TOM ARDEN
Der Kreis den Orokons 6
Die Nebelprinzessin
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1. Kaleds Fluch (Fortsetzung) »Junger Prinz, seid Ihr ...
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TOM ARDEN
Der Kreis den Orokons 6
Die Nebelprinzessin
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1. Kaleds Fluch (Fortsetzung) »Junger Prinz, seid Ihr Euch wirklich sicher?« »Ich weiß zwar nicht genau, ob ich es ertragen kann, aber ich muss es unbedingt versuchen.« »Ich befürchte einfach, dass ich Euch vielleicht ein Leid zufüge.« »Aber wie denn, mein guter Simonides?« »Wie? Wahrhaftig, ich bin doch ein törichter alter Mann. Ich will, dass Ihr große Weisheit erlangt, und gleichzeitig möchte ich Eure Unschuld nicht verderben.« »Wie sollte ich nach der Nacht, in der mein Freund verbrannt wurde, noch unschuldig sein können?«, erwiderte Dare traurig. Simonides nickte. Der Junge ergriff seine Hand und ermunterte den alten Mann eindringlich, fortzufahren. Sie saßen wieder in den duftenden Dachgärten des Palastes und tranken grünen Tee. Der Himmel, den sie durch das raschelnde Blätterdach sahen, war klar und blau. Träge taumelte ein Schmetterling über ihren Köpfen, und durch das Dickicht drang das vertraute, merkwürdige Zwitschern der Targon-Diener. Simonides wusste, dass es gefährlich war, mit dieser Geschichte fortzufahren. Aber er war bereits ein alter Mann und musste sowieso bald sterben. Dare hingegen war der Unangefochtene Thronfolger, und er war daher vollkommen ungefährdet. Die Wahrheit musste endlich ans Licht gebracht werden. Simonides nippte an seinem grünen Tee und holte tief Luft. »Prinz Dare, ich habe Euch von dem idyllischen Leben berichtet, das Euer Vater in seiner Jugend mit Mala führte. Ebenso von den wis senschaftlichen Forschungen, die die beiden Jungen einmal so faszi nierten. Ich habe beschrieben, wie Euer Väter zum Unangefochtenen Thronfolger ausgerufen wurde und die wunderschöne Lady Ysado na heiratete. Außerdem habt Ihr von den Ouabin-Kriegen erfahren,
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in denen der junge Lord Malagon kämpfte, während das Hofproto koll seinem besten Freund verwehrte, es ihm auf dem Feld des Ruh mes gleichzutun. Euer Vater wurde daraufhin ein trauriger, verbitterter junger Mann! Und leider fingen damit seine Sorgen erst an. Der Feldzug gegen die Ouabin zog sich hin und wurde äußerst blutig geführt. Euer Vater erwartete ungeduldig die Depeschen, die nur äußerst spärlich aus der Wildnis des Westens eintrafen. Er vertiefte sich in die Schriftrollen und suchte nach Nachrichten über Mala. Stellt Euch sein Entsetzen vor, als er erfahren musste, dass Mala von den Ouabin gefangen genommen worden war! Euer Vater erlebte ein quälendes Wechselbad der Gefühle. Er dachte an seine glückliche Kindheit mit Mala, doch dann stieg die Verbitterung der letzten Zeit in ihm hoch, und er jubilierte insgeheim bei dem Gedanken, dass Mala jetzt bestimmt gebührend bestraft worden war. Manchmal verwünschte Euer Vater auch den Sultan, weil der ihm verboten hatte, an Malas Seite zu reiten. Dann wiederum verfluchte er sich selbst, dass er vor Mala seine Wut verborgen hatte, weil er ihr jetzt vielleicht nie mehr freien Lauf lassen konnte. Bei Hofe wurde Euer Vater jetzt natürlich von allen Seiten mit Mitleid überschüttet, denn alle wussten - oder glaubten doch zu wissen -, wie sehr er seinen verschollenen Freund geliebt hatte. Nur Euer Großvater bemerkte von alldem nichts. Auf einem Bankett tadelte er eines Abends Euren Vater, warum dieser wenig lächelte, wo er doch in den Armen der entzückenden Ysadona neue Kraft schöp fen könnte. Euer Vater sprang auf und hätte Euren Großvater si cherlich tätlich angegriffen, wenn die Wachen ihn nicht zurückge halten hätten. Die Höflinge schüttelten traurig die Köpfe und schrieben den Wutausbruch Eures Vaters seiner großen Trauer zu. Der Sultan jedoch betrachtete seinen Sohn nur ironisch und überleg te laut, ob Ysadona genügte, eine solch feurige Leidenschaft zu stillen. Verwirrte die Lust seinem Sohn vielleicht den Verstand? Sollte er sich doch eine zweite Braut suchen, wenn eine ihm nicht reichte! Ach! Leider nahm sich Euer Vater diese spöttischen Worte viel zu sehr zu Herzen.
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Drei oder vielleicht auch vier Mondleben lang hielt sich dieser traurige Zustand. Dann jedoch kam die nächste Depesche an, und plötzlich war alles anders. Mala war frei! Der junge Offizier war nicht durch die Hand eines Ouabin gefallen, im Gegenteil! Er hat te hinter den Linien der Ouabin eine Revolte angezettelt und den Weg für einen ruhmreichen Sieg der Unangesen geebnet. Der Krieg war vorbei, und der junge Lord Malagon zog als Held nach Hause! Stellt Euch nur die ausgelassenen Feiern in Kal-Theron vor! Mala, Mala! Die Menschen riefen unablässig den Namen des Helden. Er wurde von den Dächern geschrien, erklang in den Straßen. Und die Höflinge gratulierten Eurem Vater aufrichtig, dass ihm ein so großer Mann dienen wollte! Ich war zu dieser Zeit sehr oft mit Eurem Vater zusammen, und da ich ihn so gut kannte, genügte mir ein Blick in seine Augen. Ich wusste, dass alle Zuneigung für seinen alten Freund verschwunden war. Von da an fürchtete ich um Mala, denn Euer Vater lächelte nur, lächelte und tat, als stimme er in die allgemeine Freude mit ein. Als Mala durch die Tore von Kal-Theron ritt, hieß Euer Vater ihn an der Spitze des offiziellen Begrüßungs Komitees willkommen. Vor aller Augen umarmte er seinen alten Freund stürmisch. Ein Jubelschrei ohnegleichen brach los, und zahllose Gebete stiegen zum Himmel! An diesem Tag, so schien es, dämmerte eine neue Ära, symbolisiert durch die Umarmung von Unangs jüngstem Helden und diesem weisen und klugen jungen Thronfolger. Wer in der verzückten Men ge hätte sich träumen lassen, welch böse Gedanken Euer Vater in seinem Busen nährte? Wer hätte ahnen können, dass er bereits eine schreckliche, tödliche Revanche gegen den Freund schmiedete, der ihn liebte und deshalb doch nur versuchte, ihm gut zu dienen? Der Mala, der aus den Ouabin-Kriegen zurückkehrte, war frei lich ein ganz anderer als der, welcher hinausgezogen war. Der junge Edelmann hatte eine Ernsthaftigkeit, eine Männlichkeit erlangt, die die Eures Vaters in den Schatten stellte. Außerdem glaube ich, dass in Mala eine neue Sehnsucht keimte, eine geistige Qualität, von der ich manchmal einen Eindruck bekam, wenn er von seinen Abenteu
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ern erzählte. Er schilderte nicht die Angriffe der Kavallerie oder die blitzenden Krummsäbel, die Flucht und Verfolgung durch die un wirtlichen Steppen, sondern berichtete von Wanderdünen und Treibsand in einem blutroten Sonnenuntergang, von einer Karawa ne, die in einer palmengesäumten Oase rastete, oder dem merkwür digen, hohen Gesang eines Wüstensängers. Ich weiß noch, wie er zum ersten Mal von diesen Dingen sprach. Es war spät abends, und wir waren allein. Seine Stimme wirkte sanft und warm, wie das Glühen der Konar-Lampen. Einen Augenblick hatte ich den Eindruck, als hörte ich eine schwache, geheimnisvolle Musik, die wie Weihrauch durch die Luft wehte. Es dauerte ein we nig, bis mir klar wurde, dass Mala nicht von seiner Zeit bei der kai serlichen Armee sprach, sondern von seiner Gefangenschaft bei den Ouabin. Ich war erregt und beunruhigt. Wie sich herausstellte, hat te ich allen Grund dazu. Dann falls die Ouabin etwas in Mala zum Klingen gebracht hatten, wäre es gewiss besser gewesen, sie hätten diese Saite niemals angerührt. Die Zukunft sollte das bestätigen, aber zunächst schien es, als könne das Böse bei Mala nicht Fuß fas sen. Diese neue Sehnsucht in ihm verhieß anscheinend nur Gutes, denn gewiss war sie die Ursache, warum sich unser junger Held so hoffnungslos und verzweifelt verliebte. Dare, Ihr wisst vielleicht nicht, dass Eure Mutter, die wunder schöne Ysadona, eine Schwester hatte. Die zweite Tochter des Bot schafters hieß Ysabela, und unter Freunden nannte man sie Dona und Bela. Eure Tante Bela war die jüngere der beiden. Am Hof war sie immer verschleiert, aber es hielten sich die Gerüchte, dass sie Eurer Mutter an Schönheit gleichkam. Manche behaupteten gar, sie würde sie übertreffen. Für diese Vermutung sprach leider einiges, denn durch Belas hauchdünne seidene Roben waren die Umrisse ihres Körpers zu erkennen, der so perfekt war, dass er selbst die Dame im Mond beschämen würde - bevor ihr Gesicht von Pockennarben entstellt wurde. Welcher Mann würde sich nicht danach sehnen, sie an seinen Busen zu ziehen? Also kam es, dass der junge Lord Malagon um ihre Hand anhielt.
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Vielen schien die Aussicht perfekt, dass dann Euer Vater und sein zukünftiger Wesir mit den beiden Prinzessinnen verheiratet sein würden. Der Hof konnte Malas erstes Blut kaum erwarten. Voller Freude planten die Eunuchen eine prachtvolle Hochzeitszeremonie. Doch bei all dieser Vorfreude hatte keiner mit Eurem Vater gerechnet, der seinerseits Interesse an der Schwester seiner jungen Braut gefunden hatte. Manchmal frage ich mich, ob die Dinge anders verlaufen wären, wenn Mala sich eine andere zum Objekt seiner Liebe auserkoren hätte. Doch vielleicht hätte jede Frau, die Mala erwählte, den Neid seines Freundes geweckt. Trotzdem, wie konnte ein Gefühl, das aus purem Neid geboren wurde, so rasch zu einer leidenschaftlichen Liebe erwachsen? Denn das war die Tragödie, die das Schicksal ins geheim bereithielt. Es war nicht so, dass Mala die wunderschöne Bela liebte und Euer Vater sie ihm nur aus Bosheit streitig machte! Nein, Euer Vater liebte sie ebenfalls! Was danach geschah, wurde zu einer Legende am Hof. Und zwar zu einer unserer traurigsten und bittersten. In den Sprüchen des Imral steht geschrieben, dass alles, was strahlt, vor allem das, was sehr hell strahlt, sich am Ende trüben würde. Wer hätte jedoch vermutet, dass Mala so schnell und so überraschend in Ungnade fallen würde? Die Hauptstadt stand wie unter Schock. Es war kaum vorstellbar, dass Lord Malagon, der Held des Tages, in Wahrheit ein hinterhältiger Agent der Ouabin sein sollte! Woher der Beweis für seinen Verrat stammte, blieb ein Geheimnis. Es genügte, dass der Sultan, Euer Großvater, zweifelsfrei davon überzeugt werden konnte. Bis heute schütteln manche Menschen den Kopf, wenn Malas Name erwähnt wird, und versinken in fassungsloser Trauer. Natür lich würden sie niemals zugeben, ob sich verräterische Gedanken unter diese Trauer mischen. Wieder andere ereifern sich in recht schaffenem Zorn, nicht auf Mala, auch nicht auf Euren Großvater, sondern auf die Ouabin, die den mutigen und loyalen Edelmann zu nächst entführt und dann zu ihren eigenen, verdorbenen Zwecken missbraucht haben. Auf jeden Fall sind sich in Unang alle einig, dass
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keine Nacht schwärzer war als diese, in der Lord Malagon in Ketten zum Heiligtum der Flamme geführt wurde. Nie herrschte ein tiefe res Schweigen denn damals, als Euer Großvater anschließend mit gesenktem Haupt auf den rubingeschmückten Stufen erschien und verkündete, dass der Verräter den höchsten Preis für seine Untreue gezahlt habe. In dieser Nacht stand Euer Vater ebenfalls auf dieser Treppe. Seine Miene war wie versteinert. Anscheinend hatte der Schmerz ihn betäubt. In Wahrheit aber muss sein Herz zerrissen gewesen sein, flammend von heimlicher Liebe und ebenso verborgenem Hass! Nur wenige gab es, die wie ich die Wahrheit ahnten. Und noch wenigere, die auch nur mit dem Gedanken spielten, zu protestieren. Oft wappnete ich mich mit hämmerndem Herzen, meinem ehemaligen Schüler Vorhaltungen zu machen, aber immer wieder siegte meine Feigheit. Ich verfluchte mich deswegen, und das tue ich heute noch. Aber Mala war von einem heiligen Dekret verurteilt worden, und allein dieses Dekret in Frage zu stellen war ein todeswürdiges Verbrechen. Die Ironie jedoch liegt darin, dass die Perfidie Eures Vaters nicht einmal belohnt wurde. Am Tag, nachdem Mala in die Flamme ge gangen war, rief Euer Vater seinen Schwiegervater zu sich und verkündete, dass er, von der ersten Tochter des Botschafters befriedigt, nunmehr auch die zweite zu heiraten gedenke. Euer Vater konnte viele Belege für seine Leidenschaft aufzählen, und die Ehre der ent setzten Frau wiederherzustellen, deren Geliebter sich als ein so nie derträchtiger Schurke erwiesen hatte, war ein vornehmes und edles Begehren. Doch der Botschafter hörte ihm erst gar nicht zu. Ob er nicht wusste, oder ob es ihn nicht kümmerte, wie Euer Vater seine erste Frau behandelt hatte: Sein Gefühl für Etikette war umso stärker entwickelt. Mit einem Schrei unterband er die wohlgesetzten Worte Eures Vaters und wollte von ihm wissen, ob er ihn beleidigen wolle. ›Euch beleidigen? Aber Herzensvater, was meint Ihr damit?‹ ›Prinz der Blutlinie, habt Ihr vergessen, wer ich bin?‹ ›Ihr seid der lanianische Botschafter ...‹
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›Ja, und der Bruder des lanianischen Königs! Für was haltet Ihr meine Tochter, wenn Ihr sie als Eure Konkubine nehmen wollt ?‹ Die Miene Eures Vaters verriet nur zu deutlich seine Verwirrung. Er wirkte wie versteinert, während sein Schwiegervater ihm erklär te, dass seine Tochter auch niemals einen zukünftigen Wesir hätte heiraten dürfen. Schon der Gedanke war monströs, doch noch schlimmer kam ihm das Ansinnen vor, dass Eure Tante Bela bloß die zweite Frau eines Mannes werden sollte! Der Botschafter war vor Wut rot angelaufen und ließ den Prinzen einfach stehen. Im Fortgehen verlangte er eine offizielle Entschuldi gung des Hofes, ansonsten würden die Unangesen in Zukunft als Feinde aller aufrechten Söhne von Lania Chor betrachtet werden. Natürlich waren seine Worte angesichts der Tatsache, dass seine älteste Tochter mit dem zukünftigen Sultan verheiratet war, ziemlich übertrieben. Aber der Botschafter war ein kühler und eitler Mann und dachte nur an die Verletzung der Etikette. In den folgenden Tagen waren zahlreiche Beschwichtigungen von Seiten vieler Höflin ge erforderlich, um die Wut des Botschafters zu dämpfen. Nur all mählich konnte man ihn davon überzeugen, dass Euer Vater ihn nicht hatte beleidigen wollen. Der Unangefochtene Thronfolger war einfach nur aus Trauer über den kürzlichen Verlust seines Freundes etwas durcheinander gewesen. Am Ende vergab der Lanianer seinem Schwiegersohn, und als Euer Vater wissen wollte, wie er Buße tun könne, schlug der Botschafter ihm vor, ein schönes Geschenk für die Hochzeit von Prin zessin Bela zu schicken. ›Ihre Hochzeit?‹, fragte der Prinz verständnislos. Denn insgeheim hoffte er immer noch, Bela zu der seinen zu machen. ›Allerdings.‹ Der Botschafter lächelte. ›Denkt Ihr nicht auch, dass eine so vornehme Dame nicht zu lange unverheiratet bleiben sollte? Erst gestern habe ich den Ehevertrag signiert und besiegelt von We sir Hasam zurückbekommen. Das Mädchen wird mit Eurem Bruder verheiratet, dem Kalifen von Qatani, und sie wird ihm eine gute Frau sein.‹
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Wäre Euer Vater schon Sultan gewesen, hätte er den Botschafter vermutlich auf der Stelle getötet und sich seiner Tochter bemächtigt, ungeachtet der Konsequenzen, die das gehabt hätte. Doch in Anbetracht der Lage war er gezwungen, seinen Schwiegervater zu umar men, für seine eigenen Narrheiten um Verzeihung zu bitten und so zu tun, als wäre er über die bevorstehende Hochzeit von Prinzessin Bela entzückt. Es kostete ihn eine ungeheure Anstrengung. Ich erinnere mich noch sehr genau an die Zeremonie, in deren Verlauf Eure Tante in das Kalifat von Qatani aufbrach. Ich beobachtete meinen jungen Herren ernst und betete darum, dass er seine Leidenschaft im Zaum halten könnte. Sie drohte wie glühende Lava aus ihm herauszubre chen! Die Formalitäten zogen sich in die Länge, aber letztlich erwiesen sich meine Ängste als unbegründet. Euer Vater verbeugte sich schicklich, und seine Miene war undurchdringlich wie Marmor, als die Frau, die er liebte, abreiste, um mit seinem Bruder verheiratet zu werden. Aber was muss ihm durch den Kopf gegangen sein, während sich die Karawane in Richtung Qatani bewegte? Fügte er sich endlich ernsthaft in sein Schicksal? Erkannte er zu guter Letzt die Unvernunft seiner Leidenschaft und bereute das Böse, das er im Namen Eurer Tante begangen hatte? Ich wünschte, es wäre so! Aber wahrscheinlich brütete das Hirn meines jungen Herrn bereits in diesem Moment einen neuen, noch verzweifelteren Plan aus. Ich sollte am Ende noch früh genug erfahren, dass er weit davon entfernt war, den Verlust seiner Geliebten einfach zu akzeptieren Ein Vorfall überschattete diese Abschiedszeremonie. Auch wenn es offiziell ein Freudenfest sein sollte, konnte man doch Bela nicht verheimlichen, dass ihre Schwester schwer krank war. Eure arme Mutter! Zweifellos hatte die Brutalität Eures Vaters ihr Siechtum beschleunigt, aber diese traurige junge Frau blieb loyal bis zum Schluss und ließ kein einziges Wort der grausamen Wahrheit verlau ten. Vielleicht war sie nur eine Närrin, aber wer konnte das schon sa gen? In diesen Ländern von Unang kann eine Ehefrau kaum freier
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sprechen als ein Sklave. Im Gegenteil: Das Schweigen wird ihr als heilige Pflicht auferlegt. Aber dass ein Mann, ganz zu schweigen, einer von königlichem Geblüt, einer Frau so wenig Freundlichkeit entgegenbrachte! Vor allem einer Hochschwangeren! Nachdem sie von ihrer geliebten Schwester getrennt wurde, sah sich Eure Mutter ihrer größten Herausforderung gegenüber. Es sollte eine sein, an der sie scheiterte. Ihre Gefangenschaft war für sie wie eine Todesqual, und sie starb, armer Dare, in der Nacht Eurer Geburt. Euer Vater war untröstlich. Traurig, aber auch bewundernd, bemerkten die Höflinge, wie sehr er seine Frau geliebt haben musste, wenn er sie jetzt so sehr vermisste. Man munkelte, wie tragisch es für einen so jungen Mann wohl war, so viel Leid ertragen zu müssen. Einige vermuteten, dass seine Gefühle ihn wahnsinnig machten, und es stimmt, dass er sich eine Weile wie verrückt benahm. Aber der Grund dafür war weder Trauer noch Bedauern, sondern Wut, rasende Wut darüber, dass er Eure Mutter geheiratet hatte, wo er doch ausschließlich ihre Schwester gewollt hatte! Euer Vater schwor, dass Bela irgendwie und irgendwann die seine werden würde, und er verfluchte seine Gefangenschaft in der Heiligen Stadt. In den folgenden Mondleben wurde er mürrisch, und viele Höf linge zweifelten an ihm. Doch eine Sonnenwende später veränderte sich sein Verhalten. Eines Tages stürzte Euer Großvater auf der Jagd nach Berglöwen von seinem Hengst und starb. Als die Nachricht die Stadt erreichte, wusste Euer Vater, dass seine Stunde gekommen war. Von jetzt an war er Sultan, und zwar mit all der Macht, die einem Sultan zustand! ›Lehrer‹, sagte er manchmal zu mir, ›jeder meiner Befehle ist Gesetz! Dann lächelte ich ihn an und lachte, wenn auch er lachte, aber ich spielte ihm eine Freude vor, die ich nicht empfand. Welch neue Verruchtheit würde mein alter Schüler entwickeln, jetzt, wo ihm keine Grenzen mehr gesetzt waren? Das heißt, natürlich war da noch die Flamme.« »Die Flamme?«, fragte Dare begierig.
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Mittlerweile war der Nachmittag verstrichen, und die Traurigkeit, die den Jungen bedrückte, war kaum noch zu ertragen. Aber er wollte die Geschichte zu Ende hören, so viel war gewiss. Sein Herz hämmerte, und er betete nur, dass Simonides genug Kraft besaß, fortzufahren. »Simonides?« Plötzlich war Dare beunruhigt. Der alte Mann war auf seinem Weidenstuhl zusammengesunken und atmete angestrengt und ras selnd. Ängstlich umklammerte Dare die Hand des alten Mannes. Wie kalt sie war! Seine Stimme überschlug sich, als der junge Prinz nach den Targon-Dienern rief. »Thronfolger?« Die fünf Stimmen klangen wie eine. »O Thron folger, was quält Euch?« »Nicht mich! Simonides, ihr Narren. Ratgeber Simonides!«
2. Das Reich von Un »Regenbogen? Regenbogen, wo bist du?« Jem schlenderte zwischen den Düften von Veilchen und Schafgar be, Henna, Glockenblumen, Margeriten und hunderter anderer un erwarteter Blumen durch die sonnengesprenkelten Schatten. Durch das Blätterdach drangen Vogelgezwitscher und das Plätschern eines Springbrunnens. Regenbogen war auf einem Weg mit lila und grünen Kieselsteinen vorausgelaufen und bellte aufgeregt. Jem hatte ihm folgen wollen, doch das leuchtende Geschöpf war schnell in dem verschlungenen Gewirr des dichten, geheimnisvollen Gartens verschwunden. »Regenbogen? Hab ich dich nicht eben bellen hören?« Jem bog um eine weitere Kurve und gelangte an einen Spring brunnen, ein merkwürdiger Turm aus ockerfarbenem Stein, der un ten gewölbt war und sich nach oben verjüngte. Mit geneigtem Kopf
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betrachtete Jem das Bauwerk. Was sollte seine Form wohl darstellen? Erst nach einer Weile begriff er, dass es sich um eine Flamme handelte - eine gewaltige Flamme. An den Seiten rann Wasser herunter und sammelte sich unterhalb der Flamme in einem moosigen Becken. Dankbar benetzte sich Jem das Gesicht und sank müde gegen den kühlen, mit einem Fries verzierten Sockel. Der Duft der Blumen wirkte wie der Rauch von Jarvel, und die Hitze um ihn herum war beinahe greifbar. Er hatte sich schon längst seiner vornehmen Gewänder entledigt und trug jetzt nur noch einen leuchtend roten Len denschurz. Unwillkürlich tastete er nach dem Lederbeutel mit dem Kristall, den er um den Hals trug. Das Leder war feucht von seinem Schweiß, und der Stein fühlte sich warm an. Jem blickte zum Blätterbaldachin hinauf. Die Sonne hatte schon ihren Zenit erreicht, doch er war vor langer Zeit aufgebrochen, noch in der Kühle des Abends. Was war los mit der Zeit? Würde sie jemals wieder richtig laufen? Jem konnte mittlerweile nicht einmal mehr sagen, wie lange er sich schon in Almorans Reich befand. Die Vor mittage verstrichen wie im Flug, die Nachmittage taumelten wie trunkene Tänzer ihrem Ende zu, und die Nächte schienen in einer zeitlosen Leere aufgehoben zu sein, während er auf seinem breiten Bett lag und schwitzte. Er schwelgte im Luxus, aber er war die gan ze Zeit müde, und ihm war heiß. Und fast immer plagte ihn auch der Hunger. Manchmal schienen die Bankette in großen Abständen abgehalten zu werden, ein andermal gab es kaum eine Pause zwi schen dem Ende des einen und dem Beginn des nächsten. Es spielte keine Rolle: Jem aß und aß, aber kaum waren die Gäste gegangen und die Teller abgeräumt, fühlte er sich, als habe er gar nichts zu sich genommen. Almoran sprach von dem Tuch des Vergessens und den Nachwirkungen seiner schwarzen Magie. Jem fragte sich dagegen allmählich, ob es nicht Almorans eigene Magie war. Jem hatte mehr als einmal versucht, auf den Banketten mit den anderen Gästen zu sprechen, wenn er den Saal betrat oder verließ, aber es war sinnlos. Sie grinsten nur oder lachten, schlugen ihm auf die Schulter oder antworteten in Sprachen, die er nicht verstand.
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Der mädchenhafte Knabe reagierte selbst auf die simpelste Frage völlig ausdruckslos. Jem wünschte sich sehnlichst, dass Dona Bela sprechen könnte! Aber sie war ihm genauso fremd geworden wie die anderen Gäste. Er wusste nur eins: Er musste hier weg! Beim Bankett der letzten Nacht - oder war es das vom Nachmittag gewe sen? - hatte er Amoran gegenüber höflich erwähnt, dass er sich all mählich auf den Weg machen müsste. »Ihr wollt zu Euren Freunden in Qatani?« »Ja. Woher wisst Ihr das ?« »Prinz«, erwiderte Almoran nur, »Ihr seid schwerlich in der rich tigen Verfassung für eine Reise.« »Es kann nicht weit sein! Wir waren beinahe dort, als ...« »Prinz, es geht Euch nicht gut. Ihr müsst ruhen ...« Ruhen, ruhen ... so ging es immer. Aber auf Almorans Besitz war die Wirkung des Schlafs genauso unergiebig wie die des Banketts, jedenfalls kam es Jem so vor. Nein, er würde nicht schlafen, sondern nachdenken, ganz scharf über diesen merkwürdigen Ort nachdenken ... Und darüber, wie er von hier wegkam ... Und wieder zu seinen Freunden stoßen konn te ... »Hier entlang!«, rief ihm die Stimme zu. Rajal lief, floh zusammen mit den anderen. In dem Tumult konn te er das Gesicht seines Retters nicht erkennen, nur das schmutzige Barett oder die schwarzbraunen Lumpen, die im Wind flatterten. Er stürmte weiter, drängte sich grob an Fremden vorbei, glitt auf zerquetschten Melonen, Kohl und Kaffeebohnen aus, rutschte über Honig und Karamelstücke, wand sich zwischen umgestürzten Markttischen, Kisten, zerbrochenen Krügen und Leichen hindurch, die blutend auf dem Pflaster lagen. Eine Weile hielt er das schwarze Tuch fest um die Schultern geschlungen. Dann verhakte es sich und wurde ihm weggerissen. Rajal war nackt, aber das kümmerte niemanden. Pferde scheuten, und überall schrien Menschen. In dem grellen Tageslicht blitzten Krummsäbel.
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»Hier entlang!« Wieder die Stimme. Sie stürmten in eine Gasse. Die Meute aus Plünderern, die ihre Beute an die Brust drückten, wogte an ihnen vorüber, und auch Kamele, Pferde, Katzen, Hunde, Kaninchen und Ratten waren zu sehen. Jetzt endlich konnte Rajal seinen Retter das erste Mal einigermaßen ungestört mustern. Das Gesicht unter dem Barett drehte sich ihm eifrig zu, aber Rajal hatte schon die Pickel bemerkt, die den gan zen Hals verunzierten. »Pustel! Wie kommst du denn hierher?« »Ich bin vom Schiff gesprungen. Diese dreckigen Fremdlinge haben bewaffnete Posten auf der Cata aufgestellt. Das lasse ich mir nicht gefallen, Meister Rajal! Ihr etwa? Ich bin über die Reling gerutscht und hab die Luft angehalten. Dieses Salzwasser hier hat ganz schön in meinen Pickeln gebrannt, das kann ich Euch sagen, Meis ter Rajal!« Rajal hielt ihm die Hand hin. »Ich verdanke dir mein Leben, Pus tel.« »Spuckt drauf!« »Wie bitte, Pustel?« Pustel spuckte auf seine Handflächen. Rajal tat es ihm gleich, und sie schüttelten sich fest die Hände. Zeit für mehr Worte blieb ihnen nicht. Die Flammen loderten auf den Galerien am Markt, und die weiß gekleideten Reiter schienen überall zu sein und schlugen wahllos mit ihren Krummsäbeln auf die Passanten ein. Sie rannten weiter. Rajal bekam Seitenstechen, seine Lungen schmerzten, und seine Fußsohlen wurden von den groben Steinen aufgerissen. Schmerzerfüllt stolperte er gegen einige Kisten, dann stieß er gegen einen Pfahl. Sie bogen um eine Ecke. Die Gasse war leer und schattig. Rajal ließ sich auf die Knie sinken, aber Pustel rannte zu ihm zurück und ergriff seinen Arm. Bevor Rajal sich versah, wurde er an Händen und Füßen gepackt und wie ein Sack in eine Falltür geworfen, die sich plötzlich im Boden auftat.
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Möwen flogen kreischend hoch. Und es stank nach Fisch. Rajal stürzte schwer zu Boden. Jem döste eingelullt vom leisen Plätschern des Springbrunnens. Anscheinend war er auf die Seite gesunken, denn als er aufwachte, drückten spitze Kiesel schmerzhaft gegen seine Rippen, und eine raue Zunge leckte über sein Gesicht. Er öffnete die Augen. »Regenbogen! Hab ich dich endlich gefun den!« »Ach wirklich?«, ertönte eine leise Stimme. »Wir haben wohl eher Euch gefunden!« Jem blickte hoch. Durch das dichte Blätterdach drang ein rötlicher Lichtstrahl, der die Gestalt vor ihm in einem unwirklichen Glanz ba dete. Einen Moment glaubte er zu träumen. Aber das Mädchen war real. Jem rappelte sich auf. Seine Nacktheit verunsicherte ihn. »Meine Dame ... Ich ... Ich dachte, Ihr könntet nicht sprechen.« »Hier kann ich es. Das ist nicht die reale Welt, und der Bann, der mich in ihr bindet, kann mich hier nicht fesseln.« »Bann? Reale Welt? Ich ... Ich verstehe nicht!« Das Mädchen schien antworten zu wollen, aber in dem Moment kläffte Regenbogen und drehte sich um. Er hatte die Anwesenheit der dritten Person noch vor Jem bemerkt. Es war der mädchenhafte Knabe, der sie aufforderte, ihrem Gastgeber bei der abendlichen Unterhaltung Gesellschaft zu leisten. »Abend?«, murmelte Jem. Aber sie brauchten sich nicht lange zu wundern. Noch bevor sie das Haus erreichten, war die Sonne bereits hinter dem Horizont ver schwunden. Jems Gedanken überschlugen sich, aber er war auch ei genartig verlegen. Verwirrt betrachtete er das merkwürdige Mädchen. Er hätte sie gern gepackt und geschüttelt, von ihr verlangt, ihm alles zu erzählen, was sie wusste. Und zwar sofort! Eifersüchtig be merkte er, dass Regenbogen neben ihr trottete, als wäre er doch tat sächlich ihr Hund! Dann kam Jem der Gedanke, dass er das mögli cherweise ja sogar war.
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Auf der Treppe drehte sich das Mädchen plötzlich um und flüs terte Jem ins Ohr: »Erwartet mich um Mitternacht an dem Flam menbrunnen!« Jem schlug das Herz einen Moment bis zum Hals. Rajal kam langsam wieder zu sich. Er lag in einem dunklen Keller auf einem Stapel schmutziger Kleidung. Von den Deckenbalken über seinem Kopf hingen Vorhänge aus grobem Sackleinen herun ter, die den schäbigen Raum unterteilten. Es war stickig. Rajal konnte weder Fenster noch eine Tür erkennen, aber durch den Vorhang direkt neben ihm drang dämmriges Licht. Außerdem hörte er das schlangenartige Zischen einer Konar-Lampe. Feuchtigkeit drang durch die Wände, und er glaubte, das Meer riechen zu können. »Pustel?« Ein Schatten zuckte über den Vorhang, und kurz darauf wurde er zurückgezogen. Rajal blickte in ein unbekanntes Gesicht. Es hatte keine Pusteln, war schmal und jungenhaft und zeigte einen Anflug von Bartwuchs. Sein Besitzer hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Ziege, dumm, halsstarrig und listig zugleich. »Wach?« Der Ziegenhirte grinste. »Du hast einen ganz schönen Purzelbaum geschlagen, als du durch die Luke gestiegen bist.« Er deutete mit dem Daumen auf eine Treppe, die offenbar zur Decke hinaufführte. Dann zeigte er auf den Kleiderhaufen. »Vielleicht soll test du dir ein paar Fetzen aussuchen, hm?« »Wie bitte?« »Kleidung!« Rajal errötete, als ihm klar wurde, dass er noch immer nackt war. Rasch stöberte er in dem Haufen herum, zog ein zerlumptes Wams und eine schlecht sitzende Hose hervor. Anschließend fand er auch noch eine Mütze, wie Pustel sie getragen hatte, und hätte sie beinahe aufgesetzt. Er bemerkte gerade noch die Eiterspuren und warf die Mütze angewidert zur Seite. Sein neuer Gefährte grinste. »Wir ziehen uns normalerweise jedes Mal um, bevor wir hinausgehen. Jedenfalls sollen wir es tun.«
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»Warum?« »Wir wollen nicht erkannt werden. Oder verfolgt werden!« Rajal runzelte die Stirn. »Was ist das hier?« »Einige nennen es das Reich von Un. Ich würde allerdings nicht so weit gehen.« Er grinste erneut. Rajals Gefährte saß mit gekreuzten Beinen auf einem Fass und kramte eine Tonpfeife hervor, die er mit einer Hart näckigkeit reinigte, die Rajal an eine Ziege erinnerte, die an irgendeinem Ärgernis knabberte. Rajal sah sich um. Er hatte bereits vermutet, dass er in der Hafen gegend war, vielleicht in einem Keller unter einer Seemannskaschem me. Hier und da hing eine Hängematte, und zwischen den vielen Kisten und Fässern waren grobe Bündel und Bettrollen verstaut. Eine Tür in der Wand war verrammelt und verriegelt, als verberge sich dahinter ein wichtiges Geheimnis. Durch die Bodendielen über ihm war von Zeit zu Zeit ein Schrei oder dröhnendes Lachen zu hören. »Du hast wirklich Glück, weißt du das?«, sagte der Ziegenhirte. Rajal sah ihn fragend an. »Glück? Warum?« »Ach, das gefällt mir. Ans Rad gebunden, und dann fragt er: Warum? Dass du hier bist, meine ich. Außerdem weiß ich, wer du bist.« »Was soll das jetzt heißen?« »Ich habe das Mal auf deinem Schenkel gesehen. Ich meine, von euch gibt es nicht mehr viele hier in der Gegend. Euer Volk ist fast vollkommen ausgelöscht worden. An deiner Stelle wäre ich froh, dass du unter die Diebe gefallen bist.« »Diebe?« Rajal war beunruhigt. »Wo?« Gelächter. »Hier! Ich!« Der Junge hielt einen Kienspan an die zischende Lampe und zündete sich damit die Pfeife an. »Ach so, du meinst die anderen? Nun, sie sind draußen und stehlen. Liegt doch auf der Hand, hm? Außerdem ist heute ein guter Tag dafür. Einer von uns sollte immer die Stellung halten, sagt Eli. Und heute bin ich dran.« »Wer ist Eli?«, erkundigte sich Rajal unschuldig. Das brachte ihm ein verächtliches Schnauben ein. »Wer Eli ist?
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Nun, Vetter Eli ist ein wichtiger Mann in Qatani. Er ist sozusagen unser Anführer. Natürlich hat Eli zu viele andere Interessen, um unsere täglichen Geschäfte zu überwachen. Er braucht einen Gehil fen«, fügte der Junge eitel hinzu. »Und dabei war ich noch vor einem Monat ein ganz normaler Mischling in den Außenbezirken, bis die Magie mich hierher gebracht hat!« Pfeifenrauch erfüllte den Raum und vermischte sich mit dem Ölqualm aus der Lampe zu einem fauligen Geruch. »Magie?«, fragte Rajal. Der Ziegenhirte verzog das Gesicht. »Nun, ich denke jedenfalls, dass es sich nur um Magie handeln kann. Eli meinte, ich hätte ein fach nur einen Schlag auf den Kopf bekommen. Ich habe mich näm lich so seltsam benommen, als ich schließlich hier auftauchte. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich mir wünschte, irgendwo anders zu sein als da, wo ich war, als ... na ja, als ich diesen Wunsch eben dachte. Vielleicht bin ich von einer Klippe gefallen. Vielleicht war das ja der Schlag auf den Kopf. Ich erinnere mich, dass ich mit ten im Meer war. Dann wünschte ich mir, wieder auf dem Trocke nen zu sein. Und dann wünschte ich mir, in Qatani zu sein. Dadurch bin ich hier gelandet.« Rajal konnte ihm nicht ganz folgen und lächelte höflich. »Kornisch«, meinte der Ziegenhirte seufzend. »Ich habe mir seit dem noch viele andere Dinge gewünscht, aber keines davon ist eingetreten. Nein, es war wohl keine Magie. Es war nur ein Schlag auf den Kopf, wie Eli gesagt hat. Ein alberner Traum. Trotzdem, was würdest du tun, wenn du wirklich deine drei Wünsche haben könntest? Das frage ich mich immer wieder.« Rajal seinerseits dachte über weit praktischere Dinge nach. Es gab viele Fragen, die er gern gestellt hätte, aber bevor er sie aussprechen konnte, gab es oben ein Durcheinander, die Falltür wurde aufgerissen, und eine Bande zerlumpter Straßenjungen polterte die Treppe herunter. Atemlos und lachend warfen sie Perlenketten, goldene Trinkbecher, Geldbörsen mit Münzen und zahllose andere wertvol le Dinge auf den Boden.
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Der Ziegenhirte lächelte und deutete mit dem Pfeifenstiel auf die Mitglieder seiner unerschrockenen Bande. »Vaga-Junge, darf ich dir den Kleinen vorstellen, Storch, Fisch, Blase, Stinker... und Pustel kennst du ja wohl schon. Wenn dies das Reich von Un ist, sind wir die Unner. Was ist mit dir, Vaga-Junge? Hast du einen Namen?« Die Jungen schienen zwischen einem und vier Zyklen alt zu sein, und ebenso unterschiedlich waren ihre Größe und ihr Aussehen. Sie boten einen außergewöhnlichen Anblick, und einen Moment konn te Rajal sie nur staunend betrachten. Erneut fragte ihn der Ziegenhirte, ob er einen Namen hätte. Rajal errötete. »Rajal vom Blut der Xal.« Erneut grinste der Junge. »Hand?« »Wie bitte?« Der Junge verdrehte die Augen, packte Rajals Hand, drehte die Handfläche nach oben und schlug hart darauf. »Au!« »Faha Ejo.« Erneut grinste der Junge. »Vom Blut, das zu ver mischt ist, um zu wissen, was oder wo oder wer ... Willkommen bei den Unner, Raj. Mach mit, und du kannst so viel Ferment trinken, wie du willst, bekommst einen sicheren Platz zum Schlafen, und eine Bande von Brüdern steht dir zur Seite. Also, bist du dabei?«
3. Enttäuschte Liebe »Los, die Treppe hoch, Miststück!« »Lasst mich los!« »Niemals!« Polty nahm zwei Stufen auf einmal und stürmte weiter, zerrte wütend die goldene Kette hinter sich her. Am anderen Ende befand sich Cata und wehrte sich heftig, ungeachtet der Fesseln, die ihr schmerz-
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haft in die Gelenke schnitten. Auf dem breiten Treppenabsatz sprang sie nach vorn und rammte Polty, als wollte sie ihn die Treppe hinabstürzen. Er stolperte zwar, aber sie konnte ihn nicht umwerfen. Sie schlug ihn und kratzte, konnte sich aber nicht aus seinem Griff befreien. Er wickelte Catas Kette um seinen Unterarm, wie er es schon getan hatte, als er sie In der Menschenmenge gefunden hatte. Er wollte sie nicht gehen lassen - er würde sie nie mehr gehen lassen. Polty riss sie in seine Arme. Sie roch seinen üblen Atem, den Gestank des Bösen, der hinter der gut aussehenden Fassade hervordrang. »Dumme, kleine Närrin! Glaubst du, dass du mir jetzt noch entkommen könntest?« »Polty! Du tust ihr weh!« Atemlos stürmte Bohne die Treppe hinauf. »Halt du dich da raus, Bohne!« Polty kramte in den Taschen nach dem Wohnungsschlüssel. Un ter lautem Kettengerassel zerrte er Cata in die Kammer und stol perte erneut, als sie zu Boden stürzte. In der Tür drehte er sich um, packte Bohne am Kragen und fuhr ihn an: »Wo steckt Burgrove?« »Ich ... ich weiß nicht, Polty Er ist weg ... weggelaufen.« »Dann sorg dafür, dass er auch weg bleibt. Meine Herzensschwes ter und ich haben etwas Geschäftliches zu besprechen und wollen dabei nicht gestört werden. Geh und ... und such diesen Vaga, hm? Verstanden?« Damit schlug Polty Bohne die Tür vor der Nase zu. »Verstanden?« Bohne hörte, wie der Schlüssel sich drehte. Kläglich wie ein Hund sank er vor der Tür zusammen. Die Nachmittagssonne tauchte ihn in ein milchiges Licht, wie saure Milch. Er sah sich auf dem Absatz um und betrachtete dann die Treppe. Wo waren die Wachen? Bohne konnte niemanden sehen. Durch das Fenster hörte er das Getrampel von Schritten und Schreie, Wutschreie und auch Freudenschreie. Auf dem Marktplatz loderten die Flammen, und Plünderer hatten sich der Buden und Stände bemächtigt. Dann hörte er Hufgetrap pel. Und Schüsse.
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Aber welche Rolle spielte schon, was da draußen geschah? Bohne hörte, wie Polty den Schlüssel abzog. Er schluckte schwer und ver suchte, sein hämmerndes Herz zu beruhigen. Dann erst wagte er es, durch das Schlüsselloch zu spähen. Polty drehte sich um und versteckte den Schlüssel in seinen Gewändern. Langsam lockerte er Catas Kette. »Wo sind wir hier?« »Aber Herzensschwester, wo sonst als in unserem Liebesnest?« »Ihr macht mich krank!« Die Fensterläden waren geschlossen, aber die Sonne drang durch die Schlitze und tauchte das Innere der Kammer in ein dämmriges Licht. Cata sah sich um. Nachttöpfe, schmutzige Bettwäsche, ebenso schmutzige Taschentücher und schuppenverklebte Kämme lagen überall herum. In der Mitte des Raums stand ein hoher Drehspiegel, dessen Glas einen Sprung aufwies. In einer Ecke klebte auf einer blutähnlichen Pfütze aus geronnenem Wein ein Teppich aus Motten, Ameisen und Fliegen. Der Gestank war widerlich. »Ihr könnt mich hier nicht festhalten!« »Im Gegenteil, Herzensschwester. Ich kann tun, was ich will. Und außerdem: Zu wem gehörst du, wenn nicht zu mir?« Die Kette fiel klappernd zu Boden. Die Hand- und Fußfesseln banden Cata zwar, aber sie wich zurück, als wäre sie frei. Polty lachte. Die Kette schwang wie ein Aal hin und her. Er trat darauf. Cata zog heftig daran. Er hob den Fuß. Sie stolperte zurück und krachte gegen ein Möbelstück. Polty lachte erneut und packte die Kette. Cata stürzte sich auf ihn. »Ich kratze Euch die Augen aus, wenn Ihr mich anfasst!« Aber er war zu schnell. Polty erwischte ihre Handgelenke und grinste höhnisch: »Ach,
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hat meine kleine Muschi ihre Krallen geschärft? Wie schade, wenn ich sie ihr ziehen müsste! Aber Herzensschwester, ich kann mir nicht vorstellen, dass du so dumm bist. Verletze mich, und ich füge dir doppelten Schmerz zu! Was wird wohl dein krüppliger Freund sagen, wenn deine Gliedmaßen genauso verunstaltet sind, wie seine einst waren?« »Lasst Jem aus dem Spiel! Nehmt nicht einmal seinen Namen in den Mund!« »Eigentlich habe ich auch gar nicht das Bedürfnis danach, Herzensschwester. Erfreulich, dass wir in diesem Punkt einer Meinung sind.« Geschickt drehte Polty eine Pirouette. Er hob den schweren Diwan auf einer Seite an, schlang ein Glied der Kette um ein Bein und ließ sich dann trage niedersinken. »Natürlich können wir auch langfristigere Arrangements treffen. Aber komm, Herzensschwes ter, komm zu mir, komm zu mir!« Cata schnitt eine Grimasse und zog an ihrer Kette. Polty lehnte sich zurück und zündete sich einen Tobarillo an. Während er Cata betrachtete, musste er unwillkürlich lächeln. Habe ich jemals ein Mädchen so geliebt? Ihre Lippen. Ihre Augen. Ihre Haut. Ihr Haar. Der Gedanke an die Freuden, die er bald genießen würde, erregte ihn. Natürlich würde er Gewalt anwenden müssen. Aber nur am Anfang, davon war er fest überzeugt. Beiläufig liebkoste Polty die Beule unter seinen Roben. Er ließ die Lider halb über seine Augen sinken, was seinem Blick etwas Sinnli ches verlieh. Er betrachtete Catas Spiegelbild in dem geborstenen Glas. Wusste sie, dass er sie in dem Spiegel sehen konnte? Polty lächelte. So lange, viel zu lange, hatte er sich mit Fantasiegebilden seiner verschollenen Geliebten zufrieden geben müssen. Jetzt konnte er sie bald in Fleisch und Blut umarmen! Lüstern betrachtete er ihren wogenden Busen. »Ein hübsches Kleid hast du da, meine Liebe. Leider ist es etwas schmutzig. Hat man dir keine Unang-Kleidung gegeben?« »Die habe ich zerrissen!«
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Polty schnalzte missbilligend mit der Zunge. »In einem Anfall geistiger Umnachtung?« »Um jemandem zu helfen, wenn Ihr es unbedingt wissen müsst.« »Wobei zu helfen?« »Bei der Flucht!« Polty hob fragend eine Braue. »Also so nennst du das? Herzens sehwester, wenn ich erfahre, dass jemand die Schätze gesehen hat, die mir gehören, mir allein, dann fordert die Ehre, meine Ehre, ihn zu töten. Das verstehst du doch hoffentlich?« »Eure Ehre!« Cata spie die Worte förmlich aus. »Allerdings, meine Teure, denn was wäre das für ein Ehemann, der die Tugend seiner Gattin nicht verteidigt?« »Ihr seid ja wahnsinnig! Wovon redet Ihr?« Polty sog an seinem Tobarillo. »Ich dachte, wir wollten nicht von deinem Krüppelfreund sprechen?« »Das tun wir auch nicht.« »Ach nein? Und diese ... Flucht?« »Das war nicht Jem. Ich weiß nicht, wer es gewesen ist.« »Nein?« Cata schwang ihre Fesseln. »Ich sage Euch überhaupt nichts mehr!« »Das dachte ich mir. Macht nichts, meine Liebe. Wenn ich dich erst gefügig gemacht habe, dürften wir kaum noch Geheimnisse voreinander haben.« Polty blickte kurz zum angeschwollenen Penge hinunter, der im mer noch verhüllt war, es aber kaum noch erwarten konnte hervor zuschnellen. Konnte das Mädchen denn tatsächlich die Wonnen ver gessen haben, die sie erlebt hatten? Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen funkelten. Nein, sie wusste es! Sie war bereit! Sie war stolz, das war alles, aber schon bald würde ihr Stolz im Staub liegen. Es wurde Zeit anzufangen. Aber vorsichtig, vorsichtig ... Cata, die teure Cata, war keine gemeine Eroberung, sondern verdiente Zärtlichkeit und Respekt. »Komm, Herzensschwester, setz dich zu deinem Bruder.«
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»Ihr seid nicht mein Bruder!« »Nein? Nun, das trifft sich vielleicht ganz gut. Immerhin will ich dir einen Antrag machen ... einen Heiratsantrag.« »Heiraten?«, stieß Cata ungläubig hervor. »Aber selbstverständlich, Herzensschwester. Hast du vergessen, dass ich dir einmal versprochen war? Wie schade, dass Tante Umbeccas Pläne ein wenig zu hochfliegend für ihre Position waren oder vielmehr für deine.Wie viel Ärger wir uns hätten ersparen kön nen! Aber schon bald wirst du einen Gipfel erklimmen, von dessen Höhe Tante Umbecca wohl kaum zu träumen gewagt hätte. Jeden falls nicht für dich.« Poltys Augen glitzerten feucht. Er warf den Tobarillo zur Seite und ließ sich zu Boden sinken. Die Hände hielt er wie zum Gebet gefaltet. Flehentlich sah er zu der staunenden Cata empor. »Liebstes Mädchen, ich hege keine unzüchtigen Gedanken. Begreifst du denn nicht, welches Schicksal auf dich wartet? Verstehst du nicht, dass dir bestimmt ist, eine der großen Damen von Eiland zu werden, dass du ... Lady Veeldrop werden wirst?« Cata lachte, aber es klang alles andere als amüsiert. Sie drehte sich um und sah Poltys Gesicht, das in dem zersprun genen Glas des Spiegels merkwürdig zerrissen war. »Euer Vater ist tot?«, fragte sie und drehte sich wieder um. Polty stand auf, packte Catas Fesseln und zog sie zu sich heran. »Tot? Aber ja doch. Wusstest du denn nicht, dass er noch an dem Tag gestorben ist, an dem du aus dem Heim meiner Familie geflohen bist? Und warum ist es so gekommen, was glaubst du? Hm? Her zensschwester, du hast der Familie Veeldrop so viel Kummer bereitet. Du tust tugendhaft, aber rühren nicht doch Schuldgefühle dein Herz? Ein kleines bisschen wenigstens ? Jetzt bietet sich dir die Gelegenheit, sie zu vertreiben. Werde meine Braut, und deine Sünden gegen meine Familie sind ausgelöscht, ach, tausendfach ausgelöscht!« Erneut wehrte sich Cata gegen Poltys Griff, aber er ließ nicht locker. Seine Leidenschaft wuchs. Er presste Cata an sich, und seine Stimme klang heiser.
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»Denk darüber nach, meine Liebe! Wir haben uns zwar in einem weit entfernten, heidnischen Land wiedergefunden, aber unser Kapitän Porlo kann vielleicht die Hochzeitszeremonie vollziehen. Wir haben schon so viel Zeit verschwendet, warum sollten wir noch mehr opfern, wo doch unsere Jugend allmählich schwindet? Wir können unsere Hochzeitsreise gleich hier in diesem exotischen Klima feiern ... Hah, unser werter Kapitän Porlo soll uns auf eine Kreuzfahrt mitnehmen und an den Inseln anlegen, die diese Küste säumen. Dort erwarten uns entzückende Reiche voller Kokosnüsse und Gewürze. Wenn die Sonne hoch am Himmel steht, können wir unter den breiten Blättern der Banyan-Bäume unsere glühende Be gierde stillen. Und an den ruhigen Abenden werden wir baden, in der schäumenden Brandung herumtollen und uns amüsieren!« »Niemals!«, rief Cata, aber Polty achtete nicht auf sie. »Natürlich kann das nicht ewig dauern! Sollen wir etwa zu lange verweilen, wo doch die vornehme Gesellschaft Agondons unsere Rückkehr sehnlichst erwartet, um diesen vornehmsten, hinrei ßendsten und unvergleichlichsten Zugewinn für die Reihen ihrer ad ligen Damen zu feiern? Wie wir triumphieren werden, wenn ich dich nach Hause geleite!« Poltys Stimme sank zu einem Flüstern herab, und er strich lieb kosend über Catas Mieder. »Und sollen wir verweilen, wenn meine Braut doch so feinfühlig wird, wenn ihr Bauch, gefüllt mit vornehmem Samen, zu einem fruchtbaren Dom anschwillt? Liebling, was für eine Welt voller Wonne erwartet uns! Die lächelnde Mutter, die von ihren Stickereien hochblickt und sieht, wie ihr lieber Mann sei nen Spross wiegt, seinen Sohn, seinen Erben, seinen kleinen Polty! Wir zärtlich ich seinen feurigen Haarschopf glätten werde! Schwester, teuerste Schwester, sag einfach, dass du die Meine wirst!« Verzückt küsste Polty ihre Hände, ihren Hals und flüsterte Zärt lichkeiten. Er suchte ihre Lippen. Cata bog sich zurück, holte aus und schlug ihm mit aller Kraft ihre Fesseln ins Gesicht. Er schwankte, aber nur einen Moment.
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Dann stürzte er sich auf sie. Sie floh und zog an ihrer Kette, und das Sofa rutschte rumpelnd über den Boden. Mit einem Satz sprang Polty darauf. Cata wurde heftig zurückgeworfen und landete mitten in der klebrigen Weinpfütze. Im nächsten Moment hockte Polty rittlings auf ihr und drückte sie zu Boden. Ihre Augen blitzten hasserfüllt, während sie ihn immer wieder anspie. Es kümmerte sie nicht, wenn er sie deshalb schlagen sollte. Doch Polty wischte sich nicht einmal den Speichel weg. Plötzlich traten ihm Tränen in die Augen, und er sank schwer atmend auf ihre Brust. Der saure Gestank des geronnenen Weins umhüllte sie. »Liebste«, keuchte Polty schluchzend, »verstehst du denn nicht? Seit ich Irion verlassen habe, habe ich viele Frauen getroffen, und viele, viel zu viele, haben unter mir gestöhnt und sich mit meiner Liebesmilch vollgesogen. Aber hat mir ihr Fleisch denn Freuden beschert? Sie waren nicht der Rede wert, eine Bagatelle, Tand, das Klingen eines Glöckchens! Sie haben meine Essenz vergeudet, mei nen Namen besudelt, während ich emsig das andere Geschlecht ver folgte, von den vornehmsten Damen bis hin zu den niedrigsten Hu ren. Dennoch, was habe ich in jedem hübschen Gesicht gesucht, in jeder Verführung, wenn nicht ein Phantom, das auf den Namen Catayane hört? Liebstes Mädchen, glaube nicht, dass ich untreu gewe sen bin, denn ich habe niemals eine andere wirklich geliebt. Diese zahllosen anderen waren nur blasse Spiegelbilder von dir! Willst du mich zu einem Leben mit Fälschungen verdammen? Vergib mir, so wie ich dir deine vorübergehende Verrücktheit verzeihe, die dich in die Arme dieses verkrüppelten Jüngelchens getrieben hat. Schwes ter, wir waren ein Liebespaar! Erlaube mir, dich wieder zu lieben!« Cata schluchzte ebenfalls. Zunächst hatte der Ekel sie überwäl tigt, dann der Kummer über den Schrecken, der sie allem Anschein nach erwartete, und all das Entsetzen, das sie schon erlebt hatte. Konnte es denn wahr sein, dass sie einmal die Wonne wahrer Liebe
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erlebt hatte, damals in dem blütenübersäten Nest tief im Wildwald? Wie schnell war ihr und Jems Glück zunichte gemacht worden, von eben diesem Monster, das sich jetzt über ihr aufbäumte. Er war niemals ihr Geliebter gewesen! Ekel schüttelte sie, als sie sich an Poltys Annäherungen damals im schmutzigen Hinterzimmer im Trägen Tiger erinnerte. »Liebende?«, platzte sie heraus. »Ich war Eure Hure!« »Niemals, Schwester!« »Ihr habt mir Kupfermünzen zugeworfen! Ihr habt mich vor Euch kriechen lassen! Ihr habt mich ausgelacht! Ihr habt mich Schlampe genannt!« »Du hast mir erlaubt, dich zu lieben!« »Liebe? Pah!« »Ich habe dich genommen, oder nicht?« »Mir blieb keine Wahl!« Polty sprang auf und riss Cata mit sich. Ihr Haar löste sich mit einem schmerzhaften Ruck aus dem klebrigen Wein. Mit einem Tritt kippte er den Diwan um und schnappte sich das Ende ihrer Kette. Wütend schleuderte er sie auf dem Boden umher. »Keine Wahl?«, schrie er heiser. »Miststück! Dreckiges Miststück! Ich habe dir doch gesagt, dass ich tausend Frauen hatte! Glaubst du nicht, ich weiß, wann eine Frau es haben will? Du wür dest noch die Flecken vom Laken auflecken, du Schlampe!« »Ihr seid krank! Ich habe Euch niemals gewollt!« »Cata, ich liebe dich! Und du liebst mich auch, das weiß ich!« »Hört auf, hört endlich auf!« Cata stolperte keuchend und fluchend an der goldenen Kette im Kreis herum. Sie würde nicht fallen, das durfte sie nicht! »Heirate mich, oder ich bringe dich um, du Miststück!«, kreisch te Polty. »Euch heiraten? Nie im Leben!«, schrie Cata. Sie stieß so heftig gegen den Spiegel, dass sich der eingehängte Rahmen drehte. Glasscherben flogen auf den Boden.
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Jemand hämmerte gegen die Tür. »Polty! Polty, hör damit auf! Du tust ihr weh!« »Halt dich da raus, Bohne! Wenn du die Tür aufmachst, dann breche ich dir das Kreuz!« »Polty, bitte!« Der Spiegel drehte sich immer noch. Außer sich vor Wut warf Polty Cata zu Boden. Er schlug die Ro ben zurück und das Teil, das er Penge nannte, federte vor. Es war gewaltig und wirkte Furcht einflößend wie ein Rachegott. Polty um klammerte es und schwang es wie ein Schwert. »Schlampe! Hure! Was hat der Krüppel, das ich dir nicht geben kann? Hat er das? Hat er das hier? Miststück! Dreckiges Miststück! Ich werde dir beweisen, dass ich dich liebe!« »Bleibt mir vom Leib!« Cata trat und schlug um sich. Polty trat zurück und sprang. Der Spiegel drehte sich immer noch. Wollte er denn niemals aufhören? Aber jetzt geschah etwas anderes, etwas viel Merkwürdige res. Die Bruchstücke, die zu Boden gefallen waren, sammelten sich und bildeten eine glänzende Kugel. Diese Kugel fing an, auf dem Boden herumzurollen. Die Tür flog auf. »Polty! Hör auf!« Es war das Mutigste, was Bohne jemals getan hatte. Polty stürzte sich auf ihn. Bohne sank zusammen und umklam merte seine Schulter. Ergeben wartete er auf den Schlag. Aber der kam nicht. Die ganze Zeit hatte sich der Spiegel gedreht und war dabei im mer schneller geworden. Jetzt plötzlich hörte er auf, und aus den verbliebenen Scherben im Rahmen strahlte ein gleißendes Licht. Ein Donnerschlag erschütterte den Boden. Die Kugel rollte weiter und beschrieb einen Kreis um Poltys Füße. Im selben Moment sank er fassungslos auf die Knie. »Meister!«, rief er gepeinigt. Cata schnappte nach Luft. Bohne schrie.
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Plötzlich leuchtete Poltys Haut schillernd blau, und sein karottenrotes Haar brannte lichterloh. Er rollte sich auf dem Boden herum, kreischte und presste die Hände vors Gesicht. Was war das? Cata wusste es nicht, aber sie erkannte ihre Chance. »Polty! Polty!«, schrie Bohne beinahe hysterisch. Das Licht glühte immer noch im Spiegel, und die Kugel rollte unablässig. Cata wickelte sich die Kette um den Arm und stürzte zur Tür hinaus.
4. Eli Oli Ali sieht eine Chance »Bohne!« Bohne rannte. Wie eine Marionette torkelte er durch die besetzte Stadt. Seine tränenblinden Augen sahen weder die berittenen Ouabin noch die zerborstenen Befestigungen, die brennenden Häu ser und die entsetzten, drängelnden Massen. Er bahnte sich rücksichtslos den Weg über den zerstörten Marktplatz und landete schließlich im Gassengewirr der Hafenanlagen. Hier sank Bohne gegen eine Wand und presste die Hand gegen seine schmerzende Seite. »Bohne!« Allmählich senkte sich die Abenddämmerung blutrot über die Stadt, und in der Nähe hörte er das Plätschern der Wellen. Bohne schloss die Augen und sah erneut das schreckliche Schauspiel, wie sich Poltys Haar entzündete. Vor vielen Mondleben war Bohne auf einer Woge der Glückselig keit geschwommen, damals, als Polty aus dem Feldzug gegen die Zenzaner zurückkehrte. Dass sein Freund in Sicherheit war, hätte Bohne genügt, aber wie wundervoll war es gewesen, zu erfahren,
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dass Polty - Major Veeldrop, bitte sehr! - nicht nur seinen Namen reingewaschen hatte, sondern sogar mit ansehen durfte, wie er zu einem Synonym für Heldentum geworden war. Als Bohne erfuhr, dass sie wieder gemeinsam auf eine geheime Mission gingen, hatte sich seine Glückseligkeit zur Begeisterung gesteigert. Ach, wie rasch war das alles verblasst! Auf dieser Reise nach Qatani hatte Bohne von Anfang an gespürt, dass irgendetwas nicht stimmte. Als er Polty über seine Großtaten im Kampf ausfragte, hatte sein Freund sehr gereizt reagiert. Fragte er nach den Befehlen, denen sie jetzt folgten, beschuldigte Polty ihn aufgebracht des Ungehorsams. Es war schon merkwürdig: Polty war immer unberechenbar gewesen, aber jetzt schien etwas Merkwürdi ges, etwas Fremdartiges in ihm zu bohren und zu nagen. War der Polty, der aus Zenzau zurückgekehrt war, möglicherweise nicht der selbe, der dorthin aufgebrochen war? In Qatani steigerte sich Bohnes Unbehagen noch. So weit er wusste, besagte ihr Auftrag, Waffen gegen Sklaven einzutauschen. Das war schon widerlich genug, aber Bohne ahnte, dass es da noch etwas gab, ein noch düstereres Geheimnis. Auch wenn er vieles nicht verstand, beschlich ihn jetzt das Gefühl, als hätten sich seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Er öffnete die Augen und sah, wie eine Ratte sein langes, knochi ges Bein hinauf huschte. Er schrie auf und schüttelte das Vieh ab. »Bohne!« Erst jetzt hörte Bohne die heisere Stimme, die ihn rief. Sie drang durch das Geschrei und Rasseln auf den Docks an sein Ohr und übertönte die hohen, unirdischen Schreie der herumflatternden See vögel. Bohne rieb sich die Augen und sah sich ausdruckslos um. In der Abenddämmerung schwankte eine Gestalt auf ihn zu. Sie war unordentlich gekleidet, sehr blass, hatte einen strähnigen Backenbart und trug eine goldene Krawatte. »Burgrove«, murmelte Bohne. »Aber Ihr wart doch ... verschol len!« »Verschollen?«, antwortete der andere. »Wovon redet Ihr, Mann?
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Es ist ganz sinnvoll, den Kopf einzuziehen, wenn einem die Bom ben um die Ohren krachen, oder?« Lachend trat Burgrove näher. Bohne roch seinen schlechten Atem und zuckte zurück, aber der betrunkene Burgrove achtete nicht darauf. Unbeholfen umarmte er den jungen Leutnant. Dann deutete er mit dem Daumen auf ein Schild am Ende der Gasse. Darauf prang ten Sterne und ein Halbmond. »Schwing dich hoch, Bohne, ich habe einen wirklich wundervol len Ort entdeckt. Sie nennen es Javel-Haus, aber es gibt auch jede Menge Ferment! Ertränken wir unsere Sorgen und vergessen wir, dass wir jemals in dieses stinkende, verrottete Land gekommen sind!« »Prinzessin?« Die Tür schlug geräuschvoll zu. Rasch drehte Cata den Schlüssel herum und sank erleichtert gegen die verzierte Holztäfelung. Ihre Kette rasselte an ihren Füßen, und dann herrschte Ruhe. Sie atmete tief durch und nahm den geheimnisvollen, süßlichen Duft wahr, der sie schon zuvor fasziniert hatte. Sie sah sich in der Kammer um. Son nenstrahlen fielen schräg durch die Jalousien und warfen helle Strei fen auf die prächtig gemusterten Teppiche, die bemalten Wandschir me und die Spiegel, die mit hauchdünner Gaze verhängt waren. Als sie aus Poltys Raum stürmte, wäre Cata überall hingelaufen, denn sie hatte nur eins im Sinn: der bösen Magie des Wahnsinnigen zu entkommen. Aber wohin sollte sie sich wenden? Selbst an einem gewöhnlichen Tag waren die Straßen von Qatani für eine unver schleierte Frau kaum der richtige Ort - erst recht nicht für eine Fremde und entflohene Sklavin! Sie dachte an Lord Empster, Kapi tän Porlo, an Rajal. Und sie dachte an Jem. Aber was konnte sie tun? Verzweifelt und hoffnungslos drehte sich Cata um und rang die Hände. Dabei berührten ihre Finger den Schlüssel, den sie in ihrem Gewand verborgen hatte. Es war der Schlüssel, der bei Ameds Flucht zu Boden gefallen war. Der Schlüssel zum Frauenflügel! Sie brauchte eine Verkleidung und sie brauchte einen Plan. Wenn sie
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sich bei der Prinzessin verbergen konnte, hatte sie vielleicht eine Chance. »Prinzessin?«, wiederholte Cata. Unwillkürlich senkte sie die Stimme. Der Weg zurück zum Frauenflügel war schwierig und gefährlich gewesen. Wegen des Chaos, das an diesem Nachmittag herrschte, hatten selbst die Wachen ihre Posten verlassen. Hinterhöfe waren leer, Flure unbewacht. Außerdem liefen überall verwirrte Sklaven und Palastbeamte herum, unter die sich plötzlich weiß gekleidete Gruppen von Ouabin mischten. Mehr als einmal war Cata mit ras selnden Ketten vor einer Person geflohen, vor einem Schrei davon gelaufen. Dann wiederum hatte sie sich hinter Säulen oder Wand schirmen versteckt und den Atem angehalten, während ihr Herz heftig in ihrem Busen hämmerte. Jetzt jedoch empfand sie eine stärkere, merkwürdigere Spannung. Behutsam glitt sie zwischen den Spiegeln und Schirmen hindurch und spürte der Stille nach, die sich auf ihre Ohren zu legen schien. Etwas berührte sachte Catas Arm. Sie zuckte heftig zusammen. Doch es war nur ein Vorhang von einem Spiegel. Er glitt zu Boden. Überrascht sah sich Cata ihrer eigenen, zerzausten Schönheit gegen über. Offenbar war sie allein. »Prinzessin?«, flüsterte sie. »Prinzessin, wo seid Ihr?« »Burgrove ...« »Was ist denn, Bohne?« »Burgrove, es geht um Polty! Er ist...« »...ein richtiges Schwein! Ha, ha, ha!« »Burgrove, ich meine es ernst...« »Weißt du eigentlich, dass Polty mal so fett wie ein Schwein gewesen sein soll? So feist wie ein preisgekrönter Eber! Kannst du das glauben, Bohne? Ha, ha, ha!« »Er war wirklich fett, aber das wollte ich nicht...« »Was war das? Er war fett? Ha ... Ha, ha!« »Burgrove, ich bitte Euch ...!«
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»Trink aus, Mann, du liegst ziemlich weit zurück!« Burgrove griff in seine Jacke und zog ein Kartenspiel heraus, dessen Karten jede Menge Eselsohren aufwiesen. Er knallte es auf den Tisch. »Eine Partie Orokon-Tarot gefällig?« Bohne packte den Arm des Säufers in dem verzweifelten Versuch, ihn zum Zuhören zu bewegen, aber Burgrove schüttelte ihn mit einem Lachen ab. Ach, er war nutzlos! Er konnte nur trinken, trinken, trinken und zerstörte jeden Rest seiner glorreichen Tage. Dieser Auftrag war eine Chance für ihn gewesen, seinen ramponierten Ruf wieder herzustellen, aber es schien, als wäre »Jac« Burgrove mittlerweile nicht mehr zu retten. Er schob den Stuhl zurück, stand schwankend auf und fuchtelte mit den Karten in dem rauchigen Raum herum, während er lautstark nach willigeren Spielern grölte. Bezopfte Amalianer, untersetzte Wenayaner, Tiraloner mit ihren gestreiften Hemden und Unangesen mit Turbanen auf dem Kopf drehten sich verständnislos um. Sekunden später lachten sie schal lend, als Burgrove die Karten aus der Hand fielen und auf sie herab regneten. Der Möchtegern-Spieler nestelte an der Vorderseite seiner Hose herum und überlegte, ob er es noch hinaus auf die Gasse schaffte. Dann jedoch zuckte er mit den Schultern und erleichterte sich stattdessen direkt auf den Boden. Andere Männer hatten das Gleiche schon den ganzen Abend getan. Die Bodendielen waren überflutet, wie das Deck eines Schiffes, und schienen auch genauso zu schwanken. Erleichtert ließ sich Burgrove wieder auf den Stuhl fallen und hätte ihn beinahe verfehlt. Er stürzte den letzten Schluck Ferment hinunter und schrie: »Mehr, Mutter!« »Mehr, mehr?« Ein altes Weib mit einem schwarzen Kopftuch drängte sich verächtlich zwischen den beiden Ejländern hindurch. Achtlos goss sie Ferment in die Krüge. Dann kratzte sie eine neue Rille in das bereits ziemlich volle Schieferbrett und sah sich angewidert in ihrem stinkenden Reich um. Alle Fensterläden standen offen, und vom Meer wehte eine frische Brise. Aber es blieb dennoch heiß und rauchig, und es stank unvermindert nach Ferment, Schweiß,
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Erbrochenem und Urin. Überall in der Stadt dachten die Menschen nur an die Ouabin. Im Khan des Halbmondes jedoch galten die Ein dringlinge nichts, außer vielleicht, dass sie das Zechgelage noch mehr anheizten. »Wenn ich daran denke, dass mir einmal die vornehmste Kara wanserei an der ganzen Dorva-Küste gehörte! Ach, dass ich so tief gesunken bin!« »Arme, arme Mutter!«, nuschelte Burgrove. Er liebkoste die Alte, als wäre sie eine dralle Schönheit. Es musste schon viele Sonnenwenden her sein, dass Mutter Madana das letzte Mal eine solche Berührung gespürt hatte. Doch jetzt widerte es sie nur an. Sie beschimpfte ihren Gast als einen schmutzigen Ungläubigen und versetzte ihm einen heftigen Schlag. Burgrove flog nach vorn und stieß sich den Schädel an der Tischplatte. Bohne schüttelte seinen Gefährten. »Burgrove!« »Wa ... was denn?« Anscheinend hatte der Schlag Burgrove auf gerüttelt. Er hob den Kopf. Einen Moment fürchtete Bohne, dass sein Begleiter sich erbrach. »Bohne!«, platzte er stattdessen heraus. »Hab ich dir schon gesagt, wie sehr ich deinen Freund Polty hasse? Weißt du, bevor ich ihn kennen lernte, war ich der bestaussehende Junggeselle in Varby!« Bohne kannte die Geschichte bereits. »Alle sagten, ich hätte eine große Zukunft vor mir ... ein schönes Haus ... eine vorteilhafte Heirat ... einen Platz bei Hof ... Sicher, mein Vater hat sein Vermögen mit Handel gemacht, aber wenn es ei nen Burschen meines Ranges gäbe, der sein Leben als Junker been dete, wer sollte das wohl sein, wenn nicht Jac Burgrove? Und jetzt sieh mich an, Bohne! Dein Freund trägt daran die Schuld! Diese Natter hat mich ruiniert, und warum? Ich sage dir, warum: Er hat mich beneidet, dieser Soldatenbankert, weil er genau weiß, dass er niemals die Klasse des alten Jac erreicht, ganz gleich, wie sehr er es auch versucht!« Mit diesen Worten hob der ruinierte Salonlöwe seinen Trinkbe cher, wobei er den halben Inhalt verschüttete, und brachte einen
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Toast aus. »Auf Major Poltiss Veeldrop ... Möge er im Reich des Nicht-Seins verrotten!« »Burgrove ... Ach, schon gut!« Bohne saß zitternd und entsetzt da, als wären Burgroves Worte die schlimmste Blasphemie, die ihm jemals zu Ohren gekommen war. Leichtsinnig stürzte er seinen ei genen Becher Rotglut hinunter, rief nach mehr und kippte auch den nächsten Becher. Sein Hals brannte wie Feuer. Gelächter brandete auf, und die Männer stampften und pfiffen, als eine Gruppe Huren in den Khan stolperte. Es waren Gassenmetzen der übelsten Sorte, aber in dem Elend dieses Kellers bildeten sie den Inbegriff der Schönheit. Sofort stimmten die trunkenen Burschen ein grölendes, anzügliches Lied an. Die Gezeiten mögen rasen oder nicht Hurerei ist eine Lust, die alle Seeleute kennen sollten: Erst such dir die Schlampe, die du willst,, Und wirf ihr ein paar Kupferstücke zu, Dann gehört sie dir! Bohne schüttelte es. Im Licht der Lampen sah er die schwärzlichen Zahnstumpen, als sich die Münder öffneten und schlossen, immer wieder, auf und zu. Selbst in der Melodie schien etwas Stinkendes und Verdorbenes mitzuschwingen. Mittlerweile musste auch er sich erleichtern, und er fragte sich verlegen, ob er es wohl schaffen würde, ohne aufzustehen. Ehefrauen können nicht mit Mädchen mithalten, die du kaufst. Trotzdem gibt es eine lange Wartezeit zwischen jedem Hafen. Einige warten vielleicht auf die richtige, nasse Pflaume, Andere benutzen die Faust oder des Schiffsjungen ... Das Lied brach ab, als die Männer juchzten, schnalzten und mit den Münzen klingelten. Erst jetzt sah Bohne den schmierigen Kerl, der mit den Huren hereingekommen war und sie herablassend vor sich
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hertrieb. O nein! Bohne hasste den Hurenbock, hatte jedoch auch Angst vor ihm. Wenn er unbemerkt hätte entkommen können, hät te er die Gelegenheit genutzt, doch stattdessen rief er nach Ferment, leerte nervös den Becher und sank auf seinem Stuhl zusammen. Seine Kehle brannte, und er dächte nur ans Pissen, an Ströme von Pisse. Der Khan schien sich um ihn zu drehen. Was war das für ein Licht? Cata war auf einem Diwan zusammengesunken und in einen tranceähnlichen Schlaf gefallen. Als sie jetzt die Augen öffnete, sah sie, dass sich Prinzessin Bela Donas Gemach merkwürdig verändert hatte. Das lag nicht nur daran, dass die Sonnenstrahlen, die durch die Jalousien fielen, mittlerweile vom Schein des Mondes abgelöst worden waren und die Prinzessin, die vorher nicht zu sehen gewe sen war, jetzt zwischen den Spiegeln hockte und sich wiegte. Nein, es waren die Spiegel selbst, die sich verändert hatten. Die Gazehül len lagen in kleinen Haufen vor ihnen, und jeder Spiegel strahlte in einem unirdischen Glanz. Die Prinzessin stöhnte und schwankte, während sie ihre Hände gegen die Schläfen presste. »Prinzessin?« Cata runzelte die Stirn. Vorsichtig hob sie die Kette hoch. Das merkwürdige Licht erfüllte sie mit einer unguten Vorahnung, als sie in den Kreis der Spiegel trat. Jetzt sah sie, dass die Spiegel nicht ein fach nur leuchteten, sondern dass sich merkwürdige Bilder in ihnen bewegten. Cata ließ ihre Kette wieder fallen und musterte lange einen Spiegel nach dem anderen.Gebannt und staunend sah sie einen üppigen Garten, in dem Hunderte bunter Blumen blühten; sie sah ein prächtiges, palastähnliches Gebäude, ein langes, tiefes Becken, in dem sich ein Himmel spiegelte, der sich unwirklich schnell veränderte, vom Morgen über den Mittag und vom Mondlicht der Nacht bis erneut zum Morgen. Dann sah sie die Prinzessin, die durch den Garten lief, die Prinzessin bei einem offiziellen Bankett, die Prinzessin, die einen Hund liebkoste, dessen Fell purpurfarben, grün, rot, blau und golden gestreift war.
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Langsam begriff Cata. Die Prinzessin befand sich im Kontakt mit der anderen Seite ihres Wesens, ihrem körperlichen Selbst, mit dem sie sich so gern wieder vereint hätte. Cata wollte diese magische Gemeinschaft nicht stören, sondern einfach zusehen, welchen Verlauf sie nahm. Sie wollte schon zurücktreten, aber sie musste einfach noch einen Blick in das Feld der Bildnisse werfen. Da sah sie den Springbrunnen, der wie eine Flamme geformt war. Und dort, am Rand des Beckens, unter der Fontäne, saß ein blonder junger Mann. »Jem!«, rief Cata. Verblüfft trat sie vor. Sie stolperte über ihre Kette, und ihre Hand durchstieß eine dünne, ölige Schicht. Die Prinzessin blickte auf. Ihre Augen glühten. Ein greller Blitz zuckte durch den Raum, als wären sie explodiert. Plötzlich waren die Spiegelbilder verschwunden, und Cata wirbelte in einem gewaltigen Mahlstrom herum. Sie rang nach Luft, benommen von der blendenden Helligkeit. Verzweifelt wollte sie dem Licht und dem Mahlstrom entkommen, ebenso wie den Spiegeln und dem schimmernden Mädchen. Sie stieß gegen einen dünnen, bemalten Wandschirm. Rettete sich stolpernd dahinter. Und brach zusammen. »Heute Abend laufen die Geschäfte wirklich gut, Mutter!« »Schmutzige Rohlinge! Damals, in meiner Karawanserei ...« »Weib, vergiss deine alte Kaschemme!« »Was ? Vierzig Sonnenwenden lang war das mein Leben ...« »Pah! Ich sagte, ich würde dich gut bezahlen, oder nicht?« »Ja, Mischling! Bezahlt mich, damit ich meine Ehre vergesse, meinen Glauben ...« »Glauben? An was hast du schon jemals geglaubt außer an Mam mon, Mammon, Mammon? Weib, denk nach! Willst du lieber in einer heruntergekommenen Provinzfestung vermodern oder hier in der großen Stadt wohlhabender werden, als du es dir in deinen extravagantesten Träumen ausmalen kannst? Vielleicht möchtest du ja lieber zu deiner so genannten Schwester zurückgehen und sehen,
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was du von ihr bekommst? Oder sollte ich sagen, von ihm? Hat der gute alte Eli dich nicht immer ordentlich bewirtet, statt dich auf der Straße verhungern zu lassen?« »Ihr seid ein verdammt übler Bursche, Mischling!« Der Hurenbock gluckste vor Lachen und stimmte ihr zu. Die Geschäfte liefen wie von selbst. In den finsteren Nischen des Khans vergnügten sich Seeleute aller Nationen mit den Huren, wäh rend hinter ihnen schon andere ungeduldig darauf warteten, dass die Reihe endlich an sie käme. Bohne war verzweifelt. Er konnte sich unmöglich hinaus auf die Gasse retten, und schon der Gedanke auf zustehen, machte ihn krank. Zweimal hatte er Burgrove geschüttelt, aber sein Gefährte hatte nur geknurrt und war schwer auf den Stuhl zusammengesunken. Außerdem beschäftigte Bohne ein viel vor dringlicheres Problem. Er versuchte nachzudenken. Bei dem Versuch, sich vor Eli Oli Ali zu verbergen, war er bereits weit auf dem Stuhl zusammengesunken. Wenn er jetzt bis zum Rand weiter rutschte, konnte er vielleicht ... »Aber komm, Mutter, wie geht es den Lustknaben?« »Ihr meint diese armen Teufel, die Ihr verhungern lasst?« »Aber Mutter, weißt du denn nicht, dass jeder Khan seine Lust knaben braucht? Hier am Hafen würde die Lust bald wie Feuer wü ten, wenn die Lustknaben sie nicht linderten!« »Ich habe gehört, sie brennt trotzdem!« »Pah! Willst du mich des Aberglaubens bezichtigen?« »Ich traue Euch alles zu, Ihr schmutziger Mischling.« Mutter Ma dana schnüffelte und fügte dann höhnisch hinzu: »Diese armen Teufel sind ins Unergründliche eingegangen, Eli. Das Erste, was ich heute Nachmittag gemacht habe, war, sie für das Totenboot vorzu bereiten.« »Was? Tot? Und die Lustzelle ist leer?« Der Hurenbock schlug seiner neuen Angestellten auf den Kopf. »Blödes Weib! Casca prahlt damit, dass er die schönste Lustzelle der Stadt habe! Und jetzt sagst du mir, dass ich gar keinen einzigen Lustknaben mehr habe? Dum mes, dummes Weib!«
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Mittlerweile war Bohne ungelenk weiter nach vorn gerutscht. Der Stuhl hinter ihm knarrte. Jetzt war er in der richtigen Position, oder etwa nicht? Aber da gab es noch das Problem, wie er den Strom dirigieren sollte. Er würde sicher ziemlich machtvoll sein, wenn er dem unerträglichen Druck plötzlich freie Bahn ließ. Bohne zuckte bei dem Gedanken zusammen. Auf keinen Fall durfte der Strahl ge gen die Unterseite des Tisches spritzen. Wenn er ihn vielleicht zur Seite richten konnte, nur ein kleines bisschen ... Erneut war ein Schlag zu hören. »Schlag mich nicht, du Misch lingsschwein!« »Pah! Ganz schön widerspenstig, hm? Weib, du bist nicht mehr deine eigene Herrin! Vergiss nicht, wer dich bezahlt, ja? Und zwar sehr gut bezahlt ... Geh doch zu Casca Dalla und sieh, was er dir gibt! Und jetzt beweg dich nach unten und bring mir ein paar von den Dieben hoch. Sie müssen genügen!« »Was denn, Euer eigener Neffe? Oder möchtet Ihr lieber Euren Sohn sehen?« »Sei nicht albern, ich meine natürlich die anderen! Pah! Für was hältst du mich?« Bohne war bereit, oder jedenfalls fast. Krämpfe schüttelten ihn, und er rutschte auf dem wackligen Stuhl hin und her. Mit ungelen ken Fingern fummelte er an seiner Hose herum. Wenn er nur so ausgestattet wäre wie Polty! Der Schlauch seiner Erleichterung war schon so lange ignoriert worden, dass er beinahe zum Nichts ver schrumpelt war. Aber wenn er sich noch ein bisschen drehte, dann vielleicht... Noch ein kleines bisschen ... Mit einem lauten Krachen stürzte Bohne zu Boden. »Schmutzige Ungläubige!« Mutter Madana spie aus. »Hinaus auf die Gasse mit ihnen!« »Warte, die beiden kenne ich!«, sagte Eli Oli Ali. Er strich sich über den Schnurrbart und betrachtete die Ejländer. Der eine lag mit dem Kopf auf dem Tisch, der andere darunter. Und der heiße Fluss von Bohnes sprühender Lende breitete sich rasch auf dem Boden aus und lief um die Schuhe des Mischlings. Der Mann lächelte
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schmierig. Von allen Rassen, die er verachtete - und er verachtete alle -, fand er die Ejländer schon seit langem am schlimmsten. Und von allen Ejlängern, auf die er bisher gestoßen war, verabscheute er Major Poltiss Veeldrop am gründlichsten. Hier bot sich vielleicht die Gelegenheit zu einer kleinen Rache. »Schnell, Weib, hilf mir. Meine Dienste werden wieder im Palast benötigt, aber ich habe noch genug Zeit, um diese beiden Burschen in ihrem neuen Zuhause einzurichten, hm?« »Ihr seid ein richtig schlimmer Bursche, Mischling!«
5. Eli Oli Ali sieht eine weitere Chance Eli Oli Ali amüsierte sich noch, als er schon längst auf dem Rückweg zum Palast der Duftenden Stufen war. Ejländer, also wirklich. Sie hielten sich für so überlegen, oder nicht? Der fette Hurenbock schritt federnd weiter, als er den Palastwachen sein königliches Siegel zeigte und den Weg zu den königlichen Gemächern einschlug. Eli Oli Ali würde Ejländer niemals als Vorgesetzte akzeptieren; mehr noch, seiner Meinung nach hatte er überhaupt keine Vorgesetzten. In Elis Vorstellung dienten selbst der Wesir und der Kalif nur dazu, seinen eigenen Ruhm zu vergrößern. Wenn ein Mann zum königlichen Hurenbock befördert wurde, dann musste auch etwas Königliches an ihm sein, um ihm diesen Titel zu verschaffen ... Aber wer war schon der unselige Herrscher von Qatani, der von seinem eigenen Volk verachtet wurde, dessen Thron höchst labil war und der sich unter dem Joch der Fremdherrschaft krümmte? Königlicher Hurenbock, das war es! Wie hätte Eli daran zweifeln können, dass er von ganz Qatani beneidet wurde, vor allem allerdings von Casca Dalla? Eli vergaß einige wunderbare Momente sogar die Bedrohung, die sein verhasster Rivale darstellte. Oh, dieser Abend gefiel ihm, er gefiel ihm sogar sehr!
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Wenn es denn einen Wermutstropfen gab, einen winzigen, bitteren Tropfen, dann den, dass ein gewisser Major nicht ebenfalls in der Lustzelle saß, wo er hingehörte. Aber was machte das schon? Der Flammenhaarige war nicht nur vollkommen der Dekadenz verfal len, sondern er ging auch für einen Burschen in seiner Position viel zu viele Risiken ein! Er würde am Ende seinen Lohn bekommen, daran bestand kein Zweifel. Vielleicht würde Eli ein paar kleine Be merkungen fallen lassen. Andeutungen über Blasphemien und ähn lich geartete Dinge, wenn er heute Abend half, gewisse ... Bedürf nisse des Kalifen und des Wesirs zu befriedigen. Jetzt merkte Eli, dass er irgendwann in dem Gewirr der Korrido re eine falsche Abzweigung genommen haben musste. Wo war er? Sollte er die königlichen Gemächer nicht längst erreicht haben? Es lief ihm vor Furcht kalt über den Rücken. Eine winzige Anwandlung von Schwäche, nur eine winzige! Hatte er sich etwa schon verspä tet? Diese Ejländer in die Lustzelle zu stecken hatte wertvolle Zeit gekostet, auch wenn es ein besonderes Vergnügen gewesen war. Si cher, das Ferment war bereits angeliefert, dafür hatte Eli gesorgt. Aber er musste nichtsdestoweniger überprüfen, ob alles in Ordnung war, bevor der Kalif und der Wesir von ihrem Bankett zurückkehr ten. Verdammt, wo ging es lang? Der Korridor vor ihm wurde immer dunkler. Die Konar-Lampen waren heruntergedreht und in langen Intervallen an der Wand befes tigt. Wächter waren nicht in Sicht. Eli ging ein Stück zurück. Hm, war es wirklich der schnellste Weg, wenn er umkehrte? So wie sich diese Korridore drehten und wendeten, konnte man nur schwer sagen, welcher Weg kürzer war. Auf einer Seite des Flurs waren die Fenster mit Läden verschlos sen. Als Eli ein Paar öffnete und versuchte, sich zu orientieren, blickte er auf einen kleinen, viereckigen Platz hinaus. Blühende Büsche und Bäume verströmten einen aromatischen Duft. Es war je doch nur einer von vielen Gärten in dem riesigen Palast, und im silb rig grauen Licht des fahlen Mondes sah einer aus wie der andere. Das half ihm nicht weiter. Eli wollte sich schon abwenden, als ein Glanz
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unter den Bäumen seine Aufmerksamkeit erregte. Er war nicht silbrig, sondern golden. Was konnte das sein? Dann hörte er die Stimmen. »Goldener, seid Ihr sicher, dass wir nicht beobachtet werden?« »Willst du meine Kräfte anzweifeln, Ouabin?« »Niemals, Goldener! Wie könnte ich das?« Vorsichtig schloss Eli die Fensterläden wieder, ließ aber einen Spalt offen, damit er weiter zuhören konnte. Den ersten Sprecher erkannte er mit Leichtigkeit. Es war der Anführer der Ouabin-Re bellen, Rashid Amr Rukr! Aber wer oder was war die geheimnisvolle Gestalt, mit der er zusammen war? Und warum traf sich der Ouabin heimlich mit ihm, versteckt unter diesen dunklen Bäumen? »Ouabin, ich habe dir geholfen und dir die Eroberung leicht ge macht. Bist du denn für die größere Tat gewappnet, die jetzt folgen muss?« »Goldener, alles verhält sich, wie du es angeordnet hast! Sämtli che Vorbereitungen sind getroffen! Alles wird so geschehen, wie du es vorgeschrieben hast. Wir folgen den uralten Sitten, das habe ich bereits befohlen. Aber warum zaudern wir, wo doch ein so bedeu tungsvoller Gewinn auf dem Spiel steht? Sollte ich mich nicht sofort der Dame bemächtigen und die Sitten des verhassten Feindes vergessen?« »Narr! Sollte deine Lust deinen Verstand übertreffen? Du weißt nicht, was für eine Art Dame sie ist!« »Ich weiß, dass sie eine Frau ist.« »Ouabin, du weißt gar nichts! Ich bin sicher, dass sie uns nur dann wirklich gehören wird, wenn wir den vorgeschriebenen Ritualen fol gen.« »Nur dann, Goldener? Du redest so, als wären diese närrischen Sitten, diese uralten Traditionen eine Art von Magie! Wie kann das sein?« »Wie sollte es anders sein? Narr, sage ich!« Das Gespräch wurde in dieser Art und Weise fortgesetzt, und das meiste davon verstand der Hurenbock nicht. Natürlich waren Ge-
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spräche über schändliche Feldzüge, über Frauen, Eroberungen, Lust und Gewinn nichts Neues für ihn, aber hier steckte eindeutig noch mehr dahinter. Sprachen sie etwa von der Tochter des Kalifen? Sie hatten von Magie geredet: War es Magie oder ein raffinierter Zau bertrick, dass der Kerl wie Gold glänzte? Und warum tat er das? Außerdem: Kam ihm an diesem Kerl nicht etwas bekannt vor, je denfalls an seiner Stimme? Eli witterte, dass sich hier ein Geheimnis verbarg, und überlegte, wie et es Gewinn bringend ausschlach ten konnte. Eli hatte immer ein Auge für gute Gelegenheiten. Das brauchte er auch. Wenn eine Gelegenheit keinen Gewinn abwarf, würde ihm bald eine andere über den Weg laufen. Jedenfalls solange er darauf achtete. Man musste also immer die Augen offen halten. Seine Neugier hätte Eli beinahe dazu getrieben, die Läden weiter zu öffnen, doch in dem Augenblick klirrte Stahl, und laute Schritte waren zu hören. Ein Befehl gellte, als eine Patrouille vor ihm stehen blieb. Eli erschrak. Wer er war? Was er hier wollte? Welche Respektlosigkeit! Der Hurenbock ließ beleidigt sein Siegel blitzen und bat die Wachen freundlich, ihm doch bitte sehr den Weg zu den könig lichen Gemächern zu zeigen. Schon kurze Zeit später hatte er den goldenen Mann vergessen jedenfalls vorläufig. Denn in dieser Nacht sollte sich ihm eine wei tere, viel direktere Chance bieten. »Das ist das Ende!« »Nein, Oman!« »Meine wunderschöne Tochter ... Ein Opfer!« »Niemals, Oman!« »Meine ruhmreiche Herrschaft vom Winde verweht!« »Unsinn, Oman!« Kalif Oman Elmani wischte sich die Tränen weg und sah seinen Wesir gereizt an. »Also wirklich, Hasem, ich glaube du wirst noch ›nein‹, ›niemals‹ und ›Unsinn‹ sagen, wenn wir ans Rad gebunden werden! Kümmert es dich denn gar nicht, dass die Ouabin in unse ren Mauern sind?«
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Der Wesir verdrehte die Augen. »Es dürfte mir schwer fallen, das zu ignorieren, Oman, wo wir doch den Abend damit zugebracht ha ben, den geschätzten Scheich Rashid zu unterhalten. Wenn ich noch länger hätte mit ansehen müssen, wie unsere Haremsdamen ihre Hüften in dieses lüsterne Gesicht geschoben haben, wäre mir schlecht geworden! Also wirklich, und dann sagt er, er muss für die Hochzeit rein sein. Rein!« Sie hockten einen Moment mürrisch da. »Kommt, Eli, mehr Ferment!«, rief der Wesir. »Oman, nehmt ei nen tiefen Schluck von diesem Gebräu des Vergessens. Und erinnert Euch an das Sprichwort des Weisen Imral: Von allen Geliebten, die ein Mann sich nimmt, kann ihn keine so sehr trösten wie das Ver gessen.« »Geliebte? Wovon redest du, Hasem?« Eli Oli Ali füllte ihre Becher. Für den Kalifen und seinen Wesir waren solche Vergnügungen zwar ungewohnt, nicht jedoch gänzlich unbekannt. Wenn sie von Zeit zu Zeit befahlen, Ferment-Verkäufer in den Kerker zu werfen oder gar zu verstümmeln, war das doch mehr eine Schau für den Pöbel, als wirklicher Ausdruck ihrer Fröm migkeit. Manchmal, so drückte der Kalif es aus, blieb einem nichts anderes mehr als die Gottlosigkeit, und die heutige Nacht war ein besonders schwerer Fall. Vielleicht war es die frömmelnde Heuche lei des Scheichs, die sie zu diesem Exzess getrieben hatte, vielleicht aber auch nur der Wunsch nach einem Vergessen, das tiefer ging, als es ihre gewöhnlichen Vergnügungen bewerkstelligen konnten. Je mehr die beiden Männer heimlich zechten, desto sorgloser wurden sie. Eli Oli Ali beobachtete sie aufmerksam, während er nach außen hin nur ein unterwürfiges Lächeln Zeigte. »Lasst mich ein weiteres Sprichwort zitieren«, fuhr der Wesir fort. »Auch wenn die Nacht noch so schwarz ist, gibt es keinen Grund für Verzweiflung. Denn die Dunkelheit ist immer nur ein Vorspiel für das Licht.« »Hasem!«, schrie der Kalif. »Der Scheich will meine Schimmy!« »Allerdings, Oman, aber ich glaube, dass er uns verlässt, sobald er
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sie hat. Die Ouabin sind Nomaden, keine Kolonialisten. Sie sind zwar mächtig und werden eine Spur der Verheerung hinterlassen, aber nicht für lange. Der Scheich wird als Zeichen seines Sieges die Braut wegführen, die eigentlich dem Sohn Eures Bruders verspro chen war, aber wenn er sie hat, wird er uns ganz gewiss in Frieden lassen.« »Hasem?« »Oman?« »Du würdest meine liebe kleine Tochter weggeben?« »Oman, wir haben sie schon viel früher weggeben müssen!« Der Kalif schwenkte seinen Becher. »Hasem?« »Oman?« »Du würdest sie an einen ... Ouabin weggeben?« »Wir haben keine Wahl, Oman!« Die Flüssigkeit im Becher des Kalifen spritzte über den Esstisch, verfehlte den Wesir jedoch um eine nicht unbeträchtliche Spanne. Eli Oli Ali grinste, war aber sofort zur Stelle und füllte den leeren Becher neu. Wesir Hasem grinste ebenfalls und warf seinem Herren einen ironischen Blick zu. Der Kalif trank einen Schluck und fuhr fort, als wäre nichts ge schehen: »Hasem?« »Oman?« »Vergisst du da nicht etwas?« »Hah!« Die Augen des Wesirs blitzten. »Aber wenn dieses Etwas ... nun genau das Entscheidende wäre?« »Wirklich, Hasem, manchmal frage ich mich, wovon du eigentlich redest!« Eli Oli Ali ging es nicht anders. Seine beiden vornehmen Klienten sprachen leise, und der Hurenbock rutschte verstohlen etwas nä her. So bedeutend, wie er sich selbst fand, hätte er es eigentlich ungeheuerlich finden müssen, am Tisch zu bedienen. Aber es machte ihm nichts aus. Ganz und gar nicht. Denn es würde sich bestimmt auszahlen, so oder so. Außerdem, wann wäre Casca Dalla jemandem von königlichem Geblüt jemals so nahe gekommen?
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»Oman«, sagte der Wesir. Seine Augen glänzten vor Begeisterung. »Seit Jahren erwarten wir furchtsam den Tag der unausweichlichen Hochzeit Eurer Tochter. Nun denkt doch einmal nach! Sollte sie von Scheich Rashid entführt werden, welchen Gedanken wird der Sul tan dann noch an diese armselige Provinz verschwenden? Die Ver geltung, die wir schon auf uns herunterprasseln sahen, wird sich stattdessen gegen die Horden der Ouabin richten!« »Hasem, du vergisst immer noch etwas!« Eli Oli Alis Schnurrbartenden zuckten, und er hoffte, dass der Kalif nicht auf die Diskretion anspielte, die in der Gegenwart von niederem Volk angemessen war. Aber nein, natürlich nicht! Eli Oli Ali sollte ein gewöhnlicher Mensch sein? Unsinn! Der Hurenbock seufzte leise und segnete die magischen Eigenschaften des Ferment. Könnte doch Casca ihn jetzt sehen! »Und sollte der Sultan seine Beute wieder in die Hände bekommen«, erklärte der Wesir gerade, »was macht das schon? Wenn er das Geheimnis ihrer nebelhaften Substanz entdeckt, wird er es sicherlich für einen Zauber Rashids halten und seinen Zorn gegen die Ouabin richten!« »Hasem, wirklich, du vergisst tatsächlich etwas!« »Niemals, Oman. Ihr rechnet nicht mit den Sitten der Ouabin. Rashid wird seine Beute davontragen, und zwar weit in die Wüste hinein, bevor er es sich erlaubt, sie auch nur anzufassen. Habt Ihr nicht gehört, was er heute über den Balsam sagte, mit dem er seine Männlichkeit behandeln muss?« »Ich dachte, er hätte die Krätze«, antwortete der Kalifund schüttelte sich. »Hah! Es ist eine Salbe, mit der er das Feuer der Lust kühlen will. Und er muss sie auftragen, bis er wieder in die Gegenden zurückkehrt, die sein Stamm als heiliges Land bezeichnet. Erst in der Wildnis des Westens wird er versuchen, die Ehe zu vollziehen. Und das kann noch einige Mondleben dauern! Bis dahin werden ihm die kai serlichen Armeen längst auf den Fersen sein! Diese armselige Provinz hat wenig Grund, Rashids Wiederkehr zu fürchten!«
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»Hasem, ich wünschte, du würdest aufhören, mein Reich als arm selige Provinz zu denunzieren. Aber ich sage, dass du etwas vergisst, und zwar Folgendes. Ich weiß, dass Schimmy verheiratet werden muss, aber wenn schon, dann wäre mir der Sohn meines Bruders lieber als dieses schmutzige Wüstenwesen! Ach, gibt es denn keinen Weg, sie wieder zu heilen?« Der kleine Mann zupfte abgelenkt an seinem Turban, und während er einen langen, bunten Strang löste, rief er: »Verflucht soll er sein, dieser verwünschte Seher! Hasem, es muss doch einen Weg geben!« »Unsinn, Oman! Haben wir nicht gesucht und gebetet, gebetet und gesucht? Jafir, der Dschinn, ist verschwunden. Wir haben alle möglichen Mittel ausprobiert, um Eure Tochter wiederherzustellen, ohne Erfolg! Wir können nichts tun, und selbst wenn wir etwas tun könnten: Wie sollen wir sie vor Scheich Rashid retten? Wenn die kaiserlichen Truppen rechtzeitig einträfen, dann vielleicht ... Aber die Chancen sind sehr gering, Oman, wirklich sehr gering!« Der Kalif hörte nicht zu. Er dachte nach, und plötzlich leuchtete sein kleines rundes Gesicht vor Aufregung. »Warte! Hasem, der Scheich plant doch das Ritual der Neuverlobung, nicht wahr? Eine öffentliche Zeremonie, um seinen Anspruch geltend zu machen.« »Was kümmert uns das? Er wird sie auf jeden Fall mitnehmen!« »Nein, aber ... Wenn ein Schwur, ein heiliger Schwur, gebrochen werden soll, dann braucht man doch drei Freier, stimmt das nicht? Drei Bewerber? Das ist doch das Gesetz, richtig? Und der mit dem herrlichsten Geschenk gewinnt die Hand der armen Schimmy!« »Oman, Ihr wisst doch, dass diese Zeremonie ein bloßer Schwin del ist. Die anderen Freier werden Handlanger des Scheichs sein, und er hat doch bereits angedeutet, dass sein Geschenk so prachtvoll sein wird, dass alle, die es sehen, sich vor Ehrfurcht niederwerfen! Außerdem bin ich davon überzeugt, dass er jeden echten Heraus forderer töten würde.« »Unsinn, Hasem! Er ist doch fromm, oder nicht? Würde ein Mann, der sich mit einem lustzügelnden Balsam einschmiert, die heiligsten Sitten verleugnen? Ich sage dir, wenn ein anderer vorträ-
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te, könnte Schimmy wenigstens vor diesem Ouabin gerettet wer den!« »Oman, Ihr denkt nicht klar! Kommt, stellt dieses Gebräu des Vergessens beiseite und sagt mir, wer, in aller Welt, Rashid Amr Rukr herausfordern würde, ich meine, wirklich herausfordern!« Mittlerweile war Eli Oli Ali so fasziniert und erstaunt von dem Verlauf dieses Gesprächs, dass er fast vorgesprungen und absurderweise gerufen hätte: »Ich! Ich bin dieser Herausforderer!« Stattdessen biss sich der Hurenbock auf die Lippen, als der Kalif ihm mit einem triumphierenden: »Du, Hasem!«, zuvorkam. »Nie im Leben, Oman!« »Denk doch mal nach, Hasem! Was kann ein schmutziger Oua bin schon von herrlichen Geschenken verstehen? Bei all meinen Schätzen, aus denen du frei auswählen darfst, kannst du den Wett bewerb gar nicht verlieren. Und wenn du der Sieger wärst, könnte Schimmy bei uns bleiben, und wir hätten Zeit, noch mehr Zeit, bevor der Sultan ...« »Oman, nein! Wir hatten Zeit genug, und was haben wir erreicht? Ich sage Euch, mein Weg ist der einzig gangbare!« »Unsinn!« »Niemals!« Aber der Kalif konnte sich der Logik seines Wesirs letztendlich nicht verschließen und versank in dumpfes Brüten. Er verlangte mehr Ferment und beklagte erneut das Böse, das der Seher ihm angetan hatte. Diesmal jedoch übertrieb er etwas. Er sagte, dass er dem die Welt, die ganze Welt schenken würde, der ihm sagen könnte, was aus dem verruchten Kerl geworden war. Welche Freude, welche Reichtümer würden den erwarten, der ihm auch nur einen Hinweis auf das Schicksal des Sehers geben könnte, nur ein Haar seines Bar tes, einen Faden seines Umhangs! »Ach, verflucht, doppelt und dreifach verflucht sei der Seher Evi tamus !« »Evitamus?« Der Hurenbock warf sich zu Boden. »Eure Erha benheit, ich kenne diesen Mann!«
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Der Wesir richtete sich zornig auf. »Schuft! Du wagst es, wie ein Köter deinen Herrn anzukläffen?« Hasem wollte die Wachen rufen, aber der Kalif hielt ihn davon ab. Er drehte sich auf seinem Kissen herum und musterte mit rot geränderten Augen die Gestalt, die vor ihm auf dem Boden kroch. »Hurenbock«, lallte er. »Ist das wahr?« Der Hurenbock blickte hoch, lächelte strahlend und rieb sich die Hände. Das war es! Ja, das war seine Chance. Jetzt würde Casca Dalla niemals mehr triumphieren!
6. Ein Haus in Trümmern War es schon Mitternacht? Schwer zu sagen. Jem nahm nur die be drückenden Düfte wahr, die ihn umgaben, und die silbrigen Strah len des Mondes, die sich schimmernd in dem kühlen Wasser des Springbrunnens spiegelten. Nach dem Bankett hatte er sich auf das Bett gelegt, fest davon überzeugt, dass er noch genügend Zeit hatte. Allein der Gedanke an Schlaf war ihm absurd vorgekommen, und den ganzen Abend hatte sein Herz schmerzhaft in seiner Brust gepocht. Während er auf dem Bett lag, stellte er sich das exotische, wunderschöne Gesicht vor. Dann versank er in eine merkwürdige Träumerei. Zuerst sah er das Gesicht des Mädchens, dann das von Cata, dann wieder das des Mädchens. Schließlich waren es beide gleichzeitig, und sie vermisch ten sich geheimnisvoll. Warum erfüllte ihn das mit einer so großen Sehnsucht? Die Träumerei vertiefte sich zu einem Traum, zu einem wunderschönen, höchst befremdlichen Traum. Als Jem mit einem Ruck erwachte, fürchtete er zunächst, das Rendezvous verpasst zu haben. Hatte er etwa zu lange geschlafen? War die Zeit weitergeeilt, war Mitternacht etwa schon vorüber? Als er jetzt hier vor dem Brunnen stand, drehte er sich um, und
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die Kieselsteine knirschten unter seinen Füßen. Er sah zum Mond hinauf und betrachtete dann den Springbrunnen. Das Becken war ringsum mit Hieroglyphen bedeckt. Was sie wohl bedeuteten? Er fuhr mit den Fingern über die merkwürdigen, bemoosten Figuren, als er Opfer einer anderen Täuschung zu werden schien. Die wäss rige Flamme glühte tatsächlich und leuchtete ein wenig von innen heraus. Ihm kam es so vor, als würde der Kristall an seiner Brust zur Antwort heiß werden ... Im Unterholz knackte es. Jem wirbelte herum. Zu seiner Erleichterung war es nur Regenbo gen, der auf ihn zusprang, Jem streichelte den begeisterten, hechelnden Hund, und ihm wurde klar, wie sehr er ihn vermisst hatte. Offenbar hatte der Hund ihn wegen des Mädchens verlassen. Wider willen gegen das Geschöpf und ihre seltsame Magie stieg in Jem hoch. »Guter Junge, Regenbogen! Wieder bei deinem Herrchen, hm? Was brauchst du sie, wenn du doch mich hast?« »Damit er mir hilft, Euch zu finden.« Die Stimme klang ironisch. Jem stand hastig auf. Er war rot angelaufen. »Mich ... finden?« Jedes Mal, wenn Jem das Mädchen sah, staunte er über ihre Schönheit. Jetzt, im Mondlicht, kam sie ihm wie eine spirituelle Vi sion vor, die wie das silbrige Licht des Mondes im Wasser schimmerte. »Ich war mir nicht sicher, ob ich diese Stelle wieder finden würde.« »Und ich dachte, Ihr würdet sie gut kennen. Immerhin kanntet Ihr diesen Brunnen.« »Im Gegensatz zu Euch stamme ich aus diesem Land. Sollten mir meine eigenen heiligen Symbole nicht vertraut sein?« Die Stimme des Mädchens klang trotzig, aber Jem sah, dass sie ebenfalls nervös war. Sie sprach hastig weiter. »Der Flammenbrunnen kam mir be kannt vor, oder jedenfalls ist er es jetzt, seit ich in Kontakt mit der Erscheinung stehe, die so lange von mir getrennt war. Aber leider ist dieses Bewusstsein noch neu für mich, und meine Kräfte sind schwach. Seit wir uns in dieser Traumdimension getroffen haben, suche ich jeden Tag nach Euch, wenn Almoran uns nicht sehen kann.
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Aber die Gärten sind riesig, und sein Besitz hat viele Gebäude und ...« »Wartet!« Jem musste lachen. »Ihr seid zu schnell!« Das Mädchen sah ihn beunruhigt an. »Versteht Ihr mich nicht?« »Die Worte schon. Aber Ihr solltet wohl besser am Anfang beginnen.« Sie setzten sich am Fuß des Brunnens nieder. Als Jem so dicht ne ben der Prinzessin weilte, fand er sie nicht mehr so ätherisch wie noch am Anfang. Ihr Haar war zerzaust, ihr Gesicht schweißnass, und ihr schönes Gewand wies dunkle Schmutzflecken auf. Sie saß mit gekreuzten Beinen da und spielte mit den Kieselsteinen. Regen bogen schlabberte derweil selig vom Beckenrand über ihren Köpfen das kühle Nass. Dann ließ er sich fallen und legte den Kopf auf die gefalteten Pfoten. Die Hitze um sie herum schien sogar die Blätter niederzudrücken. Jem lächelte und sah seine Gefährtin aufmunternd an. »Wie könnt Ihr sprechen, da Ihr doch bis jetzt stumm wart? Und wieso wart Ihr eine Gefangene des Hurenbocks? Seid Ihr wirklich eine königliche Prinzessin?« Das Mädchen lachte. »Jetzt seid Ihr ein bisschen zu schnell! Jun ger Mann, kann es stimmen, dass Ihr ein königlicher Prinz seid?« »Allerdings. Ich bin wegen einer heiligen Suche in Euer Land gekommen. Das Schicksal der Welt hängt vom Gelingen meiner Mission ab, aber eine merkwürdige Magie hat mich von meinen Gefähr ten getrennt. Jetzt werde ich hier festgehalten und muss einen Weg finden, wie ich entkommen kann.« »Vielleicht verbirgt sich in diesem Palast ja ein Hinweis auf Eure Suche, Prinz.« »Verfügt Ihr über die Gabe der Hellseherei, Prinzessin?« »Es ist keine Gabe, sondern ein Wissen, das mein Schicksal mich gelehrt hat. In dieser Gestalt höre ich auf den Namen Dona Bela, aber in Wahrheit, in meinem Wesen, bin ich Bela Dona, die Tochter des Kalifen von Qatani. Vor langen Sonnenwenden, als ich noch ein Kind war ...«
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Jem hörte aufmerksam zu, während die Prinzessin ihm von dem merkwürdigen Fluch erzählte, der ihren Geist von ihrem Körper ge spalten hatte. Er erfuhr, wie ihr körperliches Selbst, ein Kind ohne die Fähigkeit zu sprechen, sich zu erinnern oder etwas zu begehren, in den fernen Provinzen aufgefunden und von einer freundlichen Mischlingsmutter aufgenommen wurde. Diese Frau war die Mutter von Eli Oli Ali und hatte das stumme fremde Kind wie ihre eigene Tochter großgezogen. Zehn Sonnenwenden lang hatte das Mädchen glücklich unter dem fahrenden Volk gelebt. Ihr Leben wäre vielleicht so weitergegangen, wäre Dona Bela nicht von Träumen geplagt wor den, die so lebhaft waren, dass sie real zu sein schienen. Träume von einem Leben in einem fernen Palast. Sie wunderte sich oft, dass sie sich überhaupt solche Dinge vorstellen konnte. Und schon immer hatte das Kind das Gefühl gehabt, als würde eine weit entfernte Macht in ihren Verstand eindringen. Mit zunehmendem Alter tauchten diese Träume bei Dona Bela häufiger auf und belasteten die Seele des stummen Mädchens. Sie weinte viel, zog sich zurück und verwünschte sich dafür, dass sie niemandem ihr geheimnisvolles Leiden erklären konnte. Ihr Schick sal war doppelt hart, denn je mehr sie von ihrem geteilten Selbst begriff, desto deutlicher spürten die Mischlinge ihre Fremdartigkeit. Hatten sie sie am Anfang auch herzlich aufgenommen, so behandel ten sie Dona Bela jetzt zunehmend abweisender. Ihr Schicksal ent schied sich in einer Nacht im Mischlingslabyrinth von Geden, als eine Gruppe von Spielern auf ihren Gittern klimperte, ihre Tablas schlug und die wunderschöne Stumme überraschend anfing zu sin gen. Sie konnte einfach nicht anders. Das Erstaunen, das sie unter den Mischlingen hervorrief, war beträchtlich. »Euer Lied! Das habe ich auch gehört! Prinzessin, dieses Lied hat bestimmt eine große Macht!« »Daran zweifle ich nicht, Prinz. Aber ich verstehe es nicht, obwohl es doch so wichtig für mein Schicksal ist!« »Für meines auch!« Jem umklammerte den Kristall an seiner Brust. »Könnt Ihr es jetzt singen?«
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Die Prinzessin schüttelte den Kopf. »Leider nicht. In dieser Traumdimension kann ich sprechen, was ich vorher nicht konnte. Aber das Lied, mein einziger Trost, wurde mir jetzt genommen.« »Euer einziger Trost?« »Nach dieser Nacht in dem Labyrinth von Geden wurde mein Le ben unerträglich. Selbst meine Mischlingsmutter hielt mich für ver hext und verkündete, ich wäre nicht mehr ihre Tochter. Schon bald wurde Dona Bela von allen gemieden, und es mehrten sich die Ge rüchte, dass ich vertrieben und in der Wüste ausgesetzt werden soll te. Eine Weile wünschte ich mir das geradezu, aber das Mischlings volk ist schlau. Man fand eine andere Verwendung für mich. Ich war längst kein Kind mehr, und meine Schönheit wurde ein Handels gut.« »Prinzessin, ich fürchte das, was Ihr gleich sagen werdet!« »Es verhält sich genauso, wie Ihr vermutet. Die Mischlinge sind zwar Händler, aber von der niedersten Sorte. Wenn ich auch von allen im Labyrinth verachtet wurde, erkannten sie doch meinen Wert. Also wurde ich in den Wagen eingesperrt, in dem Ihr mich gefun den habt. Hätte ich mich nicht widersetzt, wäre ich jetzt längst zu einer widerwärtigen Hure herabgesunken.« Jem senkte den Blick. Mit einem Anflug von Scham dachte er an die Verderbtheit seiner Tage in Agondon. Und mit noch tieferer Trauer und auch mit Wut erinnerte er sich daran, was Poltiss Cata angetan hatte. »Den alten Göttern sei gedankt, dass sie Euch ein sol ches Schicksal erspart haben! Aber, Prinzessin, wie konntet Ihr Euch der Lust dieser Rohlinge widersetzen? Und wie seid Ihr mit Eurem angeblichen Bruder auf die Straße nach Qatani gekommen?« »Jedes Mal, wenn meine Tugend in Gefahr war, habe ich mein ge heimnisvolles Lied gesungen. Schon bald betrachtete ich es als mein geheimes Geschenk, einen Glücksbringer, der mich vor einem fal schen Schicksal bewahrte.« »Dann war ich also ein Narr, als ich versucht habe, Euch zu ret ten?« Die Prinzessin nahm Jems Hand. »Nein, Ihr wart kein Narr. Ihr
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wart edel und gut, und wenn wir hier auch gefangen gehalten wer den, weiß ich doch, dass ich jetzt auf dem richtigen Weg bin, auf dem Weg, den mir das Schicksal bestimmt hat. Meine Bestimmung kann nur erfüllt werden, wenn ich mich mit meiner körperlosen Erscheinung wieder vereine.« Jem betrachtete erstaunt das wunderschöne, wundersame Mäd chen. Der Rest war schnell erzählt. Die Prinzessin sprach verbittert von ihren Tagen im Mischlingslabyrinth und von den vielen Versuchen, ihre Tugend zu brechen. Angeleitet von ihrer so genannten Mutter versuchten brutale Männer, ihr den Mund zu stopfen, sie zu berauschen oder sie bewusstlos zu machen. Aber mit der Aura, die das Lied ihr gebracht hatte, gelang es Dona Bela, allen Versuchen zu widerstehen. Die hinterhältige Mutter verzweifelte schließlich und schickte nach ihrem Sohn. Sie vertraute darauf, dass er den Tricks des Mädchens gewachsen war. »Das ist dieser Mann namens Eli Oli Ali?« Die Prinzessin nickte. »Als ich noch ein Kind war, ist er nach Qa tani gegangen. Die Leute sagen, dass er dort zu einem großen Mann wurde. In Wirklichkeit ist er einfach nur damit reich geworden, verbotenen Schnaps und die Gunst von Huren zu verkaufen. Er ver spottete die Unfähigkeit seiner Mischlingsbrüder und verkündete, dass eine große Zukunft in der Stadt auf mich wartete. Den Rest kennt Ihr.« Jem sah beunruhigt zur Seite. Erneut vermischten sich vor seinem inneren Auge Dona Belas und Catas Gesicht, als würden sie mitei nander verschmelzen. Er schüttelte sich. Wann bekam er endlich wieder einen klaren Kopf? »Prinzessin, Ihr sagt, dieser Palast läge in einer Traumdimension. Was meint Ihr damit?« »Habt Ihr es noch nicht begriffen? Als ich die Grenze zu Almorans Welt überquerte, wurden mir viele Dinge vollkommen klar, die ich vorher nur vage geahnt hatte. Ich weiß, dass mein altes Leben gänzlich unecht gewesen ist. Und wenn ich Euch ganz vorkomme, obwohl ich noch geteilt bin, liegt das daran, dass hier an diesem Ort die Illusion regiert.«
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»Almoran sprach vom Tuch des Vergessens ... Aber ich wusste, dass man ihm nicht trauen konnte.« »Ich will nicht behaupten, dass ich alle seine Motive kenne, aber ich weiß, dass er uns hierbehalten will Warum er uns braucht, ist mir nicht klar. Sein Traum allein kann Wohlstand, Schönheit und ganze Legionen von Freunden erzeugen. Aber trotzdem braucht er uns. Ich vermute, dass er mich heiraten will. Was er mit Euch vorhat, habe ich nicht herausgefunden, aber ich bin davon überzeugt, dass es unheimlich sein wird.« »Wir müssen seiner Knechtschaft entfliehen! Aber wie?« »Gelobt seien die Götter, dass wir uns endlich außerhalb dieser merkwürdigen Bankettsäle getroffen haben! Während ich in den Gärten herumspazierte, habe ich ständig nach den Grenzen von Al morans Herrschaftsgebiet gesucht. Leider bin ich zu oft im Kreis gegangen und immer wieder zum Haus zurückgekehrt, obwohl ich glaubte, es weiter hinter mir gelassen zu haben. Aber zusammen, hier, haben wir mehr Wahrheiten herausgefunden als in der Zeit, die wir in Almorans Traum gefangen waren. Vielleicht können wir ge meinsam den merkwürdigen Giften dieses Ortes widerstehen und herausfinden, wo seine Wälle dünner werden!« Jem sprang auf. »Sofort!« »Nein, wartet! Morgen, wenn es hell ist und Almoran erwartet, dass wir im Garten sind. Ich habe gespürt, dass er mich manchmal im Schlaf beobachtet. Ich musste dieses Treffen riskieren, aber jetzt habe ich das Gefühl, dass ich schnell in meine Kammer zurückkeh ren sollte. Sehr schnell. Regenbogen, komm mit!« Jems Beine waren von dem langen Sitzen auf dem Boden verkrampft, und es fiel ihm schwer, mit seinen Gefährten Schritt zu halten. Ein mal ging er um eine Ecke und dachte, dass die Prinzessin ver schwunden war. Dabei war sie noch vor einem Moment direkt vor ihm gewesen! Diese Gärten waren wirklich sehr verwirrend. Jem hörte Regenbogen bellen und drehte sich um. Zwischen einigen Bäumen sah er das lange Becken. Direkt daneben stand die Prin
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zessin und betrachtete nachdenklich das geheimnisvolle Haus. Er ging auf sie zu. Wie sie da im Mondlicht stand, war ihre Ähnlichkeit mit Cata noch auffälliger als zuvor. Es war wirklich eine verblüffende Ähnlichkeit... Sie schimmerte und warf ihm einen tränenfeuch ten, flehenden Blick zu ... Cata? Ja, sie war Cata! Jem stürmte vor und nahm sie in die Arme. Einen Moment später landete er im Becken. Erst jetzt wurde ihm klar, dass das Mädchen, das natürlich nicht Cata gewesen war, ihn heftig weggestoßen hatte. Jem versank tief in den moosgrünen Flu ten, bevor er sich tropfend auf den Rand des Beckens stemmte. In dieser Nacht schlief er unruhig und wurde von wilden Träu men geplagt. Sie waren sowohl erotisch als auch beängstigend. Er wachte mitten in der Nacht zitternd auf und ging zu den Fenstern, um sie zu schließen. Als er hinaussah, bemerkte er, dass das Becken nur noch ein flacher, trockener Trog war. Die Gärten darum herum waren tot und verfallen. Besorgt und fasziniert trat er auf die Terras se hinaus, um zu prüfen, ob das, was er sah, wirklich war. Und als er sich zum Haus umdrehte, sah er es einen Moment als eine trostlose Ruine. »Polty ... Polty« Woher kam diese klagende Stimme? Verwirrt und zitternd blieb Bohne einen Moment liegen, bevor ihm klar wurde, dass er selbst es war, der da redete. Er öffnete die Augen und schloss sie sofort wieder. Es war noch nicht einmal Morgen. Aber wie leibhaftig tauchte Poltys Bild wieder vor Bohnes innerem Auge auf und füll te seinen Verstand. Wann war er das letzte Mal ohne seinen Freund gewesen? Auch wenn sie getrennt waren, blieb Polty trotzdem das Zentrum von Bohnes Existenz, und das schon seit einer halben Ewigkeit. Mittlerweile konnte sich Bohne nur noch schwach erinnern, wie alles angefangen hatte, damals, als er den fetten Jungen mit dem karottenroten Haar in den Ställen hinter dem Trägen Tiger gefunden
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hatte. Wie lange das schon her war! Ha, es war noch vor der An kunft des Harlekins gewesen, der so merkwürdig auf dem Dorfan ger getanzt hatte! Später hatte Bohne erfahren, dass sich Polty vor Nathanian Waxwell versteckt hatte, seinem Furcht einflößenden Vormund, der ihn so fürchterlich verdrosch. Aber Polty war von Anfang an der furchtlose Kommandeur gewesen, der auf die nervö se Herausforderung des dünnen Jungen mit brutaler Kraft reagiert hatte. Natürlich hatte Polty gewonnen. »Polty ... Polty« Bohne drehte sich um. Wie seine Glieder schmerzten! Allmählich merkte er, dass er auf dem Boden lag. Wo war seine Couch? Er muss te sie suchen ... Aber nicht jetzt. Er versank wieder in Tagträume reien und dachte an Polty und die alten Zeiten ... Diese glorreichen Zeiten, als sie Seite an Seite im Nova-Riel-Zimmer geschlafen hat ten. Er erinnerte sich an Polty in der Weste, die Bohnes Mutter angefertigt, hatte, an Polty, der nackt auf dem Todesfelsen lag, an den Tag, an dem Vel gestorben war ... Nein. An dem Polty ihn umgebracht hatte! Bohne hatte schon immer gewusst, dass Polty ein Monster war, aber was sollte er tun? Das Band zwischen ihnen war stärker als dieses Wissen, und noch mächtiger war die Bewunde rung, die sein Freund stets in ihm ausgelöst hatte. »Polty ... Polty« Wie ein Trommelwirbel dröhnte der Name durch Bohnes Kopf. Aber seine Glieder schienen aus Blei zu bestehen! Zunge und Lippen waren ausgetrocknet, und ein entsetzlicher Gestank stieg ihm in die Nase. Bohne stöhnte und schlug die Hände vors Gesicht. Es war doch noch nicht Morgen, oder? Er versank wieder in seinen Erinnerungen an seinen flammenhaarigen Freund. Er dachte an Poltys neu gewonnene Schönheit, nachdem die Blauröcke ihn weggeschafft hatten. War es nicht eine Bestätigung, eine Belohnung für all das ge wesen, was Polty getan hatte? Er dachte an den mächtigen Gott Penge, der sich wie das schimmernde Zepter eines Königs erhob ... Bohne grub sich die Finger in die Augen. Was wollte er denn? Was konnte er mehr verlangen, als einem so mächtigen Herrn zu dienen?
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In den Augenwinkeln bemerkte er einen hellen Fleck, ein düsteres Grau. Konnte es doch schon Morgen sein? Er durfte hier nicht lie gen bleiben! Er musste sich um Poltys Bettwäsche kümmern, um seinen Nachttopf, um sein Haar ... Bohne richtete sich unvermittelt auf und schrie, als ein schrecklicher Schmerz durch seine Stirn zuckte. Stöhnend sank er wieder zurück. Einen Augenblick glaubte er, dass er in einem niedrigen, gruft artigen Raum lag und sich die Stirn an der niedrigen Decke ange schlagen hatte. Dann jedoch bemerkte er, dass der Schmerz von in nen kam, von einer Stelle hinter seinen Augen. Allmählich wurde das Stechen zu einem dumpfen Pochen, aber mittlerweile erinnerte sich Bohne an die Schrecknisse des gestrigen Tages. Dann fielen ihm auch die furchtbaren Erlebnisse des heutigen Tages ein. Wo waren sie hier? War es vielleicht doch eine Art Gruft? Burgrove lag rücklings auf der anderen Seite der Zelle. Bohne ge nügte ein Blick. Er war davon überzeugt, dass sein Gefährte tot war.
7. Ein strahlender Tag Ti-witt Ti-woo! »Oh, sieh nur, ein Bob Scarlet!« Der Vogel saß auf einem Zweig neben der Straße und trillerte fröhlich. Landa strahlte und streckte die Hand nach ihm aus, aber das kleine Geschöpf bekam Angst und flatterte davon. Wie sehr wünschte sich Landa, dass sie Catas Macht besäße! Dann schalt sie sich einen Dummkopf. Sie war eine Priesterin und verfügte über ihre eigenen Kräfte. Wenn sie nur genügen würden, um Cata zurückzubringen! »Er ist längst nicht so kühn wie sein Namensvetter«, meinte Hul. »Hm? Ach, der Bob Scarlet!« »Priesterin, Ihr seid nicht wirklich bei uns, oder? Müsst Ihr Euch
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so grämen? Ich kann sehen, wie es Euch krank macht. Euer Gesicht ist blass, und Ihr habt dunkle Ringe unter den Augen. Kommt, niemand gibt Euch die Schuld an dem, was geschehen ist. Große Auf gaben warten vor uns, und wir müssen in die Zukunft blicken.« Landa nickte. Hul sprach die Wahrheit, aber der Gelehrte konn te nicht verstehen, wie sie sich fühlte. Sie wusste selbst, dass sie nicht die Schuld trug. In der Nacht von Catas Verschwinden waren böse Mächte am Werk gewesen. Eine dunkle Magie hatte sich mit der ih ren gekreuzt und Landas Freundin in ihren geheimnisvollen Strudel gezogen. Seitdem hatte sich die Priesterin jede Nacht den magischen Künsten gewidmet und sich in den Wald unter den ältesten Baum zurückgezogen, den sie finden konnte. Und an jedem Morgen war sie wieder aus dem Unterholz gestolpert und hatte traurig zugeben müssen, dass ihre Bemühungen immer noch nichts gefruchtet hat ten. Landa wusste jedoch, dass sie nicht aufgeben konnte. Sie würde niemals glauben, dass ihre Freundin tot war. »Ich bin nicht sicher, ob wir wirklich mitten auf der Straße mar schieren sollten«, sagte Bando. »Was meinst du, alter Freund?«, rief Hul. »Es gefällt mir nicht. So ein Morgen ist genau die richtige Jagdzeit für Blauröcke.« »Diese armen Blauröcke!«, rief der Mönch, der sich die Stirn mit seinem nicht mehr allzu sauberen Taschentuch abwischte. »Die Straße mag ja heiß sein, aber ich bin es Leid, durch diese elenden Wäl der zu stapfen. Meine Soutane ist voller Kletten, und ich bin überall zerkratzt!« »Was denn, Kapaun, möchtest du lieber von einer Kugel der Blau röcke zerschrammt werden?«, spottete Bando. Der Bruder verdrehte die Augen. »Also wirklich, die Straße ist, so weit mein Auge reicht, vollkommen verlassen!« »Das reicht leider nicht sonderlich weit, Kapaun. Die Straße weist einige Kurven auf. Ist dir das vielleicht entgangen?« »Ach, haltet mir keinen Vortrag über zenzanische Straßen! Man wird durchgerüttelt und geschüttelt, und das sogar zu Pferde! Rei
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ten ist fast noch schlimmer als ein Fußmarsch. Und nennt mich nicht immer Kapaun!« Der Bruder hätte auf seine letzte Bemerkung verzichten sollen. Denn wie aufs Stichwort rissen sich Raggle und Taggle von der Hand ihres Vaters los und tanzten respektlos um ihren klerikalen Gefährten herum. Sie improvisierten einen neuen Vers des Liedes, das während der langen Mondleben, die sie gemeinsam unterwegs waren, schon viele Veränderungen durchgemacht hatte. . Rüttel, rüttel, schüttel, schüttel, Kapaun, zeig uns deine Rute! Rüttel, rüttel, schüttel, schüttel, Kapaun, zeig uns deine Rute! Wenn der Kapaun pinkelt, Hockt er sich hin wie ein Mädchen Und statt eines Strahls gibt es nur ein Tröpfeln. Rüttel, rüttel, schüttel, schüttel, Kapaun, zeig uns deine Rute! Der arme Bruder wirbelte herum und stotterte beleidigt: »Das ist eine Lüge!«, und: »Ich bin kein Eunuch, sondern wie ein Mann aus gestattet!«, und: »Damit Ihr es wisst: Es gibt sogar Huren, die Geistliche vorziehen!« Es war ein grausames Spiel. Doch auch wenn Hul sich dafür schämte, dass sein alter Freund Bando den Jungen ein solches Ver halten erlaubte, war es dennoch nicht seine Sache, eine Bemerkung zu machen. Außerdem musste er unwillkürlich lachen. Erst als er Landas Gesicht sah, wurde Hul plötzlich ernst. »Jungs!«, rief er. »Bando, sorg dafür, dass sie aufhören!« Bando grinste, klatschte in die Hände, und die Jungen liefen wie der gehorsam neben ihrem Vater her. Wenigstens war der Tanz eine Abwechslung gewesen. Die kleine Gruppe trottete weiter und schmachtete in der Gluthitze des Tages. In solchen Momenten war das leise Klirren von Bandos Flinte, das Rascheln von Landas Rock
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und das Knirschen ihrer Sohlen im Staub das einzige Geräusch. Nur Bob Scarlet bewegte sich zu Pferde fort, und wie immer ritt der Maskierte ein gutes Stück vor der Gruppe. Mit schussbereiten Pis tolen hielt er misstrauisch Ausschau nach Gefahren. Die Gefährten hatten ihn seit einer Weile weder gesehen noch gehört. Aber das war nichts Ungewöhnliches. Es lag eine gewisse Ironie darin, dass der Wegelagerer den Späher markierte, denn Bob Scarlet selbst war vielleicht die größte Gefahr für diese kleine Rebellengruppe. Hul hatte ihren Anführer mehr fach auf ihrer Reise gedrängt, seine Maske und die Rebellenkleidung abzulegen. Es war sinnlos. Der Mann, in Wahrheit der abgesetzte König von Ejland, weigerte sich beharrlich, Zuflucht bei einer un würdigen, aber sichereren Verkleidung zu suchen. Manchmal kam es Hul so vor, als wäre ihr Anführer absichtlich leichtsinnig und achte weder sein eigenes Leben noch das seiner Gefährten. So war es nicht immer gewesen, aber leider schienen Bob Scarlets große Tage vorbei zu sein. Der Bruder hoffte, dass sie bald eine Taverne fänden. »Wirklich, mit dieser zenzanischen Lebensweise bin ich nie zu rechtgekommen. Warum die Blauröcke dieses Land erobern wollen, ist mir rätselhaft. Es verfügt nicht einmal über die Grundlagen einer Zivilisation. In Ejland gibt es an jeder Ecke ein schönes Bierhaus, wo man seine müden Glieder ausruhen und ein bisschen Nahrung zu sich nehmen kann.« »In Eurem Fall dürfte ein bisschen wohl kaum ausreichen.« Ban do konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. Er hätte ausführ lich zu dieser Beleidigung seines Landes Stellung nehmen können, beschränkte sich jedoch auf eine kurze Frage. »Was denn, möchtet Ihr lieber Eure Füße auf eine feste Bank legen, die Finger über Eurem Schmerbauch falten, nur um Euch Blauröcken gegenüber zu se hen, deren Bajonette in der Sonne glitzern?« Hul lachte. »Und wenn schon, Bando! Sind wir nicht eine Truppe armer Gaukler, die unterwegs in die Stadt sind, wo sie ein Vermö gen machen wollen?«
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»Eine sehr glaubwürdige Geschichte! Vermutlich würden sie uns auffordern, ein Spiel aufzuführen.« »Würde uns das in Verlegenheit bringen, alter Freund? Ich sehe es schon vor mir. Raggle und Taggle zeigen ihre Bodenakrobatik, Lan da gibt die weise Frau, ich werde einige großartige klassische Verse zitieren, und du Bando, nun, du kannst immerhin einige deiner wunderbaren Lieder singen. Wie wäre es mit ›Scarlet, Scarlet, sein Mantel war rot‹? Und da der Bruder Mönch so eifrig darauf bedacht ist, seinen Schlund zu füllen, wird er sicherlich einen großartigen Schwertschlucker abgeben.« »Sch ... Schwertschlucker?« Der Bruder schluckte schwer. »Guter Meister Bando, ich glaube, Ihr habt Recht. Wir sollten uns von diesen zenzamschen Tavernen fern halten! Ich habe Euch immer für klug gehalten. Glaubt Ihr, dass wir uns besser wieder in den Wald schlagen sollten?« Der Bruder war vorgestürmt und umklammerte Bandos Arm. Entzückt hätten Raggle und Taggle einen weiteren Reim improvi siert, wenn Bando nicht gefragt hätte: »Und Bob Scarlet? Was ist mit unserem Anführer, Hul?« Hul lag eine lustige Antwort auf der Zunge, aber er kam nicht mehr dazu. Hinter der nächsten Biegung vernahmen sie einen plötz lichen, lauten Aufruhr. Erst hörte man laute Stimmen, dann das Wiehern eines Pferdes. Schließlich knallten Schüsse. »Landa!«, rief Bando. »Kümmer dich um die Jungen!« Der Zenzaner riss die Flinte von seiner Schulter und stürmte vor wärts, ganz gleich, welcher Kampf oder welche Krise ihn da erwar tete. Raggle und Taggle zerrten an Landas Armen, weil sie unbe dingt bei ihrem tapferen Vater bleiben wollten. Hul sah zwischen Landa und Bando hin und her. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er dem Mädchen helfen oder seinem alten Waffengefährten folgen sollte. Der Mönch war ins Unterholz gehechtet und spähte jetzt vol ler Panik daraus hervor. Der Kampf war bereits vorüber. Die Krise jedoch hatte eben erst begonnen.
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Die Blätter hingen unnatürlich still in der Glut; sie raschelten nicht, ja, sie schienen nicht einmal zu zittern. Wohin sie auch blickten, die Straße flimmerte vor Hitze, Das Blut trocknete bereits und rollte sich in dem pulvrigen Staub zu Kügelchen zusammen. Die Szenerie hatte etwas Merkwürdiges: Es schien, als würden die Toten schon lange, lange dort liegen. Die Lebenden betrachteten die Toten. »Sire, was habt Ihr Euch dabei gedacht?«, flüsterte Hul und rang die Hände. Der Wegelagerer schob die Pistole in das Halfter zurück, drehte sich langsam um und stieß zwischen zusammengepressten Zähnen hervor: »Nenn mich nicht Sire! Wie oft hab ich dir das schon gesagt, Hul? Wie oft?« Die Bitterkeit in seiner Antwort überraschte Hul selbst. »Wie soll ich Euch dann nennen? Hitzkopf? Narr?« Beunruhigt blickte er zu Landa hinüber, die sich bemühte, die Jungen von den Leichen fern zu halten. Doch sie hatte nicht genug Kraft. Raggle und Taggle rissen sich aufgeregt los und tanzten johlend um die beiden toten Blauröcke herum. Der Mönch arbeitete sich langsam aus dem Brennesselbusch hervor. Bando versuchte, die Pferde der beiden toten Soldaten zu beruhigen. Der Wegelagerer deutete mit dem Daumen auf die verängstigten Pferde. »Wir brauchen doch noch mehr, oder nicht? Wenn wir bei dem Handel zwei Blauröcke töten konnten, nenne ich das ein faires Geschäft.« Landa trat vor und sagte: »Wir haben sie nicht getötet, sondern Ihr habt das getan! Bob, es war nur eine Patrouille! Zwei dumme Jungen, die über die Straße trabten! Erinnert Euch an die beiden Soldaten in Schloss Oltby, an Morven und Crum. Die beiden hätten es auch sein können. Bob, Ihr hättet Morven und Crum töten können!« Der Wegelagerer lächelte zynisch. Der Mönch quietschte gequält in seinem Brennesselbusch, und Hul schluckte. Während er Landa beobachtete, musste er gestehen, dass er ihren widerspenstigen Mut
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bewunderte. In seinem Leben als Gelehrter und Rebell hatte er sel ten mit dem schönen Geschlecht zu tun gehabt. Er hatte angenom men, dass seine Mitglieder entrückte, dekorative Geschöpfe wären, die kaum als Gesellschaft für einen Mann wie ihn taugten. Natürlich war da Bandos kurze Ehe. Aber auch die Kriegerin Iloisa hatte Hul trotz all ihrer Vorzüge nicht überzeugen können, dass er weibliche Gesellschaft brauchte. Mit Landa dagegen hatte es eine andere Bewandtnis, eine ganz andere. Der Gelehrte schluckte erneut. »Landa hat Recht, Bob«, sagte er. »Ihr habt überstürzt und grausam gehandelt. Und wer weiß, welche Schwierigkeiten Ihr uns eingebrockt habt? Wo zwei Blauröcke sind, sind andere meist nicht weit. Und zwar viele andere. Oder habt Ihr das vergessen?« Hul verstummte und begann zu zittern. Für Landa mochte ein solches Verhalten angehen, denn sie kannte die wahre Identität ihres Anführers ja nicht. Nur Hul kannte sie, und dieses Wissen wurde allmählich eine Belastung. Er wappnete sich für die Auseinandersetzung. Wäre der Wegelagerer vorgetreten und hätte ihm ins Ge sicht geschlagen, Hul wäre nicht überrascht gewesen. Er war sogar der Meinung, dass er es verdient hätte. Aber Bob Scarlet schlug seinen alten Freund nicht. Jedenfalls nicht mit der Hand. »Hul, ich habe dich eigentlich immer für einen Mann des Geistes gehalten.« »Wie?« Hul konnte ihm nicht ganz folgen. Die Antwort war einfach. »Wie ich jedoch sehen muss, wirst du allmählich ein sentimentaler Narr.« Hul errötete. Der Mönch in den Nesseln quietschte erneut. »Zufälligerweise«, fuhr der Wegelagerer lächelnd fort, »bin ich mir der Gefahr sehr wohl bewusst, in der ich mich befinde. Ist Bob Scarlet nicht ein Synonym für Wagemut ? So war es schon immer und so wird es immer bleiben. Ich habe dieses Rebellenleben wohl kaum so lange geführt, ohne dabei etwas über das Verhalten der Blauröcke
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zu lernen. Außerdem, Hul, solltest du bedenken, dass es ein Gebiet gibt, in dem ich selbst deiner berühmten Gelehrsamkeit Konkurrenz machen kann: Und zwar ist das meine Kenntnis der Pläne der Agondon-Kutschenlinie. Ich meine damit vor allem ihre Abfahrtspunkte und -zeiten.« Hul verstand nicht. »Sire? Ich meine Herr? Ich wollte sagen: Bob?« Der Wegelagerer deutete auf die Leichen. »Diese beiden werden nicht vor heute Abend vermisst, so viel ist sicher. Ich wollte, dass sie aus dem Weg sind, wenn die Kutsche vorbeikommt. Außerdem brauchte ich Pferde für dich und Bando. Es ist schon eine Weile her, alter Freund, nicht wahr?« Er legte Hul einen Arm um die Schulter. »Ich glaube, wir haben uns lange genug im Wald versteckt. Ab heu te ist Bob Scarlet wieder im Geschäft. Und jetzt komm, helfen wir unserem fetten Freund aus den Nesseln, sonst hört dieses Gequieke niemals auf.«
8. Träume aus Glas »Kleiner! Fisch! Hier lang, rasch!« Rajal lernte schnell. Zuerst blickte er verstohlen von links nach rechts, dann winkte er den kleineren Jungen zu, ihm zu folgen. Sie schossen genau in dem Augenblick aus der Gasse, als die Tänzer des Untergangs die Wachen der Ouabin ablenkten. Nur Momente spä ter tauchten Rajal und seine neuen Freunde in der Menschenmenge auf dem Platz unter. Das Blut tränkte immer noch den staubigen Bo den, und die Galerie war an einigen Stellen heruntergebrochen, an anderen versengt. Aber der Basar blühte bereits wieder, als hätte die Eroberung niemals stattgefunden. Für die Händler machte es auch keinen Unterschied, ebenso we nig wie für die Diebe. Irgendwo in der Menge kümmerte sich Faha
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Ejo mit Stinker und Blase um die Kaliko- und Musselin-, Batist-und Seidenbuden; in der Nähe waren Pustel und Storch dabei, wie die Dohlen glänzende Trinkbecher zu stiebitzen. Nur die Wachen der Ouabin dämmten ihren Eifer etwas, aber die bedrohlichen Gestalten in ihren weißen Gewändern auf ihren dunklen Rössern beschäftigten sich kaum mit armseligen Dieben. Stattdessen beäugten die Oua bin misstrauisch die Tänzer des Untergangs, deren hohe, wortlosen Gesänge sich unheimlich über den Lärm des Basars erhoben. In dem Gedränge aus Menschenleibern sah Rajal kurz die ge heimnisvollen Gestalten, die mit ihren nackten Füßen Staub aufwirbelten, während sie sich unablässig im Kreis drehten. »Das Ende ist nah!«, sagte Fisch zitternd. »Unsere Chance auch«, erwiderte Rajal. »Ans Werk!« Er hatte genug von der Welt gesehen, um seine Angst zu verdrän gen, aber für die meisten Besucher auf dem überfüllten Platz galt das nicht. Schon bald sammelte sich eine Traube von gut gekleideten Menschen um diese seltsamen Heiligen. Die Zuschauer waren zu beunruhigt und fasziniert, um die Hände zu bemerken, die in ihre Taschen griffen oder an Geldbörsen an goldenen Ketten zupften. Schneller und schneller drehten sich die Tänzer. Tamburine erklan gen, die langen Barte flogen, und immer flinker und flinker arbeite ten die braunen, diebischen Hände. Während sie herumwirbelten, lösten die heiligen Männer ihr wortloses Wehklagen in einen finsteren, wogenden Gesang auf. Alles, was wir träumen, Alles, was wir scheinen, Verschwindet in der Luft. Alle Dinge müssen vergehen: Träume aus einem Spiegel Verschwinden in der Luft: Kristall an einer Brust, Licht, das scheint;
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Licht in der Finsternis, Kristall verschwindet! Alles, was wir sehen, Alles, was wir sind, Verschwindet in der Luft... Hätte Rajal ihnen zugehört, hätten die Worte ihres Liedes ihn viel leicht erschreckt. Aber er war vollkommen damit beschäftigt, einer schwarz gekleideten Frau unbemerkt einen Ballen dunkelroten Ripsstoff aus dem Arm zu ziehen. Vor Konzentration runzelte er die Stirn und biss sich auf die Unterlippe. Trotz der Anspannung schlug etwas in ihm Alarm. Was tust du hier? Was fällt dir ein, ein fach so zu stehlen? Wie kommst du dazu, mit Dieben gemeinsame Sache zu machen? Die einzige Antwort, die Rajal darauf hätte geben können, war, dass es ihm so unwirklich vorkam. Seit er den Kristall verloren hatte, wurde Rajal das Gefühl nicht los, dass er in eine Welt der Illusion gestürzt war. Er befand sich außerhalb der Realität, und sein Leben konnte nur dann weitergehen, wenn er seinen verlorenen Schatz wieder fand. Aber wie sollte er das anfangen? Von weither jenseits des Sandes
Kommen die Eroberer:
Feuern ihre Kanonen ab,
Schlagen ihre Trommeln.
Alles wird er tun,
So wie du und ich ...
Sie hätten weitergesungen, aber die Ouabin wurden von dem Lied aufgeschreckt. Roch das nach Verrat? War es eine List? Qatanis mochten ja die Tänzer des Untergangs dulden, die Ouabin jedoch waren keine Qatanis.
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Ein Schuss fiel, und ein Hengst bäumte sich auf. Im nächsten Au genblick zerstreuten sich Zuschauer und Tänzer. Für Rajal kam. es genau im richtigen Moment. Denn so konnte er mit einem letzten Ruck den Stoffballen an sich bringen. Aber er sollte sich nur kurz darüber freuen. Als er weglaufen wollte, hielt ihn der verängstigte Schrei eines Kindes auf. Er drehte sich wieder um und ließ den Stoff ballen fallen. Es war der Kleine. Verzweifelt wehrte sich der kleinste Unner, während er von einem fetten Händler festgehalten wurde. Mit der freien Hand zog der Mann ein Messer aus seinem Turban und hielt es dem Jungen an den Hals. »Lasst ihn los!« Rajal wollte sich durch die Menge boxen und hät te sich dem Messerstecher gestellt. Glücklicherweise bäumte sich in dem Moment erneut das Pferd eines Ouabin auf. Der Händler fiel rücklings zu Boden und der Kleine konnte sich befreien. Rajal packte seine Hand. »Hier entlang!« Das war Fisch. Eine Seite des Platzes wurde von der zerstörten Galerie blockiert, die teilweise bis zum Boden herabhing. Sie sprangen rasch hinauf und kletterten nach oben. Kurz darauf hatten sie sich in der menschenleeren Galerie versteckt. Kleine Augen spähten hinter einem Pfeiler hervor. Die langen, kühlen Korridore schienen leer zu sein und lagen im Licht der Nachmittagssonne still da. Die kleinen Augen zwinkerten, und kleine Hände kratzten das Fell unter dem mit Juwelen ge schmückten Kragen. Bubi, die Äffin, hüpfte weiter. Sie hatte keine Angst, sondern war nur vorsichtig. Jeden Moment erwartete sie das Trampeln der Wachen zu hören. Eigenartig ... Die Wachen, die sie in den letzten Tagen gesehen hatte, unterschieden sich von denen der ersten Nacht, von denen, die den armen Kapitän wegschleppten, noch bevor er Zeit fand, sein Bein wieder festzubinden. Seitdem war einiges passiert, aber Bubi verstand das alles nicht. Was bedeuteten
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diese Explosionen, diese blitzenden Säbel? Sie wusste nur, dass sie die neuen Wachen noch weniger mochte als die früheren. Wie gern sie wieder zum Schiff zurückgegangen wäre! Bubi sehnte sich da nach, auf dem Meer zu segeln, aber was tat der Kapitän stattdessen? Er lag in seiner Kammer, schnarchte und erholte sich von einem wei teren Festessen. Bubi langweilte sich. Nachdem die Affin noch eine Weile ziellos herumgehüpft war, landete sie schließlich mit einem Sprung auf einem Fenstersims und genoss die Sonne, die ihren räudigen Rücken wärmte. Da sie eine Äffin war, machte sie sich über den gewaltigen Abstand zum Boden keine großen Gedanken. Erst als ein schläfriges Zischen an ihre Oh ren drang, sah Bubi hinunter. Jetzt erkannte sie die Grube mit den langen, sich windenden Dingen. Die Kobras! Bubi stieß einen Schrei aus und schlug gegen den Riegel des nächstbesten Fensters. Fast im selben Augenblick plumpste sie in eine geheimnisvolle, parfümierte Kammer. »Puh!« Rajal wischte sich die Stirn. »Das war knapp!« »Ich habe meine Geldbörse verloren!«, beklagte sich der Kleine. »Und ich meinen Rips!«, erwiderte Rajal gereizt. »Ihr seid ja tolle Diebe!« Fisch holte aus dem schmutzigen Len denschurz, seinem einzigen Kleidungsstück, einen getrockneten Einhornpenis hervor und schwenkte ihn triumphierend. »Ein Glücksbringer?«, fragte der Kleine gekränkt. »Das ist nicht fair!« Der Junge im Lendenschurz schnitt eine Grimasse. »Ich hatte schließlich noch keinen Talisman, als ich das hier gestohlen habe!« Er sprang auf und stampfte prüfend auf den Boden. »Also hier ste hen die feinen Leute, ja? Von hier aus hatten sie sicher einen guten Blick auf dein Gehänge, was, Vaga-Junge?« »Komm wieder runter!«, sagte Rajal. »Warum?« Fisch beugte sich gefährlich weit über die Balustrade. »Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Sieh doch, alles hat sich wieder beruhigt.«
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Er hatte Recht. Nachdem die Tänzer des Untergangs verschwun den waren, bot sich ihnen unten auf dem Markt dasselbe Bild wie immer: das Geschrei der Händler, die ihre Waren anboten, die Rufe der Kunden, die feilschten, die unvermeidlichen Streitereien, wenn sich Leute in der Menge anrempelten. Rajal ließ seinen Blick über das Gewühl gleiten und kniff die Augen zusammen, als das Sonnen licht zu stark reflektiert wurde. Erst von einem Kürbis, dann von ei nem Ring und schließlich vom Säbel eines Ouabin. Nein, es war nicht alles wir vorher. Der Kreis des Opfers erhob sich zwar immer noch in der Mitte des Marktes, aber die Opferungen der letzten Tage waren ohne viel Federlesens über die Bühne gebracht worden. Ohne die ausgefeilten Zeremonien, die der Kalif so schätzte. Und unablässig wie ein Herzschlag pochte die Furcht unter dem geschäftigen Summen des Basars. »Da ist Faha!«, rief Fisch. Den Namen eines Diebes in die Menge zu rufen, ist sicherlich nicht das passende Verhalten für einen anderen Dieb, schon gar nicht, wenn er an einem Platz herumhüpft, an dem kein Straßenjun ge entdeckt werden darf. Rajal wollte gerade protestieren, doch stattdessen verstummte er erschrocken. Er hatte in den Schatten der gegenüberliegenden Galerie gestarrt. Und dort einen Moment ein bekanntes Gesicht entdeckt. Er schlug Fisch auf die Schulter. »Pass auf den Kleinen auf!« »Was? Wohin willst du denn?« Rajal antwortete nicht. Leichtfüßig rannte er davon und schlängelte sich geduckt durch die Gänge und Bögen, die schief über dem Platz hingen. Ob er das Gesicht wirklich gesehen hatte, wusste er nicht. Bereits zweimal hatte er es verfolgt, und beide Male war ihm seine Beute entkommen. Trotzdem war sich Rajal sicher, dass jemand sie beobachtete, und er glaubte auch, diese Person zu kennen. Es war der Angreifer aus der Zelle! Rajal neigte nicht zu Gewalttätigkeiten, aber wenn er diesen mörderischen Kerl erwischte, würde er ihn zu Brei schlagen. Es war schon schlimm genug, dass er bei
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nahe wegen dieses Jungen hingerichtet worden wäre. Doch drän gender war die Frage, was er mit dem Kristall des Koros angestellt hatte! In den letzten Tagen hatte sich Rajal immer und immer wieder daran erinnert, wie er an dem Rad hing. Konnte er wirklich den Kristall gesehen haben, der in der Brust der Tochter des Kalifen brannte? Waren magische Strahlen aus ihren Händen geströmt? Mehr als einmal hatte Rajal Pustel gefragt, ob er etwas Merkwürdiges wahrgenommen habe. Der Schiffsjunge erzählte jedoch nur etwas von explodierenden Bomben, die die Ankunft der Ouabin an kündigten. Es gab so vieles, was Rajal nicht verstand. Wenn er jedoch den Jungen aus der Zelle erwischte, würde sich das Rätsel lösen. Davon war er fest überzeugt. Kleine Augen spähten hinter einem Pfeiler hervor. Die große, kühle Kammer schien leer zu sein. Leer und still lag sie im Licht der Nachmittagssonne. Die Äffin rümpfte ihre kleinen Nüstern. Während ihres langen Lebens an Bord eines Schiffes hatte sich Bubi an vielerlei merkwürdige Gerüche gewöhnt, aber normalerweise hatten sie ein anderes Aroma. Auf ihre gereizten Sinne wirkte die weihrauchgeschwängerte Luft beinahe genauso stark wie der Rauch, den die Männer dieses Landes aus diesen merkwürdigen, geschlängelten Schläuchen sogen, die an diesen Gefäßen mit der blubbernden Flüssigkeit angebracht waren. Bubi schwankte etwas, während sie weiterschlurfte. Neugierig musterte sie die mit Schnitzereien verzierten Möbel, die zierlichen, bemalten Wandschirme und die mit Gaze verhüllten Spiegel. Mit einem leisen Rauschen, das wie ein Seufzen klang, fiel eine der Hüllen zu Boden. Der Windhauch streifte Bubi, und die Äffin erschrak, als sie ihr Spiegelbild sah. Sie duckte sich, und der Affe im Spiegel tat es ihr gleich. Sie fletschte die Zähne, das Spiegelbild ebenfalls. Sie kratzte sich am Kopf, der andere Affe machte das auch. Also wirklich! Es war gar kein echter Affe, sondern nur ein Bildnis!
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Bubi zischte verärgert über diesen Trick und überlegte, wer ihr wohl Angst einjagen wollte. Hier war gewiss Magie im Spiel, eine merkwürdige Magie. Sie drehte sich um. Hatte sie da nicht ein Geräusch gehört? Ein Stöhnen. Was war das? Von dem Affen im Spiegel stammte es jeden falls nicht. Vielleicht kam dieses Stöhnen ja von eirtem der Wand schirme. Das Gemälde, das ihn schmückte, erkannte sie nicht als Springbrunnen. Das kleine Herz der Äffin hämmerte heftig, und sie wünschte, sie wäre nicht an diesen merkwürdigen Ort geraten. Vor sichtig näherte sie sich dem gemalten Springbrunnen und warf einen Blick dahinter. Die Äffin keckerte leise. Denn dort lag regungslos das Mädchen, das in dieser einen Nacht auf so geheimnisvolle Weise auf ihrem Schiff aufgetaucht war! Traurig blickte Bubi auf die ausgestreckte Gestalt und dachte daran, wie sie in den Armen des Mädchens gele gen und es zu ihr wie zu einer Freundin gesprochen hatte. Was fehl te ihm denn nur? Dann sah Bubi die Fesseln und die Kette. Die Äffin drehte sich um und überlegte besorgt, was sie tun könn te. In dem Moment flammte plötzlich Licht in dem Raum auf und erhellte sogar die Schatten hinter dem Schirm. Was konnte das sein? Bubi wollte kreischen, aber die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie lugte vorsichtig um den Schirm herum und sah erstaunt, wie eine goldene Gestalt zwischen den Spiegeln auftauchte. Diese Gestalt hatte sie schon früher gesehen, und zwar während ihrer vielen Erkundungszüge auf einem ganz bestimmten Schiff! Die Äffin wuss te genug, um sich schnell wieder zurückzuziehen. Unwillkürlich legte sie eine Hand über das ausgestreckte Mädchen. Als könnte eine so kleine Hand irgendeinen Schutz gewähren. Der goldene Mann hob die Arme, und die Gaze fiel von dem Kreis aus Spiegeln. Er drehte sich langsam. Seine Füße schwebten unmittelbar über dem Boden. Langsam, unter vielen bunten Wirbeln, schienen Bilder in den Spiegeln aufzutauchen. »Siehst du, Ouabin? Hier ist dein Traum! Und hier findest du auch die Erklä
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rung, die du suchst. Hier siehst du, warum alles so getan werden muss, wie ich es sage!« Bubi verstand die Worte nicht, sondern wunderte sich nur, an wen sie wohl gerichtet sein mochten. Es war doch sonst niemand da, oder? Doch da, die graue Erscheinung, die neben dem Goldenen kauerte! »Genug von diesen Zaubertricks!«, sagte eine Stimme. »Goldener, wollt Ihr meine Geduld überstrapazieren? Das Mädchen ist nicht hier!« »Ouabin, sie ist überall.« »Was? Ich verstehe Euch nicht!« »Sieh hin, Ouabin, sieh hin!« Jetzt lösten sich die bunten Wirbel auf und erzeugten das Abbild eines dunkeläugigen, wunderschönen Mädchens, das in den schim mernden Spiegeln vervielfältigt wurde. Das Phantom schien seinen eigenen substanzlosen Zustand vergessen zu haben und wollte mit einem Schrei vorspringen. Doch ein glühender Blick des Mädchens hielt ihn zurück. Etwas Dunkles und gleichzeitig Strahlendes, etwas Purpurfarbenes und dennoch Blendendes glühte wie ein leuchtendes Herz in ihrer Brust. »Ouabin«, sagte der Goldene mit beinahe zärtlichem Spott. »Sie ist tatsächlich wunderschön, hab ich Recht? Aber zügle deine Ungeduld noch ein wenig und rufe dir die heiligen Rituale ins Gedächtnis, denen wir folgen müssen.« Mittlerweile waren die bunten Farbwirbel aus den Spiegeln hinausgetreten, und die schillernde Gaze kräuselte sich, als wehe sie im Wind. Die Augen des Mädchens wur den noch strahlender, glühten wie die Vision des Kristalls in ihrem Inneren, aber der Goldene lachte nur. »Ja, Mädchen, lass deinen Trotz nur aufflammen! Du wirst dennoch bald uns gehören! Was bist du anderes als ein Gefäß für die Macht, die in dir schlummert, die Macht, die wir bald befreien und beherrschen werden! Das ist deine Bestimmung, und du wirst ihr nicht entkommen!« »Goldener, lass sie aus dem Spiegel hervortreten! Kannst du sie mir nicht näher bringen, nur für einen Moment?« Aber der goldene Mann schien seinem grauen Gefährten nicht
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mehr zuzuhören. Der Graue wurde außerdem immer schwächer und flackerte in dem hellen Licht. Der Goldene redete beinahe ne ckend weiter. »Ach, Mädchen, ich sehe, dass es so gekommen ist, wie ich vermutet habe: der purpurne Kristall. Also hat der Vaga-Junge verloren, was er eigentlich hatte behüten sollen! Hätte ich das nicht vorhersehen müssen? Nun, er hat seine Rolle in diesem Abenteuer gespielt, und damit ist er erledigt. Ich bin sogar sicher«, er lachte wieder amüsiert, »dass er bald die Strafe erleidet, die er jetzt auch verdient...« »Goldener«, mischte sich das Phantom ein. Seine Stimme klang schrill. »Bring sie dazu, ein bisschen näher zu kommen, bitte, nur ein kleines bisschen! Lass mich ... Oh, ich möchte nur mit der Hand durch ihre luftige Gestalt tasten ...« Aber jetzt flackerten die Bilder in den Spiegeln und veränderten sich, während der Goldene heller wurde. Erstaunt sah Bubi Meister Rajal am Rad hängen, dann in einem Keller liegen, über den Markt laufen, sah ihn in einem prachtvollen, fremden Raum, sah, wie er den Mund öffnete, um zu schreien. Beunruhigt wollte sie dasselbe tun, aber dann war Meister Rajal genauso plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war. Jetzt sah sie nur eine Vision von prachtvol len Gärten. Das Mädchen aus dem Spiegel befand sich ebenfalls dort, wenn auch merkwürdig verändert und ... Aber konnte das sein? Da war Meister Jem! Bubi kletterte aufgeregt und ängstlich an der Seite des Wandschirms hinauf, und dann tauchte eine weitere Vi sion auf: Mistress Cata in wehenden Roben, ebenfalls merkwürdig verändert. Bubi bückte verwirrt zwischen dem Mädchen, das reglos neben ihr lag, und den vielfältigen Spiegelbildern hin und her. »Genug!«, schrie das Phantom. Es hatte offenbar Schwierigkeiten, seine körperlose Gestalt zusammenzuhalten. »Was sind das für Träume in diesen Spiegeln?« Der Goldene antwortete nicht. Seine Gestalt wurde immer strah lender. Noch mehr Bilder tauchten auf. Eine andere Frau, die der ers ten ähnelte, aber noch schöner war, erfüllte jetzt jeden Spiegel. Wer konnte das sein? Was ging hier vor?
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»Goldener!«, schrie das Phantom. »Ich kann nichts sehen... Gol dener, die Kammer um mich herum verblasst...« Dann war er fort, und nur der goldene Mann war noch da und drehte sich unaufhörlich in der Mitte eines gleißenden Sturms. Jetzt schien das Gesicht der Frau den ganzen Raum zu erfüllen, kam aus den Spiegeln hervor und war plötzlich überall. Aber das war doch unmöglich! Es war überall, es erfüllte alles, war alles. Der goldene Mann warf den Kopf in den Nacken, aber ob er lachte oder schrie, konnte man nicht erkennen. Bubi wusste nur, dass er völlig hem mungslos und anscheinend wahnsinnig war. »Ach, meine Dame!«, rief er. »Meine Dame im Spiegel! Eines Ta ges wirst du real für mich sein, und dann kommen wir zusammen! Schon bald werden diese Träume im Spiegel enden! Der Ouabin ist ein nützlicher Narr, das ist alles ... Prinz Jemany, der Vaga-Junge, das Mädchen Catayane, sie alle sind Narren, nützliche Narren! Ver flucht sei meine Schwäche, dass ich solche Diener brauche. Aber schon bald werde ich nichts mehr benötigen, weil ich dich habe und du mich. Und alles, was sonst noch existiert, wird uns nichts bedeuten! Schon bald, mein Liebling, schon sehr bald!« Dann verschwand auch der Goldene. Die wirbelnden Farben verblassten, und die Gaze flatterte zu Boden. Bubi weigerte sich, hin ter dem Schirm hervorzukommen, und kauerte wimmernd über der reglosen, mit Ketten gefesselten Cata.
9. Neues Schicksal neue Gefahr Rajal blieb stehen und atmete schwer. Sonnenlicht vertrieb die Schatten, und der Boden knarrte bedrohlich unter seinen Füßen. Zweimal wäre er fast durch die brüchigen, geschwärzten Bretter ge stürzt. Er trat etwas zur Seite und beugte sich vorsichtig über die Balustrade. Der Kleine und Fisch waren mittlerweile weit hinter
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ihm. Aber wo war der Junge aus dem Kerker? Rajal kniff die Augen zusammen und musterte angestrengt die Umgebung. Da hörte er Stimmen hinter sich. »Am helllichten Tag, ich bitte Euch!« »Ja, ja. Und sie sind hier hochgelaufen, sagst du?« »Meine Güte, das sieht aber nicht sehr sicher aus!« »Alter Mann, willst du meine Zeit verschwenden?« »Aber nein, Herr!« Rajal drehte sich ruckartig um. Er hatte geglaubt, dass man nur vom Palast der Duftenden Stufen auf die Galerie gelangen konnte. Anscheinend war dem nicht so. In großen Abständen führten vom Marktplatz Treppen hinauf, für Beamte und auch für die Wachen. Jetzt tauchte ein hochnäsiger Ouabin auf einer dieser Treppen auf, den Säbel in der Hand. Sein Begleiter war der fette Händler, der keu chend und schnaufend neben ihm herging. Rajal versteckte sich rasch hinter einem Pfeiler. »In welche Richtung müssen wir jetzt?«, bellte der Ouabin. »Meine Güte!« Der Händler keuchte. »Alter Mann, du bist ein Narr!« Rajal hielt die Luft an. Wenn sie sich in seine Richtung wandten, konnte er nur noch weglaufen. Koros aus dem Fels, erhöre Dein Kind. Bitte. Bitte! Von unten drang Musik bis zur Galerie hinauf. Rajal spähte auf den Marktplatz und sah die Tänzer des Untergangs. Das seltsame Trio hatte sich trotzig erneut versammelt, und es scharte sich auch schon wieder eine Menschenmenge um sie. Diesmal jedoch war die Darbietung anders. Einer der alten Männer schlug zwei Zimbeln, ein anderer eine Tabor, und der dritte blies eine dickbauchige Flöte. Während sie spielten, stieg etwas von ihren Füßen in die Luft hinauf. Rajal sah genauer hin. Spielten seine Augen ihm einen Streich? Zunächst hielt er das Ding für eine Schlange, doch dann erkannte er, dass es ein langes, kräftiges Seil war, das sich allmählich über die Menge erhob. Er trat dichter an das Geländer. Dabei brach sein Fuß mit einem krachenden Geräusch durch eine versengte Bohle.
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»Was war das?« Der Ouabin war schon in die andere Richtung gegangen. Jetzt je doch wirbelte er herum, und sein Säbel blitzte. Der Händler quiekte. Das Seil schwankte. Rajal sprang. Er hielt sich fest und schwankte gefährlich hoch über dem Basar in der Luft. Der Ouabin war wütend. »Ein Betrüger, hm?« Er stürmte vor. Gleich würde der Säbel das Seil zerfetzen, doch stattdessen gab die Balustrade nach. Der Ouabin segelte mit einem lauten Schrei nach unten. Die Menge johlte. »Meine Güte!« Der Händler zwirbelte sich den Bart. Die Tänzer des Untergangs spielten immer noch, aber die Wachen stürmten bereits heran. Die Menge teilte sich, und die Musik brach ab. Rajal stürzte, aber nicht so hart wie der Ouabin. Als die letzten Töne der Flöte verklangen, wickelte sich das magische Seil wieder auf und setzte Rajal mit einem eleganten Schwung zu Boden. Gerade außerhalb der Reichweite der Wachen. Rajal schnappte sich das Seil und lief davon. Diejenigen, die die Königs Gemächer mit Beschlag belegen dürfen, werden normalerweise mit äußerster Zuvorkommenheit behandelt. Die Großen dieser Welt werden niemals mit unschicklichem oder grobem Verhalten konfrontiert, ganz zu schweigen mit der Irritati on durch unangemeldete Besucher. Ganze Legionen niederen Volks existieren schließlich nur deshalb, um sie vor solchen vulgären Ge schehnissen zu bewahren. Werden diese Verteidigungslinien des Ge sindes jedoch überwältigt, muss man den Großen zugestehen, dass sie beunruhigt sind. Vielleicht umso mehr, wenn es sich wie hier um den Kalifen Omar Elmani und seinen treuen Wesir Hasem handelt. Sie winden sich im Würgegriff der einfallenden Horden und stecken mitten in einer geheimen, wenn auch höchst entmutigenden Strategiediskussion.
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»Können wir denn nicht auf Hilfe hoffen?«, sagte der Kalif gerade. »Der Große Bruder muss uns doch retten!« »Hoffen können wir das. Die Frage ist, ob er uns rechtzeitig ret tet!« »Rechtzeitig? Hasem, du meinst doch nicht...« »Bevor Eure Tochter fort ist? Leider meine ich genau das, Oman.« »Wenn man nur Evitamus finden könnte!«, jammerte der Kalif. »Ach«, erwiderte der Wesir traurig. »Wie ich sehe, denkt Ihr wie der an den Hurenbock. Oman, was sollen wir uns denn aus dieser Richtung erhoffen? Er ist zwar ein loyaler Bursche und unserer Sache zutiefst ergeben, aber soll er in wenigen Tagen das erreichen, was unsere umfassenden Mittel in all den Sonnenwenden nicht bewerkstelligt haben?« »Aber er hat es versprochen! Hasem, wie kannst du an ihm zweifeln?« »Ganz leicht, Oman. Denkt nicht mehr an den Seher Evitamus. Ich fürchte, von der Magie haben wir nicht viel zu erwarten. Wenn überhaupt, dann arbeitet sie sehr rege gegen uns. Wenn ich gewissen Hinweisen Glauben schenken darf!« Der Kalif sah ihn entsetzt an. »Hasem, wovon redest du?« »Es genügt zu berichten, dass sich hinter einem gewissen Edelmann aus Ejland mehr verbirgt, als man auf den ersten Blick sieht.« »Empster-Lord?«, fragte der Kalif. »Was hat er damit zu tun? Meine Güte, diesen unberechenbaren Kerl habe ich fast vergessen! Ich mochte ihn schon nicht, als er uns vor all den Jahren besucht hat, das weißt du. Kannst du dir vorstellen, dass er mich immer angese hen hat, als wäre ich dumm? Ich glaube kaum, dass der Rothaarige uns vor ihm hätte warnen müssen.« »Ihr habt ihn sofort durchschaut, Oman?« »Natürlich. Seine Hände sind viel zu glatt.« »Dann wird es Euch ja auch kaum überraschen, wenn ich Euch sage, dass er mit den Ouabin gemeinsame Sache macht.« »Was ?«, rief der Kalif. »Ich dachte, er wäre ein Verräter in Ejland! Ist er denn überall ein Verräter, wohin er auch geht?«
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»So sieht es aus, Oman. Bis jetzt kann ich mich allerdings nur auf die Berichte von einigen Spionen aus dem Palast stützen, aber wenn ich sie richtig verstehe, ist dieser Edelmann gesehen worden, wie er aus dem Flügel der Ouabin kam... Ich meine aus dem Flügel des Pa lastes, den die Ouabin besetzt haben. Es gibt andere Berichte, noch merkwürdigere Berichte, von denen ich aber nicht weiß, ob wir ih nen Glauben schenken können. Es genügt zu sagen, dass sich dieser Empster-Lord eindeutig als unser Feind erwiesen hat.« »Hasem, dann müssen wir ihn exekutieren - und ans Rad bin den!« »Zweifellos«, erwiderte der Wesir trocken. »Falls er noch hier ist, wenn die Ouabin verschwinden.« »Die Ouabin!« Mit einem Schrei fuhr der Kalif von seinem weichen Diwan auf. »Hasem, ich könnte sie alle mit bloßen Händen erwürgen! Und was diesen Rashid Amr Rukr angeht...!« Der kleine Mann hob zu einer wilden, unzusammenhängenden Tirade an, in der die Rede von Halskragen, einer Peitsche und einem glühenden Schürhaken war, als jemand donnernd an die Tür schlug. »Die Ouabin!«, schrie der fette Kalif erneut, doch diesmal in einem gänzlichen anderen Ton als zuvor. Er packte ein Kissen und hielt es sich schützend vor die Brust. »Wirklich, das ist einfach unerträglich!« Der Wesir sprang auf, in Erwartung eines gebieterischen Boten. Stattdessen schlich ein Skla ve herein und meldete, dass der königliche Hurenbock draußen wartete und zusehends ungeduldiger würde. Der Sklave wollte noch mehr sagen, aber der Wesir schlug ihm auf den Kopf. Plötzlich wa ren alle aufrührerischen Gedanken wie weggeblasen. Das hier war etwas anderes, etwas vollkommen anderes. Nun, der Wesir hätte nicht zu hoffen gewagt ... »Narr! Habe ich dir nicht befohlen, Eli Oli Ali sofort vorzulassen?« »Hasem! Ist es möglich?« »Theron sei gedankt, wenn ja!« Der Kalif schleuderte das Kissen zur Seite und wälzte sich herum. Gespannt erwartete er, was jetzt geschehen würde. Seine Stimme
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klang schrill. »Hurenbock! Hast du den Seher endlich gefunden? Gebückt und grüßend kroch Eli Oli Ali heran. Sein schmieriges Gesicht glänzte. »Pah, Eure Erhabenheit, es gibt solche und solche Funde. Wenn Ihr meint, dass er draußen vor der Tür wartet, dann nein, dann hat Euer loyaler Diener ihn nicht gefunden. Und das könnte auch niemand bis auf den allmächtigen Theron.« »Hasem, wovon redet er?« Der Hurenbock rieb sich die Hände und grinste. Oman und Ha sem waren so begierig darauf, die Geschichte zu erfahren, dass kei ner von ihnen bemerkt hatte, dass ihr Besucher vergessen hatte, sich eine zeremonielle Maske aufzusetzen. Glaubte er, dass er nach den Vertraulichkeiten neulich allen Respekt fahren lassen durfte? Der Wesir hätte ihn sicherlich streng ermahnt, aber jeder Gedanke daran war wie weggeblasen, als der schmierige Kerl weiterredete. »Ich sage, ich habe ihn nicht gefunden, aber wenn Ihr meint, ob ich etwas herausgefunden habe, wenn Ihr wissen wollt, ob ich die Wahrheit entdeckt habe, werdet Ihr bald glücklich sein. Und ich auch.« »Hasem, er soll sagen, was er meint!« »Hurenbock, was meinst du damit?« »Ihr habt nach einem Hinweis auf diesen bösartigen Seher ge fragt. Und ich bringe Euch nichts anderes als eine Geschichte mit ei nem Ende, und dazu noch eine Geschichte, die Euch viel Freude be reiten wird! Eine Geschichte, die Euch Casca niemals hätte liefern können, selbst wenn er tausend Epizyklen leben sollte! Eure Exzellenzen, ich habe das Schicksal des Sehers entschleiert!« Eli Oli Ali drehte sich um und beschrieb einen weiten Bogen mit der Hand. Der Kalif schrie unwillkürlich auf. In ihrer Aufregung hatten die Erhabenen den zweiten Gast gar nicht bemerkt; der in ihrer Mitte weilte. Die dunkle, zusammengesunkene Gestalt schlurfte jetzt nach Aufforderung des Hurenbocks vor. Es dauerte einen Moment, bis der Kalif zu seinem Entsetzen feststellte, dass es sich um eine Frau handelte, und zwar um eine schwarz gekleidete Ge meine. Eine Frau unangemeldet vor die königlichen Augen zu brin gen war ein Vergehen gegen das Erste Gesetz.
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Spätestens jetzt hätten die Wachen vorstürmen und Eli Oli Ali in den Kerker zerren müssen. Aber erstens war das Weib uralt, und au ßerdem interessierte sich der Kalif für das, was der Hurenbock zu sagen hatte, nicht dafür, was er tat. Stolz erklärte der schmierige Kerl seinen Herren, dass man dieses Weib Mutter Madana nannte. Er versetzte ihr unauffällig einen Tritt, woraufhin sie sich zu Boden warf und verwirrte, aber innige Gebete murmelte. »Madana?«, unterbrach sie der Kalif. »Gibt es nicht einen Sklaven dieses Namens? Er hat eine bedeutende Position im königlichen Dienst inne! Aber dieses Weib ist wie eine gemeine Bäuerin geklei det! Wer ist sie?« Eli Oli Ali beeilte sich mit der Antwort. »Eure Erhabenheit, das ist die Schwester Eurer Mutter Madana, der Hüterin Eures hoch wohlgeschätzten Harems. Auch sie ist eine Frau mit vielen Talenten, aber eine, deren Licht bisher in den abgelegenen Gebieten Eures Kalifats geleuchtet hat. Leider haben die Machenschaften des Bösen sie aus ihrem Beruf vertrieben, den sie mit äußerster Hingabe erfüllt hat.« »Beruf? Böse?« »Sie war die Herrin einer Karawanserei in Dorva«, erklärte Eli. »Hasam, ist das nicht da gewesen, wo .,.« »Allerdings, Eure Erhabenheit! Aber was hat dieses Weib mit dem Seher zu schaffen? Rasch, Weib, kennst du ihn?« Anscheinend hatte Mutter Madana die Kunst der Rede verlernt, doch nach einem zweiten, weniger unauffälligen Tritt Eli Oli Alis sprudelte es plötzlich aus ihr heraus, als wäre eine kleine Maschine rie angesprungen. Ein Wortschwall aus Erinnerungen, Bedauern und Wut ergoss sich über die Zuhörer, und nichts davon schien et was mit dem Seher zu tun zu haben. Sie schluchzte und berichtete jammernd von ihrer zerstörten Karawanserei, einstmals die schöns te im ganzen Kalifat. Sie vergaß den Hurenbock und denunzierte die schmutzigen Mischlinge, die bestimmt der Grund für das ganze Unheil gewesen waren. Eine Weile ging das so weiter. Der Kalif, der Wesir und auch der
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Hurenbock schienen dieser Woge nichts entgegensetzen zu können. Als erster versuchte der Wesir wieder die Oberhand zu gewinnen und erkundigte sich, was das alles zu bedeuten habe. Erst einige massive Tritte konnten die tieferliegenden Erinnerungen des Wei bes an die Oberfläche bringen. War Eli Oli Ali auch eben noch besorgt gewesen, gestattete er sich jetzt ein Lächeln. Gierig stellte er sich die Belohnung vor, die ihn erwartete. Unwillkürlich rieb er sich die Hände, als Mutter Madana erklärte, wie der Seher vor vielen Jahren zu ihr gekommen war, ihr schönstes Zimmer genommen und seine Rechnungen zuerst mit Gold, dann mit Silber und mit Bronze und schließlich mit der Arbeit seiner Tochter, eines rechten Wildfangs bezahlt hatte ... An die sem Punkt verdüsterte sich der Tonfall der alten Frau, und es droh te eine neue Abschweifung, diesmal über das nutzlose, illoyale, bösartige Mädchen Ameda. Doch der Wesir griff rechtzeitig ein. »Ein Wildfang, sagst du?« Er sah zwischen dem Weib und dem Hurenbock hin und her. Was war das für ein Spiel? Nach dem Gesicht der Alten zu schließen, sah sie dem fetten Eunuchen im Harem so ähnlich, dass der Wesir einen Moment glaubte, sie wäre selbst dieser Eunuch. Die wahre Mutter Madana, die der Hurenbock überredet hatte, Bauernkleidung an zuziehen. Hielt Eli Oli Ali sie etwa für Narren? Zornesröte stieg, dem Wesir ins Gesicht, aber der Kalif kam ihm zuvor. »Wo ist er denn?«, schrie er. Mutter Madana sah verwirrt hoch. »Wie bitte, Eure Erhaben heit?« »Weib, wären nicht dein Geschlecht und dein Alter, würde ich dich ans Rad binden lassen! Viele lange Jahre, seit seiner Verbannung von meinem Hof, hast du anscheinend den unerbittlichsten meiner Feinde beherbergt, und anscheinend dazu noch einen zweiten, bös artigen Kriminellen, der erst vor einigen Tagen der Justiz entkommen ist!« Wütend drehte er sich zu Eli Oli Ali um, »Hurenbock, das hast du gar nicht gut gemacht! Du bist zu mir gekommen, und hast mir versprochen zu liefern, wonach ich mich verzehre, aber was
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bekomme ich von diesem Weib anderes als weitere Qualen? Gib mir, wonach mir verlangt, oder ich werfe dich augenblicklich in meinen tiefsten Kerker!« Es war ein ungewöhnlicher Energieausbruch des Kalifen, aber schon der Gedanke an den Seher Evitamus löste das bei ihm aus. Eli Oli Ali schnitt dem Weib rasch die Worte ab. Errötend und zitternd verneigte er sich tief und berichtete in einigen wenigen Sätzen von dem Tod des Sehers, was auch das Ende der Geschichte be deutete. Einen Moment herrschte Schweigen. Eli Oli Ali riskierte einen verstohlenen Blick. Das Gesicht des Wesirs war wie erstarrt, beinahe wächsern, und das des Kalifen rötete sich, schwoll an, als wollte es gleich platzen. Sein Feind ... tot? Die Karawanserei ... dem Erdboden gleichge macht? Er brüllte wie am Spieß. Es war nicht nur ein Schrei der Wut, die ihn seit dem ersten Tag der Invasion der Ouabin erfüllte. Er schrie sich auch die Enttäu schung über den Verlust seines geliebten Jafir von der Seele, dem er nachtrauerte, seit er sich dem kaiserlichen Joch hatte beugen müs sen. Seitdem verzweifelte er an seiner Tochter und fürchtete den Tag, an dem die Nachricht seines Bruders eintraf, dass er ihre Hand für den Unangefochtenen Thronfolger verlangte. Mutter Madana sprang vor Angst in die Luft, der Hurenbock krümmte sich, und Wesir Hasem gab sich alle Mühe, den kleinen, wütenden Potentaten zu beruhigen. An diesem Punkt hätte ein ver nünftiger Mann zu wissen verlangt, ob irgendetwas in dem Müll zu rückgeblieben war. Worte, Pergamente, Konar-Lampen. Die meisten Menschen hätten sich sicher an irgendeinen Strohhalm geklammert, der vielleicht den Fluch des Sehers hätte aufheben können. Doch der Kalif dachte nur an den Tod dieses Mannes und das damit scheinbar verknüpfte Ende aller Hoffnungen, dass seine Tochter jemals geheilt werden konnte. Als seine Wut von schwarzer Verzweiflung erstickt wurde, konnte er den ungläubigen Hurenbock nur
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noch anschreien, dass er ein Bösewicht sei, ein Lügner und dazu ein Verräter. Der Wesir schnippte mit den Fingern. »Ab in den Kerker mit ihm!« Normalerweise waren seine Befehle diesbezüglich das letzte Wort, aber diesmal widersprach ihm der Kalif. Nein, o nein, dieser schmutzige Mischling sollte nicht einmal die niedrigsten Räume des Palastes verpesten. »Er soll verprügelt werden, und dann werft ihn auf die Straße, wo er hingehört! Ihn und dieses schmutzige Weib! Aber erst nehmt ihm das Siegel weg!« »Nein, Eure Erhabenheit!« Der Hurenbock wehrte sich verzwei felt, während stämmige Wachen ihn festhielten. Er konnte kaum glauben, was ihm widerfuhr! Hatte er das verdient? Wo blieb seine Belohnung? »Ich bringe Euch Neuigkeiten! Eine Spur, habt Ihr ge sagt! Eine Spur? Ist das denn nicht mehr als nur ein Haar oder ein Faden?« »Nehmt ihm das königliche Siegel ab, sage ich! Von jetzt an übernimmt Casca Dalla seine Position!«
10. Dunkelheit senkt sich vom Himmel Ti-witt! Ti-woo! »Oh, sieh nur, ein Bob Scarlet!« »Bob Scarlet!«, rief die alte Frau, als sie so plötzlich aus ihrer Träumerei gerissen wurde. Seit sie die Taverne von Vendac verlassen hatte, lauschte sie anscheinend zufrieden dem ständigen Gemurmel ihrer Begleiterin, einer einäugigen, säuerlichen Matrone, die aus ei nem mitgenommenen Roman las. Jetzt drückte sie die Hand auf ihr Herz. Sie und ihre Gefährtin starrten entsetzt auf die junge Dame auf der gegenüberliegenden Kutschbank, die diese unglückliche und im höchsten Maße unangebrachte Äußerung getan hatte. Sie
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brauchten eine Weile, bis sie begriffen, dass das Mädchen nur von einem Vogel auf einem Zweig gesprochen hatte. »Miss.« Der Tonfall der alten Dame war unendlich verächtlich. »Wisst Ihr denn nicht, dass nichts von schlechterer Erziehung kün det, als auf dieses hinterhältige Geschöpf anzuspielen oder auch nur die leiseste Andeutung darüber zu machen?« »Was? Über diesen kleinen Vogel?«, sagte der junge Herr, falls er denn einer war, und verdrehte die Augen. Er saß neben der jungen Dame und grinste wie ein Gimpel, sehr zum wachsenden Missver gnügen der älteren Dame. Er war sich nicht einmal zu schade, laut los Ti-witt, Ti-woo mit den Lippen zu formen. Bis ihm die junge Dame ebenfalls lächelnd den Ellbogen in die Rippen stieß. Die alte Dame schnitt eine Grimasse. »Ich meine natürlich den berüchtigsten Wegelagerer, der jemals die Straßen dieses Reiches unsicher gemacht hat«, erklärte sie mit den letzten Reserven ihrer Geduld. »Seit ich ihm einmal begegnet bin, habe ich meine Gelassenheit nicht mehr wieder gefunden, nie mals! Nichts kann eine vornehme Person mehr schockieren, als sei nen verhassten Namen zu hören! Ich bin sicher, dass unser geistlicher Freund mir zustimmt«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, das dem Bruder galt, der die Kutsche erst an der Taverne von Vendac bestiegen hatte. »Aber natürlich, werte Dame«, erwiderte der Geistliche, blinzelte mit den Augen und winkte mit seinen pummeligen Fingern, die er über seinem mächtigen Bauch gefaltet hatte. »Also wirklich, Miss«, fügte er mit einem ernsten Blick auf die gedankenlosen jun gen Menschen hinzu. »Miss?« Die junge Dame hielt ihre Hand hoch. Ein goldener Reif blitzte an ihrem Ringfinger. »Wie Ihr seht, bin ich eine verheiratete Frau.« Ihre Stimme klang nicht verärgert, sondern stolz, als sie sich an den jungen Mann schmiegte, der errötete, grinste und die weiße Pe rücke zurechtrückte, die irgendwie nicht auf seinem Kopf halten mochte.
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Die alte Dame schnaubte nur verächtlich, als ignoriere sie nicht nur diese Zurechtweisung, sondern nehme auch an, dass diese angeblich so respektable Ehe nichts weiter als eine Lüge sei. Sie senkte ihr Kinn, das beinahe in Ihren Backen verschwand, und bedeute te ihrer Gefährtin mit einer Geste, weiterzulesen. Also wirklich, die Zustände in diesem Königreich von Zenzau waren unerträglich. Sie hätte ihre Kusine Mazy niemals besucht, wenn sie das gewusst hät te. Erst wurde man von diesem brutalen, gemeinen Wegelagerer überfallen, und dann geriet man auch noch mitten in einen Krieg. Ausgerechnet in einen Krieg! Die arme Dame war von einem gefährlichen Fieber aufgehalten worden, aber sobald sie genesen war, konnte keine Macht der Welt, nicht einmal Mazy, sie dazu bringen, auch nur einen Moment länger in diesem unterentwickelten Land zu bleiben. Und jetzt schien es, als müsse sie bis zuletzt leiden. Hätte in Ejland jemals eine Adlige die Gesellschaft eines solch gewöhnlichen Flittchens mit buttergelben Locken und ihres so genannten Ehemanns mit seinem blöden Grinsen und seinen abstehenden Ohren ertragen müssen? Was für ein Pöbel! Glaubten sie denn wirklich, dass sie jemanden mit ihrer auf vornehm getrimmten, billigen Kleidung täuschen konnten? Sie gehörten ganz eindeutig zur dienenden Klasse, vielleicht sogar noch schlimmer. Warum solche Personen in der Kutsche reisen durften, statt auf dem Bock, ging vollkommen über den Horizont der alten Dame. Allein die Anwesenheit des Bru ders versöhnte sie ein wenig. Mit einem Mann Gottes an Bord fühl te man sich doch gleich sicherer. Dann erinnerte sie sich, dass sich ein zenzanischer Gauner unter ihren Mitreisenden befunden hatte, als ihr dieses brutale »Halt und Hände hoch!« in den Ohren geklungen hatte! Sie zitterte und winkte nach ihrem Riechfläschchen. Ihre Begleiterin holte aus der Gobelintasche zu ihren Füßen ein kleines, goldenes Fläschchen mit einem Schraubverschluss hervor. Die Augen des Bruders glitzerten, als die Tasche geöffnet wurde, und er lächelte wohlwollend, als spreche er heimlich einen Segen.
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Die Kutsche holperte in der Gluthitze weiter. Enttäuscht musterte die junge Dame die beiden alten Jungfern und den fetten Mönch. Sie hatte doch versucht, freundlich zu sein, oder nicht? Schrecklich, dass manche Menschen sich für etwas Besseres hielten - dabei waren sie ganz sicher kein bisschen besser. Aber sie würde sie schon noch zu einem Lächeln bringen. Die junge Dame schnüffelte vernehmlich und verkündete dann laut: »Sag mal, mein guter Olch, ist es nicht auch deine Ansicht, dass dieses schreckliche Wetter kein Anzeichen einer Besserung zeigt? Ich muss schon sagen, dass ich es wirklich bis oben hin dick habe, bis oben hin. Und ich weiß nicht, wie ich das noch länger ertragen soll!« »Wie, Liebes?« Der junge Mann lächelte unsicher. »Nah, du bist nicht dick, ganz und gar nicht! Ich will damit natürlich nicht sagen, dass du etwa mager wärst, aber ich möchte dich auch nicht ohne Fleisch auf den Knochen ...« Er schnappte nach Luft und brach ab, als sich ein spitzer Ellbogen in seine Rippen grub. »Sag mal, mein guter Olch«, startete die junge Dame einen weiteren Versuch. »Was hältst du von dem Niveau des Gasthauses in Vendac? Ich sehe das so, dass es sehr gewöhnlich war, außerordent lich gewöhnlich, und ich bin sicher, dass mir da diese vornehmen Damen sofort zustimmen werden.« Die alte Lady hatte nicht vor, dem jungen Ding einen Gefallen zu tun und auf ihre Worte zu reagieren. Sie ließ den Kopf noch weiter in ihr Doppelkinn sinken, und ihre Begleiterin stockte nur unmerklich in ihrem Lesefluss. Auch wenn ihr monotones Lesen es kaum glaubhaft machte, schien es sich doch um ein Exemplar des romantischen Klassikers Der steinige Weg zur Ehe zu handeln. »Sag mal, mein guter Olch«, versuchte die junge Dame es ein drittes Mal. »Fandest du das gepökelte Schweinefleisch nicht ein wenig ranzig, die Kartoffeln längst nicht gar und die Soße zu wässrig? Ich fürchte, dass diese Lokalität einiges zu wünschen übrig ließ. Ich muss schon sagen, hätten sich die Splitter der Bank durch meine Rö-
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cke gearbeitet, möchte ich mir kaum ausmalen, welche Wirkung sie auf meinen ...« Die alte Dame blickte scharf hoch, und ihre Gefährtin kicherte. »Sie haben einen ganz ordentlichen Krug Bier serviert«, bemerk te der junge Mann grinsend und zuckte mit den Schultern. »Bier!«, schrie seine Frau. »Ich muss schon sagen! Bier ist so ziemlich das Gewöhnlichste, was eine Taverne ausschenken kann! Was ist mit den Delikatessen, die allein vornehme Leute als Kunden anziehen, und nicht nur den gewöhnlichen Pöbel? Gott sei Dank, dass ich ...« Ihre Stimme wurde schärfer. »Als vermögende Frau bald die Herrin meines eigenen vornehmen Etablissements werde, wo alles den höchsten Anforderungen genügt!« Vermögende Frau! Das war einfach zu viel für die alte Dame. Hat te sie nicht schon genug ertragen? Sie klopfte wütend an das Kutsch dach. »Kutscher! KUTSCHER! Ich bin die Kusine von Mazy Michan, der Gattin des Gouverneurs von Zenzau. Ich fordere Sie auf, dieses Flittchen auf der Stelle hinauszuwerfen!« »Flittchen?« Die junge Frau lief rot an. Die Kutsche schwankte, als sie um eine Kurve bog. Die junge Dame holte gerade Luft, um die Beleidigung zu erwidern, und warf alle Vorsicht über Bord. Doch stattdessen wurde sie gegen ihren Ehemann gepresst, als die Pferde sich aufbäumten und die Kutsche abrupt zum Stehen kam. Ein Schrei zerriss die Luft. »Halt und Hände hoch!« Die alte Dame schrie auf und fiel in Ohnmacht. »Ihr gewissenloser Schurke!« Die alte Dame hatte sich rasch erholt. »Teure Dame«, erwiderte der Wegelagerer lächelnd, »ich glaube, Ihr habt mich schon früher so tituliert. Sicher, ich bin zwar ziemlich beschädigt und würde mich kaum an eine nichts sagende alte Dame erinnern, aber Eure entzückende Gefährtin ist in meiner Erinnerung als eine der strahlendsten Blüten der Weiblichkeit von Ejland eingemeißelt. Seid erneut gegrüßt, meine einäugige Schöne!«
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Die Gefährtin der alten Dame errötete, als der Wegelagerer ihr die Hand küsste. »Baines! Hör auf zu grinsen!«, zischte die alte Dame. »Hast du denn alle Scham verloren?« Der Wegelagerer lachte. »Fürchtet Euch nicht, meine einäugige Schönheit. Ihr kennt mich ja als Gentleman, also wisst Ihr auch, dass ich mir niemals mit roher Gewalt den wertvollen Schatz unter Eu ren Röcken aneignen würde. Ich spreche natürlich von Eurer Tugend. Bei anderen Schätzen bin ich weniger wählerisch.« Baines lächelte erneut, diesmal vielleicht sogar eine Spur ent täuscht. »Zappelphilipp«, flüsterte die junge Dame ihrem Ehemann zu. »Was wird er mit uns machen?« »Tu, was er sagt, Liebes, und gib ihm, was er will.« »Was? Meine sauer verdienten Ersparnisse?« »Shh!« Der Wegelagerer war von seinem schwarzen Hengst abgestiegen. Er wirbelte die Pistole um den Finger und spazierte vor dem Kut scher, dem Kutschjungen und den fünf Passagieren hin und her. Zwei seiner Helfershelfer saßen noch auf den Pferden, maskiert wie ihr Herr, und hielten Wache. Die staubigen Blätter reichten beinahe bis zur Straße herunter und rührten sich nicht in der Gluthitze. Aber einige Reisende spürten, dass sie aus dem Unterholz noch von anderen Augen beobachtet wurden. Einmal hörte man auch ein Kichern, wie von einem Kind. Vielleicht war es aber auch nur das Tiwitt, Ti-woo vom Namensvetter des Wegelagerers. »Zappelphilipp, das kann ich nicht«, flüsterte die junge Dame. »Wo bleiben wir denn ohne mein Erspartes?« »Wir bleiben vielleicht am Leben, statt tot zu sein, Liebes.« »Was? So brutal kann er doch nicht sein, oder?« »Shh!« »Was flüstert ihr da?« Die alte Dame wirbelte herum, und ihre Augen blitzten, als sie die junge Frau ansah. »Ach ja, jetzt begreife ich es! Ich hätte es wissen müssen. Der Schurke hatte letztes Mal
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auch einen Agenten in der Kutsche, der unsere Wertsachen ausspionierte. Er behauptete, er wäre ein armer Gelehrter! Eine sehr glaub hafte Geschichte, genauso plausibel wie Eure!« »Ruhig, meine guten Leute«, sagte der Wegelagerer lächelnd. »Kommen wir wieder zum Geschäft, hm? Bruder, vielleicht seid Ihr so gut und sagt mir, was Ihr auf Eurer Reise von Vendac gesehen habt? Und erzählt mir nicht, dass Ihr die ganze Zeit gedöst habt, sonst bin ich höchst verärgert, und werde Euch nie wieder in eine Taverne lassen!« Der Bruder trat vor und flüsterte seinem Herrn etwas ins Ohr. Die alte Dame erbleichte und zitterte, als der Wegelagerer sich ihr wieder zuwandte. Beinahe gönnerhaft teilte er ihr sein Interesse an der kleinen goldenen Viole mit Riechsalz und den anderen Schätzen in ihrer Teppichtasche mit. Doch plötzlich veränderte sich diese beinahe drollige kleine Szene. Baines hatte die Teppichtasche hochgehoben und wollte sie ihrem schneidigen Peiniger mit einem gewinnenden Lächeln hinhal ten, als ihre Herrin sie packte, schrie, dass der Schurke sie niemals bekommen würde, und weglief. Der Wegelagerer hatte die ganze Zeit geschickt mit seiner Pistole gespielt. Jetzt zielte er ebenso gelassen damit. Und feuerte. »Nein, Bob!« Schreie erfüllten die Luft, doch am lautesten schrie Landa. Das Mädchen stürmte aus dem Unterholz und packte zu spät den Arm des Schützen. Dann liefen auch Raggle und Taggle fasziniert zu dem neuen Leichnam, der über der Teppichtasche zusammengebrochen war. Huls Pferd bäumte sich auf, und Bandos tat es ihm nach. Sie galoppierten vorwärts. Baines war auf die Knie gesunken und betete. Tränen strömten dabei aus ihrem einen Auge. Der Wegelagerer schleuderte Landa grob zur Seite. »Ich habe dieses Spielchen satt!«, rief er. »Machen wir ihm ein Ende!«
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Aber es war noch nicht vorbei. Der Wegelagerer machte sich bereit zu einem neuen Schuss. Doch in diesem Augenblick warf sich der Kutscher mit ungewohntem Mut auf ihn. Der Kutschjunge folgte seinem Beispiel nach kurzem Zögern. Raggle und Taggle schrien auf und hüpften herum. Bando zögerte, und Baines kreischte. Hul sah entsetzt zu und rang die Hände. Im nächsten Moment war der Kutschjunge in den Büschen ver schwunden, verfolgt von Bandos johlenden Söhnen. Kurz danach lag der närrische Kutscher auf der Straße, und der Wegelagerer hock te rittlings auf ihm. Nun würde der Maskierte erneut töten. Stattdessen zerriss ein weiterer Schrei die Luft. Der Wegelagerer schwankte. »Hul!« Die beiden Männer rangen miteinander. Der Kutscher sah seine Chance und humpelte davon. »Bob, nicht...!«, flehte der Gelehrte. »Tut das nicht!« Der Wegelagerer überwand ihn mit Leichtigkeit. Hul lag im Staub und flehte Bando an, doch der alte Rebell hatte vor Staunen zu lan ge gewartet. Jetzt hatte Bob alle Trümpfe in der Hand. Drei Opfer standen da; er musste sie sich nur noch nehmen. Baines kauerte sich in den Staub. Die junge Dame und ihr Mann umarmten sich entsetzt. Bob zielte. »Zappelphilipp!«, rief die junge Dame. »Nirry!«, schrie der junge Mann. »NEIN!« Das war Landa. Sie reagierte blitzschnell und zerrte am Arm des Wegelagerers, als der abdrückte. Die Kugel zischte wirkungslos in die Bäume. Das junge Paar sank zu Boden, aber nur auf die Knie. »Bob ...!«, sagte Landa atemlos. »Es sind Nirry und ... Zappel philipp. Sie sind auf unserer Seite!« Der Wegelagerer schwankte. »Was sagst du da?« »Zappelphilipp, woher kennen sie uns?«, wollte Nirry fassungslos wissen.
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»Bob«, fuhr Landa fort. »Cata hat mir von einer Freundin erzählt, von der einzigen treuen Freundin, die sie jemals hatte. Catas Freun din hieß Nirry, und die hatte einen Freund namens Zappelphilipp ...; Zappelphilipp, mit seinen großen Segelohren, genau wie der Bursche hier. Verschont sie, Bob, ich bitte Euch, sonst seid Ihr nicht besser als der gemeinste Schlächter der Blauröcke!« Der Wegelagerer presste unter der Maske den Mund zusammen. Landa wollte gerade mit ihren Bitten fortfahren, als sie zusammenzuckte. Nirry hatte ihren Arm gepackt. »Miss Cata ... Habt Ihr gerade Miss Cata gesagt?« Die beiden Frauen fielen sich in die Arme. »Heh, was soll das?«, sagte Zappelphilipp und schrie dann laut auf, als Raggle und Taggle sich auf ihn stürzten und an seinen Oh ren zogen. »Aber Nirry, warum bist du hier?«, fragte Landa. »Weißt du denn nicht, wie gefährlich es auf den Straßen ist?« »Doch, natürlich«, erwiderte Nirry mit einem bezeichnenden Blick auf den Wegelagerer, der anscheinend immer noch über ihr Schicksal nachdachte. »Aber wie sonst sollen der arme Zappelphi lipp ... ich meine der gute Olch und ich nach Ejland zurückkom men? Wir sind jetzt verheiratet und müssen uns um unsere Zukunft kümmern. Wir haben mitten in Agondon eine kleine Taverne gemietet, na ja, jedenfalls in der Nähe von Agondon ...« »Eine Taverne in Agondon?«, sagte der Wegelagerer. Dann lächel te er seine beiden Gefährten an, als hätte es die Schrecknisse der letzten Momente nicht gegeben. »Hul? Bando? Ich glaube, wir könnten eine Taverne in Agondon brauchen, hm?« »Wovon redet er?« Nirry runzelte die Stirn. Zitternd blickte sie zu der Leiche auf der Straße und empfand beinahe so etwas wie Ge wissensbisse. Auch wenn die alte Dame sie geärgert hatte, hätte sie ihr doch keine so finstere Bestrafung gewünscht! »Was wird jetzt aus mir?«, jammerte Baines. Die einäugige Schönheit war vollkommen vergessen worden. Nicht sehr schmeichelhaft, wenn man bedachte, wie erfreut sie zunächst auf die Auf
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merksamkeiten des Wegelagerers reagiert und welchen Lärm sie danach veranstaltet hatte. Die Antwort auf beide Fragen musste warten. Gebieterisch schwang sich der Wegelagerer auf sein Ross und befahl Bando und Hul, die Leiche in den Wald zu schaffen. Zufrieden blickte er auf die Kutsche, die in strahlendem »Ejard-Blau« glänzte. »Bando, du bist jetzt Kutscher. Raggle und Taggle, ihr seid jetzt Kutschjungen!« Er gab seinem Pferd die Sporen und rief dann über die Schulter zurück: »Ich reise am schnellsten allein. Ihr anderen seid Passagiere, ehrenwerte Passagiere der Agondon-Kutschlinie!«
11. Eine Herausforderung für Rajal Kapitän Porlos Mittagsschläfchen an diesem Tag dauerte länger, viel länger, als er geplant hatte. Der milde Wind, der durch das offene Fenster hineinwehte, hatte den alten Seebären eingelullt. Er war in einen angenehmen Schlaf gesunken, träumte von der Cata, die über die Wogen des Ozeans rollte und zu der Stelle segelte, die auf der Schatzkarte des Kapitäns mit einem dicken X gekennzeichnet war. Ach, welch eine schöne Sinnestäuschung! Als er seine Augen auf schlug, erlebte er die bereits sattsam bekannte Ernüchterung. Trockenes Land! Konnte sich ein Seebär jemals daran gewöhnen? Kapitän Porlo fühlte die Couch unter sich, deren Bewegungslosig keit ihn beinahe zum Wahnsinn trieb, sah zur unbeweglichen Decke hinauf und wusste die Antwort: nein und nochmals nein. Was war ihm nur eingefallen zu glauben, dass dies seine letzte Reise sein würde? Wenn der alte Porlo seinen Schatz gefunden hatte, würde er sich kein feines Haus, keine livrierten Kutscher oder künstliche Gärten zulegen! Nein, er würde die Cata so ausstatten, dass sie eines Kö nigs würdig war, und rund um die fernen Inseln des Südens segeln. So lange, bis der.Moment kam, an dem seine treuen Matrosen ihn
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seinem nassen Grab übergeben würden. Sollte ein Seemann sich etwa unter der Erde begraben lassen, auf dass die Würmer sich durch seine Innereien und Augen fraßen? Niemals! Ab zu den Haien und anderen großen Fischen, das war das passende Grab für Fa ris Porlo! Bei diesen Gedanken zerdrückte der alte Kapitän eine Träne und wischte sie dann ärgerlich beiseite. Dieses verdammte trockene Land machte ihn weich! Er stützte sich auf die Ellbogen und betrachtete missmutig den protzigen Luxus seiner Kammer. Wie spät mochte es sein? Mittlerweile war es dunkel hinter den Fensterläden, und dem alten Seebär knurrte der Magen, der vom reichhaltigen Mittagessen aufgebläht gewesen war. Er hatte schon wieder Hunger. Kapitän Porlo fand die Speisen zwar widerlich, aber schließlich musste man essen. Und wenn es nur diesen ausländischen Mist gab, denn muss te man eben ausländischen Mist essen. Warum konnten sie nicht ein bisschen Pökelfleisch herbeizaubern und ein wenig Senf? Das hätte Kapitän Porlo wirklich gern gewusst. Mittlerweile hätte längst einer dieser merkwürdigen Sklaven kommen, ihn wecken und ihm beim Anlegen seines Holzbeins behilflich sein sollen. Seitdem diese elenden Ouabin aufgetaucht waren, ging es im Palast drunter und drüber. Wann hörte das end lich auf? Porlo hatte Empster geraten, einfach in See zu stechen, aber der hatte nur gelacht. Außerdem bewachten die Ouabin die Docks. Es war schon eine komische Angelegenheit, wirklich komisch! Müde griff der Kapitän nach seinem Holzbein, als er ein vertrau tes Geräusch hörte. Ein Kratzen. In dem offenen Fenster hockte Bubi, die Affin. »Bubi, mein Mädchen! Wo warst du denn? Bist wohl hier an diesem heidnischen Ort herumgeirrt? Ich habe dir gesagt, du sollst auf die Kobras aufpassen, stimmt's? Na, es ist nur gut, dass du hoch springen und dich mit deinem Schwänzchen festhalten kannst, mehr sag ich dazu nicht!« Die Laune des Kapitäns besserte sich, und er breitete die Arme aus. Er erwartete, dass Bubi bereitwillig hineinsprang. Deshalb
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überraschte es ihn, als sie stattdessen über den Boden huschte und sich an der Tür umdrehte, als wollte sie ihn auffordern mitzukom men. »Bubi? Was hast du, Bubi? Warte einen Moment, ich lege nur mein Holzbein an!« Die Äffin blieb sitzen und sah ihrem Herrn ernst dabei zu. »Vertrau nie einem Vaga!« »Weggelaufen, sagst du?« »Wie ein Feigling!« »Was, und er hat den armen Kleinen zurückgelassen?« »Er ist verloren, stimmt's?« »Warst du nicht auch da, Fisch?« »Bin ich ein schmutziger Vaga?« »Schmutzig genug auf alle Fälle!« »Aber kein Vaga!« Faha Ejo musste lachen, aber es klang nicht sehr humorvoll. Der Ziegenhirte sog an seiner Pfeife und blickte Fisch gleichmütig an, der trotzig dastand. Sein Blick glitt weiter zu Rajal, der auf dem Matratzenlager hockte und mürrisch mit einem Seil spielte. Es war noch früh am Abend, aber es wurde bereits ungemütlich im Reich von Un. Die Geräusche der Zecher drangen durch die Bodendielen, aber die Luft im Keller war mit anderen Gefühlen aufgeladen. Auf einem Fass in der Ecke zischte eine Konar-Lampe, und ihr gelblicher Schein erhellte schwach die streitsüchtige kleine Gruppe, die aus Storch, Blase und Stinker bestand. »Ich ha ... ha ... halte zu Fi... Fisch«, erklärte Storch. »Vagas bringen Pech«, meinte Blase. »Sie stinken«, erklärte Stinker. Faha Ejo seufzte. Vielleicht hatten sie Recht, aber er hätte den Vaga in die kleine Bande aufgenommen. Und er wollte nicht zugeben, dass er sich geirrt hatte. Außerdem, wieso behauptete ausge rechnet Stinker, dass jemand anders stank? Genau das sagte der Ziegenhirte.
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»Aber Vagas stinken mehr«, entgegnete Stinker und furzte trot zig. »Viel mehr«, murmelte Blase. Er hockte vor einem Sack mit Mee restieren und knabberte eifrig an einer großen Kreatur mit Tenta keln, die offenbar noch lebte. Klebriger Saft rann dem Jungen über sein wabbliges Doppelkinn, als er etwas zusammenhanglos hinzu fügte: »Sie hätten alle umgebracht werden sollen, stimmt's?« »W ... Was? Die Fi... Fische?«, fragte Storch grinsend. »Vagas!«, spie der fette Junge hervor. »Aber einige haben über lebt. Und die bringen Pech. Wieso hast du zugelassen, dass wir ei nen Vaga aufnehmen, Faha?« Für den Ziegenhirten war das ganz offensichtlich. »Sie sind Diebe, richtig? Diebe, Lügner und Betrüger!« Rajals Knöchel traten weiß hervor, während er das Seil drehte. Er hätte gern protestiert, aber wozu? Sein Stolz darauf, ein Kind des Koros zu sein, nutzte ihm an einem Ort wie diesem wenig. Er versank in seinem Elend und wünschte, er wäre wieder zusammen mit Jem auf der Suche nach den Kristallen. Unwillkürlich knirschte er mit den Zähnen. Stinker deutete anklagend auf ihn, und die grausa men Worte des Jungen sprachen den Gedanken aus, der Rajal im Moment quälte. »Er ist verloren! Der Kleine!« »Von den Ou ... Ouabin ermor ... mordet, ga... ganz bestimmt«, erklärte Storch. Rajal schlug mit dem Seil wie mit einer Peitsche auf den Boden. »Warum sucht ihr ihn dann nicht, wenn ihr euch so viele Sorgen macht?« Er hatte Fisch befohlen, auf den Kleinen acht zu geben. War es seine Schuld, wenn Fisch so blöd war? »Du schmutziger Vaga!« Fisch ballte die Fäuste. »Schmutzig? Stinkig!«, wiederholte Stinker. »Er bringt Pech!«, bellte Blase und versprühte einen feinen Nebel aus Meerestierteilen in der Luft. Faha Ejo klatschte in die Hände. »Hört zu, Leute! Ihr wisst ja nicht mal genau, ob der Kleine wirklich verloren ist! Pustel sucht
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ihn doch noch, richtig?« Bewundernd dachte der Anführer über die Talente des Schiffsjungen nach. Der war auch einer seiner guten Re kruten. Hässlich, sicher, aber beweglich. Das kam wohl von dem ständigen Herumgekletter in der Takelage - oder was ein Schiffsjun ge sonst so machte, wenn er auf See war. Außerdem konnte er sehr gut herumschnüffeln. Wenn einer den Kleinen finden konnte, dann Pustel. »Kaum auszudenken, dass wir ihn beinahe lahm gemacht hätten, was Blase? Aber der arme Pustel ist ein bisschen zu eklig, um einen guten Bettler abzugeben, stimmt's?« Die Schmeicheleien entlockten dem schweineäugigen Jungen jedoch nur ein Stirnrunzeln. Er zog einen Aal aus dem stinkenden Sack, riss ihm den Kopf ab und stopfte sich den schleimigen Leib in den Mund. Gierig lutschte er an dem ungekochten Fleisch. »Wir hätten den Kleinen lähmen sollen«, nuschelte er undeutlich. »Das habe ich dir doch gesagt, Faha, oder? Wenn dieses Gör zurück kommt, dann werde ich ihm höchstpersönlich die Füße abhacken, das werd ich. Wird ihm eine Lehre sein, einfach so wegzulaufen!« »Lass bloß den Kleinen in Ruhe!«, knurrte Fisch ihn an und griff nach dem Sack. Er erwischte einen rohen Tintenfisch und schlang ihn hinunter. »Warum hackst du nicht stattdessen dem Vaga die Füße ab?« »Nenn mich.nicht immer Vaga!«, fauchte Rajal ihn an. »Das bist du doch, oder nicht?« Fisch griff nach einem Hummer. Er leckte an der salzigen Zange und fluchte, als er sich in die Zunge schnitt. Blase lachte und wäre beinahe an seinem Aal erstickt. Storch hatte die meisten seiner Zähne bei einem Kampf verloren und gab sich mit ein paar matschigen Seeschnecken zufrieden. Der Schleim tropfte an seinem Kinn hinunter, wahrend er stotterte, dass Vagas glitschig und schleimig wären. Aber das waren Seeschnecken und Aale auch. Als Storch seinen triefenden Imbiss fester packte, spritzte brackige Flüssigkeit zwischen seinen Fingern heraus und traf Blase ins Auge. Der fette Jun ge ließ schreiend seinen Aal fallen, den sich sofort Stinker griff. Der
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Junge hatte die schleimige Mahlzeit schon eine Weile beäugt, und stopfte sie jetzt sofort in den Mund. Er zuckte zusammen und woll te das Ding angewidert ausspucken, als der fette Junge mit einem wilden Schrei seinen massigen Leib auf seinen stinkenden Gefährten warf. Im Nu glich das Reich von Un einem Chaos aus fliegen den Fäusten und fliegenden Meerestieren, die in alle Richtungen da von segelten. Dann krachte es, und es war dunkel im Keller. »Die Konar-Lampe!« »Blase, du fetter Idiot!« »Das war nicht meine Schuld!« »Der Vaga hat damit angefangen!« »Nenn mich nicht immer Vaga!« Es trat eine Pause ein, in der man nur angestrengtes Atmen hörte. Dann wurde ein Streichholz entzündet, und Faha Ejo ragte wie ein ziegengesichtiges Götzenbild über seiner Bande auf. Er nahm die Konar-Lampe und versuchte vergeblich, sie anzuzünden. Schließ lich gab er auf, warf das verbeulte Ding verächtlich in eine Ecke und zündete stattdessen eine Fackel an. Er hielt sie in der Hand, während er auf und ab ging und sich zwischen dem Abfall, den Säcken, den Fässern und seinen ausgestreckten jungen Kumpanen einen Weg suchte. Er strich sich über den Bart. »Und wenn der Vaga-Junge eine Pro be ablegen würde?« »Was?«, fragte Blase. »Was?«, echote Rajal. »Wisst ihr nicht mehr, wie Pustel in die Bande kam? Er hat dich ganz schön rangenommen, stimmt's, Blase? Und auch euch ande re.« »Das ist was anderes.« »Pustel ist kein Vaga.« »Außerdem kann Pustel klettern.« »Richtig! Klettern!«
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»Aber er musste es beweisen, oder nicht?«, fragte Faha Ejo. »Nachdem er die Moschee der Fünf Winde hochgeklettert ist, hiel tet ihr ihn alle für geeignet, trotz seiner räudigen Haut. Wie sieht es aus, Vaga? Hast du Lust, eine Probe abzulegen?« Noch bevor Rajal antworten konnte, schnaubten die anderen Jungen verächtlich und lachten. »Was kann ein Vaga schon?« »Va ... Vagas kö ... können nicht kl ... kl ... klettern!« »Und sie bringen Pech!« »Und stinken!« »Wir haben bereits die Moschee der Fünf Winde erstiegen.« Faha Ejo hatte eine Idee. »Wir wäre es jetzt mit dem Palast der Duftenden Stufen ? Ich glaube, du warst bereits dort Gast, nicht wahr, VagaJunge? Jedenfalls in den unteren Regionen. Ich schlage vor, du ver suchst es jetzt ein bisschen weiter oben.« »Was meint er damit?«, fragte Blase Stinker. Stinker zuckte mit den Schultern. Der Ziegenhirte schwang die Fackel in der Luft. Er ließ das helle Licht tanzen und zischen und flüsterte geheimnisvoll: »Schimmer, Schimmer.« »Was ma ... macht er d ... d ... da?«, stammelte Storch. »Wen interessiert das schon?« Fisch zog gelangweilt den trockenen Einhornpenis aus seinem Lendenschurz. Er ließ ihn durch die Finger gleiten und wünschte, dass es wirklich ein Zauberamulett wäre. Die Leute behaupteten das ja. Aber wer glaubte schon an Ma gie? Fisch hockte auf den Fersen, und als er sich bewegte, stieß er ge gen etwas Heißes. Die Konar-Lampe. Er schob sie weg. »Die Schimmernde Prinzessin«, sagte der Ziegenhirte. »Es gibt eine Menge Gerede um das Mädchen, stimmt's? Vor allem, seit Rashid Amr Rukr hier ist. Ihr glaubt doch wohl nicht, dass er unsert wegen gekommen ist, hm? Weil er uns so gern hat? O nein. Wisst ihr, er mag diese Prinzessin besonders gern.« »A ... Aber sie ist doch dem S ... Sohn des S ... Sultans verspro chen«, erklärte Storch.
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»Pah!«, erwiderte der Ziegenhirte. »Was bedeutet einem Ouabin das schon? Es gab eine Verlobungszeremonie? Sicher, aber vor vielen Sonnenwenden. Onkel Eli sagt, es wird bald wieder eine Zeremonie geben, eine neue Verlobung. Und zwar nach den Sitten der Ouabin.« Storchs zahnloser Mund klappte auf. Rajal drehte das Seil in seiner Hand. »Was hat das mit mir zu tun, Faha?« »Ja, was hat das mit dem Vaga zu tun?«, erkundigte sich Stinker. »Wo ist der Rest von meinem Aal?«, wollte Blase wissen. »Halts Maul, Schweinekopf«, befahl Faha Ejo. »Hört zu, Freun de. Und zwar aufmerksam. Die Prinzessin ist das Juwel dieser Stadt. Gibt es innerhalb oder außerhalb der Palastmauern eine lohnendere Beute?« Er hielt inne und schwang die Fackel hin und her. »Nun? Was, wenn jemand sie stehlen könnte?« »Was?« Rajal hielt die Luft an. »D ... du meinst doch nicht, d ... das d ... der V ... V ... Vaga sie be ... be... besteigen soll?« Storch staunte. »Von einem Vaga gebumst!«, rief Stinker ungläubig. Fisch strich über den Einhornschwanz, und Stinker ergriff ihn und stieß ihn an züglich in die Luft. »Gib ihn zurück!« Fisch holte aus. »Pass auf meinen Aal auf!« Blase hatte seine Beute im Dreck ent deckt. »Freunde, Freunde!« Der Ziegenhirte hob beschwichtigend die Hände und drehte sich um. Die Flamme folgte ihm wie ein feuriges Band. »Ihr glaubt, es gäbe keinen Weg, wie dieser Bursche hier zu ihr gelangen könnte? Pah! Es gibt einen, jedenfalls für einen Kerl, der Mumm genug hat!« Er beugte sich dicht zu Rajal und zischte wie eine Schlange. »Die Kobras!«, sagte Rajal leise, »Was sagt er?«, wollte Fisch wissen. »Die Kobragrube!« Rajals Stimme brach. »Seht gut.« Faha Ejo grinste. »Du hast eine Menge über unsere schöne Stadt gelernt, Vaga-Junge. Und das in so kurzer Zeit. Also?«
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Rajals Gesicht wirkte in dem Licht der Fackel wie eine Maske. Sein Adamsapfel kam ihm gewaltig vor, und das magische Seil, das er um die Hände geschlungen hatte, schnitt in seine Haut. Die anderen sahen ihn an. Ihre Gesichter wirkten angespannt und ängst lich. Nur Blase war beschäftigt. Er wischte die Kakerlaken von sei nem schmutzigen Aal. Es herrschte Schweigen, jedenfalls beinahe. Die Bodendielen über ihnen knarrten noch; die Flamme in der Hand des Ziegenhirten knisterte, und der fette Junge saugte erneut lautstark an seinem schleimigen Mahl. Die Fackel brannte heiß neben Rajals Wange. Schweißtropfen lie fen ihm die Stirn hinunter. »Also?«, fragte Faha Ejo. »Akzeptierst du unsere Herausforde rung?« Später sagte sich Rajal, dass er einfach hätte weglaufen, sich den Weg zur Falltür freikämpfen und in die Nacht entkommen können. Hät te er das getan, wären bestimmte Dinge, entscheidende Dinge, nie mals geschehen, und ob das gut oder schlecht für die Zukunft gewe sen wäre, war ein Rätsel, über das er noch lange nachsinnen sollte. Aber die Wege des Schicksals sind unergründlich, unbarmherzig und schmerzhaft. Rajal biss sich auf die Unterlippe. Was auch immer geschah, er musste den Kristall finden. Er dachte erneut an die Prin zessin auf dem Balkon. Wenn es eine Chance gab, ihre Gemächer zu durchsuchen, musste er sie nutzen. Aber wie sollte er über diese Mauer steigen, wenn auf der anderen Seite die Kobras schon warte ten? Blase stopfte sich den letzten Rest des Aals in den Mund und durchwühlte den stinkenden Sack. Diesmal zog er einen harten, zy lindrischen Gegenstand hervor. An der Seite befanden sich Löcher, und ein Ende war dicker als das andere. Aus ihm ragte ein Stück Schilfrohr hervor. »Was ist das denn?«, fragte der dicke Junge angewidert und woll te den Gegenstand wegwerfen. Doch Rajal schnappte danach. Stin ker meinte, er hätte es auf dem Marktplatz gefunden, aber niemand
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hörte ihm zu. Rajal stand auf. In einer Hand hielt er das lange Seil, in der anderen wie eine Trophäe die Flöte der Tänzer des Untergangs. »Einverstanden, Faha. Ich nehme deine Herausforderung an.« Der Ziegenhirte wollte ihm gratulieren und drehte sich trium phierend zu seiner ungläubigen Bande um, doch in diesem Moment fing ein zerlumpter Vorhang an der Fackel Feuer. Alle rannten durcheinander und schrien. Im nächsten Augenblick hätte sich das Reich von Un in eine Flammenhölle verwandeln können. Doch glücklicherweise wählte ein Betrunkener in der Taverne über ihnen ausgerechnet diesen Moment, um sich von einer beachtlichen Menge Flüssigkeit zu trennen. Die beißend stinkende Flüssigkeit rann durch die Spalten in den Bodendielen, prasselte wie ein Regenschau er auf den brennenden Vorhang herab und löschte unter dem lauten Jubel der Unner die Flammen.
12. Eine Herausforderung für Pustel »Bubi? Wohin willst du denn hin, mein Mädchen?«, flüsterte Kapitän Porlo nicht zum ersten Mal. Die kleine Affin sah ihn nur mit demselben besorgten, ernsten Ausdruck an und huschte weiter, immer weiter. Mittlerweile hatte sie ihn tief in ein Labyrinth aus merkwürdigen Korridoren geführt. Es war dunkel geworden, und in diesem Bereich des Palastes stan den die Lampen weit auseinander. Pfeiler und groteske Skulpturen, die ihren Weg säumten, warfen lange Schatten. Es war ein anstren gender Ausflug, denn der Kapitän musste sich nicht nur bemühen, Schritt zu halten, sondern auch, keinen Lärm zu machen und das Pochen seiner Krücke und des Holzbeins zu unterdrücken. Manch mal hörte er die Schritte von Wachen und versteckte sich in den Schatten oder hinter einem Pfeiler. Jetzt jedoch waren keine Wachen zu sehen. Das war auch gut so,
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denn der Kapitän war erschöpft. Wie er dieses merkwürdige Land verwünschte, das es nötig machte, derartige Strecken zu gehen. Die Cata mochte vielleicht bei jeder Welle schwanken, aber wann war ein Mann weiter als ein paar Schritte von dem Ort entfernt, an dem er sein musste? Und zwar gute, herzhafte Schritte, nicht dieses blödsinnige Herumgehusche! Sie bogen um eine Ecke. Ein stechender Geruch lag in der Luft. Der Kapitän schnüffelte. Ein komischer Geruch, wirklich komisch. Aber in Bubi schien dieser Duft etwas auszulösen, denn sie wurde ganz aufgeregt, sprang herum und kratzte an zwei Türen mit vergoldeten Ecken. »Bubi?« Kapitän Porlo war unsicher. Er humpelte weiter und drückte die Klinken nach unten. Verschlossen. »Was ist denn da, mein Mädchen? Ist hier etwas drin? Etwas, das der alte Faris Porlo sehen sollte?« Seine Augen funkelten. »Ali, es ist wohl kein feiner Schatz, hm, Bubi? Nein? Was denn?« Er runzelte die Stirn. »Jemand in Schwierigkeiten?« Bubi hüpfte ein Stückchen weiter. Am anderen Ende des dunklen Korridors befand sich noch eine Tür, die aus einem komplizierten Maschendraht bestand. Sie führte auf einen Balkon hinaus. Bubi rüttelte an den Griffen. »Was ist denn, Bubi? Hier draußen, sagst du? Wir sollen es durch die Fenster versuchen? Ich glaube nicht, dass der alte Faris Porlo noch Lust hat, zu fensterln, aber wir können ja einen Blick riskie ren, hm, mein Liebchen?« Dem Kapitän machte die ganze Sache allmählich Spaß. Hier verbarg sich bestimmt ein Geheimnis. Stolz dachte der Kapitän an sei ne Jugend zurück und an seine Tollkühnheiten während der Be schießung von Varl, seine Husarenstücke auf den entlegenen Inslen von Ananda und in den Dschungeln von Orokona. Bein oder kein Bein, wenn der alte Faris Porlo nicht bereit für ein Abenteuer war, welcher Mann denn dann? Ha, er würde es diesen Fremden schon zeigen, diesen elenden Qatanis und auch denen mit den Tischtü chern auf dem Kopf!
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Allerdings sollte die Verwegenheit des Kapitäns nicht sonderlich lange vorhalten. Zum einen bemerkte er einen dringlichen körperli chen Drang, und dessen Erleichterung bekam bald höhere Priorität als dieses kleine Abenteuer, so nett es auch sein mochte. Zum anderen lauerte bereits ein Gespenst aus der Vergangenheit auf ihn. Er trat auf den Balkon hinaus. Das war einfach, denn die Türen waren nicht verschlossen. Bubi hüpfte nervös weiter und klammerte sich an ein Fenster. Sie sprang auf und ab und zischte, damit der Kapitän kam, schnell kam! Aber ein anderes Zeichen erregte die Aufmerksamkeit des Kapi täns. Er drehte sich um, sehr, sehr langsam, und sah vom Balkon hi nunter. Jetzt fühlte der alte Seebär, wie ihm seine Krücke langsam und unaufhaltsam entglitt. Er sank zu Boden und tat sich weh, als sein Holzbein nach hinten wegrutschte. Seine Blase entleerte sich unwillkürlich, und er hielt sich zitternd am Geländer fest, schluchzte und stöhnte. »Die Kobras! Die Kobras!« Bubi war verängstigt, kroch zurück und schmiegte sich unsicher an die Seite ihres entsetzten Herrchens. So saßen sie noch da, als die Wachen sie fanden, eine ganze Weile später, und sie zurück in ihre Kammer schleppten. Sie nahmen an, dass der alte Mann sich am verbotenen Ferment gütlich getan und sich dann verirrt hatte. »Der senile alte Narr! Und dann hat er sich auch noch vollgepisst!« Wie sie lachten! Es war nicht ruhig. Es war auch nicht leer. Es war noch nicht einmal dunkel. Das Knarren und Dröhnen aus der Taverne schallte immer noch im Reich von Un wie eine kakophonische Musik und passte so gar nicht zum stetigen Tropf-tropf des nassen Vorhangs. Dünne Lichtstrahlen enthüllten zuckende Barthaare, einen langen Schwanz und in einer Ecke, beinahe verborgen unter Müll und Dreck, den kühlen Glanz der Konar-Lampe, die auf der Seite lag.
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»Zu Hause!« Eine Falltür wurde geöffnet und knarrte in den Angeln. Zwei zerlumpte Gestalten sprangen herunter. Die Ratten flohen. »Wo sind die anderen?« Pustel spähte in die Dunkelheit. »Siehst du, was du gemacht hast, Pinscher? Sie sind alle unterwegs und suchen dich!« »Nenn mich nicht Pinscher!« »Kleiner.« »Das ist auch nicht mein Name!« »Was für ein Trost!« Der kleine Junge scharrte auf dem Boden. »Ich habe mich nicht verlaufen, sondern nur versteckt.« »Pah! Wo ist die Konar-Lampe?« »Hier liegt irgendwo eine Fackel.« »Igitt! Der Vorhang ist ganz nass!« Der Kleine murmelte etwas Unverständliches. »Was war das, Pinscher?« »Pisse!«, wiederholte der Kleine triumphierend. »Komm schon, ich nenne dich lieber Pinscher.« Fluchend versuchte Pustel, die Fackel anzuzünden. Dann warf er sich auf eine Matratze. Als er merkte, wie feucht sie war, stand er seufzend wieder auf und stöberte einen Moment zwischen den Sä cken und Fässern herum. Schließlich zog er einen fest zusammengerollten Teppich hervor und breitete ihn wie ein Laken über der Mat ratze aus. Erschöpft wollte er sich wieder hinwerfen, als etwas an dem Teppich seine Aufmerksamkeit erregte. Das Muster war ausgesprochen kompliziert, und die Farben waren besonders prachtvoll. Wirbel und Spiralen, gemusterte Schlangen und Pfauenaugen leuch teten im Licht der Fackel. »So einen habe ich noch nie gesehen«, erklärte Pustel. »Sie haben ihn gestern erst gestohlen. Es ist der Teppich eines Sul tans.« »Ein was?« »Hast du denn das Sultanlied noch nie gehört?« Der Kleine gähn
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te. »Du weißt schon, die fünf Heiligen Sultane, jeder mit seinem ei genen Reich?« Pustel kannte das Lied tatsächlich nicht; er runzelte die Stirn und betrachtete den Teppich genauer. Er sah Muster, die wie Flüsse aus sahen, Hügel und Bäume. Andere ähnelten Planeten und Stern schnuppen, und irgendwo, versteckt unter den komplizierten Mus tern, waren menschliche Gestalten zu erkennen. Jeder trug ein an dersfarbiges Kostüm, und jeder hielt einen glühenden Edelstein in der Hand. Von den Steinen gingen leuchtende Strahlen aus, die sich überschnitten und in immer kleineren Stichen bis an den Rand des Teppichs führten. Einen Moment war Pustel wie von einem Zauber gebannt. Dann jedoch ließ sich der Kleine ungeduldig auf den Teppich fallen, die Fackel erlosch zischend, und die Seeleute in der Taverne über ihnen stimmten ein Lied an, dessen Takt sie mit den Füßen stampften. Der Zauber verpuffte, und Pustel streckte sich neben dem Kleinen aus, der sich zusammengerollt hatte. Wie weich der Teppich war und wie gut er roch! Pustel drehte sich auf den Bauch, kuschelte sich dicht an die Wolle und sog den Duft des Weihrauchs und der Farbe ein, der den üblichen fauligen Gestank des Reichs von Un überlagerte. Pustel fühlte sich elend. Er fühlte sich immer elend, aber als er den Kleinen entdeckte, der sich hinter einer Giebelwand der zusammen gebrochenen Galerie versteckt hatte, überkam ihn eine unbändige Freude. Es war offensichtlich, was geschehen war. In seiner Furcht vor den Ouabin war der kleine Junge die Holzschräge hinaufgeklettert und hatte dann zu viel Angst gehabt, um allein wieder hinun terzusteigen. Auf seinem gefährlichen Sitz hoch über dem Markt wäre er wahrscheinlich geblieben, bis er hinuntergerutscht und ge fallen wäre oder ihn schließlich ein Ouabin entdeckt hätte. Wie viel Angst musste er gehabt haben! Der Kleine gab das natürlich nicht zu, aber das spielte keine Rolle. Pustel war wie eine Katze über die Luft zwischen den Hausdächern gesprungen, hatte den Kleinen in die Arme genommen und ihn nach Hause gebracht. Voller Liebe
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und Stolz war Pustel durch die Gassen zum Reich von Un zurück gelaufen, Stolz malte er sich die Freude seiner neugewonnenen Freunde aus, mehr noch, er sah schon, wie sie ihn als Helden feiern würden. Sie würden ihm auf den Rücken schlagen, ihn küssen, und sie würden begeistert seinen Namen rufen. Was war er doch für ein Narr gewesen! Der tatsächliche Empfang machte Pustel die Sinnlosigkeit seiner Hoffnungen klar. Vielleicht würden die anderen bald zurückkommen, aber er wusste, dass sie ihn weder loben noch ihm danken würden. So etwas taten sie nicht. Auf der Gummiplantage, wo Pustel geboren worden war, hatte er immer nur von Flucht geträumt. Wie er sich danach sehnte, wegzu laufen und zur See zu fahren! Und auf Kapitän Porlos Schiff hatte er wieder geträumt: diesmal jedoch von einem neuen Leben in einem neuen Land. Jetzt war er hier in einem neuen Land und träumte immer noch. Er streckte einen verschorften, dürren Arm aus und kratzte an den Pickeln in seinem Nacken. In der Taverne über ihm kam das Lied zu seinem misstönenden Ende. Es war ein raues See mannslied, eines, das Pustel schon früher gehört hatte. Heirate und brenne!
Mann, du musst lernen,
Dass du erst nach der Hochzeit wirklich begehrst!
Such dein Vergnügen mit wachem Blick ...
Heirate und brenne!
Heirate und brenne!
Was bedeutete das? Pustel verstand es nicht. Die Tavernenwirtin brachte die Männer mit einem barschen Be fehl zum Schweigen. In der folgenden Stille hörte Pustel, wie eine Ratte herumhuschte, etwas in der Dunkelheit tropfte und die Wel len träge gegen die Docks schlugen. Er seufzte. Sollte er wieder zurück auf die Catayane gehen? Oder sollte er sich einen neuen Platz suchen, irgendwo in diesem merkwürdigen Reich von Unang Lia? Er konnte es nicht sagen. Aber er wusste, dass er müde war und voll-
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kommen erschöpft. Er würde versuchen, einzuschlafen, bevor die Seeleute wieder herumgrölten und eine neue Runde Poltern und Fluchen begann. Pustel rückte näher an den erschöpften Kleinen heran und legte eine Hand auf die Seite des Jungen. Der atmete tief und regelmäßig, aber Pustel glaubte nicht, dass sein kleiner Freund schon schlief. Noch nicht. Der liebe Pinscher! Pustel strich ihm über sein weiches Haar. Kein anderer Junge hätte es geduldet, wenn er so dicht neben ihm gelegen hätte. Blase war der Schlimmste, und Stinker benahm sich fast genauso übel... Pustel vermutete, dass sogar Meister Rajal ihn abstoßend fand, wenn er es auch niemals offen zeigte. Aber er merkte es, er konnte es spüren. Pustel dachte darüber nach, wie er den Kleinen heute gerettet hatte und mit ihm in den Armen von dem Giebel gesprungen war. Was wäre wohl geschehen, wenn die ande ren so hätten gerettet werden müssen? Wären sie vor seinen zerschundenen Händen zurückgezuckt? Andererseits: Es wäre sowie so nie so weit gekommen. Er hätte sie nicht gerettet, keinen von ihnen. Nicht mehr. »Schläfst du schon, Pinscher?«, flüsterte er. »Nenn mich nicht Pinscher«, flüsterte der Kleine zurück. Die beiden Jungen flüsterten gern. Sie hatten zu viel Geschrei er tragen müssen, Gebrüll, bösen Spott und Gelächter. Flüstern war ein besonderes Vergnügen, und es war sehr kostbar und selten. Beunruhigt spähte Pustel zur Falltür hinauf. Er lauschte auf das Geräusch schneller Schritte, das durch die Gasse hallte. Jeden Moment konnte der Bann gebrochen werden. Er rückte mit den Lippen dichter an das Ohr des Kindes heran. »Wie heißt du denn wirklich?« »Das weiß ich nicht. Ich glaube, dass Mama mir einen Namen ge geben hat, aber Papa nennt mich immer nur Kleiner.« »Du hast eine Mutter?«, fragte Pustel, als wäre diese Vorstellung etwas Besonderes. »Und auch noch einen Vater?« »Mama ist weg. Papa hat sie vor ... ach, vor langer Zeit verkauft.« »Und dein Vater?« Der Kleine seufzte. »Du kennst ihn doch. Alle kennen ihn und
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rufen ihn auch bei seinem richtigen Namen. Bei seinen drei Namen!« Pustel packte den Jungen unwillkürlich fester. »Du meinst doch nicht etwa Eli Oli Ali, Kleiner?« Das wäre ja noch außergewöhnli cher, aber Pustel fühlte, wie der kleine Kopf dreimal nickte. Viel leicht für jeden Namen seines Vaters einmal. »Er ist dein Vater, und dann hat er dich hierher gebracht?« »Er musste mich doch irgendwo unterbringen. Jedenfalls hat er das gesagt.« Der Kleine rutschte näher an seinen Freund heran. »Was ist mit dir, Pustel? Hast du einen Namen?« »Früher, als ich klein war, hatte ich angeblich einen. Ich glaube, ein Mann hat ihn in ein Buch geschrieben, als sie mich zur Arbeit auf den Gummibäumen eingeteilt haben. Von der Zeit davor weiß ich nicht mehr viel.« »Und wie war dein Name?« »Ich habe versucht, mich daran zu erinnern. Vielleicht irre ich mich ja, aber ich glaube, er war Jorvel. Ich habe einen der Männer auf dem Schiff gefragt, und der meinte, es wäre ein ejländischer Name. Vielleicht hieß mein Vater so, ich weiß es nicht. Na ja, ich weiß sowieso nichts, außer, wie man in der Takelage herumklettert. Und auf Gummibäumen.« Sie schwiegen, und Pustel strich mit der Hand über den Arm des Kleinen, fühlte die Kälte in dem kleinen Körper. Hier im Reich von Un war die Hitze des Tages ein seltener Gast, und auch wenn sie kam, blieb sie nicht lange. Die Jungen wachten nachts oft frierend auf. Pustel überlegte, ob er in dem Haufen alter Kleider etwas suchen sollte, mit dem er seinen kleinen Freund zudecken konnte, aber das hatte noch Zeit. Jetzt wollte er den Moment genießen. Noch ein kleines bisschen. Er zog das Kind dichter an sich heran und rieb sei ne kalten Ärmchen. Sie mochten hungrig sein, frieren und stinken, aber sie waren auch glücklich. Jedenfalls in diesem Moment. »Pustel?«, fragte der Kleine. »Soll ich dich Jorvel nennen?« Der Junge antwortete zunächst mit einem Stöhnen. »Eines Ta ges«, sagte er dann. »Wenn meine Pickel verschwunden sind. Bis da-
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hin bleibe ich Pustel. Aber ich stelle mir gern vor, dass ich Jorvel bin ... eines Tages.« Danach lauschten sie schweigend den Geräuschen einer Ratte, die am anderen Ende des Kellers herumschnüffelte. Sie schien weit weg zu sein, und absurderweise fühlten sie sich auf ihrer Teppichinsel sicher. »Pustel?«, murmelte der Kleine. »Vielleicht kann der Sultan dich ja wieder besser machen. Ich meine, gesund machen.« »Der Sultan?« »Aus dem Lied. Der aus dem Lied.« Sie schwiegen wieder, und der Kleine atmete ruhiger und gleichmäßiger, aber Pustel ließ nicht locker. »Pinscher? Ich meine Kleiner? Kannst du das Lied für mich singen?« »Ich weiß nicht... Ich kann mich nicht erinnern.« Er drückte ihn. »Versuch es doch, Kleiner.« Aber das Kind war eingeschlafen. Pustel liebkoste ihn erneut. Er war von Liebe und Sehnsucht erfüllt und wünschte sich nichts mehr, als den Kleinen in die Arme nehmen, mit ihm aufstehen und ihn an einen anderen, besseren Ort bringen zu können! Merkwürdige, wir re Träume lauerten wie Gewitterwolken in der Dunkelheit ringsum. Schon bald würde Pustel in ihre Umarmung sinken, aber nicht jetzt. Noch nicht. Jetzt verspürte er ein anderes, schärferes Sehnen, eines, das sich lange aufgebaut hatte, während er sich an den warmen Körper des Kindes geschmiegt hatte ... Nein! Pustel rollte sich zur anderen Seite. Er hockte sich auf den Rand des Teppichs und starrte blicklos in die Finsternis. Die Erinnerun gen an Dinge, die man ihm angetan hatte, flatterten wie Motten in seinem Kopf umher. Das war schon lange her, damals, als er noch nicht so fürchterlich aussah. Und es hatte auch einem anderen Jun gen passieren können, aber den Schmerz, den würde er niemals ver gessen. Das durfte dem Kleinen niemals passieren! Von oben drangen winzige Lichtstrahlen durch die Dielen, und
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einer traf die Umrisse eines gebogenen Gegenstands aus Metall. Es war die Konar-Lampe, die auf der Seite lag. Pustel griff danach, drückte das kühle Messing gegen seine Stirn und dann an sein Herz. »Pustel? Was ist los? Weinst du?« Nein, er würde nicht weinen. Tränen schmerzten auf seiner zerstörten Haut. »Ich kann nicht schlafen, das ist alles.« »Soll ich dir das Lied vorsingen?« Pustel stimmte leise zu. Langsam, beinahe zärtlich, rieb er die Konar-Lampe in einem Kreis um sein Herz, während der Kleine leise, beinahe unhörbar sang. Roter Fremder, der du Traurig streifst umher, Wirst sein der Sultan der Katakomben, Wirst fest stehen zum letzten Familiengeheimnis, Nicht wie der Sultan des Mondes und der Sterne... Fremde Kreatur, Selten gesehen, Eingehüllt vom Geheimnis des Dschungelgrüns, Dreht und wendet sich im Nebel mit einem verrückten Schurken, Aber niemals mit dem Sultan der Sterne und des Mondes... Es gab noch mehr Strophen, und hätte der Kleine schließlich aufge hört, hätte Pustel ihn bedrängt, das Lied zu erklären. Vielleicht hät ten sie die Konar-Lampe angezündet und sich über die Gestalten auf dem Teppich gebeugt. Aber die ganze Zeit rieb Pustel die Lam pe, und plötzlich geschah es. Der Kleine brach ab. Pustel schrie auf. Urplötzlich erfüllte eine bunte Wolke das ganze Reich von Un und glühte in strahlenden Farben. Unglaubliche Blitze durchzuck ten sie. Dann verschwand sie genauso schnell wieder, und neben ih nen auf dem Teppich saß mit gekreuzten Armen und Beinen ein
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kleiner Mann mit einem mächtigen Schmerbauch, lächelte merkwürdig und leuchtete in einem seltsamen Licht. Die Jungen rappelten sich hoch, doch bevor sie ihre Fragen aussprechen konnten, hatte der kleine Mann sie beantwortet, in gewisser Weise jedenfalls. Seine Augen funkelten, und er ließ einen Wortschwall los. »Vermutlich fragt ihr euch, wer ich bin? Erkennt ihr denn die Ähnlichkeit nicht? Ach, ich nehme an, ihr seid gewöhnliche Jun gen.« Er seufzte. »Auf jeden Fall besteht mein Bruder auf dieser albernen Maskierung. Ja, mein Bruder, sage ich! Obwohl es so lange her ist, dass ich mich frage, ob er sich überhaupt noch erinnert. Der arme Oman! Und ich Armer! Was für Qualen musste ich durchstehen! Sonnenwende um Sonnenwende in der Kiste dieses alten Mannes, um dann von diesem ziegengesichtigen Jungen gerubbelt zu werden und hier zu enden. Gerubbelt, ich bitte euch! Als Ziegengesicht mich vergaß, fürchtete ich schon, ich müsste genauso lange in diesem elenden Loch warten. Meine Lieben, wie verzweifelt ich war!« Der kleine Mann verdrehte die Augen. »Aber ich möchte mich vorstellen. Mein Name ist Jafir, und ich weiß bereits, wer ihr seid. Auf jeden Fall, mein schorfiger Freund, bist du wohl etwas abenteu erlustiger als Ziegengesicht, richtig? Ich habe dich jedenfalls für abenteuerlustiger gehalten ... Ja, man hört eine Menge in dieser Ko nar-Lampe. Man kann sogar ein bisschen sehen, selbst im Dunkeln. Vor einigen Momenten dachte ich schon, ich würde Zeuge einer richtigen Schau ...« Der Geist warf Pustel einen anzüglichen Blick zu. »Nun, du bist doch hoffentlich nicht so einer wie der Letzte? Solch langweilige Wünsche habe ich noch nie ...« »Halt den Mund!«, fuhr Pustel ihn an. Der kleine Mann schnüffelte. »Na, das gefällt mir!« »Vorsichtig, Pustel!«, zischte der Kleine. »Er ist ein Zauberer!« Daran zweifelte Pustel nicht. Er hielt die Konar-Lampe in der Hand, und Fetzen der Wolke drangen immer noch aus der Tülle. Der kleine Mann leuchtete grell, aber als Pustel den Blick senkte, wurde
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er auch von dem Teppich geblendet, der in dem merkwürdigen Licht schimmerte. Er blickte wieder hoch. »Wer bist du? Was willst du?« Der kleine Mann hatte die ganze Zeit Grimassen geschnitten, jetzt jedoch lachte er laut. »Qh, der Kleine macht auf mutig! Tja, so ist dein Freund, aber du weißt schon, was ich meine ... Mein Lieber, es genügt wohl zu sagen, dass ich ...« Er seufzte, »...der Geist die ser gewöhnlichen kleinen Lampe bin, die du da in deinen Händen hältst. Was für eine ordinäre Lampe! Also ehrlich, das ist eigentlich die schlimmste Beleidigung für mich. Das wiederum zwingt mich dazu, dir zu verraten, dass ich dich fragen muss, was du willst.« Mit einer Grimasse fügte der Dschinn hinzu: »Meister!« »M ... Meister?«, wiederholte Pustel zweifelnd. Der Dschinn rollte mit den Augen. »Deine Wünsche, Pickelgesicht! Was wünschst du dir?« »Pustel!«, mischte sich der Kleine ein. »Weißt du, was das bedeutet?« »Ich frage mich, ob du das weißt«, kicherte der Dschinn und warf dem kleinen Jungen einen warnenden Blick zu. Ungeduldig wand te er sich wieder an Pustel und seufzte. »Sag bloß nicht, dass du lan ge darüber nachdenken musst?« Aber Pustel war zu erstaunt, um diese Beleidigung zu registrieren. Er trat kühn vor. »Ich wünschte, du ... du würdest uns von hier wegbringen!« »Ach, nicht schon wieder so einer!«, stöhnte der Dschinn. Er schnippte mit den Fingern und verschwand. Im nächsten Moment erhob sich der Teppich in die Luft. Die Jungen schrien auf und war fen sich flach darauf. Sie würden gleich gegen die Decke prallen! Doch der Teppich schwebte stattdessen weiter hinauf, als bestän de die Taverne aus Rauch, wie die Wolke des Dschinns. Voller Stau nen durchquerten sie Stockwerk um Stockwerk und sahen Seeleute, Huren, Diener und Sklaven, die auf Nachttöpfen hockten, Jarvel rauchten, trunken schnarchten oder hurten wie Vieh. Schließlich flogen sie durch das Dach.
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Erst später sollte den Jungen auffallen, dass die Konar-Lampe über die Seite des Teppichs gerollt und im Reich von Un zurückgeblieben war.
13. Über die Mauer Der Mond sei mein Fackelträger,
Die Sterne meine Lockvögel,
So reise ich durch die Dunkelheit,
Auf einem Weg, der weit wegführt:
Hab keine Zeit für die Ehe,
Aber ich würde meine Kutsche verkaufen,
Für eine Nacht mit dem Mädchen
In dem schimmernden Schleier!
Während er durch die Gassen hinter den Palast der Duftenden Stu fen schwankte, ahnte der wohlhabende Kaufmann nicht, wie knapp er einer unglücklichen Begegnung entronnen war. Vielleicht hatten seine Lippen als letztes die Gewürze und Soßen, Limonaden und Sorbets eines vornehmen Essens gekostet oder die Küsse einer schönen Geliebten, oder sie hatten sich um das Mundstück einer Wasser pfeife gelegt, die in der Dunkelheit einer parfümierten Jarvel-Höhle vor sich hin blubberte. Jedenfalls sang er fröhlich vor sich hin, und seine Geldbörse baumelte unbewacht von seiner dicken Hüfte. Blase traten fast die Augen aus den Höhlen, als sähe er einen Aal. Fisch seinerseits wollte schon vorstürmen, aber Faha Ejo streckte die Hand aus und zog ihn in den finsteren Eingang zurück. Der Kaufmann schwankte weiter. »Faha, das ist nich fair!« »Fair? Willst du denn, dass dieser Narr wie ein abgestochenes Schwein schreit? Jetzt komm schon, wir sind fast da.«
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Die Geldbörse war eines der wenigen Zeichen von Wohlstand, das die Straßenjungen an diesem Abend zu Gesicht bekommen hatten. Rund um-den Palast des Kalifen drängten sich die vornehmen Häu ser, aber der Reichtum wurde selten zur Schau gestellt, nicht einmal in der größten Stadt von Qatani. Umgeben von hohen Mauern behüteten die Häuser ihre Schätze im Geheimen. Zurschaustellung lud nur Diebe ein, und außerdem: Wer konnte schon mit der königli chen Residenz konkurrieren? Schon bei dem Verdacht einer derar tigen Anmaßung riskierte man nicht nur Hohn, sondern auch schwerwiegende Vergeltungsmaßnahmen. Faha Ejos Bande stahl sich wie Schatten durch das Labyrinth von Ratten, Müll und überquellenden Abwasserkanälen. Hier war der Mond wirklich ein verräterischer Fackelträger, dessen Licht nur schwach zwischen den breiten Dachüberhängen hindurchschien. Sie rannten über den leeren Marktplatz. »Hier entlang!« »Du kennst dich gut aus, Faha Ejo!« »Shh! Achtet auf die Ouabin!« Die Unner verschwanden unter einem Stück der heruntergebro chenen Galerie und zwängten sich einzeln durch einen Spalt zwischen zwei Wänden. Die eine Wand war die glatt verputzte Rückseite eines Hauses, in der sich nur ein einziges Fenster befand, und zwar weit über dem Boden. Die andere bestand aus großen, groben Steinen. Sie war noch höher und mit Eisenspitzen bestückt. Hinter dieser Wand befanden sich die Privatgemächer der Schimmernden Prinzessin, da war sich Faha Ejo sicher. Rajal erkundigte sich, woher er das wissen wollte, und der Ziegenhirte tippte sich mit dem Finger an die Nase und formte mit den Lippen lautlos den Namen seines Cousins, des Hurenbocks. Storch und Stinker grinsten aufgeregt und pressten ihre Ohren an die Mauer. »Ich ka ... kann schon d ... das Zischen hören!« »Ssss, Ssss!« Die Jungen sprangen zurück und machten mit ihren Armen die
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Bewegungen der Schlangen nach. Faha Ejo verdrehte die Augen. »Hört damit auf. Die Wand ist mindestens so dick wie Blase!« Stinker sah hinauf. »Er wird sich seine Klunker zerschrammen, wenn er da rübergeht.« »Dann wird er einer von den Fistlern«, meinte Fisch kichernd. Er hatte immer noch den Einhornpenis in der Hand, grinste, hielt ihn vor seinen Lendenschurz und machte mit der anderen Hand eine schneidende Bewegung. »Ich glaube nicht, dass du heute Nacht die Prinzessin beglücken wirst, Vaga-Junge!« »Was meinst du damit?«, erwiderte Rajal scharf. Bevor Fisch antworten konnte, mischte sich Blase ein. »Ein Vaga darf die Prinzessin nicht besteigen.« »Du auch nicht, du Fleischklumpen!« Faha Ejo legte Rajal eine Hand auf den Arm. »Hört zu, ihr Idioten, der Vaga soll sie nicht besteigen. Er bringt nur ihren Schleier zurück, das reicht. Ach, und na türlich so viele Edelsteine, wie er finden kann.« Stinker kicherte. »Seine eigenen auch.« Das Mondlicht erhellte die Gasse nur spärlich, aber man konnte den Ärger in den funkelnden Augen des Ziegenhirten sehen. »Über die Mauer und wieder zurück, das ist alles. Rein und raus.« Stinker kicherte erneut. »Halt endlich die Klappe. Danach ist er Euer Bruder, genau wie Pustel, und muss sich nicht mehr beweisen, kapiert?« »Ich sage dann immer noch, dass du einem Vaga nicht trauen darfst«, meinte Blase. »Ich sage dann immer noch, dass er stinkt«, erklärte Stinker. »Nein, das tut ihr dann nicht mehr«, erwiderte Faha Ejo und deu tete auf die Einmündungen der Gassen. »Stinker, bau dich dahinten auf und halt nach Ouabin Ausschau. Blase, roll deinen Wanst ans andere Ende.« »Ich?«, stöhnte der fette Junge. »Ich will zusehen, wie der Vaga runterfällt!« »Das kannst du auch von deinem Posten aus. Aber pass auch auf die Ouabin auf. Fertig, Vaga-Junge? Also, wer bläst die Flöte?«
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»Ich!«, sagte Stinker. »Ich!«, bot sich Fisch an. Faha Ejo schlug ihre Hände weg. »Storch, du machst es.« »I ... Ich? Ich k ... kannk ... keine P ... Pf... Flöte spielen.« »Du musst nichts spielen, blas einfach rein.« Storch steckte versuchsweise das Ende der Flöte in seinen zahn losen Mund. Er pustete hinein und produzierte ein hohes, krei schendes Geräusch. Faha Ejo nahm ihm die Flöte weg. »Nicht so laut!« »Wie 1 ... laut soll es d ... denn sein?« Rajal erklärte: »Das Seil zuckt selbst beim kleinsten Ton.« »Wollen wir anfangen?«, fragte Faha Ejo. Aber es gab noch eine Verzögerung. Blase kam von seinem Pos ten am Ende der Gasse zurückgewatschelt. »Das gefällt mir nicht«, zischte er. »Der Vaga betrügt.« »Wie denn das?«, erkundigte sich Faha Ejo. »Pustel hat die Moschee der Fünf Winde ganz allein erklettert. Er hat keine Magie der Tänzer des Untergangs benutzt. Das sieht einem Vaga ähnlich, dass er ein dreckiger Betrüger ist!« Stinker kam von seinem Ende der Gasse zurück. »Blase hat Recht. Was beweist es schon, wenn er mit einem magischen Seil über die Mauer klettert? Außerdem stinken Vagas.« Der Ziegenhirte deutete auf die Spitze der Mauer. »Mochtet Ihr es stattdessen tun? Stinker, du? Oder wie wäre es mit dir, Blase? Vorausgesetzt, das Seil hebt sich überhaupt mit dir in die Luft.« Blase war äußerst empfindlich, was Bemerkungen über sein Ge wicht anging. Das war sehr bedauerlich, denn nur wenige konnten sich auf Dauer solche Bemerkungen verkneifen. »Du schmutziger Mischling!« Der fette Junge trat einen Schritt vor, aber Faha Ejo war schneller, Mit einem heftigen Schlag schickte er Blase zu Boden und versetzte ihm anschließend einen Tritt. »Fisch! Übernimm Blases Posten! Stinker, geh wieder zurück, sonst schiebe ich dir deinen dreckigen Fuß ins Maul und den anderen in deinen schmutzigen Arsch!«
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Fisch kicherte, aber Faha Ejo brachte den Jungen wütend zum Schweigen, trat Blase noch einmal in den Bauch und befahl Storch: »Spiel!« Storch spielte. Zweifelnd packte Rajal das Seil. Keiner der Unner sah die geheimnisvolle, beinahe ätherische Gestalt, die sie heimlich beobachtete. Sie hatte den Hut tief in die Stirn gezogen und hüllte ihren Mantel fest um ihren goldenen Körper. Der Teppich drehte sich und hing in der Luft wie ein Floß in der Strömung. Er strahlte im Licht des Mondes, der den beiden Jungen, die auf dem Teppich kauerten, sehr nah vorkam. Jafir, der Dschinn, erschien in einer Rauchwolke neben ihnen. »Nun, jetzt seid ihr weg«, fuhr er gelangweilt fort. »Ich nehme an, Ihr WÜNSCHT jetzt, irgendwo hinzugehen?« Pustel beugte sich eifrig vor, aber der Kleine zog ihn am Arm und bedeutete ihm, zu warten. Warten? Worauf warten? Pustel lächelte seinen jungen Gefährten freundlich an und sprach trotzdem. »Dschinn, bringe uns zu ei nem ... Ort, der sehr weit weg ist!« Jafir grinste ironisch. »Das ist es? Das ist es, was Ihr Euch WÜNSCHT?« Der Kleine versuchte, Pustel den Mund zuzuhalten, aber dieser schob ihn spielerisch zur Seite und nickte eifrig. »Das wünsche ich mir!« »Einverstanden.« Erneut schnippte Jafir mit den Fingern. Beinahe augenblicklich sauste der Teppich durch die Luft, schneller als jeder Vogel, und feg te gefährlich dicht über Kuppel und Minarette hinweg. Die Jungen klammerten sich verzweifelt am Rand fest. Pustel drückte den Kleinen hinunter, damit der Junge nicht weggeblasen wurde. Nur dem Dschinn schien die Geschwindigkeit nichts auszumachen. Er feixte immer noch und hielt die Arme gekreuzt. In ein paar Augenblicken lagen die Stadt und die Hafenanlagen weit hinter ihnen. Sie flogen über die Wüste.
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»Dschinn, wohin fliegen wir?«, fragte Pustel. »Natürlich an einen Ort, der sehr weit entfernt ist!«, antwortete Jafir. Seine Augen funkelten, als er hinzufügte: »Übrigens wisst Ihr doch sicher, dass Ihr nur noch einen Wunsch frei habt?« »Was?«, rief Pustel. »Das ist nicht fair!« »Also wirklich, das ist ja mal wieder typisch für Euch! Drei WÜNSCHE, so lautet die Regel!« »Das hast du mir nicht gesagt!« »Ich sage es Euch jetzt!« Mit einem weiteren Fingerschnippen war der Dschinn ver schwunden. Pustel heulte, aber er hatte keine Zeit mehr, über seine Wünsche nachzudenken. Sie flogen schneller und schneller durch die Luft, bis das unwirtliche Land unter ihnen, der helle Mond und die Sterne, und selbst das Muster des Teppichs nur noch verwaschene Streifen vor ihren Augen waren. Schneller und schneller. Rajals Herz hämmerte heftig. Das Seil erhob sich, und er blickte nach oben. Jetzt fiel ihm die Höhe der Mauer auf, die Spitzen und die Kobras auf der anderen Seite. Es war noch nicht zu spät. Noch konnte er hinunterspringen und dann weglaufen. Die Versuchung war sehr stark, aber mit eigen sinnigem Stolz dachte er an die Unner, wie sie lachten und behaup teten, dass Vagas nutzlos wären. Rajal würde nicht zulassen, dass sie ihn auslachten, niemals! Aber sollte er zulassen, dass sie einen noch größeren Narren aus ihm machten? Er dachte an Kapitän Porlo. Und an die Prinzessin. Dann dachte er an seinen verlorenen Kristall. Er musste diese Chance einfach ergreifen. Sie hatten einen Plan. Wenn das Seil straff gespannt war und Rajal hoch oben in der Luft hing, würde Storch weniger spielen und das Seil würde sich sanft biegen, wie im Basar. Dann würde Rajal leicht und mühelos auf dem verbotenen Balkon des Frauenflügels landen. Sobald seine Arbeit verrichtet war, würde er pfeifen. Dann würde sich das Seil erheben, um Rajal wieder in Empfang zu nehmen.
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Noch während er in dem Spalt zwischen den Wänden emporstieg, kamen Rajal Zweifel. Im Basar war das Seil leicht und gleichmäßig gestiegen, zur Melodie, die der Tänzer des Untergangs gespielt hat te. Storchs unbeholfenes Spiel jedoch hatte eine gegensätzliche Wir kung. Mehrmals schlug sich Rajal den Kopf an den Wänden der Gasse und stieß sich Ellbogen oder Knie. Aber er wagte es nicht, laut zu fluchen. Was, wenn der närrische Junge jetzt aufhörte zu spielen? Erst als er sich nach einem besonders schlechten Triller von Storch die Hüfte an der Mauer stieß, hätte Rajal beinahe gebrüllt. Doch stattdessen biss er sich auf die Zunge, bis ihm Tränen in die Augen traten. Dann zuckte er zusammen. Jetzt brannte ein Licht in dem Fenster des Hauses und erhellte die Gasse. Rajal sah Gestalten, die sich wie hinter einem Nebel bewegten. Er wischte sich die Trä nen weg und sah sie klarer. Wachen. Die Wachen tranken Ferment und spielten Karten. Rajal schwankte dicht über den gefährlichen Spitzen. Er winkte seinen Gefährten zu. Merkten sie denn nichts von der Gefahr? Stinker stand an seinem Ende der Gasse und blickte nur nach oben, gespannt, wie Rajal weiterkam. Am anderen Ende der Gasse jonglier te Fisch mit seinem getrockneten Einhornpenis. Storch wurde immer atemloser und keuchte. Er wünschte sich sehnlichst, endlich aufhören zu können. Der Junge riss sich mühsam zusammen. Verzweifelt setzte er sein tonloses Trillern fort. »Nicht mehr lange«, sagte Faha Ejo leise. »Noch ein bisschen hö her und dann langsam absenken.« »Ich kann schon die Schlangen hören, ganz sicher!«, quietschte Stinker. »Hoffentlich beißen sie ihm die Nüsse ab!«, knurrte Blase und stöhnte, als Faha Ejo ihn erneut trat. »Weiter, Storch!«, drängte er. »Noch einen Triller!« Aber es sollte nicht sein. Plötzlich schnappte Storch nach Luft, und die Pfeife fiel polternd zu Boden. Rajal schrie auf, als er hinabsank.
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»Idiot!« Faha Ejo packte die Pfeife und blies einen heftigen Tril ler. Rajal schoss nach oben, und eine Spitze auf der Mauer schlitzte seine Hose auf. Ein Gesicht presste sich ans Fenster. Dann schrie jemand, aber die Jungen unten horten es nicht. Faha Ejo blies auf der Pfeife und trieb dabei Storch mit heftigen Tritten vor sich her die Gasse entlang. Es war ein komischer Anblick, nur nicht für Rajal. Denn bei jedem Tritt hüpfte er heftig in der Luft. Zwischen den einzelnen Sätzen sah er, wie die Wachen in dem erleuchteten Zimmer sich neugierig ans Fenster drängten. »Es war nicht meine Schuld, Faha!«, protestierte Storch. »Jemand hat mich geschlagen! Oder einen Stein geworfen!« Der Ziegenhirte blies ein wütendes Arpeggio. »Faha, es stimmt!« Stinker hüpfte auf und ab. »Ich hab's gesehen, wirklich!« Ein Tremolo der Wut. »Jemand ist hier, Faha, im Schatten!« Eine Kadenz der Verachtung! Dann knischte etwas unter den Sandalen des Ziegenhirts. Der Einhornpenis! Er hörte auf zu spielen. »Fisch!« Der Junge im Lendenschurz lag bewusstlos da. Rajal stürzte ab. Faha Ejo gab Storch die Pfeife zurück. »Spiel!« Ein scharfes Pfeifen zerriss die Stille. Rajal schoss wieder nach oben, aber erst, nachdem er tief genug gesunken war, um etwas Schimmerndes in der tiefen Grube zwischen Balkon und Mauer zu sehen. Er war entsetzt, und bittere Galle stieg ihm in die Kehle. Wie ein Schwimmer in Not ruderte er auf den Balkon zu, aber er schaffte es trotz seiner Anstrengungen nicht, das Seil selbst zu dirigieren. In dem erleuchteten Raum packten die Wachen ihre Säbel und stürmten zur Treppe. Im selben Moment gab es am Ende der Gasse einen Kampf.
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»Heh!« Stinker rang mit einem Angreifer. Es wurde getreten und geschla gen, und Stinker brach zusammen. Faha Ejor stürmte vor. Ein Stein zischte und traf sein Gesicht. Er schrie auf und stolperte. Jetzt drehte sich der Angreifer um und wollte an Faha Ejo, Storch und dem schwankenden Fisch vorbeistürmen. Doch plötzlich richtete sich Blase auf. Der Angreifer wich dem ersten ungelenken Sprung aus, aber der zweite war zu viel. Drei Dinge geschahen gleichzeitig: Blase warf seinen massigen Körper auf den Angreifer. Sie prallten gegen Storch, dem die Flöte der Tän zer des Untergangs aus der Hand geschleudert wurde. Sie wurde wie der Angreifer unter Blases Gewicht zerschmettert. Rajal schrie. Und es ertönte noch ein Schrei, wenn auch nicht aus der Luft. »Holt ihn von mir runter! Holt ihn runter!«« Faha Ejo stolperte vor. War das möglich? »Wildfang!« »Ungläubiger, ich habe nach dir gesucht! Du Dieb... Du Mörder! Ich wäre deinetwegen beinahe hingerichtet worden!« »Was ...Wieso?« Es blieb keine Zeit für Fragen. Das laute Stampfen von Stiefeln weckte sogar Fisch von den Toten auf. Er sprang benommen hoch. »Die Wachen!« Einen Augenblick später stürmten die Wachen in die Gasse. Aber im Schein ihrer Laterne fanden sie nur noch drei Dinge vor. Eines war ein trockenes Objekt, das eine sehr alte und sehr modrige Ka rotte sein mochte. Das andere war eine seltsame Flöte, deren gewölbtes Ende zerschmettert war, und das dritte war ein ganz gewöhnliches Seil. Von Rajal gab es keine Spur, aber in der Nähe, unbemerkt von den Wachen, stand eine Gestalt in einem Mantel und lachte lautlos. »Wo ... Wo sind wir?« Pustel stöhnte. Sie waren abrupt gelandet Es dauerte eine Weile, bis ihre Benommenheit verschwand. Die Nacht ging zu Ende, und sie sahen hinter
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den Dünen am Horizont einen Silberstreif. Pustel legte eine Hand vor die Augen, aber er konnte zuerst kaum etwas von ihrer Umgebung erkennen. Schnipp. »Ja, sieh dich nur um«, meinte Jafir ironisch. »Ich werde dasselbe tun. Es war so nett von dir, mich auswählen zu lassen, wohin wir fliegen. Ich denke, ich habe eine gute Wahl getroffen, aber Vorsicht ist dennoch geboten. Immerhin muss ich sicher sein, dass ich an die sem Ort gern bleiben würde. Oder sollte ich lieber sagen, dass ich diesen Traum gern träumen würde?« Pustel runzelte die Stirn. »Ich ... Ich verstehe das nicht.« »Hast du übrigens bemerkt, dass du die Konar-Lampe zurückge lassen hast? Sie ist in diesem verwünschten Keller auf den Boden ge fallen. Ach, wie sehr ich mich während all dieser Sonnenwenden da nach gesehnt habe, dass jemand sie verlöre! Weißt du, was das bedeutet? Noch ein WUNSCH, und ich bin frei!« Ein Grinsen über zog das runde Gesicht. »Ich würde euch ja danken, meine Lieben, aber Dankbarkeit entspricht nicht meiner Natur. Ich komme zurück, wenn ihr mich braucht. Noch ein WUNSCH, vergesst das nicht. Nur noch ein WUNSCH!« »Bleib!«, rief Pustel. Warum sollte er warten? Er kannte seinen letzten Wunsch bereits oder glaubte es zumindest. Es hätte eigent lich sein erster sein sollen, wenn er gewusst hätte, dass er nur drei Wünsche hatte. Er würde sich wünschen, schön zu sein. Ja, das war es. Aber Jafir hatte bereits wieder geschnippt und war verschwun den. Pustel wusste nicht, wie er ihn zurückholen konnte. Der Wunsch würde warten müssen. Unsicher stand Pustel auf und reichte dem Kleinen die Hand. Vorsichtig traten sie von dem fliegenden Teppich und fragten sich beide, ob er wohl verschwinden oder weg fliegen würde. Das passierte nicht, aber als der Kleine zurückblickte, hatte er den Eindruck, dass die fünf Sultane in der Morgensonne ein wenig zusammenrückten. Dann plötzlich war es später, viel später als früher Morgen. Vor ihnen lagen prächtige Gärten und ein langes, tiefes Becken. In der 124
Ferne glänzte in der gleißenden Sonne das gewaltige Gebäude des Hauses der Wahrheit.
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14. Die Initiation eines Jungen »Leise, meine Hübschen.« Diese Stimme. Rajal hatte sie schon vorher gehört, dieselben Worte, derselbe Tonfall, dasselbe tiefe, nachdrückliche Zischen. Er öff nete mühsam die Augen. Einige Sekunden verstrichen, bevor sich die Szene vor ihm klärte. Jetzt erkannte er das dunkle Schimmern von Rot und Gold in dem gedämpften Licht der Lampen. Er neigte den Kopf zurück. Anscheinend lag er auf Seide. Irgendwo im Hin tergrund bewegten sich Gestalten in langen, raschelnden Gewän dern. Die Luft war dick vor Weihrauch. Jemand flüsterte und ki cherte. »Leise, meine Hübschen.« Diese Stimme. Rajal erinnerte sich, wo er sie bereits gehört hatte. Es war in dem Moment gewesen, als er an dem Seil schwankte, scheinbar verloren in der Vergangenheit, vor einer Ewigkeit... Nein, das stimmte nicht. Die Stimme war das Letzte, woran er sich erinnerte. Jetzt wiederholte er die Ereignisse mit einer traumhaften Langsamkeit in seinem Kopf. Die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der er wie ein monströser Vogel stürzte, der aus der Luft herabstößt. Die Kobras, die ihre Köpfe hochreckten, die Gestalt, die mitten unter ihnen stand, Ehrfurcht gebietend, unerschrocken, und die Arme ausstreckte. Der große Mann musste sich außerordentlich geschickt hingestellt haben, denn er wankte kaum, als Rajal ihm in die Arme fiel. Wer war dieser Mann? Bevor Rajal vor Schreck ohnmächtig wurde, hatte er noch undeutlich die prächtigen Roben wahrgenom men, deren Träger sich unbehelligt von den Kobras den Weg durch
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die Schlangengrube bahnte. Dann drang wieder diese Stimme an sein Ohr, immer wieder die Stimme. »Leise, meine Hübschen.« Aber wer waren diese Schönen, die ihn jetzt umringten? Rajals Blick klärte sich, und er stellte fest, dass er auf einem flachen Bett lag. Es war ungewöhnlich hoch und stand in der Mitte einer großen, luxuriösen Kammer. Weiche rote Kissen mit goldenen Troddeln lagen herum, die Vorhänge aus bunten Perlen bewegten sich leicht, und hier und dort rekelten sich exotische Katzen mit spitzen Ohren. Um sein Bett herum standen beeindruckende, verhüllte Geschöpfe, deren Armreifen klimperten und glänzten. Ihr Anblick bereitete Rajal Unbehagen. Aber warum? Verwirrt erinnerte er sich daran, dass er schließlich versucht hatte, im Frau enflügel einzubrechen. Warum sollte es ihn jetzt verwundern, sich so vielen Frauen gegenüberzusehen? Vielleicht war es das Unge wohnte dieses Anblicks, denn seit seiner Ankunft in diesem Land hatte er nur wenige Vertreter ihres Geschlechts zu Gesicht bekom men. Abgesehen natürlich von den gewöhnlichen Frauen, die sich in formloses Schwarz hüllten. Im Gegensatz zu ihnen waren diese Frauen die reinste Verkörperung der Schönheit. Verwirrend, bei nahe kokett mit ihren Reizen. Auf den Befehl des großen Mannes verstummten diese großarti gen Geschöpfe gehorsam. Eine fütterte einen Vogel, der auf ihrem Handgelenk hockte. Eine andere tätschelte eine schnurrende Katze. Eine Dritte fuhr sich ständig mit einer Bürste durch ihr langes Haar, während ihre Gefährtin eine Hand spielerisch über eine Leier hielt. Aber das war nicht alles. Da gab es noch etwas anderes. Rajal empfand die Stille als bedrohlich. Über den hauchdünnen Schleiern funkelten dunkle Augen, und er bemerkte, dass ihre Blicke alle auf ihn gerichtet waren, den Konturen seines ausgestreckten Körpers folgten. Panik durchzuckte ihn, als er einen Moment fürchtete, er wäre nackt. Aber nein, seine Lumpen waren zwar verschwunden, aber jemand hatte ihn in eine schöne Robe gekleidet. Er schluckte. »Warum bin ich hier?«
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Die Frage war vielleicht etwas albern, aber sie war nicht gänzlich sinnlos. Er sah dabei diese wundervollen Geschöpfe an, doch von ihnen brauchte er keine Antwort zu erwarten. Sie betrachteten ihn nur mit ihren dunklen Augen. Dann hörte er seine eigenen Worte, in der Stimme, die er bereits kannte. »Warum bin ich hier? Warum? Oder meinst du, was bin ich hier? In jedem Fall sind das Fragen, die dir noch erheblich nachdrückli cher gestellt werden, Empster-Schützling. Dir, verstehst du?« »Ich ... Ich verstehe Euch nicht...« »Ach Empster-Schützling! Gibt es denn überhaupt etwas, das du verstehst?« Die Stimme wirkte spöttisch, klang jedoch nicht unfreundlich. Ihr Besitzer stand mit dem Rücken zu Rajal in einer Ecke über einer dampfenden Schüssel. Es plätscherte. Anscheinend wusch sich der Mann die Hände. Dann drehte er sich um und zog die Kordel seiner Robe fester. »Wesir Hasem!«, rief Rajal verdutzt. »Selbstverständlich, Neben vielen anderen Pflichten obliegt mir doch auch die Sorge um die ... Erholung des Kalifen.« »Im Frauenflügel?« »Schwingt da Zweifel in deiner Stimme mit? Empster-Schützling, vergiss nicht, dass du zu Boden gefallen bist. Das hier ist nicht hm - ganz der Frauenflügel. Man könnte sagen, wir befinden uns darunter, wobei ich mich dabei nicht um die Implikationen kümme re. Das solltest du auch nicht tun.« Der Wesir lächelte. »Aber ich möchte dich jetzt deinen neuen Schwestern vorstellen.« »Schwestern?« Es folgte eine Reihe von Namen, aber Rajal schwindelte, und die Namen zogen an ihm vorüber wie Boote in einer langsamen Strö mung. Sie schienen sich dabei geheimnisvoll zu verändern, bevor sie schließlich bei ihm ankamen. Das plumpe Mädchen? Blasenia. Das große? Storchela. Empster-Schützling, darf ich dir Fischia vorstel len? Die duftende Stinkina ... tritt ruhig vor, Kleinina, keine Scheu.
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Einen Moment lang wähnte sich Rajal wieder im Reich von Un, aber in einem Reich, das von einer merkwürdigen, höhnischen Magie verändert worden war. Matratzen und Fässer waren zu Kissen und Sofas geworden, die Vorhänge aus Sackleinen zu Perlenschnüren, Ratten zu Katzen, Kakerlaken zu Vögelchen, und die Jungen ... die Jungen ... Rajal schüttelte sich. Was hatte er? Was konnte das sein? Er runzelte die Stirn und betrachtete die Mädchen genauer. Aber natürlich hatten sie etwas Merkwürdiges an sich, und ob! Er setzte sich hastig auf und wäre vom Bett gesprungen, aber eine Hand schob ihn scheinbar mühelos zurück. Rajal begriff, dass er nicht entkommen konnte. Natürlich nicht: Es gab Wächter, Schlangen, hohe Mauern. Und außerdem fühlte er sich merkwürdig müde. Seine Glieder waren bleiern. Jetzt erinnerte er sich auch wieder an die Stimme des Wesirs, die ihn nach dem Sturz ermuntert hatte. »Trink das, Empster-Schützling. Hier, trink das ...« Rajal drohte ohnmächtig zu wer den. Der Wesir trat vor und strich mit dem Finger über die Lippen des Jungen, über sein Kinn, seinen Adamsapfel. »Empster-Schützling«, sagte er leise. »Vieles in dieser Welt verwirt uns, und das wird auch immer so bleiben. Aber es gibt auch ge wisse Wahrheiten, die wir irgendwann begreifen müssen. Danach se hen wir alles etwas klarer. Wahrheiten über den Mond, über die Ster ne, über die Macht von Göttern und Menschen. Dann gibt es natür lich noch die Wahrheiten über uns selbst. Du bist gewiss wegen ei ner Suche hierher gekommen, aber war es nicht dein eigentliches Ziel, dich selbst zu finden?« Rajal bemühte sich, seine verwirrten Gedanken zu ordnen. Er dachte an den Kristall des Koros und seine Sehnsucht, ihn wiederzubeschaffen. Er dachte an den Kristall des Theron, den sie finden mussten, bald finden mussten. Jem und die Kristalle, das war alles, was zählte. Wovon also redete der Wesir eigentlich? Was meinte er? Aber die verführerische Stimme machte keine Pause, genauso wenig wie die weichen, erregenden Finger. Während er sprach, beugte sich der große Mann über das Bett, ja, er schwebte beinahe über Ra-
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jals ausgestrecktem Körper. Sein heißer Atem duftete nach scharfen Gewürzen. »Teures Kind, glaubst du wirklich, dass du mich einen Augen blick zum Narren halten konntest? Der Rothaarige sprach von ei nem kühnen jungen Mann, einem Feind seines Volkes und der Kro ne. Nun, anscheinend sprach er von einem anderen! Von Anfang an sah ich, was du bist - oder was du gern sein würdest. Welch merk würdiges Schicksal dich und nicht den Wildfang ans Rad gefesselt hat, will ich nicht fragen, und es kümmert mich auch nicht. Es ist eine Bagatelle im Vergleich zu dem größeren, bedeutenderen Schick sal, das dich wieder zu mir zurückgeführt hat?« Der Wesir öffnete Rajals Roben. »Nein, Kind, zweifle meine Leidenschaft nicht an, denn ich ken ne sogar dieses Feuermal der Götter, das so geheimnisvoll rot auf dei nem Schenkel glüht. Während du ohnmächtig dalagst, hat es bereits die Feuchtigkeit meiner Zunge und meiner Lippen gespürt! Fühle keine Scham über das, was du bist! An diesem Platz der Kobras kümmern wir uns nicht um die Welt und ihren närrischen Aberglau ben! Draußen bist du zum Tode verurteilt, aber was macht das schon? Innerhalb dieser Mauern wirst du dein Schicksal erfüllen!« Rajal wollte sich wegdrehen, herauswinden, schrie, aber er konnte sich weder bewegen noch etwas sagen. Tausende, Millionen Qualen brannten in seinem Kopf, aber nichts konnte realer sein als dieser Augenblick, der sich jetzt entfaltete. Die Mädchen verschlangen mit ihren Augen gierig seine nackte Haut, aber immer noch war es nur der Wesir, der ihn zu berühren wagte. Erst liebkoste er mit der Hand die schmale, jungenhafte Brust und glitt dann tiefer. Viel tiefer. In den Augen des großen Mannes flackerte Lust auf, und diese Flammen entzündeten auch eine Leidenschaft in Rajal. Es durchzuckte den jungen Mann, als er unvermittelt seine eigene steigende Erregung wahrnahm. Der Wesir trat zurück und breitete die Arme aus. Die Mädchen umringten ihn und zogen ihm mit langsamen, ehrerbietigen Bewe gungen seine Gewänder aus. Jemand spielte auf einer Leier, und
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plötzlich erfüllte ein starker, süßer Duft die Kammer, der stärker war als alle Parfüms. Rajals Kopf rollte zur Seite, und sein Blick trübte sich. Er vermutete, dass der Mann mit duftenden Ölen ein gerieben sein würde, wenn er zurückkehrte. Sein Herz hämmerte vor verzweifelter Leidenschaft, und Tränen traten ihm in dJe Augen. Hier, trink das. Sie hatten ihm etwas eingeflößt, eine andere Erklä rung gab es nicht! Benommen spürte er, wie die Mädchen ihn auf dem Bett bewegten und ihn in die richtige Position brachten. Kis sen wurden unter seine Hüfte geschoben. Der Mann kam zurück. Diesmal waren seine Liebkosungen här ter, fordernder, und seine Stimme war heiser. »Keine Scham, keine Scham. Sagte ich dir nicht, dass ich wusste, was du bist? Ich bemerkte sofort diese weibische Schwäche in deinen Augen!« Weibisch?, dachte Rajal. Wovon redet er? »Aber warum nenne ich es Schwäche? Die Passivität der Frau ist ihr Ruhm und Stolz, denn welche Macht kann größer sein als die Herrschaft, die sie über die Lust des Mannes ausübt?« Aber ich bin keine Frau! »Du hast gehört, wie sehr deine Art verachtet wird, aber wie kann das sein, wenn du das Gefäß für die Lust des Monarchen bist?« Siehst du nicht, dass ich keine Frau bin? Rajal schrie die Worte lautlos in seinem Innern. »Ich würde dich gern sofort reinigen, auf den Ruhm vorbereiten, der auf dich wartet! Aber nein, die Zeit ist noch nicht reif. Wie im mer müssen wir den uralten Sitten folgen. Zehn Nächte lang - zehn Nächte, meine Hübsche - wirst du zunächst die Vergnügungen ken nen lernen, die ich dir bereiten kann. Wir halten es in der Liebe wie in den Staatsgeschäften: Damit der Monarch eine bereitwillige Freude genießen kann, muss sein erster Minister ihm den Weg ebnen. Am Tag werden deine neuen Schwestern dich in anderen Künsten unterrichten. Und wenn du fertig bist, erst dann, werden wir dich reinigen, so sauber und rein machen, wie sie es sind, damit du bereit bist für den Kalifen.«
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Der Mann brachte sich in die richtige Position. »Schwestern, haltet ihre Glieder fest, ganz fest. Sicher, wir haben unseren Trank sehr großzügig verabreicht, und ebenso wahr ist auch, dass wir ein durchaus empfängliches Sehnen erregt haben. Trotzdem mag er vielleicht in den ersten Momenten um sich schlagen und sich winden, bis die Lust ihn packt.« Zärtlich strich er Rajal mit der Hand durchs Haar. »Ach, mein Kind, es wird zunächst tatsächlich wehtun, aber was bedeutet schon ein bisschen Schmerz, wenn er ein Portal zu dem üppigen Land unerforschten Vergnügens aufstößt?« Rajals Kopf fiel zurück. Zuerst kam die verzweifelte, hoffnungs lose Gegenwehr und dann plötzlich und unausweichlich das sengende Feuer. Einen Augenblick kam es ihm so vor, als bräche man sein Rückgrat, als würde Glied um Glied bis zum Gehirn ausgerenkt. Er schrie, aber es war ein lautloser Schrei. Immer noch spielte jemand die Leier, und irgendwo sang ein Mädchen. Seine lautlosen Schreie wurden zu Schluchzern. Das alles war nicht gut, überhaupt nicht gut. Es schien nur dieser Schmerz zu existieren. Die schrecklichen Stöße wollten einfach nicht aufhören, doch dann antwortete etwas in Rajals Innerstem, ein Pulsieren, das immer drängender wurde, ein Pochen. Der Ausbruch kam so heiß wie Lava, und Rajals Scham war vollkommen. In diesem Moment kam es ihm so vor, als wäre alles vorbei. Wie konnte es weitergehen? Wie sollte das Leben weitergehen? Aber die Leidenschaft des Wesirs war nur noch mehr angestachelt und nicht etwa gemindert worden. Er beugte sich schwitzend und lächelnd zu Rajals Ohr hinunter. Er wiederholte, dass es keinen Grund zur Scham gäbe. »Kind, mit der Zeit wirst du lernen, dich zu beherrschen, aber wie sollst du die Gefahren kennen, denen du dich gegenüber siehst, wenn nicht die Erfahrung dein Lehrer ist? Es ist ein ganz gewöhnlicher kleiner Unfall, nicht mehr. Für den Gaumen eines Feinschmeckers nichts anderes als eine scharfe Soße. In deinem neuen Leben wirst du Freuden kennen lernen, die die gewöhnlicher Männer bei weitem übersteigen. Und auch die gewöhnlicher Frauen! Du empfindest
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Schmerzen, aber ebben sie nicht schon ab? Das sollten sie auch, denn in deinem tiefsten Inneren liegt ein Juwel verborgen. In diesem Juwel befindet sich das Geheimnis der Freude. Sieh durch den Schmutz auf dieses verborgene Juwel. Kind, denk an das Juwel, nur an das Juwel!« Später fragte sich Rajal, ob diese Worte nicht vielleicht ein Zauber gewesen waren. Der Weihrauch schwebte in der Luft, die Leier spiel te, das Lied wurde gesungen. Jemand tröstete ihn, liebkoste ihn mit den Händen. Was dann kam, waren nicht mehr Schmerzen, sondern Worte, der Bann, der wie ein Mantra in seinem Kopf pochte. Jetzt sah er den Kristall vor sich schimmern, dunkelrot und glänzend. Welchen Sinn hat es, danach zu suchen? Denn was er suchte, war in ihm, tief in ihm! Schluchzer schüttelten seinen Körper, als er sich seine Hände vorstellte, wie sie eifrig in zähem Schlamm wühlten. Dann sah er, wie der Edelstein in seinen Händen sich erhob, ebenso wie sein Körper, hoch, immer weiter hinauf. Er explodierte in einem grellen weißen Blitz. Noch lange, nachdem es vorbei war, lag der berauschte junge Mann stöhnend und keuchend auf den besudelten Laken und dach te nur an das Juwel, an sein Juwel.
15. Das vierte Verschwinden Cata regte sich endlich. Wie lange hatte sie geschlafen? Es mussten mehrere Tage gewesen sein. Bilder eines merkwürdigen Traums schwirrten ihr durch den Kopf. Sie erinnerte sich an üppige Gärten, an ein palastähnliches Haus, an ein langes, tiefes Becken, an einen Himmel, der sich sehr schnell vom Mittag zum Abendhimmel und wieder zum Morgengrauen veränderte. Sie stützte den Kopf in die Hand und spähte hinter dem Wandschirm hervor, hinter dem sie lag. Fahles Mondlicht drang durch die Jalousien, fing sich schimmernd
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in den Fäden der Teppiche und den Gazevorhängen vor den Spie geln. Sonst war nichts zu sehen. Wo war Prinzessin Bela Dona? Wo hin war sie verschwunden? Dann hörte Cata eine Stimme im Dunkeln flüstern. Sie brauchte eine Weile, bis sie die Worte verstand und begriff, dass sie einen merkwürdigen, bösartigen Reim bildeten. Lampe, die glimmend eines Vaters Schlaf bewachte, Sein närrisches Lächeln beleuchtete, zuhörte, wie er weinte. Komm, sei der Träger meines Rachezaubers: Ich hasse eine Viper, soll ich da ihre Brut lieben? Schon bald wird er sich wünschen, sie wäre nie geboren! Es war eine Männerstimme, kräftig, aber dennoch irgendwie fern. Sie schien gespenstisch vom Wind über weite Wüstenflächen getra gen zu werden. Dann schimmerte plötzlich etwas mitten in der Kammer, und während die Stimme aus dem Strudel der Finsternis weitersang, bildete sich eine begleitende Vision. Die Gaze bauschte sich, das Mondlicht wirkte heller, und Cata starrte staunend die geis terhafte Gestalt eines Mannes an. Winzige Flamme, glühe wie die Strahlen des Morgengrauens Sieh zu, wenn der Geist aus dem Fleisch gerissen wird: Und jetzt wahre diesen Fluch als ein Geheimnis. Tief in dir vergraben, wie in einer Muschel, Bis eine andere Glocke läutet! Der Mann war sehr alt und bewegte sich gekrümmt, aber mit einer besonderen Geschmeidigkeit. Er drehte sich im Kreis, hatte langes, wehendes weißes Haar und einen langen Bart, der wie eine Gabel in drei Zinken geteilt war. Er trug eine sternenübersäte Robe. In einer Hand hielt er ein glänzendes Ding, das aus Gold oder aus Messing sein mochte. Erst konnte Cata es nicht erkennen, dann jedoch sah sie, dass es eine dieser merkwürdigen, exotischen Lampen war, die
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sie so oft im Palast des Kalifen gesehen hatte. Eine Konar-Lampe, eine einfache Konar-Lampe. Aber nein. Es war viel mehr. Während die merkwürdige Anrufung sich weiterspann, zitterte Cata am ganzen Körper. Ja, höre das Klingen der nächsten Zeit-Glocke. Elmani versinkt tief wie in einen Brunnen: Niemals mehr kann er seine Tochter berühren und ist verdammt, ewig zu trauern! Komm, Geist aus der Lampe, lass uns die Rache ernten! Du hältst das Schwert! Treib es tief hinein! Geist und Blut - seien GETEILT! Bei diesem letzten Befehl wäre Cata beinahe aus ihrem Versteck hervorgestürmt, als wäre tatsächlich ein Kind der Gnade dieser geisterhaften, mörderischen Gestalt ausgeliefert gewesen. Stattdessen wachte sie mit einem erstickten Schrei auf. Ein Traum? Noch ein Traum? Aber er hatte so real gewirkt! Sie legte die Hand an die Stirn und bemerkte plötzlich die Fesseln und Ketten. Wenigs tens die waren echt. Ebenso wie das Mondlicht und der Schirm. Hinter dem jetzt eine ganz andere Stimme erklang. Mitten in dem Kreis aus Spiegeln saß der Kalif Oman Elmani. Er hockte zusammengesunken wie ein Betender da und wiegte sich von einer Seite zur anderen. Vor ihm schwebte ein Stück über dem Teppich das geheimnisvolle, schimmernde Mädchen, das Cata zuletzt mit diesen Visionen hatte kommunizieren sehen. Fasziniert und entsetzt sah Cata zu, wie der kleine Mann ihr wie einem Götterbildnis sein Herz ausschüttete. Er schluchzte und redete beinahe zusam menhanglos, aber die Worte Heirat und Ouabin tauchten oft genug auf, dass Cata sich zusammenreimen konnte, was bald geschehen sollte. Wie ein Sinnbild des Mitleids blickte die Prinzessin auf ihren bestürzten, schwankenden Vater, als sehne sie sich danach, ihn in ihre Arme zu schließen. Hilflos verfluchte er den Scheich der Oua bin und auch den Seher Evitamus.
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»Mein Kind, wie sehr hatte ich gehofft, dich heilen zu können! Welche Entbehrungen haben wir auf uns genommen, welche Mühen ertragen, in der Hoffnung, dass wir irgendwie einen Weg finden könnten! Ich dachte, wenn wir nur den Seher fänden, dann ... Aber leider ist er tot und die Konar-Lampe verloren!« Er redete weiter, aber Cata hörte nicht mehr zu. Allmählich verstand sie ihren Traum und begriff, dass es vielleicht gar kein Traum ge wesen war. In einer plötzlichen Vision sah sie sich vorwärts stolpern, rufen, dass der Kalif nicht verzweifeln dürfe, denn obwohl der Seher tot war, war er nicht verschwunden. Als der kleine Mann zusammenbrach, starrte Cata mit wachsender Faszination auf die leuchtende, strahlende Gestalt der wunderschönen Prinzessin Bela Dona. Erst war sie von einer weißen Aura umgeben, einer Gaze, die sich bauschte wie die Hüllen der Spiegel. Dann sah Cata das bunte Glim men, das in dem seltsamen Mädchen wie ein Herz pulsierte und das man wundersamerweise durch die Wand aus Fleisch sehen konnte. Erst glühte es purpurn, dann grün, dann rot... Die Farben der Kris talle! Plötzlich glaubte Cata, von einem lebenswichtigen Wissen be rührt zu werden, aber was das für ein Wissen war, konnte sie nicht sagen. Prinzessin Bela Dona streckte die Arme aus und drehte sich wie eine Tänzerin. Cata sank mit rasselnden Ketten auf die Knie. Erst war sie erstaunt, dann von Furcht erfüllt, als die Strahlen wie große, leuchtende Bogen die Luft erfüllten und sich immer schneller drehten, wie ein Wirbelsturm aus Licht. Purpurn. Grün. Rot. Blau. Golden. Der Wind wehte die Gaze von den Spiegeln, als wäre er real. Der Kalif lag immer noch zusammengesunken da und stöhnte. Cata stol perte in den Strudel und taumelte auf das strahlende, glühende Mäd chen zu. Irgendetwas befahl Cata, die Hand des Mädchens zu be rühren. Ihr war klar, dass hier etwas ungeheuer Wichtiges auf dem Spiel stand. »Prinzessin!«, rief sie, aber ihre Worte waren nicht zu verstehen. Cata sank zu Boden und hielt sich am Teppich fest. Ihre Haare flat terten in alle Richtungen.
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Dann hörte sie ein anderes Kreischen, ein merkwürdigeres, höheres, wilderes Heulen als das des Sturms. Cata hielt die Luft an, als sie ein entsetztes Gesicht in einem der Spiegel sah, das von dem Glas ungeheuer vergrößert wurde. Dann sah sie es in einem anderen Spie gel. Dann im nächsten. Und schließlich in allen. Es war die Prinzessin. Einen Moment schien es nur das entsetzte Gesicht der Prinzes sin zu geben, das immer nur schrie, schrie, schrie. Dann brach das Heulen abrupt ab, und eine Stimme, aber nicht die des Mädchens, sprach dröhnend aus den vielen Gesichtern. Der Kalif krabbelte auf allen vieren zurück und kreischte vor Ent setzen. Lange Jahre sind seit meinem schrecklichen Bann verstrichen,
Der das Kalifat in seine eisernen Ketten legte
Und einen Vater mit der schlimmsten Peitsche geißelte.
Soll ich Bedauern empfinden, jetzt, wo die Welt für mich verloren ist!
Ach, aber ich kann den harten Lauf des Banns nicht brechen!
Cata ließ ihren Blick von Spiegel zu Spiegel tanzen. Erneut versuch te sie aufzustehen und stolperte über ihre Ketten. Sie verfluchte ihre Fesseln und schrie ihren Trotz gegen das Chaos um sie herum hinaus. Da sah sie die Gestalt aus ihrem Traum, die durch die wirbelnde Luft taumelte. »Monster! Bösartiges, höhnisches Monster!«, schrie der Kalif. Dennoch weiß ich, dass wir diese Trennung vorläufig heilen können.
Kind der geheimen Macht, Reisende, Fremde,
berühre den Schmerz dieser Tochter.
Verbinde deine Hände mit ihr, zucke nicht mit der Wimper,
Warte, halt still. Es kommt ein sengender Blitz!
Cata streckte die Hand aus, die durch die des Mädchens hindurch glitt, aber diese Berührung genügte. Die Fesseln fielen von ihren Handgelenken. Die Magie begann! War das gut? Cata wusste nur,
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dass sie gehorchen musste. Plötzlich drehte sie sich neben dem Mädchen. Nein, nicht daneben. In ihr! In ihr! »Schimmy, Schimmy«, stieß der Kalif schluchzend hervor. Aber es antwortete ihm nur der Reim des Sehers, der aus den Mündern der Gesichter in den Spiegeln dröhnte. Aber jetzt waren diese Gesich ter erst das von Bela Donas dann das von Cata, immer abwechselnd, Bela Dona, Cata, Bela Dona, Cata. Kalif, vielleicht scheint meine Lösung dir überstürzt?
Verglichen mit deinen Wüsten, ist es ein geheimes Lager von Gold.
Meine Gnade gilt meinem Kinde.
Der Quelle der wahren Erlösung, wenn sie nur
Das Licht wiedergewinnt, das allein
diese beiden Zwillinge wiederherstellen kann!
Geist und Fleisch, VEREINT EUCH!
Es war vorbei. Der Kalif blickte hoch und sah nur einen Lichtstrahl. Im ersten Augenblick dachte er, er wäre geblendet worden. Er jam merte und schluchzte. Dann ebbte die Helligkeit ab, und das Mondlicht ergoss sich wieder über den Teppich und die Schirme. Nur die Gazevorhänge lagen verstreut auf dem Boden und legten Zeugnis ab von der Magie, die noch vor wenigen Augenblicken hier geherrscht hatte. Nur die Vorhänge ... und die Gestalt vor ihm.
Es war jedoch nicht Catas Gestalt, denn Cata war verschwunden.
»Schimmy?«, fragte der Kalif unsicher.
Er lächelte zögernd. Dann runzelte er die Stirn. Konnte es wahr
sein? Konnte seine Tochter wieder real sein? Cata - denn sie war nicht wirklich verschwunden - drehte sich langsam um und starrte erst in einen mondbeschienenen Spiegel und dann in den nächsten. »Mein Gesicht«, flüsterte sie. »Mein Gesicht.«
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16.Der Fluch des Kaled (Fortsetzung) Roter Fremder, der du Traurig streifst umher, Wirst sein der Sultan der Katakomben ... Fremde Kreatur,
Selten gesehen,
Eingehüllt vom Geheimnis des Dschungelgrüns ...
Dare starrte in seinen grünen Tee und brach seinen murmelnden Singsang ab. Die Sonne drang durch das Blätterdach und wärmte die duftenden Blumen und Blätter. Hinter dem Dickicht hörte er die Stimmen der Targon-Diener. Simonides schwieg, nur sein ras selndes, mühsames Atmen war zu hören. Dare blickte hoch. »Simo nides«, sagte er. »Was bedeutet dieses Lied? Das Sultanlied?« »Dare, Ihr wisst doch, dass es die Größe Eures Vaters preist und die seiner Vorfahren.« »Ja, aber was bedeutet es ? Der Rote, der Grüne, das waren Sulta ne, das weiß ich, aber es verbirgt sich für mich in diesem Lied auch etwas Geheimnisvolles. Oder mache ich mich jetzt zum Narren?« »Im Gegenteil, Dare. Ihr seid jemand, der hinter die Dinge blickt. Allerdings, das Lied handelt von den fünf Gott-Sultanen, von denen gesagt wird, dass sie uns vor dem Ende der Zeit des Sühneopfers regie ren werden, die wir jetzt durchleben. Jeder dieser fünf steht jedoch auch für einen geistigen Zustand. Die Dunkelroten Katakomben. Das Dschungelgrün. Der Rote Staub. Die Blauen Wellen. Jedes dieser Stadien ist eine Zwischenstation zum Ziel unserer Reise, der Einheit mit den Göttern, die unsere Bestimmung ist. Folgen wir diesem Muster nicht jeden Tag, wenn wir unseren Niederwerfungen nachgehen?«
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»Unser Schicksal sind also der Mond und die Sterne?« Dare biss sich auf die Lippen, sprach aber nach einem Moment weiter. »Guter Simonides, nach all dem, was du mir über meinen Vater erzählt hast, wundert es mich ein wenig, dass er sich zu solcher Größe aufschwingen konnte.« Der alte Mann seufzte. Natürlich hatte er gewusst, dass diese Frage kommen würde. Dare war ein netter Junge, der sich bemühte, den schmerzlichen Themen auszuweichen, die sie vorher angesprochen hatten. Aber auch er konnte nicht anders. Behutsam hatte er sich wieder zu dem einen Thema zurückgetastet, das er klären musste. Simonides ergriff die Hand des Jungen. Was spielte es für eine Rolle, dass der alte Mann noch unter den Nachwirkungen seines letzten Anfalls litt? Was nützte ein Aufschub ? Das Reich befand sich in einem verzweifelten Zustand. Stimmten die Gerüchte, dann waren die Ouabin vor Qatani aufmarschiert. Die kaiserlichen Streitkräfte sammelten sich ihrerseits. Simonides wurde von finsteren Ah nungen heimgesucht, von Aufwallungen der Mächte, die er so lan ge ignoriert hatte. Nichts konnte ihn mehr beunruhigen als das, und was auch immer geschah, er selbst würde bald sterben. Er hat te diesen Verrat, diesen Hochverrat, eingefädelt - jetzt musste er ihn auch zu Ende führen. »Fürchtet Euch nicht, junger Prinz. Ich werde diese Geschichte zu Ende erzählen.« Der schlaksige Junge nickte und wagte kaum zu atmen. Er verän derte die Position auf seinem Weidenstuhl und sah dem alten Mann erwartungsvoll in dessen glanzlose Augen. Ja, es musste sein. Diesmal, dieses Mal, musste er die Geschichte zu Ende erzählen. »Mein Kind, ich habe Euch von dem Neid berichtet, der die Liebe zu seinem teuren Freund Mala aus dem Herzen Eures Vaters getilgt hat. Ich habe Euch erzählt, wie Mala des Verrats schuldig befunden wurde und den höchsten Preis dafür zahlte; wie Euer Vater um die wunderschöne Ysabela warb, von der er einst glaubte, sie werde Ma-
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las Frau. Ich habe beschrieben, wie diese Maid, die Schwester seiner Frau, stattdessen mit dem Kalifen von Qatani vermählt wurde, wie Euer Großvater plötzlich starb und Euer Vater Sultan wurde. Aber was bedeutete der Glanz dieser Position schon einem jungen Mann, der das Einzige verloren hatte, was er im Leben begehrte? Ich spreche natürlich von der Liebe Ysabelas. In seiner Verzweiflung wandte sich Euer Vater wieder seinen wis senschaftlichen Studien zu. Erneut vergrub ich mich mit ihm in seiner Bibliothek und seinem Laboratorium. Diesmal jedoch diente ich ihm nicht als Tutor - denn was hätte ich den Sultan lehren können? -, sondern als Assistent. Zuerst wollte Euer Vater sich nur ablenken, und unsere Forschungen waren ziellos. Wir studierten die Bewegungen der Sterne, wir sezierten Schlangen und Würmer, wir probierten die Wirkung verschiedener Gifte an den niederen könig lichen Sklaven. Doch nach einigen Mondleben nahm unsere Arbeit allmählich eine ganz bestimmte Richtung an. Als wir eines Tages in den Palastgärten lustwandelten, machte Euer Vater mir ein erschre ckendes, nein, schockierendes Geständnis. Seit er Sultan war, musste er mit der Flamme sprechen. Das geschah bei den Zeremonien, die jeden Monat im Heiligtum abgehalten wurden. Immer wieder hatte er Euren Großvater gesehen, wie er sich im Griff der heiligen Verzückung wand. Genauso sollte mein junger Herr sich jetzt der Flamme hingeben und auf die Weisheit warten, die sie ihm vermitteln würde. ›Aber Simonides‹, sagte er ernst, ›es werden mir keine Weisheiten mitgeteilt.‹ ›Herr?‹ ›Simonides, was ich dir sage, ist, dass ich keine Stimme gehört und keine Visionen gesehen habe.‹ Die Stimme des Sultans sank zu einem kaum vernehmlichen Flüstern herab. ›Muss ich annehmen, dass ein Makel in mir selbst liegt? Stamme ich überhaupt vom Geschlecht des Sultans ab? Ach, alter Lehrer, es gibt Zeiten, in denen ich vor Scham brenne und mein Geheimnis fest in meinem Busen verwah ret
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Meine Gedanken überschlugen sich bei den Worten Eures Vaters. Ich war ein loyaler Sohn Unangs und in der Akademie der Imams hoch angesehen. Und obwohl ich mich den Geheimnissen der Na tur hingegeben hatte, wäre mir nie eingefallen, anders als in glü hendstem Glauben an die Flamme zu denken. Jetzt war eine Tür, die ich für fest verschlossen hielt, gewaltsam aufgestoßen worden. ›Simonides, du weißt, was wir tun müssen ?‹ Ich nickte, und die Furcht nahm mir den Mut. Die Tage der alber nen Arbeiten waren vorbei. Von jetzt an widmeten sich unsere For schungen einem besonderen Aspekt, und das mit einer verbissenen, verstohlenen Dringlichkeit. Es war unausweichlich: Euer Vater wollte das Geheimnis der Flamme lüften. Sein Forschungsdrang kannte keine Grenzen. Er rief aus allen Ecken und Enden des Rei ches die berühmtesten Gelehrten herbei. Jedem wurden gewisse Pri vilegien im Palast zugestanden, und jeder musste sich seinen ernst haften Fragen unterziehen. Einige verstanden ihn nicht, fanden sein Verhalten merkwürdig und verwirrend. Andere dagegen verstanden nur zu gut. Man alarmierte die Imams, die sofort Häresie witterten. Euer Vater spottete über ihre Ängste, insgeheim jedoch ließ er seinen häretischen Ausbrüchen freien Lauf. Die Wahrheit dämmerte ihm zunächst nur langsam, zuletzt aber brach sie wie ein Sturm über ihn herein. Wie oft hatte er gesehen, wie sich Euer Großvater vor der Feuersäule auf dem Boden gewun den hatte? Der alte Mann hatte ihn getäuscht! Ob Euer Großvater Opfer seiner eigenen Sehnsucht geworden war oder wissentlich eine Rolle gespielt hatte, es lief auf das Gleiche hinaus. Noch niemals hat te Euer Vater eine derartige Offenbarung erfahren. Es gab keine heilige Verzückung! Es gab keinen Gott in der Flam me! Die alten Geschichten von dem Kristall waren bloße Täuschung, die nur die schwachen Geister der Kinder beeinflussen konnte. Eine Weile wollte Euer Vater in der Freude über seinen intellektu ellen Triumph sein Wissen in die Welt hinausschreien, doch das währte nicht lange. In der Wissenschaft gibt es zwar keinen höhe
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ren Wert als die Wahrheit, aber plötzlich ging es nicht mehr nur um Wissenschaft. Es ging um Religion. Und um Politik. Am Hofe von Kal-Theron musste ein Mann List und Tücke lernen, um zu überleben, und Euer Vater hatte seine Lektion ganz ausgezeichnet gelernt. Er war kein Narr. Was nützte es ihm, wenn er die Wahrheit verkün dete? Welche Macht besaß die Wahrheit gegenüber der Täuschung? Aufgrund dieser Täuschung hatte der Prophet die Wüste durch quert. Für diese Täuschung waren ihm Tausende gefolgt, und als er starb, hatten sie fraglos akzeptiert, dass seine Nachfolger für immer über sie herrschen sollten. Nein, Euer Vater durfte niemals enthüllen, was er wusste! Worauf sonst basierte seine Macht, wenn nicht auf den nutzlosen Gebeten, die sein Volk einer Säule aus brennendem Gas widmete? Versteht, junger Prinz, dass ich hier nur ausspreche, was Euer Vater glaubte. Dass ein Mann von etwas felsenfest überzeugt ist, lässt es dennoch nicht wahr werden, selbst wenn dieser Mann der mächtigste Mensch der Welt sein sollte. Aber die neue Überzeugung begeisterte Euren Vater, und er fühl te sich frei. Er hatte den Aberglauben überwunden und redete sich ein, dass weder die Welt noch die Imams irgendwelche Schranken zwischen sich und seinen Bedürfnissen errichten konnten. Er woll te sich nicht länger dem Diktat des Schicksals unterwerfen. Etwa eine Sonnenwende nach dem Tod Eures Großvaters pro bierte Euer Vater seine Macht aus. Er gab einen erschreckenden Befehl, der den Bruder betraf, von dem er seit seiner frühesten Kind heit getrennt war. Der Kalif von Qatani, so verkündete Euer Vater, sei ein wichtiger Verbündeter, und da die Ouabin sein Reich in jeder Sonnenwende bedrohten, solle die Allianz zu diesem wichtigen Verbündeten gepflegt werden. ›Deshalb‹, erklärte Euer Vater, ›habe ich eine freundschaftliche Mission beschlossen, bei der ich meinen Bruder höchstpersönlich besuchen werde.‹ Natürlich herrschte unter den Höflingen Bestürzung bei diesen Worten, denn noch nie hatte sich ein Sultan von Kal-Theron ent
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fernt, kein einziges Mal seit der Zeit des Propheten. Der Plan schien verrückt und dumm, aber Euer Vater duldete keinen Widerspruch. Wie sollte man ihm auch widersprechen, war er doch derjenige, der mit der Flamme sprach! Natürlich ahnte ich die wahren Beweggründe Eures Vaters. Ich hegte keinen Zweifel daran, dass er vorhatte, Eurem Onkel die frisch vermählte Braut zu stehlen. Heute wünschte ich, dass ich damals Mut gefasst und ihm von dieser Narretei abgeraten hätte! Er konn te ein guter Herrscher sein und konnte auch für seine Sünden in der Vergangenheit Abbitte leisten. Wenn er nur Prinzessin Bela vergaß, würde er vielleicht sogar wieder glücklich werden! Doch wie es sich zutrug, wagte nur ein sehr alter Imam, dem Herrscher höchst vorsichtig zu widersprechen. ›Will Eure Heilige Hoheit tatsächlich diese weiten Wüsten durch queren, die schlimmsten Unbequemlichkeiten auf sich nehmen, und vielleicht sogar das Leben riskieren, für das ganz Unang betet?‹ ›Ich habe die Blutlinie gesichert, hab ich Recht? Sollte ich fallen, gibt es einen Sohn, der mir nachfolgen wird!‹ Das war eine unbefrie digende Erklärung, denn ein Sultan sollte mehrere Söhne haben, damit die Blutlinie wirklich gesichert ist. ›Außerdem, wenn ganz Unang für mich betet, muss ich ja wirklich in Sicherheit sein‹, fügte Euer Vater lächelnd hinzu. Der beschämte Imam wagte nicht darauf hinzuweisen, dass ganz Unang auch für Euren Großvater gebetet hatte. Ich befand mich unter den Dienern, die Euren Vater durch die Wüste begleiteten. Die Mission stand von Anfang an unter einem unseligen Stern. Es gab viele Verzögerungen und viele Krankheiten unter Adligen und Sklaven gleichermaßen. Aber Euer Vater wankte nicht in seinem Entschluss. Ein bitteres Feuer brannte in seinen Augen, und ich fürchtete das, was uns in Qatani erwartete. Mein Herz hämmerte oft vor Angst, wenn ich die Krieger betrachtete, die unsere Wagenkarawane begleiteten. Hatten sie wirklich nur den Zweck, uns zu bewachen? In der Wüste wird man Opfer vieler Illu sionen, und manchmal kam es mir so vor, als ob ich hinter den Sand
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dünen, die wir überwanden, das Blinken von noch mehr Krummsä beln sah, von noch mehr Bewaffneten, die uns in einigem Abstand folgten. Eines Nachts rief mich Euer Vater in seinen Wagen. Er hatte der Jarvel-Pfeife reichlich zugesprochen und wollte, dass ich dasselbe tue. Ich gehorchte und versuchte, mein Zögern zu verbergen, als er mich in einen philosophischen Dialog verwickelte. Einen Augen blick glaubte ich, er wolle unsere alte Beziehung wieder auffrischen, und dachte sehnsüchtig zurück an die Tage der Unschuld. Dann jedoch sah ich, dass er mein Bedauern nicht teilte, sondern nur an seine gegenwärtige Leidenschaft dachte. Euer Vater fing an, von der Zeit zu sprechen, von ihren geheim nisvollen Kammern, ihren trügerischen Fluren, und obwohl es eine Weisheit war, die ich ihm einst vermittelt hatte, merkte ich bald, dass jetzt er der Lehrer war und ich sein Schüler. Traurig betrachtete ich seinen frisch geölten Bart, während er mir einige indirekte Fragen stellte. Konnte es sein, dass die Zeit einen natürlichen Verlauf nahm, über ein Muster verfügte, in dem sich die Dinge zwangsläufig ereig neten? Konnte es sein, dass diese Ereignisse auch einen anderen Ver lauf nehmen konnten? Wenn ja, und wenn ein Mensch das sah, war es dann nicht seine Pflicht, die Zeit zu korrigieren und die Dinge wieder so zu ordnen, wie sie sein sollten? Ich hätte antworten sollen: Nein, nicht einmal ein Sultan könnte den Lauf der Zeit beeinflussen. Aber eine solche Antwort wäre wohl kaum willkommen gewesen. Euer Vater wollte nur, dass ich zur Antwort bestätigend auf jede seiner Fragen nickte. Ich tat es, aber natürlich sah ich, wohin das führte. Euer Vater hatte sich eingeredet, dass der Verlust Eurer Tante Bela ein Irrtum der Zeit selbst war, und dass es seine Pflicht wäre, dies zu korrigieren. Er sah mich durch den Jarvel-Rauch gelassen an. ›Du bist nicht überzeugt, alter Freund ?‹ ›Herr, wer bin ich, den in Frage zu stellen, der mit der Flamme re det ?‹ ›Hah! Sehr gut, dass ich dich mitgenommen habe, Simonides,
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denn ich sehe, du bist wahrlich ein Diplomat!‹ Dann wurde er wie der ernst und beugte sich dicht zu mir. ›Alter Freund, wenn du wüsstest, was ich vom Schicksal der schönen Bela weiß, würdest du mich weder für einen Narren noch für einen Tyrannen halten. Qa tani ist weit weg, aber in der Stadt gibt es immer noch Augen, durch die ich sehe, und Ohren, durch die ich höre. Ach, was war das für ein schwarzer Tag, als dieses entzückende Mädchen an meinen Bruder verschwendet wurde !‹ Es folgte ein Wutausbruch, aber auch wenn sich Euer Vater unzusammenhängend äußerte, erriet ich doch, was seine Spione gesehen hatten. Sein Bruder war anscheinend ein verweichlichter und lüs terner Narr, der sich der Liebe der wunderschönen Bela als unwür dig erwiesen hatte. Er verschmähte die natürlichen Freuden, die Frauen ihm bieten konnten, und befriedigte seine Lust stattdessen mit Lustknaben. Natürlich drückte ich mein Entsetzen über ein solches Laster aus, aber plötzlich leuchteten die Augen Eures Vaters auf, und seine Zäh ne blitzten in seinem schwarzen Bart, als er lächelte. Zunächst wusste ich nicht, was ihm durch den Kopf ging. Als ich es allmählich begriff, hätte ich über die Kühnheit meines jungen Herrn beinahe ge lacht. Er glaubte tatsächlich, den Fluss der Zeit umkehren zu kön nen, denn er wollte nicht nur die wunderschöne Bela zurückholen, sondern hatte sich auch eingeredet, dass sie noch unberührt und rein wäre. Wenn er ihr erster und einziger Geliebter sein könnte, würde er dann nicht über die Zeit und ihr Räderwerk lachen? ›Schon bald, Simonides, werden wir vermählt, sagte er. ›Denn so, wie ich nicht mehr verheiratet bin, wurde auch die Ehe meiner teuren Ysabela nicht vollzogen. Sollte ihr Vater mich jetzt noch ableh nen, wird er bald tot zu meinen Füßen liegen! Denn ich, der ich alles haben könnte, was die Welt mir bietet, will nichts weiter als die Liebe von Ysabela, und nichts auf der Welt wird sich mir in den Weg stellen!« Es waren kühne Worte, und dass er sie ernst meinte, daran bestand kein Zweifel. Doch zum Leidwesen für Euren Vater vermochte auch
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all seine Macht nichts gegen den Rivalen, den kein Mensch besiegen kann. Ja, ich spreche vom Tod! Denn als wir schließlich in Qatani ankamen, fanden wir die Stadt in Trauer. Auf die Frage nach dem Grund gaben uns alle bereitwillig die traurige Antwort. Die Prinzessin war tot, und alle Gebete in Unang konnten ihren Leichnam nicht wiederbeleben. In dem Wahn, der Euren Vater jetzt übermannte, wollte er die Stadt von seinen Armeen vernichten, jedes Gebäude dem Erdbo den gleichmachen und alle Einwohner töten lassen. Nur seinen Bru der wollte er verschonen, und zwar, weil er ihn mit nach Kal-Theron nehmen und ihn dort auf den Stufen zum Heiligtum foltern wollte. ›Vor meinem Volk‹, schwor Eurer Vater, ›werde ich ihm die Arme vom Körper abhacken, mit denen er meine geliebte Ysabela nicht halten und liebkosen wollte! Ich werde ihm die Augen ausstechen, mit denen er ihre Schönheit nicht betrachten wollte! Ich werde ihm die Organe der Lust aus den Lenden reißen und sie den Hunden auf der Straße zum Fraß vorwerfend Es gab nur wenige Schrecken, mit denen der Sultan seinen Bruder nicht heimsuchen wollte. Erst als er erfuhr, wie Eure Tante gestorben war, ebbte seine Wut ab. Die Gerüchte über ihren Ehemann mochten sagen, was sie wollten, aber die Prinzessin war genauso gestorben wie ihre Schwester. ›Im Kindbett ?‹, rief der Sultan. ›Es ist wahr, Herr. Im Moment ihres Todes schenkte Prinzessin Ysabela einer Tochter das Leben.‹ Das war die angemessene Belohnung für die bösen Taten Eures Vaters, dass die Schwester, die er so sehr liebte, genauso sterben soll te wie die Schwester, die er gekränkt und missbraucht hatte. Erneut überkam ihn die Leidenschaft, aber diesmal in einer ganz anderen Form. Er brach zusammen, krümmte sich und trommelte mit den Fäusten auf den Boden. ›Oh, ich bin gestraft! Gerecht und schrecklich gestraft!« Später nahm Euer Vater an den Trauerfeierlichkeiten teil. Er war
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so blass, dass es aussah, als wäre er selbst dem Tod begegnet. Als ich ihn auf dieser Feier neben seinem Bruder stehen sah, dachte ich, dass ein Fremder unmöglich würde bestimmen können, welcher Mann der leidtragende Ehemann war. Versteht mich recht, es gab selten Brüder, die unterschiedlicher waren, aber jetzt sahen beide bestürzt aus, und wenn Euer Onkel Bela auch ebenso misshandelt hatte wie Euer Vater Dona, so schien es jetzt, dass er genauso für seine Verfeh lungen bestraft wurde. So endete unser Feldzug nach Qatani mit einer düsteren, wenn auch unübertrefflichen Ironie. Euer Vater hatte gesagt, er wolle aus diplomatischen Gründen dorthin reisen, um die Bande zu festigen, die das Reich seines Bruders im kaiserlichen Griff hielten. Und ge nauso geschah es jetzt. Denn der Besuch endete in einem feierlichen Vertrag zwischen den beiden trauernden Herrschern. Es war ein Vertrag, der nicht nur aus schönen Worten bestand. Die beiden Regenten schworen, dass eine neue Heirat ihre Allianz festigen sollte, wenn die Zeit reif war. Die Tochter des Kalifen, die er Bela Dona nannte, sollte den Sohn seines Bruders heiraten. Eine Verlobungszeremonie wurde abgehalten, bei der Euer Vater zusammenbrach und weinte. Denn selbst als kleines Kind strahlte Bela Dona bereits einen Schatten der Schönheit ihrer Mutter aus. Euer Vater kehrte nach Kal-Theron zurück, trauriger als zuvor und vielleicht auch weiser. Auf jeden Fall wirkte er erheblich reifer, und wenn er mich zu sich rief, sprachen wir manchmal von den alten Zeiten, von Mala, Bela und Dona. Als wäre ein Gen verstrichen und nicht nur einige Sonnenwenden, seit sie noch lebendig vor ihm standen. Euer Vater schwor, niemals wieder eine andere Braut zu nehmen. Aber er hat auch seit seinem Ausbruch in Qatani nie wie der die Verantwortung für die Tragödien übernommen, die sich er eignet haben. Danach sprach er von diesen Dingen so, als habe ein bösartiges Schicksal ihn verfolgt und niedergestreckt. Ist es geschehen, fragte er zum Beispiel, weil ich die Flamme angezweifelt habe? Auf diese Frage konnte ich keine Antwort geben.
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Also wurde Euer Vater ein verbitterter Mann, der die Studien aufgab, die ihm einst so viel Freude bereitet hatten. Wenn jetzt gelehr te Frauen und Männer zu ihm gerufen wurden, dann nur, um wegen Häresie oder Hochverrat verurteilt und einem langen und qualvollen Tod überantwortet zu werden. Die öffentlichen Hinrichtungen brachten Eurem Vater viel Beifall ein. Sein Glaube wurde immer glü hender. Die Imams waren geradezu entzückt. Viele Sonnenwenden lang hatten sie Euren Vater und auch seinen Vater vor ihm zum Hei ligen Krieg gedrängt. Jetzt wurden das abtrünnige Königreich von Vashi und die fernen Inseln von Ananda nacheinander zum Opfer seiner heftigen Angriffe. Triumph folgte auf Triumph. Der Emir von Ormuz und seine fünfzig Frauen wurden im Triumph nach KalTheron geführt und dort unter dem Jubelschrei der Menge vor den Toren aufgeschlitzt. Ströme von Eingeweide schwammen die Kanäle hinunter. Schon bald fraß sich eine neue Wahrheit wie ein Lauffeu er durch die heißen Südlande. Von allen Sultanen seit der Zeit des Propheten war niemand glühenderen Glaubens als Euer Vater. Mit der Zeit errang er den Titel, der jetzt seinen Ruhm verkündet, und alle waren davon überzeugt, dass Euer Vater der größte aller Herr scher werden würde. Ach weh! Wie groß ist die Macht der Lügen!« Erneut lehnte Simonides sich zurück und rang nach Luft. Sein Gesicht war blass und seine Miene besorgt. Was hatte er getan? Was hatte er nur getan? Er hatte nicht einmal die ganze Wahrheit erzählt, die Geschichte seines Bruders Evitamus verschwiegen, dessen schreckliche Warnungen die Verlobungszeremonie ruiniert hatten. Doch was spielte das für eine Rolle, wenn Dares Gemütsruhe ohne hin ein für allemal dahin war? Aber eines, eines musste noch kommen. Mittlerweile war die Sonne weit über den Himmel gewandert. Die Schatten in dem Wäldchen wurden länger, und die Luft war kühler geworden. Aber der junge Prinz zitterte nicht wegen des nahenden Abends. Der Junge blickte hoch, seine Augen waren von Trauerum
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flort, und er runzelte die Stirn, als der alte Mann langsam und schmerzerfüllt sang: Sultan der Sterne... Sultan des Mondes!
Können wir hoffen, dich zu fangen, wenn du bald vorüber
kommst?
Einfaltspinsel, herunter mit euch von den Sparren ...
Ihr werdet vielleicht in Triumphwagen den Himmel kreuzen,
Doch niemals den Sultan von Mond und...
Die Worte waren ihm vertraut und hörten sich doch merkwürdig, unendlich seltsam an, wie sie über die Lippen von Simonides flossen. Es hätte Dare gefallen, wenn er weitergesungen hatte, aber der alte Mann brach ab und sagte geheimnisvoll: »Das war das Siegel der Größe Eures Vaters. Vor zehn Sonnenwenden stand er vor seinem versammelten Volk auf den Stufen des Heiligtums und erklärte, dass ihm die Flamme eine große und wunderbare Wahrheit verkündet habe. Er solle der letzte und größte der Gott-Sultane sein, der Sul tan des Mondes und der Sultan der Sterne.« Dare schaute nachdenklich zu Boden. Er hätte viel fragen kön nen, aber die Frage, die er zuerst stellte, war folgende: »Also hat sich mein Vater geirrt, was den Gott in der Flamme anging?« »Alllerdings, Dare, ich bin sicher, dass er sich geirrt hat.« »Also hat mein Vater wieder an den Gott geglaubt, und der hat ihn dafür belohnt?« Simonides musste lange nachdenken, bevor er antwortete. Er hat te genug gesagt. Viel zu viel. Also antwortete er nur: »Dare, wir müssen wohl annehmen, dass es sich tatsächlich so verhält,« Aber dann kam noch eine letzte Frage, eine noch schmerzlichere. Es war eine Frage, die Dare sein Leben lang gequält hatte, die stets unmittelbar unter seinem Bewusstsein gelauert und ihm keine Ruhe gelassen hatte. »Aber wenn mein Vater der Sultan des Mondes und der Sterne ist, was soll ich dann sein? Was kann ich noch sein?« Simonides antwortete nicht, aber plötzlich war sein Blick nicht
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mehr traurig, sondern furchtsam. Dare drehte sich um und sah, dass die Targons sie durch die Zweige der Bäume beobachteten.
17. Verblassen »Regenbogen? Wir haben Regenbogen verloren!« »Seid nicht albern. Regenbogen verirrt sich nie.« »Dann haben wir uns verirrt.« Jem seufzte. Er ließ sich auf einen Felsbrocken sinken, zog seine Tunika über den Kopf und warf sie zur Seite. »Manchmal denke ich, wir könnten genauso gut in der Wüste herumlaufen.« »Das tun wir auch.« »Was?« Dona Bela antwortete nicht direkt. »Es liegt an der Perspektive, das ist unser Problem. Ich meine, unser Standort ... Ich meine einen Aussichtspunkt. Wenn wir nur einen hohen Punkt finden würden. Einen Ort, von dem aus wir ... hinunterblicken können.« »Hier gibt es keine hohen Punkte. Die Gärten sind flach, einfach nur flach.« Missmutig betrachtete Jem die Bäume, die sie wie spitze, stachlige Zäune umgaben. Ihm war unbehaglich zumute, vor allem, als Dona Bela seine Seite berührte. Seit dem Vorfall in der letzten Nacht hütete er sich vor dem Mädchen. Hatte er sie wirklich geküsst? Und hatte sie ihn in das Becken gestoßen? Er vermutete es, aber wie oft in der letzten Nacht hatte er sich vorgestellt, sie noch einmal in die Arme zu schließen? Wenn an diesem merkwürdigen Ort Träume real waren, hatte Jem sehr häufig mit Dona Bela geschlafen. Er stand rasch auf und zog seine Tunika wieder an. Das Mädchen mag vielleicht diesem Platz entkommen wollen, dachte Jem, dennoch ist sie Teil seiner Verlockungen. Er sagte sich, dass sie nicht real war, dass nichts davon real war, aber er wusste, dass das nicht ganz
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stimmte. Gereizt zupfte er an seiner nassen Tunika und stellte fest, dass er sie falsch herum angezogen hatte. Die Sonne brannte vom Himmel herunter auf die staubigen, trockenen Bäume. »Prinz, was tragt Ihr da um Euren Hals?« »Wisst Ihr das nicht? Ihr wisst doch so vieles.« Das Mädchen lächelte und ließ die Frage offen. Jem konnte es sich nicht verkneifen, sie anzusehen. Sie hatte ihr langes Haar zu einem Knoten zurückgebunden und trug nur ein hauchdünnes Baumwoll kleid, das sich feucht an die Kurven ihres Körpers schmiegte. Wie reizvoll sie war! Sie erwiderte seinen Blick offen, und Jem wurde unsicher. Er merkte, dass ihm der Schweiß aus dem Haar tropfte, seinen Hals und seine blasse, jungenhafte Brust hinunterlief. Er wandte sich ab, weil er sich plötzlich nackt fühlte. Das Mädchen trat neben ihn und strich ihm über den Arm. »Ich muss Euch etwas gestehen«, flüsterte sie. »Ich mag Euch zwar ...« »Ach?« Jems Stimme klang belegt. »...aber ich mag keine Jungen.« »Was?« Jem drehte sich wieder um. Einen Moment lang war er verwirrt. »Ihr habt doch gerade gesagt, dass Ihr mich mögt. Ich bin ein Junge. Ich meine ein Mann«, verbesserte er sich rasch. »Ja, aber ich meine ... ich liebe keine Jungen. Ich dachte, das soll tet Ihr wissen.« »Ach? Ich meine, ja ... nein. Ich meine ... Naja, ich auch nicht.« Dona Bela lachte. »Das dachte ich mir bereits! Aber Prinz, habt Ihr nicht eine Geliebte, die Ihr sucht?« »Das wisst Ihr auch?«, erkundigte sich Jem verlegen.. »Ich weiß nur so viel: Bevor dieses Abenteuer zu Ende ist, werdet Ihr Eure Geliebte finden, so wie ich die meine finde.« Jems Herz hämmerte heftig. »Seid Ihr sicher, Prinzessin?« »Es muss sich so ergeben. Es muss einfach, sonst...« »Sonst?« Die Worte klangen wie das Schlagen einer Glocke. »Sind wir dem Tod geweiht.« Jem ließ seine Tunika zu Boden fallen und sah dem Mädchen ner
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vös in die Augen. Sie streckte die Arme aus, und sie umarmten sich fest, ungeachtet ihrer verschwitzten Körper. Um sie herum wurden die Schatten der Blätter blasser, und die Sonne glitt noch schneller über den Himmel. Etwas rauschte in den Blättern, und Sand wirbel te auf. Er prickelte heiß an ihren Knöcheln. Dona Bela wischte sich die Augen. »Wir haben uns nicht verirrt. Im Gegenteil, wir sind näher am Ziel.« »Was meint Ihr damit?« »Seht doch die Gärten. Diese roten, harten Beeren, wo einst Blumen waren, diese blassen, harten Blätter. Der Wüstensand. Prinz, das ist kein anderer Teil des Gartens. Das hier ist ... es liegt näher am Rand.« »Als würden die Gärten verblassen.« »Ja, genau so!« »Wartet...!« Jem rief sich die Dinge ins Gedächtnis, die er in der Nacht gesehen hatte: das flache, rissige Becken, die verwelkten Gär ten und die Ruine des Hauses. Er dachte an die Gäste, die nur manchmal anwesend waren, und an all die merkwürdigen Verände rungen. Allmählich dämmerte es ihm. »Das ist es!« Seine Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Der ganze Ort hier verblasst! Des wegen wollte Almoran uns hierbehalten, Prinzessin, versteht Ihr? Er hat sich von der Welt an einem imaginären Ort zurückgezogen, den er wie ein König regieren kann ... Aber sein Traum verblasst! Deshalb braucht er uns... Um seinen Traum am Leben zu erhalten! Wir helfen ihm, seinen Traum zu träumen!« »Aber wie?« Dona Bela blickte ihn eindringlich all, doch dann hörte sie ein Geräusch, das der Wind herantrug. »Leise! Hört Ihr das?« »Ein Wimmern! Jemand weint!« »Regenbogen?« »Er ist verletzt!« Sie stürmten durch die Blätter und schützten ihre Augen gegen die spitzen Aste und den stechenden Sand. Eine staubige Lichtung lag vor ihnen. Zuerst sahen sie Regenbogen. Er lag auf der Seite. Und
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dann die entsetzte, kleine Gestalt, die sich über ihn beugte und jam merte. »Kleiner!« Wir konnte das angehen? Der kleine Junge sah ihnen aus verwein ten Augen entgegen, und ihm liefen Rotz und Wasser über das Ge sicht. Bei ihrem Anblick begann er sofort zusammenhanglos zu plappern, aber Jem konnte die Worte verstehen. »Ich bin von ihm weggelaufen ... Das bin ich ... Er hat gesagt, er ist ... Er wird Kö nig der Welt! Ich habe ihm gesagt, dass er ein Narr ist!« Dona Bela nahm das Kind in die Arme. »Wie? ... Wer?« »Ist Eli hier?«, drängte ihn Jem. »Du meinst Eli?« Der kleine Junge schnüffelte heftig. »Pustel! Ich meine Pustel ... Und jetzt ist er tot!« »Pustel? Tot? Wie denn ...?«, fragte Jem. »Doch nicht Pustel!« Der Kleine deutete auf den Hund. Dona Belas Gesicht verzog sich vor Entsetzen. Der Sand bedeckte den reglos daliegenden Hund. Jem kniete sich bestürzt neben ihn. Er wischte den Sand weg und verscheuchte die Fliegen von Augen und Maul. Entsetzt sah er, wie Regenbogens Farbe verblasste. Nach einigen Momenten verschob sich erneut die Zeit, und es sah so aus, als wäre der Hund schon seit Tagen tot. Jem trat zurück und sah zu, wie der Sand ihren verlorenen Freund wieder zudeckte. Die Körner brannten ihnen in den Augen, genau wie ihre Tränen. Der Kleine heulte plötzlich auf. »Er hat es gemacht! Er hat es ge macht!« »Wer?«, rief Jem. »Pustel?« »Der da!« Erneut streckte der Kleine die Hand aus. Jem fuhr herum. Mitt lerweile war der Sandsturm zu einem Mahlstrom angewachsen und trieb sie in die Reste des Gartens zurück. Erst sah Jem nur Sand, nicht mehr, doch dann erkannte er ein geisterhaftes Gesicht, Almo rans Gesicht. Der Magier warf den Kopf zurück und lachte grau sam.
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Dann erscholl dröhnend seine Stimme, die sie vollkommen zu umgeben schien. »Narren! Glaubt Ihr denn, Ihr könntet mir entkommen? Schon seit vielen Sonnenwenden plagt mich das Wissen, dass meine Welt eines Tages enden muss. Wie sollte es auch anders sein, ohne die Sicherheit einer dreifachen Stütze? Verflucht seien meine Brüder, die mir nicht helfen wollten! Aber jetzt endlich ist mein Dilemma gelöst. Nur diejenigen, die mit Magie gesegnet sind, haben die Stärke, meine Verkörperungen zu werden. Wie sehr habe ich mich danach verzehrt, dass mir wenigstens einer in die Hände fallen würde! Und jetzt habe ich gleich deren vier! Drei Jungenkinder, die mich von meiner Last befreien, und ein wunderschönes Mädchenkind, das meine Braut wird!« »Niemals!«, schrie Dona Bela. »Niemals!«, echote Jem. »Narren! Was kümmert euch die Welt, wenn ich euch eine Ewigkeit sinnlicher Wonne schenken kann? Vergiss deine sterbliche Geliebte, Schimmernde Prinzessin! Schlüssel zum Orokon, vergiss dei ne alberne Suche! Kommt zu mir in meine Traumdimension, und al les, was ihr jemals wolltet, gehört euch!« »Ihr seid verrückt!«, schrie Jem. »Ihr werdet uns niemals festhal ten können, niemals!« »Ich werde Euch mit meiner Magie hier binden! Ihr habt keine Wahl!« »Ihr sterbt, Almoran! Eure Welt verblasst und wird immer schwä cher!« »Niemals. Ich werde euch wieder in meine Gewalt bringen. Schon in wenigen Momenten, einigen Augenblicken, habe ich Euch wieder unter Kontrolle!« Im nächsten Augenblick war das Gesicht verschwunden, dann die Bäume und auch die Büsche. Sie befanden sich in der Wüste, und der Sturm blies ihnen um die Ohren. Sie fassten sich an den Händen und stolperten hustend und keuchend weiter. Was passiert jetzt?, fragte sich Jem. Wo sind wir? Sind wir entkommen? Wieso ist der
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Kleine hier? Und was redet er da von Pustel? Die Fragen schossen ihm durch den Kopf, aber er hatte keine Zeit, sie auszusprechen. Sie mussten diesen Sturm überstehen, aber wie? Sie konnten nichts anderes tun, als sich aneinander zu schmiegen. Jem packte den Kleinen und drückte das Kind fest an sich. Als er auch Dona Bela halten wollte, entglitt ihm ihre Hand. »Prinzessin?«, rief er. »Prinzessin, redet mit mir!« Dann begriff Jem. Wenn sie die Dimension der Träume verlassen hatten, konnte die Prinzessin nicht sprechen. »Prinzessin? Prinzessin!« Es war sinnlos. Jem sank in den Sand und zog den Kleinen mit sich. Sie drückten sich verängstigt und verzweifelt aneinander. Hat te Almoran Bela Dona ergriffen, sie in dem Augenblick gepackt, be vor er verschwand? In dem Moment hörte Jem dieses hohe, ätheri sche Geräusch, das wie eine Glocke über dem Chaos des Sturms er klang. Das Lied! In meinem Kopf sind Fünf Verschwinden, Verschwinden eines nach dem anderen: Eines geschieht unter einem sengenden Himmel, Zwei in der blauen Tiefe Das dritte Verschwinden am helllichten Tag, Das vierte im dunklen Spiegel. Aber erst wenn es Fünf Verschwinden gab, Werde ich wieder wirklich sein! Jem legte die Hände vor die Augen und versuchte aufzublicken. Er staunt sah er, wie sich der Strudel aus Sand zu einem Kreis formte. In dessen Zentrum stand unbeschadet und unberührt die königliche Gestalt der Prinzessin. Ihr dunkles Haar wehte, und ihr weißes Ge-
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wand blähte sich, während ihre Musik die Luft erfüllte. War das Schlüssel? Der Schlüssel zu ihrer Flucht? Jem fühlte die Hitze, seine Brust zu versengen drohte, und begriff etwas spät, dass Kristall der Viana wieder glühte, als wäre ein anderer Kristall in Nähe. Ja! Das war es! Das musste der Weg sein!
der die der der
Eine gewaltige Aura hatte sich wie ein magisches Feld um die Prinzessin gelegt. Der Kreis leuchtete faszinierend und geheimnisvoll wie ein Kokon in den Farben des Orokon. Dona Bela drehte sich langsam im Kreis, Augen und Mund hatte sie geschlossen, aber noch immer erklang ihr Lied, als hätten tausend Stimmen die Melodie aufgenommen und wiederholten die geheimnisvollen Worte aufge regt, zunächst flüsternd, dann schreiend. Jem wurde aus seiner Träu merei gerissen, als der Kleine an seinem Arm zerrte und ihn in das pulsierende Band der Strahlung zog. Jem kniete sich vor die Prinzes sin, während der Kristall an seiner Brust glühte, und starrte ehrfürchtig in ihr verschlossenes, strahlendes Gesicht. »Prinzessin! Könnt Ihr sprechen? Könnt Ihr hier sprechen?« Zu Jems Erstaunen war es der Kleine, der mit der Stimme der Prinzessin antwortete. Während Jem kniete und die Prinzessin sich drehte, war der Kleine in die Luft gestiegen, scheinbar schwerelos, und schwebte mit ausgestreckten Armen und Beinen in der Aura. »Sprechen?«, intonierte er. »Nur kurz, sehr kurz. Almoran ist nicht fort, sondern sammelt seine Kräfte. Er ist überall hier um uns, und ich kann diese Projektion kaum aufrechterhalten.« »Prinzessin, Ihr wisst es, nicht wahr? Ihr kennt das Geheimnis der Kristalle?« »Ich weiß nur von der merkwürdigen Vertrautheit, die etwas tief in meinem Innersten aufwühlt. Ich weiß, dass ich wie Ihr Teil eines größeren Schicksals bin, aber wie das aussieht, weiß ich nicht. Eines jedoch weiß ich: Dass ich bald heiraten werde und dass ich mit dieser Heirat dem Schicksal einen Schritt näher trete, das mir bestimmt ist.« »Heiraten? Aber Prinzessin, ich dachte ...«
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»Was dachtet Ihr ? Prinz, erinnert Euch an die Lektionen im Haus der Wahrheit. Was ist falsch, was ist echt? Ich sage nur, dass es eine Hochzeit in der Heiligen Stadt geben wird. Die Hochzeit zwischen einer Prinzessin und eines Sultans Sohn. Dann und dort werdet Ihr die Antworten finden, die Ihr sucht!« Jems Herz hämmerte vor Aufregung. »Prinzessin, der Kristall, den ich trage, glüht, aber erst wenn sein roter Bruder in meinen Besitz gelangt, vermag ich mehr zu tun als ein gewöhnlicher Mensch. Euch umfangen mystische Kräfte. Ihr erzeugt diese Projektion. Könnt Ihr uns nicht in die Heilige Stadt bringen? Könnt Ihr uns aus Almorans Griff befreien?« Der Kleine seufzte tief und traurig. »Ihr ahnt ja nicht, worum Ihr bittet! Der Zauberer ist zu stark ...« »Aber er wird schwächer! Das wissen wir doch ...« »Nein! Nein. Ich kann nicht einmal diese Projektion aufrechter halten ...« Mittlerweile rotierte der Kleine wie wild in der Luft und taumel te wie ein verwirrtes Insekt. Die Farben der Aura flackerten. In einem Moment umgab sie die Wüste, im nächsten die Aura, dann wie der die Wüste, dann die Gärten. Wüste. Gärten. Wüste. Gärten. Vögel und Schmetterlinge summten durch die Luft, und statt des Echos von Dona Belas Lied ertönte das verrückte Gelächter des Ma giers. Die Prinzessin bemühte sich verzweifelt, weiterzusingen, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie sank nach vorn und hus tete. Jem packte sie und hielt sie fest, während ihre Aura in sich zusammenfiel und der grüne, glühende Schein des Kristalls verblasste. Schweigen. Vogelgezwitscher. Das Rascheln von Blättern. Das Murmeln von Wasser. Dann drangen die süßen, berauschenden Düfte in seine Nase, der intensive Duft von Jasmin, Narzissen, Lilien, Kamille, Zitronenbäumen, Zedern und Mohnblumen mit ihren schweren Blütenköpfen.
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Jem blickte auf und sah das Haus der Wahrheit, das sich im hellen Sonnenschein gleißend erhob. Davor erstreckte sich, so tief wie das Leben, das geheimnisvolle Wasser des langen Beckens.
18. Wenn der Schläfer wandelt Wir vergessen die meisten unserer Träume, jedenfalls glauben wir das. Wenn wir uns an sie erinnern, wecken sie die merkwürdigsten Gedanken in uns. Manchmal bedrücken sie uns, und der folgende Tag scheint schwach, spröde und kaum erträglich. Dann wissen wir mit einer tiefen, irrationalen Überzeugung, dass die Traumwelt nicht nur bloße Illusion ist, sondern eine geheimnisvolle Welt, die nur auf uns wartet. Was geschieht mit unseren vergessenen Träumen? Vermutlich ver schwinden sie nicht wirklich, sondern sammeln sich stattdessen in einem Raum, zu dem wir nur manchmal die Tür finden. Unser Leben formt sich wie eine Fuge, ein komplexes Muster aus miteinan der verwobenen Teilen, die eines Tages ein zusammenhängendes Muster ergeben. Wenn man sich an einen Traum erinnert, erinnert man sich manchmal auch an die vielen Male, die man ihn schon geträumt und ... vergessen hat. Man stolpert in einem Labyrinth aus Stufen herum und sucht einen Raum, den man niemals wiederfin den kann. Man tritt auf den Balkon eines Zimmers hinaus und schaut plötzlich von hoch oben auf die Welt hinab. Dann kommen die Erinnerungen an die vielen Nächte, Jahre von Nächten, in denen man Dinge tut, die man nie getan hat, an Orten war, an denen man niemals gewesen ist. Diese Träume scheinen einem zu sagen, dass man unter Amnesie leidet, dass uns die Welt des Wachens mit Vorhängen aus Illusionen täuscht. Diese Vorhänge scheinen so echt zu sein, dass wir sie tatsächlich für die Wirklichkeit halten. Aber das ist gerade die Illusion. Vielleicht leiden wir alle an dieser Amnesie und
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verbringen unser Leben in der Sehnsucht, dass unsere Träume wiederkehren mögen. Wir sind alle tot und warten darauf, wieder lebendig zu werden. Die Träume befreien uns von der Finsternis. Ei nes Tages, so scheinen sie zu versprechen, werden wir unseren Weg zu der Wahrheit zurückfinden, die wir vergessen haben. Träume sind unsere Geister, und sie verfolgen uns. In der Nacht, nach der sich Almorans Welt wieder um Jem geschlos sen hatte, träumte der Prinz lebhafter als je zuvor. Er wachte mitten in der Nacht auf. Seine Haut war schweißnass, und die Laken waren zerknüllt. Er schob die Gaze beiseite, die sein Bett umgab. Auf einem Tisch neben ihm stand ein Krug mit Hava-Nektar, über dem ein Leinentuch lag. Dankbar nippte er an der kühlen Flüssigkeit. Er stolperte weiter, wanderte ziellos umher und strich sich das zerzauste Haar aus den Augen. Die Luft war so stickig, dass er sie beinahe hätte anfassen können. Verschlafen trat er durch die offenen Türen hinaus und sah die Gärten, die üppig im Licht eines silbernen, ge waltigen Mondes leuchteten. Das Becken schimmerte endlos tief. In dem Moment bemerkte Jem die Gestalt auf dem Teppich aus Wasserlilien. Eine weibliche Gestalt. Die Prinzessin? Nein, es war Cata, und sie war genauso nackt wie er, und sie stand ... nein, sie stand nicht still. Sie schwebte auf ihn zu wie eine Erinnerung, die allmählich zurückkehrte. Jetzt erinnerte sich Jem an die Träume, die erotischen Schwelgereien, die sich mit der Zeit in frustrierende Exkursionen durch Labyrinthe, Korridore und dunkle Höhlen ver wandelt hatten. Wann würde diese Suche endlich vorüber sein? Ihm dämmerte, dass er diese Suche schon geträumt hatte, und zwar lan ge, bevor sie tatsächlich begonnen hatte. Vielleicht hatte er sogar sein ganzes Leben davon geträumt, vor langer Zeit, als er noch ein Kind gewesen war. Er starrte Cata an, als wäre sie eine Göttin. Seine Suche galt nur ihr, nur ihretwegen nahm er all das auf sich, das wurde ihm schlag artig klar. Als sie sich ihm näherte, veränderte sich die Farbe ihrer Haut. Sie schimmerte erst purpurn, dann grün, dann ... nein, es war
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das Mondlicht, das seine Farben veränderte. Jem blickte hoch. Er sah fünf Monde am Himmel, fünf Monde und fünf Farben: Purpur, Grün, Rot, Blau, Gold. Ihm kam dieser Augenblick real vor, wahr. Seine Suche war vorbei. Das Boot aus Wasserlilien stieß gegen den Beckenrand. Cata stieg lächelnd heraus und fiel in Jems Arme. »Polty ... Polty!« Bohne hatte wieder fantasiert. Er hatte oft an Polty gedacht, damals, in ihren sorglosen Tagen. Jetzt jedoch dachte er an Polty, wie er ihn zuletzt gesehen hatte, mit seiner blauen Haut, dem flammenden Haar und den Augen, die in einem unirdischen Licht glühten. Bohne beschwor in seinem Kopf das Bild, wie das Polty-Monster nach ihm schlug und aufgrund des ganzen Bösen der Welt, das in ihm steckte, beinahe zu platzen schien. Doch statt Furcht empfand Bohne nur Mitleid. Ihm traten Tränen in die Augen. Der arme, arme Polty! Was sollte aus seinem Freund werden? Und was sollte erst aus ihm, Bohne, werden? Er stellte sich vor, wie er aus seinem Gefängnis ausbrach, Polty aufspürte und mutig den Dämon austrieb, der seinen Freund beherrschte. Bohne öffnete die Augen. War es Tag ... oder Nacht? Dem Lärm nach zu schließen, der von oben herunterdrang, musste es Nacht sein. In der Zelle gab es kein Fenster, aber durch ein Gitter am un teren Rand der Tür fiel etwas Licht herein. Sie befand sich am oberen Ende einer feuchten Steintreppe. Am Tag war das Licht gräulich und schwach. In der Nacht jedoch flackerten goldene Strahlen von den Lampen aus dem Schankraum herein. Wie lange hockten sie schon hier? Wie viele Tage? Von Zeit zu Zeit öffnete sich das Gitter, und eine Hand, die des Hurenbocks oder die Mutter Madanas, schob einen Krug mit einigen Schlucken Ferment oder ein Stück muffiges Brot herein. Es waren magere Vergünstigungen für die le bende Fetische, die das Unglück von dem Khan fern halten sollten. Verflucht sollten sie sein, diese Leute und ihr Aberglauben! Mehr als einmal hatte Bohne sie angefleht, war die Treppe hinaufgeklettert
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und hatte durch das Gitter geschrien. Schon bald hatte er gelernt, dass es nichts nutzte. Die Kerle sahen nur auf ihn hinunter, lachten grölend und meinten, die Gruft zeige wohl schon ihre Wirkung. Dann traten und schlugen sie gegen die Tür, bis sie des Spiels müde wurden oder die Huren kamen. Bohne kauerte in dem Dreck und sah zu, wie das Lampenlicht über den Boden flackerte und im Rhythmus eines rüden Liedes tanzte. An der gegenüberliegenden Wand gab es eine zweite Tür, die verriegelt und verrammelt war. Anscheinend hatte der Khan noch ei nen zweiten Keller. Oft glaubte Bohne Stimmen hinter dieser Tür zu hören, jugendliche Stimmen, die fluchten oder lachten. Aber die Tür war dick, und die Stimmen waren vielleicht nur ein Echo von oben. Bohne seufzte. Spinnweben hingen in dichten Klumpen von der Decke. Ratten liefen vor seinen Füßen hin und her. Das Gitter wurde geöffnet, und ein Schauer aus Kohlblättern, alten Kartoffeln und Karottenenden ergoss sich über die Treppe nach unten. Bohne fiel heißhungrig darüber her und hätte alles verschlungen, doch nach ei nem Moment packte ihn das schlechte Gewissen. Er streckte die Hand aus und schüttelte seinen Kumpan. War Burgrove wach? Ein Stöhnen antwortete ihm, aber letztlich war Burgrove seit Beginn ihrer Gefangenschaft kaum aus seiner Betäubung erwacht. Es überraschte Bohne auch nicht sonderlich, dass er seinen Kumpan zuerst für tot gehalten hatte. Er griff nach Burgroves Handgelenk und be tastete dann das schlaffe Gesicht über der ruinierten Krawatte. Bohne schrak zusammen. Burgrove glühte! Rasch krabbelte Bohne wieder zu seiner Ecke der Zelle zurück, kauerte sich zitternd zusammen und schluchzte. »Cata?« Als Jem aufwachte, wusste er, dass viel Zeit verstrichen sein muss te. Wie lange hatte er geschlafen? Er war allein, vollkommen ange zogen, und die Laken unter ihm waren glatt, als hätte er die ganze Nacht bewegungslos dagelegen. »Cata?«
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Nein, natürlich nicht. Jem erhob sich mühsam. Er war hungrig und durstig. Er trank ei nen Schluck Hava-Nektar und trat hinaus auf die Terrasse, während er sich das Haar aus dem Gesicht strich. Draußen herrschte ein rot glühendes Licht. Er betrachtete die Gärten, die fahl und zusammengefallen im Licht eines einzigen Mondes dalagen, als wären sie von dem schwülen Tag erschöpft. Jemand kläffte. Jem drehte sich erschreckt herum. »Regenbogen? Aber du bist doch gestorben?« Der Hund sprang quicklebendig auf ihn zu. Jem hockte sich hin und tätschelte die aufgeregte, bunte Kreatur. Aber trotz seiner Freu de, dass er Regenbogen wiedergefunden hatte, konnte der junge Mann die Verzweiflung nicht ignorieren, die darin mitschwang. Was, sollte er daraus schließen, dass sich die Zeit hier in dieser merkwürdigen Dimension wiederholte? Hatte Almoran ihn in einer heimtü ckischen Schleife gefangen, einer Schleife, aus der es kein Entkommen gab? Jetzt ertönten Schritte auf der Terrasse. »Entschuldigt, junger Herr«, sagte der mädchenhafte Junge, »aber es ist Zeit für das Bankett. Eure Freunde haben sich versammelt, und mein edler Herr wartet bereits.« Es schien tatsächlich alles so zu sein wie vorher. Aber schon bald sollte Jem erfahren, dass die Zeit selbst hier verstrich, wenn auch auf eine merkwürdige Art und Weise.
15. Sein oder nicht sein »Soll ich?« »Warum nicht?« »Och. Soll ich jetzt?«
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»Es spielt wohl kaum eine Rolle, hab ich Recht?« »Denkt an meine Figur!« »Omar, Ihr habt keine Figur!« »Also, wirklich!«, protestierte der Kalif, aber die Gier war stär ker als der Ärger, und er stopfte sich ein weiteres geliertes Auge in den Mund. Wesir Hasem seufzte hinter seiner Bronzemaske. Es war das vierte, vielleicht sogar schon fünfte Mal während dieser Mahlzeit, dass Oman dieses alberne Spielchen spielte und so tat, als zaudere er, et was zu essen, obwohl er sich den Genuss in keinem Fall versagen würde. Wenigstens wurde er dadurch abgelenkt. Als er heute Mor gen den Wesir geweckt und das Wunder von der Verwandlung sei ner Tochter verkündet hatte, schien das Elend auf immer aus dem Herzen des kleinen Kerls gebannt zu sein. Wie schnell sich jedoch die Wege des Schicksals wieder gewendet hatten! Schon bald ver wünschte sich Oman dafür, dass er überhaupt auch nur einen Mo ment der Erleichterung nachgegeben hatte. Eine Tochter zu opfern, die nur aus Nebel bestand, war schon schlimm genug, doch eine Schimmy aus Fleisch und Blut zu verlieren, war hundert-, nein, tau sendmal schlimmer! Oman hatte fast den ganzen Tag gejammert und geweint. Hasem seinerseits machte sich wegen der Veränderung des Mädchens Sor gen, ernste Sorgen. Er hatte Magie noch nie gemocht, und dieser Zauber beunruhigte ihn ganz besonders. Oman war so ein Narr. Konnte die Schimmernde Prinzessin wirklich wieder aus Fleisch und Blut sein? Dem Wesir gefiel das nicht. Kein bisschen, und au ßerdem war da noch die Frage, ob diese Neuverlobung tatsächlich stattfinden würde. Der Wesir hatte Informationen von seinen Spionen erhalten, dass sich die kaiserliche Armee rasch näherte. Mögli cherweise stand am Ende dieses Tages eine Schlacht, keine Verlo bung. In dieser Nacht war eine Ablenkung tatsächlich angebracht ... Leider jedoch war es sehr schwierig, den Kalifen zu zerstreuen! Zuerst waren die Risse noch ganz fein.
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»Ist es nicht erfreulich, Hasem, allein zu dinieren?« Der Wesir stimmte ihm zu. Zwar waren sechs maskierte Lustkna ben um den Tisch versammelt und lagen in hinreißenden Posen da, während eine Armee aus schwarz gekleideten Dienern mit Tellern, Wasserpfeifen und Flaschen mit Hava-Nektar hin und her huschte. Dennoch war es ein informelles Abendessen, verglich man es mit den prächtigen Unterhaltungen für Rashid Amr Rukr, denen sie sich in den letzten Nächten hingegeben hatten. In nur wenigen Tagen wa ren die Regale der Palastküche um die seltensten Delikatessen erleichtert worden. Wagen mit Speisen wurden unaufhörlich über die Dienstbotengänge geschoben, während die Küchenhöfe vom Blut der frisch geschlachteten Tiere überquollen. Sie wurden nach Sitte der Ouabin zubereitet. Mehr als einmal hatte sich der Wesir gefragt, wie er die Festlichkeiten des nächsten Tages bewerkstelligen sollte. Was auch immer geschah, eines war sicher. Die Steuereintreiber würden in den folgenden Monaten eifriger als je zuvor sein. »Was machen sie jetzt, was glaubst du?«, fragte der Kalif. »Die Steuereintreiber?« »Die Ouabin.« Der Wesir riss sich aus seinen Gedanken. »Soweit ich verstanden habe, ist heute eine Nacht des Fastens anberaumt, Euer Erhabenheit. Des Fastens und gewisser anderer Vorbereitungen. Wenn Ihr Euch erinnert, muss der Scheich für seine Rolle in dieser Zeremonie rein sein, und all seine Männer ebenfalls.« »Die Salbe?« Der Kalif wirkte gereizt. »Ich hätte aber auch noch so einen Abend wie den letzten nicht überstanden. Diese Rezepte der Ouabin sind schon schlimm genug, aber wirklich, wie er meine Haremsmädchen angetatscht hat!« Die Risse klafften weiter auseinander. »Wenigstens wollte er nicht auch noch die Lustknaben«, sagte der Wesir und streichelte eines der wunderschönen, jungen Geschöpfe, das von Drogen berauscht am Tisch lag und dessen Gesicht hinter einer Maske verborgen war. Hätte der Unwürdige Hand an diesen schönen Jüngling gelegt, der Wesir hätte den Kerl
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niedergestreckt. Hasem wollte das gerade laut sagen, als er an die la bile Gemütslage des Kalifen dachte. »Aber Oman«, fuhr er fort, »Ihr habt Euch ja noch nicht einmal unsere letzte Neuerwerbung angesehen!« »Den Vaga?« Das Interesse des Kalifen flammte auf. Er drehte sich um und hob fragend eine Braue, während er den Lustknaben mit der dunkelroten Maske betrachtete. Die Risse schienen sich wieder zu schließen. »Bring sie zu mir.« Der Wesir schnippte mit den Fingern, und der Vaga-Junge wurde wie ein Sack von einem Sklaven an das andere Ende des Tisches zu dem Kalifen getragen. Der fette Potentat betrachtete die neueste Errungenschaft mit gespitzten Lippen von Kopf bis Fuß. »Und wir hätten sie beinahe aufgeschlitzt! Ein feines Exemplar, Hasem! Und du sagst, dass sie ein echtes Vaga-Mal trägt?« Neugierig teilte der Kalif Rajals prächtige Roben und suchte nach dem roten Schenkelmal. Doch er zuckte zurück, als er etwas vollkommen anderes sah. »Igitt! Hasem, sie ist ja noch gar nicht rein! Also wirklich, für was hältst du mich?« Der Wesir zuckte mit den Schultern. »Oman, sie ist ganz frisch. Muss sie nicht erst die Nacht der Vorbereitungen durchlaufen?« »Was braucht sie für Vorbereitungen, wenn du sie in diesem Rausch hältst? Der Barbier soll sie morgen vorbereiten. Vielleicht benutze ich dann den Vaga nach dem anstrengenden Tag für meine abendliche Unterhaltung!« Der Wesir wollte einwenden, dass dies nicht gerade schicklich wäre, aber in diesem Moment wurde ein großartiges, sprudelndes Sorbet auf die Tischplatte gestellt, und andere Lüste ergriffen von Hasems Herrn Besitz. Der Wesir seufzte. Frisch rasierte Eunuchen waren kaum zu so fortigem Gebrauch geeignet. Sie bluteten meist ziemlich eklig, und die Gefahr, dass sie starben, war sehr hoch. Trotzdem war es mög lich, wenn die Wunde des Kindes mit den entsprechenden Tinkturen und Cremes behandelt wurde. Vermutlich war es besser, Oman bei Laune zu halten, vor allem morgen.
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Ein wenig mürrisch winkte er einen Sklaven heran und befahl ihm, morgen den Barbier zu holen. Heirate und brenne! Das Rad soll sich drehen! Welch kühner Liebende muss lange schmachten? Schnapp deinen Schatz von dem lodernen Schei-ei-terhaufen Heirate und brenne, Heirate und brenne! Rashid Amr Rukr lächelte, als er voller Freude an das Ritual dachte, das am nächsten Tag abgehalten werden würde. Im Flur vor sei nen asketisch eingerichteten Räumlichkeiten übten die Männer das Lied, das eine so wesentliche Rolle bei der Zeremonie spielen sollte. Er hörte eine Weile zu, freute sich über die klugen Worte und gestat tete sich, ein wenig abzuschweifen und sich auszumalen, was die Zukunft bringen würde. Der Scheich war allein und lag auf einem einfachen Bett. Ein Mondstrahl schien auf ihn. Ein Mann der Wüste verachtete Luxus. War es vielleicht dieser Luxus gewesen, der seine Feinde so weich und schwach gemacht hatte? Verflucht sei solche Dekadenz. Sicher, er hatte die Bankette des Kalifen genossen. Aber er redete sich ein, dass er es genauso wegen der Qualen getan hatte, die er dem Kali fen damit zufügte, wie um der Genüsse willen, die er diesen Gelegenheiten abgewonnen hatte. Ein Ouabin verachtete den Genuss um des Genusses willen. Dort lauerte nur Schwäche, wo es doch auf Stärke ankam, allein auf Stärke und Macht. »Aber es macht dir nichts aus, dir ein wenig von meiner Macht zu borgen, Ouabin, hab ich Recht?« Die golden schimmernde Kreatur trat aus einer Ecke des Zimmers auf ihn zu. »Ich hatte erwartet, dich meditierend vorzufinden. Da du gelobt hast, den uralten Statuten des Rituals der Entlobung und Neuverlobung zu folgen.« Es war sinnlos, das abzustreiten. »Was jemand tut, Goldener, und was er dem Pöbel erzählt, sind zwei verschiedene Dinge. Habt Ihr
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mir nicht versichert, dass das Schicksal auf unserer Seite steht? Kann man das Schicksal in Frage stellen? Ihr kennt bereits meine geheimsten Gedanken. Was kümmert mich die Wahrheit, wenn Macht mein einziges Ziel ist? Aber sagt mir, seid Ihr sicher, dass alles gut gehen wird?« »Ouabin, nichts ist wirklich sicher, außer dass wir den Weg be reitet haben. Du wirst dir das Mädchen selbst nehmen müssen, und ich vertraue darauf, dass ich nicht eingreifen muss. Ich sage nur, dass deine Wachen auf ihren Posten sein müssen, denn die Streitkräfte des Sultans rücken der Stadt immer näher. Sie werden vielleicht morgen schon hier sein und dir deine Beute wegschnappen.« »Ihr könntet sie doch vertreiben, oder nicht?« »Ouabin, gib Acht, dass du nicht zu viel verlangst. Habe ich dir nicht durch die Aura, die meine Macht gesponnen hat, eine leichte Eroberung ermöglicht? Ich habe getan, was ich konnte. Der Rest ist deine Aufgabe. Du träumst von Macht, aber bist du nicht doch schwach?« Die Augen des Scheichs blitzten. »Goldener, Ihr seid es, der Acht geben sollte! Wollt Ihr behaupten, dass ich schwächer bin als Ihr? Bei unserem ersten Zusammentreffen in dieser Wüstennacht wart Ihr es doch, der eine Allianz vorgeschlagen hat, oder nicht? Sicher, Ihr seid göttlich, und was Eure Absicht sein mag, Eure wahre Absicht, weiß ich wirklich nicht. Für mich die Erde, für Euch Mond und Sterne? Habt Ihr mich denn nicht verführt, Goldener? Und dennoch, so wie ich mich auf Eure Macht verlassen habe, müsst Ihr Euch auch auf meine verlassen.« Die goldene Gestalt drehte sich langsam im Mondlicht. »Ouabin«, murmelte sie dann. »Es ist wahr, dass du mich nicht verstehst, und ich habe auch gar nicht das Verlangen danach. Es ist wahr, meine Macht ist keineswegs grenzenlos, und sie ist bereits zu einem großen Teil aufgebraucht. Aber soll ich etwa sagen, dass ich schwächer bin als du? Was für eine Frage, Ouabin, wirklich, was für eine Frage.« Die Gestalt drehte sich weiter und hob einen schimmernden
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Arm. Sie streckte einen Finger aus, und der Scheich starrte sie ent setzt an, als er begriff, was gleich passieren würde. Aber ihm blieb nicht die Zeit, dem sengenden Strahl auszuweichen. Die ganze Nacht über lag der Scheich ruhelos da, hielt sich die schmerzende Brust und weinte heiße Tränen der Qual und der Wut. Wohin war es verschwunden, das verborgene Juwel? In der weihrauchgeschwängerten Dämmerung dieses anderen Reiches von Un hatte Rajal Wonnen erlebt, die er sich niemals hät te ausmalen können. Immer und immer wieder sehnte er sich da nach, diesen Wogen der Lust zu unterliegen, und ebenso oft war er von den Wogen der sinnlichen Freuden fortgespült worden. Am Tage waren es die Lustknaben, die mit ihm tollten und spielten, des Nachts kehrte der Wesir zu Rajals Couch zurück und versetzte ihn erneut in ein tieferes, abgründigeres Entzücken. Was konnte es noch geben? Rajal kam es vor, als wären endlich alle Fragen des Lebens be antwortet. Und diese Antwort war auch noch einfach. Seine Freun de und seine Mission waren in einem Nebel verschwommen, und an seinen verschwundenen Kristall dachte er auch nicht mehr. Für Ra jal gab es nur ein Juwel, das er bereits besaß, ein Juwel, das er nie mals verlieren, sondern immer nur finden konnte, immer und immer wieder. Während dieser sinnlichen Tage und Nachte hatte dieses Ju wel in seinem Verstand geglüht wie alle Reichtümer dieser Welt. Jetzt jedoch verblasste dieser Glanz, und Rajal fühlte sich verloren. Er stöhnte und fasste sich an die Stirn. Was passierte da mit ihm? Verschwommen erinnerte er sich an den kräftigen Sklaven, der ihn wie ein Baby die Treppe hinuntergetragen und hier auf die sei denen Laken gelegt hatte. Aber davor? Die Gemächer des Kalifen. Gespräche von einem Barbier. Und davor? Ganz allmählich schärfte sich Rajas Verstand wieder, und der Nebel klärte sich. Er stöhnte und sehnte sich danach, wieder in dem süßen Vergessen versinken zu können. Es war schon spät, und die Lustknaben schliefen. Nur ein sehr schwaches Licht tauchte die Kammer in ihr Dämmerlicht, und die
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Stimmen, die Rajal hörte, flüsterten kaum vernehmlich. Leise ras selte eine Perlenkette, dann blubberte eine erlöschende Konar-Lam pe, und eine wachsame Kobra draußen in der Grube zischte langsam und bösartig. Wo war der Wesir? Rajal fühlte einen Schmerz in seinem Inners ten, wie ein Abgrund, der sich danach sehnt, gefüllt zu werden. Sei ne Augen fielen ihm zu. Er versank allmählich. »Morgen«, flüsterte es. »Morgen.« Rajal kannte die Stimme. Er öffnete die Augen. In der Dunkelheit konnte er die plumpe Gestalt des Lustknaben neben sich auf dem Bett erkennen. Er nannte sie Blasenia. Rajal kannte ihren wahren Namen nicht, genauso wenig, wie er die der anderen erfahren wür de. Zärtlich strich Blasenia Rajal über das Haar und flüsterte wieder: »Morgen.« »Blasenia, was meinst du?« Tränen traten dem Lustknaben in die Augen, doch diesmal antwortete eine andere Stimme. »Weißt du nicht mehr? Morgen kommt der Barbier, und dann bist du wie wir.« Rajal drehte sich um und sah Stinkina, nein, es war Fischia, die an seiner anderen Seite lag, ihn umarmte und streichelte. »Bin ich nicht schon wie ihr?«, murmelte er. »Wie sollte ich nicht wie ihr sein?« Fischia grinste. »Erinnerst du dich nicht daran, was der Kalif ge sagt hat?« Die Erinnerungen wehten undeutlich durch Rajals Kopf. Der Barbier. Irgendetwas von einem Barbier. »Der Wesir kommt schon nicht mehr zu ihr. Arme Schwester Raj«, sagte Blasenia und schüttelte den Kopf. »Ihre Zeit der Lust war nur kurz!« »Närrin!«, widersprach Fischia. »Sie fängt gerade erst an!« Rajal runzelte die Stirn und sah zwischen den beiden hin und her. Wovon redeten sie? Fischia kicherte, doch Blasenia schluchzte er stickt, als sie erklärte, ihre Schwester sei eine Lügnerin. Dabei war sie nicht einmal wütend, sondern nur traurig. »Welche Wonnen schienen vor uns zu liegen, als wir hier an die
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sem Platz der Kobras ankamen! Aber ach, wie rasch sind diese Freuden abgeebbt, nachdem der Barbier gekommen ist! Du wirst nie mals mehr das vergrabene Juwel fühlen, Schwester Raj, das uns alle einmal mit seinem Schein verzaubert hat. Wie schnell sich dieser Schein verflüchtigt - wie das Rot, das das Becken des Barbiers füllt!« Rajals Herz hämmerte wie rasend. Eine merkwürdige Unruhe hatte ihn gepackt, und er fragte sich, warum er jetzt aus dieser Be täubung erwachte. Er kniff die Augen fest zusammen, öffnete sie wieder und schloss sie aufs Neue. Was ging hier vor? Jetzt erst fiel Rajal auf, dass er seinen letzten Trunk nicht zu sich genommen hatte. Fischia wurde müde. Sie seufzte. »Schwester, du sprichst von Juwelen, aber ist dein plumper Körper nicht von ihnen übersät, genau wie meiner? Juwelen, Gold und schönste Seide und Musselin? Manchmal stelle ich mir vor, dass es ein anderes Ich gibt, das das Le ben führt, welches das meine hätte sein können. Allein der Gedanke lässt mich erschaudern! Denk nur an die Straßen und dann an das Leben, das wir hier führen!« »Aber die Blüte eines Lustknaben ist bald verwelkt«, widersprach Blasenia traurig. »Und wenn schon, Schwester!« Fischia gähnte. »Einen Potenta ten zu erfreuen, ist doch erst der Beginn unserer femininen Karrie re, auch wenn es eine schöne und vornehme Angelegenheit ist. Sind auch die Zerstreuungen auf der Couch eine wahre Wonne für mich, sehne ich mich doch nach der Zeit, wenn meine Tage als Lustknabe vorüber sind. Wie wundervoll es sein wird, nach oben gerufen zu werden und dort den größten Schönheiten des Landes aufzuwarten! Welches Vergnügen liegt darin, das Haar zu locken, ein Gewand zu schneidern, Ketten und Ringe auszuwählen und Schleier und Slipper zu fertigen ... Ach und dann erst all der Klatsch aus dem feinen Leben einer Dame!« »Vielleicht wirst du aber niemals nach oben gerufen, Schwester«, erwiderte Blasenia. »Wenn du nun wieder in die Welt hinausgewor fen wirst, wie es so vielen anderen widerfahren ist? Ohne all deinen
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Schmuck und deine Pracht bist du ein entwürdigtes Nichts, das nur in den widerlichsten und verrufensten Khans einen Unterschlupf findet! Nein, auch wenn du unsere neue Schwester liebst, täusche sie nicht über das, was sie erwartet, nachdem sie wie wir gereinigt wur de!« Sie hätten noch weitergestritten, wenn Fischia nicht endlich ein geschlafen wäre und sich Stille über den duftenden Schauplatz gelegt hätte. Es war jedoch eine sehr trügerische Stille. Rajal bewegte sich zwar kaum, aber in seinem Innersten war ihm danach, laut zu schreien. Dann rückte Blasenia dicht an sein Ohr heran. Ihre Stimme klang drängend. »Schwester, du musst es erfahren. Einige behaupten, es wäre schö ner, wenn man nichts weiß, damit alles wie in einem Nebel vorüber zieht. Andere, wie meine Freundin hier, lügen dich an. Vielleicht schwelgen sie sogar insgeheim in dem Wissen, dass einer anderen ge nau dasselbe widerfährt wie ihnen. Vergib einer, die so schwer misshandelt wurde, den Neid. Ich sage, du sollst verstehen, wie ich ger ne verstanden hätte. In diesen letzten Tagen war es meine Aufgabe, dir den Trank an die Lippen zu setzen. Ob du mich nun für eine Ver räterin hältst oder eine Retterin, wird uns erst das Morgen lehren.« Langsam nahm Blasenia Rajals Hand und führte sie an die Stelle zwischen ihren plumpen Schenkeln. »Fühle, Schwester. Verstehe. So wird es sein, wenn der Barbier kommt. Oder eben nicht sein. Eben nicht sein.« Jetzt endlich löste sich Rajals Schrei.
20. Der Tag der Verklärung Feluccas. Ganz zu schweigen von Xebecs, Caiques und Dhows. Es war ein wunderbarer Morgen, und die Sonne glitzerte wie Juwelen auf dem
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tiefen, stillen Wasser. Selbst jetzt bot der Hafen von Qatani dem Ahn nungslosen Betrachter einen wundervollen Anblick. Es war ein Gewühl aus Segeln, Flaggen und bunt bemalten Rümpfen. Irgendwo klatschte ein Ruder in die Wellen, woanders quietschte eine Winde, dort glitzerten die Ohrringe eines Matrosen in der Sonne, und wei ter hinten jammerte träge eine Quetschkommode. Nur den weniger naiven Beobachter mochte diese idyllische Szene beunruhigen. Etwas stimmte nicht, es herrschte eine merkwür dige Leblosigkeit, deren Quelle nicht schwer festzustellen war. Um den ganzen Hafen herum standen Ouabin Wache. Die Kanonen, die immer schon vom Festland gedroht hatten, wirkten jetzt noch gefährlicher. Es liefen keine Schiffe ein. Und es legten auch keine ab. Der Handel in der Perle der Küste war zum Erliegen gekommen. Als befänden sich gleichsam auch die Schiffe und ihre Besatzungen im harten Griff des Scheichs, bis er seine Braut errungen hatte und die Stadt endlich wieder verließ. Kapitän Porlo stand auf einem ausgeblichenen Stück der Pier. Bubi turnte auf seiner Schulter, und er hielt ein Fernglas ans Auge. Hinter ihm lag das Gewirr der schäbigen Gassen, in dessen dunk len Gefilden sich auch der Khan des Halbmondes befand. Mit dem Luxus von zwei Beinen hätte der alte Seebär diese Region zweifelsohne ebenfalls erkundet und dort gewiss reichlich Trost gefunden. Bedauerlicherweise konnte er nichts anderes tun, als jeden Tag zum Wasser zu kommen und sehnsüchtig zur Catayane zu spähen. »Meine arme hölzerne Lady! Meine arme, arme Lady!« Liebevoll dachte der Kapitän an seine Kabine, diese magische Höhle mit ihrer niedrigen Decke, dem Tigerkopf und dem Rhino zeroshorn, dem rostigen Krummsäbel und der Messingmuskete. Er dachte an die Karten, die er so eifrig studiert hatte, und an die Beu te, die ihn am Ende dieser Reise erwartete. Von seiner Catayane getrennt zu sein war für ihn unerträglich. Er verwünschte Empster und seine elende Suche! Die beiden Jungs waren brauchbar gewesen und das Mädchen auch, aber Kapitän Porlo wollte verdammt sein, wenn er sich weiter von dem Edelmann herumkommandieren ließ.
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Diese endlosen Heimlichtuereien und Merkwürdigkeiten! Der Kerl musste verrückt sein, das war die einzige Erklärung. Eine Suche, also wirklich! Was hatte es für Kapitän Porlo anderes bedeutet als ausländischen Mist zum Essen und ständiges Rumoren im Darm? An seine Demütigung im Frauenflügel moche er gar nicht denken, Tatsächlich hatte der Kapitän dem Denken seitdem gänzlich abgeschworen. Einige Tage lang hatte er um eine Entscheidung gerungen. Jetzt hatte er sie gefällt. Empster? Sollte er doch zeigen, wie viel Macht er besaß! Was vermochte schon ein Mann allein gegen die Cata unter vollen Segeln und mit einem frischen Wind im Rücken? Den Kapitän durchrieselte einen Moment die Erregung, doch dann dachte er wieder an die Ouabin und ließ sich .untröstlich gegen einen geborstenen hölzernen Pfeiler sinken. Auf der anderen Seite des Pfeilers ertönte wie ein Echo auf seine Gedanken ein Seufzen. »Verflucht sei Casca Dalla, verflucht sei er!« Der Kapitän drehte sich um und sah einen Burschen, dessen Mie ne genauso traurig war wie seine eigene. Neugierig beugte er sich zu ihm hinüber. Es schien ein schmieriger Fremdling zu sein, aber trotzdem konnte der alte Seebär es sich nicht verkneifen, ihn zu fragen, ob er ebenfalls einen Schatz vermisse. »Ach, mein Freund, welche Schätze ich einst besaß, bevor der ver ruchte Casca Dalla sie mir raubte!« »Dieser Bursche muss ja wirklich ein Übeltäter sein. Hält er auch Kobras in seinem Garten?« »Kobras? Er ist eine Kobra! Ich war ein ehrlicher Geschäftsmann und machte nur durch meine unablässigen Mühen einen bescheidenen Gewinn. Dank Casca sehe ich mich jetzt dem Ruin gegenüber. Ihm habe ich ferner zu verdanken, dass ich verprügelt wurde und meines königlichen Siegels verlustig ging. Kapitän-Herr, was soll ich tun? Was bleibt dem armen Eli übrig, als in einem fernen Land ein neues Leben zu beginnen?« Der Kapitän deutete stolz auf sein ejländisches Schiff, das auf der
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anderen Seite der glänzenden Bucht dümpelte. »Freund, ich könnte Euch in dieses Land bringen, aber leider, leider befindet sich meine Cata in den Klauen der Ouabin, und die verwünschten Heiden wol len sie nicht ziehen lassen.« »Pah!« Eli Oli Alis Augen funkelten. »Es gibt immer einen Weg, an einem Kerl vorbeizukommen, selbst wenn es sich um einen Oua bin handelt. Nun, Kapitän-Herr, wenn Ihr mir folgen wollt, dann werden wir Eurer Schiff schon befreien. Irgendwie finden wir einen Weg, davon bin ich überzeugt.« Der Kapitän streckte die Hand aus. »Ich erkläre Euch zu meinem Freund, Ausländer oder nicht.« Eli Oli Ali fletschte strahlend die Zähne. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er geglaubt, sein Leben wäre vorbei. Und jetzt wirbelten schon hunderte von Plänen in seinem heimtückischen Gehirn durcheinander. »Kapitän-Herr, ich besitze einen Khan nicht weit von hier. Ihr Ejländer mögt doch Ferment. Wollt Ihr nicht auf einen kleinen Tropfen mit hineinkommen, damit wir überlegen können, was wir unternehmen wollen?« Der Hurenbock schritt munter in Richtung der Gassen hinter den Hafenanlagen. Dabei pfiff er ein fröhliches Liedchen. Bubi sprang geschwind von der Schulter des Kapitäns und huschte vorweg. »Wartet auf mich, ihr Lieben, wartet!«, keuchte der Kapitän, wäh rend er energisch seine Krücke schwang. »Vergesst nicht, dass die Zahl meiner Beine begrenzt ist!« »Dschinn?« Pustel lag auf einem Diwan neben dem Becken. Er ließ den Kopf nach hinten sinken und lockerte seine Robe, um die Wärme der Son ne zu genießen. Hinter seinen geschlossenen Augenlidern leuchtete es rot. Kein Lüftchen rührte sich in der stickigen, schwülen Luft, aber tausende Düfte von Blumen, Früchten und Weinen umwehten ihn trotzdem.
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»Dschinn?«, murmelte er. Als Pustel die Augen öffnete, wartete der kleine dicke Kerl schon. Er schwebte mit gekreuzten Beinen auf dem fliegenden Teppich über den grünen Tiefen des Beckens. Ja. Er war immer noch da. Zwar spendete die Anwesenheit des Dschinns keinen Trost, der Gedanke an seine Abwesenheit verunsicherte ihn jedoch. Pustel starr te mürrisch auf den riesigen Turban, den mächtigen Bauch und die gewaltigen Ärmel. Kaum vorstellbar, dass sein Schicksal in den Hän den dieses verrückten Burschen lag! Das runde Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Meister!« »Ich habe mich nur gefragt, wo du warst, das ist alles.« »Aha? Und ich frage mich, ob du einen WUNSCH hast.« Pustel sah den Dschinn misstrauisch an. »Noch nicht.« »Du WÜNSCHTEST doch zu wissen, wo ich war, stimmt's?« »Das war kein Wunsch.« »Es war ein Verlangen, hm? Ist denn Verlangen nicht WÜN SCHEN? Nun, Meister, ich bin sicher, dass dein Kopf von WÜN SCHEN nur so überquillt. Aber das ist ein feiner Zustand, hab ich Recht? Es unterstellt Strebsamkeit, immer eine bewundernswerte Tugend an einem jungen Mann.« Jafir streckte sich auf dem Teppich aus, kreuzte die Arme hinter dem Kopf und schlug ein Bein über das andere. Er hatte eine Jarve-Pfeife in der Hand, die er wahrscheinlich aus den weiten Falten seiner Ärmel hervorgezaubert hatte, und sog zufrieden daran. »Ach ja, wie sehr WÜNSCHTE ich mir, ein jun ger Mann zu sein, der von WÜNSCHEN nur so überflutet wäre und noch seine ganze Zukunft vor sich hätte. Na ja ... Das war ich ja, bevor ich dem Zauberer in die Quere kam. Hm. Ich WÜNSCH TE, ich wäre von WÜNSCHEN überflutet. Ein feiner Zustand, und sehr schwer auszusprechen, hab ich Recht, Meister? Kannst du das sagen?« Pustel grinste. »Du glaubst, damit kriegst du mich, hm?« »Meister, ich glaube es nicht. Ich weiß es.« Das Grinsen verschwand von Pustels Gesicht, und er runzelte die Stirn. Er sprang auf den Beckenrand und begann, hastig auf und ab
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zu gehen. Dabei breitete er die Arme aus, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Konzentriere dich! Konzentration! Er wusste natürlich, wie sein dritter Wunsch lauten musste. Er würde sich wün schen, wunderschön zu sein. Aber so einfach war das nicht. Es reichte wohl kaum zu sagen: Mach mich wunderschön. Wunderschön? Ja, aber wie schön? Noch bevor Pustel sich versah, konnte er ein wunderschönes Baba-Mädchen sein, das auf einem Sklavenschiff festsaß und in die fernsten Gebiete Wenayas unterwegs war. Außer dem wollte er noch andere Dinge. Er musste nachdenken, einfach nur nachdenken! Es war alles eine Frage der Formulierung ... »Dschinn, sag mir etwas.« Der Teppich schwebte vor und hielt mit dem pickligen jungen Mann Schritt. »Du WÜNSCHST, Meister.« »Ich wünsche es nicht.« Der Dschinn hob eine Braue. »Aha! Du WÜNSCHST also, dass ich gehe?« »Ich will... Dschinn, du weißt genau, dass ich das nicht meine!« »Armer Meister.« Jafir lenkte den fliegenden Teppich in einem Kreis um den aufgebrachten Pustel. »Du entschuldigst sicher, wenn ich dich quäle«, meinte er. »Aber wie du siehst, bin ich aufgeregt. Ich sagte schon, dass du diese unselige Konta-Lampe zurückgelas sen hast, stimmt's? Sie ist nicht hier, richtig? Nein? Nein! Siehst du, deshalb kannst du mich nicht mehr einfangen. Du kannst nur noch deinen letzten WUNSCH erbitten, dann bin ich frei.« Pustel schwankte auf dem Rand des Beckens. »Vielleicht wünsche ich ja niemals. Was hättest du dann davon?« Jafir lachte. »Niemals! Keine Angst, du wirst WÜNSCHEN!« Der kleine Mann schlang die Arme um sich. »Ach, welche Fröhlich keit erwartet mich dann! Aber in dieser Welt voller Möglichkei ten ... Für welche soll ich mich entscheiden? Soll ich nach Qatani zu meinem teuren Bruder zurückkehren? Vielleicht, aber ich bin jetzt frei. Soll ich mich nach Kal-Theron zaubern und dort den Thron des Großen Bruders usurpieren? Nein, das wäre zu einfach! Vielleicht schiffe ich mich einfach ein und mache mich auf eine lange Reise,
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um neue Welten zu erobern! Nach einer so langen Zeit in dieser Lampe hat man Lust, sich auszustrecken! Hm, andererseits... Vielleicht sollte ich bei dir bleiben, mein Teuerster, in dieser Dimension des Traums, und das Leben eines müßigen Dschinns führen, ich meine eines müßigen Mannes. Aber junger Herr, sei vorsichtig! Konzentriere dich. Ich glaube, du hättest beinahe den Halt verlo ren!« »Ich wünsche mir ...«, begann Pustel und wedelte mit den Armen. Konzentrieren, also wirklich! Wie sollte er sich konzentrieren, wenn dieser Narr wie ein gewaltiges, irritierendes Insekt um ihn herumhüpfte! Er ließ sich zu Boden sinken und seine Beine in das kühle, grüne Wasser baumeln. Hinter ihm schimmerte das Haus der Wahrheit wie eine Vision aus Elfenbein, Marmor und Gold. Vogel gezwitscher trällerte aus dem Garten, und aus den Wasserlilien drang das Gequake einer Froschfamilie. Der Dschinn schwebte über ihm. »Dschinn?« »Meister?« »Sag mir, warum gibt es nur drei Wünsche?« »Genau, Meister, das ist der Weg. Der Weg, das ist alles. Reichen drei denn nicht? Sind es nicht mehr als genug WÜNSCHE für ei nen jungen Mann wie dich?« »Du hast mir zwei Wünsche abgetrickst! Ich meine ... Ich hatte nicht genug Zeit, nachzudenken.« »Aber jetzt hast du Zeit, und du denkst viel zu viel nach«, mur melte der Dschinn. »Ach, und wie du wüten und jammern wirst, wenn das Nachdenken dich nicht mehr befriedigt als die Hast!« »Was soll das, Dschinn? Du flüsterst.« »Flüstern? WÜNSCHST du zu wissen, was ich sagte?« »Ich wünsche gar ni...!« »Du WÜNSCHST nichts?«, kam die prompte Antwort. Pustel trat wütend Wasser und benetzte den Teppich. Jafir wich kichernd aus, und einen Augenblick glaubte Pustel schon, der klei ne Kerl wäre verschwunden. Wie er ihn hasste! Der Schiffsjunge
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drückte seine Fäuste beinahe schmerzhaft gegen seine pickligen Wangen und starrte über das Becken. Am anderen Ende sah er Jem, der zwischen einigen Bäumen entlangging und in ein Gespräch mit dem Mädchen vertieft war, dieser Dona Bela. Pustel knabberte an seinen entzündeten Knöcheln. Neid und Sehnsucht erfüllten ihn. Dieses entzückende Mädchen! Ob sie wohl die seine würde, wenn er wunderschön wäre? Er musste es glauben. Aber konnte er es? Jafir tauchte wieder auf. »Hoh, Meister, etwas mehr Dankbarkeit für deinen Freund könnte nicht schaden, hm?« Pustel blickte hoch. »Freund?« »Wer ist wohl dein Freund, Meister, wenn nicht ich?« Der Schiffsjunge runzelte die Stirn, aber der Dschinn ließ sich nicht einschüchtern und plauderte munter weiter. »Also hättest du dir beinahe nichts GEWÜNSCHT. Und wenn schon! Warum soll test du auch noch mehr WÜNSCHEN?« Er beschrieb mit dem Arm einen Bogen, der das Haus und die Gärten einschloss. »Ich habe dich an einen Ort der ewigen Freuden gebracht, oder nicht? Brauchst du denn noch mehr? Es müsste schon ein gieriger Bursche sein, der noch einen Wunsch haben könnte!« »Ich wünsche mir ...« Pustels Stimme überschlug sich beinah. »Ich wünschte, ich hätte tausende!« »Wie bitte?« Jafirs Augen glühten. »Du WÜNSCHST?« Pustel sprang abrupt auf und drehte sich auf dem rutschigen Rand herum. Trotzig sah er den schwebenden Dschinn an, und ein listiger Ausdruck schlich sich in seinen Blick, als er vorsichtig und deutlich erklärte: »Dschinn, ich wünsche mir ... tausend Wünsche!« Pustel schloss die Augen und erwartete Rauch und einen Blitz. Im nächsten Moment würde er verwandelt sein. Jetzt war er nur ein Gast im Haus eines reichen Mannes, ein armer, hässlicher Junge, ab hängig von der Güte seiner Herren. Reichte ihm das? Noch einen Augenblick, und er würde die Macht eines Kaisers zur Verfügung haben! Mach mich schön!... Gib mir das Mädchen ... Baue mir einen eigenen Palast... Ja. Ja!
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Aber nein. Stattdessen fiel Pustel rückwärts in das Becken, als der Dschinn mit einem schallenden Lachen über ihn hinwegfegte. »Narr, glaubst du, du könntest mich überlisten? Du hast dir den ei nen WUNSCH GEWÜNSCHT, den ich dir nicht erfüllen kann!« »Du verweigerst mir deinen Gehorsam?«, rief Pustel. »Aber ich bin dein Meister!« »Zu den Bedingungen meiner Knechtschaft, und nicht mehr! Narr!« »Dschinn!« Aber Jafir war weg. Pustel lehnte sich zurück und trieb in dem tiefen Wasser. Dieses Wasser brannte nicht so auf seiner entzünde ten Haut wie das Meerwasser. Er hätte auch in weichem, kühlem Gras liegen können. Langsam schwamm er vom Rand des Beckens weg. Sein Freund, pah! Der Dschinn war sein Quälgeist, das wusste er. Ein hinterhältiger Betrüger! Wenn er bekommen wollte, was er sich wünschte, musste er den Dschinn überlisten. Aber wie? Pustel bekam Angst und blickte in den blauen Himmel hinauf. Dann wandte er den Kopf ab, als die Sonne ihn blendete. In dem Moment tauchte ein Gesicht vor ihm auf, ein Phantomgesicht mit einem langen, fließenden Bart. »Lord Almoran!«, flüsterte Pustel. Er erschrak nicht, denn er hat te diese Vision schon häufiger gesehen. Jeden Tag, seit er in den Palast gekommen war. Bis jetzt hatte er nur in indirekten, spöttischen An spielungen mit ihm über die Vorzüge dieser Traumdimension gespro chen. Bis jetzt hatte Pustel das auch einsehen können, aber jetzt fragte er sich, was er wohl davon haben sollte, wenn er sein altes Ich blieb. »Kind«, sagte die Stimme. »Habe keine Angst vor dem aus der Lampe. Er befindet sich immerhin in deiner Macht.« »In meiner?« »Denk doch darüber nach. Stimmen denn seine Worte nicht? Er hat dich hierher gebracht, weil du einen Ort der Vergnügungen suchtest. Was brauchst du jetzt seine Wünsche noch?« »Mein Herr«, flüsterte Pustel. »Aber mein Gesicht ... Meine Haut...«
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»Kind, du wurdest von Magie berührt. Weißt du nicht, was das bedeutet? Es verleiht dir die Macht, ewig hier in meiner besonderen Dimension zu leben. Wenn du jedoch deinen letzten Wunsch ver geudest, was bist du dann? Die Magie wird dich verlassen haben.« »Und dann?« Das Gesicht näherte sich ihm, und auch wenn die Worte freundlich klangen, steckte ein Drängen dahinter. Macht. Ein Befehl. »Ich sage dir, habe keine Angst vor dem aus der Lampe. Er gibt vor, dass die Freiheit der Welt die seine wäre, wenn du deine Wün sche erschöpft und seine Knechtschaft gelöst hast. Seine Macht könnte grenzenlos sein, glaubst du vielleicht. Doch in Wahrheit ver hält es sich genau umgekehrt. Hat er in seiner Ungeduld und Ver achtung nicht zugelassen, dass du die Konar-Lampe zurücklässt? Das war Narretei, aber er ist es, der den Preis dafür zahlen wird. Denn ohne die Lampe, ohne seine magische Behausung, endet sei ne Macht, sobald dein Wunsch erfüllt ist. Damit wird auch er ein gewöhnlicher Mann.« »Aber Herr, warum will er dann, dass ich den Wunsch äußere? Dieser Eifer ergibt keinen Sinn!« »Kind, er macht sehr wohl Sinn, denn der aus der Lampe ist da von überzeugt, dass du früher oder später deinen letzten Wunsch äußerst. Er hofft, dass du ihn hier verschwendest, in der Pracht und dem Luxus dieses Palastes, damit auch er hierbleiben darf, wenn sei ne Magie erloschen ist, und nicht an einem Ort der Furcht und des Entsetzens zurückbleibt.« Pustel war verwirrt. »Mein Herr, wollt Ihr denn, dass ich wünsche und den Dschinn seiner magischen Kräfte beraube?« »Nein, Kind, niemals! Verstehst du denn nicht? Du hast deine ers ten Wünsche leichtsinnig vertan, aber solange er auf den dritten wartet, hast du ihn unter deiner Knute. Und du musst ihn in Knechtschaft halten, wenn du mit mir hier leben willst. Denn ist dein Wunsch erst einmal verbraucht, verlierst du auch die Magie, die dich jetzt noch umgibt. Kind, denk an die Macht, über die du ver fügst, du allein! Verleiht sie dir nicht auch ein gewisses Maß an Lust?
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Lass den aus der Lampe ruhig wüten, er kann dir nichts tun. Aber wünsche dir nichts. Hier in der Traumdimension muss man sich nichts wünschen.« »Man muss sich nichts wünschen? Aber Herr ...« Jetzt erhob sich Pustel zu seinem Erstaunen in die Luft. Er schrie, aber dann hielt er die Luft an, als er sich umdrehte und hinab auf das Wasser blickte, das noch von seinem Körper Wellen warf. Sein Spie gelbild kräuselte sich und wurde dann klar, aber Pustel sah nicht das widerliche, aussätzige Gesicht, wegen dem er Spiegel verachtete, des Nachts Fenster mied und nie in die polierte Seite von Krügen blick te. Das Becken zeigte ihm das Gesicht eines gut aussehenden jungen Mannes. »Habe ich nicht gesagt, dass du dir hier nichts zu wünschen brauchst? Kind, beruhige dein aufgeregtes Herz! Es ist nicht nötig, sage ich. Du bist wunderschön, und heute Abend wird auch die Prinzessin zu dir in dein Schlafgemach kommen.«
21. Die Summe aller Frauen »Pah! Amateur!« Jemand stöhnte. »Oily, die Fensterläden!« »Für wen hält er sich - für Scheich Rashid?« »Oily, es ist zu hell!« Polty stieß mit der Hand gegen einen gläsernen Gegenstand, als er fluchend auf dem Boden nach dem Kissen suchte, das er hinunterge stoßen hatte. Der Gegenstand rollte rumpelnd los. Polty fluchte erneut und presste sich das Kissen auf die Augen. Wirklich, Oily ging zu weit! Vor einem Moment noch hatte der fette kleine Hurenbock voller geheucheltem Mitgefühl die Hände beim Anblick des Un wohlseins seines so wichtigen, hochgeschätzten und verehrten Kun den gerungen. Dann hatte er sein Entsetzen kundgetan, dass der Ma
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jor-Herr wie ein Gefangener im Dunkeln vegetierte. Was denn, Mit ternacht? Es war strahlend blauer Himmel! Und ein großer Tag in der Geschichte Qatanis! Auf den Straßen herrschte emsiges Treiben! Ein sehr verlockendes Argument. Bedauerlicherweise zog Polty jedoch die Dunkelheit vor. Doch als Eli Oli Ali die Fensterläden zurückklappte, vergaß er plötzlich seinen vornehmen Kunden, den er so unbedingt behalten wollte. Stattdessen starrte er angestrengt auf die Straße hinaus. »Oily, was ist los?«, fuhr Polty ihn nach einem Moment an. Die Antwort hatte einen unverkennbar neiderfüllten Unterton. »Casca Dalla treibt seine Babas zu den Buden! Pah, sie sind ver braucht, allesamt! Jungfrauen? Lagervorräte eines alten Weibes, würde ich eher sagen! Casca schreitet daher wie ein Gockel, sagt ständig: Eli ist erledigt, Eli hat seine Fähigkeiten verloren! Und jetzt seht ihn Euch an, mit solchen Babas! Natürlich lasse ich ihn in dem Glauben, dass ich ihn beneide ... Sage ich: Sie sind verdorben, Cas ca? Pah, pah! Soll der schmutzige Hurenbock doch glauben, dass er mich besiegt hat! Wenn all die feinen Burschen heute nach der Neuverlobung losgehen und feiern, werden sie da nach Cascas Schlam pen verlangen, frage ich Euch? Oder nach den frischen Produkten ihres alten Freundes Eli? Pah, pah, pah!« Angewidert schlug Eli die Fensterläden wieder zu, überlegte es sich dann aber anders und klappte einen so weit auf, dass ein biss chen Licht in die Gemächer fiel. Besorgt drehte er sich um, als ihm klar wurde, dass er sich zumindest die Loyalität des Major-Herrn sichern musste. Es war nicht leicht gewesen, wieder in den Palast zu gelangen. Also wirklich, diese Wachen! Das war blanke Wegelagerei! Eli musste dafür sorgen, dass diese Investition sich auszahlte. Erneut heuchelte er untertänigste Sorge. »Aber Major-Herr, wo sind Eure Freunde? Bei den Göttern, hat selbst Eure Bohnenstange Euch verlassen, obwohl Ihr so schmachtet? Was für Männer seid ihr Ejländer eigentlich? Wir Unangenesen waren niemals so barbarisch!« Polty richtete sich mühsam auf. Er blinzelte, rieb sich die Augen
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und spähte in die Schatten. Vom eine Straße entfernten Marktplatz drang erbarmungsloses Hämmern herauf. Es kündete von den hastigen Vorbereitungen für die großen Ereignisse des Tages. Das ging schon die ganze Nacht und den gestrigen Tag so. Der Lärm war zum Verrücktwerden. ... Polty suchte nach diesem Glasding, der Kugel. War sie endlich zur Ruhe gekommen? Anscheinend. Er schnüffelte laut, tippte sich mit dem Finger an die Nase und verkündete mit so viel Würde, wie er aufbringen konnte, dass Leutnant Throsh zufälligerweise auf einer Mission war. Ebenso wie Agent Burgrove. »Auf meinen beson deren Befehl, Oily Meinen Befehl, verstanden?« Sollte Polty - Ejlän der, Major und darüber hinaus ein Veeldrop - sich etwa von einem schmutzigen Mischling bemitleiden lassen? Es kostete ihn einige Mühe zu lächeln. »Deine Sorge ist rührend, Oily, aber ich versichere dir, dass es mir gut geht. Nun, jedenfalls geht es mir nicht so schlecht, dass ein frisches Fässchen Ferment mich nicht wieder aufpäppeln würde. Ach, und du hast nicht zufällig Tobarillos dabei?« Sofort klopfte der Hurenbock seine vielen Taschen ab. Geschmeichelt zog er eine bräunliche, krümelige Stange hervor ... der Toba rillo, den Polty ihm gegeben hatte. Dann suchte Eli Oli Ali nach Feuer. Im Licht der Flamme wirkte das Gesicht des Major-Herrn merkwürdig rot, fast ein wenig bläulich. Ihm rollten sogar Schweiß tropfen die Schläfen hinunter, als wenn er zu lange in der Sonne gearbeitet hätte. Eli Oli Ali runzelte die Stirn und war noch beunru higter als zuvor. Nervös sah er sich in der unordentlichen Kammer um und schnüffelte verstohlen. Der übliche Gestank, sicher, aber war da nicht noch mehr? Ein Hinweis, nur ein Hauch? Ein merk würdiger Schwindel überkam den Hurenbock, und er starrte faszi niert auf den gewaltigen Fleck in der Fläche des Marmorbodens, der wie geronnenes Blut aussah. Er hörte ein Rumpeln und zuckte zu sammen, als die glänzende Glaskugel langsam wie von eigener Kraft getrieben auf ihn zurollte. Mit einem kleinen Schrei hastete Eli Oli Ali zur Tür und erklärte, dass er ein Fass des besten Tiralos sofort und höchstpersönlich aus dem Khan des Halbmondes holen wollte.
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Im selben Moment klopfte jemand laut an die Tür, und der Hu renbock erstarrte. Polty richtete sich auf, sank jedoch wieder zurück und verstreu te Asche. »Oily, siehst du nach, wer das ist? Wirklich, seit die Ouabin aufgetaucht sind, bekommt man in diesem Flügel keine Sklaven mehr. Undenkbar, dass ein Veeldrop seine Haustür selbst öffnen muss!« Erneut klopfte jemand. Der Hurenbock zögerte. Die Tür öffne te sich auch ohne seine Hilfe. Sein schmieriges Gesicht verzog sich widerwillig. Der Neuankömmling war jemand, den er schon vorher gesehen hatte. Ein Ejländer, aber keineswegs so liebenswürdig wie der Major-Herr. Dieser Kerl war höchst unfreundlich gewesen, als Eli Oli Ali ihm einen Besuch abgestattet hatte. Mit einem spöttischen Lächeln hatte er ihm die Tür gewiesen und gemurmelt, dass solche Dienste unerwünscht wären. Pah! Ein Jungenliebhaber, zwei fellos! Sollte er sich doch das Jubba-Fieber holen! Geschähe ihm ganz recht! Man hatte schließlich Niveau. Hochmütig rauschte Eli Oli Ali an Lord Empster vorbei und schlug die Tür ins Schloss. Selbstzufrieden schritt der fette kleine Kerl die Stufen hinunter und wäre dabei fast über die Spitzen seiner geringelten Slipper gestolpert. Auf halber Strecke jedoch blieb er stehen. Ihm war ein neuer Gedanke gekommen. Ein entsetzlicher Gedanke. Einen Jungenliebhaber erkannte man doch sofort, oder nicht? Eli Oli Ali jedenfalls konnte das, und der Empster-Lord hat te für einen Ejländer eine sehr vornehme Figur. Ein Jungenliebhaber? Niemals! Es gab nur eine einzige Erklärung: Casca Dalla hat te ihn auf seine Seite gezogen! Eli fluchte leise und huschte die Treppe wieder hinauf. Verstohlen sah er sich um und presste sein Ohr an die Tür. Schreckliche Vorstellungen schossen ihm durch den Kopf. Wie die Ejländer über den fetten kleinen Mischling lachten. Der Ma jor-Herr, geschwächt und beeinflussbar; der Empster-Lord, der die Tugenden von Casca schilderte ... Jetzt stöhnte Eli. Vor lauter Bestürzung hatte er das Jubba-Fieber vergessen. Aber selbst wenn der
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Major-Herr daran erkrankt war, würde er vielleicht noch ... na, mindestens einen Monat leben! Welches Trostes er wohl bedurfte, wenn der Tod so nahe rückte! Mittlerweile war Eli selbst fieberheiß, wenn auch nur aus Panik, Neid und Gier. Er drückte sein Ohr fester an die Tür. Verdammt, er konnte kaum etwas hören! Da fiel ihm das Schlüsselloch ein, und er rutschte auf die Knie, In wenigen Momenten würden seine schlimmsten Ängste wahr werden. Folgende Szene spielte sich vor seinem Auge ab: POLTY (versucht, aufzustehen): Mein Lord! EMPSTER (mit einem ironischen Nicken): Major Veeldrop. Ihr habt anscheinend vergessen, dass Ihr mich erwartet? Eure Einladung war eindeutig und herzlich. POLTY: Allerdings, mein Lord. Ihr findet mich ein wenig ... indisponiert vor, das ist alles, aber Ihr seid dennoch herzlichst willkommen. Möchtet Ihr ein Glas Ferment? (Er sieht sich um und flucht) Verdammt! EMPSTER (setzt sich ihm gegenüber hin und beginnt, seine Pfeife zu stopfen): Bitte, macht Euch keine Mühe. Sollten wir nicht eine Weile einen klaren Kopf behalten? Heute Abend wird noch genug Ferment fließen, auch wenn es an geblich nicht erlaubt ist. POLTY (unsicher): Allerdings, allerdings. Es ist ein großer Tag für Qatanis Geschichte. Die Kugel rollt zwischen sie. EMPSTER: Ein großer Tag? Glaubt Ihr wirklich?
POLTY: Ich, mein Lord, denke gar nichts. Man hat uns gesagt,
dass es ein großer Tag ist.
EMPSTER: Major, Ihr überrascht mich! Wer hat Euch das ge-
sagt?
POLTY (hustet und fährt dann fort): Mein Lord, ich kümmere
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mich um den Handel. Wir können genauso gut mit einem Kalifen
handeln, der seine Loyalität einem Scheich Rashid
schuldet statt einem Sultan Kaled, oder nicht?«
EMPSTER: Hm. Seine Loyalität und seine Tochter.
POLTY: O ja, allerdings. Seine Tochter.
POLTY (hustet erneut und steht auf. Dabei schlägt ersieh mit einer Faust auf die Brust und geht dann zum Fenster. Immer noch dringt das Hämmern vom Markt herüber, und einige Kaufleu te preisen lautstark ihre Waren an. Fahnen sind quer über die Straße gespannt und flattern im Wind, und der Himmel ist strahlend hell. Nach einer Weile fährt POLTY nachdenklich fort: Heute werden sich alle bis auf die Altersschwachen und Kranken auf dem Markt versammeln. Und heute werden auch alle bis auf die Dekadentesten und Illoyalsten eine neue Allianz beschwören. Also wird der Kalif den Pakt aufkündigen, der seine Tochter dem Sohn von Sultan Kaled verspricht. Dann wird die wunderschöne Bela Dona ihren Schwur ei nem schmutzigen Burschen mit einem flohverseuchten Ka mel und einem Teetuch auf dem Kopf leisten. Wie sie jubeln werden! Was für eine glühende Freude herrschen wird! (Pause) Und wie alle Freuden wird auch sie leer sein. Die Kugel rollt POLTY vor die Füße, bleibt bebend dort liegen und rollt dann über den Boden wieder zurück. EMPSTER (hebt eine Braue): Alle? Euer Beispiel ist kaum fair. Ihr sprecht von einem Schwindel, einer erzwungenen Loya lität. Gibt es da nicht andere, wesentlichere Freuden? POLTY: Ich habe die Freuden dieser Welt bis zur Neige gekos tet. EMPSTER: Ihr habt Euch der Ausschweifung hingegeben. Es gibt höhere Dinge, aber was wisst Ihr davon? Ihr seid wie
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ein Tauber, der nicht an die Musik glaubt. Wie ein Mann, der blind geboren ist und glaubt, die Welt wäre schwarz, weil er nichts sehen kann. Bis jetzt herrschte eine Atmosphäre, als blieben Dinge ungesagt, als sammelten sich Kräfte für eine Konfrontation. Und jetzt beginnt sie, allmählich und zunächst nur mit Worten. Als POLTY sich vom Fenster abwendet, klingt seine Stimme ärgerlich. POLTY: Es gibt Dinge, die ich sehe, mein Lord. Viele Dinge. Glaubt Ihr denn zum Beispiel, dass ich nicht wüsste, wer Ihr seid? EMPSTER (lacht laut): Es gibt viele, zu viele, die mir sagen wollen, was ich bin. POLTY (wirft seinen Tobarillo auf den Boden): Glatte Worte. Aber Ihr wisst doch, dass es in meiner Macht lag, Euch als den Verräter und Abtrünnigen zu bestrafen, der Ihr seid? Wenn ich mir vorstelle, dass Ihr, Ihr, einmal ein ehrenwertes Mitglied der Überlegenen wart! Der geheimnisvolle Lord E ..., der den Spezialagenten Befehle geben konnte! Wie ich davor gezittert habe, bei Euch in Ungnade zu fallen! Wie ich litt, als es schien, dass ich Euren Unwillen auf mich gezogen hatte! Und jetzt seht Euch an! Ein Abtrünni ger, ein Verräter, der von seinen eigenen ehemaligen Agenten gejagt wird! EMPSTER (lächelt): Gejagt? Wohl kaum. POLTY: Wir haben kaum damit begonnen. Jedenfalls werdet Ihr mir nicht entkommen, Empster. Was Ihr mit dem ver krüppelten Jungen angefangen habt, werde ich noch herausfinden, und zwar bald. Und was den Vaga angeht... Ich bin vollkommen sicher, dass er für seine schmutzigen Tricks so bestraft wird, wie er es verdient hat. Jetzt jedoch interessiere ich mich für Euch. Wie einfach es gewesen wäre, unsere Gastgeber zu überreden, Euch ebenfalls in die
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Verliese zu werfen! Habt Ihr Euch nicht gefragt, warum ich
Euch verschont habe?
EMPSTER: Major, wollt Ihr etwa gerissen sein? Es gab Zeiten,
in denen ich an Prinz Jemany verzweifelte, aber wirklich,
Ihr seid noch weit dümmer. Ihr gebt vor, um meine tieferen
Geheimnisse zu wissen. Ist Euch nie in den Sinn gekom
men, dass ich vielleicht auch Eure kennen könnte?
POLTYS Miene verzerrt sich vor Wut, und er tritt drohend vor, doch in dem Augenblick bleibt die Kristallkugel vor seinen Füßen liegen. Er schwankt und legt eine Hand an die Stirn. Dann bückt er sich und hebt die Kugel auf. Einen Moment lässt er sie auf der Handfläche ruhen. Dann scheint sein Selbstbewusstsein wieder zu wachsen, und er wirft sie während des folgenden Wortwechsels lässig in die Luft. Lichtblitze zucken aus dem glänzenden Glas. POLTY (lächelt): Aber mein guter Lord, wir spielen miteinan-
der. Hätte ich Euch eingeladen, wenn meine Absichten
feindselig wären? Wie Ihr seht, sind wir allein, und ich
kann Euch nicht bedrohen. In Wahrheit liegt mir auch
nichts ferner.
EMPSTER: Ihr habt mich einen Verräter genannt.
POLTY (lacht): Mein Lord, ein ironisches Zitat, nichts weiter.
Was kümmert uns die Sichtweise der vulgären Menschen,
wenn wir uns zur Elite der Welt zählen? Was kümmern uns
die Narreteien der Vergangenheit, wenn die Zukunft doch
vor uns liegt und eine Schlacht bevorsteht? Mein lieber
Lord, ich möchte Euch einen Vorschlag unterbreiten.
EMPSTER: Ihr? Mir?
POLTY: Ich möchte offen sein. Ich spreche im Namen des
Ersten Ministers.
EMPSTER: Tranimel?
POLTY: Eben der.
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EMPSTER: Nicht mehr Tranimel.
POLTY (runzelt die Stirn): Mein Lord?
EMPSTER (sanft): Ihr sprecht, denke ich eher, für ... TOTH-
VEXRAH!
Der Name hat eine unvermittelte und äußerst beunruhigende Wirkung. In POLTYS Augen glimmt ein Feuer, und er stolpert vor, beugt sich fast lüstern über den vornehmen Lord. Er hält einen Finger in die Luft, auf dessen Spitze die Kugel tanzt. Jetzt ist auch klar, dass das Licht aus ihrem Inneren strahlt. Als Pol ty weiterspricht, wirkt seine Stimme merkwürdig verändert. Und sie wird zunehmend zur Stimme eines anderen. POLTY: Teurer Lord, ich muss nun also tatsächlich annehmen, dass Ihr meine Geheimnisse kennt. Aber solltet ihr nicht auch davon ausgehen, dass ich von den Euren weiß ? Kommt, geben wir die Verstellung zwischen uns auf. Es hat so lange gedauert, so entsetzlich lange. Ich hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass wir uns jemals wiedersehen würden. Süßer Lord, wollt Ihr nicht meine Hand nehmen? Mich umarmen? Aber warum nenne ich Euch Lord? Ist das nicht kaltherzig, wenn Ihr doch in Wahrheit mein ... Bru der seid? EMPSTER (erhebt sich abrupt): Nein! Die Kugel dreht sich von POLTYS Finger, aber sie fällt nicht zu Boden. Stattdessen schwebt sie in der Luft und umkreist POL TYS Kopf wie ein kleiner Mond, während TOTH-VEXRAH durch ihn spricht. Mittlerweile ist POLTYS Haut vollkommen blau, und Feuer scheint aus seinen Schläfen zu flackern. Auch LORD EMPSTERS gewöhnliche Kleidung - weiter Umhang, breitkrempiger Hut - verblasst, löst sich auf wie Rauch, als sein wahres Wesen zum Vorschein kommt und golden schimmert.
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TOTH: Bruder Agonis, willst du dich zum Narren machen? Ich sagte, ich kenne deine Geheimnisse, und ich meine alle! Glaubst du denn, ich wüsste nichts von dem wahren Objekt deiner Suche? Du suchst nach dem Schlüssel - ich auch. Du hast deine Agenten ausgesandt, ich auch. Wie sehr du dich danach sehnst, den Orokon wiederherzustellen, mit ausgebreiteten Armen davorzustehen, wenn die so lan ge verschollenen Kristalle wieder in der ...« AGONIS: Heuchler! Monster! Du wagst es, von dem mystischen Kreis zu sprechen, wo doch seine Zerstörung allein dein Werk war? TOTH: Meines? Wie ich sehe, scheinen die Äonen die Erinnerung meines Bruders geschwächt zu haben. Es war doch wohl Koros, der den ersten Kristall von seinem angestammten Platz entfernte, oder nicht? Und es war Orok, der sie am Ende alle zerstreute! Bruder, gib mir nicht die Schuld! Sondern unseren Brüdern, unseren Schwestern! Und unserem treulosen Vater! AGONIS: Mein Vater, nicht dein Vater! Wenn ich meinen Samen in einem Ausguss verstreute, und ein böser Zauber ließe diese Saat keimen und zu einem Monster heranwachsen, würde ich dieses Monster niemals als meinen Sohn anerkennen! TOTH: Verleumderischer Betrüger! Ich war bereits vollkommen ausgebildet, als unser Vater mich von sich stieß! AGONIS: Voll ausgebildet und ein Monster! TOTH: Voll ausgebildet und dein Bruder! Ach Agonis, Ago nis, was ist aus dir geworden? Erinnerst du dich nicht mehr an die Zeit, als Bruder Koros verstoßen wurde und du vor allen seine Hand nahmst und für seine Tugend bürgtest? Wie eiferüschtig ich aus meinem Versteck zugesehen und mir gewünscht habe, ich wäre derjenige, der sich in deiner Liebe sonnte! Ich, das Kind, dem nicht einmal gestattet war, in den niedersten Korridoren des Hauses unseres Va
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ters zu verweilen. Kannst du mich nicht jetzt lieben, wie wir es eigentlich tun sollten? Sind wir nicht aus derselben Substanz geschaffen? Sind wir nicht gleich, beide allein und suchend? AGONIS: Ich will nichts davon hören! Mein Bruder Koros war ein gutes und tugendhaftes Wesen, das nur aufgrund seines Aussehens verachtet wurde! TOTH: Verachtet, ja! Zurückgestoßen! Und was bin ich? Wenn Koros deine Liebe verdient, verdient TOTH sie dann nicht doppelt? Agonis, du bist ein Gott! Ich bin dein Bruder! Warum bin ich dazu verdammt, ein Geschöpf des Bösen zu sein? Liebe mich, wie du den finsteren Koros geliebt hast! AGONIS: Ich sagte schon, dass Koros tugendhaft war! Ungläubiges, böses Ding! Was bist du, was warst du je, wenn nicht das Laster selbst, gemein, schmutzig und heimtückisch? Mittlerweile steht POLTYS Haar in Flammen, und sein Gesicht und seine Glieder verzerren sich grotesk, außer wenn TOTH durch ihn spricht. Immer noch wirbelt die Kugel um seinen Kopf, und der Raum ist von violettem Licht erfüllt. ELI OLI Ali draußen vor der Tür ist sowohl fasziniert als auch entsetzt und rutscht abwechselnd wimmernd und stöhnend zu Boden, rap pelt sich dann jedoch wieder hoch und presst sein Auge gegen das Schlüsselloch. TOTH (fährt in gemessenerem Tonfall fort): Bruder, ich bin mehr, als du denkst, aber anscheinend willst du nicht zuhören. Wohlan denn! Da ich auch ein Gott bin oder bald einer sein werde, steht es mir nicht an, um Liebe zu betteln. Nicht mehr, Aber denke nach: Du nennst mich ungläubig und treulos, aber bist du nicht genauso ein Verräter an dei nem Vater wie ich? Er wollte, dass du neben ihm in der Dunkelheit seines Todes liegst. Stattdessen bist du durch alle Zeitalter der Menschheit gewandert und hast das eine
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gesucht, das du niemals finden kannst. Ach, wären wir uns nur früher begegnet! (Er deutet auf das Fenster) Jetzt sprechen diese armseligen Menschen von einem neuen Pakt, einem neuen Anfang. Aber es gibt einen größeren Pakt, nicht wahr, der hier, in diesen Mauern geschlossen werden wird. AGONIS (verbittert): Pakt? Du meinst, ich mit dir? TOTH: Bruder, ich sagte, ich weiß, was du suchst. Den Oro kon, ja. Aber warum? AGONIS (wutentbrannt): Um die Welt vor dir zu retten! TOTH: Glattzüngiger Agonis, ich glaube, dass dich diese Welt nur wenig kümmert. Willst du nicht lieber - wenn ich das sagen darf - in meine magische Kugel blicken? Der besessene POLTY rückt näher, grinst und fordert Agonis auf in die sich drehende Kugel zu sehen. Einen Moment ist der Gott fasziniert, und es sieht so aus, als würde er erliegen. Dann schlägt er mit einem Schrei POLTY die Kugel aus der Hand. Sie fällt zu Boden, zerspringt aber nicht. Stattdessen rollt sie auf dem Boden umher, als hätte sich der Raum in die Kabine eines sturmgepeitschten Schiffes verwandelt. Aber noch mehr Zauber ist hier am Werk. Mitten in dem roten Fleck auf dem Boden steht eine weibliche Gestalt, die einen Schleier und ein langes, dünnes Gewand trägt. AGONIS (erschreckt): Die Schimmernde Prinzessin ... Hier?
TOTH: Bruder, bist du ganz sicher?
AGONIS: Sie ist wie die Prinzessin gekleidet...
TOTH: Aber wer ist die Prinzessin? Du kennst doch die
Wahrheit, oder nicht?
AGONIS: Du Ungeheuer, ich fürchte mich vor dem, was deine
Worte andeuten!
TOTH (gerissen): Bruder, was hättest du schon zu fürchten?
Geh zu dem Mädchen. Sie ist nur eine Illusion, ein Traum
der Kugel, aber sehen wir in Träumen nicht manchmal die
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Wahrheit? (Schmeichelnd) ja, so ist es richtig ... Noch nä-
her ... Willst du nicht ihren Schleier lüften ?
AGONIS (flüsternd): Aber sie besteht aus ... Nebel!
TOTH: Ich sage dir doch, sie ist ein Traum der Kugel. Komm,
Bruder, wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Vision wird
bald schwinden, und ich strapaziere meine Kräfte, indem
ich durch den Mund dieses rothaarigen Narren zu dir spre
che. Schnell jetzt, rasch, zieh den Schleier zurück!
TOTH stockt. Der brennende POLTY fällt zu. Boden, und für einen Augenblick fangen die Flammen in seinem Haar an zu flackern. Die Kugel kreist schneller, und er erholt sich rasch. Aber AGONIS zögert ebenfalls und wendet sich plötzlich gegen den Anti-Gott. AGONIS: Monster, quälst du mich mit der Sehnsucht meines
Herzens?
TOTH (mit gespieltem Erstaunen): Quälen? Keine Qualen!
Bruder, ich sagte doch, ich hätte einen Vorschlag für dich ...
oder nicht?
Agonis zögert noch einen Moment, aber TOTH hat seinen Sieg bereits errungen. POLTYS Gesicht verzieht sich zu einem lüsternen Grinsen, als das Gewaltigste von OROKS Kindern beinahe wie ein Dieb in den blutroten Kreis schleicht. Mit zitternder Hand reißt er den Schleier weg. Dann stolpert er entsetzt zurück. AGONIS: Nein! Das kann nicht sein! Sie kann nicht immer
noch in deiner Macht sein!
TOTH: Sie ist wundervoll, nicht wahr? Bruder, warum jam
merst du?
Die Manifestation flackert und verschwindet. AGONIS springt auf seinen rothaarigen Folterer zu und packt ihn an der Gurgel.
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Währenddessen rollt die Kugel in immer kleineren Kreisen auf dem Boden umher AGONIS: Dämon, welche Tricks sind das ? Und spiel nicht den Unschuldigen! Warum hast du mir diejenige gezeigt, die ich suche? Warum hast du mir deine Tochter IMAGENTA ge zeigt? TOTH (ekstatisch): Ali! Er spricht ihren Namen aus! AGONIS: Es ist der Name, der ewiglich in meinem Verstand procht, wie ein Mantra. In den Äonen meiner Suche habe ich nur drei Dinge gelernt: dass die Liebe zu dieser Maid auf immer mein Herz erfüllt, dass du, du monströse Kreatur, kein Recht hast, ihr Vater zu sein, und dass nur die Macht des Orokon sie jemals zu der meinen machen kann! TOTH: Hah! Endlich! Die Wahrheit! Er reißt sich erregt los, bricht jedoch erneut zusammen. AGO NIS sinkt erschüttert von seinen Gefühlen auf den Diwan, auf dem zuvor POLTY lag. AGONIS (nach einer Weile): Was willst du von mir? TOTH (unter Schwierigkeiten): Oh, sehr wenig! AGONIS: Das glaube ich dir nicht. Du betrügst und hinter gehst, aber das hat jetzt ein Ende! Denkst du, ich würde dir glauben, dass diese unangesische Prinzessin tatsächlich meine geliebte Lady Imagenta ist? Das kann nicht sein! Es widerspricht allen Prophezeiungen! TOTH (verächtlich): Was bedeuten einem Gott schon Prophezeiungen? Kann er sich nicht darüber hinwegsetzen? Aber Bruder, ich kann diese Manifestation nicht lange aufrecht erhalten. Meine Kräfte sind in einem gewaltigen Netz der Wachsamkeit gebunden und stehen längst nicht in ihrer vollen Blüte. Mein Griff hat bereits zweimal geschwankt, und der flammenhaarige Narr hätte sich beinahe befreien
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können. In wenigen Augenblicken wird er erneut zu Boden stürzen ... AGONIS: Lass ihn sofort los! Und weiche von mir! TOTH (drängend): Warte! Bruder, hör mir zu, hör einfach zu! Diese Dame ist tatsächlich nicht die, welche du suchst, aber dennoch ist sie eine Emanation meiner Tochter, und zwar eine sehr mächtige ... AGONIS: Was ist das jetzt wieder für eine Lüge? TOTH: Du runzelst die Stirn? Komm, du bist seit tausend Zyklen umhergewandelt! Hast du nicht tausend Damen ge sehen, ach, was sag ich, zehntausende, die alle deiner Geliebten ähnelten? Einige sind fast wie sie, andere ähnelten ihr gar nicht, sobald du sie näher betrachtet hast, Und bleibt nicht dennoch ein Verdacht, eine Spur? Wie könnte das auch anders sein, denn schließlich ist Lady Imagenta nichts anderes als DIE SUMME ALLER FRAUEN! AGONIS (bricht zusammen): Ihre Verkörperung! Und sie wird die meine sein! TOTH: Bruder, ich wünschte, es wäre so! Habe ich sie denn nicht als Geschenk für dich erschaffen? Du hättest sie schon vor Äonen heiraten sollen, wenn nicht dein närrischer Vater gewesen wäre! Besäße ich wahrhaft göttliche Kräfte, würde ich sie dir jetzt sofort geben, aber leider ist diese Dame auch für mich verboten! AGONIS (blickt mit glühenden Augen hoch): Du weißt nicht, wo sie ist? TOTH: Habe ich denn die Macht, die ich brauche? Ich existiere in dieser Welt nur durch Kreaturen wie diesen rothaarigen Narren, und was ist er schon? Aber Bruder, stell dir vor, welcher Ruhm uns erwartet, wenn du dich mit mir ver bündest! AGONIS (schreckt hoch): Mit dir verbünden? TOTH: Denk darüber nach! Für mich der Orokon! Für dich die Lady! Bruder, hör mir zu ...
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AGONIS (wendet sich ab): Nein! Das ist ein teuflischer Trick! Ich werde nicht zuhören, niemals! TOTH (packt ihn): Hör zu! (Leise und rasch fährt er fort): Bruder, am heutigen Tag können wir unsere Loyalität erproben! Treten bei dem Ritual der Neuverlobung nicht drei Freier vor und beanspruchen die Hand der Schimmernden Prinzessin ? Jeder Freier wird ein Geschenk mitbringen, und der, dessen Geschenk das prächtigste ist, wird die Schimmernde Prinzessin davonführen! Natürlich ist das nur ein Schwin del, denn dieser Mensch namens Rashid hat dafür gesorgt, dass er, und nur er, erwählt werden wird. Aber Bruder, das darf nicht sein! (Er greift rasch nach der Kugel und reicht sie AGONIS.) Nimm diese Kugel, halte sie in deiner Handfläche und lass sie sich drehen! Fege die scheinheiligen Freier einfach beiseite, auch den namens Rashid, und dann Bruder, dann schwöre ich dir, wird die Prinzessin dir gehören! AGONIS (kalt): Mir? Sie ist nur eine Erscheinung, das hast du doch selbst gesagt! TOTH: Nicht so voreilig! Bruder, hast du es denn noch nicht erraten? Kannst du es nicht erraten? So wie der Junge Jemany der Schlüssel zum Orokon ist, so zeigt dieses Mäd chen den Weg zum Kristall des Theron! Wer sie besitzt, besitzt auch den Kristall! Rasch jetzt, schnell! Haben wir eine Abmachung? Erneut hält er die Kugel hoch, aber mittlerweile zittert POLTYS Hand heftig, und AGONIS springt plötzlich auf. »Niemals!«, schreit er und stößt ihn weg. POLTY stürzt und windet sich auf dem Boden, während die Kugel in einem wilden Zickzackkurs über den Boden rollt. TOTH (schnappt nach Luft): Bruder, sei kein Narr! AGONIS: Ein Narr? Wenn ich mich nicht mit dir verbünde? Du sagst, du hast den Schlüssel gesucht, aber ich habe ihn
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gefunden, und er gehört mir! Du sagst, du hast deine Agenten ausgesandt, aber meine Kinder haben bereits zwei Kris talle gefunden, und werden auch sehr bald den dritten erringen! Und was den Ouabin angeht: Ist er nicht ein bloßer Bauer in meiner Hand? Was weißt du schon von meinen Plänen und Listen? Du widerliches Ding, du magst dich nach dem Orokon sehnen! Ich jedoch werde ihn besitzen, während du im Reich des Nicht-Seins schmorst, wo du hingehörst! Ich weiß nicht, wie schrecklich die Gefangen schaft ist, in der du meine Geliebte hältst, aber schon bald wird dein Böses für immer zerstört sein, und Lady Imagenta wird zu mir kommen! TOTH: Narr! Ohne mich wirst du sie niemals finden! Du willst mich ins Reich des Nicht-Seins zurückwerfen? Narr, sage ich! Selbst jetzt wachsen meine Kräfte, werden aus einer geheimen Quelle gespeist... AGONIS: Mächte? Du bist schwach und stirbst! TOTH (verzweifelt, ringt um diese letzten Momente): Nein! Grausamer Bruder. Ich habe dich schon einmal besiegt, und ich werde ... dich wieder besiegen ... Schon bald werde ich stärker sein ... stärker ... (Ein letztes Aufbäumen). Agonis, dies schwöre ich dir: Bevor diese Suche vorbei ist, wirst du meine Vergeltung kennen lernen, zu Boden sinken und ver fluchen, dass du mein Angebot nicht angenommen hast! Du hattest mein Mitgefühl und hast es verschmäht! Als nächstes wirst du meinen ... Zorn zu spüren bekommen ... Ein Schrei ertönt, und der Anti-Gott ist verschwunden. Die Flammen in Poltys Haar erlöschen, das Blau seiner Haut verblasst, und er sinkt zu Boden. Doch unmittelbar bevor er in die Bewusstlosigkeit versinkt, wird seine Brust von einem Krampf geschüttelt, und wie eine Flut ergießt sich blutrotes Erbrochenes aus seinem Mund. AGONIS blickt kurz auf ihn hinunter und überlegt, dass sich dieser Feind, wenn er auch viel schwächer ist
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als sein vorgeblicher Bruder, vollkommen hilflos in seiner Gewalt befindet. AGONIS (nachdenklich): Nein, Flammenhaariger, ich werde dich jetzt verlassen. Deine Rolle ist zwar grotesk, aber sie ist dennoch genauso notwendig für diese Suche wie die des Jungen Jemany und des Mädchens Catayane. Ich verschone dich. Da du ein Sprachrohr des Bösen bist, verdienst du Mitleid, obwohl es gerade das Böse in dir selbst ist, dass dir ermöglicht, dieses Sprachrohr zu sein. So wie Jemanys Tu gend ihn zum Schlüssel des Orokon macht. Der, der sich mein Bruder nennt, hält mich für einen Narren. Gut, sehr bald wird sich alles klären. Ich verlasse dich, Flammenhaa riger, und überlasse dich deinem unruhigen Schlaf. Der Goldene Gott breitet seine Arme weit aus, ein Blitz durch zuckt die Luft, und dann ist auch er fort. Die Helligkeit bleibt noch einen Augenblick wie ein rauchiger Nebel in dem Zimmer hängen. Als sie abebbt, ertönt ein leises Klicken. Vorsichtig schiebt sich ein fettiges Gesicht durch den Türspalt, und ELI OLI Ali schleicht auf Zehenspitzen in den Raum. Während er sich unsicher umsieht, zupft er mit dem Finger an seiner Unterlippe. Er bückt sich und stößt POLTY an, will ihn sogar schütteln, überlegt es sich jedoch anders. Die Kugel stößt leise gegen die Wand. Die Augen des Hurenbocks leuchten auf als er sie sieht. Nervös nähert er sich dem merkwürdigen Glasobjekt und sieht zwischen dem bewusstlosen POLTY und der schimmernden Kugel hin und her. POLTY, die Kugel, POLTY, die Kugel... ELI OLI Ali: Ach, Major-Herr, Ihr armer, armer Kerl. Ihr habt bestimmt keine Verwendung mehr für diese seltsame Magie. Ferment und Jarvel und Tobarillo, das ist die richtige Medizin für Euch ... Und ein Baba-Mädchen oder auch drei, aber keine von Casca Dalla, hm? So ... Als Ihr mit
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dieser merkwürdigen Stimme gesprochen habt, sagtet Ihr da nicht, dass der Bursche, der diese merkwürdige Kugel besitzt, als Belohnung dafür Prinzessin Bela Dona bekommt? Hm ... Wenn ich ein so schönes Mädchen hätte ... wie könnte Casca Dalla da wohl mithalten? Der Hurenbock entscheidet sich. Er schnappt sich die Kugel und läuft rasch davon.
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22. Eine unerwartete Begegnung »Geheiligte!«, sagte Mutter Madana. »Geheiligte!«, sagten auch ihre Mädchen, als sich alle, Mutter und Töchter gleichermaßen, auf den Teppich warfen, als wollten sie beten. Cata betrachtete sie spöttisch und erwischte mehr als nur eine Sefita oder Satima dabei, wie sie fasziniert durch die Finger linsten. Sie schüttelte sich, als sie an die peinigenden Liebkosungen dachte, die sie während ihrer Gefangenschaft in diesen Gemächern über sich hatte ergehen lassen müssen. Dieser Besuch jetzt war allerdings eine ganz andere Angelegenheit. Seit ihrer Verwandlung hatte Cata sich immer wieder in den Spiegeln betrachtet und dabei die Linien ihres neuen Gesichts nachge zeichnet. Der Beweggrund dafür war nicht Eitelkeit, obwohl ihr neues Gesicht schöner war als ihr eigenes. Nein, sie fragte sich, ob diese Verwandlung wohl andauern würde. Eine Weile war ihre neue Identität kaum stabil gewesen, und sie sah, wie ihr Gesicht sich veränderte. Eine Zeit lang hatte sie auch die Stimme der Prinzessin wie ein fernes Echo in ihrem Kopf gehört. Mittlerweile war dieses Echo verstummt, und Cata war allein. Allein mit einer Aufgabe, die sie kaum begriff. Konnte sie wirklich als Prinzessin Dona Bela beste hen? Es gab kein Zurück. Sie musste es einfach versuchen.
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Wesir Hasem räusperte sich. »Sehr gut, Mutter, fangen wir an«, sagte er. Diese ungewohnte Darbietung von Frömmigkeit ver stimmte ihn. Aber der Wesir war schon den ganzen Vormittag gereizt gewesen. Nicht zum ersten Mal warf er jetzt dem Mädchen neben sich einen misstrauischen Blick zu. Ihre Schönheit war wirklich betörend, aber war sie auch echt? Zwischen der Gaze und den Spiegeln in ihrer Kammer hatte sie wie das Geschöpf gewirkt, das sie immer gewesen war, flatterhaft und beinahe durchscheinend. Der Wesir musste sich fragen, ob sein armer Herr nun doch dem Wahnsinn erlegen war, der auf die lauert, die zu lange und zu stark in Angst und Schrecken leben. Das Protokoll machte es selbst ihm unmöglich, das Kind neben sich zu berühren. Aber er sehnte sich mit jeder Faser seines Körpers danach, das Protokoll einfach zu missachten. In Mutter Madanas Reich, in dem helleren Licht und den freund licheren Farben, strahlte das Mädchen immer noch etwas Körperloses aus. Aber nicht ganz. Unter dem wehenden Schleier erblickte der Wesir ein Gesicht, das, davon war er überzeugt, von der Röte des Lebens getönt war. Konnten die Geschichten über den Geist des Sehers stimmen? Dem Wesir pochte die Furcht in den Schläfen, und er fragte sich, welche merkwürdige Magie wohl noch ihr Wirken zei tigte, bevor dies alles endlich vorüber war. Mutter Madana bellte einige Befehle, und ihre Mädchen stellten sich in einer Reihe auf, wie Soldaten - wenn es denn Soldaten erlaubt gewesen wäre, zu grinsen, zu erröten und zu kichern, wenn ihr Befehlshaber vorbeischritt. Der Wesir musterte sie mürrisch, während seine königliche Begleiterin die Reihe abschritt. »Es sind doch alles ...Jungfrauen, Mutter?«, fragte er leise. Mutter Madanas Augen blitzten, und sie berührte kurz den Orden auf ihrem Busen. »Selbstverständlich, Exzellenz. ELI und ich ... Casca und ich schaffen nur beste Ware heran. Unschuld ist doch die Parole für die Mädchen, die für die vornehmsten Harems ausge wählt werden. Nein«, fügte sie mit einem wissenden Lächeln hinzu, »die unkeuschen Künste mögen vielleicht eine Quelle großer Ver
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gnügungen sein, aber diese Freuden überlasse ich den Lustknaben im Untergeschoss.« »Ganz recht!«, erwiderte der Wesir knapp und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den anderen Geschehnissen zu. Nach den uralten Statuten, die das Ritual einer Neuverlobung regelten, musste eine königliche Prinzessin von zwei wunderschönen Jungfrauen flankiert werden, wenn sie vor den Altar trat. Mutter Madana höchstpersönlich überwachte die Auswahl. Immerhin würden die Mädchen, die an einer solchen Zeremonie teilnahmen, beträchtlich im Wert steigen. Wenn sie mit Casca Dalla zusammen arbeiten sollte, musste sie ihm von Anfang an zeigen, dass sie immer noch den Markt unter Kontrolle hatte. Entschlossen presste sie die Lippen zusammen. Sie würde ihren alten Freund Eli sehr ver missen! Sie hatte dem schmierigen Kerl sogar eine Träne nachge weint, allerdings nur eine einzige. Geschäft war Geschäft, und selbst sie, die mit dem königlichen Exportorden ausgezeichnet wor den war, musste kämpfen, immer kämpfen, um ihre Position zu be halten. Eifrig betonte sie die Vorzüge dieser oder jener kichernden Krea tur, lüftete manchmal den Schleier eines der Mädchen, hob ein Kinn, richtete einen Sari oder ordnete eine Schmuckkette. Der Wesir war schon bald von den Mädchen gelangweilt und betrachtete stattdessen Mutter Madana. Es war eine seltsameVorstellung, dass dieser watschelnde, alte Eunuch unter dem Regime des alten Kalifen der berühmteste Lustknabe gewesen sein sollte. Seine Schönheit war legendär, wurde jedoch noch von seinen sinnlichen Fertigkeiten übertroffen. Mit ihrem knackigen, seidenen Po und ihrer beweglichen Zunge sollte die »Süße Madana« angeblich einen Mann auf dem Gipfel der Lust halten und ihn unablässig dort rei ten lassen können, vom Einbruch der Dunkelheit bis zum Anbruch des Morgengrauens. Jetzt würde jeder Mann nur noch Ekel vor die ser aufgedonnerten, fetten alten Tunte empfinden, trotz aller Juwe len und Seide, in die sie sich hüllte, und trotz der Schminke, die sie auf ihr Gesicht schmierte. Wie hatte sie nur so weit sinken können?
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Mit einem schmerzhaften Stich dachte der Wesir an den Jungen, der vielleicht ihr würdiger Nachfolger werden konnte. Der Barbier müsste sein Werk mittlerweile beendet haben. Cata musterte die Reihe der Mädchen mit kaum verhüllter Abscheu. Ihrer Meinung nach sahen sie alle gleich aus, aber vermutlich nahm die Schimmernde Prinzessin ihre Aufgabe ernst. Mit gerun zelter Stirn tat sie, als denke sie konzentriert über die entscheiden de Frage nach - die oder die? - und ignorierte das Gefühl, das ir gendwo irgendetwas überhaupt nicht stimmte. Plötzlich ertönte draußen ein verängstigter Aufschrei, und jemand hämmerte an eine
Tür. Die Mädchen kreischten. »Se'fita! Satima!« Mutter Madana fuhr erschrocken herum. »Was? Was denn?« Wesir Hasem war abgelenkt und hatte die Quelle der Störung noch nicht ausgemacht. Bevor er ihr etwas zurufen könnte, war Cata bereits losgelaufen und um eine Ecke der langen Kammer verschwunden. Diese Stimme kannte sie. Hastig lief sie durch einen Korridor. Während der ganzen Szene mit Mutter Madana hatte Cata ge fühlt, wie sich etwas Böses näherte, hatte im Unterbewusstsein das Zischen aus der Kobragrube wahrgenommen. Jetzt war das Böse plötzlich deutlich geworden. Sie stürmte zu der Tür und hörte ganz deutlich das Hämmern und die Schreie dahinter. Die Tür war verschlossen. Aber auf ihrer Seite steckte ein Schlüssel. Sie drehte ihn herum. Die Tür war nur einen Moment geöffnet. Cata sah eine Treppe, die von unten heraufführte. Stämmige Sklaven, Mädchen in bunten Gewändern und ein wütender Barbier, der ein Rasiermesser schwang, stürmten sie hinauf. Und ein nackter Junge drückte sich gegen die Tür. Er fiel ihr in die Arme. »Rajal!«
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Rasch zog Cata ihn hinein. Sie schlug die Tür zu und wollte sie wieder abschließen. Doch einer Eingebung folgend riss sie sie sofort wieder weit auf und erwartete deutlich sichtbar die heranstürmenden Horden. »Geheiligte!« Der Barbier ließ das Rasiermesser zu Boden fallen. »Geheiligte!«, schrien die Lustknaben und Sklaven gleichzeitig und sanken auf die Knie. Jetzt erst schlug Cata die Tür zu. »Prinzessin, wo seid ihr?«, rief eine Stimme hinter der Ecke. Es war der Wesir. Aber Sefita und Satima, die von dem Aufruhr erregt waren, waren ihm voraus. Sie hatten sie beinahe eingeholt. Cata sah sich hastig um. Der Lagerraum! »Raj, hier hinein, rasch!« »Prinzessin!«, rief Sefita und stürmte herein, bevor Cata die Tür schließen konnte. »Prinzessin!«, echote Satima und tat das Gleiche. Ihr Idol sah sie an und seufzte unwillkürlich. Ihre Blicke waren so eifrig, so voller Staunen. »Euch beide habe ich doch schon einmal gesehen, hm?« Mit diesen Worten schlug Cata ihre Köpfe gegenei nander. Sie stand mit dem Rücken zur Tür und dachte nach. Sie verstand zwar nicht alles, was geschehen war, aber es war eindeutig, dass sich Rajal in tödlicher Gefahr befand. Ihr Blick fiel auf die beiden bewusstlosen Mädchen. Sefita hatte fast Rajals Größe. »Raj! Zieh ihr Kostüm an! Schnell!« »Nicht schon wieder!«, stöhnte Rajal. »Raj, tu es einfach!« »Aber ... woher kennt Ihr mich?«, keuchte der erschöpfte Junge, während sie gemeinsam dem Mädchen die Kleidung auszogen. »Ist es... der Kristall? Prinzessin, Ihr müsst... ihn mir wiedergeben!« Cata schüttelte den Kopf. »Raj, ich bin Cata! Ich sehe nur so aus wie ... Ach, für Erklärungen ist jetzt keine Zeit!« »Prinzessin! Prinzessin?« Das war der Wesir.
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»Prinzessin?« Die Tür wurde geöffnet, und die Geheiligte trat heraus. Ihr Schleier war zerrissen, ihr Gesicht gerötet und sie atmete schnell, aber ihre Schönheit war nur umso berückender. Mit einem Arm stützte sie eine schwankende Satima, wobei ihr eine scheue Sefita half, die den Kopf geneigt und den Blick gesenkt hielt. »Prinzessin!« Der Wesir runzelte die Stirn. Eigentlich wollte er der Unruhe im Flur auf den Grund gehen, aber plötzlich dachte er nicht mehr daran. Er streckte die Hand aus und - zum Teufel mit dem Protokoll - berührte den königlichen Arm. Ein Schock durch fuhr ihn. Tatsächlich, es war die Wahrheit! Einen Augenblick war er begeistert, doch dann überkam ihn Furcht. Irgendetwas stimmte hier nicht, stimmte ganz und gar nicht. Er blickte eindringlich in die königlichen Augen und zuckte hef tig zusammen, als das wunderschöne Mädchen ihn anraunzte: »Was starrst du so, Mann? Ich habe meine Mädchen auserwählt, das ist alles! Und jetzt lass mich allein! Ich nehme die beiden mit in meine Gemächer!«
23. Harsche Spiegelungen »Medaillons!« »Ikonen!« »Armbänder!« »Ringe!« Die Menge stand so dicht gedrängt auf dem Platz, dass die Stra ßenhändler kaum von der Stelle kamen. Aber das tat nichts zur Sa che. Jeder war von eifrigen braunen Händen umringt, die leichtsin nig ihre Münzen verteilten und dafür dieses oder jenes billige Stück Tand erstanden, das eiligst für diesen großen Tag hergestellt worden war.
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»Liedtexte!« »Limonade!« »Joss-Stäbe!« »Jarvel!« Die Sonne brannte hoch am Himmel und schimmerte auf der Ver goldung der wiederaufgebauten Galerien, ließ die festlichen Turba ne, Schleier und Gewänder glänzen und schien auf die endlosen Rei hen der Ouabin herab, die ihre Säbel in der Hand hielten. An der Stelle, wo sonst das Rad des Henkers gestanden hatte, wurde der Platz jetzt von einer komplizierten Anordnung von Plattformen und Rampen beherrscht, die mit Teppichen und Blumen ge schmückt waren. Wohlriechende Flammen loderten durchschei nend in Kohlenbecken neben dem Altar. Dort würde bald und zum letzten Mal Prinzessin Bela Dona vor der Öffentlichkeit von Qatani erscheinen. Einige schwarz gewandete Frauen schluchzten bereits. Andere waren ausgelassen und wirkten vor Fröhlichkeit ein wenig hysterisch, Aufregung und Furcht lagen beinahe spürbar in der Luft. Selbst die Vögel flogen, anscheinend aufgeschreckt, laut kreischend durch die Luft. »Ein beeindruckendes Schauspiel, nicht wahr?« Wesir Hasem schlenderte um eine Kurve der wundervollen neuen Galerie. Er drehte sich mit einem gezwungenen Lächeln zu seinen vornehmen Gästen um. »Wesir, habt Ihr diese Worte nicht schon einmal benutzt? Aller dings in einem gänzlich anderen Zusammenhang, wenn ich mich recht erinnere.« »Wollt Ihr mich vielleicht tadeln, Empster-Lord?« Das Lächeln wirkte ungerührt. »Aber niemals, mein Freund. Ich wundere mich nur, dass Ihr die sen Tag so gleichmütig betrachtet. Seine Königliche Erhabenheit dürfte etwas betroffener darüber sein, dass sich seine Provinz in den Klauen einer fremden Macht befindet.« Wesir Hasem wollte sich auf keinen Fall von diesen Worten aus der Fassung bringen lassen. »Aber Empster-Lord«, entgegnete er,
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»befand sich diese Provinz nicht schon immer in den Klauen frem der Mächte?« Lord Empster sah den Wesir unbeeindruckt an und hätte viel leicht eine weltgewandte Diskussion über die drolligen Sitten der Ouabin vom Zaun gebrochen, als ihn eine andere Stimme unter brach. »Schmutzige Wüstenschweine!« »Leise, mein Seelord!« Kapitän Porlo umkurvte rotgesichtig und mit der Äffin auf der Schulter eine Gruppe von weiß gekleideten Ouabin. Auch auf den Galerien wimmelte es von Menschen, aber jeden Ouabin umgab ein leerer Raum, als wären die Wüstenkrieger von einer geheimen Aura geschützt. »Ihr müsst meinen Freund Porlo entschuldigen«, erklärte Lord Empster. »Er war, wie man so sagt, etwas indisponiert. Kommt, al ter Freund, bringt dieser historische Tag denn Euer salziges Blut gar nicht in Wallung?« Der Kapitän ließ den Blick seiner rot geränderten Augen über die Szenerie gleiten, die sich unter ihm abspielte. Seine Worte waren keine direkte Antwort auf Empsters Frage. »Pah! Ouabin, Qatanis, Sultans, Scheichs? Ausländische Barbaren, alle miteinander!« Der Kapitän war etwas betrunken, genau genommen war er sternhagelvoll. Er wäre liebend gern bei seinem neuen Freund im Khan geblieben, denn das Ferment dort war das beste, was er in diesem Teil der Welt gekostet hatte, seit ... Ach, mindestens seit der Nacht, in der er den Zusammenstoß mit den Kobras hatte! Wie schade, dass sein Freund noch andere Aufgaben erledigen musste. Eli Oli Ali war jedenfalls ein bedeutender Mann. Voller Aufregung erwartete der Kapitän die Dinge, die diese prachtvolle neue Allianz ihm bringen würde. Er hatte zwar nicht den geringsten Schimmer, wie sie den Ouabin entkommen sollten, aber dafür war noch Zeit, Zeit genug. Und während sie warteten, gab es Ferment in Hülle und Fülle. Der alte Mann rülpste und tätschelte seine Affin.
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Lord Empster legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Seid Ihr si cher, dass Ihr dem hier gewachsen seid, alter Freund?« »Dem gewachsen?« Wenn auch die Bedeutung seiner Erwiderung nicht ganz klar schien, war ihr Tonfall dennoch beunruhigend. Der Kapitän schüttelte die Hand seines Wohltäters ab. »Ihr glaubt, der alte Porlo sei dem nicht gewachsen? Haltet Ihr ihn denn für einen Lakaien, der auf Euren kleinsten Wink springt? Glaubt Ihr, dass er allein nicht genug Mut aufbringt?« Glücklicherweise mischte sich in dem Moment eine neue Stimme in den Kreis. »Seid gegrüßt, Edelleute!« Es war Polty, der sich rücksichtslos den Weg durch die turbange schmückten Höflinge bahnte. Ärgerliche Blicke folgten ihm, und si cher hätte jemand protestiert, wenn er nicht auf so intimem Fuß mit dem Wesir gestanden hätte. Lord Empsters Augen funkelten, und er sog an seiner Pfeife. »Und Euer Gleichmut, Flammenhaariger?«, fragte er sarkastisch. »Ich nehme doch an, dass Ihr ihn wiedergefunden habt?« »Was? Der Flammenhaarige ist ebenfalls indisponiert? Man sollte meinen, dass einen so kräftigen Körper keine Krankheit schwä chen könnte!«, meinte der Wesir. »Vermutlich die ausländische Nahrung«, murmelte der Kapitän. »Wesir, auf ein Wort?« Polty warf Lord Empster einen kurzen Seitenblick zu. Zögernd ließ sich der Wesir beiseite ziehen. Er betrachtete diesen merkwürdigen Botschafter erwartungsvoll und bemerkte dabei, wie unangemessen seine Bemerkung über dessen Konstitution in Wahrheit gewesen war. Die Galerie war zwar überschattet, aber selbst in dem gedämpften Licht erkannte er die merkwürdige Farbe, die Pol tys Gesicht tönte, und die dünne Schweißschicht, die von seiner Stirn herunterrann. Fast schien es, als würde dieses flammenfarbige Haar tatsächlich Hitze ausstrahlen. Sicher, der Ejländer war über das Verschwinden einer gewissen jungen Dame höchst erregt, jedenfalls hatte er das behauptet. Aber was bedeutete schon eine Dame? Jedenfalls kam dem Wesir seine Reaktion übertrieben vor. Doch dann
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beschlich Hasem der Verdacht, dass es ja vielleicht das Jubba-Fieber war und keine Aufregung, was dem Ejländer so zusetzte. »Hasem, hört zu.« Polty flüsterte, und er drückte beinahe schmerzhaft den Arm des Wesirs. Dieser hätte sich losgerissen, aber Poltys Blick bannte ihn. Er glühte beinahe. Die Worte des Ejländers waren kaum zu hören, denn er spie sie zwischen zusammengebisse nen Zähnen hervor. Aber der Wesir vestand sie trotzdem gut. »Ihr wisst doch, dass der Ouabin sie nicht bekommen darf, nicht wahr? Niemals, niemals darf der Ouabin das Mädchen haben! Das wisst Ihr doch, hab ich Recht? Hasem ... Hasem? Das ist eine Farce, stimmt's? Und diese Farce muss aufhören ... Hasem!« Fanfaren schmetterten. »Viele Dinge werden möglicherweise geschehen, bevor der Tag vorüber ist«, erwiderte der Wesir steif. »Vielleicht auch einiges, was ich kaum zu hoffen wage. Dies hier ist jedoch nicht der rechte Mo ment, unsere Staatsgeschäfte zu erörtern. Ich frage mich im Augen blick, ob es klug war, sie überhaupt mit einem Ejländer zu besprechen. Sollte sich diese Stadt wieder sicher im kaiserlichen Griff befinden, hätte ich es besser ... nicht getan. Außerdem ... wolltet Ihr Euch nicht um eine andere Dame kümmern, eine Eures eigenen Vol kes? Habt Ihr mir nicht erzählt, sie wäre eine entflohene Braut? Ob wohl ich mich frage, wie eine Dame ... Schon gut. Mein Herr braucht mich ... Ihr entschuldigt mich sicher.« Wie die Gemeinen auf dem Marktplatz, drängten auch die Höflinge auf den Galerien zur Seite, um dem Wesir Platz zu machen. Polty sank gegen die Balustrade und rieb sich sein blasses Gesicht. Um den ganzen Platz herum funkelten diese bedrohlichen Schwer ter, die die Ouabin in die Luft hielten. Warum nahm er sie plötzlich so deutlich wahr? Klingen, die in der Sonne glänzten ... Reflexionen ... »Meins!« »Nein, meins!«
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»Gib her!« »Gib es zurück!« »Schweinegesicht, ich bring dich um!« »Ich bring dich auch um!« Aus dem Geschubse und Geknuffe wäre vielleicht eine ordentliche Prügelei geworden, und die verärgerten Fremden hätten Blase und Stinker vielleicht genauso heftig verprügelt, wie die beiden sich selbst ans Leder wollten. Aber in der dicht gedrängten Menge war kein Platz dafür. Die Zeremonie begann. Außerdem trennte Faha Ejo die beiden Jungen und riss Blase das gestohlene Medaillon aus der pummeligen Hand. »Es gehört mir!« »Das ist nicht fair!« »Halt die Klappe und arbeite!« Die Worte wurden von den schmetternden Fanfaren übertönt, aber Stinker und Blase verstanden sie trotzdem gut genug. Sie ver drückten sich und begaben sich murrend auf die Suche nach neuen Schätzen. Faha Ejo sah sich um und betrachtete kühl abwägend die schwarz gekleideten Frauen und bärtigen Männer, die sich gegen ihn drängten. Einige trugen kaum mehr als Lumpen, was er mit einem verdächtigen Naserümpfen quittierte. Andere waren hingegen beinahe so vornehm gekleidet wie die Edelleute auf den Galerien. Und alle konzentrierten sich auf die Plattform, die unter dem Altar auf gebaut war. Dort hatte sich eine Reihe von Tänzern mit weißem Lendenschurz versammelt und bereitete sich auf die ersten Anrufungen vor. Faha Ejo zuckte es in den Fingern. Mit einem spötti schen Grinsen dachte er an Storch, Fisch, Blase und Stinker ... Was sie heute wohl für fette Beute machen würden! Auch wenn der Ziegenhirte über den Verlust des Kleinen und Pustels traurig war, ließ er sich von diesen Gefühlen nicht vom Geschäft ablenken. Vetter ELI hatte ihn gut eingewiesen. Während des stampfenden, monotonen Tanzes gelang es Faha Ejo, seinen dicken Nachbarn von dessen Geldbörse zu erleichtern, die an einer Kette um seine Hüfte gebunden war. Wirklich, was für ein
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Leichtsinn! Während der folgenden Gebete, bei denen die Menge wie ein Meer aus Hingabe wogte, fanden noch verschiedene Arm bänder, eine schöne Jarvel-Dose und sogar die Knöchelkette einer Frau, die zu hell unter ihren Röcken geglänzt hatte, ihren Weg in die Taschen des Ziegenhirten. Wäre genug Platz gewesen, hätte er einen Freudentanz aufgeführt. Gebete waren wirklich eine feine Sache! Feixend blickte Faha Ejo wieder zur Plattform und sah, dass die Gruppe Heiliger jetzt von einem Diskant der Ouabin in fließenden Gewändern abgelöst worden war. Er wurde von einem Orchester aus Tablas und Flöten begleitet. Der Ziegenhirte hoffte, dass sie or dentlich Lärm machten, und bahnte sich einen Weg zu dem Korb eines Straßenhändlers, den sein abgelenkter Besitzer närrischerweise einfach auf dem Boden neben sich abgestellt hatte. Das Lied des Diskants begann als fröhlicher, wiegender Rhythmus und schien kaum zu einer so ernsten und feierlichen Gelegen heit zu passen. Doch zu dem plötzlichen Trommeln der Tablas ge sellte sich nun der kreischende Chorus. Der Kontrast war schockie rend, und Faha Ejo, der mittlerweile dichter an den prall gefüllten Korb herangekommen war, starrte unwillkürlich auf die Bühne. Der Gesang war gleichzeitig faszinierend und beunruhigend. STROPHE Die Zeit mag schnell verstreichen oder langsam, Die Ehe bringt Freuden, die alle erleben sollten: Zuerst blicke an das Mädchen, das du begehrst. Gewinne sie, entfache sie und bade in ihrem Feuer! CHORUS Heirate und brenne! Das Rad soll sich drehen! Welch kühner Liebende muss lange schmachten? Schnapp deinen Schatz von dem lodernden Schei-ei-terhaufen Heirate und brenne, Heirate und brenne!
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»Dir fällt ja gleich die Kinnlade runter!« »Was?« Ein Moment verstrich, bevor Faha Ejo herumwirbelte und die Gestalt ansah, die ihm auf die Schulter getippt hatte. »Wild fang!« Überrascht und dann misstrauisch betrachtete er Ameds freches Gesicht. »Du sagtest doch, du wärst krank!« »Ich habe gelogen. Ich wollte an einem solchen Tag nicht stehlen.« »Was?« Hätte ein anderes Mitglied der Unner so mit Faha Ejo ge redet, wäre er ärgerlich geworden, sehr ärgerlich. Bei Amed war das etwas anderes. In den letzten Tagen war der Ziegenhirte ihretwegen ziemlich verwirrt gewesen. Er hatte nicht zugeben wollen, wie er freut er war, dass er sie wieder gefunden hatte, oder besser, sie ihn. Eigentlich hatte er gedacht, dass er sie nie wiedersehen würde. Außerdem hatte sich Amed seit ihren gemeinsamen Tagen an der Dor va-Küste verändert. Zwar fürchtete sie Mutter Madana immer noch und versteckte sich jedes Mal, wenn die fette alte Herrin des Khan in den Keller herunterkam, aber sie wirkte dabei auch merkwürdig abwesend, unbeteiligt. Es war, als wäre das Leben bei den Unner für sie unwirklich, als warte sie nur darauf, dass ein anderes Leben be ginne. Das bedrückte Faha Ejo. Jetzt murmelte Amed nur, dass sie das Ritual der Neuverlobung nicht verpassen wollte. Faha Ejo bemerkte eine neue, seltsame Ei genschaft an ihr: eine Intensität und etwas Geheimnisvolles. Er sah, wie sie zitterte, und bemerkte den Gegenstand, den sie umklammerte. Die Konar-Lampe. Als sie das Reich von Un betrat, hatte sie die schäbige alte Lampe in der Ecke liegen sehen. Sie hatte sie gepackt und seitdem nicht mehr losgelassen. Was sie damit wollte? Das mochte sie nicht sagen. Aber Faha Ejo vermutete, dass die Antwort leicht war: Es war das letzte Unterpfand ihres toten Vaters. Amed war merkwürdig. Manchmal war sie so stark, dann wieder so ver letzlich. War sie deshalb ein Wildfang? Faha Ejo liebte sie, aber er wusste, wie hoffnungslos es war. Ehrfürchtig blickte Amed an dem Diskantsänger der Ouabin vor bei auf den leeren Altar. Die beschwingte Musik kehrte wieder.
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Ehefrauen mögen einen teuer zu stehen kommen, Während Geliebte wohlfeil sind. Trotzdem bringen sie Freuden, die alle Männer ernten sollten: Ach, gelobt sei der Tag, an dem du ihr deinen Namen gibst, Umarme sie, entfache sie und lasse sie in Flammen aufgehen! Heirate und brenne usw ... »Ich mag es nicht.« »Euer Kissen?« »Kissen? Was?« »Ihr rutscht immer hin und her. Soll ich einen Sklaven rufen?« »Also wirklich, Hasem, ich meine natürlich dieses Lied! Ich ver mute, dass der Scheich damit etwas andeuten will, meinst du nicht? Würde er meine Tochter wirklich in ein Feuer stoßen?« »Ich glaube, er spielt damit auf seine Leidenschaft an, Oman ... Ihr wisst doch, das Feuer der Leidenschaft?« Im Schwung seiner ge zwungenen Fröhlichkeit hätte der Wesir beinahe hinzugefügt, dass der Kalif dieses Feuer bald selbst erleben würde ... Oder doch ein ähnliches, falls der Barbier seine Arbeit beendet hatte. Hasem leckte sich die Lippen. Solche Gedanken genügten ge wöhnlich, um den Mann abzulenken, aber irgendwie war das jetzt nicht der angemessene Zeitpunkt. Mit tränenfeuchten Augen blick te sein Herr auf den Marktplatz. Er hatte die Unterlippe vorgeschoben und zitterte heftig. Sein gewaltiger Turban wackelte bedenklich auf seinem Schädel. »Ich hatte gestern Nacht einen höchst merkwürdigen Traum«, sagte er leise. »Da war Schimmy, wieder ganz wirklich, aber es war so, als wäre sie nicht dieselbe ... Als wenn die Dame aus Nebel die echte gewesen wäre ... Aber wie soll das sein, wenn die alte Schim my doch nie real gewesen ist, Hasem?« Der Wesir stand stocksteif da. Seine einzige Gefühlsregung war ein winziges Rümpfen seiner Nase über die Gerüche, die aus der Menschenmenge zu ihm hinaufdrangen. Vor vielen Sonnenwenden war die Verlobung der Prinzessin eine königliche Angelegenheit ge-
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wesen, die am Hofe vonstatten ging und den Höflingen vorbehalten war. Dem Pöbel waren nur kurze Blicke auf sein Idol gewährt wor den. Jetzt durfte er etwas so Wichtiges, so Geheiligtes wie dieses Ri tual der Endobung und Neuverlobung mitverfolgen. Es war ver rückt! Man sah dem ausdruckslosen Gesicht des Wesir nicht an, dass er die Zähne zusammenbiss. Wie er die Sitten der Ouabin verabscheute! In den letzten Tagen hatte es mehrere Gelegenheiten gege ben, in denen er sich am liebsten mit dem Dolch in der Hand auf Ra shid Amr Rukr gestürzt hätte, ungeachtet der Konsequenzen! »... aber weißt du, Hasem, dass dies nicht einmal das Schlimms te war? Ich bin aufgewacht und dachte, ich sollte glücklich sein, dass Schimmy jetzt wieder real ist. Aber Hasem, was nützt es, wenn sie wieder real ist und dieser schmierige Ouabin sie uns entreißt? Ach, dieser Seher und seine böse Magie sollen verdammt sein! Was hat er anderes getan, als meine Tochter erneut zu verdammen?« Der Wesir kannte diese Litanei bis zum Überdruss und horte nicht mehr hin. Zufälligerweise jedoch nahmen seine Gedanken eine ganz ähnliche Richtung. Er packte den Dolch fester, den er in seinem Gewand verbarg, und starrte auf den Vorhang, der den verhassten Rashid Amr Rukr verhüllte. Verflucht sollte der Ouabin sein! Wie schön wäre es, ihn hier, vor der Menge zu töten! Wäre es nicht auch den Tod durch Rashids Halsabschneider wert, die zweifellos an schließend ihren Scheich rächen würden? ».,. aber Hasem, wie kann ich denn wünschen, dass die arme Schimmy aus Nebel bestehe? Das wäre doch ein furchtbarer Wunsch, nicht wahr? Sie schwebt in Gefahr, aber jetzt, da sie wieder real ist, besteht doch auch Hoffnung, hab ich Recht? Hasem, stell dir einfach vor, die Pläne des Ouabin scheiterten! Jemand könn te ihn zum Beispiel töten, bevor er seine Hände auf unsere liebe, lie be Tochter legen kann! Hasem, du könntest ihn töten, hier und jetzt!« »Oman, wirklich! Und anschließend selbst getötet werden?« Der Wesir schob seinen Dolch in die Scheide zurück. Es hatte Momente gegeben, in denen er sich nach dem Tod sehnte, aber was
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würde sein Tod nutzen, da Oman ohne ihn doch so hilflos war? Außerdem würde Scheich Rashid seine Lektion früh genug lernen, davon war der Wesir überzeugt. Zumindest hoffte er das. Erst an die sem Morgen hatten ihn neue Informationen erreicht. Es war sinn los, Oman vorzeitig aufzuregen, aber ... aber ... Der Wesir lächelte kaum merklich. »Wenn sie sich nur beeilen würden«, sagte er laut. Als ein Sklave seinen Arm berührte, zuckte er zusammen und drehte sich rasch um. Ein Bote! Hatte eine Armee die Stadt vielleicht schon umstellt? Natürlich! Ach, dass sie sich jemals gegen die kai serliche Vorherrschaft gewehrt hatten! Der Sultan würde sie nie im Stich lassen! Doch die Nachricht war eine ganz andere. Der neue Lustknabe ... war fort ? Zuerst dachte der Wesir, dass der Vaga tot war. Ihm traten Tränen in die Augen, und er verwünschte den Barbier. Doch dann begriff er die Wahrheit und verfluchte stattdessen den Vaga. Verdammt! Eieigentlich sollte der Bursche bäuchlings auf der Couch des Kalifen Hegen, gereinigt und bis unter die Schädeldecke berauscht. Staatsangelegenheiten bereiten zwar viel Kummer, doch nichts stört einen Mann so sehr, als wenn private Verabredungen platzen. Ruhm kann flüchtig sein und schwinden wie Wolken Der Tod wartet darauf, uns mit Weihrauch in seine Gewänder zu hüllen Die größten Versprechungen des Lebens werden zu Staub: Ehe? Ich sage trotzdem, dass ein Mann sie braucht! Heirate und brenne usw. »Wie lange dauert es noch?« Niemand antwortete, andererseits brauchte der Mann, der diese Frage gestellt hatte, auch keine Antwort. Schließlich fand die Zeremonie auf sein Geheiß statt. Scheich Rashid Amr Rukr spähte ungeduldig hinter dem Vorhang hervor. Er achtete nicht auf die Men
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schenmenge oder den Diskant, nicht einmal auf den fetten, mario nettenhaften Kalifen, der auf seinen Kissen in der königlichen Loge hockte. Nein, seine Aufmerksamkeit wurde vollkommen von dem Altar in Anspruch genommen, und er ließ ihn nicht aus den Augen. Der Altar, auf dem die Schimmernde Prinzessin ihre Freier empfan gen würde! Der Scheich umklammerte den schimmernden Korb, mit dem er in Kürze die Hand seiner Braut gewinnen würde. In den Augen der Welt habe ich peinlichst genau die Bedingungen des Rituals der Neu verlobung erfüllt, sagte er sich. Aber was für ein wunderbarer Schwindel verbirgt sich dahinter! Der Scheich dachte an die Zukunft, malte sich aus, welche Triumphe ihn nach den langweiligen Forma litäten der Eheschließung erwarten würden! Die Gedanken an den Schmerz der vergangenen Nacht schob er rasch beiseite, als wäre der Vorfall niemals geschehen. Das war bloß ein Missverständnis gewe sen, nichts weiter. Nur die Zukunft war jetzt wichtig. Die Zukunft und der Ruhm! Mit dem Goldenen als Verbündetem konnte ihn nichts aufhalten. In wenigen Mondleben schon würde er die Heilige Stadt einnehmen, davon war er überzeugt. Dann war er der Herr der Flamme! Welche Macht dieses zerbrechliche Mädchen freisetzen würde! Mit sinnlichem Vergnügen stellte er sich vor, wie ihr Körper in diesem geheimnisvollen Feuer zu Asche verbrannte und den glü henden Kristall zum Vorschein brachte. Er gluckste vor Freude. Hielt er erst einmal den Kristall in Händen, war seine Macht unbegrenzt! »Wie lange dauert es noch, oh, wie lange?« Liebe beherbergt Geheimnisse, die manchem teuer sind, andere flüchten jedoch davor und schreien vor Angst: Nimm zum Beispiel ein merkwürdiges Juwel Selbst die hellsten Flammen brauchen Nahrung! Heirate und brenne usw. »Nein, nicht schon wieder, nicht schon wieder!« Es war Polty, der mit offenem Mund hechelte, als eine kleinere
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Flamme seinen Hals hinaufzüngelte. Das kannte er mittlerweile. Schmerzerfüllt und unbemerkt versuchte er, mit der Hand die kleinen Flammen zu ersticken, bevor sie sein Haar erfassten. Es konn te doch nicht hier geschehen, oder? Hier mitten in der Menge? Pol ty hatte den fürchterlichen Verdacht, dass es sehr wohl geschehen konnte. Was hatte Toth mit ihm vor? Das wusste Polty natürlich, denn ein Teil seines Hirns beherbergte den Verstand von Toth. Die Angst stieg sauer wie Erbrochenes in ihm hoch. Er schloss die Augen fest vor den glänzenden Säbeln der Ouabin, die überall auf dem Platz reflektierten, reflektierten, als würden die Strahlen direkt in seine Augen stechen ... Wann hatte diese Besessenheit angefangen? Polty schien diese Nacht in den zenzanischen Wäldern, als er gestorben war und wie dergeboren wurde, eine Ewigkeit zurückzuliegen. Wie erhaben hat te er sich damals gefühlt, als Toth ihn wie ein Vater an sein Herz gepresst und ihn in die finstere Gnade seines Segens gehüllt hatte. Schon bald jedoch war die Verzweiflung gefolgt, als Polty merkte, welch ein Fluch dieser Segen war! Sollte er die Marionette einer bösartigen und wahninnigen Kreatur sein, die die Zerstörung der gan zen Welt im Sinn hatte? Er musste sich befreien, er musste einfach! Das Dröhnen der Tabors hämmerte schmerzhaft in Poltys Hirn, als er sich über die Balustrade beugte und den Kopf zwischen die Hände nahm. Die Intensität seiner Gedanken an Cata ließ ihn aufstöhnen. Konnte er sich mit Hilfe ihrer Liebe nicht aus den Klauen des Bösen befreien? Polty dachte an das letzte Zusammentreffen mit seiner Geliebten und verwünschte sich für sein Verhalten. Beim nächsten Mal würde es anders sein! Er stellte sich vor, wie er zu ihren Füßen niedersank und all sein Leiden vor ihr ausschüttete, das er hatte ertragen müssen. Ihr weiches Herz musste sich ihm öffnen, eine andere Möglichkeit gab es einfach nicht! Herzensschwester, sei die meine, würde er unter Tränen schluchzen. Deine Liebe wird mich retten! Gemeinsam können wir gegen den Anti-Gott kämpfen... Aber wo konnte sie sein? Wo steckte sie?
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Wüsten sind Orte, die die Götter verfluchen, Dort führen die Menschen ein karges Leben voll Hitze, Dürre und Durst: Gebt ihnen eine Zukunft ohne Furcht, Rashid und Qatanis Prinzessin müssen heiraten! Heirate und brenne/ Die Welt muss lernen, Dass Ouabins Macht unsere einzige Sorge gilt! Prinzessin Bela Dona hält den Schlü-ü-ssel Heirate und brenne, Heirate und brenne!
24. Der Körbe Drei »Cata, komm da weg!« »Ich muss gleich hinaustreten.« »Ich würde das hinauszögern, wenn ich du wäre.« »Warum?« »Es ist vielleicht dein letzter Moment in Freiheit.« »Da wäre ich nicht so sicher, Raj. Ich habe das Gefühl, dass die Ereignisse genauso ablaufen, wie sie sollen.« »O bitte! Wenn das stimmt, wäre ich jetzt ein Eunuch!« »Das war nicht, wie es sollte, sondern wie es nicht sollte! Nein, Raj, ich glaube, ich sollte dieses neue Gesicht akzeptieren. Es wird mich wohl irgendwohin führen... zu etwas Wichtigem. Etwas rührt sich, das spüre ich.« »Empfängst du Signale von den Tieren?« »Die Vögel sind sehr aufgeregt. Der Scheich mag glauben, dass alles nach seinen Wünschen verläuft. Bald wird er eines Besseren be lehrt, glaube mir.«
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Die vorgebliche Prinzessin hatte nach einem Fernglas verlangt. Jetzt hob sie es wieder ans Auge und betrachtete den Rand des Schauplatzes. Die Menschenmenge unter sich hatte sie bereits gemustert, jetzt wandte sie ihre Aufmerksamkeit der Galerie zu. »Was siehst du?« Cata schüttelte sich. »Meinen so genannten Bruder.« »Polty?« »Er beugt sich über die Galerie, als wäre ihm schlecht.« »Gut! Vielleicht bietet das ja eine willkommene Ablenkung!« »Bei einer so großen Menschenmenge bedarf es schon etwas mehr, Raj. Sieh nur, da ist auch Lord Empster!« »Bei Polty?« »Direkt neben ihm.« »Dass passt. Ich vertraue ihm nicht mehr. Ich kann es einfach nicht!« Sie hätten sich noch weiter unterhalten, aber das Hochzeitslied näherte sich dem Ende. Pflichtbewusst wartete Cata darauf, dass der Wandschirm zurückgezogen und sie der Menge präsentiert wurde. Hinter ihr nahmen Rajal und eine staunende Satima die Enden ih rer schimmernden Schleppe. Während sie sich auf diesen Augen blick vorbereiteten, hatte Rajal die misstrauischen, ja sogar ableh nenden Blicke bemerkt, die Satima ihm von Zeit zu Zeit zuwarf. Aber das Mädchen hatte Angst und wagte nicht zu widersprechen, auch wenn ihr einiges merkwürdig oder gar falsch vorkommen mochte. So nah bei der Prinzessin zu stehen war für sie schon weit mehr, als sie fassen konnte. Erneut ertönte Musik, und heilige Männer betraten die Bühne. »Cata?«, zischte Rajal. »Raj?« »Ich finde dich sehr mutig.« »Raj?« »Cata?« »Ich finde, du siehst in diesem Kleid ziemlich albern aus.« Rajal errötete hinter seinem Schleier, aber er hatte keine Zeit, et-
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was zu erwidern. Verborgene Drähte zogen den Wandschirm zu rück. Die Menge schrie jubelnd auf. Noch nie in seinem Leben hat te Rajal ein derartig gewaltiges Geräusch gehört. Es wirkte wie ein Schlag, und er wäre beinahe gestolpert. Krampfhaft hielt er sich an Catas Schleppe fest, als könnte die ihn stützen. Aber Cata selbst schwankte auch, als müsste sie ohnmächtig werden. War sie sich zu sicher gewesen? Vielleicht sah sie ja jetzt endlich die Gefahren, die vor ihr lagen, während sie in der Verkleidung der Schimmernden Prinzessin gefangen war. Nach einem Moment atmete sie tief durch und schritt langsam die Stufen hinunter. Mit den beiden Zofen, die ihre Schleppe trugen, bot sie einen wahrhaft königlichen Anblick. Die Jubelschreie wurden von Seufzern ersetzt, und einige schluchzten sogar, während Tausende von Augenpaaren einen Blick auf ihr Idol zu erhaschen suchten. Der Anführer der heiligen Männer nahm auf einem blumenübersäten Podium seinen Platz neben der zukünftigen Braut ein. Er war ganz in Schwarz gekleidet und trug eine Furcht einflößende Maske. Ein Kranz aus Stacheln umgab sie, und eine Trompete ragte an der Stelle hoch, an der sich sein Mund befand. Während die niederen Priester konzentriert und eindringlich sangen, hob der Hohepriester die Arme über den Kopf. Die Menge verstummte ehrfürchtig. Er drehte sich immer wieder um sich selbst und sang durch die Trompete. Die Zeit war gekommen, um die Verlobung des königli chen Kindes zu bezeugen. Tretet vor, Ihr Drei, die Ihr um diese Hand buhlt:
Macht jeden früheren Schwur null und nichtig!
Spieler, spiel die Hochzeitsflöte!
Wenn es einen ersten Freier gibt, so trete er vor!
Die Melodie klang fast wie ein schmerzlicher Schrei und wurde von dem dröhnenden Trommeln des Tabors unterlegt. Eine Weile schien die Szenerie wie gelähmt, doch dann kämpfte sich ein untersetzter Mann in einem bronzefarbenen Gewand unter dem Murmeln und
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Rufen der Menge auf die Bühne. Während er hinaufstieg, hielt er ei nen kleinen, glänzenden Korb hoch, der dieselbe Farbe hatte wie sei ne Gewänder. Wie durch Magie rumpelte ein winziger Aufzug aus der Bühne herauf. Der Mann in Bronze kniete sich ehrfürchtig in die Blumen, sah die angebliche Prinzessin Bela Dona an und stellte das Körbchen ab. Die Trommeln verstummten. »Ehm.« Der Kalif räusperte sich mürrisch, »Trotzdem, Schimmy hat ihre Sache bis jetzt gut gemacht, hab ich Recht?« »Allerdings, Oman, sie spielt ihre Rolle hervorragend.« Einer hat Prinz Dares Braut gefordert, Wird noch ein Mann so kühn seinf Spieler, spiel die Hochzeitsflötef Ist noch ein zweiter so kühn? Man wird sehen! Ein zweiter Freier in Silber näherte sich über eine Rampe, die von den Galerien herunterführte. Einen Moment schien er in der Luft zu schweben, wie ein unheimlicher Besucher aus einer anderen Welt. Dann stellte er seinen Korb in einen zweiten Aufzug. Verstohlen nuckelte der Kalif an seiner Jarvel-Pfeife. »Weißt du, Hasem, ich glaube, ich brauche diese Ablenkung, die du für mich vorbereitet hast.« »Ablenkung, Oman?« »Den Vaga meine ich natürlich!« »Ach, natürlich.« Das Gesicht des Wesirs blieb ausdruckslos. Nach einer Weile fuhr er fort: »Die Zofen Eurer Tochter sind ein er freulicher Anblick, nicht wahr?« »Wirklich, Hasem, hör auf, mich abzulenken!« Zwei sind vorgetreten, doch nur wenn noch einer es wagt,
Ist Kaleds Sohn verloren, vergessen!
Spieler, spiel die Hochzeitsflöte!
Sollte das Geschlecht des Propheten diesen Preis bezahlen müssen?
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Als der Scheich in seinen goldenen Roben vortrat, jubelte der Pöbel laut, als wäre der Wüstenbandit kein bösartiger Eroberer, sondern ein großer Befreier, der zu ihrer Rettung geschickt worden war. Der goldene Korb funkelte in seinen hoch erhobenen Händen. »Hör dir diese grölenden Narren an«, sagte der Kalif mit tränen erstickter Stimme. »Hasem, haben sie mich jemals so gefeiert?« Der Wesir legte seinem alten Freund tröstend die Hand auf die Schulter, »Denkt nicht weiter daran, Oman. Sein Triumph wird nicht von langer Dauer sein. Um die Wahrheit zu sagen: Ich glaube nicht einmal, dass er den Nachmittag überdauert.« Der Kalif wandte ihm langsam sein maskiertes Gesicht zu. »Weißt du etwas, Hasem, das ich nicht weiß?« Der Körbe drei, für eine Braut enthaltet ihr
Geheime Geschenke und ein Schicksal:
Spieler, spiel dieHochzeitsflöte!
Bela Dona, betrachtet diese drei Körbe!
Eine Weile schien es, als schweige die ganze Welt bis auf die Vögel, die kreischend durch den regungslosen, glühenden Himmel flogen. Cata trat vor, betrachtete teilnahmslos ihre Freier und öffnete die Kästchen mit den Geschenken. In dem bronzefarbenen Korb befand sich eine strahlende Scheibe, die an einer schwingenden Kette befes tigt war. Sie wirkte ganz gewöhnlich, aber der Bronzemann lobte überschwängüch ihre Fähigkeiten. »So nehmt denn«, schrie er, »das Amulett von Tukhat! Es wurde vor langer Zeit aus dem Grab des Königs Thukat geraubt, einem der größten Herrscher Ana-Wenayas. Dieses Amulett schützt vor Bö sem und ist mächtiger als alles, was die Welt kennt. Prinzessin, nehmt dieses Geschenk, und es kann Euch nichts Böses widerfahren.« Der zweite Korb enthielt ein juwelenbesetztes Diadem, das eine Frau auf ihrer Stirn tragen sollte. Erneut schien es ein enttäuschendes Geschenk zu sein, aber der in Silber gekleidete Mann beeilte sich, diesen Eindruck zu vertreiben.
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»Prinzessin«, prahlte er, »ich biete Euch das letzte der LichanoDiademe, das aus den entferntesten Reichen von Amalia kommt. Vor Epizyklen haben Grabräuber diese mystischen Bögen gefunden, die einst die Stirn der Prinzessinnen Lichanos schmückten und die Kräfte ihres Verstandes erheblich steigerten. Prinzessin, akzeptiert dieses Geschenk, und alle Weisheit der Zeitalter wird Euch gehören!« Mittlerweile war die Menge bereits ekstatisch und verharrte ehrfürchtig vor der ungeheuren Größe dieser prächtigen Geschenke. Viele seufzten unwillkürlich über das Dilemma, dem sich ihr Idol ausgesetzt sehen musste. In der königlichen Loge hatte sich die Trauer des Kalifen mittlerweile in eine glühende, ohnmächtige Wut verwandelt. »Narren«, knurrte er. »Erkennen sie denn nicht, dass dies eine Farce ist?« »Wenn sie es wussten, haben sie es längst vergessen. Oman, der Pöbel ist wankelmütig und leicht von Gefühlen zu lenken. Eine Prinzessin, eine Hochzeit, ein prachtvolles Schauspiel... Was sind dann noch Tradition, Loyalität und Vernunft? Ich fürchte, Oman, dass wir jetzt die Nachteile einer liberalen Herrschaft erleben! Bietet dem Pö bel die Wohltaten von Vertrauen und Freiheit, und was tun sie? Sie missbrauchen diese Tugenden, die man ihnen närrischerweise anver traut hat. Ich glaube fast, dass sie den Scheich lieben, weil er unan greifbare, brutale Stärke repräsentiert. Sie würden Euch mehr lieben, Oman, wenn Eure Herrschaft grausamer gewesen wäre!« »Ach, Hasem, jetzt bist du grausam!« Der kleine Mann riss sich die Maske vom Gesicht und wischte sich die tränenfeuchten Augen mit dem Ärmel. »Wartet, Oman!«, sagte der Wesir freundlich. »Ich sage Euch, das Spiel ist noch nicht vorbei.« »Aber sein Höhepunkt kommt jetzt, hab ich Recht?« Es sah jedenfalls so aus. Endlich war Scheich Rashid Amr Rukr vorgetreten. In seinen goldenen Roben glänzte er wie eine Vision. Bis jetzt war Cata pflichtbewusst passiv geblieben und hatte sorg fältig ihre gefühllose Fassade aufrechterhalten. Doch jetzt zitterte sie unwillkürlich. Die ersten Geschenke waren fantastisch, wenn
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man den Behauptungen der Freier Glauben schenken konnte. Cata fragte sich, wie der Scheich sie übertreffen wollte. Dann verstand sie. Langsam öffnete die dunkle Hand des Ouabin den Deckel des dritten Korbes. War das möglich? Fassungslos blickte Cata hinein und hielt die Luft an. Unwillkürlich wirbelte sie herum und starrte Rajal staunend an. Triumphierend hielt der Scheich sein Geschenk in die Höhe. »Prinzessin, ich biete Euch kein Spielzeug, keinen blassen Abklatsch der Macht! Was ich Euch biete, ist die Macht selbst, und zwar eine Macht, die dieses irdische Reich bei weitem übersteigt. Seht, Prin zessin! Edle und Sklaven, Frauen und Männer von Qatani, seht! Denn was ist dieses strahlende Geschenk, das ich halte, dieses große Juwel, das in rubinrotem Feuer glüht, anderes als der Stein der Macht, den Eure Vorväter vor so langer Zeit verloren haben und der die ganze Zeit von dem Nomadenstamm der Ouabin verwahrt wur de? Prinzessin, ich biete Euch die Macht der Götter! Prinzessin, ich biete Euch den Kristall des Theron!« »Ja! Ja!« Cata verlor die Beherrschung und trat einen Schritt vor, als wollte sie den Kristall sofort ergreifen. Stattdessen stolperte sie und wich wieder zurück. Kaum jemand in der aufgewühlten Men ge auf dem Marktplatz bemerkte es. Der Scheich hielt den glühenden Kristall immer noch hoch. Prinzessin, da gibt es keine Frage! Silber, Bronze? Niemals! Etwas viel Größeres: Spieler, spiel die Hochzeitsflöte! Rashid Amr Ruhr hat ihre Hand gewonnen! Doch Rashids große Stunde dauerte kaum eine Minute. Was als nächstes geschah, war ebenso überraschend wie schockie rend. Erst gellte ein fürchterlicher Schrei über den Platz, dann stürz te sich wie ein Raubvogel aus der Luft ein Geschöpf mit blauer Haut und brennenden Haaren auf den entsetzten Scheich.
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Der wich zurück. »Nein!« »Lügner! Betrüger!« Die Stimme von Toth-Vexrah übertönte spielend die Schreie der Menge, als Polty entflammt von der Wut des Anti-Gottes den Kristall packte und ihn auf die Bretter zu seinen Füßen schleuderte. Dort zersprang er in tausend Stücke. »Tand! Wertloser Tand!« Die Menge wurde erst von Staunen geschüttelt, doch dann tobte sie vor Wut. Im nächsten Moment stürzte sich Polty auf den Scheich und wollte ihn erwürgen, aber Ouabin-Wächter stürmten die Plattform. Polty wirbelte herum. Er schüttelte die Wächter mit Leichtigkeit ab, und sie segelten in die Menge. Dabei war es Polty gelungen, ei nen Säbel zu erwischen. Er rammte ihn dem schreienden Scheich in den Körper. Der Führer der Ouabin schwankte, und Blut tränkte sein goldenes Gewand. Im nächsten Moment hätte Polty ihn erle digt, die angebliche Prinzessin Bela Dona gepackt und wäre in den Himmel aufgestiegen. Dann wäre sein Sieg vollkommen gewesen oder vielmehr der von Toth-Vexrah. Doch es sollte nicht sein. Urplötzlich verließen ihn die Kräfte, die Flammen erloschen, und Polty brach mitten in den Blumen, dem Blut und den bunten Scherben des Kristalls zusammen, den er selbst zerschmettert hatte. Auf dem Marktplatz herrschte blanke Hysterie. In der königlichen Loge regierten Schreck und Verwirrung. Während der Kalif ständig zwischen Polty und dem Scheich hin und her blickte, nutzte der Ho hepriester den günstigen Augenblick. »Edle, Sklaven, Frauen und Männer von Qatani, beruhigt Euch! Bedenkt die Bedeutung dieser Ereignisse! Der Ouabin hat eine ge heiligte Zeremonie entweiht, und der Gott der Flamme hat ihn so bestraft, wie er es verdient!« Er deutete anklagend auf Rashid Amr Rukr, der sich wand und mit den Beinen zuckte, während er vergeblich versuchte, den Blutstrom zu unterdrücken, der dunkel aus sei ner Wunde sickerte. »Verwundeter, du hast kein Recht auf Qatanis
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königliches Kind. Da wir jetzt weniger als drei Freier haben, kann es keine Neuverlobung geben. Daher erkläre ich diese Herausforde rung für beendet und die erste Verlobung unserer Prinzessin zu der jenigen, die Bestand haben muss. Prinz Dare wird ihr Ehemann! Mächtiger Theron, möge Dein Segen auf Mesha Kaled, den Sultan des ...« »Wartet!« Der Hohepriester drehte sich um. »Was hat das zu bedeuten?« »Eli Oli Ali!«, stieß der Kalif hervor. Atemlos bahnte sich der Hurenbock einen Weg zur Plattform. Vielleicht war er erschöpft, weil er sich den Weg durch die Menge hatte bahnen müssen, aber genauso deutlich war auch, dass er reichlich dem Ferment zugesprochen hatte. Er schwankte und brach zu Catas Füßen zusammen. »Was macht er da?«, schrie der Kalif wütend. »Wachen! Tötet ihn, wenn er es wagt, meine Schimmy zu berühren!« Doch bevor die Wachen reagieren konnten, hatte sich der schmie rige Kerl auf die Knie erhoben und hielt eine glänzende Kugel in der Hand, die plötzlich lebendig zu werden schien. Am Himmel ballten sich glühende Wolken zusammen. »P ... Prinzessin!«, lallte der Hurenbock. »Ge ... Geheiligte Dame, erhört mein Flehen! Seid mein, und diese Kristallkugel ge hört Euch. Sie sieht alles, was war und was sein wird!« Bei diesen Worten verwandelten sich die wirbelnden Farben nach einander in einen Berg, dann in einen See, ein sturmgepeitschtes Meer, eine bevölkerte Stadt, einen dunklen Wald und einen sternen übersäten Himmel... »Mit dieser Kugel ... braucht Ihr keine Furcht mehr zu haben. Vergesst das Amulett. Und vergesst ebenso das magische ... B ... Band: Ihr werdet mit der Kugel über alles Wissen verfügen!« Der Hurenbock schwankte und schrie der Menge zu: »Mein Geschenk ist das Größte, hab ich recht?« Er lallte nicht mehr. »Ich habe bewiesen, dass es stimmt, hab ich recht? Und es sind drei Freier da, hab ich recht?«
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Er sprang vor, als wollte er Catas Arm ergreifen. Sie wich zurück. »Sie gehört mir!«, rief er. »Das Mädchen gehört mir!« Kapitän Porlo stand weit oben auf der Galerie und sank auf sein Knie, als sein Holzbein wegrutschte. Es war eine höchst schmerz hafte Haltung, und niemand dachte daran, ihm zu helfen. Vor allem jedoch schmerzte dem alten Seebären der Kopf. Sein neuer Freund! Was war mit seinem neuen Freund passiert? Doch noch war der Wettbewerb nicht vorbei! »Nein! Sie ist mein!« Die Stimme, die jetzt ertönte, war unreif und schrill, aber sie strahlte die Autorität verzweifelter Überzeugung aus. Die Menschen drehten erschrocken die Köpfe. Eli Oli Ali ließ die Kugel fallen, die während der folgenden Ereignisse schillernd über die Plattform rumpelte. Dem Kalif schwindelte. »Was soll das jetzt wieder? Ach, Hasem, was geht hier vor?« »Mein Mörder!«, rief Rajal. Man musste ihn zurückhalten, damit er sich nicht auf den Straßenjungen stürzte, dessen Tricks ihn ans Rad des Henkers gebracht und in eine Kobragrube gestürzt hatten. Mit all den schrecklichen Konsequenzen, die sich daraus ergaben. Ehrfürchtig kniete die zerlumpte Gestalt vor Cata nieder. Gelächter brandete auf, als er - oder vielmehr sie - das zerbeulte Geschenk hervorzog. »Geliebte, ich fasse mich kurz. Andere haben Euch Macht gebo ten, die diejenige von sterblichen Frauen übersteigt. Ich jedoch bie te Euch nur die Macht einer sterblichen Frau. Mein Geschenk ist eine Konar-Lampe, alt, schäbig und zerbeult. Aber Prinzessin, ich schwöre Euch, es ist genau das, wonach Ihr sucht!« Die Menge verstummte, und das Lachen erstarb, während sich Verwirrung breitmachte. ELI Oli Ali hätte Amed beiseite gestoßen, aber etwas in ihrem Verhalten ließ den Hurenbock verwirrt inne halten. Der Hohepriester blickte zur königlichen Loge, und der Ka lif sah seinen Wesir fragend an.
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»Geliebte, sei meine!« Zögernd zunächst, doch dann kühner, schaute Amed in das Gesicht, das sie liebte, und erwartete einen Blick, der ihre Liebe erwiderte. Stattdessen sah sie in Augen, die be sorgt schienen, was sie beunruhigte. Diese Unruhe wuchs noch, als eine Hand, die eigentlich wie ein Hauch schimmern sollte, nach ihrer griff und sie fest packte. Doch der Höhepunkt sollte noch kommen. Die Konar-Lampe fiel klappernd zu Boden, als eine andere Stim me aus der Luft dröhnte: »Straßenkind, du irrst dich. Dein Herz ist rein, aber ich sehe mehr als du, und ich habe das Geschenk, das die ses Kind wirklich will. Sie muss mit mir kommen, denn nur bei mir kann sie ihre wahre Bestimmung finden.« Plötzlich erschien eine Gestalt in einem dunklen Mantel auf der Plattform. Ihr Gesicht war von einer nebligen Wolke umhüllt. »Empster-Lord!«, sagte der Kalif. »Hasem, wie ...?« »Wir wussten, dass er ein Verräter war«, antwortete der Wesir. »Aber...« »Was hat er da in der Hand?« Doch nur Cata sah, wie der edle Lord seine Hände wölbte und ihr die vertraute Münze mit dem wirbelnden Muster vor die Augen hielt. Jetzt tönte seine Stimme nur in ihren Ohren. Catayane, ich kenne dich. Catayane, komm mit mir, und du wirst den wiederse hen, den du liebst ... Tränen traten Cata in die Augen, und Erinnerungen überfluteten sie. Zitternd griff sie nach der Münze des Harlekins, aber etwas ließ sie innehalten, als sie durch ihre Tränen und den Nebel um sein Gesicht Lord Empsters glühende Augen sah. Das war kein Sterbli cher ... Was wollte er? Konnte sie ihm trauen? Es sollte ihr keine Zeit bleiben, darüber nachzudenken. Der Kalif war der Erste, der es bemerkte und schrie. Von seinem erhöhten Standort über der Menge sah er die Pulverbombe durch den Himmel segeln, bevor sie einen Moment später explodierte. »Hasem! Hasem!« Er wich hastig zurück und zerrte seinen We-
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sir mit sich, als die königliche Loge absackte und beinahe auf den Marktplatz gestürzt wäre. Eine weitere Bombe segelte heran, dann noch eine. Der heilige Tag endete in einem Chaos aus Schreien, Stampfen, zerschmetterten Körpern, Blut und herumfliegendem Schutt. Nach den Explosionen stürmten die Roten Reiter auf ihren ein schüchternden schwarzen Rössern den Marktplatz. Schüsse peitschten in die Menge. »Zauber-Feuerstöcke!«, schrie der Kalif. »Hasem, wie ...?« »Ejländische Waffen, Oman! Eingetauscht gegen Sklaven ... Habe ich Euch das nicht erzählt?« »Aber ... Was bedeutet das?« Sie duckten sich, als Kugeln über ihnen hinweg pfiffen. »Was das bedeutet? Wir sind gerettet, Oman!« Ebenso wie Polty. Was an diesem Tag in ihren Gast gefahren war, verstanden weder der Kalif noch sein Wesir. Aber als sie wieder über die abgesackte Balustrade blickten, sahen sie, wie er sich regte und schließlich auf stand, als Eli Oli Ali seine Schulter schüttelte. Im nächsten Moment waren der Hurenbock und der Flammenhaarige in dem Gewühl der Menge verschwunden. Mittlerweile floh Cata die Treppe hinauf. Rajal stürmte hinter ihr her, gefolgt von Satima und Amed. Aber gerade als sie den Altar er reichten, brach Satima mit einem Aufschrei zusammen. Rajal stürzte zu ihr. »Sie ist getroffen! Sie ist... tot!« »Schnell!«, befahl Cata. »Wir müssen fliehen!« Ein Gang führte vom Altar zum Palast, aber er brannte lichterloh. »Wir sitzen in der Falle!«, schrie Amed. Sie spähte durch die Schusslöcher in dem Altar. Das war das Ende, ganz bestimmt. In dem Schutt unter der Loge sah sie Faha Ejo, Storch, Fisch, Blase und Stinker, die die Geschenke an sich rafften, die die Freier zurückgelassen hatten. Danach flohen die Straßenjun gen rasch.
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Die Konar-Lampe! Aber Amed kam nicht dazu zu rufen. Die Ereignisse überschlugen sich auf höchst beunruhigende Weise. Jetzt sah sie den ejländi schen Lord, der den blutenden, sterbenden Scheich in seinen Man tel hüllte. Ein Roter Reiter stürmte auf die Plattform und wollte den sterbenden Führer der Ouabin töten. Ein goldener Blitz zuckte. Plötzlich waren der Ejländer und der Ouabin fort, während der Rote Reiter schreiend auf der Plattform zusammenbrach. Der Reiter blieb der einzige Verlust der Kaiserlichen. Die Streitkräfte des Sultans errangen einen schnellen Sieg. Als die Schüsse ver klungen waren, bauten sich die Reiter in einer makellosen Phalanx vor der Plattform auf, die Roten vorn, die Gelben dahinter. Mitten in der langen Reihe zog einer der Roten seine Uniform aus und ent hüllte die dunklere Uniform, die er darunter trug. Ein Schwarzer Reiter! Der Rest der Menge sah es mit Schaudern. Auf der Treppe stürm te Amed vor und packte Catas Arm. »Das ist das Ende! Wenn das Feuer uns nicht tötet, werden diese Monster es tun! Schönste, sagt mir nur, bevor wir sterben ... Seid Ihr ... Könnt Ihr diejenige sein, die ich liebe?« Cata betrachtete mitfühlend das schluchzende Straßenmädchen. »Wildfang, ich trage die Kleidung deiner Geliebten, mehr nicht. Ich bin Catayane, diejenige, die du gerettet hast, und so wie du mich ge rettet hast, werde ich jetzt dich retten!« »Cata!«, protestierte Rajal. »Wovon redest du? Dieser miese Bursche hat mich beinahe ...« »Bursche?« Cata lächelte. »Raj, du bist verwirrt. Ich glaube, du wolltest sagen Mädchen, oder nicht?« »Was?« Für Erklärungen war keine Zeit. Cata lief zu der toten Satima und zog der Leiche Schleier und Gewand aus. »Rasch ... Zieh das hier an!«
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»Warum? Sie werden uns töten!« Aber Amed irrte sich. Die Stimme des Schwarzen Reiters verkündete die ruhmreiche Befreiung von Qatani und die bevorstehende Hochzeit, die noch mehr Ruhm bringen würde. »Jetzt kann sich kein Hindernis mehr dem Ereignis in den Weg stellen, das seit so vielen Sonnenwenden bestimmt ist. Edle und Sklaven, Männer und Frauen von Qatani, so wie Ihr aus den Klauen der Ouabin befreit seid, so ist auch unsere gefeierte Prinzessin von dem Los befreit, einen schmutzigen Wüstennomaden heiraten zu müssen. Sie kann Prinz Dare ehelichen, den Sohn von Mesha Ka led, dem Sultan des Mondes und der Sterne!« Das Entsetzen verflog, und man hörte die ersten vereinzelten Hochrufe. Hinter dem Altar legte Amed rasch ihren Schleier an. »Du siehst vielleicht lächerlich aus!«, zischte Rajal spöttisch. »Nicht halb so lächerlich wie du, Eunuch!« »Ich bin kein Eunuch!« »Haltet den Mund, ihr beiden!«, befahl Cata. »Ihr solltet besser miteinander auskommen, wisst Ihr?« »Was? Warum denn?« Aber der Reiter sprach weiter. »Außerdem«, verkündete er, »bin ich ermächtigt zu verkünden, dass die Hochzeit der königlichen Kinder in der Heiligen Stadt stattfinden wird, und zwar in drei Vollmonden von jetzt an. Alle, die wahre Anhänger von Theron, dem Gott der Flamme sind, werden aufgefordert, ihre Pilgerreise für den heiligsten der glorreichen historischen Tage unseres Reichs und unseres Glaubens anzutreten!« Das Feuer kam näher. Plötzlich trat Cata vor, hob ihre Arme und gebot so der Menge, ihr zu huldigen. »Cata!«, rief Rajal. »Was machst du da?« »Ich habe einen Plan«, sagte Cata über die Schulter. »Wenn wir schon nicht entkommen können, müssen wir uns eben gefangen nehmen lassen. Ich begreife zwar nicht alle Wege des Schicksals, aber ich habe das Gefühl, dass wir bei dieser Heirat mitspielen müssen.«
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»Wir?«, erkundigte sich Amed. »Ich bin eine Prinzessin, oder nicht? Sie müssen mir erlauben, meine Zofen mitzunehmen.« Damit schritt Cata rasch die Treppe hinunter, bevor die Flammen den Altar ganz verzehrten. »Kommt, Mädchen, auf nach Kal-Theron!«
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25. Groteske in zwei Tonarten
Dem merkwürdigen Chaos dieses Rituals der Neuverlobung muss noch eine Koda hinzugefügt werden. Die folgende Szene spielt sich weit entfernt in Agondon ab, wo sich eine hagere, asketische Gestalt fluchend von einem Spiegel abwendet. Es ist eine Persönlichkeit, wenn man sie denn überhaupt eine Person nennen kann, die in dem bisherigen Verlauf der Geschehnisse eine große Rolle gespielt hat, obwohl sie bis jetzt noch nie direkt aufgetreten ist. Der Welt zeigt sie das Gesicht von Tranimel, dem loyalen Ersten Minister seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät, König Ejard vom Blauen Tuch. Doch in Wahrheit ist es die Inkarnation des Anti-Gottes, Toth-Vexrah. Der Böse ist allein in einer Kammer, die von Kerzen hell erleuchtet wird. Die Vorhänge sind zugezogen, und ein Feuer lodert im Kamin. Es ist heiß draußen, viel zu heiß, und die Hitze lastet wie ein Leichentuch über der Stadt. Aber sie wird nicht lange andauern. Hier in den Ländern des Nordens ist die Jahreszeit des Theron schnell vorbei. Schon bald wird die Kälte wiederkehren und Ejland mit ihrer gepanzerten Faust umschließen, die ihren Griff nur vorü bergehend gelockert hat, um dann noch besser zupacken zu können. Bald schon wird der schlammige Strom des Flusses Riel von einer Eisschicht bedeckt sein, und ebenso bald werden die Türen aller Kammern in Agondon ebenso fest verschlossen sein wie jetzt Toths gegen die Welt da draußen. Denn dann fällt der Schnee, es wird erst
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spät hell, und das Licht verblasst schon am frühen Nachmittag. Es könnte tatsächlich sein, dass dies die letzte Jahreszeit ist, die Ejland je erleben wird, denn die Zeit des Sühneopfers nähert sich rasch ih rem Ende. Nur noch wenige Mondleben bleiben bis zum Beginn des tausendsten Zyklus. Im Augenblick jedoch interessiert das alles den Anti-Gott nicht. Er schreitet durch die Kammer, schneidet Grimassen, ballt wütend seine Hände und denkt nur an seine Wut. So, sein flammenhaariger Diener hat ihn also erneut im Stich gelassen! Sicher, die Projektion war von Anfang an labil. Die tausend polierten Klingen, die um den Platz herum glitzerten, schienen ein machtvoller Kanal zu sein. Aber er war noch zu erschöpft von seinem Zusammentreffen mit Agonis gewesen. Und er ahnte, dass hinter diesem neuesten Schei tern mehr steckte. Er fluchte erneut. Wenn er doch die Schimmernde Prinzessin hätte packen können! Und sie in die Heilige Flamme schleudern könnte! Toth wollte aber nicht aufgeben. Er würde niemals aufgeben. Er drehte sich wieder zu dem Spiegel um, in dem das Bild der reg los ausgestreckten Gestalt von Poltyss Veeldrop allmählich verblasste. Mittlerweile, das wusste Toth, war Veeldrop bereits geflohen und lief irgendwohin, versteckte sich wie ein Feigling. Der Spiegel zeig te die Objekte, auf die der Anti-Gott sich konzentrierte, nur dann, wenn er seine Macht spielen ließ. Verächtlich betrachtete er seinen nutzlosen Diener. Dabei war der junge Mann am Anfang doch so viel versprechend gewesen. Konn te es sein, dass Veeldrop sich ihm widersetzte? Ja, das war es! Toth war sich sicher! Aber wie konnte ein so korrupter und niederträch tiger Mensch ein anderes Interesse haben als das Böse, das pure Böse? Und was war Toth anderes als das Böse, wenn das Böse für den stand, der sich dem Ur-Gott, seinen fünf widerwärtigen Sprösslingen und all ihren Werken und Sitten widersetzte? Toth trommelte mit den Fingern gegen die verspiegelte Oberflä ehe. Der Gestank in der Kammer war ekelhaft und die Hitze erstickend, aber ihm bedeutete das nichts. Er dachte nur an seine Demü-
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tigung. Was war er für ein Narr gewesen, auch nur zu versuchen, mit Agonis zu verhandeln! Und wie dumm war es gewesen, Poltiss Veeldrop zu vertrauen! Er zog die Fingernägel quietschend über das Glas. Dann eilte er zum Kamin und streckte erst einen Arm und dann ein Bein in die Flammen. Er sprang an die Decke und klebte dort wie ein monströ ses, missgestaltetes Insekt. Einmal, zweimal und immer wieder hämmerte er seinen Schädel - oder vielmehr den von Tranimel - ge gen die Decke, bis der Teppich auf dem Boden mit einer Schicht wei ßen Gipses bedeckt war. Unvermittelt ließ er sich hinunterfallen. Seine Augen glühten, und sein Mund verzog sich höhnisch. Nein, sie waren die Narren, sie, die anderen, Agonis und auch dieser verwünschte Veeldrop. Wenn sein Bruder, und er nannte ihn Bruder, weil er sein Bruder war, seine Chance auf Erfüllung vertat, was sollte es ihn, Toth-Vex rah, kümmern? Sollte er doch! Er würde es noch früh genug bedauern! Mit Veeldrop dagegen verhielt sich die Sache anders. Der Mensch war nur zu weit entfernt, das war das Problem. Noch vor einigen Mondleben hatte Toth keinen Spiegel benötigt, um seinen Agenten in einen Furcht erregenden blauen Reiter, einen Drachen zu verwan deln. Aber damals war Veeldrop in Zenzau gewesen, und außerdem glühte er noch vor Eifer in seinem neuen Dienst. Die Dinge hatten sich geändert, und die Distanz trug die Schuld. Distanz in mehr als einer Hinsicht, dachte Toth. Ohne die Hilfe der Spiegelungen war er hilflos, unfähig, seinen eigenen Sklaven zu kontrollieren! Wieder kochte Wut in ihm hoch. Wenn seine Macht doch unendlich wäre! Aber wie sollte sie das sein ohne den Orokon? Erneut raste Toth durch die Kammer, über den Boden, die Wän de und die Decke und zerschmetterte alles, was ihm in die Quere kam. Plötzlich verharrte er regungslos. Er trat ans Fenster und riss den Vorhang zurück. Seine Blicke glitten über die dampfenden Höfe, und weiter, hinunter zu dem stinkenden, geschrumpften Fluss.
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Er dachte an die Hitze und an die Kälte, die bald kommen wür de. Ja, es war die letzte Kälte, die Ejland packen und nie mehr los lassen würde! Schon bald, sehr bald, würde hier das Chaos herrschen, und damit war Toth-Vexrah in seinem Element. Über welche Macht er verfügen würde, über welch unendliche Macht, wenn der Orokon ihm gehörte und diese widerliche Welt, die Welt seines Va ters, endlich zerstört war! Die Zeit arbeitete für ihn; außerdem wurde Toths Macht aus einer geheimen Quelle gespeist, wie er seinem Bruder Agonis ja verraten hatte. Sicher, diese Quelle nützte ihm bis jetzt wenig, denn neue Kraft würde er wohl nur einsetzen können, wenn die Speisung beendet, er endlich vollgefressen war und die Quelle nicht mehr existierte ... Aber auch das war nur eine Frage der Zeit... Seine Feinde konnten nicht gewinnen, sie hatten keine Chance! Der Anti-Gott warf den Kopf in den Nacken und lachte, husch te erneut über die Decke und ließ sich vor dem Spiegel herunterfal len, der ihm jetzt nur das Bild der vollkommen zerstörten Kammer zeigte. Seine Augen glühten, und der Spiegel trübte sich. Toth such te nach Veeldrop. Wo war er, wo war diese verhuschte Ratte? Es war sicher gut, wenn sein Diener wusste, dass er ihm niemals entkommen konnte. Es gab kein Entrinnen! Niemals! »Was ist ihm denn jetzt passiert?«, flüsterte Dona Bela. »Es geht ihm noch schlechter als zuvor«, erwiderte Jem leise. »Seht nur, wie er schwankt!«, piepste der Kleine. »Kann man an einem Tisch sitzen und schwanken?«, murmelte Jem. »Er schon!«, meinte die Prinzessin seufzend. »Ich bekomme davon eine Gänsehaut.« »Im Reich von Un war Pustel nicht so«, erklärte der Kleine. »Auf der Catayane auch nicht«, verkündete Jem. »Aber er hatte auch keine Chance ... Kleiner! Wehe, wenn du mit dem Senf schnippst!«
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Der kleine Junge lächelte schüchtern und schob sich den Löffel stattdessen in den Mund. Jem machte sich Sorgen. Beunruhigt blickte er auf die unechten Gäste, die fröhlich in der Halle unter ihnen zechten. In der Traum dimension konnte man unmöglich die Tage zählen, und er wusste nicht, an wie vielen Banketten er teilgenommen hatte, seit die Neuankömmlinge eingetroffen waren. Aber eines war klar: Jedes Mal erstaunte ihn das Verhalten des Schiffsjungen. Pustel saß in prächtigen Roben neben Almoran und plauderte mit einer hohen, affek tierten Stimme mit seinem vornehmen Gastgeber. Das Lächeln wich dabei nie von seinem pickligen Gesicht, und er machte unaufhörlich Komplimente. Hochmütig mäkelte er an den Speisen he rum, doch wenn sie ihm erst einmal vorgesetzt wurden, schlang er sie herunter wie der gemeinste Bauer. Seine Kleidung war von Fle cken übersät, ebenso wie der Tisch vor ihm, und sein Mund war mit Soße verschmiert, Almoran jedoch lächelte nur nachsichtig, als wäre Pustel ein Prinz. Bis jetzt hatte der Schiffsjunge seine Aufmerksamkeit nur auf sei nen Gastgeber gerichtet und seine Gefährten kaum beachtet, die ne ben ihm auf dem Podest saßen. Es schien, als wollte er sein neues Selbstvertrauen bei seinem Mentor schärfen. Jetzt jedoch war die Probe zu Ende. Während dieses letzten Banketts hatte sich Pustel wohlwollend an seine Gefährten gewandt, als erweise er ihnen einen Gefallen. Seine Stimme klang noch erstickter als vorher. Und seine Manieren waren noch absurder. »Ist das Wetter heute nicht ausge sprochen strahlend, Meister Jemany?«, fragte er. »Also wirklich, ich habe heute wie ein Schwein in den Gärten geschwitzt.« Oder: »Klei ner, mein Junge, hast du schon den Hummer probiert? Ich habe schon immer gesagt, dass so was köstlich ist. Aber pass auf, dass du nicht diese scharfe Schale verschluckst, sonst muss der Diener dich erbrechen lassen.« Sein besonderes Augenmerk richtete Pustel allerdings auf die Prinzessin. Immer wieder hatte Almoran das Mädchen aufgefordert, sich neben den Schiffsjungen zu setzen. Jetzt nutzte die Kreatur den Vor
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teil ihrer Position aus und quälte die schöne Gefährtin bis aufs Blut. »Kommt, meine Liebe, probiert diesen Aal in Aspik. Vielleicht hilft er Euch ja, an etwas zu denken, was ganz ähnlich aussieht... Meine Güte, was für ein hübsches Händchen. Ich freue mich schon auf die Rolle, die es bei den Intimitäten spielen wird, die uns erwarten ... Ihr werdet zweifellos von Freiern belagert, meine Schönste. Sagt mir, was haltet Ihr vom ... Heiraten?« Jem kochte. Mehr als einmal hatte er aufstehen und Pustel vom Tisch auf den Boden zerren wollen. Nur die flehenden Blicke der Prinzessin hatten ihn bisher davon abgehalten. Aber er gehorchte ihr nur sehr widerwillig. Ihm kam es so vor, als würde diese Vorstellung niemals enden. Die gerötete Hand wedelte schmeichelnd durch die Luft, und die grün lichen, fauligen Zähne lächelten unentwegt. In dem rohen Gesicht glühten dicke gelbe Pickel zwischen ekelhaft geröteten und bläuli chen Hautflecken wie Bernsteine. Hielt sich Pustel wirklich für einen netten jungen Burschen? Wie schaffte es die Prinzessin, nicht loszuschreien? »Das ist doch Almorans Werk, hab ich Recht?«, flüsterte sie, als ihr Bewunderer kurzfristig seine Aufmerksamkeit einem Schwertfisch in Curry widmete. Jem hätte gern das Schwert genommen und die Pickel einen nach dem anderen aufgeschlitzt. Er schüttelte sich, aber gleichzeitig merkte er, dass er unfair war. Die Prinzessin hatte Recht. Es war ein Trick von Almoran, eine andere Erklärung gab es nicht. »Oder ein Trick des Dschinns?«, sinnierte er laut. Mehr als ein mal schwebte der kleine fette Mann über ihnen und erkundigte sich ölig, ob es etwas, irgendetwas gäbe, was sein Herr und Meister sich WÜNSCHTE. Schließlich hatte Almoran ihn weggescheucht. »Nein, es ist kein Trick des Dschinns«, erklärte der Kleine. »Der Dschinn kann Pustel nur seinen dritten Wunsch erfüllen. Aber Pustel wird sich nichts wünschen.« »Nicht?«, sagte Jem atemlos. »Warum nicht?«
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»Vielleicht mag er diesen hier zu sehr. Diesen Wunsch«, flüsterte die Prinzessin und schüttelte sich, als Schwertfischbrocken auf ih rem Ärmel landeten. »Oh, er mag ihn, ganz bestimmt«, erwiderte Jem bitter, »und der alte Mann stachelt ihn auch noch an. Das ist klar. Pustel ist darauf hereingefallen. Und zwar vollkommen.« »Er ist ein armer Junge«, erklärte der Kleine schlicht. »Wie ich.« Jem wurde weich, und er strich dem Jungen durchs Haar. »Du hast Recht, Kleiner. Pustel ist ein Clown, wenn auch ein wahrhaft grotesker, aber warum auch nicht? Sein ganzes Leben lang war er ein entstellter Aussätziger - und jetzt das. Ich sollte Mitgefühl mit ihm haben. Früher einmal war ich fast wie er.« »Wie er? Was meinst du damit?«, zischte der Kleine. Für eine sentimentale Rückschau war jetzt nicht der richtige Moment. Jem musterte Dona Bela, den Kleinen und Pustel, betrachtete liebevoll Regenbogen, der sich unter dem Tisch über seine golde ne Schüssel hermachte. Wie konnte er sie retten? Wie konnten sie fliehen? Er brütete schon eine ganze Weile über einem Plan, aber würde er funktionieren? Wenn Pustel nicht auf ihrer Seite war, vielleicht nicht. Möglicherweise überhaupt nicht. »Wir müssen ihn irgendwie aufrütteln«, sagte Jem laut; »Prinz?« Dona Bela runzelte fragend die Stirn. Der Kleine schnippte einen Löffel Senf auf Pustel.
26. Setzt die Segel »Ein Toast auf den Major-Herrn!« »Oily, du bist ein guter Freund!« »Freund? Pah! Ein loyaler Diener!« »Du hast mich gerettet, Oily!« »Major-Herr, Ihr habt Qatani gerettet!«
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Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber der Hurenbock kümmerte sich nicht darum. Mit einem demütigen Grinsen füllte er Poltys Becher, stieß fröhlich mit ihm an, trampelte mit den Füßen auf den Boden und grölte nach Mutter Madana. Mehr Ferment, Ferment für den Helden von Qatani! Draußen tauchte die rasch ein fallende Dunkelheit die Gasse in ein hassliches, unangenehmes Rot. In der schäbigen Kammer wurde es dämmrig. An einem gewöhnli chen Abend wäre der Khan des Halbmonds mit kräftigen, zechenden Seeleuten vollgestopft gewesen, aber heute waren die Türen verrammelt. Eli Oli Ali und Polty tranken allein. »Eli, denk nur an das viele Geld, das wir verlieren!«, zischte Mut ter Madana und stellte mit einem lauten Knall einen neuen Krug auf den Tisch. »Geld? Du denkst ans Geld, Weib, wenn wir einen großen Mann unter uns haben? Bring Jarvel und entzünde eine Lampe! Seht, Ma jor-Herr«, fügte der Hurenbock grinsend hinzu, »ich habe dieses Weib richtig eingeschätzt. Als sie zuerst zu mir kam, war sie spröde und protestierte. Jetzt...«, er machte eine Bewegung mit Daumen und Zeigefinger, »...denkt sie nur noch an eins, an eine einzige Sa che! Pah! Du bist nicht besser als ich, Weib, vergiss das nicht!« Die Frau schien versucht, Eli auf den Kopf zu schlagen, begnüg te sich jedoch damit, eine alte Lampe zwischen die Männer auf den Tisch zu stellen. Allerdings knallte sie sie so heftig auf das Holz, dass die Flamme hoch aufzischte. Eli kicherte. »Und der Jarvel, Weib? Schnell, schnell!« Polty hörte ihm kaum zu. Er dachte an die Ereignisse des Abends. Erneut spürte er die schrecklichen Schmerzen, als ihn auf der Gale rie diese Besessenheit gepackt hatte. Bei seinem Angriff auf Rashid Amr Rukr war es ihm so vorgekommen, als sei er ganz und gar TothVexrah, als wäre nichts mehr von Poltiss Veeldrop übrig. Er stellte sich vor, wie er zusammengesunken und körperlos über der Balus trade schwebte, als der Anti-Gott losgeflogen war. Einen Moment später lag Poltiss Veeldrop keuchend auf dem Podest zwischen den Blumen. Warum die Macht versagt hatte, wusste er nicht. Als Toth
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das erste Mal von ihm Besitz ergriffen hatte, damals in den Hügeln von Wrax, war die Macht absolut und vernichtend gewesen. Seitdem war sie immer schwächer geworden ... Aber warum? Verbarg sich hier ein Hinweis, der ihm vielleicht die Freiheit wiederbrachte ? Ach, frei zu sein und in Catas Armen zu liegen! »Oily, ich hatte solche Schmerzen!«, stöhnte Polty. »Schmerzen?« Der Hurenbock grinste. »Major-Herr, Ihr seid ein mächtiger Mann!« »Ich habe keine Macht, Oily ... gar keine Macht!« »Was? Ihr könnt fliegen, Euer Haar steht in Flammen? MajorHerr, es sind viele Menschen betend auf die Knie gesunken, weil sie dachten, der Feuergott Theron selbst wäre erschienen!« Der Huren bock starrte in Poltys Augen. »Sagt mir, Major-Herr, wie macht Ihr das? Was ist Euer Geheimnis?« Polty sank vor und verbarg das Gesicht in seinen Händen., »Eli, ich brenne und brenne ... Heute ist jedoch etwas geschehen. Die Be sessenheit hat mich verlassen ... Wahrend ich beinahe bewusstlos zwischen den Blumen lag, glaubte ich die Kristallkugel wieder zu sehen, die um mich herumrollte!« Dem Hurenbock blieb fast das Herz stehen, aber er ließ sich nichts anmerken. »Eine Kugel?«, fragte er nur. »Die Kugel war da, dessen bin ich mir sicher. Aber ich habe sie verloren, sie ist für immer verloren! Das ist mein Ende!« Polty schlug sich gegen den Kopf und starrte eindringlich in die flackernde Lampe. »Die Kugel... war einmal ein Spiegel... Er ist durch die Kugel zu mir gekommen ... Durch die Kristallkugel! Ja, das ist es! Oder ... vielleicht doch nicht?« Eli tat nicht einmal so, als würde er verstehen. Stattdessen lächelte er und animierte seinen Kumpan zum Trinken ... Trink und ver giss deine Sorgen! Der Major-Herr war schon ziemlich angetrun ken. Bald würde er das Bewusstsein verlieren. Gut. In diesem Zustand wollte Eli ihn haben, während er die Vorbereitungen für die Reise traf. Viel Zeit blieb nicht. Die Reiter würden vielleicht schon nach
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dem gotteslästerlichen Mischling suchen, der es gewagt hatte, um die Hand der Prinzessin zu freien. Zweifellos suchten sie auch den Major-Herrn. Eine Weile hatte ELI sogar an Flucht gedacht. Aber das wäre närrisch. Verkleidung war das Gebot der Stunde. Am nächsten Morgen würden sie Teil einer Karawane von tausenden loyaler Pilger sein, die sich auf den Weg nach Kal-Theron machten. Der Hurenbock rieb sich unter dem Tisch die Hände. Die Bitterheit, die er nach seiner Vertreibung vom Hofe empfunden hatte, war nur noch eine schwache Erinnerung. Eli hielt sich nicht lange damit auf, der Vergangenheit hinterherzutrauern, und er ließ sich auch nicht so leicht eine Chance entgehen. Die Aussichen auf neuen Ruhm lockten. Er packte Poltys Hand. »Major-Herr, Ihr sagtet doch, ich wäre Euch ein Freund, hm?« »Ein guter Freund, Oily.« »Und jetzt habt Ihr Eure anderen Freunde verloren?« »Bohne? Burgrove? Oily, ich weiß nicht einmal, wo sie stecken könnten!« Der Hurenbock seufzte. »In den Ländern von Unang ist es an der Tagesordnung, dass Männer verschwinden und nie wieder auftauchen. Aber verzagt nicht, Major-Herr, Ihr habt jetzt einen neuen Be gleiter, der Euch bei eurer ... hm ... Suche helfen wird. Ihr seid na türlich der Herr. Aber lasst mich Euer Helfer sein!« »Ach, Oily!« Die beiden Männer umarmten sich trunken und wurden von Mutter Madana unterbrochen, die eine blubbernde Wasserpfeife auf den Tisch stellte. Polty sank nach vorn. Der Hurenbock stand auf und betrachtete sein Opfer im Licht der Lampe. Wie er die Fähigkeiten des Major-Herrn nutzbar machen wollte, wusste er nicht, aber es musste einfach eine Möglichkeit geben. Sein Herz jubelte, als er an Kal-Theron und die gewinnträchtigen Abenteuer dachte, die dort sicher auf sie warteten. Kapitän Porlo und seine eigenen groß mäuligen Versprechungen hatte er längst vergessen. Der Hurenbock beugte sich vor, schob Polty das gebogene Mund
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stück der Pfeife in den Mund und drehte sich dann schnell zu Mut ter Madana um. »Er ist hinüber. Komm, Weib, wir wollen vor An bruch der Dunkelheit aufbrechen. Du musst mir im Lager helfen. Und sorg dafür, dass die Kammer gut verschlossen ist!« Die Frau zögerte. »Was ist, Weib? Kommt!« »Eli... Was ist mit der ... Zelle?« »Shh!« Der Hurenbock verdrehte die Augen. »Wir haben sie doch dem Tod überantwortet, oder nicht?«, flüsterte er. »War das nicht von vornherein beabsichtigt?« »Eli, das gefällt mir nicht.« »Sie sind doch längst erledigt, oder? Sie müssen tot sein! Jetzt sei keine Närrin, Weib ... Komm!« Der Hurenbock hätte die Lampe löschen sollen, aber in seiner Aufregung vergaß er sie und ließ sie brennen. Poltys Haar glänzte kupfern, als er an demselben wackligen Tisch saß, an dem schon Bohne und Burgrove ihr Schicksal ereilt hatte. Wie ein Baby nuckelte er an der Jarvel-Pfeife, und in seinem Kopf beschwor er Visionen und Träume herauf. Schemenhaft erinnerte er sich an einen Dreh spiegel, der unaufhörlich in seinem dünnen Rahmen herumwirbel te. Dann daran, wie das Glas in tausend Stücke zersprang und sich diese Stücke zu einen rollenden Ball zusammenfügten ... Poltiss Veeldrop, sagte eine Stimme. Poltiss Veeldrop, glaubst du denn, du könntest mir entkommen? Polty rührte sich; das Mundstück rutschte ihm aus dem Mund. In der Gasse waren Schritte zu hören. »Ich hole den Wagen ... Bereite du die Ferment-Fässer zum Verladen vor. Merk dir meine Wor te: Auf dem Weg in die Heilige Stadt werden wir eine Menge Geschäfte machen können!« »Sehr gut, sehr gut ... Ach, du bist ein Monster, Eli!« Gelächter antwortete der Stimme, und dann entfernten sich die Schritte. Einen Moment herrschte Stille. Aber statt ihre Aufgabe zu erledigen, schlich Mutter Madana auf Zehenspitzen zu Polty zurück. Schuldbewusst sah sie sich um und schlurfte zu einer Tür, deren Riegel sie
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zurückschob. Weiter würde sie nicht gehen. Rasch schlich sie zu rück und blieb nur kurz neben Polty stehen, um dem Ejländer sanft das Mundstück der Pfeife wieder zwischen die Lippen zu schieben. Sie hasste Ejländer, natürlich, aber dieser, nun ja, war ein gut aussehender Bursche. Mit ihrer welken Hand strich sie ihm über das kup ferne Haar. Sie beugte sich vor und wollte die Lampe löschen. Aber in diesem Moment regte der Ejländer sich, und Mutter Madana floh. Polty rieb sich die Augen. Erst sah er nur Sterne. Nein, Blumen. Es war eine blumenübersäte Plattform, und die Kugel rollte wie wild... Poltiss Veeldrop, Poltiss Veeldrop, weißt du nicht, dass du mir gehörst? Mit trübem Blick sah Polty in das Glas der Wasserpfeife und dann in das der zischenden Lampe. Dort entdeckte er das gei fernde Gesicht, das ihn aus der Lampe anstarrte ... und aus der Wasserpfeife... Poltiss Veeldrop, Poltiss Veeldrop, du wirst mir gehorchen, bis die Kristalle mir gehören! »Nein!« Polty sprang auf und wischte das entsetzliche Gesicht zu Boden. Ein Knacken drang an sein Ohr, das noch weit lauter war als das Klirren des Glases. Polty sank in der Dunkelheit zusammen und atmete schwer. Oh, ihm drehte sich alles ... ihm schwindelte ... Dann sah er, wie sich etwas zwischen den Blumen drehte, nicht die Kristallkugel, nein, sondern ... Konnte es eine Münze sein, die dem Mann in Schwarz aus den Fingern gefallen war? Die Münze hörte auf, sich zu drehen, und Polty erkannte das wirbelnde Muster auf dem Goldstück. Er kannte diese Münze, oder nicht? Aber wo ... Wie? Was konnte sie bedeuten? Poltys suchte tief in den Kammern seiner Erinnerung1. Ali, aber da lag ein Geheimnis verborgen! Die Schimmernde Prinzessin erstand vor seinen Augen, und Polty wur de klar, dass er ihr folgen musste, wenn er jemals seine Bestimmung erfüllen sollte ... Er erschrak. Feuer! 1 Vergl. Der Tanz des Harlekin, 4. Kapitel. Dort wird Poltys frühere Begegnung mit der Münze des Harlekins beschrieben. Sie wurde später ein Talisman für Cata und zum Symbol ihrer Liebe zu Jem.
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Der Rauch hing schwer in der Luft, und die Flammen loderten in der schäbigen Kammer. Er rappelte sich auf. Wohin sollte er sich wenden? Seine Sinne arbeiteten wie ein Mahlstrom, aber seine Glieder waren schwer wie Blei. Da sah er eine Tür, die einen Spalt offen stand. Hier entlang? Er stürmte durch die Tür und schrie auf, als er eine steile, glitschi ge Treppe hinunterstürzte. Polty sah sich in dem rötlichen Licht um. Wo war er? Das war doch nicht die Gasse. Ein ... Keller? Er sah den Leichnam, der schmutzig war und stank. Es war gar kein Leichnam. Ein Gesicht wandte sich ihm zu, und ein rissiger, eiternder Mund versuchte, ihn freudig zu begrüßen. Mit einem Schlag war Polty klar im Kopf. »Bohne!« Er eilte zu seinem Freund und schloss den hageren Körper in die Arme. Aber wie sollten sie hier herauskommen? Konnten sie es durch die Flammen schaffen? Von oben ertönte ein Krachen, als ein brennender Balken herunterfiel und die Gittertür blockierte. Polty wich zurück. Mittlerweile war der Keller voller Rauch. In dem Moment wurde die andere Tür geöffnet, und ein zerlumpter Straßenjunge schrie ihnen zu: »Elende, lauft um Euer Leben!« »Hier entlang, hier entlang!« Rauch drang durch die Tür hinter ihnen. Das Feuer breitete sich vom Boden über ihnen rasch aus. Vorhänge aus Sackleinen gingen fauchend in Flammen auf. Polty stürmte blindlings und hustend weiter. »Hier entlang, hier entlang!« Eine Falltür wurde geöffnet. Sie befanden sich in der Gasse und flohen mit den Jungen vom Reich von Un. Bohnes Rachen brannte, und er hatte die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Krampfhaft umklammerte er Poltys Hals. »Hier lang, hier lang!« Schließlich brachen sie irgendwo auf der schmutzigen Pier zu
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sammen, hustend und keuchend. Bohne rutschte aus Poltys Armen und schlug schwer auf dem Boden auf. Verzweifelt rang er sich die Worte von den Lippen. »P ... Polty, B ... Burgrove ... Er ist immer noch da drin!« Aber Polty war hintenübergefallen und erbrach sich, während ein Flammenmeer den Khan des Halbmondes verzehrte. »Rum! Pustel, wo bleibt mein verdammter Rum?« Kapitän Porlo hatte schon reichlich dem Rum zugesprochen, sonst hätte er wohl kaum den Namen seines verschollenen Schiffs jungen gerufen. Es war Abend, und der silbrige Mond glitzerte auf dem Wasser draußen vor dem offenen Fenster. Auf dem Boden roll te der leere Krug im Rhythmus der wogenden Wellen hin und her. Der Kopf des Kapitäns knallte auf den Tisch und verfehlte nur knapp den schmutzigen Teller, der von Pökelfleisch mit Senf ver schmiert und mit den Krümeln von madigem Schiffszwieback be deckt war. Aus dem Mund des alten Seebärn rann ein Speichelfaden, und seine Lider zuckten über seinen Augen, von denen nur noch das Weiße zu sehen war. Bubi kreischte und sprang ihrem Herrn auf den Rücken. War er krank? Starb er? Der Kapitän grinste jedoch nur und drückte die kleine Affin fest an sich wie eine Freundin. Nein, Faris Porlo war nicht krank. Er war einfach nur glücklich, und dieses Glück überwältigte ihn wie ein ekstatischer Anfall. Noch vor einer Weile, in Qatani, war er verzweifelt gewesen. Was war er doch für ein Narr, diesem schmutzigen Mischling zu vertrauen! Eli Oli Ali war ganz offensichtlich verrückt, genauso wie dieser Empster. Der Kapitän war froh, die bei den losgeworden zu sein. Wenn sie ihm noch einmal unter die Augen kamen, würde er sie über die Planke schicken, so viel war klar! Dennoch, er hatte Gewissensbisse wegen dieses Jungen, Meister, Raj, und wegen des entzückenden Mädchens. Beide ließ er einfach in diesem heidnischen Land zurück, ohne dass sie nach Hause kom men konnten. Und was war mit dem, den sie Jem genannt hatten? Sicher, es waren junge Leute, und sie konnten auf sich selbst aufpas-
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sen. Meine Güte, wenn er sich nur die vielen Beine vorstellte, die sie zusammen hatten! Nein, der Kapitän wollte nur an den herrlichen Augenblick an diesem Nachmittag denken, als die Ouabin wie ein Hühnerhaufen durcheinandergelaufen waren und er verzweifelt an der Pier entlang humpelte. Er hatte gebrüllt und zur Catayane hinübergewunken. Ein junger Bursche mit geflickten Lumpen und vielen Sommer sprossen auf der Nase hatte ihn zuerst gesehen und ihm geholfen. Ja, Porlos Matrosen ließen ihren guten alten Kapitän nicht im Stich! Kurze Zeit später lichteten sie die Anker und pfiffen auf diese ver dammten Ausländer, Ouabins und Unangesen und was sie sonst noch alles sein mochten! Der Kapitän wollte gerade erneut nach seinem Rum rufen, nach mehr Rum, als die Tür aufging und er im Licht der Lampe die er sehnte Kurve eines frischen, bis zum Rand gefüllten Kruges sah. »Pustel?« Er öffnete seine müden Augen. Ach, war er vergesslich! Der neue Junge trat mit einem dummen Grinsen vor. »Ich bin Flicken, Käpt'n. Entschuldigt, Ihr habt gesagt, ich wäre jetzt Schiffsjunge. Weil Pustel doch weg ist.« »Aye, das habe ich gesagt, Junge«, erwiderte der Kapitän und stützte seinen Kopf mit der Faust. »Du bist doch nicht so ein undank barer Kerl wie Pustel, hm? Wirst nicht einfach so weglaufen, hm?« »Nein, Käpt'n!« »Bist ein guter Junge, Flicken. Magst du ein Liedchen?« »Aye, ich mag ein Liedchen, Käpt'n.« »Dann hol mir die Quetschkommode, sei ein guter Junge. Setz dich, hm? Ein Schlückchen Rum? Komm nur, davon kriegst du Haare auf der Brust! Bist ein braver Bursche, Flicken. Sei froh, dass wir nicht mehr in diesem Unang-Land sind, mehr sag ich nicht. Das ist kein Ort für einen ordentlichen Burschen, mit all den Kobras, die sie da haben! Du musst fix mit deinem Dolch sein, wenn Kobras um dich herumkriechen! Eines Tages erzähl ich dir, wie ich sie zurückgeschlagen habe, wie ich mich durch ein ganzes Feld von ihnen ge
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kämpft habe, um diesem Heidenpalast zu entkommen. Junge, da müssen mindestens hundert gewesen sein. Ich hab ihnen ihre Hau benköpfe abgeschlagen, das hab ich, als wären es Kornstengel!« Aufregung glomm in den Augen des alten Mannes, aber er nahm sich zusammen, trank einen Schluck Rum und sagte: »Ich sing dir lieber ein kleines Liedchen.« Begleitet von seiner kreischenden Quetschkommode sang der einsame alte Seebär in dieser Nacht das Lied, das er schon einmal gesungen hatte, vor so langer Zeit, wie ihm schien. Für Meister Jem und Meister Raj war es gewesen. Bubi sprang protestierend vom Arm ihres Herrn, kletterte die Wände hoch und hing von der Decke herunter, während der Katzengesang ihre empfindlichen Ohren malträtierte. Piaster! Piaster!
Gold und Diamanten, Rubine und Silberteller!
Liegen sie in einem Wrack am Grunde des Meeres?
Wo, sag mir, wo kann mein Schatz sein?
Johohe! Ein Seebär bin ich, he!
Aber wo, sag mir, wo kann mein Schatz sein?
»Komm, Junge, stimm mit ein! Ein schönes Lied, was?« Flicken nippte hemmungslos am Krug des Kapitäns und konnte nur zustimmen, dass es ein feines Lied war. Er nickte, und Rum lief ihm das Kinn hinunter. »Immerzu, Bursche, das ist sein Gewicht in Gold wert!« Der Kapitän grölte vor Lachen und sang noch eine Strophe und dann noch eine. Flicken grinste nur, und ihm drehte sich alles im Kopf. »Aye, jetzt sind wir auf unserer richtigen Reise, Flicken, merk dir meine Worte!«, rief der Kapitän. Dann, als wollte er seinen Worten Nachdruck verleihen, sang er noch eine Strophe, eine, die er Empsters jungen Mündeln niemals vorgesungen hatte. Er zog die Quetschkommode ganz weit auseinander, dachte an den Ruhm, der
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ihn am Ende der Reise erwartete, dieser vielleicht letzten, gewiss aber größten Reise. Und da glaubte Empster, er könnte den alten Faris Porlo zum Narren halten! Blauer Kristall - lange verschwunden!
Mächte, die nur die Götter kennen!
Ist es wahr, dass der glänzende Kristall
das Geheimnis des Meeres verbirgt?
Wo? Weiß ich denn, wo dieser Schatz sein kann?
Johohe! Ein Seebär hin ich, he!
Wo? Ja, ich weiß, wo dieser Schatz sein kann!
Immer weiter ging diese fröhliche Kakophonie, und immer weiter schwappte auch der Rum. Die Catayane segelte durch die schwere, wogende See zu den Inselreichen von Wenaya. Dare stieg erneut die blassen Stufen hinauf. In diesen letzten Näch ten hatte Simonides in seiner Kammer geschlafen, und auch wenn der Junge den alten Mann liebte, strengte es ihn doch an zu warten, bis sein Gefährte endlich eingeschlafen war. Wie erleichtert war er, wenn er dann endlich hinaus in die Nacht schlüpfen konnte! Aufregung erfüllte den Thronfolger, wenn ihn endlich die Dunkelheit der Dachgärten einhüllte. Er atmete tief ein und wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als die schweren Düfte des Jasmin, der Javander-Wurzeln, des Malak und der Narzissen in sei ne Nase stiegen. Dann sah er die schimmernde, zerbrechliche Ge stalt auf der anderen Seite der Terrassen. Wie der Anhänger eines heiligen Rituals flüsterte er die Worte, die er schon in den Nächten zuvor gesagt hatte. Und wie tröstend, wie unendlich tröstend waren Thals Antworten! »Bist du real, Thal?« »Freund, natürlich bin ich real!« »Aber ich kann durch dich hindurchsehen!«
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»Freund, deshalb bin ich nicht weniger wirklich.« Thal sprang hoch in die Luft und glitt durch einen Baumstamm. »Willst du nicht auch so sein wie ich? Ist meine Substanz nicht besser als das behäbige, schwere Fleisch, aus dem du bestehst? Freund, denk nur, wie wir lachen und spielen könnten, wenn wir beide so wären wie ich! Stell dir das vor, Freund!« »Aber Thal, ich muss heiraten und ein Mann sein!« Thal lachte. »Freund, du wirst niemals heiraten!« »Niemals, Thal? Bist du sicher?« Bei diesen Worten grinste Thal und schoss wie ein Kobold davon. Dare rannte hinter ihm her. Wie fröhlich sie zwischen den dunklen Wäldchen und den Grotten spielten, zwischen den Hecken und den Terrassen tanzten und herumliefen, sich drehten und wendeten, stolperten und lachten, während der Mond sie beschien! Wie traurig würde Dare sein, wenn Thal wieder gehen musste! »Komm zurück, Dare!«, sagte der geisterhafte Junge dann. »Komm morgen Nacht zurück, dann spielen wir wieder.« »Wirst du hier sein, Thal?« »Ich bin immer hier, Dare. Und bald wirst auch du immer hier sein. Wir werden für immer Jungen bleiben, Dare, und niemand kann uns finden und uns etwas Böses antun!« Dare schlang die Arme um sich, als er die Treppe hinunterstolperte, und konnte nur hoffen, dass dieses glorreiche Schicksal sich bald erfüllen möge.
27. Ein Reigen um den Springbrunnen »Liebling? Liebes Mädchen, wohin bist du verschwunden?« Pustels Herz jubilierte vor Freude, während er sich durch Veilchen und Schafgarbe, Henna, Glockenblumen und prächtige Mar geriten kämpfte. Die feuchte Hitze um ihn herum war beinahe so
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fühlbar wie Wasser. Weihrauch und Vogelgezwitscher erfüllten die Luft. Wann war er jemals so glücklich gewesen? Jetzt musste er nur noch das Mädchen wiederfinden. Als Pustel aufwachte und feststell te, dass sie nicht mehr an seiner Seite lag, hatte er nicht einen Moment daran gedacht, sie könnte vielleicht vor ihm geflohen sein. Nein! Sein Schatz spielte ein Spielchen, das war alles, ein wunderbares Spiel. Nun, vielleicht war sie schüchtern. Schließlich war er das auch. Die letzte Nacht war für sie beide das erste Mal gewesen. Aber was für eine Nacht! »Schatz? Schatz, ich finde dich, keine Angst!« Pustel bog um eine Ecke und stieß auf den Springbrunnen, diese merkwürdige, wellenförmige Flamme aus Stein. Dankbar beugte er sich über das moosige Becken. Er wollte trinken, verharrte aber beim Anblick seines Spiegelbilds, das in dem klaren, kühlen Wasser schimmerte. Seitdem diese Veränderung mit ihm vorgegangen war, hatte Pustel immer wieder in den Spiegel in seinem Zimmer gestarrt, vollkommen verzückt von seiner neuen Schönheit. Dieselbe Verzü ckung packte ihn wieder, und er tanzte um den Brunnen herum, bis er schließlich auf den blütenbedeckten Boden sank. »Ach, mein Schatz! Mein lieber, lieber Schatz!« Pustel trug nur eine Robe aus dünner Seide, die mit einer Schnur gesichert war. Die Robe glitt auf, und er strich sich langsam über seine Brust. Pustel seufzte und erschauderte. Erneut packte ihn das Be gehren. Er umklammerte die Säule zwischen seinen Beinen und be wunderte die glatte, zarte Haut. Sie war Seide, wie Seide. Ekstatisch stöhnend rollte er sich auf den Bauch und sank in die weichen Blätter. Er rang einen Moment mit sich selbst, weil er seinen Samen ei gentlich für seine Liebste bewahren wollte. Doch dann stieg die Erinnerung an ihre weichen Schenkel in ihm hoch, und er gab nach. Ja ... Ali, ja! Es würde noch viele Gelegenheiten geben. Keuchend lag Pustel unter den leise schaukelnden Blättern. Niemals hatte er sich ein solches Glück vorstellen können. Er war ein Mann. Und eine Frau liebte ihn. Er flüsterte ihren Namen. Ein Bellen antwortete ihm.
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Pustel blickte hoch. Es war dieser Hund, dieser Regenbogen, der sich den Weg durch das duftende Unterholz bahnte. Pustel betrach tete ihn widerwillig. Sicher, in seinem früheren Leben hatte er Hun de gemocht, aber das waren meistens räudige Mischlinge gewesen, keine merkwürdigen, bunten Hunde wie der da. Regenbogen blieb neben dem Brunnen stehen. Er blinzelte und wirkte fast ein wenig wachsam. Er kläffte erneut, und dann ertönten Schritte. »Regenbogen!« Es war die Stimme des Kleinen. »Ich wusste, dass du ihn finden würdest!« Pustel stand auf. Er sah sich nicht nur dem Kleinen gegenüber, der erhitzt und schwer atmend dastand, sondern auch Jem und Dona Bela. Was ging da vor? Beschützend näherte sich Pustel seinem Schatz. Sie stolperte zurück und schlug die Hand vor die Augen. »Schatz? Schatz!« Wütend drehte sich Pustel zu Jem um. »Was hast du mit ihr gemacht?« »Pustel!«, erwiderte Jem. »Sieh dich an!« Rasch zog Pustel die Robe fester um sich, aber seine Gefährten hatten bereits seinen nackten Körper gesehen. Pustel erkannte ihren Schrecken, begriff aber nicht den wahren Grund. Abrupt öffnete er seine Robe wieder, streifte sie ab und warf sie in die Blätter. Dona Bela schluchzte entsetzt, der Kleine wandte sich ab, und Regenbogen wich zurück. Nur Jem blickte hin und schluckte schwer, als er die fürchterliche Kreatur sah, die ihnen gegenüber stand. Der Kör per und die Gliedmaßen des Schiffsjungen waren von roten, eiternden Geschwüren übersät, seine Hände und Füße waren rissig, und die Gelenke geschwollen und vereitert. Doch am widerlichsten war der rote, verdrehte Schlauch, der aus einem üblen Wald von Ge schwüren zwischen den Beinen des Jungen herabhing. Aus dem an geschwollenen Organ tropfte unaufhörlich eine Flüssigkeit, wie der Ausfluss einer üblen Infektion. Pustel grinste und entblößte dabei seine grünlichen Zähne. »Ich habe mich verändert, hab ich Recht? Es liegt an diesem Ort, wisst ihr? Oh, ich werde diesen wunderbaren Ort nie mehr verlassen, nie wieder!« Er trat auf seine Liebste zu, aber Jem stellte sich ihm in den
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Weg. Die Stimme des Jungen hob sich beunruhigt und brach. »Schatz? Liegt es an Meister Jem? Was hat er dir getan? Er hat doch was getan, stimmt's?« Er streckte die Arme aus. »Schatz, komm zu mir. Schatz, erinnerst du dich nicht an letzte Nacht?« »Pustel«, sagte Jem leise. »Letzte Nacht ist nichts passiert.« »Was weißt du schon?«, blaffte Pustel. »Wovon redest du?« Er sprang vor und stieß Jem heftig gegen die Brust. Im nächsten Mo ment lagen sie am Boden und schlugen und traten sich. »Ach, hört auf, hört auf!«, rief Dona Bela. Der Kleine versuchte vergeblich, die Prügelei zu beenden. Regen bogen kläffte und sprang immer wieder um den Springbrunnen he rum. Jem rang nach Luft. Die Wut verlieh Pustel enorme Kraft. Er drückte Jem zu Boden, der sich verzweifelt unter ihm wand. Pustel hob die Faust. »Nein!«, rief Jem und befreite sich. Pustel schlug gegen den Brunnen. Jem packte den nackten Jungen am Haarschopf und zerrte ihn zu dem moosigen Becken. Brutal schob er das zerstörte Gesicht über das Wasser. Es war der einzige Weg. »Pustel, verstehst du denn nicht? Du träumst! Es ist nur ein Trick von Almoran, mehr nicht!« »Du lügst. Ich bin wunderschön, wunderschön!« »Pustel, wach auf! Stell dich der Wahrheit! Siehst du nicht, wie Almoran dich hintergeht?« Pustel kreischte. Er riss sich von Jem los, doch diesmal sank er zusammen, überwältigt von Wut und Scham, als wäre alles Leben aus ihm gewichen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. In seinem Gesicht und an seinem Hals waren Pickel aufgeplatzt, und goldener Ei ter rann mit den Tränen über seine Haut. »Meister, Ihr scheint ein Problem zu haben«, ertönte plötzlich eine Stimme. »Ich denke doch, dass es da etwas zu WÜNSCHEN gibt, und zwar sofort!« »Geh weg!«, schluchzte Pustel. »Geh einfach weg!«
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Der Dschinn lächelte geringschätzig und blieb auf seinem fliegen den Teppich in der Nähe. Jem hockte sich blass und erschöpft vor den erschütterten Schiffsjungen. Als er wieder sprach, war seine Stimme leise, beinahe zärtlich. Aber das war nicht die Zärtlichkeit, nach der Pustel sich sehnte. »Pustel, bitte. Du musst mir zuhören.« »Zuhören? Dir?« »Wir schweben in schrecklicher Gefahr. Die Welt schwebt in schrecklicher Gefahr. Du wusstest doch, dass ich auf einer Suche bin, nicht wahr? Begreifst du nicht, dass wir diesem Ort entkom men müssen? Wir müssen in die Heilige Stadt gelangen, und das duldet keinen Aufschub mehr. Pustel, du musst uns helfen ... Du musst deinen letzten Wunsch dafür benutzen.« »O ja, Meister ... WÜNSCHT nur, WÜNSCHT!« Jafir rieb sich die Hände. Der Dschinn hatte den Teppich verlassen und war näher gekommen. Jetzt hockte er auf dem Beckenrand direkt über der be benden Schulter des Jungen. Er beugte sich hinunter und flüsterte in das eitrige Ohr: »Hm, Meister ... WÜNSCHT, WÜNSCHT?« »Geh weg!«, zischte Jem. »Ho!« Jafir grinste. »Also wirklich, Ejländer, ich dachte, ich wäre der, den Ihr braucht! Ein bisschen Respekt also, hm?« Der fette Kerl saß mit gekreuzten Beinen erwartungsvoll da. Lächelnd betrachtete er seine Fingernägel und summte. Pustel schluchzte ungehemmt und stützte sein Gesicht in die Hän de. Jem zog sie fort und schaute ernst in die tränenfeuchten Augen. »Pustel, hör zu! Du bist der Einzige, der uns helfen kann. Ver stehst du das nicht? Almoran hält uns gefangen, hat uns versklavt. Mit jedem Tag, der verstreicht, mit jedem Bankett, und mit jeder Nacht voller Träume bindet er uns stärker in dieser Dimension. Wenn wir hierbleiben, werden wir in einem ewigen Gefängnis gehal ten, während Almoran ein wunderbares Leben führen kann, mit der Prinzessin als seiner Braut!« Pustel schnüffelte. »Die ... die Prinzessin? Du lügst! Almoran hat gesagt...«
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Dona Bela nahm seine rote, eitrige Hand in ihre und holte tief Luft. »Pustel ...« »Pustel? Gestern Nacht war ich noch Jorvel!« Dona Bela atmete erneut tief ein und senkte den Blick. »Jorvel... Jem sagt die Wahrheit. Es hat... es hat keine letzte Nacht gegeben. Es war nur ein Traum ... Almorans Zauber. Es tut mir Leid, Jorvel.« »Nein!« Pustel riss seine Hand weg. Er heulte wie ein Tier und wimmerte dann Mitleid erregend. »Alles nur ein Traum? Meine Güte!«, sagte der Dschinn. »Vielleicht möchtet Ihr wieder träumen, Meister? Oder sollte ich sagen, Ihr WÜNSCHT zu träumen?« »Hör auf damit!«, knurrte Jem ihn an. »Tz, tz, tz! Ein bisschen Respekt, bitte!« Jetzt kniete sich der Kleine vor den Schiffsjungen. Seine Stimme war tränenerstickt. »Pustel, du warst gut zu mir. Ich weiß, dass du in deinem Herzen ein guter Mensch bist. Jem hat Recht. Äußere den Wunsch, Pustel. Bring uns nach Kal-Theron. Siehst du denn nicht, dass du damit die Chance hast, ein Held zu werden?« Der Kleine streckte die Hand aus und wollte die bebende Schul ter streicheln. Doch Pustel schlug sie weg. Wütend sprang der Schiffsjunge auf. Im nächsten Augenblick wichen Jem und die Prin zessin beunruhigt zurück. Regenbogen knurrte drohend und be schützte den Kleinen. Jafir, der mit gekreuzten Beinen dagesessen hatte, kreischte und fiel rücklings in das Becken. »Held? Ein Held?«, schrie der nackte Junge. »Warum sollte ich ein Held sein wollen? Was erwartet mich in Kal-Theron? Was bringt mir diese blöde Suche? Ihr verlangt von mir zu verstehen? Versteht Ihr denn nicht, dass ich hier glücklich war? Zum ersten Mal in mei nem Leben war ich glücklich! Ich war wunderschön! Und ich war verliebt! Und ihr habt das zerstört! Ich hasse Euch!« Seine Stimme brach, und er drehte sich schreiend um, hämmerte mit den Fausten gegen den Beckenrand. Blut strömte von seinen Knöcheln herunter. »Pustel, hör auf! Quäl dich nicht selbst!« Jem packte den Arm des Schiffsjungen, als er gerade wieder zuschlagen wollte.
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Pustel wirbelte herum. »Fass mich nicht an! Empsters Speichellecker, das bist du! Was weißt du schon von Qualen?« Pustel stieß Jem heftig von sich. »Du selbstgefälliger, selbstzufriedener Mistkerl! Dich hasse ich am meis ten von allen! Kal-Theron? Ich wünschte, du wärst in Kal-Theron! Ich wünsche es ... wünsche es!« Pustel hätte Jem überallhin gewünscht... mitten in die Wüste, auf den Grund des Meeres, in das Reich des Nicht-Seins, wo er voller Qualen schrie. Aber dafür hatte er keine Zeit - oder vielmehr, es war nicht mehr nötig. Wie ein kleiner Springteufel schnellte der Dschinn aus dem Wasser, hüpfte und kicherte. »Frei! Endlich frei!« Eine Explosion erschütterte die Luft und zerriss den Brunnen der Flamme. Wasser und Schutt flogen in alle Richtungen. Rauch stieg auf. Einen Augenblick konnte Jem nichts mehr sehen. Er stolperte zurück, aber nicht auf den Boden. »Prinzessin! Kleiner! Wo seid Ihr?« Bevor Jem sich versah, stieg er in die Luft. Er stand auf dem Tep pich, aber die Prinzessin, der Kleine und Regenbogen versuchten, zu ihm zu gelangen, und hingen keuchend und zappelnd am Rand. Zuerst fiel Regenbogen zurück, dann zog Pustel den Kleinen herun ter. Dona Bela schrie. Jetzt packte der Schiffsjunge auch sie und zerrte an ihr. »Pustel, nicht!«, schrie Jern. »Bitte, Pustel, nicht!«, schrie der Kleine. »Du bekommst sie nicht, du nicht!« »Pustel, sei kein Narr!« »Sie gehört mir! Sie ist mein Schatz! Sie gehört zu mir!« Verzeifelt hielt Jem Dona Belas Hand fest, aber diesmal war der Schiffsjunge stärker. Mit einem Schrei fiel das Mädchen von dem fliegenden Teppich, gerade als er in die Luft emporschoss. Jem sank zurück und musste ein Schluchzen unterdrücken. »Narr!«, schrie er laut. »Du Narr! Pustel, begreifst du denn nicht,
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dass du deine Magie verloren hast? Die Kraft ist fort! Kannst du nicht verstehen, dass jetzt all deine Träume verblassen?« Aber Jem wusste, dass Pustel nichts verstand, nichts, außer dem Schmerz, das zu sein, was er war. Jem duckte sich auf den Teppich, als der immer höher stieg. Das Letzte, was er von der Traumdimension sah, war die Prinzessin, die sich gegen die Umarmung des Schiffsjungen wehrte. Er sah, wie die Gärten verwelkten, und wie der Dschinn, der begriff, dass er den ei nen Wunsch gewährt hatte, der seine eigenen Vergnügungen zerstören würde, vor Verzweiflung auf den Boden schlug. Die Vision ei nes riesigen Gesichts erschien, eines schreienden Gesichts mit einem langen, fließenden Bart., Dann herrschte Stille, bis auf das Pfeifen des Windes. Unter Jem lagen nur noch die Sanddünen der Wüste. Doch selbst jetzt war Jem noch nicht ganz von der Traumdimensi on befreit. Gefangen an diesem merkwürdigen Ort war er sich im mer des Paradoxons der Zeit bewusst gewesen. Und jetzt hielten die abebbenden Wellen von Almorans Magie noch ein letztes Parado xon für ihn bereit. Mondleben sollten vergehen, bis die Hochzeit in Kal-Theron stattfand. Aber in der Zeit, die es brauchte, ihn zur Heiligen Stadt zu fliegen, eine kurze Zeit, wie es Jem schien, sollten eben diese Mondleben verstreichen. Er würde erst auf dem Höhepunkt der Ereignisse landen.
28. Die Kutschstation zu Klotz Irgendwo an der Straße nach Wrax, wo Ober-Zenzau auf die Ago nistische Erlösung trifft, liegt die Kutschstation von Glotz. Dieses Etablissement ist ein baufälliges Gebäude, das ziemlich weit von der Straße entfernt liegt und bei den Reisenden wegen seines schlechten Essens, seines noch schlechteren Services und seiner unsäglich
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schlechten Unterkunft berüchtigt ist. Sollte sich jetzt jemand wun dern, wieso eine solche Kaschemme so blühend gedeihen kann, ist die Antwort schnell zur Hand. Weit und breit gibt es keine Kon kurrenz. Und ohne eine solche Konkurrenz kommt man, wie das Leben häufig bestätigt, mit den schlimmsten Dingen durch. Diese Kutschstation von Glotz würde sofort aus dem Geschäft verdrängt werden, wenn Nirry ihre Gaststätte nebenan eröffnen würde. Denn zufällig wird dieser Ort hier sehr häufig von Kutschen angefahren, die von Agondon nach Wrax rumpeln und umgekehrt, Im Moment halten sich zwei Kutschen aus je einer Richtung hier auf, so dass einigen müden Fahrgästen eine üble Nacht bevorsteht: Verstopfung, Flohbisse und ein klammes Bett. Im Augenblick je doch ist der Gastraum voll, und das Bier fließt in Strömen. Dieses wenigstens vermag einige Unbequemlichkeiten der Kutschstation von Glotz zu verschleiern. Sicher nimmt diese Gaststätte keinen großen Platz in unserer Geschichte ein, und schon gar keinen entscheidenden, ja, es wundert sogar, dass sie überhaupt vorkommt. Schließlich will niemand auf dieses Etablissement aufmerksam machen oder in den Ruch kom men, gar Werbung dafür zu betreiben. Trotzdem sollten wir uns gewisse Gespräche anhören, die zwischen gewissen Personen in einem gewissen Moment dieser gewiss heißen Nacht in dem ebenso gewiss trübseligen Gastzimmer stattfinden.
ERSTES GESPRÄCH Es wäre nicht richtig, ihn einen ergrauten Veteranen zu nen nen. Zweifellos würde der Bursche einer solchen Beschreibung widersprechen. Aber wenn er tatsächlich der Kutscher ist, und das scheint er zu sein, dann ist er schon sehr lange in diesem gefährlichen Geschäft. Viel Grau mischt sich in sein lockiges Haar, und die Augen in seinem runden, dunklen Gesicht wandern
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immer wieder besorgt durch die miefige Spelunke; achtet er vielleicht sorgfältig auf seine beiden Kutschjungen, die wie Zwillinge aussehen, herumlaufen und lauthals alle Gäste stören? Er rollt sich einen Tobarillo und hockt dicht neben seinem ernsten, gelehrt wirkenden Gefährten. Es ist merkwürdig, dass ein Kutscher eine solche Vertraulichkeit mit einem Passagier pflegt. Man könnte glauben, dass sich die beiden Männer schon kannten. KUTSCHER: Es ist schon lange her. Wie können wir sicher
sein?
GELEHRTER: Eins wissen wir jedenfalls.
KUTSCHER: Und das wäre?
GELEHRTER: Nun, das die Lage sich noch verschlimmert hat.
Wir brauchen doch nicht jeden Tag einen.neuen Bericht,
oder? Das letzte Mal war schon schlimm genug. Verhaftun
gen ... Ausgehverbot... Bomben im Vaga-Lager ... Über-
schwemmungen in der Neustadt.
KUTSCHER: Also Hul, ich glaube, du wirst merkwürdig.
GELEHRTER: Wie das, alter Freund?
KUTSCHER: Willst du Tranimel etwa auch an den Über-
schwemmungen die Schuld geben?
GELEHRTER: Ich erinnere mich an alles, was uns der Junge
erzählt hat, Bando. Es gibt Dinge, die ich jetzt glaube, auch
wenn ich früher ... na ja
KUTSCHER: Dinge über Tranimel?
GELEHRTER: Sollten wir nicht lieber sagen: Toth?
KUTSCHER: Shh ... Raggle! Taggle! Lasst den Mönch in
Ruhe! (Er zündet sich den Tobarillo an, mit dem er bis jetzt
nur gespielt hat.) Alter Freund, du verfügst über Weisheit,
die ich niemals erlangen werde, aber ich glaube, dass es
Dinge gibt, die ich schon lange vor dir wusste. Ich wusste,
dass die Zeit des Sühneopfers endet. Ich wusste, dass das
Böse in unserem Land herumschleicht. Und dass es aus ei
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ner Dimension stammt, die jenseits von unserer liegt. Wie bemisst du dein Buchwissen jetzt? GELEHRTER (zieht ein abgegriffenes Buch aus der Tasche): Tyrannei ist Tyrannei, Bando, ob sie von Menschen in die Welt gebracht wird oder von den dunkelsten, geheimnisvollen Mächten! (Er blättert die Seiten durch und erwärmt sich für das Thema.) Es überrascht mich immer wieder, wie viel Vytoni uns selbst heute noch zu sagen hat. Er würde sogar das Verhalten unseres armen Führers erklären kön nen und auch die Veränderung, die mit ihm vorgeht. Ich will dir eine kurze Passage vorlesen, Bando ... KUTSCHER (grinsend): Ach, bitte, bloß nicht dieser Vytoni! GELEHRTER (schniefend): Wirklich, Bando, du scheinst nicht schätzen zu können, dass ich ohne Vytoni niemals an unse rem großen Feldzug hätte teilnehmen können. Alter Freund, wir hätten uns niemals getroffen! KUTSCHER: Nein? (Er nimmt das Buch und küsst es.) Ach, dann muss ich unseren großen Philosophen aber lobprei sen, Bücherwürmer eingeschlossen. Gesegnet seid Ihr, Meister Vytoni! Gesegnet seid ihr, kleine Würmer! Aber Hul, hast du von unserer Sache in einem Buch gelesen? GELEHRTER: Ich bin ein Gelehrter, Bando. Ich lese alles in Büchern. KUTSCHER (während er genüsslich an seinem Tobarillo zieht): Nicht alles, Hul. GELEHRTER: Ach nein? KUTSCHER: Ich habe dich noch nie eine Liebesgeschichte le sen sehen. GELEHRTER (unschuldig): Bando? KUTSCHER (deutet mit seinem Tobarillo über die Bänke): Ich habe bemerkt, dass du einer gewissen jungen Dame schöne Augen machst. Alter Freund, ich dachte schon, du würdest dich niemals von dem Charme des schönen Geschlechts er weichen lassen!
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GELEHRTER (errötend): Also wirklich, Bando! Ich weiß gar nicht, wovon du redest!
ZWEITES GESPRÄCH Zwei junge Damen unterhalten sich. Sie sind auffallend unterschiedlich. Und genauso auffallend ist die Intimität, die an scheinend zwischen ihnen herrscht. Die eine hat buttergelbe Locken und ein plumpes, lebhaftes Gesicht, ist in einem Stil gekleidet, den man bedauerlicherweise als, hm, die vulgäre Auf fassung von vornehmer Kleidung beschreiben muss. Nehmen wir an, dass sie eine Angehörige der niederen Klassen ist, die von einer unteren Stufe auf die nächsthöhere geklettert ist oder sich zumindest darum bemüht. Ihre Gefährtin ist ein entzü ckendes Mädchen mit langen, kupferfarbenen Locken. Sie ist es, auf die der KUTSCHER gedeutet hat. Sie trägt einfache Bauern kleidung, aber niemand würde auf die Idee kommen, ihre Herkunft falsch einzuschätzen. Was für eine feine, aristokratische Nase! Welch schlanke, glatte Hände! Merkwürdig, welche Allianzen auf der Straße entstehen! Bei den jungen Damen sitzt eine ältere Lady, spargeldürr und grauhaarig, deren besonderes Kennzeichen es ist, dass sie nur ein Auge hat. Offensichtlich ist sie eine Dienerin der Oberklasse und steht vielleicht in Diensten der aristokratischen jungen Dame. Obwohl ein genauer Beobachter vermutlich unsicher wäre, welche Rolle sie tatsächlich spielt. Daneben sitzt, und die Damen reden gerade über ihn, ein Kerl mit langen Ohren, der naiv aussieht, aber dennoch freund lich wirkt. Sein Kragen scheint ein bisschen zu eng für ihn zu sein, und seine Perücke rückt er von Zeit zu Zeit beiläufig zurecht. Doch die meiste Zeit trinkt er sein Bier und scheint ganz zufrieden zu sein.
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NIRRY: Miss Landa, ich weiß, Ihr meint es gut, aber Ihr habt mich immer noch nicht überzeugt. Nach den Abenteuern, die der arme Zappelphilipp im Krieg erlebt hat - und meinen mit Miss Cata -, wollten wir uns eigentlich niederlassen und ein ruhiges Leben führen. Ich habe Baines verspro chen, dass meine Taverne ein respektabler Ort wird, und Ihr wisst ja, wie schwer man heute eine Hilfe findet. Was sollte das für eine Taverne werden, das frage ich Euch, wenn Sie voller Rotröcke stecken würde? LANDA: Wohl kaum voller Rotröcke! Nirry, ich weiß, dass Ihr auf unserer Seite steht... NIRRY: Auf Miss Catas Seite? Mit meinem Leben! LANDA (lächelnd): Gut gesprochen! Ihr auch, guter Olch? ZAPPELPHILIP (leise): Aye. Ich habe genug von den Blauröcken! Das kann ich Euch sagen. Sie hetzen einen im ganzen El-Orok herum. Marschieren nur, um ein paar arme Teufel zu bekämpfen, die mit Mistgabeln und Hacken bewaffnet sind? Das ist nicht natürlich - und meine arme Nirry musste kommen und mich holen! LANDA: Baines? Seid Ihr auf unserer Seite? BAINES (reibt sich die Hände): Aye, Mylady Meine alte Dame wollte schon nichts von diesen Kriegstreibern wissen, und ich werde Euch nicht verraten, was ich von ihnen halte, Ich bin ein Rotrock, durch und durch, und das war ich schon immer. Und macht Ihr Euch keine Sorgen um Ehrbarkeit, lieber Olch. Ich bin keine Prime. Das ist das Abenteuer, auf das ich mein Leben lang gewartet habe! LANDA (lächelnd): Und es wird ein schönes Abenteuer wer den, Baines. Ach, Nirry, teure Nirry, versteht Ihr nicht, dass wir diese Taverne brauchen? Wie lange wir in Agondon bleiben müssen, bevor wir unseren Zug machen, weiß ich jetzt noch nicht. Unsere Agenten brauchen einen Ort, um Informationen auszutauschen ... NIRRY: Wie? Was?
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LANDA: Na ja, um sich zu treffen, sich zu verstecken und ... ach, du wirst schon sehen, Nirry! Wenn das alles vorbei ist, bist du eine Heldin, und guter Olch, du, du bist ein Held! NIRRY: Ach, stachelt ihn bloß nicht auf, Miss Landa. Ich weiß nicht, ob ich will, dass mein Zappelphilipp ein Held wird. Er hat nicht die passenden Ohren dafür, stimmt's? (Jetzt glänzen ihre Augen.) Meister Jem, ja, das ist ein Held. Pause (Fröhlicher:) Heh, seht nur, was Raggle und Taggle jetzt wieder aushecken. Es sind wirklich kleine Teufel, was, Zappelphilipp? Sie machen mich richtig fröhlich, das tun sie. Dir gefallen sie auch, Baines, oder? LANDA (ergreift NIRRYS Hand): Ihr seid eine gute Frau, Nir ry. Macht Ihr mit? NIRRY (lächelt ein wenig unsicher): Eines macht mir noch Kummer, Miss Landa. Dieser Bursche in Rot... Derjenige, der vorausreitet. Wir sehen von ihm doch nicht viel, oder? Ich bin nicht sicher, ob ich ihn in meiner Taverne haben möchte. Es bleibt vielleicht am Abend kein Kunde mehr übrig, wenn er so weitermacht wie bisher! Bei diesen Worten sieht BAINES sehnsüchtig drein und hofft vielleicht, dass ihr eines Auge möglichst oft beim Anblick des Wegelagerers aufleuchten kann. LANDA beschließt, dass es am besten ist, einfach zu lachen, aber bevor sie etwas sagen kann, bemerkt NIRRY, dass der Blick ihres Gatten zu einer anderen Dame wandert, einer sehr merkwürdigen Dame, die ihnen gegenüber sitzt. Heh, Zappelphilipp, starr dieses modische Weibsstück nicht so an! (NIRRY tätschelt ihre gelben Locken.) Das will eine Dame sein, und hat so ein Ding im Mund! Hast du solche schon gesehen? Sie sieht um nichts besser aus, als sie ist, wenn du mich fragst!
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DRITTES GESPRACH
Eben diese Dame und ein Gentleman. Die Dame, die »um nichts besser aussieht, als sie ist«, ist ein exotisches Geschöpf mit einem hoch aufgetürmten Hut und einer Federboa um ihren Hals. Sie raucht einen Tobarillo in einer langen Spitze und plaudert vernehmlich mit dem modisch gekleideten jungen Mann an ihrer Seite. Der scheint von Zeit zu Zeit ein kleines bisschen verlegen zu sein über die offensichtliche Gleichgültigkeit seiner Gefährtin dem gegenüber, was die anderen von ihr halten. Offensichtlich sind beide an Luxus gewöhnt, denn sie haben die Wrax-Kutsche ganz allein bestiegen. Sie täten sicher gut daran, ein bisschen mehr auf die berüchtigten Gefahren der Straßen von Zenzau zu achten. Man sollte sich einige Sätze von Mr. Coppergate ins Gedächtnis rufen: In Gegenwart eines neidischen Auges Ist Protzerei leider selten angebracht. LADY: Ach, diese Kolonien! Wirklich, was für eine Kaschem me! Freddie, wie weit ist es noch nach Wrax? Frag den Kut scher, bitte, er ist wirklich ein Schatz. GENTLEMAN: Die Entfernung dürfte sich kaum verringert haben, seit du das letzte Mal gefragt hast. LADY: Freddie! Freddilein! Willst du grausam zu mir sein? GENTLEMAN: Wohl kaum, meine Liebe. Aber du hast gefragt, als wir hier angehalten haben, und wir sind noch nicht wieder aufgebrochen, oder? Es sei denn, dieses Gasthaus bewegt sich durch die Nacht, während wir uns unterhalten. LADY (mit einem ausdruckslosen Schwung ihrer TobarilloSpitze): Ach, du bist grausam! Du bedauerst es, dass du mit mir gekommen bist, ich weiß es. Du hast das Gefühl, dass du an eine alte, uralte Frau gekettet bist! GENTLEMAN (errötend und murmelnd): Meine Liebe, sei
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nicht albern. (Erpackt ihre Hand.) Könnte ich jemals eine Dame mehr bewundern als Miss Tilsy Fash, die Zaxonische Nachtigall? Das ist sie also2! MISS TILSY FASH streicht dem Gentleman über den Backenbart und preist den Tag, an dem sie sich kennen gelernt haben, an dem sie mit FREDDIE CHAYN, dem Spross ei nes unbedeutenden Fürstentums, Intimitäten eingegangen ist. Er ist nämlich wirklich ein ausgesprochen gut aussehender Mann. LADY: Ach, Freddilein, du bist ein süßer Junge, ich wusste es! Ich muss schon sagen, das ist wirklich dein größtes Talent! FREDDIE (eine Nuance mürrisch): Wenigstens habe ich eins! Gibst du mir auch einen Tobarillo, Liebes? TILSY greift in ihr geschmücktes Gewand und zieht leichtsinnigerweise eine goldene Dose hervor. Auf der anderen Seite der Bank sitzt der MÖNCH, dessen Augen aufleuchten. Du musst mir meine aufreizende Art verzeihen, mein Lieber, aber die letzten Monate in Agondon haben mich wirklich sehr betrübt. FREDDIE: Das wundert mich nicht. Mich haben sie auch be trübt. Was ist nur mit der guten Gesellschaft passiert? TILSY: Genau! Wenn man sich vorstellt, dass die königliche Hochzeit ein neues Zeitalter einzuläuten schien! (Die Za xonische Nachtigall seufzt.) Die arme Constansia. Was müssen wir jetzt erleben: Das Haus der Cham-Charing ge 2 In der Gesellschaft des verstorbenen Pellam Pelligrew hat Jem einer Darbietung dieser begnadeten Diva in dem Band Das Geheimnis im Spiegel, Kapitel 31, beigewohnt. In dieser Nacht sang sie in den Volleys, aber sehr oft gab sie private Soireen bei Agondons vornehmsten Gastgeberinnen, die um ihre Dienste mit Schmeicheleien und kostspieligen Geschenken warben. 267
schlossen und kalt, und die ganze Gesellschaft kriecht vor dieser schrecklichen fetten Frau aus den Provinzen zu Kreuze! Wie war noch mal ihr Name? Sie hat die Königin derartig in ihren Klauen ... (Mit einer gewissen Schärfe in der Stimme:) Freddilein, ich kann mich nicht einmal an ihren Namen erinnern! FREDDIE (resigniert): Jelica. Ehemalige Miss Vance. TILSY (gereizt): Nicht das Mädchen! Ich meine diese alte Kuh, das fette Weib! FREDDIE (seufzend): Lady Veeldrop! Umbecca Veeldrop. TILSY: Die meine ich. Umbecca, also wirklich! Diese letzten Sätze äußert sie in beträchtlicher Lautstärke, und ihre Stimme übertönt spielend das Stimmengewirr. Auf der nächsten Bank muss LANDA mit ihren Fingern vor NIRRYS Gesicht schnippen, und ihr ZAPPELPHILIPP fragt sie, ob seine Frau einen Geist gesehen habe. Einen Moment sitzt NIRRY wie verzaubert da und zittert bei der Rückkehr alter, längst vergrabener Ängste. Die Herrin ... eine große Dame? Die Herrin ... in Agondon? Zum ersten Mal fragt sich NIRRY wirklich, was sie in ihrem neuen Leben alles erwartet. Und was passieren würde, wenn sie ihre alte Herrin jemals wiedersähe. MISS TILSY FASH (seufzt): Ach, mein Lieber, ich muss mich von dieser Stimmung befreien. Ich sehne mich nach mei nem Engagement in Wrax. Auftritte sind mein Lebenselexier, hab ich nicht Recht? Ich muss singen, singen. Ach Freddilein, ich muss jetzt singen! FREDDIE kämpft gegen die Versuchung, seine Hände vors Gesicht zu schlagen, als seine gebieterische Geliebte aufsteht und sich in der rauchigen Gaststube nach rechts und links umsieht.
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Wirt! Hat er kein Klavichord, kein Harpsichord, kein Spi nett? Diese Kolonien, ach, diese Kolonien! Na gut, dann muss ich also unbegleitet singen! Ich habe schon Schlimme res überstanden, damals in meinen Anfängen in Zaxos! Daran zweifelt FREDDIE nicht, als TILSY anfängt zu singen, wobei sie ihre Federboa wirkungsvoll einsetzt. Das Gemurmel im Speiseraum erstirbt, und selbst RAGGLE und TAGGLE sind still. Alle sind in dem großen Staunen vereint, als eine der größten Künstlerinnen des Reiches ihre trübselige Umgebung mit dem gefeiertsten Stück aus ihrem reichhaltigen Repertoire aufwertet. DER ALTE NARR DES KÖNIGS
Liebevoll denk ich an des Königs alten Narren,
Jonglierend, freudvoll in die Luft er sprang:
Ein vollkommener Narr,
Und so klug wie ein Juwel,
Und niemanden, niemanden verschonte er.
Er hatte eine scharfe Zunge
Und schärfte sie an den
Großen und Mächtigen des Hofs.
Plapper Plapper!
Machte des Königs Narr
In den Tagen einstens.
Jetzt ist dem armen kleinen Kerl
ein Missgeschick widerfahren,
Und er plappert nicht mehr!
Traurig denk ich an des Königs alten Narren,
Der sich drehte und wendete und die Treppe hinunterstürzte:
Unendliche Scherze
Ließ einem keine Ruhe,
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Aber einige, einige hassten seine Blicke!
Eine scharfe Zunge zu haben,
kann gefährlich sein bei den
Großen und Mächtigen des Hofes.
Plapper Plapper!
Machte des Königs Narr
In den Tagen einstens.
Jetzt ist dem armen kleinen Kerl
ein Missgeschick widerfahren,
Und er plappert nicht mehr!
Zitternd denk ich an des Königs alten Narren,
Blutend und gebeugt, die Hände zum Gebet gefaltet:
Der Geist muss dumm sein,
Ein neuer König ist gekommen,
Und niemanden, niemanden wird er verschonen!
Und so wird die scharfe Zunge
Nicht mehr gehört
Unter den Großen und Mächtigen am Hofe.
Plapper Plapper!
Machte des Königs Narr
In den Tagen einstens.
Jetzt ist dem armen kleinen Kerl
ein Missgeschick widerfahren,
Und er plappert nicht mehr!
Es ist vorbei. Einige weinen, andere freuen sich. Applaus setzt ein, selbst RAGGLE und TAGGLE klatschen. BAINES beugt sich vor und wischt sich mit ihrem Trägerrock das Auge. Von den versammelten Zuhörern in der Kammer scheinen sich nur zwei in der allgemeinen Bewunderung zurückzuhal ten, wenn auch eher unabsichtlich. Der eine ist HUL, der in die sem Lied eine Bedeutung findet, die tiefer reicht, als die ande ren zu ahnen scheinen. Es ist ein Lied, das alle kennen, eine alte
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Weise aus der Zeit der Legenden, aber HUL kommt der Gedanke, dass Legenden sich vielleicht wiederholen, sich in neuen, modernen Verkleidungen verstecken. Weiß MISS FASH, denkt er, wirklich, was sie da singt? In der Zwischenzeit denkt NIRRY, praktisch veranlagt wie immer, dass der alte Narr des Königs sie an jemanden erinnert, den sie früher einmal kennen gelernt hat. Ach, aber Barnabas war doch nur ein Vaga-Zwerg, oder nicht? Dann fragt sich NIR RY, ob das wirklich stimmt. Und dann fragt sie sich, ob sie die sen merkwürdigen Zwerg wohl jemals wiedersehen wird. Oder, wo sie gerade daran denkt, Meister Jem. Oder Miss Cata. Die Tränen, die ihr jetzt über die Wangen laufen, sind von viel, viel mehr ausgelöst worden als von dem Lied. NIRRY umklammert die Hand von ZAPPELPHILIPP. Sie ist sich plötzlich sicher, dass sie bei dem, was die Zukunft für sie bereit halt, kein ruhiges Leben führen werden. Hier verlassen wir die Kutschstation von Glotz. Wir können sicher noch viel mehr darüber berichten, ebenso wie über die Reisenden. Die Erzählung, wie Miss Fash und Mr. Chayn im weiteren Verlauf ihrer Reise von einem berüchtigten Wegelagerer überfallen werden, wenn sie auch glücklicherweise nicht ums Leben kommen, ist eine Geschichte, auf die wir schmerzlicherweise verzichten. Doch die Ereignisse in den Ländern von Unang entwickeln sich mit rasender Geschwindigkeit, also dürfen wir hier nicht länger ver weilen. Kommt, eilen wir!
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28. Der Untergang der Ebahns
Konar-Lampen fauchten in der unterirdischen Passage. Gewaltige Fresken schmückten die Wände. Sie waren tief in den roten Marmor eingeschnitten und wurden immer komplizierter, je weiter man sich den goldenen Türen näherte. Sultan Kaled blickte starr geradeaus. Er war sich seiner Ebahn-Eskorte bewusst, viel zu bewusst. Sie flan kierten ihn wie Gefängniswärter. Es waren nur noch wenige Tage bis zur königlichen Hochzeit. Schon bald würde die Prinzessin in der Stadt eintreffen, und bald würden sich auch Tausende und Abertausende von Pilgern zu den Feierlichkeiten versammeln. Das Ritual heute Abend war jedoch eine ganz andere Angelegenheit. Es war geheim, aber nicht weniger heilig. Nur die Ebahns wohnten diesem Vorspiel zu der Hochzeit als Zeugen bei. Der Sultan würde dabei abgeschirmt vor den Augen des gemeinen Volkes und auch ohne die Begleitung des Imams, des Thronerben oder anderer Mitglieder seines Hofes die Flamme um Kraft für diese neue Ehe und die Sicherung der kaiserlichen Blutlinie bitten. Das war eine uralte Sitte, und wenn er zurückkam, würden die Imams bereits im Palast auf ihn warten, sich vor ihm vernei gen und hören wollen, dass ihr Gott aufs Neue bestätigt hatte, dass alles gut werden würde. Wie könnte es auch anders sein? Die goldenen Türen öffneten sich, und einen Augenblick, einen winzigen Moment, schaute Kaled zurück. Ihm schoss durch den Kopf, dass seit dem Tod seines Vaters und bis zur Initiation des Thronfolgers seine Augen die einzigen waren, die jemals diesen lan gen, hallenden Korridor gesehen hatten. Er schüttelte sich und be trachtete kurz die Visiere der Ebahns. Warum fühlte er sich in der Gegenwart dieses geheimen Ordens der Wächter so unwohl? Be stimmt nicht, weil sie geblendet worden waren. Es war nicht zu
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leugnen, dass in den Ländern von Unang viele Angehörige der un teren Klassen gewisse ... Eingriffe über sich ergehen lassen mussten. So war der Lauf der Dinge, und es war ein großes Privileg für die, deren Bestimmung es war, dem Sultan dienen zu dürfen. Etwas anderes machte die Ebahns so Furcht einflößend. Der Sul tan dachte an den Novizen der Flamme, den jungen Freund seines Sohnes. Lange vor der Zeremonie hatte der Junge sein Schicksal be reits gekannt, doch erst als sich die Ebahns um ihn versammelten, übermannte ihn das Entsetzen. Hatte der Sultan nicht auch einen Widerhall dieser Furcht in sich selbst gespürt? Fühlte er sie nicht sogar jetzt? Absurd! Schließlich war das Leben eines Ebahns aus schließlich dem königlichen Geschlecht gewidmet. Welche andere Funktion hatte ein solcher Mann, als sich nötigenfalls für den Mo narchen zu opfern? Dann begriff Kaled: Diese Wachen schuldeten nicht ihrem Herrscher bedingungslosen Gehorsam, sondern dem Gott der Flamme, der Heiligen Flamme! Die Miene des Sultans verhärtete sich. Er sprach von sich gern als von dem mächtigsten Mann der Welt. Gewaltige Gebiete fielen unter seine kaiserliche Herrschaft, und für sein Volk war er der Sultan von Mond und Sternen. War es da richtig, dass er sich wie ein Gefangener vorkam? Das Protokoll schrieb ihm jeden Moment seines Tages vor. Die Religion diktierte die Regeln, denen er folgte. Sicher, während seiner Herrschaft hatte er sich gewisse Freiheiten genom men, aber was bedeuteten sie schon gegen die Vorschriften, die ihn in ihren Klauen hielten? Früher einmal hatte er geglaubt, dass er bald frei sein würde. Damals war eine bestimmte Wahrheit wie eine Pulverbombe in seinem suchenden Verstand explodiert. Was für ein Narr war er doch gewesen! Welche Freiheit konnte er jemals in die sem irdischen Reich erringen? Der Rat der Imams, der unbedingt einen Erben wollte, hatte ihn gedrängt, Dare als Unangefochtenen Thronfolger zu berufen und an die Blutlinie zu binden. Ebenso unnachgiebig hatten sie darauf bestanden, dass das Kind heiratete, und zwar bald. Verflucht sollten sie
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sein! Der Sultan hatte das Gefühl, als könnten die heiligen Männer seinen baldigen Tod kaum noch erwarten. Während dieses ganzen Unsinns in der Kammer der Erscheinung, als er den Jungen in die heilige Geschichte eingeweiht hatte, hatte Kaled innerlich vor Zorn gekocht. War er nicht allmächtig? Als der kleine Freund seines Soh nes vor der Flamme geschrien hatte, hatte er da nicht die unmänn lichen Ängste des Kindes verachtet? War er dabei nicht selbst eben falls von Furcht besessen, er, der behauptete, der größte der Fünf Heiligen Sultane zu sein? Kaled schritt verbittert durch die felsigen Kammern des Heiligtums, der schweren Schritte hinter sich gewahr, ebenso wie des lei sen Klirrens der Krummsäbel, die allzeit bereit von den goldenen Gürteln der Wächter herabhingen. »Gott der Flamme, sieh deinen Diener! Lenk deinen gnädigen Blick auf ihn, wie er sich vor dir krümmt, wimmert und kauert wie ein ge prügelter Köter und jetzt vor dir für alle Ewigkeit die heilige Wahrheit verkündet: Theron ist der Wahre Gott, und Mesha ist sein Prophet!« Der Sultan hob den Blick. Seine Knie und Hände waren heiß, und die Hitze drang auch durch die vielen Windungen seines juwelenge schmückten Turbans. Wie oft hatte er diesen Boden mit seiner Stirn berührt? Wirklich, es war absurd! Aber wegen der Ebahns auch un abdingbar. Sie konnten nicht sehen, ob er sich niederwarf, aber sie spürten es, sie konnten es tatsächlich spüren. Das wusste er. Die Worte sprudelten weiter über seine Lippen. »Gott der Flamme, schenk deinem Sklaven Gehör. Unterdrücke nicht die erbärmlichen Klänge seiner Stimme, während er sich vor dir windet wie der gemeinste Wurm, den man angeekelt mit dem Fuß zerstampft, während er jetzt vor dir für alle Ewigkeit die heilige Wahrheit verkündet: Theron ist der Wahre Gott, und Mesha ist sein Prophet!« Was mussten die Ebahns denken, die hinter dem Sultan standen und deren Lippen sich öffneten und schlossen, während sie die hei
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lige Litanei sangen? Sie waren ausgebildet zu glauben, nur zu glau ben. Niemand konnte sich die heimliche Verachtung ausmalen, die in dem Sultan brannte, als er sich wieder aufrichtete und über den zerklüfteten, geneigten Boden vorwärts schlurfte. Ungerührt stand er vor der Feuersäule und bemühte sich, die Worte mit der Leidenschaft zu äußern, die erforderlich war. Es war wirklich absurd. War er denn ein Affe? »Gott der Flamme, sprich zu deinem Sklaven! Ergieße über sei ne Unwürdigkeit den Segen deiner Stimme, während er vor dir wie eine armselige Motte flattert und verkündet, dass Theron der Wah re Gott ist und Mesha sein Prophet! Gott der Flamme, sprich zu mir von der Hochzeit, die uns bevorsteht, von ihrer Fruchtbarkeit und Kraft, während das Geschlecht des Propheten noch mehr Ruhm, Glauben und Herrlichkeit erlangt!« Die Gesänge der Ebahns erhoben sich immer höher. Der Sultan schwankte. Mittlerweile ging er trotz seines Widerwillens völlig in seiner Rolle auf. In wenigen Augenblicken würde er zurückstolpern, weinen, stöhnen und den großen Gott lobpreisen, dessen Worte ihm, und ihm allein, anvertraut und direkt ins Gehirn geflüstert worden waren. Mit seiner brechenden Stimme und seinen unterwürfigen Gesten glich der Sultan der Verkörperung des Glaubens seines Volkes. War seine Verzückung auch nur eine Zurschaustellung, sie vermochte dennoch zu beeindrucken. Kaled hatte oft die Kühnheit bewundert, mit der er seinen Mangel an Glauben verbarg. Nach dem Tod seiner schönen Ysabela hatte er sich eine Zeit lang eingeredet, dass sein Gott letztlich doch existierte und ihn so bestraft hatte, wie er es verdiente. Doch kühles Nachdenken hatte bald diese feige Furcht vertrieben. Was bewies der Tod seiner Geliebten letztlich anderes, als dass es eben keinen Gott gab? Denn gäbe es einen, wie könnte Ysabela dann tot sein? Nein, der Sultan wusste, dass er Recht hatte, aber ihm war auch klar, dass dieses Wissen nicht die Quelle der Glückseligkeit war, wie er es noch als Jugendlicher angenommen hatte. Die Bitterkeit hatte ihn zerstört. Er hatte die Pracht der Wissen-
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schaft gewollt, doch jetzt war sie für ihn verloren. Er hatte sich nach Liebe gesehnt, sie war erstorben. Seine Triumphe waren dagegen nichts weiter als gemeine, niederträchtige Siege, bedeutungslos und leer wie diese Säule aus brennendem Gas, vor der er stand und Un sinn herausbrüllte. Mürrisch dachte er an die Heiligen Kriege, die unbarmherzigen Verfolgungen, die öffentlichen Entleibungen - am besten erinnerte er sich an den Tag, an dem er sich selbst zum Sultan von Mond und Sternen erklärt hatte. Was war denn diese Pro klamation in Wahrheit anderes als eine endgültige Geste der Verachtung seinem vielköpfigen und gläubigen Volk gegenüber? Trotzdem war es ein gewagter Schachzug gewesen, und erst im Nachhinein hatte Kaled eingesehen, dass es auch ein törichter Zug gewesen war. Seit der Proklamation waren zehn Sonnenwenden ver gangen, aber seine Herrschaft hatte nicht den erwarteten ruhmreichen Verlauf genommen. Er hatte vermutet, seine Position wäre nach dieser großartigen Verkündigung gesichert. Aber in den Län dern jenseits der Heiligen Stadt herrschten Unzufriedenheit, Furcht und Gefahr, und die Größe des Sultans ließ den Groll noch wachsen. Als Kaled jetzt vor der Flamme stand, war er sich darüber im Kla ren, wie kritisch seine Lage war. Er hatte Dare bereits als Thronfol ger eingesetzt, aber genügte das? Die Flamme musste unbedingt zu ihm sprechen. Aber was konnte sie schon groß erzählen? Einfach nur die Ouabin zu verdammen, würde nicht reichen. Kaled hoffte auf eine Inspiration. Mit dem, was dann geschah, hätte er niemals gerechnet. Er breitete die Arme aus. »Theron, komm! Komm zu mir, Gott der Flamme, wie du zu meinem Vater gekommen bist! Komm zu mir, wie du zu seinem Vater gekommen bist! Komm, wie du zum Vater meines Vaters gekommen bist, und zu all den Generationen des Geschlechts von Mesha! Theron, ergreife Besitz von mir, wie du den Propheten besessen hast, und hülle mich in die Verzückung dei nes Heiligen Wissens ein!« Der Sultan schüttelte sich und stöhnte. Sein Gesicht war schweiß
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überströmt, und die glühende Hitze hatte die bunten Federn in sei nem blitzenden Turban versengt. Da passierte es. Urplötzlich drang eine Stimme aus der Flamme. Sie war entsetz lich und hallte laut in der kochenden, glänzenden Höhle wider. »MESHA KALED!«
Der Sultan schrie auf und stolperte zurück. Sein Kopf fuhr zu den geblendeten Wachen herum. Sie hatten die Stimme ebenfalls gehört und warfen sich zu Boden. »MESHA KALED!«
Dreimal wurde der Name des Sultans gerufen, und bei jeder Wie derholung wurde die blendende Kreatur in der Flamme heller und schwebte zwischen den Feuerwänden. Konnte das real sein? Flam men zischten über die glitzernden Schuppen und tanzten auf den Krallen der ledrigen Flügel. Schuppige Lippen verzogen sich zu ei nem Grinsen, das lange, spitze Reißzähne entblößte. Der Blick der goldenen Augen schien sich in das Gehirn des Sultans zu bohren. »Mächtiger Theron!«, keuchte er und sank zu Boden. »ABKÖMMLING MEINES PROPHETEN!«, hallte die Stimme. »FÜNF EPIZYKLEN HABEN DIE MENSCHEN DEINES GESCHLECHTS DER HEILIGEN FLAMME IHREN GEHORSAM GELEISTET FÜNF EPIZYKLEN SIND VERSTRICHEN, SEIT ICH DEI NEN VORFAHR AUSERWÄHLTE UND IHM BEFAHL, MEIN VOLK SEINER BESTIMMUNG ENTGEGENZUFÜHREN, UND NUN, MESHA KALED, WANKT DER GLAUBE WIEDER
»Aber nein!«, rief der Sultan. »Allmächtiger, wie ... ?« »SCHWEIG!« Die Flamme fauchte heftig. »MENSCH, HAST DU NICHT SELBST GESAGT, DU TRITTST ALS KÖTER VOR MICH, ALS INSEKT, ALS DER NIEDERSTE WURM? DU WIMMERLING, DU WAGST ES, MEINEN WORTEN ZU WIDERSPRECHEN? MESHA KALED: ICH SAGE, DASS DER GLAUBE WANKT, UND NIRGENDWO MEHR ALS IN DEINEM EIGENEN ABTRÜNNIGEN HERZEN! HAST DU IN DEINEM GLAUBEN AN MICH NICHT GEFEHLT? HAST DU NICHT DEINE HEILIGEN PFLICHTEN VERNACHLÄSSIGT? NARR,
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DER DU GLAUBTEST, ICH WARE NICHT REAL, WÄHREND ICH DOCH DIE GANZE ZEIT NUR DEINEN GLAUBEN AUF DIE PROBE STELLTE! DU BIST VERDAMMT, MESHA KALED! IN DEINER UN GEHEUREN VERWORFENHEIT HAST DU GELOGEN, SELBST VOR DIESEM HEILIGEN GEBÄUDE, UND DICH SELBST ZUM SULTAN DES MONDES UND DER STERNE AUFGESCHWUNGEN! WIDER WÄRTIGES GESCHÖPF, SELBST WENN NOCH TAUSEND EPIZY KLEN VERSTRICHEN, WÜRDE DIESER NAME DICH NIEMALS SCHMÜCKEN!«
Der Sultan wand sich auf dem Boden und kratzte mit den Fin gern über den felsigen Boden. Dann blickte er wimmernd hoch, als die harsche Stimme etwas müder fortfuhr. »TREULOSER, DU BIST NICHT BESSER ALS DER GEMEINSTE UNGLÄUBIGE, NICHT BESSER ALS DIE OUABIN ODER DIE MISCHLINGE, DIE DU VERACHTEST. DU VERDIENST DEN TOD, UND SOLLTE ICH DAS WÜNSCHEN, WÜRDE ICH DIR BEFEHLEN, DICH IN DIESE FLAMME ZU WERFEN. MIR NICHT ZU GEHOR CHEN WÄRE DIR UNMÖGLICH. ABER ES GIBT ETWAS, DAS DU NOCH FÜR MICH TUN MUSST.«
»Alles, Allmächtiger, alles, alles ...« Was erwartete der Sultan jetzt? Bestimmt würde der Feuergott ein Massaker anordnen, ein Opfer, vielleicht die Errichtung eines neuen, gewaltigen Tempels oder einen großen Feldzug in ein fernes Land. Doch das, was er forderte, war viel bescheidener ... und auch viel erstaunlicher! »MESHA KALED, ES IST DAS ERSTE MAL, DASS ICH VOR DIR ERSCHEINE, UND DAS LETZTE MAL. WISSE DIES: DIE HOCHZEIT DEINES SOHNES MUSS MIT ÄUSSERSTER SCHNELLIGKEIT VOLL ZOGEN WERDEN. DEINE AUFGABE IST ES, DIESE HOCHZEIT BIS ZUM ENDE ZU BEGLEITEN. ERFÜLLE DIES, DANN VERSCHONE ICH DEIN WERTLOSES LEBEN!«
»Alles, alles, Allmächtiger ...!« »NICHT ALLES, DU NARR, SONDERN DIES!« Die Flamme flackerte und zischte heftig. »WIE ICH MICH DANACH SEHNE, DASS
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DIESES MÄDCHEN VOR MICH TRITT, GESCHMÜCKT IN IHR HOCHZEITSGEWAND! DIE SCHIMMERNDE PRINZESSIN IST MIT BESONDEREM ZAUBER BESCHENKT, UND IHRE HOCHZEIT, NUR IHRE HOCHZEIT IST NÖTIG, UM DEN GLAUBEN WIEDER HELL BRENNEN ZU LASSEN! MESHA KALED, KRIECHE VOR MIR UND ERFLEHE MEINE VERZEIHUNG, DENN DU HAST DIR EINEN NA MEN ANGEEIGNET, DEN ICH, ICH ALLEIN VERLEIHEN DARF! NARR, DERJENIGE, DER DIE SCHIMMERNDE PRINZESSIN HEIRATET, WIRD DES GRÖSSTEN SEGENS TEILHAFTIG! ER IST DER LETZTE DER GOTT-SULTANE! ER IST DER SULTAN DES MONDES UND DER STERNE!«
Der Sultan torkelte durch den unterirdischen Gang zurück. In seiner Verzweiflung hatte er vollkommen vergessen, dass die Imams auf ihn warteten, begierig, die Nachricht ihres verehrten Gottes zu hören. Die heiligen Männer wichen erschrocken zurück, als er auf sie zutaumelte. Was war aus der Zeremonie geworden? Was aus dem Protokoll? Wo blieben die schützenden Wachen des Erhabenen? Kaled atmete schwer, während er in die Gesichter blickte, die ihn umringten. Erstaunen zeichnete sich auf ihnen ab. Sie wollten wissen, was passiert war. Jeder andere Mann wäre jetzt ernüchtert zu Bo den gesunken und hätte seine Ränke und Tücken gestanden. Nicht jedoch Kaled. Trotz wallte in ihm hoch, und er verachtete sich bereits für seine wimmernde Verzweiflung, die ihn in Gegenwart des Got tes übermannt hatte. In Gegenwart des Gottes - und der Ebahns. Er war also verdammt? Wohlan denn, so sollte es sein! Er holte tief Luft. Und bedeutete seinen Imams, näher zu treten. »Der Flammengott«, sagte er leise und ruhig, »fürchtet neuen Verrat. Die Ouabin haben die Sklaven unterwandert und die Reihen der ... Ebahns.« Die Imams mochten es nicht glauben. »Unmöglich! Nein, Sultan, nein!« »Wie kann das sein, Sultan?«
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Der Sultan antwortete nicht, sondern sprach einfach welter. »Er hat befohlen ... der mächtige Theron hat befohlen ... die Ebahns dem Tod zu überantworten.« Die heiligen Männer schrien auf. »Die Ebahns, mächtiger Herrscher?« »Aber die Tradition ... das Protokoll!« »Alle, Erhabener?« Kaled war bereits zu seinen Gemächern unterwegs, aber jetzt drehte er sich noch einmal um. Er schrie. »Narren, wollt Ihr das Wort eines Gottes anzweifeln? Die Ebahns müssen sterben! Alle! Noch heute!« Es geschah, wie der Sultan befohlen hatte. Aber in dieser Nacht begann auch die Erde zu beben. Die Stöße gingen vom Heiligtum der Flamme aus. In den folgenden Tagen wiederholten sie sich und nah men dabei an Häufigkeit und Stärke zu. Einige gaben den Ebahns die Schuld und behaupteten, dass der Feuergott seine Wut nicht be herrschen konnte. Andere meinten, diese Stöße wären Ausdruck der göttlichen Freude über die bevorstehende Hochzeit. Falls noch andere Meinungen geäußert wurden, dann nur im Flüsterton und begleitet von furchtsamen, verwirrten Blicken.
30. Der erhabene Mond Die Hitze hatte so plötzlich nachgelassen, als wäre der vergangene Tag eine bloße Illusion gewesen, eine Fata Morgana. Die Sterne fun kelten wie Glasscherben, in denen sich das Licht des erhabenen Mondes fing. Die Dunkelheit wölbt sich nachts in der Wüste zu einer ungeheuren Kuppel, eine gewaltige und unendlich hohe Tempeldecke, die die ganze Welt umspannt. Es herrscht vollkommene Ruhe. Stil-
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le. Weder Mond noch Sterne flackern. Einsamkeit beherrscht die Szenerie. Auch wenn sich dort Menschen regen, bleibt ihre Gegen wart doch vollkommen belanglos, wie die winzigen Wühltiere, die in den Dünen leben. Selbst wenn es sich wie in diesem Fall um eine gewaltige Karawane handelt, die während der Nacht in der Wüste rastet. Noch nie in der Geschichte von Unang hat sich eine so gewaltige Pilgergruppe auf den Weg nach Norden gemacht. Hier findet man runzlige alte Männer, fette Matronen, schlanke, junge Paare und quengelnde Kinder. Zerlumpte Bettler sind ebenso dabei wie geschminkte Huren, heilige Männer, Händler, Wucherer. Die Wagen der Adligen sind vergoldet und werden von livrierten Wachen be gleitet. Am Tag wird ihre langsame Fahrt durch den Rhythmus der Ge bete bestimmt. Zur Zeit der Katakomben, der Grünen, des Staubes und der Wellen erklingen Glöckchen. Nach den Niederwerfungen der Sterne bewegt sich die Karawane nicht weiter. Später sitzen die Menschen singend und lachend an ihren Lagerfeuern. Die Jungen ringen miteinander, Geschäfte werden abgeschlossen, und die Alten erzählen von früher. Dann wirkt die Karawane wie eine Stadt, in der es von geschäftigem Leben nur so brummt. Aber der Schein trügt. Trotz aller Vergnügungen und Sorgen denken die Pilger immer an das Ziel, das vor ihnen liegt, an die Heilige Stadt, an die Hochzeit, an den Segen, der bald über sie kommen wird, wie der Regen über die gnadenlosen Wüsten. Aber nicht für alle bedeutet der Segen etwas Geistliches. »In Kal-Theron wird es wieder besser werden«, versicherte Faha Ejo, während er an einer Reihe fest verschlossener Wagen vorbei ging. Neben ihm schlurfte Fisch, und hinter ihnen bemühten sich Storch, Blase und Stinker, Schritt zu halten. Während der letzten Niederwerfung hatten die Jungen einen Krug mit Ferment erbeu tet, und jetzt waren sie ausgelassen, und ihre Gesichter glühten. »Was wird besser werden, Faha?«, fragte Fisch aufgeregt. Storch grinste. »Die G ... Glut der G ...Gebete!«
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Blase lachte laut. »Das Glühen des Glaubens!« Stinker kicherte. »Die Gaben der Götter!« Faha Ejo drehte sich um und legte den Finger an die Lippen. Sie kamen an einer Gruppe frommer Weiber vorbei, die wie eine Gruppe gewaltiger schwarzer Krähen um einen Kochtopf hockten. Der Ziegenhirte war sicher, dass diese Frauen unter ihren ausladenden Röcken prall gefüllte Geldbörsen mit Gold und Juwelen bei sich trugen. Leider war es unmöglich, ihnen unter diese Röcke zu greifen! Den ganzen Tag hockten diese Weiber auf ihrem Karren, und wenn sie ihn verließen, dann nur gemeinsam. Es würde schwer sein, sie zu überrumpeln, und ihnen intimere Avancen zu machen war wenig Erfolg versprechend. Faha Ejo lächelte und schlang Fisch einen Arm um die Schulter. Ja, meinte er mit gesenkter Stimme, im Gewimmel der Heiligen Stadt würden die Gaben der Götter ihrer kleinen Bande bald reich lich in den Schoß fallen. Dann malte er ihnen in leuchtenden Farben die Beute aus, die sie am Tag der Hochzeit machen würden. Fischs Augen wurden kugelrund. Er hatte sich immer als einen frommen Jungen betrachtet, auch wenn es ihm sehr schwer fiel, die Gebetszeiten einzuhalten. Als er an die Sakrilege dachte, die sie bald in den Mauern der Heiligen Stadt begehen würden, erschrak er. Doch dann wich der Schreck einer prickelnden Erregung. Ach, Faha war wundervoll, einfach wundervoll! »Warte!« Fisch griff in seinen Lendenschurz und zog eine schmierige Glaskugel heraus. »Ich habe eine Idee.« Blase grinste. »Fisch hat eine Idee?« Stinker grölte. »Eine Idee? Fisch?« »Shhh!« Faha Ejo winkte sie weiter. Die Jungen drängten sich in einen Spalt zwischen zwei Wagen und sahen Fisch zu. Der kniff die Augen zusammen und starrte in dem dämmrigen Mondlicht in die geheimnisvolle Kugel. »Es ist doch eine magische Kugel, hab ich Recht?«, sagte der Jun ge im Lendenschurz. »Wenn ich lange genug darauf starre, was sehe ich dann wohl?«
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Stinker grinste. Storch lachte schallend. Blase kicherte. Nur Faha Ejo blieb ernst und überlegte, ob die Kristallkugel ihnen wirklich bei ihren Diebereien helfen konnte. Er dachte an die anderen Schät ze, die sie nach dem Ritual der Neuverlobung erbeutet hatten, und umklammerte das Amulett, das er um sein Handgelenk trug. Das Amulett von Tukhat, hatte der Freier es genannt. Es war ein Schutz. Ein Glücksbringer. An Stinkers Stirn hing, verborgen unter seinem fettigen Haar, das so genannte Lichano-Band. An Blases breitem Gürtel baumelte die Konar-Lampe, und eine Münze mit einem wirbelnden Muster war tief in Storchs Tasche vergraben. Sie wollten all diese Schätze verkaufen, wenn sie nach Kal-Theron kamen, aber Faha Ejo bezweifelte, dass sein Plan funktionieren würde. Seit sie das Reich von Un verlassen hatten, war alles anders geworden. Amed war verschwunden ... wahrscheinlich war sie bei dem Kampf auf dem Basar getötet worden. Der Kleine war ebenfalls weg, genau wie Pustel. Jetzt waren nur noch sie fünf übrig. Ihr Band war fester geworden, und sie fühlten sich zur Schlacht gerüstet. Sollten sie doch ihre Glücksbringer behalten, selbst wenn es nur Tand war! »Siehst du was, Fisch?« Sie flüsterten unwillkürlich. Fisch starrte konzentriert in die Kugel. »Ich sehe ein Licht. Es fla ckert.« »D ... das ist der M ... Mond, du Id ... Idiot!«, zischte Storch. »Leise!«, befahl Blase. »Hört ihr das?« Stinker spähte durch einen Spalt zwischen den Wagen und stieß geräuschvoll die Luft aus. Der Glücksfall war wirklich erstaunlich. Auf der Reise von Qa tani hatten die Unner viele Streifzüge durch die Karawane unter nommen. Sie hatten gebettelt, gestohlen, Tand erbeutet, sich unter Wagen und hinter den Zelten anderer Leute versteckt. Sie waren hierhin und dorthin gelaufen und hatten überall ihr Unwesen getrieben, so gut sie konnten. Ihre neuen Gönner, der Major-Herr und diese Bohnenstange, schienen höchst erfreut über diese Jungen zu sein, die Ferment, Jarvel und sogar Goldstücke beschaffen konnten. Sie hatten eine Vereinbarung getroffen, die beiden Parteien nutzte.
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Wenn es nötig war, konnten die Unner so tun, als wären sie die frommen jungen Schützlinge des Major-Herrn. Sie wiederum wür den schwören, dass ihr Vormund, auch wenn er aus Ejland stamm te, ein loyaler, bekehrter Anhänger des Glaubens des Feuergottes war. Was lachten sie über ihre blasphemischen Betrügereien! Die Unner quetschten sich durch den Spalt zwischen den Wagen. In den zwei, beinahe drei Mondleben war ihnen diese bewegliche Stadt fast genauso vertraut geworden wie die Stadt, die sie verlassen hatten. Und genau wie in jener Stadt fanden sich auch in der Kara wane Orte, die sie noch nicht erforscht hatten. Genau genommen sogar noch mehr. Denn diese Stadt war nach zwei Tagen unterwegs nicht mehr dieselbe. Während die Kamele und Wagen über die Dü nen zogen, holten einige einen Vorsprung heraus, andere dagegen fielen zurück. Es gab immer Überraschungen - so wie diese. An einem heruntergebrannten Lagerfeuer hockte betrunken die schmierige Gestalt von Eli Oli Ali. Ein Ferment-Schlauch war ihm aus der Hand gerutscht, und halb verborgen unter seinem Bauch befand sich eine Börse mit blinkenden Münzen. Auf der anderen Sei te des Lagerfeuers lag Mutter Madana und schnarchte wie ein Schwein. Die alte Frau rührte sich und furzte laut. Blase grinste. »Ist das deine Magie, Fisch?« »Das ist zu schön, um wahr zu sein!« Stinker lachte. »Schneller!«, sagte Storch kichernd. »B ... Bevor sie aufwachen!« Faha Ejo ging das Risiko ein. Er lief los, packte die Börse seines Vetters und wirbelte auf der Stelle herum. Süße Rache! Es hätte so einfach sein können. Im nächsten Moment hätten sie verschwinden sollen. Aber plötzlich gab es einen Ruck. »Eine Kette?« Stinker glotzte. »Mach sie k ... kaputt!«, schlug Storch vor. »Du verstreust das ganze Gold!«, jammerte Blase. Einen Moment herrschte Verwirrung. Storch krabbelte in der Dunkelheit herum und wühlte im Sand nach den verlorenen Mün zen. Fisch schwankte, und Blase beäugte sehnsüchtig den FermentSchlauch. Sollte er es wagen? Stinker zog ihn weg, aber erst nachdem
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der fette Junge dem Hurenbock einen saftigen Tritt in den Bauch versetzt hatte. Wirklich, Rache ist süß! Eli Oli Ali sackte stöhnend nach hinten. Aber Mutter Madana schlug Alarm. »Diebe! Haltet sie, Diebe!« »Noch etwas Nektar? Eure Königliche Hoheit, bitte!« Der Prinz lag auf einem Diwan und weinte. Seine Schultern zuck ten, und er hatte das Gesicht zur Wand gedreht. Mutter Madana war verzweifelt. Je näher der Tag der Hochzeit rückte, desto jünger und irgendwie schwächer wirkte ihr Liebling. Es sah fast so aus, als wür de eine geheimnisvolle Macht alle Kraft aus dem Prinzen heraussau gen. Noch vor einigen Monaten schienen sich zarte Knospen von Männlichkeit in ihm zu regen. Jetzt jedoch benahm sich Dare trotz seiner Größe wieder wie ein Kind. Wie das Kind, das sie einst an ih rem Busen genährt hatte. Trotzig musterte die Alte den Berater Simonides, die Targon-Die ner und die Wispernden Wände. Gern wäre sie zu ihrem Prinzen gestürzt, hätte mit ihm geweint und ihn in die Arme geschlossen. Tatsächlich aber ließ sie nur den Becher sinken und hielt sich bereit. In ihrem Busen wallte vergebliche Liebe auf. Sie musste es eingestehen: Sie hatte sich gefreut, sehr gefreut sogar, als Ratgeber Simoni des sie zurückgerufen hatte. Er räumte ein, dass der Prinz jetzt, wo sein großer Tag näher kam, mehr benötigte als die Dienste der Tar gons. Was waren schon Targon-Diener gegen die Liebe einer Amme? Dennoch waren ihrer Zuwendung anscheinend Grenzen gesetzt. »Geh nur, Weib«, meinte Simonides seufzend. »Die Klauen der Kindheit halten ihn hartnäckig fest, aber der Prinz wird zum Manne reifen, ob er will oder nicht. Geh jetzt, geh! Heute Nacht kannst du nichts mehr tun.« Mutter Madana zitterte, als der alte Mann sprach, drehte sich um und verbeugte sich mit tiefem Respekt. Das war nicht geheuchelt. Kein Mensch im Palast erfüllte sie mit so viel Respekt wie Ratgeber Simonides. Den Sultan hatte sie als Kind immerhin gestillt. Sie erin-
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nerte sich an ihn, als seine Stimme noch hoch gewesen war und nur ein zarter Flaum sein Gesicht zierte. Die seltsame Macht von Simonides wurde nicht von solchen Erinnerungen gemildert. Ihr kam es so vor, als wäre er schon immer die knorrige, geheimnisvolle Gestalt gewesen, die sie auch jetzt vor sich sah. Mit demselben traurigen Blick aus seinen undurchdringlichen Augen und dem langen, wal lenden Bart. Ob er ihre Bestürzung verstand? Glomm da etwa Mit leid in seinem Blick? Die alte Frau wollte etwas sagen, aber kein Laut drang über ihre Lippen. Sie zog sich rasch zurück und nahm den Nektar mit. Simonides setzte sich neben den jungen Prinzen. Mit seiner runz ligen Hand glättete er das weiche Haar. »Ich habe meine Aufgabe bedauerlicherweise nur schlecht erfüllt, Prinz, hab ich Recht?« »Simonides?«, sagte Dare schluchzend. Der Ratgeber hörte nicht auf, den Prinzen zu streicheln. »Armes Kind, auf Euch wartet eine schwere Last. Der Pöbel weiß, dass Ihr loyal seid, und hält Euch für gesegnet. Es sind Narren, aber wie sollten sie auch die Wahrheit erkennen? Die Königswürde ist ebenso Fluch wie Segen. Ein Fluch deshalb, weil Ihr für das Wohlergehen aller leiden müsst, als hättet Ihr eine göttliche Wunde. Nach Eurer Heirat wird dieser Fluch mit aller Macht auf Euch lasten. Armes, armes Kind! Ich hatte gehofft, dass ich während der letzten Mondleben in Euch eine neue Stärke und Weisheit wachgerüttelt hätte. Jetzt jedoch zittere ich über den Kummer, der Euch gepackt hat und Euch in dieser weibischen Schwachheit hält. Ich hatte die Aufgabe, Euch auf das Schicksal vorzubereiten, das vor Euch hegt. Jetzt frage ich mich, ob ich wirklich weiß, welches Schicksal das sein mag. Viel leicht nisten in Eurem Herzen ja Ahnungen einer anderen Bestim mung. Und vielleicht lauert dort eine noch schwerere Bürde.« Ungeschickt wischte sich Dare die Tränen weg und erwiderte ver ständnislos den besorgten Blick des alten Mannes. »Pah! Pah! Pah! Pah!«
Ob er diese Bälger jemals finden würde? Diese diebischen kleinen
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Schweine! Eli Oli Ali streifte ruhelos umher, spie, fluchte und stampfte wütend auf. Sein fettes Gesicht glänzte im Licht des erhabenen Mondes. Eine Gruppe junger Männer saß um ein Feuer und spielte um Geld. Er betrachtete sie widerwillig. Als er um einen Wagen bog, stieß er auf einige heilige Männer, die eine Wasserpfeife herumgehen ließen und ernst die Bedeutung eines heiligen Textes diskutierten. Er stolperte an ihnen vorbei und schüttelte verächtlich den Kopf. Erschöpft schnarchend lagen die Armen in langen Reihen da. Sie waren von dem beschwerlichen Marsch von der Küste fuß krank und zerlumpt. Wie viele waren in der brennenden Hitze zu sammengebrochen oder zum Gebet niedergesunken und niemals wieder aufgestanden? Waren sie leicht gestorben, getröstet von dem Glauben, dass der Tod eines Pilgers gesegnet war? Narren! Sie wi derten den Hurenbock an. Sollte Mutter Madana doch ihre Niederwerfungen murmeln! Während das alte Weib sich ihren Heuchelei en und Lügen hingab, hockte ihr schäbiger Kumpan gereizt im Wa gen, streckte die Ferment-Vorräte und träumte von den Aussichten, die in der Heiligen Stadt auf sie warteten. Sollte Casca Dalla doch machen, was er wollte: Eli Oli Ali würde wieder ein einflussreicher Mann werden! Hah, er würde des Sultans höchsteigener Hurenbock! Es war schon spät, und allmählich kehrte Stille im Lager ein. Eli Oli Ali sah zum Mond hinauf. Ihm drehte sich alles, und er sank stöhnend vor Müdigkeit gegen die Seite eines Karrens. Verdammt, verdammt! Er hatte sich so weit von seinem Wagen entfernt, und wofür? Verflucht sollten sie sein, diese Gören! Dabei war er auch noch freundlich zu diesem elenden Faha Ejo gewesen! Er hatte ihn aufgenommen und ihn ausgebildet! Es gab eben nichts Gutes in der Welt, keine Loyalität, kein Vertrauen! Der Hurenbock hockte sich hin und wünschte sich, dass er seinen Ferment-Schlauch mitgenom men hätte. Da horte er die trunkenen Stimmen, ein leises Murmeln von der anderen Seite des Wagens. »Aber Polty, warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?« »Sollte mein Offiziersbursehe alle meine Geheimnisse kennen?«
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»Aber ja, Polty! Vor allem ein solches! Wieso bist du dir so sicher?« »Ich habe es gespürt, Bohne. In dem Moment, bevor Toths Macht mich verließ, wusste ich, dass dieses Mädchen etwas Besonderes an sich hat. Etwas ganz Außergewöhnliches. Sie ist der Schlüssel zu Cata, davon bin ich fest überzeugt.« »Du meinst, sie weiß, wo Cata ist?« »Vielleicht. Aber irgendwie glaube ich, dass noch mehr dahinter steckt.« »Noch mehr? Wie kann noch mehr dahinter stecken?« »Das kann ich dir nicht erklären, Bohne, aber ich hatte das Ge fühl, dass sie Cata gefangen hält. Verstehst du nicht? Wenn ich sie in die Finger bekomme, dann kriege ich auch Cata. Bohne, stell dir vor! Cata liegt dann wieder in meinen Armen und küsst mich! Cata, die ihr Hochzeitsgelübde spricht! Kannst du dir vorstellen, wie ich nach Agondon zurückreise und sie im Triumph nach Hause bringe?« Bohnes Antwort klang vorsichtig, abwägend. »Ich glaube nicht, dass sie dich wirklich mag, Polty.« Doch Polty lachte nur. »Armer Bohne, wenn du das schöne Ge schlecht so gut kennen würdest wie ich, könntest du auch die Schüchternheit einer Frau richtig einschätzen. Cata ist zurückhaltend, das ist alles, aber sie weiß, dass ich sie liebe. Was Cata und mich verbindet, geht weit über Sympathie hinaus!« »Auch über Abneigung?« »Du verstehst es nicht, Bohne, hab ich Recht?« Poltys Stimme wurde eindringlich. »Cata gehört mir. Sie gehört mir seit unserer Kindheit in Irion. Ihre Essenz ist mit meiner untrennbar verbunden, so wie meine mit ihrer. Kannst du dir nicht vorstellen, was das bedeutet? Wenn zwei eins sind, was bedeuten dann noch oberflächliche Worte? In ihrem Herzen sagt Cata: Ich bin Polty. Und ich sage: Ich bin Catayane.« »Hm.« Bohne klang traurig. Das folgende Schweigen wurde nur von dem Gluckern des Ferments und dem Knacken des Feuers durchbrochen. Eli Oli Ali strich sich den Schnurrbart glatt. Hm, also wirklich. 289
Er hatte gedacht, er würde den Major-Herrn nicht mehr wiederse hen. Dass er ihn jetzt wiedergefunden hatte, könnte ein Wink des Schicksals sein. Vielleicht. Schluck. »Aber Polty, wie willst du an das Mädchen herankom men?« Gluck. »Was für eine Frage, Bohne!« Schluck. »Sie ist eine Prinzessin, Polty!« »Und wir sind Botschafter, oder nicht?« »Nicht mehr. Ich meine, wir lügen doch, oder nicht?« Gluck-gluck. »Hm. Keine Initiative, Bohne, das ist dein Problem. Es gibt immer einen Weg.« Schluck. »Polty?« »Ja, Bohne?« »Er ist weg, stimmt's?« Bohnes Stimme zitterte. »Du weißt schon. Er.« Gluck-gluck-gluck. »Ich habe es dir doch schon gesagt, Bohne. Ich habe gespürt, wie er am Tag des Rituals der Neuverlobung von mir weggebrannt wurde.« Schluck. Die Stimme klang herzlicher. »An dem Tag, als du mich gerettet hast, Polty« »Das stimmt, Bohne. An diesem Tag ist etwas in mir zersprungen, und er war fort. Ich habe ihn danach noch einmal gesehen und seit dem ... nichts. Nein, ich bin nicht wegen Toth hinter der Prinzessin her. Jetzt handle ich nur für Poltiss Veeldrop.« Oder vielleicht für Eli Oli Ali. Der schmierige Hurenbock hatte sich den richtigen Moment aus gesucht. Während er seine Möglichkeiten abwog, war Eli Oli Ali zu dem Entschluss gekommen, dass diese Bohnenstange ihm vermutlich ein wenig feindselig gesonnen sein würde. Aber was machte das schon? Dieses eine alberne Missverständnis im Khan? Schuld war Mutter Madanas Aberglauben! Er hatte versucht, mit dem Weib zu reden, aber was hatte es genützt? Frauen, Frauen ... Nein, mit der Bohnenstange kam er ohne Probleme zurecht. Der Major-Herr war
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der Wichtigere von beiden. Er hatte zwar eine Pechsträhne, aber er war dennoch ein adliger Ejländer! Was Polty mit Essenz und Ver bundenheit meinte, wusste Eli zwar nicht, aber eines war sicher: Für den Flammenhaarigen war nichts wichtiger, als dieses Mädchen zu heiraten. Was für eine Mitgift musste sie in die Ehe einbringen! Die Augen des Hurenbocks glitzerten, und ein Plan schoss ihm durch den Kopf. Aussichten, Möglichkeiten. Er schlurfte um die Ecke des Wagens und warf die Hände in die Luft. »Major-Herr! Ein Wunder! Ein Wunder!«
31. Der Tote im Sand Atmen. Einatmen. Ausatmen. Ein Herz schlägt. Pulsieren. Denk nur daran, nur an diese Dinge. Simonides konnte nicht schlafen, aber als er sich im Dunkeln hin legte, versank er allmählich in einer Art Trance. Manchmal fragte er sich, ob ihm das wohl auch ohne die Erschöpfung gelingen würde, von der er sich niemals mehr wirklich erholte und die seine Glied maßen so unerträglich bleiern machte. Oh, er war alt, so alt. Er sehnte sich nach Schlaf, wusste aber, dass dieser Halbschlaf bis zu seinem Tod die einzige Linderung sein würde, auf die er hoffen durfte. Und heute ließ ihn sogar diese Trance im Stich. Er öffnete die Augen. Kurz wähnte der alte Mann den Tod neben sich, den er mit offenen Armen willkommen heißen würde wie eine Geliebte, ja, wie eine Geliebte. Aber es hatte keine Geliebte in seinem langen, sterilen Leben gegeben. Simonides starrte auf die erhabene Scheibe des Mondes. Ohne das Zischen der Konar-Lampen war die Stille beinahe vollkommen. Aus den Gärten drangen nur winzige Geräusche an sein Ohr. Selbst die Wisperer in den Wänden schwiegen. Die ganze Welt schlief, alle, bis
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auf diesen törichten, närrischen alten Mann. Erneut schloss Simonides die Augen. Atme. Ein Herz schlägt. Nur diese Dinge, nur diese. Stattdessen dachte er an den jungen Prinzen und das schwierige Schicksal, das ihm vermutlich bevorstand. Was sollte aus dem Jun gen werden? Konnte er seine Rolle erfüllen? Was würde mit dem Reich geschehen, das er regieren sollte? Mit einem plötzlichen Anflug von Furcht dachte Simonides an seine Brüder, die er vor so lan ger Zeit verlassen und an die Kräfte, auf die er verzichtet hatte. In all den Jahren im königlichen Dienst hatte es durchaus einige Gele genheiten gegeben, bei denen er sich nach dem geheimnisvollen Wis sen gesehnt hatte, das einst wie eine mächtige Droge durch seinen Verstand und sein Herz geströmt war. Er hatte es immer wieder un terdrückt, sich selbst kasteit. Jetzt kam es ihm so vor, als würden die granitenen Wände seiner lebenslangen Abstinenz Risse bekommen und nachgeben. Er hatte sich gesagt, dass die Macht eines Sehers letztlich nur Böses bewirken könnte. Jetzt dachte er an den Jungen. An seine Angst um ihn. Und seine Liebe zu ihm. Atme. Ein Herz schlägt. Diese Dinge, nur diese Dinge. Mit einem tiefen Seufzer drehte Simonides den Kopf und sah zur Couch, auf welcher der Prinz schlief. Sein Blick fiel nur auf leere, zerwühlte Laken. Bohne saß mit gekreuzten Beinen da und schmiegte das Gesicht in seine Hand. Sein Kopf wog so schwer. Sein Haar war strähnig, und seine Augen waren hinter den schweren Lidern halb verborgen. Er war nicht nur betrunken, sondern auch enttäuscht. Während er in die Flammen des Feuers starrte, riskierte er ab und zu einen Blick in die finstere Wüste dahinter. Sie flößte ihm Furcht ein. Welche Ge fahren lauerten dort auf ihn, in den sanft geschwungenen Hügeln aus Sand? Wenn ein Mensch da draußen allein und auf sich selbst gestellt war, wurde er bestimmt bald verrückt. Das glaubte Bohne je-
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denfalls. Aber was spielte das schon für eine Rolle? Er konnte auch gleich hier verrückt werden, arn Feuer. Er lächelte schwach über Pol tys letzte Zote und Eli Oli Alis schleimiges Gelächter. Bohne seufzte. Wie glücklich er in der Nacht gewesen war, als Pol ty ihn gerettet hatte! Burgroves Tod hatte ihn entsetzt, natürlich, aber Bohne musste zugeben, dass es ihn eigentlich nicht wirklich kümmerte. Selbstverständlich nicht. Burgrove war verschwunden, Eli war fort, Toth auch ... Es konnte wieder so werden wie damals in den alten Zeiten! Als er sich in dieser Nacht an Poltys Hals klammerte, während der durch die Rauchschwaden stürmte, hätte es Bohne nichts ausgemacht, sofort zu sterben. In Poltys Armen sterben! Boh ne seufzte und warf dem schmierigen Störenfried einen mürrischen Blick zu. Wie leicht es dem Hurenbock gelungen war, sich wieder in Poltys Gunst einzuschmeicheln! Ach, Polty war naiv, viel zu naiv! »Erkläre mir den Plan noch einmal, Oily«, lallte er und legte dem Hurenbock einen Arm auf die Schulter. »Pah! Haben die Flammen Euch ein Loch in den Kopf gebrannt?« »Kein bisschen! Aber ich bin noch nicht sicher, ob er wirklich funktionieren kann. Glaubt Ihr wirklich, dass wir dieses Balg ent führen können ... Diesen Prinzen Dare?« Gluck-gluck. »Major-Herr, denkt doch nach! Mutter Madanas Schwester kümmert sich um den Prinzen, hm? Wenn wir also in die Heilige Stadt kommen, was wird Mutter Madana dann tun ? Sie wird ihrer lieben alten Schwester einen Besuch abstatten, ihrer Schwester, die sie nicht mehr gesehen hat seit...« Gluck. »Seit der Zeit der Unschuld?« »Gut möglich. Vermutlich sehen sie gleich aus, hm? Schließlich sind sie Schwestern. Na ja, zumindest ähnlich.« Gluck-gluck. »Ich verstehe, Oily Wir müssen sie also nur gegen ihre Schwester austauschen. Dann hat sie den Jungen in der Hand ... Ich meine, wir haben ihn in der Hand.« Der Hurenbock grinste und stieß mit Polty an. »Glaubst du, dass sie es tun wird?«, erkundigte sich Bohne säuerlich.
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»Was tun wird?«, lallte Polty. »Sich gegen ihre Schwester austauschen lassen! Du meinst doch, sie soll die Kleider tauschen? Sie vielleicht niederschlagen, sie betäu ben oder gar töten? Ihre eigene Schwester?« »Einzelheiten, alles Einzelheiten!« Der Hurenbock winkte weg werfend. »Ich arbeite daran. Stellt Euch vor: Wir entführen den Jüngling und halten ihn gegen ein Lösegeld gefangen. Wenn sie die Prinzessin nicht ausliefern, muss der Junge sterben. Und dem Sul tan wird doch der Junge wichtiger sein als die Prinzessin, habe ich Recht? Er ist sein Sohn und sein Erbe. Das leuchtet doch ein!« Bohne stöhnte. Der Plan war wirklich zu absurd. Er sah es kommen: Der Hurenbock würde Polty in schreckliche Schwierigkeiten bringen, und zwar schon bald. Sie würden die Heilige Stadt in wenigen Tagen erreichen. Das reichte nicht, um Polty von seinem neu esten Plan abzubringen. Außerdem traute Bohne dem Hurenbock nicht, kein bisschen. Sollte er wirklich glauben, dass der schmierige Kerl nicht gewusst, ja, nicht einmal geahnt hatte, dass Mutter Ma dana zwei Ejländer im Keller gefangen hielt? Und jetzt sollte ihre Zukunft von eben dieser Mutter Madana abhängen? Bohne sah den Hurenbock verächtlich an. »Ich dachte, Ihr wolltet das Mädchen für Euch selbst. Wart Ihr denn nicht einer Ihrer Freier?« »Pah! Ich hätte sie verkauft, das ist alles. Es gibt immerhin einige Leute, die für eine königliche Prinzessin eine Menge bezahlen. Ich dachte, es wäre ein Versuch wert.« Der Hurenbock grinste und drehte sich zu Polty um. »Wisst Ihr, vielleicht ist sie selbst jetzt gar nicht so weit weg.« Gluck. »Ich würde sagen, das ist sie auch nicht. Wir sind immer hin schon kurz vor Kal-Theron«, erwiderte Polty »Pah! Kal-Theron? Ich meine hier, in diesem Pilgerzug.« »Wie das, Oily?« Gluck-gluck. »Ich habe heute einige Händler belauscht. Es gibt Gerüchte ... Nun, es gibt immer Gerüchte. Aber denkt darüber nach: Die Prinzessin muss auch irgendwie in die Heilige Stadt kom
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men. Würde man sie in vollem Staatspomp durch die Wüste schi cken, wo die Ouabin nur darauf lauern, eine so kostbare Beute zu erringen? Denkt nach! Die Leute munkeln, die Prinzessin reise in ei nem ganz gewöhnlichen Wagen, mit kaiserlichen Wachen, die als be scheidene Pilger verkleidet sind.« Gluck-gluck. Poltys Augen glühten. »Oily, das ist erstaunlich! Wenn das wahr ist, dann müssen wir diesen Burschen vielleicht gar nicht entführen!« »Was? Du willst es mit wer weiß wie vielen kaiserlichen Wachen aufnehmen?«, knurrte Bohne. »Ich glaube ihm kein Wort!« Polty seufzte. »Bohne, wen kümmert es schon, was du glaubst? Du bist brillant, Oily. Ich werde die Unner darauf ansetzen. Wir werden die Prinzessin finden, und wenn es das Letzte ist, was wir tun.« »Die Unner?« Der Hurenbock runzelte die Stirn. »Sag mal, wo sind die Gören eigentlich?«, erkundigte sich Polty Die Frage beantwortete sich einen Moment später von selbst, als die fünf Jungen, die Polty und Bohne auf ihrer Reise begleitet hat ten, schwer beladen von ihrem nächtlichen Beutezug zurückkehrten. Sie schlichen um die Seite des Karrens, kicherten müde und wa ren bereit, von ihren abendlichen Abenteuern zu berichten. Faha Ejo erstarrte. Blase hielt die Luft an. Eli Oli Ali sprang hoch. »Ihr diebisches Volk!«, schrie er. Polty und Bohne konnten nur verwirrt zusehen, wie der Hurenbock zu erst auf seinen jungen Vetter losging, als wollte er ihn verprügeln. Dabei stolperte er jedoch und fiel vornüber in das heruntergebrann te Lagerfeuer. Er schrie, sprang auf und schlug hektisch mit den Händen auf seinen kokelnden Schnurrbart. Rundherum brandete spöttisches Gelächter im Lager auf. »Es tut mir sehr Leid, meine Dame, aber Euer Freund liegt im Ster ben.« Erstaunt blickte das Mädchen dem Arzt in sein freundliches Ge sicht. Die Szene trug sich ebenfalls an einem Lagerfeuer zu, jedoch am anderen Ende der langen Pilgerkarawane. Auf dem weichen Sand
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lag unter einer Decke der zerstörte, zitternde Körper eines jungen Mannes, der kaum älter war als ein Jüngling. Um ihn herum standen verwirrt ein zweiter Junge in den Fetzen einer ehemals vorneh men Kleidung und ein fetter Bursche, der erheblich älter war. Ein räudiger Hund leistete ihnen Gesellschaft. Die Dame achtete sorgfältig darauf, ihr Gesicht verschleiert zu lassen, aber ihre Verzweiflung zeigte sich deutlich genug in ihren Blicken. Sie wandte sich zu ihren Freunden um und sah dann wieder den Arzt an. Hände rin gend fragte sie ihn, ob man denn wirklich nichts tun könnte. »Meine Dame, Ihr sagtet, Eure kleine Gruppe wurde von Ouabin überfallen?« »Das stimmt, guter Doktor. Wir sind die einzigen Überlebenden.« »Ihr sagt, ihr habt einen langen Weg durch die Wüste hinter Euch?« »Auch das stimmt. Ich wage nicht mehr daran zu denken, wie lan ge wir durch den heißen Sand gestolpert sind. Welch ein Glück, dass wir Euch und Eure gute Familie getroffen haben.« Der Arzt verbeugte sich respektvoll. »Meine Dame, Ihr seid sehr freundlich, aber wir haben nur unsere Pflicht getan. Ihr sagtet, dass Ihr es ohne diesen unglücklichen jungen Mann niemals geschafft hättet?« »Wie wahr, wie wahr. Eine Weile hatte ich ihn für einen ... ande ren Charakter gehalten, aber als wir uns in der Wüste verirrten, zeigte er die Güte, die in ihm steckte. Unerschrocken hat er unsere Grup pe Tag um Tag weitergeführt, bis wir schließlich auf Eure gnädige Hilfe stießen. Wie grausam wäre es, wenn er jetzt sterben muss!« Der entzückenden Dame traten Tränen in die Augen, und sie konnte über die unergründlichen Wege des Schicksals nur den Kopf schütteln. Als er in dieser Nacht in seinen letzten Traum sank, sollte sie diesen jungen Mann in die Arme schließen. »Teurer Jorvel«, flüsterte sie dann. »Lieber, lieber Jorvel.« »Dare?« Auf der Terrasse schien der Mond heller. Simonides zitterte. Eine
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böse Vorahnung überkam ihn, und er schlich weiter wie ein Dieb oder ein verstohlener Liebhaber, während er den Namen des Jungen flüsterte. War der Prinz verschwunden? Nein, das war unmöglich. Dare war schon früher in die Nacht hinausgelaufen und vor Bestür zung blindlings herumgeirrt. Wohin konnte er schon gegangen sein als auf die Dachgärten? Der alte Mann stieg die Stufen hinauf. »Dare? Dare!« Vielleicht versteckte sich der Prinz ja in den Büschen. Dieser Ge danke irritierte Simonides. Er sagte den Namen des Jungen erneut und fragte sich dabei, warum er flüsterte. Dann wusste er es. Eine Eingebung, wie ein Echo seiner längst aufgegebenen Kräfte, regte sich in ihm. Ja, er wusste es. Aber es dauerte noch eine Weile, bis er sah, was er befürchtet hatte. Die Eingebung, das Echo wurde real. Simonides versteckte sich hinter hohen Farnen. Die Düfte im Gar ten waren berauschend: der Jasmin, der Malak, die Narzissen; die Farnblüten waren so weich wie Liebkosungen, die er sich sein Leben lang versagt hatte. Es war zu viel, viel zu viel; am schlimmsten jedoch war die Vision, die wie Silber und Gold zwischen den prachtvollen Beeten schimmerte. In einem unirdischen Schweigen lief, sprang, lachte und spielte Prinz Dare mit seinem geisterhaften Gefährten. Simonides holte Luft, sagte aber kein Wort. Langsam und schmerzlich bedrückt ging er wieder hinunter. Er ging an seiner ei genen harten Couch vorbei und ließ sich auf den Diwan mit den vie len Kissen sinken. Während er den Duft des Prinzen einatmete, ließ er seinen Tränen freien Lauf. Zitternd presste Simonides ein Kissen fest an seine Brust und wartete auf die Rückkehr des Jungen. Es hatte eigentlich nicht passieren sollen. In all der Zeit, die er mit Polty reiste, hatte Bohne das niemals für möglich gehalten. Vielleicht glaubte er, dass ihn eine besondere Magie schützte. Vielleicht war er auch nur verwirrt und redete sich ein, dass seine geheimen Handlungen nur in seinen Traumen stattgefunden hatten. Aber er wusste, dass das nicht stimmte. Später würde er sich fragen, ob er wollte, dass es so kam. Als er in
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der Lustzelle eingesperrt war, hatte Bohne sich nach Freiheit ge sehnt, nur nach der Freiheit. Doch was bedeuete die Freiheit für ihn anderes als eine besondere Art der Gefangenschaft? Vielleicht woll te er ja diese unsichtbare Mauer niederreißen, die ihn umgab, ganz gleich, welche Konsequenzen das hatte. Möglicherweise war er aber auch einfach nur sehr betrunken. Bohne lag da und blickte zu den kalten, glitzernden Sternen hinauf. Neben ihm atmete Polty ruhig und gleichmäßig. Eli war fort, und die Unner schliefen auf der anderen Seite des Feuers. Eine ungeheure Einsamkeit ergriff Bohne. Dann kam ihm der Gedanke, dass sein ganzes Leben so war: eine verzweifelte, einsame Nachtwa che der Liebe, während er an Poltys Seite aufpasste. Er dachte angewidert an den vergangenen Abend. Armer Bohne! Er hatte geglaubt, dass Polty wieder ihm gehörte, doch Polty hatte ihn betrogen. Ein anderer als Bohne hätte Polty das sicher übel genommen. Bohne je doch war nur wütend auf den schleimigen Hurenbock. Er empfand Mitleid für Polty und rollte sich zu seinem Gefährten hinüber. Der arme, arme Polty. Zitternd strich Bohne über das Haar, das in dem Licht des erhabenen Mondes purpurrot leuchtete. Ach, Pol ty! Bohnes Finger schwebten über dem schlanken, knochigen Ge sicht. Wie anders es früher einmal gewesen war! Sehnsüchtig dachte Bohne an den Tag hinter dem Trägen Tiger, als sich ihm dieses Gesicht, das plumpe, sommersprossige Gesicht, zum ersten Mal zugewandt hatte. Vielleicht hatte Polty in diesem Augenblick einen Bann ausgesprochen, einen Zauber, dessen Wirkung Bohnes ganzes Le ben lang andauern sollte. Seine Finger glitten zu der breiten Brust, die sich langsam hob und senkte. Bohne vergoss trunkene Tränen. Natürlich hatte er gleich ge wusst, dass Polty böse war, ein Monster in Menschengestalt. Aber stimmte das wirklich? Konnte er so etwas von seinem hinreißenden, magischen Freund annehmen? Außerdem, was bedeuteten schon gut und böse? Nichts, was Polty tat, war wirklich verrucht. Polty war manchmal nur ein wenig verwirrt, das war alles. Und er brauchte eine Hand, die ihn führte.
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Bohnes Liebkosungen führten ihn weiter nach unten, als Polty sich rührte und stöhnte. Einen Moment stellte sich Bohne vor, sein Freund habe seinen Namen genannt. Aron, Aron. Bohnes Herz schlug schneller, aber nein ... Wie absurd. Es war Catas Name, den sein Freund wie ein Geheimnis in die Dunkelheit flüsterte. Poltys Kopf rollte hin und her, und er bog den Rücken durch. Diese Zei chen waren Bohne vertraut. Er wusste, dass sein Freund träumte, und er wusste auch, was das für ein Traum war. Ja. O ja! Bohne konnte sich kaum noch daran erinnern, wann er sich zum ersten Mal diese Freiheiten an der Person seines Freundes herausgenommen hatte. Nachdem Polty aus den Zenzanischen Kriegen zu rückgekehrt war, hatte Bohne zunächst Vorsicht walten lassen. Erst jetzt, auf dieser Reise in die Südlande, war er wieder leichtsinniger geworden. Ab und zu fragte er sich, wieso Polty nichts von diesen Intimitäten merkte, die sie miteinander teilten. Manchmal glaubte Bohne anhand bestimmter Blicke und gewisser Zeichen zu erken nen, dass sein Freund ihre geheime Beziehung wahrnahm, auch wenn er nichts sagte. Wenn es doch nur so wäre! Der Träumer flüsterte wieder den Namen seiner Geliebten. Cata, Cata. Als die Hände des Träumers Bohnes Haar streichelten, war dessen Verzückung vollkommen. Er hatte das Gefühl, als fiele er endlos durch eine umhüllende Wärme, und wollte nicht, dass dieser Sturz je endete. Das war Erfüllung. Das war Erlösung. »O Cata, Cata, oh ... Bohne!« Polty zuckte zurück, schlagartig hellwach. Jetzt überschlugen sich die Ereignisse. Erst brüllte Polty wütend, dann rappelte sich Bohne schluchzend hoch. Die überraschten Ge sichter der Unner tauchten auf. Bohne flüchtete stolpernd, Polty verfolgte ihn und zog sich dabei die Hose hoch, die ihm in den Knie kehlen hing. Bohne drehte sich verzweifelt um und wollte um Gnade betteln, doch da traf ihn eine Faust so hart wie ein Felsbrocken. Sie krachte in seine Rippen, gegen seinen Kiefer, auf seine Augen. »Du dreckiger Mistkerl! Du dreckiger, widerlicher Mistkerl!« Sie hatten die bewegliche Stadt verlassen und stürmten in die
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dunklen Dünen hinaus. Schließlich landete Bohne auf dem Boden und konnte nicht einmal mehr schreien, als Polty ihm in den Unter leib trat, ihn anspuckte und schließlich fluchend wegstolperte. Einen Augenblick hatte Bohne den Eindruck, dass die Unner daneben standen, glotzten und aufgeregte Kommentare einwarfen. Doch dann brüllte Polty sie wütend an. Sie sollten diesen dreckigen Mistkerl liegen lassen. Sie sollten den dreckigen Mistkerl wie einen Toten im Sand liegen lassen.
32. Das fünfte Verschwinden Wie viel Zeit war verstrichen? Seit dem Schmerz des letzten Tritts, dem Gefühl, wie der heiße, zähe Speichel über seine Haut glitt, schien eine Ewigkeit verstrichen zu sein. Aber das spielte keine Rolle. Für Bohne waren auch Poltys Hass und seine Gewalttätigkeit wie eine Ewigkeit. Tränen liefen Bohne über das Gesicht, und nur die Schmerzen in den Rippen hin derten ihn daran zu schluchzen. Seine Zähne klapperten. Der Sand unter seiner Haut war scharf wie Glas. Was für ein Narr war er doch gewesen! Was für ein schrecklicher Dummkopf! Verschwommen fragte er sich, ob die Lustzelle ihr Werk verrichtet und ihn angesteckt hatte. Dann jedoch kam er zu dem Schluss, dass er immer schon krank gewesen war. Sein ganzes Leben war eine einzige Krankheit. Schmerzen vernebelten seinen Verstand. Er dachte an die Sterne, die Dünen, die Dunkelheit. Die Nacht um ihn herum schien sich zu drehen, während der ehrhabene Mond sie erhellte. Die Dachklappen waren geöffnet. Rajal wurde wach und starrte in die schweigende Nacht hinaus. Während er den Mond und die Sterne betrachtete, stellte er sich einen Moment vor, wie es wäre, im Sand zu liegen und nicht in die
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sem engen Wagen. Er wünschte, sein Traum wäre wahr, aber die Il lusion verblasste sehr schnell. Jetzt spürte er wieder die Kissen unter sich, sah die glänzenden Wände und nahm den Geruch von Weihrauch, Samt und Seide wahr. Der Wagen war luxuriös einge richtet, aber er hasste ihn dennoch. Er hörte die ruhigen Atemzüge eines Menschen. Dann raschelte etwas, und jemand seufzte. »Cata?«, flüsterte er. »Ich kann nicht schlafen.« »Verwünscht sei dieses Gefängnis!« »Es ist nicht so unerträglich, wenn wir reisen.« »Es muss bald Morgen sein. Ganz bestimmt.« »Hm.« Sie hielten inne und betrachteten sich mürrisch in dem Dämmerlicht. »Sehr weit kann es nicht mehr sein, oder?« »Bis zur Heiligen Stadt? Woher soll ich das wissen?« »Du könntest deinen Vater fragen, oder nicht?« »Raj, bitte! Nenn dieses Geschöpf nicht meinen Vater. Du glaubst wohl, dass es mir Spaß macht, ihn zu besuchen, ja?« »Immerhin kommst du wenigstens einen Abend hier raus.« »Ich würde lieber hierbleiben! Es wäre besser, als sich die ganze Zeit anzuhören: Schimmy-dies und Schimmy-das ... ganz zu schweigen von seinen Liebkosungen! Man sollte glauben, dass er sich allmählich daran gewöhnt hat, dass ich wieder aus Fleisch und Blut bin, meinst du nicht? Ich sage dir, jedes Mal, wenn ich zu ihm gehe, ist es dasselbe. Die Hochzeit, die Hochzeit... über etwas anderes redet er nicht. Erst ist er aufgeregt, bis ihn seine Ängste über wältigen. Dann ergeht er sich in Wehklagen über die Vergangenheit. Ach, und wie er über diesen Dschinn redet! Schließlich bricht er in Tränen aus und wirft sich in meine Arme.« Cata seufzte. »Erst war ich angewidert. Jetzt bin ich nur noch gelangweilt.« »Also gut, du hast mich überzeugt. Ich bleibe lieber hier.« »Und erst dieser Wesir. Der ist nicht langweilig, sondern flößt mir Angst ein.«
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»Der ... Wesir?«, sagte Rajal. »Hm, vielleicht bilde ich mir das ja ein, aber er sieht mich immer irgendwie ... merkwürdig an. Als durchschaue er meine Verklei dung. Ich liege im Arm des Kalifen, sehe zu ihm hin und bemerke, wie der Wesir mich beobachtet.« Nach einer kleinen Pause sagte Rajal vorsichtig: »Ich selbst versuche ebenfalls, ihm aus dem Weg zu gehen. Dem Wesir, meine ich. Er hatte angeordnet, mich ... na ja, du weißt schon. Du willst nicht, dass er deine Verkleidung durchschaut, aber noch weniger ist mir daran gelegen, dass er meine durchschaut. Und die ist wohl kaum so gut wie deine, stimmt's?« »Manchmal frage ich mich, wie gut meine wirklich ist.« »Cata, sei nicht albern. Sie ist zwar ein paar Mal entgleist, aber Magie ist nie perfekt, richtig?« »Ach? Wer hat dir das.denn erzählt?« »Die Große Mutter, glaube ich. Vielleicht war es auch Myla.« Ra jal zog die Nase hoch und verstummte. Cata sprach weiter. Ihr Blick glitt zu der schlafenden Amed, die zusammengerollt auf dem Boden lag. »Mir ist ein Rätsel, wieso sie so fest schlafen kann.« »Sie ist glücklich. Hast du noch nicht bemerkt, dass du sie glück lich machst?« »Fang nicht wieder damit an. Ich wünschte, ich sähe wieder aus wie ich.« »Was das angeht«, meinte Rajal, »geht es mir genauso.« »Ich weiß nicht... Irgendwie steht dir das Kostüm.« »Ich soll nicht anfangen? Du fängst doch an!« Sie unterdrückten ein Lachen und blickten hinauf zu den Dach klappen. »Ich ertrage es nicht, noch länger eingesperrt zu sein«, flüsterte Cata. »Der Morgen graut bald. Komm, wir gehen hinaus.« Rajal stöhnte. »Du weißt, was letztes Mal passiert ist: drei Nächte mit verschlossenen Dachklappen! Ich dachte, ich schwitze mich zu Tode.« »Das war ganz gut für dich. Du setzt allmählich Fett an.«
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»Fett?« Rajal tat wütend. »Soll ich Amed wecken?«
»Bitte nicht. Ich kann ganz gut eine Weile ohne ihre schmachten-
den Bücke auskommen.«
»Sie kann nichts dagegen tun«, sagte Rajal. »Stell dir vor, ich sähe aus wie Jem. Vermutlich würdest du mich auch ganz schon anhim meln!« »Ich verstehe, was du meinst. Aber weck sie trotzdem nicht, ja?« Vorsichtig kletterte die angebliche Prinzessin auf den mit Schnitzereien verzierten Tisch, der die Mitte des Wagens einnahm. Mit der Geschicklichkeit und Lautlosigkeit einer Löwin schwang sie sich hoch und kletterte auf das schmale Dach. Von unten drang das Schnarchen einer Wache zu ihr, die neben dem Wagen im Sand saß. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, die Wachen zu verkleiden. So bald sie wie gewöhnliche Menschen aussahen, begann ihre ansons ten untadelige Disziplin aufzuweichen. Lächelnd reichte Cata Rajal die Hand und half ihm hinauf. »Wenn sie uns diesmal erwischen«, zischte er, »werden sie uns niemals wieder vertrauen.« »Und wenn schon. Wir sind doch fast da, oder nicht?« »In der Heiligen Stadt? Du sagtest doch, du wüsstest es nicht!« Cata legte einen Finger an die Lippen. Geduckt lief sie über das Dach des Wagens und kletterte dann an der Seite hinunter. Rajal folgte ihr besorgt und zögernd. Es war kalt in der Wüste, aber bald würde die Sonne aufgehen und die Kälte vertreiben. Sie sprangen vom Wagen und verschwanden in den Dünen. Wie viel Zeit war verstrichen? Bohne wachte abrupt auf. Er hatte einen widerlichen Geschmack von Erbrochenem im Mund, und sein Herz hämmerte heftig. Er starrte auf den Mond, schüttelte sich und rollte sich zusammen. Da hörte er die Stimmen. »Ihr könnt ihre Anwesenheit wahrnehmen?« »Sie ist nah, sehr nah. Zweifle nicht an mir, Ouabin. Bevor diese Nacht vorüber ist, wirst du deine Braut besitzen. Ohne den Kristall,
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der meine Kräfte verkörpert, bin ich in diesem Reich des Ungöttlichen zwar weniger mächtig, aber ein magisches Mädchen zu fin den ... Wie könnte das zu schwierig für mich sein?« »Hah! Ich habe gehört, dass Ihr schon lange nach einem solchen Mädchen sucht!« »Narr! Sprich nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst!« »Das Verlangen eines Mannes nach einem Flittchen? Davon verstehe ich eine ganze Menge!« »Schweig, sage ich! Hast du immer noch nicht begriffen, dass ich kein Mann bin, sondern nur als einer erscheine? Glaube mir also, dass ich keineswegs ein schlichtes Weib suche.« »Hah! Aber die Frau, die meine Braut wird, ist auch keins!« »Allerdings, Ouabin. Vielleicht verstehst du jetzt meinen Schmerz?« »Selbstverständlich, Goldener. Würde ich einen Gott beleidigen wollen?« Die Worte wurden leise gesprochen, waren beinahe ein Flüstern, aber die klare Wüstennacht trug die Stimmen weit. Zuerst bedeute ten sie Bohne nichts, strömten unbeachtet über ihn hinweg. Doch dann erregte der drängende Ton seine Aufmerksamkeit. Bohne spürte das Pochen seiner Schläfen. Er drehte den Kopf und bemerk te ein geheimnisvolles Glühen über der welligen Schwärze der Dünen. Er rollte sich unter Schmerzen auf den Bauch und kroch vorwärts über den dunklen Sand. Als Bohne über den Rand der Düne spähte, sah er die beiden Ge stalten. Die eine stand glitzernd im Mondlicht und trug immer noch die blutbefleckten, goldenen Roben, die sie am Tag des Rituals der Neuverlobung angehabt hatte. Die andere Gestalt war ebenfalls gol den, aber sie strahlte von innen. »Goldener«, sagte der Ouabin. »Seht Ihr sie schon?« »Ich sage dir doch, sie ist nah. Meine Kräfte sind erschöpft, aber wenn ich mich auf sie konzentriere, nur auf sie ...Ja, ja. Sie ist vielleicht verkleidet, aber für das Auge eines Gottes ist sie sichtbar.« Ein Säbel blitzte auf. »Kommt, ergreifen wir sie!«
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Der Gott lachte hohl. »Keine Hast, Ouabin, sie wird gut bewacht. Wir können sie nicht einfach mit brutaler Gewalt und primitiven Waffen erobern. Unser Angriff zielt auf den Verstand, auf das Herz. Wir senden ein Signal, das diejenige zu uns lockt, die wir suchen. Du möchtest sie doch unverletzt, oder nicht? Wir werden bis zur Morgendämmerung warten, denn dann ist ihr Widerstand am geringsten, das spüre ich.« Zögernd schob der Ouabin seinen Krummsäbel in die Scheide zu rück. »Wenn ich mir vorstelle, dass ich so weit gesunken bin! Für einen Mann, der ganze Städte erobert hat, ist es entwürdigend, sich zwischen den Dünen zu verstecken.« »Möchtest du lieber auf meine Hilfe verzichten? Meine Macht hat, sich erschöpft, als ich dein Leben rettete, Ouabin. Ich bin nicht mehr so stark, wie ich war, aber vergiss nicht: Du hast deinen Stamm ver loren, deine Armee, deinen Ruhm. Ohne mich wärst du ein Ausge stoßener ohne Freunde und ohne Hoffnung, dein Herzens begehren zu erfüllen. Aber ich will dich nicht verspotten, Ouabin.« Ein Lächeln zeigte sich auf dem goldenen Gesicht. »Ich wiederhole, was ich dir schon vorher versprach: Für dich die Welt... Für mich der Mond und die Sterne. Habe ich dir nicht gesagt, dass deine Suche mit der meinen untrennbar verknüpft ist? Wo wären wir ohne die Dame? Jetzt denk nicht mehr daran, sondern male dir den Triumph aus, den du bald erleben wirst. Wenn du deine rechtmäßige Braut in den Ar men haltst, werde ich dich zur Flamme bringen. Dort wirst du den falschen Schatz verbrennen und den wahren dahinter entdecken. Aber komm, ich habe dir den Spiegel schon gegeben. Sieh mir in die Augen, damit ich dir die Macht verleihe, die du brauchst, um ei nen entzückenden und kostbaren Bewohner für diesen Spiegel zu finden.« Der Ouabin trat dicht vor den Gott, wie ein Liebender. Als er sich nach kurzer Zeit wegdrehte, glühten seine Augen wie Feuer. »Wir sollten langsam zurückgehen, nicht wahr?« »Raj, also wirklich! Willst du den Sonnenaufgang nicht sehen?«
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»Genau deshalb sollten wir zurückgehen. Sie werden feststellen, dass wir verschwunden sind.« Cata seufzte. »Ach ja? Aber sie werden uns kaum etwas tun, oder?« »Der Prinzessin sicher nicht. Aber was ist mit mir?« »Du bist ein Mädchen, schon vergessen? Das hat gewisse Vortei le.« »Bestimmt viele. Ich weiß es sogar ganz genau.« »Du bist also bekehrt?« »So weit würde ich nicht gehen.« Cata und Rajal spazierten Hand in Hand wie Schwestern neben einander. Ihre Juwelen klimperten, und ihre langen Gewänder schleiften im Sand. Der erhabene Mond verblasste allmählich. Ein purpurnes Glühen erhellte den Horizont, und Cata spürte ein ähnliches Glühen als Antwort in ihrem Herzen. Es war eine merkwürdige Fröhlichkeit, die durch ihre Adern strömte, ein Gefühl, dass al les gut werden würde. Sie blickte nach vorn und erwartete die raue Schönheit des blutgoldenen Lichts, das sich bald über die welligen Dünen ergießen würde. Rajal empfand etwas ganz anderes. Schmerz. Leere. Seine Hand glitt unwillkürlich zu der Stelle, an der sich der Kristall befinden sollte. »Fühlst du sie?«, fragte er. »Ich meine, weißt du, ob sie da ist?« Cata verstand ihn sofort. »Die Prinzessin? Ich bin einer Gegen wart gewahr. Aber ich weiß, dass ich ich bin, nicht sie. Es ist so, als ... als wäre ich ein Behälter für etwas Seltenes und Kostbares, et was, das in Sicherheit gebracht werden muss, unter Verschluss blei ben soll, bis die Zeit kommt, es hervorzuholen. Wie ein Ring zum Beispiel. Oder ein Juwel. Ja, wie ein Juwel.« Rajal nickte trübsinnig. Während dieser Mondleben im Wagen hatte er Cata gut kennen gelernt. Er hatte die Geschichten ihrer Kindheit gehört, ihrer ersten Zeit mit Jem, das Entsetzen vernommen, als sie getrennt wurden. Er hörte all dem mit fasziniertem Neid zu, aber als Cata ihn nach seiner Vergangenheit fragte, wurde Rajal
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vorsichtig. Er schilderte ihr zwar seine Zeit in dem Vaga-Wagen, erzählte ihr von seiner verschwundenen Schwester Myla, von der Großen Mutter Xal und von Zady, aber es gab vieles mehr, was er nicht preisgeben konnte. Er dachte an die Leidenschaft, die seit seiner Kindheit in ihm loderte, und die Verzweiflung brannte wie Galle in seiner Kehle. Er erinnerte sich an das, was im Palast der Duftenden Stufen geschehen war, und schämte sich in Grund und Boden. Nie mand, Cata nicht und ganz bestimmt nicht Jem, durfte jemals die Wahrheit erfahren. Er dachte an Wesir Hasem und schüttelte sich angewidert. Dennoch fühlte er, wie sich gleichzeitig die Begierde regte. Das verstärkte seinen Widerwillen noch, denn jetzt ekelte er sich vor sich selbst. Wenn sie nachts im Wagen lagen, dann tastete er mit der Hand zu der Stelle, wo sich eigentlich der Kristall befinden sollte. Ich wurde bestraft, dachte Rajal dann, und Wut und Tränen drohten ihn zu ersticken. Ich habe meine gerechte Strafe bekommen! Aber manchmal glaubte er, dass seine Bestrafung gerade erst begonnen hatte. Sie saßen immer noch da, hielten sich an den Händen und warte ten auf den Sonnenaufgang. »Das stimmt doch nicht, was man über den Wesir sagt, hab ich Recht?«, fragte Cata plötzlich. »Was?« Rajals Stimme war belegt. »Was ist mit dem Wesir?« »Raj ?«, fragte Cata neugierig. »Geht es dir gut? Ich meine, dass er Verdacht geschöpft hat. Ich meine, ich habe gerade gedacht ... ach nein, das kann nicht stimmen. Er hätte etwas gesagt, oder nicht? Etwas getan ... Raj? Dich bedrückt irgendetwas, hab ich Recht?« Rajal schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein. Ich habe nur gera de nachgedacht. Über ... Amed.« Ja, Amed. Sie hatte diesen ganzen Ärger angezettelt! Die miese kleine Diebin! »Du magst Amed jetzt doch, oder?«, erkundigte sich Cata. »Sie hat Mut. Aber ich würde nicht sagen, dass ich sie ... mag.« »Sie kann einen nerven, das stimmt.« Rajal stieß verächtlich die Luft durch die Nase. »Sie ist eine Diebin.«
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»Eine Diebin?« Cata musste lachen. »Ich war schon so vieles ... und sogar Schlimmeres. Hast du niemals etwas Schändliches getan, Raj?« Er zuckte mit den Schultern. »Mein Leben war kaum so ... so schillernd wie deines, Cata.« Sie drückte seine Hand. »Das glaube ich dir nicht ganz. Aber ich liebe dich trotzdem.« Rajal schluckte schwer. »Du ... du liebst mich?« »Jem liebt dich doch. Dann muss ich das auch, stimmt's?« Cata beugte sich vor, küsste Rajal kurz auf die Lippen und lächelte. Rajal sah sie eindringlich an, dann brach er in ihren Armen zusammen und schluchzte. »Ach, Cata, Cata! Ich bin so unglücklich!« Der blutgoldene Sonnenaufgang ergoss ich über die Dünen, aber jetzt hatte Cata keine Augen mehr für die Sonne. Sie staunte nicht über ihre Schönheit und fühlte auch keine Anzeichen einer merkwürdigen Transzendenz. Ebenso wenig sah sie die Gestalt auf den Dünen über ihnen, die sie mit glühenden Augen musterte. Für sie gab es nur Rajal, den armen Rajal. Verwirrt saß Cata da und strei chelte ihren Freund, als wäre er eine der furchtsamsten Kreaturen, ein Eichhörnchen, ein Rotkehlchen oder ein zitternder Salamander, die vor langer Zeit zu ihr in den Wildwald gekommen waren. Aber deren Sorgen waren einfach gewesen, und Cata hatte sie leicht ent schlüsseln können. Doch ihre Macht reichte nicht aus, Rajal zu verstehen oder zu helfen. Was hatte er nur? Was stimmte nicht? Zärtlich wiegte sie ihn in ihren Armen. Sie bemerkte den Fremden erst, als es zu spät war. Prinzessin, Prinzessin, kommt. Cata starrte über Rajals bebende Schulter. Rashid Amr Rukr hielt die Scherbe eines Spiegels hoch, die in der Sonne merkwürdig hell blitzte. Heller jedoch waren seine goldenen Augen. Im ersten Moment Empfand Cata Angst, dann Ärger, und sie hätte beinahe zuge schlagen. Das dritte Gefühl überwältigte sie viel zu schnell. Der Ouabin wich lächelnd zurück und winkte sie lockend. Cata rappelte sich auf und ließ Rajal einfach in den Sand fallen.
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»Cata?«, murmelte er. »Cata?« Doch sie gab keine Antwort. Cata fühlte, wie sie vorwärts gezogen wurde, wie in eine andere Dimension. Es lag an den Augen des Fremden, aber es hatte auch etwas mit der Spiegelscherbe zu tun. Ihr Arm schwang vor, nicht, um sie zu zerschlagen, sondern weil sie sie berühren wollte. Der Ouabin lachte gackernd vor Freude. »Cata!« Rajal schrie jetzt. »Cata, kämpf dagegen an!« Eine weitere Stimme mischte sich ein. »Prinzessin, nein!« Es war Amed. Sie hatte ihre Freunde gesucht und sah mit Entset zen, was geschah. Sie stürmte vor und wollte Cata zu Boden werfen, sie mit Gewalt dem Zauber des Ouabin entreißen. Aber dazu kam es nicht. Plötzlich erhobsich eine weitere Gestalt aus dem Sand. »Prinzessin! Es sind seine Augen! Seht nicht in seine Augen!« Es war eine schlaksige, zerlumpte Kreatur, zerschunden und blu tig. Sie sprang mit letzter Kraft vor und schleuderte dem Ouabin Sand in die golden glühenden Augen. Rashid Amr Rukr schrie, holte aus und schlug mit der Spiegelscherbe zu. Amed schrie ebenfalls. Im nächsten Augenblick war der Ouabin verschwunden, und Amed mit ihm. Sie war von der Spiegelscherbe aufgesogen worden. Ihre Schreie verklangen seltsam hohl, unwirklich, während Cata entsetzt auf die Knie sank. Die Magie war vorbei, als sich die nächste Stimme meldete. »Prinzessin! Prinzessin, was macht Ihr da?« Cata blickte hoch. Ärgerlich schritt der Hauptmann der Wachen auf sie zu. Rasch begriff Cata das neue Dilemma. Der Fremde war zusam mengebrochen. Rajal kauerte über ihm. Noch ein paar Schritte, dann würde der Hauptmann das Blut, die Verletzungen und die schlaksige männliche Gestalt sehen. Der Fremde hatte sie gerettet. Irgendwie musste sie ihn ebenfalls retten, und zwar schnell. Sie eilte dem Hauptmann entgegen und lächelte gewinnend. »Wir
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kommen schon zurück, keine Angst. Es ist nur ...« Cata bemühte sich um ein hysterisches, albernes Kichern. »Eine meiner Frauen hat ihr Gewand zerrissen. Ihr wollt sie doch sicherlich nicht der ... Unschicklichkeit überführen, nicht wahr? Gebt mir Euren Mantel, da mit ich sie darin einhüllen kann. Dann kann sie zurückkommen. Ich meine, dann kommen wir alle zurück, ja?« Der Wächter beugte sich zögernd dem königlichen Wunsch und zog seinen weiten Umhang aus. Glücklicherweise war es in der Nähe der Wägen noch dunkel, und außerdem war er vollauf damit beschäftigt, missbilligend zu murmeln. Deshalb achtete er nicht auf die Gestalt, die Cata und Rajal in ihre Mitte genommen hatten. Ausnahmsweise war Cata einmal froh, als die Tür des Wagens hin ter ihr ins Schloss fiel. Erst später, nachdem sie sein Gesicht gewaschen hatte, erkannte sie, dass ihr Retter keineswegs ein Fremder war. So begab es sich, dass Amed von Bohne ersetzt wurde.
33. Ein Märchen für den kleinen Kaled »Komm, alter Freund. Komm, setz dich neben mich.« Der alte Mann trat ungelenk vor und versuchte, die Vorsicht in seinem Blick zu kaschieren. Der Ruf kam unerwartet und verwirrte ihn. Es war mitten am Nachmittag, und es war der geschäftigste Nachmittag, den Simonides seit vielen Sonnenwenden erlebt hatte. Die Pilger drängten sich in der Stadt und versuchten, einen guten Platz am Großen Boulevard zu bekommen. Der Palast war voller königlicher Gäste. Die Hochzeit, die man so lange erwartet hatte, war nur noch einen Sonnenuntergang entfernt. Der Sultan hatte da rauf bestanden, dass Simonides und kein anderer das Ritual leitete. So sehr sich der alte Mann auch darauf freute, er fürchtete doch, dass ihn die Kräfte bald verließen ... und dass die Vorbereitungen vielleicht zu viel für ihn waren.
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Sein Herr und Meister ruhte mit einer Faulheit, die vielleicht ein wenig aufgesetzt war, in der Sonne, die durch Schlitze eines wertvollen Wandschirms schien. Er hätte einen Sklaven rufen können, da mit der die Schlitze etwas weiter öffnete und so die historische Sze ne unter ihnen sichtbar wurde. Stattdessen tat er lieber, als achte er nicht auf die Tausenden von drängelnden Gemeinen. Vielleicht war das auch ganz gut so. Der Anblick war zwar beeindruckend, aber auch beunruhigend. Im Verlauf des letzten Tages und der vergange nen Nacht hatte die Erde erneut gebebt. Die Luft war erfüllt von Erregung und Furcht. Ganze Truppen von Tänzern des Untergangs waren unterwegs, und viele fürchteten den Ausbruch einer Hyste rie, wenn die Dunkelheit anbrach. Der Sultan klopfte auf den Sitz neben sich, und Simonides ge horchte. Prachtvolle gefaltete Vorhänge umgaben die ausladende Couch. Sklaven standen mit Jarvel, Limonade und Hava-Nektar bereit, aber Kaled sah, dass es Simonides nicht danach gelüstete. Mit ei ner ungeduldigen Geste schickte er die Sklaven fort. Dann ergriff er die Hand des alten Mannes. »Geht es dir gut, alter Freund? Geht es dir jetzt besser?« »Sultan, ein Mann in meinem Alter kann nicht auf Gesundheit hoffen. Was ist das Alter anderes als eine Zeit der Leiden, die sich ansammeln, bis sie sich am Ende als tödlich erweisen? Ich will nur Eurem Wunsch entsprechen und dafür sorgen, dass der Prinz sicher vermählt wird.« Der alte Mann rang kurz mit sich, dann lächelte er und fügte hinzu: »Ich bin jedenfalls dankbar dafür, dass die Hoch zeit heute Abend stattfindet. Ich möchte doch davon ausgehen, dass ich den Morgen noch erleben werde.« »Und noch viele Tage danach, mein alter Freund! Sprich nicht vom Tod, wenn du so dringend gebraucht wirst. Aber komm, sag mir, hast du meinen Bruder gesehen? Ist er so fett wie eh und je? Und auch noch so affektiert? Sicherlich ... Nicht auszudenken, dass er den Thron erben würde, wenn ich keinen Sohn hätte! Stell dir das vor: Sultan Oman! Ich glaube, die glorreichen Tage unseres Reiches wären dann wahrhaftig vorbei, was meinst du, alter Freund?«
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Simonides lächelte pflichtschuldigst und nickte, als der Sultan das Thema auf die Erdstöße lenkte. Der Monarch war der festen Überzeugung, dass diese Stöße nur die Ungeduld des Feuergottes zeig ten, Ungeduld? Natürlich wegen der Hochzeit! Einige Narren mochten vom Untergang sprechen, aber wie sollte der Untergang bevorstehen, wo jetzt doch das Geschlecht des Propheten gesichert war? Warum sollte man sich fürchten? Nach der Hochzeit würde die Erde schweigen, so ruhig und fest sein, wie sie es immer gewesen war... »Aber genug von diesem Unsinn, alter Freund! Erzähl mir von der Prinzessin! Hast du sie auch gesehen?« Der Sultan war anschei nend fest entschlossen, unverbindlich zu plaudern. »Wie ich dieses Protokoll hasse ... natürlich nicht wirklich, alter Freund, nicht wirk lich natürlich .,. Wie ich es also hasse, weil es mir einen Blick auf sie verwehrt! Ich würde zu gern ein so schönes Mädchen sehen, ein Mädchen, so hat man mir berichtet, das die Schönheit ihrer Mutter geerbt hat.« »Ihr werdet sie noch früh genug sehen, wenn die Zeremonie be ginnt«, erwiderte Simonides vorsichtig. Sollte er noch mehr sagen? Während dieses Gedankenaustauschs fühlte er die ganze Zeit, wie der Sultan seine welke Hand streichelte. Der alte Mann blickte traurig in das dunkle, bärtige Gesicht. Was für ein seltsamer Mensch die ser Monarch doch war! Waren Zärtlichkeit und Grausamkeit, Güte und Bosheit jemals in einem Menschen so hoffnungslos und ver zweifelt miteinander verwoben gewesen? Damals, in den ersten, unerfahrenen Tagen seines neu gewonnenen Glaubens, wäre Simonides vor einem so widersprüchlichen Charakter zurückgeschreckt und hätte die Absichten der Götter angezweifelt. Jetzt jedoch wusste er, dass, ihre Pläne noch geheimnisvoller waren, als er je angenommen hätte. Menschen konnten sie niemals begreifen. Je alter wir werden, desto merkwürdiger erscheint uns die Welt, stand in den Sprüchen des Imral, und Simonides wusste, dass dies stimmte. Jetzt erkundigte sich der Sultan nach seinem Thronfolger. »Wie
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ich dich beneide, Simonides. Wie ich dich um die vielen Tage benei de, die du mit meinem lieben Jungen verbracht hast... Habe ich Jun ge gesagt? Nach heute Abend ist er kein Junge mehr! Aber alter Freund, sage mir, hältst du ihn für bereit, den Mantel zu tragen, der sich bald auf ihn herabsenkt? Eine Last, die nie wieder von seinen Schultern genommen werden wird?« »Er ist ein sehr viel versprechender Junge. Leider ist er nicht sehr stark!« »Alter Freund, du beunruhigst mich!« »Hättet Ihr noch einen Sohn, wärt Ihr weniger beunruhigt.« Vielleicht hätte Simonides seine Zunge hüten sollen, aber er konnte die Wahrheit einfach nicht mehr länger verschweigen. Der Sultan schien jedoch nicht wütend zu sein. Er seufzte nur, und obwohl die Sonne allmählich schwächer wurde, glaubte der alte Ratgeber eine Träne im Auge des Monarchen zu entdecken. »Ich hatte gehofft, von einem so alten Freund nicht derart grau same Worte zu hören. Hätte ich nach dem Verlust meiner geliebten Bela etwa eine andere Frau nehmen sollen?« »Es gibt genügend Beispiele dafür, dass dies aus Gründen der Staatsräson geschehen ist«, antwortete Simonides vorsichtig. »Es gibt wichtigere Bedürfnisse.« »Wie kann das sein, wo doch die Angelegenheiten des Staates An gelegenheiten der Götter sind? Was seid Ihr anderes als der weltliche Stellvertreter des Gottes, der zu Euch aus der Heiligen Flamme spricht? In dieser weltlichen Sphäre mögt Ihr allmächtig sein, aber als der Höchste Eurer Imams spreche ich mit der Autorität der Sphäre, die dahinter liegt.« »Ich weiß, alter Freund, und ich wusste auch, dass du mich tadeln würdest. Einverstanden, sprich zu mir, wie du in meiner Kindheit zu mir gesprochen hast. Führe.mir meine Irrungen vor Augen, und er innere mich an die Schuld, die ich empfinden muss.« »Sultan ...« Der Sultan legte dem alten Mann einen Finger auf die Lippen. »Ich bin der Sultan, und du willst meinen Worten nicht gehorchen?
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Sprich zu mir, sage ich, wie du in meiner Jugend mit mir geredet hast.« Simonides holte tief Luft. Er zweifelte nicht daran, dass der Sul tan ein Spiel spielte. Ihm war nur nicht klar, wohin es führen sollte. »Kaled«, begann er. »Ihr habt einen Schwur geleistet, den Ihr als heilig betrachtet, aber er besitzt nur Gültigkeit in Eurem eigenen Herzen. Die Flamme erklärt Euch zum Sultan des Mondes und der Sterne. Aber ein solcher Titel ist nicht nur eine Belohnung für den vergangenen Ruhm. Mit ihm geht auch die Verantwortung einher, dafür zu sorgen, dass noch mehr Ruhm kommt. Leider sind zehn Sonnenwenden vergangen, und Eure Herrschaft hat diesen Ruhm noch nicht bewirkt. Unsere Königreiche befinden sich stattdessen in größter Gefahr! Ihr sprecht von einer Last, die Euer Sohn bald auf sich nehmen soll, aber habt Ihr Eure eigene Bürde so getragen, wie Ihr solltet?« »Simonides, du bist wahrhaftig grausam, wo ich doch erst vor ei nigen Tagen schrecklicherweise erfahren habe, dass die Ouabin die Reihen der Ebahns unterwandert haben. Willst du mich damit verhöhnen, dass dieses Böse unter meiner Regentschaft blühen konn te? Hat nicht die Flamme mir als vertrauenswürdigem Gehilfen dieses Wissen anvertraut? Habe ich die Verräter nicht dem Tode über antwortet, sofort, ohne zu zögern? Auch wenn es mein Herz bei nahe zerrissen hat, ein solch altehrwürdiges, heiliges Korps zu vernichten? Alter Freund, du quälst mich für die Blasphemien meiner Jugend, aber habe ich nicht diese Zeit des Zweifels längst hinter mir gelassen? Und befinden wir uns jetzt nicht in einer Zeit der beson deren Prüfungen?« »Kaled«, antwortete Simonides traurig, »ich will Euch nicht quälen. Ich will Euch nur beraten, wenn Ihr Euch jetzt auf die dunkle Straße begebt, die vor Euch liegt. Mit einem zerbrechlichen Prinzen, einer Hochzeit, deren Erfolg noch unsicher ist, und den bösen Oua bin, die in diesem Land auf der Lauer liegen, befindet sich das Geschlecht des Propheten in ernster Gefahr. Seit der Zeit der Braut von Geden war die Zukunft unseres Landes nicht mehr so gefährdet!«
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Simonides zitterte, während er sein Urteil verkündete. Doch was dann geschah, erschreckte ihn. Während der alte Mann sprach, war Kaleds Gesicht erstarrt. Jetzt ließ sich der großen dunkle Mann ge hen wie sein Sohn, wenn er trauerte. Er sank auf die prachtvolle Couch zurück und schluchzte laut. »Kaled! Mein Kind, mein Kind!« Instinktiv umarmte Simonides den Mann, wie er einst den Jungen getröstet hatte. Er hielt den Sul tan lange fest. Das verlöschende Tageslicht hüllte die beiden Männer in einen goldenen Schimmer. »Alter Freund«, murmelte der Sultan schließlich. »Wirst du mir eine Geschichte erzählen? Erzähl mir eine Geschichte, wie du es getan hast, als ich noch ein Junge war.« Simonides streichelte das Gesicht mit dem dunklen Bart. Schmerzlich erinnerte er sich an die Worte, die als nächstes fallen mussten. Dies war ein Ritual, das in keinem heiligen Buch stand und vielleicht deshalb von einem kleinen Jungen und seinem Lehrer noch viel höher geschätzt wurde. Er hatte Schwierigkeiten, anzufangen. »Eine Geschichte? Kleiner Kaled, was meinst du mit einer Geschichte?« »Alter Mann, eine Geschichte von dem, was vor langer Zeit passiert ist.« »Kleiner Kaled, was meinst du mit vor langer Zeit?« »Alter Mann, ich meine die Zeit, bevor ich geboren wurde.« »Kleiner Kaled, das ist noch nicht so lange her.« »Alter Mann, ich meine die Geschichte meiner Ahnen.« »Kleiner Kaled, habe ich dir nicht schon alle Geschichten erzählt ?« »Alter Mann, ich möchte sie aber noch einmal hören.« »Kleiner Kaled, welche möchtest du denn hören?« Der Sultan dachte nach. Er richtete sich auf, wischte seine Tränen weg und lächelte den bestürzten, beunruhigten Simonides an. »Al ter Mann, erzähl mir von der Braut von Geden.« Den alten Mann überlief es kalt. Plötzlich gefiel ihm dieses Spiel nicht mehr, aber er wusste, dass er es bis zum Ende mitspielen musste. Er holte Luft und begann.
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DIE GESCHICHTE DER BRAUT VON GEDEN
»Kleiner Kaled, es war zur Zeit von Bulaq, dem Sultan des Roten Staubes, als sich diese traurige Geschichte zutrug, die ich dir jetzt erzähle. Wisse, dass von allen Sultanen dieser Länder von Unang Mesha Bulaq der Größte war. Denn seine Bestimmung war es, das Volk dieses trockenen Subkontinents in Anbetung des einen wahren Gottes zu vereinigen. Von Bulaqs Herrschaft an verbeugten sich in ganz Unang Männer und Frauen vor dem Heiligtum der Flamme und erkannten Kal-Theron als Heilige Stadt an. Aber die Ratschlüsse des Feuergottes sind verworren und merk würdig, denn auch wenn Bulaq so großen Ruhm erlangte, blieb doch eine Sorge, die seine ganze Herrschaft überschattete. Obwohl er viele Töchter zeugte, hatte er nur einen Sohn, und keine seiner Frauen konnte ihm einen zweiten Sohn schenken. Seine Imams zit terten, denn als Bulaq vom Jubba-Fieber niedergestreckt wurde, schien es, als hinge der Fortbestand des Geschlechts des Propheten an einem seidenen Faden. Und das umso mehr, als der junge Prinz Aschar selbst ein kränkelnder Junge war und ebenfalls bald sterben würde. Bulaqs Zustand besserte sich wieder, dank der Dienste der besten Ärzte Unangs. Aber das Fieber hatte ihn so geschwächt, dass er sich nie mals gänzlich davon erholen sollte. Also bedrängten ihn die Imams, dass sein Sohn trotz seines jungendlichen Alters den Mantel des Un angefochtenen Thronfolgers überwerfen und sich selbst eine Frau nehmen müsse. Nun war Bulaq aber ein stolzer Mann und auch als solcher be kannt. Er hatte nicht den Wunsch gehabt, an den Tag zu denken, an dem er sterben würde. Aber er erklärte, dass sein Glaube stärker wäre als sein Stolz. Er wollte sich also den Wünschen der Imams beugen, aber ein Prinz der Blutlinie würde niemals eine überstürzt ausgewählte Braut heiraten können. Nur die schönste Blume Unangs würde dem Unangefochtenen Thronfolger genügen. Also be-
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gann eine Suche in vielen Königreichen und Provinzen, die der Sul tan während seines glorreichen Regimes unter seine kaiserliche Herrschaft gebracht hatte. Nun kam zur selben Zeit den Imams eine beunruhigende Blasphemie zu Ohren, die sich in der Provinz von Geden zugetra gen hatte. Der Schah von Geden, so schien es, hatte eine Tochter, de ren Schönheit so bezaubernd war, dass viele ihr Bildnis anbeteten und sich davor verneigten, statt sich in Richtung der Heiligen Stadt zu verbeugen. In rechtschaffenem Ärger rieten die Imams Bulaq, dieses Mädchen zu vernichten. Aber Bulaq verspottete in seiner gro ßen Weisheit ihren Rat. Narren, was ist das für ein Ratschlag? Viele Sonnenwenden meiner Regentschaft habe ich darauf verwandt, den Schah von Geden zu unterwerfen und ihn an mich zu binden. Täte ich, was Ihr verlangt, gäbe es eine neue Rebellion, und ein Hass wäre entflammt, der niemals wieder gelöscht werden könnte. Seht ihr denn nicht, dass dieses Mädchen ein Symbol ist? Sie ist geheiligt und eben die Braut, die wir suchen! Die Imams wollten aufbegehren, aber Bulaq behauptete, dass er mit der Flamme gesprochen habe und wüsste, dass seine Worte der Wahrheit entsprächen. Also kam es, dass das Mädchen, statt dem Tode überantwortet zu werden, mit der prächtigsten Verlobung belohnt wurde. Die Hochzeitsvorbereitungen schritten rasch voran, und eine große Freude herrschte in unseren Ländern. Denn in Wahrheit hatte sich der Kult um diese Dame rasch verbreitet, und wenn sie verhei ratet war, konnte sie ganz unproblematisch verehrt werden. Wenn sich ihre Anhänger in Richtung Kal-Theron verbeugten, verneigten sie sich gleichzeitig auch vor der Braut von Geden. Leider ahnten sie nichts von der Tragödie, die sich ereignen sollte. Denn wie ich dir schon sagte, kleiner Kaled, war dein Ahn Prinz Aschar ein kränklicher Jüngling. Und wie es in den Ländern von Unang Sitte ist, sollte diese Hochzeit um Mitternacht im Heiligtum der Flamme stattfinden. Alle versammelten sich für die Zeremonie.
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Da war der oberste Imam, der die Riten abhalten sollte, da war Mesha Bulaq, der Sultan des Roten Staubes, und da war die wunderschö ne Braut von Geden. Nun erwarteten sie Prinz Aschar, dessen Rolle vorsah, als Letzter und am herrlichsten gewandet, auf das weibliche Gefäß zuzuschreiten, in dem der fruchtbare Samen seiner Len den reifen sollte. Aber der junge Prinz Aschar sollte niemals so weit kommen. Stell dir das Entsetzen vor, als verkündet wurde, dass der Prinz verstorben war. Er war wenige Augenblicke vor seiner Hochzeit in seiner Kammer zusammengebrochen! Entsetzen packte den Mob, denn nun schien es, als wäre das Ge schlecht des Propheten tatsächlich ernstlich gefährdet und das Reich des Sultans dem Untergang geweiht. Aber der Pöbel war dumm, denn er wusste nichts über die ural ten Bestimmungen der Hochzeitsriten von Unang. Sobald eine Hochzeitszeremonie begonnen hat, kann sie nicht mehr unterbro chen werden. Wartet eine Braut vor dem Heiligtum, muss sie noch in dieser Nacht ihr erstes Blut verlieren. Sollte es nun so sein, dass der Bräutigam stirbt oder getötet wird, bevor er zum Heiligtum kommt, nimmt sein Bruder dessen Platz ein. Gibt es keinen Bruder, obliegt diese Pflicht dem Vater. Also begab es sich, dass in dieser Nacht Sultan Bulaq der Braut von Geden das Ehegelübde leistete. Großer Jubel brandete auf, denn wenn eine Frau dem Monarchen den benötigten Thronfolger schenken konnte, dann sicherlich die Braut von Geden. In ihr sahen viele die Perfektion, die Vollendung der Weiblichkeit. Allerdings gab es einen, der in den allgemeinen Jubel nicht mit einstimmte, und das war der Schah von Geden. Er stand seitlich auf den Treppen zum Heiligtum und sah unbeteiligt zu, wie seine Tochter verheiratet wurde. Insgeheim jedoch brannte er vor Hass auf den Sultan und dessen Verhalten. Bis sein Land unterworfen wurde, wa ren der Schah und sein Volk Götzendiener und Heiden gewesen. In Wahrheit war der Sultan in seinem Herzen immer noch ein Ungläu biger, was die Ereignisse bald beweisen sollten. Die Zeremonie endete, und es wurde Zeit, die Braut von Geden in die Kammer der Er
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füllung zu bringen. In dem Augenblick verlor der Schah die Kon trolle über seinen Hass und trat plötzlich vor. Er schwang einen gro ßen, gefährlich aussehenden Dolch. ›Der verruchte Sultan hat seinen eigenen Sohn getötet, damit er selbst die Tugend meiner Tochter schänden kann!‹, rief er. ›Diese Blasphemie werde ich nicht dulden!‹ Mit diesen Worten erstach der Schah Sultan Bulaq und hätte wohl auch seine eigene Tochter medergemetzelt, wenn in dem Augenblick nicht ein Wächter eingeschritten wäre und dem Ungläubigen den Kopf abgeschlagen hätte. Die Braut von Geden schrie laut auf, als erst ihr neuer Ehemann und dann ihr Vater tot vor ihr lagen. Jetzt packte alle ohne Ausnahme das Entsetzen, den Pöbel, die Imams, die Höflinge und auch die Wachen. Denn sie begriffen sofort, dass das Reich, in dem sie lebten, jetzt weder einen Sultan noch einen Thronfolger hatte. Von dem Moment an, so schien es, war Unang einem blutigen Bürgerkrieg ausgeliefert und würde niemals wieder Frieden und Einheit finden. Die Blutlinie des Propheten war unterbrochen, und die Zukunft verhieß nur Chaos und Verzweif lung. Dennoch, der Gnade des Allmächtigen war es zu verdanken, dass dieses schreckliche Schicksal sich nicht ereignen sollte. Die Braut von Geden trat vor und hob die Hände. Das heilige Mädchen brachte die Menge sofort zum Schweigen. ›Frauen und Männer von Unang, verzweifelt nicht, auch wenn sich heute Nacht eine schreckliche Tragödie vor Euren Augen ereig net hat. Sie bedeutet nicht das Ende der Blutlinie des Propheten!‹ Verwirrung machte sich breit. Alle fragten sich, was das Mädchen meinen könnte. Aber man verehrte die Braut von Geden so sehr, dass niemand sich ernsthaft weigerte, den erstaunlichen Worten zuzuhören, die jetzt über ihre Lippen drangen. Sie sank auf die Knie, ergriffen von der heiligen Wahrheit. ›Frauen und Männer von Unang, die Ereignisse dieser Nacht waren vor herbestimmt. Die Blutlinie, die geschwächt war, sollte gereinigt und gestärkt werden! Wisset, dass ich ein Brennen wie flüssiges Feuer in mir spüre, tief in meiner Gebärmutter, obwohl ich noch nicht in der
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Kammer der Erfüllung gewesen bin! Was kann das anderes sein als die Essenz des Sultans, die im Moment seines Todes in mein Wesen übergegangen ist? Ich sage, dass sein Samen bereits in mir wächst und ich in neun Mondleben von jetzt an seinen Erben zur Welt brin gen werde! Fallt mit mir auf die Knie, Frauen und Männer von Unang, und lobpreist die Gnade des allmächtigen Theron, des Gottes der Flamme, der dieses feurige Samenkorn in mich eingepflanzt hat!« So kam es, dass sich die Verzweiflung in Freude verwandelte, denn alles begab sich so, wie es das heilige Mädchen vorhergesagt hatte. Die Imams begriffen jetzt, dass die Braut von Geden keine Kraft des Ungöttlichen war, die man ausrotten und zerstören musste. Nein, sie war ein geheiligtes Wesen, das vom Feuergott geschickt worden war, um Unang in der Zeit höchster Gefahr zu retten. Also erwie sen alle von diesem Tag an der Braut von Geden ihren höchsten Res pekt, und ebenfalls ihrem kräftigen Sohn, den sie wie durch ein Wunder empfangen und geboren hatte. Dieser Sohn wurde Abu Makarish, Sultan der Welle. Im vierten Epizyklus der Linie des Propheten dehnte Abu das Reich von Unang noch weiter aus, als sein großer und berühmter Vater es am Ende des dritten Epizyklus getan hatte. In der Geschichte der Braut von Geden können wir die Geheim nisse sehen, die das Schicksal für uns bereit hält. Aber genauso er kennen wir auch die Größe unseres Gottes der Flamme, und die hei lige Rechtmäßigkeit unserer kaiserlichen Herrschaft. Kleiner Kaled, so endet meine Geschichte. Ich kann nur beten, dass du durch diese Lektion etwas lernst, wie schon so viele vor dir davon profitiert haben.« Eine lange Pause trat ein, als die Geschichte zu Ende war. Kaled blickte nachdenklich zu Boden, und Simonides fragte sich, was im merkwürdigen Verstand seines Herrn wohl vorging. Der alte Mann zitterte, weil der Sultan schließlich kein Junge mehr war und die blasphemischen Interpretationen sehr wohl kannte, die einige in der
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Erzählung der Braut von Geden gefunden hatten. Natürlich glaub te Simonides nicht an diese Interpretationen die nur die verruchten Ouabin jemals auszusprechen wagten. Denn konnte es wahr sein, dass Bulaq von der Lust auf die Braut seines Sohnes überwältigt worden war und sie vor der Hochzeit verführt hatte? Konnte es wahr sein, dass Bulaq tatsächlich seinen eigenen Sohn vergiftet hatte, möglicherweise sogar auf Drängen seiner wunderschönen, aber boshaften Geliebten? Lügen waren das, bösartige Lügen! Doch dann dachte Simonides schaudernd an die Schimmernde Prinzessin, deren Schönheit angeblich der ihrer toten Mutter in nichts nachstand. Er dachte an Prinz Dare, der wie Prinz Aschar ein schwacher und kränklicher Jüngling war ... Aber was dachte er da ? Der alte Mann verfluchte sich als korrupten und lästerlichen Nar ren und zwang sich zu einem Lächeln, als der Sultan schließlich auf blickte und seine Hand nahm. »Ich danke dir, alter Freund, für diese schöne Geschichte. Ob wohl ich ein Mann bin, existiert da noch ein Junge in mir, und dem hast du gut gedient. Wie kann ich an dem Schicksal dieses Reiches verzweifeln, wenn unsere Geschichte mich lehrt, dass alles gut wer den wird? Alter Freund, das glaubst du doch auch, hab ich Recht? Du musst es glauben, und ich ebenfalls. Geh nun, ich bin müde und möchte noch ein wenig ruhen, bevor diese anstrengende Nacht be ginnt. Umarme mich noch einmal und dann geh, geh!« Aber als Simonides die Gemächer seines Herrn verließ, hämmerte sein Herz noch heftiger als zuvor. Die Worte des Sultans hatten ihn nicht beruhigen können, sondern ihn nur davon überzeugt, dass er ein unfreiwilliger Teilnehmer an einem Spiel gewesen war, das er besser nicht mitgespielt hätte. Ein schrecklicher Verdacht keimte in dem alten Mann auf, und dieser Verdacht erzeugte einen anderen, noch schrecklicheren. Ja, es blieb ihm keine Wahl mehr. Es musste sein.
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34. Eine leuchtende, blutrote Flüssigkeit Es war dunkel geworden. Simonides stieg erneut die fahlen Stufen hinauf. Es waren einige Nächte vergangen, zu viele Nächte, bevor er die Wahrheit über Prinz Dare erfahren hatte. Für den alten Mann waren es Nächte der Lähmung gewesen. Entsetzt hatte er zugesehen, wie der junge Prinz seine mitternächtlichen Spiele spielte. Simonides hatte nichts gesagt, nichts getan - mehr noch, er hatte nichts gesehen! Ja, das war es. Nach dem merkwürdigen Spiel, das er mit dem Sultan hatte spielen müssen, wusste der alte Mann endlich, dass diese Blindheit ein Ende haben musste. Er zitterte heftig, als hätte er Fieber. Die Macht, die er beschwö ren wollte, erfüllte ihn mit Angst. Er würde sicher dafür bestraft werden. Aber er musste sehen, er musste einfach! Es kümmerte Simonides nicht mehr, ob der Wahnsinn von ihm Besitz ergriffen hat te. Der alte Zauberspruch erfüllte wieder seinen Verstand, er hatte die Formel niemals vergessen, sondern sie für über sechzig Sonnenwenden in seinem Innersten wie einen Keim begraben. Jetzt spross dieser Keim plötzlich und unaufhaltsam. Simonides schwankte wegen der Düfte des Gartens. Die Blätter umschlossen ihn silbrig und golden unter dem Licht des blassen Mondes. Er sah sich zwischen den Beeten um, unterdrückte das Entsetzen und die Verachtung, die ihn erfüllte. Als er das letzte Mal seine Macht angewendet hatte, war sein Vater gestorben. Welche schrecklichen Ereignisse würden jetzt geschehen? Er musste sich be eilen, vielleicht hatte er ja schon zu lange gewartet. Um Mitternacht würde Dare zum Heiligtum geführt werden. Dem alten Mann wurde schlecht. Er schluckte schwer und ging mit schleppenden Schrit ten zu dem Platz, wo der Junge und der Geist miteinander gespielt hatten. In der Kammer würden die Targon-Diener jetzt gerade Dare in seine zeremonielle Robe hüllen. Simonides hatte seine eigene beson
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dere Kleidung. Er duckte sich und sah sich verstohlen um. Dann zog er aus den Falten des weiten Imam-Gewandes einen mottenzerfres senen Umhang hervor, der mit Sternen bestickt war. Erneut packte ihn Furcht, als er sich den Umhang, den Umhang seines Vaters, um seine dünnen Schultern legte. Er seufzte und schüttelte sich. Dares Roben würden von Tausenden gesehen werden, die begeistert die mit Fackeln erleuchteten Straßen säumten. Aber keine Augen, kei ne menschlichen Augen, durften Simonides jetzt sehen. Der alte Mann breitete seine runzligen Arme aus und schlurfte in einem Kreis herum. Dann blieb er stehen und blickte in die Finsternis hinaus. Sein Gesicht verzog sich voller Qual, als er den Reim über seine Lippen zwang und dabei den Tonfall seines schon so lange verstorbenen Va ters imitierte: Theron, Gott der Heiligen Flamme, Komm zu demjenigen, der den Namen Simonides trägt, Dem treuen Diener all deiner Ruhmestaten. Alles, was du tust, Soll in seinen Augen gespiegelt werden, Die sich zu einer gewaltigen Größe ausweiten, Um durch Dunst und gewaltigen Nebel das Wirken Deiner geheimen Zahnräder zu sehen. In einer Zeit, die weit vor uns liegt Die Zukunft meines unschuldigen Und dennoch stark bedrohten, einsamen Kindes Musst du mir enthüllen. Theron, kommet Gewähre mir die Vision oder lasse mich sprachlos! Einen Moment herrschte Stille, als die Worte verklungen waren. Simonides schwankte ein wenig, aber er fiel nicht. Er stand da, atme te tief und spürte kaum mehr als seine schmerzenden Lungen und das Herz, das wie eine Trommel in seiner Brust schlug.
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Im nächsten Moment fiel der Alte auf die Knie, presste sich die Hände vor die Augen und schrie. Die Targons hatten ihre Arbeit beendet. Nachdem sie ihn gebadet, parfümiert und gepudert hatten, kleideten sie den Prinzen in seinen Hochzeitsanzug. Sie verbeugten sich gehorsam, schwenkten Weih rauchfässchen und murmelten Gebete. Jetzt ließen sie ihn allein. Das war die Zeit der Meditation, das wusste der Prinz. Man hat te ihm alles erklärt. Er sollte über seine Kindheit nachdenken, die er jetzt hinter sich ließ, und über das Leben als Mann, das vor ihm lag. Stattdessen ging er rastlos hin und her. Wie lange musste er warten? Selbst durch die dicken Palastwände konnte er das Geschrei auf den Straßen hören, das Gebrüll der Menge, die begierig auf ihr Idol war tete. Er drehte sich zu dem Spiegel um, doch es gab keinen mehr. Nirgendwo in der Kammer konnte er jetzt sein Spiegelbild sehen. Vorhänge hingen über den Wänden und verbargen ihn sogar vor den Blicken der Wisperer. Flammenrote Roben schleiften schwer hinter ihm her. Zitternd berührte er die rubinrote Maske, die er trug. Wenn diese Nacht doch schon vorbei wäre! Hoffentlich war sie sehr bald vorbei! Dare warf sich auf den Diwan. Er bemühte sich, die gierigen Mas sen zu ignorieren, und konzentrierte sich stattdessen auf das Zischen der Konar-Lampen. Sie waren heruntergedreht und tauchten die Kammer in ein dunkles, rötliches Licht. Er seufzte und spürte, wie ihm hinter der Maske Tranen in die Augen stiegen. Aber nein, heute würde er nicht weinen, nicht heute! Es war beinahe vorbei. Jeden Augenblick musste Simonides kommen und würde ihn hinun terführen, durch den Palast zu den Sänften, die sie über den heiligen Weg tragen würden. Dare wollte nicht an das denken, was diese Nacht noch für ihn bereit hielt. Es spielte keine Rolle. Nichts spielte jetzt noch eine Rolle. Hatte Thal ihm nicht ein Versprechen gegeben, ein Versprechen, das er niemals brechen würde? Er hatte es geschworen! Der Prinz umklammerte ein Kissen und presste es an sein Herz.
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Dann kam ihm ein Gedanke. Er würde niemals in diese Kammer zurückkehren, an diesen Ort, an dem er während der langen Son nenwenden seiner Kindheit gespielt, gelacht und geweint hatte. Aber es kümmerte ihn nicht. Bald, bald schon. Thal wartete, warte te darauf, ihn in die andere Welt zu holen. Nein, seine Kindheit war nicht vorbei. Nach heute Nacht würde sie niemals zu Ende gehen. Dare drückte das Kissen fester an sich. »Übst du schon für heute Nacht?« »V ... Vater! Ihr hab mich erschreckt!« Lächelnd setzte sich Sultan Kaled neben den Jungen. Seine Augen wirkten wie zwei unendlich tiefe Becken, und die Sterne schienen in seinem glatt geölten Bart zu funkeln. Zärtlich streckte er die Hand aus und nahm Dare das Kissen weg. »Ach, mein Sohn, bald wird et was Besseres an deiner Brust liegen.« Der Prinz sah erneut in die dunklen, unergründlichen Augen. Wa rum war sein Vater hier? Das gehörte doch nicht zum Ritual. Ringe glitzerten, als sich die großen Hände nach ihm ausstreckten und ihm die Rubinmaske abnahmen. Sie enthüllte das junge, verängstigte Gesicht. »Ach mein Sohn, lass mich dich ansehen. Lass mich dich ein letztes Mal ansehen.« »Ein l... letztes Mal, Vater?« Wieder lächelte er. Die Sterne bewegten sich. »Ich meinte das me taphorisch, mein Sohn. Wenn ich dich das nächste Mal sehe, bist du doch ein anderes Wesen, oder nicht? Allerdings bist du das, denn so lautet das Schicksal, welches dir heute Nacht bestimmt ist.« Dare schluckte. Der Sultan strich mit der Hand über die Brust des Jungen und fühlte das hämmernde Herz. »Armer Dare, ich sehe, dass dir Tränen in die Augen treten. Du hast den Höhepunkt deines Lebens erreicht. Würde nicht selbst der Tapferste an der Schwelle einer so großen Veränderung Furcht empfinden? Zittere nicht, mein Sohn. Du musst dich nicht schämen. Denk an alles, was das Schicksal für dich bereithält. Die Reise den Boulevard hinunter. Die Zeremonie auf
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den Stufen. Die dunkle Begegnung im Raum der Erfüllung. Aller dings, wahrhaftig, du musst einfach Angst empfinden!« Jetzt zog der Sultan den Jungen in die Arme, drückte ihn fest und flüsterte ihm ins Ohr: »Fürchte dich nicht, sage ich! Du wunderst dich vielleicht, dass ich während deiner Meditation hier eindringe. Mein Sohn, ich komme in wohlwollender Absicht. Ich komme, weil ich dich liebe. Es ist meine Absicht, dein Entsetzen zu lindern, nicht nur mit Worten, sondern mit mehr. Mit viel mehr!« Bei diesen Worten zog er eine gläserne Phiole aus den Falten seines Gewandes. Sie enthielt eine leuchtende, blutrote Flüssigkeit. »Dies hier ist meine Barmherzigkeit, mein süßes Kind. Dieser Trunk wur de nach einem uralten Rezept hergestellt und wird allen Schrecken von dir nehmen. Die Prinzessin wird heiraten, die Erfüllung wird kommen, und all das wird in der uralten Ordnung geschehen. Aber keine Furcht, überhaupt keine Furcht wird dein Herz bedrängen.« Während Dare in diesen letzten Momenten in diese unergründli chen Augen starrte, sah er, wie er schrie, um sich schlug und seinem Vater die Phiole aus der Hand schleuderte. Aber das tat er nicht. Er konnte es nicht. Natürlich wusste er, was diese Barmherzigkeit bedeutete. Was konnte es anderes ankündigen als das Schicksal, das er erwartete? Der Sultan zog den Stöpsel aus der Phiole, und ein süß saurer Duft erfüllte die Luft. »Trink, mein Sohn. Trink, und deine Sorgen werden bald verges sen sein.« Die großen Hände umfassten den Kopf des Jungen und strichen ihm übers Haar, während der geheimnisvolle Trank hinter den Lip pen des Kindes verschwand. Der Sultan blickte seinen Sohn lange an, küsste ihn leicht auf die Stirn und legte ihm dann seine Rubin maske wieder an. »Gute Nacht, mein Sohn. Gute Nacht, mein Prinz.« »Nein!«, schrie Simonides. »Nein, nein!« Er schluchzte, als er zwischen den Blumen zu Boden sank. Er war ein gebrochener alter Mann, ohne jede Kraft. Er wusste, was in der
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Kammer weiter unten im Palast geschehen war, wusste es mit einer untrüglichen Gewissheit. Während er hier lag, wünschte er sich, dass er niemals wieder aufstehen müsste. Er wünschte sich, dass der Tod endlich zu ihm käme. Wäre er nicht weggegangen, um in die Zukunft zu blicken, wäre dieser Trank vielleicht niemals über Dares Lippen geflossen. Verflucht sollten seine Kräfte sein, verflucht! Um das Leben des Prinzen zu retten, hätte er gern sein eigenes her gegeben. Um den Prinzen zu retten, hätte er sogar den Sultan getö tet. Es war sinnlos, sich diese Heldentaten jetzt vorzustellen. Es war zu spät, und alles war vorbei. Aber das war es nicht. Geheimnisvolle Musik drang durch die Nacht zu ihm. Langsam hob Simonides den Kopf. Er hielt die Luft an und rieb sich die Augen, bevor er sich auf die Knie aufrichtete. Staunen erfüllte ihn, dann Entsetzen und schließlich Hoffnung. Was war das für eine neue Ma gie? Was konnte sie bedeuten? Dunkel hob sich vor dem Mond ein fliegender Teppich ab. Und auf ihm stand ein blasser Junge, der durch die Luft ritt. Er kam näher. Und noch näher. Der Teppich landete sanft zwischen den Beeten. Simonides stieß die Luft aus. »Wer bist du, Fremdling? Hat mei ne Magie dich hergeführt?« Der Junge sah ihn erstaunt an. Und ängstlich. »Almoran? Wie kann das sein?« »Ich bin nicht Almoran, aber genauso töricht!« Simonides fühlte, wie seine Kraft zurückkehrte. Er hatte gedacht, alles sei verloren. Aber das stimmte nicht. »Jüngling, bist du ein Gesandter meines verschollenen Bruders? Hast du ihn kennen gelernt? Ihn gesehen, bevor er ... bevor er starb ?« Der Junge nickte. »Ihr besitzt seine Zauberkraft?« »Sprich nicht von Magie! Sie hat mir nur Leid gebracht. Und den noch ... Du bringst Magie von einer anderen Art mit. Ich weiß es. Ich spüre es.«
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Die mondbeschienenen Gärten hüllten ihn ein wie in einen Kokon. Sie dufteten und schienen von geheimnisvoller Macht erfüllt zu sein. Jetzt trat der Jüngling von dem Teppich, umklammerte die Hände des alten Mannes und zog ihn sacht wieder auf die Füße. Simonides blickte nach unten und bemerkte ein grünes Glühen unter den Roben, die der merkwürdige Fremde trug. »Wer bist du? Wer bist du, sandhaariger Fremder?« »Meine Geschichte ist sehr lang, und es würde eine Weile dauern, bis ich sie erzählt habe. Tage, vielleicht sogar Mondleben. Ich war in einer merkwürdigen Dimension gefangen, und seitdem, so fürchte ich, habe ich viel Zeit verloren, während ich im Kielwasser der Magie Eures Bruders herumwirbelte. Jetzt spüre ich, dass die Zeit knapp wird und der Höhepunkt der Ereignisse bereits bevorsteht. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Geschichten. Aber Ihr kennt mich, alter Mann. Hab ich Recht?« Die Augen des Sehers funkelten. »Das stimmt, Schlüssel zum Orokon. Das Wissen erfüllt mein Herz!« Er drehte sich um und winkte. »Ich muss Euch vieles erklären. Aber jetzt rasch, folgt mir nach unten. Für meinen jungen Prinzen gibt es keine Hoffnung mehr, aber vielleicht noch für das Reich, das er regieren sollte. Irgendwie müssen die Missetaten seines Vaters vereitelt werden, wenn Euer Schicksal - und auch unseres - jemals vollzogen werden soll. Rasch, rasch. Ich habe einen Plan.«
35. Der weniger Getäuschte »Das ist es. Die Frage ist, warum.« Rajal lächelte. »Jetzt haben wir keine Wahl mehr.« »Das ist keine Antwort.« »Nennt es eine Vision. Einen Zauber.« »Das habt Ihr schon vorher gesagt«, meinte Bohne. »Ich glaube,
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ich verstehe es. Aber das meine ich nicht. Ich meine, sie kann nichts gegen die Magie tun, die sie zu dem gemacht hat, wenigstens denke ich das. Aber sie scheint damit weitermachen zu wollen. Ich meine, als wollte sie es wirklich. Liebt sie den Prinzen nicht? Ich meine Nova.« »Ihr meint Jem.« Rajal senkte den Blick. »O doch, sie liebt ihn. Aber seht Ihr, es ist der Kristall. Ich meine, das ist die Lösung. Wenn die Prinzessin verheiratet wird, dann kommt der Kristall.« »Das glaubt Polty auch.« »Hm. Er glaubt es, sie glaubt es. Vielleicht stimmt es dann ja.« »Und der Prinz? Nova. Ich meine, Jem.« »Jem muss da sein, wenn der Kristall auftaucht. Vielleicht hofft Cata ja, dass es anders herum funktioniert. Ich meine, dass Jem kommt, wenn der Kristall auftaucht.« »Hm. Das sieht nicht gut aus.« »Das stimmt.« Sie schwiegen eine Weile und blickten über den mit Fackeln er leuchteten Boulevard. Den ganzen Tag lang hatten sich die Massen versammelt. Sie sangen, klagten und beteten. Wächter säumten den Weg. Sie würden die aufgepeitschten Gefühle im Zaum halten. Ei nige der vornehmen Gäste würden die feierliche Prozession anfüh ren. Dann kamen die königlichen Minister, dann die Imams, und schon bald war Cata an der Reihe. Die Zeit wurde knapp. »Ich habe an dieses Ouabin-Lied gedacht. Ihr auch? Ich meine, habt Ihr wirklich darüber nachgedacht?« »Heirate und brenne! Oh, darüber habe ich nachgedacht.« Rajal biss sich auf die Lippen. Er drehte sich um und spähte durch die halb geöffneten Fensterläden. In dem Raum hinter ihnen waren Sklavinnen damit beschäftigt, Catas komplizierte Vorbereitungen zu vervollständigen. Sie hatten sie gebadet und mit duftenden Balsamen eingerieben. Ihr Haar hatten sie zu Locken gewickelt. Jetzt stand sie wie eine Statue da, während der rote Rückenschild einer Unang-Braut um sie herum drapiert wurde. Schminke musste noch
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aufgetragen werden, und außerdem wurden Schmuck, Blumen und Glücksbringer angelegt. Eine Weile hatte es ausgesehen, als würde diese Prozedur niemals enden. Jetzt jedoch war sie fast vorbei. Aus Cata war eine rubinrote Vision geworden, ein Geschöpf, das kaum zu dieser Welt zu gehören schien. Nur der Schleier musste noch befestigt werden. »Ich habe das Gefühl, man hat uns vergessen«, sagte Bohne. »Was tun wir eigentlich bei der Hochzeit?« »Wir? Wir halten Wache, denke ich. Wie die anderen.« »Unten auf dem Boulevard? Das reicht aber nicht.« »Ich weiß.« Rajal drehte sich um und betrachtete die Menge vor dem riesigen Gebäude, in dem die Hochzeit stattfinden sollte. Wie hell und bösartig glänzte es im Mondlicht! »Ich will da hinein!« »Das ist unmöglich. Denkt an die Wachen.« »Kommt schon, Aron. Nichts ist unmöglich.« »Glaubt Ihr?« Ihre Hände lagen dicht nebeneinander auf dem Geländer und berührten sich beinahe. Rajal wurde von einer merkwürdigen Kraft durchströmt. »Ich fühle mich so hilflos in dieser Kleidung«, sagte Bohne. »Sie hat Euer Leben gerettet«, erwiderte Rajal lächelnd. »Ihr habt mein Leben gerettet. Ihr und Cata.« »Ihr habt unseres gerettet. Erinnert Ihr Euch?« »Ich erinnere mich.« Sie hätten vielleicht noch mehr gesagt, doch in dem Augenblick hörten sie, wie jemand an die Tür klopfte. Die Türen schwangen auf, und die Sklavinnen verschwanden plötzlich wie auf Kommando. »Sollten wir nicht auch gehen?« »Ich denke schon. Aber wir tun es nicht.« Sie drückten sich in die Schatten, während sie zusahen, wie ein fetter kleiner Kerl mit viel zeremoniellem Brimborium in einer geschmückten Sänfte in den Raum getragen wurde. Sein größerer Be gleiter schritt hinterdrein. Beide waren prachtvoll gekleidet und trugen Furcht erregende Masken.
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Die Träger zogen sich zurück und schlossen die Türen. »Schimmy! Liebling, Schimmy!« Kalif Oman Elmani schob die Maske zur Seite und streckte die Arme nach dem Mädchen aus, das wie seine Tochter aussah. Dann lachte er und schlug sich gegen den Kopf. »Ich Dummkopf! Hast du gesehen, wie dumm ich bin, Hasem? Da sitze ich hier und erwarte, dass sich Schimmy in meine Arme stürzt, dabei kann das arme Kind sich bestimmt kaum bewegen, hab ich Recht? Lass mich dich ansehen ... Noch einmal ansehen, bevor ...« Der kleine Mann hielt inne und brach in Tränen aus. »Mein armes Baby! Mein armes, armes Baby!« Cata trat ein paar Schritte vor. Ihr Kostüm raschelte und klapperte. »Keine Angst, Vater. Ich bin bereit.« Der Kalif rang die Hände. »Ich weiß, Liebes. Vergib deinem törichten Vater, aber wie sollte er nicht trauern, wenn er doch seine Tochter verliert? Wenn ich die Magie auch preise, die dich wieder hergestellt hat, so muss ich doch die Zeit verfluchen, die es gedauert hat! Was haben wir verpasst! Liebste Schimmy, wenn wir nur deine Jugend noch einmal durchleben könnten!« »Teurer Vater, das wünsche ich mir auch!« Auf dem Balkon flüsterte Rajal: »Sie macht ihre Sache gut, nicht?« »Das weiß man nie«, erwiderte Bohne. »Hoffen wir das Beste.« Während der Kalif seine väterlichen Tränen vergoss, ging Wesir Hasem ungeduldig auf und ab, betrachtete gleichgültig die Wandbehänge, die prächtig vergoldeten Möbel und die Spiegel, die in dem weichen, roten Licht schimmerten. Er hatte mittlerweile die Maske abgenommen und legte sie vorsichtig auf einen niedrigen, mit Intar sien verzierten Tisch. Rajal beobachtete ihn und fühlte wieder den Hass in sich hochsteigen, der ihn stets beim Anblick dieses Mannes zu überwältigen drohte. Sein Herz hämmerte, und er sehnte sich danach, vorzutreten und ihm in das kalte, arrogante Gesicht zu schla gen. Stattdessen wich er schnell zurück und zog Bohne mit sich, als
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der Wesir die Balkontüren weit aufstieß. Die Geräusche vom Bou levard drangen in die Kammer. »Hört ihr das, Prinzessin?« Der hochgewachsene Mann kehrte wieder um. »Trommeln, Jubelgeschrei, Flöten. Die Höflinge des Sultans sind bereits zum Heiligtum unterwegs. Wir sind bald an der Reihe, und wir müssen Euch auf dieser langen Strecke begleiten. Zit tert Ihr, Kind? Bereut Ihr Euer Schicksal?« Cata wunderte sich. Sie hatte den Wesir niemals gemocht. Aber jetzt wirkte sein Tonfall noch kälter als sonst. Es lag etwas Abwertendes in seiner Stimme, etwas Spöttisches in der Art, wie er sie anredete. Sie stand neben der Sänfte des Kalifen und hielt die Hand des kleinen Mannes in ihrer. Langsam ging der Wesir um sie herum. »Kein Wunder, dass Ihr zittert«, fuhr er mit kalter Stimme fort. »Denn viel, sehr viel, hängt von dieser Nacht ab. Wisst Ihr wie viel? Wie ungeheuer viel?« »Aber natürlich, Wesir«, erwiderte Cata. »Hasem, wovon redest du?«, wollte der Kalif wissen. »Nur über das Schicksal dieses Reiches, Oman. Heute Nacht empfindet Ihr die Gefühle eines jeden Vaters, wenn die Zeit naht, in der er seine Tochter verliert. Ach, aber größere Gefühle haben einst unsere Herzen bewegt! Erinnert Ihr Euch an die Ängste, die der Ge danke an diese Hochzeit einst in uns auslöste? Erinnert Ihr Euch an die Scham, das Entsetzen über den Zustand Eurer Tochter? Stellt Euch vor, welcher Zorn uns getroffen hätte, wenn nur eine flackernde Erscheinung bei dieser schicksalhaften Zeremonie heute Nacht erschienen wäre!« Der Kalif lachte. »Aber Hasem, das passiert ja nicht! Diese Ängste liegen hinter uns, und Schimmy ist wieder ganz!« Jetzt blieb der Wesir stehen und beugte sich beinahe drohend zu dem kleinen Mann hinunter. »Wirklich, Oman? Seid Ihr Euch da ganz sicher?« Cata sah ihn beunruhigt an. Jeden Augenblick würden die Träger hereinkommen und sie zum Boulevard hinunterbringen. Was woll te der Wesir sagen? Wusste er wirklich die Wahrheit? Wenn ja, wa
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rum hatte er dann bis jetzt geschwiegen? Sie suchte nach Worten, aber sie war zu verwirrt. Der Kalif drückte ihre Hand fester. »Hasem, ich weiß wirklich nicht, wovon du redest. Wirklich nicht.« »Dann seht hin, Oman!« Der Wesir schoss vorwärts und ergriff Catas Arm. Er zog sie vor einen Spiegel. »Ich dachte, ich sollte mei nen Rat für mich behalten, aber da Ihr mir wichtig seid, Oman, kann ich nicht länger schweigen! Ich sage Euch, dass die Machenschaften dieser Nacht auf uns zurückfallen werden, mit Konsequenzen, die noch schlimmer sind als das, was wir befürchtet haben! Was wird der Sultan sagen, wenn er von dieser Täuschung erfährt? Er wird uns die Schuld geben, Euch, Oman, und Ihr werdet sterben.« »Hasem, ich schwöre, dass ich nicht weiß, wovon du redest!« »Lasst mich los!«, rief Cata. »Lasst mich los!« »Ruhig, meine hochmütige Schönheit! Wollt Ihr Euch winden und Euer schönes Kleid ruinieren? Windet Euch nur, es wird Euch nichts nützen. Seht, Oman! Seht Ihr ihr Gesicht? Seht, wie es immer wieder hin und her flackert! Erst ist es das Gesicht Eurer Tochter, dann ein anderes! Während Euch die Sehnsucht nach Eurer Tochter geblendet hat, habe ich das Mdächen sehr genau beobachtet und bin der weniger Getäuschte! Oman, das ist nicht Eure Tochter! Das Mädchen ist eine Hochstaplerin!« »Nein!«, schrie der Kalif. »Das kann nicht sein!« »Es ist aber so, Oman! Ihre Magie wird bereits labil. Wie lange wird diese falsche Erscheinung nach der Eheschließung halten? Dieses böse Mädchen würde sich die Macht einer Kaiserin anmaßen! Stellt Euch vor, welches Unheil sie auf uns herabbeschwören würde, sollte ihr Plan scheitern! Und wenn sie Erfolg hat? Das geht nicht, denn dieses Mädchen ist die Inkarnation des Bösen!« »Ihr irrt Euch! Ihr seid verrückt!«, schrie Cata. »Ich irre mich, Prinzessin? Oder sollte ich lieber Cata sagen? Ja, erschreckt nur! Ihr seid Catayane Veeldrop, die entlaufene Braut des flammenhaarigen Ejländers! Ja, o ja, er hat mir alles über Euch erzählt! Bevor er von einer merkwürdigen Magie verzehrt wurde,
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hat er Euch eifrigst gesucht! Wie verzweifelt hat er sich gefragt, was wohl aus Euch geworden ist! Wie hätte er das wissen können? Wie hätte er es erraten sollen? Der Narr dachte, Ihr wärt eine gemeine Ausreißerin, wie die Hälfte der Huren, die diese Absteigen füllen! Ich sehe jetzt, dass selbst er, bei all seiner Degeneriertheit, kaum die Bodenlosigkeit Eurer bösartigen, weiblichen Magie ermessen konn te! Du verruchte Schlampe, jetzt stehst du deiner Nemesis gegen über!« Cata versuchte immer noch zu entkommen, aber ihr Kostüm hin derte sie daran. Armbänder zerrissen und rutschten über den Bo den. Verzweifelt versuchte sie zu kratzen und zu treten. »Warum tut Ihr das? Was wollt Ihr von mir?« »Wollen? Von dir will ich nichts, du Hure! Und bald, sehr bald, wirst auch du nichts mehr wollen! Nie wieder!« »Wovon redet Ihr? Was meint Ihr?« Der Kalif war schluchzend zusammengebrochen. »Hasem, du irrst dich! Hasem, ich glaube es nicht. Ach, lass die arme Schimmy doch, lass sie los! Wir waren so glücklich. Grausamer Hasem, wie kannst du den großen Tag meiner Tochter verderben?« Der Wesir federte herum, trat seinen Herrn und schrie: »Seht zu, Oman! Seht hin, wie diese Hure ihr Schicksal ereilt! Ihr wisst doch, dass es wahr ist, hab ich Recht? Ihr wisst, dass ich nicht lüge! Ihr wollt doch nicht allen Ernstes zulassen, dass dieses Mädchen verheiratet wird, oder? Es gibt nur eins für sie! Erinnert Ihr Euch an die Geschichte der Braut von Geden? Ja, genau so, nur umgekehrt! Die Prinzessin muss in ihrer Freude plötzlich sterben und macht aus dieser königlichen Hochzeit ... eine Beerdigung!« »Nein! Nein, lasst mich los!« Der Wesir schleuderte Cata brutal zu Boden. Im nächsten Augen blick hockte er rittlings auf ihr und hielt ein Kissen in der Hand. Der Kalif schrie. Cata schrie ebenfalls, aber ihr Schrei war nicht zu hören. Schwärze umgab sie. Sie spürte nur das Kissen auf ihrem Ge sicht und das Gewicht des Körpers, der sie niederhielt. Dann schrie noch jemand. Ein Schlag war zu hören.
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Ein weiterer Schlag. Noch einer. Schneller und immer schneller. Die Schwärze verschwand plötzlich, ebenso wie das Gewicht, aber die Schläge waren weiterhin zu hören. »Raj... Rajal! Nein!« Cata rappelte sich hoch und schrie leise auf. Aber es war Bohne, der seinen neuen Freund schließlich wegzog. Rajal zitterte und wäre auf die Knie gesunken, wenn Bohne ihn nicht festgehalten hätte. Die blutige Maske fiel aus seinen Händen, als er entsetzt auf den zerschmetterten Schädel des Wesirs starrte. »Raj ... Du hast ihn umgebracht!« Ein anderes Hämmern ertönte. Diesmal an der Tür. »Die Träger. Es wird Zeit!« Der Kalif stöhnte und sank bewusstlos zu Boden. Cata sprang hoch. Sie war atemlos, und ihr schweres Kleid behin derte sie. Sie dachte rasch nach. »Wir haben nur eine Möglichkeit.« Sie deutete auf den Wesir. »Zieh ihm die Kleidung aus. Wisch das Blut von der Maske ... Bohne! Du bist größer. Schnell, du spielst Hasem. Raj ... RAJAL! Reiß dich zusammen! Du musst gebückt gehen. Dieses Kissen ... kann als Bauch dienen.« »Was?« Rajal stöhnte. »Was?« Aber Cata beschäftigte sich bereits mit ihrer komplizierten Robe und versuchte, so gut es ging, wenigstens die schlimmsten Schäden zu verbergen. »Ein Glück, dass es wenigstens rot ist«, murmelte sie grimmig. Erneut hämmerte jemand an die Tür.
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36. Das Ritual im Dunkeln »Es ist so wunderschön!«, rief Mutter Madana. »Pah! Das Geld, das für diese Kostüme verschwendet wurde, ge nügt, um jedem Mann in der Menge ein Baba-Mädchen zu kaufen! Ganz zu schweigen von Ferment für alle!« »Du hast kein Herz, Eli!« »Du bist diejenige, die kein Herz hat, Weib! Hast du nicht ver sprochen, uns zu helfen? Pah! Ich glaube, du hast gar keine Schwes ter! Könnte eine Schwester von dir wirklich im Palast des Wisperns arbeiten?« »Halt dein Maul, Eli!«, entgegnete Mutter Madana. Mit funkelnden Augen beobachtete sie die lange Reihe der Imams, die langsam die rubingeschmückten Stufen hinaufstiegen und sich feierlich vor den Türen des Heiligtums aufbauten. In ihren goldenen, mit Perlen und Juwelen besetzten Roben boten sie den prächtigsten Anblick, den Mutter Madana jemals gesehen hatte. Andererseits hatte sie dasselbe von den königlichen Ministern gedacht, die vor den Imams hinaufgestiegen waren, und auch von den vornehmen Gästen davor. Wie konnte sie so viel Schönheit sehen und es überleben? Wie sollte sie es überstehen, wenn der Sultan kam, und erst die Prinzessin und der Prinz? Der alten Frau kam es so vor, als habe sie hier end lich den Höhepunkt ihres Lebens erreicht. Die ganze lange Pilgerrei se in die Heilige Stadt hatte sie gespürt, wie der Glaube ihrer Kindheit allmählich wiederkehrte. Wie bitterlich sie die Verfehlungen bereute, die sie in den vielen Sonnenwenden begangen hatte, als sie sich nicht um die geistigen Dinge geschert hatte. Vielleicht war die Zer störung der Karawanserei ja nur die gerechte Strafe gewesen. Die Trommeln ließen die Luft vibrieren, die von Schluchzern und ekstatischen Schreien widerhallte. Dieser Lärm schien - wie die Juwelen, die Lichter und das Gedränge - jeden vernünftigen Gedan ken hinwegzufegen, alle Erinnerungen und auch alles Begehren aus
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zulöschen. Was bedeuteten schon all die Leiden, die Mutter Mada na gesehen hatte, wenn sie letztendlich jetzt doch in der Heiligen Stadt war? Sie hatte sich einen Platz ganz vorn in der Menge gesi chert und würde ihn für niemanden aufgeben. Elis Pläne bedeuteten ihr nichts. ELI bedeutete ihr nichts mehr. Eine Stimme zischte dem Hurenbock ins Ohr: »Du bist nutzlos, Oily! Warum habe ich dir nur vertraut?« »Pah! Nutzlos? Ich? Was soll ich tun? Das alte Weib auspeitschen?« »Du hast schon Schlimmeres getan!« Das schmierige Gesicht verzerrte sich vor Wut. Plötzlich fuhr Eli Oli Ali herum, packte Polty am Kragen und zischte: »Sag du mir nicht, dass ich nutzlos bin, Ejländer! Wo wärst du denn, wenn du mich nicht getroffen hättest? Keine Huren, kein Ferment, keine Miss Catayane! Ja, ich hatte sogar sie in meiner Gewalt, richtig? Ist es meine Schuld, dass du sie wieder verloren hast? Ohne mich wärst du jetzt nicht mal hier in Kal-Theron! Sieh dich doch an! Sieh dich an! Da stehst du, in deiner entscheidenden Nacht, und was bist du anderes als eine zitternde Ruine? Wo ist deine Macht? Wo ist deine Entschlossenheit? Wo ist die Magie, durch die du fliegen konntest?« »Oily ...« Polty keuchte erstickt. »Oily, Iass mich los!« Verächtlich stieß der Hurenbock Polty zurück. Der Flammenhaarige stolperte und segelte in die Menge. Gläubige drehten sich wü tend um und spendeten Beifall, als der Hurenbock zornig in das blasse, bestürzte Gesicht spuckte. Vielleicht dachten sie, es geschähe aus heiligem Zorn. »Und nenn mich nicht Oily Ich habe mir genug von dir gefallen lassen müssen, als du noch Geld und Macht hattest. Aber jetzt sieh dich an! Sieh dich nur an!« »Bleib stehen, du Dieb!« Stehen bleiben? Niemals! Obwohl der Schrei wiederholt wurde, nutzte es nichts. Lachend und behände lief der Junge in dem Lendenschurz weg, während er
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die Geldbörse triumphierend in die Luft warf. Der Lärm um ihn herum war ohrenbetäubend. Die Emotionen kochten hoch: Die Wa chen hatten nur eins im Sinn: die Menge zurückzuhalten. Die Unner waren im Paradies und mussten nur noch ernten. »Heh!« Fisch wirbelte herum, als eine Hand ihm die Börse weg schnappte, die er gerade gestohlen hatte. Schlechter Atem und Gelächter schlugen ihm ins Gesicht. »Stinker! Gib sie zurück!« »Du kriegst mich nicht!« »Wetten?« Massige Körper stellten sich ihnen in den Weg, als sie weiterrannten. Ellbogen rammten ihre Seiten, und um sie herum war ein ein ziges Geschiebe und Geschrei. Eine Fanfare übertönte den Lärm. Es war die kaiserliche Fanfare! Der Sultan kam! Die Menge schwappte vor. »Blase!«, schrie Fisch. »Fisch, Stinker! Hier entlang!« Sie drängten sich zusammen. »Hier wird es zu eng!«, schrie Blase. »Wir können uns bald nicht mehr bewegen!« »Besonders du nicht, Blase«, sagte Fisch grinsend. »Die Dächer!«, schlug Stinker vor. »Faha ist da oben und ver steckt die Beute. Zusammen mit Storch!« »Dann los!« Nur Fisch blieb zurück. Eine Hand hatte ihn an der Schulter gepackt. Stimmen schrien durcheinander. »Er hat die Börse gestohlen!« »Der dreckige kleine Dieb!« »In der heiligen Stadt!« »In dieser heiligen Nacht!« Fisch trat um sich und kratzte. »Bleib stehen, du Dieb!« Stehen bleiben? Niemals!
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Als es Augenblicke später grollte, verschwand Fisch zusammen mit den anderen Unnern. Natürlich hatte die Erde schon früher ge bebt, aber niemand hatte jetzt damit gerechnet, während die Imams mit ihren goldenen Roben feierlich die rubingeschmückte Treppe hi naufschritten. Ein Donnerschlag erfüllte die Nacht, aber dieser Schlag kam entsetzlicherweise tief aus der Erde. Er lief den gesam ten Boulevard entlang wie eine ungeheure Kreatur, die versuchte, die Erdkruste zu durchbrechen. Der Boden bebte, Steine stürzten he rab, und brennende Fackeln fielen in die Menge. Es war schnell vorüber. Momente spater war die Ordnung wieder hergestellt. Die Wachen hatten die Horden rasch zurückgeschlagen, die schreiend die Prozession gestört hatten. Die Pilger duckten sich. Einige waren tot. Andere verbrannt. Viele bluteten, und ein großer Teil der Menschen warf sich nieder und murmelte Ungeheuerliches von der Heiligen Flamme, ihrer Ungeduld, ihrem Neid und ihrer mystischen Kraft. Ein merkwürdiger Zwischenfall hatte sich inmitten dieses Chaos ereignet. Als die Erde anfing zu beben, waren zwei Imams, gebrechliche Tattergreise, von der Seite der rubingeschmückten Stufen ge stürzt. Eine Fackel war heruntergefallen und in der folgenden Dun kelheit stürzten sich zwei Gestalten auf sie. Die beiden arbeiteten brutal und entschlossen. »Oily! Schnell, das ist unsere Chance!« Einige Augenblicke später nahmen die beiden Imams ihre Plätze auf der Treppe wieder ein. Sie hatten ihre Kapuzen fest um ihre Köpfe gezogen. Aus einer Kapuze drang ein Flüstern. »Major-Herr? Ihr wisst doch, dass ich von dem, was ich eben sagte, kein Wort ernst gemeint habe!« Aus der anderen Kapuze kam die Antwort: »Ich weiß, Oily, ich weiß!« Ihre hilflosen Opfer dagegen wurden bereits von den Füßen des erregten Mobs bis zur Unkenntlichkeit zertrampelt.
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Das Beben der Erde wurde jedoch von den meisten Pilgern rasch vergessen, als Sultan Kaled seinen Platz einnahm. Durch die Schlitze der mit spitzen Stacheln bewehrten königlichen Maske glühten seine Augen. Während der angebliche Sultan des Mondes und der Sterne auf den breiten, geborstenen Boulevard blick te, dachte er nicht an die Leichen, an die Trümmer oder an das Stöh nen der Verletzten. Juwelen und Steine fielen immer noch von den Säulen hoch über ihm herab, und eine Staubwolke schwebte über der Szenerie. Aber all das kümmerte ihn nicht. Er sah nur in der Ferne den hell erleuchteten Bogen der Palasttore, die strahlten wie ein Por tal zu einer anderen Welt. Durch diesen Bogen schwebte jetzt auf einer goldenen Sänfte die wunderschöne, verschleierte Prinzessin, flankiert von seinem fetten Bruder und dem großen Wesir seines Bruders. Kaled jubelte innerlich. Hinter ihm standen auf den breiten Stufen in schweigenden Reihen die vermummten Imams und die vor nehmen Würdenträger. Was waren sie anderes als kriechende Insekten, jeder von ihnen so unbedeutend wie die gewöhnlichen Pilger, die sich schreiend und stöhnend gegen die Barrieren pressten? Er war ihnen allen überlegen, und nach dieser Nacht war er der Herr scher der ganzen Welt! Er war ein Gott! Bereits jetzt schien es ihm, als könnte er schon die Macht schmecken, über die er bald verfügen würde. Nur der Mann, der die Schimmernde Prinzessin heiratete, durfte in Wirklichkeit den Titel tragen, den er sich vor zehn Sonnenwenden auf diesen Stufen selbst verliehen hatte? Wohlan denn, so sei es! Aber dieser Mann würde er sein! Übertönt von der Musik und den Schreien spielte sich unter den Imams folgender geflüsterter Wortwechsel ab: »Oily?« »Major-Herr?« »Was machen wir jetzt?« »Hm. Da kommt die Prinzessin. Der Junge ist als nächster dran. Sie geben sich ihre Gelübde auf der Treppe .... Die Türen öffnen sich ... Und dann werden sie zur Kammer der Erfüllung hinaufgebracht.« »Erfüllung?«
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»Ja, da passiert genau das, was Ihr denkt. Sie werden die ganze Nacht da eingesperrt. In der Zwischenzeit halten wir im Heiligtum Wache. Und die Menge wacht hier draußen.« »Oily?« »Major-Herr?« »Aber was können wir tun?« Kaled dachte nicht an solche Fragen. Während die Eunuchen der Prinzessin aus der Sänfte halfen, musste er sich beherrschen, um nicht vorzustürmen und das Mädchen in seine Arme zu reißen. Ver flucht sei diese Heuchelei! Aber der Höhepunkt der Prozession war beinahe gekommen. In wenigen Augenblicken würden sich die Pil ger vor der Prinzessin zu Boden werfen. Und dann wurde es Zeit für den Prinzen, an ihre Seite zu eilen. Kaled hätte gern laut gelacht. Mittlerweile war Simonides sicher schon zur Kammer des Jungen gegangen, um ihn aus seiner Medita tion zu wecken. Der alte Mann hatte gewiss schon aufgeschrien und war entsetzt und erschrocken zu Boden gesunken. Bald, sehr bald, musste die Botschaft kommen! Schon bald würde der Sultan die Braut seines Sohnes ergreifen und sie im Triumph in die Kammer der Erfüllung bringen! Sein Herz hämmerte, als sie sich neben ihn stellte. Die Pilger verbeugten sich und murmelten Gebete. Hinter der Prinzessin, unhörbar für die anderen, murmelte ebenfalls jemand. »Rajal?« »Aron?« »Was machen wir jetzt?« »Hm. Mal nachdenken. Wir halten Wache. In der Zwischenzeit geht Cata hoch und hält sich den Prinzen vom Leib. Oder auch nicht. Morgen in aller Frühe holen die Imams die beiden heraus ... bringen sie zu der Flamme. Dort verbeugen sie sich und biedern sich bei dem Feuergott an, denke ich. Dann kommen sie wieder heraus. Es gibt Proklamationen, Jubel und allgemeine Freude.« »Rajal?« »Aron?«
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»Das weiß ich alles. Aber was tun wir?« Fanfaren schmetterten, und Trommelwirbel dröhnten. Die Men ge erhob sich, und Kaled streckte die Arme aus. Er stand mitten auf der rubingeschmückten Treppe, eine Ehrfurcht gebietende und Angst einflößende Gestalt. In seinen schweren, dunklen Roben fun kelten Juwelen, und seine Maske glänzte und flackerte im Schein der Fackeln. Seine Stimme klang wie die eines Gottes, die wie aus einer fernen Dimension erschallt. Viele hielten unwillkürlich die Luft an. »Pilger!«, rief der Sultan. »Ihr habt Euch heute Nacht vor dem Heiligtum der Flamme versammelt, um den heiligsten Moment meiner Herrschaft zu bezeugen. Vor vielen Sonnenwenden, an der Schwelle zu meiner Mannheit, wurde ich von meinem Vater hierher geführt, um meinen Platz als Thronerbe anzutreten. Mein Sohn wurde ebenfalls so eingeführt. An diesem Platz habe ich meine einzige Frau geheiratet, Eure Kaiserin, die so bald und unter so tragi schen Umständen gestorben ist. An diesem Platz wurden auch die Trauerfeierlichkeiten für die Tote abgehalten. Ja, viele heilige Gelegenheiten habe ich an diesem Ort zelebriert, aber keine ist heiliger als diese, die ich jetzt hier stattfinden lasse. Sie wird die Blutlinie des Propheten sicherstellen. Nach der heutigen Nacht ist meine Aufgabe beendet. Mein Geist mag in die Regionen der Ewigkeit fliegen, wenn er denn bereit ist. So wie der meines Vaters und seines Vaters vor ihm! Trommler! Schickt den Befehl weiter, den Boulevard ent lang! Holt meinen Sohn zum Ort seiner Eheschließung!« Verzückung überwältigte den Sultan. Er wäre am liebsten vor Freude in die Luft gesprungen. Ja, sein Geist würde in die Ewigkeit fliegen, aber nicht wie der seines Vaters! Er fühlte schon, wie er sich über die Welt erhob, ekstatisch durch den unermesslichen Raum flog. Die Macht schien ihm bereits durch die Adern zu strömen. Es kam ihm so vor, als müsse er niemals sterben. Die Trommeln schickten ihre Nachricht weiter. Kaled wappnete sich. Jetzt, jetzt war es so weit. Jetzt gleich erschollen die entsetzten Schreie, kam die erschütternde Enthüllung! Angestrengt starrte er über die Köpfe der Menge hinweg auf die erleuchteten Palasttore.
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Durch den gleißenden Bogen kam ... die Sänfte. Kaled zitterte. Er schrie. Und fiel auf die Knie. Die Menge glaubte, es wäre die Kraft seiner Frömmigkeit, die den Mann überwältigte, der sich in dieser Nacht als ein großer Führer zu beweisen schien. Cata atmete schwer. Seit sie in diesem Land angekommen war, hatte sie sich vielen Herausforderungen gegenübergesehen und war ihnen mutig begegnet. Doch als sich ihr Verlobter vor ihr verbeugte, über kam sie Angst. Es war nicht der Junge, der ihr Angst machte. Auch nicht sein Vater oder die entfesselte Menge. Genauso wenig die stren gen, vermummten Gestalten hinter ihr. Eher lag es daran, dass sie die Realität dessen spürte, was sie da tat. Eine schreckliche Ahnung be drückte sie, als sie sich fragte, wie diese Nacht wohl enden würde. Zitternd sah sie das Schimmern der Augen hinter der Maske. Der Junge nahm den Platz neben seinem Vater ein. Simonides trat vor und blieb vor einem brennenden Kohlebecken stehen. Mittlerweile waren die Pilger vorgeströmt und bevölkerten die Prozessions strecke. Es gab keine Barrieren mehr. Die Wächter hatten sie abmontiert und ihre Krummsäbel eingesteckt. Alle befanden sich in einer glühenden, spirituellen Erwartung. Die Flammen des Kohlebeckens flackerten und warfen ihr schimmerndes Licht auf die bunten Gestalten vor den Stufen. Die Zeremonie begann mit Segenswünschen, Gebeten und heili gen Liedern. Simonides hielt eine lange Ansprache, in der er von der Heiligkeit des Ehegelübdes redete und von der schweren Bürde der kaiserlichen Herrschaft. Dann rief er den Feuergott an, auf dass er diese Vereinigung segne. »Pilger!«, rief er schließlich. »Der Moment ist gekommen! Heute stehen wir vor der Morgendämmerung eines neuen Zeitalters! Heu te schlagen wir die Kräfte des Bösen zurück, verbannen sie für immer aus diesem heiligen Reich! Denn ja, die Geschöpfe der Finsternis sammeln sich noch jetzt und wollen vernichten, was ich zusam
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menfüge! Aber es wird ihnen nicht gelingen! Das Schicksal hat beschlossen, dass diese Vermählung vollzogen wird, und keine Macht der Welt ist stark genug, es zu verhindern! Kinder, tretet vor! Ich will Euch jetzt vereinen!« Cata erschrak, als der alte Mann ihre Hand nahm und sie beinahe grob zu dem Kohlebecken zerrte. Ihre Augen tränten und schmerz ten in der Hitze der Flammen. Ihr Puls hämmerte in ihren Schläfen, und ihr Gesicht wurde heiß. Sie stand neben dem maskierten Jun gen. Sie wusste, dass sie im Morgengrauen wieder hier stehen würde, ohne Schleier, und dass er dann seine Maske ebenfalls abgelegt hatte. Als sie sich vorstellte, was dazwischen passieren würde, beschlich sie ein Gefühl des Ekels. Simonides nahm ein glitzerndes Pulver aus einer Schale, die ihm ein kniender Sklave hinhielt. Er warf es in das Kohlebecken. Ein Blitz flammte auf, und eine Rauchwolke stieg hoch. Cata schwank te, als ihr ein gewaltiges Brüllen aus der wie gebannt zusehenden Menschenmenge entgegenschlug. Im nächsten Moment schmetterten die Fanfaren, und die ungeheuren Tore hinter ihnen öffneten sich. Die geringeren Würdenträger machten Platz und ließen zunächst die Imams, dann den Sultan und schließlich den Jungen und seine Braut unter dem bedrohlichen Wirbel einer einzigen Trommel durch die heiligen Portale schreiten. Simonides hielt Catas Hand dabei fest umklammert, als führe er sie wie ein Opfer zu einem Altar.
37. Im Vorzimmer Die Kammer der Erfüllung lag am oberen Ende einer breiten Trep pe, die sich zwischen schimmernden, mit Edelsteinen geschmückten Wänden erhob. Simonides bedeutete dem Mädchen und dem Jun gen, ihm zu folgen, und stieg die Treppe empor. Die niederen Imams
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verteilten sich derweil in dem Vorzimmer, und der Sultan machte sich diesmal allein auf den Weg zur Flamme. Von draußen drang der Trommelwirbel an ihre Ohren, dann schlossen sich mit einem lau ten, metallenen Gong die Portale, und es herrschte Stille. Jedenfalls beinahe. Selbst durch die vielen dicken Steinmauern hörte Cata ein strenges, heftiges Fauchen. Ihnen versperrte ein letzter, riesiger Felsbrocken den Weg, der wie durch Zauberei beiseite rollte, als Simonides die Arme hob. Sie standen in einer leeren Halle. Sie war tief in den Fels geschnitten worden, hatte keine Fenster und war kalt. Aber sie war hell erleuchtet. Geheimnisvolle Scheiben in den Wänden spendeten ein strahlendes Licht. Der Boden war blank poliert, fast wie ein Spiegel. Am ander ne Ende standen in Hab-Acht-Stellung fünf prachtvoll gekleidete Eunuchen. Cata runzelte verwirrt die Stirn. »Fürchtet Euch nicht, meine Kinder«, sagte Simonides. »Ihr müsst nicht in dieser grellen Kälte Eure Liebe vollziehen. Ich werde Euch gleich verlassen, und die Eunuchen der Bettkammer werden Euch in das Reich führen, das hinter diesem Raum liegt. Es ist ein Reich der Lust. Aber vergesst nicht«, fügte er geheimnisvoll hinzu, »dass sich nach dem, was in diesem Reich der Lust geschieht, mög licherweise das Schicksal eines größeren Reiches entscheidet. Ich segne Euch, meine Kinder, und komme bei Sonnenaufgang zurück.« Der Felsbrocken rollte wieder an seinen Platz, nachdem Simoni des hinausgegangen war. Dann traten die Eunuchen zu ihnen und bemächtigten sich ihrer mit liebevollen Händen. Langsam veränder te sich die Szenerie. Erst verschwanden die kahlen Wände, dann der spiegelnde Boden. Als hätten sie eine geheimnisvolle Barriere über treten, fanden sie sich plötzlich in einer vollkommen anderen Kam mer wieder. Nur die leuchtenden Scheiben waren dieselben, aber jetzt spendeten sie ein weiches, goldenes Licht, das prächtige Teppiche, Liegesofas, Kissen, verschwenderisch beladene Tische, Blumen und wilden Wein in einen sinnlichen Glanz tauchte. Ein warmer Wind blies. Vorhänge aus wundervollen Stoffen hingen überall, und
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Wandschirme mit prachtvollen Intarsien standen herum. Die Spiegel hatten goldene Rahmen. Doch den Mittelpunkt der Kammer bil dete ein gewaltiges Bett, das den Raum beherrschte und mit duftenden Blüten bestreut war. Ein Eunuch erschien mit zwei randvoll gefüllten Kelchen. Ein anderer brachte eine blubbernde Jarvel-Pfeife. Die Betreuung durch die Sklaven wäre sicher noch weitergegangen, bis hin zu den letzten Intimitäten, aber plötzlich drang eine klare, ruhige Stimme hinter der Maske des Prinzen hervor. »Das ist alles. Ihr könnt euch jetzt zurückziehen.« Die Eunuchen tauschten verwirrte Blicke. Cata war ebenfalls verblüfft. Diese Stimme. Sie kannte diese Stimme. »Geht. Lasst uns allein«, wiederholte der Prinz seinen Wunsch. Beim dritten Mal schrie er. Die Eunuchen drängten sich hastig zusammen und waren plötz lich verschwunden. Cata konnte nicht sagen, wohin sie gegangen sein mochten. Besorgt drehte sie sich um. Dabei sah sie sich kurz in einem Spiegel. Ihre Augen. Da war etwas in ihren Augen. Sie nahm ihren Schleier ab. Diesmal hatte ihr Spiegelbild nicht nur geflackert. Konnte es sein, dass ihr falsches Gesicht für immer verschwunden war? Cata blickte unsicher auf das Spiegelbild des Jungen, das leicht verschwommen hinter ihrem auftauchte. Er war groß für sein Alter, aber er war trotzdem nur ein Junge, oder nicht? Es war sicher nicht schwer, ihn zu überwältigen, falls sie sich erst einmal aus ihrem hinderlichen Gewand befreit hatte. Der Junge nahm die Maske ab und trat auf sie zu. Da sah Cata den Kristall an seiner Brust, der unter seinem Gewand in einem strah lenden Grün glühte. Und sie fühlte ein Drängen in sich, als eine Kraft in ihr mit Macht darauf zu antworten schien. Als Cata sich umdrehte, trug auch sie den Kristall, Rajals Kristall. Er hatte sich die ganze Zeit in ihr befunden, in dem Teil von ihr, der
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von Prinzessin Bela Dona beherrscht wurde. Das Licht der Scheiben erlosch. Jetzt leuchteten nur noch die Kristalle und die Spiegel, die dieses merkwürdige Licht aus Purpur und Grün, Grün und Purpur reflektierten. »Simonides hat mir angekündigt, dass mich eine magische Nacht erwartet«, meldete sich die Stimme wieder, eine Stimme, die Cata so gut kannte. »Ich habe allerdings nicht geahnt, dass sie so zauberhaft werden würde.« Die geliebten, so vertrauten Hände streckten sich nach ihr aus. Tränen traten Cata in die Augen. »Ich habe so viele Träume geträumt. So viele Phantome gesehen. Liebste Cata, bist du es wirklich?« Blindlings stürzte sie vor und warf sich in seine Arme. »Jem! Oh, Jem, Jem!« Stoff raschelte und riss mit einem scharfen Geräusch. Nadeln fielen zu Boden, Juwelen rollten über den Teppich. Aber es waren nicht die Kristalle. Die trugen sie weiter an ihrem Körper. Sie schlugen gegeneinander, rieben sich und strahlten hell. Während der Ereig nisse, die sich jetzt zutrugen, tauchten sie die Kammer in ihr warmes Licht. Die beiden Liebenden lachten, dann hörte man ein Schnurren, schließlich ein tiefes Stöhnen. In dieser Nacht hatte die Gefahr mit drohender Faust gegen eine Tür ihres Bewusstseins gehämmert. Doch plötzlich kümmerte sie das alles nicht mehr. Jetzt zählte nur noch dieser Moment, das, was hier geschah. Sie sanken auf das blu menübersäte Bett und umarmten sich innig. Das erste Mal war wie ein drängender Sturm aus feuchten Lippen, wilden, beinahe rauen Stößen. Cata zerrte leidenschaftlich an Jems Haar, klammerte sich an seinem Rücken fest. Sie verschränkte die Beine und drückte ihn mit den Schenkeln tiefer, noch tiefer in sich hi nein. Die Begierde schwemmte sie beide fort. Jem schwindelte, und er hatte das Gefühl, wie eine Kugel loszuschnellen und unausweich lich, unkontrollierbar auf die Explosion zuzurasen. Die Erregung er hitzte seine Haut, und seine Nerven vibrierten vor Anspannung.
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Cata schrie auf und drückte ihn noch tiefer in sich hinein. Er umklammerte ihre Brüste und bog den Kopf zurück. Sie stemmte ihr Becken hoch, und sie stöhnten im Gleichklang. Als die Krämpfe sie schließlich überwältigten, wirbelten sie erst Cata hinweg und lösten sich dann auch bei ihm in einem glühenden Höhepunkt auf. Befriedigt und glühend vor Lust rollten sie sich auf die Seite. An ihrer Haut klebten Blütenblätter. Es war wundervoll warm, und sie badeten im heiligen Licht der Kristalle. Dann weinten sie, als sie sich an einen anderen, blütenübersäten Ort erinnerten. Damals, als Cata noch ein wildes Kind der Natur gewesen war, und Jem ein Krüppel auf Krücken. Wie sehr hatten sie sich danach gesehnt, sich in den raschelnden Tiefen dieses sonnen durchfluteten Waldes wiederzufinden! Jem sah Cata in die tränenfeuchten Augen und fand in ihnen das dunkelhaarige, zerlumpte Mädchen wieder, das ihn gerettet hatte. Sie hatte ihn vor einem, wie es ihm jetzt schien, bitteren und langweiligen Leben bewahrt. Cata dagegen sah den schönen, schüchternen Jüngling, der wie ein Geist der Liebe zu ihr aus der Welt gekommen war, die auf der anderen Seite der hohen, aber bröckligen Mauer lag. Eine Weile lagen sie da und schluchzten, doch bald verwandelten sich ihre Tränen in ein Lachen, und erneut dachten sie nur an ihre lustvolle Freude. Das zweite Mal begann mit langen, zärtlichen Küssen. Sie streichelten ihre glatten Körper, und bald gewann das Begehren in ihnen wieder die Oberhand. Später würde sich Jem an die dunklen Locken von Catas offenem Haar erinnern, die sein Gesicht bedeckten, währed sie über ihm schwankte. Und an ihre wundervollen, weichen, festen Brüste. Er dachte an die Liebkosungen ihrer Hände und an die seidige, feuch te Wärme, als ihr Mund ihn umschloss. Cata dachte an den wun dervollen Schmerz, als Jem die harten, erregten Knospen ihrer Brüs te liebkoste, an das wachsende Vergnügen, das ihr die heftigen Stö ße bereiteten. Sie erschütterten ihre Körper, bis die Lust zu groß
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wurde und sie keuchend und zitternd zurücksanken, in die Blüten, den Duft und die Feuchtigkeit. Immer und immer wieder gaben sie sich in dieser Nacht der Eks tase hin, verloren sich in einer schwindelnden Verzückung der Liebe. Und immer und immer weiter glühten die geheimnisvollen, mystischen Kristalle. Was jedoch würde sie erwarten, wenn der Morgen graute?
38. Der Tribut der Magie Wie rollender, gnadenloser Donner fauchte die Flamme in Kaleds Ohren. Ihre Helligkeit drohte ihn zu blenden. Er stolperte und warf sich zu Boden. Draußen vor dem Heiligtum hatte er sich kaum davon abhalten können, sich wutentbrannt auf den Prinzen zu stürzen. Am liebsten hätte er auf der Stelle seinen Krummsäbel gepackt, dem Jungen den Kopf abgeschlagen und seinen Körper in kleine Stücke zerschnitten. Dann könnte er die Prinzessin ergreifen und sie zur Kammer der Erfüllung schleppen! Doch nein. Das war unmöglich! In diesen schrecklichen Momenten auf den rubingeschmückten Stufen fühlte Kaled, wie der Glau be seines Volkes auf ihm lastete und ihn wie eine unerträgliche Last zu zerquetschen drohte. Aber es war nicht nur ihr Glaube. Es war auch sein eigener. Selbst wenn er hinausschrie, dass er ihr Sultan war, dass er ihnen überlegen war, dass keine Macht größer war: Es wür de nichts nützen. Ihm blieben die Worte im Hals stecken, und er sank auf die Knie, als werfe er sich nieder wie ein ganz gewöhnlicher Mensch. Was für ein Monster war aus ihm geworden! Was für ein blasphe misches Monster! Er hatte einmal geglaubt, dass es keinen Gott in der Flamme gäbe, und, eines Besseren belehrt, hatte er versucht, die sen Gott zu betrügen und das Schicksal zu umgehen, das ihm be-
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stimmt war. Was bildete er sich ein? Dass er Mond und Sternen be fehlen konnte? Als Kaled seinen Sohn lebendig sah, hatte der Sultan die Vermessenheit all seiner Ränke begriffen. Der Feuergott hatte ihn erneut bestraft, und diesmal, das wusste er, war es das letzte Mal. Der Glaube seiner Kindheit strömte zurück in sein Herz, und er kroch vor die Feuersäule, bat um Verzeihung und beteuerte murmelnd und unterwürfig seine Unwürdigkeit. Er war die verlängerte Hand des Schicksals, nichts weiter, und dieses Schicksal hatte be schlossen, dass er sterben musste. Schließlich richtete sich der Sultan auf. Und stürzte vor. Im selben Moment schallte ihm ein kreischendes Gelächter aus der Flamme entgegen, und Kaled wurde wie von einer unsichtbaren Faust zurückgeschleudert. Entsetzt warf er sich nieder, als ihn ein fürchterliches Echo beinahe betäubte. »NARR! NARR!« »Allmächtiger!«, stammelte Kaled. »Ich verstehe nicht!« Aber nur donnerndes Lachen antwortete ihm. »Also ist er am Ende einfach nur verschwunden?« »Er musste verschwinden. Träume scheinen dort real zu sein, aber der Ort selbst war auch nur ein Traum.« Jem seufzte und strich mit einem Finger über Catas Schenkel. »Ach, Cata, wie oft ich von dir geträumt habe! Immer wieder glaubte ich, du wärst da, und dann bin ich aufgewacht, und du warst fort. Ich bete nur, dass ich nicht auch heute Nacht träume. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich allein aufwachen würde.« »Das ist kein Traum, Jem.« Sie küssten sich, zärtlich und lange. Sie lagen aneinander geschmiegt, tranken Nektar aus den goldenen Kelchen und erzählten einander ihre Geschichten. Jem tat vernehmlich sein Erstaunen kund, als er von Catas Fährnissen hörte. Als sie ihm sagte, dass Nir ry Tante Umbecca davongelaufen war, musste er lachen. Poltys Machenschaften dagegen erregten seine Wut. Wenn er Polty jemals wie dersähe, so erklärte er, würde er ihn töten. Ohne zu zögern und nö-
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tigenfalls mit bloßen Händen. Cata streichelte Jem, bat ihn, still zu sein, und verriet ihm, dass Polty früher oder später dem Untergang geweiht sei. Dieser Dämon, der sich seiner bemächtigt hatte, würde dafür sorgen. Ihre schlimmsten Erlebnisse mit Polty hatte sie Jem gar nicht gebeichtet, aber andererseits hatte Jem ihr seine Verbindung mit Miss Jelica Vance verschwiegen und vergessen, von einem bestimmten Etablissement in Agondon zu berichten, das unter dem Namen »Würger« bekannt war. Doch was spielte das noch für eine Rolle? Als Cata seufzend sagte, sie wünschte, sie wären die ganze Zeit zusammengewesen, konnte Jem dem nur beipflichten. Sie küssten sich. Niemals, niemals wieder, wollten sie getrennt werden. Immerhin, so sagten sie in dieser Nacht lachend und weinend immer wieder, wa ren sie ja jetzt rechtmäßig verheiratet. Und immer noch tauchte das Licht der Kristalle sie in ihren Schimmer. Cata rückte etwas zur Seite. »Eines macht mir aber noch Sorgen.« »Was sollte uns noch Sorgen machen?«, wollte Jem wissen. Er deutete auf den Kristall, der glühend zwischen Catas Brüsten hing. »Wie du daran gekommen bist, verstehe ich zwar immer noch nicht, aber du hast den einen Kristall. Ich habe den anderen. Morgen früh kommt Simonides. Dann holen wir uns den dritten Kristall.« Er runzelte die Stirn. »Oder nicht?« »Ich liebe dich, Jem, aber ich glaube, du denkst im Moment nicht ganz klar.« »Was meinst du damit, Cata? Simonides sieht die Zukunft - jedenfalls teilweise. Er hat gesagt, dass ich morgen früh den Kristall des Theron bekomme, wenn ich mit meiner Braut vor der Heiligen Flamme stehe.« »Mit der Prinzessin.« »Das hat er gesagt.« »Jem, bist du ganz sicher, dass wir uns auf Simonides verlassen können?« Cata setzte sich auf. Sie wirkte plötzlich konzentriert. »Ich sagte dir doch, dass ich eine Vision hatte, nicht wahr? Ich wuss
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te, dass ich diese Hochzeit durchstehen musste, komme, was da wol le. Nur wenn die Prinzessin den Prinzen heiratet, kann der Kristall des Theron jemals gefunden werden, richtig? Aber das ist gerade das Problem, verstehst du? Du dachtest, du heiratest die Prinzessin, Ich dachte, ich heirate den Prinzen. Aber ich bin nicht die Prinzessin, und du bist nicht der Prinz. Jedenfalls nicht der richtige. Ich glaube, unsere Prophezeiungen widersprechen sich, Jem.« Jem biss sich auf die Lippen. »So habe ich das noch nicht gese hen.« »Ich kann nur eins sagen. Hoffen wir, dass uns morgen früh Ma gie zu Hilfe kommt, sonst stecken wir in Schwierigkeiten. In ernsten Schwierigkeiten.« Jem dachte einen Moment nach. Dann lächelte er. »Dann bleibt mir jetzt nur noch eins zu tun.« »Ach, ja?« Cata sah ihn erwartungsvoll an. »Und das wäre?« Die Antwort hatte keine Worte nötig. Dunkelheit lag wie eine dicke, erstickende Decke über dem Vorzim mer der Flamme. Es brannten keine Fackeln, und die spärliche Hel ligkeit spendete ein winziger Luftschacht im Felsen. Der Lichtstrahl des Mondes fiel auf das konzentrierte Gesicht von Simonides, der mit gekreuzten Beinen mitten auf dem Boden saß. Der alte Mann meditierte und wirkte wie ein Leichnam, der zum Schrecken aller in einem finsteren Haus aufgerichtet worden war. In einem Kreis um ihn herum befanden sich die zwölf Ältesten der Akademie der Imams. Sie hatten sich vor ihrem Führer ausge streckt. Es herrschte Schweigen, aber es war wie die Finsternis nicht vollkommen. Man hörte ständig das endlose, tiefe Fauchen der Flamme und die leisen Atemzüge der Nachtwachen. Außerdem waren da diese merkwürdigen Geräusche, die man immer im Dunkeln hört. Wenn man meditiert, ist man weit von der Welt entfernt. Das war auch gut so, denn einige wären vielleicht vom Knacken eines Kniegelenks abgelenkt worden oder den anderen Geräuschen der Nacht. Doch noch mehr hätte es irritiert, wenn sie das plätschern-
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de Geräusch von Flüssigkeit auf dem Felsboden und das leise Getuschel gehört hätten, das wie Flüstern klang. »Pah! Das hatte ich nötig!« »Ich auch. Also, was jetzt, Oily?« »Major-Herr, ich sage nur eines: Verzweifelt nicht.« »Ich verzweifle auch nicht, Oily! Noch nicht.« »Im Morgengrauen. Das ist unsere Chance. Wenn die ersten Sonnenstrahlen durch diesen Schacht fallen, wird die Kammer der Er füllung wieder geöffnet. Dann geht der alte Mann die Treppe hinauf und bringt die Liebenden zur Flamme hinunter.« »Geht er allein?« »Allerdings, Major-Herr.« »Diesmal jedoch nicht?« »Diesmal jedoch nicht.« Einmal noch. Noch einmal. Der Morgen graute in der Heiligen Stadt, als Mutter Madana heimlich zu den Gemächern des Prinzen schlich. Sie sah sich um und spähte vorsichtig um Ecken. Es war nicht nötig. Die breiten, hohen Stufen zu den Dachgärten waren verlassen. Sie hörte weder Stimmen noch andere Schritte als die ihren. Ihr hämmerte das Herz schmerzlich im Busen, als sie die vertrauten Lieblingsecken wiedersah. Die alte Frau lehnte sich gepeinigt an das Geländer und atmete tief die schweren Düfte der Dachgärten ein. Tränen traten ihr in die Augen. Einmal noch. Einmal. Nur einmal. Die Nachtwache war zu viel für sie gewesen. Auf dem Boulevard hatte Mutter Madana sich gesagt, dass sie sich der Resignation erge ben musste, während sie mit den anderen Pilgern wartete. Es wür de ein anderes Kind kommen. Ein Kind musste wachsen, das war gut so, das war richtig. Aber nein. Niemals! Eine starke Unruhe be mächtigte sich ihrer. Etwas stimmte nicht. Konnte sie warten, bis Dare auf den Stufen erschien, als ein Mann, ein verheirateter Mann? Sie schob sich durch die faszinierte Menge zurück und sehnte sich nach den Gemächern, in denen ihr verlorenes Kind gelegen hatte ...
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Einmal noch, nur einmal. Sie stieß die Tür auf. Licht fiel auf die prächtigen, weichen Teppi che. Es war ein rötlicher Schimmer, wie das Rot der Sonne, deren Schein sich draußen ankündigte. Dann sah sie etwas Metallenes, eine Konar-Lampe, die lautlos und kalt dastand. Mutter Madana wischte sich die Tränen aus den Augen. Ein schreckliches Entzücken packte sie. Sie atmete schwer und stolperte weiter. Sie würde sich auf das Bett ihres Kindes werfen, seinen Duft einatmen, seine Kissen umarmen ... Einmal. Noch einmal. Nur einmal. »Dare, mein Liebling? Dare, ich bin's, Lammy!« Eine reich bestickte Decke lag über dem Bett. Einen Moment kam es der alten Frau so vor, als wären ihre Fantasien real, als schliefe der Prinz tatsächlich. Hier und jetzt, wo sie ihn in seiner Kindheit so oft morgens geweckt hatte. Sie berührte den Stoff und erschrak. Etwas lag darunter. Etwas Hartes. Etwas Kaltes. Sie schlug die Decke zurück. Und schrie laut auf. Dann erst bemerkte sie die fünf zwitschernden Gestalten, die sie plötzlich umringten. Wenn man meditiert, kommt man sich vor, als befände man sich an zwei Orten gleichzeitig. Einmal tief in den Gewölben des eigenen Verstandes, und dann frei schwebend, in dem Raum um einen he rum. Meditieren bedeutet, die Illusion dieser Welt zu durchschauen, einen Blick auf einen Ort werfen zu können, wo die Bürden der Zeit und der Identität nicht mehr auf einem lasten. Vielleicht dient das dazu, den Tod zu erkennen, aber nicht als etwas Entsetzliches, sondern als eine flüchtige und gleichzeitig ewige Leichtigkeit. Gedanken verschwinden in der Meditation, doch es gibt zufällige Bilder, die aufsteigen. Manchmal verbergen sich in diesen Bil dern Schatten einer Bedeutung. Als das Mondlicht auf Simonides' geschlossene Lider fiel, bemerkte er ein verschlungenes Muster, das langsam durch die Luft glitt. Dann wurde dieses Mandala zu einer
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Maske und die wurde zu einem Gesicht, aus dessen Seite schließ lich Flammen züngelten. Eine Ewigkeit, so schien es, beobachtete Simonides furchtlos diese merkwürdigen Erscheinungen. Tief in seinem Innersten wusste der alte Mann, dass der Tod nahte. Er ak zeptierte ihn. Er hieß ihn sogar willkommen. Vielleicht wusste er auch, dass er heute kommen würde, an diesem Tag, der jetzt gerade anbrach. Das bleiche Mondlicht wurde von einem rötlichen Rand gesäumt. Ruhig, ohne zu flackern, öffneten sich die Augen des alten Mannes. Ja, die Zeit war gekommen. Einen Moment betrachtete er die anderen Imams, die zusammengekauert und schweigend liegen bleiben würden, bis der Sultan kam und sie die rubingeschmückten Stufen hinunterführte. Simonides stand mühsam auf und tastete sich in dem dämmrigen Licht zur Kammer der Erfüllung empor. Ein unheilvolles Rumpeln ertönte, als der große Felsbrocken zur Seite glitt. Was dann geschah, war im Nu vorüber. Als die Hand des Fremden sich auf Simomdes' Gesicht presste, hatte er nicht einmal Zeit, Luft zu holen. Der zweite Fremde versetzte ihm einen scharfen, lautlosen Schlag. Simonides brach zusammen. Polty und der Hurenbock stürmten die Treppe hinauf. »Ich bin außer Atem! Können wir nicht hier stehen bleiben?« »Sie will weiter nach oben. Also los!« Der Fette verdrehte die Augen. »Du hast leicht reden, mein Jun ge. Ich bin ein bisschen älter als du, vergiss das nicht!« »Ganz zu schweigen davon, dass du auch viel fetter bist.« »Fett? Hast du vergessen, dass ich in der Wüste beinahe verhungert wäre?« »Das zeigt nur, wie dick du vorher warst.« »Na so was!« Der Junge und sein meckernder, rotgesichtiger Begleiter hätten Pilger sein können. Aber es waren merkwürdige Pilger, die sich aus
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gerechnet jetzt von der schweigenden Menge entfernten, unmittelbar bevor das nächste Stadium des Rituals beginnen sollte. Vor ihnen stiegen ein verschleiertes, verzweifeltes Mädchen und ein aufge regter Hund die Stufen hinauf. Von Zeit zu Zeit drehte der Hund sich um und bellte. »Wirklich«, keuchte der Fette. »Ich wünschte, ich hätte die Ko nar-Lampe.« »Damit du zaubern kannst?« »Damit du mich tragen könntest.« »Dann würde ich sie reiben«, erwiderte der Junge lachend. »Und du könntest all unsere Probleme lösen.« Sie hatten sich zum ersten Balkon hochgearbeitet, dann zum zweiten. Jetzt wurden die Stufen immer schmaler, und die Men schenmenge unter ihnen wurde immer kleiner. »Warum will sie denn überhaupt hier herauf?«, erkundigte sich
Jafir. »Unten war es ihr zu eng. Sie ist immerhin königlichen Geblüts, vergiss das nicht.« »Ich auch. Sozusagen.« »Das kann man allerdings schnell vergessen.« »Och!« Sie erreichten ein flaches, brüchig wirkendes Dach. »Seid vorsichtig, Prinzessin.« Der Kleine streckte die Hand aus und zog Dona Bela vom Rand weg. Sie wollte doch nicht etwa hinunterspringen, oder? Aber was wollte sie überhaupt hier oben? Vielleicht war es zu schmerzhaft für sie, zusammen mit den anderen Pilgern zu warten, während der schreckliche Höhepunkt der Ereignisse der letzten Nacht bevorstand. Aber konnten sie wirklich nichts anderes tun als zuzusehen? Die Prinzessin sank zu Boden, und der Kleine hockte sich neben sie. In der schwachen Morgendämmerung sah man Bewegungen auf den rubingeschmückten Stufen, aber noch blieb alles ruhig. Merk würdig, dass noch gestern Abend eine so überschäumende Stim mung geherrscht hatte. Pilger hatten die Absperrungen durchbro
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chen, die Wachen mussten sie zurückschlagen, und die Hysterie hat te wie ein Lauffeuer um sich gegriffen! Plötzlich kam ihm das alles so weit weg vor, so unwirklich! Der Kleine dachte darüber nach, wie weit sie wohl vom Boden entfernt waren, und hoffte, dass es keine weiteren Erdstöße mehr gab. Die Pilger hatten furchtsam von der Erregung des Feuergottes gesprochen. Von seiner Wut. Seiner Ruhelosigkeit. Oder Freude. Oder Trauer. Vielleicht würde sich die Gottheit bald schon so richtig aufregen! »Prinzessin?«, fragte der Kleine. »Es ist noch nicht vorbei, nein? Nicht wirklich?« Das stumme Mädchen drehte sich zu ihm um. Sie war blass, und Tränen schimmerten in ihren Augen. Es ist vorbei, schien sie sagen zu wollen. Ja, es ist vorbei. Wir haben uns bis hierher durchgekämpft, aber was können wir schon tun? Nichts. Mein schimmerndes Selbst ist verheiratet, ganz gleich, was das für Folgen haben mag. Schon bald werden sie die Wahrheit entdecken, wenn sie die Kammer der Erfüllung öffnen. Was wird dann aus diesem Reich? Der Kleine seufzte. Er hatte so lange versucht, den Mut nicht zu verlieren, doch jetzt drückte ihn die Verzagtheit wie ein Leichentuch nieder. Als sie gestern Abend in der Heiligen Stadt angekommen waren, hatten sie sich an den Toren des Palastes gezeigt. Was nützte es? In einer Stadt, in der es von fanatischen Pilgern nur so wimmelte, waren sie nur drei Wahnsinnige mehr. Die Wachen hatten sie verächtlich ausgelacht und brutal auf die Straße geworfen. Der Kleine seufzte erneut. Er streichelte zärtlich die Promenadenmischung, die zwischen ihnen lag, hechelte und mit dem Schwanz auf das brüchige Dach klopfte. Der arme Regenbogen! Die Knochen traten deutlich unter seinem Fell hervor. Das war wieder räudig und schwarzbraun, aber sie riefen ihn immer noch mit seinem Namen aus der Traumdimension. Wären sie nur wieder dort! Jafir stand plötzlich vor ihnen. »Ich dachte«, sagte der fette, kleine Kerl, »dass die Prinzessin sich
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mit sich selbst konfrontieren wollte. Ich meine, mit ihrem anderen Selbst.« »In dieser Menschenmenge?«, fragte der Kleine. »Das ist hoffnungslos!« »Jetzt überraschst du mich wirklich, mein Junge«, erwiderte der Ex-Dschinn. »Nichts ist unmöglich. Manchmal braucht man einfach nur eine ... eine andere Perspektive! Ja, das ist das richtige Wort. Eine neue Perspektive.« Der Kleine deutete nach unten. »Die haben wir ja wohl.« »Genau. Wir sind doch wohl kaum durch die Wüste gepilgert, um gleich bei der ersten Schwierigkeit aufzugeben, hm?« »Das ist wohl kaum die erste Schwierigkeit. Und außerdem dach te ich, du wärst ganz gut im Aufgeben.« »Hah! Sicher, ich war von der Traumdimension enttäuscht. Das ist doch nur verständlich, oder? Wenn man glaubt, man ist im Paradies, freut man sich ja wohl kaum, wenn man sich plötzlich mitten in der Wüste wiederfindet.« »Das stimmt.« »Ach, und diese strapaziöse Reise!« »Ohne Pustel hätten wir es niemals geschafft.« Sie schwiegen einen Moment und dachten an ihren toten Kame raden. »Wir müssen etwas unternehmen, richtig?«, fuhr Jafir fort. »Wir schulden es dem Schiffsjungen«, fügte er dann unerwarteterweise hinzu. »Seinem Andenken.« »Wir hatten so viel Magie«, meinte der Kleine. »Wenn wir jetzt nur noch ein bisschen davon hätten!« Der Junge wollte seufzen, als die Prinzessin plötzlich seinen Arm packte. Offenbar hatte sie eine Idee. Mühsam rappelte sie sich auf. Dann breitete sie die Arme aus, und ihre Gefährten sahen zu, wie das stumme Mädchen erstaunlicherweise anfing, zu singen. Ihre rei ne Stimme klang wie eine helle Glocke und erhob sich über das Chaos unter ihnen.
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In meinem Kopf sind Fünf Verschwinden. Verschwinden eines nach dem anderen; Eines geschieht unter einem sengenden Himmel, Zwei in der blauen Tiefe, Das Dritte Verschwinden am helllichten Tag, Das Vierte im dunklen Spiegel. Aber erst wenn es Fünf Verschwinden gab, Werde ich wieder wirklich sein! Das Lied mochte eine hoffnungslose, nutzlose Geste sein, aber als die wunderschöne Stimme die Nacht erfüllte, geschah etwas Merkwürdiges. Am Gewand der Prinzessin flackerte ein seltsames Licht auf. Es begann am Saum, doch Momente später wurde sie von einer geheimnisvollen Aura umhüllt. Schönheit erleuchtete ihr müdes Gesicht, und ihre Lumpen verwandelten sich plötzlich in ein königli ches Gewand. Regenbogen bellte und sprang um sie herum. Durch die Strahlen ihrer Aura bekam auch sein räudiges Fell wieder die magischen Farben zurück. Jafir sah ungläubig zu und hielt eine Hand vor den Mund. Der Kleine zitterte und fragte sich, was das wohl zu bedeuten hatte. Plötzlich kam aus dem Dunkel eine Gestalt auf sie zu. »Storch!«, rief der Kleine. Storch antwortete nicht. Stattdessen ging er schweigend und ernst weiter und kniete wie ein Gläubiger vor der schimmernden Vision nieder. Mit der Hand umklammerte er eine goldene Münze, Ehr fürchtig legte er sie auf den Boden. »P ... Prinzessin, Ihr seid a ... arm. Nehmt unseren R ... Reich tum a ... an.« »Storch?«, sagte der Kleine. »Storch, kannst du mich hören?« Nacheinander traten auch Storchs Kumpane aus dem Dunkel, und der Kleine konnte nur staunend zusehen, wie seine alten Freun
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de aus dem Reich von Un der Prinzessin ihre Spenden zu Füßen legten. »Dieses uralte Amulett soll Euch vor allem Bösen schützen.« »Dieses Band soll Eure inneren Kräfte vergrößern.« »Diese Kugel lässt Euch alles sehen, was jenseits Eures Blickfelds liegt.« »Prinzessin, ich übergebe Euch die Konar-Lampe.« Die Unner warfen sich nieder, gebannt von der magischen Aura der Prinzessin.
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39. Der Mosaikboden
Bohne taten alle Glieder weh und ihm schmerzte der Kopf vom Gewicht der Maske. Die stockfinstere Nacht lockte ihn, sie abzunehmen, aber die Furcht, dass er sie vielleicht nicht mehr aufsetzen konnte oder dass er unmaskiert einschlief, hielt ihn davon ab. Ob das jedoch noch eine Rolle spielte? Wenn die Ereignisse des neuen Tages so eintreten würden, wie es bestimmt war, was machte es dann noch für einen Unterschied, was er tat? Seine Augen brannten, wäh rend er auf die Pilger hinabblickte. Wie gläubig sie ihre heilige Nachtwache hielten! Er verachtete ihre Dummheit, aber dann dach te er an seine eigenen Narrheiten und beneidete stattdessen ihren schlichten Glauben. Rajal zitterte, aber ob es wegen der Schrecken der letzten Nacht war oder wegen denen, die noch vor ihnen lagen, vermochte er nicht zu sagen. In Gedanken durchlebte er immer wieder den Tod des We sirs. Rajal hätte niemals erwartet, dass eine solche Wut aus ihm herausbrechen könnte, ein so wilder, unbeherrschter Zorn. Es scho ckierte ihn, und er fühlte sich elend. Gleichzeitig bemühte er sich, die Bilder zu unterdrücken. Er dachte an Cata. Was sie wohl ertra gen musste? Ihr Opfer erstaunte ihn, aber andererseits, dachte er,
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kann sie sich opfern, weil sie Jem liebt. Das konnte Rajal nur zu gut verstehen, und zwar schon damals, als er sich noch so albern benom men hatte. Er spürte Bohne, der neben ihm kauerte, und fragte sich, ob er jetzt auch albern war. Schüchtern griff er nach der Hand sei nes neuen Freundes. Bohne dachte an Polty. Er war ja schon früher von Polty getrennt gewesen, aber niemals so endgültig. Er überlegte sogar jetzt noch, ob er an Poltys Seite eilen würde, wenn dieser ihn brauchte. Und ihm vergab. Bohne kniff die Augen zusammen und unterdrückte die Tränen, die sich darin sammelten. Er konnte nicht anders: Die Bin dungen, die ihn ans sein altes Leben fesselten, waren mannigfacher Natur und reichten tief. Sie waren so stark wie Eisenketten. Bohne fühlte Rajals Hand und versuchte, darüber nachzudenken, was die se neue Freundschaft wohl brachte. Ja, das war gut. Das war richtig. Er konnte nicht mehr zurück. Rajal schluckte schwer. Er wagte es nicht, den Kopf zu drehen, und hielt Bohnes knochige Hand fest, als die ersten roten Lichtstreifen am Horizont aufflammten und die Sonne das andere Ende des Boulevards in ihr Licht tauchte. Plötzlich schmetterte eine Fanfare, und die beiden jungen Männer fuhren erschreckt auseinander. Die königlichen Gäste schlurften heran und nahmen ihre Plätze ein. Ei nige, die an den Pfeilern eingeschlafen waren, wurden mit unsanften Stößen geweckt. Das Schnarchen endete schlagartig, und der ver traute Trommelwirbel setzte ein. Die Wachen traten vor und öffne ten die ungeheuren, eisernen Portale. Die Pilger lagen davor auf den Knien, verbeugten sich und murmelten Gebete. Als die Alten das Heiligtum betraten, fiel Rajal etwas Merkwürdiges an ihnen auf, aber er wusste nicht genau, was es war. Er wür de niemals herausfinden, dass es nur zehn und nicht zwölf waren. Dafür blieb ihm keine Zeit. Der Sultan lenkte ihn ab. Ohne seine Maske wirkte Kaled abgezehrt und verzweifelt, während er zur Treppe ging und wie trunken schwankte. Sein verschlafener Blick glitt über die Menge, und dann wandte er sich plötzlich an die mas kierte Gestalt, in der er den Kalifen von Qatani vermutete.
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»Bruder, es ist alles vorbei! Bruder, küss mich, bevor ich sterbe!« Panik ergriff Rajal, als der Sultan ihn zunächst heftig an die Brust drückte und sich dann ungeschickt bemühte, ihm die Maske abzu nehmen. Rajal schrie auf. Bohne stürzte vor. Gleich würde Rajals Maske fallen, aber da gab es eine weitere Störung. Es war eine Gnade. Allerdings war sie nur von kurzer Dauer. Verwirrung ergriff die Menge. Jemand drängelte sich rücksichts los vor. Dann stiegen Schreie empor. Erstaunt blickte Kaled auf die zerbrechliche Frau, die die rubingeschmückte Treppe erklomm. Es war Mutter Madana... Lammy! Sie jammerte kläglich, und jetzt bemerkte Kaled, dass sie nicht allein war, sondern eine kleine Prozes sion anführte. Aber es war eine ganz andere Prozession, als die von der Nacht zuvor. Hinter der alten Sklavin folgten in einer unordent lichen Reihe die Targon-Diener. Kaled sollte nie erfahren, wie sie es geschafft hatten, bis zur Treppe vorzudringen. Aber vielleicht war die Last, die sie trugen, so furchtbar, dass sie selbst die dichteste Menge zu teilen vermochten. Vier Targons reckten ihre Hände voller Trauer in die Luft, und der fünfte trug den schlaffen, kalten Leichnam eines schlaksigen Jungen in den Armen. Kaled sank auf die Knie und stöhnte. Mutter Madana stieg die Stufen hinauf. Sie war von schmerzlicher Trauer erfüllt, und ihre Augen glühten in einem schrecklcihen Feuer. Mit zitternden Händen deutete sie erst auf den Leichnam und dann auf den Sultan. »Mord ...!«, flüsterte sie und wiederholte das Wort schreiend. »Mord!« »Lammy ... Lammy«, stieß der Sultan verwirrt und schockiert hervor. Er beugte sich vor, als wollte er sie umarmen, als wollte er an ihren Busen sinken. Gleichsam wie früher, als wären sie noch Amme und Kind. Sie wich vor ihm zurück. Er hielt sie brutal fest. »Lammy!« »Mord ... Mord!« Sie schlug ihm ins Gesicht. Das war Blasphemie, und zwar die Schlimmste, die es gab. Die Wächter sprangen vor.
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»Ach, Lammy, Lammy ...!« Die Stimme des Sultans klang ver zweifelt. »Tötet sie!«, schrie er dann. »Tötet sie!« So kam es, dass weder die Pilger noch die Imams, noch die vorneh men Gäste das letzte Wort der alten Frau hören konnten, welches sie dem Sultan leidenschaftslos ins Gesicht sprach. Es lautete nicht »Mord!«, sondern »Mörder!« Ein Krummsäbel trennte ihren runzligen Kopf vom Leib, bevor die letzte Silbe ihre Lippen verließ. Blut sprudelte aus ihrem Hals und befleckte die Roben des Sultans. Kaled schlug die Hände vors Gesicht, als wäre es eine Maske, die er wegreißen konnte. Er schwankte, stürzte dann jedoch unvermit telt vor und riss dem Wächter den blutigen Säbel aus der Hand. Ent schlossen wandte er sich den Pilgern zu und stieß die Worte hervor, als wären es zischende Schläge mit dem Säbel. »Mein Sohn ist ermordet worden! Will ein Hochstapler etwa meinen Thron usurpie ren? Der Verräter muss sterben, und die Prinzessin gehört mir!« Schreie ertönten, als Kaled sich umdrehte und durch das Portal stürmte. »Ich verstehe das nicht!«, stieß Rajal hervor. »Was geht hier vor?« »Der Prinz ist tot«, stellte Bohne nachdrücklich fest. »Also ... Wer war das gestern Nacht?« Aber ihnen blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken. Die Pilger stürmten die rubinroten Stufen, und die Wachen schlugen wie von Sinnen auf sie ein. Die königlichen Gäste und die Imams rannten um ihr Leben. Die Targons waren längst überwältigt worden, und die Pilger hatten sich des Leichnams bemächtigt. Voller Trauer zerrten sie an der königlichen Leiche. In wenigen Augenblicken würde sie wie von Geiern in blutige Fleischfetzen zerrissen werden. Rajal packte Bohnes Arm. »Schnell! Kaled ...! Wir müssen ihn aufhalten!« Sie liefen in das Heiligtum, unmittelbar bevor die eisernen Portale die Menge ausschlossen, und bevor sich eine andere, unbedeuten
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dere Konfrontation unten in der Menge ereignete. Zwei alte Frauen, jedenfalls wirkten sie wie zwei alte Frauen, kämpften sich zu Lam mys geköpftem Leichnam vor. Sie sollten ihn zwar nicht erreichen, aber wenigstens kamen sie ihm so nah, dass sie sich gegenseitig in die Augen sehen konnten. Die eine wich zurück, angewidert vom Anblick ihres Bruders, der in die vornehmen Gewänder eines Hofeu nuchen gekleidet war. Die Augen des Eunuchen glühten, als er erneut und zum letzten Mal die Schwester sah, die seine liebste Lam my vor so langer Zeit hintergangen und in die Sklaverei verkauft hat te. Da trennte die Menge sie, und im nächsten Augenblick blieb von ihrer Schwester unter den trampelnden Füßen des entfesselten Mobs nur noch eine unkenntliche Fleischmasse übrig, die von den Stufen tropfte. In dem Augenblick begann die Erde erneut zu beben, heftiger als je zuvor. Das Licht der Kristalle wurde schwächer. Schon bald spendeten nur noch die Scheiben in den Wänden ihr blasses Licht. Jem und Cata lagen aneinander geschmiegt auf dem blütenübersäten Bett, als auch die Blüten und die prächtigen Möbel allmählich verblassten. Blätter welkten, Zweige verschrumpelten. Samtvorhänge wurden immer dünner, und die Stickereien verblass ten zu einem fahlen Grau. Schon bald verschwand auch das Bett, ebenso wie die Masken und die vornehme Kleidung, die sie in der Nacht zuvor getragen hatten. Nur die Blüten verschwanden nicht, sondern formten sich zu einem Stoff, der über ihre Gliedmaßen kroch. Als der Morgen dämmerte, trugen sie schlichte weiße Roben ohne jeden Schmuck bis auf die Kristalle, die jetzt verborgen von ihrem Hals herunterhingen. Das Rumpeln des Felsens dröhnte in ihren Ohren. Sie lagen auf dem spiegelnden Boden in des anderen Armen. »Küss mich Jem, und denk an unsere Liebe.« Erneut versank Jem in die umhüllende Wärme von Catas Kuss. Er
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dachte an all das, was in der letzten Nacht geschehen war, und wuss te, dass nichts, nichts in seinem ganzen Leben ihm jemals so viel be deuten würde wie Cata. Die Suche, die vor ihm lag, war dunkel und gefährlich, aber wie sollte er scheitern, da sie jetzt wieder zusam men waren? Er betete, dass er Cata niemals wieder verlieren würde. Sein Gebet sollte nicht erhört werden. Gefangen in ihrer Umarmung bemerkten weder Cata noch Jem die beiden Gestalten, die jetzt auf sie zuschlichen und sich über den hellen Glasboden näher ten. Die angeblichen Imams schlugen ihre Kapuzen zurück und ent hüllten einen bekannten, fettigen Schnurrbart und das vertraute, flammend rote Haar. »Pah! Immer noch dabei?« »Vermutlich fangen sie gerade erst an!« Die Liebenden fuhren auseinander und schrien auf. Genau wie die Eindringlinge. »Die Prinzessin? Aber das ist eine Hure!« »Jem! Cata! Was ist das für ein Trick?« Hastige Schritte ertönten. Jem stürzte sich auf Polty, der sofort zuschlug. Der Hurenbock kümmerte sich um Cata. Sie schlug ihm ins Ge sicht. Er schwankte, erholte sich aber sofort und stürmte hinter ihr her. Sie trat um sich und schlug mit ihren zu Klauen geformten Fin gern zu. Jem schwankte unter Poltys Schlag und versuchte, sich zu wapp nen. Aber Polty war, wie immer, größer und stärker. Er schlug Jem in den Bauch, und Jem stürzte zu Boden. Mittlerweile hatte Eli Oli Ali Cata niedergeworfen. Er hob die Faust und wollte zuschlagen. »Schmutzige Hure, was bezweckst du damit?« Polty stürzte heran. »Sie ist keine Hure, du schmieriges Schwein! Sie ist meine Schwester! Sie ... Sie ist meine Frau!« Wütend stieß er den Hurenbock beiseite und zog Cata auf die Füße. Er packte sie und schüttelte sie leidenschaftlich. »Liebling, was ist passiert? Wie kommst du hierher?«
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»Lass mich los! Lass mich los!« »Liebling, ich bin's, Polty! Dein Bruder ... Dein Geliebter! Ach, was hat dir dieser Krüppel jetzt wieder angetan? Meine Liebste, du musst diese böse Magie bekämpfen. Du musst es tun!« Cata schrie und hätte Polty die Augen ausgekratzt, wenn er nicht ihre Handgelenke gepackt hätte. In der Kammer bebte und rumpelte es. Cata bemühte sich, konnte sich jedoch nicht losreißen. Eli Oli Ali sah verblüfft zu. Wo waren der Prinz und die Prinzessin ? Wie war der andere Ejländer hier hereingekommen, dieser Blon de? Das war doch derjenige, der ihn in der Wüste angegriffen hatte, der Dona Bela aus dem Wagen entführt hatte! Was ging hier vor? Wut und Verwirrung packten den Hurenbock, aber die Angst überwog plötzlich. Das alles gefiel ihm nicht, es gefiel ihm überhaupt nicht. Verflucht sollte der Major-Herr sein! Sollte er doch verrotten! Eli wollte fliehen, und zwar schnellstens! Da fiel sein Blick auf den grünen Kristall, der in einem Beutel am Hals des jungen Ejländers hing. Der lag atemlos auf dem Spiegelbo den. ELI war davon überzeugt, dass dieser Kristall sehr wertvoll war. Ja, er würde fliehen, aber nicht ohne Bezahlung. Er griff Jem an, doch dieser hatte sich erholt. Im nächsten Augenblick rang er mit dem Hurenbock. Der fette Kerl setzte sich rittlings auf ihn und quetschte ihm die Luft aus den Lungen. Aber Jem hielt den Kristall fest und würde ihn nicht loslassen. Der Hurenbock schlug Jem gegen den Kopf. Jems Kopf flog zur Seite. Er sah Cata, die sich entsetzt in Poltys Griff wand. »Polty!«, stieß er keuchend hervor, während er mit Eli Oli Ali rang. »Hör auf damit!... Lass sie in Ruhe! Ich weiß nicht, warum du hier bist... Und ich weiß auch nicht, was du vorhast... Aber ist dir nicht klar, dass ... wir in schrecklicher Gefahr schweben?« Polty hörte nicht. Seit er Cata gesehen hatte, war alles andere in seinem Gehirn ausgelöscht. Die Liebe überwältigte ihn. Wie kühn
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und wie vornehm hatte er sie hier wegführen wollen, nachdem er sie aus den Klauen der dunklen Magie dieses Krüppels befreit hatte! Aber Cata widersetzte sich ihm, und plötzlich entflammte ihr Wi derstand Poltys Wut. Sein Bildnis schimmerte in dem spiegelnden Boden. Sein Gesicht verzerrte sich, und seine Haut lief blau an. Flammen züngelten aus dem kartottenroten Haar. »Miststück!«, schrie er. »Begreifst du denn nicht, dass du mir gehörst?« »Niemals!«, schrie Cata und spie ihm ins Gesicht. »Ich hasse dich, ich hasse dich!« »Dafür wirst du bezahlen!« Er schlug sie, und dann packte er ihr Kleid, als wollte er es ihr vom Leib reißen. Sie wand sich, und er erwischte den Beutel mit dem Juwel. Der purpurfarbene Kristall rutschte über den Boden, aber Polty achtete in seiner blinden Raserei nicht darauf. Erneut schlug er zu. Diesmal stürzte Cata zu Boden. »Miststück!«, schrie er. »Schlampe! Vielleicht müssen wir untergehen, aber erst kriegst du, was du verdienst! Du stößt mich wegen eines Krüppels zurück? Ich werde dir zeigen, wozu ein richtiger Mann fähig ist!« Mittlerweile glich Poltys Kopf einem wahren Leuchtfeuer. Sein Gesicht war vollkommen verzerrt. Der Anti-Gott strömte aus dem bebenden Boden, aber Poltys Wut war zu stark. Außerdem regte sich jetzt auch seine Lust. Er dachte weder an die Kristalle noch an die Suche. Für ihn gab es nur Cata ... die wunderschöne Cata ... Der Hurenbock hatte Jem losgelassen. Dieser dämonische An blick entsetzte ihn ebenso wie die bebende Erde. Der schmierige Kerl wollte nur noch sich selbst retten und vergaß schlagartig den Kristall. Die anderen achteten nicht auf ihn, als er floh und die Treppe hinunterlief. Aber es war zu spät. Denn auf der Treppe stürmte er einen Augenblick später auf den wütenden Sultan Kaled zu. Dem Hurenbock blieb nicht einmal genug Zeit aufzuschreien, als auch schon der
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Krummsäbel wie die Klinge des Henkers niedersauste und ihre zweite Exekution in dieser Nacht vollzog. Der Kopf hüpfte wie ein Ball die Stufen hinunter. Jem kroch über den Boden und versuchte aufzustehen. Er rang nach Luft. Wenn es nötig war, würde er sterben, um Cata zu retten. Polty hatte seine Roben und auch eine Hose aufgerissen. Der Kampf, die Schläge und die Hiebe hatten seine Erregung ins Unerträgliche gesteigert. Der mächtige Penge bog sich schimmernd em por, bereit sich zu vergnügen. Gleich würde er zustoßen. Polty sah auf das ausgestreckt daliegende Mädchen hinab. Noch nie, niemals, hatte er sie mehr geliebt als jetzt. Der Moment war gekommen! War er nicht! Ein wilder Schrei drang an sein Ohr. Polty drehte sich um und sah, wie sich der Sultan mit erhobenem Säbel auf ihn stürzte. Das Blut von zwei Morden tropfte von der Klinge. »Hochstapler! Dämon!« Der Krummsäbel zischte herunter. Polty sprang zurück. Zu spät. Mit einem Hieb hatte die Klinge sein Fleisch durchtrennt und Penge an der Wurzel abgeschnitten. Wie ein Aal zuckte das Stück Fleisch im Zickzack über den Boden und hinterließ eine blutige Spur. Polty brach brüllend zusammen. Das Blut sprudelte zwischen seinen Schenkeln hervor. Er schrie Penges Namen und krabbelte geschüttelt von Krämpfen hinter dem glitschigen, abgetrennten Organ her. Verzweifelt versuchte er, es mit seinen zitternden Fingern zu packen. »Polty!« Bohnes klagender Ruf übertönte Poltys Schreie. Bohne und Ra jal hatten in dem Moment das obere Ende der Treppe erreicht, als der Säbel des Sultans herabsauste. Jetzt riss sich Bohne von Rajal los und rannte zu Polty, brach schluchzend über ihm zusammen.
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Rajal schwankte, als er Jem sah. Cata schrie: »Lasst mich los! Lasst mich los!« Dieses Mal hatte Kaled sie gepackt. Ihr dunkles Haar fiel ihr ins Gesicht, aber der Sultan war so vom Wahnsinn beherrscht, dass er nicht merkte, wie sich die Prinzessin der letzten Nacht geheimnis vollerweise in ein ganz anderes Mädchen verwandelt hatte. Drau ßen auf den Stufen lag immer noch Simonides und rührte sich nicht. Eli Oli Alis Kopf schaukelte noch hin und her, und aus den abge trennten Adern rann Blut. Der Flammenhaarige schrie unablässig, und mittlerweile waren auch Fremde in den Raum eingedrungen. Ein geheimisvoller Kristall lag glühend auf dem Boden. Den Sultan kümmerte das alles nichts. Nichts war ihm noch wichtig außer seinem Ehegelübde. Nichts war von Bedeutung außer der Heiligen Flamme. Er riss eine goldene Schnur von seinem Gewand und fesselte Cata damit an seine Taille. Dann zerrte er sie zur Treppe. »Halt!« Jem rappelte sich hoch. Er schwankte einen Moment benommen, dann war Rajal an seiner Seite. »Jem! Bist du in Ordnung?« »O Raj ... Raj, schnell! Der Kristall!« Rajal brauchte keine weitere Aufforderung. Im nächsten Augen blick war der Kristall des Koros sicher in seinem Wams geborgen. Jem und Rajal stürmten aus der Kammer. »Der Sultan!«, keuchte Jem. »Wir müssen ihn aufhalten!« Rajal hatte keine Zeit mehr, zu Bohne zurückzublicken. Das war vielleicht auch gut so, denn der Anblick hatte ihn wahr scheinlich gequält, erstaunt und entsetzt. Er hätte mit ansehen müssen, wie Bohne, der seinen neuen Freund offenbar vollkommen ver gessen hatte, den bebenden Polty in seine Arme nahm. Dann hätte er die plötzliche Helligkeit gesehen, die vom Boden ausstrahlte, und den Blitz, der den Boden der bereits Sprünge hatte, in einem Augenblick in Tausende glitzernder Bruchstücke zersplitterte. Wer kann schon sagen, was dann passierte? Vielleicht war es ein
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letztes Aufbäumen von Poltys merkwürdiger, geborgter Macht, die sich selbst verzehrte. Vielleicht war es auch die Magie des Anti-Gottes, der nach seinem angeschlagenen Diener griff. Auf jeden Fall war es in einem Moment, in einem einzigen Augen blick vorbei. Der Blitz verschwand, und ebenso Polty und Bohne. Nur ihre Schatten waren noch kurz auf dem seltsamen Mosaik des Bodens zu sehen.
40. Rückwärts »Die Flamme ... Nein!« Weiter unten flammte ein anderes Licht auf, gerade in dem Moment, in dem Kaled mit der an ihn gefesselten Cata den Fuß der Treppe erreichte. Die Erde bebte erneut, und einen Augenblick schien es, als bräche die Flamme aus ihrer felsigen Fassung und erfülle das Heiligtum mit einem gewaltigen Feuerball. Kaled stolperte zurück und bedeckte schützend seine Augen. Cata drehte sich zur Seite. Plötzlich nahm das Licht ab, die Erde schwieg, und vor ihnen, stand lüstern und bedrohlich, gekleidet in seine blutgetränkten Ro ben, der Anführer der Ouabin, Scheich Rashid Amr Rukr! Er schwang seinen Säbel durch die Luft. »Sultan! Das Mädchen gehört mir!« »Niemals!«, schrie Kaled! »Mein Sohn ist tot! Das Schicksal befiehlt, dass die Prinzessin jetzt meine Braut wird!« »Narr! Du redest von Schicksal? Deine Blutlinie ist zu Ende! Du kannst nicht siegen! Verbeuge dich vor mir, Sultan! Lass mich dich mit Würde töten, mit einem Schlag meines Säbels... Oder möchtest du sterben, während du dein wertloses Leben verteidigst?« »Blasphemischer Hund, du bist es, der sterben wird!« Schreiend stürzte sich der Sultan auf den Führer der Ouabin. Cata, an Kaled gebunden, wurde hinterhergezogen. Stahl schlug auf
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Stahl, dann wich der Sultan zurück. Cata schrie. Feuer zuckte aus dem Säbel des Ouabin und zischte wie Sterne um seine goldene Gestalt. »Was ist das für ein Betrug?«, keuchte der Sultan wie betäubt. »Ich sagte dir doch, Sultan, die Götter sind auf meiner Seite!« »Die Götter? Die Köter, meinst du wohl, Ouabin! Nur die Köter!« Erneut griff der Sultan an. In dem Moment stürmten Jem und Rajal die Treppe hinunter. Jem hatte nur Augen für Cata, die sich in ihren Fesseln wand und unter den Schlägen taumelte, die den Sultan zurücktrieben. »Er ist wahnsinnig! Er wird sie töten!« Jem wusste, dass er Cata retten musste. Sonst würde er sterben. Überall lagen Felsbrocken herum, die durch die Erdstöße aus den Wänden der Höhle gebrochen waren. Jem packte einen großen Bro cken. Die Kämpfer umkreisten sich und parierten ihre Schläge. Ra shid drehte Jem den Rücken zu. Er sprang vor und schlug mit aller Kraft zu. Aber der Ouabin stürzte nicht. Stattdessen drehte er sich um! Seine Augen glühten, als er nach Jem schlug. Jem sprang zurück. Das war Catas Chance. Sie warf sich gegen den Sultan. Er taumelte, stürzte, und der Säbel fiel ihm aus der Hand. »Jem!« Cata trat gegen die Waffe, und sie rutschte über den Bo den. Jem packte sie. Der Ouabin stürmte vor. Jem sprang erneut zurück. Das Fauchen der Flamme erfüllte die ganze Höhle. Er fühlte ihre Hitze auf seinem Rücken. Das magische Schwert des Ouabin sauste hinunter, aber Jem stieß nicht zu. Er hatte einen Plan. Einen verzweifelten Plan, aber es war der Einzige, der ihm einfiel. Rajal hatte mittlerweile ebenfalls eine Waffe gefunden. Neben der ausgestreckten Gestalt von Simonides glitzerte ein blutiger Dolch auf der Treppe. Rajal ergriff ihn und drehte sich dann rasch wieder zum
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Kampfgeschehen um. Von Entsetzen geschüttelt, erinnerte er sich an andere Bilder der Gewalt. An Wesir Hasem. Die Schläge, das Blut. Nein, dachte er. Nein, denk nicht daran! Er sprang vor und zerschnitt Catas Fessel. Dann packte Rajal seinen Dolch fester und sah auf den Sultan hinunter. »Feigling!«, schrie jemand, und einen Moment dachte Rajal, der Ruf gelte ihm. Es war jedoch der Ouabin, der Jem anschrie. Jem wich immer weiter zurück. »Schwächlicher Ejländer! Kümmerlicher Weichling! Komm schon, kämpfe wie ein Mann gegen mich!« »Gegen ein magisches Schwert? Nennst du das wie ein Mann kämpfen, Ouabin?« »Du willst mich verspotten, Ejländer? Stirb!« Jem sprang zur Seite, und der Ouabin wirbelte herum. Jetzt schlug Jem mit aller Kraft zu. Goldene Magie strömte von dem Ouabin aus. Sie zuckte über Jems Säbel und floss durch seine Nerven. Er schrie gequält auf, schlug jedoch immer wieder zu. Das genügte. Ein Brüllen übertönte das Fauchen, als Scheich Ra shid Amr Rukr in die Flamme stürzte. Rajal fuhr erschreckt herum. Im selben Moment sprang der Sultan hoch und schlug Rajal den Dolch aus der Hand. Jem stand dicht an der Flamme und schwankte. Cata lief zu ihm und zog ihn zurück. »Jem! Den Göttern sei Dank!« Jem seufzte und wollte in Catas Arme sinken. »Jem!«, schrie Rajal. »Pass auf!« Kaled stürmte vor und umklammerte den Dolch. Er hätte Jem in den Hals gestochen und Cata erneut gepackt. Aber Jem wirbelte gerade noch rechtzeitig herum. Sein Säbel zischte, und Kaled stürzte vornüber. Mit klaffendem Schädel, aus dem Blut und Hirnmasse quollen, lag er wie ein Opfer vor der röhrenden Flamme.
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Jem drehte sich angewidert um, ließ die Hand sinken und den Sä bel fallen. Eine Weile hörte man nur das Fauchen der Flamme. Atemlos schwankten die drei Freunde aufeinander zu, sanken sich in die Arme und hielten sich fest. »Ihr wart tapfer, meine jungen Freunde, aber die Schlacht ist noch nicht vorbei!« Es war Simonides. Der alte Mann hatte sich aufgerappelt und presste eine Hand auf die Seite seiner blutgetränkten Robe. Zitternd lehnte er am Fuß der Treppe an der Wand und verzog vor Schmerzen sein Gesicht. Bevor sie zu ihm gehen konnten, ertönte eine andere Stimme aus einer Ecke. Ihr Tonfall war ganz anders. »Der alte Mann hat Recht. Ich glaube, wir haben da noch eine An gelegenheit zu erledigen.« »Lord Empster!« Jem sah ihn staunend an. Sein Beschützer trat vor. Zuerst war Jem beim Anblick des ver trauten, dunklen Umhangs, des breitkrempigen Huts und der qual menden Pfeife erleichtert. Ihm war, als wäre die Vergangenheit wie dergekehrt und er nichts weiter als das linkische junge Mündel des Edelmanns. Eine Zeit lang war Lord Empster trotz seines merkwür digen Verhaltens und seiner geheimnisvollen Art ein Halt für Jem gewesen, der Vater, den er nie kennen gelernt hatte, und der Leit stern seiner Suche. Doch jetzt erinnerte sich Jem an die Kreatur, die er in der Kajüte seines Beschützers gesehen hatte, an die Nacht des grünen Blitzes. Und dann fiel ihm auch wieder ein, was Cata ihm am Abend über die Dinge berichtet hatte, die Lord Empster während des Rituals der Neuverlobung getan hatte. »Ihr scheint nicht sehr froh darüber zu sein, mich zu sehen, jun ger Prinz.« »Wer seid Ihr?«, flüsterte Jem. »Was wollt Ihr?« »Was für Fragen!« Lord Empster lachte. »Also wirklich, Jemany, Ihr seid ein höchst merkwürdiger junger Mann. Ihr seid doch der
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Schlüssel zum Orokon, nicht wahr? Habe ich Euch nicht für Eure geheimnisvolle Suche ausgebildet? Was sollte ich schon anderes wol len, als dass Eure Suche Erfolg zeitigt? Wirklich, was anderes sollte ich wollen?« Er drehte sich zu Rajal und dann zu Cata um, aber ihre Mienen waren wie die von Jem, ablehnend und verschlossen. »Sie glauben Euch nicht«, keuchte Simonides. »Verruchter, Ihr könnt vielleicht eine Weile alle täuschen, aber am Ende wird die Wahrheit klar. Und jetzt ist sie klar.« »Ach ja?« Lord Empster sog an seiner Pfeife. Sein Tonfall war nicht mehr fröhlich plaudernd, und eine böse Macht schien aus sei nen Augen zu strömen. »Du weißt alles, nicht wahr, Simonides? Ich würde mich nicht zu sehr auf deine dürftigen magischen Kräfte ver lassen, wenn ich du wäre. Seniler Narr, was weißt du schon?« Simonides antwortete nicht, sondern sank zu Boden. Blut ström te aus der Wunde an seiner Seite. Er stöhnte fürchterlich, während Lord Empster ihn ungerührt anstarrte. »Hört auf!« Cata sprang vor und schlug dem Edelmann ins Gesicht. Dabei flog ihm der breitkrempige Hut vom Kopf. Sein Schädel war haarlos und glänzte seltsam. Aber das war nicht alles. Lord Empster veränderte sich und wurde wieder zu diesem unmenschlichen Ding. Die Wolken um sein Gesicht verflogen, sein Umhang fiel von ihm ab, und plötzlich flammte die goldene Gestalt auf. Cata schrie und stolperte zurück. Doch dann schrie sie erneut, als er sie packte und zur Flamme zerrte. »Lasst sie los!«, schrie Jem, aber bevor er etwas tun konnte, brannte ein heftiger Schmerz in seiner Brust, und er stürzte rück lings zu Boden. Es war der grüne Kristall, der glühte und heißer an seiner Haut brannte als je zuvor. Jem sah zu Rajal und bemerkte, dass auch der purpurne Kristall glühte. Sein Freund brach zusam men und wand sich auf dem Boden. Ein Rumpeln ließ den Boden erbeben. »Du hast deine Sache gut gemacht, Schlüssel zum Orokon!«, rief die Kreatur lachend, die einmal Lord Empster gewesen war.
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»Zwei Kristalle haben wir schon, und ein dritter ... Nun, ich denke, wir sind kurz davor, den Dritten zu erobern, meinst du nicht? Ich hatte zwar gehofft, dass der Ouabin die Arbeit für mich erledi gen würde, denn meine Macht hat sich verausgabt, weil ich mich so lange in dieser unwichtigen Welt aufgehalten habe. Aber meine Dummheit zeigt nur, wie schwach ich schon geworden bin! Ich hät te wissen müssen, dass der Ouabin ein nutzloser Narr ist. Ich muss selbst vollenden, was er ungetan ließ. Ich muss den roten Kristall aus seiner menschlichen Hülle befreien! Kommt, Prinzessin, ich reinige Euch in der Flamme!« Cata wehrte sich, aber das Geschöpf war zu stark. Er holte aus und wollte sie in die Flamme stoßen. Erneut rumpelte es. Die Erde bebte heftig, und die Flamme fla ckerte ungeheuerlich. Ihr Fauchen war noch heftiger geworden. »Narr!«, schrie Simonides. »Narr, betrachtet doch ihr Gesicht!« »Du nennst mich einen Narren, alter Mann?«, spie die Kreatur hervor. »Glaubst du denn, ich durchschaue diesen Schleier des fal schen Scheins nicht? Das Äußere dieses Mädchens mag sich immer und immer wieder verändert haben, aber in ihr ist die Essenz von Prinzessin Bela Dona!« »Erneut nenne ich Euch einen Narren! Goldener, Eure Kraft ist wahrhaftig geschwächt, wenn Ihr den Legenden der Ouabin Glau ben schenkt! Ich habe das Schicksal des heutigen Tages gesehen, und ich sage Euch: Werft dieses Mädchen in die Flamme, und Ihr werdet die Dame, die Ihr sucht, niemals besitzen!« Wut glomm in den Augen der Kreatur. Einen Augenblick schien es, als wollte er den alten Mann vernichten. »Dame?«, fragte er stattdessen. »Was weißt du von meiner Dame?« »Ihr schimpft meine Kräfte vielleicht dürftig, aber ich weiß, wer du bist, und ich weiß auch, was du suchst. Agonis, in der langen Ge schichte der Zeit des Sühneopfers bist du heimlich durch diese Welt gewandert und hast immer nach der Dame gesucht, die du verloren hast. Du warst einmal der Gepriesenste unter den Göttern. Aber sieh dich jetzt an! Damals hat der Anti-Gott dich im Tal von Orok
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getäuscht. In der Zukunft, das sehe ich, wird er dich erneut täu schen. Denn in deiner Gier und deinem Wahnsinn wirst du dich ihm verkaufen!« »Lügner! Alter Narr, was kannst du schon wissen?« »Es ist keine Lüge, Agonis! Du hast diesen Jungen die ganze Zeit getäuscht, diesen jungen Prinzen, der jetzt angeschlagen daliegt. Du hast so getan, als wolltest du ihm helfen, die Welt zu retten! Stattdessen willst du diese Welt der Macht von Toth-Vexrah ausliefern, denn du würdest ihm die Fünf Kristalle geben, wenn er dir dafür nur seine Tochter Imagenta gäbe!« »Alter Mann, du weißt nicht, was du da redest! War ich nicht der Einzige, der nicht kämpfte, als meine Schwestern und Brüder sich gegenseitig bekriegten? Du unangesischer Narr, verstehst du denn nicht, dass ich der Gott der Gnade und des Mitleids bin?« Die Erde bebte mittlerweile unaufhörlich. Trümmer fielen von der Decke, und Simonides sank erneut keuchend auf die Knie. Der alte Mann war dem Tode nahe, aber er gab nicht auf. »Gnade? Mit leid?«, schleuderte er dem Gott entgegen. »Dennoch willst du das Kind der Flamme überantworten?« »Das Mädchen muss sterben, damit Millionen leben können! Was ist sie denn anderes als ein Behälter für den Kristall, den sie in sich trägt?« Das stimmt nicht, Goldener. Nichts davon ist wahr! Diesmal war es nicht Simonides, der gesprochen hatte. Die Stimme war neu, eine weibliche Stimme. Aber es war nicht Cata, die gesprochen hatte. Während die Stimme ertönte, erfüllte eine orangefarbene Rauchwolke das Innere der bebenden Höhle. Jem umklam merte den Kristall und hörte erstaunt zu. Seine Verblüffung wuchs, als er durch den abziehenden Rauch auf die kleine Gruppe vertrau ter Gestalten sah. Die eine war der Kleine. Die andere Jafir. Eine war Prinzessin Dona Bela, die eine Konar-Lampe in der Hand hielt. Regenbogen war ebenfalls da. Er hatte schwarzbraunes Fell. Sofort sprang er vor und kläffte den goldenen Gott an.
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Die Stimme der Prinzessin war klar und deutlich zu hören. Jem wusste nicht, wieso sie jetzt sprechen konnte, aber er reimte sich die Erklärung schnell zusammen. Um ihre Stirn hing ein silbernes Band, das bei jedem Wort, das sie äußerte, strahlte und pulsierte. Ihre Lippen bewegten sich dabei nicht. Zwar war Dona Bela noch nicht wieder ganz, aber sie war der Magie nahe, die sie wieder her stellen würde. Ihr Schicksal würde sich bald erfüllen. Goldener, fuhr sie fort. Ich sage Euch, dass das Mädchen nicht sterben darf, denn auch wenn sich ein Geheimnis in ihrem Wesen verbirgt, ist sie nicht diejenige, die Ihr sucht. Tötet sie, und der Kristall wird niemals gefunden! Agonis blickte zwischen dem zappelnden Mädchen in seinen Ar men und der Prinzessin hin und her. Er beförderte Regenbogen mit einem Tritt zur Seite. »Das ist ein Trick!«, fuhr er auf. »Ein böser Trick! Simonides, das ist deine Magie!« »Glaube dem Mädchen, Agonis!«, keuchte der alte Mann. »Glau be Ihr, denn sie spricht die Wahrheit.« »Lügen! Betrug! Stirb, Schimmernde Prinzessin!« Der Himmelsgott wollte nicht länger warten. Aber unmittelbar bevor Cata verbrennen musste, wurde Jem plötzlich schlagartig etwas klar. Er griff sich an die Brust und riss den Kristall herunter, der seine Haut versengt hatte. »Cata ... Der Kristall! Er ist deine einzige Chance!« Er warf den glühenden Stein durch die Luft. Agonis stieß Cata in die Flamme. Sie streckte den Arm aus und fing den Kristall auf. Blendende Blitze schossen aus ihrer Hand, und plötzlich stand sie wieder auf dem Boden der Höhle. Ihre Augen glühten, und mit wehenden Haa ren ging sie auf Agonis los, den glühenden Kristall in der erhobenen Hand. Der Gott wich stolpernd zurück. »Die Verkörperung meiner Schwester... Viana! Was machst du? Viana! Kennst du mich nicht?« »Du bist wahnsinnig geworden, Agonis! Du bist böse! Du kannst nicht gewinnen!«
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Jetzt erhob sich auch Rajal. Die Macht der Viana verlieh auch ihm Kraft. Er packte seinen eigenen Kristall und griff ebenfalls Agonis an. »Koros! Auch du? Bruder, wie kannst du ... wie kannst du ... ?« Grüne und purpurne Strahlen verbrannten den goldenen Gott. Er brach auf dem Boden zusammen, wahrend sein Körper sich allmählich in Rauch verwandelte. Die Strahlen zerstörten ihn jedoch nur scheinbar. In Wirklichkeit sammelte er seine letzte Kraft, um zu verschwinden, wie er es so viele Male zuvor auch getan hatte. In diesem letzten Moment schrie er: Narren! Ihr werdet mich nicht besiegen! Ich komme wieder, hört ihr? Ich sage euch, ich komme wieder. Der Orokon gehört mir! Dann war er verschwunden. Nur das Echo seiner Stimme hallte noch einen Augenblick durch die Höhle. Die beiden Kristalle je doch glühten und glühten. Was als nächstes passierte, dauerte nur einen Augenblick. Regenbo gen kläffte plötzlich wie verrückt. Sie wirbelten herum und schrien auf! Die Flamme! Sie streckte ein langes feuriges Tentakel aus, als wäre sie ein lebendiges Wesen. Wie eine monströse Schlange glitt sie über den Flur. Ihr Ziel war eindeutig, und Jem wurde in ihren Win dungen gefangen. Er schrie und wehrte sich, aber sein Widerstand war zwecklos. Wie ein Kienspan wurde er in die fauchende Feuer säule gezogen. Die Erde zitterte wieder, noch schrecklicher. Cata brach zusammen und trommelte auf die Erde. Dschinn!, rief Dona Bela. Rasch! Rettet ihn! »Prinzessin!«, rief der Kleine. »Sagt: Ich WÜNSCHE ...« »Das ist sinnlos«, antwortete Jafir. »Es liegen viele WÜNSCHE in meiner Macht, aber gegen eine solch gewaltige Kraft kann auch ich nichts ausrichten!« »Er ist tot!«, schrie Cata. Staub und Trümmer regneten auf sie herab, aber Cata wurde schon durch ihre eigene Qual verzehrt. Sie war schrecklicher als die Flamme oder das Erdbeben. »Er ist tot! Was
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spielt das alles jetzt noch für eine Rolle? Es ist überhaupt nichts mehr wichtig!« In diesem Augenblick wäre Cata ebenfalls gern gestorben. Sie war diesen weiten Weg gegangen, hatte all das durchgemacht, und nur, um Jem jetzt zu verlieren? Jetzt, wo sie doch endlich hätten zusam men sein können? Das war zu viel. Was kümmerte sie jetzt noch die Welt? Die war ohne Jem ohnehin zum Untergang verurteilt! Ja, sie würde auch sterben, gern sterben! Cata rappelte sich auf. Tränen vernebelten ihren Blick, während sie auf die Flamme zustolperte. Regenbogen kläffte erneut und sprang Cata an. Sie schwankte und fiel zu Boden. Dann geschah es. »Seht nur!« Der Kleine sah Jem als erster. Er wirbelte in der Flamme umher. Dabei schlug er um sich, als wäre er von Wänden gefangen. Er schrie seinen Trotz heraus. »Ich verstehe das nicht!«, rief Rajal. »Was geht da vor?« Jafir duckte sich und schlug die Hände vors Gesicht. »Magie ... schreckliche Magie! Wir müssen laufen, bevor die Flamme uns alle vernichtet! Prinzessin, WÜNSCHT, dass wir hier verschwinden. WÜNSCHT, Mädchen, WÜNSCHT!« »Nein!« Das war Simonides. »Der Prinz kämpft um sein Le ben ... Aber es gibt einen Weg ... nur einen einzigen Weg ...« Rajal lief zu dem Sterbenden. Als er den alten Mann in die Arme schloss, ergoss sich das Licht des purpurnen Kristalls wie eine Aura um den Kopf des Sehers. »Alter Mann, was ... Was ?« Simonides richtete sich ein letztes Mal auf. Seine Worte waren ein rasselndes Keuchen. »Die Flamme würde ihn eher vernichten ... eher vernichten, als ihr Geheimnis zu verraten! Die Prophezeiung sagt, dass der Kristall gefunden wird, wenn ein schimmerndes Mäd chen zur Flamme gebracht wird ... Diese Narren glaubten, der Kristall wäre ... das Mädchen! Aber meine Imams hatten Recht. Sie hat-
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ten die ganze Zeit Recht! Der Kristall... der Kristall ist... Der Kristall ist die Heilige Flamme!« Rajals Gedanken überschlugen sich, aber er verstand immer noch nicht. Was sollten sie nur tun? Vor Verzweiflung wollte er Simonides schütteln, doch als der alte Mann die Worte Heilige Flamme aussprach, löste sich ein Felsbrocken von der Decke und stürzte herab. Er traf den Kopf des weisen Sehers und erschlug ihn. Rajal sprang zurück, als das Blut auf ihn spritzte. Währenddessen wirbelte Jem die ganze Zeit in der Flamme. Und die Erdstöße wurden immer heftiger. Plötzlich gab es eine mächti ge Explosion, die das Dach der Höhle aufriss. Jem verschwand, als er auf der Feuersäule in den Himmel schoss. »Jem!«, schrie Cata. »Prinzessin!«, schrie der Dschinn. »Bitte, WÜNSCHT endlich!« Das ist es!, ertönte die glockenhelle, körperlose Stimme der Prin zessin. Ich weiß wie. Dschinn ...Ich WÜNSCHE ...Ich WÜN SCHE, wieder mit meiner Essenz vereint zu sein! »WAS?«, fuhr Jafir sie an. »Ausgerechnet jetzt?« Regenbogen sprang knurrend vor. »Tu es einfach!«, schrie der Kleine Jafir an. »Nun, von mir aus!« Der Dschinn drehte sich einmal um sich selbst und klatschte in die Hände. Orangenfarbene Wolken blähten sich auf, und einen Au genblick verstummte das Chaos um sie herum. In diesem Moment umhüllte ein silbriges, glänzendes Licht die Prinzessin, bis es sie schließlich vollkommen umgab. Es sah aus, als wäre ihr ganzer Kör per ein Spiegel. Sie drehte sich erst zum Dschinn herum, dann zu Rajal, zum Kleinen ... Und jeder sah sein Spiegelbild in dem schim mernden Glas, das sich verzerrt vor dem Hintergrund der blenden den Flamme abhob. Schließlich drehte sich die Prinzessin zu Cata um. Das Spiegel bild wurde klar. Cata trat fasziniert und staunend vor. »Was ... Was passiert mit ihr?«, wollte Rajal wissen. Dann schrie
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er Catas Namen und griff vergeblich nach ihr, als sie plötzlich vor wärts stürzte und in dem Spiegel verschwand. »Warte!«, rief der Kleine. »Es ist noch nicht vorbei!« Der Spiegel beschlug, und tausende Farben wirbelten in seinem Inneren. Ein Lied ertönte, rein und ätherisch. Es war Dona Belas Lied, das von den Verschwinden kündete, die sich vollziehen muss ten, bevor die Prinzessin wieder ganz werden konnte. Dann stieg erneut der orangefarbene Rauch auf, und Cata fiel auf den Boden zurück. Die Prinzessin gewann ihre menschliche Gestalt wieder. Als sie sich teilten, sah Rajal einen Phantomumriss zwischen ihnen flackern. Es war der Umriss eines dritten Mädchens, der sich zwischen ihnen streckte. Die Prinzessin sank auf die Knie. »Meine Essenz!«, rief sie mit ihrer eigenen Stimme. »Es ist vorbei... Es ist alles vorbei...!« »Und Jem?«, schrie Cata erstickt. »Was ist mit Jem?« Die Höhle wurde wie als Antwort auf ihre Frage von einer mächtigen Explosion erschüttert, die noch heftiger war als die letzte. Sie hatten nicht einmal Zeit, aufzuschreien oder zu fliehen. Die Flam me loderte in einem weißglühenden Strahl auf. Der Boden klaffte auf, und Lava quoll aus der Ritze heraus. Trümmer und Geröll regneten herab, unmittelbar, bevor die Höhle zusammenstürzte. In einem einzigen Augenblick wurden alle getötet, die sich darin befanden. Alle. Cata. Rajal. Bela Dona. Der Kleine. Regenbogen. Selbst Jafir, der nicht mehr rechtzeitig in seine Konar-Lampe zurückkehren konnte. Noch vor einem Moment wirbelte Jem in der Luft, tanzte auf der Spitze der Heiligen Flamme. Befreit von dem Käfig der Höhle, die sie bis jetzt beengt hatte, schien sich die Flamme in den Himmel zu erstrecken, bis hinein in die Schwärze, die dahinter lag. Jem sah die Sterne um sich herum, die strahlende Scheibe des Mondes, die so nah schien, dass er sie beinahe berühren konnte. Aber wenn er sie be
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rührte, das wusste er, würde sie ihn versengen. So wie Kaled sich selbst vernichtet hatte, als er versuchte, nach einer Macht zu greifen, die jenseits seines Zugriffs lag. Jem drehte und drehte sich. Er war sich des Heiligtums bewusst, das weit unter ihm lag. Sein Dach war weggesprengt und das Gebäu de zerstört. Er sah den Großen Boulevard, den Palast des Wisperns und die dunkle, geheimnisvolle Stadt. Das unaufhörliche Rumpeln in der Erde drohte die Stadt dem Erdboden gleichzumachen, und Jem wusste, dass die Flamme ihn nicht mehr lange tragen würde, dass er hinabstürzen würde, immer tiefer hinab. Der Tod schien nahe zu sein, doch in dem Moment hörte Jem eine geisterhafte Musik, die aus der Welt unterhalb der fauchenden Feu ersäule kam. Es war die Stimme der Prinzessin, und das Lied, das sie sang, hatte Jem schon einmal gehört. Freude durchströmte ihn, denn plötzlich verstand er das Geheimnis, das die ganze Zeit hinter die sem merkwürdigen Abenteuer gesteckt hatte. Die Prinzessin war nicht der Kristall, aber wenn sie wieder ganz war, würde man den Kristall finden. Er schrie triumphierend auf... Und genau in dieser Sekunde zer riss eine gewaltige Explosion die Nacht. Er schrie und stürzte durch einen weißglühenden, sengenden Schacht hinab. Während des Falls sah er, wie das Heiligtum zusammenbrach und plötzlich im Nichts versank, er sah, wie Lava aus dem Boden quoll und gewaltige Risse im Boulevard entstanden. Der Palast erbebte. Gebäude fielen in sich zusammen. Jem sah, wie der zerstörte Erdboden immer näher kam. Er stürzte weiter, tief in die Erde hinein. Ihm kam es so vor, als dauerte der Sturz eine Ewigkeit, und dabei war er sich bewusst, dass Toth-Vexrah ihn umgab und in der Gestalt einer mächtigen, geflü gelten Schlange um ihn herumtanzte. Narr! Die Stimme des Anti-Gottes war ein schreckliches, wahn sinniges Krächzen. Du willst jetzt den Kristall? Was nützt er dir noch, wenn deine Freunde alle tot sind ...Ja, sogar dieses Weibchen, das du mehr liebst als dein Leben. Es liegt zerschmettert unter den Ruinen des Heiligtums! Es ist vorbei, Schlüssel zum Orokon! Nimm
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den Kristall, nimm ihn, wenn du willst, aber du wirst niemals gegen mich bestehen! Nimm ihn ruhig, nimm ihn, aber wenn du das tust, wirst du die Flamme auslöschen. Und dann? Weißt du nicht, dass dieses Heiligtum ein Lagerhaus der Macht ist? Wenn die Flamme erlischt, fällt all diese Macht an mich! Jem wehrte sich und wand sich, er hielt sich die Ohren zu und schrie. Aber es war sinnlos. Immer weiter drang diese spöttische, ungeheuerliche Stimme auf ihn ein und verkündete kreischend, dass das Böse bald triumphieren würde, dass sich das Entsetzen bald auf diese Welt herabsenken würde. Wie habe ich über diese unangesischen Narren gelacht, die sich vor der Heiligen Flamme verbeugten, vor ihr krochen! Stell dir vor, sie hätten gewusst, dass die ganze Zeit ihre Gebete nicht Theron, dem Gott des Feuers, gegolten haben, sondern TOTH-VEXRAH! Ja, Schlüssel zum Orokon, das stimmt! Mein Bruder Theron ist schon vor langer Zeit im Reich des Unergründlichen verschwunden. Was kümmert ihn diese armselige Welt? Nichts! So habe ich mich, als Verkörperung meines Bruders, aus dem Reich des Nicht-Seins hierher in die Wüste projiziert und bin dem Propheten Mesha erschienen. Ja, ich war es, zu dem die Unangesen gebetet haben, ich war es, der durch die Flamme zum Sultan sprach! Jetzt lagern wie in einem ge waltigen Bankgewölbe hohe Konzentrationen geistiger Macht in diesem Heiligtum! Der Glaube von Millionen, seit Generationen ... Wenn diese Macht freigesetzt wird, gehört sie mir! Was habe ich von dir zu fürchten, Schlüssel zum Orokon? Nimm den Kristall, nimm ihn nur! Dein Triumph wird nur von kurzer Dauer sein! Schon bald, das sage ich dir, wirst du von mir in den Staub getreten, und der Oro kon gehört mir! »Weiche von mir! Weiche von mir! Ich werde dir trotzen!«, schrie Jem. »Mein Vorfahr Nova Riel hat dich einst zerstört. Und ich sage dir, Toth-Vexrah, ich werde dich erneut vernichten!« Narr, Narr! Meine Macht war damals nichts im Vergleich zu dem, was sie bald sein wird! Du wirst diese Welt niemals retten! Ich wer de dich wie den Wurm zerreißen, der du bist!
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Die Qual drohte Jem zu zerreißen, als die Hitze der Flamme ihn zu verglühen schien und Toths Worte ihn folterten und zu zerquetschen drohten. Aber er fiel noch weiter und weiter hinab. Es schien, als müsse er zu Tode stürzen, doch plötzlich blendete ihn ein strah lendes Licht. Die Feuersäule zog sich zusammen, verschwand in der glühenden Sphäre, die sich selbst zusammenzog und immer kleiner wurde ... Jem schlug wie wild um sich. Gerade, als er eigentlich in einer blu tigen Fleischmasse auf den Felsen zerschmettern musste, berührten seine Hände den Kristall, der die Heilige Flamme gewesen war. Sei ne Macht hatte die Oberhand gewonnen! Er stieg wieder auf, schoss erneut in den Himmel. Lichtstrahlen zuckten aus dem Kristall und badeten die Welt unter ihm in ein glü hend rotes Licht. Jetzt wusste Jem, was bei dieser letzten Explosion geschehen war. Er sah die Ruinen der Stadt unter sich und begriff, dass Toth die Wahrheit gesagt hatte. Cata und all seine Freunde wa ren unter dem Geröll und der glühenden Lava begraben. Waren sie alle gestorben, damit er den Kristall finden konnte? Das konnte nicht sein! Das durfte einfach nicht sein! Jem tobte und verfluchte sein Schicksal. Er schrie laut auf, doch in dem Augenblick vollzog der Kristall die Magie, den Zauber, den jeder Kristall schuf, Augenblicke nachdem er gefunden wurde. Die Zeit lief rückwärts. Gebäude erhoben sich aus dem Geröll, die Lava kroch zurück in die Erde, und die Abgründe schlossen sich. Langsam schwebte Jem vom Himmel herunter. Im nächsten Augenblick stand er wieder im Heiligtum und hielt zitternd und bebend den Kristall des Theron in seinen Händen.
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41. Engel aus der Asche »Miss Landa, haltet Ihr das wirklich für eine gute Idee?« »Das ist unsere letzte Chance, Nirry Morgen erreichen wir Agondon!« »Ich weiß.« Nirry jammerte, als wäre das ein Grund, bei diesem Abenteuer nicht mitzumachen. Zweifelnd drehte sie sich um. Ihre Kutscherherberge war nicht mehr zu sehen, als habe der Wald sie verschluckt. Die Blätter raschelten unheimlich im Mondlicht. Nirry schüttelte sich, als Farne und Zweige wie mit boshaften, zärtlichen Fingern an ihrem Nachthemd zupften. »Ich meine, wir werden doch wohl in diesen Wäldern nicht entführt, oder? Das würde mir wirklich nicht gefallen. Wenn ich den ganzen Weg hierher gekom men wäre, nur um entführt zu werden, kurz bevor ich meine Taver ne endlich zu sehen bekomme!« »Keine Sorge, Nirry Ihr werdet Eure Taverne schon zu Gesicht bekommen. Ich hoffe nur, dass Ihr auch Miss Cata seht.« »Also gut, Miss Landa. Wenn Ihr wisst, was Ihr tut ...« Nirrys Stimme klang ein wenig zweifelnd. Vor einigen Augenbli cken war sie noch verwirrt gewesen, als sie erschreckt aus dem Schlaf hochfuhr und Miss Landa ihre Hand auf ihren Mund gelegt hatte. Sie war aus wunderschönen Träumen von ihrer Taverne ge weckt worden und hatte sich zunächst nicht daran erinnert, dass sie verabredet waren. Jetzt verblüffte es sie, dass dieser Plan wahr sein konnte. Eigentlich hatte sie es nur für eine wilde Fantasie dieses merkwürdigen Mädchens gehalten, mehr nicht. Konnte es sein, dass Miss Cata in einem Lichtblitz verschwunden war? Und konnte es stimmen, dass sie in einem zweiten Lichtblitz zurückgeholt werden konnte, falls Miss Landa ihre Magie endlich zum Funktionieren brachte? Heidnischer Mummenschanz, das war es für Nirry. Aber sie wusste auch, dass viele seltsame Dinge in dieser Welt passierten, und außerdem war Miss Landa eine gute Freundin von Miss Cata.
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Außerdem wusste Nirry auch, dass Miss Cata spurlos verschwunden war. Wenn sie sie retten konnten, mussten sie es versu chen. Landa glitt schnell durch das Unterholz. Nirry lief keuchend hinter ihr her. »Seid Ihr denn sicher, dass sie nicht einfach entführt worden ist, Miss Landa?« »Was meint Ihr, Nirry?« »Miss Cata. Die Blauröcke haben sie vielleicht geschnappt, als Ihr kurz nicht hingesehen habt. Während Ihr in Eurer ... Anbetung ver sunken wart, meine ich.« »Ich habe es Euch doch schon gesagt, Nirry: Ich sah, wie sie in einer Lichtsäule verschwunden Ist.« »Wenn Ihr das sagt, Miss Landa.« Landa blieb plötzlich stehen. »Da ist es.« »Woher wisst Ihr das ? Ich meine, es ist nur irgendein Baum, oder nicht?« »Kein Baum ist wie der andere, Nirry« Landa drehte sich um und hielt Nirrys Hände fest. »Ich habe zu lange geschlafen, und der Himmel wird schon heller. Nirry, wir haben nicht viel Zeit. Ich weiß, dass es Euch schwer fällt, aber versprecht mir, versprecht mir einfach, dass Ihr mir glaubt.« »Glauben? Ich versuche es, Miss Landa. Ich hoffe nur, dass mein Zappelphilipp nicht aufwacht und merkt, dass ich verschwunden bin. Er denkt vielleicht, ich wäre entführt worden, und wird einen derartigen Wirbel veranstalten, dass das ganze Haus aufwacht!« Landa lächelte, aber der Blick ihrer Augen, die im Mondlicht glänzten, blieb ernst. Sie drückte Nirrys Hände. »Glaubt, Nirry, glaubt. Denkt an Miss Cata. Und daran, wie gern Ihr sie wiedersehen möchtet.« »Das ist nicht schwer, Miss Landa!« »Gutes Mädchen. Ihr seid ein Medium, Nirry, versteht Ihr das?« »Ich bin ein was?« »Schon gut. Ich wünschte, ich hätte vorher daran gedacht, mehr nicht. Es bleibt so wenig Zeit. Jetzt folgt mir einfach, Nirry, und tut,
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was ich tue. Und denkt an Miss Cata. Ganz gleich, was passiert, denkt an Miss Cata!« Nirry nickte und quietschte, als Landa sich auf den Boden warf. Das merkwürdige Mädchen lag bäuchlings da und schwieg. »Miss Landa!«, zischte Nirry. »Geht es Euch gut?« »Vergesst nicht, Nirry! Tut, was ich tue.« »Na gut, Miss Landa. Und dann auch noch in meinem neuen Nachthemd!« Nirrys Überraschung sollte noch wachsen, als Landa stöhnte und die Erde liebkoste. Ihre langen Locken vermischten sich mit den Wurzeln, Farnen und Gräsern. Also wirklich, so benahm sich doch keine vornehme Dame! Aber es kam noch schlimmer! »Ul-ul-ul-ul!« Das war heidnisches Zeug, so viel war klar. Andererseits hatte die arme Miss Cata ja auch ein bisschen was Heidnisches an sich, dachte Nirry Na wenn schon! Sie wollte ihr hübsches neues Nachthemd jedenfalls nicht umsonst ruinieren, oder? Nirrys Blondschopf tauchte über den Farnen auf. Kaum vorzu stellen, wenn die Herrin sie jetzt sah! Ul-ul-ul-ul!« Wo waren seine Freunde? Jem drehte sich und sah sich um, während das Licht des Kristalls in seinen Händen allmählich abnahm und zu einem dumpferen, dunkleren Rot wurde. Wie die Stadt war auch das Heiligtum wie derhergestellt, aber nur so weit, wie vor der letzten Explosion. Immer noch bedeckte Schutt den zerklüfteten Boden, und unter den Trümmern lagen Simonides, der Sultan und der geköpfte Huren bock. Sie waren nach wie vor tot. Das Dach war weggesprengt, und die helle Morgensonne durchdrang den Staub, der sich allmählich legte. Nur eins war anders: Dort, wo die Flamme gefaucht hatte, gähnte jetzt eine große, rauchende Höhle. Regenbogen tauchte als Erster auf. Aufgeregtes Kläffen ertönte,
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bevor der Hund über einen heruntergestürzten Felsbrocken sprang. Sein Fell war staubig, aber Jem erkannte trotzdem, dass Regenbogen seine bunten Streifen wiederhatte. Als nächstes tauchte der Kleine auf, dann die Prinzessin, schließ lich Rajal, alle mit Staub und Asche bedeckt. Ernst umarmte Jem sie, doch als Cata schließlich heranstolperte, stürzte er sich in ihre Arme, lachte und drückte sie fest. Dann küssten sie sich, lange und leidenschaftlich. Die Prinzessin sah neidisch zu. Der Kleine räusperte sich schließlich. »Wo ist der Dschinn?« Etwas rumpelte unter dem Schutt, und Jafir tauchte auf. Er spuck te, hustete und war höchst aufgebracht. »Die Konar-Lampe!«, beschwerte er sich. »Wo ist sie? Wirklich, ich glaube, ich bin darin viel sicherer aufgehoben! Also, wo ist sie?« Der Kleine bemerkte den dumpfen Glanz als Erster. Sie lag im Dreck, und er hob sie auf. »Vorsicht! Das ist mein Heim, das du da in der Hand hältst!«, protestierte der Dschinn. »Meine Güte, seht euch diese Beulen an! Na gut, es ist trotzdem mein Heim. Gib es mir, hm? Hm, mein Kleiner?« »Vergisst du nicht etwas, Dschinn?« »Ich? Vergessen? Was?« Der Kleine deutete auf die Prinzessin. »Der dritte Wunsch!« Er zählte an den Fingern ab. »Eins: Bring uns hierher. Zwei: Haben wir gerade gesehen.« Er hielt dem Dschinn den dritten Finger, seinen Mittelfinger, unter die Nase. »Bleibt doch einer übrig, richtig?« Der Kleine ging zur Prinzessin und drückte ihr die Konar-Lampe in die Hand. »Ich glaube, Ihre Hoheit kann für sich selbst sprechen.« Jafir verdrehte die Augen, aber was konnte er tun? Er musste dem Befehl gehorchen, und so kam es, dass sich ein drittes Mal die oran gene Wolke bildete und Prinzessin Bela Dona eine Sekunde später Amed in den Armen hielt. »Ach, Amed, wo bist du gewesen?« »Der Ouabin hat mich in einem Spiegel gefangen ... Aber Liebs
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te, meine Liebste, ich konnte dich die ganze Zeit sehen! Was für eine Angst ich um dich hatte! Aber jetzt... Du bist wirklich .,. Und ich liege in deinen Armen ... Ich fürchte, ich benehme mich ausgespro chen weibisch, weil ich so heule! Oh, meine Liebste, meine Liebste ... « »Keine Angst, mein Liebling«, erwiderte die Prinzessin, ebenfalls schluchzend. »Liebste Amed, wir werden uns nie wieder trennen!« Der Kleine grinste. »Sieht so aus, als bekämen wir ein richtiges glückliches Ende hin.« »Bestimmt, wenn du mir die Konar-Lampe zurückgibst«, sagte Jafir. »Und wegwirfst, sobald ich drin bin, ja? Irgendwohin, wo mich keiner finden kann für ... ach, für Epizyklen. Ich brauche eine Pause, wirklich!« Er griff nach der Lampe, aber der Kleine quietschte und lief weg, einfach so aus Spaß, und turnte über die Schutthaufen. »Komm her, du kleiner Dieb!« Der fette Kerl machte sich absurderweise auf die Jagd. Regenbogen sprang herum und bellte voller Freude. Sie liefen immer und immer wieder im Kreis um die Liebenden herum, die sich umarmten. Schließlich rutschte der Kleine im Staub aus, und die Lampe segel te durch die Luft. Er hätte sie sofort wieder gepackt, aber etwas anderes, etwas Schreckliches, lenkte ihn ab. Der kleine Junge schnappte nach Luft. Im Schutt lag ein Kopf. Ein abgeschlagener Kopf. Ein sehr vertrauter, schmieriger Schädel. Der Dschinn jedoch achtete nicht auf diese unselige Entdeckung. Aufgeregt schnappte er sich die Konar-Lampe. Im nächsten Moment wäre er wieder in ihren Tiefen verschwunden, wäre da nicht die Stimme gewesen, die er gut kannte. »Ha ... Hallo?«, rief sie nervös von der halb zusammengebroche nen Tür. »Hallo, ist da jemand?« Jafir zuckte zusammen und drehte sich um. Er sah einen pumme ligen, verwirrten kleinen Mann, der nur noch ein Unterhemd trug und in das zerstörte Heiligtum spähte. Selbst der Kleine war er-
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staunt, denn dieser pummelige Bursche war das vollkommene Eben bild des Dschinns. Schwitzend und atemlos watschelte der Fremde weiter. Zuerst blendete die strahlende Sonne ihn ein wenig, die sich in dem schwebenden Staub fing und ihn glitzern ließ. Als sein Blick auf den Dschinn fiel, vermutete er in den Resten der ehemals vor nehmen Kleidung einen Höfling, einen Würdenträger oder einen königlichen Gast. »Meine Güte, meine Güte. Gott sei Dank habe ich jemanden ge funden. Wirklich, ich habe keine Ahnung, was passiert ist! Wenn ich gewusst hätte, wie weit dieser Tunnel geht ... Na ja, anscheinend führt er die ganze Strecke unter dem Boulevard entlang, und ... Ach, ich werde euch lieber nicht sagen, wie oft ich fürchtete, er würde zu sammenbrechen! Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine so schreckliche Nacht erlebt zu haben. Und der arme Hasem... Erst ist er verrückt geworden, und dann ... Der arme, arme Hasem! Ich denke, die bösen Ouabin haben ihn zu guter Letzt doch noch er wischt! Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen! Verkleidet als Sklavinnen, könnt Ihr das glauben? Was ist das nur für eine schlechte Welt. Das Einzige, was ich nicht verstehe, ist, warum sie mich nicht auch gleich umgebracht haben ...« Der Wortschwall versiegte. Der kleine Mann ließ sich auf einen Felsbrocken sinken und wischte sich die Stirn. »Oman?«, fragte der Dschinn. »Oman, bist du das?« Natürlich war das eine ausgesprochen rhetorische Frage. Es hätte schließlich wohl kaum jemand anders sein können. »Vianu-Vianu, Vianu-Vianu ...« »Göttin der Lebenden, verzehre mich wie ein Feuer ...« »Göttin der Sterbenden, gewähre mir mein Begehren ...« »Vianu-Vianu, Vianu-Vianu ...« »O Göttin, bringe bitte Miss Cata zurück!« Die Anrufungen hallten laut im Wald, und sie verwoben sich zu einer merkwürdigen, unirdischen Musik. Es funktionierte! Ein ge heimnisvolles, grünes Glühen schimmerte wie Phosphor in den
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Wurzeln, Farnen und Gräsern. Nirrys Herz hämmerte laut. Landa ergriff ihre Hand. Sie tanzten, sprangen und hüpften im Kreis herum. Der phosphorne Schein wurde stärker, leuchtete heller. Jetzt stieg das grüne Licht höher und erhellte die Zweige der alten Eiche wie Feuer. Während die beiden Frauen weiter tanzten, drehte sich eine blendend helle Lichtsäule zwischen ihnen. Ein unglaubliches Leben wimmelte zu ihren Füßen, und dann sahen sie in der Säule das Bildnis eines Kristalls, eines grünen Kristalls. »Miss Cata! Oh, Miss Cata, wo seid Ihr?« »Göttin!«, rief Landa. »Wir sehen dein heiliges Symbol, die Verkörperung deiner Macht! Heilige Viana, bringe unsere Schwester wieder auf den Weg zurück, dem sie folgen muss! Allgnädige, führe sie ...« In einer Explosion strömte die Macht aus der Erde. Die Frauen schrien auf, als sie auseinander gerissen wurden, und stürzten zu Boden. Der Lichtstrahl begann heftig zu flackern. Das Grün wurde von roten Strahlen durchzuckt, die immer wieder die Säule durch schnitten. Plötzlich drehten sich die Elemente wie in einem Mahlstrom. Farne wurden von dem gewaltigen Strahl platt gedrückt, Blu men aus der Erde gerissen. Zweige und Efeu verdrehten und ver schlangen sich und tanzten in einer schrecklichen, verrückten Eks tase. Währenddessen drehte sich die ganze Zeit der grüne Kristall. »Was passiert jetzt?«, schrie Nirry »Miss Landa, was passiert hier?« Verzweifelt hielt sie sich an Wurzeln und Gräsern fest. Wie ein Se gel im Sturm bauschte sich ihr Nachthemd um ihren Körper. »Nirry, haltet Euch fest...« »Miss Landa, ich kann nicht mehr.« »Haltet Euch fest, haltet Euch einfach fest!« Mit einer Hand umklammerte Nirry eine dicke Wurzel. Mit der anderen erwischte sie Landas Gewand. Rajal hatte den Blick gesenkt und scharrte unbehaglich mit den Fü ßen. Jem und Cata standen an der Grube der Flamme, wurden von
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der Sonne angestrahlt und waren vollkommen ineinander versunken. Mitten in der Kammer standen Bela Dona und Amed eng um schlungen, und an den großen Türen feierten der Kalif und Dschinn voller Freude ihr Wiedersehen. Selbst der Kleine schien seinen Schock von vorhin überwunden zu haben. Eigentlich konnte er froh sein, dass sein bösartiger Vater ihn nicht mehr anschreien oder schla gen konnte. Der Junge lief durch den Schutt und spielte mit Regen bogen, erfreut über das neue Fell des Hundes. Rajal sank der Mut, doch dann überkam ihn plötzlich ein Gefühl von Hoffnung und gleichzeitig Furcht. Zitternd lief er die Treppe hoch, doch oben angekommen fand er die Kammer der Erfüllung verlassen vor. Seine Schuhe knirschten verloren auf dem zerstörten, blutbefleckten Boden. »Aron? Aron?«, flüsterte Rajal, aber er glaubte nicht wirklich da ran und wollte nur den Namen sagen. Er blickte auf die Risse zu seinen Füßen, und einen Moment meinte er, das Bild seines neuen, ver schwundenen Freundes zu sehen, wie er sich an seinen bösen Herrn klammerte. Dann verblasste die Illusion. Rajal seufzte. Früher einmal hatte er Jem geliebt. Jetzt liebte er einen anderen, und diese Liebe, das wusste er, war etwas Wahres, et was Reales. Aber sie schien genauso hoffnungslos. Traurig schlich er wieder die Treppe hinunter. Als er unten ankam, blickte Rajal hoch und sah etwas Grauenvol les. Hinter Jem zuckte aus der aschigen Grube eine letzte Zunge der Flamme. »Jem! Pass auf!« Jem wirbelte herum, doch im selben Augenblick schoss die Flamme vor und umschlang ... nicht Jem, sondern Cata. Jem sprang vor, aber die Hitze war zu groß. Er wich zurück. Cata wurde in die dunkle Höhle gezogen. »Cata! Der Kristall! Denk an den Kristall!« Cata wehrte sich gegen die Umschlingungen, und es gelang ihr, den Kristall an ihrer Brust zu umfassen. »Heilige Viana! Bekämpfe dieses Böse!«
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Als Cata diese Worte schrie, zuckte ein gewaltiger grüner Blitz durch die Ruinen des Daches. Als der Blitz verblasste, war die Flamme verschwunden. Ebenso wie Cata. Es war vorbei - mit einem Schlag war alles vorbei. Plötzlich war die schreckliche Magie verschwunden, ebenso wie das Licht und der Dunst in der Luft. Der Wind legte sich, die Zweige verschwanden und auch die Farne und die zerstörten Blumen. An ihrer Stelle be fand sich eine zerzauste, vertraut aussehende Gestalt, die einen glü henden, grünen Kristall umklammerte. »Miss Cata?«, flüsterte Nirry »Miss Cata, seid Ihr das wahrhaftig?« Cata sah sie staunend an. »Nirry?«, murmelte sie. »Nirry... Lan da?« Sie schwankte und brach zusammen. »Miss Cata!« Nirry stürzte zu ihr. »Der grüne Blitz. Landa ... Landa muss sie zurückgeholt haben. Sie hat es gut gemeint, aber ... ach nein, ach nein!« Jem sank zu Boden und schlug die Hände vors Gesicht. Rajal trat zu ihm. »Jem?«, fragte er liebevoll. »Jem, was meinst du damit?« Es war jedoch Amed, die antwortete. Während sich Rajal in der Kammer der Erfüllung umgesehen hatte, war sie zu dem toten Si monides gegangen. Traurig umarmte sie diesen Onkel, den sie nie kennen gelernt hatte und der ihrem toten Vater so ähnlich sah. Zärt lich schloss sie dem Toten die Augen und strich mit den Fingern über den langen Bart. Dann stand sie auf. »Prinz Jemany«, sagte sie leise. Ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren. »Eure Geliebte ist fort und kann nicht zurückgeholt werden. Eines Tages, ja, eines Tages werdet Ihr sie wie dersehen. Das müsst Ihr auch, wenn die Kristalle vereint werden sol len, da sie ja den Kristall der Grünen Göttin mitgenommen hat und
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ihn bis zum Ende dieser Suche bei sich tragen wird. Verwahrt dieses Wissen in Eurem Herzen, Prinz Jemany, und schöpft Kraft daraus. Denn jetzt müsst Ihr Eure Trauer überwinden. Ihr habt den dritten Kristall gefunden, aber zwei sind noch übrig. Die Lage ist verzwei felt, und ein neues Abenteuer wartet bereits auf Euch.« Dann schloss Amed die Augen. Sie schwankte ein bisschen und wäre gefallen, wenn Bela Dona sie nicht in ihre Arme geschlossen hatte. »Liebes? Liebste ... Was ist das für eine Macht in dir?« Rajal seufzte. »Es tut mir Leid, Jem.« »Ich weiß, Raj, ich weiß. Aber Amed - oder war es Simonides? hat Recht. Ich werde später trauern. Jetzt muss die Suche weiterge hen.« Jem blickte auf den Kristall in seinen Händen und sah dann den an, der an der Brust seines Freundes hing. »Ach, Rajal, bis jetzt waren wir Narren, blinde Narren! Sieh uns nur an. Porlo ist weg. Empster hat uns betrogen ...« »Du meinst Agonis ...« »Wir sind ab jetzt auf uns allein gestellt, Raj. Und es steht viel mehr auf dem Spiel.« Schnell erzählte Jem Rajal von der Vision von Toth und berichtete von den Schrecken, mit denen der Anti-Gott ihm gedroht hatte. »Ich hatte gehofft, ich hätte ihn besiegt, wenigstens vorübergehend. Aber so wie dieses Feuertentakel zurückge kommen ist... Vielleicht verfügt er ja bereits über seine neuen Kräf te. Er sagt, wir könnten genauso gut gleich aufgeben. Aber das dür fen wir nicht ... Raj, wenn er gewinnt, bedeutet das das Ende. Den Untergang.« Jem blickte hoch und schrie seinen Trotz heraus: »Hörst du mich, Toth? Ich werde niemals aufgeben! Niemals! Empster ... Agonis, kannst du mich ebenfalls hören? Es ist jetzt meine Suche, meine, nicht mehr deine! Ich habe drei Kristalle gefun den und werde auch den Rest bekommen. Der Orokon wird mir ge hören, mir ...« Nur das Echo von Jems Stimme antwortete und hallte laut in der riesigen, zerstörten Höhle.
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Rajal biss sich auf die Lippen. Er umklammerte den Arm seines Freundes. »Jem«, sagte er leise. »Ich bin bei dir. Ich werde nicht noch einmal versagen.« »Noch einmal, Raj?« Etwas flackerte in Jems Blick, und erneut schoss ihm die Frage durch den Kopf, wie es kommen konnte, dass Cata letzte Nacht den purpurnen Kristall bei sich gehabt hatte. Aber es war jetzt wohl nicht der richtige Moment, diese Frage zu stellen. »Ich meine, ich werde dich nicht im Stich lassen«, verbesserte sich Rajal schnell. Er wischte sich die Augen. »Wo ist der nächste Kristall, Jem? In Wenaya?« »Richtig, Raj, die Inseln im Westen. Hast du die Landkarten ge sehen? Hunderte von Inseln, Hunderte. Irgendwo dazwischen be findet sich der blaue Kristall von Javander.« »Du wirst ihn finden, Jem, du bist der Schlüssel, vergiss das nicht.« »Es wird schwieriger, Raj. Es wird jedes Mal schwieriger.« »Ich weiß.« Raj rappelte sich auf und hielt seinem Freund die Hand hin. »Jem?« Jem klopfte sich den Staub aus der Kleidung. »Raj?« »Kennst du Wenaya? Ich denke, unser erstes Problem ist, wie wir überhaupt dorthin kommen.« Jem schien nachzudenken. »Das glaube ich eigentlich nicht, Raj. Ganz und gar nicht.«
42. Sag Hallo und auf Wiedersehen »Wirklich, junger Prinz, ist es denn erforderlich, all diese Stufen hochzusteigen?« Kalif Oman Elmani keuchte, während er sich auf dem Dach des Palastes umsah. »Ich meine, mir gefallen Gärten auch, aber bestimmt sind diejenigen auf dem Erdboden genauso hübsch.«
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»Aber in ihnen warten keine fliegenden Teppiche, Oman«, erin nerte ihn der Dschinn. »Fliegende Teppiche? So einen könnte ich jetzt gut gebrauchen!« »Komm schon, Oman, du weißt, dass ich dir nicht jeden Wunsch erfüllen kann. Ich habe dir gesagt, dass ich keine Toten zum Leben erwecken kann, ich kann nicht verhindern, dass Menschen geboren werden, und ich kann dein Leben nicht von Anfang an ändern ... Und ich kann auch nicht einfach einen fliegenden Teppich herbeizaubern, wenn dir gerade nach dem ist. Ach, und erwarte nicht von mir, dass ich für dich andere Länder erobere. In einem Punkt hatte dein Wesir Recht: Es gibt Grenzen, Oman. Es muss Grenzen geben.« »Könnte ich denn nicht wenigstens eine Sänfte haben, die von Sklaven getragen wird?« »Ich habe dich mit einigen neuen königlichen Kleidungsstücken ausgestattet, richtig? Was ein ziemlicher Segen war, denn immerhin warst du sozusagen splitternackt. Das reicht fürs Erste, hm? Um die Sklaven kümmern wir uns später.« »Pah! Du bist grausam, Jafir. Ganz eindeutig grausam.« Der Kalif schmollte, doch dann lächelte er wieder. »Trotzdem bin ich froh, dass du wieder da bist. Immerhin bin ich jetzt Sultan, hab ich Recht? Ich weiß zwar nicht, was ich ohne Hasem anfangen soll, aber we nigstens ... Nun, das Leben geht weiter, oder nicht?« »Na hoffentlich«, knurrte Rajal leise, der sich bemühte, mit Jem Schritt zu halten. »Genau weiß man das nie.« Aber der Kalif hörte ihn nicht. Die Dachgärten empfingen sie mit ihren tausenden Düften und raschelnden Blättern, mit ihrer bunten Blumenvielfalt. Sie schoben sich durch die Gerüche und das dichte Blätterwerk und gelangten zu den Lauben, Grotten, Labyrinthen und Beeten. Dort hatte einmal ein Junge zu Füßen eines alten Mannes gesessen und den Geheimnissen aus der Jugend seines Vaters gelauscht. Doch das war be reits Geschichte. An diesem Ort sollten in der Nacht, auch wenn niemand sie sah, dieser Junge und sein Spielkamerad, beide durch scheinend, im fahlen Licht des Mondes springen, laufen und lachen.
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Als sie um die Ecke einer großen Hecke bogen, erschraken die Mitglieder der kleinen Gruppe. Ein sehr lebendiger Junge, der nur einen Lendenschurz trug, sprang vor ihnen über den Weg. »Das ist Fisch!«, rief der Kleine. »Wer?«, fragte Jem Der Kleine lief voraus. »Fisch, komm zurück!« Letztlich war es Regenbogen, der ihn fing. Der Hund sprang ausgelassen an ihm hoch und riss ihm den zerlumpten Lendenschurz herunter. Münzen, kleine Figuren und Edelsteine fielen zu Boden. Fisch stand mit schamroten Gesicht da und bedeckte seine Blöße. Prinzessin Bela Dona sah ihn überrascht an. Zögernd tauchten seine vier Kumpane aus dem Blätterwald auf. Blase knuffte Fisch in den Rücken und zwang ihn, sich hinzuknien. Momente später kauerten alle Jungen zerknirscht vor der Prinzessin auf dem Boden. Sie hatten mehrere Säcke in den Händen gehabt, in denen es verdächtig klimperte. Als sie die Säcke auf den Boden stell ten, öffnete sich einer von ihnen und enthüllte seinen Inhalt aus Gold, Silber und Kupfer. »Faha Ejo!«, rief Amed, als sie ihren alten Freund sah. »Was geht hier vor?« Der Kalif kam näher. »Hm.« Prinzessin Bela Dona hob ihre wunderschön geschwungene Augenbraue. »Faha Ejo, vielleicht möchtest du das ja erklären?« »Nirgendwo waren Wächter. Da dachten wir, dass wir den Palast erkunden könnten«, murmelte der Ziegenhirte. Die Prinzessin lachte. »Wie ich sehe, habt ihr das auch gründlich getan. Aber was macht ihr hier in den Dachgärten?« »Wir dachten, das wäre eine gute Basis für unsere Unternehmungen«, erklärte Blase und schnitt eine Grimasse. »Stimmt doch, Faha? Schöner als das Reich von Un, meine ich!« »Das kannst du wohl sagen!«, pflichtete ihm der Kleine bei. »Außerdem ...« Faha Ejo lächelte die Prinzessin listig an. »Euer Vater mag den Sultan doch nicht wirklich, hab ich Recht?« Die entzückende Prinzessin lächelte übermütig. »Jungs, ich
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fürchte, der Sultan ist tot. Das heißt, der alte Sultan. Sein armer Sohn auch. Wisst ihr, was das bedeutet? Das bedeutet, dieser Palast gehört jetzt meinem Vater. Und mir.« »Ach.« Faha Ejo verstand. »O-oh.« Der Kalif runzelte die Stirn. »Diebe, also wirklich! Und wir sind noch nicht einmal eingezogen! Jafir, vermutlich kannst du diese Jungen nicht in Eisen legen oder irgendetwas ähnlich Angemessenes mit ihnen anstellen? Hasem hätte sicherlich darauf bestanden, sie bei der nächsten Gelegenheit öffentlich aufzuschlitzen. Vielleicht stände es uns gut an, im Angedenken an ihn genau das zu tun!« Die Unner jammerten, aber bevor der Dschinn dazu kam, seine großen Augen zu verdrehen, legte Prinzessin Bela Dona eine Hand auf den Arm ihres Vaters, beugte sich zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Als sie wieder zurücktrat, hatte sich die finstere Mie ne des kleinen Mannes aufgehellt. Er breitete verzückt die Arme aus. »Helden! Meine lieben Jungen, Ihr seid Helden!« Strahlend dreh te er sich zu den anderen um. »Wusstet Ihr schon, dass diese tapfe ren Jungen meine Tochter gerettet haben? Hiermit erkläre ich, dass sie die Schätze behalten sollen, die sie erbeutet haben. Außerdem befördere ich sie zur persönlichen Leibgarde meiner Tochter!« Amed hatte Faha Ejo angelächelt; jetzt lachte sie begeistert. »Jafir«, fuhr der Sultan fort. »Ich denke, so etwas wie eine Uniform kriegst du doch wohl noch zustande?« »Hm, das denke ich schon!«, knurrte der Dschinn. Die großen Blumenbeete, die in der Nacht noch so drohend gewirkt hatten, sahen am helllichten Tag wundervoll aus. Während Jem sich umsah, wähnte er sich beinahe wieder in die Traumdimension zu rückversetzt und sehnte sich danach, sich hinzulegen und eingehüllt von den Düften, den Farben und der Hitze zu schlafen. Aber die Suche wartete, und für Träume war keine Zeit. Rajal inspizierte skeptisch den Teppich. »Jem, bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?« »Er fliegt, Raj, glaub mir.«
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»Genau das ist es ja, was mir Sorgen macht.« Sie drehten sich zu ihren Freunden um, die sie umringten. Prin zessin Bela Dona eröffnete den Reigen der Verabschiedungen und umarmte Jem zärtlich. »Prinz, Ihr seid ein guter Mensch, und die Welt braucht Euch. Ich werde jeden Tag für den Erfolg Eurer Suche beten, und auch dafür, dass Ihr eines Tages das Mädchen wiederfindet, dem meine ewige Dankbarkeit gehört. Ich wünschte nur, ich könnte Euch noch mehr helfen.« »Prinzessin, Eure Gebete sind genug.« »Vielleicht. Aber ich möchte Euch auch etwas geben.« Die Prinzessin griff in ihre Roben. »Ich weiß nicht, was dieser Talisman ver mag, aber ich spüre, dass es das wertvollste Geschenk ist, das ich be kommen habe. Nehmt es bitte an und tragt es bei Euch.« Sie drückte Jem den Gegenstand in die Hand. Er sah auf seine Handfläche. Es war die Münze des Harlekins. »Prinzessin, ich weiß nicht, auf welch verschlungenen Wegen die ses wertvolle Stück in Euren Besitz gekommen ist, aber ich kann Euch gar nicht sagen, wie dankbar ich Euch bin. Diese Münze ist ein Unterpfand der Liebe meiner Cata.« Die Prinzessin wandte sich an Rajal und löste ein goldenes Band von ihrem Handgelenk. »Kind des Koros, das ist das Amulett von Tukhat. Während Eurer Abenteuer habt Ihr schreckliche Dinge erlebt und viel gelitten, das spüre ich. Wenn die alten Legenden stim men, wird Euch dieses Amulett vor Schaden bewahren.« Es blieben noch zwei Geschenke übrig. Das erste war für den Kleinen bestimmt, das zweite für Regenbogen. Die Prinzessin knie te sich lächelnd vor den kleinen Jungen und den Hund. »Kleiner, diese geheimnisvolle Kugel wird dir die Macht verleihen, viele Din ge von weit weg zu sehen. Und deinem vielfarbigen Freund gebe ich das Lichano-Band. Er kann es als Halsband tragen. Es hat einem Mädchen, das stumm war, bereits eine Stimme verliehen. Ich weiß nicht, welche Kräfte es Regenbogen zu geben vermag, aber ich den ke, das werdet ihr bald herausfinden.«
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Jem runzelte die Stirn. »Prinzessin«, sagte er besorgt. »Ihr habt uns sehr schöne Geschenke gegeben, aber Ihr wisst doch, dass die ser Junge nicht mit uns kommen kann? Er ist noch ein Kind, und unsere Suche ist sehr gefährlich.« »Habe ich ihn nicht gut für das gerüstet, was vor Euch liegt?«, er widerte die Prinzessin. »Nein, Prinzessin. Sein Platz ist hier.« Jem hatte geflüstert, aber der Kleine hatte es gehört. »Jem! Das meinst du doch nicht im Ernst! Nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben! Und Regenbogen ... Denk nur an das, was Regenbogen durchgemacht hat!« Jem kniete sich hin. Er nahm den Kleinen in die Arme und fühl te, wie er schluchzte. Dann drückte er ihn und schob ihn entschlos sen von sich. Jem und Rajal nahmen ihre Plätze auf dem Teppich ein. Jetzt war es wirklich Zeit, sich zu verabschieden. »Armer Rajal!«, sagte Amed ironisch. »Ich habe dir ziemlich viel Kummer bereitet, hab ich Recht? Du vergibst mir doch hoffent lich?« »Oh, sicher vergebe ich dir«, erwiderte Rajal lächelnd. »Ich habe schon Schlimmeres überstanden als dich, Amed.« »Ach, tatsächlich?« Rajal hielt es für besser, sich nicht weiter zu erklären. Er bemühte sich, jede Erinnerung an Wesir Hasem zu unterdrücken. Es freu te ihn nicht, den Wesir ermordet zu haben. Er hätte gern die Wut un geschehen gemacht, die ihn dazu getrieben hatte, immer weiter auf den Wesir einzuschlagen, obwohl der Mann schon längst bewusst los gewesen sein musste. Immerhin hatte der Wesir Cata umbringen wollen. Das war Rajals einzige Rechtfertigung, und er hoffte, sie war gut genug, um sein Gewissen für den Rest seines Lebens zu beruhigen. Das vielleicht gar nicht mehr so lang ist, dachte Rajal. Außerdem werde ich vielleicht noch viel schlimmere Dinge tun, bis ich sterben muss. Er dachte an die Gefahren, denen sie sich jetzt stellen mussten, und schüttelte sich unwillkürlich, trotz des heißen Tages.
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»Vaga-Junge?« Fisch drängte sich nach vorn. In ihren prachtvollen neuen Uniformen waren die Unner kaum wiederzuerkennen. Vor allem Fisch hat te sich verändert. Impulsiv drückte er Rajal einen Beutel mit Gold stücken in die Hand. »Davon kann man nie genug haben, stimmt's?«, sagte er grinsend. »Allerdings!«, pflichtete Faha Ejo ihm gereizt bei. »Was fällt dir denn ein, Fisch?« Fisch zuckte nur mit den Schultern und trat schüchtern zurück. Der Sultan klatschte in die Hände. »Jafir? Du kennst doch wohl den Weg nach Wenaya?« »Also wirklich, Oman! Selbstverständlich kenne ich ihn!« Zum letzten Mal sah Jem die vertraute orangefarbene Rauchwol ke. Im nächsten Moment erhob sich der Teppich und schwebte lang sam ein Stück über dem Boden, wie er es auch vorher getan hatte. »Auf Wiedersehen!« »Auf Wiedersehen!« »Viel Glück!« Aber noch war es nicht vorbei. Unmittelbar, bevor sich der Teppich in den Himmel schwang, riss sich Regenbogen mit einem fröhlichen Bellen von dem Kleinen los und sprang neben die beiden Freunde auf den Teppich. »Regenbogen!«, jammerte der Kleine. Dann jedoch sprang auch er vor und hielt sich verzweifelt am Rand des Teppichs fest. Der stieg immer höher und zischte durch die Luft. »Dschinn! Tu was!«, rief Jem. Doch Jafir breitete scheinbar hilflos die Hände aus. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als das Kind auf den Teppich zu ziehen. Der Kleine wäre beinahe zu Tode gestürzt, aber er lachte fröhlich, als er sich mit gekreuzten Beinen hinsetzte. Die Heilige Stadt unter ihnen wurde immer kleiner und kleiner, und verschwand schließlich in einem goldenen Glanz vor dem roten, gewaltigen Felsmassiv. Vor ihnen erstreckte sich die unendlich scheinende Wüste, und irgend
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wo in weiter Ferne lagen die geheimnisvollen Inseln in einem glitzernden Meer. »Ich wusste, dass ihr nicht ohne uns wegfahren konntet!«, meinte der Kleine grinsend. Regenbogen kläffte erfreut. »Du hättest doch etwas tun können, Jafir, hab ich Recht?«, erkundigte sich der Sultan, während sie dem Teppich nachblickten. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich müde bin, Oman, oder nicht?« Der Sultan hob misstrauisch die Brauen. »Oman, der Junge wollte mitgehen! Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe ihm einen kleinen Schubs gegeben.« »Der arme Kleine«, sagte Faha Ejo. »Er weiß nicht, auf was er sich da einlässt.« »Wer hätte gedacht, dass er ein solcher Dummkopf ist?«, meinte Stinker. »Ich h ... hoffe, d ... dass es ihm n ... nicht Leid t... tut«, erklär te Storch. »Besser er als ich«, verkündete Blase. Der fette Junge glättete sei ne neue Uniform und fragte sich laut, welche Art von Speisen in einem Palast wohl serviert würden und ob es so weit weg vom Strand auch Aale gäbe. Jedenfalls mussten die Portionen riesig sein. »Ich glaube, wir haben das bessere Ende erwischt, was, Jungs ?« Fisch wirkte traurig. »Oh, ich weiß nicht.« Blase lachte nur und fuhr sich mit der Hand über den Bauch, der beunruhigend knurrte. Als der Sultan dieses Geräusch hörte, lach te er ebenfalls und erklärte, dass es für ein Bankett jetzt wirklich an der Zeit wäre. Immerhin hätten sie einiges zu feiern. Während sie die Gärten verließen, blickte der kleine Mann erneut zum Himmel hinauf, wo der Teppich in der blendenden Helligkeit verschwand. »Ach, Jafir, ich sehe eine großartige Zukunft für uns! Aber«, mur melte er, »da gibt es noch das Problem mit Schimmy.« »Ein Problem, Vater?« Die Prinzessin hatte ihn sehr genau gehört.
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Ihr Vater lächelte etwas gequält. »Ich spreche von deiner Heirat, meine Liebe!« Die Prinzessin zwinkerte Amed zu. »Vater, ich glaube, das ist kein Problem mehr. Jedenfalls nicht für uns.« »Schimmy, wir sind vom königlichen Geblüt!«, jammerte ihr Vater. »Denk an die Blutlinie!« Die Mädchen lachten nur und liefen um die Wette die Treppe hi nunter. Am Nachmittag, nach dem Bankett, zogen sie sich in die lu xuriösen Gemächer der Prinzessin zurück, drehten die Spiegel zu den Wänden um und begannen voller Freude damit, ihre Körper zu erforschen, die jetzt endlich gleich waren. Der Sultan schüttelte den Kopf. »Meine Güte, was für ein Segen kann eine Tochter sein ... Aber auch welch eine Bürde! Ach, und ihre Freundin hat doch nicht wirklich seherische Kräfte? Das hat schließlich den ganzen Ärger erst ausgelöst! Meine Güte, meine Güte!« Er murmelte noch ein wenig vor sich hin, doch dann blick te der kleine Mann plötzlich strahlend hoch. »Jafir ...«Er blinzelte dem Dschinn zu. »Ich weiß, dass ich viel verlange, aber könntest du vielleicht ... In einer gewissen delikaten Angelegenheit... Ich mei ne die Thronfolge ... ?« Der Dschinn sah ihn ernst an. »Jafir!«, beschwerte sich der Sultan. »Und was war letztes Mal?« »Oman, ich habe dir schon gesagt, dass es Dinge gibt, die ich nicht vermag. Es genügt zu sagen ... Na ja, ich will es mal so ausdrücken: Dein Wesir war ein höchst vielseitiger Bursche.« »Jafir? Jafir! Was soll das heißen?« Der Dschinn lachte nur und wollte nicht mehr verraten. Der Sultan sah ihn finster an, war aber nicht wirklich wütend. Es war noch Zeit genug, sich über die Aufgaben Sorgen zu machen, die vor ihnen lagen. Der große Monarch watschelte Seite an Seite mit seinem Ebenbild die Treppe hinunter. Er war glücklich, aber trotz dem seufzte er ständig und schüttelte den Kopf, als er darüber nachdachte, wie verwirrend das Leben oft sein konnte. Er dachte an die Ereignisse des letzten Tages und seufzte besonders tief.
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Was für ein Scherbengericht von einer Hochzeit, und das trotz so viel sorgfältiger Planung!
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JEM, der Held, Sucher des Orokon CATA, die Heldin, Geliebte des Jem RAJAL, Jems treuer Freund POLTY (POLTISS VEELDROP), ihr unerbittlicher Feind BOHNE (ARON THROSH), Poltys treuer Freund LORD EMPSTER, Jems geheimnisvoller Beschützer JAC BURGROVE, ein heruntergekommener Lebemann KAPITÄN PORLO, ein knorriger alter Seebär BUBI, sein Haustier, eine Äffin, die zur Räude neigt PUSTEL, sein Schiffsjunge, der zu Pickeln neigt KALED, Sultan von Mond und Sternen SIMONIDES, sein alter Lehrer, der Höchste seiner Imams PRINZ DARE, Sohn des Sultans und Thronerbe THAL, Novize der Flamme, Dares Freund MUTTER MADANA 1, eine Sklavin, Dares Kindermädchen MUTTER MADANA 2, Herrin einer vornehmen Karawanserei MUTTER MADANA 3, Hüterin der Haremsfrauen in Qatani SEFITA und SATIMA, die Namen ihrer zahlreichen Mündel EVITAMUS, pensionierter Wahrsager AMED (AMEDA), Wildfang, seine jungenhafte Tochter FAHA EJO, ein Ziegenhirte, Ameds Freund ELI OLI ALI, sein Vetter, ein mächtiger Mann in Qatani CASCA DALLA, verhasster Konkurrent von Eli Oli Ali KLEINER, ein kleiner Junge, Eli Oli Alis Sohn DER SCHWARZE REITER, dem der Tod vorherbestimmt ist KALIF OMAN EL MANI, Bruder des Sultans, Herrscher von Qatani WESIR HASEM, der Drahtzieher hinter den Kulissen
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BELA DONA, die Schimmernde Prinzessin DONA BELA, ein schönes, stummes Mädchen, das ihr gleicht RASHID AMR RUKR, gefürchteter Anführer der Stämme von Ouabin ALMORAN, Herr des Hauses der Wahrheit DER MÄDCHENHAFTE KNABE, sein Diener GEHEIMNISVOLLE GÄSTE im Haus der Wahrheit REGENBOGEN, ein höchst bemerkenswerter Hund FISCH und BLASE, Diebe, Mitglieder der »Unner«-Bande STINKER und STORCH, ebenfalls Diebe der Unner LADYBOYS, am Platz der Kobras DER ALTE LACANI, ein Verrückter AUGE, ein Mitglied von Kapitän Porlos Mannschaft DIE DOM-TÄNZER, Gauner und Heilige EBAHN-WÄCHTER, im Heiligtum der Flamme DIE ALTEN der Akademie der Imams WISPERER in den Wänden TARGON-DIENER, Garde des Sultans HÖFLINGE, WÄCHTER und PILGER SEELEUTE, SKLAVEN und EUNUCHEN HÄNDLER, MISCHLINGE und ABSCHAUM etc.
IN ZENZAU: BOB SCARLET, Wegelagerer und Rebellenführer HUL, sein Stellvertreter und einst ein großer Gelehrter BANDO, Huls Freund, Rebellenveteran LANDA, eine wunderschöne, junge zenzanische Priesterin RAGGLE und TAGGLE, Bandos Söhne DER BRUDER, Opfer ihrer häufigen Streiche DIE ALTE LADY in der Kutsche nach Agondon BAINES, ihre einäugige Gefährtin
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GOODMAN OLCH, ein ehrenwerter Ehemann GOODY OLCH, seine ehrenwerte Ehefrau MISS TILSY FASH, die zaxonische Nachtigall FREDDIE CHAYN, Spross eines unbedeutenden Fürstentums KUTSCHER, BLAURÖCKE und WIRTE etc.
IM REICH DER TOTEN: SULTAN EL-THAKIR, Vater des jetzigen Sultans KALIF ABDUL SAMAD, Bruder von Sultan El-Thakir DER BOTSCHAFTER VON LANIA CHOR LADY YSADONA, seine bildschöne Tochter LADY ISABELLA, seine andere bildschöne Tochter MALA (LORD MALAGON), Kaleds Jugendfreund PANDARUS, Vater von Simonides, Evitamus und Almoran MUTTER von Simonides, Evitamus und Almoran MESHA BULAQ, Sultan des Roten Staubes PRINZ ASCHAR, sein kranker Sohn DIE BRAUT AUS GEDEN, die Verlobte des Prinzen Aschar DER SCHAH VON GEDEN, Vater der Braut NOVA-RIEL, der die Schlange Sassoroch besiegte TOR, Jems geheimnisvoller Onkel ILOISA, Kriegerin und Bandos Frau VYTONI, Philosoph, Autor von »Diskurs über die Freiheit« Andere BERÜHMTE AUTOREN und GELEHRTE KÖNIGE, KÖNIGINNEN und HISTORISCHE FIGUREN Verschiedene TOTE VERWANDTE, FREUNDE und FEINDE etc. AUF DEN NEBENSCHAUPLÄTZEN: EJARD BLAU, unrechtmäßiger König von Ejland
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KÖNIGIN JELICA, seine Frau, geborene Miss Jelica Vance TRANIMEL, sein böser Erster Minister, siehe: TOTH-VEXRAH LADY UMBECCA VEELDROP, böse Großtante von Jem und Cata EAY FEVAL, ihr geistiger Berater und Mitverschwörer CONSTANSIA CHAM-CHARING, früher einmal eine große Dame der Gesellschaft TISHY CHAM-CHARING, ihre tölpelhafte Tochter SILAS WOLVERON, Catas Vater BARNABAS, ein magischer Zwerg, wird immer noch vermisst MYLA, verschwundene Schwester von Rajal MORVEN und CRUM Viele andere ALTE FREUNDE und FEINDE etc.
GÖTTER UND ANDERE SELTSAME KREATUREN: OROK, Ur-Gott, Göttervater KOROS, Gott der Finsternis, wird von den Vagas verehrt VIANA, Göttin der Erde, wird in Zenzau verehrt THERON, Gott des Feuers, wurde einmal in Unang Lia verehrt JAVANDER, Göttin des Wassers, wird in Wenaya verehrt AGONIS, Gott der Lüfte, wird in Ejland verehrt TOTH-VEXRAH, böser Anti-Gott, siehe: TRANIMEL LADY IMAGENTA, seine Tochter, Verlobte von Agonis JAFIR, der DSCHINN HARLEQUIN BOB SCARLET, der gleichnamige Vogel PENGE, ein besonderer Teil von Polty BRENNENDE VÖGEL
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Minichi Nightingale
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