Jessé Souza Die Naturalisierung der Ungleichheit
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Jessé Souza
Die Naturalisierung der Ungleichheit Ein neues ...
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Jessé Souza Die Naturalisierung der Ungleichheit
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Jessé Souza
Die Naturalisierung der Ungleichheit Ein neues Paradigma zum Verständnis peripherer Gesellschaften Mit einem Vorwort von Axel Honneth
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Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-13 978-3-531-15430-5
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Mein Dank gilt dem daad-Brasilien, der finanzielle Hilfe für die Übersetzung geleistet hat, und der Humboldt-Stiftung für die großzügige Unterstützung und Finanzierung von Studienaufenthalten in Deutschland, die es mir ermöglicht haben, dieses Buch zu schreiben.
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Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
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Vorwort
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Einleitung
Teil I – Die Rekonstruktion der spontanen Ideologie des Kapitalismus Kapitel I – Die Hermeneutik des sozialen Raums nach Charles Taylor Widersprüche der Moderne im Zentrum und an der Peripherie
26 36
Kapitel II – Pierre Bourdieu und die Rekonstruktion der kritischen Soziologie Persönliche und unpersönliche Herrschaft Der spezifische Charakter der sozialen Herrschaft im Kapitalismus Der Klassenkampf in der Spätmoderne
41 47 50 57
Kapitel III – Taylor und Bourdieu oder die schwierige Vermählung von Moral und Macht Anerkennung und Klassenkampf im Zentrum und an der Peripherie Das Gefüge der Naturalisierten Sozialwelt Die spontane Ideologie des Spätkapitalismus
60 63 75 80
Teil II – Die Konstituierung der peripheren Moderne Kapitel I – Die Singularität der neuen Peripherie Kapitel II – Die Konstituierung der persönlichen Macht Patriarchalismus und Sklaverei Der formal „freie“ Abhängige
87 95 95 114
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Inhaltsverzeichnis 122
Kapitel III – Von der persönlichen zur unpersönlichen Macht Florestan Fernandes und die makro-soziale Dimension der bürgerlichen Revolution in Brasilien Gilberto Freyre und die mikro-soziale Dimension des Alltagslebens
122 129
Kapitel IV – Die Revolution von 1930 und die Formulierung eines autonomen und nationalen Modernisierungsprojekts
138
Teil III – Die soziale Konstruktion der subalternen Staatsbürgerschaft Kapitel I – Der Prozess der peripheren Modernisierung und die Bildung einer strukturellen Unterklasse
143
Kapitel II – Die „spontane Ideologie“ des Spätkapitalismus und die soziale Konstruktion der Ungleichheit
155
Kapitel III – Die spezifische Gestalt der peripheren Ungleichheit
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Literaturverzeichnis
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Vorwort
Die vorliegende Studie von Jessé Souza, ursprünglich als Habilitationsschrift für die Universität Flensburg geschrieben, stellt den anspruchsvollen Versuch dar, die Idee der peripheren Ungleichheit zu kritisieren, indem sie als Bestandteil des klassischen, längst überfälligen Modernisierungsparadigmas präsentiert wird. Nach dem klassischem Erklärungsschema werden periphere Gesellschaften, also solche, die sich am Rande der kapitalistischen Kernländer des Westens befinden, als Entwicklungsstufen auf einem Modernisierungspfad verstanden, der in die einzige Richtung eines institutionellen Komplexes von kapitalistischer Marktwirtschaft und verfassungsrechtlich garantierter Demokratie und Gleichheit weist. Gegen dieses Erklärungsmodell möchte Herr Souza nun aber nicht nur das inzwischen bereits hinlänglich ausgearbeitete Alternativmodell einer multiplen Moderne in Stellung bringen, vielmehr setzt er sich zum Ziel, ein solches Alternativmodell weit über den bisherigen Stand hinaus gesellschaftstheoretisch auszuformulieren, indem er sich zugleich des Mittels der moralischen Hermeneutik Charles Taylors und der Konzeption unterschiedlicher Kapitalsorten von Pierre Bourdieu bedient. Auf diese Weise entsteht im Zuge der Arbeit eine komplexe, höchst originelle, wenn auch vielleicht noch nicht in allen Aspekten durchdachte Theorie multipler Entwicklungspfade der Moderne, in der sich je nach lokaler Ausgangslage und kultureller Tradition die grundlegenden Prinzipien der Arbeit und Authentizität auf der einen Seite, der Gleichheit und Ungleichheit auf der anderen Seite auf je spezifische, einzigartige Weise mischen. Höchst originell an dieser Konstruktion einer Gesellschaftstheorie, die die vielfältigen institutionellen Ausprägungen der einen Kernstruktur der Moderne zum Ausgangspunkt – und nicht etwa zum Resultat – nimmt, ist der Versuch, auf dem Weg einer Synthesenbildung zwischen Taylor und Bourdieu eine Matrix von möglichen Kombinationen unterschiedlicher, spannungsreicher Prinzipien zu entwickeln. Mit Taylor unterstellt Jessé Souza zunächst, dass die Moderne insgesamt einen Horizont von an sich widerstreitenden Werten darstellt, deren Eckpunkte die Orientierung am Wert der Arbeit und das Streben nach Authentizität bilden. Interessant und wirklich innovativ ist nun, dass dieses kulturelle Schema von Jessé Souza durch eine weitere Achse bereichert wird, die sich einer „werttheoretischen“ Uminterpretation der Kapitaltheorie von Bourdieu verdankt: statt dessen Idee einer treibenden Kraft des Verlangens nach sozialer Distinktion utilitaristisch zu deuten, interpretiert er sie als Hinweis auf eine zusätzliche, von
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Vorwort
Taylor ignorierte Wertachse der Moderne, die zwischen den Polen der Ungleichheit und der Gleichheit aufgespannt ist. Auf diese Weise entsteht jenes bereits erwähnte, höchst komplexe und eindrucksvolle Bild einer multiplen Moderne, in dem alle heute existierenden Gesellschaften spezifische, nämlich jeweils lokalspezifische Verkörperungen des einen modernen Werthorizontes darstellen – und zwar so, dass jene Verkörperungen sich auch in der institutionellen Struktur, also dem selektiven Entwicklungspfad des jeweiligen Landes, niederschlagen. Im II. Teil seiner Schrift wendet Jessé Souza diese neuartige Konzeption einer multiplen, jeweils aus einzigartigen Kombinationen des modernen Werthorizonts bestehenden Moderne auf sein eigenes Heimatland Brasilien an. Höchst eindrucksvoll und überzeugend ist es, wie hier die spezifische Gesellschaftsstruktur Brasiliens als ein institutioneller Niederschlag der kulturellen Kopplung der beiden Pole von Ungleichheit und Authentizität erklärt wird: Das letztlich aus religiösen Quellen stammende Modernitätsmuster der Authentizität wird in dem größten Land Südamerikas mit einer naturalisierten Vorstellung von sozialer Ungleichheit so kombiniert, dass daraus die institutionelle Ausprägung eines Prinzips der „subalternen“ Staatsbürgerschaft entsteht, welches zur selbstverständlich akzeptierten Exklusion eines großen Teils der Bevölkerung führt. Wahrscheinlich finden sich heute nur wenige gesellschaftstheoretische Studien, in denen die bedrückende Armutslage Brasiliens so konsistent mit Verweis auf eine kulturelle Tradition erklärt wird, die in den Institutionen und sozialen Praktiken des Landes geradezu zu einer zweiten Natur geworden ist. Ich habe in dieser knappen Rekonstruktion nur einige der Schritte thematisiert, die Jessé Souza in der Entwicklung seiner soziologischen Neuinterpretation der institutionellen Struktur Brasiliens absolviert. Aber schon die wenigen Hinweise dürften ausreichen, um deutlich zu machen, wie mutig, originell und anspruchsvoll dieser Ansatz im Ganzen ist: Die Idee, die unterschiedlichen Entwicklungspfade der Moderne als Resultate einer institutionellen Verkörperung von jeweils unterschiedlichen Kombinationen moderner Wertprinzipien zu verstehen, scheint mir gegenüber vergleichbaren, jedoch weniger komplex ansetzenden Konzeptionen einen wirklichen Durchbruch darzustellen. Gewiss, einzelne Schritte dieser wegweisenden Analyse bedürften noch der weiteren Ausarbeitung; die Integration der Taylor’schen Hermeneutik und der Soziologie von Bourdieu etwa ist kein leichtes Unterfangen, das sich schon in einer einzigen Arbeit umstandslos bewältigen ließe; auch das Konzept der „subalternen Staatsbürgerschaft“, tatsächlich der theoretische Kern der Studie, dem eine fruchtbare Zukunft zu wünschen ist, müsste noch weiter ausgearbeitet werden, um es zu einem konsistenten Mittel der Analyse beschränkter Rechtsstaatlichkeit machen zu können. Aber auch ohne diese letzten Zuspitzungen stellt diese Studie sicherlich einen großen Wurf dar; sie ist von Interesse nicht nur für Soziologen, die
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Vorwort
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sich mit den Ländern Südamerikas beschäftigen, sondern für die Gesellschaftstheorie im allgemeinen. Axel Honneth, im Juli 2007
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Einleitung
In den letzten fünfzehn Jahren haben die neuen Herausforderungen durch die Intensivierung der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Globalisierung dazu beigetragen, das theoretische Problem der „peripheren Gesellschaften“ und des Verständnisses ihrer spezifischen Situation neu zu thematisieren und erneut auf die Tagesordnung der internationalen soziologischen Debatte zu stellen.1 Bei dieser Debatte gibt es heute zwei Varianten. Die Erste bewegt sich weiterhin in den Spuren des alten Paradigmas der Modernisierungstheorie, während die Zweite darauf abzielt, das Modernisierungsparadigma zu kritisieren und in der Form einer „post-kolonialen“ und „hybriden“ Theorie zu rekonstruieren. Das vorliegende Buch will eine theoretische Alternative zu diesen beiden Hauptparadigmen anbieten. Die „post-koloniale“ Reaktion mag zwar auf dem Feld der Literaturkritik interessant und innovativ2 (gewesen) sein, doch vermochte sie nicht, eine effektive „alternative Gesellschaftstheorie“ zu dem Modernisierungsparadigma zu erstellen, das bis heute gleichsam aus „Trägheitsgründen“ vorherrscht. Die „postkolonialen“ Versuche einer konkreten Gesellschaftsanalyse beschränken sich auf das Lob der „Hybridität“ als solcher3, ohne dass es die eigene Dynamik dieser hybriden Gesellschaften oder Kulturenkomplexen positiv rekonstruiert wird4, ohne dass wir dabei erfahren, warum „hybride“ (gleichzeitig „moderne“ und traditionelle) Institutionen oder Gesellschaften in jeder Hinsicht „besser“ seien oder irgendeine Form privilegierten Zugangs zu jeglichen emanzipatorischen Impulsen besäßen.
1 Die konkreten neuen praktischen und politischen Herausforderungen der veränderten Weltsituation ähneln der Situation, wie sie vor 60 Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bestand, als eine große Anstrengung zur weltweiten Reorganisation neuer politisch-ökonomischer Verhältnisse unternommen wurde. Die so genannte „Modernisierungstheorie“ wurde unter diesen Bedingungen geschaffen. Knöbl, Wolfgang, Die Spielräume der Modernisierung. 2 Bhaba, Homi, The location of culture, Said, Edward, Orientalism. 3 Costa, Sérgio, (Um)möglichkeiten einer postkolonialen Soziologie, in: Costa, Sérgio, Brunkhorst, Hauke (Hrsg.), Jenseits von Zentrum und Peripherie. 4 Schluchter, Wolfgang, und Eisenstadt, Shmuel, Paths to Early Modernities: A Comparartive View, pag. 6, in: Public Spheres and Collective Identities, (Schluchter, Wolfgang, Shmuel Eisenstadt und Wittrock, Björn, Hrsg).
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Einleitung
Die unangemessene Übernahme der Rhetorik aus dem Bereich der „Menschenrechte“, wo alle Menschen gleiche Rechte haben sollen und gleich zu behandeln sind, in den Bereich der Analyse konkreter Gesellschaften und verschiedenartiger „kultureller“ Komplexe (wie etwa Okzident und Orient), führt dazu, dass die effektive Gesellschaftsanalyse verwechselt wird mit einer bloßen „petitio principii“ im Sinne des kulturellen Relativismus. Die Gesellschaften und ihre sozialen Praktiken mögen wohl „verwoben“ sein, wie Shalini Randeria5 es z.B. sieht, doch was bedeutet dies, über die Trivialität dieser Behauptung hinaus, für die vergleichende Analyse von konkreten Gesellschaften, Institutionen und sozialen Praktiken? Die kritische Soziologie benötigt und benötigte immer klare und objektive Kriterien, die bemessen und erklären können, warum eine konkret gegebene Gesellschaft „besser“, „gerechter“ oder „menschlicher“ oder aber „schlechter“, „ungerechter“ und weniger „menschlich“ als eine andere ist. Bei ihrem gewiss gerechtfertigten Versuch, den „falschplazierten Konkretismus“ der Modernisierungstheorie zu kritisieren, der abstrakte Wertungsperspektiven mit Wesensattributen konkreter Gesellschaften verbindet – wie im Fall der USA bei der Modernisierungstheorie –, lassen sich diese „post-kolonialen“ theoretischen Perspektiven auf einen gefährlichen Flirt mit einem „kulturellen Relativismus“ ein, der letzten Endes jede kritische Soziologie unmöglich werden lässt. Die kritische Soziologie benötigt ein „objektives Kriterium“ für den Vergleich konkreter und immer unvollkommener Gesellschaften. Will man sich der Auffassung entgegenstellen, dass konkrete Gesellschaften nicht als absolutes Modell für andere dienen können, braucht man nicht den Möglichkeiten der Gesellschaftskritik zu entsagen, die der soziologische Vergleich erlaubt. Die einzelnen konkreten Gesellschaften sind nicht „gleich“ im Verhältnis zueinander. Dies bedeutet nicht, dass es auch die zentralen Gesellschaften des Westens, kraft Artikulierung ihre eigene „Werthierarchie“, nicht kritisiert werden könnten. Das ist sicherlich der Fall. Es gibt aber menschlichere und gerechtere Gesellschaften als andere und es ist eine grundlegende Aufgabe der Gesellschaftskritik, die Gründe für diese Unterschiede zu erörtern. Das vorliegende Buch will aufzeigen, wie gerade auch die Gesellschaften der Peripherie an der gleichen „Wertehierarchie“ teilhaben, welche die gesamte moderne (immer schon von „hybriden“ und „verwobenen“ Gesellschaften gebildeten) Welt beeinflusst, da deren Zentrum doch seine opaken und vorreflexiven Klassifikationskriterien global zu verbreiten vermochte. Die Definition des5 Randeria, Shalini, Verwobene Moderne: Zivilgesellschaft, Kastenbindung und nicht-staatliches Familienrecht im (post)kolonialen Indien, in: Costa, Sérgio, Brunkhorst, Hauke (Hrsg.), Jenseits von Zentrum und Peripherie, und Conrad, Sebastian, Randeria, Shalini (Hrsg), Jenseits des Eurozentrismus.
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Einleitung
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sen, was „gerechter“ und was „menschlicher“ ist, wird folglich, zumindest für die lateinamerikanischen „neue Peripherie“6, die sich, zumindest als komplexe Gesellschaften, aufgrund der weltweiten Expansion des westlichen Kapitalismus und Rationalismus bilden, gemeinsam, sowohl von Zentrum als auch von der Peripherie, geteilt. In diesem Zusammenhang kann keineswegs von kulturell „relativen“ Kriterien gesprochen werden. Eine solche Idee ist weder wissenschaftlich plausibel, d.h. es ist eben nicht der Fall, dass diese peripheren Gesellschaften „in Wahrheit“ so funktionieren, noch ist sie politisch opportun, denn sie verleitet zu Selbst-Nachsicht und Mangel an kritischer Distanz zur eigenen Realität. Ablassen von einem objektiven Vergleichskriterium heißt ablassen von der Möglichkeit einer Gesellschaftskritik an Ungerechtigkeiten und sozialen Missständen. Das vorliegende Buch kann als ein Versuch aufgefasst werden, ein alternatives Erklärungsparadigma für den weltumspannenden Expansionsprozess des Kapitalismus zu entwickeln, und zwar sowohl zu der klassischen Perspektive der Modernisierungstheorie als auch zu den relativistischen Perspektiven, die in den letzten Jahren die Sozialwissenschaften unter dem zeitgeistigen Joch des „politisch Korrekten“ zu beherrschen scheinen. Der Irrtum der Modernisierungstheorien besteht folglich nicht darin zu postulieren, dass es klare Kriterien und also auch eine Hierarchie von „besser“ und schlechter“ für konkrete soziale Praktiken gibt. Die Bemühung um solche Kriterien ist vernünftig und notwendig. Die Irrtümer des Paradigmas der Modernisierung liegen woanders.7 Auf der Grundlage eines kategorischen Schemas, das eine Opposition einfachen Typs zwischen Tradition und Moderne annahm, wurde dieser letzte Pol in immer stärkerem Maße mit dem konkreten Beispiel der zeitgenössischen amerikanischen Gesellschaft assoziiert. Ausgehend von Studien, die sich an den grundlegenden Beiträgen von Toqueville und Weber inspirierten, allerdings sorgfältig inhaltlich bereinigt hinsichtlich ihrer zweideutigen und kritischen Haltungen sowohl gegenüber der amerikanischen Demokratie als auch gegenüber der Verfassung der Moderne im Allgemeinen, nahmen diese 6
Um sie von der „alten Peripherie“ zu unterscheiden, die von Max Weber in seiner Wirtschaftsethik der Weltreligionen analysiert wurde und deren Gesellschaften, als komplexe Gesellschaften, sich parallel zum Okzident entwickelten und den westlichen Gesellschaften in hohem Maße vergleichbar waren. 7 Der „Boom“ der Studien zu den unterentwickelten und peripheren Gesellschaften im Allgemeinen geht auf die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zurück und begleitet die nordamerikanischen Bemühungen um die politische Reorganisation der „freien Welt“. Der Akt einer politischen Konstruktion der Modernisierungstheorie – ausgehend von einer Rede Trumans im Jahr 1949 – scheint in gewisser Weise ihren Entwicklungsgang bestimmt und von dort aus auch allgemein die vergleichenden Studien, hauptsächlich diejenigen der Politikwissenschaft, miteinbezogen zu haben. Siehe dazu Eisenstadt, Tradition, Wandel und Modernität, S. 46/47, und Knöbl, Wolfgang, Spielräume der Modernisierung.
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Einleitung
Studien in wachsendem Maße einen apologetischen und triumphalistischen Charakter an.8 Auf der Basis eines Erklärungsschemas, das demjenigen von „culture and personality“ ähnelt, das in der amerikanischen Soziologie und Anthropologie der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts vorherrschte9, nimmt man eine kulturalistische Perspektive ein, ohne eine angemessene Verknüpfung mit der Wirksamkeit grundlegender Institutionen zu berücksichtigen, in deren Rahmen die „Kultur“ als eine homogene, ganzheitliche und selbstbezogene Entität wahrgenommen wird. Demzufolge wäre es aufgrund einer Vorherrschaft der vormodernen Vergangenheit, dass man sich in der Peripherie konfrontiert sieht mit vertikalen, auf Gunst beruhenden Solidaritäten, mit subalterner Staatsbürgerschaft des größten Teils der Bevölkerung und mit einem materiellen und wertemäßigen Abgrund zwischen den Klassen und „Rassen“, welche die peripheren Gesellschaften bilden. Neben der Tatsache, dass sie einem „essenzialistischen Kulturalismus“ verhaftet sind, reproduzieren diese Analysen eine Form von soziologischem Subjektivismus, bei dem die Interaktionen von Angesicht zu Angesicht und die Intentionalität der Subjekte, wie etwa beim Paradigma des Gunst/Schutz-Verhältnisses, den letzten Bezugsmaßstab der Analyse zu bilden scheinen. In gewisser Weise wird die doxische und naturalisierte Perspektive unserer alltäglichen Wahrnehmung verallgemeinert und begrifflich abstrahiert, bis sie den Anschein einer objektiven Erklärung der Realität gewinnt. In Wirklichkeit spiegeln diese Analysen auf begrifflicher Ebene die Vorurteile, Vorbegriffe und Ad-hoc-Erklärungen wider, welche die pragmatischen Imperative des Alltagslebens und des Gemeinverstands uns auferlegen. Ich bin davon überzeugt, dass es diese „heimliche Allianz“ zwischen der Modernisierungssoziologie und dem Thema der nationalen Identität und folglich einer „spontanen Soziologie“ des Alltagsverstands ist, welche für die bemerkenswerte Kontinuität und Dominanz dieses Paradigmas noch heute verantwort8 Beispiele für diese Perspektive sind die einflussreichen Arbeiten von Banfield, The Moral basis of a backward society, die klassischen Arbeiten von Almond und Verba über politische Kultur, Almond, Gabriel, Verba, Sidney, The Civic Culture, 1972, The Civic Culture Revisited, 1980, und sogar die Arbeiten jüngsten Datums, auf derselben Linie der Studien zur politischen Kultur, von Ronald Inglehart, wie Inglehart, Cultural shift in advanced industrial society und Modernization and postmodernization. Zu einer interessanten Kritik des von Inglehart verwendeten „Vertrauens“-Begriffs, siehe Eisenberg und Feres, Sleeping with the enemy: eine analytische Kritik des Vertrauensbegriffs, in: Souza, Jessé, Kühn, Thomas (Hrsg.) Das moderne Brasilien: Gesellschaft, Politk und Kultur in der Peripherie des Westens, S. 144/163. 9 Eine sehr gute Darlegung der Vorgeschichte, Entwicklung und inneren Widersprüche des Paradigmas der Modernisierungstheorie, wenngleich ich dem propositiven Teil des Buchs nicht zustimme, der sich von den Analysen Eisenstadts, Touraines und Manns mehr verspricht, als sie halten können, findet sich bei Knöbl, Spielräume der Modernisierung.
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lich ist. In diesem Paradigma stellt man immer „Nationen“ gegenüber, die mehr oder weniger demokratisch, mehr oder weniger entwickelt sind. Von Beginn an besteht die Vorannahme in der Existenz eines „homogenen“ nationalen Raums, der beispielsweise die klassenbedingten Gegensätze und Zugehörigkeiten verdeckt. Wenngleich dieses Verfahren auch als Legitimationsmittel für die „Überlegenheit“10 der fortgeschrittenen Länder dienen mag und dabei der Nationalstolz mit seiner nicht gering zu schätzenden Kraft zur Unterdrückung innerer Gegensätze und Kämpfe dazu beiträgt, die soziale Integration dieser Gesellschaften zu fördern, so ist die Peripherie jedoch der Bereich, wo dieses Assoziationsschema eine beachtliche Dauerhaftigkeit und Kontinuität erlangt. Die Gesellschaften der Peripherie und insbesondere der „neuen Peripherie“11, die sich, zumindest als komplexe Gesellschaften, aufgrund der weltweiten Expansion des westlichen Kapitalismus und Rationalismus bilden, wie es bei den meisten lateinamerikanischen Gesellschaften der Fall ist, werden ihre „nationalen Identitäten“ nach denselben Prinzipien konstruieren, lediglich mit umgekehrten Vorzeichen: Überlegenheit und Triumphalismus auf der einen Seite, Reaktivität und Ressentiment auf der anderen. Auf internationaler wie auf nationaler Ebene wird z.B. der Komplex der peripheren Gesellschaften Lateinamerikas, wie derjenige der peripheren Gesellschaften allgemein, wahrgenommen als ein Gebilde aus vormodernen Gesellschaften, die in ihrer Struktur und Dynamik geprägt sind durch etwas, was ich eine „emotionale Handlungstheorie“ nennen möchte12. Dies gilt sowohl für die Vorstellung der Ausländer von Lateinamerika als auch für das Bild der Lateinamerikaner von sich selbst, sei es auf der Ebene des Alltagsverstands oder der wissenschaftlichen Reflexion. Vermeintlich „erklären“ ließe sich dadurch zum einen die Kultur der Privilegien und die außergewöhnliche Ungleichheit, nämlich aufgrund des unterschiedlichen Zugangs zu einem gewissen Kapital persönlicher Beziehungen; und zum anderen auch die Präsenz der Korruption, die als ein folkloristisches Merkmal dieser Art von Gesellschaften gedacht wird und nicht etwa als ein ureigenes Merkmal des Kapitalismus als solchem. Vorurteile und überholte Auffassungen reichen sich dabei die Hand 10
Es scheint einen Wandel vom Paradigma des Rassismus im 19. Jahrhundert zum kulturalistischen Paradigma der Modernisierungstheorie im 20. Jahrhundert gegeben zu haben, wobei aber beide Auffassungen sehr ähnlichen Zwecken dienten bzw. dienen. 11 Um sie von der „alten Peripherie“ zu unterscheiden, die von Max Weber in seiner Wirtschaftsethik der Weltenreligionen analysiert wurde und deren Gesellschaften, als komplexe Gesellschaften, sich parallel zum Okzident entwickelten und den westlichen Gesellschaften in hohem Maße vergleichbar waren. 12 Dazu siehe Souza, Jessé, A Modernização Seletiva: para uma reinterpretação do dilema brasileiro, und Souza, Jessé, A invisibilidade da desigualdade brasileira.
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und verhindern so eine genauere und differenziertere Bestimmung der Ursachen und Folgen der peripheren Modernisierung und ihrer Auswirkungen wie die abgrundtiefe Ungleichheit, Marginalisierung und subalterne Staatsbürgerlichkeit. Noch in den heutigen Vorstellungen rangieren die lateinamerikanischen Länder – und dabei sogar komplexe und dynamische Gesellschaften wie Brasilien, Mexiko und Argentinien – als Gesellschaften jenseits der modernen westlichen Welt, als ob der Westen ein lediglich normativer Begriff wäre, der nur die wohlhabenden und reichen Gesellschaften einbegriffe. Das Exotische in der Wahrnehmung durch den Alltagsverstand, d.h. das Exotische, das sich durch die vormoderne Herrschaft der Emotionalität und Sentimentalität zum Repräsentationsschema ganzer Gesellschaften fügt, wird hier gleichfalls zum Exotischen im Rahmen der methodischen Reflexion. Dieser Exotismus durchwirkt auch die Selbstwahrnehmung der Lateinamerikaner. So interpretiert das herrschende „soziale Imaginäre“ etwa in Brasilien „den Brasilianer“ als einen sozial homogenen Typus, nämlich als den „herzlichen Menschen“ Sérgio Buarques13 (dem Begründer der modernen Soziologie in Brasilien) und somit als Typus mit denselben Merkmalen, wie sie die „emotionalen Handlungstheorie“ bestimmt: Vorherrschaft der Emotionen und des Gefühls über das rationale Kalkül, wodurch eine Welt entsteht, die geteilt ist in Freunde und Feinde. Diese emotionale Handlungstheorie wurde geschaffen als Gegenentwurf zu einer „instrumentalen Handlungstheorie“, die im Rahmen dieser Sicht lediglich typisch für die fortgeschrittenen modernen Gesellschaften sei. Da aber diese emotionale Handlungstheorie nicht nur die wissenschaftliche Sphäre umfasst, sondern auch die Grundlage der ambivalenten „nationalen Identität“ von Gesellschaften wie Brasilien oder Mexiko bildet, die ihre Identität jeweils in Opposition zu den USA entwickelt haben – der paradigmatischen Gesellschaft für die instrumentale Handlungstheorie –, so ist damit ein Kontext entstanden, in dem die Kritik dieser Auffassungen selbst dann sehr schwierig wird, wenn ihre theoretische Fragilität offensichtlich ist. Diese Schwierigkeit rührt von der Tatsache her, dass die „nationalen Identitäten“ die „individuellen Identitäten“ in affektiver und emotionaler Weise durchdringen, folglich in einer Weise, die gegen Kritik resistent ist. Die nationalen Identitäten müssen ihrer Klientel etwas „Positives“ anbieten. Die emotionale Handlungstheorie, welche die Selbstwahrnehmung der lateinamerikanischen Gesellschaften bestimmt, ist ambivalent, da sie sich einerseits in Gegensatz zu einer höheren, wenngleich instrumentalen Rationalität der fortgeschrittenen Na13
Buarque, Sérgio, Raizes do Brasil, Companhia das Letras, São Paulo, 1999.
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tionen stellt, andererseits aber einen „imaginären Ausgleich“ bietet, etwas, auf das alle, die sich damit identifizieren, „stolz“ sein können, weil es keineswegs zu verachten sei. Im Rahmen dieser Theorie können die Menschen in diesen Gesellschaften, die gerade durch die Betonung der Emotionen und des Gefühls in Opposition zum rationalen Kalkül als vormodern gelten, sich in einer Weise wahrnehmen, dass sie als „herzlicher“, „menschlicher“, „gastfreundlicher“ und selbst als „sinnlicher“ erscheinen als die Menschen der kalten und gefühllosen fortgeschrittenen Gesellschaften. Aufgrund einer solchen „Ersatzbefriedigung“ konnte diese „kompensatorische Phantasie“ zur Grundlage des inneren solidarischen Zusammenhalts von Gesellschaften wie der brasilianischen werden. Die methodische Reflexion wiederholt lediglich diese „kompensatorische Phantasie“ auf einer etwas elaborierteren und differenzierteren Ebene. Ihre theoretische Fragilität wird dadurch kompensiert und verdeckt, dass jeder Brasilianer durch die simple Tatsache, dass er in Brasilien geboren ist und dort seine Sozialisation erfahren hat, sich bereits genau in der Weise wahrnimmt, wie die „emotionale Handlungstheorie“ ihm später mit anscheinend komplexen Konzepten sein Wesen definieren wird. In der emotionalen Handlungstheorie stellt sich alles so dar, als ob alle Menschen dieser „emotional integrierten“ Gesellschaften im Wesentlichen ähnlich seien, ohne jegliche Klassenteilung, lediglich durch Einkommensunterschiede differenziert. Aufgrund dessen wird der ökonomische Fortschritt als ein Allheilmittel aufgefasst, um Probleme wie die Ungleichheit, die Marginalisierung und die subalterne Staatsbürgerlichkeit zu lösen. In Ländern wie Brasilien existiert ein „fetischistischer“ Glaube an den ökonomischen Fortschritt, der sich von der Expansion des Marktes die Lösung für alle sozialen Probleme erhofft. Die Tatsache, dass Brasilien zwischen 1930 und 1980 zwar das Land mit dem weltweit größten Wirtschaftswachstum war und in dieser Periode von einer der ärmsten Gesellschaften des Globus zur achtstärksten Wirtschaftsmacht aufstieg, ohne dass sich aber deshalb die Raten der Ungleichheit, Marginalisierung und der subalternen Staatsbürger radikal geändert hätten, sollte ein mehr als offensichtliches Indiz für die Irrigkeit dieser Annahme sein. Doch dies ist nicht wahrgenommen worden und wird auch heute noch nicht wahrgenommen. Die Erarbeitung eines alternativen theoretischen Paradigmas, das ermöglicht, diejenigen Bereiche kollektiver moralischer, politischer und kultureller Lernprozesse zu thematisieren, die sich nicht auf den Wirtschaftsfetischismus reduzieren lassen, muss ausgehen vom fundamentalen Sachverhalt der Singularität des Modernisierungsprozesses in peripheren Gesellschaften wie der brasilianischen. Max Weber hat am Ende seiner Studie zur Religion in Indien eine intui-
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Einleitung
tive Einsicht vorgebracht14, die mir für unser Thema grundlegende Bedeutung zu haben scheint. Bei der Analyse der Entwicklung des Kapitalismus in Japan im Vergleich mit dem Fall Indiens hebt Weber hervor, dass die Expansion des Kapitalismus – oder, wie er bevorzugte, des westlichen Rationalismus – in die Peripherie umso tiefer greifend erfolge, je stärker das Modell auf den Export der Basisinstitutionen des Okzidents ausgerichtet ist, nämlich des kompetitiven Marktes und des zentralisierten Staates, und diese als „fertige Artefakte“ überträgt. Wenn Weber mit seinem „Insight“ richtig liegt, wie ich es glaube, so ergibt sich daraus die Frage nach der Weltauffassung, die zusammen mit dem Export dieser Basisinstitutionen der modernen Welt in die Peripherie importiert wird. Es bedeutet, dass eine ganze kontingente Kultur und Weltauffassung mit der institutionellen Logik des modernen Kapitalismus verbunden sind. Diesen zentralen Aspekt zu erkennen bedeutet, die Art von „kulturalistischem Essentialismus“ der „emotionalen Handlungstheorie“ zu überwinden, der sowohl international als auch national noch dominiert und der die „Kultur“ von der institutionellen Wirksamkeit trennt. Diese aber ist die einzige Instanz, die erklären kann, auf welche Weise Kultur und Werte das menschliche Verhalten beeinflussen können. Den Zusammenhang zwischen Kultur und institutioneller Wirksamkeit zu erkennen heißt auch, sich nicht von einer Soziologie blenden zu lassen, die unbesehen den Diskurs übernimmt, den diese Institutionen von sich selbst führen, als ob sie Konfigurationen wären, die gesteuert würden durch neutrale Kriterien der funktionalen Effizienz auf der Basis egalitärer und leistungsbezogener Kriterien. Um Einsichten in diese grundlegenden Zusammenhänge zu gewinnen, ist es nötig, die Sinngehalte der opaken Bedeutungen zu ergründen und aufzudecken, die in der modernen Gesellschaft die Reproduktion der Ungleichheit erlauben. Im Rahmen der Rekonstruktion, die ich in diesem Buch vornehmen möchte, will ich versuchen, mich von den Voraussetzungen des „kulturalistischen Essentialismus“ zu entfernen, jedoch ohne auf eine Perspektive zu verzichten, die einen Zugang zu den kulturellen und symbolischen Realitäten in Betracht zieht. Und eben in diesem Kontext möchte ich die Reflexionen von Charles Taylor zur Singularität heranziehen, die die kulturellen, moralischen und symbolischen Probleme in einem weiten Sinne in der modernen Welt annehmen. Hier interessiert mich vor allem sein kommunitaristischer Ansatzpunkt als eine Hermeneutik des sozialen Raums ausgehend von seiner Kritik des „Naturalismus“, der sowohl die wissenschaftliche Praxis als auch das Alltagsleben durchdringt, als ein Mittel, eben genau die dem westlichen Rationalismus implizite Wertekonfiguration 14
Weber, Max, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen: Hinduismus und Buddhismus, S. 250-251.
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zu artikulieren, die Anlass zu einem spezifischen Typ sozialer Hierarchie und auch zu einem besonderen, darauf basierenden Begriff sozialer Anerkennung gibt. Seine Kritik an der tendenziell verdinglichenden Konzeption von Staat und Markt als systemische Größen, wie wir es z.B. bei Jürgen Habermas sehen, scheint mir zutreffend und von entscheidender Wichtigkeit für ein angemesseneres Verständnis des Expansionsprozesses des westlichen Rationalismus vom Zentrum zur Peripherie, der durch den Export dieser Institutionen als „fertige Gebilde“ im Weberschen Sinn des Ausdrucks erfolgt. Da jedoch der Webersche Ausgangspunkt durch seine Gebundenheit an die Kategorien der „Bewusstseinsphilosophie“, die ihn dazu zwang, im handelnden Subjekt die Quelle allen Sinns und aller Moralität zu sehen,15 nicht dazu taugt, die Ausdehnung des wertemäßigen, moralischen und symbolischen Horizonts in seiner ganzen Reichweite zu erkennen, wie er in diesen vom Zentrum zur Peripherie als „fertige Gebilde“ exportierten institutionellen Konfigurationen gegenwärtig ist, so wird die Taylorsche Rekonstruktion für die Entwicklung meines Arguments in diesem Buch grundlegend sein. Zusammen mit der Soziologie Pierre Bourdieus, glaube ich bei diesen beiden Autoren eine grundlegende Komplementarität zu finden, die es ermöglicht, die Erfassung impliziter und für das Alltagsbewusstsein undurchsichtiger Werteschemata, die auf unklare und unartikulierte Weise mit der Wirksamkeit einiger Institutionen der modernen Welt wie Markt und Staat verankert sind, mit der Erfassung sichtbarer sozialer Zeichen zu verbinden, die es erlauben, den engen Zusammenhang aufzuzeigen zwischen einer sich als universal und neutral ausgebenden Wertehierarchie und der Erzeugung einer sozialen Ungleichheit, die sowohl im Zentrum wie an der Peripherie des Systems dazu tendiert, sich zu naturalisieren. Die Verbindung der Perspektiven dieser beiden zeitgenössischen Klassiker erlaubt in meinen Augen eine sehr viel feinsinnigere und nützlichere Reformulierung des klassischen marxistischen Themas der „spontanen Ideologie des Kapitalismus“, sei es im Kontext des Zentrum oder im Kontext der Peripherie. Meine Hoffnung besteht darin, dass das Studium der peripheren Gesellschaften wieder mit universellen Fragestellungen in Verbindung gebracht werden kann und dass es zur Klärung von Problemen beitragen kann, die allen kontingenten und unvollkommenen Typen menschlicher Gesellschaft zu schaffen 15
Dasselbe geschieht mit dem lediglich deskriptiven Begriff des „Charismas“. Da keine Vorstellung von unartikulierten „kollektiven Bedeutungen“ existiert, die ein Führer artikulieren und in eine bestimmte Richtung lenken kann und soll, wird die verbindende Kraft zwischen dem Führer und seinem Gefolge zu etwas „Geheimnisvollem“ und findet vonseiten der Masse seine Begründung in der Annahme, dass die Persönlichkeit des Führers außer-alltägliche oder magische Eigenschaften besitzt.
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machen. Dieses Buch möchte einen bescheidenen Beitrag zu diesem Desiderat leisten. Ich bin davon überzeugt, dass das Studium der Naturalisierung der Ungleichheit an der Peripherie, die zu pervertierten Formen von subalterner Staatsbürgerschaft und Marginalisierung in diesen Gesellschaften führt, auch helfen kann, ähnliche Gegebenheiten in den zentralen Ländern zu erhellen, wenngleich dort diese Phänomene zweifellos vergleichsweise weniger virulent sind als in den peripheren Gesellschaften. Obwohl die Theorien zur Modernisierung, welche die von den USA gesteuerten Bemühungen um eine politische Reorganisation der so genannten „freien Welt“ nach den Zweiten Weltkrieg begleiten, aus guten Gründen das unbestrittene Ansehen verloren haben, das sie bis Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts genossen, lebt ihr grundlegendes Schema, das Verhältnis zwischen dem Zentrum und der Peripherie des Weltsystems als einen antinomischen Gegensatz zwischen einem traditionellen und prämodernen Kernbereich und einem anderen, modernen Kernbereich zu begreifen, in neuen und hybriden Gewändern weiter. Dieser Sachverhalt zeigt uns, dass die Überwindung eines theoretischen Paradigmas, selbst wenn dieses offenkundig unangemessen und unzulänglich ist, nicht „verordnet“ werden kann, sondern die explizite Schaffung eines alternativen Paradigmas erfordert, das die zentralen Problemstellungen des alten Paradigmas in überzeugenderer Weise erklärt, indem es die Mängel und Lücken des vorigen Modells bewältigt. Dieser Herausforderung möchte ich mich in diesem Buch stellen. Ich will versuchen zu zeigen, wie die Naturalisierung der sozialen Ungleichheit in peripheren Ländern rezenter Modernisierung wie Brasilien angemessener erfasst werden kann als Folge nicht eines vermeintlich prämodernen und personalistischen Erbes, sondern genau im Gegenteil als Ergebnis eines effektiven Modernisierungsprozesses großen Ausmaßes, der das Land seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts gleichsam überfällt. In diesem Sinne impliziert mein Argument, dass die periphere Ungleichheit und ihre Naturalisierung im Alltagsleben modern sind, da sie an die Wirksamkeit moderner Werte und Institutionen gebunden sind, seit deren erfolgreicher Importierung „von draußen nach drinnen“. So bezieht diese Gesellschaftsstruktur ihre Daseinskraft nicht daraus, dass sie personalistisch ist, sondern im Gegenteil aus der typischen „Unpersönlichkeit“ der modernen Werte und Institutionen. Dies ist es, was sie im Alltagsleben so undurchsichtig und schwer zu erkennen macht. Die Wichtigkeit eines Paradigmawechsels auf diesem Feld hat nicht nur theoretische Auswirkungen. Das aktuelle chronische Fehlen von Zukunftsperspektiven in peripheren Ländern wie Brasilien hängt zusammen mit dem obsoleten Charakter der alten politischen Projekte, die auf den oben kritisierten traditionellen Analysen basierten. Die Tendenz zum Glauben an die fetischistische
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Macht des wirtschaftlichen Wachstums16, zur Bildung von regionalen Spaltungen zwischen modernen und traditionellen Teilen innerhalb des Landes oder selbst die populistischen Feldzüge gegen die Korruption werden ausgehend von eben diesem Nährboden an Ideen legitimiert und dienen zur ideologischen Maskierung gegen die theoretische und politische Artikulation der spezifischen Klassenkonflikte an der Peripherie. Dies ist die These, die ich im vorliegenden Buch zu untermauern beabsichtige.
16 Hier ist eine Präzisierung dessen angezeigt, was ich „Fetischismus“ nenne. Es gibt keinen Zweifel hinsichtlich der enormen Wichtigkeit der ökonomischen Variablen in der modernen Welt. Der „Fetischismus“ allerdings beginnt mit dem Glauben, dass die ökonomische Variable allein von sich aus Probleme wie soziale Integration und Bekämpfung der Ungleichheit lösen kann. Wie wir im Einzelnen sehen werden, ist dies ein endemischer Irrtum in peripheren Gesellschaften wie der brasilianischen.
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Teil I – Die Rekonstruktion der spontanen Ideologie des Kapitalismus Teil I – Die Rekonstruktion der spontanen Ideologie des Kapitalismus
Damit wir ein Verständnis der peripheren Moderne entwickeln können, das eine Alternative zu dem oben kritisierten bietet, welches antagonistisch den modernen und den prämodernen Pol gegenüberstellt, indem es von binären, sich gegenseitig ausschließenden Oppositionen ausgeht, die sich unendlich multiplizieren, ist es notwendig von einer alternativen und kritischen Sicht der zentralen Moderne selbst auszugehen. Eine alternative Konzeption der peripheren Moderne zu entwickeln impliziert von Anfang an, von Interpretationen auszugehen, die die konstitutionelle Ambiguität des westlichen Erfahrungsmodells herausstellt. Zwei Autoren haben, in meinen Augen, entscheidend mit ausgefeilten und anregenden Beiträgen zu einer kritischen Analyse der westlichen Modernität in den letzten Jahrzehnten beigetragen: Charles Taylor und Pierre Bourdieu. Die Beiträge dieser Autoren scheinen mir nicht nur grundlegend für ein angemessenes Verständnis der Moderne in ihrem zentralen Bereich zu sein. Wie ich hoffe im Folgenden erläutern zu können, sind sie für eine alternative Analyse der peripheren Moderne unerlässlich, wenngleich mit wichtigen Modifikationen bei ihren jeweiligen theoretischen Ansatzpunkten. Ich will meine Argumentation in diesem ersten Teil des Buchs in drei Schritten angehen: 1.) eine Darlegung des Taylorschen Unternehmens und die Diskussion der mich daraus interessierenden Aspekte; 2.) eine Darlegung der besonderen theoretischen Sicht Bourdieus mit Konzentration auf die Aspekte, die ich für meine Zwecke produktiv einsetzen möchte und schließlich 3.) eine Diskussion der negativen und positiven Aspekte der beiden Perspektiven, mit dem Ziel einer produktiven Rekonstruktion in Hinsicht auf die Klärung der theoretischen Fragestellung, die ich im Sinn habe: die Erhellung der sozialen Vorbedingungen für die Naturalisierung der Ungleichheit in peripheren Ländern wie Brasilien.
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Teil I – Die Rekonstruktion der spontanen Ideologie des Kapitalismus
Kapitel I – Die Hermeneutik des sozialen Raums nach Charles Taylor Wie wir weiter vorne im Einzelnen sehen werden, bedeutet sowohl für Taylor als auch für Bourdieu die Kritik des Intellektualismus, die menschliche Erfahrung in einem erweiterten Sinn als radikal kontext- und situationsbezogen zu verstehen. Bei Taylor impliziert diese Kontextualisierung vor allem ein Bemühen um Interpretation und Neudeutung. Unter den Bedingungen des modernen Lebens ist dieses Bemühen, aus Gründen die sich später klarer zeigen werden, gleichbedeutend damit, „gegen den Strom zu rudern“. Was Taylor „Naturalismus“ nennt ist die Tendenz der Moderne, die sowohl im Bereich des Alltagsverstands wirkt als auch in den vorherrschenden Formen, Philosophie und Wissenschaft zu betreiben, und die darin besteht, das menschliche Handeln und die menschliche Erfahrung aus dem kontextuellen Rahmen herauszulösen, der ihnen Realität und Überzeugungskraft verleiht. Für Taylor existiert eine innere Beziehung zwischen dem Atomismus – die Perspektive, die das Individuum als Quelle allen Sinns ansieht – und dem Naturalismus. Es ist genau deshalb, weil das Individuum als „losgelöst in der Welt“ und kontextlos wahrgenommen wird, dass eine solche Art von „spontaner Ideologie“ des Kapitalismus möglich wird, wie ihn der Naturalismus darstellt. Der Naturalismus zeigt sich sowohl auf der Ebene des Alltagslebens, wenn die Menschen sich als unfähig erweisen, die eigenen Leitwerte zu artikulieren, die ihre existentiellen und politischen Wahlentscheidungen lenken, wie die von Robert Bellah und seinem Team durchgeführte empirische Untersuchung über die amerikanische Mittelklasse in beispielhafter Weise zeigt,17 als auch auf der wissenschaftlichen Ebene, sei es in weniger ausgefeilter Weise in den sogenannten Theorien der rationalen Wahl, sei es in ausgefeilteren Theorien wie bei der gemäßigten Aneignung der Systemtheorie bei Jürgen Habermas. In Hinsicht auf diesen letzten Autor, der sicherlich einer der bevorzugten Dialogpartner Taylors ist, würde dieser – trotz der markanten Ähnlichkeiten in der Diagnose der „Pathologien der Moderne“– gewiss die Möglichkeit der Trennung zwischen System und Lebenswelt, wie Habermas sie vollzieht, für unzulässig halten. Diese beiden Dimensionen spiegeln lediglich verschiedene Bedeutungshorizonte wider und müssen als solche analysiert werden. Auf diese Weise sehen sich die sytemischen Imperative nicht mit den individuellen Identitäten als etwas Äußeres konfrontiert. Sie sind im Gegenteil Komponenten dieser selben 17
Bellah et al., Habits of the Heart. Individualism and commitment in american life, Harper and Row.
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Kapitel I – Die Hermeneutik des sozialen Raums nach Charles Taylor
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Identität und werden genau dadurch erzeugt und erhalten dadurch Wirksamkeit. Die systemischen Imperative sind kollektive Ziele, die autonom geworden sind, und die Herausforderung besteht darin, sie im Gegenteil nicht zu naturalisieren, wie es die systemische Perspektive macht, sondern sie gerade wieder aus dem menschlichen Lebenszusammenhang heraus zu erklären. Institutionen wie Staat und Markt, sowie die übrigen sozialen und kulturellen Praktiken, sind schon in impliziter und unartikulierter Form eine Interpretation hinsichtlich dessen, was gut ist, was erstrebenswert ist. Die Taylorsche Hermeneutik hat gerade zum Ziel, diesen impliziten Hintergrund artikulierbar und bewusst zu machen. Dies ist es, was Taylor dazu bewegt, den methodologischen Holismus zu vertreten.18 Man kann nur eine Analyse der Wirtschaft oder des Rechts betreiben als wären sie „neutral“ oder die Individuen als „ultima ratio“ der soziologischen Erklärung ansehen, insofern dieser soziale und moralische Hintergrund unthematisiert bleibt. Die Artikulierung der impliziten „moralischen Topographie“, die spezifisch für die westliche Kultur ist, bildet den Leitfaden des wichtigsten Buchs von Taylor: The sources of the self19. Die Motivation, die diesem gigantischen Unternehmen unterliegt, besteht in der Überzeugung, dass die moralischen Quellen oder die „konstitutiven Güter“ einer Kultur in einer Weise artikuliert werden müssen, dass sie als effektive Motivationen für das konkrete Verhalten verwendet werden können. Um dieses wenig erkundete Gebiet zu erfassen, nimmt sich Taylor vor, den Ursprung gewisser moralischer Empfindungen zu erforschen, die er, Harry Frankfurter folgend, „starke Wertsetzungen“ (strong evaluations) nennt. Es sind diese starken Wertsetzungen, die die Unterscheidung ermöglichen zwischen dem, was richtig oder falsch, besser oder schlechter, höherrangig oder tieferrangig ist, und zwar aufgrund von Parametern, die sich unabhängig von unserem Wünschen und Wollen geltend machen. Die Bindekraft dieser Wertsetzungen ist so stark, dass wir sie als instinktive und natürliche Intuitionen erachten, im Kontrast zu moralischen Reaktionen, von denen wir wissen, dass sie aus der Sozialisation und der formalen Erziehung herrühren. Über diese Intuitionen kann jedoch „Rechenschaft“ (account) abgelegt werden, die das „Warum“ erklärt, den eigentlichen Grund für das Empfinden, sie respektieren zu müssen. Eine moralische Reaktion ist folglich die Bestätigung einer gegebenen und kontingenten Ontologie des Menschlichen. Das Ziel Taylors in dem Buch ist es, die moralische Ontologie zu artikulieren, die hinter
18 Siehe Rosa, Identität und kulturelle Praxis: politische Philosophie nach Charles Taylor, S. 260270. 19 Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity.
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unseren Intuitionen steht – als Menschen der westlichen Moderne, sei es im Zentrum oder an der Peripherie. Die Moralität besitzt folglich Objektivität. Unsere Identität, sagt Taylor, formt sich durch Identifikationen und Wahlentscheidungen, die von diesem Hintergrund an Wertsetzungen herrühren, sei es durch Affinität oder durch Opposition zu ihnen. Der zentrale Gedanke ist hier, dass wir nur ein Sinnkonzept für unser Leben aufgrund der Beziehung formulieren, die wir zu den starken Wertsetzungen aufbauen, die den Hintergrund der Lebensführung des modernen Menschen bilden. Ein Individuum ohne Bezug zu diesem Hintergrund wäre ein pathologischer Fall. Identität ist immer eine Angelegenheit, die mit „Interlokutions-Netzen“ (webs of interlocution) zu tun hat, die einen gemeinsamen Hintergrund voraussetzen, damit es Kommunikation geben kann, und selbst die menschliche Originalität ist nur möglich innerhalb eines Horizonts gemeinsamer Ansichten.20 Die für den Westen spezifische moralische Topographie besitzt zwei Hauptkomponenten: das Prinzip der Innerlichkeit, das sich in zwei weitere, gleichzeitig komplementäre und widersprüchliche Prinzipien unterteilt, wie wir im Folgenden sehen werden, und das Prinzip der Aufwertung des Alltagslebens. Es lohnt sich, wenn auch nur schematisch den Argumentationsweg Taylors in dieser Hinsicht nachzuzeichnen. Seinem kulturalistischen Ausgangspunkt treu bleibend tendiert Taylor dazu, den Übergang zur Moderne weniger als einen abstrakten Rationalisierungs- und Differenzierungsprozess zu sehen, sondern vor allem als einen „gigantischen Bewusstseinswandel“, im Sinne einer radikalen Rekonstruktion der moralischen Topographie dieser Kultur. Der spezifische Charakter des modernen Okzidents lässt sich in Gegenüberstellung mit dem klassischen Altertum erkennen. Platon ist in diesem Zusammenhang eine zentrale Figur. Er ist derjenige, der die grundlegende Idee für die moralischen Vorstellungen des Westens systematisch entwickelt, nämlich die Idee, dass das Ich als bedroht durch die (an sich unersättlichen) Begierden angesehen wird und folglich der Vernunft unterstellt und von dieser regiert werden muss.21 Das Christentum übernahm die platonische Perspektive der Dominanz der Vernunft über die Leidenschaften in dem Maße, wie man dazu überging, den Weg zur Heiligkeit und Erlösung in den Begriffen der platonischen Tugendlehre auszudrücken. 20
Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 27 Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 120. Hierbei ist interessant, dass es genau dieser Begriff der Selbstbeherrschung zu sein scheint, der in dem Maße, wie er irgendeine Vorstellung von „Harmonie“ und auf die „Gesamtperson“ ausgerichteten Ganzheitsbegriff erzeugt, den Begriff der Persönlichkeit im modernen Sinn ermöglicht, d.h. im Sinn einer Leitorientierung und einer „bewussten Lebensführung“, wie Max Weber sagen würde. Die Moral der Vorherrschaft der Vernunft wird gegen die Fragmentierung und Pluralität errichtet.
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Gleichzeitig bringt der heilige Augustin, als er sich die platonische Tradition aneignet, etwas radikal Neues hervor, was grundlegend für den spezifischen Charakter des Okzidents sein wird: den Begriff der Innerlichkeit. Die Erkenntnis ist nicht ein äußeres Licht dort draußen, also eine Offenbarung, wie sie es für Platon war, sondern sie ist etwas Inneres in uns selbst und dabei eher eine Kreation als eine Offenbarung. Augustin verschiebt den Brennpunkt der Aufmerksamkeit von den erkannten Objekten auf die Tätigkeit des Erkennens selbst. Sich dieser Tätigkeit zuwenden heißt, sich selbst zuzuwenden und eine reflexive Haltung einzunehmen. Wie bei allen großen moralischen Revolutionen des Westens, ist auch das Prinzip der Subjektivität ursprünglich religiös. Augustin vollzieht den Schritt zur Innerlichkeit, weil dies ein Schritt zur göttlichen Wahrheit ist. Dies ist es, was die Dimension der ersten Person attraktiv macht. Sie ist verbunden mit dem Übergang zum Inneren als einem Schritt zum Höheren, zum „Erhabenen“22. Es war diese Verbindung mit dem religiös motivierten Bedürfnis, welche die Sprache der Innerlichkeit unwiderstehlich machte. Die Beziehung zwischen den im Westen dominanten Ideen und ihrer Wirksamkeit wird – in offenkundiger Entsprechung zu Max Weber – als ein interner Prozess innerhalb der religiösen Rationalisierung im Westen aufgefasst. Auf diese Weise werden die als Idee artikulierten Vorstellungen des Guten mit spezifischen „ideellen Interessen“ aufgrund der spezifisch religiösen „Belohnung“ der Erlösung verbunden. Dies erklärt meines Erachtens die paradigmatische Stellung Augustins im Unternehmen Taylors. Hier hat eine ganze Familie „moralischer Quellen“ ihren Ursprung, die für die westliche Kultur als Ganze gestaltbildend geworden sind. Dabei ist nun der Übergang zu einer höheren Stufe durch den Zugang zur Innerlichkeit gekennzeichnet. Über die Innerlichkeit sind wir fähig, zum Höheren zu gelangen.23 Wie wir sehen werden, setzen alle moralischen Quellen der westlichen Kultur diesen Weg voraus. Für Taylor war Augustin auch der Erfinder des Prä-cogito, insofern die Gewissheit bei ihm aus der Koinzidenz zwischen dem Erkennenden und der erkannten Sache herrührt, wenn es darum geht, über meine Existenz zu diskutieren. Der Gesichtspunkt der ersten Person kann sich so an einem ersten zuverlässigen Schritt für die Suche nach der Wahrheit festmachen. Ein anderer wichtiger Aspekt scheint mir die Tatsache zu sein, dass Augustin nicht nur den Standpunkt der ersten Person grundlegend für unsere Suche nach der Wahrheit macht, sondern auch eine ganze Wertehierarchie auf der Grundlage dieser Tatsache konstruiert. Von nun bildet sich eine unüberwindlich 22 23
Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 127/143. Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 134.
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tiefe Kluft zwischen den Wesen mit Denkvermögen und solchen, die dieser Fähigkeit ermangeln. Nun unterscheidet sich nicht mehr nur das Leblose vom dem, was lebt, sondern unter denen, die leben, kommt es zu einem qualitativen Unterschied zwischen den Wesen, die leben und Bewusstsein davon haben, dass sie leben, und den einfach nur Lebendigen. Dieser Aspekt ist auch grundlegend für die Rekonstruktion der Beziehung zwischen der Wirksamkeit der Ideen und dem Anerkennungsbegriff als Quelle von gesellschaftlich geteilter Selbstachtung. Nachdem er seinem Dialogpartner bewiesen hat, dass dieser existiert, bzw. darüber hinaus, dass er lebt, und mehr noch, dass er Intelligenz besitzt,24 ist es möglich, eine Hierarchie zwischen diesen Dimensionen zu erstellen. Das Lebende steht über dem bloß Existierenden, und das intelligente Wesen steht über dem bloß Lebenden. Die Hierarchie gründet darauf, dass das Nächsthöhere das jeweils Vorausgehende in sich selbst enthält. Die Fortführung dieser Hierarchie erlaubt es dann, die Vernunft über die Sinne zu stellen, da es das Ranghöhere ist, was über das Rangniedrigere urteilt. Neben der Hierarchie unter den verschiedenen lebenden Spezies, die den Menschen ein Gefühl der Besonderheit und verantwortlichen Überlegenheit verleiht, eröffnet sich so, in großem Maße aufgrund der Attraktivität solcher Art von Ideen, auch ein Spielraum, um unter den Menschen selbst Hierarchien aufgrund unterschiedlicher Vermögen „rationalen“ Verhaltens eines jeden Einzelnen, bemessen nach denselben Parametern, denken und legitimieren zu können. Wir werden darüber später diskutieren. Dieser Aspekt ist grundlegend für unsere Absichten, da wir zeigen wollen, wie die Genealogie Taylors dazu verwendet werden kann, um ein Thema zu erhellen, das Taylor nur zweitrangig behandelt: die Verbindung nämlich der Theorie der sozialen Anerkennung mit einer Theorie der sozialen Unterschiede, um so ihr Legitimierungspotential hinsichtlich der Unterschiede offenzulegen. In einem anderen Punkt, der von Platon abweicht, spiegelt sich die Besonderheit Augustins als christlicher Denker wider: Der Wille wird nicht lediglich als abhängig von der Erkenntnis betrachtet, sondern vielmehr als ein unabhängiges Vermögen25. Auf diese Weise ist die moralische Vollkommenheit nicht nur das Ergebnis eines in Bezug auf die immanente Ordnung des Kosmos geschulten Blicks, sondern einer persönlichen Entscheidung für das Gute, ein gänzlich willentliches Engagement, was die zentrale Stellung dieses menschlichen Vermögens im Okzident markiert. Der Wille kann folglich auch ein böser Wille sein, ein radikal perverser Wille. In diesem Sinne muss er dann durch die „Gnade“ geheilt werden. 24 25
Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 132. Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 137.
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Descartes wird, wie ganz offensichtlich zu ersehen ist, tiefgehend von Augustin beeinflusst. Wir haben jedoch bei Descartes einen radikalen Schnitt: Im Gegensatz zu Augustin legt Descartes die Quellen der Moralität in uns selbst. Was für Taylor hinter dieser Veränderung zu stehen scheint, ist die mechanistische und nicht-theologische Vorstellung vom Universum (Galilei), die auch zur Folge hat, dass die Anthropologie auf andere Weise neu überdacht werden muss. Eine völlig neue Vorstellung von der Wirklichkeit muss konstruiert werden. Da der Begriff der Idee seine ontische Bedeutung ändert, indem er zu einem innerpsychischen Gehalt wird, wandeln sich die Ideen von etwas, was wir „finden“ müssen, zu etwas, was wir konstruieren. Diese Konstruktion muss nun erfolgen, wie ein äußerer Beobachter sie durchführen würde, indem er sich von allen Empfindungen und Wirrnissen entfernt und die Klarheit zum Hauptrequisit der interesselosen Perspektive macht. Alles das, was Verstand und Materie vermengt, muss entfernt werden, insbesondere die Leidenschaften, die täuschen und verblenden. Das Modell der Herrschaft der Vernunft nimmt die Form der instrumentellen Kontrolle an.26 In diesem Zusammenhang begegnet uns, neben einer neuen Anthropologie, auch eine neue Tugendkonzeption und eine neue Konzeption der menschlichen „Würde“. Wenn die rationale Kontrolle darin besteht, dass der Verstand eine entzauberte Welt der Materie beherrscht, so muss der Begriff von der höheren Form des guten Lebens vom Sinn für Würde des Handelnden selbst als rationalem Wesen herrühren. Wie Taylor sehr gut zeigt, überträgt Descartes (vielleicht gerade, weil er ein Denker einer Übergangsepoche ist) die Tugenden der aristokratischen Ethik des Ruhm im klassischen Altertum, den man im Raum der Öffentlichkeit, in der Agora, auf militärischen Feldzügen erlangte, auf das Innere des mentalen Raums, wobei eine qualitativ neue Form zur Herausbildung unserer Selbstachtung entsteht. Der Begriff der Selbstachtung und der Würde entspringt nicht mehr einer Bestimmung „für die anderen“, sondern dient im Gegenteil dazu, unser Selbstwertempfinden in unseren eigenen Augen zu erhalten. Die Verinnerlichung des Kognitionsvermögens entspricht einer Verinnerlichung der Quelle der Moralität, wie Taylor klar erkennt. Die auf Kraft, Stärke, Entschiedenheit und Kontrolle gegründete Aristokratenethik wird verinnerlicht und verbürgerlicht als moralische Quelle schlechthin für den Menschen. Und sie ist die Kraft des Selbstwertes, die das neue Subjekt dazu bewegt, seine Ängste und sein primitives Begehren mit Hinblick auf die Veränderung der umgebenden Realität zu bewältigen. Würde und Selbstwert, ein Thema das Kant später vollständiger entwickeln wird, hat hier schon eine zentrale Stellung und wird als der 26
Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 149.
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Motor für eine dauerhafte Verpflichtung gegenüber der Tugend wahrgenommen.27 Das kartesianische Bild des menschlichen Wirkens bedeutete eine ungeheure Revolution, die in dieser Epoche (Anfang des 18. Jahrhunderts) effektiv im Gang war. Diese Veränderungen zielten vor allem auf Erhebung der Disziplin zum ersten Gesetz der sozialen Organisation in verschiedenen Bereichen ab: zuerst im militärischen Bereich, doch auch in der Zivilverwaltung und der Wirtschaft. Die neue Stellung der Disziplin implizierte die wachsende Anziehungskraft einer Sichtweise des menschlichen Wirkens als etwas durch methodisches und diszipliniertes Handeln Gestaltbares. Die Sicht des Subjekts bei Descartes als „entbundene“ Instanz (disengaged) entsprach dem Begriff des Subjekts, das sich selbst in Hinsicht einer schon vorab im Namen irgendeines äußeren Zwecks entschiedenen Orientierung instrumentalisiert. Diese kartesianische Sicht des modellierbaren Subjekts wird von Locke zur Grundlage einer systematischen politischen Theorie gemacht. Locke führt das Thema des Willens ein.28 Das Mentale hat die Macht, Wünsche und Gefühle zu entkräften und zu lenken und hat folglich die Macht, sich nicht nur nach willkürlich gewählten Prinzipien zu modellieren, sondern auch gegen diejenigen der Gewohnheit und der lokalen Autorität. Die rationale Kontrolle durch den Willen führt zu einer neuen und radikalen Art der Selbst-Objektivierung. Wir können uns „neu schaffen“, indem wir unsere Gewohnheiten und Normen neu schaffen. Wie sind Geschöpfe kontingenter Verhältnisse. Es ist diese neue Art radikaler Entbindung, die die Idee der „creatio ex nihilo“ begünstigt, die Taylor „punktuelles“ oder „neutrales Selbst“ nennt. Es ist klar, dass dies ein „Training“ in disziplinierenden sozialen und institutionellen Praktiken erfordert und nicht nur ein Erlernen durch „Theorien“. Diese neue Form der Wahrnehmung des Selbst und seiner neuen Vermögen bringt auch eine neue Konzeption des Guten hervor und eine neue Verortung der Quellen der Moralität. Dem neuen punktuellen Selbst entspricht ein Ideal der Selbstverantwortlichkeit, das zusammen mit den Begriffen von Freiheit und Vernunft, die es begleiten, einen neuen Sinn von „Würde“ ermöglicht29. Dazu überzugehen, nach diesem Ideal zu leben – etwas, gegen das wir gar nicht ankönnen, insofern es alle modernen sozialen Praktiken durchdringt – heißt, sich so zu verändern und zu denken als ob man immer schon ein „punktuelles Selbst“ gewesen wäre, so wie wir immer zwei Arme und zwei Beine gehabt haben, sagt Taylor. Diese historische und kontingente Konzeption „naturalisiert“ sich. Die 27
Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 153. Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 170. 29 Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 177. 28
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„Ideen“ werden zu „sozialen Praktiken“ und naturalisieren sich in dem Maße, wie ihre Wurzeln „vergessen“ werden. Diesen Ideen, die während Jahrhunderten der kalkulierenden und distanzierten Vernunft und aus dem Willen als Selbstverantwortlichkeit keimten und die zusammengenommen auf das zentrale Konzept des punktuellen Selbst von Taylor verweisen, gelingt es bis zur großen Revolution der protestantischen Reform nicht, das praktische Leben der Menschen zu beherrschen. Damit ist eine weitere von den vielen Gemeinsamkeiten zwischen Taylor und Max Weber gegeben. Für beide Denker war die Reformation die Geburtshelferin sowohl der kulturellen als auch der moralischen Singularität des Okzidents. Die protestantische Revolution schafft in der Praxis, im Raum des Gemeinverstands und des alltäglichen Lebens, den neuen westlichen Tugendbegriff. Daher muss für Taylor der Begriff des punktuellen Selbst für das Verständnis der moralischen Maßstäbe, die uns heute beherrschen, um der Idee der „Aufwertung des Alltagslebens“ ergänzt werden.30 Das Thema der Aufwertung des Alltagslebens steht in Opposition zur antiken Konzeption, die das kontemplative Leben im Gegensatz zum praktischen Leben priesen. Die Revolution, von der Taylor spricht, ist diejenige, die die soziale Hierarchie so weitgehend neudefiniert, dass die praktischen Sphären der Arbeit und der Familie, eben diejenigen Sphären, an denen alle ohne Ausnahme teilhaben, nun den Ort der höheren und wichtigeren Aktivitäten bestimmen. Gleichzeitig erleiden die vorherigen kontemplativen und aristokratischen Aktivitäten einen Prestigeverlust. Die Sakralisierung der Arbeit, insbesondere der manuellen und einfachen Arbeit, zunächst lutherischen Ursprungs und danach allgemein protestantisch, illustriert den historischen Wandel großen Ausmaßes zu einer völligen Neubestimmung der sozialen Hierarchie, was den Leitfaden hier in unserem Text darstellt. Taylor erkennt, dass die gesellschaftlichen Grundlagen für eine Revolution mit solch weitreichenden Folgen in der religiösen Motivation des reformatorischen Geistes liegen. Indem die Protestanten die Idee des vermittelten Zugangs zum Heiligen zurückwiesen, wiesen sie auch die gesamte damit verbundene soziale Hierarchie zurück. Das ist hier das entscheidende Faktum. Da die Abstufungen größerer oder geringerer Sakralität gewisser Funktionen die Basis der (religiösen) Hierarchie der traditionellen Gesellschaften ist, bedeutet die Entwertung der auf dieser Ordnung gründenden Hierarchie, der sozialen Hierarchie als Ganzer die Grundlagen zu entziehen, sowohl der religiösen im engen Sinne als auch der anderen Sphären, die unter ihrem Einfluss stehen. Auf diese Weise 30
Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 211-302.
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eröffnet sich ein Raum für einen neuen und – aufgrund seines egalisierenden und egalitären Potentials – revolutionären Begriff sozialer Hierarchie, zu dessen Grundlage das Taylorsche „punktuelle Selbst“ wird, d.h. eine kontingente und historisch spezifische Konzeption des Menschen, die geleitet wird vom Begriff der Kalkulierbarkeit, des prospektiven Denkens, der Selbstkontrolle und der produktiven Arbeit als implizite Grundlagen sowohl seiner Selbstachtung als auch seiner gesellschaftlichen Anerkennung. Die gesellschaftlichen Träger dieses neuen Weltverständnisses sind für Taylor die bürgerlichen Klassen von England, den USA und Frankreich, von denen es sich später auf die untergeordneten Klassen dieser Länder ausbreitet und dann über Umwege und mit wichtigen Besonderheiten auf verschiedene Länder.31 Die Konzeption der Arbeit wird in diesem Rahmen nicht dem, was man macht, Gewicht verleihen, sondern wie man die Arbeit macht (Gott liebt Adverbien). Das den zwischenmenschlichen Beziehungen angemessene soziale Band wird vertraglicher Art sein (und in Erweiterung die vertragliche liberale Demokratie als Regierungsform). In der politischen Sprache wird diese neue Weltsicht in Form von subjektiven und, im Einklang mit der egalitären Tendenz, universell definierten Rechten offiziell verankert. Die neue „Würde“ wird folglich die Möglichkeit von Gleichheit bezeichnen, die z.B. in den individuellen und potentiell universalisierbaren Rechten zur Wirksamkeit gelangt. Im Gegensatz zur vormodernen „Ehre“, die auf Unterscheidung und Privileg gründet, gründet die Würde auf einer universellen Anerkennung unter Gleichen.32 Kant ist vielleicht der Denker gewesen, der diesen Begriff der Würde, den wir hier behandeln, am besten artikuliert hat. Außer der Tatsache, dass er die Grundlage der Moralität in den menschlichen rationalen Willen legt, hebt er „ipso facto“ seine besondere Würde hervor. Es ist der Umstand, dass wir rationale Wesen sind, der uns eine „einzigartige Würde“ garantiere.33 Diese Würde wird genau gegen den Begriff der Natur konstruiert. Wenn die Natur Gesetzen unterliegt, so sind es dagegen nur die rationalen Wesen, die Prinzipien folgen. Und es ist aufgrund dieses neuen Status, oder sagen wir, aufgrund dieser neuen Quelle von Selbstachtung, die vom Umstand herrührt, dass wir unvergleichlich weit über allem Sonstigen in der Natur stehen, dass das moralische Gesetz unsere Achtung bestimmt. Während alle Dinge ihren Preis haben, besitzen lediglich die rationalen Handlungsträger Würde, und lediglich diese haben folglich ihren Zweck in sich selbst.
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Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 289/290. Taylor, The politics of recognition, S. 27. 33 Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 364-365. 32
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Doch dies ist nicht die einzige Quelle der modernen Moralität für Taylor. Seine gesamte Genealogie der westlichen Wertehierarchie, die aufs Engste mit einer Diagnose der Moderne verbunden ist, die neben ihren Errungenschaften auch ihre Widersprüche und Gefahren hervorhebt, gründet in einer zentralen Ambiguität bzw. einem zentralen Widerspruch, der sich aus der Opposition zwischen der instrumentalen und punktuellen Konzeption des Selbst und der expressivistischen Konfiguration desselben ergibt. Der Expressivismus umgreift die Familie von Weltauffassungen, die auf dem Naturbegriff als innerer Quelle von Sinn und Moralität basieren. Dabei ist die zentrale Idee, im Gegensatz zum Thema der Würde des rationalen und punktuellen Selbst, diejenige der Originalität einer jeden Person, hier ist das Thema die individuelle „Stimme“ jedes Einzelnen, der als solcher einzig und unverwechselbar ist. Taylor erkennt in mehreren Denkern und Bewegungen Vorläufer dieser neuen Perspektive. Montaigne, Rousseau und die schottischen Moralisten sieht er als Pioniere eines neuen Begriffs der Quelle der Moral an, der mit demjenigen des punktuellen Selbst konkurriert und der in der Romantik, insbesondere in der deutschen Romantik, seine konsistenteste und dauerhafteste Entwicklung findet. Das Konkurrenzverhältniss zum Begriff der Würde des punktuellen Selbst hat mit der Tatsache zu tun, dass der Weg für den Zugang zur Quelle der Moralität – und hier greife ich die Webersche Unterscheidung zwischen dem Weg und dem Ziel der Erlösung auf, die er für den Vergleich der großen Weltreligionen verwendet hat – in beiden Fällen derselbe ist, d.h. er impliziert die Wende zur Innerlichkeit und zur Subjektivierung, die allen modernen Formen der Sinngebung und Moralität gemein ist. Obgleich der Weg derselbe ist – was für Taylor lediglich die Rivalität zwischen den beiden Konfigurationen vertieft –, verhalten sich die „moralischen Güter“ antinomisch und könnten nicht verschiedener sein. Der Expressivismus stellt die Rückkehr der organischen und biologischen Modelle des Wachstums dar, in Opposition zu den schon zu jener Zeit dominierenden Modellen eines mechnanischen Zusammenhangs. Doch im Gegensatz zu den klassischen Modellen, wie der aristotelischen Idee der Natur, die ihr Potential entfaltet, wird diese selbe Idee schon von Herder, dem in diesem Kontext vielleicht wichtigsten Autor für Taylor, verinnerlicht. Und gerade weil sie verinnerlicht und individuell ist und sich folglich auf eine originelle und besondere Realität bezieht, ist die Normativität, die sich daraus ableitet jene, die verlangt, dass man „nach eben dieser Originalität leben soll“.34
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Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 375.
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Damit dieser Rahmen normative Kraft erlangt, d.h. als obligatorisch und bindend von den Menschen wahrgenommen wird, die unter seiner Ägide leben, ist die historische Revolution notwendig, die es erlaubt, Leidenschaften in Gefühle umzutaufen. Anstatt die innere Natur als ein Feld von unkontrollierbaren und gefährlichen Trieben aufzufassen, was einer negativen Benennung der Leidenschaften gleichkommt, entdeckt man im Gegenteil ein elementares Feld, das als ein Bereich der Fusion des Sinnlichen und der Gefühle mit dem Geistigen wahrgenommen wird, wobei den Aspekten der Sinne und Gefühle der Vorrang zugewiesen wird. Die Erfahrung und der Ausdruck der „inneren Tiefen“ nimmt einen normativen Gehalt an. Das radikal Neue, das hier im Spiel ist, besteht darin, dass das Verständnis dessen, was richtig oder falsch ist, nun nicht mehr nur als eine Angelegenheit aufgefasst wird, die distanzierte Reflexion und zweckrationale Berechnung erfordert, sondern auch und sogar insbesondere als etwas, das in unseren Gefühlen gründet. Moralität erhält so in gewisser Weise eine innere Stimme.35 Diese Realität existiert vor ihrer Artikulierung und wir brauchen dazu nicht auf äußere Modelle zu warten. Der romantische Begriff des Symbols drückt genau diese Vorstellung des Einzigen und Unsagbaren aus. Im Gegensatz zur Mimesis oder zur Allegorie meint das Symbol sowohl die vollkommene gegenseitige Durchdringung von Form und Inhalt, als auch die Erschaffung eines Sinns, der vor seiner symbolischen Manifestation nicht vorhanden war. Dies ist es, was das Vermögen der expressiven Selbstartikulation so wichtig und so revolutionär macht. Der Zugang zu den „Tiefen des Selbst“ ist nur möglich für das Subjekt, das fähig ist, sich zum Ausdruck zu bringen. Obgleich beide Formen der Innerlichkeit eine Radikalisierung des Subjektivismus implizieren, rivalisieren sie auch miteinander und schließen sich gegenseitig als reine Typen aus, obwohl ihre empirische Regel die gegenseitige Durchdringung ist. Eine der Formen in konsequenter Weise zu verfolgen, heißt, der anderen zu entsagen. Das moderne Subjekt, das die beiden Quellen kennt, steht folglich unter einer konstitutiven Spannung.36
Widersprüche der Moderne im Zentrum und an der Peripherie In mehreren Texten, die Taylor nach den „Quellen des Selbst“ publiziert hat, versucht er, das Ergebnis seiner Forschungen in diesem Buch auf die politische Situation der Spätmoderne anzuwenden. Sowohl in The ethics of authenticity als 35 36
Taylor, The politics of recognition, S. 28. Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 390.
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auch in seinem Artikel in dem Sammelband Multiculturalism seine vielleicht einflussreichsten Texte nach den Quellen des Selbst, will Taylor zeigen, wie die zentralen Kategorien seiner dort entwickelten genealogischen Rekonstruktion als die zentralen Kategorien der Dilemmata und Widersprüche der Spätmoderne in ihren existentiellen, sozialen und politischen Dimensionen angesehen werden können. Das Thema der Anerkennung, d.h. das Thema der notwendigen sozialen Vorbedingungen für die Gewährung von Respekt und Selbstachtung wandelt sich zu einem zentralen Kennwort sowohl für die Erzeugung von Solidarität als auch für die Wahrnehmung der spezifischen Konflikte in der zeitgenössischen Welt. Es gibt zwei Formen der Anerkennung: eine universalisierende, die durch das Prinzip der Würde gekennzeichnet ist; und eine partikularisierende, die durch das Prinzip der Authentizität gekennzeichnet ist. Da die Anerkennung verbunden ist mit den Formen der Zuerkennung von Respekt und Selbstachtung, wird sie in Verbindung mit den Fragen der individuellen und kollektiven Identitätsbildung gesehen. Dieser Zusammenhang wird in beispielhafter Weise in der im Folgenden zitierten Passage bezeichnet, die im Übrigen ausgiebig in der Literatur zum Thema zitiert wird: The thesis is that our identity is partly shaped by recognition or its absence, often by the misrecognition by others, and so a person or group of people can suffer real damage, real distortion, if the people or society around them mirror back to them a confining or demeaning or contemptible picture of themselves. Nonrecognition or misrecognition can inflict harm, can be a form of oppression, imprisoning someone in a false, distorted, and reduced mode of being...Within these perspectives, misrecognition shows not just a lack of due respect. It can inflict a grievous wound, saddling its victims with a crippling self-hatred. Due recognition is not just a courtesy we owe people. It is a vital human need.37
Es gibt zwei gegensätzliche und spezifisch moderne Quellen der Anerkennung: das Ideal der Würde und das Ideal der Authentizität. Die beiden Formen lassen sich in Opposition zu den typischen Formen in den hierarchischen Gesellschaften erkennen. Während in diesen das Prinzip der Ehre grundlegend ist, und Ehre bedeutet immer, dass einige sie besitzen und andere nicht, impliziert der moderne Begriff der „Würde“ in seinem egalitären und universellen Gebrauch, dass die spezifische Würde jedem Menschen und modernen Staatsbürger zukommt. Während lediglich einige Ehre besitzen, haben alle Würde.
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Taylor, The politics of recognition, S. 25/26.
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Teil I – Die Rekonstruktion der spontanen Ideologie des Kapitalismus
Das Ideal der Authentizität, das, wie wir gesehen haben, aus der neuen Bedeutung hervorgeht, die vom 18. Jahrhundert ab dem verliehen wird, was Taylor in Die Quellen des Selbst „Expressivismus“ nannte, ist in noch sehr viel radikalerer Weise modern als das Prinzip der Würde. Dies nicht nur in dem Sinn, dass das Ideal der Authentizität sich erst später konsolidiert – in den künstlerischen Avantgarden ab dem Ende des 18. Jahrhunderts und als gesellschaftlich lebendige und wirksame Kraft lediglich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie in der „flower generation“ der 60er Jahre –, sondern auch in einem tieferen Sinn, insofern als nur das Ideal der Authentizität von vornherein eine Definition der Identität aufgrund vorgegebener sozialer Rollen ausschließt. Die Definition der Identität aufgrund des Ideals der Authentizität impliziert gerade eine Reaktion sowohl gegen den sozialen Anpassungsdruck als auch gegen eine zweckrationale Haltung in Bezug auf sich selbst. Die für Taylor zentrale Fragestellung hinsichtlich der fortgeschrittenen Industriegesellschaften betrifft vor allem das Authentizitätsideal und erst in zweiter Linie das Ideal der Würde. Dies hat damit zu tun, dass die nordamerikanischen und europäischen Demokratien die virulentesten Ungleichheiten beseitigt und seit der Konsolidierung des „Welfare State“ effektiv ein reales Gleichheitsniveau zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen garantiert hätten. Wir werden später sehen, wenn wir uns mit Bourdieu und seiner Kritik der „Ideologie der Chancengleichheit“ und den jüngsten Studien zu einer neuen Marginalisierung in den wohlhabenden Gesellschaften befassen, dass diese These nur mit wichtigen Abschwächungen, sozusagen „cum grano salis“ akzeptiert werden kann. Auf jeden Fall scheint dies, wenn auch nur tendenziell, die Voraussetzung der Taylorschen Analyse auf diesem Gebiet zu sein. Und aus diesem Grund scheint für ihn vor allem das Feld von Fragen problematisch zu sein, die sich aufgrund des Authentizitätsideals stellen. Da Taylor in der Auffassung eines doppelten Aspekts des Themas der Authentizität Herder folgt, d.h. sie kann sowohl auf Individuen als auch auf Kollektive angewandt werden38, thematisiert er dieses Problem in zweierlei Hinsicht: 1.) den kollektiven Aspekt, der mit einer „Politik der Differenz “ zu tun hat, d.h. es handelt sich hier um den Respekt vor der individuellen Identität einer gewissen sozialen Gruppe, die normalerweise eine Minderheit wenigstens hinsichtlich der relativen Machtverhältnisse ist und die sich gegen die Assimilierung durch die Identität einer Mehrheit oder herrschenden Gruppe schützen muss; 2.) den Aspekt, den wir, in Ermangelung einer passenderen Bezeichnung, die existentielle Dimension des Authentizitätsideals nennen könnten und der mit seiner wachsenden Trivialisierung zu tun hat, inso38
Taylor, The politics of recognition, S. 30/31.
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Kapitel I – Die Hermeneutik des sozialen Raums nach Charles Taylor
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fern als der dialogische und kommunitäre Hintergrund, der ihm Tiefe und Kohärenz verleiht, sich zugunsten einer selbstbezogenen Perspektive verliert, die Taylor einige Male „quick fix“ (rasche und oberflächliche Lösung) nennt.39 Der erste Aspekt wird hauptsächlich in Multiculturalism thematisiert, der zweite dagegen hauptsächlich in Ethics of Authenticity. Was den ersten Aspekt betrifft, sobald klar ist, dass wir durch die Anerkennung oder ihr Fehlen geformt werden und dass Anerkennung eine kulturelle, kommunitäre und sprachliche Grundlage hat, so wird unmittelbar einsichtig, dass dem Schutz von gesellschaftlichen und kulturellen Minderheiten eine unumgängliche politische Bedeutung zukommt. Die Assimilierung durch eine hegemoniale Kultur mit der Folge, dass sich den unterjochten Gruppen ein Selbstbild der Minderwertigkeit einprägt, ist eine Gewalttätigkeit, der Taylor den Gadamerschen Begriff der „Horizontverschmelzung“ entgegenstellt. Das Verständnis einer anderen Kultur erfordert eine Öffnung auf sie hin und bedeutet in gewissem Maß eine, wenn auch nur partielle, Veränderung der Urteilskriterien der hegemonialen Kultur selbst40. In Hinsicht auf den zweiten Aspekt scheint der Hauptpunkt der Widerspruch zu sein, der sich auftut, weil die Logik des Authentizitätsideals, dessen Individualismus sich nur auf die einzelne Person und deren Einzigartigkeit bezieht, deren expressive Enthüllung gefordert wird, durch die Logik des „quick fix“ bedroht wird, welche zweckrationale Kontrolle und Entwicklung von vorgegebenen und heteronomen Mustern impliziert.41 Wir werden auf diesen Widerspruch später zurückkommen. Tatsache ist, dass der zentrale Widerspruch für die fortgeschrittenen Gesellschaften sowohl in seinem existentiellen wie auch in seinem kollektiven Aspekt, im Bereich des Authentizitätsideals verortet wird.42 Die Gründe dafür wurden oben schon genannt, und obgleich ich nicht davon überzeugt bin, dass das Ideal der Würde im Bereich der wohlhabenden Gesellschaften ein so unproblematischer Punkt ist, selbst vor der Zeit des aktuellen Abbaus des Wohlfahrtsstaats, lässt sich nicht leugnen, dass ein abgrundtiefer Unterschied zwischen der Institutionalisierung dieses Prinzips in den zentralen Gesellschaften und in den peripheren Gesellschaften besteht. Obwohl sich die Problematik hinsichtlich des Expressivismus und des Authentizitätsideals auch in bedeutsamer Form für die peripheren Gesellschaften stellt, erlangt die Gesamtheit der mit dem Problem der Würde verbundenen Themen eine unbestreitbar zentrale Stellung für diesen Typ von Gesellschaft. In 39
Taylor, The ethics of authenticity, S. 60. Taylor, The politics of recognition, S. 61/73. Taylor, The ethics of authenticity, S. 55/69. 42 Fraser, From redistribution to recognition? S. 11-40. 40 41
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diesem Rahmen interessieren uns vor allem die Rückwirkungen der Diskussion über die Prinzipien, die unsere Zuerkennung von Respekt, Achtung oder von „sozialer Anerkennung“ als Grundlage des modernen Begriffs rechtlicher und politischer Staatsbürgerschaft steuern. Diese Thematik kann uns über die Gründe Aufschluss geben, aus denen in einigen peripheren Gesellschaften, wie der brasilianischen, in einem formal demokratischen, offenen und pluralistischen Rahmen die Konstituierung von Staatsbürgern erster und zweiter Klasse möglich wird. Insbesondere interessiert uns die Erstellung einer Grammatik, die dasjenige sichtbar macht, was Taylor, bei seinem Versuch den Respekt im juristischen Sinn, d.h. den Respekt vor dem fremden Recht in dem Sinn, den Raum des anderen nicht zu verletzen oder seine Grenzen zu übertreten, von einer Art von Respekt zu trennen, die er „attitudinal“ nennt. The very way we walk, move, gesture, speak is shaped from the earliest moments by our awareness that we appear before others, that we stand in public space, and that this space is potentially one of respect or contempt, of pride or shame.43
Mein Interesse zielt darauf ab, einen begrifflichen Bezugsrahmen zu erstellen, der es uns erlaubt, über die phänomenologische Beschreibung der Situationen hinauszugehen, in denen sich Respekt oder dessen Fehlen, insbesondere als „attitudinal respect“ im infra- bzw. ultrarechtlichen Sinn widerspiegelt – wenngleich sich diese beiden Dimensionen gegenseitig beeinflussen, wie wir im zweiten Teil dieses Buchs am konkreten Fall Brasiliens sehen werden –, um so zu versuchen, die institutionelle Verankerung aufzudecken, der er einen guten Teil seiner Undurchsichtigkeit und Wirksamkeit verdankt und so bewirkt, dass unser Alltagsleben von Unterschieden, Hierarchien und klassifikatorischen Prinzipien durchdrungen ist, die als solche nicht wahrgenommen werden. Die Aufdeckung und Darlegung dieser Prinzipien kann uns helfen, die Mechanismen zu identifizieren, die in undurchsichtiger und impliziter Weise bei der Unterscheidung von sozialen Klassen und Gruppen in bestimmten Gesellschaften wirken. Sie kann uns helfen, die „symbolischen Operatoren“ zu bestimmen, die es jedem Einzelnen von uns erlauben, im alltäglichen Leben die Personen nach Kriterien des Mehr oder Weniger, als achtenswert oder verachtenswert zu hierarchisieren und zu klassifizieren, sowie zu erhellen, auf welche verdeckte und undurchsichtige Weise scheinbar neutrale Institutionen in Wahrheit unterschwellig dabei mitwirken, partikularistische und kontingente Kriterien in Bezug auf ihre Nutznießer und sehr konkrete Opfer durchzusetzen. Zu diesem Desiderat ist der Beitrag von Charles Taylor von entscheidender Bedeutung. Weitergehend als jeder andere 43
Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 15.
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Kapitel II – Pierre Bourdieu und die Rekonstruktion der kritischen Soziologie 41 moderne Denker ermöglicht Taylor aufgrund seiner Genealogie der Wertehierarchie der Spätmoderne, „naturalisierten“ Aspekten der sozialen Realität kulturellen Sinn und moralische Relevanz zuzuweisen, sei es in der Dimension des Alltagslebens, sei es insbesondere in der institutionellen Dimension, deren Wirksamkeit eben gerade von ihrer scheinbaren Neutralität abhängt. Andererseits scheint es mir jedoch, dass seine Behandlung des Themas der Anerkennung die Dimension des Legitimierungspotentials der sozialen Unterschiede, die diese Thematik impliziert, zweitrangig macht. Das heißt natürlich nicht, dass Taylor nicht das Diskriminierungspotential dieser Unterscheidungen wahrnimmt, was in seiner Analyse des Multikulturalismus über die Maßen klar zum Ausdruck kommt. Doch gerade der Nachdruck, den er dem Thema der Authentizität gibt, bedeutet ebenfalls, dass er wenigstens tendenziell die Ideologie der „Chancengleichheit“ akzeptiert, die den anderen Pol des Themas der Anerkennung bestimmt, wo alle mit dem Problem der Würde zusammenhängenden Fragen vereint sind. Auf diesem Gebiet, eben vielleicht dem bedeutsamsten für die Analyse der Naturalisierung der Ungleichheit, die die Mehrzahl der peripheren Länder heimsucht, muss dieser zweifellos grundlegende Ausgangspunkt der Untersuchung durch zwei andere Perspektiven ergänzt werden, die sensibler hinsichtlich der mystifizierenden Kraft scheinbar universeller Prinzipien sind. Dies ist der Hauptgrund, warum ich den Versuch für unerlässlich erachte, Taylors Perspektive mit derjenigen Pierre Bourdieus in ein komplementäres Verhältnis zu stellen.
Kapitel II – Pierre Bourdieu und die Rekonstruktion der kritischen Soziologie Die markanteste Wirkung der außergewöhnlichen und brillanten Soziologie Pierre Bourdieus auf den zeitgenössischen Leser ist meines Erachtens auf die systematische Entlarvung der „Ideologie der Chancengleichheit“ als Angelpunkt des Prozesses symbolischer Herrschaft zurückzuführen, der typisch für die fortgeschrittenen spätkapitalistischen Gesellschaften ist. Hinsichtlich dieses Desiderats arbeitet Bourdieu praktisch alleine, da die überaus große Mehrheit der Perspektiven in Bezug auf die zeitgenössische Gesellschaft – und ich beziehe mich hier insbesondere auf die kritischen und radikalen Perspektiven – von der Voraussetzung der tendenziellen Überwindung des klassischen Klassenkampfs im Kapitalismus ausgeht. Den besten Teil seines Forschungstalents widmet Bourdieu genau der Enthüllung und Offenlegung der undurchsichtigen und verzerrten Formen, die der Klassenkampf und der Kampf zwischen Klassenfraktionen in der Spätmoderne
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Kapitel II – Pierre Bourdieu und die Rekonstruktion der kritischen Soziologie 41 moderne Denker ermöglicht Taylor aufgrund seiner Genealogie der Wertehierarchie der Spätmoderne, „naturalisierten“ Aspekten der sozialen Realität kulturellen Sinn und moralische Relevanz zuzuweisen, sei es in der Dimension des Alltagslebens, sei es insbesondere in der institutionellen Dimension, deren Wirksamkeit eben gerade von ihrer scheinbaren Neutralität abhängt. Andererseits scheint es mir jedoch, dass seine Behandlung des Themas der Anerkennung die Dimension des Legitimierungspotentials der sozialen Unterschiede, die diese Thematik impliziert, zweitrangig macht. Das heißt natürlich nicht, dass Taylor nicht das Diskriminierungspotential dieser Unterscheidungen wahrnimmt, was in seiner Analyse des Multikulturalismus über die Maßen klar zum Ausdruck kommt. Doch gerade der Nachdruck, den er dem Thema der Authentizität gibt, bedeutet ebenfalls, dass er wenigstens tendenziell die Ideologie der „Chancengleichheit“ akzeptiert, die den anderen Pol des Themas der Anerkennung bestimmt, wo alle mit dem Problem der Würde zusammenhängenden Fragen vereint sind. Auf diesem Gebiet, eben vielleicht dem bedeutsamsten für die Analyse der Naturalisierung der Ungleichheit, die die Mehrzahl der peripheren Länder heimsucht, muss dieser zweifellos grundlegende Ausgangspunkt der Untersuchung durch zwei andere Perspektiven ergänzt werden, die sensibler hinsichtlich der mystifizierenden Kraft scheinbar universeller Prinzipien sind. Dies ist der Hauptgrund, warum ich den Versuch für unerlässlich erachte, Taylors Perspektive mit derjenigen Pierre Bourdieus in ein komplementäres Verhältnis zu stellen.
Kapitel II – Pierre Bourdieu und die Rekonstruktion der kritischen Soziologie Die markanteste Wirkung der außergewöhnlichen und brillanten Soziologie Pierre Bourdieus auf den zeitgenössischen Leser ist meines Erachtens auf die systematische Entlarvung der „Ideologie der Chancengleichheit“ als Angelpunkt des Prozesses symbolischer Herrschaft zurückzuführen, der typisch für die fortgeschrittenen spätkapitalistischen Gesellschaften ist. Hinsichtlich dieses Desiderats arbeitet Bourdieu praktisch alleine, da die überaus große Mehrheit der Perspektiven in Bezug auf die zeitgenössische Gesellschaft – und ich beziehe mich hier insbesondere auf die kritischen und radikalen Perspektiven – von der Voraussetzung der tendenziellen Überwindung des klassischen Klassenkampfs im Kapitalismus ausgeht. Den besten Teil seines Forschungstalents widmet Bourdieu genau der Enthüllung und Offenlegung der undurchsichtigen und verzerrten Formen, die der Klassenkampf und der Kampf zwischen Klassenfraktionen in der Spätmoderne
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annehmen. Diese Strategie der Desillusionierung folgt dem Leitfaden der Dekonstruktion der Masken, die die Grundlage der sozialen Herrschaft und Unterdrückung im weiteren Sinne bilden und die deren Legitimität und Akzeptanz garantieren. Die Herausforderung besteht dabei darin zu zeigen – wie Mauss in einer von Bourdieu geliebten und oft zitierten Formulierung sagt –, „wie die Gesellschaften sich beständig mit dem Falschgeld ihrer Träume auszahlen“. Diese Strategie der Desillusionierung hat ihr Gegenstück in einer epistemologischen Rekonstruktion, die Bourdieu gegen die beiden wichtigsten theoretischen Optionen in den zeitgenössischen Sozialwissenschaften betreibt, welche er Objektivismus und Subjektivismus nennt. In Frankreich sind diese Positionen paradigmatisch von Levy-Strauss bzw. Jean-Paul Sartre vertreten worden, doch ist ihre Reichweite sehr viel größer und schließt einerseits die außerordentliche Wirkung des Strukturalismus auf die Sozialwissenschaften und andererseits die verschiedenen Versionen der Phänomenologie, der Ethnomethodologie und der Theorien der rationalen Wahl mit ein. Die Hauptkritik am Strukturalismus bezieht sich auf den Irrtum, von der Illusion der Autonomie eines gegebenen symbolischen Kodes auszugehen, unter Absehung von den sozialen Bedingungen, die seinen zweckmäßigen Gebrauch bestimmen. Bourdieu wendet diese Kritik sowohl auf die Anthropologie als auch auf die strukturalistische (marxistische) Soziologie an. Hinsichtlich der ersten richtet sich die Kritik auf eine Konzeption der Verwandtschaftsbeziehungen, die aufgefasst werden, als ob sie fast vollkommen autonom und unabhängig von ökonomischen Determinanten wären, wobei die Tatsache vergessen wird, dass in der Praxis der offizielle und inoffizielle Gebrauch des Kodes die Zumessung materieller und symbolischer Vorteile bedingt. Hinsichtlich der zweiten, die auf einer „Soziologie ohne Subjekt“ gründet, wo die historisch Handelnden auf Träger der Struktur reduziert und als „Automaten“ mit eigenen Leben aufgefasst werden, gilt die Kritik der Tatsache, dass die objektivierende Kritik des Strukturalismus die Dialektik zwischen objektiven Strukturen und vom Subjekt internalisierten Strukturen vergisst. 44 Es ist genau diese letzte Beziehung, die für Bourdieu nicht nach einem Modell verstanden werden darf, das im Rückgriff auf ein Schema mechanischer Determinierung das praktische Handeln verkennt. Für Bourdieu existiert effektiv ein System von objektiv vorgegebenen Sanktionen und Belohnungen, das der Struktur in großen Maße ermöglicht, die praktische Erfahrung zu strukturieren. Jedoch ist es hierbei entscheidend, die Strategien der Handelnden bezüglich
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Bourdieu, The logic of practice, S. 30-41.
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Kapitel II – Pierre Bourdieu und die Rekonstruktion der kritischen Soziologie 43 dieser Determinierungen zu berücksichtigen. Diese können nicht in Form einer systemischen, als unabhängig angesehenen Logik vorausgesetzt werden. Der Bereich der „Strategie“ par excellence ist für ihn derjenige der zeitlichen Dimension. Denn es ist die Kontrolle der Zeit, die es erlaubt, eine Antwort oder Reaktion zu verzögern oder zu beschleunigen und auf diese Weise Vorteile (oder Nachteile) zu erwirken, die nicht in der „legalistischen“ Konzeption der objektivierenden Sicht determiniert sind. Andererseits existiert gleichzeitig ein starker Einfluss der „Regel“ auf die Praxis, der von denselben erwähnten strategischen Motiven herrührt. Denn der Regel zu folgen, oder besser, den „Eindruck“ zu erwecken, der Regel zu folgen, bedeutet Vorteile zu maximieren, insofern die Gruppe diejenigen Handlungen besser belohnt, die dem Anschein nach durch die Respektierung der Regeln motiviert wurden45. Grundlegend dabei ist jedoch, den Fokus der Aufmerksamkeit auf die Praxis gerichtet zu halten, denn nur sie erlaubt es, die konkrete Strategie der Handelnden bezüglich der Regel zu erfassen. Die Kritik hinsichtlich des Subjektivismus nimmt verschiedene Formen an, je nach der theoretischen Version, die zur Diskussion steht. Bei der Version der Ethnomethodologie betrifft die Kritik ihr (naives) Eintauchen in die Alltagswirklichkeit, wie sie unmittelbar von den Akteuren erlebt wird, ohne folglich über die Bedingungen der Möglichkeit dieser Erkenntnisse zu reflektieren. Diese Art von Ansatz sei folglich darauf beschränkt, die Alltagswirklichkeit, wie sie von den Akteuren erlebt und wahrgenommen wird, lediglich zu beschreiben. Seine Kritik an der Version der Theorie der rationalen Wahl ist noch interessanter und noch treffender. Der rationale Akteur wechsele zwischen zwei widersprüchlichen Merkmalen: einerseits der Annahme eines Bewusstseins „ohne Trägheit“, das die Welt in jedem Moment „ex nihilo“ erschafft, und andererseits der diametral entgegengesetzten Annahme eines „intellektuellen Determinismus“, der sich lediglich im Sprachgebaren vom objektivistischen Determinismus der mechanischen Reaktion unterscheide. Was das Argument des rationalen Akteurs ausblendet, ist die soziale und ökonomische Konditionierung des ökonomischen Subjekts selbst, insbesondere hinsichtlich der Herausbildung seiner „Vorlieben“. Es sei diese Konditionierung, die sowohl bewusst als auch unbewusst durch die Existenzbedingungen sowie explizit durch Bestätigungen und Tadel erfolgt, die „das Vergessen ihres Entstehens“ ermöglicht (die Genese impliziert die Amnesie der Genese) und die Illusion, es handele sich um angeborene Eigenschaften. Die Antwort Bourdieus auf das Objektivismus/Subjektivismus-Dilemma mit seinen komplementären Einseitigkeiten, erfolgt ausgehend von der Annahme 45
Bourdieu, The logic of practice, S. 109.
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Teil I – Die Rekonstruktion der spontanen Ideologie des Kapitalismus
einer geordneten Beziehung zwischen Struktur, Habitus und Praktiken. Von diesen Begriffen ist der wichtigste und derjenige, der zu einem guten Teil die Originalität von Bourdieus Denken ausmacht, der Begriff des Habitus. Der Begriff des Habitus erlaubt es, dem Gefängnis des Realismus der Struktur zu entkommen, insofern er eine Form darstellt, durch die die äußere „Notwendigkeit“ von den Akteuren introjiziert, und mehr noch, psychosomatisch „verinnerlicht“, „eingefleischt“ werden kann. Der Habitus ist demnach ein System von kognitiven und motivierenden Strukturen, d.h. ein System dauerhafter Dispositionen, die seit der frühesten Kindheit eingeprägt werden und die die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die Chancen und Verwehrungen, die Freiheiten und Grenzen gemäß den objektiven Bedingungen vorbilden. In diesem Sinne sind die Einstellungen des Habitus in gewissem Maße ihren Erfordernissen „vorangepasst“. Aufgrund dieser Merkmale nennt Bourdieu den Habitus eine „zur Notwendigkeit gewordene Tugend“46. Ergebnis gegebener sozialer und ökonomischer Bedingungen, stellt der Habitus die Einprägung dieser Vorbedingungen dar, insbesondere im Rahmen der Kindheitserfahrungen, die so im Subjekt in eine Menge von Wahrnehmungs- und Bewertungsstrukturen übersetzt werden, die als eine Art Filter für alle weiteren Erfahrungen dienen werden. Der Habitus wäre also ein Schema des Verhaltens und Benehmens, das individuelle und kollektive Praktiken erzeugt. In diesem Sinn wäre das, was für die Perspektive des Struktur-Realismus die unabhängige Wirkung der Strukturen darstellt, in Wirklichkeit bedingt durch die aktive Präsenz dieses Speichers vorhergehender Erfahrungen, der in jeden Organismus in Form von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata die Garantie der „Korrektheit“ von Praktiken im Verlauf der Zeit einschreibt. Es ist dieses Prinzip von Kontinuität und Reproduktion, das der Objektivismus erfasst, ohne seine Entstehung erklären zu können. Indem er aus einer Menge objektiver Regelhaftigkeiten hervorgeht, neigt der Habitus dazu, eine ganze Reihe „vernünftiger“ und dem „Alltagsbewusstsein entsprechender Verhaltensweisen zu erzeugen, die innerhalb der Grenzen dieser Regelhaftigkeiten möglich sind. Der Habitus ist Gegenwart gewordene Vergangenheit, Körper gewordene Geschichte und folglich „naturalisiert“ und „ohne Erinnerung“ an seine eigene Entstehung.47 Gerade weil er eine Art naturalisierte Geschichte darstellt, die sich als Spontaneität ohne Bewusstsein äußert, ist der Habitus das Element, das den Praktiken ihre relative Autonomie bezüglich der äußeren Determinierungen der unmittelbaren Gegenwart verleiht. Da er eine Spontaneität ohne Bewusstsein oder Willen ist, unterscheidet sich der Habitus 46 47
Bourdieu, The logic of practice, S. 54. Bourdieu, The logic of practice, S. 56.
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Kapitel II – Pierre Bourdieu und die Rekonstruktion der kritischen Soziologie 45 sowohl von der mechanischen Notwendigkeit als auch von der reflexiven Freiheit der Subjekte der rationalistischen Theorien. Die institutionelle Reproduktion selbst ist nur möglich aufgrund der Existenz dieser auf einen Zweck hin ausgerichteten Einstellungen, indem so der in diesen Institutionen verwahrte tote Buchstabe neubelebt und gestärkt wird. Es ist der Habitus, der die „soziale Zauberei“ bewirkt, durch die Personen zu Institutionen aus Fleisch und Blut werden. In dieser Weise sind der älteste und erbberechtigte Sohn, der Mann in Opposition zur Frau geschaffene Unterschiede, die dazu tendieren, sich zu natürlichen Unterschieden zu wandeln. Die Institutionen müssen somit nicht lediglich sachlich und funktionslogisch über die Akteure hinaus objektiviert sein, sondern müssen auch in den „Körpern“ und in dauerhaften Einstellungen des Verhaltens repräsentiert sein. In diesem Sinne macht der Habitus die Frage der „Intention“ überflüssig, da die alltäglichen Praktiken automatisch und unpersönlich sind. Es existiert die Teilhabe an einem Sinnzusammenhang, der Individuen und einzelne Gruppen transzendiert, und genau dort ist es, wo Bourdieu die Möglichkeit zur Konstituierung eines Gemeinverstandes sieht, als Ergebnis aus der Harmonisierung zwischen dem objektiven Sinn und dem praktischen, durch den Habitus ausgeführten Sinn. Von da ab haben wir die Möglichkeit zu einem wechselseitig verständlichen Ganzen, das ständig durch individuelle und kollektive Praktiken gestärkt wird. Die bewusste Gemeinschaft setzt eine unbewusste Gemeinschaft voraus, d.h. eine nicht thematisierte Menge sprachlicher und kultureller Kompetenzen, die nicht nur die bewusste Kommunikation ermöglicht, sondern auch die halbautomatischen und unreflektierten Abläufe des Alltagslebens. Der Habitus hat, neben seiner körperlichen, naturalisierten und (wenn auch nicht im psychoanalytischen Sinn) unbewussten Dimension ein konservatives Beharrungsvermögen, eine Art „Selbst-Schutz-Schema“. Der Habitus, dieses „nicht gewählte Prinzip allen Wählens und Entscheidens“48 neigt dazu, den älteren Erfahrungen mehr Gewicht zu verleihen, um auf diese Weise seine eigene Konstanz zu fördern. In diesem Zusammenhang bezieht sich Bourdieu auf die unzähligen Strategien, die dazu dienen, den Kontakt mit allen Inhalten zu vermeiden, die ein Risiko für dieses Prinzip darstellen könnten, wie der sogenannte „schlechte Umgang“, nicht empfehlenswerte Bücher etc. Meiner Ansicht nach besteht der große kritische Beitrag der Theorie des Habitus genau in der Betonung des „körperlichen“ und automatischen Aspekts des sozialen Verhaltens. Was für einen großen Teil der soziologischen Tradition eine „Internalisierung von Werten“ darstellt und so tendenziell eine eher rationa48
Bourdieu, The logic of practice, S. 61.
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listische Lektüre evoziert, die den bewussteren und reflektierteren Aspekt der Normen- und Wertereproduktion der Gesellschaft betont, erhält bei Bourdieu im Gegenteil eine Betonung auf dem Moment der prä-reflexiven, automatischen, emotiven, spontanen, kurz, der „im Körper eingeschriebenen“ Konditionierung unseres Handelns, unserer Einstellungen und Entscheidungen. Unsere Körper sind, in diesem Sinn, in ihrer Form, ihren Ausmaßen, ihrer Erscheinung etc. die fassbarste soziale Manifestation von uns selbst. Der Habitus unserer Ernährungsweise gestaltet unsere Figur, unsere Kultur und Sozialisation präformiert alle unsere Ausdrucksweisen in Gestik, Kleidung, Haarschnitt, Geh- und Redeweise und verwandelt die Gesamtheit unserer sichtbaren Ausdrucksformen in soziale Signale. Es geschieht aufgrund dieser sichtbaren Signale, dass wir die Menschen und sozialen Gruppen klassifizieren und ihnen Ansehen verleihen oder Verachtung zeigen. Damit erlangt Bourdieu meines Erachtens einen unschätzbaren Vorteil gegenüber den (in den Sozialwissenschaften dominierenden) intellektualistischen und rationalistischen Paradigmen. So sind „Anschauungen“ für ihn nicht ein Geisteszustand oder ein innerpsychischer Gehalt, sondern vielmehr „verkörperte“ Anschauungen, die in Fleisch und Blut übergegangen sind, „praktische“ Anschauungen folglich, vorsprachliche und unmittelbare Evidenzen, die die Vorraussetzung des praktischen Sinns im Alltagsleben bilden. Die Verkörperung oder Einverleibung von Sinngebungen, Bedeutungen und Wertungsschemata geschieht von frühester Kindheit ab, wo man beginnt, den Körper als „Wertereservoir“49 zu trainieren. Folglich legt Bourdieu die Basis seiner Soziologie in erster Linie in diese „Körper gewordenen“ Werte, Ergebnis der unsichtbaren Überzeugungsarbeit einer impliziten Pädagogik, die eine ganze Kosmologie einprägen und naturalisieren kann, gerade weil sie jenseits der bewussten Wahrnehmung existieren und sich nur in Einzelheiten zeigen, die als unbedeutend angesehen werden, wie Details des physischen Verhaltens, der Art zu Sprechen, zu laufen und der Körperhaltung. Diese scheinbar unbedeutenden Einzelheiten verweisen jedoch auf Wesensmerkmale des sozialen Verhaltens. In dieser Weise funktioniert der Körper als eine Art „analogischer Operator“50 der in der sozialen Welt vorherrschenden Hierarchien. So manifestiert sich die Opposition Mann/Frau in Haltungen, Gesten, Sitz- und Gehweisen, in der direkten Art des Mannes zu blicken, im Gegensatz zur weiblichen Reserviertheit, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Manifestation geschieht durch scheinbar bedeutungslose Gewohnheiten wie der Art zu essen, beim Mann etwa die Gabel häufend und vollen Mundes, während bei der Frau die Zurückhaltung auf 49 50
Bourdieu, The logic of practice, S. 68. Bourdieu, The logic of practice, S. 71.
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Kapitel II – Pierre Bourdieu und die Rekonstruktion der kritischen Soziologie 47 Reserviertheit oder Verstellung verweist, da, wie Bourdieu bemerkt, die Tugenden der Beherrschten immer zweideutig sind. Der Körper ist also ein Feld von Kräften einer unausdrücklichen Hierarchie – zwischen Geschlechtern, Klassen oder Altersgruppen – und trägt so entscheidend zur Naturalisierung der Ungleichheit in allen ihren Dimensionen bei. Gerade aufgrund seiner Kritik an den intellektualistischen Traditionen der Sozialwissenschaften sieht sich Bourdieu dazu bewegt, einen alternativen begrifflichen Apparat zu schaffen, der im Begriff des Habitus seine zentrale und innovativste Kategorie hat, die es erlaubt, das Vergessene und Naturalisierte, das die Soziologie intellektualistischer Tradition nicht zu erfassen vermag, wieder mit Sinn und Bedeutung zu versehen. Es ist auch dieser Apparat, der, wie wir bald sehen werden, Bourdieu ermöglicht, dort Herrschaft und Ungleichheit wahrzunehmen, wo andere Harmonie und sozialen Frieden sehen. Dies ist es, was ihn grundlegend für jede Analyse macht, die an der Enthüllung und Rekonstruktion erstarrter und naturalisierter Realitäten interessiert ist, sei es in den zentralen oder den peripheren Gesellschaften. Doch lediglich bei der Anwendung dieser Kategorien auf die Analyse konkreter Gesellschaften werden wir sowohl ihre Kraft als auch ihre Mängel erkennen, die ebenfalls schwerwiegend sind, wie wir gleich im Folgenden sehen werden.
Persönliche und unpersönliche Herrschaft Bourdieu geht von der Voraussetzung aus, dass jede Gesellschaft Mechanismen zur Maskierung der Herrschaftsbeziehungen erschafft, die in allen sozialen Dimensionen wirksam sind. Sei es zwischen den Klassen, zwischen den Geschlechtern oder den Altersgruppen, alle Gesellschaften, moderne sowie vormoderne, erzeugen spezifische Mechanismen der „Verkennung“, die es durch die gebrochene Wahrnehmung der unmittelbaren Realität ermöglichen, dass die sozialen Herrschaftsbeziehungen eigene Autonomie gewinnen, indem sie natürlich und unfraglich „erscheinen“. Jede Gesellschaft, sei sie modern oder vormodern, neigt folglich dazu, soziale Beziehungen, die kontingent und sozial konstituiert sind, zu naturalisieren. Die Form, die diese „illusio“ annimmt, ist jedoch historisch und wandelbar. Bourdieu tendiert dazu, diese verdeckende und maskierende Wirkung „symbolisches Kapital“51 zu nennen. Das symbolische Kapital wäre die spezifische Form, die die Maskierung der ökonomischen Wirkkräfte in jeder Gesellschaft annimmt, 51
Hans-Peter Müller, Sozialstruktur und Lebensstile: der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit, S. 268.
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wie etwa in vormodernen Gesellschaften wie derjenigen der Kabyla, die er in Algerien untersucht hat, wo die Maske in einer „Ethik der Ehre“ besteht. Für Bourdieu ist diese Verdeckung unter der Form persönlicher Beziehungen in Gesellschaften notwendig, in denen die Ökonomie es noch nicht erreicht hat, sich von den übrigen sozialen Sphären zu unterscheiden. Historisch gesehen waren die Griechen und Römer die ersten, die diese Unterscheidung zwischen persönlichen und realen Rechten und zwischen moralischen und vertraglichen Verpflichtungen einführten. Unter den Kabyla jedoch, wo diese Unterscheidung nicht existiert, entspricht das symbolische Kapital einer Art Selbst-Illusion, die von der gesamten Gesellschaft geteilt wird, bzw. einer Art von kollektivem falschem Glauben, wie Bourdieu Sartre zitierend sagt.52 Eine äußerst interessante Konsequenz der Brechung dieser Illusion, die durch das symbolische Kapital geschaffen wird, ist das Entstehen des Begriffs der „Arbeit“ in Abhebung vom Begriff der bloßen Tätigkeit. Im Wirkungsfeld der Logik der Ehre lässt sich produktive Arbeit nicht von unproduktiver Arbeit unterscheiden. Das Bewusstsein dieser Unterscheidung würde den Kern selbst des Mechanismus der Unterdrückung und Verdeckung berühren, durch den diese funktioniert. Die „Entdeckung“ der Arbeit setzt die Entzauberung der Natur voraus und ihre Reduktion auf die ökonomische Dimension. Die „Tätigkeit“ wird nicht mehr als ein „Tribut“ gesehen, den man der Gesellschaft zahlt, sondern wahrgenommen als ein klar bestimmter ökonomischer Zweck. Symbolisches Kapital ist in diesem Sinne negiertes und travestiertes Kapital. Es wird nur als legitim wahrgenommen, wenn es nicht als Kapital erkannt wird. Für Bourdieu scheint das symbolische Kapital, zusammen mit dem religiösen Kapital die einzig mögliche Form der Akkumulation zu sein, wenn das ökonomische Kapital negiert wird. Symbolisches Kapital scheint das soziale Kapital, oder besser, eine Art von sozialem Kredit im weiteren Sinn zu sein, dem eine Konversion gelingt, um seine arbiträren Entstehungsgründe zu verbergen. In dieser Weise setzt symbolisches Kapital Maskierung und Undurchsichtigkeit hinsichtlich seiner Ursprünge und seines praktischen Funktionierens voraus. In den vormodernen Gesellschaften, wie bei den Kabyla, geschieht diese Maskierung durch die Negierung seines (auch) ökonomischen Gehalts. In den modernen Gesellschaften dagegen ist es die ökonomische Wurzel des sozialen Unterschieds, die unsichtbar wird. In den vormodernen Gesellschaften gibt es im Gegenteil eine Linie der Kontinuität zwischen den mehr oder weniger symmetrischen Tauschbeziehungen des rituellen Austausches von Geschenken bis zur Asymmetrie der deutlicheren Abhängigkeitsbeziehungen. Diese Linie der Konti52
Bourdieu, The logic of practice, S. 114.
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Kapitel II – Pierre Bourdieu und die Rekonstruktion der kritischen Soziologie 49 nuität ist durch die ökonomische Beziehung gegeben, die durch den Schleier der moralischen Beziehung maskiert wird. Es ist genau dieser maskierende Schleier, der jenes ermöglicht, was Bourdieu den „symbolischen Mehrwert“53 nennt, in dem Sinn, dass die scheinbar symmetrischen Beziehungen die Reproduktion der asymmetrischen Tauschverhältnisse bedingen und auf diese Weise eine arbiträre Beziehung legitimieren. Diese Art der Erlangung asymmetrischen Gewinns ist typisch für eine vorkapitalistische Gesellschaft, die die Reproduktion einer unpersönlichen und fast automatischen Herrschaft durch die Logik des Arbeitsmarktes nicht zulässt. Gerade deshalb, weil sich die vorkapitalistische Gesellschaft nicht auf die unerbittliche, aber maskierte Gewalt von objektiven Mechanismen verlassen kann, die den Herrschenden erlauben, auf die aufwendigen Strategien der Reproduktion der Bedingungen ihrer Herrschaft zu verzichten, sieht sie sich zu einer Art von sozialen Beziehungen gezwungen, wo die brutalste physische Gewalt und die „höflichsten“, menschlichen und mit Empfindsamkeit und Gefühlen geladenen persönlichen Beziehungen (als Antwort etwa auf großzügige „Geschenke“ die natürlich Verpflichtungen desselben Ausmaßes schaffen) in zweideutiger Weise nebeneinander bestehen können.54 Je schwieriger die Ausübung der direkten Herrschaft wird, desto mehr benötigt man maskierte Herrschaftsformen. Vom Gesichtspunkt der Herrschenden aus gesehen ist diese Form der Herrschaft extrem aufwendig. Bourdieu macht auf die Gefahr aufmerksam, den materiellen Aspekt der Zweideutigkeit als den einzig entscheidenden und das nichtmaterielle Element als ein Epiphänomen anzusehen. Die Konversion des Kapitals ist niemals automatisch und impliziert immer die konstante und persönliche Einbringung des Herrschenden. Der Aufwand ist persönlich in Art von Zeit, Anstrengungen und Verpflichtungen. In einem wichtigen Sinn gilt dabei zudem, dass die Respektierung der Normen der Gruppe von Seiten der „Oberen“ selbst beispielhaft sein muss, um angesichts des Fehlens der imaginären Vorstellung einer sich selbst erhaltenden Gesellschaft die Reproduktion der persönlichen Herrschaftsbeziehungen zu garantieren. In diesem Sinn stellt Bourdieu die interessante These auf, nach der sich die Herrschaftsformen proportional verhalten und gemäß dem Grad der Objektifizierung des Kapitals variieren.55 In Ermangelung dieser Objektifizierung tendiert die Herrschaft dazu, die persönliche Form anzunehmen. Ist sie gegeben, z.B. in 53
Bourdieu, The logic of practice, S. 123. Ein sehr gutes Beispiel sind, wie wir im zweiten Teil dieses Buchs sehen werden, die Beziehungen die den Abhängigen und seinen Schutzherren in der (damals noch) personalistischen Gesellschaft Brasiliens im 19. Jahrhundert verbinden. 55 Bourdieu, The logic of practice, S. 130. 54
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Teil I – Die Rekonstruktion der spontanen Ideologie des Kapitalismus
Form des selbstregulativen Marktes, des autonomen Bildungssystems, des differenzierten Rechtswesens etc. tendiert die Herrschaft dazu, die unpersönliche Form anzunehmen, was Undurchsichtigkeit impliziert und den typischen Automatismus der Mechanismen, die jenseits des Verständnisses und der Macht der Individuen wirken. Was das Wirken des symbolischen Kapitals in den zwei Kontexten (dem persönlichen und dem unpersönlichen) charakterisiert, ist die Maskierung der ökonomischen Vorbedingungen für die Ausübung jeder Form von Herrschaft. In dieser Weise eröffnet das Aufgeben der Dichotomie ökonomisch/ nicht-ökonomisch den Hauptzugang zu den Geheimnissen der sozialen Herrschaft.56 Dieser Schritt ist notwendig, um zu erkennen, wie scheinbar zweckfreie Praktiken als ökonomische Praktiken der Maximierung materieller und symbolischer Gewinne gesehen werden können. Was die Besonderheit der Herrschaft im fortgeschrittenen Kapitalismus betrifft, so lehnt sich Bourdieu an die Marxsche These der „spontanen Ideologie“ an. Dem Kapitalismus gelingt es, eine Herrschaftsform zu entwickeln und in gewisser Weise „sekretieren“, die sich nicht nur nicht als solche zeigt, sondern gleichzeitig auch die Herrschenden von der aufwendigen Arbeit der Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse befreit. Die erfolgreichste Ideologie ist genau diejenige, die keiner Worte bedarf und die sich aufgrund der stillen Komplizenschaft selbstregulativer Systeme erhält, die unter der Maske der formalen Gleichheit und der Ideologie des Leistungsvermögens die „Soziodizee der eigenen Privilegien“ der herrschenden Klassen erzeugt. Die Unpersönlichkeit der kapitalistischen Herrschaft kann ebenfalls durch die Theorie der Kapitale bei Bourdieu betrachtet werden. In den modernen Gesellschaften sind es das ökonomische und das kulturelle Kapital, die die strukturierende Rolle übernehmen anstelle des sozialen Kapitals, d.h. der Gesamtheit der Bekanntschafts- und Anerkennungsverhältnisse, die sich aufgrund der Zugehörigkeit zu einer spezifischen Gruppe konstituieren.57 Obgleich das soziale Kapital auch hier entscheidend für das Schicksal individueller Karrieren ist, gründet die moderne Gesellschaft ihr Funktionieren nicht in erster Linie darauf.
Der spezifische Charakter der sozialen Herrschaft im Kapitalismus Eine exemplarische und unter verschiedenen Aspekten brillante und originelle Analyse der zeitgenössischen Gesellschaft legt Bourdieu in seiner vielleicht bekanntesten Arbeit, Distinction, vor. Obgleich das Buch eine theoretisch-empi56 57
Bourdieu, The logic of practice, S. 122. Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht, S. 63.
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Kapitel II – Pierre Bourdieu und die Rekonstruktion der kritischen Soziologie 51 rische Studie über die Klassenstruktur der zeitgenössischen französischen Gesellschaft ist und ganz besonders des symbolischen Herrschaftsmusters, das sie ermöglicht, kann es auch als eine allgemeine Theorie des charakteristischen Mechanismus verstanden werden, den die Klassenherrschaft im reifen und fortgeschrittenen Kapitalismus annimmt. Zwei Aspekte scheinen mir an dieser Stelle grundlegend für das Verständnis der Originalität der Reflexion Bourdieus zu sein, hinausgehend über die schon diskutierte zentrale Bedeutung der Kategorie des Habitus bei seinem epistemologischen Ausgangspunkt. Diese beiden Aspekte sind erstens die neuartige Beziehung zwischen den verschiedenen „Kapitalen“ im Kontext des reifen Kapitalismus und zweitens, teils als Folge des ersten Aspekts, die zentrale Stellung der Kategorie des „Geschmacks“, des ästhetischen Urteils als – spezifisch moderne – Hauptform, Unterschiede zwischen Individuen und Klassen zu erzeugen. Hinsichtlich des ersten Aspekts haben wir bei Bourdieu eine radikale Umkehrung der herrschenden Interpretation bezüglich der Vorbedingungen und Wirkungen einer wesentlichen strukturellen Transformation des Kapitalismus im Ganzen, die jedoch erst im Reife- oder Spätstadium des Kapitalismus in allen ihren Virtualitäten sichtbar wird: die wachsende sozio-ökonomische Bedeutung des „Wissens“. Schon Marx erkannte die enorme Bedeutung des Wissens für die Anwendung in der Produktion. In verschiedener Hinsicht war das nützliche und fachspezifische Wissen, das für die Reproduktion von Markt und Staat notwendig ist, eine der strukturellen Hauptbedingungen für die Überwindung der askriptiven Kriterien des Blutes und der Familie zugunsten des individuellen „Talents“ dessen, der die effektive Kompetenz besitzt, um grundlegende Funktionen in der modernen Gesellschaft durch die Einbringung von Wissen und praktischen Kenntnissen auszuführen. Im Übrigen bezieht, wie wir im Einzelnen später sehen werden, die leistungsgesellschaftliche Ideologie des Individualismus als Weltanschauung ihre Plausibilität zu einem guten Teil gerade aus dieser Möglichkeit für die Individuen, sich durch ihr eigenes Bemühen um die Einbringung von Wissen und Kenntnissen sozial zu klassifizieren. Doch lediglich nach dem zweiten Weltkrieg sollte die Bedeutung des Wissens und der Kenntnisse ihn allen ihren Virtualitäten erkannt werden. Seit dieser Epoche haben wir eine Welle von Analysen zu den qualifizierten Arbeitern, den „white collars“ und den leitenden Angestellten als einer neuen Klasse zwischen den Eigentümern und den manuellen Arbeitern. Daniel Bell stellt in seinem Buch The coming of the post-industrial society58 fest, das Eigentum und Wissen zu den 58
Bell, The coming of the post-industrial society, S. 43.
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Grundlagen der sozialen Schichtung in den fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften geworden waren. Auch Habermas verweist auf die Überwindung des marxistischen Paradigmas des Arbeitswertes aufgrund der neuen Beziehung zwischen Wissen und kapitalistischer Produktivität.59 Was jedoch lediglich Bourdieu erkannt hat, und dies würde schon genügen, um ihn unter die großen Denker der kritischen Gesellschaftstheorie zu zählen, ist die Tatsache, dass der neue strukturelle Stellenwert des Wissens und der Kenntnisse auch eine neue Form der ideologischen Herrschaft im Kontext des fortgeschrittenen Kapitalismus hervorruft, die noch verdeckter und undurchsichtiger ist. Im Gegensatz etwa zu einem Talcott Parsons, bei dem die individuelle Leistung auf der Basis der Wissenseinbringung als Grundlage einer demokratischen Leistungsgesellschaft verstanden wird60, haben wir bei Bourdieu die umgekehrte Hypothese, dass Wissen und Kenntnisse zur Grundlage einer „spontanen Ideologie“ des Kapitalismus neuen Typs werden und dabei ungerechte und dauerhafte Ungleichheiten schaffen und legitimieren, indem sie systematisch die sozialen und ökonomischen Vorbedingungen ihres Funktionierens verdecken. Das kulturelle Kapital, oder besser, die sozialen Vorbedingungen für die Bildung und Übertragung von kulturellem Kapital sind in diesem Kontext undurchsichtiger und unsichtbarer als die Vorbedingungen, die für das ökonomische Kapital gelten.61 Wissen und Kenntnisse in ihren vielfältigen Erscheinungsformen nehmen bei Bourdieu die Form eines „kulturellen Kapitals“ an, das relativ unabhängig vom ökonomischen Kapital ist und mit diesem das Potential teil, die Gesellschaft als Ganzes zu strukturieren und das relative Gewicht der sozialen Klassen und ihrer Fraktionen im Streit um knappe Ressourcen zu bestimmen. So zeigt bei der Lektüre Bourdieus gerade das Element, das von allen als der sichtbarste und relevanteste Aspekt des Demokratisierungsprozesses in den fortgeschrittenen Gesellschaften nach dem zweiten Weltkrieg angesehen wird, eine keineswegs unschuldige Kehrseite, die darin besteht, durch seine spezifische Wirkungsweise der Naturalisierung von kontingenten sozialen Verhältnissen ein neues Schema symbolischer Herrschaft zu errichten, das noch subtiler und raffinierter als die vorigen bestehende Ungleichheitsverhältnisse maskiert. Auf diesem Weg will Bourdieu das erstellen, was er „Ökonomie der Kulturgüter“ nennt, deren spezifische Logik er aufdecken möchte. Dazu ist es zuerst notwendig, den normativen Gehalt von Kultur von seinem emphatischen Sinn zu lösen, der diesen Begriff in seinem alltäglichen Gebrauch durchdringt, zugunsten 59
Habermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie. Hans-Peter Müller, Sozialstruktur und Lebensstile: der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit, S. 356. 61 Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht, S. 57. 60
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Kapitel II – Pierre Bourdieu und die Rekonstruktion der kritischen Soziologie 53 einer pragmatischen Verwendung, d.h. auf die alltägliche Lebenspraxis bezogen und damit auch auf unsere banalsten und alltäglichsten praktischen Entscheidungen, wie elementare Geschmacksvorlieben, beim Essen und in anderer Hinsicht. An diesem Punkt erscheint der zweite zentrale Aspekt seiner Argumentation, den wir vorher erwähnt haben, d.h die Thematik des „Geschmacks“, oder besser der ästhetischen Kompetenz als Element zur Erzeugung sozialer Unterschiede im fortgeschrittenen Kapitalismus. Die ästhetische Kompetenz wie sie von Bourdieu wahrgenommen wird, ist eine Gegenposition zur „idealistischen“ Definition von Ästhetik, wie sie von Kant verfochten wird. Kant war es, der die Unterscheidungen zwischen einem reflektierten vs. einem sinnlichen Geschmack, zwischen „Wohlgefallen“ und Genuss, zwischen dem Schönen und dem Angenehmen bekannt machte. Für Kant ist diese Fähigkeit eine „Gabe“, die einige besitzen und andere nicht.62 Bourdieu greift diesen Gesichtpunkt an, hauptsächlich indem er zeigt, wie sehr dieser „Geschmack“ sozial geschaffen ist und wie eng die Beziehungen zwischen Geschmack und sozialer Klasse sind. Die ästhetische Kompetenz ist für Bourdieu eine Funktion der Kombination aus Schulzeit und familiärer Herkunft. Die wissenschaftliche Forschung, wie sie Bourdieu selbst ausgiebig in seiner Arbeit verwendet, hat erwiesen, dass der Geschmack und die kulturellen Bedürfnisse in direkter Beziehung zur familiären Sozialisierung und dem Niveau der Schulbildung stehen. Weit davon entfernt, eine angeborene Eigenschaft zu sein, wie Kant annahm, entspricht der Geschmack, sei es der auf die alltäglichen Vorlieben oder auf die „künstlerischen“ Vorlieben bezogene, einer sozialen Hierarchie der Konsumenten, was ihn vortrefflich dazu prädestiniert, als „Klassenmerkmal“ zu dienen.63 In diesem Sinn fasst Bourdieu die „Begegnung“, sei es zwischen einem Kunstwerk mit seinem Konsumenten, sei es zwischen zwei Liebenden, nicht als das Mysterium der Liebe auf den ersten Blick auf, sondern als die Wirkung der Dekodierung eines spezifischen Sozialisierungsprozesses. In dieser Weise hätte jede soziale Klasse oder Klassenfraktion eine „Ästhetik“. Die Arbeiterklasse z.B., der soziale Hintergrund vor dem sich alle anderen Klassen differenzieren, charakterisiert sich durch ein Verhältnis der Kontinuität zwischen Kunst und Leben, was die Unterordnung der Form gegenüber der Funktion in allen Dimensionen des Geschmacks impliziere. Das Prinzip der Distinktion konstituiert sich folglich ausdrücklich gegen seine Vermengung mit den praktischen Funktionen der materiellen Reproduktion einerseits, sowie in Opposition zu Vermengung oder Verwechselung der ästheti62
Hans-Peter Müller, Sozialstruktur und Lebensstile: der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit, S. 310. 63 Bourdieu, Distinction, S. 11.
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schen und moralischen Urteile andererseits, wie sie für die Arbeiterklasse typisch ist. Mit anderen Worten und abstrakter definiert sich das Prinzip der Distinktion, für Bourdieu das klassifizierende Element schlechthin, aufgrund eines Verhältnisses der Sublimierung der menschlichen Grundbedürfnisse, wobei diese Sublimierung als Quelle allen sozialen Raffinements und aller Stilisierung des Lebens aufgefasst wird. Bourdieu betrachtet sein Unternehmen als eine Art „soziale Psychoanalyse“ oder „Sozioanalyse“, insofern der „Geschmack“ der Bereich par excellence ist, wo sich die „Negation des Sozialen“ manifestiert. Da der Geschmack sich als eine Verbindung zwischen Vernunft und Empfindungsvermögen, d.h. als Kennzeichen der Gesamtpersönlichkeit zeigt, kommt er meisterlich dem Wunsch entgegen, als eine angeborene Eigenschaft zu „erscheinen“ – für Bourdieu das Merkmal jeder Aristokratie, der modernen Aristokratie der Kultur inklusive64 – und dabei folglich seinen sozialen Ursprung (Erziehung und Familie) zu negieren. Das grundlegende Kriterium der Hierarchisierung ist hier das kulturelle Kapital, definiert als Summe aus Erziehungs- und Bildungskapital und dem familiären Ursprung. Für Bourdieu gründet die Undurchsichtigkeit dieses Prinzips der Legitimierung der Klassenhierarchie aufgrund des Geschmacks in der Opposition zwischen der Seele als Reich der Innerlichkeit, und folglich des Tiefen und Heiligen, und dem Körper, wobei die „Seele“ der locus des Menschen der bürgerlichen Klasse im Gegensatz zum Körper als locus des Arbeiters und einfachen Volkes ist. Der Leser kann hier schon erkennen, dass Bourdieu in Wahrheit den wesentlichen Aspekt der von Taylor entwickelten Wertegenealogie, wie wir sie im vorangehenden Kapitel gezeigt haben, auf den Klassenkampf überträgt, wenn auch auf unartikulierte Weise, wodurch sein theoretisches Aufklärungspotential nicht zum Tragen kommt. Der primäre Prozess der „naturalisierenden“ Verinnerlichung dieses Ungleichheiten legitimierenden Kriteriums geschieht im Rahmen von Schule und Familie, nicht nur hinsichtlich dessen, was explizit vermittelt wird, sondern vor allem aufgrund der impliziten Praktiken, die diese Institutionen fordern. Was Bourdieu hier im Sinn hat, ist die Bildung des Habitus, wahrgenommen, wie wir oben gesehen haben, als ein nicht-intentionales Erlernen von Einstellungen, Neigungen und Bewertungsschemata, die „inkorporiert“ und naturalisiert werden und so seinem Inhaber erlauben, ohne bewusste und reflexive Vermittlung die undurchsichtigen Zeichen der legitimen Kultur zu erkennen und zu klassifizieren. Die grundlegende Einstellung der legitimen Kultur ist für Bourdieu die ästhetische Einstellung. Der Hauptpunkt ist hier die Schaffung eines Vorrangs der 64
Bourdieu, Distinction, S. 26.
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Kapitel II – Pierre Bourdieu und die Rekonstruktion der kritischen Soziologie 55 Form über den Inhalt, d.h. des Vorgehens der Kunst – sowie der „Lebenskunst“, die sich aus demselben Prinzip entwickelt65 – als reine Form. Nach Kant ist die Kunst, die emotionale Verzückung braucht, um Vergnügen zu erzeugen, barbarisch. Indem die Ästhetik der Arbeiterklasse die Form der Funktion unterordnet, wäre sie das typische Beispiel für diesen Begriff des Barbarischen. Die ästhetisierende Haltung dagegen weist die Unterordnung der Kunst unter die Funktionen des Lebens zurück. Was diese ästhetische Haltung zu einer Weltanschauung und zu einem „Lebensstil“ macht ist der Umstand, dass sie durch die Aufhebung der ökonomischen Notwendigkeit gekennzeichnet ist und folglich durch die objektive und subjektive Unterscheidung gegenüber den sozialen Gruppen, die diesen Determinismen unterliegen. Diese „Ästhetik“ ist folglich, und hierin besteht die Basis von Bourdieus Argument zur Dekonstruktion des ästhetischen Urteils, mit der ökonomischen Situation der Freiheit von der Notwendigkeit verbunden, was genau die Leichtigkeit, die Natürlichkeit und existentielle Unverbindlichkeit bezüglich der Forderungen der materiellen Welt erlaubt. Daher erweist sich die ästhetische Einstellung nur in einer ökonomischen Situation der Behauptung der Macht über die Notwendigkeit als verständlich und schließt konsequenterweise implizit einen legitimen Überlegenheitsanspruch gegenüber denen ein, die dem Stachel dieser Notwendigkeiten und Dringlichkeiten ausgesetzt sind. Auf diese Weise kann das ökonomische Privileg sich als ästhetisches verkleiden, indem es den vom Druck der Notwendigkeit erzeugten und als vulgär definierten Geschmack vom freiheitlichen, als „rein“ und „interessenlos“ definierten Geschmack trennt. So kann das am stärksten „klassifizierende“ Prinzip als das „natürlichste“ erscheinen. Dieser Punkt erklärt auch, warum die Ideologie des natürlichen Geschmacks so wirksam ist. Denn in dem Maße, wie sie sich quasi zufällig in der Dimension des Alltagslebens durchsetzt und dabei reale Unterschiede „naturalisiert“, die einen sozio-ökonomischen Grund besitzen, erscheinen sie als naturgegebene Unterschiede. Wie Bourdieu mit treffender Ironie äußert: Die Kultur verwandelt sich ein weiteres Mal in Natur... Beim Wettbewerb zwischen den priveligierten Gruppen selbst sind diejenigen im Vorteil, die auf die unmerklichste und unsichtbarste Weise ihren Erwerbsaktivitäten nachgehen. Aus diesem Grund gilt Seniorität beim Zugang zur herrschenden Klasse als entscheidend.66 Dies erklärt sich aus der Tatsache, dass die Wirkung der „Erwerbsweise“ des Geschmacks alle alltäglichen Vorlieben prägt, von der Kunst und der legitimen Kultur bis zum Geschmack für Möbel, Kleidung und Essen. Das Empfinden der Zugehörigkeit zu einer Welt der Vollkommenheit, Harmonie und Schönheit, 65 66
Bourdieu, Distinction, S. 54-58. Bourdieu, Distinction, S 68/73.
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das sich umso perfekter einstellt, je unbewusster, unreflektierter und müheloser es sich überträgt, schafft nämlich unmittelbare und intuitive Solidarität, hervorgerufen durch die tiefsten Schichten des Habitus, und schmiedet so Sympathien und Abneigungen, Phantasien und Phobien, Beifall und Ablehnung. Diese Vereinigung und tiefe Solidarität geschieht im direkt empfundenen Kontakt, wie beim Rhythmus einer Musik, unter Verzicht auf Worte und begriffliches Denken.67 Der grundlegende Begriff, der es erlaubt, diese breit gestreute Menge von Einstellungen mit Strukturen zu verbinden, die konkrete Situationen definieren und vor-beurteilen, ist der Begriff des Habitus. Von Bourdieu wieder aufgenommen und tiefgreifend neu interpretiert, wie wir oben gesehen haben, wird der Begriff des Habitus erlauben, in innovativer Weise die Idee der sozialen Klasse und der Zugehörigkeit zu ihr neu zu definieren. Der Habitus definiert sich als eine prä-reflexive Form der körperlichen Verinnerlichung und Einprägung von Einstellungen, die einen Lebensstil und eine spezifische Weltsicht bedingen. In dieser Weise wird der mit anderen geteilte Habitus durch den Begriff „Klassenhabitus“ in dem Sinn bezeichnet, dass er in objektiver Hinsicht, jenseits jedes bewussten Einverständnisses, Menschen in derselben Klassensituation miteinander verbindet. So wird die Klasse nicht mehr aufgrund von Eigenschaften oder Bündeln von Eigenschaften wahrgenommen, sondern definiert sich als Grundlage von ähnlichen „sozialen Praktiken“, die gemeinsame Strategien und geteilte Konsequenzen selbst bei Fehlen von bewussten und reflektierten Vereinbarungen erlauben. Die Zugehörigkeit zur Klasse erklärt, warum die Individuen sich nicht willkürlich im sozialen Raum bewegen. In konkreter Hinsicht heißt dies, dass mit der Einbeziehung des sozialen Feldes und seinen spezifischen homologen Regelungen die Gesamtheit der in allen Gebieten der Praxis einbegriffenen Faktoren auf die spezifische Logik eines jeden Feldes bezogen werden muss, und zwar in der Weise, dass dadurch die Beziehung zwischen Klasse und Praxis bestimmt wird. Es ist die spezifische Logik jeden Feldes, die definiert, welche die wirksamen und wichtigen Einstellungen auf diesem Markt sind und die so erlaubt, die Hierarchie der in diesem Feld Agierenden aufgrund der spezifischen Art von Kapital, das sie jeweils mobilisieren können, zu bestimmen. Der Geschmack hat für Bourdieu die Funktion des Sinns für Unterscheidung par excellence, da er trennt und vereint und so folglich Solidaritäten und Vorurteile in universeller Form – alles ist Geschmack! – aufgrund von unsichtbaren und unkenntlichen Fäden schafft. Und aufgrund dieser zentralen Idee bildet sich die spontane Ideologie des Bürgertums in der Spätmoderne, die es erlaubt, 67
Bourdieu, Distinction, S. 80.
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Kapitel II – Pierre Bourdieu und die Rekonstruktion der kritischen Soziologie 57 einen Anschein von Universalismus und Wettbewerb unter gleichen Bedingungen anzunehmen, woher ja das Bürgertum immer ihre explizite Legitimität bezog, doch eben unter der impliziten Annahme natürlicher Unterschiede – folglich wie bei jeder prä-modernen Aristokratie auch –, die möglich und wirksam werden durch spezifisch moderne Bedingungen von einzigartiger Intransparenz.
Der Klassenkampf in der Spätmoderne Der Kampf der Klassen und Klassenfraktionen in der Spätmoderne nimmt für Bourdieu die Form eines symbolischen Kampfes um die Hegemonie an, im Rahmen der Definition der als legitim angesehenen Kultur. Der soziale Kampf ist vor allem der Kampf um die Macht, mit den eigenen Kriterien, d.h. mit den Kriterien der hegemonialen Klasse oder Fraktion, die klassifikatorischen Schemata definieren zu können, die zum großen Teil unbewusst und unreflektiert wirken und allen sozialen Klassen, die sich in ihrem Herrschaftsbereich befinden, als Orientierung für das Verhalten dienen sollen68. Wie wir gesehen haben, wird die spezifische Form des symbolischen Kapitals im fortgeschrittenen Kapitalismus bei der Naturalisierung der realen Differenzen in Unterschiede übersetzt, die ihre „Erwerbsweise“ undurchsichtig machen, d.h. sie ermöglichen ihre Wahrnehmung in der Dimension des Alltagslebens als angeborene Merkmale ihrer Besitzer. Die „Distinktion“ erscheint als eine „verdiente“, korrekte und gerechte Differenz, da sie vermeintlich auf angeborenen Talenten ihrer Besitzer basiert. Der Sinn für Unterscheidung ist eine Fähigkeit der herrschenden Klassen. Er definiert sich in jeweils besonderer Weise aufgrund des relativen Gewichts der Kapitale – insbesondere des ökonomischen und kulturellen Kapitals –, die die Individuen und Klassenfraktionen besitzen, sowie durch ihren sozialen Entwicklungsweg, der die „Erwerbsweise“ definiert und folglich den Modus der Beziehung zu jedem einzelnen der Kapitalformen strukturiert. Der wichtigste Gegensatz zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse ist derjenige zwischen den Fraktionen, die in paradigmatischer Weise das ökonomische Kapital oder das kulturelle Kapital verkörpern. Ausgehend von dieser Überlegung präsentiert Bourdieu eine Darstellung der impliziten und undurchsichtigen Beziehungen zwischen dem kulturellen Konsum und dem Lebensstil als Form, Privilegien, soziale Anerkennung und Selbstachtung zu garantieren.
68
Bourdieu, Distinction, S. 479.
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Ein Schloss zu besitzen ist in diesem Sinn nicht lediglich eine Frage des Geldes. Im Gegenteil ist diese Erwerbung fast immer mit einer Form des Kontakts zum aristokratischen Leben und aller seiner spezifischen Funktionen und Privilegien verbunden. Die tiefe Bedeutung des aristokratischen Lebens verweist auf einen Lebensstil, der dem Lauf der Zeit kein Gewicht beimisst, was sich in der Kultivierung von Dingen äußert, deren Erlernen lange Zeit erfordert, wie die Kenntnis der Weine, der exotischen Gerichte und des Gartenbaus. Was mit einer solchen Erwerbung ausgedrückt wird, ist der Anspruch auf einen gewissen Begriff von „Persönlichkeit“, eine hochwertige Person69 zu sein, was sich in der Aneignung eines hochwertigen Objekts manifestiert. Die intellektuellen Klassenfraktionen, d.h. die Klassen, die sich durch die Prädominanz des kulturellen Kapitals gegenüber dem ökonomischen Kapital auszeichnen, müssen sich, um sich zu unterscheiden, aus Mangel an ökonomischem Kapital mit exklusiven Formen der Aneignung begnügen. So entwickeln Intellektuelle und Künstler eine Vorliebe für risikoreiche Strategien, die deshalb große Chancen auf einen „distinktiven Gewinn“70 eröffnen. Strategien wie die Rehabilitierung von Verhaltensformen oder kulturellen Produkten, die vorher als „Kitsch“ angesehen waren, die Neudefinition des Künstlerischen oder Avantgardistischen sind einige Beispiele. Bei diesen Kämpfen um Distinktion zwischen den Fraktionen der herrschenden Klasse sind nicht nur ökonomische Interessen im Spiel, sondern auch psychologische, d.h. Grundhaltungen dem Leben gegenüber. Worum es in diesem Sinn zu gehen scheint, ist die Definition der „Gesamtperson“, d.h. eine sehr sublimierte Form der Verteidigung von Interessen. Im Bereich der beherrschten Klassen haben wir zwei verschiedene charakteristische Haltungen, die des Kleinbürgertums und die der Arbeiterklasse. Das Merkmal des Kleinbürgertums ist ihr „guter Willen zur Kultur“, was ihr Verlangen nach Einschluss und Akzeptanz widerspiegelt. Aus eben diesem Grund ist der Kleinbürger der typische Konsument von „Kitsch“, aufgrund von dessen Bezug zur legitimen Kultur. Was zeigt, dass die legitime Kultur nicht für sie gemacht ist, ist die Tatsache, dass sie ihre Legitimität verliert, sobald sie von dieser Fraktion angeeignet wird. Aufgrund seiner Rigidität und seines Verlangens nimmt der Kleinbürger das Spiel der Kultur nicht als Spiel wahr. Genau dies ist es, was ihm nicht erlaubt, mit der Natürlichkeit, der Vertrautheit und der Distanzierung zu handeln, die das Merkmal derjenigen ist, die sich als Macher der Kultur ansehen. Der gute Willen zur Kultur, diese Art von serviler Folgsamkeit gegenüber allem, was legitim ist, ist ein notwendiges Kennzeichen des Bedürfnisses nach sozialem Aufstieg, dem A und O der kleinbürgerlichen Persön69 70
Bourdieu, Distinction, S. 281. Bourdieu, Distinction, S. 282.
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Kapitel II – Pierre Bourdieu und die Rekonstruktion der kritischen Soziologie 59 lichkeit. Diese Perspektive ist es, die ihre Moral und ihre Beziehung zur Welt formt: strenge Askese bei den aufsteigenden Fraktionen und repressive Strenge bei den dekadenten Fraktionen des Kleinbürgertums. Interessanter jedoch, auch für den Gebrauch, den wir später von der Theorie Bourdieus für unsere eigenen Zwecke machen werden, ist seine Konzeption der Arbeiterklasse. Der Ausgangspunkt Bourdieus bei dieser Frage ist nicht frei von Zweideutigkeiten. Zunächst, weil die Weltsicht, oder besser, der „Habitus“ der Arbeiterklasse für Bourdieu eine Restgrößenkategorie ist, insofern als dieser sich negativ definiert, in Opposition zu den bürgerlichen Fraktionen. Dieses „reaktive“ Merkmal der beherrschten Klasse schlechthin im Kapitalismus bewirkt, das Bourdieu selbst, mit seinen Begriffen, das typische Wechselspiel der linken Ansichten bezüglich der Arbeiterklasse wiederholt, die er selbst kritisiert.71 Denn letztlich ist es die Tatsache, dass die Arbeiterklasse nicht am Kampf um Distinktion teilnimmt, dem Kampf nämlich, der die „illusio“ des sozialen Spiels begründet, eines Spiels, das nur besteht, weil man daran glaubt, die ihr eine gewisse „Authentizität“ der Vorlieben und Verhaltensweisen verleiht, die nur „Outsidern“ im Allgemeinen möglich ist. Die dominierende Perspektive der Analyse Bourdieus ist jedoch diejenige, die die Verletzbarkeit und Abhängigkeit der Arbeiterklasse in Beziehung auf die legitime Kultur betont. Die Arbeiterklasse ist gezwungen, aus der „Notwendigkeit“, d.h. aus der unerbittlichen Abhängigkeit von einem minimalen Konsum- und Lebensstilniveau, das ihr durch den Entzug und Mangel an Mitteln diktiert wird, eine Tugend zu machen. Eine Tugend, die sich als Anpassung an die Realität definiert, mit der Konsequenz der Akzeptanz, Verinnerlichung und „Inkorporierung“ der Notwendigkeit, die parallel zur Tatsache, dass die auferlegt ist, nun auch „gewollt“ und „gewünscht“ wird. Diese Notwendigkeit ist die Grundlage des außergewöhnlichen „Realismus“ der Arbeiterklassen, bei dem die unmittelbare Erfahrung als einzig existente wahrgenommen wird, was die buchstäbliche Schließung des Horizonts des Möglichen impliziert: es gibt keine andere Sprache, keinen anderen Lebensstil, keine andere Form der Familienbeziehung.72 Dieser Realismus bildet z.B. die Grundlage für die Reduktion aller Praktiken oder Objekte auf ihre technische Funktion. In gewissem Sinn wird dieser Realismus auch auf die eigene Selbstwahrnehmung der Arbeiter angewendet, insofern Männlichkeit und körperliche Stärke – Ausdruck einer sozialen Beherrschung, die sie auf Körper und tierische Arbeitkraft reduziert – zu einem sichtbaren Merkmal aller ihrer Vorlieben werden: beim Sport, beim Essen, bei der Kleidung, bei der Unterhaltung etc. 71 72
Bourdieu, Distinction, S. 183. Bourdieu, Distinction, S. 381.
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Alle „Prätention“ in Kultur, Sprache oder Kleidung fällt unter den Verdacht des „Bürgerlichen“, d.h. der servilen Akzeptanz der beherrschenden Muster, oder des „Weiblichen“, was an die Grundtugend der Arbeiterklasse rührt, die in gewisser Weise auch das Fundament ihrer Gruppensolidarität bildet, insofern sie Ausdruck der Courage ihrer Mitglieder ist: die Männlichkeit73. Dieser Realismus impliziert letzten Endes, dass die Arbeiterklasse sich durch die Augen der herrschenden Klasse sieht, d.h. reduziert auf ihre Arbeitskraft, und schlimmer noch, auf die bloße Muskeltätigkeit. Bourdieu erkennt klar die „Wirkungen“ der objektiven Abhängigkeit der Selbstachtung von den herrschenden Klassen, sei es hinsichtlich des Marktes bedingt durch den Lohn und den Beschäftigungsstatus, sei es durch das Wirken des Bildungssystems, das auf seine Weise die sozialen Hierarchien reproduziert.74 Wenn er jedoch von den „Wirkungen“ sprechen kann, so kann er – und hier erweist das Fehlen einer objektiven Konzeption von Moralität, wie der oben referierten Rekonstruktion Taylors, sein ganzes Gewicht – wenig oder nichts zu den „Ursachen“ und der spezifischen Genese dieser hierarchisierenden Weltvorstellungen sagen, die sich lediglich in ihren Wirkungen durch die Effektivität gewisser grundlegender Institutionen bemerkbar machen. Doch dies ist der Punkt, den ich im Einzelnen im nächsten Kapitel behandeln will und der die Vereinigung der Perspektiven der beiden bisher analysierten Autoren betrifft.
Kapitel III – Taylor und Bourdieu oder die schwierige Vermählung von Moral und Macht Kapitel III – Taylor und Bourdieu oder die schwierige Vermählung ... Es sind einige einleitende Kommentare notwendig, um Missverständnissen vorzubeugen. Ich habe hier keinerlei Ehrgeiz, auf der Grundlage des Dialogs mit diesen Autoren eine neue Theorie zu entwickeln. Sie sind ganz offensichtlich in vielen Aspekten untereinander sehr verschieden und sogar auch unvereinbar. Meine Absicht ist lediglich, das aufklärende und enthüllende Vermögen beider Theorien zu nutzen, um einen konkreten Fall zu erhellen: das Phänomen der Naturalisierung der Ungleichheit in peripheren Gesellschaften wie der brasilianischen. Andererseits glaube ich auch nicht, dass die Autoren, auf die wir zurückgreifen, um konkrete Probleme zu klären oder selbst um alternative theoretische Perspektiven zu entwickeln, notwendigerweise von ähnlichen theoretischen Rahmenkonzepten ausgehen müssen, damit wir sie produktiv verwenden kön73 74
Bourdieu, Distinction, S. 382. Bourdieu, Distinction, S. 387.
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Alle „Prätention“ in Kultur, Sprache oder Kleidung fällt unter den Verdacht des „Bürgerlichen“, d.h. der servilen Akzeptanz der beherrschenden Muster, oder des „Weiblichen“, was an die Grundtugend der Arbeiterklasse rührt, die in gewisser Weise auch das Fundament ihrer Gruppensolidarität bildet, insofern sie Ausdruck der Courage ihrer Mitglieder ist: die Männlichkeit73. Dieser Realismus impliziert letzten Endes, dass die Arbeiterklasse sich durch die Augen der herrschenden Klasse sieht, d.h. reduziert auf ihre Arbeitskraft, und schlimmer noch, auf die bloße Muskeltätigkeit. Bourdieu erkennt klar die „Wirkungen“ der objektiven Abhängigkeit der Selbstachtung von den herrschenden Klassen, sei es hinsichtlich des Marktes bedingt durch den Lohn und den Beschäftigungsstatus, sei es durch das Wirken des Bildungssystems, das auf seine Weise die sozialen Hierarchien reproduziert.74 Wenn er jedoch von den „Wirkungen“ sprechen kann, so kann er – und hier erweist das Fehlen einer objektiven Konzeption von Moralität, wie der oben referierten Rekonstruktion Taylors, sein ganzes Gewicht – wenig oder nichts zu den „Ursachen“ und der spezifischen Genese dieser hierarchisierenden Weltvorstellungen sagen, die sich lediglich in ihren Wirkungen durch die Effektivität gewisser grundlegender Institutionen bemerkbar machen. Doch dies ist der Punkt, den ich im Einzelnen im nächsten Kapitel behandeln will und der die Vereinigung der Perspektiven der beiden bisher analysierten Autoren betrifft.
Kapitel III – Taylor und Bourdieu oder die schwierige Vermählung von Moral und Macht Kapitel III – Taylor und Bourdieu oder die schwierige Vermählung ... Es sind einige einleitende Kommentare notwendig, um Missverständnissen vorzubeugen. Ich habe hier keinerlei Ehrgeiz, auf der Grundlage des Dialogs mit diesen Autoren eine neue Theorie zu entwickeln. Sie sind ganz offensichtlich in vielen Aspekten untereinander sehr verschieden und sogar auch unvereinbar. Meine Absicht ist lediglich, das aufklärende und enthüllende Vermögen beider Theorien zu nutzen, um einen konkreten Fall zu erhellen: das Phänomen der Naturalisierung der Ungleichheit in peripheren Gesellschaften wie der brasilianischen. Andererseits glaube ich auch nicht, dass die Autoren, auf die wir zurückgreifen, um konkrete Probleme zu klären oder selbst um alternative theoretische Perspektiven zu entwickeln, notwendigerweise von ähnlichen theoretischen Rahmenkonzepten ausgehen müssen, damit wir sie produktiv verwenden kön73 74
Bourdieu, Distinction, S. 382. Bourdieu, Distinction, S. 387.
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nen. Ich kann mich an keinen Fall entsinnen, wo dies die Bedingung für einen fruchtbaren Gebrauch unterschiedlicher Denktraditionen gewesen wäre. Die Fälle von Karl Marx und Max Weber oder von Karl Marx und Sigmund Freud sind in dieser Hinsicht illustrativ. Diese Autoren, die untereinander alle sehr verschieden sind, konnten im Verlauf des 20. Jahrhunderts durch ihre Kombination nicht nur den Anstoß zur Entstehung ganzer Strömungen anregender und innovativer Denkweisen geben, sondern ermöglichten damit auch die Formulierung neuer Fragestellungen, die im theoretischen Rahmen der ursprünglichen Perspektiven jeweils unberücksichtigt geblieben waren. Was bei der Verwendung verschiedenartiger Autoren wichtig und entscheidend ist, ist die Existenz von Komplementaritäten, die sowohl ihre Anwendung auf Kontexte erlaubt, die wahrscheinlich die Autoren selbst überraschen würden, als auch die Vertiefung von Fragestellungen, die allein ihre kombinierte Anwendung erlaubt. Genau dies ist in meiner Sicht bei der Beziehung zwischen Taylor und Bourdieu der Fall. Die jeweiligen Theorien dieser Autoren weisen nicht nur wichtige Komplementaritäten auf, in dem Sinne, dass sich ihre Unterschiede in produktiver Form verbinden lassen, wie wir im Folgenden sehen werden, sondern auch nicht weniger grundlegende Ähnlichkeiten in ihren theoretischen Ausgangspunkten und Voraussetzungen, was ihre kombinierte Anwendung noch interessanter und empfehlenswerter macht. Beginnen wir mit den Ähnlichkeiten. Taylor selbst bietet in seinem Text To follow a rule eine interessante Sicht der Annäherung der beiden Perspektiven, die ich hier verbinden will. In Wahrheit bringt Taylor Bourdieu und Wittgenstein mit Hinblick auf einen grundlegenden Aspekt seiner eigenen Theorie zusammen, nämlich des Versuchs, die mentalistische Konzeption der sozialen Erfahrung zu durchbrechen und zu überwinden. Diese mentalistische Konzeption wird durch den Geist-Körper-Dualismus repräsentiert, d.h. durch die Idee, dass der Geist eine vom Körper verschiedene Wesenheit ist, wenngleich er den Körper in irgendeiner Weise „bewohnt“ wie ein „Geist in einer Maschine“75. Seit Descartes ist diese Konzeption zu etwas wie der offiziellen Doktrin der Beziehung Geist/ Körper geworden. Für Taylor gelingt es sowohl Wittgenstein als auch Bourdieu, Konzeptionen zu entwickeln, die helfen, diese grundlegende Beziehung auf eine andere Weise wahrzunehmen. Taylor sagt, „wenn Wittgenstein uns geholfen hat, die philosophische Knechtschaft des Intellektualismus zu durchbrechen, so hat Bourdieu damit begonnen zu erforschen, wie die Sozialwissenschaften reformiert werden müssen, sobald sie von ihrem verzerrenden Ausgangspunkt entbunden sind“76. Hier ist der gemeinsame Feind die rationalistische und intellektualisti75 76
Smith, Charles Taylor: Meaning, Morals and Modernity, S. 21. Taylor, To Follow a Rule, S. 59.
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sche Tendenz, vorherrschend sowohl in der Philosophie wie auch in den Sozialwissenschaften. Während die intellektualistische Tradition dieser beiden Wissensbereiche dazu tendiert, das Verständnis einer sozialen Regel z.B. als einen Prozess wahrzunehmen, der sich auf der Ebene der Vorstellungen und des Denkens erschöpft, und von seiner körperbezogenen und kontextuellen Komponente abstrahiert, betonen sowohl Wittgenstein als auch Bourdieu das Element der „Praxis“. Einer Regel gehorchen ist vor allem eine erlernte Praxis und kein Wissen. Die „Praxis“ kann artikulierbar sein, das heißt, sie kann, wenn sie dazu herausgefordert wird, Gründe und Erklärungen dafür explizit machen, „warum sie so ist und nicht anders“, doch meistens bleibt dieser unartikulierte Hintergrund implizit und steuert unmerklich unser praktisches Handeln, wobei er sehr viel mehr als nur den Rahmen unserer bewussten Vorstellungen umschließt. Dieser ähnliche Ausgangspunkt der beiden Autoren ist kein kontingenter, zweitrangiger oder oberflächlicher Aspekt. Er stellt ganz im Gegenteil den Kern selbst des radikal Neuen bei diesen Autoren innerhalb der zeitgenössischen Debatte dar. Das gesamte kritische Bemühen beider richtet sich auf die Kritik philosophischer oder soziologischer Konzeptionen, die in unzulässiger Weise von der radikal situativen und kontextuellen Komponente des menschlichen Handelns abstrahieren. Bei Taylor geschieht dieses Unternehmen in Form eines Versuchs, den nicht thematisierten Kontext, der alles menschliche Handeln in Wirklichkeit führt und lenkt, wenngleich er uns im alltäglichen Handeln nicht bewusst wird, wieder mit Bedeutung zu versehen und zu artikulieren. Sein Kampf gegen das, was er „Naturalismus“ nennt, richtet sich genau gegen die Illusion von unmittelbarem Sinn (oder des Fehlens davon) und impliziert die Notwendigkeit, die nicht artikulierte Praxis zu rekonstruieren, die unser alltägliches Leben steuert, und die verdeckte und undurchsichtige Wertehierarchie zu artikulieren, die unser Verhalten leitet; daher sein Unternehmen, die Quellen unserer Selbstwahrnehmung zu benennen und zu rekonstruieren. Für Bourdieu macht derselbe Umstand eine Dekonstruktion der großen sozialen „illusio“ dringlich, d.h. wie bei Taylor eine Rekonstruktion des unmittelbaren Sinns, der als Produkt unkritischer Konsolidierungen von Situationen der Beherrschung und Unterdrückung gesehen wird. Auch für Bourdieu impliziert dieses Unternehmen einen Bruch mit dem Intellektualismus und dem Mentalismus. Was für andere Soziologen eine „Internalisierung von Werten“ darstellt, die den bewussteren und reflektierteren Aspekt der Werte- und Normenreproduktion der Gesellschaft betont, liegt für Bourdieu der Nachdruck ganz im Gegenteil auf der vorreflexiven, automatischen, emotiven, spontanen, kurz, auf der „im Körper eingeschriebenen“ Konditionierung unseres Handelns, unserer Einstellungen und Vorlieben. Das Konzept des Habitus erlaubt es, wie wir gesehen haben, im Gegensatz zur rationalistischen und intellektualisierenden Tradition, einen ganzen Komplex kultureller und institutioneller Einstellungen
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herauszustellen, die sich in den Körper einschreiben und sich über die Körpersprache eines jeden von uns ausdrücken und so gleichsam kulturelle und institutionelle Wertsetzungen zu Fleisch und Blut werden lassen. Dieser gemeinsame Ausgangspunkt markiert in unverrückbarer Weise, wie beide Autoren die Aufgabe einer kritischen Wissenschaft auffassen: als Zurückweisung des „gegebenen“ Faktums, der unmittelbaren Erfahrung, deren Undurchsichtigkeit uns kognitiv in die Irre leitet und uns moralisch und politisch machtlos werden lässt. Die Herausforderung stellt sich als noch größere dar, insofern nicht nur der Gemeinverstand der alltäglichen Erfahrung lähmend wirkt, sondern auch die große Mehrheit dessen, was sich in unseren Tagen als Wissenschaft ausgibt und seine Kraft und Plausibilität gerade aus seiner Anlehnung an das Alltagsbewusstsein bezieht und sich so der Offenlegung seiner Voraussetzungen enthoben sieht. Trotz dieses gemeinsamen Ausgangspunktes, entwickeln die beiden Autoren zweifelsohne theoretische Perspektiven, die sehr verschiedene Wege nehmen und dabei in Weltsichten gründen, die sich in wesentlichen Aspekten antinomisch verhalten, wie wir im Einzelnen im Folgenden sehen werden. Jedoch sind selbst diese zentralen Divergenzen besonders interessant, insofern sie mir komplementär erscheinen. Der einseitige Nachdruck eines jeden der Autoren auf gewisse Dimensionen, insbesondere der Nachdruck Taylors auf die Rekonstruktion des moralischen Hintergrunds unserer Handlungen und der Nachdruck Bourdieus auf die Dimension des Kampfes um die relative Macht von Personen und Gruppen, scheint mir die jeweiligen Mängel dieser Theorien zu kompensieren und ihrer kombinierten Artikulation eine besondere Kraft zu verleihen. Es sind dies die Gründe, die mich dazu bewegen, gerade bei diesen beiden Autoren eine alternative Konzeption nicht nur der Moderne des Zentrums zu suchen, sondern auch und besonders der Moderne an der Peripherie.
Anerkennung oder Klassenkampf im Zentrum und an der Peripherie Ein guter Teil des enormen Einflusses der Schriften von Charles Taylor in den letzten zehn Jahren hat mit seinem Beitrag zur Debatte über den Multikulturalismus zu tun. Taylor hat eine interessante und polemische Verbindung des Themas des Expressivismus, wie es in Sources of the Self entwickelt ist, nämlich als Möglichkeit zum Ausdruck einer originellen und einzigartigen Individualität, zur sozialen Dimension hergestellt und auf diese Weise eine ganze Menge von sozialen Minderheiten mit spezifischen „Differenzen“ zum herrschenden Maßstab (dem liberalen Maßstab, der sich als universell ausgibt) miteinbegriffen, die auch als solche respektiert werden sollten. Die Anerkennung der Differenz – diese kulturelle Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, denn davor wurden die
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Menschen nicht als potentiell so verschieden untereinander wahrgenommen77 – impliziert, einen Anspruch auf „Authentizität“ einfordern zu können, der zusammen mit dem universalisierenden und homogenisierenden Thema der Würde den „westlichen moralischen Exzeptionalismus“ bilde und jedes moderne Individuum oder jede moderne Gesellschaft durchdringe. Jedes moderne westliche Individuum oder jede moderne westliche Gesellschaft sei konstitutionell in Konflikt aufgrund der potentiellen Rivalität zwischen diesen beiden Konzeptionen, da die untergründige moralische Hierarchie, die unser Verhalten und unsere Orientierung in der Welt steuert es so verlangt. Taylor ist sogar der Ansicht, dass die modernen Demokratien danach beurteilt werden sollten, wie sie die Minderheiten behandeln78. Zu dieser Debatte entstand rasch eine umfangreiche Literatur, und mehrere direkt von Taylor beeinflusste Autoren begannen, die politischen Konflikte der Spätmoderne vom Begriff des Respekts vor der Differenz und dem Anspruch auf Authentizität her zu denken.79 Wenngleich ich vorhabe, das Taylorsche Thema des Expressivismus im Kontext meiner Diskussion in diesem Kapitel später für meine eigenen Zwecke zu verwenden, konzentriert sich mein Interesse an seinem Werk in erster Linie auf die Thematik der „Würde“ und weniger auf die Frage des „Authentizitäts“Anspruchs. Mein Interesse richtet sich darauf, das Potential zu enthüllen, das „soziale Unterscheidungen“ konstituieren und legitimieren hilft, d.h. soziale Unterschiede unter dem maskierenden Schleier der vermeintlichen Gleichheit und Universalität, der dem Begriff der Würde innewohnt, natürlich und legitim werden zu lassen. Nicht nur aufgrund der offensichtlichen Tatsache, dass für jemanden aus der Peripherie das Thema der unangemessenen Institutionalisierung der bürgerlichen Grundrechte sich als grundlegend aufdrängt, sondern auch und besonders, weil die Diskussion Taylors dieses Punktes mir als eine Revolution großen Ausmaßes im Bereich der Sozialwissenschaften erscheint. Was die Reflexion Taylors für die Sozialwissenschaften meines Erachtens interessant macht, ist die Tatsache, dass seine Rekonstruktion der „Ideengeschichte“ kein Selbstzweck ist. Seine Strategie besteht darin, die Genese oder Archäologie der Konzeptionen des Guten zu verstehen und wie diese sich weiterentwickelt und soziale Wirksamkeit erlangt haben. Dieser Punkt ist wesentlich. Taylor ist nicht an einer bloßen Geschichte der Ideen interessiert, sondern daran, wie und warum diese die Herzen und Köpfe der einfachen Leute gelangt sind. Daher ist sein Unternehmen von soziologischer Relevanz. Er ist folglich in 77
Taylor, The ethics of authenticity, S. 28. Taylor, The politics of recognition, S 59. Eine gute Übersicht bietet der Sammelband von Cynthia Willett, Theorizing multiculturalism: a guide to a current debate. 78 79
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erster Linie an der Wirksamkeit der Ideen und nicht an ihrem Inhalt interessiert. Dieser wird erst interessant, sofern er die Gründe für ihre kollektive Akzeptanz erklären hilft. In diesem Sinne ist es grundlegend, die institutionelle Verankerung der Ideen zu erklären, die schließlich die Besonderheit des modernen Okzidents ausmachen sollten, denn aufgrund dieser Verankerung erlangen Weltsichten, die vorher nur in den Köpfen vereinzelter Denker existierten, soziale Wirksamkeit für die große Menge. Es gibt zwei Momente in der Logik der Darlegung von „Sources of the Self“, die wichtige differenzierende Etappen dieser institutionellen Verankerung markieren. Der erste ergibt sich aus der Etablierung der Hierarchie, die die westliche Besonderheit „lato sensu“ markiert, d.h. die Verbindung zwischen den im Westen dominierenden Ideen – die Kontrolle der Leidenschaften und Affekte durch einer nun als verinnerlicht aufgefasste Vernunft –, wobei ihre Wirksamkeit als ein interner Prozess der religiösen Rationalisierung im Westen wahrgenommen wird. Die institutionelle Verankerung erfolgt in dem Maße, wie die ideenmäßig artikulierten moralischen Hierarchien mit besonderen „ideellen Interessen“ aufgrund der spezifisch religiösen „Belohnung“ der Erlösung verbunden werden. Dies erklärt, wie wir gesehen haben, die paradigmatische Stellung des Heiligen Augustins in dem Unternehmen Taylors. Ein zweiter Moment der institutionellen Verankerung dieser moralischen Hierarchie, die die westliche Moderne „strictu sensu“ konstituiert, erfolgt im Kontext einer durch die protestantische Revolution hervorgerufenen Veränderung, die Taylor als „Aufwertung des Alltagslebens“ bezeichnet. Diese Veränderung ist grundlegend, wie sie gleichzeitig die Entwicklungen des vorhergehenden Moment in einer besonderen Weise weiterführt und radikalisiert. Der durch die protestantische Revolution beförderte Wertewandel betrifft nicht nur die Aufwertung der gewöhnlichen und säkularen Arbeit als Basis der sozialen Anerkennung und der individuellen Selbstachtung aufgrund der Neudefinition des Wegs und des höchsten Guts der Erlösung im reformierten Christentum, sondern auch die Generalisierung und Universalisierung einer spezifischen Form des „Menschseins“, die vorher einigen tugendhaften Mönchen vorbehalten war. Die asketische protestantische Revolution macht zu einem Massenphänomen, was vorher lediglich in Klöstern „außerhalb der Welt“ existierte, d.h. eine Konzeption der durch Selbstdisziplin und Selbstkontrolle rationalisierten Persönlichkeit. Im Rahmen der Weberschen Lektüre dieses Prozesses – eines Autors, der in diesem Punkt einen offenkundigen Einfluss auf Taylor ausgeübt hat – impliziert diese Veränderung ebenfalls eine „Verdinglichung des Lebens“80 in allen seinen 80
Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, S. 229.
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Dimensionen. Bei Weber ist der asketische Protestantismus eine Art „schwindende Vermittlung“81 zwischen der religiösen und der säkularen Welt. Die Religion verliert ihre paradigmatische Stellung in der normativen Führung der Gesellschaft als Ganzer gerade indem sie sich als effektive Realität „realisiert“. Das „Paradox der Konsequenzen“82 nimmt hier die Form einer religiösen Botschaft an, die mit einer Disziplin und Konsequenz ohnegleichen in der Menschheitsgeschichte angewandt wird und die schließlich die profane Welt grundlegend verändert, in dem Sinn der Institutionalisierung einer säkularen Weltvorstellung, die keiner religiösen Legitimierung mehr bedarf. Dies ist der Sinn der Metapher vom „stahlharten Gehäuse“ zu Ende der Protestantischen Ethik. Der dünne Mantel, der noch Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit lässt, verwandelt sich für uns moderne Menschen, die wir in diese neuen institutionellen Bedingungen hineingeboren sind, in ein stahlhartes Gehäuse, das allen in unumgänglicher Weise Zwang antut. Dies ist auch der Kern der These vom „Sinnverlust“ und vom „Freiheitsverlust“ als nicht gewählte Vorbedingungen der modernen Welt im Kontext der zweideutigen Diagnose dieser Epoche durch Weber. Der neue institutionelle Zwangs- und Disziplinierungsapparat der modernen Welt, vor allem repräsentiert durch den aus Markt und Staat formierten Komplex, wird aufgefasst als ein Zusammenhang, der ein formales Prinzip der Mittel-Zweck-Abstimmung einschließt, die sich nach der instrumentellen Effizienz bemisst. Auf diese Weise geschieht es, dass sowohl Parsons als auch Habermas ebenfalls die vereinten Wirkungen dieses Komplexes erkennen werden, wenn auch in modifizierter Form auf der Grundlage des Systemkonzepts, und die Ansicht einer normativ neutralen Logik als Fundament seines Funktionierens vertreten werden. Für Taylor dagegen ist dieser Typ von Interpretation gleichbedeutend mit der begriffsmäßigen Verdoppelung der „Naturalisierung“, die die spontane Ideologie des Kapitalismus aufgrund der Wirkung und Funktionsweise ihrer grundlegenden Institutionen erzeugt. Die genealogische Strategie Taylors, eine Strategie, die in diesem Sinne eine Parallele zu den großen „Genealogien“ der Moderne, wie denjenigen von Freud, Nietzsche und Marx darstellt, zielt gerade auf die Rückgewinnung eines symbolischen und wertsetzenden Zugangs ab, der diesen grundlegenden Institutionen, die unser soziales Verhalten in allen seinen Dimensionen determinieren, die Neutralität und Naivität entzieht. Was bei dieser Rekonstruktion an den Tag kommt, ist „die Rückkehr des Unterdrückten“, d.h. des normativen, kontingenten, kulturell geschaffenen und keineswegs neutralen Sinns, der dem funktionellen Kern selbst dieser Institutionen innewohnt. 81 82
Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, S. 204-255. Cohn, Crítica e resignação, S. 144.
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Selbst bei Autoren, die sich der Aufdeckung der normativen und symbolischen Logik verschrieben haben, die der „spontanen Ideologie“ des Kapitalismus immanent ist, angefangen beim größten unter ihnen, Karl Marx, finden wir eine Analyse der strukturellen Morphologie der Dynamik von Produktion und Warenkreislauf im Kapitalismus vor, die die Illusion der Tauschgerechtigkeit des Marktes in sich trägt. Doch es erfolgt keine Rekonstruktion der kontingenten Wertehierarchie, die die Menschen nach „mehr“ oder „weniger“, in Klassifizierte und Deklassierte, in gut Bezahlte und schlecht Bezahlte einteilt und deren Undurchsichtigkeit durch den Schnitt zwischen Produktion und Warenkreislauf lediglich verdoppelt, doch nicht rekonstituiert wird. Auch bei Georg Simmel, dem wir eine scharfsichtige und umfassende Analyse der für die „Geldwirtschaft“ spezifische Form von Vergesellschaftung verdanken, finden wir eine Untersuchung der „Wirkungen“, die die Generalisierung der Logik des Marktes auf alle sozialen Sphären ausübt.83 Simmel analysiert mit der ihm eigenen Brillanz und Scharfsicht, auf welche Art die Universalisierung der Vermittlung des Geldes in gewisser Weise alle unsere Wahrnehmungen, Emotionen und sozialen Beziehungen in dem neuen Kontext, im kantischen Sinne des Begriffs, „schematisiert“. Doch auch bei ihm gibt es keine systematische Behandlung der undurchsichtigen, impliziten und kontigenten wertsetzenden Komponente, die durch den Markt aktualisiert wird. Ich kann mich keines klassischen oder zeitgenössischen Autors entsinnen, der hinsichtlich dieses Desiderats so weit wie Taylor gelangt wäre, und deshalb erscheint mir seine Front gegen den Naturalismus, der sowohl die wissenschaftliche und philosophische Praxis als auch die Alltagspraxis von uns allen überdeckt, im Bereich der Sozialwissenschaften so entscheidend und revolutionär. Wie wir sehen werden, erlaubt er es, die Frage der peripheren Unterentwicklung und der Modernisierung dieser Gesellschaften in anderer Weise zu stellen als in Form des Etappen-Paradigmas und der einfachen Opposition zwischen traditionell und modern, die noch heute in verschiedenen Gewändern und hinter verschiedenen Masken operiert. Letztlich kann der „Tod“ eines theoretischen Paradigmas nicht einfach „dekretiert“ werden, wie im Fall der Theorie der Modernisierung84, die die soziologischen Vorstellungen hinsichtlich dieser Fragen sowohl im Zentrum als auch an der Peripherie weiterhin beherrscht. Die Überwindung eines theoretischen Paradigmas (welches niemals nur theoretisch ist, insofern es die Weltsicht der politischen und intellektuellen Eliten formt und ihren Handlungshorizont umschreibt) geschieht nicht lediglich aufgrund der Unangemessenheit seiner Voraussetzungen, mag sie auch offensichtlich sein. Es lässt 83 84
Simmel, Die philosophie des Geldes, besonders S. 292-338. Knöbl, Spielräume der Modernisierung, S. 156.
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sich nur durch die explizite Konstruktion eins alternativen Paradigmas überwinden, das die zentralen Fragestellungen des alten Paradigmas auf überzeugendere Weise erklärt, indem es die Mängel und Lücken des vorigen Modells bewältigt. Doch ich denke nicht, dass dieser Punkt lediglich für die Analyse von peripheren Gesellschaften wichtig ist. Ich denke, dass die Rekonstruktion der undurchsichtigen Wertelogik, die die „spontane Ideologie“ des Spätkapitalismus steuert, ein grundlegender Schritt für die Analyse der modernen Gesellschaften im Allgemeinen ist – seien sie zentral oder peripher –, insofern sie es erlaubt, nicht nur die Naturalisierung der peripheren Ungleichheit zu dekonstruieren, sondern auch die effiziente „Illusion der Chancengleichheit“, d.h. die Grundlage der Legitimierung der politischen Herrschaft in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften. Dies ist ein Punkt, der, wie wir sehen werden, Bourdieu am Herzen liegt. Jedoch ist Bourdieus Ausgangspunkt, wie ich ebenfalls in der folgenden Diskussion klar machen möchte, einseitig und bedarf einer objektiven und institutionell verankerten Bewertungsgrundlage, deren Rekonstruktion aufgrund des Taylorschen Beitrags meines Erachtens möglich ist. Die implizite und kontingente Logik, die das Wirken von Markt und Staat leitet, wieder mit Bedeutung zu versehen, wie Taylor es tut, ist ein grundlegender Schritt bei diesem Projekt. Auf dieser Grundlage eröffnet sich nach meiner Hinsicht ein ganzer Komplex von Fragestellungen, die in der wissenschaftlichen Wahrnehmung eine Art Randexistenz führten. Die Taylorsche Genealogie erlaubt es, eine implizite Hierarchie, die durch die Undurchsichtigkeit der Wirkungsweise jener Institutionen schon naturalisiert ist, zu „re-kulturalisieren“, zu „re-signifizieren“ und aufgrund dessen zu „re-konstruieren“ und zu „resozialisieren“. Taylor gelingt dies in dem Maße, wie er seine Sicht des Menschen als eines „self-interpreting animal“85 zum Äußersten führt. Der Kern selbst des Taylorschen Projekts beruht auf der Überzeugung, dass die menschliche Wirklichkeit durch Sinnschichten strukturiert und konstituiert wird.86 So gesehen besteht die Herausforderung des kritischen Denkens darin – und in dieser Hinsicht stimmt das Anliegen Taylors völlig mit demjenigen Bourdieus überein, die Sinnschichten, die durch die soziale Praxis „naturalisiert“, d.h. auf ihr undurchsichtiges Gegebensein reduziert wurden, zu re-signifizieren. Die Genese des punktuellen Selbst bei Taylor kann interpretiert werden als die Vorgeschichte der disziplinierenden sozialen Praktiken, deren wichtigste Träger Markt und Staat darstellen und die das Ergebnis kontingenter kultureller Optionen sind und in impliziter und undurchsichtiger, jedoch keineswegs neutraler Form sowohl ein singuläres, als beispielhaft definiertes Modell menschlichen 85 86
Rosa, Identität und kulturelle Praxis: politische Philosophie nach Charles Taylor, S. 84-98. Smith, Charles Taylor: Meaning, Morals and Modernity, S. 18.
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Verhaltens durchsetzen, als auch eine Hierarchie, die über den differentiellen Wert der Menschen entscheidet. Es ist dieses implizite und singuläre Modell, das aufgrund seiner institutionellen Verankerung in wachsendem Maße diejenigen Individuen und Klassen hinsichtlich ihres relativen Ansehens, Gehalts und Beschäftigungsstatus belohnen wird, die ihm am meisten entsprechen, und diejenigen strafen wird, die von ihm abweichen. Für die Generationen, die bereits unter der Ägide der schon institutionalisierten Disziplinierungspraktiken geboren werden, nimmt dieses kontingente Modell die naturalisierte Form einer selbst-verständlichen Wirklichkeit an, die keiner Begründung bedarf. Den funktionalen Imperativen von Staat und Markt zu entsprechen wird zu etwas so Offensichtlichem wie zu atmen oder zu laufen. Wir kennen keine andere Form des Daseins und seit frühester Kindheit sind wir geprägt und ständig remodelliert und perfektioniert worden, um diesen Imperativen zu entsprechen. Es ist diese Wirklichkeit, die die wissenschaftlichen Konzeptionen, welche die kontingente normative Logik dieser „Subsysteme“ ignorieren, ermöglicht und ihnen Glaubwürdigkeit verleiht. Sie nimmt die Form jeder anderen natürlichen Begrenzung der Existenz an, wie z.B. das Gesetz der Schwerkraft, gegen das wir nichts tun können.87 Rekapitulieren wir die Hauptlinien der Taylorschen Rekonstruktion der Wertehierarchie, die die Formierung des punktuellen Selbst implizit lenkt: Kontrolle der Vernunft über Emotionen und irrationale Triebe, progressive Verinnerlichung aller Quellen von Moralität und Bedeutung, bei gleichzeitiger Inthronisierung der Tugenden der Selbstkontrolle, Selbstverantwortlichkeit sowie des freien und kontextentbundenen Willens und eine Auffassung der Freiheit als Selbstgestaltung mit Hinsicht auf heteronome Zwecke. Dieser Komplex von zusammenhängenden und aufeinander bezogenen Tugenden wird im Zuge seiner wachsenden institutionellen Verankerung, zum Alpha und Omega bei der Zuweisung von Ansehen und sozialer Anerkennung einerseits und zur objektiven Voraussetzung für die eigene individuelle Selbstachtung andererseits. In ihrer Gesamtheit bilden diese Vorbedingungen die spezifische „Würde“ des rationalen Handelns, d.h. sie werden zum Fundament der differentiellen Wahrnehmung eines jeden, ob er der Wertschätzung aufgrund dieses intersubjektiv und durch gemeinsame Anschauungen erzeugten sozialen Vorverständnisses für würdig angesehen wird oder nicht. 87 Es verwundert nicht, dass eine kritische Theorie wie die Habermassche, die eine solche Art von Konstruktion innerhalb ihres Horizonts zulässt, die sozialen Konflikte vornehmlich nur an der „Front“ zwischen System und Lebenswelt wahrnimmt, und nicht mehr innerhalb der systemischen Realitäten. Siehe die Kritik von Johannes Berger, Die Versprachlichung des Sakralen und die Entsprachlichung der Ökonomie.
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Diese intersubjektiven Anschauungen sind jedoch „unartikukliert“ im Taylorschen Sinne des Ausdrucks, d.h. sie erscheinen dem Bewusstsein nicht explizit als solche. Wir erfahren sie nur durch ihre „Wirkungen“ auf unser effektives Verhalten, das von der in diesen Weltsichten einbeschlossenen Wertehierarchie gesteuert wird, deren Quellen allerdings für uns unersichtlich und dunkel bleiben. Eine äußerst interessante empirische Bestätigung dieser These liefert die Arbeit von Robert Bellah und seinem Team in Habits of the heart88. Bellah und seine Mitarbeiter gelangen zu dem Schluss, dass die Mittelklasse-Amerikaner „zwei Sprachen“ besitzen, eine explizite und artikulierte des instrumentellen und possessiven Individualismus und eine andere wertsetzende und komplexe, die sich zwischen den Linien und in den Lücken der ersten Sprache zeige, die mit ihren eigenen Mitteln nicht dazu taugt, affektive Bindungen und soziale Solidarität zu artikulieren. Diese explizite Rekonstruktion der institutionellen Verankerung der dem westlichen Rationalismus und Individualismus implizit zugrunde liegenden Wertehierarchie wird von Taylor selbst nicht geleistet. Er spricht vage von „disziplinierenden institutionellen Praktiken“ als Produkt und Produzierende des modernen punktuellen Selbst.89 Ich bin jedoch der Ansicht, dass dieser Schritt grundlegend ist für einen fruchtbareren und umfassenderen Gebrauch seiner Genealogie der Wertehiearchie, auf der der westliche Kapitalismus und Rationalismus gründet. Bis jetzt hat sich der enorme Einfluss Taylors auf die zeitgenössische Debatte auf die Thematik des Multikulturalismus konzentriert. Und dies geschah zum großen Teil aufgrund der Initiative des Autors selbst, daran interessiert, sich in die konjunkturellen politischen Debatten seines eigenen Landes und anderer fortgeschrittener Gesellschaften einzuschalten. So kommt es, dass von den Quellen der Moral, die er in seiner Genealogie des Okzidents als letzte Quellen der sozialen Anerkennung und der individuellen Selbstachtung rekonstruiert, d.h. der „Würde“ des rational Handelnden im Sinne des punktuellen Selbst und der „Authentizität“ des Ausdrucks der Originalität und Besonderheit eines jeden, der letzteren entschiedenermaßen der theoretische und politische Vorrang zuteil wird. Ich sehe zwei Probleme, die mit dieser Bevorzugung verbunden sind. Einerseits ist es äußerst interessant, wie Taylor den Begriff der Authentizität auch als eine öffentliche Dimension dessen gebraucht, was er in den Quellen des Selbst als Expressivismus bezeichnet. Vom Ende des 18. Jahrhunderts ab, beginnen die Leute wahrzunehmen, dass die Unterschiede zwischen den Menschen genügend bedeutsam 88 89
Bellah et al., Habits of the heart: individualism and commitment in American life. Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 175.
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sein können, um eine eigene und originelle Daseinsweise zu legitimieren90, womit eine Quelle sozialer Anerkennung instituiert wird, die unabhängig von der Forderung nach Gleichheit und universalisierbaren Rechten ist. In signifikativer Weise kann die Taylorsche Lektüre die wichtige historische Veränderung in den sozialen Kämpfen der fortgeschrittenen Länder erklären, die sich während des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts effektiv auf die Forderungen nach Gleichheit und Ausweitung der Staatsbürgerschaft im Sinne der Ausweitung und Konsolidierung des Prinzips der „Würde“ konzentriert hatten. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tendieren jedoch die Forderungen zugunsten einer „Politik der Differenz“91 dazu, den Vorrang zu gewinnen, oder besser, Forderungen zugunsten der Respektierung spezifischer Unterschiede zu einem herrschenden kulturellen Maßstab, wofür die feministische Bewegung das beste und politisch erfolgreichste Beispiel darstellt. In den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts, haben die Kämpfe der ethnischen, kulturellen und sexuellen Minderheiten diese offenkundige Tatsache nur noch deutlicher werden lassen. Trotz der Probleme, die mit dem Übergang des Themas der Authentizität von der individuellen und privaten Dimension auf seine politische und öffentliche Dimension verbunden sind92, scheint mir die Bemühung Taylors darum, die Dimension der Authentizität als Vertiefung und Überwindung der universalisierenden und homogenisierenden Dimension der Würde aufzufassen, ein entscheidender Beitrag für das Verständnis dieser neuen politischen Dimension der modernen Gesellschaften zu sein, seien sie zentral oder peripher. Anderseits jedoch scheint mir das Problematische dieser Gewichtung sowohl im theoretischen Aspekt als auch im politischen Aspekt zu liegen. Theoretisch impliziert sie einen sehr flachen Begriff von der auf Würde gründenden Anerkennung, die Taylor letztlich als Restgröße in Bezug auf den inhalts- und facettenreicheren Begriff der authentizitätsbedingten Anerkennung definiert. Politisch gesehen, als Konsequenz des eben erwähnten theoretischen Aspekts, scheint Taylor von der Annahme einer wenigstens tendenziell effektiven Gleichheit in den fortgeschrittenen Staaten des sozialen Wohlstands auszugehen, deren zentraler Konflikt nun durch die Forderungen nach Anerkennung der Differenz gekennzeichnet sei. Dies gilt in solchem Maße, dass Taylor selbst als neues Beurteilungskriterium für das demokratische Potential der liberalen Gesellschaften die Art und Weise geltend macht, wie diese die Minderheiten behandeln. 93 90
Taylor, The politics of recognition, S.30 Taylor, The politics of recognition, S. 38. Banhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, S. 42. 93 Taylor, The politics of recognition, S. 59. 91 92
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Dieselbe Tendenz ist bei Autoren festzustellen, die direkt von Taylor beeinflusst sind, wie z.B. Nancy Fraser. Fraser erstellt auf ingeniöse Weise ein Bild davon, was sie als die neue politische Konstellation des „post-sozialistischen“ Kontexts ansieht, und zwar aufgrund des Dualismus zwischen Forderungen nach Umverteilung – Gleichheit des Zugangs zu Gütern und Dienstleistungen – und Forderungen nach Anerkennung der spezifischen Differenz von sozialen Minderheitsgruppen. Die Abhilfe für Ungerechtigkeiten im ersten Bereich seien in irgendeiner Weise ökonomische Restrukturierungen. Die Abhilfe für Ungerechtigkeiten im zweiten Bereich sei dagegen irgendeine Form kultureller oder symbolischer Veränderung von ungerechtfertigten und ausschließenden Konsensen. Das Problem bei diesem Modell ist demjenigen des oben ermittelten analog. Obwohl Fraser nicht nur anerkennt, sondern auch betont, dass die Forderungen nach Umverteilung ebenfalls einen kulturellen und symbolischen Kern haben, scheint sie nicht zu erkennen, jedenfalls nicht mit aller wünschenswerter Konsequenz, dass lediglich aufgrund der Wirkung von undurchsichtigen und unkenntlichen kulturellen Konsensen die Existenz und Legitimität des ungleichen Zugangs zu Gütern und Dienstleistungen überhaupt möglich ist: The remedy for injustice, consequently, is redistribution not recognition. Overcoming class exploitation requires restructuring the political economy so as to alter the class distribution of social burdens and social benefits...The last thing it needs is recognition of its difference. On the contrary, the only way to remedy the injustice is to put the proletariat out of business as a group.94
Anerkennung ist für sie lediglich Anerkennung der Differenz im Sinn des Prinzips der Authentizität. Sie zieht nicht die Hypothese in Betracht, dass die Ungleichheit zwischen Klassen ebenfalls auf Prinzipien basieren mag, die Anerkennung implizieren, oder besser, im vorliegenden Fall, Nichtanerkennung; das heißt Prinzipien, die Wirksamkeit erlangen aufgrund von unkenntlichen und scheinbar unpersönlichen Regeln, die auf subpolitische und subliminale Weise ganze soziale Klassen zur Nichtanerkennung und niedrigen Selbstachtung verurteilen und aufgrund dessen zur Legitimierung eines differentiellen Zugangs zu knappen Gütern und Dienstleistungen führen. In diesem Sinne scheint mir ihre Annahme, dass auch die Ungleichheit des Zugangs zu Gütern und Dienstleistungen kulturell geprägt ist, einem Lippenbekenntnis zu gleichen, insofern diese kulturellen Maßstäbe nicht expliziert werden und irgendwie als bloßer Zirkelschluss bestehen bleiben. Dieses Explizitmachen wäre aber grundlegend, um den realen Zusammenhang zwischen den impliziten Wertekonsensen zu definieren, 94
Fraser, From redistribution to recognition?, S. 17-18.
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die im einen und im anderen Fall wirksam sind. Welche Beziehung besteht zwischen ihnen? Welches sind die gemeinsamen oder verschiedenen Elemente der jeweiligen Konsense? Durchdringen sie sich gegenseitig? Gibt es vorwiegend Beziehungen der Beherrschung oder der Autonomie im Verhältnis der beiden symbolischen Universen zueinander? Da der Wertekonsens hinter der Ungleichheit ökonomischen Grundes niemals explizit gemacht, wenngleich aber behauptet wird, sind wir nicht im Geringsten in der Lage, irgendeine dieser Fragen zu beantworten, wenn wir dem von Fraser vorgeschlagenen Schema folgen. Zweifellos ist dies nicht der Fall bei Taylor. Anerkennung ist für ihn, als kontingenter und kulturell erzeugter Konsens, eine Kategorie, die sowohl den Begriff der Würde betrifft – der Voraussetzung des sozial erzeugten Respekts, der der „Idee“ der Gleichheit Kraft und Verbindlichkeit verleiht, sowie der Wirksamkeit der juristischen Norm der Gleichheit vor dem Gesetz – als auch den Begriff der Authentizität und der Respektierung der Differenz. Außerdem sind Würde und Authentizität auch komplementäre und nicht nur antagonistische Prinzipien. Gewiss hegt Taylor nicht die Vorstellung – und auch nicht Fraser –, dass die Kämpfe aufgrund der ökonomischen Ungleichheit einfach den Kämpfen um die Respektierung der Differenz gewichen seien. Er ist sich wohl bewusst, dass es sich in beiden Fällen um kontingente Wertekonsense handelt, die aus ebenfalls kontingenten Herrschaftsbeziehungen hervorgegangen sind. Jedoch hat, vielleicht gedrängt durch verständliche Notwendigkeiten der Stellungnahme in konjunkturellen Debatten, lediglich der letzte Aspekt seine konzentrierte Aufmerksamkeit erhalten. Wenn Taylor in diesem Sinne vielleicht der zeitgenössische Theoretiker ist, der am meisten zu sagen hat zur intransparenten und unersichtlichen Wertehierarchie, die unser Alltagsleben in allen seinen Dimensionen steuert, so verbindet er allerdings seine Reflexion in dieser grundlegenden genealogischen Dimension nicht mit einer Theorie des sozialen Handelns im Weberschen Sinne des Ausdrucks, d.h. mit der Beziehung zwischen Klassen und sozialen Gruppen, die um knappe Ressourcen kämpfen, und wo Interpretation unmittelbar Legitimierung des privilegierten Zugangs zu diesen Ressourcen bedeutet. Er verbindet folglich seine Genealogie der Wertehierarchie des Okzidents nicht mit einer Theorie der sozialen Unterscheidung im Bourdieuschen Sinne des Begriffs. Dieser Schritt scheint mir jedoch grundlegend zu sein, um den ganzen Reichtum seines eigenen genealogischen Ansatzes auszuschöpfen, der potentiell auf die Dekonstruktion der „spontanen Ideologie des Spätkapitalismus“ hinausläuft. Ich bin auch der Überzeugung, dass dieses Projekt, das Taylorsche Projekt mit einer Theorie der sozialen Unterscheidung zu verbinden, es notwendig macht, die Dimension der auf Würde gründenden Anerkennung gegenüber dem Thema der auf Authentizität gründenden Anerkennung stärker ins Gewicht zu
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heben, zumindest hinsichtlich der Art, wie er es behandelt. Und dies sage ich nicht, weil ich denke, dass ein Forscher der Peripherie – aufgrund des offenkundigen Abgrunds, der zentrale und periphere Gesellschaften in dieser Hinsicht trennt – dem Aspekt der Gleichheit gegenüber dem thematischen Komplex der Respektierung der Differenz Vorrang geben müsse. Als eine ungleiche, multikulturelle und in allen Dimensionen vorurteilsbehaftete Gesellschaft besitzt eine periphere Gesellschaft wie die brasilianische ebenfalls beide Aspekte als simultane und unerbittliche Herausforderungen. Diese Perspektivierung geschieht in erster Linie aufgrund meiner Überzeugung, dass die Artikulierung, im Taylorschen Sinn des Ausdrucks, des kulturellen und wertsetzenden Konsenses, der die implizit würdebedingte Anerkennung leitet, noch tiefere Verbindungen zum Thema der Respektierung der Differenz aufweist, als dies normalerweise zugegeben wird. Mit anderen Worten, die intransparenten und unterschwellig wirkenden Mechanismen, die hinter der Teilung zwischen den Klassen arbeiten, legitimieren sich aufgrund von Kriterien, die auch die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen zu legitimieren scheinen, oder zwischen Weißen und Schwarzen. Die Rekonstruktion dieser Zusammenhänge ist es, die ich ausgehend vom Thema der institutionellen Verankerung der von Taylor rekonstruierten Wertehierarchie in Angriff nehmen möchte. In zweiter Linie bin ich nicht davon überzeugt, dass trotz des enormen sozialen Fortschritts der Wohlstandsgesellschaften bei der Überwindung der virulentesten sozialen Konflikte die effektiven Gleichheitsniveaus in diesen Gesellschaften die wünschenswerten sind, und ich denke auch, wie Pierre Bourdieu, dass nur das Wirken subtiler und intransparenter Herrschaftsmechanismen auch in diesen Gesellschaften die Perpetuierung ungerechter Ungleichheiten legitimieren kann. Es ist das Wirken derselben Mechanismen, das meiner Ansicht nach auch in den peripheren Gesellschaften abgrundtiefe Niveaus an Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeit zu naturalisieren und damit zu legitimieren erlaubt. Die zentralen und peripheren Gesellschaften als modern anzusehen, bedeutet folglich zu erkennen, dass – im Gegensatz zu den traditionellen und zeitgenössischen Theorien in allen ihren Spielarten, inklusive der so hoch im Kurs stehenden „Soziologie des Hybridismus“ – die grundlegenden Prinzipien der sozialen Organisation in beiden Fällen dieselben sind, wenngleich mit sehr verschiedenen Ergebnissen und Konsequenzen in ökonomischer, sozialer und politischer Hinsicht für jeden einzelnen dieser Gesellschaftstypen.
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Das Gefüge der Naturalisierten Sozialwelt Um mit unserer Diskussion fortzufahren und die philosophische Rekonstruktion Taylors in ihrem ganzen Reichtum für die empirische und soziologische Analyse nutzbar zu machen, ist es notwendig zu zeigen, auf welche Weise die Wertehierarchie, die der Funktions- und Reproduktionslogik grundlegender Institutionen der modernen Welt zugrunde liegt, sich zu sichtbaren sozialen Zeichen fügt und darin zum Ausdruck kommt. Die Erforschung ihrer „Erscheinungsweise“ ist grundlegend, insofern es dieses Faktum ist, dass sowohl die Wirksamkeit einer impliziten und unsichtbaren Struktur als solcher erhellen kann, als auch ihren spezifischen „Verdeckungs“-Effekt, was ihre ideologische Funktion als Mechanismus zur Maskierung und Legitimierung von Ungleichheitsverhältnissen zu erkennen erlaubt. Rekapitulieren wir in groben Zügen den Leitfaden unseres Arguments bis hier. Die Rekonstruktion Taylors ist grundlegend für unsere Zwecke, insofern sie einen symbolischen und kulturellen Zugang zu verdinglichten Strukturen erlaubt, die sich als norm- und wertemäßig neutral präsentieren, indem sie allgemeine und abstrakte Prinzipien der Effizienz verkörpern. Diese Rekonstruktion impliziert auch eine völlig neue Weise, den Einfluss kultureller und symbolischer Faktoren wahrzunehmen. Im Gegensatz zu einer essentialistischen Konzeption von Kultur, die diese als eine ganzheitliche und ununterschiedene Entität auffasst, wie etwa in den Untersuchungen, die ein jahrhundertealtes prämodernes kulturelles Erbe für die peripheren Gesellschaften annehmen, als ob diese den Wirkungen von Institutionen mit einem strukturierenden Gewicht wie Markt und Staat unzugänglich wären, haben wir hier ein Analysemodell, das zu erkennen erlaubt, wie kontingente, kulturelle und wertsetzende Optionen eine einzigartige Wirksamkeit gerade dadurch erlangen, dass sie sich in ihrem Wirken als neutrale, universelle und leistungsgesellschaftliche Prinzipien ausgeben. Damit wird auch jene Form von Soziologie überwunden, die die Existenz von Werten und Institutionen als unabhängige Größen voraussetzt, die in Opposition zueinander stehen. Institutionen werden zu Größen, die von Werten und Wertsetzungen durchdrungen sind und nicht ohne diese gedacht werden können. Die Opposition zwischen Materiellem und Symbolischem sowie zwischen Materialismus und Idealismus löst sich auf und veliert ihren Sinn, wenn wir, wie Taylor es tut, erkennen, dass es sich hierbei lediglich um Unterschiede in den Formen handelt, wie Sinn und Bedeutung Materialität und Wirksamkeit erlangen. Die Ideen stehen nicht antagonistisch den materiellen Strukturen gegenüber, aufgrund der einfachen Tatsache, dass diese materiellen Strukturen von Ideen und Werten durchzogen sind, die ihnen gleichsam „Fleisch und Blut“ verleihen.
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Für das „self interpreting animal“, das wir alle sind, gibt es lediglich unterschiedliche Schichten von Bedeutung, die sich durch den Grad ihrer relativen Artikuliertheit/Unartikuliertheit unterscheiden, doch es gibt keine Oppositon zwischen dem Sinn und dem Nicht-Sinn oder zwischen dem Wertehaltigen und dem wertemäßig Neutralen. Dem Taylorschen Ansatz in seiner Radikalität zu folgen, heißt, die Resignifizierung von kristalisierten und naturalisierten Sinngebungen und Wertsetzungen zu verfolgen und das im sozialen Leben Unterdrückte und Vergessene erneut sichtbar zu machen und damit erneut zu einer kontingenten und prekären kulturellen Schöpfung zu machen, was ein weiteres Mal schon zu Natur und damit unsichtbar geworden war. Allerdings ist diese Aufgabe nicht leicht und auch nicht frei von gewissen Fallen. Erstens gibt es eine enorme Kluft zwischen dem Abstraktionsniveau einer Rekonstruktion der Wertehierarchie hinter dem Selbst und hinter dem westlichen Rationalismus und der effektiven und konkreten Form, durch die diese Hierarchie im Alltagsleben einer bestimmten Gesellschaft Wirksamkeit erlangt. Genau in der Spanne dieser Distanz ist meines Erachtens Raum für die Frage nach der Herrschaft und der Erzeugung sozialer Unterschiede aufgrund von allgemeinen Prinzipien, die jene spezifische Hierarchie untergraben. Zweitens scheint es eine Hierarchie zwischen den Prinzipien selbst zu geben, die dem westlichen Rationalismus Gestalt geben. In meiner Sicht ist die grundlegendste und zentralste Opposition diejenige zwischen Geist und Körper, wobei dem ersten der Vorrang gilt. Dies ist die Konzeption, die Taylor schon bei Plato erkennt, die jedoch ihren spezifischen okzidentalen Sinn erst mit der augustinischen Wende zum Inneren erhält, womit dem modernen westlichen Begriff des Geistes der Weg bereitet wird, als locus eines innerpsychischen Gehalts, der sich gegensätzlich zum Körper verhält wie „a ghost in the machine“. Diese Konzeption kann als der Beginn der westlichen Weltvorstellung und Wertehierarchie im weiteren Sinne angesehen werden, insofern sich der spezifisch christliche Erlösungsweg vom augustinischen Erbe her zu definieren beginnt. Sie scheint auch die allgemeinste und abstrakteste binäre Opposition in dem oben angesprochenen Sinn zu sein. Denn letztlich wird nicht nur die Trennung in Klassen, sondern auch die Opposition zwischen sexuellen, ethnischen und kulturellen Minderheiten und der herrschenden Kultur die Form der Opposition zwischen Geist und Körper annehmen. Zwischen den Klassen wird es das kulturelle Kapital, die intellektuelle und geistige Arbeit der bürgerlichen Fraktionen sein, die in Opposition stehen wird zur muskulären, manuellen und körperlichen Arbeit der Arbeiterklassen, als Legitimationsinstanz für relative Gehalts- und Ansehensunterschiede. Als Grundlage der Ungleichheit der Geschlechter wird gleichfalls der Mann als die kalkulierende und rationale Instanz angesehen, im Gegensatz zur Frau,
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die als Ort des Affektiven, des Emotionalen und der Sinnlichkeit, also letztlich der Körperlichkeit definiert wird, im Zuge einer sexuellen Differenzierung, die dieselben Kategorien der Opposition zwischen den Klassen reproduziert. In derselben Weise gilt der Weiße und Europäer im Kontext des interkulturellen Kampfs als Träger der höheren intellektuellen und moralischen Tugenden, während der Schwarze, wie die Frauen, mit dem Körperlichen und Sinnlichen, d.h mit den zweideutigen Tugenden der Beherrschten identifiziert wird. Der zweite Moment der Taylorschen Genealogie zeigt uns die Konstituierung des Selbst und des westlichen Rationalismus im engeren Sinn. Die protestantische Reformation ist in diesem Kontext das entscheidende Element, wie wir schon im Kapitel zur Rekonstruktion der Taylorschen Theorie gesehen haben. Die Reformation vertieft und radikalisiert die internalisierenden und verinnerlichenden Tendenzen in allen von Taylor analysierten Richtungen. Wie immer ist der Vergleich mit Max Weber in diesem Kontext sehr erhellend. Die oben erwähnte Vertiefung und Radikalisierung hat für Weber einerseits mit der Herausbildung eines Persönlichkeitsmodells und einer kulturell kontingenten Lebensführung zu tun, die die Opposition zwischen Vernunft und Sinnen oder zwischen Geist und Körper zum Kern selbst des Begriffs von Tugend und sozialer Anerkennung macht, welcher dazu bestimmt war in allen Dimensionen der sich konstituierenden neuen Gesellschaft inthronisiert zu werden. Der Okzident in seiner spezifisch modernen Version entsteht für Weber aufgrund der Konstituierung eines höchst unwahrscheinlichen Begriffs von „Lebensführung“, der alle die traditionellen, emotionalen und sentimentalen Aspekte im Namen eines einzigen Leitprinzips zweitrangig werden lässt, dem das menschliche Verhalten in allen seinen Dimensionen untergeordnet werden sollte. Es ist diese „Durchrationalisierung des Lebens“ von einen einzigen Prinzip her – die Veränderung der äußeren Wirklichkeit im Namen von religiösen Prinzipien –, die hinter der Konstituierung aller der institutionellen Schöpfungen steht, die den Okzident singularisieren, darunter vor allem die Konstituierung des kompetitiven Marktes und des zentralisierten rationalen Staates.95 Dieses Prinzip ist kulturell kontingent und höchst unwahrscheinlich, wie Weber selbst zur Genüge in seiner monumentalen vergleichenden Studie zu den großen Weltreligionen feststellt. Wo magische und irrationale Überreste die Schaffung eines auf Rationalität gegründeten Begriffs der Persönlichkeit und folglich einer rational gestalteten Lebensführung erschwert haben – und dies ist der Fall aller Kulturen und großen Weltreligionen, die er in seiner vergleichenden Studie analysiert, mit Ausnahme eben des angelsächsischen Okzidents –, dort hat die lähmende und konservative 95
Weber, Die protestantische Ethik, S. 12.
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Kraft des Traditionalismus jede Form sozialer Veränderungen verhindert, die sich wenigstens im entfernten Sinne mit der enormen Revolution in allen sozialen Sphären des modernen Okzidents vergleichen ließe. Auch Weber also erachtet die Ideen und Weltanschauungen, wie Taylor, als Bedingungen, deren Entstehung der Konstituierung institutioneller Praktiken vorausgeht, denn die institutionellen Praktiken formieren sich auf dieser Grundlage und sind nur vor diesem Hintergrund eines neuen symbolischen und ideellen Kontexts verständlich. Das bedeutet, damit die Lebensführung und Auffassung des eigenen Lebenszwecks, die sich am besten für den Kapitalismus eigenen, „selegiert“ werden konnten, d.h. sich in der Konkurrenz zu anderen durchsetzen konnten, mussten sie natürlich schon konstruiert worden sein, und zwar nicht von vereinzelten Individuen, sondern vielmehr als Weltauffassung von Menschengruppen internalisiert und „getragen“. Es ist dieser Konstituierungsprozess, den es zu erhellen gilt.96 Es war folglich die Radikalisierung der rationalen Kontrolle über die „natürliche“ vegetative und emotionale Ebene des Menschen sowie die Radikalisierung des Prinzips der Innerlichkeit im Sinne der Konstituierung einer internalisierten Instanz der Selbstkontrolle und Selbstdisziplinierung, was die Schaffung eines ganzen institutionellen Komplexes erlaubt hat, der danach aufgrund der Wirkung einer eigenen Funktionslogik autonom werden sollte. Für Weber ist die Konsequenz dieser Diagnose seine Sicht des Staat/Markt-Komplexes als ein Zusammenhang, der das erzeugt, was Taylor „punktuelles Selbst“ nennt. Derselbe Typ von Individuum, der vorher aufgrund von ideellen Impulsen religiösen Grunds erzeugt wurde, wird von nun an gemäß den Notwendigkeiten seiner funktionellen Imperative durch die disziplinierenden Praktiken (Staat und Markt an der Spitze) modelliert. Es braucht keine asketische protestantische Religion oder ebensowenig deren funktionelle Ersatzformen, damit eine moderne Gesellschaft existieren kann. Der Protestantismus war lediglich wichtig für die „spontane“ Entstehung einer neuen Weltsicht in allen Dimensionen. Von dem Moment ab jedoch, da sich die institutionelle Verankerung dieser Weltsicht in disziplinierenden Praktiken konsolidiert, die alle Dimensionen des Lebens aller sozialen Ebenen umfassen wird, wird die anfängliche ideelle Basis überflüssig. Staat und Markt, sagt Weber zu Ende der Protestantischen Ethik, erzeugen den Typ von Individuum, der ihnen angemessen ist: plastisch, formbar, flexibel, diszipliniert, selbstbeherrscht, selbstverantwortlich, zukunftsorientiert und prospektiv berechnend. Dies sind genau die Eigenschaften, die für Taylor 96
Weber, Die protestantische Ethik, S. 18.
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das punktuelle Selbst kennzeichnen. Es ist die Verkörperung eines höchst unwahrscheinlichen und kontingenten Menschentyps, der zum Zweck der Beherrschung und Veränderung der äußeren sozialen und naturgegebenen Welt sich selbst instrumentalisiert. Es ist genau diese tiefgründige Heteronomie, die in den Bedingungen der Autonomie und in der Würde des rational Handelnden eingekapselt liegt, worauf die Taylorsche Kritik des kontextfreien und entbundenen punktuellen Selbst aufbaut. Autonomie erfordert für Taylor eine narrative Rekonstruktion der eigenen Geschichte, was bedeutet, dass man sich gerade den biographischen und sozialen Kontext, dem man angehört, aneignet. Das punktuelle Selbst als Grundlage des Funktionierens des modernen Markts und Staats impliziert für Taylor folglich keinen Schnitt hinsichtlich der heteronom definierten sozialen Rollen. Lediglich das Ideal der Authentizität habe diese Macht.97 Wir werden auf den Punkt des Expessivismus und des Authentizitätsideals später zurückkommen. Der große Vorteil der sozialen Hermeneutik Taylors gegenüber der Weberschen Diagnose zeigt sich diesbezüglich in meiner Sicht darin, dass im Gegensatz zur Weberschen Annahme der Inthronisierung eines objektiven Kontexts des „Sinnlosigkeit“ aufgrund der institutionellen Verankerung dieser Weltsicht Taylor von dem Prinzip ausgeht, dass dieser neue Kontext gerade aufgrund der Naturalisierung seiner Funktionsdynamik lediglich die explizite Artikulierung der Prinzipien verhindert, die ihn in letzter Instanz formieren. Während Weber von der These der Reifizierung und Verdinglichung der Sozialwelt ausgeht, die durch explizite moralische Prinzipien gestaltet worden war – der klassische Fall paradoxer Konsequenzen, wie er für allen Formen von Gesinnungsethik gilt –, was zudem mit sich bringt, dass der Sinnverlust, der aus dieser Sachlage hervorgeht, auch einen Mangel an Freiheit bedingt, und zwar durch die Verengung des Spielraums für alternative Lebensorientierungen im neuen institutionellen Kontext – das klassische Thema des Endes der Protestantischen Ethik –, so skizziert Taylor dagegen eine alternative Theorie, die eine sehr verschiedene Diagnose erlaubt. Wenn der Sinn und die Wertehierarchie, die den neuen grundlegenden institutionellen Praktiken des Okzidents nun innewohnen, lediglich unartikuliert und nicht wahrnehmbar sind, dann ist es immer möglich, sie wieder ins Leben zu rufen und zu entnaturalisieren, wenn es uns nämlich gelingt, ihren ursprünglichen Sinn zu ergründen und ihn zu re-artukulieren.
97
Taylor, The politics of recognition, S. 31.
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Die spontane Ideologie des Spätkapitalismus Meine Absicht ist es, den Reichtum der sozialen Hermeneutik Taylors, die es erlaubt, kristallisierte Sinnstrukturen und Hierarchien explizit zu machen und erneut mit Bedeutung zu versehen, zu Zwecken zu verwenden, die von denjenigen, denen Taylor selbst Vorrang gab, recht verschieden sind. Hier interessiert mich nicht die Dramatisierung des Gegensatzes der Prinzipien Würde vs. Authentizität als paradigmatischer Konflikt der fortgeschrittenen Gesellschaften, so interessant und potentiell ergiebig diese Idee auch sein mag. Hier interessiert mich im Gegenteil, die Distanz zwischen dem Prinzip der Würde und dem Prinzip der Authentizität zu verringern, um auf diese Weise erkennen zu können, wie beide als Index und Fundament der sozialen Unterscheidung sowohl zwischen sozialen Klassen als auch zwischen kulturellen, ethnischen und sexuellen Minderheiten dienen. Mein Interesse zielt folglich auf den Versuch ab, dem Problem der Ungleichheit auf den Grund zu gehen und dabei aufzuzeigen, wie sie durch die spontane Ideologie des Spätkapitalismus legitimiert und unsichtbar gemacht werden kann, sei es im Zentrum oder an der Peripherie. Anders als lediglich die Existenz von kulturellen Konsensen hinter der ungleichen Verteilung von knappen Gütern und Ressourcen anzunehmen, wie Fraser es tut, wie wir gesehen haben, ist es im Gegenteil von Bedeutung, explizit zu machen, um welchen Konsens es sich handelt, welches seine grundlegenden Prinzipien sind und auf welche Weise diese im alltäglichen und konkreten Leben von uns allen Materialität als soziale Zeichen erlangen, die für alle sichtbar sind. Dieser Schritt erfordert den Rückgriff auf andere Autoren außer Taylor. Während es aufgrund der Taylorschen Rekonstruktion möglich ist zu zeigen, wie eine gegebene und kontingente Wertehierarchie die Schaffung eines gemeinsamen Horizonts erlaubt, welcher einen Hintergrund an geteilten Werten und Kommunikationsformen ermöglicht, der auf unkenntliche und undurchsichtige Weise, aufgrund seiner Institutionalisierung in disziplinierenden Praktiken, die subjektive Verbindung aller im Prozess der sozialen Klassifizierung und im Kampf um knappe Ressourcen Einbegriffenen bedingt, so besteht der folgende Schritt darin, diese Hierarchie mit sichtbaren sozialen Zeichen zu verbinden, in denen sie sich im Alltagsleben widerspiegelt und materialisiert. Dies wird von Taylor nicht geleistet, aus Gründen, die oben schon diskutiert wurden. Doch ich denke, dass es möglich ist, die Prinzipien der Würde und der Authentizität zu rekonstruieren als Manifestationen der beiden spezifisch modernen Quellen der Moral, die sich aufgrund der Oppositionen Geist/Körper und außen/innen herausbilden und die in der Hochmoderne eine fortschreitende institutionelle Ver-
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ankerung erreichen, als Fundament selbst der legitim und unsichtbar gewordenen Ungleichheit. Der Autor, der hinsichtlich dieses Desiderats eine Schlüsselstellung einnimmt, da sein Werk in einer Beziehung bemerkenswerter Komplementarität zur Reflexion Taylors steht, ist Pierre Bourdieu. Die Soziologie Pierre Bourdieus erscheint mir als die aktuelle Perspektive, die es erlaubt, zahlreiche Ideen, die Weber, Marx und andere Klassiker für die Analyse traditioneller und frühmoderner Gesellschaften verwendet haben, für das Studium der zeitgenössischen modernen Gesellschaften zusammenzuführen und zu aktualisieren, und die es so nach meiner Kenntnis wie keine andere ermöglicht, eine Analyse der zeitgenössischen Gesellschaften unter dem Gesichtspunkt des sozialen Handelns und des Klassenkampfs im spezifischen ideologischen Kontext dieser Phase der Spätmoderne unter der Ägide des „Welfare State“ durchzuführen. Die Vereinigung der Perspektiven von Taylor und Bourdieu scheint mir unter mehreren Aspekten interessant. Beide Perspektiven erscheinen mir komplementär vor allem in dem Sinn, dass sie Aspekte entwickeln, die ihren jeweiligen wichtigen Mängeln gegenseitig abhelfen. Wenn es Taylor an einer zeitgenössischen Theorie des Klassenkampfs ermangelt, insofern er vom Standpunkt eines nordamerikanischen oder europäischen Intellektuellen zu Ende des 20. Jahrhundert aus spricht, als die zentralen Gesellschaften nach der vermeintlichen internen Befriedung der virulentesten Klassenkämpfe in eine neue Phase der Reartikulierung ihrer politischen Kämpfe eingetreten sind98, finden wir bei Bourdieu eine ausgefeilte Analyse der einzigartig undurchsichtigen und gebrochenen Form, die die ideologische Herrschaft unter Maskierung ihres Klassencharakters in der Spätmoderne annimmt. Diese Perspektive Bourdieus erlaubt es uns meiner Überzeugung nach, über einen Begriff der Anerkennung hinauszugehen, der wenigstens tendenziell die Ideologie der Gleichheit, wie sie in den zentralen Gesellschaften des Westens vorherrscht, als effektive Realität annimmt. Wie ich hoffe zeigen zu können, erscheint mir dieser Ansatz für eine Analyse der peripheren Moderne ebenfalls grundlegend, obgleich mit wichtigen Modifikationen in seinem theoretischen Instrumentarium. Auf der anderen Seite hilft die von Taylor souverän entwickelte Genealogie der impliziten Wertehierarchie, die unseren Alltag steuert, gleichzeitig, eben genau den Schwachpunkt des gesamten Arguments von Bourdieu zu erhellen. Denn wenn dieser Autor sich einzig auf den instrumentellen Aspekt des Kampfes um relative Macht zwischen den um knappe Ressourcen ringenden Klassen konzentriert, erkennt er letztlich nicht, dass derselbe Kampf sich in einem intersub98
Zu einer Kritik der Positionen von Taylor und Fraser, siehe auch Honneth „Recognition or Distribution?“ S. 52/53.
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jektiv erzeugten Kontext abspielt, was ihm zwar seine Kontingenz bewahrt und damit die Notwendigkeit seiner kritischen Optimierung, ihm aber gleichzeitig den arbiträren Charakter einer bloßen Machtbehauptung durch den Stärkeren entzieht. Die Theorie der Anerkennung, wie sie von Taylor entwickelt wird, kann in diesem Sinn den Mechanismus der Erzeugung eines „normativen Minimalkonsenses“ angemessen erfassen, der intersubjektiv geteilt wird und der in Wirklichkeit die relativen Chancen eines legitimen Monopols bei der Verteilung von knappen Ressourcen unter den verschiedenen miteinander ringenden sozialen Klassen einer gegebenen Gesellschaft kontextualisiert und filtert, jedoch als solcher Mechanismus von Bourdieu nur sekundär behandelt und nicht gebührend thematisiert wird. Trotz seiner Einseitigkeit erscheint mir jedoch der Beitrag Bourdieus grundlegend für ein Verständnis der spezifischen ideologischen Form der Spätmoderne, sei sie zentral oder peripher. Während für Marx die „spontane Ideologie“ des Kapitalismus der Warenfetischismus war, der unter der Maske der marktwirtschaftlichen Gleichheit ungleiche Produktionsverhältnisse verdeckte, wird es für Bourdieu die Gesamtheit der Einstellungen sein, die mit einem besonderen, aufgrund des ästhetischen Geschmacks gebildeten Lebensstil verbunden sind, welche den nach sozialen Klassen gegliederten Habitus gestalten und die auf unsichtbare und unterschwellige Weise den ungleichen Zugang zu den knappen materiellen und ideellen Ressourcen und damit die spontane Ideologie des Spätkapitalismus legitimieren. Auf diese Weise kann sich das ökonomische und kulturelle Privileg als ästhetisches verkleiden, indem es denjenigen Geschmack, der von den Notwendigkeiten beherrscht und als vulgär definiert wird, vom Geschmack der „Freiheit“ – d.h. frei von Notwendigkeiten – trennt, welcher als „rein“ und „höher“ definiert wird. Dieser Punkt erklärt zudem auch, warum die Ideologie des natürlichen Geschmacks so wirkungsvoll ist, insofern nämlich, als sie in der Dimension des Alltagslebens fast wie zufällig reale Unterschiede naturalisiert, die zwar einen sozialen Grund haben, aber als naturgegebene Unterschiede erscheinen. Da der auf dem Geschmack basierende soziale Unterschied sich nicht auf die Artefakte der legitimen Kultur beschränkt, sondern alle Dimensionen des menschlichen Lebens umfasst, die eine Wahl implizieren – wie Kleidung, Essen, Freizeitgestaltung, Konsumentscheidungen etc. –, fungiert der Geschmack als der Sinn für Unterscheidung par excellence und veranlasst so die Trennung und Annäherung von Personen und folglich die Bildung von Gruppensolidaritäten oder -teilungen in universeller (letztlich ist alles eine Frage des Geschmacks) und unsichtbarer Weise. Die Intoleranz des Geschmacks zeigt sich mit seiner ganzen Gewalt in der Endogamie und dem Rassismus von Klassen. Die arbeitenden Klassen, die von den Zwängen der Notwendigkeit beherrscht werden und folg-
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lich dem durch die ästhetische Einstellung geprägten Lebensstil fernstehen, haben die einzige Daseinsfunktion, als negativer Hintergrund zu dienen, zu dem alle anderen Klassen versuchen werden Distanz zu halten. Der Habitus ist folglich das zentrale Konzept, das es erlaubt, die Ebenen der Struktur mit der Ebene der Akteure zu vermitteln, und erweist sich somit als Kern der Antwort Bourdieus auf die in der soziologischen Tradition immer wiederkehrende Frage nach der Koordinierung des Handelns. Der Habitus ist eine internalisierte und zu Einstellungen gewordene Notwendigkeit. Verschiedene Lebensbedingungen erzeugen verschiedene Habitusformen und bewirken, dass Akteure einer selben Klasse nach „Bewertungsmaßstäben“ handeln, die in großem Maße austauschbar sind. Die Objektivität des Habitus rührt von seinem Charakter als ein gleichzeitig strukturiertes und strukturierendes Prinzips her, was sowohl seine Rückübersetzung in die Logik der verschiedenen Bereiche ermöglicht als auch die objektive Harmonisierung zwischen den verschiedenen Praktiken der Akteure ohne bewusste Überlegung. Dies ist es, was bewirkt, dass das unmittelbare Erkennen der Akteure in einem „Verkennen“ besteht, insofern als die Gesamtheit der Beziehungen zwischen den verschiedenen, vom Habitus vergegenwärtigten Kapitalien sich auf dieser bewussten Ebene nicht als solche zu erkennen gibt. Alle Akteure einer Klasse oder einer Klassenfraktion handeln nach „Schemata“, die austauschbar sind. Diese Objektivität auf der Ebene der sozialen Beziehungen ist homolog zur Systemhaftigkeit auf der Ebene des Akteurs und seiner Beziehung zu den Eigenschaften, die ihn umhüllen: Es gibt ein Verhältnis der Komplementarität und Affinität zwischen seinen geschmacklichen Neigungen und Entscheidungen auf allen Ebenen, weil sie Resultate der synthetischen Einheit seines Habitus sind. Der Geschmack ist das generative Prinzip des Lebensstils, d.h. der Gesamtheit der Gegenstände, Praktiken und Vorlieben, die unsere Ausdrucksintention externalisieren. Der Geschmack ist in diesem Sinne die Quelle der „natürlichen“ Abstimmung aller mit einer Person verbundenen Eigenschaften, sei es in Bezug auf Dinge oder Personen. Der Geschmack verwandelt auf diese Weise Dinge und Vorlieben zu Zeichen: Der Geschmack ist das, was Menschen vereint und trennt.99 Das große Verdienst der kritischen Soziologie Bourdieus scheint mir im Wesentlichen in der systematischen Dekonstruktion der Gleichheitsideologie zu bestehen, die dem sozialen und politischen Konsens der entwickelten Gesellschaften des Westens als Grundlage dient. Für diese Gesellschaften, die auf impliziter Ebene ständig hierarchisieren, aber auf expliziter Ebene „Hierarchien 99
Bourdieu, Distinction, S. 174/175.
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verabscheuen“ und in der Gleichheit ihren höchsten Wert haben100, kommt diese Dekonstruktion einer „fundamentalen narzisstischen Kränkung“ gleich. Dies, weil die Ideologie der „legitimen Hierarchie“, d.h. jener, die auf unterschiedlicher Leistung und Verdienst beruht und folglich auf „angeborene Eigenschaften der Individuen“ zurückgeht, sich als etwas erweist, das durch familiäre Herkunft und familiäres Erbe vorgebildet und vorgezeichnet ist, wie in jeder vormodernen Gesellschaft auch. Indessen sind die Gesellschaften, seien es die fortgeschrittenen des Westens oder die peripheren, nicht gleichwertig. Es gibt Dimensionen der Ungleichheit und der sozialen (Nicht-)Anerkennung, die variieren, und diese Variation hat zentrale Bedeutung für die Ziele einer kritisch vergleichenden Soziologie der peripheren Verhältnisse. Damit wir hinsichtlich dieses Desiderats, dass sicher nicht dasjenige Bourdieus war, weiter voranschreiten können, erweist sich zunächst eine interne Kritik einiger seiner Grundannahmen als notwendig. Kritisierbar scheint mir vor allem die radikale Kontextualisierung in seiner Argumentation, die einen genetischen Ansatz bei der Untersuchung der soziale Unterschiede bewirkenden Prinzipien nicht zulässt. Ein solcher genetischer Ansatz ist jedoch grundlegend wegen der prozesshaften Dimension, die er begründet, und davon ausgehend für die vergleichende Betrachtung hinsichtlich alternativer Variationen. Ein Aspekt, den Bourdieu kaum entwickelt und nur an einigen Stellen rasch erwähnt, ist die wesentliche Frage nach den Kriterien, die den verfeinerten Geschmack definieren und darüber hinaus die Gesamtmenge der Voraussetzungen für die relative Zuerkennung von Ansehen in einer Gesellschaft. Da Bourdieu dem ästhetischen Urteil, und darüber hinaus dem moralischen Urteil, das immer in engster Verbindung mit dem ersten gesehen wird, jede Autonomie abspricht, bleibt lediglich der instrumentale Aspekt des Kampfes, der „in die große Illusion des sozialen Lebens“ eingebunden ist, die durch den Glauben der Subjekte an die Gültigkeit der Regeln, denen sie unterliegen, erzeugt wird.101 Die Quelle des Unterscheidungsprozesses wird indessen von Bourdieu in sehr ähnlicher Weise aufgefasst, wie Taylor die Wertehierarchie wahrnimmt, nämlich auch als grundsätzlich verdeckt und nicht reflektiert, doch unsere alltägliche Lebensführung steuernd sowie unsere relative Bewertung der anderen. Für beide Autoren existiert ein Prozess der Sublimierung der Sinne, die gekennzeichnet ist von der Distanz zu unserer animalischen Natur und zu unseren primären Bedürfnissen, was den Maßstab für jeden Begriff moralischer Überlegenheit oder ästhetischer Schönheit darstellt. Diese Hierarchie ist für Taylor die 100 101
Siehe Dumont, Homo Hierarchicus, S. 315. Bourdieu, Distinction, S. 250.
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Grundlage des moralischen Systems im Westen, in derselben Weise wie für Bourdieu der Habitus, der sich in Opposition zur arbeitenden Klasse bildet, ebenfalls ein Habitus der Ordnung und der Selbstkontrolle der Instinkte ist, indem er die Distanz zum „Barbarischen“ durch die (bürgerliche) frei gewählte Askese der selbstauferlegten Regel markiert. Diese schöne Idee des Habitus, der wie ein Netz unsichtbarer Fäden wirkt, das Menschen durch Solidarität und Identifikation verbindet und das sie durch Vorurteile trennt, was der Vorstellung von einer als unbewusst und chiffriert wahrgenommenen Koordinierung der sozialen Handlungen gleichkommt, blockiert jedoch das reiche Potential einer Idee, die für Taylor fundamental ist: das Konzept der „Artikulation“, das es erlaubt, an einen „Transfer“ zwischen dem Reflektierten und dem Nicht-Reflektierten zu denken. Denn wenn schließlich etwas existiert, das artikuliert werden kann, so deshalb, weil es etwas gibt, was über den reinen, unreflektierten Habitus hinausreicht. Deshalb bewirkt das Fehlen dieser Dimension in der Reflexion von Bourdieu, dass die Gegenposition zur „großen Illusion“ des sozialen Spiels nur in reaktiver Weise möglich ist, ohne die Infragestellung der Spielregeln als solcher. Diese reaktive Position rührt von der Konzeption Bourdieus her, die gegen den Subjektivismus gerichtet ist, der den sozialen Raum auf einen Raum konjunktureller Interaktionen reduziert, und nach der jede klassenspezifische Ästhetik und Moral (die beiden Begriffe erscheinen immer notwendigerweise zusammen) objektiv einem Doppel und Gegenteil gegenübersteht, jedoch niemals im Rahmen einer miteinander geteilten Ebene gemeinsamer Regeln.102 Es ist dieser Bereich, wo sich die Widersprüche in der Analyse von Bourdieu am leichtesten zeigen. Das Denkschema der instrumentellen Logik, das alle sozialen Determinierungen auf die Kategorie der Macht reduziert, offenbart hier seine ganze Fragilität. Am Ende wird es unverständlich, warum einige soziale Strategien und einige „Bluffs“ funktionieren und andere nicht. Um einen Ausweg aus der absoluten Willkür auf dieser Ebene der Analyse zu finden, wird es notwendig, für „irgend etwas“ jenseits der bloßen „illusio“ des gesellschaftlichen Spiels zu plädieren. Wie Axel Honneth bemerkt, hat die Konkurrenz der verschiedenen sozialen Gruppen unter sich nur einen Sinn, wenn wir die Existenz von widerstreitenden Interpretationen zu einem gemeinsamen Feld von Regeln voraussetzen, die eine klassenübergreifende Anerkennung erlangt haben. 103 Das Fehlen dieser Dimension ist dafür verantwortlich, dass die Gründe unklar bleiben, aus denen eine gegebene führende Klasse genau diese und jene Ziele vermeintlich „gewählt“ haben soll und nicht irgendwelche anderen. In 102 103
Bourdieu, Distinction, S. 244. Honneth, Die zerrissene Welt des Sozialen, S. 178/179.
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gleicher Weise erklärt sich auch nicht, warum Wechsel im „Kommando“ des gesellschaftlichen Prozesses geschehen, wie z.B. der Austausch der vormodernen Aristokratie durch das Bürgertum am Anbruch der Moderne. Die konkrete Untersuchung, wie diese beiden theoretischen Ausgangspunkte in ihrer Kombination dazu dienen können, eine alternative Konzeption der peripheren Moderne zu entwickeln, wird der Gegenstand des dritten Teils dieses Buchs sein, und zwar nach der historischen Rekonstruktion des exogenen Modernisierungsprozesses in Brasilien, die ich als empirische Illustration meiner theoretischen These verwenden will.
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Teil II – Die Konstituierung der peripheren Moderne Teil II – Die Konstituierung der peripheren Moderne
Kapitel I – Die Singularität der neuen Peripherie Die Diskussion im ersten Teil dieses Buchs hat sich darauf konzentriert, die spezifische Genealogie und Dynamik der „spontanen Ideologie des Kapitalismus“ aufgrund der Reproduktionslogik seiner grundlegenden Institutionen zu rekonstruieren: des kompetitiven Marktes und des zentralisierten rationalen Staates. Wie wir gesehen haben, ist diese Logik grundlegend für die Wahrnehmung der typischen sozialen Konflikte sowohl der zentralen als auch der peripheren Moderne, wenngleich mit sehr verschiedenen Konsequenzen im einen und im anderen Fall. Doch die Aufdeckung der Logik der intransparenten sozialen Herrschaft, die der Reproduktion von Markt und Staat zugrunde liegt, bewältigt nicht alle Herausforderungen hinsichtlich der Rekonstruktion der Mechanismen, die Ungleichheitsverhältnisse im Zentrum und an der Peripherie naturalisieren. Wenn lediglich Staat und Markt ohne jegliche Hemmnisse als strukturierende Institutionen der sozialen Dynamik agieren würden, wären die Unterschiede zwischen den Gesellschaften, sowohl zwischen den zentralen Gesellschaften untereinander als auch zwischen ihnen und den peripheren minimal. Wie wissen jedoch, dass die modernen Gesellschaften trotz einer Reihe gemeinsamer Merkmale, die die enorme soziale Wirksamkeit grundlegender Institutionen wie Markt und Staat mit ihrem umfassenden Einfluss auf die Konstituierung und Regulierung des sozialen Lebens in allen seinen Dimensionen effektiv widerspiegeln, auch untereinander in einem nicht unbeträchtlichen Maß verschieden sind. Wie lässt sich das erklären? Ich denke, dass ein guter Weg zur Erklärung durch den Begriff des „sozialen Imaginären“ gewiesen wird, wie ihn Charles Taylor in einem seiner Texte jüngeren Datums zur Thematik des Selbstverständnisses der Moderne in ihren verschiedenen Variationen behandelt wird. Dies ist ein Thema, dass in den letzten Jahren in den Sozialwissenschaften heiß debattiert wird.104 Auch dieser Aspekt kann im verengenden Rahmen der 104
Eine gute Übersicht bietet der Sammelband von Bronfen et al., Hybride Kulturen: Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Meines Erachtens ist diese ganze Debatte durch den Versuch gekennzeichnet, die Aporien der traditionellen Modernisierungstheorie zu überwinden.
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essentialistischen Kulturtheorien interpretiert werden, die wir in der Einleitung zu diesem Buch gesehen haben, und wird im Allgemeinen so interpretiert. Da die Perspektive Taylors die essentialistische Opposition zwischen „Materie“ und „Werten“ vermeidet, indem sie diese Opposition lediglich als gradmäßige Unterschiede von Sinn und Wert auffasst, je nach dem Grad der Konsolidierung und Intransparenz, eröffnet sie neue Möglichkeiten für eine vergleichende Analyse. Der Bezug auf Staat und Markt ist kein zentraler Punkt in der Reflexion Taylors, doch denke ich, dass wir versuchen können, seine Auffassung vom sozialen Imaginären mit Hinsicht auf unsere vorangegangene Reflexion über die zentrale Stellung dieser institutionellen Praktiken im Kontext der Legitimation einer intransparenten und unkenntlichen sozialen Herrschaft zu definieren. Für Taylor ist das soziale Imaginäre eine Art Konkretisierung der Idee von den Quellen der Moral, wie er sie in den Sources of the self herausgearbeitet hat. In beiden Fällen ist die zentrale Hypothese des Autors die, dass wir im Kern der westlichen Moderne das – mehr oder weniger intransparente und unkenntliche – Wirken einer spezifischen Konzeption von moralischer Ordnung finden. Diese Konzeption mag am Anfang nur in den Köpfen einiger Denker oder religiöser Führer existiert haben, doch aufgrund von deren Einfluss ist es in das soziale Imaginäre bestimmter sozialer Schichten und sogar ganzer Gesellschaften eingegangen. Eine moralische Ordnung bestimmt die Pflichten und Rechte, die unsere Beziehungen zu den anderen gestalten und regeln. Politische Pflichten z.B. sind in diesem Sinn eine Anwendung oder Ausdehnung dieser allgemeineren und grundsätzlicheren moralischen Bindungen.105 Im Gegensatz zu Theorien bedeutet das soziale Imaginäre das, was die Menschen gemeinhin als ihre soziale Umgebung wahrnehmen, eine Wahrnehmung, die fast nie die explizite Form von Theorien annimmt, aber die sich dagegen in Form von Bildern, Geschichten, Legenden, Sprichwörtern etc. manifestiert. Es ist dieses soziale Imaginäre, das ein unmittelbares „Vor-Verständnis“ der gewöhnlichen alltäglichen Praktiken erlaubt und damit einen gemeinsamen Sinn für die Legitimität der sozialen Ordnung. Daher ist das soziale Imaginäre sowohl faktisch als auch normativ. Auch aus demselben Grund ist das soziale Imaginäre nicht situativ oder an spezifische Kontexte gebunden, da jede besondere Situation durch ein abstrakteres und allgemeineres Vorverständnis konfiguriert und konditioniert ist, das unartikuliert bleibt und bewirkt, dass diese besondere Situation genau in dieser Form erscheint und nicht in irgendeiner anderen. Gerade aufgrund seiner Unartikuliertheit ist der Ausdruck des Imaginären angemessen. Wie man sich verhalten, sprechen, Beziehungen mit Hinsicht auf ver105
Taylor, Modern social imaginaries, S. 3.
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schiedene soziale Hierarchien herstellen soll etc., alles dies verweist auf eine „soziale Geländekarte“, die implizit unser Verhalten leitet. Die zentrale Frage bei dieser Thematik ist diejenige, wie sich soziale Veränderungen und Revolutionen ergeben können, die sowohl die Transformation eines sozialen Imaginären in ein anderes ermöglichen als auch, im Rahmen dieser Veränderung, die Wahrnehmung der Ursache für die spezifische Differenz zwischen den verschiedenen sozialen Imaginären. Was Taylor den „langen Marsch“ nennt, ist genau der Prozess der langsamen Reifung und Konsolidierung, von Kriegen und Konflikten aller Art durchwirkt, einer neuen moralischen Ordnung im Okzident. Wir haben hier die ganze Reichweite des – seit Max Weber klassischen – Themas der Theorie oder Weltsicht, der es gelingt, die sozialen Praktiken zu durchdringen, indem diese durch signifikative soziale „Träger“ internalisiert und vertreten werden. Auch hier ist, es sei noch einmal wiederholt, das mangelhafte Konzept des „Idealismus“ nicht am Platz. Die Opposition an sich hat keinen Sinn, nämlich deshalb, weil die menschlichen sozialen Praktiken die Eigenschaft, „Sinn“ zu haben, besitzen, gewissen Praktiken sind immer gewissen Ideen immanent – auch den institutionellen oder „materiellen“ –, seien sie artikuliert oder nicht. Es lässt sich in dieser Hinsicht keinem der Faktoren irgendeine Form ursprünglicher Kausalität zuweisen.106 Andererseits ist die Erkenntnis grundlegend, dass der Prozess nicht einseitig ist. Die „Theorie“ oder Weltsicht muss „schematisiert“ sein, im kantischen Sinn des Ausdrucks, d.h. sie muss sich den spezifischen Bedingungen von Zeit und Raum anpassen. Daher wird jede spezifische Gesellschaft ihre eigene und besondere Form der „Schematisierung“ besitzen, d.h. ihre eigene und besondere Form der Vermittlung mit dem vorherigen sozialen Imaginären. Dieser Punkt ist zentral für mein gesamtes Argument in diesem zweiten Teil des Buchs. Das Thema der „Schematisierung“ nämlich ist es, das den essentialistischen Kulturtheorien in ihren unterschiedlichen und unendlichen Variationen der traditionellen Modernisierungstheorien Recht zu geben scheint, inklusive in ihren „hybridistischen“ Variationen, die heutzutage in Mode sind. Diese Theorien gehen davon aus, dass es zwar einen Modernisierungsschub in den peripheren Gesellschaften gegeben hat, doch die Kräfte der vorherigen „vor-modernen“ Verhältnisse hätten in gewisser Weise das Neue „schematisiert“ und dabei entweder die Dominanz der vormodernen Verhältnisse über die modernen bewirkt, wie dies in der großen Mehrheit der Fälle angenommen wird, oder auch einen unentschiedenen und schwankenden Dualismus zwischen dem einen und dem anderen Prinzip sozialer Strukturierung geschaffen, wobei diese Annahme eine 106
Taylor, Modern social imaginaries, S. 21.
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Verwirrung und Unbestimmtheit in der Analyse erzeugt, die aber oft dadurch, dass sie den unartikulierten Vorurteilsstrukturen des Alltagsbewusstseins entspricht, gerade den Hauptteil ihrer Überzeugungskraft gewinnt. Interessant dabei ist die Beobachtung, dass in den peripheren Gesellschaften neuen Typs wie der brasilianischen, d.h. in jenen sozialen Formationen, die sich im Gegensatz zu den großen Zivilisationen oder den großen Weltreligionen des Orients wie der hinduistischen oder der chinesischen, die Max Weber in seiner Religionssoziologie untersuchte, als komplexe Gesellschaften erst im Zuge der Einwirkungen des Expansionsprozesses des westlichen Rationalismus konstituiert haben, das Thema der „Schematisierung“ eine ganz eigene Bedeutung singulärer Art erhält. Da sie nicht zu den Gesellschaften gehörten, die wie die USA, England, Frankreich oder Deutschland den Kern des westlichen Rationalismus in seinen vielfältigen Facetten bildeten, sondern im Gegenteil die Einwirkungen dieser Gesellschaften und ihrer Vertreter „von außen“ empfangen haben, sind die Länder dieser „neuen Peripherie“ in Wirklichkeit im Sturm ergriffen worden – in einem historischen Prozess, den wir im Folgenden detaillierter betrachten werden –, und zwar durch eine materielle und symbolische Kultur, deren Dynamismus und Härte nicht viel Spielraum für Kompromisse oder Reaktionen ließen. Zu dieser Tatsache kommt noch ein weiteres grundlegendes Faktum hinzu: die Differenz zwischen der „neuen Peripherie“, die sich als eine Gruppe komplexer Gesellschaften im Zuge der westlichen Expansion herausbildet, und einer „alten Peripherie“ (unter „neutralem“ Gesichtspunkt – insofern dies möglich ist – hinsichtlich ihres Wertes gegenüber dem modernen Okzident), die das Ergebnis tausendjähriger Kulturen ist, die sich in großem Maße parallel zum Okzident entwickelt hatten. Diese letztgenannten Gesellschaften basieren, mit ihrer ethischen Religiosität im Sinne Max Webers – oder axialen Kultur im Sinne Shmuel Eisenstadts107 – auf einer dualen Weltauffassung, d.h. auf der Existenz einer moralischen und symbolischen Sphäre religiösen Fundaments, die gegenüber den profanen Sphären Autonomie besitzt und der es gelingt, sich so zu institutionalisieren, dass sie alle Sphären des Lebens durchdringt, die dadurch legitimiert werden und Stabilität und Dauerhaftigkeit erhalten. In diesem Sinne ist Weber beeindruckt davon, dass es dort über Jahrtausende zu keinerlei ausdrücklicher Form sozialer Veränderung gekommen ist.108 Hier interessiert mich nicht direkt das Webersche Thema des Vergleichs zwischen der westlichen und östlichen Religiosität, um – aufgrund der Prädominanz der ethischen Religiosität über den magischen Ritualismus – das revolutionäre und transformierende Potential der ersten gegenüber der konservativen Tendenz der 107 108
Eisenstadt, The axial age breakthroughs:their characteristics and origins, S. 1-25. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen: Hinduismus und Buddhismus, S. 2.
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letzten herauszustellen.109 Hier interessiert mich nur hervorzuheben, dass sowohl in den Kerngesellschaften des Okzidents als auch in den großen Zivilisationen oder Kulturen des Orients eine religiös fundierte Weltauffassung mit einem beträchtlichen Grad an Artikuliertheit und Abstraktion den traditionellen Lebenszusammenhang in diesen Gruppen von Gesellschaften in allen ihren institutionellen Praktiken und Dimensionen der Gesellschaftlichkeit reguliert und legitimiert hat. Dies war es, was bewirkte, dass die englische Herrschaft in Indien sich bei der Konsolidierung des Kapitalismus mit Schwierigkeiten konfrontiert sah, die fast unüberwindbar erschienen, Schwierigkeiten, die nach Ansicht von Weber in einer nicht axialen Gesellschaft wie der japanischen – sowie der brasilianischen – sehr viel geringer waren.110 Eben dieser renitente Einfluss der Vergangenheit hat auch Eisenstadt die untergründigen Kontinuitäten zwischen der Praxis des zeitgenössischen chinesischen Kommunismus und dem jahrhundertealten konfuzianischen Erbe erkennen lassen.111 In Gesellschaften, die wir als zugehörig zur neuen Peripherie bezeichnen, wie der brasilianischen, war diese institutionell und symbolisch artikulierte Weltsicht nicht existent. Die Religion ist im kolonialen Brasilien nie dahingelangt, eine autonome moralische Sphäre auszubilden, wie wir detaillierter in der folgenden Darstellung sehen werden. Die ethische Religiosität, deren Träger die jesuitischen Missionare waren, hatte örtlich begrenzte und vorübergehende Wirksamkeit in den Enklaven zur Bekehrung der Heiden. Darüber hinaus war die Kapelle bloß eine Verlängerung der Macht des Herrn über Land und Sklaven und verkümmerte zu einer magischen Religiosität des familiären Kultes der Vorfahren.112 Die Legitimierung der hierarchischen und ungleichen Verhältnisse geschah im schlimmsten Fall um den Preis offener physischer Gewalt oder aber, in den anderen Fällen, durch die psychische und verdeckte Gewalt bei impliziter Einwilligung in Beziehungen persönlicher Abhängigkeit, wie wir ebenfalls im Folgenden eingehender diskutieren werden. Das soziologische „Märchen“, das die Existenz einer katholischen Religiosität annimmt, die im kolonialen Brasilien im Verein mit einem organisierten politischen Patrimonialismus gewirkt habe, ist nicht nur historisch widersinnig. 109
Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen: Konfuzianismus und Taoismus, S.193-207. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen: Hinduismus und Buddhismus, S. 250-251. 111 Eisenstadt, Tradition, Wandel und Modernität, S. 279-286. 112 Dieses Fehlen einer Autonomie der religiösen Sphäre, mit ihrer Unterordnung unter die politische Sphäre, neben der endemischen Korruption des Patronats und der Dominanz einer magischen und familiären Religiosität bildet die Basis der Argumentation von Ângela Paiva zur Erklärung des Fehlens moralischer und religiöser Kraft der anti-abolitionistischen Kampagne in Brasilien, verglichen mit den USA. Siehe Paiva, Católico, protestante, cidadão: uma comparação entre Brasil e Estados Unidos, S. 61-70. 110
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Es bildet auch die Grundlage für die Annahme eines ewigen personalistischen und familistischen Atavismus, der in seinen unendlichen Variationen – z. Z. ist seine „hybridistische“ Variation in Mode113 – entweder im peripheren Horizont oder in der internationalen Reflexion über die Peripherie vorherrscht und der als ewige Kontinuität persönlicher und familistischer Beziehungen selbst in komplexen peripheren Gesellschaften wie der brasilianischen vorausgesetzt wird. In Wirklichkeit war die materielle und symbolische Kultur, die im kolonialen Brasilien existierte, dürftig und wenig artikuliert, und dies scheint mir der tiefere Grund dafür zu sein, dass Gilberto Freyre, der beste brasilianische Kenner des 19. Jahrhunderts – des Jahrhunderts der Europäisierung –, zu der Feststellung gelangte, dass in den Städten, die dem europäischen Einfluss am stärksten unterlagen, nach den ersten 30 Jahren der Europäisierung die gesamte Wertehierarchie in allen sozialen Dimensionen von Grund auf verändert war. Wie wir sehen werden, wurde schon 1840 alles, was mit der Kolonialzeit und mit dem portugiesischen Einfluss verbunden war, als geschmacklos angesehen und alles was englisch oder französisch, d.h. was schon bürgerlich-europäisch war, als geschmackvoll und erstrebenswert. Dies bedeutet zweifellos nicht, dass es keine „Schematisierung“ des dominierenden europäischen Einflusses im Taylorschen Sinne gegeben hätte. Doch die praktischen und theoretischen Konsequenzen derselben unterscheiden sich tiefgreifend vom „soziologischen Märchen“ des ewig fortdauernden Einflusses der Vormoderne. Ich bin der Ansicht, dass dieser Typ von Schematisierung, wie er spezifisch für die Gesellschaften der „neuen Peripherie“ wie der brasilianischen ist, besser verständlich wird, wenn wir sie weniger als eine „positive“ Gegebenheit im Sinne eines allgegenwärtigen vormodernen Erbes der traditionellen Modernisierungstheorien und des zeitgenössischen Hybridismus betrachten, sondern eher als eine „negative“ Gegebenheit, d.h. als ein Fehlen gewisser Vorbedingungen, die im Zentrum der Moderne gegeben waren. Autoren wie Max Weber und Charles Taylor betonen den Umstand, dass in den Gesellschaften der zentralen Moderne die Ideen den institutionellen und sozialen Praktiken vorangehen. Ich denke, dass diese Auffassung wahr ist und dass der Glaube daran diese beiden Autoren dazu bewogen hat, in einer genealogischen Hermeneutik der Sinnstrukturen, die durch die disziplinierenden institutionellen Praktiken schon intransparent geworden sind, die kognitiven und moralischen Quellen zu suchen, die dem westlichen Rationalismus zugrunde liegen.
113
„Hybridistischen“ Autoren wie Canclini und DaMatta haben noch entscheidenden Einfluss, selbst bei jüngeren und talentierten lateinamerikanischen Autoren wie Avritzer. Siehe Avritzer, Democracy and the public sphere in latin america, S. 73.
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Eine wichtige Besonderheit der peripheren Moderne – der „neuen Peripherie“ – scheint mir gerade die Tatsache zu sein, dass in diesen Gesellschaften nämlich die modernen „Praktiken“ den modernen „Ideen“ vorangehen. So kommt es, dass zu der Zeit, als Markt und Staat von außen her im Zuge der Europäisierung während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts importiert werden, der Wertekonsens, der denselben Prozess in Europa und Nordamerika begleitet, dort nicht existiert. Es existiert z.B. nicht der Konsens hinsichtlich der Notwendigkeit einer sozialen Homogenisierung und generalisierenden Ausweitung eines Persönlichkeitstyps und eines bürgerlichen Gefühlshaushalts auf alle sozialen Schichten, wie dies in allen wichtigeren Gesellschaften Europas und Nordamerikas der Fall war. In allen Ländern, in denen die Homogenisierung eines transklassischen Menschentyps gelang, war dies ein bewusst und mit Entschiedenheit verfolgtes Anliegen und wurde nicht einer vermeintlich automatischen Wirkung des wirtschaftlichen Fortschritts überlassen. Den „great Awakenings“ des 18. und 19. Jahrhunderts in den USA gelang es, denselben moralischen und intensiv religiösen Keim der 13 ursprünglichen Kolonien über die Grenze zu bringen und in der Sklavenwirtschaft des Südens zur Durchsetzung zu verhelfen114. Die englischen „poor Laws“ können auch verstanden werden als eine autoritäre Form, die an die industrielle Revolution Unangepassten zur Annahme der erforderlichen psychosozialen Strukturen der sich neu bildenden Gesellschaft zu zwingen115. Auch in Frankreich geschieht Ähnliches, wie das klassische Buch Eugen Webers exemplarisch zeigt, dessen Titel „Peaseants into Frenchmen“ schon den Prozess sozialer Transformation im Sinne einer Homogenisierung bezeichnet, die die Voraussetzung für die soziale Wirksamkeit des Begriffs der Staatsbürgerschaft ist.116 Diese „Ideen“ stellen reflektiert und bewusst gelebte wertsetzende und religiöse Konsense dar, die den Prozess der Konsolidierung des Kapitalismus in den Sphären der Wirtschaft (kompetitiver Markt) und Politik (zentralisierter Vernunftstaat) pari passu begleiteten. Nicht nur die obere Klasse, das Bürgertum, sondern auch die breiteren Volksschichten und subalternen Sektoren gelangten so in die Lage, ihre besondere Sicht auf der Grundlage eines gesamtgesellschaftlich geteilten religiösen und kulturellen Erbes zu artikulieren. Beispielsweise der Einfluss des Methodismus auf die politische Kultur der englischen Arbeiterklassen117 oder selbst die notwendige Internalisierung des protestantischen Themas der Aufwertung der produktiven und manuellen Arbeit bilden eine Vorausset114
Bellah, The Broken Covenant: american civil religion in a time of trial, S. 62. Taylor, Modern Social Imaginaries, S. 29. Weber, Peasants into Frenchmen: The Modernization of Rural France. 117 Thompson, The making of the englisch working class. 115 116
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zung, um die außerordentliche mobilisierende Wirkung der marxistischen Theorie vom Arbeitswert verstehen zu können. Der Begriff der abstrakten austauschbaren Arbeit ist nur in einem kulturellen Kontext möglich, der die aristokratische Ethik der Muße oder der kontemplativen Beschäftigung schon anathemisiert hat und in der einfachen, alltäglichen und produktiven Arbeit die Grundlage für die Zuweisung von sozialem Wert und sozialer Anerkennung sieht. Darin besteht die grundlegende Bedeutung der vorausliegenden Existenz eines expliziten, artikulierten und autonomen kognitiven und moralischen Kontexts, der einschränkend oder stimulierend gegenüber der eigenwertigen Logik der funktionalen Imperative wirken kann, die aus den konsolidierten institutionellen Praktiken erwachsen. In der Sicht der Weberschen Soziologie der großen Weltreligionen, wirkte diese autonome moralische Sphäre im Westen positiv stimulierend in Richtung auf den Bruch mit dem ökonomischen Traditionalismus mit seinen naturalisierten Hierarchien, während die Wirksamkeit der moralischen und religiösen Sphäre im Orient diese revolutionären Auswirkungen beschränkte. In den Gesellschaften der „neuen Peripherie“ wie der brasilianischen existierte weder das eine noch das andere, da eine generalisierte autonome und konsensbegründete moralische Sphäre, welcher Art auch immer, nicht vorhanden war. Es gab hier folglich einerseits nicht die tiefgreifenden Einschränkungen und Barrieren, die Weber im Fall der Transplantation des Kapitalismus nach Indien erkannte, doch es gab auch nicht das generalisierende, auf umfassenden Einschluss hinwirkende Potential, das in den zentralen Gesellschaften des Westens existierte. Ich denke, dass dieses Modernisierungsmuster, bei dem sich die institutionellen Praktiken ohne die ideelle und wertsetzende Grundlage durchsetzen, die ihnen langfristig Artikulierung, Reflexivität und Bewusstheit ihrer Dilemmata und Widersprüche erlaubt, als Definition haargenau auf den brasilianischen Modernisierungsprozess passt, im Sinne einer verkappten bürgerlichen Revolution, wie wir bei Florestan Fernandes sehen werden, oder einer passiven Revolution, wie bei Werneck Vianna, beides Autoren, die wir später eingehender behandeln werden. Diese institutionellen Praktiken erzeugen nämlich ihre strukturellen und funktionellen Konsequenzen auf eine gleichsam molekulare, verschlossene, maskierte und manchmal sogar nicht wahrnehmbare Art, und zwar eben aufgrund des Fehlens der vergleichsweise expliziteren, bewussteren und reflektierteren Komponente wie im Fall der zentralen westlichen Gesellschaften. Dies ist gewiss nicht nur ein oberflächlicher Unterschied. Er bewirkt z.B. in einer Gesellschaft wie der brasilianischen, die Vorherrschaft einer Art von Hyper-Ökonomismus, bei dem jede Lösung von Konflikten und Widersprüchen von einem einseitigen Wirken des ökonomischen Fortschritts erwartet wird, sogar bei grundlegenden sozialen Aspekten wie der Generalisierung des Menschentyps,
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der den Erfordernissen von Markt und Staat angepasst ist; Aspekte, die die Generalisierung des intersubjektiv anerkannten Status als Staatsbürger ermöglichen. Wir kommen später auf dieses Thema zurück. Vorläufig ist lediglich wichtig, dass die Besonderheit des Modernisierungsprozesses an der „neuen Peripherie“ deutlich wird, da sowohl die traditionelle Modernisierungstheorie als auch die zeitgenössischen „Hybridisten“ diese grundlegende Tatsache nicht erkennen. Wenn die „Schematisierung“ der neuen und modernen institutionellen Realität an der „neuen Peripherie“ aus historischen und strukturellen Gründen nicht dieselbe Effizienz und Breitenwirkung besitzt wie derselbe Prozess im Zentrum der Moderne oder auch an der „alten Peripherie“, so bedeutet dies zweifellos nicht, dass der der Modernisierung vorausliegende Kontext, wenngleich aus den genannten Gründen vergleichsweise flach und oberflächlich, überhaupt keinen Einfluss besitzt. Er ist sicherlich unendlich geringer als die gestrigen und heutigen Theoretiker des Personalismus sich vorstellen, doch er existiert, wenngleich überformt von modernen und unpersönlichen Mechanismen. Meiner Ansicht nach, und ich will diese Arbeitshypothese im unmittelbar folgenden Kapitel untermauern, hat sich diese Kontinuität tendenziell auf die „nicht europäisierten“ Sektoren des singulären Modernisierungsprozesses an der neuen Peripherie konzentriert. Es ist die Entstehung und aktuelle Entwicklung dieses Prozesses, die wir im Folgenden betrachten wollen.
Kapitel II – Die Konstituierung der persönlichen Macht Patriarchalismus und Sklaverei Ein grundlegendes Argument, das die Vertreter des essentialistischen Personalismus und Kulturalismus in seinen traditionellen und zeitgenössischen Versionen anführen, ist die Ansicht, dass Brasilien eine kulturelle Verlängerung Portugals sei. Schließlich sei von dort der Patrimonialismus übertragen worden, wie Raimundo Foaro zeigen will, oder der Typ des herzlichen und familistisch fühlenden Menschen, wie ihn Sérgio Buarque sieht. Auch bei Gilberto Freyre finden wir die Ansicht von der wesentlichen Kontinuität mit Portugal als Grundlage seines ideologischen Entwurfs der universalen Singularität des luso-brasilianischen Vermächtnisses. Die Position Freyres im Rahmen dieser Problematik ist interessant, da er einerseits vielleicht unser talentiertester, innovativster und anregendster sozialwissenschaftlicher Denker ist, andererseits aber gleichzeitig unser größter Ideologe und Mystifikator. Ich bin der Ansicht, und will dies als Arbeitshypothese später noch eingehender diskutieren, dass im Zusammenhang
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der den Erfordernissen von Markt und Staat angepasst ist; Aspekte, die die Generalisierung des intersubjektiv anerkannten Status als Staatsbürger ermöglichen. Wir kommen später auf dieses Thema zurück. Vorläufig ist lediglich wichtig, dass die Besonderheit des Modernisierungsprozesses an der „neuen Peripherie“ deutlich wird, da sowohl die traditionelle Modernisierungstheorie als auch die zeitgenössischen „Hybridisten“ diese grundlegende Tatsache nicht erkennen. Wenn die „Schematisierung“ der neuen und modernen institutionellen Realität an der „neuen Peripherie“ aus historischen und strukturellen Gründen nicht dieselbe Effizienz und Breitenwirkung besitzt wie derselbe Prozess im Zentrum der Moderne oder auch an der „alten Peripherie“, so bedeutet dies zweifellos nicht, dass der der Modernisierung vorausliegende Kontext, wenngleich aus den genannten Gründen vergleichsweise flach und oberflächlich, überhaupt keinen Einfluss besitzt. Er ist sicherlich unendlich geringer als die gestrigen und heutigen Theoretiker des Personalismus sich vorstellen, doch er existiert, wenngleich überformt von modernen und unpersönlichen Mechanismen. Meiner Ansicht nach, und ich will diese Arbeitshypothese im unmittelbar folgenden Kapitel untermauern, hat sich diese Kontinuität tendenziell auf die „nicht europäisierten“ Sektoren des singulären Modernisierungsprozesses an der neuen Peripherie konzentriert. Es ist die Entstehung und aktuelle Entwicklung dieses Prozesses, die wir im Folgenden betrachten wollen.
Kapitel II – Die Konstituierung der persönlichen Macht Patriarchalismus und Sklaverei Ein grundlegendes Argument, das die Vertreter des essentialistischen Personalismus und Kulturalismus in seinen traditionellen und zeitgenössischen Versionen anführen, ist die Ansicht, dass Brasilien eine kulturelle Verlängerung Portugals sei. Schließlich sei von dort der Patrimonialismus übertragen worden, wie Raimundo Foaro zeigen will, oder der Typ des herzlichen und familistisch fühlenden Menschen, wie ihn Sérgio Buarque sieht. Auch bei Gilberto Freyre finden wir die Ansicht von der wesentlichen Kontinuität mit Portugal als Grundlage seines ideologischen Entwurfs der universalen Singularität des luso-brasilianischen Vermächtnisses. Die Position Freyres im Rahmen dieser Problematik ist interessant, da er einerseits vielleicht unser talentiertester, innovativster und anregendster sozialwissenschaftlicher Denker ist, andererseits aber gleichzeitig unser größter Ideologe und Mystifikator. Ich bin der Ansicht, und will dies als Arbeitshypothese später noch eingehender diskutieren, dass im Zusammenhang
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mit der Singularität des brasilianischen Nation-Building-Prozesses die These von der wesentlichen Kontinuität zwischen Brasilien und Portugal ihm als eine bessere Grundlage für den Entwurf einer „kompensatorischen Fantasie“118 dient, die von 1930 ab zu einer Staatsideologie gemacht wird. Auf der mehr deskriptiven Ebene seines Arguments jedoch liefert er selbst uns wichtige Ansatzpunkte für die Konstruktion der gegensätzlichen Hypothese, d.h. für die Entwicklung der These von der Singularität der brasilianischen Gesellschaftsbildung gegenüber der europäischen Metropole. Es ist nämlich diese Singularität, die mir charakteristisch für den größeren Kontext zu sein scheint, der die die gesamte „neue Peripherie“ umfasst, wenngleich mit wichtigen nationalen Besonderheiten. In dieser Hinsicht wird mein Rückgriff auf sein ausgedehntes Werk deshalb von dem Interesse geleitet sein, Freyre gegen Freyre zu verwenden, d.h. ich beabsichtige, Aspekte der deskriptiven Ebene seines Werks zu verwenden, ohne notwendigerweise die Verallgemeinerungen und Bewertungen zu teilen, die Freyre selbst aus demselben empirischen Material zieht. Ich will dabei die These von der Singularität der brasilianischen Gesellschaftsbildung entwickeln – immer im Sinne der Opposition zur These der organischen Kontinuität mit Portugal –, und zwar besonders aufgrund des bedeutenden Gewichts der Institution der Sklaverei in unser Geschichte, einer Institution, die in Portugal, wie auch im übrigen Europa, lediglich vereinzelt und historisch begrenzt vorkam. 119 Es liegt etwas in symptomatischer Weise Psychoanalystisches im brasilianischen „Vergessen“ hinsichtlich der Sklaverei. Und dies nicht nur in der bekannten Episode mit Rui Barbosa, Minister und öffentliche Figur von herausragender Bedeutung in der alten Republik (1989 – 1930), der alle Archive bezüglich der Sklaverei verbrennen ließ, unter dem Vorwand, „die in ihrem Namen begangenen abscheulichen Verbrechen vergessen zu machen“. Diese in vieler Hinsicht hoch stehende öffentliche Figur berücksichtigte nicht die Tatsache, dass die reale Überwindung von Traumata und Identitätskrisen, sei es im individuellen oder kollektiven Leben, dadurch erreicht wird, dass man die „Erinnerung“ stimuliert und nicht das „Vergessen“120.
118
Der auf Freyre angewandte, sehr passende Ausdruck stammt von Antônio Maia. Sein Sinn wird später eingehender diskutiert werden. Elias, Über den Prozess der Zivilisation, II, S. 68-72. 120 Ein gutes moderenes Beispiel für die Wirksamkeit der Strategie des „Erinnerns“ zuungunsten der Strategie des „Vergessens“ ist die bundesdeutsche Gesellschaft. Trotz aller Probleme, die diese Strategie mit sich bringt, ist es möglich gewesen, im modernen Deutschland in bedeutsamem Maß einen interessanten moralischen und politischen Lernprozess zu etablieren, der genau auf dem ständigen Erinnern und der offenen Diskussion der jüngsten Erfahrung des Holocausts gründet. 119
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Doch zur größten Überraschung findet man bei der überwiegenden Mehrheit unserer besten soziologischen Interpreten und Denker das Thema nirgends als Leitfaden oder explanandum der Analyse.121 Wenn ich mich nicht täusche, erlangt das Thema der Sklaverei nur im Werk von Joaquim Nabuco und eben bei Gilberto Freyre diesen Status. Dieser Aspekt ist durchaus symptomatisch, denn schließlich handelt es sich um die einzige Institution, die es in einer so jungen Nation zu fast 400 Jahren Lebensdauer gebracht hat und dabei den gesamten Bereich einer enormen territorialen Fläche durchdringen konnte, wenn auch mit unterschiedlichen Ausprägungen in jeder Region. Es waren die mit der Sklaverei in einem organischen Zusammenhang stehenden Interessen, die die Erhaltung der Einheit des ausgedehnten brasilianischen Territoriums ermöglichten, und es war ebenfalls die Sklaverei, wie wir im Folgenden eingehender sehen werden, die sogar die besondere Lebensweise der freien Menschen in Brasilien determinierte. Das Gewicht dieser Institution hinsichtlich der sich hier gegenüber der portugiesischen Metropole in ihrer Spezifität und Singularität herausbildenden Gesellschaft außer Acht zu lassen, heißt, kulturelle Einflüsse auf den bloßen Transport von Individuen zurückzuführen, ohne dabei den sozialen und institutionellen Kontext zu berücksichtigen, in den diese sich einfügen. Wie ich im Anschließenden zeigen möchte, wenngleich nur in groben Zügen, scheint vielmehr das Gegenteil wahr zu sein, dass nämlich die neuartigen sozialen und institutionellen Bedingungen dahingehend wirkten, dass sie das Verhalten dieser portugiesischen Individuen, die den Kolonisationsprozess in den Tropen leiteten, mit einem neuen und eigenwertigen Sinn versahen. Wie Freyre auf den ersten Seiten von Casa Grande e Senzala [Herrenhaus und Sklavenhütte] feststellt, beginnt die „ökonomische und zivile“ Organisation Brasiliens im Jahr 1532, als die Portugiesen, die schon hundert Jahre an Kolonisationserfahrung in den tropischen Regionen besaßen, sich der Herausforderung stellten, das kommerzielle und extraktive Kolonisationsunternehmen zu einem dauerhafteren und stabileren Unternehmen auf landwirtschaftlicher Basis umzuwandeln. Die Grundpfeiler dieses Unternehmens seien in ökonomischer Hinsicht die auf Sklavenarbeit basierende landwirtschaftliche Monokultur gewesen, und in sozialer Hinsicht die patriarchalische Familie, deren Kern die Ehegemeinschaft des Portugiesen mit einer indianischen Frau war. In der Politik und der Kultur gründete diese Gesellschaft für Gilberto Freyre im Partikularismus der patriarchalischen Familie. Das Familienoberhaupt, gleichzeitig Herr über Land und Sklaven, war die absolute Autorität in seinen Herrschaftsgebieten, die sogar 121
Diese Beobachtung gilt natürlich nicht für die Spezialisten in Sachen Sklaverei, da sich in diesem Fall die Frage der relativen Relevanz gar nicht stellt.
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dem König Kompromisse abzwang und die über einen Altar im eigenen Haus und eine Privatarmee auf ihrem Grundbesitz verfügte.122 Der Patriarchalismus, von dem Freyre spricht, verweist von seinem Konzept her auf den außerordentlichen Einfluss der Familie als A und O der sozialen Organisation im kolonialen Brasilien. Aufgrund des stärker rituellen und liturgischen Charakters des portugiesischen Katholizismus, zu dem in Brasilien noch das Element der politischen Abhängigkeit gegenüber dem Herrn über Land und Sklaven hinzukam, konnte der familiäre Patriachalismus sich in Brasilien sich ohne materielle oder symbolische Einschränkungen oder Widerstände entfalten. Die patriarchalische Familie vereinte gleichsam in sich die ganze Gesellschaft: nicht nur die herrschende Komponente, bestehend aus dem Herrn und seiner Kernfamilie, sondern auch die „intermediären“ Elemente der überaus zahlreichen unehelichen Kinder und Abhängigen, neben der Basis der im Haus arbeitenden Sklaven und, auf der untersten Stufe der Hierarchie, den Sklaven für die Feldarbeit. Genau in diesem von heftigen Leidenschaften saturierten Umfeld wird die „Ambiguität“ und „Unschärfe“ von Freyres Argument zu einem Thema, auf das so viele Autoren verwiesen haben. Die Frage hat reales Gewicht und ist bedeutsam, denn sie bezieht sich auf die besondere Form, in der eine singuläre Gesellschaft Despotismus und Nähe, enorme soziale Distanz und intime Kommunikation aufs Engste miteinander verband. Folgen wir vor allem der Form, wie Gilberto Freyre seine Version der Begegnung der Kulturen konstruiert. Vergessen wir dabei einen Moment die Indios, deren Einfluss bedeutsam aber zeitlich begrenzt war, entscheidend nämlich nur in der allerersten Periode der Kolonisation und des Vordringens in die Sertões123, die Hinterlandregionen, und konzentrieren wir uns auf die beiden hauptsächlichen und dauerhafteren Elemente des brasilianischen Patriarchalismus: die Portugiesen und die schwarzen Sklaven. Die gesamte Analyse von Casa Grande e Senzala hängt und leitet sich ab von dem spezifischen Bild, das Freyre vom Portugiesen hat. Der Portugiese ist in verschiedener Hinsicht das Hauptelement des synkretischen Kolonisationsprozesses in Brasilien. Vor allen Dingen ist er das dominierende Element in Hinsicht auf die materielle und symbolische Kultur. Er ist der Motor und Kopf des ganzen Prozesses und in seinen Händen ist die militärische Macht. Wenn im Horizont des essentialistischen Kulturalismus Freyres dieses solchermaßen dominante Element nicht in sich selbst die Keime der Kultur trüge, die sich hier entwickeln sollte, würde die gesamte Argumentation Freyres an Plausibilität verlieren. 122 123
Freyre, Casa Grande e Senzala, S. 17/18 Freyre, Casa Grande e Senzala, S. 160/161.
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Doch der Portugiese ist eben die Figur des anpassungsfähigen Vermittlers schlechthin, und genau durch dieses Merkmal der Kompromissbereitschaft unterscheidet er sich vom spanischen und besonders vom angelsächsischen Kolonisator in den amerikanischen Ländern. Der Portugiese ist damit der Träger des wichtigsten Merkmals des brasilianischen Koloniallebens: des Elements der „Plastizität“, des Menschen „ohne absolute Ideale und ohne unbeugsame Vorurteile“.124 Diese „Plastizität“ ist es, die den außerordentlichen Einfluss der Kultur der Schwarzen auf die Sitten, die Sprache und die Religion begünstigen sollte und besonders auf die Form der Gesellschaftlichkeit zwischen Ungleichen, welche „Herzlichkeit“, Verführung, Zuneigung, Neid, unterdrückten Hass, Ressentiment und praktisch alle extremen Nuancen menschlicher Gefühle vermengt. Genau an der Linie, wo sich Portugiesen und Schwarze begegnen, entwirft Freyre das soziale Drama des kolonialen Brasilien. Der problematische Punkt betrifft die Feststellung der simultanen Gegebenheit einer despotischen Ungleichheit, die aus der Beziehung Sklave/Herr erwächst, und einer Intimität, in einigen Fällen sogar affektiver Verhältnisse und Kommunikationsbeziehungen zwischen den „Rassen“ und Kulturen. An diesem Punkt drängt sich die Diskussion auf, worin denn letztlich das Spezifische der brasilianischen Sklaverei bestanden habe; woher sie kam, wie und warum sie sich von anderen sklavenwirtschaftlichen Gesellschaften unterscheidet. Die Wurzel der Ambiguität liegt meines Erachtens in dem Umstand, dass Freyre zwei verschiedene Sichtweisen der brasilianischen Sklaverei besitzt, die sich ständig überlagern. Es ist dringend nötig, sie zu unterscheiden und zu trennen, um zu erkennen, was von seinen interessanten Generalisierungen bewahrenswert ist und was wir als Rohstoff einer nationalen Mythologie zur ideologischen Aufhebung der Unterschiede verwerfen müssen. Der Leitfaden der von Gilberto Freyre in Casa Grande e Senzala entwickelten Argumentation besteht darin, das Spezifische der brasilianischen Gesellschaftsbildung vom besonderen Typ der portugiesischen Kolonisation her zu erfassen, die in diesem Teil Amerikas erfolgte. Da das wichtigste strukturelle Faktum dieses singulären Prozesses die Konstituierung einer sklavenwirtschaftlichen Gesellschaft recht besonderen Typs war, scheint nichts natürlicher zu sein, als dass in der spezifischen Form der in Brasilien betriebenen Skalverei der grundlegende Schlüssel zum Verständnis der sozialen und kulturellen Besonderheit Brasiliens liegt. Dennoch glaube ich, dass Freyre in Wirklichkeit zwei Sichtweisen der brasilianischen Kolonialgesellschaft besitzt, und zwar aufgrund von zwei mir konfliktiv erschei-
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Freyre, Casa Grande e Senzala, S. 191.
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nenden Sichtweisen hinsichtlich der besonderen Form von Sklaverei, die bei uns eingerichtet worden sei. Bei Freyre wechselt die Sicht des Spezifischen der brasilianischen Sklaverei zwischen einem Akzent auf dem Thema des Sadomasochismus einerseits und einer Konzentration auf dem Thema der Mestizierung andererseits. Diese Ambiguität ist konstitutiv für die Form, wie Freyre die Singularität der brasilianischen Sklaverei auffasst. Die verschlagene Herrschaftsstrategie, die den Kern dessen bildet, was er muslimische Sklaverei nennen wird, erlaubt eine sonst unerreichbare Ausweitung und Dauer der Eroberung insofern, weil sie den Zugang zu ganz konkreten materiellen und ideellen Gütern an die Identifikation des Beherrschten mit den Werten des Unterdrückers bindet. Die Eroberung kann so auf die Überwachung und den systematischen Gebrauch von Gewalt als Garantie der Herrschaft verzichten und in wachsendem Maße mit einem vom Unterdrückten selbst verinnerlichten und erstrebten Element willentlichen Mitwirkens rechnen. Das koloniale Brasilien war voll von Beispielen dieser Art von Politik. Dies erlaubte, dass hier Schwarze oder Mulatten als „capitães de mato“ (Jäger entflohener Sklaven) und Aufseher verwendet wurden. Es erlaubte ebenfalls die Besiedlung von enormen territorialen Flächen, ohne dass die Dominanz des erobernden Elements ernsthaft in Gefahr geriet. Wenn diese verschlagene Herrschaftsstrategie am negativen Pol Unterordnung und systematische soziale Reproduktion der niedrigen Selbstachtung der beherrschten Gruppen impliziert, eröffnet sie am positiven Pol eine effektive und reale Möglichkeit sozialer Differenzierung und Mobilität. Und von diesem Punkt ausgehend entwickelt Freyre seine These von der Mestizierung als Charakteristikum der brasilianischen Gesellschaft. Diese Konstruktion ist ideologisch, weil sie das Element der systematischen Unterdrückung und Unterordnung zweitrangig macht. Sie hat Freyre effektiv dazu verleitet, für eine Art „spezifisch brasilianischen Beitrag zur Zivilisation“ zu plädieren. Diese Idee besitzt tiefe Affinitäten mit der romantischen Thematik in Deutschland, indem sie für eine kulturelle Originalität plädiert, die letztendlich unvergleichlich ist. Erst aufgrund dieser Idee können wir die Gegenüberstellung zweier Demokratiekonzepte verstehen, die sein ganzes Werk durchzieht, nämlich diejenige der rassischen oder, wie er vorzog, „sozialen“ Demokratie in Brasilien und der „lediglich politischen“ Demokratie der Nordamerikaner. Dieser politisch gefährliche Relativismus sollte ihn, besonders in seinen lusotropikalistischen Werken, zu jeder Art kulturalistischer Schwärmerei um den Mestizen und „Moreno“ [braunhäutigen Mischling] verleiten und zu jeder Art von Lob des politischen Autoritarismus zum Schutz dieser vermeintlichen lusotropischen Originalität. Es ist auch das Thema der Mestizierung, das Freyre dazu veranlasst, die Kontinuität zwischen Portugal und Brasilien zu betonen. Brasilien sei, letzten Endes, ein von den Portugiesen vererbtes „kulturelles Gen“.
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Was die Auffassung der Linie einer Kontinuität zwischen Portugal und Brasilien betrifft, ist der wichtigste Begriff im Argument Freyres derjenige der „Plastizität“ des Portugiesen. Dieser Plastizitätsbegriff wird in Casa Grande e Senzala in Form eines Portraits des portugiesischen Nationalcharakters entwickelt, eines Charakters, der das Merkmal der Dualität und der Ambiguität als grundlegenden Zug in sich trage. Aufgrund dieser Ambiguität, einer so grundlegenden kulturellen Ambiguität wie die Bisexualität der menschlichen Persönlichkeit, trage der Portugiese alle Gegensätze und alle Antagonismen in sich. Dieser Begriff dient jedoch im Kontext des Gedankengangs von Freyre dazu, ein Element wesentlicher Kontinuität und Dauer aufzuzeigen, ein Element das seinerseits selbst von Ambiguität durchsetzt ist. Hier handelt es sich allerdings nicht mehr um die Ambiguität des Portugiesen, sondern von Freyres Argument selbst. Um nämlich seine These von der Mestizierung und der Kommunikation zwischen den Kulturen zu beweisen, zuerst als Unterscheidungsmerkmal des Portugiesen als Kolonisator und später, in seinen luso-tropikalistischen Texten, als luso-brasilianischen Beitrag zur Zivilisation, sieht sich Freyre gezwungen, gleichzeitig eine ununterbrochene Kontinuität des dominierenden portugiesischen Elements zu behaupten und dessen erneuernde und „demokratisierende“ Durchdringung mit anderen Kulturen. Der Begriff der Plastizität taugt hervorragend zu diesem theoretischen Jonglieren. Denn die Plastizität erlaubt es, dass wir uns den Portugiesen als ein Wesen vorstellen, das kommuniziert und sich im Kontakt mit dem Anderen verändert, gleichzeitig aber in seiner Essenz über die Zeit hinweg sich selbst immer gleichbleibt. Der Portugiese kommt in Kontakt mit dem nativen Element und dem Fremdartig-Neuen und bildet daraus, im Gegensatz z.B. zum angelsächsischen Kolonisator, eine neue Verbindung, ein neues soziales und kulturelles Produkt. Andererseits bleibt das portugiesische Element, trotz aller dieser Kontakte, immer identisch mit sich selbst. Der Portugiese ist gleichzeitig das Eigene und das Andere. Er ist plastisch, weil er schon in sich alle Gegensätze besitzt. Diese erstaunliche kulturelle Eigenschaft erlaubt, dass der Portugiese, trifft er auf irgendeine Alterität außerhalb seiner selbst, auf Merkmale in seiner eigenen Persönlichkeit zurückgreifen kann, die diesem Anderen ähneln, was kulturelle Durchdringung ohne Verlust seiner ursprünglichen „Substanz“ ermöglicht. Ich bin der Ansicht, dass ein großer Teil der Diskussion hinsichtlich des „Gleichgewichts der Widersprüche“, hinsichtlich allen Kultes des Widerspruchs und der Ambiguität bei Freyre mit dem von Grund auf unscharfen und schlüpfrigen Begriff der „Plastizität“ des Portugiesen zusammenhängt. Dieser Begriff der Plastizität entbehrt jeder Eindeutigkeit und wir wissen, wie sehr unser Verständnis einer komplexen Realität von einer genauen Begrifflichkeit abhängt. Die Polysemie taugt wenig für wissenschaftliche und sehr viel für ideologische Zwe-
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cke, und meine Erachtens bildet der Begriff der Plastizität die Grundlage für die Operation der ideologischen Umwertung, die die Bemühungen Freyres sowohl in Casa Grande e Senzala als auch in seinem späteren luso-tropikalistischen Werk leitete. Gilberto Freyre wollte das negative Vorzeichen des portugiesischen Konolialwerks hier und anderswo umkehren, vielleicht als ein Mittel, die niedrige Selbstachtung der Brasilianer umzuwenden. Dieser Punkt ist grundlegend insofern, als dies die brasilianische Ideologie schlechthin ist, die von 1930 ab, seit ihrer Entwicklung zur offiziellen Doktrin des nationsbildenden Staates, zum symbolischen und expliziten Band zwischen den Brasilianern aller Klassen geworden ist, wie wir weiter unten im dritten Teil dieses Buches sehen werden, wo wir auf diesen Punkt zurückkommen. Es ist gewiss nicht diese Sicht der Sklaverei und der kulturellen Begegnung, der ich mich hier bedienen will. Ganz im Gegenteil interessiert mich gerade die dadurch überlagerte und verdrängte Version, die gleichwohl bruchstückhaft und lückenhaft in der Argumentation zum Durchschein kommt. Diese von Freyre selbst zweitrangig behandelte Sicht ist es, deren Rekonstruktion mich interessiert. Wie bei jeder begrifflichen Rekonstruktion stellt der Vergleich ein unverzichtbares Werkzeug da. Meines Erachtens bezieht sich der von Gilberto Freyre in dieser Hinsicht bevorzugte Vergleich auf den sklavenwirtschaftlichen Süden Nordamerikas. Wenngleich mehrere Stellen im Text von Casa Grande e Senzala dahin tendieren, zwischen beiden Systemen „eine absolute Ähnlichkeit, die auf keinerlei Unterscheidung hindeutet“125, anzuzeigen, denke ich, dass zu diesem Thema doch noch einige interessante qualifizierende Feststellungen möglich sind. Zweifellos wird dieser Aspekt der Ähnlichkeit in Casa Grande e Senzala beständig wiederholt: Grundlegend ist das ökonomische System der auf Sklaverei und Monokultur beruhenden Produktion und die patriarchalische soziale Organisation.126 Dies sind Merkmale, die alle Formen sklavenwirtschaftlicher Gesellschaften in Amerika, sei es den USA, Brasilien oder Kuba einander ähnlich macht. Wenngleich aber die wesentlichen Merkmale dieselben sind, bedeutet dies nicht, dass die „oberflächlichen“ Unterschiede nicht wichtig oder entscheidend beim vergleichenden Studium von Gesellschaften eines selben Typs sind. Ich bin folglich der Ansicht, dass wir diese Ähnlichkeit in der „Essenz“ der großen sklavenwirtschaftlichen Gesellschaften des amerikanischen Kontinents „cum grano salis“ betrachten müssen. Schließlich würde es, auf die heutigen Verhältnisse bezogen, gleichbedeutend mit der Aussage sein, die fortgeschrittenen Industriegesellschaften der USA und Deutschlands seien „essentiell“ gese125 126
Araújo, Guerra e Paz, Casa Grande e Senzala e a Obra de Gilberto Freyre nos anos 30, S. 98 Freyre, Casa grande e senzala, S. 360, 410, 422,
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hen z.B. in der Art der ökonomischen Produktion ähnlich (um genau denselben Ausdruck zu gebrauchen wie Gilberto Freyre, wenn er die sklavenwirtschaftlichen Gesellschaften Brasiliens und Nordamerikas einander annähert). Kaum ein vernünftiger Mensch würde diese Behauptung bestreiten. Gleichzeitig denke ich aber auch, dass kaum jemand bestreiten würde, dass „oberflächliche“ Unterschiede zwischen der amerikanischen und der deutschen Gesellschaft bestehen, denen soziologisch bedeutsame Unterschiede hinsichtlich struktureller Merkmale dieser beiden Gesellschaften gleichen Typs zukommen. Es gibt Aspekte historischer Einflüsse, die bewirken, dass diese beiden „essentiell ähnlichen“ Gesellschaften politische und kulturelle Unterschiede aufweisen, die für den Analytiker keineswegs belanglos sind. Unterschiede dieser Art lagen meines Erachtens dem Argument Freyres zugrunde. Als Freyre in einem Vortrag, den er 1931 (zwei Jahre vor der Veröffentlichung von Casa Grande e Senzala) an der Universität von Stanford in Kalifornien hielt, auf das Spezifische der brasilianischen Sklaverei im Verhältnis zur „Sklaverei in anderen Gebieten [Amerikas], die seit dem 17. Jahrhundert von anderen europäischen Völkern beherrscht wurden“127 zu sprechen kommt, geht er der folgenden Frage nach: Warum dieser Unterschied? Meiner Ansicht nach, weil [das brasilianische] Regime der Sklaverei ein eher arabisches als europäisches [...] System war, in seiner Art Sklaverei zu betreiben. Und niemandem ist unbekannt, dass eine immense Distanz zwischen den beiden Konzeptionen – der europäischen, nach-industriellen und der orientalischen, vor-industriellen – besteht, hinsichtlich der Art, wie der Sklave angesehen wird. In der einen ist der Sklave einfach eine Arbeitsmaschine. In der anderen ist er eine Person, die fast mit zu Familie gehört... 128
Mögliche und wahrscheinliche Übertreibungen bei dieser Gegenüberstellung vorbehalten, sind die Merkmale des Unterschieds mit der größtmöglichen Klarheit definiert. Es lohnt sich, diesen Punkt eingehender zu betrachten, denn hier liegt der Leitfaden der gesamten Argumentation dieser weitgehend verdrängten Version Freyres von der Besonderheit der Sklaverei und folglich der Gesellschaftsbildung im kolonialen Brasilien. In ihrem schon klassischen Buch über Freyre gelangt Benzaquen de Araújo, indem sie der Spur der Gleichwertigkeit der brasilianischen und nordamerikanischen Sklaverei folgt, sogar dahin, die Stellung des maurischen Erbes im Denken Freyres umzukehren. Sie erkennt
127 128
Zeitschrift „Veja“, 15. September 1999, S. 71. Zeitschrift „Veja“, 15. September 1999, S. 71.
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darin ein Merkmal des „orientalischen Despotismus“129, wohingegen für Freyre darin in Wirklichkeit der Schlüssel zur Erklärung des entgegengesetzten Merkmals liegt, nämlich der „Verbrüderung“, der „familiären“ Komponente und damit gerade des Unterscheidungsmerkmals der brasilianischen Sklaverei im gesamtamerikanischen Kontext. In Novo Mundo nos Trópicos [Neue Welt in den Tropen] kommt dieser Punkt mit aller Deutlichkeit zur Sprache: Mich hat überall die Tatsache beeindruckt, dass die soziologische Verwandtschaft zwischen dem portugiesischen und dem mohammedanischen System der Sklaverei für gewisse Charakteristika des brasilianischen Systems verantwortlich ist. Charakteristika, die man in keinem anderen Gebiet Amerikas findet, wo es Sklaverei gab. Die Tatsache, dass die Sklaverei in Brasilien ganz offensichtlich weniger grausam war als im englischen Amerika und selbst als in den französischen und spanischen Kolonien Amerikas, scheint mir schon in gebührender Weise dokumentiert zu sein.130
Dieses neue, mohammedanische Merkmal sei folglich gerade der Faktor, der für den „gutartigeren“ Charakter (wir werden später auf diesen Punkt zurückkommen) der brasilianischen Sklaverei im Vergleich zu den übrigen Gebieten Amerikas und besonders zu den Südstaaten der USA verantwortlich war. Was für ein Faktor soll dies gewesen sein? Und warum war dies so? Nicht deshalb, weil die Portugiesen ein christlicheres Volk als die Engländer oder Holländer wären, wobei „christlicher“ hier ethisch höherwertig in Moral und Verhalten bedeutet. Die Wahrheit wäre eine andere: Die weniger grausame Form der von den Portugiesen in Brasilien betriebenen Sklaverei scheint aus ihrem Kontakt mit den mohammedanischen Sklavenhaltern hervorgegangen zu sein, die für die familiäre Art und Weise bekannt waren, wie sie ihre Sklaven behandelten, aus dem sehr viel konkreteren soziologischen als abstrakt ethnischen Grund nämlich, dass ihre hauswirtschaftliche Auffassung der Sklaverei von der industriellen verschieden war. Sie war vorindustriell und sogar anti-industriell. Wir wissen, dass die Portugiesen, obwohl sie sehr christlich waren – mehr noch sogar, Verteidiger der Sache des Christentums gegen die Sache des Islam –, von den Arabern, den Mauren, den Mohammedanern gewisse Techniken und gewissen Gewohnheiten annahmen und sich so von ihnen zahllose kulturelle Werte aneigneten. Die mohammedanische Auffassung der Sklaverei als hauswirtschaftliches System, das mit der Familienorganisation verbunden ist, die häuslichen Tätigkeiten eingeschlossen, ohne in entscheidendem Maß durch ökonomisch-industrielle Zwecke beherrscht zu werden, war einer der maurischen oder mohammedanischen Werte, die die Portugiesen bei 129 130
Araújo, Guerra e Paz, Casa Grande e Senzala e a Obra de Gilberto Freyre nos anos 30, S. 47/57. Freyre, Novo Mundo nos Trópicos, S. 179.
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der vorherrschend, doch nicht ausschließlich christlichen Kolonisation Brasiliens zur Anwendung brachten.131
Dieser Punkt ist grundlegend, weil wir nur von hier aus zur Rekonstruktion dessen gelangen, wonach Freyre immer suchte: das distinktive Element, das in der Lage ist, eben die „spezifische Differenz“ der sklavenwirtschaftlichen Gesellschaft Brasiliens im Umfeld der „essentiell ähnlichen“ Erfahrungsprozesse in den anderen sklavenwirtschaftlichen Gesellschaften des Kontinents zu erklären. Bleibt noch zu fragen: Welche Bedeutung kommt diesem Einfluss genau zu? Die Klärung dieses Aspekts ist von absolut zentraler Relevanz, denn er kann nicht nur zum Verständnis der Institution der brasilianischen Sklaverei als solcher beitragen, wie sie sich für Gilberto Freyre, zumindest in ihrer impliziten und verdrängten Version darstellt, sondern auch zum Verständnis der besonderen Konstitution persönlicher Macht in der brasilianischen Kolonialgesellschaft. Dadurch, dass die Sklaverei in Brasilien eine Art „totaler Institution“ bildete, habe ihre besondere Ausprägung den „Keim“ der spezifischen Form mit sich gebracht, die die persönliche und familistische Macht bei uns angenommen hat. Was für ein „Keim“ wäre das? An einer Stelle, wo sich Freyre auf ein Gespräch mit seinem akademischen Lehrer Boas bezieht, liefert er uns eine interessante Spur zur Beantwortung dieser Frage: Als ich 1938 mit meinem alten Professor von der Columbia-Universität, dem großen Franz Boas, über die Ideen sprach, die ich in dieser Hinsicht hatte, sagte er mir, dass diese Ideen als Grundlage für ein neues Verständnis und sogar eine neue Interpretation der brasilianischen Situation dienen könnten und dass ich meine Forschungen hinsichtlich Verbindungen zwischen der portugiesischen und der maurischen – oder mohammedanischen – Kultur fortführen solle, insbesondere was ihre jeweiligen Systeme der Sklaverei angeht. Er setzte noch das Argument hinzu, dass die Mohammedaner, Araber und Mauren, viele Jahrhunderte lang den Europäern und Christen in ihren Methoden überlegen waren, afrikanische Kulturen ihrer Zivilisation zu assimilieren.132
Der Kontext der Reportage dieses Gesprächs mit dem ehemaligen Lehrer lässt die Freude Freyres erkennen, seine Intuitionen von Personen bestätigt zusehen, die für ihn verehrenswürdig und über jeden Zweifel erhaben waren. Der hervorgehobene Teil des Zitats zeigt eine Übereinstimmung Boas in einem Aspekt, der, wie wir gesehen haben, für Freyre der auffälligste Aspekt in der brasilianischen Gesellschaftsbildung ist: der kulturelle Synkretismus, eine Kombination aus 131 132
Freyre, Novo Mundo nos Trópicos, S. 180. Freyre, Novo Mundo nos Trópicos, S. 180.
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Europa und Afrika, die zur Erzeugung einer singulären Gesellschaft gelangte, die auf keine der beiden Ausgangskulturen, von der ihre Bildung ausging, reduziert werden kann. Wichtig für meine Zwecke ist jedoch der Umstand, dass es gerade das maurische kulturelle Erbe einer Form von Sklaverei ist, was das entscheidende Element im singulären Wesen der kolonialen Sklavenhaltergesellschaft gewesen zu sein scheint und worin folglich der Keim für die singuläre Form lag, die die Verhältnisse persönlicher Abhängigkeit bei uns angenommen haben, d.h. der Keim für das Element, das später den europäisierenden Einfluss der bürgerlichen und in diesem Sinne anti-portugiesischen Moderne im Taylorschen Sinn des Ausdrucks „schematisieren“ sollte. Interessant ist dabei die Beobachtung, dass Freyre bei der Konstruktion dieser alternativen Hypothese dazu tendiert, kulturalistische Auffassungen, die totalisierend und unabhängig von strukturellen Determinationen verfahren, zurückzustellen, um vor allem strukturelle soziologische Faktoren zu berücksichtigen, wie z.B. die Notwendigkeit der Besiedlung solch ausgedehnter Gebiete durch ein kleines und relativ gering bevölkertes Land: Daher kommt es, dass die Sklaverei, die die Portugiesen im Orient und in Brasilien einrichteten, sich mehr nach arabischer Art entwickelt hat als nach europäischer und dass sie, auf ihre Weise, selbst die Polygamie miteinschloss, um durch dieses mohammedanische Mittel die Bevölkerung zu vermehren.133
Das Thema der erweiterten Familie ist hier der Schlüssel zum spezifischen Unterschied, den Freyre konstruieren will. Für Freyre war diese Institution nicht nur mit der bloßen funktionellen und instrumentellen Notwendigkeit verbunden, die Zahl der Sklaven zu vermehren. Denn die polygame mohammedanische Familie besaß eine ganz besondere Charakteristik: Bei den Mohammedanern musste der Sohn aus der Verbindung eines Arabers mit einer Sklavin nur den Glauben, die Rituale und die Bräuche seines Vaters annehmen, um seinem Vater in sozialer Hinsicht gleichgestellt zu werden.134
Und im Folgenden heißt es dann zur „portugiesischen Version“ der Anwendung dieses kulturellen Prinzips: Sobald sich die Portugiesen in Brasilien niedergelassen hatten, begannen sie, ihrem System der agrarischen Wirtschafts- und Familienorganisation eine verdeckte Imitation der Polygamie einzufügen, die durch legale Adoption erfolgte, wenn ein Vater 133 134
Freyre, Novo Mundo nos Trópicos, S. 180. Freyre, Novo Mundo nos Trópicos, S. 181.
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christlichen Glaubens die illegitimen bzw. unehelichen Kinder mit indianischen Frauen oder auch schwarzen Sklavinnen in sein Testament miteinschloss. Kinder, die in diesen Testamenten den legitimen Kindern sozial gleichgestellt oder fast gleichgestellt wurden. Zudem geschah es nicht selten, dass die unehelichen, farbigen Kinder sogar von den Ordensbrüdern oder von den Kaplanen selbst unterrichtet wurden, die den legitimen Nachwuchs erzogen, wodurch sich der soziale Aufstieg einiger dieser Mestizen erklärt.135
Ich denke, dass der für Freyre der eigentliche Kern der Besonderheit der brasilianischen Sklaverei, hier immer im Hinblick auf ihre „verdrängte Version“, von diesem grundlegenden Faktum herrührt, dass das Kind einer afrikanischen Sklavin und eines europäischen Herrn als „europäisiert“ angenommen werden „konnte“, d.h. es existierte die reale Möglichkeit, ob sie nun realisiert wurde oder nicht, im Fall der Annahme des Glaubens, der Rituale und Bräuche des Vaters. Dieses Faktum mag vielleicht nicht die viel besungene „rassische Demokratie“ erklären, insofern das „Europäische“ der im absoluten Sinne positive, dominante und höhere Wert des Verhältnisses blieb. Doch vielleicht hilft es, das Singuläre des patriarchalischen Gesellschaftstyps zu erklären, der sich hier konstituierte. Ich möchte den Versuch einer alternativen Interpretation unseres besonderen „Patriarchalismus“ machen, wie er in Casa Grande e Senzala aufgrund des Sado-Masochismus-Konzepts beschrieben wird. Jeder ausreichend geduldige Leser könnte die zahlreichen Hinweise Freyres auf sado-masochistische Beziehungen zählen, sei es in Casa Grande e Senzala, sei es in Sobrados e Mucambos136 oder sei es noch in Büchern wie Nordeste. Diese Untersuchung kann jedoch auch unter einem eher systematischen als topischen Gesichtspunkt verfolgt werden, mit dem Ziel, vor allem die analytische Reichweite dieses Begriffs im hermeneutischen Unternehmen zu erkennen, das Freyre sich vorgenommen hat. Ich bin davon überzeugt, dass die Analyse dieses Konzepts einiges dazu beitragen kann, die vielleicht wichtigste Ambiguität und Unschärfe im Patriarchalismus-Konzept Gilberto Freyres zu verstehen: die Ansicht des simultanen Bestehens von Distanz und Abgrenzung zusammen mit Nähe und Intimität. Das Ende des ersten Kapitels von Casa Grande e Senzala liefert einen interessanten Schlüssel zu einer sozial-psychologischen Erklärung des Patriarchalismus. Dieses Kapitel ist der Versuch einer Synthese, die die Zeit der Entstehung und Konsolidierung des brasilianischen Familienpatriarchalismus umfasst und damit die historische Epoche, die das Buch analysiert. In gewisser Weise 135
Freyre, Novo Mundo nos Trópicos, S. 181. Freyre, Sobrados e Mucambos; Titel der deutschen Übersetzung, erschienen 1982 bei Klett-Cotta: Das Land in der Stadt.
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führt Freyre sämtliche Entwicklungen auf den Umstand zurück, dass die Familie, aufgrund der weiten Entfernung des portugiesischen Staats und seiner Institutionen, die Grundeinheit in der brasilianischen Gesellschaftsbildung gewesen ist, und er interpretiert das soziale Drama der Epoche unter dem Hauptgesichtspunkt eines psychoanalytischen Konzepts: des Sado-Masochismus137. Bei der Entwicklung dieses Konzepts konzentriert sich Freyre strikt auf makro-soziologische Konditionierungen, vor allem aufgrund des autarken Charakters der herrschaftlichen Gewalt, bedingt durch das Fehlen von Institutionen über dem unmittelbaren Territorialherrn. Eine solche gesellschaftliche Organisation, besonders wenn die Herrschaft der dominierenden Klasse auf dem direkten Weg der Waffengewalt ausgeübt wird, begünstigt nicht die Entwicklung sozialer oder individueller Schranken gegenüber den primären Trieben des sexuellen Begehrens, der Aggressivität oder der Gier. Die Emotionen kommen direkt zum Ausdruck, werden als extreme Reaktionen ausgelebt, und das Zusammenspiel von gegensätzlichen Emotionen in kurzen Zeitspannen ist ein ganz natürliches Geschehen. Auf der sozialen Ebene vereinnahmen die Rivalitäten zwischen Nachbarn auch alle diejenigen vollständig, die sich in vertikaler Linie mit den jeweiligen Herren identifizieren. In dieser Hinsicht kann ein dichtes Netz aus Intrigen, Neid, Hass und widersprüchlichen Affekten als Wesensmerkmal dieser Art sozialer Organisation angesehen werden. Wir haben es im brasilianischen Fall in Wahrheit mit einem begrifflichen Grenzfall von Gesellschaft zu tun, wo das Fehlen vermittelnder Institutionen bewirkt, dass das familistische Element ihre Hauptkomponente darstellt. Daher kann das spezifische Drama dieser Gesellschaftsform aufgrund von sozial-psychologischen Kategorien beschrieben werden, deren Genese auf die als primär bezeichneten sozialen Beziehungen verweist. Und genau in dieser Weise, als eine konstitutiv und struturell sado-masochistische Gesellschaft im Sinne einer spezifischen sozialen Pathologie, wo der Schmerz des Anderen, die Nichtanerkennung der Alterität und die Perversion der Lust zum Hauptziel der zwischenmenschlichen Beziehungen werden, interpretiert Gilberto Freyre den wesensmäßigen Keim des brasilianischen Patriarchalismus. Freyre erkennt deutlich, dass die Leitung der primären Aggressions- und Sexual137
Im Bereich der Sexualität sind für Freud sowohl der Sadismus als auch der Masochismus Komponenten jeder „normalen“ sexuellen Beziehung, solange sie Begleitkomponenten bleiben. Erst wenn das Schmerzzufügen oder -empfinden zur Hauptkomponente wird, d. h. zum Ziel selbst der Beziehung, liegt die pathologische Dimension als Bestimmungsfaktor vor. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, S. 67. Im sozialen Bereich ist der wesentliche Punkt die Anpassung des Triebapparats an die sozio-ökonomischen Situationen. Fromm z.B. versuchte, die Freudschen Studien zum „Charakter“ für eine Konstruktion von sozialen Typen zu nutzen, die mehr oder weniger für eine autoritäre Beziehung prädisponiert sind. Siehe Fromm, Sozialpsychologischer Teil, S. 93-135.
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triebe „zum großen Teil von Gelegenheit und Chance, d.h. von äußeren sozialen Einflüssen [abhängen]. Mehr als von Veranlagung oder angeborener Perversion“138. Die Wahrheit jedoch ist, dass wir [sic] die Sadisten waren; das aktive Element bei der Korrumpierung des Familienlebens; und Negerjungen und Mulattinnen das passive Element. In Wirklichkeit handelten weder Weiße noch Schwarze eigenständig, viel weniger noch als Rasse oder unter dem vorherrschenden Einfluss des Klimas, bei den Beziehungen der Geschlechter und Rassen, die sich zwischen Herren und Sklaven in Brasilien entwickelten. In diesen Beziehungen kam der Geist des ökonomischen Systems zum Ausdruck, der uns wie ein allmächtiger Gott in Herren und Sklaven teilte. Von ihm rührt die übertriebene Tendenz zum Sadismus her, des Merkmals des Brasilianers, der im Herrenhaus geboren und aufgewachsen ist, insbesondere der Zuckerrohrplantagen, und auf das wir in diesem Aufsatz beständig hinweisen. Man stelle sich ein Land vor, wo die Jungen mit spitzen Messern bewaffnet herumlaufen! Doch so war es im Brasilien zur Zeit der Sklaverei.139
Oder noch an anderer Stelle, bei Ausführungen zur Permanenz dieses „Keims“ partriarchalischer Gesellschaftlichkeit, selbst nach der Abschaffung der Sklaverei: Es gibt keinen Brasilianer aus höherer Klasse, selbst wenn er nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei geboren und aufgewachsen ist, der nicht mit dem Jungen Braz Cúbas eine Verwandtschaft fühlt was die Boshaftigkeit und die Lust am Verspotten und Malträtieren von Schwarzen angeht. Dieses krankhafte Vergnügen, Untergebene und Tiere schlecht zu behandeln, ist typisch für uns: typisch für jeden jungen Brasilianer, der von den Wirkungen des Systems der Sklaverei berührt wurde.140
Und noch ein letztes Zitat, um nicht die Geduld des Lesers zu überfordern, diesmal von Machado de Assis, das Freyre hier verwendet, um zu erhellen, auf welche Weise die Werte des sozialen Sado-Masochismus sich von Vater zu Sohn durch die subtilen Mechanismen der „Erziehung“ übertrugen: ...einmal brach ich einer Sklavin den Schädel, weil sie mir einen Löffel von der Süßspeise verweigert hatte, die sie gerade machte, und, noch nicht zufrieden mit meiner Missetat, tat ich eine Handvoll Asche in den Topf, und, noch immer nicht zufrieden mit meiner Gemeinheit, ging ich meiner Mutter sagen, dass die Sklavin es war, die die Süßspeise „aus Böswilligkeit“ verdorben hatte; und ich war gerade sechs Jahre 138
Freyre, Casa grande e senzala, S. 59. Freyre, Casa grande e senzala, S. 361. 140 Freyre, Casa grande e senzala, S. 354. 139
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Teil II – Die Konstituierung der peripheren Moderne alt. Prudêncio, ein kleiner Junge aus dem Haus, war alle Tage mein Pferd; er tat die Hände auf den Boden, bekam eine Kordel als Zaumzeug zwischen die Kiefer, ich kletterte auf seinen Rücken mit einer kleinen Rute in der Hand, ich peitschte ihn, machte mit ihm tausend Runden hin und her, und er gehorchte – manchmal jammernd –, doch er gehorchte, ohne ein Wort zu sagen, oder höchstens ein – „Au, Herr!“ –, worauf ich entgegnete – „Halt´s Maul, dämliches Vieh!“. Die Hüte der Besucher verstecken, ernsten Leuten Papierschwänze anheften, langen Haartrachten am Zopf ziehen, den älteren Frauen in die Arme kneifen und viele andere Bubenstücke dieser Art, das waren Zeichen eines unfolgsamen Temperaments, doch muss ich glauben, dass es auch Ausdruck eines robusten Geistes waren, denn mein Vater hegte für mich Bewunderung; und wenn er mich manchmal in Gegenwart von Leuten schalt, machte er dies bloß aus Formalität: wenn wir allein waren, gab er mir Küsse.141
Die soziologische Erklärung zum Ursprung dieser „Erbsünde“ des brasilianischen Patriarchalismus, verlangt für Gilberto Freyre die Berücksichtigung der objektiven Schwierigkeiten für ein kleines Land wie Portugal, um das Problem der Kolonisierung riesiger Territorien zu lösen: nämlich durch Delegierung der Aufgabe an Privatleute und eher durch Förderung als durch Hemmung von Privatinteressen und Besitzgier. Für Freyre ist das markante und fortdauernde Wirken dieses ursprünglichen Keims von grundlegender Wichtigkeit für das Verständnis der Singlurität des brasilianischen Personalismus. In anderer Weise als die Theoretiker der ersten Phase der Frankfurter Schule142, die, ebenfalls in den 30er Jahren, mit Hilfe desselben Konzepts den Aufstieg des Nationalsozialismus zu erklären versuchten und dabei von einem begrifflichen Rahmen ausgingen, der eine bestehende rigide hierarchische Struktur voraussetzte, wo der unkritische Gehorsam gegenüber den höheren Ebenen in strukturellem Zusammenhang mit dem Despotismus gegenüber leichter zu stigmatisierenden Gruppen steht, betont Gilberto Freyre hingegen das personalistische Element. Für ihn hat Patriarchalismus nämlich mit der Tatsache zu tun, dass der persönlichen Autorität des Herrn über Land und Sklaven keinerlei Grenzen gesetzt sind. Es gibt keine Justiz über ihm, wie es in Portugal durch die Justiz der Kirche gegeben war, die in letzter Instanz über weltliche Streitigkeiten entschied, es gab auch keine unabhängige Polizeigewalt, die ihm Vertragserfüllungen abfordern könnte, wie im Fall der nicht zahlbaren Schulden, von denen Freyre spricht, und last but not least gab es keine unabhängige moralische Gewalt, denn die Kapelle war bloß eine Verlängerung des Herrenhauses. Ohne jeden Zweifel bedeutet die kulturell und rassisch hybride Gesellschaft, von der Freyre spricht, keineswegs 141
Freyre, Casa grande e senzala, S. 354. Siehe hierzu besonders den schon zitierten Beitrag Erich Fromms, im Kontext der in den 30er Jahren von der Frankfurter Schule durchgeführten Studien: Fromm, „Sozialpsychologischer Teil“.
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Gleichheit zwischen den Kulturen und Rassen. Es gab Herrschaft und systematische Unterordnung, oder besser, bzw. schlechter, es gab eine Perversion der Herrschaft im Sinne sadistischer Grenzüberschreitung. Nichts könnte weiter von einer idyllischen oder rosigen Gesellschaftsauffassung entfernt sein. Sadistisch war die Beziehung des portugiesischen Mannes zu den indianischen und schwarzen Frauen. Sadistisch war die Beziehung des Herrn zu seinen eigenen weißen Frauen, den Puppen zur Fortpflanzung und einseitigen Geschlechtsbeziehung, von der Gilberto spricht.143 Sadistisch war schließlich die Beziehung des Herrn zu den eigenen Kindern, den Menschen, die, nach den Sklaven, am meisten litten und einstecken mussten144. Der Herr über Land und Sklaven war ein Hyper-Individuum, nicht der futuristische Übermensch Nietzsches, der die eigenen, vermeintlich selbstgeschaffenen Werte befolgt, sondern der Supermann der Vergangenheit, der Barbar ohne jeden verinnerlichten Begriff von Grenzen hinsichtlich seiner primären Triebe. Wenn die spezifischen sozio-ökonomischen Bedingungen zum Verständnis des despotischen und trennenden Charakters dieses Patriachalismus beitragen, was lässt sich dann zum Element der „Nähe“ sagen? Teilweise impliziert der Begriff des Sado-Masochismus selbst „Nähe“ und irgendeine Form von „Intimität“. Körperliche Intimität und geistige Distanz, ohne Zweifel, allerdings jedoch „Nähe“. Und tatsächlich erfolgten ein großer Teil der Beziehungen zwischen weißen Herren und schwarzen Sklaven, wie wir oben gesehen haben, in dieser Form „intimen“ Kontakts. Freyre aber bezieht sich gleichzeitig auf die „verbrüdernde“ Nähe zwischen Trägern der herrschenden und der beherrschten Kultur. Die familiäre Ausweitung auf die polygame Familie maurischen Ursprungs geht meines Erachtens in die Argumentation des Autors ein, gerade um diesen anderen Typ von „sozialer Kommunikation“ zwischen Ungleichen zu erklären145. Da die Teilhabe am väterlichen Schutz, den der Mantel des Hausherrn gewährt, von dessen Entscheidung und Gutdünken abhängt, sind alle Modalitäten eines „persönlichen Protektorats“ möglich. Der Fächer an Möglichkeiten reicht von der privilegierenden Anerkennung illegitimer bzw. unehelicher Kinder 143
Freyre, Casa grande e senzala, S. 60, 326, 332. Freyre, Sobrados e mucambos, S. 68, 71. 145 Hier entsteht die „Vorgeschichte“ des Mestizen, insbesondere des brasilianischen Mulatten, das Thema, das einer der Leitfäden der Darstellung Freyres in Sobrados e Mucambos sein wird. Für Freyre war das Thema des sozialen Aufstiegs des Mulatten ein Thema, das für eine spätere Diskussion zurückgehalten werden sollte: In einem anderen Buch, dass von einer anderen historischen Periode unserer Gesellschaftsbildung handeln sollte und welches eben Sobrados e Mucambos wurde. Doch schon in Casa Grande e Senzala finden wir den Hinweis auf die polygamen Familien riesigen Umfangs mit den unehelichen Kindern, die, da sie weder Herren noch Sklaven waren, schon eine ProtoMittelklasse in dieser so radikal in antagonistische Pole geteilten Gesellschaft gewesen seien. 144
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zuungunsten der ehelichen Kinder, wie uns Freyre anhand zahlreicher Beispiele von Teilungen des Erbes zeigt, bis zur völligen Negierung der väterlichen Verantwortung in den Fällen der Väter, die ihre unehelichen Kinder verkauften. Der patriarchalische Schutz ist folglich ein überaus persönliches Verhältnis, indem er eine Funktion der Willkür und der emotionalen Neigungen des Patriarchen darstellt. Interessant ist der logisch unmittelbar folgende Schritt, d.h. die Umwandlung der persönlichen Abhängigkeit zum Patriarchen in einen „Familismus“. Als System tendiert der Familismus dazu, irgendeine Form von Bilateralität zwischen Gunst und Schutz einzurichten, wenn auch erst in Ansätzen und instabil, und zwar nicht nur zwischen dem Vater und seinen Angehörigen, sondern auch zwischen verschiedenen Familien untereinander, wodurch ein komplexes System von Allianzen und Rivalitäten entsteht. In dem in Casa Grande e Senzala analysierten Gesellschaftstyp präsentiert sich der familiäre Patriarchalismus in praktisch reiner Form, mit der Figur des Patriarchen an der Spitze der sozialen Pyramide. Das besondere am brasilianischen Fall stellt sich durch die – für Freyre auf mohammedanischen Einfluss zurückgehende – immer ungewisse, aber reale Möglichkeit dar, dass der Patriarch seine illegitimen bzw. unehelichen Kinder mit Sklavinnen oder indianischen Frauen als seine Nachkommen anerkennt. In Nordamerika, wo die Betonung stärker auf der Reinheit des Ursprungs lag, war diese Möglichkeit z.B. von vornherein ausgeschlossen. Das Gewicht allerdings des „traditionellen“ Elements, d.h. der Gesamtheit der Regeln und Gewohnheiten, die sich im Verlauf der Zeit allmählich zu einer Art Gewohnheitsrecht konsolidieren, das die Abhängigkeitsbeziehungen reguliert, wie Max Weber uns in seiner Studie zum Patriarchalismus zeigt, und das der Willkür des Patriarchen Grenzen setzt, scheint im brasilianischen Fall auf ein Minimum reduziert gewesen zu sein. Daher die Betonung auf dem sado-masochistischen Element bei Gilberto Freyre. Die größere Isolierung und daraus folgende Verstärkung der autarken Komponente eines jeden Systems aus „Herrenhaus und Sklavenhütte“ mag hier das Hauptelement gewesen sein. Das Fehlen äußerer Beschränkungen jeglicher Art erzeugt soziale Beziehungen, bei denen die Emotionalität der Person des Patriarchen die Hauptrolle spielt. Dieser Punkt erscheint mir nicht als ein isolierter oder pittoresker Aspekt der Reflexion Freyres. Er erfasst die Dynamik der Strukturprinzipien, die seinem Konzept des Patriarchalismus und folglich seinem gesamten Unternehmen Verständlichkeit verleihen. Die politischen und sozialen Konsequenzen dieser privaten Tyranneien, wenn sie sich von der Sphäre der Familie und des Sexuallebens auf die öffentliche Sphäre der politischen und sozialen Beziehungen übertragen, werden offensichtlich in der Dialektik von Herrschsucht und Autoritarismus einerseits, nämlich auf der Seite der Eliten, und dem Populismus und Messia-
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nismus der Massen andererseits. Eine Dialektik, die später vielfältige und konkretere Formen in den Gegensätzen zwischen Doktoren und Analphabeten, den stärker europäisierten Gruppen und Klassen und den amerindischen und afrikanischen Massen usw. annehmen sollte. Von Gesichtspunkt des Patriarchen aus gibt es auch eine Reihe von „rationalen“ Motiven, um seinen Einflussradius im größtmöglichen Maß durch die polygame Familie auszuweiten. Es gibt eine ganze Skala von „Vertrauens“Funktionen, bei der Kontrolle der Arbeit und der Jagd nach entflohenen Sklaven, neben „militärischen“ Diensten bei Streitigkeiten um Grundstücksgrenzen etc., die von den Mitgliedern der „erweiterten Familie“ des Patriarchen besser in seinem Sinne ausgeführt werden. Und hier haben wir schon eine erste Version der zweideutigen „Verbrüderung“ zwischen verschiedenen „Rassen“ und Kulturen, zu der die erweiterte patriarchalische Familie Gelegenheit bot. Während diese Art von Kontroll- und Überwachungsdienst in den USA ausschließlich von Weißen ausgeführt wurde, waren es in Brasilien vorherrschend Mestizen.146 Von da ab erkennt man die Ambiguität hinsichtlich der realen und effektiven Möglichkeit sozialen Aufstiegs für die Mestizen innerhalb des patriarchalischen Familismus im Tausch gegen die Identifikation mit den Werten und Interessen des Unterdrückers. Neben den ökonomischen und politischen Beweggründen, die den ländlichen patriarchalischen Familismus in Brasilien begünstigten, gab es bei uns auch eine ebenfalls familiäre religiöse Form von Interesse. Die magische Komponente der Nähe zwischen dem Heiligen und dem Profanen, die für jede Art von Katholizismus konstitutiv ist, wurde hier zum Äußersten geführt. Es gab einen beeindruckenden familiären Umgang zwischen Heiligen und Menschen, wobei jene sogar praktische Funktionen innerhalb der häuslichen und familiären Ordnung erfüllten. In diesem Zusammenhang ist noch wichtiger, dass sich der Heiligenkult auch mit dem Kult der Vorfahren vermischte, was dem „Familismus“ als System eine eigene symbolische Basis gab. Die Familie war die Welt und folglich sogar, in großem Maße, die Überwelt. Neben der „materiellen“ ökonomischen und politischen Basis legte der „familiäre“147 Katholizismus die Fundamente für eine immaterielle und symbolische Basis, die seinen eigenen Bedürfnissen entsprach, die Welt von seinem topischen und lokalen Standpunkt aus zu interpretieren. Meiner Ansicht nach stellt für Freyre der ländliche und sklavenwirtschaftliche familiäre Patriarchalismus die Definition einer totalen Institution dar, im Sinne eines gegliederten Ganzen, in dem die verschiedenen Bedürfnisse 146 147
Degler, Neither Black nor White: Slavery and Race Relations in Brazil and United States, S. 84. Freyre, Casa grande e senzala, S. 34, 153, 222, 223.
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und Dimensionen des sozialen Lebens ein komplementäres und interdependentes Verhältnis fanden. Die sado-masochistische Komponente war dabei konstitutiv insofern, als persönliche Neigungen des Patriarchen (oder seiner Stellvertreter), denen nur ein Minimum an äußeren oder symbolischen Grenzen gesetzt waren, in letzter Instanz über den Umfang des Familienkerns entschieden und darüber, wie und wem und in welchem Maße seine Gunst und sein Schutz zuteil werden sollten. Die Komponente der sozialen „Nähe“ unter Ungleichen, die Freyre neben der gewalttätigen und trennenden Komponente hervorhebt, ist in diesem Sinne instabil, unvorhersehbar und partikularistisch. Es ist in diesem Kontext totaler Abhängigkeit der Sklaven zum Herrn, ohne den Schutz, den Gewohnheiten und Traditionen den Abhängigen in anderen traditionellen Gesellschaften gewährten und dadurch zumindest in gewissem Maß Formen der Schaffung von Selbstachtung und sozialer Anerkennung ermöglichten, die unabhängig vom Willen des Herrn waren, dass wir das Spezifische des auf persönlicher Macht gründenden Gesellschaftstyps, der sich hier gebildet hat, verstehen können. Der Schutz war Ermessen des Herrn und stand in Beziehung zu einer anderen arabischen Charakteristik der brasilianischen Kolonialgesellschaft: der polygamen Familie. Die Kinder der Herren und Sklaven hatten die Möglichkeit, vorausgesetzt sie übernahmen die Werte des „Vaters“, d.h. sie identifizierten sich mit ihm, in einer so betont bipolaren Gesellschaft die vermittelnden Stellen zu besetzen. Es muss sogar eine große Konkurrenz um die Gunst und um den Schutz des Herrn und seiner Familie gegeben haben, sei es unter den illegitimen Kindern oder zwischen den Konkubinatsanwärterrinnen. Es waren dabei sehr konkrete materielle und ideelle Belohnungen im Spiel für diejenigen, die am bestem den Willen und die Wünsche des Herrschenden in solcher Weise interpretierten und internalisierten, als ob es ihre eigenen wären. Es ist genau diese Assimilation des externen Willens, als wäre es der eigene, eine sozial konditionierte Assimilation, die das Selbstbild des Beherrschten als ein unabhängiges und autonomes Wesen im Keim erstickt, die der Begriff des Sado-Masochismus bezeichnen will.
Der formal „freie“ Abhängige Doch der Personalismus beschränkte sich nicht auf den Bereich der direkten Beziehungen zwischen Herr und Sklave. Der strukturelle Stellenwert des Systems der Sklaverei, sowohl im sozialen wie im ökonomischen Sinn, warf seinen Schatten auf alle anderen sozialen Beziehungen. Dies gilt insbesondere für eine andere soziale Schicht, die im kolonialen Brasilien fundamental und zahlreich ist
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– und in veränderten Formen, wie wir sehen werden, auch im modernen Brasilien – und die aus den „Dependentes“ [Abhängigen] oder „Agregados“ [Beigesellten] besteht, die formal frei und von jeder Hautfarbe sind. Die soziale Situation des Abhängigen war gekennzeichnet durch die Zwischenstellung zwischen dem Herrn und Besitzer einerseits und den zur Zwangsarbeit verpflichteten Sklaven andererseits. Er war ein formal freier Besitzloser, dessen einzige Überlebenschance darin bestand, Funktionen an den Rändern des Gesamtsystems auszufüllen. Es bildete sich davor eine „Unterklasse“, die vier Jahrhunderte lang wuchs und umherlief, Menschen die eigentlich entbehrlich waren, abgelöst von den wesentlichen Prozessen der Gesellschaft. Die auf der Sklaverei gründende merkantile Agrarwirtschaft eröffnete ihnen einen Lebensraum und ließ sie gleichzeitig ohne Funktion und Existenzgrund.148
Wir sehen hier schon die wichtigsten Merkmale dieser Unterklasse, die der Hauptgegenstand dieses Buchs ist. Strenggenommen entbehrliche Menschen, insofern sie keine grundlegende Rolle für die wesentlichen Produktivfunktionen ausüben und die in den Zwischenräumen und Randzonen der Ordnung des Produktionssystems überleben müssen. Dieser Menschentyp verbreitete sich ebenfalls, wie der Sklave, über das gesamte nationale Territorium und repräsentierte in der Mitte des 19. Jahrhunderts ca. 2/3 der Gesamtbevölkerung.149 Die klassische Studie von Maria Sylvia de Carvalho Franco über den formal freien Abhängigen in der Region des Paraíba-Tals hat von der ersten Lektüre ab mein Interesse auf sich gezogen, gerade weil sie eine empirische Untersuchung bietet, ergänzt durch eine gelungene synthetische Darstellung des psycho-sozialen Dramas der formal freien Abhängigen, die meines Erachtens auf ihre anderen regionalen Varianten übertragen werden kann.150 In dieser Weise sieht sich die relative ökonomische „Entbehrlichkeit“ des Abhängigen, die, wie wir sehen werden, seine gesamte moralische und politische Existenz markieren wird, dadurch konditioniert, was Carvalho Franco die „abwesende Präsenz“ der Sklaverei genannt hat. Dieser Schatten der Sklaverei wird nicht nur ersichtlich sein im Sinne eines Lebens, das auf eine ökonomisch marginale Existenz festgelegt ist, sondern auch, und für das Anliegen dieses Buchs 148
Franco, Homens livres na ordem escravocrata, S. 14. Franco, Homens livres na ordem escravocrata, S. 35. 150 Ich habe erst allmählich wahrgenommen, dass das Interesse der meisten Kritiker und Kommentatoren ihrer Arbeit sich auf die Besonderheit ihrer Rekonstruktion des Patrimonialismus konzentriert, für mich der am wenigsten interessante Teil ihrer exzellenten und anregenden Arbeit, aus Gründen, die dem Leser dieses Buches bereits klar sein werden. 149
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besonders wichtig, bei der Herausbildung eines Schemas sozialer (Nicht-)Anerkennung. Dies ist dem Schema, unter dem der Sklave leidet, sehr ähnlich ist, wenngleich verdeckt durch Formen scheinbarer Freiwilligkeit und Einwilligung, die Fuß- und Handfesseln entbehrlich machen. Wie wir ebenfalls sehen werden, sind die sozialen Bedingungen, die die Konstituierung und Reproduktion solcher Beziehungen ermöglichen, vergleichbar und haben teil an demselben Universum von Beziehungen, die das „mohammedanische“ Schema der Sklaverei ermöglichen. Carvalho Franco interessiert sich vor allem für den praktisch-moralischen Horizont, der das Leben und die sozialen Beziehungen der Abhängigen konditioniert, was ihre Argumentation für die Hypothese, die ich in Verlauf dieses Buches entwickeln will, wesentlich macht. Der Moralkodex des Sertão151, das von ihr untersuchte „natürliche Habitat“ des ländlichen Abhängigen, ist von Gewalt durchdrungen. Die Gewalt ist endemisch, alltäglich und erscheint an der Oberfläche fast immer in abrupter Form mit vernichtenden Konsequenzen für die Beteiligten. Die nackte Gewalt ist folglich nicht das „Andere“ des gemeinschaftlichen Lebens, im Sinne seiner Negation, sondern im Gegenteil in gewisser Form sein Kern. Für Carvalho Franco, hat die Allgegenwart der Gewalt vor allem mit der unvermeidlichen Überlagerung von Interessen zu tun, die der Mangel und die Armut mit sich bringt.152 Zur Armut kommt die Instabilität hinzu, die die endemische horizontale soziale Mobilität erzeugt – das einzige Schutzmittel gegen die Widrigkeiten – und das Fehlen eines ausgeformten moralischen Verhaltenskodex, der minimal institutionalisierte Verhaltensmuster durchsetzen könnte. Hier sehen wir denselben Mangel der Institutionalisierung einer autonomen moralischen Sphäre ethischreligiöser Grundlage, der die „neue Peripherie“ kennzeichnet und den wir auch im Komplex von Herrenhaus und Sklavenhütte gesehen haben. In Anbetracht des Fehlens dieser Komponente, die minimal konsensbedingte Regeln durchzusetzen vermag, wird das praktische Verhalten durch einen „Kodex der Männlichkeit“ reguliert, oder, wie Carvalho Franco vorzieht, durch einen „Kodex des Duells“153. Das Hauptelement des Kodex der Männlichkeit oder des Duells liegt darin, dass er die Gegner mit ihrer gesamten Existenz einbezieht und „nicht lediglich ein abstraktes Segment von Persönlichkeiten, die in vielfältige unabhängige Rollen zerteilt sind“.154 Dies bedeutet, dass den im Duell Verwickelten nichts weiter als der Moment und die bedingungslose Verteidigung wichtig ist, 151
Sertão heißen die semi-ariden Gebiete im Binnenraum, vor allem im Nordosten Brasiliens. Franco, Homens livres na ordem escravocrata, S. 28. Franco, Homens livres na ordem escravocrata, S. 37. 154 Franco, Homens livres na ordem escravocrata, S. 37. 152 153
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ohne irgendwelche Abstufungen des primitiven und selbstzentrierten Ehrbegriffs – worin sich abermals das Fehlen einer ethischen Religiosität zeigt, die irgendeine Form von Dezentrierung des Bewusstseins voraussetzt. In diesem Kontext werden die Risiken nicht sorgfältig vermieden, sondern ihnen wird wagemutig entgegengetreten und sie werden bis zur äußersten Konsequenz getrieben. Durch das Fehlen von Formen äußerer Regulierung des Verhaltens, sei es durch äußere Regulationsmechanismen, sei es durch internalisierte Moralkodexe, wirft sich die Gewalt zur akzeptierten und legitimen Verhaltensregel auf und wird als die einzige Art angesehen, wie die Integrität des Beleidigten wiederhergestellt werden kann.155 Hier drücken sich Reputationen in Sätzen von der Art aus: „Fulano não leva desaforo para casa“ [Der nimmt keine Unverschämtheit mit nach Hause] oder, wie es im Nordosten heißt, wo mein eigener kultureller Horizont verankert ist: „Aquele cabra é macho mesmo, não tem mêdo de ninguém“ [Dieser Kerl ist ein ganzer Mann, der hat vor keinem Angst]. Hier tendieren die Konflikte zur Form totaler Vernichtungskämpfe, aufgrund der Unmöglichkeit von Verhandlungen, die sie auf partielle Verhältnisse begrenzen könnten.156 Auf diese Weise ist es nicht nur die materielle Armut und der Mangel, die einen elementaren Erklärungsfaktor für den moralischen Horizont des Abhängigen bilden, sondern insbesondere seine geistige, moralische und symbolische Armut im weiteren Sinn, die die Gewalt zum einzigen legitimen Kodex macht. Wenn die Gewalt der allgegenwärtige Schatten war, in dem sich das Fehlen eines expliziten, internalisierten und artikulierten Moralkodex abzeichnete, eines Moralkodex, der das soziale Leben regulieren und kontrollieren könnte, bedeutet dies nicht das Fehlen von unausdrücklichen und unkenntlichen Kodexen, unkenntlich in dem Sinn, dass sie nicht als solche von denen, die nach ihnen handeln, wahrgenommen werden, insbesondere von ihren Opfern. Der Kodex der Männlichkeit selbst ist zweifellos eine grobe und primitive Version moralischen Lebens. Was jedoch meines Erachtens zum Wichtigsten und Interessantesten in der Arbeit von Carvalho Franco gehört, ist die meisterliche Offenlegung des Ehrenkodex, der in einer vertikalen Beziehung, deren hierarchisches Verhältnis naturalisiert und intransparent geworden war, den freien Abhängigen und den Grundherrn verband. Es ist dieses naturalisierte und intransparent gewordene Verhältnis, worin sich die Bedeutung des Sklaven als „abwesende Präsenz“ erhellt, die dieser Beziehung, obwohl sie kein direktes Glied von ihr ist, ihren spezifischen Charakter verleiht. Wie wir gesehen haben, war es der Sklave, der in der sklavenwirtschaftlichen Ordnung die grundlegende Stellung im Produktions155 156
Franco, Homens livres na ordem escravocrata, S. 51. Franco, Homens livres na ordem escravocrata, S. 61.
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system innehatte. Wir haben auch gesehen, dass der freie Abhängige aus diesem Grund gezwungen war, die Ränder und Zwischenräume der ökonomischen Hauptstruktur zu besetzen. Dies zwang ihn, eine objektive Abhängigkeit in Bezug zum Grundherrn einzugehen, trotz der subjektiven Illusion von Freiheit als eines konstitutiven Bestandteils dieser besonderen Form von persönlicher Herrschaft. Das Meisterliche der Darstellung von Carvalho Franco liegt genau in der Offenlegung des Reichtums und der Wandelbarkeit dieses zweideutigen und verdeckten Typs von persönlicher Macht. Obgleich die Erscheinungsformen des freien Abhängigen verschieden waren, ist seine angemessene Erfassung vielleicht aufgrund der Figur des ländlichen oder städtischen „Agregado“ möglich, einer klassischen Figur in den großen Werken der brasilianischen Literatur. 157 In seinen Erscheinungsweisen konnte der Agregado die Form des Viehtreibers, des vendeiro158, des sitiante159 annehmen, oder er war einfach der „Mann“ des Vertrauens, der bewaffnete und kameradschaftliche Arm des Patrons. Was alle diese kontreten Formen vereint, ist das Bestehen einer objektiv gegebenen persönlichen Abhängigkeitsbeziehung, die aber für beide Seiten so „erscheint“, als ob sie das Ergebnis eines freiwilligen Abkommens wäre. Die Beziehung des Zugehörigen zum Herrn ist ein Verhältnis von Gunst und Schutz, wie übrigens bei allen Formen persönlicher Herrschaft, die vom direkten Gebrauch der physischen Gewalt absehen. Was die spezifisch „brasilianische“ Form dieser Beziehung kennzeichnet, hängt zusammen mit dem Fehlen eines expliziten und gemeinsam geteilten Kodex, der auch die Reichweite der Macht des herrschenden Elements begrenzen könnte. In Anbetracht des fehlenden Wirkens eines irgendwie institutionalisierten Moralkodex – der in traditionellen Kontexten unweigerlich eine religiös-ethische Grundlage besitzt, die, wie wir gesehen haben, in Gesellschaften der „neuen Peripherie“ vom brasilianischen Typ aber fehlt –, einer Struktur also, die eine autonome Sphäre der Moral jenseits des Spiels von rein persönlichem Begehren und Ehrgeiz konstituieren könnte, tendiert der implizite Kodex der Gunst/Schutz-Beziehung dazu, sehr spezifische Züge anzunehmen, die Carvalho Franco mit Scharfblick und Kompetenz analysiert. Neben dem Fehlen eines gemeinsam geteilten Moralkodex, ergänzen das Monopol des Grundeigentums und die für den großen merkantilen Besitz 157
Machado de Assis, Guimarães Rosa und Graciliano Ramos sind Namen, die mir in den Sinn kommen, wenn ich an Meister der narrativen Rekonstruktion dieser Figur denke, die in Brasilien vielfältige Erscheinungsformen im ländlichen sowie im städtischen Bereich annimmt. 158 Betreiber einer venda, einer Ladenschenke. 159 Person, die auf einem sitio, einer Landparzelle wohnt und diese als Klein- bzw. Subsistenzbauer bewirtschaftet.
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unerlässlichen Produktionsfaktoren das Bild der objektiven Voraussetzungen, um das Spezifische dieser Herrschaftsform bei uns zu erfassen. Der Abhängige tritt mit dem Eigentümer in Beziehung, als ob er seinesgleichen wäre. Wie ein Mitglied der herrschenden Klasse, von Cravalho Franco zitiert, erklärt: „Es gab keine Ungleichheit zwischen Fazendeiros und Sitiantes; ja es gab Freundschaft. Wenn einer von ihnen an unsere Tür kam, setzte er sich mit an den Tisch, um mit uns zu Mittag zu essen.“ 160 Hinter dieser formalen Gleichheit verbirgt sich jedoch die grundlegende Tatsache, dass die materielle Subsistenz des freien Abhängigen durch den guten Willen des Herrn bedingt ist. Er ist es letztlich, der dem Sitiante die Landparzelle zur Verfügung stellt, er ist es, der dem Viehtreiber erlaubt (oder nicht), die Weiden seines Grundbesitzes zu benutzen, er ist es, der der Nachkommenschaft seiner ihn umgebenden Gefolgsleute und Agregados Patenschaft und Schutz gewährt. Die Gegenleistung zu den Gunst- und Schutzgewährungen, wiederum im Rahmen des Fehlens eines objektiven, expliziten und autonomen Moralkodex, der für beide Seiten Verpflichtungen festsetzt, nimmt die Form der absoluten Unterwerfung an. Die Indentifikation des Abhängigen mit den Interessen und den Wünschen des Herrn geht bis zum Mord auf Befehl161, bis zur Unterordnung der Interessen der eigenen Familie162 und sogar bis zum Verlust der eigenen Freiheit163, um den Bedürfnissen und Interessen des Patrons und Beschützers zu dienen. Von Interesse bei dieser Beziehung ist die Aufdeckung der Mechanismen, die dem Bewusstsein der Beteiligten unkenntlich bleiben und die einen solchen Grad von Heteronomie in einer sozialen Beziehung zwischen formal Gleichen erlauben. Der erste Aspekt, den Carvalho Franco hervorhebt, ist die Schließung des Horizonts dieser Menschen für die Möglichkeit des Verständnisses irgendeiner unpersönlichen Beziehung. Der gesamte Bedeutungshorizont ist im untersuchten Kontext immer rückführbar auf Motive und Attribute konkreter Subjekte. Es existiert keine Möglichkeit zur „Werteabstraktion“, die ein Denken in universalistischen oder unpersönlichen Wertbegriffen erlauben könnte. Staat, Gesetz, unpersönliche Autorität sind fremde Begriffe und als solche buchstäblich unverständlich. Durch das Fehlen einer ethisch begründeten Religiosität, die in irgendeinem Maße verallgemeinerbare und universalisierbare Handlungsverpflichtungen und -gebote vermittelt und institutionalisiert, vollzieht sich die Beschränkung der Vorstellung auf den Horizont des Konkreten und Unmittelbaren in unerbittlich radikaler Weise. 160
Franco, Homens livres na ordem escravocrata, S. 84. Franco, Homens livres na ordem escravocrata, S. 71 Franco, Homens livres na ordem escravocrata, S. 103. 163 Franco, Homens livres na ordem escravocrata, S. 104. 161 162
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In diesem Kontext erhält die Erwiderung auf die Gunsterweise des mächtigen Beschützers den Charakter einer Ehrenhandlung, die im Bewusstsein des Abhängigen, einen gewissen Sinn von Bilateralität und dadurch eine gewisse Form von Selbstachtung und sozialer Anerkennung wiederherstellt. Das Ergebnis „erscheint“ als ein freiwilliges Akzeptieren der Autorität und wird auf diesem Bewusstseinsniveau als konsensbegründet und erwünscht erfahren. In diesem spezifischen Sinn wäre die „freiwillige Knechtschaft“ des Abhängigen für Carvalho Franco noch verderblicher als die offenkundige Beherrschung des Sklaven: Wenngleich im Bereich der Sklavenarbeit der Sklave zu einer Sache gemacht wird und die Auslöschung seines Bewusstseins bis zur Selbstverleugnung als Person geht, hinterlässt die Gewalt dort heftige Spuren, die die Unterdrückung denunzieren, die auf ihnen lastet, und insofern wenigstens „einen vagen Wunsch nach Freiheit“ ermöglichen, „ein bloß subjektives Bedürfnis der Selbstbehauptung, das keine Bedingungen zur konkreten Verwirklichung findet“. Freiheit, die unmöglich, aber wenigstens erwünscht ist und die dem Sklaven, wenngleich nur als individuelle Projektion, einen Sinn von Menschlichkeit rückerstattet. Für den, der der persönlichen Herrschaft unterworfen ist, existieren keine objektivierten Spuren des Systems von Einschränkungen, in das seine Existenz eingezwängt ist: Seine Welt ist formal frei. Die Einsicht, dass sein Wille an denjenigen des Vorgesetzten gebunden ist, ist nicht möglich, denn der Prozess der Unterwerfung geschieht als ob er spontaner Entschluss wäre. Damit werden alle Möglichkeiten von Selbstbewusstsein zunichte gemacht, da sich im sozialen Leben alle Bezüge, aufgrund derer es sich konstituieren könnte, auflösen. Ist die persönliche Herrschaft vollständig entwickelt, verwandelt sie denjenigen, er sie erfährt, in eine domestiziertes Wesen: Schutz und Wohlwollen werden ihm gewährt im Austausch zu Treue und untergeordnete Dienste. So zeichnet sich für denjenigen, der an die persönliche Macht gebunden ist, eine unbewegliche Stellung ab, die unmerklich in einen radikalen Konformismus mündet.164
Dieser Umstand ist auch für die Nicht-Wahrnehmung der sozialen Ebene verantwortlich, auf welcher der Grundherr in Wirklichkeit auch von der Gegenleistung des Untergeordneten abhängig war: nämlich in der politischen Sphäre. Auf dieser Ebene waren die Dienste und die Loyalität der Agregados und Abhängigen für den Herrn effektiv unentbehrlich. Die Politik war das Feld schlechthin für die Ausübung von Loyalität und Unterwerfung, wahrgenommen im Licht des ehrbaren Mantels der „Dankbarkeit“. Noch heute ist im Nordosten Brasiliens das einzige Verbrechen, das keine Vergebung verdient, die „Undankbarkeit“, das Kapitalverbrechen im Bereich persönlicher Macht, wenngleich wir hier den empirischen Horizont der Untersuchung von Carvalho Franco verlassen, und dies 164
Franco, Homens livres na ordem escravocrata, S. 95.
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gilt nicht nur für den ländlichen Bereich, dem Ort schlechthin der jahrhundertewährenden Kontinuität dieser Form sozialer Beziehungen, sondern auch, allerdings in diffuserer Weise, für den städtischen Bereich. Auf jeden Fall sieht Carvalho Franco in dieser politischen Dimension die einzige Form einer effektiv gegenseitigen Abhängigkeit, die es wahrscheinlicher machen könnte, dass der Herr sich zur effektiven Erfüllung seiner Verpflichtungen gezwungen fühlt. Fehlen diese politischen Bindungen, ist die Erfüllung der Verbindlichkeiten vonseiten des Fazendeiros unabwägbar und unterliegt einzig und allein seinen Launen und seinem guten Willen.165 Doch die objektive Abhängigkeit schloss für viele Abhängige nicht die reale Möglichkeit sozialen Aufstiegs aus. Graciliano Ramos, einer der größten brasilianischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, erzählt in São Bernardo166 den Lebensweg eines ehemaligen Abhängigen, dem es durch Verschlagenheit und Mordtaten gelingt, zum Herrn über Land und Menschen zu werden. Der Leitfaden der großartigen Prosa von Graciliano Ramos ist genau der Prozess der Entmenschlichung, den der soziale Aufstieg in diesem Kontext von Unsicherheit, Instabilität und Gewalt erfordert. Er impliziert in Wirklichkeit, die Fähigkeit, von jeder Form des Respekts vor dem Anderen abzusehen, zu einer Tugend der Anpassungsfähigkeit zu machen. Der „Schwache“ muss ausgebeutet und erniedrigt werden, damit er niemals vergisst, „wer hier das Sagen hat“, und der „Starke“ muss, wenn er ein Rivale ist, „eliminiert“ werden, bevor er auf dieselbe Idee kommen kann, d.h. im Sinne einer „vorsorgenden Maßnahme“. Das literarische Talent von Graciliano Ramos lässt deutlich werden, dass das subjektive Drama Paulo Honorios, des Romanhelden, dessen Unfähigkeit zu affektiven Bindungen ihn in Verzweiflung und Einsamkeit stürzt, auf das Engste mit dem objektiven Drama eines Kontexts verbunden ist, der nur die Opposition von „Starken“ und „Schwachen“, Tyrannen und Erniedrigten erlaubt. Die Erzählung von Graciliano Ramos lässt auch erkennen, dass die von Carvalho Franco behandelte Wirklichkeit eine Erscheinung nationaler Dimension war, so wie der „Schatten“ der Sklaverei, der sie bedingte. Carvalho Franco vermutet in diesem Sinn auch alternative Wege für die Abhängigen in individueller Hinsicht, Konformismus bei den meisten und sozialer Aufstieg bei einigen wenigen.167 In kollektiver Hinsicht jedoch war der reformerische und revolutionäre Weg von unten her verschlossen, eben aufgrund des naturalisierten, intransparenten und vorreflexiven Charakters der „freiwilligen Knechtschaft“, mit Ausnahme der episodischen und kurzlebigen messiani165
Franco, Homens livres na ordem escravocrata, S. 91 Ramos, São Bernardo. 167 Franco, Homens livres na ordem escravocrata, S. 111. 166
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schen Bewegungen. Der Weg des freien Abhängigen war und ist meistens derjenige der Unterwerfung, abgesehen von eventuellen und gewaltsamen Ausbrüchen, die lediglich seine Einsamkeit, Isoliertheit und Verzweiflung bekräftigen. Der interessanteste Aspekt hinsichtlich der Sicht des Sklaven im Rahmen der „mohammedanischen Sklaverei“, wie wir sie bei Freyre besprochen haben, und der Sicht des formal freien Abhängigen in der Analyse von Carvalho Franco ist die außerordentliche Kontiguität beider Sozialtypen. Beide sind gezwungen, aufgrund von unterschiedlichen sozialen Prozessen und Vorbedingungen, Positionen einzunehmen, die fast austauschbar sind. Beiden gemein ist die Schließung des Wahrnehmungshorizonts für die eigenen Interessen und die Unterordnung unter die Interessen und Wünsche des Herrn in einer Weise, als ob sie auf der Wahl einer autonomen Entscheidung beruhen würde. Beide werden die Unterklasse der Unbrauchbaren und Unangepassten im neuen unpersönlichen System bilden, das von außen als reine „instituitionelle Praxis“ hereinkommt, ohne das ideelle Gerüst, von dem in den zentralen Gesellschaften die definitiven Impulse für den gigantischen Prozess der Homogenisierung des kontingenten und unwahrscheinlichen Menschentyps ausgingen, auf dem der bürgerlichen Gefühlshaushalt basiert, und das auch dessen generalisierende Ausweitung auf die subalternen Klassen erlaubt. Lediglich wenn dieser Prozess in einem gewissen, signifikativen Maß erfolgreich abgelaufen ist, ist die Chance gegeben, dass das abstrakte Gesetz, das dem Begriff der Staatsbürgerschaft als Substrat zugrunde liegt, zu einer effektiven Realität wird. Dies wird der Leitfaden des gesamten dritten Teils dieses Buches sein.
Kapitel III – Von der persönlichen zur unpersönlichen Macht Florestan Fernandes und die makro-soziale Dimension der bürgerlichen Revolution in Brasilien Wir haben gesehen, dass die herrschende Tradition, sei es auf lokaler oder internationaler Ebene, dazu tendiert, den Modernisierungsprozess der Gesellschaften der „neuen Peripherie“ wie der brasilianischen als einen zweideutigen Prozess zu interpretieren, der in gewisser Weise von der prämodernen Variable gesteuert wird, was seinen unvollständigen und oberflächlichen Charakter erklärt. So gesehen würde der Personalismus und die Ägide der persönlichen Macht weiterhin dominieren, allenfalls in verändertem Maßstab, übertragen von einem patriarchalistischen und familistischen Kontext auf einen patrimonialistischen und von staatlicher Instanz gesteuerten Kontext. Korruption, Staatsstreiche, Armut,
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schen Bewegungen. Der Weg des freien Abhängigen war und ist meistens derjenige der Unterwerfung, abgesehen von eventuellen und gewaltsamen Ausbrüchen, die lediglich seine Einsamkeit, Isoliertheit und Verzweiflung bekräftigen. Der interessanteste Aspekt hinsichtlich der Sicht des Sklaven im Rahmen der „mohammedanischen Sklaverei“, wie wir sie bei Freyre besprochen haben, und der Sicht des formal freien Abhängigen in der Analyse von Carvalho Franco ist die außerordentliche Kontiguität beider Sozialtypen. Beide sind gezwungen, aufgrund von unterschiedlichen sozialen Prozessen und Vorbedingungen, Positionen einzunehmen, die fast austauschbar sind. Beiden gemein ist die Schließung des Wahrnehmungshorizonts für die eigenen Interessen und die Unterordnung unter die Interessen und Wünsche des Herrn in einer Weise, als ob sie auf der Wahl einer autonomen Entscheidung beruhen würde. Beide werden die Unterklasse der Unbrauchbaren und Unangepassten im neuen unpersönlichen System bilden, das von außen als reine „instituitionelle Praxis“ hereinkommt, ohne das ideelle Gerüst, von dem in den zentralen Gesellschaften die definitiven Impulse für den gigantischen Prozess der Homogenisierung des kontingenten und unwahrscheinlichen Menschentyps ausgingen, auf dem der bürgerlichen Gefühlshaushalt basiert, und das auch dessen generalisierende Ausweitung auf die subalternen Klassen erlaubt. Lediglich wenn dieser Prozess in einem gewissen, signifikativen Maß erfolgreich abgelaufen ist, ist die Chance gegeben, dass das abstrakte Gesetz, das dem Begriff der Staatsbürgerschaft als Substrat zugrunde liegt, zu einer effektiven Realität wird. Dies wird der Leitfaden des gesamten dritten Teils dieses Buches sein.
Kapitel III – Von der persönlichen zur unpersönlichen Macht Florestan Fernandes und die makro-soziale Dimension der bürgerlichen Revolution in Brasilien Wir haben gesehen, dass die herrschende Tradition, sei es auf lokaler oder internationaler Ebene, dazu tendiert, den Modernisierungsprozess der Gesellschaften der „neuen Peripherie“ wie der brasilianischen als einen zweideutigen Prozess zu interpretieren, der in gewisser Weise von der prämodernen Variable gesteuert wird, was seinen unvollständigen und oberflächlichen Charakter erklärt. So gesehen würde der Personalismus und die Ägide der persönlichen Macht weiterhin dominieren, allenfalls in verändertem Maßstab, übertragen von einem patriarchalistischen und familistischen Kontext auf einen patrimonialistischen und von staatlicher Instanz gesteuerten Kontext. Korruption, Staatsstreiche, Armut,
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Schwäche der Institutionen, sämtliche Makel der peripheren Gesellschaften können so auf einen Schlag erklärt werden. Wie ich nicht müde werde zu wiederholen, fällt dieser Erklärungstyp nicht nur unlösbaren inneren Widersprüchen zum Opfer, sondern verhindert auch eine angemessene Problematisierung der „realen“ Probleme, die diesen Typ von Gesellschaft bedrücken. Es ist eine einfache Art von Erklärung, eng am Alltagsverstand ausgerichtet, woraus sie Plausibilität und Überzeugungskraft bezieht, jedoch hat sie die politische Theorie und Praxis dieser Gesellschaften in eine Sackgasse geführt. Obgleich in Vergangenheit und Gegenwart vorherrschend – heutzutage unter der Maske des Hybridismus, so sehr in Mode in einem „politisch korrekten“ Kontext, da er dazu tendiert, Parolen erstrebenswerter Politiken mit der Analyse faktischer Realitäten zu vermengen –, ist jedoch gleichwohl das Paradigma des Personalismus nicht das einzige. Florestan Fernandes scheint mir der Autor an der Peripherie zu sein, der am weitgehendsten zu der Konstruktion eines Paradigmas gelangt ist, von dem aus man eine alternative Konzeption ausmachen kann, die den „modernen“ Problemen von modern peripheren Gesellschaften gerecht werden. Die Schlüsselstellung hinsichtlich der Diskussion dieses Punktes bei Fernandes kommt seinem Buch A revolução burguesa no Brasil [Die bürgerliche Revolution in Brasilien] zu. Thema des Buchs ist eben genau die Einführung und Konsolidierung des Kapitalismus in Brasilien. Fernandes erkennt in aller nur wünschenswerten Klarheit und Schärfe, dass der wesentliche Punkt in diesem Kontext darin liegt, das „herrschende Zivilisationsmodell“ von seiner strukturellen Transformation der grundlegenden ökonomischen, sozialen und politischen Formen her zu verstehen.168 Im Brasilien nach der Unabhängigkeit (1822) wird dieses herrschende Modell dasjenige der „modernen westlichen Welt“ sein. 169 Es kann folglich nicht in „exotischen und anachronistischen Faktoren der Landschaft“170 sein, sagt der Autor sehr zu Recht, wo dieses Modell zu suchen ist, sondern in den strukturellen und funktionellen Erfordernissen des herrschenden Zivilisationsmodells. Es ist genau dieser Feinblick der Analyse und Wahrnehmung, der ihm erlaubt, die Analyse der Formen des äußeren Scheins zu überwinden und das Hauptsächliche vom Nebensächlichen zu trennen (selbst wenn das letzte mit bloßem Auge die sichtbarste Erscheinung liefern mag!) und die ihn von der herrschenden Denkströmung abhebt, die die Modernisierung von peri168
Fernandes, A revolução burguesa no Brasil, S. 17. Wie wir gesehen haben, wenngleich nur schematisch, ist dies der grundlegende Irrtum bei der Anwendung des „Hybridismus“ auf die Gesellschaften der „neuen Peripherie“: das Fehlen einer Definition, die das grundlegende Strukturprinzip dieser Gesellschaften definiert. 170 Fernandes, A revolução burguesa no Brasil, S. 17. 169
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pheren Gesellschaften wie der brasilianischen als ein oberflächliches und epidermales Phänomen ansehen. Die Art und Weise, wie Fernandes das Erscheinen des modernen Bürgers in Brasilien sieht, verbindet sich perfekt mit unserer Diskussion hinsichtlich des Vorangehens der (institutionellen und sozialen) „Praktiken“ vor den „Ideen“. Der „Bürger“, sagt er, entsteht bei uns als eine „spezialisierte Erscheinung“171, d.h. – und dies ist nun schon meine Sicht – er entsteht nicht als eine geistige Schöpfung, deren unintentionale Praxis ihn wie in Europa zum ökonomischen Akteur machte. Er entsteht also nicht als Ergebnis einer ganzen revolutionären Weltsicht des sozialen Lebens in allen seinen Dimensionen, wie in Europa, sondern als eine eng ökonomisch bedingte Gestalt. Eine ökonomisch bedingt Gestalt, die sich von Anfang an als Antwort auf konkrete ökonomische Anreize konstituiert, ohne dass dabei, wenigstens auf kurze oder mittlere Sicht, eine Abstraktion von diesen Umständen auf einen weiteren sozialen Kontext hin geschieht. Dazu trägt ohne Zweifel die Tatsache bei, dass der Kapitalismus sich bei uns in einer kommerziellen Variante etabliert, insofern als die „autonomen Handelsvertreter“ dazu tendierten, entweder zu Angestellten der Exportfirmen zu werden oder in der städtischen Plebs zu verschwinden, wodurch die Konstituierung eines autonomen Interessenverbands von Manufaktur und Industrie verhindert wurde.172 Für Fernandes ist der grundlegende strukturelle Faktor bei der Einführung des Kapitalismus in Brasilien die politische Unabhängigkeit ausgehend vom Bruch des Kolonialpaktes und der damit einhergehenden Herausbildung eines Nationalstaates. Er führt explizit das Netz staatlicher Dienste für die Konstituierung eines Nationalstaates an und die multiplizierende Wirkung dieses Faktums für die Entwicklung von städtischen Gesellschaften. Obwohl das koloniale Unternehmen von jeher mit dem internationalen Handelskapitalismus verbunden worden ist, war das gesamte Schema daraufhin abgestellt, die Reichtümer von innen (Kolonie) nach außen (Metropole) abfließen zu lassen und damit unmöglich werden zu lassen, dass der hier erzeugte Reichtum den internen Markt beleben könnte.173 In dieser Hinsicht wird der Bruch des Kolonialstatuts, indem er es ermöglicht, dass der Großteil des Erzeugten intern verwendet wird, zusammen mit der schon Erwähnten Expansion des Nationalstaats und ihren sozioökonomischen Folgen – neue Dienste und Funktionen, Homogenisierung und stärkere Verbindung zwischen den verschiedenen Regionalmärkten etc. –, für Fernandes zum initialen Schritt für die singuläre Gestaltung eines peripheren Kapitalismus. 171
Fernandes, A revolução burguesa no Brasil, S. 18. Fernandes, A revolução burguesa no Brasil, S. 48. 173 Fernandes, A revolução burguesa no Brasil, S. 22-24. 172
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Der erste Aspekt der Begrenztheit eines solchen Typs moderner Gesellschaft, die sich unter Bedingungen konstituiert, die wir durch das Vorangehen der institutionellen und sozialen Praktiken vor den Ideen und Weltsichten charakterisiert haben, ist die Unmöglichkeit einer bewussten Artikulation der Weltsicht und des alltäglichen Verhaltens, die diese institutionellen und sozialen Praktiken selbst implizieren. Artikulation heißt hier die Fähigkeit, die unentbehrlichen Vorbedingungen und Voraussetzungen für die Entwicklung der oben erwähnten Praktiken deutlich wahrzunehmen, sowie die angemessene Berechnung der Folgen, die mit diesen Praktiken verbunden sind. Diese Praktiken sind nicht „neutral“, wie wir in der Erörterung im ersten Teil dieses Buchs gesehen haben. Im Gegenteil, Markt und Staat reproduzieren schon eine historisch kontingent entstandene Welt- und Menschensicht, die Individuen und soziale Klassen nach deren funktionellen Erfordernissen hierarchisiert. Aufgrund dieser Hierarchie geschieht es, dass sozial Klassierte und Deklassierte erzeugt werden, und zwar unter einem Anschein von Natürlichkeit und Neutralität durch das Wirken von vermeintlich universellen und nicht zur Debatte stehenden Prinzipien wie z.B. dem Begriff des Leistungsprinzips. Mit der Erweiterung der Reichweite der Funktionslogik dieser grundlegenden institutionellen Praktiken, ergibt sich auch als Begleiteffekt eine Erhöhung der feinstrukturellen Wirksamkeit der Prinzipien sozialer Organisation und individuellen Verhaltens, die das Wirken institutioneller Praktiken wie Markt und Staat impliziert. Grundlegend für den Gesellschaftstyp, der sich unter diesen Impulsen konstituiert, wird der Grad an Bewusstsein und Selbstreflexivität sein, die die am Prozess beteiligten und darin eingetauchten sozialen Akteure und Gruppen von den Virtualitäten dieses Prozesses besitzen. Ein „Defizit“ an Artikulation kann in diesem Kontext nicht nur „Naturalisierung von Ungleichheit“ bedeuten, ein Aspekt, den ich im Einzelnen im dritten Teil dieses Buches entwickeln werde, sondern z.B. auch das Fehlen einer langfristigen Perspektive und das Fehlen eines angemessenen Verständnisses der Tiefe und Reichweite der neu entstehenden Verhaltensweisen und sozialen Rollen. So zeigen sich die neuen sozialen Kräfte und Praktiken, die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts am Wirken sind, bis zur Abschaffung der Sklavenwirtschaft (1888) und des Imperiums (1889) noch in der Perspektive von ständischen Unterscheidungen und Werturteilen der vorangehenden Ordnung. Es ist genau dieses „Defizit“ an Artikulation, die dem von Fernandes geprägten Begriff von einer „verkappten“ bürgerlichen Revolution Inhalt verleiht. Sie erfolgt unmerklich, im Kleinen, im Alltag und seinen Praktiken, doch ohne bewusste und langfristige Artikulation einer Weltsicht, die den eigenen Interessen angemessen ist. Der Status des Liberalismus bei uns ist sehr interessant, um das eben Gesagte zu präzisieren und gleichzeitig zu relativieren und einzuschränken. Denn wie
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Fernandes in aller Deutlichkeit erkennt, wird sich die liberale Doktrin in den Ideenhaushalt verwandeln, der für den Ausdruck der Weltsicht und der Interessen der neuen Gesellschaft, die sich auf den Kernstrukturen und der langsamen Dekadenz der alten bildete, am angemessensten war. Das liberale Ideengut stand nicht nur in einer ex-post- Relation hinsichtlich der Praktiken, zu deren Sprecher es werden sollte, ein guter Teil seiner Begrenztheit rührte von seiner „reaktiven“ Stellung in Bezug zur alten herrschenden Ordnung her, da es sich gezwungen sah, in dem vom Feind abgesteckten Aktionsfeld zu kämpfen. Seine Position in der Debatte über die Abschaffung der Sklaverei ist symptomatisch sowohl für seine Bedeutsamkeit als auch für seine Beschränkung. Seine Bedeutung und seine Ambiguität werden deutlich aufgrund der Tatsache, dass das liberale Predigen gegen die Sklaverei „das Bestreben, die kompetitive Sozialordnung auszuweiten, [gleichzeitig] verdeckte und zum Ausdruck brachte“174, indem es sich gegen die grundlegende Institution der alten Ordnung richtete, um ihr den endgültigen Todesstoß zu geben und damit den Weg für eine nationale Reorganisation gemäß den Interessen der Marktwirtschaft zu ebnen. Seine Beschränkung wird andererseits deutlich in den verengten Umrissen der Zielvorstellung bei den Eliten, die die Abschaffung der Sklaverei zu einer „sozialen Revolution von Weißen für Weiße“ werden lässt, d.h. zu einem inner-elitären Projekt, und von da ab beginnt die langwährende Abwendung von einer Unterklasse, die auf die neuen sozio-ökonomischen Bedingungen nicht vorbereitet ist und sich selbst überlassen wird. Auf jeden Fall liefert der Liberalismus eine Art von „Minimalgrammatik“, die es erlaubt, die Interessen explizit zu machen, die bei der Erstellung eines neuen sozio-kulturellen Programms einer gerade aus der Abhängigkeit und Unmündigkeit erwachsenen Elite im Spiel gewesen sind, um den geforderten Rollen für die Eingliederung in den internationalen Markt gerecht zu werden und um einen autonomen nationalen Staatsapparat zu leiten. Der Liberalismus wurde zu einer ideologischen oder weltanschaulichen Kraft, die den neuen strukturellen und funktionellen Erfordernissen Substanz und Zusammenhang verlieh, sowohl der neuen Rechtsordnung175, als auch der Weltauffassung, in der eine gerade entstehende Öffentlichkeit zur Artikulation gelangte. Der liberale Diskurs definierte in gewisser Weise die Möglichkeiten und Grenzen der Öffentlichkeit, die sich damals bildete. Sie als ein „psychotisches“ Element zu behandeln, das keinen Bezug zur Wirklichkeit hatte, als eine „unpassende Idee“ oder ihr einen lediglich epidermalen Charakter zuzuerkennen, als bloße Fassade, Dekor oder „soziale Maske“, scheint die langfristige soziale Dynamik nicht zu berücksichti174 175
Fernandes, A revolução burguesa no Brasil, S. 19. Fernandes, A revolução burguesa no Brasil, S. 40.
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gen, die allein über die Form Aufschluss geben kann, wie sich Ideen und Weltauffassungen mit konkreten sozialen Interessen verbinden. Die „Minimalgrammatik“ des Liberalismus erlaubte die, wenngleich unsichere und initiale, Erschließung eines ganzen materiellen und symbolischen Universums, das anderenfalls unartikuliert geblieben wäre. Fernandes erkennt, dass die koloniale Gesellschaft, die lokalistisch, provinziell und auf persönlichen Beziehungen gegründet war, gleichsam einen „kulturellen Schock“ erleidet, der sie allmählich, aber radikal in eine nationale Gesellschaft mit in wachsendem Maße unpersönlichen Herrschaftsbeziehungen verwandelt. Der Liberalismus liefert eine mögliche Sprachform für diesen Prozess der Abstraktion und Generalisierung und erlaubt den darin einbezogenen Subjekten die Artikulation eines Selbstverständnis. Die neuen staatlichen Funktionen von großer Tragweite wie Fiskus, zentralisierte Justizverwaltung, Dienstleistungsnetz und Kreditwesen etc., zusammen mit der wachsenden ökonomischen Bedeutung des Handels, was seinerseits Förderung der freien Berufe, der Presse und die Differenzierung qualifizierter Tätigkeiten impliziert, vervollständigen das Bild der sozialen Expansion und Differenzierung, die es vorher nicht gab. 176 Diese politische Revolution der integrierten nationalen Gesellschaft, wenngleich sie aufgrund des endemischen Geldmangels partiell und unvollständig war, ermöglichte nach Ansicht von Fernandes die „leise sozio-ökonomische Revolution“, die das moderne Brasilien konstituiert.177 Die langsame und kleinzellige bürgerliche Revolution, d.h. die „verkappte Revolution“, von der Fernandes spricht, ist der vollkommenste Ausdruck eines Modernisierungsprozesses, bei dem sich die institutionellen „Praktiken“ wie Staat und Markt und ihre sozialen und psycho-sozialen Konsequenzen fast als materielle Realität im Rohzustand durchsetzen. Das Ex-post-Ideengut des Liberalismus ermöglicht zwar kurzfristig und „in der Hitze des Gefechts“ die Vermittlung, Aushandlung und Legitimierung der neuen sozialen Rollen und bewirkt eine „Erweiterung der psychosozialen Sphären der Wirklichkeitswahrnehmung“178, doch erreicht es andererseits nicht, mit demselben hohen Grad an Bewusstsein und Intentionalität, wie er im europäischen und nordamerikanischen Fall kennzeichnend war, einen langfristigen Erwartungshorizont für die Gesellschaft als Ganzer zu entwerfen. Hier machte man sich keine Gedanken um die „orderly society“179, wie es für die Bemühungen der sozialen Organisation der puritanischen Gemeinden in den USA kennzeichnend war, noch machte man sich Gedanken, wie in Europa zu176
Fernandes, A revolução burguesa no Brasil, S 48. Fernandes, A revolução burguesa no Brasil, S 71. Fernandes, A revolução burguesa no Brasil, S 58. 179 Taylor, Modern social imaginaries, S. 26. 177 178
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nächst in der Elite und danach auch in den subalternen Klassen, um die Prozesse der Homogenisierung und Generalisierung des bürgerlichen Persönlichkeitstyps und Gefühlshaushalts. Im dritten Teil dieses Buchs werden wir die schwerwiegenden Konsequenzen sehen, die diese Tatsache nach sich zieht. Ist die Analyse des Prozesses der brasilianischen Modernisierung im 19. Jahrhundert von Fernandes auch äußerst interessant und feinsinnig, so weist sie doch gleichzeitig auch schwere und symptomatische Mängel auf. Wenn er reichliche soziologische Sensibilität besitzt, um die strukturellen Faktoren zu erkennen, die bei diesem Prozess im Spiel sind, so fehlt ihm der Blick für die Dimension, die diesem Prozess „Fleisch und Blut“ verleihen, d.h. die Dimension des sozialen Handelns, die in der Thematisierung der Trägergruppen und -klassen des Modernisierungsprozesses substantiell wird. In der Darstellung von Fernandes besteht bei diesem Thema, wenn es denn behandelt wird, zudem noch ein bedeutender Zeitsprung von 60 Jahren zwischen der Konsolidierung der staatlichen Struktur, von ihm selbst als Nullpunkt des sozialen Umwandlungsprozesses angesehen, und der Zeit, der die Akteure angehören, die er als Träger des Modernisierungsprosesses thematisiert. Die Subjekte der brasilianischen Modernisierung sind für Fernandes die Fazendeiros im Westen der Region von São Paulo, die als Erben der Bandeirantes betrachtet werden, und die italienischen Einwanderer, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nach Brasilien kommen.180 Wie erklärt sich dieser Zeitsprung? Weshalb die Außerachtlassung des Modernisierungsprozesses, der in Wirklichkeit zu Anfang in Rio de Janeiro und danach in Salvador und Recife beginnt, bevor er mit noch unbekannter Intensität São Paulo erfasste? Dieser Umstand ist nach meiner Ansicht symptomatisch für die Tatsache, dass seine alternative Interpretation des brasilianischen Modernisierungsprozesses, soweit ich sehen kann, nicht eigentlich zur Kenntnis genommen worden ist, wenigsten nicht in ihrer ganzen Tragweite. Denn obwohl Fernandes ein klares Bewusstsein von der Effektivität des peripheren Modernisierungsprozesses in Brasilien besitzt, interpretiert er ihn doch im theoretischen Rahmen der „Schule des Patrimonialismus“, die die „Sonderstellung“ der Region von São Paulo hervorhebt. Nach diesem Interpretationsmodell ist der brasilianische Modernisierungsprozess ein endogener Prozess und in São Paulo lokalisiert, das als eine Art „tropisches Neu-England“ aufgefasst wird und sich darin dem rückständigen, personalistischen und korrupten Rest des Landes entgegenstellt. Eine Schlüsselbedeutung für diese Konstruktion hat die Romantisierung des Bandeirante als Vorläufer des Fazendeiro im Westen der Region São Paulo – in Form jener theo180
Fernandes, A revolução burguesa no Brasil, S. 121/146.
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retischen Trickserei, die den abenteuernden Bandeirante zum Prototyp des Kapitalisten macht, wo dieser in Wirklichkeit sein spiegelbildliches Gegenteil ist. Das Werk des reifen Sérgio Buarque, die Interpretation von Raimundo Faoro in „Os Donos do poder“ [Die Herren der Macht] und insbesondere das elegant geschriebene „São Paulo e o Estado Nacional“ [São Paulo und der Nationalstaat] von Simon Schwartsman sind alles Beispiele dieser einflussreichen interpretativen Strömung, die nicht nur den nationalen Horizont der Theorie markiert hat, sondern auch denjenigen der politischen Praxis.181 Auf weniger explizite Weise scheint Fernandes, der sich ja schließlich auf einen Modernisierungsprozess nationalen Ausmaßes bezieht, mit seiner Interpretation, wenn er sich auf die Gruppen konzentriert, die am raschen Modernisierungsprozess ab dem Ende des 19. Jahrhunderts in São Paulo beteiligt waren und wenn er daneben den seit 1808 in anderen urbanen Zentren in Brasilien erfolgenden Reeuropäisierungsprozess „vergisst“, Wasser auf die Mühlen der patriomonialistischen Interpretationsvariante zu leiten, die die Sonderstellung São Paulos betont. Der hohe Abstraktionsgrad der Darstellung, der gerade durch die Beschreibung struktureller Mechanismen ohne einen begleitenden Akzent auf dem Aspekt des sozialen Handelns verursacht wird, verstärkt noch diese Möglichkeit der Interpretation. Aufgrund dieser Elemente, die in seiner Analyse nicht angemessen berücksichtigt werden, bin ich der Ansicht, dass für eine angemessene Darstellung dessen, was mir als typischer Fall einer „exogenen“, von außen induzierten Modernisierung erscheint, die Darstellung von Fernandes durch die Interpretation Gilberto Freyres hinsichtlich des Reeuropäisierungsprozesses ergänzt werden muss, der das Land von den Anfängen des 19. Jahrhunderts im Sturm einnimmt.
Gilberto Freyre und die mikro-soziale Dimension des Alltagslebens Das Thema von „Sobrados e Mucambos“182, dieses gelungenen „soziologischen Romans“ des brasilianischen Stadtlebens im Zeichen der Reeuropäisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist die langsame Dekadenz der ländlichen patriarchalischen Kultur Brasiliens vom Beginn des 19. Jahrhunderts ab, als sich die Städte und die städtische Kultur zu entwickeln begannen. Im Gegensatz zu 181
Hinsichtlich einer exzellenten Analyse dieser Beziehung zwischen Ideen und politischen Projekten siehe: Werneck, Weber e a interpretação do Brasil [Weber und die Interpretation Brasiliens]. 182 Eine deutsche Übersetzung erschien 1990 unter dem Titel Das Land in der Stadt. Die Entwicklung der urbanen Gesellschaft Brasiliens. „Sobrado“ und „mucambo“ sind die Bezeichnungen für das städtische „Herrenhaus“ und die „Armenhütte“.
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Fernandes, der den Wendepunkt der Veränderungen mit 1822 ansetzt, dem Jahr der Unabhängigkeit und der Konstituierung eines autonomen Nationalstaats, verortet ihn Freyre einige Jahre zuvor. Schließlich ist das Jahr 1808 ein Jahr voller Ereignisse mit langfristigen Nachwirkungen, wie der Ankunft der königlichen Familie Portugals, die den napoleonischen Kriegen entfloh, und der Öffnung der Häfen im selben Jahr, die das Handelsmonopol der Metropole beseitigte. Diese beiden Ereignisse versinnbildlichen in meinen Augen gleichsam die Einführung der beiden grundlegendsten und wichtigsten institutionellen Praktiken der modernen Welt in den Kontext einer bis dahin materiell und symbolisch extrem primitiven Gesellschaft: die Einführung von Staat und Markt. Schließlich wird die Ankunft der königlichen Familie, die von Tausenden von Beamten des Königs und von einem bedeutenden Teil der portugiesischen Umlaufmittel begleitet ist, nicht nur für den pragmatischen Aspekt einer stärkeren fiskalischen und politischen Kontrolle Bedeutung haben, sondern auch in erstmaliger Form eine Reihe von sozialen Verbesserungen und Förderungen von Produktion und Dienstleistungen einführen, die bis dahin in der Kolonie unbekannt waren. Die Öffnung der Häfen sollte nicht nur einen Anstieg des Warenaustausches bedeuten, sondern auch die Ankunft von europäischen, insbesondere englischen Handelsvertretern, Verkäufern, Manufakturbetreibern, Mechanikern und Reisenden, und zwar in einem Umfang, der die Bevölkerungslandschaft von Städten wie Rio de Janeiro veränderte. Ein guter Teil der Geschichte, die Freyre uns in seinem Buch erzählt, ist auf die Wirkungen dieser beiden hauptsächlichen Neuerungen zurückzuführen. Die Ankunft von D. João VI. symbolisierte die gewichtigste Präsenz des Staates im Leben der Kolonie und bedeutete eine neue Orientierung des politischen und sozialen Lebens in Richtung auf einen stärkeren Schutz der städtischen Interessen zuungunsten der ländlichen Interessen, die zuvor allmächtig waren, wie wir gesehen haben, so dass sich nun langsam aber sicher die Stadt gegen die Zuckerbarone und ländlichen Potentaten zu behaupten beginnt und der Staat gegen die patriarchalische Familie.183 Die Figuren des Vermittlers, des Händlers, des Financiers, des Geldverleihers der zinspflichtige Kredite vergibt, beginnen an Gewicht zu gewinnen und bedrohen und untergraben so allmählich die Grundlage der Macht der Herren über Land und Menschen. Wenn hier die wachsende Merkantilisierung des wirtschaftlichen Lebens damit beginnt, die ständischen Fundamente der sozio-ökonomischen Grundlage des Patriarchalismus zu bedrohen, so ergänzt das Erscheinen des Staates und seiner Vertreter, obgleich in zweideutiger Weise und unter dem Gewicht konstanter Kompromis183
Freyre, Sobrados e mucambos, S. 18.
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se, das Bild der allmählichen und in kleinsten Schritten erfolgenden Substitution der persönlichen und familiären Macht durch die jüngst importierten unpersönlichen Institutionen. Ohne Zweifel bewirkte die starke gegenseitige Durchdringung von städtischen und ländlichen Interessen, sowohl auf ökonomischer als auch auf politischer Ebene, dass die Unterordnung der familistischen Interessen in Etappen, verhandlungsweise und mit eventuellen Rückschritten erfolgte, was den Vorgang erst in einer langfristigen Perspektive deutlich sichtbar werden lässt. In einer solchen Perspektive ist die allgemeine Tendenz zu weniger Patriarchalismus und mehr Individualismus offensichtlich und nicht zu leugnen.184 Die langsame Überwindung des Personalismus und des Familismus erfolgte sowohl im privaten Raum als auch im öffentlichen. Im privaten Raum waren es die Beziehungen des Patriarchen zu seiner Familie, die zu einer radikalen Veränderung tendierten. Die Veränderung der Beziehung zur Frau ist besonders bedeutsam. Im Kontext des halb „arabischen“, halb brasilianisch polygamen Patriarchalismus, nahm die Herabwertung der Figur der Frau extreme Formen an.185 Die Figur der Frau wurde als das spiegelbildliche Gegenteil derjenigen des Mannes aufgefasst, als „das schwache und schöne Geschlecht, und eher schwach als schön“186,wie Freyre sagt, das sich auf diese Weise von der maskulinen Agilität und Stärke unterscheidet. Für Freyre erlaubte die Distanz und das feindselige Verhältnis zwischen den Geschlechtern keine Formen weiblicher Sympathie für die Arbeit oder die Person des Mannes, wodurch sich narzistische und monosexuelle persönliche und intellektuelle Formen herausbildeten, die dem Krankhaften nahe waren. Freyre erkennt mit psychoanalytischer Klarsicht das verdeckte Begehren, die Konkurrenz und die Faszination der Frau abzuwenden und sie völlig zu beherrschen (Angst und Kontrolle). Reisende aus Europa berichteten entrüstet von den Gewohnheiten der Herren, die die Frau in ein Heim schickten, um ungestört mit ihrer Geliebten leben zu können.187 Saint Hilaire erwähnt an einer Stelle seiner Berichte von der Reise ins Innere Brasiliens, wie ihn die Tatsache erstaunte, dass er keine Frauen sah oder mit Frauen sprechen konnte, wenn er bei Brasilianern zu Besuch war. Die Frauen flohen buchstäblich vor den Besuchern. Die soziale und moralische Verstümmlung der Frau legitimierte den doppelten Maßstab der Moral: alle Freiheiten dem Mann, alle Pflichten der Frau. 184
Freyre, Sobrados e mucambos, S. 22. Vergessen wir nicht, dass die sexuelle Sklaverei muslimischen Typs, die in abgeschwächter Form im brasilianischen Patriachalismus praktiziert wurde, nicht nur die Entwürdigung der versklavten Frauen nach sich zieht, sondern, durch eine soziale und psychische Ausweitung, aller Frauen. Die in den Augen eines Westlers unerträgliche Unterordnung der Frau in den arabischen Ländern hat sicherlich in diesen Praktiken ihren historischen Ursprung. 186 Freyre, Sobrados e mucambos, S. 93. 187 Freyre, Sobrados e mucambos, S. 126. 185
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Doch auch auf diesem Feld führten die unpersönlichen Faktoren des städtischen Lebens zu einer wichtigen Veränderung in den Beziehungsmustern zwischen den Geschlechtern. Insbesondere das Erscheinen der sozialen Figuren des Familienarztes, der den Beichtvater ersetzt, des Schuldirektors und des Richters stellt im Grunde die neue Präsenz von Institutionen dar, die beginnen, auf die rein persönlichen Beziehungen des familiären Bereichs einzuwirken und dabei das Gewicht des Patriarchalischen zu verringern und zu begrenzen, was einen beträchtlichen Gewinn an Bewegungsfreiheit für die Frauen mit sich bringt, die dadurch eine rechtliche und moralische Erhöhung erfahren.188 Wie Freyre in Ordem e Progresso [Ordnung und Fortschritt] feststellt – dem Buch, das die mit Casa Grande e Senzala begonnene und mit Sobrados e mucambos weitergeführte Trilogie zum Thema des Aufstiegs und Falls des Patriarchalismus in Brasilien beschließt –, finden wir schon zu Ende des 19. Jahrhunderts das Leitbild der romantischen Liebe, die unabhängig von der Klasse und wirtschaftlichen Situation der Liebenden ist, als dominierende und legitime Form der Verbindung zwischen den Geschlechtern189, was das Eindringen der individualistischen Ideale ins Alltagsleben belegt. Doch die große Niederlage des patriarchalischen Personalismus innerhalb der Familie erfolgte nicht durch die Frau des Patriarchen, sondern durch seinen Sohn. Im traditionellen patriarchalischen Kontext ist die Distanz zwischen dem Mann und dem Sohn immens. Der Patriarch hatte, als praktisch absolute Autorität, sogar das Recht über Leben und Tod seiner Söhne.190 Die Erziehung der Jüngsten hatte oft sadistische Züge.191 Mit dem Erscheinen insbesondere des Staates und seinen neuen funktionellen Bedürfnissen und Anforderungen ändert sich diese Situation radikal. Der Staat und in geringerem Maße die mit dem städtischen Handel verbundenen Aktivitäten unterminieren die persönliche Macht von oben her, indem sie in das Haus des Herren selbst eindringen, ihm die Söhne rauben und sie zu seinen Rivalen machen. Der neue staatliche Bedarf nämlich nach Bürokraten, Richtern, Staatsanwälten, Juristen etc., die alle für die neuen Aufgaben des Staates unerlässlich sind, kann besser durch junge Leute mit entsprechender Schulbildung gedeckt werden, und noch besser, wenn diese Bildung in Europa erworben wird, was ihnen noch mehr Prestige einbringt. Damit erfuhren die alten, auf Erfahrung beruhenden Kenntnisse, die für die älteren Generationen typisch waren, eine rasche Entwertung in einem Prozess, der in seinen übertriebenen Formen typisch für Über188
Freyre, Sobrados e mucambos, S. 122. Freyre, Ordem e progresso, S. CLVII. Freyre, Sobrados e mucambos, S. 69. 191 Freyre, Sobrados e mucambos, S. 70-71. 189 190
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gangsepochen wie jener ist. D. Pedro II. ist eine emblematische Figur in diesem Prozess. Er selbst als junger Kaiser umgab sich mit seinesgleichen und trug damit zur Schaffung dessen bei, was Nabuco „Neokratie“ nennen sollte.192 Tatsache ist, dass als Provinzpräsidenten, Richter und Räte, von den hohen bis zu den niedrigen Ämtern des neuen Staatsapparats, von nun an zunehmend junge Leute mit Zeugnis bevorzugt werden. Im öffentlichen Raum zeigten sich die neuen Veränderungen mit stärkerem Nachdruck. Die Epoche des Übergangs der politischen, ökonomischen und kulturellen Macht vom Land zur Stadt war in vielerlei Hinsicht auch die Epoche des Landes in der Stadt. Anfangs wurde der ländliche Privatismus und Personalismus, so wie er auf dem Land ausgeübt wurde, in die Stadt übertragen. Die Metapher vom Haus und von der Straße bei Gilberto Freyre bezeugt dies. Der „Sobrado“, das Haus des Herrn vom Lande in der Stadt, ist eine Art materielle Verlängerung der Persönlichkeit des Herrn. Seine Haltung gegenüber dem Bereich der Straße, dieser archetypischen und primitiven Form von öffentlichem Raum, ist Verachtung, die Straße ist der Müllplatz des Hauses, repräsentiert die Gefahr, das Dunkle, war einfach das Nicht-Haus, ein Fehlbereich. Der „SadoMasochismus“, sozial bedingt durch das Fehlen von vermittelnden Institutionen und konsensbegründeten Moralkodizes, wie er typisch für den Komplex aus Herrenhaus und Sklavenhütte ist, wechselt anfangs lediglich die „Wohnung“. Sein innerer Gehalt jedoch, dasjenige, was ihn für Gilberto Freyre als Konzept bestimmt, d.h. seine wesentliche Nichtanerkennung der Alterität, bleibt bestehen. Der Übergang vom System Casa Grande e Senzala zum System Sobrado e Mucambo fragmentiert, zersplittert eine zuvor organische Einheit in tausend Teile. Diese Fragmente verstreuen sich nun überall, wobei sie sich schlecht ergänzen und Konflikte und Oppositionen verstärken. Vom Herrenhaus und Sklavenhütten, über Sobrados und Mucambos und heute vielleicht bürgerliche Wohnviertel und Favelas werden die Anpassungen und Komplementaritäten immer seltener. Anfangs repräsentierte die Stadt nichts weiter als die Verlängerung der zügellosen Vernachlässigung der öffentlichen Interessen zugunsten der privaten Interessen. Die Versorgung mit Lebensmitteln z.B. war ein besonderes heikles Problem, denn es wurde sogar die widerrechtliche Kontrolle der Besitzbürger über die Strände und dort befindlichen Fischzuchtanlagen geduldet, so dass der Fisch dann zu oligopolistischen Preisen verkauft wurde. 193 Die Reeuropäisierung hatte in diesem primitiven Kontext den Charakter einer verwestlichenden Rückeroberung und einer tiefgreifenden Veränderung nicht nur der Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche, sondern auch der Einführung von 192 193
Freyre, Sobrados e mucambos, S. 88. Freyre, Sobrados e mucambos, S. 171/177.
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neuen Werten, Normen, Verhaltensformen und Lebensstilen, die zur Herausbildung revolutionärer Kriterien der sozialen Klassierung und Deklassierung bestimmt waren. Was hier von 1808 ab eingeführt wurde, war eine ganze neue Welt in materieller und symbolischer Hinsicht und bedeutete einen plötzlichen Wertewandel zugunsten westlicher und individualistischer Elemente in unserer Kultur, vermittelt durch die Einwirkungen eines nun schon wirklich bürgerlichen Europa, wie beispielsweise Frankreich, Deutschland, Italien und, in sehr besonderem Maße, die große Imperial- und Industriemacht der Epoche, England. Dieser Prozess erfolgte als eine große Revolution von oben nach unten, bei der alle Gesellschaftsschichten miteinbegriffen waren und sich die relative Stellung und das relative Prestige jeder dieser Gruppen änderte und neue Elemente der Differenzierung hinzukamen. Es sind diese neuen bürgerlichen und individualistischen Werte, die den Kern der Idee von „Modernität“ bilden werden, als das ideologische Leitprinzip der brasilianischen Gesellschaft von dieser Zeit ab. Was den Lebensstil betrifft, und hier macht Freyre auf den entscheidenden Einfluss der kommerziellen und industriellen Interessen des englischen Imperialismus aufmerksam, änderten sich Gewohnheiten, die Architektur der Häuser, die Art, sich zu kleiden, die Farben der Mode, manchmal sogar in der übertriebenen Weise der Verwendung von dicken Stoffen, die für das tropische Klima ungeeignet waren. Nun trank man Bier und man aß Brot wie ein Engländer, und alles was portugiesisch oder orientalisch war, wurde zum Anzeichen eines schlechten Geschmacks.194 Der absolute Charakter dieser neuen Wertunterschiede ließ den Brasilianer der damaligen Zeit zudem leicht in die Fänge listiger Europäer gehen, die betrügerische Geschäfte trieben. Keine dieser wichtigen Veränderungen jedoch hatte solche Auswirkungen wie das Erscheinen des demokratisierenden bürgerlichen Elements schlechthin auf der gesellschaftlichen Bühne unseres Landes: des Wissens und damit der Wertschätzung des individuellen Talents, das sowohl der neue Markt fachhandwerklicher Berufe als auch die neuen staatlichen Funktionen verlangten. Das Wissen, die Fachkenntnisse werden zum neuen Element, das in steigendem Maße bei der Bestimmung der neuen sozialen Hierarchie zählt. In dieser Hinsicht diente es als Grundlage für die Einführung eines effektiv demokratisierenden Elements, das die Frage des Anfangsstatus für die sozialen Mobilitätschancen in der neuen Gesellschaft völlig neu stellte und revolutionär umdefinierte. Eine „Demokratisierung“, deren Träger für Freyre der geschickliche Mulatte war. Auf der Seite des Marktes erfolgen diese Veränderungen gemäß einer Logik „von unten nach oben“, d.h. durch den sozialen Aufstieg neuer Elemente in handwerklichen 194
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Funktionen, die aufgrund ihrer absoluten sozialen Ächtung in allen sklavenwirtschaftlichen Gesellschaften von den Weißen nicht als würdevoll angesehen wurden. Aufseiten des Staates wiederholte sich dieselbe Logik aufgrund der allgemeinen Verbreitung der Figur des „studierten Mulatten“195, von denen einige die höchsten Ämter des Kaiserreichs besetzten. Im Zuge der Entwertung der beiden polaren sozialen Positionen, die die sklavenwirtschaftliche Gesellschaft kennzeichnen, bewirkte das „kulturelle Kapital“196, dessen Aneignung zur Erfüllung der funktionellen Aufgaben eines entstehenden Marktes und Staates erforderlich war, aus diesem Grund nämlich eine Aufwertung des mittleren Elements, das immer eine Art Mittelschicht in der alten Gesellschaft gebildet hatte, wo es aber, da es weder einen Herren- noch im eigentlichen Sinn einen Sklavenstatus hatte, sozial „entrückt“ und folglich ortlos war. Die neu entstehende Gesellschaft besteht in der Sicht Freyres aus den alten Positionen, die relatives Gewicht verlieren, und diesen Individuen, fast immer Mestizen, die keine andere Erwerbsquelle besitzen als ihre Bereitschaft und Geschicklichkeit zum Erlernen der neuen Handwerksberufe und die, fast immer als Lehrlinge europäischer Meister und Handwerker, in jener sich verändernden Gesellschaft zu einem Element wurden, das am typischsten einen bürgerlichen Charakter aufwies: ein mittelständiges Element, in Form einer „mittleren ‘Rasse‘“. In der thematischen Betonung Freyres des „geschicklichen Mulatten“ muss dieser cum grano salis als der „soziale Träger“ schlechthin der neuen materiellen und symbolischen Weltsicht gesehen werden, die sich unter uns herausbildete. Letzlich ist für ihn der „Mulatte“ und sein Aufstieg eine Art empirischer Beweis seiner These von Brasilien als Paradigma der „Mestizierung“ und der „demokratisch hybriden“ Kultur, die in gewisser Weise im „körperlichen Typ“ selbst konkret in Erscheinung trete. Im dritten Teil dieses Buchs werden wir detaillierter auf den politischen und sozialen Kontext eingehen, der eine solche Integrationsideologie plausibel erscheinen ließ. Auf jeden Fall, ist der soziale Aufstieg von Mulatten und zuvor deklassierten Personen „jedweder Hautfarbe“197 unleugbar, 195
Ein Lebenslauf, der sich perfekt in diesen Rahmen fügt, ist derjenige von Rebouças senior, Anwalt und Abgeordneter im Einsatz für die Erweiterung der zivilen Rechte in Brasilien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Siehe Grinberg, O fiador dos brasileiros: cidadania, escravidão e direito civil no tempo de Antônio Pereira Rebouças. 196 Der effektive Demokratisierungsschub des Kapitalismus scheint mit der allgemeinen Verbreitung dessen verbunden zu sein, was in traditionellen Gesellschaften ein wohlgehütetes Monopol der herrschenden Klassen war: Bildung und Wissen. 197 Der Fall von Mauá, eines weißen Jungen aus Rio Grande do Sul, der nach Rio de Janeiro geschickt wurde, um dort als Kassierer für einen Portugiesen zu arbeiten, ist in dieser Hinsicht ein klassisches Schicksal, das keineswegs außergewöhnlich war und das Freyre ganz nach seinem Geschmack mit pikanten Details ausmalt. Mauá sollte später für einige Zeit der reichste Mann des Kaiserreichs werden, Besitzer von Banken, Eisenbahnlinien und Industrien.
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Teil II – Die Konstituierung der peripheren Moderne
der aufgrund der fortschreitenden Dekadenz der askriptiven Kriterien zur sozialen Klassifizierung zugunsten von Kriterien erfolgte, die nun zunehmend auf dem bürgerlichen und kapitalistischen Wertkriterium des Verdienstes und der persönlichen Leistung gründeten. Obgleich Gilberto Freyre nicht die soziologische und theoretische Differenziertheit von Fernandes besitzt, um wie dieser die ganze Tiefe der Beziehungen zwischen der Struktur und der im Modernisierungsprozess einbezogenen Menschen zu erfassen – insofern als Freyre einen exogenen Modernisierungsprozess beschreibt, der eine ganze Gesellschaft von Grund auf umordnet, sie aber dabei dennoch weiterhin als eine Kontinuität der portugiesischen Kultur auffasst –, finden wir bei ihm andererseits Qualitäten, die in der Analyse von Fernandes fehlen. Bei Freyre finden wir nämlich eine durch sein bemerkenswertes erzählerisches Talent besonders markant zum Ausdruck gelangende Rückgewinnung von Aspekten, die auf dem Abstraktionsniveau einer Analyse wie derjenigen von Fernandes leicht zweitrangig behandelt werden, wie die langsam und im Kleinen fortschreitende Veränderung der Lebensprinzipien und Lebensstile, die den Alltag der verschiedensten sozialen Schichten und Gruppen in allen Dimensionen des Lebens leiten, sowie die Bestimmung der Schlüsselgruppen, deren materielle und ideelle Interessen sich am stärksten mit dem im Gang befindlichen Prozess identifizieren und die seiner fortschreitenden Ausbreitung als materielle Träger dienen. Denn durch die zweitrangige Behandlung dieses Aspekts des sozialen Handelns geschieht es, dass in der Darstellung von Fernandes ein Zeitsprung von 60 Jahren zwischen dem Phänomen, das in seinen eigenen Augen der hauptsächliche Katalysator der Veränderung war, und der Identifizierung der Trägergruppen desselben klaffen kann. Die kombinierte Betrachtung der Sichtweisen dieser beiden großen Denker, vielleicht die beiden größten, die das Land hervorgebracht hat, kann uns meines Erachtens eine angemessene Sicht der betreffenden Epoche im Ganzen liefern, da sich so ihre jeweiligen Einseitigkeiten überwinden lassen. Von 1808 ab haben wir in Brasilien ein typisches Beispiel dessen, was ich mit dem Begriff Modernisierungsprozess der „neuen Peripherie“ bezeichnet habe, d.h. Gesellschaften, die sich nämlich, zumindest als komplexe Gesellschaften, durch das anschwellende Wachstum des europäischen Industriekapitalismus aufgrund der Übertragung seiner unpersönlichen institutionellen Praktiken als „fertige Gebilde“, wie Weber sagen würde, herausbilden – und nicht nur durch die bloße Expansion des Handelskapitalismus in der Kolonialzeit, der die traditionellen und personalistischen Strukturen unberührt lässt. Diesen institutionellen Praktiken eignet – für eine Soziologie, die sich nicht blenden lässt durch die Illusion einer „spontanen Ideologie des Kapitalismus“, also durch den stummen
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Diskurs der vermeintlichen Neutralität und Universalität, die diese institutionellen Praktiken hinsichtlich ihrer selbst „nahelegen“ – eine ganze, historische und kontingente Weltauffassung, die in unkenntlicher und intransparenter Form zur Verkörperung gelangt, und sie setzten sich aufgrund empirischer Belohnungen und Bestrafungen, die für die Akteure als Anreize zur Anpassung an ihre funktionellen Anforderungen dienen, als legitime soziale Verhaltensnorm für eine ganze Gesellschaft durch. Genau diese neue und kontingente Weltsicht (der sozialen, objektiven und subjektiven Welt) ist es, die zum Leitbild für die Wahrnehmung und Schaffung neuer Lebens- und Verhaltensstile in einer Gesellschaft wird, die vorher – und hier besteht der wesentliche Unterschied zu den von Max Weber analysierten „großen Weltzivilisationen“ der alten Peripherie – von einer primitiven und kümmerlichen materiellen und symbolischen Kultur durchdrungen war. Zweifellos bleibt die Frage nach der spezifischen „Schematisierung“, im Taylorschen Sinne, der modernisierenden Einflüsse aufgrund der vorher bestehenden materiellen und symbolischen Kultur. Diese Einwirkung scheint mir jedoch in allen sozialen Sphären unendlich viel geringer zu sein, nicht nur im Verhältnis zu den axialen Gesellschaften der „alten Peripherie“, sondern insbesondere im Verhältnis zu den zentralen westlichen Gesellschaften. Ich denke, dass sich diese Einflüsse auf die subalternen nicht-europäisierten Schichten konzentrieren, und selbst bei diesen nun vermittelt durch spezifisch moderne Mechanismen der „Naturalisierung der Ungleichheit“, wie wir eingehender im dritten Teil dieses Buches sehen werden. In diesem Sinn hat die Besonderheit des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses an der „neuen Peripherie“ wie im Fall Brasiliens meines Erachtens eher mit der „Abwesenheit“ als mit der „Anwesenheit“ einer moralischen oder religiösen Tradition zu tun, die den Modernisierungsschub der als „fertige Gebilde“ transplantierten institutionellen Praktiken effektiv hätte „schematisieren“ können. Die Konsequenzen dieses Tatbestands sind immens, und genau dieses Thema wird den Leitfaden des Schlussteils dieses Buches bilden. Hier gilt es zunächst, daran zu erinnern, dass der Modernisierungsprozess natürlich nicht über Nacht geschah und auch nicht in homogener Weise in allen Regionen. Wenn Freyre, wie wir gesehen haben, von Rio de Janeiro, der Stadt, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den stärksten Modernisierungsschub erhält, sagt, dass 1840 alles, was bürgerlich europäisch war, schon als „absolut gut“ und alles, was portugiesisch und kolonial war, schon als Zeichen eines „absolut schlechten Geschmacks“ angesehen wurde, so war diese Wirkung in den Regionen im Landesinneren anfänglich sehr viel geringer. Im Grunde schafft der Modernisierungsprozess einen Dualismus, der gerade durch die regional verschiedene Intensität der modernisierenden Einwirkungen geprägt ist. Der endgültige Sieg des peripheren Modernisierungsprozesses in Brasilien wird nicht nur
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Teil II – Die Konstituierung der peripheren Moderne
den exogenen, von „außen nach innen“ wirkenden Einfluss erforderlich machen, sondern auch, als Ergebnis eines langsamen Prozesses der Bewusstseinsbildung und des politischen Kampfs, ein endogenes Wirken von „innen nach außen“, d.h. die bewusste und reflektierte Formulierung eines autonomen und nationalen Modernisierungsprojekts. Dies ist das Thema des folgenden Unterkapitels.
Kapitel IV – Die Revolution von 1930 und die Formulierung eines autonomen und nationalen Modernisierungsprojekts Kapitel IV – Die Revolution von 1930 Das schon klassische Buch von Luiz Werneck Vianna Liberalismo e sindicato no Brasil [Liberalismus und Gewerkschaft in Brasilien] ist eines dieser seltenen Beispiele einer politischen Soziologie, bei der die Erhellung des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Politik sich nicht in einem Intentionalismus verliert, der die soziale Komplexität auf die bewussten Motive der einbezogenen Subjekte reduziert. Dies ist von grundlegender Bedeutung, wie wir sehen werden, für die angemessene Aufklärung eines so komplexen Phänomens wie die Revolution von 1930 in Brasilien. Zudem weist das erwähnte Buch, in einer Untersuchung, die sich auf die Ursachen und Wirkungen der sogenannten „30er Revolution“ in Brasilien konzentriert, unter analytischem Gesichtspunkt eine bemerkenswerte Kontinuität mit der Reflexion auf, die Florestan Fernandes im ersten Teil seines Buchs „A revolução Burguesa no Brasil“ [Die bürgerliche Revolution in Brasilien] entwickelt und die wir oben eingehender analysiert haben. Nicht nur, dass beide Autoren den brasilianischen Modernisierungsprozess als eine „verkappte Revolution“ oder, wie Werneck vorzieht, eine „passive Revolution“ auffassen – was im Übrigen perfekt zu der These vom Vorangehen der institutionellen und sozialen Praktiken vor den Ideen passt, die ich hier in diesem Buch für den peripheren Modernisierungsprozess in Brasilien als Ganzem vorschlage – , sondern die Reflexion Wernecks erlaubt auch eine interessante Diskussion hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen des Liberalismus als der Ideologie der Expansion der bürgerlichen Ordnung in Brasilien. Wie wir noch im Kontext der Darstellung zu Florestan gesehen haben, konstituierte sich der Liberalismus zu einer Art „Gemeinsprache“, die im innerelitären Kontext, wo die Expansion der bürgerlichen Ordnung ausgehandelt wurde, wenn auch nur für kurze Zeit und beschränkt auf die priviligierten Teile der Bevölkerung, eine Legitimierung der Forderungen durch Achtung von Verträgen, Einrichtung einer autonomen Rechtsordnung, einer, wenn auch extrem eingeschränkten, Repräsentativordnung etc. erlaubte. Am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts war es genau diese elitäre und restriktive Ordnung, die durch den liberalen Diskurs legitimiert war, die
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den exogenen, von „außen nach innen“ wirkenden Einfluss erforderlich machen, sondern auch, als Ergebnis eines langsamen Prozesses der Bewusstseinsbildung und des politischen Kampfs, ein endogenes Wirken von „innen nach außen“, d.h. die bewusste und reflektierte Formulierung eines autonomen und nationalen Modernisierungsprojekts. Dies ist das Thema des folgenden Unterkapitels.
Kapitel IV – Die Revolution von 1930 und die Formulierung eines autonomen und nationalen Modernisierungsprojekts Kapitel IV – Die Revolution von 1930 Das schon klassische Buch von Luiz Werneck Vianna Liberalismo e sindicato no Brasil [Liberalismus und Gewerkschaft in Brasilien] ist eines dieser seltenen Beispiele einer politischen Soziologie, bei der die Erhellung des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Politik sich nicht in einem Intentionalismus verliert, der die soziale Komplexität auf die bewussten Motive der einbezogenen Subjekte reduziert. Dies ist von grundlegender Bedeutung, wie wir sehen werden, für die angemessene Aufklärung eines so komplexen Phänomens wie die Revolution von 1930 in Brasilien. Zudem weist das erwähnte Buch, in einer Untersuchung, die sich auf die Ursachen und Wirkungen der sogenannten „30er Revolution“ in Brasilien konzentriert, unter analytischem Gesichtspunkt eine bemerkenswerte Kontinuität mit der Reflexion auf, die Florestan Fernandes im ersten Teil seines Buchs „A revolução Burguesa no Brasil“ [Die bürgerliche Revolution in Brasilien] entwickelt und die wir oben eingehender analysiert haben. Nicht nur, dass beide Autoren den brasilianischen Modernisierungsprozess als eine „verkappte Revolution“ oder, wie Werneck vorzieht, eine „passive Revolution“ auffassen – was im Übrigen perfekt zu der These vom Vorangehen der institutionellen und sozialen Praktiken vor den Ideen passt, die ich hier in diesem Buch für den peripheren Modernisierungsprozess in Brasilien als Ganzem vorschlage – , sondern die Reflexion Wernecks erlaubt auch eine interessante Diskussion hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen des Liberalismus als der Ideologie der Expansion der bürgerlichen Ordnung in Brasilien. Wie wir noch im Kontext der Darstellung zu Florestan gesehen haben, konstituierte sich der Liberalismus zu einer Art „Gemeinsprache“, die im innerelitären Kontext, wo die Expansion der bürgerlichen Ordnung ausgehandelt wurde, wenn auch nur für kurze Zeit und beschränkt auf die priviligierten Teile der Bevölkerung, eine Legitimierung der Forderungen durch Achtung von Verträgen, Einrichtung einer autonomen Rechtsordnung, einer, wenn auch extrem eingeschränkten, Repräsentativordnung etc. erlaubte. Am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts war es genau diese elitäre und restriktive Ordnung, die durch den liberalen Diskurs legitimiert war, die
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sich nun in der Krise befand. Wenn der Liberalismus seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine „Minimalgrammatik“ für die innerelitäre Aushandlung der graduellen Expansion der bürgerlichen Ordnung geliefert hatte – vergessen wir dabei auch nicht, dass diese Ordnung grundlegend für die internationalen, auf Verträgen basierenden Transaktionen war –, so begann am Anfang des folgenden Jahrhunderts dieses elitäre Arrangement auf breiter Front kritisiert und bedroht zu werden. Wernecks Auffassung der turbulenten prärevolutionären Periode gründet in der Überzeugung, dass das liberale Arrangement ans Ende seiner Renovationsmöglichkeiten gelangt war. Der reine formalistische Liberalismus wurde nun nicht mehr mit der Expansion einer legalen und unpersönlichen Ordnung verbunden, sondern mit der konservativen Agrar-Elite, die Rohprodukte exportierte und die ökonomische und politische Macht innehatte, und auf der Ebene der politischen Herrschaft wurde er assoziiert mit einer dezentralen föderalistischen Struktur, die den Wechsel der Elite einiger weiniger reicher Bundesstaaten an der Macht erlaubte.198 Die Grenzen jedoch der liberalen/föderalistischen Herrschaft unter dem Kommando der agrarexportierenden Sektoren zeigten schon seit langem ihre Schwächen. Der Demokratisierungsdruck kam sowohl von „unten“, von den konstanten Agitationen der städtischen Arbeiterschaft, als auch von der „Mitte“, durch die intensive Agitation und die Unzufriedenheit der sogenannten „mittleren Sektoren“, die sich hauptsächlich aus den neuen, durch die Expansion von Staat und Markt entstandenen städtischen Schichten zusammensetzten, neben den Militärs, die sich immer stärker in die Politik mischten. Diese mittleren Sektoren hatten sich schon explizit von 1921 ab vereinigt – symbolisch in der Rede Rui Barbosas, des Führers der zivilen Opposition, bei der Amtseinsetzung von Hermes da Fonseca, des Führers der militärischen Opposition199 – und so die beiden Seiten der Opposition verbunden. Doch es waren nicht nur die neuen aufsteigenden und politisch noch relativ machtlosen sozialen Kräfte (zu denen nun ein sich bildendes Industriebürgertum hinzukam), die nicht zufrieden waren mit dem herrschenden Arrangement. Auch die agrarischen Sektoren, die auf den internen Markt ausgerichtet waren, sahen sich durch das ausschließende Konzept des von den exportierenden Argrarsektoren geleiteten Föderalismus an den Rand des politischen Spiels gedrängt. In gewisser Weise war die soziale Revitalisierung selbst, wenn auch in starren ökonomischen und politischen Grenzen, Ergebnis der Expansion des Exportsektors, der Kräfte freisetzte, deren Kontrolle in der politisch und sozial dermaßen ausschließenden Zwangsjacke unmöglich war. Mit der Krise, die im Zuge der Wahlen von 1930 aufbrach, übernimmt die dissi198 199
Werneck, Liberalismo e sindicato no Brasil, S. 133. Werneck, Liberalismo e sindicato no Brasil, S. 137.
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dente Oligarchie die politische Vorherrschaft in der Reformbewegung und betreibt so, wie Werneck zeigt, die erste brasilianische Revolution, die von der Peripherie zum Zentrum des Systems ausgeht. Indem die städtische Agitation jetzt mit einem Bündnispartner „von oben“ rechnen kann, erlangt sie von nun ab einen angemessenen Kanal zum Ausdruck ihrer Interessen. Werneck stellt sich eine in diesem Kontext fundamentale Frage: Warum bewegt sich der Reformstaat, nachdem er von einer traditionellen oligarchischen Elite vereinnahmt worden ist, in Richtung auf den Vorschlag eines Modernisierungsprojekts?200 Dies erklärt sich daraus, dass im Kontext der heterogenen „liberalen Allianz“, die an die Macht gelangt, die Übereinstimmungen genau in den Forderungen nach Diversifizierung des Produktionsapparats und nach der Erweiterung des Systems der politischen Beteiligung gegeben waren. Die ökonomische Diversifizierung zielte auf die Restrukturierung der fragilen und schwachen Multiplikationseffekte der auf dem Agrarexport gegründeten Wirtschaft, und zwar in Sinne einer Stärkung des internen Marktes und Erweiterung der Basis des staatlichen Handelns. Die Aufgabe, die sich stellt, ist diejenige, die Reproduktion von Staat und Markt auf ein neues Niveau zu heben, so dass sowohl die ökonomische als auch die politische Beteiligung der bis dahin marginalisierten Sektoren möglich wird. Daher erklärt diese neue Interessenkonstellation, obgleich das neu entstehende Industriebürgertum an der Revolution nicht beteiligt ist, warum der Staat darangeht, bewusst den Weg der Modernisierung kraft Industrialisierung einzuschlagen. Genau aufgrund dieser spezifischen Interessenkonfiguration gründet Werneck seine These vom „preußischen Weg“ der brasilianischen Modernisierung. Unsere mestizischen „Junker“ entstammten politischer Vertretungen in Regionen, die vom Großgrundbesitz beherrscht waren, was seine Wirkung in der Bewahrung des Grundbesitzmonopols, in der Hemmung der Agrarreform und im Ausschluss der Landarbeiter von den sozialen und arbeitsrechtlichen Verbesserungen zeigte.201 Gleichzeitig ermöglichte diese traditionalistische Elite durch ihre Verbindung mit den aufkommenden städtischen Sektoren dem sich neu bildenden Staat eine universalisierende Dimension, die unvergleichlich umfassender war als die vorherige, und schaffte Handlungsraum dafür, dass eben dieser Staat durch eine gigantische und erfolgreiche Modernisierungsanstrengung, die materiellen Basisbedingungen des Kapitalismus und des internen Marktes in Brasilien beträchtlich verbessern konnte. In politischer Hinsicht bedeutet die „preußische Lösung“ das Fortbestehen primitiver Verhältnisse in den rückständigen Regionen (insbesondere im Nor200 201
Werneck, Liberalismo e sindicato no Brasil, S 148. Werneck, Liberalismo e sindicato no Brasil, S. 171.
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den/Nordosten) und die Hemmung der vielen und umfassenden Forderungen, die in der Öffentlichkeit der ersten Republik gestellt wurden.202 Daher geschieht es, dass die betonte Negierung des Konflikts, typisch für die ganze 1930 eingeleitete Periode, als das A und O sowohl des effektiven Handelns als auch der Ideologie des sich konstituierenden Staates erscheint. Im Gegensatz zum vorhergehenden formalistischen Liberalismus haben wir nun etwas, was Werneck „organizistischen Unitarismus“203 nennt: eine politische Ideologie, die eine Abneigung gegen jede Form von Interesse hegt, das sich als partikular erweist. Der Korporativismus wird das ideale System für einen Staat sein, der eine konsensbildende Dimension für die Fraktionen der herrschenden Klassen und die aufstrebenden mittleren städtischen Sektoren mit einer repressiven Dimension hinsichtlich der subalternen Klassen verkoppelt, die besänftigt werden durch reale Konzessionen und durch eine extrem erfolgreiche Ideologie, die die Organizität, Einheit und nationale Größe betont. In Gegensatz zur These, dass die korporative Ordnung einen Pakt mit den subalternen Klassen bedeutet, vertritt Werneck nachdrücklich die Auffassung der Präsenz einer demobilisierenden und repressiven Strategie für die Periode vor 1935, und einer manipulativen und kooptativen Strategie von 1935 ab. Denn um schließlich die Vertretung der subalternen Klassen „übernehmen“ zu können, muss der Korporativismus zuerst ihren unabhängigen Organisationen und Führerschaften ein Ende bereiten.204 Reduziert auf den Status einer technischen Körperschaft des Staates, wird die fakultative Gewerkschaftszugehörigkeit angeregt und erhält in der Praxis einen Zwangscharakter, insofern als eine Reihe von Sozialversicherungs- und Arbeitsrechten an die effektive Gewerkschaftszugehörigkeit gebunden werden.205 Die korporative Struktur des Staates, zuvor dazu bestimmt, sowohl Arbeiter als auch Unternehmer in ihrem Bereich zusammenzuschließen, verwandelt sich am Ende zu einem autoritären Modernisierungsstaat. Die Unternehmer werden sich nicht den Launen der korporativen Bürokratie unterwerfen, wodurch sie schließlich zu den einzigen „freien Akteuren“ des Marktes werden. Die Unternehmer legitimieren die autoritäre und repressive Komponente des Staates und weisen die korporative Komponente ab206, und sie lehnen sich gegen die Gesetze zum Schutz der Arbeiter auf. Die industriellen Unternehmer, die die Revolution „politisch“ nicht gemacht haben, erkannten jedoch gleich, dass sie auf dem neuen Weg, den die Gesellschaft eingeschlagen 202
Werneck, Liberalismo e sindicato no Brasil, S 172. Werneck, Liberalismo e sindicato no Brasil, S. 159. 204 Werneck, Liberalismo e sindicato no Brasil, S. 179-185. 205 Werneck, Liberalismo e sindicato no Brasil, S. 186. 206 Werneck, Liberalismo e sindicato no Brasil, S. 259. 203
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Teil II – Die Konstituierung der peripheren Moderne
hatte, zur herrschenden Fraktion unter den führenden Klassen wurden. Schließlich bedeutete ihr Fortschritt den Fortschritt für alle durch die Stärkung des internen Marktes, des eigentlichen Fundaments des neuen föderativen Pakts.207 Nach der Annahme ihrer hegemonialen Ansprüche wird der Weg frei für einen Kompromiss auf der Basis der Annahme der Sozialgesetzgebung.
207
Werneck, Liberalismo e sindicato no Brasil, S. 262.
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Teil III – Die soziale Konstruktion der subalternen Staatsbürgerschaft Teil III – Die soziale Konstruktion der subalternen Staatsbürgerschaft
Kapitel I – Der Prozess der peripheren Modernisierung und die Bildung einer strukturellen Unterklasse Kapitel I – Der Prozess der peripheren Modernisierung Der autoritäre und modernisierende Staat, der sich ab 1930 konsolidiert, bringt den brasilianischen Modernisierungsprozess, der schon 1808 einsetzt, nicht in Gang, wie wir gesehen haben, doch hebt er ihn effektiv auf ein anderes Niveau. Aufgrund dieses Staates wird der brasilianische Modernisierungsprozess nicht mehr durch den Aufschwung der Urbanisierung und des Handels gesteuert, wie im 19. Jahrhundert, sondern nun durch die Industrialisierung. Und die Übergangsstruktur, die einen modernen Sektor, vor allem in den Städten, und einen traditionellen Sektor, vor allem auf dem Land, verband, tendiert nun dazu, die wachsende Hegemonie des ersten im nationalen Rahmen erkennen zu lassen. Die Industrie wird im Kontext der Politik des Ersatzes von Importen zum Hauptfaktor für die Dynamik des wirtschaftlichen Wachstums. Der Reformstaat von 1930 setzt die Fundamente für diese tiefe wirtschaftliche Veränderung durch nachdrückliche Förderung der Basisindustrien – wie Eisen und Erdöl – und durch den Aufbau der Infrastruktur für ein kapitalistisches Wachstum in großem Maßstab. Auf politischer Ebene verbreitert sich die vorher bestehende winzige partizipative Basis, wenn auch erst ab 1946 zu einer wirklich demokratischen Basis, indem die mittleren städtischen Sektoren miteinbezogen werden, die zu den größten Nutznießern des neuen Entwicklungsmodells gehören, und die städtischen Arbeiter, wenn auch auf korporativer, repressiver und demobilisierender Grundlage. Auf ökonomischer Ebene wird dieses neue Entwicklungsmodell bis zu den 80er Jahren andauern, als es in die Krise gerät, nachdem es in diesen 50 Jahren, wie wir gesehen haben, kontinuierliche Wachstumsraten hat garantieren können, wodurch es möglich war, eines der rückständigsten Länder des Globus bis zum Ende des Prozesses zu Beginn der 80er Jahre in die achtgrößte Wirtschaft der Welt zu verwandeln. Obgleich auf politischer Ebene Perioden formal erfüllter Demokratie und Autoritarismus abwechselten, gelangte die Erweiterung der Horizonte politischer Beteiligung genau mit der autonomen Artikulierung der
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Teil III – Die soziale Konstruktion der subalternen Staatsbürgerschaft
Arbeiter bis zu Anfang der 80er Jahre und dem Erscheinen der Arbeiterpartei – die heute an der Macht ist – an ihre Grenze und ihren Existenzgrund. Doch hinsichtlich des Leitthemas dieses Buchs – die Bildung eines spezifisch peripheren Schemas von Staatsbürgerschaft und subalterner Staatsbürgerschaft – erfolgt in der neuen Periode die Einrichtung eines neuen Insitutionalisierungskonzepts. Die vielleicht bekannteste und glücklichste Bezeichnung für die neue Form von „oben“ kontrollierter Expansion des Staatsbürgerschaftskonzepts, die sich aufgrund der neuen sozialen Verhältnisse abzeichnet, mag der Begriff der „regulierten Staatsbürgerschaft“ von Wanderley Guilherme dos Santos208 sein. Unter regulierter Staatsbürgerschaft versteht Dos Santos die Verbindung zwischen Staatsbürgerschaft und beruflicher Tätigkeit, eine Verbindung, die den Zugang zu den sozialen Rechten des Staatsbürgers – Arbeitsrechte, Sozialversorgungsrechte etc. – auf diejenigen beschränkt, deren Stellung im Produktionsgeschehen vom Staat anerkannt wird, und alle diejenigen ausschließt, die das Gesetz nicht anerkennt. Als Bezeichnung des Prozesses, durch den die Formalisierung des Verhältnisses von Arbeit und staatlichem Schutz im Zuge der brasilianischen Modernisierung erfolgte, ist die Definition perfekt. Sie eröffnet uns jedoch keine tiefer reichende analytische Dimension, den Zugang zum Verständnis der objektiven und intransparenten sozialen Mechanismen, die die Erzeugung dieses Schemas der sozialen Klassierung und Deklassierung steuern. Sie erklärt uns auch nichts hinsichtlich der sozialen Vorbedingungen, die in einer peripheren Gesellschaft wie der brasilianischen wirksam sind und die ein extrem eigentümliches Schema nicht nur von Staatsbürgerschaft, sondern vielmehr von subalterner Staatsbürgerschaft ermöglichen. Welches sind die objektiven Faktoren, die hier im peripheren Kontext im Spiel sind und die über die soziale Klassierung einiger und die soziale Deklassierung anderer entscheiden? Wie erfolgt die institutionelle Verankerung dieser Prinzipien? Was hat entscheidende Bedeutung für ihre Logik in langfristiger Hinsicht? Welche Elemente und soziale Dimensionen treten in ein komplexes Zusammenspiel um genau dieses Ergebnis zu erzeugen? Ich bin davon überzeugt, dass eine angemessene Antwort auf diese Fragen neben der subjektivistischen Perspektive der politischen Analyse die parallele Berücksichtigung einer Perspektive erfordert, die auch strukturelle Aspekte miteinbezieht, wie etwa: Welches sind die langfristig wirkenden Variablen bei einem Typ von exogener Modernisierung an der Peripherie wie dem brasilianischen, die es nicht ermöglicht haben, dass die Vorbedingungen, die in anderen Gesellschaften zu einer effektiven Ausweitung der Staatsbürgerschaft mit allen ihren politischen, ökonomischen und moralischen 208
Dos Santos, Décadas de espanto e uma apologia democrática, S.. 98-109.
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Kapitel I – Der Prozess der peripheren Modernisierung
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Attributen geführt haben, auch hier in eine Homogenisierung und Generalisierung mündeten? Welche Faktoren tragen bis heute zum Fortbestehen derselben Verhältnisse bei? Wie erklärt sich, und dies ist für mich die große theoretische und praktische Frage bei dieser ganzen Problematik, das Fortbestehen von Rahmenbedingungen in peripheren Gesellschaften wie der brasilianischen, die die Ungleichheit naturalisieren? Es sind dies die Fragen, denen ich im dritten und letzten Teil dieses Buchs nachgehen möchte. Beginnen möchte ich die Diskussion mit der eingehenden Analyse eines Werks, das in meinen Augen die bei dieser Problematik entscheidende Fragestellung formuliert, wenngleich die abschließende Antwort unbefriedigend sein mag: Es handelt sich um A Integração do Negro na Sociedade de Classes [Die Integration des Schwarzen in die Klassengesellschaft] von Florestan Fernandes. In diesem Buch nimmt sich Fernandes vor zu analysieren, wie das „Volk“ in der brasilianischen Geschichte auftaucht. Die Konzentration auf die Schwarzen und die Mulatten rechtfertigt sich durch diesen größeren Rahmen des theoretischen Unternehmens, denn es waren eben diese Gruppen, die bei dem Übergang der sklavenwirtschaftlichen zur wettbewerbswirtschaftlichen Ordnung die schlechteste „Ausgangsposition“209 hatten. Auf diese Weise kann die Reflexion von Fernandes ausgeweitet werden auf die Einbeziehung auch der besitzlosen und abhängigen Schichten jedweder Hautfarbe, insofern als das einzige Element, das sie von den Schwarzen und Mulatten unterschied, deren zusätzliches „Handicap“ rassistischer Art war. Wir haben oben die objektiven Gründe gesehen, die in der Kolonialzeit diese Assimilation ermöglichten. Die Periode die Fernandes untersucht, reicht von 1880 bis 1960, was eine Vorstellung von der Breite der ehrgeizigen Studie vermittelt, und der empirische Horizont konzentriert sich auf die Stadt São Paulo, was erlaubt, die Anpassungsschwierigkeiten der marginalen Segmente in der bürgerlichsten und kompetitivsten der brasilianischen Städte zu untersuchten. Das wesentliche Faktum bei dem gesamten Prozess des Zerfalls der Knechtschafts- und Sklavenhalterordnung war, wie Fernandes richtig bemerkt, dass die befreiten Sklaven ihrem eigenen Schicksal überlassen wurden. Die überaus große Mehrheit vormaligen Herren, der Staat, die Kirche oder irgendeine andere Organisation interessierten sich nie für das Schicksal der befreiten Sklaven. Diese sahen sich gleich nach der Abschaffung der Sklaverei verantwortlich für sich und ihre Familienangehörigen, ohne dass sie über die materiellen oder moralischen Mittel verfügten, um in der sich bildenden Wettbewerbswirtschaft bürgerlichkapitalistischen Typs zu überleben. Außerhalb des traditionellen Kontexts gab es 209
Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 9.
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Teil III – Die soziale Konstruktion der subalternen Staatsbürgerschaft
für die Schwarzen in der neuen Ordnung nur die soziale Ausgrenzung. Sie wiesen nicht die sozialen und psycho-sozialen Voraussetzungen auf, die die Grundmotive für den Erfolg in einer konkurrenzgesellschaftlichen Umwelt sind. Es fehlte ihnen die Bereitschaft zur Ausführung von Tätigkeiten, die sie als herabsetzend empfanden (weil sie sie an die Vergangenheit erinnerten) – eine Hemmung, die die italienischen Immigranten z.B. nicht kannten –, sie waren nicht ausreichend tüchtig und sparsam und vor allem fehlte ihnen das ehrgeizige Streben nach Reichtum. Unter diesen Bedingungen, zusammen mit der völligen Abwendung der ehemaligen Herren und der Gesellschaft als Ganzer von den befreiten Sklaven, war deren Schicksal der sozialen Marginalisierung und wirtschaftlichen Armut in gewisser Weise vorgezeichnet.210 Das Gesamtbild der Wettbewerbspyramide in der Phase unmittelbar nach Abschaffung der Sklaverei wird von Fernandes in folgender Weise gesehen: Ganz oben, in der vitalen Zone der Machterhaltung in den Händen der alten Familien der Besitzerschicht war der Raum, der dem Wettbewerb offenstand, äußerst gering. Gleich darunter jedoch, in der Sphäre, die durch das expandierende freie Unternehmertum eröffnet worden war, herrschte die individualistische und liberale Idee vom „right man in the right place“ vor.211 Der Ausländer, insbesondere der italienische Einwanderer, erschien hier, sogar in diesem erst kurz zuvor eröffneten Raum, als die große nationale Hoffnung auf raschen Fortschritt. In diesem Rahmen, in dem sich die Realität und die vorurteilsgeprägte Einbildung gegenseitig nährten, beseitigte der europäische Einwanderer die Konkurrenz der Schwarzen, wo immer sie sich aufdrängte.212 Für die Schwarzen blieben, ohne die Möglichkeit der bürgerlichen oder proletarischen sozialen Klassierung, nur die Zwischenräume oder Randzonen des Systems als eine Form, die Würde eines freien Menschen zu wahren: das Untertauchen in den proletarischen Bodensatz, in den dissimulierten Müßiggang oder auch ins systematische Vagabundentum und ins Gelegenheits- oder Routineverbrechen. Dies ist der Rahmen, der das soziale Drama der Anpassung der befreiten Sklaven an die neuen Bedingungen zu verstehen erlaubt. Und hier rührt Fernandes an der Frage, die zentral für das ganze Argument seines Buchs ist, sowie für die gesamte Konstruktion meines eigenen Arguments im Folgenden: Die Frage nach der psychosozialen Organisation, die eine Voraussetzung für die kapitalistische Aktivität ist und die eine Präsozialisation in einem vorbestimmten Sinn erfordert, die den ehemaligen Sklaven in bedeutsamen Maß fehlte. Der Drang, sich von den erniedrigenden Bedingungen des vorherigen Lebens zu befreien, 210
Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 20. Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 26-27. 212 Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 26-27. 211
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machte sie sogar besonders anfällig für abweisende oder gekränkte Reaktionen hinsichtlich der Forderungen der neuen Ordnung. So neigte der befreite Sklave dazu, die Verpflichtungen des Arbeitsvertrags misszudeuten, und unterschied nicht zwischen dem Verkauf der Arbeitskraft und der Veräußerung von Rechten, die den Begriff der juristisch freien Person ausmachen.213 Hinzu kam, dass die Ablehnung gegenüber einer gewissen Art von Arbeit, die Unzuverlässigkeit bei der Arbeit, die Disziplinlosigkeit gegenüber der Aufsicht und die Faszination für „distinguiernde“ Beschäftigungen alles Eigenschaften waren, die den Misserfolg in den neuen Lebensverhältnissen und die Bestätigung des Vorurteils heraufbeschwörten. Fernandes erkennt folglich, mit bemerkenswertem Scharfblick, genau in den Anpassungsschwierigkeiten an die neue kompetitive Ordnung den Keim für die fortdauernde Marginalisierung von Schwarzen und Mulatten. Er lokalisiert diese Schwierigkeiten in der Sphäre der psycho-sozialen Bedingungen der Persönlichkeit: a) die Unangepasstheit des Schwarzen an die freie Arbeit; und b) seine Unfähigkeit gemäß den Verhaltens- und Persönlichkeitsmodellen der Wettbewerbsgesellschaft zu handeln.214 In Wirklichkeit summieren sich die beiden von Fernandes aufgezeigten Faktoren zu einem einzigen, insofern als der zweite Punkt die Bedingung der Möglichkeit des ersten ist. Die Stellung der Institution der Familie ist besonders bedeutsam in diesem Kontext. Fernandes’ These ist, dass die Familie bei den Schwarzen nicht zur Bildung einer Einheit gelangt, die fähig ist, ihre Hauptaufgaben der grundlegenden Persönlichkeitsbildung und Kontrolle der egoistischen Verhaltensimpulse zu leisten.215. Bei diesem zentralen Thema des Fehlens der Familieneinheit als moralische und soziale Basisinstanz besteht eine Kontinuität zur brasilianischen Politik der sklavenwirtschaftlichen Zeit, die immer bestrebt war, jede organisierte Familien- oder Gemeinschaftsform auf Seiten der Sklaven zu verhindern. Fernandes erkennt hier richtig die Fortdauer zerrissener Familienstrukturen als entscheidenden Faktor für die Perpetuierung der Bedingungen sozialer Desorganisation unter Schwarzen und Mulatten. In Wirklichkeit bedingen sich die Verarmung, die die mangelnde soziale Anpassung nach sich zieht, und die Anomie, die durch die dysfunktionale Familienorganisation verursacht wird, gegenseitig. Das Untertauchen im Heer der Subsistenzbauern und die Konzentration in den damals entstehenden „Favelas“ der Städte stellt für Fernandes weniger eine Flucht vor der Wirklichkeit, als
213
Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 30. Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 137-221. 215 Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 154. 214
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vielmehr eine „stumme Verzweiflung“ dar.216 Über den „irrationalen“ Gehalt dieser Entscheidungen – da es für ihn eben nicht Passivität oder Gleichgültigkeit waren, die das Verhalten der Schwarzen bedingten, sondern „Entscheidungen“, wenngleich sicherlich verzweifelte Entscheidungen, eine Art von stummer und unartikulierter Protest in der Selbstverurteilung zur Ausgrenzung, zur Abhängigkeit und zur Selbstzerstörung –, darüber war sich Fernandes im Klaren. Im herrschenden Kontext der extremen Entbehrungen erschienen die normabweichenden Verhaltenskodizes als eine Behauptung der Individualität und sogar als Heroismus. Um kein „otário“ [~Dummkopf] zu sein, der „Negerarbeit“ machen muss, die immer gefährlich und erniedrigend ist217, war es vergleichsweise besser als Vagabund, Dieb oder Prostituierte zu leben. Die familiäre Anomie schloss den Teufelskreis. Fernandes weist hin auf den besonderen Stellenwert der Sexualität in der Welt der Schwarzen als einer der Hauptursachen für die Anomie in dieser Sphäre. Schon allein die Überzahl an Personen, die in den Hütten und Baracken der Favelas wohnten, begünstigte jede Art von inzestuöser und missbräuchlicher Beziehungen (wobei die Jungen von den Älteren sexuell missbraucht wurden). Der uneheliche Sohn und die alleinstehende, fast immer junge Mutter gehörten zum gewöhnlichsten Erscheinungsbild dieser Art von Zusammenleben. Und in dieser Hinsicht kehrt Fernandes das verbreitete Klischee, das den Schwarzen oder die Mulattin als „sexbesessen“ mystifiziert, um. In Wirklichkeit „wird die Sexualität zur einzigen Zone der freien Entfaltung menschlicher Veranlagungen“218 für diese von allem, außer der sexuellen Aktivität (und dem Fußball, würden wir heute sagen) ausgeschlossenen und marginalisierten Gruppen, wodurch die Sexualität eben zum einzigen Zentrum wird, das alle Aufmerksamkeit und alles Streben auf sich zieht. Der Alkoholmissbrauch wird von Fernandes wie die Sexualität betrachtet, als ein Faktor der Desorganisation und Selbstzerstörung. In den Interviews zeichnet sich ein Bild ab, bei dem die Reihe sozialer und persönlicher Misserfolge einen Kontext schaffen, in dem der Alkoholismus zu einem Suizid-Ersatz wird, wenn nämlich der Protest gegen die Widrigkeiten als natürliche Fatalität und sogar als gerecht und unvermeidlich angesehen wird und sich gegen die eigene Person wendet.219 In diesem Rahmen der Desorganisation wurden die Alten und Gebrechlichen zu einer schweren Last, während die Jungen und Unmündigen sich dazu getrieben sahen, ohne jegliche Vorbereitung „ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen“. In diesem Rahmen hatten die Frauen vergleichsweise mehr Chancen, 216
Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 168-169. Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 142-143. Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 218. 219 Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S 169. 217 218
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Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden, als die Männer, aufgrund ihres QuasiMonopols im Arbeitsbereich der Hausangestellten, der einzige Bereich, wo der Wettbewerb mit den Immigranten nicht bedeutsam war. Diese Umstände tragen zur Erklärung der endemischen „Matrifokalität“ der schwarzen und armen brasilianischen Familie bei.220 Außer der Arbeit als Hausangestellte war die einzige einfach zugängliche Erwerbsquelle für die Frauen die Prostitution in niedrigen Milieus. Selbst für die „hübschesten“ Mulattinnen war es schwierig, in die höheren Milieus der Prostitution zu gelangen, denn auch in diesem Feld sind Mulattinnen und Schwarze „weniger wert“221. Unter allen Aspekten lagen in der desorganisierten Familie die Grundbedingungen für den Mangel an Gleichgewicht und Organisation in allen Dimensionen des Lebens. Das Fehlen einer angemessenen Sozialisation hinsichtlich aller familiären Rollen, die soziale Ungewissheit und Unsicherheit z.B., die die Töchter aus dem Haus trieben, die sich dann „verloren“, alles wirkte in dem Sinn zusammen, dass die Familie nicht nur keine sichere Grundlage für das Leben in einer Wettbewerbsgesellschaft bilden konnte, sondern selbst noch dazu die Ursache für die verschiedensten Behinderungen darstellte. Das desorganisierte Familienleben zusammen mit der Armut bewirkte einen Typ von ultra-egoistischer und freibeuterischer Individuation.222 Dieser Typ von Persönlichkeitsstruktur, der in den im Buch aufgeführten Interviews reichlich zum Ausdruck kommt und das Ergebnis einer familiären Desorganisation ist, spiegelt in dem Egoismus und der Instrumentalisierung des anderen, sei der „andere“ die Frau oder der Jüngere und Wehrlose, eine solchermaßen rauhe Überlebenssituation wider, die jede solidarische Bindung, von der elementarsten in der Familie bis zur gemeinschaftlichen in allgemeineren Formen, von innen her untergräbt. Das Kind, das sich nur oberflächlich, in gestörter Weise und sporadisch als solches von der Mutter behandelt sah, in den kurzen Momenten, in denen sie zu Hause war [...], hatte selten Gelegenheit zu lernen, die anderen aus Liebe zu respektieren und ihnen zu gehorchen. Es herrschte ein roher egoistischer und individualistischer Kodex: Um zu überleben, musste der Einzelne „schlau“ sein, selbst im Umgang mit der Mutter und den Geschwistern. 223
Dieser Aspekt ist grundlegend für mein Argument, denn wofür Fernandes im Grunde plädiert, ist in meinen Augen, der Bildung und Reproduktion eines spezifischen „Habitus“ im Sinne Bourdieus den wesentlichen Stellenwert bei der 220
Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 200. Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 183-184. Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S 230. 223 Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 208. 221 222
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Erklärung der Marginalität der Schwarzen zuzuweisen, d.h. dem Prozess der Aneignung von kognitiven und wertenden Schemata, die im familiären Umfeld von frühester Kindheit an in vor-reflexiver und automatischer Weise vermittelt und verinnerlicht werden und so die Bildung ebenfalls vorreflexiver und automatischer sozialer Netze ermöglichen, die einerseits Solidaritäten und Identifikationen, andererseits Antipathien und Vorurteile begründen und zementieren. Dieser Punkt ist von zentraler Bedeutung, denn wenn die Reproduktion eines „prekären Habitus“ der letzte Grund für die Unangepasstheit und Marginalisierung dieser Gruppen ist, so ist es nicht „lediglich die Hautfarbe“, wie gewisse empirizistische Tendenzen hinsichtlich der Ungleichheit in Brasilien heute nahelegen. Wenn es in diesem Bereich Vorurteile gibt, und es gibt sie zweifellos und sie wirken in verdeckter und virulenter Weise, so sind es in erster Hinsicht nicht Vorurteile gegenüber der Hautfarbe, sondern vielmehr Vorurteile, die sich auf einen bestimmten Typ von „Persönlichkeit“ beziehen, die für die Gesamtgesellschaft als unproduktiv und zersetzend angesehen wird. Dieser zentrale Aspekt wird jedoch von Fernandes nicht in aller Klarheit wahrgenommen. Zweifellos gebührt ihm das Verdienst, bei seiner Suche nach den letzten Ursachen für die Marginalität der schwarzen Bevölkerungsteile die sozialen Vorbedingungen aufgezeigt zu haben, die unabhängig von der Hautfarbe die Situation der Marginalisierung bedingen. Er erkennt z.B., dass die Bedingungen der Unangepasstheit der schwarzen Bevölkerung vergleichbar mit derjenigen der weißen Abhängigen auf dem Land ist224 und verbindet diese beiden Elemente, indem diese so zusammengenommen gleichsam das „einfache Volk“ oder die „Unterklasse“ der Nation bildeten.225 Denn schließlich war, wie wir im Kapitel über die besondere Konstituierung der persönlichen Macht in Brasilien gesehen haben, die Situation der schwarzen Sklaven in allem mit derjenigen des besitzlosen Abhängigen oder Agregados weißer oder irgendeiner anderen Hautfarbe vergleichbar. Die Hautfarbe spielt in diesem Kontext höchstens die Rolle einer zusätzlichen Verletzung der Selbstachtung des betreffenden Subjekts, doch der Kern des Problems liegt in der Kombination von Verwahrlosung und Unangepasstheit, Schicksale, die beide Gruppen unabhängig von der Hautfarbe betrafen. Eben gerade aufgrund der Verwechslung von „Habitus“, in dem hier in diesem Text verwendeten Sinn (und den er selbst mit soviel Scharfblick enthüllt hatte, als er das relative Gewicht der familären Desorganisation herausarbeitete), und der „Hautfarbe“ unterlaufen Fernandes Ungenauigkeiten und Widersprüche, die sich in seiner Argumentation reihenweise wiederholen. Im Grunde verdankt sich das 224 225
Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 148. Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, Band II, S. 280.
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ganze Argument des Buchs der grundlegenden Ambiguität, die die beiden oben aufgezeigten Aspekte vermengt, hinsichtlich der fundamentalen Ursache für die Situation der Bedürftigkeit und Marginalisierung der Schwarzen. Fernandes betrachtet als Ursache dieser Situation sowohl das „innere Sklaventum“ der Menschen, das sie daran hindert, gemäß den Anforderungen der neuen Sozialordnung zu denken und zu Handeln226, als auch das Vorurteil gegen die Hautfarbe227, gesehen als ein psychosoziales „Trägheitsmoment“, das „Residuen“ der Vergangenheit in die Gegenwart hineinträgt, die so in die Wettbewerbsgesellschaft eindringen und von denen er annimmt, dass sie aufgrund ihres Fortschritts und Entwicklung unweigerlich verschwinden werden.228 Obgleich zwischen diesen beiden Aspekten ein Zusammenhang besteht, stellen sie analytisch zwei sehr verschiedene Realitäten dar. Im ständischen und askriptiven Kontext der sklavenwirtschaflichen Gesellschaft fungiert die Hautfarbe als ein tendenziell absolutes Indiz für die Sklavenstellung, wenngleich auch diese gemäßigte Formen annehmen konnte, wie wir oben gesehen haben. In der Wettbewerbsgesellschaft fungiert die Hautfarbe als „relatives“ Indiz für Primitivität – immer im Hinblick auf die kontingente Norm des Menschentyps, der im westlichen Rationalismus als nützlich und produktiv definiert und durch seine grundlegenden Institutionen herausgebildet wurde –, das durch das betreffende Individuum oder die betreffende Gruppe bestätigt werden kann oder nicht. Fernandes selbst berichtet ausgiebig über die zahllosen Erfahrungen der mangelnden Anpassung an den neuen Kontext, die in erster Linie durch die Unfähigkeit bedingt sind, den Anforderungen der Leistungsdisziplin des Kapitalismus gerecht zu werden.229 Es ist aus theoretischen und praktischen Gründen extrem wichtig, dass hinsichtlich dieses Punktes Klarheit besteht. Die Vermengung dieser beiden Aspekte wird oft durch „politische“ Motive verdunkelt, da man glaubt, dass eine Erklärung der Marginalisierung der Schwarzen durch andere Ursachen als die Hautfarbe damit gleichbedeutend wäre, die „Schuld“ dafür den Opfern selbst zuzuschreiben. Nun ist aber gerade die Ausgrenzung der Schwarzen und Abhängigen über Jahrhunderte hinweg, während derer sie ihrem eigenen Schicksal überlassen wurden, die offenkundige „Ursache“ ihrer Unangepasstheit. Es war diese Ausgrenzung, die die perversen Bedingungen für die Verewigung eines „prekären 226
Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 92. Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 283, 316. 228 Zum vorübergehenden und transitorischen Charakter der Situation zur damaligen Zeit, s. Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, Band II, S. 144 e 156. 229 Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 19, 20, 25, 26, 28, 29, 30, 50, 52, 58, 73 und 82. 227
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Habitus“ schuf, der diese Gruppen zu einem marginalen und erniedrigenden Leben am Rande der integrierten Gesellschaft nötigte. Andererseits muss man sich theoretisch und praktisch über die realen Ursachen der Marginalisierung im Klaren sein. Es ist nämlich gerade der Erklärungstyp, der das zweitrangige Merkmal der Hautfarbe hervorhebt – was vermeintlich erlauben würde, die „Schuld“ der Marginalisierung allein dem Vorurteil zuzuschreiben –, der Wasser auf die Mühlen der ökonomistischen und evolutionistischen Erklärung einfacher Art gibt, in deren Rahmen die Marginalisierung als etwas vorübergehendes angesehen wird, das durch hohe wirtschaftliche Wachstumsraten behoben werden kann, wodurch auf irgendeine undurchsichtige Weise alle marginalisierten Sektoren schließlich integriert würden. Diese Art von Erklärung sieht von den moralischen und politischen Aspekten ab, die für eine reale Integrationsstrategie unentbehrlich sind. Keine der modernen Gesellschaften, die in einem bedeutsamen Maß zur Vereinheitlichung und Generalisierung eines Menschentyps für alle Klassen als Vorbedingung für eine effektive und praktizierte Idee von Staatsbürgerschaft gelangt ist, erreichte dies einzig und allein durch den Nebeneffekt der ökonomischen Entwicklung. Unter den entwickelten Gesellschaften ist es sogar die reichste von ihnen, die USA, die den höchsten Index der Ungleichheit und Ausgrenzung aufweist. Die dauerhafte Marginalisierung ganzer sozialer Gruppen hängt zusammen mit der effektiven Verbreitung von moralischen und politischen Konzeptionen, die in diesen Gesellschaften die Funktion von „Zugideen“ übernehmen. Es ist die Erklärung, die die Marginalität dieser Gruppen auf „Residuen“ zurückführt, die durch ökonomisch bedingte Variablen zu beseitigen sind – und die nicht nur bei Fernandes dominiert, sondern in der gesamten theoretischen und praktischen nationalen Debatte zum Thema der Ursachen und Abhilfen für die Ungleichheit –, welche am besten zu ihrer Fortdauer und Naturalisierung beiträgt. In Wirklichkeit ist es folglich nicht die „trägheitsbedingte“ Kontinuität der Vergangenheit in der Gegenwart, die im Spiel ist und die durch das ökonomische Wachstum zum Verschwinden verurteilt ist230, sondern die „moderne“ Redefinition des Schwarzen (und des Abhängigen und Agregado jeder Hautfarbe auf dem Land oder in der Stadt) als „untauglich“ zur Ausübung irgendeiner wichtigen und produktiven Tätigkeit in neuen Kontext, der den Rahmen der neuen Marginalisierungssituation bildet. Das „Trägheitsmoment“ nimmt hier, wie es so oft geschieht, die Stelle einer „Erklärung“ ein. Die Frage, die mir wesentlich scheint, ist: Auf welche Weise verändert der Übergang von der persönlichen zu unpersönlichen Macht radikal die Möglichkeiten der sozialen Klassierung und Deklas230
Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, Band II, S. 144.
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sierung? Was ist bei diesem Übergang und dieser so radikalen Veränderung im Spiel, das die im vorhergehenden Regime hauptsächlich für die ökonomische Produktion verantwortlichen Segmente nun ausgrenzt? Für eine Beantwortung dieser Frage erweitert das Thema der „Residuen“231 und „Trägheiten“ – insbesondere, da eben diese Residuen und Trägheiten sich verewigt und faktisch, im Gegensatz zur Annahme des Autors, sich als dauerhaft erwiesen haben – unsere Kenntnisse nicht. Ein anderer Punkt der Unschärfe, der im Grunde die Ambiguität hinsichtlich der Option von Hautfarbe/Habitus verdoppelt, ist die Qualifizierung von Sachen als zugehörig zur „weißen Welt“ und „schwarzen Welt“, als ob dies beides essentielle und unabhängige Realitäten wären und als ob die Wertehierarchie, die diese Trennung bewirkt, in Wirklichkeit nicht eine einzige wäre, der „Weiße“ wie „Schwarze“ gleichermaßen unterlägen. Bei diesem Punkt können wir, in derselben Weise wie wir es hinsichtlich der vorherigen Punktes getan haben, die Frage umformulieren in dem Sinne, dass wir fragen, was letztlich hinter den Hautfarben, insbesondere der schwarzen, steht, das sie zum „Indiz“ von etwas gleichzeitig Grundlegendem und weniger Sichtbaren macht und das sich hinter der Hauptfarbe zeigt? Wenn ich richtig sehe, ist es folglich nicht das Verhaftetsein mit der vorherigen Hierarchie, das den Rassismus erzeugt und ihn als „Residuum“ in die kompetitive Gesellschaftsordnung überträgt. Schließlich ist die kompetitive Ordnung auch nicht „neutral“ auf dieser Ebene des leistungsgesellschaftlichen Ausgangspunktes, wie die Argumentation von Fernandes implizit vorauszusetzen scheint. Die Wettbewerbsordnung hat auch „ihre Hierarchie“, wenn sie auch für die Akteure implizit, verdeckt und intransparent ist, und es ist auf der Basis dieser Hierarchie, und nicht irgendeines „Residuums“ vergangener Epochen, dass sowohl Weiße als auch Schwarze ohne angemessene Qualifikation auf Dauer deklassiert und marginalisiert werden. In dieser Hinsicht ist es kein Zufall, dass die Legitimierung der Marginalisierung in den Stellungnahmen der Interviews, die der Autor über das ganze Buch hinweg anführt, immer vom Hinweis auf herausra231
Die gesamte Denkweise ist der traditionellen Soziologie der Modernisierung verhaftet, mit ihrem Glauben an die graduelle Vernichtung der „Tradition“, die eben als „Residuen“ und „Trägheiten“ aufgefasst wird, in Form eines Evolutionismus einfacher und etappenförmiger Art. Dies wurde schon zu Beginn dieses Buchs in eingehender Weise kritisch diskutiert, und die Argumente müssen hier nicht wiederholt werden. Hier sei nur daran erinnert, dass diese Annahme von vornherein die Betrachtung peripherer, in singulärem Sinne modernen Gesellschaften ausschließt. Diese sind gerade durch die Perpetuierung von Marginalisierungs- und Ausgrenzungsverhältnissen gekennzeichnet, Verhältnisse, die durch Mechanismen der Legitimierung von Ungleichheit erzeugt und unkenntlich und dauerhaft gemacht werden, welche nur unter spezifisch modernen Vorbedingungen Wirksamkeit erlangt haben, wie wir eingehender weiter unten sehen werden.
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gende Aspekte der Wertehierarchie des modernen westlichen Rationalismus begleitet wird: das Fehlen von Ordnung, Disziplin, Voraussicht, prospektivem Denken etc. Das herrschende Kriterium zur Klassierung/Deklassierung war so eng mit der impliziten und unpersönlichen Wertehierarchie der neuen Gesellschaftsordnung verhaftet, dass in verschiedenen Stellungnahmen die Hautfarbe als zweitrangiger Aspekt angesehen wurde. So war man z.B. der Auffassung, dass der Schwarze und „der rückständige Weiße, der auf dessen moralischer und intellektueller Höhe ist, sich vermischten“232. Fernandes bleibt jedoch der Erklärung durch die „Residuen“233 verhaftet und vermag verschiedene dieser Stellungnahmen nicht in seinen Erklärungsrahmen einzufügen, der so in wachsendem Maße unscharf, zweideutig und unabgeschlossen wird. Die theoretische Lösung dieses „Imbroglios“, mit nicht zu vernachlässigenden praktischen Konsequenzen, verlangt die genaue Bestimmung dieser mysteriösen Komponente „hinter“ der Hautfarbe. Fernandes zeigt schon in die einzuschlagende Richtung durch die mehrmals in seinem Buch wiederkehrende Andeutung, dass es der eigentliche Wunsch der Schwarzen sei, effektiv zum „Menschen“ zu werden. 234 Der Ausdruck wird niemals klar definiert, weder von Fernandes, noch von seinen Informanten. Auch in dieser Hinsicht meine ich, dass, wollen wir den bloß rhetorischen Gebrauch dieses Ausdrucks überschreiten und ihm analytische Konsistenz verleihen, es notwendig wird, die Verwechslung und Vermengung von „Habitus“ und Hautfarbe zu überwinden. Was die Informanten selbst letztlich unter „Mensch“ sein verstehen, spiegelt klar dasjenige wider, was ich als die Vorbedingungen für die Bildung eines Habitus ansehe, der den institutionellen Anforderungen der neuen Ordnung angemessen ist, unabhängig von der Hautfarbe. Eine der Personen dieser Lebensgeschichten, ein Junge, der zusammen mit der Mutter und der Schwester wohnte, das Leben „in Gottes Hand“, berichtet über sein Erstaunen, als er um 1911, mit 10 Jahren, bei einem Italiener aufgenommen wurde. Da sah er, „was es hieß, im Schoß einer Familie zu leben, die bei ihnen (den Italienern) etwas Ernstes war.“ „Es gefiel mir, weil ich am Tisch aß...“, und er konnte so zu schätzen lernen, was es bedeutete, „wie ein Mensch zu leben.“235
232
Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 300. Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 144, 156, 280, 181, 183. 234 Lediglich als Beispiel; Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 174, 196, Band I und S. 7, 119, 120, 166, 185, 187 in Band II. 235 Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 174. 233
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Im selben Sinne erscheinen die folgenden Äußerungen: „Schwarze sind Menschen und müssen nicht anders leben als die anderen“ ... „Mensch sein“ kann nur heißen, „genau wie ein Weißer zu sein“, und dazu ist es nötig, „zu handeln wie ein Weißer“ und sich aktiv dem beruflichen Wettbewerb zu stellen.236
Doch was ist es letztendlich, das jenseits der rhetorischen Bedeutung liegt und das zwar in unartikulierter Weise jedem von uns unmittelbar verständlich ist, doch das sich als eine scheinbar unüberwindbare Herausforderung erweist, wenn wir „Mensch sein“ angemessen definieren wollen? Die Antwort auf diese Frage ist im Grunde das zentrale Thema dieses Buchs, insofern als sie uns helfen kann, Kategorien wie Mensch und „Unter-Mensch“ und Staatsbürger und „subalterner“ oder „zweitklassiger“ Staatsbürger“ in einem nicht-rhetorischen Sinn zu klären. Diese Antwort erfordert die vorherige und gleichzeitige Klärung zweier Problemstellungen: a) die Rekonstruktion der kontingenten und historisch geschaffenen Hierarchie, die auf undurchsichtige und unartikulierte Weise der Legitimation der Ungleichheit in den zentralen und peripheren Bereichen der modernen Verhältnisse als Grundlage dient; und b) die Klärung des spezifischen Modus ihrer institutionellen Verankerung unter den Bedingungen der Modernisierung an der Peripherie.
Kapitel II – Die „spontane Ideologie“ des Spätkapitalismus und die soziale Konstruktion der Ungleichheit Kapitel II – Die „spontane Ideologie“ des Spätkapitalismus Das Anliegen dieses Diskussionspunktes zielt darauf ab, auf die im ersten Teil dieses Buchs ausgehend von den Beiträgen Taylors und Bourdieus entwickelte Reflexion nun mit Hinsicht auf die konkreten Bedingungen der Moderne im Zentrum und an der Peripherie zurückzugreifen. Die Wahl dieser beiden Autoren, dies sei hier wiederholt, verdankt sich der Tatsache, dass sich beide in meinen Augen sowohl von einer sujektivistischen Soziologie entfernen, die die Komplexität der sozialen Wirklichkeit auf die bewusste Interaktion ihrer Mitglieder reduziert, als auch von einer systemischen Soziologie, die die soziale Wirklichkeit „naturalisiert“ und damit untauglich wird, um ihre unkenntlichen und für das alltägliche und wissenschaftliche Bewusstsein intransparenten Sinnstrukturen wahrzunehmen, und gleichfalls von einer Soziologie, die die kulturel236
Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, Band II, S. 166.
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Im selben Sinne erscheinen die folgenden Äußerungen: „Schwarze sind Menschen und müssen nicht anders leben als die anderen“ ... „Mensch sein“ kann nur heißen, „genau wie ein Weißer zu sein“, und dazu ist es nötig, „zu handeln wie ein Weißer“ und sich aktiv dem beruflichen Wettbewerb zu stellen.236
Doch was ist es letztendlich, das jenseits der rhetorischen Bedeutung liegt und das zwar in unartikulierter Weise jedem von uns unmittelbar verständlich ist, doch das sich als eine scheinbar unüberwindbare Herausforderung erweist, wenn wir „Mensch sein“ angemessen definieren wollen? Die Antwort auf diese Frage ist im Grunde das zentrale Thema dieses Buchs, insofern als sie uns helfen kann, Kategorien wie Mensch und „Unter-Mensch“ und Staatsbürger und „subalterner“ oder „zweitklassiger“ Staatsbürger“ in einem nicht-rhetorischen Sinn zu klären. Diese Antwort erfordert die vorherige und gleichzeitige Klärung zweier Problemstellungen: a) die Rekonstruktion der kontingenten und historisch geschaffenen Hierarchie, die auf undurchsichtige und unartikulierte Weise der Legitimation der Ungleichheit in den zentralen und peripheren Bereichen der modernen Verhältnisse als Grundlage dient; und b) die Klärung des spezifischen Modus ihrer institutionellen Verankerung unter den Bedingungen der Modernisierung an der Peripherie.
Kapitel II – Die „spontane Ideologie“ des Spätkapitalismus und die soziale Konstruktion der Ungleichheit Kapitel II – Die „spontane Ideologie“ des Spätkapitalismus Das Anliegen dieses Diskussionspunktes zielt darauf ab, auf die im ersten Teil dieses Buchs ausgehend von den Beiträgen Taylors und Bourdieus entwickelte Reflexion nun mit Hinsicht auf die konkreten Bedingungen der Moderne im Zentrum und an der Peripherie zurückzugreifen. Die Wahl dieser beiden Autoren, dies sei hier wiederholt, verdankt sich der Tatsache, dass sich beide in meinen Augen sowohl von einer sujektivistischen Soziologie entfernen, die die Komplexität der sozialen Wirklichkeit auf die bewusste Interaktion ihrer Mitglieder reduziert, als auch von einer systemischen Soziologie, die die soziale Wirklichkeit „naturalisiert“ und damit untauglich wird, um ihre unkenntlichen und für das alltägliche und wissenschaftliche Bewusstsein intransparenten Sinnstrukturen wahrzunehmen, und gleichfalls von einer Soziologie, die die kulturel236
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le Dimension essentialisiert, wie dies in den traditionellen und zeitgenössischen Modernisierungstheorien geschieht. Für beide besteht das Singuläre der modernen Gesellschaft gerade in der Erzeugung einer Konfiguration aus den Illusionen der unmittelbaren und alltäglichen Bedeutungen, die Taylor „Naturalismus“ und Bourdieu „Doxa“ nennt und die bei den Akteuren eine „spezifische Verkennung“ hinsichtlich ihrer eigenen Lebensbedingungen erzeugt. Auch gilt für beide, dass sie nur eine hermeneutische, genetische und rekonstruktive Perspektive für tauglich halten, die effektiven, wenngleich unkenntlichen und intransparenten Vorbedingungen des sozialen Lebens in einer Gesellschaft dieses Typs wieder kenntlich zu machen. Die konkrete Herausforderung liegt hier jedoch darin, dabei ebenfalls die Einseitigkeiten jeder einzelnen der untersuchten Perspektiven durch ihre systematische Verbindung zu beheben, um sie so zu einem Werkzeug zu machen, das zu erkennen erlaubt, wie Moral und Macht sich in der modernen Welt auf eine besondere Weise verbinden, und dies insbesondere im peripheren Kontext. Der Aspekt, der am stärksten die Mängel der Theorie Bourdieus augenfällig macht und die Notwendigkeit offenkundig werden lässt, sie mit einer objektiven Moraltheorie wie der Taylorschen zu verbinden, ist vielleicht der radikale Kontextualismus in seiner Analyse der französischen Arbeiterklasse, der ihn daran hindert, kollektive moralische Lernprozesse wahrzunehmen, die die Klassenschranken bei weitem überschreiten. Wie wir bei der Analyse Bourdieus zu den französischen Verhältnissen sehen konnten, ist die letzte Ebene seiner Analyse, die eine unendliche Zahl von sozialen Unterscheidungen begründet, die Situation der „Notwendigkeit“ der Arbeiterklasse. Was den kontingent historischen und raum-zeitlich kontextuellen Charakter dieser „Notwendigkeit“ zeigt, ist, dass sie sich auf eine Unterscheidung von Konsumgewohnheiten innerhalb des sozial befriedeten Rahmens bezieht, der typisch für den Wohlstandsstaat ist. Was in diesem Kontext als „Notwendigkeit“ gesehen wird, erlangt, verglichen mit peripheren Gesellschaften wie Brasilien, den Sinn einer kontingenten historischen Konsolidierung politischer Kämpfe und vielfältiger sozialer und moralischer Lernprozesse von effektiver und grundlegender Bedeutung, die als solche von Bourdieu nicht wahrgenommen werden. Deshalb möchte ich eine interne Unterteilung der Kategorie des Habitus vorschlagen, in der Weise, dass ihr ein historisch differenzierterer Charakter zukommt, der in der Analyse Bourdieus fehlt und folglich der Thematik der Entstehung des Habitus eine genetische und diachronische Dimension hinzufügen. Anstatt also lediglich allgemein von „Habitus“ zu sprechen, mit Bezug auf spezifische Klassensituationen in einem synchronischen Kontext, wie Bourdieu es tut, erscheint es mir anregender und für meine Zwecke ergiebiger, von einer „Mehrschichtigkeit“ des Habitus zu sprechen und verschiedene Ebenen seiner
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Konstitution zu unterscheiden. Wenn der Habitus die Verinnerlichung von Bewertungsschemata und Verhaltenseinstellungen durch die Subjekte aufgrund sozio-ökonomischer Strukturbedingungen darstellt, so müssen grundlegende Veränderungen in der ökonomisch-sozialen Struktur konsequenterweise wichtige qualitative Veränderungen im Habitustyp bei allen sozialen Klassen nach sich ziehen, die in irgendeiner Weise in diese Veränderungen miteinbezogen sind. Dies war gewiss der Fall beim Übergang der traditionellen Gesellschaften zu den modernen Gesellschaften im Okzident. Das Bürgertum, als erste herrschende Klasse in der Geschichte, die arbeitet, konnte mit der für die traditionellen Gesellschaften typische, auf dem Ehrenkodex basierenden Doppelmoral brechen und in einem zumindest beträchtlichen und signifikativen Maß eine Vereinheitlichung des Menschtyps aufgrund der generalisierenden Übertragung seines eigenen Gefühlshaushalts – Herrschaft der Vernunft über die Emotionen, prospektive Berechnung, Selbstverantwortung etc. – auf die beherrschten Klassen erreichen. Dieser Prozess geschah in allen zentralen Gesellschaften des Okzidents in den verschiedensten Weisen. In allen Gesellschaften, denen die Homogenisierung eines transklassischen Menschentyps gelang, war dies ein Anliegen, das, wie wir gesehen haben, mit Bewusstsein und Entschiedenheit verfolgt wurde und nicht der vermeintlich automatischen Wirkung des wirtschaftlichen Fortschritts überlassen wurde. So kann dieser gigantische historische Vereinheitlichungsprozess, der später noch durch die sozialen und politischen Errungenschaften auf Initiative der Arbeiterklasse selbst vertieft wurde – was gewiss nicht alle Klassen in allen Lebensbereichen völlig anglich, aber doch zweifellos grundlegende Dimensionen der Gleichheit auf den zivilen, politischen und sozialen Ebenen generalisierte und ausweitete, wie Marshall sie in seinem berühmten Text untersucht hat –, als ein immenser moralischer und politischer Lernprozess mit tiefreichenden Konsequenzen angesehen werden. Und genau dieser kollektive historische Lernprozess ist es, der von Bourdieu in seiner empirischen Untersuchung zur französischen Gesellschaft nicht angemessen thematisiert wird. Dieser Prozess stellt dar, was ich als „primären Habitus“ bezeichnen möchte, um die Aufmerksamkeit auf objektiv verinnerlichte und, im Bourdieuschen Sinn des Ausdrucks, „inkorporierte“ Bewertungsschemata und Verhaltensdispositionen zu lenken, die einen effektiv im Taylorschen Sinne kollektiv geteilten Begriff von „Würde“ ermöglichen. Es ist dieser Begriff von „Würde“, der effektiv von Klassen geteilt wird, die den Gefühlshaushalt aller ihrer Mitglieder in einem signifikativen Maß vereinheitlichen konnten, worin ich das tiefste Fundament der außerjuristischen sozialen Anerkennung sehe, das seinerseits die soziale Wirksamkeit der juristischen Gleichheitsregel bedingt und folglich des modernen Begriffs von Staatsbürgerschaft. Es ist diese Dimension einer geteilten Auffassung von „Würde“, im nicht-juristischen Sinn
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der „Respektierung des Anderen“, die Taylor den „attitudinal respect“237 nennt und die in effektiver Form in einer Gesellschaft verbreitet sein muss, damit wir sagen können, dass in dieser konkreten Gesellschaft die juristische Dimension der Staatsbürgerschaft und der per Gesetz garantierten Gleichheit wirklich gegeben ist. Damit die Gleichheitsregel rechtswirksam wird, ist es notwendig, dass die Auffassung der Gleichheit auf der Ebene des Alltagslebens in effektiver Weise internalisiert ist. Es ist folglich diese Dimension, die einen effektiven klassenübergreifenden Wertekonsens als Bedingung ihrer Existenz erfordert, die als solche von Bourdieu nicht wahrgenommen wird. Und dieses Manko erlaubt ihm, die Beziehungen zwischen den herrschenden und beherrschten Klassen als spiegelbildliche, reaktive und sich zu Null summierende Beziehungen zu denken. Die radikale Kontextualität seiner Argumentation hindert ihn daran, das Gewicht der historischen Errungenschaften in diesem Gesellschaftstyp wie dem französischen zu erkennen, die durch den Vergleich mit peripheren Gesellschaften wie der brasilianischen, wo solch ein Konsens fehlt, offenkundig geworden sind. Indem ich also die Generalisierung der sozialen, ökonomischen und politischen Vorbedingungen für das nützliche, „würdige“ und staatsbürgerliche Subjekt, das im Taylorschen Sinn als solches intersubjektiv anerkannt ist, den „primären Habitus“ nenne, so tue ich dies, um ihn analytisch von zwei anderen, ebenfalls grundlegenden Realitäten zu unterscheiden: vom „prekären Habitus“ und von dem, was ich als den „sekundären Habitus“ bezeichnen möchte. Der „prekäre Habitus“ wäre die Grenze des „primären Habitus“ nach unten, d.h. es wäre jener Typ von Persönlichkeit und Verhaltensdispositionen, die den objektiven Anforderungen nicht in der Weise entsprechen, dass das Individuum oder die soziale Gruppe in einer Gesellschaft modernen und kompetitiven Typs als produktiv und nützlich angesehen werden und soziale Anerkennung genießen kann, mit allen sich daraus ergebenden dramatischen existentiellen und politischen Folgen. Für einige Autoren weisen selbst wohlhabende Gesellschaften wie die deutsche schon Segmente von Arbeitern und Armen, die von der Sozialhilfe leben, mit eben genau solchen Zügen eines „prekären Habitus“238auf, insofern als dasjenige, was ich als „primären Habitus“ bezeichnet habe, tendenziell gemäß den neuen Niveaus definiert wird, die an die jüngsten Veränderungen der globalisierten Gesellschaft und der neuen Bedeutung des Wissens angepasst sind. Wir werden jedoch sehen, das diese Definition nur in peripheren Ländern wie Brasilien den Status eines dauerhaften Massenphänomens erlangt. 237
Taylor, Sources of the self: the making of the modern identity, S. 15 Bittlingmayer, Transformation der Notwendigkeit: prekarisierte Habitusformen als Kehrseite der „Wissensgesellschaft“ S. 225-254.
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Was ich den „sekundären Habitus“ nenne, hat zu tun mit der Grenze des „primären Habitus“ nach oben, d.h. es hat zu tun mit einer Quelle sozialer Anerkennung und sozialen Respekts, die die allgemeine Verbreitung des primären Habitus für breite Schichten der Bevölkerung einer gegebenen Gesellschaft voraussetzt. In dieser Hinsicht baut der sekundäre Habitus schon auf der Vereinheitlichung der bei der Bildung des primären Habitus wirkenden Prinzipien auf und instituiert seinerseits klassifikatorische Kriterien der sozialen Unterscheidung aufgrund dessen, was Bourdieu den „Geschmack“ nennt. Doch die begriffliche Bestimmung erfordert diese triadische Differenzierung des Habitusbegriffs, und sie muss für ihre angemessene Problematisierung verbunden werden mit der Taylorschen Diskussion der in der modernen Welt institutionell verankerten Quellen der Moral, sei es im Zentrum oder an der Peripherie. Da die Kategorie des „primären Habitus“ die grundlegendste ist, insofern als von ihr aus seine Grenzen nach unten und nach oben verständlich werden, müssen wir uns noch etwas bei der Bestimmung dieser Kategorie aufhalten. Ich möchte die Forschungen von Reinhard Kreckel verwenden, um zu versuchen, den Begriff des „primären Habitus“ auf ein analytisch konkreteres Niveau zu führen. Ich gehe von der Annahme aus, dass der Begriff der „Leistungsideologie“239 bei Kreckel es erlaubt, die soziologische Dimension der Erzeugung sozialer Unterscheidung aufgrund des objektiven Wirkens der Idee der Würde des rational Handelnden, wie von Taylor vorgeschlagen, zu erfassen. Letztlich werden die Menschen nicht in gerechter Weise mit derselben sozialen Anerkennung aufgrund ihrer „Würde als rational Handelnder“ versehen. Diese Dimension ist nicht so „glatt“, wie die einfache politische Dimension der subjektiven unversalisierbaren und austauschbaren Rechte suggeriert. Wie wir gesehen haben, ist die juristische Dimension des rechtlichen Schutzes lediglich eine der Dimensionen dieses Anerkennungsprozesses – wenngleich eine grundlegende und überaus wichtige. Wenn es die nützliche, produktive und disziplinierte Arbeit ist, die hinter der „objektiven Beurteilung des relativen Wertes“ eines jeden in dieser Dimension steht, so muss sich das Potential zur Verdeckung von Ungleichheiten hinter dem Begriff der „Würde“ in dieser Dimension am leichtesten zeigen. Was Kreckel mit „Leistungsideologie“ bezeichnet, ist der Versuch der Erstellung eines Einheitsprinzips, jenseits des bloßen ökonomischen Besitzes, aufgrund dessen sich die wichtigste Form der Legitimierung von Ungleichheit in der zeitgenössischen Welt konstituiert. Die Idee, auf der dieses Argument gründet, ist, dass es einen Hintergrundkonsens hinsichtlich des unterschiedlichen Wertes 239
Kreckel, Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, S. 67-106.
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von Menschen geben müsste, so dass es eine effektive – wenn auch unterschwellig erzeugte – Legitimierung der Ungleichheit geben kann. Ohne dies würde sich der gewaltsame und ungerechte Charakter der sozialen Ungleichheit klar und sichtbar zeigen. Für ihn basiert die Leistungsideologie auf der „meritokratischen Triade“ von Bildung, Einkommen und Beruf. Von diesen ist die Bildung, da sie die außerordentliche Wichtigkeit des Wissens im Zuge der Entwicklung des Kapitalismus widerspiegelt, der erste und wichtigste Punkt, der die beiden anderen konditioniert. Die Leistungsideologie ist eine „Ideologie“ insofern, als sie nicht nur die objektive Leistungsfähigkeit stimuliert und belohnt, sondern den dauerhaften differentiellen Zugang zu Lebenschancen und zur Aneignung knapper Güter legitimiert.240 Lediglich die Kombination der Triade der Leistungsideologie weist das Individuum als vollständige und effektive Erscheinung eines „Vollbürgers“ aus. Die Traide macht auch verständlich, warum es nur durch die Kategorie der „Arbeit“ möglich ist, sich Identität, Selbstachtung und soziale Anerkennung zu sichern. In dieser Hinsicht muss sich der Leistungsunterschied auf ein Individuum beziehen und kann nur von ihm selbst errungen werden. Erst wenn diese Vorbedingungen gegeben sind, kann das Individuum seine persönliche und soziale Identität in vollständiger Weise erlangen. Dies erklärt, warum eine Hausfrau z.B. einen objektiv „abgeleiteten“ Sozialstatus besitzt, d.h. ihre soziale Bedeutung und Anerkennung hängen ab von ihrer Zugehörigkeit zu einer Familie oder zu einem „Ehemann“. Sie wird in diesem Sinn abhängig von askriptiven Kriterien, da sie im leistungsgesellschaftlichen Kontext der „Leistungsideologie“ keinen autonomen Wert besitzt.241 Die Zuerkennung sozialen Respekts in den sozialen Rollen des produktiv Tätigen und Staatsbürgers gelangt vermittelt durch die schon von Markt und Staat erzeugte reale Abstraktion an die Individuen, die gedacht werden als „Träger von Unterschieden“, die ihren relativen Wert festsetzen. Die Ausführungen von Kreckel hinsichtlich der Vorbedingungen für die objektive Anerkennung der Rollen des produktiv Tätigen und Staatsbürgers sind insofern wichtig, als es grundlegend ist, sich nicht nur auf die Welt des Marktes und der Verteilung knapper Güter als eine von Werten durchzogene Welt zu beziehen, wie Nancy Fraser dies z.B. tut, sondern es ist darüber hinaus notwendig, auch offenzulegen, „welche Werte“ dies sind. Letztlich wird es die legitimierende Macht dessen sein, was Kreckel die „Leistungsideologie“ nennt, was für die Subjekte und sozialen Gruppen, die von vornherein aufgrund des Fehlens der minimalen Voraussetzungen für einen er240 241
Kreckel, Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, S. 98. Kreckel, Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, S. 100.
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folgreichen Wettbewerb von dieser Dimension ausgeschlossen sind, objektiv deren Nicht-Anerkennung und Mangel an Selbstachtung bestimmen wird. Die „Leistungsideologie“ funktioniert danach wie eine Art sub-politische, ins Alltagsleben verwobene Legitimierung und spiegelt so die Wirksamkeit von Funktionsprinzipien wider, die in intransparenten Institutionen wie Markt und Staat verankert sind. Sie ist ebenfalls intransparent, da sie dem Alltagsbewusstsein „erscheint“, als ob sie die Wirkung universeller und neutraler Prinzipien wäre, die dem leistungsgesellschaftlichen Wettbewerb offenstehen. Ich denke, dass diese Idee dazu beiträgt, dem, was Taylor „ Quelle der Moral“ auf der Grundlage des Begriffs des „punktuellen Selbst“ nannte, Konkretheit zu verleihen, wenngleich sein ideologisches und unterscheidungsbildendes Potential von ihm nicht explizit thematisiert wurde. Aufgrund der Definition und Erstellung einer Leistungsideologie als Legitimationsmechanismus der Rollen des produktiv Tätigen und des Staatsbürgers, die in der von mir vorgeschlagenen Rekonstruktion dem Inhalt des „primären Habitus“ entsprechen, ist ein besseres Verständnis von dessen Grenze „nach unten“ möglich, d.h. des „prekären Habitus“. Wenn der primäre Habitus also einen Zusammenhang von psychosozialen Prädispositionen darstellt, in denen sich auf der Ebene der Persönlichkeit die Präsenz des Gefühlshaushalts und der kognitiven Vorbedingungen für eine angemessene Leistung beim Reagieren auf die (zeitlich und räumlich variablen) Anforderungen der Rolle des produktiv Tätigen unter modernen kapitalisitschen Bedingungen widerspiegelt, mit direkten Auswirkungen auf die Rolle des Staatsbürgers, so führt das Fehlen in irgend einem signifikativen Maß dieser Vorbedingungen zur Bildung eines Habitus, der durch eine prekäre Konstitution gekennzeichnet ist. In diesem Sinne kann „prekärer Habitus“ sowohl auf die traditionelleren Sektoren der Arbeiterklasse in den entwickelten und wohlhabenden Ländern wie Deutschland bezogen werden, die unfähig sind, den neuen Anforderungen der kontinuierlichen Fortbildung und Flexibilität der sogenannten Wissensgesellschaft, die nun eine aktive Anpassung an die neuen wirtschaftlichen Imperative verlangt, zu entsprechen, wie Uwe Bittlingmayer in seiner Studie zeigt242, als auch auf die jahrhundertealte brasilianische Unterklasse, die das oben besprochene Buch von Florestan Fernandes behandelt. In beiden Fällen ist das Entstehen eines ganzen Segments von Unangepassten – ein Randphänomen in Gesellschaften wie der deutschen, eine Massenphänomen in einer peripheren Gesellschaft wie der brasilianischen – das Resultat einer Erweiterung der Definition dessen, was ich „primären Habitus“ genannt habe. Im Fall Deutschlands wird die 242
Bittlingmayer, Transformation der Notwendigkeit: prekarisierte Habitusformen als Kehrseite der „Wissensgesellschaft“ S. 233.
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Diskrepanz zwischen „primärem Habitus“ und „prekärem Habitus“ durch die wachsende Forderung nach Flexibilisierung verursacht, was einen Gefühlshaushalt besonderen Typs verlangt. Im Fall Brasiliens entsteht die abgrundtiefe Trennung schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Reeuropäisierung des Landes und intensiviert sich von 1930 ab mit dem Beginn des Prozesses der Modernisierung in großem Maßstab. In diesem Fall verläuft die Grenzlinie zwischen den „europäisierten“ Sektoren – d.h. den Sektoren, die sich an die neuen produktiven und sozialen Anforderungen anpassen konnten – und den „nicht-europäisierten“ Sektoren, die aufgrund ihrer Ausgrenzung zu einer wachsenden und andauernden Marginalisierung tendierten. Da das Grundprinzip des klassenübergreifenden Konsenses, wie wir sahen, das Prinzip der Leistung und der Disziplin ist (für Taylor die Quelle der Moral des punktuellen Selbst), wird die Akzeptanz und generelle Internalisierung dieses Prinzips zu einem Kriterium, aufgrund dessen die Unangepasstheit und Marginalisierung dieser Sektoren sowohl von der etablierten Gesellschaft als auch von den Opfern selbst als ein „persönliches Scheitern“ wahrgenommen werden kann. Es ist auch die universelle Zentralität des Leistungsprinzips mit seiner konsequenten präreflexiven Verinnerlichung, die bewirkt, dass sich die Reaktion der Unangepassten in einem Kräftefeld ereignet, das sich eben genau mit Hinsicht auf das Thema der Leistung strukturiert: positiv durch die Anerkennung der Unantastbarkeit seines intrinsischen Wertes, trotz der eigenen prekären Position, und negativ durch die Entwicklung eines Lebensstils, der widerständig und ressentimentbeladen ist oder offen kriminell und marginal. 243 Die Grenze des primären Habitus „nach oben“ hat dagegen mit der Tatsache zu tun, dass im Bereich der Produktion die unterschiedliche Leistung sich mit einer besonderen „Stilisierung der Lebensart“ verbinden muss, um soziale Unterscheidungen zu erzeugen. Das heißt, die unterschiedliche Leistung ist nicht nur, und vielleicht nicht einmal primär, eine Quelle sozialer Wertschätzung, die die Bande sozialer Solidarität fördern, wie z.B. Axel Honneth vorschlägt244, sondern auch in großem Maße eine Quelle für soziale Unterscheidungen, die sich von einem Kontext der Intransparenz und der scheinbaren Neutralität nähren, der integraler Bestandteil der „Leistungsideologie“ ist, eben zur Schaffung von sozialen Unterschieden, die aufgrund der besonderen Unkenntlichkeit ihrer Entstehungsbedingungen zur „Naturalisierung“ neigen. In dieser Hinsicht wäre das, was ich „sekundären Habitus“ nenne, genau dasjenige, was Bourdieu in seiner Studie über die „feinen Unterschiede“ im Sinn hat, die er in seinem Buch „Distinctions“ analysiert. In dieser Dimension wird 243 244
Fernandes, A integração do negro na sociedade de classes, S. 94. Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 203.
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der „Geschmack“ zu einer Art unsichtbarer Münze, die sowohl das rein ökonomische Kapital, als auch ganz besonders das kulturelle Kapital, beide aufgrund der Illusion des „angeborenen Talents“ als „leistungsbedingt bemäntelt“, in ein System sozialer Zeichen legitimer Unterscheidung umprägt, aufgrund der typischen Wirkungen des Kontexts, der die Bedingungen ihrer Möglichkeit unkenntlich macht. Doch auch hier ist es notwendig, die objektive Dimension der Moralvorstellungen hinzuzufügen, die in letzter Instanz den gesamten Prozess der Fabrizierung sozialer Unterscheidungen ermöglicht, was von Bourdieu, wie wir im ersten Teil dieses Buchs gesehen haben, vernachlässigt wird. In dieser Weise muss auch das Konzept des sekundären Habitus245, analog wie ich es mit dem Konzept des primären und prekären Habitus getan habe, mit dem moralischen Kontext verbunden werden, der, wenngleich unkenntlich und naturalisiert, ihm Wirksamkeit verleiht. Wenn wir in der „Leistungsideologie“ als Folgeerscheinung der „Würde des rationalen Wesens“ des Taylorschen punktuellen Selbst das implizite und naturalisierte moralische Fundament der beiden anderen Habitusebenen, die wir unterschieden haben, erkennen, denke ich, dass der sekundäre Habitus in seinem spezifischen Wesen vor allem aufgrund des Taylorschen Begriffs der Expressivität und Authentizität verstanden werden kann. Das romantische Ideal der Authentizität, von Taylor in „The Sources of the Self“ als eine alternative Quelle der Moral zum „self pontual“ und zum Leistungsprinzip interpretiert, das es insofern steuert, als es die narrative Rekonstruktion einer singulären Identität betreibt, für die es keine vorgefertigten Modelle gibt, läuft unter den aktuellen Bedingungen Gefahr, sich in sein Gegenteil zu verwandeln. Das Stichwort zur Diagnose der Epoche, wie Taylor sie in seinem Buch „The Ethics of Authenticity“ durchführt, bezieht sich eben gerade auf die wachsende Bedrohung dieses Ideals durch Trivialisierung seines dialogischen und selbstbildenden Inhalts zugunsten einer selbstbezogenen Perspektive, die sich in dem äußert, was der Autor „quick fix“246 (rasche Lösung) nennt. Die Thematik des „Geschmacks“, als Basis der sozialen Unterscheidungen, die darin gründen, was ich den sekundären Habitus nenne, umfasst sowohl den Horizont der inhaltlichen Individualisierung, die auf dem Ideal der dialogisch 245 In seiner interessanten Kritik zu Bourdieu tendiert Axel Honneth dazu, das Konzept des Habitus in toto zu verwerfen, aufgrund der instrumentellen und utilitären Komponente, die ihm innewohnt. Doch dabei läuft Honneth Gefahr, „das Kind mit dem Bade auszuschütten“, insofern als es in meinen Augen zunächst wichtig ist, das Habituskonzept an eine moralische Instanz rückzubinden, die es erlaubt, auf der individuellen und kollektiven Ebene, jenseits des instrumentellen Faktums, das unverzichtbar ist, auch die Thematik des moralischen Lernprozesses zu erhellen. Siehe Honneth, Die zerrissene Welt der symbolischen Formen: Zum kultursoziologischen Werk Pierre Bourdieus, S.171. 246 Taylor, The ethics of authenticity, S. 35.
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und narrativ konstruierten originalen Identität basiert, als auch den Prozess der oberflächlichen, auf dem „quick fix“ basierenden Individuation. Bourdieu erkennt nicht den Unterschied zwischen den beiden Formen, da für ihn, aufgrund seiner kategoriellen Bestimmungen, die Strategie der Unterscheidung immer utilitär und instrumentell ist. Für meine Zwecke jedoch ist dieser Unterschied grundlegend. Schließlich ist es die von Taylor betriebene Rückerschließung der objektivierten Dimension, die in letzter Instanz die soziale Anziehungskraft und Wirksamkeit sogar der massifizierten Pastiche-Version dieser Möglichkeit von Individuation erklärt. Die Personifizierung des „Geschmacks“ dient für Bourdieu vor allem zur Definition der „distinktiven Persönlichkeit“, einer Persönlichkeit, die als Resultat von angeborenen Eigenschaften und als Ausdruck von Harmonie und Schönheit und der Versöhnung von Vernunft und Sinnlichkeit erscheint, als Definition des vollkommenen und vollendeten Individuums.247 Die Kämpfe zwischen den verschiedenen Klassenfraktionen geschehen gerade zur Bestimmung der sozial vorherrschenden Version dessen, was eine distinktive und hochstehende Persönlichkeit ist. Die Arbeiterklasse, die an diesen Kämpfen zur Definition des Leitkriteriums der Distinktion nicht teilnimmt, wäre somit ein bloßes Negativ dieser Idee von Persönlichkeit, fast wie eine „Nicht-Person“, wie die Spekulationen Bourdieus hinsichtlich der Reduktion der Arbeiter auf die reine Körperkraft erkennen lassen.248 Doch genau hier meine ich, zeigen sich die Grenzen des ahistorischen Kontextualismus der Perspektive Bourdieus. Ein Vergleich zwischen den französischen und brasilianischen Realitäten mag besser veranschaulichen, was ich bei der Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem Habitus meine, und warum diese Differenzierung für eine angemessene Wahrnehmung der spezifischen Qualitäten der zentralen und peripheren Moderne von Wichtigkeit ist. So wäre es, wenn ich richtig liege, das effektive Bestehen eines klassenübergreifenden Grundkonsenses – repräsentiert durch die Generalisierung der sozialen Vorbedingungen, die in den fortgeschrittenen Gesellschaften die effektive Teilhabe daran ermöglicht, was ich den primären Habitus nenne –, was z.B. bewirkt, dass ein mittelständischer Deutscher oder Franzose, der einen Mitbürger aus den unteren Klassen überfährt, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit effektiv vor dem Gesetz verantworten muss. Wenn ein mittelständischer Brasilianer einen armen Brasilianer der Unterklasse überfährt, so sind in diesem Fall die Chancen, dass das Gesetz effektiv zur Anwendung gelangt, dagegen sehr gering. Das bedeutet nicht, dass den Personen in diesem Fall das Geschehene völlig gleichgültig wäre. Das polizeiliche Verfahren wird in der 247 248
Bourdieu, Distinction, S. 11. Bourdieu, Distinction, S. 384.
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Regel eröffnet und geht seinen bürokratischen Gang, doch das Ergebnis ist, in der überaus großen Mehrheit der Fälle, eine einfache Freisprechung oder Strafen, die bloße Übertretungsdelikte ahnden. In der außerjuristischen Dimension nämlich des objektiven, gesellschaftlich geteilten sozialen Respekts, ist der Wert eines armen nicht-europäisierten Brasilianers – d.h. der nicht teilhat am Gefühlshaushalt des punktuellen Selbst, das eine kontingente kulturelle Schöpfung Europas und Nordamerikas ist – vergleichbar mit dem Wert, dem man einem Haustier beimisst, was objektiv seinen sub-humanen Status charakterisiert. Und in peripheren Ländern wie Brasilien existiert eine ganze Klasse von ausgegrenzten und deklassierten Menschen, aufgrund der Tatsache, dass sie nicht einbezogen sind in den Basiskontext der Wertsetzungen, den Taylor die „Würde“ des rational Handelnden nennt und der die Bedingung der Möglichkeit für die effektive Teilhabe aller an der Idee der Gleichheit in derjenigen Dimension darstellt, die grundlegend für die Bildung eines Habitus ist, den man eben, da er die disziplinierenden, plastischen und adaptiven Grundmerkmale für das Ausüben von produktiven Funktionen im Kontext des modernen Kapitalismus enthält, „primären Habitus“ nennen könnte. Ich möchte diese für meine ganze Argumentation in diesem Buch zentrale Idee näher präzisieren. Ich spreche von einem primären „Habitus“, da es sich effektiv um einen Habitus in dem Sinn handelt, den dieser Begriff bei Bourdieu erhält. Es sind objektiv gemeinschaftlich geteilte, wenngleich unkenntliche und fast immer unreflektierte und unbewusste Bewertungsschemata, die unser effektives Handeln und Verhalten in der Welt leiten. Lediglich dieser Typ eines gleichsam körperlich verinnerlichten, prä-reflexiven und naturalisierten Konsenses, kann jenseits des juristischen Wirkens eine Art implizite Übereinkunft ermöglichen, die die Ansicht erzeugt, wie z.B. im Fall des Überfahrens einer Person in Brasilien, dass einige Menschen und Klassen über dem Gesetz stehen und einige darunter. Es existiert etwas wie ein unsichtbares Netz, das vom Polizisten, der die Untersuchung eröffnet bis zum Richter reicht, der das abschließende Urteil fällt, und sich über Anwälte, Zeugen, Staatsanwälte, Journalisten etc. erstreckt, die durch eine implizite und niemals verbalisierte Übereinkunft den Unfallverursacher schließlich freisprechen. Was alle diese individuellen Intentionalitäten in unterschwelliger Weise verbindet und zur impliziten Übereinkunft unter ihnen führt, ist das objektive und institutionell verankerte Faktum des nicht-menschlichen Wertes des Überfahrenen, da es gerade der differentielle Wert zwischen den Menschen ist, der in unartikulierter Form in allen unseren institutionellen und sozialen Praktiken aktualisiert ist. Es handelt sich hier nicht um Intentionalität. Kein europäisierter mittelständischer Brasilianer bei gesundem Verstand würde bekennen, dass er seine Mitbürger aus niedrigeren nicht-europäisierten Klassen als „sub-human“ ansieht. Ein
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Großteil dieser Personen wählt Linksparteien und nimmt teil an Kampagnen gegen den Hunger u.ä. Die hier betrachtete Dimension ist objektiv, unterschwellig und intransparent. Sie ist implizit auch in dem Sinn, dass sie nicht sprachlich vermittelt oder symbolisch artikuliert zu werden braucht. Sie impliziert, wie die Idee des Habitus bei Bourdieu, eine ganze Weltsicht und moralische Hierarchie, die sedimentiert und sich als soziales Zeichen in unmerklicher Form aufgrund von scheinbar unbedeutenden sozialen Zeichen zeigt, wie etwa die respektvolle und unbewusste Verneigung des sozial niedriger Stehenden bei der Begegnung mit einem höher Stehenden, durch die Tonlage der Stimme mehr als durch das Gesagte etc. Was hier vorliegt sind stumme und unterschwellige, doch gerade deshalb umso wirksamere soziale Übereinkünfte und Konsense, die gleichsam durch unsichtbare Fäden Solidaritäten und tiefe und unsichtbare Vorurteile vermitteln. Es ist diese Art von Übereinkunft, die sich, um bei dem oben erwähnten Beispiel des Überfahrens einer Person zu bleiben, hinter der Tatsache verbirgt, dass alle am polizeilichen und gerichtlichen Prozess Beteiligten, in Sachen Tötung einer nicht-europäisierten sub-humanen Person durch Überfahren, ohne irgend eine bewusste Übereinkunft und sogar entgegen den expliziten Erwartungen vieler von ihnen schließlich ihren mittelständischen Mitbürger am Ende freisprechen. Bourdieu nimmt aufgrund seines radikalen Kontextualismus, der eine ahistorische Komponente impliziert, die Existenz der klassenübergreifenden Komponente nicht wahr, die bewirkt, dass in Gesellschaften wie der französischen eine intersubjektive und klassenübergreifende Übereinkunft besteht, durch die das Überfahren eines Franzosen aus der Unterklasse wirklich strafrechtlich verfolgt wird, da er in der subpolitischen und unterschwelligen Dimension effektiv als „Mensch“ und „Vollbürger“ gilt und nicht nur als physische und muskuläre Arbeitskraft bzw. bloßes Arbeitstier. Es ist also die effektive Existenz dieser Komponente, die die Tatsache erklärt, dass in der französischen Gesellschaft auf einer grundlegenden Ebene, unabhängig von der Klassenzugehörigkeit, alle Staatbürger sind. Diese Tatsache bedeutet andererseits nicht, dass es nicht andere Dimensionen der Ungleichheit gibt, die sich auch in verhüllter und intransparenter Form manifestieren, wie Bourdieu in seiner Analyse der französischen Gesellschaft so überzeugend gezeigt hat. Doch die Thematik des Geschmacks, die die Trennungen der Menschen durch Beziehungen der Sympathie und Abneigung diskutiert, kann und muss analytisch von der Frage nach der grundsätzlichen Würde der juristischen und sozialen Staatsbürgerschaft unterschieden werden, die ich hier mit dem verbinde, was ich primären Habitus nenne. Die Unterscheidung aufgrund des Geschmacks, wie sie von Bourdieu so meisterhaft rekonstruiert wird, setzt, im französischen Fall, ein Niveau effektiver Gleichheit sowohl auf der Ebene der Teilhabe an Grundrechten als auch auf der
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Ebene des attitudinal respects, von dem Taylor spricht, schon voraus, in dem Sinne, dass alle grundsätzlich als „nützliche“ Mitglieder angesehen werden, wenngleich sie in anderen Dimensionen ungleich sein mögen. Mit anderen Worten, zu der Dimension dessen, was ich „primären Habitus“ nenne, tritt eine anderen Dimension hinzu, die ebenfalls auf impliziten und unbewusst geteilten Bewertungsschemata basiert, d.h. die einem spezifischen Habitus im Sinne Bourdieus entspricht, wie es dieser Autor in beispielhafter Weise auf der Grundlage der Geschmacksentscheidungen herausgearbeitet hat, und die ich als „sekundären Habitus“ bezeichne. Diese beiden Dimensionen durchdringen sich offenkundig auf verschiedene Weise. Dennoch können und müssen wir sie analytisch insofern trennen, als sie jeweils einer verschiedenen Funktionslogik gehorchen. Wie Taylor sagen würde, sind die Quellen der Moral in jedem der Fälle verschieden. Im Fall des primären Habitus handelt es sich um die Frage nach der effektiven Verbreitung der Vorstellung von der Würde des rational Handelnden, die ihn zum produktiv Tätigen und Vollbürger macht. In fortgeschrittenen Gesellschaften ist diese Verbreitung effektiv gegeben, und die Fälle von prekärem Habitus sind Randphänomene. In peripheren Gesellschaften wie der brasilianischen ist der prekäre Habitus, der auf der Existenz unsichtbarer und objektiver Netze gründet, die die prekarisierten Individuen und sozialen Gruppen hinsichtlich ihrer ökonomischen und staatsbürgerlichen Tauglichkeit als subaltern deklassiert, und dies in aller sozialen Offenkundigkeit sowohl für die Privilegierten als auch für die Opfer dieser Prekarisierung selbst, ein Massenphänomen und rechtfertigt meine These, dass das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden Gesellschaftstypen die soziale Erzeugung einer „strukturellen Unterklasse“ in den peripheren Gesellschaften ist. Dieser Umstand leugnet nicht, das es in beiden Gesellschaftstypen ein Kampf um Unterscheidung gibt, der auf dem basiert, was ich sekundären Habitus nenne und was mit der selektiven Aneignung von knappen Gütern und Ressourcen zu tun hat, wodurch sich festgefügte und tendenziell dauerhafte Kontexte der Ungleichheit herausbilden. Doch die effektive Konsolidierung, in einem signifikativen Grad, der sozialen Vorbedingungen, die die Generalisierung eines primären Habitus in den zentralen Gesellschaften ermöglicht haben, lässt die subalterne Staatsbürgerschaft als Massenphänomen zu einem auf die peripheren Gesellschaften beschränkten Phänomen werden, das ihren spezifischen Charakter als moderne Gesellschaft markiert und die Aufmerksamkeit auf den Klassenkonflikt lenkt, der für die Peripherie spezifisch ist. Die Bemühung um diese mehrschichtige Konstruktion des Habitus zielt darauf ab, subjektivistische Konzeptionen der Realität zu überwinden, die diese auf Interaktionen von Angesicht zu Angesicht reduziert. Die oben beschriebene Situation des Überfahrens einer Person z.B. würde durch das personalistisch-
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hybridistische Paradigma249 aufgrund des sozialen Kapitals an „persönlichen Beziehungen“ des mittelständigen Fahrers „erklärt“ werden, das schließlich zur Straflosigkeit führen würde. Dies ist ein typisches Beispiel für die subjektivistische Ungereimtheit, komplexe und dynamische Gesellschaften der Peripherie wie die brasilianische interpretieren zu wollen, als ob die strukturierenden Funktionen vormodernen Prinzipien unterlägen, wie dem sozialen Kapital an persönlichen Beziehungen. Auf diesem Gebiet gibt es keinerlei Unterschied zwischen zentralen oder peripheren Gesellschaften. Persönliche Beziehungen sind wichtig bei der Definition von Karrieren und individuellen sozialen Aufstiegschancen, im einen Fall wie im anderen. In beiden Gesellschaftstypen aber ist das ökonomische und kulturelle Kapital strukturbildend, was auf das soziale Kapital der persönlichen Beziehungen nicht zutrifft. Das Konzept des Habitus erlaubt, vorausgesetzt es wird erweitert durch eine nicht-essentialistische Konzeption von Moral als einer in grundlegenden Institutionen verankerten Struktur, sowohl die Wahrnehmung der sozialen Wirkungen einer auf implizite und intransparente Weise – und gerade deshalb umso wirksamer – aktualisierten Hierarchie als auch das Erkennen seines Spaltungspotentials, das zur Bildung naturalisierter Ungleichheitsverhältnisse in verschiedenen Dimensionen führt, was je nach dem untersuchten Gesellschaftstyp variiert. In diesem Sinn halte ich dieses Konzept für ein grundlegendes Instrument, sofern es ergänzt wird durch eine Hermeneutik der Moral wie diejenige, die Taylor uns anbietet.
Kapitel III – Die spezifische Gestalt der peripheren Ungleichheit Wenn das oben entwickelte Argument korrekt ist, so erweist sich die – oft implizit gemachte – Annahme, die sozialen Konflikte, die von der Ungleichheit bei der Verteilung von knappen Ressourcen herrühren, seien im Kontext des Wohlfahrtsstaates der fortgeschrittenen Gesellschaft gelöst, als übertrieben optimistisch. Doch ist es zweifellos vor allem im Bereich der peripheren Gesellschaften, wo die soziale Ungleichheit in allen ihren Dimensionen besonders virulente Proportionen und Formen annimmt, und zwar insbesondere auf der Ebene des „primären Habitus“, der Sphäre, wo die soziale Anerkennung der sozialen Rollen des produktiv Tätigen und des Staatsbürgers definiert werden. Während die Generalisierung eines „prekären Habitus“ in den fortgeschrittenen Gesellschaften 249
Z.B. in der in dieser Arbeit schon zitierten Version eines Roberto DaMatta.
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hybridistische Paradigma249 aufgrund des sozialen Kapitals an „persönlichen Beziehungen“ des mittelständigen Fahrers „erklärt“ werden, das schließlich zur Straflosigkeit führen würde. Dies ist ein typisches Beispiel für die subjektivistische Ungereimtheit, komplexe und dynamische Gesellschaften der Peripherie wie die brasilianische interpretieren zu wollen, als ob die strukturierenden Funktionen vormodernen Prinzipien unterlägen, wie dem sozialen Kapital an persönlichen Beziehungen. Auf diesem Gebiet gibt es keinerlei Unterschied zwischen zentralen oder peripheren Gesellschaften. Persönliche Beziehungen sind wichtig bei der Definition von Karrieren und individuellen sozialen Aufstiegschancen, im einen Fall wie im anderen. In beiden Gesellschaftstypen aber ist das ökonomische und kulturelle Kapital strukturbildend, was auf das soziale Kapital der persönlichen Beziehungen nicht zutrifft. Das Konzept des Habitus erlaubt, vorausgesetzt es wird erweitert durch eine nicht-essentialistische Konzeption von Moral als einer in grundlegenden Institutionen verankerten Struktur, sowohl die Wahrnehmung der sozialen Wirkungen einer auf implizite und intransparente Weise – und gerade deshalb umso wirksamer – aktualisierten Hierarchie als auch das Erkennen seines Spaltungspotentials, das zur Bildung naturalisierter Ungleichheitsverhältnisse in verschiedenen Dimensionen führt, was je nach dem untersuchten Gesellschaftstyp variiert. In diesem Sinn halte ich dieses Konzept für ein grundlegendes Instrument, sofern es ergänzt wird durch eine Hermeneutik der Moral wie diejenige, die Taylor uns anbietet.
Kapitel III – Die spezifische Gestalt der peripheren Ungleichheit Wenn das oben entwickelte Argument korrekt ist, so erweist sich die – oft implizit gemachte – Annahme, die sozialen Konflikte, die von der Ungleichheit bei der Verteilung von knappen Ressourcen herrühren, seien im Kontext des Wohlfahrtsstaates der fortgeschrittenen Gesellschaft gelöst, als übertrieben optimistisch. Doch ist es zweifellos vor allem im Bereich der peripheren Gesellschaften, wo die soziale Ungleichheit in allen ihren Dimensionen besonders virulente Proportionen und Formen annimmt, und zwar insbesondere auf der Ebene des „primären Habitus“, der Sphäre, wo die soziale Anerkennung der sozialen Rollen des produktiv Tätigen und des Staatsbürgers definiert werden. Während die Generalisierung eines „prekären Habitus“ in den fortgeschrittenen Gesellschaften 249
Z.B. in der in dieser Arbeit schon zitierten Version eines Roberto DaMatta.
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ein eingeschränktes und begrenztes Phänomen ist, reicht seine Generalisierung als Massenphänomen in peripheren Gesellschaften wie der brasilianischen soweit, dass circa 1/3 einer Bevölkerung von 170 Millionen Menschen zu einem Leben in existentieller, ökonomischer und politischer Marginalisierung verurteilt sind. Darin scheint mir der Hauptunterschied zwischen diesen beiden Gesellschaftstypen zu liegen und nicht in der Annahme, dass in komplexen und dynamischen peripheren Gesellschaften wie der brasilianischen Personalismen, Patrimonialismen und prämoderne Residuen „hybride“ Realitäten hervorbringen. Da das Wirken der „Leistungsideologie“ in einer schleichenden, subtilen und stillen Form durch eine unreflektiert reproduzierte Praxis auf den verschiedenen Habitusebenen erfolgt, durch Präferenzen, Unterscheidungen und Distanzierungen, die in einem symbolischen, institutionell verankerten und reproduzierten Realitätsprinzip vorgeprägt sind, ist die Intransparenz der Herrschaft, die ebenfalls unter modernen Peripherieverhältnissen erfolgt, für die von einem „prekären Habitus“ betroffenen Gruppen selbstzerstörerisch: „Das Fehlen von Anerkennung bedeutet nicht nur das Fehlen des gebührenden Respekts jemandem gegenüber. Es fügt tiefe Verletzungen zu und erzeugt bei seine Opfern eine verstümmelnde Selbstverachtung“.250 Eine dieser Formen tiefer Verletzungen scheint mir die Akzeptanz der prekären Situation als legitim oder sogar verdient und gerecht zu sein, durch die sich der Kreis schließt, den ich „Naturalisierung der Ungleichheit“ bezeichnen möchte. Das geschieht selbst dann noch geschieht, wenn diese Ungleichheit abgrundtief ist, wie in der brasilianischen Gesellschaft. In diesem Kontext ist die Kritik Webers am Klassenkonzept von Marx interessant, insofern als darin genau die Ablehnung des Automatismus zwischen der Klassensituation und der daraus entstehenden möglichen Interessenkonstellationen im Mittelpunkt steht. Für Weber können wir erst, wenn die Klassensituation nicht als natürliches und tendenziell unabänderliches Faktum erkannt wird, d.h. erst wenn sie „denaturalisiert“ wird, von der Möglichkeit einer politischen Artikulierung mit Hinsicht auf die Überwindung dieser Situation sprechen.251 Meines Erachtens ist es der Umstand der „Naturalisierung“ der peripheren Ungleichheit, die nicht ins Bewusstsein ihrer Opfer gelangt, und zwar weil sie durch unpersönliche und spezifisch intransparente Formen geschaffen wird, die in den auch im Bereich des peripheren Kapitalismus agierenden Wirkungen einer „spontanen Ideologie des Kapitalismus“ gründet, die als universell und neutral ausgibt, was kontigent und partikular ist. 250 251
Taylor, The politics of recognition, S. 26 Kreckel, Die politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, S. 59.
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Die Verbindung nun der beiden Stränge der Argumentation, die die Rekonstruktion des Wirkens dieser „spontanen Ideologie“ in der modernen Welt, sei es im Zentrum oder an der Peripherie des Systems, erlaubt, und zwar einerseits die Erklärung der Genese der Wertehierarchie, die sie leitet und steuert, und andererseits die Ermittlung der sichtbaren Zeichen ihres Wirkens im Alltagsleben, diese Verbindung ist es gerade, die den Beiträgen von Taylor und Bourdieu für die Konstruktion meines Arguments einen so wichtigen Stellenwert zuweist. Lediglich auf der Grundlage der Rekonstruktion der intransparenten Logik dieser in den Alltag eingewobenen subpolitischen symbolischen Herrschaft versteht man, wie in demokratisch offenen Gesellschaften wie der brasilianischen unter formalem Gesichtspunkt die alltägliche Reproduktion von Ungleichheitsniveaus möglich ist, die auf dem gesamten Globus im Bereich der komplexen Gesellschaften von einiger Größe in diesem Ausmaß nicht bekannt sind. Man versteht dies erst aufgrund der Wahrnehmung der Existenz dieser subpolitischen symbolischen Herrschaft, die in unartikulierter Form eine Konzeption hinsichtlich des differentiellen Wertes der Menschen vermittelt und deren institutionelle Verankerung im Kern grundlegender Institutionen wie Markt und Staat durch empirische Belohnungen und Bestrafungen, die mit dem Funktionieren dieser Institutionen verknüpft sind – in Form von Löhnen, Gewinnen, Arbeit, polizeiliche Repression, Steuern etc. –, die objektive, von jeder individuellen Intentionalität unabhängige Durchsetzung einer ganzen Welt- und Lebensanschauung ermöglicht, die kontingent und historisch ist, doch unter einer Maske der Neutralität und unerbittlichen Objektivität erzeugt wird. Diese implizite Wertehierarchie, als solche in unsichtbarer Weise institutionell verankert, ist es, die bestimmt, wer „Mensch“ ist oder nicht – immer gemäß ihrer kontingenten und kulturell determinierten Kriterien – und folglich auch wer Staatsbürger ist und wer nicht, insofern als die Wirksamkeit der Gleichheitsregel, auf der der Begriff der Staatbürgerschaft gründet, wie wir gesehen haben, auch auf dieser subpolitischen Ebene der alltäglichen Intransparenz effektiv verinnerlicht und präreflexiv inkorporiert sein muss, um wirkliche Gültigkeit zu besitzen. Auf diese Weise versteht man, warum der größte Wunsch der Ausgegrenzten, die Florestan Fernandes in seiner Untersuchung interviewt hat, eben gerade darin bestand, „Mensch zu sein“, wie er unermüdlich in seinem Buch wiederholt. „Mensch“ und „Vollbürger“ werden nur jene Individuen und Gruppen sein, die sich mit dem kontingenten und kulturell determinierten Menschenbild identifizieren, das in implizierter und für das Alltagsbewusstsein unsichtbarer Form der Wertehierarchie „innewohnt“, die das Fundament der institutionellen Wirksamkeit grundlegender Institutionen wie Staat und Markt ausmacht und den Kern der subpolitischen symbolischen Herrschaft bildet, die unser ganzes alltägliches Handeln und Verhalten durchdringt. Dieser Kontext war, wie wir gesehen haben,
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in offenkundig unartikulierter Weise in der Form präsent, wie die Informanten Fernandes' sich selbst und die anderen wahrnahmen. In peripheren, von außen her modernisierten Gesellschaften wie der brasilianischen wird „Mensch“ gleichbedeutend mit „Europäer“ sein. Wenngleich in São Paulo, der von Fernandes in seiner Studie analysierten Stadt, der empirische Bezug für die „Europäität“ wirklich „Europäer“ sind, hier nämlich die italienischen Einwanderer, ist dieses Verhältnis keineswegs notwendig. Mit der Bezeichnung „europäisch“ beziehe ich mich nicht auf die konkrete Entität „Europa“ und noch weniger auf einen Phänotyp oder physischen Typ, sondern auf den Ort und die historische Quelle des kulturell determinierten Menschenbildes, das sich im empirischen Wirken von Institutionen wie dem kompetitiven Markt und dem rational zentralisierten Staat kristallisiert hat, Institutionen, die von Europa aus buchstäblich „die Welt beherrschen“, bis in alle Ecken und Winkel, wie im Fall Brasiliens, den wir oben im Einzelnen untersucht haben, beispielhaft zu sehen ist. Das „Europäische“ und die „Europäität“, aufgefasst – um Missverständnisse zu vermeiden, sei es noch einmal gesagt – als empirischer Bezug auf eine besondere Wertehierarchie, die z.B., wie im Fall von Rio de Janeiro im 19. Jahrhundert, von einem „Mulatten“ verkörpert werden kann, wird zu der Scheidelinie werden, die „Menschen“ von „Nicht-Menschen“ und „Vollbürger“ von „subalternen Bürgern“ trennt. Es ist das Attribut der „Europäität“, das exogen modernisierte periphere Gesellschaften wie die brasilianische in sozial Klassierte und Deklassierte segmentieren wird. Ich bin davon überzeugt, dass das Gleiche für den Bereich gilt, den ich oben „neue Peripherie“ genannt habe, um eine Gruppe von Gesellschaften wie z.B. die lateinamerikanischen zu bezeichnen, die sich, von historischen und regionalen Besonderheiten abgesehen, als komplexe Gesellschaften unter der direkten Einwirkung der weltweiten Expansion Europas gebildet haben. In dieser Hinsicht werden selbst jene sozialen Gruppen wie die ehemaligen Sklaven und die ländlichen und städtischen Abhängigen jedweder Hautfarbe oder Ethnie, die nicht von der Modernisierungswelle durch die „Ankunft Europas“ bei uns erfasst wurden und folglich als prämoderne „Residuen“ aufgefasst werden könnten, von der totalisierenden Logik der neuen symbolischen und institutionellen Norm, die sich bleibend einrichtete und alles Vorherige in etwas Neues umwandelte, ebenfalls vereinnahmt – wenngleich als Deklassierte. Die moderne Version dieser „Unterklasse“ wird folglich nicht mehr aufgrund persönlicher Herrschaftsbeziehungen unterdrückt, die in der Figur und den Bedürfnissen des Herrn, wie wir oben in der Analyse von Freyre und Carvalho Franco gesehen haben, ihren Kern und zentralen Bezugspunkt haben. Im unpersönlichen modernen Kontext, auch im peripheren, sind es Netze von unsichtbaren, präreflexiv geteilten Ansichten hinsichtlich des relativen Wertes von Indivi-
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duen und Gruppen, Netze, die institutionell verankert sind und im Alltag durch die subpolitische symbolische Ideologie reproduziert werden, die in den alltäglichen Praktiken verwoben ist, und wodurch sich nun der soziale Ort von Individuen und Gruppen bestimmt. Diese Netze beseitigen zweifellos nicht die persönlichen Abhängigkeitsbeziehungen, doch geben sie ihnen einen neuen Inhalt und eine neue Dynamik, indem sie sowohl die Personen, die Günste gewähren, als auch diejenigen, die Schutz empfangen, in einen Bezugrahmen stellen, der beide übersteigt. Die geläufige Erklärung des prämodernen „Residuums“ erkennt nicht das umfassendere und grundlegendere Problem, das Fernandes selbst in einem anderen Buch, wie wir gesehen haben, als Suche nach „der Norm der herrschenden Zivilisation“ bezeichnet hat. Es ist diese herrschende Norm, die nun die alten persönlichen Beziehungen nach unpersönlichen und intransparenten Prinzipien im Sinne ihrer eigenen Reproduktionslogik hierarchisieren wird. Mit dem Ende der Übergangsperiode, während der effektiv eine duale Realität bestand, tendenziell modern in den Städten und traditionell auf dem Land, erfolgt von 1930 ab die Inthronisierung der typisch unpersönlichen und intransparenten materiellen und symbolischen Herrschaftslogik des Kapitalismus auch an der Peripherie und vereinnahmt und redimensioniert dort alle sozialen Beziehungen gemäß ihrer eigenen Regeln. Das Paradigma stellt des Personalismus in seinen traditionellen oder zeitgenössischen Gewändern eine subjektivistische Konzeption soziologischer Analyse dar, insofern als die sozialen Beziehungen nach einem Paradigma der Interaktion von Angesicht zu Angesicht aufgefasst werden. Indem sie von vornherein von der Analyse des objektiven Kontexts dessen absehen, was ich in diesem Buch „spontane Ideologie des Kapitalismus“ nenne, lassen sich alle Varianten dieses Typs theoretischer Perspektive von einer Konzeption von Gesellschaft blenden, die sich auf die Intentionalität ihrer Akteure reduziert. Schlimmer noch, da sich diese Sichtweise intentionalistischer Analyse vollkommen mit dem gewöhnlichen Alltagsbewusstsein deckt, kann dieser Typ von Erklärung einen guten Teil seiner Plausibilität und Überzeugungskraft gerade aus der bloß etwas elaborierteren Artikulation von Ansichten und Vorurteilen beziehen, von denen das Alltagsleben durchdrungen ist. Was auf dieser Grundlage effektiv geschaffen wird ist eine „Pseudo-Theorie“252. Dies wird insbesondere sichtbar in dem komplementären Verhältnis zwischen der Kritik, die zum einen vonseiten des Gemeinverstandes und zum andern vonseiten dieser Theorien der prämodernen „Residuen“ kommt, hinsichtlich der 252
Eine detaillierte kritische Darstellung dieser These findet sich in Souza, A modernização seletiva: uma reinterpretação do dilema brasileiro.
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sozialen Übel, die periphere Gesellschaften wie die brasilianische bedrücken. Die allgemein weit verbreitete Ansicht einer vermeintlichen Unehrlichkeit und eines Partikularismus der politischen Klasse oder der Gesellschaft als Ganzer, gleichsam als ihr kulturalistisches Urlaster, im Sinne einer generellen „Erklärung“ der sozialen Übel, die uns singularisieren, entspricht genau der lediglich „etwas komplexeren“ Konzeption des Personalismus als eines jahrhundertealten „kulturellen Erbes“, das sich in institutionell völlig verschiedenen Kontexten, unverändert aufrecht erhält. Die These des Patrimonialismus, im Grunde eine institutionalisierte Ableitung des Personalismus, bestätigt lediglich diese Denkweise. Die modernen Theorien des „Hybridismus“ stellen im Grunde eine „modernisierte“ Version des Personalismus dar, insofern als sie sich gezwungen sehen, auch die unleugbaren Konsequenzen des gewaltigen sozialen Umwandlungsprozesses zu berücksichtigen, der die ökonomische, soziale und politische Struktur von dynamischen peripheren Gesellschaften wie der brasilianischen transformiert hat. Doch die beiden Realitäten werden als „parallele“ Größen angesehen, ohne das die zentrale soziologische Frage nach dem Zusammenwirken und der relativen Dominanz der im Spiel befindlichen strukturbildenden Prinzipien je gestellt würde. Es gibt jedoch eine enge Beziehung zwischen einer „angemessenen Interpretation der Realität“ und einer angemessenen Art und Weise, die „praktischen und politischen Probleme“ anzugehen, welche periphere Gesellschaften wie die brasilianische heimsuchen. Das verzerrte und übertriebene Gewicht, das auf „Kreuzzüge gegen die Korruption“ gelegt wird, als ob dies nicht ein Problem jeder modernen Gesellschaft wäre, sei sie zentral oder peripher253, der Nachdruck auf Verwaltungsreformen, als ob das zentrale Problem lediglich ein Problem effizienter Mittelverwaltung wäre, der Nachdruck auf den regionalen Niveauunterschieden, der einen Kampf gegen die „rückständigen Eliten“ motiviert, als ob die moderneren Regionen frei von diesen Problemen wären, und vor allem der „fetischistische“ Glaube an die Macht der Ökonomie, alle Probleme zu lösen – alle diese Haltungen scheinen mir Folgeerscheinungen dieses Analysetyps zu sein, den ich hier kritisiere. Wenngleich alle diese fehlgesetzten Brennpunkte gewiss lokal unleugbar positive Ergebnisse zeitigen können, so sehen sie doch immer von dem Hauptwiderspruch dieser Art von Gesellschaft ab, der meines Erachtens zusammenhängt mit der Entstehung einer riesigen Unterklasse aus Personen, die nicht an die produktiven und sozialen Anforderungen des modernen Lebens angepasst sind und eine Legion von „Untauglichen“, im wörtlichen und objektiven Sinn 253
Bellah, Habits of the heart: individualism and commitment in american life, S. 207-208.
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des Ausdrucks, bilden, mit den offenkundigen Konsequenzen sowohl existentieller Art, dass sich Millionen von Menschen in materieller wie in geistiger Hinsicht zu einem tragischen Leben verurteilt sehen, als auch soziopolitischer Art, wie die endemische öffentliche Unsicherheit und die politische und wirtschaftliche Marginalisierung dieser Sektoren. Der fetischistische Glaube an die magische Kraft des ökonomischen Prozesses hat bewirkt, dass man, zumindest bis in die achtziger Jahre, als die wirtschaftliche Stagnation auf die vorausgehenden fünfzig Jahre des „Wirtschaftswunders“ folgten, von der Annahme ausging, das wirtschaftliche Wachstum allein254 könnte einen grundlegenden Integrationseffekt haben. Dieser fetischistische Glaube an die Ökonomie ist so hartnäckig, dass selbst der offenkundige „empirische Nachweis“ der Verbindung von schnellem und kontinuierlichem wirtschaftlichen Wachstum mit fast unveränderlichen Ausgrenzungs- und Marginalisierungraten, wie sie die brasilianische Geschichte während eines guten Teils des 20. Jahrhunderts charakterisiert hat, keinerlei Veränderungen im Bewusstsein hervorgerufen zu haben scheint. Anstatt also von einer „Schematisierung“ des brasilianischen Modernisierungsprozesses durch ein prämodernes personalistisches Erbe auszugehen, denke ich, aus Motiven, die in diesem Buch ausgiebig diskutiert worden sind, dass die Bestimmung der Singularität dieses Gesellschaftstyps die spezifische Form betreffen muss, wie die Modernisierung in Verbindung mit einer „Schematisierung“ erfolgte, die durch das allgegenwärtige sklavengesellschaftliche Erbe erzeugt worden ist – das auch das Leben der Abhängigen jeder Hautfarbe konditionierte, wie wir gesehen haben –, und die daraufhin die Existenz und die Wahrnehmung von „Untermenschen“, im nicht-rhetorischen Sinn, den ich in diesem Buch meine, naturalisiert, obgleich eben unter spezifisch modernen Bedingungen. Der „Import“ des Kapitalismus von außen und vor allem durch seine „institutionellen Praktiken“ ohne den ideellen Kontext moralischen, religiösen und kognitiven Gehalts, der in Europa zu einem revolutionären Ferment geworden war, das die Inthronisierung der ökonomischen Logik des Kapitalismus begleitete und aufgrund von moralischen, religiösen und politischen Ideen ein Niveau effektiver, außerjuristischer Gleichheit schaffen und generalisieren konnte, hatte in Brasilien ein anderes Schicksal. Hier wurde der Import der „institutionellen Praktiken“ lediglich von „pragmatischen Ideologien“ wie den Liberalismus begleitet, der als eine Art „symbolisches Schmieröl“ diente, das die pragmatische Einführung der Welt der Verträge und der elitären Repräsentanz im primitiven 254
Selbst ein Theoretiker vom Kaliber Florestan Fernandes’ blieb, wenngleich aus verständlichen Gründen angesichts der damaligen Wucht des Modernisierungsschubs, in dieser Illusion befangen, wie wir gesehen haben.
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und personalistischen Kontext, der ihm vorauslag, erleichtern sollte, doch der bei jedem Versuch einer wirklichen generalisierenden Expansion dieser Prinzipien immer an seine Grenzen stieß. Dieser Umstand konditioniert auch die begrenzte Dimension, die die „dritte grundlegende Institution der modernen Welt“ neben Staat und Markt, die Sphäre der Öffentlichkeit255, bei uns besitzt. Bei allen großen politischen Veränderungen in Brasilien, angefangen von der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, war das Schmieden von kollektiven Ideen und Gefühlen in der sich gerade bildenden Öffentlichkeit eine grundlegende Komponente. Die Öffentlichkeit war immer der „locus“, von dem aus die schwierige und mühsame Ausweitung der politischen und sozialen Partizipation der ausgegrenzten Sektoren erfolgte. Zuerst die Ausweitung der politischen und ökonomischen Partizipation der „mittleren Sektoren“, in den Bewegungen vor 1930, wie wir oben gesehen haben; danach die politische Integration auch der organisierten Sektoren des qualifizierten Proletariats der multinationalen Spitzenindustrien und der staatlichen Infrastruktur, die bis zu Beginn der 80er Jahre warten mussten, um ihre autonome Partizipation mit unabhängigen und fordernden Gewerkschaften und eigener Partei, dem PT (Partido dos Trabalhadores – Arbeiterpartei), die heute an der Macht ist, zu erlangen. Doch der Gegensatz der wichtigsten Klasseninteressen im Bereich der peripheren Moderne scheint seine Besonderheit in der Tatsache zu haben, dass er nicht, wie bei seinen hauptsächlichen Mitstreitern, Bürgertum und Arbeiterschaft gegeneinanderstellt, sondern eine Unterklasse von Ausgegrenzten auf der einen Seite, und alle integrierten Schichten auf der anderen, seien es Arbeiter, Angestellte oder Unternehmer. Die bloße Integration in den Markt, die staatlichen Leistungen und der Eintritt mit autonomer Stimme in die Öffentlichkeit verwandeln vormals marginale Sektoren in Integrierte mit Privilegien. Doch entgegen einigen übertrieben optimistischen Analysen hinsichtlich der Rolle der Öffentlichkeit in Brasilien, erweist sich diese als solchermaßen segmentiert, und zwar aus denselben Gründen, wie der Zugang zum Markt und der staatlichen Instanz. Die neuen Instrumente des Kampfes der organisierten Arbeiterklasse bilden kein Sprachrohr für die generisch diffusen Interessen der nicht organisierten Volksmasse. Diese Dimension der Desorganisation und des vorpolitischen Untertauchens der Unterklasse lenkt unsere Aufmerksamkeit zwangsläufig auf die Dynamik zwischen „Praktiken“ und „Ideen“ zurück. Denn jenseits der „spontanen Ideologie des Kapitalismus“, die in unpersönlicher und intransparenter Weise eine 255
Diese These vertritt, wenngleich implizit, Habermas, Der Strukturwandel der Öffentlichkeit.
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komplette Weltauffassung und Konzeption des differentiellen Wertes der Menschen „sekretiert“, existiert ebenfalls, als Begleiterscheinung der modernen Prozesse des Nation-Building, eine „explizite“ und artikulierte Ideologie, die als eine alternative und autonome Dimension der individuellen und kollektiven Identitätsbildung und folglich auch der Bildung von Kollektiv- und Gruppensolidaritäten fungiert. Im Fall des brasilianischen Nation-Building, ein Prozess, der seine definitive Konsolidierung erst mit dem korporativen und gesellschaftsordnenden Staat von 1930 erlangt, bekräftigt und rechtfertigt die explizite Dimension der Ideologie lediglich die implizite Dimension der „spontanen Ideologie“ und schafft damit die spezifischen Bedingungen eines brasilianischen „sozialen Imaginären“. Wenngleich Gilberto Freyre gewiss nicht der Initiator dieser symbolischen Konstruktion war, denn seit geraumer Zeit vor ihm schon hatte sie Gestalt und mehr oder weniger klare Umrisse angenommen, so war er doch der große Formulierer der „definitiven Version“ dieser expliziten Ideologie, die dann zur „Staatsdoktrin“ und von 1930 ab im Schulunterricht vermittelt und in den verschiedensten staatlichen und privaten Propagandaformen verbreitet wird. Wie wir gesehen haben, zielt Freyres Interpretation der brasilianischen Singularität auf die Behauptung einer soziokulturellen Exzeptionalität, die teilweise von Portugal geerbt, doch hier bis zu ihren logischen Grenzen zur Idee einer „rassischen Demokratie“ entwickelt wurde. Die rassische oder, wie Freyre in anderen Texten vorzieht, die soziale Demokratie, stellt für Freyre eine Form vom „besonderem Rationalismus“ dar, um mit Max Weber zu sprechen, d.h. eine kulturell besondere Form, die Beziehung Mensch-Welt in allen ihren möglichen Dimensionen auszubilden. In der Version Freyres wird die relativistische und historizistische Komponente bis zu den letzten Konsequenzen geführt (vielleicht durch einen Einfluss der romantischen Komponente in der anthropologischen Tradition von Boas, den er selbst als seinen wichtigsten Lehrer bezeichnet hat256), was sich deutlich in seiner Äußerung zeigt, dass die rassische oder soziale Demokratie umfassender und wie eine kulturelle Version im Vergleich mit der „lediglich politischen“ Demokratie der Nordamerikaner zu sehen ist. Ich denke, dass es einen klaren politisch-ideologischen Grund gibt, der sowohl das Ausmaß der Bemühungen Freyres zur Konstruktion einer „mythischen Erzählung“ für das Land (dies wäre meines Erachtens die beste Definition für den Inhalt eines Buchs wie „Casa Grande e Senzala“) bzw. zu einer Art Neufundierung der Nation und Nationali256
Diese Thematik hinsichtlich Boas wird breit diskutiert bei Stocking, Volksgeist as method and ethic: essays on boasian etnography and the german antropological tradition.
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tät erklären kann als auch zu einem guten Teil den außerordentlichen Einfluss dieses Werks. Dieser vorausliegende Kontext scheint mir durch die in der unmittelbar vorausgehenden Periode vorherrschende Ideologie gegeben zu sein, die aufgrund ihrer rassistischen Voraussetzungen, welche im Übrigen in zweideutiger oder unzweideutiger Weise von allen unseren besten Denkern während der zweiten Hälfte des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geteilt wurden, auf der Annahme gründete, dass mestizische Gesellschaften wie die brasilianische zur Unterentwicklung verurteilt seien. „Casa Grande e Senzala“ von Freyre kehrt dieses Argument in sein Gegenteil um, indem es die Begegnung der Rassen als etwas Positives rühmt und nicht als einen unaufhebbaren Makel. Im Übrigen, als Ideologie passte diese Version ausgezeichnet zu den neuen Absichten ideologischer Integration und diente als eine der Hauptstützen des vom Estado Novo (1930-1945) vorgeschlagenen wirtschaftlichen Aufbruchs, wobei es keine Rolle spielt, welche bewusste Form von Übereinstimmung oder Feindseligkeit zwischen den Personen Gilberto Freyre und Getúlio Vargas bestanden haben mag. Als Ideologe indessen kehrt Gilberto Freyre die niedrige Selbstachtung lediglich spiegelbildlich um in Nationalstolz. Wie jedoch jede spiegelbildliche Wendung, ist auch diese reaktiv und in irgendeiner Weise an ihren Gegenpol gebunden. Es mangelt ihr an kritischer Distanz und folglich an einer Praxis reflexiver Selbstkritik, die den Stand der Debatte voranbringen könnte. Die Kritik des negativistischen und pessimistischen Denkschemas hinsichtlich der Möglichkeiten des Landes erforderte gewiss nicht ihre Umkehrung zu der „größten Zivilisation der Tropen“ bzw. zu einem „singulären Beitrag zur Zivilisation“, sondern im Gegenteil einen Akt der reflexiven Distanzierung, um eine konstruktive Selbstkritik zu fördern und eine narzisstisch primitive Identifikation der Person des Forschers mit seiner eigenen Kultur zu verhindern. Nach Freyre sei uns, den Brasilianern, nicht nur durch das Schicksal der Begegnung der Kulturen eine Gnade zuteil geworden, die uns erklärtermaßen bereichert, sondern wir sind zu den Weltmeistern des kulturellen Hybridismus geworden. Unsere Singularität besteht dabei in der Tendenz zum kulturellen Dialog, zur Synthese der Unterschiede, zur Einheit in der Vielfalt. Und deshalb sind wir einzigartig und etwas Besonderes in der Welt. Folglich müssen wir stolz darauf sein und uns nicht darüber schämen. Man kann sich schwierig eine größere Affinität mit der einsetzenden Herrschaft der korporativistischen Doktrin, die ab 1930 den vorherigen Liberalismus ersetzen sollte, vorstellen. Und aus denselben Gründen kann man sich auch nur schwer eine wirksamere Ideologie in unserem Land vorstellen. Sie ist heute ein Teil unserer Identität. Wir alle „mögen es“, uns in dieser Weise zu sehen, die Ideologie erhält eine emotionale Funktion, die sich der rationalen Betrachtung verweigert, und man begegnet jedem, der diese
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unseren Ohren so angenehme Wahrheit problematisiert, mit Wut und Hass. Der Einfluss dieser Idee auf die Art und Weise, wie das Land sich sieht und wahrnimmt, ist beeindruckend. Ab der Zeit von Freyres Wirken erlebt diese Konzeption eine glorreiche Geschichte. Vermittelt durch den Begriff der „Plastizität“, direkt von Freyre übernommen, erlangt sie eine zentrale Bedeutung im gesamten Argument des herzlichen Menschen bei Sérgio Buarque de Holanda, wobei dieser Begriff seinerseits zentral ist für dessen Konzeption des Personalismus und Patrimonialismus als Manifestationen der moralischen und institutionellen Singularität der brasilianischen Gesellschaftsbildung. Damit wird Buarque de Holanda zum Schöpfer des Selbstbildes der Brasilianer im 20. Jahrhundert. Im Rahmen meines Interesses hier gilt es dabei hervorzuheben, dass die Vorstellung des herzlichen Menschen die Essentialisierung und Entdifferenzierung reproduziert, wie sie für die Idee des Hybridismus und der kulturellen Singularität als substanzgewordener Einheit charakteristisch ist. Der herzliche Mensch wird als der Brasilianer aller Klassen definiert, als eine spezifische Form des Menschseins, die im Begriff des Personalismus sowohl ihre intersubjektive Seite hat, als auch eine institutionelle Dimension im Begriff des Patrimonialismus. Für mein Anliegen ist jedoch die Erkenntnis von grundlegender Bedeutung, dass diese explizite Ideologie sich mit der impliziten Komponente der „spontanen Ideologie“ der importierten institutionellen Praktiken verbindet, die auch in der peripheren Moderne wirksam sind, und so einen außerordentlich effizienten Kontext zur Verdunkelung der Ursachen für die Ungleichheit schafft, nicht nur für die Privilegierten, sondern insbesondere auch für die Opfer dieses Prozesses. Dies ist der zentrale Punkt des Problems der Naturalisierung der Ungleichheit. Dies erklärt auch, warum während des ganzen 19. Jahrhundert und bis heute das Auflehungspotential der Unterklasse257 sich auf lokal beschränkte und vorübergehende Rebellionen, Tumulte, Raubzüge und vor-politische Gewalt beschränkt hat, bei denen die bewusste Artikulierung ihrer Ziele niemals erfolgt ist. Hinzu kommt die fortdauernde, gleichsam „trägheitsbedingte“ Vorherrschaft, sowohl auf der Ebene der internationalen wie auch der lokalen Reflexion, des traditionellen Paradigmas der Soziologie der Modernisierung, das die in diesem Buch kritisierten Klischees eines kulturellen Essentialismus wiederholt, angereichert durch die jüngste Welle eines gefährlichen kulturellen Relativismus „hybridistischer“ Prägung – neben der neuen Mode pragmatischer und geopolitischer Theorien –, Theorien mithin, die sich also prinzipiell nicht um tiefere theoretische Zusammenhänge hinsichtlich der von ihnen verwendeten Katego257
Die Bewegung der landlosen Landarbeiter, der MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra), wäre in diesem Sinne eine historische Neuheit.
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rien oder der Offenlegung der Voraussetzungen ihrer Analysen und Schlussfolgerungen kümmern. Aus diesen Gründen stellt für mich die Schließung des Horizontes für die Problematisierung derjenigen Phänomene, in denen ich die Ursachen für die „Naturalisierung der Ungleichheit“ und für die soziale Konstruktion der „subalternen Staatsbürgerschaft“ in peripheren Gesellschaften wie der brasilianischen sehe, eine besondere Herausforderung für die Theorie und für die Praxis dar.
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