuiert ist, als in Klammem die lexikalisch angebotene Aussprache beigeordnet ist. Die Interdependenz zwischen Text und Bild bzw. Objekt
wird
bewusst eingesetzt. Durch diese wird
im
Kern eine Struktur aus
gebildet, die Susan Hiller als traumartig und auf die Freudsche Traumdeutung
bezugnehmend, tituliert. Angespielt ist auf den manifesten und latenten Traum inhalt, auf Bewusstes und Unbewusstes, die als Paar - wenn auch nicht ganz unproblematisch, weil natürlich simplifizierend (Erinnern und Vergessen) wiederkehren. ler die Schachtel
Es
-
als Lethe
und
Mnemosyne
ist kaum Zufall, dass Susan Hil
Eaux-de-Vie als Herzstück ihrer Arbeit sieht. Die Schachtel fft:imlich (homely) erlaubt, das die meisten Schachteln auszeichnende kom
pl�xe Referenzsystem exemplarisch in Augenschein zu nehmen: Im Deckel 1 findet sich die Kopie eines Todesengels oder Sensemanns von Andre Breton, 0
unten ist eine Schallplatte mit dem Song »Look Homeward, Angel« einge-
9 Diese sind in der Schachtel COWGIRL (KOU' GURL) in ihrem Format entsprechende Aus
sparungen in die Schachtel eingesetzt. Auf der Decketinnenseite erscheint die Kopie des Photos einer amerikanischen out-law mit dem sinnfigen illi Namen Jennie Metcalf (etJlf eogl. Kalb). Die mit einem Revolver ausgestattete und recht keck in die Kamera blickende Protagonistin scheint kaum einer potentiell durch die Milchkännchen angespielten Rollenerwartung an Frauen, die Nachkommenschaft zu nähren, zu entsprechen. Eine derartige erste Lesart dieses auf eine lroni sierung zielenden Schachtelinhalts nimmt ihren Ausgang bei der schon im Titel angekündigten Roßenüberschreitung des Cowgirls gegenüber dem Cowboy. Hiller (Freudsche Objekte, 14) ver weist auf die Bezeichnung von Frau als Kuh, dem Schießeisen als phallischem Objekt und der amerikanischen Bezeichnung der Kännchen als o-eamer, d. h. auf eine sexuelle Konnotation. 10 Andre Breton ist Autor des 1924 in Paris erscheinenden Manifests der Surrealisten. Deren i konstitutiv fur Hillers künstlerische Produk Auseinandersetzung mit Freuds Traumdeutung st tion. Das Bild seines Totenengels steht somit auch in der Funktion einer Anhindung an einen lrunstinternen Diskurs. Bindeglied s.ind die Freutischen Schriften.
116
Barbara Schellewald
passt, der Song gemahnt zugleich an die populäre Novelle des amerikanischen
Autors Thomas Wolfe. Der Schachtelinhalt mit der signifikanten Todesmeta
(Horne ist hier gleichzusetzen mit Tod) kann zu Freuds Aufsatz Das Unheimliche von 1919 1 1 in Bezug gesetzt werden, folgt man den hier ange
phorik
legten sprachlichen Pfaden: heimlich ist nicht unbedingt die gängige deutsche Sprachform von
home{v, wenngleich in dem von Freud zitierten Wörterbuch der deutschen Sprache von Saunders von 1860 die Bedeutung heimelieh als hei melig, vertraut, im Sinne des lateinischen familaris, eingangs aufgeführt wird. Die zweite Ebene ergibt sich durch die in der heutigen Sprachform üblichere Bedeutung von »heimlich«, im Englischen
secretely oder uncanny und folge
richtig in der Rückübersetzung ins Deutsche auch als »unheimlich« bekannt. Das was so
heimelig scheint, gleitet unweigerlich ins Unheimliche oder auch Unheil, folgt man dem weiteren Gedankengang von Susan Hiller: In einem Interview spricht sie davon, dass man bei dieser Schachtel im Heim gewis
sermaßen über die Sprache behaglich bis
zum
Inzest gelange.12 Ein kurzer
Blick auf Freuds Aufsatz macht diesen Zusammenhang ungleich evidenter.
Freud geht von der lexikalischen Bedeutung des Wortes »heimlich« aus und akzentuiert dessen Ambivalenz, da es einerseits auf Vertrautes, Behagliches rekurriert, andererseits jedoch Verstecktes, Verborgenes meint. Letztere Bedeu tung koinzidiert mit der des Wortes »unheimlich«. 1 3 Freuds Essay dient einer Begründung dieses Phänomens. Ausgangspunkt ist ein Zitat von Schelling,
in
dem das Unheimliche als etwas deklariert wird, was im Verborgenen bleiben soll. In seinen Überlegungen, in weiten Passagen an literarischen Zeugnissen wie E.T.A. Hoffmanns Erzählung
Der Sandmann entwickelt, kommt er zu dem
Schluss, dass das Unheimliche dem Seelenleben von alters her etwas Vertrau tes beinhaltet, das letztlich nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist. Innerhalb dieses Prozesses kommt der Angst vor dem Tod eine vordringliche Rolle zu. In bezug auf unsere Schachtel sind diese höchst ver einfacht dargestellten Überlegungen Freuds aufschlussreich. Die sprachliche Ambivalenz zwischen heimlich und
home/y ist dort ebenso fundiert wie die
daraus entlehnte Todesmetaphorik. 14 Der Bezug zum Ort manifestiert sich auch auf der Objektebene: Die mit dem
hebräischen Wort ilnOiD
(joy), Freude, bezeichnete Schachtel zeigt eine Folge
von Dias, die Kopien von solchen der Familie Freud sind und die sieb heute, I I Vgl. Freud, Das Unheimliche. 12 Hiller, Freudsche Objekte, 17. !3 1m letzten Schritt bezieht er sich auf ein aufschlussreiches Zitat von Schelling, in dem dieser als unheimlich dasjenige bezeichnet sehen will, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte (Freud, Das Unheimliche, 248ff.). 14 Der Rückgriff auf den deutseben Begriff ist intentional (Hiller, Freudsche Objekte, 17). 1m weitesten Sinne kann man auch dieser Schachtel einen Ieitmotivischen Charakter zusprechen: Freud als Vater der Psychoanalyse wird indirekt als derjenige vorstellig, der all das, was im Verborgenen bleiben soll, a.ufdeckt.
117
Susan Hiller ))From the Freud Museum« z. T. zerbrochen, noch können,
so
im
Haus befinden: auch wenn
wir
sie nicht anschauen
verrät uns Susan Hiller ihren Inhalt, indem sie
im
Deckel eine
Auflistung bzw. eine Klassifizierung dieser anbietet: mikroskopische Aufnah men und solche der
Latema Magi�
erstere untergliedert in wissenschaftliche
Themen und Kuriositäten, letztere in traditionelle Dias und solche mit frühen Disney Cartoons. Die vielfach beschworenen Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst sind, so Susan Hiller in etlichen Interviews, letztlich nur Konstrukt, da die Kunst sich längst Strategien der Wissenschaft angeeignet hat und ande rerseits der Anspruch von Objektivität, z. B. in der Anthropologie, sich geradezu als kontraproduktiv erwiesen hat, da das selbstreflektorische Moment konsti tutiv
für jede Erkenntnis ist.
Hiller bezieht sieb
damit
zugleich auf eine Kunst
produktion, die unter dem Begriff der Spurensicherung firmiert. Der Künstler Lotbar Baumgarten hat dies ja in seiner Arbeit vielfältig thematisiert. 15 Die Vertrautheit mit den Rezeptionsstrategien basiert auch auf gewonnenen
Erfahrungen mit der Concept Art im Allgemeinen, unmittelbar mit den »Spu rensicherern« 1 6 , die beide im künstlerischen Diskurs seit den siebziger Jahren präsent sind. Diese geschichts-, archäologie-, ethnologie- und anthropologiebe zogene Kunst paraphrasiert Wissenschaft, in dem sie deren etablierte Strategien bisweilen spielerisch, partiell jedoch durchaus in einem weitreichenden imita tiven Prozess adaptiert. Die Frage nach der Grenze zwischen WISsenschaft und Kunst ist gerade in jüngster Zeit wiederholt kritisch diskutiert worden . 1 7 Bei Susan Hiller ist die Bezugnahme auf die Archäologie (Schachteln) wie
die Ethnologie (Objekte) evident. Die offenkundigen Differenzen zu den Wis
senschaften sind hier insofern fruchtbar gemacht, als sie die Inbezugnahme auf Freud akzentuieren. Der explizite Rekurs auf die Archäologie lässt sich freilich noch mit Freud in Verbindung bringen, da dieser wiederholt eine meta phorische Beziehung zwischen Psychoanalyse und Archäologie konstatiert hat. Allein die
Art der gesammelten
Relikte (sie entstammen z.B. nicht Ausgrabun-
IS Vgl. Zabel, Bilder. 1 6 Inzwischen vielfach auch mit dem weiter gefassten Begriff der Gedächtnis-Kunst behaftet. 17 Vgl. Flaig, Spuren. Flaig konstatiert z.B. eine radikale Differenz zwischen beiden, kann der Kunst nicht einmal ein Anregungspotential zusprechen, wobei seine Thesen ausschließtich an den Arbeiten von Anne und Patrick Poirier entwickelt sind (bei anderen »Spurensicherem«, z. B. Sigrid Sigurdsson, würde diese scharfe Abgrenzung kaum gelingen). Schneider hingegen vermag eine Analogie in der Attitüde beider zu erkennen, einer Attitüde, die ihre Spuren auch in der wis senschaftlichen Arbeit hinterlässt (Schneider, Patbos). Grundsätzlieb bleibt der Befund, dass in dieser Art von Kunstproduktion in höchst unterschiedticher Art auf Wissenschaft Bezug genom men wird, Strategien adaptiert, paraphrasiert, z. T. auch reflektiert werden. (Siehe auch Metken, Spurensicherung). Der spielerische Umgang schlägt sieb bisweilen allein in der Tatsache nieder, dass die Flktionalitä.l der Objekte evident ist (Anne und Patrick Poirier). Will man überhaupt innerhalb der Gruppe sehr unterschiedtich operierender Künstlerinnen Grundlendenzen benen nen, so wäre eine vordringliche, dass sie in Konfrontation mit den jeweiligen Wissenschaften Fragen nach deren Konstruktivität provozieren und zu kultureDem Erinnern gemahnen.
Barbora Schellewald
1 18
gen) zeigt jedoch, wie schnell sich dieser Verweis erschöpft.
Hilfreicher scheint
es, auf eine von Jan Assmann getroffene Unterscheidung zwischen einem dis ziplinierten Gedächtnis der Wissenschaftlerinnen und einem anarchischen der Künstlerinnen zurückzugreifen. Der Künstler, die Künstlerin überführt seine/ ihre Eindrücke in die neue Ordnung des Kunstwerks. Assmann führt weiter aus, dass die soziale, konventionelle und professionelle Disziplinierung unseres Gedächtnisses gelockert und eine narrative und imaginäre Kreativität freige
setzt würde, über die wir sonst nicht verfügen können. Zugleich würde dadurch eine Annäherung an den Traum vollzogen. Nehmen
wir diesen Gedanken auf,
so vermag man den Rückgriff auf die Kunstproduktion der Spurensicherung bei Hiller dezidiert als in der Funktion stehend
zu
interpretieren, eben diesen Rekurs auf Freuds Traumdeutung sinnfällig zu machen. 18
Literatur Angenendt, A., Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Chris tentum bis zur Gegenwart, München 1997. Assmann, J., Krypta - Bewahrte und verdrängte Vergangenheit. Künstlerische und wissenschaftliche Exploration des Kulturellen Gedächtnisses, in: B. Jussen (Hg.), Archäologie zwischen Imagination und Wissenschaft: Anne und Patrick Poirier, Göt tingen 1999, 83-99. F1aig, E., Spuren des Ungeschehenen. Warum die bildende Kunst der Geschichtswis senschaft nicht helfen
kann, in:
.B. Jussen (Hg.), Archäologie zwischen Imagination
und Wissenschaft: Anne und Patrick Poirier, Göttingen 1999, 16-50. Freud, S., Das Unheimliche [19 19], in: Studienausgabe, Bd. 4: Psychologische Schriften,
8 1 994, 241-274. Hiller, S., After the Freud Museum, London 2000. -, Freudsche Objekte. Gespräche über Kunst und Wissen, hg. von J. Blume/G.K. Bose, Leipzig 1998. Jussen, B. (Hg.), Archäologie zwischen Imagination und Wissenschaft: Anne und Patrick Poirier, Göttingen 1999. Legner, A., Reliquien in Kunst und Kult. Zwischen Antike und Aufklärung, Darmstadt
1995. Metken, G., Spurensicherung - Eine Revision. Texte 1977-1995, Arnsterdam 1996.
Mietke, G., Wundertätige Pilgerandenken, Reliquien und h i r Bildschmuck, .in: M. Brandt/A. Effenberger (Hg.), Byzanz. Die Macht der Bilder, Hitdesheim 1998, 40-55. Pomian, K., Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988. Schneider, L., Das Pathos der Dinge. Vom archäologischen Blick in Wissenschaft und Kunst, in: B . Jussen (Hg.), Archäologie zwischen Imagination und Wissenschaft: Anne
und Patrick Poirier, Göttingen 1999, 51-82. Zabel, J.-K., Bilder vom Anderen. Kunst und Ethnographie bei Lotbar Baumgarten, Bonn 2001.
18 Der Rückgriff auf die längst etablierte Kunstproduktion der ))Spurensicherung« bedarf weiterer Untersuchung. Der Vergleich mit den Arbeiten einzelner Künstler muss in unserem Zusammen
hang unterbleiben.
Susan Hiller >>From the Freud Museum«
1 19
Abb. 2-5: HEIMLICH (homely); i1nOtv (joy); Eaux-de-Vie (spirits); FÜHRER (guide); Detailansichten aus Susan Hiller, From the Freud Museum, Tate Modem, London.
...... ..�..,....,_...,., _.., �_" _. "' ,.,MtJ
... ---. ...__ � ... ,...,. .. - " .,.._. ... ..,._... .�� .... . ... ....... ·--·- .. .. ..... ....,.... . .... ,.. "' ,..." _ ....,. ,..,... _ -- -
,....._....,. _.1...... ... . . .... ... ·� "n --
.,..., � ....__ ...., __....-.... ,. __ .. .... ..,.. . ____
..."'··---,..... ___ ___....,... _ ..,.. , __ _ _ _ ...._..., ..,... ___ _ __ ._ ,... t# . ...... ___ _ -.-- .� - -"._
......... -- -·�-· t ··..........___ · -__
...
...
....._ ...,. __ -
_,
-
---
--
- - ----· -
-_, ______ - ·----·---------- ---- ·---... -··
--. ---
__
----
------·-·-·----·-
_ .-J ___________ _ ---------- - - - · � ... --
__ __ _ __
__ ---- -··--·-----· -
..
__
--
---
-
•
•
After the Freud Museum. A conversation with Susan Hiller 1 I am interested in the relationship between your work and the Freud Museum in London. Dijferent Levels ofmeaning converge at that place: objects of everyday Iift ofFreud's family, hs i collection ofantiquity and his rejlections on the interplay of remembering and forgetting. What is your relation to psychoana/ysis and its founding fother Freud? Is it an analysis, a transgression, a continuation or nothing ofit?
CBLINE KAIS ER:
SusAN HILLER: I am no specialist I refer to academic discourses like psycho i spired by analysis only marginally. Concerning my relation to Freud I arn n the situation of the Freud Museum in London. To think about Freud's house n i London - as I said in the book I wrote about this work,
From the Freud
Museum - it struck me tbat it was a poetic layering of contexts. First you have the actual house Freud lived in and practised in and you have bis famous couch and bis
furniture.
You also inevitabJy have the bistory of how all tbis came to
be relocated in England. Then you have bis wonderful art collection, which he carefully annotated and analysed and displayed,
in
a sort of private museum.
You tben have the family furniture. And on top of all that - his hbrary etc. etc. on top of all that, you have bis position as founding father of psychoanalysis. So looking at how all these things work together becarne a fascination for me. The >problem< of museums is something I have been engaged in since the early seventies. In a certain way all of my work is archival. Museums present us with the problern of the Iabel and the subject matter that the Iabel is directing you to. In fact, as a viewer you are not limited by the label, you'll bring other meanings to the object. My interest is in
in
tbis gap.
As far as we have been trained or conditioned to behave in a certain way a museum, you know, we go respectfully from tbing to thing. I set up tbis
piece very deliberately in that way and to my surprise people do behave in that orderly, carefuJ way. The piece is a completely heterogeneaus collection of tbings, most of wbich
1
are
very personal; nevertheless it functions so as to
Dieses Interview wurde mit Susan Hiller von celine Kaiser, Barbara ScheUewald und Harald
Uhr am 1 1. Oktober 2001 als Abendveranstaltung der Tagung »Jenseits der Metapher? Soziale Realität, kollektive Erinnerung und geseDscha.flJjcbe Krankheit um 1 900« m i Bonner Kunst verein, dem
an
dieser Stelle nochmals unser ausdrücklicher Dank für die Bereitstellung des
anregenden Rahmens gilt, durchgeführt. Ebenso möchten wir Annette Kem-Stähler für ihre
Konsekutivübersetzung danken.
122
After the Freud Museum. A conversation with Susan Hiller
create a narrative. In my view the way one tries to understand any artwork is in establishing a relationship with the formal aspect of the work as well as with the subject matter of the work. So I would say the formal aspect of this work has been almost overlooked in critical d.iscussions, in favour of concentrating on the clearly fascinating subject matter of much of the material. What I think is important to mention is that, in addition to being a display, there is an analogy with film because, you see, there is a space between each box. It's like the little black line between the frames of film and as we all know, it is that which enables us to see it as continuous movement, although actually it is a series of still images if you tak:e it apart. So viewers place themselves in the gaps between the units, I think. And it is on the basis of that, that the work seems to tell a story - different people read different stories. Barbara emphasised certain aspects of a story and she said that it was her story, and other people would pick out certain other issues from the work, from the subject matter of the different boxes. So you can go on with your questions. KAISER: I'm interested in Lhe question of the beginning and the end or - in other words - the.framing ofthe e/ements or the spatial boundary asformed by the cabinet.
The arrangement ofthe boxes s i a pallem, which structures the viewer's associations.
One box comments on another one and thereby a Iot ofstories are told. What's your rote in this contexl?
lt's like in that joke about tbe psychiatrist who is giving bis patient a Rorschach test, do you know this joke, it is a very old joke? In this very old English joke a psychiatrist is showing Rorscbacb ink blobs to the patient. And the patient keeps saying sexual things: I see people fuck:ing, I see this, I see that. And the doctor says to him: I think perbaps you bave a sexual obsession. And the patient says: But Doctor, you're showing me tbe dirty pictures. (Laugh ter)
This is wbat art is; this is the function of art, in my opinion, in our society. The different narratives or hints are given with my personal associations. But what viewers see is their picture, is their story. BARBARA ScHELLEWALD:
I was wondering why you didn 't leave the selection in
the Freud House. From my point ofview it was much more interesting to see ir in
this context as in the usual art context.
Weil, I don't think I agree. I will talk about this a little bit. The Freud Museum is amazing in itself. My experience of working there was very irnportant to me personally. The vitrine that I used there was actually in what bad been Freud's bedroom, where he dreamed, which made it even more interesting for me. But you see I wanted to use the concept of the Freud Museum, its overlapping contexts, as I said before and what this irnplies for the discourse of psychoanalysis and its place in the English speaking world particularly. I
After the Freud Museum. A con versation with Susan Hiller use
123
the phrase »The Freud Museum« as a metaphor. I'm not only referring to
that specific site in London which was Freud's home, which is now called the Freud Museum. In my opinion, the Freud Museum is the world that we live
in, basically. And once one evokes the word >Freud< in the title of a work - as l've done here - every single person who comes to see it is t hinking within those same parameters even if just in a popular sense. This is what has been so interesting about showing it outside the Freud Museum. So it was almost an experiment for me to do it outside. But I discovered that the work gained something,
because everybody brought with them their own notion of Freud
and began to read this work in a certain way because of what they knew about Freud. So it's been an interesting experiment.
HARALo UHR: Don't you think that this might Iead to misunderstandings. People see the title »Freud<<. Don 't you think that people might think that this s i what Freud had collected? I don't think so. l've shown the work in a number of countries, including Germany, and this has never occurred. There is a relationship between my collection and Freud's collection. But it's a loose connection with as many differences as sirnilarities. Freud collected artefacts that created a representation
of Western civili.sation as he wished it to be, to place hirnself within it. So he had objects from the ancient world, Greek and Roman and Egyptian sculpture
and Babylonian seals and Chinese Tang Dynasty figures and
A.frican masks
that were typical of a rniddle class collector of his time. I collected the kinds of things everybody keeps in a box or in a drawer somewhere, just nothing, you know. The first things were things that I had and I began to figure out why
I kept them, what was important about them, although they have no value, t}tey're just junk. Then I started picking up things that were thrown away, the disturbing books for example, plastic toy animals, and various other items like this. And then I collected again thinking about Freud in a particuJar way. Freud had this idea that you could turn tourism into pilgrimage. If you read about Freud and his trip to Rome and so forth you know how strongly affected he was by his visits to places that were iconic for him personalJy. So I have tried in a way to make my tourism into pilgrimage, too. And one thing that you do is you take seriously tbe little ticky-tacky things that you get when you're a tourist. And some ofthese boxes have things like that in them. I collected, for instance, water from the springs of Lethe and Mnemosyne. That's a reference to science, it's also a reference to Freud, it's at the centre of the whole work, which of course is an archive that centres on memory, what we want to remernher and what we forget. I made a special pilgrimage while in Greece, thinking about Freud, yes, I did that. But there is nothing in this collection of mine that is an artefact that has market value. Freud collected things that are considered rather valuable bits of art, I don't think that anybody would think that my relics or rernnants or specimens
are
Freud's things.
124
After the Freud Museum. A conversation with Susan Hiller
There's more to be said about
this
of course. Because my collection is
gendered, and it also has a particular relation, a critical relationship to colonial
artefacts and situations that I think Freud took for granted as a white European
of a certain period. In my collection there are a Iot of ethnographic tourist
items and they are conte xtualized within my own history as somebody who left anthropology for a whole Iot of reasons, mainly political, and so I have used the objects in a different way than Freud would have. And I think that basically my collection is a collection of ruins, it's just the ultimate postmodernist collection. Freud's is an early modernist collection, you know, that's a huge difference.
KAISER: The box >>Eau de vie« contains two little bott/es, which are Iabelied »Lethe« und »Mnemosyne((. You once said that the water in them comes.from the rivers Lethe and Mnemosyne. Speaking about pilgrimage and tourism I wonder: Where have you been when you collected the water, at a real place or at a mythological place? Oh, let's talk about metaphysics: Wbat is real? Yes, actuall y, I will be quite Straightforward about this: as I said before, I was at the real place which is in Greece, where the two springs Lethe and Mnemosyne, that were used in ancient times for rituals that we
aU
read about, rise. One spring comes from a
cave and one flows down a hillside and they're still there and for the local people they still have those names. T'm very interested in the way that Iandscapes are marked with their myths. And when you get far away from that Iandscape you only have the myth, so it's disembodied. And yet those rivers are tbere. Now, there are other questions around that of course, because I put them in those bottles and I put tbose Iabels on them and there's no proofthat they come from where I say they do. So this is an imaginative issue, an issue of belief or faith, and it is very interesting to me that some people are very happy to believe that I went there and other people doubt that I ever went anywhere, but they suspect that I filled them up witb tap water. But the serious issue here and tbe irnportant point about Freud and pilgrirnage that as an attitude has been inspiring for me, is that those questions are raised, and tbey interrogate fundamental issues of the mental picture we have of the world. Jf you had a traditional, mystical world-view or even a scientific view that understood that water is constantly circulating, you know, it evaporates, it goes up into the clouds, it goes down as rain, Lethe and Mnemosyne water would be everywhere. I definitely did want to present those paradoxes in the way we use objects but then we forget what we were doing before. You see I have to say a Iot about each of these boxes. The little bottles that are within are meant to suggest - because they suggest to me, and I hope also to other people - the holy water bottles that people take sometimes from
shrines - I don't know if you do that in Germany but certainly in Ireland there are still holy wells and people go and tak:e little things into the churches etc. etc. I have this idea of giving the ordinary, everyday things some resonance back, some depth, and it seems to me that this is Freud's great contnbution: tbe fact
After the Freud Museum. A conversation with Susan Hiller that there is a tremendous depth to experience
if people
125
allow thernselves to
feel and to make connections for themselves. This work of mine is an attempt
to take
trivial things seriously and
to
tease
out some of the hidden
meanings
within objects.
What is the status ofambvalence i in your work and especially considering your treatment ofobjects? KAISER:
·
Well, I've said that all the work I do starts with artefacts - cultural artefacts - and whether it becomes a big video-installation or whether it becomes a painting or a vitrine work, the starting points
are
objects. Now, how do I select the
objects that I work with? I realised over the years that I have no principles of selection except I know it when I find it. The object carries a meaning that I feel ambivalent about. It tends to be something that I am attracted to and that I am also repulsed by. My whole relationship to museums, for instance, is ambivalent. That makes it interesting for me personally to sometimes work in and on museums. This is something I must not avoid, I need to Iook at it, I need to explore it, it is important for me. So the function of ambivalence for me is to motivate me to make work. This does not resolve the ambivalence, but maybe I leam a little bit more while I think about it. For example, Barbara talked about the >Heimlich<-box - whether I made a mistake, misunderstood the German or in fact d.iscovered something through misunderstand.ing. That box began with that forty-five record »Look Homeward� Angel« which I've kept that since I was a teenager, it came to England with me, I don't know why, and in the context of this Freud Museum work I began. to
think about
it. And
I suddenly understood that in the song, »Look Homeward, Angel«, death is masquerad.ing as desire. And all these years all I had understood was that I feit an attachment to this record, but I d.idn't know what it was. I found that song very haunting, for no reason, although it wasn't particularly a song I liked. I couldn't say that it was my favourite song. I d.idn't know what it meant, but I did know that it meant something important to me for some reason. AuorENCE: l'm interested in the way that Freud approached this thing called soul,
the spirit, because in the history ofmedicine there are metaphors and elements we use to demonstrate things like soul and so I would Like to know - while you were dealing with a/1 these objeds, images and writings - what was your impression? Freud was somebody living in Europe, being Jewish and thinking about Arabian culture and about the origins of our science, what was his relation, for example to Lhe more Eastem writing that Jung used? What was his approach? You know more about this probably than I do. But it is interesting that you used the word >soul<, because we were
talking
at d.inner about the problern
with the translation of Freud in English. Strachey's classic translation translates »Seele« as >mind<. The word >soul< does not
occur
in the English Freud ever. lt
is translated as >mind<. Bruno Bettelheim wrote a very interesting book about
126
After the Freud Museum. A conversation with Susan Hiller
what he considered the mistranslation of Freud in English and why Strachey chose not to use the word soul. So in English we have a dichotomy between Freud and Jung, you know, which is clearly not accurate, because they worked tagether and in fact some of my Freud Museum boxes explicitly refer to the so called >occult< issues they were debating. I think that Freud clearly did not consider
hirnself in any sense to be mystical. But there is probably a way
in which you could see that advanced science, psychoanalysis and traditional mystical philosophies have more in common with each other than witb the banal empiricism that is a cultural category we are trapped in, in some way.
And I think Freud understood that, I mean, when he tortures language to get at a meaning, this is not a normal way of using words - at least in English it is really strange, you know - and how he constructs his argurnents is very convoluted and mysterious too. So, yes, I suppose he bad a more profound view of things than others. And possibly what he was working at - I am looking at this from a completely non-specialized point of view - but possibly wbat he was working at with his neurotic patients was to get them to take themselves seriously, you know, in a more profound way, to see, that tbeir symptoms were saying something. In the same way that
all the objects of our culture are actuaUy
saying something. But we just forget and pretend they are not saying anything.
You are an artist and you are working in a room connecJed with a scientist who was very importantfor the twentieth century and the museum as weil. Now there s i the science, there s i the museum, there s i the collection and there s i you as an artist and you always call yourself a non-specialist. And maybe that being a non-specialistfills the gap between science and museum and art.
AumENCE:
SCHELLEWALD:
The question is, whatjills out the gap?
Art fills out the gap. SCHELLEWALD: AUDIENCE:
And youjil/ out the gap not art.
It's like the gap between the boxes.
Yes, it's li.k:e the gap between the boxes. I think that our language, our culture separates these practices, which are not really that different, you know. And the museuro is an attempt to transmit a heritage and a fixed set of meanings.
Science is constantly destabilizing fixed meanings and so is art. So in that sense
the museuro is a strange institution, which is always behind both, science and art.
How long did you work at this piece? What was your starring point? Are you a col/ector, an antiquarian and were you inspired by the work ofa colledor or do you see it as an intelledual project in the context ofthe Freud Museum?
AUDIENCE:
lt's not an intellectual project. I was already
thinking about wby I kept certain
objects. I'm not really a coUector. l'm more a throwing-out, getting-rid-of-things
127
Afier the Freud Museum. A conversation with Susan Hil/er
kind of person. But when I started to work in the Freud Museum I suddenly got some kind of idea. I didn't know exactly what it was. And I began to think about the Freud
Museum. Architectural, you remember, I said it
was
a
proliferation of contexts. Weil, there was a vitrine inside a room, which had been Freud's bedroom. And so it was a box within a box within a house which was a box. And then Psychoanalysis is another box, so having understood that Freud
hirnself
had compared psychoanalysis to archaeology and in fact
said that psychoanalysis was superior to archaeology because nothing is ever lost in the unconscious while things are lost, you know, historicaJly. I suddenly thought it might be interesting to see what happened in my increasing number of boxes. So I use these archaeological coileting boxes, which are, as Barbara said, the kinds ofthings that you put your finds into when you go on a fieldtrip. And that was my first tentative step toward making a
link between what I
was
going to do. I didn't know what it was going to be but I was already making a
link explicitly with
Freud through this notion of the archaeological box. So the
boxes are frameworks for sets of ideas. It's like a category or filing system for many misceilaneous themes. In the same way that I feit that Freud's house was. HEINZ SCHOTI:
For me Freud is a sort ofguide for the history of medicine. I'm not a Freudian because I had some problems with the analysts. But my question s: i What are the responds of the psychoanalytic society? How do they experience the gap? Haveyou had any responses? Yes, 1 have severaJ friends who are psychoanalysts and their response to art is always »Hmm«. Debates around psychoanalysis have been extremely impor
tant in art and art-history in the English-speaking world for the past ten or fifteen years at least. I think the Lacanians have a very interesting view of art.
They say - this is a very crude sumrnary - that the artwork stands in the place of the analyst. That is, when I go and Iook at somebody's painting that painting is like a psychoanalyst. And what I bring to the painting is my projection to it. This is a very crude reduction of that theory. I think that I prefer that notion of art to the more traditional Freudian view, which is that the artwork is a manifestation of neurotic symptoms. Because that is so reductive itself. And
it's the same kind of reduction as saying that the dream is only a representation of symptorns. It's also poetic and so on and so on. ScHOTI:
Haveyou met ana/ysts that were more interested?
Yes, of course. In fact I was invited to publish a visual work of several pages in an issue of the British Journal ofPsychoanalysis. as weil as being invited to discuss my work at professional conferences such as this one. But you know I think it
is
probably very difficult - I don't know
if there
is any psychoanalyst in this
if you have a practice like psychoanalysis about decoding behaviour all the time because there is a reluctance to
room - it must be extremely difficult which is
step away from that and simply just enjoy or get into something like art.
After the Freud Museum. A conversation with Susan Hiller
128
AUDIENCE: Didyou receive reactionsfrom the visitingpublic? Were there discussions
conceming the ideas and associations? Did they converge or diverge from your expedations? Somewbat to my surprise, this work of mine has been extremely popular with the general public. When it was installed at the Tate, several schools did projects based on it, and
1
1
have been invited to show the work
in
many other places.
also have had feedback in tbe form of letters from people I don't know, for
example - you know the book in the box »Führer«? The grandson of tbe autbor, Julius Höxter, wrote me a Ietter and we since exchanged letters. His
grandson is a very grumpy, very pedantic historian, who lives in the country in England� in Devon and be listed
all tbe
rnistakes I made with tbe German and
so forth. But he told me that he was very proud to see bis grandfather's book, you know, as sort of being enshrined like this, because he said, no one in their family thought anything about this book. They thought that bis grandfather just wasted bis time, that he was a historian, not interesting. So he was pleased but he said to me that I bad completely rnisunderstood bis grandfatber. In the last sentences of the introduction that Julius Höxter wrote - it must have been an incredibly difficult time to finish this book about the history of Judaism in this book he makes charts and lists of dates, for instance, »Hitler comes to power<<, alongside certain other dates that are irnportant in a positive way for Jewish bistory going back to the time of Abraham
&
Isaac. Well, in the
last sentences of the introduction Höxter says that be hopes that bis book
will
be a good »guide« on the paths of life. I bad a friend translating it from
German into English for me and she said she thought it was very strange that he was using tbat word at that time, that it must have been a coded reference to political events and to the bad guide, namely Hitler. WeU, his grandson has taken great issue with this conclusion and wants me to add something to my
After the Freud Museum where I comment on this word, to say that this is not what bis grandfather intended at all because his grandfather was known book
in his family as a very timid man who would not make political comrnents of any sort and who would certainly never have put any coded reference anywhere. I'm just giving you tbat as one example of bow I bave been engaged with people tbrough this work. Everybody saves, preserves, collects things and there are just so many different items in this work that apparently various people
can
respond to different parts of the collection. And so I had people say things to me like: »I bad a collection of plastic animals. I wonder wbat happened to my plastic
anim als.
I guess my mother must have thrown them out when I
left home.« This sort of thing. Aside from the work that I've done, I think that there is a very basic instinct that I stumbled on quite by accident here whicb is that objects do mean something to people. That has been a very interesting experience for me actually.
After the Freud Museum. A conversation with Susan Hiller
129
AunrBNCE: lfI see the boxes there are many connections I can make between the things Isee. Ican movebetween the things, there is space andi can make COnnections for myself Bur when I go to the museum and I see the title »Freud« everything gets dosed, the movement is.frozen. Jhen there's no gap anymore. So you feel that the history of psychoanalysis or the psychoanalytic metaphor
closes down meaning in a general sense?
AuDIENCB: Mainly in your work. UHR: What isyour general notion ofcu/ture? I am thinking about Boltanski's work. He also uses boxes in which there are trivial objects, things that he had in his pocket when he was a ten year old boy. These things are on the one hand connected with him as a ten-year-old boy but then they are also typical for any ten-year-old boy. Your objects come .from dijforent times and cultures. Does this ajfoct your work in any way? Ours is a culture in which many histories have collapsed and their fragments are
everywhere. l'm interested in those fragments.
All
my work
is about
frag
ments. I'm not trying to build up a picture, a total picture. I use culture in the antbropological sense. Culture is everywhere. My general notion of culture is that it is a sort of social
air
we breath. Culture is the chairs, the gestures, the
speech, the music. That's culture. lt is what it s i . This is the sense in which my collection is different from Freud's. His collecting was to build up a sense of Western civilisation and what he had inherited from what he thought was the best of the past. My misceUaneous collection represents me and my - really our - complex heritage completely differently.
]:(AISER: Thankyou very much!
(Transkription: Geline Kaiser)
Litera/ur: Hiller, S., After the Freud Museum, London 1995, 2000. -, Freudsche Objekte. Gespräche über Kunst und Wissen, hg. von J. Blurne/G.K. Bose, Leipzig 1998.
TEIL II: KONZEPTE INDIVIDUELLER KHEIT
ULrucH ScHULn-VENRATH
Ernst Simmel und Viktor von Weizsäcker: Zwei Pioniere der psychosomatischen Medizin des 20. Jahrhunderts im wissenschaftshistorischen Vergleich 1
Einleitung
ist vermutlich ein nicht annähernd zu bewältigendes Unterfangen, zwei so unterschiedliche Personen und Persönlichkeiten, wie Ernst Simmel ( 1 8821947) und Vtktor von Weizsäcker (1 886-1957) die sich in ihrem Leben zwischen 1926 und 1931 nur dreimal auf dem »Allgemeinen ärztlichen Kon gress für Psychotherapie« 2 begegneten - in ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung zu vergleichen. Da aber beide für die spätere Entwicklung der Psy chosomatik in Deutschland, aber auch für die gesundheits- und sozialpolitische Entwicklung Deutschlands zu bestimmten Identifikationsfiguren der akademi schen Nachkriegselite wurden, und weil sie sich beide - der eine auf der Basis jüdischer, der andere auf der Basis christlicher Traditionen - über die Psycho somatik hinaus für die soziale Frage interessiert haben, ist es andererseits doch verlockend, sich einer solchen Aufgabe zu stellen. Das Interesse beider Pioniere, als Referenten auf den seit 1926 jährlich statt fuldenden Kongressen für Psychotherapie die Fahne der psychosomatischen Medizin hochzuhalten, hätte durchaus eine persönliche Kontaktnahme erwar ten lassen. Vermutlich waren jedoch neben den theoretisch-klinischen Diffe renzen bezüglich der Psychosomatik auch die politischen Differenzen für beide unüberbrückbar, zumal Ernst Simmel sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg po itisch l oppositionell als Vorsitzender des Vereins Sozialistischer Ärzte (VS Ä) 3 - ein überparteiliches Sammelbecken für alle gesundheitspolitisch linksstehen den Ärzte von 1924 bis 1933 - positioniert hatte und auf den bezüglich seiner Es
-
1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags, der am 4. Februar 2002 im Medizinhistorischen Kollo quium der Universität Bonn gehalten wurde.
2 Belegt sind gemeinsame Vorträge oder Kongressteilnahmen in Baden-Baden 1926, in Bad Nau heim 1927 und in Dresden 1931. 3 Bereits 1913 hatte sieb Ernst Simmel einen Namen gemacht, als er zusammen mit Karl KoUwitz -dem Mann von Käthe KoUwitz
-,
lgnaz Zadek sen., Raphael Silberstein, Hermann Weyl,
Julius
Moses und 70 weiteren Ärzten, die der SPD angehörten oder ihr nahe standen, den »Sozialde
mokratischen Ärzteverein« gegründet hatte (vgl. Tennstedt/Pross/Leibfried, Sozialistische Ärzte,
X-XI).
13 4
Ulrich Schultz-Venrath
Herkunft eher liberal-konservativen Vtktor von Weizsäcker irritierend gewirkt haben dürfte. 4 Der Unterschied beider könnte zunächst allein auf den Umfang ihrer publi zierten Werke reduziert werden: auf Viktor von Weizsäckers
1986 begonnene,
sich dem Abschluss nähernde, voluminöse, zehnbändige Edition »Gesammelte Sch..riften« und Ernst Sim.'1e 1 ls zwei kleine Monographien »Kriegsneurosen und >Psychisches Trauma<« 5 von
1918 und die nach dem Zweiten Weltkrieg
mit Horkheimer und Adomo verfasste »Antisemitismus«-Schrift 6, die durch
eine Zusammenfassung seiner wesentlichen Arbeiten in einer Sammlung aus
gewählter Schriften »Psychoanalyse und ihre Anwendungen« posthum ergänzt wurden.7 Beide Pioniere und Protagonisten der Psychosomatik in Deutschland waren im Spannungsfeld von aufstrebender Psychoanalyse, ärztlicher Psychothera pie und holistischen, bio-psycho-sozialen Modellen nicht ohne Einfluss und Positionierung bezüglich der Entwicklung einer spezifischen psychosomati schen Medizin im
20. Jahrhundert, deren Existenz bis heute aus verschiedens ten Gründen noch immer nicht hinreichend gesichert ist. Die psychosomati sche Medizin des letzten Jahrhunderts war ein Konglomerat verschiedenster Strömungen, deren wissenschaftliche Attraktoren zunächst dargestellt werden müssen, um eine wissenschaftshistorische Einordnung der beiden Protagonis ten
zu
ermöglichen.
Während sich die heutige psychotherapeutische Medizin mit gutem Recht
sowohl auf die holistisch-ganzheitsmedizinische - heute als bio-psycho-soziales Modell proklamiert - als auch auf die psychogenetische Tradition - heute von der psychoanalytischen Psychosomatik vertreten - beziehen kann, war ärztliche Psychotherapie von Beginn an wesentlich mehr der Tradition des Mesmeris mus, der Hypnose und Suggestion, der Psychohygiene und Psychosynthese 4 Das Ziel des VSÄ wurde 1929 im Organisationsstatut festgelegt: »Der Verein bezweclct den Zusammenschluß aller sozialistischen Ärzte unabhängig von ihrer Zugehörigkeit sozialistischen Parteien. Er nimmt Stellung
zu
zu
einer der
allen das Heil- und Gesundheitswesen betreffen
den Fragen vom sozialistischen Standpunkt aus. Er will Gesetzgebung und Verwaltung in Staat
und Gemeinde in seinem Sinne beeinflussen. Ebenso will er die sozialistischen Parlamentsfrak tionen und die Arbeiterorganisationen n i allen soziaJhygienischeo Fragen beraten. Der Verein
erstrebt eine wirkliche Zusammenarbeit von Ärzten und Versicherungsträgem im Dienste der Volksgesundheit Er will das Verständnis fiir sein Hauptziel, die Sozialisierung des Heilweseos, in
der Ärzteschaft und in der Öffentlichkeit f ördern und die Verbindung zu gleichgesinnten Orga nisationen im ln- und Ausland enger gestalten. Mitglieder können Ärzte und Ärztinnen werden, die sieb
zum
Sozialismus bekennen«. (Der Verein Sozialistischer Ärzte, in: Der Sozialistische
Arzt 7 (1931) 292). Bei der Ärztekammerwahl im November 1931 erhielt der VSÄ als stärkste linksoppositioneUe Gruppe 257 Stimmen und sechs Sitze, wobei Simmel und Döblin zu den sechs Stellvertretern gebört.en.
S Vgl. Simmel, K.riegsneurosen, 1-84. 6 Vgl. Simmel, Einleitung, 12-19; ders., Antisemitismus und Massen-Psychopathologie, 58-100. 7 Vgl. Hermanns/Schultz-Venrath, Einleitung, 9-13.
I I I I
M es merismus
Holistisch-anthropologische I ganzheilsmedizinische Fraktion
'
Hypnotismus
Psychogenetische Fraktion
I
l
Hypnotische Suggestion
I
V) §' � � -
••
Arztliehe Psychotherapie
-
� Bio-Psycho-Soziales Modell
Psychoanalytische Psychosomatik
3 rr;.:
� g � a· 1::1:
Systemtheoretisches
Siel/vertretungs-
Modell
Modell zwischen
Holismus
ich-Psychologisches
Objekt-Psychologisches
Modell
Modell
Meng, Federn ,
Ferenczi, Si rnrnel
Mitscherlieb
Engel, Cremerius
�
Körper und Seele
von Uexküll, Wesiack
von Weizsäcker
Groddeck, Deutsch
Abb. 1: Historische Entwicklung der ärztlichen Psychotherapie zwischen Psychosomatik und Psychoanalyse im 20. Jahrhundert.
-
w V1
136
Ulrich Schultz-Venrath
verbunden, die primär von Nervenärzten, frühen Neurologen (z. B. Oppen heim) und Internisten und nur vereinzelt auch von Psychiatern, etwa in der Behandlung von Patienten mit Somatisierungsstörungen, angewandt wurden (vgl. Abb. 1). In gewisser Weise war die Entwicklung ärztlicher Psychotherapie als sogenannte »kleine Psychotherapie« in Deutschland eine Oppositionsbewe gung gegen die herrschende biologistische Psychiatrie und Medizin, worauf der aller erste Satz des Vorworts zum Bericht über den I. Allgemeinen ärztlichen Kongress verwies: Die äußere Veranlassung des Ersten allgemeinen ärztlichen Kongresses fi.ir Psycho therapie war darin gegeben, dass weder bei den psychiatrischen noch bei den neu rologischen und psychologischen Kongressen die Psychotherapie entsprechend ihrer Bedeutung in Erscheinung trat. 8
Darüber hinaus war ärztliche Psychotherapie als Begriff eindeutig an die Klinik gebunden. So erklärte der niederländische Arzt van Eeden Ende der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, der zusammen mit van Rentgerhem 1 887 eine der ers ten europäischen Privatkliniken für Psychotherapie eröffnet hatte, 9 er habe mit einem Kollegen den Begriff »Psychotherapie<< 1 889 als Bezeichnung für das in ihrer Klinik praktizierte Heilverfahren eingeführt.10 Dazu zähJten auch Hyp nose und Suggestion, durch Bernheims Standardwerke verbreitet, die ebenfalls in der Klinik in Nancy entwickelt worden waren. 11 Beide Verfahren waren in ihren Anfangen vielleicht noch so etwas wie ein gemeinsamer Ausgangspunkt für ärztliche Psychotherapie und Psychoanalyse. Diese ursprüngliche Bindung von Psychotherapie an eine Klinik führte später aber zu der fälschliehen Auf fassung, von Weizsäcker habe eben »körperlich« Kranke behandelt und Freud nicht.1 2 Darüber hinaus unterschied sich die Psychoanalyse von der klassischen Psychotherapie mit ihrer Theorie der Übertragung und Gegenübertragung im Grunde nur durch die Wegrichtung der Übertragung: sie laufe nicht von außen (als >Suggestion<) nach innen, vom Bewußtsein ins Unbewußte, sondern vielmehr von innen nach außen, vom unbewußten zum bewußten wahr nehmbaren äußeren Objekt, zur Person des Analytikers. Übertragung bedeutete hier Projektion innerpsychischen Erlebens auf die Person des Arztes. 13
Die zunehmende Differenzierung zwischen ärztlicher Psychotherapie und Psy choanalyse entschied sich letztendlich an einem fundierteren und systema tischeren Verständnis unbewusster Prozesse einschließlich Übertragung und Gegenübertragung sowie an der Institutionalisierung einer kontrollierten Aus8 Eliasberg, Vorwort und Einleitung, I. 9 Vgl. Schröder, Fachstreit, 33. 10 Van Eeden, Grundzüge, 53. II
12 13
Vgl. Bemheirn, Suggestion und ders., Studien über Hypnotismus.
Vgl. Reuster, Rezeption, 1 1 , Anm. 5. Schott, Mesmerismus, 93.
Ernst Simmel und Viktor von Weizsäcker
137
bildung mit den drei Säulen der Lehranalyse, des supervidierten Behandlungs falles und einer theoretischen Qualifizierung. 1 4 Mit der Verlmüpfung von Suggestion und Hypnotismus als systematische und bewusste Anwendung einer Psychotherapie waren
zahlreiche körperliche
Beschwerden, insbesondere Schmerzsyndrome aller Art, behandelt worden, die heute den sogenannten Somatisierungsstörungen zugerechnet werden. Damit
verwies die frühe ärztliche Psychotherapie in Frankreich und Deutschland bereits auch auf den Beginn einer psychosomatischen Medizin, welche um die Jahrhundertwende mehr von den sich neu konstituierenden Nervenärzten und
Neurologen in Abgrenzung von der Inneren Medizin und Psychiatrie vertreten
wurde als von der Psychiatrie selbst, die bevorzugt in den angelsächsischen Ländern Psychotherapie in ihr Fachgebiet integrieren wollte. 1 5 Nur um >>eine Hand« auf dem Gebiet der
Praxis
der Nervenärzte »im Spiele zu behalten« 16
- und er meinte die Entwicklung der Psychotherapie - hatte Freud nämlich das Werk des französischen Internisten Hippolyte Bernheim überhaupt übersetzt. Aber die Angst der Psychoanalyse vor der Dominanz der ärztlichen Psycho therapie - so äußerte Fenichel in seinen Rundbriefen wiederholt die Befürch tung, dass die Psychoanalyse der deutschen ärztlichen Psychotherapie unterge ordnet werden könnte 1 7 - gab es auch umgekehrt;
unzählig waren die
Befürch
tungen, dass ärztliche Psychotherapie an den Rand der wissenschaftlich ebenso prosperierenden Medizin wie der Psychoanalyse gedrängt werden könnte. Aus Sicht der ärztlichen Psychotherapie war allerdings die Angst, nicht mehr wahr genommen zu werden, leicht übertrieben, denn neben
zahlreichen psychoana
lytischen und psychotherapeutischen Kongressen seit der Jahrhundertwende gab es eine Reihe von Zeitschriften, die sich den aktuellen Fragen ärztlicher Psychotherapie durchaus stellten. In klinischen Lehrbüchern wurde ärztlicher Psychotherapie zwar ein kleiner, aber stetiger Rahmen geboten, 18 in welchem gerade die Psychoanalyse allerdings nicht selten verleugnet, entwertet oder bes tenfalls kritisch beleuchtet wurde. So speiste sich die psychosomatische Medizin des
20. Jahrhunderts aus
mindestens drei großen Strömungen mit sehr unterschiedlicher theoretischer
Herkunft und Begründung:
1. aus der ganzheitlichen Fraktion, die heutzutage im bio-psycho-sozialen Mo dell aufgeht,
2. aus der psychogenetischen Fraktion, die im wesentlichen bis heute von der psychoanalytischen Psychosomatik getragen wird, und
14 15 16 I1 I8
Vgl. Schultz-Venrath, Ausbildung, 55-66; Schröter, Psychoanalyse, 729; dies., Eitingon, 879.
Vgl. Tuke, Geist und Körper. Freud, Briefe an Fließ, 10.
Fenicbel. Rundbriefe. Z. B. Mohr, Psychotherapie, 1525-1577.
138
Ulrich Schultz-Venrath.
3. aus der ärztlichen Psychotherapie, die sich weder ganz der holistischen noch
der psychogenetischen Fraktion gänzlich verbunden fuhlt. Während die holistische, bzw. ganzheitliche Fraktion überwiegend eine Antwort auf die sogenannte Krise der Medizin darstellte, 19 fanden die Vertreter der ärztlichen Psychotherapie ihre ursprüngliche Herkunft im Mesmerismus mit seinem magnetopathischen, z. T. mystischen Universum, der zwischen 1780 und 1 850 zu einer tiefenpsychologischen Klassik ausgebaut worden war, der die Psychoanalyse zahlreiche Anregungen zu verdanken hatte. 20 Vertreter einer bio-psycho-sozialen Medizin suchten - begünstigt durch die Reform des Medizinstudiums - seit den 1970er Jahren ihren organisatorischen Ausdruck im Deutschen Kollegium fur Psychosomatische Medizin (DKPM); die Vertreter einer psychogenetischen Psychosomatik versammelten sich auf Grund differenter psychoanalytischer Theoriebildungen in verschiedenen Ver einigungen (DGPM, DOPT, DPV und DPG), ärztliche Psychotherapeuten hatten sich inhaltlich und organisationspolitisch seit den späten 20er Jahren des 20. Jahrhunderts überwiegend in der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft fur Psychotherapie (AÄGP) eigenständig positioniert. Auch wenn die Anzahl an Mitgliedern, die sich mehreren oder mindestens zwei differenten Organi sationen angeschlossen haben, unbekannt ist, so gibt es nicht wenige, die sich über diese Differenzen hinweg politisch und gesundheitspolitisch gleichzeitig in mehreren dieser Vereinigungen bis heute engagieren.
Kurzbiografische Notizen zu Viktor von Weizsäcker und Ernst Simmel
Da sowohl zu Viktor von Weizsäcker - Enkel und Urenkel schwäbischer Theo logen und Sohn des späteren württembergischen Präsidenten Karl Weizsäcker als auch zu Ernst Sirnmel - jüngster Sohn eines erfolglosen Breslauer Ban kiers und einer Agenturleiterin fur Hausbedienstete - relativ ausfuhrliehe und fundierte biographische Arbeiten vorliegen, 21 solJ hier nur kursorisch auf die wissenschaftstheoretisch wichtigsten Stationen beider Psychosomatiker einge gangen werden. Vtktor von Weizsäcker gelang es trotz einiger renommierter Schüler (z. B. Paul Christian, Wemer Hollmann, Dieter Janz, Wtlhelm Kütemeyer, Alexander Mitscherlich, Paul Vogel) nicht, eine eigene psychosomatische oder psychothel 9 Vgl. Schultz-Venrath/Hennanns, Gleichschaltung; Harrington, Suche.
20 Vgl. Schott, Mesmerismus. 2l Vgl. Kütemeyer, Anthropologische Medizin; Roth, Psychosomatische Medizin; Hahn/Jacob, von Weizsäcker; Henkelmann, Materialien; Rimpau, von Weizsäcker; Schultz-Venrath, Psychoanaly tische Klinik; Hermanns/Schultz-Venrath� Gleichschaltung; Schultz-Venratb, Simmel.
139
Ernst Simmel und Viktor von Weizsäcker
rapeutische Schule mit einem eigenen Ausbildungscurriculum zu begründen, wenn man vom Entwurfeiner »anthropologischen Medizin« absieht, der primär
theologisch�philosophischen Wurzeln entsprang. Trotz dieses folgenreichen De fizits wurde er kurz nach seinem Tod von einem seiner Schüler zum Pionier
der psychosomatischen Medizin in Deutschland erklärt. 22 Er selbst sah seine »Biografie . . . sehr einfach«: Ich bin am 21. April 1886 als dritter Sohn des damaligen Ministerialrates K.arl Weizsäcker in Stuttgart geboren. Auf den Rat meines Vaters, ein Brotstudium
zu
wählen, wählte ich die Medizin und glaube, den Vorschlag Wmdelbands, an dessen Seminar über Kant ich dreimal aktiv teilgenommen hatte, zur Philosophie überzuge
hen, abgelehnt zu haben. Ich wurde dann Schüler von Johannes von Kries, Assistent
von Krehl und habe erst verspätet das gemacht, was man eine akademische Karriere nermt. Nur einmal in meinem Leben habe ich ein Semester lang eine medizinische Pflichtvorlesung als kommissarischer Leiter des Physiologischen Institutes
im
Win
tersemester 1945 in Heidelberg gehalten . . . . Mein Leben ist also zum großen Teil an der Universität erfolglos verlaufen. 23
In dieser
fur von Weizsäcker typischen Bescheidenheit unterschlägt er diskret
eine Reihe wichtiger biografischer Stationen, etwa seine Erschütterung durch die »Materialschlacht« des Ersten Weltkriegs, an dem er als Arzt zunächst in einem Kriegslazarett bei Verdun, dann in einem SeuchenJazarett an der Maas teilnahm. Aber auch seine seit etwa 1920 zu beobachtende Hinwen dung zur Erforschung biografischer Ursachen internistischer Erkrankungen sei hier erwähnt, weil sein »Weltkriegserlebnis . . . Seele und Leib . . . neu« 24 geordnet und gemischt hatte, was
ihn schließlich mit zu einer Führungsfigur
ärztlicher Psychotherapie im Reichsausschuss der Deutschen allgemeinen ärzt lichen Gesellschaft für Psychotherapie machte; nicht zuletzt blieb dadurch auch unerwähnt,
dass er durch seine Kritik an einer positivistisch isolierten, natur
wissenschaftlichen Krankheitslehre lange Zeit zur zentralen Identifikationsfigur
fur zahlreiche nonkonformistische Bestrebungen der deutschen Nachkriegs medizin wurde. Er war sozusagen ein Attraktor bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, besonders
für solche Ärzte, die sich nicht gänzlich auf den
Boden der Psychoanalyse stellen oder sich mit dieser nicht gänzlich einverstan den erklären konnten, zurnal Alternativen wie z. B. die Verhaltenstherapie in Deutschland noch keine große Rolle spielten. Die massive Ablehnung und bestenfalls immer wiederkehrende Ambiva lenz, insbesondere der universitären Medizin, gegenüber der Psychoanalyse mag eine zentrale Ursache dafür gewesen sein, dass Vtktor von Weizsäcker, der partiell die Psychoanalyse wenigstens zur Kenntnis genommen hatte, über seine tatsächliche Nachkriegs-Rolle hinaus einer Idealisierung 22 Kütemeyer, Gedächtnis, 12. 23 Von Weizsäcker, Meines Lebens, 243.
24 Von Weizsäcker, Natur und Geist, 32.
zum
Opfer fiel,
Ulrich Schultz-Venrath
140
die zuweilen zur biografischen Legendenbildung führte. Sie fiel auf so frucht baren Boden, dass z.B. behauptet wurde, Vtktor von Weizsäcker habe »die Psychoanalyse in die Klinik eingefuhrt«25; diese Behauptung verleugnet, dass Freud sich eine stationäre psychoanalytische Behandlung durchaus vorstel len konnte, 26 und neben Marcinowski und Binswanger vor allem Groddeck, Fromm-Reichmann 27 und am fundiertesten Ernst Simmel dezidiert psycho analytische Kliniken gegründet und betrieben hatten. Die spätere Mitbegründe
rin der Kölner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse, Frau Meistermann Seeger behauptete vor Ausbildungskandidaten am 22.6.1996, sie habe sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg »in eine einstündige Analyse« zu Vtktor von Weizsäcker begeben, obwohl von Weizsäcker
zu
keiner Zeit Psychoanalyti
ker war. Die persönlich und zeitgeschichtlich letztlich verhinderte Beziehung Vtktor von Weizsäckers zur Psychoanalyse, die sich auch in einer sehr eigen willigen, und z. T. unsystematisch-fragwürdigen Rezeption der Psychoanalyse durch von Weizsäcker äußerte, 28 war wesentlich durch seine philosophisch politische Herkunft, die auf der südwestdeutschen Philosophie fußte29 und seine theologische Orientierung begründet. Vermutlich überwiegend als Folge der Vertreibung der jüdischen Psychoanalytiker wurde Vtktor von Weizsäcker jedoch
für einige wenige Psychoanalytiker der ersten Nachkriegsgeneration eine Art direkte oder indirekte Initiationsfigur; so schrieb z. B. Horst-Eberhard
Richter:
Dann suchte ich die Psychoanalyse zweifeUos deshalb, weil ich einmal als Patient im
Kriege das Glück gehabt hatte, von Werner HoUmann, einem Schüler Vtktor von Weizsäckers, zu erfahren, dass ich auf diese Weise Aussicht hatte, an mich selbst besser heranzukommen. 30
Bezüglich der verschiedenen Strömungen der psychosomatischen Medizin im
20. Jahrhundert ist Viktor von Weizsäcker wohl am ehesten der holistischen Fraktion
zuzuordnen,
obwohl er als Internist und Neurologe mit psychothe
rapeutischem Anspruch durchaus eine differenzierte Position gegenüber dem Ganzheits-Modell vertrat: »Und die >Ganzheitsbetrachtung< ist doch nur ein philosophierender Notbehelf, aus dem man Neues nicht gewinnt«. 3 1 Trotzdem
hatte auch Sigmund Freud Vtktor von Weizsäcker vorsichtig einer ganzheitsme-
25 Von Weiz.säcker/Wyss, Philosophie, 228.
26
So äußerte Freud erstmals in einem Brief an Abraham am
2.11.1911: »Ein großer Schaden
erwächst uns daraus, dass wir hier keine psychoanalytisch geleitete Anstalt haben, an welcher
ich doch aUe vier Gehilfen unterbringen und neue awbilden könnte. Aber Wien ist nicht der Boden, auf dem man irgend etwas unternehmen könnte.<< (Freudl Abraham, Briefe,
27 28
Blomert, Thora,
39-49.
Vgl. Rewter, Rezeption.
29 Von Weizsäcker, Natur und Geist, 20-33. 30 Richter, Gotteskomplex, I 0. 3 1 Von Weizsäcker, Begriff der Allgemeinen Medizin, 163.
1 13).
141
Ernst Simmel und Viktor von Weizsäcker
--------------------------
dizinischen Richtung zugeordnet. In einem Brief an den amerikanischen Neu rologen Smith Ely Jelliffe, der selbst mit der ganzheitsmed.izinischen Strömung sympathisierte, schrieb Freud am 10.2.1933: »The next nurober ofthe Interna tionale Zeitschrift will carry a study by Weizsäcker, the German intemist, which is another contnbution to what you, I believe, calJ holism«. 32 Unterstützung findet diese Einordnung auch dadurch, dass Vtktor von Weizsäcker letztlich ein Stellvertreter-Modell zwischen körperlichen und psychischen Phänomenen konzipierte, während Ernst Simmel primär
als Vorläufer einer objekt-psycho
logischen psychoanalytischen Psychosomatik zu gelten hat, eine Richtung, die angesichts der Dominanz der Ich-Psychologie allerdings nach dem Zweiten
Weltkrieg nur noch von Johannes Cremerius an den medizinischen Fakultäten in Deutschland vertreten wurde und deshalb
für lange Zeit unbekannt blieb.
Insofern teilen beide Pioniere der Psychosomatik in Deutschland das Schick
sal , heute nur noch eine sehr periphere Rolle
in ihrem Fach zu spielen. Viktor
von Weizsäckers bleibende und z. T. unrezipierte Verdienste sind seine originel
len klinischen Beobachtungen und Fragestellungen in der Neurologie (warum
gerade jetzt und warum gerade hier), 33 insbesondere seine Gestaltkreistheorie als Theorie von Wahrnehmen und Bewegen, 34 welche ihn neben dem von ihm wenig zitierten Kurt Goldstein auch zu einem Begründer einer modernen Neu ropsychosomatik hätte machen können. Aber letztlich sollten von Weizsäckers .. stete Uberlegungen zur Durchgeistigung des ärztlichen Handelns, die mehr eine
religiöse als medizinische Her kunft aufwiesen, eine substantielle Psychosoma
tik verunmöglichen. Das von Weizsäckersche Diktum : »die psychosomatische Medizin muß eine tiefenpsychologische sein oder sie wird nicht sein« 35, mag
für ihn paradigmatisch gewesen sein, da er sich selbst wegen seiner Ambivalenz gegenüber der Psychoanalyse dieser nicht wirklich zuwenden konnte und des halb in der Folge eine tiefenpsychologische Psychosomatik so weit verwässerte, dass ihr mit vereinzelten Ausnahmen kaum einer mehr folgen mochte. Ernst Simmel hatte sich, wie zahlreiche andere Linksintellektuelle und Psy choanalytiker damals, im August 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet, in dessen
Lazaretts für Nieren erkrankungen (1916-1917) wirkte. Schließlich wurde er 1 9 1 7 königlich-preu ßischer Oberarzt und Vorsteher des Festungslazaretts Nr. 1 9 für Kriegsneuroti ker in Posen, in welchem er autodidaktisch psychoanalytische Prinzipien in das Folge er zunächst als Militärarzt, dann als Chefarzt eines
von der »Kaufmann-Kur«, ein Aversionsverfahren mit schmerzhafter Strom
anwendung beherrschte Behandlungsspektrum einführte. Die Publikationen seiner Behandlungserfahrungen mit Kriegsneurotikern, 36 die
32 Freud, Jelliffe, 252. 33 Von Weizsäcker, Natur und Geist, 154. 34 Von Weizsäcker, Funktionswandel, 619-631.
35 Von Weizsäcker, Psychosomatische Medizin, 455. 36 Vgl. Simmel, Kriegsneurosen.
ihn sein ganzes
Ulrich Schulrz-Venrath
142
Leben lang nicht mehr loslassen sollten, 37 waren der Beginn einer langjährigen
führte, dass Simmel später seine Tegeler Klinik Freud als »Rettungsinsel« 38 anbieten konnte, wenn dieser wegen seiner kieferorthopädischen Behandlungen nach Berlin in die Universitäts-Zahnklinik Freundschaft mit Freud, die auch dazu
zu Prof. Sehröder kommen musste. Parallel zu seiner Lehranalyse bei Karl Abraham waren die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg für Sirnmel mit dem Aufbau der ambulanten und stationären Psychoanalyse in Berlin ausgefüllt. Simmel bemühte sich in »produktiver Orthodoxie« um die
klinische
Anwen
dung der Psychoanalyse und verfolgte mit seinem »Sanatorium Schloß Tegel« tatsächlich das erste Modell einer Integration psychosomatischer Versorgung in Klinik,
Klinik
Praxis
und Ausbildung. Als Folge der Weltwirtschaftskrise musste die
in Tegel 193 1 geschlossen werden, nachdem ein internationaler Aufruf
zur Rettung ohne Erfolg geblieben war. Auch in der Emigration lagen Ernst Simmels Verdienste überwiegend in der Verbreitung der Psychoanalyse, etwa durch die lnstitutionalisierung der psychoanalytischen Ausbildung mit einer Poliklinik in Los Angeles nach dem Vorbild seiner Klinikgründung im Berlin
der Weimarer Zeit vor seiner Emigration. 39 Ernst Simmel war - vermutlich durch das Schicksal der Emigration - in Deutschland
zumindest
bis zu unseren eigenen medizinhistorischen Recher
chen völlig in Vergessenheit geraten 40 und aUenfalls am Rande für Spezialisten einer Erwähnung wert.
. Dagegen hatte Vtktor von Weizsäcker durch den Nürnberger Arztepro.
zess und seinen Schüler Alexander Mitscherlieh durchaus eine besondere Bedeutung
für
die weitere Entwicklung der psychosomatischen Medizin im
Nachkriegsdeutschland, insbesondere als er in kontinuierlicher Fortsetzung sei
ner romantisch-idealistischen Denkstruktur den Geist der naturwissenschaftli.. chen Medizin auf die Anklagebank des Nürnberger Arzteprozesses gesetzt hatte. 41 Heute lässt sieb dies als ein Abwehrmanöver in Bezug auf seine eigene
Anfalligkeit
gegenüber nationalsozialistischen Ideen durch die Identifikation
mit holistischen, antirationalistischen, naturphilosophischen und neovitalisti schen Strömungen, wie sie auch vor der Psychoanalyse nicht Halt gemacht hatten verstehen. 42 Auf Grund der hohen Plausibilität konnte sich aber das ahrliehen Verobjektivierung des Subjekts durch die natur Argument der gef wissenschaftliche Medizin bis heute als Vorurteil halten.
37 Vgl. Simmel, War neuroses.
38 Hennanns/Schultz, Freud im Sanatorium, 81. 39 Vgl. Schultz-Venrath, Psychoanalytische Klinik. 207-2 1 1 .
40
Vgl. ebd.
41 Dömer, Medizinisches Selbstverständnis, 334-335. 42 Bohleber, Romantisch-idealistische Freudrevision, 153- 154.
14 3
Ernst Simmel und Viktor von Wezsäcker i
Viktor von Weizsäckers Ambivalenz gegenüber Psychoanalyse und psychoanalytischer Psychosomatik Mit der Begründung der Psychoanalyse war ein besonderes Spannungsverhält
nis zwischen
Psychoanalyse und universitärer Medizin, speziell aber zwischen
Psychoanalyse und Psychiatrie
zu
verzeichnen, was selbst die frühe psychoso
matische Medizin nicht unberührt lassen konnte. Dieses Spannungsverhältnis stellte sich gelegentlich sogar als Ausschlussverhältnis dar; so vertrat VJ.ktor von Weizsäcker die These, dass die Psychoanalyse zwar nicht aber
fur die organischen
Man kann sagen,
daß
für
die Psychoneurosen,
Krankheiten geschaffen sei:
mit der Heranziehung organischer Vorgänge von vornherein
ein anderes Klima gegeben ist, in dem andere Ereignisse vorfallen und im Analyti
ker andere Gedanken entstehen werden - selbstverständlich geformt auch nach der persönlichen Melodie des Beobachters. Es ist nicht vorauszusehen, welche Umfor mungen der Psychoanalyse etwa nötig werden, wenn man sie auf organische Fälle anwendet; auch nicht vorauszusagen, wie sich ein Psychoanalytiker gegen die Zumu tungen solcher Abänderungen verbalten werde. 43
Diese
differentia spezijica,
die bei genauer Kenntnis der frühen Psychoanalyse
und ihren Versuchen, sich körperlichen Krankheiten theoretisch und thera peutisch
zu
öffnen, eine interessengeleitete Fehlwahrnehmung darstellt, etwa
wenn man die
Studien über Hysterie
als Schmerzkasuistileen versteht, 44 zieht
sich mehr oder weniger stringent durch das gesamte Werk von Weizsäckers. Folglich werden fast alle psychoanalytischen Autoren, die sich ausdrücklich dem Körper und psychosomatischen Fragestellungen aufgeschlossen zeigten, wie etwa Georg Groddeck45 mit seinem holistischen Panpsychismus - das Es sei Grundlage aller menschlichen Vorgänge - aber auch Sandor Ferenczi 46, Felix Deutsch47 oder Franz Alexander48 von Viktor von Weizsäcker so gut wie nicht rezipiert oder gar kritisch gewürdigt, wodurch der Weizsäckersche Ansatz
fur
Unkundige erst eine Sonderstellung
für
die Psychosomatik erhält.
Die Ignoranz gegenüber der frühen psychoanalytischen Psychosomatik, deren entwicklungspsychologische Trieb-Begriffe »oral«, »anal« und »genital« bereits auf ihre psycho-somatische Herkunft verweisen, 49 führte
zu
äußerst eigenwil
ligen Formulierungen bei Va.ktor von Weizsäcker. So sei es für
ihn
ȟberhaupt
erstaunlich, dass der Urgedanke der Beseelung alles Körperlichen gerade in der Psychoanalyse, welche
ihr
Dasein doch sicher einem unbändigen Drang
43 Von Weizsäcker, Begriff der Allgemeinen Medizin, 123. 44 Vgl. Freud/Breuer, Studien über Hysterie. 45 Vgl. Groddeck. Psychische Bedingtheit. 46 Vgl. Ferenczi, Pathoneurosen; ders., Materialisationsvorgänge; ders., Organneurosen. 47 Vgl. Deutsch, Organk:rankheiten; ders., Konversionssymptom. 48 Vgl. Alexander, Harvey Lecture; ders., Fundamental ooncepts. 49 Kütemeyer, Sprache, 69.
Ulrich Schultz-Venrath
144
nach Erkenntnis seelischer Wrrklichkeit verdankt, überhaupt keinen Platz fin det« 50• Der Ton der Formulierung verrät auch - psychoanalytisch betrachtet einen gewissen Neid (>>unbändiger Drang nach Erkenntnis«) gegenüber der Psychoanalyse, der wohl als unbewusster Affekt gegenüber Freud und der
Psychoanalyse bei von Weizsäcker durchgehend dominierte. Maligner Neid
führt allerdings nicht nur zu spezifischen Fehlwahrnehmungen, sondern auch zu wahnhaften Verkennungen, 51 die sich bezüglich der Theorie-Entwicklung der Psychoanalyse und Weizsäckers Rezeption derselben gut belegen lassen. 52
i der So schürte von Weizsäcker das Vorurteil, dass der Bezug zum Körper n
Psychoanalyse grundsätzlich zu kurz käme: »Das Bedenkliche dieser Konzep
tion war . . ,
daß die Beziehung zum Leib, wo nicht abgeschnitten wurde, so doch derart verarmte, daß von ihr nur noch der Zugang zur Motilität, zu den .
Wahrnehmungsorganen und zu den Trieben übrig blieb«. 53 Möglicherweise spielt bei der Frage der Rezeption oder Nicht-Rezeption
konkurrierender
Ansätze grundsätzlich auch die persönliche Haltung
zur Psy
choanalyse eine entscheidende Rolle. Ytktor von Weizsäcker klingt in dieser Hinsicht häufig resignativ: »Keiner von den Männem, die sich der psycho therapeutischen Arbeit mit voller Kraft hingaben, hat einen akademischen Lehrstuhl erlangt, gleichviel, ob er von Hause aus Psychiater oder Internist war«. 54 Insofern ist auch sein Bekenntnis, »später ist mein Weg von Freud zwar bestimmt, aber auch abgesondert gewesen, was ich aus Furcht, zu den Antisemiten gezählt zu werden, bis heute zu verbergen gesucht habe« 55, eine
Art verquere Selbstmystifizierung. Denn Freuds Theorie spielte ganz entgegen aller Behauptungen Vtktor von Weizsäckers fur seine anthropologische Medi
zin nur eine sehr periphere Rolle; indirekt lässt sich das allein dadurch belegen, dass Viktor von Weizsäcker selbst einräumt, erst im Jahre 1925 Freuds Vor lesungen zur Einführung in die Psychoanalyse gelesen zu haben, die
fur ihn
der Beginn einer Beziehung zur psychotherapeutischen Bewegung gewesen seien. 56 Dies könnte auch der Grund dafür sein, dass es mit einer einzigen Ausnahme (s. u.) nie eine intensivere Begegnung oder gar Beziehung zwischen Ernst Sirnmel und Vtktor von Weizsäcker gegeben hat, obwohl ausgerechnet
der Assistenzarzt Rudolf Bilz, der mit seinem Eintritt 1930 zu den frühes ten
ärztli chen Mitgliedern der NSDAP gehörte, bei beiden eine gewisse Zeit
beruflich gewirkt hatte. 57 SO Von Weizsäcker, Natur und Geist, 168. 5 I Vgl. Sbengold, Envy. 52 Vgl. Reuster, Rezeption .
53 54 55 56
Von Weizsäcker, Natur und Geist.
Ebd., 127.
Von We.izsäcker, Begegnungen, 243. Von Weizsäcker, Natur und Geist, 53.
57 Rudolf Bilz (1 898-1976) bane zunächst die Laufbahn des Lehrers angestrebt, bevor er über ein abgebrochenes Jurastudium Medizin in Leipzig, Wien, Berlin und Heidelberg studierte. Freud
Ernst Simmel und Viktor von Weizsäcker
145
·------ ---·-----·- -
Die mangelhafte bis ablehnende Rezeption der Freudschen Psychoanalyse, zumindest mit bedingt durch Viktor von Weizsäckers religiös-philosophische Vergeistigung der Medizin, kann durchaus im Kontext der Tatsache gese hen werden, dass Freuds Bücher mit dem Feuerspruch »Gegen seelenzerfa sernde Überschätzung des Trieblebens, fur den Adel der menschlichen Seele« mit seiner wohlformulierten Unterstützung 1933 auf dem Scheiterhaufen ver brannt wurden. Vtktor von Weizsäcker hatte bei der am 10.5.1933 in Heidet berg öffentlich stattfindenden Bücherverbrennung sarkastisch und Ambivalenz intendierend angemekrt, »wenn man schon diesen mittelalterlichen Brauch auf frischen wolle, dann käme fur mich nur die Schrift Freuds in Betracht, in der er seine Leugnung Gottes psychoanalytisch begründet (Die Zukunft einer lliusion, 1927)«58• Auf diese Weise stellte sich Vtktor von Weizsäcker - dies kann trotz aller gebotenen Vorsicht hinsichtlich dieser eines ausführlicheren Kommentars bedürftigen Passage festgehalten werden - in gewisser Weise schon auch in die aufkommende Bewegung nationalsozialistisch gesinnter Psychosomatiker, etwa des Jungianers Gustav R. Heyer59, der die Psychoanalyse fur eine »Psychologie ohne Seele« hielt, die »jede Gestalt, jedes Leben, jedes Werk, jedes Sinnbild in seine tausend Einzelheiten« seziere und daher wesensverwandt sei mit der Ana tomie und Vrrchowschen Zellularpathologie. Von Weizsäcker äußerte dagegen seinen »Widerstand gegen die auflösende Säure der Analyse« 60. Was den Psychoanalytiker und Psychosomatiker Ernst Sim.mel betrifft, gxbt es eine einzige, allerdings sehr interessante Bezugnahme Vlktor von Weizsäckers auf eine Falldarstellung, die Si.m..-nel 193 1 auf dem VI. Allgemeinen Ärztlichen Kongress für Psychotherapie in Dresden vorgetragen hatte, wobei er den inter essanten Titel gewählt hatte Über die Psychogenese von Organstörungen und ihre hatte seinen Wunsch, während der Studienzeit eine Analyse bei ihm zu machen, abgelehnt und ihn an Schilder verwiesen, bei dem er eine 70-Stunden-Analyse machte. Als »cand.med.« ging er von November 1927 bis April 1928 n i Supervision bei Franz AJexander, bei dem er die psychoanalytische Behandlung eines Falles mit Ejaculatio praecox vorstellte. Nach seiner Entna zifizierung scheiterte zunächst eine Anstellung bei Jores; schließlich arbeitete er von 1948-1963 an der Nervenklinik der Universität Mainz, wo er sich mit einer Studie über »Trinker« habilitierte und 1959 zum apl. Professor ernannt wurde. Als Verfasser zahlreicher Publikationen und Bücher wurde er in der psychosomatischen Literatur auffanig wenig zur Kenntnis genommen. 58 Von Weizsäcker, Natur und Geist, 157. Vgl. Rimpau, von Weizsäcker, 1 1 7, der - leider ohne Quellenangabe - behauptet, dass von Weizsäcker »in der gleichen Zeit 1 2 Bände der Freudschen Gesamtausgabe für die Kliniksbibliothek gekauft« habe. 59 Gustav Richard Heyer (1890-1967) hatte als Assistent von Friedrich von Müller eine fundierte internistische Ausbildung erhalten und verabscheute die Psychiatrie. Nachdem er sich nach dem Ersten Weltkrieg mehr und mehr der Psychotherapie und Psychosomatischen Medizin auch wissenschaftlich zugewandt hatt.e - er konnte zeigen, dass der Magen mehr (bzw. weniger) Verdauungssäfte absonderte, wenn in Hypnose appetiterregende (bzw. appetitbemmende) Vor stellungen suggeriert wurden (vgl. Heyer, Körperlieb-seelisches Zusammenwirken) -, griindete er 1928 eine informelle Jungianische Gruppe in München. 60 Von Weizsäcker, Natur und Geist, 126.
146
Ulrich Schultz-Venrath
psychoanalytische Behandlung. In Anlehnung an seinen Vortrag ein Jahr zuvor, in welchem Simmel dem Verhältnis von Zwangs-, Sucht- und Schmerz-Erkran kungen nachgegangen war, 61 woUte er dieses Mal Zusammenhänge bei der Genese von Organerkrankungen weniger hypothetisch erscheinen lassen und den »Tatbestand . . . , dass ein unlösbarer seelischer Konflikt der Person mit ihrer Umwelt sich in einen solchen der körperlichen Innenwelt aufzulösen imstande ist« 62, näher erläutern. Er nahm an, dass einzelne Organe zu »Repräsentan ten divergierender psychischer Strebungen« 63 werden können, wodurch ihre Funktion beeinträchtigt werde. Diese psychosomatische Auffassung war ver mutlich durch die psychophysiologischen Kreislauf-Untersuchungen von Felix Deutsch, 64 aber auch durch eine Groddecksche Herzins uffizienz-Behandlung 65 gebahnt worden. Die theoretische Einordnung dieses Falles muss ebenfalls als ein früher Versuch angesehen werden, Freuds Triebtheorie mit objektbezie hungs-theoretischen Ansätzen zu vereinen. Mit dieser Behandlungsgeschichte konnte Simmel demonstrieren, dass die Gesundung des Patienten vor allem an das Freisprechen von Schuld bzw. von Schuldgefi.ihlen gebunden war. Simrnel bezog sich dabei ausdrücklich auf den Todestrieb Freuds, der ihm erst den »Übergang von der psychogenen, hysterie formen >funktionellen< Erkrankung zur wirklichen psychogenen Organk:rank heit« versändlich t gemacht habe: »Denn der Todestrieb entspricht der Tendenz
zur Triebruhe, zum Ausgleich aller Spannungen, zur Rückkehr vom organisch Belebten ins anorganisch Unbelebte - das ist der Tod«. 66
Es handelte sich um einen 50-jährigen Patienten, einen ehemaligen Alkoholi ker, der an einer schweren Herzinsuffizienz mit den Folgen eines Lungenödems Utt. Simrnel vermutete eine primär alkoholbedingte organische Schädigung des Herzens. Der Patient war ihm von einem Kollegen überwiesen worden, der einerseits den Eindruck hatte, »dem Patienten nicht helfen zu können«, aber andererseits die Beobachtung gemacht hatte, »dass die unumgänglich notwen61 Vgl. Simmel, Zwang und Sucht. 62 Simmel, Psychogenese von Organstörungen, 56. 63 Ebd. 64 Vgl. Deutsch, Organk:rankheiten. Seine Herz-Kreislauf-Experimente an hypnotisierten Versuchs personen hatten ihn zu der Auffasu s ng gebracht, » . .. daß nur da.s unbewußte, nicht abrea gierte Erlebnis die Organstörung unterhält, und daß die Organstörung abklingen muß, wenn das auslösende Ereignis bewußt geworden ist und wenn, was noch notwendiger ist, sein zugehöriger Affekt ausgiebig abreagiert wurde« (Deutsch/Kauf, Kreislaufstudien, 79). 65 Groddeck hatte einen ähnlichen FaJJ mit einem ausgeprägten generalisierten therapieresistenten Ödem auf dem In. Kongress der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie vorge stellt. Die Patientin, die Groddeck gestand, dass sie das als junges Mädchen abgelegte Gelübde, ihr »ganzes Leben lang keusch« zu bleiben, durch ihre Heirat gebrochen habe, erlebte nach der Beichte ihrer »Todsünde<< eine so ))lebhafte Urinausscheidung<< (die Gewichtsabnahme betrug 25 kg in den nächsten acht Wochen), dass sich der Zustand von Tag zu Tag besserte und die Kranke in voUem Wohlsein abreiste (Groddeck, Klinische Mitteilungen, 132). 66 Simmel, Psychogenese von Organstörungen, 57.
14 7
Ernst Simmel und Viktor von Weizsäcker
digen Morphininjektionen gegen die stenokardischen Anfalle sich erübrigten,
da
lediglich der Einstich der Kanüle ausreichte, um eine Angina pectoris zu beheben«. 67 Im Gegensatz zum integrativ-holistischen Ansatz, wie zum Bei spiel auf der Rentenneurosen-Station Vt.ktor von Weizsäckers vertreten, wurde auf eine strikte Trennung von somatischer und psychotherapeutischer Behand lung Wert gelegt: Oberarzt Herold übernahm die somatische Behandlung »mit allen Künsten moderner Medizin«, Sirnrnel selbst die psychische Behandlung. 68 Obwohl unter seinen Zuhörern wahrscheinlich nur wenige Analytiker saßen,
entschuldigte er sich zunächst da.fiir, »gerade aus psychoanalytischen Erwägun gen im vorliegenden Fall keine exakte Psychoanalyse durchgeführt . . . , sondern die Methode
im
Dienste einer spezifischen Aufgabe« modifiziert
zu
haben.
Mittels alternierenden Einsatzes von Hypnose, Freisprechen von Schuld und
negativer Übertragungsdeutung, die von einer paranoiden Übertragung auf den Therapeuten begleitet wurde, gelang schließlich die Entwässerung des Lungen ödems und die Wiederherstellung der Arbeitsf ähigkeit. 69
Die sich daran anschließende Komrnentierung des Falles durch Viktor von
Weizsäcker ist höchst überraschend, weil er die psychoanalytische
Grundlage
des Behandlungserfolgs - das fast biblische Freisprechen von Schuld des Pati enten - nicht als das Wesentliche verstanden hatte, wo doch gerade er durch seine christlich-theologische Verbundenheit
dafür
wohl zuallererst einen Sinn
gehabt haben müsste: Einer der bemerkenswertesten Fälle aus der jüngsten Literatur ist der von Simmel . . . mitgeteilte einer schweren hydropischen Kreislautins uffizienz mit stenokardischen Anfällen, dessen Behandlung auf nur internem Weg völlig mißlungen war, die aber
dann auf dem Wege über eine analytisch geleitete Psychokatharsis mit Hypnose zur
Entwässerung und völligen Dauerheilung gebracht werden konnte. Diese überaus beachtenswerte Krankengeschichte steht nicht vereinzelt und sie hat ihre Beweis kraft besonders für denjenigen, der geneigt ist,
>ex juvantibus< sein klinisches Kau
salbedürfnis zu befriedigen. Doch ist das wesentliche auch hier nicht die Sukzession von Behandlung und Genesung, sondern dass es eine krisenhafte Aufhebung einer Verdrängung war, worauf die Regulierung des Kreislaufes eintrat. 70 Ein Jahr später schien von Weizsäcker zwar eher
zu
akzeptieren, dass Sim
mel diese »hydropische Herzinsuffizienz« als »Äquivalent einer Neurose . . . durch den Gang der Therapie beweisen konnte«. Aber er weigerte sich beharr lich, eine Brücke zwischen den sich angeblich ausschließenden Ansätzen, hier Organmedizin, dort Psychoanalyse
zu
schlagen, wo es nun mal wirklich mög
lich gewesen wäre: 67 Ebd., 62. 68 Sirnmel, Kursus Tegel, 7. Abend zur Fortbildung in der Psychosenbehandlung, Archiv des Psycboanalytic lnstitute and Society, Los Angeles, 22 (unpubliziertes Manuskript). 69 SchuJtz-Venrath. Psychoanalytische Klinik, 153-161. 10 Von Weizäcker, Kreislauf, 1 1 4.
148
Ulrich Schultz-Venrath
Aber das pathologische Verständnis solcher F alle ist, wie mir scheint, durch die ein fache Anwendung der metapsychologischen Begriffe Freuds noch nicht zu erreichen,
Klinik organisch nennt und was die pathologische Anato mie und Physiologie erfassen kann, in der Psychoanal yse bisher nicht aufgenommen weil in diese das,
was
die
werden konnte (und umgekehrt). 71
So falsch die Einschätzung Vtktor von Weizsäckers bezüglich der organisch
Grundlage seitens der Psychoanalyse war, so wichtig war dieser Stachel Vlktor von Weizsäckers für die Weiterentwicklung der Psychoanalyse somatischen
und interdisziplinären Hinwendung zu den Neurowissenschaften Ende der 90er Jahre im
20. Jahrhundert. Aber es war kein Zufall, dass Vlktor von Weizsäcker
das Diktum Freuds - » . . . das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche« 72 nicht kennen wollte. Zum ersten Mal wurde hier der Körper mit folgenden Formulierungen in den Mittelpunkt der psychoanalytischen Theoriebildung gerückt: das Ich ist vor allem ein Körper-Ich; . . . der eigene Körper und vor allem die Oberfläche desselben ist ein Ort, von dem gleichzeitig äußere und innere Wahr nehmungen ausgehen können. Er wird wie ein anderes Objekt gesehen, ergJbt aber dem Getast zweierlei Empfindungen, von denen die eine einer inneren Wahrnehmung gleichkommen kann. 73
Hier wurde nicht nur eine Unterscheidung zwischen dem Körper als Objekt und den Objekten der Außenwelt voUzogen, bei deren Berührung ja nicht zwei Empfindungen gleichzeitig entstehen wie bei der Berührung eines Körperteils, sondern auch eine erste Differenzierung zwischen dem Ich und dem eigenen Körper - als Prototyp eines Konglomerats von Ich bzw. Selbst -, Körper und äußeren Objekten - erwogen. Die Entwicklung des psychischen Ichs - von Anzieu später »Hülle« ge nannt 74 - auf der
Grundlage des körperlichen Ichs, bzw. der körperlichen
Hülle 7s war von Freud theoretisch in der Weise vorbereitet worden, dass er den Schmerz als vorbildlich dafür hielt, »wie man . . . eine neue Kenntnis sei ner Organe erwirbt« und »wie man überhaupt zur Vorstellung seines Körpers kommt«. 76 Denn der eigene Körper, der vom Ich kaum bewusst wahrge nommen werde, verhalte sich in einer
Art stiller Präsenz wie ein unauffälliger
71 Von Weizäcker, Körpergeschehen, 213.
72 Freud, Ich und Es, 253-254.
73 Ebd., 253. 74 Anzieu, Haut-Ich, 207-294. 7S Anzieu griff die von Freud gezeichneten Piktogramme zum Ich, Es und Über-Ich auf, um vom Ich als »psychische Hülle« zu sprechen, das nicht nur »eine Tasche«, sondem auch »eine aktive Rolle bei der Verbindung zwischen Psyche und Außenwelt und bei der Aufnahme und Weitergabe von Informationen« spiele. Vgl. ebd., 1 1 1-115. 76 Freud, Ich und Es, 253.
149
Ernst Simmel und Viktor von Weizsäcker Begleiter. Erst
im Schmerz oder anderen unangenehmen Zuständen erfahre er größere Aufmerksamkeit und werde als etwas vom Ich Getrenntes, als Objekt des Ichs, wahrgenommen. Diese Auffassung stand später Pate bei der Ent wicklung des Körperschemas durch Schilder, n der neben der motorischen Kontrolle die Bedeutung des Schmerzes wieder aufgriff. Ganz anders dagegen von Weizsäcker, der dem Schmerz primär eine phänomenologisch-ontologi sche Qualität einräumte: »Auch wo der Schmerz hinunter reicht bis in sein innerstes Herz, wird seine Krankheit eigentlich etwas an ihm sein, nicht ganz und gar er selbst. Nicht der Kopf, sondern die Hand macht den
Arzt, nicht
mein Schmerz, sondern etwas, das schmerzt, macht meine Krankheit«. 78 Aus
dem Text Vlktor von Weizsäckers ist gut erkennbar, dass er Freuds metapsy chologisches Schmerzkonzept (Angst vor, Schmerz während und Trauer nach einer Trennung), nicht aber die Studien über Hysterie (Schmerz bei Identifika tion) gelesen hatte, sodass letztlich nur eine religiös-philosophische »Geisterfah rung« 79, nicht aber eine Weiterentwicklung des analytischen Schmerzkonzepts vollbracht war.
Psychosomatische Medizin und das Dritte Reich: der Fall Viktor von Weizsäcker Die Widersprüchlichkeit oder in seiner Person liegende, strukturelle Ambi valenz, die Vtktor von Weizsäcker in seiner Auseinandersetzung mit Freud und der Psychoanalyse bis 1933 kontinuierlich zum Ausdruck gebracht hatte, setzte sich verhängnisvoll in seiner Auseinandersetzung und Verstrickung mit dem Nationalsozialismus fort. 80 Er selbst kommentierte diese Verstrickung
damit, dass die »Fortsetzung des deutschen Lebens in den vor 1933 beste henden Verhältnissen . . . jedenfalls nicht
so
einfach [war],
daß eine ledig
lich negative Haltung, nachdem der Umbruch einmal vollzogen war, genügt hätte«. 81 Auf dem ersten Berliner Gesundheitstag 1980 wurden von marxisti scher Seite Vlktor von Weizsäckers »Vernichtungslehre« sowie seine sozialpo litischen und Sozialmedizinischen Äußerungen in den direkten Vernichtungs zusammenhang des Dritten Reiches gestellt. 82 Die inkriminierten Sätze, die
77 78 79 80
Vgl. Schilder, Image. Von
Weizsäcker, Schmerzen, 27.
Ebd., 30. Rimpau, von Weizsäcker, 1 1 3-130.
81 Von Weizsäcker, Natur und Geist, 280. 82 Wuttke-Groneberg, Von Heidelberg nach Dachau, 1 13-138. Die sehr kontrovers gefuhrte Dis kussion ist in dem von Gerhard Baader und mir herausgegebenen Band ebenfalls abgedruckt. Vgl. dazu näher das Literaturverzeichnis.
Ulrich Schultz-Venrath
150 VJ.ktor von Weizsäcker
im
Sommersemester 1933
im
Rahmen seiner Vorle
sungen über allgemeine Therapie geäußert hatte, lauteten: Auch als Ärzte sind
wir
verantwortlich beteiligt an der Aufopferung des Individu
ums für die Gesamtheit. Es wäre illusionär, ja es wäre nicht einmal fair, wenn der
deutsche Arzt seinen verantwortlichen Anteil an der notgeborenen Vernichtungs politik glaubte nicht beitragen zu müssen. An der Vernichtung unwerten Lebens
oder unwerter Zeugungsfahigkeit, an der Ausschaltung des Unwerten durch Inter nierung, an der staatspolitischen Vernichtungs politik war er auch früher beteiligt. Jedes Gutachten läuft in einem strengsten Sinne entweder auf Erhaltung oder Opfe
rung eines individuellen Lebensinteresses hinaus . . . Es gab (und gibt beute noch)
keine vollständige Vernichtungslehre, welche die rein als Erhaltungslehre aufgebaute Heilkunde ergänzt. 83
Mit diesen Ideen hatte er sich den Nationalsozialisten kurz nach der Machter
greifung sprachlich und inhaltlich angenähert. 84 1986 wurden erstmals Doku
mente aus einem polnischen Archiv veröffentlicht, die die Rolle VJ.ktor von Weizsäckers als Direktor der Neurologischen
Klinik
und des Forschungsinsti
tuts der Universität Breslau von 1941 bis 1945 in ein neues Licht stellten. 85 Auf dem Heidelberger Symposium zum 100. Geburtstag Vtktor von Weizsäckers referierte Mechthilde Kütemeyer, Mitarbeiterin der Edition der Gesamm elten Schriften von Weizsäckers, die Datenlage mit den Worten: 1m Militärarchiv Kattowitz/Polen wurden über 200 Krankenakten aus den Jahren
1942 und 1943 gefunden mit ausdrücklichen Begleitschreiben folgenden Inhalts: >Neurologisches Forschungsinstitut, Prof. von Weizsäcker, Breslau, Neudorfer Stras se 1 1 8-120. In der Anlage übersende ich Ihnen ein nach Ihrem Schreiben vom
23.3.1942 fixiertes Gehirn und Rückenmark des Kindes . . . (Name und Geburtsda ten) mit der Bitte, es hirnpathologisch untersuchen zu wollen. Einen Auszug aus der
Krankengeschichte füge ich bei. Der leitende Arzt (Hecker), Prov.Obenned.Rätin.< Es handelt sich um dissoziale und behinderte Kinder und Jugendliche aus der Kinder fachabteilung der Jugendpsychiatrischen Klinik Loben (Lubliniec). Aus den Kran kenakten geht unmißverständlich hervor,
entstammten. 86
daß
diese Gehirne der Kindereuthanasie
Die damalige Mitteilung löste unter den zahlreichen Zuhörern, insbesondere in den ersten drei Reihen des bis auf den letzten Platz gefiillten Festsaales der Universität, eine eisige, bis heute unter den Verwandten und Sympathisan
ten Vtktor von Weizsäckers nicht wesentlich aufgelöste Erstarrung aus, 87 die
83
Von Weizsäcker, Ärztliche Fragen, 323. 84 Zu der ausfUhrliehen Beschäftigung mit den Schriften Vlktor von Weizsäckers direkt nach 1933 vgl. zum einen Roth, Psychosomatische Medizin und zum anderen Benzenhöfer, Kontinuität, Affintion na und Kritik sowie ders. »Ärztliche Aufgaben« - Bemerkungen zu einem Vortrag Viktor von Weizsäckers aus dem Jahre 1933. 85 Roth, Psychosomatische Medizin, 86-9 1. 86 Harrington, Suche, 363-364. 87 Vgl. Penselin, WISSenschafts- und GeseUschaftsloitik.
Ernst Simmel und Viktor von Weizsäcker
151
mit merkwürdig verdrehten Verteidigungsargumenten einherging, während die Mehrheit der Anwesenden nach einer kurzen (Schock-?)Pause heftigst Beifall klatschte. Die Großgruppe wiederholte und reinszenierte eine Spaltung, wie sie durch die nationalsozialistische Machtergreifung politisch in Juden und Nicht Juden, Nationalsozialisten und Anti-Nationalsozialisten realisiert worden war. Gruppenanalytisch konnte man bestaunen, wie eine einmal eingeschlagene Idealisierung eines »Vaters« der Psychosomatik auf keinen Fall aufgegeben werden durfte, weil aufgrund einer fehlenden Identifizierung mit anderen Ent
das Nichts zu drohen schien. Da bis heute der von Hecker erwähnte Brief vom 23.3.1942 weder
wicklungen auf dem Gebiet der Psychosomatik sonst
bekannt noch gefunden wurde, konnte Vtktor von Weizsäcker persönlich kein Fehlverhalten oder eine direkte Verstrickung mit der Kindereuthanasie nach gewiesen werden, auch wenn er als Direktor natürlich die Verantwortung die Dienstleistungen in seinem Institut
zu
für
tragen gehabt hätte. Allerdings war
damals noch nicht bekannt, dass sich Elisabeth Hecker in einer Publikation gegenüber Viktor von Weizsäcker, in seiner Funktion als Institutsleiter,
seine Hilfe in dieser Angelegenheit ausdrücklich bedankt hatte:
für
Ich darf wohJ nur andeutungsweise darauf hinweisen, welch gut untersuchtes Mate rial auf der Pflegestation zusammenkommt, wenn nach dem Tode der Kinder das
Gehirn durch das neurologische Forschungsinstitut in Breslau untersucht wird. Prof.
von Weizsäcker, Breslau, hat sich in entgegenkommender Weise bereiterklärt, diese hirnpathologischen Untersuchungen machen zu lassen. Wrr sind dabei, die klini schen Befunde, die Encepbalogramme
usw.
anband der pathologisch-anatomischen
Befunde auszuwerten. Wir haben trotz aller Sorgfalt in der klinischen Befunderhe bung hier bemerkenswerte Überraschungen erlebt; darüber werden wir zu gegebener
Zeit berichten. 88
Ebenso bemerkenswert sind Viktor von Weizsäckers Äußerungen als Ober gutachter
1948 gegenüber Prof. Dr. med. Georg Otto Schaltenbrand, der ab
1937 Versuche an psychiatrischen Patienten mit Liquor von MS-Patienten mit Affen als Überträger durchgeführt hatte, um eine Übertragung der multiplen Sklerose von Mensch zu der Auffassung
zu
Mensch zu belegen. 89 Während Werner Leibbrand
kam, dass Schaltenbrand »vorsätzlich zu Versuchszwecken
hilflose Kranke ohne deren Wissen und Einwilligung durch experimentelle Beifugung zusätzlicher schwerer Krankheiten körperlich geschädigt« 90 habe,
88 Hecker, Jugendpsychiatrische Klinik, 183. Cora Penselin sieht dies in ihrem Beitrag Bemerkungen zu
den Vorwiitfen, . . . auch our als Hinweis der institutionellen und nicht als Lndiz für eine
persönliche Verstrickung Vt.ktor von Weizsäckers. Vgl. auch Benzenböfer, Vtktor von Weizsäcker und Breslau, 455-465.
89 Vgl. dam Klee, NS-Medizin, 72-77.
90
Zitiert nach dem Gerichtsärztlichen Gutachten des Landesgerichtsarztes Dr. Trotter vom 5.5.1948, Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen (zur Verfolgung von NS-Verbrechen) in Ludwigsburg, Sammlung Euthanasie.
152
Ulrich Schultz-Venrath
und dessen Handlungsweise
als »ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit«
bewertet, vertrat Viktor von Weizsäcker die Ansicht, dass bei den (vergasten!) Versuchspersonen keine Erkrankung als Folge des Experimentes eingetreten sei. Zisternenpunktionen seien unschädlich, und der äußerst seltene Schaden
gehöre zu jenen winzigen Risiken, »die wegen des überwiegenden Nutzens der Maßnahme sowohl von Patienten wie von Ärzten widerspruchslos hingenom men werden. Das ist so wie bei jeder Eisenbahnfahrt.«91 Die Paradoxie, dass
der Geist der naturwissenschaftlichen Medizin in Nürnberg von ihm ange
klagt wurde, um im
Einzelfall gerechtfertigt zu werden, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Viktor von Weizsäcker keine Position vertrat, die ihn vor einer nazistischen lndienstnahme geschützt hätte.
Wissenschaftsgeschichtliche Perspektiven Unabhängig davon, wie konkret nun die Schuld Vtktor von Weizsäckers
im
juristischen Sinne gewesen ist, eröffnet diese Verstrickung die Frage, welche Rolle die psychosomatische Medizin und deren spätere Pioniere im Dritten Reich überhaupt spielten und welche subjektiven und objektiven Kausalitäten
zu einer solchen Verbindung mit dem Dritten Reich geführt haben könnten.
Vtktor von Weizsäcker hatte zumindest vorsichtig seinen Irrtum einräumen können, dass die Reform der Medizin sich durch die, in letzter Instanz religiös geforderte, Beseelung und Verinnerlichung in der Krankheitsbetrachtung [nicht] allein herbeifuhren lasse . . .
es erwies sich, dass der Kampf gegen die naturwissenschaftliche Medizin - richtiger, gegen die einseitige versteinerte Medizin der Schulen - mit ganz ungleichartigen und
mit ungenügenden Waffen geführt war, als ob man mit Gummibällen und Federbällen gegen einen Panzerwagen vorginge. 92
Aber insbesondere seine Schüler haben bezüglich der Frage der letztlich religiö sen Beseelung daraus keine Konsequenzen gezogen, denn dies würde bedeuten, auf die Anthropologische Medizin als Methode zu verzichten, so weit sie über haupt eine Methode darstellte. Die zahlreichen übrigen Fragen der persönlichen und fachlichen Verstrickung sind bis heute von Verleugnung, Verklärung und Idealisierung gegenüber den Vätern der psychosomatischen Medizin gekenn zeichnet, weshalb es eine Geschichte zur Psychosomatik
im Dritten Reich
- mit wenigen Ausnahmen 93 - eigentlich noch nicht gibt. Dieses Phänomen, welches sich fast nur noch auf die Psychosomatik überhaupt eingrenzen lässt, 9! Obergutachten von
Weizsäcker vom
5.10.1948, Zentrale SteUe der Landesjustizverwaltungen
(zur Verfolgung von N S-Verbrechen) in Ludwigsburg, Sammlung Euthanasie. 92 Von Weizsäcker, Natur und Geist, 159. 93 Vgl. Schultz-Venrath/Hennan,ns Gleichschaltung und Schultz-Venratb, Psychoanalytische Kli nik.
153
Ernst Simmel und Viktor von Weizsäcker
denn Psychologie, Psychoanalyse und Medizin haben sich der Auseinanderset zung bezüglich ihrer Rolle im Dritten Reich mittlerweile gestellt, ist nicht nur höchst bemerkenswert, sondern eigentlich noch völlig unverstanden. Für die Psychosomatik, die aus Sicht von Vlktor von Weizsäcker nur eine Zwischen- oder Übergangsstufe, hier zur anthropologischen Medizin 94 dar stellen sollte, ist diese Verleugnung einer schwierigen Vergangenheit gef ah.rlich, weil sie sieb dadurch einer wahrhaftigen, selbstreflexiven und kritischen Iden tifizierung
fiir die nächsten Generationen entzieht. Erst durch die Integration
der abgespaltenen jüdischen Fraktion, die bis beute in den Lehrbüchern der Psychosomatik nur eine verschwindend geringe Rolle spielt, obwohl sie wesent liche Impulse
für die Entwicklung des Faches gegeben hat, und die Anerken
nung der Schuldfrage der überwiegend christlichen Pioniere der Psychosomatik wird die psychosomatische, bzw. psychotherapeutische Medizin ihre Existenz berechtigung in Zukunft überhaupt realisieren können. Dies wird hier aller dings auch nur dann gelingen, wenn sie als sprechende Medizin über sich selbst spricht. Andernfalls gebt es ihr wie Viktor von Weizsäcker, der kurz vor seinem Tod bezüglich seines Befindens dunkel feststellte, und ich die Zunft getötet habe
. . .
« 95.
»daß die Zunft mich
Für die psychoanalytische Psychosomatik besteht dagegen dieselbe Gefahr wie
für die Psychoanalyse überhaupt. Nach jahrzehntelanger Verleugnung,
Diskriminierung und Eliminierung ist inzwischen ein neuer Abwehrmodus zu
beobachten, der der Imitation; plötzlich und auf einmal sind alle Psy
choanalytiker, 96 verstehen alle etwas von den komplizierten Wechselspielen zwischen Körper und Seele, besetzen neue Felder, wie z. B. die Neuropsy choanalyse, ohne Neurologie jemals studiert zu haben. Hier könnten Viktor
von Weizsäckers Vorarbeiten zur Neurodynamik spezieller Erkrankungen, sein
Gestaltkreismodell und seine sinnes- und neurophysiologischen Entwürfe und Entdeckungen in Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der Psychoana lyse, an der Ernst Simmel einen ebenfalls verleugneten Anteil bat, in der Tat neue wissenschaftliche Türen, aber auch Horizonte, eröffnen. Dazu wird aller dings nicht selten ein Schwimmen gegen den Strom benötigt, welches
für von
Weizsäcker in seinem Leben »zwar eine verlockende, aber keine überwiegende Kraft besessen« hat. 97 Auch wenn Vlktor von Weizsäcker trotz aller Bemühun gen keine systematische Psychosomatik entwickelt bat, auf deren Boden über haupt eine Weiterentwicklung denkbar ist - insofern ist
das Fehlen einer Aus
bildung wiederum immanent -, so sollte sein Scheitern an der Theologisierung der Medizin Mahnung genug sein Idealisierung
dafür, dass sich jede Ideologisierung und
für eine zukünftige Psychosomatik verbietet.
94 Von Weizsäcker, Grundfragen, 268. 95 Von Weizsäcker, Meines Lebens, 244.
96 Jappe, Einleitung, 18. 97 Von Weizsäcker, Begegnungen, 217.
154
Ulrich Sd1ultz-Venrath
Literatur Alexander, F., Fundamental concepts ofpsychosomatic research, in: Psychosom Med 5 (1943) 205-210. -, Psychoanalyse und Medizin . »Harvey Lecture<< in der Academy of Medicine in New York am 31. Januar 1931, in: lnt Z Psychoanal 1 7 (1931) 2 1 2-233. Anzieu, D., Das Haut-Ich, Frankfurt am Main 1991. Benzenhöfer, U., Vilctor von Weizäcker und Breslau, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wtlhelms-Universität zu Breslau, Band 36/37 (1997), S. 454-465. Bernheim, H., Neue Studien über Hypnotismus, Suggestion und Psychotherapie, Leip zig/Wien. -, Die Suggestion und ihre Heilwirkung [1888], Autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. Sigm. Freud, Fotomechanischer Nachdruck, Tübingen 1985. Blomert, R., Thora und Therapie - Das vergessene Sanatorium, in: Psychoanalyse im Widerspruch 3 (I 992) 39-49. Bohleber, W., Zur romantisch-idealistischen Freudrevision deutscher Psychoanalytiker nach 1933, in: L.M. Hermanns (Hg.), Spaltungen in der Geschichte der Psychoana lyse, Tübingen 1995, 153-167. Deutsch, F., Zur Bildung des Konversionssymptoms, in: lnt Z Psychoanal 1 0 (1924) 380-392. -, Biologie und Psychologie der Krankheitsgenese, in: lnt Z Psychoanal 19 (1933) 130146. -, Psychoanalyse und Organkrankheiten, in: lnt Z Psychoanal 8 (1922) 290-306. Deutsch, F./E. Kauf, Psycho-physische Kreislaufstudien. 2. Mitteilung. Über die Ursa chen der Kreislaufstörungen bei den Herzneurosen, in: Z Ges Exp Med 34 (1923) 71-81. Dörner, K., >>Ich darf nicht denken«. Das medizinis che Selbstverständnis der Angeklag ten, in: A. Ebbinghaus/K. Dörner, Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzte prozess und seine Folgen, Berlin 2001, 331-357. Eeden, F. van, Die Grundzüge der Psychotherapie, in: Z fHypnotismus 1 (1892) 53-65. Eliasberg, W., Vorwort und Einleitung, in: ders. (Hg.), Bericht über den I. Allgemeinen ärztlichen Kongress für Psychotherapie in Baden-Baden, 17.-19. April 1926, Halle an der Saale 1927, 1-5. Fenichel, 0., 1 1 9 Rundbriefe, Bd. 1 : Europa (1934-1938), hg. von J. Reichmayr/E. Mühlleitner, Frankfurt am Main 1998. Ferenczi, S., Hysterische Materialisationsvorgänge. Gedanken zur Auffassung der hys terischen Konversion und Symbolik [1919], in: ders., Bausteine zur Psychoanalyse, Bd.3, Bem u.a. 3 1984, 129-147. -, Organneurosen und ihre Behandlung [1926], in : ders., Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. 3, Bern u.a. 3 1984, 294-301 . -, Über Pathoneurosen [1916], in: ders., Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. 3, Bern u.a. 3 1984, 80-94. Freud, S., Briefe an Srnith Ely Jelliffe, in: J .C. Burnham (Hg.), Jelliffe: American Psy choanalyst and Physician, Chicago 1983, 252-254. -, Briefe an Wllhelm Fließ. 1887-1904. Ungekürzte Ausgabe, hg. von J.M. Masson, Frankfurt am Main 1985.
Ernst Simmel und Viktor von Weizsäcker
155
-, Das Ich und das Es [1923], in: Gesammelte Werke, Bd. 13, London!Frankfurt am Main 1999, 237-289. - /K. Abraham, Briefe 1907-1926, hg. von H.C. Abraham/ E.L. Freud, Frankfurt am Main 2 1 980. - /J. Breuer, Studien über Hysterie [1895], in: Gesammelte Werke, Bd. 1, London/ Frankfurt am Main 1999, 75-312. Groddeck, G., Psychische Bedingtheit und psychoanalytische Behandlung organischer Leiden, Leipzig 1917. -, Klinische Mitteilungen aus einer 20jährigen psychotherapeutischen Praxis, in: W. Eliasberg (Hg.), Bericht über den l l l. Allgemeinen Ärztlichen Kongress für Psycho therapie in Baden-Baden, 20.-22.4.1928, Leipzig 1929, 130-140. Hahn, P./W. Jacob, Vlktor von Weizsäcker zum 100. Geburtstag, Berlin u.a. 1987. Harrington, A., Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: Vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung, Reinbek bei Harn burg 2002.
Hecker, E., Die Jugendpsychiatrische Klinik, in: Archiv filr Rassen- und Gesellschafts biologie einschließlich Rassen- und Gesellschaftshygiene 37 (1944) 180-1 84. Henkelmann, Tb., Vlktor von Weizsäcker ( 1 886-1 957). Materialien zu Leben und Werk, Heidelberg 1988. Hermanns, L.M./U. Schultz, »Und doch wäre ich . . . beinahe Berliner geworden« Sigmund Freud im Sanatorium Schloß Tege� in: Zeitschrift fur psychoanalytische Theorie und Praxis 5 (1990) 78-88. - /U. Schultz-Venrath, Einleitung, in: dies. (Hg.), Ernst Simmel. Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt am Main 1993, 9-18. Heyer, G.R., Das körperlich-seelische Zusamm enwirken in den Lebensvorgängen. An Hand klinischer und experimenteller Tatsachen dargestellt, München 1925. Jappe, G., Einleitung, in: G. Jappe/B. StrehJow (Hg.), Eugenio Gaddini »Das Ich ist vor allem ein Körperliches«. Beiträge zur Psychoanalyse der ersten Strukturen, Tübingen 1998, 9-20. Klee, E., Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, Frankfurt am Main 4 1 997. Kütemeyer, M., Anthropologische Medizin oder die Entstehung einer neuen Wissen schaft Zur Geschichte der Heidelberger Schule, Diss. med. Heidelberg 1973. -, Die Sprache der Psychosomatik im Nationalsozialismus, in: W. Bohleber/J. Drews (Hg.), »Gift, das du unbewußt eintrinkst « - Der Nationalsozialismus und die deutsche Sprache, Sielefeld 1991, 61-82. Kütemeyer, W., Vlktor von Weizsäcker zum Gedächtnis, in: V. von Weizsäcker/0. Wyss, Zwischen Medizin und Philosophie, Göttingen 1957, 9-20. Mohr, F., Psychotherapie, in: M. Lewandowsky (Hg.), Handbuch der Neurologie, Bd. 1 : Allgemeine Neurologie, Berlin 191 0, 1525-1577. Penselin, A., Zum Zusammenhang von Wissenschafts- und Gesellschaftskritik n i Vtktor von Weizsäckers Anthropologischer Medizin, in: U. Benzenhöfer (Hg.), Anthropolo gische Medizin und Sozialmedizin im Werk Vlktor von Weizsäckers, Frankfurt am Main 1994, 9-56. .
.
.
Penselin, C., Bemerkungen zu den Vorwürfen, Vtktor von Weizsäcker sei in die natio nalsozialistische Vernichtungspolitik verstrickt gewesen, in: U. Benzenhöfer (Hg.),
156
Ulrich Schullz-Venrath
Anthropologische Medizin und Sozialmedizin im Werk Vtktor von Weizsäckers, Frankfurt am Main 1994, 123-137. Reuster, Th., VLktor von Weizsäckers Rezeption der Psychoanalyse, Stuttgart!Bad Cann statt 1990. Richter, H.E., Der Gotteskomplex. Die Geburt und clie Krise des Glaubens an clie Allmacht des Menschen, Reinbek bei Harnburg 1979. Rimpau, W., Vtktor von Weizsäcker im Nationalsozialismus, in: G. Hohendorf/A. MaguU-Seltenreich (Hg.), Von der Heilkunde zur Massentötung. Medizin im Natio nalsozialismus, Heidelberg 1990, 1 1 3- 1 30. Roth, K.-H., Psychosomatische Medizin und »Euthanasie«: Der Fall Vtktor von Weiz säcker, in: Zeitschrift fur Sozialgeschichte des 20. und 2 1 . Jahrhunderts 1 (1986) 65-99. Schilder, P., The image and appearance of the human body, London 1935. Schott, H., Zum Verhältnis von Mesmerismus, Hypnose und Psychoanalyse, in: J. Clair/C. Pichler/W. Pircher, Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele, Wien 1989, 85-95. Schröder, C., Der Fachstreit um das Seelenheil. Psychotherapiegeschichte zwischen 1880 und 1932, in: H.E. Lück (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Psychologie, Bd. 9, Frankfurt am Main u.a. 1995. Schröter, M., Max Eitingon and the struggle to establish an international standard for psychoanalytic training (1925-1 929), in: Int J Psychoanal 83 (2002) 875-893. -, Psychoanalyse und ärztliche Psychotherapie. Zur Geschichte eines schwierigen Ver hältnisses, in: Psyche - Z Psychoanal 7 (2001) 7 1 8-737. Schultz-Venrath,
U., Ernst Simmel - ein Pionier der Psychotherapeutischen Medizin?
in: Psychotherapeut 41 (1 996) 1 07-1 1 5. -, Ernst Simmels Psychoanalytische Klinik >Sanatorium Schloss Tegel GmbH< (1927193 1) - Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte einer psychoanalytischen Psychosomatik [ 1 992], Habil.-Schrift Witten/Herdecke, Hänsel-Hohenhausen 1995. -, Notizen zur Geschichte der psychoanalytischen und psychotherapeutischen Ausbil dung. Entwicklungslinien und Verwerfungen zwischen den »Richtlinien« von 1923 und der »Berufsordnung« von 1946, in: Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse 1 3 (2000) 54-83. - /L.M. Hermanns, Gleichschaltung zur Ganzheit. Gab es eine Psychosomatik im
Nationalsozialismus? in: H.E. Richter/M. Wtrsching (Hg.), Neues Denken in der
Psychosomatik, Frankfurt am Main 1991, 83-1 03.
Shengold, L., Envy and maHgnant envy, in: Psychoanal Q 63 ( 1994) 6 1 5-640. Simmel, E., Antisemitismus und Massen-Psychopathologie, in: ders. (Hg.), Antisemitis mus, Frankfurt am Main 1993, 58-100. -, Einleitung [1 946], in: ders. (Hg.), Antisemjtismus, Frankfurt am Main 1993, 12-21. -, Kriegsneurosen und »Psychisches Trauma«. Ihre gegenseitigen Beziehungen dargesteHt auf Grund psycho-analytischer, hypnotischer Studien, Leipzig/München 1 9 1 8 . -, Zum Problem von Zwang und Sucht, in: E. Kretschmer/W. Cimbal (Hg.), Bericht über den V. Allgemeinen Ärztlichen Kongress für Psychotherapie in Baden-Baden, 26.-29.4.1930, 1 1 2-126.
Ernst Simmel und Viktor von Weizsäcker
157
-, Über die Psychogenese von Organstörungen und ihre psychoanalytische Behandlung, in: E. Kretschmer/W. Cirnbal (Hg.), Bericht über den VI. Allgemeinen Ärztlichen Kongress für Psychotherapie in Dresden, 14.-17. Mai 1931, 56-65.
-, War neuroses, in: S. Lorand (Hg.), Psychoanalysis Today, New York, 1944, 227-248. Deutsche Übersetzung in: L.M. Hermanns/U. Schultz-Venrath (Hg.), Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt am Main 1993, 204-226.
Tennstedt, F./C. Pross/St. Leibfried, Sozialistische Ärzte und Medizin im Nationalsozia
lismus. Das Internationale Ärztliche BuUetin und das Wrrken Ewald Fabians für eine Sozialistische Ärzteintemationale, in: Internationales Ärztliches BuUetin 1-6 (1934-
193 9), Nachdruck Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Berlin 1989, VII-XX. Tuke, D.H., Geist und Körper. Studien über die Wrrkung der Einbildungskraft, Jena
3 1 888.
Weizsäcker, V. von, Begegnungen und Entscheidungen [1949], in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1986, 195-402. -, Der Begriff der Allgemeinen Medizin [1 947], in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frank furt am Main 1987, 135-196.
-, Ärztliche Fragen [1933], in: Gesammelte Schriften, Bd.5, Frankfurt am Main 1987,
259-342. -, Funktionswandel und Gestaltkreis [1950], in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt
am Main 1990, 619-631. -, Grundfragen Medizinischer Anthropologie [1947], in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main 1987, 255-282. -, Körpergeschehen und Neurose. Analytische Studie über somatische Symptombildun gen [1933], in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1986, 1 19-238. -, Kreislauf und Herzneurose [1932], in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1 986, 105-117. -, Meines Lebens hauptsächliches Bemühen [1955], in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main 1987, 372-392. -, Psychosomatische Medizin [1952], in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1986, 451-464. -, Natur und Geist. Erinnerungen eines Arztes [1 954], in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1986, 9-190. -, Die Schmerzen [1926], in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987,
27-47. - /D. Wyss, Zwischen Medizin und Philosophie, Göttingen 1957. Wuttke-Groneberg, W., Von Heidelberg nach Dachau, in: G. Baader/U. Schultz (Hg.), Medizin und Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit - ungebrochene Tradi tion?, Berlin 1980, 1 1 3-138.
•
MARIE-LUlSE WÜNSCHE
Ernst Simmels Konzept der Zivilisationskrankheit im Kontext psychoanalytischer Rhetorik
Dieser Essay ist an einer frühen Adaption der Psychoanalyse interessiert, die der Arzt und Pionier der Psychosomatik Ernst Simmel mit seiner Therapie der Kriegsneurose einerseits und seiner Theorie des Antisemitismus als Mas senwahn andererseits vorlegte. Kriegsneurose und Antisemitismus sind dem nach zwei verschiedene Weisen, an der Zivilisation zu erkranken. In Bezug auf beide Krankheitskonzepte sollen bei aller Differenz sowohl psychische als auch kulturelle Momente die jeweilige Ätiologie wesentlich bestimmen. Wie aber spricht man von körperlichen Symptomen, die dem erlittenen Seelenschmerz Ausdruck verleihen und wie von kulturellen Momenten, die psychisch und physisch Schaden zufügen können? Dies lässt sich nicht ohne einen Blick auf die Theorie Sigmund Freuds, des Begründers der Psychoanalyse, angemessen darstellen. Die dieser Analyse vorangestellten und kommentierten Zitate aus einem Typusskript des Arztes Ernst Simmel, das aus den zwanziger Jahren
des vergangeneo Jahrhunderts stammt, verdeutlichen, wie ausgeprägt auch bei
ihm das Gespür für heuristisch notwendige, nichtsdestotrotz aber unbeweisbar bleibende Prämissen der aller erst zu generierenden neuen Theorie war, die er parodierte. Im >Rampenlicht< seiner Filmpersiflage steht der zentrale Ödipus
komplex psychoanalytischer Weltdeutung, der auch und gerade im Kontext des Konzepts Zivilisationskrankheit eine entscheidende Rolle spielt. Erst
im Anschluss daran, erweist sich die
Lektüre signifikanter Passagen aus
dem psychoanalytischen Werk Ernst Simmels
als
sinnvoll. Während Freuds
Schriften nicht nur innerhalb fachinterner Kontexte, sondern auch innerhalb eines größeren, kulturwissenschaftlichen Rahmens in einer nahezu unüber schaubaren Weise Beachtung fanden und finden, teilten die theoretischen und
therapeutischen Überlegungen Ernst Simmels bis in die späten achtziger Jahre
des vergangeneo Jahrhunderts hinein das Schicksal vieler psychosomatischer Modelle, die mit der Emigration der zumeist jüdischen Ärzte in die USA
auch innerhalb der engeren medizinischen Fachkreise diesseits und jenseits
des großen Teiches allmählich in Vergessenheit gerieten. 1 Den ausfuhrliehen Archivarbeiten Ulrich Schultz-Venraths und Ludger Hermanns, genauer, ihren
daran anschließenden Publikationen, ist es zu verdanken, dass Simmels Texte 1 Vgl. dazu das Vorwort in dem von Meyer und Lamparter herausgegebenen Sammelband Pioniere
der Psychosomatik.
160
Marie-Luise Wünsche
nun auch Gegenstand weiterer medizinhistorischer, aber auch kulturwissen schaftlicher Forschungen werden können. 2 Wie also reden von der Psycho analyse als einer Seismographischen Technik der Seelenanalyse, die körperliche Symptome mittels Assoziation und Versprachlichung zu heilen sucht?
1. »Oedipussel« 3 - Eine frühe Parodie der Psychoanalyse
Lichtreklame: Sind's die Augen, geh zu Ruhnkel - Sind's die Wuermer geh Groddeck! Ist es die Gesamtpersoenlichkeit, geh zu Alexander4 Diese Regieanweisung eröffnet das dramatische Finale einer
Akten. 5
I0
zu
Oedipussade in
Das kinematographische Theaterspektakel findet sich seinerseits
Der Mann seiner Mutter oder Blutschande und Seelen dammriss im 1994 erstmals veröffentlichten Typusskript Die Psychoanalyse im Film! Sensationelle Enthuellungen aus dem Nachtleben der menschlichen Seele,
unter dem Obertitel
das der Arzt Ernst Sirnmel vermutlich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre des vergangeneo Jahrhunderts schrieb. 6 Im Anschluss an ein letztes Bild, das den geblendeten Ödipus in der öden Berglandschaft seiner Kindheit zeigt, wie er dort sein ihm noch verbliebenes Auge auf seine eigene Toch ter
wirft,
spult sich der nie produzierte Film laut Drehbuch über die Schrift:
»Kompromissbildung mit Mutterimago« und zur Musik »Muss i denn, muss i denn, zum Staedtele hinaus« 7 mit einer letzten Lichtschrift seinem Ende
zu.
Der Text dieser Lichtschrift lautet:
Lichtschrift: All das waere dem Oedipus, seinen lieben Eltern und Anverwandten erspart geblieben - haette er seine Latenzzeit rechtzeitig zu einer Analyse in dem Berliner Psychoanalytischen Lnstitut und Poliklinik, Potsdamerstr. 29/IV benuetzt !! Deutsches Volk lasse dich analysieren !!! Ist's die Seele, geh
zu
Simrnel! 8
Das von Schultz-Venratb in einem Archiv in Los Angeles gefundene und anschließend unter der Rubrik Quellentexte in der Zeitschrift zur Geschichte 2 Vgl. auch den Beitrag von Schultz-Venrath im vorliegenden Sammelband. Dort finden sich detailliert.ere Angaben zu Biographie und ärztlicher Praxis Ernst Sirnmels. Den Beiträgen Schultz
Ve.nraths zu Ernst Simrnel verdankt diese Arbeit wesentliche Einsichten und Impulse. 3 Vgl. Simmel, Psychoanalyse im Film, 159.
4 Ebd.,159. 5 Ebd 164. 6 Vgl. die Einleitung von Scbultz-Venrath, ebd., 137. Die kursiv gedruckten Titel finden sich auf den Seiten 141 und 149. 7 Ebd., 164. 8 Ebd. .•
161
Ernst Simmels Konzept der Zivilisationskrankheit der Psychoanalyse
Luzifer-Amor
kommentierte und veröffentlichte Dokument
präsentiert uns also unter anderem eine Art Oedipussade, dies lange vor Loriot,
die den nach dem geblendeten Helden von Sopholdes benannten und zentra len Komplex psychoanalytischer Theoriebildung multimedial ikonisiert. Darin
phosphoreszieren, ebenfalls unter anderem, zwei Lichtreklamen, welche nicht ohne Selbstironie
für
die eigene Sache werben. So findet das Berliner Psy
choanalytische Institut Erwähnung und die
1920
unter der Leitung Eitingons
und Sim.mels gegründete Poli.ldinik wird sogar unter Angabe der Straße und Hausnummer bedacht,
als führe ein
Weg direkt aus dem nie gezeigten Film
ins
Berlin der zwanziger Jahre. Schließlich offenbart der Aufruf an das Deutsche Volk, seine Seele bei Bedarf analysieren zu lassen - und zwar unbedingt beim Verfasser dieses Drehbuches - gleich zweierlei. Einerseits wird hier die zum Zeitpunkt der Niederschrift aller erst im Entstehen begriffene Geschichte der psychoanalytischen Psychosomatik mittels der Nennung ihrer Hauptvertreter
Groddeck, Ruhnke und Alexander persiflierend skizziert. En passant wird dabei
nahe gelegt, dass die eben genannten Ärzte als Experten auf Teilgebieten des unbewussten und bewussten Seelenlebens bezeichnet werden können, Simmel selbst aber als Meister der Gesamtseelenschau sozusagen zum (vorläufigen) Höhepunkt der Bewegung avanciert. Andererseits verweisen die letzten Zei len dieses Typusskriptes nicht nur auf einen biographischen Sachverhalt des Arztes Simmel, den Schultz-Venrath in seiner Einleitung folgendermaßen kom mentiert :
Neben seinem Beruf als Psychoanalytiker war er immer auch Sozialist geblieben, der so gerne die Psychoanalyse politisch zur Prävention eingesetzt hätte. Und deshalb lauteten seine letzten Zeilen: »Deutsches Volk lasse Dich analysieren! lst's die Seele, geh zu SimmeJI«9 Der imperativische Schlussakkord, gerichtet an ein ganzes Volk, impliziert über das hier eben Zitierte hinaus auch, dass Psychoanalyse nicht nur individuelle Seelenerschütterungen, sondern auch Prozesse des kollektiven Unbewussten zu
ihren potentiellen Gegenständen zählt und verweist damit als komische
Parodie auf das Original der damals ebenfalls noch im Generierungsprozess befindlichen Theorie Sigmund Freuds, an die, wie noch näher
zu
beschreiben
sein wird, auch die weniger literarischen, mehr psychoanalytischen Texte Ernst Simrnels auf signifikante Weise andocken. Doch welche Bedeutung soll man diesem lange verschollenen Dokument eigentlich zusprechen? Erinnert es- wie
Schultz-Venrath im Anschluss an die Untertitel dieses Filmskripts anmerkt -
lediglich an ein »Pennäler-Stück«, von dem man nicht mehr weiß, wozu es ver
fasst wurde, >>Obwohl der karnevalistische Charakter unübersehbar scheint«?
10
Interessant ist, dass sich diese karnevalistische Schulbubenqualität an renom-
9 Ebd., 138. IO Ebd., 137.
162
Marie-Luise Wünsche
rnierter Stelle wiederentdecken lässt, namentlich im
1927 erstmals erschienenen
Roman Der Steppenwolf von Hermann Hesse. 11 Woher diese augenscheinliche
strukturelle
Affinität rührt, ob etwa Hesse Simrnels oder Simmel
Hesses Prosa
kannte oder ob dies eher eine auf epochentypischen Erzählschemata basie rende, nicht
all
zu entfernte Ähnlichkeit ist, muss offen bleiben. Eine Analyse
der stilistischen Details des Filmskripts von Simmel zeigt jedoch, dass man es durchaus als nahezu klassische Form der komischen Parodie und als einen psychoanalytischen Basistext zugleich begreifen kann. Zu letzterem wird es gerade dadurch, dass hier zu einem erstaunlich frühen Zeitpunkt die eigenen theoretischen Axiome poetisch, bisweilen auch ein wenig kalauernd, kritisiert werden; deshalb kann man diesem Entwurf den Rang einer ganz besonde ren, nämlich literarischen Metakritik zuschreiben. 12 Zu diesen theoretischen Axiomen zählt unter anderem auch ganz entscheidend die auf Darwin und Lamarck verweisende und um die Thesen Ribots und Herings wissende basale
Grundannahme, der gemäß die individuelle Entwicklung von Körper und Seele - wie auch immer - korrespondieren müsse mit der kollektiven Seelen- und Körperentwicklung der Menschheit. 13 Auch dazu findet sich
im
Stummfilm
projekt Simmels, das auf die angemessene Darstellung des Unbewussten mit tels Bildern setzt, mit Bildern zudem, die das Laufen, aber noch nicht das Sprechen lernten, eine treffliche Inszenierung des vagen Postulates aneinander . gekoppelter Phylogenese und Ontogenese. Der zweite Akt, mit der Uberschrift .
kam und der Regieanweisung: »Die Szene stellt das Innere der Koenigin Jokaste dar. Mittels Zeitraffer rollt sich vor dem p.t. Publikum ein Zeitraum von 9 Monaten in 5 Minuten ab« 14, beginnt
Der Chochem oder Wie ich auf die Welt
mit folgendem Absatz: Man sieht den kleinen Oedipus sieb in rasendem Tempo aus dem Lurchstadium bis zum Stadium des einstweilen noch ungeborenen Helden entwickeln - die Musik begleitet diesen Entwicklungsgang mit deutschen Kinderliedern wie »lm tiefen Keller sitz ich hier« - und aehnlichen - 1m letzten Stadium sieht man Oedipus sich auf seinen kuenftigen Beruf als Helden der Tragoedie und ertragreichen Psychoanalyse vorbereiten - - - Er treibt jeglichen Sport - - muellert nach seinem System - macht Klimmzuege an der Nabelschnur - - wickelt sich dieselbe symbolisch um Haende,
Hals und Stirn - - (Scbrifterklaerung: »Die archaische Vorstufe des Tiffile liml gens«) - und erklaert schon jetzt, von seiner Frau Mutter nie mehr lassen zu wollen.
II
Vgl. dazu ebd., 141 und Hesse, Steppenwolf, 37 und 207f. 12 Zur literarischen Kategorie der komischen Parodie vgl. etwa von Wilpert, Sachwörterbuch, 553 li. Die Affinität des psychoanalytischen Diskurses zur Literatur am Beispiel Freuds thematisiert z. B. de Certeau., Theoretische Fiktionen. 13 Vgl. zum Lamarckismus sowie zu den Thesen Herings und Ribots u.nd ihrer Bedeutung für die Psychoanalyse etwa EIJenberger, Entdeckung des Unbewußten; Roelcke, Zivilisationskrankheit und Gay, Freud. !4 Simmel, Psychoanalyse im Film, !53.
163
Ernst Simmels Konzept der Zivilisationskrankheit
- Ein Abgesandter des Psychoanalytischen Verlages erscheint und erklaert, dass man auf seine Geburt nicht verzichten koenne, trotz oder gerade wegen der weitreichenden Konsequenzen einer solchen - - -15 Sirnmel persifliert aber nicht nur Inhalte der neuen Theorie, wie hier das zen trale Motiv des Ödipuskomplexes, sondern er parodiert ebenfalls strukturelle Momente psychoanalytischer Theorie und erweist sich somit als Wissenschaft
ler, der sich eine gehörige Portion von Skepsis gegenüber den Methoden wis senschaftlicher Erkenntnisgewinnung bewahrte. Bereits die Einteilung in drei
Teile, welche die Übe rschriften tragen: Die Praxis der Psychoanalyse,
Die Theorie
der Psychoanalyse und Die Nutzanwendung der Psychoanalyse, 16 verweist auf die
von Freud formulierten drei Ebenen der Psychoanalyse, die klinische Erfah rung, die klinische Theorie und die Metapsychologie. 17 Darüber hinaus wird persiflierend im gesamten Filmskript auf die Geschichte der Psychoanalyse und Psychosomatik verwiesen, in dem sich an die literarische Explikation der einzelnen Phasen des Ödipuskomplexes jeweils die Nennung einer relevanten Veröffentlichung zu diesem Thema anschließt. So findet sich etwa im zwei ten Akt im Anschluss an die oben auszugsweise zitierte Geburtsszenerie die »Schriftpropaganda: Lest Dr. Helene Deutsch: Psychoanalyse der weiblichen
Sexualfunktion, in Ballonleinen
für 5
Mark.« t s
Das ist komisch, doch spricht aus diesem verzerrenden Gegengesang eben falls ein ausgeprägtes Gespür
für die Konstruktionen in der Analyse 19,
dem wir
bei Freud selbst innerhalb seiner theoretischen Schriften begegnen. Aber was wird hier eigentlich parodiert und welche Funktionen kommen den beiden
zentralen Konstrukten, dem der Konversion und dem des Ödipuskomplexes innerhalb der Theorie Freuds zu? Schließlich, welche Rolle spielt der Ödipus komplex in Bezug auf Sozialisation und Zivilisationskrankheiten?
2. Seismograph des Unbewussten - Die Theorie der Psychoanalyse Die Psychoanalyse voUzieht eine Konversion zum ))Literarischen« . . . . Wie Lacan ein mal zu recht bemerkt hat, ist Freud einer der wenigen zeitgenössischen Autoren, die imstande waren, Mythen zu bilden - und das heißt zumindest: Romane zu schreiben,
die eine theoretische Funktion besitzen. 20
1 5 Ebd., 153. l6 Ebd., 142. 1 7 Vgl. etwa Schöpf, Freud und die Philosophie, 9ff. 1 8 Simmel, Psychoanalyse im Film, 153. 19 Titel einer erstmals 1937 publizierten Schrift Freuds. 20 Oe Certeau, Theoretische Fiktionen, 1 1 6f.
164
.Marie-Luise Wünsche
skizziert in der 24. Vorlesung des dritten Teiles zur Einführung in die Psychoanalyse unter dem Titel Die gemeine Nervosität im Jahre 1917 die mit ihm und um ihn herum neu entstehende Theorie folgendermaßen: Sigmund Freud
Das Lehrgebäude der Psychoanalyse, das wir geschaffen haben, ist in Wrrklichkeit ein Überbau, der irgendeinmal auf sein organisches Fundament aufgesetzt werden soll; aber wir kennen dieses noch nicht. 2 1 Kurz, knapp und prägnant, ganz so, wie es ein Liebhaber der stilistischen
Raffinessen
des späteren Goethe-Preis-Trägers Sigmund Freud auch erwartet,
wird hier ein gewisser, wenngleich unvermeidbarer Hang zur Architektonik a Ja Wolkenkuckucksheim eingestanden: beginnen wir mit dem Bau des Daches, so ließe sich diese Passage kommentieren, weil uns zur Fundamentlegung der Kellergewölbe noch das Material fehlt. Ist nicht andererseits die neue medizini sche Theorie durch ihre empirischen Beobachtungen und den darauf basieren den therapeutischen Erfolgen bei Symptomen, die zuvor wenig erfolgverspre chend im Rahmen der damals traditionellen Psychiatrie versorgt wurden, auch derart fragmentarisch schon hinreichend legitimiert? Dies ist schließlich eine in der Wtssenschaft, auch und vielleicht sogar besonders in der Naturwissen schaft bis heute signifikante Vorgehensweise, die der Psychoanalyse vorzuwer fen alles über den Scheuklappenblick der jeweiligen medizinischen Teildisziplin und nichts über die Tragweite der neuen Theorie selbst verrät. Mit dem Verweis darauf, dass dem noch unbekannten Fundament die Eigenschaft, organisch zu sein, zugesprochen werden kann, impliziert das Zitierte darüber hinaus die kritische Selbstgewissheit einer weiteren Charakteristik der aller erst zu gene rierenden Wissenschaft. Eine dem Dualismus von Körperwelten und Seelen texten verpflichtet bleibende Psychoanalyse beginnt mit einem grundsätzlichen
Paradox, das es im Verlauf zu plausibilisieren und damit aufzulösen gelte; auch
dies kennzeichnet, man denke etwa an die systemtheoretischen Analysen von Niklas Luhmann, wahrscheinlich unweigerlich jeden Versuch wissenschaftli
cher Erkenntnisgewinnung. 22 Das Paradox psychoanalytischer Bemühungen,
die einem dualistischen und nicht einem holistischen Modell, wie wir es etwa bei Georg Groddeck finden, verpflichtet bleiben, lässt sich sinnvoller Weise mit der folgenden Fragestellung konturieren. Wenn der »Seelenapparat«, dies ein von Freud favorisierter Begriff, die prinzipiell andere Realität des Körpers,
seiner Physiologie und seiner physikalischen Gesetze sein soll, wie kann dann
die analoge Rede von seelischen Bedingungen und Eigenschaften mittels einer Terminologie, die aus der physischen Sphäre stammt , erwähnt seien hier etwa
die Begriffe »Reiz« und »Reizüberflutung«, »Verdrängung« und »Widerstand«,
2 1 Freud, Vorlesung, 377. 22 Vgl. zum paradoxen Beginn einer jeden Theorie Luhrnann , Soziale Systeme. Vgl. zum Modell
charakter des Physiseben und Organischen für das Psychische z.B. auch den Beitrag von Küte meyer, QueUen der Psychosomatik.
165
Ernst Simmels Konzept der Zivilisationskrankheit
die nicht nur den Schriften Freuds ihr signifikantes Theorie-Design verleihen, überhaupt noch angemessen sein? 23 Doch Psychoanalyse ist nicht nur und
in erster Linie eine medizinische Theorie und Therapie, die sich dem Stu dium der Hysterie verdankt . Ihr ist ebenso der Anspruch immanent, mit der Entdeckung des Unbewllßten24 weitreichende und folgenschwere Sondierungen durchführen zu können, die sowohl den Bereich der individuellen Lebensge nicht
schichte sogenannter gesunder und sogenannter kranker Menschen betreffen als auch das kulturgeschichtliche Gedächtnis einzelner Kollektive, die Freud gelegentlich als »Volksseele« oder »Großindividuum« bezeichnet, auf innova tive Weise ausleuchten wollen. 25 So erstaunt es nicht, dass Freud im Anschluss an die weiter oben zitierten Zeilen die Psychoanalyse weniger über ihre potenti ellen Inhalte und mehr auf der Basis einer Beschreibung ihres Vorgehens näher zu bestimmen sucht:
Die Psychoanalyse wird als Wissenschaft nicht durch den Stoff, den sie behandelt, sondern durch die Technik, mit der sie arbeitet, charakterisiert. Man kann sie auf Kulturgeschichte, Religionswissenschaft und Mythologie ebenso anwenden wie auf Neurosenlehre, ohne ihrem Wesen Gewalt anzutun. Sie beabsichtigt und leistet nichts anderes als die Aufdeck'Ullg des Unbewußten im Seelenleben. 26 Die von der Psychoanalyse intendierte »Aufdeckung des Unbewußten im Seelenleben« erweist sich bei näherem Hinsehen als eine Hermeneutik des Leidens, die das Pathologische im Normalen und das Normale im Patho logischen aufspürt. Dabei setzt sie, ebenfalls in Analogie zu den etablierten Naturwissenschaften ihrer Zeit, auf den Zusammenhang vermeintlich noch so divergenter Phänomene. Wenn die Natur keine Sprünge macht, dann wird dies wohl auch
für
die Natur der Seele Geltung beanspruchen dürfen. »Für
den Zusammenhang würde ich sorgen«, beruhigt etwa der Begründer der Psy choanalyse Sigmund Freud seine Reisebekanntschaft, die er zuvor Assoziation ermunterte, damit man den Gründen
für sein
zur
freien
Vergessen des inde
finiten Pronomens aliquis in dem Vergilschen Vers: »Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor« gemeinsam nachspüren könne. 27 Diese Anekdote findet sich in der erstmals
1901
publizierten Schrift
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
in dem Kapitel zum Vergessen von fremdsprachigen Worten. Freuds Reise23 Zur Begrifflichkeil de.r Psychoanalyse vgl. Laplancbe/Pontalis, Vokabular der Psychoanalyse. 24 So lautet der Trtel des medizinhistorischen Klassikers zur Geschichte der dynamiseben Psychia trie von Elleoberger.
25
in der hier erwähnten Vorlesung
Die gemeine Nervosität heißt es etwa wenige Zeilen vor der von mir zitierten Passage: »Die Volksseele hat von jeher solchen Annahmen für die Natur des
sexuellen Verlangens gehuldigt, sie nennt die Liebe >Rausch< und äßt l die Verliebtheit durch Liebestränke entstehen . . .« (Freud, Vorlesung, 376.). Von »Großindividuen der Menschheit. den Völkem und Staaten«, spricht Freud beispielsweise in seiner
26 27
Zeitgemijßes überKrieg UJJd Tod, 38.
Freud. Vorlesung,
377.
Freud. Psychopathologie,
75.
1915 erstmals publizierten Schrift
166
Marie-Luise Wünsche
bekanntschaft lässt sich auf dieses Experiment
zu
psychischen Fehlleistungen
gerne ein, zumal er vom Hörensagen her bereits wusste, dass man nach der Theorie Freuds »nichts ohne Grund vergißt.« 28 In den Dienst des Zusammenhangs von Erinnerung und Vergessen, kollek tivem Gedächtnis und individueller Lebensgeschichte, Seelenerschütterungen und körperlichem Ausdruck dieser psychischen Einschreibungen sind zwei prominente Axiome der Psychoanalyse gestellt. Einerseits sorgt die Konver sion, ein von Freud deskriptiv eingeführter Begriff dafür, diesen geheimnis vollen »Sprung vom Psychischen in die somatische lnnervation«29 zu plausi bilisieren. Insofern ist es eine naheliegende Variation der psychoanalytischen Begrifflichkeit, wenn Pioniere der Psychosomat� wie etwa Pranz Alexander
Arzt Ernst Simmel mit die Konversion als einen Mechanis
mit seinem Modell der Spezifität oder der hier relevante seiner Theorie von der intestinalen Libido
mus zu beschreiben suchen, der sowohl den Zusammenhang zwischen Seele und Körper als auch die Übertragungen aus dem einen in den anderen Bereich mittels Lokalisation zu erklären vermag. Für Ernst Simmel beispielsweise wird das Intestinum so zu einer Brücke zwischen Psyche und Soma, dem nahezu die Bedeutung des Unbewussten selbst zukommt. 30 Andererseits erweist sich das Theorem des Ödipuskomplexes, das Freud nirgends systematisch darstellte, 31 als eine
Art
Schaltstelle zwischen Phylogenese und Ontogenese, welche die
Transformierung der triebhaften Natur des Menschen
in
kulturelle Phänomene
leistet; ein Prozess, der innerhalb psychoanalytischer Theorien
als
Sublimie
rung beschrieben wird. »Jedem menschlichen Neuankömmling», so formuliert Freud es einmal, »ist die Aufgabe gestellt, den Ödipuskomplex zu bewältigen; wer es nicht zustande bringt, ist der Neurose verfallen.« 32 Der Ödipuskomplex, der oft auch nur als Zentralkomplex der Psychoanalyse bezeichnet wird, struk turiert so die Charakterentwicklung eines jeden Individuums. Dabei fungiert er, zusammen mit einigen anderen, von Freud als »Urphantasien« bezeichneten Elementen als Amalgam von Individualgeschichte und Menschheitsgeschichte, in dem die »Lücken der individuellen Wahrheit mit prähistorischer Wahrheit ausgefüllt« werden. 3 3 Diese in der Ontogenese eines jeden Individuums repetierten Archaismen stehen im Dienst des - jenseits aller Empirie - psychoanalytisch fingierten kollektiven Unbewussten, dessen prähistorische Realität Freud in seinen kul turkritischen Schriften, vor allem in
28 29 30 31 32 33
Totem und Tabu,
Ebd., 73 .
Zitiert na.ch Laplanche/Pontalis, Vokabular der Psychoanalyse, Vgl. dazu Scbultz-Venrath, Ernst Simmels Entwurf,
105. Vgl. Laplancbe/Pontalis, Vokabular der Psychoanalyse, 352. Freud, SexuaJtheorie, 129. Freud, Vorlesungen, 362.
352.
einzuholen sucht. Sie
Ernst Simme/s Konzept der Zivilisationskrankheit
167
Massenpsychologie und Jch-Analyse34 und perspektivieren den mimetischen Blic� will heißen die (therapeutische) Technik garantieren den Zusammenhang von Psychoanalyse im Vorhinein.
Idealiter
sollte der Ödipuskomplex und mit ihm der gesamte Reigen der
artiger Urphantasien allmählich im Unbewussten aufgelöst werden, nachdem er seine Funktion, der kulturstiftenden und gesetzgebenden Instanz Über-Ich
im
Charaktergefuge des Einzelnen einen festen, möglichst unerschütterlichen
Platz zuzusichern, erfüllt hat. De facto aber bewahren
wir eigentlich
alle diese
triebhaften Szenarien unserer eigenen Lebensgeschichte sowie die der Vorzeit mehr oder weniger verdrängt im Unbewussten auf und sind folglich alle ten denziell neurotisch: der eine mehr, der andere weniger, je nachdem, wie intensiv die Abarbeitung der ödipalen Aufgabe gelang. Die damit verbundene Gefahr der Regression ermöglicht es gleich vielfach, an der Kultur zu erkranken. Da der Ödipuskomplex quasi biologisch eingefuhrt wird� mögen die Ursachen der Zivilisationskrankheit in einer Fehlleistung des individuellen Charakteraufbaus
liegen, was immer besonders dann zum Ausbruch einer Krankheit führen kann, wenn zusätzlich die Umweltbedingungen des Individuums unerträglich werden.
Ein
Beispiel
par excellence dafur
stellt das Konzept der Kriegsneurose
dar,
ein
Leiden, das nach Ernst Simmel vor allem auftritt, um Schlimmeres, nament lich eine Psychose, zu vermeiden. Zum anderen aber können Fehlleistungen im Erinnern an die phylogenetischen Phantasien im Kontext entsprechend aufge
heizter Gruppendynamiken den Ausbruch eines pathologischen Hasses bewir ken; das fuhrt dann etwa zum Krankheitsfall Antisemitismus, der ein eigentlich gesundes lndividuum im Umfeld eines kranken Kollektivs heimsucht. Beide Fonneo der Zivilisationskrankheit hat der psychoanalytische Psycho somatiker Ernst Simmel in enger Anlehnung an Freuds Theorie beschrieben. Da er heute nur noch wenig bekannt ist, steht im Folgenden die Diskussion sei ner Thesen zur Kriegsneurose im Umfeld einer biographischen Skizze, von der dann abschließend zu einer Lektüre seines Antisemitismusessays übergeleitet werden kann.
3. »Kriegsneurose« - Simmels Revolutionierung einer Therapie
Die Medizin, fur welche dieses Buch sprechen will, fragt weiter im Sinne der vielen dynamjschen Modellvorstellungen unseres Zeitalters: was setzt die Physiologie unter Druck, so daß die Funktion sich ins Krankhafte verändern muß? Unsere Hypo these lautet: letztlich ist die Erlebnisverarbeitung, die das Individuum zu leisten hat, die Antriebskraft hinter vielen eben den psychosomatischen, den seelisch-leiblichen Krankheiten. Erlebnisverarbeitung: das meint, wie ein Mensch mit den Grenzen sei ner Begabung, mit den Fakten seiner Mitwelt, mit den Gesetzen der Sittlichkeit zu 34 1itel einer erstmals 1921 publizierten Schrift Freuds.
168
Marie-Luise Wünsche
Rande kommt - oder nicht.
. . .
Krankheit bei uns Allen ist nicht anonym wirkender
Zufall, sondern Krankheit ist Reaktionsmöglichkeit des erlebenden Individuums in hilfloser Lage. 35 Wenn die Physiologie unter Druck gerät und dies
kann
unter anderem durch
missglückte Erlebnisverarbeitung geschehen, beispielsweise durch eine vom Bewusstsein negativ verdrängter ödipaler
sankt ionierte triebhafte Wunschvorstellung im Kontext Phantasien, dann leidet die Seele und dann drückt das
Organische, die Körperwelt, dieses Leiden möglicherweise in Form des einen
oder des anderen Symptoms aus. So kann man die theoretische Fiktion psycho analytischer Psychosomatik zusammenfassen. Der gesamte Sozialisationspro
kann laut Mitscherlich, aus dessen 1966 veröffentlichter Aufsatzsamm lung Krankheit als KonjlikJ ich das Zitierte entnahm, ins Pathologische kip
zess
pen. Gesellschaftliche und politische Machtverhältnisse im (post)modernen, hochtechnisierten und aufgerüsteten Zeitalter lassen nicht nur den Einzelnen, sondern den »Sozialkörper« leiden. 36 Innerhalb psychosomatischer Theorien
setzt Krankheit also nicht erst mit einer Veränderung in der Physiologie des Menschen ein und neben bakteriellen Erregern gef ährden offensichtlich auch
Art die Gesundheit des Einzelnen oder ganzer Gruppen. Der heute noch eher bekannte Sozialpsychologe und Psychosomatiker Alexan der Mitscherlich, der einige Zeit Assistenzarzt unter Vtktor von Weizsäcker war, schreibt somit das im Umfeld von Lamarckismus und Darwinismus und der Entdeckung des Unbewußten entwickelte Konzept der Zivilisationskrankheit fort. Ab 1918 explizierte Ernst Simrnel sein Modell der Kriegsneurose in mehreren Keime ganz anderer
Publikationen und lieferte damit ein frühes Paradigma dieses psychosomati
schen Krankheitskonzeptes. Simrnel, der in seiner Parodie gleich ein ganzes Volk zur Seelenanalyse bei
ihm als Therapeuten
ermuntert, war - wie bereits
erwähnt - neben den von ihm zuvor luminös in Szene gesetzten Ärzten Georg Groddeck und Franz Alexander ein wichtiger Pionier psychoanalytischer Psy chosomatik, dessen therapeutischer Ansatz ebenso wie seine kulturkritischen
Publikationen jedoch heute weitgehend unbe kannt sind. Das Konversionsmo
dell Sigmund Freuds, das
-
wir erinnern uns - den geheimnisvollen »Sprung
vom Psychischen in die somatische Innervation« 37 erklären soll, erweiterte Simrnel in seiner Theorie von der intestinalen Libido spezifisch,
so
dass es
auch - wiederum in ganz spezieUer Weise - auf organische Furtktionsstörun gen als seelisch bedingtes Leiden Anwendung finden konnte. Vergleicht man Mitschertichs Versuch, die etwas anderen Voraussetzungen
für
Krankheit als
»Reaktionsmöglichkeit des erlebenden Individuums in hilfloser Lage<< zu defi
Affinität dieser »Organkrankheiten«,
nieren, mit frühen Äußerungen Ernst Simrnels, so wird die beiden Anamnesen zueinander wohl noch deutlicher. 3S Mitscherlich, Krankheit als Konflikt, 9 f.
36
Mitscherlieh selbst gebraucht den BegrifT»Sozialkörper<(, vgl. ebd., 14. 37 Laplanche/Pontalis, Vokabular der Psychoanalyse, 271.
Ernst Simmels Konzept der Zivilisationskrankheit
169
so lesen wir bei Simmel, stellen »eine sinnvolle Leistung der Persönlichkeit
im Sinne einer Schutzvorrichtung gegen eine in irgendeiner Form unerträgliche Wrrklichkeit.«3 8 An anderer Stelle weist er daraufhin, dass
dar . . . und zwar
»der Erkrankte . . . ein Stück seiner psychischen und physischen Innenwelt« verändere »an Stelle einer
für ihn notwendigen Änderung der Objektwelt . . . ,
die durchzuführen er sich außerstande fühlt«. 39 Ernst Sirnrnel wurde
1 882 als Jüngster von sieben Brüdern und zwei Schwes
tern einer jüdischen Familie in Breslau geboren. 40 Er studierte Medizin in Berlin und Rostock, promovierte dort
1908 mit einer Arbeit über die Ätiologie der
Dementia praecox - eine Form der Schizophrenie -, in der er bereits Autoren wie Sigmund Freud, Karl Abraham und Carl Gustav Jung zitierte.
1913 ließ er sich in einem Arbeiterviertel in Berlin-Baurnschulenweg als praktischer Arzt nieder und wurde im selben Jahr zum Mitbegründer des Sozialdemokratischen Ärztevereins. Während des Ersten Weltkrieges wurde er 1917 königlich-preußi scher Oberarzt und Vorsteher des Festungslazaretts Nr. 19 für Kriegsneurotiker in Posen. Dort führte er psychoanalytische Prinzipien in das von einer schmerz haften Stromanwendung, der sogenannten Kaufmann-Kur beherrschte Behand lungsspektrum ein. Eine jahrelange Freundschaft verband ihn mit Sigmund Freud, der Simmels Veröffentlichungen zu seiner Behandlungserfahrung mit Kriegsneurotikern kannte und schätzte. Betrachtet man die ersten Seiten von Sirnrnels Buchpublikation
Kriegsneurosen undpsychisches Trauma, so wird sofort
zweierlei deutlich: Wenngleich Sirnmel den Freudschen Versuch, die Neuro sen zu systematisieren und damit eine Differenzialdiagnostik zu ermöglichen
partiell wieder zurücknimmt, indem er »Neurose als Begriff einer Krankheit fallen lassen« und
ihn nur noch als »V e r s t ä n d i g u n g s m i t t e 1 gebrauchen«
will, »um unter solchem Sammelnamen Krankheitsbilder, d. h. symptomatische Störungen zu bezeichnen<<, 41 so fußt seine Theorie dennoch deutlich auf der Psychoanalyse Freuds. Dessen Psyd10pathologie des Alltagslebens zum Beispiel ist in Form von Zitaten gegenwärtig in Si.mrnels Versuch, Ursache und Verlauf der Kriegsneurosen zu beschreiben. 41 Ebenso basieren seine Annahmen auf der Idee einer Verschränkung von Phylogenese und Ontogenese, die es erlaubt, von seelischen Strukturen der Menschheit zu sprechen. Dies wird besonders
deutlich, betrachtet man seine Wertschätzung des Künstlers genauer.
Der Künstler ist für mich der Mensch, der mich in seiner Schöpfung durch seine Formengebung von einem unausgesprochenen Affekt der QuaJ oder Freude befreit. 38 Zitiert nach Schultz-Venrath, Ernst Simmels Entwurf, 105. 39 Ebd., l 08. 40
Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die in mehreren Publikationen von Schultz-Venrath zusammengetragenen Details zur Biographie Simmels, vgl. dazu näher das Literaturverzeichnis meines Beitrags. 41 Simmel, Kriegsneurosen und psychisches Trauma, 8. 42 Vgl. ebd., 16ff.
170
Marie-Luise Wünsche
Sagt nicht der Volksmund: dieses Gedicht ist mir wie aus der Seele gesprochen, - dieses Lied wie aus der Seele gesungen? - Der Künstler ist das Werk, auf dem
das Unterbewußtsein der Menschheit in die bewußte Sphäre gebracht und, es sei mir gestattet, beim Ausdruck wird. 43
zu
bleiben, von seinen »eingeklemmten« Affekten erlöst
Während wir hier mit der Kunst ein Beispiel Phänomene haben, fi.ihrt Simmel gleich
zu
für die heilenden
Kräfte kultureller
Beginn den Krieg als Beispiel einer
kulturellen Katastrophe an, die an sich krankmachend sein
kann:
Wenn ich von dem Krieg an sich, als Ereignis, als Krankheitsursache spreche, so
nehme ich damit eine Tatsache vorweg, die sich aus meinen Erfahrungen ergeben
hat,
-
daß
es nämlich nicht immer der blutige Soldatenkampf sein muß, der so
verheerende Spuren an und in den Beteiligten hinterläßt, sondern sehr häufig auch der schwere Konflikt , den die Persönlichkeit in sich mit der durch den Krieg veränderten
Umwelt auszukämpfen gezwungen ist in einem Kampf, in dem der Kriegsneurotiker schließlieb in stummer, oft unbekannter Qual unterliegt. 44
Von dieser Publikation Simmels war Freud sofort sehr angetan, so dass er sie bereits am
17.12.1918 in einem Brief an KarI Abraham erwähnt. Dort attestiert
er dem Militärarzt Simmel abschließend, dass er »sich auch in der Frage der sexuellen Ätiologie durchaus rechtschaffen benimmt«. 45 So erstaunt es nicht weiter, dass Freud Simmel in seiner Kulturkritik
Massenpsychologie und Analyse aus dem Jahre 1921 ebenfalls bedenkt. Dort lesen wir:
Ich
Die Kriegsneurosen, welche die deutsche Armee zersetzten, sind ja großenteils als
Protest des Einzelnen gegen die ihm in der Armee zugemutete Rolle erkannt worden, und nach Mitteilungen von E. Simmel (1918) darf man behaupten,
daß
die lieb
lose Behandlung des gemeinen Mannes durch seine Vorgesetzten obenan unter den Motiven der Erkrankung stand. 46
Diese Passage mit dem Hinweis auf die lieblose Behandlung des gemeinen Mannes impliziert einerseits jene zentrale These dieser Schrift Freuds, nach der es »Libidobindungen sind, welche eine Masse charakterisieren«. Anderer seits deutet sie ebenfalls vorausgreifend auf unsere noch ausstehende Lektüre einiger Passagen Ernst Simmels
zur
Massenpsychopathologie bereits an, dass
artifizielle und natürliche Massen seien funktionstüchtig. In seinen Beiträgen zur Kriegs
auch Simmel offenbar davon ausging, nicht durch Suggestion allein
neurose deutet er so die Traumatisierung des einzelnen Soldaten weniger als Resultat der kriegerischen Auseinandersetzungen selbst und konzentriert sich stärker auf die Gefuhlsarnbivalenz und die Externalisierung eines eigentlich bereits internalisierten Über-Ichs. Damit verbunden ist ein Umschlagen eines
43 Ebd., 13.
44 Ebd., 5.
45 Zitiert nach Schultz/Hennanns, Sanatorium Schloß Tegel, 60. 46 Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, 90.
171
Ernst Simmels Konzept der Zivilisationskrankheit zunächst positiven, oder soll ich sagen
zärtlichen
Gefühls
für
den Vorgesetz
ten, das durch wirkliche oder auch nur eingebildete Missachtung seitens des Anderen
in
Wut und Aggression umschlägt, die aber nicht geäußert werden
kann und ins Unbewusste verdrängt wird. Da Neurosen
im Gegensatz zu
Psy
chosen eher mit einer narzistischen Affekthemmung denn mit einer -entladung einhergehen, führte Simmel zur Behandlung der Kriegsneurotiker sehr erfolg reich eine
Art
Dummy ein, so dass die Entladung aufgestauter Aggressionen
zusammen mit weiteren therapeutischen Maßnahmen oft einen, wenn auch nicht immer langfristigen Symptomrückgang bewirkte. Diese Erkenntnisse aus einem
1919 veröffentlichten
Korreferat, gehalten
im
September
1918
auf dem
V. Psychoanalytischen Kongress in Budapest, greift Simrnel in seinem Aufsatz
Kriegsneurosen
aus dem Jahre
1944
erneut auf:
Der hypnotische Zustand rekapitulierte die Situation eines Mitiär-lchs, t das durch
Entlastung seiner aggressiven Triebenergien die Anerkennung und den Schutz seines
externalisierten Eltern-Über-Ichs erwarb. Von diesen Überlegungen her wird theoretisch verständlich, w arum ich es damals aus
praktischen Rücksichten nötig fand, einen leibhaftigen Feind
n i
die therapeutische
Situation einzufuhren. Dieser Feind war ein gepolstertes Phantom, eine Art großer Puppe, die in den Behandlungsraum gebracht wurde, sobald der Patient in Hypnose
war. Meine Puppe mußte die Rolle aU der schlechten Vaterobjekte und, wie ich es heute ausdrücken würde, der bösen re-externalisierten Über-lchfiguren spielen, die für die narzistischen Kränkungen des Soldaten verantwortlich waren.
Ich habe es immer als Beginn der Heilung vermerkt, wenn sich die anfängliche Furcht
des Patienten vor der Puppe in Wut verwandelte, was zu ihrer Verstümmelung oder
völligen Zerstörung führte. Diese spezifische Entladung destrukti ver Kräfte gegen ein
spezifisches Objekt verdrängten Hasses brachte oft eine dramatische Änderung in der
Gesamtpersönlichkeit des Patienten hervor. Vor allem verschwanden depressive Ein stellungen, die mit pathologischen Schuldkomplexen verbunden waren. Die Therapie wurde abgeschlossen durch eine, wie ich esjetzt nennen würde, psychoorthopädische Behandlung des Über-Ichs. 47
Simmel, dies wird hier deutlich, und Schultz-Venrath weist in einer Veröffentli chung aus dem Jahre
1996 darauf hin, erkannte, dass es
sich bei der kriegsneu
rotischen Symptombildung weniger häufig um eine »hysterische Konversion« und häufiger
um
eine narzistische Neuorganisation handelt. 48 Im Gegensatz
zum Freudschen Postulat der grundsätzlich sexuellen Ätiologie aller Neuro sen, auch der Neurasthenie, räumt Sirnmel in frühen Publikationen noch recht vorsichtig ein, dass die sexuelle Ätiologie möglicherweise in Bezug auf Kriegs neurosen nicht immer eine Rolle spiele. In diesem seinem späteren Beitrag aus dem Jahre
1944, in
dem er dem amerikanischen
Militär
seine Erfahrungen
aus dem Ersten Weltkrieg zur Verfugung stellt und die oben erwähnte Puppe 47 Simmel, Kriegsneurosen, 222 f. 48 Schultz-Venrath, Simmel (1 882-1947), 109.
172
Marie-Luise Wünsche
unter dem Namen
actual enemy und dummy einführt, wird der Kriegsneuro
senkomplex dann jedoch deutlich im Umfeld des Postulates von der sexuellen
Ätiologie diskutiert. 49 Nach dem Ersten Weltkrieg widmete Simrnel sich zwei Dingen zugleich, seiner eigenen Lehranalyse bei Karl Abraham und dem Aufbau der ambu lanten und der stationären Psychoanalyse in Berlin. Im Februar 1920 wurde die im eingangs zitierten Filmskript erwähnte Poliklinik fiir psychoanalytische
Behandlung nervöser Krankheiten unter seiner Leitung und der von Max Eitin gon eröffnet und 1927 gründete Simrnel mit dem »Sanatorium Schloß Tegel« das erste psychoanalytische Krankenhaus in Deutschland, in dem die »Psycho therapie organischer Krankheiten« systematisch gelehrt und betrieben werden sollte. 1931 musste die Klinik als Folge der Weltwirtschaftskrise geschlossen werden, in deren Ärztehaus Sigmund und Anna Freud während ihrer durch die Krankheit Freuds notwendig werdenden Berlinaufenthalte lebten.
Als Jude,
Sozialist und Psychoanalytiker gleich dreifach gefährdet, musste Ernst Simmel
1933/34 über Brüssel und Zürich fliehen und nach Los Angeles emigrieren, wo er 1947 starb. Zusammen mit Franz Alexander und Felix Deutsch war er in den USA an der endgültigen Etablierung der psychoanalytischen Psychosoma tik maßgeblich beteiligt. Sein sozialpolitisches und kulturkritisches Engagement blieb auch im Exil ein wesentliches Charakteristikum seiner ärztlichen Praxis. Bereits 1 944 organisierte Simmel so in San Francisco ein Symposium über Antisemitismus, an dem etwa auch Horkheimer teilnahm und dessen Vorträge
1946 in einem Buch erschienen. In seinem eigenen Beitrag Antisemitismus und Massenpsychopathologie deutete er den Antisemitismus als eine vom Verfol gungswahn bestimmte Massenpsychose, eine Psychose, die man in einem sehr pointierten Sinne als Zivilisationskrankheit ernst zu nehmen habe. Dabei ist es ihm wichtig mit Verweis auf Le Bon und Freud, der Le Bon in seinem Beitrag
Massenpsychologie und Ich-Analyse kommentiert, darauf hinzuweisen, dass der einzelne Antisemit keinesfalls psychotisch, sondern normal sei. Nur als Mit glied einer Masse, so Simmel, verlöre er seine normalen Eigenschaften und könne dann dazu beitragen, einen Massenwahn zu erzeugen, an den sämtliche Mitglieder der Gruppe glauben. Wie genau aber bedingen Sozialisationspro zesse nach dieser psychoanalytischen Theoriebildung die Genese sowohl des relativ gesunden
als auch des relativ kranken Inclividuums, das immer schon
als eingebunden in internalisierte kollektive Normen gedacht wird?
49 Simmel, Kriegsneurosen, 223 f.
Ernst Simme/s Konzept der ZivilisaJionskrankheit
173
4. Massenwahn - Zivilisationskrankheit Antisemitismus Die Judophobie ist eine Psychose. Als Psychose ist sie hereditär, und als eine seit zweitausend Jahren vererbte Krankheit ist sie unheilbar. so
Gleich
zu
Beginn des Beitrages
Antisemitismus und Massen-Psychopathologie
definiert Simmel den Zivilisationsprozess mit einem zitativen Verweis auf Freuds Schrift
Das Unbehagen in der Kultur
als einen Prozess, welcher - so
Freud - »Über die Menschheit abläuft«. Damit dete nniniert der Zivilisations prozess selbst laut der Schlussfolgerung Simmels die »grundlegenden sittlichen
Werte und sozialen Maßstäbe der Menschengemeinschaft«. S I Auf der Basis dieser Ausgangshypothese eröffnet sich ein spezifischer Blick auf das historisch nur
zu
nachhaltig verbürgte Phänomen Antisemitismus und es stellt sich die
Frage:
daß die periodisch wiederkehrende Ausstoßung der Juden aus der Welt der Nichtjuden ein notwendiges Nebenprodukt unserer Zivilisation ist? S2 Wäre es möglich,
Im Anschluss an eine Formulierung Watther Rathenaus, der gemäß der Anti
semitismus die vertikale Invasion der Gesellschaft durch die Barbaren sei, expli
ziert Simrnel dann zunächst das charakteristische Verhältnis zwischen Antisemi tismus und Zivilisation wie folgt: Das deutsche Beispiel zeigt, daß der Antisemitismus den Zivilisationsprozeß umkeh
ren und die antisemitische Persönlichkeit auf das Stadium des primitiven Kannibalis
mus zurückwerfen kann. Wenden wir unser psychoanalytisch-dialektisches Verfahren
an, so dürfen wir nicht davon ausgehen, daß der Antisemitismus die Errungenschaften der Zivilisation vernichtet, sondern daß der Zivilisationsprozeß selbst den Antisemi tismus als pathologische Symptomatik hervorbringt, die den Boden zerstört, auf dem
sie erwachsen ist. Der Antisemitismus ist ein bösartiges Geschwür am Körper der Zivilisation. Sl
So metaphorisch die Rede vom bösartigen Geschwür am Körper der Zivi lisation ist, die gegenwärtig wieder
ähnli ch
in einem anderen weltpolitischen
Zusammenhang laut wird, so unmetaphorisch ist die Beschreibung des Antise
mitismus als pathologische Symptomatik gemeint. Das hier wirksame ambiva
lente Verständnis von Zivi l isation verweist
unmittelbar auf zentrale
Freudsche
Thesen, die Simmel folgerichtig im direkt anschließenden Passus von einer Frage ausgehend erörtert: Was ist Zivilisation? Freud zeigte, daß es sich um den koUektiven Prozeß der Charak
terbildung handelt, der >über die Menscheit abläuft<, analog zur Charakterentwicklung
beim Individuum. Zwischen der Entwicklung des individueUen und der des koUekti-
SO Pinsker, zitiert nach Dahmer, Pseudonatur, 225. SI Simmel, Antisemitismus, 58. S2 Ebd.
SJ Ebd., 59.
174
Marie-Luise Wünsche
ven Charakters besteht eine innere Beziehung. Ehe das lndividuum das Niveau seiner eigenen Kultur erreichen kann, muß es zunächst in beschleunigter und zusammen gedrängter Form in sich selbst alle geschichtlichen Phasen wiederholen, die seine Kultur durchlaufen hat. 54
Vor dem Hintergrund der Verschränkung der Ontogenese mit der Phyloge
nese, die gleichzeitig auf einen inneren. ja notwendigen Zusamm enhang von
Individualanalyse und psychoanalytischer Kulturkritik verweist, kann Simmel den Antisemitismus dann als regressiv identifizieren und ihn im
Anschluss an
die Beschreibung dreier Regressionstypen als psychopathologische Persönlich keitsstörung wie folgt bestimmen: Ist der Antisemitismus also eine Regression auf ein früheres Stadium menschlicher
Charakterentwicklung, so kann dies eine Regression auf infantile Entwicklungsstufen
des einzelnen Antisemiten, eine Rückentwicklung im kollektiven Zivilisationsprozeß oder eine Störung im Verhältnis von Individuum und Kultur bedeuten. Ich glaube,
daß
es sich um die dritte dieser Bedingungen handelt. Ich halte den Antisemitis
mus für eine psychopathologische Persönlichkeitsstörung, einen Rückfall auf jenes
ontogenetische wie phylogenetische Entwicklungsstadium des Ichs, in dem der Haß, der Vorläufer der Liebesfähigkeit, die Beziehungen zur Umwelt regierte. Es ist dieser pathologische Haß, unter dem die menschliche Rasse leidet, und der, neben anderen Krankheitszuständen, den Antisemitismus erzeugt. 55
Im Folgenden trennt Simmel dann den Antisemitismus als politische Kraft, die noch nicht so alt sei, wie man glaube, da sie erst um etwa
1870 herum
entstand, von einem latenten und archaischen antisemitischen Komplex ab, auf den es ihm in dieser Publikation ankommt. Die Entladung uneingeschränkter, zerstörenscher Triebenergien hängt somit davon ab, »in welchem Maße die zum antisemitischen Komplex gehörigen VorsteUungen den Realitätsbezug verlie ren, sich von der lllusion zum Wahn wandeln.«56 Antisemitismus als Massen wahn basiert so auf pathologischen Gruppenbildungsmechanismen der Iden tifizierung und gemeinsamen Objektwahl,
so
dass das internalisierte Ich-Ideal
respektive Über-Ich unter den struktureUen Bedingungen einer derart formier ten Massenseele zeitweise oder ganz suspendiert wird und an seine SteUe ein irrationaler Bildervorrat aus archaischen Zeiten der ontogenetischen und phy
logenetischen Seelenstrukturierung - und Dynamik treten kann. Dies führt zur gemeinschaftlichen Regredierung der Gruppenmitglieder auf eine frühkindliche Stufe der CharakterentwickJung, die Simmel folgendermaßen beschreibt:
Ein Ich ist reif, wenn es ein starkes und effizientes Über-Ich als verinnerlichte Vor stellung der Äußeren elterlichen Macht entwickelt hat. Das Über-Ich hilft dem Ich
einerseits bei der Realitätsprüfung und andererseits dabei, realitätsgerecht zu handeln und sich zugleich im Zusammenprall der Anforderungen der äußeren Realität mit
54 Ebd. 55 Ebd., 64. 56 Ebd.
Ernst Simmels Konzept der Zivilisationskrankheit
175
den inneren Triebansprüchen zu behaupten. Während sieb der Zustand des psycho
tischen Ich-Systems verschlimmert, unterliegt das Über-Ich allmählich dem Es. Das erklärt,
daß
das Ich sieb nicht mehr an der Realität
zu
orientieren vermag und die
Fähigkeit verliert, zwischen der äußeren Realität der Objekte und der inneren, irra tionalen psychischen Realiät zu unterscheiden. Dem Psychotiker erscheint dann die Objektwelt in Gestalt der irrationalen Bilderwelt seines Unbewußten.
Ich vermute, daß das psychotische Ich aufjene infantile Entwicklungsstufe regrediert oder zu regredieren strebt, auf der es noch kein Über-Ich gab als es noch von den
Eltern beherrscht wurde. Der Psychotiker verlagert sein Ich wieder in die Außen welt. 57
Das typische Verhalten derart regredierter Individuen schließlich schildert Sim mel am Beispiel Hitlers. Wenn ich meine Hypothese veranschaulieben sollte,
daß der Psychotiker regrediert
- auf die urtümliche Form des aggressiven Beißens - würde ich ein Bild Hitlers zeigen, der, wenn er sich in seinem Verlangen nach Zerstörung der Introjekte beeinträchtigt
fühlt, auf dem Fußboden liegend wie ein Kind tobt und in einen Teppich beißt, weil kein Jude zur Hand ist, in den er seine Zähne schlagen kann. 58
5. Ausblick
-
Die Gefahren der Kultur und
das Leiden am »Sozia/körper«
»Herr Keuner und der Arzt«: Der Arzt S. sagte
zu
Herrn Keuner beleidigt: »Ich habe über so vieles gesprochen,
was unbekannt war. Und ich habe nicht nur gesprochen, sondern auch geheilt.« »Ist es jetzt bekannt, was du behandelt hast?« fragte Herr Keuner. S. sagte: »Nein.« »Es ist besser«, sagte Herr Keuner schnell, »daß Unbekanntes unbekannt bleibe, als daß die Geheimnisse vermehrt werden.« 59
Die von Simmel eingangs in seinem Antisemitismusbeitrag explizierten Stadien menschlicher Charakterbildung und Möglichkeiten der Regression implizieren also deutlich Freuds ambivalenten Zivilisationsbegriff sowie dessen ätiologi sche und pathologische Relevanz und rekurrieren gleichermaßen auf Freuds massenpsychologische Reflexionen. Simrnels Versuch, Antisemitismus als the rapiebedürftigen Massenwahn zu beschreiben, ist so keinesfalls besonders ori ginell, sondern repräsentiert vielmehr einen epochentypischen Diskurs, einge spannt in die konfliktreiche Seelendyn amik zwischen den beiden Oppositio nen Natur und Kultur. 60 Er rekurriert bewusst auf zentrale Ideen des Selbst57 58
Ebd Ebd
65. 67. 59 Brecht, Herr Keuner, 408 f. 60 Vgl. dazu Dahmer, Pseudonatur. .,
.,
176
Marie-Luise Wünsche
begründungsdiskurses der Psychoanalyse um 1900, auch auf eigene frühere Schriften. Zivilisation und Kultur, Begriffe, die bei Freud synonym verwendet
werden, worauf etwa Roelcke verweist, nehmen so innerhalb der Überlegun gen Sirnrnels genau den Stellenwert ein, den ihnen zuvor Freud beigemessen hat. 61 Signifikant werden damit noch weitere Aspekte, neben dem kulturstiften den Ödipuskomplex, der universal eingeführt seinerseits zugleich verweist auf Phylogenese, von Freud plausibilisiert mittels des wissenschaftlichen Mythos von der Urhorde und auf Ontogenese, also der inhaltlichen, je spezifischen Ausgestaltung der allgemeinen Struktur. Auf diese dem Kulturbegriff Freuds immanenten Dimensionen geht Roelcke in seiner Habilitationsschrift näher ein. Roelcke weist nach, dass neben philosophischen, ethnologischen und anderen Diskursen der Jahrhundertwende auch und vor allem Überlegungen zu Zivili
sationskrankheiten führender Psychiater die Basis
für den
psychoanalytischen
Selbstbegründungsdiskurs darstellten. Mit seinem psychoanalytischen Modell setzt Freud den im Umfeld des Degenerationsparadigmas in etwa zeitgleich ent wickelten Vorstellungen, denen gemäß ein biologisch bedingter Untergang der Kultur drohe, etwa bei Kraepelin und Rüdin, ein anderes Konzept gegenüber. In diesem sind Kultur und psychophysische Vorgänge wechselseitig aufeinander bezogen. Dabei wird der zentrale Begriff der Verdrängung sowohl als Resultat kultureller Institutionen als auch als Basis des Kulturalisierungsprozesses selbst gedacht. Da Kultur immer Sublimierung bedeutet, eine Fähigkeit von Indivi duen und Kollektiven, die wesentlich auch von ihrer erfolgreichen Bewältigung des Ödipuskomplexes, einer der zentralen Urszenen, abhängt, bedeutet Kul tur auch immer Triebverzicht und ihre Institutionen verdanken sich ihrerseits
Triebverzichten und den damit einhergehenden Verdrängungen. So, wie Freud drei Quellen des Leidens diagnostizierte, die äußere Natur, den menschlichen Körper und die Unzulänglichkeiten des sozialen Lebens und in einem weite ren Schritt die moderne Zivilisation als wesentliche Leidensquelle ansieht, 62 so
wird auch innerhalb der Schriften Simrnels, in einer politisch engagierteren
Weise noch als beim Gründer der Psychoanalyse selbst, die genössischen Industriegesellschaft zu einer
Art
Kritik an
der zeit
Leitmotiv. Da alle psychischen
Störungen ausgelöst werden von der relativen Unf ähigkeit, sich der Realität anzupassen und besonders die kapitalistische Gesellschaftsform die ökonomi ahig macht, einen sche Existenz des Einzelnen bedroht und ihn zugleich unf halbwegs gesunden Realitätssinn auszubilden und ihm auch ohne charakterli che Regressionsgefahren treu zu bleiben, ist sie in Bezug auf psychische und psychosomatische Krankheitsbilder Risikofaktor Nr.
1.
Eine Zuspitzung und zugleich Erweiterung auf den gesamten Bereich der Sozialisation leistet - im Anschluss an diese frühen und im Umfeld der Neu rasthenieeiehatte entstandenen psychosomatischen Krankheitskonzepte - die 61 Vgl. Roelcke, Zivilisationskrankheiten, 176tf. 62 Vgl. ebd.
177
Ernst Simmels Konzept der Zivilisationskrankheit
radikale Gesellschaftskritik Alexander Mitscherlichs, der 1966 die Frage stellt: Gibt es Krankheiten der Gese//schaft 63 und sie zunächst mit einer weiteren Frage beantwortet: Wir kennen kranke Einzelmenschen, wir können die Kranken einer Krankheits gruppe zusammenfassen und können sagen, in einer Population treten bestimmte Krankheiten häufig oder selten auf; aber Krankheiten, die diese Population als ein
Ganzes, nämlich als »Sozialkörper« ergreifen, gibt es das?
64
Weruge Seiten später erfolgt Mitscherliebs erste Definition, seine erste Antwort auf diese rhetorischen Fragen: Der Sitz der sozialen Krankheit liegt also nach unserer ersten Definition bei der sozialen Bewußtseinsbildung, bei einem sehr vielfältig verankerten und verteidigten Zustand des Selbstbewußtseins, bei einer Einengung der sozialen Anteilnahme, der Weltvorsteilungen überhaupt. 65
Das engagierte Suchen nach »Gesetzen seelischer Regulation des sozialen
Lebens«66 verdankt sich gleich mehreren wissenschaftlichen Mythen - wie
Freud es nennen würde - zugleich. Zu ihnen zählt etwa die Annahme der
Weitergabe archaischer seelischer Strukturen an die jeweils folgenden Genera tionen, der Ödipuskomplex als Schaltstelle zwischen dieser Phylogenese und der jeweiligen Ontogenese und die in Analogie zur physischen Welt entwi ckelte Hypothese, psychische Wahnvorstellungen könnten von dem einen zum anderen übergreifen. »Ansteckung« ist so nicht zufaDig eine in psychoanaly tischen Kontexten stark frequentierte Metapher. Diese Passion zur Mythen bildung zeugt von einem literarischen Verfahren psychoanalytischer Deutung
vor aller Praxis und Beobachtung, das allerdings die Empirie und Therapie
wesentlich perspektiviert. Insofern vermehrt die psychoanalytische Psychoso matik
im
Sinne Brechts die Geheimnisse. Mythen sind gleichsam sui generis
enigmatisch; besonders jene, die nach Freud Realitäten längst vergangen er Zei ten und somit Strukturen der Menschheitsgeschichte bewahren, wie etwa sein wissenschaftlicher Mythos von der Urhorde in
Totem und Tabu.
Wenn die Transformierung archaischer Triebe in kulturelle Potenzen aber so notwendig wie potentiell pathologisch ist, was verschaffi
dann
noch dem
Leiden Linderung? Psychoanalytische Welt- und Krankheitsdeutung ist immer
auch eine Frage der Macht und bef ordert ihre Anhänger rein theoretisch auf die Seite der mächtigen Analytiker, die alle individuellen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte angemessen zu decodieren und kommentieren verstehen.
In ihren Händen liegt vermeintlich der Schlüssel zum (kollektiven) Unbewuss ten, zu dessen Semiologen sie sich im doppelten Wortsinne berufen. Eine Per63 64
Mitscherlich, Krankheit als Konßjkt, 14.
Ebd. 65 Ebd., 17. 66 Ebd., 18.
178
Marie-Luise Wünsche
spektive auf Heilung verspricht jener
Arzt, den
da also möglicherweise die Parodie, namentlich
Sinunel in seinem Filmskript gleich als erstes Bild in Grossauf
nahrne einem noch auf die Filmpremiere wartenden Publikum präsentiert:
l .Bild Doktor B: - Monumentale Gesichtszuege - er laechelt verbindlich, waehrend ein durchdringender Blick von ihm die Untiefen der Seele des Publikums bereits von vornhinein erschauen laesst. 67
Literatur: Brecht, B., Herr Keuner und der Arzt, in: Gesammelte Werke, Bd. 12, hg. von Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1967, 408-409. Certeau, M. de, Theoretische Fiktionen. Geschichte und Psychoanalyse, Wien 1997. Dahrner, H., Libido und Gesellschaft. Studien über Freud und die Freudsche Linke, Frankfurt am Main 1982. -, Pseudonatur und Kritik. Freud, Marx und die Gegenwart, Frankfurt am Main 1994. Ellenberger, H.F., Die Entdeckung des Unbewußten, Bern 1996. Freud, S., Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie [1905], in: Sigmund Freud Studienaus gabe, Bd. 5, hg. von Alexander Mitscherlieh u. a., Frankfurt am Main 2000, 37-145. -, Konstruktionen in der Analyse [1937], in: Sigmund Freud Studienausgabe, Ergän zungsband., hg. von Alexander Mitscherlieh u.a., Frankfurt am Main 2000, 394-406. -, Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921], in: Sigmund Freud Studienausgabe, Bd. 9, hg. von Alexander Mitscherlieh u.a., Frankfurt am Main 2000, 61-134. -, Zur Psychopathologie des Alltagslebens [1901], Frankfurt am Main 2000. -, Totem und Tabu (Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wtlden und der Neurotiker) [1912-1913], in: Sigmund Freud Studienausgabe, Bd. 9, hg. von Alexan der Mitscherlieb u.a., Frankfurt am Main 2000, 287-444. -, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1915-1917], in: Sigmund Freud Studienausgabe, Bd. 1, hg. von Alexander Mitscherlieh u. a., Frankfurt am Main 2000, 350-379. -, Zeitgenössisches über Krieg und Tod [1915], in: Sigmund Freud Studienausgabe, Bd. 9, hg. von Alexander Mitscherlieh u.a., Frankfurt am Main 2000, 33-60. Gay, P., Sigmund Freud. Eine Biographie fiir unsere Zeit, Frankfurt am Main 1999. Hermanns, L.M./U. SchuJtz, »Und doch wäre ich . . . beinahe Berliner geworden« Sigmund Freud im Sanatorium Schloß Tegel, in: Zeitschrift fiir psychoanalytische Theorie und Praxi s 5 (1990) 78-88. -, Das Sanatorium Schloß Tegel Ernst Simmels. Zur Geschichte und Konzeption der ersten Psychoanalytischen Klinik, in: Psychotherapie und medizinische Psychologie 3 7 (1987) 58-67. Hesse, H ., Der Steppenwolf, Frankfurt am Main 1977. Kütemeyer, M., Vergessene neurologische Quellen der Psychosomatik, in: A.E. Meyer/ U. Lamparter (Hg.), Pioniere der Psychosomatik. Beiträge zur Entwicklungsgeschich te ganzheitlicher Medizin, Beideiberg 1994, 19-42. 67 Simmel, Psychoanalyse im Film, 144.
179
Ernst Simmels Konzept der Zivilisationskrankheit Laplanche, J./J.B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt arn Main
1999.
Meyer, A.-E./U. Lamparter, Vorwort, in: dies., Beiträge zur Entwicklungsgeschichte ganzheitlicher Medizin, Heidelberg
1994, 1-7.
Mitscherlich, A., Krankheit als Konflikt. Studien zur psychosomatischen Medizin Frankfurt am Main
1,
1964.
Roelcke, V., Die »Entdeckung« der Zivilisationskrankheiten. Natur, Kultur und Zivilisa tionskritik in der Geschichte der Psychiatrie und Psychotherapie, tationsschrift Bonn
1 790-1914, Habili
1997.
Schöpf, A., Sigmund Freud und die Philosophie der Gegenwart, Würzburg
1998.
Schultz-Venrath, U., »Warum mußte das ins Auge gehn?« Die Lust an der Persiflage: Ernst Simmel als Sketch-Autor, in: Luzifer-Amor
(1882-1947) - ein Pionier Psychotherapeut 41 (1996) 107- 1 1 5.
-, Ernst Simmel
1 3 (1 994) 1 37-164.
der psychotherapeutischen Medizin?, in:
-, Ernst Simmels Entwurf einer psychoanalytischen Psychosomatik, in: A.E. Meyer/U.
Lamparter (Hg.), Pioniere der Psychosomatik. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte
ganzheitlicher Medizin, Heidelberg
1994, 101-1 30.
-, Ernst Simmels psychoanalytische Klinik »Sanatorium Schloß Tegel GmbH«
(1927-
1931), Egelsbach u.a. 1995. -, Probleme der Wiederentdeckung - Zum verlorenen Erbe einer psychoanalytischen Psychosomatik, in: B. Strauss/A.-E. Meyer (Hg.), Psychoanalytische Psychosomatik.
1994, 13-29. Simmel, E., Antisemitismus und Massen-Psychopathologie [1946], in: ders. (Hg.), Anti semitismus, Frankfurt am Main 1993, 59-107. -, Kriegsneurosen [1944], in: L.M. Hermanns/U. Schultz-Venrath (Hg.), Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt am Main 1993, 204-226. Theorie, Forschung und Praxis, Stuttgart/New York
, Kriegsneurosen und »Psychisches Trauma«. Ihre gegenseitigen Beziehungen darge
-
stellt aufgrund psychoanalytischer, hypnotischer Studien, Leipzig/München -, Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen
[1919], in:
1918.
L.M. Hermanns/U. Schultz-Ven
rath (Hg.), Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt arn
Main
1993, 21-35.
Wilpert, G. von, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart
1969.
RAINER-M.E. JACOBI
Erzählung und Heilung Krankheit und Krankengeschichte bei Vtktor von Weizsäcker 1
Vtktor von Weizsäcker, der Heidelberger Neurologe, Internist und Naturphi losop� gehört im engeren Sinne nicht in die Neurastheniedebatte um Gleichwohl
1 900.
führt die Frage nach dem kulturellen und sozialen Hintergrund
menschlichen Krankseins in das Zentrum seines Werkes. Das Verstehen der Krankheit als eines Beziehungsgeschehens sowohl in zeitlicher und personaler als auch in kultureller und sozialer Hinsicht kann man a]s eines der Leitmotive des Weizsäckerschen Werkes betrachten. Wohlgemerkt, hier war von Verstehen die Rede. Verstehen der Krankh eit als ein erster Schritt auf dem Wege zur The rapie. Sofern der hermeneutische Gestus
im
Werk von Weizsäckers tatsächlich
von zentraler Bedeutung ist, möchte man eine Antwort auf die Frage dieser Tagung erwarten wollen: Gtbt es ein Jenseits der Metapher?
l Eine überraschende Antwort auf diese Frage findet sich in einem Text von Weizsäckers aus dem Jahr
1 926.
Folgt man den
1944
in Breslau niederge
schriebenen Erinnerungen, so markiert dieses Jahr nicht nur einen Höhepunkt des Weizsäckerschen Schaffens, sondern es steht gleichsam
für eine
Erschütte
rung der Medizin, die nahezu alle Fachdisziplinen erfasste: die klinische Entde ckung der Psychoanalyse Sigmund Freuds. 2 Öffentlichen Ausdruck fand diese Entdeckung im
Ersten Ärztlid1en Kongreßfür Psychotherapie
im April
1926
in
Baden- Baden. Dass dieser Erschütterung nicht der erhoffte Aufbruch folgte, vermochte auch von Weizsäcker erst im Rückblick zu sehen:
2001 in Bonn zurück. Den Anlass bot die interdisziplinäre Tagung Jenseits der Metapher? Snzioel Realifär, kollektive Erinnerwtg und
1 Vorliegender Text geht auf einen Vortrag
gesellsdrojlliche Krankheit um
am
13.
Oktober
I 900. Der Bezug auf die im 1itel der Tagung formulierte Frage wurde beibehalten, auch lud die Thematik dazu ein, den Duktus der Rede bis auf gelegent liche Ergänzungen nicht wesentlich zu verändern. Zur weiteren Vertiefung der hier nur skiz zierten Zusammenhänge sei auf Janz., Krankengeschichte und Jacobi, Hören auf den Anderen, verwaesen. 2 Von Weizsäcker, Natur und Geist, 1 1 5- 190, bes. 122ff. .
182
Rainer-ME. Jacobi
Das Ziel war echt, die Mittel der Verwirklichung reichten nicht aus, und es sollten nach wenigen Jahren ganz andere Umwälzungen offenbar werden, die zeigten, wie unstabU das geistige, das wissenschaftliche, das politische Deutschland und Europa bereits geworden waren. 3
Aber dennoch, die
faszinierende
Dynamik dieses Jahres verdient nicht erst
seit der materialreichen Studie von Hans Ulrich tung:4 die Texte Vtktor von Weizsäckers aus
Gumbrecht besondere Beach diesem Jahr, hinzugenommen
die aus dem Jahr davor und dem danach, enthalten die bis heute gültigen Grundgedanken einer »neuen Medizin«. 5 Einer Medizin, die in ihrem Kern »eine Abwendung von jener Pathologie sein wird, welche die Krankheit als ein natürliches Geschehen, als
Naturvorgang vorgestellt hat.«6 Wobei Natur
in diesem Sinne etwas von der sozialen und biographischen Lebenswelt des kranken Menschen Getrenntes meint. Nicht nur die Erfolge der naturwissen
schaftlichen Medizin, auch deren Probleme stehen bis heute im Zeichen dieses weitreichenden
Prinzips
der Trennung.
Soll der Begriff der Krankheit hingegen ein anthropologischer sein, so gilt
es, eine radikale methodische Wende zu vollziehen. Denn auch in den hier
zur Rede stehenden Jahren »war die kartesische Trennung das Natürliche, die
Einheit das Konstruierte.« 7 Von Weizsäckers grundlegende Entwürfe dieser Jahre, sei es zur Anthropologie der Begegnung, zur ärztlichen Erkenntnislehre, zur psychophysischen Pathologie, zur Neurologie der
Willkürbewegung
oder
zu einer neuen Physiologie der Sinne, verstanden sich allesamt als Beiträge zu dieser methodischen Wende, - womit sich zugleich eine Absage an die klassische Ontologie verband. 8
Es
ging um nicht weniger als den
Primat
des
Ethos vor dem Logos, letztlich also um die Anerkenntnis des nicht wider spruchsfrei bestimmbaren Ortes des Menschen. 9 Für ein anthropologisches Verständnis menschlichen Krankseins war dies in dreifacher Weise bedeutsam: zum einen hinsichtlich der Rehabilitierung des Leibes, genauer des beseelten Leibes, zum anderen hinsichtlich der Dialektik von Individuum und Gemein
schaft, und schließlich mit Blick auf den Indeterminismus der Geschichte, d. h.
auf das Verhältnis von Subjekt und Zeit. So nimmt es wenig Wunder, dass von Weizsäckers Verhältnis zur Psychoanalyse über die emphatische Zustim3 Ebd., 123. 4 Gumbrecbt, ,, 1926«; vgl. auch Steiner, Heidegger, 9 ff. 5 Vgl. von Weizsäcker, Problem des Menschen. 6 Von Weizsäcker, Allgemeine Medizin, 154.
7
Von Wei.zsäcker, Natur und Geist, 122. 8 Eine gute Übersicht zu diesen verschiedenartigen Beiträgen vermittelt das Kapitel »Neurologie«,
ebd., 56-1 14. Von Wei.zsäckers Absage an die klassische Ontologie findet sich arn deutlichsten in seiner »Kritik des Elementarismus«, womit sich ein Schemas verbindet. VgJ. ebd.,
völHg neues Verständnis des Reiz-Reaktion
106ff.; aber auch Borsche, Der Reiz.
9 Vgl. von Weizsäcker, Das AntiJogische; ders., Anonyma; Gadamer, Praktisches Wissen; ders., Wahrheit, 3 1 7-329. Ausführlicher hierzu Jacobi, Gegenseitigkeit, bes. 289ff.
Krankheit und Kran/r.engeschichte bei Vikror von Weizsäcker mung hinaus, von einer innovativen
Kritik
183
gekennzeichnet war, die - selten
genug - in Sigmund Freud einen dankbaren Partner fand. 10 Ebenso wenig überrascht es, wenn von Weizsäcker im Zusammenhang mit der program matischen Anzeige der Intentionen seiner breit angelegten Bemühungen die
1925
erstmals erwähnte »Medizinische Anthropologie« in die Tradition der
von George M. Beard ausgelösten Neurastheniedebatte stellt. 11 Insofern ihm daran gelegen war, den Naturbegriff der Krankheit in einen anthropologischen zu wenden, verband sieb damit nicht nur ein »Zweifel an der nur naturwissen schaftlichen Grundlage der Medizin« und der »Wille zu einem Neuaufbau auf breiteren Fundamenten«, sondern vor allem eine »Erweiterung und Verschie bung des Heilzieles.« 12 In der »Verschiebung des Heilzieles« kommt die Differenz zur herkömmli chen Medizin prägnant
zum
Ausdruck.
Kann
diese »nicht wissen, wofür sie
gesunde Menschen bereitstellt,« und also nur erstreben, »Menschen für belie bige Zwecke verfügbar zu machen«, übernimmt die >neue Medizin< die Auf gabe, »den Menschen
zu
einem richtigen Menschsein hinzuführen; hier ist
Gesundheit nicht Verfugbarkeit für Beliebiges, sondern Gesundheit ist selbst eine
Art
der Menschlichkeit.« 13 Das Wesen der Therapie zeigt sich dann
in der »Ermöglichung der Bestimmung des Menschen unter Menschen.« 14 Gesundheit und Krankheit können nicht mehr auf Funktion oder Störung von Naturvorgängen reduziert werden, auch erschließt sich ihr Verständnis nicht allein aus der je individuellen Lebenssituation, vielmehr bedarf es der Beur teilung des moralischen, religiösen, kulturellen und sozialen Kontextes. Die Frage nach Gesundheit und Krankheit ist nicht länger eine nach der indivi duellen Existenz, - noch weniger eine nach der Pathophysiologie. Sowohl die kulturphilosophische Deutung der Neurasthenie als auch der therapeutische Anspruch der Psychoanalyse waren erste Versuche zur >Erweiterung und Ver schiebung des Heilzieles< der Medizin. Ihren Ausgang freilich nahmen sie nicht in der Medizin, sondern in einer zeitgeschichtlichen Konstellation: »Die Ent kirchlicbung der Welt, die Umformung der Gesellschafts- und Geschlechts moral, die Lockerung politischer und staatlicher Traditionen, die Wandlung aller Gebiete der Sitte«, erzeugte erst jene »Verluste an geistigen und seeli schen Haltepunkten«, deren »ungeheure Konfliktmasse . . . auf die Instanz des Arztes verweist.« 15 der von Weizsäcker
Es ist dieser zum
»erweiterte Umkreis der ärztlichen Aufgabe«,
AnJass wurde, in jenem frühen Text des Jahres
1925
10 Vgl. den Briefwechsel mit Sigmund Freud in: von Weizsäcker, Natur und Geist, 145-148. 1 l Von Weizsäcker, BegritT der Nervenheilkunde, 317 f.; vgl. hierzu auch ders., Psychoanalyse, 296, 302. 12 Ebd., 307. 13 Von Weizsäcker, Menschenversuche, 122. 14 Von Weizsäcker, Arzttum, 216. 15 Von Weizsäcker, Begriff der Nervenheilkunde, 319.
184
Rainer-M.E. Jacobi
eine »Medizinische Anthropologie« zu fordern. Nicht in Opposition, sondern
»in einer organischen und sinnvollen Weise« mit dem »naturwissenschaftli chen Bestande« zusammengeschlossen, würde sie »eine allgemeine Lehre vom Menschen als
Grundwissenschaft
der Heilkunde sein können.« 16
n. Von Weizsäckers Antwort auf die Frage nach dem
Jenseits der Metapher ist nicht vergessen. Doch schien es nötig, den Kontext des Jahres 1926 ein wenig zu skizzieren: übrigens das Jahr, in dem von Weizsäcker Sigmund Freud zu einem ausfuhrliehen Gespräch in Wien aufsuchte. 1 7 Für ein näheres Verständnis dieser Antwort sei noch daran erinnert, dass von Weizsäckers lebenslange
Wertschätzung der Psychoanalyse ihren Ausgang bei der »Untersuchung und Beschreibung der Neurosen« nahm, die Freud auf die »genaueste, treueste und objektivste« Weise zu geben vermochte. 1 8 Wenn auch »nur ein Wetterwinkel«, wie es in den Erinnerungen
so
schön heißt, so ging es von Weizsäcker bei der
Neurosenfrage doch um nicht weniger als um »neuen Medizin<. Denn was auch immer die Neurose in physiologischer und psychologischer Hinsicht sein möge, immer bleibt bestehen,
daß
sie bis dorthin reicht, wo in den großen
Geschehnissen des Schmerzes, des Schwindels, der Hemmung, des Zwangs, der Angst, der Wut und der Verzweiflung die vitale und die sittliche Sphäre in einer großen Problematik zusammenstoßen, wo Notwendigkeit mit Freiheit, wo Ich mit Über-Ich, wo Mensch mit Mensch, wo Menschen mit ihren Welten zusammenstoßen
und wo auch die Wissenschaft nichts leistet, wenn sie sich mit Distinktionen begnügt,
anstatt tiefer zu begreifen. 20
lnsofern sich nirgends deutlicher als hier Krankheit als eine »Weise des Mensch seins« 2 1 zeigt, bezieht auch die Medizin erst ihren Erfolg aus einer Befruchtung aus den Sphären der Kultur, des Geistes, des gesunden Menschenverstandes, und last not least der Kenntnis des menschlichen Herzens, 16 17
18 l9 20 2l
Ebd., 320. Vgl. von Weizsäcker, Natur und Geist, 143-145. Ebd., 141. Ebd., 142. Von Weiz.säcker, Magen- und Dannerkrankungen. 18. Diese bezeichnende Formel für von Weiz.säckers Krankheitsverständnis findet sich allerdings erst in seinen späteren Texten, vgl. u. a. von Weizsäcker, Grundlagen, 21; ders., Allgemeine Medizin, 186.
Krankheit und Krankengeschichte bei Viktor von Weizsäcker
185
aus Sphären also, die nicht der Natur, nicht der Naturwissenschaft verhaftet sind; oder in Fakultäten ausgedrückt: aus Einsichten in Stoffe der Morallehre, Soziologie, Philosophie, Geschichte und des Romans. 22
Es
ist Ausdruck der geistigen Situation der zwanziger Jahre des vergangeneo
Jahrhunderts, dass diesem neuen und erweiterten Verständnis der Medizin eine »Abwendung von der objektivistischen, kategorialen, idealistischen und über haupt prinzipiellen Bewußtseinshaltung« 23 korrespondiert, die ihrerseits maßge bende Einflüsse der europäischen Literatur verdankt. Neben Goethes
wandtschaften und dem
Wahlver
Werther wird man an Dostojewski denken müssen, aber
auch Shakespeare nicht vergessen dürfen. 24 So unternimmt von Weizsäcker in
für den schon erwähnten Ersten Arztlichen Kongreßfür Psycho therapie im April 1926 den Versuch, nicht nur Krankheitsbilder metaphorisch
seinem Beitrag zu
verstehen, sondern das Leben selbst. Genauer: in seinen Erscheinungsfor
men -
zu
denen auch Gesundheit und Krankheit gehören - zeigt sich das je
individuelle Leben »als Metapher, als Ausdruck, als Sinn und Sprache«. Mithin:
»das Leben als Gleichnis«. Und dieses
sei, wie von Weizsäcker weiter ausführt,
der einfache und unteilbare Grundbegriff des Lebens, der nicht selbst noch einmal
erklärbar ist, unter dessen Voraussetzung wir allein irgend etwas vom Leben begreifen
können, unter dessen Voraussetzung allein wir an Analysen und Erklärungen eines
Besonderen herantreten können. Begreifen aber können wir eigentlich gerade nur das Sinnhafte, nur solche metaphorischen Hervorgänge, und ihnen gegenüber stellt sich uns die Aufgabe nicht als eine der Erklärungen, sondern als eine der Ordnungen. Bei den Krankheiten nun sind solche sinnbaft metaphorischen Hervorgänge gestört, erscheint die Ordnung fehlgehend. 25
Die Geschichte dieser Störung kann nicht erklärt, sie muss erzählt werden. Sie wird gleichsam als Erzählung
zu
einem sinnhaft metaphorischen Hervorgang.
Das Authentische des Erzählens freilich liegt nicht in der Metapher, es erwächst vielmehr aus dessen gelebtem Vollzug, also aus der Gemeinschaftlichkeit von Erzähl er und Hörer. Eigentliches Ziel aber des Erzählens ist weniger ein als vielmehr ein
Diesseits
Jenseits
der Metapher: nämlich der Versuch eines Zugangs
zur Wirklichkeit dieses individuellen Lebens nicht als Erfahrung, sondern als
Widerfahrnis, oder anders gesagt, als
Krise.
Denn erst im Widerfahrnis der
Krise zerbrechen die Metaphern - um sich hernach wieder neu
zu
formieren.
Von Weizsäcker, Magen- und Darmerkrankungen, 19. Von Weizsäcker, Kranker und Arzt, 231. Besonders eindrucksvoU vermitteln die Studien Hubertus Telleobachs den immensen Erfah rungsreichtum, den eine anthropologisch aufgeschlossene Medizin der europä ischen Literatur verdankt; vgl. Tellenbach, Schwermut. Zur Verbindung der Literatur mit der Natur des Menschen in der hier zur Rede stehenden Zeit um 1900 sei auf die lehrreiche und überaus quellenkundige Untersuchung von Wolfgang Riede! verwiesen; vgl. Riedel, »Homo Natura«, bes. 151 ff. (Natura sive sexus), 209 ff. (Triebnatur als poetischer Gegenstand). 25 Von Weizsäcker, Psychotherapie und Klinik, 164.
22 23 24
Rainer-M.E. Jacobi
186 Ein Beispiel
für
ihn daher als zu
solches Widerfahrnis ist der Schmerz. Von Weizsäcker zählt
Urphänomen der Not neben dem Schwindel und der Schwäche
den Grundformen menschlicher Selbstwahmehmung,
26
lii. Nun lassen die neueren Entwicklungen in den biomedizinischen Wissenschaf ten vermuten, dass es dieser narrativen und hermeneutischen Umwege nicht mehr bedürfe,
um
ins Diesseits der Metapher, also zu den wirklichen Grund
lagen menschlichen Lebens und seiner Ausdrucksformen zu gelangen. Doch hier erinnern uns erneut vor allem die Literaten und Literaturwissenschaftler daran, dass die Genomsequenzen selbst nur Element eines hochkomplexen Textes sind, dessen Bedeutung sich nicht allein aus der Kenntnis der Zei chen erschließt. Wiederum bedarf es eines verstehenden Zugangs, nämlich des Lesens. Mehr noch, das von Hans-Georg Gadamer in seiner Hermeneutik ein gefiihrte »Prinzip der Wirkungsgeschichte« erlangt angesichts des weiten Weges von der Genomsequenz zum gewünschten Phänotyp - sei es ein bestimmtes Merkmal des Organismus oder eine vermiedene Krankheit - überraschende Aktualität. 27 Was von einer bestimmten Wrrkung hat welche Ursache oder ist die Wrrkung gar selbst die Ursache der Ursache? In kaum einem Feld der modernen Medizin ist die Metaphorik reicher als bei der Beschreibung der möglichen Zusammenhänge genbiologischer Strukturen mit dem Gesundsein und Kranksein des Menschen. Gerade im Blick auf die hiermit verbundenen Visionen, die im wörtlichen Sinne Utopien sind, stellt sich die Frage nach der Modernität der modernen Medizin. Diese Frage fiihrt uns - auch wenn es überraschen mag - auf Vlktor von Weizsäcker zurück. Heute wird sie eher von Geisteswissenschaftlern, denn von Medizinern gestellt. Unlängst fragte der Autor und Literaturwissenschaftler Adolf Muschg, ob es der Wissenschaft selbst nicht auffalle,
daß die epochemachenden Gedanken, die sich die theoretische Physik
im gerade
vergangeneo Jahrhundert gemacht hat - über Kausalität, Determination, Lokalisa tion und Zeitlichkeit -, für die Praxis der Gentechnologie megaout sind? Ihre Stelle hat der Gen-Fetischismus, ein kruder Wunderglaube, eine business-like Heilserwar tung eingenommen. Ein paar hundert Jahre Aufklärung stehen zum Ausverkauf: lm Angebot sind nicht nur Ladenhüter archaisch-magischer Kultur, sondern auch Zeitbomben erwiesener und brandgef ährlicher Unkultur. Da darf wieder einem Ver-
26 Vgl. von Weizsäcker, K.ran.ker und Arzt, 242. 27 Vgl. Gadamer, Wahrheit, 270-3 12; ders., Apologie; Honnefelder, Was wissen wir; Propping, Vom Genotyp zum Pbänotyp; Breidbach, Der Mythos des Machbaren; Böhme, Oie Vernunft und der Schrecken; Rosenthal, Wer soll das alles lesen?.
Krankheit und Krankengeschid1te bei Viktor von Weizsäcker
187
brecher-Gen nachgespürt werden oder dem Gen, das Homosexualität und andere Minderwertigkeifen verursachen soll. 28
Auch sein Miinchener Kollege Wolfgang Fttihwald verweist äuf die Dringlich keit eines neuen Wissenschaftsverständnisses, das
in Weiterführung der Ein
sichten der theoretischen Physik einen angemessenen Umgang mit der Kom plexität menschlichen Lebens finden müsse. Eine Komplexität, deren wesentli ches Merkmal - die Kreativität - in der dialektischen Spannung von Ganzheit und Unvollendbarkeit gründet. 29 Es scheint, als ob der sogenannten »Ent schlüsselung« des Humangenoms am Beginn des 2 1 . Jahrhunderts eine ähnli
che Bedeutung fur die weitere Entwicklung der Medizin zukommt, wie dies fur
die Neurose um 1900 der Fall war. Auch damals stand die Medizin vor der Alternative, dem Naturbegriffder Krankheit oder aber deren anthropologischer Bedeutung größeren Wert beizumessen. Vtktor von Weizsäcker war einer der wenigen innerhalb der Humanwissen schaften, der im frühen
20. Jahrhundert unabhängig von der geistigen Revolu
tion der Physik die Konsequenz eines neuen Wissenschaftsverständnisses fur die Medizin aufzuzeigen versuchte. Ausgangspunkt hierfur war ein neuer Blick
ärztliche Ursituation: auf die Begegnung von krankem Menschen und Arzt Genau genommen aber war es kein Blick auf etwas, auch keine Erfah rung von etwas, sondern ein Umgang mit etwas, in den man selbst hineingerät. Es handelt sich um jene Dimension des Widerfahrnisses oder der Krise, die
auf die .
sich einstellt, wenn etwas geschieht, bevor oder anders als gedacht. So gese hen, war der Arzt nicht mehr in der Rolle des Souveräns, des unabhängigen Beobachters. Die Formen seines WISsens können dann nicht jene der Theorie sein, auch sein Handeln kann keines im Zeichen des Experiments sein. Eine Medizin, deren Zentrum der erlebte und erlittene Umgang von Arzt und kran kem Menschen ist, verliert ihre ontologische Naivität. Mehr noch, sie verliert ihre militante Abwehr gegen Krankheit und Tod . Die Krankheit erweist sich
nicht nur als eine Ausdrucksform des Lebens neben anderen, sie wird viel mehr
zu
einem Schlüssel
fur das Verständnis, ja sogar für das Gelingen des
Lebens. 30 Insofern Leben eine Geschichte von Beziehungen ist, verwundert
es nicht, wenn die Dekonstruktion eines Krankheitsbildes in eine kulturelle, ja sogar politische Analyse mündet, wie es Joachim Radkau in seiner Studie zum
Zeitalter der Nervosität gezeigt hat. 31 Für Vtktor von Weizsäcker waren es
28 Muschg, Der Schriftsteller und die Gene, 58.
29 Vgl. Frühwald, Der »optimierte Mensch«.
30 Vg.l. von Weizsäcker, Fälle und Probleme, 137; ders., Meines Lebens hauptsächliches Bemühen, 385. Jn seinem Spätwerk Pathosophe i spricht er von der ubiquitären Erfahrung, »daß die schmer
zenden und quälenden Formen des Leidens über die Wahrheit weniger zu äuschen t vermögen
als die freundlicheren und friedlicheren Zustände«, insofern ))müssen sie als die belebrenderen gelten.« (ebd., l l).
3! Radkau, Zeitalter der Nervosität, bes. 283-383; vgl. auch Morris, Krankheit und Kultur.
188
Rainer-M.E. Jacobi
übrigens die Rentenneurose und die Rolle der Sozialversicherung in der Zeit zwischen den Kriegen, die ihm zu ähnlichen Überlegungen Anlass gaben. 32
Unser Interesse an Vlktor von Weizsäcker gilt etwas anderem, nämlich einem speziellen Element seiner Medizinischen Anthropologie, - womit zu gleich die der kreativen Komplexität menschlichen Lebens eigentümliche Dia lektik von Ganzheit und Unvollendbarkeit in den Blick kommt. Und insofern,
als
zwar
die Krankheit tatsächlich eine Weise des Menschseins ist, eine
mitunter sogar kreative Weise. Es mag sein, dass dies ein weithin ungewohn ter Blick auf die Krankheit ist, denn er impliziert, dass es »ganz offensichtlich . . . nicht der einzige Sinn der Krankheit [ist], beseitigt
zu
werden.«33 Diese
Vermutung eines noch anderen Sinns der Krankheit könnte sehr wohl eine Formulierung von Weizsäckers sein, aber es handelt sich um ein Zitat wie derum von Adolf Muscbg. Es ist seinen vor
20 Jahren erschienenen Frankfur
ter Poetik-Vorlesungen entnommen. Soweit ich sehe, bilden diese Vorlesungen einen der anspruchsvollsten Versuche, die Weizsäckerschen Intentionen neu zur Sprache zu bringen. Es geht um nichts anderes, als um jenes spezielle Element der Medizinischen Anthropologie: die scheinen,
als ob
Krankengeschichte.
Fast
will
es
in der Krankheit selbst sich eine metaphorische Strategie des
Lebens zeigt. Dann jedenfalls würde es nicht überraschen, wenn die
Erzählung
der Krankengeschichte bereits als ein Schritt der Therapie sich erwiese. Von Weizsäckers Verständnis der Krankengeschichte ist von genau dieser
Art.
Frei
lich bedarf es hierzu einer Form des Erzählens, wie sie am eindrucksvollsten
Walter Benjamin in seinem Erzähler-Essay vorgestellt hat. Er ist es auch, von dem die prägnante Formulierung
Erzählung und Heilung stammt. 34 Doch bevor
das Besondere der Krankengeschichte näher zur Sprache kommen soll, womit zugleich die Differenz zwischen naturwissenschaftlicher und anthropologischer Medizin offenkundig wird, sei etwas zu Person und Werk des wohl philoso phischsten Arztes des
20. Jahrhunderts gesagt. 35
rv. Aus einer schwäbischen Gelehrtenfamilie stammend, studierte der 1886 in Stuttgart geborene Vtktor von Weizsäcker in Tübingen, Freiburg und Heidet berg Medizin, um dann nach experimentellen pathophysiologischen, sinnes-
32 Vgl. von Weizsäcker, Soziale Krankheit. 33 Muschg, Literatur als Therapie, 168. Hier klingt der flir von Weizsäckers Anthropologie zen l des Menschen an, vgl. von Weizsäcker, trale Gedanke der >schlechthinnigen Unzuänglichkeit< AUgemeine Medizin, 191 ff. 34 Vgl. Honold. Erzählen; Jacobi, Hören auf den Anderen, 219ff., 233ff. 35 Vgl. Stemberger, Erinnerung; Gadamer, Zwischen Natur und Kunst; Hartmann, Vergegenwär tigung.
Krankheit und Krankengeschichte bei Viktor von Weizsäcker
189
physiologischen und neurologischen Forschungen - u.a. bei Johannes von Kries
-
1920 die Nervenabteilung der Inneren Klinik an der Heidelberger
Universität zu übernehmen. Seine angestrebte Berufung auf den Lehrstuhl Innere Medizin misslang 1934 aus politischen
tur
Gründen, so dass er 1941 den
angesehenen neurologischen Lehrstuhl von Otfried Foerster in Breslau über nahm. Nach Kriegsende wurde ihm ad personam in Heidelberg ein Lehrstuhl
fUr Allgemeine Klinische Medizin eingerichtet, den er bis
zu
seiner krank
heitsbedingt vorzeitigen Emeritierung 1951 innehatte. Vtktor von Weizsäcker starb 1957 in Heidelberg. 36 Dieser Lebensweg eines Klinikers, medizinischen Forschers und Hochschullehrers bekam seit 1906 mit Beginn der Freund schaft
zu
Franz Rosenzweig eine gleichermaßen intensive philosophische und
theologische Ergänzung. Geprägt von der südwestdeutschen Philosophie des Neukantianismus, insbesondere von WJ.lhelm Wmdelband und Jonas Cohn, stand er in engerem Kontakt mit Hans Ehrenberg, Max Scheler und Romano Guardini, aber auch mit Margarete Susman und Lou Andreas-Salome. Die
Anfange der Dialektischen Theologie bei Karl Barth verfolgte er ebenso wie den erkenntnistheoretischen Umbruch in der Physik der zwanziger Jahre. Sein besonderes Augenmerk - nicht nur als Arzt - galt freilich der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Wollte man von Weizsäckers eigene philosophische Orientierung genauer beschreiben, müsste man von »Lebensphilosophie« sprechen, ohne allerdings bei einer philosophischen Schule Anleihe
zu
nehmen. Lebensphilosophie also
eher im Sinne einer »Philosophie des Lebens«, in der jener anfängliche Gestus des Philosophierens als einer Lebensform, als einer Kunst gelingenden Lebens nachklingt. 37 Philosophisches Denken im Sinne von Weizsäckers ist nicht frei von Lust und Schmerz, auch ist es nie ohne Leidenschaft, es wird getan und erlitten, es setzt sich immerfort einem Anderen aus, das nicht man selbst ist. Leitfiguren seines Denkens, die er selbst gelegentlich nennt, sind Heraklit, Pau lus, Augustinus, Pascal, Leibniz, Schelling, Kant und Nietzsche. Von besonderer Bedeutung, gerade auch
fUr den naturphilosophischen Ansatz seiner Medizini
schen Anthropologie, ist sein Verhältnis Kennzeichnend sowohl
zu
Goethe und dessen Farbenlehre. 38
für die äußere Gestalt und den sachlichen Anspruch
seines Werkes als auch für die nicht unproblematische Wrrkungsgeschichte ist die eigentümliche Parallelität seines Schaffens als experimenteller Forscher, kli nischer
Arzt und philosophischer Denker. Diese Parallelität, am ausgeprägtes
ten in seinen produktivsten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Mitte der dreißiger Jahre, hatte
zur
Folge., dass seine Texte und Entwürfe nicht nur
wechselseitig angeregt, sondern auch geprägt wurden. So gibt es kaum einen 36 Vgl. Henkelman n, Vtlctor von Weizsäcker; Wein, Die Weizsäckers, 341-410. 37 Vgl. Hadot, Philosophie aJs Lebensform. 38 Von Weizsäcker, Gestalt und Zeit; ders., Zur Farbenlehre. Zur Rezeption Goethes bei von Weiz säcker vgl. Jacobi, Vtktor von Weizsäcker und Goethe.
190
Rainer-M.E. Jacobi
medizinischen Text ohne massive philosophische Einlassungen, wie es anderer seits keinen philosophischen oder theologischen Text gibt, der seine Einsichten nicht an medizinischen oder ärztlichen Erfahrungen festmachen würde. So findet man zum Beispiel seine Goethe-Rezeption und kritische Kant-Lektüre vor allem i.."lden Texten zur Sinnesphysiologie und Wahrnehmungslehre� seine theologischen Entfaltungen zu Pau]us und Barth im Kontext von Seelsorge und Psychotherapie, seine Aufnahme des jüdischen Denkens und der Dialogphilo sophie in den Studien zum Verhältnis von Kranken und Arzt, und schließlich seine Ontologiekritik unter dem Titel Die Schmerzen. 39 Im Interesse des Werkverständnisses verdient diese überraschende Paralle lität einen etwas genaueren Blick, zumal bereits hier die leitende Problemstel lung des von Weizsäckerschen Denkens erkennbar wird, wie sie sich dann bis in sein Spätwerk - die Pathosophie - fortsetzt. Beginnend mit der Pathophysiolo gie des Herzens, der sowohl Promotion wie Habilitation galten, richtet sich sein Interesse schon während des Ersten Weltkrieges auf neurologische und neuro physiologische Untersuchungen zur Willkürbewegung. Hinzu kommen subtile Studien zur Wahrnehmung und Sinnesphysiologie, die 1926 in einen bedeutsa men Handbuchartikel zur Physiologie der Sinne münden. Parallel zu naturphi losophischen Texten zum Vitalismusproblem, den Ansätzen einer »Philosophie der Person« und seinen Grundtexten zum - wie er es nennt - Urphänomen der Medizinischen Anthropologie, der Begegnung von Krankem und Arzt, gilt die klinisch-ärztliche Arbeit der Entwicklung einer psychophysischen Pathologie als Grundlage einer allgemeinen Krankheitslehre. In diesen Zusammenhang gehören seine bis heute wegweisenden Beiträge zur Einführung der Psycho analyse in die Innere Medizin und die Einbeziehung der sozialen Dimension der Arbeit in das Verstehen und Behandeln von Krankheiten, - bis hin zur Anerkennung auch der Krankheit selbst als einer sozialen Leistung, einer soge nannten »Krankheitsarbeit«. 40 Das Gemeinsame dieser vielfaltigen Bemühungen gilt dem Zusammenhang von Krankheit und Gesundheit - und zwar im Lichte eines anderen Zusam menhanges, der das jeweilige Verhältnis von Krankheit und Gesundheit im Einzelfall beschreiben und verstehen hilft : nämlich des Zusammenhangs von Selbstwahrnehmung und Körpergeschehen. Hiermit rekurriert von Weizsäcker auf ein altes Problem der Metaphysik, auf das Verhältnis von Mundus sensibilis und Mundus intelligibilis, von leibhaft-sinnlicher Erfahrung und intellektuel ler Erkenntnis. Die Erkenntnisforrnigkeit sinnlicher Elementarereignisse wie Schmerz, Angst� Schwindel und Schwäche, bildet den Ausgangspunkt jener irritierenden Rede von Weizsäckers von der »Wahrheit der Krankheit«, die zunächst nichts anderes meint, als den nichtverdrängten Zusamm enhang von
39 Vgl. hierzu neben den sogenannten »Kreatur-Texten«, die weiter unten vorgesteßt werden, von
Weizsäcker, Medizin und Seelsorge sowie ders., Von den seelischen Ursachen. 40 Von Weizsäcker, Begriff der Arbeit, 259 ff.
Krankheit und Krankcngesdtichte bei Viktor von Weizsäcker
191
Selbstwahrnehmung und Körpergeschehen, von Biographie und Krankheit. 41 Dies heißt allerdings auch, dass die Identifizierung einer Krankheit mit einer noch so weit reichenden und di.tferenzierten organischen oder molekularbio logischen Symptomatik an der Wahrheit der Krankheit vorbeigeht. Insofern
gilt die Medizinische Anthropologie von Weizsäckers im Kern dem Verhältnis
von Krankheit und krankem Mensch, von Körpergeschehen und Selbstwahr nehmung, von intellektueller Erkenntnis und Ieibhaft-sinnlichern Erlebnis. Es
verwundert dann wenig, dass von Weizsäckers Versuch, dieses Verhältnis einer
lebendigen Einheit auch begrifflich denkend einzuholen, immer wieder schei tern musste oder aber zu vielfältigen Missverständnissen Anlass gab. Das wohl
bekannteste Ergebnis dieser Versuche bildet seine Lehre vom
Gestaltkreis. Hier
verbinden sich das anthropologische Krankheitsverständnis, die Neurologie der Wtllkürbewegung und die Physiologie der Sinne zum Konzept des sogenannten
»biologischen Aktes«. Mit dem biologischen Akt wird gleichsam eine episte mologisch nicht hintergehbare Einheit postuliert, deren Wrrklichkeit - wie es von Weizsäcker formuliert - »cyklomorph<<, also zirkelartig ist. 42 Für eine neuerliche Rezeption des Weizsäckerschen Werkes verdiente - nicht zuletzt mit Blick auf die aktuelle Situation der Lebenswissenschaften sein Konzept des »biologischen Aktes« die größte Aufmerksamkeit.
Es
stellt
gewissermaßen den Versuch einer Antwort auf das ontologische Problem der Medizin gen des
dar, aufjenes Problem also, welches sich heute hinter den Verheißun »genetischen Determinismus« verbirgt. 43 Die Lehre vom Gestaltkreis
ist - im Sinne einer Anleitung zur Erfahrung des Lebendigen - auf den ersten
Blick nichts anderes, als eine Beschreibung des biologischen Aktes. Dessen Darstellung entweder als somatischer Prozess oder aber als rationales Urteil verbirgt zugleich die jeweils andere Dimension, sei es die Selbstwahrnehmung oder der Affekt. Das Gestaltkreisprinzip der gegenseitigen Verborgenheit macht die Fragwürdigkeit jeder Rede von einem Ganzen, sei es das der Welt oder das des Menschen, offenkundig. Lou Andreas-Salome prägte die wohl anschaulichste Formulierung: sie nannte
ihn
.für den
Gestaltkreis
das »Drehtürprinzip«.
Man kann nie zugleich innen und außen sein. Gleichwohl kann man, wenn man ihn nur zur Hälfte durchläuft - um in diesem Bild
zu
bleiben -, eine
kausale Abfolge von Innen nach Außen oder umgekehrt konstruieren. Dann
will als Ganzer durch Herkunft, die dann freilich
allerdings wäre es kein Gestaltkreis mehr: denn dieser laufen sein, - gleichsam bis zur Rückkehr in eine eine andere geworden ist. 44
41 Vgl. von Weizsäcker, Krankengeschichte, 65f.; ders., Körpergeschehen und Neurose, 2 13-227; ders., Pathosophie, 241-263. 42 Von Weizsäcker, Gestaltkreis, 99, l lOff.; vgl. hierzu Jacobi, Leben im Zwischen. 43 Vgl. Propping, Vom Genotyp zum Phänotyp; Prauss, Geprägte Form; Wmnacker, Utopien. 44 Von Weizsäcker, Anonyma, 52ff.; zum Drehtür prinzip vgl. ders., Gestaltkreis, 124f., 323, 335.
192
Rainer-M.E. J(JC()bi
V. Die von Walter Benjamin entliehene Formel
Erzählung und Heilung
insinuiert
eine therapeutische Dimension des Erzählens. Ein genauerer Blick auf den unter
dieser Formel überlieferten kleinen Text Benjamins zeigt freilich, dass es sich
hier um eine sehr bestimmte Weise des Erzählens handelt. 45 Diese bestimmte Weise ist es auch, die Vlktor von Weizsäckers Verständnis der Krankenge schichte kennzeichnet, - genau genommen seine Lehre von der
Biographik,
die erst im Spätwerk thematisch wird. Doch zunächst sei nochmals in die zeitliche Umgebung des Jahres
1926
zurückgekehrt. Wrr erinnern uns, dass
von Weizsäckers lebenslange Wertschätzung der Psychoanalyse von Sigmund Freuds besonderer
Art
der »Untersuchung und Beschreibung der Neurosen«
ihren Ausgang nahm. 46 Weit über die therapeutische Anregung hinaus, wurde dies für von Weizsäcker zum Anlass
zin.
für eine grundsätzliche Reform der Medi
Für Freud hingegen stand die erste Mitteilung dieser Besonderheit in der
Gründungsurkunde der Psychoanalyse, den gemeinsam mit Josef Breuer verfassten Studien über Hysterie, noch im Zeichen einer Verwunderung,
sogenannten
- die hiermit verbundenen Konsequenzen für das Wissenschaftsverständnis der Medizin sehr wohl ahnend: Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt
daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissen muß mich damit trösten, daß fur dieses Ergebnis die
mich selbst noch eigentümlich, Novellen zu lesen sind, und schaftlichkeit entbehren. Ich
Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich
zu
machen ist als meine Vor
liebe; Lokaldiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seeli
schen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir gestattet, bei
Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch noch eine Art von Ein sicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen. Solche Krankengeschichten wollen beurteilt werden wie psychiatrische, haben aber vor letzteren eines voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankbeitssymptomen, nach welcher wir in den Biographien anderer Psychosen noch vergebens suchen. 47
Diese eigentümliche Wendung zum Dichter, also zur Narrativität statt zur Dis kursivität, lässt ihn einige Jahre später nach der Bedingung fragen, die erfüllt werden müsse,
um
der innigen Beziehung zwischen Leidensgeschichte und
Krankheitssymptomen auf die Spur zwar
zu
kommen. Als »eigentliche Ars poetica«
ein Geheimnis des Dichters, liege sie »in der Technik der Überwindung
jener Abstoßung, die gewiß mit den Schranken
45 Vgl. Ebach, Ursprung und Zie� 1 1 f. 46 Von Wei.zsäcker, Natur und Geist, 141. 47 Freud, Studien über Hysterie, 227.
zu tun
hat, welche sich zwischen
Krankheit und Krankengeschichte bei Viktor von Weizsäcker jedem einzelnen Ich und den anderen erheben«. 48 Im Jahr ist es dann
für
1926
193 schließlich,
Freud selbstverständlich, dass eine psychoanalytische Ausbil
dung auch Fächer umfassen müsse, »die dem
Arzt ferne liegen und mit denen
er in seiner Tätigkeit nicht zusammenkommt: Kulturgeschichte, Mythologie, Religionspsychologie und Literaturwissenschaft.«49
Nun ist es keineswegs zufällig, dass von Weizsäckers erste Versuche, die
Grundgedanken der Medizinischen Anthropologie zu formulieren, mit seinen
Bemühungen um eine psychophysische Pathologie zusammenfallen: jenen Jahren erfolgen, in denen er sich anschickte, die von Freud
also
für die
in
Psy
choanalyse geforderte methodische Wende auf die Innere Medizin auszuweiten. So finden sich - wie wir gesehen haben - selbst in den chungen um das Jahr
klinischen
Untersu
1926 herum gezielt in Anspruch genommene literarische
Topoi. Ihren ersten Höhepunkt erreichen diese Bemühungen mit zwei großen
für die spätere Theo Körpergeschehen und Neurose (1933) und Studien zur Patho
Abhandlungen, die gleichsam den kasuistischen Fundus riebildung abgeben:
genese (1935). 50
Von Weizsäckers Verständnis der Krankengeschichte wird als
das zentrale Element der Medizinischen Anthropologie sichtbar: als sogenannte
biographische Methode. Denn die »Krankengeschichte hat den Wert und nimmt den Platz ein, welchen in den Naturwissenschaften die experimenteDen oder systematischen Beobachtungen innehatten.« Doch die »biographische Methode ist keine Erklärung, sondern eine Art beobachtender Wahrnehrnung.«51 Frei lich eine besondere Art, insofern diese Wahrnehmung die »Mitbewegung des Therapeuten
im
Krankheitsgeschehen des Kranken zum Ausdruck zu brin
gen« vermag. Von Weizsäcker erwähnt in diesem Zusammenhang die häufig zitierte Formel von der »Einführung des Subjekts«. Hier besagt sie, dass »die Therapie, d. h. die Bewegung des Arztes, . . . als eine entscheidende Bedingung
der Pathologie, als Lehre vom Kranken, eingeführt« sei. 52 Die doppelte Ver
schränkung von Biographie und Krankheit sowie von Pathologie und Therapie macht deutlich, dass die Forderung nach Einbeziehung entlegener Disziplinen
in die Medizin letztlich unzureichend bleibt. Vielmehr bedarf es einer Revision
der Grundbegriffe neuzeitlicher Wissenschaft, soU die Medizinische Anthropo48 Freud, Der Dichter, 223. Hier klingt übrigens jene von von Weizsäcker als »transjelctive Erfah· rung« beschriebene Erkenntnisform an, die der gelingenden Begegnung von Arzt und Kranken eigentümlich ist (vgl. von Weiuäclcer, Der Arzt und der Kranke, 19f.).
49 Freud, Laienanalyse, 281; vgl. hierzu auch die eingehenden Untersuchungen von Johannes Cremerius, Freud und die Dichter.
Zu »Körpergeschehen und Neurose11 gab es den schon erwähnten Briefwechsel mit Freud, vgl. von Weizsäcker, Natur und Geist, 145-148. Nachdem diese Studie nahezu unbemerlct 1933 in der von Freud betreuten lntemationalen Zeitschrift für Psych.oanalyse erschjen, gab sie von Weizsäcker 1946 nochmals n i Druck. Vgl. von Weizsäcker, Körpergeschehen und Neurose, 121-125 (Vorwort 1946). SI Von Weizsäcker, Pathogenese, 329 f. Sl Ebd ., 327. 50
194
Rainer-M.E. Jacobi
logie tatsächlich >>eine allgemeine Lehre vom Menschen als Grundwissenschaft der Heilkunde sein können.«53 Aber schon die ersten Versuche, Leitmotive und Strukturen der Medizinischen Anthropologie
zu skizzieren,
lassen es offenkun
dig werden, dass mit der Unvermeidbarkeit dieser Revision auch eine Ent fernung von Freud einhergeht. 54 Wiederum handelt es sich um Texte, die in die nähere Umgebung des Jahres
1926 gehören. Allein der literarische Ort,
die sprachliche Komposition und der geistige Kontext dieser Texte verdienten eine eigene Untersuchung. Vor allem gilt dies
fiir jene
drei Aufsätze, die von
fiir die gemeinsam mit Martin Buher und Josef Wittig begründete Zeitschrift Die Kreatur schrieb: Der Arzt und der Kranke (1 926), Die Schm erzen (1926), Die Krankengeschichte (1928). 55 Mit der Thematisierung des Anderen Weizsäcker
in Abkehr vom transzendentalen Apriori, des Leibes als Schmerz-, nicht als Denkordnung und der Zeit als biographisches Widerfahrnis, zeigt sich nicht nur die Irrelevanz der
Grundbegriffe
neuzeitlicher Wissenschaft angesichts
elementarer Lebenserscheinungen, mehr noch lassen sich anthropologische Denkfiguren erkennen, wie sie letzten
im
deutschen Sprachraum erst wieder in den
20 Jahren unter maßgeblichem Einfluss der französischen Phänomeno
logie Beachtung finden. 56 Flankiert werden diese sogenannten »Kreatur-Texte«
1925 (Seelenbehandlung und Seelenjührung) und einem Vortrag vor Philosophen im Februar 1927 (Über medizinische Anthropologie). Wtrft die Vorlesung kritisches Licht auf klassische
von einer Vorlesung vor Theologen
im
Herbst
Topoi philosophischer Aufklärung, wie Autonomie, Identität und Wtllensfrei53 Von Weizsäcker, Begrüf der Nervenheilkunde, 320. Mit »der Revision der Grundbegrüfe der
54
55 56
Naturwissenschaft« verbindet sich bei von Weizsäcker ein Forschungsprogramm, das »voraus sichtlich noch weiter zu gehen [habe) als die Physik.(( (ders., FunJctionswandel, 621). Einen ersten Überblick zu diesem Programm, in dem seine »zersplittert anmutenden Beschäftigungen nüt Kli nik, Arzttum, neurologischer Forschung, Experiment und Philosophie(< (ders., Natur und Geist, I I I ) sich bündeln, gtbt von Weizsäcker 1934 anlässtich seiner Festrede zur Stiftungsfeier der Heidelberger Akademie der Wissenschaften ( Wege psychophysischer Forschung). VoUends sicht bar wird die Tragweite dieses Unternehmens in dem wohl schwierigsten Kapitel seines Spätwerks Pathosophie: Logophanie und Eidologie, 178-216. Diese Entfernung gründet wenjger in der von Weizsäcker konsequent betriebenen Erweiterung der Psychoanalyse auf die somatische Symptombildung (vgl. ders., Körpergeschehen und Neu rose, 21 3-227), als vielmehr in der grundsätzlichen Differenz zu Freud bezüglich der Beurteilung des Verhältnisses von WISsen und Glauben. Hierzu sei aufvon Weizsäckers Formel vom »Grund verhältrus(< und dessen geistesgeschichtlichen Hintergrund verwiesen, vgl. ders., Anonyma, 47 f.; ders., Nach Freud, bes. 444; ders., Allgemeine Medizin, 163-172. Leider finden diese Zusam menhänge in der sonst verdienstvoUen Studie von Thomas Reuster keine Beachtung (Rezeption der Psychoanalyse), besonders einschlägig hingegen Peter Gay, ))Ein gottloser Jude<<. Vg). Michel, >>Die Kreatur«; Jacobi, Weizsäck:er und >>Die Kreatur«. Hier sei vor aUem auf die Bemühungen von Bemhard Waldenfels hingewiesen; vg). Waldenfels, Phänomenologie. Besonderes Interesse verdient in diesem Zusammenhang ein Projekt der Deut schen Forschungsgemeinschaft zum Nachlass Viktor von Weizsäckers am Me
Krankheit und Krankengesc.ltich!e bei Viktor von heit, so versucht der Vortrag von
1927
Weizsädcer
195
eine erste Annäherung an die Lehre
vom Gestaltkreis, - gleichsam als exemplarischer Beitrag zur Revision der
Grundbegriffe. 57
Sowohl in der kleinen Trilogie der »Kreatur-Texte« als auch in der Chrono logie der hier genannten fünf anthropologischen Grundtexte von Weizsäckers bildet die
Krankengeschichte den
Abschluss, und gerät so in die Position einer
Summa. Die ärztliche Ursituation der Begegnung nebst der ihr eigentümlichen gegenseitigen Verborgenheit ebenso aufnehmend wie die leibliche Phänome nologie des Schmerzes bzw. die Metaphysik einer ursprünglichen Verbunden heit 58 kulminiert dieser Text in einer höchst bemerkenswerten, weil radikalen Pointe, die zugleich etwas von der Tragweite jener Revision erahnen lässt. Denn
die tatsächliche Wrrklichkeit des Kranken, die es zu erfahren gilt, erschließt sich gerade
nicht
»in den Gesetzen von Zeit und
Raum,
Ursache und Wrr
kung, Motiv und Entschluß, sondern hinter ihnen allen.« 59 Damit ist einerseits gesagt, dass der Vollzug dieser Erfahrung in der »Weggenossenschaft von Arzt und Krankem« . . . »quer durch die Ordnung des Staates, der WISsenschaft, der Erkenntnistheorie und der Logik gehen kann.« 60 Zumal das Urphänomen der Not, das eine »Wegwendung von anderen Werten und Interessen fordert«, immer schon ein »unauflösbarer Widerspruch gegen Ordnungen anderer Her
kunft«
ist. 61 Andererseits aber ist gesagt, dass auch der Mensch selbst nicht
im Raum als räumliches Gebilde und nicht in der Zeit als ablaufender Vor gang vorgestellt werden kann.
Es
entstünde sonst »eine falsche Lehre vom
Menschen.<< Nach dieser, so führt von Weizsäcker weiter aus,
wäre ein Mensch auch ein Wesen der Zahl nach, hätte ein Bewußtsein der Identität nach - als ob er nicht sich teilte und zeugte, als ob er nicht wüchse und zerginge, als ob er sich nicht wandelte. Wie eine Möwe ist er zwischen den Elementen, bald in die Lüfte steigend, bald ins Wasser tauchend, eigentlich zwischen beiden nur den Spiegel streifend. Wie auch sie vieUeicht, ist der Mensch Aeisch und Geist, durch beide, in keinem; überall ist eines durch das andere, nie ist eines aUein. Hier also entsteht eine Lehre der Erfahrung, deren >Anfang< ein immerwährender in der Beriibrung von Hand und Auge, von Ohr und Seele sein muß; eine Lehre von der Weggenossenschaft von Arzt und Patient nicht trotz und gegen Technik und Rationalisierung, sondern durch und mit diesen. 62
57 Von Weizsäcker, Seelenbehandlung, I08-124, bes. 1 17f.; ders., Über medizinische Anthropolo gie, 185-190. 58 Vgl. von Weizsäcker, Der Kranlee und der Arzt. 24f.; ders., Über medizinische Anthropologie, 192f.; ders., Die Schmerzen, 35f.; ders., Seelenbehandlung, 1 14 f., 1 19. 59 Von Weizsäcker, Krankengeschichte, 60. 60 Ebd., 58, 64.
61 Ebd. 64. , 62 Ebd., 65.
Rainer-M.E. Jarobi
196
VI. Was genau macht die Krankengeschichte zur Erzählung im Sinne Benjamins? Oder anders gefragt, worin besteht jene Besonderheit der Krankengeschichte,
die sie - anders als die herkömmliche
anamnestische
Erhebung - schon selbst
therapeutisch wirksam werden lässt? Zur näheren Bestimm ung dieser Beson
derheit führt von Weizsäcker in dem soeben erwähnten Text eine grundsätzliche Unterscheidung ein: neben der äußeren, künstlichen oder naturwissenschaft lichen Krankengeschichte - der üblichen Krankenblatt-Anamnese - gebe es auch die
»eigentliche Krankengeschichte«63.
Die Begründung
für diese
Unter
scheidung ist ebenso trivial wie weitreichend. Sie erwächst aus einer der Leitfra gen des Weizsäckerschen Werkes: der Frage nach »Art und Form des ärztlichen Wissens« 64. Dieses Wissen folgt weder einer Idee noch ist es eines von iso lierten Objekten, auch liegt ihm kein Experiment zugrunde. Ihm geht vielmehr
eine Situation voraus, die von Weizsäcker als »Urphänomen einer medizini schen Anthropologie« bezeichnet: »der kranke Mensch, der eine Not hat, der Hilfe bedarf und dafür den Arzt ruft.«65 Zunächst also bestimmen nicht Refle xion und Kritik das ärztliche Wissen, sondern die Not des kranken Menschen. Der Anfang dieses WISsens bildet
für
von Weizsäcker insofern »eine Art von
methodischer Urszene«, als er nämlich nicht vom Arzt »gemacht wird«, son dern »kommt - wie der Patient kommt.«66
Es
ist also eine »biographische
Szene« und kein erkenntnistheoretisches Problem, was den Anfang des ärztli chen Wissens ausmacht. 67 So wird bereits an dieser frühen SteUe - im ersten »Kreatur-Text« des Jahres
1926
-
die Medizinische Anthropologie nicht als
kritische Wissenslehre, sondern als Anleitung zu einem erfahrenden Verstehen erkennbar. Der hermeneutische Gestus klingt denn auch in jener prägnanten Formel an, mit der von Weizsäcker diesen Text beschließt: »Der Anfang ist also nicht Wissen, sondern Fragen.«68 Die Unterscheidung der eigentlichen von der künstlichen Krankengeschich te liegt in der Art dieses Fragens begründet. Sofern es seinen Ausgang nicht
Arzt, sondern bei der KJage des Kranken nimmt, ist es genau genommen antwortendes Fragen. 69 In den Vorlesungen über Allgemeine Therapie, die
beim ein
63 Ebd., 58.
Von Weizsäcker, Der Arzt und der Kranke, 14. 65 Ebd., 13. 66 Ebd., 25 r. 67 Ebd., 24; vgl. auch ebd., 25. 68 Ebd., 26. Man mag hier eine Vorwegnahme der späteren Formel Gadamers vom »hermeneuti schen Vorrang der Frage« sehen, vgl. Gadamer, Wahrheit, 368-384. 69 Als >antwortendes Fragen< impliziert das ärztliche WISsen bei von Weizsäcker immer schon eine Kritik des Cartesianischen rogito (vgl. ebd., 19f.). Um so mehr verwundert es, dass Bemhard Waldenfels in seinem opulenten Versuch zur »responsiven Rationalität« diese Quelle übersehen hat; vgl. Waldenfels, Antwortregister; aber auch Disse, Erstphilosophie. 64
197
Krankheit und Krankengeschichte bei Viktor von Weizsäcker von Weizsäcker im Sommer
1933
in Heidelberg hielt, findet sich wohl die
anschaulichste und überzeugendste Ausführung
zu
Sinn und Zweck solchen
antwortenden Fragens. Wtr beschränken uns auf eine kurze eindrucksvolle Passage: Die Krankheit soll dem Arzt zuerst so erscheinen, wie sie dem Kranken selbst erscheint, nicht wie sie nach bekannten klinischen Bildern und nach Gesetzen der Pathologie vermutlich >ist<. Die Darstellung der Entstehung und des Wesens der
Krankheit, wie sie ihm erscheinen, darf nicht gestört werden, weil dieses subjektive
Bild des Kranken etwas zeigt, was in ibm vor sich geht: es bat somit einen objektiven
Wert; ihm entspricht eine Realität im Kranken. Stellen
wir dagegen
Fragen, die sich
der Kranke selbst nicht stellt, so verstummt diese Realität in ihm: er unsere Frage
zu
fängt
an,
auf
reagieren wie eine Sehne bei der Reflexprüfung, also auf eine künst
liche, in der Natur sonst nicht vorkommende Weise; so verscheuchen wir ein Stück
Natur. 70
Mit der »Realität im Kranken« ist jene Wrrklichkeit der Krankheit bezeich
net, die allererst »Lebenswert« für die Kranken, weniger »Erkenntniswert« für 71 den Arzt besitzt. Hinter der Unterscheidung von eigentlicher und künst licher Krankengeschichte verbergen sich gleichsam zwei Wrrk lichkeiten der Krankheit: eine innere, erlebte und erlittene, sowie eine äußere, erkannte und konstruierte. Im Verhältnis dieser beiden Wrrklichkeiten, deren Unterscheidung immerwährend neu zu treffen ist, spiegelt sich die Besonderheit der ärztlichen Situation. Sie wird daher »selbst Quelle einer eigentümlichen Erkenntnis.« 72
tihrte von Weizsäcker zur »Idee des Die nähere Bestimmung dieser Erkenntnis f
Gestaltkreises«, die dann nichts anderes war, als die »theoretische Abstraktion von der Form des Lebensvorganges, die sich in der ärztlichen Beziehung zum Kranken dargestellt haue.« 73 Charakteristisch hierfür ist die gegenseitige Verborgenheit zusammengehöriger, sich einander aber widersprechender Perspektiven eines Geschehens. In der ärztlichen Situation entsprechen diesen Perspektiven die unterschiedlichen Formen, in denen die beiden Wrrklichkeiten der Krankheit - je nach
Art
des Umgangs von Arzt und Krankem - zur Darstellung kom
men. Für die erlebte Wrrklichkeit der Krankheit, der die eigentliche Krankenge schichte gilt, ist dies die
Erzählung, für die erkannte Wrrklichkeit der Krankheit
hingegen, wie sie sich in der künstlichen Krankengeschichte zeigt, ist es die
Erklärung.
Der Unterschied ist offenkundig: in der Erzählung der eigentlichen
Krankengeschichte ist das Subjekt, der kranke Mensch also, zugleich auch
Objekt der Erzählung. Anders in der Erklärung, hier kommt es zur Trennung von Subjekt und Objekt der Erklärung; übrigens nicht nur dern auch
für
für den Arzt,
son
den Kranken selbst, der dann - wie es von Weizsäcker sagt -
70 Von Weizsäcker, Äntlicbe Fragen, 295f. 71 Von Weizsäcker, Krankengeschichte, 59. 72 Von Weizsäcker, Der Arzt und der Kranke, II. 73 Von Weizsäcker, Natur und Geist, 170.
198
Rainer-M.E. Jacobi
aus einer »Ich-Stellung« in eine »Es-Stellung« zur Krankheit gerät. 74 Auch die Differenz zwischen naturwissenschaftlicher und anthropologischer Medizin hat hier ihren Grund: in der Stellung zur Wirklichkeit der Krankheit. Wie in der Es-Stellung, also der buchstäblichen Objektivierung der Krankh eit, trotz aller Schlüssigkeif der Erklärungen und Befunde, die erlebte Wtrklichkeit der Krankheit verloren geht, so macht die Ich-Stellung blind für äußere Realitäten, die sich nur objektiver Erklärung erschließen. Die noch immer unzureichend erkannte Leistung der anthropologischen Medizin besteht genau darin, die Aus schließlichkeit jener beiden Stellungen zur Krankheit überwunden zu haben. 75 Angesichts der faszinierenden Erfolge in der Erklärung der äußeren Wrrklich keit der Krankh eit, ist es um so dringlicher, »die innere Sinneswahrnehmung des Kranken [als] eine Selbstwahrnehrnung« ernst zu nehmen. Denn sie »hat den vollen Wert einer gleichnishaften Darstellung seines Leibgeschehens.« 76 Hierzu freilich b edarf es einer neuen Wertschätzung des Erzählens, zumal die erlebte Wrrklichkeit eigenen Leibgeschehens nur erzählt, nicht aber erklärt werden kann. Dies hat mit einem wesentlichen Unterschied zwischen Erzählen und Erklären zu tun, der dann auch einer zwischen eigentlicher und künst licher Krankengeschichte ist: das Verhältnis zur Zeit; genauer das Verhältnis zu den verschiedenen Modi der Zeit. Im Gegensatz zum Erklären, nimmt es im Erzählen die »Ordnung der Geschichte« an. 77 Nicht zufcillig kommt dieses Stichwort in den Vorlesungen über Allgemeine Therapie erstmals zur Sprache. Dort dient es von Weizsäcker zur Charakterisierung der »ärztlichen Grund haltung« 78 . Denn nichts kennzeichnet Krankheit und Therapie genauer als die Ordnung der Geschichte: insofern nämlich, als »in ihr die Zukunft unbekannt ist.« Nun bedeutet dies nicht nur, »daß eine Vorhersage ungewiß, höchstens mit Wahrscheinlichkeit möglich sei«, es bedeutet vielmehr, »daß das Urteil über Vergaugenes in einer anderen Seins- und Wesensordnung geschieht wie das Urteil über Zukünftiges.« 79 Der »Respekt vor dem zeitlichen Element aller Geschichte« schließt es aus, für die ärztliche Handlung ein »ldealbild des End ergebnisses vorschreiben« zu können. 80 Aber mehr noch ist diese Unvor hersehbarkeit, wie es von Weizsäcker in einem späteren Text ausfuhrt, »reale Ebd., 168; vgl. auch von Weizsäcker, Körpergeschehen und Neurose, 21 3-227. Vgl. hierzu von Weizsäcker, Über medizinische Anthropologie, 188ff. Von Wei.zsäcker, Meines Lebens hauptsächliches Bemühen, 387. Von Weizsäcker, Ärztliche Fragen, 302. So der Titel der fünften Vorlesung »Über die ärztliche Grundhaltung«, ebd., 293-302. 79 Ebd 302. 80 Ebd Diese Absage an eine >Idee der Heilung< kennzeichnet das therapeutische Ethos der Medi zinischen Anthropologie, also jene eingangs erwähnte »Verschiebung des Heilzieles«. Im Unter schied zur Normativität des modernen Gesundheitsbegriffes steht es im Zeichen der Aufgabe, ))den Menschen zu einem richtigen Menschsein hinzufi.ihren; hier ist Gesundheit nicht VerfUgbar keit für Beliebiges, sond.em Gesundheit ist selbst eine Art der Menschlichkeit.« (von Weizsäcker, Menschenversuche, 121).
74 75 76 77 78
.,
.
Krankheit und Krankengeschichte bei Viktor von Weizsäcker Bedingung
für jenes
»Naturgeschehen, das
wir
abstrahieren, würde heißen, vom Leben selbst
Leben nennen.« 81 Hiervon
zu
zu
abstrahieren. Jede angemes
sene Rede vom Leben steht folglich schon immer im Zeichen eines
schen Indeterminismus« 82•
199
»methodi
Mit diesem Begriff kommt das schlechthin zentrale
Element der Medizinischen Anthropologie in den Blick: die »Geschichtlich aber nennen
wir
Geschichtlichkeit.
einen Zusammenhang, in dem ein Zustand
aus dem, welcher ihm vorherging, nicht kausal abgeleitet werden kann.«83 Für die Erzählung der eigentlichen Krankengeschichte heißt dies nun, dass sie eine Lebensgeschichte zu wieder-holen vermag, ohne dass deren vergangene Zukunft aufjene krisenhafte Ablenkung reduziert würde, die sich in der Krank
heit vergegenwärtigt. Mit anderen Worten, in der Erzählung erfolgt die Wieder gewinnung einer verlorenen Zukunft der Vergangenheit. Lässt die Erklärung jede Gegenwart lediglich
als
kausale Folge der Vergangenheit erscheinen,
vermag eine gelingende Erzählung
zu
so
zeigen, dass die Zukunft der Vergan
genheit, also das Potential gelebten Lebens sich nicht in der realen Gegenwart erschöpft. In diesem narrativ erschlossenen
Überschuss, für
den von Weizsäcker die
paradox anmutende Formel der »Verwirklichung des Unmöglichen« fand, 84 kommt die therapeutische Wirksamkeit des Erzählens zum Vorschein. Eine nicht nur prospektive, sondern auch retrospektive Wrrksarnkeit: insofern die erinnernde Rekonstruktion nicht verwirklichter Zukünfte der Vergangenheit diese auch selbst in neuem Licht erscheinen lässt. Daher müsse »man zuerst das Ereignis Krankheit
in
um
die Lebensgeschichte steUen«,
dann
zu
fragen,
»wie die Lebensgeschichte von ihrem Ziel und Sinne abgelenkt wurde, welche Verluste und Gewinne im Blick auf die Bestimmung des Lebens die Krank heit bedeutet.«85 Die eigentliche Krankengeschichte trägt dann gleichsam
zur
ErheUung, wenn nicht gar zur Neuentdeckung der Lebensgeschichte bei. So 81 Von Weizsäcker, Individualität, 379. 82 Ebd.
83 Von Weizsäcker, Ärztliche Aufgaben, 146. 84 Diese Fonnel steht gemeinsam mit der von der »Wirksamkeit des Ungelebten« für von Weizsäckers Geschiehtsauffassung (vgl. ders., Pathosophje,
246-255).
Sie findet sieb beute
am
ehesten in Paul rucoeurs großem Versuch einer Rehabilitierung der »Aporetik der Zeitlichkeit«, die einer »Poetik der Narrativität« korrespondiert (vgl. Ricoeur, Zeit). Für seinen »Entwurf einer Hermeneutik des historischen Bewußtseins« rekurriert er auf Reinhar1 Kosellecks metahistori
sche Kategorien »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«, deren Nähe zu von Weizsäckers Geschiehtsauffassung gesondert
zu
zeigen wäre. Wie die Rekonstruktion ungelebten Lebens im
therapeutischen Sinn zur Verwirklichung von UnmögJjchem zu verhelfen mag, so entspricht im
historischen Sinn der Anreicherung des Erfahrungsraumes eine Erweiterung des Erwartungsho
rizontes. Vgl. Ricoeur, Zeit, 334-388; Koselleck, Erfahrungsraum, 354ff.; aber auch Görtz, Der
» Grundakt((.
8S Von Weizsäcker, Ärztliche Aufgaben, 146. Von Weizsäcker hat diese radikale Wende im Krank heitsverständnis in seinen späten klinischen Vorlesungen in die Form eines pralctischen Schemas
ür f den Umgang von Arzt und Kranken gebracht: >da, aber nicht
so.
Wenn nicht
so,
dann
200
Rainer-M.E. Jacobi
histo risch-bedeutsamstes, als geistig-sinnvolles Stück eingefügt [ist], als ob sie dazu vermag es verständlich werden, dass eine Krankheit »der Biographie als
gehöre.« 86
Für von Weizsäcker beschränkt sich diese narrative Perspektive nicht nur auf die Krankheit, vielmehr ist ihm an einem neuen Verständnis der Wrrklichkejt
dass hlerfür »eine schwere Arbeit, eine Anstrengung und Überwindung von Denkgewohnheiten nötig« sein wird. 87 Unter den vielen Versuchen, diese Überwindung auf den Begriff zu bringen, findet sich die irritierende und ungenaue Metapher von der » Umkehr der Kau salität«. 88 Gemeint ist näherhin die Umkehr der Zeitordnung: erst von der Zukunft her erschließt sich die Geschlchtlichkeit eines Zustandes, auch und gerade von der nicht Gegenwart gewordenen Zukunft der Vergangenheit her. Diese Geschlchtlichkeit geht verloren, sofern dieser Zustand lediglich als kau im Ganzen gelegen - wohl wissend,
sale Folge eines Vergangeneo erklärt wird. Mit der Geschichtlichkeil aber geht freilich auch die Lebendigkeit verloren. Eine Lebendigkeit, die der
Umkehr der
Zeitordnung gemäß aus jener Zukünftigkeit der Herkunft erwächst, von der im Sinne Walter Benjamins das Erzählen erst seine Sanktionierung erhält: nämlich dem Tod. 89 Der eigentliche Unterschied zwischen naturwissenschaftlicher und anthropologischer Medizin, zwischen Erklären und Erzählen, besteht in nichts
anderem als in der »Einführung des Todes«. 90 Im Gegensatz zur Todesverges senheit der modernen biomedizinjschen Forschung hat die Medizin im Sinne Viktor von Weizsäckers nen.« 91
»in gleicher
Kraft dem Leben und dem Tode
zu
die
anders. Also so ist das.« Vgl. von Weizsäcker, Der kranke Mensch, 391 f.; ausführlich bie.rzu Jacobi, Leben, Tod und Geschichte, 364-372. 86 Von Weizsäcker, Meines Lebens hauptsächliches Bemühen, 380. Zur Verlustgeschichte dieser Dimension der Medizin in der Modeme vgl. Wöbkemeier, Erzählte K.ranlcheit. 87 Von Weizsäcker, Pathosophie, 256. 88 Von Weizsäcker, Der Widerstand, 428; vgl. auch ebd., 431 ff. Näher ausgeführt findet sieb diese »Umkehr« in einem großen Beitrag von Weizsäckers in der Festschrift für Alfred Weber (von Weizsäcker, Begriff der Arbeit, Kap. IV: Von der Wirkung aus, 244-250). 89 Vgl. Benjamin, Der Erzähler, 450. Ln jenem kleinen Text, der unseren Überlegungen den Titel gab, findet sich diese Besonderheit des Erzählens in der Metapher von der »Mündung<<, bis zu der ein therapeutisch wirksames Erzählen reichen müsse. Vgl. Benjamin, Erzählung und Heilung, 430; ausführlich hierzu Jacobi, Hören auf den Anderen, 233-237. 90 Von Weizsäcker, Der kranke Mensch, 628. Mit der »Einführung des Todes« verbindet sich von Weizsäckers Konzept der Geschöpnichkeit des Menschen und des Lebens; allgemeiner formu liert, seine Lehre von der Einheit von Leben und Tod, von Sein und Nichts. Vgl. von Weiv:äcker, Gestaltkreis, 83; ders., Der kranke Mensch, 628-634; ders., Pathosophie, 249, 273-294; ins besondere hierzu jetzt auch Steiner, Grammatik, 130-135. Der noch unzureichend untersuchte Einfluss Franz Rosenzweigs auf von Weizsäckers Denken bat hiermit aufs Engste zu tun; vgl. Görtz., »Autobiographische Konfession«; Jacobi, Neues Denken und neue Medizin. 91 Von We.izsäcker, Der kranke Mensch, 632.
Krankheit und Krankengeschichte bei Viktor von Weizsäcker
201
Literatur Benjamin, W., Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai l.esskows [1936], in: Gesammelte Schriften, Bd. 11/2, Frankfurt am Main 1991, 438-465. -, Erzählung und Heilung [1932), in: Gesammelte Schriften, Bd.IV/1, Frankfurt am Main 1991, 430.
Borsche, T., Der Reiz. Schwierigkeiten einer neuzeitlichen Bestimmung der lebendigen Natur, in: AZPb 16 (1991) 1-26.
Böhme, G., Die Vernunft und der Schrecken. Welche Bedeutung hat das genetische WtSsen: Naturphilosophische Konsequenzen, in: L. Honnefelder/P. Propping (Hg.), Was wissen wir, wenn wir das menschliebe Genom kennen?, Köln 2001, 1 89-195.
Breidbach, 0., Der Mythos des Machbaren. Welche Bedeutung hat das genetische Wis sen für unser Verständnis der lebenden Natur?, in: L. Honnefelder/P. Propping (Hg.),
Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, Köln 2001, 153-164. Cremerius, J., Freud und die Dichter, Freiburg 1995.
Disse, J., Die Überwindung neuzeitlieber Erstphilosophie bei Adorno und Levinas, in: FZ Pb Tb 46 (1 999) 223-246.
Ebacb, J., Ursprung und Ziel. Erinnerte Zukunft und erhoffte Vergangenheit, Neukir chen-Vluyn 1986.
Freud, S., Der Dichter und das Phantasieren [1908), in: Gesammelte Werke, Bd. 7, Frankfurt am Main 1 999, 213-223.
-, Die Frage der Laienanalyse. Unterredung mit einem Unparteiischen [1926], in: Ge
sammelte Werke, Bd. l4, Frankfurt am Main 1999, 207-296. -, Studien über Hysterie [1895), in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Frankfurt am Main 1999,
75-312. Frühwald, W., Der »optimierte Mensch«. Über Gentechnik, Forschungsfreiheit, Men
schenbild und die Zukunft der WtSsenscbaft, in: Forschung & Lehre 8 (2001) 402-405.
Gadamer, H.-G., Apologie der Heilkunst [1965] in: Kleinere Schriften, Bd. 1, Tübingen
1967, 2 1 1-219. -, Zwischen Natur und Kunst, in: P. Habn/W. Jacob (Hg.), Viktor von Weizsäcker zum
100. Geburtstag, Berlin/Heidelberg/New York 1987, 45-50. -, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960], in: Ge sammelte Werke, Bd. 1 , Tübingen 1986. -, Praktisches Wissen [1 930), in: Gesammelte Werke, Bd. 5, Tübingen 1986, 230-248. Gay, P., »Ein gottloser Jude«. Sigmund Freuds Atheismus und die Entwicklung der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1 988.
Görtz, H.-J., Der »Grundakt« des Erzählens. Ricoeurs Gedanke der »narrativen Iden tität« in theologischer Perspektive, in: B. Liebsch (Hg.), Hermeneutik des Selbst Im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricoeurs, Freiburg/München 1999,
273-300. -, »Autobiographische Konfession«. Franz Rosenzweigs Gedanke einer >>erzählenden Philosophie«, in: R-M.E. Jacobi (Hg.), Geschichte zwischen Erlebnis und Erkenntnis, Berlin 2000 (Jahrbuch Selbstorganisation, Bd. l O), 257-276.
Gurnbrecht, H. U., » 1926«. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt am Main 2001.
Hadot, P., Philosophie als Lebensform . Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991.
202
Rainer-M.E. Jacobi
Hartmann, F., Vergegenwärtigung einiger Anregungen im Werk Viktor von Weizsäckers, in: U. Benzenhöfer (Hg.), Anthropologische Medizin und Sozialmedizin im Werk Vtktor von Weizsäckers, Frankfurt am Main/Berlin
1994, 1 5 1 - 1 75.
Henkelmann, Th., Vt.ktor von Weizsäcker (1886-1957). Materialien zu Leben und Werk, Berlin/Heidelberg
1986.
Honnefelder, L., Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen? Die Her ausforderung der Humangenomforschung - Eine Einführung, in: L. Honnefelder/P. Propping (Hg.), Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, Köln
2001, 9-25.
Honold, A., Erzählen, in: M. Opitz/E. Wtzisla (Hg.), Benjamins Begriffe, Bd. 1 , Frankfurt
am Main 2000, 363-398. Janz, D. (Hg.), Krankengeschichte. Biographie, Geschichte, Dokumentation, Würzburg
1999
(Beiträge zur M edizinischen Anthropologie, Bd. 2).
Jacobi, R.-M.E., Neues Denken und neue Medizin. Zum geistesgeschichtlichen Kontext
der Medizinischen Anthropologie Vtktor von Weizsäckers, in: E. Goodman-Thau (Hg.), Zeit und Welt. Denken zwischen Philosophie und Religion, Heidelberg
2002,
2 15-230.
-, Gegenseitigkeit und Verantwortung. Vtktor von Weizsäckers Beitrag zur medizini schen Ethik, in: A. Frewer/J .N. Neumann (Hg.), Medizingeschichte und Medizin ethik, Frankfurt am Main/New York
2001, 276-310.
-, Hören auf den Anderen. Das Erzählen bei Walter Benjamin und Vt.ktor von Weiz säcker - ein Versuch, in: R.-M.E. Jacobi/P.C. Claussen/P. Wolf (Hg.), Die Wahr heit der Begegnung. Anthropologische Perspektiven der Neurologie, Würzburg 2001,
21 5-247.
-, Leben im Zwischen. Vorüberlegungen zu einem erkenntniskritischen Verständnis der Gestaltkreislehre Vt.ktor von Weizsäckers, in: R.-M.E. Jacobi (Hg.), Zwischen Kultur und Natur. Neue Konturen medizinischen Deokens, Berlin ganisation, Bd. 7),
1997
(Jahrbuch Selbstor
97-1 18.
-, Leben, Tod und Geschichte. Zu Vüctor von Weizsäckers pathischer Anthropologie,
in: R.-M.E. Jacobi (Hg.), Geschichte zwischen Erlebnis und Erkenntnis, ßerlin 2000
(Jahrbuch Selbstorganisation, Bd.
10), 351-378.
-, Vlktor von Weizsäcker und Goethe. Einfiihrung zur Edition von »Der Umgang mit der Natur«, in: R.-M.E. Jacobi (Hg.), Zwischen Kultur und Natur. Neue Konturen medizinischen Denkens, Berlin
1 997, 247-261.
-, Vt.ktor von Weizsäcker und »Die Kreatur« - Grundtexte der Gestaltkreislehre, in: J. Hainz (Hg.), Abschied vom Gott der Theologen. Zum Gedenken an Josef Wittig
(1 879-1949), Eppenhain 2000, 268-290. KoseUeck, R., Erfahrungsraum und Erwartungshorizont - zwei historische Kategorien
[1 976], in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, 349-375.
Michel, Ch., »Die Kreatur« - eine Zeitschrift ( 1 926-1 930). Konzepte, Realisation, Wir kung, in: J. Hainz (Hg.), Abscbied vom Gott der Theologen, Eppenhain
222.
2000, 196-
Morris, D.B., Krankheit und Kultur. Plädoyer fur ein neues Körperverständnis, München
2000.
Krankheit und Krankengeschichte bei Viktor von Weizsäcker
203
Muschg, A., Literatur als Therapie? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main 1981. -, Der Schriftsteller und die Gene, in: FAZ 208 (7. September 2000) 58. Prauss, G., Geprägte Form, doch zweckbewußt zerstückelt, in: FAZ 277 (28. November
2001) 50. Propping, P., Vom Genotyp zum Phänotyp: Zur Frage nach dem genetischen Determinis mus, in:
L. Honnefelder/P. Propping (Hg.), Was wissen wir, wenn wir das menschliche
Genom kennen?, Köln 2001, 90-102. Radkau, J., Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München/Wien 1998.
Reuster, Th., Vtktor von Weizsäckers Rezeption der Psychoanalyse, Stuttgart 1990. Ricoeur, P., Zeit und Erzählung, Bd. 3: Die erzählte Zeit, München 1991. Riede), W., »Homo Natura«. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin!New York
1996. Rosenthal, A., Wer soll das alles lesen?, in: FAZ 35 (10. Februar 2001) 46. Steiner, G., Grammatik der Schöpfung, München 2001. -, Martin Heidegger. Eine Einführung, München 2001. Sternberger, D., Erinnerung an Vtktor von Weizsäcker, in: ders., Gang zwischen Meis tem, Frankfurt arn Main 1 987, 167-179. Tellenbach, H., Schwermut, Wahn und Fallsucht in der abendländischen Dichtung, Hürtgenwald 1992. Waldenfels, B., Antwortregister, Frankfurt am Main 1994. -, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt am Main 1983. Wein, M., Die Weizsäckers. Geschichte einer deutschen Familie, Stuttgart 1988. Weizsäcker, V. von, Anonyma [1946], in: Gesamm elte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main 1987, 4 1-89. -, Über medizinische Anthropologie [1927], in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, 177-194. -, Das Antilogische [1923], in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Frankfurt am Main 1998,
368-394.
-, Der Arzt und der Kranke [1926], in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main
1987, 9-26. -, Ärztliche Aufgaben [ 1934), in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfu rt am Main 1986,
143-157. -, Ärztliche Fragen. Vorlesungen über Allgemeine Therapie [1933], in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, 259-342.
-, Der Begriff der Allgemeinen Medizin [1947], in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frank furt arn Main 1987, 1 35-196. -, Zum Begriff der Arbeit. Eine Habeas Corpus-Akte der Medizin? [1 948], in: Gesam melte Schriften, Bd. 8, Frankfurt am Main 1986 222-267. .•
-, Einleitung zur Physiologie der Sinne [1926], in: Gesamm elte Schriften, Bd. 3, Frank furt am Main 1 990, 325-428.
-, »Euthanasie« und Menschenversuche [1947], in: Gesamm elte Schriften, Bd. 7, Frank furt am Main 1987, 91-134. -, F älle und Probleme. Vorlesungen in der medizinischen Klinik [1947), in: Gesammelte Schriften, Bd. 9, Frankfurt arn Main 1988, 7-276.
204 ,
Rainer-ME. Jacobi
Zur Farbenlehre [ 1950), in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1986,
457-469.
-, Nach Freud (1 949], in: Gesammelte Schriften, Bd. l, Frankfurt am Main 1986, 441450. -, Funktionswandel und Gestaltkreis [1950], in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main 1990, 619-631.
-, Gestalt und Zeit [1942], in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Frankfurt am Main 1998, 339-382. -, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen [1 940], in: Gesammelte Schriften, Bd.2, Frankfurt am Main 1998, 83-337.
-, Die Grundlagen der Medizin [1 944), n i : Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main 1987, 7-28.
-, Individualität und Subjektivität [ 1 939], in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main, 1986, 373-385. -, Körpergeschehen und Neurose. Analytische Studie über somatische Symptombildung [1933], in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1986, 1 1 9-238.
-, Krankengeschichte [1 928), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, 48-66.
-, Kranker und Arzt [ 1 929), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, 221-244. -, Soziale Krankheit und soziale Gesundung [1 930), in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt am Main 1986, 31-95.
-, Meines Lebens hauptsächliches Bemühen [1955], in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main 1987, 372-392.
-, Der neurotische Aufbau bei den Magen- und Darmerkrankungen [1 927], in: Gesam melte Schriften, Bd.6, Frankfurt am Main 1986, 15-33.
-, Medizin und Seelsorge [1930), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, 245-258. -, Der kranke Mensch. Eine Einfuhrung in die Medizinische Anthropologie [1951), in: Gesammelte Schriften, Bd. 9, Frankfurt am Main 1988, 3 1 1-641.
-, Natur und Geist. Erinnerungen eines Arztes [ 1944/ 1954], in: Gesammelte Schriften, Bd. 1 , Frankfurt am Main 1986, 9-1 90.
-, Patbosophie, Göttingen 1956. -, Das Problem des Menschen in der Medizin [1953], in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main 1987, 366-371. -, Psychotherapie und
Klinik
[ 1926), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am
Main 1987, 161- 176. -, Randbemerkungen über Aufgabe und Begriff der Nervenheilkunde [1925], in: Gesam melte Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main 1990, 301-323.
-, Die Schmerzen [1926], in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, 27-47. -, Seelenbehandlung und Seelenfiihrung. Nach ihren biologischen und metaphysischen Grundlagen betrachtet [ 1926], in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, 67-141.
-, Studien zur Pathogenese [1935], in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1986, 253-330.
Krankheit und Kranker.gcschichte bei Viktor von Weizsäcker
205
-, Von den seelischen Ursachen der Krankheit [1947], in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1986, 399-417. -, Wege psychophysischer Forschung [1934], in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1986, 239-251. -, Wert und Unwert der Psychoanalyse [1949], in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frank· furt am Main 1987, 294-304. -, Über das Wesen des Arztturns [1 947), in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main 1 987, 212-220. -, Der Widerstand bei der Behandlung von Organkranken. Mit Bemerkungen über Werke von Jean-Paul Sartre [1949], in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1986, 427-449. Wmnacker, B.·L., Niemand will den Menschen die Utopien nehmen, in: FAZ 292 (15. Dezember 2001) 44. Wöbkemeier, R., Erzählte Krankheit. Medizinische und literarische Phantasien um 1800, Stuttgart 1990.
.._.
: -
GERRIT HOHENDORF
Felix Deutsch und die Entwicklung der psychosomatischen Medizin Ein Wiener Internist im Spannungsfeld von Psychoanalyse, akademischer Innerer Medizin und Erbbiologie 1
Dieser Beitrag soll das frühe Werk des wenig bekannten Wiener Internisten und Psychoanalytikers Felix Deutsch vorstellen, der neben Georg Groddeck
als
Pionier einer psychoanalytischen Psychosomatik im deutschsprachigen Raum gelten kann 2 Dabei stellt seine psychosomatische und Ernst Simmel Theorie, Zugang
im Wien
zum
.
der zwanziger Jahre entstanden, einen individualhistorischen
Körper und seinen Krankheiten dar, der durch den mit der Psy
choanalyse aufgebrochenen Diskurs um die menschliche Sexualität und ihre gesellschaftliche Repression geprägt ist. Insofern es um die individuelle sich
im
Körper einprägende und ausdrückende Geschichte des Menschen geht, kann die psychoanalytische Psychosomatik durchaus
als
Gegenentwurf zu kollekti
ven Theorien des Körpers und seiner Bestimmung durch rassische und biolo gische Konstanten gelten. Sander
Gilman
hat in seinem Buch
Preud, Race and
Gender zu zeigen versucht, wie der Körper der Juden um die Jahrhundertwende als Symbol für Andersartigkeit, körperlich-geistige Minderwertigkeit und Ver weiblichung galt und wie die psychoanalytische Theorie als emanzipatorischer Gegenentwurf zu diesem zeitgenössischen Diskurs verstanden werden kann 3 .
1 Der Verf. dankt Herrn Sanford Gi.fford, Cambridge/MA, für die über die Jahre hinweg außeror dentlich freundliche und hilfreiche Unterstützung bei den Recherchen zu Leben und Werk von Felix Deutsch. Herr Gilford ha.t dem Verfasser Einblick in eine ganze Reihe unveröffentlichter Typoskripte von Felix Deutsch gewährt.
2 Zur Würdigung des Werks von Felix Deutsch liegen bisher nur wenige Arbeiten vor, die sich vorwiegend mit seinen frühen psychoanalytischen Arbeiten und der Erweiterung des Konver sionsbegriffs beschäftigen: Jaous, Revision der Konversionstheorie; Hartkamp, Geschichte als Programm; Hohendorf/Bölle/Petzold, Assoziative Anamnese; Hirsch, Entwicklung des Kon versionskonzepts und Faller, Würzburger Beitrag. Die Dissertation des Verf. mit dem Titel Die Psychosomatische Theoriebildung bei Felix Deutsch wird als Heft 99 der Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften erscheinen.
3 Vgl. Gilman, Freud, Race, and Gender, 12-48 und Gilmao, The Jew's Body.
Gerrit Hohendoif
208
Biographie Felix Deutsch wurde 1884 in Wien als Sohn einer säkularisierten Wiener
jüdischen Familie geboren. 4 Der Vater war Bankbeamter und ist
früh
ver
storben. Über die Jugend ist wenig bekannt, Felix Deutsch hatte ausgeprägte musikalische Interessen, die für seine Sensibilität
für
elementare Sinnesemp
findungen prägend gewesen sein mögen. Er war mit dem Schauspieler Paul Barnay befreundet. Ausschlaggebend
für
die Entscheidung zum Medizinstu
dium statt der Wahl eines künstlerischen Berufs soll die Notwendigkeit der
für
finanziellen Sorge
die Mutter und die jüngere Schwester gewesen sein.
Nach dem Abitur 1903 begann er sein Medizinstudium in Wien und trat der jüdischen Studentenverbindung
tin
Kadimah bei, in der er auch Freuds Sohn Mar
kennen lernte.
Abb. /: QueUe: Privatbesitz Sanford Gifford, Cambridge, MA, Felix Deutsch erster von rechts. Rückblickend
führt
Felix Deutsch sein Eintreten
für die >Wahrheit<
und seine
Parteinahme für Schwächere auf sein Engagement in der Ka.dirnah zurück. Aus dieser Motivation heraus habe er auch später trotz persönlicher Nachteile und Anfeindungen
an
seinem Engagement
4 Zur Biographie von
für die Psychoanalyse festgehalten:
Felix Deutsch vgl. Miihlleitner, Biographisches Lexikon, 72 f. und Hohen dorf, Psychosomatische Theoriebildung, 4-16 mit Einzelnachweisen.
Felix Deutsch und die Entwicklung der psychosomalischen Medizin
209
But this background contributed to my fighting spirit for analysis, which at that time
was in need of defense on the university Ievel. For this reason I lost many friends,
most of all, because I never made any comprornises when the matter of >truth< was in question. s
Nach Promotion und Sekundararzttätigkeit ging Felix Deutsch
1 9 1 1 nach
München zu Friedrich von Müller, um physiologisch-chemische Studien zu betreiben. In München lernte er die aus Galizien stammende, gleichaltrige Helene Rosenbach kennen, die als eine der ersten Frauen ebenfalls in Wien Medizin studiert hatte.
1912, nach Wien zurückgekehrt, heirateten beide. Hele ne Deutsch (1884-1982) wurde später eine der ersten Schülerinnen von Freud und ist mit ihren Arbeiten zur weiblichen Sexualität als Psychoanalytikerin weitaus bekannter als ihr Ehemann. 6 1917 wurde der einzige Sohn Martin Deutsch geboren. Während der Zeit des Ersten Weltkriegs arbeitete Felix Deutsch, vom aktiven Kriegsdienst befreit, als Internist am Wiedener Kran kenhaus in Wien, legte eine Reihe von klinischen und experimentellen Arbei ten vor und beschäftigte sich mit der aufkommenden Röntgenologie. 7 Seine Habilitation an der Universität Wien schloss Felix Deutsch mit einem Probe vortrag über »Lungentuberkulose und vegetatives Nervensystem« ab, der sein Interesse an psycho-physiologischen Zusammenhängen erkennen lässt. wechselte er vom Wiedener Krankenhaus an die Herzstation
n i
1919
der Pelikan
gasse, wo er sich intensiv mit Kardiologie und Sportmedizin beschäftigte. 8 Es
ihm jedoch nicht, seine akademische Karriere an der Wiener Universität mit einer Professur abzuschließen. 1929 bemühte er sich, als einer der Rang ältesten Dozenten, vergeblich um eine Berufung, die jedoch daran scheiterte,
gelang
dass sein Habilitationsvater Prof. Ortner seine Unterstützung zurückzog. Im Rückblick bewertete Felix Deutsch sein Engagement hatte bereits ab
für die Psychoanalyse,
er
1914 die Samstagsvorlesungen von Freud besucht, als Kar
rierehindemis, frühere Freunde hätten ihn gernieden und ihm prophezeit, er würde sich sein eigenes Grab
als Wissenschaftler schaufeln:
The first open Ieerures on Mind and Body, [from tbe] psycboanalytic point of view, in the Society of lotemal Medicine were received with great bostility. Former friends avoided me, some calling me a socialist and claiming that I was digging my own grave as a scientist. 9
•
5 Brief von Felix Deutsch an G.W. F1agg vom 10.9.1962, Privatbesitz Sanford Gifford. Cam bridge/MA. Bei Auseinandersetzungen mit antisemitischen Organisationen hatte Felix Deutsch zwei bleibende Verletzungen davongetragen.
6 Zur Biographie von Helene Deutsch vgl. Roazen, Freuds Liebling.
7 Vgl. Wichtl, Anfange und Entwicklung der Radiologie, 33.
8 Vgl. die Monographie Deutsch/Kauf, Herz und Sport. 9 Vgl. d.en Brief von Fe.lix Deutsch an G.W. Flagg vom 1 1 .8.1962, Privatbesitz Sanford Güford., Cambridge/MA.
210
Gerrit Hohendorf
Ungeachtet dessen konnte Felix Deutsch, seit 1922 offizielles Mitglied der Wie
ner Psychoanalytischen Vereinigung, am Wiedener Krankenhaus Vorlesungen
Grenzgebiete der Inneren Medizin, Klinik der Organneurosen, Technik der Psychotherapie in der Inneren Medizin (Suggestion, Hypnose, Psychoanalyse) und Prychophysische Untersuchungsmethoden am Krankenbette halten. 10 Gleichzei über
tig beteiligte er sich an Ärztekursen der Wiener Psychoanalytischen Vereini gung mit dem Thema
sen?. 1 1
Was soll der praktische Arzt von der Psychoanalyse wis
Auch mit seinen Publikationen in medizinischen Fachzeitschriften und
Vorträgen vor medizinischen Fachgesellschaften setzte sich Felix Deutsch in
den 20er Jahren intensiv für die Anwendung der Psychoanalyse in der Inne ren Medizin ein und
kann
somit als ein wirklicher Pionier psychosomatischen
Denk:ens in der praktischen Medizin gelten. So nimmt er auch
für
sich in
Anspruch, den Begriff »psychosomatisch« 1927 wieder in die Medizin ein
für
den II.
.rfrztlichen KongrejJ for Psychotherapie in Bad Nauheim 1927 eingesandten Vortrag mit dem Titel Psychoanalyse und Innere Medizin gebrauchte Felix Deutsch den Begriff »psychosomatisch« für
geführt zu haben . 12 In einem
die während der psychoanalytischen Behandlung
zu
beobachtenden körper
lichen Erscheinungen der verdrängten, jedoch ins Bewusstsein drängenden psychischen Komplexe. Gleichzeitig steht der Begriff »psychosomatisch« bei Felix Deutsch programmatisch
für die Überwindung des
Parallelismus. 13 Leider konnte bisher
zur
»psycho-physischen«
Praxis des von Felix Deutsch im
Rahmen seiner internistischen Tätigkeit geübten psychoanalytischen Zugangs zu organisch erkrankten Patienten kein entsprechendes Archivmaterial aufge funden werden. Die Unterlagen des Wiedener Krankenhauses, in dem Felix Deutsch 1924 ein Ambulatorium
für
nervöse Organkrankheiten eröffnet hat,
sind leider nach dem Zweiten Weltkrieg vernichtet worden. Auch die kasuis tischen Beiträge über die Behandlung von Patienten mit Asthma bronchiale, Angina Pectoris oder Blepharospasmus sind ebenfalls nur fragmentarisch erhal ten. Anfang der 30er Jahre sistiert Felix Deutschs Publikationstätigkeit
zu
psy
choanalytischen und psychosomatischen Themen, er beschäftigte sich statt dessen sehr intensiv mit der Sportmedizin, einem »modernen« medizinischen Spezialgebiet, ebenso mit der Lebensversicherungsmedizin, der Felix Deutsch in den 30er Jahren ebenfalls eine Monographie widmete. 14 Anfang der 30er IO Öffentliche Vorlesungen an der Universität zu Wien l920ff., Uruversitätsarchlv Wien Z 84. 1 1 Vgl. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 8 (1922) 539 und ebd. I I (l925) 506. 1 2 Vgl. Deutsch. Training in Psychosomatic Medicine, 35. Der Begri.lf»psycbosomatisch« soll 1818 von dem Leipziger Psychiater Heinroth eingeführt worden sein. Dabei wurde er synonym zu den geläufigen Begriffen »psychophysisch« und »psychoorgaruscb« verwendet, vgl. Margetts, Early History und Hahn, EntwickJung, 940. l 3 Vgl. Deutsch, Psychoanalyse und Innere Medizin. 53. Tatsäeblieb hatte Felix Deutsch den Begriff »psychosomatisch« bereits 1923 in einer Arbeit über die Schilddrüsenüberfunktion verwendet, vgl. Deutsch, Morbus Basedowii, 680. 14 Vgl. Deutsch/Stern. Lebensversicherungsmedizin.
Fe/ix Deutsch ur.d die Entwicklung der psychosomatischer. Medizin
Jahre bemühte sich Felix Deutsch einer Wiener
Klinik und
um
211
die Übernahme der Chefarztposition
unternahm gleichzeitig eine erste Vortragsreise in die
USA: er sprach in New York vor der Psychoanalytic Society über
Psychoana
lyse und Organkrankheiten, ein Vortrag, in dem er versuchte, ein Resümee der psychosomatischen Forschungstätigkeit der vergangeneo 1 0 Jahre zu ziehen. Mitte der dreißiger Jahre entschieden sich Felix und Helene Deutsch unter dem
Druck des aufkommenden Nationalsozialismus für die Emigration nach Ame
rika. Ausschlaggebend für die
Entscheidung
zur Emigration
war das politische
Engagement des Sohnes Martin Deutsch, der sich als Schüler gegen das Doll fuß-Regime gewandt hatte und
inzwischen in
ein Schweizer Internat geschickt
worden war. In Amerika hatte Felix Deutsch ab Mass. General Hospital in Boston
am
1936
die Möglichkeit,
am
Aufbau einer psychosomatischen For
schungseinheit mitzuwirken. Hier beschäftigte er sich intensiver mit Patienten und Patientinnen, die an Asthma bronchiale litten.
für
1939 wurde
er Professor
Psychosomatische Medizin an der Washington University Medical School
in St. Louis, kehrte jedoch
1941
nach Boston zurück und wirkte
am
Auf
bau der Psychiatry Clinic des Sostoner Psychoanalytischen Instituts mit, die
für
die Behandlung von kriegsbedingten psychischen Störungen bei Soldaten
und Zivilisten eingerichtet worden war. Hier baute er seine Technik der Asso ziativen Anamnese
zu
einer Form der psychoanalytischen Fokaltherapie aus.
Nach dem Krieg war er an verschiedenen Krankenhäusern in Boston tätig und
gab 1955 zusammen mit W. Murphy sein monumentales Werk zur Therapie psychosomatischer Erkrankungen mit dem Titel
The C/inical Interview her
aus. 15 Seine theoretischen Interessen in den letzten Lebensjahren bezogen sich auf eine
umfassende
psychoanalytische Theorie der Sinneswahrnehmungen
und eine Reformulierung des Konversionsmodells. In diesem Zusammenhang beschäftigte er sich auch mit künstlerischer Kreativität und der psychoanal.yti schen Deutung literarischer Texte. In den 50er Jahren entwickelte er eine enge Beziehung
zu
Israel und beschäftigte sich mit den Zeichnungen überlebender
Kinder des Holocaust.
1964
starb Felix Deutsch in Cambridge/MA.
Der theoretsche i Kontext: die psychoanalytische Auffassung vom Körper im Werk von Sigmund Freud Als Felix Deutsch
am 4.
Januar
1922
mit seinem Vortrag
Psychoanalyse wuJ
Organkrankheiten vor die Wiener Psychoanalytische Vereinigung trat, wagte er sich auf ein Feld vor, auf dem sich bereits Isidor Sadger, Paul Federn, Sandor Ferenczi, der Außenseiter Georg Groddeck und einige andere versucht hatten und dem Freud selbst sehr zurückhaltend gegenüberstand, nämlich der
15 Deutsch!Murpby, Clinical lnterview, Bd. l-2.
212
Gerrit Hohendoif
psychoanalytischen Betrachtung und Behandlung von Organkrankheiten, unter ihnen klassische Krankheitsbilder der Inneren Medizin. So schrieb Freud noch
1932 an Vtktor von Weizsäcker: Von solchen Untersuchungen mußte ich die Analytiker aus erziehlichen Gründen fernhalten, denn lttnervationen, Gefaßerweitcrung, Nervenbahnen wären zu gefahrli ehe Versuchungen fur sie gewesen, sie hatten zu lernen, sich auf psychologische Denkweisen zu beschränken. l6 Dabei hatte Freud mit der Psychoanalyse eine Theorie des Seelischen entwi
ckelt, die exquisit auf körperlichen Erfahrungen, insbesondere auf der mensch
lichen Sexualität beruht und deren Kern die Dynamik von Erregungsaufbau
und Erregungsabfuhr, von Triebanspannung und Triebbefriedigung oder - psy chologisch gesprochen - von Unlust und Lust ist. Der posthum veröffentlichte
Entwurf einer Psychologie
aus dem Jahre 1 895 stellt einen explizit neurophy
siologischen Ausgangspunkt
für
Freuds erste Topik des seelischen Apparates
dar, eines Apparates, der der Bewältigung von Erregungsquantitäten dient. Was
Freud hier noch als Funktion unterschiedlicher Neuronentypen definiert, findet sich im
VII .
Kapitel der
Traumdeutung
in einem
virtuellen
seelischen Appa
rat wieder, der mit den Systemen unbewusst, vorbewusst und Wahrnehmung/ Bewusstsein unterschiedliche Formen der Erregungsverarbeitung beschreibt.17 Freuds Theorie des Seelischen ist demnach ihrem
Grunde nach eine quantita
tive, die qualitativ unterschiedliche Phänomene wie Angst, Schmerz, Trauer und Freude letztlich auf Unlust und Lust, d.h. auf Erregungsanstieg und Erregungs abfuhr zurückführt und mit den Begriffen der Hemmung, Verschiebung, Beset
zung und Gegenbesetzung einer Quantität beschreibt. Wrr finden das quanti
tative Moment wieder in der Dynamik des unbewussten Wunsches und seiner Verwandlungen, in dem energetischen Gegenspiel von Drang und Verdrängung, welches nicht ohne die quantitativen Momente der Besetzung und der Gegen besetzung auskommt, und bevorzugt in der ökonomischen Beschreibung psy chischer Vorgänge.
16
Von Weizsäcker, Körpergescheheo,
6.
1 7 Lm Entwurfeiner Psychologie unterscheidet Freud w-Neuronen mit freiem Abströmen der Erre gungsquantiäten t (entsprechend dem Primärprozess im System unbewusst, ubw), q>-Neuro
nen mit Hemmung der freien Erregungsabfuhr durch Kontaktschrankenbildung und Bahnung
(entsprechend dem System vorbewusst, vbw) und
Lm System »unbewußt« herrschen die Primärvorgänge mit freiem
Abströmen der Erregungsquantitäten und den Mechanismen der Verschiebung und Verdichtung, im System »vorbewußt« wird das freie Abströmen der Erregungsquantitäten unter Verwandlung
n i ruhende Besetzung und energetische Niveauerhöhung gehemmt, während das System »Wahr oebmung!Bewußtseio« mit der Verschiebung nur geringer Erregungsquantitäten und der Über
besetzung von Vorstellungen arbeitet. Das System »vorbewußt« markiert dabei den Übergang
vom Primär-
zum
Sekundärprozess. Vgl. Freud, En twurf einer Psychologie,
ders., Traumdeutung,
605 ff.
381, 409ff. sowie
Felix Deutsch und die Entwicklung der psychosomatischen Medizin Freud betont die Gebundenheit des Seelischen an das Organische
213
in mehr
facher Hinsicht: erstens bezüglich der Beziehung von psychischen Prozessen
und Hirnfunktionen, zweitens bezüglich der in chemischen Stoffen zu suchen den organischen Basis der Sexualvorgänge und drittens bezüglich der organi schen Basis der Neurosen. 18 Dennoch gewinnt die psychologische Beschrei bung des Seelischen, die mit Hilfe der Methode der Psychoanalyse entsteht, eine Eigenständigkeit, die einer einfachen Reduktion des Seelischen auf seine somatische
Grundlage entgegensteht.
Vielmehr ist es der besondere Charakter
der psychoanalytischen Begriffic i hkeit, ihre Herkunft aus und ihre Abgrenzung
von einem neurophysiologischen Modell des Seelischen, die insbesondere mit tels des Begriffs der Quantität eine
gischen in
zukünftige
Rückübersetzung der psycholo physiologische bzw. chemische Begriffe ermöglichen soll. 19 WiSsen
schaftstheoretisch bedeutet dies, dass Freud psychologische und physiologische Betrachtungsweisen leiblichseelischer Phänomene methodisch scharf vonein ander trennt, obwohl er theoretisch von einer gegenseitigen Übersetzbarkeit der beiden Beschreibungsweisen ausgeht. So sind denn die beiden Zentralbegriffe quantitativer Vermittlung zwischen dem Somatischen und dem Psychischen, nämlich Libido und Trieb, Grenzgänger zwischen beiden Sphären. 20 Die beiden von Freud explizit eingeführten Modelle körperlicher Symptom bildung,
Aktualneurose
und Konversion, beziehen sich in unterschiedlicher
Weise auf das psychophysische Übersetzungsmodell der psychoanalytischen Theorie. 2 1 Die Aktualneurose mit ihren körperlichen Symptomen Schweiß ausbruch, Zittern, Schwindel, Störungen von Herztätigkeit und Atmung ist
ein direkter körperlicher Ausdruck nicht abgeführter Sexualspannung ohne psychische Repräsentanz und Bedeutungsgebung. Die Symptome werden
als
körperliebe Äquivalente eines Angstanfalls, d. h. in Angst verwandelter aufge stauter Libido, verstanden. 22 Demgegenüber zeichnet sich die Konversion bei der Hysterie durch einen spezifischen psychischen Mechanismus der Symptom bildung aus: »Bei der Hysterie erfolgt die Unschädlichmachung der unverträgli chen Vorstellung dadurch,
daß deren E"egungssumme ins Körperliche umgesetzt
wird, wofür ich den Namen der Konversion vorschlagen möchte.«23
18 Freud denkt auch bei den Psychoneurosen, insbesondere bei der Hysterie, an somatische Fak
19 20
2l 2.2
23
toren, die er als aktualneurotischen Kern der Symptombildung (vgl. Freud, Vorlesungen, 405f.) und als organisches Entgegenkommen bei der Organwahl bezeichnet. Da.rüber hinaus nimmt er in der Ätiologie der Neurosen eine ererbte sexuelle Konstitution als disponierenden Paktor an (vgl. ebd., 376). Vgl. Freud, Jenseits des Lustprinzips, 65. Zum Triebbegriff als Grenzbegriff zwischen dem Körperlichen und dem Seelischen vgl. Freud, Triebe und Triebschicksale, 214; zum psychoanalytischen Thebbegriff siehe auch Laplanche/ Pontalis, Vokabular, 441-443. Vgl. hierzu ausführlich Hohendorf, Psychosomatische Theoriebildung, 17-22. Vgl. Freud, Berechtigung. Freud, Abwebr-Neuropsycboseo, 63.
214
Gerrit Hohendorf
Das resultierende körperliche Symptom besteht in andauernden oder inter mittierenden Besetzungsvorgängen von Organen, Körperteilen und körperli
Funktionen. Dabei kann die Konversion grundsätzlich jedes Organsys tem betreffen. Die Organwahl wird gelegentlich durch ein somatisches Ent gegenkommen erleichtert, d. h. durch eine leichte organische Vorschädigung des von der Konversion betroffenen Organs. 24 Bei der Konversion wird die chen
unerträgliche Vorstellung, z. B. ein traumatisches Erlebnis, verdrängt. Gleichzei tig wird der mit der Vorstellung verbundene Affektbetrag von der Vorstellung abgetrennt und die ihm entsprechende Erregungssumme in eine körperliche Innervation umgesetzt. Damit ist zwar einerseits erreicht, dass das Ich von der belastenden Vorstellung befreit ist, andererseits findet es sich mit einem Erinnerungssymbol, dem Konversionssymptom, belastet wieder. Vom ökono mischen Gesichtspunkt aus betrachtet, erweist sich der Konversionsvorgang als erfolgreich: die Erregungssumme bzw. der Affektbetrag kann so vollständig ins Körperliche umgesetzt werden, dass die Kranken jene
»belle indifference«
gegenüber den Symptomen zeigen, die bereits Charcot beschrieben hat. Das Besondere an der konversionshysterischen Abwehr besteht also in der Form der Erregungsabfuhr: Der quantitative Aspekt eines psychischen Phänomens, der Affektbetrag, wird vom Bedeutungsgehalt abgetrennt und
tritt
dem Ich
als zunächst unverständliches körperliches Symptom entgegen, während die zugehörige Vorstellung, seiner dynamischen Besetzung entledigt, unbewusst bleibt. Diese
Dissoziation
des psychophysischen Zusammenhangs kann den
übrigen dissoziativen Phänomenen zugeordnet werden, die die
Grundstruktur
der hysterischen Persönlichkeit bilden. 25 Sie zerreißt zugleich die symbolische Ordnung zwischen dem Körperlichen und dem Seelischen. Freud unterscheidet zunächst zwei Formen der konversionshysterischen Symptombildung, nämlich das Modell der Gleichzeitigkeit in der assoziativen Verknüpfung zwischen dem traumatischen Erlebnis und dem Auftreten des körperlichen Symptoms und schließlich die Darstellung des Konflikts durch Symbolisierung.
Für die erste Gruppe hysterischer Konversionen lassen sich all jene Bei
spiele
anfuhren,
in denen sich die Verarbeitung des traumatischen Erlebnisses
eines gleichzeitig vorhandenen Körpersymptoms bedient, d. h. in der asso ziativen Arbeit lässt sieb eine Szene finden, die mit dem ersten Auftreten des körperlieben Symptoms in zeitlicher Verbindung steht. Freud erwähnt hier z. B .
Anna 0., die in qualvoller Angst am Krankenbette ihres Vaters einen Dämmerzustand verf ällt, wobei ihr der rechte Arm über der
Breuers Patientin wachend in
Stuhllehne einschläft. Die sich daraus entwickelnde hysterische Lähmung und
24 Freud, BruchstUck einer Hysterie-Analyse, 200. 25 Vgl. Sigmund, Phänomenologie.
Felix Deutsch und die Entwicklung der psychosomatischen Medizin
215
Anästhesie des rechten Armes lässt sich auf diese verdrängte traumatische Szene zurückführen. 26 Die zweite Gruppe der hysterischen Symptombildungen, die Symbolisie rung, setzt hingegen über die zeitliche Assoziation von traumatischem Erleben
und Körpervorgängen hinaus einen höheren Grad »hysterischer M odifikation«
voraus. Zunächst ist hier auf die Darstellungsfunktion des Konversionssym ptoms zu verweisen, auf seinen kommunikativen Charakter. eine von Freuds Patientinnen aus den
Elisabeth von R.,
Studien über Hysterie, drückt in ihrer Geh
schwäche ihre Hilflosigkeit und Unselbständigkeit aus: »Nicht von der Stelle kommen, keinen Anhalt haben.« 27 Darüber hinaus bezieht sich die Darstel lungs funktion des Symptoms auf unbewusste, insbesondere infantile Wünsche und Triebregungen, die im körperlichen Symptom -
ähnlich wie
im Traum -
als Kompromissbildung zwischen Wunsch und Zensur, zwischen Triebimpuls und Triebabwehr ihren Ausdruck finden. Dabei misst Freud den unbewussten, infantilen Quellen entstammenden Phantasien eine besondere Bedeutung zu. Hysterische Anfcille sind nichts anderes als »auf die Motilität projizierte, pan tomimisch dargestellte Phantasien«, entstellter Ausdruck sexueller Vorgänge. 28 Das Konversionssymptom lässt sich so als kreative Lösung eines zumeist ödipal strukturierten Konflikts beschreiben. Damit zusammenhängend ist eine dritte Form der konversionsneurotischen Symptombildung hervorzuheben, nämlich die der Identifizierung. Klassisches Beispiel ist der Husten und die Heiserkeit, mit der
Dora ihrer Rivalin Frau
K. im Anspruch auf die Liebe des Vaters gleich
sein will. 29 Diese drei Formen der hysterischen Symptombildung spiegeln verschie dene Phasen der psychoanalytischen Theorieentwicklung wider. Die Sym ptombildung durch Gleichzeitigkeit entspricht der Traurnatheorie, diejenige der Symbolisierung der Entdeckung der infantilen Phantasiewelt und der infanti
len Se xualität und schließlich verweist die Identifizierung auf die Anfänge der Ich-Psychologie. Wrr sind gezwungen zu unterscheiden zwischen den vielfaltigen Deutungs möglichkeiten des körperlichen Symptoms und dem reinen Mechanismus der Symptombildung, der Konversion. Während die Deutung des Symptoms, d. h. der Versuch, ihm in einem komplexen (psychosexueUen) Interpretationsfeld einen Sinn
zu
geben, ohne Probleme den Sprung vom Körperlichen ins Seeli
sche, die Rückübersetzung des Symptoms in sprachliches Material vollzieht, ja
das Symptom, das zunächst bloß
als
sinnlose Funktionsstörung eines Körper
organs erscheint, überhaupt erst als etwas Interpretierbares betrachtet, ist der Begriff der Konversion im 26 27 28 29
Grunde
genommen ein methodischer Kunstgriff,
Freud/Breuer, Studien über Hysterie., 83. Ebd., 244. Freud, Allgemeines über den hysterischen Anfall, 235. Freud, Bruchstück einer Hysterie-Analyse, 216.
Gerrit Hohendorf
216
mit dem die verschiedenen Ebenen der Betrachtung des Seelischen (psy chologisches Verstehen) und des Körperlichen (Physiologie der Innervation) überbrückt werden können. So wie das hysterische Konversionssymptom den
psychophysischen Zusammenhang zerreißt, die hysterische Lähmung den Arm der bewu�sten Kontrolle entzieht, so deutet der Begriff der Konversion die Möglichkeit an, den verlorenen Bedeutungsgehalt der körperlichen Symptom 3 bildung wiederzugewinnen. 0 Damit ist das Feld einer psychoanalytischen Theorie des Körpers angedeu tet, auf das sich der Wiener Internist Felix Deutsch Anfang der zwanziger Jahre mit seiner
Psychoanalyse organischer Krankheiten
vorwagte.
Felix Deutsch und die Anwendung der Psychoanalyse auf organische Krankheiten Der erste Vortrag von Felix Deutsch vor der Wiener Psychoanalytischen Ver einigung beschäftigt sich mit der Frage, wie sich das Unbewusste des Körpers
bedient, um verdrängte Wünsche zum Ausdruck zu bringen und eine entstellte Form der Triebbefriedigung in einer körperlichen Krankheit
zu
erlangen. Felix
Deutsch berichtet über durchaus schwere körperliche Erkrankungen aus sei
ner Spitalsbeobachtung, so über Typhus, Ruhr, Lungentuberkulose und Hirn blutungen. Am Beispiel eines 19jährigen Mädchens mit einer Lungenblutung
bei wahrscheinlicher Lungenspitzenaffektion zeigt er, wie ein aktueller Kon
flikt um die bevorstehende Einlösung eines Eheversprechens verbunden mit einer ungelösten ödipalen Beziehung zum Vater als Auslöser des Bluthustens imponierte:
Aus dem Konflikt zwischen der Unfähigkeit der Ablösung vom Vater und dem Ausweg zur normalen Sexualität, wählte [die] Patientin, um gewissermaßen beim Vater bleiben zu können, die Krankheit - eine Lösung, die ja weniger psychischen Aufwand kostete - und zwar eine solche, die durch die Identifizierung mit dessen geliebten ersten Frau eine weitestgehende Annäherung gestattete. 3 1 Doch sollte man sich die Umsetzung seelischer Konflikte in körperliche Sym ptombildungen, insbesondere wenn es sich um Krankheiten mit fassbaren materiell-organischen Veränderungen handelt, nicht als einen ad-hoc-Vorgang vorstellen. Die Organe sind für Feli.x Deutsch »keinesfalls ein Spielball des Unbewußten« - eine Anspielung an die
allzu
spekulativen
Fallschilderungen
30 Zum psychoanalytischen Konversionsbegriffvgl. ausfuhrlieh Hohendorf, Theoriebildung, 29-39
und Hohendorf/Bölle, Wandlungen. 3 1 Deutsch, Psychoanalyse und Organkrankheiten. 298.
Felix Deutsch und die Emwicklung derpsychosomatischen Medizin
217
Groddecks. 32 Vielmehr nimmt Felix Deutsch einen »genügend langen Erre
gungszufluss« zu dem zur Symptombildung notwendigen Organ an, »der allein direkt zur Organerkrankung führt oder aber durch Vermittlung einer exoge nen Störung, die unter anderen Umständen rasch abgeklungen wäre, bei dem vorbereiteten Boden jedoch eine tiefgreifende Organschädigung setzt.«33 Dieser Erregungszufluss, der über die Gefaßinnervation, das vegetative Ner vensystem und hormonale Faktoren (z. B. Adrenalinausschüttung) auf den Körper und die Funktion seiner Organe einwirl<4 ist der vermittelnde Fak tor zwischen der psychischen Sphäre, den unbewussten Wünschen und Phan tasien und dem körperlichen Geschehen, eine Korrelation, die man sich z. B. so vorzustellen hat, dass Lust mit einer Erweiterung und Unlust mit einer Ver engung des peripheren Gefäßsystems einhergeht. 34 Die über das vegetative Nervensystem vermittelte Funktionsstörung - so könnte man aus der Arbeit von Felix Deutsch herauslesen - ist dann die Voraussetzung für die materielle Organschädigung. Diese langfristigen psychogenen Vorbereitungen für die Manifestation einer organischen Erkrankung machen aus der Sicht des Internisten Felix Deutsch eine Erweiterung des Begriffs der Konversion notwendig. Er hat seinen pro grammatischen Beitrag Über die Bildung des Konversionssymptoms im Septem ber 1 922 auf dem VIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Ber lin vorgetragen und 1924 in der Internationalen Zeitschrift fiir Psychoanalyse veröffentlicht. Anband der Kasuistik eines Patienten mit Claudicatio intermit tens, einer sehrnerzhaften Durchblutungsstörung der Beinarterien, zeigt er auf, wie sich die psychosexuelle Detennination des linken Beines des Patienten bis in die Kindheit zurück verfolgen lässt. Der leicht hinkende Gang stellt eine Iden tifikation mit der Mutter dar, die ebenfalls hinkte und der der Patient mit eben diesem Bein als kleiner Junge ein Bein gestellt hatte, woraus sich ein hartnäcki ges Schuldgefühl entwickelte. Außerdem ist die Erkrankung Claudicatio inter mittens bei dem Patienten mit der Phantasie des »Geheimnisvollen« verbunden, ebenso wie er sich angewöhnt hatte, mit dem zur Erkrankung disponierten Fuß geheimnisvolle Dinge am Boden zu berühren. Felix Deutsch interpretiert das 32
Vgl. Groddeck, Psychoanalyse des Organischen. Groddeck antwortete auf die Kritik von Feix l Deutsch in seiner eigenen symbolischen Weise. Im letzten seiner Psychoanalytischen Briefe an eine Freundin berichtete er davon, wie Patrik TroU, der auf der Ebene dieses erzählenden Briefessays eingeführte Briefschreiber, vor dem Einschlafen im Bett das Heft der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse aufschneidet, in welchem sich die Anzeige über den bier wiedergegebenen Vortrag von Felix Deutsch findet. Anschließend legt er Papiermesse� und Zeitschrift unters Kopfkissen und schläft ein. Am nächsten Morgen jedoch findet er sich in einem nassen Bett wieder, er hatte mit dem Papiermesser die mit ins Bett genommene Wärmflasche aufgeschnitten und wird an sein kindliebes Bettnässen und den Onaniekomplex erinnert, vgt. Groddeck, Das Buch vom Es, 303 f.
33 Deutsch, Psychoanalyse und Organlcrankbeiten, 291. 34 Ebd., 290.
218
Gerrit Hohendorf
Geheimnisvolle als
ödipale Phantasie, als Symbol
fiir
das unbekannt e weibli
che Genitale. So wird auch die Auslösesituation der Erkrankung - nämlich die Gehstörung - verständlich: Der kinderlose Patient wurde durch den Tod seines Neffen an einer auswärts erhofften sexuellen Begegnung gehindert, und entspre chend dokumentiere der erkrankte
Fuß
seine Impotenz. Doch begnügt Felix
Deutsch sich nicht mit diesen psychogenen Determinierungen der Organge
schichte, auch auf der körperlichen Seite habe es in Form einer durchgemachten syphilitischen Infektion eine materiell-organisch fassbare Krankh eitsvorberei tung gegeben: Wie in zwei kommunizierenden Röhren das Sinken in einem Schenkel mit einer Steigung im anderen verbunden sein muß, so is1 das Verhältnis zwischen psychischer und organischer Determinierung in ähnlicher Weise miteinander
Anband dieser Krankengeschichte, die
im
verknüpft. 35
Gegensatz zu den oben erwähnten
Spitalsbeobachtungen der ambulanten Behandlung entstammt, Felix Deutsch hatte eine internistische Ordination in eine »analytische Erforschung des Krank heitsfalles« 36 übergehen lassen, lässt sich die programmatische Erweiterung des Konversionsbegriffs nachvollziehen. Konversionen sind nicht nur ad hoc einsetzende Umsetzungen nicht verarbeitbarer starker Affekte ins Körperli che, wie bei der Hysterie, sondern auch normalpsychologische Vorgänge, wie Erröten, Schweißausbrüche oder nervöse Diarrhöen. Sie stellen einen andau ernden Konversionsstrom der Umsetzung seelischer Vorgänge in körperliches Geschehen
dar,
der bei unzureichender Affektabfuhr nach außen und Fixie
rung an ein Organsystem schließlich in die manifeste organische Erkrankung
fuhren kann. Diese andauernden Umsetzungen von Affekten - bzw. quan titativ gesprochen Erregungssummen - findet Felix Deutsch
Art
dann
in einer
Analogieschluss in der Funktion einzelner Zellen und Zellsysteme wieder.
Er korreliert
dabei
die Zellvorgänge der Retention und der Ausstoßung von
Zellprodukten mit den psychischen Qualitäten der Unlust und der Lust und setzt eine Störung im Zellhaushalt mit der Retention von Zellprodukten gleich. Kommt es nun
zu
einer Gleichgewichtsverschiebung in einem Zellsystem, so
verändern die Zellen, die nicht zugrunde gehen, ihre Muster der Reizbeant wortung. Diese Fähigkeit der Zelle, entsprechend den veränderten Milieube
dingungen ihre Muster der Reizbeantwortung zu modifizieren, bezeichnet Felix
Deutsch in Anlehnung an den Physiologen Ewald Hering als Gedächtnis der Zelle. 37
35 Deutsch, Bildung des Konversionssymptoms, 384. 36 Ebd., 381. 37 Der Hinweis auf Hering findet sich nur in der englischen Übersetzung (Deutsch, Formation, 67). Hering harte 1870 einen Vortrag
Ober das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organischen
Materie gehalten, in welchem er nachzuweisen versuchte, dass die Fähigkeit zur Reproduktion
von Wahrnehmungen, Empftndungen und motorischen Aktivitäten nicht nur eine Funktion des ähigkeit Nervensystems ist, sondern dass die F
zur
Reproduktion von Erfahrungen sich auch in
Fe/ix Deutsch und die Entwicklung der psychosomatischen Medizin
219
Die einmal erlebte Unlust transformiert sichjedesmal bei ihrer Erinnerung in abgeän derte Tätigkeit der kompensationsfähigen Zellsysteme. Diese Umwandlung erscheint
mir als eine der primitivsten Formen einer Transformation von Psychischem in Orga nisches. Eigentlich ist es nur Einwirkung von ursprünglich Organischem auf Organi
sches. 3 8
Diese Erweiterung des Konversionsbegriffs durch Felix Deutsch, sein Versuch, >»den rätselhaften Sprung aus dem Psychischen
ins
Organische< ein wenig
aufzuklären«39, führt zu einer »metabiologischen Spekulation«, die den metho dischen Kunstgriff des Freudschen Konversionsbegriffs ad absurdum führt.
Dieser hatte - wie ausgeführt - methodisch zwischen der seelischen und der
körperlichen Sphäre unterschieden und eine Begrifflichkeit geschaffen, die zwi schen beiden Sphären mittels quantitativer Vorstellungen (»Erregungssurnme«) vermitteln
kann.
Die postulierte Identität zwischen psychischer und physischer
Erscheinung bei Felix Deutsch kann jedoch das erkenntnistheoretische Pro blem nicht lösen, nämlich wie man sich die Anheftung differenzierter seeli scher Vorstellungen an ein Organ oder einen körperlichen Vorgang materiell vorstellen soll. Um dieses Problem zu lösen, nimmt Felix Deutsch Bezug auf das psychophysische Körperschema von Paul Schilder: In diesem Schema liegt das psychisch archaischere id est infantilere auf den rezenten,
seelischen Inhalten des Körperlichen, gewissermaßen als Reminiszenz im Unbewuß
ten. Da aber alles Tun, alles Handeln,jede Bewegung, jedes Wollen,jede Willensäuße rung auf dem Wege festgefügter Wiederholungen von Reminiszenzen vor sich gebt, werden sie immer von den zugehörigen im psychischen Körperschema festgelegt.en, von Beginn an zwangsweise damit verknüpften, körperlichen Aeußerungen beglei tet sein. Der ganze Körper in seiner Funktion ist also psychologisch betrachtet ein Gebäude von sinnreichen, bedeutungsvollen Niederschlägen psychischer Reminis zenzen, die vielfach nichts mehr von ihrer ehemaligen Bedeutung erkennen lassen. 40
Das psychophysische Körperschema könnte somit der Vermittlungsort sein zwischen der komplexen, in der Psychoanalyse zu erschließenden Erinnerungs
welt und den dazugehörigen körperlichen Erfahrungen, wobei die tatsäebliche Umsetzung von Konflikt, Affekt und veränderter bzw. gestörter Organfunk
tion über einen psychophysischen bzw. psychosomatischen Funktionskreis zu denken ist.
In einem Vortrag
vor der I. Deutschen Psychoanalytischen Zusammenkunft
in Würzburg 1924 greift Felix Deutsch den körperlich-seelischen Grenzbegriff der Libido auf, deren gleichmäßige Verteilung
im
Körper
fiir
dessen gesunde
Entwicklung und Funktion entscheidend ist. Krankmachend wirkt vor allem
anderen ZeUen findet und als ein aUgemeines Organisationsprinzip der lebenden Substanz gelten
kann, vgl. Hering, Gedä.chtnis.
38 Deutsch, Bildung des Konversionssymptoms, 390. 39 Ebd., 380. 40 Deutsch, Einwirkung der Seele,
1940.
220
Gerrit Hohendorf
Psychisch
Bedürfnis
(z.B. erhöhte Körpertemperatur)
Resultierende Veränderung der Regelgrösse
Somatische Reaktion
Physisch
(z.B. Gefaßerweiterung)
Abb. 2: Der psychophysische Funktionskreis die »Libidostauung«:
»Organsch i gesund sein heißt
also im psa. Sinn, keine
pathologisch gebundene Organlibido zu besitzen. Je lockerer die Libido an den Organen haftet, desto günstiger für den Körperbestand. «41 I n seiner letzten größeren Arbeit vor der Emigration
Biologie und Psychologie
der Krankheitsgenese verknüpft Felix Deutsch seine Vorstellung von
der ökono
mischen Verteilung der Organhbido mit einer relativ spät einsetzenden Rezep tion der 2. Topik Freuds, nämlich der Organisation des Psychischen Apparates als Ich, Es und Über-Ich. Er sieht die Besetzung des Körpers bzw. einzel ner Körperteile mit Organhbido als Resultat eines zwischen den psychischen Instanzen ausgetragenen Konfliktes zwischen Triebimpuls und Triebabwehr:
Diese Verteilung wird bedingt sein durch die Rolle, die das Organ in der infantilen Historik gespielt hat, und von der Eignung des Organs zur symbolischen Anspielung. In Abhängigkeit davon werden die Funktionen eine bestimmte Steuerung erfahren, die sich zum Teil in mehr gehemmtem, zum Teil in stärker erregtem Ablauf äußern werden. Diese psychischen Steuerungen fügen sich in das biologische Gebilde nor malerweise so ein, daß sie erst bemerkbar werden, wenn sie sich zu einer organneu rotischen Störung entwickeln. 42 Felix Deutsch macht dies arn Beispiel der Atmung deutlich, die sowohl vom Ich
(willkürliche Atmung) als auch vom
Es
(Trieblust) gesteuert wird. Dabei ent
spricht die libidinöse Färbung der Atmungsform einer prägenitalen Lustbefrie digung, die jedoch vom Über-Ich mit Verboten belegt wird, welche sich
in einer
Hemmung der Atmung äußern. Gleichzeitig verschiebt sich auch der Kampf zwischen Triebimpuls und Triebabwehr auf eine tiefer regredierte Ebene. In der
folgenden Kas uistik zeigt sich dies in der Introjektion des verlorenen Objekts in die Atemwege bei gleichzeitiger Abwehr desselben
4 1 Deutsch, Der gesunde und der kranke Körper, 50 l . 42 Deutsch, Biologie und Psychologie, 138.
im
Atemkrarnpf. Felix
Felix DeuiSch und die Entwicklung der psychosomatischen Medizin
221
Deutsch berichtet von einem Patienten, »einem annen polnischen Juden«, der seine Anfälle immer dann bekam, wenn er sich seinem Heimatort mit der Eisenbahn näherte: Die Lntrojektion war in diesem Falle so zu verstehen, daß der Patient sich mit der Mut ter identifizierte und auf oralem Wege Befruchtungs- und Kindphantasien vom Vater produzierte, den er partieU, also gewissermaßen durch Einatmung in die Luftwege, in sich aufnahm. 43
Die sexuelle Konnotation dieser Anfälle bestand darin, dass sie immer am Frei tag aufgetreten waren, dem Tag, an dem nach orthodox-jüdischem Ritus die sexuelle Begegnung zwischen Vater und Mutter zu erfolgen hatte. Die tieferge
hende Identifizierung mit der Mutter war auf die Beobachtung des Stillens des kleinsten Bruders des Patienten zurückzuführen, deshalb konnten die Anfälle auch durch den Genuss von Milch ausgelöst werden. Wrr erkennen in dieser Auffassung des Asthma bronchiale eine
doppelte Ver schiebung der Perspektive bei der Analyse der psychischen Determinierung eines organischen Symptoms: zum einen in der Betonung der Rolle der abwehrenden Instanz bei der Symptombildung,
zum
darbietenden konflikthaften Materials. tal-sexuelle Wünsche, denken
anderen in der Auffassung des sich hier
Es sind nicht mehr nur verdrängte geni
wir an die Kasuistik des Patienten mit der Clau
dicatio intermittens, die sich in dem organischen Symptom Ausdruck verschaf fen, sondern tiefer regredierte, prägenitale Wünsche, die sich auf das Objekt selbst, seine Einverleibung oder Ausstoßung, beziehen. Die sich hier andeutenden Veränderungen in der psychosomatischen Theo
für seine erst im amerikani schen Exil ausformulierte Theorie der Sinneswahrnehmungen (analytic syn esthesiology), des Objektverlusts und der Symbolisierung von Bezugspersonen in Körpererfahrungen, die wir hier nicht weiter ausfuhren können. Abschlie riebildung bei Felix Deutsch sind bedeutsam
ßend sei auf ein Moment hingewiesen, das im bisher Gesagten implizit immer mitgedacht war. Die Betrachtung von Körper, Krankheit und Gesundheit bei Felix Deutsch ist wesentlich als eine individuelle Körper- bzw. Organgeschichte zu verstehen. So wie Felix Deutsch bereits im einfachen Zellvorgang eine Gedächtnis funktion erkennt, so sieht er im Körper ein Gedächtnis frühester körperlicher Erfahrungen repräsentiert, das Körperliches und Seelisches unun
terscheidbar miteinander verknüpft und das in der psychoanalytischen Rekon struktion der Körpergeschichte des Patienten eine Lösung pathologischer Fixie rungen von psychosexuellen Konflikten und Organfunktionen ermöglicht. So lässt sich seiner Auffassung nach der Körper als ein Erinnerungsort individuel ler Geschichte verstehen.
In der Rekonstruktion der Psychoanalyse erscheinen
diese körperlichen Reminiszenzen dann als passagere Symptome, als Wahr nehmungs-, Bewegungs- und Befindensmuster, die dem verbalen Erinnern 43 Ebd., 142.
Gerrit Hohendoif
222
des Verdrängten vorauslaufen. 44 »Der ganze Körper in seiner Funktion ist ein Gebäude von sinnreichen, bedeutungsvollen Niederschlägen psychischer Reminiszenzen, die, vielfach zur Form erstarrt, nichts mehr von ihrer ehema ligen Bedeutung erkennen lassen.«45 Felix Deutsch verteidigt diese individual geschichtliche Dimension des Körpers und seiner Symptombildungen denn auch immer wieder gegen die Auffassung, dass bestimmte nervöse Symptom bildungen (Organneurosen, Angstneurosen) durch eine erbliche Konstitution determiniert und somit durch psychotherapeutische Behandlung letztlich nicht behandelbar seien: Hier stehe ich auf dem optimistischen Standpunkt,
daß
die Funktionsabläufe des
Organischen psychoanalytisch änderbar sind, wenn die UmsteUung der notwendigen physikalisch-chemischen-vegetativ-hormonalen Prozesse nur lange genug betrieben wi rd
.
46
Dennoch hat Felix Deutsch sich als Internist dem zeitgenössischen, erbbiolo gisch geprägten Diskurs um die Krankheiten der Juden nicht entzogen. 47 So findet sich in seinem Nachlass ein entsprechender unpublizierter Aufsatz, der nach 1922 zu datieren ist. Felix Deutsch verwendet die Begriffe der Rasse, der Konstitution und der Erbbiologie als wissenschaftliche Paradigmen ohne kritische Distanz, auch wenn er in der Einleitung darauf hinweist, dass es eine einheitliche jüdische Rasse nicht gebe und dass viele der gängigen Behauptun gen über typisch jüdische Krankheiten einer Nachprüfung nach erbbiologischen und konstitutionellen Gesichtspunkten nicht standhalten: Aber es ist schwer sich eine einheitliche Grundlage fuer einen spezifischen Rassen unterschied, fuer eine spezifische Krankheitsbereitschaft, resp. Neigung vorzustellen. Welch ungeheuere Ausmerzung muesste unter den Juden vor sich gegangen sein, damjt man annehmen koennte, dass das Rassengemisch aus vorderasiatischen, ori entalischen Yoelkem mit dem alpinen und mongoloiden Einschlag nunmehr eine einheitliebe Basis fuer eine spezifische Krankheitsbereitschaft abgeben soUte. 48
Außerdem betont er eine Reihe von Umweltfaktoren und Verhaltenseigentüm lichkeiten, die eine besondere Anfälligkeit oder Unempfindlichkeit gegenüber bestimmten Krankheiten bedingen können und so eine rassetypische Erban lage nur vortäuschen würden, so das ländliche bzw. städtische Herkunftsmilieu, die soziale Schichtung und die damit verbundene Möglichkeit zu hygienischer Lebensführung und schließlich kultur- und schichtspezifische Unterschiede im Krankheits- bzw. Gesundheitsverhalten. Dennoch hält er an der unhinterfrag ten These einer neuropathischen Konstitution der jüdischen Rasse fest, die 44 Vgl. Deutsch, Der gesunde und der k:ranke Körper, 493-496. 45 Ebd., 497.
46
Deutsch, Biologie und Psychologie, 135. 47 Vgl. Tunnann, Jüctische Krankheiten und ctie ausfilhrliche Untersuchung von Tschoetschel. Diskussion. 48 Deutsch, Krankheiten der Juden, unveröffentJjchtes Typoskript, 2 f.
Fe/ix Deutsch und die En:widclung de; psychosomatisd1en Medizin
mit der Neigung
zu
223
Neurasthenie und Hysterie einhergehe, konstitutionell an 0 0
einen asthenischen Habitus - allerdings ohne Uberlänge der Körpergröße gebunden und physiologisch durch eine Übererregbarkeit des Nebennieren systems und damit des vegetativen Nervensystems gekennzeichnet sei. Von daher erkläre sich eine geringere Sterblichkeit der Juden an Tuberkulose, jedoch eine verstärkte Neigung zu Herz- Kreislaufkrankheiten, insbesondere
zu
Blut
hochdruck und Herzneurosen, wobei letztere auf eine verstärkte Vasolabilität zurückzufuhren seien. Felix Deutsch weist darauf hi n, dass manche Beweise vorzuliegen scheinen, die für eine besondere Reizbarkeit des Nebennierensystems bei den Juden sprechen, was sich abgesehen von der guten Antikörperbildung objektiv als Neigung zu hohem Blutdruck zu Glycosmie 49, zu sklerotischen Gef ässveränderungen, zu einer bindegewebigen Diathese ausdrückt. so ,
Auffallend ist, dass Felix Deutsch die angebliche spezifische Disposition der Juden zu nervösen Störungen51 nicht näher diskutiert, sondern voraussetzt und als Erklärungsmodell fur Unterschiede auch in der Häufigkeit manifester Organerkrankungen verwendet. Entscheidendes Bindeglied zwischen konsti tutionellen, ererbten Faktoren und den Krankheitsdispositionen ist
fur Felix
Deutsch eine spezifische Abwandlung der Funktionen des vegetativen Nerven systems. Wtr erkennen in diesem Text nur noch sehr undeutlich den exponierten Psychoanalytiker, vielmehr wird hier ein Bemühen deutlich, sich den damals modernen medizinischen Themen auch in Fragen der Erbbiologie und der Physiologie zu stellen. Dennoch ist der Text weit entfernt von zeitgenössi schen eugenischen oder rassenhygienischen Forderungen. Dass Felix Deutsch neben seiner Existenz als Psychoanalytiker in Wien eben auch wissenschaft licher Internist seiner Zeit geblieben war, zeigt sich auch in seinem Interesse
für andere moderne Spezialgebiete, wie die Sportmedizin und die Lebensversi cherungsmedizin. Erst im Exil in Boston hat sich eine eindeutige Entscheidung fur eine psychoanalytisch orientierte Psychosomatik herausgebildet. Dazu hat sicherlich die Tatsache beigetragen, dass Felix Deutsch im Alter von fast 50 Jah ren in Amerika vollkommen neu beginnen musste und zusammen mit seiner Ehefrau Helene eine neue Heimat in der Sostoner Psychoanalytischen Verei nigung gefunden hat.
49 Gemeint ist hier nicht die manifeste Zuckerkrankheit, sondern eine auf nervöse Einflüsse zurückzuführende vermehrte Zuckerausscheidung m i Urin. SO Deutsch, Krankheiten der Juden, 23. S I Zum zeitgenössischen Diskurs über die Nervositäl bei den Juden vgl. Becker, Nervosität und zur jüdischen Rassenhygiene Efron, Defenders.
224
Gerrit Hohendoif
Literatu,S2 Becker, R., Die Nervosität bei den Juden. Ein Beitrag zur Rassenpsychiatrie für Ärzte und gebildete Laien, Zürich 1919.
Deutc;ch, F., Psychoanalyse und Organk:rankheiten, in: Internationale Zeitschrift fur Psy choanalyse 8 (1922) 290-306.
-, Gehäuftes Auftreten von Morbus Basedowü, in: Medizinische Klinik 1 9 (1923) 678680.
-, Zur Bildung des Konversionssymptoms, in: lnternationale Zeitschrift für Psychoana lyse 10 (1924) 380-394.
-, Der gesunde und der kranke Körper in psychoanalytischer Betrachtung, in: lnterna tionale Zeitschrift für Psychoanalyse 1 2 (1 926) 493-503. -, Psychoanalyse und lnnere Medizin, in: W. Eliasberg (Hg.), Bericht über den l l . AUge meinen Ärztlichen Kongress für Psychotherapie in Bad Nauheim 27.-30. April l 927, Leipzig 1927, 53-59. -, Die Einwirkung der »Seele« auf die physiologischen und pathologischen Vorgänge im Organismus, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 77 (1 930) 1935-1940. -, Biologie und Psychologie der Krankheitsgenese, in: Internationale Zeitschrift für Psy choanalyse 1 9 (1933} 130-146. -, On the Fonnation of the Conversion Symptom, in: ders. (Hg.), On the Mysterious Leap from the Mind to the Body. A Workshop Study on the Theory of Conversion, New York 1959, 59-72.
- /E. Kauf, Herz und Sport. Klinische Untersuchungen über die Einwirkung des Sportes auf das Herz, Wien 1924. - fW.F. Murphy, The Clinical Interview, Bd. 1: Diagnosis. A Method ofTeaching Asso ciative Exploration, Bd. 2: Therapy. A Method of Teaching Sector Psychotherapy, New York 1955. - IF. Stern, Lebensversicherungsmedizin. Einschätzung der Übersterblichkeiten, Wien 1938. Efron, J.M., Defenders of the Race. Jewish Doctors and Race Science in fin-de-siecle Europe, New Haven/London 1994. Falter, H., Der Wünburger Beitrag von Felix Deutsch im Lichte der Weiterentwicklung der Psychosomatischen Medizin, Vortrag Würzburg 1994. Freud, S., Die Abwehr-Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen Theorie der akquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser halluzi natorischer Psychosen [ 1 894], Gesammelte Werke, Bd. 1, London/Frankfurt am Main 1999, 57-74.
-, AUgemeines über den hysterischen Anfall [1 909], Gesammelte Werke, Bd. 7, London/ Franiefurt am Main 1999, 233-240. -, Über die Berechtigung von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomkomplex als >Angstneurose< abzutrennen [ 1895], Gesammelte Werke, Bd. 1 , London/Frank:furt
am Main 1999, 3 1 3-342.
52 Auf Wunsch des Autors wurden die Literaturangaben teilweise chronologisch statt alphabetisch angeordnet. Anm. der Hrsg.
Felix De"..itsch und die Entwicklung der psychosomatischen Medizin
225
-, Bruchstück einer Hysterie-Analyse [1905], Gesammelte Werke, Bd. 5, London/Frank furt am Main 1999, 161-286. -, Entwurf einer Psychologie, in: ders., Aus den Anfängen der Psychoanalyse - Briefe .an
Wtlhelm F1iess. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902, hg. von
M . Bonaparte/A. Freud/E. Kris, London 1950, 37 1-466. -, Jenseits des Lustprinzips [1920], Gesammelte Werke, Bd. 13, London!Fran.kfurt am Main 1999, 1-69. -, Die Traumdeutung [1900], Gesammelte Werke, Bd. 2/3, London/Frankfurt am Main
1 999, 1-642. -, Triebe und Triebschicksale [1915], Gesammelte Werke, Bd. lO, LondonlFrankfurt am Main 1999, 209-232.
-, Vorlesungen zur Einfiihrung in die Psychoanalyse [1916/ 1917], Gesammelte Werke, Bd. 1 1, London/Frankfurt am Main 1999. - lJ. Breuer, Studien über Hysterie [1895], Gesammelte Werke, Bd. l , LondonlFrankfurt am Main 1999, 75-3 12.
Gilman, S.L., Freud, Race, and Gender, Princeton/New York 1 993. -, The Jew's Body, New YorklLondon 1991.
Groddeck, G., Das Buch vom Es. Psychoanalytische Briefe an eine Freundin [1923], Wiesbaden 2 1 961.
-, Über die Psychoanalyse des Organischen im Menschen, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 7 (1921) 252-263. Hahn, P., Die Entwicklung der psychosomatischen Medizin, in: H. Balmer (Hg.), Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 1 : Die Europäische Tradition, Zürich 1976,
932-952. Hartkamp, N., »Geschichte als Programm«. Der Beitrag Felix Deutschs zur psychoana lytischen Psychosomatik, in: Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik 36 (1991)
308-315.
Hering, E., Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie, in: ders., FünfReden von Ewald Hering, Leipzig 1 870, 5-31.
Hirsch, M., Oie Entwicklung des Konversionskonzepts bei Felix Deutsch, in: A.-E. Meyer/U. Lamparter (Hg.), Pioniere der Psychosomatik. Beiträge zur Entwicklungs geschichte ganzheitlicher Medizin, Heidelberg 1994, 278-306. Hohendorf, G., Die Psychosomatische Theoriebildung bei Felix Deutsch, Med. Diss. Heidelberg 1 996. Hohendorf, G.IM. Bölle/E. Petzold, Das Konzept der Assoziativen Anamnese bei Felix Deutsch, in: Zeitschrift für Medizinische Psychologie ( 1992) 13 7-142.
Hohendorf, G./M. Bölle, Wandlungen des psychoanalytischen Konversionsbegriffs, in: G.H. Seidler (Hg.), Hysterie heute. Wandlungen eines Paradiesvogels [1996], Gießen
22001, 27-54.
Janus, L., Die vergessene Revision der Konversionstheorie durch Ferenczi, Rank und Deutsch, in: F. Lamprecht (Hg.), Spezialisierung und Integration in Psychosomatik und Psychotherapie, Berlin/Heidelberg 1987, 361-37 1. Laplanche, J./J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse [1 967], Frankfurt am Main 1972. Margetts, E.L., The Early History of the Word »Psychosomatic«, in: Canadian Medical Association Journal 63 (1 950) 402-404.
226
Gerrit Hohendoif
Mühlleitner, E., Biographisches Lexikon der Psychoanalyse. Die Mitglieder der Psycho logischen Mittwoch-Gesellschaft und der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Tübingen 1992. Roazen, P., Freuds Liebling Helene Deutsch. Das Leben einer Psychoaoalytikerin, München/Wien 1985. Sigmund, 0., Die Phänomenologie der hysterischen Persönlichkeitsstörung, in: Der Nervenarzt 65 (1 994) 18-25. Tschoetschel, M., Die Diskussion über die Häufigkeit von Krankheiten bei den Juden bis 1920, Med. Diss. Mainz 1990. Turmann, M., Jüdische Krankheiten, Med. Diss. Kie1 1968 (Historisch-kritische Betrach tungen zu einem medizinischen Problem). Wei.zsäcker, V. von, Körpergeschehen und Neurose. Analytische Studie über Somatische Symptombildungen, Stuttgart 1947. Wichtl, 0., Anfange und Entwicklung der Radiologie an den Kranken- und Heilanstalten Wiens, in: Österreichische Krankenhauszeitung 32 (1991) (Sonderfolge 1) 31-80.
HELMUT SIEFERT
Religiosität und Spiritualität bei Georg Groddeck Georg Groddeck - wer war denn das? Groddeck war ein
Arzt, er lebte von
1866 bis 1934, und er ließ sich zu einer Zeit, als die naturwissenschaftlich ausge
richtete Medizin Triumphe feierte, in naturheilkundlichen und baineologischen Methoden und in der Massage ausbilden. Er eröffnete im Jahr 1900, in der Mitte seines Lebens, in Baden-Baden ein kleines Sanatorium für 15 Patienten, wo er all dies eigenwillig und individuell auf den einzelnen Patienten zugeschnit ten anwandte. Und Groddeck war ein
Arzt, der sich frühzeitig - seit
1913
-
mit der Psychoanalyse beschäftigte und sie nicht nur bei Patienten mit Neu rosen, sondern vor allem bei chronisch Kranken mit organischen Krankheiten anwandte. Wrr würden heute sagen, Groddeck ist ein früher Psychosomatiker. Schon 1917 schreibt er eine Monographie mit dem programmatischen Titel
Psychische Bedingtheit undpsychoanalytische Behandlung organischer Leiden, eine der frühesten psychosomatischen Schriften. Groddeck ist ein Außenseiter, sowohl in der >Schulmedizin< als auch in der Psychoanalyse, und er hat bereits vor 1 9 1 7 einige literarische Broschüren, ein populärmedizinisches Buch und einen autobiographischen Roman veröffent
Der Seelensucher. Ein psychoanalytischer Roman, 1923 seine wohl bekannteste Publikation Das Buch vom Es. Psychoanalytische Briefe an eine Freundin, 1933 Der Mensch als Symbol. Unmqßgebliche Meinungen über Sprache und Kunst. 1927 hält dieser Groddeck in Berlin an der Lessing-Hoch schule, einer Art Volkshochschule (nicht an der Universität!), eine Vortragsreihe mit dem Titel Vier Lehrbücher der Psychoanalyse, in der erjedoch nicht, wie man licht . 1921 folgt dann
vermuten könnte, allgemeinverständlich über grundlegende Schriften von Sig
Der Ring des Nibelungen, Henrik Ibsens Peer Gynt, Ooethes Faust und Heinrich Hoffmanns Der Struw welpeter. 1 Denn Groddeck meint, man solle nicht neue Lehrbücher schreiben, sondern »in denen lesen, die schon da sind.« 2 All dies sind Hinweise auf einen äußerst vielseitigen Arzt und Schriftsteller. Aber was hat das mit Religiosität und Spiritualität zu tun? Ich will als erste mund Freud spricht, sondern über Richard Wagners
Antwort zwei Zitate von Groddeck anführen. In einem Vortrag in seinem
I Die drei ersten Vorträge sind abgedruckt in Die Arche 3 (1927), Nr. l l-13/14, alle vier in
Groddeck, Psychoanalytische Schriften, 12o-219. 2 Groddeck, Peer Gynt. 8.
228
Helmut Siefort
Sanatorium spricht Groddeck 1 9 1 7 darüber, »was die 1Gndheitseindrücke der Religiosität zu bedeuten haben.«3 Und 1926 sagt er: Wer sich ein wenig mit
ihr
[der Psychoanalyse] beschäftigt, dem
werden die
Evan
gelien neu lebendig werden, dem wird Christus auferstehen, dem ist des Menschen Sohn Gottes Sohn. . . . Die Ana!yse, weit davon entf�rnt, irreligiös zu sein, ist ein Weg
zur Religion, und das ist mehr als alles, was sie sonst
ist. 4
Diese erstaunlichen Sätze stehen in einem Nachtrag von Groddeck zu seinem Vortrag Das Es und die Evangelien. Dieser war 1926 der Abschluss eines Vor tragszyklus an der Berliner Lessing-Hochschule mit den Themen Das Es und die Psychoanalyse; Der Alltag, Krankheit, Behandlung; Industrie, Wissenschaft und Kunst und schließlich Das Es und die Evangelien. Der weite Bogen, in dem für Groddeck das Es von Bedeutung ist, wird hierbei deutlich. Wenn meine Behauptung,
daß nicht das
leb des Menschen sein Leben beherrscht,
sondern ein Unbekanntes, ein Es, für Arbeitszwecke brauchbar ist, darf man anneh men, daß sich die Wrrksamkeit dieses Es auch in den breiten Lebenserscheinungen . . . . nachwe1sen Iä"ßt . 5
Zu diesen »breiten Lebenserscheinungen« gehören auch die Religiosität und die Spiritualität. Aber eine grundsätzliche Frage drängt sich erst einmal auf: Was ist über haupt Religiosität, was Spiritualität? Das sind in der Tat zwei sehr alte, aber unscharfe und sehr unterschiedlich verwendete Begriffe, was auch damit zusam menhängt, dass sie in letzter Zeit zu »Modeworten« geworden sind, die sich aber - wenn ich recht sehe - kaum durch andere Worte ersetzen lassen. 6 Einige Hinweise zu diesen beiden Begriffen mögen hier genügen. Für Johann Gottfried Herder ist Religiosität 1798 »das Gefuhl für echte Religion«, für Johann Gottlieb Fichte 1 804 »der doch einmal nicht ganz aus zurottende Sinn für das Ewige«, und Wtlhelrn Braubach sagt 1829: » . . . aus der intellektuellen Unvollkommenheit entspringt die Religiosität.« 7 Als Ergänzung zwei Definitionen aus dem 20. Jahrhundert: Dorothee Sölle sieht 1976 in der Religiosität das »religiöse Bedürfnis«, den »Wunsch, ganz zu sein, das Bedürfnis nach einem unzerstückten Leben«, 8 Christian Schütz 1988 »das Bedürfnis und die Fähigkeit des Menschen, sich in irgend einer Weise zu einer höheren Instanz in Beziehung zu setzen . . . «, wobei er hinzufiigt: »Spiritualität will auch nicht verwechselt werden mit Religiosität . . <<. 9 .
3 Groddeck, Vorträge, Bd. I , 279.
4 Groddeck, Nochmals, 44. 5 Groddeck, Industrie, 15. 6 Vgl. hierzu z.B. Schütz, Spiritualität; Hofmann (Hg.), Spiritualität; Künkel, Spiritualität; Fritsche, Religiosität; Solignac, Spiritualiät; t Jäger, Suche; ders., Die Welle.
7
Fritsche, Religiosität, 775-777.
8 Ebd., 779.
9 Schütz, Spiritualität, 1 171.
Religiositäl und Spiritualität bei Georg Groddeck Was ist
229
dann aber Spiritualität? Eine genaue Abgrenzung zur Religiosität
ist schwierig. Spiritualität ist jedenfalls nicht Spiritismus und Spiritualismus, wodurch häufig Verwechslungen entstehen. 1 0 Es gibt aber den Spiritual, die Spiritualien und Negro Spirituals. All das verwirrt mehr, als dass es klärt.
Klaus Künkel fragt: »Was ist Spiritualität? Der Begriff ist heute im Kommen und modern . . . und ist doch uralt.« 1 1 Christian Schütz hält »geistliche Lebens form« für den »kleinsten gemeinsamen Nenner allen Sprachgebrauchs«. 1 2 Und
für Josef Weismayer bleibt »bei aller Verschiedenheit der Akzente und des sprachlichen Ausdrucks . . . ein allen Gemeinsames sichtbar: Spiritualität ist das Leben mit Christus im Heiligen Geist.« 13 Lebendiger und
umfassender
finde ich die Antwort von Klaus Künkel: »Denn Spiritualität ist nichts anderes als Leben aus dem Geist Gottes, durch den Geist Gottes, also geisterfiiltl es, geistvolles, vom Geist getriebenes Leben.« 14 Ich
will diese Hinweise und Definitionsversuche nicht systematisieren, kri
tisieren oder ergänzen (etwa hinsichtlich Mystik oder Meditation), sondern sie
mit der bereits zitierten Aussage von Groddeck konfrontieren, der von den »Kindheitseind.rücken der Religiosität« spricht und behauptet, die Psychoana lyse sei >>ein Weg zur Religion«. Anband des Briefwechsels zwischen Georg Groddeck und Sigrnund Freud werden unterschiedliche Standpunkte auch in spirituellen Fragen deutlich. Groddeck, der sich »als physikalischer Therapeut, spezieU als Masseur« 15 versteht, beschäftigt sich seit 1 9 1 3 mit der Psychoanalyse und integriert diese
sein bisheriges ärztliches Wrrken. »So beginnt mein Leben recht gesehen erst in dem Augenblick, wo ich anfing, mich mit dem Unbewußten des Men in
schen
zu
beschäftigen.« 16 Und er schwärmt über diese »Zeit der großen Ent
deckungen Freuds, als sich plötzlich eine neue Welt auftat, die
schaudernd und ehrfurchtsvoll
zu
wir alle nur
betrachten wagten, die nur Einzelne, mutig
genug, betraten . . .« 17 Groddeck gehört zu den >Mutigen<, und er bezeichnet seine Hinwendung zur Psychoanalyse in seinem ersten Brief an Freud vom 27. Mai 1 9 1 7 mit einem religiösen Begriff als »Geschichte meiner Bekehrung« 1 8 . Bereits in diesem ersten Brief an Freud präsentiert
ihm Groddeck eine vorerst
sehr allgemeine Definition des Es, aber auch eine gewisse Abgrenzung von der Psychoanalyse, wie sie Sigmund Freud versteht:
IO
11 12 13 14 15 16 17 18
Solignac, Spiritualität (vgl. dazu die angrenzend.en Artikel zu Spiritismus und Spiritualismus). Künkel, Spiritualität, 96. Schütz, Spiritualität, 1 1 70. Weismayer, Leben, 16. Künlcel, Spiritualität, 98. Groddeck/Freud, Briefwechsel, 9. Groddeck, Lebenserinnerungen, 326. Groddeck, Kommentar, 26f. Groddeck:/Freud, Briefwechsel, 7.
230
HelmuJ Siefort
Längst . . . hatte sich bei mir die Überzeugung festgesetzt, daß die Unterscheidung von Seele und Körper nur eine Wort·, nicht eine Wesensunterscheidung ist, daß Körper und Seele ein Gemeinsames sind, daß darin ein Es steckt, eine Kraft, von der wir
gelebt werden, während wir zu leben glauben . . . . Mit andem Worten, ich habe von vornherein die Scheidung körperlicher und seelischer Leiden abgelehnt, habe den einzelnen Menschen an sich, das Es in ihm zu behandeln versucht . . . . Und gleich
darauf folgt eine spirituelle
Aussage:
[Ich habe] einen Weg zu finden gesucht, der in das Unbetretene, Unbetretbare fuhrt. Ich bin mir bewusst, dass ich mindestens hart an der Grenze des Mystischen, vielleicht schon mitten darin mich bewege. Trotzdem zwingen mich die einfachen Tatsachen, diesen Weg weiter zu gehen. !9 Freud antwortet prompt und versichert Groddeck, »daß Sie ein prächtiger Analytiker sind, der das Wesen der Sache unverlierbar erfaßt hat. Wer erkennt,
daß
Übertragung und Widerstand die Drehpunkte der Behandlung sind, der
gehört nun einmal rettungslos zum wilden Heer.« Aber Freud grenzt sich auch deutlich von Groddecks Hang
zum
Mystischen ab: »Warum stürzen Sie sich
von Ihrer schönen Basis aus in die Mystik, heben den Unterschied zwischen Seelischem und Körperlichem auf, legen sich auf philosophische Theorien fest,
die nicht an der Reibe sind?« 20 Groddeck kontert gekonnt:
Daß sieb dabei die Grenzen von Wissenschaft und Mystik für mich verwischen, ebenso wie die von Körper und Seele ... , halte ich fur kein Unglück, fur mich gewiß nicht, denn mir macht es Spaß, fur meine Kranken auch nicht, denn denen helfe ich schlecht und recht wie andre Ärzte ... . Ins Blaue hinein laufe ich wohl kaum, dazu bin ich zu sehr an die Praxis gebunden, alJes in mir verwertet sich letzten Endes in der KrankenbehandJung. 2 1 Die Gegensätze zwischen Freud und Groddeck werden deutlich, was Psycho analyse und was Spiritualität angeht, und beide grenzen sich voneinander ab. Groddeck riskiert es, dass sich »die Grenzen von Wissenschaft und Mystik
fur
mich verwischen«, und er wagt es, »einen Weg
zu
finden . . . , der in das
Unbetretene, Unbetretbare führt.« Seine ärztliche Praxis verhindert, dass er »ins Blaue hinein« läuft. Die »Praxis« der »Krankenbehandlung« besteht für Groddeck nicht nur aus
Naturheilkun de, Massage und Psychoanalyse (dies alles oft bunt gemischt),
sondern auch aus wöchentlichen Vorträgen über medizinische Themen und über Gott und die Welt. Sie gehören
zum
Pflichtprogramm der Patienten in
Groddecks Sanatorium. Für Roger Lewinter haben sie den Zweck, die Patien· ten l9 Ebd., 9f.
20 Ebd., 14f. 21 Ebd., 18.
Religiosität und Spiritualität bei Georg Graddeck
231
einzuüben in seine [Groddecks] Bebandlungsweise, denn diese Vorträge waren Be standteil der Medizin, die er seinen Kranken in seiner Anstalt anbot, wo er nicht durch Medikamente oder Operationen kurierte, sondern durch das »beim Wor t nehmen« des Symptoms: durch den Versuch, es zum Ausdruck zu bringen.
Das Ziel von Groddecks Behandlung ist nach Lewinter, »den Kranken in seinen
Arzt zu verwandeln.«22 Und Wemer Hassert-Caselli kennzeichnet die Vorträge als »allwöchentliches Patientenplenurn« und als »Kurs über die Kunst
eigenen
des Heilens«. 23
Groddeck spricht in seinen Vorträgen nicht nur über medizinische und
psychologische Themen, sondern auch über religiöse und spirituelle Fragen
und häufig über eigene Erfahrungen. So sagt er: »Ich bin unkirchlich und
unchristlich, desto merkwürdiger ist es,
daß ich und wir alle von dem Buch
[der Bibel] nicht loskommen, wenn dieser Einfluß auch ganz unterirdisch vor sich geht.
Ihn aufzudecken, halte ich für eine wichtige Sache.«24 Und Groddeck
wagt es, >>Unsere Religion vom Standpunkt des Mythos und der Psychologie aus
zu
betrachten«, auch wenn »man es
für Blasphemie hält.« Und er fordert
seine Zuhörer, also seine Patienten auf, »Ihr Verhältnis zur Bibel zu ordnen.« Außerdem nimmt er gegen die herrschende »Buchstabengläubigkeit« Stellung: »Jeder muß einmal die Courage haben, an den Sinn des christlichen Mythos heranzugehen. Man muß den Mut haben, nicht den Buchstaben, sondern den Geist anzubeten und zu sucben.«25 Eine weitere persönliche Bemerkung von Groddeck bezieht sich auf seine »Gegnerschaft gegen den ganzen Katechismus und den augenblicklich herr schenden Kirchenglauben . . . .« Als Kind musste er die Erklärungen von Martin Luther zum Glaubensbekenntnis auswendig lernen. Der jeweilige Schlusssatz zu
den einzelnen Abschnitten lautet: »Das ist gewißlieb wahr.« »Der Ausdruck
>gewißlich< war
mir unbekannt, so sagte ich damals auf: Das ist gewiß nicht
wahr.« Groddeck vermutet, dass diese kleine Wortverschiebung, die aber den Sinn des Satzes auf den Kopf stellt,
für ihn weitreichende Konsequenzen hatte:
leb glaube nicht, daß, wenn ich nicht das kleine Wort »gewißlich« und »gewiß nicht«
verwechselt hätte, ich imstande wäre, meinen Beruf so zu treiben, wie ich ihn jetzt treibe. Ich vermute,
daß in
der Kindheit Eindrücke vorhanden sein müssen, die zur
Skepsis treiben und andererseits die Phantasie anregen, um zu einem so merkwürdi
gen Beruf zu kommen wie die Psychoanalyse. 26
22 Lewinter, Wort-Ereignis, 1016. 23 Hassert-Caselli, Kunst, 1010. 24 Groddeä., Vorträge, Bd. 2, 632. 25 Groddeek. Vorträge, Bd. 2, 626f. 4,24. 26 Groddeek. Vorträge, Bd. 2, 542 f.
-
Der letzte Satz ist offensichtlich eine Anspielung auf Joh.
232
Helmut Siefort
Andere »Kindheitseindrücke der Religiosität« 27 betreffen
für
Groddeck die
K.indergebete, vor allem das Gebet: »Ich bin klein, mein Herz ist rein . . . «. Das Gebet fließt nicht aus der Religiosität heraus, sondern aus dem ungeheuren Wunsch bestimmter Mütter- und Eltemcharaktere, die nicht dulden,
daß jemals
ein anderer Mensch voile Gewalt über das Kind bekommt . . . Dieser Konflikt ist verhängnisvoll und bringt in den Menschen, der so gebunden ist durch die Mutter, die schwersten Zweifel und Ängste . . . Aber wenn ich immer wieder darauf hinweisen muß, welche schweren Verbrechen die Mütter begehen, so geschieht es, weil die meisten Menschen aus dieser Herrschaft herausgerissen werden müssen.
»Ich gebrauche den Ausdruck >Das Kind ist festgenagelt an das Mutterkreuz<.« Ausgehend vom Kreuz kommt Groddeck auf den Knochen »Kreuzbein« zu sprechen und darauf, »daß in diesem Knochen die Geburtsschmerzen sitzen.« Und man kommt nicht darüber hinweg,
daß
ein religiöser Vorgang, die Kreuzigung,
einen Namensgleichklang hat mit dem höchsten Ereignis im Menschenleben, mit der Geburt. Dann kommt man auf die Idee, Auferstehung und Geburt ist dieselbe
Analogie, die auszudenken mich meine angebliche Religiosität hindert. Das Hinder nis ist das Gebot meiner Kinderstube. Ich darf nicht denken,
daß
ein Kreuz die
Form eines Menschen mit ausgebreiteten Armen hat, dass er sie ausbreitet, um einen anderen zu umarmen . . . .
Groddeck, der passionierte Redner, spricht frei, verlässt sich auf seine Einfälle und auf die - vorher schriftlich eingereichten - Fragen seiner Zuhörerschaft.
Daher fehlt eine durchgehende Systematik. Groddeck erklärt das wie folgt: »Die
ganzen Mitteilungen gehen etwas regellos vor sich. Es handelt sieb nicht darum, daß ich wissenschaftliebe Auseinandersetzungen geben will. Ich bemühe mich, aus der Tiefe des Menschen heraus die Dinge Ihnen näherzuführen . . . « 28 . In der »Tiefe des Menschen« liegen viele Schätze, aber auch Gefahren verborgen. Groddecks Erfolge als
Arzt,
seine Korrespondenz mit Freud und
das Entstehen seines >psychoanalytischen Romans<
Der Seelensucher
führen dazu, dass er die Jahre um 1920 als eine »Zeit des Hochgefuhls« 29 erlebt . Aber nach 1923, als sein
Buch
vom
Es erschienen ist, das gleichzeitig eine
Distanzierung von Freud bedeutet, da Groddecks Es und Freuds Es sehr ver schiedene Begriffe sind, nach 1923 wurde die innere Zerrissenheit zur Qual. Die wissenschaftliche und ärztlich-prakti sche Beschäftigung mit der Psychoanalyse gaben mir nichts mehr, womit ich hätte weiterkommen können. Ganz allmählieb sind dann Veränderungen vor sich gegan-
27 In den folgenden Absätzen wird zitiert aus Groddeck. Vorträge, Bd. 1 , 279-287. - Über das Kreuz 28 29
als Symbol hat Groddeck oft gesprochen und geschrieben; vgl. z.B. Groddeck, Das Kreuz. Groddeck, Vorträge, Bd. 2, 644. Groddeck, Lebenserinnerungen, 326.
Religiosität und Spiritualität bei Georg Groddeck
233
gen, die seltsamerweise sich zuerst in einem Bedürfnis zusammenballten, mich mit der Christusidee auseinander zu setzen. 30 Diese »Christusidee« hat
für
Groddeck viele Facetten, z.B. das Problem des
historischen Jesus:
Nach meiner Ansicht ist es unwesentlich, ob es einen Jesus gegeben bat oder nicht; es handelt sich nicht um Jesus, sondern um Christus, und Christus ist nicht historisch wahr, er ist menschlich wahr, steht jenseits der Geschichtsforschung 31, ist kein Wesen der Wrrklichkeit, was man so Wtrklichkeit nennt, er ist die Wahrheit, was etwas ganz andres als Wrrklichkeit ist. 32 Ein anderer Aspekt der »Christusidee« ist folgender: »Christus ist Mysterium, und man kann sich ihm nur mystisch nahen, er ist nicht ein Wrrkendes, son dern ein Seiendes, etwas, was wirkt, weil es ist.«33 Und der Zeitfaktor ist von Bedeutung: »Christus sagt von sich: >Ehe denn Abraham war, bin ich.<34 Er war nicht und wird nicht sein, sondern er ist.«35 Oder noch kürzer: »Christus ist Gegenwartsmensch.«36 Von daher ist es auch
fiir den
Menschen »notwendig,
der Gegenwart zu leben, die tote Zeit des Gewesenen zu verlassen, ihr abzu sagen.«37 Die hier klar formulierte Gegenwärtigkeit, das Gegenwärtig-Sein ist ein wesentliches Merkmal vieler spiritueUer 'fraditionen. Die Auseinandersetzung Groddecks mit der »Christusidee« »geschah . . . gelegentlich einer Diskussion über das Gleichnis vom ungerechten Haushal ter.«38 Seit seiner Schulzeit machte dieses Gleichnis (Lk. 16,1-13) einen »selt samen Eindruck . . . auf mich«. 39
In
seinem Sanatorium ist dieses Gleichnis
Thema eines Gesprächs mit Patienten und Freunden. Für Groddeck besteht »ein unversöhnlicher Gegensatz« zwischen der Aussage: »Macht euch Freunde mit dem ungerechten Marrron« rn (Lk. 16,9a) und den Versen 10 bis 1 3 mit dem
Kernsatz: »Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.«
Keine Kunst der Auslegung kann ihn [den unversöhnlichen Gegensatz] wegreden; er ist da. und es bleibt nichts übrig, als ihn anzuerkennen . Es gibt nur eine Möglichkeit für einen Menschensohn, derartig zu sprechen: die Ironie. Nur in der Form der ..
30 Ebd. 31 An anderer SteUe äußert sich Groddeck noch kritischer: »Geschichtsforschung ist etwas sehr Zeitliches, eine Frage der Ausdrucksweise dieses oder jenes Menschen, ist eine anständig ange zogene Form der Neugier und gewiß einer der schönsten Zeitvertreibe, die der Voyeurtrieb erschaffen hat.« (Groddeck, Kommentar, 31). 32 Groddeck, Es und Evangelien, 2. 33 Groddeck, Nochmals, 41. 34 Joh. 8,58; dies ist übrigens ein Bibelspruch, den Groddeck oft zitiert. 35 Groddeck, Nochmals, 41. 36 Groddeck, Es und Evangelien, 14. 3? Ebd., 12, 14. 38 Groddeck, Lebenserinnerungen, 326. 39 Groddeck, Kommentar, 34.
234
Helmut Siefert
Ironie lassen sich die tiefsten Dinge sagen, und wer die Evangelien lesen will, um
zu verstehen, tut meiner Meinung nach gut daran, sich diesen Satz einzuprägen:
Das Tiefste lässt sich nur in der Form der Ironie sagen, denn das Tiefste ist immer
außerhalb der Moral, und weiter: das Tiefste ist ambivalent: beide Seiten sind wahr. 40
. . . die Beschäftigung mit dem Gleichnis vom ungerechten Haushalter zwang mich
dazu, mich
zu der bestimmten Meinung
zu
bekennen,
daß
die Äußerungen der
Evangelien an sich Doppelbedeutung haben, ernst und ironisch aufgefaßt werden
müssen.41
immer außerhalb der Moral« ist, sagt Grod deck: »Ach, die Evangelien sind erst Evangelien, wenn wir uns entschließen, auf Zu dem Aspekt, dass »das Tiefste
diese seltsame Idee, das Christentum sei eine Morallehre, zu verzichten Und Groddeck betont
. . .
.«42
immer wieder - anknüpfend an Nietzsches Schrift -
die »Jenseitigkeit von Gut und Böse«43 und behauptet, »daß das Christenturn
nichts mit der Moral des Tages zu tun« hat. »Ich begann dunkel zu fühlen, daß die Klippe des Lebens das Gutseinwollen sei. >Was nennet ihr mich gut? Niemand ist gut, denn der Einige Gott< wurde nun Gegenstand des täglichen Redens und Denkens.«44 Und
unmittelbar auf das Gleichnis bezogen, sagt Groddeck:
Ist es nicht denkbar,
daß unter dem
reichen Mann Gott selbst
zu
verstehen ist, der,
der seine Sonne leuchten ässt l über Gerechte und Ungerechte?45 . . . Dann bedeutet die Erzählung: Für Gott ist es selbstverständlich, daß der Mensch ein ungerechter
Haushalter ist; der gött.liche Maßstab des >Gerecht< ist anders als der bürgerlicher
Heuchelei.
Und allgemein gesagt, ist
dann fur Groddeck »der Sinn
dieses Gleichnisses«,
»daß der Mensch Mensch ist und sein darf, daß er nicht sich abzumühen
braucht, seiner Länge eine Elle
zuzusetzen,46
sondern ist, wie er ist.«47
Groddeck geht mit seiner ungewöhnlichen Auslegung dieses
>>Unmorali
schen Gleichnisses« (Klaus Künkel)48 großzügig über die exegetischen Schwie rigkeiten dieses Gleichnisses hinweg und versucht, die spirituellen Aspekte
40 Ebd., l .
41 Oroddeck, Lebenserinnerungen, 327.
42
Oroddeck, Kommentar, 2.
43 Hier z.B. ebd., 1 .
44 Oroddeck,
Groddeck
zitiert oft diese zwei Sätze aus Mt. 19,17. - Die Frage, was das Böse sei, spielt für Groddeck auch bei der Interpretation von Goethes Faust (v.a. die Verse 1 1935-1 1942 mit dem Kernsatz »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen«) eine große Rolle; vgl. hierzu Groddeck, Faust; ders., Lebenserinnerungen, Lebenserinnerungen, 327. -
325-330.
45 Eine Anspielung auf Mt. 5,45. 46 Eine Anspielung auf Mt . 6).7., dort allerdings auf die Länge des Lebens bezogen. 47 Groddeck, Kommentar, 2 f. 48 Mündliebe Äußerung in einem Gespräch.
Religiosität und Spin'tua/ität bei Georg Groddeck deutlicher
zu
235
formulieren, als es die Exegeten in der Regel tun. 49 Und
das
Resümee von Oroddeck lautet: » . . . wer schließlich dem Menschensohn auch die Erlaubnis des Hassens, des Verachtens, der Ironie gibt, kun, wer
ihn
in
sich fiiblt, der wird manches von dem, was ich schrieb, prüfen und vielleicht dies oder das behalten können.«50 Dies Christus-in-sich-Fühlen nennt Grod
Christus ist in dem Menschen enthalten; Menschen ohne Hirn oder Herz vorstellen als ohne
deck auch »Christus gebären. Denn man könnte sich eher den Christus.« 5 1
Diese Äußerung steht in der Tradition der Mystik, etwa von Meister Ecke
hart oder Angelus Silesius, aber auch der Spiritualität der Ostkirche. Insofern ist folgende Begegnung
für
Groddeck von großer Wichtigkeit gewesen:
In diese Zeit f ci.Ut die kurze Stunde, die ich mit dem russischen Theologen (N'tk:olaus von] Arseniew verlebte . . . Wenn ich mein Leben übersehe, finde ich kaum etwas,
was solche Bedeutung für mich gehabt hat, wie dieses Zusammentreffen . .. Es war
auch gar nichts Besonderes in dem, was wir miteinander sprachen; er kam nur gerade in dem Augenblick. n i dem alles in mir bereit und empf änglich war. 52
Ein Bereit- und Empfanglieh-Sein
für
religiöse und spirituelle Anregungen
kommt hier deutlich zur Sprache. Manches von derartigen Erfahrungen hat
in
Groddeck
seinen Vorträgen und Schriften vermitteln können, auch wenn
es oft nur ein »wirres und unen twirrbares Knäuel meiner Phantasien« 53 war. Dass bei ihm manches fragmentarisch, »wirr« und anscheinend >>Unentwirr bar« blieb, lag vielleicht auch
Praxis
daran,
dass
ihm
eine konsequente spirituelle
offensichtlich fehlte. So machte er sich über »das seltsame Wort Medi
tieren« seine Gedanken, ohne Meditation praktisch einzuüben. »So viel wusste ich allerdings,
daß
Meditieren etwas Ernsthaftes sei, wahrscheinlich also etwas
sehr Langweiliges, was ich jetzt immer noch vermute; ausprobiert habe ich es nicht.«54 Ich habe hier versucht, einige Fäden aus diesem »wirren Knäuel« offen
zu
legen, zumal spirituelle und religiöse Aspekte im Werk von Georg Groddeck bisher - trotz vielfältiger biographischer Bemühungen - weitgehend unberück sichtigt blieben. Ich bin aber nicht der Meinung, dass dieses Knäuel »unent wirrbar« ist.
Es wäre reizvoll, einmal
Groddecks gesamtes <Euvre nach spiritu
ellen und religiösen Aussagen zu durchforsten und sie mit den Anschauungen von Sigmund Freud, vor allem aber von C.G. Jung und der transpersonalen Psychologie und Psychotherapie zu vergleichen.
Mir
scheint, Groddeck, der
>Gegenwartsmensch<, war nicht nur ein genialer und früher Psychosomatiker, 49
Vgl.
hierzu z. B. Schweizer, Evangelium.
SO GTOddeck Kommentar 4. SI Ebd., 31. .
,
52 Gl'oddeck. Lebe.nserinnerungen, 327.
53 Groddeck. Kommentar, 33.
54
Groddeck. Lebenserinnerungen, 331.
167-170.
236
Helmut Siefert
sondern auch ein früher - oder verfrühter? - transpersonaler Psychothera peut mit einem Gespür empf änglich
für
»den Augenblic� in dem alles in
mir
bereit und
war.«
Literatur Fritsche, J., Art. Religiosität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 8 (1 992) 774-780.
Groddeck, G., Das Buch vom Es. Psychoanalytische Briefe an eine Freundin [1923), Frankfurt am Main!Basel 2003.
-, Das Es und die Evangelien. Sechster Vortrag in der Lessing-Hochschule [28 .12.1926), in: Die Arche 1 8 (1926/1927) 1-17, Nachdruck, hg. von 0. Jägersberg, Frankfurt am
Main/Basel 2001.
-, Faust [14.12. 1927), in: Die Arche 1 3 / 1 4 (1927) 1-32, Nachdruck, hg. von 0. Jägers berg, Frankfurt am Main/Basel 2001.
-, Industrie, WiSsenschaft und Kunst [17.12.1926), in: Die Arche 17 (1926/1927) 1 5-26, Nachdruck, hg. von 0. Jägersberg, Frankfurt am Main/Basel 2001.
-, [Kommentar
zu:
Owen, Erlösung und Weltmission) [14.9.1 926/30.9.1926), in: Die
Arche 10/1 1 ( 1926/1927) 26-36 und 1-4, Nachdruck, hg. von 0. Jägersberg, Frank
furt am Main!Basel 2001.
-, Das Kreuz [28. 1 . 1 926), in: Die Arche 1 9 (1925/1926) 22-24, Nachdruck, hg. von 0. Jägersberg, Frankfurt am Main/Basel 2001.
-, Lebenserinnerungen [um 1929), in: ders., Der Mensch und sein Es. Briefe, Aufsätze, Biografisches, hg. von M. Honegger, Wiesbaden 1970, 267-399. -, Der Mensch als Symbol. Unmaßgebliche Meinungen über Sprache und Kunst, Wien 1933.
-, Nochmals das Es und die Evangelien [5.2.1927), in: Die Arche 19/20 (1926/1 927) 40-44, Nachdruck, hg. von 0. Jägersberg, Frankfurt am Main/Basel 2001.
-, Peer Gynt [30.1 1 . 1 927], in: Die Arche 1 2 ( 1 927) 1 -25, Nachdruck, hg. von 0. Jägers berg, Frankfurt am Main/Basel 2001.
-, Psychische Bedingtheit und psychoanalytische Behandlung organischer Krankheiten
[1917], in: ders., Krankheit als Symbol. Schriften zur Psychosomatik, hg. von H.
Siefert, Frankfurt am Main 1983, 62-90.
-, Psychoanalytische Schriften zur Literatur und Kunst, hg. von H. Siefert, Frankfurt am Main 1978.
-, Der Seelensucber. Ein psychoanalytischer Roman [1921), hg. von 0. Jägersberg, Frankfurt am Main!Basel 1 998.
-, Vorträge, 3 Bde., hg. v. F. Kem/B. Schuh, Frankfurt am Main/Base1 1987-1989.
- IS. Freud, Briefwechsel, in: G. Groddeck, Der Mensch und sein Es. Briefe, Aufsätze, Biografisches, hg. von M . Honegger, Wiesbaden 1970, 7-92. Hassert-Caselli, W., Von der Kunst
zu
heilen, in: G. Groddeck, Vorträge, Bd. 3, 1918-
1919, hg. von F. Kern/B. Schuh, Frankfurt am Main/Basel 1989.
Hofmann, U. (Hg.), Spiritualität, Mystik, Meditation. Wege der Gotteserfahrung, Reut lingen 2000.
Religiosität und Spiritualität bei Georg Groddeck
237
Jäger, W., Suche nach dem Sinn des Lebens. Bewußtseinswandel durch den Weg nach innen, Petersberg 4 1 997.
-, Die WeUe ist das Meer. Mystische Spiritualität, hg. von C. Quarch, Freiburg/BaseV Wien 22001. Künkel, K., Spirit1.1alität und geistliches Leben des Einzelnen und in der Gemeinde
[ 1 989], in: ders., Meditation im Spannungsfeld von Erfahrung und Theologie, Loccum 1997, 95- 1 12.
Lewinter, R., Wort-Ereignis, in: G. Groddeck, Vorträge, Bd. 3, 1918-1919, hg. von F. Kero/B. Schub, Frankfurt am Main/Basel 1989, 1016-1020.
Schütz, C., Art. Christliche Spiritualität, in: ders. (Hg.), Praktisches Lexikon der Spiri tualität, Sonderausgabe, Freiburg/Basel/Wien 1992, 1 170- 1 1 80. Schweizer, E., Das Evangelium nach Matthäus, Göttingen/Zürich 151981. Solignac, A., Art. Spiritualität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 9 (1995) 1415- 1422. Weismayer, J ., Leben in Fülle. Zur Geschichte und Theologie christlieber Spiritualität, lnnsbruck/Wien 1983.
MArrmAs ßoRMUTH
Medizin zwischen Wissenschaft und Magie Richard Kochs »Zauber der Heilquellen«
In New-York sind neunzig verschiedene christliche Konfes
sionen, von welchen jede auf ihre Art Gott und den Herrn
bekennt, ohne weiter an einander irre zu werden. In der Natur
forschung, ja in jeder Forschung, müssen
wir es so weit brin
gen; denn was will das heißen, daß jedermann von Liberalität
spricht und den andern hindem will nach seiner Weise zu
denken und sich auszusprechen. J.
W. v. Goethe 1
Einleitung
das Buch Zauber der Heilquel len. Eine Studie über Goethe als Badegast, das R.ichard Koch ( 1882-1949) noch 1933 in Deutschland erscheinen lassen konnte. 3 Zuvor hatte der Begründer des Frankfurter medizinhistorischen Institutes, der 1936 wegen seiner jüdischen Herk:unft 4 in die Emigration getrieben wurde, 5 drei Monographien vorgelegt. 6 Ihre Originalität, folgt man seinem Schüler Rothschuh, konnte Kochs fortwir kende Bedeutung als Medizintheoretiker stiften. 7 Sein erstes Werk, Die ärztliche Diagnose, führte allerdings erst in ihrer überarbeiteten Form 1920 dazu, dass der einflussreiche Karl Sudhoff den jungen Koch der Frankfurter Fakultät zur Habilitation empfahl. Zuvor hatten noch im Krieg der Hirnanatom Ludwig Als »seltsam« 2 bezeichnete Karl E. Rothschuh
Edinger und der Internist Alfred Schwenkenbecher, dessen Schüler Koch war,
seine Dozentur abgelehnt, da ihnen seine Kritik der naturwissenschaftlichen
I
Goethe, Naturlehre, 92. 2 Vgl. Rothschuh, Koch, 16-43 und 223-243, 235. 3 Vgl. Koch, Zauber. 4 Vgl. KUmmel, Jüdische Ärzte, 39f. S Koch wurde im Herbst 1933 die Lehrbefugnis entzogen. Bis 1936 übte er noch in Frankfurt seine ärztliche Praxis aus; wegen der drobenden Verhaftung emigrierte er über Belgien 1937 in die Sowjetunion, wo er bis auf ein Jahr der Evakuierung im Krieg im kaukasischen Essentuki mit seiner Frau als beratender Sanatoriumsarzt lebte. Zu Details seiner Biographie vgl. weiter Preiser, Leben und Werk, 48-60. 6 Vgl. Koch. Diagnose; ders., Denken und ders., Als-Ob. 7 Vgl. Rothschuh, Koch. 227.
240
Matthias Bormuth
Medizin im Namen eines stärkeren Bezugs der ärztlichen Diagnose auf das Individuelle fragwürdig erschienen war. 8
Ähnlich diesen früheren Schriften betont auch die Studie zu Goethes Karls
bader Erfahrungen, 9 wie erst das persönliche Moment der medizinischen Behandlung ihren vollen Charakter verleihe. Allerdings betrachtet Rothschuh diese späte Arbeit rückblickend als entbehrlichen Appendix und fasst ihre eigenwillige Intention
kurz und lakonisch
im Denken Kochs
zusammen:
Die Wrrkung der Heilbäder ist durch keine naturwissenschaftliche Analyse der ln
haltsstotfe oder der physiologischen Wrrkungen erklärbar. Der Heilfaktor liegt im Magischen, Unbegreiflichen, Geheimnisvollen und hat keine rationalen Quellen. 1 0
Hingegen hielt Koch die batneologische Arbeit für eine seiner entscheidensten Schriften, 1 1 was aber, seitdem Rothschuh sie marginalisiert hatte, bislang kaum
zu einer Beschäftigung mit ihr 1 2 im Rahmen der ohnehin spärlichen Forschung zu einer »Philosophie der Medizin« geführt hat . 1 3
Das Karlsbader Kabinettstückehen lohnt jedoch eines näheren Blickes, da es über seine hagiographische Annäherung an Goethe hinaus beansprucht, den
notwendigen Wandel im Selbstverständnis der modernen, naturwissenschaft lichen Medizin in allgemeingültiger Weise zu erläutern. Goethes Erfahrungen mit der »Magie der Mineralquellen« legt Koch als kulturhistorisches Zeug
für
die Tatsache aus, dass alle Medizin, gerade wenn sie wissenschaftlich zu sein beanspruche, nicht ohne »magische Kräfte« wirken könne.1 4 Darauf nis
hinzuweisen,
stellt somit für ihn nicht nur eine batneologische Fußnote der
Medizingeschichte dar, sondern eine notwendige Provokation
für alle »Gebiete
der Heilkunde«. 1 5 Das gesellschaftliche Reservat des Kurortes lebt, folgt man Koch, von der andauernden Präsenz kultureller und natürlicher »Geheimnisse<<, die in der tiefgehenden Gemeinschaft der Empfänglichen Gesundung zu bewirken fahig sind. 1 6 Also nur eine »besondere Geistigkeit bei Kurgästen und Ärzten«,
8 Vgl. ebd, 20-24. 9 Goethe war seit 1810 mehrfach im Böhmischen Karlsbad zur Kur gewesen. 10 Rothschuh, Koch, 235. 1 1 So Koch 1932 im Brief an seinen Mentor Karl Sudhoff. Vgl. Preiser, Leben und Werk, 55 f. 12 Ein kurzes Referat bietet Preiser, Leben und Werk, 55 ff. eine lmappe Bemerkung Flöhl, Frank furter Zeitung, 152, ohne dass die Autoren damit eine Kritik verbänden. l3 Eine erste Würdigung nach Wolfgang Wielands Buch zur ärztlichen Diagnose (vgl. Wieland, Diagnose, IX) und Rothschuhs Gedächtnisaufsatz von 1980 erfuhr Koch durch deutsche Medi zinhistori.ker 1982 auf einem Franlcfurter Symposium. Vgl. Preiser (Hg.), Koch. Sein wissen schaftlicher und persönlicher Nachlass wird seit kurzer Zeit am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen betreut und zur teilweisen Publikation vorbereitet. Vgl. bislang Töpfer/Wiesing, Koch und Rosenzweig. 1 4 Vgl. Koch, Zauber, 71. IS Vgl. ebd., 71 f. l6 Vgl. ebd., 68f.
241
Richard Kochs >;Zauber der Heilquellen« die sieb deutlieb über die seelische
Armut
der »Großstadtmentalität« erhebe,
ermöglicht demnach überhaupt den wirkmächtigen Zauber des Kurwesens. 17 Ein guter Badearzt habe nicht nur »gelehrt und erfahren«
er solle vor allem noch »Sinn
für
zu
sein, sondern
Gemeinschaft., Geheimnis und Eros« besit
zen . 1 8 Deutlieb durchzieht Kochs Denken ein antimodernistisches Ressen timent gegenüber den hauptstädtischen »Verfallserscheinungen der moder nen Medizin<<, die sich schon in die »stillen Wmkel der Provinz« ausbreite ten . 1 9 Unmissverständlich übt Koch deshalb
Kritik am exklusiven
Einfluss des
modernen Rationalismus auf die Medizin, der mit den naturwissenschaftlichen Erfolgen im
19. Jahrhundert eingesetzt habe: »Entzauberte Medizin ist wie
entgötterte Welt dem Untergang verfallen, und wenn sie technisch bis in den
Himmel
baut.«20
Kochs medizinisch gewendete Kulturkritik entspricht den konservativen
Vorbehalten des deutseben Bildungsbürgertums gegenüber einer Aufklärung, die sich in der Tradition der Französischen Revolution als konsequente Säkula risierung verstand. 21 Man entwertete dieses fortschrittsoptimistische Selbst verständnis mit dem Begriff der >Zivilisation< und setzte dagegen die anschei nend metaphysisch gehaltvollere >Kultur< deutscher Provenienz. 22 In diesem Sinne spricht auch
Die geistige Situation der Zeit von Kar) Jaspers, die 1931
im bürgerlichen Lager eine breite Resonanz auszulösen vermochte, von der wissenschaftlich entzauberten und entgötterten Massenwelt 23 Der Begriff der »Entzauberung der Welt« ist nicht ohne die soziologische Zeitdiagnose zu denken, die Max Weber
schaft als Beruf
i en 1 9 1 7/19 in seiner Rede Wss
mit provozierender Deutlichkeit öffentlich gemacht hatte. 24
Zudem entspricht Kochs Ansinnen, die Renaissance einer magisch unterleg ten Medizin
in
kleinen Kulturgemeinschaften
zu
fOrdern, der Beobachtung
Webers, dass in der Moderne Kulturwerte allein noch in privaten Lebenskreisen
Geltung beanspruchen dürften. 25
In
wissenschaftstheoretischer Hinsicht steht
Kochs Synthese von Rationalismus und Zauber in der Wissenschaft jedoch im Widerspruch
zu
Webers WertfreiheitspostuJat, das einfordert, den subjek
tiv-normativen Akzent der wissenschaftlichen Perspektive so weit als möglich
1 7 Vgl. ebd., 71.
18
Vgl. ebd.
19 Vgl. ebd., 70. 20 Ebd., 72. 21 Vgl. Koselleck, Säkularisation, I 83.
22 Zur ))Kultur-Zivilisations-Antithese« vgl. Bering, Intellektuelle,
88-93.
23 Vgl. Jaspers, Geistige Situation, 1 9 und Bormuth, Lebensführung, 104!. 24 Vgl. Weber, Wissenschaft. 25 Vgl. ebd., 612. Zur zeittypischen Spannung zwischen objektivem Wissen und subjektivem Glau ben nach dem Ersten Weltkrieg und ihrem Niederschlag in Kochs Werk vgl. hardt, Medizintheorie,
94.
weiter von
Engel
242
Matthias BormuJh
aufzuklären. 26 Kochs Medizinmodell reklamiert
für seine gegenteilige Forde rung, ein »nie ganz enthülltes Geheimnis« in der Medizin als wirksamen Faktor zu hüten, Goethe als Gewährsmann, der als »Sohn der Aufklärung« wn die
Gefahren einer entzaubernden »Bildung« gewusst habe. 27
Nicht zuf ällig bezeich..�et Koch diese. EinsteUtmg des Klassikers
als »unzeit
zu
seiner Zeit
gemäß« inmitten einer rationalistischen Gesellschaft, lag doch
Zweite{r] unzeitgemäßen Betrachtung. Vom Nutzen und Nachttheil der Historie für das Lehen nahe. In mit dem Begriff sofort die Assoziation
zu
Nietzsches
der 187 4 wider den Objektivitätsanspruch des Historismus publizierten Schrift hatte Nietzsche gefordert, dem entzaubernden Rationalismus eine subjekti vierte Wissenschaft entgegenzusetzen. Diese könne wieder einen »umhüllen den Wahn« schaffen� der zum Leben notwendig sei, wolle man nicht in kultu reller Mittelmäßigkeit des bedeutungslosen Vielwissens versinken. 28 So greift Kochs Studie ganz im Sinne Nietzsches den »rationalen Gelehrten« an und setzt gegen dessen weltbeherrschende Nüchternheit den ewigkeitsheischenden >Dichter< Goethe und sein subjektiv gefarbtes Wtssenscbaftsverständnis. 29 Nun beruft sich die Goethe-Studie nicht ausdrücklich auf Nietzsche und Weber, aber deren lebensphilosophische und wissenschaftssoziologische Posi
tionen erscheinen geeignet, zeittypische Spezifika in Kochs Denken im größeren
k:ultur- und wissenschaftshistorischen Rahmen zu situieren. 30 Ebenso ist nicht klar, worauf die indirekte Auseinandersetzung, die die baineologische Studie mit den psychotherapeutischen Bestrebungen ihrer Zeit fiihrte, zu beziehen ist. Ohne, dass Namen genannt würden, grenzt sich Koch deutlieb von psychothe rapeutischen Entwürfen ab, welche die geheimnisvolle Magie des Individuellen im Behandlungsgeschehen rational
zu
systematisieren trachteten. Als paradig
matisch hierfür kann das Selbstverständnis gelten, das der Koch persönlich bekannte Heidelberger Psycbosomatiker Vtktor von Weizsäcker 31 in diesen
Vgl. Weber, Wertfreiheit, 500. Vgl. Koch, Zauber, 45f. Vgl. Nietzsche, Historie, 298. Vgl. Koch, Zauber, 36. 30 Eine andere, mögliche Herangehensweise wäre es, wie es bisherige ideengeschichtliche Studien unternahmen, Kochs frühere Monographien in den von ihm selbst erläuterten Theorierahmen zu l studierte, Hans stellen, der vor allem mit den Namen Ernst Schweninger, bei dem Koch in Berin Driesch, Henri Bergson und Hans Vaihinger, der Koch in den jungen Dozentenjahren fOrderte, umrissen werden kann. Vgl. Rotbschuh, Koch, 229-234; von Engelbardt, Medizintheorie, 90-97; Wiesing, Medizin, 135-141 und Töpfer!Wiesing, Koch und Rosenzweig, 14ff. i Heidelberg als Schüler Ludolfvon 31 Vlk:tor von Weizsäcker (1886-1957) arbeitete ebenfalls 191 I n Krehls und kannte Koch wohl seit dieser Zeit. In engeren Kontakt kamen sie in den zwanziger Jahren wahrscheinlich über ihre jeweilige Freundschaft mit dem jüdischen Religionsphilosophen Franz Roseozweig. Von Weizsäcker rezensiert Kochs Rezeption von Vaihingers Als-ob-Philoso phie 1925 und schreibt, dass er die Bedeutung der Wissenschaft ili f den Arzt unterschätze. Vgl. von Engelbardt, Medizintheorie, 95.
26 27 28 29
Richard Kochs »Zauber der Heilquellen«
243
Jahren äußerte. 32 Dagegen sucht Kochs baineologische Studie mit Goethe ein
therapeutisches »Geheimnis« zu umreißen, das gerade und nur wegen des »Geheimnisvollen«, des »Zaubers«, des »Magischen« zu wirken vermag. 33 Insgesamt zeugt Kochs Medizintheorie von einem kulturwissenschaftlichen Selbstverständnis, das die lnkommensurabilität, also die rationale Unvergleich lichkeit und Unwägbarkeit des Individuums,
als unhintergehbaren
Faktor allen
medizinischen Handeins vehement vertritt. 34 Diese Intention kann im ideenge schichtlichen Vergleich zwischen der Goethe-Studie und klassischen Gedanken
Webers, Nietzsches und von Weizsäckers deutlicher erkannt und beurteilt wer den.
l Das wissenschaftliche Weltbild, das nach Max Weber die Modeme prägt, beruht auf der fortschrittsoptimistischen Annahme, auf Dauer keine religiös magischen Anleihen mehr nötig zu haben, da das rationale Verstehen und
Beherrschen keine geheimnisvollen Lebenszusammenhänge mehr offen lasse,
die einer metaphysischen Deutung bedürften. 35 Allerdings betrachtet Weber die selbstbewusst voranschreitende »Entzauberung der Welt« schon vor den Kriegsjahren mit einiger Skepsis, da der Erfolgsprozess wider alle Hoffnungen nicht f ähig sei, alles Leiden und Unglück in der Welt aufzulösen. Es bestätig ten sich die bisherigen Erfahrungen der Weltgeschichte, dass die Wrrklichkeit immer von irrationalen Restsummen geprägt bliebe, die gerade bei Intellektuel len das Gefuhl einer letzten Sinnlosigkeit steigern könnten. Denn diese würden aufgrund ihres Bestrebens, der Welt eine rationale Kohärenz zu verleihen, die Brüche in der Wrrklichkeit und ihren bisherigen Erklärungsmustern deutlicher als andere Menschen wahrnehmen. 36 Von der »Not des modernen Intellektuellen« spricht auch Richard Koch in der Goetht7Studie, die er im Zusammenhang mit der starken Dostojewskij Rezeption in Deutschland sieht. 37 Damit knüpft er kritisch an George Lukacs' Diktum der »metaphysischen Obdachlosigkeit« an, das bei dem Weber-Schüler
zur Hoffnung einer religiösen Utopie überleitet, die Luk.acs in den Jahren des
32 Vgl. von Weizsäcker, Psychotherapie. 33 Vgl. Koch, Zauber, 7f. 34 Koch geht für die Medizin von einer Kombination von nomothetischem und ideographischem Wtssen aus. Im Sinne des Vrtalismus verleibt die jeweilige geistig-psychische Willenskonstitution den Kranicheilen eine inkommensurable Note, so dass rein verallgemeinemde Diagnosen obsolet werden. Vgl. weiter Rothschuh, Koch, 227-235.
35 Vgl. Weber, Wissenschaft, 594. 36 Vgl. Weber, Religionssoziologie, 253. 37 Vgl. Koch, Zauber, 13.
244
Matthias Bormuth
zusammenbrechenden Kaiserreichs als einzig verheißungsvollen Weg aus der Krise einer rationalistischen Modeme sieht. 38 Koch spricht vom »aufgeklärt intelligenten Großstädter«, der gemeint habe, mit seinem lebensbeherrschen den Wissen vor allem »Zauber« gefeit
zu
sein, aber nunmehr wieder an Selbst
bewusstsein verloren habe. 39 Seine Goethe-Studie distanziert sich ausdrücklich von dem »im Sinne Dostjewskijs Geistig-Armen«, dem »lntellektuellen«40 und seiner religiösen Utopie; vielmehr empfiehlt Koch den Weg zurück zu Goe the, dessen Glaubensweise das aufklärerische Denken in immer noch gültiger
Weise mit dem Respekt vor der geheimnisvollen Lebenswirklichkeit verbunden habe. 41
Goethes Pantheismus, 42 der sich entscheidend von Spinoza inspiriert
kulminiert in der Aussage: »Er [Spinoza] beweist nicht das Dasein Gottes, das Dasein ist Gott.«44 Wie konfliktreich sich diese Wrrk:licbkeit dem
weiß, 43
menschlichen Blick darstellen muss, unterstreicht Goethes Aussage, dass die »gewaltige Natur« und die »mächtigen Weltbegebenheiten« mit »Unzulänglich keiten« und »Widersprüchen« einhergingen, die verzweifeln lassen könnten, sofern man nicht die Möglichkeit einer »höhere[n] Ansicht« einräumte. 45 Die ser kritische Pantheismus bildet also die kulturelle Folie von Kochs Vertrauen, dass alle Erforschung der harmonischen und aporetischen Wrrk:lichkeit näher an das Geheimnis des »Ewigen und Unendlichen« heranführe; freilich ohne dass man über eine annähernde »Ahnung« hinauskäme. 46 Der Mensch könne in der Denktradition Goethes die »endgültige Wahrheit« nur ahnen und die »höchste Kraft alles Handeins und Wrrkens« bliebe »eng an das Geheimnis volle« gebunden. 47 Kochs pantheistische Position entzieht sich zwar bewusst definitiven religiösen Zuschreibungen, aber sie teilt mit dem religiösen 18. Jahr hundert die Idee, dass die wissenschaftliche Arbeit nicht die geheimnisvolle 38 Vgl. Lukacs, Theorie, 157 f. Er spricht von der »neuen Welt<<, die erst mit dem Werk Oosto jewsldjs anheben würde, das wohl den Weg aus der »vollendeten Sündhaftigkeit« weisen könne
oder zumindest auf die »Ankunft des Neuen« hoffen lasse, welches in Gefahr stehe, von der »unfruchtbaren Macht des bloß Seienden« erdrückt
zu
werden.
39 Vgl. Koch. Zauber, 12. 40 Vgl. ebd., 14. 41 Vgl. ebd., 14. 42 Der Begriff wurde im 18. Jahrhunden teilweise synonym mit »Spinozismus« verwendet und unterstellte einen unausgesprochenen »Atheismus«. Insbesondere die 1785 zwischen Friedrich Jacobi und Moses Mendelssohn ausgetragene Debatte steht dafur. Vgl. Schröder, Pantheismus.
43 Goethe selbst äußene sich in diesem Streit gegenüber dem befreundeten Jacobi im Brief vom 5.5.1786: »Ich halte mich fest und fester an die Gottesverehrung des Atheisten [Spinoza] ... und überlasse euch alles was ihr Religion heißt und heißen müßt. . . . Wenn du sagst, man könne an
44 45 46 47
Gott nur glauben ..., so sage ich dir, ich halte viel aufs schauen.« Vgl. Goethe, Naturlehre, 865. Vgl. Goethe, Naturlehre, 867.
So Goethe im Gespräch mit Eckermann Vgl. Koch, Zauber, 32f. Vgl. ebd., 32.
am
28.1.1831. Vgl. Eckerman.n, Gespräche, 454.
245
Richard Kochs ))Zauber der Heilquellen<<
Wrrklichkeit zerstören müsse, sondern einen »Weg zu Gott« zumindest in den Naturdingen anschaulich zu
bahnen verstehe. 48
Eine WiSsenschaft, die im Rekurs auf Goethe wieder pantheistisch verzau bert wird, 49 entfernt sich im
20. Jahrhundert deutlich von Webers Postulat wis
senschaftlicher Wertfreiheit Denn dieses verlangt, die normativen Prämissen
des Erkenntnisprozesses transparent zu machen, was Kochs Gedanken eines
magischen Geheimnisses, das neben dem wissenschaftlichen Klarheitskrite
rium gleichberechtigt stehen soll, geradezu ausschließt. Allerdings ist Koch klug genug, sich nur auf ein Geheimnisvolles zu berufen, das inhaltlich zu vage bleibt, um, wie die christlichen Dogmen es tun, vom Gläubigen, folgt
man Weber, das »Opfer des Intellekts«50 einzufordern. Wie schon
1923, als
l Magie« 51 geprägt er das ärztliche Handeln nicht erneut von »abergäubischer sehen wollte, verneint die Goethe-Schrift die Hoffnung auf »übersinnlichen Zauber« 52• Die »magische Wrrkung«, auf die es Koch zufolge in den Wissenschaften auch ankommt, könne sich aber nur in einer »bestimmten Gemeinschaft« ent falten, wie aus Goethes emotional tiefgehenden Karlsbader Erfahrungen mit »fürstlichen Persönlichkeiten« zu schließen sei. 53 Mit dieser Idee einer exklu siven, kulturell ambitionierten Gemeinschaft zeichnet Koch sein historisches Idealbild soziologisch mit Eigenschaften aus, die Weber als charakteristisch für potentiell gehaltvolle Wertgemeinschaften in der
säkularisierten
Gesellschaft
beschrieb:
Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektua lisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, dass gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelneo zueinander. 54 Nur noch in »kleinste[n] Gemeinschaftskreisen« kann demnach ein »pro phetisches Pneuma« pulsieren, das ehemals »große Gemeinden«
zusammen
geschweißt habe. ss Dass Koch Goethes Neigung, in Karlsbad eine solche Gemeinschaftsbildung zum Zwecke seiner Gesundheit zu suchen,
als »unzeit-
48 Vgl. Weber, WISsenschaft, 598. 49 Goethe spricht von der »friedlichen Wtrkung«, die Spinoza auf ihn ausUbe und rückt ihn in die i »werten Mystiker«. Vgl. Goethe, Dichtung und Wahrheit, 730. Nähe der hm SO Vgl. Weber, WISsenschaft, 6 1 1 . SI Vgl. Koch, Denken, Vln. 52 Vgl. Koch, Zauber, 65. 53 Vgl. ebd., 68. Koch hebt als besonderen Zauber hervor, dass Goethe dort eine tiefgebende Bezi& hung zur jungen Österreichischen Kaiserin Maria Ludovica angeknUpft habe, und interpretiert entsprechend einige Gedichte, die Goethe zu Ehren der Kaiserin verfasste. Vgl. ebd., 17-20 und Goethe, Gedichte, 429-434 und I 027 ff. S4 Vgl. Weber, Wissenschaft, 612. SS Vgl. ebd.
Matthias Bormuth
246
gemäß«, aber gerade deshalb mustergültig ffir die Medizin in einer säkularisier ten Zeit etikettiert, lässt an Nietzsches WISsenschaftsverständnis denken. 56
Il.
Zweite unzeitgemäße Betrachtung. Vom Nutzen und Nachttheil der Historiefiir das Leben enthält den Appell, dem subjektiven Lebensinteresse in der Wissenschaft den Primat gegenüber dem vorherrschenden Objektivitätsan Nietzscbes
spruch wieder einzuräumen. Dieser hatte, folgt man Nietzsches Urteil, die Gebildeten in einer Flut enzyklopädischen Wtssens über Götter und Welten ertrinken lassen, vor der man sieb nur durch bewusstes Vergessen an das rettende Ufer einer neuen Naivität flüchten könne. 57 Allerdings wäre Nietz sche verkürzt verstanden, gesände t man ihm nicht zu, dass er das lebens dienlich beschränkte Wissensmonument nicht ohne die Kenntnis antiquari
Prüfung errichten wolle. Seine konfligierende dazu, zwar die wissenschaftliche Wahrheits- und
scher Quellen und die kritische Interessenlage
führt ihn
Gerechtigkeitsliebe
zu
aber
betonen; zum anderen nimmt Nietzsche das Beispiel
der Theologie, um aufzuzeigen, wie sich die historisch-kritische Forschung als
»schreckliche Tugend« entpuppen kann . 58 Insofern macht er gegen den »kalten
Dämon der Erkenntnis« die verzaubernden Wrrklichkeiten von »Kunst, Poesie, Religion« stark; sie sollen erneut einen »geheimnisvollen Dunstkreis« 59 schaf i dividuelle Leben gedeihen könne. Nietzsche zeigt sieb zwar fen, in dem das n fasziniert von der interesselosen Wahrheitsliebe, aber zuletzt schlägt er sich auf die Seite der höheren und schöneren Illusionen, derer die Menschen nicht entbehren könnten, wenn sie volle Persönlichkeiten zu sein beanspruchten. Auch Koch entfaltet in seiner Studie diese Konlliktlage, indem er den wis senschaftlich dilettierenden Dichter Goethe gegen das Wahrheitsstreben eines »nüchternen Professors« und »echten Gelehrten« antreten lässt. Gleich Nietz sche löst er das Dilemma auf, indem er sich
für das
Primat des »Geheimnis
vollen« und der »Ewigkeit« ausspricht, ohne das er keine Wissenschaft denken
kann . 60 Jedoch, und hier liegt der gravierende Unterschied
zu
Nietzsche, lässt
seine Idee einer pantheistischen Synthese von Wissenschaft und Geheimnis den inneren Widerspruch kaum mehr erkennen, der zwischen einer rational entzaubernden Wissenschaft und dem Bedürfnis nach begeistemden IDusionen notwendig bestehen muss. lm Namen einer goetheanischen Wissenschaftlich keit verwischen somit bei ihm die Gegensätze, die Nietzsche sehr wohl bewusst
56 57 58 59 60
Vgl. Nietzsche, Historie.
vgJ. ebd., 279 r.
Vgl. ebd"' 295. Vgl. ebd"' 298. Vgl. Koch, Zauber, 36.
Richard Kochs J>Zauber der Heilquellen«
247
waren. Nichts lässt in seinem Text das ausweglose Dilemma des modernen
Italie ner Giacomo Leopardi in klassischer Weise formuliert hatte: nicht ohne poeti sche oder religiöse llJusionen leben zu können, obwohl man sie aus Gründen Bewusstseins spüren, das vor Nietzsche schon
zu
Lebzeiten Goethes der
der entwickelten Rationalität nicht mehr glauben kann. 61
Lediglich der fragwürdigen Figur des undankbaren und überheblichen mo
dernen Menschen gesteht Koch die Spannung zwischen nüchterner Rationalität und illusionsreicher Naivität
zu:
Als hilfesuchender Kranker ist er in den Zustand von Primitivität geraten, in dem
er, einem Kinde vergleichbar, alle Kritik
an
dem Irrationalen verloren, weil er den
Segen des Irrationalen genossen hatte. Geheilt, emanzipiert er sich von dieser kindlich primitiven Verfassung, und der Rationalismus sucht die ihm zukommende Stellung wieder zu erobern. 62
Was
Goethe betrifft, so habe er sich nur schwer von dieser Versuchung frei
machen können, seinem Zeitalter gemäß an die »Überlegenheit der wissen schaftlichen Methode« gegenüber den subjektiv-emotionalen Bestrebungen
zu
glauben. Letztendlich sei er aber zur »Überzeugung vom höheren Rang seiner unzeitgemäßen Natur«
als Dichter
gekommen, die
ihn
das WiSsenschaftliche
habe relativieren lassen. 63 Kochs Studie vermittelt somit den Eindruck, dass
zwischen aufgeklärtem Denken und seelischen und Nietzsche so klar ins moderne Bewusstsein
die scheinbare Unvereinbarkeit Bedürfnissen, die Leopardi gehoben hatten,
zu
überwinden sei, da Goethes dichterisch-pantheistisches
Weltverständnis sich als siegreich über die aufldärerische Hybris erwiesen habe. Sein Medizinmodell behandelt Nietzsches KonfliktJage zwischen kritischer
und lebensdienlicher Wissenschaft also nur mehr als eine historische Frage stellung, die von der ehemals überschätzten Rationalität zeuge. Fraglos nimmt er sich nicht einen Wahrheitsbegriff zum Maßstab, dem es unabhängig von subjektiv erwünschten Resultaten ble Erkenntnisse
zu
darum
zu tun ist, möglichst rational plausi
erhalten. Vielmehr orientiert er seine Medizintheorie an
der erfolgspragmatischen Frage, ob die getroffenen Aussagen die individuel len Lebensimpulse fOrdern können oder nicht. 64 Die oberste Maxime von Kochs ärztlichem Denken stellt demnach der Gedanke nahmen vor allem dem subjektiven Patientenwohl
zu
dar,
dass alle Maß
nutzen hätten. Ein der
art pragmatischer Wahrheitshorizont löst den bei Nietzsche spannungsreichen
Interessenkonflikt zwischen
Kritik
und Lebensdienlichkeit schlicht auf, da der
Maßstab eines intellektuell redlichen Erkenntnisprozesses nur als irrelevantes Relikt eines überkommenen Objektivitätsstrebens erscheint.
61
Vgl. Leopardi, Zibaldone, 492f. und 496f.
62 Vgl. Koch, Zauber, 48. 63 Vgl. ebd., 40. 64
Vgl. Anm. 94.
Matthias Bormuth
248
m. Kurz und scharf grenzt Koch seinen Versuch, die rein naturwissenschaftlich operierende Medizin wieder durch eine besondere Magie den psychotherapeutischen Bestrebungen seiner Zeit ab, versuchten, dem »starken Magieverlust« 65 neutestamentlichen
Kritik
zu
zu
die
ergänzen, von auf i hre Weise
im
begegnen. Fast
Sinne der
an den Blinden, die andere Blinde führen wollten,
greift er die psychotherapeutisch tätigen Ärzte selbst als »krank« an, wobei seine Diagnose auf den modernen, großstädtischen Intellektuellen gemünzt ist. Mit Weber gesprochen geißelt Koch in den Spezialistischen Ärzten den modernen »Fachmenschen ohne Geist«66, der keine umfassend ausgebildete Persönlichkeit mehr darstelle, wie sie Goethe in klassischer Weise dete Bürgertum repräsentierte. 67
fiir das gebil
Dass Kochs Vorbehalte tatsächlich eine markante Tendenz im wissenschaft lichen Selbstverständnis der ärztlichen Psychotherapie treffen, belegt die Posi tion, die Vtktor von Weizsäcker als einer ihrer akademisch profi.liertesten Ver treter
zu
dieser Zeit skizzierte. 68 So spricht der Heidelberger Neurologe und
Psychosomatiker davon, dass die »Psychologisierung unserer Kultur oder unse res Kulturniedergangs« das »Kerngefühl der Persönlichkeit« mindere. Ebenso unterstreicht von Weizsäcker, der gemeinsam mit Martin Buher konfessionelle Zeitschrift »Die Kreatur«
1927 die inter
(1927 -1930) gründen sollte und zeit
weilig auch Kochs Patienten, den deutsch-jüdischen Philosophen Franz Rosen zweig behandelt hatte, 69 die humanistischen Wurzeln dieser Persönlichkeits idee. Mit Jacob Burckhardts klassischer Renaissance-Studie 70 hebt er hervor, dass seitdem eine Kultur immer weitere Kreise gezogen habe, welche die »Persönlichkeit« als »Heiligtum der Freiheit und des Schöpferischen« wieder ins Zen trum ihres Selbstverständnisses gestellt habe. Diese kulturelle Bewe gung lässt von Weizsäcker Höhepunkt finden. 71 Während Koch
fiir
fiir
Deutschland im Zeitalter Goethes ihren späten
die naturwissenschaftliche Medizin im
20. Jahrhun
dert auf eine erneute Renaissance dieser Persönlichkeitsidee baut, schließt von Weizsäckers Vortrag eine solche Möglichkeit in einer zunehmend rationalisier65 Vgl. Koch, Zauber, 72. 66 Vgl. Weber, Religionssoziologie, 206. 67 Allerdings hält Weber Goethes Bestreben, ctie eigene »Persönlichkeit« umfänglich auszubilden, in einer rational arbeitsteiligen Gesellschaft kaum ür f unmöglich. Vgl. Weber, Wissenschaft, 591.
68 Von Weizsäcker hielt auf dem
A l/gemeinen Ai-zrlid1en Kongreß.for Psychotherapie, der im April 1926 in Baden-Baden stattfand. ein grundsätzliebes Referat Psychotherapie und Klinik, das 1927 1.
in der Kongressdokumentation zuerst abgedruckt wurde. Vgl. Eliasbe.rg, Psychotherapie und von Weizsäcker, Psychotherapie.
i . 69 Vgl. Töpfer!Wiesing, Koch und Rosenzweg 70 Vgl. Burckhardt, Renaissance. 71 Vgl. von Weizsäcker, Psychotherapie, 170.
Richard Kochs »Zauber der Heilquellen«
249
ten Zeit aber provokativ aus. Vom modernen Rationalisierungsprozess führt
demnach kein Weg mehr zurück, hin zu dem vergangeneo Persönlichkeitsideal,
wie ihn Kochs
hagiographischer Blick auf Goethes
»Zauber der Humanität« 72
beschwört. Vielmehr resultiert nach von Weizsäcker aus der psychologischen Systematisierung in der Modeme die »Enteignung des seelischen Privatbesit zes«; soziologisch betrachtet bedeutet dies
für ihn
eine Form des »seelischen
Kommunismus«. Insbesondere die psychoanalytischen Theorien ließen allge mein >>durchschaubar« werden, was zuvor nur den »seltenen Seelenkennem« vom Persönlichkeitskern offenbar gewesen sei. 73 Vtktor von Weizsäcker erklärt Freud
zum
Hegel des 20. Jahrhunderts, dem es obliege,
für
die Zeit ein neues,
nunmehr psychologisches System einer totalen Wirklichkeitserkenntnis zu ent werfen. 74 Insofern fordert er programmatisch auf der Tagung der ärztlichen
Psychotherapeuten den rationalen »Zugriff zur Persönlichkeit in der Medi zin«. 75 Diesem Ansinnen nach seelischer Transparenz und Egalität der Individuen verweigert sich Koch im Blick auf die unzeitgemäße Persönlichkeit Goethes, die er
Im
zum
Kristallisationspunkt einer geheimnishaltigen Heilkunde stilisiert.
Namen der menschlichen In.k:omrnensurabilität spricht sein Medizinmo
dell jeder rationalen Systematik das letzte Recht ab, da die Persönlichkeit in ihren kulturell geprägten Erlebensweisen auf keine allgemein vergleichbaren Begriffe zu bringen sei. Nur eine intime Kulturgemeinschaft biete auch Verhältnis zwischen
Arzt und
für das
ärbten Patient in der erotisch-freundschaftlich gef
Beziehungsdynamik die Chance, den individuellen Besonderheiten und Hei lungstendenzen gerecht zu werden. Bei von Weizsäcker erscheinen diese emotionalen Aspekte des Behand lungsverhältnisses unter dem psychoanalytischen Begriff der »Übertragung«, die er klinisch systematisieren will . 76 So greift sein Aufsatz alljene an, die sich gerade nicht als Fachspezialisten verstehen wollen und einen pragmatischen Methodenpluralismus in der Psychotherapie pflegen, ohne sich dem Gold standard einer systematischen Psychoanalyse verpflichtet zu fühlen. Solchem »Chaos« müsse theoretisch und professionell vorgebeugt werden, ansonsten drohe
ein
»oberflächliches« und in seinem »letzten Ziel unbestimmtes«
ches Handeln, das gerade
zu
ärztli
emotional schwierigen »Identifizierungen« führen
könne. n Von Weizsäcker empfiehlt eine Kultivierung der Übertragungsbezie hung, ohne den strengen Anspruch der Psychoanalyse, dass die emotionale Abhängigkeit während der Behandlung zu klären und abschließend zu lösen
72 Vgl. Koch, Zauber, 73. 73 Vgl. von Weizsäc.ker, Psychotherapie, 1 70. 74 Vgl. ebd., 170 f. 75 Vgl. ebd., 169.
76 Vgl. ebd., 171. 77 Vgl. ebd., 172f.
Matthias Bormuth
250 sei,
zu
teilen. Unorthodox und wider den Geist einer vollkommenen Techni
sierbarkeit spricht der Psychosomatiker davon, dass jede Psychotherapie eine
in
der die gefor derte »Ausschaltung der eigenen Person« geradezu schädlich wirke. 78
»Lebensgemeinschaft von unbegrenzter Nachwirkung« sei,
Wohl überschneidet sich diese liberale Auslegung der Psychoanalyse teil weise mit Kochs Idee, dass eine exklusive, emotional tiefgehende Beziehung zwischen besonderen Persönlichkeiten einen geheimnisvollen Wrrkfaktor der Arzt-Patient-Beziehung darstelle. Jedoch erscheint der individualisierende Fak tor bei Koch
als zentrales
Element einer Medizintheorie, die sich bewusst von
naturwissenschaftlichen Rationalisierungsansprüchen absetzt. Er stilisiert den persönlichen Faktor als per se geheimnisvollen, allem Verstehen gegenüber hermetischen Zauber, der sich nur in der Wrrkung indirekt offenbare. Das »Quellgeheimnis«, das Goethe in der Gemeinschaft mit ausgesuchten Indi viduen zur Gesundheit verhalf, steht als Metapher
für
die gesamte Medizin ;
man könne immer nur sagen, »daß« es wirke, aber nicht »wie«. 79 Somit hängt von der persönlichen Inkommensurabilität, der unvergleichlichen
Art,
wie ein
Mensch seine Lebenswelt betrachtet, entscheidend ab, ob eine magische, zau berhafte Wrrkung die naturwissenschaftlichen Therapiemöglichkeiten ergänzen
kann. Das nach Koch rational zuletzt unwägbare Individuelle muss in dieser Sichtweise allen analytischen Zugriffsversuchen einen konstitutiven Widerstand bieten, der einen anderen als den naturwissenschaftlichen Zugang ergänzend einfordert. So kann es kaum verwun dern, dass die Psychoanalyse Sigmund Freuds, die vor allem davon lebt, kulturell geprägte Widerstände im
Rahmen
ihrer sys
tematischen Neurosentheorie auszudeuten und diese Einsichten in der prak tischen Behandlung wirksam werden zu lassen, von Koch unter dem Begriff der »sogenannten Psychotherapie« als billiger und auf Dauer wirkungsloser Ersatz der verlorenen Magie indirekt entwertet wird. 80 Während er Goethe als klassischen Zeugen seiner Medizintheorie verherrlicht, nimmt Freud bei allem Respekt vor dem großen Dichter diesen doch unter psychoanalytischen Vor zeichen kritisch in den Blick, da er es in vielen Dingen »wirklich nicht besser gemacht« 8 1 habe als wir. Der Gedanke, die Kulturleistungen einer Persönlich78 Vgl. ebd., 173. 79 Vgl. Koch, Zauber, 73. 80 Vgl. ebd., 72. Ausdrücklich laitisiert Koch die Psychoanalyse 1930 als eine psychotherapeutische Methode, deren große Zeit wie die der Hypnose bald Vergangenheit sein werde; alJerdings bleibe ihr Verdienst, den ärztlichen Blic.k auf die Psychodynamik gelenkt zu haben. Vgl. Koch, Behaod1ung, 8; zu Kochs Psychoaoalyselaitik vgl. Siefert, Kraoksein, 136 und Wiesing, Medizin, 144. 81 Vgl. Freud, Unbehagen, 550. Den Grund für dies Interesse an den menschlichen Normalltäten siebt Freud in der teilweise »feindseligen« Ambivalenz gegenüber den geistigen Autoritäten, die oftmals in ein Ressentiment münde und dergestalt den Versuch, psychologisch zu entlarven, bedinge.
Richard Kochs »Zauber der Heilquellen« keit
als
251
gelungene Sublimierungen niederer Triebstrebungen
zu
betrachten, 82
liegt Kochs Ansatz jedoch vollkommen fern; ganz zu schweigen davon, dass er Freuds naturwissenschaftliches Selbstverständnis als rückständige Position des
19. Jahrhunderts auffassen musste, 83 die unfähig mache, die geheimnisvolle Realität als metaphysische Entität im Sinne des goetheanischen Pantheismus zu
verstehen. Zudem distanziert sich Kochs baineologische Studie ausdrücklich von aller
psychotherapeutischen »Suggestion«, die nur im Bereich der unspezifischen
Klimawirkungen zu .finden sei. Das »Wesentliche« liegt für der individuellen Wrrkung a11 dieser Komponenten auf den »einzelnen
Orts-, Milieu- und Koch in
Kurgast«84, die jedoch auf die »besondere Geistigkeit« der Kurgemeinschaft angewiesen ist. 85 So lässt er zwar die »ungeahnt große Rolle« der psycho therapeutischen Suggestion gelten, aber stellt als entscheidenden Faktor der Heilkunde den Zauber der besonderen Persönlichkeiten und Gemeinschaften darüber. 86 D a diese inkommensurable Größen bilden, bleibt Kochs baineolo
gisches Medizinmodell im Zentrum bewusst theoretisch vage. Alle genaueren Erklärungsversuche der medizinischen Wrrkung erscheinen
in
dieser Perspek
tive als unnötig und sogar hinderlich, da anderenfalls das individuell konstel lierte Geheimnis gar nicht mehr
zu
wirken f ähig wäre.
Konsequenterweise muss sich Koch nicht um von Weizsäckers Frage küm mern, ob und wie »klinische Objektivität« 87 und wissenschaftliche Gewissheit
im psychotherapeutischen Handeln durch empirische, statistische und kasuisti sche Evidenzanstrengungen zu erlangen seien. Der an Goethe veranschaulichte lnkommensurabilitätsfaktor möglichst nicht vage
zu
nimmt
dem genuin wissenschaftlichen Anspruch,
argumentieren oder zu handeln, seine trennscharfe
Autorität. Somit setzt sich Kochs baineologische Studie dem starken Ver dacht aus, bewusst
zu
wenig zwischen notwendig vagen Aussagen und weiter
klärungsf ähigen Vagheiten in der Theoriebildung zu unterscheiden. 88
Ohne, dass dieser Essay Kochs Versuch, die Medizin zwischen Wissenschaft
und Magie anzusiedeln, auf die heikle Vagheitsfrage hin genauer betrachten könnte, soll zumindest
im
Rekurs auf Webers Soziologie ein abschließendes
Resümee gezogen werden. Die Beschränkung intersubjektiver Wertruschrei bungen auf »kleinste Gemeinschaftskreise« in einer modernen GeseUschaft kann nicht bedeuten, dass man medizinische Fragestellungen, die zwar einzelne
Individuen betreffen, aber durchaus intersubjektiv in Anteilen zu klären sind,
82 83 84 85 86 87 88
Vgl. Freud, Goetbe, 457. Vgl. Koch, Zauber, 63 und Vgl. Koch, Zauber, 7f. VgL ebd., 70f. Vgl. ebd., 9f.
von
Engelbardt, Medizintheorie, 83f.
Vgl. von Weizsäcker, Psychotherapie, 166f. Vgl. WieW, Metaphysik.
Matthias Bormuth
252
mit dem Verweis auf die inkommensurable Persönlichkeit nicht einem wissen
schaftlich plausiblen Klärungsprozess unterzieht. Wie die psychodynamischen,
verhaltens- wie sozialpsychologischen und erbbiologischen Resultate der neue ren Psychotherapieforschung zeigen, sind weitaus mehr anscheinend »geheim nisvolle« Zusammenhänge im therapeutischen Geschehen empirisch tmd argu
mentativ vergleich- und wägbar, auch wenn sich nicht eine durchgängige Theo rie daraus ergeben muss. 89 Natürlich bleibt die Möglichkeit unbenommen in privater Praxis, wie Koch es
zu
seiner Zeit tat, 90 ohne umfassende Erkenntnisse von genaueren Wrrk
zusammenhängen mit Goethe magisch zu therapieren und kulturelle Sugge stionen wirken
zu
lassen. Jedoch muss dann die kritische Rückfrage erlaubt
sein, ob die eigene Medizintheorie dem möglichen WISsen der Zeit entspricht, oder ob sie nicht vielmehr ein sinnträchtiges Reservat inmitten einer entzauber ten
Welt darstellt,
das das verständliche Bedürfnis nach geheimnisvollen und
schönen IDusionen erfiiltl , aber nicht den kritischen Auftrag, von dem auch eine Wissenschaft nicht loszusprechen ist, der es auf praktische Erfolge ankommt.
Zumindest sollte sich eine solchermaßen lebensdienliche Wissenschaft auf der
Höhe Nietzsches befinden, der reflektiert entschieden hatte, dem Bedürfnis
nach einem »umhüllenden Wahn« die kritische Komponente der Wissenschaft zu
opfern. 91
Koch zog sich mit seinem erfolgspragmatischen Medizinmodell, das sich
weniger um das
wie
als um das dass der Wrrkung
kümmerte,
in einen an
Goethes Pantheismus orientierten Raum der therapeutisch wirksamen, geis
tigen Enthusiasmen zurück, ohne mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild seiner Zeit in ernsthafte Kollisionen geraten
zu
müssen. So konnte er seine
Studie schließen: »Der starke Zauber bleibt unbegreiflich, so wie das einfa che Dasein von allem, was man ist, das Unbegreiflichste bleibt.«92 Fraglos ein schöner, begeisternder Satz, der allerdings allein der dichterischen Exis
tenz zusteht. Goethe darf auch aphoristisch fordern, wie im religiösen, so auch im wissenschaftlichen Leben eine durchgängige Liberalität von übergreifenden Konventionen walten zu lassen, ohne sich über die verschiedenartigen Wahr heitskriterien bewusst werden zu müssen. 93 Vom
Arzt
wäre aber
zu
erwarten, dass er mit gehöriger Skepsis auf Nietz
sches übersteigerte Forderung nach einer subjektvierten Wissenschaft blicken sollte. Keineswegs dürfte er sich aufgefordert fühlen, sie in einem bewusst
89 Vgl. Bräutigam, Theorien. 90 Koch fii.hrte bis zur Emigration eine private ärztliche Praxis und war seit 1937 im sowjetischen Exil bis zu seinem Tod 1949 als beratender Arzt für Heilbäder und Sanatorien m i kaukasischen Essentuki tätig. Vgl. Preiser, Leben und Werk, 57. 91 Vgl. Nietzsche, Historie, 298. 92 Koch, Zauber, 73. 93 Vgl. Anm. l .
253
Richard Kochs ))Zauber der Heilquellen«
vagen Medizinmodell umzu setzen. Denn alle Schwächen einer rationalistischen M edizin und die fraglose Wrrkung emotional vermittelter Faktoren hindem doch nicht, dass ein möglichst gewisses, wenig vages Handeln
zin
in
der Medi
oft den Betroffenen zum gesundheitlichen Vorteil gereichen kann . Inwie
weit Kochs Ansatz einem medizinischen Selbstverständnis vorausläuft, das vor allem den wissenschaftlich nachprüfbaren Handlungsnutzen zum Qualitätskri terium erhebt und sich mit dem Namen der »Evidence based medicine« ver bindet, ist schon mit einigem Recht gefragt worden. 94 Unabhängig von diesen handlungspragmatischen Erwägungen bildet Webers Norm der »intellektuel len Rechtschaffenheitspllicht« einen unhintergehbaren wissenschaftsethischen Standard.95 Dieser wäre durchaus mit der liberalen Möglichkeit überein zu bringen, dass sich Arzt und Patient rational transparent mit Nietzsche auf vage Heilungswege begeben könnten, sofern sie empf anglieh für kulturell vermittelte Suggestionen wären und diese nicht die Grenze des gesellschaftlich Erlaubten überschritten.
Literatur Bering, D., Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Stuttgart 1978. Bonnuth, M., Lebensführung in der Moderne. Karl Jaspers und die Psychoanalyse, Stuttgart 2002. Burckhardt, J., Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch [ 1860), Darmstadt 1955.
Bräutigam, W., Theorien und Praxis der Psychosomatischen Medizin in 100 Jahren ihrer Geschichte, in: H.-C. Deter (Hg.), Psychosomatik am Beginn des 2 1 . Jahrhunderts, Sem 2001, 29-38. Eckennann, J.P., Gespräche mit Goethe, in: J.W. von Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 12, Frankfurt am Main 1999.
Eliasberg, W. (Hg.), Bericht über den 1 . Allgemeinen Ärztlichen Kongreß für Psycho therapie in Baden-Baden, 17.-19. April 1926, Halle 1927. Engelhardt, D. von, Richard Kochs Beitrag zur Medizintheorie des 20. Jahrhunderts, in:
G. Preiser (Hg.), Richard Koch und die ärztli che Diagnose, Frankfurt am Main 1988, 82- 1 0 1 .
Flöhl, R., Richard Koch als Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung, in: G. Preiser (Hg.), Richard Koch und die ärztliche Diagnose, Frankfurt am Main 1988, 150-153.
Freud, S., Goethe-Preis 1930, in: Gesammelte Werke, Bd. 14, London 1948, 543-550. -, Das Unbehagen in der Kultur [ 1 930], in: Gesammelte Werke, Bd. 14, London 1948, 41 9-506. Goethe, J.W. von, Dichtung und Wahrheit. Sämtliche Werke, Bd. 14, bg. von K.-D. Müller, Frankfurt am Main 1986.
94 Vgl. Wiesing, Medizin, 146f. 95 Vgl. Weber, Wtssenschaft, 613.
Matthias Bormuth
254 -, Gedichte
1800-1832, in: Sämtliche Werke, Bd.2, hg. von K. Eibl, Frankfurt am Main
1988. -, Schriften zur allgemeinen Naturlehre. Geologie und Mineralogie, in: Sämtliche Werke, Bd. 25, hg. von W. von Engelhardt/M. Wenzel, Frankfurt am Main
Jaspel"', K., Die geistige Situation der Zeit
[1931),
Berlin
Koch, R., Das Als-Ob im ärztlichen Denken, München
1989.
3 1953. 1924.
-, Die ärztliche Diagnose. Beitrag zur Kenntnis des ärztlichen Denkens den
[1917), Wiesba
2 1920.
-, Ärztliches Denken. Abhandlungen über die philosophischen Grundlagen der Medizin, München
1923.
-, Über die Behandlung innerer Krankheiten. in: Hippolerates
3 (1930) 5-13.
-, Der Zauber der Heilquellen. Eine Studie über Goethe als Badegast, Stuttgart
1933.
KoseUeck, R., Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main
2000, 177-202.
Kümmel, W., Jüdische Ärzte in Deutschland zwischen Emanzipation und »Ausschal tung«, in: G. Preiser (Hg.), Richard Koch und die ärztliche Diagnose, Frankfurt am
1 988, 15-47. Leopardi, G., Gesänge, Dialoge und andere Lehrstücke, Zibaldone/München 1998. Main
Lukacs, G. von. Die Theorie des Romans. Ein gescbichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik
[191611920),
Neuwied
1963.
Nietzsche, F., Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. l , München
1980, 243-334.
Preiser, G. (Hg.), Richard Koch und die ärztliche Diagnose, Frankfurt am Main
-,
1988.
Richard Koch. Zu Leben und Werk eines Frankfurter Arztes, in: ders. (Hg.), Richard Koch und die ärztliche Diagnose, Frankfurt am Main
1988, 48-60.
Rothschuh, K.E., Richard Hermann Koch (1882-1949). Arzt, Medizinhistoriker, Medi zinphilosoph (Biographisches, Ergographisches), in: Medizinhistorisches Journal
(1980) 16-43
und
15
223-243.
Schröder, W., Art. Pantheismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7
( 1 989) 59-63.
Siefert, H., »Psychogenes Kranksein« bei Richard Koch, in: G. Preiser (Hg.), Richard Koch und die ärztliche Diagnose, Frankfurt am Main
1988, 128-141.
F./U. Wiesing (Hg.), Richard Koch und Franz Rosenzweig. Schriften und Briefe zu Krankheit, Sterben und Tod, Münster 2000. Weber, M., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie [ 1920), Bd. 1, Tübingen 5 1963.
Töpfer,
-, Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen WISsenschaften
[ 1917], in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 61985, 489540. -, Wissenschaft als Beruf[1919), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur WISsenschaftslehre 61985, 582-613. Weizsäcker, V. von, Psychotherapie und Klinik [1927), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, 161-176. Wiehl, R., Metaphysik und Erfahrung. Philosophische Essays, Frankfurt am Main 1996. Wieland, W., Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie, Berlin 1975. Wiesing, U., Medizin und Moral bei Richard Koch, in: Zeitschrift für Ethik in der Medizin 9 (1997) 134-150.
Autoren und Autorinnen
MA:rrmAs BORMUfH, Dr. med., Medizinstudium in Marburg und Göttingen; einige Jahre psych iatrisch-psychotherapeutische Assistenz in Frankfurt am Main und Jena; seit 1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter und seit 2001 wissenschaftlicher Assis tent am Institut
fiir Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübin
gen; 1 998-2001 Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Hei
delberg zur Edition der Medizinischen Korrespondenzen von Karl Jaspers; Größere Veröffentlichungen: Mitarbeit
am »Reader. Ethik in der Medizin«,
München 2000; »Lebensführung in der Moderne. Karl Jaspers und die Psy choanalyse«, Stuttgart 2002 und zus. mit D. von Engelhardt, »Karl Jaspers. Medizinische Korrespondenzen«, München 2003.
WALTER BRUCHHAUSEN, Dr. med., Diplomtheologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Medizinhisto rischen Institut der Universität Bonn. Nach den Studien der Medizin, Katho
lischen Theologie und Philosophy of Medicine/Health Care Ethics in Bonn,
Arzt in ländlichen Krankenhäusern des westlichen Deutschlands und des östlichen Afrikas. Über die Unterrichtstätigkeit in Medi
Würzburg und Glasgow
zinethik und die Beschäftigung mit Ethnomedizin Einstieg in das Fach Medizin geschichte. Forschungsinteressen: Interkulturelle Medizn i ethik, medizinischer
Afrika, Medizin und Religion. Publi kationen zum Thema europäische Medizin und außereuropäische Gesellschaf ten: Gesundheit durch oder trotz Kultur?, in: Geschichte und Kulturen 9 (2000); Medizin und Moral ohne Kontext, in: Ethik in der Medizin 1 3 (200 1), zus. mit V. Roelcke, Categorising > African medicine(: the German discourse on East African healingpradices, 1885-1918, in: W. Ernst (Hg.), »Plural Medicine, Tradition and Modernity, 1 800-2000«, London 2002; Organtransplantation und Kultur, in: V. Scbubert- Lehnhardt (Hg.), »Gesundheit im Spannungsfeld zwischen Ethik und Pluralismus, Geschichte der Medizin in
Monetik. Beiträge des Gesundheitsstages 2000<<, Berlin 2002.
ÜTN rEL E. DROR, MD, Ph D, is Lecturer and Head of the Section for the History of Medicine
in the Medical Faculty ofthe Hebrew University of Jerusalem. He received his
MD from Ben-Gurion University (1 989), and bis Ph D in history from Prince ton University (1998). He is affiliated with and teaches the history of science and medicine at tbe Medical Faculty and in the Faculty of the Humanities.
256
Autoren und Autorinnen
His essay in this collection is part of bis current book project, »The Science of Passion: Modernity and the Study of Emotions, 1880-1 950,« and is forth coming with Stanford University Press. Recent publications bave appeared in
Isis (1 999), Configurations (1 999), Social Research (200 1), and Science in Context (2001). SUSAN HILLER, Künstlerin und Prof. of Contemporary
Art, wurde 1942 in Tallahassee, Flo
rida, geboren und studierte am Smith College, Massachusetts und an der Tulane University, New Orleans. Nachdem sie ihren Postgraduate Degree in Anthro pologie und Archäologie gemacht hatte, ging sie 1973 nach London, wo sie bis heute als Künstlerin lebt und arbeitet. Ihre Werke beziehen so unterschiedli che künstlerische Medien wie Malerei, Schrift, Fotografie, Performance-Kunst, Video-Installationen und Fundobjekte ein. Susan Hiller hat einen Lehrstuhl für Kunst in Newcastle. Sie publizierte verschiedene Kunstbücher und Interviews, wie z.B.: »After the Freud Museum«, London 2000, »Freudsche Objekte«, Leipzig 1998, »Witness«, London 2000 und zus. mit David Coxhead, »Dreams. Visions of the nigbt<<, New York 1990. ÜERRIT HOHENDORF,
Dr. med., geb. 1963, Studium der Medizin und der ev. Theologie an den Univer
sitäten Bonn und Heidelberg, ist wissenschaftlicher Angestellter an der Psychia trischen Universitätsklinik Heidelberg. Dissertation über die Psychosomatische Theoriebildung bei Felix Deutsch (Heidelberg 1 996). Publikationen: zus. mit Achim Nagull-Seltenreich (Hg.), »Von der Heilkunde zur Massentötung<<, Hei delberg 1990; zus. mit Christoph Mundt, Maike Rotzoll (Hg.), »Psychiatrische Forschung und NS->Euthanasie<«, Heidelberg 200 1 ; zus. mit Volker Roelcke, Maike Rotzoll, Innovation und Vernichtung, in: Der Nervenarzt 67 ( 1 996); zus. mit Volker Roelcke, Maike RotzoU, Innovation without Ethical Restriction, in: E.J. Engstrorn/M.M. Weber/P. Hoff (Hg.), »Knowledge and Power<<, Bertin 1999 und zus. mit Martin Bölle, Wandlungen des psychoanalytischen Konver
sionsbegrijfs, in: Günter H. Seidler (Hg.), »Hysterie heute«, Gießen 2200 1 . RAINBR M.-E. JACOBI, Dipi.-Phys., Studium der Physik und Biomedizinischen Kybernetik
in Dresden,
Tätigkeit in der medizinischen Diagnostikforschung, wiss. Mitarbeiter an der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina zu Halle (Saale) und der Humboldt-Universität zu Bertin, Zweitstudium Philosophie in Berlin, Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (Studiengruppe Klaus M. Meyer Abrich), z.Z. DFG-Projekt
zum
Nachlass Vtktor von Weizsäckers am Medi
zinhistorischen Institut der Universität Bonn. Mitglied der Akademie
für Ethik
in der Medizin (Göttingen). Auswahlbibl.: (Hg.): »Zwischen Kultur und Natur. Neue Konturen medizinischen Denkens<<, Bertin 1997; »Geschichte zwischen
257
Autoren und Autorinnen
Erlebnis und Erkenntnis«, Berlin 2000; zus. mit P.C. Claussen/P. Wolf, »Die
Wahrheit der Begegnung. Anthropologische Perspektiven der Neurologie<<, Würzburg 2001; zus.
mit D. Janz, »Zur Aktualität Vtktor von Weizsäckers«,
Würzburg 2002. CilLTNE KAISER,
M.A., Studium der Germanistik und Philosophie an den Universitäten Bonn und Düsseldorf (MA. in Bonn 1997 und Lehramt der Sek. 1111 in Bonn 1998). Seit dem Frühjahr 2000 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonder forschungshereich »Judentum-Christentum« im
Rahmen eines medizinhisto
rischen Forschungsprojektes zur Geschichte der psychoanalytischen Psycho
somatik tätig. Arbeitsschwerpunkte in diesem Zusammenhang: Etikettierung
der Psychoanalyse als jüdische Wissenschaft und frühe Entwicklungsgeschichte der psychoanalytischen Theorie. Sie promoviert derzeit mit einer Arbeit über »Ideenassoziation und Paranoia. Konzepte der Überinterpretation zwischen Max Nordau und Sigmund Freud«. LAURA
Ons,
Prof. Dr. phil., M.A., lehrt als Associate Professor ofEnglish an der Hofstra Uni versity und hat im Jahre 2000 ein MacArtbur Foundation Fellowship erhalten. Nach einem M.A.-Abschluss in Neurobiologie (UCSF, 1988), hat sie in Ver
gleichender Literaturwissenschaft promoviert (Comell University, 1991). Otis hat folgende Bücher publiziert: »Ürganic Memory«, Nebraska, 1994, »Mem branes«, Johns Hopkons 1999 und »Networking«, Michigan 2001. Zudem hat sie die Science Fiction Erzählungen des spanischen Neurobiologen San tiago Rarnon y Cajal, »Vacation Stories«, Illinois 2001 übersetzt. Jüngst gab sie die Anthologie »Literature and Science in the Nineteenth Century<<, Oxford 200 1 heraus. In ihrem derzeitigen Projekt� das sie als Gastwissenschaftlerin am Max-Planck-Institut
für Wissenschaftsgeschichte bearbeitet, wendet Otis
literaturwissenschaftliche Methoden auf die Arbeit und Veröffentlichungen des Berliner Physiologen Johannes MüJJer und seiner Studenten an. VOLKER ROELCKE,
Prof. Dr. med., M.A., Studium der Medizin (Dr. med., Universität Heidelberg 1984) sowie der Ethnologie, Alten Geschichte und Philosophie (M. Phil. Carn bridge University 1988); 1988-1992 Weiterbildung zum Facharzt
für Psych
iatrie; 1992-1999 Mitarbeiter am Medizinhistorischen Institut der Universität Bonn; 1997 Habilitation für Geschichte der Medizin und Ethnomedizin; 1998/ 1999 Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut
für Wissenschaftsgeschichte,
Berlin; seit WS 1999/2000 Professor am Institut für Medizin- und Wissen schaftsgeschichte der Medizinischen Universität
zu
Lübeck. Publikationen u. a.
zur Geschichte der Psychiatrie, zur medizinischen Deutung sozialer und kul tureller Phänomene; zur Geschichte und Ethik des Humanexperiments; zur
258
Autoren und Autorinnen
Ethnomedizin und zur Geschichte der M edizinhistoriographie; gegenwärtiger Forschungsschwerpunkt: psychiatrische Genetik im Kontext der internationa len Eugenik,
ca.
1900-1960.
BARSARA SCHELLEWALD, Prof. Dr. phil., Professorin
für Kunstgeschichte an der Rheinischen Fried
rich-Wtlhelms-Universität Bonn. Schwerpunkte: Kunst des Mittelalters in Ost (Byzanz) und West, Zeitgenössische Kunst. Publikation z. B . zus. mit Michael Fehr (Hg.), »Sigrid Sigurdsson. Von der Stille - Ein kollektives Gedächtnis«, Köln 1995.
ULRICH SCHULZ-VENRATH, Prof. Dr. med., Arzt für Psychotherapeutische Medizin und Nervenheil kunde, Psychotherapie/Psychoanalyse (DPV/IPA) und Gruppenanalyse/Orga nisationsanalyse (GRAS/DAGG). Chefarzt der
Klinik für Psychiatrie, Psycho
therapie und Psychosomatik im Evangelischen Krankenhaus Bergisch Glad bach, Fakultätsmitglied und Fachvertreter an
für Psychotherapeutische Medizin
der Universität Witten/Herdecke. Veröffentlichungen zur Geschichte der
Psychosomatik, Neurologie und Psychoanalyse sowie zur Psychosomatik neu rologischer Erkrankungen. H E LMUT SIEFEIU, Prof. Dr. med., am Senckenbergischen Institut für Geschichte der Medizin
der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Hauptarbeits
gebiete: Geschichte der Psychiatrie und Psychotherapie, Medizin in Frankfurt
am Main und Hessen, Medizin im Nationalsozialismus, medizinische Termino
logie. Veröffentlichungen u.a.: Mitherausgeber der Werke von Heinrich Hoff mann und Georg Groddeck.
MARIE-LUISE WÜNSCHE, Dr. phil., M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich »Judentum - Christentum« im Rahmen eines medizinhistorischen Forschungs projektes zur Geschichte der psychoanalytischen Psychosomatik und Lehrbe auftragte
an
der Universität Koblenz - Landau,
Campus Koblenz. Sie promo
vierte in den Fächern Germanistik, Philosophie und Geschichte der Medizin an
der Universität Bonn. Publikationen u.a.: »Briefcollagen und Dekonstruk
tionen. >Grus< - Das artistische Schreibverfahren Hermann Burgers«, Biete
Von Tex! zu Text. > Seelensucher< zwischen Analytik und Allegorie, in: »Aspekte der Textgestaltung«, Ostrava 2001. feld 2000;