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Die Brücken von Paris Der amerikanische Kunsthistoriker Pedro Douglas lebt seit drei Monaten in Paris und betreibt mit Leidenschaft seine Studien – bis eines Tages Will Law vor der Tür steht, ein Mann, der ihm einst sehr nahestand. Die Freude über das Wiedersehen ist groß, doch ihre friedlichen Tage finden ein jähes Ende, als die beiden plötzlich mit dramatischen Ereignissen konfrontiert werden: Auf einer Seinebrücke muss Will mitansehen, wie ein kleiner Junge entführt wird. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit … »Ein raffiniert komponierter, fesselnder Roman, geschrieben in einer wunderbar kristallklaren Sprache!« Publishers Weekly »Ein Spannungsroman voller Poesie!« Kirkus Reviews Deutsche Erstveröffentlichung
Buch Seit drei Monaten lebt der amerikanische Kunsthistoriker Pedro Douglas in Paris, wo er an einer Studie über französische Baukunst arbeitet. Eines Tages steht ein alter Freund von ihm vor der Tür: Will Law. Viele Jahre haben sie sich nicht mehr gesehen, doch als Will nun endlich da ist, empfinden sie dieselbe Nähe wie damals. Ihre Wiedersehensfreude wird aber jäh getrübt, als plötzlich Tumult herrscht in den Straßen von Paris. Aufgebracht ziehen die Menschen zur Seine und werfen Brot in den Fluss – eine Geste der Empörung gegen das fremdenfeindliche Klima in Frankreich. Und inmitten des panischen Durcheinanders, das auf der Straße herrscht, wird Will plötzlich Zeuge eines schrecklichen Ereignisses: Auf einer Seinebrücke wird ein vierjähriger Junge in ein Auto gezerrt und verschleppt. Die Amerikanerin Jorie Cole, in deren Begleitung der kleine Nico war, ist außer sich. Denn sie ist die Lebensgefährtin von Nicos Vater und liebt das Kind wie ihr eigenes. Will, der eine alte Schuld zu begleichen hat, ist fest entschlossen, der verzweifelten Jorie zu helfen. Gemeinsam mit Pedro setzt er alles daran, den Jungen aus den Händen seiner Entführer zu retten. Eine atemlose Jagd durch Paris beginnt … Autor Peter Gadol, geboren 1964, verbrachte seine Kindheit und Jugend in New Jersey. Nach dem Studium an der Harvard University lebte er einige Jahre in Boston und New York. Heute unterrichtet Peter Gadol Literatur in Los Angeles. Außerdem von Peter Gadol bei Goldmann lieferbar: Der lange Regen. Roman (44239) Café der Träume. Roman (54071)
Peter Gadol
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Die Brücken von Paris Roman
Deutsch von Annette Meyer-Prien
Non-profit scan by tigger September 2003 Kein Verkauf!
GOLDMANN
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel »Light at Dusk« bei Picador, New York
Deutsche Erstausgabe Januar 2002 Copyright © der Originalausgabe 2000 by Peter Gadol Copyright © der deutschen Ausgabe 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagmotiv: Mauritius/Age Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 44954 CN • Herstellung: Sebastian Strohmaier Made in Germany ISBN 3-442-44954-5 www.goldmann-verlag.de
FÜR SLOAN HARRIS
1 EINES TAGES WAR ES schließlich Zeit, in die Stadt hinauszugehen. Ich erinnere mich, dass ich an jenem Morgen um sechs Uhr davon geweckt wurde, dass jemand sein Cello stimmte, ein lang durchgezogener Bogenstrich über immer dieselbe quälende Saite, einen Halbton hoch, einen Halbton runter, einen Halbton hoch, einen Halbton runter. Nach einiger Zeit merkte ich dann, dass es kein Cello, sondern eine Katze war, und von da an lag ich in meinem Bett und wartete darauf, dass einer meiner Nachbarn sie entweder füttern oder hinauslassen würde. Aber das Klagen ging weiter, und irgendwann griff ich nach meinem Morgenmantel und ging barfuß nach unten, wobei ich nach der langen mit Wein und Spielen verbrachten Nacht das ovale Treppenhaus ein wenig zu schnell nahm. Unten im Hof musste ich mich erst mal auf die Schwelle setzen, um Atem zu schöpfen, und inzwischen hatten die Katzenschreie aufgehört. Ich wohnte damals seit beinahe drei Monaten zur Miete in der Dachwohnung eines älteren Gebäudes am Südrand des 16. Arrondissements und hatte diese Katze schon oft gehört, aber erst zweimal gesehen. Ich wusste, dass sie braun und geschmeidig war und wahrscheinlich grünäugig, und obwohl der Tag ziemlich strahlend begann, erwies es sich doch als schwierig, eine braune Katze in einem grau gepflasterten Hof auszumachen. Ich sah hinter ein paar Fahrrädern nach, hinter Mülltonnen und unter dem Auto, das in einer Ecke abgestellt worden war. Offenbar hatte einer der Hausbewohner den Sedan ein paar Wochen vor meiner Ankunft über das Kopfsteinpflaster gefahren und ohne weitere Erklärung einfach stehen lassen. Ich verstand nicht viel von Autos, aber das sah selbst ich: Diese geschwungene Motorhaube und der arrogante Chrom gehörten zu einem erlesenen und kostspieligen Wagen. 7
Er war weinrot, mit karamellfarbener Polsterung, und nun kommt das Seltsame daran: Die Schlüssel lagen im Handschuhfach. Das hatte ich eines Morgens mit der Concierge zusammen herausgefunden, die es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, dafür zu sorgen, dass der Wagen frisch gewaschen war, eine schmutzfreie Windschutzscheibe und glänzende Kotflügel hatte, so als gehörte das ebenso zu ihren Aufgaben, wie das Eisengeländer und den blumenverzierten Treppenpfosten immer auf Hochglanz zu bringen. Die Katze saß weder unter dem Auto noch auf dem Brett eines der unteren Fenster oder irgendwo sonst, wo sie mir hätte antworten können. Ich rief nach ihr, wie ich zu Hause nach meiner eigenen Katze, die ich sehr vermisste, rufen würde – man konnte keine Katze mit auf Reisen nehmen –, nur auf Französisch. Es war der 15. Oktober und kalt. Ich gab es auf. Bevor ich zurück nach oben ging, hörte ich von draußen auf der Straße ein Scharren von Füßen, das mir ungewöhnlich vorkam, und als ich wieder in meiner Wohnung war, sah ich auf den Gehweg hinunter. Es waren viel mehr Pariser unterwegs, als ich zu dieser Zeit an einem Wochentag zu sehen gewohnt war. Sie gingen alle in dieselbe Richtung, ein unaufhörlicher Strom fort vom Bois auf den Hauptboulevard zu. Meine Wohnung bestand aus zwei großen, durch Schiebetüren getrennte Räumen, einem, den ich als Schlafzimmer nutzte, und einem größeren Wohnraum mit hohen Fenstern. Die klein gemusterten Stuckleisten an der Decke wirkten, als wäre das Ganze mit Eierschalen verziert worden. Es gab noch Reste einer Vergoldung. Ich stand am Fenster und spürte Angst in mir aufsteigen, als ich mich nach dem von Büchern über französische Architektur und zur Geschichte der Revolution übersäten Sofa und dem Tisch umsah, auf dem sich Schnappschüsse von fahlen 18.-Jahrhundert-Bauten und meine diversen Notizbücher stapelten. Stadtpläne, Karteikarten, mein Laptop, 8
der offen stand wie eine gekochte Muschel, und immer dichter werdender Staub. Ich war den ganzen Sommer über bis in den Herbst hinein mit meinen Recherchen beschäftigt gewesen; es drohten wichtige Abgabetermine, dabei hatte ich die letzten drei Tage hindurch überhaupt nicht gearbeitet. Durch die Tür zur kleinen Küche konnte ich eine dicht gedrängte Waldung aus Cabernet-Flaschen neben einem ansehnlichen Haufen Zartbitterschokolade und einer Schale mit makellosen Birnen stehen sehen – Geschenke. Der Mann, der in meinem Bett schlief, hatte sie mitgebracht. Ich sah ihn an, und meine Panik legte sich wieder ein wenig. Sein Name war William Law, und er rührte sich nicht einmal, während ich am Fußende des Bettes stand. Zählen Sie zu seinen beneidenswerten Tugenden einen Hang zu ungestörtem Schlaf, was auf ihn zutraf, seit ich ihn kannte; wenn man Unterhaltung brauchte, um sich während einer langen Fahrt wach zu halten, wollte man ihn bestimmt nicht auf dem Beifahrersitz haben. Es war Freitag; er war am frühen Dienstagmorgen angekommen, und außer zum Abendessen im Café an der Straßenecke hatten wir die Wohnung nicht verlassen. Wir hatten uns eingeigelt und den Rhythmus der Stadt erfolgreich ignoriert, aber heute würde das alles ein Ende haben. Will schlief, die Decken auf ganzer Länge so zurückgeschlagen, dass er zur Hälfte zu sehen war, eine rosige Abfolge von Arm, Rücken, Pobacke und Bein. Ich beschloss, in seinem Gepäck herumzustöbern, einer Ledertasche, die schon viel mitgemacht hatte und, wie er behauptete, seinen gesamten weltlichen Besitz enthielt. Ich hatte ihm das Geständnis abgerungen, dass er doch noch anderswo – in Washington, wie sich herausstellte – Sachen eingelagert hatte, aber er schien all das, was er dort aufbewahrte, Bücherkisten, einen ererbten Quilt, den Globus aus seiner Kindheit, für verzichtbar zu halten. Ich weiß nicht, was ich in seiner Tasche zu finden erwartete. Ich hatte seine gesamte Garderobe gesehen; Will, der sich in den 9
Rot- und Brauntönen gefallener Blätter kleidete. Er besaß ein einziges Wildlederjackett, das für das immer feuchter werdende Pariser Wetter völlig unpassend war. Die meisten seiner Sachen hingen über einem Sessel oder vergnügten sich mit meinen eigenen, hastig hingeworfenen Kleidungsstücken auf dem Fußboden; unsere Khakihosen in flagranti. Will drehte sich herum und zog sich ein Kissen über den Kopf. Er hatte außerdem einen Rucksack mitgebracht, und auch dessen Inhalt kannte ich bereits. Er hatte, auf meine Empfehlung hin, in einem Buch gelesen, das mit meinem Dissertationsthema zu tun hatte, wenn auch das Lesezeichen in einem der ersten Kapitel steckte. Ich sah den Stapel Briefe, die ich ihm geschickt hatte. Es gab eine Kamera, keinen Film. Und da waren ein paar Souvenirs, Belege für seine kürzlichen Reisen – während der ganzen Zeit, in der wir nach langem Schweigen unsere Liebesbeziehung wieder neu ausgehandelt hatten, war er jeden Monat an einen anderen Ort gefahren –, einige zerfledderte ausländische Banknoten und kleine Münzen, verschiedene Stadtpläne. Ich hatte alles untersucht, was er mitgebracht hatte, und konnte noch immer so viele Fragen nicht beantworten, und die wichtigste davon war diese: Wir hatten uns seit sieben Jahren nicht gesehen – was hatte ihn dazu gebracht, mich plötzlich wieder aufzuspüren? Will zog sich das Kissen vom Kopf, sodass sein halbwegs blondes Haar und einiges an Bartstoppeln sichtbar wurde. Ich erstarrte. Ich hielt seinen Pass in der Hand. Er öffnete die Augen nicht. Es war ein ganz normaler amerikanischer Pass wie meiner auch, kein Diplomatenpass. Ich blätterte darin herum und schielte zu seinem Körper hinüber, von dem nun mehr zu sehen war – sein gesamtes Hinterteil, die ganze Breite der Schultern. Ich erfuhr nichts Neues aus dem Pass – oder vielleicht meine ich, dass ich keine Lügen aufdeckte – und überprüfte nur, 10
welche Grenzen er überquert hatte. Er trug außerdem einen Kalender mit sich herum, der für den größten Teil des vergangenen Jahres keinerlei Eintragungen enthielt; tatsächlich war die erste Eintragung die erwartete Ankunftszeit des Flugzeuges, das ihn von Rabat nach Paris gebracht hatte, und die einzige andere Notiz betraf einen Pflichttermin zum Lunch heute Mittag mit einem alten Freund seines Vaters, von dem ich wusste. Ich hielt es für möglich, dass William Law ein Spion war. Es hätte mich nicht überrascht. Andererseits lieferte mir sein Körper immer wieder neue Hinweise. Der Will, der sich da reckte und mit der linken Hand nach irgendetwas zum Abstützen suchte – der Bettkopf reichte ihm –, war nicht derselbe Will, dem ich begegnet war, als er neunzehn und körperlich noch nicht voll ausgebildet gewesen war. Wir waren im College und allesamt dünner, als es gut für uns war, mit Blazern und Hosen angetan, die irgendwie eng und an den Handgelenken zu kurz wirkten. Der Will, mit dem ich in den Jahren nach dem College zusammengelebt hatte, der Will, den ich getrost die Liebe meines Lebens nennen konnte – dieser Will hatte viel weizenblondere Haare gehabt und mehr davon; er war ein heller Typ, holte sich schnell einen Sonnenbrand. Jetzt trug er das Haar kurz geschoren und war anscheinend anhaltend gebräunt, wobei der weiße Rand von der Badehose von Tagen zeugte, an denen er sich Sonne und Sand hingegeben hatte. Oder einer Dachterrasse mit Blick über die Souks – so stellte ich es mir vor. Dieser neue Will sah aus, als würde er nicht zu Bett gehen, ohne vorher noch ein paar hundert Sit-ups und Liegestütze zu machen. Wenn er den Arm bewegte, konnte man etwas über Anatomie lernen. Und nun stelle man das Bild von einem großen, braun gebrannten, viel gereisten Mann dem jenes Mannes gegenüber, den ich Anfang dieser Woche mit dem Summer in mein Gebäude einzulassen glaubte, einen Mann, von dem ich ehrlich 11
und vielleicht in naiver Weise glaubte, dass ich ihn zur Begrüßung umarmen würde – einen Mann in Popelinanzug, Seidenkrawatte und glänzenden Schnürschuhen aus feinstem Ziegenleder. Der viel versprechende Konsul zu Besuch aus den Tropen. Der Sohn seines Vaters. Versteht sich von selbst, dass der Will, der da auftauchte, nichts mit dem zu tun hatte, den ich erwartete, und damit will ich weniger sagen, dass ich enttäuscht gewesen wäre, als vielmehr verwirrt. Will Law hatte seinem Leben eine Wendung gegeben, die ich noch nicht verstand. Er war aus dem diplomatischen Dienst ausgeschieden, einem mit Terminen angefüllten Leben, und zu einem Mann mit leerem Terminkalender und einer Menge Stempel im Pass geworden. Wie war es dazu gekommen? Warum war er ausgeschieden? Jahre waren vergangen, ich hatte mein Leben gelebt. Das College lag ein Jahrzehnt zurück; ich musste nachrechnen, um mich zu überzeugen, dass es tatsächlich so war. Wir hatten lange miteinander gelebt, und länger getrennt. Wir hatten einander aus den Augen verloren. Und dann, vor sechs Monaten, begann Will mir Briefe zu schreiben: jeder davon eine knappe Seite lang, ein paar hingeworfene Sätze, und doch jeder einzelne getreulich und leidenschaftlich verschlungen. Sie kamen in wöchentlichen Abständen, oft bevor ich noch antworten konnte. Er erzählte davon, dass er ein neues Leben beginnen wolle und dass – so habe ich das Geschreibsel jedenfalls interpretiert – die Zeiten mit mir seine schönsten gewesen seien: unsere herbstlichen Fahrten zum Haus der Familie Law in Maine, das wir dann immer ganz für uns alleine gehabt hatten. Ein gemächlicher Trip hierher nach Paris im Sommer nach dem College – es waren so unbeschwerte Tage für uns, damals. Wie hatten wir uns auseinander gelebt? Er wollte mich sehen, schrieb er; würde ich mich mit ihm treffen? Wir verabredeten ein Rendezvous in Paris, während ich meine Recherchen dort machte, und er ließ sich Zeit mit seiner Ankunft, aber 12
dann tauchte er schließlich doch auf. Da war die Umarmung im Foyer, nur so pro forma, aber dann auch ein Kuss. Gleich auf Anhieb ein Kuss, der viel mehr war als nur ein Ausdruck der Wiedersehensfreude. Ein Kuss, ein Loslassen – und plötzlich kamen alle seine Briefe zusammen. Welchen Kummer er mir auch bereitet hatte, er war mit einem Schlag verschwunden. Nicht lange, und wir stolperten quer durchs Zimmer durch die Schiebetür und rissen uns dabei gegenseitig die Kleider vom Leib. Wir machten genau da weiter, wo wir aufgehört hatten, oder zumindest schien es so. Stunden später sagte Will, ich habe dir mitgebracht, was du immer so mochtest. Rotwein und Zartbitterschokolade. Und Birnen. »Wie spät ist es?«, fragte Will. Er drehte sich auf den Rücken und stützte sich auf die Ellbogen. Ich hörte unten auf der Straße jemanden rufen. »Was für ein Tag ist heute?«, fragte ich zurück. Ich legte meinen Morgenmantel ab. Wieder schrie die Katze unten im Hof, ein lauteres, verzweifeltes Miauen. Die Katze, die ich zweimal gesehen und die in meiner Erinnerung grüne Augen hatte. Ich fand ihre Augen natürlich grün, weil die von Will es auch waren; grün am Tag, grau in der Nacht. Er zwinkerte mir zu. Er zog mich näher heran. Ich kroch zu ihm hinüber, blieb einen Moment in der Schwebe und ließ mich hinuntersinken. Eines Tages war es schließlich Zeit. Wir würden uns über das Café an der Ecke hinauswagen müssen. Wir würden ernsthafte Gespräche führen müssen. Aber was, wenn wir einen Nachmittag und einen Abend länger zu Hause geblieben wären? Ich muss mich das einfach fragen. Was, wenn wir im Haus geblieben wären.
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ALS WIR schließlich unten auf der Straße ankamen, war es zehn Uhr morgens, und die Menschenmenge, die ich schon früher bemerkt hatte, war beträchtlich angewachsen, was seltsam war in diesem Teil der Stadt, mehrere Straßenzüge von einer Geschäftsstraße und den Botschaften entfernt, die dem Viertel einen eigenen Akzent gaben. Eine wahre Flut von Bürgern quoll über den Fußweg hinaus und auf die Avenue, Männer und Frauen und auch einige Kinder, alle in dieselbe Richtung strebend wie Familien, die zu spät zum Festumzug kamen. Mir fiel auf, dass die Kinder keine Büchertaschen trugen, es hatte auch niemand Aktenkoffer oder die Morgenzeitung oder irgendein anderes Requisit eines Arbeitstages bei sich. Niemand führte seinen Hund Gassi. Ein Mann schob sich eilends an uns vorbei und starrte uns aus weit aufgerissenen Augen an. Er schwenkte ein dürres Baguette über dem Kopf, das er wie einen Speer umklammert hielt. Als ich mir ein paar der anderen Leute ansah, die an uns vorbeiströmten, fiel mir auf, dass auch sie Teile von Brotstangen in den Händen zu halten schienen. Wir gingen in die allen anderen entgegengesetzte Richtung und mussten uns unter zahllosen Entschuldigungen einen Weg durch all die Leute hindurchbahnen, die sich an der Kreuzung aufgestaut hatten. Will und ich waren die einzigen Gäste im Café, und wir bestellten ein leichtes Frühstück. »Der Kaffee kommt sofort, Messieurs«, sagte der Kellner. »Aber ich muss Ihnen leider sagen, dass ich Ihnen keine Croissants bringen kann.« Ich fragte nach dem Grund. »Es ist kein Brot da«, sagte der Kellner. »Alle sind völlig verrückt geworden, wissen Sie.« Eine kleine Gruppe kam vorbei, jeder der Männer ein Stück Pumpernickel schüttelnd. »Aber es sieht doch so aus, als hätten alle Brot«, sagte Will. Die Männer gaben einen unverständlichen Sprechgesang von 14
sich. »Ja, ja«, sagte der Kellner. »Aber das ist Brot von gestern.« »Das Brot von gestern«, sagte ich. »Es ist altbacken, wissen Sie.« »Es gibt also keine Croissants«, sagte ich. »Keine Croissants, Monsieur. Aber vielleicht haben sie in einem anderen Café Croissants, wenn sie nicht beteiligt sind. Ich kann Ihnen nicht sagen, wo –« »Nicht beteiligt?« Ich sah erst Will an und dann den Kellner. Der Kellner zuckte die Achseln. »Also dann nur den Kaffee, danke«, sagte ich. Bald darauf kam der Kellner mit zwei großzügigen Schalen Milchkaffee zurück. »Ich kann Ihnen nicht einmal altbackenes Brot anbieten«, entschuldigte er sich. »Wir haben es ausgegeben, bevor Sie gekommen sind. Kann ich Ihnen vielleicht ein Omelette schmackhaft machen?« »Nein, danke«, sagte ich. »Nicht für mich«, sagte Will. »Das kommt alles durch diesen Boykott«, meinte der Kellner. »Boykott?«, fragte ich. »Wovon? Brot?« »Ja, Monsieur. Heute läuft ein Boykott der Bäckereien, und deshalb haben wir auch kein Brot. Es ist nicht wie üblich geliefert worden.« »Verstehe, verstehe«, sagte ich. »Das hat irgendwas mit dieser Rede zu tun.« »Voilà, Monsieur.« »Und was meinen Sie, wie lange der Boykott dauern wird?«, fragte ich. »Nur heute, soviel ich gehört habe«, sagte der Kellner und gesellte sich wieder zu seinen Kollegen auf dem Bürgersteig. »Weißt du, was da los ist?«, fragte Will. 15
»In etwa«, entgegnete ich. Ich hatte während meiner Zeit in Paris die französische Politik verfolgt: Vor einigen Wochen hatte der Führer der rechtsextremen französischen Front National, der sich nach jahrzehntelangem graduellem Aufstieg endlich in die Position gebracht hatte, dass er der nächste französische Präsident werden konnte, eine Rede gehalten, in der er zur Deportation all derer, die nicht auf französischem Boden geboren waren, und zu einer Totalsperre der Bewilligung neuer Visa aufrief. Die Partei ging damit weit über ihr ursprüngliches Parteiprogramm hinaus, das bisher sein Heil vornehmlich in finanziellen Anreizen für die wirklichen Franzosen – oder die französischen Franzosen, wie sie auch genannt wurden – gesucht hatte, Kinder in die Welt zu setzen, um mit dem wachsenden Bevölkerungsanteil der Immigranten Schritt zu halten. Die Partei hatte Auftrieb bekommen und wurde noch von einem kräftigen Rückenwind gestärkt, weil nach der Explosion einer Metrobombe, bei der acht Menschen getötet und zwölf weitere, darunter auch Kinder, verletzt worden waren, eine Reihe neuer Gesetze eingebracht wurde. Die Bombe war nur eine von vielen unterirdischen Explosionen in einer mittlerweile schon regelmäßigen Serie von Terroranschlägen, für die dem allgemeinen Gemunkel nach radikale Gruppierungen unter den Immigranten verantwortlich sein sollten, die genau jene tiefe Furcht in Frankreich nähren sollten, die eine Verabschiedung der neuen Einwanderungsgesetze von vornherein undurchführbar, ja sogar gefährlich machen würde. Für mich ergab das alles keinen Sinn, aber schließlich lebten wir auch nicht in einer Epoche der Vernunft. »Und was hat das nun mit dem Brot zu tun?«, wollte Will wissen. In seiner Rede hatte der Führer der Front National die Ausmerzung alles Unreinen im französischen Leben gefordert, womit er alle aus Afrika, dem Mittleren Osten oder aus Asien 16
Stammenden meinte, die er mit den Konservierungsmitteln verglich, die manche Bäcker heutzutage ihrem Brot zusetzten; viele hielten die Verwendung von Konservierungsmitteln im französischen Brot für Verrat, für ein Sakrileg. Und das war der Punkt, an dem die Bäcker ins Spiel kamen: Viele von ihnen gehörten bereits zur Legion der FrontAnhänger und beeilten sich, im Schaufenster und hinter der Ladenkasse Poster mit einem neuen Slogan aufzuhängen: Rien d’Impur. Nichts Unreines. Unter den Gegnern der Front – letzten Umfragen zufolge bildeten sie eine geschlossene, aber stetig abnehmende Minderheit – war schon lange von einem Bäcker-Boykott gemunkelt worden, und nun sah es so aus, als wäre es so weit. »Wir sollten ihn unterstützen«, sagte Will. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass es morgen noch irgendeine Bedeutung haben wird«, sagte ich. »Ja, aber sieh doch mal«, sagte Will. Immer neue Gruppen von Parisern glitten am Café vorbei, eilig dahinziehende Wolken, die der Gewitterfront entgegenstrebten. Niemand ging zur Arbeit. Es schien, als hätte die ganze Stadt, und vielleicht ja auch das ganze Land, heute dichtgemacht. »Ich sollte nicht so zynisch sein«, sagte ich. Will stieß die Luft aus. »In Paris geht in letzter Zeit alles drunter und drüber«, erklärte ich ihm. Ich hatte die Stadt durchwandert und die Graffiti überall gesehen, das Sprayer-Geschmiere an den Kalksteinfassaden in den äußeren Arrondissements am östlichen Stadtrand. Ich hatte Männer gesehen, die in Trucks vor der Moschee im Fünften standen und die Nationalhymne mit ohrenbetäubender Lautstärke abspielen ließen, um das Gemurmel des Mittagsgebets zu übertönen. Ich hatte die Banden dieser weißen Jugendlichen mit den kahl geschorenen Schädeln, den offenen Springerstie17
feln und der Trikolore auf dem Unterarm gesehen, und ich hatte gelesen, wie sie die dunkelhäutigeren Mädchen auf dem Schulweg mit Eiern bewarfen. Afrikanische Clochards wurden von Brücken gestoßen. Arabische Märkte wurden mit Brandsätzen beworfen. Vor den alten Cafés wurden Autos abgefackelt. Und in der Metro gab es Explosionen. »Aber du siehst aus, als seist du ziemlich heimisch hier«, sagte Will. »Du siehst glücklich aus.« Es stimmte. Ich ging vollkommen in meinen Recherchen auf. Und ich muss zugeben, dass ich darüber nachgedacht hatte, auf längere Sicht hier zu leben. Paris war selbst mit seinen Krankheiten immer noch attraktiv für mich: Ich war ein unbelehrbarer Optimist; ich dachte, dass das alles vorübergehen würde, ganz einfach, diese ganzen schweren Zeiten, diese Phase der Missgunst. Ich streckte den Arm über den Tisch und nahm Wills Hand. »Ich bin glücklich«, sagte ich. Er grinste und verschwand vorübergehend hinter dem breiten Rand seiner Kaffeeschale. Ich wollte ihn zur Rede stellen, aber ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Also beobachtete ich ihn eine Weile, während er der Menge zusah. »Du hast mir nie genau gesagt, warum du den Auswärtigen Dienst verlassen hast«, sagte ich schließlich. »Darüber haben wir doch schon geredet«, sagte er. »Du hast von der Langweile geredet, von deiner Ernüchterung. Aber ich habe das Gefühl, da ist noch etwas anderes, Will. Wir haben alle damit gerechnet, dass du mal unser Außenminister wirst.« »Ich habe euch hängen lassen.« »Nein«, sagte ich, »im Gegenteil.« Wir kauten nur wieder dieselben alten Gesprächsfetzen durch. »Ich kriege nachher ein dickes Mittagessen«, sagte Will, 18
»aber du. Du bekommst doch immer Kopfschmerzen. Du solltest etwas essen.« Ich sah ihm forschend in die Augen, trocken wie Schiefer. »Was sollen wir heute machen?«, fragte er. »Ich muss mich mit diesem Typen treffen und dann …« Ich nippte an meinem Kaffee. »Es hat Schwierigkeiten gegeben«, sagte Will. Ich wartete. »Bei meinem letzten Posten ist etwas passiert. Es gab Ärger.« »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich. Er nickte. »Es ist Vergangenheit. Vorbei, ich bin drüber hinweg.« Ich glaubte ihm nicht. »Was ist passiert?« Einen Moment lang dachte ich, er würde vielleicht antworten. Aber er sagte wieder: »Ich bin drüber hinweg«, und das war’s. Wir tranken unseren Kaffee aus und gingen hinaus. Es dauerte nicht lange, da schlurfte eine ältere Frau mit einem Baguette unter dem Arm direkt hinter uns her – sie piekste mich mit dem Brot in den Rücken –, und vor uns eilten zwei Männer mit ausladenden Schritten voran, jeder von ihnen eine steinharte Brioche in der Faust, deren Anblick mich, altbacken oder nicht, hungrig machte. Wir folgten dem in östliche Richtung ziehenden Aufmarsch und kamen auf den Boulevard, wo stecken gebliebene, verlassene Autos und verwaiste Busse herumstanden. Der spontane Aufmarsch hatte alle Straßen erobert, und die Fahrer konnten soviel hupen, wie sie wollten, und das taten sie auch, aber sie kamen nicht vorwärts. Mir wurde schwindlig, weniger vor Hunger als von dem Lärm, dem unaufhörlichen Gerede, dem manischen Klatschen und den immer neuen Versuchen, so etwas wie einen anspornenden, vereinenden Sprechgesang anzustimmen. Niemand schien genau zu wissen, was er rufen sollte. Wir bogen vom Boulevard ab in eine 19
schmalere Straße, dann durch einen breiten Durchgang und in noch eine Straße. Irgendwann kam die Seine in Sicht. Ganz Paris strömte auf die Straßen, ein Millionenheer von Körpern in Schal und Pullover, das dem Fluss entgegenstrebte, und wer nicht unten auf der Straße war, sah von oben, aus den aufragenden Wohnhäusern entlang der Straße, zu, manche winkten, manche warfen altes Brot auf uns herunter. Ich wurde von einem ziemlich großen Stück mit Körnern getroffen, und mir dröhnte der Kopf. Ich duckte mich in den Eingang eines Geschäfts für antike Uhren und zog Will hinter mir her. Ich rieb mir den Kopf. Will gab mir einen Kuss auf die linke Schläfe. Sämtliche Geschäfte in der Straße waren geschlossen; wahrscheinlich fürchtete jeder Händler, dass gerade sein Produkt als Nächstes dem Boykott zum Opfer fallen würde; oder vielleicht hatten sie auch Angst, dass die Leute in ihrer improvisierten Revolutionsstimmung gleich noch wahllos zu plündern anfangen würden. Wie aus dem Nichts tauchte eine Gruppe halbwüchsiger Jungen auf, die sich wie ein Mann auf die Menge zubewegten. Sie waren zu fünft, Brust an Brust, alle im selben Schritt, wie ein einziges Raubtier. Das Knallen von Stiefeln auf dem Pflaster, eine Bande, die auf Ärger aus war. Die Leute auf dem Gehweg machten einen großen Bogen um sie, und das mit gutem Grund. Wenn man sie ansah, griffen sie womöglich an – ich hatte das schon einmal gesehen –, dann stürzten sie womöglich vor, ohne besonderen Grund, nur dass es gerade Zeit für eine Abreibung war. Ich fand, dass sie mit ihren rasierten Schädeln und dem Pfirsichflaum, der unweigerlich zu schnell wieder nachwuchs, sehr jung aussahen. Und sie waren tatsächlich jung und ungelenk, wussten nicht, was sie mit ihren Armen machen sollten, rempelten sich gegenseitig an, stießen sich an Briefkästen und Straßenschildern. In letzter Zeit sah man sie überall, und es wurden immer mehr. Man lernte, bestimmte 20
Ecken, sogar ganze Straßenblocks zu meiden. Es war, als legte man sich im Geiste jede Woche einen neuen Stadtplan zurecht. Sie gingen auf einen Metro-Eingang zu und stiegen hinunter. »Richtig unheimlich«, sagte Will. Ich lehnte mich an ihn, er roch nach Gewürznelken. »Ich hab einen Freund hier«, sagte ich. »Seine Familie besitzt ein Haus auf dem Land. Kein nennenswerter Ort in der Nähe, im weiten Umkreis nichts. Vielleicht sollten wir für ein paar Tage dorthin fahren.« Will summte. »Hört sich gut an.« »Ich versuche die Schlüssel zu besorgen«, sagte ich. Dann drückte mich das Gewissen: Dieser Freund, den ich eben erwähnt hatte, würde böse mit mir sein; für gewöhnlich sprachen wir täglich miteinander, aber seit Will angekommen war, hatte ich mich nicht mehr bei ihm gemeldet. Wir mischten uns wieder unter den Menschenstrom und landeten neben einem Mann, der zwei Kinderbeine wie eine Stola um den Hals trug. Der kleine Junge war rund um den Mund mit Schokolade und Sahneresten von einem Eclair beschmiert, und ich hatte den starken Verdacht, dass er von verbotenem Backtriebmittel genascht hatte. Will und ich versuchten uns am Rand zu halten, aber wir wurden immer wieder in die Mitte der Straße gezogen, hinein in die menschlichen Stromschnellen, und hielten schließlich Kurs den ganzen Weg bis zum Fluss, an einem Beschürzten vorbei, der vor einer Brasserie stand und einen Schwung Baguettes im Arm hielt, als wären es illegale Waffen, die er großmütig an jeden verteilte, der bereit war, die Sache in die Hand zu nehmen. Ohne zu wissen, was wir eigentlich damit tun sollten, nahm ich ihm eine Stange ab und Will ebenfalls, dann folgten wir der Menge zum Quai hinunter. So weit man in nördlicher und südlicher Richtung sehen konnte, standen Pariser entlang den Ufern der Seine, jetzt reglos vor dem aufkommenden Wind. Auch an den losen Verbindungen der Seinebrücken entlang standen sie, und jetzt 21
wurde uns klar, was die Leute mit dem alten Brot machten. Neuankömmlinge wie wir konnten sich bis zum Rand vordrängen und wurden durch das Beispiel der anderen dazu gedrängt, ein Stück abzureißen und es, so weit wir konnten, in die dunklen Fluten des Flusses zu schleudern. Ich schnippte ein Stück von meinem Baguette ins Wasser und überraschte mich selber bei dem Lächeln eines kleinen Jungen, der zum ersten Mal sein Spielzeugboot dazu gebracht hat, eine komplette Runde um den Brunnenteich zu segeln. Wie ich feststellte, war ich nicht der Einzige, der grinste; alle anderen, die ans Flussufer traten, um ihren Beitrag zu der Brotkrumengischt zu leisten, lächelten ebenfalls. Für mich war klar, dass dieser Protest über einen einfachen Bäckerei-Boykott hinausging. Wir sagten den Bäckern, wir brauchen euer Brot nicht. Wir warfen alles weg, was wir gerade hatten, selbst vetrocknete Reste. Und doch schien dieser Akt, die Bedeutung, die wir ihm beimaßen, weniger dem Zorn als dem Gebet zu entspringen. Das zeigte sich darin, wie ruhig die Menge am Fluss wurde, so nüchtern und hoffnungsvoll, oder jedenfalls wollte ich das gern glauben. Ich stellte mir vor, dass der Mann mit den nach vorn gebeugten Schultern und dem weißen Schnurrbart, der mit einem Kriegsorden am Mantel neben mir stand, an ein Paris zurückdachte, in dem es nachts sicher war, und dass eine Schwarze, die noch ein paar Schritte weiter stand, daran dachte, dass sie gar nicht das Geld hatte, heim nach Afrika zu gehen, wie es ihr die Parolen an den Wänden nahe legten. Und eine jüngere Frau neben ihr flüsterte vielleicht: Nehmt die Gesetze zurück, nehmt diese bösen Gesetze zurück. Dann wieder konnte der Mann mit dem Schnurrbart aber auch grummeln: Warum sucht ihr euch nicht eure eigenen Weiden zum Grasen? Und die Schwarze neben ihm dachte: Je mehr sich alles ändert – 22
Und die jüngere Frau: Ich hoffe, sie werfen noch mehr Bomben auf die Züge. Ich riss noch ein Stück Brot ab, schleuderte es in die Strömung und sah zu, wie es hüpfte und schlingerte. Ich konnte nicht lange verfolgen, welcher Kahn in dieser matschigen Flotille der meine war. Ich sah zu Will hinüber und stellte fest, dass er nicht ein einziges Stück von seinem Baguette abgerissen hatte und stattdessen geradeaus über den Fluss starrte. Was er dort fixierte, konnte ich nicht feststellen. Was ich sah, waren die Türme der berühmten Bauwerke in der näheren und weiteren Entfernung, der Invalidendom, der die Sonne auf sich zog wie eine Goldmünze im Flug. Ich konnte leises Murmeln aus fernen Gefilden hören, all die Sorgen von Jahrhunderten, deren Echo durch die gewundenen Aufgänge der alten Stadt klang, die Trauer dabei eine aufsteigende Melodie im Sopran. Manchmal fragte ich mich, warum Paris noch nicht unter der Last seiner langen, mühseligen Geschichte eingeknickt und in sich zusammengebrochen war. Ich warf den Rest meines Baguettes wie einen Speer in den Fluss, so weit, wie ich nur konnte, auf die nächste Brücke zu. Es war ein guter, weiter Wurf. Das Brot schlitterte über die Oberfläche, bevor es liegen blieb. Mir war schwindelig. Ich trat vom Flussufer zurück und setzte mich auf eine in die Mauer der Uferstraße eingelassene Bank. Will kam mir nach. »Ça va?«, fragte er. »Ça va, ça va«, sagte ich. »Aber du hast Recht gehabt. Ich hätte etwas essen sollen.« Er gab mir sein Baguette, und ich brach ein Stück ab, und zu meiner Überraschung war die Kruste von Wills Brot, im Gegensatz zu dem Laib, den ich eben weggeworfen hatte, ganz dünn und leicht zu brechen; die weiß entfärbte Krume war noch warm, kein bisschen altbacken. Es konnte noch nicht länger als eine Stunde aus dem Ofen sein. Ich aß, so viel ich 23
brauchte, und dann kam ein Mann in einem schmutzigen Regenmantel auf mich zu. Seine glanzlosen Augen waren von tiefen Ringen umgeben; er sah erschöpft aus. Er zeigte auf das Brot. Als ich es ihm gab, verzog er sich sofort damit in eine Vertiefung in der Mauer. Dort ließ er sich niedersinken. Er riss das Brot in Stücke und verschlang alles, was ich ihm gegeben hatte, mit einer derartigen Geschwindigkeit, dass mir klar war, dies war seit viel zu langer Zeit seine erste Mahlzeit. »Pedro«, sagte Will. Er sah nicht mich an, sondern wieder zum Fluss, über ihn hinweg. »Ich will hier raus«, sagte er. »Ich will irgendwo anders hin. So schnell es geht, heute Abend.« »Wir können zum Landhaus von meinem Freund fahren«, sagte ich. »Nein, ich meine raus aus dem Land«, erwiderte Will. »Aus dem Land? Wohin?« »Das weiß ich noch nicht. Irgendwohin, wo wir beide bisher noch nicht gewesen sind. Irgendwas Neues«, sagte er. Irgendetwas Neues. Bei diesen Worten beschleunigte sich mein Atem. »Ich wusste es nicht, als ich hierher kam«, sagte er. »Ich dachte, wir würden einfach rumhängen, reden – ich wusste es nicht, das musst du mir glauben. Aber jetzt weiß ich, was ich will.« Er sah mich an. »Komm mit mir«, sagte er. Wir kennen alle jemanden, dem wir unser Leben lang nachjagen. Eine frühe unglückliche Liebe verfolgt uns über die Jahre hinweg und schleicht sich bis zu einem gewissen Grad in jede neue romantische Begegnung ein. Alter Kummer hat so eine Art, sich immer wieder in neuem Kummer zu zeigen. Wir kennen alle jemanden, den wir in der Jugend verloren haben und der für alle Ewigkeit darüber bestimmt, was wir in einem 24
neuen Geliebten suchen werden. Eine gewisse Vorliebe für legere Kleidung – nicht zugeknöpfte Hemdsärmel, die beim Zurückrutschen den Blick auf zarte Handgelenke freigeben. Der Tonfall, in dem eine Anekdote erzählt wird. Wir sehen zu, beobachten die alltäglichsten Verrichtungen – das Aufschneiden eines Pfirsichs, das Einschenken von Wein –, und von diesem Punkt an wird uns ein sehr viel tiefer gehender Hunger vorantreiben, genau so, wie er es vor langer Zeit getan hat, ein ungeheurer Sog, das dringende Bedürfnis, alles über diesen Mann oder diese Frau zu erfahren, also genau das, was man nie erfahren kann. Und so vergehen die Jahre, und du verliebst dich hundertmal, und nach einer Weile kannst du nur noch dieses Verhaltensmuster bei dir selbst erkennen, ohne dich zu erinnern, wie es damit begonnen hat, ein langer, gewundener Fluss mit einem fernen und verborgenen, unauffindbaren Ursprung. »Wirst du mit mir kommen?«, fragte Will. Wir kennen alle jemanden. Und nun sah es doch beinahe so aus, als würde der Mann, dem ich so lange nachgejagt war, mir nachjagen. Und wer war er, fragte ich mich, wer war Will Law? Ich glaubte ihn gut zu kennen – aber tat ich das wirklich? Ich sah zum Himmel auf, der dunkelgrau war, aber nicht, weil die Wolken regenschwer waren, auch wenn es später regnen würde. Über dem Fluss war ein großer Vogelschwarm; die Vögel waren dunkel und verdeckten die Sonne. Alle Möwen und Tauben der Ile-de-France, lautlos schwebend, zu verschreckt, um zu krähen, hastig die Flügel schlagend, immer im Kreis, bis sie schließlich aufs Wasser niederstießen, um sich über das herzumachen, was bei ihnen unweigerlich für eine ganze Weile als ein gar wundersames Festmahl bekannt sein würde.
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2 WIR VEREINBARTEN, uns später in meiner Wohnung zu treffen, und trennten uns. Will konnte kein Taxi bekommen und kam deshalb zu spät. Er nahm eine Querverbindung zum Faubourg hinauf, lief eine Reihe von kurzen Straßen entlang, die keine ganz so gute Abkürzung waren, wie er gedacht hatte, und marschierte im Laufschritt den ganzen Weg durch bis zum Place Vendôme, der vollkommen leer war, bis auf eine kleine Polizeieinheit, die sich vor dem Justizgebäude versammelt hatte, die Hälfte der Beamten in Kampfanzügen. Seine Schritte verhallten rund um die Napoleonische Säule. Im Inneren des Hotels allerdings wuselten alle möglichen Leute herum oder standen in einer gewundenen Schlange beim Portier an. Will verschnaufte kurz und rief oben an; eine unbekannte Stimme teilte ihm die Zimmernummer mit und sagte, das Mittagessen sei bereits bestellt. Während er in einem dunkel getäfelten Aufzug bis in die oberste Etage des Hotels fuhr, dachte er: Was tue ich da? Ich gehöre nicht hierher. Der Mann vom Telefon erwartete Will in der Tür zur Suite; er trug einen schwarzen Einreiher und sah aus, als hätte er gerade erst das College hinter sich gebracht. Garrett Jencks erschien einen Augenblick später, derselbe wie immer. »William Law, das ist doch wohl nicht möglich. Bist du’s wirklich?«, trompetete er. Will schüttelte ihm die Hand. »Ich fürchte schon«, sagte er. »Der Will, den ich kenne, ist ungefähr einen Meter groß und hat ein paar Zahnlücken«, sagte Jencks. »Ich habe ein vollständiges Gebiss«, meinte Will. »Der Will, den ich kenne, ist ein verdammt guter Bogenschütze, und er hasst Bienen.« »Ich bin ein bisschen aus der Übung mit Pfeil und Bogen, Sir«, sagte Will. 26
»Sir? Bin ich geadelt worden?«, fragte Jencks seinen Assistenten. »Nein, Sir«, sagte der Assistent. »Na, dann. Okay, Sie können uns jetzt allein lassen. Gehen Sie in die Bar und gabeln Sie irgendeine Erbin auf. Unser Flug geht wann?« »Vier Uhr«, sagte der Assistent, schon auf dem Weg zur Tür. »Der Wagen kommt um halb drei.« Und schon war er weg. »Nun sieh dich nur mal an«, sagte Jencks. Will fragte sich, ob er wohl immer noch rot angelaufen war. »Jetzt fühle ich mich alt«, sagte Jencks. »Wirklich sehr alt.« Er ließ sich auf ein Sofa sinken. Er mochte das Auswärtige Amt ja verlassen haben, aber das Amt nicht ihn. Er trug den passenden Anzug für eine europäische Stadt im Herbst (grau mit zurückhaltenden Nadelstreifen), das passende Hemd (blau mit gestärktem weißem Kragen und Manschetten, viereckige goldene Manschettenknöpfe), aber keinen Schlips (noch nicht). Und schwarze Schnürschuhe mit durchgenähter Sohle, die er auf die Glasplatte des Couchtischs legte und dabei ein Gebirge von Faxen und Zeitungen zum Einsturz brachte. »Magst du immer noch keine Bienen?«, fragte Jencks. »Nein, aber wer tut das schon?« »Imker«, sagte Jencks. »Und ich. Ich habe wirklich nichts gegen sie. Sie erfüllen ganz sicher eine Funktion im großen Ganzen.« »Ihr Assistent sagte, Sie hätten etwas zu essen bestellt«, sagte Will. »Macht es dir etwas aus? Du warst ein bisschen spät dran. Ich bin zum Abendessen in Berlin –« »Nein, Sir.« »Garrett. Oder Onkel Garrett. Oder Onkel Barkeeper.« »Es tut mir Leid, dass ich mich verspätet habe –« »Ist da draußen der Teufel los?«, fragte Jencks. Das war ein bisschen übertrieben, aber Will nickte trotzdem. 27
Jencks griff sich an den linken Strumpf und kratzte sich an seinem haarlosen Bein. »Wir wussten, dass das heute passieren würde«, sagte er. »Tatsächlich?« »Wahrscheinlich ist das ganze Hotel unten am Empfang und reist vorzeitig ab.« Will nickte. »Wollen alle raus, bevor die Revolution ausbricht. Die Menschen können so dumm sein«, sagte Jencks. »Entschuldige, aber wenn man erst aus dem diplomatischen Dienst ausgeschieden ist, wird man, wie du bestimmt schon selbst festgestellt hast, ganz und gar unnachsichtig. Man überkompensiert für all die Zeit, in der man nie sagen konnte, was man wirklich dachte.« Er warf einen Blick auf seine Uhr, eine hauchdünne Goldschicht an seinem Handgelenk. »Ungefähr um drei wird es vorbei sein«, prophezeite er. »Heute Abend wird es ein paar Besäufnisse geben, diese Banden und so weiter. Und morgen früh wird die Assemblée irgendeinen Entwurf durchbringen. Der Präsident spricht im Fernsehen. Ja, wir wussten es, und offen gesagt, dieser Tag wird kommen und wieder vergehen. Wie lange bist du in der Stadt?« Will bedauerte, dass er dieses Treffen herbeigeführt hatte. Die immer gleichen langweiligen Erinnerungen an seinen Vater und vielleicht sogar irgendwelche Bemerkungen über seine geheiligte Mutter – Will wusste, dass das alles bald kommen würde, und er wollte nichts davon hören. Garrett Jencks und Wills Vater hatten irgendwann im Frühstadium ihrer Karrieren gemeinsam Dienst getan. Will wusste nicht einmal genau, wo. Deutschland oder Italien, nach dem Krieg. Sie leiteten irgendeine kleine Stadt. Will war ein Nachzügler gewesen, seine Schwestern wesentlich älter, und Jencks – jetzt, wo Will genauer hinsah, den braunen Inselgruppen auf seinen 28
Handrücken nach zu schließen – musste über siebzig sein. Es klopfte an der Tür. Es war ein weiß bejackter dunkelhäutiger Mann mit einem silbernen Rollwagen mit von silbernen Kuppeln bedeckten Tellern darauf. Er breitete ein Tuch über einen Tisch am anderen Ende des Zimmers und brachte, wie aus dem Ärmel gezaubert, eine schmale Silbervase mir zwei flammend roten Rosen zum Vorschein. Jencks nahm im Schlafzimmer einen Telefonanruf entgegen, während der Mann den Tisch deckte. »Wo ist er jetzt?«, bellte Jencks. »Können Sie ihn heute Abend nach Berlin schaffen? Er muss nach Berlin. Und sagen Sie ihm, wir haben die Sache im Griff. Nein, kaum, aber sagen Sie es ihm trotzdem.« Dann kehrte er ins Zimmer zurück und gab dem Kellner ein Trinkgeld, der mit einer angedeuteten Verbeugung das Zimmer verließ. »Endlich allein«, sagte Jencks, während er sich das Jackett auszog und eine Serviette auf seinem Schoß ausbreitete. »Es ist schön, dich zu sehen, Will. Schön, dich zu sehen.« Allein in einer Suite im Grandhotel und ganz plötzlich sehr deprimiert. Will vermisste seinen Vater hin und wieder, aber meistens dachte er an seine Mutter, die vor langer Zeit gestorben war. Er glaubte nicht, dass sie ihm hätte Ratschläge geben können, jedenfalls nicht von der Art, wie er sie gebraucht hätte, aber er konnte sich vorstellen, sie anzurufen und einfach über nichts Bestimmtes mit ihr zu reden, ein Kreuzworträtsel, ein Buch, das er gelesen hatte, und das hätte ihn beruhigt. Will schielte zu Garrett Jencks’ grauer Mähne hinunter, auf seine manikürten Hände. Seine Dauerbräune. Das Ganze hier war ein Fehler. Als Erstes gab es Suppe, eine Art Melonenkaltschale, die cremig und gehaltvoll, am Ende aber zu süß war. Will fischte sich ein warmes Brötchen aus dem Brotkorb und beschäftigte sich lieber damit, es in kleine Stücke zu reißen. 29
»Dein Vater und ich haben während der Cruise-Missile-Krise mal ganz hervorragend zusammen zu Mittag gegessen«, sagte Jencks. »Ich war gerade zurück aus – woher denn noch? Ich weiß nicht. Er war im Amt. Das waren verzwickte Zeiten.« Jencks schnitt ein Brötchen in zwei Hälften und bestrich es mit blütenweißer Butter. »Jedenfalls kam ich von irgendwoher zurück. Wir hatten eine Verabredung zum Lunch, und ich ging zu deinem Vater ins Büro. Seine Sekretärin, nettes Mädchen, ließ mich rein, aber dein Vater war nirgends zu sehen. Dann rief er nach mir – hier drüben, Jencks. Ich schaute mich um, sah ihn aber nicht. Jencks, hier drüben, sagte er. Na ja. Dein Vater saß unter seinem Schreibtisch.« Jencks warf den Kopf zurück, als wolle er eine Tablette schlucken, und lachte japsend. »Unter seinem Tisch – verstehst du? Wegen dieser MissileKrise. Am Ende haben wir unsere Roggen-Sandwiches auf dem Boden gegessen.« Will lächelte höflich. »Dein Vater«, sagte Jencks. »Ein berühmter Mann«, sagte Will. Das war anscheinend nicht das, was Jencks hatte sagen wollen, aber er stimmte mit einem knappen Nicken zu. »Wir wollten alle dein Vater sein«, sagte er. Will rechnete mit irgendeiner Er-wäre-stolz-auf-dichStandard-Floskel. Er war in die Fußstapfen seines Vaters getreten. »Ich weiß alles über Mexiko, Will«, sagte Garrett Jencks. Natürlich tat er das. Jencks war aus dem diplomatischen Dienst ausgeschieden und hatte eine Public-Relations-Firma gegründet, aber natürlich hielt er seine alten Verbindungen aufrecht. »Es ist hart«, sagte Jencks. »Du machst deine Arbeit. Du siehst Dinge, die dir nicht gefallen. Du weißt, dass du keine 30
Alleingänge machen solltest – immer schön an die Regeln halten. Aber trotzdem. Du bist arrogant genug zu glauben, dass du ein paar unbemerkte Vorstöße machen kannst, und das ist der Anfang vom Ende, nicht wahr?« Mehr sagte Jencks nicht; er hatte gerade so viel von einem abstrakten Szenario angedeutet, dass Will glauben konnte, er kenne tatsächlich die Wahrheit. Obwohl er die ganze Wahrheit, die Tatsachen, so, wie sie waren, nicht kennen konnte; nicht einmal Will selbst konnte ganz sicher sein, was eigentlich passiert war. Wirklich konkret sagen ließ sich nur, wer tot war. Und während all dieser Monate, jeden Tag, egal, wohin er fuhr, hing ihm diese Frage nach, quälte ihn, trieb ihn zum Wahnsinn, weil sie nie mit Bestimmtheit würde beantwortet werden können: War er schuld? Oder besser gesagt: Wie viel davon war seine Schuld? Jencks räumte die flachen Suppenteller weg und stellte stattdessen große, breitrandige Teller mit einem Fächer von Entenmedaillons und für die Jahreszeit ungewöhnlichem Gemüse, das Ganze umgeben von einer Spirale aus einer fruchtigen Sauce, hin. »Ich bin froh, dass du mich aufgesucht hast«, sagte Jencks. Will nahm sich noch ein Brötchen und hielt dann inne: Sie aßen Brot. Er legte das Brötchen wieder in den Korb zurück. »Sollen sie doch Kuchen essen und so weiter«, sagte Jencks und strich noch mehr Butter auf den warmen Teig. Will wollte schnell essen und dann verschwinden. Zum Teufel mit seiner ursprünglichen Mission. Er hatte beschlossen, dass er mit mir irgendwohin weglaufen würde und deshalb Garrett Jencks Hilfe, um eine Anstellung zu finden, gar nicht brauchte. Jetzt hatte er nur noch das Ziel, dieses Essen zu überstehen, ohne dass noch mehr seiner Verbrechen aufgedeckt würden. »Die Ente ist vorzüglich«, sagte er, obwohl er fand, der Vogel sei knochentrocken. »Sehr rauchig.« 31
»Le Canard«, sagte Jencks. »Und der weiße Spargel.« »Das Wort für Spargel weiß ich nicht«, sagte Jencks. »Mit Gemüse habe ich immer Schwierigkeiten, egal in welcher Sprache. Woher kommt das nur?« Will wusste, dass er auf diesen Konversationszug aufspringen musste, und deshalb stürzte er sich in eine weitschweifige Erzählung, wie er sich, ganz im Widerspruch zu seiner Erziehung – an welchem Ort der Welt sie auch leben mochten, hatte seine Mutter immer dafür gesorgt, dass sie eine Köchin bekam, die eine sämige Sauce Hollandaise schlagen konnte –, regelmäßig in den Küchen beliebter Restaurants herumdrückte, um mehr über die Feinheiten der regionalen Zutaten zu erfahren. In Tanger beispielsweise war er regelrecht zum Hilfskoch in einem Restaurant geworden, bevor er endlich begriff, wie man Kurkuma mit Kümmel und Ingwer verreiben und die Mischung an alle Arten von Lamm und Gemüse geben musste, die gerade in der Tajine schmurgelten. Eine Zeit lang waren seine Fingerspitzen ganz gelb von den Gewürzen gewesen. Aber die Kunst, die er wirklich erlernt hatte, war das Einmachen von Zitronen – »Du bist also ein richtiger Gourmet«, unterbrach Jencks. »Ich esse gern, das ist alles.« »Du bist ziemlich viel herumgereist in letzter Zeit«, schob er nach. Will schluckte einen Haricot vert ungekaut hinunter. Die Bohnen waren so gut wie durchsichtig. »Versuchst herauszufinden, wie dein nächster Schritt aussehen muss.« Warum hatte er geglaubt, das Thema wechseln zu können? »Und ich weiß auch, wie das ist, ich war auch schon einmal da, am Wendepunkt. Und du willst nicht versuchen, in den diplomatischen Dienst zurückzukehren«, sagte Jencks. »Das will ich nicht«, sagte Will. »Ich könnte es sowieso nicht.« 32
»Da bist du ganz sicher.« »Absolut«, sagte Will. »Und im Übrigen, seit ich nach Paris gekommen bin –« »Ich muss sagen, dass ich bis zu einem gewissen Grad verstehen kann, wie du dich fühlst«, sagte Jencks. Er wischte sich einen Saucenklecks vom Kinn. »Was du durchgemacht hast.« Will musterte das Gesicht des Mannes, seine Hände, lotete noch einmal aus, wie sehr er gealtert war. Er sah sich selbst auf einem Rasenstück des Sommerhauses mit Garrett Jencks in Seersuckerhosen, wie er das Eis in einem frühen Cocktail herumschlenkerte. Eines Tages wirst du viel Krickett sehen, hatte Onkel Garrett gesagt, und du wirst es nicht verstehen, versuch’s erst gar nicht. »Wir leben nicht mehr in derselben Welt wie früher«, sagte Jencks. »Als dein Vater und ich – okay, keine Heldengeschichten mehr. Aber das eine sage ich dir, darum habe ich nämlich aufgehört: Die Regeln haben sich geändert.« Will gab auf. Er wusste, dass er Garrett Jencks nicht davon abhalten konnte, abzuspulen, was immer er offenbar so gern besprechen wollte. Er war in der Kunst des Lunchens sehr viel bewanderter. »Und nach allem, was man hört, hast du nach deinem Ausscheiden aus dem Dienst ein ganz nettes Geschäft aufgebaut«, sagte Will. »Ich bin ein regelrechter Pionier«, meinte Jencks. »Deine Hauptniederlassung ist in New York«, sagte Will. »New York und Washington«, erwiderte Jencks. »Was gefällt dir am besten?« »Keins von beidem, aber ich sitze sowieso die meiste Zeit im Flugzeug. Meine derzeitige Frau dachte, durch den Rückzug aus dem Dienst würde ich mehr Zeit für die Orchideen haben, und, na ja. Ich bin zum Abendessen in Berlin, wie ich schon sagte.« »Frühstück in Mailand?« 33
»Du kennst das ja«, sagte Jencks. »Tatsächlich wieder in Paris.« Sie aßen den Rest ihrer Ente. »In deiner Mitteilung erwähntest du etwas von einer wohltätigen Beschäftigung«, sagte Jencks. »Ob ich Arbeit für dich hätte, in einer Agentur oder –« »Das war vor ein paar Wochen«, sagte Will. »Deshalb bist du überhaupt eingestiegen, stimmt’s? Um Gutes zu tun? Hör mal, ich bin ein Meisterzyniker, aber in dem Punkt hast du meine ganze Hochachtung. Ehrlich, ich achte dich dafür.« Gutes zu tun – etwas an diesem Satz klang bitter. Zum Dessert gab es Mousse au chocolat, und weil Will genau wie ich Schokoladiges einfach immer essen konnte, egal zu welcher Tageszeit, gab er sich einfach dem Genuss an diesem Teil des Essens hin. Die Mousse lag ganz leicht auf der Zunge und bekam ein wenig Biss durch winzig kleine Schokoladenstückchen. »Dein Vater war mein bester Freund, Will. Seinetwegen habe ich dich im Auge behalten. Und dann hast du dich mit mir in Verbindung gesetzt. Also habe ich über dich nachgedacht. Über deine Zukunft.« Will blieb der Löffel im Mund stecken. Plötzlich fiel ihm ein, Garrett Jencks könnte ihm eine Stelle in seiner Firma anbieten, und er begann darüber nachzudenken, wie er möglichst höflich ablehnen konnte. »Und ich habe auch über mich nachgedacht. Was ich in den letzten zehn Jahren getan habe, was ich aus mir selbst gemacht habe. Siehst du, ich bin in letzter Zeit ziemlich in mich gegangen. Was werde ich der Welt einmal hinterlassen und so weiter.« Jetzt kam’s. »Du willst nicht so werden wie ich«, sagte Jencks und zwinkerte ihm onkelhaft zu. 34
Will legte seinen Löffel in die Schale zurück. Er war erstaunt, und das konnte man ihm wohl ansehen. »Ernsthaft. Du willst nicht so werden wie ich.« »Garrett –« »Du willst nicht, entschuldige die Ausdrucksweise, die gleiche Scheiße bauen wie ich.« Will kniff die Augen zusammen. »Ich hätte niemals aus dem Dienst ausscheiden dürfen. Und du auch nicht. Du, Will, solltest dir, so schnell du kannst, einen Weg zurück suchen.« Jencks machte sich über seine Mousse her. Will wusste nicht, wie er reagieren sollte. Wenn Jencks die Wahrheit wusste, dann wusste er auch, dass Wills Karriere als Diplomat beendet war. An dem Tag, als er ein Flugzeug bestiegen hatte, ohne jemandem ein Wort davon zu sagen. An dem Tag, als er Mexiko verlassen hatte, war sie offiziell vorbei. »Ich kann nicht wieder zurück«, sagte Will. »Ich weiß, dass du das glaubst. Aber sieh mich an.« Jencks breitete die Arme aus. »Ich bin das, was aus dir werden wird, und du willst nicht so sein wie ich.« »Du hast deine Firma aus dem Nichts aufgebaut«, sagte Will. Er wusste eigentlich nicht genau, was das tatsächlich für ein Geschäft war, und er brachte dem Freund seines Vaters auch nicht gerade besondere Hochachtung entgegen, aber er war ganz plötzlich in der seltsamen Position, dass er dem Selbstwertgefühl des Mannes ein wenig auf die Sprünge helfen wollte. Jencks lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ja, die größte Krisenmanagement-Firma der Welt, expandiert jeden Tag.« »Ich lese Zitate von dir in den Zeitungen«, sagte Will. »Oh, ja. Ich kann über allen möglichen Blödsinn parlieren, von dem ich nichts verstehe. Ich mache damit beaucoup d’argent. Aber, weißt du, womit ich wirklich meine Alimente 35
bezahle?« Will zuckte die Achseln. »Ein Sultan kauft einen Country-Club und wird beschuldigt, ein Antisemit zu sein. Wir lassen ihn Geld für ein jüdisches Museum spenden. Der Sohn von irgendeinem Mafia-Boss ist ein rechtschaffener Geschäftsmann und will Filme machen. Wir erledigen die Vorarbeiten in Bel Air. Wir suchen ihm ein Haus, staffieren es mit ein bisschen Regionalkunst aus, lassen ihn eine Einweihungsparty schmeißen – mit einem angekratzten Ruf lässt sich haufenweise Bares machen. Manchmal bringen wir irgendeine kleine Skandalnudel einfach nur aufs Titelblatt – sie erzählt ihre Version von der Geschichte, während wir kräftig mit dem Farbpinsel drübergehen –, und Papa Herzchirurg zahlt, und das nicht zu knapp. Oder der Grund, warum ich in Paris bin: Ich habe einen Klienten, ein ziemlich aufstrebender Stern in der sozialistischen Regierung, aber er könnte am Rande in diesen Skandal um die Privatisierung öffentlicher Betriebe verwickelt sein. Meine Aufgabe dabei ist, seinen Namen aus den Registern sämtlicher Bücher herauszuhalten, die darüber veröffentlicht werden. Ein ziemliches Kunststück. Die Rechnung wird entsprechend hoch.« Will legte seine Serviette zusammen. »Das ist das, was du tust, wenn du wieder auf privatem Gebiet bist«, sagte Jencks. »Alles Blödsinn. Und ich bin kein Spieler. Ich spreche mit meinen alten Kumpels, aber ich spiele nicht mit. Ich meine, klar, ich sehe die Telexe, ich lese, was ich lese. Aber es ist einfach nicht dasselbe. Ich habe keinen Zugang zu den Leuten am Boden. Ich habe keine Satellitenbilder. Also wirklich, Will. Gib’s zu. Vermisst du es nicht?« Information war der Humus für einen Baum der Entscheidung; jeder Diplomat wusste das. Man las ihn draußen auf, kämmte ihn sorgsam durch, steckte ihn in Umschläge und schickte ihn zurück nach Washington. Und Will wusste aus erster Hand, dass es ein überwältigendes Gefühl war, wenn 36
man seine Hände in diesem noch feuchten Lehm vergrub. »Nein, ich vermisse es nicht«, sagte er trotzdem. »Du lügst.« »Nein, ich glaube nicht, dass ich es vermis–« »Du lügst«, beharrte Jencks. Will schob seinen Stuhl vom Tisch zurück. »Weißt du, wie es dazu gekommen ist, dass ein geborener Geheimniskrämer wie ich, praktisch kurz bevor er einen Botschafterposten bekommen hätte, ausgeschieden ist?«, fragte Jencks. Will wusste es nicht. »Hör mal. Ich werde dir hier nicht meine Wunden offenbaren, und ich muss deine auch nicht unbedingt sehen. Ich erzähl dir das jetzt nur. Du weißt ja, dass ich auf dem Balkan eingesetzt war. Es gefiel mir nicht, was wir da gemacht haben, aber ich habe meine Arbeit getan, habe meinen Teil des Vertrages erledigt. Ich habe die Formulierungen auf die InterimsRegierung ausgerichtet. Im Grunde haben wir Schurken unterstützt. Im Grunde haben wir gesagt, dass wir im Namen des Friedens wegsehen sollten, während – ich muss es dir ja nicht weiter erklären. Heute weiß jeder, was sich abgespielt hat. Ich habe meinen Job gemacht und bin nicht ausgeschieden, auch wenn ich mehrmals damit gedroht habe, und dann ist, wie du weißt, einer meiner Kollegen unter ziemlich großer öffentlicher Beteiligung zurückgetreten. Du erinnerst dich sicher noch an all diese Artikel. Er wurde zum Helden. Ich nahm seine Stelle ein, brachte das Abkommen unter Dach und Fach. Jeder von uns wusste, dass es nutzlos war – dass es keinen Bestand haben würde. Und so war es auch. Heutzutage beurteilt die Geschichte unsere Arbeit viel schneller, als uns lieb ist. Trotzdem war der Außenminister plötzlich sehr freundschaftlich. Er versprach mir den großen Posten. Endlich, nach allem, wofür ich gearbeitet hatte. Aber ich dachte, ich bin besser als das. Ich habe immer noch meine Prinzipien. Also bin ich auch zurückgetre37
ten. Ich gründete meine Firma zusammen mit einem anderen Exdiplomaten. Das war ein Fehler.« »Warum war das ein Fehler?«, fragte Will. »Sie haben Ihren Standpunkt vertreten –« »Ach was. So naiv bist du nicht. Ich war nur neidisch auf den Kerl, über den alle diese Leitartikel geschrieben wurden. Mein Kollege, der Held mit seinem Vertrag für zwei Bücher, der zum Sonderbeauftragten ernannt wurde, als das Abkommen zerbrach. Ist wieder in das Gebiet zurück. Wurde zum zweiten Mal zum Helden, indem er eigentlich nur meine Grenzen nachgezogen und meine Zeitpläne neu zusammengestellt hat.« Jencks ging zur Couch hinüber. Will blieb, wo er war. »Ich war nur neidisch. Ich bin kein moralischer Mensch«, sagte Jencks. »Das weißt du. Und wir wissen beide, woher du das weißt – seien wir ehrlich. Du hast auch deine Fehler gemacht.« Will zog sich an ein Fenster zurück, das auf den verlassenen Platz hinabging. Wenn die Sonne schien, wirkte die Säule unten wie der Zeiger an einer Sonnenuhr, aber jetzt war der Himmel bedeckt. »Du solltest in den diplomatischen Dienst zurück. Da gehörst du hin.« »Das ist unmöglich«, sagte Will. »Ich habe mich gefragt, was ich für den einzigen Sohn meines alten Freundes tun kann. Welchen Einfluss habe ich noch, den ich für ihn geltend machen kann?« Will sah ihn an, die Arme vor der Brust verschränkt. Jetzt verstand er, worauf das Gespräch hinauslaufen sollte. »Ich habe ein bisschen telefoniert.« Will lief es kalt über den Rücken. »Es ist alles klar.« Er hätte es kommen sehen müssen. »Du kannst zurück«, sagte Jencks. Will wusste nicht, wie er seinen Ärger höflich verbrämen 38
sollte. Wie soll man den Trauzeugen seines eigenen Vaters zum Teufel schicken? Wie schickt man jemanden zum Teufel, der sich wahrscheinlich an die Lieblingsblume deiner Mutter erinnert? »Djakarta«, sagte Jencks. »Im Stab des politischen Beraters – das ist der Auftrag.« »Ich habe nicht darum gebeten«, sagte Will leise. »Ich weiß, ich weiß. Djakarta war dein erster Posten. Es kommt dir vor wie ein Schritt zurück, als würdest du noch einmal von vorne anfangen. Wieder zurück ins IndonesienTeam. Aber da drüben passiert ein Menge, und sehr schnell – das brauche ich dir nicht zu sagen. Hör zu, das ist mein Angebot: Du fängst wieder als FS 2 an, und ich nehme an, dass du wieder auf die Kometen-Bahn einschwenken kannst, also rechnen wir mit FS 1 innerhalb eines Jahres. Danach kannst du durchatmen. Zwei, drei Jahre höchstens, denke ich, dann bist du Senior FS. Eine ziemliche Karriere. Ich glaube nicht, dass das, was in Mexiko passiert ist, deine Laufbahn behindern wird. Im Gegenteil.« »Garrett«, sagte Will. Er schluckte. Er wusste nicht, was er wollte, aber das hier war es nicht. »Nach dem, was du getan hast, was du durchgemacht hast, glaubst du, du bist am Ende«, sagte Jencks. »Hör mir zu. Die halten größere Stücke auf dich als vorher.« Will durchquerte das Zimmer und ließ sich auf das Sofa sinken, ohne überhaupt zu fühlen, dass sich seine Beine bewegten. Er war wie betäubt. Es folgte minutenlanges Schweigen. »Wo ist der Haken?«, fragte Will schließlich. Jencks lachte in sich hinein. »Sie werden mir nicht erzählen wollen – bei allem Respekt«, sagte Will, »Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Ihr Einfluss und mein Familienname das, was in Mexiko war, einfach ausgelöscht haben.« 39
»Du hast dich als außerordentlich fähig erwiesen. Vielleicht ist es dir über den Kopf gewachsen, und, ja, nachdem du fort warst, stellte sich heraus, dass du die undichte Stelle warst. Aber, ganz ehrlich, im Großen und Ganzen war man der Meinung, dass du deine Sache gut gemacht hast. Alle waren sehr beeindruckt.« Gut gemacht? Beeindruckt? Es waren Menschen gestorben. Eine Familie war tot – Will dachte unentwegt an sie. Über den Kopf gewachsen? Ja, es war ihm über den Kopf gewachsen, und deshalb hatte er sich aus dem Staub gemacht. Ein Jahr lang war er umhergezogen, als wäre er auf der Flucht. Obwohl ihn technisch gesprochen niemand verfolgte; offiziell hatte er nichts verbrochen. »Einige unserer Leuten sind schon sehr lange in Djakarta stationiert, zu lange. Sie mögen das alte Regime irgendwie. Anscheinend gibt es da ein paar Fragen zu gewissen – wie wollen wir es nennen? – Geschäftsbeziehungen des politischen Beraters, die das Amt überprüfen will, bevor sie, na ja, bevor sie zu Ärgernissen werden können«, sagte Jencks. »Das ist das, was sie mir gesagt haben. Ich bin sicher, dass du sehr viel detaillierter informiert werden wirst.« »Sie wollen, dass ich für sie spioniere«, sagte er. »Du hast in der Region gearbeitet. Weißt du, du könntest ein Asien-Experte sein, wenn du wolltest – darauf könntest du aufbauen. Natürlich wollen sie dich für diese Sache, weil du weißt, wer da drüben was für wen macht und wie. Habe ich da etwa Unrecht?« Sie wollten über ihn bestimmen, wie sie es früher schon getan hatten. »Wenn man das, was du in Mexiko getan hast, irgendwie als Beweis nehmen kann«, sagte Jencks. »Also. Ich bin sicher, du wirst die nötigen Daten zusammenbekommen.« »Die nötigen Daten.« »Hör mal«, sagte Garrett Jencks. »Wir sind sowieso alle 40
Spione.« Will kniff die Augen zusammen: Sag schon, was du meinst. »Diplomaten und die Leute in der Entwicklungshilfe und die ausgewiesenen Spitzel selber. Hängt alles nur davon ab, aus welchem Topf dein Gehalt bezahlt wird – und was du bei Cocktailpartys erzählen darfst. Zum Kuckuck, Journalisten doch auch. Wir sind alle Spione. Wir halten alle unsere Kontakte, halten uns Leute vor Ort, denen wir vertrauen, bezahlen sie gut. Wir sammeln alle Informationen und leiten sie nach Hause auf die Schreibtische in Washington, aber das ist alles etwas, das ich vor langer Zeit gelernt habe.« Ein kühler Windstoß bauschte zwei hauchzarte Gardinen auf. »Du beobachtest, du spionierst – nenn es, wie du willst. Du bist verlässlich, gründlich und flink. Du kennst dich in deinem Gebiet aus und sprichst mit den maßgeblichen Leuten. Aber du wählst aus, was du nach Hause weitergibst«, sagte Jencks. »Du wählst aus – darin liegt deine wahre Macht. So machst du Politik. Ich weiß, ich erzähle dir hier nichts, was du nicht sowieso schon weißt, Will.« »Und Sie glauben, meinem Vater wäre wohl bei dieser Sache?«, fragte Will. »Ich steige wieder ein, indem ich meinen Vorgesetzten bespitzele? Mein Vater wäre vielleicht mit der Mission in Mexiko einverstanden gewesen, aber meine eigenen Leute zu bespitzeln, das ist etwas ganz anderes – was würde er darüber denken?« Garrett Jencks zuckte nicht mit der Wimper, und er lächelte auch nicht. »Ich könnte eine andere Arbeit für dich finden«, sagte er. »Ich könnte irgendwas in einem mit Büchern voll gestopften Büro für dich finden. Ich habe einen Klienten, einen Verleger. Aber Will. Will, bitte: Du gehörst nach da draußen. Das bist du.« »Das bin ich«, echote Will mit schwacher Stimme. Und hierher hatten die Jahre ihn nun gebracht. Er war mit 41
dem Glauben an eine schlichte Überzeugung groß geworden, die ihm, wie sein Vater behauptete, gute Dienste erweisen würde: Wenn zwei Menschen, egal wer, lange genug miteinander reden, werden sie irgendetwas Bedeutsames finden, über das sie einer Meinung sind, egal, wie gegensätzlich oder ausgeprägt ihre Standpunkte sein mögen. Daran hatte sein Vater von ganzem Herzen geglaubt, obwohl er halb im Ernst hinzuzufügen pflegte: Wenn es sonst nichts gibt, kannst du immer noch mit dem Wetter kommen. Wir alle hier unter der Sonne – das ist überall dasselbe. Will hatte nie in Frage gestellt, dass die Diplomatie die wichtigste Arbeit überhaupt war, und während die meisten Diplomatenkinder aus seinem Umkreis ihre Eltern als eine aussterbende Spezies betrachteten, hielt er an seiner einzigartigen Bestimmung fest. Er machte seinen Magister mit dem Spezialgebiet Internationale Beziehungen und bekam einen Job bei der UNO. Nach der Arbeit ging Will regelmäßig mit den anderen Praktikanten und Angestellten der unteren Ebene auf einen Drink, um anschließend die ganze Nacht hindurch in irgendeiner Bar an der East Side zu diskutieren. Sie waren so jung damals, so ernsthaft und engagiert. Und jedes Gespräch lief unweigerlich auf immer dasselbe Thema hinaus: Das Bewusstsein von einer von der Moral gesetzten Grenze, die sie als Diplomaten nie würden überschreiten können. Jeder hatte da so seine eigenen Vorstellungen. Die einen glaubten an Waffengewalt, auch wenn dabei eventuell Zivilisten ums Leben kommen würden, waren aber strikt gegen Folter. Manche sagten, man müsse einem totalitären Regime schon erlauben, seine Gesetze nach eigenem Gutdünken anzuwenden, solange diese Gesetze dafür sorgten, dass das Land nicht verhungerte. Andere sagten, Konzessionen wie das Hinwegsehen über Kinderarbeit seien notwendige Hürden auf dem Weg zu ökonomischer Reife. Unabhängig von der Ideologie wussten sie aber alle, dass sie diese Grenzlinie bewahren, 42
sich nördlich davon halten mussten und sie nie überschreiten durften, denn wenn sie sie einmal durchbrochen hatten, konnten sie nie mehr für sich in Anspruch nehmen, sie ließen sich von irgendeiner Art Verhaltenscodex leiten. Wenn die Linie einmal verschoben wurde, würde es auch wieder geschehen und immer wieder. Und Jahre später konnte Will sich nicht mehr erinnern, wo er seine persönliche Linie gezogen hatte. Er hatte sie vor langer Zeit überschritten. Woran glaubte er? Wo entlang zog sich seine Linie jetzt? Jencks tätschelte ihm das Knie. »Du weißt, dass du nichts schöner findest, als an einem neuen Ort anzukommen«, sagte er. »Wissend, dass du mindestens zwei Jahre dort bleiben kannst. Zunächst macht dich das einsam – aber du bist auch in vielerlei Hinsicht ein Einzelgänger. Du sehnst dich nach dieser Isolation. Abgeschnitten zu sein von allem, was du weißt, von allen, die du kennst.« Jencks streckte die Hand aus und nahm eine grüne Krawatte von einem Beistelltisch. »Die Frau, die Kinder sind noch nicht nachgekommen, und sie werden es auf Wochen, Monate hinaus auch nicht. Oder in deinem Fall – na ja, du weißt bestimmt, was ich meine.« Es stimmt, dachte Will. Du bist auf dich gestellt. Du kannst das Puzzle des Ortes ganz allein lösen, herausfinden, wie die Stadt funktioniert. Wer welche Fäden in der Hand hält. Wer wen kennt. Wo man essen geht, die besseren Cafés. »Du fängst an, Sachen für deine Wohnung zu kaufen«, sagte Jencks. »Teppiche. Teppiche und Stoffe kommen immer als Erstes.« Und was du brauchst, um dir morgens deinen Kaffee zu machen. Die bemalte Kaffeekanne mit dem Filter. Die Handmühle. Sogar die Bohnen selbst. »Du besitzt nur wenige Dinge«, sagte Jencks und fing an, sich die Krawatte zu binden. »Dabei belässt du es auch.« Ein paar gute Anzüge. Ein paar Lieblingssachen, die man 43
von einem Ort zum anderen mitgeschleppt hat – eine geschnitzte Mahagonischale, ein Kerzenleuchter aus Zinn. »Deine Besitztümer sind irgendwie effizient. Jede Krawatte passt zu jedem Hemd – Hauptsache einfach. Drei Paar Hosen zu jedem Jackett. Du sammelst nicht zu viel an. Die erste Wäsche ist immer schrecklich.« Bis man jemanden findet, der einem die Wäsche macht und die Schuhe pflegt, die Zimmer sauber hält, die Teppiche klopft, das Batiktuch glatt streicht, das man über das Sofa geworfen hat. »Und dann brauchst du im Grunde nur noch ein ordentlicher Mensch zu sein. Beherrscht. Amerikas Interessen im Ausland vertreten – ich glaube, die Formulierung benutzen wir immer noch. Aber in vielerlei Hinsicht kannst du sein, wer immer du willst. Niemand kennt dich.« Was es leicht macht, liebenswürdig zu sein. Niemand kennt den Punkt, an dem man ausrastet, oder das, was man am meisten begehrt. Einheimische sind verdächtig, sollten sie jedenfalls sein, und darin liegt die Herausforderung. Wie sich mit ihnen anfreunden. Wie sie dazu bringen, dass sie dich für gut halten und damit auch das Land, aus dem du kommst – das war im Grunde das ganze Spiel. Es wird erwartet, dass man sich als Mensch in den Dienst der Sache stellt. »Du fängst alle zwei Jahre wieder neu an«, sagte Jencks. Das Ankommen hatte seine schönen Seiten, das Fortgehen ebenfalls. »Mit den Kollegen im Konsulat fraternisieren – seien wir doch ehrlich«, sagte Jencks. »Du gehst immer wieder weg, warum also nicht? Was hast du schon zu verlieren? Ein paar Stationierungen später trefft ihr euch vielleicht wieder, vielleicht daheim in Washington – aber das ist ehrlich gesagt gar nicht so schlecht …« Fortgehen: Man schloss Verträge über kurze Leidenschaften. Als abgemacht galt: Ich gehe fort, du bist gerade gekommen – 44
was wir auch tun, die Wochen, die wir haben, werden schnell vergehen. Lass mich dich herumführen. Da gibt es diesen einen Nachtclub. Du solltest die Küste kennen lernen. Am Wochenende nehmen wir uns ein Auto. Du musst dir die Ruinen ansehen. »Du liebst alles an diesem Leben, Will. Jedes einzelne Detail. Die Briefe, die du an deine Freunde schreibst.« Die Bilder, die man mit seiner Luftpostprosa heraufbeschwor. Wenn man die Schwammtaucher beschrieb, die Frauen, die auf dem Markt verkauften, die Spiele, die sich die Kinder ausdachten. Ein bestimmtes Gericht. Der Blick von deiner Terrasse. Die Ursprünglichkeit des Sonnenuntergangs, der für dich immer wieder neu sein wird. »Für diese Menschen hast du die Welt gesehen, und wir wissen, was das bedeutet. Sie halten dich für weise.« Dein abgenutzter Schreibtisch mit dem leeren Tintenfass. Die kobaltblaue Flasche, die ein anderer dagelassen hat und die man als Vase benutzt. »Und wir wollen auch nicht die Galaabende für die Leute vergessen, die aus der Heimat vorbeischauen«, sagte Jencks. Deine Landkarten. Deine Taschenlexika. Du bist so etwas wie ein Linguist – ein Sprachenbastler. »Ein prächtiges Büffet, anständiger Champagner für den Trinkspruch. Ein indonesisches Orchester spielt ein BarockConcerto.« Der Markt und die Verkäufer, die dich kennen. Der reine schwarze Tee. Die rauen grünen Früchte, die mit der Reife rot und glatt werden. Die Kupferlampe, die du irgendwie nie zur Reparatur gebracht hast. »Und vergessen wir nicht die Ausflüge, die du ins Landesinnere machst. Die Händler, denen du hilfst, bei Gott, sie drängen sich nur so danach, dir immer noch einen und noch einen Tempel zu zeigen. Und dann bist du früh genug wieder zu Hause. Du gehst in deine Wohnung in der Stadt zurück. Und 45
seltsamerweise ist es dein Zuhause.« Du ziehst so oft umher und richtest dir dein Heim so viele Male neu ein, dass du dich mit der Zeit auf seltsame Weise ziemlich gut kennen lernst. Du zweifelst nie, wer du bist, dachte Will, weil du begriffen hast, was du um dich sammeln musst, die wenigen maßgeblichen Dinge, die es dir an einem Ort gemütlich machen, an den du nicht gehörst. Jencks zog seinen Schlips zurecht. Er strich sich mit den Fingerspitzen die drahtigen grauen Koteletten glatt. »Und hin und wieder«, sagte er grinsend, »hilfst du wirklich jemandem. Will, was ist das Beste, das du je für einen anderen gemacht hast?« Will zuckte die Schultern. »Komm schon. Was ist es?« Ganz am Anfang seiner Karriere. Damals in Djakarta. Zwei indonesische Teenager saßen im Gefängnis. Sie wurden grundlos beschuldigt, amerikanischen Austauschstudenten Drogen verkauft zu haben. Dem einen standen die Prügelstrafe und ein kurzes Leben mit Schwerstarbeit bevor, und der andere sollte demnächst hingerichtet werden. Will hörte davon. Er mischte sich ein. Es gelang ihm, eidesstattliche Erklärungen von den ausgewiesenen Amerikanern zu bekommen. Er holte sie alle aus den Schwierigkeiten raus, die amerikanischen Kids und die indonesischen Jungen. Die Mütter der Letzteren waren so dankbar – vor dem Gefängnis wollte ihn eine dieser Mütter überhaupt nicht wieder loslassen. Sie umarmte ihn und wollte nicht wieder loslassen. Und er konnte auch noch andere Geschichten erzählen. Er hatte die mit seiner Stellung verbundene Macht genutzt. Hatte auf Grenzauseinandersetzungen eingewirkt. An erleichternden Sanktionen gearbeitet, damit abgelegene Krankenhäuser mit medizinischen Hilfsmitteln versorgt werden konnten. »Na ja, du wirst es sicher wissen«, sagte Jencks. »Was ich sagen will, ist, dass wir Glück haben, dieses Leben zu führen, 46
und ich weiß ja, dass dich das verschreckt hat, was da passiert ist. Trotzdem. Nimm den Posten an. Du wirst so sehr gebraucht. Sie wollen dich sehr gerne haben. Mach ein bisschen schmutzige Arbeit, und spiel mir bitte nicht das Unschuldslamm vor.« An der Tür zog er Will in eine kumpelhafte Umarmung. Will machte einen Schritt zurück. »Deine Mutter«, sagte Jencks, »war die intelligenteste Frau, der ich je begegnet bin. Ich vermisse sie.« »Ich auch«, sagte Will. »Wir brauchen mehr Zeit. Du hast mir nicht erzählt, was ein junger Bock in Paris heutzutage so tut, um sich zu vergnügen.« Will lehnte sich mit dem Rücken gegen den Türrahmen. »Wenn ich’s recht bedenke, will ich es vielleicht gar nicht wissen. Aber, schau mal: Du kannst dein Leben zurückhaben. Und ich beneide dich darum.« Will räusperte sich. »Sie sollten mich nicht beneiden«, sagte er. »Arroganz«, sagte Jencks. »Meine tödliche Schwäche. Ich sage immer wir, und das sollte ich nicht. Du, sie. Ich lebe dieses Leben nicht mehr. Ich bin raus, und ich will wieder rein, aber ich bin zu alt dafür. Ich sollte mich des Rentnerdaseins freuen, aber ich muss dir sagen, dass ich unverbesserlich ruhelos bin. Und du hast nur ein Jahrzehnt gebraucht, um zu begreifen, was ich ein halbes Jahrhundert lang nicht durchschaut habe, nämlich die Regeln.« »Garrett«, setzte Will an. Er wollte sagen, danke nein, aber danke. Er wollte sagen, dieses Leben ist trotz allem doch nicht das richtige für mich. Sie wissen nicht, wie ich heute bin. Ich bin nicht wie Sie. Ich versuche, ein besserer Mensch zu sein als Sie. Meine Generation ist nicht Ihre Generation, die Zeiten haben sich geändert – wir orientieren uns an höheren Maßstäben. Er wollte sagen: Es gibt da einen Mann namens Pedro. Sind 47
Sie ihm je begegnet? Pedro von vor langer Zeit. Heute Abend gehen wir fort, irgendwohin, ich weiß nicht, wohin. Sie werden nie wieder von mir hören. »Denk drüber nach, Will. Du bist es dir schuldig, dass du darüber nachdenkst. Ich fliege jetzt nach Berlin«, sagte Jencks, »aber ich komme spät heute Abend wieder nach Paris zurück. Dann können wir weiterreden. Ruf mich an.« Will holte tief Luft. Er trat auf den Flur hinaus. »Mach dir keine Sorgen, Will, mein Junge. Es wird sich alles wieder einrenken. Du wirst deinen Weg schon machen. Es wird sich alles wieder einrenken«, sagte Garrett Jencks. ER LIESS SICH zurück in Richtung Seine treiben. Seine Stimmung verdüsterte sich ebenso wie der Nachmittag. Die letzten paar Tage waren die unbeschwertesten seit langer Zeit gewesen, und dennoch lastete nun, wo er wieder allein war, eine altvertraute höllische Angst auf ihm. Es war der schlimmste Zustand überhaupt: Das Wetter bestimmte über ihn; er fühlte sich, als würde er mit den fahlen Steinwänden verschmelzen. Nachdem er Mexiko verlassen hatte, war er in viele der Länder gereist, in denen sein Vater stationiert gewesen war, solange Will heranwuchs. Schließlich mietete er sich ein Apartment in Athen unweit des Ortes, an dem er mit seiner Familie gelebt hatte, als er zehn gewesen war. Seine Tage verliefen sehr einfach. Er wachte auf, wenn die Sonne durch die Fenster schien, deren Läden er unverschlossen ließ; er rollte sich auf den Boden und machte zweihundert Liegestütze und dreihundert Bauchübungen; in einem Becken wusch er sich das Gesicht; dann ging er auf die Straße hinaus. In einem Café schrieb er in seiner Miniatur-Großbuchstabenschrift ein Stück von einem Brief an mich. Er verschlief einen großen Teil des Nachmittags, ließ sich wieder auf den Boden rollen und machte 48
wieder zweihundert Liegestütze und dreihundert Bauchübungen – in Form zu bleiben erwies sich als nützlicher Zeitvertreib. Er entdeckte einen englischsprachigen Buchladen, der gerade schließen wollte, und kaufte einen Roman, den er schon immer mal lesen wollte, obwohl er ihn nur zur Hälfte lesen würde. Er wanderte durch die Straßen, lauschte Sprachen, die er nicht verstand – doch als er schließlich nach Paris kam, konnte er sich nicht mehr besinnen, wie er diese vielen dunklen Stunden verbracht hatte. Er hatte keine Erinnerung daran. Er zog auf eine Insel in der Ägäis um, und nach kurzer Zeit fühlte er sich wie –ja, wie was? Wie eine Insel, die langsam unter der unerbittlichen Sonne ausgedörrt wird. Isoliert, vergessen. Und mit jedem Tag versinkt ein weiteres Stück Küste im Meer. Also zog er weiter. Und wanderte etwa eine Woche lang an einem neuen Ort umher. Besuchte wieder die Tempel, die er schon in seiner Jugend bewundert hatte. Besichtigte die Ruinen. Sein Vater war ein wichtiger Mann gewesen, dessen Geschäft der Frieden und die Anwendung der Gesetze in der Türkei, in Israel und Ägypten waren. Will verbrachte einige Zeit in Istanbul, Jerusalem und Kairo. Schließlich landete er in Marokko, in Tanger. Mit dem letzten Bargeld mietete er ein Haus – bald würde er seine Lebensgewohnheiten ändern müssen –, ein schmales Haus mit Dachterrasse und Blick über den nahe gelegenen Souk. Er trank den ganzen Tag über sirupsüßen Kaffee, und trotzdem schlief er und schlief auf einem Sofa auf der Terrasse. Und irgendwann machte ihm das Klima zu schaffen, die Architektur. Man stelle sich das vor. Du fühlst dich ständig wie ausgetrocknet, ausgebleicht. Er konnte seinen Durst einfach nie stillen. Es war so viel Staub in der Luft. Er stellte sich vor, seine Haut würde in Fetzen abgehen und sich in diesen Staub verwandeln. Man versuche sich das nur mal vorzustellen. Man kann sich nicht an sich selber halten, an sein Selbstgefühl im Kontrast zu seiner Umgebung. Es ist gewissermaßen, als würde man verschwinden. 49
Jetzt wiederholte sich das alles noch einmal. Verblassen, verschwinden. Keine Spuren hinterlassen, wo man einmal gewesen ist. Er ging am Seineufer entlang, ohne das Schauspiel um sich herum richtig wahrzunehmen. Die Menge am Fluss begann sich zu zerstreuen. Die Polizei war in voller Stärke ausgerückt. Eine Bande, auf Krawall aus, rottete sich zusammen. Er wechselte ans linke Seineufer. Die Buchverkäufer hatten schon wieder die ersten Stände aufgemacht. Er schaute zu dem düsteren Massiv von Notre-Dame auf, einer schattenlosen Festung mit plumpen Pfeilern ohne jede Grazie. Das Mittagessen war ihm nicht bekommen – immer wieder wurde er von einer Welle der Übelkeit ergriffen –, trotzdem ging er immer weiter, ohne bestimmtes Ziel. Der Pont de Sully war immer noch für den Verkehr gesperrt, darauf ging er ans rechte Ufer zurück, wo er sich schließlich an eine Platane gestützt auf das Gitter um ihren Fuß übergab. Er musste sich an den Bordstein setzen und die Augen schließen. So blieb er eine ganze Weile mit hochgezogenen Knien sitzen, während die Leute achtlos an ihm vorbeigingen, was ihm ganz recht war. Trotzdem stand plötzlich ein Passant neben ihm und starrte ihn durchdringend an. Ein kleiner Junge, der noch nicht sehr alt sein konnte. Er zwinkerte Will zu, und Will zwinkerte zurück. »Nico, lass den Mann in Ruhe«, sagte eine Frau. Dann nahm den Platz des Jungen eine Frau ein, die einen dicken braunen selbst gestrickten Pullover mit einem einzigen vorne aufgestickten grauen Streifen und zu langen Ärmeln sowie eine große, über den Stoff am linken Handgelenk gezogene silberne Armbanduhr mit silbernem Band trug. »Ça va, Monsieur?«, fragte sie. Ein grüner Schal umspielte ihre harte Kinnlinie. Will erkannte auf den ersten Blick, dass diese Frau ein Mensch war, der schon einige schwere Zeiten durchgemacht und immer noch 50
ramponierter daraus hervorgegangen war, und dabei konnte sie nicht viel älter sein als er, wenn überhaupt. »Vous êtes malade?«, fragte sie. »Nein«, sagte Will. »Ich … mir geht es gut. Ich bin, äh, ein wenig müde.« »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie Amerikaner sind«, sagte die Frau. Sie hockte sich neben ihn, und ihm fiel auf, dass sie einen prall gefüllten Rucksack auf dem Rücken trug. Außerdem hielt sie einen kleinen karierten Koffer in der Hand, einen Kinderkoffer. Jetzt tauchte der Junge wieder an der Seite der Frau auf. »Est-il mort?«, fragte der Junge seine Mutter. »Non, non, Nico, pas du tout«, sagte die Frau. »Noch nicht«, lachte Will und versuchte das Kind anzulächeln. Er hatte Kopfschmerzen und keinerlei Bedürfnis aufzustehen. »Oh, baby, baby, baby«, sagte der Junge. »Nico, lass das«, sagte die Frau – auf Englisch – und fügte hinzu: »Er sieht fern, wenn ich nicht aufpasse, und dann guckt er diese amerikanischen Filme –« »Tuck-tuck«, sagte der Junge. Wie ein Huhn. »Tuck-tucktuck.« Er sah absolut nicht wie seine Mutter aus, eine waschechte Blondine mit hellem Teint. Der Junge hatte dunkle Mandelaugen und dunkle Locken; sein Teint war ebenfalls dunkel. »Noch nicht tot«, sagte Will zu dem Jungen. »Wie alt bist du?« Der Junge trat nach vorn und schaute sich nach seiner Mutter um. »Fünfzehn?«, fragte er in ihre Richtung. »Fünfzehn«, sagte sie. »Du bist keine fünfzehn. Erzähl dem Mann nicht, du seist fünfzehn.« »Ich habe fünfzehn«, sagte der Junge. »Er ist vier«, sagte die Frau. Der Junge wirkte klein für sein Alter. Er sah aus wie eine 51
dieser Stoffpuppen mit den großen Holzköpfen. Er trug eine Strickmütze mit leicht verrutschten Ohrklappen. Die Frau stellte den kleinen karierten Koffer ab und zog die Arme aus den Schlaufen des Rucksacks, sodass er auf den Gehsteig glitt. Dann stand sie auf und streckte sich. »Sind Sie gerade angekommen?«, fragte Will. »Oh, nein«, sagte die Frau leise. »Also wollen Sie die Stadt verlassen –« »Non«, brüllte der Junge. »Non, non, non.« »Wir haben da eine kleine Meinungsverschiedenheit«, sagte die Frau. Will versuchte ebenfalls aufzustehen. Ihm war schwindeliger, als er gedacht hatte, und er musste sich an einer Straßenlaterne abstützen. »Alles in Ordnung?«, fragte die Frau. »Wird schon gehen«, sagte er. »Ich sah Sie da sitzen, und Sie sahen nicht gerade toll aus.« »Es war sehr nett von Ihnen, stehen zu bleiben«, sagte Will. Er fragte sich, ob sie womöglich mit ihm flirtete. Er nahm diese Signale oft nicht wahr. Diese Paarungsrituale. »Ich habe heute Mittag zu üppig gegessen«, erklärte Will. »Und alles wieder von mir gegeben, furchte ich.« »Sie sollten einen Schluck Wasser trinken«, sagte die Frau. Mütterlicher Rat. »Ja«, sagte Will. »Also, wo wollten Sie beide denn hin?« Die Frau sah auf den Fluss hinaus und antwortete nicht. Der Junge machte ein paar Schritte von ihnen weg, irgendetwas unter einer Bank hatte ihn abgelenkt. Vielleicht ein Eichhörnchen. »Sie sollten wirklich etwas Wasser trinken«, beharrte die Frau. »Wir wollten uns ein Café suchen und etwas essen, bevor wir in den Zug steigen –« »Nein«, sagte der Junge und fuhr herum. »Je ne veux pas. Zhoree, je ne veux pas.« 52
Die Frau seufzte. »Wissen Sie, wir waren auf dem Weg zum Zug, aber Nico wollte sehen, was da am Fluss los war, also sind wir hingegangen, und jetzt hat er seine Meinung zu unserer Reise geändert. Wir müssen etwas essen«, sagte sie. »Na dann, danke fürs Anhalten«, sagte Will. »Und Sie? Leben Sie hier?«, fragte die Frau. »Ich? Oh, nein. Ich bin nur zu Besuch«, sagte Will. »Ich fahre übrigens heute Abend wieder weg.« »Sie werden mich für sehr seltsam halten«, sagte die Frau, »aber es ist für mich irgendwie eine Entspannung, Englisch zu sprechen. Ich rede nicht viel Englisch. Nur mit Nico, wenn sein Vater nicht dabei ist.« Will nickte, als verstünde er, was sie ihm sagen wollte, was er jedoch nicht tat. Was er aber mitbekam, war, dass sie keineswegs mit ihm flirtete. Sie war eine müde, hübsche Frau mit einem ziemlich großspurigen Jungen, der ihr kein bisschen ähnlich sah, und die aus irgendeinem Grund einsam war. »Ich habe einen schweren Tag hinter mir«, sagte die Frau. »Und mit einem Amerikaner zu reden – ich weiß, das hört sich komisch an, aber es ist eine derartige Erleichterung.« Sie zeigte auf ein geöffnetes, aber weitgehend leeres Bistro in einem wintergartenähnlichen Gebäude auf der anderen Straßenseite. »Wir werden jetzt was essen, und vielleicht wollen Sie ja mitkommen«, sagte sie und blickte dann wieder zum Fluss. Sie flirtete nicht, aber sie war einsam, und warum nicht, warum nicht? Sie hatte den städtischen Überheblichkeitscode durchbrochen, um sich zu vergewissern, dass er nicht auf dem Bürgersteig verreckte. Mitzukommen war das Mindeste, was er tun konnte. »Klar«, sagte Will. »Ich sollte mir Wasser besorgen, wie Sie gesagt haben.« Und er nahm ihren kleinen Koffer, der sich als sehr leicht herausstellte. In dem Bistro setzten sie sich um einen Tisch am Fenster. 53
Das Gepäck nahm den Platz einer vierten Person ein. Ein Kellner reichte ihnen Speisekarten, und der Junge bestellte umgehend. »Un croque-monsieur«, sagte er. Dann fiel ihm ein, dass er ein »bitte« hinzufügen könnte. Der Kellner lächelte höflich und wandte sich an die Frau. »Wir haben kein Brot, Madame, Sie wissen ja. Also –« »Stimmt«, mischte Will sich ein. »Heute gibt’s keine Sandwiches, fürchte ich«, sagte er zu dem Jungen. Der Junge zwinkerte. »Mooza«, sagte er. Der Kellner zog die Augenbraue hoch. »Ich habe dir im Park eine gegeben«, sagte die Frau. »Mooza?«, fragte Will. »Arabisch für Banane«, erklärte sie. Der Kellner verschwand wie durch Zauberhand. »Tuck-tuck«, sagte der Junge. »Fang nicht wieder damit an«, sagte die Frau. Sie überflog die Karte und bestellte etwas zu essen, als der Kellner zurückkam. Will bat um eine Flasche Mineralwasser, was sich als genau das Richtige herausstellte. Der Junge brachte dann doch einige Begeisterung für die Erbsensuppe auf, die vor ihn gestellt worden war. Still schlürfte er vor sich hin. Es war eine dicke, breiige Suppe, und als die Frau Will anbot zu probieren, hätte er fast Ja gesagt, tat es dann aber doch nicht. Sie kam ihm tatsächlich irgendwie bekannt vor, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, warum, ob sie in irgendeiner Form in der Öffentlichkeit stand – war sie vielleicht ein Model? »Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, sagte Will. Die Frau schüttelte mit festem Griff seine Hand. Ihre Finger waren kalt, obwohl sie warme Suppe aß. Will fiel auf, dass sie keinerlei Ringe trug. 54
»Die Suppe ist très bonne«, verkündete der Junge. »Freut mich zu hören«, sagte Will. »Willst du mal probieren?«, fragte der Junge mit piepsiger Stimme. »Nein, danke«, sagte Will und überlegte es sich dann doch anders. »Andererseits, okay.« Er nahm den Löffel von seinem eigenen Gedeck, streckte den Arm über den Tisch und nahm eine Kostprobe vom Teller des Jungen. Und die Suppe schmeckte ebenso frisch, wie sie aussah, salzig und fett. »Was für ein Tag«, sagte die Frau. »Diese Szene am Fluss unten, nicht zu glauben.« Moment mal. Er hatte ihr seinen Namen genannt, sie hatte jedoch nichts erwidert. »Wissen Sie, ich habe das Gefühl, als wären wir uns schon mal begegnet«, sagte Will. Sie errötete. Und er dachte: Na prima, jetzt bin ich der, der flirtet. Aus ihrer Sicht bin ich vielleicht der Typ, der die Straße entlangkam und zu Boden fiel und so tat, als sei er krank, damit sie anhält und mit mir spricht – es war durchaus möglich, dass jemand so etwas tat. Er versuchte seinen Patzer zu korrigieren. »Ich meine … vielleicht irre ich mich ja.« Sie gab ihm noch einmal die dieses Mal schon etwas wärmere Hand. Ihr Name war Jorie Cole. Was ihm absolut nichts sagte. Soviel dazu. »Ich bin schon eine ganze Weile hier, vier Jahre, deshalb nehme ich nicht an, dass wir uns schon einmal begegnet sind, wenn Sie nur zu Besuch hier sind«, sagte sie. »Je m’appelle Nico«, sagte der Junge. »Entschuldigung«, sagte die Frau namens Jorie. »Das hier ist Nicolas Chamoun.« »Nicolas Chamoun«, echote der Junge, als wäre ihm sein 55
eigener Name ebenso fremd wie die unsicheren englischen Sätze, die er aufsagte. »Ich habe trotzdem das Gefühl, als ob …« Will gab es auf. »Wahrscheinlich nicht«, sagte er. Die Suppe wurde gefolgt von einem üppigen Salat voller Hühnerfleisch und Käsestückchen, auf die sich der Junge als Allererstes stürzte. »Aua«, schrie Jorie auf. Sie begann etwas aus ihren Hosentaschen hervorzukramen. Kastanien. Unter Nicos Blicken legte sie mehrere davon auf den Tisch. »Die hat er heute Morgen im Park gesammelt«, sagte sie. »Tatsächlich?«, fragte Will. »Ich mache ein Boot«, sagte Nico. »Aus Kastanien?« »Ja.« »Da brauchst du aber noch viel mehr.« »Ich weiß«, sagte Nico, plötzlich ganz ernst. »Ich werde viele, viele Maronen brauchen, um ein Boot zu bauen.« »Wissen Sie, bei uns im Haus gibt es eine Katze«, sagte Jorie. Und zu dem Jungen: »Ich erzähle ihm von der Katze.« »Le chat est weiß«, sagte der Junge. »Es ist eine weiße Katze, ja«, sagte Jorie, »mit schwarzen Flecken. Wir mögen die Katze sehr, und Nico dachte, es wäre doch nett, wenn die Katze, wenn im Frühling der Brunnen wieder angestellt wird und wieder Wasser im Brunnenbecken ist, ein Boot hätte, in dem sie darauf herumschippern könnte. Verstehen Sie?« »O ja, ich verstehe«, sagte Will. »Das ist eine wunderbare Idee.« »Und von wo in den Staaten kommen Sie?« Will versuchte eine Antwort darauf zusammenzubekommen. »Um die Wahrheit zu sagen, habe ich nur während der Collegezeit und der Grundschule dort gelebt.« 56
Nico stocherte in dem Salat auf seinem Teller herum. Dann fuhr er mit dem Löffel um die Suppenschale und zog Muster in die gestockte Erbsenpaste auf dem Rand. »Sie meinen, Sie sind im Ausland aufgewachsen«, sagte Jorie. »Jorie«, unterbrach sie Nico. Er sagte nicht Mom oder Maman zu ihr. »Ja«, sagte sie. »Ich möchte eine Mooza.« »Banane«, sagte Will. »Une banane«, sagte Nico. Jorie stützte das Kinn in die Hand. »Noch eine?«, fragte sie. »Ist es nicht furchtbar, wenn Erwachsene Kinder vorführen?«, wollte sie von Will wissen. Will war nicht sicher, welche Antwort von ihm erwartet wurde. »Ich tu’s trotzdem«, sagte sie. »He, Nicolas.« Sie griff über den Tisch hinweg, zog eine Tasche an ihrem Rucksack auf und zog eine kleine Banane heraus. »Où est le prince?«, fragte sie. Nico kniff die Augen zusammen. »Hast du ihn gesehen? Ich sehe ihn nicht. Glaubst du …? Könnte es vielleicht sein, dass er sich in einen Schimpansen verwandelt hat?« Nico sah die Banane an, dann Jorie, dann wieder die Banane. Er krabbelte von seinem Stuhl und in den Gang zwischen den Tischen. »Ich glaube, der Prinz hat sich in einen Schimpansen verwandelt«, sagte Jorie. Mehr Aufforderung brauchte der Junge nicht. Er beugte sich vor, vergrub die Daumen in den Armbeugen und begann die angewinkelten Arme, na ja, vielleicht nicht wie ein Schimpanse zu schlagen, sondern eher wie ein Huhn. Er marschierte herum, immer vor dem Tisch auf und ab, und Jorie hielt den Köder, die 57
Banane, immer weiter in der Luft, ohne ihn zu belohnen. Nico begann ein schrilles Tuck-tuck-tuck von sich zu geben, den Hühnergeräuschen von vorhin ganz ähnlich, wenn auch in einer höheren Tonlage, tuck-tuck-tuck, und sah sogar noch mehr aus wie ein scharrendes Huhn. »Er hatte mal einen Kuschelaffen«, sagte Jorie. »Sie wissen schon, so einen mit baumelnden Armen, Falten auf der Stirn, Urwaldgeräuschen –« »Tuck-tuck«, sagte Nico, noch immer umherstolzierend. »Du bist kein Schimpanse«, sagte Jorie. Nico schlug weiter mit den Flügeln und tucktuckte. »Wo ist der Prinz? Ich dachte, er hätte sich in einen Schimpansen verwandelt.« »Tuck-tuck-tuck.« Sie sah Will mit gerunzelter Stirn an, und Will konnte nur die Achseln zucken. Sie brach den Stiel ab und gab Nico die Banane. Er nahm sie mit selbstzufriedenem Grinsen in Empfang, als wäre sie ein Preis, den er bekommen würde, egal, welches Tier er imitierte, als würde er seine Mutter nur testen. Er schien die Leute ganz gut zu durchschauen. Er setzte sich wieder hin und schälte dann ganz vorsichtig, ganz langsam seine Banane. Er machte eine Reihe winzig kleiner Bissen. Dazwischen sah er Jorie an und ließ mit breigefülltem Mund ein weiteres Tuck ertönen. »Ich glaube, wir müssen mal in den Zoo gehen, um diese Sache richtig zu stellen«, sagte Jorie zu ihm. »Oui, oui«, freute sich Nico. »Zum Zoo, zum Zoo.« Jorie strich dem Jungen das Haar aus den Augen. »Sein Vater spricht kein Englisch«, sagte Will. »Er spricht sehr gut Englisch«, sagte Jorie. »Oh, ich dachte, Sie hätten gesagt –« »Wir sprechen meistens Englisch miteinander, Luc und ich«, sagte Jorie, »aber wenn Nico dabei ist, Französisch. Luc hat da 58
so eine Regel, die ich immer wieder breche.« Ihr Mann hatte angeordnet, dass nur Französisch mit ein paar arabischen Einsprengseln gesprochen werden sollte; kein Englisch, das konnte das Kind lernen, wenn es fünf war. Fünf war, wie Jories Mann glaubte, das Alter, in dem Kinder lernen, Sprachen zu unterscheiden, und wissen, welche Wörter sie wann anwenden müssen. Aber Jorie hielt dagegen, sie habe gehört, es sei genau umgekehrt – und darüber hatten sie gestritten, dass nämlich ein Kind, das man in den ersten fünf Jahren so viele Sprachen wie möglich hören und sprechen lässt, sie später von ganz allein unterscheidet und eine enorme Begabung entwickelt, ganz schnell jede neue Sprache zu erlernen, der es vielleicht später einmal begegnet. »Luc hat seine Regeln«, sagte Jorie. »Vor der Sonne aufstehen und solche Sachen.« Will verspürte das heftige Bedürfnis, Jories Hand zu nehmen. Er verband nichts damit; sie schien einfach nur Trost zu brauchen. Nico hörte eindeutig den Namen seines Vaters und den feindseligen Ton seiner Mutter, sah aber nicht von seiner Bananenschale auf. Jorie zupfte ihren Schal zurecht. »Ich habe mir selbst Arabisch beigebracht«, sagte sie. »Das ist beeindruckend. Ich habe gerade eine lange Zeit in der Arabisch sprechenden Welt verbracht und nur so wenig davon behalten«, gestand Will. »Waren Sie im Libanon?« »Libanon? Nein«, sagte Will. »Sehen Sie, ich habe mir Arabisch beigebracht, damit Luc, Nico und ich im Libanon leben konnten. Wo Luc herkommt. Aber. Nun ja …« Luc mit den Regeln. Will nippte an seinem Mineralwasser. »Kennen Sie die Rue de Belleville?«, fragte Jorie. »Im Zwanzigsten«, sagte Will. 59
Nico war ganz Ohr und sah seiner Mutter beim Sprechen zu. »Mir gefallt es da, mit den ganzen verrauchten Restaurants und den Geschäften mit Importware, und Nico und ich ziehen oft durch die Straße, aber nie mit Luc, der die Gegend als Asien bezeichnet, Asien, verstehen Sie, das ist abwertend gemeint. Also bin ich eines Tages los und habe mir ein Arabisch-Buch gekauft. So eins zum Selbststudium, wie heißen die noch mal?« »Ein Handbuch?«, fragte Will. »Es ist furchtbar. Mein Englisch wird von Tag zu Tag schlechter«, sagte Jorie. Sie ließ eine Beschreibung folgen, wie sie ihr Lehrbuch in der Nachttischschublade neben ihrem Bett versteckt hielt. Wenn Luc zur Arbeit war, lernte sie das Alphabet. War er auf Geschäftsreise, was häufig vorkam, lernte sie Standardsätze. Die ganze Zeit hielt sie ihre Selbstlernversuche geheim. »Aber ich hab das nur ein Jahr oder so gemacht«, sagte Jorie, »und das ist schon eine Weile her. Aber trotzdem fällt mir hin und wieder doch noch ein Wort ein.« »Mooza«, sagte Nico leise. Jorie warf den Kopf zurück und sah den Jungen mit strahlendem Lächeln an. Ihre Augen waren voller Tränen, auch wenn sie nicht weinte. »Tisbah àla khayr«, sagte sie zu Nico. Für Will übersetzte sie: »Gute Nacht, schlaf gut.« Er nickte. Der Satz hörte sich vertraut an. »Àna musàfir li-wàhdee.« »Und das?«, musste Will fragen. »Ich reise allein«, sagte Jorie. Eine Weile schwieg sie. »Am Ende habe ich mich selbst nur noch einsamer gemacht«, sagte sie. Eine Verbindung, ein Band, irgendeine grundlegende Vertrautheit – wie oft begegnete man einem Fremden, dem man 60
sich derart verbunden fühlte? Wie hoch standen die Chancen? Will fühlte sich von einer Welle der Sympathie erwärmt. »Ich weiß, wie das ist«, sagte er. »Wirklich?« »Ja, das tue ich.« Er beugte sich zu ihr vor. Sortierte seine Gedanken. »Eine Sprache zu lernen, ohne in das Land zu fahren, in der diese Sprache gesprochen wird, verstärkt nur noch das Gefühl, dass man allein in der Welt steht«, sagte er. »Ja«, sagte sie, »Ja«, mit großen Augen – und nun war sie es, die die Hand über den Tisch streckte und kurz nach seiner Hand griff– »genau so ist es.« Nico wendete sich zu den Leuten um, die draußen am Bistro vorbeigingen. »Es tut mir Leid«, sagte Jorie. »Ich weiß nicht, warum ich Sie mit alldem langweile.« »Entschuldigen Sie sich nicht. Bitte, ich …«, entgegnete Will. Er was? Er wollte ihr danken, obwohl er nicht ganz sicher war, warum. Ihre Offenheit schien ihm wie ein unverdientes Geschenk. »Es ist eine solche Erleichterung, mit jemandem reden zu können«, sagte Jorie. Der Himmel hatte sich unwiederbringlich verdüstert, und natürlich begann sich jetzt auch ein wenig Nebel auf die Fensterscheiben zu legen. »Zu Besuch von wo?«, fragte sie. »Ich? Von nirgends«, antwortete er, was sich, wie er genau wusste, entweder seltsam oder unhöflich anhörte. »Ich meine, ich bin mit dem Flugzeug aus Rabat gekommen, aber ich habe seit über einem Jahr keine feste Adresse mehr gehabt.« »Ich verstehe. Und als Sie eine feste Adresse hatten, wo war das?« Er zögerte erst, aber dann sagte er: »In Mexiko. Ich war im 61
diplomatischen Dienst. Und letztes Jahr bin ich eines Tages einfach gegangen.« Das brachte sie wieder zum Schweigen. »Und ihr Vater war Botschafter«, sagte sie. Will lehnte sich im Stuhl zurück. »Sie sind Will Law. Er war William Law. Nicht wahr –« »Ja«, fiel Will ihr ins Wort. »Woher wissen Sie das?« »Mein Vater war beim Militär«, sagte Jorie. »Wir sind viel herumgezogen, als ich noch klein war. Israel, Ägypten.« »Türkei, Saudi-Arabien«, sagte Will. »Will Law«, sagte Jorie. »Jorie Cole«, sagte Will. »Ich will ehrlich sein«, sagte sie. »Ich erinnere mich nicht wirklich an Sie, aber ich glaube –« »Ja«, sagte Will. Und obwohl er nicht genau wusste, wer sie war, bestätigte es doch seinen Verdacht: Irgendwann hatten sich ihre Umlaufbahnen schon einmal gekreuzt. »Die Internationale Schule in Kairo? Die Amerikanische Schule in Tanger?« »Möglich«, sagte Will. »Wir müssten genau nachrechnen.« »Da müssten wir aber weit zurückgehen«, sagte sie. Er sah sie an und versuchte sie sich mit vierzehn vorzustellen, mit zehn – wie alt er dann auch immer gewesen sein mochte. Er versuchte vergeblich, das Mädchen in ihr zu sehen, mit kleinerer Nase, wippenden Zöpfen oder Stufenschnitt. Nein, er sah es nicht, aber irgendetwas an ihr hatte er wiedererkannt. »Will Law«, sagte Jorie, immer noch auf der Suche, wahrscheinlich genauso vergeblich wie er nach einem Jahr und einem Ort tastend. »Ich glaube, es war Kairo. Oder Tanger.« »Ich habe an der Amerikanischen Schule in Tanger bei ein paar Theaterstücken mitgespielt«, sagte Will. »Oh, nein. An die Stücke erinnere ich mich. Wer waren Sie? Der Verehrer in der Glasmenagerie?« 62
»Ich war der ältere Sohn vom Handlungsreisenden. Ich hatte keine Ahnung, was ich da tat und worum es in dem Stück überhaupt ging.« »Ich glaube, das habe ich verpasst«, sagte Jorie. Will erzählte von seiner kurzen Zeit auf der Bühne. Es wurde jedes Mal ein Regisseur von draußen aus der Exilantengemeinde geholt, ein Mann, der Halstücher trug und sich bewunderungsvoll an die Originalinszenierungen eines jeden BroadwayKlassikers erinnerte, der sich in das Repertoire der internationalen Schule einschlich. Jorie kannte den Mann, den Will da beschrieb, ganz genau. »Mich hat er während meiner Zeit dort«, sagte sie, »eine Hexe in Salem spielen lassen. Ich war todunglücklich. Über das Schauspielern, meine ich, nicht wegen der Hexe.« »Wussten die eigentlich nicht, dass all diese amerikanischen Dinge an uns verschwendet waren?«, sagte Will. »Das haben sie nie kapiert«, sagte Jorie. »Amerikanische Geschichte war so –« »Mittelalterlich, entfernt. Viel weiter weg als europäische Geschichte. Sie sind also während Ihrer Jugend nie für längere Zeit in den Staaten gewesen?«, fragte sie. »Nur um die weitläufige Verwandtschaft zu besuchen.« »Sie hatten Glück, das ist Ihnen klar.« Jorie erinnerte sich an ein Jahr in Amerika, während ihr Vater dem Nationalen Sicherheitsrat zugeteilt gewesen war. Sie hatte sich nie einsamer gefühlt. »Ich weiß, ich habe vorhin gesagt, ich wollte mit einem Amerikaner reden«, sagte sie, »aber wenn Sie von, ich weiß nicht, von Sitcoms oder so angefangen hätten –« »Etwas, worüber zwei Leute, die sich nicht kennen, natürlich sofort sprechen«, sagte Will. Jorie lachte laut. Nico starrte sie an: Wer war diese verrückte Frau? »Sie wissen, was ich meine«, sagte sie. 63
»Und ob«, sagte Will. »Es ist ja nicht so, dass wir damals nicht die gleiche Pop-Musik gehört und die gleichen Fernsehsendungen gesehen hätten. Sie kamen nur allesamt ein bis zwei Jahre später bei uns an.« »Oder sie haben uns nicht interessiert.« »Ich erinnere mich noch, wie ich, als ich einmal in den Ferien in den Staaten war, mit ein paar Cousins ins Kino gegangen bin. In dem Film ging es um Schülerstreiche am College, und meine Cousins kugelten sich zwischen den Sitzen, das ganze Publikum brüllte vor Lachen. Ich verstand kein Wort. Bierselige Faxen, Scherze auf Kosten der Professoren – und ich saß mit versteinertem Gesicht da. Als käme ich von einem anderen Planeten.« »Im einen Jahr wohnten wir in Virginia«, sagte Jorie, »und im anderen waren wir in Athen. Ich wollte irgendwie auffallen an meiner neuen Schule, also tat ich so, als hätte ich es ganz dick mit der Country-Music.« Will kicherte. »Nein, ehrlich. Ich habe meinen Freunden Kassetten vorgespielt. Und dann hatte ich diesen Cowgirlhut. Daran hab ich seit Jahren nicht mehr gedacht … und natürlich trug ich immer ein rotes Tuch um den Hals.« »Und dazu Stiefel, jede Wette«, sagte Will. »Ich hätte zu gern auch noch cowboymäßig genäselt, aber das hab ich nie so richtig hingekriegt.« »Das hätte ich gerne gehört.« Leise stimmte Jorie eine Zeile aus irgendeinem typischen Herz-Schmerz-Countrysong an, ein einziges Liebesdarben in Alt. Danach schwiegen sie. »Jorie«, zwitscherte Nico. Er hatte jetzt genug. »Nico«, sagte sie. »Lass uns wieder zu der Brücke gehen.« Sie sah auf die Uhr auf ihrem Pulloverärmel. »Es fährt bald ein Zug, den ich nehmen möchte«, sagte sie. 64
»Ein Zug?«, fragte Will. »Nico, möchtest du nicht mit mir Zug fahren?« Diesmal sagte er weder Nein noch Ja. Will konnte die Augen des Kindes hin und her huschen sehen, er konnte ihm regelrecht dabei zusehen, wie er über den nächsten Zug in dem immerwährenden Schachspiel nachdachte, das ein Vierjähriger mit seiner Mutter spielt. »Wenn wir erst zum Fluss gehen«, verkündete Nico. »Voilà«, sagte Jorie. Will bezahlte das Essen. Jorie protestierte. Er bestand darauf, und sie hinderte ihn nicht daran. Er dachte, wir könnten noch stundenlang reden. Wir kommen beide aus demselben Nichts. Draußen hatte sich der Nebel zu etwas Nieselregenartigem verstärkt. Die drei gingen zurück über die Straße und auf den Pont de Sully zu. »Wir haben bestimmt eine Menge gemeinsame Bekannte«, sagte Will. »Möglich. Obwohl ich zu niemandem mehr Kontakt habe«, sagte Jorie. Will war drauf und dran, meinen Namen an ihr auszuprobieren, aber dann fiel ihm ein, dass ich zwar am College mit ihm und seinen Freunden herumgehangen hatte, aber nur deshalb zu der Exil-Gruppe gehört hatte, weil ich ein Freund von ihm und dann irgendwann sein Freund gewesen war. Darüber hinaus hatte ich mit diesem Kreis nichts zu tun. Die Massen entlang der Seine hatten sich zwar aufgelöst, aber es waren immer noch unzählige Menschen unterwegs, und es konnten noch keine Autos wieder über die Brücke fahren, obwohl ein Taxi es versuchte. Selbst Mopedfahrer mussten ihre Räder durch die Menge schieben. Jorie hatte wieder ihren Rucksack aufgeschnallt, und Will trug den kleinen Koffer. Nico ging voraus. Jorie rief ihn beim Namen, wenn er sich zu weit entfernte. 65
»Baby, Baby, Baby«, rief er zurück. Der Pont de Sully war ein sanfter Steinbogen – eigentlich zwei Brücken, die auf der Ostspitze der Ile Saint-Louis aufsetzten. Will und Jorie folgten Nico zu der zweiten Brücke, die auf das linke Seineufer weiterführte, und Nico ging auf einen großen Mann zu, der am Geländer lehnte. Ein Möwenschwarm, lauter weiße Winkel vor dem dunklen Himmel, schraubte sich abwärts auf das Wasser zu. Der Fluss sah aus wie abgestandene Zwiebelsuppe, brauner Schleim mit einer Schicht aus durchgeweichtem Brot oben drauf. Ein Ausflugsboot glitt unter der Brücke hervor und bahnte sich einen Weg um ein Uferstück der Insel, als wäre es ein Eisbrecher, der eine Fahrrinne für kleinere Boote frei macht. Will wollte Jorie etwas sagen, womit er eine Art Pakt mit ihr schließen konnte, den Freundschaftsvertrag besiegeln, den sie unterschrieben hatte, indem sie ihm erzählte, wie einsam sie sich mit ihrem arabischen Lehrbuch gemacht und damit Unstimmigkeiten in ihrer Ehe angedeutet hatte. Nico kam wieder auf Jorie zugelaufen und zeigte auf ihren Rucksack. »Hast du Brot?«, fragte er. »Tut mir Leid«, antwortete sie. Er stürmte wieder zu dem großen Mann am Geländer hinüber. In der Hand hielt der Mann den Knust von einem Baguette, den er jetzt Nico gab. »Nico«, rief Jorie zu ihm hinüber – er war viel zu weit entfernt. »Komm wieder her.« Er hatte seine Kappe fallen gelassen. Jorie hob sie vom Pflaster auf. »Du hast deine Mütze verloren«, rief sie. Der Nieselregen schien nach einem seltsamen Rhythmus zuund wieder abzunehmen, so als würde da jemand hoch oben einen Wischlappen auswringen. 66
»Sie haben nicht gefragt, wen«, sagte Will. »Wen ich hier besuche.« Jorie drehte sich zu ihm um. »Meinen Ex-Liebhaber Pedro. Ich kam her, um ihn zu sehen, und jetzt möchte ich mit ihm weglaufen.« Jorie zwinkerte. »Hört sich romantisch an. Pedro heißt er?« »Pedro Douglas. Er ist Kunsthistoriker.« »Und wie ex ist der Ex?« Will kam nicht dazu, ihr zu antworten. Jorie hatte Nico kurz den Rücken zugewandt, aber Will behielt ihn im Auge, und deshalb konnte er auch die Gang sehen, die auf ihn zukam. Noch so ein Haufen herumstreunender junger Leute in ihren zerrissenen Blaumännern, den Eisenketten und mit Spucke polierten Springerstiefeln. Dieses Mal kamen sie johlend und im Schnellschritt heran. Zehn Mann. Dieses Mal würden sie zuschlagen, und jeder auf der Brücke sprang aus dem Weg und drückte sich gegen das Geländer. Außer Nico. Der stand wie angewurzelt mitten auf der Straße und starrte mit offenem Mund diesem Schwärm von großen Jungen entgegen, die da auf ihn zustürmten. Jorie schnellte herum. Sie musste gesehen haben, was Will sah, aber im Gegensatz zu ihm reagierte sie sofort, warf ihren Rucksack ab und ließ ihn fallen. Sie rannte auf Nico zu. Will tat zunächst gar nichts und interpretierte die ganze Szene offenbar völlig falsch – er wusste nichts, er hatte noch nicht von dieser neuen Form des Terrorismus gehört –, dann hievte er mit einiger Mühe Jories Rucksack über seine rechte Schulter, ohne erst den Riemen auf die für seinen Arm passende Größe zu stellen, während er noch immer den Griff des kleinen Karokoffers umklammerte. Jorie rannte auf Nico zu und streckte beide Hände aus. Nico starrte sie an und ließ seine Brotkante fallen. Seine Arme sackten an den Seiten hinunter. Er sah verwirrt aus, völlig 67
perplex – gefangen in dieser Schrecksekunde zwischen dem Moment, wenn ein Kind hinfällt und sich den Kopf stößt, und dem Moment, wenn es anfängt zu weinen. »Nico!«, brüllte Jorie. Aber die Bande erreichte ihn zuerst. Sie schrie – alle Leute um sie herum schrien. Einer der Jungen hatte Nico um die Taille gefasst. Die anderen bildeten einen Kreis um ihn. Und dann rannten sie. »Lasst ihn los«, schrie Jorie. Die Bande rannte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war, wieder zum linken Seineufer. Will konnte Nicos grüne Turnschuhe sehen, die Kapuze seiner Jacke. »Nico«, brüllte Jorie. Dann konnte Will den Jungen nicht mehr sehen. »Haltet sie«, schrie Jorie, »haltet sie.« Aber wer der Gang in den Weg lief, sah zu, dass er schnell zur Seite sprang. Sie warfen ein Kind auf einem Fahrrad um und rissen einen Mann, der Blumen verkaufte, von den Füßen. Jorie rannte, beide Hände vor sich ausgestreckt. Halt, schrie sie – jetzt schrie Will auch Halt. Ja, er schrie Halt. In seinen Ohren rauschte es, sein Bauch war gebläht, und der Rucksack zog ihn herunter. Er verlor Jorie aus den Augen. Er warf ihren Rucksack und den kleinen Karokoffer hin und sprintete los. Er hörte Jorie schreien, aber er konnte nicht sehen, wo sie war. Als er zum Ufer kam, war die Gang mit dem Jungen auf und davon – später erfuhr er, dass sie mit einem Fluchtlieferwagen davongefahren waren –, und als Will sie schließlich entdeckte, war Jorie erstaunlicherweise weit entfernt. Sie war mehrere hundert Meter hinter dem Lieferwagen hergelaufen und schließlich mitten auf der Straße auf die Knie gefallen. Sie schleuderte etwas – was? Steine? – die leere Straße vor sich 68
entlang. Will versuchte schnell und intelligent vorzugehen. Erst musste er Jories Gepäck einsammeln, deshalb drehte er wieder um, um sich den Rucksack und den Karokoffer zu schnappen – er versuchte sich zu beeilen, aber die Menge versperrte ihm den Weg –, und dann, als er wieder umgekehrt und zurück zum Ufer gelaufen war, war inzwischen die Polizei eingetroffen, überall schwirrte Polizei umher. Er drängte sich bis zu der Stelle vor, wo er Jorie zuletzt gesehen hatte, und wäre beinahe über etwas gestolpert. Eine Kastanie – Jorie hatte Nicos Kastanien hinter der Bande hergeworfen, als sie mit dem Jungen davonliefen. Will steckte die Kastanie in die Tasche. Er konnte sie nicht finden. Die Menge strömte wieder in den Raum zurück, den sie freigegeben hatte, und die Polizisten machten sich eifrig daran, Ordnung zu schaffen, aber Will konnte Jorie nirgends finden. Er schwenkte herum. Ging auf die Brücke zu. Dann wieder zurück. Dann bemerkte er einen halben Straßenzug entfernt einen Einsatzwagen der Polizei mit einer Frau auf dem Rücksitz und blinkender Alarmlampe. Der Einsatzwagen fuhr los und verschwand einen Berg hinauf. Das Nieseln verwandelte sich in Regen. Will wusste nicht, was er tun sollte. Er passte die Riemen des schweren Rucksacks seinem Rücken an, dann schlang er die Arme um den kleinen karierten Koffer und presste ihn sich vor die Brust. ER HIELT SICH FÜR EINIGERMASSEN FIT, musste aber schnell feststellen, dass er für das Gewicht von Jories Rucksack, der auf seinem Weg durch die steileren Windungen des Quartier Latin immer schwerer und schwerer wurde, nicht vorbereitet war. Er hatte einen Beamten nach dem Weg zum nächsten Polizeirevier gefragt und konnte nicht glauben, dass es so weit 69
sein sollte. Manche Straßen waren überfüllt von Parisern, die entweder vom Fluss zurückkamen oder sich immer noch in diese Richtung vorarbeiteten; und dann wieder waren manche Plätze so leer wie an einem Feiertag. Soviel Will wusste, war es sogar so ein Feiertag; er konnte sich das alles nie merken, die Erscheinungen der Jungfrau, die Zuflüsterungen der Erzengel. Er verlor völlig die Orientierung. Zweimal bog er falsch ab und musste den alten Paris par Arrondissement zu Rate ziehen, den er sich von mir geborgt hatte, und zweimal musste er auch den Rucksack absetzen und ausruhen. Der Nieselregen wurde immer dichter, und es kühlte merklich ab, trotzdem war er völlig erledigt und schweißüberströmt, als er schließlich beim Polizeirevier ankam. Er erholte sich schnell. Wenn ich in eine unbekannte Stadt käme und mich dort fremd fühlte, brauchte ich nur ein Museum zu suchen und ein wenig in den Sälen herumzulaufen, um mich zu entspannen und wieder wohler zu fühlen. Will dagegen brauchte nur in irgendein Regierungsbüro, irgendein öffentliches Verwaltungslabyrinth zu marschieren; und schon war sein Selbstvertrauen wiederhergestellt. In seinen Augen waren sie alle gleich. Die Vorzimmerdamen. Die Gänge mit überfüllten Aktenschränken. Die surrenden Deckenventilatoren, egal, welches Wetter herrschte. Die vielen geschlossenen Türen mit Namensschildern und geöffneten Oberlichtern. Ein Wachmann winkte ihn durch einen Metalldetektor und besah sich dann Jories Gepäck, das Will seinerseits auch ganz gern inspiziert hätte. Eine Frau in Zivil hinter einem Amtstresen weigerte sich, die Anwesenheit einer Person namens Jorie Cole zu bestätigen. Leugnen wollte sie es aber auch nicht. »Vous êtes advocat, Monsieur?«, fragte die Frau. Einen kurzen Moment lang zog er in Erwägung, sich tatsächlich für Jories Anwalt auszugeben – oder vielleicht als ihr Ehemann oder ihr Bruder –, stattdessen entschied er sich für die Wahrheit. »Ich bin nur hier, um ihr Gepäck zu bringen. Sie 70
hat es auf der Straße fallen gelassen.« Damit kam er nicht durch. Die Empfangsdame wandte ihre Aufmerksamkeit wieder einem Computerbildschirm zu und meinte, sie könne ihm nicht helfen. »Sie bringen ihr ihr Gepäck«, sagte sie und schien ein Lachen zu unterdrücken, als ob diesen Trick, also wirklich, schon hunderte vor ihm versucht hätten. Ihr Gepäck bringen – da wirst du dir schon was Besseres einfallen lassen müssen. Plan B. »Madame Cole ist amerikanische Staatsbürgerin«, sagte Will. Er zog seine Brieftasche heraus und daraus wiederum eine mit dem Wappen des US-Außenministeriums geschmückte Plastikkarte. Wenn die Polizistin sie näher untersuchen wollte, würde er sich gewaltig aufplustern und den Empörten spielen müssen, denn sie brauchte nur einen einzigen Blick auf seine Karte zu werfen, um zu sehen, dass sie nicht mehr gültig war, oder die Botschaft anzurufen, um zu erfahren, dass Will seine diversen Privilegien verwirkt hatte. Oder beides. Die Frau schielte auf die Karte und schnaubte, als sähe sie so einen Ausweis mit seinem Herrschaftswappen nicht zum ersten Mal und als machte es ihr absolut keinen Spaß, unter Druck gesetzt zu werden. »Ich muss umgehend mit Madame Cole sprechen. Als ihr Vertreter.« Will hielt den Karokoffer in die Luft. »Und wie ich schon sagte, ich habe ihr Gepäck.« »Warten Sie bitte«, sagte die Frau, obwohl sie weder das Telefon abnahm noch einen Kollegen heranwinkte. Stattdessen tippte sie ungerührt ein paar Eingaben in die Tastatur und starrte auf ihren Monitor. Dann schien sie zu der Arbeit zurückzukehren, die Will unterbrochen hatte. Er wusste, dass er sein Glück nicht überstrapazieren durfte, und setzte sich, um zu warten. Er wartete eine Viertelstunde – es war bereits über eine Stunde vergangen, seit Nico verschleppt worden war. Er hatte keinen Grund anzunehmen, dass 71
Jorie überhaupt im Reviergebäude war; niemand hatte das bestätigt. Dann tippte ihm ein Mann auf die Schulter. Auch er war nicht in Uniform, obwohl sein formloser stahlgrauer Anzug auch so etwas wie eine Uniform darstellte. Will wurde in einen großen, durch halbhohe Wände zu einem Bürolabyrinth umstrukturierten Raum geführt und aufgefordert, die Taschen beim Tisch des Kommissars stehen zu lassen. Dann wurde er in einen langen schmalen Raum komplimentiert mit einem fast ebenso langen Metalltisch darin – ein Vernehmungszimmer? –, an dessen einem Ende ein uniformierter Beamter mit Jorie saß und leise mit ihr sprach. Man hatte sie in eine dicke Wolldecke gewickelt und ihr etwas Warmes zu trinken gegeben, allerdings sah es nicht so aus, als hätte sie davon getrunken. Ihre Augen waren rot gerändert; sie sah schon jetzt so aus, als hätte sie keine Tränen mehr übrig. Trotzdem schien sie tatsächlich zu lächeln, als sie Will bemerkte. Er fühlte sich, als würde er sie schon sehr lange kennen. Er lächelte zurück. »Ich habe Ihr Gepäck«, sagte er und kam sich sofort ein bisschen dumm dabei vor; in diesem Moment war es der armen Frau wahrscheinlich vollkommen egal, was aus ihren Sachen wurde. »Danke«, sagte sie. Und dann, nachdem sie ihn zu sich gewinkt und gewartet hatte, bis er den Raum durchquert hatte: »Ich brauche Ihre Hilfe.« Der Uniformierte bot Will einen Stuhl an und setzte sich ebenfalls wieder. »Sie arbeiten für die Regierung der Vereinigten Staaten«, stellte der Kommissar fest. Will nickte, ohne zu zögern. »Mein Französisch«, sagte Jorie. »Ich kann plötzlich nicht mehr fließend Französisch sprechen.« »Das ist verständlich«, sagte Will. 72
»Ich kann mich überhaupt nicht ausdrücken. Ich kann nicht sagen, was ich sagen will.« »Lassen Sie mich es versuchen«, sagte Will. »Wir versuchen Madame zu helfen«, sagte der Kommissar, immer den ganzen langen Raum hin und her gehend. »Aber sie will nicht kooperieren.« »Sie drehen mich durch die Mühle. Sie befragen mich, als wäre ich eine Kriminelle«, sagte Jorie zu Will. Will setzte sich aufrechter hin. »Bitte«, sagte sie zu dem Kommissar, auf Französisch. »Bitte. Wir verlieren Zeit.« Jeder Satz wirkte wie erkämpft. »Wir haben nicht viel Zeit.« Will wusste, dass man ruhig bleiben, vernünftig wirken musste, wenn man ernst genommen werden wollte. Das konnte er jetzt für sie tun. Er konnte helfen. »Könnten Sie mich ins Bild setzen?«, fragte er den Kommissar in langsamem, genau artikuliertem Französisch. »Wir sollten hier nicht rumsitzen«, platzte Jorie heraus und fiel wieder ins Englische zurück. »Wir müssen ihn sofort finden, sofort. Bitte. Ich weiß nicht, was es helfen soll, Luc anzurufen.« »Sie wollen Luc anrufen?«, fragte Will. »Nicht dass er irgendetwas anderes tun könnte, als sich Sorgen zu machen«, sagte sie. Jetzt sprach auch der Kommissar Englisch. »Als Erstes haben wir Madame um ein Foto ihres Sohnes gebeten, damit wir es an alle Reviere in der Stadt und in den Vororten verteilen können. Was sie im Augenblick aber nicht bei sich hat.« »Jetzt kann er plötzlich Englisch«, murmelte Jorie. »Also mussten wir einen Beamten zu ihrer Wohnung schikken, um das Foto zu holen, was bei dem Verkehr heute natürlich einige Zeit gedauert hat«, fuhr der Kommissar fort. »Und sie haben darauf bestanden, mich hier zu behalten«, sagte Jorie. »Sie wollten mich nicht mit zu mir nach Hause 73
nehmen, um es zu holen. Ich musste den Hausmeister anrufen und ihn bitten, sie hereinzulassen.« Der Kommissar nahm ein gefaltetes Blatt aus seiner Tasche und legte es auf den Tisch. Will musterte das Fax: eine schlechte Übertragung eines Fotos, aber unverkennbar ein undeutlicher und veralteter Schnappschuss von Nico. Er hielt einen Flugdrachen in der Hand. Der Junge und der Drache sahen ungefähr gleich groß aus. »Das hier haben wir eben bekommen«, sagte der Kommissar, »also werden wir es jetzt verschicken.« »Gut«, sagte Will. Jorie sah sich das gefaxte Foto und die schriftliche Beschreibung von Nico an. Sie glättete die Falten im Papier. »Aber darf ich darauf hinweisen, dass die meisten Mütter ein Foto von jedem ihrer Kinder in der Brieftasche haben«, sagte der Kommissar. Jorie schüttelte den Kopf. »Wir vergeuden Zeit. Er muss solche Angst haben. Er muss …« Eine einsame Träne rollte über ihre Wange. Will versuchte ihre eiskalte Hand in seiner zu wärmen. Wieder wandte sich der Kommissar an Will. »Sie hat keine solchen Fotos dabei, verstehen Sie, aber andererseits ist sie auch nicht die Mutter.« Will funkelte den Polizisten an und fragte sich, wie er so gemein sein konnte. Dann sah er wieder Jorie an, die bei der Bemerkung nicht zusammengezuckt war. »Ich war noch nie eine große Knipserin, das ist alles«, sagte Jorie. »Sie sind nicht seine Mutter?«, fragte Will. Sie zog die Decke enger um die Schultern und trank einen Schluck von ihrem Tee, der inzwischen kalt geworden war. Will legte seine Hände in den Schoß. »Mais où est la mère?«, fragte der Uniformierte – es war eindeutig nicht das erste Mal, dass er ihr diese Frage stellte. 74
»Ich habe es Ihnen doch gesagt. Nicos Mutter ist tot«, sagte Jorie. »Als er sechs Monate alt war. Seine Mutter wurde von einem Taxi überfahren. Sie starb vor vier Jahren.« »Où est le père?« Will kam sich vor, als wäre er in einem Sprachenunterricht gelandet. »Comme je vous ai déjà dit. En Afrique«, antwortete Jorie. Und dann platzte es auf Englisch aus ihr heraus. »Wo, glauben Sie, haben sie ihn hingebracht – haben Sie irgendeine Ahnung? Er muss solche Angst haben. Und Sie kennen ihn nicht, aber er ist so süß und immer so gutmütig, und er hat kein leichtes Leben gehabt – er muss solche Angst haben –« »Madame«, sagte der Kommissar. »S’il vous plait. Wir müssen diese Fragen stellen.« Der Kommissar erklärte Will, sie wollten Luc anrufen, weil er der Vater des Jungen war und Jorie, soviel sie wussten, nur ein Kindermädchen oder vielleicht sogar eine völlig Fremde. Sie hatte einen Hausmeister angerufen und gewusst, wo in dem Apartment die Polizei ein Foto finden konnte, das stimmte. Aber wie konnten sie sicher sein, welcher Art ihre Verbindung zu dem Jungen war? Forderungen stellen, Aufmerksamkeit beanspruchen. Sie hatte kein Foto des Jungen bei sich. Und jetzt wollte sie keine Nummer angeben, wo der Vater zu erreichen war. »Warum machen Sie alles so kompliziert?«, fragte sie. »Finden Sie nur den Jungen – das ist alles, was Sie zu tun haben. Finden Sie ihn einfach.« »Beruhigen Sie sich«, sagte Will. »Sie unternehmen nicht genug. Sie sollten draußen auf der Straße sein –« »Jorie«, sagte Will. Er mochte seinen eigenen Tonfall nicht. Er wollte nicht so wirken, als würde er die Seiten wechseln, obwohl er den Standpunkt der Polizei verstehen konnte. Eine verzweifelte 75
Frau stellt auf offener Straße Behauptungen auf, die zunächst berechtigt erscheinen. Aber dann beginnt man mit ihr zu reden, und plötzlich sind die Tatsachen nicht mehr so eindeutig. Als Will zu Jorie hinsah, musste er sich eingestehen, dass sie trotz der Anziehung vorhin im Café eine Fremde für ihn war. Im Café schien sie Nico durchaus vertraut zu sein. Und trotzdem. Vielleicht kannte er sie überhaupt nicht. Sie holte ein paarmal tief Luft. Sie starrte Will an. »Luc und ich waren nie verheiratet. Ich habe Nico also nicht adoptiert. Aber ich bin die einzige Mutter, die er je wirklich kennen gelernt hat«, sagte sie. Will setzte sich im Stuhl zurück. Er hatte der Frau ihr Gepäck gebracht, seine Samariterpflichten erfüllt, und er fühlte sich versucht, aufzustehen und zu gehen. Aber er konnte Jorie nicht so einfach hängen lassen. Er wandte sich an den Kommissar. »Könnten Sie uns einen Augenblick allein lassen?« Der Kommissar zuckte die Achseln. Er und der Beamte in Uniform verließen den Raum, machten die Tür aber nicht ganz zu. »Ich bemühe mich, es zu verstehen«, sagte Will. »Nicos Vater ist in Afrika. Sie tragen dieses ganze Gepäck mit sich herum. Sie wollten mit dem Jungen irgendwohin.« »Sie trauen mir auch nicht«, sagte Jorie. »Wohin waren Sie unterwegs? Zu Luc?« Jorie schluckte. »Nein«, sagte sie. »Haben Sie keine Nummer, wo man ihn erreichen kann?« »Trauen Sie nicht der Frau. Rufen Sie den Mann an«, sagte sie. »Den nächsten Verwandten anzurufen – so wird überall vorgegangen.« Jorie seufzte. »Ich habe solche Angst. Ich bin nicht gut, wenn ich Angst habe.« »Das ist niemand.« 76
»Sie sollten unterwegs sein und nach ihm suchen.« »Das tun sie«, sagte Will. »Sie haben sein Foto herumgefaxt.« Er zog seinen Stuhl näher an sie heran. »Lassen Sie mich ganz ehrlich sein. Für mich sieht die Sache so aus: Sie waren mit dem Jungen irgendwohin unterwegs – wohin? Außer Landes?«, flüsterte er. Jories Augen weiteten sich. Sie zögerte, nickte dann aber doch. »Ohne Wissen seines Vaters«, sagte Will. Wieder ein Nicken. »Wie lange waren Sie mit Luc zusammen?«, fragte er. »Vier Jahre«, sagte sie. »Sie wollten ihn verlassen«, stellte Will ruhig fest. Jorie leckte sich über ihre aufgesprungenen Lippen. »Er ist im Ausland«, sagte Will, »und Sie wollten ihn verlassen und den Jungen mitnehmen. Seinen Sohn. Ich nehme mal an, dass Sie keine Nachsendeadresse hinterlassen haben.« »Es war heute Morgen, als wir im Park saßen, da habe ich mich entschieden«, sagte sie. »Ich habe mich entschieden wegzugehen, und Nico wollte nicht, weil er in gewisser Weise mehr versteht, als wir denken, und er wollte nur, dass ich mit ihm in den Zoo im Jardin gehe, aber ich sagte Nein, und …« Jorie kniff die Augen zusammen. Sie stieß ein leises oh aus. Sie zitterte, trotzdem ließ sie die Decke los, griff in ihre Tasche und zog ein schmales, handtellergroßes und in Ziegenleder gebundenes Büchlein mit rotem Merkband hervor – ein Adressbuch, mit von den vielen Tinteneintragungen und Durchstreichungen weich gewordenen Seiten. »Luc ist die Abkürzung für Lucien. Lucien Chamoun«, sagte sie. »Sie können nachsehen, aber Sie werden nur die Nummer von seinem Pariser Büro finden, und die ist nicht mehr gültig. Die Nummer von seinem Büro in Nigeria ist zu Hause.« Will nickte. 77
»Sie haben Angst, dass die Polizei, wenn sie bei ihm anruft, Fragen zu stellen beginnt und ihn vielleicht irgendwie darauf bringt, dass Sie und Nico irgendwohin unterwegs waren«, sagte er. Jorie zuckte die Achseln. »Oder Sie fürchten, er könnte nach Paris zurückkommen. Und falls – wenn der Junge gefunden wird, könnten Sie womöglich nicht mehr fort«, sagte er. Jorie räusperte sich. »Ich kann es Ihnen unmöglich erklären«, flüsterte sie. Will betrachtete das Adressbuch und hätte beinahe losgekichert. »Was ist?«, fragte Jorie. Er hatte auch so eines. Es war ein bisschen größer als das von Jorie und in etwas besserem Zustand, aber trotzdem uralt. Suchen Sie mich mal unter D – da würden Sie meine ganzen verschiedenen Adressen im Laufe der Jahre finden; ich nahm eine ganze Seite ein. Will zog sein Buch aus der Tasche und legte es neben Jories auf den Tisch – und jedem – ganz bestimmt aber dem Kommissar und dem Beamten in Uniform – wäre das wie ein seltsame Vereinigung vorgekommen, ein fremdartiges Ritual. Ein solcher Gegenstand hätte auch mir nichts bedeutet, wenn ich nicht so viel Zeit mit Menschen verbracht hätte, die in ihrer Jugend häufig umgezogen waren. Vielleicht verloren sie Schals oder Sonnenbrillen oder Autoschlüssel, aber sie verloren niemals ihr Adressbuch. Das waren Totems, Heiligtümer des Nomadendaseins. Mit ihrer Hilfe behielten Will und Jorie den Überblick über ihre ganz private Diaspora. Man zieht in eine andere Stadt. Lernt neue Kinder kennen. Zieht weiter und bleibt mit einigen in Verbindung, verliert andere aus den Augen. Schließt neue Freundschaften, während andere zerbrechen. Und dann, nach einer Weile, wenn man älter war, wählte man ein wenig genauer aus, wessen Angaben man in sein alphabetisches Verzeichnis aufnahm. Der 78
Platz wurde knapp, lautete der offizielle Grund, man musste selektieren oder aber ein neues Adressbuch anfangen, wodurch man aber all diese nutzlosen Adressen verlieren würde, die unter den Durchstreichungen immer noch lesbar waren. Der tiefere Grund aber war, dass man es als Privileg betrachtete, das nicht jedem Bekannten zuteil wurde, es war eine Ehre für, sagen wir, einen entfernten Freund oder einen Nachbarn im selben Wohnhaus, auf derselben Zeile zu stehen wie ein längst verschollener Freund aus der Kindheit. Jorie sah Will an. »Wir sind beide lange Zeit herumgereist«, sagte sie. Er steckte sein Adressbuch wieder in die Tasche. »Ich sollte ihnen den Namen von Lucs Firma sagen und sie anrufen lassen«, sagte sie. »Ja«, meinte er und stand auf. »Bitte, Will. Sagen Sie ihnen nur, sie sollen Nico finden. Vergessen Sie mich. Er ist ein kleiner Junge. Den Rest brauchen sie nicht zu wissen. Bitte. Bringen Sie sie nur dazu, dass sie ihn finden.« Sie konnte kaum sprechen. »Bitte«, sagte sie. Will gefiel es nicht, wie Jorie ihn jetzt ansah. Nein, nein, nein – sie sah ihn völlig falsch. »Sie müssen nicht über mich Bescheid wissen«, sagte sie. Sie bettelte. Sie fürchtete sich vor ihm. Er durchschaute sie, und sie hatte Angst, dass er ihr Vertrauen missbrauchen würde. Er hatte keinerlei Grund, sie zu decken. Er hatte keinen Grund, das Risiko einzugehen und das, was er wusste, für sich zu behalten. »Bitte«, sagte sie. Er bemerkte eine Uhr an der Wand; das unaufhörliche Vorwärtsgleiten des zweiten Zeigers wurde zunehmend bedrohlich. Er wollte nicht, dass sie sich vor ihm fürchtete. Zu allem anderen Übel an diesem Tag auch das noch – es war zu viel. 79
Er trat auf den Flur hinaus und redete mit dem Kommissar und dem Uniformierten, die in der Nähe gelauert hatten. »Ich verstehe, warum Sie ihr nicht ohne weiteres vertrauen wollen«, sagte Will, »Tatsache ist aber, dass der Junge verschleppt wurde. Es war eine ganze Bande. Ich habe es selbst gesehen. Ungefähr hundert Leute haben es gesehen.« Der Kommissar rieb sich die Nase. »Sie wissen ja, wie das ist. Sie müssen das jeden Tag sehen«, sagte Will. »Aber die Leute verlieren die Fassung, sie sind nicht mehr sie selbst.« »Vertrauen Sie ihr?«, fragte der Kommissar rundheraus. Will konnte Nicos runde braune, weit aufgerissene Augen vor sich sehen. Der Junge hatte bestimmt solche Angst, dass er nicht einmal wagen würde zu blinzeln. »Wir wären ja gern auf ihrer Seite, Monsieur«, sagte der Kommissar. »Sie müssen Ihre Anordnungen befolgen.« »Wir haben das in letzter Zeit leider sehr oft durchexerziert. Und wir wissen durchaus Bescheid. Wir müssen dieses Kind finden, bevor etwas passiert.« »Es ist bereits etwas passiert«, sagte Will. »Ich glaube nicht, dass sie Sie in irgendeiner Hinsicht belügt.« »Oui?« »Ich vertraue ihr«, sagte er, obwohl er in Wirklichkeit noch immer voller Zweifel war. Die Männer traten wieder in den Vernehmungsraum. Jorie hatte die Decke abgelegt und stand unter der Wanduhr. Sie wischte sich mit den Händen über das Gesicht. »Wir bringen Sie bald nach Hause«, sagte der Kommissar. »Merci«, sagte Jorie. Sie nannte Lucs Firma. Der Uniformierte ging hinaus, um zu telefonieren. »Nur noch ein paar Fragen«, sagte der Kommissar. »Standardprozedur«, sagte Will. Jorie sah aus, als wollte sie protestieren, sagte aber nichts. 80
Die Polizei wollte die Möglichkeit ausschließen, dass die Entführung eine geplante Rache für etwas war, das sie oder Luc vielleicht irgendjemandem getan hatten. »Wie ich Ihnen schon sagte«, entgegnete Jorie, »kam mir einer der Jungen bekannt vor.« Einer der Jungen der Bande war dürrer und zartwangiger gewesen als die anderen, kleiner, jünger – er war nicht kahl geschoren, deshalb war er Jorie aufgefallen, obwohl er die gleiche verblichene und zerlumpte Uniform trug; sein Haar war rot und mittellang. Das war die Beschreibung, die sie liefern konnte. »Haben Sie ihn auch bemerkt?«, fragte sie Will. Er konnte nicht behaupten, dass er das getan hätte. »Ich habe ihn natürlich nur ganz kurz gesehen«, sagte sie, »aber ich weiß, dass ich ihn schon mal irgendwo in der Gegend, in der ich wohne, gesehen habe. Sie hängen da an der Place de Stalingrad herum.« »Das meinen wir nicht«, sagte der Kommissar. »Wir fragen uns, ob es irgendjemanden in Ihrem Leben gibt, jemanden, den Sie kennen, mit dem Sie regelmäßig zu tun haben – jemanden, der Ihnen vielleicht übel will –« »Nein, so jemanden gibt es nicht. Aber glauben Sie nicht, dass es da eine Verbindung geben könnte?«, fragte sie. »Non, Madame«, sagte der Kommissar. »Wenn es eine der üblichen Bandenentführungen war, und darin sind wir uns, glaube ich, alle einig, dann war es wohl ein schrecklicher Zufall.« »Ich bin sicher, dass ich diesen Jungen auf der Avenue JeanJaurès gesehen habe, und er treibt sich mit dieser Bande herum, die den Place de Stalingrad für sich in Anspruch nimmt.« Jorie sah Will an und zuckte die Achseln; er sah ihr an, dass sie selbst nicht wirklich daran glaubte, dass das nützliche Hinweise waren. Aber trotzdem, es war alles, was sie hatte. Sie verfolgte ihr 81
Szenario weiter. »Vielleicht haben die Typen Nico mit seinem Vater gesehen. Und dass sie heute Morgen über den Pont de Sully gekommen sind, war Zufall. Und dann haben Sie Nico erkannt –« »Aber Sie sagen, der Junge ist dunkelhäutig«, sagte der Kommissar. Dunkel. Braun, butterhäutig. Il est beurre. Das waren die abfälligen Bezeichnungen, die man heute überall in Paris hörte. Dunkel zu sein war gefährlich, ein Risiko – Will verstand gut, was der Kommissar sagen wollte. »Ja, aber ich war bei ihm, und ich sehe wohl kaum nach dem Mittleren Osten aus, und wohl auch nicht nordafrikanisch«, sagte Jorie. »Sie müssen Nico erkannt haben, weil sie ihn mit seinem Vater gesehen haben. Wie sollten sie ihn sonst in einem Stadtviertel entführen können, das auch nicht einmal annähernd französisch-arabisch ist –« »Madame«, unterbrach sie der Kommissar. »Wir werden sofort unsere Leute zum Place de Stalingrad schicken, darauf können Sie sich verlassen. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass der Junge von vornherein das Ziel des Anschlags war. So arbeiten diese Gangs nicht.« »Ich verstehe«, sagte Jorie. Ihre Schultern sackten herunter, und sie ließ den Kopf hängen; die Vorstellung von einer Zufallstat war ein schwerer Schlag für sie; sie war zu grausam. »Sie sahen ihn, er war braun. Er könnte auch Amerikaner sein wie Sie; das wäre unwichtig, solange er nur eine dunkle Haut hat. Diese Banden haben feste Vorstellungen.« »Wird eine Belohnung ausgesetzt werden?«, fragte Will. »Unwahrscheinlich«, sagte der Kommissar. »Aber Sie schicken ein paar Leute zum Place de Stalingrad«, sagte Jorie. »Wir werden den kleinen Jungen finden«, sagte er. »Oder, und das ist sogar noch wahrscheinlicher, ehe Sie sich versehen, wird irgendein braver Bürger unserer Stadt ihn finden und nach 82
Hause bringen.« »Jemand wird ihn finden?«, fragte Will. »Wo?« »Das ist die Art, wie diese Gangs ihre Entführungen handhaben«, sagte der Kommissar. »Sie schnappen sich die Kinder und fahren mit ihnen an den Rand der Stadt oder manchmal auch bis in die Vororte. Dann setzen sie die Kinder aus und überlassen es ihnen, wie sie wieder nach Hause finden. So funktioniert dieser neue Terrorismus, verstehen Sie. Sie wollen nicht so sehr den Kindern Angst machen als vielmehr den Eltern. Aber sie lassen die Kinder frei, und sie werden immer von jemandem gefunden. Innerhalb von ein paar Stunden sind sie wieder zurück. So läuft das Muster ab. Haben Sie Vertrauen.« »Moment, da kann ich nicht folgen«, sagte Will. »Sie laden sie ein und setzen sie einfach irgendwo wieder aus?« »Oui, Monsieur, genau das will ich damit sagen. Das kommt jetzt immer häufiger vor. Es ist – wie würden Sie sagen? Große Mode.« »Ganz schön kranke Mode«, sagte Will. »Und was, wenn sie das jetzt nicht mehr so machen?«, fragte Jorie. »Was, wenn sie es bisher so gemacht haben, von jetzt an die Kinder aber irgendwo festhalten?« Die Polizei konnte diese Möglichkeit nicht vollständig ausschließen. Sie hatten ihre Fragen gestellt; jetzt waren sie bereit, Jorie nach Hause zu bringen. Der uniformierte Beamte kam zurück. Lucs Pariser Büro hatte ihm eine Nummer gegeben, aber dann war Luc in Afrika nicht zu erreichen gewesen. Er war unterwegs über Land, anscheinend von der modernen Welt abgeschnitten. Man hinterließ eine Nachricht, er möge die Pariser Polizei anrufen. Will war enttäuscht, dass keine Verbindung zu Stande gekommen war. Ihm war unwohl bei dem Gefühl, der Einzige zu sein (außer Jorie), der die blanke Ironie dieses Tages ermessen konnte: Der Junge war entführt worden, als er gerade entführt 83
werden sollte. »Ich hole jetzt ihr Gepäck«, sagte er. Sie gingen einen Flur entlang zu einem Streifenwagen, der im Innenhof stand. »Ich nehme an, Sie wollen uns begleiten?«, wandte sich der Kommissar an Will. Will erinnerte sich wieder, unter welchem Vorwand er sich in Jories Angelegenheiten eingemischt hatte. Als ein Vertreter ihrer Regierung. Und schließlich hatte er für sie gebürgt, sie für vertrauenswürdig erklärt. Er konnte sich nicht entscheiden: Sollte er der Polizei die Wahrheit über sie sagen? Oder sollte er sich einfach um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und sehen, dass er zu mir ins Apartment kam? »Das wird nicht nötig sein«, sagte Jorie. »Ich danke Ihnen, Will, für Ihre Hilfe.« Und sie sah ihn an wie vorhin, als sie ihm den wahren Grund für ihren Exodus eröffnet hatte, ohne das leiseste Blinzeln mit flehentlichem, gebrochenem Lächeln. Er dachte daran, wie sie in dem Bistro gewesen war, als sie mit der Banane in der Luft herumgewedelt und der kleine Junge seine Affenhuhn-Show hingelegt hatte. Er wollte nicht, dass jemand sich vor ihm fürchtete – noch nie. Der Uniformierte kletterte hinter das Steuerrad, und der Kommissar nahm den Beifahrersitz. Jorie rutschte über die Rückbank. Will stellte den Rucksack neben sie. Dann stieg er ebenfalls ein, nahm das Karoköfferchen auf den Schoß und schlug die Tür zu. DER REGEN WURDE IMMER HEFTIGER, die Straßen waren schwarz vor Nässe. Will kannte sich in Jories Gegend von Paris, weit oben im nördlichen Teil des Neunzehnten, nicht aus. Die Läden am Hauptboulevard sahen allesamt geschlossen 84
aus, sogar der Supermarkt, und einige Geschäfte auf der einen oder anderen Avenue wirkten, als wären sie endgültig verbarrikadiert worden. Das Schaufenster eines Blumenladens war mit einem Schriftzug in Leuchtfarbe überzogen: Frankreich den Franzosen, dreimal, erst rot, dann weiß, dann blau. Darüber und darunter stand eine Antwort in arabischen Schnörkeln. Unter dem Arabischen wieder auf Französisch Ausländer raus aus Frankreich oder verreckt. Der Bretterzaun um eine Baustelle war mit Plakaten des schnöseligen, schmallippigen Führers der Front National beklebt; über sein Gesicht zogen sich rußverschmierte Graffiti. Nicht wenige Gebäude waren nur noch Gerippe. Daran ein paar lesbare Teile früherer Ladenschilder. Ein Glasbläser, ein Käsegeschäft, ein Schlachter – alle den züngelnden Flammen zum Opfer gefallen. Sie kamen nahe genug an den Périphérique heran, dass Will das unablässige Rauschen des Verkehrs auf der Autobahn hören konnte, ein an den Nerven zerrendes Summen, das nur vom Kreischen der Eisenbahnräder auf den Schienen durchbrochen wurde, wenn die Züge bei der Einfahrt in einen Bahnhof abbremsten. Die wenigen Fußgänger, die überhaupt unterwegs waren, drückten sich, hinter ihren hochgeschlagenen Mantelkragen und den Regenschirmen völlig unkenntlich, an den Ladenfronten entlang. Jorie lebte in einem von der Straße ein wenig zurückgesetzt angelegten Wohnkomplex. Die Polizei folgte ihr und Will in einen Fahrstuhl, der sie über die ebenerdigen Geschäfte hinaus zu einem leeren, von plumpen Betonkästen hufeisenförmig umrahmten Platz trug. Zwischen den Türmen fing sich der Wind. Ein flaches, wasserloses Brunnenbecken mit abgestellten Fontänen – das war bestimmt der Teich, in dem Nico sein Katzenboot fahren lassen wollte – trug eine dicke Schicht aus braunen Blättern, obwohl kein einziger Baum in Sicht war. Aus einem Fenster hoch oben drang verzerrte Rock-and-RollMusik, eine elektronisch verstärkte orientalische Ud mit 85
blechernen Geräuschen als Hintergrund, Beckenschlagen und einer getragenen Stimme, die sich spielerisch nach oben schraubte. Sie betraten eines der Gebäude, gingen an einer Wand mit Briefkästen und Fahrstühlen vorbei zu den Treppen und hinauf in die zweite Etage. Die identischen Türen an einem langen Flur waren nicht nummeriert. Jorie schloss auf und hörte sofort den Anrufbeantworter ab; aber die einzige Nachricht kam von einem Mann, dem Jorie Englischunterricht gab und der wütend war, weil sie nicht zu seiner Stunde erschienen war. Will stellte das Gepäck ab. Die Wohnung bestand aus nur zwei Zimmern, drei, wenn man die kleine Küche mitzählte. Da gab es das Schlafzimmer und das Wohnzimmer, das über einen Erker verfügte, vorausgesetzt, man konnte es so bezeichnen – aussehen tat es eher wie eine Ausbuchtung, die nur übrig geblieben war, weil der Architekt sich verrechnet hatte. Unverkennbar Nicos Ecke: In der Bergschlucht einer Dekkenfalte parkte ein Spielzeuglaster. An der Wand über dem ungemachten Behelfsbett hingen mit Reißzwecken befestigte Poster: Eine Karte vom Libanon und darunter eine der USA neben dem Poster eines frankoalgerischen Fußballstars, für den die Gravitationsgesetze nicht zu gelten schienen. Eine Seite des Hauptzimmers wurde von gläsernen Schiebetüren eingenommen, die auf einen rein dekorativen Balkon von kaum einem Meter Tiefe hinausgingen. Die Wohnung lag auf der Rückseite des Gebäudes, und der Blick fiel in der Ferne auf ein Schienenareal; weiter vorn konnte Will auf den Canal de l’Ourcq hinuntersehen, ein unbefahrenes, stehendes Stück Schlick. Er ging in die Küche und stellte, ohne zu fragen, einen Kessel mit Wasser auf den Herd. Die Wandregale standen voller Körner und Gewürze, und ein Deckelglas enthielt getrocknete Minze – er öffnete es und schnüffelte –, aber er war nicht sicher, ob er Tee daraus machen sollte. Die Polizisten standen auf der Schwelle und wiederholten 86
ihre müden Beteuerungen. Der Kommissar erinnerte Jorie noch einmal, sie solle eine wichtige Tatsache nicht vergessen: Keinem der Kinder, die bisher bei einem Überfall am helllichten Tag von einer Bande entführt worden waren, nicht einem einzigen von ihnen, war ein Leid geschehen – zumindest kein körperliches. »Ich würde Ihnen gerne glauben«, sagte Jorie, »aber Sie wissen, dass das nicht stimmt.« Da war der Junge, der sich ein Bein gebrochen hatte, aber das kam nur daher, weil er in der Gosse hingefallen war, das dumme Kind; das hätte an jedem Tag der Woche passieren können. Und ja, oh, ja, da war auch noch das Mädchen, das eine Woche lang verschwunden blieb. »Aber Sie werden sich erinnern, dass sie am Ende gefunden wurde«, sagte der Kommissar. »Sie sind alle wieder gefunden worden.« Er wollte gehen. »Aber was soll ich tun? Es muss doch etwas geben, das ich tun kann«, sagte Jorie. »Wie ich schon sagte, Madame, die beste Möglichkeit, die Suche zu unterstützen, besteht darin, zu Hause neben dem Telefon zu bleiben und zu warten, denn da draußen gibt es mehr anständige Bürger, als Ihnen bewusst ist«, sagte der Kommissar. »Sie werden ihn in einem anderen Arrondissement aussetzen. Er wird sich auf die Bordsteinkante setzen und ein bisschen weinen. Ein Ladenbesitzer wird ihn sehen und fragen, was fehlt dir denn, wo wohnst du und so weiter. Diese Person wird Sie anrufen und den Jungen nach Hause bringen.« »Sollten wir nicht zusammen herumfahren und nach ihm suchen?«, fragte sie. »Das Foto, das ich Ihnen gegeben habe, ist alt. Sie wissen nicht wirklich, wie er aussieht. Muss ich denn nicht herumfahren und Ihnen helfen, ihn zu finden?« Und wenn der Unbekannte, der Nico fand, wollte, dass sie 87
selber käme, um ihn abzuholen? Sie sollte auf den Anruf warten. »Sie könnten einen Beamten hier lassen«, sagte sie. »Madame. Sie werden diesen Tag als einen schrecklichen Tag in Erinnerung behalten«, sagte der Kommissar. »Aber Sie werden den Jungen bald zurückbekommen. Vertrauen Sie auf den üblichen Ablauf.« Und dann verschwand er mit seinem Kollegen den Flur entlang. Jorie machte die Tür zu, lehnte sich dagegen und sah Will an. »Vertrauen«, sagte sie. »Vertrauen in was – in das Böse?« Eine Couch stand mit dem Rücken zur Wand und auf dem Tisch daneben ein Telefon, und dort nahm sie Aufstellung. »Kann ich Ihnen einen Tee kochen?«, fragte Will. Jorie reagierte nicht. »Ich weiß immer, wo er ist, wenn er nicht bei mir ist. Wenn er im Kindergarten ist, sehe ich ihn Wolkenkratzer aus Bauklötzen aufschichten. Wenn er mit seinem Vater unterwegs ist, weiß ich, wo sie sind. Bei der Reinigung oder beim Bäcker oder dem Friseur«, sagte sie schließlich. Und was sollte Will dazu sagen? Ich bin ganz sicher, dass die Polizei Recht hat. Warten Sie nur hier neben dem Telefon. Jede Minute, Sie werden schon sehen. Er ist noch vor der Dunkelheit wieder da. Es wird alles gut, ich weiß es. Er wollte keine Placebo-Plattheiten von sich geben. »Sie brauchen nicht bei mir zu bleiben«, sagte Jorie. Will hielt den Wasserkessel in der Hand. »Ich kann noch ein bisschen bleiben«, sagte er. »Ich komme schon zurecht«, sagte Jorie. »Ich habe ihnen nicht gesagt, was Sie mir erzählt haben.« Jorie nickte. »Ich weiß«, sagte sie. »Ich hätte gern eine Tasse Tee, danke sehr.« Will fand eine Teekanne, Tassen und ein Tee-Ei, in das er eine seiner Schätzung nach ausreichende Menge Minzblätter 88
presste. Bald darauf erfüllte dampfendes Aroma die kleine Wohnung. Er bemerkte ein gelbes Magnet-L, mit dem ein Stück Papier am Eisschrank befestigt war. Eine ausländische Telefonnummer. »Wollen Sie Luc selber anrufen?«, fragte Will. Jorie ließ ihr Gesicht vom heißen Dampf wärmen. »Normalerweise benutzen wir die kleinen Goldrandgläser für Tee«, sagte sie. »Die hier sind für Kaffee«, fügte sie hinzu. »Tut mir Leid«, sagte Will. »Nein, das muss es nicht. Das ist auch so eine von Lucs Regeln. Tassen sind für Kaffee, und der Pfefferminztee gehört in die Gläser.« Der Tee war schwach; er hatte ihn nicht lange genug ziehen lassen. Er entschuldigte sich. Jorie schien ihn nicht zu hören. »Lucs Mutter schickt die Minze aus dem Libanon«, sagte sie. »Das ist nett«, sagte Will. »Wenn Luc früher von seinen Geschäftsreisen zurückkam, machte ich ihm immer Tee und hoffte wie seine Mutter, dass er davon Heimweh nach Byblos bekommen würde. Natürlich hatte es genau die gegenteilige Wirkung.« »Sie haben schon einmal erwähnt, dass Sie dorthin reisen möchten«, sagte Will. »Nicht reisen, leben. Ich wollte dort leben – ich dachte, es wäre besser als das hier. Das hier«, sagte Jorie und meinte damit die Wohnung. Oder vielleicht auch Frankreich. »Was macht Luc in seiner Firma?«, fragte Will. »Aber wissen Sie, Luc kann seine Familie nicht ausstehen. Er ist nicht dageblieben, um den Familienbetrieb zu übernehmen. Er will einfach nicht nach Hause und für seinen Bruder arbeiten, dem es ziemlich gut geht, relativ gesehen. Er hat eine Baufirma in Beirut, und da wird zurzeit eine Menge gebaut. Luc verdient einigermaßen, aber er schickt viel Geld nach 89
Hause – Schuldgefühle –, und andauernd verspricht er mir, dass wir bald in eine größere Wohnung umziehen. Tja.« »Jorie –« »Und er will nicht, dass Nico im Libanon aufwächst, aber er will auch nicht in die Staaten oder irgendwo anders hin – also sitzen wir hier fest. Wo die Leute Nico Schimpfworte nachrufen. Wo diese ganzen neuen Gesetze besagen, dass er kein französischer Bürger ist, obwohl er in Frankreich geboren wurde. Irgendwann kann Nico womöglich aus seiner Krippe oder aus der Schule geworfen werden, oder aus einem Krankenhaus. Wissen Sie, was ich tun muss, wenn ich Paris für längere Zeit mit ihm verlasse? Ich muss das Bezirksamt informieren.« Sie funkelte Will an. »Warum solltest du wollen, dass dein Sohn in diesem Klima aufwächst?, frage ich Luc. Und er sagt, ich will nicht, dass mein Sohn in diesem Klima aufwächst, aber die Zeiten werden sich ändern. Er sagt, die Gesetze, die werden sich nicht halten. Er sagt, du weißt, dass diese Gesetze mich auch betreffen, Jorie. Oder er sagt, wir sprechen darüber, wenn ich nach Hause komme. Was nicht mehr allzu häufig vorkommt.« An den Glasschiebetüren rann der Regen hinunter. Jories Augen röteten sich, obwohl sie nicht weinte, und sie gab wieder ein leise klagendes, verängstigtes oh von sich. »Nico«, sagte sie. »Nico, Nico, Nicolas.« Will saß neben ihr auf der Couch, als wären sie Passagiere in einem Flugzeug. Ihr Weinen – oder vielmehr ihr tränenloses Zittern – schien in versetzten Wellen zum Regen zu kommen. Sie beruhigte sich ein wenig, und der Sturm hob wieder an; der Sturm ließ nach, und sie brach zusammen. »Er hat mit Ingenieurwesen angefangen, aber jetzt ist er eigentlich Verkäufer«, sagte Jorie. »Die Firma baut komplette Städte in der Wüste. Im Dschungel. Sie ziehen eine Menge Ölplattformen hoch, deshalb ist er auch in Nigeria«, erklärte 90
sie. »Bisher ist er drei Tage weg. Ich habe ausgeschlafen. Luc würde verrückt, wenn er davon wüsste.« Jorie stellte ihren Tee ab und durchquerte das Zimmer, um auf den Kanal hinauszusehen. »Was sollte ich ihm sagen? Er ist weit weg, es gibt nichts, was er tun könnte. Ich würde ihm nur Angst machen«, sagte sie. »Ich will ihn nicht anrufen.« Sie nahm einen Granatapfel aus einer fast leeren Schale auf einem runden Esstisch mit Teakholzfurnier am Fenster und begann ihn nervös von einer Hand in die andere gleiten zu lassen. Sie ging vor der Couch auf und ab. Sie zog ihren Pullover aus, und Will bemerkte, dass ihr T-Shirt darunter schweißnass war. Sie verschwand ins Schlafzimmer und machte die Tür hinter sich zu, kam aber noch einmal ins Wohnzimmer zurück, um ihr Gepäck zu holen. Als sie wieder aus dem Schlafzimmer trat, trug sie ein graues Flanellhemd in Übergröße. Der karierte Koffer blieb einsam an der Tür stehen. Jorie sah zu ihm hin und legte die Hand auf den Mund. Sie richtete sich auf, dann nahm sie den kleinen Koffer auf und trug ihn zu dem Bett im Erker hinüber, zu einem Wandschrank neben dem Erker; sie zog den Reißverschluss auf und legte die Kleidungsstücke des Jungen in verschiedene Fächer zurück. Will sah ihr bei ihrer Tätigkeit zu und sagte nichts. Als Jorie fertig war, stellte sie den Spielzeuglaster auf ein Regal neben ein paar andere Spielsachen und fing an, die Bettwäsche glatt zu streichen. »Jorie«, sagte Will. Sie musste gewusst haben, was er sagen wollte, fragen wollte. Sie ließ sich nicht stören. »Ich will Ihnen helfen«, sagte er. »Ehrlich. Ich fühle mich furchtbar, und ich würde gern helfen –« »Was soll ich denn sagen?«, schnappte sie zurück. »Ja, ich wollte Luc verlassen.« Sie schüttelte ein Kissen auf. 91
»Und seinen Sohn mitnehmen«, sagte Will. »Kindesentführung. Offiziell, rechtlich und praktisch gesehen. Ja, Sie könnten durchaus sagen, dass ich dabei war, den Jungen zu entführen.« Will versuchte seine Fragen zu ordnen. Seine Worte besonders vorsichtig zu wählen. Aber er runzelte doch nur die Stirn und fragte: »Warum?« »Sie sind sehr nett gewesen. Und wenn Sie gehen möchten … wenn Sie gehen müssen«, sagte Jorie. Will stand auf. Auch gut, dachte er, genug – ich habe meinen Teil getan. Er zog seinen Mantel an. »Ich bin die einzige Mutter, die der Junge je gekannt hat«, sagte Jorie. Will wartete. »Kann ich Ihnen erzählen, wie ich Luc kennen gelernt habe?« Will lehnte sich gegen die Tür. Ihm kam ein unvermuteter Gedanke. Am liebsten hätte er gesagt, meine Mutter ist auch gestorben, als ich noch klein war. Jorie beschrieb ihm, wie unglücklich sie den größten Teil ihres Lebens gewesen war. Das College hatte sie nicht geschafft. Sie hatte absolut keine Ambitionen, im diplomatischen Dienst Karriere zu machen. Als Erwachsene zog sie von einem Ort zum andern, ähnlich, wie sie es schon als Kind getan hatte, und arbeitete, wenn sich ihr eine Möglichkeit dazu bot. Meistens waren das Jobs an Ausgrabungsstätten. Sie wurde dafür bezahlt, dass sie bei glühender Sonne Steine mit einem Küchenpinsel bearbeitete, was sich für Will einigermaßen romantisch anhörte, ein Leben als wanderndes Erdsieb. Er blieb im Mantel an der Tür stehen. Zwischen den Ausgrabungen landete sie häufig in Paris. Sie hatte Paris schon immer gemocht. Irgendwie fühlte es sich wie Heimat an, obwohl ihr nie in den Sinn kam, sich dort niederzulassen. 92
»Ich war sehr unglücklich, wie ich schon sagte. Einsam. Waren Sie je so weit, dass Sie dachten, Sie würden niemals mit jemandem zusammen sein?«, fragte sie. Jorie setzte sich an den Esstisch, worauf Will sich wieder auf die Couch sinken ließ. Eines Tages, vor viereinhalb Jahren, zu Beginn eines Sommers, der ein guter Sommer werden würde, ein besserer Sommer, das wusste sie irgendwie, ging sie durch den Jardin du Luxembourg. Es war am späten Nachmittag, und der Park war leer. Sie schlenderte an einem Mann vorbei, der auf einer Bank saß – er hielt einen Säugling in den Armen. Jorie konnte ihr Lächeln nicht unterdrücken. Sie strahlte geradezu. »Der Mann schluchzte, die Tränen liefen ihm nur so über das Gesicht, aber mir fiel auf, dass das Baby seltsamerweise überhaupt nicht weinte. Ich fragte ihn, ob alles in Ordnung wäre –« Will musste lächeln. »Was ist?« »Machen Sie das öfter? Dass Sie Männer sehen, die traurig wirken, und stehen bleiben und fragen, ob alles in Ordnung ist?« »Oh«, sagte Jorie und brachte ein Zwinkern zu Stande. »Vielleicht ist das eine Angewohnheit, und ich merke es nur nicht.« Will zog den Mantel wieder aus. »Ich habe Sie unterbrochen«, sagte er. Sie fragte den Mann, ob alles in Ordnung sei, und statt einer Antwort reichte ihr der Mann das Kind und sprintete außer Sichtweite hinter ein paar Büsche. Er blieb lange fort. Jorie zog schon die Möglichkeit in Betracht, dass der Mann das Kind zurücklassen würde – er war eine gute halbe Stunde fort. Sie überlegte kurz, ob sie die Polizei rufen sollte, aber das Baby sah so zufrieden aus, wie es da in ihren Armen schlief. Schließ93
lich kam der Mann doch zurück – er hatte aufgehört zu weinen –, und er setzte sich wieder auf die Bank, nahm das Baby, dankte Jorie und erzählte ihr seine Lebensgeschichte. Das waren die Fakten: Das Baby war sechs Monate alt. Die Frau des Mannes war seit zwei Monaten tot. Es war das erste Mal gewesen, dass er so richtig hatte weinen können. »Luc stellte sich vor und fragte, wie er mir meine Freundlichkeit vergelten könne, und ich sagte, Sie wissen schon, nichts zu danken, Sie haben viel durchgemacht, und Luc ließ nicht locker und …« Will wartete. Jorie sah ihn nicht an, sondern starrte auf den Esstisch und dachte, wie Will vermutete, mit einiger Wehmut an diesen Augenblick in ihrem Leben zurück. »Ich dachte, mit mir wäre irgendwas nicht in Ordnung«, sagte sie. »Seine Frau war erst seit zwei Monaten tot, und ich begehrte ihn.« Lucien Chamoun, der ein gestärktes weißes Hemd trug, unter dem sie seinen stahlharten Oberkörper erkennen konnte. Er war geschmeidig; früher war er Marathon gelaufen. »Ich begehrte ihn, es war mir ganz egal, warum«, sagte Jorie Es kam zu dem versprochenen Abendessen bei Luc zu Hause hier im Neunzehnten – er kochte einen betäubend mit Knoblauch gefüllten Kohl – und einem weiteren Mahl, nach dem sie im Dämmerlicht schwimmen gingen; der einzige Vorzug des Wohnblocks war ein Swimmingpool im obersten Stockwerk. Dann noch ein Abendessen und noch ein Bad – die Tochter von Nachbarn in Lucs Haus kam zum Babysitten –, und dann blieb Jorie irgendwie über Nacht, und sie empfanden so etwas wie süßen Kummer, während sie sich liebten, Drängen, Freudenschreie, ja, aber Trauer bestimmte den Unterton. Er ließ sich von ihr im Arm halten. »Und ich hatte so etwas noch nie erlebt«, sagte Jorie. »Dass ein Mann sich von mir halten lässt, richtig festhalten.« »Er hat dich die Starke sein lassen«, sagte Will. 94
Jorie sah überrascht auf, als hätte sie vergessen, dass er im Raum war. Ihr Gesicht lief rot an. Sie schilderte, wie nur immer sie nachts aufgestanden war, um Nico zu beruhigen, wenn er schrie. Eines Nachts war sie hinübergegangen und nicht wieder zurückgekommen. »Jetzt sollte ich dir erzählen, wie ich dem Kleinen die Nase geputzt und sein Fieber kuriert habe und wie ich ihm Turnschuhe gekauft und ihm beigebracht habe, wie man die Schnürsenkel zubindet. Ich sollte dir erzählen, dass ich mir ein Spiel ausgedacht habe, als er sich morgens nicht anziehen lassen und auch nichts essen wollte, und dass ich ihm vorgelesen habe und mit ihm in den Park gegangen bin und ihn, Nico, Nicolas, als sehr schlauen Jungen kennen gelernt habe. Ich sollte dir beweisen, was für eine gute Mutter ich gewesen bin. Die Rolle, die ich gespielt habe, und gut gespielt habe.« »Ich hab’s selbst gesehen«, sagte Will. »Die Frauen im Park, die Leute im Supermarkt, in den Buchläden – wohin wir auch gehen. Alle sagen, ihr Sohn ist ein schlauer Bursche. Ihr Sohn ist ein guter Läufer. Ihr Sohn ist ungewöhnlich höflich für sein Alter.« »Ihr Sohn«, sagte Will. »Man sollte meinen, sie würden Fragen stellen, besonders heutzutage – ich bin so hell, und er ist dunkler –, aber sie tun es nie. Sie ziehen einfach ihre Schlüsse. Ihr Sohn, Ihr Sohn. Ihr Sohn.« Jorie stand auf und lief wieder auf und ab. »Ich sage mein Süßer zu ihm. Ich nenne ihn meinen Jungen. Ich sage nie: mein Sohn. Ich weiß nicht, warum ich nicht einfach mein Sohn sage, aber ich kann es nicht. Wenn er Mama zu mir sagen würde, Mami – vielleicht würde ich es dann. Du hast ja gehört, er nennt mich Jorie.« »Haben du und Luc je übers Heiraten gesprochen?«, fragte Will. Jorie nahm das Telefon ab, um sich zu vergewissern, dass ein 95
Freizeichen kam. Es kam. Sie knallte den Hörer wieder auf. »Du und der Mann, von dem du gesprochen hast«, sagte sie. »Pedro«, sagte Will. »Du sagst, er wäre dein Ex-Freund.« »Wir waren fünf Jahre lang zusammen und sieben Jahre getrennt«, sagte Will. Nach unserer Rechnung. »Dann weißt du ja Bescheid«, sagte sie. »Die Dinge entwikkeln sich nicht so, wie man es erwartet. Bitte frag mich nicht, wann unsere Probleme angefangen haben. Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich einfach nicht.« Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie es nicht ertragen konnten, getrennt zu sein, nicht einmal eine Stunde lang; es war schlimm für sie gewesen, als Luc nach einer langen Auszeit wieder zu arbeiten begann, besonders schlimm, als er anfing, auf Reisen zu gehen, und wochenlang fortblieb. War das vor zwei Jahren gewesen? Gleich nachdem sie aus dem Sommerurlaub im Libanon zurückgekommen waren. Luc verstand sich nicht mit seinem Vater und war schlechter Laune, in miserabler Verfassung, und fing an, mit Jorie zu streiten – aber stritten sie wirklich deshalb? Vielleicht hatten die Schwierigkeiten auch später angefangen, als Jorie arbeiten wollte und Luc fand, dass sie das nicht sollte – sich um Nico kümmern, das war ihr Job, und er behauptete, er würde für sie alle und seine weitschweifige Verwandtschaft genug verdienen, was er aber nicht tat –, und er protestierte, als sie entgegen seiner Weisung trotzdem arbeitete, und das noch nicht einmal halbtags und freiberuflich als Nachhilfelehrerin für einen Schüler, den sie auf seine Abiprüfung in Geschichte vorbereitete, oder als Englischlehrerin für einen syrischen Geschäftsmann. Wie hatte es mit ihren Auseinandersetzungen angefangen? Sie bemühte sich, Dinge zu kochen, die er mochte, ließ sich Rezepte von seiner Mutter geben, und Luc wurde feindselig, korrigierte sie andauernd. Jorie senkte die Stimme. »Wenn du das Lamm richtig machen willst, Jorie, musst du es mindestens zwei Tage lang 96
einlegen. Und nimm grüne Oliven, niemals schwarze.« Sie setzte sich neben Will auf die Couch. »Manchmal denke ich, versuche ich zu denken, ich könnte es noch einmal ändern. Wir würden in einem Mietwagen aufs Land fahren und billigen Rotwein trinken und Nico zusehen, wie er einen Hasen jagt. Tragen wir nicht alle die Fähigkeit in uns, unser Leben zu verändern? Luc wird eines Abends nach Hause kommen, und wir gehen schwimmen wie früher, nur wir beide, und wir werden ganz heiß und erregt und …« Will bemerkte, dass er seine Hände zu Fäusten geballt hatte. »Ich kenne dich kaum. Ich weiß nicht, warum ich dir das alles erzähle«, sagte Jorie. »Du hast sonst niemanden«, sagte er. »Ich habe lange Zeit niemanden gehabt«, antwortete sie. »Nico ist nicht da«, sagte er sanft. Wieder der Regen. Das Sirren der warm gelaufenen Ventilatoren. Der Geruch nach Pfefferminztee hing immer noch in der Luft. »Ich kann es nicht mehr ändern«, sagte sie, »denn dann müsste ich Luc wieder lieben wollen, und Tatsache ist … Tatsache ist, dass ich ihn nicht lieben will.« »Du hast keinen Rechtsanspruch«, sagte Will. »Ich kann kein Sorgerecht beanspruchen, nein.« Ihr Sohn ist ein guter Schwimmer, hatten die Mütter am Pool zu ihr gesagt. Wissen Sie, es ist ein Zeichen für Intelligenz, wie Ihr Sohn ganz für sich alleine spielen kann. Ihr Sohn hat Ihre Augen. Ihr Sohn hat Ihr Lächeln. Ihr Sohn, Ihr Sohn, Ihr Sohn. »Ich will mein Sohn sagen können«, sagte sie. »Heute hast du beschlossen zu gehen.« »Ich habe mir einen Zugfahrplan besorgt und mir gedacht, wir könnten in den Süden fahren, mit dem Zug das Land verlassen. Ich habe Nico gesagt, wir würden eine Reise machen. Er wollte nicht mit. Ich habe ihn überredet. Ich habe seine Tasche gepackt, versprochen, dass wir viel Spaß haben 97
würden. Wohin fahren wir?, wollte er wissen. Ich konnte es ihm nicht sagen. Wird Baba auch dort sein?, fragte er, und ich musste sagen, dass ich das nicht glaubte. Und der Grund, warum du uns dort getroffen hast, wo du uns getroffen hast, war, dass ich gerade auf der Bank gewesen war. Ich hatte das ganze Geld von meinem eigenen Konto und von dem gemeinsamen Konto mit Luc abgehoben.« »Du hast all das Bargeld jetzt bei dir?« »Oh, Will. Ich bin schlecht, ich weiß. Und ich bin schuld.« »Schuld? An der Entführung?« »Ja, ich habe ihn heute nicht in den Kindergarten gebracht, sondern bin mit ihm in den Park gegangen und habe beschlossen, dass wir fortgehen müssen. Ja, ich bin mit ihm nach Hause gegangen und habe unsere Koffer gepackt, und ich bin mit ihm zum Fluss. Ja, ich bin mit ihm fortgelaufen – und nun sieh’s dir an, sieh dir an, was passiert ist. Erzähl mir nicht, dass ich nicht daran schuld wäre.« Sie weinte ein Weile – ihre Tränen sahen heiß und zäh aus –, und Will legte den Arm um sie und versuchte sie zu trösten; sie wand sich aus seiner Umarmung und verschränkte Arme und Beine, als hätte sie viel zu viel preisgegeben und musste sich nun abschotten und das Unglück bewahren, das nur ihr gehörte, ihr ganz allein. »Soll ich dir etwas zu essen machen?«, fragte Will. Jorie sah ihn teilnahmslos an. »Wahrscheinlich solltest du besser gehen«, sagte sie. Er achtete nicht auf sie. »Du solltest etwas essen«, beharrte er und ging in die Küche. »Wie spät ist es?«, fragte sie. Der Nachmittag war inzwischen vergangen. Es hatte niemand angerufen. Kein Anruf von der Polizei und auch nicht von den geheimnisvollen guten Bürgern. Will inspizierte verschiedene Plastikdosen im Kühlschrank. Das meiste sah nach abgestandenem Rindfleisch und zu lange 98
aufbewahrten grünen Bohnen aus. »Ein Sandwich?«, fragte er. »Kein Brot«, sagte Jorie. Sie strich ihr Haar zurück und krempelte die Ärmel hoch. »Ich rufe jetzt bei der Polizei an«, sagte sie. Sie hatte die Durchwahl des Kommissars. Sie erreichte ihn nicht, konnte aber heraushören, dass man keine Neuigkeiten für sie hatte. Will legte ein wenig kaltes Hühnchen auf einen Teller. Er fand ein paar geröstete Paprika, ein bisschen gerösteten Knoblauch, richtete eine Platte mit Essen an und stellte sie auf den Tisch. Ein wenig Camembert, ein Apfel. Es war eine bescheidene Mahlzeit. Jorie heuchelte Interesse. Sie setzte sich mit Will an den Tisch und legte etwas von dem Essen auf ihren Teller, rührte aber nichts an. Das Hühnchen erwies sich als recht saftig. Will war jetzt hungrig, sein Magen hatte sich erholt, er war selber überrascht über seinen Appetit. Dann schämte er sich, weil er so viel aß. Er spürte etwas Hartes in seiner Tasche. Die Kastanie. Er überlegte, ob er sie Jorie zeigen sollte, entschied sich aber dagegen. »Du musst nicht bei mir bleiben. Nicos Babysitter ist ein nettes Mädchen, sehr lieb, und sie kann jederzeit runterkommen und« – sie kicherte – »mich babysitten«, sagte sie. »Warum sagst du andauernd, ich soll gehen?«, fragte Will. Sie starrte aus dem Fenster. »Bitte, hab doch keine Angst vor mir«, sagte er. »Bitte.« Er beschloss, noch eine halbe Stunde zu warten, ob jemand anrufen würde. Dann war die halbe Stunde vorbei, er wartete noch eine. Und noch eine. Er konnte sie nicht allein lassen. Es vergingen drei Stunden. Sie sahen in den Regen hinaus. Kein Anruf. Will versuchte zweimal, mich zu erreichen, aber ich war noch nicht zu Hause und hatte vergessen, meinen 99
Anrufbeantworter wieder einzuschalten, den ich ausgestellt hatte, als Will bei mir aufgetaucht war. Ab und zu redeten sie über irgendetwas Nichtssagendes. »Ich weiß noch«, sagte Will, »wie, immer wenn wir mal wieder umzogen und in einer neuen Stadt lebten, der Heimweg von der Schule zum Abenteuer wurde.« Jorie summte. »Der Straßenverlauf. Die Gassen, die in Treppenaufgänge mündeten, und dann fand man sich plötzlich auf einer Plaza wieder. Die Männer, die in den Cafés herumsaßen. Die Frauen, die sich hoch oben von Fenster zu Fenster unterhielten.« »Ich bin immer über den Markt gegangen«, fiel Jorie ein. »Dann ging der Tag dem Ende zu, die Marktbeschicker machten ihre Stände zu, gaben Feigen weg und kostenlose Limonade.« »Die leeren Buchläden. Ich konnte mich endlos in Buchläden verlieren, selbst wenn ich nicht einmal die Sprache verstand.« »Man lernt eine Stadt kennen, wenn man mit dem Bus fährt«, sagte Jorie. »Das stimmt.« »Ich probierte immer aus, wie lange ich brauchte, bis ich mit den Buslinien zurechtkam. Ich stellte mich selbst auf die Probe. In der Folge kann ich heute sehr gut Karten lesen.« Ein paar Namen kamen zur Sprache, Leute, die sie vielleicht beide kannten, und Jorie kannte einige dieser Namen, Will andere, aber keiner von ihnen beiden konnte den neuesten Klatsch beisteuern. »Eins würde mich interessieren«, sagte Jorie. »Auch wenn es mich nichts angeht.« Er hatte keine Ahnung, was sie fragen würde, aber wenn sie irgendein Thema für noch so kurze Zeit von der gegenwärtigen Krise ablenken konnte, würde er gern darauf eingehen. »Deine ersten Erfahrungen –« »Ob ich mit Mädchen ausgegangen bin?«, fragte Will. 100
»Nein, das wollte ich nicht fragen. Ich überlege nur, du weißt schon, so wie wir gelebt haben, in unserem Alter, noch ganz unsicher, wer wir waren, wohin wir gehörten …« Will verstand ihre Frage: Mit wem hatte er seine erste richtige romantische Beziehung, einem Klassenkameraden in der Schule oder einem Einheimischen? Das war eine der Arten, wie man sich auf der internationalen Schule unterschied. Die einen gingen ausschließlich mit ihresgleichen, die anderen ausschließlich nicht. »Ein türkischer Junge, älter als ich, ein Philosophiestudent. Er sagte immer, eines Tages würde er Romane schreiben«, sagte Will. »Und, hat er das?« Will wusste es nicht. »Und du?«, fragte er. »Ich habe mit Jungs von der Schule angefangen«, sagte Jorie. »Aber dann nicht mehr. Ganz und gar nicht mehr.« »Du hast sie bestimmt mit deiner Country-Music betört«, sagte er. Über Jories Gesicht huschte ein Lächeln. »Ganz bestimmt«, sagte sie. Sie schlängelten sich durch ihre jeweilige Jugendzeit, auch wenn ihre Erinnerungen immer wieder von langem Schweigen durchzogen waren, und Will machte sich nichts vor: Er wusste, dass Nico bei ihrem Gespräch immer ganz dicht unter der Oberfläche schwebte. »Ich denke immer wieder, ich sollte dich belügen«, sagte Jorie irgendwann. »Mich belügen? Warum solltest du mich belügen müssen?« »Dir erzählen, dass Luc mich wegen einer anderen Frau verlassen will. Mir blieb also keine andere Wahl, stimmt’s? Ich musste mit Nico weglaufen, weil Luc sich mit dieser anderen Frau eingelassen hat, und ich wäre bald außen vor gewesen, ohne irgendein Anrecht auf den Jungen.« Will wusste nicht, was er darauf sagen sollte. 101
»War es das, was du dir gewünscht hast?«, fragte er schließlich. »Dann würdest du sehen, in welcher Zwangslage ich mich befand«, sagte sie. »Und es wäre furchtbar, eine Folter für Nico, mich zu verlieren, stimmt’s?« Will sah mit großer Geste auf die Uhr. »Du solltest jetzt gehen«, sagte Jorie, wenn auch mit weniger Überzeugung als zuvor. »Du könntest den Babysitter anrufen?« »Ja«, sagte sie. »Ja, dann sollte ich jetzt wohl gehen.« Aber wollte sie, dass er blieb? Machte er ihr das Warten mit seiner Gesellschaft irgendwie leichter? Er erhob sich nicht von der Couch. Jorie fröstelte wieder. »Der Junge ist schlau«, sagte Will. »Ja«, sagte Jorie, »das ist er.« »Man sieht es ihm an den Augen an. Ich weiß, dass er intelligent ist, und er wird sich schlau anstellen, wenn es nötig ist.« »Okay«, sagte sie. »Ich habe einige Sachen getan«, sagte er. »Ich habe Fehler gemacht, tragische Fehler.« Jorie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Mir steht kein Urteil zu«, fuhr er fort. »Das will ich damit sagen. Mir steht kein Urteil zu.« Will rief den Kommissar an, konnte aber nichts Neues erfahren. Er rief auch bei mir noch einmal an, aber ich war immer noch nicht zu Hause. Eine ganze Wolkenflotte war über den Himmel gezogen; es hatte ein Dutzend Mal geregnet und wieder aufgehört und wieder geregnet. Will stellte das Radio in Jories Küche an, was sich als grobe Fehleinschätzung herausstellte. Die Nachrichten, die sie zu hören bekamen, hätten schlimmer nicht sein können: Er rechnete mit einem Bericht über den Bäckerei-Boykott, wie 102
er sich in alle Richtungen ausgebreitet hatte, und stattdessen beschäftigte sich die Hauptmeldung mit der Gefährdung von Kindern in Paris. Anscheinend war Nico nicht allein. Die Gangs hatten entweder geplant oder sich gegenseitig dazu inspiriert, an diesem Nachmittag überall in der Stadt dunkelhäutige Kinder zu entführen – vielleicht war das ihre Reaktion darauf, dass alle Leute Brot in den Fluss warfen –, und auch wenn die Zahl von offizieller Seite nicht bestätigt wurde, erfuhr man, dass fünf Kinder am helllichten Tag verschleppt worden waren. Bisher war keines davon wieder nach Hause gekommen. Jetzt lief Jorie wie ein Hund durchs Zimmer, hin und her und hin und her, quer durch den Raum. »Ich habe diesen Jungen mit dem roten Haar gesehen«, sagte sie. »Ich weiß, dass ich ihn gesehen habe.« »Jorie«, sagte Will. »Fünf Kinder bisher«, sagte sie. »Und vielleicht ist heute der Tag, an dem sie sie nicht einfach irgendwo absetzen. Vielleicht ist heute der Tag –« Das Telefon. Will ging an den Apparat. Es war der uniformierte Beamte, nicht der Kommissar. Er wusste nicht, dass Will vor kurzem mit dem Kommissar gesprochen hatte, und fragte nach, ob sich jemand mit Jorie in Verbindung gesetzt hatte. Sie riss den Hörer an sich. »Sie rufen hier an und wollen wissen, was los ist? Da rufen Sie hier an?« Will nahm ihr das Telefon ab und brachte das Gespräch zu Ende. Jorie ging in ihr Schlafzimmer und kam im Mantel wieder zurück. »Es ist fast dunkel«, sagte sie. Bevor Will wusste, was geschah, war sie schon aus der Tür. Er trottete hinter ihr her den Gang entlang, dann die Treppen hinunter. 103
»Jorie, warte. Wir müssen hier bleiben –« Draußen holte er sie ein. »Ich hätte nicht so lange warten sollen. Ich werde ihn finden«, sagte sie. Sie standen neben dem wasserlosen Brunnen im Hof, und der Wind peitschte aus allen Richtungen. »Okay«, sagte Will. »Aber jetzt warte. Lass uns erst nachdenken.« Er vergrub die Hände in den Taschen. »Nachdenken? Gut, dann denk du nach. Ich habe diesen Jungen aus der Gang heute Morgen gesehen«, sagte Jorie. »Ich weiß, wo der sich rumtreibt, und es war idiotisch von mir, dazusitzen und zu warten – einfach idiotisch.« Sie lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, eine kaputte Rolltreppe zur Straße hinunter. Der kalte Wind machte ihm das Atmen schwer, aber Will hielt mit ihr Schritt. Sie liefen eine Reihe von Seitenstraßen entlang, bis sie auf die Avenue hinaustraten und auf einen weit entfernten Platz zugingen. Sie gingen parallel zum Kanal, der ihnen mit sanftem Wellenschlag nachfolgte, oder zumindest schien es so. Dann erreichten sie den Place de Stalingrad, in dessen Mitte sich ein eleganter Bau erhob, die Rotonde de la Villette, entworfen 1784 von dem Architekten Claude-Nicolas Ledoux. Über ihn hatte ich meine Dissertation geschrieben. Ich hätte den Bau im Schlaf zeichnen können. Ein mächtiger Zylinder auf einem massiven Kubus. Über dem unteren Teil des Gebäudes erstreckte sich ein flacher Ziergiebel, der von viereckigen Säulen in regelmäßigem Abstand getragen wurde. Den Zylinder darüber schmückten runde Säulenpaare und Rundbögen und in die Bögen eingelassene Fenster. Und dann kam als Verbindung der beiden ein hübscher Stirnreif, ein Obergaden aus lauter kleinen, viereckigen Fenstern. Man konnte die Struktur mit einem einzigen Blick erfassen, und doch sah ich jedes Mal wieder etwas Neues, wenn ich diesen 104
Bau betrachtete – die schlichten Fensterstürze im zweiten Stock oder wie die Steine um jeden Bogen herum in ihrer dreieckförmigen Anordnung das Dreieck des Ziergiebels widerspiegelten. Alle anderen noch erhaltenen Gebäude von Ledoux hatte ich mir ebenfalls von innen angesehen, aber dieses hatte ich nie betreten. Die Rotonde war als Zollhaus gebaut worden und hatte später ein Stadtmuseum beherbergt; danach wurde sie für besondere Veranstaltungen vermietet; und schließlich wurde sie aufgegeben, ein Wahrzeichen und doch vernachlässigt. Sie war von Graffiti und dem Ruß der Abgase vieler Jahre gezeichnet; die Stadtverwaltung hatte jeden Versuch, sie sauber zu halten, aufgegeben. Die Wolken waren in weite Ferne gezogen, und obwohl der Himmel aussah wie mit Asche beschmiert, gelang es der Sonne dennoch in einer letzten herbstmüden Aufwallung, das Gebäude von hinten zu beleuchten und den Stein mit bernsteinfarbenem Glanz zu umrahmen. Aus der Nähe würden diese Steine verwittert und grob aussehen, aber im Näherkommen waren die Umrisse so klar, wie der Architekt sie ursprünglich gezeichnet hatte: scharf und absolut rein in ihrer Form. Die viereckige Grundstruktur war ein richtiges Quadrat, das zylinderförmige Geschoss perfekt gerundet. Und es gab dunkle Nischen, die tiefen Schatten unter dem Ziergiebel, die die geschwungene Treppe verbargen und sich bewegenden und herumhuschenden Gestalten Schutz boten. Da trieb sich eine Gang herum. Die Unruhestifter ruhten aus. Wir alle sehnten uns nach ein bisschen Ruhe nach dem langen Tag, besonders da die vor uns liegende Nacht gefährlich zu werden versprach. »Halt, Jorie. Du legst dich besser nicht mit denen an«, sagte Will. Er konnte sehen, dass sie inzwischen das Gebäude besetzten, der Grund, warum ich nie hineingegangen war; er sah Gestalten, die sich hinter den Fenstern im zweiten Stock bewegten. 105
Jorie ging immer näher und näher heran, Will direkt auf den Fersen. »Halt«, sagte er. »Warte.« »Der Junge mit dem roten Haar«, sagte sie. »Wenn wir den Jungen finden …« Die Jungen rauchten Zigaretten und unterhielten sich mit den Mädchen aus der Gang, die im Rhythmus der Musik, die sie spielten, auf der Stelle tanzten, und an einer besonders graffitibeschmierten Säule erkannte Will ein allem Anschein nach verliebtes Pärchen beim intensiven Knutschen, die Hüften aneinander gepresst. Jorie inspizierte jedes einzelne der Kids, alle diese rasierten Köpfe, aber niemand hatte rote Haare, oder überhaupt lange. Jetzt steuerte sie wieder auf das knutschende Pärchen zu – der Junge hatte seinen Mantel ausgezogen und trug nur ein weißes, ärmelloses T-Shirt, und seine mageren Arme waren mit blauschwarzen Tattoos übersät, die mit den Graffiti auf der Säule verschmolzen, als Will die Augen zusammenkniff. Dem Jungen schien nicht kalt zu sein, und das Mädchen – wie alt mochte sie sein? – war ebenso schlecht für das Klima und die Tageszeit gerüstet, ihre Bluse stand weit offen. Die beiden mussten ziemlich weit oben stehen in der Hierarchie, dachte Will, denn nun kamen andere Jungen heran, Jungen ohne Mädchen, um sie zu beschützen, als Jorie unbedingt immer näher kommen wollte. Will zog sie zurück. »Ich glaube, der Junge, den du gesehen hast, ist nicht hier«, sagte er. Jorie bestand darauf, das gesamte Gebäude zweimal zu umrunden. Will konnte sie nicht davon abhalten, die Stufen unter dem Ziergiebel hinauf- und hinunterzugehen. Schließlich rief sie jemand an. Sie wurden inzwischen von einer Traube von Jungen verfolgt. »Macht, dass ihr wegkommt, wir wollen euch hier nicht. Verpisst euch«, brüllte jemand. 106
»Lass uns gehen«, sagte Will. Er hatte Jorie untergehakt, aber sie entwand sich ihm. »Der Junge ist hier«, sagte Jorie. »Lass uns gehen.« »Er ist hier«, beharrte Jorie. Eine Metro kreischte die nahe gelegenen Hochbahnschienen entlang. Das Eisengerüst zitterte nach, während der Zug davonfuhr. Jorie marschierte wieder die Stufen zur Haupteingangstür der Rotonde hinauf, und als sie versuchte hineinzugehen, tauchte der Junge auf, den Will als den Anführer identifiziert hatte, seine Freundin ein paar Schritte weiter rechts. »Verpiss dich«, sagte der Junge aus der Gang. Er hatte eine breite, flache Nase; vom Nasenrücken zum linken Nasenflügel hinunter zog sich eine hässliche Narbe. »Ihr habt diesen rothaarigen Jungen da drin, stimmt’s?«, sagte Jorie. Was sich für Will absurd anhörte: Er wusste, dass er die Sache jetzt irgendwie in die Hand nehmen musste. Aber dann schrie Jorie. »Nico.« Denn es musste ihr eingefallen sein, dass sie den Jungen vielleicht, ganz vielleicht da drin hatten. Sie rief seinen Namen so laut, dass der Junge zurückweichen musste, und Will packte sie an beiden Armen. Jorie brüllte ein drittes Mal seinen Namen, und es gelang Will, sie die flachen Stufen hinunter zurück auf den Platz zu führen. Aber sie riss sich von ihm los und rannte wieder auf die Rotonde zu, auch wenn sie nicht sehr weit kam. Da stand sie schon Auge in Auge mit dem Leithund, dem Jungen, der auf Hacken und Zehenspitzen wippend auf der untersten Stufe stand, die Hände so in die Hüften gestemmt, dass unter seiner zurückgeschobenen Jacke ein schwarzer Revolver mit eckigem Griff sichtbar wurde, der, die Trommel auf seinen Schoß 107
gerichtet, in seinem Gürtel steckte. Andere Jungen und Mädchen aus der Gang bildeten einen Halbkreis hinter ihm. »Jorie. Nico ist nicht hier. Hör mir zu. Er ist nicht hier«, sagte Will. Der Junge mit dem Revolver funkelte sie an, und sie starrte zurück. »Nico ist da drin«, sagte Jorie zu Will. »Das ist er nicht«, antwortete Will so bestimmt und abschließend, wie er nur konnte. »Verpisst euch, verdammt noch mal«, sagte der Junge wieder und trat auf den Platz, dichter an Jorie heran. Sie wich nicht zurück. Der Junge berührte fast ihr Gesicht. »Sag mir, wo«, sagte sie. »Was, wo?«, fragte der Junge. Will konnte ihn riechen. Er roch wie fauler Kohl. »Wo, was?«, brüllte der Junge. Die Narbe auf seiner Nase lief rot an. »Lass uns gehen, Jorie«, sagte Will. »Wo ihr meinen kleinen Jungen hingebracht habt«, sagte Jorie. Der Junge aus der Gang verzog die Mundwinkel. »Vermisst du deinen kleinen Jungen?« Sein hämischer Gesichtsausdruck erblühte zu einem bösartigen Grinsen. Will hätte ihn am liebsten verprügelt. Und wenn er dabei einen Schuss in den Bauch abbekommen würde, er wollte das Schwein am liebsten zusammenschlagen. »Ich will ihn nur zurückhaben«, sagte Jorie mit leiser Stimme. »Aber du wirst ihn nicht zurückbekommen«, sagte der Junge. Jorie schloss die Augen. »Er ist wahrscheinlich schon tot«, sagte der Junge und schnaubte amüsiert. Er kicherte, und die anderen um ihn herum 108
lachten. Der Junge ging die Stufen hinauf in das Gebäude, und Will dachte, er müsste Jorie festhalten, damit sie nicht hinter diesem Arschloch herlief, denn wer wusste schon, wozu ihre Wut sie treiben würde. Aber Jorie stürmte nicht die Stufen hoch, sondern fing stattdessen hastig zu atmen an. Sie sah zu dem aschfarbenen Himmel hinauf – und es fiel Will nicht schwer, ihre Gedanken zu lesen: Was der Junge gesagt hatte, konnte wahr sein. »Nein«, sagte Will. »Er ist noch bei uns«, fuhr er fort. Will schob sie wieder über den Platz auf den Kanal zu. Er sah über die Schulter zurück zur Rotonde. Es würde nicht viel nötig sein, bis er herabkam, der müde Stein. Wieder in ihrer Wohnung, hörte Jorie Radio und musste sich dann aufs Sofa legen. Dann kamen die Nachrichten, der nächste düstere Bericht: Die Banden hatten mehr Kinder entführt, als ursprünglich gemeldet worden war. Sieben wurden noch vermisst. Jorie starrte blicklos an die Decke. Will stand am Fenster und spähte auf den dunklen Kanal hinaus. Es gab nichts, was er tun konnte, keine Möglichkeit zu helfen. Es war Zeit, seinen Wachposten aufzugeben, den Babysitter zu mobilisieren und sich endlich zu verabschieden. In Wirklichkeit war er einigermaßen erschüttert über das, was an der Rotonde passiert war. Diese Teenager waren die Inkarnation des Bösen, und vielleicht würden sie am Ende siegen. Er nahm den Hörer ab und wählte meine Nummer. Diesmal war ich zu Hause. »Pedro«, sagte Will. »Da bist du endlich.« »Und du auch«, sagte ich. »Ich hab schon ein paarmal versucht, dich anzuru-« »Ja«, sagte ich und platzte los. »Ich habe den ganzen Nachmittag darüber nachgedacht: Ja. Ich gehe hin, wo immer du willst. Noch heute Abend. Ja. Lass uns so schnell wie möglich 109
fortgehen.« Ich hörte Will am anderen Ende atmen. »Was ist los?«, fragte ich. Er antwortete nicht. Ich vermute, Will stand in diesem Augenblick neben der Couch in Jorie Coles Wohnung und sah zu ihr hinunter. Und sie sah ihrerseits zu ihm und begegnete seinem Blick mit einem derart trauervollen, verlorenen Ausdruck, dass er ihr die Hand auf die Stirn legte, als wollte er ihr Fieber kühlen. »Will, wo bist du?«, fragte ich. Er antwortete immer noch nicht. »Will?« Und was, was – was hat er da gedacht? Jencks hatte ihn gefragt, was war das Beste, das du je für jemanden getan hast? Jorie hatte gesagt, haben wir nicht alle die Fähigkeit in uns, unser Leben zu verändern? Und in diesem Moment in Paris, in der trüben Wohnung einer Frau, die er erst seit diesem Nachmittag kannte, kam ihm in den Sinn, dass vielleicht nur eine einzige gute Tat nötig war, um alles wieder gutzumachen. Eine gute Tat – ein Samen in einem harten, ungepflügten Acker, aus dem unweigerlich neues, gutes Leben sprießen würde. Eine gute Tat. Er wusste, was er zu tun hatte.
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3 NACHDEM WILL MICH am Fluss zurückgelassen hatte, schlenderte ich eine Weile zwischen den Menschen am Kai herum, bis ich aus meinem Zustand milder Amnesie erwachte und mich wieder an den Wochentag, das Datum und den Termin erinnerte, für den ich schon eine Stunde zu spät dran war. Ich lief den ganzen Weg bis zum Achten und quer hindurch, bis der verblichene Stein des runden Pavillons mit der Kuppel am Rand des Parc Monceau im schwindenden Licht des Tages aufzuleuchten schien, derselbe Effekt wie überall in Paris – unter der hinter ihrem Nimbus verblassenden Sonne kam die Architektur zu ihrem Recht. Ledoux’ Rotonde war ein schöner Bau, mir persönlich bei weitem der liebste unter den vier noch von ihm erhaltenen Zollhäusern. Für mich sah es so aus, als trüge dieser Zylinder eine perfekt gerundete Perlenkette aus dorischen Säulen. Über dem Säulengang zog sich eine Reihe von schmalen, leicht gewölbten Fenstern entlang, und die Kuppel selber hatte, offen gesagt, etwas Erotisches mit ihrer ausladenden Rundung und der gusseisernen Wetterfahne. Dieser Bau konnte einen zum Seufzen bringen. Die meisten Architekten gaben der symphonischen Komposition des Baus auf der Place de Stalingrad den Vorzug, und ich muss wohl zugeben, dass die Rotonde eher als Kabinettstückchen zu sehen ist; und doch waren die Proportionen hier nicht weniger beeindruckend und Ledoux’ visionäre Vorstellungen allesamt ebenso leicht zu erkennen. Der Fotograf, mit dem ich verabredet war, war sichtlich schlecht gelaunt. Er hatte Mühe, sein Stativ richtig einzustellen, und schnauzte einem Assistenten Anweisungen zu, der daraufhin vergeblich einen Beleuchtungsschirm hin und her rückte. Der Fotograf sah mich und winkte mich zu sich herüber. Achselzuckend sah er zum Himmel auf. Wie sollte er 111
unter dieser Wolkendecke überhaupt arbeiten? »Es könnten ein paar wunderbare Stimmungsbilder dabei herauskommen«, sagte ich zu ihm. »Das ist nicht mein Stil«, jammerte er. »Ich bin nicht für meine Stimmungsaufnahmen engagiert worden.« »Ich weiß«, sagte ich. Der Assistent setzte seinen Beleuchtungsschirm ab, um sich eine Zigarette anzuzünden, und der Fotograf blaffte ihn an, er solle seine Arbeit tun. »Wir müssen bereit sein. Die Wolken könnten aufbrechen«, sagte er. »Ist Didier hier?«, fragte ich. Didier sollte für ein Museum in New York eine Ausstellung über Ledoux vorbereiten. Ich hatte von der Ausstellung gewusst, aber ursprünglich nichts damit zu tun gehabt; ich war einfach mit einem Forschungsstipendium nach Paris gekommen und hatte Didier kennen gelernt, als wir beide dieselben seltenen Folianten von Ledoux in den Archiven der Bibliothek studieren wollten. Statt uns gegenseitig die Zeit zu stehlen, untersuchten wir die komplizierten Stiche gemeinsam, und dann führte eins zum anderen; und Didier verpflichtete mich für das Museum; ich stieg zum Berater für den Ausstellungskatalog auf, und schließlich reisten wir gemeinsam durch ganz Frankreich, um die erhalten gebliebenen Privathäuser und öffentlichen Bauten von Ledoux zu besichtigen und zu fotografieren. Dabei waren wir zu guten Freunden geworden. »Irgendwo«, sagte der Fotograf. Er sah auf seine Kamera, dann wieder zum Himmel. »Bei dem Wetter?« »Ich arbeite dran.« Der Fotograf stellte die Blende ein. Er wollte eine Frontalaufnahme versuchen, die ganze Rotonde im Bildausschnitt, womit er die selbstbewussten Proportionen einfangen würde und – Ledoux’ größtes Talent – die Art, wie er ganz unterschiedliche, selbstständige Formen, den Säulenkreis mit dem 112
Zylinder, den sie umfassten, zu einem ausgewogenen, harmonischen Ganzen zu verbinden vermochte. Er war die Art von Künstler, die ich am meisten bewunderte, einer, der mit wenigen Mittel zahllose Wege finden konnte, sich auszudrücken. Während meiner Zeit in Paris hatte ich mit meiner ungelenken Hand dutzende von Zeichnungen nach seinen Bauten angefertigt, weil ich glaubte, mich in seinen Kopf hineindenken zu können, wenn ich meiner Obsession nachgab. Ich würde sehen, wie er gesehen hatte. Ledoux hat im Zuge eines königlichen Auftrags, der außerdem noch um die dreißig weitere Beobachtungsposten und etwa fünfundzwanzig Kilometer Mauer umschloss, siebenundvierzig dieser Stadttore oder Zollhäuser entworfen. Sie entstanden zwischen 1784 und 1789, ironischerweise, denn Ledoux war so etwas wie ein antibarocker Visionär, und diese Bauten dienten schließlich dem Ancien Régime, um die dringend benötigten Steuergelder besser eintreiben zu können. Er hatte eine neue Architektur umgesetzt, die die Rokoko-Ornamentik der alten Garde mied – er glaubte, dass ein Gebäude seine Funktion unverhüllt offenbaren sollte, und war damit seiner Zeit voraus –, und doch wurde er, weil er im Dienste eines gestürzten Regimes diese Stadttore gebaut hatte – und so weit es ihn betraf, waren es nichts weiter als Auftragsarbeiten, eine Chance, sein Repertoire vorzuführen, denn es gab keine zwei gleichen barrières –, beinahe durch die Guillotine hingerichtet und stattdessen während der Revolution ins Gefängnis geworfen. Danach entwarf er keine anderen Bauten mehr und widmete seine späten Jahre der Veröffentlichung seiner Arbeiten; man sicherte ihm keinen Platz im Pantheon für das nächste Jahrhundert, und ich fand nach wie vor, dass Ledoux nicht die Aufmerksamkeit bekommen hatte, die er verdiente. Der Arbeitstitel der Ausstellung in New York war »Ledoux und sein Vermächtnis«. »Scheiße«, sagte der Fotograf. Es hatte zu nieseln begonnen. 113
»Vielleicht müssen wir die Aufnahme auf ein anderes Mal verlegen«, sagte ich. »Ich gehe Didier suchen.« Ich ging um das Gebäude herum. Ein Spatz versuchte die geschwungene Kuppel zu bezwingen, gab dann auf und flatterte davon. Ein anderer Vogel umschwirrte die Wetterfahne. Der Park war leer. Die verschiedenen Marmorstatuen großer Männer begannen im Dunst zu schwitzen. Als Will und ich nach dem College nach Paris kamen, sah ich die Zollhäuser zum ersten Mal. Wir wollten die berühmte Folie der von einem Garten umgebenen Ruinen in eben diesem Park besichtigen und kamen an der Rotonde vorbei. Ich hielt an, und wir setzten uns auf eine Bank am Weg gegenüber vom Pavillon. Zu dem Zeitpunkt wusste ich sehr wenig von ClaudeNicolas Ledoux, wenn überhaupt etwas, und registrierte nur die Oberfläche, das rein Äußerliche. Ich liebte die Symmetrie – das sprach schon einmal für ihn. Und ich hatte eine unerschütterliche romantische Vorliebe für Ruinen, weshalb Will auch mit mir die Gartenanlage besichtigen wollte, und, was zugegebenermaßen ein wenig unreif war, diese Faszination für den Verfall. Und dann war da noch etwas anderes, ein tief liegender Verdacht, dass das, was ich da in diesem Pavillon betrachtete, irgendwie was? war – Aufklärung und Vernunft und guter Geschmack, alles in einer einzigen klassischen Geste vereint. Wie ich schon sagte, ich wusste nichts über den Architekten oder seinen Bruch mit den Stilkonventionen, nichts von seinem komplexen Charakter, von Ledoux, dem fortschrittlichen Utopisten im Dienste des Königs – ich kannte nichts als die Architektur selbst, und die nur von außen. Kann uns ein Gebäude verführen? Ich glaube schon. Bei dieser ersten Exkursion saß ich mit Will auf der Bank und betrachtete ihn, wie er seinerseits den Pavillon betrachtete, und dann überraschte ich ihn mit einem Kuss auf die Wange. Ich nahm seine Hand und führte ihn über den Gehweg zum Gebäude hin bis zum Säulenumgang in den Schatten einer 114
Säule. Ich erinnere mich, wie ich ihn küsste und sein Hemd aufknöpfte und immer danke, danke, danke murmelte, während er fragte: Wofür? Für das alles hier, sagte ich, und wir knutschten und wurden hart, und ich glaube, wir hätten uns gleich dort geliebt, wenn nicht ein Hausmeister aus dem Haupteingang des Pavillons getreten wäre und angefangen hätte, den Stein mit einem Lösungsmittel zu wischen. Das alles fiel mir jetzt wieder ein. »Didier?«, rief ich. Ich bemerkte, dass die Tür einen Spalt breit offen stand, und ging hinein. »Didier?«, hallte meine Stimme wider. Das Gebäude war leer, eine dumpfe Katakombe. Ich ging die gewundene Treppe hinauf und fand ihn auch nicht im ersten Stock. Ein weiteres Stockwerk höher trat ich in den runden überkuppelten Raum, der neben dem Moder auch nach einem Eau de Cologne mit Vanillenote roch, das ich mit meinem Kollegen verband. Didier stand an einem Fenster mit Blick auf die Stelle, wo der Fotograf mit verhülltem Gerät immer noch darauf wartete, dass die Wolken aufreißen würden. »In Paris gibt es viele gute Punkte, wo ein Mörder in Stellung gehen könnte«, sagte er. Er war etwa so groß wie ich, also nicht übermäßig, aber wie er da so unter dem gebogenen Fenster stand, sah er groß aus. So ist das mit alten Bauten, sie machen dich größer. »Der Regen ruiniert das Shooting«, sagte ich. Didier wandte sich um, sah mich an und verdrehte die Augen: Was mache ich nur mit dir? »Ich rufe seit drei Tagen bei dir an«, sagte er. »Wir sprechen uns jeden Tag, und dann bist du plötzlich nirgends zu finden.« »Tut mir Leid«, sagte ich. Wir küssten uns auf die Wangen. »Wegen heute, und dann waren da auch noch andere Sachen, die ich mit dir besprechen musste«, schimpfte er. 115
»Ich hatte einen Freund zu Besuch«, sagte ich. »Oui, oui«, sagte er. Er umrundete den Raum, während ich mich nicht rührte. »Also, wir müssen diese Aufnahme verschieben«, sagte ich. »Der Fotograf wird Geld für den Tag heute haben wollen«, sagte Didier. »Natürlich«, gab ich zurück. »Und wir haben auch nicht ewig Zeit, weißt du, bei der speziellen Entwicklung, die ich gerne hätte.« »Ja. Du hast Recht. Ich weiß immer noch nicht, welche Bilder wir für den Katalog vorschlagen sollen, ganz zu schweigen davon, dass ich bisher kaum einen Blick auf den Text geworfen habe, den das Museum gefaxt hat. Und dann habe ich drei Tage lang blaugemacht –« »Was heißt das, blaumachen?« »Sagen wir, wenn man ein böser Junge ist«, erwiderte ich. »Ja, ja, du sagtest schon, dass es dir Leid tut«, meinte Didier. Er grinste; es war dunkel im Raum, aber er hatte ein prächtiges Lächeln voller schöner weißer Zähne. Er gehörte nicht zu jenen, die ohne jede Mühe elegant wirkten – bei ihm sah man das sorgfältig gegelte Haar, den perfekt auf die Schuhe abgestimmten Ledergürtel –, trotzdem fühlte ich mich zugegebenermaßen von ihm angezogen und vermutete, dass er mich auch mochte. Trotzdem hatten wir immer eine kollegiale Distanz gewahrt, selbst wenn wir in irgendeinem Schlossweiler im selben Hotelzimmer übernachtet hatten. Ich folgte Didier die Treppen hinunter und überließ ihm die Verhandlungen mit dem frustrierten Fotografen. Ich stand unter der Säulenarkade und beobachtete die beiden gestikulierenden Männer im Regen. Der Fotograf streckte ein letztes Mal die Faust gen Himmel, dann packte er endgültig zusammen und ging. »A quoi penses-tu?«, fragte Didier. Dass ich dieses Leben liebte. Dass dieses monatelange 116
Durchforsten von Ledoux’ Stichen, das Inspizieren seiner Bauten, die Anwesenheit bei Fotoaufnahmen und das Redigieren der Katalogtexte für mich die höchste Herausforderung gewesen waren. Es war die erste Ausstellung, an der ich in dieser Weise mitarbeitete. Sie würde die erste in den USA sein, die sich ausschließlich diesem einen Architekten widmete, und deshalb von der Kritik beachtet werden. Ich hatte Einlass in die niedrigen Klostergewölbe der Museumswelt gefunden, und wenn ich wollte, konnte ich diese Kontakte pflegen und vielleicht sogar eine Karriere als ganz seriöser Kurator aufbauen. Ich hatte viel zu viel Zeit im Fegefeuer der Doktoratsanwärterschaft verbracht und den Ehrgeiz, irgendwann ein Lehramt zu bekommen, längst begraben. Ja, ich liebte dieses Leben sehr – es war genau das, was ich mir wünschte. »Nichts«, antwortete ich. »Weißt du, in einer der Nachrichten, die ich dir hinterlassen wollte, ging es um das Modell.« »O Gott. Was ist nun schon wieder?« »Nein, Pedro. Eine gute Nachricht. Es ist fertig.« Ich sah auf die Uhr. Ich hatte eigentlich keine genaue Zeit mit Will ausgemacht, wann wir uns wieder in der Wohnung treffen wollten. »Ich habe mein Auto da«, sagte Didier. »Großartig«, sagte ich. »Nichts wie hin.« Die Fahrt vom Parc Monceau nach Süden zur Werkstatt im Vierzehnten dauerte fast eine Stunde – deren größten Teil wir mit der Suche nach einer Seine-Brücke verbrachten, die nicht gesperrt war –, und sie verlief schweigend. Zuerst dachte ich, Didier wäre immer noch wütend auf mich, weil ich ihn drei arbeitsreiche Tage lang allein sitzen gelassen hatte, aber dann erinnerte ich mich wieder an unsere Fahrten aufs Land und wie wir auch bei diesen Ausflügen lange Strecken ohne ein einziges Wort zurückgelegt hatten. Ich konnte es als Beweis dafür verstehen, dass wir uns auf eine Weise miteinander wohl 117
fühlten, wie es bei guten alten Freunden vorkommt, aber nur selten, wenn man erst seit kurzem befreundet ist. Didier steuerte seinen voll gestopften europäischen Stadtwagen geschickt durch das Herz von Paris. Ich fand schon immer, dass man eine Menge über einen Menschen lernen kann, wenn man ihn beim Autofahren beobachtet, weil dann der wahre Charakter durchbricht, und in Didiers Fall offenbarte die Art, wie seine rechte Hand mit sicherem Griff die Gänge einlegte und sein linker Fuß geschmeidig zwischen Bremse und Kupplung wechselte, eine unerschütterliche innere Ruhe. Mit der Linken hielt er das Lenkrad unten nur ganz locker im Griff und ließ es beim Abbiegen vollständig los. Er fuhr diesen winzigen Sitzmotor auf Rädern ohne jeden Luxus wie einen dicken Sedan mit Zahnstangengetriebe und Stahlmantel. Er fuhr sein kleines Gefährt wie ein Kapitän zur See. Was ich damit sagen will, ist, dass Didier ein sehr gut aussehender Mann war. Wir fuhren eine Seitengasse im Vierzehnten entlang und parkten vor einer alten Remise, die in ein Atelier umgewandelt worden war. Didier klopfte gegen eine Tür mit Milchglasscheibe, doch niemand öffnete. »Wahrscheinlich ist er unten am Fluss und wirft sein Brot rein«, sagte ich. Didier zog einen Schlüssel aus der Tasche und sah sich verschämt um. »Du hast einen Schlüssel?« »Das ist eine andere Geschichte. Wir haben uns mal ziemlich gut gekannt«, sagte Didier. »Verstehe«, sagte ich. »Du hast das nie erwähnt.« »Und du hast diesen Freund nie erwähnt, der bei dir zu Besuch ist«, sagte Didier. Die Werkstatt war nicht sehr geräumig, aber trotzdem wirkte das Atelier mit der rohen Decke und dem Zementboden sehr groß im Vergleich zu den Modellen, die in der Mitte des Raums auf einer Reihe von Tischen angeordnet waren, eine 118
komplette Stadt aus dem achtzehnten Jahrhundert im Maßstab eins zu hundert. Sämtliche Gerätschaften, Holzlatten, Hobel, Stichsägen und komplizierteste Schraubstöcke waren an die Wände geschoben. Die staubige Luft roch beißend nach Holz. Wir gingen um die Modellbauten herum und bückten uns immer wieder, um die Tischlerarbeit aus der Nähe anzusehen, und obwohl ich das Projekt schon im Entstehen gesehen hatte, konnte ich nicht anders, als in ehrfürchtiger Bewunderung den Kopf zu schütteln. Das dort vor mir war Ledoux’ nie gebautes Utopia, die Ideale Stadt Chaux, nach seinen Stichen in Holz umgesetzt, nicht verwirklicht, und doch begreifbar gemacht. Der Ausstellungsleiter hatte vorgeschlagen, Ledoux’ Neoklassizismus im herkömmlichen weißen Styropor wiederzugeben, aber Didier hatte ihn zu Holz überredet. Es war das Markenzeichen des französischen Kunsttischlers, mit dem Didier zusammenarbeitete, dass er nicht einfach Balsaholz verwendete, sondern mit Kirsche arbeitete und einzelne Details in Nussbaum und Wengé und einer ganzen Reihe von anderen Hölzern ausführte, die mir ein Rätsel blieben, weil Didier nur die französischen Namen der Bäume kannte. Die mit einer dünnen Lackschicht überzogenen Holzflächen verliehen Ledoux’ schlichten Formen eine zarte Eleganz, und die Art, wie der Tischler Türen und Fenster, Säulenkapitelle und Giebelfelder mit dunkleren Linien abgesetzt, wie er eine gröbere Maserung hatte einfließen lassen, um Rustikamauerwerk wiederzugeben, taten Ledoux’ Programm nicht etwa Gewalt an, sondern betonten ganz im Gegenteil die Rhythmen und Muster, die sich aus den strukturbildenden Komponenten selbst ergaben. »Ça va?«, fragte Didier und legte den Arm um mich. »Es ist wundervoll«, sagte ich. Er ließ eine Weile die Hand auf meiner Schulter liegen, bis es ein wenig unangenehm wurde. Dann trat er zur Seite. »Der erste Raum wird schön werden«, sagte er, »aber dann kommt das hier. Der Knaller.« 119
Für »Ledoux und sein Vermächtnis« waren drei Ausstellungsräume zur Verfügung gestellt worden, von denen der erste sich mit Ledoux’ Stadtpalais, den Zollhäusern und der königlichen Stadtmauer beschäftigen würde. Der zweite Raum würde der Idealen Stadt Chaux gewidmet sein. Im ersten Raum würde es Fotografien an den Wänden geben und Glasvitrinen mit aufgeschlagenen Folianten – die Standardausstattung –, im nächsten aber führte der Ausstellungsleiter einen Vorschlag von mir aus: Die Idee war, weder Ledoux’ Stiche noch Fotografien anzubieten (die man von einem nie umgesetzten Projekt schließlich auch gar nicht zeigen konnte); das Modell allein würde für das stehen, was im Grunde nichts als eine Träumerei war. Ein hölzernes Modell in einem dunklen Raum, das von oben mit Scheinwerfern beleuchtet wurde. Und das war es, was mich an Ledoux so faszinierte: Einerseits hatte er dem Ancien Régime beflissen beim Eintreiben der Steuern geholfen, indem er den althergebrachten Wunsch nach einer ummauerten Stadt umsetzte. Und gleichzeitig hatte Ledoux den Hof noch vor diesem königlichen Auftrag davon überzeugt, eine andere Vision zu unterstützen, nämlich den Entwurf von Chaux, einer hierarchiefreien industriellen Ansiedlung, die der Salzgewinnung dienen sollte. Im Zentrum dieser Gemeinde fanden sich verschiedene Bauten in elliptischer Anordnung, Gebäude mit seltsamen Bezeichnungen wie Tempel der Erinnerung (mit beschrifteten Minaretten), Haus der Versammlung, Palast der Einheit – sogar ein ›Tempel, der der Liebe geweiht‹ –, und die Sonne inmitten dieser Planeten war die Salzfabrik selbst. Und das für die damalige Zeit Radikale war die Tatsache, dass die Fabrik mit dem gleichen Blick für einen gehobenen Baustil behandelt wurde wie das Wohnhaus für den Direktor der Saline. Eine Fabrik mit Säulen – das war unerhört. Genauso unerhört wie der Versuch, die Unterschiede zwischen Behausungen der Fabrikarbeiter und der Handwerker, Schrankmacher, Makler und der Angehörigen 120
anderer Berufsstände zu nivellieren. Zugegeben, die Letzteren erhielten mehr Platz zugesprochen als die Erstgenannten, aber trotzdem war das Demokratische, das Sozialromantische an Ledoux’ Stadtplan ermessbar und neu – und am Ende unerreicht. Claude-Nicolas Ledoux war ein Mann, der zwar eine Mauer um Paris herum baute, sich aber gleichzeitig eine Stadt ohne alle Mauern erdachte. Dieser Widerspruch allein sorgte dafür, dass man ihn nicht so leicht erfassen konnte. In der begleitenden Abhandlung zu seinem Stichwerk schrieb Ledoux: Die Eigenart von Gebäuden dient, ebenso wie ihre Bestimmung, der Verbreitung und Reinhaltung der Sitten. Das war sein oft zitiertes Prinzip, seine Maxime – sagen wir sein Motto. Obwohl ich, um ehrlich zu sein, jedes Mal, wenn ich die Architecture considérée sous le rapport de l’art, des mœurs et de la législation aufschlug, den kurzen Text nur schnell überflog, um möglichst schnell zu den Zeichnungen vorzudringen. Ich hatte mich vor langer Zeit mit dem Geschriebenen befasst und jeder Architekt, jedes Manifest eines Künstlers interessierte mich weniger als seine Bauten, die Kunst selbst. Ich beschäftigte mich weniger mit dem Inhalt von Ledoux’ Arbeiten als mit ihrer äußeren Form. Der Modellbauer hatte das Wesentliche seines mauerlosen Utopia erfasst, indem er einen Kranz aus künstlichen Bäumchen um die Außenränder der Tische gelegt hatte; für das Blattlaub hatte er Hobelspäne verwendet, so dass der Eindruck eines dichten, ungezähmten Waldes entstand. Die Ideale Stadt Chaux hatte zwar ein exakt bestimmtes Zentrum, aber sobald man die konzentrisch angelegten Häuserringe hinter sich ließ, verlief die Stadt ohne Begrenzungen weiter, die gebaute Welt ergoss sich, wurde eins mit Arkadien. Ich berührte die weichen Holzlocken mit dem kleinen Finger. »Du liebst diesen Architekten immer noch, nach alldem?«, fragte Didier. 121
Ich ging noch einmal um die Modelle herum. »Am Ende muss der Biograf sein Thema ermorden«, sagte ich. »Ist das so? Und wirst du ihn ermorden?« »Noch nicht«, sagte ich. »Ich kann es mir nicht leisten.« Didier runzelte die Stirn. »Was ist?« »Ich wusste nicht viel über diesen Ledoux, bis man mich aufgefordert hat, ihn zu meiner Obsession zu machen«, sagte Didier, »und nun …« »Und nun was?« »Nun ist er, na ja, seulement un homme comme tous les hommes. Nur ein Mann.« Jetzt war ich es, der die Stirn runzelte. : »Er war komplex«, sagte ich. »Er war – wie sagt man? – voller Kompromisse.« »Ja«, sagte ich. »Ist er immer noch dein Held? Nach allem, was du von ihm weißt?« Es gefiel mir nicht, wie ich mich in diesem Moment fühlte, als ob mein Partner, jemand, der fünf Jahre jünger war als ich, mich intellektuell überholt hätte, wenn ich auch nicht genau wusste, wie. »Ich brauche ein Telefon«, sagte ich. Didiers Büro war nur zwei Minuten Fußweg entfernt, in der Nähe von Denfert-Rochereau. Wir gingen quer über den verlassenen Markt. Der Regen hatte nachgelassen, aber ich trat immer wieder in Pfützen und hatte schließlich völlig durchnässte Hosenaufschläge. Seine Firma hatte zehn Angestellte, aber als wir hereinkamen, arbeitete nur einer davon unter einer Architektenlampe in seiner Nische, über seinen Zeichentisch gebeugt und zu sehr mit seinen Entwürfen beschäftigt, um uns zu bemerken. Didier zeigte mir, wo sein Telefon stand, und ich rief zu Hause an. Will nahm nicht ab. 122
Ich drehte mich auf einem Drehstuhl aus Chrom herum. Auf dem Zeichentisch war ein grobes Layout für den dritten Raum befestigt, und auf einem Sideboard stand Didiers eigenes Diorama der Ausstellung. »Ich sollte dir sagen, dass amerikanische Architekten noch ausgeprägtere Egos haben als französische«, sagte Didier. »Auch wenn das unmöglich erscheint.« »Du hast Probleme mit der Freigabe«, sagte ich. Der dritte Raum würde sich Ledoux’ Vermächtnis widmen, unter Verwendung von Fotos und Modellen zu Arbeiten der Architekten, die unmittelbar von ihm beeinflusst worden waren. In meiner eigenen Dissertation wollte ich eine Grenze zwischen Ledoux und den Modernen ziehen: Die Einheit von Form und Funktion war bei ihm erst durch die Lossagung von der barocken Fassade möglich geworden. Ich wollte Ledoux mit den Postmodernen in Verbindung setzen, die sich, wenn sie mit großer Geste ein historisches Element aufnahmen, weniger bei Palladio und anderen Neoklassizisten anlehnten als bei meinem Jungen, der seinerseits gern klassische Elemente einarbeitete, um sie dann zu übertreiben und in einen größeren Maßstab zu setzen. Ledoux hatte die architektonische Übertreibung möglich gemacht. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich für dich in ihren Büros anrufen würde«, sagte ich. »Ja, und wo warst du dann?« Didier ging, um sich mit seinem Kollegen zu unterhalten. Es verging eine Weile. Ich versuchte es wieder in meiner Wohnung. Immer noch kein Will. Ich setzte die Spielzeugbänkchen auf dem Diorama um. Ich blätterte in irgendwelchen anderen Zeichnungen auf Didiers Schreibtisch herum. Dann stand er überraschend hinter mir und massierte mir die Schultern. »Völlig verspannt«, sagte er. Ich sagte nichts, damit er weitermachte. »Warum so verspannt?« 123
»Mein Freund ist noch nicht zurück«, sagte ich. »Er sollte bei mir zu Hause sein, ist er aber nicht.« Didier bearbeitete meinen Nacken mit den Fingerspitzen. »Du sagst Freund. Hör auf, Freund zu sagen.« »Will«, sagte ich. »Was, will?« »Das ist sein Name«, sagte ich. »Will Law.« Ich drehte mich zu Didier herum, bis ich ihm ins Gesicht sehen konnte, und erzählte alles gerade heraus, die ganze kurze Geschichte meines Lebens mit William Law, die, so wie ich sie erzählte, weder kurz noch geradlinig war. Didier war weniger hübsch, wenn seine Gefühle verletzt waren; seine Lippen neigten dazu, blass und schmal zu werden, wenn er sich unwohl zu fühlen begann. Aber ich konnte nicht anders, als meine ganze Geschichte minutiös vor ihm auszubreiten, und als ich fertig war, mit dem Gefühl, mich völlig offenbart zu haben, sagte Didier nichts. »Was ist?«, fragte ich. »Du willst wissen, was ich denke«, sagte er. »Ja«, sagte ich. »Ich kenne dich noch nicht sehr lange, aber ich dachte, weißt du, ich dachte, ich kenne dich.« Er sah mich an, als würde er gleich anfangen zu weinen. »Da ist viel, was ich nicht weiß, nicht?« »Vielleicht habe ich dir deshalb von ihm erzählt«, sagte ich. »Und nicht früher«, sagte Didier. Ich fühlte mich, als würde ich dem Mann, den ich betrogen hatte, einen Seitensprung beichten. »Früher war er nicht da.« Obwohl er es war, ja, er war es – seine zahllosen Briefe. Und die Briefe, die ich ihm zurückgeschrieben hatte – er war da. »Und jetzt soll ich dich küssen und irgendwas dazu sagen, oder wie?« »Didier«, sagte ich. Er wartete, dass ich mehr sagte, aber mir 124
fehlten die Worte. »Ich küsse dich, Pedro«, sagte er, kam aber nicht näher. »Ich küsse dich auch«, sagte ich, ebenfalls ohne mich zu bewegen. »Unglücklicherweise werde ich immer noch da sein, wenn alles vorbei ist«, sagte er und machte sich auf seinem Schreibtisch zu schaffen, schob Papiere herum und ordnete seinen längst aufgeräumten Arbeitsplatz. Er sortierte eine Hand voll Stifte in einem Becher. »Ich glaube nicht, dass es dieses Mal vorbeigehen wird«, sagte ich. »Toujours optimiste«, sagte er. »Wie sagt ihr? Ach, egal.« Er musste böse auf mich sein, weil ich nicht den ersten Schritt gemacht hatte. All die vielen Monate, in denen wir herumgereist waren und uns unserer Arbeit gewidmet hatten. Ich hätte einen Schritt machen sollen, und ich nehme an, dass es an mir gewesen wäre, es zu tun; trotzdem konnte er mir nicht böse sein, was mich auf perverse Weise zu ihm hinzog, diesem Didier, der großmütiger war, als es ihm gut tat. »Ich möchte für ein paar Tage mit ihm wegfahren. Besser gesagt, er möchte wegfahren«, sagte ich, »und ich habe mir gedacht, deine Familie hat doch dieses Landhaus. Ist da zurzeit jemand?« Didier hielt inne und legte beide Hände flach auf den Zeichentisch. Dann öffnete er eine Schublade und zog einen Schlüssel heraus, den er auf den Tisch legte. »Zu dieser Jahreszeit wird niemand dort sein, nein«, sagte er. Er schob die Papiere herum, die er gerade geordnet hatte. »Didier«, sagte ich. Er sah mich nicht an. »Didier.« »Also«, sagte er. »Wenn du so verliebt bist, wie du sagst, brauchst du doch nicht meine Erlaubnis, n’est-ce pas?« Seine Erlaubnis? 125
»Dann geh, Pedro. Es ist Wochenende. Dann arbeiten wir Montag oder Dienstag, wann du eben wieder auftauchst?« »Ja«, sagte ich. »Danke für den Schlüssel.« Ich legte ihm flüchtig die Hand auf die Schulter und ging. Didier sagte etwas in meinem Rücken, das ich nicht richtig hörte, für mich aber so klang wie Tu me manques. Du fehlst mir. Ich drehte mich um. »Wie bitte, Didier?« »Nichts«, sagte er. »Gar nichts.« ICH GING zu FUSS NACH HAUSE, und immer, wenn ich an einer Telefonzelle vorbeikam, versuchte ich es in meiner Wohnung. Ich redete mir ein, dass Will aus dem einfachen Grunde nicht antwortete, weil sich seine Lunchverabredung in die Länge gezogen hatte, was ja nicht weiter seltsam war, oder? Und dennoch kam es mir gegen drei, halb vier, vier Uhr langsam seltsam vor. Aus irgendeinem Grund wollte ich nicht nach Hause kommen und feststellen, dass er immer noch nicht da war. Ich hatte Hunger, wollte aber nicht ohne ihn essen; wir würden bald zusammen sein und ausgehen. Trotzdem. Ich kam an einer Brasserie am Boulevard Montparnasse vorbei, und mir wurde ganz flau. Ich ging hinein, bestellte ein Steak mit Pommes frites. Die Pommes frites waren zu salzig, und das Steak wurde mit einer Sauce béarnaise serviert, die meine Zeit auf dieser Erde nur verkürzen konnte, das war mir klar. Am Ende fühlte ich mich schrecklich unglücklich. Ich aß allein. Wieder rief ich in der Wohnung an. Immer noch keine Antwort. Ich trank Kaffee, und dann noch mehr Kaffee. Ich fühlte mich nicht wie ein Mann, der geliebt wurde, jemand, der jemanden hatte; ich wurde zu einem Einsamen in der großen Stadt, so einfach war das, zittrig vom Koffein, hässlich in meinem Selbstmitleid und dennoch unfähig aufzuhören, mich darin zu baden. 126
Dear Pedro: Ich versuche die ganze Zeit, mich zu erinnern, und schaffe es nicht, hatte Will in seinem ersten völlig überraschenden Brief geschrieben. Erinnerst du dich noch an irgendwas aus diesem Seminar, das wir zusammen besucht haben, in dem wir uns kennengelernt haben? Ich erinnere mich daran, wie mein Blick an einem blonden Jungen mit schmalen Handgelenken hängen geblieben war, der ganz hinten im Hörsaal saß. Was mir als Erstes auffiel: Seine Hemdsärmel waren immer aufgeknöpft, aber nie hochgekrempelt; ich weiß nicht, warum, aber ich fand das entzückend. Es war ein Seminar über lateinamerikanische Literatur, abgehalten von einem peruanischen Schriftsteller und zeitweiligen Diplomaten, der, wie ich später erfuhr, ein Freund von Wills Familie war. Auf dem Campus gehörte Will zu einer auffälligen Gruppe, mit der ich bis dahin nur am Rande zu tun gehabt hatte. Es waren die Diplomatenkinder und Militärgören, die Exilanten, die sich alle schon von diversen Internaten in den Staaten und anderswo kannten und immer unter sich blieben, die Sprösslinge verschiedener lateinamerikanischer Präsidenten und asiatischer Oligarchen. Es hieß, sie hätten alle ein Treuhandvermögen und würden ihre Ferien in Hongkong verbringen, und damals war Koks die ganz große Mode. Angeblich waren sie alle süchtig. Ich sah Will in dieser Gruppe und sehnte mich danach, alles über ihn zu erfahren. Ich wollte der Meisterschüler seiner Geschichte sein. Ich dachte, ich würde ihm nie nahe kommen. Ich hatte keine Chance; er gehörte nicht zu meiner Liga. Vielleicht sollte ich dazu sagen, dass ich in einem Vorort in New Jersey aufgewachsen und nie irgendwohin gereist war. Die Herkunft meiner Mutter blieb mir immer ein Rätsel; sie war in Chile groß geworden, aber ich hörte sie nie Spanisch sprechen. Tatsächlich bestanden meine Eltern darauf, dass ich Französisch lernte, als es Zeit war, sich für eine Fremdsprache zu entscheiden. Französisch war die Sprache der Diplomaten, 127
behaupteten sie. Diplomatenkreise, das bedeutete feine Lebensart und halber Adel und ein salomonisches Vermitteln, und nun stelle man sich meine erste Begegnung mit meinen Kommilitonen vor, die tatsächlich dieser Sphäre entstammten. Sie wirkten welterfahren und deshalb allem überdrüssig, beneidenswert exotisch. Was sahen sie ihrerseits in mir? Und wie geriet ich in diese Clique? War es mein Milchkaffee-Teint? Oder nur weil Will – der auf Grund des Ruhms seines Vaters wiederum der Prinz unter seinen Freunden war – in der Pause mit mir zu reden anfing? Denn schon bald hingen wir zusammen herum, nur wir zwei, machten Spaziergänge am Charles River. Er erzählte mir von all den Orten, an denen er gelebt hatte, nirgends länger als zwei Jahre, meistens weniger. Zum Beweis hatte er eine Münzsammlung, die er eines Tages auf seinem Bett im Schlafsaal ausschüttete. Ich betrachtete die Münzen sorgsam, als würde mir jede einzelne etwas über ihn erzählen. Es waren Köpfe auf diese Münzen geprägt, Profile von ernstgesichtigen Königen, der Königin von England in jüngeren Jahren. Noch häufiger waren Vögel, der Ibis, Pelikane, manchmal eine Antilope und Sätze in toten Sprachen, hoffnungsvolle Schwüre neu begründeter Republiken. Wappenschilder auf einer Seite, Göttinnen in fließenden Gewändern auf der anderen; Helden auf Pferden und Lorbeerkränze als Symbol des Friedens. Während ich diese Münzen betrachtete, erzählte Will mir, dass seine Mutter gestorben sei, als er noch ganz klein war. Und so war er auch in dieser Hinsicht, indem er schon in jungen Jahren erfahren hatte, was Trauer bedeutete, an Orten gewesen, die ich nie gesehen hatte. Die Jugendlichen um Will herum hatten alle Autos, und an den Wochenenden oder gegen Abend an Wochentagen machten wir oft Spritztouren in die Umgebung. Zu anderen Kommilitonen in Boston, aus Boston raus nach Cape Cod. Hinauf nach 128
Maine, zum Sommerhaus der Familie Law hoch oben an der Küste – manchmal blieben einige von uns über Nacht. Eines Nachmittags wollten wir zu den Laws fahren, aber aus irgendwelchen Gründen machten dann alle außer Will und mir einen Rückzieher. Will sagte, er wolle trotzdem fahren. Wir kamen hin und zündeten ein Feuer an und tranken Wein und rauchten wahrscheinlich ein paar Zigaretten. Dann, in den frühen Morgenstunden, führte die Nähe unter der gemeinsamen Wolldecke dazu, dass Will seinen Arm auf mein Bein legte, und der Rest, ein traumartiges Zusammenspiel von Gesten – das genaue Gegenteil von dem, was ich mir immer vorgestellt hatte –, floss dahin wie ein Sommertag, der langsam, ganz langsam seinen Lauf nahm. Ich weiß noch, wie ich am nächsten Morgen meine Hände betrachtete und dachte, dass sie einem Mann gehörten. Mit diesen Händen konnte ich alles tun – einen Schrank bauen, eine Mahlzeit kochen, ein Buch schreiben und, ja, lieben. Lieber Will: Ich bin vor dem Feuer eingeschlafen, und als ich ein paar Stunden später aufwachte, hattest du uns etwas zu essen gemacht – überbackene Käsesandwiches –, und zwischen die Cheddar-Scheiben hattest du eine überreife Birne geschnitten. Es war so ungefähr das Beruhigendste und gleichzeitig Luxuriöseste, was ich je gegessen habe. Ich bat um ein zweites Sandwich. Es war ein überaus sonniger Morgen, wenn auch windig. Ich erinnere mich, dass wir später auf einer verglasten Veranda zu Mittag gegessen haben und dass der Wind draußen alles niederbeugte, die Tannen, das Seegras unten am Kliff– es war ein wütender Wind. Aber wir hörten nichts davon. Im Haus – Stille. Nicht einmal die Fensterläden klapperten. Still und warm, während die Welt draußen toste, in Stücke zerbrach. Lieber Pedro: Erinnerst du dich noch an unsere Reise nach Paris? Ich weiß, es war nur ein Monat, aber es kommt mir vor, ah wäre es ein Jahr gewesen – Ich habe oft das Gefühl, als hätte mein Leben, mein wahres Erwachsenenleben, in jenem Juli begonnen. Nur wir beide in 129
einer Wohnung, die einem Freund von Wills Familie gehörte und die mit bedrückenden, auf Hochglanz polierten Säulen und Intarsienschränken voll gestellt war, denen unweigerlich irgendwo ein Birnenholzschnörkel fehlte. Ein Hausmädchen kam und ging unbemerkt. Wir tranken Champagner aus zierlichen Flöten. Wir spielten das dekadente Leben, lungerten in der Dämmerung auf Sofas herum, um dann unter einem Betthimmel herumzumachen, heiß zu duschen und immer wieder dieselbe Uniform anzuziehen: gestärktes weißes Hemd, Khakihosen und Schuhe ohne Socken. Dann gingen wir auf den Boulevard hinunter, wo uns ein Duft nach Zitronen umfing, kamen an irgendeinem Austernhändler vor einem Bistro vorbei und schlürften jeder eine metallisch schmeckende Auster. Ich erinnere mich noch an einen Abend, als wir zu einem Orgelkonzert in einer kleinen Steinkapelle gingen. Wir schoben uns in eine der hintersten Bänke, und irgendwann griff ich nach Wills rechter Hand, und er ließ mich den blassgoldenen Siegelring von seinem Finger ziehen. Ich berührte das winzige Wappen – drei rabenähnliche Vögel und eine einzelne Lilie – und steckte ihn dann an meine eigene Hand. Wir standen auf Brücken herum. Wir aßen spät kalte Räucherforelle und Brathühnchen. Wir trieben uns in Hotelbars herum und bestellten Drinks, die wie flüssige Edelsteine aussahen. Wir hatten häufig Sex und schliefen bei weit geöffneten Fenstern. Wir verwandelten Paris von Wills Lieblingsstadt zu unserer Lieblingsstadt, und wir schworen uns, dass wir eines Tages hier leben würden. Lieber Pedro: Wenn ich zurücksehe, wird mit ganz deutlich, dass ich meine beste Zeit mit dir verbracht habe. Wie konnten wir uns nur auseinanderleben? Wir kehrten nach New York zurück und begannen unser weiterführendes Studium an verschiedenen Universitäten, Will in Staatswissenschaften, ich in Kunstgeschichte, und wir verbrachten nicht mehr so viel Zeit miteinander, und unser 130
Leben füllte sich mit dem, was wir für unsere Zukunft hielten. Aber wir hatten trotzdem ein gutes Jahr, ein wunderbares Jahr in New York, auf das eine schwierige Zeit folgte, weil sich manches Vorhersehbare nicht länger ignorieren ließ. Will arbeitete während des Studiums bei der UNO und bereitete sich für die Aufnahmeprüfung in den Diplomatischen Dienst vor, die er natürlich spielend bestand. Dann das Unvermeidliche. Er bekam seinen ersten Posten: Djakarta. Komm mit mir, sagte er. Und ich fragte ihn, als was? Als was willst du mich vorstellen? Er antwortete nicht, und er sagte auch nie so etwas wie, die Zeiten haben sich geändert. Es ist nicht mehr unmöglich heutzutage, dass du mit mir dort bist. Aber was werde ich mit mir anfangen?, fragte ich. Schließlich hatte ich mein eigenes Leben und meine eigenen hochfliegenden Pläne. Am Ende beschlossen wir, dass ich weiter in New York studieren und wir jeden zweiten Tag miteinander telefonieren würden, eine verschwenderische Vorstellung. Ich würde ihn besuchen, er würde mich besuchen. Wir würden versuchen, bikontinental zu leben. Aber irgendwas passierte, irgendwas ging schief – was? Da war das eine: Während er noch in New York war, hatte ich begonnen, Will in Aktion zu beobachten, wie ich es nie zuvor getan hatte, und ich konnte nicht behaupten, dass mir dieser Teil von ihm gefiel, der verbindliche Will, der Kronprinz. Die Leute vertrauten einem blonden Mann in einem überfüllten Raum beinahe automatisch; er konnte einem mit einem Nicken in Richtung des Kellners einen Drink verschaffen. Er kam zu spät, machte nichts; es würde schon eine gute Erklärung für seine Verspätung geben. Nach drei Monaten in Djakarta kam er geschäftlich nach New York zurück. Es gab ein paar Empfänge; er lud mich ein mitzukommen, und ich sah ihm bei der Arbeit zu. Er war aalglatt. Ein Cocktail, noch ein 131
Cocktail. Sagen Sie, darf ich Sie etwas fragen? Ich bin neugierig. Ganz unter uns. Es wird niemand davon erfahren, außerhalb dieses Tisches. Drei Cocktails, vier. Haben Sie sich den Vorschlag angesehen? Haben Sie die zu erwartenden Zahlen angesehen? Unsere beiden Länder. Unsere wachsende Verbindung. Unsere kollateralen Interessen. Er war anscheinend so leicht und mühelos in ein Leben geschlüpft, das in aller Ruhe auf ihn gewartet hatte. Wie hatte ich das nicht vorhersehen können? Es war jetzt sein Beruf, den Willen der amerikanischen Regierung umzusetzen. Unter uns – und ich meine damit, nur wenn ich ihn dazu nötigte – mochte er den einen oder anderen politischen Punkt kritisch beurteilen; aber ich hätte ihn lieber in einer tieferen Glaubenskrise gesehen, und sei es nur das leichte Aufwallen eines Zweifels. Er sagte, eines Tages, wenn ich selber das Sagen habe. Er sagte, ich muss nicht unbedingt mit allem einverstanden sein, was wir tun, aber Politik ist Politik. Und ich dachte, wen habe ich da geheiratet? Ich sah etwas Reales und Zerstörerisches in diesen politischen Differenzen; ich möchte die neu erwachte Enttäuschung über meinen Liebhaber nicht herunterspielen. Aber ich muss das, was ich tat, auch als das anerkennen, was es war, nämlich der Versuch, ihn zu analysieren, Abstand zu gewinnen, denn er blieb mir selbst nach all den Jahren ein Rätsel. Lieber Will: In der letzten Nacht, die du in New York verbracht hast, batest du mich, mit dir nach Indonesien zu kommen, und wir hatten einen heftigen Streit. Ich hatte in den Zeitungen gelesen, so viel ich konnte, meine Hausaufgaben gemacht. Du hast dich mit so etwas wie einem Gruppensieg gebrüstet. Lohnzusagen, freie Wahlen – offen gesagt, erinnere ich mich nicht mehr. Ich stellte dich zur Rede. Ich wollte von dir wissen, wie du mit einem korrupten Regime zusammenarbeiten konntest, das nachweislich die entsetzlichsten Gräueltaten begangen hat. In der Vergangenheit hast du mich meine 132
Beschwerden immer vorbringen lassen, aber in jener Nacht sagtest du, ich wisse ja nicht, wovon ich redete. Du sagtest, das ginge über meinen Horizont. Ich sollte den Mund halten. Ich sagte, leck mich am Arsch. Und du gingst weg, um dich mit jemandem auf ein paar Drinks zu treffen, und kamst erst wieder, als ich schon schlief, und obwohl ich wusste, dass du am nächsten Morgen fortfahren würdest, tat ich so, als würde ich noch immer tief schlafen, bis du nicht mehr da warst. Wir sprachen uns seltener. Irgendwann schickten wir nur noch Postkarten. Dann nichts mehr – so haben wir uns auseinander gelebt. Mir schien es so, als hätten nicht wir beide einander verlassen, sondern vielmehr ich ihn. Ich hatte ihn verlassen – und es verfolgte mich. Ich war ein Wrack, voller Selbstvorwürfe. Ich ließ meine akademische Arbeit lange Zeit unbeachtet liegen. Ich lebte allein. Mit der Zeit gewöhnte ich mir ein Ritual an: Ich erwähnte schon den Siegelring, den Will trug, den Ring seines Vaters, und wie ich ihn ihm abgenommen und mir selbst angesteckt hatte. In irgendeiner Nacht während unserer Jahre in New York schenkte Will ihn mir. Ich ließ ihn mir anpassen. Nachdem wir uns getrennt hatten, trug ich den Ring nicht mehr, sondern bewahrte ihn in der Schublade meines Nachtschranks auf. Aber bevor ich einschlief, schob ich ihn auf meinen Finger. Und dann betastete ich das Wappen unter meinem Kopfkissen. Am Morgen legte ich den Ring wieder in die Schublade. Eines Tages machte ich dann mit meinem Leben weiter. Die Luft war nach einem Unwetter ganz klar. Es war Sonntag und noch niemand auf den Beinen; ich ging durch Lower Manhattan, las die Zeitung in einem Café, und dann kam mir mit einem Mal die Erleuchtung: Ich war über Will hinweg. Ich verkündete es allen meinen Freunden, obwohl ich irgendwo tief im Innern die Wahrheit kannte, der niemand entgeht: Jeder von uns verfolgt irgendeinen anderen. Will war immer da, er 133
wurde einfach zu einem Teil von mir, der ständige Zeuge jeder einzelnen Begebenheit. Ich dagegen, so nahm ich an, war für ihn völlig verschwunden; er dachte nur selten an mich. Aber ich hatte Unrecht. Irgendwann erreichten mich seine Briefe, und ich versuchte zu begreifen, wie sein neues Leben aussah: Will bereiste die Städte seiner Jugend. Er hatte den Auswärtigen Dienst verlassen. Er war kein Diplomat mehr – was die hohe Hecke aus Konflikten zwischen uns automatisch um einiges zurückstutzen würde, oder etwa nicht? Ich wollte daran glauben, dass er sich geändert hatte. Er teilte mir mit, wohin ich meine Briefe schicken konnte, falls ich ihm schreiben wollte, an welches American-Express-Büro und in welcher Stadt; ich sorgte dafür, dass er wusste, unter welcher Adresse ich zu erreichen war, wenn ich erst in Paris war. Lieber Pedro: Du hast mir gefehlt. Ich würde gerne wieder mit dir zusammen sein. Ich kann dich überall treffen. Sag mir nur, in welchem Land, in welcher Stadt. Er kam, die Arme voller Geschenke. Er wusste noch, wie gern ich Zartbitterschokolade mochte; es gab dem Wein etwas Pfeffriges. Ich spülte sie mit einem Anjou-Wein hinunter, und ich schwebte. Aber dann kam der Tag, an dem wir in die Stadt hinausgingen, und wir landeten unten am Fluss – Er sagte, komm mit mir. Ich lächelte, aber ich war sprachlos. Was Will da von mir wollte, war eine kostspielige Sache: Er forderte mich auf, mein Apartment in New York zu vergessen – würde ich mir von irgendjemandem meine Katze nachschicken lassen, und wie war das eigentlich mit der Quarantäne? –, meine Freunde, mein Doktorat, meinen eingeschlagenen Berufsweg zum Kurator. Konnte er nicht sehen, wie ich mich, ohne ihn, erneuert hatte? Vielleicht sah er es – genau das war es –, und meine neue, verbesserte, unabhängige und unbedürftige Persönlichkeit veranlasste ihn, mich nur umso mehr zu wollen. Ich sagte weder Ja noch Nein – ich sagte nur, wir würden 134
später in meiner Wohnung darüber reden, aber nun fragte ich mich, was wohl passiert wäre, hätte ich gleich da unten an der Seine Ja gesagt oder ihm wenigstens irgendein Versprechen gegeben, selbst wenn es nichts weiter war als das, ein Schwur, eine Äußerung: Ja, ich gehe mit dir, wohin du auch willst. Noch heute. Du kannst mir sagen, wo das Flugzeug landen wird, wenn wir gestartet sind, oder sag es mir gar nicht. Willkommen wo auch immer, wo die Lokalzeit die Lokalzeit ist. Wirst du mit mir kommen? Ich hatte nicht so geantwortet, wie er es sich gewünscht hatte, deshalb hatte er vielleicht im weiteren Verlauf des Tages über meine Unentschlossenheit nachgedacht. Ich kannte Will gut genug, um zu wissen, dass er trotz aller Schulung in Sachen Konfliktbereinigung ein Mann war, der in außerdiplomatischen Angelegenheiten nicht eben zur Entschlossenheit neigte. Nachdem er nach Indonesien zurückgekehrt und unser Briefwechsel verebbt war, bekam unser Kontakt etwas Bürokratisches. Es ging darum, wohin seine Bücher geschickt werden sollten, seine Wintersachen. Ich war derjenige, der ihm in einem langen Brief schrieb, das hieße dann ja wohl, dass wir uns getrennt hätten; ich war der, der es aussprach, nicht er. Will hätte jahrelang so weitermachen können, ohne je etwas offiziell zu machen, immer draußen auf See im grauen Wasser, weit genug von jeder Küste entfernt, um irgendwelche Nachrichten vom Festland zu erhalten. Ich rief noch einmal vom Bistro aus in meiner Wohnung an; er war nicht da. Ich stellte ihn mir vor, wie er das Telefon läuten ließ, während er seine Sachen zusammensuchte und den Zweitschlüssel, den ich ihm gegeben hatte, neben die ungegessenen Birnen legte. Ich stellte mir vor, wie er auf dem Weg zur Tür seine Reisetasche über die Schulter schwang. Will auf dem Weg zum Flughafen. Wieder für sieben Jahre fort aus meinem Leben, oder sogar länger. Dieses Mal würde die Stille mich kaputtmachen. Ich machte mich wieder auf den Heimweg. Ich 135
ließ mir Zeit. Abenddämmerung. Manche sagten, man müsse dem Zwielicht Tribut zollen. In ein Café gehen und ein Glas Wein bestellen; den Tag Revue passieren lassen, bevor man sich der Nacht stellt. Und es gab einmal eine Zeit, da konnte man zu Sonnenuntergang keinen freien Tisch im Café an der Ecke bekommen, aber Gewohnheiten vergehen. In letzter Zeit pflegten die Pariser eilig nach Hause zu streben, machten nur Halt, um etwas Fisch, ein paar Bohnen und die Schokolade für den Abend zu kaufen. Wenn es zwischen Tag und Nacht eine Pause gab, dann wurde sie zumindest nicht in der Öffentlichkeit zelebriert. Ich für meinen Teil hatte nicht vor zu grübeln. Ich dachte mir, soll der Tag doch sterben, und zwar schnell. Soll die Sonne untergehen und bleiben, wo sie ist. Ich hoffte höchstens darauf, dass ich rasch einschlafen würde. Der inzwischen versiegte Regen hatte einen tiefblauen Himmel hinterlassen, und ganz plötzlich schien die Stadt der Lichter aufzuleuchten: die Regierungsgebäude, die Brunnen, die Säulenmonumente und Bogengänge, all die Brücken und die Quais erstrahlten in ehrfürchtigem Licht. Ich hatte diesen Moment schon immer gemocht, wenn nach dem Sonnenuntergang der Himmel noch immer nicht vollständig dunkel war. Autoscheinwerfer sahen aus wie Juwelen. Das Straßenpflaster schimmerte sauber. Der Tag war verloren, und es lohnte sich nicht, ihm nachzutrauern. Die Nacht war noch unverdorben, eine offen daliegende Straße. Meine Stimmung hob sich. Hier und da waren die Vorhänge nicht zugezogen, aber schon Lampen angezündet, und so konnte ich in den Seitenstraßen in Wohnungen im Erdgeschoss hineinsehen. Ich konnte sehen, wie die Pariser ihre Einkäufe auspackten. Ich konnte sehen, wie sie sich begrüßten und dabei zweifellos davon sprachen, was für ein seltsamer Tag es gewesen war. Sie lockerten die Krawatten, knöpften ihre Hemden auf. Ich konnte ihnen zusehen, wie sie sich ihren Whisky einschenkten, ihre Katzen auf 136
den Arm nahmen. Sie waren in Sicherheit, und sie wussten es, aber sie konnten sich noch nicht entspannen. Sie starrten aus den Fenstern. Auf halbem Weg nach Hause hatte ich genug vom Gehen und arbeitete mich bis zu einem Boulevard vor. Die Taxis, die vorüberkamen, waren alle besetzt. Ich fuhr schließlich ein Stück mit dem Bus; er brachte mich zwar um einiges weiter, aber dann musste ich wieder zu Fuß gehen, und ich eilte vorwärts, weil es bald dunkel sein würde, und ich fühlte mich nicht besonders sicher. Ich weiß noch, dass ich an einer Reihe von Botschaften im Sechzehnten vorüberging, diesen imposanten Villen mit verwaisten Flaggenmasten und Videokameras an Stelle von Spitzen auf den Eisengittern. Ein Hut? Ja, ein Hut – ein Fez, dessen Troddel zuckte wie ein sterbender Fisch. Ich ging, so schnell ich konnte. Und dann, sieben Blocks von zu Hause entfernt, hörte ich eilige Schritte hinter mir, die immer näher kamen. Als ich Rufen hörte, duckte ich mich in einen Hauseingang und wartete. Die Rufe verklangen. Ich ging weiter. Ich hatte nur noch fünf Blocks. Es war dunstig und so kalt, dass ich meinen Atem sehen konnte, was irgendwie beruhigend auf mich wirkte. Dann kamen die Schritte wieder zurück. Dieses Mal sah ich drei hoch gewachsenen Jungen hinter mir, als ich mich umdrehte, und sie brauchten nicht näher heranzukommen, damit klar wurde, wer sie waren. Ihre Umrisse genügten. Drei Jungen mit Stoppelglatze und Springerstiefeln. »Bonsoir, Monsieur«, rief einer von ihnen. Ich hätte weglaufen sollen, aber ich ging im gleichen Tempo weiter. Ich dachte, hier in meiner eigenen Nachbarschaft bin ich sicher. Sie würden nichts von mir wollen. Mir blieben noch vier Blocks. Sie kamen rasch vorwärts, ihre Stiefel klangen wie galoppierende Pferdehufe. Ignorier sie, sagte ich mir. Sieh nicht einmal in ihre Richtung. 137
»Heh, Sie. Heh.« Plötzlich waren sie direkt hinter mir. »Heh«, sagte einer der Jungen. Ich fühlte ein Gewicht auf meiner Schulter. Die Hand des Jungen. Ich blieb stehen, sah ihn aber nicht an. »Haben Sie von den vermissten Kindern gehört?«, fragte er. Ich rührte mich nicht. »Woher kommen Sie?« Vous venez d’où? Die Frage bekam man heutzutage oft zu hören. Die Leute wollten wissen, woher man stammte. Und mir war klar, dass es zu einem gewissen Teil die Neugier eines Einheimischen Touristen gegenüber war, wenn mir Fremde im Café oder irgendwelche Ladenbesitzer diese Frage stellten. Andererseits vermutete ich immer öfter, dass man mich wegen meiner Hautfarbe fragte. Und das machte mich misstrauisch – diese Straßenjungen machte es angriffslustig. Vielleicht hätte ich meine Herkunft in meinem besten Französisch erläutern können, oder ich hätte mich vielleicht als Amerikaner zu erkennen geben sollen; damit wäre die Begegnung womöglich beendet gewesen. Aber welchen Unterschied hätte das gemacht? Meine Haut war immer noch braun, hier im Schatten ein dunkles Nussbraun, und das genügte. »Ich habe Sie was gefragt. Woher kommen Sie?« Ich lief los. »Heh«, riefen die drei. Ich rannte. »Heh.« Ich rutschte in einer Pfütze aus – verdrehte mir den Knöchel – und fiel beinahe hin. Ich rannte und rannte, und ich nahm an, dass sie mich verfolgten, ich glaubte ihre stampfenden Schritte zu hören. Erst als ich am Ende der Straße angekommen war und um die Ecke bog, konnte ich sehen, dass mich überhaupt niemand verfolgte. Die Jungen waren fort. Ich humpelte langsam den letzten halben Block bis zu mei138
nem Haus, aber mein Herz raste weiter. Ich ging die Windungen der Treppe hinauf und hörte mein Telefon klingeln. Beinahe hätte ich meine Tür eingetreten. »Pedro. Da bist du ja.« Ich konnte nur grinsen, als ich gleichzeitig Wills Stimme hörte und seine über mein Schlafzimmer verstreuten Sachen sah. »Und da bist du ja«, sagte ich. »Ich habe schon ein paarmal versucht, dich anzurufen –« »Ja«, sagte ich. »Ich habe den ganzen Nachmittag darüber nachgedacht: Ja. Ich gehe mit dir, wohin du willst. Noch heute. Ja. Lass uns fortgehen, so schnell wir können.« Will seufzte. »Was ist los?« Hatte er seine Meinung geändert? »Will, wo bist du?« Keine Antwort. »Will?« Dann erzählte er mir in wenigen und ziemlich kryptischen Sätzen von einer Frau und einem entführten Jungen. Eine sich ankündigende Tragödie. Er ließ sich nicht weiter aus, aber er sagte, er sei jetzt irgendwie beteiligt. Er wolle sich auf die Suche nach dem Kind machen. »Kannst du mir helfen?«, fragte er. Komm mit mir. »Ja«, sagte ich, bevor ich auch nur ahnen konnte, was er von mir erwartete. »Meinst du, du kannst irgendwo ein Auto auftreiben?«, fragte er. Dann sagte er mir, wo ich ihn treffen sollte und wann. ICH DACHTE KURZ DARAN, mir den hochherrschaftlichen alten Sedan zu borgen, der unten im Hof abgestellt war, denn ich 139
nahm an, dass die Schlüssel nach wie vor im Handschuhfach lagen, aber dann entschied ich mich dagegen und eilte stattdessen zu Didiers Wohnung. Er wirkte ungewohnt verlottert; sein Hemd war aufgeknöpft und gab den Blick auf seine gänzlich unbehaarte Brust frei; er trug keine Schuhe und nur eine Socke; er stank nach Whisky und Zigaretten, als wäre er schon den ganzen Abend von einer versifften Kellerkneipe zur nächsten gezogen. Ich hatte vorher angerufen, und er hielt mir zur Begrüßung seine Autoschlüssel entgegen. »Ich bin dir sehr dankbar, Didier«, sagte ich. Er lehnte sich an die Tür, ohne mich hereinzubitten. Er sah aus, als wollte er da drinnen jemanden verstecken, aber die Tür hinter ihm stand offen, sodass ich sein ganzes Studio sehen konnte. Ich wusste, dass er allein war. »Vielleicht willst du das hier auch noch«, sagte er. Er zog einen weiteren Schlüssel aus der Tasche und drückte ihn mir in die Hand. »Wofür ist der?«, fragte ich. »Mein Fahrrad – na ja, eigentlich mein Fahrradschloss. Ich hatte auch mal ein Fahrrad, aber das ist gestohlen worden. Jetzt habe ich nur noch das Schloss, weißt du.« Er war betrunken. »Ist gut«, sagte ich und steckte den Schlüssel ein. Er gab mir noch einen sehr viel kleineren, silbernen Schlüssel. »Der hier gehört zu meinem Briefkasten unten«, sagte er. »Didier, hör auf damit. Wenn du mir deinen Wagen nicht leihen willst, musst du es nicht tun«, sagte ich. Er sah aus, als würde er nach vorne überkippen, also nahm ich ihn am Ellbogen und führte ihn zum Sofa. Er fiel rückwärts darauf, und ich legte seine Beine hoch. Er zog den rechten Unterarm über die Augen. »Ich werde jetzt ein bisschen schlafen«, sagte er. »Ich bin sicher, dass du ein sehr glückliches Leben haben wirst.« »Danke für den Wagen«, sagte ich. »Ich bringe ihn später 140
zurück.« Didier zuckte die Achseln, und ich beugte mich zu ihm hinunter, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben. Er war kalt, also deckte ich ihn mit einer zu den beigefarbenen Polstern passenden Decke zu, sodass außer Armen und Kinn nichts mehr von ihm zu sehen war; er sah aus wie ein Beutelrattenjunges vor dem Bauch der Mutter. »A tout à l’heure«, sagte ich, aber er schnarchte schon. Ich stieß mit den Knien ans Lenkrad; den Rückspiegel hätte ich beinahe in der Hand gehabt, und dann hatte ich Mühe, den Wagen zu starten. Nachdem ich zweimal den Motor angelassen und gleich wieder abgewürgt hatte, wartete ich ein paar Minuten, wog eventuelle andere Möglichkeiten ab und versuchte es dann ein letztes Mal. Zuerst klang der Motor ziemlich schwach, aber dann lief er. Ich fuhr in Richtung Fluss. Das Auto lag ziemlich tief. Es fühlte sich an, als würde ich in einem Schlitten die Avenue entlanggleiten. Ich hatte Mühe, das Einlegen der Gänge und das Kuppeln zu koordinieren – bei Mietwagen nahm ich immer Automatik –, und blieb deshalb mehrere Male mit einem Ruck stehen. Zum Glück brauchte ich mir um wütende Autofahrer hinter mir keine Sorgen zu machen, weil an diesem Freitagabend niemand in Paris unterwegs zu sein schien. Das beunruhigte mich. Es war erst acht, und die Straßen waren so leer gefegt, als wäre es drei Uhr morgens. Die wenigen Menschen, die ich sah, bewegten sich auffallend schnell vorwärts, wie die Vierergruppe in Mänteln, die vor dem Invalidendom über den Platz eilte. Das lag zum Teil am Wind – der Regen hatte aufgehört und einem kalten, unbeständigen Abend Platz gemacht –, aber ich durfte auch diesen ereignisreichen Tag nicht außer Acht lassen, voller noch dazu ständig wechselnder Nachrichten, und die Aussicht, dass noch mehr Gewalt zu erwarten war. Das Erlebnis mit den Straßenjungen vorhin ließ mich nicht los, so flüchtig es auch gewesen sein mochte. Ich trat das Gaspedal durch. 141
Die Radionachrichten trugen nicht eben zu einer Stärkung meines Sicherheitsgefühls bei: Ein Tag, der mit einem symbolischen Marsch begonnen hatte, würde nun wahrscheinlich eher als der Tag in Erinnerung bleiben, an dem die rechtsradikalen Gangs dunkelhäutige Kinder verschleppt hatten. Und bei diesen Entführungen war unschwer ein planmäßiges Vorgehen zu erkennen, eine umgehende Antwort auf die Morgendemonstration, auch wenn die Französische Front jede Verbindung mit den Gangs wiederholt geleugnet und behauptet hatte, jeder einzelne dieser Schlägertrupps sei eine unabhängige Gruppierung. Ich war allerdings nicht der Einzige, der glaubte, dass diese Bandenüberfälle geplant gewesen sein mussten – jetzt hieß es, die Zahl der entführten Kinder belaufe sich auf ein Dutzend. Die Autoheizung funktionierte nicht besonders gut; mein vor Angst beschleunigter Atem ließ die Fensterscheiben beschlagen. In der Ferne konnte ich einen hellen Schein gleich hinter den Tuilenen erkennen, obwohl ich nicht wusste, was oder ob überhaupt etwas dort brannte. Ich nahm eine Brücke über die Seine, glitt an der Kathedrale vorbei. Ich erreichte ohne Verzögerung den Pont de Sully, und dort stand, wie versprochen, die Liebe meines Lebens. »Hallo«, sagte Will und kletterte auf den Beifahrersitz. Er sagte kein Wort zu dem Auto. Er trug weder Handschuhe noch Schal, und ich kam mir blöd vor, weil ich nicht daran gedacht hatte, wie unzulänglich er für diese Tageszeit angezogen war; seine Jacke sah nicht so aus, als wäre sie warm genug. Ich lehnte mich hinüber, um mir einen Kuss abzuholen. Seine Lippen waren aufgesprungen. »Pedro, Pedro«, sagte er. Der hinter ihm liegende Tag hatte ihn offenbar ernüchtert. Als ich das Innenlicht anmachte, konnte ich sehen, dass seine Augen ganz rot waren. »Danke, dass du das machst«, sagte er. 142
Ich nickte. »Im Ernst. Du hättest zu Hause bleiben und auf mich warten können – ich bin froh, dass du da bist.« Er roch überhaupt nicht wie sonst; es erschien mir wirklich so, als käme er aus einer anderen Jahreszeit, und zwar dem Frühling: Er roch wie frisch gemähter Rasen. »Wie alt ist der Junge?«, fragte ich. »Vier«, sagte er und zog einen Schnappschuss aus der Tasche. Ein Junge im gestreiften Hemd, der einen bunten Drachen in der Hand hielt – aus derselben Serie wie das Bild, das die Polizei bekommen hatte. Nico hatte Guru-Augen: dunkel, feucht glänzend und tief. Er sah ein wenig verschmitzt aus, ein richtiger Clown. Er kannte eine Menge schlechte Scherze. Jeden Tag erzählte er einem, was er mal werden würde, wenn er erst groß war, und jeden Tag hatte er sich eine neue Zukunft zurechtgelegt. Als Feuerwehrmann, als Anwalt. »Er ist klein für sein Alter«, sagte Will. Priester, Meisterdieb. »Er ist ein guter Junge«, fügte er hinzu. »Du warst dabei, als sie ihn geschnappt haben«, sagte ich. Ein Polizeitransporter sauste mit blinkenden Alarmleuchten und heulender Sirene an uns vorbei. Will nickte. Unser Wagen stand unter einer Straßenlaterne, deren schwefelgelbes Licht uns beiden nicht gerade schmeichelte. »Ich weiß, dass ich dir eine genauere Erklärung schuldig bin«, sagte er. »Dafür, warum wir dieser Frau helfen. Aber das wird warten müssen. Ich will nicht noch mehr Zeit verschwenden.« Ein weiterer Polizeiwagen raste an uns vorbei über die Brükke. »Ich muss zugeben, dass ich ein wenig Angst habe«, sagte ich. »Wo sind die ganzen Leute heute Abend?« Will fasste nach meinem Arm. »Du bist in Sicherheit«, sagte 143
er. »Bei dir bin ich sicher, ich weiß«, antwortete ich. »Die Polizei war nicht gerade hilfreich«, fuhr er fort. »Das sagtest du schon am Telefon.« »Niemand hat den Jungen gefunden, es hat niemand angerufen. Jorie fühlt sich allein schon etwas besser, wenn sie weiß, dass ich hier draußen nach ihm suche.« »Ich verstehe«, sagte ich. »Also. Suchen wir.« Will erklärte mir seinen Plan: Er wollte jeden Ort absuchen, wo sich ein vierjähriges Kind eventuell verstecken könnte – das heißt, jeden Ort in der Nähe von dem, was man als persönliche Orientierungspunkte bezeichnen könnte. Jorie hatte eine Liste der Gebäude und anderer Orte hingekritzelt, wo Nico vielleicht Zuflucht suchen konnte, wenn er womöglich erkannte, wo er war, nachdem die Bande ihn wieder ausgesetzt hatte. Und dann mussten wir auch berücksichtigen, in welche Richtung der Lastwagen davongebraust war und wie weit sie unserer Meinung nach gefahren sein mochten, bevor sie einen Passagier wieder aussetzten, den sie nicht zu weit mitnehmen wollten – es wäre nicht besonders klug, sich von der Polizei an den Straßenrand winken zu lassen, während man sein Entführungsopfer noch an Bord hatte –, und mit diesen Annäherungswerten konnten wir dann ausschwärmen und auch die kleinen Straßen und die Wege in den Parks absuchen … mit anderen Worten, wir würden nach einigermaßen fragwürdigen Kriterien die nächstbeste Straße wählen. Wir hatten wenig Anhaltspunkte, wir fischten in einem großen, trüben Teich. Es wurde zu viel vorausgesetzt, und obwohl ich nicht als Dämpfer wirken wollte, musste ich doch fragen, wie wir denn überhaupt annehmen konnten, dass das Kind ein solches Versteck finden und dort bleiben würde. »Ich glaube, das ist genau das, was ein verängstigtes Kind tun würde«, sagte Will. »Da ziehst du nicht herum. Du suchst dir einen Platz, wo dich niemand sehen kann, und bleibst ganz 144
einfach dort, solange du kannst. Und dann wartest du. Du weinst und wartest.« Prima. Und wenn Fremde ihn gefunden und in ein Krankenhaus gebracht hatten, wo man ihn noch nicht identifiziert hatte, weil der Ausweis, den er sonst immer in der Tasche hatte, herausgefallen war? Was, wenn die Bande in Wirklichkeit ziemlich weit gefahren war, bis weit in die Vororte hinaus? Hatten sie das bei früheren Entführungen nicht auch so gemacht, dass sie viele Kilometer weit fuhren, bevor sie das Kind wieder rausließen? Wie sollten wir Nico im Dunkeln überhaupt sehen? Will hatte nur eine schwächliche Küchentaschenlampe dabei, die höchstens den nächsten Meter in trübes Licht tauchte. Woher wollten wir wissen, ob dem Jungen nicht irgendetwas Schreckliches zugestoßen war? Wir fischten im Trüben, verließen uns laienhaft auf irgendwelche gefühlsmäßigen Spekulationen, und ich hatte schon ein unangenehmes Gefühl, dass es sowieso alles vergeblich war, bevor wir überhaupt mit der Suche angefangen hatten. Will verlor die Geduld. »Du kannst mir die Schlüssel geben und –« »Entschuldige«, sagte ich. »Weißt du nicht mehr, wie man verloren gegangene Katzen wieder findet?«, fragte er. »Du stellst dir vor, wie sie nach Hause kommen«, sagte ich. »Und dann tauchen sie auch schon auf.« »Ganz genau«, sagte er. »Kannst du das für mich tun? Versuch einfach nur, dir vorzustellen, wie wir die Straße entlangfahren und wie der Junge ins Freie tritt, wo wir ihn sehen können.« Ich schloss die Augen. Ich sah einen kleinen, reglosen Körper auf der Straße liegen. Ich sah Blut. Vielleicht war es am besten, wenn ich mir gar nichts vorstellte. Will nahm seinen (meinen) Taschenstadtplan heraus und dirigierte mich den Quai am linken Seineufer entlang. Er würde 145
mir Bescheid sagen, wenn ich anhalten sollte. In seiner Tasche klingelte ein Handy. »Hallo«, sagte er mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Ich bin jetzt mit Pedro unterwegs, wir haben die Brücke gerade hinter uns gelassen – genau. Wie wir besprochen haben.« Das Schalten bereitete mir wieder einige Probleme; der Wagen fiel zurück und machte immer wieder einen Satz nach vorn. Er war tannengrün, im Licht der Straßenlaternen kaum sichtbar, und ich fürchtete, ich könnte ihn abwürgen, und dann würde ein Polizeitransporter um die Ecke kommen, uns nicht sehen und einfach überrollen. Ganz zu schweigen davon, dass ich nicht gleichzeitig Will beim Telefonieren zuhören und fahren konnte. »Denk immer daran, worüber wir gesprochen haben«, sagte er. »Der Junge liebt dich, und er will zu dir nach Hause – verlass dich ganz auf mich, Jorie, bitte. Ruhig. Das darfst du dir nicht antun. Du darfst dir nicht selbst die Schuld geben.« Sein Tonfall irritierte mich, so selbstverständlich, so vertraut, beinahe brüderlich – und wie lange kannte er diese Frau? Sie war eine Fremde, oder etwa nicht? Ich war eifersüchtig und kam mir gleichzeitig kleinlich vor in meinem Neid. »Wessen Handy ist das?«, fragte ich, als er auflegte. Es gehörte der Mutter von Nicos Babysitter. Der Babysitter war jetzt bei Jorie. »Gut«, sagte ich. »Dann ist sie also nicht allein.« »Sie ist nicht allein, aber sie ist allein«, sagte Will. Er wählte eine Nummer. Wir kamen am Krankenhaus Salpêtrière vorbei, das nachts wie ein Gefängnis aussah. Ein Strom von Autos kam wie aus dem Nichts in unsere Richtung gefahren und brachte beim Überholen unsere kleine Tunfischdose zum Schaukeln. Wir kamen an der Gare d’Austerlitz vorbei, einer Schienenweide mit einer schlafenden Herde von Güterwagen. »Wen rufst du an?«, fragte ich. »Die Botschaft«, sagte er. »Allô, oui. Hier ist noch mal Will 146
Law. Ist – ob Sie mich wohl verbinden könnten, und zwar mit –« »Will«, sagte ich. »Wir kommen gleich auf den Périphérique –« »Bieg beim nächsten breiten Boulevard rechts ab«, sagte er zu mir, und dann zu wem auch immer in der Botschaft: »Ich kann warten.« »Du nutzt deine Verbindungen«, sagte ich. »Die, die ich habe. Die Polizei ist überfordert«, sagte er. »Wir brauchen einen Konsul, der einschreitet und Nicos Fall irgendwie zur Priorität macht. Offen gesagt bin ich nicht sicher, dass irgendjemand da –« Er wandte sich wieder seinem Telefongespräch zu, ohne viel Erfolg, nach dem, was ich hören konnte. Er klappte sein Handy zu. »Du bist ein Jahr raus, und schon ist es, als hättest du nie mitgespielt«, sagte er. »Ich habe den Wechsel verpasst. Ich dachte, ich hätte einen Freund hier in Paris, und jetzt sagen die mir, er wäre inzwischen in Neu-Delhi.« »Du musst doch noch andere Kontakte haben«, sagte ich. »Sollte man meinen. Ich habe gelogen und behauptet, das verschwundene Kind sei Amerikaner, aber selbst da haben sie mir gesagt, wir müssten bis zum Morgen warten.« »Wieso gelogen?«, fragte ich. »Ist der Sohn einer amerikanischen Staatsbürgerin nicht automatisch auch amerikanischer Staatsbürger?« »Nico ist nicht Jories Sohn«, sagte Will. Er erklärte mir die Zusammenhänge. Nico und Luc. Luc und Jorie. Jorie und Nico. »Verstehe«, sagte ich. Als Nächstes wollte Will bei dem mit dem Fall beauftragten Inspektor nachfragen und sprach kurz mit jemandem, der offenkundig nicht der Inspektor war und der wenig mehr getan hatte, als die Tagesmeldungen zu verfolgen. »Der Inspektor ist für heute Abend nach Hause gegangen«, sagte er und steckte das Handy ein. »Ich glaub’s nicht. Diese 147
ganzen Kinder sind weg, und der sitzt da, schlürft seinen Whisky und sieht sich Fußballwiederholungen an.« Ich stellte das Radio an, und irgendwann kamen Nachrichten, eine unbestätigte Meldung: Von dem Dutzend in Paris verschwundener Kinder waren zwei Mädchen wieder gefunden worden, lebend; das eine war unverletzt, das andere aber hatte ein gebrochenes Handgelenk. Will setzte sich auf dem Beifahrersitz auf. »Das ist ermutigend«, sagte er. »Hört sich an, als hätten die Gangs die Kinder ausgesetzt.« »Wir wissen nicht, wie sie gefunden wurden«, sagte ich. »Nimm die Rue Nationale«, sagte Will. »Dann rechts in die Rue de Tolbiac. Nico ist anscheinend häufig hier. Sein bester Kindergartenfreund wohnt hier.« Wir waren eine ganze Strecke in südlicher Richtung in das Arrondissement hineingefahren. Die mehrstöckigen Wohnhäuser sahen alle gleich aus, die Dächer bildeten eine Linie, die hohen Eisenbalkons schlossen sich zu einem adretten Band zusammen, wie eine dunkle Schleife um ein elegant verschnürtes Geschenkpaket. »Hier abbiegen und dann gleich wieder rechts«, sagte Will. Die Seitenstraße war dunkler, ohne Steigung. Ich konnte den Fuß vom Gas nehmen und den Wagen den gesamten Block ausrollen lassen. »Hier wohnt sein bester Freund?«, fragte ich. »Genau. Noch einen Block weiter. Da, auf der linken Seite.« »Und Nico würde sich hier zurechtfinden«, fuhr ich fort. »Wahrscheinlich.« »Im Dunkeln.« »Pedro«, sagte Will warnend. Wir hielten vor einem schmalbrüstigen Wohnhaus, das von zwei breiteren Gebäuden flankiert wurde. Will musterte sich im Seitenspiegel und strich sich das Haar mit den Fingern zurück, als ginge er zu einem Vorstellungsgespräch. Er stieg 148
aus dem Auto, aber ich blieb hinter dem Steuerrad sitzen. Er stieg wieder ein. »Pedro?«, fragte er. »Ich weiß, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, darüber zu reden«, sagte ich. »Aber ich war so weit, Ja zu sagen.« »Ja«, wiederholte er. »Ich tue, was immer du willst, gehe, wohin du willst«, sagte ich. Dieses Gelöbnis hatte ich ursprünglich nach meinem Zusammenstoß mit den Straßenjungen abgelegt, und jetzt klang meine Stimme in meinen eigenen Ohren fremd; aber ich wog mein Leben in New York, so bequem und geschäftig und so zielstrebig, wie es allerdings gewesen war, gegen ein Leben mit Will auf, ein unbekanntes Leben, denn tatsächlich würden wir beide einen neuen Anfang machen, und Leidenschaft gab den Ausschlag. Leidenschaft, ein seltener Impuls – Erinnerung: Als wir auf dem College waren, pflegten wir im Bett zu liegen und immer wieder an einer gemeinsamen Fantasie herumzufeilen, wie wir eines Tages ein Café oder ein kleines Hotel in irgendeinem fernen Land führen würden – wo genau, dafür konnten wir uns nie entscheiden –, einen Treffpunkt für Exilanten, zu dem die Weltmüden dieser Erde immer wieder zurückkehren und sich jedes Mal wieder zu Hause fühlen konnten. Longdrinks auf der Veranda bei Sonnenuntergang; der Mann am Klavier spielt schmerzlich süßen Jazz bis zum Morgengrauen. Die Reisenden würden kommen und gehen, aber unser Außenposten würde immer da sein, ein Fixstern in einer entropischen Galaxie. Will ließ die Schultern hängen. Er sah starr auf das Handschuhfach, dann auf mich. Dann streckte er die Hand nach mir aus, fasste mich am Jackett, zog mich zu sich heran und gab mir einen betont festen Kuss. Jede Eifersucht, die ich dieser Frau gegenüber empfunden hatte, dieser Fremden, der wir halfen, verpuffte in diesem Augenblick. 149
»Ich habe die Schlüssel von meinem Freund geholt«, sagte ich. »Dem Freund mit dem Haus auf dem Land.« »Wenn das alles hier vorbei ist, fahren wir dorthin«, sagte Will. »Wir können überallhin gehen«, sagte ich. »Übrigens ist das hier sein Auto«, fügte ich schuldbewusst hinzu. Wir suchten die Straße mit den Augen ab. Unter dem abgenutzten Belag kam stellenweise Kopfsteinpflaster zum Vorschein. Regenwasser rauschte in einem unaufhörlichen Strom in den Gulli. Zwei Frauen überquerten im Licht unserer Scheinwerfer die Straße und verschwanden im Haus von Nicos Freund. Wir gingen die ganze kurze Straße ab und sahen hinter Mülltonnen und in den Hohlräumen unter einigen Eingangsstufen nach. Will drückte auf eine Klingel und stellte sich über eine Gegensprechanlage vor; eine Frau kam herunter. Ich beobachtete das Gespräch aus einem halben Block Entfernung. Die Frau hielt die Hand vor den Mund. Sie folgte Will die Stufen zur Straße hinunter und sah sich gemeinsam mit ihm um. Dann schüttelte sie den Kopf: Aucune idée. Die Frau rief sogar laut nach Nico. »Nicolas. Viens ici. Maintenant. Tu viens. Nico?« Wieder im Auto, suchten wir die gesamte Gegend ab. Wir müssen ausgesehen haben, als wäre uns das Benzin ausgegangen und wir würden es nun mit gelegentlichem Fußantrieb versuchen. Will hielt den Lichtkegel seiner Taschenlampe dicht am Boden, und er gab die Richtungen an, obwohl das gargantueske mausoleumähnliche Gebäude vor uns, die nur ein kurzes Stück entfernte neue Nationalbibliothek, auf meinem veralteten Stadtplan noch nicht verzeichnet war und wir ständig nach Straßen suchten, die gar nicht mehr existierten. Wir arbeiteten uns nach Norden und Westen vor, wieder auf den Fluss und die Innenstadt zu, überprüften jede Straßenein150
mündung, sahen in den kleinsten Winkeln nach, in den Eingängen geschlossener Geschäfte, den Seiteneingängen von Cafés. Einige Male sprangen wir hinaus, überholten eine vereinzelte Person auf dem Gehweg, und wenn der Mann oder die Frau stehen blieb, um mit uns zu reden, zeigten wir ihm oder ihr Nicos Foto; aber es war alles zwecklos, niemand hatte ihn gesehen. »Irgendwie kommt es mir so vor, als müssten diese Kerle weiter rausgefahren sein als nur bis hier«, sagte Will. »Es ist nur so ein Gefühl, aber –« »Ich bin deiner Meinung«, sagte ich. Ich weiß nicht, warum ich ihm eigentlich zustimmte, aber nachdem wir erst einmal eine Stunde gesucht hatten, stand ich unserer Aufgabe inzwischen weniger zurückhaltend gegenüber. Wir konnten nach dem Jungen suchen, und wenn es nur um das Suchen ging, und wenn ihn ein Fremder wieder nach Hause brachte, auch gut. Die Mission selbst schmiedete uns zusammen. Zu meiner eigenen Überraschung war ich derjenige, der unserer Strategie eine neue Wendung gab. »Wenn wir den Fluss überqueren und uns im Zwölften umsehen –« »Es gibt eine Adresse im Zwölften auf Jories Liste«, sagte Will. »Wir können wieder am Stadtrand anfangen und uns nach innen vorarbeiten.« »Nimm die nächste Brücke«, sagte Will. Ich fuhr an den Straßenrand und nahm den Gang raus. Dabei rutschte mein Fuß von der Kupplung, und der Wagen machte wieder einen Satz. »Kannst du das Steuer übernehmen?«, fragte ich. Die neue Verteilung war mir sehr viel lieber; Will kannte sich gut mit Schaltwagen aus, und ich war offen gesagt der bessere Kartenleser. Ich wusste, dass es dringend war, was wir da machten, und dass wir in der Nacht nicht sicher sein konn151
ten, und trotzdem wurde mir plötzlich bewusst, dass ich den Augenblick genoss. Denn da waren wir, Liebende, die im hohen Tempo durch die Nacht fuhren, nur wir zwei, schweigend und von der Außenwelt abgetrennt. Wir hätten genauso gut eine schnurgerade, lindenbestandene Straße in Richtung New York brausen können, auf der Rückfahrt von einem Beutezug bei den Antiquitätenhändlern upstate. Oder auf einer schmalen Zufahrtsstraße, die notdürftig irgendeine felsige Halbinsel mit dem Festland von Maine verband. Ein Beifahrer drückte sein Vertrauen in den Fahrer durch Schweigen aus, und der Fahrer war sich seiner Verpflichtung, die Fahrt sicher zu beenden, stets bewusst – man multiplizierte diesen Pakt mit dem Exponenten Intimität, und es kam ein Ritual zum Vorschein. Egal, wohin wir fuhren, ich wollte nie wirklich, dass wir unser Ziel erreichten, damit diese freudige Spannung erhalten blieb. Der Friede, den ich empfand, war jedoch nicht von Dauer; wir kamen in eine neue Wohngegend weit im Zwölften in der Nähe des Bois de Vincennes, und nachdem wir in die Hauptavenue eingebogen waren, kam mir die Stadt kälter vor, kahl, zerstört: Neben uns tauchten Bäume auf, die in Brand gesetzt worden waren. »Was ist da los?«, fragte ich. Wir waren in einen Teil der Stadt geraten, der von Immigranten bewohnt wurde, und in jedem Block waren einer oder mehrere Bäume entweder bereits abgebrannt und rauchten jetzt nur noch, oder sie brannten noch lichterloh, knisterten in den Flammen und knickten ein wie eine welke Blume. Der Anblick war auch deshalb so gespenstisch, weil wir niemanden sahen, der das Feuer einzudämmen versuchte, und natürlich auch niemanden, der es legte. »Das Brot im Fluss hatte etwas zu bedeuten«, sagte ich. Ich hörte näher kommende Sirenen. »Aber was bedeutet das hier?«, fragte ich. »Vorsicht –« 152
Von einer Platane knickte ein lodernder Ast herunter und krachte auf die Straße. Er landete direkt auf einem geparkten Wagen und setzte ihn in Brand. Wir machten auf der Stelle kehrt, aber als wir wieder auf dem Boulevard waren, sahen wir uns einer kompletten Doppelreihe brennender Bäume gegenüber – das musste es gewesen sein, was ich vorhin vor den Tuilerien gesehen hatte, brennende Bäume –, allerdings hielten jetzt endlich ein Löschfahrzeug und eine gehetzte Feuerwehrmannschaft ihre Schläuche auf die herunterbrechenden Zweige gerichtet. Jetzt sahen wir auch mehr Pariser herumlaufen, ganz aufgeregt über die Brandstiftung und darüber, dass einige der brennenden Bäume sehr dicht an Wohnhäusern standen. Und jetzt entdeckten wir auch einen verdächtigen Haufen junger Männer, als wir eine enge, gebogene Straße entlangfuhren. »Links, links, links«, rief ich. »Pedro«, sagte Will. »Links und dann rechts, schnell«, sagte ich. »Beruhige dich.« »Siehst du sie nicht, die Bande? Sie kommen hierher.« Einer von ihnen ließ seinen Schlagstock auf einen Briefkasten niedersausen. Ein anderer sprang zu einem Straßenschild hoch, blieb in der Luft hängen und versuchte es mit seinem Gewicht herunterzureißen. Sie brauchten irgendetwas – oder jemanden –, das sie kaputtmachen konnten. Will fuhr, wie ich gesagt hatte, aber sobald wir außer Sichtweite waren, blieb er stehen. »Du darfst dir von ihnen keine Angst einjagen lassen«, sagte er. »Du hast leicht reden«, sagte ich, »an dir sind sie nicht interessiert. Ich dagegen – ich bin heute Nacht schon mal gejagt worden.« »Was meinst du mit gejagt?«, wollte er wissen. Ich erzählte es ihm. Vielleicht schmückte ich meine Erzäh153
lung ein wenig aus, dichtete ein paar böse Jungs mehr hinzu und beschrieb eine Verfolgungsjagd, die in Wirklichkeit nur eine ganz kurze Strecke gedauert hatte. Ich merkte, dass ich zitterte. Will legte mit festem Griff die Hand auf mein schlotterndes Knie. »Wer ist sie, Will, wer ist diese Frau, dass du das hier machst, uns mitten in der Nacht hier herumkurven lässt? Wer, Will? Ich komme mir vor wie ein Schwein, dass ich dich das frage. Aber was bedeutet sie dir?« Will ließ einen Moment die Hand auf meinem Knie, bis wir wieder losfuhren. »Du begegnest einer Fremden«, sagte ich, »und ihr habt viel gemeinsam – wie oft passiert dir das?« Er nickte wieder. Als er schließlich sprach, war er kaum zu verstehen. »Sie ist wie die Typen, mit denen wir herumgehangen haben, Pedro. Früher mal. Ich weiß noch, dass du mal gesagt hast, du mochtest uns, weil wir Nomaden seien.« Ein verstreuter Stamm. Ein Volk ohne Nation. »Aber sieh dir an, was aus uns geworden ist«, sagte Will. »Ist es immer noch romantisch?« Will Law war der Einzige aus unserem Freundeskreis, der in den diplomatischen Dienst eingetreten war, aber das hielt die anderen nicht davon ab, weiterhin ein Leben in ständiger Bewegung zu führen. Ich hatte so gut wie alle aus der Gruppe aus den Augen verloren, genau wie Will, aber wir wussten aus der Ehemaligenzeitung oder auch von den Gerüchten, die uns über die Jahre erreichten, dass mit Ausnahme von einem oder zweien im Grunde noch keiner von ihnen ein bürgerliches Leben führte. »Es hat nichts Romantisches mehr für mich«, sagte ich, »aber es ist auch nicht gerade tragisch.« »Da irrst du dich«, sagte Will. »Tragisch ist ein zu starkes Wort, aber Pedro, es ist kein Spaß, wenn man Heimweh nach 154
einem Zuhause hat, von dem man nicht weiß, wo es liegt. Wenn du zwanzig bist, kommst du dir dabei abgeklärt vor, und cool, da stimme ich dir zu. Aber mit dreißig ist es zutiefst verunsichernd.« Fühlte Will sich auch so? Ich fragte ihn, aber er gab mir keine Antwort. Wir hielten vor etwas, das wie eine kleine Stadtvilla aussah. Es stand ein wenig von der Straße zurückgesetzt und war von einer glatten Mauer umgeben; eigentlich konnten wir von dem ganzen Gebäude nur das Dach sehen. Das war Nicos Kindergarten. »Jorie hat aufgehört herumzuziehen«, sagte Will. »Sie hat etwas gefunden. Jemanden. In Luc. Ein Leben, eine Familie – sie hat sich glücklich gemacht. Nico ist ihr Ein und Alles.« Wir saßen einen Augenblick lang schweigend da. »In letzter Zeit hatte sie Schwierigkeiten mit dem Vater des Jungen. Sie lieben sich nicht mehr, das ist eindeutig. Sie könnte alles verlieren.« »Sie muss ihren Jungen zurückhaben«, sagte ich. »Ich weiß.« Ich brauchte Jorie Cole nicht begegnet zu sein, um zu verstehen, wie ängstlich und verzweifelt sie war. Will war es, den ich begreifen wollte, und es gelang mir nicht. »Es tut mir Leid«, sagte ich. »Du bist ein guter Kerl, der gerne hilft, so warst du schon immer. Darauf hat man dich trainiert, oder nicht?« Will zwinkerte mit den Augen. Ich wusste nicht, wie ich ihn verstehen sollte. Als ich aus dem Auto stieg, löste sich die Karte des Zwölften aus der Bindung meines Taschenstadtplans und landete in einer Pfütze. Die Seite war die Rettung nicht wert. Will richtete die Taschenlampe auf den Haupteingang in der Mauer, ein perfekter Eisenverschluss, und die Mauer selbst war zu steil, als dass der Junge hätte hinüberklettern können. Wir folgten ihrem Verlauf um den ganzen Block herum und fanden 155
einige vorzügliche Verstecke – unter einer eingelassenen Bank, hinter einer Vogeltränke –, aber alles, was unsere Suche zu Tage förderte, war eine rätselhafte Plastiktüte voller Münzen und einem ungeöffneten Beaujolais-Verschnitt. Wir gingen weiter auf die hintere Seite der Krippe, und nun konnte ich das Anwesen in seinem ganzen Ausmaß erfassen; es war ein reich verziertes Haus mit einem nicht entzifferbaren Fries und halb verwelkten Blüten als Kapitelle: Alles in allem sah der Bau mehr wie ein Opernhaus aus als nach einem Kindergarten. Von der Hinterseite her folgten wir stillen, noch nicht in Brand gesteckten Wohnstraßen; und wieder begegneten wir keiner Menschenseele. »Nico«, rief Will. »Nico«, echote ich. Niemand, nichts. Wir gingen die Gasse entlang und sahen hinter Abfalleimern nach; Will ging auf alle viere und leuchtete mit seiner Taschenlampe in einen offenen Gulli. »Nico«, brüllten wir. Unsere Stimmen kamen in einem verzerrten Echo zu uns zurück. Auf diese Art arbeiteten wir uns in konzentrischen Kreisen vom Kindergarten weg, immer weiter, während wir versuchten, wie ein Vierjähriger zu denken. Eine Straße ergoss sich in die nächste. Dann gingen wir zweimal dieselbe Strecke ab, bevor wir einen neuen Weg fanden. Schließlich verliefen wir uns völlig und hatten, ohne Stadtplan von diesem Viertel, einige Mühe, zum Kindergarten und zu unserem Auto zurückzufinden, aber wir schafften es. Dann fuhren wir wieder. Wir kamen in eine neue Gegend, stiegen aus und suchten zu Fuß weiter. Jetzt waren wir wieder so weit, dass wir Nicos Namen in die Dunkelheit riefen. Der Wind blies uns ins Gesicht und verhinderte, dass unsere Stimmen sehr weit trugen. Bei einigen Gebäuden gelangten wir in die Innenhöfe, ohne dass jemand den Summer drücken musste, und wenn wir einem Bewohner 156
begegneten, zogen wir Nicos Foto heraus und wurden mit einem Nicken – ja, von den vermissten Kindern habe ich gehört – und gleich darauf einem Schulterzucken bedacht – aber nein, das Kind da habe ich nicht gesehen. Nicht lange, und es war halb elf in einer immer trostloser werdenden Nacht. Die Avenue Diderot brachte uns der Seine entgegen, die Avenue Ledru-Rollin wieder von ihr fort. Inzwischen arbeiteten wir uns ins n. Arrondissement hinein und weiter hindurch. Wir waren von unserem Plan abgekommen, obwohl keiner von uns es zur Sprache brachte. Wir suchten ohne bestimmtes Ziel. Will rief Jorie an, um ihr hoffnungsvoll zu berichten, dass es nichts zu berichten gab, aber der Akku vom Handy wurde immer schwächer, und er hielt das Gespräch kurz. Er sagte mir, ihre Verfassung sei unverändert; sie hatte dieselben Nachrichten gehört wie wir auch, über die beiden zurückgekehrten Kinder, das ließ sie weiter hoffen. Auf der wie immer betriebsamen Place de la Nation waren mehr Leute unterwegs, aber schon wenige Blocks weiter war kein Mensch mehr. An einer Kreuzung sahen wir eine kleine Person über die Straße laufen, nur wenige Meter von uns entfernt, ein Kind, ein Junge – und Will trat die Bremse durch. Ich sprang als Erster hinaus, dann Will – die Wagentüren sprangen auf wie die Schwingen einer dahingleitenden Krähe. Wir liefen hinter dem Kind her, aber bis wir die kurze Straße erreicht hatten, in die es eingebogen war, war es nicht mehr da, weg. Ich übernahm die Straße, Will lief um die Ecke. »Nico«, rief er. »Nico«, sagte ich. »Wir sind hier, um dich nach Hause zu bringen.« Das Kind war uns entwischt. »Verdammt«, sagte Will. »Glaubst du wirklich, dass er es war?«, fragte ich, als wir 157
wieder im Auto saßen. Will zögerte, aber sagte dann Nein. »Ich auch nicht«, fuhr ich fort. »Du sagtest doch, Nico sei klein für sein Alter. Der Junge eben sah pummelig aus.« »Nicht pummelig genug, um uns nicht zu entkommen.« Wir suchten unter dem breiten Vordach eines Kaufhauses. Wir kontrollierten die Rückseite eines Kinos. Eine Laderampe. Die Außentische einer Brasserie. Die grünen Kioske und Zeitungsstände. Die irgendeinem Republikaner gewidmeten Eckparks. Wir schlichen die Straßen im Schatten der Bastille ab, eine Suche um des Suchens willen, mehr nicht. Wir kamen um die Ecke in eine neue Straße und sahen eine Reihe von Silhouetten auf uns zukommen. »Umar«, rief ein Mann. »Umar«, schrien zwei Frauen. In die Nacht hinaus, mit lang gezogener erster Silbe und kurzer zweiter: Uuuh-mar. Uuuh-mar. Die Gruppe bestand aus insgesamt sieben Erwachsenen. Als sie herangekommen waren, rang uns eine Frau, die ein Tuch um den Kopf und eines um den Hals trug, ihre behandschuhten Hände entgegen und fragte uns – flehte –, ob wir einen kleinen Jungen namens Umar gesehen hätten. »Wir suchen nach einem, der Nico heißt«, sagte Will. »Nicolas Chamoun«, sagte ich. »Wir haben keine kleinen Jungen gesehen«, sagte die Frau. »Wir suchen nach meinem Neffen Umar.« »Wir werden uns auch umsehen«, sagte ich. »Haben Sie etwas von anderen Kindern gehört?«, fragte die Frau. »Nicht wirklich«, erwiderte Will. »Wir haben nur die Radioberichte gehört.« Die Frau zog ein Tuch vor dem Kinn herunter. Der Rest der Gruppe kämmte weiter die Straße ab, mit besonderem Augenmerk auf eine Bushaltestelle. 158
»Umar«, rief einer von ihnen. »Ein paar von den Kindern sind gefunden worden«, sagte die Frau. »Wer? Wissen Sie, wer?«, fragte ich. Der Mantel der Frau wurde zurückgeweht, so dass ein Krückstock zum Vorschein kam. »Wir haben nur Gerüchte gehört«, sagte sie. »Ein kleines Mädchen.« »Es sind vorher schon zwei Mädchen gefunden worden«, sagte Will. »Vielleicht war es eins davon«, meinte die Frau. »Sie hatte sich hinter der Opéra Garnier versteckt. Sie war verängstigt und fror, aber das war alles.« »Sonst noch jemand?«, fragte ich. »Es sind nur Gerüchte«, sagte die Frau. Jetzt sah ich, dass ihr Krückstock kein Krückstock war, sondern ein Paddel, ein kleines Ruder. »Ein Junge im Neunzehnten«, sagte die Frau. »Im Neunzehnten«, sagte ich. »Wirklich?« Will fragte, ob sie sonst noch etwas wüsste. »Nur dass er nicht so viel Glück gehabt hat. Ein gebrochener Arm. Oder ein Bein – ich bin nicht sicher.« Will rief wieder bei der Polizei an und versuchte, etwas Neues zu erfahren. »Uuuh-mar«, rief die Gruppe. »Ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte Umars Tante und ging wieder zu ihren Leuten zurück. »Wie ich höre, ist der Junge, den Sie gefunden haben, im 19. Arrondissement aufgegriffen worden. Können Sie mir sagen, ob es Nicolas Chamoun war?«, fragte Will. Die Gruppe, die nach dem kleinen Umar suchte, verschwand um die Ecke, und ihr Rufen verebbte. »Verstehe, trotzdem vielen Dank«, sagte Will und legte auf. »Nein?«, fragte ich. 159
»Nico«, rief er verzweifelt. »Komm schon, Nico. Wo bist du?« Wieder im Auto, wurde es Will allmählich unbequem hinter dem Steuer. Anders als bisher hatte er plötzlich Schwierigkeiten beim Schalten vom zweiten in den ersten Gang. Er war zu groß für Didiers Auto. Es war, als hätte er sich einen Pullover gekauft, den er erst einmal ausdehnen musste. Wir achteten nicht mehr auf die Liste mit den Punkten, die der Junge vielleicht wieder erkennen würde; wir grasten jede Straße ab. Wenig später trafen wir auf einen anderen Suchtrupp. Einer weiteren Straßenbande gingen wir aus dem Weg. Uns fiel auf, dass in den nördlichen Stadtvierteln mehr Polizei unterwegs war. Wir stießen auf noch mehr brennende Bäume. Mal durchquerten wir ein komplettes Viertel, ohne ein einziges Feuer zu sehen, aber dann standen wir plötzlich wieder vor einer großen, in Flammen erblühten Eiche. Schließlich sahen wir eine Gruppe von Leuten – wir waren zu weit entfernt, um sagen zu können, ob es eine Straßenbande war –, die einen stattlichen Kastanienbaum in Brand setzte. Sie gossen Benzin um den Stamm, warfen ein Streichholz darauf und waren schon wieder verschwunden. Ich will nicht übertreiben und ein Bild von einem Paris beschreiben, dessen sämtliche Bäume in Flammen aufgingen, aber so sah es langsam für mich aus. Die Ahornbäume und die Eiben. Wir kamen an einer lodernden Pappelreihe vorbei, und mir fiel auf, dass sich ihre Flammen zu gespenstisch zarten Leuchtsäulen mit langen Rauchschwaden entwickelten, die sich wie in Stufen auf die verdunkelten Sternbilder zubewegten. Für mich war die Pappel schon immer die Krönung aller Bäume gewesen, elegant in der Form und bedächtig bei jedem Wind. Sie zerstört zu sehen machte mich besonders traurig. Die meisten Bäume waren feucht, was viele vor mehr als einem kurzen Aufzündeln bewahrte, aber gegen Mitternacht wurde der Wind noch heftiger, so dass die Bäume, wenn sie erst brannten, nur kurz aufloderten und kurz darauf 160
verloren waren. Ich glaube, wenn wir uns mitten in einem tobenden Aufstand mit allem, was dazugehört, befunden hätten, inklusive Plünderern und Eingreifen des Militärs, hätte ich mich merkwürdigerweise irgendwie mit der Tatsache getröstet, dass die Gewalt so oder so ihren Höhepunkt erreicht hatte und zwangsläufig wieder abflauen musste. Stattdessen bewegten wir uns durch eine schwelende Atmosphäre. Wir wurden nicht etwa im Eiltempo durch die Handlung getragen, mit einer berechenbaren Abfolge der Kapitel; wir konnten nicht auf eine baldige Auflösung bauen. Es war beunruhigend. Wir kamen an einem Mann vorbei, der seinen Zeitungsstand mit dem Gewehr verteidigte. Einem Trupp Polizisten mit weißen Helmen auf dem Kopf. Einem alten Mann, der seinen Mantel fest um den gebrechlichen Körper schlang und einen geöffneten Schirm über sich hielt, dessen Stangen vom Wind umgestülpt wurden. Einer Frau, die rauchend in einem geparkten Auto saß, alle Fenster verschlossen und der Rauch im Inneren so dick, als wollte sie sich ersticken. Irgendwann trafen wir auf einen Jungen – ich schätzte ihn ungefähr auf zehn –, der weinend mitten auf einer Straße stand, und weil er und ich etwa den gleichen Teint hatten, nahm ich an, dass er entführt worden sein könnte. Will und ich stiegen aus dem Auto. Wir gingen sehr vorsichtig vor. »Ist alles in Ordnung? Bist du von einer Bande entführt worden?«, fragte ich ihn. Er machte einen Schritt zurück. »Sollen wir dich nach Hause bringen?«, fragte Will. Er trat wieder zurück und stieß gegen einen Laternenpfahl. »Wir tun dir nichts. Lass uns dich nach Hause bringen«, sagte ich. »Ich muss meinen Vater finden«, rief der Junge. »Meine Mutter ist sehr krank. Mein Vater, er ist weggegangen. Ich muss ihn finden, ich muss.« 161
Dann lief er die Straße hinunter und verschwand. Es war eine Nacht der Dramen, ein kunstvolles Gebilde, ein Handlungsstrang bedingte den nächsten – soviel war mir jetzt klar –, und während ich die Häuser ringsum mit den Augen absuchte, registrierte ich für die späte Stunde ungewöhnlich viele erleuchtete Fenster, helles Licht hinter Vorhängen, und fragte mich, wie der Tag wohl mit dem Durchschnittsbürger umgegangen war, wie er für die gewesen war, die kein vermisstes Kind kannten, die keinen brennenden Baum gesehen hatten oder morgens nicht einmal am Fluss unten gewesen waren – welche Streitigkeiten hatte der Tag gebracht, wie viel Trinken, um zu vergessen, wie viel Drogenkonsum als Medizin gegen die Desillusionierung, welche Angst, welche Gefühle der Isolation, wie viel Schwermut war gewaltsam erzeugt worden? Es war unmöglich, von einem solchen Tag unberührt zu bleiben. Mitternacht. Wir fuhren zum Pont de Sully zurück. Will fuhr bis zur Hälfte der Brücke. Er umfasste das steinerne Geländer. Ich ließ ihm einen Moment Zeit, bevor ich ihm folgte. »Sie sind einfach so angekommen«, sagte er. »Haben ihn geschnappt wie einen Ball nach einem Fehlpass und sind mit ihm fort.« Der Wind peitschte den Fluss gegen den Quai unter uns. »Wir können weiter nach ihm suchen«, sagte ich. »Ich lasse Jorie im Stich«, sagte er. »Wir verlieren nichts, wenn wir nach ihm suchen.« Will nahm sein Handy heraus. Er begann eine Nummer zu wählen, brachte sie aber nicht zu Ende. »Pedro, könntest du mit ihr reden?« »Mit Jorie?«, fragte ich. »Aber wir kennen uns doch gar nicht.« »Ich bin kein guter Lügner«, sagte er. »Dann sag die Wahrheit.« »Bitte?« 162
Er wählte die Nummer zu Ende. »Allô«, antwortete eine Frauenstimme nach dem ersten Freizeichen. »Jorie? Hier spricht Pedro Douglas. Ich bin hier bei Will.« Und so lernte ich sie kennen, über das Telefon. Ich sagte ihr, dass Will mich gebeten habe, mit ihr zu reden, weil er sich gerade mit ein paar Polizisten auseinander setzen müsse (eine Lüge schien taktvoller), und ich sagte ihr, dass wir während unserer Suche von dem entführten Jungen gehört hatten, der nach Hause gekommen war. »Mein Babysitter ist eingeschlafen«, sagte Jorie. Ich weiß nicht, was ich nach dem wenigen, was Will mir von ihr erzählt hatte, erwartete – eine rauchige Stimme, einen trällernden Sopran? »Dann sind Sie ganz allein«, sagte ich. »Das tut mir Leid.« »Die Nachbarn kommen runter und klopfen an der Tür, Leute, mit denen ich nie spreche. Sie sind betroffen, das ja, aber sie verurteilen mich.« »Das tun sie sicher nicht –« »Sie haben vollkommen Recht damit.« Unter den gegebenen Umständen klang ihre Stimme erstaunlich freundlich. »Wir sind unterwegs. Und wir werden nicht aufhören, bis wir den Jungen gefunden haben«, sagte ich. »Können Sie Will etwas von mir ausrichten?« Ich sah ihn an. »Sagen Sie ihm, dass ich beschlossen habe, Luc in Nigeria anzurufen«, sagte Jorie. »Sie haben Luc angerufen«, sagte ich. Will stöhnte. »Ich habe nicht mit ihm gesprochen. Er ist nicht erreichbar. Aber ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen, dass er mich anrufen soll.« »Und er hat noch nicht zurückgerufen«, sagte ich. 163
»Das hat er nicht, nein. Ich möchte, dass Sie wissen, wie dankbar ich bin für das, was Sie tun, Sie und Will. Bitte, suchen Sie weiter.« »Wir rufen bald wieder an«, sagte ich. »Und dann haben wir gute Nachrichten«, fügte ich hinzu. »Das hoffe ich«, sagte Jorie. »Ich hoffe es.« Ich gab an Will weiter, was sie gesagt hatte, und er stöhnte wieder. »Was ist falsch daran, den Vater des Jungen wissen zu lassen, was passiert ist?«, fragte ich. »Sie hätte ihn nicht anrufen sollen«, sagte Will. »Weil sie Schwierigkeiten mit ihm hat? Oder meinst du, sie sollte ihn nicht beunruhigen, wo er so weit weg ist? Er hat ein Recht, Bescheid zu wissen, auch wenn er nichts tun kann.« »Es ist komplizierter, als du denkst. Jetzt wird Luc erfahren, was passiert ist, und nach Paris zurückkommen. Und wenn wir den Jungen finden –« »Irgendwie entgeht mir was«, sagte ich. Will ging wieder zum Auto zurück. »Will, was verschweigst du mir?« Ich fügte mir zusammen, was mir gesagt worden war, und konnte mir denken, dass es um das Sorgerecht ging, aber sonst verstand ich überhaupt nichts. Also erzählte Will mir von Jories Elend, ihrer verzwickten Lage, ihrem Plan, ihrer Flucht. »Versuch gar nicht erst, es zu verstehen«, sagte Will. »Es ändert nichts an der Tatsache, dass ein kleiner Junge verschwunden und in Gefahr ist.« »Aber du bist auf ihrer Seite, oder nicht? Du kennst diesen Luc nicht, und du kennst Jorie auch nicht. Trotzdem bist du damit einverstanden, dass sie mit dem Jungen weglaufen wollte.« Wir fuhren ein paar Blocks ins Quartier Latin hinein. »Ich weiß nicht, was du dir eigentlich denkst«, sagte ich. Will hielt am Straßenrand hinter einer Polizeistreife. 164
»Ich denke, wir sollten die Gegend hier zu Fuß absuchen«, sagte er. »Über Jorie.« Er kratzte sich an der Stirn. Dann starrte er die Rue Jussieu entlang auf das Betonviereck aus Universitätsgebäuden hinter uns. Ein Polizist kam zu dem Streifenwagen zurück. »Es kommt nicht darauf an, was ich denke«, sagte er. »Wir finden den Jungen. Das ist alles. Wir finden den Jungen, und dann tut sie, was sie tun will.« Ich nickte. Tief im Innern glaubte ich auch, dass er Recht hatte: Erst mussten wir den Jungen heil zurückbringen. Dann konnten wir immer noch darüber reden, was hier richtig und moralisch war. Der Polizist blendete uns kurz mit seiner Taschenlampe. Will kurbelte das Fenster herunter. »Meine Herren«, sagte er. »Wir suchen nach einem der vermissten Kinder«, erklärte Will. »Ah, oui«, sagte der Polizist. »Moi aussi.« Wir stiegen aus dem Auto. Der Polizist war ein großer Mann, größer als Will, mit einer leicht gebogenen Nase, die an der Spitze ein wenig nach links verzogen war. »Wir suchen nach Nicolas Chamoun«, sagte ich. Der Polizist ging eine auf seinem Armaturenbrett angeklemmte Liste durch. »Gehört er zu den als vermisst Gemeldeten?«, fragte er. »Ja«, sagte Will. »Haben Sie seinen Namen nicht auf Ihrer Liste stehen?« »Wir haben seinen Namen«, sagte der Polizist. An den dunklen Halbmonden unter seinen Augen konnte man ablesen, wie müde er war. »Nach wem suchen Sie?«, fragte Will. »Folgen Sie einer bestimmten Spur?« Der Polizist lehnte sich an den Kühler seines Streifenwagens. 165
»Es ist furchtbar. Ich kenne einen der Jungen, wissen Sie. Er gehört zu einer dieser Straßenbanden. Vierzehnjahre alt, höchstens fünfzehn.« »Ein Informant«, sagte Will. »Er hat mir gesagt, wo ich ein Mädchen finden könnte.« »Wo?«, fragte ich. »Nicht da, wo er gesagt hat. Ich furchte, dass dieses Mädchen – sie heißt Yasmine –, ich fürchte, dass sie an diesem Ort war, und jetzt ist sie von dort verschwunden.« »Was war das denn für ein Ort, wo sie das Mädchen angeblich gelassen haben?«, fragte Will. »Können Sie uns das sagen? Es wäre vielleicht hilfreich, wenn wir wüssten, nach welcher Art von Orten wir suchen sollten –« »Es ist zu grausam«, sagte der Polizist. Zu grausam, es uns zu erzählen, oder zu grausam, was die Bande angeblich mit dem Mädchen gemacht hat? Der Polizist wurde von seinem Sprechfunkgerät unterbrochen. Er hielt den Hörer mit dem Zeigefinger fest und sprach in das an seinem Schulterstück befestigte Mikrofon »Ich komme.« »Was für ein Ort?«, fragte Will. »Hinter einer Kirche«, sagte der Polizist und stieg in sein Auto. »Einer Kirche?« »Oui. In einer Mülltonne hinter einer Kirche«, sagte der Polizist. Ein Windstoß ließ die Bäume auf der anderen Straßenseite lebendig werden. »Aber wie ich schon sagte, ich habe nachgesehen, und sie war nicht in irgendeiner Mülltonne hinter einer Kirche.« Der Polizist drehte den Zündschlüssel um und ließ sich in seinem Sitz nach hinten sinken. »Viel Glück«, sagte er und raste davon. Wir standen eine Weile schweigend da und drehten uns dann 166
langsam um. »Sollen wir in dem Viertel hier überhaupt noch suchen?«, fragte ich. »Vielleicht hätten wir hier anfangen sollen«, sagte Will. »Du hast gesagt, die Bande sei vom Pont de Sully aus in östliche Richtung gefahren.« »Aber vielleicht haben sie dann nach Süden gedreht.« Wir begannen eine Straßenbiegung zu umrunden, und bald darauf gingen wir die Rue Monge entlang. Es war spät. Mit der Zeit kamen mir die Straßennamen immer absurder vor. Saint Medard. Ortolan. Dolomieu. Französisch kam mir absurd vor, und ich kicherte. »Was ist denn so lustig?«, fragte Will. Ich konnte es nicht erklären. La rue de la Clef. La rue de Mirbel. Ich hatte einen großen Teil des Tages auf den Beinen verbracht, war in allen möglichen Himmelsrichtungen quer durch die Stadt geschossen, und nun war ich kurz vor dem Zusammenbrechen und schleppte mich mühsam einen Berg hinauf und an vergitterten Geschäftsfronten mit zurückgesetzten Nischen entlang, vorbei an stillen Cafés, einem Markt. In der Ferne hörte ich das nasale Auf- und Abebben einer Sirene. Will ging schnell, während ich mich mühsam dahinschleppte. Ich blieb immer wieder zurück und musste dann einen ganzen Block im Laufschritt zurücklegen, um ihn einzuholen. Ich brauchte einen Kaffee, aber überall, wo um diese Zeit normalerweise geöffnet war, war jetzt zu. Ich nahm Wills Hand, und er zog mich hinter sich her. Früher war es ihm immer ein bisschen peinlich gewesen, in der Öffentlichkeit Händchen zu halten, und ich war mir nicht sicher, ob sich das geändert hatte oder ob ihn nur die Dunkelheit und die leeren Straßen mutig machten. Wir bogen um eine Ecke und traten auf einen Platz vor einer kleinen Kirche. Wir gingen einen Berg, die Rue Mouffetard hinunter. Ich hörte jemanden Geige spielen, ein Klagelied aus 167
irgendeinem Fenster hoch oben. »Das ist schön«, sagte ich. »Was ist schön?«, fragte Will. »Die Musik.« »Welche Musik?« Bildete ich es mir nur ein? Die Rue du Pot-de-Fer. Die Rue Lacépède. Ich ließ Wills Hand los und ging hinterher. Ich folgte seinem Schatten, landete auf der Straße, auf der anderen Seite. Immer auf der Suche. In Aufgängen, Portalen, Höfen. Ohne zu suchen, nur gehend, immer nur gehend, Entfernungen zurücklegend. Wir waren wie Touristen, die ins Hotel zurückmüssen und viel weiter in die Stadt hineingelaufen sind, als sie vorgehabt haben. Will suchte die Straße mit der Taschenlampe ab. Die Rue de Navarre. Zurück zur Rue Monge. Ich erinnerte mich an unseren ersten Morgen vor drei (inzwischen vier) Tagen, als wir so schnell im Bett gelandet waren; wie ich auf Will gelegen hatte, noch vollständig bekleidet, und, auf einem Arm aufgestützt, mit der freien Hand über seine Stirn und die Wangen gestrichen hatte. Aber dann rollte er sich unter mir zur Seite, stand auf und ging zum Fenster. Er sagte, das Apartment ist gar nicht so, wie du es in deinen Briefen beschrieben hast. Wieso?, fragte ich. Der Blick, sagte er. Du hast den Blick auf den Park nicht erwähnt. Er sah mich an. Ich sagte nichts, sondern betrachtete ihn, wie er wieder nach draußen sah und sich mit dem Rücken zu mir das Hemd über den Kopf zog. Wie war die Fahrt hierher?, fragte ich. Ich wünschte, ich wäre mit dem Zug gekommen, sagte er. Ich fahre viel lieber Zug. 168
Er kam zum Bett zurück und streckte sich neben mir aus, und wir blieben auf Armlänge getrennt liegen. Wir bewegten uns kaum. Ich wusste nicht, was ich als Nächstes tun sollte oder ob ich überhaupt derjenige war, der als Nächstes etwas tun sollte. Schließlich nahm Will meine Hand und legte sie auf seine Brust, als gäbe er mir damit die Erlaubnis, ihn zu berühren. Er fühlte sich so warm an, als wäre er eben aus der Sonne gekommen. Bald waren wir wieder ineinander verschlungen, und an ihn gepresst konnte ich ihn besser begreifen, aber dann – wie soll ich es erklären? Nachdem er uns auf Touren gebracht hatte, ließ er sich noch einmal zurückfallen und mich die Führung übernehmen. Ich bewegte mich, dann er. Ich bewegte ihn. Mitten im Liebesakt dachte ich nicht viel darüber nach, aber jetzt, hier draußen in diesen dunklen, kalten Morgenstunden, müde, wie ich war, und traurig – wie Schlafmangel mich immer traurig macht –, wurde mir klar, dass ich mir in unseren Jahren der Trennung immer eine Wiedervereinigung unter umgekehrten Vorzeichen vorgestellt hatte. Ein einsamer Strand: Er ist derjenige, der mir meine nasse Badehose auszieht. Eine dampfende Dusche: Er steht hinter mir, ich mit dem Gesicht zur Wand, er ist derjenige, der mich gegen die Wand drückt. Oder in Paris, in einem weißen Bett: Ich schlafe auf dem Bauch, und er ist wach und dann ist er derjenige, der die Laken wegzieht und mich mit Küssen auf den ganzen Rücken aufweckt, und ich tue so, als würde ich weiterschlafen, damit er nicht aufhört – träumte ich das, oder war es Erinnerung? Erinnerung: Das war am zweiten Tag unserer Wiedervereinigung, im Morgengrauen. Nur war ich derjenige, der seinen Rücken küsste. Ich weckte ihn, und er war der, der (wie ich vermutete) so tat, als schliefe er noch. Zurück zur Gegenwart: Wir landeten vor dem hohen Eisentor eines Parks. Will versuchte herauszufinden, wo wir als Nächstes nachsehen könnten. Ich lehnte mich gegen das Tor, und es 169
gab nach. »Es ist offen«, sagte ich. Will half mir, das schwere Eisentor gerade weit genug aufzuschieben, dass wir hindurchschlüpfen konnten. Ich folgte ihm einen dunklen Pfad entlang durch ein duftendes Wäldchen, während der Granitschotter unter unseren Füßen laut knirschte. Gestern Nacht: Wir lagen postkoital im Bett, auf dem Rücken unter dem Baumwoll-Laken, und unterhielten uns im schmeichelnden Mondlicht. Will zog die Beine an, und das Laken rutschte über seine Brust hinab auf den Bauch. Müßig und gedankenverloren strich er mit den Fingerspitzen über seine Haut. Was ich als Aufforderung zu neuen Liebesspielen verstand – er musste meine Blicke spüren –, aber ich hielt mich zurück. Sein Zeigefinger wanderte die Mittellinie auf seiner Brust hinauf, bis er eine Gänsehaut bekam. Sein Bizeps sprang auf und nieder. Ich konnte es nicht aushalten, und wieder ließ ich mich über ihn sinken. Dann zog er sich am Bettkopf hoch, nahm die Hände über den Kopf und hielt sich fest – er ließ mich tun, was immer mir in den Sinn kam –, und doch war es überhaupt nicht das, was ich wollte. Müdigkeit brachte mich immer ins Zweifeln. Ich kannte das von mir und versuchte, so gut es ging, alle beunruhigenden Gedanken von mir zu stoßen. Wir waren dem Pfad im Park bis zu einer Lichtung gefolgt, und jetzt bemerkte ich, wo wir waren. Vor uns konnte ich einen in den Berghang gebauten steinernen Halbkreis erkennen, Sitzreihen, die zu einem flachen Lehmoval hinunterführten. Es waren ausgegrabene römische Ruinen, die Arènes de Lutèce, wo die Gladiatoren im zweiten Jahrhundert aufeinander gestoßen waren. Es gab Belege dafür, dass sie ihre Arena sowohl als Theater nutzten als auch, um Szenen des Blutvergießens wie bei Seneca vorzuführen. Mir kam ein lauer Nachmittag an dieser Stelle vor zehn Jahren ins Gedächtnis; wir lagen im milden Schein der Sonne; ein Lüftchen wehte, ein Nordostwind 170
von fern her. »Erinnerst du dich an die Stelle hier?«, fragte ich. Wenn es so war, sagte er es jedenfalls nicht. Will ging die oberste Reihe ab. Dann fing er an, die Reihen auf und ab nach unten zu gehen, bis ganz hinunter zur Spielfläche, und in die Kammern unter den Überresten des Stadions zu sehen. »Nico«, rief er. »Nicolas.« Die Räume waren mit Eisengittern verschlossen, aber Will leuchtete in die Nischen hinein. Die Arènes boten von allen Bauten, die wir bisher überprüft hatten, die besten Verstecke; vielleicht machte Will deshalb noch eine zweite Runde, obwohl es offensichtlich schien, dass unser Junge nicht hier war. Währenddessen ging ich zu einer höher gelegenen Sitzreihe zurück und setzte mich auf den kalten Stein. Die Stufen hatten über zweitausend Jahre überdauert, und der Gedanke daran machte mich nur noch müder. Ein herannahender Sturm hatte den Himmel heller werden lassen, auch wenn es jetzt noch nicht regnen würde, und das Grau der Steine passte perfekt zu dem des Himmels. Will kam die Stufen der Arena herauf und ließ sich eine Reihe vor mir auf die Sitzbank fallen. Er schlug mit der Faust auf den Stein. Dann starrte er mit leerem Blick auf die Lehmbühne. Der Wind fing sich im Stadion und blies mir unablässig die Haare ins Gesicht. An unserem ersten gemeinsamen Abend, im Bett, hatte ich ihn nach seinem Liebesleben in den letzten Jahren ausgefragt, doch – wen wundert’s? – er blieb vage. Ich hatte verschiedene Gerüchte gehört, nachdem wir uns aus den Augen verloren hatten, und versteifte mich besonders auf eines davon, dass er nämlich während seiner Zeit in Mexiko ein sehr enges Verhältnis mit einem Mann gehabt haben sollte, dem Konsul irgendeines anderen Landes. Dem Gerücht nach hatte Will überlegt, ob er seine eigene Karriere aufgeben sollte, um ihm zu folgen, als dieser Mann versetzt wurde. Natürlich quälte mich diese 171
Geschichte. Also fragte ich ihn, ob es wirklich so gewesen war. Und er antwortete, nein, an der ganzen Geschichte sei kein wahres Wort. Ich fragte ihn: Hast du dich denn überhaupt ernsthaft und für längere Zeit an jemanden gebunden? Und er sagte: Nicht in dem Sinne gebunden, wie du es verstehst. Nein. Er führte das nicht weiter aus, und das wollte ich auch nicht; ich würde mir meine eigenen Vorstellungen machen. Aber ich muss doch sagen, dass ich mir für ihn nach unserer Trennung eine andere Entwicklung erwartet hatte; zu einem wohlgemuten Herzensbrecher; er hatte die meiste Zeit allein gelebt, allein geschlafen, ungebunden – damit konnte ich es bei meiner eigenen Legende für ihn nicht aufnehmen. Ich stieg zwei Reihen hinunter, bis ich Will in die Augen sehen konnte. »Hey«, sagte ich. Er sah erst an mir vorbei, dann begegnete er meinem Blick. Er zog den Jackenkragen über die Ohren hoch. »Erzähl mir, was in Mexiko passiert ist«, sagte ich. Seine Augen weiteten sich. Er ließ die Schultern hängen. Musterte seine Stiefel. Ich wusste, dass die unausgesprochene Geschichte wahrscheinlich etwas war, was ich lieber nicht hören würde, aber irgendwann musste ich sie erfahren. Ich erwartete, dass er aufstehen und uns aus dem Park hinausführen würde. Ich rechnete damit, dass er sagen würde: Da draußen in der Nacht ist ein Kind, das gerettet werden muss. Ich hatte schon lange nicht mehr auf die Uhr gesehen; es musste so gegen ein Uhr morgens sein. Ich rechnete damit, dass Will meinen Fragen ein weiteres Mal ausweichen würde. »Es begann mit einem ziemlich eindeutigen Auftrag«, sagte er jedoch. Ich setzte mich neben ihn. Er starrte wieder auf die Bühne, 172
also sah ich auch hin. Schauspieler, Auftritt von den Seiten. Der Auftrag: Durchleuchten Sie die Vergangenheit eines gewissen reformatorisch gesinnten Kandidaten für den Gouverneursposten in einem Staat im Süden Mexikos. Die Vereinigten Staaten mochten ihn und wollten ihn siegen sehen. Er stammte aus dem Establishment, und er sagte immer das Richtige, wenn es um Handelsfragen ging, aber gleichzeitig war er jung, ein Mann mit neuen Ideen, ein beliebter Populist; er befriedete die Opposition, trug sogar zu ihrem Auseinanderbrechen bei; er war ein institutioneller Revolutionär, der die Ideologien von Tradition und Wandel miteinander verknüpfte. Er konnte zum Gouverneur gewählt werden. Zwei Jahre später könnte er als gewählter Spitzenkandidat seiner Partei für das Präsidentenamt antreten (und es gewinnen). Alte Verträge mussten bestätigt, neue ausgehandelt werden. Das Auswärtige Amt hatte seit langem ein Auge auf ihn. Die Verwaltung wollte ihn in der Rolle des Unterzeichners sehen. »Warum dann in seiner Vergangenheit herumwühlen?«, fragte ich. »Es gab Gerüchte«, sagte Will. Der eigentliche Auftrag: Sehen Sie sich die Finanzen des Gouverneurskandidaten an. Da gab es Gelder, für die es keine Erklärung gab. Verdächtige Verbündete. Männer, von denen man wusste, dass sie in windige Machenschaften verstrickt waren. Das Auswärtige Amt wollte sich nicht für diesen Mann stark machen, wenn sich womöglich herausstellte, dass er mit den Drogen-Capitáns im Bunde war. Das würde im amerikanischen Herzland nicht so gut ankommen. »Und weißt du«, sagte Will, »es hörte sich an, als wären wir nur auf lauter Klischees angesprungen.« Genau: Politicos aus Lateinamerika mit Geld? Wahrscheinlich aus dem Drogenhandel. »Aber das Ministerium war ein gebranntes Kind. Also haben sie mich geschickt.« 173
Kommen Sie ganz nah an ihn ran. Stellen Sie Fragen. Durchleuchten Sie den Hintergrund. Befreien Sie ihn möglichst schnell von jedem Verdacht. Dass die Wahl auf Will gefallen war, ging zum Teil auf politische Gründe innerhalb des Mexiko-Teams zurück. Seine Vorgesetzten suchten nach Möglichkeiten, ihn zu befördern. Ein Grund war aber auch, dass Will sich mit den Methoden auskannte, wie Drogengeld gewaschen wurde. Er hatte in Südostasien gearbeitet. Er hatte den beiden Jugendlichen geholfen, die zu Unrecht als Drogenhändler verurteilt worden waren. Um ihnen zu helfen, hatte er erst einmal selbst lernen müssen, wer die Spieler waren und nach welchen Regeln sie spielten. Er wusste, dass er niemals irgendetwas Schriftliches finden würde. In diesem Bereich stolperte man einfach nicht über ein Memo, das aus Versehen nicht durch den Schredder gejagt worden war, und man entdeckte auch keine Fehler in Bankauszügen. Was man wissen wollte, erfuhr man nur durch Gespräche. Also musste Will sich in eine Position bringen, die ihm Zugang zu den Personen im Umfeld des Kandidaten verschaffte und seine Gegenwart harmlos erscheinen ließ. Er musste der nette Bursche sein, der auf der richtigen Seite stand, und dann würden die Freunde des Kandidaten ihm vertrauen, mit ihm einen trinken gehen und aus dem Nähkästchen plaudern. Offiziell trat Will als Wahlbeobachter auf. Ein Vertreter von Demokratie und rechtmäßigen Wahlen. Inoffiziell hatte er sich nützlich gemacht. Er half mit, Versammlungen in Bergdörfern zu inszenieren. Der eine in der Kampagne wollte, dass der Kandidat einen Anzug trug; ein anderer meinte, er solle eine der in der Region üblichen Webwesten anziehen. Will, fragte der Kandidat, was meinen Sie dazu? Will sagte, ihm gefiele die Idee mit der Weste. Er arbeitete an verschiedenen Texten mit, änderte hier und da eine Zeile. Dabei kümmerte er sich mehr um die Syntax als um den Inhalt. Wenn sie eine Autofabrik 174
wollen, müssen sie uns unser Krankenhaus geben. Ihr, ihr ganz allein müsst entscheiden, welche Kakaowälder ihr freigeben wollt. Er äußerte sich zu den Ergebnissen von Meinungsumfragen, lächelte höflich zu den Werbespots, die vorgestellt wurden. Er spielte den jugendlichen Veteranen. Die Leute kamen mit Fragen zu ihm, die er spielend beantworten konnte. Tatsächlich tat er nur sehr wenig. Und währenddessen spionierte er. Er kam nah heran, stellte Fragen, deckte Hintergründe auf. Der Wind in den Arènes de Lutèce ließ nach, und ich bemerkte die dunklen Häuser jenseits der Straße vor dem Park, alle diese stillen, aufmerksamen, lauschenden Häuser. »Für dich wird sich das zu einfach anhören«, sagte Will. »Aber im Grunde ging ich mit den Leuten trinken. Ich wurde überallhin zum Dinner eingeladen. Wenn das Gespräch in die eine Richtung ging, lenkte ich es in die andere.« Hatte er vergessen, wem er das hier erzählte? Ich hatte ihn bei der Arbeit gesehen. Ich hatte nicht die geringsten Schwierigkeiten, mir vorzustellen, wie Will in Mexiko Tequila verteilte und sich auf die Frage zuschlängelte, auf die er eine Antwort brauchte: Sagen Sie mal. Sie wissen, Sie können mir vertrauen. Dieser Kandidat, unser Mann hier – bekommt er Geld von jemandem, von dem ich nichts weiß? »Ich weiß, wie das läuft«, sagte ich. »Du bist nah rangekommen. Du hast Fragen gestellt.« Wie sich herausstellte, war der Gouverneurskandidat sauber, seine Finanzen allesamt bestens belegt. Er unterhielt keine verdächtigen Verbindungen und hatte das auch nie getan. Er schuldete niemandem einen Gefallen. Er war sein eigener Herr. Natürlich musste man die Quellen bis zu einem gewissen Grad mit Vorsicht genießen; Lügen waren niemals ausgeschlossen. Aber Will war ziemlich sicher, dass das, was er herausgefunden hatte, den Tatsachen entsprach. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das noch nicht das 175
Ende der Geschichte ist«, sagte ich. Das war es nicht. Will erfuhr etwas anderes über den Mann. Und an diesem Punkt drückte er sich ein wenig undeutlich aus, welche Fragen er gestellt hatte, um sich die Information, die er erhalten hatte, bestätigen zu lassen. Aber ich verstand, ich konnte es mir zusammenreimen. Und das war es, was seine Kontaktleute ihm gesagt hatten: Die Partei konnte sich auf den Kandidaten, unseren Mann, verlassen. Und warum? Er hielt Reden, in denen er sich oft der Sache der Indios annahm und das Übliche über das Volk und seine Rechte faselte, aber die Partei (und das US-Außenministerium) brauchte sich keine Sorgen zu machen. Worüber? Dass er den Guerillas gegenüber nicht mit aller Härte durchgreifen würde. Oder womöglich der Eingeborenenbewegung gegenüber. Keine Sorge. Und warum? Na ja, er hat sich bewiesen. Wie? Er hatte bei gewissen Aktionen die Hand im Spiel. Er hat weggesehen. Nein, er hat mehr getan als nur weggesehen; er hat ganz bestimmte Befehle gegeben. »Los, Will, spuck’s schon aus«, sagte ich. Der Kandidat war Major gewesen, bevor er beschloss, für den Gouverneursposten zu kandidieren. Er war im Dienst, als es zu einer Demonstration kam. Indianer auf einem städtischen Platz. Die Polizei schoss auf die Demonstranten. Dreißig Menschen wurden getötet. Männer, die vielleicht Guérilleros gewesen waren, wer weiß? Frauen starben. Mehrere Kinder. Ich erinnerte mich an die Meldung – den internationalen Aufschrei, die allgemeine Verurteilung. »Willst du damit sagen, dass der Mann, für den du gearbeitet hast, das Massaker angeordnet hat?«, fragte ich. »Indirekt ja«, sagte Will. »Was absolut nicht dem entsprach, was allgemein angenommen wurde. Die Geschichte war so, dass einige der obersten Generäle den Soldaten den Schießbefehl gegeben haben. Aber ich hörte es von verschiedenen Seiten, verstehst du? Der Verdacht erhärtete sich. Wenn das 176
bekannt wurde, wäre das natürlich ein Rückschlag gewesen, und der Kandidat wäre einer Untersuchung ausgesetzt gewesen, ganz zu schweigen davon, dass es der Opposition eine Angriffsfläche geboten hätte. Und natürlich dachte ich, das Ministerium würde einen solchen Mann nicht unterstützen wollen.« Will hielt inne. Seine Lippen waren trocken, seine Stimme wurde rau. »Ich fuhr nach Mexico City zurück und stattete meinem Team Bericht ab. Was Drogen angeht, ist der Kandidat sauber, aber dafür habe ich etwas anderes herausgefunden.« Er hielt wieder inne. »Und es war ihnen egal. Das überrascht dich nicht, ich weiß – aber mich überraschte es schon. Das war vielleicht naiv von mir, aber es überraschte mich. Das Einzige, was das Team interessierte, waren die Drogen und das Geld, und solange es nicht an die große Glocke gehängt wurde, war es ihnen scheißegal, ob es irgendwelche Massaker an Zivilisten gegeben hatte, solange es nur ein Gerücht blieb, das über die Grenzen der Region nicht hinauskam. Sie schickten mich wieder in den Wahlkampf zurück, um mich nützlich zu machen. Und damit meinten sie, ich sollte dafür sorgen, dass der Typ gewählt wurde.« »Und du bist zurückgegangen?«, fragte ich. »Es war mein Job«, antwortete er. »Ich fuhr wieder in die Region zurück, versuchte mit dem zu leben, was ich wusste. Aber ich konnte nicht. Ich konnte es einfach nicht.« Er ließ ein bisschen Zeit verstreichen. Die Wahl kam näher. Schließlich beschloss er, dass er handeln musste. Er würde seinen Job erledigen, seinen Job behalten, aber gleichzeitig würde er dafür sorgen, dass die Öffentlichkeit die Wahrheit erfuhr. Und so kam es, dass er Kontakt zu einem Journalisten aufnahm, der den Kandidaten in seinen Leitartikeln unterstützte und von dem man deshalb eine klare Stellungnahme erwarten 177
konnte, wenn er plötzlich über die Rolle des Kandidaten in nicht zivilen Ereignissen berichten musste. Will ließ durchsikkern, was er wusste. Der Journalist saugte jedes Wort auf, zog seine eigenen Schlüsse und brachte eine Reihe von kritischen Berichten. Die Artikel machten die Runde, sie bestätigten die dunkelsten Befürchtungen der Opposition, gaben ihr massenhaft Munition in die Hand und neuen Elan. Die beiden Oppositionsparteien bildeten schließlich tatsächlich eine Koalition und stellten somit eine Bedrohung dar. Die Staatsregierung in Mexico City musste ebenfalls reagieren, und es war die Rede von einer strafrechtlichen Untersuchung. Der Skandal bekam plötzlich eine Eigendynamik. Will konnte zufrieden sein. Dann kam der Generalkonsul, um sich mit ihm zu treffen. Er ließ Will unmissverständlich wissen, dass die USA offiziell keine Position beziehen und auch keine offizielle Unterstützung bieten würden, das taten sie nie; aber inoffiziell würde das Außenministerium an dem Kandidaten festhalten. »Obwohl die Wahrheit bekannt war?«, fragte ich. Will lachte. »Welche Wahrheit? Was das Außenministerium anging, war es nichts weiter als eine unglückselige Spekulation. Sie stellten sich auf den Standpunkt, dass der Kandidat die Sache aussitzen konnte, und fanden es auf lange Sicht sogar gut, dass die Vorwürfe jetzt ans Licht gekommen waren und nicht etwa in zwei Jahren während eines nationalen Wahlkampfes. Mein Boss sagte zu mir, hilf ihm durch diese Untersuchung, Will. Reiß es rum, Will, sagte er. Lass deine Zauberkünste spielen.« »Du bist nicht gegangen«, sagte ich. Die Berichte erschienen weiter, noch mehr Leitartikel. Der Journalist schien Will nicht zu brauchen; er hatte seine eigenen Kontakte. Will glaubte, er würde auffliegen, wenn er jetzt ginge. Jeder wusste, dass es irgendwo eine undichte Stelle geben musste. Niemand verdächtigte ihn, aber wenn er ging … Und dann: 178
»Pedro, du siehst das doch vor dir, oder?« »Was soll ich vor mir sehen?« »Wie ich einen neuen Auftrag bekommen hätte, einen sogar noch wichtigeren Auftrag? Wie ich mich dabei sogar noch besser hätte beweisen können. Obwohl ich unmöglich Erfolg haben konnte, stimmt’s? Ich hatte die Information rausgegeben, etwas in Gang gesetzt. Ich hatte meinen Teil erledigt. Und jetzt, jetzt konnte ich wenigstens so tun, als würde ich meinen Job gut machen.« Der Skandal zog immer weitere Kreise; es kam zu öffentlichen Protestkundgebungen; Wahlversammlungen wurden blockiert; der Gouverneurskandidat musste reagieren; also half Will höchstpersönlich beim Abfassen einer Rede in der Tradition des guten alten amerikanischen Mea culpa. Der Kandidat würde sich darauf berufen, dass er keine direkte Rolle in dem Massaker gespielt hatte, sich aber gleichzeitig zu einer gewissen Mittäterschaft bekennen, weil er die Polizei nicht an ihrem Vorgehen gehindert hatte. Der Kandidat hielt diese Rede in Form einer Fernsehansprache ans Volk. Er sagte, sein eigenes Leben könne für das Leben so vieler Mexikaner stehen, die sich jeden Tag neu dem ihr Innerstes zerreißenden Kampf zwischen kolonialem Erbe und den heimischen Wurzeln stellen müssten. Er lieferte eine absolut perfekte Rede und schluchzte öffentlich. Es funktionierte. Er gewann. »Ich konnte es nicht glauben. Ich hatte meine Sache zu gut gemacht. Ich war unglücklich. Ich ging zum Ministerium und bat um Versetzung vor Ablauf der üblichen Zeit. Schließlich schuldeten sie mir einen Gefallen. Man sagte mir, man werde darüber nachdenken. Man sagte mir aber auch, dass es vielleicht in meinem Interesse wäre, in Mexiko zu bleiben. Ich war ein Vertrauter des neuen Gouverneurs. Jetzt musste er für das Amt des Präsidenten antreten. In der Zwischenzeit fuhr mein Kontakt, der Journalist, mit seinem Kreuzzug fort. Insgeheim gab ich ihm Ratschläge, brachte ihn auf neue Aspekte. Das 179
Einzige, was ich der Sache abgewinnen konnte, war, dass der Gouverneur über dem Exposé vollkommen irre wurde. Er glaubte seiner eigenen Rede. Der Journalist war ein Lügner, ihm musste Einhalt geboten werden.« Will zog die Knie bis zur Brust hoch und wippte auf der steinernen Bank vor und zurück. Ich hatte jedes Gefühl dafür verloren, was uns umgab, wo wir waren, in welcher Stadt, an welchem Tag. »Und was passierte dann?«, fragte ich. »Eines Tages setzte die Frau des Journalisten ihre Kinder ins Auto, um sie zur Schule zu bringen, und der Wagen explodierte. Viele glauben, es sei die Guerilla gewesen, denn, weißt du, bevor er auf den Gouverneur losgegangen war, hatte er eine Menge Tinte vergossen, um sich gegen die Guerillas in den Bergen zu äußern. Aber möglicherweise, wahrscheinlich sogar, war es der Gouverneur, der den Bombenanschlag angeordnet hatte. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Ich glaube ans Schlimmste.« Die Familie des Journalisten war tot, und er gab auf; er veröffentlichte keine Geschichten mehr, verlor das Interesse an der Sache, wie Will aus der Ferne erfuhr. Am Tag, nachdem die Autobombe hochgegangen war, packte Will seinen Koffer, ging zum Flughafen und nahm das nächste Flugzeug. Er verließ das Land, ohne irgendjemanden davon zu unterrichten. Er verschwand einfach. »Das war es, was in Mexiko passiert ist«, sagte er leise. Aus irgendeinem Grund gab er mir seine Taschenlampe. Er stieg wieder die Stufen zu dem Pfad hinauf, der aus dem Park hinausführte. Ich folgte ihm und beleuchtete seinen Weg mit einem zarten weißen Lichtkegel. Wir gingen schweigend vor uns hin, und ich muss zugeben, dass ich Will aus tiefstem Herzen verurteilte. Aber das sagte ich ihm ganz bewusst nicht, denn was für mich damals wichtig war – und womit ich mich in diesem 180
Moment, als wir aus den römischen Ruinen in die Stadt zurückkehrten, beschäftigen wollte –, war die Tatsache, dass Will am Ende gegangen war. »Du bist raus«, sagte ich. Wir waren auf der Straße angekommen und gingen zum Auto. »Ich war ein Feigling«, sagte Will. »Ich konnte das, was passiert war, nicht ertragen. Ich schickte Blumen an ein Beerdigungsunternehmen, und dann, ja, dann habe ich so schnell wie möglich das Land verlassen.« »Ich meine, am Ende hast du nicht mehr mitgespielt. Du bist aus dem diplomatischen Dienst ausgetreten.« »Das ändert nichts an dem, was ich getan habe«, sagte Will. »Ich glaube nicht, dass man je etwas Getanes ungeschehen machen kann«, sagte ich in aller Offenheit. »Ich frage mich, was mein Vater wohl zu alledem sagen würde. Was würde er von mir denken?« Ich wusste nicht, wie ich ihm antworten sollte. »Am Ende bist du gegangen«, sagte ich. »Du bist raus, du hast das alles hinter dir.« »Am Ende bin ich gegangen«, sagte Will. »Ja, du bist gegangen«, sagte ich. »Es ist vorbei.« »Ich bin gegangen.« Ich hätte am liebsten losgeschluchzt. Ich wollte ihn nackt, in meinen Armen. Er war gegangen. Ich sagte mir, dass nur das zählte, oder etwa nicht? Er war gegangen. Das Handy klingelte. Es war Jorie, völlig aufgelöst. »Hol erst tief Luft«, sagte Will. »Und jetzt erzähl. Ist etwas passiert, hast du etwas Neues gehört?« Er flüsterte mir zu, was Jorie ihm sagte: Luc hatte zurückgerufen, sie hatten miteinander gesprochen. Er hatte die zahlreichen Nachrichten von der Pariser Polizei bekommen, aber zuerst bei ihr angerufen, und sie hatte ihm von Nico erzählt. Er war natürlich furchtbar beunruhigt, aber auch wütender, als sie 181
es je vorher hätte ahnen können. Er würde nach Paris zurückkehren, sobald er einen Flug bekam. Bevor er auflegte, sagte er Jorie noch, sie sei die schlimmste Person, die er je kennen gelernt habe. Er sagte ihr, es sei ihre Schuld, wenn Nico etwas passierte. Er sagte, dass er Nico zurückhaben wollte und dass er sie nie wieder sehen wolle, wenn sein Junge erst wieder da war. Will konnte kaum ein Wort sagen. Jorie weinte so schrecklich. Sie hielt sich ebenfalls für schuldig. Sie war eine grauenhafte Person. Wenn Nico irgendetwas passierte, wenn er verletzt wurde … »Jorie, wir kommen zu dir«, sagte Will. »Wir sind gleich da. Du wartest doch? Bitte warte auf uns. Wir sind gleich bei dir.« Er legte auf und rieb sich die Augen. »Sie will los und selber nach dem Jungen suchen«, sagte er. »Pedro, etwas habe ich dir noch nicht erzählt.« Er erzählte von der abendlichen Begegnung mit dem Straßenjungen an der Place de Stalingrad. »Wir gehen zu ihr«, sagte ich. »Und dann bleiben wir bei ihr.« Will rief die Vermittlung an und bat um die Nummer eines bestimmten Hotels. »Wen rufst du an?«, fragte ich. »Jorie hat es nicht verdient, so behandelt zu werden«, sagte Will. »Sie ist eine gute Mutter gewesen, sie könnte mit dem Jungen ein Leben führen, wie sie es will. Wir werden ihn finden, und dann lassen wir die beiden ziehen.« »Was meinst du damit, sie ziehen lassen?« »Geh du zu Jorie nach Hause zurück. Du bleibst bei ihr und sorgst dafür, dass sie in ihrer Wohnung bleibt – Allô, oui. S’il vous plaît, je voudrais parler à Monsieur Garrett Jencks. Oui, j’attends. Geh du zu Jorie, und in der Zwischenzeit werde ich – Onkel Garrett? Entschuldige die späte Störung.« Will sprach in den Apparat, aber ich verstand nicht, was er 182
sagte, obwohl ich direkt neben ihm stand. Ich dachte wieder daran, wie ich eines Morgens in New York meine Post durchgegangen war und einen schmalen blauen Umschlag hervorgezogen hatte, zart und zerbrechlich wie ein Vogelei. Ich dachte daran, wie Will den Reißverschluss an seinem Koffer öffnete und einen Berg von Zartbitterschokolade hervorzog. Ich dachte daran, wie er in der vergangenen Nacht im Bett gelegen und die Knie hochgezogen hatte, wie die Decke weggerutscht war und ich seinen Körper betrachtet hatte, auf dem ich mich einst blind zurechtfinden zu können glaubte und der mir jetzt wie völlig unbekanntes Gelände vorkam. Ich rief mir die unbeschönigten Tatsachen, die ich gerade erfahren hatte, immer wieder ins Gedächtnis und sagte mir, was ich von ganzem Herzen glauben wollte, dass nämlich das eigentlich Wichtige war, das Wichtigste überhaupt, dass Will am Ende gegangen war. Er war gegangen. Er war gegangen. Und zu mir gekommen. JORIE COLE HATTE EINE SEHR direkte Art zu reden, eine wortreiche Ausdrucksweise, die ich aus irgendeinem Grund immer mit Größe verband; stattdessen stellte sie sich als klein und zartgliedrig heraus, und das trotz der vielen Kleidungsstücke, die sie trug, einer schweren Strickjacke über einem Zopfmusterpullover und einem dicken Schal um den Hals. Ihre Lippen waren grau. Ihre Hand war bei der Begrüßung ganz kalt gewesen, und ihre ersten Worte waren: Mir wird einfach nicht warm. »Ich wünschte, Will würde anrufen«, sagte sie. Ich hatte ihn vor dem Hotel am Place Vendôme abgesetzt und war auf seine Anordnung hin hierher gekommen. Ich sprach ganz offen mit Jorie und sagte ihr, dass es meine Auf183
gabe war, sie festzuhalten, bis Will sich mit uns in Verbindung setzen würde, und sie hatte nichts gegen diesen neuen Plan einzuwenden; sie schien nicht die Kraft dazu zu haben. »Seine Anrufe haben mich schon die ganze Nacht hindurch vor dem Durchdrehen bewahrt«, sagte sie. »Er ist Diplomat, er ist gut in so etwas«, sagte ich, womit ich weniger das Auffinden vermisster Jungen meinte, als dass er anderen Leuten half. »Er ist gut«, stimmte Jorie zu. »Hoffen wir, dass er gut ist. Und jetzt dieser Freund seiner Familie?« »Ich glaube, er denkt, dass er möglicherweise Druck auf die Polizei ausüben kann«, sagte ich. Mehr war mir nicht klar, und ich glaube, Will war auch nicht viel weiter in seinen Überlegungen, als ich ihn zurückließ: Garrett Jencks kannte vielleicht jemanden im Rathaus, der die Suche nach Nico als Gefallen einem alten Freund gegenüber ein wenig beschleunigen konnte. »Druck auf die Polizei? Wie denn?«, fragte Jorie. Das war das dritte oder vierte Mal in der letzten Stunde, dass wir dieses Gespräch durchexerzierten, und ich konnte ihr keine Antwort geben. Offen gesagt, wusste ich nicht, was Will vorhatte, und wollte keine Spekulationen anstellen. »Wir werden sehen«, sagte ich. »Will hat gesagt, er ruft uns an. Dann wird er es uns schon sagen.« »Seine Anrufe haben mich vor dem Durchdrehen bewahrt«, wiederholte Jorie. »Die ganze Nacht schon.« Draußen hatte der Himmel sich zu lichten begonnen. Meine Augen schmerzten mehr als irgendein anderer Teil von mir. Ich wagte nicht, sie zu schließen, ich wäre binnen Sekunden mit dem Kopf auf der Tischplatte eingeschlafen, und die grellen Lampen in Jories Wohnung machten die Sache auch nicht besser. Es herrschte totales Chaos. Der Inhalt eines offenen Pappkartons war auf dem Sofa verteilt, soweit ich sehen konnte, ein Sammelsurium von Erinnerungsstücken, und der Esstisch war regelrecht verwüstet. Jorie hatte anscheinend im 184
Laufe des Abends die Lackschicht abgepult; im gesamten Essbereich lagen überall scharfe Splitter herum. Nur in der Mitte des Tisches war eine Insel in der Form von Australien unter einer so gut wie leeren Obstschale übrig geblieben. In der Küche waren währenddessen sämtliche Arbeitsflächen mit Backformen und Keramikschalen voll gestellt worden, die alle mit Alufolie bedeckt waren: Anscheinend hatten mehrere Nachbarn Essen vorbeigebracht. Ich hatte das für eine freundliche Geste gehalten, aber Jorie war anderer Meinung. Sie behauptete, dass die Leute, mit denen sie bisher kaum ein Wort gewechselt hatte, es nur darauf anlegten, dass sie sich elend fühlte; sie kamen in dunkle Tücher gehüllt; sie schlugen sich gegen die Brust. Es war schändlich – sie wollten eine Beerdigung. Gib ihnen eine Beerdigung, und schon werden sie freundlich. »Ich habe den Babysitter fortgeschickt«, sagte Jorie. »Warum?«, fragte ich. »Sie ist erst fünfzehn. Sie ist zu jung für einen solchen Tag.« Und dann, so als könnte das ihr, Jories, Verhalten erklärlicher machen: »Ich gebe ihr Englischunterricht.« Ich lächelte, und Jorie sah mich mit zusammengekniffenen Lidern an: Warum grinste ich? Ich konnte nicht anders. Müde, wie ich war, konnte ich meine heftigen Gefühlsschwankungen nicht unterdrücken, und was ich da gerade erlebte, war das reine Vergnügen, einen neuen Menschen kennen zu lernen, eine Weltreisende mit einem richtigen Leben, dessen Unterhalt sie sich mit der Vermittlung von Subjekt-Prädikat-ObjektSätzen verdiente. Ich mochte sie auf Anhieb. Ich versuchte mit dem Lächeln aufzuhören – es war grob und unpassend –, aber ich konnte nicht. Ich registrierte die verschiedenen in der Wohnung verteilten Gegenstände, aus denen ich mir ein vollständigeres Bild machen konnte. Das Fußballposter und die Landkarten über einem Klappbett in der Ecke, die hohen Glasbehälter mit 185
Couscous auf einem Küchenregal, eine arabische ABC-Fibel, Granatäpfel am Boden, die wie verstreute Jonglierbälle herumlagen. Ich inspizierte die Dinge, die über dem Sofa ausgekippt worden waren. Da gab es Schwarzweißfotografien, von einem dunkelhaarigen Mädchen etwa im weißen Kleid und mit weißen Haarspangen. Schnappschüsse aus einem linkischen Alter. Es gab einen mit Band umwickelten Packen Briefe und einen Haufen Schulhefte mit Millimeterpapier; ich nahm eins davon in die Hand und sah, dass es mit einer winzigen französischen Handschrift gefüllt war. Dann gab es einen mit Silberfaden durchzogenen, transparenten roten Schal und ein Juwelierkästchen aus schwarzem Samt für Ringe. Jorie erklärte mir alles. Sie öffnete das Kästchen für mich; es enthielt zwei goldene Eheringe. »Der kleinere war der von Thérèse, und der größere ist der von Luc. Er versteckt den Kasten da oben«, sagte sie und deutete auf einen geöffneten Schrank nahe der Tür; auf einem hohen Brett waren Hüte und Schals zur Seite geschoben worden. »Dann ist das hier Thérèse?«, fragte ich. »Als junges Mädchen«, sagte Jorie. Sie legte Briefe, Foto und Ringkästchen in den größeren Pappkarton zurück. »Den Schal da hat Luc ihr geschenkt. Ich dachte immer, dass es vielleicht ihr Lieblingsschal war oder so, aber dann lernte ich Luc besser kennen, und jetzt denke ich eher, er nimmt nur deshalb an, dass es ihr Lieblingsschal war, weil er ihn ihr geschenkt hat … Es tut mir Leid. Ich bin gemein.« »Na los, seien Sie gemein«, sagte ich. »Luc hat mir den Karton mal gezeigt. Das war ganz am Anfang«, sagte Jorie. »Das war eines der wenigen Male, dass wir über sie gesprochen haben.« »Thérèse«, sagte ich. »Sie werden keine Bilder von ihr in der Wohnung finden. Ich glaube es gibt außer diesem Bild mit – na, wie viel? – dreizehn 186
tatsächlich keine Bilder von ihr. Luc zeigte mir den Karton und verbot mir dann, ihn je zu berühren.« »Aber Sie tun es trotzdem«, sagte ich. »Ich nehme ihn von Zeit zu Zeit runter«, sagte Jorie. Sie gab mir den Stapel Schulhefte. »Was ist das?«, fragte ich. »Na ja, ich bin mir nicht sicher. Luc hat es mir nie gesagt, aber ich glaube, es sind Kindergeschichten, die Thérèse entweder vor oder während ihrer Schwangerschaft mit Nico geschrieben hat.« »Geschichten, die sie später ihrem Kind vorlesen wollte?« »Der Held der Geschichten ist immer ein kleiner Junge, deshalb frage ich mich, ob sie wusste, dass sie einen Jungen bekommen würde.« »Sie glauben also, sie hat sie geschrieben, um sie später Nico vorzulesen.« »Ich bezweifle, dass sie sie nach seiner Geburt noch hätte schreiben können«, sagte Jorie. »Wissen Sie, sie ist nicht lange danach gestorben … ich weiß es einfach nicht.« »Sie haben sie alle gelesen«, sagte ich. »Wenn Luc bei der Arbeit ist oder auf Geschäftsreise, nehme ich den Karton runter, und ich lese sie nicht nur selber. Ich lese sie Nico vor.« Ich blätterte eines der Hefte durch. Dabei fiel mir auf, dass zwar der gesamte Fließtext französisch war, die Dialoge aber in Arabisch. »Das ist sehr nett von Ihnen, dass Sie das tun«, sagte ich. Jorie weinte. »Sie handeln alle von demselben Jungen, verstehen Sie, einem Prinzen mit außergewöhnlichen Kräften: Er kann sich in jedes Tier verwandeln, das er möchte.« »Zum Beispiel?« »In einer Geschichte hat sich ein geheimer Bund böser Männer im Wald versammelt –« 187
»Wo?« »Altlibanon«, sagte Jorie mit gerunzelter Stirn: Unterbrich mich nicht. »Sie versammeln sich im Wald und planen ein Terrorregime. Der Prinz sieht sie und folgt ihnen. Er verwandelt sich in einen Affen, um sie von den Bäumen aus zu belauschen. Wieder zum Jungen zurückverwandelt, warnt er seinen Vater, den König, aber der König ist ein friedliebender Mann, der keinen Krieg führen will. Der Junge hat noch andere Kräfte: Er klettert auf einen Baum am Rande des Waldes, und als die bösen Männer aus ihrem Versteck kommen, verwandelt sie der Prinz alle miteinander in Feigenkekse.« Ich lächelte wieder breit, aber dieses Mal wirkte es nicht unpassend. »Der Prinz gibt jedem Bürger im Königreich einen Keks, und alle bösen Männer werden aufgegessen. Ende der Geschichte. Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.« Jorie rannen die Tränen über die Wangen. Ich setzte mich neben sie auf die Couch und hielt ihre eiskalten Hände. »Ich habe von einer Nachbarin ein Rezept für Feigenkekse bekommen«, sagte sie. »Ich habe ein paar gebacken und sie Nico mit seinem Abendsaft gegeben – immer wenn Luc nicht da war, verstehen Sie –, dann nahm ich die Schachtel herunter, suchte eine Geschichte aus und las sie ihm vor. Eines Tages möchte ich ihm sagen, dass seine Mutter sie geschrieben hat. Bisher habe ich das noch nicht.« Ich drückte ihre Hände. Was immer ich auch an Erheiterung gespürt haben mochte, ebbte jetzt wieder ab. Das Licht draußen begann sich dem Licht im Inneren anzugleichen; ein ernüchternder Effekt. »Ich habe sie im Stich gelassen«, sagte Jorie. »Wen?« »Ich habe sie vollkommen im Stich gelassen. Thérèse.« »Ich verstehe nicht, wieso«, sagte ich. »Sie haben die Kekse 188
gebacken, die Geschichten vorgelesen –« »In den letzten Stunden. Dass ich ihren Sohn fortgelassen habe. Dass ich ihn da draußen gelassen habe.« Jorie schluchzte auf. Sie schlotterte. »Luc ist mir egal. Es ist mir nicht mehr wichtig, was er denkt. Aber Thérèse, Thérèse – ich habe es ihr versprochen. Wenn ich diese Geschichten vorlas, versprach ich ihr, dass ich mich um ihren Sohn kümmern würde. Wie um meinen eigenen. Ich habe sie im Stich gelassen.« Ich konnte nichts tun, um Jorie zu trösten, ihre Ängste zu zerstreuen. Ich wünschte, Will hätte mir so etwas wie ein Drehbuch mitgegeben. Er wüsste jetzt, was zu sagen wäre. Ich hoffte, er würde anrufen, aber er tat es nicht. Und dann wurde mir klar, dass es vielleicht das Beste war, wenn Jorie ihren schlimmsten Gedanken freien Lauf ließ. Sie durchlebte. Das düsterste Szenario durchexerzierte. Jorie weinte eine halbe Stunde lang ununterbrochen. Dann wich ihr Schluchzen schweren Atemzügen. »Heute Abend wollte ich ihm Kekse backen. Ihm eine Geschichte vorlesen – oder gestern Abend«, sagte sie. Ich folgte ihr in die Küche. Sie nahm eine Schale aus dem Kühlschrank und schob die Pfanne irgendeines Nachbarn zur Seite, um Platz auf der Arbeitsplatte zu machen. »Dann beschloss ich wegzulaufen«, sagte sie. Es war nicht schwer, sie mir mit dem Jungen vorzustellen. Ich konnte ihr die Frau ansehen, die sich selbst damit überrascht hatte, dass sie so bereitwillig in die Mutterrolle geschlüpft war. Es gefiel ihr, auf die unablässigen Fragen eines Kindes zu antworten, das ihr bis zu den Hüften reichte. »Ich habe die Feigen ganz vergessen.« Jorie zeigte mir den Inhalt der Schale: dicke ovale Früchte in einer klebrig braunen Flüssigkeit. »Wir sollten die Kekse jetzt backen«, sagte ich. In dem Augenblick, als mir dieser Gedanke kam, hatte ich ihn auch schon 189
ausgesprochen. Es war Zeit für mich, auf konkretere Weise zu helfen. »Jetzt? Sie wollen mich ablenken«, sagte sie. »Ich möchte, dass Sie sich vorstellen, wie Nico hier durch die Tür gelaufen kommt«, sagte ich. Jorie seufzte. »Er wird hungrig sein. Dann können Sie ihm seine Lieblingskekse geben.« Jorie blinzelte. Dann war sie auch schon in Aktion. Einen Topf suchen. Die eingeweichten Früchte in den Topf geben und aufkochen, bis sich eine blutrote Flüssigkeit gebildet hatte, die sie unter Hinzufügen von Honig verdickte. Ich lehnte mich an den Küchentresen. Machte ihr Platz. Ich sah ihr zu, wie sie den Teig machte. Sie hatte es offenbar schon unzählige Male gemacht. Sie konnte im Schlaf Teig ausrollen, und in gewisser Weise bewegten wir uns beide wie im Traum. Ich hatte das Gefühl, als beobachtete ich Jorie durch einen dünnen Schleier hindurch. Sie ließ ein Stück Butter in einer Pfanne schmelzen, schlug sie mit dem Schneebesen auf und fügte etwas Vanille hinzu. Dann übergab sie an mich und zeigte mir, wie man Zucker zur Butter geben musste. »Nachdem Will vorhin gegangen war«, sagte sie, »fiel mir wieder ein, dass ich ihn vor langer Zeit mal habe Tennis spielen sehen.« Es war mir neu, dass sich Will und Jorie schon früher einmal begegnet waren. Jorie goss das Zucker-Butter-Gemisch in eine große Glasschale. Die Feigen kochten beinahe über. Sie stellte die Flamme niedriger. »Hat er Ihnen davon erzählt? Ich dachte, dass wir mal auf dieselbe Schule gegangen sind. In Kairo oder Istanbul. Aber es war Athen.« »Athen«, sagte ich. »Stimmt. Aber da war Will noch sehr jung. Ich weiß nicht, wie alt er war, als sie wegzogen, aber er 190
muss so um die zwölf, dreizehn gewesen sein.« »Das muss dann ungefähr zu dieser Zeit gewesen sein. Er war dünner und kleiner, und er hatte ganz langes Haar.« »Will mit langen Haaren«, sagte ich und grinste. »Die Diplomatenkinder haben es immer alle auf die Spitze getrieben. Mal sehen, wie viel man ihnen durchgehen lässt. Wie lange es dauern würde, bis sie jemand zum Friseur schleppte. Jedenfalls sehe ich ihn wieder vor mir, ein braun gebrannter Junge im weißen Tennisdress, der zum Volley ans Netz läuft und den Punkt macht. Er war ein Star.« Sie gab nach und nach Mehl zu der Butter-Zucker-Mischung. Dann knetete sie das Ganze vorsichtig, damit der Teig leicht und luftig blieb. Danach streute sie eine Hand voll geriebenen Ingwer hinein und knetete noch etwas weiter. »Sie waren Freunde«, sagte ich. »Wusste er das noch?« »Nein, er hat so getan, als würde er sich erinnern, aber ich konnte ihm ansehen, dass es nicht so war. Wir waren keine Freunde. Ich war neu, er ging weg. Wir waren keine Freunde, aber ich verknallte mich in ihn und ging dann irgendwann mit einem anderen Jungen aus dem Tennisteam. Ich bin ein oder zwei Jahre älter, aber ich erinnere mich, dass ich viel für Will empfand«, sagte sie. Der Teig war halb fertig geknetet und bereit für die gekochten Feigen, die erst noch zu einer Paste zerrieben werden mussten. Jorie goss die Früchte in ein Sieb und presste die Schalen mit der Handfläche aus, bis möglichst viel Fruchtfleisch passiert war. Dann kamen Saft und Fruchtfleisch wieder in den Topf zurück und wurden weitergekocht, und es wurde mehr Honig hinzugefügt, damit eine zähe Masse entstand. Dann musste die Paste auskühlen. Normalerweise wäre ich auf jeden eifersüchtig gewesen, der Will vor mir kannte. Der wusste, was für einen Gang, welche Energie er gehabt hatte. Aber bei ihr war es überhaupt nicht so; ich wollte mehr hören. 191
»Was können Sie mir noch von ihm erzählen?«, fragte ich. Jorie stieß die Luft aus. »Hatte er ältere Schwestern?« »Ja, stimmt«, sagte ich. »In seiner Gruppe war er so etwas wie der Anführer, aber …« »Aber?« »Er hat nie viel geredet. Ich meine, normalerweise ist ein Kind, das in seinem Tennisteam schon Einzel spielt und dessen Vater womöglich den Nobelpreis gewinnt, doch irgendwie gesprächiger. Sollte man meinen.« Ich stellte mir Will mit dreizehn vor. Nichts als Ellbogen und Knie. Seltsam schüchtern. »Er war still. Das ist alles, tut mir Leid, viel ist es nicht.« »Nein es ist schon eine Menge«, sagte ich. »Ich wünschte, er würde anrufen.« »Es ist sehr viel, danke«, sagte ich, als hätte Jorie mir ein Geschenk gemacht. Die Feigenpaste war ausgekühlt, und Jorie gab einen Löffel nach dem anderen davon in den Teig und knetete ihn wieder. Sie ließ mich ein Backblech mit Butter einfetten und zeigte mir, wie man den Teig zu kleinen Halbkreisen formt und diese dann in gleichmäßigen Abständen nebeneinander reiht. Wir machten zwei Bleche voll und schoben sie in den Ofen. Es würden noch viele Lagen folgen. »Wie waren Sie?«, fragte ich. »Damals?« Jorie war ein blasser Typ und wurde leicht rot. »Das wollen Sie nicht wirklich wissen«, sagte sie. »Erzählen Sie’s mir. Wie alt waren Sie, vierzehn, fünfzehn?« »Ich war ein wandelndes Ärgernis«, sagte Jorie. Sie strich sich das kurze Haar hinter die Ohren. »Die Tochter des Marineobersts.« »Sie waren nicht gerade eine Kirchgängerin«, sagte ich. »Oh, ich ging in die Kirche«, sagte sie. »Ich ging zur Kirche. 192
Ich war gut in Chemie. Und ich mochte die Tennisjungs. Ich lebte zwei Leben – belassen wir es dabei.« »In Ordnung«, sagte ich und kicherte. War es mir gelungen, sie abzulenken? Wir blieben einander gegenüber an die Arbeitsplatten gelehnt in der engen, kleinen Küche am warmen Ofen stehen. Ich hatte schon eine ganze Weile nicht mehr auf die Uhr gesehen; mit einem Mal war es fast sieben. In der letzten Stunde hatte ich keine einzige Sirene mehr gehört. Tatsächlich kam es mir so vor, als könnte ich den Straßenverkehr hören, die morgendlichen Lastwagen auf dem Périphérique. Es war meine Idee, bei Will nachzufragen. Er hatte das Handy, also wählte ich die Nummer. Will antwortete nicht; eine Stimme verkündete, dass das Gerät entweder ausgeschaltet oder nicht im Sendebereich sei. Ich versuchte es mit der Hotelnummer und bat, dass man mich mit dem Zimmer des Freundes seiner Familie verband; es war besetzt. »Druck ausüben auf die Polizei«, sagte Jorie. »Vielleicht sollten wir selber losgehen und –« »Nicht solange wir etwas im Ofen haben«, sagte ich. »Ich kann nicht glauben, dass wir hier Kekse backen«, sagte sie. Vorher war es mir nicht seltsam vorgekommen, aber jetzt schon. Kekse für einen Jungen, der aus der Schule zurückkam. Käme er jetzt durch die Tür, müsste man ihn in eine Decke wickeln, ihn wahrscheinlich ins Krankenhaus bringen und seinen Schock behandeln lassen. Die Kekse gingen in null Komma nichts auf und breiteten sich aus. Ich zog sie aus dem Ofen, und Jorie schob sie zum Auskühlen auf eine Platte. Ich formte eine weitere Lage Halbkreise. »Manchmal wünschte ich, ich würde an Gott glauben«, sagte Jorie. »Jetzt zum Beispiel.« Es trat eine Stille ein. 193
»Das empört Sie«, fuhr sie fort. »Keineswegs. Ich denke immer, ich wäre der einzige Ungläubige hier«, entgegnete ich, »und wenn die Leute dann mit Religion anfangen, schweige ich mich aus.« »Aber jetzt kommt’s. Ich glaube nicht an eine höhere Macht, klar, und trotzdem bin ich mir ziemlich sicher, dass ich für meine Taten bestraft werde.« »Sie wollten mit Lucs Kind die Stadt verlassen«, sagte ich rundheraus. »Ich weiß nicht, wer oder was mich straft. Aber ich zahle einen Preis.« Jorie probierte einen Keks. »Danke«, sagte sie. Ich war mir nicht sicher, wofür sie sich bedankte. »Dass Sie nicht gesagt haben, ich würde nicht bestraft. Dass Sie mich in aller Ruhe verrückt spielen lassen.« Ich biss in einen warmen Halbmond. Er war zu süß für mich, aber perfekt für einen kleinen Jungen, dachte ich. Der Keks schmeckte mehr nach Mandeln als nach Feigen. Die ganze Wohnung roch inzwischen nach warmem Honig. Wir sahen einen Fußgänger den Kanal entlangspazieren. Jorie setzte sich an den Esstisch. Ich sammelte die dolchartigen Splitter vom Boden auf. Wir stellten das Radio an, es gab keine neuen Nachrichten. Ich wählte die Handynummer – keine Antwort –, und im Hotel war immer noch besetzt. Wir warteten. Es war unvermeidlich hell geworden, und wir konnten nichts weiter tun als herumsitzen und warten und gedankenverloren Kekse essen und warten und eine neue Lage backen und warten. Schließlich klingelte das Telefon. Jorie ging ran. Sie schüttelte den Kopf; es war nicht Will. »Hallo, Luc«, sagte Jorie mit tonloser Stimme. »Wo bist du?« Ich starrte auf den Tisch. Der Lack war unwiderstehlich; ich 194
schnippte eine Landzunge von der übrig gebliebenen Insel ab. »Keine Flüge, bis wann?«, fragte Jorie. »Verstehe. Nein, nichts. Es tut mir Leid, es gibt nichts Neues. Na dann … ja, Luc. Ich höre dir zu, Luc.« Dann wurde Jorie sehr still. Sie war am Wandtelefon in der Küche und drehte sich von mir weg. Ich dachte, ich sollte mich besser zurückziehen. »Du hattest Angst. Das weiß ich doch«, sagte Jorie. Ich ging ins Schlafzimmer. Es war ein quadratischer Raum, kaum groß genug für die niedrige Matratze und die Nachtschränkchen. Eine Lampe vom Sperrmüll mit türkisfarbenem Keramikfuß. Ein offener Schrank, eine gepackte Tasche, das war alles. Auf dem Nachttisch stand ein altes Telefon, ein typisch französisches Telefon mit zweitem Hörer auf der Rückseite. Ich hatte genau so eines in meiner Wohnung. Heftiges Rauschen, eine schwache Verbindung. Luc sprach in einem übermüdeten Bass. Mir war klar, dass er litt, seine Stimme klang ganz brüchig. »Ja, aber … ich hätte das alles nicht zu dir sagen dürfen, Jorie.« »Ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Wirklich, es ist nicht wichtig.« »Nico ist das Einzige, was jetzt wichtig ist«, sagte Luc. »Ja, das stimmt.« »Ich hätte nicht so grob sein dürfen«, fuhr Luc fort. Jorie holte tief Luft, was sich in meinem Ohrhörer sehr laut anhörte. »Du bleibst da sitzen und wartest«, fuhr Luc fort. »Ich warte ja. Heute habe ich jemanden getroffen. Einen amerikanischen Diplomaten. Er hat mir geholfen. Und uns geholfen.« »Gut. Gut.« Pause. 195
»Weißt du noch, die Schachtel im Schrank? Die mit Thérèses Sachen?«, fragte Jorie. »Musst du davon jetzt anfangen?« »Ich muss dich etwas über diese Geschichten fragen«, sagte Jorie. Luc schwieg. »Du weißt, dass es mir lieber ist, wenn die Schachtel bleibt, wo sie ist«, sagte er schließlich. »Diese Geschichten über den Prinzen, der sich in alles Mögliche verwandeln kann. Die gegnerische Armee, die er in Feigenkekse verwandelt. Thérèse hat sie doch vor Nicos Geburt geschrieben, oder? Wusste sie, dass ihr einen Jungen bekommen würdet? Und sie hat sie in Französisch geschrieben, nicht in Arabisch, obwohl die Dialoge arabisch sind – darüber habe ich mich schon immer gewundert.« Luc schwieg weiter. Ich glaubte, Stimmen im Hintergrund zu hören. »Luc«, sagte Jorie. »Meine Mutter hat diese Geschichten geschrieben«, sagte er kaum hörbar. »Der Prinz bin ich.« »Oh, ich verstehe«, sagte Jorie. »Meine Mutter hielt Französisch für eine literarische Sprache. Als junge Frau wollte sie Französin sein, in Frankreich leben. Sie hat die Geschichten für mich aufgeschrieben – obwohl, von den Dialogen weiß ich nichts.« »Ich habe Feigenkekse für ihn gemacht«, sagte Jorie. »Du hast diese Kekse gemacht? Mit was für einem Rezept? Wie?« »Ich mache sie andauernd«, sagte Jorie. »Das habe ich nie gesehen«, sagte Luc. »Ich weiß«, gab Jorie zurück. »Jorie, es tut mir Leid, was ich zu dir gesagt habe.« Nun war es Jorie, die schwieg. »Ich weiß«, sagte sie schließlich. »Der erstmögliche Flug«, sagte Luc. 196
»Luc«, sagte sie. »Ich habe ihn noch nicht gefunden, aber hör mir zu: Ich werde ihn finden.« »Der erste Flug, den ich kriegen kann«, sagte Luc. »Pass nur auf, ich bin bald bei dir.« »Luc«, sagte Jorie. »Pass nur auf, aber –« »Luc«, sagte sie wieder. »Oui?« Sie zögerte. »A bientôt«, sagte sie dann. »A bientôt«, antwortete er und legte auf. Ich fragte mich, was sie ihm wohl hatte sagen wollen und dann doch nicht gesagt hatte. Dass sie ihn liebte. Dass sie ihn nicht liebte und ihn verlassen würde, und dass Luc den Jungen, wenn er nicht entführt worden wäre, nie wieder gesehen hätte. Dass Nico vielleicht nie wieder zurückkam – sie mussten sich auf ein freudloses Leben ohne ihn einrichten. Ich legte den Kopfhörer auf die Halterung zurück und ging wieder ins Wohnzimmer. Jories Hand lag immer noch auf dem Telefon. »Ich hasse mich«, sagte sie. »Hören Sie doch bitte damit auf«, sagte ich. »Wie viel haben Sie gehört?«, fragte sie. Ich muss wohl rot geworden sein. »Inzwischen macht mir das auch nichts mehr aus«, sagte sie. »Ich habe viel gehört«, gab ich zu. »Wenn ich Nico heute einfach zum Kindergarten hätte gehen lassen. Wenn ich ihn nicht zum Fluss geschleppt hätte –« »Hören Sie auf damit«, schnitt ich ihr das Wort ab. Jorie nahm eine Geldscheinrolle aus ihrer Hosentasche. Ich starrte auf das Bargeld. Was sollte ich ihrer Meinung nach jetzt sagen? »Und sein Geld wollte ich auch mitnehmen. Etwas davon gehört auch mir, natürlich, aber das meiste ist seins«, sagte Jorie. 197
Ich sah auf den Kanal hinaus. Die Sonne schien jetzt schon hell genug, dass ich erkennen konnte, dass die Bäume auf der ganzen einen Seite abgebrannt waren. Übrig blieben nur schwarze Stümpfe. »Ich glaube, wir werden Nico finden«, sagte Jorie. »Sie müssen so denken«, sagte ich. »Wir werden ihn finden. Und dann machen wir, dass wir so schnell wie möglich hier rauskommen.« Bevor Luc zurückkam. Ich brauchte es nicht laut auszusprechen. »In Frankreich können wir nicht leben«, sagte sie. Das Telefon klingelte. »Will«, sagte Jorie. »Wo bist du? Immer noch im Hotel?« Ich wartete, bis ich an der Reihe war. »Gut«, sagte sie. »Bald. Hoffe ich.« Sie sah nicht besonders ermutigt aus durch das, was Will ihr gesagt hatte, und ich verstand, warum: Er hatte wenig zu berichten. »Was genau tust du?«, fragte ich. Ich wollte nicht vorwurfsvoll klingen. »Wir haben Leute angerufen«, sagte Will. »Vielleicht führt uns das irgendwohin, ich weiß es nicht.« »Mehr kannst du mir nicht sagen?«, fragte ich. »Nein«, sagte Will. »Ihr beide bleibt einfach, wo ihr seid, okay?« Jorie war im Schlafzimmer verschwunden und kam mit einer schwarzen Lederjacke an Stelle ihrer Strickjacke wieder. »Will«, sagte ich. Ich fand es irritierend, dass er mir so gar keine Information geben konnte. Irritierend und verdächtig: Was sollte ich nicht wissen? »Ich erkläre alles später«, sagte Will. »Ich versprech’s, aber jetzt muss ich wieder zu meinen Anrufen zurück.« »Warte«, sagte ich – sowohl zu Will als auch zu Jorie. Sie suchte nach etwas im Schrank – Handschuhen, die sie 198
anzog. »Sag mir eins«, sagte Will. »Dieser Ort, wo dein Freund sein Landhaus hat.« »Didier?« »Wo ist das genau?«, wollte Will wissen. Jorie ging zur Tür hinaus, ohne sie hinter sich zu schließen. Ich war geistesgegenwärtig genug, den Ofen auszumachen, ohne jedoch die verkohlenden Kekse herauszuholen. »Will, warum?« »Ich verspreche, dass ich es später erklären werde«, sagte er. Ich nannte ihm Ort und Straße. Ein etwas von der Straße zurückgesetztes Haus mit asymmetrischen Fenstern und weit heruntergezogenem Dach. Ich war nur einmal dort gewesen, wusste aber genau, wo es lag. »Warte, Will«, sagte ich. Ich lief den Flur entlang hinter Jorie her. Vor der Tür von Nachbarn, wo sie mit einer Frau im Bademantel sprach und sich gerade ein weiteres Handy auslieh, holte ich sie ein. »Merci«, sagte Jorie. »Oui, oui. J’espère que vous le retrouverez«, sagte die Nachbarin. Jorie eilte den Flur entlang. »Will hat gesagt, wir sollen warten«, rief ich ihr nach. Sie sprang die Stufen zur Halle hinunter und lief auf den Hof und die Straße zu. Ich holte sie ein und packte sie beim Ellbogen. »Will sagte, wir sollen warten«, sagte ich wieder. »Er hatte Zeit, aber kein Glück«, sagte sie. »Wir können ihn später anrufen.« »Jorie«, sagte ich. »Gehen Sie zurück, und holen Sie Ihren Mantel. Ich warte auf Sie.« Das Laufen hatte mich schwindelig gemacht. Jetzt stellte ich mich vor sie und legte ihr die Hände auf die Schultern, eher, 199
um mich selbst festzuhalten als sie. »Wohin gehen wir?«, fragte ich. »Die Sonne scheint jetzt«, sagte Jorie. Das stimmte. »Wir müssen suchen«, sagte sie. Nico. Nicolas. Komm raus, damit wir dich sehen können. WIR DURCHSTREIFTEN DIE NACHBARSCHAFT, schweigend, dort entlang, wo Jorie wahrscheinlich regelmäßig vorbeikam. Über den Markt mit seinen Lattenbuden, am Fischgeschäft vorbei, wo ein Laster den neuesten Fang in Wannen mit gestoßenem Eis entlud, vorbei an der Bäckerei, aus der einem das reine Aroma aufgehender Hefe entgegenwehte: Paris war wieder wie sonst auch. Aber war es das wirklich? Wir ließen Didiers Auto vor Jories Haus stehen und gingen zu Fuß in südlicher Richtung durch das Neunzehnte. Überall lag Müll herum, ein Teppich aus zerbrochenem Glas. Wir kamen an einem Dutzend knorriger, verkohlter Baumstümpfe vorbei. Wir gingen südlich bis zum Parc des Buttes Chaumont und machten sogar einen Rundgang über die aufgesprengten Hügel und die künstlichen Lagunen, dann wandten wir uns nordwärts auf die Betonwohnblocks zu und ganz nach Norden bis zu den Eisenbahnschienen. Nach dem Nationalfeiertag am vierzehnten Juli sah die Stadt immer irgendwie geplündert aus; an diesem Morgen jedoch wirkten die Zerstörungen viel schlimmer – aufgesprühte Graffiti, hier und da ein umgekipptes Auto, abgeknickte Straßenschilder –, und trotzdem wurde von Stunde zu Stunde deutlicher, dass die Franzosen zu ihrem gewohnten Tagesablauf zurückkehrten. Es war Samstag, und nur wenige schienen zur Arbeit gehen zu müssen. Wir sahen sie erst in kleinen Grüppchen hervorkommen, dann in immer dichterer Abfolge, Leute, die ihren Hund Gassi führten oder mit dem neuesten Flugblatt vor der Nase in die Metro stiegen. Binnen kürzester 200
Zeit rauschte der Verkehr auf den Place de Stalingrad zu, und wir konnten die Autos über den Périphérique jagen hören. Züge verließen den Bahnhof. Die Metro kam und fuhr wieder an. Wusste die Stadt denn nicht, dass immer noch Kinder vermisst wurden? Sahen all diese Leute denn die Glasscherben und die verkohlten Bäume nicht? Wie konnte Paris so mühelos zu seinem gewohnten Rhythmus zurückfinden? Jorie gab den Weg vor. Meine Beine taten weh, und ich hatte Seitenstechen, aber irgendwie schaffte ich es trotzdem, ihr zu folgen, meistens einen Schritt zurück. Es war heute Morgen mindestens zehn Grad kälter als am Tag zuvor; der Wind machte mich taub. Ab und zu sprach sie den Namen ihres Jungen aus, aber es war eher ein Flüstern als ein Schrei. Wir gingen herum, kreuz und quer, liefen ein Geflecht von Straßen entlang und wanden uns wieder heraus, und mir kam es so vor, als würden wir weniger nach Nico suchen, als dass wir ihm die Möglichkeit gaben, uns zu sehen. Er hockte dort, wo er sich die ganze Zeit über versteckt gehalten hatte, und dann würden wir vorbeischlendern, und dann würde er sich zeigen und angelaufen kommen – was war das für ein langes Versteckspiel gewesen. Er würde ungnädig das Gesicht verziehen: Wieso habt ihr so lange gebraucht? Das musste die einzige Strategie bei unserer Suchaktion sein, auch wenn sie weder logisch war noch irgendwie Methode hatte. Ich war viel zu ausgebrannt, um zu protestieren – und wenn ich schon müde war, ließ sich Jories Müdigkeit überhaupt nicht bemessen. Wie hielt sie sich nur auf den Beinen? Ein anderer Gedanke: Wir konnten an Nicos Versteck vorbeikommen, und er würde uns vielleicht mit seinen dunklen Augen sehen und trotzdem vorbeiziehen lassen. Das wäre dann die Strafe dafür, dass wir ihn nicht früher gerettet hatten. Er war vier. Ein Vierjähriger würde sehr lange wütend sein. Wir suchten im Parc de la Villette. Wir mussten uns gegen den steifen Wind lehnen, der zwischen der Konzerthalle und 201
dem Wissenschaftsmuseum über die Freifläche pfiff. Die Morgensonne spiegelte sich im quecksilbrigen Globus der Géode, sodass ich Kopfschmerzen bekam. Während wir um das Museum herumstrichen, erzählte Jorie mir eine Geschichte. Früher war Luc mit Nico am liebsten hier ins Museum gegangen. Das war vor einiger Zeit gewesen, noch bevor Luc angefangen hatte, so viel zu reisen, als Nico gerade Laufen lernte. Luc schob immer den Kinderwagen bis hierher und ließ dann den Jungen (angetan mit Knieschützern) versuchen, allein zurechtzukommen. Damals war die Cité de la Musique noch im Bau, und Jorie erinnerte sich, wie Luc, der Ingenieur, den kleinen Nico auf den Schultern an den Rand der Baustelle trug und ihm erklärte, was dort passierte: Siehst du die Stahlträger da, Nico? Siehst du, wie sie auf den Betonpfeilern sitzen? Das ist Zauberei. Das gesamte Gewicht der Konzerthalle wird auf diesen Pfeilern ruhen. Ja, und die Säulen und Balken da werden so stark sein, dass es auch viel Glas geben wird. Ganz viel Glas. Es wird dir gefallen. Nico nahm das alles in sich auf, grinsend und kichernd. Wahrscheinlich war es ganz egal, was Luc sagte; Nico betete ihn an. Wir gingen über die Freifläche zum Boulevard zurück. Jetzt hatten wir den Wind im Rücken. Jorie erzählte mir eine andere Geschichte: Eines Tages, das war auch schon lange her, kam Luc mit einem Bündel Holzstäbe und einer schneeweißen Rolle Bastelpapier nach Hause. Unter Nicos prüfenden Blicken stutzte er das Holz zurecht und schnitt Rauten aus dem steifen Papier. Er erläuterte jeden einzelnen Schritt, erklärte Aufwinde und Drift, zeigte dem Jungen, wo er das klebrige Papier gegen das Holz drücken musste, und sagte ihm, wann er wieder loslassen sollte. Luc kümmerte sich um die Aerodynamik, überließ die ästhetische Umsetzung der Drachen jedoch zur Gänze seinem Sohn. Nico bemalte das Papier mit Magic-Markern, klebte Flitter auf, befestigte verschiedenste Glitzerstreifen als 202
Schwanz. In diesem Winter hatten sie ein halbes Dutzend Drachen gebaut. Und dann, als der Schnee geschmolzen war, waren Luc und Nico sonntagmorgens noch vor dem Massenandrang wieder in den Parc de la Villette gegangen. Jorie erinnerte sich noch an einen Morgen im März, als der Winter zu Ende ging, es aber immer noch sehr kalt war und der Wind pfiff. Luc hielt die Rolle mit der Schnur und gab Nico den Drachen. Er war fast so groß wie das Kind. Nico stolperte erst ein bisschen, flitzte dann aber über die Betonfläche, und Luc ließ die Schnur von der Rolle spulen, und der strahlende blau-rot-grüne Diamant begann sich zu erheben. Lass los, schrie Luc dem Jungen zu, und Jorie rief auch, lass los. Nico hörte sie zunächst nicht, drehte sich aber zu ihnen um, und diese unvorhergesehene Drehung zwang ihn, den Drachen loszulassen, und er stieg hoch und höher und höher und höher. Nico sah zu, wie der Drache sich in die Lüfte erhob. Er ließ sich auf den Po fallen und blieb einfach sitzen. Der Drache schoss zur Seite, ging in den Sturzflug. Luc drehte das Handgelenk, zog die Schnur ein wenig ein, ließ wieder Schnur nach. Er wusste, was er tat. Nico klatschte in die Hände, sprang hoch und kam zu Jorie gelaufen; er umarmte sie ganz fest. Dann schoss er zu Luc hinüber, der ihm die Schnüre in die Hand gab. Es sah aus, als würde Nico gleich mitfliegen, als ein Windstoß den Drachen plötzlich erfasste, und man hatte den Eindruck, als hätte Luc mit seinen Ingenieurskünsten ein wenig zu viel des Guten getan und der kleine Junge würde jeden Moment über den Platz getragen werden. Aber Luc kniete gleich hinter ihm, sprach dem Kleinen ins Ohr und zeigte ihm, wie er den Drachen steuern und mit dem Wind fertig werden konnte. Ich war nicht sicher, warum sie diese Geschichte erzählte: Wollte sie mir damit sagen, dass Luc kein schlechter Vater war? Oder erinnerte sie sich nur voller Wehmut an unbeschwertere Tage? Ein Vater und sein Junge, die ihren Drachen fliegen lassen. Wo waren sie nun, dieser Vater und sein Sohn? 203
Beide irgendwo in der weiten Welt. Weit fort. Nahe, und doch verborgen. Wir gingen auf der Rue de Flandre zum Place de Stalingrad. Der Wind kräuselte das Wasser im Kanal. Mir wurde klar, wohin wir gingen. In der Ferne konnte ich die Rotonde sehen. Mir fiel wieder ein, was Will mir erzählt hatte, über Jories Zusammenstoß mit dem Straßenjungen. »Lass uns nicht dort hingehen.« Ich musste es einfach sagen. »Da hängt so eine Bande rum, und ein Junge davon war bei den Typen dabei, die Nico geschnappt haben. Er hatte rote Haare. Ich habe ihn hier gesehen«, sagte sie. Aber als wir den Platz erreichten, blieb sie stehen, und ich selbst stand auch starr und stumm da, als wir dem Bau von Ledoux gegenüberstanden. Ich dachte, warum hier, warum jetzt? Leute überquerten eilig den Platz, um einen einfahrenden Zug zu erreichen. Fielen ihnen die eingeworfenen Straßenlaternen denn gar nicht auf? Ledoux’ Zollhaus selbst sah auch so aus, als wäre es gestürmt worden: Auf den Stufen lagen Dekken und Haufen von nassen Kleidern herum; die schon vorher von Ruß und Graffiti bedeckten Säulen wirkten, als wären noch mehr frische Asche und Buchstabengeschmier dazugekommen; die Fenster im Obergeschoss waren größtenteils zerbrochen. Armer Ledoux. C’est la Révolution, noch einmal ganz von vorne. Die Bürger, die die Grenzhäuser überfallen und seine Stadtmauer einreißen. Un sang impur abat tes maisons. Jorie ging zögernd über das Kopfsteinpflaster auf die Säulen und die Stufen zu. Menschen auf dem Weg zur Arbeit eilten an ihr vorüber. Der Platz roch giftig, nach verbranntem Benzin. »Nico«, sagte Jorie. »Nicolas?« Wir zogen unsere Schals über den Mund. Wie ich schon sagte, das hier war das einzige von Ledoux’ Zollhäusern, das ich noch nie betreten hatte. Mein Puls jagte: Eine der beiden bronzenen Türen war aufgeschoben. 204
»Nico«, sagte Jorie. Ich folgte ihr ins Innere, und obwohl es sehr dunkel war, stellten meine Augen sich nach einer Weile darauf ein. Ich rief mir den Stich des Architekten für diese Rotonde vor Augen, den klaren, sicheren Strich, mit dem er sein Ideal geometrischer Form und das unnachahmliche Gleichgewicht der Proportionen festhielt, und vergaß für einen Moment, warum wir hergekommen waren; ich sah nichts als die zweidimensionale Wiedergabe in Tinte, die sich ganz allmählich über eine neue Achse entfaltete. Ich hielt den Atem an, und die Zeichnung, der Raum wurden Wirklichkeit. Die Deckenwölbung. Die Symmetrie der Torbögen. Die glatten Steinoberflächen. Einmal mehr fühlte ich mich bei dem Meisterarchitekten bestens betreut: Die Räume waren groß, aber auch nicht so groß, dass ich mich darin verloren gefühlt hätte – er baute ein Monument, legte aber einen menschlichen Maßstab dafür an. »Nico«, sagte Jorie. Ihre Stimme hallte und wurde hart zurückgeworfen. Der Raum war leer. Es war niemand da. Keine Bande, keine Menschenseele – das war sofort klar. Jorie nahm mich bei der Hand und ging voran in einen dunkleren Raum. Der Boden war kalt, stellenweise aufgeworfen. Wir traten immer wieder auf Schnapsflaschen. Ich bemerkte ein altes Sofa mit heraushängenden Sprungfedern. Dann kamen wir an einer Garderobe vorbei – die Stoffe daran waren verbrannt. Brandgeruch und Fäulnis machten einem das Atmen schwer. Meine Augen gewöhnten sich wieder an das Dunkel. »Nico«, sagte Jorie und ging die Treppe hinauf. Ich ließ ihre Hand los. »Ich bin hier, Schätzchen.« Ich blieb im Erdgeschoss zurück und sah mich noch einmal um. Dann schlenderte ich wieder in den ersten Raum und lehnte mich gegen eine quadratische Säule. 205
Wer hatte dieses Gebäude so verschandelt? Was war hier geschehen? Ja, ja, das hier waren schöne, wohlkonstruierte Räume, aber jetzt bemerkte ich einen Haufen zerbrochener Stühle. Er sah aus wie ein Scheiterhaufen, den anzuzünden nicht mehr genug Zeit gewesen war. Ich trat einen Schritt zurück und stolperte beinahe über den abgebrochenen Arm eines Kandelabers. Was war das für ein Ort? Wozu war er geworden? Auf dem Boden lag eine Axt. Farbspraydosen. Ein Kinderfahrrad ohne Räder. Ich war sehr müde, schon fast wie in Trance, aber ich blinzelte und sah eine Gestalt, vor mir stand ein Mann: ClaudeNicolas Ledoux. Er trug einen Samtrock mit goldenen Knöpfen, seine Puderperücke war leicht verrutscht, sein Rüschenkragen zerrissen. Sprach er mit mir? Was sagte er? Es ist die Eigenart eines Monumentes, beinahe ihre Natur – vielen Dank, wir kennen es auswendig – der Beförderung und Reinhaltung der Moral zu dienen. Aber was sollte das überhaupt bedeuten? Natürlich drückten sich in einem Gebäude die Eigenart und die ethischen Werte seiner Erbauer aus, aber worauf wollte Ledoux hinaus – was wollte er tatsächlich sagen? Wissen Sie, ich hatte immer darauf vertraut, dass sich unter der Oberfläche irgendeine tiefere Bedeutung verbergen müsse, die sich einem ohne den richtigen Kontext niemals erschließt, aber jetzt war ich mir dessen gar nicht mehr so sicher. »Pedro?«, rief Jorie von oben. »Ich komme«, rief ich zurück. Die Eigenart eines Monumentes. Die Reinhaltung der Moral. Ein Anfall von Panik ließ mich erzittern – Panik und dann Wut. In meinem Kopf hörte ich Didiers Stimme: Nur ein Mann wie alle anderen. Voller Kompromisse. Reinhaltung – wie? Moral – was für eine Moral? 206
Sieh dich um. Sieh dich jetzt einmal um in deinem Monument, Monsieur Ledoux. Welche Moral wird hier denn wohl rein gehalten? Kannst du mir das sagen? Also bitte, Ledoux. Erklär’s mir. Ich begann die Treppe hinaufzusteigen, blieb aber auf einer der untersten Stufen stehen. Plötzlich wusste ich zwei Dinge mit niederschmetternder Deutlichkeit: erstens, dass ich Ledoux’ Form nicht mehr von ihrem Inhalt trennen, ja, vor ihm retten konnte – das war eine bequeme Auffassung, die keinen Bestand haben konnte; und als Folge daraus, als zweite Eröffnung, dass meine Zeit mit dem Architekten vorüber war. Ich konnte diesem Architekten nicht noch mehr Lebenszeit widmen. Seine Steinflächen würden mir immer den Atem rauben, aber im Endeffekt mochte ich ihn nicht besonders. Ich wollte sehr lange schlafen. »Pedro. Kommen Sie her.« In dem runden Raum im oberen Geschoss, gab es mehr Licht, aber der Obergaden war mit Packpapier verklebt, und man hatte immer noch Mühe zu sehen. Auf dem Boden lagen Matratzen herum. Noch ein Kleiderhaufen, dieses Mal nicht verbrannt; sie sahen wie neue Mäntel aus, noch in der Plastikhülle. Ein riesiger Haufen leere Flaschen. An der Wand festgepinnt die französische Flagge. Und in der Mitte des Raumes eine Gipsstatue, ein Bildnis einer jungen Frau mit Pagenkopf und Rüstung, die Schwert und Schild hielt und zu ihrem himmlischen Hirten aufblickte. Ich nahm an, dass es sich um die Jungfrau von Orléans handeln musste, die heilige Johanna, aber sicher war ich nicht. »Hier drüben«, sagte Jorie. Sie stand neben einem Pfeiler, und als ich nahe genug war, zog sie mich neben sich hinter den Pfeiler. Sie zeigte mit dem Finger. Ich sah hin und schnappte nach Luft. Hinter einem anderen Pfeiler schimmerte uns ein Augenpaar entgegen. Es waren kleine Augen, nahe am Boden. Sie hätten 207
zu einer Katze gehören können. Es war ein Kind. Mein Herz schlug schneller. Konnte das möglich sein? »Wir wollen ihm keine Angst machen«, sagte Jorie. Ich hielt sie am Arm fest. »Nico?«, flüsterte ich. Jorie holte tief Luft. Natürlich nicht. Wenn es Nico gewesen wäre, hätte Jorie ihn schon hoch genommen. Eine Mutter erkannte ihr Kind selbst im Dunkeln. Erst recht im Dunkeln. Wir traten ins Freie. Das Kind kam hinter seinem Pfeiler hervor, huschte dann aber gleich wieder in den Schatten zurück. Jorie ließ sich auf die Knie nieder. Ich tat es ihr nach. »Qui est là?«, fragte sie. »Es ist alles gut. Bei uns bist du sicher.« Das Kind hatte sich jetzt ganz fest gegen die Wand gepresst und blinzelte uns wie gelähmt an. Jorie kroch vorwärts. Ich blieb, wo ich war, ebenfalls wie erstarrt. »Wir tun dir nichts«, sagte Jorie. »Lass dich mal sehen.« Das Kind rührte sich nicht. »Wir suchen nach einem kleinen Jungen namens Nico«, sagte Jorie. »Stattdessen haben wir dich gefunden. Wir können dir helfen. Lass dich mal sehen.« Das Kind machte einen Schritt von der Wand weg, aber mehr nicht. »Lass dich sehen, Schätzchen.« Jorie streckte die Hand aus. Ich saß am Boden und sah zu. Dann versuchte sie es mit einer anderen Sprache. »Mumkin tanee. Mumkin tanee«, sagte sie. Dann lachte sie. »Was ist?«, flüsterte ich. »Mein Arabisch ist furchtbar«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe gerade um eine zweite Portion gebeten.« 208
Aber das Kind hatte darauf reagiert, indem es in den Lichtstrahl trat, ein Widerschein des Morgens, der durch ein zerbrochenes Fenster hereinkam. Jetzt konnte ich sehen, dass es ein Mädchen war. Sie trug eine Jeans und eine Jacke mit Fleecekragen. Sie musste ungefähr in Nicos Alter sein, aber das war schwer zu sagen. »Versuchen Sie es mit etwas anderem«, sagte ich. »Tísbah àla khayr«, sagte Jorie. Das Mädchen zwinkerte. »Àna musàfir li-wàhdee.« Das Mädchen trat noch einen Schritt vor. Ich konnte sie gut sehen. Sie runzelte die Stirn. »Mir ist etwas eingefallen«, sagte Jorie. »Ein Lied.« »Singen Sie es«, flüsterte ich. »Màtkhefsh al-layl«, sagte Jorie. Dem Mädchen liefen die Tränen über die Wangen. »Màtkhefsh al-layl«, wiederholte Jorie und verfiel in einen Singsang, eine leise Melodie. »Màtkhefsh al-layl.« Sie wagte eine Bewegung. Sie streckte die Arme aus und zog das Mädchen zu sich auf den Schoß. Das Mädchen schlotterte. Jorie strich ihr über die feuchten Haare. Sie hielt sie ganz fest und wiegte sie hin und her. »Du bist in Sicherheit«, sagte sie. »Ich bringe dich hier raus. Gleich jetzt.« Ich kroch hinüber und setzte mich neben ihnen auf den Boden. »Was war das, was Sie da gesagt haben?« »Màtkhefsh al-layl«, sagte Jorie. Das Mädchen weinte. »Fürchte dich nicht vor der Dunkelheit.« Jorie trug das Mädchen die Stufen hinunter und auf den Platz hinaus. Das Gesicht des Mädchens war schmutzig. Jorie setzte sich auf die Stufen der Rotonde, während ich nach einem Polizisten Ausschau hielt. Es dauerte eine Weile, aber schließ209
lich fand ich zwei Beamte in einem Streifenwagen, der am Kanal parkte. Sie waren immer noch in Kampfausrüstung, aber als sie die Situation erfasst hatten, setzten sie ihre Helme ab. »Ein vermisstes Kind«, vermutete ich. »Du bist so ein hübsches Mädchen«, sagte Jorie zu dem Kind. »Das bist du. Deine Eltern werden so erleichtert sein, dich zu sehen. Kannst du uns vielleicht deinen Namen sagen? Ismak ay?« Das Mädchen antwortete nicht. Sie sagte kein Wort. »Hoffen wir, dass es eins von den bereits vermisst Gemeldeten ist«, sagte einer der Polizisten. Der andere ging zu dem Streifenwagen zurück und holte eine Liste heraus. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten, von denen wir wissen sollten?«, fragte ich. Ich erklärte, wer wir waren, und bat um Nachricht über Nico. Der zweite Polizist kam mit einem Computerausdruck zurück. »Bisher nichts Neues über Nicolas Chamoun«, sagte er. Jorie schien uns überhaupt nicht zu hören. Sie redete unablässig mit dem kleinen Mädchen, strich ihr über das Haar und drückte sie fest an sich. »Màtkhefsh«, sagte sie. »Es freut mich, Ihnen sagen zu können, dass drei Kinder zurückgebracht worden sind«, sagte der Polizist. »Und es gibt eine unbestätigte Meldung über ein viertes.« »Das ist gut«, sagte ich. »Gut zu hören.« »Aber nicht gut genug. Die meisten sind noch vermisst«, fügte der Polizist hinzu. »Wenn wir jetzt also herausfinden könnten, wie dieses kleine Mädchen heißt, dann wäre das sehr hilfreich.« »Sehen wir uns mal Ihre Liste an«, sagte ich. »Vielleicht können wir es im Ausschlussverfahren erraten.« »Nein, es ist besser, nicht zu raten«, sagte der Polizist mit 210
dem Computerausdruck. »Das könnte riskant sein. Dann sagt man den falschen Eltern Bescheid.« Ein lärmender Schwarm von Fußgängern kam vorbei, und das Mädchen zuckte zusammen. Einige Pariser bemerkten Jorie und das Mädchen auf den Stufen der Rotonde und bildeten einen Kreis um uns. Ein Polizist fragte, ob einer von ihnen das Mädchen kenne, aber niemand hatte sie früher schon einmal gesehen. »Ismak ay? Màtkhefsh«, sagte Jorie und setzte das Mädchen auf ihrem Schoß so hin, dass sie ihm in die Augen sehen konnte. »Ismak ay?« Das Mädchen machte den Mund auf. »Ismak ay?«, fragte Jorie wieder. Und da antwortete das Mädchen mit ganz leisem Stimmchen: »Ismee Sarah.« Der erste Polizist sah aufsein Notizbrett und fing an zu grinsen. Der zweite sprach in sein Walkie-Talkie. Sarah. Das Mädchen hieß Sarah, und nun händigte Jorie sie mit einigem Zögern den Polizisten aus. Sie wussten, wer sie war, zu wem sie gehörte. Sie würden anrufen und den Eltern Bescheid geben. Sie würden sie nach Hause bringen. »Möchten Sie mit uns kommen?«, fragte einer der Polizisten. »Die Eltern wollen sich sicher bei Ihnen bedanken.« »Wir müssen weiter nach Nico suchen«, sagte Jorie. Sie gab dem Mädchen zum Abschied einen Kuss, bevor es auf dem Rücksitz des Streifenwagens angeschnallt wurde. Der Wagen fuhr davon. Mit Blaulicht. Die Risse in der Wolkendecke wurden breiter und ließen den Place de Stalingrad immer mehr im Sonnenlicht erstrahlen. Ich schlug vor, in ihre Wohnung zurückzugehen, aber Jorie wollte nicht. »Wir müssen uns bei Will melden«, sagte ich. Jorie war einverstanden, aber zuerst ging sie zu den Stufen 211
der Rotonde zurück und setzte sich. »Ich bin so müde, Pedro«, sagte sie. »Dann bringe ich Sie nach Hause.« »Da kann ich nicht mehr hin«, war ihre Antwort. Sie fürchtete jetzt das Schlimmste, und sie hatte allen Grund dazu. Wenn man ein Kind am Tag findet, kann man sich schon glücklich schätzen. Wir würden an diesem Morgen nicht noch ein Kind finden, so einfach war das; die Wahrscheinlichkeit sprach gegen uns. »Sie bleiben da sitzen«, sagte ich, »und ich rufe an.« Jorie zog die Knie vor die Brust und wiegte sich auf ihrer Stufe. Rundherum waren hupende Autos und Frauen mit Aktentaschen oder Einkaufstüten. Männer mit Hunden und ein paar Teenager mit Rucksäcken. An einem grünen Kiosk wurden Zeitungen verkauft. Auf der anderen Straßenseite kurbelte ein Ladenbesitzer die Markise aus. Eine Frau mit einer Brotstange. Paris war in Bewegung, aber Jorie Cole machte sich klein. Die Zeit existierte nicht. Die Zeit war stehen geblieben. Ich wollte nicht, dass sie zuhörte, wenn ich mit Will sprach; keine Nachrichten wären schlechte Nachrichten, und ich wollte nicht, dass sie das hörte. Während ich über den Platz ging, ließ ich sie nicht aus den Augen. Ich beobachtete sie, während ich die Nummer des Hotels wählte und verbunden wurde. Ein Mann antwortete, ich fragte nach Will. »Darf ich fragen, wer dort spricht?« »Ist dort Mr. Jencks?«, fragte ich. »Ich bin sein Assistent«, sagte der Mann. Ich war von Straßenlärm umgeben – ich konnte nicht gut hören. Der Assistent erklärte mir etwas, aber ich konnte nicht verstehen, was er sagte. »Sprechen Sie lauter«, sagte ich. »Sie müssen Pedro Douglas sein«, sagte der Assistent. Jorie stand auf und kam zu mir herüber. Die Sonne ließ ihr 212
Haar hell aufleuchten. Sie schwankte beim Gehen, als wäre ihr schwindlig. Oder ich war derjenige, dem schwindlig war. »Will hat vor einiger Zeit versucht, Sie anzurufen«, sagte der Assistent. »Er musste weg.« »Wohin ist er gegangen?« »Er hat Ihnen eine Nachricht hinterlassen. Lassen Sie sie mich Ihnen vorlesen, damit ich nichts falsch mache. Sind Sie noch da?« Die Erde verlangsamte ihren Lauf. Mir wurden die Beine schwer. Ich lehnte mich an ein halb umgeknicktes Straßenschild. »Ich bin noch da«, sagte ich. »Sag Jorie, dass ich Nico bald haben werde«, sagte der Assistent. »Sie werden Nico haben?«, fragte ich. »Nicht ich. Will. Das ist die Nachricht von Will«, sagte er. Jorie kam näher. Sie streckte die Hand nach mir aus, genau wie sie es mit dem kleinen Mädchen in der Rotonde gemacht hatte. »Sag Jorie, dass ich Nico bald haben werde«, las der Assistent wieder. »Ich habe alles im Griff, alle nötigen Vorkehrungen getroffen.« »Er hat Nico gefunden?«, fragte ich. Jorie stand neben mir. Sie beugte sich ganz nahe heran, um mithören zu können. »Er sagt, er hat ihn bald«, sagte der Assistent. »Wie das?«, fragte ich. »Wie wird er ihn bald haben?« »Es kommt noch mehr.« Der Assistent las Wills Nachricht zu Ende vor, aber ich hörte Will selber sprechen. Will, der mir sagte, was zu tun war: Du und Jorie fahrt aufs Land zum Haus von deinem Freund. Fahrt gleich los. Ich treffe euch dort. So werden wir es machen – ich kann es euch später erklären. Aber, Pedro, sag Jorie, dass ich Nico bei mir haben werde. Ich werde Nico bis Mittag zu ihr 213
zurückbringen. »Liebe, Will«, las der Assistent vor, was sich für mich weniger wie eine Schlussformel im Brief anhörte als wie der letzte Befehl: Liebe Will.
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4 WANN WAR IHM WOHL KLAR geworden, was genau nötig sein würde, um den Jungen zu finden? Als ich ihn vor dem Hotel absetzte oder während wir in einem geliehenen Wagen die Stadt durchkämmten – oder sogar noch früher am Abend? Wann konnte er vorhersehen, welche Rolle er spielen würde? Ich werde es nie genau wissen. Ich habe Folgendes beschlossen: Als er im Hotelfahrstuhl nach oben fuhr, sah Will sein Spiegelbild in der polierten Knopfleiste aus Messing rechts neben den Türen. Er war überrascht, wenn auch nicht, weil der Metallrahmen ihm einen radioaktiven Schimmer verlieh oder weil er sich selbst so ausgezehrt vorkam und die tiefen Furchen erkennen konnte, die die Erschöpfung gegraben hatte. Er war überrascht, weil er merkte, dass er grinste – warum? Er kam in einem Moment und bat um Hilfe, in dem er nicht mehr wusste, wohin er sich wenden sollte. Die Zeit drängte, die Möglichkeit einer Tragödie wurde immer größer. Und trotzdem war er nun hier, allein in der Pause, und freute sich auf den nächsten Akt, den er in Gedanken selber verfasste, bevor er ihn inszeniert auf der Bühne sah. Er ging mit dem selbstsicheren, gleichmäßigen Gang eines hoch gewachsenen Mannes den schwach beleuchteten Flur entlang. Da war er, zog einen lange vergessenen Blazer aus der hintersten Ecke seines Schrankes, probierte ihn an, sah schick aus – er passte noch, und zwar gut. Ich vermute, dass ihm vielleicht klar war, was er zu tun hatte, als ich ihn absetzte, die Einzelheiten seines Plans aber noch im Dunkeln lagen. Dann, nur wenige Minuten später, als er an die Tür zur Suite klopfte, war er voller Selbstvertrauen. Er wusste, was er zu tun hatte. »Aloha und bonsoir«, strahlte Garrett Jencks. »Oder sage ich besser bonjour?« 215
Er trug einen Morgenrock mit Paisleymuster über einem hellblauen Hemd, Cordhosen und schwarze Wildlederslippers. Sein Haar war zurückgekämmt, er sah nicht im Mindesten erschöpft aus, und der einzige Hinweis darauf, dass seine Schlafenszeit schon länger vorüber war, waren ein paar graue Stoppeln. »Onkel Garrett«, sagte Will. »Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe.« »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Wie ich schon sagte, ich habe noch nicht richtig geschlafen. Weißt du, es war ein ziemlich heftiges Essen in Berlin, wobei, nebenbei gesagt, das Essen richtig gut war. Dann mussten wir unser Flugzeug erwischen – im Grunde war ich gerade erst gelandet.« »Kaffee?«, fragte der Assistent. »Viel«, sagte Will. Jencks Assistent wiederum, im selben schwarzen Anzug wie zuvor, nur jetzt mit einem zerknitterten T-Shirt, sah völlig erledigt aus. Er hielt die silberne Kaffeekanne mit beiden Händen. Beim Einschenken war er unsicher, und als er damit fertig war, ließ er sich in einen Sessel in der Ecke sinken und schien sofort wegzudösen. Jencks balancierte Tasse und Untertasse in der Handfläche. Der Kaffee schoss Will direkt ins Herz. Er saß auf dem Rand der Couch. »Die Architektur dort gefällt mir nicht«, meinte Jencks. »In Berlin«, sagte Will. »Da wird so viel gebaut, weißt du, aber jedes Gebäude ist wieder ganz anders als die anderen. Was Berlin jetzt wirklich braucht, ist ein Meister unter den Stadtplanern. Jemand, der vielleicht noch einen Look kreieren kann. Ich hab da einen Freund. Vielleicht schau ich mal, ob es noch nicht zu spät ist.« »Ich würde verstehen, wenn man sich damit nicht allzu beliebt macht. Einen Generalplan für Berlin. Das dürfte Erinnerungen wecken.« 216
Jencks kratzte sich am Kinn. »Könnte sein«, sagte er. »Aber egal, nun informier mich mal. Sag mir, was los ist. Deine Freundin, die Dame in Not. Du sagtest, ihr Kind sei entführt worden?« Also erzählte er noch einmal, was an diesem Tag geschehen war. Er beschrieb den bisherigen Verlauf der Nacht. Er erwähnte mich jetzt mit Namen. Allerdings sagte er nichts darüber, wo Jorie mit Nico hingewollt hatte, und er äußerte sich auch nicht zu der bestürzenden Neuentwicklung; ein Dilemma, das er erst noch auflösen musste: Selbst wenn Nico wieder auftauchte, würde Jorie ihn wohl verlieren. Luc hatte seine Drohung ausgestoßen, er würde Jorie ausklammern; so oder so, es sah ganz so aus, als wäre ihr Leben mit dem Jungen in Gefahr. Trotzdem. Eins nach dem anderen; von Anfang an: »Ich muss den Jungen finden«, sagte Will. Jencks fingerte am Revers seines Morgenmantels herum. Er nickte, ließ die Aussage in der Luft hängen, sich setzen. Er nahm ein paar Schlucke Kaffee. »Ist er es wert?«, fragte er. Will wusste, dass diese Frage kommen würde. »In Verhandlungen einzutreten, meinst du?« Jencks brummte. »Weil er nur ein Kind ist, und noch dazu nicht einmal ein Amerikaner«, sagte Will. »Tatsächlich ist er libanesischer Abstammung –« »Das meine ich nicht, und das weißt du«, sagte Jencks. »Wir sprechen hier von einem Menschenleben. Dem Leben eines Kindes.« »Und so weiter und so weiter«, sagte Jencks. »Wenn ich dir gesagt hätte, ich hätte was mit Jorie, würdest du nicht zögern, stimmt’s?« »Oh, nein. Du unterschätzt mich«, gab Jencks zurück. »Dann würde ich dir folgende Frage stellen, Junge. Ist sie das Risiko wert?« 217
Jetzt war die Reihe an Will, Kaffee zu trinken und seine Gedanken zu sammeln. »Man geht immer ein Risiko ein, wenn man jemandem hilft, das weißt du«, sagte Jencks. »Man holt einen Dissidenten aus dem Knast, aber dann muss man sich auch darüber Gedanken machen, was er mit seiner Freiheit anstellen wird.« Will seufzte hörbar. »Der Junge ist ein Schatz, Garrett, nicht dass das irgendetwas zu bedeuten hätte. Er ist vier Jahre alt. Und eine Bande von faschistischen Teenagern hat ihn geschnappt, weil er sie bedroht. Er ist ihr Feind, mit vier Jahren.« Jencks schlug die Beine übereinander. »Ein gutes Rätsel gefällt mir immer«, sagte er. Will wartete. »Ich weiß noch nicht genau, wie dieses Spiel gespielt werden wird. Wir werden vielleicht ein paar Züge machen müssen, bevor wir tatsächlich wissen, was da los ist.« »Was können wir tun?«, fragte Will. »Wir rufen ein paar Leute an. Mal sehen, wohin uns das führt.« »Ich habe tatsächlich geglaubt, ich könnte den Jungen einfach durch Suchen finden.« »Das ist keineswegs absurd«, sagte Jencks. »Ich habe die Nachrichten gehört. Einige Kinder sind tatsächlich auf diese Weise wieder aufgetaucht.« »Vielleicht sollte ich immer noch da draußen sein«, sagte Will. »Wenn du das glaubtest«, sagte Garrett Jencks, »wärest du nicht hierher gekommen.« Stimmt, dachte Will. Jencks warf einen Blick auf seinen schnarchenden Assistenten. »Hallo, Kaffeekellner?« Der Assistent räusperte sich. Er griff nach der Silberkanne und schenkte nach. »Ich brauche ein paar Nummern«, sagte Jencks. 218
»Ja, Sir«, sagte der Assistent. »Sie werden ein paar sehr wichtige Leute aufwecken. Aber das tun Sie gerne, oder?« »Ja, Sir.« Der Assistent holte einen Attaché-Koffer und zog ein elektronisches Notebook hervor. Er rieb sich die Augen und wartete auf weitere Instruktionen. Jencks sah Will mit zusammengekniffenen Augen an. »Onkel Garrett?«, fragte Will. »Was springt für dich dabei raus?«, fragte Jencks zurück. Will wusste nicht, wie er auf diese Frage antworten sollte, oder warum sie überhaupt beantwortet werden musste. »Da sollte doch irgendwas für dich drin sein«, sagte Jencks. »Du wolltest nicht zu mir kommen. Keine Sorge, ich bin nicht beleidigt. Du kannst mir glauben, ich verstehe gut, was ich für dich bin.« »Nein –« »Sieh mal. Jetzt, in diesem Moment, bist du mein Sohn. Ich bin der Vater. Aber das hier ist ein Geschäft. Unser Geschäft, Will. Wir handeln und bekommen etwas anderes als Gegenleistung, zumindest eine Provision.« Will wusste nicht, worauf er hinauswollte. »Ich habe gesagt, was ich will. Ich will den Jungen zurück, mehr nicht.« Jencks kniff wieder die Augen zusammen. »Bekommst du es nicht«, fragte er. »Was du willst?« Will schüttelte verneinend den Kopf. Jencks zuckte die Achseln. »Ich nehme an, das wirst du noch. Und ich, was bekomme ich?« Warum sollte er etwas bekommen? »Ich lasse gerne meine Verbindungen spielen, so gut ich kann«, sagte Jencks. »Aber …« »Was willst du?«, fragte Will. »Ich komme drauf zurück«, sagte er. Er nannte seinem Assistenten einen Namen, den er anrufen 219
sollte. Er leckte sich über die Lippen. Der Assistent zog einen Stuhl zu einem Tisch herüber und machte sich an die Arbeit. »Ich bitte um Entschuldigung, Monsieur, dass ich Sie aus dem Schlaf hole. Aber ich habe hier Monsieur Garrett Jencks für Sie am Apparat in einer äußerst dringlichen Angelegenheit«, sagte er in perfektem Französisch, als er jemanden am Apparat hatte. Pause. »Mein Klient in der französischen Regierung«, sagte Jencks. Er nahm ein Telefon auf dem Couchtisch auf und drückte mit dem kleinen Finger auf einen Knopf. Bevor er zu sprechen anfing, zwinkerte er Will zu. Wills Herz raste: War Jencks auch klar, was hier auf dem Spiel stand? Jencks entschied sich für Englisch. Er wechselte ein paar wenige belanglose Worte, bevor er erklärte, dass ein ihm sehr vertrauter Mensch mit einem heiklen Problem zu ihm gekommen war, das er nun Schritt für Schritt darlegte wie eine Mathematikaufgabe. »Die Polizei – Sie müssen verzeihen – hat sich als nutzlos erwiesen, so wie sie es in solchen Angelegenheiten meistens ist«, sagte Jencks. »Wie ich die gute alte Interpol vermisse. Na egal, ich brauche Ihre Hilfe.« Will sah Jencks eine ganze Weile beim Sprechen zu. Jencks’ Nasenflügel bebten. »Ganz Ihrer Meinung. Was heute passiert ist, lässt Paris nicht eben gut aussehen. Sie haben allen Grund, sich Sorgen zu machen. Hören Sie, kommen wir auf das zurück, weshalb ich angerufen habe. Ich weiß, dass unsere Zusammenarbeit so gut wie abgeschlossen ist. Sie werden Ihren Namen nirgends finden, wo Sie ihn nicht zu finden wünschen, und ich weiß, dass Sie dankbar dafür sind. Das hier ist außer der Reihe, das ist mir klar, und lassen Sie mich das ganz deutlich machen: Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als wollte ich irgendet220
was umsonst. Ich werde mich revanchieren.« Es folgte eine kurze Unterhaltung. Jencks bat seinen Kunden, ein paar Leute anzurufen. Der Kunde erklärte sich dazu bereit und sagte, er werde Jencks in Kürze zurückrufen. Fünfzehn Minuten später klingelte das Telefon. Der Assistent ging an den Apparat. Jencks übernahm umgehend. »Ah, très bien«, sagte er. »Das ist genau die Antwort, die ich mir erhofft hatte. Übrigens – waren Sie in letzter Zeit mal in Berlin im Restaurant? Das Essen ist da inzwischen verdammt ordentlich. Ich kenne da eine gute Adresse. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, lade ich Sie ein. Bei denen ist die Cuisine française besser als bei den Franzosen. Nur ein Witz. Gehen Sie wieder schlafen.« Jencks legte auf und streckte seine Hände durch. »Zugang erhalten«, sagte Will. »Wir sind drin«, fugte Jencks hinzu. Der Assistent hatte bei dem zweiten Gespräch mitgehört und wusste, welche Nummer jetzt zu wählen war. Jencks’ Kunde bei der französischen Regierung hatte einen seiner Freunde bei der Front National kontaktiert. Theoretisch hätte Letzterer eigentlich der Erzfeind des Ersteren sein müssen, aber das war nicht der Fall. »Wahrscheinlich haben sie zusammen die École Nationale d’Administration besucht«, sagte Will. »O ja, bestimmt«, sagte Jencks. »Das hier ist zu einfach.« »Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Sie im Schlaf störe, Monsieur«, sagte der Assistent am Telefon. »Wieso?«, fragte Will. »Der Typ, den wir jetzt anrufen – ich hatte früher mal mit ihm zu tun. Liegt schon einige Zeit zurück.« »Verstehe«, sagte Will. Jencks übernahm das Gespräch. Er trug eine nicht ganz knappe Zusammenfassung der Geschehnisse vor. Und er sprach auch von dem Tag, den Entführungen durch die Ban221
den, den politischen Implikationen. »Ich kann nicht behaupten, dass ich das verstehe«, sagte er gerade. »Sie haben Ihre neuen Gesetze. Sollten Sie nicht Ihre jungen Freunde auf der Straße zurückpfeifen? Warten Sie, bleiben Sie dran. Mein Assistent soll übersetzen.« Der Assistent nahm wieder das Telefon auf. Er übertrug Jencks’ Worte ins Französische. Will wusste, dass Jencks die Sprache wunderbar verstand und auch dementsprechend gut reden konnte; er wollte offenbar eine gewisse Distanz, nichts allzu Genaues. Er wollte noch nicht zu freundlich sein. »So viel Zwietracht heutzutage«, sagte Jencks. »Ich bin ganz Ihrer Meinung, das ist beunruhigend.« Will stand auf und tigerte auf und ab. Er verstand jetzt, welche Strategie Jencks verfolgte, und sie erschien ihm sinnvoll. Er spielte seine Kontaktleute gegeneinander aus, vielleicht ohne sicher zu sein, was am Ende für ihn dabei herauskommen würde. Aber es war ein Spiel an der Grundlinie, nicht viel mehr als eine Eröffnung, von einem Grundlinienspieler, der, wenn nötig, bereitwillig ans Netz kommen würde. »Ich kann Ihnen vielleicht eine attraktive Möglichkeit bieten«, sagte Jencks. »Ihr Freund in der Regierung hat mir erzählt, dass Sie gar nicht glücklich damit sind, wie Ihre Partei im Moment aussieht – ich habe das diese Woche irgendwo anders schon gehört –, und, offen gesagt, ich kann Ihnen das nicht verdenken. Für Sie war der heutige Tag ein Fiasko. Eine Katastrophe, all Ihre schwere Arbeit umsonst. Ich kann mir vorstellen, wie Sie mit den Leuten zusammengesessen haben, die Sie eines Tages in den Führungspositionen Ihrer Partei sehen wollen, und wie Sie alle sich Ihren nächsten Schachzug zurechtzulegen versucht haben, wie Sie den Tag noch retten können, wie Sie den Tag gegen die Parteiführung wenden können.« Der Assistent hatte Mühe, Schritt zu halten mit seiner Übersetzung. 222
Jencks gab Will ein Zeichen, dass er mehr Kaffee wollte, und Will goss ihm ein, was noch in der Kanne war. »Ja, verstehe«, sagte Jencks. »In Ordnung. Ich verstehe, ich verstehe.« Das Gespräch plätscherte träge dahin. Jetzt, vermutete Will, spielte Jencks den Beichtvater. Er hörte aufmerksam zu, eine Fähigkeit, die er mit den Jahren erlernt hatte. Zwischendurch sah er mehrmals zu Will herüber und verdrehte die Augen. »Ich weiß, wie das ist«, sagte Jencks. Will bedauerte, dass er im letzten Jahr so wenig Nachrichten gelesen hatte. Es kam ihm verantwortungslos vor, sich von den Ereignissen der Welt fern zu halten. Jencks genügte schon ein minimales Wissen über regionale Politik, um den Anschein zu erwecken, er wäre ungemein unterrichtet, und das erwies sich als nützlich. »Ich kann sehen, worauf Sie hinauswollen«, sagte Jencks. »Sie haben Ihre Ideen, eigene Methoden. Sie sind ein praktischer Mann, habe ich Recht? Als Sie und ich das letzte Mal miteinander sprachen, sagten Sie etwas ganz Ähnliches. Die derzeitige Führung wird die Partei in den Untergang führen.« Will bedauerte auch, dass er nicht schon früher versucht hatte, Jencks zu erreichen, ihn in Berlin angerufen oder eine Nachricht in seinem Pariser Hotel hinterlassen hatte. Was hatte ihn davon abgehalten, ihn um diesen Gefallen zu bitten? Teilweise war es Stolz – Will wollte es allein schaffen. Was vielleicht dumm und egoistisch war, wenn es bedeutete, dass man einen kleinen Jungen womöglich früher aus der Kälte geholt haben könnte. »Lassen Sie mich Ihnen sagen, was ich will«, sagte Jencks. »Ganz einfach. Très simple. Hören Sie zu. Ein kleiner Junge. Er wurde entführt – wo?« »Am Pont de Sully«, sagte Will. »Au Pont de Sully«, sagte der Assistent. »Er muss sofort wieder her«, sagte Jencks. Er musterte seine 223
manikürten Fingernägel. »Tun Sie das. Sprechen Sie mit den Leuten Ihres Vertrauens, Ihren Parteifreunden. Schauen Sie, ob wir nicht zusammenarbeiten können. Ich kann warten.« Und damit legte er auf. Der Assistent rief beim Zimmerservice an und bestellte mehr Kaffee. »Sehen Sie zu, ob die Küche uns nicht etwas zu essen machen kann«, sagte Jencks. »Weißt du, was ich besonders mag, wenn ich mich auf lange Verhandlungen einstellen kann?« Will wusste es nicht. »Falafel«, sagte Jencks. »Hast du dir das in Israel angewöhnt?« »Sollte man meinen«, war die Antwort. Er bat den Assistenten, seine Wünsche an die Küche weiterzugeben. »Und Hummus und haufenweise Pita. Ich erinnere mich an eine harte Sache, in die ich mal geraten bin. Hat eine ganze Nacht gedauert. Die Delegation sollte am nächsten Tag nach Washington zurückkehren. Ich arbeitete an der Terminplanung für den Truppenabzug. Wir kamen an einen absolut toten Punkt. Das hatte damit zu tun, dass die Verhandlungsführer der beiden Seiten sich nicht ausstehen konnten, und diese eine Klausel konnte den Deal zum Platzen bringen. Dann müsste der Außenminister mit leeren Händen nach Hause zurück, und da hätte er verdammt schlecht dagestanden. Also reden wir, es wird später und später, und dann habe ich in der Küche des Hotels, in dem wir gerade waren, Falafel bestellt. Nach einiger Zeit werden wir vom Zimmerservice unterbrochen, und sie schleppen ein riesiges Tablett herein, so was hast du noch nicht gesehen. Ein ganzer Berg von diesem Zeug. Und wir hören auf zu reden und essen. Füllen unsere Pita mit Falafel und Hummus und roten Zwiebeln und Tomaten –« Will knurrte der Magen. »Das habe ich gehört«, sagte Jencks. »Sir?«, sagte der Assistent. 224
»Was ist dann passiert?«, fragte Will. »Die Streithähne fingen an, sich gegenseitig Ratschläge zu geben – du weißt schon, versuchen Sie es mal mit Oliven oder mit Gurke. Gegen fünf Uhr morgens hatten wir die Klausel formuliert und blieben gleich auf bis zur Pressekonferenz. Die Geschichte kennst du.« »Sir, die Küche hat die nötigen Zutaten für Falafel nicht«, sagte der Assistent. »Also, verdammt noch eins«, sagte Jencks. »Wenn Sie möchten, schicken sie uns eine Auswahl an Käse und Pâtés«, fuhr der Assistent fort. »Diese Franzosen mit ihren Assortiments«, sagte Jencks. Er streifte die Schuhe ab und massierte sich die Füße. Die Zeit kroch dahin, eine Stunde verging. Niemand rief zurück. Will schlug vor, noch einen weiteren Kontakt zu versuchen, vorausgesetzt, Jencks hatte einen, aber der Ältere riet zur Geduld. »Wir haben zwei Sachen laufen. Der Mann von der Front National sucht schon seit langem nach einer Möglichkeit, meinen Kunden bei der Regierung zu beeindrucken. Sie haben die Idee, dass jeder von ihnen später mal seine eigene Partei führen wird. Sie werden sich gegenseitig telefonisch erreichen wollen. Das ist so eine Geschichte von zwei aufsteigenden Sternen. Und dann ist da noch der Bruch innerhalb der Front National selbst. Die alten Männer glauben, sie können den Kampf auf ihre Weise gewinnen. Und die Neulinge werden ganz wuselig mit ihren neuen Theorien – den neuen Pragmatismus nennen sie das. Wenn du so eine Kluft siehst, musst du da sofort deine Grube aufmachen. Die Glitzersteine warten nur darauf, abgepflückt zu werden.« Ein Kellner erschien mit einem silbernen Tablett. Sie räumten die Zeitungshaufen und Faxstapel von dem gläsernen Couchtisch, und bald verteilten sie alle drei friedlich ihren Camembert und die Entenstopfleberpastete auf duftigem Brot. 225
Noch eine Stunde verging. »Erlauben Sie mir eine Frage«, sagte der Assistent zu Will. »Hatten Sie den Eindruck, dass Ihre Zeit bei der UNO dazu beigetragen hat, dass Sie Ihren ersten Posten bekamen?« »Ich werde meinen Landsmann hier anscheinend noch an den diplomatischen Dienst verlieren«, sagte Jencks. »Ich meine, ich habe gehört, dass man da völlig aufgeschmissen sein kann, wenn man dem Delegierten nicht gleich am Anfang auffallt«, sagte der Assistent. »Ich habe ihm deine Geschichte erzählt«, sagte Jencks. »Zu dumm. Jetzt will er sein wie du.« Der Assistent wurde rot. »Meine Geschichte«, sagte Will. Wie viel von meiner Geschichte?, fragte er sich. Zum Glück klingelte das Telefon. Es war der Kontakt von der Front National. Jencks wirkte erfreut. Er kaute weiter an seinem Käse und sprach dabei in den Hörer. »Ich bin vollkommen Ihrer Meinung«, sagte er. »Und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie ungeduldig ich darauf warte, Ihnen zu zeigen, was wir für Sie tun können. Sie werden uns wissen lassen, wie wir Ihnen die Sache erleichtern können.« Will hatte neben Jencks auf dem Sofa gesessen. Jencks, der neben dem Telefon saß, winkte nun Will in einen unmittelbar daneben stehenden Sessel. »Um die Sache jetzt voranzutreiben, gebe ich Sie an meinen Partner weiter«, sagte Jencks. »Sein Name ist Will Law. Machen Sie’s gut.« Jencks gab Will den Hörer in die Hand. Will war unvorbereitet und stotterte. »Bonjour«, brachte er mit Mühe heraus. »Das, mein Junge, ist, glaube ich, was du wolltest«, sagte Jencks. Will hatte keine Zeit, seinen Rhythmus zu finden. Er hatte 226
keinen Plan, wusste nicht, was möglich war. Er wollte Jencks antworten – dessen Vermutung ihn aufwühlte –, und gleichzeitig musste er den Assistenten mit seiner Simultanübersetzung loswerden. Der Mann am anderen Ende sprach mit einer angenehmen Baritonstimme, förmlich, aber entgegenkommend. »Sie wissen hoffentlich, dass wir über die Geschehnisse des Tages ebenso unglücklich sind wie Sie«, sagte er. »Ja, das weiß ich«, erwiderte Will. »Aber Ihnen muss auch klar sein, dass diese Jugendgangs, anders als in der Öffentlichkeit angenommen wird, nicht von uns kontrolliert werden. Es wurden keine Anweisungen erteilt.« »Ich vertraue auf Ihr Wort«, sagte Will. »Die Partei ist anderweitig engagiert.« Engagé. Will war nicht sicher, ob das Wort tatsächlich die Bedeutung hatte, die er vermutete. »Natürlich«, sagte er. Jencks nickte ihm aufmunternd zu. »Aber ein kleiner Junge wird vermisst«, sagte Will. »Darauf läuft alles hinaus. Und wenn Sie Einfluss haben.« »Vielleicht sollten Sie das Wort Einfluss genauer definieren. Sehen Sie, ich könnte jetzt schlafen. Uni diese Zeit liege ich normalerweise in meinem Bett.« Jencks reckte sich. Er verschwand im Schlafzimmer seiner Suite. Der Assistent dagegen ließ die Augen nicht von Will. Verhandlungen wurden oft zu einem richtigen Schauspiel. Man spielte genauso für sein eigenes Team wie für den Gegner. Bleib cool, dachte Will. Bleib cool, sag deutlich, was du willst und was du anzubieten hast. »Denken Sie, dass Sie vielleicht wissen, wer diesen bestimmten Jungen entführt haben könnte?«, fragte er. Stille. 227
»Ja, das ist möglich. Die Information könnte vorliegen«, sagte der Kontaktmann. »Ein paar von diesen, äh, Jugendgangs könnten die Kinder vielleicht festgehalten haben, anstatt sie wie früher einfach auszusetzen«, meinte Will. »Denken Sie nicht auch?« »Wir sind anderweitig engagiert.« »Sie haben Ihre Wahlprogramme«, sagte Will. »Wir sind sehr beunruhigt wegen der Arbeitslosigkeit. Die Franzosen müssen sich um die Franzosen kümmern.« Und deine Floskeln beherrschst du auch, dachte Will. »Es gibt so viele junge Menschen, die glauben, sie hätten keine Zukunft«, fuhr der Mann fort. »Da suchen sie sich eben Verbündete. Sie bringen ihren Unmut zum Ausdruck.« »Sie können sie dazu bringen, die Kinder sofort gehen zu lassen«, sagte Will. »Das ist es, was Sie wollen.« »Ja«, sagte Will. »Es wäre menschlich.« Er musterte die Überreste der Pastete; das verschmähte Aspik sah aus wie Stückchen einer Qualle. Die Käserindenhäufchen wirkten wie zerbrochene Stoßzähne. »Das ist nicht so einfach«, sagte der Front-Mann. »Niemand hat angenommen, dass es das wäre«, sagte Will. »Ihr Kollege, Monsieur Jencks, deutete vorhin an, dass dies ein verheerender Tag für die Front National sei, der, wie er ganz richtig meinte, eine sehr viel größere Anhängerschaft erreichen könnte. Allerdings hat er nur teilweise Recht. Zwölf Jungen und Mädchen. Ja, das könnte in der Tat schlecht aussehen. Aber ein paar – sagen wir drei –, das ist nicht so schlimm.« Will hätte diesem Politiker am liebsten gesagt, er solle sich kopfüber vom Eiffelturm stürzen. Stattdessen holte er tief Luft. Er wusste, dass er sondiert wurde, an seine Grenzen getrieben. Er wählte sorgfältig seine Worte und übersetzte sie, bevor er sie aussprach. 228
»Was Sie da, wie ich meine, sagen wollen – ich kann nicht behaupten, dass mir der Klang besonders gut gefällt.« Jencks war, nach einem durchdringenden Rasierwasser riechend, aus dem Schlafzimmer zurückgekehrt und rieb sich die Hände mit einer weißen Creme ein. Er setzte sich auf das Sofa, lehnte sich lauschend zurück und machte keinerlei Anstalten einzugreifen. Andererseits, warum sollte er auch – was hatte er zu verlieren? Will dachte daran, den Hörer zurückzugeben. Vielleicht war er gefühlsmäßig zu engagiert. Aber er machte weiter. »Ich glaube, Sie wollen sagen, dass ein wenig Terror nützlich ist«, meinte er. Und wenn du zu weich wirkst, wirst du nie die reaktionäreren Mitglieder deiner Partei um dich scharen können, die du aber irgendwann brauchen wirst. »Das haben Sie gesagt, nicht ich«, sagte der Politiker. »Gegen eine entsprechende Statistik hätten Sie aber wohl nichts einzuwenden.« Stille am anderen Ende. »Vielleicht können Sie direkt mit den Jugendklubs reden, die die Kinder immer noch festhalten, vielleicht aber auch nicht«, sagte Will. »Und vielleicht sind Sie daran interessiert, dass alle diese Kinder nach Hause zurückkommen, vielleicht aber auch nicht.« Nichts. Die bisher längste Pause. »So, wie das laufen müsste, um den Jungen wiederzubekommen – wir brauchen mehr Zeit, um unsere Vorkehrungen zu treffen. Es ist nicht so einfach, wie es sich aus Ihrem Mund anhört«, sagte der Mann am anderen Ende schließlich. Will warf einen Blick auf seine Uhr. Es war drei Uhr dreißig. »Vergessen Sie nicht, wie lange der Junge schon vermisst wird«, sagte er. »Wir sprechen jetzt mit unseren Freunden«, sagte der Mann. »Dann können wir beide uns wieder unterhalten und sehen, wo 229
wir stehen.« »Und dann vergessen wir nicht, darüber zu reden, was wir für Sie tun können«, sagte Will. »Ich schätze Ihre Offenheit in dieser Sache.« Nachdem er aufgelegt hatte, musste Will im ganzen Raum auf und ab laufen. »Gut gemacht«, sagte Jencks. »Ich darf wohl sagen, dass ich beeindruckt bin«, sagte der Assistent. Wovon?, fragte sich Will. Bisher hatte er noch nichts Konkretes erreicht. »Er ist ein Arschloch, was?«, sagte Jencks. »Es sah aus, als würdet ihr so gut miteinander auskommen. Du hast ihm zugehört. Ihn überhaupt nicht herausgefordert«, meinte Will. »Dieser Mann, unser Kontaktmann – im Endeffekt hat er keinerlei Veranlassung, uns zu helfen«, sagte Jencks. »Was haben wir ihm denn tatsächlich anzubieten? So weit wir wissen, haben er und seine Kumpane vergeblich versucht, diese Gangs dazu zu bringen, die Kinder freizulassen, bevor wir überhaupt in die Sache eingestiegen sind. Wir werden es nie erfahren. Hör mal: Er weiß, wer wir sind, wen wir repräsentieren. Er will die Fäden ziehen. Mit dir tanzt er, weil du eben niedlich bist. Bleib so, dann tanzt er auch weiter.« »Ich glaube, ich brauche eine Dusche«, sagte Will. »Bitte sehr. Frische Handtücher liegen da.« Will versuchte sich zu beeilen, aber sobald er seine Sachen abgelegt hatte und unter dem warmen Sprühregen stand, musste er sich erst einmal auf den Badewannenboden setzen. Er dachte an den Tag, an dem er Mexiko verlassen hatte – es hatte geregnet. Er hatte eine ganze Reihe kleiner Flugzeuge von kleinen Flughäfen nehmen müssen, und er wusste noch, wie er auf dem Rollfeld gestanden und den Regenschirm zurückgewiesen hatte, den ihm jemand anbot, und sich von 230
dem warmen Guss durchnässen ließ. Es wäre zu einfach, wenn man sagte, er habe sich davon erhofft, dass der Regen ihn von seinen Sünden reinigen würde oder dass es ihn irgendwie wieder mit der normalen Welt verbinden könnte, von der er sich so weit entfernt hatte. Was der Regen ihm aber, wenn auch noch so kurze Zeit, erlaubte, war die Möglichkeit, sich zu verlieren, seinen dunkleren Gedanken ihren Lauf zu lassen. Er stellte sich vor, wie die Pfütze zu seinen Füßen – das Wasser, das in der Wanne um seine Beine herum anstieg – zu einem Fluss anschwoll und dieser Fluss ihn dann mit sich zog, wohin immer er wollte. Als Diplomat führte man ein öffentliches Leben, und diese Art, sein Leben zu leben, brachte Fantasien über ein ganz und gar gegensätzliches Leben hervor, ein Leben, das von niemandem wahrgenommen wird. Steh im Regen, und tu einfach so als ob: Niemand kann dich sehen. Niemand kann über dich bestimmen. Du bist nur dir selbst verantwortlich. Aber Will träumte, und er wusste es. Die wirkliche Welt stellte ihre Forderungen. Die wirkliche Welt hatte ihre bösen Seiten. Und er war bereit, sich ihnen zu stellen. Er trocknete sich ab, strich sein Haar zurück. Er war wiederhergestellt. »Seht euch unseren Helden an«, sagte Jencks. »Er hat sich frisch gemacht.« »Noch bin ich kein Held«, sagte Will. »Das wirst du noch«, erwiderte Jencks. »Freut mich, dass du so denkst. Ich wünschte, dieser Widerling würde mich zurückrufen.« »Wird er. Er muss es, auch wenn er das nicht zugeben wird.« »Warum muss er das?«, fragte Will. Jencks setzte zu einer Antwort an, ging aber dann doch nicht darauf ein. »Ich habe geduscht, aber ich fühle mich immer noch schmierig«, sagte Will. »Also bitte«, sagte Garrett Jencks. »Jetzt werd aber nicht 231
überheblich. Ich habe auf dich gehört. Du hast das Spiel in die Hand genommen, und bisher hast du gut gespielt.« »Ich habe gespielt, und ich fühle mich schmierig.« Der Assistent zog fragend die Augenbrauen hoch. »Dein Problem ist, dass du nicht weißt, gegen wen du kämpfst«, sagte Jencks. »Ich glaube, das weiß ich durchaus«, entgegnete Will. »Nein, deine ganze Generation«, beharrte Jencks. »Ihr kennt euren Feind nicht, ihr habt keine Ahnung.« »Ganz im Gegensatz zu deiner Generation.« »Jawohl«, sagte Jencks. »Ist es so einfach?« »Ja, das ist es tatsächlich«, sagte Jencks. »Wir hatten einen Code. Jeder Idiot konnte ihn aufsagen.« »Ich hab das alles schon einmal gehört«, sagte Will. »Meine Generation ist angeblich die postkämpferische, postideologische. Daher kommen alle unsere Schwierigkeiten.« »Ich habe einen Kursus in postmoderner Ethik besucht«, sagte der Assistent mit einem dämlichen Lächeln. »Ich habe kein Wort verstanden.« Will und Jencks ignorierten ihn beide. »Ich halte das für gefährlich«, sagte Will, »von post-dies und post-das zu reden. Das impliziert Reife.« »Reife ist, wenn man das Gesicht seines Feindes kennt«, sagte Jencks. Das Telefon. »Hoffen wir, dass es der Feind ist. Nicht, dass ich etwa sein Gesicht sehen könnte«, sagte Will. »Hast du dir deinen nächsten Schritt überlegt?«, fragte Jencks. »Der Typ muss glauben, dass du ihm etwas gibst.« Will antwortete nicht. Er ging an den Apparat, und es war der Politiker vom Front National, der sich ausgesprochen munter anhörte. »Möglicherweise haben wir jetzt die Information, die Sie 232
suchen«, sagte er. Will war vorsichtig. »Gut«, gab er zurück. »Natürlich ist das für uns mit gewissen Risiken verbunden.« »Natürlich«, sagte Will. »Sehen Sie, wir würden sehr gern helfen, aber gleichzeitig müssen wir unsere Schritte genau abwägen.« »Ich verstehe«, sagte Will. Er holte tief Luft. Sein Zug. Ihm war etwas eingefallen, während er in der Wanne unter dem Wasserstrahl gelegen hatte. Die Puzzleteile lagen vor ihm ausgebreitet. Da war Nico. Und da war Jorie und was sie wollte und was sie seiner Meinung nach verdiente, besonders nach dieser furchtbaren Geschichte. »Erlauben Sie, dass ich etwas klarstelle«, sagte Will. »Der Junge kann zu uns zurückgebracht werden, aber er muss nicht unbedingt wieder auftauchen.« »Wie bitte?«, fragte Garrett Jencks. »Irgendwas entgeht mir hier«, sagte der Assistent. »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, sagte der französische Kontaktmann. Will erklärte es noch einmal. »Was ist, wenn der Junge zurückkommt, aber nicht als gefunden gemeldet wird? Was ist, wenn er vermisst bleibt?« Der Mann schniefte. »Ein bisschen nützlicher Terror, wie Sie schon sagten«, ergänzte Will. »Sie nennen es so, Monsieur.« »Ich nenne es so«, sagte Will. »Was erzählen Sie mir? Dass dieser Junge einfach verschwinden wird?« »Genau das sage ich«, sagte Will. »Der Junge wird nicht nach Hause zurückkehren. Er und seine Mutter werden das Land verlassen.« »Moment mal«, sagte der Assistent zu Jencks. »Warum das?« 233
»Langsam wird die Sache interessant«, sagte Jencks. »Verstehe, verstehe. Das könnte sich als fruchtbar erweisen«, sagte der Kontaktmann. »Vorausgesetzt, dem Jungen fehlt nichts«, sagte Will. »Sie helfen uns. Wir sorgen dafür, dass unsere Freunde erfahren, dass Sie uns geholfen haben.« Und gleichzeitig, dachte er, bringst du deine Leute zum Schweigen. Ich weiß, wie so was läuft, mein Freund. Du spielst ein doppeltes Spiel. »Wir werden sehr bald wieder anrufen, dann haben wir mehr Informationen«, sagte der Kontaktmann. »Wir sind natürlich nicht direkt beteiligt. Wir dienen nur als Unterhändler.« »Natürlich«, sagte Will. »Und vielleicht, wenn der Junge, von dem wir gesprochen haben, wenn Nico nie mehr auftaucht, vielleicht können dann die anderen Kinder auch wieder freigelassen werden.« »Oh, ja, vielleicht.« »Möglicherweise wünschen Sie sich eine solche Auflösung«, sagte Will. »Das ist möglich, ja. Wir werden sehen«, sagte der Mann. Das Gespräch endete mit den üblichen Freundlichkeiten, wie sie von Leuten ausgetauscht werden, die meinen, sich zu kennen, weil sie einen Tauschhandel abgeschlossen haben. Wenn das alles vorbei ist, sollten wir mal gemeinsam etwas trinken gehen. Vielleicht sind unsere Standpunkte gar nicht so verschieden. Ja, ich habe selber auch ein Kind. Er ist zehn. Nicht gerade gut in Algebra, aber das war ich schließlich auch nicht. Na dann, auf Wiedersehen. Will legte auf, und danach wirkte das Hotelzimmer sehr still. »Sag mir, dass wir eine Frau und ein Kind aus dem Land schleusen können«, sagte Will. Jencks lächelte. »Hört sich an wie ein Bubenstreich.« »Bitte.« »So ernst«, sagte Jencks. »Du, der du mit einem einzigen 234
Anruf mehrere Fliegen auf einmal totschlägst. Na ja, mit ein paar Anrufen.« »Onkel Garrett. Jorie Cole ist ein guter Mensch, eine gute Mutter –« »Halt«, sagte Jencks. »Der Junge vergöttert sie, und sie hat schwere Zeiten hinter sich –« »Will, hör auf. Je weniger ich weiß, desto besser kann ich schlafen. Jedenfalls in den Nächten, in denen ich überhaupt schlafen kann.« »Du willst nicht, dass ich es dir erkläre«, sagte Will. »Das hier ist dein Spiel, nicht meins«, sagte Jencks. »Und im Übrigen, verzeih, wenn ich das erwähne, ist es jetzt verdammt noch mal sieben Uhr morgens, nur für den Fall, dass du es nicht bemerkt haben solltest.« Will hatte tatsächlich nicht gemerkt, wie spät es war. Er merkte auch erst jetzt, dass sein Handyakku leer war. Er nahm das Hoteltelefon und wählte Jories Nummer. »Will«, sagte sie. »Wo bist du? Immer noch im Hotel?« »Ja«, sagte er. Er fragte nicht, ob wir irgendetwas von Nico gehört hätten, weil er zu diesem Zeitpunkt mehr über den Jungen wusste als wir. Er dachte daran, Jorie zu sagen, dass er nahe dran war, sehr nahe daran, ihn zu ihr zurückzubringen, aber die letzten Schachzüge waren noch nicht gespielt, und er wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen. »Wir telefonieren. Mit Kontaktleuten bei der französischen Regierung. Wir rufen jeden an, der uns einfällt«, sagte er nur. »Gut«, sagte Jorie leise. »Ich werde dich bald mit sehr guten Neuigkeiten anrufen. Du kannst darauf zählen.« »Bald«, sagte Jorie, »das hoffe ich«, und dann gab sie den Hörer an mich weiter. Will wiederholte, was er Jorie gesagt hatte, nur dass sich, 235
während er mit mir sprach, seine Lippen zusammenzogen, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. Er hatte nicht wirklich die Unwahrheit gesagt, aber es konnte auch eine Lüge sein, wenn er mir etwas vorenthielt. Er hatte seine Geheimnisse. Er würde immer seine Geheimnisse haben, wenn vielleicht auch nicht gerade verdeckte Tatsachen, eher eine verstohlene Art, durchs Leben zu gehen. »Mehr kannst du mir nicht sagen?«, fragte ich. »Nein«, sagte Will. »Ihr beiden wartet einfach da, okay?« Er versprach, dass er alles später erklären würde. Er erkundigte sich nach Didiers Häuschen. Er meinte, er würde ein sicheres Haus brauchen. Wenn er den Jungen hatte, würde er uns dort treffen. Von dem sicheren Haus aus würde er sich einen Weg ausdenken, Jorie und Nico aus Frankreich hinauszuschaffen. »Will, warte«, sagte ich. »Ich rufe euch bald an«, sagte er, und das war’s. Jencks gähnte. »Du bist der Sohn deines Vaters«, sagte er. Will zog es vor, zu glauben, dass es ein positiv gemeinter Vergleich war. Der Assistent bestrich einen Cracker mit Käse für Will. »Also dann, was springt für mich dabei heraus?«, fragte Jencks. Will blinzelte. »Du musst diesen Jungen und die Frau außer Landes schaffen? Das war es doch, was du versprochen hast, stimmt’s?« »Aber wir können deinen Kontaktmann bei der Regierung anrufen –« »Wir? Ich glaube, du meinst mich«, sagte Jencks. »Ich brauche dich noch«, sagte Will. In Jencks’ breitem Lächeln offenbarten sich seine Gefühle. »Hast du deinen Spaß gehabt, heute Morgen?«, fragte er. »Spaß ist vielleicht nicht das richtige Wort«, sagte Will. »Es ist das, was du wolltest. Ich hab dir gegeben, was du 236
wolltest.« »Also, irgendwie habe ich die ganze Zeit das Gefühl, mir entgeht hier was«, sagte der Assistent. Er zog sich auf seinen Stuhl am Schreibtisch zurück. »Und was will ich?«, fragte Jencks. Dass Will in den Auswärtigen Dienst zurückkehrte. Dass er den Job in Djakarta annahm. »Ich kann noch nicht Ja sagen«, sagte Will. »Ich muss erst noch darüber nachdenken.« »Sprich mit deinem Freund«, sagte Jencks. Er war ein großer Mann. Die frühmorgendlichen Verhandlungen hatten ihn sichtlich munter gemacht. Er reckte beide Arme hoch in die Luft. »Wie auch immer«, sagte er. »Diese Anrufe sollte ich lieber nicht jetzt machen. Das wäre unklug. Ich werde noch ein paar Stunden warten. Meine Freunde in den wichtigen Positionen sollen erst einmal ihre Kaffeetassen austrinken dürfen. Dann mache ich mich an die Arbeit. Du hast das alles genossen, oder etwa nicht?« Ein Junge wurde vermisst, und Will wusste, wie man ihn finden konnte, so einfach war das; jedes Opfer seinerseits, das er gebracht hatte oder vielleicht noch bringen würde, schien gerechtfertigt. Er redete sich selber ein, dass das die Wahrheit war. Ja. Er hatte getan, was er tun musste. Er stand an dem Fenster mit Blick auf den Place Vendôme. Über den Dächern stieg das Morgenlicht auf. Der Schatten der Säule in der Mitte des Platzes zeigte auf das Hotel wie ein ausgestreckter Finger. »Was für ein wunderbarer Morgen«, sagte Garrett Jencks. »Alle bekommen etwas für ihre Bemühungen.«
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UND DANN LIEF NICHTS wie geplant. Die Absprachen, wer wann wo aufkreuzen würde, waren einfach genug. Jencks besorgte Will einen Wagen mit getönten Scheiben, aber dann rief Will in Jories Wohnung an, um uns seinen Plan mitzuteilen. Er wollte warten, bis wir auftauchten, aber dann wurde ihm die Zeit knapp. Er diktierte seine Nachricht Jencks’ Assistenten. Dann übernahm er seinen Wagen vom Hoteldiener. Er fuhr in die Stadt hinaus, und der Morgenverkehr, so gering er auch sein mochte, überraschte ihn ebenso wie uns: Wie konnte Paris so schnell zur Normalität zurückkehren? Es schien nicht gerecht zu sein. Will fuhr in das Fünfte. Er sah den weißen Lieferwagen an der Ecke Rue Cuvier und Rue Linné stehen. In der Kuppel der Moschee am Ende des Häuserblocks spiegelte sich die aufgehende Sonne. Er hielt hinter dem Lieferwagen. Er sah ein einzelnes Gangmitglied – was schon an und für sich seltsam war, einen einzelnen Jungen in ausgefransten Jeans, mit schweren Angeber-Stahlketten und klobigen Stiefeln –, bevor er noch einen sah, der auch irgendwie seltsam wirkte. Der Junge lief den Häuserblock hinauf und hinunter, immer an dem hohen Zaun um den Jardin des Plantes entlang, und linste dabei durch die Gitterstäbe. Er hatte keine Jacke an, nur ein T-Shirt, sodass die tätowierte französische Flagge auf dem einen Unterarm sichtbar war, aber er hatte nicht den üblichen Stoppelschnitt; tatsächlich war sein Haar lang und sehr rot. Der Junge, den Jorie gesehen hatte. »Qu’est-ce qui se passe?«, fragte Will den ersten Jungen. »Où est le petit garçon?« Der Junge machte alle möglichen Gesten, grinste hämisch und zuckte die Schultern. Es war der Rothaarige, ein schlaksiger Junge, dessen Gesicht aus nichts als Zähnen zu bestehen schien, der sprach. »Il y a un problème«, sagte der Junge. Ihm versagte die Stimme. 238
Will wartete auf eine Erklärung. Der rothaarige Junge erklärte, was passiert war. Der erste Junge fuhr, der zweite saß hinten im Wagen mit Nico. Sie waren am Bestimmungsort angekommen. Der Rothaarige schob die Seitentür auf, um herauszuspringen, und in dem Moment entwischte Nico ihnen. Er raste los, und die Jungen jagten hinterher, aber Nico war zu schnell. Das Tor zum Jardin des Plantes stand offen. Nico rannte in den Park hinein. Will fluchte. »Du bleibst hier«, befahl er dem ersten Jungen, dann packte er den Rothaarigen am Ellbogen und ging mit ihm auf das Tor des botanischen Gartens zu. Hier bahnte sich eine Katastrophe an. Im Park gab es unzählige Orte, an denen man sich verstecken konnte. Will wusste nicht, wo er anfangen sollte. »Nico«, rief er. »Nicolas.« Er lief den Hauptweg hinter dem Tor entlang. Der rothaarige Junge folgte ihm. Sie verteilten sich. »Nico«, rief Will. Er versuchte, freundlich zu klingen, als ginge es einfach nur um ein Versteckspiel. Komm raus, komm schon raus – »Nicolas?« Sie umrundeten das Museum für Naturgeschichte, sahen in jeder Nische nach und wandten sich dann den Treibhäusern zu, den steilen Bauten aus Eisen und Glas, die im Morgenlicht wie riesige, ineinander verwobene Spinnennetze aussahen; die Palmen und die verschiedenen tropischen Pflanzen drinnen sahen aus wie gigantische Insekten, die sich in den klebrigen Webfäden verfangen hatten. Sie bahnten sich einen Weg zwischen den ausgedehnten Rabatten hindurch, diesem wohl geordneten Lehrbuch der Bepflanzungen, das von Kieswegen geteilt und zu Vierecken abgezirkelt war. Der Boden war ziemlich feucht, aber trotzdem immer noch hart. Viele Pflanzen waren noch nicht für den kommenden Winter beschnitten, auch wenn sie schon vor 239
langer Zeit verblüht waren. Es war alles kahl, leicht zu überschauen. Will rechnete nicht ernsthaft damit, Nico irgendwo im Freien zu entdecken. »Nico? Nicolas?« Sie fingen an, die Außenränder des Gartens abzusuchen. Will beschloss, dass er und der rothaarige Junge sich trennen mussten. Der Rothaarige machte ein tieftrauriges Gesicht, ihm traten die Tränen in die Augen. Er zitterte. »Ich war der, der bei dem Jungen geblieben ist, verstehen Sie«, sagte er. »Wo habt ihr ihn festgehalten?«, fragte Will. »Wir waren in unserer Kneipe. Im Keller von der Kneipe, wo wir so rumhängen«, sagte der Rothaarige. Seine Zähne klapperten. Eine Träne rollte über seine Wange. Will hätte dem Jungen am liebsten gesagt, dass er sich die Tränen gerne sparen konnte, zumindest so weit es ihn betraf. Aber er tat es nicht. Und nun wurde ihm klar, dass es dumm von ihm gewesen war, den Jungen mit in den Park zu schleppen; wenn Nico seinen Entführer sah, würde er wohl kaum hervorkommen; er würde sich nur noch tiefer in seinem Versteck verkriechen. »Warum wartest du nicht vorne am Haupttor?«, schlug Will vor und ging ohne ihn weiter. Er kam an der berühmten libanesischen Zeder vorbei, einer majestätischen, zwanzig Meter hohen grünen Feder, und einen Moment lang sah es so aus, als würde der Junge vielleicht dort Zuflucht suchen, heimisch in der Flora seiner Ahnen, aber das war Blödsinn; Will war klug genug, keine Erwachsenenlogik anzuwenden. Er rief den Namen des Jungen, dehnte ihn zu einem in der Ferne verklingenden Flehen. So nahe zu sein, und dann wieder so fern. Jetzt kam es nur noch auf diesen einen Moment an. Ohne den Jungen hätte er nichts erreicht. 240
Er wandte sich wieder den ordentlich gestutzten Rabatten zu. Er dachte an Jories Vermutung, dass Nico sich, wenn er wusste, wo er war, einen Unterschlupf suchen würde, den er kannte. Was also würde dem Jungen bekannt vorkommen? Er hatte nicht gezögert, sondern war direkt in den Park gelaufen – warum? Will ging die Beete auf und ab, für den unwahrscheinlichen Fall, dass der Junge sich flach genug ausstreckte, sodass man ihn nicht sehen konnte, wenn er sich neben einem Busch kriechendem Lavendel versteckte. Er ging wieder zu der Zeder zurück. Dann in einem Halbkreis bis zum Museum und den Treibhäusern. So verbrachte er den größten Teil einer Stunde. Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die Menagerie. Er lief den Weg entlang, durch den gesamten Park. Der Zoo war durch einen Zaun vom Rest des Gartens getrennt; dennoch gab es für jemanden unter einem Meter zwanzig viele Möglichkeiten hindurchzuschlüpfen. Will musste über ein schmiedeeisernes Tor klettern. Er zog sich nach oben, mogelte sich über ein paar ungemütliche Spitzen hinweg und ließ sich auf der anderen Seite zu Boden fallen; ein stechender Schmerz durchfuhr sein Fußgelenk. Der Zoo war eine Ansammlung kleiner Gebäude, die allesamt verschlossen waren, einige wurden gerade renoviert. Im Terrarium mit den Schlangen und Krokodilen stank es wie im Sumpf. Eine gigantische Voliere für exotische Vögel war für die Dauer der kalten Jahreszeit leer geräumt worden. Tatsächlich sah kein einziger der Außenkäfige bewohnt aus; die Tiere waren entweder über den Winter hinweg hereingeholt oder womöglich ganz fortgeschafft worden, denn der Zoo war ganz offensichtlich verwahrlost. Die Schilder draußen an einem runden Gebäude kündigten eine Dauerausstellung über die Evolution an, aber vor dem Eingang hing ein Vorhängeschloss, und in der Außenwand fehlten überall Ziegel. 241
Lass mich dich finden, Nico. Ich muss dich finden. Will humpelte mehrmals durch den Zoo, sagte dabei immer wieder den Namen des Jungen. Dann schwieg er. Einen Augenblick lang hatte er gedacht, dass er vielleicht, nur vielleicht, wie ein Vierjähriger denken könnte. Der Zoo war ihm so viel versprechend vorgekommen. Immer wieder ging er am Affenkäfig vorbei, ein Stadthaus en miniature aus Eisenstangen und Maschendraht, das innen mit hohlen Eichenstämmen, Strickleitern und einer Plattform auf den niedrigen Asten ausgestattet war. Die Tiere waren fort, aber dann blieb sein Blick an etwas hängen. Will humpelte näher heran. War ein Schimpanse zurückgeblieben? Will trat direkt an die Stangen des Affenkäfigs heran. Der Schimpanse kam auf ihn zu. Kein Schimpanse. Ein Junge – Er trug einen Umhang – nein, eine große Lederjacke, die ihm von den Schultern rutschte, sodass der eigene Mantel des Jungen sichtbar wurde. Er hatte große braune Pupillen. Was ist das Beste, was du je getan hast? Ich habe ein vermisstes Kind gerettet. Er kam nicht näher. »Nicolas Chamoun, du bist es«, sagte Will und ging in die Hocke. Er musste lächeln. Der Junge im Affenkäfig rührte sich nicht. »Du weißt, wer ich bin«, sagte Will. »Ich habe dich mit Jorie getroffen. Wir sind in das Bistro gegangen.« Der Junge blinzelte. Er kam langsam näher. »Jorie wird so glücklich sein, dich zu sehen«, sagte Will. »Du bist ihr Ein und Alles. Jorie, sie ist wie eine Mutter für dich.« Näher. Näher. »So denkst du an sie – hab ich Recht? Als deine Mutter.« Näher, und dennoch blieb der Junge in einiger Entfernung. »Jorie ist deine Mami«, sagte Will. 242
Dann zog er eine Kastanie aus der Tasche. Er hielt sie vor ein Loch im Maschendraht. Der Junge trat noch einen Schritt vor, endlich ins Sonnenlicht. »Ich glaube, das hier gehört dir«, sagte Will. Das war der Punkt, an dem der Junge, Nico, Nicolas Chamoun, die Hand nach der Kastanie ausstreckte. DER TAG WURDE ZUM TRAUM: Die Städte und Dörfer Frankreichs blieben hinter uns zurück, während wir die Autobahn entlangjagten – die Schindeldachansammlungen in der Ferne sahen aus wie verwehtes Herbstlaub. Jorie fuhr die ganze Strecke, dicht über das Steuerrad gebeugt, als könnte sie den Wagen über seine Höchstgeschwindigkeit hinaus antreiben, wenn sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den Motor stemmte. Sie überholte jeden einzelnen Lastwagen auf der Straße und nahm es mit jedem Wagen auf, der unseren Weg kreuzte. Sie war mit ihrer Geduld am Ende und nur noch wütend. Sie blaffte mich an, als ich anhalten wollte, um Didier anzurufen und mich zu vergewissern, dass er seinen Wagen nicht brauchte (es schien ihm egal zu sein; er lag mit einem Kater im Bett); sie schrie mich an, wenn ich ihr nicht schon weit im Voraus die Richtung ankündigte; und sie zeigte sich feindselig gegen Will. »Ich sehe nicht ein, warum wir diesen ganzen Weg fahren müssen«, sagte sie. »Ich verstehe nicht, warum er den Jungen nicht einfach nach Hause bringen konnte.« »Er hat versprochen, es später zu erklären«, war das Einzige, was ich zu seiner Verteidigung vorbringen konnte. »Was genau erklären?«, versetzte Jorie schnippisch. Sie umklammerte das Steuerrad, bis ihre Stirn fast die Windschutzscheibe berührte. Wir fuhren von der Autobahn ab und schossen eine schmale 243
Straße entlang. Wir mussten eineinhalb Stunden unterwegs gewesen sein, und doch hatte ich keinerlei Gefühl dafür, wie lange oder wie weit wir gefahren waren. Wir glitten durch eine Stadt. Es gab ein Gasthaus, einige Geschäfte. Dann wieder eine leere Straße, nur hin und wieder von einem einzelnen Haus oder einem Stück Mauer bestanden, und dann noch ein Dorf, die Kurzform des vorherigen. Ich dachte, wir kämen vielleicht durch eine um ein Schloss herum errichtete Stadt, nur war das Schloss seit langem verschwunden, und warum irgendjemand freiwillig hier zwischen einem Wald mit Fluss und der rauen Felsküste leben wollte, war mir ein Rätsel. Irgendwann bogen wir in eine gerade, ungeteerte Straße ein und fuhren im Vertrauen darauf, dass wir zu einem Haus kommen würden, bevor wir den Wald am Horizont erreichten, durch ein mit hohem Gras bestandenes Feld. Und so war es auch. Es war ein weiß gekalktes Häuschen mit einer ungleichmäßigen Reihe von quadratischen Fenstern hinter geschlossenen Läden und zwei behäbigen Gauben auf dem Reetdach. Weit und breit war kein anderes Haus zu sehen. Hinter dem Feld lag ein Wald, wie ich schon sagte, und obwohl wir noch ein ganzes Stück hätten weiterfahren müssen, um den Atlantik zu erreichen, roch die kalte Luft intensiv nach Salz. Wir waren vor Will angekommen. »Er hat mittags gesagt«, betonte ich. Wir würden warten müssen. Jorie zog ihren Mantel fest um sich und ging um das Haus herum. Ich ging hinein und öffnete die Fensterläden. Im Erdgeschoss gab es ein großes Zimmer, dazu eine Küche, und in der oberen Etage zwei Schlafzimmer. Ich inspizierte den Kamin und schichtete Holz für ein Feuer auf, zündete es aber nicht an. Dann ging ich wieder hinaus, wo ich Jorie auf den Steinstufen sitzend vorfand. Ich versuchte sie aus der Kälte hereinzulokken. Sie rührte sich nicht und gab auch kein Wort mehr von sich. Es kam mir grausam vor, dass Will uns ohne ersichtlichen 244
Grund hierher befohlen hatte. Jories Lippen waren grau, ihr Gesicht unbewegt wie ein zugefrorener See. Ich fand eine verstaubte Wolldecke in einem der Schlafräume und brachte sie ihr. Sie starrte auf die Straße hinaus. Zwölf Uhr mittags kam und ging. Langsam wurde ich ungeduldig. Ich war natürlich völlig übermüdet, und das Letzte, was ich gegessen hatte, waren die viel zu süßen Feigenkekse gewesen; dazu noch die Angst – ich konnte Jorie nicht mehr zusehen. Ich versuchte ja zu glauben, dass Will unterwegs war, dass er gute Gründe hatte, uns den ganzen Weg hier herauszuschicken, aber gleichzeitig konnte ich mir auch ein vollkommen anderes Szenario vorstellen: Will würde mit schlechten Nachrichten aufkreuzen. Der Junge war verloren – vielleicht sogar gefunden, aber tot. Ich sagte Jorie, dass ich mich nach mehr Feuerholz umsehen wolle, und ging ums Haus herum, um mich dort unverzüglich zu übergeben. Eine Zeit lang saß ich auf dem Boden, dann entfernte ich mich vom Haus und ging einen breiten Trampelpfad zwischen dem hohen Gras entlang. Ich dachte daran, wie ich eines Morgens allein in dem Haus von Wills Familie in Maine aufgewacht war und ihn nirgends finden konnte. Ich rief nach ihm, er antwortete nicht. Ich ging hinaus und sah ihn nicht. Möglicherweise geriet ich in Panik. Ich glaubte nicht so sehr, dass ich verlassen worden war, als dass er vielleicht nur kurz fortgegangen war, um etwas zu besorgen, und einen Unfall gehabt hatte. Dann war ich geistesgegenwärtig genug, den weißen Holzstufen zu folgen, die zum Strand hinunterführten, und sah im Bootshaus nach, wo ich Will fand, der fröhlich Muscheln vom Boden eines aufgebockten Bootes kratzte. Und ich weiß noch, wie mich diese Szene verstörte: Boote, Bootspflege, Bootskenntnisse – das alles war mir fremd, und die Tatsache, dass Will eine Seemannsvergangenheit besaß, von der ich nichts wusste, ließ mich daran zweifeln, ob ich ihn jemals ganz kennen würde. Immer dann, 245
wenn ich dachte, ihn einordnen zu können, würde ich eine neue, verborgene Lichtung entdecken. Ich musste mich, ohne es zu merken, ziemlich weit von dem Haus entfernt haben, denn als ich mich umdrehte, konnte ich nur noch das Dach sehen, das über dem braun gewordenen Gras schwebte. Ich machte mich auf den Rückweg, und als ich nahe genug heran war, um die Küchentür zu erkennen, entdeckte ich Will. Ich rannte. Ich rutschte aus, und mein Knie war plötzlich nass von Matsch. Als ich das nächste Mal stürzte, landete ich in seinen Armen. Sein Atem wärmte mir den Nacken. Jorie war vor dem Haus, kniete im Dreck der Auffahrt und umschlang Nico mit den Armen, hüllte ihn in die Wolldecke, sodass ich nur sein rundes Gesicht und die geschlossenen Augen sehen konnte. Er war kleiner, als ich erwartet hatte, viel kompakter, und als er die Augen öffnete und mich anblinzelte, fand ich, dass er weniger einem Kind als einem alten Mann glich, der mit jedem Tag etwas weniger wird, schrumpft, sich zurückzieht; bald würde es ihn nicht mehr geben. Jorie küsste ihn auf den Scheitel, strich sein schwarzes Haar mit den Lippen zurück. Küsste ihn, presste ihre Wange gegen sein Ohr, küsste ihn wieder. Ich konnte nicht hören, was sie sagte. Nico sah benommen aus; er weinte nicht, er sagte nichts. Drinnen zündete Will die Scheite im Kamin an, und das Knistern von aufloderndem trockenem Holz wurde zum einzigen Geräusch im Haus. Ansonsten waren wir still. Wir saßen am Feuer. Jorie wollte den Jungen nicht loslassen, und er ließ sich halten und schien hin und wieder einzuschlafen. Eine Weile verging, bevor ich die Stille durchbrach. »Wie um alles in der Welt hast du ihn gefunden?« Jorie sah Will an, und Will seufzte tief. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte er. Aber es war unübersehbar, dass die reine Freude an der Rückkehr des Jungen unvollkommen bleiben würde, wenn 246
nicht einiges an Erklärungen folgte. Wir brauchten einen Abschluss. Wir wussten, dass Will in das Hotel gegangen war, um den Freund seiner Familie aufzusuchen; ich fragte, ob der pensionierte Diplomat irgendwie interveniert hatte. »Ja, das hat er tatsächlich«, sagte Will. »Hat er die Polizei unter Druck gesetzt?«, fragte ich. »Er hat einen Klienten bei der Regierung angerufen. Von dort aus wurden die Kontakte hergestellt.« Ich beschloss, nicht weiter darauf einzugehen, was er mit Kontakte meinte; das Wort gefiel mir nicht. Jorie starrte wieder ins Feuer. Sie rieb ihre Nase an Nicos Kopf. Im Schlaf wirkte er eher – wie ein Vierjähriger, so tief in Schlaf versunken, wie es nur Kinder sein können. »Ich kann später mehr erklären«, sagte Will. »Aber warum hier? Warum mussten wir uns ganz hier draußen treffen?«, fragte ich. Wieder sah Jorie Will an. Will hockte vor dem Kamin und stocherte in der Glut. Als er sich wieder zu uns umdrehte, sah er Jorie an. »Ich weiß, dass es pervers ist. Nach allem, was passiert ist, weiß ich, dass es abwegig scheinen mag, so zu denken. Aber verstehst du denn nicht?« Sie schüttelte verneinend den Kopf. Auf Wills Gesicht erschien ein Grinsen. »Der Junge ist als vermisst gemeldet worden«, sagte er dann. »Verstehst du nicht? Das ist es, was du wolltest.« Jorie räusperte sich. Sie sprach leise, als wollte sie Nico nicht aufwecken. »Wir werden das Land verlassen«, sagte sie. »Ja«, sagte Will. »Und niemand wird nach einem von euch suchen, niemand wird einen Grund dazu haben – du hast keine Bleibe. Der Junge ist verschwunden. Du warst verzweifelt und bist fort.« Jetzt verstand ich. »Also könnte man sagen, dass wir uns im Augenblick verstecken«, sagte ich. 247
»Im Laufe des Tages werde ich erfahren, wie wir euch beide außer Landes bringen können«, sagte Will. »Das ist der nächste Schritt. Ich habe mir gedacht, dass das Haus hier irgendwo im Nichts sein würde. Und genau so ist es. Ich werde bald etwas hören, und dann müssen wir schnell handeln. Es ist das, was du wolltest, Jorie. Du und Nico – ihr seid frei.« Jorie betrachtete den Jungen in ihren Armen. Er schlief mit offenem Mund. Sie wischte ihm die Nase sauber. »Können wir nach oben gehen und uns hinlegen?«, fragte sie mich. Sie trug Nico ins obere Stockwerk hinauf und legte sich mit ihm auf ein großes Bett. Ich sorgte dafür, dass sie es bequem hatten, und machte die Tür zu. Will kam hinter mir her in das andere Zimmer. Wir legten uns hin. Er war innerhalb von Sekunden eingeschlafen, also ließ ich mich endlich auch in einen tiefen, tiefen Schlaffallen. Als ich erwachte, war es dunkel draußen. Will war nicht mehr neben mir. Ich bemerkte, dass nebenan im anderen Raum eine Lampe brannte, aber unter der Decke, die sich in ruhigem Rhythmus hob und senkte, lag nur der Junge. Jorie und Will saßen in der Küche am Tisch. Ich wusste nicht, wie lange sie schon redeten. Offenbar hatte sie ein paar Dosen Suppe im Schrank gefunden und aufgewärmt, obwohl keiner von ihnen viel von dem Inhalt ihrer Schalen gegessen zu haben schien. Mir fiel ein, dass ich bisher nicht einmal darüber nachgedacht hatte, was alles nötig sein würde, um eine Frau und ein Kind unbemerkt und ohne Spuren aus dem Land zu schaffen. Dazu würde einiges an bürokratischem Aufwand erforderlich sein. Ich tat mir Suppe auf und setzte mich Will gegenüber. Jorie hatte die Stirn in Falten gelegt. »Wie lange haben wir geschlafen?«, fragte ich. Niemand antwortete. Will aß ein paar Löffel Suppe. Jorie atmete tief aus. »Was er nicht erwähnt hat«, sagte sie, »ist, dass er Nico zu248
rückbekommen hat, indem er versprochen hat, dass wir von der Bildfläche verschwinden würden.« »Was im Endeffekt das war, was du wolltest«, sagte Will. »Die Geschichte könnte in den Zeitungen oder im Fernsehen kommen«, sagte Jorie. »Dass mindestens ein Junge nicht nach Hause gekommen ist, und es wird eine Lüge sein.« »Vielleicht wird die Lüge ein paar Leute dazu anregen, sich anständig zu verhalten«, sagte Will. Ich wollte zurück ins Bett. »Du hast einen Handel abgeschlossen«, sagte Jorie. »Das habe ich getan«, sagte Will. Jorie stand auf. »Ich muss nachsehen, wie es ihm geht. Er hat vorher kein Wort gesagt«, sagte sie. »Er wird wahrscheinlich eine Weile brauchen, bis er den Schock überwunden hat«, sagte ich. Jorie legte mir eine Hand auf den Arm, bevor sie das Zimmer ließ und die Treppe hinaufging. Wenige Augenblicke später knarrte die Decke über uns. Ich warf einen Blick auf das schwarze Telefon mit Wählscheibe an der Wand. »Hast du alles Übrige schon klargemacht?«, fragte ich. »Noch nicht«, sagte Will. »Jencks hat Mühe, die Leute zu erreichen, schließlich ist Sonnabend. Es wird ein bisschen länger dauern, als ich gedacht habe. Wir werden wahrscheinlich morgen früh so weit sein.« Er musste sich mal wieder rasieren. Er rieb sich das Kinn und sah mir zu, wie ich meine Suppe aß, während er seine eigene kalt werden ließ. »Ich finde es grandios, dass du ihn gefunden hast«, sagte ich. »Ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt.« Er starrte eine Weile den Tisch an, aber dann machte sich ein Grinsen auf seinem Gesicht breit. »Kannst du mir sagen, wie?«, fragte ich. »Wen musstest du anrufen?« 249
»Das ist eine lange Geschichte«, wiederholte Will. Und ich vermutete das Gegenteil; es würde eine kurze Erklärung geben, aber er wollte seine Version der Geschichte nicht preisgeben, noch nicht. Ich konnte nur vermuten, dass er fürchtete, ich würde ihn vielleicht verurteilen, wie Jorie ihn offenbar verurteilte. Aber ich wollte ihn dennoch überzeugen, dass ich auf seiner Seite war. Ich musste glauben können, dass er den Helden gespielt hatte. Ich nahm seine Hand und führte ihn zu unserem Zimmer hinauf. Leise schloss ich die Tür und drehte aus irgendeinem Grund auch den Messingriegel herum. Dann setzte ich mich aufs Bett und zog ihn halbwegs aus. Ich zog ihn auf die Matratze, und er schob mein Hemd und den Pullover über meinen Kopf. Es war kalt, wir schlüpften unter die Bettdecke. Die Lampe ließen wir an. Wir fanden unseren Rhythmus, ruderten in unseren gewohnten Bahnen, aber nur für kurze Zeit. So weit hatten uns die Jahre also gebracht: Die Art, wie wir uns liebten, hatte etwas Einsames, das wir schließlich nicht mehr ignorieren konnten. Später machte Will die Lampe aus, aber wir schliefen nicht gleich ein. Ich erriet, was er mir sagen würde, bevor er es aussprach. Sein Zögern war spürbar in der Hitze der Worte, die er gleich aussprechen würde. »Man hat mir die Möglichkeit geboten, in den Auswärtigen Dienst zurückzugehen«, sagte er. »Wenn ich will.« Ich habe vielleicht irgendetwas geantwortet. Ich weiß es nicht mehr. »Es wäre wieder Djakarta.« Ich stand auf und machte das Fenster einen Spalt breit auf. »Dieses Mal könntest du mitkommen«, sagte er. »Wir könnten es schaffen.« Und so sah es wieder einmal so aus, als wäre es meine Entscheidung: Gehen oder nicht gehen. Ich wollte nicht, dass mein Leben immer im Kreis verläuft. Niemand will das. 250
»Ich habe nicht Ja gesagt«, sagte er. Nein, noch nicht, dachte ich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Der Tag war wie ein Traum, die Nacht wie ein Trancezustand. Vielleicht würde ich am Morgen aufwachen und mich nicht so seltsam fühlen. Konnte Schlaf uns heilen? Ich ging wieder ins Bett und legte meine Hand flach auf seine Brust. »Wir können über alles reden«, sagte er. »Ich möchte darüber reden.« Er drehte sich auf die Seite. Ich ließ meine Hand an seiner Brust. Und so schliefen wir. Früh am nächsten Morgen fiel ein Strahlengitter auf unser Bett. Die Sonne schien durch die Fensterläden. Will hatte sich ein Kissen über den Kopf gezogen. Die Decke verhüllte ihn zur Hälfte, die andere Hälfte lag offen da. Er schien mühelos zu schlafen, wie immer beneidenswert unbekümmert um Ort und Zeit. Ich betrachtete ihn eine Weile, dann zog ich mich an. Als ich nach unten kam, fand ich Jorie und Nico in der Küche vor. Sie war bereits mit dem Wagen im Dorf gewesen und hatte etwas zu essen gekauft. Sie hatte ein Baguette dick mit roter Marmelade bestrichen, hatte Eier gekocht, und die Küche roch nach zerlassener Butter. Nico saß am Tisch und aß gemächlich das Marmeladenbrot, die Eier ließ er stehen. Jorie wusch Geschirr, trocknete ab, stellte alles weg. Sie setzte sich neben Nico an den Tisch und flüsterte ihm etwas zu. Er kam mir teilnahmslos vor, immer noch desorientiert. Bisher hatte er kein Wort gesprochen. Er warf mir einen Blick zu und runzelte die Stirn; allein schon, dass ich ein Fremder war und er in einem fremden Haus aufgewacht war, wirkte nach allem, was er durchgemacht hatte, wie ein unnötiger Schlag. Der Anblick dieses so offensichtlich unglücklichen Kindes verstörte mich. Jorie dagegen schien völlig ruhig. Ich wusste nicht, ob sie geschlafen hatte; ich vermutete, dass sie, wenn überhaupt, nur 251
für ganz kurze Zeit weggedöst war. Trotzdem sah ihre Haut glatt und rosig aus, als hätte sie heute Morgen mehr Sauerstoff eingeatmet. Oder aber sie war zu einem Entschluss gekommen, der ihr nicht leicht gefallen war, und akzeptierte endlich ihr selbst gewähltes Schicksal. Rückblickend betrachtet weiß ich natürlich, dass es so war, weil Jorie mir mitteilte, dass sie, falls ich ihr erlaubte, Didiers Wagen zu nehmen, unverzüglich mit Nico nach Paris zurückkehren würde. »Nach Hause«, sagte ich. Jorie nickte. »Und was ist mit Wills Vorhaben?«, fragte ich. Jorie antwortete nicht. »Sie werden das Land nicht verlassen?« »Irgendwann schon, hoffe ich«, sagte Jorie. »Will schläft noch«, ergänzte ich. »Ich weiß«, sagte sie. »Sie wollen fort, bevor er aufwacht.« »Ja«, sagte sie. »Wir werden in wenigen Minuten losfahren. Ich kann den Wagen bei Ihrem Freund abgeben, und von dort aus nehmen wir dann die Metro. Sie müssen mir nur sagen, wo er wohnt.« Ich rieb mir die Augen. »Ich verstehe nicht«, sagte ich dann. Der Junge sah uns bei unserer Unterhaltung zu. Er blinzelte mich besorgt an. »Oh, doch«, sagte Jorie. »Sie verstehen durchaus.« Ich nahm ein Stück Brot und strich etwas Marmelade darauf, obwohl ich gar nicht hungrig war. Jorie strich Nico über das Haar. Er sah sauber aus, sein Haar war nass; sie mussten schon eine ganze Weile aufsein, wenn sie ihn sogar gebadet hatte. »Ich werde Will immer dankbar sein«, sagte sie. »Bitte glauben Sie mir, wenn ich das sage. Er hat Nico gefunden, ich weiß, ich weiß. Ich hoffe, er wird wissen, wie dankbar ich ihm 252
bin. Aber er ist zu weit gegangen, und an dem Rest kann ich mich nicht beteiligen.« »Er hat getan, was er tun zu müssen glaubte«, sagte ich. »Aber um welchen Preis? Natürlich wollte ich, dass Nico in Sicherheit ist, natürlich, natürlich. Und ich gebe auch zu, dass ich, wenn Will gesagt hätte, hör zu, das wird es dich kosten, gesagt hätte, dann zahle, zahl, was immer du zahlen musst.« Nico biss von dem Brot ab, wobei ein Klecks Marmelade an seiner Wange hängen blieb. Jorie wischte ihn mit einer Serviette weg. »Ich hatte das Glück, zufällig jemandem zu begegnen, der Zugang zu jemandem hatte, der wiederum Zugang zu einem anderen hatte und so weiter. Aber Pedro, das hört doch nie auf. Sie tauschen Gefälligkeiten, machen irgendwas aus – das ist ihr Geschäft. Die Politiker der Front National und die Regierungspolitiker und dieser Freund von Wills Familie, der früher Diplomat war, und –« Und Will selber, wollte sie sagen, und Will. »Sehen Sie, ich kenne Will – und auch Sie – nicht sehr lange, oder? Erst seit einem Tag. Ich will keine falschen Schlüsse ziehen, aber …« Jorie biss sich auf die Lippe. Sie zögerte. »Als ich ein kleines Mädchen war, redete mein Vater immer von all den fürchterlichen Männern auf der Welt, die Feinde unseres Landes waren. Fundamentalistische Religionsführer, Despoten mit eigenen Privatarmeen. Sie waren gar nicht so weit entfernt, und deshalb lebten wir, wo auch immer wir lebten – damit mein Dad sie dort halten konnte, wo sie waren. Also, eines Nachts, ziemlich spät – ich denke, ich war ungefähr zehn –, konnte ich nicht schlafen und stand noch einmal auf, um mir etwas Wasser zu holen. Ich ging in die Küche hinunter und sah dort meinen Vater mit seinen Freunden von der Marine und den Diplomaten, mit denen er zusammenarbeitete, beim Kartenspielen – nichts Besonderes, oder? Aber ich sah an dem Tisch auch noch 253
Männer in anderen Uniformen, in der falschen Farbe, Uniformen, die dem Feind gehörten, das wusste ich. Die falschen Barette, die falschen Schulterstücke – und sie legten ihre Rommee-Karten aus, tranken Scotch und lachten und lachten. Ich werde das nie vergessen. Ich war noch klein, ich verstand nicht – obwohl es überall, wo wir lebten, immer wieder passierte, und nach einer Weile verstand ich es. Egal, in dieser ersten Nacht fing ich an zu weinen, und mein Vater brachte mich zurück ins Bett. Und ich fragte ihn, diese Männer da unten – hassen wir sie denn nicht? Worauf mein Vater so etwas sagte wie, mach dir keine Sorgen, Schätzchen, Daddy passt schon auf dich auf. Mach dir keine Sorgen«, sagte sie schließlich. Nico biss wieder von seinem Brot ab. Er starrte mich an. Fast ohne zu blinzeln. Ich fühlte mich durchschaut, von ihm, von Jorie – völlig exponiert in all meiner Unsicherheit und meinem Zweifel. Ich hörte sie, ich verstand absolut, was sie sagte. Ich konnte es zu dem hinzufügen, was Will mir von seiner Zeit in Mexiko und dem, was er mir gestern vor dem Einschlafen erzählt hatte, über das Angebot, wieder in den Auswärtigen Dienst einzutreten. Selbst nach allem, was er durchgemacht hatte, würde er wieder zu diesem Leben zurückkehren. Ich konnte sehen, dass er in gewisser Weise bereits zurückgekehrt war. Ich vergrub den Kopf in den Händen. »Wie kommt es, dass Will Law die Freilassung meines Jungen erreichen konnte?«, fragte Jorie. »Woher hat er die Macht, so etwas in die Wege zu leiten? Sie wollen es nicht hören, aber tief im Innern wissen Sie es. Jemand, den Sie und ich wahrscheinlich nicht besonders mögen, wollte mit ihm ins Geschäft kommen. Fragen Sie sich selber, warum. Fragen Sie sich, warum jemand wie Will –« »Sie haben sich deutlich genug ausgedrückt«, sagte ich, ohne den Kopf zu heben. 254
Ich spürte Jories Hand auf meiner Schulter. »Und ich habe Sie verärgert«, sagte sie. »Es tut mir Leid.« Ich sah zu ihr auf. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.« »Ich muss tun, was richtig ist, so einfach ist das«, sagte sie. »Ich kann Nico nicht zu einer Sensationsstory machen, ich kann keine Lügen über ihn erzählen. Ich könnte mit mir selbst nicht leben. Wir fahren jetzt nach Paris zurück, und wir werden die Polizei und jeden, den es interessieren sollte, wissen lassen, dass Nico in Sicherheit ist.« »Und Luc?«, fragte ich. Nico sah Jorie an. Sie setzte sich aufrecht hin. »Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte sie dann. »Einen schweren, gefährlichen Fehler. Ich kann nicht weglaufen.« Sie holte ihre Mäntel aus dem Hauptraum und fing an, Nicos Reißverschlüsse zuzuziehen. Sie fragte mich noch einmal, wo sie Didiers Wagen lassen und was sie mit den Schlüsseln machen sollte. »Können Sie eine Minute warten?«, fragte ich. Ich ging nach oben in das Schlafzimmer. Will lag auf dem Bauch, ein Knie hochgezogen, das andere Bein lang ausgestreckt. Das Kissen war zur Seite gefallen. Er schlief. Ich küsste ihn auf den Rücken zwischen den Schulterblättern. Er rührte sich nicht. Ich küsste ihn wieder. Er griff nach dem Kopfende. Einmal küsste ich ihn noch, auf die goldfarbene Rauheit in seinem Gesicht, und er zuckte zusammen, wachte aber nicht auf. Du weißt, wo du mich finden kannst. Dann ging ich nach unten. Und dann nahm ich Jorie die Autoschlüssel aus der Hand und sagte ihr, dass ich selber fahren würde.
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5 EIN JAHR SPÄTER reiste ich in den Libanon. Nichts von dem, was Jorie in ihren Briefen geschrieben hatte, hatte mich auf die Sonne vorbereitet, vor der es keine Ausflucht gab, nicht einmal mitten im Herbst. Gnadenlos und unablässig strahlte ihr helles Licht auf die Küste und ließ den Boden unter meinen Schritten knirschen. Im Bus von Beirut nach Byblos spürte ich, wie ich einen Sonnenbrand bekam. Jorie musste zweimal anhalten, um Wasser in den Kühler ihres alten Autos nachzugießen, ein wuchtiger Sedan, über dessen zerrissene Polster Decken gebreitet worden waren. Ich wusste nicht, wie Nico, der auf dem Rücksitz saß, die Hitze aushielt, aber ich dachte mir, dass er sich daran gewöhnt hatte. Irgendwann kamen wir in etwas höhere Regionen, und erst da ließ die Sonne nach. Die Bäume am Berg spendeten ein wenig Schatten, obwohl immer noch eine Menge Licht erst durch die Zypressen, dann die Zedern fiel. »Wie geht es Ihnen?«, fragte mich Jorie. Wir waren noch nicht weit in die Berge hinaufgefahren, als wir zu einer Straßensperre kamen. Ein syrischer Soldat mit einer Halbautomatik auf dem Rücken inspizierte Jories Papiere und meinen Pass und warf einen Blick auf Nico, bevor er in den Kofferraum sah. Wir warteten geduldig. »Ich fühle mich, als wäre ich am Strand eingeschlafen, und jetzt muss ich dafür zahlen«, sagte ich. »Sie werden sich besser fühlen, wenn wir erst im Haus sind«, meinte sie. Ich drehte mich zu Nico um. »Und wie geht es dir da hinten?«, fragte ich. Er blinzelte mich an und sah dann weg; er beobachtete den Soldaten. Ich hatte keine Antwort von ihm erwartet. »Ich meinte eigentlich mehr, wie es Ihnen allgemein geht«, 256
sagte Jorie. »Inzwischen.« Ihre Haut war gebräunt und das Haar blond und trocken, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. »Inzwischen«, sagte ich. Ich hätte ihr gern irgendeine passende Antwort gegeben. Es sind nicht alle Tage so düster, ich fühle mich mit jedem Tag stärker. Aber das levantinische Licht machte mich ehrlich. »Ich fühle mich noch genauso verloren wie an dem Tag, als Wills Schwester anrief, um mir zu sagen, dass er tot ist«, sagte ich. Der Soldat gab Jorie die Papiere zurück und murmelte etwas auf Arabisch. Er schob die Barriere zur Seite, die die Straße blockierte, und wir fuhren eine dreispurige Straße hinauf. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind«, sagte Jorie. Wir redeten jetzt mehr miteinander, wenn auch nicht über unser Leben, sondern über den Libanon und seinen bedingten Frieden. Die Straße, auf der wir uns befanden, war während des jahrzehntelangen Krieges geschlossen gewesen, und so hatte Lucs Familie lange Zeit keinen Zugriff auf das Anwesen in den Bergen gehabt, das ihnen gehörte. Sie lebten alle in Beirut und Byblos, und selbst nachdem die Straße wieder geöffnet worden war, machten sie die Reise hierher nicht allzu oft. Wir fuhren eine Stunde lang, bis wir zu einer Lichtung im Wald kamen, und fuhren durch eine bescheidene Pflanzung. Die silbrigen Blätter unbeschnittener Olivenbäume glitzerten in der Morgensonne. Näher am Haus gab es Obstbäume, Äpfel und Pflaumen. Ein älterer Mann war damit beschäftigt, die Früchte von den niederen Zweigen zu pflücken und in einem tiefen Korb zu sammeln. Er winkte uns zu. Jorie erklärte, dass er in dem weißen Häuschen wohnte, an dem wir vorbeifuhren, bevor wir zum Haupthaus gelangten; er war der Mann, den die Familie während des Krieges dafür bezahlt hatte, dass er das Anwesen vor Plünderern schützte, und danach war er geblieben, was Jorie nun die Möglichkeit gab, mit Nico hier zu leben. 257
Andernfalls wäre es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, eine Frau mit einem Kind allein in den Bergen. Das Haupthaus war nur wenig größer als die Hütte des Verwalters. Es war ein niedriger Lehmbau mit sanft gewölbtem Giebel, der von einer überdachten Veranda umgeben wurde. Hinter dem Haus fiel das dicht mit Jasmin bewachsene Gelände leicht ab. Eine Schaukel wehte im Wind. Es gab einen Gemüsegarten, der gepflegt, aber zu dieser Jahreszeit wenig ertragreich aussah. Die Räume drinnen waren kühl, wie versprochen; alle Fenster und Türen standen offen. Ich freute mich auf ein Schläfchen. Jorie stellte ein paar Teller mit Essen auf den Tisch hinten auf der Veranda – Blauschimmelkäse, Brot, eine Schale mit winzigen Birnen –, allerdings war ich nicht hungrig. Nico auch nicht. Er kam mit einem weißen Zeichenblock an den Tisch und fing an, bunte Bilder zu malen. Er zeichnete ein Haus, das diesem hier nicht unähnlich war, und mir fiel auf, dass er dieselben Farben dazu nahm, die in dem Hemd zu finden waren, das er trug – dunkle Rottöne und erdiges Braun –, und das Grün des Gartens um uns herum. »Sind das deine Lieblingsfarben?«, fragte ich ihn. Wieder blinzelte er mich an, sagte aber nichts. Jorie strahlte ihn an. »Das Haus sieht aber toll aus, Nico«, sagte sie. Seine Lippen waren fest zusammengepresst. Er sah auf den Hang und den Tannenwald in der Ferne hinaus. Dann fing er an, einen hohen Baum neben sein Haus zu malen. Ein Haus, ein Baum, die Sonne – aber kein kleiner Junge mit weit gespreizten Fingern in seiner Landschaft; sich selber malte er nicht. Er blieb eine Weile bei uns sitzen und ging dann hinein, und als ich Jorie ansah, nachdem er fort war, konnte ich ihre Sommerbräune sehen und trotzdem erkennen, dass sie nachts nicht allzu gut schlief. Sie sorgte sich unablässig um den Jungen. Im entspannten Zustand zeigten ihre Mundwinkel nach 258
unten. In ihren Briefen hatte sie berichtet, dass Nico seit seinem schrecklichen Erlebnis in Paris keinen Laut von sich gegeben hatte. Ein Jahr danach hatte er noch nicht ein einziges Wort gesprochen. In Frankreich hatten die Ärzte festgestellt, dass mit seinem Gehör alles in Ordnung war; andere Tests ergaben, dass es für seine Sprachlosigkeit keinen medizinischen Grund gab. Psychiatrische Gutachten ohne ein Gespräch waren nicht so einfach, und irgendwelche konkreten Behandlungsempfehlungen kamen am Ende auch nie dabei heraus. Aber Jorie war aus tiefstem Herzen davon überzeugt, dass Nico mit der Zeit gesund werden würde, wenn er sich sicher fühlen konnte, und sie glaubte, im Libanon wäre das der Fall. In den Monaten, seit sie hier lebten, hatte er tatsächlich Fortschritte gemacht, erzählte sie mir jetzt. »Ich weiß, dass es wahrscheinlich nicht danach aussieht«, sagte sie, »aber er ist viel umgänglicher geworden, nicht mehr so ängstlich. Er schläft durch, er bekommt keine Medikamente. Ich kann ihn sogar eine Stunde unter Aufsicht lassen, um ins Dorf hinunterzugehen, und wenn ich dann wiederkomme, ist alles in Ordnung. Wenn vor ein paar Monaten jemand wie Sie ins Haus gekommen wäre, wäre er in sein Zimmer gerannt und hätte die Tür hinter sich zugesperrt.« »Er hat hier bei uns gesessen und gemalt«, sagte ich. Jorie nickte und versuchte zu lächeln. »Ich nehme, was ich kriegen kann«, sagte sie. »Aber ich will Ihnen nichts vormachen. Ich sehe ihn, ich beobachte ihn, ich folge seinem Blick, um zu wissen, was er ansieht. Er erholt sich nur sehr langsam. Das Leben ist schwer für ihn.« »Und wie geht es Ihnen?«, fragte ich. »So ganz allgemein.« Jorie zuckte die Achseln. »Ich sehe, dass er Fortschritte macht. Das macht mich glücklich.« »Sind Sie einsam, so ganz allein hier oben?« Jories Antwort kam ohne Zögern. »Ganz und gar nicht. Na 259
ja, ich könnte nicht ewig so leben. Aber im Moment bin ich zufrieden, selbst bei allem, was mit Nico los ist.« Ich hatte keine Veranlassung, an ihren Worten zu zweifeln. »Sie sehen gut aus«, sagte ich. »Ich lebe in der Sonne«, gab sie zurück. »Das kann man sehen.« Ich machte mir Gedanken über Luc und ihr Arrangement mit ihm. Ich wusste, dass er, als sie mit Nico nach Paris zurückkehrte, noch nicht eingetroffen war, aber als er dann nach Hause kam, erzählte sie ihm alles. Sie sagte ihm in aller Aufrichtigkeit, dass sie vielleicht mit dem Kind fortgelaufen wäre, wenn der Tag nicht diese Wendung genommen hätte. Sie erklärte Luc ganz offen, dass sie ihn zwar gern hatte, ihre Liebe zueinander aber verschwunden war. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie konnte nicht ohne Nico leben, und das Einzige, was jetzt überhaupt wichtig war, war das Glück des Jungen. Und dann hatte Luc sie überrascht. Seine überstürzte Heimreise, ohne zu wissen, was oder wen er bei seiner Rückkehr vorfinden würde, hatte ihn geläutert. Auch er war bereit zuzugeben, dass ihre Liebe wohl vergangen war, und auch er war überaus besorgt um den Jungen. Es würde ihn krank machen für den Rest seines Lebens, wenn dieses Kind auf immer verloren blieb. Ja, sie mussten jetzt für das Wohlergehen des Jungen sorgen. Ja, sein Junge musste sich sicher fühlen können. Aber ein Umzug in den Libanon kam für ihn nicht in Frage; das war ein Opfer, das er einfach nicht bringen konnte. Also sagte Jorie, lass uns dort leben, Nico und mich. Lass uns dort leben, auch wenn du es nicht kannst. Luc musste darüber nachdenken, aber als die französischen Ärzte auch nichts Genaues sagen konnten, fügte er sich Jories Wünschen. Er kam einmal im Monat zu Besuch, wenn auch in letzter Zeit etwas seltener. Er schickte Geld. »Machen Sie sich Sorgen, dass Luc seine Meinung zu dieser ganzen Sache plötzlich ändern könnte?«, fragte ich. 260
Jorie reckte das Kinn der Sonne entgegen und schloss die Augen. Ich bedauerte schon, dass ich diese Frage gestellt hatte, aber dann sah Jorie mich an. »Es ist sehr traurig. Die Wahrheit ist, dass Luc weitergezogen ist – er war es schon, bevor Nico entführt wurde. Warum, glauben Sie, war er so oft unterwegs? Sein Sohn ist ein Teil seines früheren Lebens. Und was mich betrifft, habe ich, glaube ich, ohne es zu wollen, eine Rolle bei Lucs Übergang in sein neues Leben übernommen. In Wahrheit ist Luc fortgegangen, und das ist manchmal traurig für uns, aber so ist es nun mal. Also leben wir jetzt ohne ihn. Das ist jetzt unser Leben«, sagte sie. Ein Windstoß fuhr in den Jasmin am Berg unter uns und versüßte die Luft. »Vermissen Sie Paris?«, fragte ich. »Ich werde nie mehr dorthin zurückkehren«, erklärte sie mit einem bitteren Ton in der Stimme. »Ich vermeide jede Nachricht von diesem Ort.« Ich wünschte, ich würde ebenso fühlen. Tatsächlich aber würde mich die Sehnsucht nach dieser Stadt niemals verlassen. Im Gegensatz zu Jorie las ich in der Ferne, was es Neues gab: Die Front National war immer noch im Aufwind, aber die Regierung wurde nach wie vor von den Zentristen geführt. Pariser, die sich dem rechten Flügel widersetzten, brachten immer wieder einen Massenaufmarsch zu Stande. Und die Banden schnappten nach wie vor am helllichten Tag dunkelhäutige Kinder von der Straße weg. Ich konnte feststellen, dass die Leute nicht von dem Tag sprachen, an dem alle Brot in den Fluss geworfen hatten und ein Dutzend Kinder entführt worden waren, vielleicht weil jeder wusste, dass sie am Ende alle auf die eine oder andere Weise wieder aufgetaucht waren. In jüngerer Zeit hatte es einen Hungerstreik von Immigranten gegeben, die in einer Kirche Asyl gesucht hatten. Sie sollten allesamt ausgewiesen werden, wurden aber begnadigt, nach261
dem einer von ihnen gestorben war. Und im letzten Monat war ein Immigrant auf die Spitze von Notre-Dame geklettert, und als garantiert sämtliche Medien live auf ihn geschaltet waren, rief er, La France m’assassine – Frankreich bringt mich um –, bevor er sich in den Tod stürzte. Der Mann wurde zum Märtyrer, sein Bild war überall angeschlagen, aber ich vermutete nicht ohne Grund, dass auch er zu gegebener Zeit vergessen sein würde. »Haben Sie wieder angefangen, an Ihrer Dissertation zu arbeiten?«, fragte Jorie. Das hatte ich nicht. Ich hatte die Ledoux-Ausstellung kommen und gehen sehen, und sie war ein Erfolg bei der Kritik, den ich mir zum Teil auch selbst zurechnen konnte, aber meine Leidenschaft für den Mann und seine Architektur war erloschen. Wahllos hatte ich mich nach einem neuen Thema umgesehen, aber ich war immer nur deprimiert, und dann hatte Didier mir vorgeschlagen, eine Auszeit zu nehmen. An dem Morgen, als ich nach Paris zurückgekehrt war, war ich zu ihm nach Hause gefahren, um den Wagen zu übergeben, und hatte ihn mit Fieber im Bett vorgefunden. Ich kümmerte mich zwei Tage lang um ihn, während Will, wie ich annehme, ebenfalls in die Stadt zurückkam, in meine Wohnung ging, seine Sachen holte und verschwand, ohne dass ich ihn noch einmal gesehen oder mit ihm geredet hätte. Als es Didier besser ging, stellte ich fest, dass ich seine Gesellschaft nicht missen wollte. Vielleicht bin ich doch nicht so blöde, weil ich auf dich gewartet habe, sagte Didier. Er wohnte bei mir in New York, als die Ledoux-Ausstellung eröffnet wurde; damals begann unsere Liebesgeschichte. Er bekam einen Job in einer Galerie in Chelsea, und wir begannen ein gemeinsames Leben aufzubauen, das sich als sehr angenehm herausstellte. Dann kam die Nachricht, dass Will gestorben war, und die Trauer lastete schwer auf mir. Die Beerdigung war eine herzlose Angelegenheit; ich trauerte nur noch mehr. Wie ich schon 262
sagte, schlug Didier vor, dass ich es eine Zeit lang langsam angehen lassen sollte, und er war es auch, der meinte, der einzige Weg, zu einem Abschluss zu kommen, sei, alles Geschehene aufleben zu lassen, indem ich mich ihm irgendwie stellte; Didier war es, der mich drängte, ja sogar darauf bestand, dass ich in den Libanon reiste, um Jorie und Nico zu besuchen. »Jedes Mal, wenn ich einen Brief von Ihnen bekam«, sagte ich, »spürte ich eine gewisse Erleichterung.« »Ich bin Ihre Verbindung zu Will«, sagte Jorie. »Ist das nicht seltsam? Sie schreiben mir, und dann glaube ich wieder, dass ich das Richtige getan habe, als ich Sie nach Paris zurückfuhr.« »Ich dachte, Sie würden nie wieder von mir hören wollen«, sagte sie. »Ich schrieb den ersten Brief nur, um mich bei Ihnen zu bedanken, aber ich hatte nie erwartet, dass Sie antworten würden.« »Und jetzt bin ich hier«, sagte ich. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind«, sagte sie zum zweiten und auch nicht zum letzten Mal an diesem Tag. Ich gähnte. Jorie zeigte mir ein Schlafzimmer, wo ich mich hinlegen konnte. »Schlafen Sie, so lange Sie wollen«, sagte sie. An der Wand neben dem Bett war ein Riss, der wie ein Baum aussah. Ich fuhr den verzweigten Bruch im Verputz mit der Fingerspitze nach. Die Wände waren hellblau wie die Luftpostbriefe, die Will mir immer geschickt hatte. Es verging etwa ein Monat, nachdem ich ihn im Landhaus zurückgelassen hatte, dann fing er an, mir aus Djakarta zu schreiben, nur dass er im Gegensatz zu den Briefen vor unserer Wiedervereinigung die Vergangenheit nie auch nur mit einem Wort erwähnte; stattdessen erzählte er mir nur das eine oder andere oberflächliche Detail aus seinem gegenwärtigen Leben. Er beschrieb den Blick aus seinem Zimmer. Die Regenzeit 263
wurde zu seinem Thema. Diese Briefe erreichten mich einmal im Monat. Ich formulierte Antworten, die ich nie wirklich zu Papier brachte und nie abschickte. Ich war zu böse. Was würde ich jetzt schreiben, von hier aus diesem Haus in den Bergen? Lieber Will: Wie konntest du mich wählen und dann ein Leben, in dem für mich kein Platz war? Ein Leben, von dem ich glaubte, dass du es hinter dir gelassen hattest. Ein Leben, das ich nie verstehen werde. Sieben Monate, nachdem sich unsere Wege getrennt hatten, rief eine Frau bei mir an und nannte ihren Namen, ihren angeheirateten Namen, und ich konnte sie erst nicht richtig einordnen. Sie sagte, ich bin Wills Schwester – ich hatte seit Jahren nichts mehr mit ihr zu tun gehabt. Ich fing an zu zittern. Sie sagte, es täte ihr Leid, unter diesen Umständen wieder mit mir zu reden. Meinen Namen hatte sie in seinem Adressbuch gefunden. Anscheinend hatte er einen Brief an mich angefangen und auf dem Schreibtisch in seinem Apartment liegen lassen, war aber nicht weiter gekommen als bis Lieber Pedro; daraus hatte Wills Schwester geschlossen, dass wir in Verbindung standen und sie mich informieren sollte. Sie teilte mir die nackten Tatsachen mit: Vielleicht hatte ich von der Welle von Auto-Entführungen gehört, den Unruhen. Es war die Schlussfolgerung der Polizei gewesen, dass es sich um eine Auto-Entführung gehandelt hatte, obwohl Wills Wagen nicht gestohlen worden war, es war überhaupt nichts gestohlen worden. Es gab keine Zeugen. Wahrscheinlich war alles sehr schnell gegangen, nur eine einzige Kugel. Das Verbrechen konnte mit den andauernden Protesten in Djakarta in Zusammenhang stehen; das Volk rebellierte gegen das korrupte Regime. Andererseits konnte es auch eine zufällige Tat gewesen sein. Niemand konnte das genau sagen. Es war niemand festgenommen worden. Das war alles so weit weg. Ob man die Tat nun auf die eine oder die andere Weise interpretieren 264
wollte, Will war jedenfalls tot. Ich weiß, dass ich mir dir Szene genauer vorstellen könnte, wie Will gestorben ist, und versuchen könnte, es zu verstehen – aber ich will es nicht, ich bezweifle, dass ich es je wollen werde. Stattdessen stelle ich mir, wenn ich an Wills Ende denke, immer vor, wie er in dem Haus auf dem Land aufgewacht ist, nachdem Jorie und Nico und ich fort waren. Er ließ sich auf den Rücken rollen und fragte sich, wie er so lange hatte schlafen können. Seine Augen gewöhnten sich an das Licht. Er wusste, dass er allein war. Er stand auf, schaute aus dem Fenster und sah nur ein Auto unten vor dem Haus –ja, er war allein. Er verstand nicht. Er begriff es wirklich nicht – warum hatten wir ihn verlassen? Er ging nach unten, ohne sich etwas anzuziehen. In der Küche konnte er das Essen riechen, aber er fand kein schmutziges oder zum Trocknen abgestelltes Geschirr. Er blickte auf das Feld hinaus, den ausgetrockneten Roggen, die verdorrte Wiese, farblos in der Morgenhitze. Er konnte in das hohe Gras hinausgehen. Der Wind würde ihn austrocknen. Er würde sich einfügen, verschmelzen, verschwinden. Keine Spur hinterlassen. Ich denke, dass jeder Mensch, den wir zum Helden machen, unweigerlich zu dem Zustand zurückkehrt, aus dem er sich erhoben hat; das ist etwas, das uns niemand beibringt, und nun leben wir in einer Zeit immer schneller eintretender Desillusionierung. Oder vielleicht verändern sich unsere Helden in Wirklichkeit überhaupt nicht, und wir sind es, die sich im Verhältnis zu ihnen verändern, in der Art, wie wir sie betrachten, den Verhaltensregeln, die wir anwenden – ein Mann wie Will Law kann uns nur eine gewisse Strecke tragen, bevor wir ihn überholen –, und manche werden dieses Muster vielleicht tragisch nennen, aber ich gebe gerne zu, dass es sehr wahrscheinlich auch den Fortschritt möglich macht. Trotz alledem waren meine Tage grau, und ich sehnte mich danach, in irgendetwas, das Will hinterlassen hatte, eine Bedeutung zu sehen. 265
Wir alle kennen jemanden, dessen Abwesenheit bestimmend für uns ist, der unserer Sehnsucht Form gibt. Aber diese Abwesenheit existiert in den meisten Fällen nur im abstrakten Sinne: wenn wir eine Unterhaltung mit unserer verlorenen Liebe führen, wenn wir ihm einen Brief schreiben, wenn wir glauben, dass die Unterhaltung tatsächlich stattfinden, der Brief abgeschickt werden könnte. Und was passiert dann, wenn auch nicht mehr die geringste Möglichkeit existiert, dass das Gespräch geführt, der Brief gelesen wird? Was macht man, wenn die Abwesenheit, die einen den größten Teil seines Lebens geformt hat, Wirklichkeit wird? Ich weiß es noch nicht. Es ist Zeit vergangen, und ich weiß es nicht. Jorie weckte mich spät am Nachmittag. »Nico und ich wollen spazieren gehen«, sagte sie. »Nicht weit von hier gibt es eine Felsenklippe, von wo man die Sonne über dem Mittelmeer untergehen sehen kann.« »Warten Sie auf mich«, sagte ich. »Ich komme mit.« Wir gingen durch den Olivenhain und in den altehrwürdig hoch gewachsenen Wald. Sämtliche Koniferen standen säuberlich aufgereiht, und eine Weile folgten wir einem ausgetretenen Pfad. Dann führte Jorie uns über weniger begangenes Gelände, der Nadelteppich am Boden war unberührt. Wir stiegen einen Berg hinauf. Jorie hielt Nico an der Hand. Der Wald war dunkel, ein Baumschatten fiel auf den anderen, aber schon nach kurzer Zeit konnte ich die Sonne sehen. Jetzt standen die Bäume nicht mehr so dicht. Wir kamen an einen Steilhang. Jorie zog Nico dicht an sich. Vor uns fiel das Gelände ab, und ich konnte die versprochene Küste in der Ferne sehen, das weite Meer. Die Sonne rötete sich, als sie dem Wasser näher kam. Wir warteten. »Ich bin froh, dass Sie an jenem Morgen da waren«, sagte ich. »Wäre es anders gewesen, weiß ich nicht, ob ich ihn 266
verlassen hätte.« »Ich sah keine andere Möglichkeit für mich«, sagte Jorie. »Ich musste nach Paris zurück.« »Sie hatten eine andere Möglichkeit«, sagte ich. »Und ich auch.« »Aber Sie sind immer noch nicht sicher, ob Sie die richtige Entscheidung getroffen haben«, sagte sie. »Nein«, erwiderte ich. »Ich habe getan, was ich tun musste.« Ich verfolgte den Niedergang der Sonne, dann war sie mit einem Mal vollständig verschwunden. Der Himmel glich dem Meer, sie waren von demselben Blau, und die Luft und das Wasser waren nur von einer strahlenden silbernen Linie getrennt – dem leuchtenden Halbrund der Erde, das für einen kurzen Augenblick aufglänzte, bevor man keinen Horizont mehr sehen konnte, nur noch etwas Verschwommenes in der Ferne. Es war Abend geworden, dem wir uns mit geübtem und doch nicht ganz unbeirrbarem Vertrauen auslieferten. Wir gingen den Abhang hinunter. Jorie ließ Nicos Hand los und er hüpfte vor uns her. Er schien guter Stimmung zu sein. Der Himmel war immer noch ein wenig erleuchtet, aber das würde nicht mehr lange währen. Wir gingen schnell. Es wurde kühl. Bevor wir ebenen Boden erreicht hatten, musste Jorie gemerkt haben, dass Nico ihr entglitten war. Er war nicht mehr zu sehen. »Nico«, sagte sie. Ich konnte den Jungen nicht entdecken. »Nico«, rief sie. Ich konnte ihn nicht finden. »Pedro, können Sie ihn sehen?« Ich spähte in alle Richtungen. Wir waren tief im Wald, und alles, was ich erkennen konnte, waren dunkle Bäume. Ich fing an, mir Sorgen zu machen. »Nico«, riefen wir nun beide. »Nicolas.« 267
Dann hörte ich Zweige brechen und die galoppierenden Schritte eines kleinen Tieres hinter uns. Vögel flatterten von den höheren Ästen hoch. Ich sah zurück den Berg hinauf und erkannte, wie der Junge durch die halbdunklen Baumsäulenalleen flitzte, auftauchte und wieder verschwand, die Arme rechts und links von sich gestreckt, sein Körper hemmungslos voranstürzend, die kurzen Beine flink und mit jedem Schritt leichter. »Schaut her, schaut nur, ich fliege«, rief er. Nico sprach. »Mami, guck mal«, juchzte er. Und er rannte durch den Wald, dass seine Füße kaum den Boden berührten, an uns vorbei und immer weiter. Gejagt, auf der Flucht, frei.
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