Silber Grusel � Krimi � Nr. 125 �
Cater Saint Clair �
Die Mumienmacher � von Paris �
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Silber Grusel � Krimi � Nr. 125 �
Cater Saint Clair �
Die Mumienmacher � von Paris �
»Ich fürchte mich vor dieser Höhle«, murmelte das bildhübsche Au-pair-Mädchen Gesine. »Aber Chérie! Sie war immer mein Zufluchtsort, wenn ich zu Hause etwas ausgefressen hatte. In ihr ist es anheimelnd warm, und der Boden ist mit aromatisch duftendem Laub gepolstert.« Ervin küßte seine leicht widerstrebende Freundin zärtlich. »Du wirst sehen, es gibt keinen romantischeren Ort zum Schmusen, als diese Höhle. Findest du es nicht selbst schrecklich ernüchternd, im Auto Zärtlichkeiten auszutauschen?« »Ja, Ervin, aber –« »Na siehst du, kleiner Angsthase!« Ervin Brigaud, ein zweiundzwanzigjähriger Bibliothekar, nahm Gesine an der Hand und zog sie voller Ungeduld in die schwer zugängliche Höhle im Foret de Villefermoy nahe Paris. »Es riecht hier so eigenartig, Ervin«, sagte Gesine furchtsam. Der Boden war weich, das spärliche Licht blieb hinter ihnen zurück. Die Höhle war hoch, und es hallte dumpf in ihr. »Nach zwanzig Schritten kommt rechts eine Ausbuchtung«, erklärte er mit vor Leidenschaft zitternder Stimme. Unablässig war er mit seinen Gedanken bei seiner achtzehnjährigen deutschen Freundin. Nur einmal sie küssen, ihr den engen Pulli hochschieben dürfen. Das war wie ein Zwang in ihm. »Wird wohl Laub vom letzten Jahr sein.« »Laub riecht anders. Es riecht hier nach Moschus und nach Verwesung. Ervin, ich möchte gehen!« »Sei kein Spielverderber«, bettelte er und breitete schon die mitgebrachte Reisedecke über den Boden der Höhlenausbuchtung. Von hier aus war der Höhleneingang nicht zu sehen. Es war stockdunkel. 3 �
»Ich war zuletzt hier, als ich sieben war«, plauderte Ervin, um ihre Angst zu zerstreuen. »Wir haben bei St. Loup de Naud ein Haus, weißt du? Das ist durch den Wald, wenn man sich auskennt, keine fünfzehn Minuten von hier…« Während Ervin Geschichten von früher erzählte, als ob ihm die Forellen von damals in der nahen Marne und der alte Curé Rampion von der Abbeye de Preuilly weitaus wichtiger wären als alles andere auf der Welt, zog er Gesine zu sich herunter und begann, sie wie beiläufig zu streicheln und sich mit ihrem Pulli zu befassen. Von seiner Leidenschaft entflammt, war das Mädchen drauf und dran, Ervins stürmischem Liebeswerben nachzugeben. Doch da setzte sie sich unvermutet auf; zitternd stieß sie die Luft aus. »Eine bessere Ausrede fiel dir wohl nicht ein.« Ervin liebte Unterbrechungen in diesem Stadium nicht. »Stell' dich nicht so an, Gesine! Was hast du?« »Die Felswand in meinem Rücken hat sich bewegt.« »Sie hat sich aber bewegt fühl' doch mal selbst, Ervin. Sie ist so eigenartig glatt. Du kennst doch die Höhle von früher. Sind die Wände hier überall wie mit Kunststoff überzogen?« »›Glatt‹? Das war der Fels hier noch nie…« Ervin Brigaud tastete neben Gesines Oberkörper die Wand hinter ihr ab. »Du hast recht«, sagte er nachdenklich. »Es fühlt sich an wie –« Er suchte nach einem treffenden Vergleich: »wie die Panzer der Riesenschildkröten im Zoo, und es ist auch ähnlich gewölbt.« Kurz entschlossen stand Gesine auf und bestand darauf zu gehen. »Einen Moment noch, Gesine«, sagte Ervin. Auch ihm war die Lust vergangen. Jetzt war er nur noch neugierig. »Ich reiße ein Streichholz an…«Er pfiff leise, wie um sich Mut zu machen, und suchte in seinen Taschen nach den Hölzern. »Ah, da sind sie ja«, 4 �
murmelte er und zündete gleich darauf ein Streichholz an. Beide waren von dem Bild, das sich ihnen bot, hell begeistert. »Sieh nur, Ervin, welch ein herrliches Smaragdgrün, und wie es leuchtet!« Gesine klatschte in die Hände. Wie unbekümmert und begeisterungsfähig sie noch war! Der junge Brigaud teilte ihre Freude jedoch nicht lange. Er hatte es im Licht des flackernden Streichholzes schnell erkannt. Nicht die Felswand war glatt und grün, sondern irgendein Monstrum davor, an dessen Flanken sie sich ahnungslos gelagert hatten. Er schätzte es ungefähr drei Meter lang und zwei Meter hoch –. Und wahrhaftig, es bewegte sich erneut, so daß Ervin, vor Entsetzen gelähmt, gar nicht merkte, daß das verlöschende Zündholz zwischen seinen Fingerkuppen schmerzhafte Blasen auf der Haut hinterließ. »Nichts wie raus hier«, rief er Gesine zu, ließ die karierte Reisedecke liegen, schnappte nach der Hand seiner leise wimmernden Freundin und wollte sie mit sich fortziehen. Doch irgend etwas packte ihn und riß ihn hinterrücks zu Boden. Die Felswände warfen den Hall eines Geräusches auf sie zurück, das sie erschauern ließ. Es stürzte von allen Seiten grauenvoll intensiv auf sie ein, während armdicke Fühler mit handlangen Haaren sie beide zugleich schnell abtasteten und sie bedrängten. Gesine schrie wie von Sinnen. Ein Fühler traf ihr Gesicht wie ein Stempel und hinterließ darauf ein Kältegefühl. Sie wurde gegen die jenseitige Höhlenwand geworfen und blieb davor benommen liegen. Brigaud war nicht feige, obwohl es auch ihn fast um den Verstand brachte. Er wollte wissen, wogegen er kämpfen mußte und brachte es irgendwie fertig, ein zweites Streichholz anzureißen. Sein Blut sackte ab. Er sah direkt in die schillernden, tellergroßen Augen eines Rie5 �
senkäfers, der die Größe eines kleinen Panzers besaß –. Die quergerillte Unterseite des Biests verströmte durchdringenden Moschusgeruch. Die schenkelstarken, behaarten Insektenbeine waren abgeknickt. Der unablässig pendelnde Kopf tastete mit äußerst beweglichen, zwei Meter langen Fühlern nach allen Seiten. Das aufgerissene Maul ließ mehrere Reihen dicht an dicht stehender Zähne erkennen. Die Vorderbeine konzentrierten sich plötzlich auf Brigaud, der, unfähig eines klaren Gedankens, nicht wußte, ob er wachte oder einen Alptraum erlebte. »Lauf weg, Gesine«, schrie er dann mit aller Kraft, als er im Verlöschen des Streichholzes Gesine hochtaumeln sah. In ihrer Panik rannte sie nicht zum Ausgang, sondern tiefer in die Höhle hinein. Brigaud wollte ihr nach. Doch die Riesenrechen der Vorderfüße packten ihn unentrinnbar. Das Tier verharrte, legte ihn sich zurecht und eilte dann schnell Gesine nach. Nach einigen hundert Metern bog das Tier in einen Felsendom ein. Hier hielt es vor einer zwei Meter hohen Kugel, von deren Beschaffenheit Ervin nichts mehr erfahren sollte. Der Riesenkäfer hatte den Druck seiner hornigen Rechenfüße derartig verstärkt, daß Ervin das Rückgrat brach und er sofort tot war. Emsig knetete das Tier den Jungen mit Beinen, Fühlern und Rüsselschlund durch und durch, bis er einem formlosen Fleischklumpen glich, den das Rieseninsekt in die Kugel aus anderen verwesenden Menschenleibern hineinarbeitete. Ervin Brigaud, oder was von ihm noch übrig war, wurde mit unheimlicher Präzision der Kugelfläche angepaßt. Unterdessen rannte Gesine tiefer in die Höhle hinein. Sie wußte nicht mehr, was sie tat und spürte kaum, daß sie sich an vorspringendem Gestein die zur Abwehr ausgestreckten Hände verschrammte und blutig stieß. Ein irres, unbewußtes Stammeln kam über ihre Lippen, als sie 6 �
weit voraus einen Lichtschimmer sah. Instinktiv beschleunigte sie ihre Schritte. Doch was sie sah, drang nicht mehr in ihr Bewußtsein: ein alter Herr mit gütigem Lächeln. Sein Haar war weiß vom Alter. Er hielt eine Laterne über den Kopf und erwartete sie. Gesine fiel vor ihm schluchzend auf die Knie. Aber der Alte griff in ihr langes schwarzes Haar, zog sie daran hoch und bog ihren Kopf weit nach hinten. Er studierte Zug um Zug ihr verstörtes, tränennasses Gesicht und nickte anerkennend, als er ihren Busen betrachtete. Hochzufrieden traf er für sich die Feststellung: »Dich schicken die Götter. Du wirst Isis, unsere Göttliche sein!« Der Alte stellte die Kutscherlampe auf einen Felsvorsprung. Seine Hand umschloß zärtlich Gesines Hals. Während er einen monotonen Gesang anstimmte, drückte er langsam zu… * Von Hamburg kommend, traf Hans-Georg Lauterbach um 14.40 Uhr auf dem Gare de l'Est ein. Der Kriminal-Inspektor aus Hamburg kannte Paris durch die enge Zusammenarbeit seiner Dienststelle mit Interpol. Auch private Beziehungen zu Pariser Kollegen und deren Familien verbanden den Witwer mit der Seine-Metropole. Zuletzt war er vor sechs Monaten hier gewesen, als er seine einzige Tochter Gesine in die Familie des Kollegen Gaston Rohan eingeführt hatte. Daran dachte er jetzt, als er rasch durch die Bahnhofshalle dem Mittelausgang zustrebte. Gesine war mit seiner Zustimmung nach Paris gegangen um ihrem Französisch den letzten Schliff zu geben. Lauterbach hielt auf die Spitze der Taxischlange zu, gab dem Fahrer des ersten Wagens die Polizeipräfektur am Place Louis7 �
Lepine als Fahrziel an und nahm im Fond des Wagens Platz. Er war wie vom Donner gerührt gewesen, als Inspektor Rohan ihn telefonisch vom Verschwinden Gesines und eines jungen Mannes namens Ervin Brigaud in Kenntnis gesetzt hatte. Inzwischen waren drei Wochen vergangen, ohne daß die jungen Leute zu ihren Familien zurückgekehrt wären oder wenigstens eine Spur von ihnen gefunden worden wäre. Schließlich hatte Lauterbach seinen Urlaub genommen, um persönlich seine Tochter zu suchen. Wie schon so oft in den vergangenen Tagen und Wochen grübelte er darüber nach, ob es falsch gewesen war, Gesine nach Paris gehen zu lassen. Besonders nach dem Tod seiner Frau vor vier Jahren war er bemüht gewesen, seiner Tochter ein verständnisvoller Vater zu sein. Nein, er hatte richtig gehandelt! Man konnte und durfte junge Leute nicht anbinden und sie dauernd bevormunden. Auch Arlène Rohan, der das Verschwinden Gesines sehr zu Herzen ging, konnte man keine Vorwürfe machen. Lauterbach starrte durch die Wagenscheiben in den strahlendblauen Frühlingstag, der die Pariser Boulevards gleich viel freundlicher erscheinen ließ. Vielleicht hatten die Ermittlungen des Kollegen Rohan in den letzten zwölf Stunden zu einem Erfolg geführt. Er klammerte sich geradezu an diese Hoffnung. Wenig später hielt der Wagen vor der Präfektur. Die Polizisten seitlich des Portals trugen an weißen Schulterriemen Maschinenpistolen. Lauterbach entlohnte den Taxifahrer, ergriff seine Reisetasche und eilte über die breite Freitreppe durch das Portal zur Anmeldung. Nachdem er sich ausgewiesen und eingetragen hatte, fuhr er mit dem Aufzug zur dritten Etage hinauf. Rohans Dienstzimmer lag im linken Seitengang. Es trug außen an der Tür die Nummer 186 und eine Visitenkarte des Inspektors. 8 �
Hans-Georg Lauterbach klopfte an und trat in Rohans Büro. Gaston telefonierte gerade. Als er seinen Besucher erkannte, sagte er, daß er später zurückrufen werde. Dann legte er auf. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und reichte dem Kollegen die Hand. Sein hageres Gesicht wirkte ernst und verschlossen. »Guten Tag, Hans-Georg. Ich hätte gewünscht…« »Laß gut sein, Gaston. Gibt es was Neues?« »Leider nein. Möchtest du dich setzen?« »Nein danke. Ich hatte im Zug Gelegenheit genug. Wie geht es Arlène und den Kindern?« »Sie ist mit den Nerven am Ende. Gott sei Dank sind die Kinder ihrer Mutter eine große Hilfe in diesen Tagen. Du wohnst doch bei uns?« »Danke für euer Angebot, Gaston. Aber ich werde mir draußen, wo der Wagen des jungen Brigaud gefunden wurde, ein Zimmer in einem Gasthof nehmen und sofort mit den Ermittlungen anfangen. Diese Brigauds… Was sind das für Leute?« »Monsieur Brigaud starb 1971 nach einem schweren Autounfall. Madame, eine untadelige Frau und Mutter, hat Ervin gut erzogen. Der Junge ist Bibliothekar bei der Bibliothèque Nationale. Dort ist man sehr zufrieden mit ihm. Übrigens habe ich für dich beim Innenminister eine Sondergenehmigung erwirkt. Du kannst also recherchieren und notfalls von der Waffe Gebrauch machen, als ob du in deiner Heimat wärst. Die Dienststellen sind angewiesen, dir jede nur erdenkliche Unterstützung zu gewähren. Ich händige dir die Papiere später aus.« »Vielen Dank, Gaston! Das ist mehr, als ich erwarten durfte«, bedankte sich Lauterbach. Dann trat er vor die große Wandkarte von Paris und Umgebung. »Wo genau wurde Brigauds 2 CV gefunden?« Gaston Rohan zeigte auf die Route Nationale 10 nach Chartres. 9 �
»Wir fanden den Wagen auf dem Parkplatz einer Raststätte.« »Irgendwelche spurenkundlichen Erkenntnisse?« »Verwischte Fingerabdrücke an Schaltung und Lenkrad, die weder von Gesine noch von Ervin stammen.« »Möglicherweise hat ein Fremder den Wagen dort abgestellt.« »Das muß nicht so gewesen sein, Hans. Irgendein Freund des jungen Mannes kann sich den Wagen tags zuvor ausgeliehen und seine Fingerabdrücke hinterlassen haben. Wir ermitteln noch in dieser Richtung. Ich vergaß zu erwähnen, daß eine karierte Reisedecke, die seit Jahr und Tag im Wagen Ervins gelegen haben soll, mit den beiden verschwunden ist. Das sagte Madame Brigaud aus.« Lauterbachs Gesicht wurde um eine Spur blasser. Wenn ein junges Paar, das sich mochte, und eine Decke in einer waldreichen Gegend verschwanden, war der Verdacht, daß es einem Sexualdelikt zum Opfer gefallen war, nicht ganz von der Hand zu weisen. Gesine und Ervin konnten auf einer Lichtung gelegen haben und von einem Spanner überrascht worden sein! Lauterbach schloß die Augen und wehrte sich gegen diese schreckliche Vorstellung. »Ich weiß, woran du jetzt denkst, Hans«, sagte Rohan. »Mehrere Hundertschaften der Gendarmerie haben mit Suchhunden die ganze Umgebung abgesucht und nicht die geringste Spur von den beiden gefunden. Ich glaube immer noch, daß die jungen Leute einer Schnapsidee gefolgt sind und sich an der Cote d'Azur ein paar schöne Tage machen. Vielleicht sind sie mit Freunden aufgebrochen, die über bessere Fahrzeuge verfügen. Ein Grund, den 2 CV stehen zu lassen.« Rohan seufzte tief. »Komm Hans, laß uns in der Kantine einen Kaffee trinken. Wir haben ihn beide nötig. Vielleicht bist du so gut und rufst nachher Arlène an, um ihr guten Tag zu sagen. Sie denkt sonst, du wärst ihr böse. 10 �
Lauterbach nickte flüchtig. »Eine letzte Frage, bevor wir gehen, Gaston. Werden in diesem Frühling mehr junge Leute als sonst vermißt?« »Unsere Leichen- und Vermißtenstelle meldet keine höheren Zahlenwerte. Auch keine Besonderheiten. Du darfst nicht vergessen, daß alljährlich um diese Zeit viele junge Leute von zu Hause fortlaufen.« Hans-Georg Lauterbach rang sich ein freundliches Lächeln ab. »Ich bin sicher, daß ihr getan habt, was getan werden mußte, Gaston. Und einiges mehr. Gib mir bitte die Sonderpapiere, und dann laß uns gehen… * Baron de Cluny war ein sehr erfolgreicher, angesehener Pariser Privatbankier. Er bewohnte mit seiner Frau Lisette am Parc de Bagatelle, unweit des Bois de Boulogne, eine prächtige Villa im Stil der Gründerjahre. Der Baron hatte sich als vorzüglicher Herrenreiter und Finanzgenie einen Namen gemacht. Jeden Morgen pflegte er pünktlich mit der Baronin zu frühstücken. Heute war sie, wie jeden Dienstag, spät dran. Die ehemalige Revuetänzerin hatte sich übergangslos in die Rolle der Dame von Welt hineingefunden und mit erstaunlichem Geschick und unverfrorenem Charme Unsummen für ihre persönlichen Bedürfnisse ausgegeben. Aber das war es nicht, was Guy de Cluny verdroß. Es war etwas anderes, das ihn im Verlauf mehrerer Ehejahre dazu gebracht hatte, Lisette rundherum zu hassen. Sie war ihm auf geschmacklose Weise untreu! Darüber hätte er hinweggesehen, wenn es sich um eine Lieb11 �
schaft mit einem gleichwertigen Nebenbuhler der selben Gesellschaftsklasse gehandelt hätte. Aber nein! Sie trieb es schamlos mit verkrachten Existenzen: Maklern, Musikern, sogenannten Literaten und Gesundbetern… Ihrem derzeitigen Favoriten, Roger Sully, der große Meister wie Matisse und Toulouse-Lautrec für die Galerie Lafayette, ein Kaufhauskonzern, kopierte hatte sie in der Rue Rotzaris in einem dieser anonymen Hochhäuser ein Appartement gemietet und eingerichtet. Ein Liebesnest! Dieser raffinierte Bengel, den der Baron auf den Tod nicht ausstehen konnte, brachte es fertig, Lisette, diesem Miststück, das Geld regelrecht aus der Tasche zu ziehen. Jawohl, er war bestens informiert. Guy de Cluny lächelte jetzt versonnen in der Vorfreude darauf, Lisette bald loszusein. Sie kam zur Tür herein, blieb einen Moment zögernd stehen und trat dann leichtfüßig mit vollendeter Körperbeherrschung auf ihn zu. »Guten Morgen, Guy«, zwitscherte sie und küßte ihn flüchtig auf die Wange. »Du mußt heute allein frühstücken. Ich bin zur Anprobe bestellt. Anschließend habe ich auf dem Rive Gauche einige Besorgungen zu machen. Wir sehen uns heute abend, ja?« Er fand ihr Parfüm widerwärtig und mußte sich beherrschen, ihr nicht den Ellbogen in das verlogene Gesicht zu stoßen. »Geh nur, Cheri«, sagte er und warf einen Blick auf die Rolex an seinem Handgelenk. »Mein Gott, schon so spät. Ich muß in die Direktion. Einen Beauftragten der Vereinigten Arabischen Emirate darf man heutzutage nicht mehr warten lassen.« Lisette richtete sich auf. »Besonders nicht, wenn es um hohe Beträge geht.« Sie lachte. »Bis heute abend, Guy. Ciao!…« Sie winkte zum Abschied und stöckelte mit schwingenden Hüften aus dem Frühstücksraum. Der Baron erhob sich und trat an eines der Fenster. Wenig spä12 �
ter sah er Lisette das Haus verlassen und zu ihrem Cabriolet gehen, das der Chauffeur frischgewaschen vorgefahren hatte. Lisette setzte sich hinter das Steuer und preschte wenig später die Auffahrt zur Straße hinunter. »Ciao, meine Liebe! Ciao für immer«, murmelte de Cluny zufrieden. Er nahm wieder am Frühstückstisch Platz und klingelte nach Jean, dem Diener, um sich das Frühstück bringen zu lassen. * Lisette de Cluny fuhr auf dem kürzesten Weg zur Rue Rotzaris. Sie stellte den Wagen auf einem Parkplatz des Parc des Buttes Chaumont ab, kaufte in einem kleinen Delikatessengeschäft ein reichhaltiges Frühstück mit Champagner und Straßburger Gänseleberpastete und ging dann, eine volle Tüte im Arm, ins Appartementhaus gegenüber. Sie hatte schon beim Aussteigen aus ihrem Wagen gesehen, daß Rogers Jalousien noch unten und die Lamellen nur leicht aufgestellt waren. Sie lächelte entzückt, weil Roger abgedunkelte Zimmer für die Liebe bevorzugte. Mit dem Lift fuhr sie in den vierzehnten Stock hinauf. Nachdem sie oben angekommen war, kramte Lisette den Schlüssel zu Rogers Appartement aus ihrer Handtasche. Sie schloß auf, huschte lächelnd in die Diele und zog hinter sich die Tür wieder zu. Kaum hatte sie die Tüte mit dem Frühstück auf den kleinen Tisch vor dem Garderobenspiegel abgestellt, zog sie sich schnell aus. Sie ließ nur das winzige Miederhöschen aus schwarzem Satinette und die schwarzen Strümpfe mit den Strapsen an. Ganz auf Wirkung bedacht, ging sie in ihren hochhackigen Sandaletten in die Atelierwohnung. Die Vorhänge waren noch zugezogen, aber sie konnte Roger nicht entdecken. 13 �
»Roger, Liebling, wo steckst du?« rief sie. Roger meldete sich nicht. Lisette sah jetzt die breite Liege leer. Mon Dieu! Was hatte Roger mit ihrem ›Liebeslager‹ angestellt? Gegen den weißen Fellhintergrund der Schondecke zeichneten sich große, dunkle Flecken ab. Weil ihr die Überraschung mißlungen war, machte Lisette enttäuscht Licht. Ihr stockte das Blut in den Adern. Um nicht laut aufschreien zu müssen, biß sie sich in die Unterlippe und zog fröstelnd die Schultern zusammen. Nein, einem Trugbild war sie nicht erlegen. Was sie erblickte, war Wirklichkeit! In einer Schüssel, die auf dem Rauchtisch zwischen Liege und Staffelei stand, erkannte sie eindeutig menschliche Organe: Leber, Lunge und Nieren das Herz fehlte. »O nein«, stammelte Lisette entsetzt. Voller Furcht wandte sie sich zur Flucht. Jetzt mußte sie die Mumie hinter der Tür bemerken. Wie in Trance ging sie darauf zu; nur ihr keuchender Atem war zu hören. Die Mumie hatte Rogers Größe. Die Leinenstreifen waren frisch gewickelt und mit wohlriechenden Essenzen und Harzen getränkt. In Brusthöhe sah Lisette einen zusammengerollten Papierstreifen, der mit einem Ende unter eine Wicklung geschoben war. Mit zitternden Händen griff sie danach. Es war ein Stück uralten Papyrus. Während für Lisette keine Zweifel mehr darüber bestanden, daß sie vor Rogers konservierter Leiche stand, verspürte sie nur den einzigen Wunsch, möglichst schnell und ohne Aufsehen zu verschwinden. Sie warf einen Blick auf die ihr unverständlichen Hieroglyphen, denen ein uralter Fluch innewohnte. 14 �
Lisette spürte es zuerst in ihrem Gesicht. Die Haut spannte sich und riß. Sie bildete Schrunde und Krater. Das Fleisch darunter wurde dick und fing zu schwären an. Von ihrem Kopf abwärts ergriff diese furchtbare Veränderung von ihrem Körper Besitz. Überall bildeten sich Zysten, Tumore und Geschwüre. Sie machten aus der eben noch jungen, hübschen Frau binnen weniger Minuten ein ekelerregendes Wesen. Stammelnd schleppte Lisette sich vor den nächsten Spiegel. Was sie sah, raubte ihr den Verstand. Sie hatte nur noch den Wunsch, mit sich selbst Schluß zu machen. Mit ihren faulenden Händen riß sie die Tür zur Küche auf, trat auf den Balkon und lehnte den monströsen Oberkörper so weit über die Brüstung hinaus, daß sie das Übergewicht bekam und sich überschlagend in die Tiefe stürzte. * Seit mehreren Minuten beobachtete Hans-Georg Lauterbach im Sattel eines französischen Polizei-Kraftrads durch einen Feldstecher das sonderbare Verhalten eines riesigen Geier-Falken. Der Raubvogel schwebte über einer großen Lichtung zwischen dem Wald von Villefermoy und dem Bois de Valence. Von Zeit zu Zeit stieß er im Sturzflug auf ein nicht zu sehendes Ziel hinab, um sich danach mit mächtigen Flügelschlägen zum erneuten Angriff in die Luft zu schwingen. Die Distanzmarkierung in der Optik sagte dem Inspektor, der bereits den dritten Tag in den Wäldern um Paris nach einer Spur seiner Tochter Gesine suchte, daß der Falke so groß wie ein ausgewachsener Kondor war. Wie war das möglich? Lauterbach ließ das Glas sinken, startete die Maschine und beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen. Er fuhr die N9 weiter in Richtung Montereu und schwenkte dann links in einen Wald15 �
weg ein, der ihn zu der weiten Lichtung führen mußte. Dieser Teil des Forstes bestand aus Mischwald mit zunehmend dichter werdendem Unterholz. Hans-Georg Lauterbach beglückwünschte sich nun, daß er das Motorrad einem Auto vorgezogen hatte. Die Maschine, eine BMW, verfügte über ein Funksprechgerät, das ihn notfalls über die Gendarmerieposten der Umgebung mit der Präfektur in Paris verband. Außerdem befand sich in der linken Packtasche ein zusammensteckbares Präzisionsgewehr mit Zielfernrohr. Die rechte Tasche enthielt eine UZI-Maschinenpistole mit mehreren Magazinen. Nach zwei Kilometern Berg- und Talfahrt lichtete sich der Wald mehr und mehr und gab Lauterbach schließlich den Blick auf ein schier unfaßbares Geschehen frei. Die Lichtung war von drei Seiten von Wald umgeben und grenzte auf der vierten Seite an grüne Felder, durch die ein holpriger Weg von Süden nach Osten verlief. Auf diesem Weg stand ein alter, verbeulter 2 CV. Und dieser Wagen und dessen Fahrerin waren das Angriffsziel des wütenden Riesenvogels. Schon hatte er den Segeltuchstoff des Schiebedachs zerfetzt und konnte von der Fahrerin nur durch verzweifelte Abwehrschläge auf Distanz gehalten werden. Sofort stoppte Lauterbach die Maschine, lehnte sie gegen einen Baumstamm, öffnete die linke Packtasche und setzte in fliegender Eile das Präzisionsgewehr zusammen. Dann lud er durch und legte an. Eben schraubte sich der Riesenfalke es war tatsächlich einer, wie an seiner Flugsilhouette zu erkennen war wieder in den blauen Himmel hinauf und geriet aus Lauterbachs Optik. Der Inspektor benutzte deshalb die Gelegenheit, um durch das Zielfernrohr einen Blick auf den 2 CV zu werfen. Dann sah Lauterbach die Frau. Obwohl er nur ihre Schulter 16 �
und das gelöste schwarze Haar erkennen konnte, sah er genug, um zu wissen, daß sie der totalen Erschöpfung und einer Panik nahe war. »Madame Brigaud im Wagen ihres vermißten Sohnes Ervin«, murmelte Hans-Georg Lauterbach und sah plötzlich von schräg oben den Falken auf die Frontscheibe des Wagens hinunterstoßen und sie mit wuchtigen Schnabelhieben zertrümmern. Das nach allen Seiten spritzende Glas hatte offenbar Helene Brigaud verletzt, und sie versuchte jetzt, mit beiden Händen ihr Gesicht vor den Krallen des Untiers zu schützen. Lauterbach visierte den Riesenvogel an, der wild mit seinen Schwingen schlug und immer wieder versuchte, seine furchtbaren Fänge in den Körper der Frau zu schlagen. Der Deutsche zielte sorgfältig und drückte im richtigen Augenblick ab. Der Donner des Schusses rollte über die Lichtung. Schwerfällig flatterte der Falke hoch. Dann wurde er von einem zweiten Schuß getroffen. Keine drei Meter vor dem Wagen schlug er schwer auf dem ausgefahrenen Feldweg auf. Lauterbach warf das Gewehr am Riemen über die Schulter und schwang sich wieder auf die Maschine. Die 38er Smith & Wesson aus der Schulterhalfter schußbereit hinter den Hosenbund geklemmt, fuhr er im Schrittempo zu dem ›häßlichen Entlein‹ hin, ohne den Riesenfalken davor aus den Augen zu lassen. Aber das riesige Tier war schon tot. Jetzt taumelte auch Helene Brigaud aus dem ramponierten Wagen und stützte sich schweratmend auf die vordere Haube. »Vielen Dank, Monsieur!« Ihre Augen suchten dankbar seinen Blick, während sie eine Haarsträhne aus der Stirn strich. Unterdessen hatte Hans-Georg die Maschine aufgebockt, den Sturzhelm abgenommen und trat nun zu ihr. »Sind Sie verletzt, Madame Brigaud?« fragte er besorgt. Er stellte fest, daß sie zu den wenigen Frauen gehörte, die Anfang 17 �
vierzig noch wirklich attraktiv wirken. »Nein danke. Das sind nur ein paar Schrammen und Kratzer.« Ihre Erregung ebbte ab. Sie hob den Kopf und sah ihn ernst an. »Woher wissen Sie, daß ich Madame Brigaud bin, Monsieur?« »Lauterbach, Madame. Ich versuche, hier Spuren meiner vermißten Tochter Gesine zu finden. Genau wie Sie offensichtlich nach Spuren Ihres Sohnes Ervin…« Das Gesicht der Frau verschloß sich schlagartig und wurde abweisend. »Ich bedaure sehr, daß Sie Ihre Tochter nicht besser erzogen haben, Monsieur. Dieses kleine Ungeheuer hat meinen Sohn verführt und ihn ins Verderben gelockt!« Lauterbach hielt eine scharfe Entgegnung zurück und sagte nur: »Abgesehen davon, daß es genau umgekehrt gewesen sein kann, sollten wir uns in der gemeinsamen Sorge um unsere Kinder nicht die Köpfe heißreden. Das führt zu nichts.« Sie schwiegen beide. Dann sagte Madame Brigaud leise: »Ja, Sie haben recht. Entschuldigen Sie bitte, Monsieur Lauterbach!« Sie blickte ihn lächelnd an. Die Tränen in ihren Augen gingen ihm zu Herzen. »Entschuldigen Sie nochmals. Ich war unbeherrscht…« Sie hielt ihm ihre rechte Hand hin. Lauterbach nahm sie und drückte sie fest. Er verspürte bei aller Sorge um Gesine ein Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dieser Frau. Er griff in die Tasche und holte seine Zigaretten heraus. »Möchten Sie?« »Ja gern…« Sie bediente sich, und er gab ihr Feuer. »Es wäre schön, wenn wir gemeinsam nach Ervin und Gesine suchen würden, Madame«, sagte er. Sie sah ihn fest an. »Das ist es, worum ich Sie gerade bitten wollte, Monsieur Lauterbach…« * 18 �
Sie hatten sich am Rand des Feldwegs niedergelassen, nachdem sie den Kadaver des Falken mit einer Zeltplane abgedeckt hatten. »Was glauben Sie, Madame? Warum hat dieses Tier vor uns Sie und Ihren Wagen so beharrlich attackiert?« »Es gibt eigentlich nur einen Grund, Monsieur Lauterbach. Es wollte mich von der Höhle fernhalten.« »Höhle? Von welcher Höhle sprechen Sie?« »Sie liegt knapp fünfhundert Meter von hier. Sie soll mit den Katakomben von Paris verbunden sein. Mein Junge ist als Kind sehr oft in dieser Höhle gewesen.« »Von der Höhle haben Sie Inspektor Rohan aber nichts erzählt.« »Sie ist mir erst heute morgen eingefallen.« »Und sofort brachen Sie auf, um dort nachzusehen?« »Ja, Monsieur Lauterbach. Ich habe einige Pechfackeln in den Wagen geworfen und bin losgefahren. Doch dann griff mich dieser Falke an. Es war, als ob ich einen Bannkreis überfahren hätte. Ich habe es ausprobiert und weiß deshalb wovon ich rede. Der Falke ließ sofort von mir ab, als ich zurückfuhr. Jetzt wollte ich es wissen. Ich legte wieder den ersten Gang ein und fuhr erneut in Richtung Höhle. Schon griff das Biest wieder an. Zu meinem Glück kamen Sie und verhüteten das Schlimmste.« Er reichte ihr das Gewehr. »Können Sie notfalls damit umgehen, Madame?« »O ja. Mein verstorbener Mann hatte hier in der Nähe sein Jagdrevier.« Lauterbach erhob sich, trat zu seiner BMW und lud die UZIMaschinenpistole aus der Satteltasche. Dann kehrte er zu Madame zurück. »Gehen wir?« 19 �
»Wohin?« »Zur Höhle natürlich.« Sie erhob sich ebenfalls, trat an ihren Wagen und nahm zwei Pechfackeln vom Rücksitz. Das Präzisionsgewehr hatte sie über die Schulter gehangt. »Ich bin dafür, wir nähern uns zu Fuß der Höhle. Das engt unseren Gesichtskreis nicht ein und gibt uns die Möglichkeit, schnell zu reagieren, wenn irgend etwas sein sollte.« Helene Brigaud nickte zustimmend. Während sie auf den Wald vor ihnen zugingen, fuhr Lauterbach fort: »Ich frage mich, wer den Wagen Ihres Sohnes zur Route No. 10 gefahren haben könnte. Gute zwanzig Kilometer von hier. Es kann nur jemand gewesen sein, dem daran gelegen war, eine falsche Fährte zu legen. Es hat ja auch geklappt. In dieser Gegend haben Polizei und Gendarmerie nicht nach den beiden gesucht.« »Das waren auch meine Überlegungen, Monsieur Lauterbach«, murmelte Madame Brigaud. Sie schwiegen und beobachteten die Umgebung, als sie in den dichten Wald mit verfilztem Unterholz eindrangen. Brombeergestrüpp verlegte ihnen immer wieder den Weg. Die Kronen der dicht an dicht stehenden Bäume hielten das Tageslicht so weit zurück, daß alles in Dämmerung lag. In der Ferne rief ein Kuckuck. Unwillkürlich zählte Lauterbach die Rufe mit. Nach einer Viertelstunde gelangten sie an einen Steilhang. Das Felsgestein war moosüberwachsen. Und mitten in dieser Felswüste gähnte drohend der Höhleneingang. »Wollen Sie nicht lieber draußen auf mich warten?« »Nein, Monsieur. Ich komme mit.« »Wie Sie wünschen, Madame.« Er schulterte die MP und zog sich zum Höhleneingang hinauf. Danach war er seiner Begleiterin behilflich und zündete die Pechfackeln an. 20 �
Die MP schußbereit, den Finger am Abzug, schob sich Lauterbach in die Höhle. Madame Brigaud folgte ihm mit zwei Meter Abstand. Das Flackern der rußenden Pechfackeln verzerrte gespenstisch ihre Schatten. Es roch nach Moschus und Verwesung. Diesen Geruch hatte Lauterbach in nahezu fünfzehn Dienstjahren zur Genüge kennengelernt. Er war auf das Schlimmste gefaßt und dachte besorgt an Madame Brigaud, die sich sehr tapfer hielt. Dann blieb Lauterbach stehen. Er hob die Pechfackel an, um besser in die Felsnische rechts sehen zu können. Diese Ausbuchtung hatte eine Tiefe von fünf Metern und war nahezu sechs Meter lang. Hinter ihm ertönte Madames unterdrückter Schrei. Lauterbach wirbelte herum. Helene Brigaud zeigte auf etwas in der Ausbuchtung, das offensichtlich seinen Augen entgangen war. »Dort, die Decke aus dem Wagen. Vielmehr was von ihr übriggeblieben ist. Gesine und Ervin sind hier gewesen!« Lauterbach ging zu den Resten der karierten Reisedecke. Sie waren von irgendwelchen Sekreten verklebt und verhärtet und erweckten den Eindruck, Überreste aus einem Reißwolf zu sein und schon Jahre dort zu liegen und zu verrotten. »Sind Sie sicher?« fragte er deshalb zweifelnd. »Ja, Monsieur. Absolut sicher.« Ihr versagte die Stimme, und Hans-Georg Lauterbach fühlte sich elend. »Wir lassen die Deckenreste für die Spurensicherer liegen«, sagte er, ergriff ihre Hand und ging mit ihr tiefer in die geräumige Höhle hinein. Der Gestank verstärkte sich von Meter zu Meter. Er war kaum noch auszuhalten, als sie einen großen, domähnlichen Felsenraum betraten. Auf dessen Boden lagen schnurartige, von Knoten durchsetzte, armdicke Gebilde teilweise bis zu zehn Meter 21 �
lang. Andere Überraschungen bot dieser Höhlenteil nicht. Zweifellos ging von diesen Strängen der bestialische Gestank des Todes aus. Als Lauterbach neugierig mit der Schuhspitze gegen einen dieser Knoten trat, fiel er wie Torf auseinander. Im Fackelschein blitzte etwas metallisch auf. Lauterbach bückte sich danach und betrachtete den Gegenstand. Er hatte eine stark verätzte Bronze-Gürtelschließe mit einer Wells Fargo-Postkutsche als Muster in der Hand. »Das ist die Gürtelschließe von Ervins Webkoppel, das er am Tag seines Verschwindens zur Cordhose getragen hat«, sagte Helene Brigaud monoton. * Hans-Georg Lauterbach verspürte leises Grauen. Voller Argwohn blickte er sich um und schob die Gürtelschließe in die Hosentasche. »Wir gehen zurück und überlassen es der zuständigen Gendarmerie, die Höhle weiter zu durchsuchen«, sagte er entschlossen. »Ich kann die Verantwortung für Sie hier nicht mehr länger übernehmen.« Madame weinte. »Ich weiß auch so Bescheid«, schluchzte sie. »Mein Junge ist tot. Und Gesine…« Er schluckte. Dann ergriff er behutsam ihren Arm und verließ mit ihr die Höhle… Ohne Zwischenfall erreichten sie den 2 CV und das Motorrad. Der Riesenfalke lag unter der Plane, wie sie ihn verlassen hatten. Sie setzten sich hoffnungslos deprimiert in den Wagen und rauchten eine Zigarette. Lauterbach war nicht wenig erstaunt, als Helene Brigaud ihn plötzlich fragte, was er von den sogenannten Grenzwissenschaften halte. 22 �
»Es ist etwas zwischen Himmel und Erde, das sich unseren Verstandeskräften entzieht. Davon bin ich überzeugt«, gestand er ein und sah sie offen an. Sie nickte eifrig. »Das erleichtert es mir, die Beweisführung unbestreitbarer Realitäten durchzuführen. Wollen Sie hören, Monsieur Lauterbach?« »Sehr gern. Ich weiß im Augenblick sowieso keine Erklärung für alles.« »Sie haben sicherlich von der Schule her noch den ›Pillendreher‹ in Erinnerung?« »Ich glaube schon. Er ist ein Käfer, der Mist von Huftieren zu faustgroßen Kugeln formt, die er ohne Unterbrechung über Tage hinweg verzehrt und als endlose Schnur wieder ausscheidet.« »Haben Sie in der Höhle diese Schnüre gesehen und ihnen nicht die Gürtelschließe meines Sohnes entnommen? Ist Ihnen nicht der starke Moschusduft trotz des Verwesungsgestanks aufgefallen, Monsieur Lauterbach?« Er begriff, worauf sie hinauswollte und starrte sie entsetzt an. »Nein, das kann nicht sein. Das wäre ja ungeheuerlich! Es müßte ein Riesenkäfer gewesen sein, wenn man von der Stärke der Kotstränge ausgeht.« »Und der Riesenfalke vor uns? Lassen Sie mich den Faden weiterspinnen. Die »Pillendreher auch SKARABÄUS genannt, spielten im alten Ägypten neben Totenvögeln, Zauberschlangen, heiligen Kühen, Katzen und anderem Getier eine besondere Rolle. Sie waren heilig, dienten als Amulett, Grabbeilagen und Heilmittel. Der SKARABÄUS gilt sogar als Ebenbild des Lichtgottes, der den Sonnenball um den Himmel rollt. * Horus, der ägyptische Sonnengott, wurde von den Chefren und � 23 �
Mykerios, Rammessiden und Ptolemäer als Falke dargestellt. Sie sehen: Die Sonne ist der Bezugspunkt von Falke und Skarabäus. Ziehe ich den Mumienfund in der Rue Rotzaris und in diesem Zusammenhang den Selbstmord der mit allen ägyptischen Plagen und Krankheiten geschlagenen Bankiersgattin in Betracht die Zeitungen berichteten ja ausführlich darüber so scheint mir hier ein Zusammenhang zu bestehen. Mehr möchte ich im Augenblick nicht sagen. Ich denke noch darüber nach.« Lauterbach war nahe daran, Minderwertigkeitskomplexe zu bekommen. »Sagen Sie, woher wissen Sie das alles, Madame?« »Ich bin Ägyptologin.« Er dachte angestrengt nach. Schließlich wollte er beweisen, daß auch er sich auf diesem Gebiet auskannte. »Sie halten es also nicht für ausgeschlossen, daß es eine Sekte von Sonnenanbetern gibt, die sich der Welt der geheimen altägyptischen Mächte bedient, um irgendwelche, uns unbekannte, Ziele zu verfolgen?« »Ja«, antwortete Helene Brigaud, »das ist richtig.« »Wenn es sich um durch Magie verstofflichte Tiere handelt, denen unsere Kinder zum Opfer fielen«, überlegte er laut, »so wäre der Beweis sofort zu erbringen.« Diesmal war es Helene Brigaud, die überrascht war. »Sie glauben, es könnte Ihnen gelingen?« »Jawohl. Wir dürfen von der Voraussetzung ausgehen, daß eben heraufbeschworene Monstertiere in ihrer Geisterwelt nichts zu fressen bekommen. Demzufolge müßten Magen und Darmtrakt des Riesenfalken vollkommen leer sein.« »Ja, natürlich! Sie haben recht, Monsieur Lauterbach. Es gibt wohl kein irdisches Tier, dessen Eingeweide wirklich leer wären.« »Der Meinung bin ich auch. Bleiben Sie ruhig sitzen, Madame. Ich werde den Riesenfalken aufbrechen…« Lauterbach holte sein 24 �
schweres Taschenmesser hervor, stieg aus und ging zu dem Falken. Nach zehn Minuten hatte er die blutige Arbeit verrichtet, kam an die offene Wagentür und reinigte die Hände notdürftig mit einem Taschentuch. »Ihre Theorie stimmt, Madame«, sagte er. Er wirkte wie versteinert vor Schmerz um die verlorene Tochter. »Magen und Darmtrakt des Tieres sind vollkommen leer. Ameisen, die sich sonst auf jedes Aas stürzen, machen einen großen Bogen um den Falken aus dem Dämonenreich. Ich informiere jetzt die Polizei über das Funksprechgerät und bitte um weitere Untersuchungen. Danach werde ich mir erlauben, Sie nach Haus zu bringen; Mir ist wohler, wenn ich weiß, daß Sie gut dort angekommen sind…« * Wären die ernsten Gesichter und das feierliche Schwarz der Anwesenden nicht gewesen, hätte man meinen können, auf einer Stehparty zu sein… Die umfangreiche Trauergemeinde stärkte sich im Haus des Verstorbenen, bevor sie dem Toten das letzte Geleit gab. Simon Pottier, ein Vetter dritten Grades des verblichenen Industriemagnaten Albert Boudin, war sichtlich nervös. Wahrscheinlich weil er, wie man vereinzelt hören konnte, im Testament des ›Stahlkochers‹ nicht berücksichtigt worden war. Doch war das gleich ein Grund, die attraktive Witwe ins Gerede zu bringen? »Und ich sage dir«, zischte Simon Pottier seiner Frau Antoinette zu, die melancholisch ihren Cognacschwenker in ihren Händen drehte, »mit Rachel, diesem rothaarigen Biest, möchte ich keine fünf Sekunden verheiratet sein! Drei Ehemänner hat sie 25 �
schon überlebt. Heute ist der arme Albert als vierter dran, und wieder fällt ihr ein riesiges Vermögen zu. ›Herzversagen‹, daß ich nicht lache!« »Was willst du damit andeuten, Simon?« fragte Antoinette Pottier erstaunt. »Für mich ist es klar, daß Rachel nachgeholfen hat und uns um unser Erbteil brachte. Aber das würde die Kanaille selbst unter der Folter nicht zugeben. So raffiniert wie die ist…« Pottier stürzte seinen Whisky hinunter. »Deine Verdächtigungen sind absurd«, sagte die Frau zu ihrem Mann. »Du bist schon immer ein schlechter Verlierer gewesen, Simon. Womit um alles in der Welt sollte sie ihn umgebracht haben? Albert sah so friedlich aus in seinem Sarg.« »Du vergißt, daß Frankreich das Land der klassischen Giftmischerinnen ist«, flüsterte Pottier wütend und drehte seiner Frau abrupt den Rücken zu, um vor das Ölgemälde des Toten zu treten und es still für sich zu betrachten. ›Vielleicht weißt du mehr als wir alle zusammen, lieber Alfred‹, dachte er. Simon Pottier fuhr zusammen, als Rachel, die Witwe, an seine Seite trat und mit bewegter Stimme hauchte: »Es berührt mich angenehm, lieber Simon, daß du, der einzige von allen Anwesenden, mit meinem geliebten Albert vor dessen Bild stumme Zwiesprache hältst, obwohl ihr beide euch nun gar nicht so recht verstanden habt.« Die Röte über diese Infamie stieg Pottier ins Gesicht. Er drehte sich zu Rachel um, deren Trauerkleid bis zur Obszönität raffiniert geschnitten und durchsichtig war. »Verkannt zu werden war schon immer das Geschick schlichter, ehrlicher Menschen, meine Liebe«, erklärte er. Rachel legte ihm eine Hand auf den Arm. »Verzeih, Simon! Ich wollte dich nicht kränken. Die Wagenkolonne bricht in zehn Mi26 �
nuten auf. Du leihst mir doch deinen Arm nachher?« »Ganz wie du wünschst, Rachel«, sagte Simon Pottier. ›Ein Satansweib‹, dachte er, als er Rachel nachblickte, die sich zu zwei alten Freunden Alfreds gesellte. ›Die könnte auch mir zusetzen.‹ Nun, er war gespannt, wann Rachel den nächsten Ehemann verlieren würde. Pottier ging zu seiner Frau zurück. Sie war zwar eine graue Maus, aber dafür konnte man unbeschadet ihren Kaffee trinken, ohne daß man Angst haben mußte, den Tag nicht zu überleben. Wenig später brach die Trauergemeinde in vier schwarzen Cadillacs auf, denen weitere Fahrzeuge mit Kränzen und Blumen folgten. In einer der Kapellen eines bekannten Pariser Friedhofs äußerte Rachel Boudin den Wunsch, den Gatten noch mal sehen zu dürfen. Daraufhin öffneten zwei Bestattungsgehilfen den Sarg, der von sechs schweren Kerzen flankiert wurde. Die Trauergemeinde hielt sich pietätvoll zurück, um die Witwe mit Albert für wenige Minuten allein zu lassen. Zuerst fiel ihnen die unvermutete Nervosität der Bestatter auf, die gerade den Sargdeckel seitlich hochklappten. Eine Sekunde später übertrug sich diese Unruhe auf die Witwe. Sie trat dicht vor das Fußende des Sarges, schob ruckartig ihren Kopf vor und gab irre Laute von sich. »Sie muß verrückt geworden sein«, durchfuhr es Simon Pottier. Sofort lief er zu Rachel und wollte sich um sie kümmern. Doch plötzlich verharrte er auf halbem Weg. Unglaublich, was er sah! Simon wußte genau, daß Albert in einem neuen, dunkelblauen Anzug gebettet worden war. Nicht in einem jener Sorte, wie ihn die Leichenbestatter feilbieten und die nur aus der Vorderpartie bestehen, sondern in einem Anzug aus blauem, allerfeinstem Kammgarn. Jetzt aber lag eine Mumie in den Satinpolstern des Luxussar27 �
ges. Sie war von den Füßen bis zum Kopf sorgfältig gewickelt und mit wohlriechenden Harzen bestrichen. Doch was nicht minder gruselig war: Am Fußende stand im Sarg eine Silberschale, in der Leber, Lunge und Nieren lagen, die dem Toten während seiner Einbalsamierung entnommen worden waren. Simon Pottier hatte seine Bestürzung über diese Ungeheuerlichkeit noch nicht verkraftet, als Rachel neben ihm sich die Haare zu raufen begann, heulte, schrie und sich selbstanklagend an die Brust schlug: »Jawohl, ich. habe ihn umgebracht. Jeden Tag ein Quentchen mehr Arsen ins Essen!« Sie lachte schaurig, und die entsetzte Trauergemeinde erstarrte. »Ich habe Albert Boudin umgebracht, davor Charles Charcot und meine beiden anderen Männer: Oscar Feron und Colonel Laurent. Schaut mich an, ihr Narren! Ich habe euch hinters Licht geführt. Ich bin die perfekte Darstellerin einer trauernden Witwe, eine exzellente Giftmischerin!« Sie lachte gellend, beugte sich über den Sarg und riß Alberts rote Leber aus der Silberschale. Die beiden Bestatter wollten Rachel Boudin vom Sarg zurückreißen. Doch Simon Pottier hinderte sie daran. Er empfand allergrößte Hochachtung für Albert, der es vor seinem Ableben irgendwie hingekriegt hatte, seine Mörderin nicht nur zu entlarven, sondern auch zu töten. Denn in diesem Augenblick öffnete Rachel ihre Handtasche, holte das restliche Gift heraus und schluckte es mit einem irren Gesichtsausdruck hinunter. Mehrere Trauergäste fielen in Ohnmacht. Rachels makabrer Totentanz dauerte noch an. Dann schlug sie hin, wand sich in fürchterlichen Krämpfen auf dem Boden, riß sich das Kleid vom Leib, stieß die silbernen Kerzenhalter um und heulte in den höchsten Tönen. Plötzlich war sie still. Die Zuckungen hörten auf. Mit verzerrtem Gesicht lag sie vor der erstarrten Trauergemeinde. 28 �
Es war alles vorbei und ausgestanden. Der magische Bann, der über den Trauernden lag, war gebrochen. Die ersten Stimmen und Rufe nach der Polizei wurden laut. Simon Pottier ging zu seiner Frau, die vor Angst halb wahnsinnig war. »Ich muß an die frische Luft, Antoinette. Du sicher auch. Komm, laß uns gehen! Jedenfalls sieht die Erbfolge für uns jetzt wesentlich günstiger aus.« Er lachte verschmitzt. »Alle Achtung vor Albert. Der hatte seinen Kopf nicht nur zum Haareschneiden!« * »Hast du schon die Morgenzeitungen gelesen, Gaston?« fragte Hans-Georg Lauterbach seinen französischen Kollegen. »Erinnere mich nicht daran«, knurrte Inspektor Rohan. »MUMIENMACHER IN PARIS UNTERWEGS. Was soll man von solchen und ähnlichen Schlagzeilen halten?« »Es stimmt aber«, sagte Lauterbach. »Zwei Falle in drei Tagen. Und keine verwertbaren Erkenntnisse. Die Höhle im Foret von Villeferrnoy haben wir ohne Ergebnis durchsucht, wenngleich durch Polizeichemiker festgestellt wurde, daß diese Stränge, von halbverdauten, menschlichen Überresten durchsetzt, tatsächlich Ausscheidungen einer unbekannten Riesenkäferart sind. Der Gedanke, daß Gesine und Ervin nicht mal ein Grab haben werden, bringt mich noch um den Verstand. So sieht die traurige Bilanz unserer bisherigen Ermittlungen aus.« »Vielleicht kommen wir durch den Clochard weiter.« »Ach, dieser Bursche macht sich bloß wichtig und versucht, ein paar Franc für billigen Rotwein herauszuschinden.« »Wir werden es gleich wissen, Hans.« Der Inspektor parkte den neutralen Polizeiwagen in der Rue des Grands Augustins und erklärte: »Wir gehen die paar Schritte 29 �
zum Pont Neuf. Das Wetter ist herrlich. Die frische Luft wird uns gut tun.« Sie verließen den Wagen und machten sich auf den Weg. Notre-Dame auf der Ile de la Cité zog wie ein Magnet in- und ausländische Reisebusse an. Auf den Seinebrücken herrschte reger Betrieb. Inspektor Rohan legte ein Tempo vor, daß Lauterbach Mühe hatte, ihm zu folgen. Hinter dem Pont Neuf steuerte er eine Steintreppe an, die zur Seine hinunterführte. Einige Angler standen regungslos am Ufer, und links, im Schatten der Brücke, lagen sie: die Clochards von Paris. Ein alter Mann mit einer speckigen Baskenmütze erhob sich von seinen malerischen Lumpen. Sein Gesicht wurde von tausend Lachfältchen durchzogen. »Bonjour, Inspektor«, krächzte er. »Hier bei uns suchen Sie vergeblich nach Hasch.« Rohan blieb vor dem Clochard stehen. »Tag, Julian«, grüßte er kurz zurück. »Ich suche den Brester Paul. Er muß hier irgendwo sein.« Rohans Augen schweiften über die Clochards. Es waren etwa zwanzig. »Paul rastet zwanzig Meter weiter. Auf der Höhe des Pollers, den Sie dort sehen, Inspektor.« »Danke, Julian und noch einen schönen Tag!« »Selbst, Inspektor«, rief der Clochard zurück und ließ sich wieder in die Decken fallen, als ob ihn die kurze Unterhaltung total erschöpft hätte. Die beiden Inspektoren gingen weiter, vorbei an bärtigen Gitarrenspielern und trampenden Pärchen. Schließlich gelangten sie zu einem etwa sechzigjährigen Mann, der auf der Seite lag, den Kopf aufgestützt, und ihnen über vier leere Rotweinflaschen hinweg aus rotentzündeten Augen ziemlich angewidert entgegensah. 30 �
Rohan ging neben dem Clochard in die Hocke, während Lauterbach stehen blieb. »Tag, Paul«, sagte Rohan munter. »Du hast uns einen Schrieb zukommen lassen, mit der Andeutung, daß du etwas zu den Mumienmorden sagen könntest.« Paul kratzte sich die behaarte Brust unter seinem offenen Flanellhemd. Mißtrauisch sah er an Lauterbach hoch und fragte: »Wer ist das?« »Ein deutscher Kollege. Dann sag' uns mal, was du weißt.« Als Antwort streckte der Clochard Rohan die geöffnete Hand entgegen. »Wenn deine Information etwas taugt, sind fünfzig drin.« »Hundert, Inspektor.« »Siebzig, du Halsabschneider.« »Ich sagte hundert, und tun Sie nicht so, als ob sie die Mäuse aus der eigenen Tasche zahlen müßten. Also was ist? Sie rauben meine Zeit!« Rohan seufzte. Er zog einen Hunderter aus der Tasche, zerknüllte ihn zu einem Ball und drückte ihn in Pauls schmutzige Hand. »Jetzt will ich aber etwas hören, oder ich werde unangenehm!« Paul grinste. Er küßte den Geldschein wie einen langentbehrten Bruder und schob ihn in eine Tasche seiner abgewetzten Felljacke. Dann rang er sich die Worte ab: »Ein feiner Pinkel der oberen Zehntausend verhökert für die Gilde der Mumienmacher Fluchformeln.« »Das klingt zwar wahnsinnig aufregend, sagt mir aber nichts.« Paul blinzelte träge in die Sonne. »Was passierte, als Wissenschaftler den Sarkophag des Tut-anch-Amon öffneten, ho? Oder haben Sie damals gerade in der Schule gefehlt?« »Einige starben eines plötzlichen Todes, andere später«, antwortete Lauterbach plötzlich hellwach. 31 �
»Sehen Sie«, sagte Paul. »Und woran verreckten die wissenschaftlichen Naseweise und Grabschänder, he?« »Man behauptet, durch Todesflüche, die den ägyptischen Königen ins Grab gelegt wurden«, sagte Rohan rasch. »Na also' Das hat aber gedauert.« Paul drehte sich schwerfällig auf den Rücken. »Weiter, Mann«, drängte Rohan. »Du willst uns doch wohl nicht weismachen, daß diese Mumienmacher Fluchformeln in einer Kiste unter ihrem Bett stehen haben und sie einfach verkaufen, wenn ihnen das Geld knapp wird.« »Wie das im einzelnen läuft, weiß ich nicht«, murrte Paul. »Wer jedenfalls einen Haß auf irgendeinen Zeitgenossen hat und ihn lieber tot als lebendig sieht, wendet sich vertrauensvoll an den Gewährsmann der Gilde der Mumienmacher. Und die machen das dann schon auf ihre Art und Weise. Gegen wahnsinnig hohe Vorauskasse.« »Wer ist dieser Gewährsmann? Wo finden wir ihn?« fragte Lauterbach. »Ich kenne seinen Namen nicht«, sagte Paul. »Aber er soll im Kasino Enghien-les-Bains verkehren und am linken Handgelenk ein goldenes Kettchen mit einem Smaragd-Skarabäus tragen. Und nun laßt mich in Ruhe, bevor meine Freunde hier glauben, ich würde für euch den Zinker spielen.« Rohan kam aus der Hocke hoch. »Vielen Dank, Paul«, sagte er. »Sollte dein Tip etwas taugen, spucke ich noch einen Hunderter aus.« »Ich werde Sie daran erinnern, Inspektor.« Paul zog seine Mütze vor die Augen und drehte sich auf die Seite, um ein Nickerchen zu machen. Als die Inspektoren auf dem. Rückweg zum Wagen wieder oben auf dem Quai de la Megisserie waren, sagte Lauterbach zufrieden: 32 �
»An Pauls Story ist etwas dran. Ich fühle es. Ich denke, daß wir jetzt ein gutes Stück weiterkommen.« * Am Spätnachmittag desselben Tages war Hans-Georg Lauterbach mit Helene Brigaud im Cafe de Saint-Germainde-Pres verabredet. Er setzte sich an einen kleinen Tisch vor dem Cafe und mußte kaum drei Minuten warten, bis er sie kommen sah. »Warten Sie schon lange auf mich?« fragte sie. Er küßte ihre Hand. »Reizend sehen Sie aus, Madame. Ich bin auch gerade erst gekommen.« Sie nahmen beide Platz und blickten sich an. Dann kam der Ober. Hans-Georg gab die Bestellung auf, nachdem er nach den Wünschen Madames gefragt hatte. »Wie sehen die Fluchformeln aus, die den toten Herrschern im alten Ägypten mit ins Grab gegeben wurden?« fragte er Helene Brigaud im Verlauf ihrer Unterhaltung. »Sie wurden in Keilschrift oder Hieroglyphen auf Papyrus oder gegerbten Fellen niedergeschrieben und manchmal auch in Tontafeln geritzt, Monsieur Lauterbach.« »Und ihre Wirkung war sozusagen garantiert?« »Wenn Sie meinen, daß viele Grabräuber, vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts, durch diese Fluchformeln umkamen, ja!« »Ist es denkbar, daß in jüngster Zeit eine bisher unbekannte Grabkammer irgendwo in Ägypten, möglicherweise von Amateurarchäologen, geöffnet wurde? Und wäre es dann möglich, daß Fluchformeln nach Paris gebracht und zum Schaden dritter angewendet wurden?« »Ich halte es für ausgeschlossen, Monsieur Lauterbach. Diese Archäologen oder Grabräuber hätten sich damit selbst in Gefahr 33 �
gebracht oder gar ihren Tod heraufbeschworen. Außerdem soll eine Fluchformel die Mumie schützen, der sie beigegeben wurde. Sie wirkt meines Erachtens nach nur in Wechselbeziehung mit einer Mumie.« »Das könnte doch die Erklärung für die Vorkommnisse mit den Mumien hier in Paris sein«, überlegte Hans-Georg. »Wie aber wurden der Riesenskarabäus, der bisher unauffindbar blieb, und der Riesenfalke aus dem Dämonenreich verstofflicht? In diesen beiden Fällen waren, soweit uns bekannt, keine Mumien im Spiel.« »Um hier eine Erklärung zu finden, müßte man das ganze Repertoire altägyptischer Fluchformeln kennen«, folgerte Helene Brigaud. »Es waren Tausende, die teilweise heute noch fortwirken. Denken Sie nur an den Untergang der ›Titanic‹. Sie hatte eine altägyptische Mumie, wahrscheinlich mit einer Fluchformel, an Bord.« »Es gibt hier in Paris gewissenlose Subjekte, die über eine unbekannte Zahl von altägyptischen Fluchformeln verfügen und Kapital daraus schlagen…« Hans-Georg wartete, bis der Kellner ihren Orangensaft serviert hatte und wieder gegangen war. Dann berichtete er von den Hinweisen des alten Clochard und, daß er vorhabe, im Kasino Enghien-les-Bains nach dem Vermittler der Fluchformeln, dem Mann mit dem Smaragd-Skarabäus am Handgelenk, zu suchen. Er schloß: »Über diesen windigen Burschen kommen wir vielleicht an die Gilde der Mumienmacher heran!« Sie sah ihn erschrocken an. »Monsieur Lauterbach, Sie begeben sich in höchste Lebensgefahr, wenn Sie allein gegen die Dämonen der skrupellosen Verbrecher kämpfen wollen!« »Bin ich es nicht Gesine und Ervin schuldig? Außerdem werde ich auf der Hut sein.« »Ich habe mir schon so etwas gedacht und Ihnen etwas mitge34 �
bracht…« Helene Brigaud öffnete ihre Handtasche und holte daraus eine flache Goldkapsel hervor. Die Kapsel hatte Ähnlichkeit mit einer Pillendose und hing an einem Kettchen aus Chromstahl. »Was ist das, Madame?« fragte er gespannt. »Diese Kapsel stammt aus Sesostris Grabkammer, ungefähr 1700 vor unserer Zeitrechnung. Ich hatte das Glück, 1972 im Auftrag der ägyptischen Regierung die Ausgrabungen zu leiten, und ich bekam diese Kapsel als Dank für meine Arbeit vom Ministerpräsidenten geschenkt. Sie enthalt das mumifizierte Gehirn einer heiligen Katze und schützt gegen Schadzauber jeglicher Art. Lassen Sie mich Ihnen die Kapsel umlegen, Monsieur Lauterbach.« »Aber das geht doch nicht«, rief der deutsche Inspektor bestürzt. »Zuallererst haben Sie für Ihre eigene Sicherheit zu sorgen, Madame. Sie stecken schließlich mit in dieser Geschichte drin.« Sie lächelte. »Ich stehe aber nicht in vorderster Front, Monsieur.« Sie erhob sich und trat hinter seinen Stuhl. »Zieren Sie sich doch nicht, Hans-Georg! Was sollen die Leute an den Nachbartischen denken, wenn Sie mir einen Korb geben?« Er ließ es geschehen, daß Helene Brigaud ihm das Kettchen mit der Kapsel um den Nacken legte und den Verschluß zudrückte. Lauterbach wußte nicht, was er sagen sollte. Er barg die Kapsel unter dem offenen Sporthemd und spürte das kühle Metall auf seiner Haut. »Warum tun Sie das für mich, Helene?« fragte er bewegt. »Sie kennen meinen Vornamen?« »Ja«, sagte er und ergriff ihre Hände. »Stellen Sie Ihre Frage bitte noch mal, wenn alles vorüber ist, Hans-Georg.« »Ich werde es tun!« 35 �
Errötend entzog sie ihm ihre Hände, blickte auf ihre Armbanduhr und rief erschrocken: »Ich muß leider gehen. Mein Dienst fängt gleich an. Wann höre ich von Ihnen, Georg?« Er war ihr beim Aufstehen behilflich. »Ich werde Sie anrufen, Helene. Bald schon!« Sie reichte ihm zum Abschied die Hand, schenkte ihm ein Lächeln und ging dann in Richtung Boulevard du Dragon davon. * Das Kasino Enghien-les-Bains erstrahlte im Licht heller Scheinwerfer. Auch der weite Park war beleuchtet, und der Parkplatz bot einen breiten Querschnitt durch die Autoproduktion der gesamten Welt. Fahrzeuge der oberen Preisklasse überwogen. Das waren die ersten Eindrücke Lauterbachs, als er aus dem Mercedes-Mietwagen stieg und sein Ticket beim Parkplatzwächter löste. Er hatte sich aus der Kleiderkammer der Pariser Kripo ein Dinnerjackett mit allem Drum und Dran ausgeliehen und eine größere Summe in Francnoten flüssig gemacht, um den Eindruck eines reichen Müßiggängers zu erwecken. Lauterbach erwiderte lässig den Gruß des Portiers am Eingang, durchquerte das elegante Foyer und ging zur Anmeldung. »Sind Sie schon mal bei uns gewesen, Monsieur?« fragte der Kasinoführer. »Nein. Ich bitte um eine Neueintragung. Hier, mein Paß.« »Sehr wohl, mein Herr.« Der Kasinoangestellte sprach jetzt deutsch. »Wünschen Sie eine Tageskarte?« »Für den Anfang, ja…« Lauterbach hatte fünf Minuten lang Gelegenheit, dezent ein gutes Dutzend Gäste zu mustern, da der Karteiführer bei der Anlegung der Karteikarte sich viel Zeit ließ. Die Manschetten 36 �
der Herren schauten vorschriftsmäßig zwei Zentimeter aus den Jackenärmeln hervor. Es würde deshalb gar nicht so einfach festzustellen sein, wer unter ihnen ein Goldkettchen mit einem Skarabäus daran trug. Dann war noch die Frage, ob der Mittler der Mumienmacher heute anwesend sein würde. Lauterbach unterschrieb seine Tageskarte und bummelte kurz darauf durch die gutbesuchten Spielsäle. Mit der Blasiertheit eines Mannes von Welt setzte er an diesem oder jenem Tisch ein paar Hunderter und gewann gelegentlich sogar. Sosehr er auch sein Augenmerk auf die Hände der männlichen Kasinogäste richtete einen Skarabäus sah er nirgendwo. Nur einmal ein Identitätskettchen, in dessen Schild ein Name eingraviert war. Das war aber ganz bestimmt nicht ›sein‹ Mann. Er war schon über siebzig und steckte recht hinfällig in einem zu weiten Smoking. * Schließlich suchte Lauterbach die Toilette auf. Der Toilettenmann trug einen weißen Kittel und sprang sofort dienstbeflissen von seinem Stuhl hoch. »Service, Monsieur?« »Ja, bitte. Einmal Händewaschen.« Der Toilettenmann händigte ihm ein neues Stück Seife aus und deutete auf eines der Waschbecken. Während er sich die Hände wusch, suchte Lauterbach durch den Spiegel vor ihm den Blick des Toilettenmanns. Er sagte: »Jeder Kasinogast kommt wohl einmal im Lauf der Nacht zu Ihnen?« »Jawohl, Monsieur. Das liegt in der Natur der Dinge.« »Wenn Sie den Herren das Handtuch anreichen, so wie mir jetzt, haben Sie sicher Muße, die elegantesten Uhren an ihren 37 �
Handgelenken zu betrachten.« »Wenn Sie solange wie ich hier sind, achten Sie nicht mehr darauf, Monsieur. Allerdings eine besonders wertvolle, elegante Uhr, die springt einem ins Auge.« Lauterbach gab das Handtuch mit einem Hundertfrancschein zurück und fragte: »Ist Ihnen irgendwann mal bei einem Ihrer Kunden am Handgelenk ein goldenes Kettchen mit einem Smaragd-Skarabäus aufgefallen?« »Alix Bouchart«, rief der Toilettenmann spontan. »Ja, der trägt so was.« »Na also«, dachte Lauterbach zufrieden. »Haben Sie den Gast heute schon begrüßt?« ›Gast‹? Ich verstehe nicht. Von wem sprechen Sie, Monsieur?« »Von Bouchart natürlich!« »Aber Monsieur! Alix Bouchart ist der Subdirektor des Kasinos. Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« »Doch, doch«, murmelte Lauterbach rasch. »Es ist nur, weil ein Freund mir sagte: Wenn du in einer Pechsträhne bist und einen Kredit benötigst, dann wende dich vertrauensvoll an den Mann mit dem Smaragd-Skarabäus am Handgelenk.« Jetzt verstehe ich erst, wen er meinte…« Der Toilettenmann grinste verständnisvoll. »Die Möglichkeit einer Kreditgewährung besteht, wenn Sie Sicherheiten haben, Monsieur.« »Darüber ließe sich reden. Wo finde ich Direktor Bouchart?« »Fragen Sie in der Kasinobar nach ihm, Monsieur. Monsieur Boucharts Büro liegt gleich dahinter. Und viel Glück!« »Danke, ich werd's gebrauchen können«, sagte Lauterbach, grüßte und begab sich in die Bar. Lauterbach war der einzige Gast am Bartresen. Er bestellte einen Cognac und bat den Barmann Direktor Bouchart zu rufen. 38 �
»Und um was handelt es sich bitte, Monsieur?« fragte der Mann. »Sagen Sie ihm, es handele sich um ein lukratives Geschäft…« * Keine zehn Minuten vergingen, als ein überschlanker Herr im schwarzen Anzug die Bar betrat und sich Lauterbach zuwandte. »Sie wünschen mich zu sprechen, Monsieur?« Der Kriminal-Inspektor mußte sich zurückhalten, um Bouchart nicht gleich in die Mangel zu nehmen und die Antwort auf die Frage aus ihm herauszuprügeln, was sie mit Gesine gemacht hatten. Beherrscht blickte er den Direktor an und sagte: »Baron de Cluny hat Sie mir empfohlen, Herr Direktor. Um es kurz zu sagen: ich habe ein zänkisches Weib…« Durch Inspektor Rohan war Lauterbach mit den Mumienfällen vertraut. Wenn die Angaben des alten Clochard stimmten, so hatte der Bankier die Gilde der Mumienmacher verpflichtet, seine ehebrecherische Frau Lisette und deren Liebhaber zu töten. Ebenso mußte die Gilde auch im Fall Boudin mitgemischt haben. Der Baron, auf den er sich berief, hatte sich in sein Landhaus in der Provence zurückgezogen. Er konnte also nicht um eine Bestätigung dieser Behauptung gebeten werden. Allerdings blieb die bedauerliche Tatsache, daß Lauterbach nun mit seinem richtigen Namen in der Kasinokartei stand. Besser wäre es gewesen, wenn er mit falschen Papieren in diese Sache eingestiegen wäre. Das Gesicht M. Boucharts blieb ausdruckslos. Er strich über seinen gepflegten englischen Schnurrbart und näselte: »Ich verstehe nicht, was ich mit Ihren häuslichen Verhältnissen zu tun habe, Monsieur. Ich rate unbedingt zur Scheidung, wenn Sie Schwierigkeiten mit Ihrer Frau haben. Baron de Cluny ist mir übrigens nur namentlich bekannt.« 39 �
»Abgewehrt«, dachte Lauterbach grimmig. Was hatte er eigentlich erwartet? Nein, dieser ausgekochte Galgenvogel ging ihm nicht so leicht ins Netz. Jetzt mußte er Bouchart in Zugzwang bringen und alles auf eine Karte setzen! Lauterbach glitt vom Hocker, trat dicht vor den Subdirektor und sagte scharf: »Dann werde ich mich direkt an die Gilde der Mumienmacher wenden und ihr sagen, wie schlecht Sie deren Interessen vertreten! Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Monsieur Bouchart, und verlieren Sie ihren Smaragd-Skarabäus nicht!« Lauterbach legte einen Geldschein auf den Tresen und ließ den Subdirektor stehen. Unter dem Eingang warf er einen Blick zurück. Bouchart stand da und wußte nicht. was er sagen sollte. Sein Gesicht war unnatürlich bleich. Lauterbach ging zum Parkplatz und setzte sich in seinen Wagen. Seit 16.00 Uhr wurden sämtliche Telefongespräche, die vom Kasino abgingen oder dort angenommen wurden, von Abhörspezialisten der französischen Polizei mitgeschnitten. Falls Bouchart in Panik geriet und die Gilde von dem Vorfall in der Bar benachrichtigte, stand ihm noch einiges bevor! Lauterbach rief über das Autotelefon seines Mietwagens Inspektor Rohan in seinem Büro an: »Ich bin's, Lauterbach. Gaston, ich glaube wir haben den Mann mit dem Skarabäus am Handgelenk. Er heißt Alix Bouchart und ist Subdirektor des hiesigen Kasinos. Ich habe ihn ziemlich ins Schwitzen gebracht. Sollte er sich an die Strippe hängen, und es ist von Interesse, so rufe bitte zurück. Und dann brauche ich noch Boucharts Anschrift. Vielleicht sehe ich mich in seiner Wohnung um, solange er noch im Kasino ist.« »Okay, Hans. Ich besorge schnellstens alles, was wir über 40 �
Bouchart wissen oder in Erfahrung bringen können, und rufe dich sofort an. Soll ich zwei Kollegen schicken? Für alle Fälle?« »Das wäre verfrüht. Wir wissen nicht, ob und wie Bouchart reagiert. Ich trenne jetzt, Gaston, und bleibe im Wagen. Du kannst mich jederzeit erreichen…« Der Rückruf des Inspektors erfolgte eine halbe Stunde später. Rohan sagte: »Über den Direktor liegen keinerlei Erkenntnisse vor. Er hat einflußreiche Freunde und einen untadeligen Ruf. Allerdings hat er vor zehn Minuten ein sonderbares Gespräch geführt, wenn man es überhaupt ein Gespräch nennen kann. Es gelang unseren Technikern nicht, den Empfänger zu ermitteln. Warte, ich spiele das Gespräch ein… »Hallo?« hörte Lauterbach eine Männerstimme und gleich darauf den näselnden Tonfall des Kasinodirektors: »Nureddin, Meister der Sonne. Ich habe versagt. Die Göttin ist in höchster Gefahr!« Lauterbach atmete aus. »War das alles, Gaston?« schrie er in den Hörer. »Das war nicht viel und doch nicht wenig, Hans. Bouchart scheint innerhalb der Gilde der Mumienmacher den ägyptischen Namen Nureddin zu führen. Er gibt sich offenkundig selbst die Schuld dafür, daß die polizeilichen Ermittlungen bereits bis zu ihm gelangt sind. »Meister der Sonne«, das deutet auf eine Art Hohepriester von Sonnenanbetern hin, die durchaus mit den Mumienmachern identisch sein können. Und der Satz: »Die Göttin ist in höchster Gefahr« läßt mich hoffen, daß Gesine damit gemeint ist und sie irgendwo gefangen gehalten wird. Deshalb: Kopf hoch, Hans!« »Ich wäre glücklich, solltest du recht behalten, Gaston. Gib mir jetzt bitte Boucharts Anschrift. Vielleicht finde ich in seiner Wohnung wichtige Hinweise.« 41 �
»Er wohnt mit seiner neunzigjährigen Mutter in Kasinonähe in der Rue Bineau 2. Aber du kannst dort nicht hin.« »Warum nicht?« »Weil deine Sondergenehmigung nur für Paris gilt. Enghien liegt jedoch achtzehn Kilometer vor der Stadt. Wir können nichts machen.« Lauterbach fluchte leise. »Um 2 Uhr früh schließt das Kasino. Wenig später wird Bouchart nach Hause gehen oder auch nicht. So lange bleibe ich hier.« »Gut, Hans. Gegen eine Beobachtung Boucharts hat hier keiner etwas einzuwenden. Sei aber bitte weiterhin vorsichtig!« »Natürlich, Gaston«, sagte Lauterbach ungeduldig und beendete das Gespräch, nachdem er Rohan seinen Besuch in der Präfektur für den nächsten Tag angekündigt hatte. Gähnend sah er auf die Uhr am Armaturenbrett. Es wurde gerade Mitternacht. Er hatte mehr als zwei Stunden Zeit, bis Bouchart nach Hause ging. Um sich mit der Umgebung vertraut zu machen, beschloß Hans-Georg Lauterbach, durch die Rue Bineau zu fahren, in der Bouchart wohnte. * Um drei Uhr früh kam Alix Bouchart aus einem Nebeneingang des Kasinos, schlug fröstelnd den Kragen seines Mantels hoch und nahm den nächsten Weg durch den Park zum See. Lauterbachs Müdigkeit verflog schlagartig. Er folgte Bouchart geschickt durch den aufsteigenden Nebel an Buschgruppen und Blumenrabatten vorbei und fragte sich, wohin der Kasinodirektor eigentlich wollte. Sein Haus lag genau entgegengesetzt. Der Deutsche ging schneller, da Bouchart im stärker werdenden Nebel außer Sicht zu kommen drohte. Einige Male blieb er sogar stehen, um sich an Boucharts Schritten zu orientieren. 42 �
In Seenähe verließ Alix den Weg und hastete über den sanft abfallenden Rasen auf das Ufer zu, das durch den Nebel nur andeutungsweise zu erkennen war. Plötzlich sprangen die Konturen eines quadratischen Gegenstands aus dem milchigen Weiß. Erst glaubte Lauterbach, einen Panzer vor sich zu haben. Im Näherkommen erkannte er jedoch, daß es ein Haus für Schwäne war, das teilweise auf Pfählen im Wasser stand. Bouchart verschwand hinter diesem Haus. Als Lauterbach ihn wieder sah, stand der Mann in einem Nachen, der mit einer langen Stange auf dem See hinaus gestakt war und im Nebel verschwand. Nur noch das leise Plätschern des Wassers war zu hören.« »Verdammt, das habe ich gern. Stundenlang auf den Kerl warten und dann zusehen müssen, wie er in aller Herrgottsfrühe eine Kahnpartie unternimmt«, fluchte der Inspektor leise vor sich hin. Fünf Minuten stand er wie gebannt da und kämpfte gegen das Verlangen an, sich eine Zigarette anzuzünden. Plötzlich gloste auf dem See, gar nicht weit vom Ufer entfernt, Feuerschein durch den Nebel. Er stammte von mehreren Fackeln, deren Hitze den Nebel plötzlich teilte und Lauterbach Zeuge des Geschehens werden ließ. Es war verrückt. Aber es war Tatsache! Keine fünfzig Meter vom Ufer entfernt lag eine große Nilbarke. Darauf befand sich ein Scheiterhaufen, der noch nicht angezündet worden war. Die Fackeln lagen in den Händen von Männern, die wie altägyptische Ruderer gekleidet waren. Über Bouchart tanzte das rotzuckende Licht der Fackeln. Demütig stand der Kasinodirektor vor einem weißgekleideten alten Mann mit hocherhobenen Händen. Und ohne Gegenwehr emp43 �
fing er den tödlichen Stoß von einem zweiten Mann im weißen Überwurf. Deutlich sah Lauterbach das Messer im Feuerschein aufblitzen, bevor es sich tief in Boucharts Kehle grub. Der Direktor schwankte und fiel vornüber. Er wurde von zwei Männern auf gefangen und auf den Scheiterhaufen in der Mitte der Barke gehoben. Pechfackeln und Kienspäne entzündeten das geschichtete trockene Holz. Die ersten Flammen züngelten hoch und leckten nach Boucharts Leiche, deren Konturen Lauterbach gut erkennen konnte. Durch die zunehmende Helligkeit sah er jetzt auch das Mädchen im altägyptischen, faltenreichen Kleid und mit Kopfputz am Bug der Barke stehen. Sie erinnerte ihn an die Göttin Isis und hielt seltsam entrückt eine goldene Sonnenscheibe zwischen ihren Händen. Entsetzen und Grauen raubten Lauterbach fast den Verstand. Er glaubte, in diesem Mädchen seine Tochter zu erkennen! »Gesine«, schrie er außer sich. Wandte sie ihm nicht ihr bleiches, maskenhaft starres Gesicht zu, als sein Ruf sie erreichte? Auch die Männer an Bord mußten ihn gehört haben. Der Alte im Priestergewand machte eine energische Handbewegung zu den Ruderern hin, worauf die Barke langsam auf den See hinaus zu gleiten begann. Für Lauterbach gab es jetzt kein Halten mehr. Er riß sich Jacke und Smokinghose herunter, streifte sich die Schuhe ab und lief in den See hinein. Bis zu den Knien versank er in Schlamm. Aber er kämpfte sich verbissen weiter, erreichte das offene Wasser und kraulte zügig der Barke nach. Dort brannte jetzt der Scheiterhaufen lichterloh. Lauterbach spürte die Kälte des Wassers nicht. In ihm war nur der Wille, dieser Schweinerei ein Ende zu bereiten. Ritualmord war für ihn eine Schweinerei. Vor allem mußte er sich Gewißheit verschaffen, ob das als Göttin Isis herausgeputzte Mädchen seine 44 �
Tochter Gesine war. Bis auf zwanzig Meter war Lauterbach heran, als man ihn auf der Barke bemerkte und schreiend zu gestikulieren begann. Er tauchte und sah den schwarzen Rumpf der Barke durch den Feuerschein vor sich. Unmittelbar an der Bordwand schnellte er sich aus dem Wasser, bekam die Seitenplanken zu fassen und starrte, als er sich hochzog, in ein wutverzerrtes europäisches Gesicht. Im selben Augenblick traf ein harter Schlag seine linke Hand. Aufschreiend ließ Lauterbach los und glitt ins Wasser zurück. Schluckend und hustend kam er wieder an die Oberfläche, pumpte die Lungen voll Luft und schrie gellend: »Gesine, spring über Bord und schwimm ans Ufer!« Lauterbach wartete eine Reaktion auf seinen verzweifelten Ruf nicht ab und schwamm zum Bug der Barke, wo er erneut versuchte, sich an Bord zu ziehen. Aber jetzt wehrten sie ihn zu dritt mit Stangen ab und warfen brennende Holzscheite nach ihm, die zischend rechts und links von ihm verloschen. Der aufkommende Wind drückte den dichten beißenden Rauch auf die Wasseroberfläche und nahm Lauterbach die Sicht auf die Barke. Von dort her klangen unverständliche Rufe und Befehle, während von der Uferstraße her die Sirenen von alarmierten Feuerwehrfahrzeugen über den See klangen. Als Lauterbach sich zum dritten Mal der Barke näherte, wurde auf der ihm entgegengesetzten Seite ein starker Bootsmotor gestartet. Die Männer ließen ihre Stangen fallen und verschwanden. Es dauerte keine fünf Sekunden, bis das Motorboot sich von der Barke löste und mit hoher Fahrt davonfuhr. Diesmal gelangte Lauterbach ohne Gegenwehr an Bord des Totenschiffes. Die Mumienmacher waren geflüchtet… Keuchend vor Anstrengung arbeitete er sich zum Bug des 45 �
Schiffes vor. Die Isisgestalt war verschwunden, von Gesine oder einem anderen Mädchen keine Spur. Die Hitzestrahlung des Scheiterhaufens war so mörderisch, daß Lauterbachs Unterwäsche zu dampfen begann. In der wabernden Glut war von Boucharts Leiche nichts mehr zu sehen. Schon schwelte die Barke hier und dort und konnte jeden Augenblick wie Zunder zu brennen beginnen. Das Geräusch des hochtourigen Außenbordmotors hatte sich in der Ferne verloren. Dafür erklangen von der anderen Seite her Paddelschläge, mit denen Feuerwehrmänner ein Schlauchboot an die Barke herantrieben. Durch das Prasseln der Flammen klang eine Stimme: »Hallo, ist dort jemand?« Lauterbach verspürte nicht die geringste Lust, Erklärungen abzugeben, die ihn möglicherweise ins Irrenhaus bringen konnten. Er ließ sich deshalb ins Wasser gleiten und schwamm teils unter Wasser in einer anderen Richtung zum Ufer zurück. Die Feuerwehr- und Polizeifahrzeuge standen achthundert Meter unterhalb des Schwanenhauses, bei dem alles ruhig war. Hans-Georg Lauterbach warf sein nasses Unterzeug und das Smokinghemd in die nahen Büsche, schlüpfte in Hose und Jacke und ging zu seinem Wagen zurück. Er hatte den Mercedes auf dem Parkstreifen vor einer Schule abgestellt. Im Osten rötete sich schon der Himmel, es wurde Tag. Bald würde es vollends hell sein. Lauterbach fror vor Müdigkeit und Anstrengung. Als er gerade seinen Wagen aufschließen wollte, hob sich der Vorhang zum nächsten Akt. * Lauterbach hörte zwei rasche Schritte hinter sich, und schon � wurde ihm ein harter Gegenstand in die linke Nierengegend ge46 �
drückt. Er hörte eine Stimme: »Laß den Wagen stehen! Du brauchst ihn nicht mehr. Geh zum Peugeot vor! Und keine Mätzchen, sonst drück ich ab!« Für eine Gegenaktion war Lauterbach noch zu ausgelaugt. Jetzt tauchten auf beiden Seiten zwei weitere Gangster auf, die ihn sofort bei den Handgelenken packten und ihn unmißverständlich vorwärtsschoben, ohne daß der Druck des Revolvers in seinem Rücken nachgelassen hätte. ›Das waren keine Mumienmacher‹, überlegte Lauterbach. ›Eher von der Gilde gedungene Killer, die den Auftrag hatten, ihn ins Jenseits zu befördern, weil die Gilde mit der Hinrichtung Boucharts selbst alle Hände voll zu tun hat.‹ »Was soll das?«, fragte Lauterbach laut und weigerte sich, auf dem Rücksitz des Peugeot Platz zu nehmen. »Halt deinen Rand, sonst ziehen wir dir was über«, knurrte der Mann hinter ihm. En heftiger Stoß beförderte den Inspektor ins Wageninnere. Am Steuer saß der vierte des Kleeblatts mit einer Bierruhe, als ginge ihn das alles nichts an. Je rechts und links stieg einer der Männer ein. Warnend zeigten sie Lauterbach die Klingen ihrer Schnappmesser. Der vierte nahm neben dem Fahrer Platz. Das Fahrzeug rollte an, durchfuhr das noch schlafende Enghien und bog auf die Straße nach Sannois ab. Inzwischen war es hell genug geworden, um einen prüfenden Blick auf die Profile der Gangster zu werfen. Sie verrieten keinerlei Empfindungen. Alle vier trugen dunkle Anzüge, einheitliche Trenchcoats und als Kopfbedeckung karierte Sportmützen. Offenbar hatten sie seine Waffe im Handschuhfach des Mercedes gefunden, weil sie darauf verzichtet hatten, ihn abzuklopfen. Er hatte die Smith & Wesson nicht mit ins Kasino nehmen wollen, weil sie den Kasino-Detektiven kaum entgangen wäre und 47 �
es Ärger gegeben hätte. Später hatte er vergessen gehabt, sie wieder zu sich zu nehmen. Und jetzt mußte er seiner Waffe nachtrauern. »Macht ihr nicht einen großen Fehler, Garçons?« fragte Lauterbach. »Wir machen nie einen Fehler. Deshalb sind wir auch so alt geworden«, entgegnete der Mann auf dem Beifahrersitz unwirsch. »Sollte mir etwas passieren, bekommt ihr es mit der gesamten Polizei von Paris zu tun, deren Gast ich zur Zeit bin!« Der Mann links neben ihm schlug ihm den Ellbogen auf die kurze Rippe. »Halte keine Reden, mon ami! Spar deine Luft für ein kurzes Gebet nachher!« »Ich bin sicher, daß für euch finanziell viel mehr herausspringen würde, wenn ihr den Spieß umdrehen und uns eure Auftraggeber nennen würdet. Gesünder ist es für euch sowieso.« Lauterbach mußte auf dieses Angebot hin einen weiteren Schlag hinnehmen und deutete das eisige Schweigen der Gangster richtig. Die ließen nicht mit sich handeln oder sich weichreden. Jedes weitere Wort war in den Wind gesprochen. Er tat besser daran, Ergebenheit in ein unabänderliches Schicksal zu mimen und eine günstige Chance zum Handeln abzuwarten. Zehn Kilometer hinter dem Ort schwenkte der Fahrer nach rechts in einen schmalen Waldweg ein. Nach fünfzehn Minuten endete die Fahrt am Rand einer Sandgrube. Der Motor verstummte; die Männer stiegen aus und richteten jetzt schwere Revolver auf Lauterbach. »Vite, vite«, kommandierte der Sprecher der vier. Lauterbach kam umständlich aus dem Fahrzeug. Gerade ging die Sonne auf. Ein Kaninchen suchte erschreckt das Weite. Die Morgenluft roch nach Klee. Es versprach, ein herrlicher Tag zu werden. Fragte sich nur für wen. Lauterbachs Augen wanderten weiter. Die Sandgrube war ein 48 �
riesiges Loch von mehreren hundert Quadratmetern Größe. Die Hänge fielen vierzig Meter tief ab. Wie man an den rostenden Kipploren, Schienen und anderem vergessenen Gerät auf der Sohle sehen konnte, war die Grube schon lange außer Betrieb. Die Eierhandgranate in der Hand eines Gangsters war deutlich genug. Ein Genickschuß am Rand der Grube, und wenn er unten angekommen war, würde mit der Handgranate eine größere Menge Sand vom Hang gelöst werden, und Lauterbach würde für alle Zeiten begraben sein. »Wie gefällt es dir hier?« fragte der Fahrer Lauterbach. »Wir lieben dieses Loch ganz und gar nicht. Tausende von Gefangenen haben hier für Vater Staat schuften müssen. Wenn du nachher in den Sand beißt, wirst du ihren vergossenen Schweiß herausschmecken.« Die Männer grinsten und hielten sich weiterhin auf Distanz. Sie würden keine Sekunde zögern, ihn abzuknallen, wenn er einen von ihnen angreifen würde. Lediglich in Richtung auf die Grube standen die Burschen nicht. So ein Riesenloch hatten sie nicht gern im Rücken. Lauterbachs Gedanken arbeiteten. Wenn vor ihm, wo es geschehen sollte, der Hang den gleichen Neigungswinkel hatte wie die zu sehenden Seitenhänge, konnte ihm nicht allzuviel passieren. Er mußte nur weit hinausspringen und versuchen, in Hangmitte gut aufzukommen. Dann würde er von einem sich lösenden Sandbrett vermutlich zur Grubensohle hinuntergetragen werden, wo er dann die Chance hatte, hinter den Kipploren in Deckung zu gehen. »Gib ihm eine Zigarette«, sagte der Sprecher der vier und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Offenbar standen die Gangster unter Zeitdruck. Einer von ihnen schob sich von der Seite her vorsichtig an Lauterbach heran. Die Packung ›Gitanes‹ links, den Revolver rechts 49 �
in der Hand. »Nimm«, sagte er lakonisch. Darauf hatte Lauterbach gewartet. Er rannte los und stieß den Gangster beiseite. Dann spürte er den Grubenrand unter seinem Sprungbein und sprang mit aller Kraft ab. Hinter dem Inspektor verhallten die überraschten Schreie der vier. Der Wind zerrte an seiner Jacke, der Hang flog auf ihn zu. Lauterbach kam gut auf und ließ sich mit mehreren Rollen vorwärts weiterfallen. Der Hang geriet in Bewegung. Schneller ging die sausende Fahrt abwärts. Sand begrub den Inspektor und gab ihn Sekunden später wieder frei. Unvermutet trat Ruhe ein. Von der Grubensohle aus sah Lauterbach durch den hochgewirbelten Staub hoch über sich die Gangster am Grubenrand stehen. Deutlich zeichneten sich ihre Konturen gegen die Morgenröte ab. Lauterbach federte hoch und rannte geduckt auf die nächste Lore zu. Von oben fielen in rascher Folge Schüsse. Die Projektile schlugen neben ihm in den Sand und rissen kleine Fontänen hoch. Eine Kugel zischte haarscharf an seinem rechten Ohr vorbei und prallte an der nachhallenden Lore vor ihm ab. Lauterbach warf sich hinter die Lore, die ihm vorzüglich Deckung bot. Sein Atem ging heftig. Mehrmals schlugen Kugeln gegen die stählerne Lorenwandung, bevor die Gangster einsahen, daß ihm so nicht beizukommen war. Ihn von einer anderen Stelle des Grubenrands unter Feuer zu nehmen, war wegen der großen Entfernung nicht erfolgversprechend. Ihre Revolver schossen nicht so weit. Um ihn zu packen und zu erledigen, mußten sie schon zu ihm herunterkommen. Dazu schienen sie aber wenig Lust zu verspüren. Vorsichtig schob Lauterbach den Kopf aus der Deckung. Die vier standen noch beratschlagend beisammen. Plötzlich starrten sie wie auf Kommando nach Osten. Dann wichen sie 50 �
vom Grubenrand zurück und verschwanden aus Lauterbachs Blickfeld. Dafür Schossen gleich darauf zwei Hubschrauber über den Grubenrand, ›POLICE‹ las Lauterbach an ihren Rümpfen. Er atmete auf, wischte sich den Schweiß aus den Augen, trat aus seiner Deckung hervor und winkte mit beiden Armen nach oben. Sofort flog ein Hubschrauber eine Kehre und senkte sich dann langsam auf die Grubensohle hinab. Die Alouette landete fünfzig Meter von Lauterbach entfernt. Inspektor Rohan sprang heraus und begrüßte Lauterbach erleichtert. * Kaufhausbesitzer Nicolas Gramme besaß eine Vorliebe für langbeinige hübsche Lehrmädchen seines Hauses. Wer vom Personal darüber redete, wurde gefeuert und fand auch bei der Konkurrenz keine Arbeit mehr, da eine bemerkenswerte Solidarität zwischen den Kaufhausleitungen bestand, wenn es um Personaleinstellungen ging. Seine Familie in Chartres sah der fünfundfünfzigjährige Nicolas nur an den Wochenenden. An den übrigen Tagen konnte er tun und lassen, was er wollte. »Lassen« konnte Nicolas die jungen Damen zwischen sechzehn und zwanzig nicht. Unverfroren bat er seine jeweiligen Favoritinnen, wann immer ihm danach war, in sein Appartement, das zwei Straßen von seinem Kaufhaus entfernt war. Allerdings muß eingeräumt werden, daß die Initiative nicht immer von Gramme ausging. Die raffiniertesten Mädchen seines Kaufhauses führten geschickt Begegnungen mit ihrem Direktor außerhalb der Firma herbei, da dieser mit Kreditscheinen, die zum kostenlosen Einkauf im eigenen Kaufhaus berechtigten, nicht kleinlich war. Es genügten schon fünf dieser Scheine, um 51 �
sich von Kopf bis Fuß neu einzukleiden, inklusive Quarzuhr und Goldkettchen. Gramme blickte wieder auf seine Uhr. Es war gleich Mittag, die Zeit, in der er sich bis 14.30 Uhr in seine Räume zurückzuziehen pflegte. Seit einer halben Stunde wartete dort Carina auf ihn. Die kleine rothaarige Hexe war eine Neuentdeckung aus der Porzellanabteilung. Offiziell hatte sie an diesem Tag »Berufsschule«. Endlich kam Grammes Sekretärin Maud mit der Unterschriftenmappe, und er machte sich sofort daran, die Briefe abzuzeichnen. »Ich gehe jetzt zu Tisch, Mademoiselle Maud.« Er reichte ihr die Mappe. »War sonst noch etwas?« »Um 15.00 Uhr Konferenz der leitenden Herren betreffs Rationalisierung, Herr Direktor«, sagte die Sekretärin. »Und dann kam noch ein Privatschreiben für Sie mit der Rohrpost. Es trägt die Vermerke EILT und STRENG VERTRAULICH.« Gramme nahm den Umschlag entgegen und sah auf den Absender. »Kenne ich nicht«, murmelte er. »Wahrscheinlich wieder ein Bettelbrief einer Frau, die um einen Freßkorb für ihre Kinder bittet.« Das Telefon summte. Gramme nahm an, daß es Carina sei, die ihn fragen wolle, ob er auch pünktlich sei. »Sehen Sie nach, was drinsteht«, sagte er deshalb zu seiner Sekretärin, gab ihr den Brief zurück und eilte an den Apparat. »Hallo?…« Gramme legte den Hörer auf die Gabel, als sich niemand meldete, und wandte sich wieder seiner Sekretärin zu. Gerade zur rechten Zeit, um das Grauenvollste mitzuerleben, was er sich vorstellen konnte und das ihm selbst zum Schicksal werden sollte. Er sah ein Stück Leinenstreifen und ein Stück Pergament in Mauds Hand. Mehr hatte der Briefumschlag nicht enthalten. Aber da machte Mademoiselle bereits eine unheimliche Ver52 �
wandlung durch. Ihre Arme und Beine bildeten sich zurück. Der Rumpf bekam mehrere drastische Einschnürungen und verfärbte sich bräunlichschwarz. Der Kopf bildete sich um. Ihm wuchsen auf grauenvollste Weise große scherenartige Gebilde. Die Augen Mademoiselle Mauds waren gefährlichen, tückisch blickenden Spinnenaugen gewichen. Länger und länger wurde ihr Unterleib und das, was mal die Beine gewesen waren. Das Entstehen eines Stachels wurde erkennbar. Ebenso wuchsen rechts und links je drei fünfgliedrige Insektenfüße. Makaber wirkten die Kleidungsstücke der Sekretärin, die beziehungslos an diesem Biest hingen, das sich mehr und mehr als ein rasch wachsender Skorpion entpuppte. Die dumpfe Ahnung stieg in Gramme auf, daß diese gespenstische Verwandlung, die in vollkommener Lautlosigkeit vor sich ging, wohl ihm zugedacht gewesen war. Normalerweise hätte er den Brief geöffnet. Er stierte entsetzt auf den Skorpion, der sich auf dem Smyrnateppich verrenkte. Das Tier wuchs jetzt sehr rasch. Schon war Gramme der Fluchtweg aus seinem Büro versperrt. Er stürzte ans Telefon und wählte mit fliegenden Händen 1-7, während er kein Auge von dem Spinnentier ließ, das ungehemmt weiterwuchs und ihn grausam anstarrte. »Police Secours«, meldete sich eine Stimme. »Kaufhaus Gramme«, stotterte der Direktor. »Kommen Sie sofort. In meinem Büro, ein Riesenskorpion! O nein!…« Vor Entsetzen gelähmt, sah Gramme den Skorpion auf sich zukommen. Das Tier drückte den schweren Schreibtisch zur Seite, schnellte den Stachelschwanz nach vorn über den Kopf und spritzte Gramme sein tödliches Gift in den Körper. Nicolas Gramme hatte den Hörer schon längst fallen lassen. Er preßte beide Hände auf die furchtbare Wunde in Magenhöhe. 53 �
Durch seine Adern floß das tödliche Gift. Sein Blick wurde unklar. Dann stürzte Gramme schreiend zu Boden und blieb schließlich erstarrt liegen. Das riesige Spinnentier kümmerte sich nicht weiter um den verkrümmten, regungslosen Körper. Es marschierte auf die ledergepolsterte Doppeltür zu, die ins Direktionssekretariat führte. Der Skorpion begann seinen Zerstörungsmarsch durch das Kaufhaus und hinterließ mehrere Tote Chaos und Panik… * Da sämtliche Pariser Polizeidienststellen angewiesen worden waren, bei außergewöhnlichen Vorfällen, bei denen ›Riesentiere‹ eine Rolle spielten, Inspektor Rohan zu informieren, traf dieser in Begleitung seines deutschen Kollegen Lauterbach schon am Ort des Geschehens ein, als der Skorpion noch im Kaufhaus Gramme wütete. Die umliegenden Straßen waren von schwerbewaffneten Polizisten abgesperrt worden. Überall standen Polizei- und Ambulanzfahrzeuge in Bereitschaft. Lautsprecherdurchsagen an die Neugierigen und Anwohner hallten unaufhörlich durch die Straßen. Über dem Kaufhaus schwebte ein Hubschrauber des O.R.T.F. Rohan ließ sich von einem Polizeioffizier die Lage schildern und nickte zustimmend, als der Offizier mit den Worten schloß: »Das Biest hält sich zur Zeit im Untergeschoß auf, wo es die Lebensmittelabteilung verwüstet. Wir haben die Rolltreppe weiterlaufen lassen. Mehrmals hat das Tier über diesen einzigen Zugang versucht, ins Erdgeschoß zu gelangen. Bisher vergeblich. Jeden Augenblick müssen die angeforderten Pioniere mit Flammenwerfern eintreffen. Sie werden dem Spuk bald ein Ende machen!« 54 �
»Direktor Gramme ist tot, sagten Sie?« fragte Lauterbach den Polizeioffizier. »Jawohl, Monsieur Lauterbach. Er soll von seiner Sekretärin getötet worden sein, die sich in diesen Skorpion verwandelt hat. Das bezeugten die Damen, denen die Flucht aus dem Direktionssekretariat gelang.« »Hatte Gramme Feinde? Haben Sie in dieser Richtung etwas in Erfahrung bringen können«, fragte Rohan den Offizier. »Monsieur Gramme war nicht sonderlich beliebt bei seinen Angestellten. Er soll sich mit jungen Damen seines Hauses eingelassen haben. Seine Wohnung befindet sich übrigens in der Rue Sarrette 28, gleich hier um die nächste Ecke, erste Straße rechts. Das Kaufhaus brachte übrigens seine Frau mit in die Ehe. Mme. Gramme soll ein Gebrechen haben. Ah, ich sehe die Pioniere!« Unweit von hier hielt ein Jeep, von dessen Rücksitzen ein Pionier im Spezialanzug aus Asbest mit einem zylindrischen Behälter mit Flammöl auf dem Rücken herunterkam. Den Flammenwerfer hielt er lässig in der geschützten Hand. Der Fahrer des Jeeps war ein Korporal im gefleckten Tarnanzug. Er grüßte zackig und meldete: »Korporal Luthier und Soldat Lepic, zur Ungezieferbekämpfung abgestellt!« Der Polizeioffizier grüßte zurück. »Kommen Sie, meine Herren«, sagte er und ging voraus. Vier Polizisten mit Maschinenpistolen sicherten die beiden Pioniere, die Inspektoren und den Polizeioffizier. Sie gingen durch den Haupteingang an den Warentischen vorbei zur Rolltreppe vor, die in das Untergeschoß des Kaufhauses führte. Hier deutete der Polizist in das unbeschreibliche Chaos der Lebensmittelabteilung unter ihnen. Registrierkassen waren umgestürzt und Drehkreuze aus ihren Verankerungen gerissen. Der 55 �
Boden war mit unzähligen Konservendosen und Lebensmitteln übersät. »Dort unten lauert es irgendwo«, erklärte der Polizeioffizier. »Erschrecken Sie nicht, wenn Sie es zu Gesicht bekommen, Korporal.« »Nein, nein«, sagte der Pionier rasch. »Ich sehe schon an dem Ausmaß der Verwüstungen, was für ein Gewitterwürmchen das Biest ist. Allmächtiger! Es kommt!« Ein furchtbares Bild bot sich ihren Augen. Von der Seite her schob sich der Skorpion an den Fuß der Rolltreppe heran und witterte in ihre Richtung. Ein Bild, das die Männer nie vergessen würden… »Die abwärtslaufenden Treppenstufen haben es bisher immer wieder zurückgeworfen«, flüsterte der Polizeioffizier. »Lassen Sie die Treppe anhalten und die Berieselungsanlage einschalten, um Brände zu vermeiden«, sagte der Korporal. Dann klopfte er Lepic auf die Schulter und fuhr zu diesem gewandt fort: »Du kauerst dich seitlich der Treppe hin. Sobald die Bestie auf der Mitte der Rolltreppe ist, gibst du ihr Saures, klar?« Der Soldat nickte grimmig. Jeder nahm Deckung so gut es ging. Auf der stillgelegten Rolltreppe zur ersten Etage hinauf hatten Inspektor Rohan und Hans-Georg Lauterbach Aufstellung genommen. Von hier aus hatten sie einen guten überblick. Kaum stand die Rolltreppe zum Untergeschoß, die Berieselungsanlage arbeitete mittlerweile, als das urwelthafte Spinnentier auch schon mit seinen Vorderfüßen mißtrauisch die zur Ruhe gekommenen Metallstufen abtastete. Plötzlich lief der Skorpion unwahrscheinlich schnell aufwärts. »Schieß doch, Lepic«, schrie der Korporal dem Soldaten mit dem Flammenwerfer zu. »Worauf wartest du noch?« 56 �
Zwei Drittel der Rolltreppe hatte der Riesenskorpion bereits hinter sich gebracht, als aus dem Flammenwerfer fauchend ein Strahl brennendes Flammöl hervorschoß. Der Skorpion verschwand in einem Feuerorkan und wurde nur gelegentlich mit wild zuckenden Gliedern sichtbar. Der Geruch nach verbranntem Chitin legte sich ätzend auf die Atemwege der Männer, während der zähe Rauch im Untergeschoß von unzähligen Wassertropfen aus der Berieselungsanlage zerfasert wurde. Die Plastikwandungen der Rolltreppe schmolzen unter der Hitze der Flammen. Die Temperatur stieg ins Unerträgliche. Doch der Riesenskorpion schrumpfte, verlor an Körpersubstanz und verkohlte. Beine und Fühler lösten sich auf, der Giftstachel verkrümmte… * Eine halbe Stunde später verschafften sich die beiden Inspektoren mit Hilfe von Spezialschlüsseln Zutritt zu Monsieur Grammes Wohnung in der Rue Sarrette. Den beiden fiel in der Diele sofort der rote Lackledermantel an der Garderobe auf. In der Wohnung war kein Laut zu hören. Um gegen weitere Überraschungen gewappnet zu sein, zog Rohan seine FN-Pistole. Jetzt erst wagte er sich ins Wohnzimmer. Seine Blicke wanderten über das elegante Mobiliar und verweilten auf dem Durchgang zum Schlafzimmer, der halbgeöffnet war. Mit großer Vorsicht bewegten sich die Inspektoren auf den Durchgang zu. Plötzlich blieb Lauterbach stehen, bückte sich und fuhr mit dem Zeigefinger über einen dunklen Fleck auf dem Riemenparkett. Es war Blut! Rohan riß den Vorhang ganz zurück und machte einen Satz 57 �
über die Schwelle nach vorn. Bestürzt schob er die FN in die Gürtelhalfter zurück. Auf dem französischen Doppelbett mit dem Baldachin lag eine Mumie. Auf dem Nachttisch stand eine irdene Schüssel mit blutigen menschlichen Organen. »Der Größe und den Konturen nach fast noch ein Kind«, murmelte Lauterbach entsetzt. »Die Maitresse Grammes«, bemerkte Rohan. »Man hat sie regelrecht ausgeweidet.« Er schüttelte grimmig den Kopf. »Diese Schweine, die das machen, bringe ich unter die Guillotine. Ich werde sofort Mme. Gramme verhaften lassen. Sie und niemand anders hat die Mumienmacher als Mörder ihres Mannes und seiner Geliebten gedungen!« »Du könntest recht haben, Gaston«, sagte Lauterbach und mahnte leise: »Du mußt jetzt die Mordkommission hinzuziehen. Hier muß schnellstens mit den Ermittlungen begonnen werden. Das Telefon steht nebenan…« * Etwa zur selben Zeit passierte zwischen den Metro-Stationen Porte de Vanves und Plaissance folgendes: In einem Tunnelabschnitt kam es zwischen einer Metro und einem leuchtendgrünen Hindernis zu einer Kollision, die zum Glück kein Menschenleben forderte. Zugführer Resal, ein zuverlässiger Mann mit mehr als fünfzehnjähriger Diensterfahrung, leitete sofort eine Notbremsung ein, als im Scheinwerferlicht seines Führerwagens das Hindernis auftauchte, von dem er glaubte, ›daß es sich käferartig bewegte‹. Trotz seines schnellen Reagierens konnte Resal nicht verhindern, daß der Zug in das Hindernis hineinrutschte. Glücklicherweise war der Anprall nicht allzustark, wenngleich die 58 �
Sichtscheiben des Führerstands mit einer ekelerregenden blaßgrünen Schleimmasse und den Körperfragmenten eines riesigen Skarabäus überzogen wurden. Für den Rest des Tages wurde die Strecke stillgelegt. Die sofort eingeleiteten Untersuchungen der Polizei ergaben, daß das Tier von den Katakomben in das Metro-System gelangt war, nachdem es einen zugemauerten Verbindungsstollen in tagelanger Arbeit geöffnet hatte. * Hans-Georg Lauterbach beteiligte sich nicht an der Vernehmung von Edith Gramme, die nach den Ereignissen des Tages um 18.00 Uhr vorläufig festgenommen und in die Pariser Polizeipräfektur gebracht worden war. Beschwörend sprach Inspektor Rohan auf die blasse, verhärmte Frau ein, deren linke Schulter leicht verwachsen war. »Madame. Seit heute nachmittag liegt Paris in Angst und Schrecken. Die Bürger trauen sich nicht mehr aus ihren Häusern. Eheleute beargwöhnen sich gegenseitig. Kinder spielen Riesenkäfer und Opfer. Furcht und Entsetzen haben sich verbreitet. Und schon morgen kann weitaus Schlimmeres geschehen, kann die beschworene Dämonenwelt außer Kontrolle ihrer Herren und Meister geraten. Madame, wollen Sie zusehen und weiter schweigen?« »Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich mit diesen Dingen nichts zu tun habe, Inspektor«, sagte die kleine Frau und starrte auf ihre Hände. »Dann erklären Sie uns endlich, wozu Sie am 14. des Monats fünfhunderttausend Franc bei Ihrer Bank abgehoben haben«, zischte Rohan. »Ich habe die Summe für wohltätige Zwecke einer karitativen 59 �
Organisation gespendet.« »Davon bin ich überzeugt! Von einem treulosen Ehegatten befreit zu werden, muß für Sie eine Wohltat gewesen sein!« Edith Gramme schwieg, und Rohan versuchte es jetzt mit Engelszungen: »Jeder Richter, jeder Geschworene wird Verständnis für Ihre Situation aufbringen, Madame. Ein Geständnis und ein guter Rechtsanwalt, und die Sache ist für Sie gelaufen. Wir wollen nicht Sie, sondern diese Mumienmacher! Begreifen Sie das denn nicht?« Edith Gramme schwieg und starrte weiterhin auf ihre nervös zuckenden Hände. »Wir stellten fest, daß Sie ein gern gesehener Gast des Spielkasinos in Enghien-les-Bains sind. Direktor Bouchart kannten Sie gut. Geben Sie es doch zu, Madame! Bouchart war der Empfänger der halben Million. Für dieses Honorar wurden die Mumienmacher aktiv. Sie töteten Ihren Mann und dessen Geliebte Carina mit einer Fluchformel. Das ist mal was anderes als die herkömmliche Arbeitsweise der Mietkiller mit Messer und Pistole. Und es hat den erregenden Hauch von Exklusivität«, redete Rohan sich in Rage. »Glauben Sie mir doch, Herr Inspektor! Mit dem Tod meines Mannes habe ich nichts zu tun«, flehte Edith Gramme weinerlich. »Sie haben aber vor der Polizei in Chartres zugegeben, Genugtuung über den Tod Ihres Gatten empfunden zu haben…« Während Inspektor Rohan die Vernehmung fortsetzte, überdachte Lauterbach die Ereignisse der letzten Tage noch mal. Die vier Gangster, denen er mit einem waghalsigen Sprung in die Sandgrube entkommen war, konnten inzwischen von der Polizei gefaßt werden. Sie schworen nach wie vor Stein und Bein, von einem Unbekannten gedungen worden zu sein, den 60 �
»deutschen Bullen« ein wenig zu verprügeln. Von Mord sei bei diesem Zufallsgeschäft überhaupt keine Rede gewesen. Die viertausend Dollar, die jeder von ihnen in der Tasche gehabt hatte, widerlegten ihre Schutzbehauptungen. Es blieb auf jeden Fall zweifelhaft, ob über diese Ganoven jemals an die Gilde der Mumienmacher heranzukommen war. Ausnahmsweise konnte es hier den großen Unbekannten« tatsächlich gegeben haben. Die Überreste der Nilbarke waren aus dem See von Enghien von der Feuerwehr geborgen worden. Es hatte sich weiter herausgestellt, daß ein nicht identifiziertes Spezialfahrzeug die Barke eine halbe Stunde vor Boucharts Ermordung und Feuerbestattung an den See gebracht hatte, wo sie in einer stillen Bucht zu Wasser gelassen worden war. Die Suche nach dem Motorboot, mit dem die Gildenmitglieder flüchten konnten, hatte bisher zu keinem Erfolg geführt. Lauterbach horchte auf, als Edith Gramme plötzlich resignierend sagte: »Also gut, Herr Inspektor. Ich gebe zu, daß ich die von meinem Konto abgehobenen fünf hunderttausend Franc für die Ermordung meines Mannes und seiner Geliebten an Alix Bouchart gezahlt habe. Ich kenne einige Hintermänner Boucharts und will ein umfassendes Geständnis ablegen. Dafür hoffe ich auf das Verständnis der Richter und Geschworenen.« Lauterbach sah seinen Kollegen überrascht aufatmen und nach dem Telefonhörer greifen, um einen Polizeistenographen hinzuzuziehen. Edith Gramme saß einen Meter vor Rohans Schreibtisch auf einem harten, unbequemen Stuhl, wie man ihn gern den zu vernehmenden Personen ›anbietet‹. Ihr rechtes Profil war dem geschlossenen Fenster zugewandt. Die Lampe auf Rohans Schreibtisch mit ihrem grünen Schirm verstärkte den Eindruck tiefer Resignation und Hoffnungslosigkeit auf Madames Gesicht. Sie hat61 �
te sich in ihr Schicksal ergeben, das sich anders erfüllen sollte, als sie, Rohan und Lauterbach es geglaubt hatten. Plötzlich zersprangen klirrend die Fensterscheiben. Ein schwarzweißer Körper prallte wie ein Geschoß gegen Madames Kopf. Ein sichelförmiger Schnabel, der Edith Grammes Hals durchbohrt und zerfetzt hatte, tötete sie innerhalb von Sekunden. Der Schnabel gehörte zu einem Ibis, dessen wild schlagende Flügel Madames Blut über Akten und Einrichtungsgegenstände spritzte. Als die beiden Inspektoren nach einer Schrecksekunde helfend hinzuspringen wollten, fiel die Frau mit dem Ibis, der die Größe einer Wildgans besaß, vornüber und schlug mit dem Gesicht hart auf den Fußboden. Rohan starrte auf das Bild des Schreckens. Er war weiß im Gesicht wie eine Wand. »Das – das kann doch kein Zufall gewesen sein«, stotterte er und blickte Lauterbach hilflos an. »An Zufall hätte ich nicht mal geglaubt, wenn es sich nicht ausgerechnet um ein heiliges Tier der alten Ägypter gehandelt hätte«, antwortete Lauterbach und tupfte sich mit einem Tuch die Blutspritzer von Anzug und Gesicht. »Hier ist es offensichtlich so, daß in der Fluchformel, die Gramme ursprünglich in einen Skorpion verwandeln sollte, eine Sicherung gegen Verrat eingebaut war. Und als Mme. Gramme ein umfassendes Geständnis ablegen wollte, verstofflichte sich der Ibis und tötete die Verräterin.« Rohan sah ihn zweifelnd an, holte eine Flasche Cognac aus seinem Schreibtisch, goß zwei Gläser voll und fragte: »Und warum hat die Gilde dir anstelle des Mordkommandos nicht einen solchen Vogel auf den Hals geschickt, Hans? Das wäre doch viel bequemer für sie gewesen.« »Vielleicht sind die heiligen Vögel nur für Verrat zuständig. 62 �
Eine andere Antwort kann ich dir auch nicht geben, Gaston«, meinte Lauterbach. Inspektor Rohan leerte sein Glas, setzte sich auf die Schreibtischkante und zog das Telefon zu sich heran, das gerade klingelte. Rohan nahm den Hörer ans Ohr, meldete sich, hörte, was der Anrufer ihm mitzuteilen hatte, und sagte dann mit einem Blick auf den deutschen Kollegen: »Ja, Madame Brigaud. Er ist noch bei mir. Moment, ich gebe ab…« Rohan räusperte sich. »Für dich, Hans«, sagte er und gab Lauterbach den Hörer. »Lauterbach hier.« Der Deutsche freute sich, Helenes Stimme zu hören. »Sie waren nicht in Ihrem Hotel, Georg. Ich hatte mir schon gedacht, daß Sie bei Inspektor Rohan in der Präfektur sind. Stellen Sie sich vor, es gelang mir, das Geheimnis der Fluchformeln zu lösen!« »Ich gratuliere, Helene. Dann sind Sie tüchtiger als die Pariser Polizei und meine Wenigkeit. Wir haben soeben einen weiteren Toten zu beklagen: Madame Gramme. Gerade als sie ein Geständnis ablegen wollte, kam ein Ibis wie ein Geschoß durch das geschlossene Fenster geflogen und tötete die Zeugin in unserer Gegenwart! Keine fünf Minuten ist es her!« Am anderen Ende der Leitung schwieg Mme. Brigaud betroffen. Dann sagte sie leise: »Ich wollte, ich hätte diesen Mord schon vereiteln können! Es tut mir leid!« »Glauben Sie, daß Sie morgen oder übermorgen in der Lage sein werden, die Verbrechen, bei denen Fluchformeln zur Anwendung gelangen, zu vereiteln?« »Es wäre denkbar. Ich wollte Sie deswegen bitten, morgen abend zu mir zu kommen. Bis dahin bin ich auch in der Lage, Ih63 �
nen mehr zu sagen. Möglich, daß ich sogar diesen oder jenen Mumienmacher namentlich nennen kann.« »Könnten Sie uns nicht schon vorher Klarheit verschaffen, Helene? Jede Minute ist kostbar. Wir dürfen keine Zeit verlieren.« »Leider nein, Hans-Georg. Ich muß im Louvre und in anderen Museen Steinchen für Steinchen für meine Beweiskette zusammentragen. Kommen Sie bitte zwischen 20.00 und 20.30 Uhr. Und trotz der Vorkommnisse dieses schrecklichen Tages: eine gute Nacht!« »Danke, Helene. Ihnen auch…« Lauterbach legte den Hörer auf und wandte sich Rohan zu, der unverschämt grinste. »Hast du mithören können, Gaston?« »Mithören nicht, Hans. Aber ich konnte deinen Worten das Wesentliche entnehmen. Madame Brigaud bringt es fertig, uns zu Schwachbegabten Nullen zu deklassieren. Nun, schließlich ist sie Ägyptologin und etwas besser als wir mit der Materie vertraut… Gib mir mal den Apparat! Zur Abwechslung arbeitet unsere Mordkommission heute mal im eigenen Stall. Die Kollegen werden entzückt sein!…« * Es war 20.20 Uhr, als sich Hans-Georg Lauterbach zu Fuß dem Einzelhaus Madame Brigauds in der Rue Paganini näherte. Das Einfamilienhaus lag etwa fünfzig Meter von der Straße entfernt. Um zu ihm zu gelangen, mußte man durch eine schmiedeeiserne Pforte, einen gepflegten Vorgarten und ein Spalier serbischer Tannen gehen. Die Pforte war jedoch verschlossen; in der Pfortenmauer be fanden sich links über dem Namensschild eine Klingel aus Messing und eine Rufanlage. Lauterbach stutzte erst, als sich niemand auf sein mehrmaliges Klingeln meldete und ihm bewußt wurde, daß alle Fenster des 64 �
Hauses dunkel waren. Er trat von der Pforte zurück und ging nach rechts die Straße weiter, um den Anschein zu erwecken, es aufgegeben zu haben. In Wirklichkeit jedoch wechselte er vom Nachbargrundstück wenig später auf das Anwesen Madame Brigauds über und näherte sich, jeden Strauch und jeden Baum als Deckung benutzend, der Rückseite des Hauses, wo die Fenster ebenfalls dunkel waren. Lauterbach zögerte. Helene schien noch nicht nach Hause gekommen zu sein. Vielleicht hatte sie sich verspätet? Doch war da nicht ein Geräusch im Haus gewesen? So, als ob jemand unbeabsichtigt einen Stuhl umgestoßen hätte? Er wartete einige Minuten, aber es tat sich nichts mehr. Mehr und mehr spürte Lauterbach, daß hier etwas nicht stimmte. Er sorgte sich sehr um Helene und war selbst über die Stärke seiner Zuneigung zu ihr überrascht. Lautlos huschte er über die sechs Stufen zur Tür eines gläsernen Anbaus hinauf, hinter dessen Scheiben subtropische Pflanzen und Lianen zu erkennen waren. Der Türknauf ließ sich drehen: es war kein gutes Omen, daß die Tür unverschlossen war und lautlos zurückglitt. Lauterbach zog seine Waffe und entsicherte sie. Dann betrat er den schwülwarmen Anbau, um hier festzustellen, daß er sich in einer Art Wintergarten befand, in dem Helene allem Anschein nach Orchideen züchtete. Lauterbach schob sich durch das dichte grüne Gewirr auf die jenseitige Tür zu, die ins Haus führte, und die ihm nur deshalb nicht entgangen war, weil der Mond hinter einer Wolkenbank hervorgetreten war und mattes Licht durch die Verglasung warf. Auch diese Tür erwies sich als unverschlossen. Sie führte Lauterbach in den Hausflur, wo er mehrere Türen zu Nebenräumen fand. Er öffnete schließlich diejenige mit der Aufschrift LABOR. 65 �
Ein Geruch von Desinfektionsmitteln, Formalin und Harzen schlug ihm entgegen. Ein kalter Schauer überlief ihn. Den gleichen Geruch hatten die Mumien verströmt, vor denen er in den letzten Tagen gestanden hatte: vor der mumifizierten Leiche des Industriemagnaten Albert Boudin, vor Roger Sullys Mumie und der Carinas', der jungen Maitresse des Kaufhausbesitzers Nicolas Gramme. Die Angst um Helene schnürte ihm die Kehle zu. Mit dem Fuß stieß er die Tür ganz auf, glitt über die Schwelle, dann nach rechts, drückte sich an die Wand und riskierte es, Licht zu machen. Die gleißende Helle der großen Kugelleuchte über dem Labortisch blendete ihn für Sekunden. Er ahnte das Schreckliche, bevor seine entsetzten Augen es sahen… * Auf dem Tisch lag eine Mumie! Zu spät begriff Hans-Georg, daß mit ihr eine Fluchformel verbunden war, die ihm den Tod bringen sollte, den Tod durch die scharfen Schwerter dreier nubischer Krieger, die sich drei Meter vor ihm verstofflichten. Sie waren nicht sonderlich groß, dafür aber sehnig und durchtrainiert. Ihre glänzenden, tiefbraunen Oberkörper waren nackt. Blaue Stoffbahnen waren um ihre Hüften geschlungen. Sie trugen Sandalen und auf den Pagenköpfen lederne Schutzkappen. Außer ihren Schwertern waren sie mit Bogen bewaffnet, die sie, wie auch die Köcher mit den Pfeilen, quer auf dem Rücken trugen. An ihren Armen glänzten schwere Goldbänder und Amulette. Nach den Vorkommnissen der letzten Tage konnten diese Krieger einer längst vergangenen Epoche Lauterbach nach der ersten Überraschung kaum noch schrecken. Er hob die schwere Smith 66 �
& Wesson, ließ deren Mündung von einem Krieger zum anderen pendeln und zischte gefährlich leise: »Zurück oder ich schieße! Na, wird's bald?« Unbeeindruckt rückten die Nubier in einem Halbkreis auf ihn zu. Ihre Augen glänzten kampflüstern. Die Gesichter waren verzerrt. Sie riefen sich unverständliche Laute zu, um ihren Angriff gleichzeitig vorzutragen. Drei bronzefarbene Schwerter blitzten gleichzeitig im Licht der Kugellampe auf. Jeder Hieb für sich war unbedingt tödlich und wurde so schnell ausgeführt, daß Lauterbach dem nichts entgegenzusetzen hatte. Doch das Unwahrscheinliche geschah. Die Klingen glitten fünf Zentimeter vor Lauterbachs Körperoberfläche wie von einem ihn schützenden, unsichtbaren Auraschirm ab. Sofort fiel Lauterbach die Kapsel mit dem mumifizierten Gehirn einer heiligen Katze ein, die er von Helene zur Abwendung von Schadzaubern bekommen hatte. Die Nubier waren nicht minder überrascht als er. Immer wieder versuchten sie, ihn mit ihren Schwertern zu verletzten. Und jedesmal das gleiche Ergebnis: die Schwerter prallten an dem Auraschirm, der ihn schützend umgab, wirkungslos ab. Die drei wichen zurück, nahmen ihre Bogen von den Schultern, griffen nach Pfeilen, spannten ihre Bogen und schossen zugleich. Zischend schossen die drei Pfeile heran. Doch dicht vor Lauterbach stoppte eine unsichtbare, schützende Kraft die Pfeile und ließ sie mit abgeplatteten Spitzen gebrochen zu Boden fallen. Trotz dieses amüsanten Schauspiels war Hans-Georg Lauterbach nicht zum Lachen zumute. Immer wieder irrte sein Blick zur Mumie und der Nierenschale mit den Organen der Leiche ab. Lauterbach machte sich Vorwürfe, die schützende Kapsel von Helene angenommen zu haben. Würde sie das wundertätige Gehirn der heiligen Katze selbst getragen haben, läge sie jetzt 67 �
nicht tot vor ihm. In ihm kochte es. Zumal die Nubier nicht aufgaben und ihn jetzt wieder mit ihren Schwertern angriffen. Er hob seinen Revolver, um dem Spuk ein Ende zu machen, und riß nach kurzem Zielen dreimal den Abzug durch. Der dreifache Hall der Schüsse verschmolz ineinander und brach sich an den grüngekachelten Wänden. Die getroffenen Nubier stießen ein schauerliches Geheul aus, ließen ihre Schwerter fallen, versuchten das aus ihren Brustwunden strömende Blut mit den bloßen Händen zurückzuhalten und sahen Lauterbach überrascht an. Schwerverletzt versuchten sie auf den Flur zu flüchten, brachen jedoch tot auf der Schwelle zusammen. Lauterbach sog scharf die Luft ein und schob die Smith & Wesson in die Schulterhalfter zurück. Dann trat er hinter das Kopfende der Mumie. Er bemerkte gleich die kleine Papyrusrolle auf der Brust und nahm sie vorsichtig von den harzgestreiften Leinenbahnen. Die Rolle war so klein, daß er verstand, wieso bei den bisherigen Mumienfunden keine Fluchformeln gesichert werden konnten. Die ermittelnden Polizeibeamten hatten sie übersehen oder sie nicht als Fluchformeln erkannt. Lauterbach ging zu dem Labortisch, zündete mit seinem Feuerzeug den Bunsenbrenner an und hielt die Fluchformel in die Flamme. Dabei machte er eine überraschende Feststellung. Im Vergehen des Papyrus mit der Fluchformel lösten sich die drei toten Nubier mitsamt ihren Waffen und den von ihnen hinterlassenen Blutspuren auf dem Kunststoffboden vollständig auf. Zurück blieben drei Geschosse, deren Deformationen bewiesen, daß sie keine Phantome, sondern Körper aus Fleisch und Blut getroffen hatten. Lauterbach mußte schlucken. Er kämpfte gegen seine Tränen an und sah vor seinem inneren Auge Helenes reizendes, lebendi68 �
ges Gesicht mit den ernsten Augen. Er kämpfte minutenlang gegen das Verlangen an, sich allerletzte Klarheit zu verschaffen. Dann trat er entschlossen vor den Instrumentenschrank, entnahm ihm eine Kleiderschere und kehrte damit zu der Mumie auf dem Tisch zurück. Der Deutsche setzte die Schere in Halshöhe an und hatte Mühe, durch die erhärtete bernsteingelbe Harzschicht an die Bandagenwicklung darunter zu gelangen. Nach zwanzig Minuten konnte er vorsichtig den Schnitt vorn linken Ohr, unterhalb des Kinns, hin zum rechten Ohr vorantreiben. Die Blässe der sichtbar werdenden Leichenhaut ließ das Gelb der Bandagen kräftiger erscheinen. Vom rechten Ohr schnitt Lauterbach über den Hinterkopf zur linken Schläfe. Hier zog er die harzverklebte Kleiderschere aus den Bandagen, legte sie in eine Instrumentenschale, schob vorsichtig, um Helene im Tode nicht zu verletzen, beide Zeige- und Mittelfinger in den geschnittenen Winkel und drückte ihn nach hinten um. Im grellen Lichtschein der Laborbeleuchtung wurde das bleiche Gesicht Helene Brigauds sichtbar… * Hans-Georg Lauterbach senkte in Trauer sein Haupt. Doch die sich öffnende Tür schreckte ihn auf. Abwehrbereit zog er die Smith & Wesson, richtete die Mündung auf den Eingang zum Labor und ließ perplex die Waffe wieder sinken. Ein Schauder des Grauens überlief ihn kalt. Er war doch nicht verrückt und noch in der Lage, kritisch und nüchtern zu beurteilen, ob er einer Halluzination erlegen war oder seinen Augen trauen konnte! Jawohl, er konnte ihnen noch trauen… Helene Brigaud betrat schwungvoll und anmutig den Behand69 �
lungsraum. Hinter ihr, beide Hände in die Taschen eines dunkelblauen Blazers geschoben, stand er selbst: HANS-GEORG LAUTERBACH! Lauterbach starrte erst in das von Mumienbandagen eingerahmte Gesicht der Toten und danach auf die Frau, die lächelnd näher kam. Er wischte sich mit einer fahrigen Handbewegung über die Augen. Aber das Bild blieb und erfuhr eine weitere Steigerung zum Wahnsinn hin, als der andere Lauterbach lässig die rechte Hand zum Gruß erhob und, haargenau seinen Tonfall treffend, ihm einen »schönen guten Abend« wünschte. Dann war Helene bei ihm. »Erschrecken Sie bitte nicht, HansGeorg. Wie ich befürchtete, wollte man Sie und mich töten!« »Bleiben Sie mir vom Leib«, sagte er barsch. »Wer sind Sie, und wer ist der Mann in Ihrer Begleitung, Madame?« »Ich bin Helene Brigaud. Kennen Sie mich denn nicht mehr, Hans-Georg?« fragte sie lächelnd. »Und wer ist die Leiche hier?« »Auch Helene Brigaud. Aber nicht die echte!« »Dann ist der Kerl dort auch nicht echt?« Lauterbach sah sich sein Ebenbild genau an. »Nein. Er ist auch nicht echt, sondern ein ›Nachbau‹ Ihrer selbst. Mit Hilfe der geheimen Mächte ist mir das gelungen.« »Wer immer Sie auch sein mögen«, sagte Lauterbach zweifelnd, während der andere Lauterbach grinsend neben Helene stand und die makabre Szene genoß. »Im Augenblick weiß ich selbst nicht, ob ich der bin, der zu sein ich ein Leben lang geglaubt habe. Ebensowenig weiß ich, ob Sie, Madame, tatsächlich die echte Helene sind und nicht eine Kopie aus der Trickkiste der Mumienmacher!« Er hob den Revolver wieder. »Ich denke, ich sollte ihnen beiden eine Kugel mitten ins Herz setzen. Das würde sicher beitragen, klare Verhältnisse zu schaffen!« »Aber Hans-Georg«, sagte die Frau vor ihm vorwurfsvoll. 70 �
»Warum immer gleich schweres Geschütz auffahren? Die Sache ist doch so einfach und leicht zu verstehen. Passen Sie bitte auf…« Er beobachtete argwöhnisch, wie sie in die rechte Manteltasche griff, zwei Papierröllchen hervorholte, sie ihm zeigte und dann zu dem brennenden Bunsenbrenner ging und sie verbrannte. Genauso, wie er es eine halbe Stunde vorher mit der Fluchformel getan hatte, die auf der Mumie gelegen war. Im gleichen Maß, wie diese Röllchen herunterbrannten, verschwand auch der unechte Lauterbach. Schließlich war nichts mehr von ihm vorhanden. »Drehen Sie sich um und schauen Sie auf die Mumie«, rief Helene, als ob alles ein ungeheuerer Spaß wäre. Wo eben noch das Totengesicht, umrahmt von Bandagen, gewesen war, gähnte ein Loch. In den harzgetränkten Wicklungen befand sich nicht die Spur einer Mumie mehr. Am allerwenigsten die Helenes. Den letzten Beweis dafür erhielt er, als er eine Hand in Bauchhöhe der Hülle auflegte und drückte. Das Bandagengebilde gab nach! Staunend begann der Inspektor zu begreifen. Helene beherrschte ebenfalls die Fluchformeln. Ja, mehr noch! Ihre Technik mußte der der Mumienmacher von Paris überlegen sein. Erleichtert ging er ihr entgegen, schloß sie spontan in seine Arme und küßte sie stürmisch. »Helene, Sie sind ein Teufelsmädchen. Wie haben Sie das nur fertiggebracht? Ließen Sie wirklich Ihr Ebenbild in Ihrem Haus während Ihrer Abwesenheit handeln, weil Sie einen Anschlag der Mumienmacher auf uns beide befürchteten?« »Ja, Hans-Georg. Ich merkte, daß ich beobachtet wurde und erschuf eine Kopie von mir. Ich wußte ja, daß die Kapsel Sie schützen würde. Kommen Sie bitte wir gehen ins Wohnzimmer. Um Ihnen alles zu erklären muß ich ein wenig ausholen. Außerdem 71 �
redet es sich bei einem guten Glas Wein besser…« * Helene Brigaud hob ihm lächelnd ihr Glas entgegen. »Sante, Hans-Georg. Auf unsere Freundschaft und gute Zusammenarbeit!« »Zum Wohl, Helene. Auf unsere Freundschaft, und daß sie ewig dauern möge…« Lauterbach fühlte sich wohl wie schon lange nicht mehr. Nachdem sie ihre Gläser abgesetzt hatten und die Zigaretten brannten, begann Helene mit ihrem Bericht: »Zu allererst befaßte ich mich mit den Zauberpriestern der alten Ägypter, die zum Teil als Leichenkonservierer in hohem Ansehen standen und eine Reihe altüberlieferter Fluchformeln beherrschten, von denen sie fleißig Gebrauch machten. Und das nicht nur, um ihre toten Könige in der Mastala, der steinernen Grabkiste oder in den Grabkammern der Pyramiden vor Grabräubern zu schützen. Einer von ihnen war ein Priester, Arzt und Bestatter der 4. Dynastie namens Giddaf. Ein anderer: Horsiris. Während ersterer von den Mumienmachern beansprucht wird, können wir nun zu ihrer Vernichtung auf die überlieferten Fluchformeln des Horsiris zurückgreifen.« »Das eben begreift mein Polizistengehirn nicht. Woher haben die Mumienmacher und seit neuestem auch Sie, Helène, diese Fluchformeln?« fragte Lauterbach. »Warten Sie bitte, Georg. Gleich werden Sie es wissen… Die Bestatter der alten Ägypter hatten auch das Monopol für die mannigfaltigen Grabbeilagen. Zum Beispiel wurde von ihnen und ihren Gehilfen der gesamte Hofstaat nachgebildet. Mit Tieren, Dienern, Tänzerinnen, Korn, Nilbarken, Musikern und so 72 �
weiter, damit es den toten Herrschern im Jenseits an nichts mangele und sie ihr gewohntes Leben fortsetzen konnten. So stellten die Bestatter, jedenfalls die beiden, mit denen wir es zu tun haben, auch Opfergefäße und -teller her und verzierten sie auf einer rotierenden Töpferscheibe mit einem Stichel oder sonstigen Instrumenten. Während dieser Arbeit sangen die Bestatter Lieder, Totengedichte und auch Fluchformeln, um diese nicht zu verlernen.« »Ich ahne etwas«, sagte Lauterbach und beugte sich gespannt vor. Madame Brigaud lächelte und fuhr fort: »Der Ton nicht der Töpferton ist physikalisch gesehen eine Folge rascher Luftschwingungen. Er ist bestimmt durch seine Tonstärke, Schwingungszahl und Klangfarbe. Die Fixierung der Fluchformeln erfolgte durch den Grabstichel in spiralförmig verlaufenden Rillen in der weichen Tonmasse des entstehenden Opfertellers durch die Hand des Bestatters beim Drehen der Töpferscheibe. Doch davon hatten die Zauberpriester nicht die leiseste Ahnung.« »Und in Kenntnis dieser Dinge erfanden die Mumienmacher ein dem Plattenspieler ähnliches, jedoch neuartiges Abtastsystem, einen Tonarm mit optimalen Abtasteigenschaften. Sie machten die uralten Gesänge und Fluchformeln altägyptischer Zauberpriester hörbar, indem sie einen Töpferteller oder eine Schale ähnlich einer Schallplatte abspielten«, sagte Lauterbach staunend. »Im Prinzip ja, Georg. Ist das nicht phantastisch?« »Und Sie haben das auch entdeckt?« »Ich habe überlegt und überlegt, bis ich es hatte. Dann half mir ein Tontechniker des O.R.T.F. einige Opferteller, die im Louvre aufbewahrt werden und die man Horsiris zuschreibt, abzutasten. So gelangte ich an Horsiris' Hinterlassenschaffen an Fluch73 �
formeln. Als Ägyptologin, die sich in den Hieroglyphen auskennt, fiel es mir verhältnismäßig leicht, die abgehörten Fluchformeln schriftlich zu fixieren und auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen.« »Und unter diesen Fluchformeln fanden Sie auch eine, die Menschen kopiert? Das haben Sie mir ja drastisch genug demonstriert, Helene!« »Ja, ich fand auch eine Formel, über die die Mumienmacher von Paris nicht verfügen«, sagte Madame Brigaud. »Sie wissen, daß oft die jungen, hübschen Gattinnen der verstorbenen Könige lebendig mit eingemauert wurden. Doch lange nicht alle wollten ein solches Schicksal mit dem toten Herrscher teilen. Sie ließen deshalb von kundigen Zauberpriestern Kopien ihrer selbst heraufbeschwören, die an ihrer Stelle dem Toten folgten, während sie selbst anderswo ein neues Leben begannen.« »Kennen Sie jetzt die Mumienmacher, Helene?« »Ja, einige von ihnen, Hans-Georg. Ich ging die Liste derjenigen Personen durch, von denen man weiß, daß sie über eine eigene Sammlung altägyptischer Kultgegenstände verfügen. Einer war darunter, der ein Fan der Göttin Isis und des Zauberpriesters Giddaf ist. Sein Name: Professor Richard Sibour… Er hatte vor mir die Idee, Fluchformeln durch das Abtasten von Kultgegenständen hörbar zu machen und sie skrupellos anzuwenden. Doch war seine Ausbeute so karg, daß er die gewonnenen Fluchformeln nur in Verbindung mit einer Mumie wirksam werden lassen konnte. Wir müssen also befürchten, daß für die Entstehung des Riesenskarabäus, des Riesenfalken und des heiligen Ibis ebenso Menschen sterben mußten und mumifiziert wurden wie in den Fällen Roger Sully und Carina«. »Wissen Sie, ob Professor Sibour auch das Oberhaupt der Sonnenanbeter ist, Helene?« »Sie denken an Ihre Tochter Gesine, Hans-Georg. Ich vermute 74 �
es. Denn gelegentlich läßt er sich von Kollegen Hormachis nennen. Hormachis war der ägyptische Sonnengott, der zumeist als Falke dargestellt wurde. Doch halte ich es für nicht ausgeschlossen, daß Sibour selbst nur ein willenloses Werkzeug in der Hand einiger Verbrecher ist.« »Das werde ich bald festgestellt haben«, sagte Lauterbach grimmig. »Wo wohnt Sibour? Ich werde ihm einen Besuch abstatten und herausfinden, was mit unseren Kindern Ervin und Gesine passiert ist.« »Professor Sibour bewohnt ein altes Schloß bei Malesherbes.« »Das ist doch kaum zehn Kilometer von der Höhle im Foret de Villefermoy entfernt! Jetzt wird mir einiges klar. Gleich morgen früh werde ich –« »Warum Sie oder Inspektor Rohan oder ich, Hans-Georg?« unterbrach Helene ihn lächelnd und goß Wein nach. »Schicken wir doch einige Kopien von uns vor und sehen wir uns alles erst einmal von einer höheren Warte aus an…« * Aristide Sibour steuerte seinen Lamborghini-Sportwagen vorsichtig über die alte Zugbrücke in den Innenhof des malerischen Wasserschlosses und ließ ihn über das Kopfstein-Pflaster bis vor das Portal rollen. Der junge Sibour war sehr nervös und ungeduldig. Er jagte die Treppe zum Portal des Haupthauses hinauf und fauchte gleich einen livrierten Diener an, der gerade ins Freie trat: »Wo ist mein Vater, Ernest?« Das Halunkengesicht des Dieners verzog sich. »Der Herr Professor haben sich zur Andacht in den Tempel zurückgezogen, junger Herr. Hat es Ärger gegeben?« »Das erfährst du noch früh genug«, knurrte Aristide und betrat 75 �
die weite Halle, deren Wände mit kostbaren Gobelins mit Jagdmotiven geschmückt waren. Aristide eilte durch die geflieste Halle, bog in einen dunklen Gang ein und gelangte in ein Erkerzimmer, in dem eine Wendeltreppe nach unten führte. Aristide ging die Stufen abwärts. Nach genau vierundzwanzig Windungen der Treppe befand er sich in einem unterirdischen Labyrinth aus Gängen und Höhlen, das bis zur Höhle von Villefermoy und weiter bis zu den Katakomben von Paris reichte, was aber niemand wußte. In Schloßnähe wurden die feuchten Gänge von elektrischem Licht notdürftig erhellt. Die modrige Luft legte sich schwer auf seine Lunge. Nachdem Aristide hundert Meter gegangen war, hörte er monotones Flötenspiel, begleitet von mehreren Tamburinen, und Wechselgesänge, die brausend anschwollen. Er öffnete eine schwere Eichentür und betrat den Tempelraum. Blauer Rauch, der von Räucherstäbchen vorn am Altar ausging, lag über dem Saal. In einem höherstehenden Thronsessel saß ein Mädchen, als Göttin Isis hergerichtet, und hatte eine goldene Sonnenscheibe zwischen den Händen. Vor dem Altar kniete Aristides Vater im Gewand altägyptischer Priester. Beide Hände hatte er beschwörend erhoben. Die Gemeinde bestand aus einem halben Dutzend Gildenmitgliedern, die ebenfalls ägyptisch gekleidet waren. Sie waren es, die zu der eintönigen Musik sangen. In großer Zahl waren mumifizierte Katzen, Falken, Schlangen und steinerne Sarkophage zu sehen. Ein muskulöser Mann im blauen Wickelrock der Tempelwächter trat aus der Dämmerung zu Aristide. Er hatte die rechte Hand um den Griff seines Dolches gelegt. »Warum erscheinst du zur unpassenden Zeit und nicht in den Gewändern der Gilde, Bruder Hussein?« zischte er ärgerlich. 76 �
»Erspare mir wenigstens jetzt den Sermon«, entgegnete Aristide leise. »Ruf mir den Alten her! Ich warte nebenan. Und macht euch mit dem Gedanken vertraut, daß es Ärger geben wird!« Der Mann mit dem Dolch vergaß seine Rolle als Tempel Wächter. »Verdammt noch mal«, stieß er hervor. »In fünf Minuten endet die Andacht. Ich sage deinem Vater dann Bescheid. Ein Wort noch, Aristide. Ist die Gilde, die Gemeinde in Gefahr?« »Ach wo! Es sind Nachwirkungen von Boucharts Unachtsamkeit. Übrigens, warst du gestern nachmittag in Brigauds Haus dabei?« »Warum fragst du, Aristide? Ich bin doch immer dabei. Mit diesen Händen habe ich Madame Brigaud erwürgt, sie geöffnet und zusammen mit Moreau einbalsamiert. Es gab überhaupt keine Schwierigkeiten. Im Gegenteil, alles war leichter als sonst, weil wir in ihrem Labor alles gleich zur Verfügung hatten.« »Und der Fluch hat drei nubische Krieger entstehen lassen, als dieser deutsche Polizeiinspektor die Mumie sah?« »Wie beabsichtigt, Aristide. Die Nubier aus dem Dämonenreich haben den Deutschen fertiggemacht!« »So, haben sie das?« fragte der junge Sibour spöttisch. »Dann möchte ich nur allzugern wissen, wen ihr gestern im Haus Madame Brigauds einbalsamiert habt und wen die drei Nubier töteten wenn überhaupt! Ich habe nämlich Madame Brigaud und Monsieur Lauterbach vor zwei Stunden Arm in Arm über die Esplanade des Invalides flanieren sehen!« Vor Verblüffung fiel dem Tempelwächter das Kinn herunter. Dann grinste er. »Du willst mich anschmieren, Aristide. Ich glaube dir nicht. Als Metzger, der die Schlachthöfe von Paris wie kein zweiter kennt, ist und bleibt tot, was ich mit –« »›diesen Händen totgemacht habe‹«, führte Aristide wütend den Satz zu Ende. Er machte kehrt, verließ den Tempel und suchte einen Nebenraum auf, in dem Kultgefäße, goldenes Tafel77 �
geschirr, Papyrus- und Pergamentrollen, Leinenballen und vieles andere mehr aufbewahrt wurden. Hier wartete er auf seinen Vater. »Ich habe es schon von Blix vernommen«, jammerte der Alte weinerlich, als er fünf Minuten später den Raum betrat und sich auf einen Stuhl fallenließ. »Schuld allein bist du, Aristide. Du hast die Götter erzürnt, indem du die geheimen Mächte aus Gewinnstreben verweltlicht und mißbraucht hast!« »Rede keinen Unsinn, du Narr«, fuhr Aristide seinen Vater an. »Solange ich denken kann, hast du den Löwenanteil kassiert, um hier eine Tiermumie, dort eine alte Schriftenrolle für deine Privatsammlung zu erstehen. Durch dich allein haben wir erst den Ärger. Du hattest Alix Bouchart eine pompöse Feuerbestattung auf Biegen und Brechen zugedacht, während ich ihn mit fünfzig Kilo Eisen am Bein still und heimlich im See verschwinden lassen wollte. Jetzt möchte ich von dir wissen, Vater, wie es zu dieser Panne kommen konnte. Hat Mme. Brigaud, die ja Ägyptologin ist, einen Gegenzauber gefunden?« »Ich kann es nicht glauben, ich kann es einfach nicht glauben«, jammerte der Professor verstört. »Vielleicht habe ich die Fluchformel nicht exakt genug niedergeschrieben. Soll ich eine neue…?« Sibour kicherte plötzlich entzückt und rieb sich betulich die Hände. »Ich könnte die Hölle gegen unsere Widersacher mobilisieren. Hunderte von Riesen-Skarabäen, einen Strom giftigen Gewürms. Ich könnte den Himmel mit Heuschreckenschwärmen verdunkeln, mit Heuschrecken, jede so groß wie ein Männerarm. Sie würden binnen weniger Tage Paris aufgefressen und nur die nackten, von ihrem Kot überzogenen Hausruinen zurückgelassen haben!« »Hör auf damit«, sagte Aristide ärgerlich. »Wir müssen zur Abwechslung zu ganz gewöhnlichen Mitteln greifen, um von uns abzulenken. Zuerst muß das Mädchen weg!« 78 �
»Du kannst der Gemeinde nicht die Göttin nehmen«, jammerte Richard Sibour erneut. »Das Schicksal selbst hat sie mir zugeführt!« »Zufall, purer Zufall, Vater, und ausgerechnet die Tochter eines Polizisten und den Sohn einer Ägyptologin«, sagte Aristide. »Von jetzt an wird getan, was ich für richtig halte. Moreau und Blix staffieren das Mädchen als Gammlerin aus, schieben ihr einige Gramm Haschisch in die Taschen und setzen sie in Paris irgendwo am Seineufer ab. Verraten kann sie uns nicht, da sie ständig unter Drogeneinfluß stand. Jeder Polizist wird annehmen, das Mädchen stromere schon die ganzen Wochen durch Paris. So und nicht anders wird es gemacht, Vater! Oder möchtest du, daß man diese Gesine hier im Schloß findet? Sie brauchen nur mit Suchhunden zu kommen, und schon ist der Ofen für uns aus.« »O nein, nur das nicht«, jammerte der Professor händeringend. »Mach es so, wie du gesagt hast. Unsere Lage darf sich nicht noch weiter verschlechtern. Ich habe noch Großes vor!« »Ja, Vater. Ich weiß. Ich wußte, daß du zur Vernunft kommen würdest«, sagte Aristide. »In einer halben Stunde ist das Mädchen auf dem Weg nach Paris. Ich gehe jetzt nach oben und sage Moreau Bescheid. * Zwei Stunden später betrat der livrierte Diener Ernest den Speisesaal, wo Professor Sibour und sein Sohn gerade zu Mittag aßen. »Was gibt es, Ernest?« fragte Aristide. »Du machst ein Gesicht, als ob du in der Lotterie gewonnen hättest.« »Das gerade nicht, junger Herr, aber so ist es auch nicht schlecht«, erklärte Ernest. Er senkte die Stimme und raunte ver79 �
traulich: »Was denken Sie, wer draußen um Einlaß bittet?« »Entweder speisen wir, oder wir spielen Quiz«, sagte Aristide ungehalten. »Sagen Sie schon, wer es ist!« »Madame Brigaud und Monsieur Lauterbach bitten den Professor um eine Auskunft über ihre vermißten Kinder.« Ernest strahlte. »So, so«, sagte Aristide. »Sind die Herrschaften allein?« »Jawohl, junger Herr. Keine Polizei. Nichts. Sie ermitteln auf eigene Faust. Hätten wir es besser treffen können?« »Was soll ich ihnen sagen?« fragte der alte Sibour unbehaglich. »Du heißt Hase und weißt von nichts, Vater«, antwortete Aristide. »Führe deine Gäste in die Bibliothek und laß sie vor deinem Schreibtisch Platz nehmen. Du weißt, die Falltür dort!« »Sie denken an das Säurebad, junger Herr«, sagte Ernest. »Du hast es erfaßt«, bestätigte Aristide. »Wenn feststeht, daß kein Mensch vom Besuch der beiden hier etwas weiß, werden wir sie töten. Damit wäre die größte Gefahr gebannt. Ernest, führe die Herrschaften in den kleinen Salon, biete ihnen eine Kleinigkeit an und sage ihnen, daß der Professor gleich zu ihrer Verfügung stehen wird.« »Jawohl, junger Herr.« Der Diener verbeugte sich und verließ den Speisesaal. Als Professor Sibour nach zehn Minuten den kleinen Ecksalon des Südturms betrat, eilte er herzlich lachend auf Helene Brigaud zu. »Welch eine Freude, Madame, Sie, die kundige Ägyptologin, in meinem Hause begrüßen zu können. Wahrhaftig, ich erhoffe mir von Ihrem Besuch wichtige Anregungen für meine altägyptische Sammlung.« Er wandte sich an Lauterbach: »Sie sind ein Kollege von Madame, Monsieur?« »Nein. Ich bin Polizist«, sagte Lauterbach kühl. »Wir hoffen, von Ihnen etwas über den Verbleib unserer Kinder Ervin und 80 �
Gesine zu erfahren. Die Spuren der beiden führten uns in die Höhle im Foret de Villevermoy.« Sibour sah hilflos von Lauterbach auf Madame. »Ich verstehe nicht, Monsieur, wie Sie zu der Ansicht gelangten, daß ich, ausgerechnet ich, ein versponnener alter Sonderling, wissen sollte, wo ihre unartigen Kinder geblieben sind.« »Wir haben Grund zu der Annahme, daß der Riesenskarabäus, der vor ein paar Tagen in einem Metrotunnel von einem Zug getötet wurde, aus der Höhle von Villefermoy stammte und seine Existenz Ihnen, Herr Professor, verdankte«, sagte Helene Brigaud. »Sie bezichtigen mich also, mit geheimen Mächten im Bund zu sein, Madame, und glauben, daß ich den Skarabäus, von dem ich gelesen habe… aber was stehen wir hier herum? Kommen Sie doch bitte in die Bibliothek nebenan. Dort sitzt es sich bequemer. Ich darf vorausgehen?…« Sibour öffnete die hohe Flügeltür und betrat die Bibliothek. Vor dem rechten Fenster, quer zur Ecke, stand ein großer Schreibtisch mit zwei bequemen Sesseln und einem Rauchtisch davor. »Nehmen Sie doch bitte Platz, meine Herrschaften«, sagte der Professor liebenswürdig und begab sich selbst hinter den Schreibtisch, wo er sich umständlich auf einem Stuhl mit hoher Rückenlehne niederließ. Nachdem seine Besucher sich ebenfalls gesetzt hatten, sagte er: »Angenommen, dieser Skarabäus wäre mein Werk. Ich will nicht abstreiten, daß es mir gelingen könnte, ein solches Tier zu erschaffen, aber es erhebt sich die Frage, ob ich für das Tier, wenn es sich meiner Kontrolle entzogen hätte, verantwortlich wäre.« »Sie sind und bleiben für Ihre Kreaturen und für den Tod unschuldiger Menschen verantwortlich«, sagte Lauterbach hart. »Dann gehen Sie doch zur Polizei, und zeigen Sie mich an, 81 �
wenn Sie das glauben, Monsieur!« »Wir brauchen nicht die Polizei und andere ungläubige Ignoranten. Wir helfen uns selbst, Professor«, sagte Madame heftig. Sibours Augen leuchteten auf. Seine rechte Hand tastete nach dem Knopf unterhalb der Schreibtischplatte und drückte ihn nieder. Es gab einen harten Schlag, worauf seine Besucher durch die Falltür, die sich geräuschvoll entriegelt hatte, fünf Meter tief auf eine steil abwärts führende, glatte Rutsche fielen. Ein langgezogener, schaurig nachhallender Schrei ertönte, als die beiden in die Tiefe rutschten. Sie fielen in ein kreisrundes Bassin aus Edelstahl, das zu zwei Dritteln mit rötlich rauchender Salpetersäure angefüllt war. Nach einer halben Stunde hatten sich die Opfer aufgelöst. Aristide und Ernest sahen sich an, als das Telefon im rückwärtigen Teil des gekachelten Gewölbes klingelte. Der junge Sibour ging an den Apparat und meldete sich. Sein Vater war am anderen Ende der Leitung und krächzte: »Ich habe Besuch, Aristide. Madame Brigaud und Monsieur Lauterbach. Sie – sie bitten mich um Auskunft über ihre vermißten Kinder…« Aristide zog den rechten Handschuh aus und fuhr sich mit den Fingern hinter die anliegende Halsmanschette seines Schutzanzugs. Im Licht der Sicherheitslampen wirkte sein Gesicht totenblaß. Er schluckte mühsam, bevor er heiser entgegnete: »Ich komme sofort, Vater. Halte die beiden fest! Wir sind gleich oben…! * »War etwas?« fragte Ernest Aristide, der gerade den Hörer einhängte. 82 �
»Zieh deinen Schutzanzug aus«, befahl der junge Sibour. Er selbst war schon dabei, aus seinem Anzug zu schlüpfen und die Schutzbrille abzunehmen. Kaum war er damit fertig, trat er vor einen Stahlschrank, öffnete ihn und entnahm ihm aus einem größeren Sortiment an Feuerwaffen zwei Maschinenpistolen, von denen er eine an den Diener weitergab. Ernest erbleichte. »Ist die Polizei im Schloß, junger Herr?« »Keine Polizei«, knurrte Aristide. »Mein Vater behauptet, Madame Brigaud und Monsieur Lauterbach seien oben bei ihm wegen ihrer vermißten Kinder.« »Aber das ist doch unmöglich! Wir haben sie doch gerade erst…« »Natürlich, haben wir. Ich vermute, es sind Schwindler, die meinen Vater erpressen wollen.« »Oder wir haben einen Mann und eine Frau umgebracht, die sich für die Brigaud und den Deutschen ausgegeben haben.« »Das werden wir gleich wissen!…« Mit diesen Worten betrat Aristide eine enge Liftkabine neben dem Waffenschrank, wartete bis Ernest zugestiegen war und drückte dann den Knopf zum Erdgeschoß. Wenig später hielt der Lift in einem Musikzimmer hinter einer Bücherwand, die lautlos nach vorn glitt, als Aristide und Ernest den Korb verlassen hatten. Aus dem Musikzimmer stürmten die beiden den halbdunklen Flur entlang in den kleinen Salon. Ihr kriegerisches Erscheinen rief bei der hübschen Dame und dem Herrn in ihrer Begleitung höchstes Befremden hervor. Professor Sibour, ein Häufchen Elend, stand am Fenster und versuchte, seine stark zitternden Hände zu verbergen. »Ist es Sitte hier, Ihre Gäste mit der Maschinenpistole im Anschlag zu empfangen, Monsieur Sibour?« fragte Lauterbach scharf. 83 �
Aristide antwortete nicht. Die Schultern hochgezogen und vor Furcht fast gelähmt in seinen Bewegungen, umrundete er Lauterbach und Helene Brigaud. Jawohl, sie waren es! Es konnte keine Zweifel geben. Sie trugen noch dieselbe Oberbekleidung wie am Vormittag in Paris, als er sie gesehen hatte. Seine Nackenhaare stellten sich hoch. »Sagen Sie uns, was Sie mit unseren Kindern gemacht haben, Professor«, flehte Helene Brigaud. »Ist das Madame Brigaud?« fragte Aristide seinen Vater. Der Professor nickte. »Ich bin mir dessen absolut sicher. Ich habe oft mit ihr im Louvre gesprochen.« Aristide sah Ernest neben der Tür bedeutsam an und sagte dann zu seinem Vater: »Tritt zur Seite!« »Was haben Sie vor?« rief Lauterbach. Er machte einen Schritt auf den jungen Sibour zu. Das hämmernde Stakkato der Maschinenpistole in Aristides Händen warf ihn jedoch jäh zurück. Die zweite Maschinenpistole fiel ein. In rasender Folge hüpften die leeren Patronenhülsen aus den Waffenkammern. Die Detonationen der Viererserien mischten sich in die Todesschreie der Opfer. Madames weiße Sommerbluse färbte sich rot. Lauterbachs grauer Flanellanzug wurde durch eine von der Hüfte bis zum Kinn hochgezogene Geschoßgarbe zerfetzt. Plötzliche Stille… Die Gangster hatten ihre Munition verschossen. Ihre Opfer lagen vor der von Kugeln aufgerissenen Sitzgruppe tot übereinander. In die Stille nach dem Massaker tönte heiser die Stimme des Professors: »Mußte das sein, Aristide? Hast du nicht die Kontrolle über dich selbst verloren?« »Ich war noch nie so beherrscht wie gerade in diesen 84 �
Minuten«, sagte Aristide. Er warf die Maschinenpistole in einen Sessel und wischte sich die Hände an der Hose ab. »Es mußte sein, Vater«, versuchte er zu erklären. »Oder möchtest du auf der Guillotine enden?« »Natürlich nicht, mein Sohn! Ich meinte nur, daß es feinere Mittel gibt Aristide hörte nicht mehr hin, was sein Vater in seiner Angst noch alles von sich gab. »Sorge dafür, daß die Leichen verschwinden, Ernest«, befahl er dem Diener und wandte sich der Tür zu. Hier stieß er fast mit Blix zusammen, dessen Gaunervisage zu einer Fratze verzerrt war. Er war es gewesen, der vor knapp einer Viertelstunde Helene Brigaud und Lauterbach an der Pforte empfangen und in den kleinen Salon geführt hatte. Daß die Besucher in ihrem Blut hier nun vor ihm lagen, schien ihn nicht zu bewegen. Es mußte etwas anderes sein! »Madame Brigaud und Monsieur Lauterbach bitten, den Herrn Professor sprechen zu dürfen. Es ist wegen ihrer Kinder«, würgte er hervor. »Wo – wo sind sie?« keuchte Aristide wie von Sinnen und zog ein Schnappmesser aus der Tasche; wie ein Blitz zuckte die Klinge heraus. »In der Halle«, flüsterte Blix und ließ sich einfach in den nächsten Sessel fallen. Mit einem irren Aufschrei stürmte Aristide auf den Flur hinaus und über den langen Korridor in die Halle. Zwei Meter vor dem Besucherpaar blieb er stehen und starrte ihnen voller Haß ins Gesicht. Als er Madame sagen hörte: »Eigentlich hätten wir lieber den Professor gefragt, was er mit unseren Kindern gemacht hat«, sprang er auf sie zu und rammte Madame Brigaud die Klinge direkt ins Herz. Mit einer Behendigkeit, die man ihm kaum zugetraut hätte, zog Aristide das Messer aus der Wunde, die gleich stark zu blu85 �
ten begann, und trieb die Klinge auch Lauterbach ins Herz. In diesem Augenblick wurde draußen vor dem Portal der schwere Bronzeklopfer bewegt. Dumpf hallten die Schläge durch das Haus. Wie von einer unsichtbaren Macht gezwungen, taumelte Aristide zum Portal und zog eine der schweren, eisenbeschlagenen Flügelhälften auf. Im hellen Schein der Nachmittagssonne standen vor ihm, modisch gekleidet und auf ihn einen durchaus gesunden Eindruck machend, Madame Brigaud und Monsieur Lauterbach! »Melden Sie uns bitte Ihrem Vater, dem Herrn Professor«, sagte Madame mit einem Lächeln. »Wir möchten ihn fragen, was er mit unseren Kindern gemacht hat…« * »Der Junge ist geschafft«, sagte zur selben Minute der echte Hans-Georg Lauterbach voller Genugtuung zur echten Helene Brigaud, ohne das Prismenglas von den Augen zu nehmen. Sie hatten auf einem Hochsitz Posten bezogen, von dem aus sie einen Teil des Innenhofes des Chateau Malesherbes mit dem Portal des Haupthauses sehen konnten. Von hier aus hatten sie das Geschehen dort verfolgt. Das vierte Paar, Kopien ihrer selbst, versetzte Aristide dermaßen in Panik, daß er sich ruckartig herumwarf, ins Haus flüchtete und das Portal schloß. »Haben Sie sein Gesicht gesehen, Hans-Georg? Es war das eines Wahnsinnigen.« Helene neben ihm erschauerte und sah dann wieder durch ihr Glas auf das Schloß hinunter. »Soll ich die Fluchformeln verbrennen?« »Nur die, mit der das letzte Paar stofflich wurde«, sagte der Inspektor. »Es steht jetzt sowieso verloren auf dem Hof herum. Mit den anderen warten wir, um nachher an ihnen zu sehen, welches 86 �
Schicksal uns von der Gilde zugedacht war.« Helene zog ein Feuerzeug und die letzte Fluchformel aus einer Tasche ihrer Lederjacke, suchte eine windgeschützte Ecke des Hochstands auf und verbrannte die Formel, während Lauterbach die Auflösung ihrer Kopien im Innenhof des Chateaus verfolgte. Als Helene wieder zu ihm trat, sagte er: »Sie haben sich in Luft aufgelöst, als ob es sie nie gegeben hätte. Haben Sie mal daran gedacht, Ihren Jungen, Ervin, als Kopie entstehen zu lassen, Helene?« »Ja, den Gedanken habe ich erwogen«, antwortete Helene leise und fuhr sehr bestimmt fort: »Ich werde es nie tun, weil ich es als Sünde empfinden würde. Ich möchte Ervin so in Erinnerung behalten, wie ich ihn zuletzt sah. Wenn alles vorüber und zu einem guten Ende gekommen ist, werde ich versuchen, mein Wissen über die Realisierung von altägyptischen Fluchformeln zu vergessen.« »Was werden Sie dann tun, Helene?« »Auf Sie warten, Georg«, sagte sie schlicht und sah ihn an. Er ergriff ihre Hand und küßte sie. Als er wenig später das Glas wieder an die Augen hob, sagte er erregt: »Soeben kommt der junge Sibour mit zwei Männern aus einem Nebengebäude. Der Sportwagen ist ihr Ziel. Sie haben schwere Metallkoffer in der Hand.« »Der Professor ist nicht unter ihnen«, ergänzte Helene. »Auch von Gesine keine Spur. Es sieht ganz so aus, als ob diese Männer flüchten wollten. Sollen wir nicht die Polizei verständigen?« »Nein, Chérie. Wenn wir die Mumienmacher weiterhin in Panik versetzen wie bisher, töten sie vielleicht Gesine. Wir lassen sie ungehindert abziehen und dringen dann ins Schloß ein. Im Augenblick macht mir etwas anderes Sorge. Die beiden Schloßtürme, siehst du die Luken unter den Dachhauben?« »Ja, Georg. Zwei Riesenfalken hocken dort. Sie werden uns an87 �
greifen, sobald wir uns dem Schloß nähern. Die Gilde sichert so ihren Abzug.« »Wenn wir vom Hochsitz herunter sind, verlängern wir die Chromkette der Kapsel zur Abwendung von Schadzauber mit deiner Collier-Kette und hängen sie uns beide gemeinsam um. Dann können uns die Biester nichts anhaben und ich bin mit dir verbunden«, sagte er grinsend. »Im übrigen besitzen wir ja noch unsere Maschinenpistolen und Handgranaten. Der Lamborghini mit den drei Ganoven rollt gerade vom Innenhof über die Zugbrücke zur Straße vor. Komm Helene, sehen wir uns dort unten um…« Seite an Seite näherte sich das Paar eine halbe Stunde später durch die von hohen Pappeln gesäumte Privatstraße der Zugbrücke zum Schloß. Der Angriff der Riesenfalken erfolgte nicht überraschend für sie. Er war jedoch ungewöhnlich. Hintereinander rasten sie im Tiefflug von der Zugbrücke aus heran. Schon glaubte Lauterbach, ihr Abwehrzauber würde versagen, so bedrohlich nah waren die Riesenvögel, als deren Sturzflug wie abgeschnitten endete. Wild mit den Flügeln schlagend, stürzten sie zu Boden. Vorsichtig führte Lauterbach Helene an den zuckenden Vogelleibern vorbei und tötete dann die Tiere mit zwei kurzen Feuerstößen aus seiner Maschinenpistole. Ungehindert konnten sie nun über die Zugbrücke den Wassergraben überqueren und in den Schloßhof vordringen. Während sie ihre Umgebung im Auge behielten, näherten sie sich dem Haupthaus und gingen die Stufen hinauf. Lauterbach stieß den rechten Portalflügel mit dem Lauf seiner Maschinenpistole auf. Knarrend glitt die schwere Tür zurück. Sie betraten die Halle. Nachdem ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, bemerkten sie die in ihrem Blut schwimmenden Kopien, die 88 �
so echt aussahen, daß Helene für den Bruchteil einer Sekunde glaubte, mit Georg dort tot zu liegen. »Das dritte von uns losgeschickte Paar«, murmelte Lauterbach betroffen. »Vielleicht sollten wir doch…« »Ich habe die Fluchformel schon in der Hand«, sagte Helene und verbrannte den Papyrusstreifen mit ihrem Feuerzeug. Sie warteten, bis sich ihre Ebenbilder aufgelöst hatten. Dann setzten sie ihren Weg fort und gelangten zu dem kleinen Salon. Lauterbach öffnete vorsichtig die Tür. Sein breiter Rücken versperrte Helene den Blick auf das grausige Bild. Ein Blutbad! Sich selbst im eigenen Blut zerschossen und zerfetzt liegen zu sehen, war ein Schock, dem nicht viel andere folgen durften. Er schloß die Tür von außen, drehte sich zu Helene um und sagte: »Erspare dir den Anblick, Helene! Der Kleidung nach liegt das zweite Paar hinter dieser Tür.« Helene sah ihn dankbar an und verbrannte die zweite Fluchformel. Damit wurde der kleine Salon wieder so sauber, als sei nichts geschehen. Die Stille im Schloß hatte etwas Beklemmendes an sich. Vorsichtig durchsuchten Lauterbach und Helene Brigaud die Zimmer links und rechts des Korridors. Als der Deutsche irgendwann die Tür zur Bibliothek öffnete, kam Bewegung in den Szenenablauf. Auf dem grauen Teppichboden lag Professor Sibour. Der Griff eines Schnappmessers ragte aus seiner Brust. Aber der Professor lebte noch. Trotz der Verletzung Sibours riß Lauterbach den Professor an den Jackenrevers vom Boden hoch und warf ihn in einen Sessel. Er umkrallte seine Schultern mit beiden Händen und schrie: »Du Halunke! Ich kenne dich von der Nilbarke her! Was hast du mit meinem Kind und ihrem Freund gemacht?« »Ich – ich«, röchelte der Alte mit letzter Kraft. 89 �
Lauterbach schüttelte ihn heftig. »Rede!« »Aristide, mein Sohn, hat…« krächzte Sibour. »Was hat Aristide?« schrie Lauterbach unbeherrscht. »In Paris…« Sibour keuchte heftig. »Wo in Paris?« fragte Helene, die neben Lauterbach getreten war und Georgbesänftigend eine Hand auf den Arm legte. »Ich werde euch die Adresse geben. Helft mir, aufzustehen«, flüsterte Sibour. Lauterbach zog den Professor hoch. Der Alte bot ein Bild rapiden Verfalls. Schwankend wischte er sich mit dem Handrücken Speichel und Blut von den Lippen und sah dann mit einem abgeklärten Lächeln auf das Messer in seiner Brust. Sobald es herausgezogen wurde, war es aus mit ihm. Das wußte auch er. Sibour taumelte zum Schreibtisch. Lauterbach und Helene bemerkten erst jetzt das schwarze Viereck davor, auf das sich der Alte unter Aufbietung seiner letzten Kräfte plötzlich sehr rasch zubewegte. Sofort flog Lauterbach ihm im Hechtsprung nach. Aber der Stoff der leichten Hausjacke, die er zu fassen bekam, riß in seiner Hand, und der Professor konnte sich kopfüber in den Schacht stürzen… »Diesen Weg muß auch das erste Kopie-Paar gegangen sein«, flüsterte Helene bleich und drängte sich schutzsuchend an Lauterbach. In einem der oberen Räume fanden die beiden im Verlauf ihrer Suche nach Gesine das zertrümmerte Abtastgerät für die alten ägyptischen Opfergaben aus Keramik. Lauterbach vermutete, daß der alte Sibour die Apparatur zerstört hatte, um zu verhindern, daß sein Sohn weiterhin mit Fluchformeln Verbrechen beging. Daraufhin hatte Aristide seinem Vater wohl das Schnappmesser in die Brust gestoßen. In den Kellergewölben stießen sie dann auf das Säurebad, wo 90 �
Helene die letzte Formel verbrannte. Es ging bereits auf 21.00 Uhr zu, als Lauterbach und Helene Brigaud den Tempel fanden und hier eine grausige Entdeckung machten. Ein halbes Dutzend Gildenmitglieder und Sonnenanbeter hatte den Freitod gewählt und sich von geflüchteten Gleichgesinnten zu Mumien herrichten lassen, die in steinernen Sarkophagen lagen allerdings ohne Fluchformeln. In einer kleinen Kammer entdeckte Lauterbach schließlich die ersten Anzeichen dafür, daß Gesine hier festgehalten worden war. Unter dem Kopfkissen des schmalen Feldbetts fand er einen silbernen Freundschaftsring, der zweifellos seiner Tochter gehörte. Lauterbach steckte den Ring in seine Tasche und sagte erschüttert: »Sie haben meine Kleine fortgeschafft. Wahrscheinlich nach Paris, wie Sibour andeutete.« »Gesine befand sich aber nicht unter denen, die mit dem Sportwagen das Schloß verließen«, sagte Helene mitfühlend. »Ich erkenne eine Frau oder ein Mädchen in Männerkleidern sofort!« »Wenn, dann ist Gesine auf einem anderen Weg von hier fortgebracht worden«, überlegte der Inspektor. »Vielleicht hängen diese unterirdischen Gänge mit den Pariser Katakomben und mit der Höhle im Foret de Villefermoy zusammen. Die Weitersuche hier im Schloß überlassen wir der Polizei. Wir fahren nach Paris zurück.« »Ja, Georg. Das dürfte wohl das Beste nach diesem schrecklichen Tag sein«, sagte Helene müde. * Inspektor Rohan saß in Gedanken versunken in seinem Büro, als sich die Tür öffnete. »He, das nenne ich aber eine Überraschung«, sagte er, als er 91 �
den ›Brester Paul‹ vor sich sah. »Wollen Sie mich nicht hereinbitten, Inspektor?« fragte der Clochard. »Nur zu, Paul…« Gaston ließ den Clochard eintreten. Sofort steuerte dieser den Sessel vor dem Schreibtisch des Inspektors an und ließ sich hineinfallen. Er zog eine fast leere Wermutflasche hervor und betrachtete sie anzüglich. Rohan verstand den Wink. Er holte eine Flasche besten Dreistern-Cognacs aus seinem Schreibtisch und goß Paul ein Zahnputzglas voll ein. Das Gesicht des Clochard verklärte sich. Er nahm vorsichtig das Glas, probierte genießerisch den ersten Schluck und kippte dann ruckartig den Rest. »Selten so ein gutes Frühstück gehabt, Inspektor.« Er blinzelte listig. »Glauben Sie aber nicht, Sie könnten sich vor Ihren Schulden drücken, indem Sie mir noch ein Gläschen anbieten, wogegen ich gar nichts hätte.« »Schulden? Ach so, du meinst die hundert Franc, die ich dir versprochen habe für den Fall, daß deine Informationen in Sachen Mumienmacher etwas taugten.« Rohan zog seine Brieftasche heraus, nahm einen Hundertfrancschein und gab ihn Paul. »So, jetzt sind wir quitt« Paul schob den Geldschein in eine Tasche seiner Felljacke, wobei er bemerkte: »Stecken Sie Ihre Brieftasche nicht zu weit fort, Inspektor. Könnte sein, daß Sie noch einen Lappen locker machen müssen. Wen haben wir denn da?…« Ungeniert nahm Paul eines der Fahndungsfotos von Gesine vom Schreibtisch. Die Suche nach dem Mädchen, wie auch nach Aristide Sibour und dessen Komplicen, dauerte schon Tage. Sie war aber bisher ohne Erfolg geblieben. Paul besah sich das Foto genau. Dann sagte er zögernd: »Die Kleine habe ich vor ein paar Tagen gesehen.« 92 �
Rohan kam hinter seinem Schreibtisch hervor, goß Paul ein zweites Glas ein und sagte erregt: »Mensch, rede schon! Wann und wo hast du Gesine gesehen? Es ist die Tochter meines deutschen Kollegen. Gesine befand sich in der Hand der Mumienmacher. Wir suchen sie in ganz Paris wie eine Stecknadel!« »Vor drei Tagen«, sagte Paul. »Ein bulliger Kerl führte das Mädchen, das sich wie in Trance bewegte, zu dem Poller in der Nähe meines Liegeplatzes.« »Und dann?« drängte Rohan. »Ja, und dann? Der Kerl ging davon. Das Mädchen setzte sich auf den Poller und starrte in die Seine, als ob es die paar Fische, die es in ihr noch gibt, hypnotisieren wolle. Ich bin dann eingeschlafen. Als ich wieder wach war, keine Spur, mehr von dem hübschen Kind.« »Würdest du den Kerl, der das Mädchen offenbar in hilflosem Zustand auf dem Seine-Quai zurückgelassen hat, wiedererkennen, Paul?« »Ganz gewiß, Inspektor. So ein Feuermeldergesicht, wie der hatte, vergißt man nicht so schnell.« »Gut! Dann werden wir jetzt gemeinsam die Verbrecheralben wälzen, Paul«, entschied Rohan. »Vielleicht haben wir den Burschen in der Kartei…« Rohan gab per Telefon die notwendigen Anweisungen, versuchte mehrmals seinen Kollegen Lauterbach in dessen Hotel zu erreichen und sagte zu Paul, als dies nicht gelang: »War da nicht noch etwas, Paul? Du sagtest, ich solle meine Brieftasche… Du weißt, ein guter Tip ist mir immer ein paar Franc wert.« Der Clochard kicherte vergnügt. Dann wurde er ernst und flüsterte: »Ich habe gehört, daß die Mumienmacher noch drei Fluchfor93 �
meln, sozusagen aus Restbeständen, zur Verfügung haben und an einer ganz tollen Kiste basteln, bevor sie sich nach Südamerika absetzen wollen.« »Details, Paul«, mahnte Rohan. Der Clochard machte ein betrübtes Gesicht. »Jetzt muß ich passen, Inspektor. Einzelheiten weiß ich nicht…« * An einem Vormittag in diesen Tagen kehrte der Privatbankier Baron de Cluny mit seiner derzeitigen ständigen Begleiterin Eliane in seine Villa am Parc de Bagatelle zurück. Für die Zeit seiner Abwesenheit hatte er das Personal bis auf den Diener und Gärtner Jean beurlaubt. Wahrscheinlich war auch Jean nicht im Hause, weil er nicht wie gewohnt unter dem Portal erschien, um das Gepäck ins Haus zu tragen. Der Baron wunderte sich nicht weiter darüber und hupte nicht mal, um auf seine etwas vorzeitige Ankunft aufmerksam zu machen. Statt dessen hielt er vor dem Portal, stieg aus dem Jaguar, den er gewöhnlich selbst steuert und war Eliane, die sich neugierig umblickte, beim Aussteigen behilflich. »Hier lebe ich also«, sagte de Cluny. Er atmete tief. Dann ergriff er den Arm seiner schönen Begleiterin, die er erst vor einer Woche in Biarritz kennen- und liebengelernt hatte und ging mit ihr auf das Portal zu. Während er nach den Schlüsseln in seinen Taschen suchte, erklärte er lächelnd: »Wahrscheinlich ist Jean zu seiner Schwester gefahren. Sie wohnt am anderen Ende der Stadt. Jean ist eine Seele von Mensch. Er war schon meinem Vater treu ergeben.« »Wie wird mich das Personal aufnehmen, Guy? Die Leute werden Anstoß nehmen, weil du dir nach dem tragischen Tod dei94 �
ner Frau so schnell eine andere ins Haus holst. Vielleicht macht mich das in ihren Augen zu einem Flittchen?« »Sollten sie daran Anstoß nehmen, werden wir es ihnen nicht anmerken, Eliane«, sagte er lächelnd. »Unser Personal ist vorzüglich geschult. Und merken wir etwas, wird es gefeuert. Bitte, tritt ein…« Inzwischen hatte de Cluny das Portal aufgeschlossen und geöffnet. Gleich hinter dem Eingang lag eine Halle, die im ersten Augenblick wie eine Galerie mit kostbaren Gemälden anmutete, von denen jedes einzelne von Strahlen angeleuchtet wurde. »Wie herrlich, Guy«, rief Eliane überrascht aus. »Ich zeige dir nachher meine letzte Neuerwerbung. Einen Giacometti«, sagte er stolz und fuhr fort: »Laß uns bitte erst ein Stockwerk höher in mein Büro gehen. Dort deponiert Jean gewöhnlich die Post. Hier lang, bitte…« Sie gingen über die weit ausholende Freitreppe im Hintergrund des runden Raumes nach oben, wo de Cluny eine Tür des Ganges öffnete und erklärte: »Das hier werden zukünftig deine Räume sein, Eliane. Ergreife von ihnen Besitz und fühle dich wohl. In einer halben Stunde, wenn du dich ein wenig erfrischt hast, werde ich dich zum Lunch abholen.« Eliane schlang ihre Arme um seinen Nacken und küßte ihn auf die Wange, während sie leise und glücklich sagte: »Ich danke dir Guy, danke dir für alles!« »Aber Chérie!« Er machte sich leicht verlegen von ihr frei. Warum mußte er ausgerechnet jetzt an Lisette denken! »Wir sehen uns nachher«, sagte er und ging ein paar Türen weiter. Kaum hatte Guy de Cluny sein Privatbüro betreten, raubte ihm ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf die Besinnung. Als er nach fünfzehn Minuten sein Bewußtsein wiedererlangte, 95 �
war er an einen Stuhl gefesselt. Er sah direkt vor sich das höhnische Gesicht Aristide Sibours und im Hintergrund zwei ihm unbekannte Männer, die ihn interessiert musterten. Guys erste Sorge galt seiner Begleitern. »Wo ist Eliane?« fragte er. »Nebenan«, antwortete Aristide und zeigte mit der Mündung seiner 9 mm Beretta auf den Durchgang. »Was wollen Sie von mir Sibour?« »Eine kleine Zwangsanleihe in Höhe von zehn Millionen Franc in kleinen, unnotierten Banknoten. Und das bis spätestens morgen mittag«, antwortete Aristide. Der Baron krächzte. »Erpressung also. Von mir bekommen Sie keinen Sou, Sibour. Das schwöre ich –« »Es ist nicht gut, wenn man mit Meineiden so schnell bei der Hand ist, Baron«, wurde de Cluny von dem jungen Sibour unterbrochen. »Möchten Sie, daß Ihre neue Flamme erfährt, wie wir in Ihrem Auftrag Ihre Frau Lisette getötet haben? Für eine Million Franc Erfolgshonorar? Ich wette, daß Madame befürchtet, ihr würde irgendwann auch so was widerfahren. Von Liebe und Zuneigung dann keine Spur mehr. Aber wenn Sie wollen, bitte ich jetzt Eliane herein und erzähle ihr diese hochinteressante Geschichte.« Auf de Clunys Stirn bildete sich ein feiner Schweißfilm. »Um Gottes willen, nein«, rief er erschrocken. »Gut, ich erkläre mich bereit, fünf Millionen zu zahlen. Fünf Millionen sind heutzutage eine Menge Geld.« »Wem sagen Sie das, Baron! Leider lassen wir uns nicht mit Almosen abspeisen. Wir wissen, daß Sie es haben. Es wäre auch falsch, auf Ihr Personal zu hoffen. Es kehrt nicht mehr in Ihr Haus zurück. In den fünf Tagen, die wir hier nun auf Ihre Rückkehr warten, hatten wir Zeit genug, die Weichen zu unseren Gunsten zu stellen.« 96 �
»Ich hätte mich nicht mit Ihnen einlassen dürfen, Sibour«, murmelte de Cluny und sann verzweifelt nach einem Ausweg. Aristide schien das zu spüren, denn er sagte zynisch: »Um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen, wollen wir Ihnen demonstrieren, was Ihnen blüht, sollten Sie nicht spuren.« Aristide gab Blix und Ernest, seinen Helfern, einen Wink, worauf diese sich auf de Cluny stürzten und ihn mit dem Stuhl, an den er gefesselt war, vor den großen Wandschrank schleppten. Die beiden Gangster stellten sich so, daß beide Türhälften sie beim öffnen verdecken mußten und sie keinerlei Blickkontakt mit dem Inhalt hatten. Während de Cluny auf den Schrank starrte, glitten die beiden Türhälften zurück. Die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, sah er sich mit einer Mumie konfrontiert, deren Konturen ihn irgendwie an seinen Diener Jean erinnerten. Sogleich spürte er die Wandlung, die mit seinem Gesicht vor sich ging. Er empfand genau das, was seine Frau Lisette vor Roger Sullys Mumie empfunden hatte. Seine Augen entzündeten sich. Das Fleisch bildete sich zu Geschwüren um. Die beiden Gangster schlossen den Wandschrank. Aristide Sibour trat mit einem Handspiegel vor de Cluny und ließ ihn hineinblicken. »Möchten Sie, daß Eliane Sie so sieht?« fragte er. Guy de Cluny schüttelte heftig den Kopf. Er grunzte unverständliche Laute, unfähig sein Grauen und Entsetzen hinauszuschreien. Aristide öffnete jetzt, ohne hinzusehen, eine Schrankhälfte, nahm von der Mumie ein Papyrusröllchen ab, schloß den Schrank wieder und steckte die Fluchformel mit seinem Feuerzeug in Brand. Wieder verspürte de Cluny die unheimlichen Kräfte, die sein Gesicht umformten. 97 �
Als Aristide ihm nach fünf Minuten erneut den Spiegel vorhielt, sah de Cluny aus wie vorher, und er sagte: »Sie bekommen die zehn Millionen, Sibour. Mein Ehrenwort!« »Ich baue darauf, Baron«, sagte Aristide lächelnd. »Und denken Sie daran: dieser Zustand, den Sie gerade erlebten, wird sofort von uns wieder hergestellt werden, wenn Sie versuchen sollten, falsches Spiel mit uns zu treiben.« »Ich werde Ihre Worte beherzigen, Aristide«, murmelte de Cluny. »Bindet ihn los«, sagte der junge Sibour daraufhin zu seinen Komplizen und fuhr zu dem Baron gewendet fort: »Noch weiß Eliane von nichts. Es liegt bei Ihnen, ob es so bleibt. Erklären Sie ihr, daß wir die Männer Ihrer Leibwache sind und auch ihren Schutz übernommen haben, wenn sie nachher erscheint. Doch vorher bemühen Sie sich ans Telefon und sprechen mit den Direktoren Ihres Bankhauses. Sie geben den Herren Order, das Geld morgen früh Punkt elf bereitzuhalten. Sie selbst werden es holen und es hierher bringen. Madame Eliane bleibt so lange in unserer Obhut zurück. Haben wir uns verstanden?« »Wie stellen Sie sich das vor, Sibour?« fragte de Cluny kopfschüttelnd. »Haben Sie überhaupt eine Vorstellung über zehn Millionen in kleineren Banknoten verschiedener Währungen? Das ist eine Menge Papier! Und kommt Ihnen nicht der Gedanke, daß meine Direktoren es zumindest höchst seltsam finden werden, wenn sie diese Geldmenge realisieren sollen?« »Das ist Ihr Problem, Baron«, sagte der junge Sibour unbeeindruckt. »Sagen Sie Ihren Herren, das Geld wäre für einen Ölscheich bestimmt, der es eben so und nicht anders haben möchte. So, Baron, ich denke, damit sind die letzten noch offenen Fragen geklärt. Und nun Ihr Gespräch, Baron. Vergessen Sie keine Sekunde, daß es um Madame Elianes und Ihr Leben geht!« Baron de Cluny nickte. Er rappelte sich von seinem Stuhl hoch 98 �
und ging zum Telefon, das auf dem Schreibtisch stand. Er wählte die Nummer seiner Bank, verlangte Direktor Rodin und sagte zu diesem: »Weswegen ich anrufe, lieber Rodin. Ein Ölmagnat der Vereinigten Arabischen Emirate äußerte mir gegenüber den Wunsch, für einen ausgedehnten Europatrip mit zehn Millionen Franc in mittleren Scheinen aller europäischen Währungen ausgestattet zu werden. Durch diesen Herrn kommt in den nächsten Tagen ein Milliardengeschäft auf uns zu. Ich denke, wir sollten deshalb dem sonderbaren Begehren des Kunden Rechnung tragen. Das mit den Sicherheiten geht in Ordnung.« »Wie Sie wünschen, Monsieur de Cluny. Sie sind der Chef«, sagte Direktor Rodin verwundert. »Bis wann benötigen Sie den Betrag?« »Ich hole ihn morgen um elf Uhr ab. Lassen Sie alles in großen Alu-Koffern unterbringen, Rodin.« »Jawohl, Monsieur de Cluny. Aber Sie erscheinen persönlich?« »Das sagte ich Ihnen doch«, antwortete de Cluny gepreßt. Das Mißtrauen seines Direktors war ihm nicht entgangen. * Zwischen der Porte Saint-Quen und der Porte de Clignancourt bieten an jedem Wochenende dreitausend Antiquitätenhändler und Trödler ihre kuriosen Schätze: Schmuck, Gemälde, Bücher, Kleider, alte Grammophone, Porzellan und die unglaublichsten Gegenstände aller Art den Besuchern des Flohmarkts an. Der Clochard Paul war im Begriff, sich eine seinen Verhältnissen entsprechende ›goldene Nase‹ zu holen. Seit Tagen suchte er die Tochter des deutschen Kriminal-Inspektors, deren Fahndungsfoto er von Inspektor Rohan bekommen hatte, in ganz Paris. Und hier hatte er sie entdeckt… 99 �
Gesine saß neben einem rotblonden Mädchen in ungarischer Hirtenjacke hinter einem Stand mit alten, rostigen Bügeleisen, die noch mit Holzkohle gefüllt wurden, Pfeffer- und Kaffeemühlen, Waffeleisen, Brennscheren und Ähnlichem. Sofort hatte Paul das nächste Bistro aufgesucht und Inspektor Rohan verständigt. Jetzt wartete er vor dem kleinen Lokal auf das Erscheinen der beiden Inspektoren. Sie kamen in einem neutralen Dienstwagen, hielten auf seiner Höhe am Rand des Bürgersteigs und stiegen aus. In höchster Erregung trat Lauterbach an Paul heran, grüßte ihn kurz und fragte: »Wo ist sie, Paul? Hast du sie auch wirklich erkannt?« Der Clochard grinste. »Nicht daß Sie denken, ich wollte aus Ihrer Not und Sorge Kapital schlagen, Inspektor. Aber es täte mir und meinem Rheuma schon gut, wenn ich für ein paar Monate zur Abwechslung mal ein festes Dach über dem Kopf hätte. Nicht jetzt, wo der Sommer vor der Tür steht, aber wenn die ersten Frosteinbrüche kommen…« »Ich schlage Ihnen die Knochen im Leib kaputt, wenn Sie Ihre rüde Fechterei nicht aufgeben«, knurrte Rohan, der zu ihnen getreten war. »Laß ihn, Gaston«, sagte Lauterbach. Er zog zehn nagelneue Hundertfrancnoten aus der Tasche und gab sie dem verdutzten Clochard. Paul war glücklich. Er strich andächtig über die Banknoten, steckte sie dann in den Lederbeutel, den er auf der Brust unter seinem Hemd trug, und sagte kurz: »Kommen Sie, Messieurs. Ich bringe sie hin…« Sie ließen sich im Passantenstrom mittreiben. Überall Gelächter, anreißerische Rufe und wildes Feilschen in allen Sprachen. Dann blieb Paul plötzlich stehen und deutete auf einen Stand. Lauterbach war sprachlos vor Glück, als er das schwarzhaarige 100 �
Mädchen neben der Rotblonden auf einem Hocker sitzen sah. Jetzt hob sie den Blick. Und nun gab es keine Zweifel mehr: Er hatte Gesine gefunden! Rücksichtslos drängte er sich durch die Menge. Inspektor Rohan folgte ihm. Der Clochard Paul machte, daß er davonkam, bevor der Deutsche es sich anders überlegte und sein Geld wiederhaben wollte. Lauterbach erreichte den Stand. »Gesine«, rief er leise. Das Mädchen stutzte beim Klang der Stimme, sprang mit einem Aufschrei vom Hocker auf, warf sich an Lauterbachs Brust und brach in ein hemmungsloses Weinen aus. »Ist ja schon gut, mein Kind«, sagte Lauterbach zärtlich und strich ihr immer wieder über das Haar. »Vati, ich habe so furchtbare Sachen geträumt«, stammelte Gesine zitternd. »Ich möchte fort von hier.« »Wir gehen gleich, Gesine. Und vergiß nicht: Träume sind Schäume. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Hörst du? Während Lauterbach weiter beruhigend auf seine Tochter einsprach, nahm Inspektor Rohan sich die Rotblonde vor: »Wie kommt das Mädchen zu Ihnen, Mademoiselle?« »Fragen stellen Sie…« sagte die Rotblonde. »Ich fand sie ausgeflippt auf dem Montmartre. Weil ich nicht wollte, daß sie irgendeinem Kerl in die Hände fiel, nahm ich sie mit auf meine Bude und kümmerte mich um sie.« »Zeigen Sie mir Ihren Ausweis, Mademoiselle.« »Geht die Leier schon wieder los?« Das Mädchen zog seinen Reisepaß aus der Tasche seiner Segeltuchjacke und reichte ihn Rohan. »Sie sind Hamburgerin?« fragte er etwas umgänglicher. »Das lesen Sie doch. Deshalb habe ich mich auch um Gesine gekümmert«, entgegnete sie. »Steht Gesine unter Rauschgifteinfluß?« 101 �
»Sie stand, aber es war nicht so schlimm, Inspektor. Von mir hat sie nichts bekommen, und sie verlangte auch nicht danach. Außerdem habe ich gar keinen Stoff, und ich brauche auch keinen.« »Jedenfalls danke ich Ihnen«, sagte Hans-Georg Lauterbach herzlich, »weil Sie Gesine geholfen haben. Ich komme in den nächsten Tagen darauf zurück.« * Hans-Georg Lauterbach hatte Gesine in die Obhut Helene Brigauds gegeben, die alles daran setzen würde, sie die schrecklichen Erlebnisse vergessen zu lassen. Als er danach das Büro seines Kollegen Rohan in der Polizei-Präfektur betrat, sagte Gaston zu ihm: »Baron de Cluny ist wieder im Land. Du erinnerst dich, Hans. Das ist der Bankier, der wahrscheinlich die Mumienmacher mit der Ermordung seiner Frau Lisette und deren Liebhaber beauftragt hat. Wir hatten auch sein Telefon angezapft.« »Mit Erfolg, Gastori?« »Ich weiß nicht so recht. Guy de Cluny hat einen seiner Direktoren beauftragt, bis morgen mittag, und jetzt fall' nicht um, zehn Millionen Franc in kleineren Scheinen aller gängigen europäischen Währungen flüssig zu machen. Angeblich für einen arabischen Scheich, der einen ausgedehnten Europatrip unternehmen möchte. Ich habe mich umgehört. Es sind tatsächlich mehrere dieser Geldprotze in der Stadt. Dennoch glaube ich nicht an diese Geschichte.« »Es ist aber auch unwahrscheinlich, daß de Cluny seine Flucht vorbereitet«, sagte Lauterbach. »Erstens würde er sein Vermögen auf dem Bankweg ins Ausland transferieren, zweitens weiß er zu genau, daß der Verdacht gegen ihn nicht so schnell erhär102 �
tet werden kann.« »Eben. Und weil das auch meine Meinung ist, glaube ich fast, daß Aristide Sibour mit dem Rest der Gilde dahintersteckt«, antwortete Rohan. »Die Gilde kann de Cluny in seiner Villa erwartet haben. Das würde auch erklären, warum wir keine Spuren von den Gangstern hier in Paris finden konnten.« »Wird de Clunys Villa überwacht?« »Nein, Hans. Vorerst möchte ich darauf verzichten, um Sibour und seine Komplizen in Sicherheit zu wiegen. Vorausgesetzt, sie halten sich tatsächlich in der Villa auf. Ich schlage vor, wir fahren zu de Clunys Bankhaus und besprechen die Sache mit Direktor Rodin, den ich persönlich kenne.« »Einverstanden«, sagte Lauterbach. »Wir können nicht vorsichtig genug vorgehen, um zu verhindern, daß Aristide Sibour Fluchformeln aktiviert, über die er eventuell noch verfügt.« »Übrigens waren da noch drei Anrufe für Jean Durrazzo, das ist der Diener und Gärtner des Barons. Durrazzos Schwester wünschte ihren Bruder zu sprechen und war sehr ungehalten, als de Cluny ihr versicherte, daß ihr Bruder nicht im Haus sei und er auch nicht wisse, wo er stecke. Madame Durrazzo behauptete steif und fest, das gäbe es nicht. Jean würde nicht tagelang wegbleiben, ohne ihr etwas davon zu sagen«, schloß Rohan, während er in sein Jackett schlüpfte. »Hat Madame Durrazzo vor de Clunys Gespräch mit der Bank angerufen oder danach?« fragte Lauterbach interessiert. »Es war in allen Fällen danach, Hans.« »Ich befürchte, daß der Diener von Sibour und den Gildenbrüdern getötet und mumifiziert wurde, damit sie notfalls sofort ein Medium bei der Hand haben, wenn sie glauben, Fluchformeln anwenden zu müssen«, äußerte Lauterbach seine Bedenken. »Wie ist das überhaupt«, fragte Gaston. »Kann eine Mumie Medium für die Anwendung mehrerer Fluchformeln sein?« 103 �
»Nein, Gaston. Eine Leiche kann nur eine Formel aktivieren. So hat es mir Madame Brigaud erklärt…» Die Inspektoren wechselten das Thema, verließen das Büro und die Präfektur und fuhren zum Bankhaus de Cluny auf den Champs-Elysees. Direktor Rodin mußte aus dem Tresorraum geholt werden, und er begrüßte Rohan ein wenig erstaunt. Nachdem Rohan Lauterbach und Rodin miteinander bekannt gemacht und Rodin für sie alle einen Drink in sein Büro hatte bringen lassen, kam Rohan sofort zum Thema: »Haben Sie schon die zehn Millionen für Baron de Cluny bereit, Monsieur Rodin?« »Sie wissen davon, Inspektor? Das beruhigt mich. Ich war schon nahe dran, die Polizei zu informieren. Der Auftrag des Chefs fällt nämlich, um es vorsichtig zu formulieren, aus dem Rahmen des Üblichen.« »Ja, wir wissen davon, Monsieur Rodin. Doch anders als Sie denken«. sagte der Inspektor. »Ist Ihnen noch nicht der Gedanke gekommen, daß Ihr Chef nicht mehr Herr seiner Entschlüsse sein könnte?« Das Gesicht des Bankdirektors erbleichte. »Sie meinen, es hätte jemand mit gezogener Waffe hinter ihm gestanden, als er mir telefonisch Order gab?« »Immerhin könnte es möglich sein«, warf Lauterbach ein. »Aber der Chef will doch persönlich das Geld abholen. Er hat auch nicht das vereinbarte Codewort für Gefahr genannt«, sagte Rodin kopfschüttelnd. »Um der Sache auf den Grund zu gehen, werden wir morgen hier in Ihrem Büro sein und Baron de Cluny eine Reihe von Fragen stellen«, sagte Inspektor Rohan. * 104 �
Theresa Durrazzo sah mißtrauisch Aristide Sibour an, der ihr den Zutritt in die Villa mit fadenscheinigen Vorwänden verwehrte, was ihr noch nie pausiert war. Theresa besaß einen Fischstand auf einem Pariser Wochenmarkt. Wer sie sah und mit ihr zu tun bekam, der fiel garantiert der Song mit dem Haifisch, der Zähne hat, ein. Beide Fäuste in die Hüften gestemmt, fuhr sie den verdutzten Sibour an: »Wer sind Sie überhaupt? Ich renne Sie gar nicht und habe Sie hier noch nie gesehen!« »Ich bin einer der Leibwächter Herrn Barons, liebe Frau«, entgegnete Sibour gemessen. »Was schwafeln Sie mir da vor, junger Mann? Der Herr Baron hat keine Leibwächter. Und jetzt möchte ich zu meinem Bruder Jean, oder ich werde verdammt ungemütlich!« »Ich sagte Ihnen doch, daß Monsieur Durrazzo nicht im Hause ist!« »Gut, dann warte ich in seinem Zimmer auf Jean. Irgendwann wird er ja wohl zurückkommen…« Mit diesen Worten schickte sich Theresa an, Sibour einfach beiseite zu schieben. Aber plötzlich waren zwei andere Männer da, die sie zum Portal hinausdrängten. »Ich gehe zur Polizei«, zeterte sie. »Die Anhäufung von Galgengesichtern in diesem Haus hat etwas zu bedeuten. Mir macht ihr nichts vor. Und wer weiß, was meinem Bruder zugestoßen ist!« Das Wort ›Polizei‹ traf einen empfindlichen Nerv bei Sibour. ›Die Alte muß verschwinden‹, dachte er. ›Sie verdirbt uns das ganze Konzept. In einer Viertelstunde fährt de Cluny zur Bank, um das Geld zu holen. Dann darf sie nicht mehr hier herumtoben. Aristide atmete auf, als in diesem kritischen Augenblick de 105 �
Cluny und Eliane auf den Balkon über dem Portal hinaustraten. Der Baron rief: »Hallo, Madame Theresa. Kann ich etwas für Sie tun?« Jeans Schwester drehte sich um und blickte erleichtert und vertrauensvoll nach oben. »Guten Morgen, Herr Baron«, rief sie zurück. »Ich wollte meinen Bruder besuchen. Er hat in den letzten Tagen nichts von sich hören lassen. Das ist sonst gar nicht seine Art. Nicht mal angerufen hat er. Und dann diese Herren hier…« »Ja, ich hatte Auftrag gegeben, niemanden ins Haus zu lassen«, rief de Cluny und versicherte, daß die Anordnung natürlich nicht für sie gelte. Dann sagte er: »Ich habe Jean nach Brüssel geschickt, sozusagen als Kurier in geheimer Mission. Er ist in wenigen Tagen zurück und wird sich dann sofort bei Ihnen melden.« »Ja dann hat ja wohl alles seine Richtigkeit«, sagte Therese. »Nichts für ungut, Herr Baron. Ihnen und Madame noch einen schönen Tag!« Therese dachte jedoch nicht daran, das Feld so ohne weiteres zu räumen. Ihr war de Clunys übergroße Nervosität nicht entgangen. Und die Frau an seiner Seite hatte sich mit Angst in den Augen schutzsuchend an ihn gedrückt. Wer war überhaupt diese Frau? Als Theresa über die Schulter auf die Villa blickte und niemanden gewahrte, der ihr nachsah, schlug sie sich seitlich in die Büsche und näherte sich in einem Bogen durch den Park dem Lieferanteneingang auf der Rückseite des Hauses. Jean hatte ihr einmal einen Schlüssel zu dieser Tür gegeben. Wenig später sah Theresa den Baron mit dem Kombi vom Grundstück fahren. Trotz ihrer Beleibtheit bewegte sich Theresa unhörbar auf den Lieferanteneingang zu. Sie schloß die Tür auf und trat ein. Nachdem Theresa leise die Tür hinter sich geschlossen hatte, machte sie Licht. 106 �
Auf dem blutbesudelten Bett lag eine Mumie, und im Waschbecken sah sie Herz, Leber und Lunge. Dieser schreckliche Anblick traf Theresa schwer, und mit einem langgezogenen Schrei fiel sie in Ohnmacht. * Punkt elf Uhr betrat Guy de Cluny das Direktorenzimmer Monsieur Rodins. Gleichzeitig mit ihm kamen durch den weiten Eingang Inspektor Rohan und Hans-Georg Lauterbach. Gaston Rohan zückte seine Dienstmarke. »Kriminalpolizei«, sagte er zu de Cluny. Der Privatbankier sah Rodin an, der hilflos die Schultern hob. Dann wandte er sich mit schneeweißem Gesicht Rohan und Lauterbach zu. »Ja, Messieurs. Wollen Sie zu mir?« »Eine müßige Frage«, antwortete Gaston. »Herr Baron, Sie stehen in Verdacht, Aristide Sibour beziehungsweise dessen Vater Professor Richard Sibour mit der Ermordung Ihrer Frau Lisette und des Malers Roger Sully beauftragt zu haben.« »Wie – wie können Sie so etwas behaupten?« fragte de Cluny mit zitternder Stimme. »Meine Frau beging Selbstmord, wie einwandfrei festgestellt wurde.« »Sie beging Selbstmord, nachdem ihr Gesicht völlig verunstaltet war. Ich brauche Ihnen nichts über die Fluchformeln der Sibours oder der Mumienmacher von Paris zu sagen, Monsieur de Cluny. Davon soll jetzt auch nicht die Rede sein. Arbeiten Sie mit uns Hand in Hand. Das ist die einzige Chance für Sie, Ihre Lage zu verbessern. Also: Hält sich Aristide Sibour in Ihrem Haus auf?« Nach langem Zögern ruckte der Bankier. »Ja, Sibour und drei andere Gildenmitglieder«, bestätigte er. »Sie überraschten mich, 107 �
als ich von der Reise zurückkam, in meinem Büro und konfrontierten mich mit der Mumie meines Dieners Jean, worauf sich mein Gesicht schrecklich verwandelte. Es war grauenvoll…« Er schlug sich die Hände vor das Gesicht und fuhr leise fort: »Als Sibour die Fluchformel verbrannte, die mich verunstaltet hatte, bekam ich mein altes Gesicht wieder. Da erklärte ich mich bereit, seine Forderungen zu erfüllen, weil Sibour drohte, zu jeder Zeit in der Lage zu sein mich und Eliane erneut mit dem Fluch zu belegen.« »Wer ist Eliane?« fragte Rohan. »Meine zukünftige Frau. Heute morgen wiederholte Sibour seine Drohung vor ihr, Elianes Kopf in den eines Skorpions umzuwandeln, wenn ich ein falsches Spiel treiben würde. Herr Inspektor, ich muß mit dem Geld zurück zur Villa. Eliane ist in höchster Lebensgefahr. Die Gangster sind durch Madame Durrazzos Erscheinen reizbar und nervös geworden. Sie wollte zu ihrem Bruder Jean und hegte Mißtrauen gegenüber Sibour und Komplizen.« »Wo befindet sich Madame Durrazzo jetzt?« fragte Lauterbach. »Ich habe sie das Grundstück verlassen sehen, halte es aber nicht für ausgeschlossen, daß sie umgekehrt ist, um erneut zu versuchen, etwas über den Verbleib ihres Bruders Jean in Erfahrung zu bringen.« »Also müssen wir damit rechnen, daß Sibour zwei Geiseln in seiner Gewalt hat. Das verschlechtert die Lage«, sagte Rohan. »Und es besteht die Möglichkeit, daß eine der beiden Frauen, vielleicht beide, getötet und mumifiziert werden wird, um eine neue Fluchformel zu erhalten«, fügte Lauterbach nachdenklich hinzu. »Kann Madame Brigaud uns nicht helfen?« fragte Rohan seinen deutschen Kollegen. »Ich glaube kaum. Helene hat geschworen niemals mehr mit 108 �
Dämonenmächten zu manipulieren. Ich respektiere ihre Beweggründe. Sie trägt schwer am Tod ihres Jungen. Aber es gäbe noch eine Möglichkeit, die Geiseln und auch Sie Baron, zu schützen Herr Direktor Rodin würden Sie uns bitte vier kleine Pillendosen, die nicht direkt ins Auge fallen, besorgen?« wandte sich Lauterbach an den Direktor. »Ja, natürlich. Ich schicke meine Sekretärin sofort los.« »Was hast du vor, Hans?« fragte Rohan, während Rodin rasch das Büro verließ. »Ich werde das mumifizierte Gehirn der heiligen Katze fünfmal teilen.« Lauterbach öffnete den Verschluß der dünnen Chromstahlkette und nahm die Kapsel in die Hand. »Ich hoffe, daß die Abwehrkraft gegen Schadzauber ausreicht, wenn das Gehirn in fünf gleiche Einzelteile zerlegt wurde, um uns zu schützen. Sie, Baron, haben die Aufgabe, den Frauen heimlich je eine Kapsel zuzustecken. Wir, Gaston, werden versuchen, von hinten in das Haus zu gelangen und die Gangster unschädlich zu machen, während ein Polizeiaufgebot Sibour und seine Komplizen ablenkt. Aber erst dann, wenn Baron de Cluny mit dem Geld in seiner Villa ist und die Geiseln die Kapseln bei sich tragen.« »Das wäre eine Möglichkeit«, sagte Rohan sofort. Er blickte de Cluny an. »Und wie steht es mit Ihnen, Monsieur le Baron?« »Ich mache natürlich mit, Herr Inspektor«, sagte der Privatbankier. * Ein seltsames Gebilde, das wie ein Denkmal vor seiner Enthüllung aussah, stand auf dem Balkon der Villa de Cluny. Dahinter hatte sich Aristide Sibour postiert. Er wartete auf den Kombi mit dem Baron am Steuer und zehn Millionen in einer Batterie von 109 �
Alu-Koffern. Sowohl Sibour als auch seine Helfershelfer Ernest, Blix und Moreau waren sich darin einig, daß eine schnelle Flucht geraten schien, sobald sie in den Besitz des Geldes gelangt waren. Mit den beiden letzten Fluchformeln, die ihnen zusammen mit der ›frischen‹ Mumie Theresa Durrazzos zur Verfügung standen, war der Polizei auf Dauer nicht zu entkommen. »Er kommt, Freunde«, sagte Blix neben Sibour und Ernest. Aufgeregt deutete er auf den Kombi. Langsam rollte der Wagen durch den Park auf das Haus zu. Argwöhnisch beobachteten die Gangster das Fahrzeug. Aber de Cluny war allein. »Der wagt es nicht, irgendwelche Sperenzchen zu machen«, sagte Sibour zufrieden. »Du, Blix, gehst mit mir zum Portal hinunter. Wir machen eine Stichprobe, ob die Koffer auch echtes Geld enthalten. Ernest, du bleibst hier. Später laden wir das Geld in zwei Fahrzeuge um. Wenn wir uns beeilen, können wir schon in zehn Stunden an Bord meiner Jacht sein.« Dann standen alle vier unten am Portal. »Du, Moreau, sollst doch Eliane bewachen und du, Ernest, auf dem Balkon bleiben«, sagte Sibour ärgerlich. Moreau grinste. »Ich habe die Dame ans Bett gefesselt und will wie Ernest dabei sein, wenn das Geld kommt.« Sibour schwieg, weil er in der Endphase ihrer Zusammenarbeit keinen Streit gebrauchen konnte; und so nahmen sie zu viert Baron de Cluny am Portal in Empfang. »Hat alles geklappt?« fragte Sibour gespannt. »Sie haben uns ganz schön warten lassen!« »Das Geld ist im Fahrzeug«, sagte de Cluny. »Es gelang mir, den Argwohn meiner Direktoren zu zerstreuen. Wo ist Eliane?« »Gehen Sie rauf zu ihr, Baron! Lösen Sie ihre Fesseln nicht, bevor ich es Ihnen nicht sage!« Sibour hatte nur noch das Geld im 110 �
Kopf. Er achtete nicht mehr weiter auf de Cluny und befahl seinen Männern, die Geldkoffer ins Haus zu tragen. Dort öffnete Moreau den letzten Koffer und gab damit den anderen das Zeichen, es ihm nachzutun. Die Schlösser schnappten, Deckel flogen hoch. Aufschreie des Entzückens und gierige Augen, die sich an den gebündelten Banknoten nicht sattsehen konnten. »Schließt die Koffer wieder«, sagte er gerade, als draußen eine Stimme über Lautsprecher dröhnte: »Hier spricht die Polizei! Kommen Sie mit Ihren Männern, die Hände erhoben, heraus, Sibour. Jeder Widerstand ist zwecklos. Das Haus ist umstellt! Wir geben Ihnen fünf Minuten Zeit!« »Nach oben«, schrie Sibour. »Wir werden die Fluchformeln aktivieren. Die sollen uns jetzt kennenlernen!« Die vier Gangster zogen ihre Waffen und rannten die Freitreppe hinauf… * Lauterbach und Rohan waren durch den Lieferanteneingang unbemerkt in die Villa gelangt, So schnell ihre Panzerwesten es gestatteten, liefen sie über die zweite Treppe des Hauses zur ersten Etage hinauf. Elianes entsetzter Aufschrei wies ihnen den Weg zum Speiseraum. Mit der Maschinenpistole im Anschlag riß Lauterbach die Tür auf und sprang einen Schritt jenseits der Schwelle nach rechts, damit Rohan ihm notfalls Feuerschutz geben konnte. Aber man hatte sie noch gar nicht bemerkt, weil das makabre Geschehen sich auf dem Balken abspielt. Hier nämlich zerrten Sibour und seine Komplizen Eliane und de Cluny vor das Gebilde und rissen das Leinentuch davon weg. Zum Vorschein kam die Mumie Theresa Durrazzos. Damit lag 111 �
das Vorhaben der Gangster klar auf der Hand: Einmal wollten sie sich an Eliane und dem Bankier wegen dessen Verrat rächen, zum anderen legten sie es darauf an, mit der Fluchwirkung der Formeln die Polizisten im Park zu demoralisieren und in die Flucht zu schlagen. Während Eliane und de Cluny keinerlei Wirkung zeigten die mumifizierte Hirnsubstanz der heiligen Katze schützte sie zur Verblüffung der Gangster sprangen hinter den Büschen des Parks plötzlich seltsame Zwitterwesen, halb Skorpion, halb Polizist, hervor. Rohan und Lauterbach sahen die schreckliche Verwandlung der Kollegen. Jetzt galt es, alles daranzusetzen, sich in den Besitz der Fluchformeln zu bringen und diese zu verbrennen, wollten sie die Kollegen vor einem gräßlichen Schicksal bewahren. »Die Hände hoch«, schrie Rohan und drang mit Lauterbach auf die Gangster ein. »Mich kriegt ihr nicht«, zischte Sibour voller Haß. Er rief seinen Männern einen Befehl zu. Immer noch auf die Wirkung der Fluchformeln vertrauend, zerrten die Gangster die Mumie herum, um sie vor Lauterbach und Rohan zu bringen. Dabei waren sie unvorsichtig; der Fluch traf sie selbst. Brüllend vor Grauen, ließen sie die Mumie fallen, als sie merkten, was mit ihnen geschah: Ihr Oberkörper verwandelte sich in den eines Riesenskorpions. Sie wurden zu schrecklichen Mensch-Tier-Symbiosen, die sich auf dem Teppich wanden. Während Lauterbach an diesen Ungeheuern vorbei zur Mumie sprang und die Fluchformeln sicherte, kümmerte sich Rohan um Eliane. Lauterbach zog sein Feuerzeug und verbrannte die Fluchformeln. Aufatmend sah er die Rückverwandlung der französischen Kollegen unten im Park und der vier Gangster dicht vor ihm. 112 �
Plötzlich erfüllte ein hohles Brausen die Luft. Von einer Aura aus grünen Flammen umgeben, materialisierte unter ihnen ein älterer Ägypter in faltenreichen weißen Gewändern. Der stechende Blick seiner Augen suchte Sibour, der wieder seine menschliche Gestalt zurückerhalten hatte. »Ich bin Giddaf«, dröhnte die Stimme des Ägypters. Er zeigte auf Sibour. »Dieser hat mit dem Totenkult zum Schutz unserer Könige Frevel getrieben! Ich nehme ihn mit in die Ewige Verdammnis, wo seine Qualen dauern werden bis zum jüngsten Tag!« Vor ihren Augen verwandelte sich der Bestatter und Priesterzauberer Giddaf in einen weißen Falken von normaler Größe. Sibour hingegen, der alles nicht mehr begriff, schrumpfte zu einer Raupe, die von dem Falken gefressen wurde, bevor dieser durch die offene Balkontür davonflog. Mehrere Minuten lang herrschte atemlose Stille in dem weiten Raum. Dann sagte Hans-Georg Lauterbach zu Gaston Rohan: »Es ist alles vorbei! Der normale Alltag wird für uns zurückkehren.« »Du sagst es«, sagte Rohan, während er mehrere Handschellen aus einer Tasche zog und sie Blix, Moreau und Ernest anlegte. Er ließ es zu, daß de Cluny und Eliane Hand in Hand das Zimmer verließen. Auf Hans-Georg warteten sehnsüchtig eine Tochter und seine zukünftige Lebensgefährtin Helene. Gaston lächelte versonnen und vergaß für einen Augenblick die verstörten Gangster vor sich. ENDE
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