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Die Mühle des Hamlet Giorgio de Santillana und Hertha von Dechend
Springer-Verlag Wien New York
Giorgio de Sant...
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Die Mühle des Hamlet Giorgio de Santillana und Hertha von Dechend
Springer-Verlag Wien New York
Giorgio de Santillana Hertha von Dechend
Die Mühle des Hamlet Ein Essay über Mythos und das Gerüst der Zeit Zweite Auflage
SPRINGER-VERLAG Wien New York
Computerkultur, herausgegeben von Rolf Herken, Band VIII Auf der Grundlage der durch Hertha von Dechend autorisierten Übersetzung von Beate Ziegs des 1969 im Verlag Gambit, Boston, erschienenen Buchs Hamlet’s Mill. An Essay on Myth and the Frame of Time von Hertha von Dechend überarbeitete und erweiterte Neuausgabe © 1969 Giorgio de Santillana und Hertha von Dechend Lektorat: Lisa Steinhauser, Sabine Süß und Beate Ziegs Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Rechte der deutschsprachigen Ausgabe bei: Springer-Verlag/Wien © 1994 Springer-Verlag/Wien 1. Aufl. © 1993 Computerkultur GmbH, Berlin Printed in Germany Satzherstellung mit TEX: Lewis & Leins, Berlin Gesamtherstellung: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda Mit 56 Abbildungen
Nicht seitenkonkordant. Originale Paginierung im Textteil seitlich.
ISSN 0946-9613 ISBN 3-211-82630-0 2. Aufl. Springer-Verlag Wien New York ISBN 3-926763-23-X 1. Aufl. Verlag Kammerer & Unverzagt, Berlin
Vorwort zur deutschen Ausgabe
iii
Inhalt
Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe
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Einleitung
1
1
Bericht des Chronisten
11
2
Die Figur in Finnland
24
3
Die iranische Parallele
33
4
Geschichte, Mythos und Wirklichkeit
39
Intermezzo: Ein Führer für die Verirrten
52
5
Die Entfaltung in Indien
70
6
Amlodhis Mühle
79
7
Der bunte Deckel
88
8
Schamanen und Schmiede
103
9
Amlodhi der Titan und sein Kreisel
125
10
Die Götterdämmerung
136
11
Samson unter vielen Himmeln
152
12
Sokrates’ letzte Erzählung
165
13
Über Zeit und die Flüsse
177
14
Der Wasserstrudel
188
15
Die Wasser aus der Tiefe
196
16
Der Stein und der Baum
206
Vorwort zur deutschen Ausgabe
iv
17
Das Gerüst des Kosmos
210
18
Die Milchstraße
221
19
Der Sturz des Phaethon
229
20
Die Tiefe des Meeres
240
21
Der Große Pan ist tot
251
22
Das Abenteuer und die Suche
263
23
Gilgamesch und Prometheus
289
Epilog: Der verlorene Schatz
300
Schlußbemerkungen zur deutschen Ausgabe
318
Abbildungen 1-57
nach Seite 332
Liste der Appendices
335
Appendices 1-45
339
Liste der Abkürzungen
443
Literaturverzeichnis
445
Abbildungsverzeichnis
491
Nachwort des Herausgebers
497
Personen- und Sachregister
501
Vorwort zur deutschen Ausgabe
v
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Zwischen dem ersten Erscheinen von Hamlet’s Mill und dem der deutschen Übersetzung liegen mehr als zweiundzwanzig Jahre intensiver Arbeit. Mithin wäre es eigentlich angebracht, einen umgebauten und wesentlich erweiterten Text vorzulegen. Davon wurde aus zwingenden Gründen abgesehen: Ich habe mich in der Hauptsache auf ergänzende Fußnoten und Appendices beschränkt, diverse Passagen gestrichen, andere erweitert sowie Vorwort und Schlußbemerkungen des Originals durch neue ersetzt. Giorgio de Santillana und ich lernten einander kennen anläßlich eines 1958 von Willy Hartner veranstalteten Symposions im Frankfurter Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, an dem ich Assistent war. Nach meiner Habilitation 1959 schickte ich de Santillana eine kurze Abhandlung über die mit der Konstellation Sagittarius verbundenen Vorstellungen in der Antike, in Indien, China und Alt-Amerika sowie die astronomiehistorischen Schlüsse, die sich aus diesen Vorstellungen ziehen ließen. Als Reaktion beantragte er für mich ein Graduierten-Stipendium der Sloan-Foundation am Massachusetts Institute of Technology (MIT), das auch gewährt wurde. Später bemühte er sich erfolgreich um andere Fördermittel. Beginnend mit dem Herbst 1960, verbrachte ich mehrere Jahre lang jeweils einige Monate in Cambridge (Massachusetts), wo wir am MIT gemeinsam kosmologiehistorische Seminare abhielten und ich an diesem, noch mit keinem Namen versehenen Opus arbeitete. Da de Santillana – zu Recht – argwöhnte, ich werde bis in alle Ewigkeit fortwerkeln, ohne je etwas zu veröffentlichen, schlug er eine gemeinsame Publikation vor und übte fortan den entsprechenden Druck aus. Er schrieb um, begradigte kurvenreiche Seitenwege, er brachte die
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vi
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
die Probleme der Physikgeschichte zur Sprache, verknüpfte die archaischen Ideen mit denen der ihm so wohlvertrauten Renaissance und gestaltete dank seines hohen stilistischen Könnens ein Buch, das nicht für Fachleute allein lesbar sein sollte. „Freier Auslauf“ blieb mir in den Appendices und Fußnoten. 1967, zwei Jahre vor Erscheinen von Hamlet’s Mill, schrieb de Santillana im Vorwort zu Reflections an Men and Ideas, einer Sammlung von 26 seiner kürzeren Arbeiten: My latest productions are a definite move into a field that had long attracted me, far from ordinary research and the usual tools, remote from the usual documentary material. The few samples that I present („Riflessioni sul Fato”, „Les Grandes Doctrines Cosmologiques”) stand for a new approach and a new method which may yet be deemed uninsurable by our more cautious contemporaries: but that it has a point I have no doubt. It is the greatness of the subject that has called me, the prodigious wealth of mythical material gathered over the centuries, immense vistas of lost milleniums, of submerged cultures for which we may have found a key. Judgement must wait for our forthcoming book written in collaboration with Dr. von Dechend, „An Introduction to Archaic Cosmology”. But whatever fate awaits this last enterprise of my latter years, and be it that of Odysseus’ last voyage, I feel comforted by the awareness that it shall still be the right conclusion of a life dedicated to the search for truth.1
De Santillana war von der Physik und gründlicher Beschäftigung mit der antiken Naturphilosophie zur Geschichte der exakten Naturwissenschaften und zur Ideengeschichte gekommen, ich von der kulturhistorischen Ethnologie – präziser: von Leo Frobenius. Gemeinsam war uns ein tiefsitzendes Unbehagen an der vorherrschenden Auslegung und Beurteilung von Überlieferungen, die nicht in der uns vertrauten „Sprache” verlautbart worden waren, will sagen: in der von den Griechen geprägten naturwissenschaftlichen Diktion, weswegen unsere Wissenschaf1
G. de Santillana, Reflections an Men and Ideas (1968), xi.
Vorwort zur deutschen Ausgabe
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ten griechische Namen tragen und unsere entscheidenden Begriffe – vom Axiom über die Hypothese zu Praxis, Symmetrie und System – griechische Wörter sind. (Daß sie ihre naturwissenschaftlichen Einsichten insgesamt eigenköpfig gewonnen hätten, haben die hellenischen Gelehrten allerdings nie behauptet.) Es steht auf einem anderen Blatt, daß man zuweilen von der Wortgleichheit auf Bedeutungsgleichheit geschlossen hat (sýmmetros aber zum Beispiel meint nicht „symmetrisch”, sondern „kommensurabel”) und auf diese Weise das seit Isaac Newton geläufige Weltverständnis – gemäß Immanuel Kant „wird Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft enthalten, als Mathematik in ihr angewandt werden kann” – auf Griechenland zurückprojizierte. Wie wichtig es sei, von ähnlichen Formulierungen nicht auf sachlich identische Intentionen zu schließen, hat besonders Johannes Lohmann anhand des griechischen Zahlund Tonbegriffs deutlich gemacht. Unter den zahlreichen Ursachen des Unbehagens sei hier nur eine einzige genannt; die Unvereinbarkeit nachweislicher, weil meßbarer, mathematisch-technischer Leistungen der Alten mit dem Niveau der dazugehörigen „mythischen” Überlieferungen, insonderheit die Unvereinbarkeit der Pyramiden und deren exakter Ortung mit dem scheinbaren Galimathias der Pyramidentexte und des Totenbuchs. Es gibt da zwei denkbare Erklärungen: Entweder haben die Ägypter die Pyramiden nicht konstruiert – dafür plädieren Phantasten wie Erich von Däniken & Co. – oder aber die modernen Übersetzungen der Texte sind grundlegend verfehlt. Daß sich so manche unserer Zeitgenossen lieber auf extragalaktische Pyramiden-Architekten einlassen als auf ungemein sachverständige Ägypter, zeigt deutlich, wie uns simple Fortschrittsgläubigkeit und vulgär-evolutionistische Kulturgeschichtsschreibung das Eingehen auf alte Kulturen erschwert. Nicht, daß wir die Pyramidentexte verdächtigten, Lehrsätze
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
und die Darstellung eines „Systems” zu enthalten – der Rigveda tut das auch nicht –, vielmehr setzen sie ein solches System voraus und spielen darauf an. Ob es schriftlich fixierte „Lehrbücher” gegeben hat oder ob man Wesentliches ausschließlich mündlich tradierte, läßt sich nicht entscheiden. Will man Clemens Alexandrinus2 Glauben schenken, so mußte der bei feierlichen Umzügen auftretende Hôroskópos „die astrologischen Schriften unter den Büchern des Hermes, vier an der Zahl, auswendig kennen, von denen das eine von der Ordnung der Fixsterne handelt, das zweite von den Planeten, das dritte von den Begegnungen und Erscheinungen von Sonne und Mond, das noch übrige von den Aufgängen” und der „heilige Schriftwart” (Hierogrammateús) „die sogenannten Hieroglyphenschriften …; diese handeln von der Weltkunde und Geographie (perì tês kosmographías kai geôgraphias), von dem Stand der Sonne und des Mondes und der fünf Planeten, der Bodenbeschaffenheit Ägyptens (chôrographía) und der Beschreibung des Nils.” Unbehagen und Mißtrauen taugen nicht dazu, den Weg zu verständigen Einsichten zu weisen, sie nötigen nur zu wachsamer Aufmerksamkeit für das Auftauchen neuer denkbarer Alternativen. Mißtrauen regte sich bei mir schon nach wenigen Semestern, vor dem Krieg, gegen die damals in der Ethnologie geltende Auffassung von der Aufeinanderfolge von „Kulturschichten” (eigentlich –stufen), die, vereinfacht ausgedrückt, auf das Wildbeutertum einerseits Hirtentum, andererseits „primitiven Hackbau” (Knollen), alsdann die Hochkultur (Getreideanbau mit Pflug sowie Viehzucht) folgen ließ. Nach dem Krieg wurden sukzessive die ersten Arbeiten von Marcel Griaule und Germaine Dieterlen über die Dogon und Bambara im Westsudan zugänglich, besonders Griaules Dieu d’Eau, welche diese „schlichten Hackbauern” als Hüter archaischer, an altorientalische HochkulC. Alexandrinus, Stromateis VI.4 § 35.4-36.1, in der griechischen Ausgabe von Otto Stählin (1960) 448f, in der deutschen Übersetzung von Franz Overbeck (1936) 514.
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
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tur erinnernder Traditionen erkennbar machten. Später hatte ich die Ehre und das Vergnügen, an Hermann Baumanns Opus Das Doppelte Geschlecht mitzuarbeiten, in dem er den ganzen Kulturund Traditionskomplex des sogenannten „primitiven Ackerbaus” als Abkömmling der vorderasiatischen Hochkultur nachwies. Damit war eine entscheidende Bresche in das Gefüge der vulgär-evolutionistischen Kulturhistoriographie geschlagen. (Auf diesen Befund, speziell auf das fragwürdige Prinzip, Wirtschaftsformen zum Leitmotiv bei der Klassifizierung und Beur- viii teilung von Kulturen zu erklären, hoffe ich in einer späteren Publikation näher eingehen zu können.) Da ich ursprünglich mit Astronomiegeschichte nichts zu schaffen haben wollte, wählte ich zum Gegenstand der Habilitationsarbeit den Mythenkomplex um den Deus Faber – Enki/Ea in Mesopotamien, Ptah in Ägypten, Tvashtri in Indien, Tane/Kane in Polynesien, Hephaistos, Wieland, Goibniu usw. –, um dessen Gehilfen, Meisterwerke, seine Rolle als Besitzer des Lebenswassers sowie seinen Werdegang vom Architekten zum Schmied. Das erste Kapitel galt Enki/Ea und enthielt kein Sterbenswörtchen von Sternen, geschweige denn Planeten. Das zweite, dem polynesischen Tane/Kane gewidmet, war schon fertig getippt, als das Unbehagen in Verzweiflung umschlug, denn verstanden hatte ich keine Silbe von den mehr als zehntausend gelesenen Seiten polynesischer Mythen. Sollte man allen Ernstes zu der Annahme befugt sein, die besten Navigatoren unseres Erdballs hätten ihren Erstgeborenen als „heiliges“, oft auswendig zu lernendes und Nicht-Initiierten vorenthaltenes Wissen ein Konglomerat unterhaltsamer Geschichtchen überliefert? Oder war man nicht verpflichtet, nach dem Sinn dieser Traditionen zu fragen? In der vagen Hoffnung auf irgendeine Erleuchtung oblag ich der Lektüre der verfügbaren Publikationen über die Archäologie des Inselreichs und stieß dabei auf das zur Hawai-Gruppe gehörige, aber von der nächsten Insel 500 Kilometer weit entfernte
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
Necker-Island. Auf diesem, wie ein Angelhaken geformtem, etwa ein Kilometer langem Inselchen wächst kein Baum, sondern nur spärliches Gras und wenige Büsche. Da Süßwasser äußerst rar ist, wird die Insel anstelle von Menschen von Tausenden von Vögeln bewohnt. Gleichwohl weist das Eiland 33 megalithische Kultplätze auf, neben einigen Terrassenanlagen und steinernen menschlichen Figuren. Dieser verblüffende Befund regte den damit befaßten Archäologen Kenneth Emory zu den Fragen an, wer wohl diese Anlage gebaut haben könne3 und welchen anderen Kultanlagen die von Necker am ähnlichsten seien? (Nicht den heiaus auf den großen Hawaiischen Inseln, sondern den maraes im Inneren Tahitis und im Nordwesten des TuamotuArchipels.) Nicht gefragt wurde nach einem zureichenden Grund für so phänomenale Baufreudigkeit auf einem praktisch unbewohnbaren, offensichtlich nur von Zeit zu Zeit besuchten Inselchen – die natürliche Konsequenz eines vorherrschenden Prinzips, das ich „Parzival-Komplex” getauft habe: Mutter Herzeleide hatte dem jungen Helden eingebleut, er solle nur ja niemals „warum?” fragen. Necker-Island liegt ziemlich genau auf dem Wendekreis des Krebses. Dieser Umstand veranlaßte mich zur Betrachtung der Verhältnisse am südlichen Wendekreis des Steinbocks. Diesem am nächsten liegen die Inseln Tubuai und Raivavae. Beide Inseln sind ebenfalls gespickt mit bemerkenswerten Marae-Ruinen; und darüber hinaus spielt Tubuai eine gewichtige, rätselhafte Rolle in der tahitischen Kosmogonie: Die Arme des von Tane getöteten Oktopus – dem indischen Pendant zum rigvedischen Vritra –, die Himmel und Erde fest umklammert hielten, wurden von Maui durchgehauen, fielen herab und bildeten die Insel Tubuai. Präzise auf dem Äquator liegen keine Inseln, aber die nächstliegenden (Fanning, Maiden, Christmas) sind reichlich mit MaraeK.P. Emory, Archaeology of Nihoa and Necker Islands (1928, 116): „Where, then, did the people live who visited Necker for the purpose of erecting maraes or performing rites upon them?”
3
Vorwort zur deutschen Ausgabe
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Ruinen ausgestattet. Es sah (und sieht) so aus, als hätten die Polynesier die Sonnenbahn so säuberlich abgesteckt, wie die geographischen Umstände das erlaubten. Damit fiel der Vorsatz, mich vor Astronomie zu drücken, ins Wasser – und Kapitel II der Deus Faber-Arbeit mußte um einen zweiten Teil unter dem Titel „Wiederaufnahmeverfahren” vermehrt werden, Sonnenwendmythen ließen sich verhältnismäßig leicht identifizieren, aber die Abenteuer von „Göttern” und „Kulturheroen” ergaben weiterhin wenig Sinn. Was war beispielsweise von einem Helden zu halten, der etwas länger als zwei Jahre unterwegs, aber zwischendurch gezwungen war „umzukehren”, der „in den Raum fiel” und vom „rechten Kurs” abkam? Viele Lösungsmöglichkeiten gab es da nicht: Die Erzählungen enthielten Indizien dafür, daß es sich bei vielen Göttern und Helden um Planeten handelt, im speziellen Fall des hawaiischen Aukele-nuia-iku um den Mars. Da ich ungeachtet der größten Hochachtung vor diesen Meisternavigatoren nicht zu glauben vermochte, die Polynesier hätten sich die Technik, Himmelsbewegungen zu „erzählen”, ganz alleine ausgedacht – so wenig wie die Einteilung des Himmels in „3 Wege” –, kam ich zu der „Quelle” zurück, aus der sich alle dem „Hochkulturgürtel” Zugehörigen kräftig bedient haben: auf den Alten Orient; d.h. ich griff (am Weihnachtsabend 1956) zu Franz Xaver Kuglers Sternkunde und Sterndienst in Babel, woselbst der Autor u.a. feststellt (II, 10f), ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. gebe es in Babylonien „wissenschaftliche Astronomie”, d.h. Positionsastronomie, und die Texte zeigten „auch nicht die geringste astrologische oder mythologische Färbung. (…) Ganz anders liegen die Dinge im 7. Jahrhundert v. Chr. und früher. Hier ist fast die gesamte Sternkunde von mythologischen Vorstellungen durchtränkt.” Mit anderen Worten: Vor dem 7. vorchristlichen Jahrhundert verständigten sich die Astronomen „auf mythisch”. Der weitere Weg ergab sich beinahe von selbst, zumal Platon als zweite Kontrollinstanz ausgemacht worden war – die erste blieb
xii
x
Vorwort zur deutschen Ausgabe
die mesopotamische Astronomie. Daß die hier skizzierten Ansichten auf mannigfaltige Ablehnung stoßen würden, war zu erwarten. De Santillana und ich fühlten uns aber wesentlich stärker der Aufgabe verpflichtet, das arg ramponierte Ansehen der frühen intellektuellen Vorfahren wiederherzustellen, als der, auf die vorhersehbaren Empfindlichkeiten von Kritikern Rücksicht zu nehmen. (Vorhaltungen, Hipparchos sei „übergangen” beziehungsweise seine Leistung mißachtet worden, gehen an dem Kern der Probleme vorbei.) De Santillana verwies gerne auf eine diesbezügliche Äußerung Alexander von Humboldts (Ich weiß nicht, an welcher Stelle dieser das gesagt hat und habe versäumt, de Santillana zu fragen): Zuerst werden die Leute eine Sache leugnen; dann werden sie sie verharmlosen; dann werden sie beschließen, sie sei seit langem bekannt. (Die Stufe III ist mancherorts schon erreicht.) Und nun begeben wir uns tunlichst auf die Reise in das Innere der gigantischen Uhr, die den archaischen Kosmos bildet und als zeitmahlende Mühle verstanden – präziser: definiert – worden ist, wenn auch nicht als eine moderne, kontinuierlich rotierende „Mühle”, sondern als eine in alternierender Bewegung gehaltene, einem Drill vergleichbare Apparatur, die einst dem Hamlet gehört hat. Zuvor jedoch muß unseren Freunden vom MIT für tatkräftige Unterstützung und häufigen Zuspruch gedankt werden: Emma Duchane und Jayant Shah, Jerome Lettvin und Philip Morrison, ganz besonders aber dem unermüdlich mit seinem profunden Wissen über die Antike, mit heilsamer Skepsis und strenger Kritik zur Verfügung stehenden Harald A.T. Reiche. Darüber hinaus bin ich Beate Ziegs für ihre engagierte und kompetente Mitarbeit zu großem Dank verpflichtet. Kronberg/Taunus, im August 1992
Hertha von Dechend
Einleitung
1
Einleitung
001
Die unzerreißbaren Fesseln, die den Großen Wolf Fenrir gefangen hielten, hatten Zwerge geschmiedet, und sie bestanden aus dem Lärm des Katzengangs, dem Bart der Frau, den Wurzeln des Berges, den Sehnen des Bären, dem Atem des Fisches und des Vogels Speichel. SNORRI Toute vue des choses qui n’est pas étrange est fausse. VALÉRY
Dieses Buch ist nur ein Versuch. Es ist die erste Erkundung eines Reiches, das so gut wie unentdeckt und auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Aus welcher Richtung auch immer man dieses Reich betritt, wird man von derselben verwirrend zirkulären Komplexität gefangengenommen – wie in einem Labyrinth –, denn es hat keine deduktive Ordnung im abstrakten Sinn. Statt dessen ähnelt es einem Organismus, der fest in sich geschlossen ist, oder besser ausgedrückt: einer monumentalen „Kunst der Fuge“. Die Figur des Hamlet als günstiger Ausgangspunkt ergab sich zufällig. Viele andere Zugänge boten sich an, reich an sonderbaren Symbolen und mit großartigen Bildnissen lockend. Aber die Entscheidung fiel auf Hamlet, weil er den Geist über eine wahrhaft intuitive Frage durch eine vertraute Landschaft führte – eine Landschaft, die sich durch ihre literarische Inszenierung verdient gemacht hat. Hier gibt es einen Charakter, der tief in unserem Bewußtsein gegenwärtig ist, dessen Zweideutigkeiten und Unsicherheiten, selbstquälerische Zweifel und nüchterner Einblick
2
002
Einleitung
eine Vorahnung des modernen Geistes abgeben. Sein persönliches Drama bestand darin, daß er zwar ein Held sein mußte, aber dennoch versuchte, der Rolle zu entkommen, die ihm das Schicksal zugewiesen hatte. Sein klarsichtiger Verstand blieb unangefochten vom Konflikt der Motive – mit anderen Worten: Er hatte und hat tatsächlich ein zeitgenössisches Bewußtsein. Und dennoch verdeckt dieser Charakter – dieser erste unglückliche Intellektuelle, den der Dichter zu einem von uns machte – eine Vergangenheit als legendäre Existenz, deren Grundzüge vorbestimmt und vorgeformt waren von einem alten Mythos. Er war von einer numinosen Aura umgeben, und viele Spuren führten zu ihm. Dennoch war es eine große Überraschung, hinter der Maske eine uralte und allumfassende kosmische Kraft zu entdecken: den ursprünglichen Gebieter des traumhaften ersten Zeitalters der Welt. Aber hinter all seinen Verkleidungen blieb er auf eigenartige Weise immer er selbst. Der ursprüngliche Amlodhi*, wie er in der isländischen Legende genannt wird, zeigt dieselben Wesensmerkmale der Melancholie und des hohen Intellekts. Auch er ist ein Sohn, der dazu auserwählt wurde, seinen Vater zu rächen; auch er spricht geheime aber unausweichliche Wahrheiten aus und ist ein nur schwer faßbarer Bote des Schicksals, der abtritt, sobald seine Mission erfüllt ist, um erneut in die verborgenen Tiefen der Zeit hinabzusinken, denen er angehört: als Herrscher des Goldenen Zeitalters, als der Einstige und Zukünftige König. Dieser Essay wird der Figur immer weiter in die Ferne folgen, vom Nordland nach Rom, von dort nach Finnland, Iran und Indien; unverkennbar wird sie in der polynesischen Legende auf* Im Verlauf dieses Buchs wird der Leser auf verschiedene Schreibweisen stoßen, zum Beispiel Amlodhi und Amlódi, Kai Chosrau und Kaikhosru oder Anaximander und Anaximandros. Begründet liegt dies darin, daß in den Zituten selbstverständlich die jeweilige Originaltranskription wiedergegeben wird, während wir im Haupttext die heute übliche Schreibweise verwenden.
Einleitung
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tauchen. Viele andere Herrschaften und Kräfte werden sich materialisieren, um ihr innerhalb der angemessenen Ordnung eine Gestalt zu geben. In der ungehobelten und lebhaften Vorstellung der altnordischen Völker war Amlodhi identisch mit dem Eigentümer einer sagenhaften Mühle, die zu seiner Zeit Frieden und Reichtum hervorbrachte. Später, als die Zeiten schlechter wurden, mahlte sie Salz; und heute schließlich, nachdem sie auf den Grund des Meeres gesunken ist, zermahlt sie Steine und Sand und läßt einen riesengroßen Strudel entstehen, den Maelström (das bedeutet: der Mahlende Strom, abgeleitet von dem Verb mala, „mahlen”), von dem man annimmt, er habe in das Reich der Toten geführt. Diese Vorstellung entspricht ganz offenkundig einem astronomischen Prozeß, nämlich dem der säkularen Verschiebung der Jahrespunkte entlang dem Tierkreis, wodurch die Weltalter bestimmt werden, die jeweils mehrere tausend Jahre währen. Jedes Zeitalter ruft eine neue Weltepoche hervor, eine Götterdämmerung. Große Strukturen brechen zusammen; Grundpfeiler, die das riesige Gebäude tragen, stürzen ein; Überschwemmungen und Kataklysmen verkünden das Entstehen einer neuen Welt. Anderswo fügte sich die Vorstellung von der Mühle und ihrem Eigentümer zu anspruchsvolleren Metaphern, die den himmlischen Ereignissen mehr entsprachen. In Platons gewaltigem Geist trat die Figur als der Deus Faber hervor, als der Demiurg, der dem Himmel seine Gestalt gab; doch selbst Platon vermochte nicht der Idee zu entfliehen, die er geerbt hatte – der Idee von Katastrophen und dem periodischen Wiederaufbau der Welt. Die Überlieferung wird zeigen, daß man sich die Maße der 003 neuen Welt aus der Tiefe des himmlischen Meeres beschaffen und sie in Einklang bringen mußte mit den Maßen von oben, die von den „Sieben Weisen” – wie sie oft geheimnisvoll in Indien und anderswo genannt werden – diktiert wurden. Es handelt
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Einleitung
sich um die Sieben Wagensterne (alpha bis eta Ursae maioris)1, die für alle Alignments am Fixsternhimmel maßgebend waren. Diese vorherrschenden Sterne des Fernen Nordens sind auf seltsame aber systematische Weise verknüpft mit jenen, die als treibende Kraft des Kosmos gelten, also mit den Planeten, wie sie sich in verschiedenen Anordnungen und Konfigurationen den Zodiak entlangbewegen. In ihrer konventionellen Sprache nannten die alten Pythagoreer die beiden Bären die Hände der Rhea (Herrscherin des sich drehenden Himmels), und die Planeten bezeichneten sie als die Hunde der Persephone, der Königin der Unterwelt. Weiter unten, im Süden, hielt das geheimnisvolle Schiff Argo mit seinem Lotsenstern die Tiefen der Vergangenheit fest; und die Milchstraße war die Brücke, die aus der Zeit hinausführte. Diese Vorstellungen scheinen im Zeitalter vor Beginn der Geschichte eine allgemein akzeptierte Lehrmeinung gewesen zu sein – überall in den Provinzen des Hochkulturgürtels rund um unseren Erdball – und aus der intellektuellen und technologischen Revolution des Spätneolithikums hervorgegangen zu sein. Die Intensität und der Reichtum sowie die Koinzidenz von Einzelheiten in diesem Gesamtkonzept haben zu der Schlußfolgerung geführt, der ganze Komplex sei auf den alten Vorderen Orient zurückzuführen. Das läuft auf eine Diffusion von Ideen hinaus, deren Ausmaß von der zeitgenössischen Anthropologie schwerlich gutgeheißen wird. Obwohl diese Wissenschaft einen wunderbaren Schatz von Einzelheiten ausgegraben hat, verleitet sie ihr moderner Hang zum Evolutionären und Psychologischen dazu, die Hauptgrundlage des Mythos zu vergessen, nämlich die Der Große Bär – korrekter die Große Bärin: hê arktós, woher unsere „Arktis” – ist wesentlich umfangreicher als der Große Wagen. Ptolemaios etwa (Almagest VII 5) verzeichnete 27 Bärinnensteme. Außerdem läuft er in eine andere Richtung als der Wagen fährt: Die Deichsel des Wagens entspricht dem (der zoologischen Gattung nicht eignenden) Schwanz der Bärin. Historisch älter ist die Konzeption eines zirkumpolaren Ursiden, während der Wagen auf die mesopotamische Sphäre zurückgeht, und zwar auf mulMAR.GID.DA, den vierrädrigen Lastwagen der Sumerer.
1
Einleitung
5
Astronomie – die Königliche Wissenschaft. Diese Vergeßlichkeit ist selbst ein Wendepunkt der Ereignisse, der kaum mehr als ein Jahrhundert zurückliegt. Heute erzählen uns Fachphilologen, Saturn und Jupiter seien die Namen nebulöser Gottheiten, unterirdischer oder atmosphärischer, den Planeten in einer „späten“ Epoche aufgesetzt; fein säuberlich sortieren sie Volkstümliches und „späte” Herleitungen aus, ohne zur Kenntnis zu nehmen, daß planetarische Umlaufzeiten – siderische und synodische – bekannt waren und auf zahlreiche Weise bei Festlichkeiten, die bereits in archaischen Zeiten Tradition waren, vorgetragen wurden. Wenn ein Gelehrter nie von diesen Perioden gehört hat – und wie sollte er? Astronomie ist seit langer Zeit in unseren Schulen kein Unterrichtsfach mehr –, so ist er nicht in der besten 004 Position, sie zu erkennen, wenn sie in seinem Material auftauchen, Historiker der alten Zeit wären entsetzt gewesen, wenn man ihnen gesagt hätte, daß offensichtliche Dinge eines Tages unbemerkt bleiben würden. Aristoteles setzte mit Stolz als bekannt voraus, daß die Sterne ursprünglich Götter waren – auch wenn die volkstümliche Phantasie diese Wahrheit später trübte. So wenig er an Fortschritt glaubte, war er doch davon überzeugt, daß dieses Wissen für die Zukunft gesichert sei. Er konnte sich nicht denken, daß William David Ross, sein höchst verdienstvoller neuzeitlicher Herausgeber, herablassend anmerken würde: „Dies ist historisch falsch.” Wir wissen jedoch, daß Samstag und Sabbat etwas zu tun haben mit Saturn, ebenso wie Mittwoch und Mercredi mit Merkur. Solche Namen sind so alt wie die Zeit selbst; mit Sicherheit so alt wie das planetarische Heptagramm der Harranier. Ihr Ursprung reicht weit vor die Griechische Philologie des Professor Ross zurück. Die Nachforschungen großer und akribischer Wissenschaftler wie Ludwig Ideler, Richard Lepsius, Daniel Chwolson, Franz Boll und, um noch weiter zurückzugehen, Athanasius Kircher und Denis Petavius hätten – wenn sie sorgfältig gelesen beziehungsweise überhaupt bemerkt
6
Einleitung
worden wären – den Kulturhistorikern mehrere sachdienliche Lektionen erteilt; aber das Interesse wandte sich anderen Zielen zu, wie man der derzeitigen Anthropologie entnehmen kann, die sich ihr eigenes Gedankengebäude über das „Primitive” und das, was danach kommt, gebastelt hat. In der Bibel, dem unwissenschaftlichsten aller Berichte, kann man noch lesen, Gott habe die Welt numero, mensura, pondere, also nach Zahl, Maß und Gewicht geordnet. Ein alter chinesischer Text sagt: Die Stimmpfeifen gehören in die Domäne von Yin, aber sie beherrschen Yang-Vorgänge. Der Kalender kommt aus der Domäne von Yang, aber er regelt Yin-Vorgänge. Die Stimmpfeifen und der Kalender geben einander ihre wechselseitige Ordnung so präzise, daß man kein Haar dazwischen klemmen konnte.2
Die Menschen lesen das – und denken sich nichts dabei. Doch können solche Hinweise eine Welt von unermeßlicher und fest etablierter Komplexität enthüllen, die unendlich verschieden von unserer ist. Aber die Experten sind benebelt durch die derzeit gängige Volksphantasie, nämlich den Glauben, sie seien über dieses alles hinausgewachsen – Kritiker ohne Fehl und außergewöhnlich weise. Giorgio de Santillana schrieb 1961: Als die Griechen auf den Plan traten, hatte sich bereits der Staub der Jahrhunderte über die Reste dieser großartigen weltweiten Konstruktion gelegt. Aber etwas davon überlebte in traditionellen Riten, in Mythen und Märchen, die keiner mehr verstand. Wo sie beim Wort genommen wurden, zeitigten sie blutige Fruchtbarkeitskulte … , die inzwischen ausschließlich unser Interesse zu beherrschen scheinen. In dem späteren Denken der Pythagoreer und Platons konnten jedoch ihre ursprünglichen Themen, fast vollständig erhalten, wieder hervorbrechen.
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2
Joseph Needham, Science and Civilization in China (1959), II, 270.
Einleitung
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Jedoch sind es quälende Fragmente eines verlorenen Ganzen. Sie lassen einen an jene „verschleierten Landschaften” denken, für die chinesische Maler so berühmt sind – Landschaften, die hier einen Felsen zeigen, hier einen Giebel, dort die Krone eines Baumes und den Rest der Imagination überlassen. Selbst wenn der Code geknackt sein sollte, wenn die Techniken bekannt sein sollten, können wir nicht damit rechnen, das Denken unserer fernen Vorfahren zu ermessen – so eingehüllt, wie es in seinen Symbolen ist. Ihre Worte werden nicht mehr gehört Im Verfließen vieler Weltalter … 3
Wir glauben, nunmehr einen Teil des Codes entschlüsselt zu haben. Der Gedanke, der hinter diesen Konstruktionen der Urzeit steht, ist zudem erhaben, auch wenn seine Formen merkwürdig sind. Die Theorie „wie die Welt begann” scheint das Auseinanderbrechen einer Harmonie einzubeziehen, eine Art „kosmogonische Ursünde”, durch die der Kreis der Ekliptik (mit dem Zodiak) gekippt wurde, um fortan einen Winkel mit dem Himmelsäquator zu bilden – und wodurch die Zyklen des Wandels entstanden. Damit soll nicht unterstellt werden, daß die archaische Kosmologie irgendwelche großen physikalischen Entdeckungen aufzuweisen hätte, obgleich sie erstaunliche Leistungen an Konzentration und Berechnung erforderte. Was sie leistete war, die Einheit des Universums abzustecken – und die des menschlichen Geistes, der sich bis an die äußersten Grenzen dieses Universums herantastete. Tatsächlich tun die Menschen heute dasselbe. Albert Einstein sagte: „Das Unbegreifliche des Universums ist, daß es überhaupt begreifbar sein soll.“ Der Mensch gibt nicht auf. Wenn er Millionen ferner Galaxien und jene quasistellaren Radioquellen entdeckt, die Milliarden von Lichtjahren entfernt sind und seine Berechnungen durcheinander bringen, dann ist er glücklich, in solche Tiefen vordringen zu können. Aber er zahlt 3
G. de Sanlillana, The Origins of Scientific Thought (1961), 19.
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einen schrecklichen Preis für seine Leistung. Die Astrophysik reicht in immer größere Dimensionen hinaus, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Aber der Mensch als Mensch kann das nicht. In den Tiefen des Weltraums verliert er sich selbst und jeden Begriff von seiner Bedeutung. Es ist ihm nicht möglich, sich in das Konzept heutiger Astrophysik einzufügen, ohne schizophren zu werden. Der moderne Mensch steht dem Unbegreiflichen gegenüber. Der archaische Mensch dagegen hielt das Begreifbare fest im Griff, indem er seinen Kosmos mit einer zeitlichen Ordnung ausstattete und mit einer Eschatologie, die ihm sinnvoll erschien und für seine Seele ein Schicksal bereithielt. Dennoch war es eine erstaunlich umfangreiche Theorie, die keine Konzessionen an bloße menschliche Gefühle machte. Auch sie erweiterte den Geist über das Erträgliche hinaus, allerdings ohne die Rolle des Menschen im Kosmos zu zerstören. Es war eine unbarmherzige Metaphysik. Kein vergebendes Universum, keine Welt der Gnade. Das auf keinen Fall. Unerbittlich wie die Sterne in ihrer Bahn – miserationis parcissimae, wie die Römer sagten. Aber es war eine Welt, die irgendwie achtsam mit dem Menschen umging; eine Welt, in der es für alles einen akzeptierten Platz gab – und zwar einen rechtmäßigen, nicht nur einen statistischen –, wo kein Spatz vom Himmel stürzen konnte, ohne daß jemand es bemerkt hätte, und wo selbst das, was auf Grund eigenen Irrtums verworfen worden war, nicht auf ewig verdammt wurde. Denn die Ordnung der Zahlen und der Zeit war eine absolute Ordnung, die alles bewahrte und an der jeder teilhatte: Götter und Menschen und Tiere, Bäume und Kristalle und sogar absurde Wandelsterne – sie alle waren dem Gesetz und dem Maß unterworfen. Dies ist es, was Platon wußte, der noch die Sprache des archaischen Mythos sprechen konnte. Als er die erste moderne Philosophie schuf, brachte er den Mythos in Einklang mit seinem Denken. Wir haben seinen Fingerzeigen vertraut, als seien es Marksteine, selbst wenn er gelegentlich erklärt, „nicht ganz
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ernsthaft” zu sprechen. Er gab uns die erste vage Richtschnur; er wußte, wovon er sprach. Hinter Platon steht das beeindruckende Lehrgebäude von Pythagoras, dessen Formulierungen mitunter verwunderlich anmuten mögen, das aber über einen beträchtlichen Reichtum an früher Mathematik verfügte sowie über Ansätze zu einer Naturwissenschaft und Metaphysik, die in Platons Zeit zur Blüte gelangen sollte. Aus ihm sind Begriffe wie „Theorem”, „Theorie” und „Philosophie” hervorgegangen. Diese Errungenschaft wiederum beruht auf einer Phase, die man proto-pythagoreisch nennen könnte, die sich über den gesamten Osten ausdehnte und deren einer Brennpunkt wahrscheinlich Susa gewesen ist. Und außerdem gab es die rein numerischen Berechnungen der Babylonier. Alles zusammen führte zu dem seltsamen Prinzip: „Dinge sind Zahlen.” Wenn man einmal einen Faden ergriffen hat, der zeitlich zurückführt, dann besteht die Überprüfung späterer Lehrmeinungen mit ihren eigenen historischen Entwicklungen darin, sie in Übereinstimmung mit Überlieferungen zu bringen, die intakt geblieben sind – selbst wenn sie nur zur Hälfte verstanden werden. Denn es gibt Samen, die sich entlang dem Hauptstrom der Zeit von alleine fortpflanzen. Und Universalität selbst ist ein Test, sofern sie gemeinsam mit einer beständigen Formgebung auftritt. Wenn etwas, das zum Beispiel in China herausgefunden wurde, auch in astrologischen Texten der Babylonier auftaucht, dann muß man es für relevant halten, denn es offenbart einen Komplex ungewöhnlicher Vorstellungen, von denen niemand behaupten kann, sie seien unabhängig oder spontan entstanden. Nehmen wir den Ursprung der Musik. Orpheus und sein qualvoller Tod können eine poetische Schöpfung sein, die in mehr als nur einem Augenblick und an verschiedenen Orten entstand. Wenn Charaktere, die nicht Leier schlagen, sondern Pfeife blasen, geschunden werden, und wenn über ihr identisches Ende
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auf verschiedenen Kontinenten berichtet wird, dann spüren wir, daß wir etwas an die Hand bekommen haben, denn solche Verknüpfungen – wie hier Pfeife blasen und Schinden – lassen sich durch keinerlei interne Logik begründen. Und wenn der Rattenfänger sowohl im mittelalterlichen deutschen Mythos als auch im von Kolumbus noch unentdeckten Mexiko eine Rolle spielt; wenn er an beiden Orten verbunden wird mit bestimmten Attributen wie der Farbe Rot, dann ist das wohl kaum ein Zufall. Überhaupt hat kaum etwas seinen Weg per Zufall in die Musik gefunden. Oder wenn man Zahlen findet wie 108 oder 9x12, die immer wieder erscheinen – als Berechnungen ihres Vielfachen in den Veden, in den Tempeln von Angkor, in Babylon, in Heraklits dunklen Worten und ebenso in der nordischen Walhalla –, dann ist das kein Zufall. Es gibt eine Möglichkeit, Signale auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, die derart in den frühen Daten verstreut sind, in Kunden, Sagen und heiligen Texten. Die Quellen, die wir benutzt haben, mögen seltsam und disparat erscheinen, aber das Aussieben war wohlüberlegt und hatte seine Gründe. Jene Gründe werden wir später, in dem Kapitel über Methodik, nennen. Das Reservoir an Mythen und Sagen ist groß; aber es gibt morphologische „Leuchtzeichen“ für das, was nicht bloßes Erzählen von Geschichten ist, wie es sich ganz natürlich entwickelt. Es gibt auch archaisches Material bei den „sekundären Primitiven” wie den amerikanischen Indianern und den Westafrikanern, das wunderbar erhalten ist. Außerdem sind wir auf höfische Geschichten und Annalen von Dynastien gestoßen, die sich wie Novellen ausnehmen: das Feng Shen Yen I, der japanische Nihongi oder das hawaiische Kumulipo. Das sind nicht bloße Phantasiegespinste. Welche Information hätte ein Mann höheren Stands in harten und gefährlichen Zeiten seinem erstgeborenen Sohn anzuvertrauen? Sicherlich die Abstammungslinie, aber was noch? Die Erinnerung eines Adligen damaliger Zeit diente dazu, die arcana
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imperii, die arcana legis und die arcana mundi zu bewahren, so wie es im alten Rom geschah. Dies ist die Weisheit einer herrschenden Klasse. Gesänge und Mythen, die in strenger Geheimhaltung unterliegenden und den Jünglingen der herrschenden Klasse vorbehaltenen „Weisheitshäusern” gelehrt wurden, handelten vorwiegend von Astronomie. Heilige Schriften sind eine weitere wichtige Quelle. In unserem Zeitalter der Druckkunst neigt man dazu, sie als religiöse Exkursionen in Homiletik abzutun. Ursprünglich repräsentieren sie jedoch die Summe der bedeutsamen Einsichten und Lehren, die man für würdig befunden hatte, von Generation zu Generation tradiert zu werden. Das Wissen der keltischen Druiden wurde nicht nur in Liedern überliefert, sondern auch in der Baumkunde, die so etwas wie einen Code darstellte. Und im Osten entwickelte sich aus komplizierten Spielen, die ihren Ursprung in der Astronomie hatten, eine Art Stenographie, aus der das Alphabet hervorging. Während wir den Hinweisen folgen – Sternen, Zahlen, Farben, Pflanzen, Formen, Versen, Musik, Strukturen –, wird ein gewaltiges Gerüst von Verbindungen auf vielen Ebenen erkennbar. 008 Man befindet sich in einer widerhallenden Mannigfaltigkeit, in der alles antwortet und allem ein Platz und eine Zeit zugewiesen ist. Es ist wirklich ein Gefüge – in etwa vergleichbar mit einer mathematischen Matrix –, ein Weltbild, das die vielen Ebenen ausfüllt, die alle durch das Maß in Ordnung gehalten werden. Dabei handelt es sich um ein Messen, das die Gegenprobe gleich mitliefert, denn es gibt vieles, das identifiziert und neu eingeordnet werden kann, etwa anhand von Regeln wie dem zitierten chinesischen Satz von den Stimmpfeifen und dem Kalender. Wenn wir von Maßen sprechen, so ist die Zeit immer in irgendeiner Form in ihnen enthalten, angefangen mit den beiden grundlegenden Zeiten – dem Sonnenjahr und der Oktave – und von dort über viele Perioden und Intervalle hinabsteigend zu den aktuellen Gewichten und Größen. Was der moderne Mensch
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mit dem rein konventionellen metrischen System versuchte in den Griff zu bekommen, hat archaische Vorläufer von großer Komplexität. Über die Jahrhunderte hinweg ertönt das Echo des erstaunten Ausrufs al-Bīrūnīs, als er vor rund tausend Jahren entdeckte, daß die Inder – zu der Zeit miserable Astronomen – Aspekte und Ereignisse aus den Sternen berechneten, ohne in der Lage zu sein, ihm auch nur einen einzigen der Sterne zu zeigen, nach denen er sich bei ihnen erkundigt hatte. Sterne waren für sie Ziffern geworden; und wurden es erneut für Leverrier und Adams, die es zeit ihres Lebens nicht für nötig hielten, auch nur einen Blick auf Neptun zu werfen, obwohl sie ihn 1847 berechnet und entdeckt hatten. Die Mayas und Azteken scheinen bei ihren unendlichen Berechnungen ähnliche Attitüden entwickelt zu haben. Was zählte, waren die Zusammenhänge. Sie waren im archaischen Universum der Weisheit letzter Schluß, einem Universum, in dem alle Dinge als Symbole und Signaturen füreinander standen, eingeschrieben in das Hologramm, um ihnen auf feinste Weise Weissagungen zu entnehmen. Und über allem herrschte die Zahl (Appendix 1). Die alte Welt rückt etwas näher, wenn man sich an zwei große Persönlichkeiten der Übergangszeit erinnert, die in ihrem Habitus und Denken sowohl archaisch als auch modern waren. Die erste ist Johannes Kepler, der in seinen beharrlichen Berechnungen und seiner leidenschaftlichen Hingabe an den Traum, die „Harmonie der Sphären“ wiederzuentdecken, ein Wissenschaftler der alten Schule war. Aber er war auch ein Mensch seiner eigenen Zeit – wie auch der unseren –, als sein Traum begann, jene Polyphonie anzudeuten, die später zu Johann Sebastian Bach führte. Auf dieselbe Art hat unser streng naturwissenschaftliches Weltbild sein Gegenstück in dem, was der Musikhistoriker John Hollander als „Das Verstimmen des Himmels” beschrieben hat. Die zweite Persönlichkeit der Übergangszeit ist kein geringerer als Isaac Newton, der eigentliche Begründer der exakten naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, Newton in diesem Zu-
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sammenhang zu nennen, ist kein Paradoxon. John Maynard Keynes sagte über ihn: Newton war nicht der erste des Zeitalters der Vernunft. Er war der letzte der Magier, der letzte der Babylonier und Sumerer, der letzte große Geist, der nach der sichtbaren und verstandesmäßig begreif- 009 baren Welt mit denselben Augen Ausschau hielt wie jene, die vor knapp 10.000 Jahren begannen, unsere nach dem Verstand ausgerichtete Welt zu erschaffen … Warum nenne ich ihn einen Magier? Weil er das gesamte Universum und alles, was in ihm enthalten ist, als ein Rätsel betrachtete, als ein Geheimnis, das gelesen werden kann, indem man das reine Denken auf bestimmte Offenkundigkeiten, auf bestimmte mystische Hinweise lenkt, die Gott über die Welt verstreute, um der esoterischen Bruderschaft so etwas wie eine philosophische Schatzsuche zu gestatten. Er glaubte, diese Schlüssel seien zum Teil in der Erkenntnis des Himmels und in der Konstitution der Elemente aufzufinden (und das führt zu der irreführenden Annahme, er sei ein experimenteller Naturphilosoph gewesen); aber ebenso zum Teil in gewissen Papieren und Überlieferungen, die von den Mitbrüdern in einer ungebrochenen Kette, die zurück bis zu den ursprünglichen kryptischen Enthüllungen der Babylonier reicht, weitergegeben worden waren. Für ihn war das Universum ein vom Allmächtigen erdachtes Kryptogramm – so wie er selbst die Entdeckung der Differentialrechnung in ein Kryptogramm verpackte, als er mit Leibniz korrespondierte. Das Rätsel würde sich, so glaubte er, durch reines Denken, durch Konzentration des Geistes dem Eingeweihten offenbaren.4
Die Würdigung von Keynes, etwa 1942 geschrieben, ist sowohl unkonventionell als auch profund. Er wußte – wir alle wissen – daß Netwon irrte. Seine hartnäckigen, sektiererischen Vorurteile führten ihn auf Abwege. Aber sein Unternehmen stand wirklich im Zeichen des archaischen Geistes, wie wir heute, nach zwei Jahrhunderten wissenschaftlicher Erforschung vieler Kulturen, von denen er keine Ahnung gehabt haben konnte, sagen J.M. Keynes, „Newton the Man”, in The Royal Society. Newton Tercentenary Celebrations (1947), 29. 4
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können. Zu den wenigen Schlüsseln, die er mit exakter Methode fand, sind viele hinzugekommen. Dennoch bleibt das Wunder übrig. Es ist dasselbe Wunder, das sein großer Vorgänger Galileo Galilei so umschrieb: Aber wie ragt über alle staunenswerten Erfindungen die Geisteshöhe dessen hervor, der sich vornahm, ein Mittel zu finden, um seine verborgensten Gedanken jedwedem anderen mitzuteilen, wie weit entfernt durch Raum und Zeit er auch sei? Mit denen zu reden, die in Indien sind, zu denen zu sprechen, die noch nicht geboren sind, die erst nach tausend und zehntausend Jahren geboren sein werden? Und mit welcher Leichtigkeit? Durch verschiedene Verbindung einiger zwanzig Zeichen auf einem Blatt Papier. Laßt dies das Siegel aller bewundernswerten Erfindungen der Menschen sein.5
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Im sechsten Jahrhundert A.D. schrieb Gregor von Tours: „Der Geist hat seine Schneide verloren, wir verstehen die Alten kaum noch.“ Das gilt um so mehr für die heutige Zeit – trotz unseres Schwelgens in populärer Mathematik für die Massen und in anspruchsvoller Technologie. Es ist unbestreitbar, daß – ungeachtet der Anstrengungen unserer Klassischen Philologen – das Dahinsiechen klassischer Studien, die Preisgabe jeglichen vertrauten Umgangs mit Griechisch oder Latein die Nabelschnur zerschnitten hat, die unsere Kultur – zumindest auf ihrem höchsten Niveau – mit Griechenland verband, und zwar auf dieselbe Art und Weise wie die Menschen der pythagoreischen und orphischen Tradition durch Platon und einige andere mit dem ältesten Nahen Osten verbunden waren. Langsam wird klar, daß diese Zerstörung zu einem neuzeitlichen Mittelalter führt, das weitaus schlimmer ist als das erste. Höhnisch grinsend werden die Menschen sagen: „Haltet die Welt an, ich will aussteigen.” Aber das läßt sich nicht bewerkstelligen; so entwickeln sich die Dinge eben, wenn sich jeder Beliebige an Galilei, Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, übersetzt von Emil Strauss (1891, Neuausgabe 1982), 110.
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dem exklusiven Wissen vergreifen kann, das die Naturwissenschaft ist und als solches immer gedacht war. Aber, wie Goethe bereits ganz zu Beginn des Fortschrittszeitalters sagte: „Noch ist es Tag, da rühre sich der Mann! Die Nacht tritt ein, wo niemand wirken kann.” Es könnte noch einmal eine Art „Renaissance” aus der hoffnungslos für unbrauchbar erklärten und mit Füßen getretenen Vergangenheit aufscheinen, sofern gewisse Ideen wieder zum Leben erweckt werden – und wir sollten unsere Enkel nicht um die letzte Chance bringen, an dem Erbe der am höchsten entwickelten und so weit entfernten Zeit teilzuhaben. Gerade jetzt gibt es noch etwas Tageslicht, bei dem diese erste schnelle Erkundung umgehend in Angriff genommen werden sollte. Notwendigerweise wird sie große und signifikante Bereiche auslassen; aber nichtsdestoweniger wird sie viele unerwartete Seitenpfade und Spalten der Vergangenheit erforschen.
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Der Bericht des Chronisten
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1 Der Bericht des Chronisten … Fleckenloser, schillernd vom Rate, Gewaltiger, wahrhafter Titan; Alles verschlingst du, um selbst es zu mehren. Du hältst die unzerreißbare Fessel Um das unermeßliche All … Aller Zeugung Beherrscher, du wohnst Über des Weltalls Teile dahin. Höre, Verschlagener, Trefflichster, Meine flehende Stimme. Aus den Orphischen Hymnen
Der angemessene Zugang zum Königreich jenes Hamlet, der vor Shakespeare existierte, ist der schlichte Bericht, den Saxo Grammaticus (ca. 1150-1216) in den Büchern III und IV seiner Gesta Danorum gegeben hat. Mit leichten Kürzungen geben wir hier die deutsche Übertragung von Gerhart Sieveking wieder. Die Geschichte beginnt mit den Heldentaten von Hamlets Vater Orwendel – insbesondere seinem Sieg über den norwegischen König Koller –, die Orwendels Bruder Fenge dazu trieben, „von Neid entbrannt” Orwendel zu ermorden (Appendix 2). Außerdem brachte er „auch die Gattin des hingeschlachteten Bruders in seine Gewalt und fügte so dem Brudermord die Blutschande hinzu.“ (So jedenfalls sah es Saxo.) Als Hamlet dies sah, faßte er den Entschluß, um ja nicht durch allzu kluges Handeln bei seinem Oheim Verdacht zu erwecken, Tölpelhaftigkeit vorzutäuschen, weswegen er eine bis zum Äußersten vorgeschrittene Geistesgestörtheit erheuchelte. Auf diese schlaue Art verbarg er nicht nur seinen natürlichen Verstand, sondern schützte auch sein Leben. Täglich umschlich er den mütterlichen
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Kapitel 1 Herd in der völlig kraftlosen Haltung eines Verstoßenen, warf sich mit dem ganzen Körper auf die Erde hin und bespritzte sich mit Unflat und mit ekelhaftem Dreck. Die besudelte Farbe seines Mundes und sein mit Jauche verschmiertes Gesicht trugen die lächerliche Blödigkeit des Schwachsinns zur Schau. Was immer seine Stimme von sich gab, war nichts anderes als albernes Zeug; was immer er an Arbeit vorwies, stank nach bodenloser Ungeschicklichkeit … Zuweilen setzte er sich an den Herd, fegte mit seinen Händen die Asche weg und pflegte dort hölzerne Klammern anzufertigen und sie im Feuer zu härten. Ihre äußersten Spitzen versah er mit einer Art entgegenstehender Widerhaken, damit sie sich durch solche Verzahnungen noch zäher festzusetzen vermöchten. Auf die Frage, was er da mache, erzählte er, daß er spitze Pfeile zurüste, um seinen Vater zu rächen. Die Antwort enthielt nicht wenig Gespött, da ja die Nichtigkeit seiner lächerlichen Arbeit von allen gering geschätzt wurde, wahrend diese Sache ihm jedoch späterhin bei seinem Vorhaben helfen sollte. Doch diese Kunstfertigkeit erweckte bei den einsichtigen Beobachtern zuerst den Argwohn, daß es sich bei ihm vielleicht um eine schlaue List handeln könne. Schon der Fleiß für ein so geringfügiges Werk offenbarte eine rätselhafte Naturanlage seines Urhebers … Außerdem pflegte er den Haufen der vorne angebrannten Hölzchen mit peinlicher Sorgfalt aufzubewahren. Es gab also einige, die behaupteten, er besitze einen rüstigen Geist, und die der Ansicht waren, er verstecke nur seine Klugheit hinter der vorgeschützten Einfalt … Diese Finte aber könne am besten entlarvt werden, wenn man ihm irgendwo im Verborgenen eine Frau von hervorragender Schönheit zuführe, die seinen Geist zu den verlockenden Spielen der Liebe anreize … Wenn er seinen Stumpfsinn also nur vortäusche, dann müsse es dazu kommen, daß er sich bei einer derart vorbereiteten Gelegenheit auf der Stelle den Wirkungen der Wollust ausliefern werde. Es wurde deshalb für Leute gesorgt, die den Jüngling zu einem Ritt in weit abliegende Teile des Waldes verführen und ihn dort mit einer Art Versuchung überrumpeln sollten. Unter ihnen befand sich zufällig ein Milchbruder Hamlets, dem die Rücksicht auf ihre gemeinsame Erziehung noch nicht aus dem Herzen geschwunden
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war. Dieser … folgte Hamlet unter den zugewiesenen Begleitern mehr in der Absicht, ihn zu warnen, als ihm eine Falle zu stellen. Denn er zweifelte nicht daran, daß jener den Tod erleiden müsse, wenn er auch nur ein geringes Anzeichen von verständigem Geiste darböte, vor allem aber, wenn er sich offenkundig den Genüssen der Liebe hingäbe. Dies war auch Hamlet selbst nicht unbekannt. Als er drum aufgefordert wurde, aufs Pferd zu steigen, setzte er sich mit Absicht so auf dessen Nacken, daß er dem Hals des Pferdes seinen Rücken zukehrte, mit seiner Vorderseite aber den Schwanz erblickte. Den begann er auch mit dem Zaumzeug zu umschlingen, gleichsam als ob von dieser Seite her das Ungetüm des galoppierenden Pferdes gelenkt werden müsse … Es war ein recht lächerlicher Anblick, als nun das Pferd ohne Zügel davonlief, während sein Reiter den Schwanz leitete. So ritt Hamlet dahin. Als ihm nun plötzlich aus dem Waldesdickicht ein Wolf entgegensprang und die Begleiter spöttisch behaupteten, da sei ihm ein Füllen zugelaufen, erwiderte er beiläufig, es dienten nur sehr wenige von dieser Art in Fenges Kriegstroß – womit er auf eine ebenso feine wie witzige Weise die Reichtümer seines Oheims verächtlich machte und verhöhnte. Während die anderen dieser klugen Antwort nur den üblichen Sinn beilegten, meinte er selbst das, was er gesagt hatte, auch wirklich im Ernst. Im Bestreben nämlich, sich aller Falschheit fernzuhalten, vermischte er seine schlaue Verstellung mit einer aufrichtigen Redeweise, damit es seinen Aussprüchen nicht an Wahrhaftigkeit fehle und trotzdem das Maß seines Scharfsinns sich nicht durch eine klare Formulierung des Wahren verrate. Sie ritten auch am Strande entlang, und dabei stieß er auf das Steuerruder1 eines gescheiterten Schiffes. Als nun seine Begleiter zu ihm sagten, da habe er ja ein ungewöhnlich mächtiges Messer gefunden, meinte er: „Es ist auch dazu bestimmt, einen gewaltigen Schinken zu schneiden” – womit er sicherlich das Meer bezeichnen wollte, dessen unermeßlicher Weite die Größe des Steuerruders entspreche. Als sie an den Sanddünen vorbeiritten und ihm bedeutet Bei Saxo gubernaculum [3.6.10; Gesta Danorum, hrsg. von C. Knabe und P. Herrmann (1931), 79]. 1
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Kapitel 1 wurde, er müsse den Sand als Grießkörner ansehen, antwortete er, die seien ja auch von den weißschimmernden Sturmwogen des Meeres ausgemahlen worden. Und wenn die Begleiter seine Antwort lobten, pflegte er ganz ernsthaft zu versichern, er habe ihnen sachverständig zugehört. Schließlich ließen sie ihn mit der Absicht allein, damit er dadurch größere Kühnheit gewönne, sich der Wollust hinzugeben. So traf er an einem verborgenen Plätzchen wie durch einen günstigen Zufall mit jenem Mädchen zusammen, das von seinem Oheim dorthin geschickt worden war. Und er hätte auch seine Begierde an ihm gestillt, wenn ihn nicht sein Milchbruder durch eine stumme Botschaft, die er ihm zukommen ließ, auf den Anschlag aufmerksam gemacht hätte … Erschreckt durch den Argwohn eines Hinterhaltes, ließ er darum von seinen Umarmungen ab und führte das Mädchen, damit er es umso sicherer nach seinem Wunsch besitzen könne, weit weg in ein sumpfiges und unwegsames Gelände. Auch beschwor er es nach ihrer Liebesvereinigung inständig, es dürfe die Sache niemandem verraten. Und tatsächlich wurde mit dem gleichen Eifer Stillschweigen erbeten und versprochen. Es ergab sich nämlich, daß eine gemeinsame Erziehung von früher her Hamlet mit dem Mädchen in engster Vertrautheit verband, weil sie beide in ihrer Kindheit dieselben Betreuer gehabt hatten. Als er daher nach Hause zurückgeführt worden war und ihn dort alle spöttisch fragten, ob er sich der Liebe hingegeben habe, gestand er zwar, daß das Mädchen von ihm besessen worden sei. Als sie aber weiter fragten, an welchem Ort er dies vollbracht und was für eine Unterlage er dazu benutzt habe, sagte er, er habe auf dem Huf eines Zugtieres, auf einem Hahnenkamm und auch auf Dachsparren geruht. Um eine Lüge zu vermeiden, hatte er nämlich kleine Stückchen von all diesen Dingen gesammelt, bevor er ausgezogen war, um in Versuchung geführt zu werden … Auch das Mädchen wurde über die Sache befragt, erklärte jedoch, er habe nichts dergleichen ausgeführt. Dieser Ableugnung schenkte man Glauben, und zwar um so eher, als auf keine Weise bekannt wurde, daß Helfershelfer in die Tat eingeweiht gewesen waren … Da aber alle andern den geheimnisvollen Riegel, der vor dem Treiben des Jünglings lag, nicht hatten sprengen können, äußerte
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einer von Fcnges Freunden, der bedeutend mehr Eigendünkel als Einsicht besaß, niemals werde sich seine verschlagene Wesensart durch eine gewöhnliche List enthüllen lassen. Seine Hartnäckigkeit sei viel zu zäh, als daß man sie auf so leichte Probe stellen dürfe … Darum, so sagte er, habe er selber nun die Denkkraft seines Geistes angestrengt und einen feiner berechneten Weg herausgefunden, der sich ohne Schwierigkeiten betreten lasse und in dieser Aufgabe am sichersten zum Ziele führe. Er rate nämlich, während Fenge sich unter dem Vorwand eines außerordentlichen Unternehmens absichtlich nach auswärts begeben habe, Hamlet allein mit seiner Mutter in ein Zimmer einzuschließen, vorher aber für einen Mann zu sorgen, der, ohne daß die beiden es wüßten, in einem verborgenen Winkel des Gemaches versteckt sei und sich ganz genau merken müsse, was bei ihrer Unterredung herauskomme … Derselbe Mann bot sich sehr eifrig als Helfer für das Aushorchen an, damit er sich schmeicheln könne, nicht nur der Erfinder, sondern auch der Vollstrecker des Planes zu sein, Fenge war über diesen Vorschlag erfreut und verließ den Hof, indem er eine weite Reise vortäuschte. Der aber, welcher den Rat gegeben hatte, schlich sich unbemerkt in die Kammer, in welcher Hamlet mit der Mutter eingeschlossen wurde, und versteckte sich, indem er unters Bettstroh kroch. Allein Hamlet wußte sich gegen den Anschlag zu helfen. In der Befürchtung nämlich, er könne von den Ohren irgendeines 014 heimlichen Horchers belauscht werden, fiel er zunächst in seine übliche alberne Gewohnheit zurück, fing nach Art eines aufgeregten Hahnes zu krähen an und schlug die Arme wie flatternde Flügel zusammen. So bestieg er das Strohlager und begann sich auf diesem in heftigen Sprüngen hin und her zu schleudern, weit er prüfen wollte, ob darin irgendein Versteck verborgen sei. Und als er etwas Massiges unter seinen Füßen spürte, durchwühlte und durchstocherte er die unter ihm liegende Stelle mit dem Schwert, zog den Mann aus seinem Schlupfwinkel heraus und stach ihn nieder. Den Leichnam zerhieb er in Stücke, kochte diese in siedendem Wasser, schüttete sie durch das offene Loch des Abtritts, damit die Schweine sie bis aufs Gebein verschlingen könnten. Dann bestreute er die armseligen Gebeine mit faulendem Kot. Nachdem er auf diese Weise den Anschlag zunichte gemacht hatte, suchte er die Kammer wieder auf.
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Kapitel 1 Und als nun die Mutter sich in seiner Gegenwart mit großem Geheul und Gejammer über die Geistesschwäche ihres Sohnes auszuweinen begann, sagte er: „Warum bemühst du dich, allerschändlichste der Frauen, mit erheuchelter Wehklage dein unerhört schweres Verbrechen zu verbergen? Du, die du in der ausschweifenden Art einer Dirne einen ruchlosen und abscheulichen Gatten umarmen willst, und ihn, der doch den Vater deines Kindes umgebracht hat, schamlos mit verführerischen Schmeicheleien umwedelst? …” Mit so harten Worten schalt Hamlet seine Mutter, rief sie auf, sich wieder zu einer tugendhaften Haltung zu erheben, und machte ihr klar, daß sie die vergangene Liebe höher zu stellen habe als die gegenwärtigen Verlockungen. Als Fenge zurückgekehrt war und den Anstifter der hinterhältigen Belauschung nirgends fand, ließ er diesem durch eine langwierige Untersuchung eifrig nachforschen, doch konnte niemand sagen, er habe ihn irgendwo gesehen. Zum Scherz wurde Hamlet ausgefragt, ob er irgendeine Spur von ihm entdeckt habe. Da berichtete er, jener sei auf den Abtritt gegangen und in dessen Tiefe versunken. Er sei von der übergroßen Masse des Kotes begraben und von den Schweinen, die überall darin herumgewühlt hätten, aufgefressen worden. Obwohl diese Aussage ein Geständnis der Wahrheit darstellte, war sie für die Zuhörer, weil sie ihrer äußeren Form nach läppisch erschien, nur ein Anlaß zum Spott. Da Fenge seinen Stiefsohn, den er im Verdacht hatte, daß er sich unzweifelhaft verstellte, aus dem Wege schaffen wollte, dies aber aus Furcht, es würden dessen Großvater Rörik und auch seine eigene Gemahlin daran Anstoß nehme, nicht auszuführen wagte, kam er auf den Einfall, ihn durch die Gefälligkeit des Königs von England töten zu lassen, suchte also mit Hilfe der Dienste eines Freundes den Anschein eigener Unschuld zu erwecken … Bevor aber Hamlet abreiste, wies er die Mutter heimlich an, die Halle mit geknüpften Wandbehängen auszustatten und nach Jahresfrist heuchlerisch seine Totenfeier zu begehen, während er zu derselben Zeit zurückzukehren versprach. Mit ihm zusammen begaben sich zwei Gefolgsleute Fenges auf die Fahrt, die auf Holz geschnitzte Schriften … mit sich führten, worin dem König von England aufgetragen wurde, den ihm zuge-
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schickten Jüngling zu töten. Hamlet durchsuchte, während sie der Ruhe pflegten, ihre Kästchen und entdeckte die Schriften. Als er gelesen hatte, was für Aufträge in den Brief eingezeichnet waren, schabte er ihn sorgfältig ab und ritzte an deren Stelle neue Runen ein, wodurch er den Wortlaut des Auftrages veränderte und seine eigene Verurteilung in die seiner Begleiter umwandelte. Noch nicht damit zufrieden, das Todesurteil von sich abgewälzt und die Gefahr auf die andern übertragen zu haben, fügte er der gefälschten Unter- 015 schrift Fenges außerdem einen Nachsatz bei, der die Bitte enthielt, der König von England möge dem ihm zugeschickten überaus klugen Jüngling seine Tochter zur Ehe geben. Als man nun in England angelangt war, begaben sich die Gesandten zum König und überreichten ihm den Brief, welchen sie für ein Werkzeug zu des andern Unheil hielten, während er doch ihren eigenen Tod befahl. Der König ließ nichts davon merken und nahm sie mit gastfreundlicher Höflichkeit auf. Da wies nun Hamlet alles, was an königlichen Speisen aufgetischt wurde, zurück, als sei es alltägliche Massenkost, verschmähte in auffälliger Enthaltsamkeit die üppige Fülle des Mahles und lehnte nicht minder als das Essen auch das Getränk ab. Es erregte allgemeines Erstaunen, daß der einer fremden Sippe entsprossene Jüngling gegen die aufs sorgfältigste zubereiteten Genüsse der königlichen Tafel und die mit den üppigsten Zutaten versehenen Leckerbissen solchen Widerwillen empfand, als handle es sich um einen rohen Imbiß. Nachdem der König die Tafel aufgehoben und die Gastfreunde zur Ruhe geleitet hatte, sorgte er dafür, sie durch einen in ihrem Schlafgemach versteckten Mann heimlich belauschen zu lassen, um den Inhalt der nächtlichen Gespräche seiner Gäste zu erfahren. Als nun Hamlet von seinen Gefährten gefragt wurde, warum er eigentlich die gestrigen Speisen von sich gewiesen habe, als wären sie Gift, behauptete er, das Brot sei mit geronnenem Blut durchsetzt gewesen, der Trank habe nach Eisen geschmeckt, die Fleischgerichte aber hätten den Dunst menschlicher Leichen ausgeströmt und seien ihm infolge des daran haftenden Verwesungsgeruches irgendwie verderbt erschienen. Er fügte noch hinzu, der König besitze knechtische Augen und die Königin habe bei drei Verrichtungen die Gewohnheiten einer Magd
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Kapitel 1 zur Schau getragen. So setzte er nicht nur das Mahl, sondern vielmehr noch dessen Veranstalter mit höchst schmählichen Vorwürfen herab. Da begannen ihm alsbald die Gefährten seine frühere Geistesgestörtheit vorzuhalten und ihn mit ausgelassenem Gespötte zu verhöhnen … Als der König dies durch seinen Gefolgsmann erfahren hatte, ließ er vernehmen, der Sprecher solcher Worte müsse entweder übermenschlich klug oder übermenschlich töricht sein … Darauf ließ er seinen Verwalter herbeirufen und erkundigte sich, woher er das Brot bezogen habe … , wo das Getreide zu dem Mehl gewachsen sei und ob sich dort irgend ein Anzeichen finden lasse, das auf ein Vergießen von Menschenblut hinweise. Jener antwortete, ganz in der Nähe liege ein Feld, mit den alten Gebeinen Erschlagener übersät, das noch immer deutliche Spuren eines früheren Gemetzels aufweise … Als der König dies gehört … , war er bemüht, auch noch in Erfahrung zu bringen, woher der Speck stamme. Jener gestand, seine Schweine seien infolge einer Unachtsamkeit aus ihrer Hürde ausgebrochen und hätten die verwesende Leiche eines Wegelagerers angefressen, daher sei möglicherweise der an Verderbnis erinnernde Geschmack in ihr Fleisch gedrungen. Als der König also auch in dieser Sache festgestellt hatte, daß Hamlets Bemerkung auf Wahrheit beruhte, forschte er weiter, mit was für Flüssigkeit jener denn den Trank gemischt habe. Als er erfuhr, dieser sei ganz richtig aus Spelt und Wasser zusammengebraut worden, ließ er sich den Ort des Quellbrunnens zeigen und dort in die Tiefe graben. Da fand er mehrere von Rost zerfressene Schwerter, aus deren Zersetzung das klare Wasser sich seine Trübung hergeholt haben mußte. Andere erzählen, der Trunk sei Hamlet deshalb aufgefallen, weil er beim Ausschöpfen Bienen angelockt hätte, die sich vorher im Wanst eines Toten beschmiert hätten, und sein Geschmack habe dadurch einen Stich erlitten, weil das einst dem Honig Beigemengte sich nun wieder bemerkbar gemacht habe … [Der König] suchte … heimlich seine Mutter auf und fragte sie eindringlich, wer sein Vater gewesen sei. Als diese behauptete, sie habe sich niemandem außer dem Könige hingegeben, drohte er ihr, er werde den wahren Sachverhalt durch eine strenge Untersuchung aus ihr herausbekommen. Da vernahm er, daß er von einem Knechte abstamme, und erlangte
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durch dieses erpreßte Geständnis den Beweis für seine ihm angemerkte zweideutige Herkunft. Wie sehr ihn auch die Schande seiner Geburt niederbeugte, so entzückte ihn doch die Klugheit des Jünglings. Deshalb fragte er ihn nun selbst, warum er die Königin mit dem Vorwurf knechtischer Sitten bemäkelt haben. Während er sich jedoch nach der nächtlichen Rede des Gastes nur über das getadelte Benehmen seiner Gattin hatte ärgern müssen, erfuhr er jetzt, daß diese sogar von einer unfreien Mutter abstamme … Der König verehrte seinen Scharfsinn als eine gleichsam göttliche Veranlagung, gab ihm seine Tochter zur Frau und legte fortan auf seine Zustimmung wie auf eine Art himmlisches Zeugnis hohen Wert. Im übrigen ließ er die Gefährten des Jünglings, um den Aufträgen seines Freundes nachzukommen, anderntags durch den Strick beseitigen. Diese Gefälligkeit nahm Hamlet, indem er zum Schein den Gekränkten spielte, wie eine Beleidigung auf und empfing deshalb als angebliches Bußgeld vom Könige Gold, das er bald darauf heimlich in ausgehöhlte Stöcke einzugießen bemüht war. Nachdem er ein Jahr bei ihm zugebracht hatte, erbat er sich Urlaub, um in die Heimat zu reisen, und nahm nichts mit vom ganzen Hort der königlichen Schätze außer den Stöcken, die das Gold bargen. Sobald er Jütland erreicht hatte, vertauschte er seine Lebensart wieder mit den früheren Angewohnheiten: was er zur Erlangung eines ehrenvollen Ansehens benutzt hatte, das verwandelte er absichtlich wieder zurück in den Anschein eines lächerlichen Gebarens. So betrat er, mit Schmutz besudelt, die Halle, worin gerade sein Totenmahl gefeiert wurde, und flößte allen lähmendes Entsetzen ein, hatte sich doch fälschlicherweise das Gerücht verbreitet, er sei umgekommen. Zuletzt aber wich der Schreck dem Gelächter, und die Tischgenossen warfen einander scherzend vor, nun werde ein Lebender zugegen sein, dem sie doch wie einem Verstorbenen das Grabgeleit gegeben hätten. Er wurde auch ausgefragt, wo denn seine beiden Begleiter seien. Da wies er jene Stöcke vor, die er mit sich führte, und sagte: „Das ist der eine und das der andere.” Man weiß wirklich nicht, ob er dies noch wahrheitsgemäßer oder noch witziger hätte vorbringen können. Jedenfalls wich seine Rede, obwohl sie von den meisten für leeres Geschwätz gehalten wurde,
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Kapitel 1 dennoch nicht von der Wahrheit ab, wies sie doch, statt auf die Gehängten auf das Wergeld für sie hin. Hierauf tat er sich mit den Mundschenken zusammen, um die Heiterkeit der Zechgenossen noch mehr zu steigern, und versah mit großer Aufmerksamkeit den Dienst des Eingießens. Damit ihn aber sein sehr bauschiges Gewand beim Gehen nicht behindere, umgürtete er die Hüfte mit dem Schwert, das er absichtlich mehrmals herauszog, so daß er sich an dessen Schneide den Finger verletzte – weshalb die Umstehenden dafür sorgten, daß das Schwert durch einen eisernen Nagel in der Scheide festgeheftet wurde. Um sich nun einen möglichst sicheren Weg für seinen Anschlag zu bahnen, goß er den aufs Ziel genommenen Adligen die Becher immer wieder von neuem voll und überschüttete sie dermaßen mit unvermischtem Wein, daß ihre Füße vor Trunkenheit schwankten. So überließen sie sich mitten in der Königshalle dem Schlaf und benutzten denselben Platz zum Festmahl und zur Lagerstatt. Als er sie nun im geeigneten Zustand für seine Anschläge sah und ihm die Gelegenheit für sein Vorhaben günstig erschien, holte er die einst zurechtgeschnitzten Hölzchen aus der Tasche, betrat das Gemach, in welchem die Vornehmsten mit hingestreckten Leibern überall am Boden herumlagen und ihren mit Schlaf untermischten Rausch ausrülpsten, zerriß die Halteschnüre des von der Mutter geknüpften Vorhangs, der die Innenwände der Halle verhüllte, und brachte ihn dadurch zum Niederfallen. Nachdem er ihn über die Schlafenden geworfen hatte, band er mit Hilfe der Widerhaken seiner Hölzchen ein so unentwirrbares Knotenkunstwerk zusammen, daß keiner der Darunterliegenden, und hätte er sich noch so kräftig dagegen gestemmt, imstande war, sich zu erheben. Drauf schleuderte er eine Fackel ins Gebälk, die mit rasch um sich greifenden Flammen eine ausgedehnte Feuersbrunst hervorrief, welche das ganze Haus befiel, die Königshalle verzehrte und alle, die da entweder im tiefen Schlummer lagen oder sich vergeblich aufzurichten suchten, verbrannte. Von dort eilte er in das Schlafgemach Fenges, der schon eher vom Gefolge in seine Behausung geführt worden war, riß das Schwert, das zufällig über der Bettstatt hing, an sich und hängte sein eigenes an dessen Stelle. Dann weckte er den Oheim auf, indem
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er ihm zurief, seine edle Gefolgschaft gehe im Feuer zugrunde, Hamlet sei da und habe sie mit Hilfe seiner alten Klammern eingeschnürt. Jetzt aber dürste er danach, die gebührende Rache für die Ermordung seines Vaters auszuüben. Auf diesen Anruf hin sprang Fenge vom Lager auf, wurde aber, da sein eigenes Schwert ihm fehlte und er das fremde vergeblich aus der Scheide zu ziehen versuchte, niedergemacht. So geschah es, daß der unerschrockene und für ewig nennenswerte Mann, der hinter erlogener Einfalt sich äußerst klug anstellte und seine über den üblichen Menschenverstand weit erhabene Weisheit durch eine bewundernswerte Vortäuschung von Narrenspossen verhüllte, sich von der Schlauheit nicht nur einen Schutzmantel für sein eigenes Leben zu borgen verstand, sondern unter ihrem Geleit auch die Mittel gefunden hatte, seinen Vater zu rächen. Ob man ihn, der auf diese Art sowohl sich selbst geschickt gesichert und zugleich seinen Vater so tatkräftig gerächt hat, mehr wegen seiner Kühnheit oder mehr wegen seiner Klugheit bewundern soll, das bleibt dahingestellt.
Es ist ein weiter Weg von Saxos Erzählung und ihrer plumpen Fassung zu dem Raffinement William Shakespeares. Nirgends wird das deutlicher als in der Szene im Gemach der Königin mit seinem Strohhaufen auf dem Boden, seinen siedenden Kesseln, seiner offenen Kloake und der rüden Manier der Beseitigung des „Polonius”. Alles entspricht ungeschliffenem Mittelalter. Die traurige und düstere Geschichte des einsamen und verwaisten Prinzen wird von Saxo komplett in ein Narrenspiel umgemünzt. Allerdings ist seine derbe Erzählweise von einer starken Tradition durchdrungen: Hamlet ist die rächende Kraft, deren überragender Verstand die Übeltäter vernichtet; aber sein Verstand spendet auch Licht und Stärke den Hilflosen und vom Schicksal Geschlagenen, die dadurch ihr Unglück erkennen. Es ist nichts Erfreuliches an den ins Schwarze treffenden Enthüllungen, die Hamlet dem englischen König zur Kenntnis bringen läßt. Aber der König demütigt sich selbst angesichts des rücksichtslosen Einblicks in seine Vergangenheit und verehrt Ham-
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lets Weisheit „als eine gleichsam göttliche Veranlagung”. Weitaus deutlicher als bei Shakespeare symbolisiert Hamlet die ambivalente Kraft, die Gutes und Schlechtes austeilt. Es ist außerdem klar, daß einige Episoden, wie der Austausch der Schwerter, grobe, nichtssagende Tricks enthalten, die dem heroischen Thema zuwiderlaufen. Nur Shakespeare hat es geschafft, solche Episoden stimmig zu dramatisieren. Insgesamt scheinen sie jedoch auf ein ursprünglich strenges Grundmuster zu verweisen, das auf der List der Vernunft basiert, wie Hegel sagen würde. Das Böse wird nie frontal angegriffen, selbst dann nicht, wenn die Konvention es erforderte. Es ist dazu da, sich selbst zu besiegen. Hamlet sollte nicht als heroischer Außenseiter begriffen werden, sondern als jemand, der Gerechtigkeit walten läßt. Shakespeare hat das sehr klar herausgearbeitet. Er hat es vermieden, das brutale, heroische Element, nach dem die Sage verlangt, erneut zu inszenieren, und machte das Drama statt dessen zu einem des Verstands. Es wäre witzlos, zum wiederholten Male die verschiedenen Versionen des Hamlet-Schemas in Nord- und Westeuropa und im alten Rom miteinander zu vergleichen. Das ist bereits sehr gründlich geschehen.2 Es ist somit gerechtfertigt, sich auf die „Identität“ des schattenhaften isländischen Amlodhi zu verlassen (in einem sogenannten Märchen wird er Brjam genannt), der zuerst im zehnten Jahrhundert erwähnt wird und später, als dänischer Reimport, in der „Ambales-Saga” erneut auftaucht, die im 16. oder 17, Jahrhundert geschrieben wurde. In den Sagen von Hrolf Kraki, von Havelok dem Dänen sowie in keltischen Mythen konnten Parallelen zu Hamlets Verhalten und Laufbahn Außer Frederick York Powells Einleitung und Appendix zu Oliver Eltons englischer Übersetzung The First Nine Books of the Danish History of Saxo Grammaticus (1894) siehe Paul Herrmann, Die Heldensagen des Saxo Grammaticus (1922); Israel Gollancz, Hamlet in Iceland (1898); Rudolf Zenkcr5 Boeve-Amlethus (1905) und Eemil Nestor Setälä, „KullervoHamlet”, FUF (1903, 1907, 1910). 2
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gefunden werden.3 In der Version, die uns Saxo überlieferte, lebt Hamlet als erfolgreicher Herrscher weiter. Die Fortsetzung seiner Abenteuer wird in Buch IV der Chronik aufgegriffen, jedoch weist diese Erzählung eine andere Handschrift auf. Es ist ein ungeschicktes Stückwerk, das sich aus verschiedenen Gemeinplätzen zusammensetzt, die allesamt dem Repertoire von List und Tücke entstammen und schlecht zusammengefügt sind. Wenn Hamlet dazu gebracht wird, zusätzlich zu der Tochter des englischen Königs auch noch die schottische Königin zu heiraten und seine beiden Ehefrauen an seinen heimatlichen Hof zu bringen, um dort in Harmonie miteinander zu leben, dann liegt der Verdacht nahe, daß es sich hier um einen ungeschickten Versuch handelt, den Anspruch der dänischen Dynastie auf das britische Königreich zu etablieren. Hamlet fällt schließlich im Kampf. Doch berechtigen die aufgezählten Heldentaten mitnichten Saxos überschwengliche 019 Schlußfolgerung, daß Hamlet ein zweiter Herkules geworden wäre, wenn er nur länger gelebt hätte. Seine wirkliche Persönlichkeit wurde bis zur Unkenntlichkeit überfrachtet, obgleich noch immer eine göttliche Aura an ihm haftet. Merkwürdigerweise hält die falsche Auslegung von Hamlets Geschichte als die Biographie eines allein nach Erfolg strebendem Helden bis zum heutigen Tag an. In einer russischen Verfilmung des ShakespeareDramas wird Hamlet als zielbewußter, verschlagener und skrupelloser Charakter gezeigt, der nur darauf versessen ist, an die Macht zu gelangen. Dabei ist in Saxos erstem Teil die tragische Bedeutung klar umrissen, wenn Hamlets Heimkehr zeitlich genau mit seiner Totenfeier zusammenfällt. Die Logik erfordert es, daß er gemeinsam mit dem Tyrannen zugrunde geht. Namentlich für die Hrolfssaga Kraki, die Jugend von Helgi und Hroar sowie die entsprechende Geschichte von Harald und Halfan (erzählt in Saxos siebtem Buch) siehe R. Zenker, Boeve-Amlethus (1905), 121-126; P. Herrmann, Die Heldensagen (1992), 27lf, und E.N. Setälä, „KullervoHamlet“, FUF 3 (1903), 74f. 3
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Kapitel 1
Der Name Amleth, Amlodhi, im Mittelenglischen Amlaghe, im Irischen Amlaidhe, steht immer für „Einfaltspinsel”, „Dummkopf“, „gleich einem stummen Geschöpf“. Nach wie vor wird er auch adjektivisch benutzt. Gollancz hat hervorgehoben, daß in „The Wars of Alexander”, einem alliterierenden Gedicht aus dem Norden Englands, welches weitgehend der Historia de Preliis entlehnt wurde, Alexander zweimal auf diese Art von seinen Feinden verächtlich gemacht wird: Thou Alexander, thou ape, thou amlaghe out of Greece Thou Utile thefe, thou losangere (1), thou lurkare in cities … Als sich Darius nach dem Erscheinungsbild Alexanders erkundigt, beschreiben ihm seine Höflinge diesen in einer sehr plastischen Karikatur: And thai in parchment him payntid, his person him shewid, Ane amlaghe, ane asaleny (2), ane ape of all othire, A wirling (3), a wayryngle (4), a waril-eghid (5) shrewe, The caitifeste creatour, that cried (6) was evire 4 Das Bild vom „allergrößten Schurken” begleitet beharrlich bestimmte große Figuren des Mythos. Zu der Figur des Hamlet gesellt sich zudem das Gleichnis vom „Hund“. Dies trifft zu auf Saxos Hamlet, auf Ambales und auf die Hrolfssaga Kraki, in der die beiden gefährdeten Prinzen Helgi und Hroar (in Saxos siebtem Buch sind es Harald und Halfdan) zu Hunden abgestempelt und mit den Hundenamen „Hopp und Ho” gerufen werden. Als nächstes kommt etwas in Betracht, das zunächst wie der Prototyp alldessen aussieht, nämlich die römische Geschichte von Lucius Iunius Brutus, dem Mörder von König Tarquinius, wie sie zuerst von Titus Livius erzählt wurde. (Der Spitzname Brutus verweist erneut auf die Gleichsetzung mit dummem (1) liar = Lügner, (2) little ass = kleiner dummer Esel, (3) dwarf = Zwerg, (4) little villain = Bauernlümmel, (5) wall-eyed = glasäugig5 (6) created = geschaffen. 4
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Vieh.) Dazu Gollancz: Schon die bloßen Umrisse der Handlung lassen unmißverständlich 020 die auffallende Gleichartigkeit der Geschichten von Hamlet und Lucius Iunius Brutus erkennen. Abgesehen von allgemeinen Ähnlichkeiten (der usurpatorische Onkel; der schikanierte Neffe, der entkommt, indem er Stumpfsinn vortauscht; die Reise; die orakelhafte Sprechweise; das Überlisten der Kameraden; die ausgeklügelten Rachepläne), gibt es in der früheren Geschichte Stellen, die sich die spätere ausgeliehen haben muß. Das gilt vor allem für Hamlets Entscheidung, das Gold in zwei Holzstäben zu verstecken. Mit Sicherheit war das kein bloßer Zufall; vielmehr scheint das Ereignis zu zeigen, daß sich Saxo diese Nebenhandlung aus Valerius Maximus’ Bericht über Brutus ausgeliehen hat. Mindestens ein Satz aus der entsprechenden Passage in der Memorabilia wurde von Brutus zu Hamlet transferiert (Saxo sagt über Hamlet: „obtusi cordis esse”, bei Valerius heißt es: „obtusi se cordis esse simulatif“). Saxo muß außerdem die Geschichte des Brutus gelesen haben, wie sie von Livius und späteren Historikern erzählt wurde, deren Versionen letztlich alle auf Dionysios von Halikarnassos basieren.5
Um die Zwillingsbrüder Hamlet und Brutus nebeneinanderzustellen, geben wir hier den früheren Teil der Erzählung von Titus Livius (i.56) wieder. Die nachfolgenden Ereignisse, die im Zusammenhang mit der Vergewaltigung von Lucretia stehen, sind zu bekannt, als daß man sie hier wiederholen müßte. Während Tarquinius noch damit beschäftigt war [mit der Errichtung von Schutzwällen, H.v.D.], erschien ihm ein schreckliches Zeichen: eine Schlange, die aus einer hölzernen Säule herausglitt, ließ alles im Königshaus voller Schrecken davonstieben; beim König selbst aber löste sie nicht so sehr plötzliche Angst aus, sondern erfüllte ihn mit bangen Sorgen. Während bei Zeichen vom Himmel, die die Allgemeinheit betrafen, nur etruskische Seher hinzugezogen wurden, geriet er durch diese Erscheinung, als wenn sie nur sein Haus beträfe, außer Fassung und beschloß daher, nach Delphi, dem 5
I. Gollancz, Hamlet in Iceland (1898), xxi-xxiv.
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Kapitel 1 berühmtesten Orakel der Welt, zu schicken. Weil er aber die Auskünfte, die das Orakel erteilen würde, keinem anderen anzuvertrauen wagte, schickte er durch die damals noch unbekannten Länder und über die noch unbekannteren Meere zwei seiner Söhne nach Griechenland. Titus und Amins machten sich auf die Reise. Als Begleiter wurde ihnen L. Iunius Brutus mitgegeben, ein Sohn der Tarquinia, der Schwester des Königs, ein junger Mann, der seiner Natur nach ganz anders war, als er sich gab. Da er gehört hatte, daß die führenden Männer der Bürgerschaft, darunter sein eigener Bruder, von seinem Onkel ermordet worden waren, beschloß er, dem König weder in seiner Gesinnung Anlaß zur Furcht zu geben noch in seinen Vermögensumständen Anlaß zur Begehrlichkeit, um dadurch, daß man ihn verachtete, sicher zu sein, wo das Recht ja keinen ausreichenden Schutz biete. Er hatte also mit Absicht die Rolle des Dummen übernommen und überließ sich und seine Habe dem König als Beute. Auch den Beinamen Brutus (der Blöde) ließ er sich gefallen, damit unter dem Deckmantel dieses Beinamens der Geist, der dem römischen Volk die Freiheit bringen sollte, unerkannt auf seine Stunde warten konnte. Dieser Mann wurde von den Tarquiniern nach Delphi mitgenommen, mehr als Zielscheibe ihres Spottes denn als Begleiter; als Geschenk soll er dem Apollon einen goldenen Stab, eingeschlossen in einem zu diesem Zweck ausgehöhlten Stock aus dem Holz der Kornelkirsche, gebracht haben, ein verschlüsseltes Abbild seines Wesens. Nachdem man in Delphi angekommen war und die Aufträge des Vaters erledigt hatte, überkam die jungen Männer das Verlangen zu fragen, an welchen von ihnen die Herrschaft in Rom fallen werde. Es heißt, aus der Tiefe der Höhle sei eine Stimme erklungen: „Das höchste Amt in Rom wird haben, wer von euch, ihr jungen Männer, als erster die Mutter küßt.“ … Brutus glaubte, daß die Worte der Pythia etwas anderes bedeuteten, tat so, als wenn er ausgerutscht und hingefallen wäre, und berührte die Erde mit einem Kuß, weil sie ja die gemeinsame Mutter aller Sterblichen sei.6
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Titus Livius, Römische Geschichte, lateinisch und deutsch herausgegeben von Hans Jürgen Hillen (1987), 145ff.
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Für die meisten konventionell denkenden Philologen war Brutus die Antwort auf ein Gebet, sogar auf das in Holz eingeschlossene Gold. So hatte man nun eine solide klassische Quelle, von der man Entwicklungen auch in entlegenen Provinzen getrost ableiten konnte. Doch selbst die römische Version war nicht ohne ihre störenden Eigentümlichkeiten. Livius berichtet nur von der Antwort auf die persönliche Frage der beiden Prinzen. Aber als Tarquinius sie nach Delphi geschickt hatte, ging es ihm darum, eine Antwort auf seine eigenen Ängste zu erhalten. Und diese Antwort läßt sich in Zonaras’ Kompendium der frühen Kapitel von Dio Cassius’ verlorengegangener Römischer Geschichte nachlesen. Apollon zu Delphi weissagt, der König werde seine Herrschaft verlieren, „wenn ein Hund mit menschlicher Zunge spricht”.7 Nichts deutet darauf hin, daß Saxo Zonaras gelesen hat. Es existiert außerdem eine seltsame Variante zu Tarquinius’ prophetischem Alptraum, von dem Livius berichtet. An ihrer Gewichtigkeit gibt es keinen Zweifel, denn immerhin wird sie in Ciceros De divinatione (I 22) erwähnt und greift eine vergessene Tragödie über Brutus auf, die von dem frühen römischen Dichter Accius stammt. Tarquinius also spricht: „Mir träumte, daß Schäfer eine Herde zu mir trieben und mir zwei schöne Widder anboten, die von demselben Muttertier abstammten. Ich opferte den besten von beiden; aber der andere rammte mich mit seinen Hörnern. Als ich schwer verwundet auf dem Boden lag und gen Himmel schaute, sah ich ein großes Zeichen: Das Sonnengestirn stand in Flammen, nahm von rechts kommend einen neuen Kurs ein und zerschmolz.” Es kann gut sein, daß die etruskischen Wahrsager über dieses Bild mit den beiden Widdern und der veränderten Umlaufbahn der Sonne befragt wurden, hatten sie doch mit Astronomie zu tun. Mit diesem Problem werden wir uns später beschäftigen. Eine interessante Spielart dieses Trau7
R. Zenker, Boeve-Amlethus (1905), 149f.
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mes ist in der Ambales-Saga nachzulesen; und die kann kaum von Cicero stammen.8 Was auch immer es damit auf sich hat: Es gibt mehr als genügend Gründe anzunehmen, daß die Geschichte weit vor die Zeit der römischen Könige zurückreicht. Entsprechend unternahmen Gelehrte den Versuch, eine Verbindung zur persischen Legende von Kyros herzustellen, was sich aber als nicht der Mühe wert erwies. Jedoch übermittelt sogar Saxo, selbst wenn er Valerius Maximus gelesen haben sollte, Wesensmerkmale, die mit Sicherheit außerhalb der klassischen Tradition stehen – und er zeigt uns einen anderen Weg. Der Bericht aus dem Narrenspiet über Hamlets Ritt entlang der Küste ist es wert, ein zweitesmal betrachtet zu werden: Er bemerkt ein altes Steuerruder (gubernaculum), das von einem Schiffswrack übriggeblieben ist, und fragt, was das sein könne. Seine Begleiter antworten ihm, es handle sich um ein „ungewöhnlich mächtiges Messer“. Woraufhin er erwidert: „Es ist auch dazu bestimmt, einen gewaltigen Schinken zu schneiden” – womit er tatsächlich das Meer meint. Und Saxo fährt fort: „Als sie an den Sanddünen vorüberritten und ihm bedeutet wurde, er müssen den Sand als Grießkörner ansehen, antwortete er, die seien ja auch von den weißschimmernden Sturmwogen des Meeres ausgemahlen worden. Und wenn die Begleiter seine Antwort lobten, pflegte er ganz ernsthaft zu versichern, er habe ihnen sachverständig zugehört.” Es ist klar, daß Saxo an dieser Stelle nicht weiß, was er mit den Äußerungen anfangen soll. Warum sonst würde er ständig betonen, Hamlets Antworten seien bedeutungsvoll? „Im Bestreben nämlich, sich aller Falschheit fernzuhalten, vermischte er seine schlaue Verstellung mit einer aufrichtigen Redeweise, damit es seinen Aussprüchen nicht an Wahrhaftigkeit fehle und trotzdem das Maß seines Scharfsinns sich nicht durch eine klare Formulie8
I. Gollancz, Hamlet in Iceland (1898), 105.
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rung des Wahren verrate.” Indem Saxo dies als systematisches Grundschema von Hamlets Abenteuern festlegt, entwirft und arbeitet er eine Thematik aus, die aus Hamlet eine Art verkleideten Sherlock Holmes macht; die beiden zitierten Aussprüche müssen als einzige dafür herhalten, Hamlet als nichtssagend und albern darzustellen. Jedoch passen sie vorne und hinten nicht. Tatsächlich entstammen sie einer gänzlich anderen Geschichte. Snorri Sturluson, Islands gelehrter Dichter (1178-1241), erklärt in seinem Skaldskaparmål („Die Sprache der Barden”) viele Kenningar9 berühmter Barden der Vergangenheit. Er zitiert eine Strophe von Snaebjörn, einem isländischen Skalden, der lange vor Snorri gelebt hat. Diese Kenning wurde zum Fluch der Übersetzer – wie es bei vielen alten, zum Teil vergessenen poetischen Sprachen der Fall ist. Es gibt nicht weniger als drei Begriffe in den neun Zeilen, die als hapax legomena betrachtet werden können, das heißt als Begriffe, die nur ein einziges Mal vorkommen. Die maßgeblichste Übersetzung stammt von Gollancz: ‘Tis said, sang Snaebjörn, that far out, off yonder ness, the Nine Maids of the Island Mill stir amain the host-cruel skerry quern – they who in ages past ground Hamlet’s meal. The good chieftain furrows the hull’s lair with his ship’s beaked pow. Here the sea is called Amlodhi’s mill.10 Die Kenning ist die bildliche Umschreibung eines Begriffs durch eine mehrgliedrige Benennung, zum Beispiel „Tosen der Pfeile” für „Kampf“. 10 I. Gollancz, Hamlet in Iceland (1898), xi. So unersetzlich dieses Juwel ist, so schwer ist es zu übersetzen. Hier eine kleine Blütenlese von deutschen Übersetzungen: „Man sagt (nämlich Snaebjörn), dass die Wellen gewaltsam bewegen das aufgewühlte Meer, über die Grenzen der Erde hinaus, grausam gegen die Männer, sie (die Wellen}, die einst gemahlen haben das Schiffsmehl, Mehlschiff des Amlódi … der Mann pflügt mit dem Vorderteil des Schiffes das Lager des Schiffsabhangs = das wellenschlagende Meer. Hier wird das Meer die Mühle des Amlódi genannt.” So hat es Paul Herrmann in seinem Saxo-Kommentar 9
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Das soll genügen. Was immer die Obskuritäten und Zweideutigkeiten bedeuten mögen, eines ist klar: Von Iunius Brutus und den sicheren Spielwiesen klassischer Herleitung müssen wir uns verabschieden. Hier geht es um das graue, stürmische Meer des Nordens, um seine riesigen Wellen, die auf ewig an den kleinen Granitinseln nagen; und Amlodhi ist sein König. Die Mühle ist nicht aus unserer Sprache verschwunden. Die Brandung ist noch immer das Mahlwerk. Selbst der British Island Pilot vermittelt in seiner nüchternen Prosa etwas von der Kraft der Neun Jungfrauen, deren wirklicher Name widerhallt in den Merry Men of Mey auf Pentland Firth: Wenn ein gewöhnlicher Sturmwind mehrere Tage lang geblasen hat. schlägt die ganze Kraft des Atlantiks gegen die Küsten der Orkneys; Felsen, mehrere Tonnen schwer, werden aus ihren Fundamenten gerissen; und das Brüllen der Brandung kann man über faßt (271). Bei Adolf Zinzow [Die Hamletsage (1877), 323] lesen sich die Zeilen so: „Man sagt, daß die sehr verderbliche Felsenmühle außerhalb der Erde schnell in Bewegung gesetzt wird von den neun Mädchen des Meeres (– wohl den 9 Valkyrien der Menglada), welche in langer Zeit die Küste, wo die Schiffswände liegen, verringert haben. Der Verteiler des Rings durchschneidet mit dem Vorderteil seines Schiffes Amloda molu, Amleths Mühle, d.i. das Meer.1” Gustav Neckel und Felix Niedner (Thule 20, 173) versuchen sich in Stabreimen, folglich versteht man rein gar nichts: Neun Schär’nbräut’ stets rühren Scharf Meers Grotti am Erdrand, Eilandmühl’, all’m Volke, Urgrimm’ge, heißt’s, immer Die Mahl’n auf dem Mehlschiff Mocht’n eh dem Hamletes. Schiffhald’s Land mit Stevens Spitz’ Golds Bieter ritzte.
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zwanzig Meilen weit hören; die Wellen werden bis zu 60 Fuß hoch …
Wenn der Sturm zunimmt, „lösen sich alle Unterscheidungen zwischen Wasser und Luft auf, alles scheint in dicken Rauch eingehüllt zu sein”. Pytheas, der erste Erforscher des Nordens, nannte das die „Meereslunge” und kam zu dem Schluß, daß dies das Ende der Welt sein müsse, wo sich Himmel und Wasser zu dem ursprünglichen Chaos vereinigen. Das leitet eine weitaus ältere und sicherlich unabhängige Überlieferung ein, die im frühen nordischen Mythos verwurzelt ist – sofern sie nicht auf einen noch älteren Traditionsstrang zurückzuführen ist.
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Kapitel 2
2 Die Figur in Finnland
Ohne weitere Rechtfertigung überspringt die Diskussion nunmehr die unüberwindbare Mauer, welche die modernen Philologen errichtet haben, um die linguistische Familie der indogermanischen Sprache vor jeder unschicklichen Berührung mit fremden Außenseitern zu schützen. Es ist bekannt, daß Finnland, Estland und Lappland kulturelle Inseln sind, ethnisch verwandt mit den Ungarn und anderen entlegenen asiatischen Völkern; Syrjänen, Wotjaken, Tscheremissen, Mordwinen, Wogulen, Ostjaken. Ihre Sprachen gehören zu der finno-ugrischen Familie, die mit dem Germanischen genauso wenig zu tun hat wie das Baskische. Diese Sprachen werden als „agglutinierend” bezeichnet und oft durch Vokalharmonie, wie sie auch im Türkischen vorkommt, charakterisiert. Noch bis vor kurzem waren diese Kulturen vom skandinavischen Milieu isoliert. Obgleich seit dem Mittelalter die Kultur des Westens – und mit ihr das Christentum – Eingang fand, blieb ihr großes Epos, das Kalevala, unversehrt in jener Form erhalten, in welcher es seit frühester Zeit der mündlichen Überlieferung anvertraut worden war. Es weist verblüffend einfache Grundzüge auf. Sie sind so einfach, daß sie jeden Versuch einer klassischen Herleitung zum Scheitern bringen. Erst im 19. Jahrhundert wurde das Epos von Elias Lönnrot schriftlich zusammengetragen. Aber selbst in dieser isolierten Überlieferung sind erstaunliche Parallelen zu nordischen und keltischen Mythen nachweisbar, deren Ursprung weit hinter jene Zeit zurückgehen müssen, in der die jeweiligen Geschichten berichtet wur-
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den. Mit dem roten Faden der Geschichte werden wir uns später befassen. Hier ist es zunächst wichtig, sich die Geschichte von Kullervo Kalevanpoika („der Sohn des Kaleva”) anzuschauen, die sorgfältig von E.N. Setälä in seiner meisterhaften Untersuchung ,,Kullervo-Hamlet“1 analysiert wurde. Seine Studie, so wie auch die von Kaarle Krohn2, berücksichtigt notwendigerweise verschiedene Varianten (die Lönnrot in die Runen 31-36 des offiziellen Kalevala nicht einbezogen hat), die sich mit Kullervo beschäftigen. Das erste Ereignis ist die Geburt von Kullervos Vater und On- 025 kel, die entsprechend der Rune 31 als Schwäne (oder Hühner) zur Welt kommen und von einem Adler auseinandergetrieben werden. Für gewöhnlich wird erzählt, daß ein armer Mann (ein Pflüger) Furchen rund um einen Baumstamm (oder auf einem kleinen Hügel) zog, welcher aufbrach und zwei Knaben ans Licht brachte. Einer von ihnen, Kalervo, wuchs in Karelien auf, der andere, Untamo, in Suomi-Finnland. Der Haß zwischen beiden entfaltet sich üblicherweise wie folgt: Kalervo sät Hafer hinter dem Haus von Untamo, Untamos Schaf frißt ihn, Kalervos Hund tötet das Schaf; oder es gibt Streit um die Fischgründe (Rune 31.19ff). Untamo erklärt dann den Krieg. Tatsächlich erschafft er den Krieg aus seinen Fingern, das Heer aus seinen Zehen und Soldaten aus den Sehnen seiner Ferse. Er tötet Kalervo und dessen ganze Sippe, mit Ausnahme von Kalervos Frau, die nach Untamos Haus verschleppt wird und dort unseren Helden das Licht der Welt erblicken läßt. Nachdem der Kleine drei Tage lang in der Wiege geschaukelt worden ist, Stößt der kleine Junge kräftig, Stößt energisch, spannt die Sehnen, Sprengt mit Macht die Wickelbänder, E.N. Setälä, „Kullervo-Hamlet”, FUF 3 (1903), 61-97, 1S8-255; 7 (1907), 188-224; 10 (1910), 44-127. 2 K. Krohn, Kalevalastudien 6. Kullervo (1928). 1
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Drückt sie hoch auf seine Decke, Schlägt entzwei die Lindenschaukel, Reißt in Fetzen alle Windeln. 3 Im Alter von drei Monaten, Als ein Knabe, kaum erst kniehoch, Fing er selber an zu sinnen: „Wenn ich nur erst größer würde, Wenn ich nur zu Kräften käme, Rächte ich des Vaters Unbill, Zahlte heim der Mutter Zähren. ” Dies kam Untamo zu Ohren, Selber sagte er die Worte: „Der bringt meinem Haus Verderben, In ihm wächst Kalervo wieder. ”4 Da bedenken alle Helden, Alle alten Weiber sinnen, Wohin man den Burschen bringe, Wo man ihm ein Ende mache. 026
Mühsam versucht Untamo, das Kind zu töten – mit Feuer, mit Wasser, durch Erhängen. Ein riesiger Scheiterhaufen wird errichtet und Kullervo hineingeworfen. Nach drei Tagen sehen Untamos Diener folgendes Bild: Bis zum Knie stand er in Asche, Bis zum Arme in den Funken, In der Hand den Kohlenhaken, Im Original Hamlet’s Mill wird die englische Übersetzung von W.F. Kirby (Everyman’s Library) zitiert, hier die Übertragung ins Deutsche von Lore und Hans Fromm (1967). 4 Gemäß der englischen Übersetzung ist Kalervo in Kullervo „wiedergeboren”. 3
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Damit facht er noch das Feuer. Setälä erzählt von einer Version, in der das Kind, einen (goldenen) Haken in der Hand, inmitten des Feuers hockt, das Feuer schürt und Untamos Dienern erklärt, er werde seinen Vater rächen.5 Kullervo wird ins Meer geworfen; nach drei Tagen finden sie ihn in einem goldenen Boot sitzend, mit einem goldenen Ruder in der Hand. Einer anderen Version zufolge reitet er auf dem Kamm einer Welle und mißt das Wasser: War im Meere reichlich Wasser, Käme es wohl auf zwei Kellen, Wenn man richtig messen wollte, Kam ein Teil noch auf die dritte. Als nächstes knüpfen sie das Kind an einen Baum oder es wird ein Galgen errichtet – wieder mit frustrierenden Ergebnissen, wie die Diener berichten: „Nicht ist Kullervo vernichtet, Ist am Galgen nicht verendet; Er verziert den Baum mit Bildern, Hält in seiner Hand ein Stiftchen. Voll der ganze Baum mit Bildern. Voller Ritzwerk ist die Eiche: Da sind Männer, da sind Schwerter, Speere sind da an der Seite. ” In einer anderen Erzählung heißt es, daß er die Namen seiner Eltern mit einem goldenen Stift in den Baumstamm ritzt. Danach wird die Rekonstruktion der Ereignisse schwierig. Es gibt Varianten, in denen Kullervo seine Rache sehr schnell ausübt – er geht einfach zu einem Schmied und verschafft sich die Waffen. Oder er wird zunächst außer Landes geschickt, um bei dem Schmied als Kuhhirte oder Schäfer zu dienen, Jedoch in Rune 31 5
E.N. Setälä, „Kullervo-Hamlet”, FUF 7 (1907), 192.
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Kapitel 2
werden ihm erst einmal kleine Aufgaben übertragen: ein Kind zu hüten und zu schaukeln. Aber er reißt dem Kind ein Auge aus und bringt es schließlich um. Danach wird er ausgeschickt, einen Wald zu roden und die schlanken Birkenstämme zu fällen. Schließlich schlug er noch fünf Bäume, Insgesamt acht starke Stämme.6
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Danach setzt er sich nieder und spricht (31.273ff). „Lempo [der Teufel] mag die Arbeit leisten, Hiisi hier die Balken fällen!” Schnell sprang er auf einen Stubben, Laut begann er dort zu lärmen. Schrillend pfiff er, gellend schrie er. Sagte so, sprach solche Worte: „So weit soll der Schwendwald fallen, Soll die schlanke Birke stürzen, Wie die Stimme wird vernommen, Wie das Pfeifen wird getragen! Mög kein junges Reis sich recken, Möge sich kein Halm erheben, Dieses ganze lange Leben, nicht, Solang das Mondgold leuchtet, Es gibt ein merkwürdiges Dindsenchas (Dindsenchas bedeutet „Geschichte des Ortes“. Als eine Art „mythologischer Geographie” taucht es vor allem in der irisch-keltischen Überlieferung auf. Siehe auch Whitley Stokes, „The Prose Tales in the Rennes Dindsenchas”, RC 16, 278f.) über das Fällen von fünf riesenhaften Bäumen – drei Eschen, einer Eiche, einer Eibe. „Die Eiche fiel in Richtung Süden, über Mag nAilte bis zu den Säulen des Lebensbaumes. 900 Scheffel betrug die Frucht ihrer Eicheln, und drei Scheffel gebar sie jedes Jahr … Äpfel, Nüsse und Eicheln. Die Esche von Tortu fiel gen Süd-Ost, die von Usnach gen Norden. Die Eibe gen Nord-Ost, so weit wie Druinn Bairr fiel sie. Die Esche von Belach Dahli fiel aufwärts bis nach Carn Uachtair Bile.”
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Wo Kalervos Sohn geschwendet, Auf des rechten Mannes Rodung!“7 Im Kalevala beauftragt Untamo Kullervo als nächstes, einen 028 Zaun zu errichten. Und den baut dieser auch – aus ganzen Pinien, Fichten und Eschen. Aber er macht kein Gatter hinein, sondern verkündet statt dessen: „Wer nicht fliegt gleich einem Vogel, Wer nicht mit zwei Flügeln flattert, Mag den Zaun nicht überwinden, Den Kalervos Sohn erstellte!” Untamo ist verblüfft:
Der estländische Kalevipoeg (= Sohn des Kaieva, der mit dem finnischen Kalevanpoika identisch ist) macht den Boden unfruchtbar, wo immer er mit seinem hölzernen Pflug entlangzieht (Setalä, FUF 7, 215), aber lärmend fällt auch er Bäume – und die fallen hernieder, so weit das Schlagen seiner Axt vernommen wird (203). Bezüglich der keltischen Überlieferung erzählt eines der Rennes-Dindsenchas, daß sich das urbare Land in einen Wald verwandelt, weil ein Bruder den anderen tötete, „so daß Wald und verkrüppeltes Buschwerk Guaires Land überzogen, wegen des Brudermordes, den er begangen hatte” (Stokes, RC 16, 35). Joseph Loth [Les Mabinogion du Livre Rouge de Hergest, I (1913), 272, Fn, 6] nennt sogar drei Helden beim Namen, die ein Land unfruchtbar machen: „Morgan Mwynvawr, Run, Sohn des Beli, und Llew Llaw Gylfes, die den Boden rot werden lassen. Nichts wuchs für ein Jahr, wo sie vorübergingen, weder Kraut noch Pflanze; Artus war sogar noch mehr ,rudvawc’ als sie. Wo Artus entlanggekommen war, würde sieben Jahre lang nichts wachsen.” Rudvawc bedeutet „roter Verwüster”, wie wir von Rachel Bromwich erfahren [Trioedd Ynys Prydein: The Welsh Triads (1961), 35]. Sieben Jahre währte der Zyklus der germanischen Wilden Jäger; auch Artus war ein Wilder Jäger. Das „Ödland” ist überdies ein Standardmotiv der Legenden, die um den Gral und den Fischerkönig gesponnen wurden. All dies wird schließlich einen Sinn ergeben. 7
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Kapitel 2
Sah den Zaun ganz ohne Eingang, Ohne Öffnung, ohne Spalten, Von der Erde ragt er aufwärts, Ist gebaut bis in die Wolken?8 Kullervo richtet noch weiteres Unheil an, indem er das Korn zu Spreu drischt, ein Boot in Stücke zerschlägt, eine Kuh füttert und ihr dabei die Hörner bricht, das Badehaus heizt und niederbrennt – das sind die üblichen Taten des „Starken Knaben” (des „Starken Hans” im deutschen Märchen, dem im englischen Paul Bunyan entspricht). Schließlich wird er als Kuhhirte außer Landes zum Haus des göttlichen Schmieds Ilmarinen geschickt. Es gibt allerdings eine bemerkenswerte Variante, welche besagt, daß er „nach Estland geschickt wird, um am Fuße des Zaunes zu bellen; er bellte ein Jahr und noch ein weiteres und einen kleinen Teil des dritten. Drei Jahre kläffte er den Schmied als seinen Onkel, die Frau (oder Bedienstete) des Schmieds als seine Schwiegertochter an.” Das klingt in der Tat befremdlich; und selbst der Übersetzer fügte Fragezeichen hinzu. Aber es gibt eine noch merkwürdigere Parallele in dem großen irischen Helden Cúchulainn, einer zentralen Figur des keltischen Mythos, dessen Name Ursprünglich kann dies dieselbe Geschichte gewesen sein wie die von Rornulus, der einen Graben rund um die neue Stadt zog und Remus dafür tötete, darüber hinweggesprungen zu sein. In der römischen Überlieferung ergibt der Mord allerdings keinen Sinn. Ohne dieses Schlüsselphänomen weiter zu verfolgen, möchten wir darauf hinweisen, daß in Finnland das Steinlabyrinth (im Englischen „Troy Town”, Troy = Troja) der Zaun des Giganten genannt wird, aber auch Spiel des Heiligen Peter, Ruinen von Jerusalem, die Straße des Giganten und Steinerner Zaun [siehe William Henry Matthews, Mazes and Labyrinths (1922), 150]. Al-Bīrūnī hingegen hat während seiner Beschäftigung mit Lanka (Ceylon) – das heißt mit Ravanas Labyrinth, das von Rama und Hanuman erobert wurde – festgestellt, daß in muslimischen Ländern diese „labyrinthische Festung Yavana-Koti genannt wird, was häufig als Rom interpretiert worden ist” [Alberuni’s India (1964), 306]. 8
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„Hund des Schmieds Cualan” bedeutet. Dieser immer wiederkehrenden Gleichsetzung mit einem Hund wird an anderer Stelle nachgegangen, und auch dem Schmied Ilmarinen selbst. Die Frau von Ilmarinen (sie wird oft Elina = Helena genannt) macht Kullervo zu ihrem Hirten und bäckt heimtückisch einen Stein in seine Wegzehrung, so daß er sein Messer daran zerbricht – das einzige Erbstück, das ihm von seinem Vater geblieben ist. Eine Krähe rät ihm daraufhin, die Kühe in die Sümpfe zu treiben, alle Wölfe und Bären um sich zu versammeln und sie in Kühe zu verwandeln. Kullcrvo sagt(5J.125ff): „Wart nur, warte, Hure Hiisis! Wenn ich wein um Vaters Messer, So wirst du bald selber weinen.” Er befolgt den Rat der Krähe, besorgt sich eine Gerte aus Wacholder, treibt die Kühe in die Sümpfe und die Ochsen ins Dickicht. Eine Hälfte für die Wölfe, Eine für den Ödwaldbären, Singt die Wölfe sich zu Kühen, Baut sich aus den Bären Rinder. Sorgfältig unterrichtet Kullervo die Wölfe und Bären, was sie zu tun haben, und (33.153ff) Er macht eine Kuhbeinpfeife, Aus dem Ochsenhorn die Flöte, Schafft ein Horn vom Bein der Schönen, Aus dem Fuß der Bleß ein Blasrohr, Läßt die Pfeife laut ertönen, Tutet hell mit seinem Horne Dreimal auf des Hauses Hügel, Sechsmal vor dem Viehwegende. Er treibt das „Vieh” nach Hause. Als Helena zum Melken in
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Kapitel 2
die Ställe geht, wird sie von einem Wolf und einem Bären zerfleischt. Diese böse Vergeltungsmaßnahme verweist auf ein Ereignis, das in Saxos Version nur als müder Witz auftaucht. Ein Wolf kreuzt Hamlets Weg, und man sagt ihm, es handle sich um ein Pferd. Hamlet entgegnet, es dienten „nur sehr wenige von dieser Art in Fenges Kriegstroß“. Saxo versucht das zu erklären: „… womit er auf eine ebenso feine wie witzige Weise die Reichtümer seines Oheims verächtlich machte und verhöhnte.” Das ergibt wenig Sinn. Statt dessen vermutet man ein Echo jenes Themas, welches von Kullervo enthüllt wird, indem er Wölfe und Bären anstelle von Vieh nach Hause treibt. Die Macht des Helden über wilde Tiere erweckt Erinnerungen an klassische Mythen. Das ist auch Karl Kerényi9 nicht entgangen, dessen Kommentar nützlich ist, nicht aber seine psychologischen Spekulationen: „Es ist unmöglich, die finnische Mythologie aus der griechischen oder umgekehrt: die griechische aus der finnischen ableiten zu wollen. Es ist aber ebenso unmöglich, nicht zu merken, daß Kullervo, das wunderbare Kind und der starke Knecht in einer Person, sich am Ende als Hermes und Dionysos erweist. Als Hermes erscheint er durch die mit Rindervernichtung verbundene Verfertigung von Musikinstrumenten … als Dionysos zeigt er sich darin, was er mit den wilden Tieren und mit seinem Feinde macht. Dionysisch ist – so müssen wir es durch die Kategorien der griechischen Mythologie gesehen nennen –, daß Wölfe und Bären durch seine Zaubermacht als zahme Kühe erscheinen, und dionysisch ist auch, daß sie es sind, die seinen Feind bestrafen. Schaudernd erkennen wir die tragisch-ironische Stimmung von Euripides’ Bacchen wieder, wenn wir die dramatisch zugespitzte Szene vom Melken der wilden Tiere lesen. Das Schicksal der etruskischen Seeräuber, der Feinde des Dionysos, die durch das Er9
K. Kerényi, „Zum Urkind-Mythologen“, Paideuma I (1940), 255.
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scheinen von Raubtieren bestraft werden, bildet hier eine noch näherliegende Analogie … ” In Rune 35 läßt Lönnrot Kullervo zu seinen Eltern, Brüdern und Schwestern zurückkehren. Das ist insofern unerwartet, als sie in vorhergegangenen Runen getötet wurden. Aber die Crux der vielen Runengesänge besteht gerade darin, daß die Namen der Helden weit davon entfernt sind, als gesichert zu gelten, und daß die ursprüngliche Reihenfolge der Geschehnisse, wie bereits gesagt, unmöglich zu rekonstruieren ist. Ein Ereignis sticht jedoch hervor: Eine der Schwestern ist nicht zu Hause. In einem günstigen Augenblick trifft der Held im Wald ein Mädchen, das Beeren sammelt. Sie liegen beieinander und erkennen später im Gespräch, daß sie Bruder und Schwester sind. Das Mädchen ertränkt sich daraufhin, Kullervo aber wird von seiner Mutter am Selbstmord gehindert. Also zieht er in den Krieg, und indem er dies tut, vollführt er seine Rache. Zuerst bittet er den großen Gott Ukko um das Geschenk eines Schwertes (36.242ff). Ganz nach Wunsch fand er die Waffe, Fand das allerschönste Schlagschwert, Schlug damit die ganzen Scharen, Fällt’ das ganze Volk Untamos; Brannte die Gebäude nieder, Fachte daraus Feuerfunken, Ließ nur stehn die Ofensteine, Auf dem Hof die hohe Esche. Wieder heimgekehrt, findet Kullervo nicht eine einzige lebende Seele; alle sind gestorben. Als er am Grabe seiner Mutter weint, erwacht diese; Sie gemahnt ihn aus der Erde: „Dir ist Musti doch geblieben. Um mit dir im Wald zu wandern! Diesen deinen Hund nimm mit dir, Wandere hinaus zum Walde.”
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Dort, im Dickicht, hausen die blauen Töchter des Waldes, und die Mutter rät ihm, deren Gunst zu erwerben. Kullervo nimmt den schwarzen Hund und wandert in den Wald. Aber als er die Stelle erreicht, an der er seine Schwester geschändet hat, überkommt ihn die Verzweiflung. Und er stürzt sich in sein eigenes Schwert. Immerhin wird hier ein Punkt offen dargelegt, der in anderen Geschichten ein dunkler Hinweis bleibt: Es gibt eine Sünde, für die Hamlet büßen muß. Die Erkenntnis, daß sich Kullervo und seine Schwester wegen eines Inzests, den sie unwissentlich begangen hatten, selbst töteten, ruft die Tatsache in Erinnerung, daß bei Saxo der jugendliche Prinz von einem Mädchen zur Liebe verführt wird, das ihn nicht verrät, weil „eine gemeinsame Erziehung von früher her Hamlet mit dem Mädchen in engster Vertrautheit verband, weil sie beide in der Kindheit dieselben Betreuer gehabt hatten”. Das wirkt an den Haaren herbeigezogen – als wäre Saxo auf ein Thema gestoßen, dessen Reichweite er nicht begreift. In König Artus wird das Thema offenkundig. Es ist vieldeutig und schwer faßbar, aber gerade deswegen ist es bei Shakespeare um so unerbittlicher. Hamlet muß seine wahre Liebe verleugnen, wie er auch sich selbst in seiner mißlichen Lage verleugnen muß als er zu Ophelia sagt: „Geh in ein Kloster Warum wolltest du Sünder zur Welt bringen? … Wozu sollen solche Gesellen wie ich zwischen Himmel und Erde herumkriechen? Wir sind ausgemachte Schurken, alle: trau keinem von uns! Geh deines Wegs zum Kloster!10
In dem Spiel-im-Spiel fühlt sich der Prinz frei, aus seiner Rolle herauszutreten. Zu Ophelias Füßen sitzend, fragt er sie: Fräulein, soll ich in Eurem Schoße liegen? Nein, mein Prinz. W. Shakespeare, Hamlet, Prinz von Dänemark (IIII/1), übersetzt von August Wilhelm von Schlegel, in Sämtliche Werke, 4 (1989), 317f.
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Ich meine, den Kopf auf Euren Schoß gelehnt. Ja, mein Prinz. Denkt Ihr, ich hätte erbauliche Dinge im Sinne? Ich denke nichts. Ein schöner Gedanke, zwischen den Beinen eines Mädchens zu liegen. Was ist, mein Prinz? Nichts.11 Aber die Würfel sind gefallen. Wie Kullervos Schwester ertränkt sich Ophelia. Ihr Selbstmord zieht den Tod ihres Geliebten nach sich – und den ihres Bruders. Die beiden Aspekte vereinen sich im endgültigen Schweigen. Aber zumindest hat Hamlet, wie immer bei klarem Verstand, die Chance gehabt, verzweifelt den unlösbaren Knoten seiner Schuld zu beschreiben: „Ich liebt’ Ophelien; vierzigtausend Brüder Mit ihrem ganzen Maß von Liebe hätten Nicht meine Summ’ erreicht. – Was willst du für sie tun?”12
Und nun zu Kullervo. Setäläs Analyse der ganzen Parallele sieht so aus: Was die Allgemeinheiten betrifft: Bruder tötet Bruder; ein Sohn überlebt und schwört von frühester Kindheit an Rache; der Onkel versucht ihn zu töten, aber er kann seine Rache erfolgreich ausführen. Was die Einzelheiten betrifft: Setälä möchte die Pflöcke und Haken, die der Held, am Herd sitzend, in allen nordischen Versionen formt oder schnitzt – Brjam tut es in einer Schmiede –, mit dem goldenen Haken beziehungsweise Rechen identifizieren, den der kleine Kullervo in der Hand hält, als er mitten im Feuer sitzt und die Flammen schürt. Jeder Held (auch Kullervo in einer der Versionen, die Setälä ausfindig gemacht hat) gibt deutlich zu verstehen, daß er seinen Vater zu rächen gedenkt. 11 12
op.cit., (III/2), 323. op.cit., (V/I), 373.
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Kapitel 2
Etwas verwundert hebt Setälä einen anderen Punkt hervor, der sich später als entscheidend herausstellen wird: In jeder nordischen Version gibt es irgendwelche dunklen Anspielungen auf das Meer. Die Worte sind sonderbar: Hamlet möchte den „großen Schinken” mit einem Steuerruder zerschneiden; das Kind Kullervo wird gefunden, wie es mit einem Ruder oder mit einer Kelle die Tiefe des Meeres mißt. Kalevipoeg, das estländische Pendant zu Kullervo Kalevanpoika, mißt die Tiefe von Seen mit seiner Körpergröße. Amlodhi/Ambales sagt nur, während er an einem unergründlichen Gebirgssee sitzt: „Ins Wasser ist der Wind gekommen, ins Wasser wird er gehen.”
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… denn von heute an wird sich alles ändern, von heute an datieren neue Feste und neue Bräuche, denn heute Nacht wurde Schah Kai Chosrau geboren. FIRDAUSI
Das Hamlet-Thema begibt sich nunmehr nach Persien. Firdausis Schahnameh, das Buch der Könige, ist das Nationalepos der Iraner, und noch heute wird Firdausi (ca. 1010 n. Chr.) als der Nationaldichter angesehen. Als Firdausi das Epos schrieb, hatte sein Protektor, Sultan Mahmud von Ghazna, das Zentrum seiner Macht nach Indien verlegt, und das iranische Imperium bestand seit langem nur noch in der Erinnerung. Mit erstaunlicher Gelehrsamkeit machte sich Firdausi daran – wie vor ihm Homer –, die zendische Überlieferung, die sich von historischen Zeiten bis ins rein Mythische verfolgen läßt, zu sichten und niederzuschreiben. Der erste Teil über die Dynastien der Pischdadiden und der Kajaniden muß als durchweg mythisch angesehen werden, obwohl er in historische Zeiten hineinreicht und vier der insgesamt neun Bände der englischen Übersetzung umfaßt.* Chosrau (im Griechischen Chosroes) ist auch der Name einer Abstammungslinie historischer Herrscher, von denen Chosrau A.d.Ü.: Die Autoren beziehen sich hier auf die englische Übersetzung von Arthur und Edward Warner (1905-1909), während hier auf die deutschen Übersetzungen von Friedrich Rückert (Neuauflage 1976), Adolf Friedrich von Schack (1894) und Uta von Witzleben (1960) zurückgegriffen wird. *
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Kapitel 3
Anuschirvan den letzten Philosophen Griechenlands – nämlich den Mitgliedern der Platonischen Akademie, die von Justinian im Jahre 529 n.Chr. vertrieben worden waren – Zuflucht gewährte. Aber Firdausis Kai Chosrau ist die überragende Figur seines eigenen mythischen Zeitalters. Fast ein Fünftel des gesamten Werks ist ihm gewidmet. Tatsächlich entspricht er dem Haosravah des Zend Avesta und dem Sushravah des Rigveda – eine Identität also, die zum wiederholten Mal die Frage nach einer gemeinsamen indogermanischen „Urzeit” als Zeit der Ursprünge aufwirft. Die gemeinsamen Merkmale von Saxos Amlethus und Kai Chosrau sind so verblüffend, daß sie Otto L. Jiriczek, und nach ihm Zenker, zu detaillierten vergleichenden Studien inspirierten.1 Sie kamen zu dem Schluß, daß die griechische Sage von Bellerophon einen gemeinsamen Ursprung darstellen könne – und damit beendeten sie ihre Nachforschungen. Das Klassische Altertum übt eine magnetische Anziehungskraft auf den gelehrten Geist aus. Er reagiert darauf wie auf den Großen Magnetberg in Sindbad: Sobald Griechenland am Horizont winkt, gerät das zerbrechliche Schiff der Philologen vom Kurs ab. Zwar mag die düstere Erzählung von Bellerophon ebenfalls eine Parallele sein, aber muß das bedeuten, daß der Weg damit zu Ende ist? Wie Herodot wehmütig bemerkt, reicht die aufgezeichnete Überlieferung seiner eigenen hellenischen Vorzeit nur wenige Jahrhunderte zurück; jenseits davon mündet sie in dem Strom indogermanischer Mythik. Ein bekanntes Hauptmerkmal in dem breiten Fluß des Schahnameh ist der fortdauernde Krieg zwischen „Untamo” und „Kalervo”, hier als Auseinandersetzung zwischen den beiden rivalisierenden Völkern von Turan und Iran. Da die Berichterstattung über die Geschicke der Kajaniden-Dynastie mehr als doppelt so viel Raum beansprucht als die beiden Epen Miltons zusammen, O.L. Jiriczek, „Hamlet in Iran”, ZVV 10 (1900), 353-356; R. Zenker, Boeve-Amlethus (1905), 207-282. 1
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ist es geraten, sich hier auf einen wesentlichen Aspekt zu konzentrieren. Die persische Darstellung weist eine gewisse „Verlagerung” der Handlung dadurch auf, daß der Turanier Afrasiab nicht seinen Bruder, sondern seinen Neffen Siawosch tötet, der gleichzeitig Afrasiabs Schwiegersohn ist. Der „Rächer” dieses Verbrechens entpuppt sich also als der gemeinsame Enkel sowohl des feindlichen turanischen Schahs Afrasiab als auch dessen Bruders, des edlen persischen Schahs Kai Kawus (der wiederum im Rigveda als Kavya Ushanas und im Avesta als Kavi Usan keine geringe Rolle spielt). Als Befehlshaber der Armee seines Vaters bietet Siawosch dem turanischen Afrasiab den Frieden an, welcher ihn auch annimmt, da er einen verhängnisvollen Traum hatte.2 Dieser Traum ähnelt jenem von Tarquinius und Ambales. Kai Kawus traut Afrasiab jedoch nicht und lehnt den Friedensvorschlag ab. Daraufhin entschließt sich Siawosch, bei Afrasiab zu leben, weil er sein Abkommen mit den Turaniern nicht brechen will. Afrasiab achtet den jungen Mann in jeder Hinsicht und übereignet ihm eine große Provinz, die Siawosch ausgezeichnet regiert – das heißt im Stil des „Goldenen Zeitalters” seines Vaters Kai Kawus. Zuerst heiratet Siawosch eine Tochter des Turaniers Bishan, dann gibt ihm Afrasiab dessen eigene Tochter Farangis zur Frau. Aber es gibt eine Schlange in diesem Garten Eden: Afrasiabs eifersüchtiger Bruder Garsiwas, ein früher Polonius, intrigiert so erfolgreich gegen Siawosch, daß Afrasiab schließlich seine Soldaten gegen den untadeligen jungen Herrscher ausschickt. Siawosch wird gefangengenommen und getötet. Die verwitwete Farangis kann zusammen mit Bishan (Siawoschs erstem Schwiegervater) in dessen Haus fliehen, wo sie einen wunderschönen Knaben gebärt – Kai Chosrau, den gemeinsamen Enkel von Afrasiab und Kai Kawus: 2
Firdausi, Wamer-Übersetzung II, 232f.
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Kapitel 3 In einer dunklen und mondlosen Nacht, während Vögel, wilde Tiere und das Vieh schliefen, erblickte Bishan in seinem Traum eine Helligkeit, die das Licht der Sonne übertraf, während Siawosch, entthront, das Schwert in der Hand, ihn laut anrief und sagte: „Schlummere nicht länger! Wirf den süßen Schlaf ab und denke an die Zeiten, die kommen werden, denn von heute an wird sich alles ändern, es werden neue Festtage und Sitten die alten ablösen, denn heute Nacht wurde Schah Kai Chosrau geboren.“ Der Feldherr sprang von seinem weichen Lager. Golschahr, die Warmherzige, erwachte. Bishan sagte: „Steh auf! Du mußt jetzt Farangis helfen, denn ich habe eben im Schlaf Siawosch gesehen, der die Sonne und den Mond überstrahlte und mir zurief: Schlafe nicht länger, sondern begib dich zum Feste Kai Chosraus, des Beherrschers der Welt!” Golschahr kam in Eile zum Mond gelaufen, aber Kai Chosrau war schon geboren. Sie begab sich mit Freudenrufen, die im Palast widerhallten, zurück zu Bishan, dem Herrn. „Du würdest sagen“, rief sie, „daß König und Mond eins geworden sind … ”3
Mit dem prophetischen Traum von einem großen neuen Zeitalter beginnen lange Jahre der Prüfung für den auserwählten Helden. Der Junge wächst unter Schäfern auf. Er wird ein hervorragender Jäger, obwohl nur mit einem primitiven Bogen ausgestattet und mit Pfeilen ohne Spitzen und Federn, die er sich selbst geschnitzt hat – so wie Hamlet seine Stöckchen. Großvater Afrasiab fürchtet den Jungen und läßt ihn zu sich kommen, um sich von der Harmlosigkeit seines Opfers zu überzeugen. Obwohl Afrasiab feierlich geschworen hat, Chosrau nicht zu verletzen, überredet Bishan den Jungen, zu seiner eigenen Sicherheit den Dorftrottel zu spielen. Als der Tyrann ihn mit geheucheltem Wohlwollen ausfragt, antwortet Kai Chosrau auf genau dieselbe Art, wie es Amlelhus tat – in Rätseln, die keinen Sinn ergeben und anzeigen, daß der junge Chosrau sich mit einem Hund vergleicht. Der Usurpator fühlt sich erleichtert: „Der Bursche ist ein Idiot!” 3
Firdausi, von Witzleben-Übersetzung, 240f
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Die nun beginnende Geschichte der Vergeltung, in Saxos Bericht und anderen Versionen unangemessen zusammengekürzt, wird von Firdausi in einen majestätischen Rahmen gekleidet und in großem Maßstab erzählt. Der Zorn Persiens und der Welt, den der Tod des Siawosch heraufbeschworen hat, wird apokalyptisch zu einem kosmischen Tumult inszeniert: Es schien, daß seihst das Meer vor Ingrimm brüllte, Da Rachedurst die ganze Schöpfung füllte; Auf Erden war kein Platz mehr, drauf zu stehn, Vor Lanzen konnte man die Luft nicht sehn; Die Sterne selbst bekämpften sich dort oben, Das Weltall war von Unheilsnacht umwoben.4 Dennoch gelingt es den beiden Erzverbrechern Afrasiab und Garsinas zu entkommen und sich dank ihrer unerschöpflichen Hilfsmittel zu verstecken. Ständig neue Gestalten annehmend, um der Gefangennahme zu entgehen, mimt Afrasiab im Gewässer eines tiefen, salzigen Sees sogar den Proteus. Zu guter Letzt – zwei Bände und ein Vielfaches an Ereignissen später – werden Afrasiab und sein schlechter Berater mit einem Lasso oder einem Netz gefangen und gehen zugrunde. Nur indem man auf die avestische Tradition zurückgreift, ergeben die vielen Wechselfälle einen Sinn, auf welche die Yashts oder Hymnen des Avesta wiederholt anspielen.5 Die Schahs Kai Chosrau und Afrasiab waren Konkurrenten in einer Suche nach dem rätselhaften Hvarna, was sinngemäß „Glorie” oder „Glücksglanz” bedeutet. Um es zu erlangen, opferten die Schahs der Göttin Anahita, die eine Art Ischtar/Artemis ist, wiederholt einhundert Pferde, eintausend Ochsen und zehntausend Lämmer. Nun befand sich dieser Glücksglanz, „welcher dem Volk der Arier, ob geboren oder ungeboren, und dem heiligen Zarathustra gehört“, in dem See Vurukascha. Afrasiab hatte als Schah 4 5
Firdausi, von Schack-Übersetzung, 244, Spalte 1. Yasht 5.41-49; 79.56-64, 74.
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Kapitel 3
der nicht-arischen Turanier keinen Anspruch darauf. Aber er verließ sein Versteck, das sich in einem unterirdischen Palast aus Eisen befand, der „hundertmal höher als die Körperlänge eines Menschen” war und von einer künstlichen Sonne, einem künstlichen Mond und künstlichen Sternen beleuchtet wurde. Dreimal tauchte Afrasiab in den See und versuchte, das Hvarna zu erbeuten. Jedoch „der Glücksglanz entkam, der Glücksglanz entfloh, der Glücksglanz wechselte seinen Platz”. Im Kapitel „Über Zeit und die Flüsse” werden wir Afrasiabs Anschläge und seine „schrecklichen Äußerungen” ausführlicher diskutieren. Der Glücksglanz war eigentlich für Kai Chosrau bestimmt und wurde ihm ohne weitere Umstände verliehen. An dieser Stelle muß gesagt werden, daß Hvarna für Legitimität oder Himmlisches Mandat steht, welches den Herrschern eingeräumt wird – ihnen aber ebenso leicht genommen wird. Der erste Weltenherrscher Yima (Jamshyd) verlor es dreimal. In der eurasischen Folklore hat die Geschichte vom tauchenden Afrasiab viele Ableger. Dort wird der turanische Schah „Teufel” genannt, den Gott dazu bringt, auf den Grund des Sees zu tauchen, so daß in der Zwischenzeit einer der Erzengel oder St. Elias einen wertvollen Gegenstand stehlen kann, der rechtmäßiges Eigentum des Teufels ist. Manchmal handelt es sich bei diesem Objekt um die Sonne, manchmal um die „göttliche Kraft” oder um Donner und Blitz – und manchmal sogar um einen Vertrag zwischen Gott und dem Teufel, der sich für Gott als nachteilig erwiesen hatte. Wesentlich bleibt der Ausgang der Geschichte. Während jener ereignisreichen Jahre regierte Kai Kawus gemeinsam mit seinem Enkel sicher im Zeichen des Glücksglanzes. Kurz nach dem Sieg über den Emporkömmling stirbt Kai Kawus, und Kai Chosrau besteigt den Elfenbeinthron. Sechzig Jahre lang, so heißt es in dem Epos, „hatte die Welt ihm zu Füßen gelegen”. Es ist überraschend, daß nicht ein einziges Wort über irgendein Ereignis nach dem Tode von Kai Kawus verloren wird. Glückliche Herrscher
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haben eben keine Geschichte. Allerdings wird erzählt, daß Kai Chosrau von tiefer Melancholie und Gewissensprüfungen heimgesucht wird. Er befürchtet, daß er „arrogant in der Seele und korrupt im Denken“ wird wie seine Vorfahren Yima (Jamshyd) und, neben anderen, sogar Kai Kawus selbst, der versucht hatte, sich wie der babylonische Etana von Adlern in den Himmel tragen zu lassen. So trifft er den weisen Entschluß: „So ziemt mir nun, dem Herren Dank zu bringen, Daß er dies Alles, Alles ließ gelingen! Mir ziemt es, in das Beigemach zu treten, Und weinend zu dem höchsten Gott zu beten, Daß er aus diesem Glücke meinen Geist Wegnehme, um zum Heil, das er verheißt, Ihn an der Seel’gen Aufenthalt zu führen. Einmal muß ich die Krone doch verlieren … ”6 Dann bereitet sich der große Schah, der einst (anläßlich seiner Inthronisierung) ausgerufen hatte: „Die ganze Welt ist mein Königreich. Mein ist Alles, von den Fischen bis hinab zum Haupt des Stiers.” auf seinen Abgang vor, verabschiedet sich von seinen Paladinen, deren Flehen er wie auch das seiner ganzen Armee von sich weist: Wehrufe tönten, gellende, verwirrte, Vor denen sich die Sonne bang verirrte, Aus Irans Heer … Der Traum von Tarquinius findet hier ein frühes Echo. Der Schah ernennt Lohrasp zu seinem Nachfolger und wandert auf eine Bergspitze, begleitet von fünf seiner Paladine. Bevor sie sich Firdausi, von Schack-Übersetzung, 360, Spalte 2. In der englischen Warner-Übersetzung heißt es: „Because this Kaian crown and throne will pass.” 6
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am Abend niederlassen, um ein letztes Mal über die gemeinsam erlebte große Vergangenheit zu reden, verkündet er ihnen: „Wenn die Sonn’ ihre Fahn’ entrollt Und wandelt der Erde Schwarz in Gold, Ist mir gekommen der Scheidetag, Wo mich Serosch empfangen mag.“7 Kurz vor Sonnenaufgang spricht er noch einmal zu seinen Freunden: „Nun lebet mir auf ewig wohl! Wenn jetzt sich die Sonn’ erhebt im Raum, Seht ihr mich nimmer als nur im Traum. Morgen verweilt nicht hier in dem Sand, Und regneten Wolken Muskus aufs Land! Denn von Gebirg wird ein Wind aufstehn, Der Blatt und Zweig wird vom Baume weh’n, Und fallen wird aus der Wolk ein Schnee, Ihr findet nach Iran den Weg nicht meh’.” Da ward den Fürsten schwer der Mut, Bekümmert schliefen die Helden gut.8
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Die fünf Paladine verirren sich und werden unter dem Schnee begraben:9
Firdausi, Rückert-Übersetzung, 264. Serosch = avestisch Sraosha, der „Engel” von Ahura Mazdah. 8 Firdausi, Rückert-Übersetzung, 264f. 9 Dieses Thema vom Schlaf in der „Stunde von Gethsemane” wird noch öfter auftauchen, zum Beispiel bei Gilgameseh. Der Mythos von Quetzalcoatl geht sogar noch ausführlicher auf diesen Umstand ein. Der verbannte Herrscher wird von den Zwergen und Buckligen eskortiert, die auf dem heutigen Cortez-Pass ebenfalls im Schnee verlorengehen, während ihr Herrscher weiter zum Meer wandert und dort stirbt. Aber in diesem Mythos verspricht er wenigstens, zurückzukommen und die Lebendigen wie die Toten zu richten. 7
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Der Schnee zog Segel übers Land, Darin jede Lanze der Helden schwand. Alle blieben verschneit an dem Ort; Niemand weiß, wie sie blieben dort.10
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Firdausi, Rückert-Übersetzung, 266.
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4 Geschichte, Mythos und Wirklichkeit „Ich will mich daher bestreben, darzulegen, was und von welcher Beschaffenheit es ist und auf welche Weise man es lernen muß … Es wird nun freilich sich seltsam anhören und jedem, der die Sache nicht kennt, unerwartet kommen, wenn ich Jen Namen der Wissenschaft nenne, welche zu ihr hinführt. Es ist die Astronomie, und es weiß der, welcher sich hierüber wunder, eben nur nicht, daß der wahrhafte Astronom notwendig am weisesten ist, daß dies aber nicht derjenige ist, weicher in der Weise des Hesiods … Astronomie treibt (indem er bloß den Aufgang und Untergang der Gestirne beobachtet), sondern derjenige, welcher von allen acht Umläufen namentlich die der sieben Planeten beobachtet, wie jeder immer dieselbe Bahn durchlauft, auf eine Weise, daß schwerlich ein jeder von ihr eine Anschauung sich bilden kann, sondern daß dazu eine ganz wunderbar begabte Natur gehört.” PLATON
Der merkwürdige Schluß der persischen Erzählung, die mit einem Aufstieg in den Himmel wie dem des Elias endet, läßt den Leser verwundert zurück. Wenn dies das Nationalepos sein soll (in dem Kai Chosraus Geschichte nahezu die Hälfte ausmacht), wo ist dann das epische und tragische Element? Tatsächlich gibt es ein ganzes Maß homerischer Erzählung bei Firdausi, das hier beiseite gelassen werden mußte. Es gibt große Schlachten wie die auf der zugigen Ebene von Troja, Herausforderungen und Duel-
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le, unglaubliche Taten von Helden wie Rostam und Sal, Entführungen und Intrigen und unendliche Nebengeschichten zu der Erzählung – alles in allem genug Stoff für einen Barden, seine Herrschaften wochenlang zu unterhalten und ihn in den dauerhaften Genuß von feinstem Wildbret kommen zu lassen. Aber das Eingreifen der Götter in den Handlungsablauf ist nicht so vermenschlicht wie in der Ilias, obwohl es wiederholt in kompli- 040 zierten Symbolismen und bizarren Fabeln hindurchscheint. Was da, allzusehr gerafft, berichtet wurde, ist die verwirrende Geschichte von dynastischen Erbfolgen, verbunden mit einem schattenhaften Glücksglanz und abgestimmt auf die Situation eines Hamlet sowie auf eine unerklärte Melancholie. Dieser elementare Bestandteil stellt sich als ein nicht stichhaltiges Gepränge vieldeutiger Abstraktionen dar, als ein nicht faßbarer Reigen schwindelerregend symbolischer Handlungen, die an rituelle Magie und religiöse Doktrinen gebunden sind und denen Motive zugrunde liegen, die jeglicher Parallele zu normalen entbehren. Die ganze Angelegenheit ist ein Rätsel, das mit Hilfe von Hymnen zu interpretieren ist – sehr ähnlich wie im Rigveda. Aber hier wird wenigstens apertis verbis ein Schlüssel zu dem Vorstellungsbild geliefert, nämlich in Form von Chosraus Krönungsansprache: „Die ganze Welt ist mein Königreich. Mein ist Alles, von den Fischen bis hinab zum Haupt des Stiers.” Wenn ein Held der westlichen Hemisphäre öffentlich verkündete: „Der ganze Kontinent gehört mir, von Hatteras bis Eastport”, würde man ihn einer eindimensionalen Phantasie bezichtigen. Sollte er jenen Küstenstreifen tatsächlich für einen ganzen Erdteil halten? Doch hier ergeben die Worte einen vollkommenen Sinn, da sich Kai Chosrau nicht auf die Erde bezieht. Er bezeichnet jenen Teil des Zodiaks, der von den Fischen und Aldebaran eingeschlossen wird, also jene 30 Grad, welche die Konstellation des Widder abdecken. Das bedeutet, daß sich seine
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Herrschaft nicht nur auf den Himmel, sondern im wesentlichen auf die Zeit erstreckt. Die Dimension des Himmels ist Zeit. Kai Chosrau kommt auf die Erde als eine Funktion der Zeit, vorbestimmt durch Ereignisse im Zodiak: „… denn von heute an datieren neue Feste … ”
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Warum es der Widder ist und all das, was er mit sich bringt, ist an dieser Stelle jedoch nicht wichtig. Wie sich herausstellt, galt der „Herrscher des Widders” in Persien1 als anerkannter Titel der höchsten Macht, und das kann so viel oder so wenig bedeutet haben wie im Westen „Heiliger Römischer Kaiser”. Was zählt, ist, daß Rom ein Ort auf der Erde ist, dessen Prestige mit einer bestimmten historischen Epoche verbunden ist, während das Sternbild des Widders ein Bereich des Himmels ist beziehungsweise, da sich der Himmel ständig bewegt, eine Zeit, die durch die Himmelsbewegung in Verbindung mit dieser Konstellation determiniert ist. Rom ist eine historische Tatsache; das gilt selbst für das „Ewige Rom”, das es einmal gegeben hat und dann nur noch in der Erinnerung weiterexistiert. Der Widder ist eine nach ihm benannte Zeit, die dazu bestimmt ist, innerhalb eines gegebenen Zyklus wiederzukehren. Selbst wenn Kai Chosrau in dem Epos als terrestrischer Herrscher gedacht ist, so liefert dennoch keine moderne historische oder naturalistische Vorstellungskraft einen klärenden Schlüssel zu der Gedankenwelt jener Barden, aus deren Rhapsodien der gelehrte Firdausi seine Geschichte herausgesponnen hat. Es kann keine historische Grundlage gefunden werden; keine Fruchtbarkeits- oder Jahreszeitensymbolik läßt sich aufspüren; und sogar die Psychoanalytiker haben es aufgegeben, die Erzählung zu deuten. Diese Art des Denkens kann nur so definiert werden: Sie Laut Paulus Alexandrinus gehörte Persien zum Sternbild des Widders. Vgl. Franz Boll, Sphaera (1903), 296f, wo dargelegt wird, daß dies das älteste Schema war. Moses’ Widderhörner symbolisierten dasselbe Weltalter. 1
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ist im wesentlichen kosmologisch. Wir sagen dies nicht, um die Dinge zu verkomplizieren, sondern um die eigentliche Struktur mythologischen Denkens herauszuarbeiten – so wie sie in der Tat ziemlich vertraut ist und doch heutzutage kaum erkannt wird. Sie taucht sogar als Methode literarischer Meditation auf, zumindest in der englischen Sprache eines FitzGerald: Iram indeed is gone with all its Rose And Jamshyd’s Sev’n-ringed Cup where no one knows But still the Vine her ancient Ruby yields And still a Garden by the Water blows … And look – a thousand Blossoms with the Day Woke – and a thousand scatter’d into Clay And the first Summer month that brings the Rose Shall take Jamshyd an Kai Kubad away. But come with old Khayyam, and leave the lot Of Kai Kubad and Kai Khosrau forgot…2
Edward FitzGerald, Rubaijat of Omar Khayyam (Englisch-Deutsch), Übertragung ins Deutsche von Henry W. Nordmeyer (1969), 29ff. In Nordmeyers Übertragung lauten die hier zitierten Strophen V, IX und X folgendermaßen: 2
Verhaucht ist freilich Irams Rosenkuß, und Djarnschyds Wunschpokal sucht nur wer muß: doch glühen Trauben immer noch im Laub, und mancher Garten blüht uns noch am Fluß … Erblühn auch tausend Rosen übernacht – wo blühn nun die, die gestern aufgewacht? Hat doch der Mond, der uns die Rose bringt, Djamschyd und Kaikobad den Tod gebracht. Nun, immer weg mit denen! Was fragst du nach Kaikobad und was nach Kaikhosru? …
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Omar Khayyams Sprechweise mag die eines müden Skeptikers oder eines mystischen Sufis sein; aber alles, wovon er spricht, wird als wirklich verstanden. Die Helden der Vergangenheit sind so real wie die Freunde, für die er schreibt – so real wie die Trauben und die Kosen und das Wasser, so wie seine eigene direkte Lebenserfahrung vom Werden und Vergehen. Wenn er seine irdenen Tontöpfe fühlen und denken laßt, so ist das keine bildhafte Ausschmückung des Textes; es ist die Erkenntnis, daß alle vergänglichen Dinge von derselben Transmutation eingeholt werden, daß alle Substanz ein und dieselbe ist: der Stoff, aus dem Töpfe und Menschen und Träume geschaffen sind. Dies ist etwas, was man lebendige Wirklichkeit nennen könnte und was auf einzigartige Weise verschieden ist von der gewöhnlichen oder objektiven Wirklichkeit. Wenn der Dichter überzeugt ist, daß dieser Ziegelstein hier der Lehm ist, aus dem einst Kai Chosrau entstand, so trifft er sich darin wieder mit Hamlet, der auf dem Friedhof grübelnd sagt: „Zu was für schnöden Bestimmungen wir kommen, Horatio! Warum sollte die Einbildungskraft nicht den edlen Staub Alexanders verfolgen können, bis sie ihn findet, wo er ein Spundloch verstopft?”3 Hier sind schon vier Charaktere – zwei von ihnen sind unwirklich, zwei im Nebel der Zeit verlorengegangen. Aber alle sind sie gleichermaßen präsent in unserem Spiel, was man von den meisten konkreten Figuren, wie etwa dem Direktor des Finanzamtes, nicht sagen kann, auch wenn sie noch so sehr unsere Geschicke beeinflussen. Im Reich des „wahren Seins” werden wir Sterne und Trauben und Rosen finden – die ewigen Gestalten. Und als eine andere Form direkter Erfahrung wird dieses Reich auch die Ideen der Mathematik einschließen. Die Welt der Geschichte bleibt zur Gänze ausgeschlossen. Khayyam erwähnt nicht – ebensowenig wie Firdausi eine Generation später – die ruhmreichen Taten eines Kyros und ArW. Shakespeare. Hamlet, Prinz, von Dänemark (V/1), übersetzt von August Wilhelm von Schlegel, in Sämtliche Werke, 4 (1989), 371.
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taxerxes, sondern nur die mythischer Helden –, genauso wie unser Mittelalter die Geschichte ignorierte und statt dessen von König Artus und Gawain berichtete. Für alles galt „es war einmal”. Und wenn Dante Alighieri den Mythos erneut so kraftvoll zum Leben erweckte, so deshalb, weil seine eigenen Zeitgenossen ernsthaft glaubten, von Dardanos und Troja abzustammen, und sich fragten, ob König Odysseus nicht doch noch am Leben sei; währenddessen schlief Kaiser Barbarossa in seinem Kyffhäuser – aber das ist doch sicherlich nur ein Märchen wie das von Schneewittchen. Oder etwa nicht? Wegen ihres vertrauten Tonfalls werden Märchen schnell falsch eingeschätzt. Aber es könnte sich ergeben, daß solche großen gebieterischen Figuren, die zu einer Legende geworden sind, ein verborgenes Eigenleben führen, daß sie die Gesetze des Mythos befolgen, die lange vor ihrer Zeit niedergelegt wurden. Und so wie König Artus nicht wirklich gestorben ist, sondern entsprechend Merlins Prophezeiung in den Tiefen eines geheimnisvollen Sees weiterlebt, ist es Gottfried von Viterbo (ca. 1190), der im Dienst Barbarossas stand, welcher als einziger die „wahre” Version liefert. Es handelt sich um die orthodoxe Fassung, deren archaische Sprache merkwürdigerweise erhalten blieb: Der Kaiser schläft weiter in der Tiefe 043 des Meeres (vgl. Kapitel 11 und Appendix 39), wo sich alle zurückgetretenen Weltenherrscher aufhalten: Voire, ou sont de Constantinople L’empereurs aux poings dorez … Zwischen Mythos und Märchen wird ein feiner Unterschied sichtbar. Hamlet zeigt sich selbst als Aspekt eines wirklichen Mythos – und zwar eines universalen. Das ist er noch immer. Und Khayyam war der größte Mathematiker seiner Zeit, der Verfasser einer geplanten Kalenderreform, die sich als noch präziser herausstellte als diejenige, die später als Gregorianischer Kalender angenommen wurde. Er verfügte über einen Verstand, in dem schneidender Skeptizismus und das profunde Gedankengut der
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Sufis gleichberechtigt nebeneinander existieren konnten. Er wußte nur zu gut, daß Jamshyds Kelch mit den sieben Ringen nicht verlorengegangen ist, stand er doch für die sieben Planetenkreise, deren Herrscher Jamshyd ist. Und genauso reflektiert Jamshyds magischer Spiegel noch immer die ganze Welt, ist er doch der Himmel selbst. Aber es ist nur natürlich, sie ihr schillerndes Geheimnis für sich behalten zu lassen, gehören sie doch zu der lebendigen Wirklichkeit – so wie Platons Wirtel oder seine Spindel der Notwendigkeit. Oder wie Hamlet selbst. Wer also waren Jamshyd oder Kai Chosrau? Für den Normalverbraucher: ein magisches Bild, ein Märchen. Für jene, die Bescheid wußten: eine Widerspiegelung der Zeit selbst, und zwar offensichtlich einer ihrer Hauptaspekte. Sie konnten unter vielen Namen und an vielen Orten und sogar hinter widersprüchlichen Andeutungen wiedererkannt werden. Es war immer derselbe Mythos, und das genügte. Er drückte in dieser spezifischen Sprache die Gesetze des Universums aus – in der Sprache der Zeit. Es war die angemessene Art, wie man über den Kosmos redete. Alles, was zur lebendigen Wirklichkeit gehört, sub specie transeuntis, hat eine Geschichte, wie sie in angsteinflößenden oder entsetzlichen oder beruhigenden Aspekten erscheint, in der „furchtbaren Symmetrie” von Tigern oder Theoremen oder den Sternen in ihrer Bahn – aber immer für die Seele lebendig. Es ist ein Spiel von Transmutationen, das uns einschließt, von der Zeit beherrscht und von den ewigen Formen eingerahmt wird. Ein Denken, das von der Zeit regiert wird, läßt sich nur im Mythos ausdrücken. Als die mythischen Sprachen universal waren und für sich selbst sprachen, war auch der Gedanke sich selbst genug. Er konnte nach keiner Erklärung seiner selbst in anderen Begriffen suchen. Wie Goethe sagte: „Alles Vergängliche – ist nur ein Gleichnis.” Heutzutage werden die Menschen darauf trainiert, in räumlichen Begriffen zu denken, Objekte zu lokalisieren. Nach der Kindheit lautet die erste Frage: „Wo und wann geschah dies?” In
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dem Maße, wie sich Wissenschaft und Geschichte über die gesamte Landschaft des Denkens ausbreiten, verkommen die Ereignisse der Mythen zu bloßen Märchen. Sie erscheinen als eskapistische Phantasien: nicht lokalisierbar, kaum ernst zu 044 nehmen und mit einem allgegenwärtigen Raum und einer zirkulären Zeit. Doch sind einige dieser Geschichten so kraftvoll, daß sie lebhaft weiterexistiert haben. Das sind die wahren Mythen. Ihre Akteure konnten eindeutig identifiziert werden, obgleich ihre Konturen fließend und kaum zu fassen sind. Diese Mythen erzählen von gigantischen Gestalten und übermenschlichen Ereignissen, welche den gesamten belebten Raum zwischen Himmel und Erde in Beschlag genommen zu haben scheinen. Oft liehen diese Gestalten historischen Persönlichkeiten ihre Namen, um dann plötzlich spurlos wieder zu verschwinden. Jeder Versuch, sie in die Geschichte hineinzuziehen, führt mit hundertprozentiger Sicherheit auf eine falsche Fährte – selbst wenn es sich um große und verhängnisvolle Ereignisse handelt. Historische Vorkommnisse werden niemals mythisches Geschehen „erklären”. Das war bereits Plutarch bekannt. Statt dessen sind mythische Gestalten unter vorgetäuschten Darstellungsformen in die Geschichte eingedrungen und haben diese auf subtile Weise ihren eigenen Zielen angepaßt. Dies ist eine Arbeitsregel, die vor langer Zeit aufgestellt wurde und sich immer wieder als stichhaltig erwiesen hat, sofern man sich mit dem wirklichen Mythos und nicht mit gewöhnlichen Legenden beschäftigt. Ohne Zweifel wurden mythische Figuren tatsächlich geboren und existieren weiter, doch nicht auf ganz dieselbe Art wie Sterbliche. Voraussetzung für ihre Existenz sind charakteristische Lebensweisen wie die eines Einstigen und Zukünftigen Königs. Gab es sie einst? Wenn ja, dann gab es sie vor Urzeiten – und wird es sie in ferner Zukunft wieder geben, unter anderen Namen, unter anderen Aspekten, so wie auch der Himmel seine Konfigurationen auf ewig zurückbringt. Selbstverständlich würden sie sich vor den eigenen
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Augen wie die Produkte einer krankhaften Phantasie in nichts auflösen, wenn man sie haargenau auf Personen und Dinge festlegen wollte. Aber wenn man ihre wahre Natur respektiert, werden sie diese Natur als Funktionen erkennen lassen. Funktionen von was? Der allgemeinen Ordnung von Dingen soweit sie verstanden werden konnte. Diese Gestalten drücken das Verhalten jener unermeßlichen Gesamtheit von Variablen aus, die man einst Kosmos nannte. Sie vereinen in sich selbst Mannigfaltigkeit, Ewigkeit und Wiederkehr, denn daraus besteht die Natur des Kosmos an sich. Daß der Kosmos unendlich sein könne, scheint bis zur Zeit von Lucretius, Giordano Bruno und Galileo Galilei jenseits der Schwelle menschlicher Erkenntnis geblieben zu sein. Und selbst Galilei, der ernsthafte Zweifel in dieser Sache hegte, stimmte mit all seinen Vorfahren darin überein, daß das Universum mit Sicherheit ewig sei und daß somit all seine Wandlungen dem Gesetz der Periodizität und der Rekursivität unterlägen. „Was ewig ist”, sagte Aristoteles, „ist zirkulär; und was zirkulär ist, ist ewig.” Das war für Jahrtausende die ausgereifte Schlußfolgerung menschlichen Denkens. Man war, wie bereits gesagt, von der Kreisförmigkeit besessen. Es gibt nichts Neues unter der Sonne; aber alle Dinge kehren in sich unaufhaltsam wandelnden Erscheinungen wieder. Sogar das verhaßte Wort „Revolution” bezog sich einst nur auf die „Umläufe” der Himmelskörper. Der Kosmos war ein ungeheures System ineinander verzahnter Getriebe mit außerordentlich verzweigten Verbindungen, etwa vergleichbar einer Uhr mit mehreren Zifferblättern. Die Funktionen des Systems traten innerhalb desselben überall hervor – und verschwanden wieder, wie der merkwürdige kleine Kuckuck in einer Schwarzwalduhr. Und es wurden wunderbare Geschichten um sie gewoben, um ihr Verhalten zu beschreiben; aber ebenso wie bei einer Maschine kann man die einzelnen Teile nur verstehen, wenn man begriffen hat, auf welche Weise alle Teile des Systems untereinander in Verbindung stehen.
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Auf ähnliche Weise erklärte einmal Rudyard Kipling in seiner lustigen Allegorie „Das Schiff, das zu sich selbst fand”, was auf einem neuen Schiff während seines Stapellaufs geschieht. Alle Teile brechen in lautes Geschrei aus, da jedes seinen Part zum erstenmal spielt: die stampfenden Kolben, die ächzenden Zylinder, die robuste Kardanwelle, die bis zum äußersten sich anspannenden Schotten, die ratternden Nieten – jeder fühlt sich im Mittelpunkt der Bühne, jeder erzählt dem Dampf von seinen einzigartigen und unvergleichlichen Taten, bis sie schließlich in Schweigen verfallen als eine neue, tiefe Stimme sich bemerkbar macht – nämlich die des Schiffes, das endlich zu seiner Identität gefunden hat. Genau dasselbe geschieht mit dem großen Aufgebot an Mythen. Jede einzelne Mythe bot ihre Geschichte dar; einige waren unheimlich, unverständlich oder exotisch, andere waren episch und tragisch. Aber schließlich ist es möglich, sie als partielle Repräsentationen ein und desselben Systems zu begreifen, als Funktionen des Ganzen. In dem Maß, wie die einzelnen Teile wie in einem Puzzle ihren Platz finden, beginnt die Unermeßlichkeit und Komplexität dieses Systems langsam Gestalt anzunehmen. Angebracht ist allein, induktiv vorzugehen, Schritt für Schritt und – unter Vermeidung vorgefaßter Meinungen – das Argument zu seinen eigenen Schlußfolgerungen kommen zu lassen, das heißt das Material für sich selbst sprechen zu lassen. In der einfachen Geschichte von Kai Chosrau sind die Grundzüge des Hamlet auf wunderbare Weise vorgegeben, obwohl nicht klar ist, worauf sie hinauslaufen. Die zeitliche und räumliche Macht des Königs ist explizit mit den sich wandelnden Konfigurationen am Firmament verbunden. Es gehört zum Allgemeinwissen, daß der Himmel durch seine Bewegung der Erde ihre Koordinaten für Zeit und Raum liefert. Der Beruf des Navigators besteht darin, mit diesen Verbindungen zwischen oben und unten zu arbeiten. Aber in den frühen Jahrhunderten waren diese Verbindungen unendlich reicher an Bedeutung. Kein histo-
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rischer Monarch, wie überzeugt auch immer er von seinem Charisma sein mochte, hätte sagen können: „Die ganze Welt ist mein Königreich; alles zwischen dem Sternbild der Fische und Aldebaran ist mein.” Irdische Begriffe wurden scheinbar auf den Himmel übertragen – und umgekehrt. In der Tat fügt diese Welt der Mythen die Uranologie und die Geographie zu einem Ganzen, das tatsächlich eine einzige Kosmographie ist. Und die „geographischen” Merkmale, auf die man sich bezieht, können deshalb Verwirrung stiften, weil sie entweder einen der zwei Bereiche oder beide implizieren. Wenn zum Beispiel die „Flüsse” Okeanos oder Eridanus erwähnt werden, wurde dann nicht angenommen, sie seien zuerst am Himmel und dann schließlich auch auf der Erde anzutreffen gewesen? Es ist, als ob jede Region, die sich im Altertum der direkten Kenntnis des Menschen entzog, ganz einfach „nach oben” verlagert wurde. Selbst tatsächliche Geschehnisse, die sogar in einem offiziellen Epos wie dem Schahnameh erwähnt werden, sind nicht „erdbezogen”. Sie tendieren dazu, sich „nach oben” zu begeben. Das ist das ursprüngliche Konzept von Astrologie, das sowohl weitreichender als auch weniger festgeschrieben war als die spätere klassische Form, mit der uns Ptolemaios bekanntmachte. Selbst wenn der Kosmos eins ist, so besteht die Kosmographie doch aus unentwirrbar miteinander verflochtenen Daten. Zu behaupten, die Ereignisse auf der Erde widerspiegelten jene am Himmel, ist eine Vereinfachung, die von vornherein auf die falsche Fährte lockt. In der Sprache eines Aristoteles heißt es, daß die Form der Substanz zeitlich vorausgeht, aber beide zusammengehören. Es ist noch immer notwendig herauszufinden, was der Fokus „wahrer” Ereignisse am Himmel ist. Um es noch einmal klarzustellen: Der wahre Mythos beruht auf keiner historischen Basis – wie verführerisch auch immer eine solche Reduzierung sein mag und welch schweres Geschütz auch immer ein Großteil der modernen Kritiker gegen diese Behauptung auffahren mögen. Der Versuch, den Mythos auf die
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Geschichte zu reduzieren, liegt in dem sogenannten „euhemeristischen” Trend begründet, der nach Euhemeros benannt ist, dem ersten, der dem Mythos seinen Nimbus nahm.* Es war eine Modewelle, die langsam abebbt, weil sie sich letztlich als zu einfältig erwiesen hat. Der Mythos ist im wesentlichen kosmologisch. Da der Himmel im Kosmos so weitaus wichtiger ist als unsere Erde, sollte es nicht weiter verwundern, daß die Hauptfunktionen vom Himmel abgeleitet wurden. Sie unter einer Vielfalt von Erscheinungsbildern auseinanderzuhalten, ist eine Frage mythologischer Urteilskraft, der Fähigkeit, essentielle Formen durch geduldiges Sichten der immensen Menge an Material zu erkennen. Hamlet „ist” hier Kullervo, dort Brutus oder Kai Chosrau; aber immer ist er als derselbe wiederzuerkennen. Jamshyd begegnet uns wieder: als Yama bei den Indo-Ariern, als der Gelbe Kaiser Huang-ti bei den Chinesen und unter vielen anderen Namen. Es herrschte immer stillschweigende Übereinkunft – für jene, die der archaischen Sprache mächtig sind und sich mit dem alten Kosmos beschäftigten –, daß er überall dieselbe Funktion erfüllt. Aber wer ist der Demiurg? Er hat in der Tat viele Namen. Platon kümmert sich nicht darum, die Dinge in unserer Begriffssprache zu erklären. Ist die Person des Schöpfers eine semiwissenschaftliche Fiktion, der Erbauer eines Planetariums, so wie 047 auch der Verlorene Kontinent von Atlantis eine semi-historische Fiktion ist? Platon selbst sagt nur, solche Geschichten seien „nicht ganz ernst zu nehmen“. Mit Sicherheit aber sind sie kein Humbug, Platon, der das entwickelte, was man Philosophie und ihre Sprache nennt, und der ein Meister in ihrer Handhabung gewesen ist, kehrt zur Sprache des Mythos zurück, wenn er glaubt, es tun zu müssen; und er benutzt diese uralte Sprache, als A.d.Ü.: Der griechische Philosoph Euhemeros lebte um 300 v. Chr, und wurde bekannt durch seine rationalistische Deutung von Mythen und Religionen. *
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sei sie genau zu diesem Zweck geschaffen.4 Der Kern des Problems bleibt bei dieser Betrachtungsweise vergangener Mythen schwer definierbar. Kipling war ein Schriftsteller, der sich noch auf wunderbare Weise mit dem jugendlichen Geist in Einklang befand, der in den meisten von uns schlummert. Es ist aber eine Tatsache, daß der Mythos an sich, als Ganzes, eine verlorene Welt ist. Die letzten Gestaltungen – beziehungsweise Wiederholungen – eines echten Mythos gehören dem Mittelalter an: als Alexanderroman sowie im Mythos von König Artus, wie man ihn bei Malory findet. Es gibt andere Geschichten – wir nennen sie Geschichte – über die Eroberung der Natur durch den Menschen sowie die Aufzählung der großen Abenteuer der Menschheit schlechthin. Aber in ihnen ist es nur der gesichtslose Mensch in seiner Gesellschaft, der die Menschheitssiege erringt. Es ist nicht die Geschichte der Technologie, sondern es ist – wenn überhaupt – die Sciencefiction, die jene Abenteuer ins Auge faßt, welche auf spätere Generationen faszinierend wirken werden. Science-fiction ist – sofern sie gut gemacht ist, ein völlig berechtigter Versuch, ein mythologisches Element wiederaufzugreifen – mit all seinen Abenteuern und Tragödien, seinen Meditationen über menschliche Irrtümer und menschliches Schicksal. Denn die wahre Tragödie ist eine wesentliche Komponente beziehungsweise ein wesentliches Resultat des Mythos. Möglicherweise kann man der Historie eine Minute Zeitlosigkeit einräumen und sie dann verabschieden – mitsamt ihrer Fracht von Interpretationen und Befürchtungen, die just so lange vorhalten, wie man beim Lesen ist. Aber die reale Gegenwart – also das einzige, was zählt – ist die ewige Sphinx. Die Kinder von heute, jene leidenschaftslose NachkommenIn seinem Siebten Brief (34IC-344D) bestreitet er mit Nachdruck, daß wissenschaftliche „Namen” und „Sentenzen” (onomata, remata) dazu beitragen könnten, zu wesentlichen Einsichten zu gelangen. Vgl auch C. Alexandrinus, Stromata 5.9.58.
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schaft, der alle Verehrung gilt, wissen, wo sie ihre Mythen zu suchen haben: in der Tierwelt, in den Dschungelbüchern, in den Geschichten von Lassie und Flipper, wo die Unschuld unangreifbar ist, oder in den Wildwest-Abenteuern, die von den Erwachsenen zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung arrangiert werden. Viel von dem, was übriggeblieben ist und von den Massenmedien emsig aufrechterhalten wird, ist voll von neuzeitlichen Vorurteilen und Irreführungen – wie etwa der Glamour, mit dem das Königtum umgeben wird, oder die Perfektion von Super-Reinigungsmitteln und Kosmetika: superstitio, Überbleibsel. Zu solcher Aussage könnte man sich hinrei- 048 ßen lassen. Tatsächlich aber ist kein Staubkörnchen des Mythos übriggeblieben; wir haben es vielmehr nur mit vorsätzlichen Lügen über die conditio humana zu tun. Tolkiens Bemühungen – so talentiert sie sein mögen –, der mythologischen Sprechweise neues Leben einzuhauchen, bleiben talmihaft. Das als wißbegierig angenommene Kind wäre schon zufrieden gewesen, wenn man ihm die „Geschichte” der Maschine so beigebracht hätte, wie sie Kipling erzählt – ein Stil, der mit dem eines Maschinenbauingenieurs kaum etwas gemeinsam hat. Aber angenommen, das Kind wäre konfrontiert worden mit der „Geschichte” eines Planeten, wie sie sich aus den Lehrbüchern über Himmelsmechanik ergibt, und man hätte es aufgefordert, die Umlaufbahn des Planeten und seine Perlurbationen zu berechnen? So etwas würde man doch eher einem freudlosen Erwachsenen überlassen, und in diesem Fall sogar einem Fachmann. Wer sonst könnte den Anblick von zahllosen Seiten ertragen, die mit partiellen Differentialgleichungen übersät sind, mit langen Approximationsreihen und aus sinnlosen Quadraturen hervorgegangenen Integralen? Das ist wahrhaftig eine Welt unzugänglichen Wissens, die nur wenigen vorbehalten ist. Aber wenn andererseits ein Mensch, der vor mehreren tausend Jahren lebte, konfrontiert worden wäre mit klug aufgebauten Geschichten über die Herrschaft des Saturn, über seine exorbitanten Akti-
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vitäten als Architekt und Bildhauer – nachdem er mit Hilfe seiner Sichel „Himmel und Erde voneinander geschieden” hatte, das heißt, nachdem er die Schiefe der Ekliptik etabliert hatte … Wenn dieser Mensch von Jupiters Regierungsmethoden gehört hätte und von seinen unzähligen Eskapaden, bei denen er die Erde mit sanften Nymphen bevölkerte und diese dazu verdammte, auf ewig nach der Glückseligkeit zu suchen, von Eskapaden, die trotz der dauernden Wachsamkeit seiner eifersüchtigen „kuhäugigen” oder manchmal „hundeäugigen” Gemahlin von gleichbleibendem Erfolg gekrönt waren … Wenn dieser Mensch außerdem von den wilden Abenteuern des Mars erfahren hätte und von den komplexen Wechselbeziehungen zwischen den Göttern und Helden, die sich sowohl in Handlungen als auch in unveränderlichen Zahlen niederschlugen … , so wäre dieser Mensch ein Teilnehmer am Prozeß mythologischer Erkenntnis gewesen. Dieses Wissen wäre ihm von den Älteren seiner Familie oder Sippe weitergegeben worden, abgesegnet durch heilige Anweisungen und erprobt in symbolischen Erfahrungen in Form von musikalischen Riten und Vorführungen, in die sein ganzes Volk einbezogen war. Sicherlich wäre es ihm leichter gefallen, dies alles einfach anzunehmen und zu respektieren als es zu begreifen; aber es hätte ihn einer Idee von der Gesamtstruktur des Kosmos zugeführt. Mit seiner eigenen Person wäre er Teil einer genuin kosmologischen Theorie gewesen, die er mit dem Herzen aufgesogen hatte, die seinen Gefühlen entsprach und die auf sein Trachten und Träumen einwirkte. Diese Art der Teilnahme an ultimativen Dingen, die heute extrem schwierig ist für jeden, der nicht Astrophysik studiert hat, war damals bis zu einem gewissen Grad für jedermann zugänglich, und nirgends konnte sie vulgarisiert werden. Das ist es, was hier mit mythologischem Wissen gemeint ist. Verstanden wurde es nur von wenigen. Viele fanden trotzdem Gefallen daran. Doch entzieht es sich hartnäckig jenen, die es mit Hilfe der „Populärmathematik” oder Spekulationen über das
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Unbewußte zu erlangen trachten. Mit anderen Worten: Dies ist ein selektives und schwieriges Annäherungsverfahren, das sich der zuhandenen Mittel bedient sowie intensiven Denkens – begrenzt, wie es sicherlich ist, wenn auch einigermaßen resistent gegen Falsifikationen. Wie in früheren Zeiten essentielles Wissen auf zwei oder drei intellektuellen Ebenen weitergereicht wurde, kann in Germaine Dieterlens Einleitung zu Marcel Griaules Conversations with Ogotemmêli nachgelesen werden. Das Buch handelt von der Erziehung bei den Dogon und von den persönlichen Erfahrungen der Mitglieder der Mission Griaule, die sechzehn Jahre warten mußten, bis sich der weise alte Mann des Stammes dazu entschloß, „die Tür zu öffnen”.5 Die Beschreibung ist so aufschlußreich, daß wir sie in voller Länge zitieren: In afrikanischen Gesellschaften, die ihren traditionellen Aufbau bewahrt haben, ist die Anzahl der Personen, die in diesem Wissen ausgebildet werden, ziemlich beachtlich. Sie nennen es „tiefes Wissen” im Gegensatz zu „einfachem Wissen”, welches „nur als Einführung in das Verstehen von Glaubensgrundsätzen und Brauchtümern” für jene betrachtet wird, die nicht gänzlich in den kosmogonischen Kenntnissen geschult sind. Es gibt vielfältige Gründe für das Schweigen, das im allgemeinen über diese Sache bewahrt wird. Zu der natürlichen Reserviertheit gegenüber Fremden, die selbst dann, wenn sie entgegenkommend sind, unbewußt von einem Überlegenheitsgefühl durchdrungen bleiben, muß man die gegenwärtige Situation schnellen Wandels afrikanischer Gesellschaften durch den Kontakt mit der Mechanisierung und den Einfluß der Schulbildung hinzuzählen. Aber innerhalb von Gruppen, in denen die Tradition noch lebendig ist, ist dieses Wissen, welches ausdrücklich als esoterisch charakterisiert wird, nur im folgenden Sinne als Geheimnis zu verstehen: Es ist in der Tat für alle zugänglich, die den Willen beweisen, es zu verstehen, sofern sie, gemessen an ihrer sozialen Stellung und moralischen Lebensführung, dieses Wissens für wert erachtet werden. Somit kann jedes Familienoberhaupt, jeder Priester 5
M. Griaule, Conversations with Ogotemmêli (1965), xiv-xvii.
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Kapitel 4 und jede erwachsene Person, die für einen kleinen Bereich des gesellschaftlichen Lebens verantwortlich ist, als Teil der sozialen Gruppe dieses Wissen unter der Voraussetzung erlangen, daß er die entsprechende Geduld aufbringt und sich, wie ein afrikanisches Sprichwort sagt, „an der Seite der sachkundigen Alten niederläßt” – und zwar so lange und in einer geistigen Verfassung wie nötig. Dann wird er auf seine Fragen Antworten erhalten, aber das wird Jahre dauern. Tatsächlich wird die in der Kindheit, anläßlich von Zusammenkünften und Ritualen der Altersklasse begonnene Instruktion ein Leben lang fortgeführt. Die vielfältigen Aspekte der afrikanischen Zivilisation wurden langsam im Verlauf intensiver Studien deutlich, die während mehr als einem Jahrzehnt bei verschiedenen Völkern in Mali und Obervolta durchgeführt wurden. Im Fall der Dogon, über die bereits zahlreiche Veröffentlichungen vorliegen, haben diese Studien die Entwicklung einer Synthese ermöglicht, die den Großteil ihrer Aktivitäten abdeckt. Wir sollten nunmehr über die wichtigsten Begebenheiten berichten, die sich während der Forschungsreise von 1947 zugetragen und dazu geführt haben, diese spezielle Studie anzufertigen. Von 1931 an hatten die Dogon auf Fragen und Kommentare zu Beobachtungen, die während vorausgegangener Exkursionen angestellt worden waren, auf der Grundlage einer Betrachtungsweise von Tatsachen geantwortet, die sie „la parole de face” nennen; dies ist das „einfache Wissen”, das sie zunächst an alle Fragenden weitergeben. Die vor den Untersuchungen von 1948 publizierten Informationen bezogen sich auf eben diese erste Deutungsebene. Aber nach und nach erkannten die Dogon die große Beharrlichkeit in den Fragestellungen von Marcel Griaule und seinem Team; und sie erkannten auch, daß es zunehmend schwieriger wurde, die Vielzahl der Fragen zu beantworten, ohne auf eine andere Ebene überzugehen. Sie schätzten unsere Begierde nach einem Verstehen, das sich mit den früheren Erklärungen nicht hatte zufrieden geben können und das uns offensichtlich wichtiger war als alles andere. Griaule hatte außerdem ein gleichbleibendes Interesse am Alltagsleben der Dogon bekundet, mit viel Respekt für ihre Anstrengungen, einen schwierigen Boden urbar zu machen, der in der Trockenzeit unter ar-
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gem Wassermangel litt. Folglich wurden unsere Beziehungen, die weit über jene ethnographischer Untersuchungen hinausreichten, immer vertrauensvoller und herzlicher. Dies alles in Betracht ziehend, faßten die Dogon ihren eigenen Entschluß, von dem wir erst später erfuhren, als sie selbst ihn uns mitteilten. Die Familienältesten des Doppeldorfes Ogol und die wichtigsten Medizinmänner der Region Sango trafen sich und entschieden, daß Professor Marcel Griaule die mehr esoterischen Aspekte ihrer Religion zur Gänze enthüllt werden sollten. Um damit zu beginnen, wählten sie eines ihrer bestinformierten Mitglieder, Ogotemmêli, aus, der, wie in der Einleitung zu lesen sein wird, das erste Interview arrangierte. Diese erste Unterweisung dauerte exakt die in Dieu d’Eau angegebene Anzahl der Tage. In dem Bericht wird der mäandernde Informationsfluß glaubwürdig wiedergegeben. Obwohl wir damals nichts davon wußten, wurde dem Rat der Altesten und Priester täglich über den Forschritt von Ogotemmêlis Unterrichtung Bericht erstattet. Die Ernsthaftigkeit und Wichtigkeit, mit der die Darlegung des Glaubens der Dogon vonstatten ging, war um so größer, als die Ältesten der Dogon genau wußten, daß sie damit die Tür öffneten – nicht nur für diese dreißig Tage der Unterweisung, sondern für eine spätere und intensivere Arbeit, die sich über Monate und Jahre hinziehen sollte. Sie nahmen ihre einmal getroffene Entscheidung nie zurück, und wir möchten ihnen an dieser Stelle unsere tiefste Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Nach Ogotemmêlis Tod setzten andere die Arbeit fort. Und nach dem Tod von Marcel Griaule sind sie mit derselben Geduld und Eifrigkeit fortgefahren, ihre einmal übernommene Aufgabe zu Ende zu führen. Diese späteren Befragungen haben die vielen weiteren Studien ermöglicht, die in der Bibliographie zitiert sind, sowie die Vorbereitung einer detaillierten Abhandlung mit dem Titel Le Renard Pâle, deren erster Teil zur Zeit gedruckt wird.6 Und im Jahre 1963, während dies geschrieben wird, dauern die Recherchen noch immer an. Der erste Band dieses monumentalen Werks ist 1965 erschienen: Marcel Griaule und Germaine Dieterlen, Le Renard Pâle. Tome 1. Le Mythe Cosmogonique. Fasc.l. La Création du Monde. Paris, 1965. [Vulpes pallidus, der Fennek (Wüstenfuchs), ist das westsudanesische Pendant 6
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zu Upuaut, dem „Wege öffnenden” Wolf oder Schakal des alten Ägyptens.] Bis heute (Juni 1992) ist nichts hinzugekommen. Es scheint dies einem speziellen Unstern zuzuschreiben zu sein, der dringendst benötigte Fortsetzungsbände negativ bestrahlt. Von der – nicht nur nicht „überholten”, sondern unerreichten – Chronologie der Ägypter von Richard Lepsius besitzen wir „nur” die Einleitung und den ersten Teil („Kritik der Quellen”, 1849), aber dieser erste Teil umfaßt immerhin 554 Quartseiten. Leo Frobenius hat keinen zweiten Band zu seinem, viele gute Ansätze enthaltenden Band Das Zeitalter des Sonnengottes (1904) geschrieben, Franz Xaver Kugler hat wieder und wieder auf einen weiteren Band seines opus Sternkunde und Sterndienst in Babel (1907-1913) verwiesen, in dem er sich der Mythologie anzunehmen versprach. Geschehen ist nichts. An mehreren speziell spannenden Stellen seines Handbuch der Babylonischen Astronomie (1915) verwies Ernst Weidner auf einen zweiten Band, den er uns aber schuldig geblieben ist Und nun Le Renard Pâle, auf dessen weitere Teile ebenfalls fortwährend verwiesen wird, und dies auch wieder dort, wo man besonders ungeduldig auf nähere Unterrichtung wartet.
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Intermezzo: Ein Führer für die Verirrten
Tout-puissant étrangcrs, inévitables astres … VALÉRY
Dieses Buch ist im höchsten Grade unkonventionell, und der Fluß der Erzählungen wird oft unterbrochen werden, um Orientierungshilfen einzufügen und – ganz im Stil des Mittelalters – Punkte von besonderer Bedeutung hervorzuheben. Um gleich zu Beginn festzustellen: Es gibt hier kein System, das in modernen analytischen Begriffen präsentiert werden könnte. Auch gibt es keine Klassifikation und keine Prinzipien, von denen eine Darstellung hergeleitet werden könnte. Die Struktur rührt aus einer Zeit, in der so etwas wie ein System in unserem Sinne nicht existierte, und es wäre unlauter, nach einem solchen zu suchen. Es konnte auch keines geben unter Menschen, die all ihre Ideen auswendig lernten. Es muß von einer reinen Zahlenstruktur ausgegangen werden. Anfänglich erwogen wir, diesen Essay eine „Kunst der Fuge” zu nennen. Und das schließt jedes „Weltbild” aus – ein Punkt, der nicht genug hervorgehoben werden kann. Jedes Bemühen um eine graphische Darstellung würde unweigerlich zu Widersprüchen führen. Es geht um Zeiten und Rhythmen. Der Untersuchungsgegenstand ist seiner Natur nach ein Hologramm, etwas, das sich dem Verstand als Ganzes erschließen muß. Das archaische Denken ist in erster und letzter Linie kosmologisch; es richtet in einer Weise sein Augenmerk auf die
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schwerwiegendsten Implikationen eines Kosmos, die in der späteren Klassischen Philosophie ihren Widerhall fand. Die Hauptimplikation ist das Bewußtsein, daß das kosmische Gebäude nicht nur determiniert ist, sondern überdeterminiert – und zwar auf eine Art, die eine einfache örtliche Bestimmung seiner in ihm Handelnden verbietet, egal, ob es sich dabei um simple Magie oder Astrologie handelt, um Kräfte, Götter, Zahlen, planetarische Gewalten, platonische Formen, aristotelische Wesenheiten oder stoische Substanzen. Die physische Realität kann hier nicht im kartesianischen Sinn analysiert werden; sie kann nicht auf das Gegenständliche reduziert werden, selbst dann nicht, wenn man sie von einem Platz zum anderen schieben kann. Sein ist Veränderung, Bewegung und Rhythmus, der unaufhaltsame Kreislauf der Zeit, das Auftreten des „rechten Augenblicks”, wie er vom Himmel vorbestimmt wird. Obwohl viele Geschehnisse der irdischen Vorstellung angepaßt sind, finden sie dennoch nicht auf der Erde statt. In diesem Buch wird von Fluten gesprochen. In der Überlieferung ist nicht nur eine, sondern sind drei Fluten vermerkt; eine ist die biblische Sintflut, deren Äquivalente in den sumerischen und babylonischen Texten erwähnt werden. Die Versuche frommer Archäologen, die biblische Erzählung mit geophysikalischen Vorkommnissen zu verbinden, beruhen im höchsten Grade auf Mutmaßungen. Es gab Überschwemmungen in Mesopotamien, die einen schmerzlichen Verlust an Menschen verursachten. In den Flußebenen von China und anderswo kommen noch immer solche Flutkatastrophen vor; aber keine erreicht das absolute Ausmaß jener, die in der Bibel beschrieben wird. In Amerika und Asien gibt es außerdem Berichte über sintflutartige Überschwemmungen der gesamten Kontinentalmasse, die von Menschen erzählt werden, die noch nie das Meer gesehen haben. Die Überschwemmungen, die von den Griechen beschrieben wurden, wie die Flut des Deukalion, sind so „mythisch” wie die Erzählung der Genesis. Griechenland kann nicht untergehen
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– es sei denn durch eine seismische Woge. Deukalion und seine Frau landeten auf dem Berg Parnassos hoch über Delphi, dem „Nabel der Welt”. Und sie waren die einzigen Überlebenden dieser Überschwemmung, der zweiten, die Zeus geschickt hatte, um die Menschen eines Weltalters zu vernichten. Die Autoren der Klassik konnten sich nicht einig werden, um welches spezifische Weltalter es sich handelte. Ovid plädierte für die Eisenzeit. Platons Solon bewahrte bei seinem Gespräch mit dem ägyptischen Priester die mythologische Ebene und führte seine Diskussion über die zwei Arten der Weltzerstörung, durch Feuer oder Wasser, mit astronomischen Argumenten. Die „Fluten” beziehen sich auf ein altes astronomisches Bild, das auf abstrakter Geometrie basiert. Daß dies kein „leichtes Bild” ist, muß nicht weiter verwundern, wenn man die objektive Schwierigkeit der Astronomie in Betracht zieht Aber obgleich ein heutiger Leser nicht davon ausgeht, einen Text über Himmelsmechanik wie ein Wiegenlied lesen zu können, besteht er doch auf seiner Fähigkeit, mythische „Bilder” augenblicklich zu begreifen, denn als „wissenschaftlich” kann er nur seitenlange Approximationsformeln und dergleichen gelten lassen. Er kann sich nicht vorstellen, daß gleichermaßen relevantes Wissen früher einmal in der Alltagssprache formuliert worden sein könnte. Eine solche Möglichkeit kommt ihm erst gar nicht in den Sinn, obwohl die sichtbaren Leistungen antiker Kulturen – man denke nur an die Pyramiden oder die Metallurgie – ein zwingender Grund sein sollten, um zu dem Schluß zu kommen, daß ernste und intelligente Menschen hinter den Kulissen am Werk waren, Menschen, die zwangsläufig eine technische Terminologie benutzt haben. Die archaische „Metaphorik” ist also strikt verbal und repräsentiert einen spezifischen Typus wissenschaftlicher Sprache, den man nicht von seinen Äußerlichkeiten her beurteilen noch ihn als Ausdruck mehr oder weniger kindischen „Glaubens” ansehen darf. Kosmische Phänomene und Gesetzmäßigkeiten fan-
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den ihren Ausdruck in der Sprache beziehungsweise in der Ter- 054 minologie des Mythos, in der jedes Schlüsselwort mindestens so „dunkel” wie die Gleichungen und Konvergenzreihen ist, mit deren Hilfe unsere moderne wissenschaftliche Grammatik konstruiert wurde. Nun aber: Was war die „Erde”? Im allgemeinsten Sinn war die „Erde” die gedachte Ebene durch die Ekliptik. In einem spezifischen Sinn war die „trockene Erde” die gedachte Ebene durch den Himmelsäquator. Der Äquator teilte so den Tierkreis – beziehungsweise die entlang dessen Mitte verlaufende Ekliptik, die mit dem Äquator einen Winkel von 23,5 Grad bildet – in zwei Hälften, deren eine „trockenes Land” war (der nördliche Bogen des Zodiaks vom Frühlings- bis zum Herbstäquinoktium), während die andere das „Meer”1 repräsentierte (den südlichen Bogen des Tierkreises vom Herbst- zum Frühlingsäquinoktium). Die Begriffe „Frühlingsäquinoktium” (= Frühlings-Tagundnachtgleiche), „Wintersolstitium” (= Wintersonnenwende) usw. werden mit Absicht verwendet, denn der Mythos handelt von der Zeit, von Zeitabschnitten, die Winkelmaßen entsprechen und nicht räumlichen Abständen. Das könnte vernachlässigt werden, wäre da nicht die Tatsache, daß die Äquinoktial „punkte” – und damit auch die Punkte der Sonnenwenden – keineswegs an Ort und Stelle verharren (in Bezug auf die Sphäre der Fixsterne). Statt dessen wandern sie eigensinnig die Ekliptik entlang, und zwar entgegengesetzt der Umlaufbahn der Sonne, das heißt entgegen der „richtigen” Reihenfolge der Tierkreiszeichen, nämlich Stier → Widder → Fische anstelle von Fische → Widder → Stier. Dieses Phänomen nennt man die Präzession der Äquinoktien (Abbildung 1), und sie wurde für den Aufstieg sowie den kaDiverse Anzeichen sprechen dafür, daß das „Meer” seinerseits unterteilt worden ist, und zwar in das „Salzmeer” (vom Äquator bis zum südlichen Wendekreis) und den „Süßwasserozean” (vom Winterwendekreis bis zum Südpol oder aber bis zum südlichen Ekliptikpol). 1
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taklysmischen Untergang von Zeitaltern verantwortlich gemacht. Die Ursache liegt in einer schlechten Angewohnheit unserer Erdachse, die sich wie ein Kreisel dreht, dessen Spitze sich genau in der Mitte unseres kleinen Erdballs befindet. Das führt dazu, daß unsere Erdachse – wenn man sie sich in Richtung Himmelsnordpol verlängert denkt – einen Kreis um den Nordpol der Ekliptik beschreibt, dem wahren „Zentrum” des Planetensystems. Dabei weist der Radius dieses Kreises denselben Wert auf wie die Schiefe der Ekliptik hinsichtlich des Äquators: 23,5 Grad. Die Zeit, welche diese verlängerte Achse benötigt, um den ekliptischen Nordpol zu umkreisen, beträgt ungefähr 26.000 Jahre, während denen sie auf einen Stern nach dem anderen zeigt: Um 3000 v.Chr. war alpha Draconis der Polarstern; zur Zeit der Griechen war es beta Ursae minoris; gegenwärtig ist es alpha Ursae minoris; um 14.000 wird es die Vega sein (vgl. Abbildungen 2 bis 5). Die Äquinoktien, also die Schnittpunkte von Ekliptik und Äquator, die von der kreiselnden Erdachse in Schwung gehalten werden, umlaufen mit derselben Geschwindigkeit, also innerhalb von 26,000 Jahren, die Ekliptik. Die Position der Sonne unter den Sternbildern am Frühlingsäquinoktium galt als Richtschnur für die „Stunden” des Präzessionszyklus – es sind in der Tat sehr lange Stunden, denn die Äquinoktialsonne besetzt jede Konstellation des Zodiaks für die Dauer von etwa 2.200 Jahren. Jenes Sternbild, welches im Osten kurz vor der Sonne aufging (das heißt; heliakisch aufging), markierte den „Ort”, an dem die Sonne ausruhte. In jener Zeit war er bekannt als der „Träger” der Sonne und als Haupt„säule” des Himmels, wobei das Frühlingsäquinoktium als Vergleichspunkt des „Systems“ betrachtet wurde, der sowohl den ersten Grad der jährlichen Umlaufbahn der Sonne festlegte als auch den ersten Tag des Jahres. (Wenn wir sagen, er wurde „betrachtet als”, so meinen wir damit, daß er als „Träger” oder „Säule” definiert wurde. Man muß sich immer vergegenwärtigen, daß wir es mit einer spezifischen Terminologie zu tun haben und nicht mit va-
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gem oder primitivem „Aberglauben”.) Zur „Nullzeit” stand die Sonne im Sternbild der Zwillinge (Gemini); von den Zwillingen bewegte sie sich sehr langsam in das Sternbild des Stiers (Taurus), dann in das des Widders (Aries), dann in das der Fische (Pisces), in dem sie noch immer steht und es auch noch eine Weile tun wird. Das Erscheinen von Christus dem Fisch kennzeichnet unser Zeitalter. Kurz vor Anno Domini wurde es bereits von Vergil bejubelt: „Eine neue große Ordnung der Jahrhunderte ist nunmehr geboren …”, was Vergil den befremdlichen Titel eines Propheten des Christentums einbrachte. Das vorausgegangene Zeitalter des Widders war von Moses verkündet worden, indem er als „Zweigehörnter” vom Berg Sinai herabstieg, das heißt; mit den Widderhörnern gekrönt, während seine ungehorsame Herde darauf bestand, weiterhin um das „Goldene Kalb” herumzutanzen, das eher ein „Goldener Stier” war: Taurus. Die kreisenden Himmelssphären gaben also den Ton an, während das Geschehen auf unserem Globus von nachgeordneter Bedeutung war. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die überirdischen Erscheinungen, die sich weitab von jenem Chaos befanden, das uns umgibt. Was sich am Himmel kraft seines eigenen Antriebs bewegte – die Planeten in ihren Wochen und Jahren –, gewann zunehmend an furchteinflößender Würde. Sie waren die Wesen des wahren Werdens. Und es war im Tierkreis, wo sich die Dinge tatsächlich zutrugen, denn als dessen eigentliche Bewohner wußten die Planeten genau, was sie taten – die Menschheit unterlag nur passiv ihren Befehlen. Es ist aufschlußreich, sich die Figur anzuschauen, die ein westsudanesischer Dogon auf die Bitte von Dominique Zahan malte: Sie zeigt das Weltenei mit der „bewohnten Welt” zwischen den Wendekreisen, „le cylindre ou rectangle du monde” (vgl. Abbildungen 6 und 7).2 Die Dogon sind sich der Tatsache vollkommen bewußt, daß die Region zwischen den irdischen Wendekreisen nicht der bestbeDominique Zahan und Solange de Ganay, „Études sur la cosmologie des Dogon”, Africa 21 (1951), 14. 2
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wohnbare Bereich ist, und das wußten auch ihre Lehrer aus längst vergangenen Zeiten, jene archaischen Wissenschaftler, welche die Terminologie des Mythos prägten. Was zählte, war das Band des Zodiaks zwischen den himmlischen Wendekreisen, das für die viel umherreisenden und ihre „Gestalt wechselnden” Planeten die Häuser, Gaststätten, „Masken” (prosôpa) und Verkleidungen bereitstellte. Wie weit diese Betrachtungsweise von heutiger Indifferenz entfernt ist, kann kaum eingeschätzt werden – außer von jenen, welche die Dimension der historischen Kluft erkennen, die sich mit der Übernahme der copernikanischen Doktrin auftat. Was für Thomas Browne eine mit religiösen Gefühlen, Erscheinungen und Vorahnungen vollgestopfte o altitudo war, verkam zur Platitüde, die einen russischen Kosmonauten im besten Fall zu der Beobachtung inspiriert: „Ich war hoch oben am Himmel; aber nirgendwo fand ich Gott.“ Die Astronomie ist in das Reich äußerer Ballistik abgestiegen – ein Thema für die Abenteuer der Raumpatrouille. Sicherlich bedürfte es größter Anstrengung, in uns die Fähigkeil zum Staunen eines Aristoteles wiederzuerwecken. Allerdings wäre es irreführend, von „uns” im allgemeinen zu sprechen, denn der durchschnittliche Babylonier oder Grieche war ebensowenig geneigt wie unser durchschnittlicher Zeitgenosse, sich über die Ordnung der Natur und ihre Gesetze zu wundern. Es war und bleibt das Kennzeichen eines wahrhaft wissenschaftlichen Geistes, nach der unveränderlichen Struktur der Zahlen zu suchen, die sich hinter der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen verbirgt –und über sie zu staunen. (Dazu ist die adäquate „Erwartungshaltung” und das feste Vertrauen in den „Sinn” erforderlich – und seit der Geburt der Hochzivilisation bedeutet „Sinn” für uns Zahl und Ordnung –, um zum Beispiel das periodische System der Elemente und im Anschluß daran die Balmerserie zu entdecken.) Folglich war es für große Naturwissenschaftler wie Galilei, Kepler oder Newton viel leichter, die Meisterwerke früherer Mathematiker zu würdigen,
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terwerke früherer Mathematiker zu würdigen, als es über all die Generationen hinweg für den Durchschnittshumanisten gewesen ist. Vermutlich versteht kein professioneller Kulturhistoriker die Geistesverfassung der Maya besser als es der Astronom Hans Ludendorff getan hat. Es ist nicht so sehr die enorme Anzahl neuer Fakten, die in den vielen Jahrhunderten zwischen der Antike und dem zwanzigsten Jahrhundert von Naturwissenschaftlern geschaffen wurde, die uns von dem Weltverständnis unserer großen wissenschaftlichen Vorfahren trennen; es sind vielmehr die herabgeschraubten Erwartungen, die unsere Zeit bestimmen. Wenn er heute lebte, würde Keplers Anliegen darin bestehen, eine modifizierte Perspektive zu entdecken, von der aus er die Harmonice Mundi wiederentdecken könnte. Aber was ist die Arbeit an einer „Allgemeinen Feldtheorie” letztlich anderes als die Suche nach der Etablierung einer neuen Art von Kosmos? Dieser von der zu erwartenden Formel erfaßte Kosmos wird nur für die besten Mathematiker verständlich sein und einen „Sinn” ergeben, unter völligem Ausschluß der übrigen Menschheit. Und es wird kaum ein „bedeutungsvoller” Kosmos sein, wie es der archaische gewesen ist. Sowenig der Ausdruck „flache Erde” etwas zu tun hat mit den Hirngespinsten der Flach-Erde-Fanatiker, die noch vor kurzem die Randzonen unserer Gesellschaft heimsuchten3 – und die in 057 Gestalt von Bettelpredigern Kolumbus das Leben zur Hölle machten –, so wenig sollte der Terminus „wahre Erde“ (oder auch „die bewohnte Erde”) das Rotationsellipsoid, also die reale Gestalt unserer Erde bezeichnen. Gemeint war vielmehr der Tierkreisgürtel, also die Rennbahn der „wahren Bewohner” dieser Welt, nämlich der Planeten wie auch des „Drachen”. („Drachen” nannte man die „Knoten”; das sind die Schnittpunkte der Sonnenbahn, also der Ekliptik, mit der um 5 Grad geneigten Kipling hat solchen „Geoplanisten” in seiner Geschichte Das Dorf, das wettete, die Erde sei flach ein vergnügliches Denkmal gesetzt.
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Bahn des Mondes – Umlaufzeit ca. 18,5 Jahre –, in denen Sonnenund Mondfinsternisse eintreten können.) Im Tierkreis gibt es vier entscheidende Punkte, welche über die vier Jahreszeiten herrschen. In der kirchlichen Liturgie sind es die quatuor tempora, deren mit besonderer Enthaltsamkeit gedacht wird. Sie entsprechen den beiden Solstitien und den beiden Äquinoktien. Das Solstitium ist die „Umkehr” der Sonne am tiefsten Punkt des Winters und am höchsten Punkt des Sommers. Die beiden Äquinoktien, die Tagundnachtgleichen an den Schnittpunkten von Ekliptik und Äquator, teilten das Jahr in zwei Hälften. Zusammengenommen standen diese vier Punkte für die vier Säulen oder Ecken dessen, was man die „viereckige Erde” nannte. Dies ist ein wesentliches Merkmal, das weiterer Aufmerksamkeit bedarf. Im allgemeinen Sinn hatten wir über die Erde gesagt, daß sie die gedachte Ebene durch die Ekliptik bedeutet. Inzwischen sind wir soweit, die Definition zu verbessern: „Erde” wird bevorzugt die gedachte Ebene durch die Jahrespunkte genannt, also durch die Äquinoktien und Solstitien. Weil die an den Äquinoktien und Solstitien heliakisch aufgehenden Sternbilder eine „Erde” bestimmen und definieren, wird diese viereckig genannt. (Was keineswegs bedeutet, „primitive” Chinesen oder andere hätten tatsächlich „geglaubt”, die Erde sei viereckig.) Und da die Sternbilder nur für eine bestimmte Zeit über die vier Ecken der viereckigen Erde herrschen, kann von einer solchen „Erde” mit Recht behauptet werden, daß sie untergeht und eine neue Erde aus den Wassern emporsteigt, mit vier neuen Sternbildern, die an den vier Jahrespunkten aufgehen. Vergil sagt: „Iam redit et Virgo …” („Schon kehrt die Jungfrau zurück.”). (Es ist wichtig, sich an das Frühlingsäquinoktium als den Vergleichspunkt zu erinnern: Auf diese Tatsache ist es zurückzuführen, daß eine neue Erde als aus dem Wasser emportauchend bezeichnet wird. In Wirklichkeit klettert nur das Sternbild des neuen Frühlingspunktes aus dem Meer an das trockene Land ober-
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halb des Äquators4 – die Umkehrung vollzieht sich diametral entgegengesetzt: Ein Sternbild, das aufhört, den Herbstpunkt zu markieren, ertrinkt.) Diese „Formel” wird es erleichtern, den Mythos von Deukalion zu verstehen, in dem die verheerenden Flutwellen dadurch gestoppt wurden, daß Triton sein Muschelhorn blies. Das Muschelhorn hatte sich Aigokeros, das heißt: 058 Capricornus (Sternbild des Steinbocks), ausgedacht, der in jenem Weltalter über die Wintersonnenwende herrschte, als der Widder am Frühlingsäquinoktium die Sonne „trug”. Zur „Nullzeit” bestanden die beiden äquinoktialen „Scharniere” der Welt aus den beiden Sternbildern Zwillinge und Schütze (Sagittarius), die zwischen sich den Bogen der Milchstraße gespannt hielten. Beide waren bicorporale Zeichen5 – und desgleichen waren es an den beiden anderen Ecken die Fische sowie die Jungfrau (Virgo) mit ihrer Weizenähre. Das Bild von dem zwischen die „Scharniere” gespannten Bogen der Milchstraße drückt die Idee aus, daß einst der Weg zwischen Erde und Himmel (also die Milchstraße selbst) nach oben und unten offen war und sich im Goldenen Zeitalter Menschen und Götter auf ihm trafen. Wie später noch gezeigt wird, bestand der außerordentliche Vorzug des Goldenen Zeitalters genau darin, daß die Schnittpunkte von Ekliptik und Äquator mit den Schnittpunkten von Ekliptik und Milchstraße zusammenfielen, und zwar in den Sternbildern der Zwillinge und des Schützen, die beide stabil an den vier Ecken der viereckigen Erde „standen”. Die „Spitze”, das Zentrum hoch über der „trockenen” Ebene des Äquators, bildete der Polarstern. Den südlichen, in unseren Breiten unsichtbaren Gegenpol, im alten System „die Tiefe des In ähnlichem Sinn sagt Petronius’ Trimalchio über den Monat Mai: „totus coclus taurulus fiat“ („Der ganze Himmel verwandelt sich in einen kleinen Stier”). 5 Diese beiden Konstellationen wurden ursprünglich aus Gründen „bicorporal“ genannt, die sich sehr von denen unterscheiden, welche Ptolemaios in Tetrabiblos I.11. angibt. 4
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Meeres” geheißen, repräsentierte der Canopus (alpha Carinae, das Steuerruder der Argo), der hellste Stern dieser Region.6 Manches spricht allerdings dafür, daß der Canopus nicht den Südpol, sondern den südlichen Pol der Ekliptik vertreten sollte. Diese kurze Skizze archaischer Theorie weist darauf hin, daß es – um es zu wiederholen – niemals um Geographie in unserem Sinne ging, sondern um eine Art von Kosmographie, die von Navigatoren selbst heute noch benötigt wird und die von Ptolemaios (ca. 100-178), dem großen Astronom und „Altmeister in der Kartenwissenschaft”7 so perfekt dargestellt worden ist, wie Hipparchos (I.11.7, Manitius, 115) gibt für seine Zeit (zwischen 161 und 127 v.Chr.) an, der Kánôpos sei „vom südlichen Pol ungefähr 38,5 Grad entfernt“. 7 Hans von Mzik, Des Klaudios Ptolemaios Einführung in die Darstellende Erdkunde (1938), Seite 7: „Trotz aller Mängel seiner Karten aber bleibt Ptolemaios unser Altmeister in der Kartenwissenschaft. Er hat durch seine das Wesen der Kartographie durchaus treffende Auffassung von den Grundsätzen, auf denen sie aufgebaut ist. die Kartenlogik erst geschaffen – er, und nicht sein Vorgänger Marinos, wie hier nachdrücklichst festgestellt werden soll – und hat damit der Kartographie nicht nur bis in die Gegenwart, sondern wahrscheinlich auch noch für die weitere Zukunft das Gepräge gegeben. Auf ihn gehen die mathematische Basis unserer Karten (das Gradnetz), die Projektionslehre, die Nordorientierung und die kartographische Zeichensprache unmittelbar zurück (…) Durch ihre Methode und durch das von ihr gebrachte topographische Material ist seine Darstellende Erdkunde die Spitzenleistung des Altertums auf dem Gebiete der Kartenwissenschaft, nicht anders wie Strabons Geographie den gleichen Rang auf dem Gebiete der beschreibenden Erdkunde für sich in Anspruch nehmen kann.” Vgl. zu Theorie und Methode des Ptolemaios und seiner Vorläufer (zuvörderst des Hipparchos und seines Beinahe-Zeitgenossen Marinos von Tyros) Hugo Berger, Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen (1903); Erich Polaschek, „Klaudios Ptolemaios, Das Geographische Werk”, RE Suppl. X, 680-833 (mit Karten); Arpad Szabó und Erkka Maula, Enklima (1982). 6
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sich das aufgrund der lückenhaft verfügbaren Daten bewerkstelligen ließ. Seine „Geographie” war zunächst eine Anweisung zum Zeichnen geographischer Karten, welche die Realität so präzise wie eben möglich wiedergeben sollten, ungeachtet der unvermeidbaren Verzerrungen, die jede Projektion mit sich bringt. Sie enthält eine Zusammenstellung von Koordinaten, die vom Himmel abgeleitet und auf eine grobe Umrißkarte übertragen wurden. Dazu gehörte ein Katalog irdischer Entfernungen.8 Die Karte ließ notgedrungen außer Betracht, was im Westen jenseits der Kanarischen Inseln lag, im Osten jenseits der „Hauptstadt der Siner”, also der Chinesen (I.14.8), die Ptolemaios auf 180 Grad geographischer Länge anberaumte. Im Norden wurde die Karte begrenzt durch den 63. Breitengrad (auf dem „Thule” liegen sollte), im Süden durch den Äquator.9 Geogr. I.2.2. (v.Mzik, 17): „Die Untersuchung aber und die Mitteilung des Ergebnisses – der systematischen Länderbeschreibung – gehören teils in das Gebiet der Erdmeßkunst, teils in das der Himmels künde. In das Gebiet der Erdmeßkunst, insofern sie lediglich durch Abmessung der Entfernungen die gegenseitige Lage der Orte aufzeigt, in die Himmelskunde, insofern sie dies mittels der Astrolabien und der Schattenmesser aus den Himmelserscheinungen tut, wobei die Himmelskunde das Absolute und Sichere ist, die Erdmeßkunst dagegen summarischer verfährt und der Ergänzung durch jene bedarf.” Vgl. Almagest II, 13 (Manitius I, 129): „Dieses Verzeichnis soll die nötigen Angaben enthalten, wieviel Grade jede Stadt auf dem durch sie gehenden Meridian Abstand zum Äquator hat, und wieviel Grade dieser Meridian von dem durch Alexandria gezogenen nach Osten oder Westen auf dem Äquator entfernt ist. Denn auf diesen Meridian beziehen wir die Zeiten für die (Berechnung der) Positionen (von Sonne, Mond und Planeten).“ 9 Ptolemaios erwog jedoch (I.10), „Äthiopien” soweit südlich des Äquators anzusiedeln, wie nördlich desselben Meroe lagT also unter dem Breitengrad, „der 16 5/12 Grad oder annähernd 8200 Stadien südlich vom Äquator liegt. Somit beliefe sich die Gesamtbreite der Oikoumene etwa auf 79 5/12 oder rund 80 Grad, d.s. 40-000 Stadien.” Weder die 8
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Dies war der in der Spätantike bekannte Ausschnitt der Erdoberfläche, den die Griechen oikouménê/Ökumene nannten (von oikos = Wohnung, oikéô = wohnen); die bewohnte Erde. Es ist verständlich, daß die Griechen mit dem Namen Oikoumene den Tierkreisgürtel, eingerahmt von den Wendekreisen, bezeichneten, dem zwar ebenfalls eine gewisse Breite eignete, der jedoch den ganzen Himmel umschloß und von den maßgebenden Akteuren, den Planeten, „bewohnt“ wurde. Astrologie war in der archaischen Zeit eine beinahe zwangsläufige Folgeerscheinung der Astronomie. Die frühen Griechen leiteten ihre Mathematik von der Astronomie ab. Ihre unersättliche Neugier verhalf ihnen zu einer Kenntnis unserer Erde und terrestrischer Vorgänge, die es ihnen ermöglichte, den Grundstein zu unserer Naturwissenschaft zu legen. Aber bald nach Aristoteles wandten sich die Stoiker wieder dem orientalischen Vorbild zu und setzten die Astrologie in ihre alten Rechte ein. Drei Jahrhunderte vorsokratischer Philosophie hatten ihnen zwar ein gewisses Interesse an Physik vermittelt, aber sie wußten nicht viel damit anzufangen. Auch verfügten sie nicht über eine experimentelle Wissenschaft in unserem Sinne. Stoische Physik war eine verführerische Darstellung einer Feldtheorie, aber sie war eine Fälschung. Aus ihr konnte nichts werden, denn die eigentlichen Implikationen des archaischen Kosmos – ebenso wie die des platonischen – waren mit nichts vereinbar, worüber unsere heutigen Physiker nachdenken können. In der Physik der Stoiker gibt es weder eine Gesamtlänge noch die Gesamtbreite scheinen sich zu reimen auf die Feststellung im Almagest (II.1): „Die Erde wird durch den Äquator und einen durch seine Pole gezogenen (Meridian-)Kreis in vier Viertel geteilt. Auf das eine von den beiden nördlichen Vierteln beschränkt sich nahezu die Ausdehnung der zur Zeit bewohnten Gebiete der Erde.” So die Übersetzung von Manitius (I, 58). Das im Original stehende „tês kath’ hêmas oikouménês mégethos” (ed. Heiberg I, 88) übersetze man besser mit „Ausdehnung unserer Oikoumene”, siehe v. Mzik, 16 und 24ff, Anmerkung 2 über „kath’hêmas”.
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einfache Ortsbestimmung noch einen analytischen Raum. Die Breite der Kluft zwischen der archaischen Welt und der unseren gilt es immer im Auge zu behalten. Alle Wunderwerke der Genauigkeit und Berechnung konnten sie nicht überbrücken. Das schaffte nur die astronomische Karte. Alfred North Whitehead hat das auf einen knappen Nenner gebracht: „Unsere Wissenschaft gründet auf einfacher Ortsbestimmung und deplazierter Gegenständlichkeit.“ Die moderne Physik hat diese ursprünglichen Worte in Fragen verwandelt. Für Isaac Newton hatten sie Beweiskraft: „Kein Mensch, der mit der Fähigkeit zum rationalen Verstehen ausgestattet ist, wird glauben, daß etwas dort agieren kann, wo es nicht ist.” Newton selbst formulierte die erste Frage, indem er die Gravitationstheorie aufstellte. Mathematisch war sie unwiderstehlich, physikalisch jedoch unerklärbar. Er konnte sie nur akzeptieren: „Ich verstehe sie nicht, und ich werde keine Hypothesen erfinden.” Die Antwort sollte erst mit Albert Einstein gegeben werden. Sie lief auf rein mathematisches Rationalisieren hinaus, welches mit der simplen Ortsbestimmung ebenso aufräumte wie mit der Gegenständlichkeit. Das Gebäude von René Descartes war ruiniert. Nichtsdestoweniger hielt der Verstand des zivilisierten Menschen weiterhin an beiden Prinzipien fest – da sie dem gesunden Menschenverstand entsprachen. Es war ein Musterbeispiel für eine Gewohnheit, die zur zweiten Natur geworden ist. Die Geburt der Experimentellen Physik war ein ausschlaggebender Faktor für den Wandel. Damals herrschte kein derartiger „gesunder Menschenverstand” vor, als die Zeit die einzige Realität war und es den Raum erst noch zu entdecken – oder zu erfinden – galt (von Parmenides, nach 500 v. Chr.).10 Unsere Aufgabe war demnach, aus der entfernten Vergangenheit eine gänzlich verlorengegangene Wissenschaft wiederzugewinnen, die mit einer gleichfalls untergeVgl. G. de Santillana, „Prologue to Parmenides“, in Reflections on Men and ldeas (1968), 82-119. 10
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gangenen Kultur verbunden gewesen war. Das Problem lag ebenfalls auf der Hand: Diese verlorene, sehr anspruchsvolle Wissenschaft hatte kein „System“, keinen systematischen Zugang, der als Grundlage für die Lehre hätte dienen können. Sie hatte existierte, noch bevor man an Systeme überhaupt dachte. Sie war, um es zu wiederholen, eine spontan geschaffene „Kunst der Fuge”. Es scheint, als habe die archaische Weltsicht alle Ideen von der Erde als einem im Raum aufgehängten oder schwebenden Körper ausgespart. Ob das wirklich so war, läßt sich noch nicht entscheiden. In Indien kursieren absonderliche Gerüchte über unzählige „Brahma-Eier”, das heißt über Sphären wie die unsere. Die Maori von Neuseeland behaupten – wie es auch die Pythagoreer taten –, jeder Stern habe Berge und Täler und sei bewohnt wie die Erde. Varāhamihira (fünftes Jahrhundert n. Chr.) war sogar davon überzeugt, daß die Erde zwischen Magneten in der Schwebe gehalten wird.11 Vorläufig muß man fortfahren anzunehmen, daß die Erde einfach für das Zentrum der Welt gehalten wurde, und für eine Kugel. Und daß es nicht die Spur des galileischen Relativismus gab, der für uns so selbstverständlich ist und so viele Probleme der Mechanik aufwirft. Die Griechen waren noch im Besitz der alten Idee, aber sie stellten sie in Frage. Was sich bewegte, war der Himmel; aber Fragen über den Himmel führten zu abstrusen Problemen. Das größte bestand selbstverständlich in der (scheinbar) langsamen Bewegung des Fixsternhimmels, die sich, wie oben beschrieben, während eines Großen Jahres von 26.000 Jahren vollzog. Die griechischen Astronomen verfügten über ausreichende Hilfsmittel und Daten, um die enorm langsame Bewegung zu Pancasiddhantika, Kapitel XII: „Der runde Erdball, bestehend aus den fünf Elementen, hält sich im Raum in der Mitte der Sphäre der Sterne, wie ein zwischen Magneten aufgehängtes Stück Eisen,” [Übersetzt von und zitiert nach Georges Thibaut, Astronomie, Astrologie und Mathematik (1989), 69.] 11
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ermitteln, und sie erkannten, daß sie sich auf den gesamten Himmel bezog. Im Jahre 127 v. Chr. gab Hipparchos ihr den Namen Präzession der Äquinoktien. Aus gutem Grund läßt sich behaupten, daß er sie in Wirklichkeit wiederentdeckte, daß man bereits einige tausend Jahre zuvor über sie Bescheid wußte und daß auf ihr im archaischen Zeitalter die weitreichenden Berechnungen der Zeit basierten. Moderne Altertumsforscher sind in dieser Hinsicht von seltener Begriffsstutzigkeit, weil sie eine beinahe urtümliche Ignoranz astronomischer Gedankengänge kultivieren. Einige wissen nicht einmal, was die Präzession überhaupt ist. Genau an diesem Punkt beginnt der Riß zwischen den beiden Kulturen. Aber abgesehen davon und obwohl die Gelehrten nach wie vor einmütig an der einmal akzeptierten Konvention über das Tempo der historischen Evolution festhalten, gehen ihre Meinungen weit auseinander, wenn es darum geht, die Ereignisse im Detail zu beurteilen. Tatsächlich hängt die Beurteilung der Vertrautheit beziehungsweise der Unvertrautheit altorientalischer Astronomen mit der Präzession von willkürlichen Faktoren ab, nämlich von den unterschiedlichen Gelehrtenmeinungen über die Schwierigkeit dieser Aufgabe. Ernst Dittrich bemerkte zum Beispiel, daß man von den Mesopotamiern um 2000 v.Chr. nicht viel astronomisches Wissen erwarten dürfe. „Sie dürften nur das oberflächlich-geometrische an der Bewegung von Sonne und Mond gekannt haben. Prüfen wir nun die einfachen, leicht zugänglichen Bewegungen, an denen 062 eine chronologische Bestimmung mit sehr wenig mathematischen Kenntnissen ausführbar wäre, so stoßen wir nur auf die Präzession.“12 Es gab auch einen gebildeten kirchlichen Würdenträger, Domenico Testa, der das folgende kuriose Argument aufgriff, um zu beweisen, daß die Welt ex nihilo geschaffen wurde, wie es im Ersten Buch Moses geschrieben steht – ein Ereignis, das man auf ungefähr 4000 v.Chr. anberaumte. Wenn die Ägypter einen Dittrich, „Gibt es astronomische Fixpunkte in der ältesten babylonischen Chronologie?”, OLZ 15 (1912), Spalte 104.
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Hintergrund von Jahrtausenden gehabt hätten, auf den sie hätten zählen können, wem wäre dann, fragte Domenico Testa, das Wissen um die Präzession überhaupt verborgen geblieben? „Jeder Straßenkehrer hätte von ihren Beobachtungen gewußt.”13 Folglich konnte die Zeit nicht früher als 4000 v. Chr. begonnen haben – quod erat demonstrandum. Der Vergleich der eben zitierten Ansichten mit denen, die von der Mehrheit der heutigen Gelehrten aufrechterhalten wird, macht deutlich, daß die eigene subjektive Meinung darüber, was leicht sei und was schwierig, nicht unbedingt die sicherste Basis für eine Historiographie der Wissenschaft abgibt. Wie Hans Ludendorff einmal hervorhob, ist es eine zweifelhafte Annäherung an die Astronomie der Maya, mit vorgefaßten Meinungen darüber zu beginnen, was die Mayas gewußt haben könnten und was nicht; statt dessen solle man seine Schlüsse ausschließlich aus den Daten ziehen, wie sie in den Inschriften und Codices gegeben seien.14 Daß so etwas ausdrücklich betont werden mußte, offenbart den stetigen Verfall wissenschaftlicher Ethik. Heutzutage ist die Präzession eine allgemein akzeptierte Tatsache. Das Raum-Zeit-Kontinuum hat keinen Einfluß auf sie. Sie ist mittlerweile zu einer langweiligen Komplikation geworden und hat ihre Relevanz für unsere Angelegenheiten verloren, wohingegen sie einst die einzige säkulare Bewegung war, auf die sich unsere Vorfahren besinnen konnten, wenn sie nach einem großen Zyklus suchten, der die Menschheit als Ganzes zu beeinflussen vermöchte. Aber damals waren unsere Vorfahren Astronomen und Astrologen. Ihrer Überzeugung nach wirkte das Gleiten der Sonne entlang der Bahn der Frühlingspunkte auf das Gefüge des Kosmos ein und determinierte die Reihenfolge von Weltaltern unter verschiedenen Tierkreisbildern. Sie hatten einen langen Nagel gefunden, um an ihm ihre Gedanken über die D. Testa, Il Zodiaco di Dendera Illustrato (1822), 17. H. Ludendorff, „Zur astronomischen Deutung der Maya-Inschriften“, SPAW (1936), 85.
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kosmische Zeit, die alle Dinge in schicksalhafte Ordnung brachte, aufhängen zu können. Heute ist diese Ordnung verfallen, so wie auch die Idee des Kosmos an sich. Es gibt nur noch die Geschichte, die treffend als „ein verdammtes Ding nach dem anderen” definiert worden ist. Und doch – würde Geschichte wirklich verstanden in diesem 063 zugegebenermaßen flachen Sinn, nämlich als sich für dieselbe Menschengruppe nacheinander ereignende Dinge, so wären wir besser dran als wir es derzeit sind, wo wir es noch nicht einmal wagen können, offen für die Voraussetzungen einzutreten, unter denen dieses Buch beginnt: nämlich daß unsere Vorfahren über einen Verstand verfügten, der dem unseren völlig ebenbürtig war, und daß sie zu rationalen Verfahrensweisen fähig waren – immer unter Berücksichtigung der jeweils zur Verfügung stehenden Mittel. Das zu sagen bedeutet eine Absage an ein Denkschema, das bereits zur zweiten Natur geworden ist. Unsere Zeit mag eines Tages die Darwinsche Periode genannt werden, genauso wie wir von der Newtonschen Zeit vor zwei Jahrhunderten sprechen. Die simple Idee der Evolution, die nicht länger für überprüfenswert gehalten wird, breitet sich wie ein Zelt über all die Zeitalter aus, die vom Primitivismus zur Zivilisation führen. Allmählich, Schritt für Schritt – so wird uns gesagt – produzierten die Menschen Kunst und Handwerk, dieses und jenes, bis sie in das Licht der Geschichte traten. Solche mit Nachdruck wiederholten einschläfernden Worte wie „allmählich” und „Schritt für Schritt” dienen dazu, eine Ignoranz zu verhüllen, die sowohl ungeheuerlich als auch überraschend ist. Gerne würde man nachhaken: Welche Schritte? Aber dann wird man beschwichtigt, überwältigt und für dumm verkauft mit der Allmählichkeit der ganzen Angelegenheit, die bestenfalls eine Platitüde und nur dazu da ist, den Verstand zu besänftigen, da niemand sich vorzustellen willens ist, daß die Zivilisation mit einem Donnerschlag in Erscheinung trat. In einer sehr guten Fernsehproduktion über das Problem von
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Stonehenge, die vor einigen Jahren gesendet wurde, konnte man einen Zugang finden. Mit Hilfe der mächtigen Technik der Allgegenwärtigkeit waren zahlreiche Autoritäten ins Studio geladen, um die mögliche Bedeutung der astronomischen Alignments und Polygone zu diskutieren, die man seit 1906, als der berühmte Astronom Norman Lockyer die Ergebnisse seiner ersten Untersuchung veröffentlichte, in der alten Steinsetzung entdeckt. Spezialisten, von Prähistorikern bis hin zu Astronomen, drückten ihren Zweifel aus, bis zum Schluß die Reihe an einen ausgezeichneten Archäologen kam, der viele Jahre über das Monument gearbeitet hatte. Er hegte fundamentalere Zweifel. Wie könne man verkennen, daß die Erbauer von Stonehenge Barbaren gewesen waren, „gröhlende Barbaren”, die, gelinde gesagt, total unfähig waren, komplexe astronomische Zyklen zu berechnen – und das auch noch über lange Jahre? Die vagen Übereinstimmungen seien dem Zufall zuzuschreiben. Und dann erschien mit perverser Ironie die Mittwintersonne des Solstitiums auf dem Bildschirm – exakt hinter dem Heel-Stein aufgehend, wie vorausgesagt. Das „bloße” Zusammentreffen der Ereignisse war in der Tat vorher ausgetüftelt worden, indem Gerald Hawkins, ein junger, von historischen Problemen unbehelligter Astronom, die Positionen hatte durch den Computer laufen lassen und dabei weitaus mehr Übereinstimmungen entdeckte, als man sich hätte träumen lassen. Hier also war das ganze Paradoxon: Gröhlende Barbaren, die ihre Gesichter blau anmalten, kannten sich in Astronomie offensichtlich besser aus, als ihre Sitten und Tischmanieren hätten vermuten lassen. Das träge Wort „Evolution” hat uns für die wirklichen Vielschichtigkeiten der Vergangenheit blind gemacht. Man sollte einsehen, daß sich das Schlüsselwort „Allmählichkeit“ auf eine wesentlich andere Zeitskala bezieht als die, welche der Geschichte der Menschheit zugrunde gelegt wird. In diesem Rahmen ist die Humangeschichte als solche, und sogar die Ausbildung der Rassen selbst, nur eine evolutionäre Episode. Und in
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diesem Ganzen wiederum ist der Cromagnon-Mensch nur das letzte Glied einer Kette. Die gesamte Urgeschichte ist ein Aufflackern in letzter Minute. Aber während sich die Biologen noch berieten, war eine neue Größe auf der Bühne erschienen. James George Frazer war ein hochangesehener Klassischer Philologe, der, während er die Beschreibung Griechenlands von Pausanias herausgab, beeindruckt war durch die Fülle von religiösen und abergläubischen Überzeugungen, Praktiken und Kulten, die er über das ganze klassische Griechenland verbreitet fand. Das bewog ihn, tiefer in die halbvergessenen Schichten der Historie einzudringen – und heraus kam sein Golden Bough. Der Historiker war zum Ethnologen geworden und dehnte seine Unternehmungen auf den ganzen Erdball aus. Plötzlich wurde eine Unmenge Material über Fruchtbarkeitskulte als universalem Ausdruck frühester Religion zugänglich sowie über die mit ihr verbundene primitive Magie. Dies schien der Humus zu sein, auf dem Zivilisation gewachsen war: simple Götter der Jahreszeiten und eine dumpfe Masse von Bauern, die in den Ackerfurchen kopulierten und sich Fruchtbarkeitsrituale mit Menschenopfern ausdachten. Zusätzlich kam in politischen Kreisen die Überzeugung auf, Krieg sei nicht nur der menschlichen Natur inhärent, sondern veredele sie auch, wodurch sich das Gesetz von der natürlichen Selektion auf Nationen und Rassen anwenden ließ. Es wurde also viel Material und viel Geschichte herangeschleppt, um den Tempel des Evolutionismus zu errichten. Aber während die Theorie ihren Weg ging, begannen ihre hochgesonnenen Aspekte zu verblassen: Wie eine Flutwelle brach die Psychologie herein; und wenn der Überlebenskampf (und die Religionen der Lebenskraft) schon vieles erklären kann, dann kann das Unbewußte alles erklären – wie wir heute nur zu gut wissen. Somit bereitete sich das universale und einförmige Konzept der Allmählichkeit sein eigenes Ende. Jene Schlüsselbegriffe (Allmählichkeit und Evolution) entstammten in erster Linie der
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Wissenschaft von der Erde, wo sie eine klare Bedeutung hatten. Kristallisation und Auswertung, Erosion und Senkungen der Erdkruste sind das Ergebnis von Kräften, die beständig und physikalischen Gesetzen entsprechend am Werk sind. Sic lieferten den Hintergrund für Darwins großes Szenario. Wenn es um die Evolution des Lebens geht, werden die Begriffe weniger präzise in ihrer Bedeutung, bleiben aber akzeptabel. Genetik und natürliche Selektion stehen für Naturgesetze, und Ereignisse werden bestimmt durch das Rollen der Würfel während langer Zeitalter. Aber über das Warum und Wieso dieser anstatt jener spezifischen Form können wir nicht viel sagen, auch nicht darüber, wo sich Spezien und Typen herausbildeten. Die Evolution der Lebewesen bleibt eine allumfassende historische Hypothese, die nicht nur von ausreichenden Daten gestützt wird, sondern auch von der Ermangelung einer Alternative. Was Details anbelangt, wirft sie eine erschreckende Anzahl von Fragen auf, auf die wir keine Antwort haben. Unsere Ignoranz bleibt ungeheuerlich, aber sie ist nicht verwunderlich. Dann kommen wir zur Geschichte! und die Idee der Evolution tritt wieder zum Vorschein und empfiehlt sich als etwas Natürliches. Alle Maßstäbe sind verlorengegangen. Das Zusammentragen plausibler Ideen, deren Fluß seit Spencer unsichtbar von dem „Naturgesetz” getragen wird, wird fortgesetzt. Alles bewegt sich im Rahmen einer unüberprüften Art von „Naturphilosophie”. Denn wenn wir einmal innehielten und nachdächten, so würden wir darin übereinstimmen, daß die organische Evolution von dem Historiker als mindestens seit Beginn der Vorgeschichte zum Stillstand gekommen betrachtet werden sollte. Ob es an dem sei oder nicht – wahrscheinlich ist das letztere –, ist im Moment unerheblich: für uns gilt eine andere, nämlich die historische Zeitskala. Als Ernst Haeckel und seine Anhänger, auf der Welle des „Evolutionismus” reitend, beabsichtigten, die „Welträtsel” ein für
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allemal zu lösen, warnte Rudolf Virchow15 vor der Neigung der Anthropologen, überall „Affenluft“ zu wittern; er erinnerte seine Kollegen an den Index ausgegrabener urgeschichtlicher Schädel und verwies auf die unveränderte Hirnmasse, die der Spezies des Homo sapiens zu eigen ist. Aber seine Zeitgenossen schenkten seinen Ermahnungen keine Beachtung; am allerwenigsten die Humanisten, die das streng biologische Schema der Evolution der Organismen ohne Zögern auf die Kulturgeschichte der singulären Spezies des Homo sapiens übertrugen. In späteren Jahrhunderten werden uns die Historiker vielleicht allesamt für verrückt erklären, weil dieser unglaubliche Schnitzer nicht sofort entlarvt und mit angemessener Entschiedenheit widerlegt wurde. Indem wir Kulturgeschichte mit einem Prozeß allmählicher Evolution verwechseln, haben wir uns jeden vernünftigen Einblicks in das Wesen von Kultur beraubt. Es versteht sich von selbst, daß die noch immer gepflegte Angewohnheit, „Kultur” durch „Gesellschaft” zu ersetzen, den letzten schmalen Weg zum Verständnis der Geschichte verbaut. Unsere Ignoranz blieb nicht nur ungeheuerlich, sondern wurde zudem anmaßend. Schon ein flüchtiger Blick auf einige Pensées läßt den Abgrund sichtbar werden, der zwischen uns und einem ernsthaften Denker jener goldenen Tage vor dem Ausbruch der „Evolution” gähnt. Darum ging es Pascal, als er fragte: „Was sind unsere Naturprinzipien anderes als Gewohnheitsprinzipien? Bei Kindern sind es jene, die sie von den Gewohnheiten ihrer Vater übernommen haben, wie das Jagen unter den Tieren. Eine unterschiedliche Gewohnheit hat ein unterschiedliches Naturprinzip zur Folge.” Und: „Die Gewohnheit ist eine zweite Natur, die die 066 erste aufhebt. Was aber ist Natur? Weshalb soll die Gewohnheit nicht natürlich sein? Ich fürchte, diese Natur selbst ist nur eine Siehe Karl Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscherversammlungen (1922), 210.
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erste Gewohnheit, wie die Gewohnheit eine zweite Natur ist.16 Diese Sorte von Fragen, die präzise auf die wahren Problempunkte zielen, hätte vor zwei Jahrhunderten ausgereicht, der Sozialanthropologie und ebenso der anthropologischen Soziologie den Garaus zu machen. Obwohl wir uns des Knäuels erschreckender Probleme bewußt sind, die sich aus den Forschungsergebnissen der neuen Neurophysiologie ergeben, sind wir keineswegs berechtigt, Hypothesen zu ersinnen, die über die Aussage hinausgingen, daß jenes Genie, das früher oder später eine neue philosophische Anthropologie, die einen solchen Titel verdient, entwickeln und all den neuen Implikationen Rechnung tragen wird, mit denselben Fragen Pascals konfrontiert sein wird. Es müssen noch ein paar Worte gesagt werden über jenes Problem, das sich genau an der Wurzel so vieler Mißverständnisse befindet, nämlich das der Übersetzung. Die meisten Texte wurden in abgelegenen und halb ausgelöschten Sprachen der fernen Vergangenheit geschrieben, sofern sie überhaupt ursprünglich geschrieben wurden. Die Aufgabe der Übersetzung ist von einer Zunft eingeweihter und hochspezialisierter Philologen übernommen worden, welche die Wörterbücher und Grammatiken dieser Sprachen rekonstruieren mußten. Es wäre undankbar, ihre Bemühungen nicht zu würdigen; aber man muß mehrere Fehlerquellen in Betracht ziehen: (1) persönliche oder Blaise Pascal, Gedanken, übersetzt und herausgegeben von Ewald Wasmuth (1956), 46. Im französischen Original [Pascal, Oeuvres Complètes (1963), 514] heißt es: „Ou’est-ce que sont nos principes naturels sinon nos principes accoutumés. Et dans les enfants ceux qu’ils ont reçus de la coutume de leurs pères comme la chasse dans les animaux. Une différente coutume en donnera d’autres principes naturels … La coutume est une seconde nature qui détruit la premiere. Mais qu’est-ce que nature? Pourquoi la coutume n’est-elle pas naturelle? J’ai grand peur que cette nature ne soit elle-même qu’une premiere coutume, comme la coutume est une seconde nature.”
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systematische Fehler, die sich aus den vorgefaßten Meinungen der Übersetzer und den tief in ihrem Zeitalter verwurzelten Befangenheiten (psychologischen und philosophischen) ergeben; (2) die Struktur unserer eigenen Sprache selbst, die Architektur unseres eigenen verbalen Systems, der sich nur wenige Individuen bewußt sind. Unter dem Titel „Gibt es Quantensprünge?” wurde einmal ein glänzender Artikel Erwin Schrödingers veröffentlicht, der viele solcher Mißverständnisse im Sprachgebrauch der modernen Physik bloßlegte.17 Und all dies verbindet sich mit der anderen Hauptquclle von Fehlern, die aus der Unterschätzung der Denker der Vergangenheit resultiert. Instinktiv wollen wir mit der Vorstellung nichts zu tun haben, es habe vor fünf oder mehr Jahrtausenden Denker von der Größenordnung eines Kepler, Gauss oder Einstein geben können, die mit den ihnen verfügbaren Mitteln arbeiteten. Mit anderen Worten; Wir müssen die Sprache ernst nehmen. 067 Unpräzise Sprache enthüllt den Mangel an präzisem Denken. Wir haben gelernt, die Sprache von Archimedes oder Eudoxus ernstzunehmen, ganz einfach deshalb, weil sie in die heutige Art des Denkens übersetzt werden kann. Das sollte sich auf Denkarten ausdehnen, die sich in ihrer Ausdrucksweise völlig von der unseren unterscheiden. Nehmen wir die intensiven Bemühungen um die Sprache der Hieroglyphen, die sich in dem beeindruckenden Ägyptischen Wörterbuch von Erman-Grapow manifestieren: Für unser simples Wort „Himmel” werden 37 Begriffe aufgeführt, deren Nuancen dem Übersetzer überlassen sind und entsprechend seiner geistigen Fähigkeiten verwendet werden. So verwandeln sich die sorgfältigen Instruktionen im Totenbuch, die sich auf die himmlische Reise der Seele beziehen, in ein „mystisches” Gerede, das wie heiliges Kauderwelsch behandelt werden muß. Aber moderne Übersetzer sind von der eigenen Erfindungsgabe so fest überzeugt – nach der die Unterwelt im InneE. Schrödinger, „Are there quantum jumps?”, in British Journal for the Philosophy of Science 3 (1952), 112ff. 17
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Inneren unseres Globus zu suchen sei anstatt im Himmel –, daß nicht einmal 370 spezifisch astronomische Begriffe sie zum Stolpern bringen würden. Ein kleines Beispiel soll deutlich machen, wie Texte „erschlossen” werden. In einer Inschrift von Dendera wird die Göttin Hathor „Herrin jeder Freude” genannt, und Johannes Dümichen fügt hinzu: „hon.t rer het-neb, wörtlich übersetzt: ,die Herrin jedes Herzkreislaufs’.”18 Was nicht heißen soll, die Ägypter hätten den Blutkreislauf entdeckt. Nun findet sich aber die Glyphe für „Herz” als Bleilot am Ende einer Senkschnur sowohl bei gewissen Typen von Sonnenuhren19 als auch bei einem astronomischgeodätischen Gerät – genannt mrh.t/merecht: „Instrument, mit dem man mißt”20 –, das uns bevorzugt in den Texten zur „Schnurspannung” begegnet, mit deren Hilfe die astronomische Orientierung der Tempel bestimmt wurde.21 „Herz” hatte also mit dem Bleilot, dem schweren Ende der Meßschnur zu tun. Und das Wort für Herz (ib) war der allgemeine Ausdruck für „die Mitte, das Zentrum”.22 Angesichts des Bleilots wird es nicht von ungefähr sein, daß die Araber sich einen Namen für den Canopus bewahrten (außer daß sie ihn Kalb at-tai-man nannten: „Herz des Südens”), nämlich Suhail el-wezn, was die Alphonsinischen J. Dümichen, „Die Bauurkunde der Tempelanlagen von Edfu”, ÄZ. 9 (1871), 28 A.l. 19 Für Abbildungen siehe Ludwig Borchardt, Altägyptische Zeitmessung (1920), 33, 45, 52. 20 Siehe L. Borchardt 54; Äg.Wb. II, 112: „astronomisches Gerät zur Beobachtung der Gestirne und Feststellung der Stunden”. 21 Besorgt wurde die Schnurspannung den Texten zufolge vom Pharao und der Göttin Seschat (auch andere Götter machten sich zu schaffen, allen voran Thoth/Merkur), realiter allerdings von den Harpedonapten, eben den „Schnurspannern”. Demokrit rühmte sich, niemand – nicht einmal die ägyptischen Harpedonapten – hätten ihn in geometrischer Beweisführung übertroffen (C. Alexandrinus, Stromateis I. 15. 69.5; Stählin 43f, Overbeck 198). 22 Äg.Wb. I, 59. 18
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Tafeln mit Canopus ponderosus, schwergewichtiger Canopus, wiedergeben23 – und das hätte sehr wohl zu einem archaischen 068 System gehört haben können, in dem Canopus das Gewicht am Ende der Senkschnur war. Hier kommt eine kurze Kette von Schlußfolgerungen, die stichhaltig sein mögen oder nicht. Aber es ist zulässig, sie auszuprobieren, zumal „Herrin jeder Freude” keinerlei Rückschlüsse erlaubt. Die Wendung „Herrin jedes Herzkreislaufs” scheint auszusagen, daß Hathor (= Hat Hor, „Haus des Horus”) die Revolution eines bestimmten Himmelskörpers „regiert” – ob nun Canopus damit gemeint sei oder nicht – oder, sofern wir der Übersetzung „jeder” trauen können, den Umlauf aller Himmelskörper, Was die Identität der regierenden Dame betrifft, spricht die größere Wahrscheinlichkeit für Sirius. Dem Leser bleibt es selbst überlassen, sich auszumalen, wohin Abertausende solcher pseudo-primitiven oder poetischen Übersetzungen führen müssen: zu einer entstellten Interpretation des intellektuellen Lebens der Ägypter. Das Problem der Astrologie – Den schärfsten Bruch zwischen archaischem und modernem Denken markiert die jeweils der Astrologie zugewiesene Rolle. Die archaische Astrologie hatte nichts gemein mit der heute wieder einmal grassierenden Vulgärastrologie, die der unwissenden Öffentlichkeit die Flucht vor der offiziellen Naturwissenschaft erlaubt und für sie eine Art Schwarzer Kunst darstellt, deren Prestige so groß ist wie ihre Prinzipien unverstanden sind. Es ist notwendig, in archaische Zeiten zurückzukehren, zu einem Universum, das von unserer Wissenschaft ebensowenig etwas ahnte wie von den experimentellen Methoden, auf denen sie gründet, und mithin unvertraut war mit der Kunst, das Überprüfbare vom Nicht-Überprüfbaren zu unterscheiden. Es war eine Zeit – reich an einem anderen Wissen, das später verlorenging –, die nach anderen Prinzipien suchte. Sie schuf die Lingua franca der Vergangenheit. Ihr Wissen Vgl. Ludwig Ideler, Untersuchungen über den Ursprung und die Bedeutung der Sternnamen (1809), 238, 250fr; 263-266. 23
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war das um kosmische Übereinstimmungen, die ihren Beweis und ihr Echtheitssiegel in einem spezifischen Determinismus – fast schon in einem Überdeterminismus – fanden, der nicht zu lokalisierenden Kräften unterstand. Die Faszination und Strenge der Zahlen schrieben vor, daß die Übereinstimmungen in ihren vielen Formen exakt zu sein hatten (in diesem Sinn ist Kepler der letzte archaische Mensch gewesen). Die Mannigfaltigkeit der Beziehungen, die gesehen oder intuitiv erfaßt wurde, führte dazu, daß das Universum als nicht nur auf einer, sondern auf vielen Ebenen gleichzeitig determiniert gedacht wurde. Das war die Signatur „panmathematisierender Ideenbildung”. Diese Idee mag sehr wohl zu einer prästabilierten Harmonie auf unendlich vielen Ebenen geführt haben. Leibniz hat uns gezeigt, wie weit das – unter Verwendung von modernem Werkzeug – gehen kann: Das gesamte Universum wurde, komplett mit all seinen individuellen Schicksalen für alle Zeiten, aus einem „Aufleuchten” des göttlichen Geistes geschaffen. Irgendein frühgeschichtlicher oder urgeschichtlicher pythagoreischer Leibniz, dessen Existenz durchaus vorstellbar ist, mag sehr wohl diesen unmöglichen Traum verfolgt haben und dabei weit unschuldiger als unser historisch verbriefter Leibniz an seine Grenzen gestoßen sein. Wenn man von der Macht der Zahl ausgeht, ist unter diesem Gesichtspunkt eine komplette Logik denkbar. Fata regunt orbem, certa stant omnia lege. Der einzige Denker der Antike, der dieser Versuchung nicht unterlag, war Aristoteles, denn er dachte, Formen seien am Anfang nur potentiell vorhanden und verwirklichten sich erst im Lauf des Lebens – auf diese Weise ihr Schicksal als Individuen auf sich nehmend. Aber das liegt daran, daß Aristoteles die Mathematik von vornherein ablehnte. Er hatte Gründe, sich der universalen Synchronizität zu widersetzen (der Begriff und die Idee sind von Carl Gustav Jung ersonnen worden, der Raum durch Zeit ersetzte, was zeigt, daß das archaische Schema mehr Leben als eine Katze hat).
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Doch an dieser Stelle ist Dante als ein Zeuge zur Stelle; denn mit Hilfe seiner Schwarzen Magie, wie der einfache Mensch es zu nennen pflegte, überbrückte er die gesamte Reiseroute – oder sollten wir besser sagen: den cheminement de la pensée – zwischen zwei Weltepochen. Bis ins Innerste ein Aristoteliker, durchdrungen von der Disziplin des Thomismus und folglich mit einer antimathematischen Grundhaltung vorbelastet, ist sein Geist in seiner Reichweite doch fähig, die Sterne im Sinne ihrer pythagoreischen Implikationen zu verstehen. Bei seinem Aufstieg in das Reich des Himmels begegnet er seinem Freund und einstigen Gefährten seiner ausgelassenen und romantischen Jugend, Karl Martel (Paradies, VIII.34-37), der ihm erzählt, was es heißt, zu den Auserwählten zu gehören; „Wir kreisen mit den hohen Himmelsfürsten in einem Kreis, in einem Liebesdurst mit jenen, die du drunten singend riefest: ,Voi che intendendo il terzo ciel movete (Ihr Schauende, des dritten Himmels Lenker.’)”24 Dies ist eines seiner frühen und zudem gefeierten Gedichte; und es stellt im Geiste unverbrämter platonischer Verehrung eine Beziehung zu den himmlischen Intelligenzen her. Das Fortschreiten seines Gesangs durch die drei Reiche wird ihn mehr und mehr in platonische Harmonien versunken zeigen und seinen Glauben an die Astrologie als göttliche Garantie für die Aufrechterhaltung der Ordnung der Natur bekräftigen. So wurden die Voraussetzungen beider Doktrinen gerettet: das Arrangement der Natur durch Gattungen und Spezies (Aristoteles) und die freie Entfaltung des eigenen Selbst (Thomas von Aquin), ausbalanciert in einem plotinischen Kompromiß und von der „Harmonie der Sphären” überschattet. Solcherart war Dantes eigene, unnachahmbare „Schwarze Magie”. Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, ins Deutsche übertragen von Karl Vossler (1986), 397.
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5 Die Entfaltung in Indien Die Rechnung jener, welche mich übergehen, geht nicht auf. Wenn sie mir entfliehen, so bin ich die Flügel. Ich bin der Zweifler und der Zweifel. Ich bin die Hymne, die der Brahmane singt. EMERSON
Die Parallele zwischen der Erzählung von Kai Chosrau und der Schlußszene im großen Epos der Hindus, dem Mahābhārata, hat bereits länger als ein Jahrhundert die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie wurde von dem großen Orientalisten James Darmesteter bemerkt. Auch den Übersetzern von Firdausi ist sie nicht entgangen, und die letzte Phase der Ereignisse analysieren sie wie folgt: Die Legende von Kai Chosraus Melancholie, sein Ausflug in die Berge und seine Aufnahme im Himmel ohne den Tod geschmeckt zu haben, finden ihre Parallele im Mahābhārata, in dem Yudhishthira, der älteste der fünf Pandavas, der Welt überdrüssig wird und sich entschließt, die höchste Staatsgewalt niederzulegen und sich durch eine Wallfahrt verdient zu machen. Als sie von seinem Vorhaben erfahren, beschließen seine vier Brüder – Bhima, Arjuna sowie die Zwillinge Nakula und Sahadeva –, seinem Beispiel zu folgen und begleiten ihn. Yudhishthira ernennt Nachfolger für seine verschiedenen Königtümer. Die Bürger und die Bewohner der Provinzen werden von Angst erfüllt, als sie die Worte des Königs vernehmen und mißbilligen sie. „Das darf nie geschehen“, sagen sie ihrem König. Der Monarch, wohl vertraut mit den von der Zeit bewirkten Änderungen, hört nicht auf ihre Ratschläge. Da er im Besitz
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einer rechtschaffenen Seele ist, überredet er das Volk, seine Sichtweise gutzuheißen … Dann entledigt sich Dharmas Sohn, Yudhishthira, der König der Pandavas, all seines Zierats und kleidet sich mit der Rinde von Bäumen … Die fünf Brüder, denen sich als sechste Draupadi (sie war die gemeinsame Gattin der Brüder) und als siebter ein Hund anschließen, machen sich auf ihren Weg. Die Bürger und die Hofdamen folgen ihnen eine Weile … Dann kehren die Einwohner der Stadt zurück [genauso wie es Kai Chosraus Untertanen getan hatten, H.v.D.]. In der Zwischenzeit haben die sieben Pilger ihre Reise fortgesetzt. Zuerst wandern sie gen Osten, dann gen Süden und dann gen Westen. Schließlich wenden sie sich gen Norden und überqueren den Himalaya. Dann erblicken sie vor sich eine weite Sandwüste und hinter dieser den Berg Meru. Einer nach dem anderen sinken die Pilger erschöpft nieder und hauchen ihr Leben aus; zuerst Draupadi, dann die Zwillinge, danach Arjuna und zuletzt Bhima. Yudhishthira aber, der sich nicht ein einziges Mal nach seinen gefallenen Gefährten umschaut, kämpft sich noch 071 voran – gefolgt von dem treuen Hund, der sich als verkleideter Dharma (das Gesetz) herausstellt – und betritt den Himmel in seinem sterblichen Körper, ohne vom Tod berührt worden zu sein.
Von den untergeordneten gemeinsamen Merkmalen legen die Warners besonderen Wert auf diese: Beide wandern in die Berge mit einer treu ergebenen Gruppe, deren Anzahl in beiden Fällen dieselbe ist; und beide werden von einem göttlichen Wesen begleitet, denn der Part des Hundes in der indischen Legende wird in der persischen von Serosch, dem Engel von Urmuzd, übernommen. Beide Male gelangen die Anführer ohne zu sterben in den Himmel, und beide Male kommen ihre sterblichen Gefährten ums Leben. Folglich muß die eine Sage von der anderen hergeleitet worden sein; andernfalls – und das scheint die bessere Annahme zu sein – müssen sie auf einen gemeinsamen Ursprung hohen Alters zurückgeführt werden.1 The Shahnama of Firdausi, trslt. by Arthur George and Edward Warner (1905-1909), 4, 136ff. Die Hervorhebungen durch Kursivschrift sind von uns. 1
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Von hohem Alter müssen diese Sagen in der Tat sein, denn sonst gäbe es nicht das sehr ähnliche Ende, welches Henoch und Quetzalcoatl zugeschrieben wird. Und genau wie Kai Chosraus Paladine nicht den Rat des Schahs befolgten, nicht bis zu seinem Aufstieg in den Himmel bei ihm zu bleiben – die Menge war ohnehin zurückgelassen worden –, so drängt tatsächlich auch Henoch sein Gefolge, umzukehren: „Kehrt ihr heim, der Tod wird sonst über euch kommen, so ihr mir weiter folgt.” Die meisten von ihnen – es waren 800.000 anwesend – befolgten seine Worte und gingen zurück, aber einige blieben sechs Tage bei ihm … Am sechsten Tag der Reise sprach er zu jenen, die ihn noch begleiteten: „Kehrt ihr heim, denn am morgigen Tag werde ich gen Himmel fahren, und wer auch immer dann in meiner Nähe sein wird, der wird sterben.” Dennoch blieben einige seiner Gefährten bei ihm, indem sie sagten: „Wohin auch immer du gehst, dorthin werden auch wir gehen. Beim lebendigen Gott, nur der Tod soll uns scheiden.“ Am siebten Tag wurde Henoch von einem feurigen Wagen, der von feurigen Rossen gezogen wurde, in den Himmel getragen. Am Tage darauf sandten die Könige, die rechtzeitig umgekehrt waren, Kundschafter aus, um nach dem Schicksal der Männer zu forschen, welche sich geweigert hatten, sich von Henoch zu trennen, denn die Könige hatten sich deren Anzahl notiert. An der Stelle, wo Henoch aufgestiegen war, stießen sie auf Schnee und riesige Hagelkörner, und als sie darunter nachschauten, entdeckten sie die Körper all jener, die mit Henoch zurückgeblieben waren. Allein er war nicht unter ihnen; er war hoch oben im Himmel.2
Quetzalcoatls Paladine, „die Sklaven, Zwerge, Buckligen … sie alle erfroren … auf alle fiel der Schnee hernieder”, und zwar auf dem Gebirgspaß zwischen Popocatepetl und Iztactepetl.3 Louis Ginzberg, Legends of the Jews (1954), I, 129ff; Micha Josef Bin Gorion, Die Sagen der Juden (1969),122f. 3 Eduard Seler, Einige Kapitel aus dem Geschichtswerk des Fray B. de Sahagún (1927), 290. 2
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Quetzalcoatl, der wehklagte und sich unsäglich einsam fühlte, 072 mußte noch weitere Stationen überstehen, bevor er sich auf seinem Schlangenfloß in die Luft erhob, dabei verkündend, daß er eines Tages wiederkehren werde, „zu richten die Lebendigen wie die Toten” (Appendix 3). Wenn es nur um die trockene Tatsache von Yudhishthiras Aufstieg und dem Ende seiner Gefährten hoch oben in den Bergen ginge, hätten wir den Irrgarten des gesamten Mahābhārata umgehen können. Aber labyrinthisch wie dieses zwölfbändige Epos nun einmal ist – und das gleiche gilt für die Puranas –, offeriert der indische Mythos Schlüssel zu geheimen Kammern, die sonst nirgendwo zu haben sind. Das Mahābhārata erzählt von dem Kampf der Pandavas und der Kauravas, also der Panduund der Kuru-Brüder, der mit dem Kampf der Perser und Turanier, der Söhne des Kaleva, des Volkes von Untamo usw. korrespondiert. Insofern ist uns die allgemeine Situation nicht fremd. Aber das Epos stellt unmißverständlich fest, daß dieser gewaltige Krieg in der Zeitspanne zwischen dem Dvapara- und dem KaliYuga4 ausgefochten wurde. Diese „Dämmerung” zwischen zwei Weltaltern kann näher spezifiziert werden. Die wirkliche Seele und Kraft auf der Seite der Pandavas ist Krishna – in den Worten von Arjuna: „Jener, der unsere Stärke war, unsere Macht, unsere Heldenhaftigkeit, unsere Tapferkeit, unser Glanz, hat uns verlassen und ging von dannen.”5 Nun handelt es sich bei Krishna („der Schwarze”) um die hervorragendste Inkarnation Vishnus. Und nur als Krishna von dem Jäger Jara („hohes Alter”) in die Ferse (oder Fußsohle) geschossen wurde, der einzig verletzbaren Stelle seines Körpers, entschieden sich auch die Pandavas zum Rückzug – so wie es Mbh. I.2. (in der englischen Übersetzung von Roy I, 18), Siehe Hermann Jacobis Mahābhārata (1903), 2. Das Kali-Yuga ist das vierte Weltalter. Es entspricht dem „eisernen” des Hesiod. 5 Vishnu Purāna 5.38 [in der englischen Übersetzung von Wilson (1840; 3. Ed. 1961), 484]. 4
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auch Kai Chosrau nach dem Tod von Kai Kawus tat. In dem Moment stellte Kai Chosrau fest: „So ziemt mir nun, zu gehen … weil Krone und Thron der Kajaniden ihr Ende finden.” Und genau das geschieht an dem folgenden kritischen Punkt: Als jener Teil von Vishnu (der von Vasudeva und Devaki geboren worden war) in den Himmel zurückkehrte, da begann das KaliYuga. Solange die Erde von seinen heiligen Füßen berührt wurde, hatte das Kali-Yuga keinen Einfluß auf sie. Sobald die Inkarnation des ewigen Vishnu dahingegangen war, dankten der Sohn des Dharma, Yudhishthira, und seine Brüder ab … Der Tag, an dem Krishna von der Erde gegangen sein wird, wird der erste Tag des Kali-Yuga sein … Es wird sich über den Zeitraum von 360.000 Menschenjahren fortsetzen.6
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Und so wie Krishna wieder mit Vishnu vereint ist, wie Arjuna wieder in Indra7 eingeht und Balarama in die Shesha-Schlange, so wird es auch den anderen Helden ergehen. Wenn also Yudhishthira zum Schluß mit seiner ganzen Pandu-Familie wiedervereint ist, so ist das eingetreten, was der Dichter Sauti wie folgt erklärt: „Daß die verschiedenen Helden, nachdem sie ihr Karma erfüllt haben, wieder mit jener Gottheit vereint werden, deren Avataras. sie waren.“8
Yudhishthira wird mit dem als Hund verkleideten Dharma Vishnu Purāna 4,24 (in der englischen Übersetzung von Wilson Seite 390). Cf. 5.38, 481f: „Und an demselben Tag, an dem Krishna von der Erde gegangen war, stieg die machtvolle, dunkle Gestalt des Kali-Yuga herab. Das Meer erhob sich und begrub das ganze Dvaraka unter sich”, das heißt: die Stadt, die Krishna – laut Vishnu Purāna 5.23, 449 – selbst erbaut hatte. 7 Siehe Vishnu Purāna 5,12 (Wilson-Übersetzung, 422), wo Indra Krishna erzählt: „Hin Teil von mir ist als Arjuna geboren.” 8 Mbh, 18.5 (Swargarohanika Parva) (Roy-Übersetzung 12, 287-290). Siehe auch H. Jacobi, Mahābhārata (1903), 191. 6
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wiedervereint.9 Von diesem Ausgangspunkt aus betrachtet nimmt sich das finnische Epos aus wie eine letzte blasse und anscheinend unbedeutende Widerspiegelung: Kullervo geht mit dem schwarzen Hund Musti* der einzigen lebenden Seele, die von seinem Zuhause übriggeblieben ist, in den Wald, wo er sich in sein Schwert stürzt. Was geschieht nun mit Krishna, der beliebtesten Gottheit im hinduistischen Pantheon? Einige seiner unzähligen Taten und siegreichen Abenteuer vor seinem „Weggang” werden uns vertraut vorkommen. Der junge Krishna ist der drangsalierte Neffe eines grausamen Onkels, Kansa (oder Kamsa), und beide sind, wie Keith10 es ausdrückt, „Protagonisten in einem rituellen Kampf“. Das ist keine bescheidene Untertreibung, sondern eine grobe Irreführung. Kansa ist ein Asura (Appendix 4) und Krishna ein Deva, und das wiederum bedeutet, daß sich die Affäre auf die großen göttlichen „Parteien” (Iran kontra Turan und dergleichen) bezieht. Der Onkel, durch Prophezeiungen über die Gefahr vorgewarnt, die von dem achten Sohn der Devaki und des Vasudeva ausgeht, tötet sechs Kinder dieses Paares; das siebte (Balarama) und das achte (Krishna) können jedoch gerettet werden und leben bei Hirten. Dort vollbringt Krishna einige der für den „Starken Knaben” typischen Taten. Auf der letzten Stufe seiner Entartung angekommen, finden wir Dharma, den Hund, in einem Märchen aus Albanien: Die jüngste Tochter eines Königs – ihre beiden Schwestern ähneln Regan und Coneril – bietet sich an, anstelle ihres Vaters in die Schlacht zu ziehen, nur drei Anzüge und den väterlichen Segen erbittend. „Also schaffte der König drei Anzüge für Männer herbei und gab ihr seinen Segen; und dieser Segen verwandelte sich in einen kleinen Hund und ging mit der Prinzessin.” [J.G. von Hahn. Griechische und Albanische Märchen (1918), 2, 146] 10 Arthur Berriedale Keith, Indian Mythology (1917), 126. Bzgl. der Taten von Krishna vgl. Seite 172ff. 9
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Wenn Kullervo im Alter von drei Tagen seine Wiege zerstört, so können wir auch von Krishna ähnlich Spektakuläres erwarten. Und wir werden nicht enttäuscht: Bei einer Gelegenheit, während Madhusadana unter dem Wagen schlief, schrie er nach der Brust, und mit seinen Füßen um sich tretend kippte er das Fahrzeug um, so daß alle Töpfe und Pfannen durcheinander gerieten und zerbrachen. Die Kuhhirten und ihre Frauen hörten den Lärm und kamen wetternd herbei: „Ah! Ah!“; und sie fanden das Kind auf dem Rücken schlafend, „Wer könnte denn den Wagen umgestoßen haben?” sagten die Kuhhirten. „Dieses Kind”, entgegneten einige Jungen, die bei dem Vorfall zugegen gewesen waren, „wir haben ihn gesehen”, sagten sie, „wie er schrie und mit den Füßen gegen den Wagen trat, so daß er umgestoßen wurde; niemand sonst hat damit etwas zu tun gehabt.” Die Kuhhirten waren äußerst erstaunt über diesen Bericht.11
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Eines Tages war das Kind wiederholt ungehorsam zu seiner Mutter, woraufhin sie ärgerlich wurde. Eine Kordel um seine Taille befestigend, band sie ihn an den hölzernen Mörser Ulukhala, und in heftigem Zorn sagte sie zu ihm: „So, du frecher Bengel, geh weg von hier, falls du kannst.” Dann widmete sie sich ihrer Hausarbeit. Sobald sie gegangen war, zerrte der lotusäugige Krishna, darauf bedacht, sich zu befreien, den Mörser hinter sich her zu dem Platz zwischen den beiden AriunaBäumen, die nahe beieinander wuchsen. Als er den Mörser zwischen diese Bäume geschleppt hatte, wurde der Mörser eingekeilt, und als Krishna ihn hindurchzog, riß er die Baumstämme zu Boden. Den krachenden Lärm hörend, eilte das Volk von Vraja herbei, um zu sehen, was geschehen sei; und da erblickten sie die zwei großen Bäume, mit zerschlagenen Stämmen und zerbrochenen Ästen am Boden hingestreckt, das Kind, mit einem Seil um den Bauch, zwischen ihnen feststeckend, lachend und seine kleinen weißen Milchzähne zeigend … Die Ältesten der Kuhhirten … betrachteten diese Umstände mit Besorgnis und hielten sie für ein schlechtes Omen. 11
Vishnu Purana 5.6 (Wilson-Übersetzung, 406f).
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„Wir können nicht an diesem Ort bleiben”, sagten sie, „laßt uns in einen anderen Teil des Waldes gehen.”
Sie zogen also nach Vrindavana, genau dorthin, wohin das Kind es sich gewünscht hatte. Das Harivamsha erklärt den Umzug nach Vrindavana auf diese Weise: Krishna verwandelt die Haare seines Körpers in Hunderte von Wölfen, welche die Bewohner von Vraja – die erwähnten Kuhhirten – dermaßen belästigen und in Unruhe versetzen, daß sie beschließen, ihre Heimat zu verlassen.12
Zur Abwechslung scheint im indischen Epos die Episode, in der Krishna seine Haare in Hunderte von Wölfen verwandelt, eine unbedeutende Bagatelle zu sein, verglichen mit Kullervos Wölfen („Singt die Wölfe sich zu Kühen / baut sich aus den Bären Rinder”), dies um so mehr, als Krishna die Kuhhirten nur „belästigt und in Unruhe versetzt”. Diese Raubtiere, die für das „Urkind” – sei es Kullervo oder Dionysos (siehe oben Seite 30) – unentbehrlich sind, kommen in Krishnas Geschichte jedoch immerhin vor; und das ist bemerkenswert genug. Als Kansa13 von Krishnas und Ramas Taten hört, läßt er die beiden Jungen in seine Hauptstadt bringen, um dort ihren Tod herbeizuführen, falls er sie nicht vorher umbringen kann. Es ist unnötig zu sagen, daß alles vergebens ist: Krishna tötet Kansa sowie all seine Krieger und setzt Kansas Vater auf den Thron. Krishna gibt nicht vor, ein Schwachkopf zu sein, der immerzu lächelt. Er beteuert nur immer wieder, ein einfacher Sterblicher zu sein, während jeder ihn als den größten Gott zu verehren wünscht, der er ja auch ist. Noch ist er als typischer „Rächer” bekannt. Ihm wurde von höherer Stelle die Aufgabe übertragen, Vishnu Purana 5.6 (Wilson-Übersetzung, 406f). Jener „Onkel”, bei dem es sich in Wirklichkeit um „den großen Asura Kalanemi handelt, der von dem mächtigen Vishnu getötet wurde … lebte in Kansa, dem Sohn des Ugrasena, wieder auf“ [Vishnu Purana 5.1 (Wilson-Übersetzung, 396)]. 12 13
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die Erde zu befreien – so „überlastet” mit Asura wie sie war –, so wie er es immer wieder in seinen früheren Avataras getan hatte. Dennoch gehört Krishna hierher, denn die indische Überlieferung hat das Bewußtsein von dem kosmischen Rahmen bewahrt; und dies allein verleiht dem Kriegsgeschehen sowie der Vorstellung von Verbrechen und Bestrafung, wie sie im Mythos auftauchen, eine Bedeutung. Es ist zwar üblich, Philosophie und Mythologie auseinanderzuhalten, aber diese Trennung läßt sich nicht immer aufrechterhalten. Die vielen Götter und Helden, die ihre Väter rächen – angefangen mit „Horus-dem-Rächer-seines-Vaters” und „Ninurta, der seinen Vater gerächt hat” – erfüllen bestimmte, ihnen zugewiesene Funktionen, genauso wie die lange Reihe böser Onkel. Diese Pseudo-Personen „zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung (katà tou chrónou táxin)”, wie Anaximander „es in diesen eher poetischen Ausdrücken beschreibt”. Letzteres ist eine Hinzufügung von Theophrast (bei Simplikios). Direkt zuvor aber heißt es: „Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron (das grenzenlos Unbestimmbare). Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe … ”14 Und was da aus dem ápeiron, das wir jetzt undiskutiert lassen, hervorgeht und sich fortan gegenseitig Schulden bezahlt, sind „alle Himmel und die kósmoi in ihnen”. Der ebenfalls den Anaximander-Bericht des Theophrast anführende „Pseudo-Plutarch” Frg, 1, Diets-Kranz, FVS 6, 89; Hermann Diels, Doxographie Graeci (1965), 476; G.S. Kirk und J.E. Raven, The Presocratic Philosophers (1952), 106f, 117f: „… hetéran tinà phýsin ápeiron, ex hês hápantas ginesthai ouranoùs kaì toùs en autois kósmous. ex hôn dè hê génesís” esti tois ousi, kaì tên phthoràn eis tauta gíinesthai ’katà tò chreôn. didónai gàr autà dikên kaì tísin allêlos tês adikías katà tên tou chrónou táxin’, poiêtikôtérois houtôs onómasin autà légôn“, Kirk und Raven: „… according to the assessment of Time”. 14
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weiß außerdem: „Er erklärte, daß das Vergehen, und viel früher das Entstehen, sich seit ungezählten Altern ereigne, da sie alle in Zyklen stattfinden.”15 In diesem Zusammenhang erinnere man die Aussage Ciceros: „Es ist die Meinung des Anaximandros, Götter würden geboren in langen Intervallen des Aufgehens und Untergehens, und sie seien ungezählte Welten – oder die ungezählten Welten”16 Theophrast fand die Ausdrucksweise des Anaximander „eher poetisch” – tatsächlich sieht sie jedoch nach einer alten kosmologischen Terminologie aus. Ungeachtet seiner sehr viel phantastischeren Sprache, gibt es eine Übereinstimmung zwischen dem indischen Epos und den Gedanken Anaximanders. Vishnu kehrt regelmäßig in seiner Eigenschaft als „Rächer” wieder und fordert die „gemäß der Ordnung der Zeit” fällige „Buße” bei dem schlechten Onkel ein. Im Mahāhhārata tut er dies unter dem Namen Krishna; aber er wird in Gestalt eines anderen Avatara erneut kommen, um die Erde von den sie belastenden Asura zu säubern. Auch die Asura werden erst zu „anmaßenden Charakteren” – und dies sozusagen „fahrplanmäßig”. „Ursprünglich”, heißt es, „waren die Asura gerecht, gut und wohltätig … Aber später, als sich ihre Zahl vermehrte, wurden sie stolz, eitel und streitsüchtig.”17 Von Vishnu unter dem Namen Kalki wird erwartet, er werde ein neues Krita-Yuga (Goldenes Zeitalter) einleiten, sobald dereinst unser gegenwärtiges Kali-Yuga sein schlimmes Ende erreicht haben wird. G.S. Kirk und J.E. Raven, op,cit., 106f: „apephênato dè tên phthoràn gínesthai kaì polỳ próteron tên génesis ex apeírou aiônos anakykiouménôn pántôn autôn („He declared that destruction, and much earlier coming-to-be happen from infinite ages, since they are all occuring in cycles”)”. 16 Cicero, De natura deorum I.25, c. 10: „Anaximandri autem opinio est, nativos esse deos longis intervallis orientis occidentisque eosque innumerablis esse mundos.” 17 Michael Viggo Fausbøll, Indian Mythology according to the Mahāhhārata (1902), 40. 15
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Die regelmäßige Wiederkehr der Avataras von Vishnu trägt dazu bei, die Sache zu erhellen. Weil es ohnehin Vishnus Funktion ist, in regelmäßigen Zeitabständen zurückzukommen, gibt es in dem Epos keine Notwendigkeit, die Rache besonders hervorzuheben, die Krishna an seinem Onkel Kansa übt. Im Westen jedoch, wo die Kontinuität kosmischer Prozesse, wie sie durch den Mythos erzählt wurde, in Vergessenheit geraten ist – und damit auch das Wissen, daß Götter Sterne sind –, wird derselben Rache große Wichtigkeit beigemessen, handelt es sich doch um eine einmalige Handlung, die von einer einzelnen Person – ob Held oder Gott – ausgeführt wird; und dieser Held oder Gott wird obendrein als die Erfindung phantasiebegabter Dichter verstanden. Die Berücksichtigung der indischen Überlieferung ermöglicht es, den Kontext wiederzuentdecken, in dem Charaktere wie Saxos Amlethus oder solche unglücklichen Figuren wie Kullervo eine Aussagekraft haben. Wenn man sich erst einmal völlig im klaren darüber ist, daß „der Tag, an dem Krishna die Erde verläßt, der erste Tag des Kali-Yuga sein wird”, dann ist der richtige Blickwinkel eingestellt. Unser Held steht genau auf der Schwelle zwischen einem abgeschlossenen Zeitalter und einer neuen Stunde Null. In der Tat schließt er das alte Zeitalter ab. Die unscheinbarsten Details werden bedeutungsvoll, wenn man sie aus dieser Sicht betrachtet. Saxo zum Beispiel teilte die Biographie von Amlethus, ohne viel darüber nachzudenken, in zwei Hälften (wobei er den Held beiläufig in Bigamie verstrickte); und in der gleichen Art erzählte uns auch Firdausi neun Zehntel von Chosraus Abenteuern in dem Buch über Kai Kawus. Das ist um so verwirrender, als Firdausi feststellte: „… denn von heute an wird sich alles ändern, es werden neue Festtage und Sitten die alten ablösen, denn heute Nacht wurde Schah Kai Chosrau geboren.” Firdausi, der sich in Astrologie sehr gut auskannte, bestand auf der Geburt des Schahs, denn im astrologischen Sinn ist die Geburt der entscheidende Moment. Aber hier und in ähnlichen Fällen, in denen Chronologie zur Debatte steht,
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ist es der Moment des Todes, des Verlassens der Bühne, auf den es ankommt. Krishnas Weggang liefert das Schema. In einem 077 Kapitel über „The Festivals of the Months of the Persians”, in dem er das Fest Naurôz („Neuer Tag”) schildert, schreibt alBīrūnī: Am 6. Tag von Farwadîn, dem Tage Khurdâdh, findet das Große Naurôz statt, für die Perser ein Fest von großer Wichtigkeil. An diesem Tag – so sagen sie – vollendete Gott die Schöpfung, denn es ist der letzte der sechs Tage … An diesem Tag schuf Gott Saturn, folglich sind seine glücklichsten Stunden die des Saturn. Am selben Tag – so sagen sie – pflegte die Sors Zarathustrae bei Gott Einkehr zu halten, und Kaikhusrau fuhr in die Luft hinauf. Am selben Tag werden die Glückslose unter die Menschen auf der Erde verteilt. Deshalb nennen ihn die Perser den „Tag der Hoffnung”.18
Von der Kajaniden-Dynastie – laut al-Bīrūnīs Chronologie die „Helden” –, welche die erste pischdadische Dynastie („die Gerechte”) ablöst, wird angenommen, sie habe mit Kai Kubad, einem Sohn Kai Kawus’ und dessen Enkel Kai Chosrau begonnen und mit Sikander, Alexander dem Großen, geendet. Aber es ist offensichtlich, daß mit Kai Chosraus Aufstieg in den Himmel etwas Neues anfängt. Folglich konstatieren die Warners, daß mit unserem Schah „der alte epische Zyklus des Gedichts zu einem Ende findet; und bis zu dieser Stelle können die Kajaniden als Ergänzung der Dynastie der Pischdadiden betrachtet werden.“19 In ihrer Einleitung zu der Übersetzung von Firdausi machen die Warners allerdings geltend, das Gedicht sei in zwei Perioden unterteilt, in eine mythische und eine geschichtliche:20 al-Bīrūnī. The Chronology of Ancient Nations, übersetzt von C.E. Sachau (1879), 201, Die Hervorhebung durch Kursivschrift ist von uns. 19 Firdausi (Warner-Übersetzg.), 2, 8f. 20 Die Zeitstruktur ist äußerst kompliziert, und mit einer Unterteilung in zwei „Perioden” können wir überhaupt nichts anfangen – um so weniger, als sich die Regentschaften der Schahs mit der ziemlich übernatürlichen Lebensdauer der „Helden” oder Paladine (Rostam, Sal 18
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Diese Unterscheidung beruht weniger auf der Natur der Sache als auf den Namen der Hauptcharaktere. An einer bestimmten Stelle des Gedichts hören die Namen auf, mythisch zu sein und werden historisch. Die mythische Periode erstreckt sich vom Beginn der Erzählung bis hin zu den Regentschaften der letzten beiden Schahs der kajanischen Dynastie … Die fraglichen Schahs sind Dara, Sohn des Darab, besser bekannt als Darms Kodornannos, und Sikander (Alexander).21
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Firdausi macht klar, daß die mythische Periode erst mit dem Tod Alexanders endet; die letzten beiden Schahs waren Darius Kodomannos und Alexander, der den erstgenannten bezwang. Nach ihm fängt die „geschichtliche” Periode des Gedichts an. Mit anderen Worten: „Geschichte” beginnt erst, als das iranische Imperium verschwunden ist, um von den Nachfolgern Alexanders ersetzt zu werden. Die großen und historisch gesicherten Taten eines Darius I. Xerxes, Kambyses usw. aus der Geschichte zu entfernen, ist widersinnig für ein Gedicht, das dazu dienen soll, das iranische Imperium zu preisen. Vermutlich dachte Firdausi, die Zeit der Vorherrschaft der zarathustrischen Religion sei heilig und gehöre mithin eher zum Mythos denn zur gewöhnlichen Historie. Dies wird durch eine merkwürdige Behauptung der Warners bekräftigt: „Ob zu Recht oder nicht, bringt die zoroastrische Überlieferung Alexander als einen der drei Erzfeinde des Glaubens mit Zahhak und Afrasiab in Verbindung.“22 Die großen Mythen der avestischen Religion haben über die Chronologie gesiegt und sie zu ihrem eigenen Zweck umgeformt. Die wirklichen Könige von Persien sind ungeachtet ihres usw.) überschneidet. Dasselbe gilt für die „uranfänglichen” Kaiser von China und ihre „Vasallen”. Aber Gott schütze uns davor, uns mit Tabellen angeblicher „Könige” gleichweicher Reiche anzulegen, aber insbesondere der iranischen! 21 Firdausi (Warner-Übersetzg.) 2, 49f. 22 Firdausi (Warner-Übersetzg.) I, 59. Zahhak entspricht dem avestischen Drachen Dahāka.
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Ruhms verschwunden; an ihre Stelle traten mythische Gestalten und mythische Kämpfe. Anfangs spielt Kai Chosrau eine „Jamshyd”-Rolle; und mit seiner Fahrt gen Himmel – das Datum, welches ab jetzt Neujahr markiert – kommt das Heilige Imperium wirklich zu einem Abschluß. Der Kampf ist durchweg zwischen Göttern und Dämonen ausgefochten worden. Wir sind der Geschichte der Mächte, die zuerst in den iranischen und dann in den indischen „Königen” verkörpert wurden, bis zu ihrem Ende gefolgt – einer Geschichte, die auf unterschiedliche Weise von zwei unterschiedlichen Sagen hervorgehoben wird. Jede Sage hat eine beunruhigende Ähnlichkeit mit der anderen, und jede entfernt die Erzählung von allen bekannten klassischen Mustern, dabei das Geschehen zu einem verhängnisvollen Abschluß bringend, der eindeutig von der Zeit selbst diktiert wird – und von einer Kette von Ursachen, die sich sehr von jener unterscheidet, welche die tatsächlich aufeinander folgenden Ereignisse in den Texten indizieren. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sollte betont werden, daß es vorläufig unmöglich ist, genau zu bestimmen, wer die einzelnen Personen sind, oder Brjam eindeutig mit Yudhishthira beziehungsweise Krishna zu identifzieren. Aber die Hinweise, die von den Iranern und Indern zur Verfügung gestellt werden, können zu einem besseren Verständnis von Kullervo („… in ihm ist Kaleva wiedergeboren”) verhelfen; und sie sind ein Verweis darauf, daß die Heldentat des „hündischen Schwachkopfes” Brutus, der die Könige verjagte, auf einer höheren Ebene als der politischen von Bedeutung war. Damit soll nicht bestritten werden, daß die Könige vertrieben wurden; vielmehr soll die Aufmerksamkeit auf eine Gruppe fest geprägter „Redewendungen” gelenkt werden, die, ursprünglich zur Beschreibung „großer” Umwälzungen (wie etwa des Hereinbrechens des Kali-Yuga) bestimmt, auf die Schilderung eher untergeordneter historischer Ereignisse übertragen werden konnten – und es auch wurden.
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Mit suggestiven Einblicken von anderen Erdteilen gestärkt, ist es nunmehr an der Zeit, einen frischen Blick auf Shakespeares edlen Prinzen zu werfen, den kultivierten, suchenden Intellektuellen – Stimmungsbarometer und Tonangeber am dänischen Hof –, der früher einmal als eine Persönlichkeit von außergewöhnlicher Macht, von universalem Rang bekannt war und den man im Norden als den Eigentümer einer gewaltigen Mühle kannte. Von der Kirche gut ausgebildet, konnte Saxo in exzellentem und blumigem Latein schreiben, was zu seiner Zeit eine seltene Leistung war. Obwohl er, inspiriert von seinem Patriotismus, die ganze Chronik seines Landes schreiben wollte, blieb er in Dänemark ein zwar respektierter, aber dennoch isolierter Fisch in einem provinziellen Teich. Sein Interesse blieb auf das kulturelle Zentrum seiner Zeit gerichtet, und das war Island. Von dort mußte er den Großteil seines Materials beziehen, auch wenn er dazu beitrug, es zu „dänisieren”, wie wir aus der Geschichte von Hamlet ersehen können, in welcher alle Merkmale auf die Geschichte einer einheimischen Dynastie hinauslaufen. Aber was er von Island bezog, waren Bruchstücke einer bereits „historischen” Kunde. Im Gegensatz zu Snorri Sturluson war es ihm nicht vergönnt, alle Möglichkeiten zu nutzen, die eine hohe Position im Zentrum von Islands zweisprachiger Kultur mit sich brachte; auch konnte er nicht auf die Erfahrungen eines weitschweifenden und abenteuerlichen Lebens zurückgreifen. Er hätte niemals, wie Snorri, den großen Plan entwerfen können, das Corpus heidnischer und skaldischer Überlieferung vor einem bereits
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christlichen Hintergrund neu zu gestalten. Es scheint, daß Saxo die isländische Sprache recht gut beherrschte; allerdings nicht gut genug, um diese preziöse und gewundene Sprache der alten Dichter zu verstehen. Er war sich seiner Orientierung nicht sicher und arrangierte seine Geschichte so gut er es konnte, obgleich allein der Name von Hamlets Vater, Orwendel (siehe Appendix 2), hätte ausreichen müssen, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß er es mit hoher Mythologie zu tun hatte. Es ist Snorri, der eine kleine, aber entscheidende Information liefert; und sie findet sich, wie weiter oben angemerkt, im 16. Kapitel seiner Skaldskaparmål, einer Sammlung von Kenningar beziehungsweise Rede080 wendungen alter Barden. Sie ist in einer Sprache abgefaßt, die selbst heutige Gelehrte nur versuchsweise übersetzen können. In Appendix 5 werden die vielen Versionen diskutiert. Die hier wiederholt zitierte stammt von Gollancz und scheint die am sorgfältigsten übersetzte zu sein; T’is said, sang Snaebjörn, that far out, off yonder ness, the Nine Maids of the Island Mill stir amain the host-cruel skerry-quern – they who in ages past ground Hamlet’s meal. The good chieftain furrrows the hull’s lair with his ship’s beaked prow. Here the sea is called Amlodhi’s Mill.1
Diese Mühle ist also nicht nur sehr groß und aus uralter Zeit, sondern sie ist auch für die ursprüngliche Hamlet-Geschichte von zentraler Bedeutung. Sie kommt in der Skaldskaparmål noch einmal vor, und zwar als Snorri erklärt, warum eine Kenning für Gold „Frodis Mehl” ist.2 Zwar wird Frodi in den Chroniken erFür verschiedene Versionen der deutschen Übersetzung siehe Seite 23, Fußnote 10. 2 Skaldskaparmål 42, entsprechend Arthur Gilchrist Brodeur (1929), 163169, sowie G. Neckel und F. Niedner [Thule 20 (1942), 195f]. Die anderen Übersetzer können sich mit der Art der Aufteilung des Werks in Kapiteln nicht einverstanden erklären, sofern sie davon nicht sowieso Abstand nehmen, wie zum Beispiel Rasmus B. Anderson (1880), 2061
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wähnt, aber in Wirklichkeit ist sein Name ein Pseudonym für Freyr, einem der großen Wanen oder Titanen des altnordischen Mythos. Snorri, der den Dingen gerne einen historischen Unterton beimischt, wie es seiner christlichen Erziehung geziemt, ordnete seinen Frodi „derselben Zeit zu, als Kaiser Augustus über alle Welt Frieden verbreitete; damals wurde Christus geboren.” Unter König Frodi herrschten ähnliche Zustände wie im Goldenen Zeitalter, weshalb die Zeit seiner Regentschaft „FrodiFrieden” genannt wurde. Saxo schließt sich dem an und fügt nichtsahnend eine Festsetzung dieser Friedenszeit auf dreißig Jahre hinzu.3 Nun ergab es sich, daß Frodi der Eigentümer einer riesigen Mühle war, die von der Stelle zu bewegen keine menschliche Kraft imstande war. Ihr Name war Grotti („der Zermalmer”).4 Es wird uns nicht verraten, wie er zu dieser Mühle kam; es geschah einfach, wie das in Märchen so üblich ist. Frodi reiste umher, um nach jemandem Ausschau zu halten, der die Mühle bedienen könne. In Schweden traf er schließlich auf zwei Mägde des Geschlechts der Riesen, Fenja und Menja, die mit Grotti umgehen konnten. Es war eine magische Mühle; und Frodi wies seine Mägde an, Gold, Frieden und Glück zu mahlen. Das taten sie auch. Aber in seiner Gier trieb Frodi sie Tag und Nacht an. Er gestattete ihnen keine längere Pause als es braucht, einen Vers aufzusagen. Eines Nachts, als alle anderen schliefen, hörte die Riesin Menja in ihrem Zorn auf zu arbeiten und sang ein unheilbringendes Lied. Diese nächtliche prophetische Verwünschung ist, wie Müllen081 213, dessen Übersetzung wir hier teilweise zitieren. [Karl Simrock (o.J.), 89-93, nennt es Kapitel 63] 3 P. Herrmann, Die Heldensagen des Saxo Grammaticus (1922), 376ff. 4 Jan de Vries, Altnordisches Etymologisches Wörterbuch (1961), 191, Siehe die ausführliche Diskussion Grottis und vergleichbarer Mühlen bei Otto Sigfrid Reuter, Germanische Himmelskunde (1934], 235, 237243.
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hoff nachgewiesen hat, das älteste noch erhaltene Dokument skaldischer Literatur und geht Snorris Erzählung weit voraus. Es enthält die Biographie der grimmigen Schwestern: „Nicht warst du, Frodi, / bei vollem Verstand, du Männerfreund, / bei der Mägde Kauf: du erkorst sie dir, / weil sie kräftig aussahn, und fragtest nicht / nach der Frauen Geschlecht. Hrungnir war kühn, / ein Held sein Vater, doch Thiazi war stärker / an Thursenkraft; auch Idi und Ornir f sind unsers Geschlecht, da wir beide entsprangen / dem Bergriesenstamm. Nicht läge Grotti / im grauen Fels, der harte Stein / in der Höhlung der Erde, und mahlen nicht würde / die Maid der Riesen, wenn irgend einer / die Abkunft wüßte. Wir Gewaltigen wuchsen /der Winter neun als Gespielen im Innern / der Erde auf; wir Mädchen vollführten / mächtige Thaten, verrückten Berge /mit Riesenkraft. Wir wälzten Steine / zum Wall der Thursen, daß behend ringsum / der Boden schwankte; so warfen wir / bewegliche Steine, mächtige Blöcke / den Männern zu. Des Künftigen kundig / zum Kampfe darauf lenkten den Schritt wir / zum Lande der Schweden; Brünnen zerschlugen wir / brachen Schilde der Graugepanzerten / Glieder durchschreitend … Das setzten wir fort / in den Sommern darauf und errangen in Kämpfen / die Krone des Ruhms; wir schlugen Wunden / mit schaffen Speeren, das Eisen rötend / mit edlem Blut.
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Nun kamen wir / zu des Königs Hause, der uns mitleidslos / zu Mägden erniedrigt; Kälte zehrt oben / Kot an den Sohlen – ’s ist traurig, bei Frodi / Frieden zu mahlen. Ruht aus, ihr Hände / mach’ Halt jetzt, Stein, für meinen Teil / mahlt’ ich genug; rastlos müßt’ ich / regen die Hände, bis Frodis Habsucht / befriedigt wäre.
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Mehr ziemt euch Händen / der harte Speer, die Waffe, triefend / vom Wundentau; erwache, Frodi! / wenn willens du bist, Sagen der Vorzeit / uns singen zu hören. Mein Aug’ schaut Feuer /im Osten der Halle, das Kampf uns meldet / und Mord verkündet; die Schar der Feinde / ist schnell zur Stelle, die das Brandscheit wirft / in die Burg des Königs. Zu Hleidr länger nicht / herrschen wirst du, durch Gold erfreut / und glänzendes Erz; laß uns hurtiger, Fenja, / den Holzstock drehen, da Wundenblut nicht / uns wärmt die Hände. Die Maid meines Vaters / mahlte kräftig, da sie mancher Männer / Mord voraussah; schon sprangen am Kasten / die kräftigen Stützen, bewehrt mit Eisen; / laß weiter uns drehen. Laß frisch uns mahlen! / An Frodi rächt bald den Untergang Halfdans / Yrsas Sohn; die Well einst nennt ihn /- wir wissen’s beide – Yrsas Bruder / und Yrsas Sohn.”5
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Hugo Genug, Die Edda (1892), 378ff.
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Wie obskur die Prophezeiung auch immer sein mag: Sie ging in Erfüllung. Die Mägde mahlten gegen Frodi „ein plötzliches Heer” herbei, und noch am selben Tag ging Mysing, der Seekönig, an Land und erschlug Frodi. Mysing („Sohn der Maus” – siehe Appendix 6) lud den Grotti auf sein Schiff und nahm auch die Riesinnen mit. Er befahl ihnen, erneut zu mahlen. Aber diesmal mahlten sie Salz hervor. „Und um Mitternacht fragten sie, ob es dem Mysing nicht zu viel Salz werde. Er hieß sie weitermahlen. Sie mahlten noch eine kurze Weile, da ging das Schiff unter.”6 „… die Stangen bebten, es stürzte der Kasten, der schwere Stein zerschellte in Stücke. ”7 „Im Meere blieb ein Strudel zurück, da, wo die Strömung in 083 das Mühlsteinloch stürzt. Und seitdem ist das Meer salzig.”8 Hier endet Snorris Erzählung (Appendix 7). Drei grundlegende und weitreichende Themen sind eingeführt; die zerbrochene Mühle, der Strudel, das Salz. Was den Fluch der beiden Müllerinnen anbelangt, so steht er einsam und wie ein verlassener Megalith in der Landschaft. Doch kann man auf ihn überraschenderweise auch in Homers Welt stoßen – und dort schon befremdlich anmutend –, also 2000 Jahre zuvor.9 Es ist die letzte Nacht in der Odyssee, die der entscheidenden Konfrontation vorangeht. Odysseus ist auf Ithaka gelandet und versteckt sich unter dem magischen Zauberwort Athenes, das ihn davor schützt, wiedererkannt zu werden. Wie auch bei SnorG. Neckel, Prosa-Edda (1984, 3. Auflage 1989), 197. H. Gering, Die Edda (1892), 380. 8 G. Neckel und F. Niedner, Die Jüngere Edda (1925), 197. 9 Es war Johann Georg von Hahn [Sagwissenschaftliche Studien (1876), 401f], der als erster auf die Ähnlichkeit zwischen den Episoden in Snorris Edda und in der Odyssee aufmerksam machte. 6 7
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ri, schlafen alle. Odysseus betet zu Zeus, ihm ein ermutigendes Zeichen vor der schweren Prüfung zu senden. Und er sandte sofort einen Donner vom lichten Olympus Hoch aus den Wolken herab zur Freude des hehren Odysseus. Aus dem Hause aber ließ eine mahlende Magd sich verlauten Nahbei, wo sich die Mühlen des Völkerhirten befanden; An den Mühlen mühten sich ab zwölf Frauen im ganzen, Gersten- und Weizenmehl, das Mark der Männer, zu mahlen. Und schon schliefen die andern, nachdem sie den Weizen gemahlen, Die aber ruhte noch nicht, denn sie war sehr schwächlich geschaffen; Die hielt an ihre Mühle und sprach, dem Herren zum Zeichen [mýlên stêsasa]; „Vater Zeus, der du über Götter und Menschen gebietest, Von dem bestirnten Himmel hast du gewaltig gedonnert. Doch eine Wolke ist nirgends; so sendest du einem ein Zeichen, Darum gewähre auch mir Armseligen, was ich dich bitte: Mögen die Freier heute zum letzten und äußersten Male In des Odysseus Hallen die köstliche Mahlzeit empfangen, Sie, die mir die Knie gelöst mit der quälenden Arbeit, Mehl zu bereiten, sie mögen zum letzten Male hier tafeln.“10
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Obwohl „sehr schwächlich geschaffen”, ist diese Frau doch eine Riesengestalt für sich. Die Episode fügt sich kunstvoll in den dichten und wohlgeformten Aufbau der Erzählung ein, und dennoch hebt sie sich ab wie ein zyklopischer Stein, den man in eine Hauswand eingemauert hat. Dergleichen gibt es häufig bei Homer. Kehren wir zurück zu Grotti, dessen Name an sich schon eine interessante Geschichte hat. Noch heute wird er in Norwegen für den „Achsenblock” verwendet, also für den runden Holzblock, der das Loch im Mühlstein ausfüllt und in dem das Ende des
Homer, Odyssee (20.103-119), übersetzt von Roland Hampe (1979), 336f. 10
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Achsenzapfens befestigt wird.11 Im Dialekt der Färöer und Shetländer steht der Name für „die Nabe im Mühlstein”. Das ursprüngliche Sanskrit-Wort nabhi meint sowohl „Nabe” als auch „Nabel”; und diesen Punkt sollte man in Erinnerung behalten. In der Geschichte geht es offenkundig um die Nabe, denn es entstand ein Loch, als der Mühlbaum heraussprang, und der Strudel stürzte in dieses Loch. Allerdings war „Nabel des Meeres” eine uralte Bezeichnung für Strudel. Mit seinem gesunden Instinkt hat Gollancz diesen Zusammenhang sofort erkannt: Man kommt in der Tat nicht umhin, an einen möglichen Verweis auf den wundersamen Maelström zu denken, den größten aller Strudel, ein Weltwunder; für die alten Geographen war er der Umbilicus maris, und Fr. Athanasius Kircher beschrieb ihn in seinem faszinierenden Folio „Mundus Subterraneus” als „gurges mirabilis omnium totius orhis terrarum celeberrimus et maximus”. Laut Kircher nahm man an, daß sich jeder Strudel um einen zentralen Felsen bildet: darunter öffnete sich eine große Höhle; das Wasser strömte in diese Hohle hinein; das Strudeln wurde wie in einem Becken hervorgerufen, das sich durch ein Loch in der Mitte entleert. Kircher gibt, unter besonderer Bezugnahme auf den Maelström, ein kurioses Bild dieser Theorie wieder.12
Natürlich ist die Mühle kein „im vorübergehenden Besitz befindliches Rechtsobjekt”, wie Juristen in ihrem Jargon sagen. Sie muß zur ständigen Einrichtung des Universums alter Zeiten gehören. Sie spielt immer wieder eine Rolle, auch wenn ihre Konnotationen kaum angenehm zu nennen sind. Aus einem anderen Winkel der Erinnerung tauchen die Zeilen aus Robert Burns „John Barleycorn” (Hans Gerstenkorn) auf: Man soll ihm auf der Flamme Rost Das Mark aus dem Gebein; H. Gering, Die Edda (1892), 376 1.7. Siehe hierzu die Abbildungen 8 und 9. 12 I. Gollancz, Hamlet in Iceland (1898), xiv. 11
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Ein Müller quetscht’ – das ist zu arg! Ihn zwischen Stein und Stein.13
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Jahreszeitliche Pseudotragödien sind Teil des riesigen Komplexes von Fruchtbarkeitsriten, den Frazer bearbeitet hat – mit den rituellen Wehklagen über den Tod von Tammuz, Adonis und des ägyptischen „Korn-Osiris”; und niemand würde bestreiten, daß die Tammuz-Feierlichkeiten ein saisonbedingtes Ritual waren, mit dem der Tod und die Wiedergeburt der Pflanzenwelt gefeiert wurde. Aber war das die ursprüngliche Bedeutung? Ein unwiderstehliches Vorurteil führt zu dem Gedanken, daß in bäuerlichen Riten, die mit der Vegetation verknüpft sind, die elementarste und primitivste Ebene des Mythos zu finden sei, von der sich alle anderen ableiten. Dieses Vorurteil birgt in sich seine eigene moralische Botschaft; „Wenn das Korn nicht stürbe … ” – eine Botschaft, die höheres, religiöses Denken zur Folge hatte. In archaischen Kulten – wie sie sich in denen der harranischen Ssabier und in Ibn Wa’shijjas „Buch der nabatäischen Landwirtschaft” widerspiegeln (ungeachtet der literarischen „Jugend” der Aufzeichnungen) – wird der Tod und das Zermahlen des Tammuz von den Bildern (oder Statuen) aller Planetengötter zelebriert und betrauert, die sich im Sonnentempel versammelt haben, welcher „zwischen Erde und Himmel” schwebt. Sie vollziehen diese Feierlichkeit auf dieselbe Art und Weise, in der sie einst über das Ableben von Jamshyd (beziehungsweise Janbûshâd, wie sie ihn damals nannten) weinten und wehklagten. Dies ist eine seltsame und ungewöhnliche, recht un-agrarische Note, die eine sorgfältigere Untersuchung verdient. Robert Burns (1759-1796), Lieder und Balladen [ins Deutsche übertragen von K. Bartsch (1899)1, 164. Vgl. Felix Liebrecht, Zur Volkskunde (1879), 259, 299. Siehe auch Hermann Hettner, Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts I (1894), 506: „… das auch von Goethe hochgerühmte Lied auf Hans Gerstenkorn.”
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Sie führt uns zurück zu dem nordischen Mythos über die Mühle, und tatsächlich zu Snorri selbst, der in seiner „Betörung des Gylfi” einen Vers aus dem Vafihrudnismål kommentiert, der seitdem viel diskutiert worden ist. In dem altehrwürdigen Gedicht wird eingehend über den Tod von Hymir berichtet. Hymir ist der „uranfängliche” Weltriese schlechthin, aus dessen zerstückeltem Körper die Welt geschaffen wurde. Snorri gibt an, daß Hymirs Blut eine Überschwemmung verursachte, in der alle Riesen ertranken, mit Ausnahme von Bergelmir: der „stieg mit seiner Frau auf seine ludr und rettete sich so, und von ihnen stammen die noch jetzt lebenden Reifriesengeschlechter.“ Das Wort ludr steht laut Snaebjörn für Mühle. Allerdings fragt Odin im Vafthrudnismål (Kapitel 35) den weisen Riesen Vafthrudnir nach dem ältesten Ereignis, an das dieser denken könne. Und der weise Riese antwortet: „Unzählige Jahre, bevor die Erde erschaffen ward, da wurde Bergelmir geboren; als Allerältestes weiß ich, daß er á var ludr um lagidr.” (Appendix 8) Viktor Rydberg gibt diese Worte als „auf eine Mühle gelegt” wieder und versteht sie als „unter einen Mühlstein gelegt”. Entsprechend erklärt er Snaebjörns lidmeldr – also das, was bei der großen Mühle herauskommt – als „Knochenschrot“.14 Wie später noch deutlich wird, ist auch eine andere Interpretation möglich (Appendix 9). Das Problem taucht jedoch immer wieder auf. In der Lokasenna (43ff) wird Freyr, der ursprüngliche Eigentümer der Mühle, unmittelbar ins Spiel gebracht. Die Gelegenheit ergibt sich bei einem Bankett, zu dem Ägir die Götter eingeladen hat. Loki, der nicht eingeladen wurde, nutzt seinen Auftritt, um in das Trinkgelage der Götter Zwist zu streuen und ihnen den Spaß zu verderben. Aber als Loki Freyr verspottet, wird der treue Diener Byggwir ärgerlich über das Benehmen seines Herrn: „Weißt, wenn ich wäre so adlig wie Frey 14
V. Rydberg, Teutonic Mythology (1907), 575.
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und hätte solch glänzenden Wohnsitz – ich malmte den Krächzenden da zu Brei, zerschlüge ihm all seine Glieder!” Worauf Loki erwidert: „Was ist das Kleine, das ich da schwänzein seh’ und schnäpperlich schnappen? Wirst immer dem Frey in den Ohren liegen und unter dem Mühlstein piepsen!”15 Es gibt einige weitere Anhaltspunkte, die darauf hinweisen, daß es sich bei der Mühle, auf die Bergelmir „gehoben” wurde, um ein sehr charakteristisches, wenn auch unattraktives mythologisches Requisit handelt; allerdings können wir uns mit jenen Hinweisen an dieser Stelle nicht befassen. Wem jedoch aufgefallen sein sollte, daß sich Bergelmir in keiner guten Lage befunden haben dürfte, um für die Nachkommen der Riesen zu sorgen, wenn man ihn tatsächlich unter den Mühlstein gelegt hätte, dem sei ein weiteres Beispiel aus Mexiko genannt: Dort gibt es den „Edelstein-Knochen” oder „Opfer-Knochen”, den sich Xolotl beziehungsweise Quetzalcoatl aus der „Unterwelt” besorgt, um ihn nach Tamoanchan (dem sogenannten „Haus des Herabsteigens”) zu bringen. Dort zermahlt die Göttin Ciuacoatl beziehungsweise Quilaztli den wertvollen Knochen auf dem Mahlstein, und die Grundsubstanz wird in das Edelsteingefäß getan. Mehrere Götter malträtieren sich selbst, lassen Blut von ihren Penissen auf das „Mehl” fließen. Und aus dieser Mixtur ist die Menschheit geschaffen. Diese Geschichten mögen nicht sonderlich geschmackvoll sein, aber zumindest sind sie grotesk und verdreht genug, um uns das Vertrauen auszutreiben, das wir in unsere naturgegebe15
Arthur Häny, Die Edda (1987), 160.
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ne oder intuitive Fähigkeit setzen, arglose Märlein verstehen zu können, wie sie von schlichten Bauern auf dem Dorfanger gesungen wurden. Eine Frage läßt die Diskussion offen. Wer war Snaebjörn, diese verschwommene Gestalt, von der wenige ihrer Zeilen ausreichen, um so viel zu enthüllen? Die Gelehrten haben sich auf die Suche nach ihm begeben und einen veritablen Schatz in dem uralten „Buch isländischer Niederlassungen” ausgegraben. Es verknüpft den Dichter mit der ersten Entdeckung Amerikas. In diesem Buch, schreibt Gollancz, gibt es eine lebendige Schilderung von einem arktischen Abenteurer des zehnten Jahrhunderts, dessen Name Snaebjörn ist und der zu einer gefahrvollen Expedition aufbrach, um das unbekannte Land „Gunnbjörns Riff“ zu finden, nachdem er, wie es sich für einen Kavalier damaliger Zeit gehörte, an dem Mörder einer schönen Verwandten Rache geübt hatte. Es wird allgemein angenommen – und es kann kaum Zweifel geben –, daß dieser Snaebjörn identisch ist mit dem Dichter Snaebjörn. Seine Familiengeschichte ist nicht uninteressant. Sein Urgroßvater, Eywind der Östliche – so genannt, weil er von Schweden zu den Hebriden gekommen war –, heiratete die Tochter von Cearbhall, Lord of Ossory, der von 882 bis 888 als König von Dublin regierte und „einer der Hauptlandesherrscher Europas zu der Zeit war, als Island von Edelleuten und anderen, die vor der Tyrannei des Harold Harfagr flohen, bevölkert wurde”. Cearbhall stammte von Connla ab, dem Enkel von Crimhthann Cosgach, dem siegreichen König von Irland, von dem gesagt wird, er habe ungefähr ein Jahrhundert vor Beginn der Ära des Christentums auf der Höhe seines Ruhms gestanden. Lann oder Flann, die Halbschwester von Cearbhall, war mit Malachy I, König von Irland, verehelicht, dessen Tochter Cearbhall geheiratet hatte. Flann war die Mutter von König Sionna und der Fürstin Gormflaith, die ein grausames Schicksal ereilte: Als Tochter eines Königs und Gemahlin dreier Könige war sie zum Schluß gezwungen, von Tür zu Tür um Brot zu betteln. Um die Zeit von Snaebjörns Expedition in die Arktis (circa 980) soll sein Neffe Ari Marson auf dem „Land des Weißen Menschen” oder
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„Groß-Island” gelandet sein – jenem Teil der Küste Nordamerikas, der sich von der Chesapeake Bay über Nord- und Süd-Carolina bis nach Georgia und Florida erstreckte. Er wurde als einer der ersten Entdecker der Neuen Welt berühmt.16
Snaebjörn verkörpert also, als Mitglied einer irischköniglichen Familie, den wechselseitigen Einfluß keltischer und skandinavischer Kultur in den Jahren 800 bis 1000 n.Chr., jenen Einfluß, den Vigfusson in seinem Corpus Poeticum Boreale bis in die Lieder der Edda hinein verfolgt hat. Die Hamlet-Geschichte selbst versinnbildlicht diesen Austausch. Denn eine frühere und einfachere Fassung von ihr mag nach Island über Irland gelangt sein, wohin die Wikinger ursprünglich die Geschichte vom Sohn des großen Orwendel mitgebracht hatten. Dies weist Hamlet einen Platz nicht nur innerhalb der nordischen Mythologie zu, sondern auch innerhalb der großartigen Schatzkammer archaischer Mythen, also im keltischen Irland, von wo viele Linien zurück in den Nahen Osten führen. Die Universalität der Hamlet-Figur wird damit verständlicher.
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I. Gollancz, Hamlet in Iceland (1898), xviif.
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Bei den Irtysch-Ostjaken … wird aus alten Volksgesängen erzählt: da gebe es „eine Mühle, die von selbst mahle, von selbst schwinge und den Staub auf 100 Werst verstreue. Und neben dieser Mühle stehe ein goldener Pfahl, auf dem ein goldener Käfig aufgestellt sei; an diesem Pfahle klettere ein gelehriger Kater auf und ab; steigt er herab, so singt er Lieder, steigt er hinauf, so erzählt er Märchen.” REUTER
Der allgemeinen Öffentlichkeit ist das Kalevala vage als Finnlands Nationalepos bekannt. Es ist ein Märchen von ungezähmter Phantasie, das mit Absurditäten und wunderbar urtümlichen Charakterzügen bezaubert, die allesamt magisch und kosmologisch sind. Das ist um so wichtiger, als die finno-ugrische Überlieferung andere Wurzeln hat als die indogermanische. Bis zum 19. Jahrhundert existierte das Epos nur in mündlich tradierten Fragmenten. Von 1820 bis 1849 unterzog sich Elias Lönnrot der Mühe, sie zu sammeln und schriftlich festzuhalten, indem er von Ort zu Ort in die entlegensten Gegenden wanderte, mit der Landbevölkerung lebte und versuchsweise das, was er
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hörte, in eine Art Reihenfolge brachte. Einige der wertvollsten Lieder wurden im hohen Norden, in den Regionen um Archangelsk und Olonetz entdeckt, die inzwischen zu Rußland gehören. Die letzte Edition von Lönnrot aus dem Jahre 1849 umfaßt 22.793 Strophen in 50 Runen beziehungsweise Gesängen. Seitdem wurde eine große Menge neuen Materials gefunden. Das Gedicht hat seinen Namen von Kaleva erhalten, einer rätselhaften Urgestalt, die nirgendwo in der Geschichte auftaucht. Die Helden sind seine drei Söhne: Väinämöinen, „alt und wahrhaft4', der Meister in Zaubergesängen; Ilmarinen, der Urschmied und Erfinder von Eisen, der mehr Dinge schmieden kann, als auf dem Land oder auf dem Meer zu finden sind; und der „innig geliebte” oder „leichtgesinnte” Lemminkäinen, eine Art Don Juan der Arktis. Kullervo, der dem Hamlet ähnelt und dessen Geschichte weiter oben erzählt wurde, dieser Blondschopf Kullervo mit „den blauesten aller blauen Strümpfe”, ist ein anderer „Sohn des Kaleva“; aber seine Abenteuer scheinen sich getrennt zu entfalten. Sie kommen nur an einer Stelle mit Umarmen in Berührung und scheinen ansonsten zu einer anderen Zeitstruktur, zu einem anderen Weltalter zu gehören. Es ist nun an der Zeit, sich mit dem roten Faden der Ereignisse zu beschäftigen. Das Epos beginnt mit einer sehr poetischen Theorie über den Ursprung der Welt. Die jungfräuliche Tochter der Luft, Ilmatar, steigt auf die Wasseroberfläche hinab, wo sie 700 Jahre lang dahintreibt, bis Ukko, der finnische Zeus, ihr seinen Vogel schickt. Dieser Vogel baut sein Nest auf den Knien von Ilmatar und legt sieben Eier hinein, aus denen die sichtbare Welt hervorschlüpft. Aber diese Welt bleibt leer und unfruchtbar, bis Väinämöinen von der Jungfrau und dem Wasser geboren wird. Schon alt zur Welt gekommen, spielt er die ihm zugedachte Rolle der „Hebamme“ der Natur, indem er sie mit Hilfe seiner Zauberlieder dazu bringt, Tiere und Bäume entstehen zu lassen. Ein Magier niederen Ranges aus Lappland, Joukahainen, fordert ihn in einem Lied heraus und wird Schritt für Schritt in den Bo-
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den gesungen. Zu guter Letzt kann er sich dadurch retten, daß er Väinämöinen seine Schwester, die schöne Aino, verspricht. Aber das Mädchen will Väinämöinen nicht haben; er ist ihr zu alt. Verzweifelt verläßt sie ihr Elternhaus und kommt schließlich an einen See. Sie schwimmt zu einem Felsen, um dort den Tod zu suchen. Als sie den Felsen gerade erreicht hat, „kaum zum Sitzen sich bereitet auf dem buntgestreiften Steine, auf dem blanken, flachen Felsen, stürzt der Steinblock in das Wasser, flicht der Felsen in die Tiefe“. Väinämöinen versucht nach ihr zu fischen; sie geht ihm als Lachs ins Netz und verhöhnt ihn, weil er sie nicht erkennt; dann entkommt sie für immer. Väinämöinen entschließt sich, nach einer anderen Braut Ausschau zu halten und macht sich per Schiff auf die Suche. Sein Ziel ist das Land von Pohjola, das „Nordland”: ein nebeliges Land, „grausam zu Helden”, stark an Magie, vage mit Lappland identifiziert. Es ist eine phantastische Geschichte, die durch Absurditäten und anscheinend „entzückend primitive” Züge1 verzaubert, die indessen durchweg magisch und kosmologisch sind. Die Verbindung von ungekünstelter Anmut und blankem Unsinn läßt uns an das englische Märchen von jenem Hans denken, dessen Bohnenranke in den Himmel wuchs (Jack and the Beanstalk); aber hinter alldem kommen urzeitliche Elemente einer Geschichte zum Vorschein, die so alt wie die Welt selbst ist – zumindest so alt wie die Welt, der sich der Mensch bewußt ist – und deren Bedeutung vor langer Zeit verlorenging. Die unverfälscht archaischen Themen sind wie monumentale Ruinen stehen geblieben. Der Handlungsablauf ist in erster Linie um das Schmieden und die Eroberung einer großen Mühle konstruiert, die Sampo genannt wird (Rune 10 handelt vom Schmieden, die Runen 39– 42 handeln vom Diebstahl des Sampo). Als „delightfully primitive” kennzeichnete der Ägyptologe John A. Wilson einen Passus im berühmten Kapitel 17 des Ägyptischen Totenbuchs; siehe Henry Frankfort, John A. Wilson u.a., The Intellectual Adventure of Early Man (1946), 13. 1
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Domenico Comparettis Studien haben erwiesen, daß das Sampo-Abenteuer eine abgetrennte Einheit darstellt, „ein mythisches Gebilde, das ohne irgendeine Handlung bleibt, die man erzählen könnte” und mehr oder weniger passend in den Rest der Überlieferung eingegliedert wurde.2 Das Volksmärchen behandelt den Sampo als einen nebulös magischen Spendenverteiler, als eine Art Füllhorn; aber die ursprüngliche Geschichte ist recht eindeutig. Väinämöinen, „alt und wahrhaft”, Magier von höchstem Rang, wird an den Strand von Pohjola geworfen – ganz genauso, wie Odysseus nach seinem Schiffbruch auf Skyra an Land ging. Er wird freundlich von Louhi, der Herrin (auch die Hure genannt) von Pohjola, empfangen, die ihn ohne Erklärung darum bittet, ihr den Sampo zu bauen. Er sagt ihr, daß nur Ilmarinen, der Urschmied, dazu in der Lage sei; also schickt Louhi Väinämöinen auf einem Schiff nach Hause, damit er den Schmied hole. Ilmarinen, der seinen „Bruder” und Kumpanen ziemlich schnodderig als Lügner und Schwätzer anredet, ist an dem Unternehmen nicht interessiert, so daß Väinämöinen, alt an Tagen und ein Weiser unter den Weisen, auf einen üblen Trick zurückgreift. Er ködert den Schmied mit der Geschichte von einer schlanken Fichte, die Ilmarinen angeblich finden könne:3 An dem Rand von Osmos Acker; Milde scheint der Mond im Gipfel, Großer Bär steht in dem Blattwerk. Ilmarinen glaubt ihm nicht, also gehen beide zum Rain von Osmos Acker:
D. Comparetti, The Traditional Poetry of the Finns (1898). Hier und im folgenden wird die deutsche Übertragung von Lore und Hans Fromm zitiert, Kalevala – Das finnische Epos (1967, Ausgabe 1985).
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Stand der Schmied ganz nahe stille, Staunend vor der neuen Fichte; Großer Bär war in dem Blattwerk, War der Mond im Fichtenwipfel. Prompt klettert Ilmarinen auf den Baum, um nach den Sternen zu greifen. Väinämöinen drauf der alte, Murmelt’ seine Zaubersänge, Sang den Wind zu wilden Wirbeln, Ließ die Luft im Sturme rasen, Darauf sprach er diese Worte, Sagte sie mit diesem Satz: „Nimm ihn, Wind, in deinen Nachen, Frühlingsluftzug, in dein Fahrzeug, Führ ihn weg in deinen Wirbeln Nach dem dämmerdunklen Nordland!4 Amboßmeister Ilmarinen fuhr im Flug, Rasch ging die Reise, Fuhr dahin den Weg des Windes, Auf des Frühlingssturmes Fährte, Über Mond und unter Sonne Längs dem Schulterbein des Bären; Hielt dann an dem Hof des Nordlands, Sariolas Saunapfade, Und ihn hörten nicht die Hunde, Ihn bemerkten nicht die Kläffer. Auf diese völlig unbeabsichtigte Weise landet Ilmarinen in Dieser Zauberspruch, der in den Varianten veröffentlicht und von Comparetti übersetzt wurde, wurde Lönnrott 1833 von Ontrei Malinen in dessen Heimatdorf Vuonninen vorgetragen.
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Pohjola, und nicht einmal die Hunde schlagen an – was Louhi am meisten erstaunt. Sie zeigt sich gastfreundlich: Setzt ihm vor, bis er gesättigt, Gibt ihm tüchtig auch zu trinken. Dann sagt sie folgendes zu ihm; „Hör nun, Hämmrer Ilmarinen, Urzeit-alter Schmiedemeister, Kannst du mir den Sampo schmieden, Kannst den bunten Deckel bosseln Aus der Schwanenfeder Spitze, Aus der magren Milch der Geltkuh, Aus dem kleinen Gerstenkorne, Aus dem Flaum des Sommerschafes,5 Wird die Schöne dir zum Lohne, Wird dir für die Müh das Mädchen.” Ilmarinen willigt in den Vorschlag ein und schaut sich drei Tage lang nach einer geeigneten Stelle um, wo er seine Schmiede errichten könne, „dort in jenen weiten Marken, auf den fernsten Nordlandfeldern”. Während der darauffolgenden drei Tage halten seine Knechte den Blasebalg in Gang. Schon am ersten dieser Tage Beugt sich Ilmarinen nieder, Bückt der Schmied sich, um zu schauen Hin zum untern Teil der Esse, Was wohl aus dem Feuer komme, Was die Flamme wohl geläutert.
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Aus dem Feuer drängt die Armbrust, Goldner Bogen aus der Esse, 5
Vgl. das Epigraph zur Einleitung, Seite 1.
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Goldner Bogen, Silberspitze, Bogenschaft verziertes Kupfer. Schön zu schauen ist die Armbrust, Aber sie ist schlimm geartet: Täglich will ein Haupt sie haben, Zweie an besondren Tagen. Amboßmeister Ilmarinen Kann sich ihrer kaum erfreuen; Bricht den Bogen in zwei Teile, Steckt die Stücke in das Feuer, Läßt die Knechte kräftig blasen, Läßt das Dienstvolk tüchtig treten. Am nächsten Tag schaut Ilmarinen erneut nach. Kommt ein Kahn jetzt aus dem Feuer, Rotes Boot dringt aus der Esse, Goldbeschlagen sind die Steven, Kupfern seine Ruderpflöcke. Schön zu schauen ist der Nachen, Doch er ist nicht gut geartet: Grundlos kreuzte er zum Kriege, Zög’ zum Streite ohne Ursach. Ilmarinen wirft das Schiff zurück ins Feuer, und am folgenden Tag wieder auf den Boden der Esse: Eine Kuh kommt aus dem Feuer, Aus der Glut die goldgehörnte, Auf der Stirn den Stern des Bären, Auf dem Kopf die Sonnenscheibe. Schön zu schauen ist die Färse, Doch sie ist nicht gut geartet:
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Ständig will im Wald sie liegen, Läßt die Milch zur Erde laufen. 093
Amboßmeister Ilmarinen Kann sich ihrer kaum erfreuen; Schneidet auch die Kuh in Stücke. Steckt die Stücke in das Feuer, Läßt die Knechte kräftig blasen, Läßt das Dienstvolk tüchtig treten. Der vierte Tag: Aus dem Feuer drängt ein Pflug sich, Aus der Glut die goldne Schneide, Goldne Schneide, Schaft von Kupfer, Silber an des Schaftes Ende. Schön zu schauen ist die Pflugschar, Doch sie ist nicht gut geartet: Denn sie furcht des Dorfes Äcker, Sie umbricht behaute Felder. Amboßmeister Ilmarinen Kann sich ihrer kaum erfreuen. Er zerbricht den Pflug in Stücke, Wirft ihn wieder in die Esse, Läßt die Winde kräftig wehen, Starke Bö die Bälge füllen. Mächtig wehten da die Winde, Ostwind blies, es blies der Westwind, Stärker weht’ der Wind aus Süden, Stürmend peitscht’ den Staub der Nordwind. Bliesen einen Tag, den zweiten, Bliesen auch am dritten Tage, Aus dem Fenster fuhr das Feuer, Aus dem Eingang sprühten Funken,
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Bis zum Himmel stob der Staub auf, Dicker Rauch wallt’ hoch in Wolken. Ilmarinen beugt’, der Hämmrer, An des dritten Tages Ende Sich hinunter, um zu schauen Hin zum untern Teil der Esse; Sah den Sampo da entstehen, Sah den bunten Deckel wachsen. Amboßmeister Ilmarinen, Urzeit-alter Schmiedemeister, Schmiedete mit schnellen Schlägen, Hämmert’ hastig mit dem Hammer, Schmiedete geschickt den Sampo: Mehl mahlt er auf einer Seite, Salz mahlt er auf einer andern, Auf der dritten mahlt er Münzen. Und schon mahlt der neue Sampo, Dreht sich schon der bunte Deckel, Mahlt am Morgen voll ein Kornmaß, Mahlt ein Kornmaß zum Verzehren, Mahlt ein zweites zum Verkaufen, Mahlt ein drittes zum Verwahren. Nun war froh des Nordlands Alte, Brachte bald den großen Sampo In den Steinberg von Pohjola, In den Schoß des Kupferhügels, Hinter neun sehr starke Schlösser; Wurzelte ihn ein mit Wurzeln In die Erde tief neun Klafter; Eine bis zum Mutterboden, Eine stößt in Wasserwirbel, In den Heimatberg die dritte.
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Ilmarinen erhält seinen Lohn nicht, noch nicht. Er kehrt ohne Braut zurück. Für eine lange Zeit erfahren wir überhaupt nichts von dem Sampo. Andere Dinge geschehen: die Abenteuer, der Tod und die Wiederbelebung von Lemminkäinen; dann Väinämöinens Erlebnisse im Bauch des Riesen. Diese letzte Geschichte ist es wert, erzählt zu werden: Väinämöinen macht sich daran, ein Schiff zu bauen. Aber als es darum geht, das Bugholz aufzurichten und den Steven anzufügen, stellt er fest, daß er dazu drei Zauberworte in seiner Rune benötigt, die er nicht besitzt. Vergebens schaut er auf den Köpfen der Schwalben, an den Hälsen der Schwäne, auf den Rücken der Wildgänse und unter der Zunge des Rentiers nach.6 Er kann eine Menge Zauberworte finden, aber nicht die, die er braucht. Dann überlegt er sich, sie im Reich der Toten, Tuonela, zu suchen – vergebens. Nur mit Hilfe starker Magie kann er in die Welt der Lebenden zurückfliehen. Aber noch immer vermißt er die drei Runen. Da sagt ihm ein Hirte, er solle im Mund von Antero Vipunen, dem Riesenungeheuer, nachschauen. Der Weg, der ihm gewiesen wird, führt über Schwerter und geschärfte Beile. Ilmarinen fertigt ihm Schuhe, Hemd und Handschuhe aus Eisen, aber er warnt ihn, daß er den großen Vipunen tot vorfinden werde. Der Held zieht trotzdem los. Der Riese liegt unter der Erde, und Bäume wachsen ihm aus dem Kopf. Väinämöinen findet seinen Weg zum Mund des Riesen und stößt seinen Eisenstab hinein. Davon erwacht der Riese und öffnet plötzlich seinen gigantischen Rachen. Väinämöinen rutscht hinein und wird verschluckt. Sobald er den enormen Magen erreicht, überlegt er Im Sigrdrifa der Edda zählen die Walküren Orte auf, an denen hugruna gefunden werden können, also Runen, die Weisheit und Wissen vermitteln; dazu gehören folgende: der Schild der Sonne, das Ohr und der Huf eines ihrer Pferde, das Rad von Rognis Wagen, Sleipnirs Zähne und Bragis Zunge, der Schnabel des Adlers, die Klaue des Bären, die Pranke des Wolfs, der Nagel der Nornen, der Kopf der Brücke usw. (Sigrdrifa, Strophe 13–17). 6
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sich, wie er wieder herauskommt. Er baut sich ein Floß und treibt im Innern des Riesen auf und ab. Der Riese fühlt sich gekitzelt und bedeutet Väinämöinen mit vielen, aber nicht unbestimmten Worten, wohin dieser sich scheren solle; aber er verrät keine einzige Rune. Väinämöinen baut daraufhin eine Schmiede und beginnt sein Eisen auf einem Amboß zu hämmern, wodurch die Eingeweide des Riesen so gepeinigt werden, daß dieser magische Lieder herausbrüllt, um Väinämöinen hinwegzufluchen. Aber Vänämöinen bedankt sich, es gehe ihm sehr gut und er werde nicht eher gehen, bis er die drei geheimen Worte erfahren habe. Schließlich lüftet Vipunen den Schatz seiner machtvollen Runen. Viele Tage und Nächte singt er, und die Sonne und der Mond und die Meereswellen und die Wasserfälle stehen still, um ihm zu lauschen. Väinämöinen trägt alle Runen zusammen und ist schließlich einverstanden, den Riesen zu verlassen. Vipunen öffnet seinen großen Rachen, und der Held stürzt heraus, kehrt zurück und baut sein Schiff zu Ende. Die Geschichte wechselt dann abrupt, um Kullervo vorzustellen, seine Abenteuer, den Inzest und seinen Selbstmord. Als Kullervo zufällig die Frau tötet, die sich Ilmarinen in Pohjola so teuer erkauft hat, kehrt die Geschichte wieder zu Ilmarinens Misere zurück. Er schmiedet sich „Pandora”, eine Frau aus Gold. Aber da er kein Gefallen an ihr findet, kehrt er nach Pohjola zurück und bittet um die zweite Tochter von Louhi. Er wird abgewiesen. Ilmarinen raubt daraufhin das Mädchen, aber es ist so boshaft und untreu, daß er es in eine Möwe verwandelt. Dann besucht er Väinämöinen, der sich nach Neuigkeiten aus Pohjola erkundigt. Alles gehe dort gut, sagt Ilmarinen, dank dem Sampo. Sie beschließen deshalb, in den Besitz der Mühle zu gelangen, und sei es gegen Louhis Willen. Die beiden reisen mit dem Schiff, obwohl Ilmarinen der Landweg weitaus lieber wäre, und Lemminkäinen begleitet sie. Das Schiff strandet auf dem Rücken eines riesigen Hechts. Väinämöinen tötet den Fisch und fertigt aus seinen Kieferknochen die Kantele (Appendix 10), ein Saiteninstru-
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ment, das niemand außer Väinämöinen richtig spielen kann. Es folgt ein völlig orphisches Kapitel über die Musik, die Väinämöinen auf seiner Kantele spielt, und deren Zauber die ganze Welt erliegt (Abbildung 10). Schließlich kommen sie in Pohjola an. Aber wie zu erwarten war, will sich Louhi nicht von dem Sampo trennen, noch will sie ihn mit den Helden teilen. Väinamöinen spielt daraufhin die Kantele, bis das ganze Volk von Pohjola in den Schlaf gesunken ist. Dann machen sich die Brüder daran, den Sampo zu stehlen, was sich als eine schwierige Aufgabe herausstellt. Väinamöinen drauf, der alte, Murmelt seine Zaubersänge An des Kupferhügels Eingang, An dem Fuß der Felsenfeste; Bald erhebt das Tor der Feste, Wanken seine Eisenangeln. Amboßmeister Ilmarinen – Er nahm teil daran als zweiter – Schmiert mit Fett sogleich die Schlösser, Schmiert mit Schmalz die ganzen Angeln, Daß die Türen nicht erdröhnen Und die Angeln auch nicht kreischen, Löst die Schlösser mit den Fingern, Hebt die Riegel mit dem Haken, Schon bewegt das Schloß sich mühlos, Offen steht die starken Türen. Väinamöinen sprach, der alte, Selber darauf diese Worte: „O du leichter Sohn des Lempi, Allererster meiner Freunde, Geh, den Sampo nun zu nehmen, Bunten Deckel loszubrechen!”
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Lemminkäinen leichten Sinnes, Dieser schöne Kaukomieli, Auch schon ohne Auftrag lüstern. Ohne Lob behend und lebhaft, Ging, den Sampo nun zu nehmen, Bunten Deckel loszubrechen … Lemminkäinen schob und schob nun, Schob und schob, versucht’ zu drehen, Er umfaßte fest den Sampo, Mühte sich auf seinen Knien, Doch nicht rührte sich der Sampo, Neigt’ sich nicht der bunte Deckel; Eingewurzelt sind die Wurzeln Wohl neun Klafter in die Erde. Steht ein guter Stier im Nordland, Welcher kräftig ist von Wuchse, Fest und zäh sind seine Flanken, Voller Spannkraft seine Sehnen, Klafterlange Hörner hat er, Mißt wohl anderthalb am Maule. Diesen Stier nahm Lemminkäinen, Einen Pflug am Ackerraine, Ackert’ aus die Sampo- Wurzeln, Dieses bunten Deckels Fesseln; Sieh, da rührte sich der Sampo, Neigte sich der bunte Deckel. Väinämöinen drauf der alte, Ilmarinen als der andre, Lemminkäimen als der dritte, Schleppten gleich den großen Sampo Aus dem Steinberg von Pohjola, Aus dem Schoß des Kupferhügels,
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Brachten ihn an Bord des Bootes, Schafften ihn an Bord des Schiffes. So verluden sie den Sampo, In ihr Boot den bunten Deckel; Stießen in die See den Segler, In die Flut die hundert Planken, Brausend fuhr das Boot ins Wasser, Schnurstracks schoß es in die Fluten. Ilmarinen fragte endlich, Sagte so, sprach solche Worte: „Wohin bringen wir den Sampo, Wohin wollen wir ihn führen Hier von diesem argen Orte, Aus dem elendsvollen Nordland?”
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Väinämöinen alt und wahrhaft Sagte so, sprach solche Worte: „Dorthinführen wir den Sampo, Bringen wir den bunten Deckel: Zu dem dunstig feuchten Vorsprung, An des Nebeleilands Spitze; Dort ist dieses Glückes Bleibe, Dort soll es für immer wohnen. Wohl ist dort an Platz nur wenig, Dennoch findet sich ein Fleckchen, Ungeplündert, unerobert, Unberührt vom Schwert des Mannes.” Nachdem der Sampo also auf das Schiff geladen ist – genauso wie der Pirat Mysing Grotti an Bord seines Schiffes brachte –, rudern die Helden so schnell sie können von dannen. Lemminkäinen wünscht sich Musik, denn damit lasse es sich besser rudern. Aber Väinämöinen ziert sich, so daß Lempis Sohn für sich alleine singt – zwar mit lauter Stimme, aber mitnichten musikalisch:
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Saß auf einem Stumpf ein Kranich, Mitten auf der feuchten Bülte, Zählt’ die Knöchel seiner Zehen, Hob den einen Fuß, den andern; Da fuhr er erschreckt zusammen Bei dem Liede Lemminkäinens. Schrillen Schrei entließ der Kranich, Schrie erschreckt mit grauser Stimme, Fing sogleich an fortzufliegen, Flog hinüber nach dem Nordland. Gleich als er dort angelangt war, Sich am Sumpf des Nordlands einfand, Schrie er schrill zum zweiten Male, Ließ er scharfen Schrei ertönen. Machte wach damit das Nordland, Weckte so die Widersacher. Sofort wird die Verfolgung aufgenommen: Louhi, die schlechte Wirtin von Pohjola, wirft ihnen ein magisches Hindernis nach dem anderen in den Weg; aber Väinämöinen wird mit ihnen fertig. Er läßt ihr Kriegsschiff auf einer Klippe, die er zuvor herbeigezaubert hat, zerschellen. Aber bei dieser Gelegenheit sinkt seine geliebte Kantele auf den Grund des Meeres. Zuletzt verwandelt sich Louhi in einen riesigen Adler, der den gesamten Raum zwischen den Wellen und den Wolken einnimmt; und rasch reißt sie den Sampo an sich: Warf den Sampo in das Wasser, Stürzt’ den ganzen bunten Deckel Von dem Bord des roten Bootes Mitten in die Meeresbläue; Da zerbarst der bunte Deckel, Ging der Sampo ganz in Stücke.
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Einige Trümmer des bunten Deckels treiben auf der Meeresoberfläche, Vainämöinen kann viele von ihnen aufsammeln; Louhi jedoch erwischt nur ein kleines Stück. In der Folgezeit verarmt Lappland, während Suomi (Finnland) gedeiht und fruchtbar ist. Väinämöinen sät die Überreste des Sampo aus, und es wachsen Bäume aus ihnen: „Darin ist des Samens Ursprung, Da der Keim zu Glückes Dauer, Da ist Pflügen, da ist Aussaat, Da ist Wachstum jeder Weise, Darin liegt des Mondes Leuchten, Glückbegabter Sonne Glänzen Über Finnlands weite Fluren, Über Suomis süße Erde!” Väinämöinen bastelt sich eine neue Kantele, diesmal aus dem Holz einer Birke und mit den Haaren junger Mädchen als Saiten – aber die Saiten kommen zum Schluß. Zuvor fragt er: „Fertig ist der Kannelboden, Ist der Rumpf der steten Freude. Woher nehme ich die Zapfen, Woher hole ich die Wirbel?” Eine Eiche wuchs am Viehweg, Hoher Baum im Hofe hinten, Glatte Äste trug die Eiche, Jeder Ast trug eine Eichel, Auf der Eichel war ein Goldrad, Auf dem Goldrad stand ein Kuckuck. Immer wenn der Kuckuck anschlägt, Wenn er Laute gibt mit fünf Worten, Schäumt ein Goldstrom aus dem Schnabel, Sickert plötzlich Silber nieder Auf den goldnen Hügelabhang,
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Auf die silberhelle Höhe, Dort sind Zapfen für die Zither, Wirbel für den Maserholzrumpf. Noch einmal beginnt Väinämöinen, auf seinem unwiderstehlichen Instrument zu spielen. Aber diesmal gelingt es Louhi, Sonne und Mond zu erbeuten. Und das war ihr möglich, denn … Es entstieg der Mond der Stube, Kroch auf eine krumme Birke, Ihrem Schloß entschritt die Sonne, Warf sich auf den Föhrenwipfel, Um dem Kannelklang zu lauschen, Um die Freude anzustaunen. Die mit beiden Händen zugreifende Louhi versteckt Sonne und Mond in einem Berg aus Stahl. Ilmarinen schmiedet für Sonne und Mond jeweils einen Ersatz; aber die künstlichen Gestirne wollen nicht so recht leuchten. Endlich gibt Louhi die Himmelskörper wieder frei, denn sie fürchtet sich inzwischen vor den Helden; wiederholt beklagt sie sich, daß mit dem Sampo auch ihre Kraft sie verlassen hat. Aber die Zeit läuft auch für den uralten Väinämöinen ab. Alles, was ihm noch zu tun übrig bleibt, ist, ein neues Feuer zu entfachen; und das tut er auch. Vor langer Zeit beginnend, hatte er alles gesungen, was es zu singen gibt. Tag für Tag sang er die Weisen, Viele Nächte nacheinander Das Gedächtnis alter Zeiten, Jene tiefen Ursprungsworte, Die nicht alle Kinder können, Männer nicht einmal verstehen Jetzt in diesen trüben Tagen, An dem schlimmen Schluß der Zeiten.
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Kapitel 7
Ein wundersames Kind wird nunmehr geboren, das eine neue Ära verkündet. Väinämöinen weiß, daß es für beide gleichzeitig keinen Platz auf der Welt gibt. Er muß gehen, damit das Kind leben kann. Und so sagt er seinem Land Lebewohl; Schritt davon bedachten Schrittes An den Strand, bespült vom Meere, Dort begann er gleich zu singen, Sang zum allerletzten Male, Sang sich einen Kahn aus Kupfer, Ein verdecktes Kupferfahrzeug. Setzte selber sich ans Steuer, Fuhr hinaus aufs offne Wasser, Sagte noch bei seinem Abschied, Sprach noch so bei seiner Abfahrt: 101
„Mag doch eine Frist verfließen, Mögen Tage gehn und kommen. Dann bedarf man meiner wieder, Wird mich suchen, mich ersehnen, Neuen Sampo zu erbauen, Neues Saitenspiel zu schaffen, Neuen Mond herbeizubringen, Neue Sonne zu befreien, Wenn nicht Sonne ist, nicht Mondlicht, Auch nicht Freude auf der Erde.“ Väinämöinen fuhr, der alte, Übers Meer hin ganz gelassen In dem Kahn mit Kupferzierat, In dem kleinen Boot aus Kupfer An den obern Rand der Erde, An den untern Rand des Himmels. Tatsächlich gibt es noch mehr Runen, die von Väinämöinens
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Weggang berichten, wie wir von Martti Haavio erfahren. Väinämöinen taucht in die Tiefen des Meeres, in das tiefste Meer, in das tiefste Erdinnere, in die tiefste Region des Himmels, zu den Pforten des großen Rachens des Todes. Oder er segelt in die Kehle des Maelströms, in den Rachen des Maelströms, in den Schlund des Maelströms, in den Schlund des Seeungeheuers. Das ist jener Vortex, der alle Wasser schluckt, der Strudel, der aus der Zerstörung von Grotti hervorgeht – und mit dem wir uns später näher befassen werden. Sein norwegischer Name lautet Hwergelmir; sein ältester Name ist Eridu. Aber dieser Name gehört zu einer anderen Geschichte und einer anderen Welt. Für heutige Menschen ist es schwierig, die Qualität der altehrwürdigen Vortragskunst (laulo) zu erfassen, die aus nur wenigen endlosen Noten mit frei improvisierten „Kadenzen” besteht, zu denen jedoch ein Kern fester Wortlaute gehört, der in der kanonischen Form strikt eingehalten wird. Es handelt sich keineswegs um Volksdichtung im üblichen Sinn, obgleich ihre „Kopisten”, ihre „Drucker” und ihre „Herausgeber“ ausschließlich Bauern mit einem eisernen Gedächtnis sind.7 Ein alter laulaja, der den Ursprung der Welt rezitierte, erzählte Lönnrot: „Du und ich wissen, daß dies die wirkliche Wahrheit darüber ist, wie die Welt begann.“ Er sagte dies nach Jahrhunderten des Christentums – ohne jemals daran zu zweifeln, denn das Wesentliche ei7
M. Kaavio, Väinämöinen, Eternal Sage (1952), 40 (Selälä zitierend).
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ner Rune war die gesungene oder gemurmelte Beschwörung (vgl. das deutsche Verb raunen), welche die Dinge zu ihrem Anfang zurückführen, zu den „tiefen Ursprüngen”. Um zum Beispiel eine Schwertverletzung zu heilen, mußte der laulaja die Rune des „Ursprungs von Eisen” singen; und ein einziges falsches Wort hätte ihre Macht gebrochen. Auf diese Weise blieben Fragmente zeitlosen Alters in lebendiger Volksdichtung eingebettet. Jene, welche die Griechen die „Namenlosen” nannten (typhlòs anēr) und die epischen Rhapsodien aufbewahrten, sind uns noch heute fast zum Greifen nahe – in jenen kargen Dörfern des Hohen Nordens, in denen uns ihre Namen begegnen; Arhippa Perttunen, Simana von Mekrijärvi, Okoi von Audista oder Ontrei der Hausierer. Aus der ganzen befremdlichen Geschichte geht eines unwidersprochen hervor, nämlich daß der Sampo nichts anderes als der Himmel selbst ist. Das feststehende Adjektiv kirjokansi, „bunt“, bezog sich in der finnischen Volksdichtung auf den Deckel des Himmelsgewölbes, wie Comparetti und andere vor längerer Zeit nachgewiesen haben. Was den Namen Sampo anbelangt, so widersetzte er sich den Bemühungen der Linguisten solange, bis herausgefunden wurde, daß sich der Begriff aus dem Sanskrit-Wort skambha, Säule, Pol, herleitet.8 Da er „mahlt”, ist Sampo offensichtlich eine Mühle. Aber der Mühlbaum ist zugleich die Weltachse, so daß die Forschung zu der nordischen Mühle zurückkehrt, und zu der Gesamtheit von Bedeutungen, die in dem schwierigen Wort ludr enthalten ist, das wiederum für das Bauholz der Mühle steht und als „loor”, ein Windinstrument, wieder auftaucht. Damit ist die Zeit in beiden Richtungen einbezogen: als Festsetzung und als Skandierung der Zeit. Das stellt keine Zweideutigkeit dar, die aus Verlegenheit entstanden wäre, sondern einen umfassenden Sinn, der sich frühen Denkern wie vom Himmel gesandt offenbart haben muß. 8
Vgl. Kapitel 8.
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Der Sampo ist – beziehungsweise war – der Spender aller guten Dinge, und das wird auf herrliche Weise von den vielen Varianten betont, die darauf bestehen, daß das Meer reicher ist als das Land, weil die meisten guten Dinge eben ins Meer fielen. Die Menschen mußten zwangsläufig das wimmelnde Leben der arktischen Gewässer mit dem kahlen Land des Hohen Nordens vergleichen. Aber dem Sampo widerfuhr eine Katastrophe, als er bewegt wurde; und das ist der entscheidende Punkt, der die Parallele zu Grotti schafft. Die astronomische Idee, die diesen seltsamen Darstellungen zugrunde liegt, wurde im Intermezzo beschrieben und wird in Kapitel 9 wieder aufgegriffen.
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Of this base metal may be filed a key That will unlock tbe door they howl witbout. FITZGERALD
Ergänzend zum Sampo gibt es viele Mythen, die der erzählerischen Abfolge des Kalevala eingelagert sind und deren Analyse einige Überraschungen zutage fördern würde. Zum Beispiel gibt es den Kampf zwischen Väinämöinen und Youkahainen (vgl. Seite 89), einem feindlich gesonnenen lappischen Zauberer, der Vainämöinens ständiger Widersacher zu sein scheint. Youkahainen versucht den uralten Weisen zu besiegen, indem er ihm kosmologische Rätsel aufgibt; aber Väinämöinen „singt” den Lappen Schritt für Schritt bis zum Hals in den Morast, singt seine Zauberformeln ,,rückwärts” und befreit ihn erst, als der Lappe ihm Aino, seine Schwester, verspricht. Es gibt auch die Erzählung von Vainämöinens Suche nach drei verlorengegangenen Runen im Bauch des Riesen. Diese Erzählungen muten – sofern man sie nicht wie Geschichten behandelt, die nun mal eben passieren – wie „Findlinge” an, die durch die eiszeitliche Bewegung der Zeit über Finnland verstreut sind. Das archaische Gebilde läßt sich bis nach Ägypten zurückverfolgen.1 Ein junger Ägypter namens Setna (beziehungsweise Seton Chaemwese) wollte das Günther Röder, Altägyptische Erzählungen und Märchen (1927), 149; Alfred Wiedemann, Herodots Zweites Buch (1890), 455.
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Zauberbuch des Thot von der Leiche des Nefer-ka Ptah stehlen, einem der großen ägyptischen Götter, dessen Mumie oft abgebildet worden ist. Ptah jedoch erwachte und fragte Setna: „Kannst du das Buch mit Hilfe eines wissenden Schriftgelehrten an dich nehmen, oder willst du mich lieber auf dem Dame-Brett schlagen? Hast du Lust, ,Zwei-und-Fünfzig’ zu spielen?” Setna ging auf das Spiel ein, und nachdem das Brett mit den „Hunden” (Steinen) gebracht worden war, gewann Nefer-ka Ptah das erste Spiel, sprach eine Zauberformel, plazierte das Brett auf Setnas Kopf und ließ ihn bis zu den Hüften im Boden versinken. Beim dritten Mal ließ er ihn bis zu den Ohren versinken. Daraufhin rief Setna nach seinem Bruder, der ihn rettete. Es gibt auch ein finnisches Volksmärchen, das die bekannte babylonische Geschichte von Etana und dem Adler aufgreift.2 Hier ist es anstelle des Königs der „Sohn der Witwe” (es wird kein Grund für dieses Epitheton angegeben, das in erster Linie zu Parzival zu gehören scheint; allerdings begegnen wir ihm in der späteren Freimaurer-Tradition wieder),3 der von einem Greif in die Luft gehoben wird und zuschauen kann, wie die Erde unter ihm immer kleiner wird. Als die Erde „nicht größer als eine Erbse” zu sein scheint (analoge Gleichnisse finden sich auch bei Etana), taucht der Greif schnurstracks auf den Grund des Meeres, wo der Held einen gewissen Gegenstand findet, nach dem er überall gesucht hat; und zum Schluß wird er wieder an Land gespült. Dies sieht nach der abgerundeten Geschichte dessen aus, Siehe M. Haavio, Der Etanamythos in Finnland (1955), 8-12; desgleichen Stephen Langdon, The Legend of Etana and the Eagle (1932), 46-50. 3 Solche Worte haben ein langes Leben. Nachdem General Armistad im amerikanischen Bürgerkrieg bei einem Sturmangriff auf die südliche Schützenlinie tödlich getroffen in Feindeshand fiel, soll er sich noch sterbend wiederholt als einen „Sohn der Witwe” bezeichnet haben, wobei es sich offensichtlich um das Kennwort einer geheimen militärischen Bruderschaft handelte, das die Umstehenden nicht verstanden – noch die Historiker. 2
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was in der babylonischen Keilschrift auf halbem Wege abbricht, weil Teile der Schrifttafel fehlen: Es könnte sich dabei um die erste Version der Sage handeln, in der Alexander die drei Reiche erkundet. Die ungewöhnliche Position Kullervos im Kalevala ist nach wie vor ein Rätsel. Dort, wo ihn Lönnrot in den Handlungsablauf eingliedert, bleibt er eine deplazierte Figur, die einem anderen Zeitalter zu entstammen scheint, wie bereits an anderer Stelle bemerkt. Es gibt viele solcher Unvereinbarkeilen. Die verschiedenen Lesarten zugrunde legend, wurde die kühne Behauptung aufgestellt, daß Kullervo vermutlich erst nach dem Weggang Väinämöinens in Erscheinung tritt – und mehr noch: daß er selbst das wundersame Kind sei, welches Väinämöinen nötigt, von der Bühne zu verschwinden; und das wiederum würde erklären, warum sich die beiden nie begegnen. Heutzutage nimmt man an, daß es sich bei dem Kind um Christus selbst handelt; aber das ist nichts anderem als dem üblichen transformierenden Einfluß der Kirche zuzuschreiben. Auch das Kind in Vergils Fünftem Hirtenbrief wurde später für Christus gehalten; und dank der Kraft seiner ihm unterstellten Prophezeiung erhielt Vergil den Ruf eines Zauberers. Tatsächlich sagt die Mutter über ihr und Väinämöinens uneheliches Kind (50.199f): „Großen Mannes ich genese, starken Sproß werd ich gebären, welcher Macht hat über Mächtge, mehr Gewalt als Väinämöinen.“ Das versetzte den englischen Herausgeber des Kalevala um so mehr in Erstaunen, als der Säugling auch das „Zweiwochen-Söhnchen des Kaleva” genannt wird. Denn Kullervo ist sowohl in der finnischen als auch in der estländlichen Überlieferung der Sohn des Kaleva – „Kalevanpoika” beziehungsweise „Kalevipoeg” –, und zwar viel ausdrücklicher als die anderen Helden, die nur generell „Söhne” sind. Es würde in das mythische Bild passen – aus Gründen, die bald ersichtlich werden –, daß wir es hier mit einem zeitgebundenen tragischen Avatara zu tun haben, der den zeitlosen Weisen ablöst.
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Aber wer ist denn nun Kaleva? Er ist eine mysteriöse Entität, die durch ihre Abwesenheit glänzt und sich dennoch als eponyme Präsenz durch das gesamte Gedicht zieht. Kaleva wird die Konnotation von „Riese” zugeschrieben; in einigen finnischen Versionen des Alten Testaments werden die riesenhaften Rephaim und Enakim „Kinder des Kaleva” genannt. Aber es gibt viele Gründe, dieses Wort als Schmied zu verstehen.4 Kaleva könnte ein noch ur-anfänglicherer Schmied als Ilmarinen sein. In dem Zauberwort, das den Ursprung von Eisen beschreibt, gibt es eine merkwürdige Zeile: „Armes Eisen, Mann Kaleva, in jener Zeit warst du weder groß noch klein.” In jedem Fall kann die kursierende Vorstellung, Kaleva sei eine „Personifikation” Finnlands – eine Art Britannia mit ihrem Dreizack – als unseriös beiseite gelegt werden. In jenen Zeiten gab es keinen Raum für rhetorische Figuren. Kaleva bleibt einstweilen eine signifikante Lücke. Aber Setäla merkt an, daß auch die russischen bylini, die nahen Verwandten der estnischen Runen, die Heldentaten des Kolywanowitsch, des Sohns von Kolywan, besingen und dabei so gut wie nichts über Kolywan selbst aussagen.5 Die russischen Schriften geben den vollen Namen mit Samson Koiywanowitsch wieder, so wie er in Finnland Kullervo Kalevanpoika lautet. Hier taucht, vielleicht zufällig, ein Name auf, der sich wie ein kaum sichtbarer Faden durch die gesamte Überlieferung zieht. Im Kalevala begegnen wir Samson bereits in der zweiten Rune; sein Name ist Sampsa Pellervoinen, der „die Baume sät” und außerdem Vainämöinen hilft, sie zu fällen.6 Sein E.N. Setälä, „Kullervo-Hamlet” FUF 7 (1907), 249. Siehe auch K. Krohn, Kalevalastudien I. Einleitung (1924). 93-101. 5 Das gleiche gilt für den permanent abwesenden Iwaldi und die sehr aktiven drei „Söhne des Iwaldi“ in der Edda. Rydberg ist Vater und Söhnen hartnäckig und erfolgreich auf den Fersen geblieben. 6 Krohn vermutet, daß Sampsa von Sampo hergeleitet ist. Comparetti sieht es lieber genau umgekehrt. Weder das eine noch das andere ist bezeugt beziehungsweise überzeugend; aber beide Autoren machen 4
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Name „Sohn der Fluren” oder „der Erdgeborene” deutet an, daß er eine ländliche Gottheit ist, die sich in dem griechischen Triptolemos oder dem etruskischen Aruns Velthymnus wiederfinden könnte. Es läßt sich nicht mehr sagen, was seine Rolle im ursprünglichen Sinn der Geschichte war. Es genügt, daß es ihn gibt. Die Sage von der Mühle beginnt, sich über unsere Reichweite hinaus auszudehnen. Es kann daher auch nicht mehr überraschen, daß der meisterhafte Mythologe Lykophron von Zeus als einem Müller spricht (Myleus, 435). Damit geht wiederum paradoxerweise der Name Mylinos – Müller – einher, der dem Anführer der Schlacht der Giganten gegen die Götter verliehen wurde. Der Kampf wurde augenscheinlich als einer um die Kontrolle über die Mühle des Himmels angesehen. Es ist demzufolge nicht unbedingt zufällig, daß der Name Samson im Hohen Norden auftaucht. Denn Samson selbst – also Samson Agonistes – dürfte einen Ehrenplatz unter den riesenhaften Helden der Mühle einnehmen. Tatsächlich steht er in unserem Schrifttum an erster Stelle. Uns wird berichtet (Richter XVI.21), wie er dahinsiecht: Mit ausgestochenen Augen muß er „die Mühle drehen im Gefängnis”, bis ihn seine grausamen Häscher losketten, damit er in ihrem Tempel „Spaß vor ihnen” treibe. Mit letzter Kraft kann er die zwei Mittelsäulen umfassen und den Tempel über den Köpfen der Philister einstürzen lassen. Wie Menja, so hat auch Samson seine Rache geübt. Aber jenseits der Begrenztheit dieses Themas führt uns Samson in einen weltweiten Sinnzusammenhang. Er bringt noch weitere schwerverständliche Begriffe ins Spiel – und sollte daher besser für das nächste Kapitel aufgespart werden. Nun, am Ende der merkwürdigen Geschichte über den Sampo, fragt man sich zu recht: Ergibt dies alles aus sich heraus viel Sinn? Ist es jenseits der Literaturgeschichte überhaupt von Relevanz? Comparetti, der große alte Gelehrte, der sich im vergangeimmerhin darauf aufmerksam, daß der Name Samson eine Seltenheit ist, die in Betracht gezogen werden muß.
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nen Jahrhundert an das schwierige Studium der finnischen Dichtung heranmachte, stellte sich selbst eine raffinierte und klassisch-philologische Frage: Würde es (also das Studium der finnischen Dichtung) uns weiterbringen, die Geburt der homerischen Gedichte zu verstehen? Und er antwortete mit Ja. Doch räumte er ein, daß die homerische Frage offen bleibt. Mit anderen Worten: Die berühmte „Kommission orphischer und pythagoreischer Experten, die von Pisistratos zusammengestellt wurde, um die verstreuten Rhapsodien zusammenzutragen”, kann schwerlich – so wenig wie Lönnrot das konnte – ganz aus sich heraus Werke wie die llias und die Odyssee geschaffen haben. Mithin muß es doch einen Homer gegeben haben. Und das wiederum zeigt, daß sich die herkömmliche Vorstellung von epischer Genialität sogar für die vergleichenden Sprachwissenschaftler im Mysteriösen auflöst. Aber Comparetti fühlt sich veranlaßt hervorzuheben, daß jene Experten keine Gelehrten im heutigen Sinne waren, gehörten sie doch zu einer Zeit, als Mythos, Dichtung und intellektuelles Schaffen eins waren. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Frage von der anderen Seite her aufzurollen. Angenommen, Lönnrot wäre selbst ein „Orphiker und Pythagoreer“ im alten Sinn gewesen, hätte er dann nicht eine bessere Rekonstruktion zustande gebracht als jene – sicherlich intelligente – Zusammenstückelung, auf die er sich beschränken mußte? War er nicht durch seine Ignoranz des archaischen Hintergrunds gehemmt? Firdausi hingegen kannte tatsächlich die astrologischen Doktrinen, dank denen seine verstreuten Quellen einen Sinn ergaben – und zweifellos ist es das, was ihm erlaubte, sein Schanahmeh zu einem wirklichen Ganzen zusammenzuschweißen. Auf Lönnrot trifft das nicht zu; jedoch waren die „Kurzgesänge” der bäuerlichen Tradition in Finnland zu weit von dem ursprünglichen Gedanken entfernt, als daß irgend jemand ihn hätte zurückholen können. Seine Nachfolger, die für jede einzelne Rune eine verwirrende Anzahl von Lesarten zutage förderten, haben an der Konfusion nichts geändert. An-
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statt das sperrige Gut zu einem beliebigen Ganzen zusammenzupressen, haben die finnischen „Folklore Fellows” (kurz „F.F.” genannt) vergleichende Mythologie betrieben – das einzige Hilfsmittel, mit dem sich früher oder später Ordnung herstellen lassen wird. Was Homer und die vorausgesetzten Homerischen Rhapsodien betrifft, so ist dies ein gefährliches Terrain. Dies nicht so sehr, weil Homer zum uneingeschränkten Grundbesitz der respekteinflößenden Zunft homerischer Gelehrter gehört – als geschätztes Mitglied dieser Zunft konnte sich Comparetti Abweichungen erlauben –, sondern im wesentlichen deshalb, weil es nicht angemessen ist, zu versuchen, etwas auf ein „Schema” zu reduzieren, das ein großartiges Kunstwerk ist und bleibt, dessen Klarheit und Unmittelbarkeit nicht verdorben werden sollte. Es besteht unglücklicherweise das allgemeine Vorurteil, das Herausarbeiten von im Text enthaltenen theoretischen Anspielungen reduziere diesen zu einem irrelevanten Rätsel, während zum Beispiel der Schiffskatalog, sofern man ihn Wort für Wort studiert, dem Leser verborgene Schönheiten enthüllen soll. Hier genügt es, darauf hinzuweisen, daß Homer vorgefertigtes Material zur Hand hatte: Vierkantsockel und wohlgemeißelte Quadersteine, die er in Dichtung transformierte. Eines dieser vorgefertigten Stücke, der Fluch der Müllerin, ist in Kapitel 5 wiedergegeben; und es werden noch weitere solcher Beweisstücke folgen- Tatsächlich bestand Homers Geschicklichkeit darin, diese Materialien so gut neuzugestalten und zu vermenschlichen, daß sie unauffällig wurden. Bezüglich der griechischen Tragödien wissen wir dank Apollodoros mehr. In seiner „Bibliothek” der Mythen, die von Frazers üppigen Fußnoten ergänzt wird, hält er für jede Tragödie ein „Buch” bereit – und zwar sowohl für jene Tragödien, die wir besitzen, als auch für solche, die wir verloren haben; für Tragödien, die geschrieben wurden wie auch für solche, die niemals geschrieben worden sind. Doch bedurfte es eines Aischylos oder eines Sophokles, um die Bedeutung zu trans-
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formieren und aus ihr ein Kunstwerk zu machen. Weitaus greifbarer und besser bekannt sind die Quellen der Göttlichen Komödie – Geschichte, Philosophie und Mythos, Maße und Intervalle –, die eine praktisch komplette Struktur ohne Lücken liefern. Aber gerade deshalb ist Dante um so mehr ein wahrer Schöpfer. Offensichtlich ist es genau der Begriff des „Poeten” (poiētēs) der neu definiert werden muß, wenn man sich den traditionellen Quellen nähert. Veteres docti poetae, wie Ovid sagte, der selbst nicht zu den geringsten unter ihnen gehörte. „Gebildet” ist das Schlüsselwort, nicht in theoretisch-bildhaften Ausdrücken und Allegorien, sondern in den lebendigen Inhalten mythischer Doktrin. Aber auch hier führt der gewöhnliche Sprachgebrauch wieder in die Irre. Heute ist ein gebildeter Mensch im allgemeinen jemand, der weiß, worum es geht. Dante gehörte mit Sicherheit zu dieser Kategorie. Aber galt sie auch in den entfernten Zeitaltern? Es gibt Gründe, dies zu bezweifeln. Eine esoterische Doktrin, wie sie von Aristoteles definiert wurde, ist eine, die man lernt, lange bevor man sie versteht. Ein Großteil der Ausbildung chinesischer Gelehrter folgte noch bis vor kurzem diesem Motto. Das Verstehen blieb etwas anderes. Es mochte nie erreicht werden und bestenfalls erst dann eintreten, wenn das Lernen abgeschlossen war. Es gab andere Wege. Ein extremes Beispiel aus Rom mag das verdeutlichen. Athenaios7 erzählt, daß es dort einen vielgefeierten Schauspieler namens Memphis gab, der angeblich innerhalb eines kurzen Tanzes fehlerfrei die gesamte Essenz des pythagoreischen Lehrgebäudes vermitteln konnte. Es wird nicht gesagt, daß er es verstand. Er mag eine dunkle Ahnung gehabt haben, und der Rest war sein außerordentlich geschärfter Sinn für Ausdruck. Er hatte sozusagen ein morphologisches Verstehen, das er nur in Bewegung ausdrücken konnte. Sicherlich hatte sein Publikum nicht mehr Athenaios, Deipnosophistai I.2od. Siehe auch Lukians De Saltatione, 70. 7
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Ahnung als er; aber ebenso sicher war es ein strenger und unerbittlicher Richter. Dictum sapienti sat, würde der Weise sagen. Aber in diesem Fall ist sogar dieser Spruch verfehlt. Die Zuschauer würden nichtsdestoweniger in ihrer eigenen volkstümlichen Sprache johlen: „Du bist Klasse, alter Junge!“ Und für die geringste Verfehlung der richtigen Form hielten sie ihre faulen Eier und Tomaten bereit. Dies ist ein Fall von wirklicher Kommunikation, die des Verstehens nicht bedarf. Sie findet einzig über die Form (morphē) statt. In den Mysterien gab es Dinge, die „nicht gesagt werden konnten” (arrhēta), sondern nur dargestellt werden konnten. Solche Happenings muß man im Gedächtnis behalten, wenn man versucht zu beurteilen, wie gut der Dichter das Material verstand, das er bearbeitete. Schöpferisches Mißverstehen mag zum Wesen seiner „Freiheit” gehört haben; aber dennoch gab es den absoluten Respekt. Die Rune über den „Ursprung von Eisen” (die neunte im Kalevala) war dem laulaja unverständlich, aber er wußte, daß er diesen „tiefen Ursprung” vorzutragen hatte, um die tödlichen Kräfte kalten Eisens zu kontrollieren. Magische und prophetische Implikationen gehörten immer zu dem harten Gewerbe des Schmieds, ebenso wie zu dem erhabenen des Dichters. Das Verstehen lag außerhalb ihrer Reichweite. Selbstverständlich hat jede Ära aus sich heraus ihre Balladen, Liebesgeschichten, Lieder und Märchen erfunden, um sich zu unterhalten. Aber das ist eine andere Sache. Hier geht es um den Poeten, den poiētes, wie er in frühen Zeiten aufgefaßt wurde. Es gab eine ursprüngliche Gesamtheit von Bedeutungen, welche die Wörter Poet, vates, Prophet und Seher umfaßte. Jedes Wissen und Gesetz, schrieb Giovanni Battista Vico vor gut 200 Jahren in einem Anfall von Genialität, müsse einmal „ernste Poesie”, poesia seriosa, gewesen sein. Es ist in diesem Sinne zu verstehen, wenn sich Aristoteles auf „würdevolle Zeugnisse der [frühen] Poeten“ beruft. Da die Dokumente aus der frühesten Zeit der Schrift nunmehr
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zugänglich sind, wird man von einem völlig unerwarteten Charakterzug in Erstaunen versetzt: Anstatt daß unsere ersten Vorläufer ihre Grillen in kindlicher Freiheit auslebten, benahmen sie sich wie besorgte und zweifelnde Kommentatoren, sich ständig an der Exegese einer nur ungenau verstandenen Überlieferung versuchend. Sie bewegten sich zwischen technischen Termini, deren Bedeutung für sie halbverloren war; sie beschäftigten sich mit Wörtern, die bereits unter diesem frühesten Horizont als „tottering with age” erschienen, wie James Henry Breasted sagt, Wörter, die sich bald unserer Kenntnis ganz entzogen haben werden. Lange bevor die Poesie ihren Anfang nehmen konnte, existierten bereits Generationen seltsamer Scholiasten. Den Experten ist die Unsicherheit aufgefallen, die in den Nachfolgetexten alter Schriften vorherrscht, das sich in ihnen widerspiegelnde Bemühen, korrekte Namen und ihre Signifikanz aus obsoleten Formeln und Ideogrammen herzustellen. Anläßlich seiner Beschäftigung mit frühen ägyptischen Dekan-Listen, verweist Albert Schott auf die Ratlosigkeit späterer Generationen angesichts der unverständlich gewordenen Namen der Sternbilder: Der Namensbestand dieser Sternbilder zeigt Merkmale eines altertümlichen Sprachgutes. In einigen Namen sind Worte enthalten, die sonst nicht bekannt sind oder frühzeitig verschwunden sind. Von anderen kennen wir die Hieroglyphen, ohne sie recht deuten zu können. Dies trifft vor allem bei den großen Göttern des Dekankreises zu, bei Orion und Sothis [= Sirius, H.v.D.], die altägyptisch immer mit dem Namen der alten Hieroglyphen genannt wurden, ohne daß man in geschichtlicher Zeit je recht gewußt hat, was sie einst bedeuteten. Andere Namen sind ganz unverständlich geworden und mögen es schon zur Zeit der Niederschrift der ältesten heute bekannten Listen gewesen sein. Zu allen Zeiten der langen Geschichte dieser Namen verfolgen wir Versuche der Namensdeutung. Gerade die Unschlüssigkeit, mit der sie vorgeht, kann das hohe Alter dieser Namen bestätigen, von denen wohl viele wie in un-
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Dieser letzte Satz gilt für jede Schrift aus alter Zeit, nicht nur für die in ihr enthaltenen Namen: Es ist kein Ende abzusehen bei den Kommentaren zu den Pyramidentexten, Sargtexten und zum Totenbuch,9 zum Rigveda, zum I-Ging oder zum Alten Testament.10 Wolfram von Soden bedauert, daß wir von den Dokumenten der „Renaissance der sumerischen Kultur” (ca. 2100 v.Chr.) abhängig sind, anstatt das tatsächliche, alte Material zur Verfügung zu haben.11 Die bloße Tatsache, daß Sumerisch die Sprache der gebildeten Babylonier und Assyrer war, die Existenz der vielen sumerisch-akkadischen „Wörterbücher” sowie der zahlreichen Übersetzer des Gilgamesch-Epos verraten die Betriebsamkeit mehrerer Akademien, die für die offiziell anerkannten Textausgaben verantwortlich zeichneten. Man kann beinahe sehen, wie die Gelehrten über den Schriften rätselten und die Stirn runzelten. Und in Mexiko war es nicht anders. In Chimalpahins Memorial Breve finden wir Bemerkungen wie: „Hier in diesem (Jahre) ,5-Haus’ erklärten auf Grund bilderschriftlicher Aufzeichnungen etliche alte Männer, daß zu sterben kam König Hueymac, König von Tollan (die Stadt des mythischen Goldenen Zeitalters)”.12 Die Griechische Renaissance war, nicht weniger als jene des vorausgegangenen Jahrtausends im Nahen Osten, das Ergebnis solch antiquarischen Bemühens. Noch Hesiod ist geprägt davon. In Wilhelm Gundel, Dekane und Dekanstembilder (1936), 5. Siehe zum Beispiel Günther Röder, Urkunden zur Religion des Alten Ägypten (1915), 185f, 199f, 224. 10 John Dowson [A Classical Dictionary of Hindu Mythology (1953), 60] nennt die brahmanischen Schriften freiweg einen „hinduistischen Talmud“. 11 W. von Soden, „Licht und Finsternis in der sumerischen und babylonisch-assyrischen Religion”, in Studium Generale 13 (1960), 647. 12 Chimalpahin, Memorial Breve, übersetzt von W. Lehmann und G. Kutscher (1958), 10. 8 9
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Diese wenigen Gedanken sollten in jeder Vorstellung von „Überlieferung” enthalten sein. Der Begriff impliziert keineswegs das „Verstehen” der Tradierenden; und das gilt für die frühesten Zeiten bis hin zu unseren zeitgenössischen Meßdienern. Wie hervorgehoben wurde, ist es leicht, in die gewöhnliche Literaturgeschichte hineinzuschlüpfen, wenn die Quellen nicht ernsthaft überprüft werden. Geht die Bedeutung des Märchens vom Sampo über diesen üblichen Rahmen hinaus? Einige beachtliche kosmischen Motive, die in der magischen Erzählung verstreut sind, mögen Finnland über die „Korridore der Zeit” aus anderen Kulturen noch erreicht haben, ohne daß ihnen irgendeine Bedeutung angehaftet hätte. Kurzum: Das alles könnte genausogut „Volksdichtung” im üblichen Sinne sein. Die Herausgeber des Kalevala bestanden darauf, den Hintergrund als „schamanistisch” zu beschreiben, worunter sie einfach irgendeine Art primitiver „Religion” verstanden. Sie korrespondierte ihrer Meinung nach mit urtümlicher, instinktiver Magie, die in allen fünf Kontinenten anzutreffen und eng mit dem „Medizinmann” des jeweiligen Stammes verknüpft sei. Dann kam Frazer, um die Spaltung zwischen „Magie“ und „Religion” als die unterschiedlicher Strukturen einzuführen – und damit die Angelegenheit noch komplizierter zu machen. „Schamanismus” gehörte (und tut es leider noch immer) zu jener Sorte vager Schlagwörter, die dem Publikum die befriedigende Einbildung beschert, man verstehe genau, worum es geht – just wie der ebenfalls allzu bekannte Terminus mana oder jenes „prälogische Denken der Primitiven”, das der französische Soziologe und Psychologe Lucien Lévy-Bruhl erfunden, vor seinem Tod aber zurückgenommen hat. Einer der beiden Autoren dieses Buches gibt reumütig zu, daß er früher einmal Pythagoras und den Orphiker Epimenides mit thrakischen Schamanen in Verbindung brachte, ohne damit mehr sagen zu wollen, als daß sich in Pythagoras und Epimenides viel von dem zeitlosen Medizinmann
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wiederfinden lasse.13 Das geschah vor mehreren Jahren und schien mit dem neuesten Stand der Wissenschaft übereinzustimmen – was längst nicht mehr der Fall ist. Die Unzulässigkeit des allgemeinen Umgangs mit dem Begriff entlarvt zu haben, ist das Verdienst von László Vajdas kurzer, aber konzentrierter Studie über dieses Phänomen.14 Vajda hat nachgewiesen, daß kein geschichtliches Urteil, das auf solchen Allgemeinplätzen beruht, stichhaltig sein kann. „Schamane” ist ein tungusisches Wort. Sein Epizentrum hat der Schamanismus jm ural-altaischen Asien; jedoch handelt es sich bei ihm um ein sehr komplexes Kulturphänomen, das weder von Psychologen noch von Soziologen erklärt werden kann, sondern nur mit den Mitteln der historischen Ethnologie. Um es mit wenigen Worten zu sagen: Ein Schamane wird von Geistern auserwählt, was bedeutet, daß er sich seinen Beruf nicht aussuchen kann. Epileptiker und geistig Behinderte sind offensichtlich bevorzugte Kandidaten. Einmal ausersehen, geht der zukünftige Schamane zur „Schule”. Ältere Schamanen bringen ihm sein Handwerk bei, und erst nach der Abschlußzeremonie seiner Ausbildung ist er aufgenommen. Das ist der sozusagen sichtbare Teil seiner Erziehung. Die eigentliche schamanistische Einweihung der Seele geschieht in der Welt der Geister – während sein Körper tagelang bewußtlos in seinem Zelt liegt –, die den Kandidaten auf höchst sorgfältige und drastische Weise zerstückeln und ihn anschließend mit Eisendrähten wieder zusammennähen oder ihn neu schmieden, so daß er ein neues Wesen wird, das zu übermenschlichen Taten fähig ist. Die Pflichten eines Schamanen sind, Krankheiten zu heilen, die durch böse Geister verursacht wurden, welche in den Körper des Patienten eingedrungen sind oder dadurch entstanden, daß die Seele den Körper verlassen hat und nicht mehr den Weg zurück findet. Häufig ist der Schamane G. de Santillana, The Origins of Scientific Thought (1961), 54. L. Vajda, „Zur Phaseologischen Stellung des Schamanismus“, in Ural-Altaische Jahrbücher 31 (1959), 456-485.
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dafür verantwortlich, die Seelen der Verstorbenen zum Wohnsitz der Toten zu führen, so wie er auch die Seelen geopferter Tiere in den Himmel geleitet. Außerdem wird seine Hilfe benötigt, wenn die Jagdsaison schlecht ausfällt; dann muß er herausfinden, wo das Wild ist. Um die in ihn gesteckten Erwartungen erfüllen zu können, muß der Schamane in den höchsten Himmel hinauf, um dort von seinem Gott Informationen zu erhalten – oder er muß in die Unterwelt hinabsteigen. Auf seinem Weg dorthin hat er gegen feindliche Geister zu kämpfen und/oder gegen rivalisierende Schamanen, und es werden gewaltige Duelle ausgefochten. Beide Kämpfer haben ihre tiergestaltigen Hilfsgeister bei sich, und es findet ein häufiges Wechseln der Gestalten statt. In der Tat machen diese phantastischen Duelle die Hauptmasse schamanistischer Geschichten aus. Ein letztes Echo findet man in dem Märchenmotiv von der „magischen Flucht”. Die Seele des Schamanen steigt in den Himmel hinauf, wenn er sich in einem Zustand der Ekstase befindet. Um diesen Zustand zu erreichen, benötigt er seine Trommel, die ihm als „Pferd” dient, während die Trommelstöcke als „Peitsche” fungieren.15 Der „Rahmen”, innerhalb dessen der Schamane handelt, also das Welt Verständnis des ural-altaischen Schamanismus, wurde erfolgreich bis nach Indien zurückverfolgt (bezüglich seiner hinduistischen und buddhistischen Aspekte, einschließlich dem tibetanischen Lamaismus und Bön-po) sowie bis in das alte Persien. Wenn man Wilhelm Radloffs viele Bände liest, stößt man allenthalben auf unzulänglich verkleidete Bodhisatvas (Manjirae = Manjusri; Maiterae beziehungsweise Maidere = Maitreya usw.), aber das beststrukturierte Material wurde von Uno Holmberg (Uno Harva)16 Als „Hauptschlagader” benutzen die Schamanen einen Strom, der durch alle Ebenen des Himmels fließt, und sie identifizieren ihn mit dem Jenissei – eine Vorstellung, die an einer späteren Stelle dieser Untersuchung klarer wird. Siehe Uno Holmberg, Finno-Ugric and Siberian Mythology (Nachdruck 1964), 307f. 16 Siehe Literaturverzeichnis. 15
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bereitgestellt, der bereits zitiert wurde und noch oft zitiert werden wird. Jedoch geht dieses Weltbild – mit seinen drei „Domänen”; mit sieben oder neun Himmeln, einer über dem anderen, und mit entsprechenden „Unterwelten”; mit der „Weltsäule”, die durch das Zentrum des ganzen Systems geht und vom „nördlichen Nagel” beziehungsweise „Weltnagel” (Polarstern) gekrönt wird – weiter zurück als bis zur indischen und iranischen Kultur, nämlich bis zum allerältesten Nahen Osten von wo Indien und Persien ihre Idee von einem „Kosmos” herleiteten – wobei ein Kosmos an sich beileibe keine naheliegende Vorstellung ist. Der Schamane, der die „Stufen” oder Einkerbungen seines Pfahls beziehungsweise Baums hinaufklettert und dabei so tut, als ob seine Seele gleichzeitig in den höchsten Himmel aufsteigt, vollführt genau dasselbe wie der mesopotamische Priester, wenn er die Spitze seiner siebenstöckigen Pyramide erklomm: die Zikkurat, welche die Sphären der Planeten repräsentierte.17 Die Vorstellung von neun Himmeln anstelle von sieben innerhalb der Sphäre der Fixsterne geht auf den Brauch zurück, zu den Planeten den (unsichtbaren) „Kopf“ und „Schwanz” des „Drachen” hinzuzurechnen, also die Mondknoten, in deren Nachbarschaft Verfinsterungen von Sonne und Mond auftreten; die Umlaufzeit dieser „drakonitischen Punkte” beträgt ca. 18,5 Jahre. Diese Vorstellung, die in der mittelalterlichen islamischen Astrologie aufrechterhalten wurde, ist eine indische» aber nicht unbedingt indischen Ursprungs. Reuter [Germanische Himmelskunde (1934), 291ff] geht davon aus, daß sich die germanische Idee von neun Planeten, welche die drakonitischen Punkte einbezieht, auf die gemeinsame „Urzeit” der Indogermanen zurückführen läßt. Dabei bezieht er sich auf Luise Troje, Die 13 und 12 im Traktat Pelliot (1925), 7f, 25, 149f. Selbst wenn es den „Drachen” schon zu jener Zeit gegeben haben sollte, halten wir die Indogermanen – ob nun vereint oder nicht – nicht für die Urheber dieser Idee. Was die islamische und indische Überlieferung betrifft, siehe die höchst sorgfältigen und durchdachten Untersuchungen von Willy Hartner, „The Pseudoplanetary Nodes of the Moon’s Orbit in Hindu and Islamic Iconographies”, 17
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Von der majestätischen Tempelanlage von Borobudur auf Java bis hin zu den anmutigen Stupas, mit denen die indische Landschaft übersät ist, erstrecken sich schemenhafte Erinnerungen an die sieben Himmel, die sieben Kerben, die sieben Ebenen. Uno Holmberg sagt: „Es ist begreiflich, daß eine solche Vorstellung von übereinanderwohnenden himmlischen Göttern keine Erfindung der türkisch-tatarischen Völker ist, sondern auch zu ihnen von anderwärts wanderte. Deshalb ist auch die Bedeutung jener einzelnen Götter ebenso wie die Entstehung des Siebenkreises selber dem Volke ganz unklar. Dem Forscher indessen kann der Ursprung jener in den verschiedenen Schichten des siebenschichtigen Himmels herrschenden Götter kein Geheimnis sein, weisen sie doch offensichtlich auf die babylonischen Planetengötter hin, die schon in ihrer fernen Heimat sieben übereinander befindliche Sternenkreise agierten.“18 Zu diesem Schluß kam auch vor Jahren Paul Mus. Das Konzept von sieben Himmeln und Unterwelten für natürlich, ergo primitiv zu halten, war ein gravierender Fehler, der in den vergangenen zwei Jahrhunderten den geschichtlichen Blickwinkel verzerrte. Aber selbst abgesehen von der Himmels„leiter” und der Himmelfahrt der Seele des Schamanen, enthüllt eine nähere Betrachtung schamanistischer Items sehr alte Muster. Die Trommel zum Beispiel, der mächtigste Ausrüstungsgegenstand des Schamanen, der auf bestimmte Weise das Universum symbolisiert, ist ein unumstrittenes Enkelkind der bronzenen Lilissu-Trommel des mesopotamischen Kalu-Priesters (verantwortlich für Musik
in Ars Islamica 5 (l938),Teil 1; Le Problème de la planète Kaïd (1955); „Zur Astrologischen Symbolik des ,Wade Cup’”, in Festschrift Kühnel (1959), 234-143. Es ist im Rahmen dieses Essays nicht möglich, sich angemessen mit dem dreigeteilten Universum zu beschäftigen. Aber soviel kann mit Sicherheit festgestellt werden: Es geht zurück auf „die Wege von Anu, Enlil und Ea” in der babylonischen Astronomie. 18 U. Holmberg, Der Baum des Lebens (1922), 123.
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und dem Gott Enki/Ea dienend).19 Der Deckel der LilissuTrommel muß von einem schwarzen Stier stammen, „der den himmlischen Stier symbolisiert”, wie François Thureau-Dangin sagt.20 William Foxwell Albright und Paul-Émile Dumont21 gehen sogar noch weiter, indem sie das Opfer des mesopotamischen Stiers, dessen Fell die Lilissu-Trommel zu bedecken hatte, mit dem indischen Ashvamedha vergleichen, einem gewaltigen Pferdeopfer, das sich nur der erfolgreichste König (immer ein Kshatrya) leisten konnte: Das Pferd mußte auf der Stirn das Zeichen der Krittika (= Plejaden) tragen. Und dasselbe schrieb (laut Albright) der akkadische Text für den Stier vor. In dem Text von Thureau-Dangin indessen wird betont: Wenn der schwarze Stier sieben weiße Haarbüschel in Form von Sternen aufweise – d.i. kakkabi; Kakkab = Stern und meint (sofern kein weiterer spezifischer Sternbildname hinzugefügt wird) meistens die Plejaden, so wie mulmul in sumerischen Texten –, dann dürfe der Stier nicht genommen werden.22 Es ist unklar, ob sich die sibirischen Schamanen dieser Vergangenheit noch bewußt waren oder nicht. Die Menge der von Holmberg gesammelten Sternbildlegenden und die vielen Siehe Bruno Meissner, Babylonien und Assyrien (1925), 2, 66. F. Thureau-Dangin, Rituels accadiens (1921). 2, Siehe auch Erich Ebeling, Tod und Lehen nach den Vorstellungen der Babylonier (1931) bzgl. einer Keilschrift, in der das Fell explizit Anu genannt wird (29), sowie Carl Bezold, Babylonisch-Assyrisches Glossar (1926), 210 s.v.: „sugugalu, ,das Fell des großen Stiers’, ein Emblem des Anu.” Wir möchten noch einmal auf die Redewendung hinweisen, die Petronius’ Trimalchio verwendet, als er über den Monat Mai spricht; „Totus coelus taurulus fiat” („Der ganze Himmel verwandelt sich in einen kleinen Stier”). 21 W.F. Albright und P.E. Dumont. „A Parallel between Indian and Babylonian Sacrificial Ritual”, JAOS 54 (1934), 107-128. 22 F. Thureau-Dangin, op.cit., 11: „S’il est tacheté de sept (touffes de) poils blancs en forme d’etoiles … il ne sera pris.” Vgl. Abraham Sachs (ANET 335): „If it is spotted by (as many as?) seven white tufts (which look like) stars … it shall not be taken.” 19 20
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Zeichnungen fraglos astronomischen Charakters auf Schamanentrommeln könnten den Schluß auf größere Einsichten erlauben, als die Ethnologen den Schamanen zubilligen; aber das ist im Moment irrelevant. Relevant – und klar – hingegen ist, daß die sibirischen Schamanen den Tierkreis und alles, was mit ihm zusammenhängt, nicht erfunden haben. Es bedarf keiner detaillierten Untersuchung chinesischer mythischer Trommeln, sondern nur weniger Zeilen aus einem „Meer von Geschichten”: Im östlichen Meer ist ein Tier anzutreffen, das wie ein Ochse aussieht. Sein Körper ist grün, und es hat keine Hörner. Es hat nur einen Fuß. Wenn es sich in das Wasser hinein- oder aus ihm herausbewegt, verursacht es Wind oder Regen. Sein Leuchten ähnelt dem von Sonne und Mond. Der Lärm, den es macht, ist wie der Donner. Sein Name ist K’uei. Nachdem der große Huang-ti es gefangen hatte, machte er eine Trommel aus seiner Haut. Er schlug sie mit dem Knochen des Donnertieres – den Lärm hörte man noch in einer Entfernung von 500 Li –, um dem Kaiserreich heilsame Furcht einzuflößen.23
Dies sieht auf den ersten Blick wie die Beschreibung eines urzeitlichen Falls von Delirium tremens aus, aber der Kontext stellt die Nüchternheit schnell wieder her. Es handelt sich um eine Art „Naturgeschichte des Unnatürlichen”, die sich nur wenig um die lebendige Spezies kümmert, sondern sich mit den Vorkommnissen in einem anderen Reich beschäftigt. Insbesondere das einbeinige Wesen tritt in vielen Erscheinungsformen auf, angefangen Marcel Granet, Danses et légendes de la Chine ancienne (1959), 509. Solch eine Vorstellungskraft ist keinesfalls einzigartig. In dem Taittiriya Sanhita heißt es zum Beispiel: „Der Preßstein [der Soma-Presse] besteht aus dem Penis des Opferpferdes. Soma ist sein Samen; wenn es sein Maul öffnet, verursacht es Blitze, wenn es zittert, donnert es, wenn es uriniert, regnet es.” (7.5.25.2 = Shatapatha Brahmana 10.6.4.1. = Brihad Aranyaka Upanishad l.1; siehe Richard Pischel und Karl Friedrich Geldner, Vedische Studien (1889-1901), I, 86. 23
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mit dem Hunrakán der Mayas, dessen Name „Ein(s)-Bein” bedeutet. Von ihm stammt unser „Hurrikan” ab; es ist also nicht verwunderlich, daß er in Hülle und Fülle über Wind, Regen, Blitze und Donner verfügt. Gleichwohl verkörpert er nicht nur einen simplen Wettergott, ist er doch ein Aspekt von Tezcatlipoca selbst und der wahre ursprüngliche Einbeinige, der vom Sternenhimmel herabschaut – aber noch bringt uns dieser Name nicht weiter. Zurück also auf unerwarteten Wegen zu mythischen Trommeln und ihrem denkbaren Gebrauch. Die Sichtung des immensen Schatzes archaischen Wissens, das wunderbarerweise bei den Mande-Stämmen in Westsudan24 erhalten geblieben ist, könnte eine Menge weiterer Erkenntnisse zutage fördern. In dem langen und komplizierten Schöpfungsmythos der Mande kommen zwei Trommeln vor. Die erste wurde von den bardischen Ahnen aus dem Himmel mitgebracht, kurz nachdem die Arche (mit den acht Zwillingsahnen an Bord) auf dem ur-anfänglichen Acker gelandet war. Diese Trommel war aus Faros Schädel gefertigt und wurde benutzt, um Regen herbeizurufen. (Die Experten machen Faro gewöhnlich zum „Moniteur” und vermeiden damit, ihn als Kulturhelden, Erlöser oder Gott zu mißdeuten.) Das erste Heiligtum wurde errichtet und der Menschheit das „Erste Wort” (tatsächlich waren es 30 Wörter) durch den Mund eines der Zwillingsahnen offenbart, der „die ganze Nacht sprach und erst dann aufhörte, als er die Sonne und Sirius zur selben Zeit aufgehen sah”. Als das „Zweite Wort” offenbart werden sollte (diesmal aus 50 Wörtern bestehend), was wiederum mit dem heliakischen Aufgang des Sirius verbunden war, „entschloß sich der Ahne, in der heiligen Stätte auf dem Hügel die ersten verschiedengeschlechtlichen Zwillinge zu opfern. Er bat den BarIn Ostafrika hatte die Trommel jenen Platz inne, welcher im Alten Testament dem Tabernakel eingeräumt wurde, wie Harald von Sicard in Ngoma Lungundu: Eine afrikanische Bundeslade (1952) dargelegt hat.
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den, aus der Haut der Zwillinge eine Armtrommel zu machen.25 Der Baum, aus dem sie die Trommel schnitzten, wuchs auf dem Hügel und versinnbildlichte Faros einziges Bein.“26 Die Mythologie aller Kontinente kennt eine verblüffende Anzahl einbeiniger Gestalten mit unterschiedlichen Funktionen. Es ist hier nicht erforderlich, sich in diesen Dschungel hineinzubegeben, aber es sei vermerkt, daß in Siam der „mock-king” – das ist eine seit babylonischer Zeit bekannte Art von Ersatzkönig, der bei bestimmten Festperioden den Herrscher vertrat – während der ganzen Dauer gewisser Zeremonien auf einem Podium auszuharren hatte – und zwar auf einem Bein stehend – und den wohlklingenden Titel „Herrscher der Himmlischen Heerscharen” führte.27 Der Chinese K’uei ist also kein Einzelfall. Die chinesische Mythe ist expliziter und eher verständlich als die anderen, weil sich die Chinesen des Himmels außerordentlich bewußt waren: Ihre sündigen Monster werden in Gruben geworfen oder in seltsame Bergregionen verbannt als Strafe dafür, daß sie den Kalender durcheinander gebracht haben. Was K’uei selbst betrifft, dessen einnehmendes Wesen als grüne, ochsenähnliche Kreatur des östlichen Meeres eingeführt wurde, so wird er immer verblüffender, je mehr sich seine Natur entfaltet. Marcel Granet schreibt, daß K’uei von Kaiser Shun zum Dabei handelt es sich um eine Sanduhrtrommel mit zwei Häuten. Dieser Trommel wird nachgesagt, daß sie „die zwei geographischen Gebiete, Kaba und Akka, in Erinnerung zurückruft; und der enge Mittelteil der Trommel symbolisiert den Fluß selbst [Niger] und somit die Reise Faros.” 26 G. Dieterlen, „The Mande Creation Story”, Africa 27 (1957), 124–138; cf. JSA 25 (1955), 39-76. Siehe auch M. Griaule, „Symbolisme des tambours soudanais”, in Mélanies historiques offerts à M.Masson I (1955), 7986; M. Griaule und G. Dieterlen, Signes Graphiques Soudanais (1951), 19. 27 D.i. Phaia Phollatep; das Volk allerdings nannte ihn „King Hop”. Siehe J.G. Frazer, The Dying God (= Golden Bough III), 149f; vgl. auch Waldemar Deonna, Un divertissement de table „à cloche-pied” (1959). 25
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„Meister der Musik” ernannt wurde. Tatsächlich beauftragte er keine geringere Macht als die Sonne (Chong-li), K’uei aus dem Dickicht zu holen und ihn an den Hof zu bringen, denn allein K’uei besaß die Gabe, die sechs Stimmpfeifen und sieben Tonarten zu harmonisieren; und Shun, der seinem Reich Frieden schenken wollte, war der festen Überzeugung, daß „Musik das Wesentliche von Himmel und Erde ist”.28 K’uei konnte zudem die „hundert Tiere” zum Tanzen bringen, indem er den Musikstein berührte; und er half Yü dem Großen, dem unermüdlichen Erdbeweger unter den Fünf Ersten Kaisern, seine Arbeit zu vollenden, nämlich die Flüsse zu regulieren”. Es stellt sich außerdem heraus, daß K’uei nicht nur der Meister des Tanzes, sondern auch der Meister der Schmiede war. Er muß einen beachtenswerten Gefährten für Yü den Großen abgegeben haben, dessen Tanzschritt (le pas de Yü) den Großen Wagen „vorführte”.29 Genug von Trommeln und ihrer schamanistischen Verwendung. Immerhin kommen sie uns jetzt nicht mehr wie Tam Tams irgendwelcher Stämme vor, sondern wir sehen ihre Verbindung mit der Zeit, mit dem Rhythmus und der Bewegung des Himmels. Indem wir uns jetzt einem anderen großen Themenkomplex – einem tatsächlich sehr großen – zuwenden, ist es möglich, dem tieferen Sinn des Schmieds im asiatischen Schamanismus nachzuspüren, insbesondere dem des himmlischen Schmieds, welcher der rechtmäßige Erbe des göttlichen „archi-tekton” des Kosmos ist. Einige Repräsentanten dieses Typus, den wir Deus Faber nennen, haben noch immer beide Funktionen inne, nämlich sowohl die des Architekten als auch die des Schmieds: zum Beispiel der griechische Hephaistos, der die Sternenhäuser für die M. Granet, Danses et légendes (1959), 311, 505-508. Diesen letzten Teil der Information verdanken wir Nathan Sivin. Vgl. mittlerweile Edward H. Schafer, Pacing the Void. T’ang Approaches to the Stars (1917), 238 ff. Der Tanzschritt des Yü wurde zuweilen auch „shaman’s step” geheißen. 28 29
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Götter baut und Meisterwerke schmiedet, oder der Koshar-waHasis von Ras Shamra, der Baals Palast errichtet und ebenfalls Meisterwerke schmiedet. Die Jakuten behaupten: „Der Schmied und der Schamane stammen aus demselben Nest.” Und sie fügen hinzu: „Der Schmied ist der ältere Bruder des Schamanen”,30 was auch für Väinämöinen zutreffen mag – gepaart mit Ilmarinen, von dem gesagt wird, er habe „das Dach des Himmels zusammengehämmert”. Wie wir wissen, ist es der ur-anfängliche Schmied, der den Sampo anfertigte und in Estland Himmel und Gestirne schmiedete. Es beruht nicht auf müßiger Phantasie, daß der Repräsentant des Himmelsschmieds, der König, selbst mit „Schmied” angeredet wird. Dschingis Khan trug den Titel „Schmied”,31 und die Standarte des persischen Kaiserreichs bestand aus einer stilisierten Lederschürze des Schmieds Kâvag (Appendix 11). Die mythischen Kaiser Huang-ti und Yü in China sind als Schmiede dermaßen unverkennbar, daß Marcel Granet durchweg historisch-soziologische Schlüsse daraus zog, derweil vergessend, daß Huang-ti, der Gelbe Kaiser, anerkanntermaßen Saturn ist. Und so, wie die persischen Schahs ihr königliches Jubiläum feierten, nachdem sie 30 Jahre regiert hatten – was der Umlaufzeit des Saturn entspricht –, so beging auch der ägyptische Pharao sein Jubiläum nach 30 Jahren, getreu dem „Urheber” dieses Festes, nämlich Ptah, der sowohl der ägyptische Saturn ist Wilhelm Schmidt, Die asiatischen Hirtenvölker (1954), 346f. Was den irdischen Grobschmied anbelangt: Die vielen Eisenstücke, die zum Gewand eines Schamanen gehören, können nur von einem Schmied der neunten Generation angefertigt werden. Das heißt, acht seiner direkten Vorfahren müssen diesen Beruf bereits ausgeübt haben. Ein Schmied, der es gewagt hätte, eine schamanistische Kleidung zu schmieden, ohne solche Vorfahren zu haben, wäre von Vogelgeistern zerrissen worden. 31 Andreas Alföldi, „Schmied als Ehrentitel” (in Ungarisch), in Magyar Nyelv 28 (1932), 205-220. 30
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als auch Deus Faber. Es war notwendig, tiefer in diese Materie einzusteigen und den Akzent auf diese wenigen ausgesuchten Daten zu legen, denn sonst würden die bezaubernden und harmlos anmutenden finnischen Runen nicht für das gehalten, was sie tatsächlich sind; die arg mitgenommenen Bruchstücke eines einstmals ganzen und „bunten Deckels”. Es schadet nicht, in Väinäniöinen einen „Schamanen“ zu sehen, solange man sich des Hintergrunds des Schamanismus bewußt ist. In der Tat vermittelt es erneut einen tiefen Einblick, wenn man sich vor Augen hält, daß Väinäniöinen die Trommel abgelegt hat, die das einzige Instrument seines lappischen Cousins bleibt; Vainämöinen hat die Harfe geschaffen, und das bedeutet, daß er als der Orpheus des Nordens betrachtet werden muß. Letzte Überbleibsel werden nicht leicht wiedererkannt. Das bedarf der Erfahrung. Und von einem arglosen Leser von „Volksdichtung” kann nicht erwartet werden, daß er auf Anhieb die wohlbekannten göttlichen Charaktere identifiziert, wenn sie im Gewand von Longfellows Versmaßen daherkommen.* Wenn man zum Beispiel im Kalevala die Rune 9.107ff liest, wird es einem nicht einfach gemacht, den mächtigen iranischen Gott der Zeit, Zurvan akarana, zu entdecken, der als auf dem Weltei stehend dargestellt wird und in seiner Hand die Werkzeuge des Architekten hält: Ilmarinen ward geboren, War geboren, war gewachsen, Auf dem Kohlenberg entstand er, Auf der Kohlenhalde wuchs er, A.d.Ü.: Der amerikanische Dichter Henry Wadsworth Longfellow (1807-1882) übersetzte europäische Poesie, u.a. Dante. Seine eigenen Verserzählungen waren beeinflußt von der deutschen Romantik, den schottischen Balladen und den Dichtern des viktorianischen Englands. Bis zum 1. Weltkrieg gehörte Longfellow zu den meistgelesenen Dichtern in englischer Sprache.
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In der Hand den Kupferhammer, In der Faust die kleine Zange. In der Nacht ward er geboren, Schuf am Tage eine Schmiede … Da das Christentum in seiner Zerstörung alter Traditionen sehr erfolgreich war, sind altaische und sibirische Survivals häufig in besserem Zustand als finnische Runen; aber sogar die Lappen sprechen noch von „Waralden olmay, ,Welt-Mann’ … Und das ist derselbe wie Saturnus.“32 Auch Jupiter und Mars sind noch vorhanden: der erste wird Hora Galles (Thorkarl), der letzte Bieka Galles, der „Wind-Mann“33 genannt. Die Wogulen, Jakuten 118 und Mongolen berichten von Gottes sieben Söhnen oder von sieben Göttern (beziehungsweise neun), unter denen es einen „Schreibermann”34 und einen „weltbeobachtenden Mann” gibt. Letzterer wurde von Karl Kerenyi35 ohne Zögern mit Kullervo verglichen, da der Name die wörtliche Übersetzung von Avalokiteshvara sei, also des großen Bodhisatva, der in China als Kuanyin bekannt ist, was wörtlich „der (musikalischen) Tonarten Diese Information stammt von Johan Radulf (1723), zitiert nach K. Krohn, „Priapkultus”, FUF 6 (1906), 168, der Waralden olmay mit Freyr gleichsetzt. Georges Dumézil, La Saga de Hadingus (1950), identifiziert ihn als Njordr. 33 K. Krohn, „Windgott und Windzauber”, FUF 7 (1907), 173f, wo der Gott einmal Ilmarinen genannt wird. 34 Die Ostjaken erzählen sogar von einem goldenen Buch des Schicksals; und Holmberg hebt hervor, daß die Ostjaken, die keine Schrift besitzen, vermutlich nicht von sich aus auf solche Ideen gekommen sind [Der Baum des Lebens (1922), 97.] Vgl. das ganze Kapitel „Die sieben Schicksalsgötter“ (Seite 113-133 desselben Werkes) sowie Holmbergs Finno-Ugric und Siberian Mythology (1927), 415. 35 K. Kerenyi, „Zum Urkind-Mythologem“ in Paideuma 2 (1940), 245ff. Vgl. auch C.G. Jung und K. Kerenyi, Essays an a Science of Mythology (1949), 30-39. 32
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würdig” bedeutet. Man fragt sich, ob der Ursprung dieses „Weltbeobachters” nicht noch weiter zurückreicht: nämlich bis zu Gilgamesch. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Babylonier ihre Schriften nach den jeweiligen Anfangswörtern benannten; zum Beispiel hieß bei ihnen das Schöpfungsepos Enuma elisch, was bedeutet: „Als droben”. Entsprechend war das, was wir das Gilgamesch-Epos nennen, für sie Scha naqba imurū: „Der alles gesehen”. Von solcher Art ist der verwirrende Wandel, der für große und vertraute Themen durch die Zeit eingeläutet wird. Aber das ist noch nicht alles. Wie Kullervo war dieser wogulische „weltbeobachtende Mann” – also Avalokiteshvara höchstpersönlich – in seinen jungen Jahren ein vielgeplagtes Waisenkind, das zuerst im Haus seines Onkels und dann im Haus „des Russen” sowie in jenem „des Samojeden” lebte. Nach Jahren des Elends – ein ziemlich speziell „zugemessenes” Elend36 – tötet er Zum Beispiel wird er im Haus „des Russen“ zwischen der Türangel festgehalten (in der englischen Übersetzung werden dieses und andere Details bis zur Unkenntlichkeit entstellt), und das Abwaschwasser wird über ihm ausgeleert. Dazu verdammt zu werden, als Türangel zu fungieren, gehört in Ägypten zu den Höllenstrafen, denn das Scharnier soll sich im Auge des Opfers drehen. Was die herzerfrischende Sitte betrifft, einen himmlischen Weggenossen als Abfluß oder Toilette zu benutzen: so etwas kommt auch in der Lokasenna (34) der Edda vor, wo Loki über Njordr sagt, er sei von Hymirs Töchtern als Nachttopf benutzt worden; mit dem polynesischen Fall des Tahaki, dessen Vater Hema auf dieselbe Art mißbraucht wird, werden wir uns in dem Kapitel über Samson beschäftigen (siehe Seite 161); dieser Typus eines „Horus-Rächer-seines-Vaters” erfüllt nicht nur seine Sohnespflicht, sondern er tut dies mit den Mitteln von Amlethus’ eigenem „Netztrick”. Der Samojede fesselt den bedauernswerten „weltbeobachtenden Mann” mit einem Eisendraht von 30 Faden Länge an seinen Schlitten. Wir wissen noch nicht, was genau damit gemeint ist. Wir wissen aber, daß siegreiche Persönlichkeiten den Besiegten als dieses oder jenes Fortbewegungsmittel benutzen, als Reitpferd usw. Marduk benutzt Tiamat als „Schiff“, so wie es auch Osiris mit Seth handhabt; Ninurtas 36
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all seine Peiniger. Diese Rache, die er übt, verschafft ihm selbst Genugtuung. Sein Vater, der den geliebten Sohn in einer Wiege vom Himmel heruntergelassen hatte, war hoch oben in sicherer Höhe geblieben. Diese Hinweise sollen im Moment genügen. Es spielt keine Rolle, ob Teile oder die Gesamtheit der kosmologischen Überlieferung erst spat zu der ural-altaischen Bevölkerung gelangten oder nicht, das heißt: ob der Manichäismus seinen Anteil an ihrer Verbreitung hatte oder nicht. Die Manichäer nahmen das ganze Paket alter Überlieferungen in ihren Besitz und änderten nur die Vorzeichen, wie es bei jedem gnostischen System geschieht. Gnostiker gehören nie zu den Erneuerern. Schon ihr Name, der von ihrem Schlüsselbegriff hergeleitet ist, spricht für sich: gnōsis tēs hodous = Kenntnis des Weges. Bei dem „Weg”, der auswendig gelernt werden mußte, handelt es sich um jenen, der quer durch die Planetensphären führt, über die furchteinflößenden „Wachttürme” des Zodiaks hinaus zu dem ersehnten zeitlosen Licht jenseits der Sphäre der Fixsterne und oberhalb des Polarsterns: jenseits und oberhalb von allem, dorthin, wo der unbekannte Gott (agnostos theos) auf ewig residiert.37 „elamischer Wagen, der den Leichnam des Enmescharra trägt”, wird von Pferden gezogen, „die der Todes-Dämon des Zu sind” [Erich Ebeling, Tod und Leben nach den Vorstellungen der Babylonier (1931), 33]; Taehma Rupa reitet auf Ahriman 30 Jahre lang rund um die beiden Weltenden (Yasht 19.29; Yasht 19, der Zamyad-Yasht ist derjenige, welcher dem Hvarna gewidmet ist) – aber diese Codeformeln sind noch nicht geknackt worden. 37 So absurd es klingt, haben die vielen gnostischen Sekten niemals die Gültigkeit der „üblen” Lehren der Philosophen und Mathematiker abgestritten oder angezweifelt, obwohl ihnen niemand mehr verhaßt war als diese Gelehrten. Krank vor Ekel, lernten sie die Routen des Aufstiegs, die durch (oder quer über) jene widerwärtigen Sphären führten, die von Zahlen beherrscht wurden, welche die finsteren Mächte geschaffen hatten. Mit Sicherheit hatte ihr „Erhabener Vater” nicht so ein Ding wie einen Kosmos geschaffen. Aber die Überliefe-
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Dieser „Weg” ist nicht für jeden derselbe, und selbst die längsten Hauptstraßen halten nicht für immer; aber das Prinzip bleibt unverändert. Der Schamane reist durch die Himmel auf dieselbe Art, wie es der Pharao tat – wohl ausgerüstet wie er war mit seinem Pyramiden- oder Sargtext, der seinen unerläßlichen Terminplan darstellte und die vorgeschriebenen Adressen jedes himmlischen Einzelwesens enthielt, das er erwartungsgemäß treffen würde.38 Der Pharao vertraute seinem speziellen Text, so wie sich auch der weniger vornehme Tote auf seine Kopie der Kapitel aus dem Totenbuch verließ; und er war (wie der Schamane) darauf vorbereitet, sich in die Sata-Schlange zu verwandeln, in einen Tausendfüßler oder in die Gestalt gleichwelcher himmlischer „Stationen”, die passiert werden mußten, sowie die passenden Formeln zu rezitieren, um feindliche Wesen überwinden zu können.39 rung benutzt die eigentümlichsten Vehikel für ihre Fortbewegung durch die geschichtliche Zeit. Oder sollte man sagen, die Überlieferung benutzte? Denn angesichts der ausbrechenden Revolte „einfacher Seelen” gegen jedwedes rationale Denken, gibt es wenig Anlaß zur Hoffnung, daß unsere zeitgenössischen Gnostiker überhaupt irgendeine Überlieferung weitergeben. 38 Die Ephemeriden auf der Innenseite der Sargdeckel im Mittleren Reich, die astronomischen Deckenbilder in den Gräbern des Neuen Reichs und die „ramessidischen Stern-Uhren” erleichterten der königlichen Seele die Navigation. 39 Viele der Himmelskreaturen richten all den Schaden an, den sie nur anrichten können. Zum Beispiel versuchen sie, dem Toten seinen Text, ohne den er hilflos wäre, zu rauben; und im allgemeinen ist ihr Benehmen „unheimlich”, wie es heißt. So wird im 32. Kapitel des Totenbuchs dem Krokodil des Westens vorgeworfen, gewisse Sterne zu fressen. Die richtig ausgerüstete Seele jedoch weiß, wie man mit den Himmelsmonstern fertig wird. Der Reisende muß dem nördlichen Krokodil zum Beispiel mit den Worten begegnen: „Weich du zurück, denn ich trage die Göttin Serqet in meinem Inneren und habe sie noch nicht geboren.” Die Göttin Serqet ist das Sternbild des Skorpions.
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Rekapitulieren wir: Ob es sich bei dem Schamanismus um einen alten oder relativ jungen Sprößling einer altehrwürdigen Zivilisation handelt, ist irrelevant. Auf keinen Fall ist er primitiv; jedoch gehört er – so wie alle unsere Zivilisationen – in die große Gesellschaft undankbarer Erben eines beinahe unglaublichen nahöstlichen Vorfahren, der als erster wagte, die Welt als eine nach Zahl, Maß und Gewicht geschaffene zu begreifen. Wenn schon die finnischen Runen und altaischen Legenden harmlos klingen, so tun es erst recht die populären Überlieferungen der meisten europäischen Länder, einschließlich der Griechenlands; jene Art von Mythologie also, die man durch Bulfinch* kennt. Es gibt aber auch, quasi als Ergänzung, weniger populäre Überlieferungen, die sich mehr von dem ernsten Geist und Stil alter Zeit bewahrt haben. So wendet sich die 13. Orphische Hymne auf Kronos mit folgenden Worten an den Gott: „Feurig Flammender, Vater der seligen Götter und Menschen, Fleckenloser, schillernd vom Rate, gewaltiger, wehrhafter Titan; alles verschlingst du, um selbst es zu mehren, Du hältst die unzerreißbare Fessel um das unermeßliche All [apeíron kósmon]. Kronos, Allerzeuger des Zeitraums [aiônos paggenêtor], Kronos, buntschillernd von List, der Erde Sproß, des Sternenhimmels Keimstoff … ehrwürdiger Prometheus.“40 Der „ehrwürdige Prometheus” (semnè Promêtheu) der 7. Zeile des Hymnos wird sowohl in der englischen als auch in der deutschen Übersetzung einmütig unterschlagen und durch nichtssagende Floskeln ersetzt, obgleich die erstere, da zweisprachige Ausgabe notgedrungen die griechischen Worte bringt.41 Gleichviel: Solche AusA.d.Ü.: Der Amerikaner Thomas Bulfinch (1796-1867) war Schriftsteller und Mythologe. 40 Orphei Hymni, ed. Wilhelm Quandt (1962), 14; The Orphic Hymns, Text, Übersetzung und Anmerkungen von Apostolos Athanasakis (1988), 22f; Orpheus. Altgriechische Mysterien, übersetzt von Joseph Otto Plassmann (1982), 41. 41 Zeile 7: „génna, phyê, meiíôsi, Rhéas pósi, semnè Promêtheu / In *
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sagen lassen plötzlich Informationen aus dem üblichen Schema hervortreten und zeigen die professionellen Köpfe der alten Mythologie am Werk. Das einzige konventionelle Attribut ist „Sohn von Gaia und Uranos“. Kronos wird zu Recht als Titan bezeichnet, weil der Begriff „Gott” strenggenommen zum Geschlecht der Olympier gehört, wohingegen Saturns „Reich” nicht von „dieser Welt” ist – genausowenig wie das des indischen Asura und Königs des goldenen Krita-Yuga, Varuna. Dieses Schema findet sich auch noch in der mittelalterlichen Kaiser-Sage wieder. Am Ende von Dietrichs Herrschaft, als nur noch Leichen übriggeblieben sind, erscheint ein Zwerg und bittet den König, ihm zu folgen, denn „dein Reich ist nicht mehr von dieser Welt”.42 Und Kronos wird, wie gesagt, ohne Umstände als Prometheus angesprochen, jener andere titanische Gegner der „Götter”, der Feuerbringer Er „ist“ außerdem noch viele weitere Charaktere; aber es wird einige Zeit beanspruchen, um das aufzuklären. Wir befinden uns am Kern eines „Implex”. „Du hältst die unzerreißbare Fessel …“ Auch der assyrische Ninurta hält das „Band zwischen Himmel und Erde”. Wir werden außerdem von einer magischen Invokation erfahren (vgl. Seite 135), die Kronos als „Gründer der ganzen bewohnten Welt” anruft. Diese Wörter sind jedoch unzureichend und zweideutig. Nicht nur, daß Übersetzungen generell unpräzise sind; aber in unserer Zeit des beschleunigten Verfalls der Sprache neigt selbst der motivierteste Leser dazu, Wörter wie „Band” oder „gründen” zu übersehen. Wenn er statt dessen „Zollstock“ oder „vermessen” zu lesen hätte – bei einer göttlichen Gründung handelt you there is birth and decline, august and prudent lord of Rhea“ (= „Gatte der Rhea, Vordenker der Zukunft”). 42 Wilhelm Grimm, Die Deutsche Heldensage (1957), 338: „Du solt mit mir gan. dyn reich ist nit me in dieser welt.“ Das entsprechende und populärste Märchen schildert, wie Theoderich von Verona von einem Geisterpferd entführt und kopfüber in den Krater des Ätna gestürzt wird.
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es sich immer um ein „Temenos” –, würde er sofort anders reagieren. Kronos-Saturn war und ist jener, der im Besitz des „Zollstocks” ist und der kontinuierlich die Maße bestimmt, denn er ist der „Urheber der Zeiten”, wie Macrobius sagt, obwohl der arme Mann ihn aus eben diesem Grund fälschlicherweise für die Sonne hält.43 Aber „Helios der Titan” ist ganz ausdrücklich nicht identisch mit Apollon. Abgesehen davon und ebenso abgesehen von Plutarchs Bericht, demzufolge Kronos in jener goldenen Höhle in Ogygia schläft und das träumt, was Zeus plant,44 existiert ein Orphisches Fragment von großer Bedeutung, das in Proklos’ Kommentar zu Platons Kratylos45 erhalten ist. Da der orphische Text zu den besonders heiklen zählt, wagen wir uns nur an ein paar wenige Sätze: Der größte Kronos überreicht dem Demiurg [Zeus] von oben herab die Prinzipien der durch den Intellekt wahrnehmbaren Welt, und er steht der ganzen „Schöpfung” vor [demiourgia]. Aus diesem Grund nennt Zeus ihn laut Orpheus „Dämon”, indem er sagt: „Setze in Bewegung unsere Gattung, vorzüglicher Dämon!” Und Kronos scheint die höchsten Ursachen für Vereinigungen und Trennungen mit sich zu tragen … , er ist zum Verursacher der Kontinuität von Zeugung und Ausbreitung und zum Oberhaupt der gesamten Gattung der Titanen geworden, von dem die Teilung der Seienden ausgeht [diairēsis tōn ontōn].
Der Absatz endet so: „Auch Nyx weissagt ihm [das heißt: gelegentlich], aber der Vater tut es kontinuierlich [prosechōs], und er gibt ihm die Maße der gesamten Schöpfung.”46 Macrobius, Conviviorum Saturnaliorum (o.J.), I 22.8: „Saturnus ipse, qui auetor est temporum.” 44 Plutarch, De facie in orbe lunae (1968). 941: „Hosa gar ho Zeus prodianoeitai, taut’ oneiropolein ton Kronon.” 45 Fr. 155, Kern, 194. 46 „Kai panta ta metra tēs hōles demiourgias endidōsin.” Wir könnten sogar sagen, Kronos „gewährt“ ihm all die Maße. 43
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Dieselben Phänomene, die einfach platt und kindisch oder bloß „etymologisierend” anmuten, wenn sie von anderen gehandhabt werden, klingen im Wortlaut des Proklos extrem schwierig – was sie auch tatsächlich sind. So wollen wir kurz vergleichen, wie Macrobius mit der Verantwortung des Kronos für die „Teilung der Seienden” umgeht (Sat. 1.8.6-7). Nachdem er die geläufige, aber von Philologen häufig bestrittene Gleichsetzung von Kronos (Saturn) und Chronos (Zeit) erwähnt hat, stellt er fest: Sie sagen, daß Saturn die Genitalien seines Vaters Caelus [Uranos] abgeschnitten und ins Meer geworfen hat und daß aus ihnen Venus geboren wurde, die nach dem Schaum [aphros], aus dem sie geformt wurde, den Namen Aphrodite erhielt. Daraus schließen sie, daß, als das Chaos herrschte, keine Zeit existierte insofern, als Zeit ein festes Maß darstellt, welches von der Revolution des Himmels hergeleitet wird. Dort beginnt die Zeit; und aus dieser, so glaubt man, wurde Kronos geboren, der, wie bereits gesagt, mit Chronos identisch ist.47
Tatsache ist, daß die „Trennung der Welteltern“, die mittels der Entmannung des Uranos vollzogen wurde, für die Etablierung der Schiefe der Ekliptik steht: für den Anfang der meßbaren Zeit.48 Und Saturn war deshalb dazu „berufen”, derjenige zu sein, sie zu etablieren, weil er der äußerste Planet und damit der Sphäre der Fixsterne am nächsten ist.49 „Dieser Planet wurde als „Ex quo intellegi volunt, cum chaos esset, tempora non fuisse, siquidem tempus est certa dimensio quae ex caeli conversione colligitur. Tempus coepit inde; ab ipso natus putatur Kronos qui, ut diximus, Chronos est.” Siehe Appendix 12. 48 Genau dasselbe „Ereignis” wurde von John Milton als Vertreibung aus dem Paradies verstanden (Appendix 13). 49 Es ist uns nicht verborgen geblieben, daß die unantastbaren Gesetze der Philologie es nicht gestalten, Kronos mit Chronos zu identifizieren, obwohl es in Griechenland „zu allen Zeiten gebräuchlich war”, es zu tun (Max Pohlenz, „Kronos”, RE II, 177). Wir haben in der Tat keinen akuten Anlaß, auf dieser verallgemeinernden Gleichsetzung zu behar47
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derjenige angesehen, welcher dem Universum Bewegung vermittelte und sozusagen sein König war”, wie Gustave Schlegel aus China berichtet.50 Saturn gibt die Maße: Das ist der entscheidende Punkt. Wie sollen wir das mit Saturn als dem Ersten König in Einklang bringen, dem Herrscher des Goldenen Zeitalters, der jetzt am Rande der Welt schläft? Das Problem ist nur ein scheinbares, wie sich herausstellen wird. In diesem Moment ist es wichtig zu erkennen, daß er – ob man es nun mit dem mesopotamischen Saturn, Enki/Ea, oder mit dem Ptah der Ägypter zu tun hat – der „Herr der Maße” ist, sprich mē auf Sumerisch, parshu auf Akkadisch, maat auf Ägyptisch. Und dasselbe gilt für Seine Majestät, den Gelben Kaiser von China (gelb ist er deshalb, weil das Element Erde dem Saturn zugeordnet wird): „Huang-ti etablierte überall die Ordnung für Sonne, Mond und Sterne.”51 Die Melodie bleibt dieselbe. Um die generelle Idee – und insbesondere die gelehrte Schrift von Proklos – zu verstehen, mag es hilfreich sein, einen Blick auf die von Kepler angefertigte Zeichnung zu werfen, die das sich bewegende Dreieck darstellt, welches von den „Großen Konjunktionen” von Saturn und Jupiter hervorgerufen wird ren – der „Name” eines Planeten ist eine Funktion der Zeit sowie der Konstellation –, doch scheint es einerseits ratsam hervorzuheben, daß Fachterminologie ihre eigenen Gesetze hat und nicht der Jurisdiktion der Linguisten unterliegt; andererseits ist es angebracht, auf einen Sanskrit-Namen für Saturn aufmerksam zu machen: „Kala”, was „Zeit“ und „Tod” sowie „blau-schwarz” bedeutet [Adolf Scherer, Gestirnnamen bei den indogermanischen Völkern (1953), 84f] – eine Farbe, die dem Planeten überall in der Welt ausgezeichnet steht; und desweiteren wollen wir auf einen Abschnitt des persischen Minokheird [in der Übersetzung von West, zitiert nach Robert Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt (1910), 410] verweisen: „Der Schöpfer Auharmazd (Jupiter) fertigte seine Schöpfung … mit dem Segen der Unendlichen Zeit (Zurvan akarana) an.” 50 G. Schlegel, L’Uranographie Chinoise (1875), 628ff. 51 M. Granet, Chinese Civilization (1961), 12.
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(Abbildung 11). Einer dieser Eckpunkte benötigt schätzungsweise 2400 Jahre, um sich durch den gesamten Zodiak zu bewegen. Im nächsten Kapitel wird sich zeigen, warum dies von Bedeutung ist; an dieser Stelle genügt es, auf eine mögliche Art hinzuweisen, wie Maße „kontinuierlich“ gegeben werden. Saturn, der Spender der Maße für den Kosmos, bleibt in Babylon der „Stern des Gesetzes und der Gerechtigkeit”52 und in Ägypten ebenfalls der „Stern der Nemesis”,53 der Herrscher über Notwendigkeit und Vergeltung, kurzum: der Kaiser.54 Als Gott, der den Mittelpunkt beaufsichtigt, trägt Saturn in China den Titel „Génie du pivot”, das ist derselbe Titel, der dem Polarstern verliehen wird.55 Das ist zunächst verwirrend, und das gleiche gilt für die lakonische Feststellung, die aus Mexiko stammt: „Im Jahre 2-Rohr verwandelte sich Tezcatlipoca in Mixcoatl und erzeugte das erste Feuer mit dem Quirlbohrer, weil Mixcoatl am Himmelspol seinen Sitz hat, um den sich das ganze Firmament im Kreise dreht, wie der Holzquirl im Loch des Bohrbretts, wenn man Feuer bohrt.”56 Es ist in der heutigen Astronomie nicht üblich, Planeten mit dem Polarstern zu verknüpfen oder mit irgendeinem anderen Stern außerhalb der Reichweite der „Tierkreis-Familie”. Aber solche Sprachbilder waren ein wesentlicher Peter Jensen, Die Kosmologie der Babylonier (1890), 115; B. Meissner, Babylonien und Assyrien (1925), 2, 145, 410; Felix Gössmann, Planetarium Babylonicum (1950), 230. 53 Achilles Tatius, siehe Auguste Bouché-Leclerq, L’Astrologie Grecque (1899), 94; Wilhelm Gundel, Neue Astrologische Texte des Hermes Trismegistos (1936), 260, 316. 54 „Der Tilel basileus ist stereotyp für Kronos” [M. Mayer in Roscher II, 1458; siehe auch Francis M. Cornford in Jane Ellen Harrisons Themis (1962), 254], Für China siehe G Schlegel, L’Uranograhie Chinoise (1875), 361, 630ff. Sogar der tahitische Text „Birth of the Heavenly Bodies” weiß ihn: „Saturn war König” [Teuira Henry, Ancient Tahiti (1928), 359ff]. 55 G. Schlegel, L’Uranographie Chinoise (1875), 525, 628ff. 56 Walter Krickeberg, Altmexikanische Kulturen (1975), 194. 52
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Bestandteil des Fachidioms archaischer Astronomie; und jene Experten in den Kulturen der alten Zeit, die solche Idiome nicht verstehen konnten, waren völlig hilflos, wenn sie mit der Theorie konfrontiert wurden. Aber was hat Saturn, der äußerste Planet, mit dem Pol zu tun? Wenn er allerdings nicht als „Genius des Drehpunkts“ anerkannt wird, wie ließe sich dann Amlodhis Anspruch rechtfertigen, der rechtmäßige Eigentümer der Mühle zu sein?
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Kreisel der verschiedensten Art und Gliederpuppen und leuchtend goldene Äpfel von den hell tönenden Hesperiden … Orpheus der Thrakier Denn ob ich schon nicht jäh und heftig bin. So ist doch was Gefährliches in mir. Das ich zu scheun dir rate. Hamlet
Es sind triftige Argumente für das hohe Alter und die Kontinuität gewisser den Himmel betreffender Traditionen vorgebracht worden. Selbst wenn Amlodhis Mühle, Grotti und Sampo als individuelle Mythen nicht über das Mittelalter hinaus verfolgt werden können, sind sie doch auf verschiedenen Wegen von dem Schatzhaus astronomischer Überlieferung abzuleiten: dem alten Vorderen Orient. Es ist jetzt an der Zeit, den Ursprung des Bilds von der Mühle zu lokalisieren und herauszufinden, was der ihr nachgesagte Zusammenbruch und die Entstehung des Strudels möglicherweise bedeuten können. Ausgangspunkt ist Griechenland. Kleomedes (um 150 n.Chr.) sagt: „Die Welt dreht sich für diese Breiten in der Nähe des Pols nach Art eines Mühlsteins.“1 Die islamischen Astronomen greiKleomedes, Die Kreisbewegung der Gestirne I.7, übersetzt von Czwalina (1927), 23.
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fen das Bild auf.2 Sie nennen den Stern Kochab (beta Ursae minoris) „Mühlzapfen” und die Sterne des Kleinen Bären, die den Nordpol umgeben, Fas el-rahha (das Loch des Mühlzapfens), „weil sie gleichsam das Loch (die Pfanne) vorstellen, worin der Mühlzapfen umläuft, indem sich der Zapfen des Taggleichers (Pol des Äquators) in dieser Gegend, dem Stern El-dschedi3 ziemlich nahe, befindet.” So lauten die Worte des arabischen Kosmographen al-Kazwini. Dazu Idelers Kommentar:4 Kothb, der gewöhnliche Name des Pols, heißt eigentlich die durch den unbeweglichen untern Mühlstein gehende Achse des beweglichen übern, das sogenannte „Mühleisen” … Auf dieser Zweydeutigkeit beruht die Vergleichung, von der Kazwini spricht. Man dachte sich nämlich die Himmelskugel als das Mühleisen, und den Nordpol als die Pfanne, worin der Zapfen des Mühleisens umläuft … Fâs erklärt Giggeo … durch „rima, scissura” … Das Fâs el-rahhâ unseres Textes, welches auch auf dem Dresdner Globus neben dem Nordpol des Aequators steht, wird also das „Mühlzapfenloch” bedeuten sollen.
Noch weiter im Osten, in Indien, erzählt uns das Bhagavata Purana, wie der tugendhafte Prinz Dhruva zum Polarstern erhoben wurde. Die spezielle „Tugend” des Prinzen, die sogar die Götter in Unruhe versetzte, ist es wert, erwähnt zu werden: Fastend stand er reglos über einen Monat lang auf einem Bein.5 Nachdem er „zum erhabenen Sitz des Vishnu” aufgestiegen war – der Gott betont (IV.8), Dhruva sei „mit mir vereinigt, der ich mit der Seele des Universums identifiziert worden bin” –, wird er wie folgt angeredet: „Die ewigen Sterne und die Bilder alle, Vgl. O.S. Reuter, Germanische Himmelskunde (1934), 239. El-dschedi ist der Ziegenbock, Polarstem: alpha Ursae minoris, auch Al-jadi geschrieben. 4 L. Ideler, Untersuchungen über den Ursprung und die Bedeutung der Sternnamen (1809), 4, 17. 5 Bhagavata Purana IV.8, in der Übersetzung Sanyal II.47; vgl. Vishnu Purana I.12 (Wilson, 16). 2 3
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auch die Planeten werden um dich kreisen. Du aber wirst so unbeweglich stehen als wie der Mühle Pfahl, um den die Ochsen körnerdreschend gehen.”6 So liest es sich bei Friedrich Normann, Mythen der Sterne (1925), 208, mit Berufung auf die französische Übersetzung des Bhagavata Purana von Eugêne Burnouf. Diese Version wurde übernommen von Reuter (Himmelskunde, 240), von Scherer (Gestirnnamen, 136) und evidenterweise von uns. Allerdings „stimmt” das Bild nicht so recht: Man sollte doch das Dreschen auf einer Tenne und das Mahlen des gedroschenen Korns zwischen Mühlsteinen auseinanderhalten, zumal der Tenne in der griechischen Mythologie ihre eigene Bedeutung zukommt. In der Bhagavata-Übersetzung von Sanyal (Kalkutta 1965, Band II, 52, 57, 248 = BhP IV c.8-10; V c.23) ist von einem Mühlenpfahl nicht die Rede. In V.23 (II, 248) heißt es: „Just as oxen fastened to a post fixed in the center of a threshing floor … go round.” In IV.9 (II, 52) sind es „bulls ever circling round a pivot”. Im Vishnu Purana (I.12, Wilson 80f) wird überhaupt kein Apparate-Gleichnis benutzt. Dem braven Dhruva wird zugewiesen „a station above those of the sun, the moon, Mars, the son of Soma (Mercury), Venus, the son of Sûrya (Saturn), and all the other constellations: above the region of the seven Rishis”. „Rishis” sind die Wagensterne. Laut al-Bīrūnī (India, 241) heißt es im Vayu Purana: „The wind drives the stars round the pole, which are bound to it by ties invisible to man. They move round like the beam in the olivepress, for its bottom is, as it were, standing still, whilst its end is moving around.” Kurz zuvor (239) gibt al-Bīrūnī an; „According to the Vayu Purana, heaven revolves round the pole like a potter’s wheel …” Und Julius von Negelein [OLZ 29 (1926), 903ff] konstatiert; „Somapresse, Ölmühle, Wasserschöpfrad, Töpferscheibe – das waren die alten Prototypen des sterngeschmückten, rotierenden Universums.” Ehe man sieh technischer Gleichnisse bedient, muß man (wie sich von selbst versteht) hienieden über die entsprechende technische Apparatur verfügen; und in unserem Sinne „echte“, d.h. stetig in derselben Richtung bewegte Mühlen, lassen sich nicht weiter zurück verfolgen als bis zum „etwa achten vorchristlichen Jahrhundert” [Lynn White, Medieval Technology and Social Change (1962), 107f; in der deutschen Übersetzung (1968), 89; für den ersten bekannten Mühlstein aus 6
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Das Gleichnis von den im Kreise getriebenen Ochsen ist dem Westen nicht fremd. Es ist unserer Sprache erhalten geblieben, dank den lateinischen Septemtriones, den sieben dreschenden 127 Ochsen von Ursa Maior, „die wir gewöhnlich die Sieben Ochsen nennen”, wie es in Ciceros Übersetzung von Aratos heißt.7 Auf einer vertrauteren Ebene gibt es eine Bemerkung des Trimalchio bei Petronius: „Also dreht sich das Himmelsgewölbe wie ein Mühlstein und richtet immer Schaden an.”8 Den Alten war die Idee nicht fremd, daß die Mühlen der Götter langsam mahlen und daß das Ergebnis üblicherweise Schmerz bedeutet. Somit verbreitet sich das Bild über viele Kanäle überall hin,9 Urartu, siehe John Storck und Walter Dorwin Teague, Flour for Man’s Bread (1952), 77f: „… cannot be later than the 8th Century B.C.”]. Vgl. zu der technischen Problematik Appendix 14. Das höchstwahrscheinlich ältere und das am weitesten verbreitete „Ersatz”-Instrument zur Produktion von Weltaltern war der Feuerdrill. 7 Cicero, De natura deorum II, 105; „… quas nostri Septem soliti vocitare Triones.” Das tri kommt von dem Verbum terere = zerreiben, mahlen, dreschen. 8 Petronius, Satyrica (1983). 39: „Sic orbis vertitur tamquam mola, et semper aliquid mali facit.” 9 Es sollte wenigstens erwähnt werden, daß das Mühlenmodell, neben anderen, gelegentlich auch dazu herhalten mußte, die (dem Fixsternhimmel scheinbar gegenläufigen) Planetenbewegungen zu erklären. J. Needham [Science and Civilization in China (1959), III, 214] weist auf die beiden folgenden Beispiele hin: Wang Ch’ung (83 n. Chr.) sagt in seinem Lun-Hêng [Alfred Forke (1962) I, 265]: „Their movements may he compared to that of ants crawling on a rolling mill-stone. The movements of the sun and moon are slow, whereas heaven moves fast. Heaven carries the sun and the moon along with it, therefore they really move eastward, but are turned westward.” Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts hat Vitruvius [IX.1.15, in der Übersetzung von Fensterbusch (1964), 422f] einen anderen Apparat gewählt, aber auch er hält es mit Ameisen: „Wenn man auf einer Scheibe, wie Töpfer sie verwenden (si in rota, qua figuli utuntur) sieben Ameisen setzt …,
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erreicht den Norden mittels keltisch-skandinavischer Übertragung und taucht in Snaebjörns Bericht über seine Entdeckungsreise in die Arktis wieder auf. Seinen enigmatischen Zeilen sollte das hinzugefügt werden, was inzwischen über den Hintergrund überlieferter Kunde in Skandinavien bekannt ist. Die neun grimmigen Göttinnen, die „einst Amlodhis Mehl mahlten” und heute „die sehr verderbliche Felsenmühle“ jenseits des Randes der Welt betätigen, sind ihrerseits nur Agentinnen einer nebulösen Kontrollinstanz, die Mundilföri oder Mundilfari genannt wird, was wörtlich „der Beweger des Handgriffs” bedeutet (Appendix 15). Das Wort mundil, sagt Rydberg, „wird im alten nordischen Schrifttum nie für etwas anderes gebraucht als für die Drehstange …, mit welcher der bewegliche Mühlstein gedreht wird”10; und er wird bestätigt durch Cleasby-Vigfussons Wörterbuch, in dem es heißt, daß sich das „mundil” in „Mundilföri” eindeutig auf „das Drehen oder die Umdrehung des Himmelsgewölbes” bezieht. Das Plädoyer steht also. Aber es gibt hier eine Doppeldeutigkeit, die einen tieferen Sinn der Idee offenbart. „‚Möndull’ stammt von dem Sanskrit-Wort ,Manthati’ ab”, sagt Rydberg, „es bedeutet schwingen, winden, bohren (von der Wurzel manth-, und wenn man die Ameisen zwingt, … im Kreise herumzulaufen, und die Scheibe in entgegengesetzter Richtung dreht, so müssen die Ameisen trotzdem entgegen der Drehung der Seheibe in der Gegenrichtung ihren Weg bis ans Ende zurücklegen.” Cornford [Plato’s Cosmology (1937), 82 Anm. 2] verweist auf ein weiteres Modell, dessen sich Hyginus (64 v.Chr bis 17 n.Chr., Astr. IV. 13, ed. Bunte, 114) und der PlatonÜbersetzer C(h)alcidius (kurz nach 400 n.Chr.) bedienen: „Der Gleiche – das ist der Fixsternhimmel – wurde repräsentiert durch die Bewegung eines nach Westen segelnden Schiffes, die Bewegung der Planeten durch Passagiere, die auf dem Deck zum Heck spazieren.“ 10 V. Rydberg, Teutonic Mythology (1907), 581ff. Webster’s New International Dictionary, 2. Ed., bemerkt zu dem Wort mundle: „Ein Stock zum Rühren. Obsolet außer für mundartlichen Gebrauch.” (Diesen Hinweis verdanken wir Jean Whitnack.)
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woraus später lateinisch mentula) und findet sich in mehreren Passagen des Rigveda. Seine direkte Anwendung bezieht sich immer auf die Herstellung von Feuer durch Reibung.”11 So ist es in der Tat. Aber nachdem für ihn die etymologische Herleitung geklärt war, hat sich Rydberg um die Bedeutung nicht weiter gekümmert. Die Lokomotivführer und Flugzeugpiloten von heute, die den Terminus „joy stick” prägten, mögen eine Ahnung davon gehabt haben. Denn das Sanskritwort Pramantha steht für das männliche Feuer- oder Butterholz, das dazu dient, Feuer zu machen. Und Pramantha hat sich in den Prometheus der Griechen verwandelt, auf dessen Persönlichkeit wir in kürze zurückkommen müssen. Was nach einer heillosen Konfusion aussieht, sind in Wirklichkeit nur zwei verschiedene Aspekte ein und derselben komplexen Idee. Das Entfachen von Feuer am Pol ist Teil dieser Idee. Aber der Leser dieses Buches ist nicht der erste, der von einer Bildersprache verwirrt wird, welche die Anwesenheit von Planeten am Pol gestattet – und sei es, daß sie nur dem Zweck diene, jenes „Feuer” zu entfachen, welches für ein neues Weltalter ausreichen sollte, und zwar für jenes Weltalter, über das der jeweilige „Pramantha” zu herrschen bestimmt war. Der Drehstock, „möndull”, und das Reibholz sind komplementär: Beide haben sie große Entwicklungen hinter sich, die sich überlagerten und eine Vielfalt von Mythen nach sich zogen. Die Hindernisse, welche die Imagination zu überwinden hat, beruhen auf Assoziationen, die spontan mit dem Wort „Feuer” entstehen, also auf Vorstellungen von dem real brennenden FeuDer Terminus „Reibung“ ist eine neue Art, gefährliche Begriffe zu umgehen: Tatsächlich meint die Sanskritwurzel math, manth bohren im strengen Sinne, das heißt, sie bezieht sich auf eine alternierende Bewegung [siehe Hermann Grassmann, Wörterbuch zum Rig-Veda, (1955). 976f], so wie sie in dem berühmten Amritamanthana vorkommt, dem Buttern dos Milchmeeres; und genau diese Eigenart von Indiens Butterfaß und Reibholz hat einen weitreichenden Einfluß auf kosmologische Konzeptionen gehabt. Näheres dazu im Appendix 14.
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er in einem Kamin oder Herd und von jenem „Feuer“, das mit dem erwähnten „joy stick” assoziiert wird. Hinsichtlich der kosmologischen Terminologie sind beide irrelevant; aber sie lieferten die linguistischen Vehikel zum Transport astronomischer und alchimistischer Ideen. Es sollte festgehalten werden, daß „Feuer” ein großer Kreis ist, der vom Himmelsnordpol bis zum Südpol reicht, weshalb der Atharva Veda die beiden Feuerhölzer dem Skambha zuordnet,12 eben jenem Skambha, von dem der Sampo abgeleitet ist.13 Die Gleichsetzung der Mühle mit dem Himmel wird also generell verstanden und akzeptiert. Aber bis hierher scheint sich niemand über den zweiten Teil der Geschichte gewundert zu haben, der ebenfalls in den vielen Versionen vorkommt. Wieso und warum passiert es immer wieder, daß diese Mühle, deren Zapfen der Polarstern ist, ruiniert oder aus den Angeln gehoben wird? Nachdem der archaische Verstand die immerwährende Umdrehung erst einmal begriffen hatte, was bewog ihn dann zu der Annahme, die Achse werde aus ihrer Fassung springen? Warum sollte Väinämöinen ausdrücklich erklären, es müsse eine andere Mühle gebaut werden (siehe Seite 101)? Warum war Dhruva dazu bestimmt, den Polarstern zu mimen – und das für einen gegebenen Zyklus?14 Denn die Geschichte hat nicht das Geringste mit der Weltschöpfung zu tun. Man könnte sogar AV X.8.20(AV X.7 und 8 sind die Skambha-Hymnen, auf die wir zurückkommen werden). In seinen Erläuterungen zu RV X.24.4 vermerkt Geldner zu den goldenen Feuerhölzern der Ashvins (Dioskuren): „Im AV 10.8.20 werden sie als großes Geheimnis behandelt und dem Skambha beigelegt. Aus ihnen werden Schätze ausgerieben.“ Siehe oben, Seite 123 (Tezcatlipoca reibt Feuer am Nordpol). 13 Siehe oben, Seite 111. 14 Das Vishnu Purana 1.12 (cf. 2.8, Seite 187 der Wilson-Übersetzung) verrat die Vorliebe der Inder für riesige und unrealistische Zahlen und Zeitabschnitte: Dhruva soll für die Dauer eines Kalpa leben. Das sind 4.320.000 Jahre. 12
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fragen – als Alternativvorschlag zu Rydbergs provozierendem „Knochenschrot” –, ob Bergelmir nicht auf dieselbe Weise „auf den Mühlstein“ gehoben wurde, das heißt, ob er nicht ebenfalls dazu berufen war, den Polarstern zu spielen (siehe oben, Seite 85). Die simple Antwort liegt in folgender Tatsache: Der Polarstern bewegt sich tatsächlich von der Stelle, und alle paar tausend Jahre muß man sich nach einem neuen Stern umsehen, der zur Übernahme der Funktion eines Polarsterns am besten geeignet ist;15 und tatsächlich standen nicht immer passende Sterne zur Verfügung. Es ist wohlbekannt, daß die so sorgfältig ausgerichtete Große Pyramide nicht nach unserem Polarstern, sondern nach Bzgl. China siehe J. Needham, Science and Civilization in China (1959) III, 259 (sowie Karte auf 260): „The effect of the precession on the position of the pole is considerable, causing it to describe a large circle having the pole of the ecliptic for its centre. It is now, of course, extremely close to alpha Ursae minoris, the pole star of contemporary astronomy (Polaris) … , but some 11,000 years hence it will be at the other extremity of its ,orbit’ about 45° north declination, in Lyra not far from Vega. Hence in –3000 it was to be found at about 64° north declination … It is therefore a fact of the greatest interest that we find, along the whole length of the path which it has traversed since that date, stars which have preserved Chinese names indicating that they were at various times pole Stars, but later ceased to be so … unless there had really been a succession of pole stars in the Chinese sky, one would hardly expect to find a string of abandoned ones along the polar trajectory and nowhere else in the circumpolar area. It does not, of course, follow that the Chinese observations themselves go back to –3000, since there might have been a direct taking-over of Babylonian star names – but this has not been demonstrated.” Für die Namen siehe 238, 260f: z.B. iota Draconis = „Celestial Unity” oder „the Heavenly first one”; 3067 i Draconis = „Celestial Unique”; „the ,Great Unique’ is probably 42 or 184 Draconis”; beta Ursae minoris = „Star of the heavenly emperor” oder „Sovereign Star.” Siehe auch erneut Abbildungen 3 und 4 in diesem Buch.
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alpha Draconis orientiert ist, welcher vor 5000 Jahren die Position am Pol innehatte. Aber es ist, wie bereits im Intermezzo erwähnt, für unsere Zeitgenossen um so schwieriger sich vorzustellen, daß Menschen so früher Zeit einer derart minimalen Verschiebung auf den Fersen hätten bleiben können, als ihnen selbst die baren Fakten nicht geläufig sind. Entsprechend frustriert hat Alexander Pogo, Astronom in Palomar, geschrieben: „Ich verzichte auf das Anführen von weiteren Beispielen des zähen Glaubens der Ägyptologen an die Unbeweglichkeit des Himmelspols.“16 Doch einer Reihe von Mythen ist zu entnehmen, daß man früh realisierte, der Fixsternhimmel müsse sich nicht immer und ewig um denselben Zapfen drehen. Mehrere Mythen berichten, wie der Polarstern abgeschossen oder auf andere Weise beseitigt wurde. Mehr darüber in Appendix 16. Die meisten dieser Mythen laufen jedoch unter einem irreführenden Namen. Es wurde angenommen, sie handelten vom Ende der Welt. Aber es gibt extrem wenige „eschatologische” Mythen, die dieses Etikett zu Recht tragen. Zum Beispiel wird die Götterdämmerung als das Weltende schlechthin begriffen; jedoch gibt es in der Völuspa und anderen Kapiteln der Edda unzweideutige Zeugnisse für das Gegenteil. Was zu Ende geht, ist eine Welt im Sinne eines Weltalters. Die Katastrophe räumt mit dem abgelaufenen auf, das ersetzt wird durch „einen neuen Himmel und eine neue Erde”, regiert von einem „neuen” Polarstern. Auch die biblische Sintflut war das Ende einer Welt; und Noahs Abenteuer wird rund um unseren Planeten in vielen Überlieferungen und auf vielfältige Weise erzählt. Den Griechen waren drei aufeinanderfolgende Zerstörungen bekannt. Kohärenz in diesem Wirrwarr von Überlieferungen läßt sich wiederherstellen, sobald man realisiert, daß es sich um das – jedenfalls aus archaischer Sicht – bedeutendste HimmelsphänoA. Pogo, „Zum Problem der Identifikation der nördlichen Sternbilder der alten Ägypter”, ISIS 16 (1931), 103.
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men handelt: die Präzession der Äquinoktien. Wir haben uns bereits im Intermezzo mit diesem Phänomen beschäftigt, aber es ist essentiell genug, um noch einmal aufgegriffen zu werden. Weil sie so langsam und im Leben eines Menschen nicht wahrnehmbar ist, wurde als selbstverständlich vorausgesetzt,17 niemand habe der Präzession gewahr werden können vor deren angeblicher Entdeckung durch Hipparchos im Jahre 127 v.Chr.. Hipparchos entdeckte und bewies, daß sich die Präzession um die Pole der Ekliptik dreht.18 Es wird gesagt, man hätte diese Bewegung im Verlauf eines Jahrhunderts kaum ohne moderne Instrumente entdecken können. Und das ist sicherlich richtig. Es hat ja aber niemand behauptet, die Entdeckung beruhe auf Beobachtungen während eines Jahrhunderts. Und eine Verschiebung von 1 Grad in 72 Jahren zeitigt nach Jahrhunderten der Akkumulation merkliche Verschiebungen, wenn nur die Beobachter beharrlich und zielstrebig sind und sich auf Buchführung verstehen. Die Beobachtungstechnik war relativ einfach. Sie basierte auf dem heliakischen Aufgang der Sterne, der ein fundamentales Requisit der babylonischen Astronomie blieb. Als Teleskop der Frühzeit fungierte, wie Norman Lockyer sagt, die Linie des Ho- 131 rizonts. Wenn aufgefallen war, daß ein bestimmter Stern, der kurz vor der Sonne der Tagundnachtgleiche aufzugehen pflegte, an diesem Tag nicht mehr zu sehen war, so war klar, daß sich die Zahnräder des Himmels verschoben hatten. War dieser Stern der Das heißt, zumindest während der letzten hundert Jahre. In früheren Zeiten, als die Geisteswissenschaften noch nicht von dem biologischen Evolutionsschema „infiziert” waren, zeigten die Gelehrten mehr Vertrauen in die Fähigkeiten der Begründer von Hochkulturen. 18 Die einschlägigen Original Schriften von Hipparchos sind nicht erhalten, so daß wir auf den Bericht von Ptolemaios angewiesen sind. Es scheint ratsam, den nicht sonderlich zugänglichen Text von Ptolemaios auszugsweise wiederzugeben [Syntaxis (= Almagest) 7.2 und 3]; siehe Appendix 17. Der von Hipparchos berechnete und von Ptolemaios bestätigte Wert betrug 1 Grad in 100 Jahren. 17
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letzte eines gegebenen Tierkreiszeichens, bedeutete dies, daß sich das Äquinoktium in ein anderes Zeichen bewegte. Es besteht auch keinerlei Zweifel – wie wir bereits sagten –, daß man sich schon im Altertum der Verschiebung des Polarsterns bewußt war. Aber war man in der Lage, beide Bewegungen miteinander zu verbinden? An diesem Punkt haben die Spezialisten unserer Zeit lange mit einer Antwort gezögert, und zwar jeder aus seinem eigenen Blickwinkel heraus. Was ist die Präzession? Nur wenige haben sich die Mühe gemacht, etwas darüber in Erfahrung zu bringen. Jedoch wird sich bei jedem Zeitgenossen, dem bekannt ist, daß die Erde um ihre eigene Achse rotiert, der Gedanke an einen Kreisel einstellen, der mit seiner geneigten Achse langsam einen Kreis beschreibt. Wer einmal mit einem Kreisel gespielt hat, weiß eigentlich alles über die Präzession. Sobald seine Achse von der Senkrechten abweicht, nimmt der Kreisel seine ihm eigene langsame Bewegung auf, wobei der Neigungswinkel konstant bleibt. Die Erde – ein Kreisel mit einer in Bezug auf die Anziehungskraft der Sonne geneigten Achse – benimmt sich wie ein Riesenkreisel, der in 25.920 Jahren eine komplette Umdrehung vollendet (Abbildung 1). In der Antike wird man das wohl nicht so begriffen haben, da es die Dynamik erst seit Galilei gibt. Hipparchos und Ptolemaios konnten den Mechanismus nicht verstehen. Sie konnten nur die Bewegung beschreiben. Wir müssen versuchen, mit ihren Augen zu sehen und nur in der Terminologie der Kinematik zu denken. Über eine Periode von tausend Jahren konnten die alten Beobachter einen Bogen von mehr als 10 Grad erkennen, der durch das säkulare Kreiseln entstand. Einmal auf die säkulare Bewegung eingestimmt, vermochten sie – inmitten der täglichen Revolution des Fixsternhimmels um den Pol, der jährlichen Runde der Jahreszeiten sowie der aufreizend langsamen Bewegung des Pols – einen Punkt auszumachen, der stabiler zu sein schien als
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der Pol selbst. Das war der Pol der Ekliptik,19 der möglicherweise als das Zentrum eines Lochs im Himmel angesehen worden ist, denn in jener Region gibt es keinen Stern, der den Ekliptikpol markieren könnte (siehe Appendix 18). Die Symmetrie der Maschine nahm in ihren Köpfen Gestalt an. Und es war wirklich die Zeitmaschine, wie Platon sie versteht: das „bewegte Abbild der Ewigkeit”. Sie beschrieb die Generationen der Zeit selbst, das zyklische Symbol für Ewigkeit; Zyklus um Zyklus, bis in kleinste, eben noch wahrnehmbare Verschiebungen. Doch konnte die gleichförmig arbeitende Zeitmaschine mit 132 wichtigen Stationen ausgestattet werden. Das Kreiseln der Erdachse bewirkt eine kontinuierliche Verschiebung des Himmelsäquators, der den geneigten Kreis der Ekliptik in den beiden Äquinoktialpunkten schneidet. Die Sonne, die im Verlauf eines Jahres die Ekliptik durchmißt, trifft daher den Äquator nie an genau derselben Stelle, sondern an einem Punkt, der sich stetig entlang dem Ring der Tierkreiszeichen verschiebt. Das ist mit der Präzession der Äquinoktien gemeint. Die Tagundnachtgleichen „rücken vor”, weil sie sich entgegen der Reihenfolge der Tierkreiszeichen bewegen, welche die Sonne in ihrem Jahreslauf einhält. Das Frühlingsäquinoktium – wir haben es weiter oben den „entscheidenden Punkt” genannt –, das traditionell für den Frühlingsanfang und den Beginn des neuen Jahres stand, wandert also von einem Zeichen zum anderen. Das verleiht dem Wechsel der Sternzeichen, in denen die Äquinoktialsonne jeweils aufgeht, eine große Bedeutung. An dieser Stelle mögen zur Orientierung einige ergänzende Worte zu den „Zeichen” angebracht sein – und zwar zu den ZeiVgl. A. Bouché-Leclerq, L’Astrologie Grecque (1899), 122: „On sait que le Pôle par excellence était pour les Chaldéens le pôle de l’écliptique, lequel est dans la constellation du Dragon.” Cf. auch Athanasius Kircher, Oedipus Aegyptiacus (1653), 2, Teil 2, 205: „Ponebant Aegyptii non Aequatorem, sed Zodiacum basis loco; ita ut centrum hemispherii utriusque non polum Mundi. sed polum Zodiaci referret.” 19
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chen, „in” denen die Sonne aufgeht. Seit ungefähr 2000 Jahren benutzt die offizielle Terminologie nur Tierkreis„zeichen”, von denen jedes einzelne 30 Grad der insgesamt 360 Grad des Tierkreises beansprucht. Diese Zeichen tragen die Namen der Konstellationen des Zodiaks; aber Sternbilder und -zeichen stimmen nicht miteinander überein: Zum Beispiel wird das Äquinoktialzeichen (= 0 bis 30 Grad) „Widder” genannt, ohne die Konstellation zu berücksichtigen, die tatsächlich vor der Äquinoktialsonne aufgeht. In unserer Zeit ist es die Konstellation der „Fische”, die heliakisch am 21. März aufgeht; aber das „Zeichen” trägt nach wie vor den Namen Widder – und wird es auch weiterhin tun, selbst wenn in der Zukunft der Wassermann das Frühlingsäquinoktium regiert. Soviel über Zeichen versus Konstellationen.20 Was den zweiten doppeldeutigen Ausdruck angeht, nämlich den des Sonnenaufgangs „in” einer Konstellation (oder einem Zeichen), so bedeutet dies, daß die Sonne gemeinsam mit dem Sternbild aufgeht und es dadurch unsichtbar macht. Es gibt mehrere Gründe anzunehmen, daß eine Konstellation (und ein Planet, der sich zufällig in ihr aufhielt), „in” der die Äquinoktialsonne aufging, als „geopfert”, „an den Opferpfahl gebunden” und dergleichen betrachtet wurde; und das mag beiläufig auch erklären, warum Christus – der jenes Weltalter einläutete, in dem die Fische heliakisch im Frühling aufgehen – als das Opferlamm begriffen wurde. Wenn die Fische im Osten die letzte sichtbare Konstellation vor Sonnenaufgang sind, dann geht Wir lassen hier die vieldiskutierte Frage außer acht, wann genau Zeichen gleicher Große eingeführt wurden; angeblich geschah das sehr spät (siehe unten, Seite 422, Fn. 1). Die tatsächlichen Konstellationen unterscheiden sich in ihrer Größe sehr voneinander; zum Beispiel bedeckt der riesige Skorpion weit mehr als 30 Grad, während der Widder bescheidene Ausmaße hat. Es ist vorstellbar, daß dieser Mangel an Einheitlichkeit die alten Astronomen bei ihren Berechnungen dermaßen verwirrt hat, daß sie aus purer Selbsterhaltung ein angenehmeres Koordinatensystem ausgetüftelt haben. 20
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die Sonne gemeinsam mit, also „in” der darauffolgenden Konstellation auf; im Widder. Seit Beginn der Geschichte hat sich das Frühlingsäquinoktium 133 vom Stier durch den Widder in die Fische bewegt. Das ist alles, was die historische Erfahrung der Menschheit zu bieten hat: ein Ausschnitt von ungefähr einem Viertel des gesamten Hauptkreises der Maschine. Daß sich der Kreis einmal schließen würde, war bestenfalls eine Schlußfolgerung, Es konnte sich auch um den Ausschnitt einer vor- und rückwärts laufenden Pendelbewegung handeln; und tatsächlich gab es diesbezüglich verschiedene Lehrmeinungen. Allerdings scheint die Oszillationstheorie, wie wir noch sehen werden, eine größere Anziehungskraft auf die alten Mythographen ausgeübt zu haben. Für uns hat das copernikanische Weltbild der Präzession ihre Bedrohlichkeit genommen und sie zu einer ausschließlich irdischen Angelegenheit gemacht, nämlich zu bloßen Kursabweichungen irgendwelcher Durchschnittsplaneten. Aber falls es sich doch um das geheimnisvoll vorgeschriebene Verhalten der Himmelskugel oder des gesamten Kosmos handelte – und so sah es einmal aus –, wer konnte sich dann astrologischen Emotionen entziehen? Die Präzession gewann eine übermächtige Bedeutung. Sic wurde zum Modell des Schicksals selbst, dem gemäß ein Weltalter auf das andere folgte, während der unsichtbare Zeiger des Äquinoktiums die Zeichen entlangglitt; und jedes Zeitalter brachte den Aufstieg und Absturz astraler Konfigurationen und Regentschaften mit sich, einschließlich ihrer irdischen Konsequenzen. Dem Volk mußten Geschichten erzählt werden über den Ursprung von einander ablösenden Herrscherdynastien und über die Schöpfung der Welt. Aber für jene, die Bescheid wußten, war der Ursprung nur ein Punkt auf dem Präzessionskreis, wie das 0 = 24 unserer Ziffernblätter. Unsere heutigen Uhren haben nur zwei Zeiger – der kleine spielt Sonne, der große Mond; aber die Geschichtenerzähler von damals mußten sieben planetarische Zeiger im Auge behalten sowie ein sich
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langsam gegenläufig bewegendes Ziffernblatt. Alle diese Bewegungen waren Bestandteile der Zeit und des Schicksals. Daß die Dinge nicht mehr so sind, wie sie einmal waren; daß sich die Welt vom Schlechten ins Schlimmere bewegt, scheint über alle Zeitalter hinweg eine feste Vorstellung gewesen zu sein. Der Einsturz der Mühle wird durch die Verschiebung der Weltachse verursacht. Bewegung ist auch das Medium, mit dessen Hilfe der Schiffbruch hervorgerufen wird. Die Mühle wird „transportiert“, ob es sich dabei nun um Grotti oder Sampo handelt. Das Grottilied sagt ausdrücklich, daß die Riesinnen zuerst einen feindlichen Überfall herbeimahlten, in dessen Verlauf die Mühle weggetragen wurde, um dann kurz darauf Salz zu mahlen und die Maschine Schiffbruch erleiden zu lassen. Das war das Ende von „Frodis Frieden” – dem Goldenen Zeitalter. Sogar in Snaebjörns berühmten Zeilen sind die grimmigen Göttinnen „jenseits des Randes der Welt“ diejenigen, „welche in vergangenen Zeiten Amlodhis Mehl mahlten”. Inzwischen werden sie das wohl kaum noch tun, denn der ruinierte Mühlstein befindet sich auf dem Meeresgrund, und sein Loch ist zum Trichter des Strudels geworden. Somit ist diese Mühle den Wassern überantwortet worden, und es ist jetzt das Meer selbst, das zu „Amlodhis Mühle“ geworden ist. Im Zweifelsfall führt eine neue Mühle in einem neuen Weltalter die Arbeit der alten fort; aber davon erzählen die nordischen Mythographen nichts.21 Selbst Hesiod liefert uns kein klares Bild von den frühen Kämpfen und Kataklysmen. Einstweilen genügt es jedoch zu wissen, daß er in seiner jüngeren Dichtung Werke und Tage fünf Weltalter unterscheidet. Ein kohärentes Bild wird sich allenfalls aus dem Vergleich unterschiedlicher Überlieferungen gewinnen lassen; und das soll in den folgenden Kapiteln versucht werden. Immerhin: Über ein Weltalter herrscht Einmütigkeit, nämlich über das erste, in dem die Mühle Frieden und Reichtum mahlte. Bei Jacob Grimm (DM, 853) lesen wir vom Teufel: „Auf Bergen baut er Mühlen und zerstört sie wieder.”
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Es ist das Goldene Zeitalter, in der lateinischen Überlieferung Saturnia regna: die Herrschaft des Saturn, des griechischen Kronos. Über diese Gestalt herrscht in den Mythen eine außergewöhnliche Übereinstimmung. In Indien hieß sie Yama; im Altpersischen Avesta hieß sie Yinia xsaēta,22 ein Name, aus dem in Neupersien Jamshyd wurde; im Lateinischen hieß sie Saeturnus. dann Saturnus. Saturn beziehungsweise Kronos war unter vielen Namen als der Herrscher des Goldenen Zeitalters bekannt – jener Zeit, in der die Menschen weder Krieg noch Blutopfer kannten, noch die Ungleichheit der Klassen –, als Herr der Gerechtigkeit und der Maße, als Enki bei den Sumerern und in China als der Gelbe Kaiser und Gesetzgeber. Wenn man nach Spuren dieser gesunkenen Mühle in der klassischen Mythologie suchen will, wird man nicht enttäuscht.23 Siehe Hermann Collitz, „König Yima und Saturn”, Festschrift Pavry (1933), 86-108. Siehe auch A. Scherer, Gestirnnamen bei den indogermanischen Völkern (1953), 87. 23 Obwohl die Telchinen eingehende Behandlung verdienten, können sie hier nur gestreift werden: Diese seltsame Gattung „magischer Unterwassergeister” und der „Dämonen der Tiefe des Meeres” – sie sind Gefolgsleute des Poseidon auf Rhodos – hat die Mühle erfunden, das heißt, ihr Anführer tat es: Mylas, „der Müller”. Im voraus von der prädestinierten Flut wissend, die Rhodos zerstören sollte, zogen sich diese ehemaligen Bewohner der Insel nach Lykia, Zypern und Kreta zurück, zumal sie außerdem wußten, daß Helios die Insel nach der Überschwemmung übernehmen sollte. Diesen Kreaturen wird außerdem vorgeworfen, den „bösen Blick“ zu besitzen und die gesamte Vegetation auf Rhodos vernichtet zu haben, indem sie die Pflanzen mit StyxWasser gossen. Wie sich später noch zeigen wird (siehe „Über Zeit und die Flüsse”, Seiten 184f), ist an das Wasser des Styx nicht so leicht heranzukommen. Daß die Telchinen, die „Mühlengötter“ (theoi mylantioi), Zugang zum Styx hatten, beweist einwandfrei, daß sich diese frühesten Entlauber tatsächlich in Bewohner des tiefen Meeres verwandelt hatten. Siehe Ludwig Preller und Carl Robert, Griechische Mythologie (1964), 1, 650ff; Maximilian Mayer, Giganten und Titanen in der 22
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Man stößt auf sie, wo man sie am allerwenigsten vermutet, nämlich in dem Großen Magischen Papyrus aus Paris, der etwa auf die erste Hälfte des vierten Jahrhunderts datiert wird.24 Zu seinen Rezepturen gehört das „begehrte Orakel des Kronos, das sogenannte Mühlchen”: 134
Nimm zwei Maß Meersalz und mahl es mit der Handmühle, das Gebet oftmals dabei sprechend, bis der Gott dir erscheint. Nimm die Handlung nachts vor an einem Orte, wo Gras wächst. Und hörst du beim Sprechen eines (Mannes) schweren Schritt und Zusammenschlagen von Eisen, dann kommt der Gott mit Ketten gefesselt, eine Sichel tragend. Du aber erschrick nicht; bist du doch geschützt durch das Schutzmittel, das dir noch zur Kenntnis gebracht wird. Sei gehüllt in ein reines Linnen, wie es die Isispriester haben. Räuchere dem Gotte Salbei mit einem Katzenherzen und Stutenmist. Das Gebet, das du beim Mahlen sprichst, lautet so: „Dich rufe ich, den großen, heiligen, den Gründer der ganzen bewohnten Welt, dem die Unbill zustieß durch den eigenen Sohn, den Helios mit stählernen Fesseln band, auf daß das All nicht in Verwirrung käme, Mannweiblicher, des Donners und Blitzes Vater, der du auch die unter der Erde beherrschest.” … [Es folgen weitere Schutzriten, dann die Entlassungsformel:] „Geh weg, Herr der Welt, Vorvater, und weiche an deine eignen Orte, damit das All behütet bleibe. Sei uns gnädig, Herr.”
Zauberer und Geisterbeschwörer sind die konservativsten Menschen auf Erden. Es ist nicht ihre Sache, logisch nach dem Warum zu forschen. Statt dessen berufen sie sich auf die Macht in Worten, die sie schon lange nicht mehr verstehen – aber sie müssen eine genaue Liste der archaischen Attribute des gestürzten Gottes hersagen und sogar Meersalz mit dem Mühlchen mahlen, jenem Modell des Strudels, welches den Sturz des Gottes kennzeichnet. Was einmal Wissenschaft gewesen war, wurde antiken Sage und Kunst (1887), 45, 98, 101; Hermann Usener, Götternamen (1948), 198f. 24 Karl Preisendanz, Papyri Graecae Magicae (1928), IV, 173ff.
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für sie bloße Technik. Alfons A. Barb prägte einmal folgendes Gleichnis – dabei hatte er allerdings Offenbarungsreligion im Sinn, nicht Wissenschaft: Sich mit der Beziehung zwischen magischen Praktiken und der Religion beschäftigend, verwies er auf Matthäus XXIV.28, Lukas XVII.37: „Wo aber ein Aas ist, da sammeln sich die Adler”, und monierte: „Zu viele kritische Gelehrte waren bereit anzunehmen, daß der Kadaver demzufolge eine Schöpfung der Adler ist. Aber Adler schöpfen nicht; sie entstellen, zerstören und verteilen, was das Leben übriggelassen hat; und wir dürfen die farbenprächtige Entfaltung der Verwesung nicht mit den Blüten und Früchten des Lebens verwechseln.”25 So treffend dieses Bild ist, weil es die richtige consecutio temporum herstellt, läßt es doch die konservierende Funktion der Magie und des Aberglaubens außer acht: Wo wären die Kulturhistoriker ohne solche „Adler”? Für all die Titel und Attribute, die hier aufgeführt sind, gibt es im archaischen Mythos eine Rechtfertigung. Aber an dieser Stelle ist nur ein Punkt von Bedeutung. Als Herr der Mühle wird Saturn/Kronos namhaft gemacht, er, der von seinem Sohn entthront wurde, indem dieser ihn von seinem Wagen warf und in „Ketten” auf eine glückselige Insel verbannte, wo er, Kronos, schläft. Und weil er unsterblich ist, wird angenommen, er führe ein Leben-im-Tod, in Leichentücher gehüllt, bis seine Zeit gekommen ist, wie einige sagen, um wieder aufzuwachen und uns als ein Kind neugeboren zu werden.
A.A. Barb, „St. Zacharias”, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 11 (1948), 92. Es ist übrigens Barbs Aufmerksamkeit nicht entgangen, daß es Geier sein müßten. 25
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Es gab also einmal ein Goldenes Zeitalter. Aber warum und wie ging es zu Ende? Diese Frage ist über alle Zeiten hinweg von tiefgreifender Bedeutung für die Menschheit gewesen. In zahlreichen Mythen wurde sie gestellt und auf unterschiedliche Weise beantwortet. Warum verlor der Mensch den Garten Eden? Die Antwort ist immer in irgendeiner Ursünde gesucht worden. Aber die Vorstellung, daß nur der Mensch in der Lage sei, eine Sünde zu begehen, daß Adam und Eva die Schuldigen seien, diese Vorstellung ist nicht sonderlich alt. Die Autoren des Alten Testaments hatten einen gewissen Eigendünkel entwickelt. Und so mußte das Christentum kommen und die kosmischen Proportionen retten und wiederherstellen, indem es darauf bestand, daß Gott allein sich als Sühneopfer anbieten kann. In archaischen Zeiten schien dieses selbstverständlich gewesen zu sein. Allein die Götter konnten das Universum in Gang halten beziehungsweise zugrunde richten. Und genau dort sollten wir auch nach dem Ursprung des Bösen suchen. Denn das Böse bleibt ein Mysterium. Es ist nicht Teil der Natur. Die fehlerfreie und allmächtige Himmelsmaschine war dazu gedacht, nur Harmonie und Perfektion hervorzubringen, die Herrschaft von Gerechtigkeit und Unschuld, Flüsse, in denen Milch und Honig fließen. Und das tat sie auch; aber diese Zeit währte nicht auf
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ewig. Was war der Grund für den Beginn der Geschichte? Geschichte ist immer schrecklich. Philosophen von Platon bis Hegel haben ihre eigenen hochfliegenden Antworten offeriert: Das reine Sein stand einer Notwendigkeit gegenüber, die das NichtSeiende enthält; und das Resultat war das Werden – ein riskantes, nicht versicherbares Unternehmen. Das war im wesentlichen die ursprüngliche Antwort archaischer Zeilen. Aber weil die Abstraktion fehlte, mußte diese Antwort der Terminologie der Himmelsbewegungen entlehnt werden. Aristoteles hat diese Sache in einem äußerst wichtigen, doch wenig beachteten Absatz des Buches Lambda der Metaphysik (1074b) erhellt, wo er über Kronos, Zeus, Aphrodite und andere spricht: Von den Alten aber und den Urahnen [archaioi kai panpalaioi] ist in Gestalt [schema] des Mythos den Späteren überliefert worden, daß diese Himmelskörper Götter seien und das Göttliche die ganze Na- 137 tur umfasse. Das Übrige ist dann in mythischer Weise … hinzugefügt worden. Sie meinen nämlich, diese Götter seien menschengestaltig und anderen Lebewesen ähnlich … Wenn man davon absieht und nur das Erste nimmt, daß sie nämlich die ersten Wesen für Götter hielten, so könnte man wohl glauben, dies sei göttlich gesprochen, und da wahrscheinlich jede Kunst und jede Philosophie nach Möglichkeit oftmals erfunden und wieder verloren wurde, so können diese Ansichten gleichsam deren Reste [leipsana] sein, die sich bis heute erhalten haben. Nur insoweit also ist uns die Ansicht der Väter und die der Urahnen klar.1
Als wahrer Grieche kann sich Aristoteles Fortschritt in unserem Sinn nicht vorstellen. Für ihn schreitet die Zeit in Zyklen des Gedeihens und Verderbens voran. Aber das Nichtvorhandensein moderner Vorurteile bewahrte seinem Verstand die Offenheit für eine antike Gewissheit. Und es ist diese Gewißheit, die durch den Dunst der Zeitalter hindurchschimmert und in einer nur unAristoteles, Metaphysik (1970, 1984), 319. Die Einfügungen in eckigen Klammern sind von uns. 1
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klar verstandenen Sprache aufscheint. Es war die Aufmerksamkeit für die Ereignisse am Himmel, die den Geist der Menschen formte, ehe Geschichtsschreibung existierte. Aber weil es noch keine Schrift gab, sind diese Gedanken über den „Ereignishorizont” entschwunden, wie Astrophysiker sagen würden. Sie können nur als Fragmente von Erzählungen und Mythen überleben, weil diese in jenen Zeiten die einzige Fachsprache darstellten. Diese Organisation des Himmels setzte beträchtliche intellektuelle Leistungen voraus, wie das Prägen und Benennen von Sternbildern sowie das Aufspüren von Planetenbahnen. Hochfliegende und komplizierte Theorien wurden entwickelt, um die Bewegungen des Kosmos zu erklären. Mau würde sich über diese obsessive Beschäftigung mit den Sternen und ihren Bewegungen wundern, wäre es nicht an dem, daß diese alten Denker überzeugt waren, sie hätten die Götter ausfindig gemacht, die über das Universum herrschen – und damit auch über das Schicksal der Seelen auf Erden und nach dem Tod. Mit unseren Worten gesagt, hatten sie die wesentlichen Invarianten gefunden, in denen sich das Sein ausdrückt. Indem er diesen Vorvätern Respekt erweist, ist sich Aristoteles völlig bewußt, daß seine eigene philosophische Suche mit ihnen begann. Man sollte den kosmologischen Informationen, die in alten Mythen enthalten sind, Beachtung schenken – Informationen über Chaos, Kampf und Gewalt. Das sind keine bloßen Projektionen eines gestörten Bewußtseins: Es sind Versuche, jene Kräfte zu portraitieren, die allem Anschein nach an der Gestaltung des Kosmos beteiligt waren. Die Ungeheuer, Titanen und Riesen, die sich mit den Göttern eine Schlacht liefern und versuchen, den Olymp zu stürmen, sind Funktionen und Komponenten jener Ordnung, die schließlich errichtet wurde. Dabei wird auf Anhieb eine Unterscheidung deutlich. Die Fixsterne sind das Wesen des Seins; ihre Körperschaft steht für die verborgenen Pläne und unausgesprochenen Gesetze, die das Ganze regieren. Die Planeten repräsentieren, als Götter verstan-
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den, die Kräfte und den Willen: alle Kräfte, die es gibt. Und jede Kraft wird als ein Aspekt der Himmelsmacht, als ein Aspekt der unbarmherzigen Notwendigen und Präzision, die der Himmel verkörpert, angesehen. Man könnte auch sagen, daß die Fixsterne in ihrer Ruhe und Unbeweglichkeit die Krongewalt darstellen, während die Planeten die Exekutive versinnbildlichen. Sind sie in vollkommener Harmonie? Das ist der Traum, den der kontemplative Geist immer wieder formuliert hat und den Kepler festzuhalten versuchte, als er die Noten seiner „Sphärenharmonie“ niederschrieb. In ihm wurzelt der Glaube an das Große Jahr, an dessen Ende alle Planeten zu ihrem Ausgangspunkt an demselben Tierkreisort zurückkehren sollen. Aber schon sehr früh ließen die Berechnungen Zweifel aufkommen – und mit ihm die Angst. Nur selten stößt man auf deutliche diesbezügliche Äußerungen. Hier ist eine aus dem ägyptischen Totenbuch, in dem Osiris sagt: Hail, Thot! What is it that hath happened to the divine children of Nut? They have done battle, they have upheld strive, they have made slaughter, they have caused trouble: in truth, in all their doing the mighty have worked against the weak. Grant, O might of Thot, that that which the God Atum hath decreed (may be accomplished)! And thou regardest not evil nor art thou provoked to anger when they bring their years to confusion and throng in and push to disturb their months; for in all that they have done unto thee, they have worked iniquity in secret!2 Kapitel 175, 1-8, übersetzt von W. Budge (1956), 596f. Die Hervorhebungen durch Kursivschrift stammen von uns. Annähernd ins Deutsche übertragen lautet der Text: „Gepriesen seist du, Thot! Was ist den göttlichen Kindern der Nut widerfahren? Sie haben Kriege angezettelt, sie haben Zwietracht gesät, sie haben Blutbade angerichtet, sie haben Unruhe gestiftet: Wahrlich, in all ihrem Tun sind die Mächtigen gegen die Schwachen vorgegangen. Gib, O mächtiger Thot, daß das, was der Gott Atum verfügt hat (in Erfüllung gehe)! Und du nimmst es nicht übel und läßt dich nicht erzürnen, wenn sie ihre Jahre durcheinander
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Thot ist der Gott der Wissenschaft und der Weisheit. Und Atum geht sozusagen der göttlichen Hierarchie voran. Nur in metaphysischen Begriffen umschrieben, verkörpert er die geheimnisvolle Entität, der das Weltall entsprang; sein Name könnte Anfang-und-Ende lauten. Er ist somit die Gegenwart und der geheime Rat, den man gerne mit dem Himmel gleichsetzt. Sein Ratschluß muß von unveränderlicher Perfektion sein. Aber hier scheint es so, als ob es Kräfte gebe, die insgeheim Frevel begingen. Diese Kräfte kommen überall vor, und regelmäßig werden sie als „an-maßend“ oder „über-heblich” sowie als „frevelhaft” – im Sinn von lateinisch iniquus, d.h. „ungleich“, zu groß oder zu klein – beziehungsweise als beides angeprangert. Doch sind diese „Kräfte” nicht von Anfang an frevelhaft: Sie stellen sich als solche heraus, sie werden erst im Lauf der Zeit anmaßend. Es ist allein die „Zeit”, welche die Titanen, die einst das Goldene Zeitalter regierten, in „Frevler” verwandelt – also in solche, die Ungleichheit betreiben. Mit anderen Worten: Sie verfrühen oder verspäten sich (vergleiche Appendix 12). Das hauptsächliche Vergehen dieser „Sünder” erklärt sich aus der Idee des Maßes, das festgelegt oder stillschweigend vorausgesetzt wird: es ist das Überragen, das Überschreiten des zugemessenen Grades – und das ist wörtlich gemeint.3 Über die indischen Titanen, die Asuwerfen und herbeiströmen und die Reihenfolge ihrer Monate in Unordnung bringen; denn in allem, was sie dir angetan haben, betrieben sie insgeheim Frevel!“ 3 Es ist allein die sorglose Art und Weise, in der wir gewöhnlich mit präzisen Begriffen umgehen, die unser Verstehen blockiert: Zum Beispiel wird das griechische Wort moira, auch moros geschrieben, mit „Los”, „Schicksal”, manchmal auch mit „Geschick/Verhängnis” übersetzt; moira ist ein Grad der 360 Grade des Kreises. Wenn wir das im Hinterkopf behalten, verstehen wir solche Zeilen wie Odyssee 1.34-35 besser, in denen Aigisthos zweimal vorgeworfen wird, Taten „hyper moron”, also über den Grad hinaus, verübt zu haben. Wie könnte man ein Schicksal übertreten? Wie könnte man maßlos gegenüber seinem
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ras, sagt das Mahābhārata: „Ganz gewiß waren die Asuras ursprünglich gerecht, gut und wohltätig, kannten das Dharma und opferten und waren im Besitz vieler anderer Tugenden … Aber nachdem sie sich zahlenmäßig vermehrt hatten, wurden sie stolz, eitel und streitsüchtig … Sie brachten alles durcheinander. Hierauf, im Lauf der Zeit …” wurden sie verdammt.4 Demzufolge muß mit ernsthaften Konsequenzen gerechnet werden, wenn die Genesis VI.I mit folgenden Worten beginnt: „Als aber die Menschen sich zu mehren begannen auf Erden …“ Und richtig ist zwölf Verse später, Genesis VI. 13, der entscheidende Moment gekommen: „Da sprach Gott zu Noah: ,Das Ende alles Fleisches ist bei mir beschlossen …’” Noch unverblümter ist das 18. Kapitel des Buches Henoch, in dem ein Engel Henoch durch die Himmelslandschaft führt. Während er ihm die Quartiere zeigt, die für frevelhafte Personen vorgesehen sind, sagt der Engel zu Henoch: „Dies ist der Ort, wo Himmel und Erde zu Ende sind; ein Gefängnis ist dies für die Sterne und für das Heer des Himmels. Die Sterne, die über dem Feuer dahinrollen, das sind die, welche beim Beginn ihres Aufgangs die Befehle Gottes übertreten haben, denn sie kamen nicht zu ihrer Zeit hervor. Da wurde er zornig über sie und band sie 10.000 Jahre, bis zu der Zeit, da ihre Sünde vollendet ist.”5 Doch sollte man sich vor Vereinfachungen hüten. Die Formulierung „Ganz gewiß waren die Asuras ursprünglich gerecht, gut und wohltätig” gilt ebenso für die Titanen, die Mächte des ersten Weltalters. Vom „Blickpunkt” des vorausgegangenen Stands der Dinge aus betrachtet, hatten die Titanen, Asuras und dergleichen allerdings zuerst Greueltaten begangen. Wie zum Beispiel Saturn, Los sein? Das würde ja den ganzen Begriff des „Schicksals” außer Kraft setzen. 4 V. Fausböll, Indian Mythology according to the Mahābhārata (1902), 40f. 5 Emil Kautzsch (Hrsg.), Die Apokryphen und Pseudoepigraphen des Alten Testaments (1900), 2, 249f.
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der „Urheber der Zeit”, der auf drastische Weise jene „Trennung der Welteltern” vollzieht, die für das Auseinanderfallen der Achsen des Äquators und der Ekliptik steht. Vor dieser Teilung existierte die Zeit nicht. Die „vereinten Eltern” – von Macrobius herzlos „Chaos” genannt – ärgerten sich über das Aufbrechen der ursprünglichen Einheit durch jene Mächte, die insgeheim Frevel begingen.6 Im Enuma elisch, dem sogenannten babylonischen Schöpfungsmythos, treten diese Mächte als Kinder von Apsu und Tiamat auf und drängen sich zwischen ihre Eltern. „Sie störten Tiamat durch ihr Hin- und Herlaufen; jawohl, sie verdarben Tiamat die Stimmung. Apsu konnte ihr Lärmen nicht mäßigen … Anstößig war ihr Benehmen, sie waren überheblich.“7 Als sie sich noch nicht „vermehrt” hatte, errichtete diese Generation unter der Herrschaft von Ihm, der viele Namen hat – Enki, Yima, Freyr und noch viele mehr – das Goldene Zeitalter. Die Söhne, die er selbst erzeugte, nannte der große Uranos tadelnd Titanen (= Strecker, Dehner) wie wir von Hesiod wissen (Theogonie 207-219): „Er sagte, sie hätten streckend durch Übermut ein großes Werk getan, für das später Buße zu entrichten sein werde.“8 Und so geschieht es auch – nach ihrer „VerDarüber herrscht allerdings keine volle Übereinstimmung zwischen den Mythographen: In Hesiods Theogonie „freute sich (Gaia) aber sehr im Herzen” als Kronos versprach, Vater Uranos entsprechend Gaias eigenem Plan und Ratschlag zu beseitigen. 7 EE Tafel 1,22-28 (E. Speiser-Übersetzung), ANET, 61. 8 „pháske dè, titaínontas atasthalíĉ méga réxai / érgon, toio d’épeita tísin metópisthen ésesthai.” Hesiod benutzt hier nebeneinander die beiden Wurzeln, von denen Etymologen den Namen „Titanen“ ableiteten. Titaínô = spannen (z.B. einen Bogen), ausspannen, ausstrecken, dehnen; tísis = Entschädigung, Buße, Vergeltung, Rache. Tísis ist uns schon begegnet (siehe oben, Seite 75) in dem Anaximander-Fragment über das Zahlen von Buße „katà tou chrónou táxin / gemäß der Ordnung der Zeit.” Die Titanen verrichteten ihr „großes Werk” durch oder mit atasthalía, und das meint (laut Pape): „freveltat, besonders die aus 6
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mehrung”, als sie das Maß überzogen. Und es mußte zwangsläufig erneut geschehen, als spätere Generationen „verbotene Wege in den Himmel” konstruierten9 oder einen Turm bauten, der sich als zu hoch erwies. Das einzig sichere Maß, das „Goldene Seil” des Sonnenjahres,10 ist irreparabel überdehnt. Die Äquinoktialsonne war Stück für Stück aus ihrem Goldenen-Zeitalter-Zeichen gestoßen worden; sie hatte sich auf den Weg zu neuen Konditionen, neuen Konfigurationen gemacht. Dies ist das entsetzliche Ereignis, das nicht wiedergutzumachende Verbrechen, das den Kindern des Himmels zugeschrieben wurde. Sie hatten die Sonne von ihrem Platz gestoßen, und jetzt war sie in Bewegung; das Universum war demoliert, und nichts – weder Tage, Monate oder Jahre noch das Aufgehen oder Untergehen von Sternen –, nichts würde jemals wieder an seinen rechtmäßigen Platz zurückkehren. Herumstupsend und umherstöbernd hatte sich der Äquinoktialpunkt seinen Weg gebahnt, in derselben Art und Weise, wie ein Auto mit automatischer Gangschaltung sich seinen Weg bahnt, bis wir den Gang herausnehmen – nur gab es keine Möglichkeit, das Äquinoktium zum Stehen zu bringen. Das infernalische Stoßen und Pressen der Himmelskinder hatte 141 die Eltern getrennt; die Zeitmaschine war für immer ins Rollen gebracht worden, und seitdem bringt sie mit jedem neuen Zeitalter „einen neuen Himmel und eine neue Erde” hervor, wie es in der Heiligen Schrift heißt. In den Worten Hesiods war die Welt in ihr zweites Stadium getreten, das der Riesen, die sich mit den Unbesonnenheit oder Übermut hervorgehende.” Lukianos (Astrologie 15) verwendet das Wort, um das Unternehmen des Ikaros zu charakterisieren. 9 Siehe Claudianus 26 (= De Bello Gotico) 69-71, LCL ed. II, 130, wo er über die Aloaden spricht, die den Berg Ossa auf den Berg Olympos türmten. 10 Siehe zum Beispiel RV 5.85.5: „Dieses große Kunststück des berühmten asurischen Varuna will ich fein verkünden, der in der Luft stehend wie mit dem Meßstabe die Erde mit der Sonne abgemessen hat.”
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unterdrückenden Kräften eine entscheidende Schlacht liefern sollten, ehe ihr eigener Sturz fällig sein würde. Die Vision vom Untergang eines ganzen Weltalters wird in der Edda geschildert. Sie erscheint gleich im ersten Gedicht, dem Lied der Seherin (Völuspa), in dem die Prophetin Völva Vergangenheit und Zukunft in einer angemessen reservierten und dunklen Sprache zusammenführt. Zu Beginn des Zeitalters der Asen versammeln sich die Götter, halten Rat und wählen Namen für Sonne und Mond, Tage und Nächte sowie für die Jahreszeiten. Sie ordnen die Jahre und weisen den Sternen ihre Plätze zu. Ihren Sitz errichten sie im „Goldenen Zeitalter” auf dem Idavöllr11 und vergnügen sich beim Brettspiel mit goldenen Figuren; und überall herrscht Glückseligkeit – bis „drei gewaltige Weiber kamen.“12 Aber es hatte zuvor schon einmal, so wird angedeutet, einen „Weltkrieg“ zwischen Asen und Wanen gegeben, bis sich beide auf eine – wie wir heute sagen würden – Koalitionsregierung einigten. In einer Vision, in der Vergangenheit und Zukunft blitzartig verschmelzen, sieht Völva die Folgen und verkündet sie den „Heimdalls Kindern …, den hohen und niederen“, das heißt den Menschen. Sie bittet sie, die Augen zu öffnen, damit sie sehen, was den Göttern bekannt sein mußte; der Bruch des Friedens, die Tötung von Thjassi, dessen Augen Odin als Sterne an den Himmel warf.13 Damit wird für einen kurzen MoIdavöllr (das „Idafeld”) ist der „Wohnsitz der Götter”; ida = Gegenströmung, Sturmwirbel, im Englischen eddy = Wirbel, Strudel. 12 Die drei Weiber von Jötunheimr sind ein weiteres Rätsel. Es handelt sich bei ihnen nicht um die Nornen – soviel kann mit Sicherheit gesagt werden –, sondern wohl eher um Gullweig, die „dreifach Geborene”, die von den Asen getötet wurde, indem sie sie „dreimal verbrannten … doch ist sie am Leben“ (Völuspa 8): ein weiterer „Frevel”, der nach Rache schreit. Jötumn bedeutet übrigens „Riese”, heimr = Welt, Heimat. 13 So Snorri (Bragaroedur 2, Gering 353f = Skaldskap. 1, Neckel und Niedner 117-120). Jm eddischen Harbardslied 19 rühmt sich Thor, 11
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ment der Vorhang gelüftet, der eine Phase der Vergangenheit verdeckt. Denn Thjassi gehört zu jenen Mächten, die den Asen vorangingen. In griechischer Terminologie heißt das, daß die Titanen vor den Göttern kamen. Die Hauptkräfte bei den Wanen beziehungsweise Titanen waren (gemäß Rydbergs sorgfältiger Rekonstruktion) die drei Brüder Thjassi/Wolund, Orwendel/Eigil und Slagfin: der Faber, der Bogenschütze und der Musiker. Das ordnet endlich auch den Bogenschützen Orwendel ein, den Vater von Amlethus. Er ist einer der drei „Söhne von Iwaldi” wie auch ihre Entsprechungen im finnischen Epos „Söhne von Kaleva” sind.14 Und Iwaldi wird, wie Kaleva, kaum erwähnt und niemals beschrieben, zumindest nicht unter dem Namen Iwaldi: Ein flüchtiger Blick wird auf ihn unter seinem anderen Namen, Wate, geworfen. Wie Kaleva, ist auch Iwaldi eine bedeutungsvolle Leere. Aber all dies gehört zur Vergangenheit. Die Vision der Seherin ist auf das herannahende Ende ausgerichtet. Gewiß, Loki ist in der Unterwelt angekettet, seitdem er Balder den Tod gebracht hat; der große Fenrirwolf liegt noch in Fesseln, die aus solch immateriellen Dingen wie dem Lärm eines Katzengangs, den Wurzeln eines Berges, dem Atem eines Fisches und dem Speichel eines Vogels gefertigt sind.15 Thjassi erschlagen und die „Augen von Allwaldis Sohn zum heitern Himmel hinauf“ geworfen zu haben (auch in Griechenland ist Zeus/Jupiter für beinahe alle Katasterismen/Verstirnungen verantwortlich); und er fährt fort: „… von meinen Werken sind sie der Merkzeichen größtes, / noch sehn’s die Söhne der Menschen all.“ Reuter [Himmelskunde (1934), 383] schlägt die Identifizierung mit Castor und Pollux, alpha beta Geminorum, vor; er könnte, trotz seiner unzureichenden Begründung, Recht haben. 14 Seltsamerweise werden die drei Bruder Wolund, Eigil und Slagfin „synir Finnakonungs” genannt, also „Söhne eines finnischen Königs (J. Grimm, DM, 315). 15 Wiederum seltsamerweise mußte diese Art von „Nicht-Substanzen“ – einschließlich der Milch von Mutter Adler und der Tränen eines eben flügge gewordenen Vogels – von dem tibetischen Bogda Gesser Khan
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Doch nun beginnen die Mächte des Abgrunds aufzusteigen, die Welt bricht auseinander. An dieser Stelle tut sich Heimdall hervor. Er ist der Wächter von Asgard, der Führer über die Brücke zwischen Himmel und Erde, der „Weißeste aller Asen”; aber seine Rolle, seine Handlungsfreiheit, ist streng limitiert. Er verfügt über viele Gaben – er kann das Gras wachsen hören, er kann hundert Meilen weit sehen –, aber diese Kräfte scheinen ohne Wirkung zu bleiben. Ihm gehört das Gjallarhorn, das große Kriegshorn der Götter. Er ist der einzige, der es ertönen lassen kann; aber er wird es nur ein einziges Mal blasen, nämlich wenn er die Götter und Helden von Asgard zu ihrem letzten Kampf zusammenruft. Bis hin zu Richard Wagner verweilt nordische Spekulation mit düsterer Genugtuung bei dem Ragnarök, der Götterdämmerung, das die Weit vernichten wird.16 Im Lied der Seherin und ebenso besorgt werden, der auch die Sonne in einer Schlinge fing. 16 Für die Etymologie von ragnarök siehe Richard Cleasby und Gudbrand Vigfusson, An Icelandic-English Dictionary (1962), in dem regin (woraus ragna hergeleitet ist) als „die Götter als Erzeuger und Herrscher des Universums” definiert wird, rök als „Grund, Boden, Ursprung” oder „ein Wunder, Zeichen, etwas Wunderbares“ und ragna rök als „die Geschichte der Götter und der Welt, aber insbesondere in Bezug auf den letzten Akt, das Jüngste Gericht”. Das Wort rökr, eine mögliche Alternative von rök, wird als das „Zwielicht … selten der Morgendämmerung“ beschrieben, und „die mythologische Wortverbindung ragna rökr, die Götterdämmerung, die in der Prosa-Edda (von Snorri) vorkommt und seitdem in heutige Werke übernommen wurde, ist ohne Zweifel eine bloße Verfälschung von rök, einem Wort, das sich von rökr deutlich unterscheidet”. Wenn wir in Betracht ziehen, daß der ganze Krieg zwischen den Pandavas und den Kauravas, wie er im Mahābhārata geschildert wird, in der „Dämmerung” zwischen dem Dvapara- und dem Kali-Yuga stattfindet, so gibt es keinen triftigen Grund, Snorris ragna rökr als „Verfälschung” abzutun. Aber die Experten haben ja auch Snorris Vergleich von Ragnarök und dem Fall von Troja verworfen – als logisches Resultat der Überzeugung, „Poesie“ sei eine
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in Snorris Gylfaginning gibt es folgende Prophezeiung: Wenn der große Hund Garm vor der Gnipa-Höhle bellt und wenn der große Fenrirwolf seine Fesseln sprengt und von der „Flußmündung” herbeieilt,17 seinen Rachen vom Himmel bis zur Erde aufreißend und begleitet von der Midgardschlange, dann wird Heimdall sein Gjallarhorn blasen, dessen Ruf in allen Welten gehört wird: die Schlacht hat begonnen. Aber es steht geschrieben, daß die Mächte der Ordnung kämpfend untergehen werden, um das anfängliche Unrecht wiedergutzumachen, das von den Göttern verübt worden ist. Die Welt wird verloren sein, und mit ihr alles Gute und Böse. Naglfar, das aus den Nägeln der Verstorbenen erbaute Totenschiff, wird durch die dunklen Wasser segeln und die Feinde zum Schlachtfeld bringen. Snorri fährt fort: In diesem Getöse klafft der Himmel auseinander, und von da oben kommen die Muspellssöhne geritten. Surt reitet voran, vor sich und hinter sich Feuer. Sein Schwert ein Wunderwerk, es strahlt heller als die Sonne. Und wenn sie über die Bifröst reiten, so zerbricht sie.18
Art creatio ex nihilo, weswegen es ihnen nicht in den Sinn kommt zu fragen, ob nicht vielleicht die alten Poeten es mit harten Fakten hätten zu tun haben können. Nun sind in der Tat Snorris Vergleiche im Detail nicht ernst zu nehmen; dennoch scheint er, ungeachtet euhemeristischer Tendenzen, wahrgenommen zu haben, daß es sich bei Ilions Fall ebenso wie bei dem Ragnarök um das Ende eines Wehalters handelt – aber eben nicht um das Ende desselben Weltalters. Die Experten nehmen dies leider nicht wahr, obgleich Hesiod die Zeit der Kriege um Troja und Theben unmißverständlich als viertes Weltalter einführt. Vielleicht hätte er diese Periode besser als „Dämmerung” zwischen dem dritten und vierten (seinem „fünften“) ansprechen sollen; aber woher sollte er das Mahābhārata kennen? Viele Momente sprechen dafür, den Fall Trojas als das Ende des Plejadenalters zu verstehen. 17 Lokasenna 41; siehe auch V, Rydberg, Teutonic Mythology (1907), 563. 18 Gylfaginning 51, Neckel und Niedner 111, Gering 349; Edda Snorra I, 195.
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Gemäß Völuspa 52 kommt Surt, „der Schwarze”, von Süden.19 Er tötet Freyr, den Herrn der Mühle, mit dessen eigenem Schwert – Freyr hatte es hergegeben, als er Skirnir um die Riesentochter Gerd werben ließ (Skirnismål 8, 23, 25) – und setzt die Welt in Brand. Soweit ist alles geheimnisvoll, düster und reichlich verworren, wie es sich gehört. Die ebenfalls Vergangenheit und Zukunft umfassenden Verkündigungen der Kassandra, wie sie Lykophron uns anbietet, sind auch nicht durchsichtiger.20 Wir werden auf Surt zurückkommen müssen (siehe Appendix 19). Er scheint der entscheidende Gegner der Asen gewesen zu sein, denn im Vafthrudnismål 17-19 heißt es: „Wie heißt das Feld, / wo sich finden zum Kampfe / die seligen Götter und Surt?”; und 50; „Welche Asen walten des Erbes der Götter, / wenn die Lohe Surts (Surtar logi) verlischt?” Vgl. Sigurdur Nordal, Völuspa (1923/1980), l00f. 20 Für die vielfältigen Interpretationen der Völuspa siehe S. Nordal, Völuspa (1923/1980); Bernhard Kummer, Die Lieder des Codex Regius I, Teil 1: „Die Schau der Seherin” (1961); Åke V. Ström, „Indogermanisches in der Völuspa41 in Numen 14 (1967), 167-208 sowie die ersten fünf Kapitel von Axels Olriks Ragnarök. Die Sagen vom Weltuntergang (1922). Das Verständnis der eddischen Tradition wäre vermutlich viel weiter gediehen – obwohl der Autor mit Astronomie rein gar nichts im Sinn hatte, so wenig wie der ebenfalls höchst zu verehrende Dumézil –, hätten die Zuständigen das Werk von Viktor Rydberg nicht einmütig verworfen und totgeschwiegen. Åke Ohlmarks [Heimdalls Horn und Odins Auge (1937), 206] erklärt es zu einem „ziemlich verfehlten Werk”; an anderer, im Moment unauffindbarer Stelle begründet er dieses Urteil mit „weil er Sinn und System dort gesucht hat, wo es solches nie gegeben hat”, Åke V. Ström (op.cit., 169) meint bedauernd: „Professor Rydberg konnte sich aber bei den damaligen Gelehrten nicht Gehör verschaffen. Der einflußreiche Vertreter der nordischen Philologie Adolf Noreen … schrieb: ‚Rydberg hat in seiner großen Arbeit den chronologischen Zusammenhang in den Mythen hergestellt, den es früher nicht gab, allerwenigst in heidnischer Zeit.’ Danach wurde Rydberg totgeschwiegen.” Von Rydbergs Undersökningar i germa19
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Die Figur des Heimdall aber wirft eine Reihe von konkreten 144 Fragen auf. Er ist als „Sohn von neun Müttern” in Erscheinung getreten. Der Sohn mehrerer Mütter zu sein ist – sogar in der Mythologie – eine rare Auszeichnung; Heimdall teilt sie nur mit dem rigvedischen Agni21 und mit Agnis Sohn Skanda im Mahābhārata. Skanda (wörtlich der „Springende” oder „Hüpfende”) ist der Planet Mars, auch Kartikeya genannt, weil er von den Krittika, den Plejaden, geboren wurde. Das Mahābhārata22 besteht auf der Sechs als Anzahl der Plejaden wie auch der Mütter von Skanda, und es liefert eine sehr breite und abenteuerliche Schilderung von der Geburt und der Amtseinführung von Kartikeya „durch die versammelten Götter … als ihr oberster Befehlshaber“ – was irgendwie verwirrend ist und wieder einmal zeigt, wie wenig man bislang versteht.23 Heimdalls neun Mütter lassen unwillkürlich an die neun Göttinnen denken, welche die Mühle drehen. Der Verdacht ist nicht nisk Mythoiogi (2 Bände, Stockholm 1886–1889) ist nur der erste Band ins Englische übersetzt worden (London 1889, nachgedruckt 1907). 21 RV I.141.2 erwähnt sieben Mütter bei Agnis zweiter Geburt; siehe auch V. Rydberg, Teutonic Mythology (1907), 590. In RV III.56.5 ist er dreier Mütter Kind; in RV III.17.3 sind drei Ushas seine Mütter – aber damit hat es seine eigene Bewandtnis. 22 Mahābhārata IX.44-46 (Roy-Übersetzung, VII, , 130-143). Es muß laut und deutlich hervorgehoben werden, daß in der babylonischen Astronomie der Mars der einzige Repräsentant der Plejaden ist. Siehe P.F. Gössmann, Planetarium Babylonicum (1950), 279: „In der Planetenvertretung kommt für die Plejaden nur Mars in Frage.“ 23 Zumindest läßt sich mit Sicherheit folgendes sagen: Mars wurde während einer mehr oder weniger engen Konjunktion aller Planeten „in sein Amt eingeführt”; in Mbh. IX.45 (133) wird betont, daß die mächtigen Götter, die sich versammelt hatten, „alle Wasser auf Skanda schütteten – so wie die Götter Wasser auf das Haupt Varunas, des Herrn der Wasser, gegossen hatten, um ihn in die Herrschaft einzusetzen.“ Und diese „Amtseinsetzung” Varunas fand zu Beginn des KritaYuga, des Goldenen Zeitalters, statt.
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unbegründet. Zwei dieser „Mütter”, Gjalp und Greip, scheinen unter anderen Namen oder in einer anderen Generation als Fenja und Menja aufzutreten.24 Rydberg macht geltend, Heimdall sei der Sohn von Mundilföri. Demnach ist die Geschichte astronomisch. Aber wo führt sie hin? Zwei Momente sind hier von Bedeutung. Zum einen wird Heimdall auch Hallinskidhi geheißen, was soviel wie „geneigtes Holz” oder „geneigter Pfahl“ bedeutet;25 zum anderen sind sowohl Heimdall als auch Hallinskidhi Für die Namen dieser Mütter siehe Hyndluljod 38: für Gjalp und Greip, Töchter des Riesen Geirröd, siehe Snorris Skaldskaparmål 2 sowie Thorsdrapa, ausführlich diskutiert von Rydberg (op.cit., 932-952), der Greip als die Mutter der „Söhne von Iwaldi” einführt. Rudolf Much behauptet eine Identität von Geirröd mit Surt [„Der germanische Himmelsgott”, in Abhandlungen zur germanischen Philologie (1898), 221]. Das Auftauchen einer Mehrzahl von Müttern im alten Norden und in Indien [siehe auch Julius Pokorny, ,,Ein neun-monatiges Jahr im Keltischen”, OLZ 21 (1918), 130–133J mag die Experten vielleicht dazu verleiten, den Streit um jene absolut unsinnigen sieben oder neun oder sogar vierzehn „Mutterleiber” wieder aufzugreifen, die durch den babylonischen Bericht über die Schöpfung des Menschen geistern. Cf. E. Ebcling, Tod und Leben (1931), 172–177; E.A. Speiser, „Akkadian Myths und Epics”, ANET, 99f; W. von Soden, Or. 26, 309ff. 25 Vgl. Jan de Vries, Altnordisches Etymologisches Wörterbuch (1961), 205; „Der erste Teil ist hallin, ‚geneigt’“ und 491: „… skidh, ‚Scheit, Schneeschuh’”. Aus der mythologischen Gattung geneigter Pfähle oder Bäume sei hier der altindische Opferpfosten erwähnt. Dieser muß „eine gewisse Neigung nach Westen haben“ und auch aus dem Holz eines Baumes angefertigt sein, der „eine gewisse Neigung nach Westen haben sollte”, wie wir von Hermann Lommel erfahren („Baumsymbolik beim altindischen Opfer” in Paideuma VI, 497). Der Bär hingegen, den die kanadischen Munsee-Mohican für ihre große Bären Zeremonie benötigen, muß aufgestöbert werden in einem „elm tree leaning toward the east” [Frank B. Speck und Jesse Moses, The Celestial Bear comes down to Earth (1945), 61]. Der indische Opferpfosten, yūpa, repräsentiert die Weltachse, genauer gesagt: „The yūpa is essentially identical with the skambha described in AV X.7 … being the frame of crea24
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Kenningar für „Widder” – ein Umstand, den Jacob Grimm „bemerkenswert” und Jan de Vries „merkwürdig” fand,26 Jan de Vries unterrichtet uns in seiner Altgermanischen Religionsgeschichte27 von einer „in mancher Hinsicht befriedigenden Lösung” durch H. Pipping: „Er knüpft an die auch bei den germanischen Völkern bekannte Vorstellung der Himmelsaxe … an, die Uno Holmberg eingehend bei den asiatischen Stämmen studiert hat. Diese Axe wird unter der Gestalt eines schräg gestellten Baumes oder Pfahles verehrt; darauf deutet der Name Hallinskidhi, ,vornüberneigender Stab’ … Obgleich diese Erklärung tion”, wie Jan Gonda feststellt [Aspects of Early Vishnuism (1969), 8lf]. Als solcher gehört er entweder zu Vishnu oder ist Vishnu (TS VI.3.3.1; ŚB III.6.41.9: Gonda loc.cit.). Das ist aber noch nicht alles: Von dem einmal aufgestellten Opferpfosten wird gesagt, er sei ein geschleuderter Vajra/Donnerkeil, und, noch allgemeiner: „… das Jahr ist ein Vajra/Donnerkeil und yūpa/Opferpfosten ist ein Vajra” (ŚB III.6.4.19. +23f: J. Gonda, Prajāpati and the Year, 56, 70). Besagter DonnerkeilSanskrit vajra (griechisch: keraunós) hat schlechterdings nichts mit Blitz und Donner zu schaffen, sondern ist sozusagen ein Instrument zur Regulierung des Kalenders. Der von Zeus’ oder Indras oder Vishnus Keil getroffene Topos ist der Punkt Null, von dem aus die himmlischen Bewegungen von Stund an gezählt werden; siehe Hertha von Dechend, „Bemerkungen zum Donnerkeil” in Prismata. Festschrift Willy Hartner (1977). Ein Opferpfosten repräsentiert also nicht schlechthin „den” Skamhha, sondern das während einer bestimmten Ära gültige Kolurengerüst. 26 J. Grimm, DM, 194; J. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte (1935), II, § 248, S. 297. Vgl. Rydberg, op.cit, 593: „In der altnordischen Dichtung sind Vedr (Hammel, Widder), Heimdall und das HeimdallEpitheton Hallinskidhi synonym.” Cleasby-Vigfusson verzeichnen: „Hallinskidhi, poet., a ram”; siehe auch de Vries, Wb., 205 und Ohlmarks, op.cit., 146. 27 II, § 249, S. 297. Siehe auch Altnordisches Wörterbuch, 205: „Heimdall als Gott der Himmelsaxe, der als schräggestellter Stab dargestellt wurde?”
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nur den Wert einer geistvollen Hypothese beanspruchen darf …“ Diese „geistvolle Hypothese” hat viel für sich – zumal dann, wenn man zu „Widder” nicht beharrlich Opfertiere und Fruchtbarkeitsriten assoziiert,28 sondern Aries. Heimdall der Widder, Wächter der stark frequentierten Brücke der Götter, die in der Götterdämmerung zusammenbricht,29 steht für die Weltachse, den Skambha. Er selbst erscheint als Kopf30 oder aber sein Kopf scheint der „Maßgeber” zu sein (vgl. Appendix 20), verantwortlich für eben jene Maße, welche die Seherin vorgibt zu verstehen: „… weiß Wie etwa Wilhelm Grönbech, Kultur und Religion der Germanen (1909-1912), II, 257, 325. 29 Es sollte angemerkt werden, daß Snorris Gleichsetzung (Gylf. 13) der Brücke Bifröst (= „schwankender Weg”) mit dem Regenbogen einige Gelehrte auf Trab brachte, um ein definitiv regelmäßiges Phänomen vor der unsicheren Existenz zu retten, die nun einmal meteorologischen Erscheinungen wie dem Regenbogen zukommt; anstelle dessen plädierten sie für die Milchstraße. Damit können wir uns nicht einverstanden erklären. Siehe Å. Ohlmarks: „Stellt die mythische Bifröst den Regenbogen oder die Milchstraße dar?” in Medd Lunds Astronom. Observ. (1941), Ser. 77, Nr. 110 sowie O.S. Reuter, Germanische Himmelskunde (1934), 282 (mit ergänzender Literatur). Siehe auch O.S. Reuter, Rätsel der Edda I (1922), 33f; sein Vergleich mit der persischen CinvatBrücke überzeugt nicht. 30 Zu „mjotudhr Heimdallar” siehe Appendix 20. Für Aries als „Kopf des Tierkreises siehe Arat-Scholien zu Vers 545 [Ernst Maass, op.cit (1898), 446: „Kriòn kephalên einaí phasin”, wie die Ägypter sagen, womit die ägyptischen Astrologen Nechepso und Petosiris gemeint sind; siehe Appendix 21]; August Engelrecht, Hephaistion (1887), 47, 8: „Kephalên tou Kósmon”; vgl. F. Boll, Offenbarung Joh. (1914), 44, A,3; Viktor Stegemann, Astrologie und Universalgeschichte (1930), 57. Zahlreiche astromedizinische Illustrationen (sog. „Aderlaß-Männchen”) zeigen den Widder als Herrscher des Kopfes (die Fische regieren die Füße). Nonnos hingegen (Dionysiaca 38.268) bezeichnet Aries als „kéntron hólou kosmoio, mesómphalon ástron Olympou”, das Zentrum des ganzen Kosmos, das Mitt-Nabelgestirn des Olympos. 28
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neun Welten, weiß neun Wurzeln, den herrlichen Maßbaum (mjotvidhr) unter der Erde.”31 Er mißt (und bewacht) den Schnittpunkt von Ekliptik und Äquator am Frühlingsäquinoktium in Aries. Entsprechend kann man vielleicht sagen, die Seherin wende sieh an „die hohen und niederen Kinder des Widders”. Sich den rigvedischen Agni in Erinnerung rufend sowie das, was über „Feuer“ gesagt worden ist – und Agni ist „Feuer” (lateinisch: ignis) –, nämlich daß damit ein großer Kreis gemeint ist, der die Himmelspole miteinander verbindet, wird das Schema verständlicher: Heimdall steht für den Äquinoktialkolur, der auf der Kugeloberfläche die Weltachse „begleitet”; abstrakt und unsichtbar sind sie beide: Achse und Koluren.32 Es wird sich bald mjot, n.pl. = Maß, Für den mjotvidhr, den Maßbaum, und mjotudhr sowie die Verbindung mit Sanskrit matar, lateinisch meter, mensor etc. siehe Grimm, DM, 18f; Reuter, 236; siehe auch Nordal, 29; Kummer, 110; Ohlmarks, 316. De Vries, Altnordisches Wörterbuch, 391: „mjotudhr, Schicksalsbeherrscher … ae. metod ,Schicksal, Gott’, ae. metod ‚Messer, Ordner, Schicksal’.“ 32 Bei Geminos (1. Jahrhundert v. Chr.) klingt das zwar anders, aber man versteht doch, wie er es meint. Er sagt [V, 49f; Manitius (1898), 61]: „Durch die Pole gehen die Kolurkreise (kóluroi), wie sie von einigen genannt werden. Sie besitzen die Eigenschaft, auf ihren Peripherien die Weltpole liegen zu haben. Kolure (d.h. verstümmelt) heißen sie, weil bestimmte Teile von ihnen unsichtbar (atheôrêta) sind. Während nämlich die übrigen Kreise bei der Umdrehung des Weltalls in ihrer ganzen Ausdehnung sichtbar werden (hóloi theôrountai), bleiben von den Kolurkreisen bestimmte Kreise, welche von dem antarktischen Kreise (antarktikou) unter dem Horizonte abgeschnitten werden, unsichtbar. Diese Kreise gehen durch die Wendepunkte und die Nachtgleichenpunkte und teilen die Ekliptik in vier gleiche Teile.” Macrobius (Somnium Scipions I.15,14) meint, sie heißen Koluren, weil sie keine vollständigen Kreise machen, und denkt, sie reichten nicht bis zum Südpol („colun quibus nomen dedit imperfecta conversio … sed at australem verticem non pervenire creduntur“). 31
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herausstellen, daß mit „Achse” immer das gesamte „Gerüst” gemeint ist, das durch die Achse und die Koluren gegeben ist. Jedes Weltalter hat sein eigenes „Gerüst”. Demnach würde man Skambha am besten mit „Kolurengerüst” wiedergeben.33 Zu einem weiteren Namen von Heimdall, Vindler, bemerkt Rydberg: „Der Name ist eine Unterform von vindill und stammt von vinda, schrauben oder drehen, irgendetwas schnell herumdrehen. Weil das Epitheton ,der Dreher’ jenem Gott verliehen wird, der den Menschen das Reibungsfeuer (Bohr-Feuer) brachte und der selbst die Personifikation dieses Feuers ist, muß er also synonym mit dem ,Bohrer’ sein.”34 Im zweiten Satz ist der mit Heimdall Kólouros bedeutet „stutzschwänzig“, von koloúô = verstümmeln, abschneiden und hê ourá – der Schwanz oder Schweif (nautisch: das Heck, militärisch: die Nachhut); dieses Wort steckt auch in dem nach wie vor rätselhaften griechischen Namen von Ursa Minor: Kynósoura = Hundeschwanz. Der Äquinoktialkolur verläuft durch die Äquinoktialpunkte und die beiden Pole; der Solstitialkolur durch die Wendepunkte, die beiden Pole und die beiden Ekliptikpole. 33 Å. v. Ström [Germanische und Baltische Religion (1975), 159f] macht auf zwei Arbeiten von Dumézil aufmerksam; da aber Dumézil im Literaturverzeichnis zur Gänze fehlt, läßt sich das nicht so schnell verifizieren. In der ersten (1952) soll Dumézil Heimdall mit dem römischen Ianus und dem altindischen Vayu verglichen haben. In der zweiten (1959 a, 263-283) soll laut Ström stehen: „Statt als einen Gott des Anfangs will er jetzt Heimdall als einen ‚Rahmengott’ (dieu cadre) interpretieren, der die Entwicklung nicht nur einleitet, sondern auch abschließt, wie der altindische Dyauh, ,der Himmel’, und sein irdischer Repräsentant Bishma im Mahâbhârata … Heimdall ist z.B. der letzte Lebendige in der Ragnarök (Gylf. 51) und auch ‚le plus céleste des dieux scandinaves’.“ 34 V. Rydberg, Teutonic Mythology (1907), 595, Vgl. Cleasby-Vigfusson [An Icelandic-English Dictionary (1962), 707] zu vinda: „to wind … wring, twist … – reflex. to turn around … to make a quick movement, turn quickly.” Ohlmarks [Heimdalls Horn (1937), 142] bemerkt zu dem
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identifizierte Agni gemeint; „Reibungsfeuer” und „Bohrer” sind unpräzise, weil die Apparatur unberücksichtigt bleibt: Es handelt sich um den Feuerdrill und den Drillstab. Die Prophezeiung der Seherin endet nicht mit Katastrophen, sondern wechselt vom tragischen in den lyrischen Modus, um von dem Heraufdämmern eines neuen Zeitalters zu singen: Aufsteigen seh’ ich zum zweiten Male aus Fluten die Erde, die neu sich begrünt … Unbesät werden hochwachsen die Äcker, es heilt alles Unheil. Selbst wenn diese Generation von Göttern verschwunden ist, bleiben die jüngeren übrig: Balder und Höd, auch die beiden Söhne von Thor sowie Widar, der Sohn Odins. Das Haus der weisen Wanen ist nicht als Ganzes in Mitleidenschaft gezogen, auch wenn Freyr im Kampf gefallen ist. Da die Wanen zu einem vergangenen Zeitalter gehören, bleiben sie anscheinend von der Krise verschont. Der ganzen Tragödie haftet in der Tat eine gewisse wunderlich beklemmende oder neurotische Unwirklichkeit an. Die Fesseln des Wolfs waren aus nichts gemacht, aber er 148 konnte sich nur aus ihnen befreien, als die Zeit dafür reif war: als er Odin und die Sonne verschlingen mußte. „Aber sogleich”, erfahren wir von Snorri (Gylf. 51), „erscheint Widar und tritt mit einem Fuß in den Unterkiefer des Wolfs; an diesem Fuß hatte er einen Schuh, zu dem von jeher gesammelt worden ist35 … Mit Namen: „Bis auf weiteres kann keine Etymologie mit Sicherheit vorgelegt werden … Der Name muß mit dem Wind zu tun haben.” 35 So Neckel und Niedner (112); bei Gering heißt es: „… er besitzt nämlich den Schuh.” Die lateinische Übersetzung in der Edda Snorra I, 19.1, sagt: „Sed extemplo post Vidar progressus, altero pede insistit inferiori rostro lupi; eo pede calceum gestat …“ Die Frage ist, hatte Widar defi-
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der einen Hand greift Widar den Oberkiefer des Wolfs und reißt so seinen Schlund auf, wodurch der Wolf verendet.” Mehr als tatsächliche Gewalt sind es Schuld und sich daraus ergebendes Chaos, welche das Establishment stürzen, sobald der festgesetzte Zeitpunkt gekommen ist – wie vom Schicksal angeordnet und vom Gjallarhorn signalisiert.36 Was danach geschieht (oder geschah beziehungsweise einmal geschehen wird, denn der Mythos ist im Futur geschrieben), wird zwar in der Völuspa erzählt, aber breiter ausgeführt wird es in Snorris Gylfaginning (53), der Geschichte eines seltsamen Gesprächs zwischen König Gylfi und den Asen selbst, die als Menschen verkleidet sind und ihre wahre Identität nicht zu erkennen geben, aber bereit sind, Fragen zu beantworten: „Was geschieht danach, wenn die ganze Welt verbrannt ist, alle Götter tot und alles Menschenvolk? Ihr habt doch früher gesagt, jeder Mensch solle in einer der Welten ewig leben.” So ist es, lautet die Antwort, es gebe mehrere Welten für die Guten und die Schlechten (siehe Appendix 18). Darauf fragt Gylfi: „Leben denn noch irgendwelche Götter? Und gibt es noch etwas von Erde oder Himmel?” Und die Antwort ist: „Die Erde steigt aus dem Meere empor und ist grün und schön; auf den Feldern wächst es ohne Aussaat. Widar und Wali sind am Leben, da weder die See noch Surts Lohe ihnen etwas angehabt hat, und sie wohnen auf dem Idafelde, wo früher Asgard stand. Dahin kommen dann auch Thors Söhne, Modi und Magni, und bringen den Mjölnir37 mit. Dann kommen dorthin auch Balder und Höd aus der Hel. Alle setzen sich zusammen und unterhalten sich, erinnern nitiv nur einen Schuh, d.h.: gehörte er, wie der Argonautenführer Jason, zu den „Ein-Schuhern“? Vgl. zu diesem Thema L. Vajda, Der Monosandalos-Formenkreis. Baessler Archiv, N.F 37 (1989), 131-170, Claudius Müller, Das Monosandalos-Motiv in Ostasien, NA, NF 37 (1989), 171-200. 36 A. Olrik [Ragnarök (1922), 117ff] vergleicht die Funktion mehrerer alt- und neutestamentlicher Posaunen. Siehe aber Appendix 22. 37 Mjölnir ist der Name für Thors Hammer.
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sich an ihre Runen und sprechen über die Ereignisse in alten Tagen, von der Midgardschlange und dem Fenriswolf. Sie finden im Gras die goldenen Tafeln, welche die Asen einst benutzten. Und dort verstecken sich beim Rasen vor Surts Lohe zwei Menschenkinder, Lif und Lifthrasur, und nähren sich vom Morgentau, und von diesem Menschenpaar stammt eine so große Nachkommenschaft, daß die ganze Welt bevölkert wird. Das aber wird dich wundern, daß die Sonne, bevor sie von dem Fenriswolf verschlungen wurde, eine Tochter geboren hat, die nicht weniger schön ist als sie selbst und den Weg ihrer Mutter geht.”
Mit einem Mal war ein lautes Krachen von allen Seiten zu hören, und als der König wieder aufschaute, fand er sich auf flachem Felde wieder; und die große Halle war verschwunden. So lautet das bittere Ende von „Gylfis Betörung”. Die Zeiten und Zeitformen werden absichtlich durcheinandergeworfen; aber die Verlautbarungen sind angefüllt mit alten Bedeutungen. Die Wiederentdeckung der im Gras herumliegenden Spielsteine, von der bereits die Völuspa (8) berichtet, wird klarer, wenn man sich den Rigveda vor Augen hält, in dem von den Göttern gesagt wird, daß sie wie ayas herumgehen, das heißt: wie die „Würfe (im Spiele)”.38 Sie wird noch verständlicher, wenn man bedenkt, daß die Bezeichnung für die indischen Weltalter dem Idiom für würfeln entlehnt wurde.39 Aber beide Angaben könnten als unergiebig abgetan werden, wenn man vergäße, daß bei manchen Arten von „Proto-Schach” – um einen Ausdruck von Joseph Needham zu benutzen – Brettspiele mit Würfeln kombiniert wurden: die Anzahl der gewürfelten Augen
RV 10.116.9; in 10.34.8 werden die Würfel vrata genannt, das heißt; eine organisierte „Gang” unter der Führung eines Königs; der König ist Rudra. 39 Krita, Trete, Dvapara, Kali – wobei letzterer der schlechteste Wurf ist (bei den Griechen „Hund”). Siehe Heinrich Lüders, Das Würfelspiel im Alten Indien (1907), 41, 63f. 38
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bestimmte die Figur, die als nächste zu bewegen war.40 Daß genau diese Regel auch für Tafl galt, dem in der Völuspa erwähnten Brettspiel, ist von J.G. van Hamel gezeigt worden.41 Auf diese Weise zwang also der Würfelwurf den Schachspieler zum Handeln – ein Spiel, das von den Indern „Planetenkämpfe” genannt wurde und noch im Europa des 16. Jahrhunderts als „Himmelskrieg oder Astrologenspiel”42 bezeichnet wurde, während das chinesische Schachbrett die Milchstraße als Trennlinie zwischen den beiden Parteien zeigt. Was heißt, daß die Isländer wußten, wovon sie sprachen. Zu guter Letzt kommt aus derselben Richtung eine bemerkenswerte und beunruhigende Übereinstimmung. Es ist bekannt, daß in der letzten Schlacht der Götter die Legionen auf der Seite der „Ordnung” aus jenen toten Kriegern bestehen, den „Einheriern“ die einst auf der Erde im Kampf gefallen und von den Walküren nach Walhalla geleitet worden waren, um dort mit Odin zu residieren. Am letzten Tag stürmen sie heraus zur Schlacht. Im Grimnismål (23) heißt es: „Fünfhundert Türen und viermal zehn / Wähn ich in Walhall. / Achthundert Einherier gehn aus je einer, / Wenn es dem Wolf zu wehren gilt.”43 Das macht zusammen 432.000, eine seit alters bedeutsame Zahl, denn sie deckt sich mit der Anzahl der Silben im Rigveda. Sie geht allerdings zurück auf die Grundzahl 10.800, die Anzahl der Strophen des Rigveda, die, zusammen mit der Zahl 108, ständig in der indischen Überlieferung auftaucht. 10.800 ist auch H. Lüders, Würfelspiel (1907), 69; siehe auch Stewart Culin, Chess and Playing Cards (1898), 857. 41 J.G. van Hamel, „The Game of the Gods”, Arkiv für Nordisk Filologi 50 (1934), 230. 42 Anna Bernhardi, „Vier Könige”, BA 19 (1936), 171f. Siehe Needham, IV, Teil 1, 325, zu einem Buch über Schach, das 1571 unter dem Titel Uranomachia seu Astrologorum Ludus herausgegeben wurde. 43 Für eine gründliche Diskussion siehe O.S. Reuter, Himmelskunde (1934), 552-571. 40
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jene Zahl, welche laut Censorinus (De die natali XVIII.11) von 150 Heraklit für die Zeitdauer eines Großen Jahres angegeben wird. Außerdem ist 10.800 die Anzahl der Ziegelsteine des indischen Feueraltars (Agnicayana).44 „Diese Übereinstimmung irgendwie wegdisputieren oder für Zufall erklären zu wollen”, bemerkt Franz Schröder, „heißt meines Erachtens, unfruchtbaren Skeptizismus auf die Spitze treiben.”45 Sollte man Angkor der Liste hinzufügen? Es hat fünf Tore, zu denen jeweils eine Straße führt, die jenen Wassergraben überbrückt, welcher den ganzen Ort umgibt. Jede dieser Straßen wird von einer Reihe gewaltiger Steinfiguren gesäumt: 108 pro Zugang, 54 auf jeder Seite, insgesamt 540 Statuen von Deva und Asura. Und jede Reihe trägt eine riesige Naga-Schlange mit neun Köpfen. Nur daß sie diese Schlange nicht „tragen”, sondern daß dargestellt ist, wie sie die Schlange „ziehen” – was anzeigt daß diese 540 Statuen das Milchmeer buttern (wobei der eher kümmerliche Wassergraben das Milchmeer repräsentiert45), indem sie den Berg Mandara als Drillstab und Vasuki, den Prinzen der Nagas, als Drillseil benutzen. (Nur um Mißverständnissen vorzubeugen; Vasuki war vorher gefragt worden und hatte bereitwillig zugestimmt, und dasselbe gilt für Vishnus SchildkrötenAvatara, der als feste Grundlage für dieses „unvergleichlich mächtige Buttern” dienen sollte; und sogar das Milchmeer selbst hatte sein Einverständnis gegeben, sich buttern zu lassen.) Das ganze Angkor erweist sich folglich als ein kolossales Modell für „alternative Bewegung”, ein mit echt hinduistischer Phantasie gestaltetes Gegenmodell zu der Idee von der kontinuierlichen Siehe Jean Filliozat, „L’Inde et les échanges scientifiques dans l’antiquité”, Cahiers d’histoire mondiale 1 (1953), 358f. 45 F.R. Schröder, Altgermanische Kulturprobleme (1929), 80f. 45 Robert von Heine-Geldern, „Weltbild und Bauform in Südostasien”, in Wiener Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte 4 (1930), 41 f. Für Abbildungen siehe Martin Hürlimann, Ceylon und Indochina (1929): Orbis Terrarum, 200f, 226. 44
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Einbahn-Präzession von Westen nach Osten (Abbildung 12). Nun gibt es allerdings einen letzten Absatz in der Gylfaginning, der üblicherweise als Nachwort betrachtet wird. Über seinen Autor bestehen Zweifel, denn es wird angenommen, daß Snorris Edda von Olaf Hvitaskald (gestorben 1259), Snorris Neffen, vollendet wurde. Wie dem auch sei: Diese Ergänzung fällt zwar etwas aus dem bisherigen Kontext, aber sie bekräftigt ihn auch: Die Asen aber nahmen Platz zu einer Besprechung, beratschlagten, erinnerten sich der Geschichten, die ihnen erzählt worden waren, und gaben dieselben Namen, die dann vorkamen, den Personen und Stätten dort bei ihnen, damit, wenn die Zeit verginge, die Leute nicht daran irre würden, daß es dieselben Asen wären, jene, von denen erzählt war, und diese, die nun dieselben Namen erhielten. Da wurde zum Beispiel der Name Thor verliehen, und das ist eben der alte Asen-Thor. Er ist Oeku-Thor (Wagen-Thor), und ihm werden die großen Taten zugeschrieben, die Hektor in Troja begangen hat.47
Was die Wiedergeburt der Welt angeht, so fällt einem eine andere „Götterdämmerung” ein. Sie findet sich im Kumulipo, einem polynesischen kosmogonischen Mythos aus Hawaii, zu dem Roland B. Dixon feststellt: „Obwohl wir den Ursprung aller Dinge im Chaos haben, so handelt es sich doch um ein Chaos, das nur das Wrack und die Ruine einer früheren Welt ist.“48 Dixon berief sich auf die hier folgende Übersetzung von Adolf Bastian: Hin dreht der Zeitumschwung zum Ausgebrannten der Welt, Zurück der Zeitumschwung nach aufwärts wieder. Noch sonnenlos die Zeit verhüllten Lichtes, Und schwankend nur im matten Mondgeschimmer Aus Makalii’s mächt’gem Wolkenschleier Der letzte Satz findet sich nur bei Anderson (150); er fehlt bei Neckel und Niedner; Gering läßt das ganze „Nachwort” weg. 48 R.B. Dixon, Oceanic Mythology (1910), 70. 47
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Durchzittert schattenhaft das Grundbild künftiger Welt.49 Auf diese Weise sang vor langer Zeit ein ozeanischer Empedokles. Das Gedicht war nach einer sehr alten königlichen Überlieferung entworfen – so wie auch Vergil das seinige nach der Geschichte des Gens Julia schuf –, denn es wurde angenommen, daß die wirkliche Abstammungslinie hawaiischer Könige auf Kane (in anderen Inselgruppen Tane) zurückgeht, den Deus Faber des Pazifik. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯
Adolf Bastian, Die heilige Sage der Polynesier (1881), 69-121. Wir haben uns auf die deutsche Übersetzung von Bastian verlassen, der eine hervorragende Autorität in polynesischer Kultur und Sprache war. Heutige Experten gehen ihre eigenen Wege. Martha Warren Beckwith [Hawaiian Mythology (1940), 58] übersetzt die letzten drei Zeilen wie folgt; „Zu der Zeit, da die Erde heiß wurde / Zu der Zeit, da sich das Firmament herumdrehte / Zu der Zeit, da sich die Erde verdunkelte / Um den Mond scheinen zu lassen / Zur Zeit des Aufgangs der Plejaden.” Für die Diskussion weiterer Übersetzungen und Deutungen dieser Stelle siehe Martha Warren Beckwith, The Kumulipo (1972), 42-49. Was Makalii (Maori; Matariki; mikronesische und melanesische Dialekte buchstabieren das Wort Makarika und dergleichen) betrifft, so handelt es sich um den Namen der Plejaden, obgleich wir viel häufiger auf die Wortverbindung „das Netz von Makalii” stoßen (in korrekter Form: Huihui-o-Matariki, das heißt: das Büschel von Matariki). Die „Person” Makalii, der dieses Netz – wie auch ein zweites, das wir aus gutem Grund für die Hyaden halten – gehört, bleibt im dunkeln. Siehe Edward Tregear, The Maori-Polynesian Comparative Dictionary (1891) s.v. Matariki; Nathaniel B. Emerson, Unwritten Literature of Hawaii (1909), 17; Maud W. Makemson, The Morning Star Rises: An Account of Polynesian Astronomy (1941), Nr. 327, 380; Beckwith (op. cit.), 368; Kenneth P. Emory, Tuamotuan Religious Structures and Ceremonies (1947), 61. Für die Hyaden und Plejaden als „himmlische Fangnetze” in der chinesischen Sphäre siehe G. Schiegel, L’Uranographie Chinoise (1875/1967), 365-370. 49
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Warum schrieb er des Knaben Werk und Weise Als des Verlobten Gottes vor, bestimmt Zu großen Dingen, wenn ich hier, verraten, Blind und gefangen … enden muß? … O Nacht, Nacht, Nacht, im vollen Mittagsglanz, Unrettbare, vollständ’ge Finsternis Ohn’ alle Tageshoffnung! O erstgeschaffener Strahl, du großes Wort: „Es werde Licht, und Licht ward über allem“, Warum entbehre ich dein erst Gebot? MILTON
Die biblische Geschichte von Samson nimmt sich aus wie ein Gespinst aus Absurditäten. Lange müssen sich die Sonntagsschüler ihren Kopf über die Waffe zerbrochen haben, mit der er die Philister tötet. Aber es gibt noch mehr, über das man verdutzt sein kann (Buch der Richter XV): 15. Und er fand einen frischen Eselskinnbacken. Da streckte er seine Hand aus und nahm ihn und erschlug damit tausend Mann. 16. Und Simson sprach: Mit eines Esels Kinnbacken habe ich sie geschunden; mit eines Esels Kinnbacken habe ich tausend Mann erschlagen. 17. Und als er das gesagt hatte, warf er den Kinnbacken aus seiner Hand, und man nannte die Stätte Ramath-Lehi (das heißt: Kinnbackenhöhe).
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18. Als ihn aber sehr dürstete, rief er den HERRN an und sprach: Du hast solch großes Heil gegeben durch die Hand deines Knechts; nun aber muß ich vor Durst sterben und in die Hände der Unbeschnittenen fallen, 19. Da spaltete Gott die Höhlung im Kinnbacken, daß Wasser herausfloß. Und als er trank, kehrte sein Geist zurück, und er lebte wieder auf. Darum heißt der Ort „Quell des Rufenden”; die ist in Lehi bis auf den heutigen Tag. 20. Und er richtete Israel zu den Zeiten der Philister zwanzig Jahre.1
In der Revised Standard Version wurde die Passage von anstö- 153 ßigen Stellen bereinigt, um sie plausibler zu machen; dennoch ist Vers 18 eine unübersehbare Erinnerung daran, daß es kein gewöhnlicher Knochen war, denn jener Kinnbacken befindet sich im Himmel. Die Babylonier bezeichneten mit ihm die Hyaden, die im Sternbild des Taurus den „Kinnbacken des Stiers” darstellten.2 Wenn wir den klassischen Beinamen „die regnerischen Hyaden” in Erinnerung haben, so deshalb, weil Hyaden „wässrig” bedeutete. Im babylonischen Schöpfungsepos, das Samson vorwegnimmt, verwendet Marduk die Hyaden als eine dem Bumerang ähnliche Waffe, um die Brut der Himmelsungeheuer zu vernichten. Die ganze Geschichte spielt sich nur unter Göttern ab. Es ist außerdem bekannt, daß Indras mächtige Waffe Vajra – der Donnerkeil, der aus dem pferdeköpfigen Dadhyank gemacht worden war – nicht von dieser Welt war (Appendix 23). In Südamerika, wo Stiere noch unbekannt waren, sprachen die Arawaks, die Tupi und die Quechua von Ecuador vom „Kieferknochen des Tapirs”,3 der mit dem großen Gott Hunrakan (woHier wie im folgenden wird aus der 1964 vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland genehmigten Fassung des im selben Jahr revidierten Texts der Luther-Bibel zitiert. 2 Der babylonische Name ist gisDA; siehe P.F. Gössmann, Planetarium Babylonicum (1950), 96. 3 Robert Lehmann-Nitsche, Das Sternbild des Kinnbackens (1936), 8; er konstatiert einen „Orion gnatophoros/Kinnbacken träger“ [siehe auch 1
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von Hurrikan) in Verbindung gebracht wurde. An unserem Firmament lautet der Name des himmlischen Samson Orion, der mächtige Jäger alias Nimrod. Als solcher wird er sogar in China angesehen, wo er als „Kriegsherr Tsan”4 auftritt, unter dessen Regentschaft die großen Herbstjagden stattfanden. Die Hyaden fungierten als Handnetz für Hasen und anderes Kleinwild, die Plejaden als Standnetz für Großwild.5 In Kambodscha wurde Orion zu einer Tigerfalle,6 bei den Dajak auf Borneo zur „Falle für Schweine und wilde Tiere”; die Hyaden bezeichneten die Dajak mit „Rahang/Kinnbacken”.7 Und in Polynesien, das ohne Großwild auskommen muß, findet sich Orion in Gestalt einer großen Vogelfalle wieder,8 mittels derer Maui, der Kulturheros und Trickster die Sonne fing. Als ihm dies geglückt war, verprügelte er sie. Und womit? Mit dem Kieferknochen von Muri Ranga Whenua, seiner eigenen hochgeschätzten Großmutter. Wenn man Samson wieder auf die Erde zurückholt, wird er zu einem grotesken Charakter, oder vielmehr: zu einer Person, die überhaupt keinen Charakter hat – mit Ausnahme seiner manischen Gewalttätigkeit und seinen Leidenschaftsausbrüchen. Nachdem man sein chaotisches und launenhaftes Leben kennengelernt hat, überfällt es einen wie ein Schock, wenn man liest; „Und er richtete Israel über zwanzig Jahre.” Denn wenn irgend jemand jeglicher Urteilskraft beraubt war, so war es dieser Berserker. Wie Frazer bemerkt, hat man seine Zweifel, ob er der
R. Lehmann-Nitsche in Res. Mus. de la Plata 26 (1921), 17-69J; für Peru siehe A. Bastian, Die Culturländer des Alten Amerika I (1878), 603. 4 G. Schlegel, Uranographie Chinoise (1875), 333f: „Tsan, Dux, grand chef militaire”. 5 G. Schlegel, op.cit., 366-368. 6 A. Bastian. Zschr. Ges.f. Erdkunde / (1866), 40f. 7 Alfred Maass, Tijdschr, 64 (1924/25), 403 mit Anm. 36 und 37. 8 Maude Makemson, The Morning Star Rises (1941), Nrs. 650, 655, 692, 693; Elsdon Best, Astronomical Knowledge (1922), 38.
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Richterbank zur besonderen Zierde gereichte.9 Dennoch haftet dieser Person eine mysteriöse Wichtigkeit an. Eine Reihe klassischer „Märchen-Motive” sind mit ihm verbunden, etwa das von der „Außenseele“ und deren Verrat durch eine Frau.10 Samson ist eine ungereimte Montage nichtmenschlicher Funktionen, die nicht länger auf verständliche Weise in Einklang gebracht werden konnten. Selbst das an die Taten des jungen Herakles gemahnende Zerreißen eines Löwen schaltet blitzartig zur Erzeugung von Bienen aus einem Kadaver – ein „Motiv”, das wir aus dem vierten Buch von Vergils Georgica kennen; dort allerdings handelt es sich um den Kadaver eines Stiers. Unter den vielen unsinnigen Taten gibt es einige, die aus dem Rahmen fallen. Samson war verstimmt (Buch der Richter XIVXV), weil die Frau seines Herzens, eine Philisterin, den Söhnen ihres Volkes die Lösung seines Rätsels über den Löwen verraten hatte – „Speise ging aus vom Fresser / und Süßigkeit vom Starken” –, so daß er für seine letzte Wette einen Pfand zu zahlen hatte. XIV.19. Und der Geist des HERRN geriet über ihn, und er ging hinab nach Askalon und erschlug dreißig Mann unter ihnen und nahm ihre Gewänder und gab Feierkleider denen, die das Rätsel erraten hatten. Und sein Zorn entbrannte, und er ging hinauf in seines Vaters Haus. 20. Aber Simsons Frau wurde seinem Gesellen gegeben, der sein Brautführer gewesen war. XV. I. Es begab sich aber nach einigen Tagen, um die Weizenernte, daß Simson seine Frau besuchte mit einem Ziegenböcklein. Und als er dachte: Ich will zu meiner Frau in die Kammer gehen, da wollte ihn ihr Vater nicht hinein lassen 2. und sprach: Ich meinte, du bist ihrer ganz überdrüssig geworden, und ich habe sie deinem Gesellen gegeben. Sie hat aber eine jüngere Schwester, die ist schöner als sie; die nimm statt ihrer. 9 10
J.G. Frazer, Folklore of the Old Testament II (1911), 480. J.G. Frazer, op.cit, 483-502.
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3. Da sprach Simson zu ihnen: Diesmal bin ich frei von Schuld, wenn ich den Philistern Böses tue. 4. Und Simson ging hin und fing dreihundert Füchse, nahm Fackeln und kehrte je einen Schwanz zum andern und tat eine Fackel je zwischen zwei Schwänze 5. und zündete die Fackeln an und ließ die Füchse in das Korn der Philister laufen und zündete so die Garben samt dem stehenden Korn an und Weinberge und Ölbäume. 6. Da sprachen die Philister: Wer hat das getan? Da sagte man: Simson, der Schwiegersohn des Timniters, weil er ihm seine Frau genommen und seinem Gesellen gegeben hat. Da zogen die Philister hin und verbrannten sie samt ihrer Familie mit Feuer. 7. Simson aber sprach zu ihnen: Wenn ihr das tut, so will ich nicht ruhen, bis ich mich an euch gerächt habe. 8. Und er schlug sie zusammen mit mächtigen Schlägen und zog hinab und wohnte in der Felsenkluft von Etam. 155
Wir lassen den großen Simson in seiner Felsenkluft sitzen – ein kurzes Intermezzo, bevor er sich wieder auf seine eigene unberechenbare, unbesonnene und griesgrämige Weise daran macht, seine Feinde zu provozieren – und nutzen die Zeit zur Reflexion. Dreihundert Füchse zu fangen, sie einzupferchen und paarweise an den Schwänzen festzubinden, nur um einen Groll abzureagieren – das sieht mehr nach dem Tagtraum eines jugendlichen Delinquenten oder eines Paul Bunyan beziehungsweise „Starken Hans“ aus denn nach der Heldentat eines Kriegers. Es ist, als ob sich die Heilige Schrift daran erinnert hätte, daß er ja eigentlich als großer Jäger dastehen muß, aber seine Jagdchance verpaßt hat. Schließlich sind Löwen nicht hinter jeder Gartenhecke anzutreffen, wohingegen das bei Füchsen schon eher der Fall sein kann – und sei es nur als Plagegeisten. Wir wissen allerdings von Ovid, daß während des Ceres-Festes am 19. April Füchse mit brennendem Fell durch den Zirkus gejagt wurden.11 11
Ovid, Fasti. Festkalender Roms (i960), IV, 679ff: „Tertia post Hyades
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Das mag der eigentliche Zusammenhang sein. Die heutigen Erläuterungen zu den „Fruchtbarkeitsriten” sind so unzulänglich, daß es in der Sache vermutlich weiterbringt, sich der dreihundert „Elite”-Hunde zu erinnern, die Gideon für seine Bande rekrutierte und für die es noch immer keine Erklärung gibt. Man sollte außerdem einer noch wichtigeren Angelegenheit Beachtung schenken, auf die Felix Liebrecht aufmerksam gemacht hat: das „Sada-Fest”, aus dessen Anlaß in allen iranischen Landstrichen Tiere angezündet und – brennend! – gejagt wurden.12 Aber das Hauptthema der Geschichte wird klarer hervortreten, wenn es in eine völlig andere Erzähltradition transponiert wird, nämlich in die Abenteuer des japanischen Gottes Susa-noWo. Sie finden sich in den „Heiligen Schriften” Japans, dem Kojiki (= „Geschichte der Begebenheiten im Altertum”) und dem Nihongi (oder Nihonshoki = „Japanische Annalen”), die im achten Jahrhundert n. Chr. aufgezeichnet wurden, aber in unbekannte Zeit zurückreichen. Der Nihongi ist das volle Äquivalent dessen, was die Bibel in jüngerer Vergangenheit für uns war. Und er ist sogar noch mehr, denn „dieses System von Sagen, das für uns Folklore, für die Menschen des Archipels hingegen glaubwürdige Geschichte darstellt, ist mit den Wurzeln all dessen verwoben, was japanisch ist.” Das Zitat stammt von Post Wheeler, dem wir die jüngste Übersetzung des Corpus japanischer Mythen verdanken. An anderer Stelle sagt er: „In keinem anderen Land fincum lux erit orta remotas / carcere partitos Circus habebit equos. / cur igitur missae vinetis ardentia taedis / terga ferant volpes, causa docenda mihi est (Naht sich der dritte Morgen, nachdem die Hyaden entschwanden, / stellen im Zirkus getrennt dann die Gespanne sich auf, / Aber warum man mit aufgebundenen brennenden Fackeln / Füchse heut hetzt – der Grund steht zur Erklärung noch aus.)”. Ovids begründende Erklärung allerdings klingt wenig überzeugend. Vgl. auch J.G. Frazer, Ovid’s Fasti III, 330-333. 12 F. Liebrecht, Zur Volkskunde (1879), 261f. Der von ihm zitierte Hyde (1760, 2550 gibt an, das Fest heiße auf Arabisch „nox incendii”.
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den wir die heilige Sage eines Volkes so verknüpft mit den täglichen Gedanken und dem alltäglichen Leben. Ihre Episoden starren uns aus jedem Winkel und jeder Seitenstraße an. Der uranfängliche Mythos vom Abschlachten der achtfach gegabelten Schlange durch die Gottheit Mutig-Schnell-Ungestüm-Männlich, dem Bruder der Sonnengöttin Leuchtend-Scheinende, ist auf japanischem Papiergeld abgebildet. Ich habe ihn au grand sérieux in Tokios Kaisertheater produziert gesehen, in derselben Woche wie eine von Ibsens Tragödien und eine Wiener Operette.”13 Der größte Teil der hebräischen Mythologie kommt im Gewand des groben Hanfgewebes der Bauern und Patriarchen Palästinas daher. Der japanische Mythos hingegen zeigt die Merkmale eines verfeinerten Feudalismus, hinter dem die barocke Eleganz und Phantasie spätchinesischer Kultur stehen. Unter dieser Prämisse wird hier die Geschichte des japanischen Samson, Susa-no-Wo, wiedergegeben, dessen Name Mutig-SchnellUngestüm-Männlich bedeutet. Eine bessere Serie von Attributen kann es für Mars nicht geben. Auch Susa-no-Wo ist offiziell ein Gott, zumal seine Schwester Amaterasu, die Sonnengöttin, noch heute als Ahne der kaiserlichen Dynastie verehrt wird. Die höfischen Vorrechte sind säuberlich eingefädelt; der Held muß sich nicht länger als ein ungehobelter Kerl vom Stamme Dan maskieren, der in Askalon wütete und sich in Gaza selbst vernichtete. Nun hatte man Susa-no-Wo aus dem Himmel verbannt, weil er das Hinterteil seines rückwärts-geschundenen scheckigen Zuchthengstes in die Webhalle seiner Schwester Amaterasu geworfen hatte. Die plötzlichen unhöfischen Gesten scheinen Teil des Codes zu sein: So hatte Enkidu die Hinterpartie des Himmelsstiers in Ischtars Gesicht geworfen; aber hier gibt es das ergänzende Codemerkmal des rückwärtsgeschundenen Tiers. Susa-no-Wos Geste veranlaßte die Sonnenherrin, sich verärgert in eine Höhle zurückzuziehen: Die Welt war in Finsternis getaucht. 13
V. Wheeler, The Sacred Scriptures of the Japanese (1952), Vf.
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Daraufhin versammelten sich die 80.000 Götter in der Milchstraße, um Rat zu halten. Schließlich verfielen sie auf eine List, mit deren Hilfe sie die Sonne aus der Höhle locken und damit der Finsternis ein Ende bereiten konnten. Es war ein billiger Trick, Teil der üblichen Masche, mit der Rā in Ägypten, Demeter in Griechenland (die sogenannte Demeter Agelastos: die Nichtlachende Demeter) und Skadi im Norden beschwatzt wurden – offensichtlich eine weitere Code-Formel.14 Jetzt war das Licht der Welt wiederhergestellt; aber aus der Finsternis tretend, fand der Held-Gott auf der Erde keinen Platz, um sein Haupt zu betten. So wanderte er umher und schaffte es, die achtgabelige Schlange zu töten, wodurch er ein schönes Fräulein rettete. Anschließend arrangierte er „die Ziehung der Länder” sowie die Aussaat weiterer Länder, wobei er den Inseln jene Gestalt gab, die sie noch heute haben. Nachdem Mutig-SchnellUngestüm-Männlich den Himmel und die Erde bis zu ihren 157 Grenzen bereist hatte und sogar an der Die-den-Himmelsenkrecht-begrenzende-Mauer gewesen war, lebte er zunächst auf dem Berg Bären-Ödland und begab sich schließlich in die Untere Welt, die auch das Untere-entlegene-Land genannt wird. Zu diesem seinen Sitz gelangte ein Jason, nämlich der Kami (Göttlicher Prinz) Großer-Land-Gebieter, der auf der Suche nach einem hilfreichen Trick gegen seine Brüder war, „die 80 Kami”, die es schon mehrmals fertiggebracht hatten, ihn umzubringen (Himmel-Erschaffer hatte ihn immer wieder zu neuem Leben erweckt). Bevor er das Haus erreichte, hatte er Susa-no-Wos Tochter, Prinzessin Vorwärts, geheiratet; und diese Prinzessin sollte ihm treu ergeben sein, so daß er die verschiedenen „Stationen” überleben konnte,15 die Susa-no-Wo ihm als gebührende Der obszöne Tanz der alten Baubo, die im Eleusis auch Jambe genannt wird, entspricht den gleichermaßen anstößigen Scherzen, die Loki in der Edda treibt. Der entscheidende Punkt ist in allen Fällen, daß die Götter zum Lachen gebracht werden müssen (siehe Appendix 42). 15 Zum Vergleich der Abfolge beschwerlicher Höhlen, Löcher oder 14
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Gästezimmer vorbereitet hatte: das Feuer, das Schlangen-Haus, das Tausendfüßler-und-Wespen-Haus (Dostojewskis Swidrigailow muß ein großartiger Hellseher gewesen sein): Dann schoß Mutig-Schnell-Ungestüm-Männlich einen Brumm-Pfeil in die Mitte eines großen Gras-Ödlandes und schickte den Kami aus, um ihn zu holen; und just als dieser das Ödland betreten hatte., setzte er es von allen Seiten in Brand. Aber als Großer-LandGebieter keinen Weg aus dem Feuer heraus fand, kam eine Maus angelaufen und sagte: „Das Innere ist hohl-hohl; das Äußere ist schmal-schmal.“ Infolge dieser Worte stampfte er mit dem Fuß auf der betreffenden Stelle – und fiel in die Höhle, worin er sich versteckte, bis das Feuer über ihn hinweggegangen war. Da brachte ihm die Maus den Brumm-Pfeil in der Schnauze; und ihre Jungen brachten ihm die Federn des Pfeils auf dieselbe Weise. Derweil traf seine Gemahlin Prinzessin Vorwärts weinend ihre Vorbereitungen für sein Begräbnis, und ihr Vater bezog in dem Glauben auf dem Ödland Stellung, er sei tot; aber er fand seinen Gast dort stehend, der ihm den Pfeil brachte und überreichte. Darauf nahm Susa-no-Wo ihn mit in sein Haus und führte ihn in ein weiträumiges Zimmer, wo er Großer-Land-Gebieter aufforderte, ihm die Läuse vom Kopf zu lesen, unter denen viele Tausenfüßler hervorkamen. Seine Gemahlin gab ihm jedoch Beeren vom MukuBaum [Aphanante ospera, PlauchJ und roten Lehm; und er zerkaute die Beeren und spuckte sie mit dem roten Lehm aus, den er im Mund behielt, so daß der große Kami glaubte, er zerkaue die Tausendfüßler und spucke sie aus, worüber er in seinem Herzen ihm gewogen wurde und einschlief. Da band Großer-Land-Gebieter die Haare von Mutig-SchnellUngestüm-Männlich an die Dachbalken des Palastes. Und nachdem er die Tür mit einem von-fünfhundert-Mann-zu-schleppenden Felsen blockiert hatte, lud er sich seine Gemahlin Prinzessin Vorwärts auf die Schultern, ergriff Besitz von des großen Karnis Lebenbeschützendem Schwert, seinem Pfeil-und-Bogen sowie seiner „Häuser“, durch die Helden der Alten Well wie auch der Neuen Welt hindurch müssen, siehe L. Frobenius, Das Zeitalter des Sonnengottes (1904), 371f.
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himmlischen Verkündungs-Laute und floh. Aber die VerkündungsLaute schlug gegen einen Baum, so daß die Erde widerhallte. Der große Kami [Susa-no-WoJ erwachte von diesem Getön und riß den Palast nieder. Während er seine Haare vom Dachbalken löste, kam Großer- 158 Land-Gebieter auf seiner Flucht allerdings ein gutes Stück voran. Als er ihn bis zum Höhenpaß-des-Landes-der-Nacht verfolgt hatte und ihn von weitem erblickte, rief Mutig-Schnell-UngestümMännlich ihn an und sagte: „Mit dem großen Leben-beschützenden Schwert und dem Pfeil-und-Bogen, die du trägst, jage deinen Halbbrüdern nach, bis sie auf den erlauchten Abhängen der Hügel liegen und in die Strömungen der Flüsse gespült werden! Du aber, Kerl!, mache deinem Titel als Großer-Land-Gebieter sowie deinem Namen Geist-des-sichtbaren-Landes alle Ehre und meine Tochter Prinzessin Vorwärts zu deiner Hauptfrau, errichte starke Pfeiler für deinen Palast am Fuße des Berges Untersuchung, im tiefsten Felsengrund, und errichte die Querbalken hoch bis zum Gefilde des HohenHimmels – und dort wohne!” Darauf setzte Großer-Land-Gebieter, das große Lebenbeschützende Schwert und das Buch mit sich tragend, den achtzig Kami nach, zersprengte sie und sagte: „Der Zutritt zu dem Kreis, den der blaue Zaun der Berge bildet, soll ihnen verboten sein.“ Er verfolgte sie, bis sie auf dem erlauchten Abhang jeden Hügels lagen; er verfolgte sie, bis sie in jede Flußströmung gespült waren. Und dann begann er, das Land zu regieren. (Demzufolge wurde der Ort, an dem er sie überholte, Komm-Überhole genannt.)16
Im späteren Verlauf wird der „Genesis”-Teil des Nihongi die Bedingungen archaischer Theorie sehr exakt erfüllen. Selbst Nebensachen, die wie minderwertige Ausschmückungen anmuten – zum Beispiel die kleine Maus in ihrem Erdloch –, sind in Wirklichkeit wiederkehrende Elemente dieser altehrwürdigen Fuge. Weil wir uns hier nur mit einer Thematik auf einmal beschäftiÜbersetzt nach P. Wheeler, The Sacred Scriptures of the Japanese (1952), 44f. Vgl. auch Karl Florenz, Die historischen Quellen der ShintoReligion (1919), 49ff. 16
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gen können, erscheint ein Großteil der Sage von Susa-no-Wo weitgehend beliebig, obgleich das bei Samson nicht weniger der Fall ist. Die Erzählung ist zudem auf verwirrende Weise mit anderen klassischen Themen verwoben, etwa mit den Sagen von Theseus und den Argonauten. Und doch ist da dieser Susa-noWo, jemand, der es zur Mittagszeit finster werden läßt und wie Samson mit „wunderbarer Kraft in den Locken” ausgerüstet ist, der „mit dem Zapfen des Balkens und dem Netz davonging”, der Dachsparren, Felsen und Tore sowie Masten mit sich gehen läßt als er einen Palast niederreißt (zur Abwechslung seinen eigenen) und der niedrig-geborene Frevler, die „innerhalb des Kreises, den der blaue Zaun bildet” unerwünscht sind, schlägt und in alle Himmelsrichtungen zersprengt. Aber der Nihongi zeigt das umfassendere Schema auf, innerhalb dessen die alte Ordnung zerschlagen wird und die Fundamente einer neuen Ordnung errichtet werden: „… errichte starke Pfeiler für deinen Palast am Fuße des Berges Untersuchung, im tiefsten Felsengrund, und errichte die Querbalken hoch bis zum Gefilde des Hohen-Himmels – und dort wohne!” Der Gott hat nicht nur gerichtet und gerecht verteilt, in seiner Eigenschaft als neuer König der Unterwelt hat er auch die Zukunft etabliert17 und für sie vorgesorgt: Er hat sich in seinem Ogygia schlafen gelegt und seinen Nachfolger zum Herrscher des neuen Zeitalters ernannt. GroßerLand-Gebieter mußte außerdem etwas in dem Unterenentlegenen-Land besorgen (dorthin gehen in Japan die Verstorbenen durch zahllose Windungen über Land, wohingegen der Sollte es eine ähnliche Bewandtnis haben mit Samsons einziger Tätigkeit – abgesehen von einem Zwischenspiel mit einer Buhlerin – während seines Aufenthalts in Gaza, von der Richter XVI.3 uns Kunde gibt? „Vor Mitternacht aber stand er auf, faßte die beiden Flügel des Stadttores samt den beiden Pfosten und hob sie zugleich mit dem Riegel aus. Sodann legte er sie auf seine Schultern und trug sie auf den Gipfel des Berges, der Hebron gegenüberliegt.” 17
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Strudel im Meer nur dazu gut ist, die „mit Sünde Beschmutzten” ins Reich der Toten zu befördern): Er war dorthin geschickt worden, um sich von Susa-no-Wo (der ihn auf den ersten Blick wie folgt identifizierte: „Dies ist der Kami Häßlich-Männlich-vonden-Schilf-Ebenen.“) „Rat” zu holen, den er schließlich auch bekam – und dem er das wertvolle Leben-beschützende Schwert hinzufügte, das Susa-no-Wo im Schwanz der achtgabeligen Schlange gefunden hatte, sowie den „Pfeil-und-Bogen” und seine Himmel-sprechende-Laute, nicht zu vergessen Prinzessin Vorwärts. Eine komplizierte Angelegenheit. Aber der Große-LandGebieter tritt unzweifelhaft in der Rolle des Jupiter gegen Susano-Wos Mars an – dies um so mehr, als sich seine geliebte Prinzessin Vorwärts als extrem eifersüchtig entpuppt. Nach diesem fernöstlichen Zwischenspiel läßt sich Samsons eigene Tragödie nunmehr in einem klareren Licht betrachten (Buch der Richter XVI): 19. Und sie [Delila] ließ ihn einschlafen in ihrem Schoß und rief einen, der ihm die sieben Locken seines Hauptes abschnitt. Und sie fing an, ihn zu bezwingen – da war seine Kraft von ihm gewichen. 20. Und sie sprach zu ihm: Philister über dir, Simson! Als er nun von seinem Schlaf erwachte, dachte er: Ich will frei ausgehen, wie ich früher getan habe, und will mich losreißen. Aber er wußte nicht, daß der HERR von ihm gewichen war. 21. Da ergriffen ihn die Philister und stachen ihm die Augen aus; führten ihn hinab nach Gaza und legten ihn in Ketten; und er mußte die Mühle drehen im Gefängnis.18 22. Aber das Haar seines Hauptes fing wieder an zu wachsen, nachdem es geschoren war. 23. Als aber die Fürsten der Philister sich versammelten, um ihrem Gott Dagon ein großes Opfer darzubringen und ein Freudenfest zu feiern, sprachen sie: Laßt Simson holen, daß er vor uns seine Späße treibe. Da holten sie Simson aus dem Gefängnis, und er trieb seine Späße vor ihnen, und sie stellten ihn zwischen die Säulen. 18
Siehe hierzu erneut Appendix 14.
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24. Als das Volk ihn sah, lobten sie ihren Gott, denn sie sprachen: Unser Gott hat uns unsern Feind in unsere Hände gegeben, der unser Land verwüstete und viele von uns erschlug. 26. Simson aber sprach zu dem Knaben, der ihn an der Hand führte: Laß mich los, daß ich nach den Säulen taste, auf denen das Haus steht, damit ich mich daran lehne. 27. Das Haus aber war voller Männer und Frauen. Es waren auch alle Fürsten der Philister da, und auf dem Dach waren etwa dreitausend Männer und Frauen, die zusahen, wie Simson seine Späße trieb. 28. Simson aber rief den HERRN an und sprach: Herr HERR, denke an mich und gib mir Kraft, Gott, noch dies eine Mal, damit ich mich für meine beiden Augen einmal räche an den Philistern! 29. Und er umfaßte die zwei Mittelsäulen, auf denen das Haus ruhte, die eine mit seiner rechten und die andere mit seiner linken Hand, und stemmte sich gegen sie 30. und sprach: Ich will sterben mit den Philistern! Und er neigte sich mit aller Kraft. Da fiel das Haus auf die Fürsten und auf alles Volk, das darin war, so daß es mehr Tote waren, die er durch seinen Tod tötete, als die er zu seinen Lebzeiten getötet hatte.
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Das ist die ganze große Geschichte, die zahllose Variationen erfahren hat. Die allgemeine Konstruktion der Tragödie ist offensichtlich fehlerhaft, und zwar noch mehr als die meisten biblischen Erzählungen, die sich gegenüber solchen Überlegungen völlig gleichgültig verhalten. Auch wenn Samson tatsächlich als „Gottgeweihter geboren” sein sollte (Richter XVI.17)19 – dank der Vorsehung Gottes, „der nach einer günstigen Gelegenheit suchte, um mit den Philistern abzurechnen” (Richter XIV.4) –, so ist er doch nicht vergleichbar mit Oberhäuptern wie Josua oder Gideon. Er bleibt – in den Worten des Mythos gesprochen – eine fehlgelenkte Rakete. Die meisten großen Heldentaten der mythistorischen So übersetzt K. Lautzsch; Luther: „Verlobter Gottes”: LXX: hágios theou. Siehe für diese Nasiräer (von hebr. nāzîr = Gott geweiht) Numeri VI, Kautzsch-Über Setzung 193f.
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Vergangenheit wären der Aufmerksamkeit der Nachrichtenmedien ohnehin entgangen; aber Samsons Leistungen ergeben – selbst auf der Mikroebene palästinensischer Machtpolitik – so wenig Sinn, daß Milton sich schwer tut, die Art zu rechtfertigen, in der Gott mit den Menschen umgeht. Gewisse „zentrale” Ereignisse – wie der Sturz des Königshauses, ob nun in Griechenland, Babylonien oder Dänemark – haben einen wahrheitsgetreueren und tieferen Nachhall. Das ist der Grund, warum sich große Motive wie „Finsternis am Mittag” oder „das Niederreißen des Gebäudes“ zu einem umfangreichen Thema vereinen, welches offensichtlich kosmischer Natur ist, hier allerdings verschleiert wurde. Kojiki und Nihongi sind diesem Niveau treuer geblieben. In der Arabeske aus ineinander verschlungenen Motiven lassen sich jene markieren, in denen die Thematik des „Niederreißens des Bauwerks” deutlich sichtbar ist. Der mächtige Held Whakatau der Maori hatte das Ende des Seils fest im Griff, das um die Stützen des Hauses geschlungen war; und während er hinauslief, zog er es mit seiner ganzen Kraft hinter sich her, und auf der Stelle fiel das Haus zusammen, alles, das in ihm war, zermalmend, so daß der ganze Stamm umkam; und Whakatau setzte es in Brand.20
Das klingt vertraut. Aus der Geschichte taucht mindestens ein Ereignis dieser Art auf. Es kam über das erste Versammlungshaus der pythagoreischen Sekte und ist als nüchterner Bericht über das Resultat eines politischen Konflikts abgefaßt; doch war die Legende um Pythagoras in frühen Zeiten so kunstvoll aus vorgefertigten Materialien konstruiert, daß Zweifel erlaubt sind. 161 Das Wesen des wahren Mythos besteht darin, sich hinter der Maske scheinbar objektiver und alltäglicher Einzelheiten, die bekannten Tatsachen entliehen sind, zu verbergen. Aber wie auch immer es sein mag, in vielen Geschichten ist die Zerstörung des Gebäudes mit einem Netz verbunden. Saxos Amlethus reißt 20
George Grey, Polynesian Mythology (1956, 1. Ausgabe 1855), 97f.
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keine Säulen ein; er erscheint wieder – wie Großer-Land-Gebieter persönlich – bei jenem Festmahl, welches der König anläßlich des vermeintlichen Begräbnisses von Amlethus gibt. Er wirft das von seiner Mutter vorbereitete Netz aus geknüpften Teppichen über die betrunkene Menge und brennt die Halle nieder. Die japanische Parallele geht über diesen Punkt nicht hinaus, aber dennoch hat sie ihre eigene Relevanz. Sie suggeriert den Sturz des Hauses von Atreus. Das Netz, das Klytaimnestra über den im Bad kämpfenden König wirft, kann nicht zufällig mit hineinspielen. Aber noch ist das ein ungewisser Anhaltspunkt. Das Heilige Buch der alten Maya-Quiché, das Popol Vuh (Das Buch des Rates), erzählt von Zipacna, dem Sohn des VucubCaquix (= Sieben Arara). Er sieht 400 junge Leute, die einen riesigen Baumstamm hinter sich her ziehen, den sie als Firstbalken für ihr Haus verwenden wollen. Mühelos trägt Zipacna den Stamm ganz alleine zu der Stelle, wo ein Loch für den Pfeiler gegraben wurde, der den Firstbalken stützen soll. Die neidischen und verängstigten Jugendlichen versuchen, Zipacna zu töten, indem sie ihn in dem Loch zerquetschen. Aber er entkommt und läßt das Haus über ihren Köpfen einstürzen. Sie werden als „Gruppe“ in den Himmel versetzt; und nach ihnen sind die Plejaden benannt (Appendix 24). Dann tritt ein wahrer Rächer-seines-Vaters auf, der tuamotuanische Tahaki, der nach langen Reisen bei Dunkelheit das Haus der Kobold-Bande erreicht, die seinen Vater quälte. Er läßt durch einen Zauber „die starke Kälte von Havaiki” (der anderen Welt) über sie kommen, die sie einschläfert. Dann sammelte Tahaki das Netz auf, das ihm Kuhi gegeben hatte, und trug es zur Tür des langen Hauses. Daraufhin setzte er das Haus in Brand. Als die Myriaden von Kobolden gemeinsam schrien: „Wo ist die Tür?”, rief Tahaki ihnen zu: „Hier ist sie.” Sie glaubten, es sei einer aus ihrer Bande, der so gerufen hatte, und so liefen sie kopfüber in das Netz. Und Tahaki verbrannte sie im Feuer.21 21
J. Frank Stimson, The Legends of Maui and Tahaki (1934), 51, 66.
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Wofür das Netz stehen könnte, ist aus der Geschichte von Kaulu bekannt. Dieser abenteuerliche Held, der eine Kannibalin umbringen wollte, floh zuerst zu dem großen Gott Makalii und bat ihn um seine Netze, die Plejaden und Hyaden, in welche er die Böse einwickelte, bevor er ihr Haus niederbrannte.22 Es ist klar, wem die Netze dort oben gehören. Auf dem FarneseGlobus befinden sich die Plejaden in der rechten Hand Orions,23 und für gewöhnlich wurden sie „Lagôbólon” (Hasen-Schläger) 162 genannt. In China waren die Plejaden, wie bereits erwähnt, das Netz für die Jagd auf Großwild, die Hyaden für die Jagd auf Hasen und anderes Kleinwild.24 Am Ende dieser weitreichenden Erkundung ist es nunmehr angebracht zu fragen, wer Samson gewesen sein könnte. Auf jeden Fall war er ein Gott und damit eine planetarische Macht, denn nichts anderes waren die Götter damals. Als Mutig-SchnellUngestüm-Männlich, als der starke Nasiräer, trägt er alle Wesensmerkmale, die zu keinem anderen als zu Mars gehören. Während wir noch versuchen, die Abschlußphase der Untersuchung von Amlethus-Kronos, dem König der Kosmischen Mühle, nachzuzeichnen, ist zweifellos etwas anderes in unser Blickfeld getreten, nämlich die neue und furchterregende Persönlichkeit des Mars – beziehungsweise Ares, wie die Griechen ihn nannten. Er wird mehr als einmal eine Rolle spielen. Es steht jedoch außer Frage, daß der Name Samsons ziemlich unvermittelt mit dem Sampo, der ursprünglichen Mühle, in Verbindung gebracht wird. Er war klar und unmißverständlich ein Teil des Amlethus-Musters. An diesem Punkt muß die Einmischung dieser neuen planetarischen Macht auffallen. Susa-no-Wo ersetzt Kronos sogar in der diesem eigenen Herrschaft über die Unterwelt. Es wäre wünschenswert gewesen, die beiden Mächte getrennt voneinander und jede in ihrer eigenen Gestalt vorzustellen, wie Abraham Fornander, Hawaiian Antiquities (1916-1920), 4, 350f; 5, 368. Robert Eisler, Orpheus the Fisher (1921). 25f. 24 G. Schlegel, L’Uranographie Chinoise (1967), 351-358, 365-370. 22 23
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es später geschehen wird. Aber mit ihren vielen Fäden folgt die Sage ihren eigenen Regeln. Es gibt keine divergierenderen Kräfte als Saturn und Mars; doch ist dies nicht das einzige Mal, daß die beiden als verwirrende und ungeklärte Dublette auftreten. Das Motiv der Zerstörung wird oft mit der Amlethus-Figur assoziiert. Das andere Motiv ist spezifischer für Mars. Es gibt einen bestimmten Aspekt der Blindheit bezüglich Mars, auf den sowohl der harranische als auch der mexikanische Mythos beharren. Er findet sogar bei Vergil seinen Niederschlag: „caeco Marte”.25 Aber er steht nicht nur für blinde Wut; wir treffen hier zum erstenmal auf die Doppelfigur von Mars und Saturn, die uns in Mexiko in den Gestalten des Schwarzen und des Roten Tezcatlipoca wiederbegegnet. Innerhalb der Großen Sage gibt es offenkundig eine bestimmte Phase, in der die zerstörerischen Kräfte des entfesselten Mars ein schicksalhaftes Bündnis mit der rächenden, unversöhnlichen Veranlagung des Saturn eingehen. Mit seinem außergewöhnlichen Scharfblick hat Shakespeare auf beide angespielt, als er Hamlet den wütenden Laertes vor ihrem letzten Treffen warnen läßt: Denn obschon ich nicht jäh und heftig bin, So ist doch was Gefährliches in mir. Das ich zu scheun dir rate … 163
Aber augenscheinlich geht es um mehr, und was hier zutage tritt, lüftet den Schleier von einer fundamentalen archaischen Regel. Tatsächlich treten auf der Bühne des Universums nur wenige Schauspieler auf, auch wenn ihre Abenteuer zahlreich sind. Der größte „altehrwürdige Schatz” – wie Aristoteles sich ausdrückte –, der uns von unseren Vorfahren vor Urzeiten hinterlassen wurde, ist der Gedanke, daß die Götter in Wirklichkeit SterVergil, Aeneis II, 335; siehe auch IX; vgl. Georg Rabuse, Der kosmische Aufbau der Jenseitsreiche Dantes (1958), 59. Die Blindheit des Mars wird jedoch in einem anderen Zusammenhang behandelt werden müssen.
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ne sind und daß es neben ihnen keine anderen Götter gibt. Die Mächte haben ihren Wohnsitz im Sternenhimmel, und all die Geschichten, Charaktere und Abenteuer, von denen die Mythologie erzählt, konzentrieren sich auf die aktiven Kräfte unter den Sternen – also auf die Planeten. Es mag sich wie eine ungeheuerliche Aufgabe für die wenigen Planeten ausnehmen, für all diese beinahe zahllosen Abenteuer verantwortlich zeichnen zu sollen. Aber was für den modernen Menschen bestenfalls die unterschiedlichen Bewegungen jener Uhrzeiger entlang dem Zifferblatt sein mögen, wurde – in Zeiten ohne Schrift, in denen alles Bildern und dem Gedächtnis anvertraut wurde – zum Großen Spiel, das über Äonen gespielt wurde, eine niemals endende Erzählung über Positionen und Relationen, die zu einer festgesetzten Stunde Null beginnt, ein komplexes Gewebe aus Begegnungen, Dramen, Paarungen und Konflikten. Lukian von Samosata – jener höchst erquickliche Schriftsteller der Antike und Efinder der heutigen „Science-fiction”, der wußte, wie man mit ernsten Themen leicht und ironisch umgeht, ohne frivol zu werden, und der sich des „altehrwürdigen Schatzes“ voll bewußt war – bemerkte einmal, daß die lächerliche Geschichte von Hephaistos dem Lahmen, der seine Gemahlin Aphrodite mit Mars im Bett erwischt und daraufhin das Paar unter einem Netz festnagelt, um ihre Schandtat den anderen Göttern vorzuführen, daß diese Geschichte nicht bloße Einbildung war, sondern sich auf eine Konjunktion zwischen Mars und Venus bezogen haben muß.26 Lukian sagte nichts über den Ort; aber man darf vermuten, daß es sich um eine Konjunktion in den Plejaden handelte. Diese kleine Komödie mag hilfreich sein, das immer wiederkehrende Muster deutlich zu machen; Von ihrem dominierenden Einfluß einmal abgesehen, fungierten die Konstellationen als Kulissen, Kostüme und Masken – selbstredend auch als Häuser, 26
Lukian, Astrologia 22.
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Fahrzeuge, Waffen, Instrumente usw. –, deren sich die Mächte im Verlauf ihrer himmlischen Abenteuer zu festgesetzten Zeiten bedienten. Im Falle der Amlethus-Samson-Epiphanie könnte keiner bestreiten, daß diese heftige Macht beziehungsweise zeitweilige Kombination von Mächten die Figur des blinden Orion abgibt, auch Nimrod der Jäger genannt, der drohend die Hyaden schwingt und wie Talos, der bronzene Riese von Kreta, die Sternenmühle antreibt. Denn jenes Indiz, welches den Fall entscheidet, ist genannt worden: Orion war blind, die einzige blinde Konstellationsfigur im Mythos. Es wird gesagt, er habe sein Augenlicht schließlich wiedergewonnen, wie es einem Unsterblichen gebührt. Aber die Sage porträtiert ihn auf diese Weise: durch das Meer watend, geführt von den Augen des Däumlings, der auf seiner Schulter sitzt und dessen Name Kedalion [kêdalon = aidoion, Penis) ein Rollenfach der Vulgärkomödie suggeriert. Aber was bilden wir uns ein, der himmlischen Versammlung Knigges Benimmregeln aufzudrängen?
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Al suo aspetto tal dentro mi fei Qual si fe’ Glauco nel gustar dell’erba Che il fe’ consorto in mar degli altri dei. DANTE
Was ein Mensch in den letzten Stunden seines Lebens zu sagen hat, verdient Aufmerksamkeit. Ganz besonders dann, wenn dieser Mensch Sokrates ist, der im Gefängnis auf seine Hinrichtung wartet und sich derweil mit seinen pythagoreischen Freunden unterhält. Er hat die Welt bereits hinter sich gelassen, hat sein philosophisches Testament gemacht und tauscht sich jetzt in aller Gelassenheit mit seiner eigenen Wahrheit aus. Das ist das Schlußwort des Phaidon (107D-115A), und es wird in der Form eines Mythos wiedergegeben. Merkwürdigerweise haben sich unzählige Kommentatoren nicht der Mühe unterzogen, es genauer unter die Lupe zu nehmen. Statt dessen haben sie sich damit zufriedengegeben, aus ihm einige fromme Allgemeinplätze über die Belohnungen der Seele zu extrahieren. Doch ist dieses Schlußwort eine nachdenkliche und bis ins einzelne ausgearbeitete Aussage, die einer Autorität gewidmet ist, welche Sokrates (beziehungsweise Platon) vorzugsweise nicht beim Namen nennt. Sie ist in ein seltsames physikalisches Gewand gekleidet. Es lohnt sich, Platons Vorschlag mit der ihm gebührenden Aufmerksamkeit anzunehmen. Sokrates begibt sich ruhig in die andere Welt; er gehört bereits zu ihren Bewohnern, und seine Worte stehen gewissermaßen für ein Übergangsritual:
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Denn man sagt ja, daß jeden Gestorbenen sein Dämon, der ihn schon lebend zu besorgen hatte, dieser ihn auch dann an einen Ort zu führen sucht, von wo aus mehrere zusammen, nachdem sie gerichtet sind, in die Unterwelt gehen mit jenem Führer, dem es aufgetragen ist, die von hier dorthin zu führen. Nachdem ihnen dann dort geworden ist, was ihnen gebührt, und sie die gehörige Zeit dageblieben, bringt ein anderer Führer sie wieder von dort hierher zurück nach vielen und großen Zeitabschnitten. Und diese Reise ist wohl nicht so, wie der Telephos des Aischylos sie beschreibt. Denn jener sagt, es führe nur ein einfacher Fußsteig in die Unterwelt; ich aber glaube, daß es weder einer ist noch ein einfacher. Sonst würde es ja keines Führers bedürfen, denn nirgendshin kann man ja fehlen, wo nur ein Weg geht. Nun aber mag er sich wohl oftmals teilen und winden. Dies schließe ich aus dem, was bei uns als heilige Feier eingeführt und gebräuchlich ist. Die sittsame und vernünftige Seele nun folgt und verkennt nicht, was ihr widerfährt; die aber begehrlich an dem Leibe sich hält, wie ich auch vorher sagte, drängt sich lange Zeit immer um ihn herum und um den sichtbaren Ort, und nach vielem Sträuben und vielen Versuchen wird sie endlich mit Mühe und gewaltsam von dem angeordneten Dämon abgeführt. Sie nun, die dahin kommt, wo auch die andern sich befinden, die unreine und die etwas dergleichen verübt hat, habe sie sich nun mit ungerechtem Morde befaßt oder anderes dergleichen begangen, was dem verschwistert und verschwisterter Seelen Werk ist, diese meidet jeder und weicht ihr aus und will weder ihr Reisegefährte noch ihr Führer werden; sie aber irrt in gänzlicher Unsicherheit befangen, bis gewisse Zeiten um sind, nach deren Verlauf die Notwendigkeit sie in die ihr angemessene Wohnung bringt. Die aber rein und mäßig ihr Leben verbracht und Götter zu Reisegefährten und Führern bekommen hat, bewohnt jede den ihr gebührenden Ort. Es hat aber die Erde viele und wunderbare Orte und ist weder an Größe noch Beschaffenheit so, wie von denen, die über die Erde zu reden pflegen, geglaubt wird, nach dem, was mir einer glaublich gemacht hat.” Darauf sagte Simmias: „Wie meinst du das, o Sokrates? Denn über die Erde habe auch ich schon vielerlei gehört, aber wohl nicht das, was dich befriedigt; darum möchte ich es gern hören.”
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„Das ist ja wohl keine große Kunst, o Simmias“, sagte er, „zu erzählen, was das ist; aber freilich, daß es so wahr ist, das möchte wieder schwerer sein als schwer; und teils möchte ich es vielleicht nicht können, teils auch, wenn ich es verstände, möchte doch mein Leben wenigstens, o Simmias, für die Größe der Sache nicht mehr hinreichen. Doch die Gestalt der Erde, wie ich belehrt bin daß sie sei, und ihre verschiedenen Orte hindert mich nichts zu beschreiben.” „Auch das”, sprach Simmias, „soll uns genug sein.” „Zuerst also bin ich belehrt worden, daß, wenn sie als runde inmitten des Himmels steht, sie weder Luft brauche, um nicht zu fallen, noch irgendeinen andern solchen Grund, sondern, um sie zu halten, sei hinreichend die durchgängige Einerleiheit des Himmels und das Gleichgewicht der Erde selbst. Denn ein im Gleichgewicht befindliches Ding in die Mitte eines anderen solchen gesetzt wird keinen Grund haben, sich irgendwohin mehr oder weniger zu neigen, und daher, auf gleiche Weise zu allem sich verhallend, wird es ohne Neigung bleiben. Dieses”, sagte er, „habe ich zuerst angenommen.“1 „Und sehr mit Recht”, sprach Simmias. „Dann auch, daß sie sehr groß sei und daß wir, die vom Phasis bis an die Säulen des Herakles reichen, nur an einem sehr kleinen Teile, wie Ameisen oder Frösche um einen Sumpf, so wir um das Meer herum wohnen, viele andere aber anderwärts an vielen solchen Orten. Denn es gebe überall um die Erde her viele Höhlungen und mannigfaltige von Gestalt und Größe, in welchen Wasser und Nebel und Luft zusammengeflossen sind; die Erde selbst aber liege rein in dem reinen Himmel, an welchem auch die Sterne sind und den die meisten, welche über dergleichem zu reden pflegen, Äther nennen, dessen Bodensatz nun eben dieses ist und immer in den Höhlungen der Erde zusammenfließt. Wir nun merkten es nicht, Bis jetzt geht es um Anaximander und sein Prinzip des Hinreichenden Urgrundes- Jedoch können wir keine weiteren Schlüsse ziehen: Sokrates befindet sich hier bereits tief in seinem eigenen Mythos und jenseits ionischer Physik, die seiner Meinung nach nicht emstgenommen werden sollte.
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daß wir nur in diesen Höhlungen der Erde wohnten, und glaubten, oben auf der Erde zu wohnen, wie wenn ein mitten im Grunde der See Wohnender glaubte, oben an dem Meere zu wohnen, und. weil er durch das Wasser die Sonne und die anderen Sterne sähe, das Meer für den Himmel hielte, aus Trägheit aber und Schwachheit niemals bis an den Saum des Meeres gekommen wäre, noch über das Meer aufgetaucht und hervorgekrochen, um diesen Ort zu schauen, wieviel reiner und schöner er ist als der bei ihm, noch auch von einem andern, der ihn gesehen, dies gehört hätte; geradeso erginge es auch uns. Denn wir wohnten in irgendeiner Höhlung der Erde und glaubten, oben darauf zu wohnen, und nennten die Luft Himmel, als ob diese der Himmel wäre, durch welchen die Sterne wandeln. Damit aber sei es gerade so, daß wir aus Trägheit und Schwachheit nicht vermöchten hervorzukommen bis an den äußersten Saum der Luft. Denn wenn jemand zur Grenze der Luft gelangte oder Flügel bekäme und hinaufflöge: so würde er dann hervortauchen und sehen, wie hier die Fische, wenn sie einmal aus dem Meere herauftauchen, was hier ist, sehen, so würde dann ein solcher auch das Dortige sehen, und wenn seine Natur die Betrachtung auszuhalten vermöchte, dann erkennen, daß jenes der wahre Himmel ist und das wahre Licht und die wahre Erde. Denn die Erde hier bei uns und die Steine und der ganze Ort hier ist zerfressen und verwittert, wie was im Meere liegt, vom Salz angefressen ist und nichts der Rede Wertes im Meere wächst, noch es irgend etwas Vollkommenes darin gibt, sondern nur Klüfte und Sand und unendlichen Kot und Schlamm, wo es noch Erde gibt, und nichts, was irgend mit unsern Schönheiten könnte verglichen werden; jenes aber würde wiederum noch weit vorzüglicher sich zeigen vor dem unsrigen. Und darf man wohl eine schöne Erzählung vorbringen, Simmias, so lohnt es wohl zu hören, wie das auf der Erde unter dem Himmel beschaffen ist.” „Gewiß”, sprach Simmias, „werden wir diese Erzählung gern hören, o Sokrates,” „Man sagt also zuerst, o Freund, diese Erde sei so anzusehen, wenn sie jemand von oben herab betrachtete, wie die zwölfteiligen ledernen Bälle, in so bunte Farben geteilt, von denen unsere Farben hier gleichsam Proben sind, alle die, deren sich die Maler bedienen.
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Dort aber bestehe die ganze Erde aus solchen und noch weit glänzenderen und reineren als diese. Denn ein Teil sei purpurrot und wunderbar schön, ein anderer goldfarbig, ein anderer weiß, aber viel weißer als Alabaster oder Schnee, und ebenso aus jeder anderen Farbe bestehe einer, und aus noch mehreren und schöneren, als wir gesehen haben. Denn selbst diese Höhlungen der Erde, welche mit Wasser und Luft angefüllt sind, bilden eine eigne Art von Farbe, welche in der Vermischung aller anderen Farben glänzt, so daß sie ganz und gar als ein ununterbrochenes Bunt erscheint. Auf dieser nun, die so beschaffen ist. wachsen verhältnismäßig ebensolche Gewächse, Bäume, Blumen und Früchte. Ebenso haben auch die Gebirge und Steine nach demselben Verhältnis ihre Vollendung und Durchsichtigkeit und schönere Farben, von denen aber auch unsere so sehr gesuchten Steinchen hier Teile sind, die Karneole und Jaspisse und Smaragden und alle dergleichen; dort aber sei nichts, was nicht so wäre und noch schöner als diese. Die Ursache hiervon aber sei, daß jene Steine rein sind und nicht angefressen noch verwittert wie die hiesigen von Fäulnis und Salzwasser, von dem, was hier zusammenfließt und Steinen und Erden und allen Gewächsen und Tieren Entstellungen und Krankheiten verursacht. Die Erde also sei mit all diesem geschmückt, und außerdem noch mit Gold und Silber und dem übrigen der Art, welches glänzend dort zu finden sei und in großer Menge wachse und überall auf der Erde, so daß sie zu schauen ein beseligendes Schauspiel sei. Tiere aber gebe es auf ihr vielerlei und auch Menschen, welche teils mitten im Lande wohnen, teils so um die Luft herum wie wir um das Meer, teils auch auf luftumflossenen Inseln um das feste Land her. Und mit einem Worte, was uns Wasser und Meer ist für unsere Be- 168 dürfnisse, das sei jenen dort die Luft, und was uns die Luft, das sei jenen der Äther. Und die Witterung habe eine solche Mischung bei ihnen, daß sie ohne Krankheit wären und weit längere Zeit lebten als die hiesigen, und ihr Gesicht, ihr Gehör und ihre Einsicht, und was sonst dahin gehört, ständen von dem unsrigen in demselben Maße ab, wie die Luft vom Wasser absteht und der Äther von der Luft in Hinsicht auf Reinheit. Auch hätten sie weiter Tempel und Heiligtümer für die Götter, in denen aber die Götter wahrhaft wohnen, und Stimmen, Weissagungen und Erscheinungen der Götter,
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und solcherart sei ihr Verkehr mit ihnen, von Angesicht zu Angesicht; und Sonne, Mond und Sterne sähen sie, wie sie wirklich sind, und dem sei auch ihre übrige Glückseligkeit gemäß, „So demnach sei die ganze Erde geartet und was sie umgibt; rund umher auf ihr aber gebe es nach Maßgabe ihrer Höhlung viele Orte, einige tiefer und weiter geöffnet als der, in welchem wir wohnen, andere wiederum tiefer, aber mit einer engeren Öffnung, als die unser Ort hat; und welche sind wohl auch flacher und dabei doch breiter als der hiesige. Alle diese wären nun unter der Erde gegeneinander durchgebohrt, enger und weiter, so daß sie Durchgänge haben unter sich, durch welche dann vieles Wasser aus einem in den andern fließt, wie in Becher, und daß es unversiegliche Ströme von unübersehbarer Größe unter der Erde gebe von warmen Wassern und kalten, und vieles Feuer und große Ströme von Feuer, viele auch von feuchtem Schlamm, teils reinerem, teils schmutzigerem, wie in Sizilien die vor dem Feuerstrome sich ergießenden Ströme von Schlamm und der Feuerstrom selbst, von denen dann alle Örter erfüllt werden, je nachdem jedesmal jeder seinen Umlauf nimmt. Und dieses alles bewege hinauf und hinunter gleichsam eine in der Erde befindliche Schaukel; diese Schaukel aber bestehe durch folgende Einrichtung ungefähr. Einer nämlich von diesen Erdspalten ist auch sonst der größte und quer durch die ganze Erde gebohrt. Dieser ist nun, wie Homeros davon singt, ‚Ferne, wo tief sich öffnet der Abgrund unter der Erde’, derselbe, den anderwärts er und auch sonst viele andere Dichter den Tartaros genannt haben. In diesen Spalt nun strömen alle diese Flüsse zusammen und strömen auch wieder von ihm aus; und alle werden so wie der Boden, durch welchen sie strömen. Die Ursache aber, warum alle Ströme von hier ausfließen und auch wieder hinein, ist, daß diese Flüssigkeit keinen Boden hat und keinen Grund. Daher schwebt sie und wogt immer auf und ab, und die Luft und der Hauch um sie her tut dasselbe. Denn dieser begleitet sie, sowohl wenn sie in die jenseitigen Gegenden der Erde strömt als wenn in die diesseitigen. Und so wie der Hauch der Atmenden in beständiger Bewegung immer einströmt und ausströmt: so auch dort bildet der mit der Flüssigkeit wogende Hauch heftige und gewaltige Winde sowohl im Hineingehen als im Herausgehen. Wenn nun strömend das Wasser nach der
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Gegend hin ausweicht, welche unten genannt wird: so fließt es in das Gebiet der dortigen Ströme und füllt es an wie beim Pumpen. Wenn es aber von dort sich wiederum wegzieht und hierher strömt, so erfüllt es dann die hiesigen. Diese, wenn sie erfüllt sind, strömen durch die Kanäle und durch die Erde; und wenn sie jeder in die Gegenden kommen, wohin sie jedesmal geleitet werden, so bilden sie Meere und Seen und Flüsse und Quellen. Von da tauchen sie nun wieder unter die Erde und, teils längere und mehrere Gegenden durchziehend, teils wenigere und kürzere, ergießen sie sich alle wieder in den Tartaros, einige viel weiter unten, als wo sie ausgepumpt wurden, andere nicht soviel, aber unterhalb ihres Ausflusses fließen sie alle ein; und einige strömen wieder ein gerade gegenüber der Stelle, wo sie ausgeflossen sind, andere auf der nämlichen Seite. Ja es gibt auch welche, die im Kreise herumziehen, ein oder mehrere 169 Male sich um die Erde winden wie Schlangen und dann, möglichst tief gesenkt, sich wieder hineinergießen. „Möglich ist aber von beiden Seiten nur, sich bis zur Mitte herabzusenken, weiter nicht. Denn für beiderlei Ströme geht das jenseitige wiederum aufwärts. „So gibt es nun gar viele andere große und verschiedenartige Strome, unter diesen vielen aber gibt es vorzüglich vier, von denen der größte und der am äußersten rund herum fließende der sogenannte Okeanos ist; diesem gegenüber und in entgegengesetzter Richtung fließend ist der Acheron, welcher durch viele andere wüste Gegenden fließt, vorzüglich aber auch unter der Erde fortfließend in den Acherusischen See kommt, wohin auch der meisten Verstorbenen Seelen gelangen, und nachdem sie gewisse bestimmte Zeiten dort geblieben, einige länger, andere kürzer, dann wieder ausgesendet werden zu den Erzeugungen der Lebendigen. Der dritte Fluß strömt aus zwischen diesen beiden und ergießt sich unweit seiner Quelle in eine weite, mit einem gewaltigen Feuer brennende Gegend, wo er einen See bildet, größer als unser Meer und siedend von Wasser und Schlamm. Von hier aus bewegt er sich dann im Kreise herum, trübe und schlammig, und indem er sich um die Erde herumwälzt, kommt er nächst anderen Orten auch an die Grenzen des Acherusischen Sees, jedoch ohne daß sich ihre Gewässer vermischten. Und nachdem er sich oftmals unter der Erde umherge-
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wälzt, ergießt er sich weiter unten in den Tartaros. Dies ist der, den man Pyriphlegethon nennt, von welchem auch die feuerspeienden Berge, wo sich deren auf der Erde finden, kleine Teilchen heraufblasen. Diesem wiederum gegenüber strömt der vierte aus, zuerst in eine furchtbare und wilde Gegend, wie man sagt, die von Farbe ganz und gar dunkelblau ist, welche sie die stygische nennen, und den See, welchen der Fluß bildet, den Styx. Nachdem sich dieser nun hier hineinbegeben und gewaltige Kräfte aufgenommen in sein Wasser, geht er unter die Erde, wälzt sich herum, kommt dem Pyriphlegethon gegenüber wieder hervor und trifft auf den Acherusische See an der gegenüberliegenden Seite. Und auch dieser vermischt sein Wasser mit keinem andern, sondern geht ebenfalls im Kreise herum und ergießt sich wieder in den Tartaros gegenüber dem Pyriphlegethon. Sein Name aber heißt, wie die Dichter sagen, Kokytos. „Da nun dieses so ist, so werden, sobald die Verstorbenen an dem Ort angelangt sind, wohin der Dämon jeden bringt, zuerst diejenigen gerichtet, welche schön und heilig gelebt haben und welche nicht. Die nun dafür erkannt werden, einen mittelmäßigen Wandel geführt zu haben, begeben sich zum Acheron, besteigen die Fahrzeuge, die es da für sie gibt, und gelangen auf diesen zu dem See. Hier wohnen sie und reinigen sich, büßen ihre Vergehungen ab, wenn einer sich irgendwie vergangen hat, und werden losgesprochen, wie sie auch ebenso für ihre guten Taten den Lohn erlangen, jeglicher nach Verdienst. Deren Zustand aber für unheilbar erkannt wird wegen der Größe ihrer Vergehungen, weil sie häufigen und bedeutenden Raub an den Heiligtümern begangen oder viele ungerechte und gesetzwidrige Mordtaten vollbracht oder anderes, was dem verwandt ist, diese wirft ihr gebührendes Geschick in den Tartaros, aus dem sie nie wieder heraussteigen. Die hingegen zwar heilbare, aber doch große Vergehungen begangen zu haben befunden werden, wie die gegen Vater oder Mutter im Zorn etwas Gewalttätiges ausgeübt oder die auf diese oder andere Weise Mörder geworden sind, diese müssen zwar auch in den Tartaros stürzen, aber wenn sie hineingestürzt und ein Jahr darin gewesen sind, wirft die Welle sie wieder aus, die Mörder auf der Seite des Kokytos, die aber gegen Vater und Mutter sieh versündigt, auf der des Pyriphle-
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gethon. Wenn sie nun, auf diesen fortgetrieben, an den Acherusi- 170 schen See kommen; so schreien sie da und rufen die, welche von ihnen getötet worden sind oder frevelhaft behandelt. Haben sie sie nun herbeigerufen, so flehen sie und bitten, sie möchten sie in den See aussteigen lassen und sie dort aufnehmen. Wenn sie sie nun überreden, so steigen sie aus, und ihre Übel sind am Ende; wo nicht, so werden sie wieder in den Tartaros getrieben und aus diesem wieder in die Flüsse, und so hört es nicht auf, ihnen zu ergehen, bis sie diejenigen überreden, welchen sie unrecht getan haben; denn diese Strafe ist ihnen von den Richtern angeordnet. Die aber ausgezeichnete Fortschritte in heiligem Leben gemacht zu haben befunden werden, dies endlich sind diejenigen, welche, von allen diesen Orten im Innern der Erde befreit und losgesprochen von allem Gefängnis, hinauf in die reine Behausung gelangen und auf der Erde wohnhaft werden. Welche nun unter diesen durch Weisheitsliebe sich schon gehörig gereinigt haben, diese leben für alle künftigen Zeiten gänzlich ohne Leiber und kommen in noch schönere Wohnungen als diese, welche weder leicht wären zu beschreiben, noch würde die Zeit für diesmal zureichen. Aber schon um dessentwillen, was wir jetzt auseinandergesetzt haben, o Simmias, muß man ja wohl alles tun, um der Tugend und Vernunft im Leben teilhaftig zu werden. Denn schön ist der Preis und die Hoffnung groß. „Daß sich nun dies alles gerade so verhalte, wie ich es auseinandergesetzt, das ziemt wohl einem vernünftigen Mann nicht zu behaupten; daß es jedoch sei es nun diese oder eine ähnliche Bewandtnis haben muß mit unseren Seelen und ihren Wohnungen, wenn doch die Seele offenbar etwas Unsterbliches sei, dies, dünkt mich, zieme sich gar wohl und lohne auch, es darauf zu wagen, daß man glaube, es verhalte sich so. Denn es ist ein schönes Wagnis, und man muß mit solcherlei gleichsam sich selbst besprechen. Darum spinne ich auch schon so lange an der Erzählung. „Also um dessentwillen muß ein Mann guten Mutes sein seiner Seele wegen, der im Leben die andern Lüste, die es mit dem Leibe zu tun haben, und dessen Schmuck und Pflege hat fahren lassen als etwas ihn selbst nicht Angehendes und wodurch er nur Übel ärger zu machen befürchtete, jener Lust hingegen an der Forschung nachgestrebt und seine Seele geschmückt hat nicht mit fremden, sondern
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mit dem ihr eigentümlichen Schmuck, Besonnenheit, Tapferkeit, Edelmut und Wahrheit, so seine Fahrt nach der Unterwelt erwartend, um sie anzutreten, sobald das Schicksal rufen wird, Ihr nun“, setzte er hinzu, „o Simmias und Kebes und ihr übrigen, werdet ein andermal jeder zu seiner Zeit abgehen; mich aber ruft jetzt schon, würde ein tragischer Mann sagen, das Geschick, und es ist wohl beinahe Zeit, sich nach dem Bade umzusehen. Denn es dünkt mich doch besser zu baden, ehe ich den Trank nehme, und nicht hernach den Weibern Mühe zu machen mit dem Waschen des Leichnams.”2
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Dem Ende haftet eine unerschütterliche Schönheit an: ruhig und gelassen, bereits Unsterblichkeit ausstrahlend und sich dennoch die leicht skeptische Ironie bewahrend, die „einem vernünftigen Mann” in dieser Welt geziemt. Es besiegelt das mit Vertrauen, was ansonsten wahrhaftig einer Zauberformel gleichkäme, die sich jemand in den letzten Augenblicken seines Lebens wiederholt. Jene Leser, welche für diese Magie nicht empfänglich sind, werden dazu neigen, die Geschichte als poetischen Nonsens abzutun. Sollte Sokrates beziehungsweise Platon tatsächlich von einem Flußsystem innerhalb der Erde sprechen, dann hat er offensichtlich nicht die geringste Ahnung von Hydraulik und nur seiner Phantasie freien Lauf gelassen. Wenn man sich aber den Hintergrund erneut anschaut, beginnt man sich zu fragen, ob er sich überhaupt auf die Erde, wie wir sie begreifen, bezieht. Er erwähnt einen bestimmten Ort, an dem wir leben, und dieser gleicht einem Morast in einer Höhlung oder vielleicht dem Grund eines Sees, der voll ist mit Steinen und Höhlen und Sand „und unendlichem Kot und Schlamm“. Die „wahre Erde“, die wie ein Ball mit zwölf farbigen Teilen aussieht, befindet sich über uns, und instinktiv mag man glauben, Platon beziehe sich auf die Übersetzung von Friedrich Schleiermacher (1826; zweite Überarbeitung 1987), 81-91. [A.d.Ü.: Die Aufteilung in Abschnitte wurde entsprechend der von den Autoren zitierten englischen Übersetzung von R.S. Bluck (1955, 128-139) vorgenommen.
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oberen Grenzen der Stratosphäre – nur hatte er darüber nie etwas gehört. Sein Augenmerk gilt einer „anderen” Welt über uns. Und obgleich es einige Phantasien über hübsche Landschaften, Tiere und Edelsteine gibt, ist diese andere Welt in jenem „Äther” angesiedelt, wie die Griechen ihn verstanden. Sie konzentriert sich wie „unser” Ort – was immer das sein mag – auf den Mittelpunkt des Universums. Dort kann man die Himmelskörper in ihrer Wirklichkeit begreifen, und die Götter sind sichtbar und bereits gegenwärtig. Wenn sie „Tempel und Heiligtümer” haben, „in denen die Götter aber wahrhaft wohnen”, so ähneln diese sehr stark den Häusern des Zodiaks. Obwohl einige Wesensmerkmale miteinander vermengt werden, um den Eindruck des Wundersamen aufrechtzuerhalten, hat man zunächst den Verdacht, daß es hier um den Himmel in seiner reinen und einfachen Gestalt geht. Doch dann folgt das unmißverständliche geometrische Losungswort. Jene Welt ist ein Dodekaeder. Das ist es, wofür die Kugel aus zwölf Teilen steht. Es begegnet uns auch im Timaios (55C). Dort benutzt der Demiurg – nachdem er die vier Elemente aus den vier regelmäßigen Polyedern gebildet hat3 – das fünfte Element, also das Dodekaeder, zur Bildung des „Ganzen” (epì tò pan)4 und verziert es mit Figuren; aber dieser eine Satz ist tückisch und hat nicht nur modernen Interpreten Kopfschmerzen verursacht.5 Tetraeder: Feuer, Oktaeder: Luft. Ikosaeder: Wasser, Kubus: Erde. Stobaios (Piels, Doxographi, 334f) schreibt diese Zuordnung der vier Elemente zu den Polyedern und die des Dodekaeders zu „tên tou pantòs sphairan“ dem Pythagoras zu. 4 In „De E apud Delphos” (330 A) sagt Plutarch zu der fünften „Welt”, dem Himmel, andere nennten sie „Licht” (phôs), noch andere „aither” und wieder andere „pémptên ousían”, die fünfte Wesenheit, das fünfte Element (quinta essentia), weil einzig diesem Körper von Natur aus (katà phýsin) kreisförmige Bewegung zukomme. Siehe dazu Aristoteles, De caelo, 269a30-269b 15λ. 5 Timaios 55C 4-6: „éti dè oúsês systáseôs mias pémptês, epì tò pan ho 3
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In Plutarchs Platonicae quaestiones (V)6 lesen wir: 172
Teilte Platon, wie manche meinen, das Dodekaeder dem Sphärischen zu (tô sphairoeidê), als er behauptete, daß der Gott es zum Ausmalen des Weltalls verwandte (pròs tên tou pantòs … phýsin ekeino diazôgraphôn)?7 Denn es ist aufgrund der Vielheit seiner Elemente und der Stumpfheit seiner Winkel am weitesten von der Geraden entfernt, dehnbar, und wenn voll ausgedehnt, rund und allumfassend wie aus zwölf Lederstücken hergestellte Bälle. Denn es enthält 20 dreidimensionale Winkel, deren jeder aus 3 stumpfen zweidimensionalen Winkeln und einer Winkelgröße von einem rechten Winkel und 1/5 davon besteht [d.h. 18°, also zusammen 90° + 18° = 108°, H.v.D.]. Und das Dodekaeder ist zusammengefügt und gebaut (synêrmostai dè kaì sympépêgen) aus 12 gleichwinkligen und gleichseitigen Fünfecken, deren jedes wiederum aus 30 der ursprünglichen ungleichschenkligen Dreiecken besteht. Und dies ist der Grund, weshalb das Dodekaeder gleichzeitig den Tierkreis und das Sonnenjahr abzubilden scheint (apomimeisthai), da ja die Untertheòs autê katechrêsato ekeino diazôgraphôn.” Franz Susemihl übersetzt: „Da es aber noch eine fünfte Art der Zusammensetzung von entsprechender Eigenschaft gibt, so bediente sich Gott dieser vielmehr für das Weltganze, als er diesem seinen Bilderschmuck gab.” Bei Alfred Edward Taylor [A Commentary an Plato’s Timaeus (1928), 377] liest man: Platon „says God used it ,for the whole, embellishing it with designs’.” (Er erläutert: „zôa is the regulqr word for the figures in a picture … no matter what they represent.”) Bei Francis Macdonald Cornford [The Timaeus of Pluto (1937), 218] heißt es: „There still remained one construction, the fifth, and the god used it for the whole, making a pattern of animal figures theron.” 6 1003C, LCL Plutarch Band XII. I, 52ff. Die hier zitierte Übersetzung stammt von Harald A.T. Reiche. 7 Harald Cherniss übersetzt: „… that god employed the former [das Dodekaeder] for the nature of the sum of things in tracing the design of this?” In De defectu oraculorum (430B) formuliert Plutarch: ,,hóti tê pémptê sýstási ho theòs epì tò pan katechrêsato ekeino diazôgraphôn”, was Frank Cole Babbitt wiedergibt mit: „God used up the fifth construction on the universe in completing its embellishment.”
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teilungen zahlenmäßig gleich sind.8
Mit anderen Worten: Das Dodekaeder ist gebildet aus zwölf Fünfecken, von denen jedes aus 30 ungleichschenkligen Dreiecken besteht – was laut Cherniss zur Stelle nicht stimmt9 –, der Tierkreis aus zwölf Zeichen zu je 30° und das Sonnenjahr aus zwölf Monaten zu 30 Tagen – was ja leider auch nicht stimmt. Es ist von jeher als eher verdrießlich empfunden worden, daß das Jahr nicht 360 Tage zählt, sondern fünf (und ¼) „überschüssige” Tage aufweist, die sogenannten Epagomena, und daß zwölf Lunationen 354 Tage ausmachen, nicht aber 360. Taylor10 erklärt Plutarchs „Anspielungen auf den Zodiakos” für völlig unangebracht („out of the question”) und vermutet, Plutarch habe das Dodekaeder mit dem in den Kreis eingeschriebenen Zwölfeck verwechselt. Nun, für die Pythagoreer waren einzig Zahlen maßgebend, was Aristoteles11 deutlich genug hervorgehoben hat; und so hatte denn auch der spätere große Pythagoreer Kepler keine Schwierigkeiten mit dem Plutarch. In der Harmonice Mundi schreibt er: Das Dodekaeder wird dem himmlischen Körper überlassen, wie es 173 ja auch die gleiche Anzahl Seitenflächen besitzt wie der himmlische Tierkreis Zeichen. Es läßt sich beweisen, daß es unter allen übrigen Figuren das größte Fassungsvermögen hat, wie auch der Himmel alles umfaßt.12
H. Cherniss: „… and that is why it seems to represent at once the zodiac and the year in that the divisions into parts are equal in number.” 9 op.cit. 54. mit Verweis auf Plutarchs De defectu oraculorum 428a sowie Thomas Heath, A Manual of Greek Mathematics (1931), 177. 10 A.E. Taylor, Commentary on Plato’s Timaeus (1928). 377. 11 Aristoteles, Metaphysik 985B.25 bis 986A.7. 12 J. Kepler, Weltharmonik (übersetzt von Max Caspar), Buch II: „Über die Kongruenz der regelmäßigen Figuren”, 25. Satz, Seite 75. Siehe auch Abbildungen 13 und 14 in diesem Buch. 8
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Platon kümmerte sich nicht viel um zukünftige Berufskritiker. Er stellte nur ein delektierliches Bildnis zur Verfügung und überließ es ihnen, es zu enträtseln. Die Terminologie jedoch ist eindeutig. Nachdem der Demiurg die ersten vier vollkommenen Körper für die Elemente verwendet hatte, war das Dodekaeder übrig; und dieses benutzte er für das Gerüst des Ganzen. Es ist nicht nötig, sich eingehender mit den geometrischen und numerologischen Überlegungen zu befassen, welche die „Sphäre der zwölf Pentagons“, wie sie genannt wurde, für die ihr zugedachte Rolle tauglich machten. Platon stand in der ursprünglichen pythagoreischen Tradition, die mit kosmos die Ordnung der Sonne, des Mondes und der Planeten sowie von allem, was ihnen einbegriffen war, bezeichnete. Als eine frei umherwandernde Seele kann man sich das „von oben“ beschauen. (In seinem SandRechner benutzt Archimedes den Begriff kosmos noch lose in diesem Sinn, zumindest als Konzession an seinen alten Gebrauch.) Um einen Schluß zu ziehen: Die „wahre Erde” war nichts anderes als der pythagoreische Kosmos. Und die Flüsse, die von seiner Oberfläche zum Mittelpunkt und wieder zurück strömten, sind kaum im streng terrestrischen Sinne vorzustellen – obgleich es bei jener kuriosen archaischen Verwirrung von Erde und Himmel, die vertraut geworden ist und große Flüsse vom Himmel zur Erde strömen läßt, nicht weiter überrascht, sich mit „wirklichen” feurigen Strömungen konfrontiert zu sehen, wie etwa dem Pyriphlegethon, der mit vulkanischem Feuer in Verbindung steht. Aber wo ist die Styx? Mit ihrer blauen Landschaft dürfte sie sich wohl kaum hier unten befinden. Auch handelt es sich bei dem immensen, vom Sturm umtobten Abgrund des Tartaros nicht um eine unterirdische Höhle; er gehört irgendwo in die „äußere“ Sphäre, Dies alles ist die Welt der Verstorbenen, die sich über den gesamten Bereich unterhalb der Oberfläche erstreckt. Sie ist ebenso wenig lokalisierbar wie die untere Welt in Platons Republik. Die sich windenden Flüsse, welche die Toten befördern und auf ihrer
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Bahn wieder zurückfließen, erinnern mehr an Astronomie denn an Hydraulik. Das „Schaukeln” der Erde kann sehr gut das Schwingen der Ekliptik und des Himmels mit den Jahreszeiten darstellen. Es ist an dieser Stelle nicht erforderlich, auf die verwirrenden irdischen oder infernalen Einzelheiten der Beschreibung einzugehen – mit Ausnahme der Anmerkung, daß Numenius von Apamea, ein bedeutender Exeget Platons, kategorisch die Behauptung aufstellt, die Flüsse der anderen Welt sowie der Tartaros selbst seien die „Region der Planeten“. Aber Proklos, ein noch bedeutenderer und gebildeterer Exeget Platons, tritt 174 ebenso kategorisch gegen Numenius an.13 Wir wissen genug – um nicht zu sagen: mehr als genug – über den Wirrwarr orientalischer Überlieferungen über die Himmelsflüsse mit ihrer verblüffenden Mischung aus astronomischer und biologischer Vorstellungskraft, um zu erkennen, woher das frühe Griechenland sein Wissen bezog. Es kann hier sich selbst überlassen bleiben. Sokrates zitiert jedoch eine orphische Version, weshalb seine Zurückhaltung bezüglich der Benennung seiner Autoritäten wie auch deren Entitäten – zum Beispiel Okeanos und Chronos – unsere Aufmerksamkeit verdient. Hier ist nicht Kronos/Saturn, sondern wirklich Chronos gemeint: die Zeit. Was Okeanos betrifft, so mußte selbst Jane Ellen Harrison, die man schwerlich der Tendenz bezichtigen kann, nach den Göttern woanders als auf der Oberfläche oder im Innern der Erde zu suchen, eingestehen: „Okeanos ist weitaus mehr als nur der Ozean und von anderer Herkunft.“14 In ihren Augen ist er „ein Dämon der oberen Luft”. Das ist ein wichtiges Eingeständnis, das uns sehr viel weiterbringen kann. Für den Moment lassen wir das beeindruckende Werk von Eisler Weltenmantel und Himmelszelt beiseite. Es ist eine unerschöpfliche Quelle, aber eine, die mehr Informationen denn AnSiehe Felix Buffière, Les Mythes d’Homère et la Pensée Grecque (1956), 444. 14 J.E. Harrison, Themis (1960), 456f. 13
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leitung bereithält. Richard Broxton Onians’ Origins of European Thought bietet hingegen eine Einschätzung jüngeren Datums an.15 Er vergleicht Okeanos mit Acheloos, dem uranfänglichen Wasserfluß, den man sich „als eine Schlange mit einem menschlichen Kopf und Hörnern vorstellte”. Er fährt fort: Das Zeugungselement in jedem Körper war die Seele, die in Form einer Schlange erschien. Okeanos war, wie man es heute betrachten kann, die uranfängliche Seele: und diese wurde gedacht als eine Schlange in Beziehung zu einer erzeugenden Flüssigkeit … Folglich können wir sehen, daß das Universum gemäß Homer, der sich voller Anspielungen auf die von seinen Zeitgenossen geteilte Vorstellung bezieht, die Form eines Eies hatte, umgürtet von „Okeanos, der die Erzeugung des Alls ist“. Vielleicht können wir jetzt auch besser verstehen … , warum in dieser orphischen Version [Fragmente 54, 57, 58 Kern] die Schlange Chronos genannt wurde und warum Pythagoras auf die Frage, wer Chronos sei. antwortete, daß es die Seele des Universums sei. Laut Pherekydes wurden das Feuer, die Luft und das Wasser aus dem Samen von Chronos erzeugt.
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Die große orphische Entität war Chronos Aiōn (der iranische Zurvan akarana), im allgemeinen verstanden als „ungebundene Zeit”. Unter dem Begriff „Aiōn” versteht Onians „die erzeugende Flüssigkeit, mit der die Seele identifiziert wurde, das Rückenmark, von dem man glaubte, es nehme die Gestalt einer Schlange an”. Und das mag sehr wohl der Fall sein, zumal es zeitlose Ideen gibt, die noch heute in Schlangenkulten und im „Kundalini” des indischen Yoga fortleben. Aber mit Sicherheit bedeutete Aiōn „eine Zeitperiode” und ein Alter, woraus sich „Weltalter”und später „Ewigkeit“ entwickelte; und es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß die biologische Bedeutung früher und vorherrschend gewesen sein muß. Es ist bekannt, daß für die Orphiker Chronos mit Ananke, der Notwendigkeit, die nach der Vorstellung der Pythagoreer ebenfalls das Universum R.B. Onians, The Origins of European Thought about the Body, the Mind, the Soul, the World, Time, and Fate (2. Auflage 1953), 249ff. 15
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umgibt, ein Paar bildete. Zeit und Notwendigkeit umkreisen das Universum – das ist ein recht klares und fundamentales Konzept. Es ist, unabhängig von der Biologie, mit den Himmelsbewegungen verknüpft, und es führt geradewegs zu Platons Idee von der Zeit als dem „sich bewegenden Abbild der Ewigkeit”. Es wäre hilfreich, wenn Historiker bei ihrer Analyse archaischen Denkens zuerst zuverlässige Daten präsentierten, ohne ihr Material in eine Form zu pressen und zu quetschen, welche ihre voreingenommene Schlußfolgerung widerspiegeln, daß es in „primitiver” Seelenkunde in erster Linie um biologische Vorstellungen geht, wie bei allem, was mit Zeugung zusammenhängt. Wenn es jemandem nach Psychologie verlangt, so kann er sich zu einem ganz anderen Lebensabschnitt zurückbegeben, indem Sokrates im Theätet (152E) wirklich Seelenkunde betreibt: »Wenn Homer das Wunder des «Ozeans, dem die Götter und Mutter Tethys entspringen' besingt, meint er dann nicht, daß alle Dinge die Nachkommen von Fließen und Bewegung sind?” Es erhebt sich die Frage, ob der Ozean als Bildnis des Fließens die Gezeiten unberücksichtigt lassen kann? Tatsächlich aber hatte Sokrates’ Ägäis keine Gezeiten. Er entlehnt das Bildnis Hesiods Beschreibung des Okeanos (Theogonie 790ff): „Neun (Teile) fließen um die Erde und um den breiten Rücken des Meeres, in silbernen Wirbeln gewunden ins Meer herabfallend. Der zehnte aber fließt aus einem Felsen als große Not für die Unsterblichen.“ Dieser grauenvolle Zehnte ist der Fluß Styx. Jane Ellen Harrison hatte recht. Okeanos „ist von anderer Herkunft” als unser Ozean. Die Autorität Hugo Bergers vermag das Bild zu rekonstruieren.16 In der Literatur lauten die Attribute für Okeanos „tieffließend”, „in sich selbst zurückfließend”, „unermüdlich”, „friedlich dahinfließend^, „ohne Wogen”. Diese Bilder, bemerkt Berger, suggerieren Ruhe, Regelmäßigkeit, Tiefe, Stille, Umdrehung – Eigenschaften, die typisch für den Sternenhimmel sind. Später 16
H. Berger, Mythische Kosmographie der Griechen (1904), lff.
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wurde der Name auf einen erdgebundenen Begriff übertragen: auf die tatsächliche See, von der man annahm, sie umgebe das Land auf allen Seiten. Aber die ausdrückliche und oft wiederholte Unterscheidung von der „offenen See” zeigt, daß dies niemals die ursprüngliche Idee war. Wenn Okeanos ein Fluß mit „silbernen Wirbeln” und vielen Verzweigungen ist, die sich offensichtlich niemals auf der See oder dem Land befunden haben, dann ist die „offene See” auch nicht das Meer, pontos oder thalassa, es müssen die Oberen Wasser sein. Der Okeanos des Mythos bewahrt diese beeindruckenden Charakteristika der Regungslosigkeit und Stille. Er war derjenige, welcher für sich bleiben konnte. wenn Zeus auf dem Olymp alle Götter in seinen Dienst befahl. Er war es, der seine Tochter ausschickte, um über den angeketteten Prometheus zu wehklagen, und der sich anbot, mit Hilfe seines mächtigen Einflusses für Prometheus zu vermitteln. Er ist der Vater der Flüsse; tatsächlich taucht er in der Überlieferung als der in der Vergangenheit ursprüngliche Gott des Himmels auf. In einer Orphischen Hymne17 wird er als „freundlicher Umkreiser der Erde, feuchtwegiger Anfang des Pols” angeredet, und im Etymologicurn magnum heißt es, sein Name sei von „Himmel” hergeleitet.
83.7 (Quandt-Ausgabe in der Übersetzung von Plessmann, 55): terma philon gaiēs, archē polou.
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Di, quibus imperium est animarum, umbraeque silentes Et Chaos et Phlegethon, loca tacentia late Sit mihi fas audita loqui … VERGIL
Sokrates’ unnachahmliche Angewohnheit, über ernsthafte Dinge zu diskutieren, indem er eine unwahrscheinliche Geschichte erzählt, ist es der Mühe wert, sich sein seltsames Flußsystem näher anzuschauen. Beinahe wie eine Kulisse taucht es wieder bei Vergil auf. Die Aeneis ist eine höfische Dichtung und nicht dazu bestimmt, nähere Auskünfte über das Schicksal der Seelen zu geben; man darf von ihr nicht solch ernste, explizit pythagoreische Aussagen erwarten, wie wir sie in Ciceros Traum des Scipio finden. Aber obgleich die konventionelle Bildersprache beibehalten wurde und trotz des offiziellen literarischen großen Stils, wie er einer Glorifizierung des Römischen Imperiums gebührte, lohnt es sich, den Anspielungen volle Aufmerksamkeit zu schenken, denn Vergil war nicht nur ein subtiler, sondern auch ein überaus gelehrter Dichter. So findet sich Aeneas bald, nachdem sein Eintritt in den Hades mit einer Ouvertüre aus dunklem Dickicht, Gespenstern, düsteren Höhlen und furchterregenden nächtlichen Riten begonnen hat, die einen wirklichen Abstieg in den Erebos unter der Erde anzeigen, in einer eher vagen Landschaft wieder. Ibant obscuri sola sub nocte per umbram … „Beide, von einsamer Nacht verborgen, wandern im Dunkel / Durch die verödeten Sitze des
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Dis, die leblosen Reiche: / Wie beim spärlichen Schein des matten Mondes die Straße / Durch die Wälder zieht … ”1 Die Schönheit dieser Zeilen verschleiert die Tatsache, daß die Reise in Wirklichkeit nicht durch unterirdische Höhlen führt, die von unzählbaren Toten bevölkert werden, sondern durch große Strecken der Leere, die den Raum der Nacht suggerieren; und sobald die Gesellschaft die Flüsse überquert und die Tore des Elysiums passiert hat – dank der Magie des Goldenen Zweiges –, befindet sie sich in einem heiteren Land, „wo droben / Niederfließt durch den Wald des Eridanus mächtige Strömung.”2 Nun ist und war Eridanus im Himmel – und sicherlich nicht, in diesem Zusammenhang, in der lombardischen Ebene. Und auch hier „kleidet der Äther mit purpurnem Licht die Gefilde / Rings, wo sie eigene Sonne und eigene Sterne erblicken“.3 Die „bleichen Ebenen der Narzissen” der homerischen Tradition werden hier nicht erwähnt. Jene schwebenden Seelen – „Völker und Stämme ohne Zahl” –befinden sich eindeutig auf der „wahren Erde im Himmel“, denn es wird auch gesagt, daß viele von ihnen in echter pythagoreischer Manier auf die Zeit warten, da sie auf der Erde geboren beziehungsweise wiedergeboren werden. Und in den Worten von Vater Anchises ist mehr als ein orphischer Hinweis enthalten: „Feurige Lebenskraft und himmlischer Ursprung sind allen / Keimen eigen, soweit nicht schädliche Körper sie lähmen … ” Aber wenn ihr Leben zu Ende geht und sie gestorben sind, „… verläßt die Armen nicht alles Übel, nicht willig / Jede Vergiftung des Leibes; unfehlbar mußte ja vieles / Wunderlich tief im Laufe der Zeit mit ihnen verwachsen. / Darum werden sie so durch Strafen geläutert und müssen / Alle Vergehungen büßen. Die einen schweben den Winden / Ausgespannt entgegen, und andre läutern in tiefem / Strudel oder im Feuer sich Vergil, Aeneis VI 268-271, in der deutschen Übertragung von Thassilo von Scheffer (1985), 122. 2 Vergil, op.cit., 132. 3 Vergil, op.cit., 132. 1
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von den haftenden Sünden. / Jeder von uns muß büßen nach seinem Innern … ”4 Einige bleiben im Jenseits und werden zu reinen Seelen; andere werden nach tausend Jahren (das ist Platon entlehnt) in der Lethe gewaschen und danach zurück ins Leben mit neuen Prüfungen geschickt. Das entspricht den Vorstellungen des Sokrates. Die Wörter „oben” und „unten” sind – hier wie dort – aus Respekt vor volkstümlichen Atavismen beziehungsweise der Staatsreligion mit Absicht zweideutig, dennoch ist dies Platons andere Welt. Als Dante Vergils Weisheit aufgriff, nötigten ihn seine starken christlichen Voreingenommenheiten, die Welt der Höchststrafe „physikalisch unten” anzusiedeln. Jedoch befindet sich sein Purgatorium wiederum oben, unter freiem Himmel; und es steht außer Frage, daß auch Vergils Welt ein Purgatorium ist und sich ebenfalls eindeutig „oben” befindet. Sokrates’ seltsame Beschreibungen sind lebendig geblieben. Aber Vergil hat sogar noch mehr zu bieten. In den Georgica heißt es: „Dieser Pol ist immer über uns sichtbar; jenen aber unter unseren Füßen sehen die schwarze Styx und die Manen tief unten (Hic vertex nobis semper sublimis; at illum sub pedibus Styx atra videt Manesque profundi).”5 Was kann das anderes bedeuten, als daß die Styx in Sichtweite des anderen Pols fließt? Der Kreis, der mit Hesiod begann, hat sich nunmehr geschlossen.6 Vergil, op.cit., 134. Vergil, Georgica I.242f (übersetzt von Hertha von Dechend). Johannes und Maria Götte (1977), 75, machen aus den Manen „Geister der Tiefe”: „Stets ragt hier uns zu Häuptern der Pol. Den Südpol indessen schauen da drunten die düstere Styx und die Geister der Tiefe.” 6 Die Symmetrie beider Polarzonen ist offensichtlich von dem Dichter beabsichtigt, „Fünffach umschlingen die Zonen das Himmelsgewölbe. Die eine flammt unter blitzender Sonne, gedörrt von ewigem Feuer. Rechts und links von ihr die äußersten Pole umziehen bläuliche Zonen, starr von Eis, von Regen umdüstert. Doch zwischen Hitze und Frost 4 5
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Große Dichter scheinen sich gegenseitig zu verstehen und über Informationen zu verfügen, die dem Publikum für gewöhnlich vorenthalten werden; Dante setzt dort ein. wo die Aeneis aufhört. Wie die Jenseitswanderer, die ihren Weg durch die inneren Kreise der Hölle gehen (Inferno VII. 102), gelangen Dante und Vergils Schatten als sein Führer an einen kleinen Fluß, der aus dem Felsen sprudelt. „Sein Wasser war düsterer als graublau ist” – das ist die Styx. Und indem sie ihn entlanggehen, erreichen sie den schwarzen stygischen Sumpf, in den die Seelen jener eingetaucht werden, welche das Leben „in milden, sonnendurchglänzten Lüften droben” gehaßt und es voll Gram und Boshaftigkeit verbracht haben. Dann müssen sie sich den Zinnen der Feuerstadt des Dis stellen, dem Festungswall der Unteren Hölle, der von Teufelslegionen und von den Furien mit der schrecklichen Gorgo höchstpersönlich bewacht wird. Erst nachdem ein Himmelsbote interveniert hat springen die verriegelten Tore durch die Berührung mit dem Stab (eine Spielart von Aeneas’ Goldenem Zweig) auf, um den Wanderern den Zutritt in die Stadt der ewigen Verdammnis zu gewähren. Als sie im inneren Kreis weitergehen, kommen sie an einen Fluß aus kochendem roten Wasser, der später in einen Wasserfall übergeht und sich in die Tiefe des Abyssus (baratro – Tartaros) stürzt. An dieser Stelle bemerkt Vergil (XIV.85): „Von allem, was ich bisher dir gezeigt, seit wir das Tor durchschritten, das für jeden, der an die Schwelle kommt, schon offen steht, hat nichts sich deinem Auge dargeboten, bemerkenswert wie dieser schmale Bach, an dem die Flammenflocken all zergehen.” Das sind gewichtige Worte nach alldem, was sie bereits durchgemacht haben. Es folgt ihnen eine Erklärung, die ziemlich weit hergeholt klingt; „Ein verwüstetes Land liegt mitten in dem Meer”, beginnt Vergil, „und Kreta heißt gewährten der leidenden Menschheit zwei Bereiche die Götter. Ein Weg durchschneidet die beiden, daß dort schräg hindurch der Tierkreis wende den Reigen.“ (Georgica I.233-38, Götte-Übersetzung) Mit dem durchschneidenden Weg ist die Ekliptik gemeint.
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das Land; dort war ein Reich [mit Saturn als König, H.v.D.], und Unschuld herrschte einst.” Dort, im Schoße des Berges Ida, wo Zeus von Rhea geboren wurde, befinde sich eine riesige Höhle, in der eine Statue sitze. Dante folgt hier einer alten Überlieferung, die man bei Plinius finden kann und nach der ein Erdbeben eine Höhle in den Berg riß, in welcher man eine gewaltige Statue fand, über die nicht viel gesagt wird, außer daß sie 46 Ellen hoch war. Dante scheint für seine Beschreibung jedoch eine berühmte Vision des Propheten Daniel heranzuziehen. Nachdem König Nebukadnezar den Propheten gebeten hatte, ihm einen bösen Traum zu deuten, den er vergessen hatte, betete Daniel zu Gott, damit dieser ihm den Traum offenbare: „Du, König, hattest einen Traum, und siehe, ein großes und hohes und hell glänzendes Bild stand vor dir, das war schrecklich anzusehen. Das Haupt dieses Bildes war von feinem Gold, seine Brust und seine Arme waren von Silber, sein Bauch und seine Lenden waren von Kupfer, seine Schenkel waren von Eisen und teils von Ton. Das sahst du, bis ein Stein herunterkam, ohne Zutun von Menschen- 180 händen; der traf das Bild an seinen Füßen, die von Eisen und Ton waren, und zermalmte sie … Der Stein aber, der das Bild zerschlug, wurde zu einem großen Berg, so daß er die ganze Welt füllte.“7
An diesem Punkt verabschiedet sich Dante von Daniel, und mit jener Unbekümmertheit, die ihn selbst dann auszeichnet, wenn er von Heiligen Propheten spricht, die er als seinesgleichen behandelt, entläßt er den königlichen „Mumpitz” in Babylon. Sein Instinkt sagt ihm, daß die Vision in Wirklichkeit mit älteren und erhabeneren Subjekten zu tun haben muß, nämlich mit dem Kosmos selbst. Entsprechend führt er die Vision auf seine eigene Weise zu Ende: Die vier Metalle stehen für die vier Zeitalter des Menschen, und außer dem Gold (Symbol des Zeitalters der Unschuld) wird jedes von einem Riß, aus dem Tränen fließen, gespalten. Aus diesen Tränen entstehen die Flüsse, welche die 7
Der Prophet Daniel 2. 31-35, zitiert nach o.g. Bibelausgabe.
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Sünden der Menschheit in die Unterwelt tragen. Es sind die Flüsse Acheron, Styx und Phlegethon. Wir haben erwähnt, daß Dante die ursprünglichen Wasser der Styx als graublau oder stahlblau (perso) beschreibt – genauso, wie es bei Hesiod und Sokrates geschrieben steht, die er nie gelesen hat. Er mag es Servius oder Macrobius entnommen haben, aber das ist unerheblich. Bemerkenswert ist hingegen die peinliche Genauigkeit, mit der er die nur vage verstandene Überlieferung der LapislazuliLandschaft der Styx konserviert, eine Landschaft, von der sich herausstellen wird, daß sie sich über die ganze Welt ausdehnt. Soweit es den Phlegethon betrifft, folgt der Verlauf des Stroms ziemlich genau der Route, die Sokrates für den Pyriphlegethon, den „flammenden Fluß”, anzugeben wußte. Wir haben im Phaidon eine weit unten angesiedelte, feurige Region gesehen, die von einem Lavastrom durchquert wird, der sogar richtiges Feuer an die Erdoberfläche spuckt. Während manche Interpreten glaubten, er fließe durch das Erdinnere, verlegten andere den Pyriphlegethon, wie auch die anderen Flüsse, in die menschliche Seele.8 Allerdings gibt es kaum Zweifel, daß es sich bei ihm, wie Albrecht Dieterich geltend gemacht hat,9 ursprünglich um einen Strom feurigen Lichts am Himmel handelte, vergleichbar dem Eridanus. Auf alle Fälle windet sich der flammende Sturzbach, wie er in der Aeneis genannt wird, in Spiralen nach unten, deren Weg in Dantes Topographie sorgfältig nachgezeichnet wird, bis er sich mit den anderen Flüssen vereint und sie gemeinsam kasSiehe Macrobius, Commentary on the Dream of Scipio 1.10.11 [übersetzt von Stahl (1952), 128J: „Entsprechend nahmen sie an, daß der Phlegethon nichts weiter als das Feuer unseres Zorns und unserer Leidenschaft ist, daß der Acheron den Verdruß darstellt, den wir über etwas Gesagtes oder eine Tal empfinden … , daß der Kokytos irgend etwas symbolisiert, was uns zum Wehklagen bringt oder zu Tränen rührt, und daß die Styx alles das verkörpert, was den menschlichen Geist in den Abgrund gegenseitigen Hasses stürzt.” 9 A. Dieterich, Nekyia (1893), 27. 8
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kadenartig in den eisigen See des Kokytos stürzen – „zur letzten Tiefe”, denn hier ist das Zentrum, der Tartaros, wo Luzifer selbst im Eis gefroren ist. (Dante ist der christlichen Tradition respektvoll begegnet, nach der das Universum sozusagen diabolo- 181 zentrisch ist.) Aber warum behauptet er, der Feuerfluß sei so extrem „bemerkenswert”? Georg Rabuse10 hat dieses Rätsel in einer sorgfältigen Analyse von Dantes drei Welten gelöst. Zunächst hat er anhand eines wenig bekannten Manuskripts der Spätantike, dem sogenannten „Dritten Vatikanischen Mythographen”, herausgefunden, daß das kreisförmige Territorium der Hölle, welches von dem Roten Fluß besetzt wird, „von bestimmten Schreibern” als das genaue Gegenstück zum Kreis des Mars am Himmel gedacht war, „denn sie lassen die Himmel in der Unterwelt beginnen” (3.6.4.).11 Somit hatte Numenius zu guter Letzt doch recht: Die Flüsse sind planetarisch. Dante pflichtete dieser Lehrmeinung bei und verfeinerte sie mit einer Fülle paralleler Charakterzüge. Der zentral im Planetensystem plazierte Mars war für ihn deshalb wichtig, weil dieser die stärksten Kräfte des Guten und Bösen in Gang hielt. Als zentrale Note in der Tonleiter kann er allerdings auch zur harmonisierenden Kraft werden. Darauf legt die hermetische Tradition, wie auch Dante selbst, ausdrücklich Wert. Ist Mars jene planetare Macht, welche für Apollon steht? Das muß künftigen Nachforschungen überlassen bleiben. In seinem Paradies plazierte Dante in den Himmel des Mars das Symbol des Kreuzes („Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern ein Schwert”), ein Symbol rücksichtslosen G. Rabuse, Der kosmische Aufbau der Jenseitsreiche Dantes (1958), 5866, 88-95. 11 Siehe Scriptores Rerum Mythicarum Latini, herausgegeben von Georgius Heuricus Bode (1968: 1. Aurlage 1834), I, 176: „Eundem Phlegethontem nonnulli, qui a caelo infernum incipere autumant, Martis circulum dicunt sicut et Campus Elysios … circulum Jovis esse contendunt.” 10
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Heldenmuts und höchster Opferbereitschaft, für das als Beispiel sein eigener Vorfahr diente, ein Kreuzritter, mit dem sich Dante leidenschaftlich identifizierte. In den Mars-Kreis der Hölle setzte er, wenn auch widerwillig, die meisten der großen Persönlichkeiten, die er eigentlich verehrte – von Farinata, Kaiser Friedrich II und dessen Kanzler Pier della Vigna bis hin zu Brunetto, Capaneus und vielen stolzen Eroberern. Sogar Ulixes (= Ulysses, Odysseus) gehört dorthin, gekleidet in die „altehrwürdige Flamme”, die mehr ein Symbol seiner „Wut“ denn seiner Hinterlist ist. Tugenden sind dort unten mit dem Minus-Zeichen versehen; sie werden als feurige Verweigerung, „blinde Gier und Jähzorn“ angesehen, die sich selbst ahnden. Aber ihre Träger sind nichtsdestoweniger im großen und ganzen edel: so wie im Nihongi Mutig-Schnell-Ungestüm-Männlich, die Macht des Handelns par excellence. Die Sanftmütigen mögen die Erde erben; aber über das Königreich des Himmels heißt es: violenti rapiunt illud. Christus steht bei Dante für den Heliand, den erobernden Helden, den Richter der Lebendigen und der Toten: rex tremendae majestatis. Wie dem auch sein mag – das Gleichgewicht zwischen oben und unten, der Flüsse mit den Planeten, bleibt erhalten. Mit einem Kunstgriff führt Dante an dieser Stelle den Koloß von Kreta ein, der aus archaisch-mythischem Material beschaffen ist. Die Flüsse mit den Weltaltern gleichsetzend hebt Dante die Identität der Flüsse mit der Zeit hervor: hier nicht als jene Zeit gemeint, die werden läßt, sondern als jene, die vergehen läßt – jene Zeit also, welche den „sündhaften Schmutz” mit sich trägt, die Bürde der gelebten Lebensirrtümer. In den Köpfen der Menschen des 13. Jahrhunderts war die archaische Struktur noch sehr lebendig. Darüber hinaus wird jedoch – über den Kreis des Mars – eine überraschende Einsicht erkennbar: Durch die feierlich-christliche Architektur des Gedichts, durch den subtil-logischen Aufbau sowie jenseits des „Schleiers seltsamer Verse” und der Absicht, welche sie bemän-
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teln, schimmert eine Ahnung dessen hindurch, wofür der Autor mehr Sorge trug als er zugeben würde: die eigene existentielle Wahl des Menschen Alighieri. Dichter können ihre eigene Wahrheit nicht verbergen. Ein Ulixes, der in einem letzten verzweifelten Versuch, welcher durch die Ordnung der Dinge von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, gen Südwesten aufbricht, um „jene Welt, die den Sterblichen versagt ist”, zu erreichen, der angesichts seines Ziels von dem Strudel verschlungen wird – das ist das Symbol. Es wird von dem Dichter nicht bewußt enthüllt, sondern durch die Kraft der Zeilen selbst, und es schimmert aus so weiter Entfernung wie das Licht, das von einem quasistellaren Objekt zu uns dringt. Gewiß, der Grieche blieb ebenso wegen seiner rücksichtslosen Findigkeit in der Hölle verloren wie wegen seiner Gottlosigkeit: Vergil hatte ihn als „schrecklich und wild” gebrandmarkt. Dieses Urteil wurde angenommen. Doch war es Ulixes, der bis zum letzten – und sogar gegen Gott – ging, um sich Erfahrung und Wissen zu erkämpfen. Sein luziferischer Hochmut bleibt unserer Erinnerung besser erhalten als die Harmonie der Himmelschöre. Die erste Quelle, die uns bei dieser riskanten Recherche weiterhilft, ist Homer, „der Lehrer von Hellas”. Die Reise des Odysseus in den Hades ist die erste Expedition dieser Art in der griechischen Literatur. Sie wird von dem müden Helden unternommen, um den Schatten von Teiresias über die Zukunft zu befragen. Der Rat, den er schließlich bekommt, fällt auf verblüffende Weise aus dem Rahmen seiner Abenteuer sowie der Odyssee selbst heraus. Es wird notwendig sein, auf diese merkwürdige Prophezeiung zurückzukommen. Aber was die Reise an sich betrifft, gibt Kirke dem Helden folgende Segelanweisung: „Hast du den Mast gestellt und die hellen Segel gebreitet, Setze dich hin und des Bóreas Hauch wird treiben dein Fahrzeug. Aber sobald mit dem Schiff den Okéanos du überquert hast, Wo das flache Gestade und Haine der Persophoneia, Hoch gewachsene Pappeln und fruchtabwerfende Weiden,
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Lasse sodann dein Schiff dort an des Okéanos Strudeln Landen, und geh selbst hin zum modrigen Hause des Hades. Dort wo zum Acheron der Pyriphlégethon und der Kokytos Strömen, welcher ein Abfluß ist des stygischen Wassers, Ist ein Fels, wo die beiden brausenden Ströme sich einen. Dort, o Heros, dränge dich heran, so wie ich dich heiße, Grabe du dort ein Loch, eine Elle nach hierhin und dorthin, Gieße drauf ringsumher die Spende für alte die Toten … ”12
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Viele Jahrhunderte später verfaßte Krates von Pergamon, ein Mathematiker und Mythograph zur Zeit Alexanders, einen bemerkenswerten Kommentar zu dieser Textpassage. Er ist uns durch Strabon13 erhalten geblieben: Odysseus, der von Kirkes Insel kommend zum Hades segelt und wieder zurück, muß jene „Ausbuchtung des Okeanos benutzt haben, die vom WinterWendekreis (des Steinbocks) bis zum Südpol reicht”; und Kirke half nach, indem sie den Nordwind schickte. Das ist eine rätselhafte Geographie. Aber aus astronomischer Sicht ergibt sie einen Sinn, und Krates scheint gute Gründe gehabt zu haben, den Südpol zum Ziel zu machen. Die nächste Information gibt Hesiod in seiner Theogonie (775814), und sie ist sehr obskur. Nachdem er von den „hallenden Wohnungen” des Hades und von Persephone gehört hat, sagt er: Dort wohnt die den Unsterblichen verhaßte Göttin, die furchtbare Styx, die älteste Tochter des (in sich selbst) zurückfließenden Okeanos. Entfernt von den Göttern bewohnt sie ein berühmtes Haus, überdeckt mit großen Steinen. Rundum reckt es sich ganz mit silbernen Säulen zum Himmel empor. Nicht oft kommt die schnellfüßige Tochter des Thaumas, Iris, als Botin auf dem breiten Rücken des Meeres. Wenn Streit oder Kampf unter den Unsterblichen sich erhebt und Homer, Odyssee 10.508-518, übersetzt von R. Hampe (1979), 169f. The Geography of Strabo (LCL) I.1.7; zu Odyssee 11.639ff (kólpon epì tòn nótion pólon epò tou cheimerinou tropikou diêkonta) siehe Hans Joachim Mette, Sphairopoita (1936}, 75, 250.
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wenn einer von denen lügt, die die olympischen Wohnungen innehaben, dann schickt Zeus die Iris, den großen Schwur der Götter zu besorgen: aus der Ferne das vielgenannte Wasser im goldnen Gefäß, das kalte, das aus steilem, hochgelegenem Felsen herabfließt (zu holen). Tief strömt es unter der weitwegigen Erde aus dem heiligen Strom durch die schwarze Nacht, eine Abzweigung des Okeanos. Der zehnte Teil (davon) aber ist (der Styx) zugeteilt. Neun (Teile) fließen um die Erde und um den breiten Rücken des Meeres, in silbernen Wirbeln gewunden ins Meer herabfallend. Der zehnte aber fließt aus einem Felsen als große Not für die Unsterblichen. Wer, nachdem er (beim Schwören) das (Wasser des Styx) ausgegossen hat, einen Meineid schwört von den Unsterblichen, die das Haupt des schneebedeckten Olymps bewohnen, der liegt da atemlos für ein volles Jahr. Niemals kommt er der Speise von Ambrosia und Nektar näher, sondern er liegt atemlos und sprachlos auf dem ausgebreiteten Lager, und ein tiefer Schlaf [= coma, H.v.D.] umfängt ihn. Aber wenn er diese Krankheit beendet hat, dann wird von ihm für ein großes Jahr (d. h. acht Jahre lang) eine um die andere (immer) schwerere Arbeit erwartet. Neun Jahre lang ist er ausgeschlossen von den Göttern, den ewig seienden, weder hat er Gemeinschaft mit ihnen bei Beratungen noch bei den Mahlzeiten, Neun volle Jahre. Im zehnten aber hat er wieder Gemeinschaft (mit den Göttern) auf den Versammlungen der Unsterblichen, die die olympischen 184 Wohnungen innehaben. Für einen solchen Schwur setzten die Götter das unaussprechliche Wasser des Styx, das uralte. Es strömt dahin durch felsiges Gelände. Dort sind von der dunklen Erde und dem nebligen Tartaros und dem immerwogenden Meer [= pontos, H.v.D] und dem sternenreichen Himmel nebeneinander von allem die Ursprünge und Grenzen, schmerzlich dumpf. Die Götter sogar hassen es. Dort sind schimmernde Tore und eine eherne unerschütterliche Schwelle, aus unendlich langen Wurzeln gefügt, von selbst gewachsen. Draußen aber, entfernt von allen Göttern, wohnen die Titanen, jenseits des finsteren Chaos.14 14
Hesiod, Theogonie, übersetzt von K. Albert (1983, 4. Auflage 1990), 109f.
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Dies ist Hesiods Version vom „Fundament des Abyssus”. Ihre speziellen Details machen die Verwirrung noch perfekter, wie es dem Gegenstand gebührt. Das schwierige Wort ogygion, das oft mit „uranfänglich” übersetzt wird, scheint unbestimmt Dinge jenseits von Zeit und Raum zu bezeichnen, man könnte sagen: den verborgenen Schatz am Ende des Regenbogens. So wurde auch die Ruhestätte genannt, in der Kronos die Zeit seiner Wiederkehr abwartet. Aber das paradoxe Anhäufen von Ursprüngen, Grenzen, „unendlich langen Wurzeln” der Erde, des Meeres und des Himmels wie auch der Tartaros selbst beseitigen jeden Gedanken an einen Standort im Innersten der Erde, wie der Sinn dieser kryptischen Wörter im allgemeinen empfunden wurde. Mit „zur letzten Tiefe” muß „jenseits der anderen Seite der Erde” gemeint gewesen sein, und aus Gründen der Symmetrie muß es auf eine Region gegenüber unserem Pol verwiesen haben. Über die schimmernden Tore und die eherne unerschütterliche Schwelle wird an einer anderen Stelle im Text gesagt, daß sie die Pforten der Nacht und des Tages darstellen. Zwei Jahrhunderte später spricht Parmenides, die allegorische Sprache Hesiods aufgreifend, wieder von diesen Pforten der Nacht und des Tages.15 Aber sein Bildnis fällt deutlicher aus, wie es sich für seine unbeirrbare geometrische Vorstellungskraft gehört. Die Tore befinden sich „hoch oben im Äther” und führen zum Wohnsitz der Göttin der Wahrheit und Notwendigkeit; und auch für ihn müssen sie sich aus explizit symmetrischen Gründen am Pol befinden. Wir haben einmal versuchsweise den Nordpol vorgeschlagen. Aber viele gleichwertige Anhaltspunkte deuten nunmehr auf den anderen Pol hin, den unbekannten: den völlig Unzugänglichen. Hesiod sagt, die Styx sei eine Abzweigung des Himmels-Okeanos „unter der weitwegigen Erde”; seine schreckliche Göttin lebt in einem Haus, das „sich ganz mit silbernen Säulen zum Himmel G. de Santillana, Prologue to Parmenides, University of Cincinnati, Semple Lecture, 1964. Abgedruckt in G. de Santillana, Reflections an Man and Ideas (1968), 82. 15
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empor” reckt; das Wasser fließt von einem hochgelegenen Fels herab. Es kann von Iris erreicht werden, die mit ihrem Regenbogen vom „Haupt des schneebedeckten Olymps” herbeieilt. Diese ogygische Region, die den Göttern verhaßt ist, muß sich sowohl unter als auch jenseits der Erde befinden; das könnte soviel bedeuten wie „auf der anderen Seite des Himmels”. Homer benutzte nie die Wörter „oben” und „unten” im engeren Sinne; Er ließ Odysseus einfach auf einer weit entfernten flachen Küste an 185 Land gehen. Aber was hat es mit der fürchterlichen Styx auf sich, die der Kern des Mysteriums zu sein scheint? Er ist ein Fluß des Todes – selbst für die Götter, die wenigstens damit rechnen können, nach der vorgegebenen Zeit aus ihrem Koma zu erwachen. StyxWasser ist jeder Materie feindlich gesonnen: Es zerbricht Glas, Metall, Stein und jeden Behälter. Nur einem Pferdehuf kann es nichts anhaben, sagt die Legende.16 Sie fügt hinzu, daß für Menschen das Wasser unweigerlich zum Tode führt – außer an einem bestimmten Tag des Jahres, wenn es sich in das Wasser der Unsterblichkeit verwandelt. Doch weiß niemand diesen Tag. Dies führt letzten Endes zu jener Ambivalenz, welche die Erzählungen von Gilgamesch und Alexander so dramatisch macht. Inzwischen dürfte klar sein, daß die Flüsse als Zeit begriffen werden – als die Zeit des Himmels. Aber Metaphern haben ihre eigene Logik. Wo sind die Quellen? Der Koloß von Kreta ist Dantes eigene Erfindung. Vor ihm haben bereits viele andere über die Spalten berichtet, aus denen die Weltalter fließen. Kai Chosrau, der iranische Amlethus, wurde von einem mörderischen Onkel verfolgt, errichtete das Goldene Zeitalter und begab sich dann in tiefer Melancholie in das Große Jenseits. Der böse Onkel, Afrasiab, hatte sich in seinem verzweifelten Bemühen, in den Pausanias S.18.4-6 zitiert nach J.G. Frazer, Pausanias’ Description of Greece 4 (1913). 248-256; siehe auch Otto Waser, Roscher 4. Spalten 1574, 1576. Pausanias läßt offen, ob Alexander mit Hilfe des stygischen Wassers umgebracht wurde – wie es die Sage behauptet – oder nicht. 16
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Besitz der heiligen Legitimation – des „Glücksglanzes” (Hvarna) – zu gelangen, in eine Kreatur der tiefen Wasser verwandelt und stürzte sich in den geheimnisvollen See Vurukascha, um dort nach dem „Glücksglanz” zu tauchen. Dreimal tauchte er unter – aber „dieser Glücksglanz entkam, dieser Glücksglanz ging von dannen”: Und bei jedem Versuch entwich er durch die Öffnung eines Abflusses, durch die er zu einem Fluß gelangte, der ins Jenseits führte. Die erste Öffnung hieß Haosravah. Das ist der ursprüngliche avestische Name von Kai Chosrau. Damit sollten die Epoche und das Schema leidlich klar sein. Eine ebenso alte Geschichte über drei Ausflüsse stammt aus Hawaii. Sie ist in Abraham Fornanders unschätzbarem Account enthalten, den er vor hundert Jahren zusammenstellte, als die Überlieferung noch lebendig war. Das „Lebenswasser” gehört zu Kane, dem welterschaffenden Demiurg beziehungsweise Deus Faber. Es befindet sich in dem unsichtbaren göttlichen Land Paliuli (= blauer Berg), wo Kane, Ku und Lono den ersten Menschen, Kumu honua („erdverwurzelt”), schufen; oder es befindet sich alternativ auf der „fliegenden Insel des Kane” (der griechische Hephaistos lebte ebenfalls auf einer treibenden Insel). Fornander beschreibt die Quelle dieses „Lebenswassers” als wunderschön transparent und klar. Ihre Sandbänke sind herrlich, Sie hatte drei Ausflüsse: einen für Kane, einen für Ku und einen für Lono; und durch die Öffnungen dieser Ausflüsse gelangten die Fische in den Teich. Wenn die Fische dieses Teiches auf den Boden oder ins Feuer geworten wurden, starben sie nicht; und wenn ein Mensch getötet worden war und anschließend mit diesem Wasser benetzt wurde, war er bald wieder am Leben.17
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Eine ungewöhnliche Thematik ist hier angesprochen worden, nämlich die der „wiederbelebten Fische”, die sich später als ein A. Fomander, An Account of the Polynesian Race, Its Origin and Migrations (1878), I, 72f. Siehe auch Fornander Collection of Hawaiian Antiquities and Folk-Lore. Mem. BPB Mus. 6 (1920). 77f. 17
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zentrales Thema im nahöstlichen Mythos erweisen wird – von Gilgamesch über Glaukos bis hin zu Alexander persönlich. Und dann gibt es auch hier wieder die drei Öffnungen. Sie sind nützlich, um die Idee hinter Kanes „Quelle des Lebens” zu spezifizieren, die Volkskundlern sonst wie ein Allgemeinplatz nach Art des Jungbrunnens vorkommen mag. Aber etwas wirklich Überraschendes kann man in solider pythagoreischer Überlieferung finden: Plutarch erzählt uns in seinem Essay „Warum die Orakel keine Antwort mehr geben” (422E), daß Petron – ein Pythagoreer der frühen italischen Schule sowie Zeitgenosse und Freund des großen Arztes Alkmaion (ca. 550 v.Chr.) – eine Theorie entwickelte, nach der es viele Welten geben muß: insgesamt 183. Kleombrotos, eine jener Personen, welche an dem Gespräch über die Obsoletheit von Orakeln teilnahmen, wußte mehr über diese Weiten zu berichten. Er hatte seine Informationen von einem mysteriösen „Mann” bezogen, der nur einmal pro Jahr menschliche Wesen zu treffen pflegte! und zwar in der Nähe des Persischen Golfs, „sonst aber … mit herumziehenden Nymphen und Dämonen lebt” (421A). Laut Kleombrotos brachte dieser „Mann” die 183 Welten in einem gleichseitigen Dreieck unter, jeweils sechzig an einer Seite und eine ExtraweJt pro Ecke. Ein näherer Grund wird dafür nicht angegeben; aber die Anordnung wird genau beschrieben: … die einander benachbarten berührten sich, während sie sich sacht wie im Reigentanz herumbewegten; die innerhalb des Dreiecks befindliche Fläche sei der gemeinschaftliche Herd aller Welten und heiße das Feld der Wahrheit, in dem die Begriffe, die Ideen und die Urbilder alles dessen, was geworden sei und was werden werde, unbeweglich ruhten, und um sie sei die Ewigkeit, und die Zeit, gleichsam ein Ausfluß der Ewigkeit, bewege sich zu den Welten hin. Das Sehen und Schauen von dem allen sei den menschlichen Seelen nur einmal in zehntausend Jahren verstattet, doch nur, wenn sie ihre Leben gut geführt hätten, und die edelsten der Mysterien hier auf der Erde seien nur ein Traum von jener Schau und Weihe.18 18
Plutarch, De defectu oraculorum, übersetzt von K. Ziegler (1952). Ka-
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Was soll das heißen? Eine mythische Präfiguration von Platons Metaphysik? Und warum dieses dreieckige „Feld der Wahrheit”, das sich wiederum als ein See mit Lebenswasser herausstellt? Pythagoreer kümmerten sich nicht um Erklärungen. Das gilt auch für Plutarch.19 Aber hier tut sich wenigstens ein ursprünglicher Weg auf, die Ewigkeit mit dem Fluß der Zeit zu verknüpfen. Wenn es um geometrische Vorstellungskraft ging, waren die Pythagoreer nicht zu überbieten.
pitel 22, 422BC. Die Hervorhebungen durch Kursivschrift sind von uns. 19 Proklos (Kommentar zu Platons Timaios 138B, herausgegeben von Ernst Diehl. BT. I, 454) machte geltend, daß es sich hier um eine „barbarische Ansicht” (doxe barbarikē) handelt. Er hat kein besonderes Interesse an dem dreieckigen Feld der Wahrheit alias unserem „See“ mit seinen Ausflüssen; er weiß jedoch näheres über die 180 „untergeordneten” und 3 „führenden“ Welten (hēgemonas) an den Winkeln zu sagen und wie sie zu deuten seien. Dazu bemerkt André Jean Festugière in seiner Übersetzung von Proklos’ Kommentar (2, 336, Fußnote 1): „On notera que Proclus donnec à la fois moins et plus que Plutarque. A-t-il lu ces élucubrations pythagoriciennes elles-mêmes?”
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Tre volte il fe’ girar con tutte l’acque alla quarta voltar la poppa in suso e la prora ire in giu, com’altrui piacque Infin che’l mar fu sopra noi richiuso. DANTE
Dante hielt an der Tradition des Strudels als signifikantes Ende großer Gestalten fest, auch wenn es in seinem Werk durch die göttliche Fügung vorbestimmt war. Bei seinem „wahnsinnigen Unternehmen” ist Ulixes über die Grenzen der Welt hinausgesegelt; und nachdem er den Ozean erst einmal überquert hat, sieht er von weitem einen Berg drohend sichtbar werden, „dunkel in dem fernen Dunst … , so hoch, wie ich noch nichts gesehen hatte”. Es ist der Berg des Purgatoriums, zu dem Sterbliche keinen Zutritt haben. „Wir jubelten. – Die Lust ward bald zunichte, denn von dem fernen Lande kam ein Wirbel, der faßte an der Spitze gleich das Schiff und dreht es dreimal um im Strudelkreise, beim vierten hob er’s hinten auf – und köpflings, wie fremde Macht es wollte, fuhr’s hinab. Dann schloß sich langsam über uns das Wasser.”1 Der „gedankenreiche” Ulixes ist auf seinem Weg zur Unsterblichkeit – selbst wenn es die Hölle sein muß. Der verschlingende Strudel gehört zum Repertoire uralter Sagen. In der Odyssee kommt er als Charybdis in der Meeresenge von Messina vor, in anderen Kulturen taucht er im indischen Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie in der Übersetzung von Karl Vossler (1969» Neuausgabe 1989), 151.
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Ozean und im Pazifik auf. Kurioserweise steht auch dort ein überhängender Baum bereit, an dessen Zweigen sich der Held festklammern kann – ob es sich dabei in Indien um Satyavrata oder auf Tonga um Kae handelt –, während sein Schiff untergeht. Wie Sindbads magnetischer Berg lebt der Strudel über die Jahrhunderte im Seemannsgarn fort. Das hartnäckige Überleben von Einzelheiten schließt jedoch aus, daß es sich hier um freie Erfindungen handelt. Solche Geschichten haben seit der Antike zum kosmographischen Schrifttum gehört. Mittelalterliche Schriftsteller, und nach ihnen Athanasius Kircher, brachten den gurges mirabilis, den wundersamen Wasserwirbel, irgendwo abseits der Küste Norwegens oder Großbritanniens unter. Es war der Maelström, und außerdem vermutlich eine Reminiszenz an Pentland Firth.2 Im allgemeinen lag er in nord-nordwestlicher Richtung, genauso wie Saturns Insel Ogygia von den Griechen „jenseits” der Britischen Inseln angesiedelt wurde (siehe erneut Abbildungen 8 und 9 sowie 15 und 16). Weitere Recherchen ergeben, daß dieses Nebeneinanderstellen ein Ergebnis der üblichen Verwechslung zwischen Uranographie und Geographie zu sein scheint. Es ist immer wieder die Rede von einem „Loch” im Nordwesten (für die Chinesen „NeunYin”) des Himmels (siehe Seite 377); und insofern, als die schematische Karte der Erde von derjenigen des Himmels abgeleitet wurde, wurde das Loch von oben als Maelström oder Ogygia auf die Erde herabgeholt. Beide Vorstellungen sind keinesfalls naheliegend. Für die Skandinavier (siehe Kapitel 6) bildete sich der Strudel dadurch, daß die Grotti-Mühle aus den Angeln gehoben wurde: Siehe für Irland W. Stokes, „The Prose Tales in the Rennes Dindsenchas”, RC 16 (1895), Nr. 145: „In nördlicher Richtung gibt es einen großen Strudel zwischen Irland und Schottland. In ihm treffen viele Meere zusammen [aus NSOW] – er ähnelt einem großen Kessel, der die Fischzüge nach oben [und] unten schleudert, und sein Brüllen hört sich wie entferntes Donnergrollen an …”
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Der Maelström strudelt durch das Loch des gesunkenen Mühlsteins. So erzählt es Snorri. Die älteren Strophen von Snaebjörn, in denen Hamlets Mühle beschrieben wird, besagen, daß die neun Jungfrauen der Mühl-Insel, die in vergangenen Zeiten Amlodhis Mehl mahlten, inzwischen eine „verderbliche Felsenmühle” betreiben. Daß mit dieser Felsenmühle der Strudel und nicht einfach der nördliche Ozean gemeint ist, wird durch einige weitere Zeilen unterstützt, die Gollancz Snaebjörn zuschreibt; nicht daß sie von kristallener Klarheit waren, aber erneut werden die Mühle und der Strudel in einen Zusammenhang gebracht: The island-mill pours out the blood of the flood goddess’ sisters [i.e., the waves of the sea], so that [it] bursts from the feller of the land: whirlpool begins strong.3
Hier wird auf keinen Standort verwiesen, wohingegen die Finnen in Richtungen deuten, die weniger verschwommen sind als sie klingen. Ihre Feststellung, daß der Sampo drei Wurzeln hat – eine im Himmel, eine in der Erde und die dritte in dem Wasserwirbel –, hat eine eindeutige Bedeutung, wie sich herausstellen wird. Außerdem wird von Väinämöinen, der mit seinem kupfernen Schiff in den „Magen des Maelströms” fährt, gesagt, er segele zu „den Tiefen des Meeres”, zu den „untersten Gedärmen der Erde”, zu den „untersten Regionen des Himmels”. Was den Standort des Strudels betrifft, so liest man: Vor des fernen Nordlands Toren, Unter der Schwelle Pojohlas mit buntem Deckel, Sich die Kiefern wälzen mit ihren Wurzeln, Mit ihren Kronen stürzen in des Wirbels Schlund.4 Gollancz, Hamlet in Iceland (1898), xvii. Annähernd ins Deutsche übertragen lauten die Zeilen: Die Insel-Mühle gießt das Blut der Schwestern der Flutgöttin aus [das heißt: die Wellen der See], so daß [es] aus dem Fäller des Landes hervorbricht: Stark beginnt der Strudel. 4 M. Haavio, Väinämöinen, Eternal Sage (1952), 191-198. 3
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In der germanischen Überlieferung findet man dann bei Adam von Bremen (11. Jahrhundert), daß gewisse friesische Edelleute eine Schiffreise über Norwegen hinaus machten, bis hin zu den entferntesten Grenzen des arktischen Meeres: … da verfielen sie plötzlich in jene schwarze Finsternis des starrenden Ozeans, welche mit den Augen kaum zu durchdringen war. Und siehe, da zog der Sund des wechselvollen Ozeans, zurückeilend zu gewissen geheimnisvollen Anfängen seiner Quelle, die unglücklichen Seefahrer, die bereits verzweifelten, ja an nichts als nur an den Tod dachten, mit der heftigsten Gewalt zu jenem tiefen Chaos hin [dies soll der Schlund des Abgrunds sein, H.v.D], von welchem, wie die Sage geht, alle Rückströmungen des Meeres, die abzunehmen scheinen, verschlungen und wieder ausgespien werden … Und als sie nun der gefahrdrohenden Finsternis und dem Land der Kälte entrannen, da landeten sie unverhofft auf einer Insel, welche mit sehr hohen Klippen wie eine Stadt mit Mauern umgeben war. Wie sie darauf, sich das Land zu besehen, ausstiegen, fanden sie dort Menschen, die in unterirdischen Höhlen zur Mittagszeit verborgen lagen, vor deren Türen eine unermeßliche Menge von goldenen Gefäßen und von solchen Metallen lagen, welche von den Sterblichen für selten und kostbar gehalten werden. Daher nahmen denn die erfreuten Ruderer von diesen Schätzen, soviel sie fortbringen konnten, und kehrten eilig zu den Schiffen zurück, als sie plötzlich zurückblickend Menschen von wunderbarer Größe hinter sich herkommen sahen, welche die Unseren Zyklopen nennen. Vor denselben liefen Hunde her, die auch die gewöhnliche Größe dieser Vierfüßer überschritten. Diese stürzten heran und rissen einen von den Genossen weg, der augenblicklich vor ihren Augen zerfleischt wurde; die anderen aber wurden in die Schiffe aufgenommen und entrannen so der Gefahr, indem die Riesen sie … beinahe bis auf die hohe See hinaus schreiend verfolgten. Von solchem Glück begleitet gelangten die Friesen nach Bremen, wo sie … dem frommen Christ und seinem Bekenner Willehad für ihre Heimkehr und Rettung Opfer des Dankes darbrachten.5 Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte, übersetzt von J.C.M. Laurent und W. Wattenbach (1986), 292ff. Siehe auch V. Ryd-
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Der lateinische Text (Rydberg, 422) benutzt den vertrauten klassischen Namen Euripos. Jener Euripos, welcher bereits im Phaidon eine Rolle gespielt hat, war in Wirklichkeit ein Kanal zwischen Euböa und dem Festland, in dem das Aufeinanderprallen der Gezeiten die Strömung nicht weniger als siebenmal pro Tag in ihre Gegenrichtung umkehrte und auf diese Weise gefährliche Wasserwirbel entstehen ließ – tatsächlich handelt es sich hier mehr um stehende Wellen als um einen wirklichen Wirbel.6 Und hier zerrte der unstete Euripos des Ozeans, der zu den Anfän- 191 gen seiner geheimnisvollen Quelle zurückfließt, mit unwiderstehlicher Kraft die unglücklichen Seeleute, die in dem Augenblick an nichts anderes als den Tod dachten, hinab zum Chaos. Von diesem wird behauptet, es sei der Magen des Abyssus, jener unbekannten Tiefe, in welche – so heißt es – die Ebbe und die Flut des gesamten berg, Teutonic Mythology (1907), 320. 6 Wir treffen diesen Namen an einem ziemlich unerwarteten Ort wieder, nämlich im römischen Zirkus beziehungsweise Hippodrom, wie wir von J. Laurentius Lydus (De Mensibus I.12.) erfahren, der sagt, daß das Zentrum des Zirkus Euripos genannt wurde; daß in der Mitte des Stadions eine Pyramide stand, die der Sonne geweiht war; daß sich dicht bei der Sonnenpyramide drei Altäre befanden für Saturn, Jupiter und Mars sowie unterhalb der Pyramide Altäre für Venus, Merkur und den Mond und daß es nicht mehr als sieben Rennbahnen (kykloi) rund um die Pyramide gab, denn das war die Anzahl der damals bekannten Planeten. Siehe auch F.M Cornfords Kapitel über den Ursprung der Olympischen Spiele in J. Harrisons Themis (1962), 228, sowie Godfrey Higgins’ Anacalypsis (1927), 2, 377ff. Das erinnert an den mittelamerikanischen Ballspielplatz (obgleich augenscheinlich nicht Euripos, sondern „die Schädelstätte des Gottes” genannt), in dessen Mitte sich ein rundes Loch befand, das von Tezozomoc die Bezeichnung „die enigmatische Signifikanz des Ballspielplatzes” erhielt; und bevor Uitzilopochtli geboren wurde, ergoß sich ein See aus diesem Loch. Siehe W. Krickeberg, „Der mittel amerikanische Ballspielplatz und seine religiöse Symbolik”, Paideuma 3 (1948), 135ff, 155, 162.
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Meeres gesaugt und dann wieder ausgespuckt werden, worin die Ursache der Gezeiten liegt.
Dies ist eine Widerspiegelung dessen, was in der Antike eine populäre Vorstellung gewesen ist. Doch hier folgt eine nordamerikanische Version derselben Geschichte.7 Sie betrifft die KanuAbenteuer zweier Cherokesen an der Mündung des Suck Creek. Einer von ihnen wurde von einem Fisch ergriffen und nie mehr wiedergesehen. Der andere wurde immer rundherum geschleppt, bis zum allerniedrigsten Zentrum des Strudels, als ihn ein anderer Kreis erwischte und nach draußen spülte. Er erzählte später, daß sich das Wasser, als er den engsten Kreis des Strudels erreicht hatte, nach unten zu öffnen schien und er hinabschauen konnte wie durch den Dachbalken eines Hauses. Und dort unten, auf dem Grund des Flusses, habe er eine große Gesellschaft gesehen, die nach oben schaute und ihm Zeichen gab, sich ihr anzuschließen; aber als sie ihre Hände ausstreckten, um ihn nach unten zu ziehen, ergriff ihn die rasche Strömung und brachte ihn außerhalb ihrer Reichweite.
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Es ist beinahe so, als hätten sich die Cherokesen die bessere Erinnerung bewahrt, wenn sie von fremden Regionen sprechen, die dort von einer „großen Gesellschaft“ – wobei es sich gleichermaßen um die Toten wie auch um die Riesen mit ihren Hunden handeln kann – bewohnt werden, wo sich im „engsten Kreis des Strudels das Wasser nach unten zu öffnen schien“. Es wird interessant sein, herauszufinden, ob dieser Eindruck berechtigt ist oder nicht. Snorri, der das Grotti-Lied für uns aufbewahrt hat, sagt uns nicht, wo der Strudel zu finden sei, doch steht nur einer zur Verfügung, nämlich jener „Hwergelmir“ in Hels Wohnsitz der Toten, ans und zu dem „alle Wasser ihren Weg finden”.8 Rydberg sagt: 7 8
James Mooney, Myths of the Ckerokee (1900), 340. Grimnismål 26; siehe auch Snorri. Gylfaginning 15.
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Es zeigt sich, daß sich die Mythologie Hwergelmir als ein riesiges Reservoir dachte, als die Ursprungsquelle aller Wasser der Welt. In vorderster Reihe wird eine Anzahl unterirdischer Flüsse genannt, die im Hwergelmir entspringen und sich von dort ihren Verlauf in verschiedenen Richtungen bahnen. Aber die Wasser der Erde und des Himmels kommen ebenfalls aus diesem enormen Brunnen, und nachdem sie ihre Runden gedreht haben, kehren sie dorthin zurück. Der Mythos über Hwergelmir und seine unterirdischen Verbindungen mit dem Ozean erklärte unseren Vorfahren das Entstehen der Gezeiten von Ebbe und Flut. Hoch oben in den nördlichen Kanälen öffnete sich der Meeresgrund selbst zu einem Hohltunnel, der zu dem „Kessel-Brüller” hinabführte, zu dem, „der in seinem Wasserbecken brüllt” (hverr = Kessel; galm = auf Angelsächsisch „gealm” = ein Brüllen). Wenn die Wasser des Ozeans durch diesen Tunnel hinab in den Hades-Brunnen strömten, so war Ebbe; wenn dieser sich seines Überflusses an Wasser entledigte, so war Flut. Zwischen dem Königreich des Todes und dem Ozean gab es demzufolge ein verbindendes Glied, vielleicht mehrere. Die meisten Menschen, die ertranken, blieben nicht bei Ran. Ägirs Frau, Ran, empfing sie gastfreundlich, wie es in den isländischen Sagen des Mittelalters heißt. Sie besaß eine Halle auf dem Meeresgrund, wo die Ertrunkenen willkommen geheißen und ihnen … ein Sitzplatz und ein Bett angeboten wurden. Ihr Reich war nur ein Vorzimmer zu den Reichen des Todes.9
Es gibt hier mehrere Grundzüge des Phaidon, aber sie werden bei Gilgamesch erneut auftauchen. Damit soll nicht bestritten werden, daß der Hwergelmir und andere Strudel eine Erklärung für die Gezeiten liefern. (Vielleicht ist es möglich herauszuV. Rydberg, Teutonic Mythology (1907), 414, 421f. Siehe auch die Vorstellungen über die Nonne St. Gertrud. Schutzherrin der Reisenden, insbesondere bei Seereisen, die auch als Schutzheilige der Gaststätten tätig war: “… und schließlich wurde angenommen, daß sie die Wirtin eines Gasthauses war, in dem die Seelen die erste Nacht nach dem Tod verbrachten.” [Matti Hako, Das Wiesel in der europäischen Volksüberlieferung, FFC 167(1956). 119.] 9
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finden, was Gezeiten auf der Ebene des Himmels bedeuten.) Aber es ist klar, daß der Maelström als Ursache der Gezeiten nicht für die ihn umgebenden Merkmale verantwortlich ist – nicht einmal für die wenigen von Rydberg erwähnten, wie die Frau des Meeresgottes Ägir, welche die Seelen ertrunkener Seefahrer freundlich in ihrem Vorzimmer auf dem Meeresgrund empfängt – noch für den Umstand, daß sich die friesischen Abenteurer, vom Strudel in die Tiefe gerissen, plötzlich auf einer leuchtenden Insel wiederfinden, die mit Gold angefüllt ist und wo sich Riesen in den Gebirgshöhlen versteckt halten. Die Insel beginnt sehr nach Ogygia auszusehen, auf der Kronos/Satum in einer goldenen Gebirgshöhle schläft, wohingegen die Empfangshalle von Ran – ihr Ehemann Agir war berühmt für seine Bierbrauerei, und es geschah in seiner Halle, daß Loki seinen Mitgöttern zu nahe trat, wie in der Lokasenna geschildert wird – eher an Ogygia II denken läßt, die Insel von Kalypso (Schwester von Prometheus), die Omphalos Thalasses, der Nabel der See, genannt wird. Kalypso war die Tochter von Atlas, „der die Tiefen des ganzen Meeres kannte”. Sie ist autoritativ mit der göttlichen Bardame Siduri verglichen worden,10 die nahe am tiefen Meer wohnt und der wir später, in der Erzählung von Gilgamesch, begegnen werden. In ihrer Bedeutung als echte poetische Sage ist die Mythologie eine große Hilfe gewesen, aber an dieser Stelle bringt sie uns nicht weiter. Die goldene Insel des Kronos und die von Bäumen umsäumte der Kalypso bleiben unlokalisierbar, unbeschadet der Bemühungen homerischer Gelehrter. Mittels sorgfältiger Analyse navigatorischer Daten hat einer von ihnen (Victor Bérard) Kalypso auf der Insel Perejil nahe Gibraltar untergebracht, ein anderer (Ernle Bradford) auf Malta, andere sogar weit von Afrika entfernt. Vermutlich liegt sie nicht allzu weit von Sizilien, zumal Odysseus sie reitend auf dem Mast seines Schiffes erreicht, kurz 10
Siehe Kapitel 22, „Das Abenteuer und die Suche”.
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nachdem er der Charybdis in der Meeresenge von Messina entkommen ist. Im Lauf der Zeit ist die Insel mit vielen Plätzen identifiziert worden.11 Einige Angaben bei Homer vermitteln den Anschein exakter Geographie, etwa Kirkes Insel mit ihrem Tempel von Feronia oder das Land der Laistrygonen, welches die Bucht von Bonifacio sein könnte. Aber die meisten Elemente des vergangenen Mythos, wie die Charybdis oder die Plankten, sind illusionistisch. Sie werfen die gesamte Geographie über den Haufen – was ja auch für die Argonauten selbst zutrifft. Ohne zu versuchen, Ogygia beziehungsweise Ogygos ausfindig zu machen, hat das Adjektiv „ogygisch” – das als ein Markenzeichen für die Wasser der Styx benutzt worden ist – auch die Konnotation von „vorsintflutlich” angenommen. Bezüglich des Hwergelmir, „brüllender Kessel”, ist es „der Nabel der Wasser”; aber der befindet sich mit Sicherheit „tief unten” – was auch für die merkwürdige „Bierstube” des Ägir gilt. Und wenn sich herausstellt – was bald der Fall sein wird –, daß Utnapischtim (der Erbauer jener Arche, welche nur über die Straße erreicht werden kann, die durch die Bar der göttlichen Siduri führt und somit auch, könnte man sagen, durch das Wirtshaus des Bierbrauers Ägir) für immer am „Zusammenfluß der Ströme“ lebt, so mag dies Sokrates zwar zu seiner Idee von Zusammenflüssen verleitet haben, doch würde das die Sache nicht sonderlich erhellen. Allerdings gibt es einige Steigeisen, mit deren Hilfe man aus dem Abyssus heraufklettern kann. Es ist bekannt (Kapitel 12), daß sich Sokrates und die Dichter wirklich auf den Himmel bezogen, wie er „von der anderen Seite gesehen” wird. Es ist dargestellt worden, daß Väinämöinen den Weg durch 194 Alle Vorschläge wurden ausführlich besprochen von Armin und Hans-Helmut Wolf, Der Weg des Odysseus (1968, 2. Auflage 1983). Sie selbst verlegen Ogygia auf die Liparische Insel Panarea (1983, 83). Für Victor Bérard [Les Navigations d’Ulysse (1927-1929), 4 Bände] siehe A. und H.-H, Wolf, op.cit. (1983), 173; für Ernle Bradford [Ulysses found (1963)] siehe A. und H.-H. Wolf, op.cit. (1983), 183.
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den „Nabel der Wasser” benutzte, und wir werden sehen (Kapitel 19), daß dasselbe für Kronos/Phaethon gilt sowie auch für andere mächtige Persönlichkeiten, die das Land des Schlafs erreichten, wo die Zeit aufgehört hat zu existieren. Man kann schon jetzt davon ausgehen, daß die Bedeutung letzten Endes astronomischer Natur sein wird. Somit kann man sich, indem man sich rückwärts aus der Sage herausbegibt, erneut mit der Bitte um Hilfe an die Königliche Wissenschaft wenden. Daß es am Himmel einen Wasserstrudel gibt, ist wohlbekannt; höchstwahrscheinlich ist er der eigentliche Strudel, und er ist präzise plaziert. Es handelt sich um eine entsprechend genannte Sternengruppe (zalos) am Fuß des Orion, nahe dem Rigel (beta Orionis, wobei Rigel das arabische Wort für „Fuß” ist), dessen Längengrad laut Hermes Trismegistos „Tod” genannt wurde,12 während die Maori glaubten, Rigel markiere den Weg zum Hades (Castor hingegen den zur „Urheimat” Havaiki13). Der Astrologe Antiochos zählte den Strudel zu den mit Taurus aufgehenden Sternbildern. Franz Boll erklärte zwar die Beschreibung des Antiochos für unangemessen, kommt aber zu dem Schluß, daß es sich bei dem zalos in der Tat um Eridanus handeln muß, „der aus dem Fuß des Orion fließt”.14 Nun wurde Eridanus, das Wassergrab des Phaethon – auf der Sternenkarte der südlichen Hemisphäre von Athanasius Kircher ist noch zu sehen, wie Phaethons sterbliche Hülle in dem Strom liegt –, als ein Sternenfluß betrachtet, der zu der anderen Welt führt. Das Anfangsgerüst steht, diesmal am Himmel ausfindig gemacht. Und hier folgt eine entscheidende Bestätigung: Jener geheimnisvolle Ort pī nārāti – was wörtlich „Mündung der Flüsse” bedeutet, allerdings das „Zusammenströmen” der Flüsse meint – wurde von den Babyloniern traditionellerweise mit Eridu identifiziert. Aber „Vocatur mors“, siehe W. Gundel, Neue Astrologische Texte des Hermes Trismegistos (1936), 196f, 216f. 13 Siehe Percy Smith, The Lore of the Whare-wānanga I (1913), 101. 14 F. Boll, Sphaera (1903), 57, 164-167. 12
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die archäologische Ausgrabungsstätte von Eridu befindet sich keineswegs irgendwo in der Nähe des Zusammenflusses der zwei Ströme Mesopotamiens. Vielmehr liegt sie zwischen dem Tigris und dem Euphrat, die getrennt voneinander im Persischen Golf münden, und sie ist ziemlich hoch gelegen. Die vorgeschlagene Erklärung, daß Eridu durch die Ausbreitung des Schwemmlands von der gemeinsamen „Mündung” entfernt wurde, hat nicht viel zum Verständnis des mythischen Topos pī nārāti beigetragen. Und entsprechend wurde von einem der perplexen Philologen vorgeschlagen, die alten Mesopotamier – eben jene, welche kunstvolle Bewässerungssysteme ersannen! – hätten nicht gewußt, in welche Richtung Wasser zu fließen pflegt; vielmehr hätten sie geglaubt, die beiden Flüsse entsprängen dem Persischen Golf. Diese spezielle mißliche Lage wurde von William Faxwell Albright geklärt, indem er „Mündung” und „Quelle” austauschte;15 er ließ uns „hoch und trocken“ gestrandet zurück – was übrigens 195 eine sehr typische mythische Situation ist –, rund um die „Quelle“ in den armenischen Bergen. Und obwohl er, zu Recht, mit Nachdruck hervorhob, daß Eridu-pī nārāti nicht geographisch gemeint sein könne, verbannte er diesen Ort geradewegs in das Innere unseres Planeten. Die „Quelle” trägt also genausowenig zur Klärung bei wie die „Mündung” – und wie jede andere geographische Lokalisierung. Eridu, auf Sumerisch mulNUNki, ist Canopus, alpha Carinae, der helle Stern nahe dem Südpol, wie von Bartel Leendert van der Waerden,16 einem hervorragenden zeitgenössischen Historiker der Astronomie, bewiesen wurde. Daß dieser oder jener Teil der Argo damit gemeint sein mußte, war schon vorher berechnet worden.17 Und das gab schließlich auf der einen Seite der impoW.F. Albright, „The Mouth of the Rivers”, AJSL 35 (1919), 161-195. B.L. von der Waerden, „The Thirty-Six Stars”, JNES 8 (1949), 14: „Der helle südliche Stern Canopus war Eas Stadt Eridu (NUNki deE-a).” 17 Siehe P.F. Gössmann, Planetarium Babylonicum (1950), 306. 15 16
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santen Konfiguration von Mythen um Canopus einen Sinn, wie auch auf der anderen Seite dem Übergewicht des „Zusammenflusses der Ströme”. Mit diesem einzigartigen Topos werden wir uns später beschäftigen. Ein Punkt bleibt nach wie vor problematisch. Die Milchstraße galt als der Weg der Toten, und das seit den ältesten Tagen der Hochkultur. Diese Vorstellung war noch bei den Pythagoreern (und Orphikern) lebendig. Warum und wieso kam der Eridanus ins Spiel? Es steht zu vermuten, daß dies mit der präzessionalen Verschiebung des Äquinoktialkolurs zu tun hat. Aber das verzwickte Problem des Flusses wird im Kapitel über die Milchstraße analysiert werden. Eines steht mittlerweile fest: Der wirkliche, der ursprüngliche Weg aus dem Strudel befindet sich am Himmel. Mit dieser Erkenntnis sollte man erneut in den verwirrenden Dschungel jener „irdischen” Mythen eintauchen, welche sich auf die Wasser aus der Tiefe beziehen.
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The glacier knocks in the cupboard, The desert sighs in the bed. And the trade in the tea cup opens A lane to the land of the dead. AUDEN
Es gibt eine Überlieferung aus Borneo über eine „WasserstrudelInsel” mit einem Baum, der es einem Menschen gestattet, in den Himmel hinaufzuklettern und nützliche Samen aus dem „Land der Plejaden” zu holen.1 Die Polynesier haben sich offenbar keine Mühe gegeben, was den genauen Standort ihres Strudels anbelangt, der in den meisten Fällen als Eingang zum Wohnsitz der Verstorbenen gilt; es wird vermutet, er befinde sich „am Ende des Himmels” und „am Rande der Milchstraße”.2 Auf dieser Seite des Atlantiks* war das Grundschema den Cuna-Indianern ebenfalls bekannt,3 obgleich sie darauf verzichteten, die allgemein bekannte örtliche Bestimmung anzugeben: Alfred Maass, „Sternkunde und Sterndeuterei im Malaiischen Archipel” (1924), in Tijdschrift Indische Taal-, Land- en Volkenkunde 64, 388. 2 M.W. Makemson [The Morning Star Rises: An Account of Polynesian Astronomy (1941), Fußnote 160] schlägt Sagittarius vor. Für Samoa siehe Augustin Krämer, Die Somoa-Inseln (1902), 1, 369. Für Mangaia siehe Peter Blick, Mangaian Society (1934), 198, und Robert W. Williamson, Religious and Cosmic Beliefs of Central Polynesia (1924), II, 251. * A.d.Ü.: Von den USA aus gesehen. 3 Clyde E. Keeler, Secrets of the Cuna Earthmother (1960), 67ff, 78f. 1
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„Gottes ganz eigener Wasser Strudel” (tiolele piria) lag direkt unter dem Palluwalla-Baum, dem „Salzwasser-Baum”, und als der Sonnengott beziehungsweise der Tapir – ein nur schlecht verkleideter Quetzalcoatl – den Baum fällte, schoß das Wasser hervor, um die Weltmeere zu bilden. Hier sind drei Elemente vertreten, die sich zu einem kuriosen Knäuel vereinen: (a) Der Strudel repräsentiert beziehungsweise ist die Verbindung der Welt der Lebenden mit der Welt der Toten; (b) in seiner Nähe wächst ein Baum, häufig ein lebensspendender oder -rettender; (c) der Wasserwirbel entstand, weil ein Baum gefällt oder entwurzelt oder eine Mühlachse aus den Angeln gehoben wurde und dergleichen. Dieses Grundschema ist in mannigfaltigen Variationen und Gestaltungen in vielen Weltlegenden verbreitet worden und stellt ein paradoxes Rätsel dar: Es ist, als ob dieses spezielle Gewässer, das sich unter dem Baum, der Säule oder Mühlachse verbirgt, nur darauf wartete, daß jemand den Pfropfen entfernt – den Baum, die Säule oder Mühlachse –, um einen Streich zu spielen. Das ist kein neumodischer Gedanke. Alfred Jeremias bemerkt beiläufig: „Das Öffnen des Nabels bringt die Sintflut. Als David den Nabelstein in Jerusalem entfernen wollte, erhob sich die Flut. In Hierapolis in Syrien wurde der Xisuthros-Altar gezeigt in der Höhle, in der die Sintflut versiegte.”4 Das Muster läßt sich sogar in dem indonesischen Rama-Epos erkennen.5 Während Rama den riesigen Deich nach Lanka (Ceylon) baut, werfen die hilfsbereiten Affen einen Berg nach dem anderen ins Meer, aber plötzlich verschwinden sie alle. Wutentbrannt schickt sich Rama gerade an, seinen magischen Pfeil in das undankbare Meer zu schießen, als eine weibliche Gestalt aus dem Wasser emporsteigt und ihn warnt, daß sich an genau der Stelle ein Loch im Ozean befinde, das zur Unterwelt führe. Sie A. Jeremias, HAOG, 156, Fußnote 7. William Stutterheim, Rama-Legenden und Rama-Reliefs in Indonesien (1925), 54. 4 5
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gibt ihm außerdem die Auskunft, daß das Wasser in jenem Loch Lebenswasser genannt werde. Rama wird sich mit seiner Drohung durchgesetzt haben, da der Deich gebaut wurde. Aber dieselbe Geschichte wiederholt sich in Griechenland, als Herakles das Meer überquert, um die Rinder des Geryon zu stehlen. Okeanos, hier als Gott auftretend, erzeugt eine Sturmflut. Herakles droht mit seinem gezückten Bogen – und es kehrt wieder Ruhe ein. In diesen Fällen werden weder der Strudel noch der Zusammenfluß erwähnt, aber sie gehören eindeutig in diesen Zusammenhang. Dies verleiht der Catlo’ltq-Geschichte aus dem amerikanischen Nordwesten große Bedeutung, denn sie steht beispielhaft (siehe Kapitel 22) für das Mädchen, das seinen Pfeil in den „Nabel des Wassers schießt, der ein unermeßlicher Strudel war“, und auf diese Weise Feuer gewinnt. Hinter der Geschichte muß sich eine sehr fundamentale Idee verbergen und eine recht alte obendrein, wurde doch von Ischtar gesagt, daß sie es sei, „die den Apsu vor Ea aufrührt”.6 Das ist ein merkwürdiger Zeitvertreib für eine Göttin, aber es scheint eine recht himmlische Sportart gewesen zu sein. Der achte Yasht des Avesta,7 der Sirius/Tishtriya gewidmet ist, sagt über diesen Stern: „Den prächtigen glänzenden Stern Tistriya verehren wir, der ebenso geschwind zum See Vurukarta fährt wie der gedankenschnelle Pfeil, den der Pfeilschütze Urxša, der beste Pfeilschütze unter den Aryern, vom Berg Ariyoxšuta bis zum Berg Huvanvant schoß.”8 Und was macht Sirius mit diesem See? 198 „Descent of Ishtar to the Nether World”. Bildseite I. 27. ANET, 107; siehe auch W.R Albright, „The Mouth of the Rivers”, AJSL 35 (1919), 184. 7 Yasht 8.6 und 8.37, siehe Hermann Lommel, Die Yäšts des Awesta (1927), 50, 54. 8 Siehe für die Heldentaten des Bogenschützen, den Hermann Lommel Urxšsa transkribiert [in Ferdinand Justis Iranisches Namenbuch (1985), 8 8: Erexša], den Bericht von al-Bīriūnī über Arish [The Chronology of 6
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Er läßt den See Vurukarta aufwogen, auseinanderwogen, aufwallen, auseinanderwallen, auffluten, auseinanderfluten: „… allen Ufern wogt der See Vurukarta, die ganze Mitte wogt auf“ (Yt. 8.31; siehe auch 5.4). Wohingegen Plinius9 uns überzeugen will, daß „das ganze Meer um das Aufgehen dieses Sterns weiß, was am deutlichsten in den Dardanellen zu sehen ist, denn Seegras und Fische treiben auf der Oberfläche, und altes ist vom Grund nach oben gespült“. Er bemerkt außerdem, daß beim Aufgehen des Hundssterns der Wein in den Kellern sich zu regen beginnt und daß sich die stehenden Gewässer bewegen Ancient Nations, übersetzt von E. Sachau (1879), 205]. Der Hintergrund der Geschichte: Afrasiab hatte versprochen, dem Minôcihr jenen Teil von Erânschar (das von ihm erobert worden war) zurückzugeben, welcher so lang und so breit wie der Flug eines Pfeils war. Arish schoß den Pfeil am 13. Tag des Monats Tîr-Mâh ab, nachdem er verkündet hatte: „Ich weiß, daß ich, wenn ich mit diesem Pfeil und Bogen schieße, in Stücke zerfallen werde, und mein Leben wird dahin sein.” Und so geschah es: Als er den Pfeil abschoß, „zerfiel [er] in Stücke. Auf Befehl Gottes trug der Wind den Pfeil vom Berg Rûyân und brachte ihn zur äußersten Grenze von Khurâsân zwischen Farghâna und Tabaristân; dort traf er den Stamm eines Nußbaumes, der so hoch war, daß es noch nie einen Baum wie diesen in der Welt gegeben hatte. Die Entfernung zwischen dem Ort, von wo der Pfeil abgeschossen worden war und wo er auftraf, betrug 1000 Farsakh.” [Siehe auch Sayyid H. Taqizadeh, Old Iranian Calendars (1938), 44.] Tîr beziehungsweise Tîra ist der Name für Merkuv [siehe Thomas Hyde, Veterum Persarum et Parthorum Religionis historia (1760), 24: „Tîr, i.e., Sagitta … , quo etiam nomine appellatur Mercurius Planeta propter velociorem motum”], aber es ist auch, ebenso wie Tishtriya, der Name für Sirius [siehe A. Scherer, Gestirnnamen bei den indogermanischen Völkern (1953), 113f], und der 13. Tag eines jeden Monats ist Sirius/Tishtriya gewidmet (siehe Lommel, op.cit., 5). Dabei müssen wir es belassen; Sirius-der-Pfeil hat mehr mythischen „Lärm” verursacht als irgendein anderer Stern: auch scheinen die Iraner auf seine Verbindung mit der ominösen Zahl 13 kein Monopol zu haben. 9 Plinius 9.58. Cf. Aristoteles, Historia Animalium 8.15.599B-600.
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(2.107) – und das Avesta liefert als Erklärung (Yt. 8.41), daß es in der Tat Tishtriya ist, „durch den die Gewässer zählen, die stehenden und die fließenden, jene in den Quellen und Flüssen, jene in den Kanälen und Teichen”.10 Das ist allerdings keine iranische Erfindung: Der Ritualtext des babylonischen Neujahrs redet Sirius mit „mulKAK.SI.DI., der die Tiefe des Meeres mißt” an. mul ist jene Vorsilbe, welche den Stern ankündigt, KAK.SI.DI. bedeutet „Pfeil”; und es ist dieser Pfeil, der hinter den meisten Geschichten über das Bogenschießen steht. Der Bogen, von dem aus er auf seinen Weg geschickt wird, ist eine Konstellation, die aus den Sternen von Argo und Canis Maior gebildet wird und den Sphären von Mesopotamien, Ägypten und China gemeinsam ist (Abbildungen 17 bis 20).11 Und da sich Venus und Sirius den Namen Ischtar teilen, läßt sich denken, wer „den Apsu vor Ea aufrührt”. Und hier folgt, was das „Feuer” gemäß einer finnischen Ursprungsrune zustande brachte, nachdem es „geschaukelt [worden war] … dort oben, auf dem Nabel des Himmels, auf dem 199 Gipfel des berühmten Berges”, als es geradewegs durch sieben oder neun Himmel raste und ins Meer fiel: „Der Funken … rollte … auf den Grund des Sees Aloe, brüllend stürzte er auf den Grund des Sees, hinab in die enge Grube (?). Dann stieg dieser See Aloe dreimal in der Sommernacht schäumend bis zur Höhe seiner Föhren an, vom Zorn über seine Dämme getrieben. Daraufhin ließ der See Aloe wiederum dreimal in der Sommernacht seine Wasser bis auf den Grund versiegen, seine Flußbarsche auf den Felsen, seine Kaulbarsche auf den kleinen Felseninseln.”12 Ein gewaltiger Funke scheint dies gewesen zu sein; doch heißt Nach der englischen Übersetzung von Ernst Herzfeld, Zoroaster and His World (1947), 587. 11 Für diesen Pfeil und Bogen gibt es auch starke Indizien in Mexiko; der Bogen der Chichimeca, der Hunde- Menschen. 12 K. Krohn, Magische Ursprungsrunen der Finnen (1924), 115ff. Siehe auch Ferdinand Ohrt, The Spark in the Water (1926), 3f. 10
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es nicht auch in der alten Sage: „Väinämöinen kocht im Rachen des Strudels wie Feuer im Wasser”?13 Was nichts anderes bedeutet, als daß mit dem mythischen „Feuer” mehr gemeint sein muß als man auf den ersten Blick vermutet. Tatsächlich können die enigmatischen Ereignisse im „See Aloe” nicht von dem Vorfall im See Vurukascha getrennt werden, und auch nicht von der Entstehung der „drei Ausflüsse”, von denen der erste den Namen Haosravah/Kai Chosrau trug (siehe Kapitel 13, „Über Zeit und die Flüsse”, Seite 185). Bevor wir zu den vielen Motiven kommen, von denen sich herausstellen wird, daß sie zu dem nämlichen „Wirbel-Feld” oder Strudel in Beziehung stehen, ist es angemessen, in voller Länge eine Version der Feuer- und Wassergeschichte der Indianer aus Guyana zu zitieren. Sie wartet nicht nur mit reizvollen Variationen auf, sondern präsentiert die seltenste aller Gottheiten: eine Schöpferkraft, die weder selbstgefällig noch leicht zu kränken noch eifersüchtig oder streitsüchtig ist. Auch ist sie nicht darauf aus, Unglücklichen eine „Erbsünde” aufzubürden. Statt dessen ist sich dieser Gott der Grenzen seiner Macht bewußt. Er tritt bescheiden auf, ist sensibel und nachdenklich und wird von seinen Geschöpfen mit aufrichtiger Kooperationsbereitschaft belohnt – abgesehen von der üblichen berühmten Ausnahme. Die Ackawois aus Britisch-Guyana sagen, daß arn Anfang der Welt der große Geist Makonaima (oder Makunaima; er ist ein ZwillingsHeld, der andere heißt Pia) Vögel und Raubtiere schuf und seinen Sohn Sigu einsetzte, über sie zu herrschen. Darüber hinaus ließ er einen großen und sehr schönen Baum aus der Erde wachsen, der an jedem Ast eine andere Frucht trug, während um seinen Stamm Bananen. Paradiesfeigen, Pisang, Maniok und Korn aller Art im Überfluß wuchsen, auch Süßkartoffeln rankten um seine Wurzeln: und in Kürze gediehen alle Pflanzen, die nun auf der Erde kultiviert wurden, in größter Fülle auf oder unter oder rund um diesen wunderbaren Baum. 13
M. Haavio, Väinämöinen, Eternal Sage (1952), 196.
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Um den Nutzen dieses Baumes über die ganze Welt zu verteilen, beschloß Sigu, ihn zu fällen und überall Ableger und Samenkörner von ihm zu pflanzen; und er tat dies mit Hilfe aller Raubtiere und Vögel, mit Ausnahme des braunen Affen, der sowohl faul als auch boshaft war und sich weigerte, bei diesem großen Werk der Verpflanzung mitzuhelfen. Damit es keinen Schaden anrichten 200 könne, schickte Sigu das Tier aus, in einem durchbrochenen Korb Wasser aus dem Strom zu holen, darauf bauend, daß diese Aufgabe seine fehlgelenkten Energien für die nächste Zeit beschäftigen werde. Während er seine Arbeil, den Wunderbaum zu fällen, fortsetzte, entdeckte er, daß der Baumstumpf hohl und mit Wasser angefüllt war und der Rogen aller möglichen Süßwasserfische darin umherschwamm. Der wohltätige Sigu bestimmte, daß alle Flüsse und Seen so freizügig mit dem Rogen versorgt werden sollten, daß eine jegliche Fischsorte in alle Gewässer ausschwärmen konnte. Aber dieses großzügige Vorhaben wurde auf unerwartete Weise vereitelt. Denn das Wasser in dem Hohlraum, das mit dem großen Reservoir irgendwo in den Eingeweiden der Erde verbunden war, begann überzufluten: und um die steigende Flut zu bannen, bedeckte Sigu den Baumstumpf mit einem dicht geflochtenen Korb. Das hatte den erwünschten Effekt. Aber unglücklicherweise kehrte der braune Affe, seiner fruchtlosen Arbeit müde geworden, heimlich zurück, und in seiner Neugierde, die beim Anblick des umgestülpten Korbes geweckt wurde, nahm er an, unter dem Korb verberge sich etwas Gutes zu essen. Also hob er ihn vorsichtig ein Stückchen hoch und blickte verstohlen unter ihn – und heraus strömte die Flut, den Affen selbst mit sich reißend und das ganze Land überschwemmend. Den Rest der Tiere einsammelnd, führte Sigu sie auf den höchsten Punkt des Landes, wo einige hohe Kokospalmen wuchsen. Er wies alle Vögel und Klettertiere an, sich auf den höchsten Baum zu retten; und die Tiere, die weder klettern noch schwimmen konnten, sperrte er in einer Höhle mit einer sehr engen Öffnung ein, und nachdem er den Eingang der Höhle mit Wachs verschlossen hatte, gab er den Tieren in der Höhle einen langen Dorn, mit dem sie das Wachs durchbohren konnten um festzustellen, wann das Wasser abflauen
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würde. Nachdem er diese Maßnahmen zum Schutz der hilfloseren Spezies getroffen hatte, kletterten er und die restlichen Tiere auf die Palme und machten es sich zwischen den Ästen bequem. Während der Dunkelheit und des Sturms, die der Flut folgten, litten sie alle sehr stark unter Hunger und Kälte. Sie ertrugen ihre Leiden mit stoischer Gelassenheit – bis auf den roten Brüllaffen, der seiner Angst mit fürchterlichem Geschrei Luft machte, so daß seine Kehle anschwoll und seitdem aufgebläht geblieben ist; das ist auch der Grund, warum er bis auf den heutigen Tag eine Art knöcherne Trommel in der Kehle hat. Inzwischen ließ Sigu von Zeit zu Zeit Samenkörner von der Palme ins Wasser fallen, um von ihrem Aufschlagen auf den Wasserstand schließen zu können. Als das Wasser sank, wurde der Abstand zwischen dem Herunterfallen der Samenkörner und ihrem Aufprall auf das Wasser größer: und am Ende vernahm der lauschende Sigu statt des Aufklatschens das dumpfe Aufprallen der Samenkörner, die auf die weiche Erde aufschlugen. Da wußte er, daß die Flut zurückgewichen war, und er und die Tiere bereiteten sich auf ihren Abstieg vor. Aber der Trompetervogel drängelte so sehr, den Baum endlich zu verlassen, daß er geradewegs in den Bau einer Ameise flatterte; und das hungrige Insekt hielt seine Beine fest und nagte sie bis auf die Knochen ab. Das ist der Grund, warum der Trompetervogel noch immer solche spindeldürren Beine hat. Die anderen Geschöpfe zogen ihre Lehre aus diesem abschreckenden Beispiel und kletterten vorsichtig und sicher den Baum hinunter, Sigu rieb nun zwei Holzstöckchen aneinander, um Feuer zu machen: aber just als er den. ersten Funken zustande gebracht hatte, schaute er zufällig beiseite, und der Buschtruthahn, der den Funken mit einem Leuchtkäfer verwechselte, pickte ihn auf und flog damit weg. Der Funken verbrannte die Speiseröhre des gierigen Vogels. Und das ist der Grund, warum Truthähne bis auf den heutigen Tag rote Kehllappen haben. Der Alligator war die ganze Zeit dabei gewesen, ohne jemandem ein Leid zuzufügen: aber weil er aus bestimmten Gründen keinen guten Ruf hatte, warten ihm alle anderen Tiere vor, er habe den Funken gestohlen und verschluckt. Um den Funken aus dem Ra-
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chen des Alligators zu befreien, riß Sigu dem Tier die Zunge heraus. Und das ist der Grund, warum Alligatoren bis auf den heutigen Tag keine Zunge haben, die der Rede wert wäre.14
Weltweit gibt es noch viel mehr Geschichten über einen Pfropfen, dessen Entfernung die Flut hervorruft: Bei den Agaria, einem Eisenschmiede-Stamm in Zentralindien, ist es das Abbrechen eines Eisennagels, wodurch ihre Stadt des Goldenen Zeitalters, Lohripur, überflutet wird.15 Nach Ansicht der Mongolen ist der Polarstern „ein Pfeiler, von dessem sicheren Stand die richtige Umdrehung der Welt abhängt oder ein Stein, der eine Öffnung verschließt: Wenn der Stein herausgezogen wird, strömt das Wasser aus der Öffnung und überschwemmt die Erde.”16 Im babylonischen Mythos von Utnapischtim reißt Nergal „den Schiffspfahl heraus, Ninurta geht, läßt das Wasserbecken ausströmen“ (GE II.101f). Der neue Gegenstand, mit dem wir konfrontiert werden, ist jedoch die Arche in der Flut – ob nun Noahs oder die eines anderen. Die erste Arche wurde von Utnapischtim im sumerischen Mythos gebaut. Auf verschiedene Weise erfahren wir, daß sie ein Würfel war – ein bescheidener, dessen Maße von 60x60x60 Klafter im Sexagesimalsystem, in dem 60 als 1 geschrieben wird, die Einheit verkörpert. In einer anderen Version gibt es keine Arche, sondern nur einen kubischen Stein, auf dem ein Pfeiler ruht, der von der Erde bis zum Himmel reicht. Der Stein – ob nun würfelförmig oder nicht – liegt unter einer Zeder oder Eiche, bereit, ohne ersichtlichen Grund eine Flut ausbrechen zu lassen. So verwirrend das ist, scheint es doch das neue Thema zu lieW.H. Brett, The Indian Tribes of Guiana (186S), 378-384; Sir Everard F. im Thurn, Among the Indians of Guiana (1883), 379-381 [zitiert in J.G. Frazer, Folklore in the Old Testament (1918). I, 265]. Die Hervorhebungen durch Kursivschrift sind von uns. 15 Verrier Elwin, The Agaria (1942), 96ff. 16 Grigorij Nikolaevič Potanin, zitiert bei W. Lüdtke, „Die Verehrung Tschingis-Chans bei den Ordos-Mongolen”. ARW 25 (1927), 115. 14
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fern. In jüdischen Legenden wird erzählt, daß „seitdem die Arche verschwunden war, ein Stein an ihrer Stelle lag …, der Grundstein genannt wurde”. Er wurde deshalb Grundstein genannt, „weil aus ihm die Welt gegründet (oder begonnen) wurde.“ Und es wird gesagt, er liege über dem Gewässer, das sich unter dem Allerheiligsten befindet. Das mag wie eine Traumsequenz anmuten, aber es wird durch eine sehr substantielle Überlieferung gestützt, die von den Juden aufgegriffen wurde, jedoch auch in der finno-ugrischen Überlieferung vorkommt.17 Die jüdische Geschichte geht dann wie folgt weiter: Als David den Eckstein für den Tempel legen wollte, wurde in 1.500 Ellen Tiefe eine Tonscherbe gefunden. David wollte sie gerade hochheben, als die Tonscherbe ausrief: „Das darfst du nicht tun.” „Warum nicht?” fragte David. „Weil ich über der grundlosen Tiefe ruhe.” „Seit wann?” „Seit jener Stunde, da die Stimme Gottes vernommen wurde, um die Worte vom Sinai zu verkünden: ,Ich bin der Herr, dein Gott.’ Woraufhin er die Welt erzittern und in den Abgrund versinken ließ. Ich liege hier, um den Abgrund zu verschließen.“ Trotzdem hob David die Tonscherbe hoch, und die Wasser des Abyssus erhoben sich und drohten, die Erde zu überfluten. In der Nähe stand Ahithophel und dachte bei sich: „Jetzt wird David seinen Tod finden, und ich werde König sein.” In dem Moment sagte David: „Sollte hier einer unter uns sein, der weiß wie man die Flut des Wassers eindämmen kann und es nicht tut, der soll durch Erwürgen seinen Tod finden.” Daraufhin ließ Ahithophel den Namen Gottes in die Tonscherbe einschreiben und sie in den Abgrund werfen. Sofort begann das Wasser zu sinken; aber es sank in eine so große Tiefe, daß David beL. Ginzberg, The Legends of the Jews (3954), 4, 96; cf. auch 1, 12; 5, 14. Für dieses Zitat, wie auch für die folgenden von Morris Jastrow [Sun and Saturn (1909)], sind wir Irvin N. Asher zu Dank verpflichtet. Siehe V.J. Mansikka, „Der blaue Stein”, HUF II (1911), 2, sowie B. Gorion, Die Sagen der Juden (1969), 617f.
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fürchtete, die Erde könne ihre Feuchtigkeit verlieren. Und so begann er, die fünfzehn „Lieder des Aufstiegs” zu singen, damit das Wasser wieder steige.
Hier hat sich der Grundstein in eine Tonscherbe verwandelt, die in der Überlieferung Eben Schetija heißt. Dieser Name ist von einem Verb abgeleitet, das viele Bedeutungen hat:18 „gesetzt, zufrieden sein”, „trinken”, „die Kettfäden aufziehen“, „den Grundstock für etwas legen“. Von diesen Bedeutungen scheint uns „die Kettfäden aufziehen” am aufschlußreichsten zu sein, zumal sie an die anhaltende Wichtigkeit von „Rahmen” erinnert. Innerhalb dieses Rahmens geschieht das Auf- und Absteigen der unteren Wasser (wie im Phaidon-Mythos), womit Katastrophen suggeriert werden, die von der Geschichte unerwähnt bleiben und auf die nur in der höchst schillernden Terminologie der Kosmologen hingewiesen wird. Hätten sie nur eine Ahnung von der kardanischen Aufhängung gehabt, dann hätten sie sich die Welt vielleicht stabiler vorgestellt. Hildegard Lewys Nachforschungen19 über Eben Schetija förderten eine Textstelle in den Annalen von Assur-nasir-apli zutage, in der beschrieben wird, daß die Fundamente des neuen Tempels von Ninurta in Kalhu bis in die Tiefe von 120 Ziegelsteinlagen „zur Ebene der Wasser” hinabreichten, also in Höhe des Grundwasserspiegels lagen. Das befördert die Wasser der Tiefe in ihren naturgegebenen Zustand zurück. Jedoch weist die Bedeutung, welche die Menschen diesem Umstand beimaßen, 203 auf etwas anderes hin: Nicht nur David und der assyrische König schürften bis auf die Höhe des Grundwasserspiegels, sondern ebenso die Erbauer der Ka’aba in Mekka. Im Inneren dieses heiligsten aller Schreine gibt es einen Brunnen, über dessen ÖffDas Verb lautet schatan; die Bedeutungen werden in Jastrows Wörterbuch angegeben. 19 H. Lewy, „Origin and Significance of the Mâgên Dâwîd”. Archiv Orientalni 18 (1950), Teil 3, 344ff. 18
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nung in vorislamischer Zeit die Statue des Gottes Hubal aufgestellt worden war. Al-Bīrūnī sagt, in der frühen islamischen Periode sei es ein richtiger Brunnen gewesen, an dem die Pilger, zumindest während der arabischen Wallfahrt, ihren Durst stillen konnten. Die Statue Hubals hatte dazu gedient, das Ansteigen des Wassers zu verhindern. Den Legenden zufolge ist derselbe Glaube einst auch in Jerusalem geläufig gewesen. Von daher auch die heilige Tonscherbe. Mekka weiß allerdings noch mehr zu berichten. Hildegard Lewy betont, daß in vorislamischen Tagen der Gott Hubal mit Saturn gleichgesetzt wurde und daß der Heilige Stein der Ka’aba dieselbe Rolle innehatte, denn der Stein war ein Würfel und verkörperte von daher ursprünglich Saturn. Keplers Polyeder, das der Sphäre des Saturns einbeschrieben ist, ist nur das letzte Zeugnis einer Tradition hohen Alters (siehe erneut Abbildung 13). Die dürftige kleine Tonscherbe wurde durch fromme Legende ins Spiel gebracht. Sie sollte besagen, daß es allein die Macht des Heiligen Namens sei, worauf es ankommt. Aber die eigentliche Sache war der Würfel: entweder als Utnapischtims Arche oder, in einer anderen Version, als ein Stein, auf dem ein Pfeiler ruht, der von der Erde bis zum Himmel reicht. Selbst Christus wird mit einem „Berg in Gestalt eines Kubus, auf dem ein Turm errichtet ist” verglichen.20 Arthur Maurice Hocart schreibt, daß „die Singalesen in ihren Pagoden häufig einen Quaderstein aufstellten, der Meru verkörperte. Wenn sie in die Mitte einer Pagode einen Stein legten, der das Zentrum der Welt symbolisierte, so muß dies bedeutet haben, daß sie die Pagode als Versinnbildlichung der Welt betrachteten.”21 Was selbstredend der Fall war. Anderweitig wird allerdings gesagt, daß dieser Stein – der Grundstein –unter einem großen Baum liegt und daß von unterLaut Franz Kampers [Vom Werdegang der abendländischen Kaisermystik (1924), 53] im neunten Gleichnis des „Hirten des Hermas”. 21 A.M. Hocart, Kingship, 179, zitiert nach Paul Mus, Barabudur (1935), 108, Fußnote I. 20
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halb des Steins „eine Welle bis zum Himmel emporstieg”. Dies klingt nach einer späten Vermischung, deren Grund nicht ersichtlich ist; um die verstreuten Ursprungsmotive zu entwirren, muß man sie getrennt behandeln. Zunächst aber ist an dieser Stelle eine Bestandsaufnahme vonnöten. Eine Menge Figuren müssen zusammengebracht werden. Der braune Affe, der Vater der Zwietracht in Sigus idyllischer Schöpfung, erscheint in vielen Verkleidungen, Er ist die Schlange des Gartens Eden, der einzige Abtrünnige. Er ist Loki, der den Mistelzweig überredete, nicht über Balders Tod zu weinen und damit die Einmütigkeit der Geschöpfe zu brechen. Sigu selbst, der gütige König des Goldenen Zeitalters, ist unmißverständlich eine saturnische Figur, die unter ihren Geschöpfen weilte; und dasselbe gilt für Jahwe – zumindest als er noch „mit 204 Adam im Garten wandelte“. Ein Herrscher, der „es gut meint”, ist ein saturnischer Charakter. Kein anderer außer Saturn lebte unter den Menschen. In einem orphischen Fragment heißt es: „Orpheus erinnert uns daran, daß Saturn in aller Öffentlichkeit auf der Erde und unter den Menschen weilte.“22 Dionysos von Halikarnassos (I.36,1) schreibt: „Vor der Herrschaft des Zeus regierte Kronos hier auf dieser Erde.“23 Gleichermaßen konstatiert Maj Sandmann Holmberg hinsichtlich Ptah, dem ägyptischen Saturn: „Die Vorstellung von Ptah als irdischem König taucht immer wieder in ägyptischen Schriften auf.“ Und sie verweise außerdem auf „die bemerkenswerte Tatsache, daß Ptah der einzige unter den ägyptischen Göttern ist, der mit einem geraden königlichen Bart dargestellt wird anstatt mit einem gebogenen Bart”.24 Von Rom bis Mexiko wurde mit den Saturnalien – ihren Generalamnestien und Herren, die ihre Sklaven bedienten, usw. – geOtto Kern, Orphicorum Fragmenta (1963). Fragment 139. 186, aus Lactantius. 23 Maximilian Mayer, in Roscher s.v. Kronos, 1458f. 24 M. Sandmann Holmberg, The God Ptah (1946), 83, 85. 22
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nau dieses Aspekts der Herrschaft Saturns gedacht, auch wenn Saturn nicht immer direkt erwähnt wurde. Wenn dieses Fest zu Ehren Saturns in China anstand, sozusagen „sub delta Geminorum” – genauer gesagt; die Gemini-Sterne Delta, 61 und 56 Flamsteed –, „gab es ein Festessen, bei dem alle hierarchischen Unterschiede außer Kraft gesetzt wurden … Der Souverän lud seine Untertanen mit dem ,Lied der Hirsche’ ein.”25 Der Kubus war die Figur Saturns, wie Kepler in seinem Mysterium Cosmographicum zeigte; und das ist der Grund für das Beharren auf würfelförmigen Steinen und kubischen Archen. Überall ist es die Kraft des Saturn, die „Noah” warnt und ihn drängt, seine Arche zu bauen – als Enki, als Tane usw. Sigus Korbstöpsel war augenscheinlich eine inadäquate Version des Würfels, die der Phantasie eingeborener Korbflechter entsprang. Das führt zu dem Schluß, daß Noahs Arche ursprünglich die eindeutige Rolle hatte, die Flut zu stoppen – eine interessante und unerwartete Schlußfolgerung für die Bibelexperten. Eines der großen Motive des Mythos ist der Wunderbaum, der so oft als bis zum Himmel reichend beschrieben wird. Es gibt viele Bäume dieser Art – die Esche Yggdrasil in der Edda, die weltverdunkelnde Eiche im Kalevala, Pherekydes’ mit dem Sternenmantel drapierte Welteiche und der Lebensbaum im Garten Eden. Ebenso häufig wird dieser Baum gefällt. Das andere Motiv ist der Grundstein, aus dem manchmal eine würfelförmige Arche wird. Diesen Motiven muß zuerst auf den Grund gegangen werden. Nachdem man die hübsche Geschichte über Sigus Wunderbaum gelesen hat, in dessen Baumstumpf sich alle Fischsorten tummeln, um die Welt zu bevölkern, erfordert es viel Geduld, mit dem Würfel zu Rande zu kommen, der sich in der Mitte des Meeres befindet und unter dem ein mystisches Wesen haust, dessen Erscheinungsform von einem übernatürlichen Fisch – 25
G. Schlegel, L’Uranographie Chinoise (1875), 424.
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einem Wal sogar – über das „grüne Feuer”, den „König der Feuer”, das „zentrale Feuer” bis hin zum Teufel selbst variiert. Die Hauptquelle für dieses Wesen sind russische26 und finnische Zauberformeln, und diese „Superstitious” („Über-Reste”) bestehen aus Fragmenten von kieselharter Widerstandsfähigkeit, eingebettet in die sanftere Struktur geschichtlicher Überlagerung. Magisches Material widersetzt sich dem Wandel – und zwar gerade wegen seiner Resistenz gegenüber der Erosion durch den gesunden Menschenverstand. Was die Zauberformeln anbelangt, so wurden sie in dem Maße in einen christlichen Kontext eingebettet, in dem auch die jeweiligen Bevölkerungen konvertierten. Aber sie bleiben als Zeugnis eines völlig anderen kosmischen Verständnisses erhalten. Zum Beispiel sagen finnische Runen über den Ursprung des Wassers aus, daß „alle Flüsse aus dem Jordan kommen, in den alle Flüsse strömen”, daß „das Wasser seinen Ursprung in dem Wirbel des heiligen Flusses hat – es ist das Badewasser von Jesus, die Tränen Gottes.”27 Andererseits heben skandinavische Formeln den Punkt hervor, daß Christus „den Jordan verstopfte” beziehungsweise „das Meer des Noah”,28 was wiederum zum Hirten des Hermas paßt, wo Christus mit einem „Berg in Gestalt eines Kubus” verglichen wird (siehe oben, Seite 203). Unter diesem Gesichtspunkt ist es nicht verwunderlich, wenn das Kreuz zum „neuen Baum” wird, der neue Kreuzwege markiert. Um das zu erkennen, muß man nicht bis nach Rußland gehen. Auf dem berühmten Fresko von Piero della Francesca in Arezzo wird „die Entdeckung des Wahren Kreuzes” dargestellt. Sie beginnt mit dem Tod von Adam, der am Fuß des Baums liegt. Das Holz des Baums wird später das Material für das Kreuz liefern. Noch später erscheint es der Heiligen Helena, der Mutter von Konstantin, in einem Traum. Sie veranlaßt daraufhin, daß das Holz ausgegraben und als heiligste Reliquie verV.J. Mansikka, Über russische Zauberformeln (1909)5 184-187, 189, 192. K. Krohn, Ursprungsrunen (1924), 106f. 28 V.J. Mansikka, op.cit., 244f, 297: Fußnote 1 26 27
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ehrt wird. Piero stellt nichts dar, was nicht auf dem Boden guter mittelalterlicher Tradition gestanden hätte. Wir befinden uns hier auf empfindlichem Terrain.
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In Xanadu did Kubla Khan A stately pleasure dome decree Where Alph, the sacred river, ran Through caverns measureless to man Down to a sunless sea. COLERIDGE
Der Boden ist in der Tat nicht nur empfindlich, sondern auch schwierig und schwankend. Wenn der Wasserwirbel in der Theorie vom Kreuz auftaucht, so geschieht dies mit Sicherheit ohne das Einverständnis der Theologen. Die bisher angeführten Beispiele stehen allerdings nicht isoliert da. Es ist notwendig, sich mit Material auseinanderzusetzen, das dem geschichtlich geschulten Leser, der dazu angehalten wird, omne ignotum pro magnifico mit Argwohn zu begegnen, verdächtig erscheinen mag. Man sollte deshalb dieses Kapitel mit einer kleinen Fallgeschichte einleiten, die das zähe Weiterleben und verblüffende Auftauchen gewisser Formeln illustrieren mag. Im Markus-Evangelium III. 17 gibt Jesus den „Zwillingen” Jakobus und Johannes, den Söhnen des Zebedäus, den Namen Boanerges (bei Luther: Bnehargem), dessen Bedeutung der Evangelist mit „Söhne des Donners“ erklärt.1 Das hatte man lange übersehen; aber schließlich wurde es der Titel einer Arbeit des hervorragenden Gelehrten Rendel Harris, der allzu schnell in Vergessenheit geraten ist. Er wies in seinem Werk nach, daß die Donner-Zwillinge in so unterschiedlichen Kulturen wie Grie1
Kai epethēken auiois onoma Boanērges, ho estin hyioi brontēs.
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chenland, Skandinavien und Peru vorkommen. Man fühlt sich an Thors Söhne Magni und Modi erinnert, die nach der Götterdämmerung das Erbe ihres Vaters antreten; allerdings werden sie nicht direkt Zwillinge genannt. Doch zurück zu Harris:
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Wir haben gezeigt, daß aus der festgestellten Elternschaft des Donners nicht notwendigerweise folgt, daß sie sich zwangsläufig auf beide Zwillinge erstreckt. Die Dioskuren mögen zwar einheitlich Söhne des Zeus genannt werden, eine nähere Untersuchung führt jedoch zu dem Schluß, daß es in den frühen griechischen Kulten eine Tendenz gab, den einen Zwilling als das Kind eines göttlichen Vaters und den anderen als Kind eines menschlichen Vaters zu betrachten. So wird Castor dem Tyndareos und Pollux dem Zeus zugeschrieben … Das Problem war das zusätzliche Kind, deshalb wurde ihm eine andere Herkunft unterstellt. Erst später wird die Frage der Diskriminierung dazu führen, daß beide als Himmelsknaben oder Donnerknaben anerkannt werden. Ein Beispiel aus einer weit entfernten Zivilisation wird deutlich machen, daß dies die richtige Betrachtungsweise ist. Zum Beispiel erzählt uns Arriaga in seiner „Ausrottung der Götzenanbetung in Peru”: „Wenn bei einer Geburt zwei Kinder zur Welt kommen – die sie Chuchos oder Curi und in el Cuzco Taqui Hua-hua nennen –, halten sie dies für einen gottlosen oder verabscheuungswürdigen Vorfall, und sie sagen, daß eines der Kinder der Sohn des Blitzes ist und fordern eine strenge Buße, als hätten sie eine große Sünde begangen.” Es ist außerdem interessant anzumerken, daß die Peruaner, von denen Arriaga spricht, nach ihrem Übertritt zum Christentum die Bezeichnung Donnersohn, die einem der Zwillinge verliehen wurde, durch den Namen Santiago ersetzten, da sie von ihren spanischen Missionslehrern gelernt hatten, daß St. Jakobus (Santiago) und St. Johannes von unserem Herrn Söhne des Donners genannt worden waren – eine Redewendung, welche die peruanischen Indianer sehr wohl verstanden zu haben scheinen, wohingegen die großen Kommentatoren der christlichen Kirche die Bedeutung nicht begriffen hatten … Ein anderer kurioser und irgendwie ähnlicher Transfer der Spra-
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che der Markus-Geschichte in das Volkstum eines Stammes, der sowohl zeitlich wie räumlich weit entfernt ist, … läßt sich bei den Dänen ausfindig machen, und dies sogar noch in unserer Zeit … Außer den üblichen Steinäxten und Faustkeilen, die beide weltweit als Donner-Geschosse angesehen werden, betrachten die Dänen den fossilen Seeigel als Donnerkeil und geben ihm einen besonderen Namen. In Salling werden solche Steine Sebedaei-Stein oder S’bedaei genannt; in Nord-Salling heißen sie Sepadeje-Steine. In Norbäk, im Distrikt Viborg, nannten die Bauern sie Zebedäus-Steine! Um Jebjerg herum, in der Gemeinde Kerum im Distrikt Randers. gaben sie ihnen den Namen Sebedei-Steine … Der Name dieser Steine ist also fest etabliert, und es scheint sicher, daß er von den im Evangelium als Donnersöhne erwähnten Söhnen des Zebedäus hergeleitet ist. Wie die peruanischen Eingeborenen erkannten auch die dänischen Bauern sofort, was mit Boanerges gemeint war und gaben ihrem Donnerkeil den Namen seines Schutzpatrons.2
Das hätte spätere Hypergelehrte wie den evangelischen Theologen Rudolf Karl Bultmann zum Innehalten veranlassen können, bevor sie fortfuhren, die Bibel zu „entmythologisieren”. Man kann nie wissen, worauf man mit den Füßen tritt. Umgekehrt zeigt es sich, daß einige Mißverständnisse, die über die Kenntnisse der Experten hinausgehen, erst aufgeklärt sein müssen, ehe man sich mit der ganzen Information befassen kann. Folglich haben wir nicht die Absicht, die reichlich vorhandenen Sagen und Runen, die sich mit dem Holz des Kreuzes beschäftigen, als unerheblich abzutun. Dach läßt der Zeitmangel keine gründliche Untersuchung zu,3 sondern erlaubt nur einige Bemerkungen über finnische und russische Vorstellungen von der 208 „großen Eiche“, die nächste „Verwandte” der sumerischen Bäume. In einer der finnischen Runen heißt es: „Lange Eiche, dicke Eiche. / Was ist das Wurzelholz der Eiche? / Gold ist das WurR. Harris, Boanerges (1913), 9ff. Für eine reiche Materialsammlung siehe Franz Kampers, Mittelalterliche Sagen vom Paradiese und vom Holze des Kreuzes Christi (1897). Siehe auch Oskar Dähnhardt, Natursagen (1907-1912 II. 207-214.
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zelholz der Eiche. – / Der Himmel ist das Wipfelholz der Eiche. – / Ein Gehege im Himmel drinnen. – / Ein Hammel in dem Gehege. – / Ein Speicher auf dem Horn des Hammels.”4 Dreist wird in der nächsten Version „der Speicher auf die Spitze des Kreuzes“ gepackt. Einer anderen Version zufolge befindet sich in der Krone der Eiche eine Wiege mit einem kleinen Jungen, der eine Axt auf seiner Schulter trägt. Weitere verblüffende Vorstellungen tauchen in einem russischen Apokryphon auf, in dem Satanael den Baum im Paradies pflanzte, um aus ihm eine Waffe gegen Christus zu fertigen: „Sein Laubwerk verbreitete sich über das ganze Paradies, und es bedrohte auch die Sonne. Sein Wipfel berührte den Himmel, und aus seiner Wurzel rauschten Milchund Honigquellen.”5 Diese letztgenannte Idee paßt wiederum zu der mittelalterlichen Überlieferung, nach der die Flüsse des Paradieses unterhalb des Kreuzes hervorströmten. Im Kapitel über Gilgamesch wird es noch andere verwirrende „Bäume“ geben, aber auch dort werden wir nicht versuchen, das umfangreiche und zweideutige Beweismaterial vollends auszuschöpfen. Aber mit den Vorbehalten, die wir aus den Donnersöhnen und ähnlichen Beispielen destilliert haben, können wir uns weiteren befremdlichen Angaben stellen. Da ist zunächst im Atharva Veda eine komplette Hymne, die dem gewidmet ist, was man die Weltsäule nennen könnte (eine höchst multivalente Säule), deren Name Skambha ist, wovon sich der finnische Sampo ableitet. An dieser Stelle wird eine Strophe (AV 10.7.38) genügen, in der das Feuermonster aus der Tiefe erwähnt wird:6 K. Krohn, Magische Ursprungsrunen der Finnen (1924), 192. K. Krohn, op.cit., 197. 6 Um unbarmherzige Experten davor zu bewahren, auf „grundlegende” Untersuchungen zu verweisen, von denen uns zweifellos einige unbekannt sind: Das Kapitel über yaksa in R. Pischels und K.F. Geldners Vedischen Studien (1889-1901) ist uns nicht unbekannt; es gibt verschiedene gewichtige Gründe, warum wir es vorziehen, an dem „obso4 5
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A great monster [yaksa] in the midst of the creation, strode in penance on the back of the sea – in it are set whatever gods there are, like the branches of a tree roundabout the trunk.7
Oder, um „späte” astrologische Quellen zu zitieren, die folgenden Angaben aus dem im Mittelalter berühmten Liber Hermetis Trismegisti über die Grade von Taurus:8 18–20° 21–23°
oritur Navis et desuper Draco mortuus, vocatur Terra geht das Schiff auf, und auf ihm der tote Drachen, Erde genannt oritur qui detinet navem, Deus disponens universum mundum geht derjenige auf, welcher das Schiff hält (oder aufhält), der Gott, der das ganze Universum ordnet, [Disponere korrespondiert mit griechisch kōsmeo, H.v.D]
Was immer es sein mag, das „unten” herrscht – es scheint sich in der Tat um eine wahrhaft omnipotente Entität zu handeln: Wenn überhaupt, gibt es schließlich nur sehr wenige Charaktere, denen nachgesagt wird, sie „ordneten das ganze Universum”. Mit diesem bemerkenswerten „Kosmokrator” werden wir uns noch beschäftigen; das feurige Geschöpf tief unten im Meer muß jedoch in einen Appendix verbannt werden (Appendix 23). Seine Relevanz für das gesamte Schema ergibt sich aus der Tatsache, daß „Väinämöinen im Rachen des Strudels wie Feuer im Wasser kocht”.9 Die Worte von Hermes-dem-dreimal-Großen sind, so krypleten” Unterwasser-„Monster“ festzuhaken. 7 Atharva Veda Sanhita, übersetzt von William Dwight Whitney (1905). Annähernd ins Deutsche übertragen heißt es: „Inmitten der Schöpfung schritt ein großes Ungeheuer [yaksa] auf dem Rücken des Meeres – auf ihm sind alle nur möglichen Götter untergebracht, wie die Äste eines Baumes rund um den Stamm.” 8 W. Gundel, Neue Astrologische Texte des Hermes Trismegistos (1936), 54f, 217ff. 9 M. Haavio, Väinämöinen, Eternal Sage (1952), 196
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tisch sie klingen, ein Teil der hochorganisierten Fachsprache der Astrologen. Damit meinen wir nicht jene Sterndeuter, die den Leuten gegen Bezahlung Horoskope liefern, sondern ausschließlich jene, die über das überlieferte System der Welt nachgrübelten und von allem Gebrauch machten, was ihnen in Form von Astronomie, Geographie, Mythologie oder heiligen Schriften über die Gesetze der Zeit und des Wandels zur Verfügung stand, um ein ehrgeiziges System aufzubauen. Abu Ma’shar und Michael Scotus wurden später als falsche Propheten und Zauberer abgetan; aber noch Tycho Brahe und Johannes Kepler hatten große Achtung vor ihnen: Sie verkörperten alles, was es an wirklicher Wissenschaft im 13. Jahrhundert gab, und sie machten sich verwegene Gedanken. Das ignotum kann sich durchaus als magnificum erweisen. Den wenigen unzusammenhängenden Zitaten mag man einen Mangel an Sinn und Methode vorhalten. Sie werden durch weiteres Material gestützt werden. Tatsächlich mußten wir diesem Kapitel – nachdem es erst einmal so „dick” geworden war, daß es jede Naht zum Platzen gebracht hätte – die kalorienärmste Diät verschreiben, bis es auf seinen jetzigen Zustand der Abmagerung und des offensichtlichen Mangels an Kohärenz zusammengeschrumpft war. Aber es ging zunächst darum, daß man versteht, was das latente geometrische Konzept, das sich in den letzten Kapiteln immer wieder seinen Durchbruch verschaffte, alles implizieren kann.
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La mythologie, dans son origine, est l’ouvrage de la science; la science seule l’expliquera. DUPUIS
Das Grundgerüst der Welt wird im griechischen Mythos in der berühmten Vision des Er im zehnten Buch von Platons Der Staat beschrieben. In diesem Mythos treffen wir auf Er, Sohn des Armenios, dem auf dem Begräbnis-Scheiterhaufen das Leben wiedergegeben wird, kurz bevor man das Feuer entfacht, und der seine Reise durch die andere Welt schildert (10.615ff), bei der er eine Gruppe von Seelen begleitet, die für die Wiedergeburt vorgesehen sind. Sie kommen an einen Ort, „von wo sie ein Licht erblickten, das sich von oben durch den ganzen Himmel und die Erde spannte, ganz gerade wie eine Säule, ganz ähnlich einem Regenbogen, nur prächtiger und klarer; nach einem weiteren Tag kamen sie zu ihm, und dort, in der Mitte des Lichtes, sahen sie die Enden seiner Bänder an den Himmel gebunden. Dieses Licht ist nämlich das Band des Himmels, ähnlich den Gurten der Kriegsschiffe, und hält das ganze schwingende Gewölbe zusammen. An diesen Enden ist die Spindel der Notwendigkeit befestigt, durch die alle Umdrehungen geschehen.”1 Platon, Der Staat, übersetzt von Karl Vretska (1958, Neuausgabe 1982), 461f. Wilhelm Wienand [Platon, Sämtliche Werke (o.J.). 2, 401] übersetzt die „Gurte der Kriegsschiffe” mit „verbindende Querbänke an den Dreiruderern“, wobei mit Dreiruderer (griechisch: triērēs) laut W. Pape (Griechisch-Deutsches Handwörterbuch) ein leichtes, schnelles Kriegsschiff mit drei Reihen Ruderbänken gemeint ist. 1
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In seiner englischen Übersetzung fügt Cornford in einer Fußnote hinzu: „Es ist umstritten, ob es sich bei dem Band, welches das Universum zusammenhält, einfach nur um einen geraden Axialschaft oder um ein kreisförmiges Lichtband handelt – suggeriert durch die Milchstraße –,2 das den Fixsternhimmel umgürtet.“3 Eisler sah darin seltsamerweise den Zodiak.4 Da solche Gurte eines Kriegsschiffs nicht horizontal um das Schiff herumgingen, sondern dazu dienten, den Mast zu sichern (den „Baum” des Schiffes), der nach oben zeigt, plädieren wir prinzipiell für die Milchstraße, die jedoch in späteren Zeiten durch die unsichtbaren Koluren „ersetzt” werden mußte.5 Aber Er berichtet auch über die Abenteuer der Seelen zwischen den Inkarnationen, und in diesem Zusammenhang können wir auf die Milchstraße bauen. Sicherlich ist das „Modell” weit davon entfernt, eindeutig zu sein – und das ist nach Cornfords Zugeständnis offensichtlich auch so beabsichtigt. Und tatsächlich wird einige wenige Abschnitte später das komplette Planetarium mit seinen „Wirteln” entfaltet, mit der „Spindel der Notwendigkeit”, die von der Göttin gehalten wird, neben der die Parzen sitzen und die Fäden der Menschenleben aufspulen. Die Seelen können dem Lied der Lachesis lauschen, sofern sie sich noch auf der „Wiese” befinden; aber die Ketten und der Schaft beziehungsweise das Band sind nicht länger mit im Bild. Platon weigert sich, ein korrekter Geometer für die Andere Welt zu sein, so wie er sich auch Vgl. Otto Gruppe, Griechische Mythologie und Religionsgeschichte (1906), 1036, Fußnote 1: „Vermutlich die Milchstraße.“ 3 F.M. Cornford, The Republic of Plato (1952), 353 4 R. Eisler, Wettenmantel und Himmelszelt (1910), 97ff. 5 Vgl. auch die Diskussion in John Louis Emil Dreyer, A History of Astronomy from Thales to Kepler (1953), 56ff. Bzgl. der „Bänder”, die er mit „Ligaturen” übersetzt, stellt Dreyer fest: „Die Ligaturen (desrnoi) des Himmels sind die Solstitial- und Äquinoktialkoluren, die sich in den Pulen schneiden und deren Punkte demzufolge ihre Extremitäten (akra) genannt werden können.” 2
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nicht auf vernünftige Weise über deren Hydraulik auseinandersetzen möchte. Doch hat sich Sokrates kurz zuvor, im Phaidon, ironisch über die „Wahrheiten” der Wissenschaft geäußert: Er bestand darauf, daß die Wahrheiten des Mythos eine andere Ordnung haben und gegen die gewöhnliche Folgerichtigkeit rebellieren. Es hat den Anschein, als ob Platon hier eine Reihe von altehrwürdigen mythischen Überlieferungen (einschließlich der Planetenharmonie) nebeneinander gestellt hätte, ohne sie einer angemessenen Ordnung einzupassen. Und so ist sein Bild vom „Gerüst” des Kosmos nicht besonders überzeugend ausgefallen. Aber irgendwie gehören die Achse und das Band und die Ketten zusammen. Das führt uns zurück zu einer pythagoreischen Autorität, auf die sich Platon berufen haben soll6 – Timon behauptete boshafterweise, er habe von ihr abgeschrieben. Gemeint ist Philolaos, mit Sicherheit ein Astronom (und Akustiker), den Copernicus einen „nicht alltäglichen Mathematiker (mathematicus non vulgaris)” nannte.7 Von seinem Werk haben nur wenige Fragmente überlebt, deren Echtheit von vielen Philologen in Frage gestellt wird.8 Unter den offiziell als unecht verworfenen ist das Fragment Nummer 12,9 aber in unserem Zusammenhang ist es unwichtig, ob der Autor Philolaos war oder ein anderer Pythagoreer. In dem Fragment heißt es: „Und zwar sind die Körper (Elemente) der Weltkugel fünf: die in der Kugel: Feuer, Wasser, Erde und Luft, und was der Kugel Lastschiff (?) ist, das fünfte
Siehe Diogenes Laertios VIII. 15 und 84f. Copernicus, Über die Kreisbewegungen 1.5; G. Kraus (1959), 38. 8 G. de Santillana und Walter Pitts, „Philolaos in Limbo”, ISIS 42 (1951), 112-120; auch in Reflections on Men and Ideas (1968), 190-201. Siehe auch Kurt von Fritz, ”Philolaos”, RE, Supl XIII, 453-484. 9 G.S. Kirk und J.E. Raven haben das Fragment gar nicht erst aufgenommen, und B.L. van der Waerden [Die Pythagoräer (1979), 387f] behandelt nur die Fragmente 1-7 und 17, weil Walter Burkert (Weisheit und Wissenschaft) alle anderen für unecht erklärt habe. 6 7
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(kaì hò tas sphairas holkás (?), pempton).”10 So rätselhaft das „Lastschiff” auch bleibt11 – immerhin wäre es angemessener als Platons schlanke Triere –, es scheint mehrere „Bilder“ oder Gleichnisse für das „Umschließende” gegeben zu haben: die Fixstemkugel oder den Aithêr und eben auch ein Schiff. Robert Eisler12 schaltete schnell von einem „Bild” zum nächsten: „,Und was der Kugel Schiffskörper bildet’, d.h. das Dodekaeder”. Von dem hatten wir schon kurz gehört (siehe oben, Seiten 171f.): Es steht, wie holkás, für die Fixsternkugel, die „Sphäre des Alls”.13 Hermann Diels und Walther Kranz, FVS 6, 412f. hê holkás wird von hélkô abgeleitet, d.h. „ziehen, schleppen”, und zu holkás verzeichnet Pape: „ein Zugschiff, ein schweres Lastschiff, denn diese wurden gezogen”; und bei Liddell-Scott [A Greek-Engiish Lexicon (1960)] heißt es: „ship which is towed, hence, trading vessel”. Laut Anmerkungen von Diels/Kranz 6 (I, 413) las Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf holkós, aber auch das deutete er mit „wie ein Lastschiff die Ware im Bauch trägt, so der Äther den Kosmos“. (Ebenda auch ein Verweis auf Orph. Hymn. 87 auf den Tod, der die Seele zerschmettert und „sômatos holkón” – Apostolos Athanassakis: „the body’s hold”, Joseph Otto Plassmann: „des Leibes Last“.) In der vierten Auflage (I, 314) hatte Diels auf das annähernd gleiches bedeutende Wort óchêma verwiesen, wie es uns in den Troerinnen des Euripides (884) begegnet, wo Zeus als „gês ochêma” angeredet wird: der die Erde „hält” oder „trägt”. Diels bemerkte dazu: „Die Vergleichung bezieht sich auf die Struktur, nicht die Bewegung.” To óchêma ist „alles, was trägt oder stützt … gewöhnlich Fuhrwerk, Fahrzeug” (Pape). Es ist uns auch schon begegnet, nämlich in Platons Bericht (Timaios 41e) von der Verpflanzung der Seelen vom Fixsternhimmel auf die Planeten; ehe er diese vornahm, setzte der Demiurg jede Seele auf ihren Fixstern, „wie auf ein Fahrzeug (hôs es óchêma)”, und belehrte sie dann über das Funktionieren der Zeitmaschine. 12 R. Eisler, Weltenmantel (1910), 725, Anmerkung 3. 13 Aëtiuos, De placitis II.6.5 über Pythagoras (Diels, Doxographi, 335): „ek dè tou dôdekaédrou tên tou pantòs sphairan.” Die Frage, seit wann mit einer weiteren, von keiner Bewegung betroffenen und mithin „seligen” Region jenseits der Fixsternkugel gerechnet wurde, die den Gnostikern 10 11
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Die abstrakte Idee einer simplen Erdachse, die uns heute so selbstverständlich vorkommt, war für die Alten mitnichten so logisch, hatten sie doch immer die gesamte Maschinerie des Himmels im Kopf die sich für sie um die stabil in der Mitte ruhende Erde drehte. Innerhalb einer Struktur implizierte eine Linie immer viele andere Linien. So muß man die Idee von der Weltstruktur offenbar als einen Implex14 anerkennen, für den Grotti und Sampo mit ihren sich schwerfällig bewegenden Teilen ein rudimentäres Modell darstellten. Wie die Mühlachse repräsentiert auch der Baum, der Skambha, die Weltachse. Das läßt instinktiv an einen geraden, aufrechten Pfosten denken, aber das Wort Achse ist eine Vereinfachung des eigentlichen Begriffs. Natürlich gibt es die unsichtbare Achse, die von dem Nordnagel gekrönt wird; aber dieses Bild muß um zwei weitere Dimensionen bereichert werden. Der Terminus Weltachse ist eine sprachliche Kurzform, vergleichbar der visuellen Kurz- 213 form, wie sie die Projizierung des Himmels auf eine Sternkarte darstellt. Es ist am besten, an die Achse nicht in geradlinigen, analytischen Termini zu denken – nur eine Linie auf einmal –, sondern sie und die Struktur, mit der sie verbunden ist, als ein Ganzes zu betrachten. So wie man bei dem Wort Radius automatisch an Kreis denkt, so muß man zu dem Begriff Achse die beiden determinierenden großen Kreise auf der Kugel-Oberfläche der Sphäre assoziieren: die Aquinoktial- und Solstitialkoluren. Auf diese Weise dargestellt, ähnelt die Achse einer kompletten Armillarsphäre. Sie steht für das Koordinatensystem der Sphäre und repräsentiert das Geso geläufig war, kann hier nicht verfolgt werden; in Platons Phaidros (247c) kommt jedenfalls schon „hyperouránios tópos“ vor. Vgl. Gregor Maurach, Coelum Empyreum. Versuch einer Begriffsgeschichte (1968). 14 Das Wort Implex bezieht, so wie es hier und später gebraucht wird, die notwendigen Attribute mit ein, die zu einem Begriff assoziiert werden: zum Beispiel zu einem Kreis die Mitte und die Peripherie, zu einer Sphäre die Meridiane.
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rüst eines Weltalters. Tatsächlich definiert dieses Gerüst ein Weltalter. Weil die Polarachse und die Koluren ein unsichtbares Ganzes bilden, bricht das gesamte Gerüst auseinander, wenn ein Teil bewegt wird. Wenn das geschieht, muß ein neuer Polarstern mit entsprechend eigenen Koluren den obsolet gewordenen Apparat ersetzen. Somit erweist sich der altindische Skambha, die Weltsäule, der Vorfahr des finnischen Sampo, als ein integrales Element des gesamten Schemas. Die Hymne 10.7 des Atharva Veda ist dem Skambha gewidmet, und Whitney, der Übersetzer und Kommentator,15 klingt in seiner Fußnote zu 10.7.2. irritiert: „Skambha, wörtlich ,Pfahl, Stütze, Säule’, wird in dieser Hymne merkwürdigerweise als Gerüst des Universums benutzt oder für seine personifizierte Seele gehalten.” Hier sind zwei Verse: 12. In dem Erde, Atmosphäre, in dem Himmel eingerichtet sind, wo Feuer, Mond, Sonne, Wind einen festen Stand haben, jener Skambha … 35. Der Skambha trägt hier beides, Himmel-und-Erde; der Skambha stützt die weite Atmosphäre, der Skambha trägt die sechs weiten Richtungen; in den Skambha floß diese ganze Existenz.
Der gute alte Sampo klingt weniger prätentiös, doch hat er immerhin seine drei „Wurzeln”, „eine im Himmel, eine in der Erde, eine im Wasserwirbel”.16 Es wäre ein recht kompliziertes Unterfangen, eine Zeichnung von einem säulenähnlichen Baum anzufertigen (und erst recht einer solchen Mühle), der seine Wurzeln in der angegebenen Weise ausrichtet. Bemerkenswerterweise bedarf es des „kräftigen Stiers von Pohja” – offensichtlich ein kosmischer Stier –, um diese seltsamen Wurzeln umzupflügen; die finnischen Helden waren selbst nicht in der Lage gewesen, den Sampo zu entwurzeln. 15 16
Harvard Oriental Series 8, 590. K. Krohn, Kalevalastudien 4. Sampo (1927), 13.
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Im Fall von Yggdrasil, der Weltesche, versuchte Rydberg sein Bestes, um die drei Wurzeln zu lokalisieren, sie sich vorzustellen und zu zeichnen. Da er jedoch mit unbeirrbarer Entschiedenheit in das Innere unseres Globus starrte, war das Ergebnis nicht gerade überzeugend. Von der einen Wurzel heißt es, sie gehöre den Asen im Himmel und darunter sei der heilige Brunnen der Urd. Die zweite befinde sich im Quartier der Reifriesen, „wo früher 214 Ginnungagap war” und heute der Mimirbrunnen steht. Die dritte Wurzel gehöre zu Niflheim, dem Totenreich: und unter dieser Wurzel befinde sieh Hwergelmir, der Strudel (Gylfaginning 15).17 Damit wird jegliches terrestrische Diagramm ausgeschlossen. Statt dessen sieht es so aus, als ob die „Achse“ – die Äquinoktialund Solstitialkoluren implizierend – durch jene „drei Welten” läuft, welche sich grob und höchst ungenau wie folgt skizzieren lassen: (a) (b) (c)
der Himmel nördlich des Wendekreises des Krebses, das heißt: der eigentliche Himmel, die Domäne der Götter die „bewohnte Welt” des Zodiaks zwischen den Wendekreisen, die Domäne der „Lebenden“ der Himmel südlich des Wendekreises des Steinbocks alias der Süßwasserozean, das Totenreich.
Die Demarkationslinie zwischen der festen Erde und dem Meer wird durch den Himmelsäquator verkörpert. Folglich befindet sich die Hälfte des Zodiaks unter „Wasser”, also die südliche Ekliptik, die von den Äquinoktialpunkten begrenzt wird. Mit Sicherheit gibt es noch weitere ausgeklügelte Aufgliederungen – Wir sind uns darüber im klaren, daß entweder der Grotti drei Wurzeln haben „sollte” oder daß Yggdrasil entwurzelt werden sollte und daß die Finnen nicht berichten, wie der Maelström entstand. Für all dies gibt es eine Erklärung; wir möchten jedoch vermeiden, immer mehr Material in dieser Sache herbeizuzitieren. Mehrere Weltalter sind vergangen, und sie gehen nicht alle auf dieselbe Art unter; die Finnen wissen zum Beispiel von der Zerstörung des Sampo und dem Fällen der riesigen Eiche.
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„Zonen” oder „Gürtel” oder „Klimata” –, welche die Sphäre von Nord nach Süd unterteilen. Am wichtigsten ist, daß sowohl der „Himmel” als auch die Gewässer des Südens einen ihnen zugewiesenen Anteil an der „bewohnten Welt” haben.18 Diese Zusammenfassung ist eine nahezu frivole Vereinfachung, aber für den Moment mag sie ausreichend sein. Mittlerweile ist es notwendig geworden, erneut zu erklären, was diese „Erde” ist, die heutige Interpreten gerne für einen Pfannkuchen halten. Die mythische Erde ist in der Tat eine Fläche; aber diese Fläche ist mitnichten unsere „Erde”: weder unser Globus noch eine im voraus angenommene homozentrische Erde. „Erde” ist die gedachte Ebene durch die Jahrespunkte, markiert durch die Äquinoktien und Solstitien, mit anderen Worten: die Ekliptik. Und das ist der Grund, warum von dieser Erde sehr häufig gesagt wird, sie sei viereckig. Die vier „Ecken44, also jene Konstellationen des Zodiaks, welche sowohl in den Äquinoktien als auch in den Solstitien heliakisch aufgehen – Bestandteile des „Gerüsts” Skambha –, sind jene Punkte, welche eine „Erde” bestimmen. Jedes Weltalter hat seine eigene „Erde”. Aus eben diesem Grund spricht der Mythos von „Weltuntergängen“: Nicht die Welt geht unter, sondern eine Welt im Sinn von „Weltalter”. Und eine neue „Erde” steigt auf, sobald (zufolge der Präzession) eine andere Garnitur von Tierkreisbildern die Jahrespunkte besetzt (Abbildungen 21 und 22). Wenn der Leser sich erst einmal daran gewöhnt hat, an das Gerüst anstatt an die „Säule” zu denken, so wird es ihm auch leicht fallen, viele sonderbare Szenen zu verstehen, die den NaUm die genaue Reichweite der drei Welten deutlich zu machen, wäre es erforderlich, die komplette Geschichte der babylonischen „Wege von Anu, Enlil und Ea” herauszuarbeiten und herauszufinden, wie diese „Wege” von den vielen Erben alter orientalischer Astronomie adaptiert, verändert und neu definiert wurden. Und dann wüßten wir noch immer nicht über die präzisen Zonen von Luft. Salzwasser und anderen mehrdeutigen Faktoren Bescheid. 18
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turgesetzen zuwiderlaufen – Vorstellungen über Planeten, die an Orten Taten vollbringen, die außerhalb ihrer Reichweite liegen, was ja für beide Pole zutrifft. Er wird verstehen, warum eine Kraft, die plant, einen Baum zu entwurzeln (oder zu fällen) oder eine Mühle aus den Angeln zu heben oder auch nur einen Pfropfen beziehungsweise Nagel herauszuziehen, warum diese Kraft nicht den ganzen Weg „nach oben” – beziehungsweise „nach unten” – zum Pol zurücklegen muß, um ihr Vorhaben auszuführen: Jene Kraft verursacht denselben Effekt, wenn sie innerhalb der bewohnten Welt den nächstbesten Teil des „Gerüsts” herauszieht. Hier sind einige Beispiele für die Manipulation des Gerüsts, beginnend mit einem höchst bedeutungslosen Überbleibsel. (Tatsächlich aber ist dies eine nützliche Form der Annäherung, denn je sinnloser ein solches Überbleibsel ausschaut, desto erstaunlicher ist die Tatsache seines Überlebens.) Turkmenische Stämme des südlichen Turkestan berichten über eine Kupfersäule, die den „Nabel der Erde” markiert; und sie konstatieren, daß „nur der neunjährige Held Kara Pār in der Lage ist, [sie] anzuheben und herauszuziehen.”19 Selbstverständlich hält es niemand für nötig, die seltsame Idee zu kommentieren, daß jemand darauf erpicht sein sollte, „den Nabel der Erde herauszuziehen”. Als der junge Artus das gleiche mit Excalibur macht, finden die Ereignisse bereits innerhalb eines eher vertrauten Rahmens statt und provozieren keine Fragen. In seinem grandiosen Stil präsentiert das Mahāhhārata ein ähnliches Wunderkind: Es war Vishvāmitra, der im Zorn eine zweite Welt schuf sowie zahlreiche Sterne, beginnend mit Sravana … Mit seinem Glanz vermag er die drei Welten zu verbrennen, indem er mit (seinem Fuß) aufW. Radloff, zitiert nach W.E. Roscher, Der Omphalosgedanke (1918), 1f. Da der von Roscher zitierte Text Radloffs schwer zugänglich ist, bringen wir ihn auszugweise in Appendix 25.
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stampft, kann er die Erde erzittern lassen. Er kann den großen Meru von der Erde trennen und ihn so weit schleudern, wie er will. Er kann in einem Moment um die 10 Punkte der Erde herumgehen.20
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Vishvāmitra ist einer der sieben Sterne des Großen Wagens, soviel hat man zumindest herausfinden können. Aber jeder Planet wird durch einen Stern des Wagens repräsentiert – und umgekehrt,21 so daß uns diese Tatsache nicht sonderlich weiterbringt.22 Mahābhārata 1.71, Roy-Übersetzung, I, 171. Die Hervorhebungen durch Kursivschrift sind von uns. 21 Das gilt allgemein, auch für China und Griechenland; auf Zypern wird der Große Wagen noch heute „hephta planētais”. die sieben Planeten, genannt [A. Scherer, Gestirnnamen (1953), 121]. 22 Die Vorstellung von „zahlreichen [neu ernannten] Sternen, beginnend mit Sravana” sollte uns erleuchten. Sravana, „der Lahme”, ist in der allgemein akzeptierten Reihenfolge die 21. Mondstation, alpha beta gamma Aquilae, auch Ashvatta genannt; und das ist der heilige Feigenbaum. Aber das Wort bedeutet »unter dem die Pferde stehen” (A.S. Scherer, op.cit., 158), Und das wiederum lädt zu einem Vergleich mit dem altnordischen Yggdrasil ein, dessen Name wörtlich „der Baum, unter dem Odins Pferd grast“ bedeutet [O.S. Reuter, Germanische Himmelskunde (1934), 236]. Tatsächlich lief der Solstitialkolur um 300 v.Chr, durch alpha beta gamma Aquilae zu einer Zeit also, als er längst die Sterne des Großen Wagens einen nach dem anderen passiert hatte. Der Äquinoktialkolur reicht allerdings sehr nahe an eta Ursae maioris heran. In Anbetracht der Tatsache, daß Eta in der okzidentalen Astrologie die herzlichsten Beziehungen zu Mars unterhält, könnte Vishvāmitra Eta sein und den Mars verkörpern; und das würde auch gut zu dem gewalttätigen Charakter dieses Rishis passen. Aber selbst wenn wir dieses als Arbeitshypothese akzeptieren, so bleibt das Rätsel der „zweiten Welt”, das heißt: „zweite“ hinsichtlich welcher „ersten Welt”? Obwohl wir eine vage Ahnung haben, planen wir nicht, das Rätsel hier und jetzt zu lösen. Zwei kleine Informationen sollten allerdings nicht unerwähnt bleiben: (1) Im Mahāhhārata 14.44 (RoyÜbersetzung, 12, 83) heißt es: „Die Konstellationen [= Mondstationen, 20
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Ein kosmisches Ereignis ersten Ranges kann leicht übersehen werden, wenn es sich bescheiden in einem Märchen versteckt. Das folgende ist dem indischen „Ozean von Geschichten” entnommen und erzählt von Shiva: „Als Shiva seinen Dreizack in das Herz von Andhaka, des Königs der Asura, stieß, obwohl er alleine war, wurde der Pfeil, den dieser Monarch in das Herz der drei Welten getrieben hatte, seltsamerweise herausgezogen.”23 Eine Handlung kann auch zur völligen Bedeutungslosigkeit verkommen, wenn sie als Historie verkleidet daherkommt. Aber die nächste Geschichte orientiert sich wenigstens an dem richtigen historischen Charakter und wurde sogar von einem so ernsthaften Kriegshistoriker wie Arrian überprüft, der uns folgendes berichtet: Als Alexander in Gordion eintraf, ergriff ihn der heftige Wunsch, den Berg zu besteigen, auf dem sich die Königsburg des Gordios und auch seines Sohnes Midas befand, um den berühmten Wagen des Gordios sowie den Knoten zu sehen, der das Joch des Wagens mit der Deichsel verband. Über diesen Wagen war bei den Bewohnern der Gegend eine Geschichte in aller Munde: Gordios sei unter den alten Phrygern ein armer Mann mit wenig Land gewesen, das er mit Hilfe von zwei Ochsengespannen bebaute. Mit dem einen von beiden habe er gepflügt, mit dem anderen sei er gefahren. Einmal beim Pflügen aber sei auf das Joch seines Pfluges ein Adler geflogen und dort bis zum Abend sitzengeblieben. Über diese Erscheinung erschreckt, habe er sich aufgemacht, um das göttliche Zeichen den Sehern in Telmessos zu berichten, die von besonderer Weisheit in der Auslegung göttlicher Zeichen waren und ihre Senakshatras, H.v.D] haben Sravana als ihre erste”; (2) Sengupta (in der Burgess-Übersetzung des Surya Siddhanta, xxxiv) behauptet, daß „die Zeit der vorliegenden Herausgabe des Mahāhhārata Sravanadi Kala” genannt wurde, „also die Zeit, in welcher der Winter-Solstitialkolur durch die Mondstation Sravana lief.” Zu den Sieben Rishis und den indischen Mondstationen siehe Abbildungen 23 und 24. 23 Charles Henry Tawney, The Kathū Sarīt Sāgara, or, Ocean of the Streams of Story (1880/1986) I, 2.
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herkunst von Generation zu Generation auch an Weiber und Kinder weitergaben. Als er aber auf dem Wege an eine telmessische Ortschaft kam, begegnete er einer Jungfrau an einem Brunnen und erzählte dieser, wie sich die Sache mit dem Adler zugetragen hatte. Diese nun – auch sie stammte nämlich aus dem Sehergeschlecht – hieß ihn wieder genau an den Platz zurückkehren und dort Zeus Basileus opfern. Gordios nun bat sie, ihm zu folgen und ihm persönlich das Opfer zu deuten; er opferte, wie sie’s ihm riet, heiratete die Jungfrau und zeugte mit ihr einen Sohn namens Midas. Als dieser Midas zu einem vornehmen schönen Jüngling herangewachsen war, setzten politische Unstimmigkeiten untereinander den Phrygern zu. Da wurde ihnen ein Spruch zuteil, ein Wagen werde ihnen einen König bringen, und dieser werde ihrer Zwietracht ein Ende bereiten. Während sie noch darüber berieten, kam Midas mit Vater und Mutter herbeigefahren und stand auf seinem Wagen vor der Versammlung. Man legte nun den Spruch dahingehend aus, daß man in ihm den König zu erkennen habe, von dem die Gottheit meine, er werde auf einem Wagen daherkommen. So machten sie Midas zum König, und dieser beendete in der Tat ihre Zwietracht. Den Wagen seines Vaters aber weihte er auf der Burg als Dankesgeschenk Zeus Basileus dafür, daß er durch den Adler ein Zeichen geschickt hatte. Dazu erzählte man sich auch noch von dem Wagen, daß der, der den Knoten des Joches zu lösen vermöge, zum Herrscher über Asien vorbestimmt sei. Es war dieser Knoten aus dem Bast des Kornelkirschbaumes hergestellt und an ihm weder Anfang noch Ende der Verknüpfung zu sehen. Auch Alexander wußte nicht, wie er die Auflösung finden sollte; ungelöst jedoch wollte er den Knoten nicht beiseite lassen, damit nicht auch dies bei der Mehrzahl der Menschen falsche Gemütsbewegungen erwecke. So berichten denn die einen, er habe den Knoten mit dem Schwert durchhauen und dabei bemerkt, nun sei er gelöst; Aristobulus erzählt, er habe den Befestigungsnagel herausgezogen, einen Holzpflock, der durch die Deichsel ging, diese mit dem Wagen verband und zugleich auch den Knoten zusammenhielt. Auf diese Weise habe er das Joch von der Deichsel gezogen. Wie sich bei der Lösung dieses Knotens alles wirklich zutrug, kann ich nicht genau sagen, Alexander auf jeden Fall
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entfernte sich danach von dem Gefährt zusammen mit seiner Umgebung in der Ansicht, der Spruch bezüglich der Lösung des Knotens habe sich nunmehr erfüllt. Denn überdies geschahen in der folgenden Nacht am Himmel Zeichen durch Donner und Blitz. Alexander brachte daraufhin den Göttern für die deutliche Bekundung ihres Willens und die Lösung des Knotens Opfer dar.”24
Ohne sich jetzt in die relevanten vergleichenden Studien zu vertiefen, sollte hervorgehoben werden, daß es sich in solchen Fällen, in denen „Könige” in einem Wagen (auf Griechisch hamaxa) – d.h. in einem vierrädrigen Lastwagen – sitzen, meistens um den Großen Wagen handelt. Alexander war ein wahrer Mythenbilder oder vielmehr: ein wahrer Magnet der Mythen anzog. Er hatte das Talent, mit seiner sagenhaften Persönlichkeit jene mannigfaltige Überlieferung auf sich zu ziehen, welche einst für Gilgamesch geprägt worden war. Aber noch ist die Zeit weder für Alexander oder Gilgamesch 218 reif, noch für weitere Aussagen über Gottheiten oder Helden, die Zapfen, Pfropfen und Säulen herausziehen konnten. Als nächstes richtet sich das Interesse auf die maßgebenden Merkmale der mythischen Landschaft und ihrer möglichen Lokalisierung beziehungsweise ihrer zeitlichen Festlegung. Es ist wichtig zu wissen, wo und wann der erste Strudel entstand, nachdem Grotti, Amlodhis Mühle, erst einmal zerstört worden war. Dies ist allerdings ein irreführender Ausdruck, da unsere Terminologie noch immer viel zu unpräzise ist. Es wäre besser, zu sagen: der erste Ausgang der aus dem Strudel hinaus- beziehungsweise der erste Eingang,. der in den Strudel hineinführte. Es erscheint ratsam, die Informationshäppchen zu rekapitulieren, die bisher über den Strudel an sich zusammengetragen worden sind: (1) Der Maelström – das Resultat einer zerbrochenen Mühle, eines gefällten Baumes und dergleichen – geht nach Meinung der Finnen „durch den ganzen Erdball”. Dasselbe gilt, laut Sokrates, Arrian, Der Alexanderzug (1967, griechisch-deutsche Lizenzausgabe 1985), Teil 1, 109-113. 24
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für den Tartaros. Um es mit William Keith Chambers Guthries Worten zu wiederholen: „Die Erde ist in diesem Mythos des Sokrates eine Kugel, und Tartaros, der bodenlose Abgrund, wird in dieser mythischen Geographie durch eine Schlucht repräsentiert, welche die Sphäre von einer Seite zur anderen durchbohrt.”25 (2) Er ist die Quelle und die Mündung aller Gewässer. (3) Er ist der Weg, oder einer unter vielen, zum Reich der Toten. (4) Mittelalterliche Geographen nennen ihn „Umbilicus Maris”, Nabel des Meeres, oder „Euripos”. (5) Der Astrologe Antiochos bezeichnet Eridanus. beziehungsweise irgendeinen abstrakten Topos unweit von Sirius, als „zalos”, also Strudel. (6) M.W. Makemson sucht nach dem polynesischcn Strudel, von dem gesagt wird, er befinde sich „am Ende des Himmels” oder „am Rand der Galaxis”, im Schützen. (7) Ein dajakischer Held klettert auf der „Wasserwirbel-Insel” auf einen Baum und findet sich in den Plejaden wieder. (8) Aber im allgemeinen sucht man nach „ihm” in mehr oder weniger nordwestlicher bis nordnordwestlicher Richtung – einer Richtung, in der (ebenso vage) Kronos/Saturn angeblich in seiner goldenen Höhle schläft, ungeachtet der bündigen Feststellung (von Homer), Kronos sei in den tiefsten Tartaros hinabgestürzt worden. (9) Und von diesen „höllischen” Quartieren aus, insbesondere von der (ogygischen) stygischen Landschaft aus, sieht „man” – wer sonst als die Seelen? – den südlichen Himmelspol, der für uns unsichtbar ist. Der Leser wird zustimmen, daß diese Zusammenfassung deutlich die Unzulänglichkeit jener allgemeinen Terminologie aufzeigt, welche von der Mehrheit akzeptiert wird. Die sprachliche Verwirrung reizt zur Sympathie mit Numenius (siehe oben, 25
W.K.C. Guthrie, Orpheus and Greek Religion (1952), 168.
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Seite 173) und dem Dritten Vatikanischen Mythographen, welche 219 die Flüsse für Planeten hielten, respektive für deren Umlaufbahnen. Wir nehmen an, daß der Strudel für die „ekliptische Welt” steht, die von den wirbelnden Planeten markiert wird und alles einbezieht, was im Hinblick auf die Polarachse und den Äquator schiefwinkelig kreist – geneigt um mehr oder weniger 23 ½ Grad, wobei jeder Planet in Bezug auf die anderen Planeten seine eigene Schiefe hat, wie auch hinsichtlich der Sonnenbahn, das heißt: im Hinblick auf die eigentliche Ekliptik. Es ist bereits früher erwähnt worden (Seite 190, Fußnote 6), daß sich in der Achse des römischen Zirkus ein „Euripos” befand, daß zu beiden Seiten der Sonnenpyramide die Altäre der drei äußeren Planeten (Saturn, Jupiter, Mars) sowie der drei inneren Planeten (Venus, Merkur, Mond) aufgestellt waren und daß es dort nicht mehr als sieben Rennbahnen gab, denn der „Planeten sind nur sieben“. Die Ekliptik als Wirbel ist nur ein Aspekt des berühmten „Implex”. Man muß im Hinterkopf behalten, daß sie als Sitz aller planetarischen Mächte sozusagen das „Establishment“ selbst repräsentierte. Es gibt kein besseres Symbol für jene von den Planeten besessene Zivilisation Mesopotamiens als ihre die Planetensphären repräsentierenden Tempeltürme (Zikkurats) oder die von Herodot (Geschichte I.98) beschriebene Stadtanlage von Ekbatana mit ihren sieben Ringmauern, deren fünf äußere mit den planetarischen Farben bemalt waren. Der planetarische Symbolismus breitete sich nach Indien aus, wie wir in Kapitel 8 gesehen haben, und kulminierte in dem großartigen kosmologischen Diagramm, das der Tempel von Borobudur auf Java darstellt.26 Er ist noch immer offenkundig in den zahllosen Stupas, mit denen die indischen Landstriche übersät sind und deren aufgesetzte Kronen für die Planetenhimmel stehen. Hier stoßen wir auf das „Establishment” in seiner Interpretation als ein Aufstieg und Abstieg, wie Numenius sofort erkannt hätte, als Abfolge der 26
P. Mus, Barabudur (1935).
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Kapitel 17
Übergangsbereiche für die Seelen – eine stille Hoffnung auf Transzendenz, die das gnostische und hinduistische System auszeichnet. Auf der schematischen Karte wird immer die eine oder die andere Dimension fehlen. Ist der Wirbel nun ein Weg nach oben oder ein Weg nach unten? Heraklit würde sagen, beide Wege sind ein und derselbe. Man kann nicht alles auf einmal in ein Schema packen. Dieser allgemeine Begriff des Strudels hilft natürlich nicht, auch nur ein einzelnes Detail zu verstehen. Ausgehend von der Idee des Strudels als eines Wegs zur anderen Welt, muß man die Situation mit den Augen einer Seele betrachten, die sich auf den Weg dorthin machen soll. Sie muß sich aus dem Inneren hinausbegeben, um von der geozentrischen Erde durch die Planetensphären hindurch „nach oben aufzusteigen” zur Fixsternsphäre. Das heißt, sie muß mitten durch den ganzen Strudel, durch die ekliptische Welt, hindurch. Aber um den ekliptischen Rahmen verlassen zu können, muß es am Äquator eine Art Bahnhof geben, an dem man den Zug wechseln kann. Man könnte erwarten, dieser Umsteigebahnhof befinde sich an den Schnittpunkten von Ekliptik und Äquator, also an den Äquinoktien. Aber offensichtlich war das nicht so gedacht. Es wurde eine weitaus ältere Route befolgt. Es ist zwar richtig, daß es manchmal den Anschein hat, als habe der „Grenzübertritt” an den Äquinoktien stattgefunden. Die astrologische Tradition, die sich auf Teukros stützte,27 hielt zum Beispiel ein reichhaltiges Angebot an himmlischen Standorten für den Hades, den Acherusischcn See, den Fährmann Charon usw. parat – alle unter der Überschrift Waage. Aber das ist eine Falle, und man kann nur hoffen, daß die vielen unglücklichen Seelen sich nicht haben täuschen lassen. Denn diese astrologischen Texte meinen das Zeichen Waage, nicht die Konstellation. Alle „Umsteigestationen” befinden sich ausnahmslos in zwei Regionen: eine im Süden zwischen Scorpius F. Boll, Sphaera (1903), 19, 28, 47, 246-151. Antiochos erwähnt keine einzige dieser Sterngruppen.
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und Sagittarius, die andere im Norden zwischen Gemini und Taurus; und dies gilt über Zeit und Raum hinweg, von Babylon bis Nikaragua.28 Warum wurde das überhaupt jemals so festgelegt? Wegen der Milchstraße, die ihre Schnittpunkte mit der Ekliptik im Süden zwischen Schützen und Skorpion sowie im Norden zwischen Zwillingen und Stier hat.
Die Vorstellung ist nicht einmal den vergnügten Abenteuern von Sun, dem chinesischen Affen, fremd [Wou Tch’eng Ngen, Si yeou Ki, ins Französische übersetzt von Louis Avenol (1957)]. Eines Tages erwischen ihn zwei „harponneurs des morts” und behaupten, der Termin für sein Schicksal sei gekommen und er sei reif für die Unterwelt. Natürlich kann er entkommen. Der Übersetzer bemerkt (1, iii), daß es die Konstellation Nan Tcou, der Südliche Scheffel, sei, die über den Tod eines jeden Menschen entscheidet, und die Befehle werden von diesen „harponneurs des morts” ausgeführt. Der Südliche Scheffel besteht aus den Sternen my lambda phi sigma tau zeta Sagittarii [siehe G. Schlegel, L’Uranographie Chinoise (1930), 452f].
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Kapitel 18
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Voie Lactée, soeur lumineuse des blanches rivières de Canaan. et des corps blancs de nos amoureuses, nageurs morts suivrons nous d’ahan ton cours vers d’autrc nébuleuses. APOLLINAIRE
Man dachte, daß die Seelen der Menschen zwischen ihren Inkarnationen in der Milchstraße verweilen. Diese Idee ist als orphische und pythagoreische Überlieferung1 weitergegeben worden und fügte sich in die Vorstellung von der Seelenwanderung. Macrobius, der den ausführlichsten Bericht bringt, sieht es so, daß die Seelen auf dem Weg über den Steinbock aufsteigen und dann durch das „Tor des Krebses” wieder herabsteigen, um wiedergeboren zu werden.2 Macrobius spricht von Zeichen; die Konstellationen, die zu seiner Zeit (und auch noch in der unsrigen) an den Solstitien aufgingen, waren Gemini und Sagittarius: Das „Tor des Krebses” meint also die Zwillinge. Tatsächlich stellt Macrobius ausdrücklich fest (1,12.5), daß sich dieses „Tor” dort befindet, „wo sich der Tierkreis und die Milchstraße kreuzen”. Weit weg, auf einer der Austral-Inseln in Polynesien, behaupten Siehe F. Boll, Aus der Offenbarung Johannes (1914), 32, 72 (die erste anerkannte Autorität ist Herakleides von Pontos gewesen); W. Gundel, RE s.v. Galaxias: A. Bouché-Leclerq, L’Astrologie Grecque (1899), 22f: Franz Cumont, After Life in Roman Paganism (1959). 94, 104, 152f. 2 Macrobius, Commentary on the Dream of Scipio 1,12.1-8. 1
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die Mangaier, daß die Seelen nur an den Abenden der Solstitialtage in den Himmel gelangen können – die Bewohner des nördlichen Teils der Insel zur Zeit des einen Solstitiums, die Bewohner im Süden zur Zeit des anderen.3 Diese Information, die mit präzise terminierten Tagen aufwartet, ist wertvoller als die allgemeinen Aussagen über den Umstand, daß die Polynesier die Milchstraße als den „Weg der Seelen in die Geisterwelt” betrachteten.4 Auch im polynesischen Mythos ist es den Seelen nicht gestattet zu bleiben, solange sie nicht ein Stadium makelloser Vollkommenheit erreicht haben – was vermutlich nicht allzu 222 häufig geschieht. Früher oder später müssen die polynesischen Seelen in Körper zurückkehren.5 Zwei Beispiele einschlägiger Vorstellungen von nordamerikanischen Indianern seien hier erwähnt, wenn auch nicht weiter diskutiert – wichtig ist, daß die Tradition überhaupt, mehr oder weniger intakt, erhalten ist. Die Sumo in Honduras und Nikaragua betrachten ihre „Mutter Skorpion … als am Ende der Milchstraße wohnend, wo sie die Seelen der Toten empfängt; und von ihr, die als Mutter mit vielen Brüsten, an denen Kinder saugen, dargestellt wird, kommen die Seelen der Neugeborenen.“6 Die Pawnee und Cherokesen sagen hingegen:7 „Die Seelen William Wyatt Gill, Myths and Songs from the South Pacific (1876), 156ff. 185ff. 4 Elsdon Best, The Astronomreal Knowledge of the Maori (1955), 45. 5 Da es so viele frühere und neuere Berichterstatter unterlassen, uns über Traditionen hinsichtlich der Reinkarnation zu unterrichten, möchten wir erwähnen, daß laut den Bewohnern der Marquesainseln „alle Seelen der Toten, nachdem sie eine sehr lange Zeit an dem einen oder anderen Ort gelebt haben (das heißt im Paradies oder in der Hölle), zurückkehren, um andere Körper zu beseelen.“ [R.W. Williamson, Religious and Cosmic Beliefs of Central Polynesia (1924). 7, 208], was die Schilderung aus dem 10. Buch von Platons Der Staat in Erinnerung ruft. 6 Hartley Burr Alexander, Latin American Mythology (1920), 185. 7 S. Hagar, „Cherokee Star-Lore”, in Festschrift Boas (1906), 363; H.B. 3
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der Toten werden von einem Stern am nördlichen Ende der Milchstraße – dort, wo sie sich gabelt – in Empfang genommen; und er schickt die Krieger auf den dunklen und schwierigen Arm, die Frauen und jene, die vor Alter gestorben sind, auf den heiteren und leichteren Pfad. Die Seelen reisen dann gen Süden. Am Ende des Himmelspfades werden sie von dem ,Spirit Star’ empfangen, und dort richten sie sich ein.“ Man kann ruhig hinzufügen „für eine Weile” oder die Worte umwandeln in: „… und dort schlagen sie ihre Campingzelte auf.“ Stansbury Hagar hält den Geist-Stern für Antares (alpha Scorpii). Ob es nun tatsächlich Antares ist oder nicht, auf jeden Fall handelt es sich um einen Stern im Schützen oder Skorpion8 an der breiten südlichen Kreuzung von Milchstraße und Ekliptik. Das paßt gut zur „Mutter Skorpion” aus Nikaragua und zur „Alten Göttin mit dem Skorpionschwanz” der Maya, und ebenso stimmt es mit der Skorpion-Göttin Selqet-Serket im alten Ägypten sowie der Ischara tam.tim der Babylonier überein. Ischara des Meeres, Göttin des Sternbilds Scorpius, wurde auch „Herrin der Flüsse” genannt (siehe Abbildungen 25 bis 27, vergleiche Appendix 36). In Anbetracht der Tatsache, daß die Schnittpunkte von Ekliptik und Galaxis krisensicher sind, weil sie von der Präzession nicht betroffen sind, wird der Leser wissen wollen, warum die Mangaier überzeugt waren, sie könnten nur an einem der beiden Solstitialtage den Himmel erreichen. Der Grund ist, daß die Konstellationen, die als „Tore” zur Milchstraße dienen, „auf der Erde stehen” müssen, damit man auf bequeme Weise „die Züge Alexander, North American Mythology, 117. 8 Der Sagittarius mesopotamischer Grenzsteine zeigt tatsächlich einen Skorpionschwanz. Aber es ist ratsam, sich an dieser Stelle nicht auf Details vergleichender Sternbilderkunde einzulassen, am wenigsten auf diesen Bogenschützen – doppelgesichtig, wie er ist, halb König (bzw. Königin), halb Hund, mit Pferdeleib und einem Schiffchen unter den Vorderhufen, und obendrein in die „falsche” Richtung galoppierend.
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wechseln” kann. Das bedeutet, daß die beiden Konstellationen entweder an den Äquinoktien oder an den Solstitien „zugänglich” sein mußten. Die Galaxis ist gewiß eine ansehnlich breite Verkehrsstraße, gleichwohl muß es ein paar Jahrtausende gegeben haben, in denen keines der Tore verfügbar war, weil das eine mitten in der „Luft” hing und sich das andere in einen Unterwassereingang verwandelt hatte. In unserem ausklingenden Zeitalter der Fische werden die Solstitien noch von den Sternbildern des Schützen und der Zwillinge markiert. Als nächstes ist der Wassermann an der Reihe. Zweifellos hätten die Alten die Probleme unserer heutigen Zeit – etwa die Überbevölkerung, die Umweltverschmutzung, die zunehmende Gewalttätigkeit usw. – als ein unvermeidliches Vorspiel für ein neues Kippen, für ein neues Weltalter angesehen. Das Zeitalter der Fische war schon länger erwartet worden, versprach man sich doch nur Gutes von seinem Anbruch. Eingeleitet wurde es im Jahre 6 v.Chr. durch die dreimalige Wiederholung der Großen Konjunktion von Saturn und Jupiter in den Fischen, dem Stern von Bethlehem. In seiner berühmten vierten Ekloge kündete Vergil die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters unter der Herrschaft des Saturn an: „Schon kehrt die Jungfrau zurück, Saturns Regierung kehrt wieder, schon wird ein neuer Sproß entsandt aus himmlischen Höhen. Dieses Knaben Geburt beschirme, reine Lucina! Er macht ein Ende der eisernen Zeit; eine goldene Menschheit wird die Erde dann füllen … ”9 Obwohl er aufgrund dieses Gedichtes zum „Christen honoris causa” befördert wurde, war Vergil weder ein „Prophet” noch der einzige, der mit der Rückkehr von Kronos/Saturn rechnete.10 „Iam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna.” Was heißt das? Wo war die Vergil, Hirtengedichte (Eklogen), übersetzt von Harry C. Schnur (1968), 16. 10 Siehe zum Beispiel A.A. Barb, „St. Zacharias the Prophet and Martyr”, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes II (1948). 54f, sowie „Der Heilige und die Schlangen”, MAGW 82 (1953), 20. 9
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Jungfrau denn abgeblieben, daß man die Konstellation „zurück” erwartete? Aratos berichtete in seinem berühmten astronomischen Gedicht (96-136), wie sich Themis/Virgo, die friedlich unter den Menschen gelebt hatte, am Ende des Goldenen Zeitalters ins „Gebirge” zurückzog, weil sie sich nicht länger mit der silbernen Menschenmenge abgeben wollte, die begonnen hatte, die Erde zu bevölkern; zu Beginn der Bronzezeit zog sie sich noch weiter himmelwärts zurück:11 … auf Erden habe Voreinst gelebt mit uns, sie habe denn auch nie In jener Urzeit sich versagt der Menschenschar – Sie saß bei Mann und Weib, sie, die unsterblich war. Als Dike wohlbekannt berief sie oft die Alten, Auf Markt und breitem Weg des Rates recht zu walten, … Dann in der Silberzeit blieb Dike noch hienieden. Doch schmerzlich mißte sie die echte Treu, den Frieden Der Urzeit. Immerhin – zur Silbermenschheit kam Sie noch; des abends nur aus Bergesrauschen nahm Den Weg zum Menschenvolk sie einsam und verdrossen. Als sich talauf talab der Siedler Zahl ergossen, Da drohte Dike sehr erzürnt, dem bösen Treiben, Taub jedem Menschenruf für immer fernzubleiben. … Sie sprach’s und wandte heim sich ins Gebirg. … Auch diese Zeit verging; geboren wurde nun Ein ehernes Geschlecht. Viel übler war sein Tun Denn je. Man schmiedet nun des Straßenräubers Schwert Aus kaltem Erz; des Pflugstiers Fleisch wird frech verzehrt. Da faßte Dike Grimm ob all dem Meuchelmord; Zum Himmel flog sie auf, um ihren Wohnsitz dort
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Aratos, Sternbilder und Wetterzeichen (1958), Zeilen 101-106, 115-123, 127 und 129-136 in der Übersetzung von A. Schott. Vgl. al-Bīrūnī, India (1900). 383ff, der Aratos und ein Scholion zitiert.
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Zu nehmen, wo als Jungfrau sie jetzt manche Nacht Den Menschen scheint, nicht fern von des Bootes Pracht. Und dann kommt Vergil und verkündet die Rückkehr der Jungfrau. Das macht es leicht, die Zeit und den „Ort” des Goldenen Zeitalters herauszufinden. Man braucht die Uhr nur um eine Viertel„stunde” der Präzession (von Vergil aus um ungefähr 6.000 Jahre) zurückzudrehen, um die Jungfrau sicher in der Sommer-Solstitialecke der abstrakten flachen „Erde” stehen zu sehen. „Zurückkommen” heißt voranschreiten: Die Jungfrau werde demnach zu dem Zeitpunkt das Herbstäquinoktium markieren, wenn die Fische an der neuen Kreuzung von Äquator und Ekliptik die Herrschaft über das Frühlingsäquinoktium antreten. Mit der Entdeckung der Präzession erhielt die Milchstraße eine neue und entscheidende Bedeutung. Denn sie war nicht nur das spektakulärste Band am Himmel, sie war auch ein Bezugspunkt, von dem aus die Präzession ihren Anfang genommen haben mochte. Das wäre zu dem Zeitpunkt gewesen, als die Frühlingsäquinoktialsonne ihr Quartier in Gemini verließ. Als man erkannt hatte, daß die Sonne dort früher einmal gewesen war, tauchte die Idee auf, die Milchstraße könne jene Spur sein, welche die Sonne hinterlassen hatte – ein ausgebranntes Areal, eine Narbe am Himmel. Hier sollten wir indessen sorgfältiger definieren: Der Kreuzweg Milchstraße-Ekliptik als Startrampe der Präzession ist Terminologie, und zwar im nachhinein geprägte Terminologie: „Nullpunkte” oder Epochen und Jahre sind immer (mehr oder weniger präzise) zurückberechnet, wie etwa das „13 Baktun” der Maya oder unser „1 n.Chr.“. Und die an diese Terminologie geknüpfte „Idee” war nicht, daß die Milchstraße der von der Sonne verlassene Weg war oder hätte sein können, sondern daß die Galaxis ein taugliches Bild abgab für einen verlassenen Weg oder eine obsolete Rennbahn – eine Bild-Formel, die 225 sich trefflich benutzen ließ, um komplizierte Veränderungen am Himmel erzählbar zu machen.
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Während die Präzession als die große Uhr des Universums angesehen wurde, blieb die Sonne mit ihrem Positionswechsel am Äquinoktium das Maß aller Maße, das „goldene Seil“, wie Sokrates in Platons Theätet (153C) sagt. In der Tat war die Sonne, abgesehen von den harmonischen Intervallen, das einzige von der Natur zur Verfügung gestellte Maß. Die Sonne muß als die Instanz verstanden werden, die in jedem gegebenen. Moment die Planeten-Fuge dirigiert. Wenn sich daher, entsprechend dieser Terminologie, die Sonne in der entscheidenden Zeit die Milchstraße entlang bewegt, so mußten auch die Planeten als diesen Weg entlang jagend oder rennend definiert werden. Geometrisch macht das wenig Sinn, aber es zeigt, wie ein Bild die Köpfe der Menschen beherrschen und ein Eigenleben entwickeln kann.12 Doch sollte der technische Charakter dieser Bilder nicht vergessen werden. Um eben diesem Vergessen vorzubeugen, benutzen wir möglichst häufig die Verben „formulieren” und „definieren“ anstelle des gebräuchlichen Ausdrucks „glauben”. Für die amerikanischen Prärie-Indianer war die Milchstraße der staubige Pfad, auf dem sich Büffel und Pferd einst ein Wettrennen quer über den Himmel geliefert hatten.13 Für die Fiote der afrikanischen Loango-Küste wurde das Wettrennen zwischen Sonne und Mond ausgetragen.14 Gemäß den ostafrikanischen Turu trieb einst der Bruder des Schöpfers eine RinderherHier sei wiederhol auf Ernst Schrödinger hingewiesen, der einmal seine Physiker-Kollegen vor „easy pictures taken literally” warnte und dabei auf die vorbildliche Sprache von Archimedes verwies [„Are there quantum jumps?“, British Journal for the Philosophy of Science 3 (1952), 112ff.]. Leicht eingängliche Bilder sind zu allen Zeilen beim Wort genommen worden; zum Glück aber haben nur wenige Populationen kosmologische Sprachbilder so energisch in Taten umgesetzt wie die Azteken. 13 J. Mooney, Myths of the Cherokee, 19th ARBAE 1S97-98 (1900), 443. 14 Eduard Peehuël-Lösche, Volkskunde von Loango (1907), 135. 12
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de diesen Weg entlang,15 so wie in der griechischen Sage Herakles die Rinder des Geryon.16 Die Arawak von Guyana nennen die Galaxis „den Weg des Tapirs“. Dies wird in einer Erzählung der Chiriguano und einiger Gruppen der Tupi-Guarani in Südamerika bestätigt. Nach Robert Lehmann-Nitsche formulieren diese Menschen die Milchstraße als den „Weg des wahren Vaters des Tapirs”, einer Tapir-Gottheit, die selbst unsichtbar ist.17 Wenn sich diese verborgene Gottheit nunmehr als Quetzalcoatl, der Herrscher von Tollan, der Stadt des Goldenen Zeitalters, herausstellt – das ist kein anderer als „Tixli cumatz“, die in der „Mitte des Meeresbauches” lebende Tapir-Schlange, wie ihn die Maya-Stämme in Yukatan beschreiben18 –, dann beginnt die Andeutung schärfer zu werden. Und schließlich ist das eigentliche 226 Schema in der bereits zuvor geschilderten Cuna-Überlieferung auffindbar: Der Tapir fällte den „Salzwasser-Baum”, an dessen Wurzeln sich Gottes Wasserstrudel befindet; und als der Baum umstürzte, strömte Salzwasser aus und bildete die Weltmeere. Wenn es dem Tapir noch immer an der gebotenen Würde fehlen sollte, so können einige asiatische Zeugnisse diesen Mangel beheben. Im persischen Bundahishn wird die Galaxis „Pfad des Kay-us” genannt, nach dem Großvater und Mitregenten von Kai Chosrau, dem iranischen Hamlet.19 Unter den altaischen Völkern bezeichnen die Jakuten die Milchstraße als „Gottes Fußspuren“, und sie sagen, daß Gott, während er die Welt schuf, über den Himmel wanderte; allgemeiner scheint der Terminus „Schneeschuhspuren des Gottessohns” in Gebrauch zu sein. Die Wogulen hingegen nennen die Milchstraße die „Schneeschuhspuren Sture Lagercrantz, „The Milky Way in Africa”, Ethnos (1952), 68. Siehe W. Gundel, RE s.v. Galaxias. 17 Otto Zerries, „Sternbilder als Ausdruck jägerischer Geisteshatung in Südamerika”, Paideuma 5 (1951), 220f. 18 Eduard Seler, Gesammelte Abhandlungen (1961), IV, 56. 19 Bdh. V B 22, Behramgore Tehmuras Anklesaria, Zand-Akâsîh. Iranian or Greater Bundahishn (1956),69,71. 15 16
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des Waldmenschen“. Und damit verlieren sich die menschlichen Spuren, obwohl die Schneestapfen übrigbleiben: Die Tungusen nennen die Galaxis die „Schneeschuhspuren des Bären”. Aber ob die Figur nun der Sohn Gottes, der Waldmensch oder der Bär ist, auf jeden Fall hetzte er einen Hirsch die Milchstraße entlang, zerriß ihn in Stücke und verstreute die Gliedmaßen rechts und links des weißen Pfades am Himmel; und so wurden Orion und Ursa Maior getrennt.20 Der „Fuß des Hirsches” erinnerte Holmberg sofort an den „Stierschenkel” im alten Ägypten – Ursa Maior. Mit seinem durchdringenden Scharfblick hätte er in dem mächtigen Schenkel außerdem leicht das abgetrennte „Ein-Bein” von Tezcatlipoca (wiederum Ursa Maior) in Mexiko erkennen können, den großen Hunrakān (= 1 Bein) der Maya-Quiche. Das Tageszeichen „Krokodil” (Cipactli) hatte ihm das eine Bein abgebissen.21 U. Holmberg, Die religiösen Vorstellungen der altaischen Völker (1938), 201f. 21 Weiter im Süden wäre er wiederum auf das Nebeneinanderstellen von Ursa und Orion gestoßen, und auf das gewaltsame Zerstückeln himmlischer Figuren. So sagt Walter E. Roth [„An Inquiry into the Animism and Folk-lore of the Guiana Indians“, 30th ARBAE 1908-1909 (1915), 262; siehe O. Zerries, op.cit., 220f] über die Indianer in Guyana: „Alle Sagen, die sich auf die Konstellationen Taurus und Orion beziehen, haben das Detail eines amputierten Arms oder Beins gemeinsam.” Und das gilt zum Teil auch für Indonesien. Nun sind die Wagensterne ein Stierschenkel und zeigt sich Taurus so gründlich amputiert, daß nur knapp die Hälfte von ihm übriggeblieben ist. Noch bemerkenswerter ist, daß Ursa in spätägyptischer Zeit, wenngleich selten, in Gestalt eines Widderschenkels erscheint [siehe G.A. Wainwright, „A Pair of Constellations”, in Studies Presented to F.L. Griffith (1932), 3731; und auf dem runden Zodiak von Dendera (römische Periode) sehen wir einen Widder, der auf jenem Himmelsbein sitzt, das Ursa verkörpert; und der Widder blickt sogar zurück, wie es traditionell erweise für den zodiakalen Widder typisch ist. Dabei müssen wir es vorerst belassen. Zu amputierten Sternbildern siehe auch Appendix 33. 20
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Hier wird knapp unter der Oberfläche eine dauerhafte Assoziation greifbar, wie sie auch der alte holländische Name für die Milchstraße, „Brunelstraat”, verrät. Brunel, Bruns, Bruin (der Braune) ist in dem Corpus von Tierfabeln rund um Reineke Fuchs die geläufige Bezeichnung für den Bären, und dieser Name kann auf ein ansehnliches Alter zurückblicken.22 Ein seltsa- 227 mer Haufe von Charakteren wird da für die Milchstraße verantwortlich gemacht: Götter und Tiere, die den Weg verlassen, der zur Zeit der „Schöpfung” benutzt worden war.23 Aber wohin sind sie gegangen, sowohl diejenigen, die wir erwähnt haben, als auch die vielen, die unerwähnt geblieben sind? Das läßt sich oft schwer bestimmen; aber mit der Frage des „Abstürzens” werden wir uns als nächstes beschäftigen. Was Virgo, die Jungfrau, betrifft, die die „Erde” am Ende des Goldenen Zeitalters verlassen hatte, so könnte ihr Aufenthaltsort Die Vorstellung von der Milchstraße als „Brunelstraat” scheint auch im alten Indien gegenwärtig zu sein: Der Atharva Veda 18.2.31 erwähnt einen gewissen Pfad beziehungsweise eine Straße, die rikshaka genannt wird. Riksha ist der Bär im doppelten Sinn, also das Tier und Ursa Maior [siehe H. Grassmann, Wörterbuch zum Rig-Veda (1915) s.v. Riksha], W.D. Whitney (in seiner Übersetzung des AV. 840) vermutete rikshaka als eine ,,von Bären heimgesuchte?” Straße. Albrecht Weber schlägt jedoch vor, rikshaka mit der Milchstraße gleichzusetzen [„Miszellen aus dem indogermanischen Familienleben”, in Festgruß Roth (1893), 138]. Da die ganze Hymne AV 18.2 „Begräbnis-Strophen” enthält und sich mit der Reise der Seele beschäftigt, wäre auch dieser Zusammenhang passend. (Daß die Seelen zuerst einen Fluß überqueren müssen, der „reich an Pferden” ist, ist eine andere Sache.) 23 Die knappste Kurzform: Die Inka nannten Gemini „Schöpfungs-Zeit“ (siehe Stansbury Hagar, in 14. Internationaler Amerikanisten-Kongreß (1904), 599f]. Auf genau dieselbe Vorstellung wird angespielt, wenn Castor und Pollux (alpha beta Geminorum) von den Azteken und seltsamerweise auch von den Tasmaniern für die ersten Feuerhölzer verantwortlich gemacht werden (siehe unten, Kapitel 23: „Gilgamesch und Prometheus”). 22
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während des Silbernen Zeitalters als „mitten in der Luft” beschrieben werden. Viele frevelhafte Charaktere wurden an diesen Topos verbannt; entweder wurden sie hinabgeworfen oder nach oben geschickt – Lilith hielt sich zeitweise dort auf, auch König David24 und Adonis,25 selbst der Turm zu Babel und natürlich der Wilde Jäger (Appendix 26). Diese Ansammlung von Gestalten „mitten in der Luft“ wirft ein Licht auf eine eher nichtssagende Geschichte. Es handelt sich um ein echtes Fossil, das in der westfälischen Volkskunde ausfindig gemacht wurde: „Die Riesen baten Hackelberg [= Odin als der Wilde Jäger, H.v.D.] um Hilfe. Er ließ einen Sturm aufkommen und versetzte eine Mühle in die Milchstraße, die seitdem Mühlenweg genannt wird.”26 Es gibt noch andere Fossilien, wobei das abenteuerlichste vielleicht jenes der Cherokesen ist, die der Galaxis den Namen „Wo der Hund lief” gaben. Es muß ein sehr ungewöhnlicher Hund gewesen sein, der die Angewohnheit hatte, Mehl aus einer Kornmühle zu stehlen, die den „Menschen im Süden” gehörte, und mit seiner Beute gen Norden zu rennen; während er lief, ließ er Mehl fallen – und das ist die Milchstraße.27 Es ist schwierig, in diesem Beispiel Isis wiederzuerkennen, die auf ihrer Flucht vor Typhon Weizenähren verstreute.28 Und doch hätte die Vorliebe so vieler mythischer Hunde, Füchse oder Koyoten – und sogar des „Weg-Öffnenden” Fennek in Westsudan – für Mehl und alle möglichen Getreidesorten (genauer gesagt: für „die acht Getreidesorten”) die Experten davor warnen sollen, sich mit hundeartigen Charakteren einzulassen, zumal dieser Zug – nämlich der Siehe Johann Andreas Eisenmenger, Entdecktes Judenthum (1711), I, 165; II, 417ff. 25 „Es ton ēera”, siehe Franz Karl Movers, Die Phönizier (1967), I, 205. 26 Jacob Grimm, Deutsche Mythologie (1876), III, 280; Teutonic Mythology (1966), 1587f. 27 J. Mooney, „Myths of the Cherokee”, 19th ARBAE (1990], 253, 443. 28 Siehe Richard Hinkley Allen, Star Names (1963), 481: William T. Olcott, Star Lore of All Ages (1911), 393. 24
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Appetit auf Mehl – schwerlich der Mutter Natur abgelauscht sein kann. Mythische Caniden dürfen nicht beim Wort genommen, nicht nach ihrem pseudo-zoologischen Erscheinungsbild beurteilt werden.29 Somit war alles und jeder von seinem Kurs abgekommen: der Wilde Jäger, der Hund und die Mühle – zumindest ihre obere Hälfte, da ja durch das Loch im unteren Mühlstein der Wasserstrudel auf- und niederbraust.
Ebensowenig natürlich jene auf Mehl erpichten Widder und Schafe in den zentralafrikanischen (Kasai-) Mythen vom Sonnenschlingenfang, die anderwärts zu besprechen sein werden. 29
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Kapitel 19
19 Der Sturz des Phaethon Quel del so, che suiando, fu combusto Per l’orazion della terra devota Quando fu Giove arcanamente giusto. DANTE
Der offizielle Milchstraßen-Mythos ist der von Phaethon. Manilius erzählt ihn in seinem astrologischen Gedicht:1 Oder hat eher der Glaube Bestand, in uralten Zeiten seien die Rosse der Sonne dort andere Bahnen gelaufen, hätten ein anderes Wegband zerstampft und in langen Äonen sei ihre Heimstatt verbrannt und die Sterne, verdampft durch die Flammen, hätten den blauschwarzen Schimmer durch Wechsel der Farbe verändert und am Ort sei Asche verstreut und der Kosmos bestattet? Auch eine Sage verflossener Zeiten erreicht uns, Phaethon, Tierkreisbilder auf väterlichem Wagen durchfliegend, indessen fremde Wunder des Kosmos der Junge näher bestaunte, hoch in der Wölbung sein Spiel trieb, auf glänzendem Wagen voll Hochmut protzte und Größeres gar als der Vater zu machen begehrte, sei vom gewohnten Kurs gewichen, habe mit schwankem Viergespann die gewiesenen Wege verlassen, ein neues Kreisband dem Himmel gesetzt, und die fremden Gestirne hätten zielverfehlende Glut und verfahrnes Gefährt nicht ertragen. Marcus Manilius, Astronomicon 1.730-749. A.d.Ü.: In Hamlet’s Mill beziehen sich die Autoren auf eine anonyme Übersetzung ins Englische (T.C.), London 1953; 1967 wieder aufgelegt durch die National Astrological Library, Washington, D.C., 44. Hier wird die deutsche Übersetzung von Wolfgang Fels zitiert, Astronomica. Astrologie (1990), 77f.
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Der Sturz des Phaeton
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Weshalb beklagen wir, daß auf dem ganzen Erdkreis die Flammen rasten und Feuer in allen Städten der Erde gebrannt hat? Als die Späne des splitternden Wagens nach sämtlichen Seiten flogen, ward auch der Himmel entflammt: selbst der Kosmos entbrannte, und beim Nahen der Flammen verglühten die fernen Gestirne, welche noch heute die Spur des vergangenen Unheils bezeugen.
Die Mythe von Phaethon ist ausführlich und mit großartiger 230 Phantasie von Ovid und Nonnos2 (Dionysiaka Buch 38) geschildert worden. Während er sich im hohen Alter seine eigene Jugendzeit in Erinnerung ruft, spricht der englische Geschichtsschreiber Edward Gibbon hingerissenen von seiner Entdeckung der Schönheit lateinischer Dichtung, als er Ovids Beschreibung von Phaethons tragischem Unternehmen las. Die Geschichte geht so, daß Helios bei den Wassern der Styx schwor, seinem unbesonnenen jungen Sohn Phaethon, der ihn zum erstenmal besuchte, jeden Wunsch zu erfüllen. Dem Jungen verlangte nur danach, ein einziges Mal den Sonnenwagen zu lenken; und selbst die verzweifeltsten Bitten seines Vaters konnten ihn nicht umstimmen. Obwohl er genau wußte, daß nichts den fatalen Ausgang dieses Abenteuers würde aufhalten können, tat Helios sein Bestes, Phaethon über all die Gefahren zu unterrichten, die bei jedem Schritt auf diesem Weg lauern – eine für Ovid wie auch Nonnos willkommene Gelegenheit die väterlichen Ermahnungen zu einer Art wohldurchdachten „Einführung in die Astronomie” auszuarbeiten. Wie der Vater befürchtet hatte, war Phaethon nicht in der Lage, die Pferde in den Griff zu bekommen und kam vom rechten Weg ab. Ovid stellt es so dar, daß er beim Anblick des Skorpions die Zügel fallen ließ. Die Folge ist eine unglaubliche Konfusion: Keine Konstellation bleibt an ihrem Platz, und die Erde wird auf schreckliche Weise verbrannt. In ihrer Verzweiflung ruft sie nach Jupiter, damit dieser unverzüglich zur Tat schreite: „Siehst du sie rauchen, die Pole? O schau die Qualen Siehe Ovid, Metamorphosen 1.141 2.400 und Nonnos, Dionysiaca Buch 38. 2
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des Atlas! Kaum vermögen die Schultern die glühende Achse zu tragen.”3 Und Nonnos konstatiert: „Und es herrschte Verwirrung im Äther. Des stetigen Weltalls Fügung erschütterte er, daß sich am Ende die Achse krümmte, die mitten durch des Äthers Umschwung hindurchging. Mühsam das Sterngewölbe, das selbst sich drehende, hebend, stand mil gebogenen Knien gekrümmt der libysche Atlas.“4 Zeus muß einschreiten und schleudert seinen Donnerkeil gegen den Jungen. Phaethon stürzt in den Fluß Eridanus, wo laut Apollonios Rhodios der Gestank seines halbverbrannten Körpers die Argonauten für mehrere Tage krank werden ließ, als sie auf ihrer Reise mit ihm konfrontiert wurden.5 Die Phaethon-Geschichte ist oft so verstanden worden, als sollte sie an irgendein sensationelles Himmelsereignis erinnern, etwa an einen Kometen. Jeder ist instinktiv – genauer gesagt: gewohnheitsmäßig – auf der Jagd nach einer sogenannten natürlichen Erklärung. Bei genauerer Überprüfung stellt sich allerdings heraus, daß die Sache so einfach nicht ist. Die Schilderung der „Katastrophe” mag phantasievoll und impressionistisch sein – als hätten die Dichter solche Unterbrechung der Regelmäßigkeit himmlischer Umläufe erleichtert begrüßt –, aber ihr Bericht ergibt auch einen formalen Sinn, was keinen überraschen dürfte, der Viktor Stegemanns6 gründliche Untersuchung über Nonnos als Erben der Astrologie des Dorotheos von Sidon gelesen hat. Was Ovid anbelangt, so ist sein Ansehen als Gelehrter mittlerOvid, Metamorphosen 2.294-297: „Circumspice utrumque: / fumat uterque polus quos si vitiaverit ignis / atria vestra ruent Atlas en ipse lnborat / vixque suis umeris candentem sustinet axem.” Zitiert wird hier die deutsche Übersetzung von Hermann Breitenbach (2. Auflage 1964), 65. 4 Nonnos, Dionysiaca 38.350ff. übersetzt von Thassilo von Scheffer (o.J.), 605f. 5 Apollonios Rhodios, Argonautica 4.619-623 (1921). 6 V. Stegemann, Astrologie und Universalgeschichte (1930). 3
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weile unangefochten, und in der Tat verweist er mit überraschendem Sachverstand auf streng kosmologische Formeln. Man denke nur an seine Beschreibung, wie die „versteckten Berge” aus dem Wasser emportauchen, als die Meere zu Sand schrumpfen (2.260ff): Sie erheben sich als „neue Inseln”. Um wieviel treffender illustriert doch dieses Bild von „Berggipfeln” und „Inseln“ die am Frühlingsäquinoktium einer nach dem anderen aufgehenden Sterne einer Konstellation als beispielsweise die isländische Formulierung vom Auftauchen einer „neuen Erde” es vermag! Wie dem auch sei: Eine unabhängige Bestätigung ergibt sich aus Platons Version der Krise, wie er sie im Timaios schildert. Der ägyptische Gesprächspartner Solons stellt fest, daß sich die Sage von Phaethon „zwar wie ein Märchen [anhört], in Wahrheit aber handelt es sich um eine Abweichung [= parallaxis, H.v.D.] der die Erde umkreisenden Himmelskörper und um eine in langen Zeiträumen sich wiederholende Verheerung der Erdoberfläche durch massenhaftes Feuer.“7 Das ist eine klare Aussage. Und außerdem ist es eine Aussage, die mit Ovid und Nonnos konform geht – wie es sich gehört, hat doch das Ganze mit pythagoreischer Überlieferung zu tun, wie uns Aristoteles klarmacht.8 Weder waren die Pythagoreer müßige Geschichtenerzähler Platon, Timaios 22 CE, übersetzt von Otto Apelt, Sämtliche Dialoge VI (1988), 37. Die Hervorhebungen durch Kursivschrift sind von uns. 8 Aristoteles, Meteorologica I.8.345A, Gohlke-Übersetzung: „Von den sogenannten Pythagoreern meinen manche, sie bedeute eine Bahn, sei es von Sternen, die irgendwo herausgefallen seien bei dem sagenhaften Weltuntergang zur Zeit des Phaeton, sei es, daß die Sonne einstmals diese Bahn gelaufen sei. Jedenfalls sei es eine Gegend, die unter der Einwirkung ihrer Bahn ausgebrannt sei. Aber wie töricht, dabei nicht zu bedenken, daß dann ja auch der Tierkreis so aussehen müßte, ja, noch viel mehr als die Milchstraße, da in ihm sich alle Irrsterne bewegen, nicht nur die Sonne.” Siehe auch H. Diels, Doxographie (1965). 364f = Aetius III.I. (In früheren Zeiten war dies Plutarch, De placitis III.1.) 7
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noch hatten sie das geringste Interesse an ungewöhnlichen, sensationellen „Katastrophen”, die durch Meteore und dergleichen verursacht werden. Tatsächlich sprach der ägyptische Priester zu Solon hinsichtlich der Sage von Phaethon als von „einer Geschichte, die auch bei euch erzählt wird”. Wo aber hat sich der ägyptische Phaethon versteckt? Da in Ägypten die kosmologische Sprache im alten Sinn formaler war als die der Griechen, wird es einige Zeit beanspruchen, bis man die korrekte Parallele gefunden hat. Jedenfalls hätte man den abgestürzten Phaethon „das verlorene Auge” genannt oder zumindest als eines der „verlorenen Augen” definiert. Das Auge ging in der sogenannten „mythischen Quelle des Nils”, der Quelle aller Wasser, „verloren”. Insofern ist es überraschend, daß Ovid wußte (Metamorphosen 2.254ff.) daß aufgrund von Phaethons Sturz der Nil „voll Entsetzen … an das Ende der Erde [entfloh] und sein Haupt, das noch immer versteckte, [verhüllte] … ”9 Den ägyptischen Fall für diesen Moment auf sich beruhen lassend, ist es an dieser Stelle angemessen, zwei sehr unterschiedliche Überlebsel zu zitieren, die mit dem Phaethon-Thema in einem Zusammenhang stehen. Sie sind deshalb zweckdienlich, weil sie aus Gegenden stammen, die weit weg von der griechischen Landschaft liegen und konsequenterweise mit keiner der lokalen Katastrophen in Verbindung gebracht werden können, von denen vermutet wird, daß sie solch einen gewaltigen Eindruck in den Köpfen der Griechen hinterlassen haben. Die bereits erwähnten Fiote der afrikanischen Loango-Küste sagen: „Der lulômbe lu mbôta [- die Sternstraße, Galaxis. Rv.D.] ist der Weg für den Leichenzug eines ungeheuren Sterns, der einst größer als die Sonne am Himmel leuchtete.”10 Das ist angenehm knapp und ohne formale Spitzfindigkeiten formuliert. Die Version aus dem amerikanischen Nordwesten fällt etwas großzügiger aus. Weil es im präkolumbi„Nilus in extremum fugit perterritus orbem / occuluitque caput, quod adhuc latet.” 10 E. Pechuel-Lösche, Volkskunde von Loango (1907), 35. 9
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anischen Amerika keine Streitwagen gab,11 stattet die PhaethonFigur der Bella-Coola-Indianer ihren Besuch beim Vater mittels einer Pfeil-Kette ab und wünscht, an dessen Stelle die Fackel der Sonne zu tragen. Helios willigt ein, aber er ermahnt seinen Sohn, kein Unheil anzurichten und keine Menschen zu verbrennen. „Am Morgen”, sagt er, „zünde ich eine Fackel an, dann erhöhe ich langsam die Anzahl bis zur Mittagsstunde. Am Nachmittag mache ich sie wieder Stück für Stück aus.” Am nächsten Morgen erklimmt „Phaethon” die Sonnenbahn und entzündet nicht nur alle Fackeln auf einmal, sondern tut dies außerdem viel zu früh, so daß die Erde glühend rot wird: Die Wälder beginnen zu brennen, die Felsen zerbersten und viele Tiere springen ins Wasser, doch haben auch die Gewässer schon angefangen zu kochen. „Junge Frau”, die Mutter des Bella-Coola-Phaethon, bedeckt die Menschen mit ihrem Mantel und schafft es, sie zu retten. Aber Vater Sonne schleudert seinen Sprößling hinab auf die Erde und gibt ihm zu verstehen: „Von nun an sollst du der Nerz sein!“12 Es ist notwendig, einige andere sehr alte Ideen, die unserer Zeit verlorengegangen sind, neu zum Leben zu erwecken. Daß es sich bei Eridanus um den Po in Norditalien handelt, war im Griechenland des Euripides eine allgemeine und einfache Vorstellung. In einer seiner großen Tragödien (Hippolytos) sehnt sich der Chor danach, von der Welt der Schuld fortzufliegen, hinauf 233 Siehe für dieses „Requisit” Harold S. Gladwin, Men out of Asia (1947), 356-359. 12 W. Krickeberg, Indianermärchen aus Nordamerika (1924), 224f, 396; Franz Boas, Indianische Sagen (1895), 234, siehe auch 157, 173, 215, 246, 338f. Vgl. R. Seler, Gesammelte Abhandlungen (1902-1922) V, 19. Ein simpler Nerz mag uns heute unbedeutend erscheinen, wie der Tapir oder der „Maus-Apollon” – wir lassen uns zu schnell von bloßen „Wörtern” oder „Namen” beeindrucken. Dieser spezielle Nerz führt die Gezeiten ein, stiehlt das Feuer und kämpft mit den „Winden”, indem er die Rollen von Adapa, Prometheus und Phaethon gleichzeitig übernimmt. 11
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zu den Bergen und Wolken, in weit entfernte Länder: Zu Eridanus’ Küste wollt ich mich schwingen. Wo in die purpurnen Wellen des Flusses Phaethons Schwestern, sein Los Ihm klagend, das Gold ihrer Tränen, Des Bernsteins glänzenden Schimmer träufeln.13 Jeder Zuhörer hätte verstanden, daß Phaethons traurige Schwestern die Pappeln sind, die das Ufer des Flusses säumen, und daß „des Bernsteins glänzender Schimmer” eine Anspielung auf die Reichtümer der „Bernstein-Straße” ist, die von der Ostsee bis zu den vertrauten Gestaden der Adria führte. So weit, so gut. Aber was läßt sich mit Strabon, einem noch späteren Autor anfangen, der Eridanus als „nirgendwo auf der Erde existierend” bezeichnete und demzufolge eindeutig auf die Konstellation Eridanus am Himmel verwies;14 und was meint Aratos, wenn er von „jenen ärmlichen Überresten des Eridanus“ spricht, weil der Fluß „durch Phaethons Sturz ausbrannte”?15 Ist das derselbe Fluß – stattlich und mit Pappeln umsäumt –, der in das Po-Delta mündet? Apollonios von Rhodos behielt die doppeldeutige Ebene der Abenteuer sorgfältig bei, als er die heroischen Reisen der Argonauten beschrieb, denn die Abenteuer sind zwar in einen irdischen Zusammenhang gestellt, doch ergeben sie geographisch gesehen nicht den geringsten Sinn. Die Forschungsreisenden segeln den Po hinauf, wo sie, wie erwähnt, mit dem Gestank von Phaethons Überresten konfrontiert werden; doch konnten diese auch weiter oben, in den Alpen, lokalisiert werden, in einem Wasserfall nahe dem Dammastock, wie Strabon vorzuschlagen Euripides, Hippolytos 737-41 in der deutschen Übersetzung von E. Buschor. Siehe Euripides, Sämtliche Tragödien und Fragmente (1972), I, 232f. 14 Strabon, Geography V.215. 15 Aratos, Phaenomena, Vers 360. 13
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beliebte. Denn die Argo bewegt sich vom Po in den Genfer See und in die Rhône, macht eine Kehrtwende zurück zum See und segelt dann weiter, immer demselben Längengrad folgend. Dann – ein Meisterwerk der Transportkunst! – überquert das Schiff die Sahara geradewegs bis zur westafrikanischen Küste und erreicht schließlich die vulkanische Insel Fernando Póo im Golf von Guinea. So zumindest liest sich der Text für jene, die ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, für Geographie halten. Sicherlich liegt es dem gesunden Menschenverstand näher, Eridanus als ein Requisit des Himmels zu behandeln, wo er, gemeinsam mit Argo, bereits deutlich gekennzeichnet ist; und wenn man die anderen Requisiten entsprechend behandelt, erhält man wenigstens eine signifikante Geschichte, obwohl sie das Rätsel um die Argonauten nicht lösen wird. Die Überlieferung hat folglich zum Inhalt daß nach dem 234 fürchterlichen Sturz des Phaethon, und nachdem die Ordnung wiederhergestellt worden war, Jupiter Phaelhon „verstirnte” oder katasterisierte. Das heißt: Er versetzte ihn als Auriga, den Fuhrmann (griechisch Heniochos oder Erichthonios) unter die Sterne; und zur selben Zeit wurde auch Eridanus katasterisiert. Nonnos gab einen detaillierten Bericht: Vater Zeus verstirnte den Phaethon droben am Himmel gleich einem Fuhrmann und auch mit diesem Namen; den hellen Himmelswagen haltend mit seinen schimmernden Armen, sieht er aus wie ein im Lauf hinstürmender Fuhrmann, gleichsam noch unter Sternen des Vaters Wagen begehrend. Auch der versengte Fluß kam hoch zum Pol der Gestirne durch Gewährung des Zeus, und auf der sternigen Rundbahn dreht sich Eridanus nun mit feurig geschlängeltem Wasser.16
Nun wurden in jenen Zeiten, in denen der Mythos noch eine Nonnos, Dionysiaca 38.424-431, übersetzt von Th. von Scheffer (o.J.), 609; siehe auch Franz Xaver Kugler, Sibyllinischer Sternkampf und Phaethon (1924), 44, 49. 16
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ernstzunehmende Denkweise darstellte, keine Objekte am Himmel identifiziert, die nicht auch ursprünglich dorthin gehörten. Das Problem, das später auftauchte, wurde zum einen von Richard H. Allen formuliert, der bemerkte, daß „die Milchstraße lange als Eridanus, der Strom des Ozeans, bekannt war”;17 zum anderen von dem Nonnos-Übersetzer William Henry Penham Rouse,* der in einer Fußnote zu Eridanus anmerkte: „die Milchstraße”. Es bedarf einer gewissen Unverfrorenheit, über die Galaxis zu sagen, daß sie sich schlängelt – im griechischen Text steht eigentlich, daß sie sich schraubenförmig bewegt (helíssetai, von Helix). Aber abgesehen von diesem inkongruenten Bild der „helixierenden” Milchstraße, diente die Mythe von Phaethon den Pythagoreern dazu, darüber zu berichten, wie die Sonne und die Planeten ihre frühere Bahn verließen und wie Eridanus inthronisiert wurde, der gemeinsam mit Auriga die Funktion der Milchstraße zu übernehmen hatte. Das ist der Grund, warum sie gemeinsam „katasterisiert” wurden. Zugegebenermaßen sieht man sich einer beängstigenden Konfusion zwischen den Flüssen des Himmels und jenen der Erde gegenüber, einer Verwirrung, die durch die Namen, die beiden Flußarten gegeben werden, nur noch verschlimmert wird. Aber mit Geduld lassen sich die Fäden entwirren. Wenn wir uns zunächst den Flüssen unseres Erdballs zuwenden, so erhielt nicht nur der Po den Namen Eridanus, sondern ebenso die Rhône,18 der Nil und der Ganges. Schließlich bringt Godfrey Higgins die folgende Angabe, ohne indessen die antike Quelle anzugeben: „Der Ganges, welcher auch Po genannt wird.”19 Es ist folglich nicht überraschend, daß sich viel später, R.H. Allen, Star Names (1963). 474. A.d.Ü.: Die Autoren beziehen sich hier auf die englische Übersetzung von Nonnos’ Dionysiaca (1955-1956) in 3 Bänden LCL 18 Für den Po und die Rhône sowie ihr Zusammenfließen siehe A. Dieterich, Nekyia (1893), 27, der Piinius und Pausanias zitiert. 19 G. Higgins, Anacalypsis (Reprint 1927), 357: „Ganges qui et Padus 17 *
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im Mittelalter, in mehreren Ausgaben des Alexanderromans verschiedene Meinungen über jenen Fluß wiederfinden, welcher 235 von dem König benutzt wurde, um ins Paradies zu reisen und die Unsterblichkeit zu erlangen. In einer französischen Prosanovelle aus dem 14, Jahrhundert segelt Alexander den Nil stromaufwärts, wohingegen er in einer lateinischen Version aus dem 12. Jahrhundert den Ganges benutzt. Wie die Inder ihm gesagt hatten, befindet sich die Quelle des Ganges im Paradies.20 Und in der Tat gilt das für alle großen Flüsse des Mythos. Am Himmel stehen drei Kandidaten zur Auswahl. Außer der Milchstraße bezeichneten die Katasterismen des Eratosthenes die Konstellation Eridanus als Nil oder Ozean.21 Die Astrologen Teukros und Valens führten Eridanus jedoch unter den paranatellonta des Wassermanns auf. Paranatellonta sind jene Konstellationen, welche „zur selben Zeit aufgehen” wie ein gegebenes Sternbild. Das heißt in diesem Fall: zur selben Zeit wie der Wassermann. Mit anderen Worten nannten sie das Wasser, das sich aus dem Krug des Wassermanns ergießt, Eridanus. Noch merkwürdiger ist, daß man von diesem Guß aus dem Gefäß des Wassermanns annahm, daß er sich unterhalb des Südlichen Fisches (Piscis Austrinus) mit unserer Konstellation Eridanus verbindet.22 Manilius sagt: Dann erhebt sich der Südliche Fisch aus der Richtung des Südwinds, dessen Namen er trägt. An diesen gebunden durcheilen rasch die gewundenen Flüsse die riesigen Bahnen der Sterne. Mit der Mündung des einen verbindet der Wassermann seine dicitur.” Was die Vorstellung im allgemeinen betrifft, das sich der Eridanus in Indien befindet, siehe O. Gruppe, Griechische Mythologie (1906), 394, der sieh auf Ktesias bezieht. 20 F. Kampers, Mittelalterliche Sagen vom Paradiese (1897), 72f. 21 Eratosthenes, Catasterismorum Reliquiae. Rec. Carolus Robert (1878), 176ff. 22 F. Boll, Sphaera (1903), 135-138.
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Flut. In der Mitte sammeln sie sich und vermischen die Sterne.23
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Die Katasterismen des Eratosthenes bringen eine weitere Komplikation ins Bild; allerdings handelt es sich um eine Komplikation, die zu der entscheidenden Einsicht führt. Im Unterschied zu Aratos (360f) und Ptolemaios wird Canopus anstelle zur Argo zur Konstellation Eridanus gerechnet, was dem Fluß einen entsprechend anderen Verlauf gibt.24 Der ganze „Gordische Knoten” von Mißverständnissen knüpft sich an dem Namen Eridanus auf, und es bleibt einem nichts anderes übrig, als dem guten Beispiel Alexanders zu folgen und „den Deichselnagel herauszuziehen”. Eridanus, für den es keine befriedigende griechische Etymologie gibt, findet eine vernünftige Herleitung von Eridu, wie von Kugler vorgeschlagen wurde. Eridu ist der Sitz von Enki/Ea und heißt auf Sumerisch mulNUNki = Canopus (alpha Carinae = Sternbild des Schiffskiels).25 Eridu markierte und bedeutete den „Zusammenfluß der Ströme” – ein Topos von höchster Wichtigkeit, zu dem die großen „Heroen”, angefangen mit Gilgamesch, in ihrem vergeblichen Bemühen pilgerten, die Unsterblichkeit zu erlangen. Laut der 18. Sure des Korans gilt das auch für Moses. Anstelle dieses unerreichbaren Gutes gewinnen sie „die Maße”, wie noch zu sehen sein wird. Da „Eridu” als der „Zusammenfluß der Ströme” bekannt war, hatte sich Eridanus sozusagen per definitionem irgendwo im Süden mit irgendeinem „Fluß” zu vereinen, oder er mußte, wie die Katasterismen behaupteten, mitten in den Eridu/Canopus hineinfließen. Es hat noch radikalere „Lösungen” gegeben. Die erste liefert SerManilius, Astronomicon I.438ff, Fels-Übersetzung (1990), 49. Siehe L. Ideler, Sternnamen (1809), 231; siehe auch E. Maass, Commentariorum in Aratum Reliquiae (1898), 259. 25 B.L. van der Waerdcn. JNHS 8 (1949), 13; siehe auch P.F. Gössmann, Planetarium Babylonicum (1950), 306; Johann Schaumberger, 3. Ergänzungsheft von Franz Xaver Kugler (1935), 334f. 23 24
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vius, der so tut, als seien Eridanus und Phaethon ein und derselbe gewesen.26 Die zweite, von Michael Scotus präsentiert, summt nicht nur hinsichtlich der Gleichsetzung von Phaethon und Eridanus überein, sondern geht noch weiter. Scotus plaziert in das „Zeichen” Eridanus die „Figura sonantis Canoni”, die aus siebzehn Sternen besteht und die er Canopus nennt, wobei er geltend macht, daß Canopus Argo berührt. Und über diesen rätselhaften Herrn sagt Scotus, daß er „die Arbeit der Sonne durch den Klang seiner Laute behinderte, weil die Pferde ihm lauschten; und der zornige Jupiter durchbohrte ihn mit seinem Donnerkeil.”27 Wie gezeigt worden ist, wurde Eridanus von den Astrologen als jener Wasserstande! (zalos) aufgefaßt, welcher durch die Unterwelt mit ihren vielen Reichen fließt, einschließlich jenen Reichen, von denen aus man den südlichen Himmelspol sieht. Vergil schrieb in den Georgica (I.242f): „Dieser Pol ist immer über uns sichtbar; jenen aber unter unseren Füßen sehen die schwarze Styx und die Manen tief unten.“ Aber warum wurde Auriga zur selben Zeit wie Eridanus katasterisiert, und welche „Funktionen” mußten diese beiden Konstellationen von der Milchstraße übernehmen? Die Galaxis war und ist der Gürtel, der den Norden mit dem Süden verbindet –oben wie unten. Im Goldenen Zeitalter jedoch, als das Frühlingsäquinoktium in den Zwillingen stand und das Herbstäquinoktium im Schützen, hatte die Milchstraße einen sichtbaren Äquinoktialkolur verkörpert – einen ziemlich Servius, Grammatici VI.659 (1884) zu Vergils Aeneis: „Fabula namque haec est: Eridanus Solis filius fuit. hic a patre inpetrato curru agitare non potuit, et cum eius errore mundus arderet. fulminatus in Italiac fluvium cecidit: et tunc a luce ardoris sui Phaethon appellatus est. et pristinum nomen fluvio dedit: unde mixta haec duo nomina inter Solis filium et fluvium invenimus.” 27 Michael Scotus, zitiert bei F. Boll, Sphaera (1903), 273-275.540-542: „Alii dicunt quodeum impediret opus solis sono canoni, quia equi attendebant dulcedini sonorum, iratus Jupiter cum percussit fulmine.” Siehe auch Appendix 10, Väinämoinens Kantele. 26
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verschwommenen, um ehrlich zu sein, doch waren Norden und Süden des Himmels durch diesen ununterbrochenen breiten Bogen, der die Ekliptik an ihren Schnittpunkten mit dem Äquator kreuzte, miteinander verbunden gewesen. Die großen drei Achsen waren vereint gewesen; die galaktische Prachtstraße hatte die „drei Welten“ der Götter, der Lebenden und der Toten umfaßt. Diese „goldene“ Situation war vorbei, und Eridanus war die galaktische Funktion vermacht worden, die „bewohnte Welt” mit dem Wohnsitz der Toten im (teilweise) unsichtbaren Süden zu verknüpfen. Auriga mußte die nördlichen Verpflichtungen der Galaxis übernehmen, so gut wie möglich eine Verbindung zwischen der bewohnten Welt und der Region der Götter herzustellen. Es gab kein sichtbares, kontinuierliches Band mehr, das Unsterbliche, Lebende und Tote aneinander gebunden hätte: Nur Kronos hatte in glorreichem Frieden unter den Menschen gelebt. An dieser Stelle haben wir einen Vorschlag zu unterbreiten. Um ihn abwägen zu können, muß man die Tatsache berücksichtigen, daß alpha Aurigae gleich Capella, die Ziege, ist. Diese bemerkenswerte Figur war in der Diktäischen Höhle die Amme des kleinen Zeus, und aus ihrem Fell sollte Hephaistos später die Aigis anfertigen. Die Rede ist von Amaltheia. Das Horn der Capella/Amaltheia diente den Unsterblichen als Füllhorn sowie als Quelle für Nektar und Ambrosia. Sterbliche nannten es den „zweiten Tisch”, also Nachtisch sozusagen.28 Aber es gibt zwei Bröckchen orphischer Überlieferung, die aufschlußreich zu sein scheinen und die uns von Proklos weitergegeben wurden. Das erste besagt, daß Demeter die Speise der Götter trennte, indem sie sie in einen flüssigen und einen festen Teil zerlegte, das heißt: in Ambrosia und Nektar.29 Das zweite verkündet, daß Rhea zu Siehe Athenaios, Deipnosophistai 643a; ebenso 783c und 542a. Orphicorum Fragmenta, herausgegeben von O. Kern (1963), Fragment 189, Seite 216 (Proklos in Kratylos 404b, 92, 14 Pasqu.); vgl. Georges Dumézil, Le Festin d’Immortalité (1924), 104. Siehe auch Roscher, in
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Demeter wurde, nachdem sie Zeus geboren hatte.30 Und Eleusis, das für uns nicht mehr als ein bloßer „Ortsname” ist, galt für die Griechen als „Advent” – das Neue Testament benutzt dieses Wort für die Ankunft Christi. Demeter – einst Rhea und Frau des Kronos – zerteilte bei ihrer „Ankunft“ die beiden Arten der Götterspeise, die ihre Quelle in alpha Aurigae hatten. Mit anderen Worten: Es ist möglich, daß sich diese Überlieferungen betreffs Demeter auf die entscheidende Verschiebung des Äquinoktialkolurs hin zu alpha Aurigae beziehen. Aber man sollte auch einige andere Überlieferungen in Betracht ziehen. Im Hinblick auf Indien, das in seiner Fülle oft hilfreich ist, ist es beinahe selbstverständlich, daß der Ganges für die Galaxis stand.31 Aber das Mahāhhārata und die Puranas sagen uns wenigstens, wie diese Verknüpfung gedacht war; Ganga wurde von der Milchstraße geboren. Im Vishnu Purāna heißt es:32 Seine Quelle im Nagel des großen Zehs von Vishnus linkem Fuß 238 habend, empfängt ihn Dhruva (der Polarstern) und trägt ihn Tag und Nacht andächtig auf seinem Kopf; und seit jener Zeit praktizieren die sieben Rishis die Übung der Askese in seinem Gewässer und umwinden ihre geflochtenen Locken mit seinen Wellen. Der Mond, umflutet von seiner angewachsenen Strömung, gewinnt vermehrten Glanz aus diesem Kontakt. Von hoch oben herabfallend, aus dem Mond herausströmend, läßt er sich auf dem Gipfel des Berges Meru (der Weltberg im Norden) nieder und fließt von dort in die vier Gegenden der Erde, um sie zu läutern … Der Ort, von dem aus der Fluß zur Läuterung der drei Welten antritt, ist die dritte Zone der Himmelsregionen, der Sitz von Vishnu. Roscher, Lexikon (1884-1937), s.v. Ambrosia: „sitos kai methy, sithos kai oinos.” 30 Orphicorum Fragmenta, op.cit., Fragment 145, Seite 188. 31 Dasselbe gilt für den Jaxartes und Ardvī Surā Anāhitā in der iranischen Überlieferung; siehe Henrik Samuel Nyberg, Die Religionen des Alten Iran (1966), 260f. 32 Vishnu Purāna 2.8, übersetzt von Horace Hayman Wilson (1840), 188.
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Es war in der Tat ein kolossales Ereignis, den „Strom LuftGanges vom Himmel herabfallen” zu lassen, und seiner Gewalt wurde nur dadurch Einhalt geboten, daß Shiva ihn in seinen Haarlocken auffing. Man sollte hinzufügen, daß er ihn dort „für mehr als 100 Jahre [trug], um ihn daran zu hindern, zu plötzlich auf den Berg zu fallen”. Hätte es nicht Shivas Haar gegeben, das als ein Auffangbehälter fungierte, wäre die Erde von den Oberen Wassern überflutet worden. Sie kommen, wie wir soeben zitierten, aus der dritten Himmelszone, der „Bahn des Vishnu” zwischen Ursa Maior und dem Polarstern. Wilson konstatierte 1840: „Die Lage der Quelle des Ganges im Himmel identifiziert ihn mit der Milchstraße.”33 Aber auch wenn die Flut unaufhörlich ist, hat sie dennoch einen „Anfangs”punkt, und diesen findet man im Bhagavata Purāna: „Der Strom floß über den großen Zeh von Vishnus linkem Fuß, welcher zuvor, als er ihn hochgehoben hatte, einen Sprung in die Schale des Welteis gemacht hatte und somit dem Himmelsstrom Einlaß gewährte.”34 Wie kann die Milchstraße ihr Wasser über den Polarstern ergießen? Und wie kann es in die vier Gegenden der Erde fließen? Indische Diagramme blieben Der Bericht über China, wie er von Gustave Schlegel L’Uranographie Chinoise (1967). 201 gegeben wird, ist zwar kürzer, deutet aber auf dasselbe phantasievolle Konzept hin. „La fleuve céleste se divise en deux bras près du pôle Nord et va de là jusqu’au pôle Sud. Un de ses bras passe par l’astérisme Nan-teou (lambda Sagittarii), et l’autre par l’astérisme Toung-tsing (Gémeaux). Le fleuve est l’eau céleste, coulant à travers les cieux et se précipitant sous la terre” Nan-teou ist der „Südliche Scheffel”: my lamhda phi sigma tau zeta Sagittarii: der nördliche Scheffel ist der Große Wagen. Obwohl wir mit Phyllis Ackermanns Standpunkt [in Forgotten Religions (1950), 6]: „Der Nil ist jedoch (wie ursprünglich viele, wenn nicht gar alle heiligen Flüsse – siehe den Ganges) die irdische Fortsetzung der Milchstraße” übereinstimmen, halten wir daran fest, daß das bloße Wiedererkennen nicht ausreicht, dem Mythos wieder Sinn und Bedeutung zu verleihen. 34 Vishnu-Purāna, Wilson-Übersetzung, 138, Fußnote 11. 33
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auf dieselbe Weise phantastisch wie im Westen die mittelalterlichen. Es braucht seine Zeit, sich das große Tympanon in Vézelay anzuschauen und zu erkennen, daß man vor einem Raum-ZeitDiagramm der auf die Figur Christi ausgerichteten Weltgeschichte steht. Es war in der archaischen Kosmologie nicht völlig absurd, Doppelstandpunkte zu haben. Wenn Tezcatlipoca am Nordpol Feuer drillte und der chinesische Saturn ebenfalls seinen Sitz dort oben hatte, dann könnte auch Vishnus Zeh über zwei Ansatzpunkte verfügen: den einen in der dritten Himmelszone – zwischen Wagensternen und Polarstern —, den anderen 239 in beta Orionis/Rigel (– das arabische Wort für „Fuß”), die „Quelle” des Eridanus. (Und könnte Rigel-die-Quelle nicht auch für Orwendels Zeh stehen, den Thor katasterisiert hatte?) Denn sowohl in der Überlieferung der Maori von Neuseeland als auch im Buch des Hermes Trismegistos kennzeichnete Rigel den Weg zum Hades. Das alles ist gewiß sehr phantasievoll, doch lieferten weder die reale Milchstraße noch der terrestrische Ganges irgendeine Grundlage für die Vorstellungen von einem Fluß, der zu den vier Gegenden der Erde fließt, „um die drei Welten zu läutern”. Man kann von dem „Implex” nicht loskommen, und daher ist es jetzt notwendig, über die Erzählung eines neuen Koordinatennetzes alias Skambha nachzudenken: Der Äquinoktialkolur war in eine Position übergewechselt, in der er durch Sterne von Auriga und durch Rigel lief. Skambha war, wie gesagt, der Weltbaum, der sich überwiegend aus Himmelskoordinaten zusammensetzte: eine Art imaginativer Armillarsphäre. Wenn sich eine Koordinate verschob, mußte sich alles verschieben. Es gibt andere Stilmittel als die der „Katasterisation”, um veränderte Sachlagen zu beschreiben. So besagt eine babylonische Keilschrift-Tafel: „Der Ziegen-Stern wird auch Hexen-Stern genannt; die göttliche Funktion von Tiamat hält er in seinen Händen.” Der Ziegen-Stern (mulUZA = enzu) repräsentiert die Venus; außerdem geht er „zusammen mit dem Skorpion auf“ und ist als
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Wega identifiziert worden.35 Sofern man dieser Gleichsetzung Vertrauen schenken kann, scheint sie die Situation zu beschreiben, wie man sie von jenseits des Himmels aus sieht: der Wechsel vom Schützen zum Skorpion, wobei die Wega den nördlichen Teil der „Funktion” der Galaxis übernimmt. Dafür, daß Tiamat die Milchstraße sei, spricht einiges.36 Und das gleiche könnte für die ägyptische Nūt gelten; aber hier weist die Geschichte andere Termini auf: Mutter Nūt wird in eine Kuh verwandelt und damit beauftragt, „Rā zu tragen”. (Es handelt sich übrigens um einen „neuen” Rā; der ältere Rā hatte recht deutlich zu verstehen gegeben, daß er ein für allemal zurücktreten und irgendwohin gehen wollte, „wo [ihn] niemand erreichen konnte”; siehe Appendix 27.) Zweifel sind indessen nicht nur erlaubt, sondern angebracht. Sowohl zahlreichen bildlichen Darstellungen als auch spätägyptischen Texten nach zu schließen, steht Nūt für die Ekliptik.37 Hier bleibt noch viel zu klären.
35 P.F. Gössmann, Planetarium (1950). 145; B.L. van der Waerden, JNES 8, 20. 36 Der arabische Name für die Milchstraße lautet „Mutter des Himmels” (um as-sama), und in Nordäthiopien wird sie „Em-hola” genannt, das heißt: „Mutter der Krümmung”. Siehe Enno Littmann, „Sternensagen und Astrologisches aus Nordabessinien”, ARW 11 (1908), 307; L. Ideler, op.cit. 78. 37 Vgl. Hans Ostenfeldt Lange und Otto Neugebauer, Papyrus Carlsberg (1940), 28f, 66. 35
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Kapitel 20
20 Die Tiefe des Meeres Bist du zu den Quellen des Meeres gekommen, und auf dem Grund der Tiefe gewandelt? HIOB
Es wird nunmehr weiterhelfen, einen schnellen vergleichenden Blick auf die unterschiedlichen „Dialekte” der mythischen Sprache zu werfen, wie sie in Griechenland und Indien für „Phaethon” verwendet werden. Die Pythagoreer lassen Phaethon in den Eridanus stürzen, wodurch ein Teil des Wassers verdampft, und die Argonauten finden seine noch glühenden Reste. Ovid stellt fest, daß der Nil seit diesem Sturz seine Quellen verbirgt. Im Rigveda 9.73.3 heißt es, der Große Varuna habe den Ozean versteckt. In seinem eigenen Stil berichtet das Mahābhārata, warum der „himmlische Ganga” auf die Erde geholt werden mußte.1 Am Ende des Goldenen Zeitalters (Krita-Yuga) versteckte sich eine Gruppe von Asuras, die gegen die „Götter” (die Deva) gekämpft hatte, im Ozean, wo die Götter sie nicht erwischen konnten. Von dort aus planten diese Asuras, die Macht zu übernehmen. Also baten die Götter Agastya (Canopus, alpha Carinae = Eridu) inständig um Hilfe. Der große Rishi erhörte ihr Flehen, trank das Wasser des Ozeans aus und legte somit die Feinde bloß, die dann von den Göttern erschlagen wurden. Aber jetzt gab es keinen Ozean mehr! Von den Göttern angefleht, das Mbh. 3.104-105 (Roy-Übersetzung, 2; Teil 2. 230f); siehe auch Hermann Jacobi, ERE, I. 181A; Sören Sörensen, An Index to the Names of the Mahāhhārata (1963), 18A.
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Meer wieder aufzufüllen, entgegnete der Rishi: „Dieses Wasser ist fürwahr von mir verdaut worden. Folglich müßt ihr euch ein anderes Hilfsmittel ausdenken, wenn ihr danach trachtet, den Ozean wieder aufzufüllen.” Es war dieser traurige Stand der Dinge, der es erforderlich machte, die Galaxis „nach unten“ zu holen. Das ruft die Erinnerung an jenes Detail in der jüdischen Überlieferung über Eben Schetija wach, in welchem das Wasser so tief sank, daß David die „fünfzehn Lieder des Aufsteigens” rezitieren mußte, damit es wieder anstieg. Nun hatte Agastya, der große Rishi, einen „gemeinen“ Ursprung, ähnlich dem des Erichthonios (Auriga), der von Gaia, der „Erde”, geboren worden war – und zwar aus dem Samen des Hephaistos, der ihn hatte fallen lassen, während er Athene anschaute.2 Im Falle des Rishi heißt es: Er stammte vom Samen des Mitra und des Varuna ab, den sie in ei- 241 nen Wasserkrug tropfen ließen, als sie die himmlische Urvashi erblickten. Wegen dieser doppelten Vaterschaft wird er Maitrāvaruni genannt, und weil er von einem Wasserkrug geboren wurde, erhielt er den Namen Khumbasambhava.”3 Außer in Griechenland und Indien taucht das Motiv von dem herab getropften Samen auch in kaukasischen Mythen auf, insbesondere in jenen, die sieh mit dem Helden Soszryko beschäftigen. Die „Erde” wird durch einen Stein ersetzt, Hephaistos durch einen Hirten und Athene durch die „schöne Satana”, die sorgfältig über den schwangeren Stein wacht und, als die Zeit gekommen ist, den Schmied herbeiruft, der dem „sterngeborenen“ Helden als Hebamme dient. Soszrykos Körper besteht von Kopf bis Fuß aus blauschimmerndem Stahl — mit Ausnahme der Knie (oder der Hüften), die von den Zangen des Schmieds verletzt wurden. Dieser Soszryko verführt einen feindlichen Riesen, die Tiefe des Meeres zu messen, und zwar auf dieselbe Art und Weise, wie Michael beziehungsweise Elias den Teufel zum Tauchen bringt und in der Zwischenzeit das Meer zufrieren läßt. 3 RV 7.33.13-14; Brihad-Devata 5.152ff; S. Sörensen, 18B. Wir sollten erwähnen, daß der ägyptische Canopus selbst ein Krug-Gott ist; tatsächlich wird er von einer griechischen hydria repräsentiert (siehe RE 2
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Zu genau derselben Zeit und bei genau derselben Gelegenheit wurde auch der Rishi Vasishtha als Sohn von Mitra und Varuna „geboren” – nur daß der Samen auf den Boden und nicht in ein Gefäß fiel. Zweifellos ist dies zeta Ursae maioris; und die Verbindung von Canopus mit Zeta – häufiger mit Alkor, dem Zwergstern nahe Zeta (der Däumling, in Babylon der ,,Fuchs”Stern) – ist ein recht konstantes Merkmal, auf Arabisch Suhayl und as-Suha. Es handelt sich hier um die „Geburt” der eigentlichen Repräsentanten der beiden Pole, den Söhnen von Mitra und Varuna, wie auch ihrer Nachfolger. Den langen und mühsamen Weg zu verfolgen, der vom rigvedischen Mitrāvaruna (Dualis) zu den letzten Tagen des Römischen Imperiums führt – wo wir noch die Glosse mit dem Inhalt „mithra funis, quo navis media vincitur” finden können: „Mitra ist das Seil, das die Mitte des Schiffs zusammenhält” –, würde den Rahmen dieses Essays bei weitem überschreiten. Robert Eisler4 vertraute seinem unermeßlichen Material und brachte diese „Seil”-Fessel Mitra geradewegs mit dem „Schiffsgurt” aus dem zehnten Buch von Platons Staat in Verbindung. Von dem unzertrennlichen Dualis Mitrāvaruna ist Varuna von noch größerer Relevanz, insbesondere weil er es ist, der „die erste Schöpfung ausgemessen hat” (RV 8.41.10), er, der den Ozean versteckte – Ovid drückte es so aus, daß die Quellen des Nils verborgen wurden –, und er, der selbst „der verborgene Ozean” genannt wird (RV 8.41.8). Varuna sagt über sich selbst: „Ich befestigte den Himmel am Sitz des Rita” (RV 4.42,2). Und an diesem „Sitz des Rita” treffen wir Svarnara an, von dem gesagt wird, es sei „der Name der Himmelsquelle … welche Soma als seine Wohnung auserwählte“.5 Dabei handelt es sich um kein s.v. Kanopos). In Indien und Indonesien ist Khumba der Name für den Wassermann, was angeblich auf einen späten griechischen Einfluß zurückzuführen ist. 4 R. Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt (1910), 175f. 5 Siehe H. Lüders, Varuna II: Varua und das Rita (1959), 396-401 (RV
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anderes „Ding” als um das Hvarna (auf Babylonisch melammu), 242 das der „böse Onkel” Afrasiab zu stehlen versuchte, indem er auf den Grund des Sees Vurukascha tauchte, obwohl das Hvarna Kai Chosrau gehörte (siehe oben, Seite 36). Aber in welchem Dialekt auch immer: Der gefallene Herrscher des Goldenen Zeitalters hat seinen Sitz im tiefsten Süden, und zwar im Canopus – ob dieser nun den Südpol oder, was wahrscheinlicher ist, den Südpol der Ekliptik vertritt –, der das Steuerruder der Argo markiert; Canopus am „Zusammenfluß der Ströme“. Das trifft zu, ob nun Varuna den Himmel am Sitz des Rita (und seinem eigenen) festband, ob Enki/Ea/Enmescharra in Eridu alle Normen und Maße (sumerisch me, akkadisch parsu, Sanskrit rita) in Händen hielt –Thorkild Jacobsen nannte ihn sehr passend den „Lord modus operandi” – oder ob Kronos/Saturn weiterhin „alle Maße der gesamten Schöpfung“ an Zeus weitergab, während er selbst in Ur-Ogygia schlief. Es besteht zudem wenig Zweifel – in der Tat gar keiner –, daß Phaethon als Saturn verstanden wurde. Gemäß den Katasterismen des Eratosthenes wurde der Planet Saturn mit Phaethon gleichgesetzt,6 der aus dem Wagen in den Eridanus stürzte; und 4.21.3; 8,6.39; 8.65,2f; 9.70.6). Soma wird als „Herr der Pole” angeredet, und Agni wird dreimal mit dem Epitheton svarnaram versehen (RV 2.2.1; 6.15.4; 8.19.1; vgl. H, Lüders, 400). RV 5.16.6 stellt fest: „Agni, wie die Felge die Radspeichen, so umgibst du all die Götter.” Außerdem ergänzen Soma und Agni einander, wie sieh gelegentlich herausstellten wird – allerdings nicht in diesem Essay: Die Verhältnisse Mitra : Varuna, Agni : Soma, Ambrosia : Nektar sind nicht so einfach berechnet, wie das Wunschdenken es gerne hätte. 6 Erat. Katast. Nr. 43; K. Robert (1963), 194f. Zum Beispiel beschäftigt sich Hyginius II 42 mit den Planeten, beginnend mit Jupiter: „Secunda Stella dicitur Solis, quam alii Saturni dixerunt; hane Eratosthenes a Solis filio Phaethonta adpellatam dicit, de quo complures dixerunt, ut patris inscienter curru vectus incenderit terras; quo facto ab Iove fulmine percussus in Eridanum deciderit et al Sole inter sidera sit perlatus.”
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Stephanus von Byzanz7 nennt Phaethon einen Titanen. Es gibt überdies den orphischen Wortlaut dieses Falls: „Nachdem Kronos Ouranos entmannt hatte, warf Zeus seinen Vater [= Kronos, H.v.D.] vom Wagen und ,intartarosierte’ ihn”, wenn wir das Verb wörtlich übersetzen.8 Essentielle Schlüsselwörter werden leicht als Bagatellen mißverstanden, wie in diesem Fall der „Wagen”, von dem Kronos/Phaethon in den „Tartaros” geworfen wurde. Das fragliche Vehikel ist ein zweirädriger Rennwagen, auf Griechisch harma, auf Latein currus und auf Babylonisch narkabtu. In Babylon ist es der Wagen des Auriga, der in der „Sphaera barbarica” der Astrologen überlebte,9 wohingegen in unserer Sphäre, will sagen, auf unseren Sternkarten und Himmelsgloben, der Fuhrmann jeglichen Gefährts beraubt ist. Und tatsächlich wird Erichthonios (neben Hēniochos der griechische Name von Auriga) nachgesagt, er habe den von vier Pferden gezogenen, zweirädrigen Rennwagen erfunden.10 Dieser Wagen muß sorgfältig von dem sogar noch wichtigeren vierrädrigen Gefährt, dem Großen Wagen, unterschieden werden: auf Griechisch hamaxa, auf Latein plaustrum und auf Sumerisch mulMAR.GID.DA. Leicht verwirrende Überlieferungen sind in Keilschrift-Texten übermittelt worden, aber auch sie spielen eindeutig auf dasselbe „Ereignis” an. Zum Beispiel: „Der elamitische Wagen, ohne Stuhl, den Leichnam des Enmescharra trägt er darauf. Die Pferde, die daran angespannt sind, sind der Totendämon des Zu. Der König, der in dem Wagen steht, ist der Heldenkönig der Herr Ninurta.” Wenn wir die letzten beiden Sätze beiseite lassen – die S.v. Eretria (Eretrios, „Sohn des Phaethon, und dieser war einer der Titanen”). Siehe Maximilian Mayer, Giganten und Titanen (1887), 70, 124. 8 Hieronymi et Hellanici theogonia (Athenagoras), siehe Kern Fragment 58, 138; vgl. auch R. Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt (1910), 338. 9 Vgl. F. Boll, Sphaera, 108ff (Teukros und Valens). 10 Erat. Katast. Nr. 13; K. Robert (1963), 98-101. 7
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in Wirklichkeit nicht so pechschwarz sind, wie sie auf den ersten Blick anmuten –, dann läßt der Übersetzer Erich Ebeling11 keinen Zweifel daran, daß der „elamitische Wagen” mit der Konstellation „Wagen des Enmescharra” gleichzusetzen sei, den die Autoritäten in babylonischer Astronomie mit beta und zeta Tauri identifiziert haben.12 Nun hat dieser Enmescharra einen „vielsagenden” Namen: En.ME.SARRA heißt „Herr aller me”, was bedeutet, daß er der Herr der ,,Normen und Maße” ist, auch „Herr der Ordnung der Welt”, „Herr des Universums = Ea” genannt und, das ist wichtig: „der Gewichtige in der Unterwelt”.13 Die „Unterwelt” ist allerdings irreführend; das entsprechende Wort ist Arallu. Im allgemeinen ziehen es die Experten – und nicht nur die Assyriologen – vor, von Namen (also Plural) zu reden, die der einen „Unterwelt” gegeben werden, anstatt zu versuchen, den präzisen Standort der verschiedenen Provinzen dieses riesigen Reichs herauszufinden und festzulegen, welcher Name genau zu welchem Bereich passen könnte. Als ob man über die Pluralität von „Höllen” und „Himmeln” nicht Bescheid wüßte! Allerdings ist es hier nicht erforderlich, Ordnung in die Quartiere des mesopotamischen Hades zu bringen; im Moment reicht es aus zu wissen, daß der Herr der Weltordnung, Enmescharra, gleich Enki/Ea ist, zumal es ohnehin bekannt ist, daß er „am Sitz des Rita” zu Hause ist: Eridu/Canopus. Und da „Enmescharras Wagen” das Fahrzeug von Auriga ist, beta zeta Tauri, gibt es kaum einen Zweifel daran, daß die Überlieferung von Phaethons Sturz bereits in Sumer vorhanden war (Appendix 28). E. Ebeling, Tod und Liben nach den Vorstellungen der Babylonier (1931). 29, 33f. 12 P.F. Gössmann, 89; J. Schaumberger, 3 Erg., 327; E.F. Weidner, in RLA 3, 77. 13 Dietz Otto Edzard, „Die Mythologie der Sumerer und Akkader”. Wb. Myth., I, 62: Paul Michatz, Die Götterliste der Serie Anu ilu A-nu-um (Phil. Diss., 1909). 12; Knut Tallqvist, Sumerische Namen der Totenwelt (1934), 6, Anm. 2, sowie Akkadische Götterepitheta (1938), 304, 437. 11
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Und wie in Griechenland, wo die drastische Version der Orphiker, Hesiods und anderer Seite an Seite mit jenen Plutarchs und Proklos’ gefunden werden – nach denen Kronos mit väterlicher Güte seinem Sohn Zeus „all die Maße der gesamten Schöpfung*' gibt14 –, so haben wir auch in Mesopotamien grausam klingende Variationen neben „vernünftigen”. Als zum Beispiel Marduk seine „Welt” erbaut und fünfzig neue Namen erhält, gibt ihm sein Vater Ea seinen eigenen Namen, indem er sagt (EE 7.141f): „Er, dessen Namen seine Väter herrlich gemacht haben. Er, wie ich, heiße Ea! Die Gesamtheit meines Kultus insgesamt beherrsche er. Alle meine Orakelweisungen gebe er.”15 Und bezüglich Ea unter dem Namen Enmescharra konstatiert Edzard: „Eine Beschwörung aus neuassyrischen Zeiten … spielt mit dem Epithet Enmešarras ,der An und Enlil Szepter und Herrschaft übergeben hat’ möglicherweise auf einen freiwilligen Rücktritt des Gottes vor seinen Nachfolgern an.”16 Eine der Fragen, die nach einer Antwort verlangen, lautet: Welche Maße sind gemeint, und wie erfüllt Saturn seine Aufgabe, sie „kontinuierlich” an Jupiter „weiterzugeben”? Und selbst wenn Canopus als sein „Sitz” akzeptiert wird, wie kann er von dort aus die Maße geben? Ohne vorgeben zu wollen, wir hätten das Schema schon wirklich verstanden, kommen hier einige Erklärungen, die die plausibelsten zu sein scheinen. Weiteroben (Seile 123) wurde auf die Bedeutung des Umlaufs jenes aus „Großen Konjunktionen” von Saturn und Jupiter gebildeten Trigons aufmerksam gemacht, die Kepler noch verstanden hat (siehe Abbildung 28). Nun wird jeder, der sich die Schwierigkeiten der ältesten „Mythographen” vorzustellen versucht, realisieren, wie willkommen ihnen Perioden gewesen sein müsSiehe auch Lukian (Sat. 6), der Kronos sagen lässt: „Nein, es gab keinen Kampf, noch regiert Zeus sein Imperium durch Gewalt; ich übergab es ihm und dankte recht freiwillig ab.” 15 E. Ebeling, AOTAT, 128. 16 D.O. Edzard, op.cit., 62. 14
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sen, die wenigstens annähernd ineinander aufgingen – insonderheit, wenn sie mit sehr großen Perioden zu tun hatten, wie eben der Präzession mit ihrem kaum wahrnehmbaren Tempo. Übertragen wir das auf das vertraute „Schrumpfmodell” unserer Uhren: Der langsame Stundenzeiger gibt die Zeit nur „verschwommen” an, der Minutenzeiger unterrichtet uns schon präziser; aber die nächste Stunde bricht erst an, wenn der Sekundenzeiger vorgerückt ist. Der Umlauf eines Trigonwinkels erfüllte in etwa die Aufgabe des Minutenzeigers der Präzessionsuhr. Um den gesamten Zodiak zu durchwandern, benötigt ein Winkel ungefähr 3 x 794 1/3 = 2.383 Jahre. Das kommt einer Doppelstunde des „Tages” der Präzession von 25.900 Jahren einigermaßen nahe (Appendix 29). Ein neues Tierkreiszeichen galt erst dann als „angebrochen” – der Frühlingspunkt war natürlich bereits an der Grenze –, wenn eine Große Konjunktion im neuen Tierkreiszeichen stattgefunden hatte. Der Marginalpunkt in der griechischen Zeitrechnung war das Datum der ersten Olympischen Spiele: Sie waren zur Erinnerung an das Ringen von Kronos und Zeus gegründet worden, sagt Pausanias (V.7.10). Die himmlische Situation in den unterschiedlichen überlieferten Daten für die ersten Olympischen Spiele rechtfertigen diese Behauptung jedoch nicht. Mit anderen Worten: Es ist noch nicht bekannt, welche spezielle Große Konjunktion es war, zu deren Gedenken die Spiele eingeführt worden sein sollen. Unsere eigene Ära, das Zeitalter der Fische, wurde eingeläutet durch eine (dreimalige) Große Konjunktion bei zeta Piscium im Jahr 6 v. Chr. Mit Hilfe dieses Trigons gibt Saturn seinem „Sohn” Zeus kontinuierlich panta ta metra; und es ist dasselbe Trigon, welches in 245 dem bereits zitierten Orphischen Fragment (155 Kern) „Gattung” genannt wird, als sich Zeus mit den Worten an Kronos wendet: „Setze in Bewegung unsere Gattung, vorzüglicher Dämon.” Und darauf spielt auch Proklos in seiner Feststellung an: „Und Kronos scheint die höchsten Ursachen für Verbindungen und Trennungen mit sich zu tragen (synagôgôn kaì diairéseôn).” Und
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noch für Macrobius war er der „Verursacher” der Zeit.17 Soviel zu Saturn, diesem unveränderlichen Planeten, der seine Bahn entlanggleitet. Saturn als gestürzter Herrscher des Goldenen Zeitalters., der sich nach Eridu zurückgezogen hat, ist eine weitaus härtere Nuß. Diverse Hinweise lassen den Schluß zu, daß Canopus für statisch, für von der Präzession nicht betroffen gehalten wurde.18 Und dies würde bedeuten – zumindest könnte Macrobius, Saturnalien 1.22.P: „Saturnus ipse qui auctor est temporum.” Siehe Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Saturn and Melancholy (1964), 154f. Vgl. Seite 333f mit Zitaten aus der lateinischen Übersetzung des Abu Ma’shar, wo Saturn „significat … quantitates sive mensuras rerum” und wo „eius est … rerum dimensio et pondus”. 18 Wir haben hier weder die Zeit noch den Raum, uns ausgiebig mit der relevanten und umfangreichen Information über den „erfreulichen” Südpol zu beschäftigen [siehe L. Ideler, Sternnamen (1809), 265f], dem „Kotb Suhayl“ der Araber, so genannt nach Canopus, der bei Fezzan als „l’étoile primordiale Sahel, identifié au premier ciel contenant les constellations à venir” [Viviana Pâques, L’arbre cosmique (1964), 36] erkannt wurde – als der uranfängliche Stern, „vorgestellt in Gestalt eines Eies, das all jene Dinge enthielt, welche geboren werden sollten” (Pâques. 47). Um die Diskussion über den statischen Südpol zu eröffnen, kann man sehr gut mit den „Sieben Schläfern von Ephesus” beginnen, von denen man annahm, sie befänden sich an Bord der Argo – auch wenn dies explizit nur in sehr später türkischer Überlieferung (16. Jahrhundert) gesagt wird –, insbesondere aufgrund von Louis Massignons Artikel „Notes sur les Nuages de Magellan et leur utilisation par les pilotes arabes dans l’Océan Indien: sous le signe des VII Dormants” [Revue des Études Islamiques (1961), 1-18 = Teil VII von Massignons Artikelserie über die Sieben Schläfer in islamischer und christlicher Tradition; Teil I erschien 1955 in derselben Revue, Teil VIII im Jahre 1963] sowie aufgrund der sehr substantiellen Rezension von Théodore Monod „Le ciel austral et l’orientation (autour d’un article de Louis Massignon)” [Bulletin de l’Institut Français d’Afrique Noire (1963), 25. Ser. B. 415—426]. In beiden Artikeln findet man außer der überraschenden Vorstellung vom fröhlichen Süden bemerkenswerte 17
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es das bedeuten, denn es fügt sich so gut in jene Überlegungen über „Zeit und die Flüsse” –, daß abgelaufene Perioden „nach Hause“ in die Zeitlosigkeit zurückkehren, daß sie in die Ewigkeit zurückfließen, aus der sie gekommen sind. Noch nie hatte irgendein Aspekt der Zeit als „Abbild der Ewigkeit” Zugang zum Zusammenfluß der Ströme, der Mündung und Quelle von ÄoInformationen über Migrationen, die in verschiedenen Kontinenten Menschen Richtung Süden unternahmen. Massignon leitete die „glückliche” Bedeutung des Kotb Suhayl und der Magellanschen Wolken von historischen Ereignissen ab, zum Beispiel von den Erwartungen ausgewanderter und verarmter Völker, die vor den andauernden Kriegen und Überfällen in den nördlichen Ländern flohen: „Nomades ou marins, ces primitifs expatriés n’eurent pour guides, dans leur migrations et leur regards désespérés, que les ’étoiles nouvelles du ciel austral” (1961, 12). Monod (422) machte jedoch auf das entscheidende Schlüsselwort aufmerksam, das Ragnar Numelin [Les Migrations Humaines (1939), 270. Fußnote] in seiner Bemerkung geliefert hatte: „Il est possible que beaucoup de ces mystérieuses pérégrinations se proposaient comme but de trouver ‚l’étoile immobile’ dont parle la tradition. Le culte de l’Étoile Polaire peut avoit provoqué de tels voyages.” Doch mit dem zweiten Satz vernichtete er den Schatz, den er kurz zuvor ausfindig gemacht hatte. Aber auch Massignon und Monod verpaßten den springenden Punkt, nämlich daß der Südpol der Ekliptik von der Großen Wolke markiert wird und daß sich Canopus ziemlich nahe bei diesem ekliptischen Südpol befindet, wohingegen das unbewegliche Zentrum im Norden des Universums von keinem einzigen Stern kenntlich gemacht wird, wie bereits gesagt worden ist. Spaßeshalber zitieren wir hier eine Fußnote von Monod (421); „Quand Voltaire nous dit que Zadig ,dirigeait sa route sur les étoiles’ et que ‚la constellation d’Orion, el le brillant astre de Sirius le guidaient vers le pôle de Canope’, nous retrouvons dans cette dernière expression un témoignage du rôle joué par Canopus dans l’orientation astronomique. Il n’y a pas lieu, bien entendu, de vouloir la corriger en ,port de Canope’: cf. Voltaire, Romans et contes, éd. Garnier 1960, note 49, p. 621.” Wo können wir uns nur vor den „Verbesserungen” der Philologen in Sicherheit bringen?
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nen und Aren, dem wahren Sitz der Unsterblichkeit. Denn Ewigkeit schließt Bewegung aus. Doch muß sich der Weltherrscher aus diesem begehrten, bewegungslosen Heim, der Quelle und der Mündung der Zeiten, die normierten Maße verschaffen, die für sein Zeitalter gültig sind. Wie schon gesagt wurde, basierten diese Maße immer auf dem Zeitmaß. Und dabei spielt es wiederum keine Rolle, ob es Marduk war, der als erster die Himmel durchquerte und die Regionen vermaß: „Er ging über den Himmel, besah die Stätten. Er stellte ein Gegenstück dem Apsû gegenüber, der Wohnung Nudimuds [= Enki/Ea. H.v.D.]. Es maß der Herr des Apsû Gestalt, Einen Palast, so wie diesen, errichtete er, Esarra. Den Palast Esarra, den er gebaut hatte als Himmel, Ließ er von Anu, Enlil und Ea als ihre Städt(e) bewohnen.”19 Es mag auch Sun, der chinesische Affe gewesen sein, der vom „Nabel der Tiefe” seine unwiderstehliche Waffe holte – eine enorme Eisensäule, mit deren Hilfe einst Yü der Große die tiefste Tiefe des Meeres ausgelotet hatte. Ob die Schilderung nun sublim oder auf bezaubernde Weise ungereimt ist: In jedem Fall ist es die im wahrsten Sinne des Wortes „fundamentale” Aufgabe des Herrschers, zu jenem Topos zu „tauchen”, wo die Zeit beginnt und endet, um einen neuen „ersten Tag” zu ergreifen: Um über den Raum herrschen zu können, sagen die Chinesen, muß man Meister der Zeit sein (vergleiche Abbildung 29). Beim Leser mag inzwischen der Verdacht aufgekommen sein, Hamlet sei für immer in Vergessenheit geraten. Der Weg ist lang und gewunden gewesen, aber die Verbindung ist noch vorhanden. Selbst in einer so späten und beschädigten Überlieferung EE IV, 141 ff; E, Ebeling, AOTAT, 120. E.A. Speisers Übersetzung (ANET 67) ist der Ebelings vorzuziehen: „He crossed the heavens and surveyed the regions. He squared Apsu’s quarter, the abode of Nudimud. As the lord measured the dimensions of Apsu. The Great Abode, its likeness, he fixed as Esharra. The Great Abode, Esharra, which he made as the firmament. Anu, Enlil, and Ea he made occupy their places.”
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wie der des Saxo Grammaticus, ergab vor Urzeiten jedes Motiv einen Sinn. Wenn es schon schwierig ist, die zentrale Bedeutung des „Ruders” von Odysseus zu erkennen,20 um wieviel schwieriger muß es dann sein, das „Steuerruder der Argo” = Canopus/ 247 Eridu in dem kindischen Rätsel des Amlethus zu entdecken? Und doch ist das „Messen der Tiefe des Meeres” immer gegenwärtig. Der Knabe Kullervo traute sich, es mit einer Kupferangel samt seidener Angelschnur zu tun, und kam zu dem erstaunlichen Ergebnis von „zwei Kellen und ein bißchen mehr”. Es gibt sogar ein noch weniger geeignetes Meßgerät, wie wir von Jacob Grimm erfahren: Das mittelalterliche flämische „Gedicht von Brandaen, keine andere Bearbeitung, enthält einen sehr merkwürdigen Zug. Brandaen begegnete in der See einem daumlangen Mann, der auf einem Blatt schwamm, mit der rechten ein Näpfchen, mit der linken Hand einen Griffel haltend: den Griffel steckte er in die See und ließ davon Wasser in den Napf triefen, war der Napf voll, so goß er ihn aus und füllte dann von neuem; ihm sei auferlegt, die See zu messen bis an den Jüngsten Tag.“21 Früher oder später wird ein weiteres Objekt in die Gesellschall kaiserlicher Meß-Ruder beziehungsweise gubernacula aufgenommen werden müssen: das rätselhafte ägyptische hpt, das sogenannte „Schiffsgerät”, das der Pharao während der Zeremonie des „RuderRennens14 einer Gottheit im Laufschritt überbrachte. Es gab auch ein „Krug-Rennen” und ein „Vogel-Rennen'*, bei dem der Pharao einen Wasserkrug respektive einen Vogel trug. In verschiedenen PyramidenTexten nimmt die Seele des toten Herrschers dieses Schiffsgerät und bringt es in einen anderen Himmelsbezirk, während das eigentliche Rudern des Schiffes von den Sternen übernommen wird (Pyr. 2173A. D; siehe auch 2S4A, S73D, U46B). Siehe Acg. Wb., 3, 67-71; Allen Gardiner, Egyptian Grammar (1957), 581; Margarete Riemschneider, Augengott und Heilige Hochzeit (1953). 255f. Für die verschiedenen kaiserlichen Rennen siehe die (nicht zufriedenstellende) Untersuchung von Hermann Kees, Der Opfertanz des Ägyptischen Königs (1912), 74-90. das „Ruder-Rennen“. 21 J. Grimm, Deutsche Mythologie (1953), 373. In der englischen Über20
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In diesem Fall scheint das spezielle „Instrument” den verantwortlichen Vermesser zu verraten. Merkur war der Himmels Schreiber sowie Hüter der Akten und Berichte. Und laut Platon hat er „zuerst Zahl und Rechnung erfunden, und Meßkunst und Sternkunde, dann Brettspiel und Würfelspiel und schließlich auch die Buchstaben.“22 Hs wird sich noch herausstellen, ob all die messenden Planeten an ihren speziellen Meßmethoden erkennbar sind oder nicht. Saturns und Jupiters Methoden sind bekannt: Jupiter „wirft” und Saturn „fällt“. Aber wie schon früher gesagt wurde, ist es nur schwer vorstellbar, wie Saturn die Maße gibt, während er auf Canopus residiert. Kann es sein, daß nicht alle verfügbaren Schlüssel zu dieser Tür ausprobiert worden sind? Während man so vielen Charakteren zuschaut, wie sie mit dem Messen der Meerestiefe beschäftigt sind, stolpert man über den seltsamen Namen, den die Araber Canopus gegeben haben: Sie nennen ihn „das Gewicht”, und die Tafeln des Alphonsus von Kastilien schreiben ihn „Suhel ponderosus”, den schwergewichtigen Canopus.“23 Dieses „Gewicht” ist das Lot am Ende der Senkschnur, mit deren Hilfe diese Tiefe gemessen wurde. So weit, so gut. Aber was hat Saturn damit zu tun? Er kann als die „lebende“ Senkschnur aufgefaßt werden. Das wäre kaum glaubhaft, wenn die Geschichte dieses Vermessens nicht von der Senkschnur setzung (TM, 451) heißt es „pointer” anstatt, wie bei Grimm, „Griffel“, Vgl. Karl Simrock, Handbuch der Deutschen Mythologie (1869), 125, 415. 22 Platon. Phaidros 274, in der deutschen Übertragung von K. Hildebrandt (1957; 1979), 86. 23 „Suhail al wazn.” Das Epitheton „wazn” ist auch anderen Steinen des südlichen Himmels verliehen worden. Für eine ausführliche Diskussion dieses Namens siehe L. Ideler, Sternnamen (1898). 249-252, 263; R.H. Allen, Star Names (1963), 68f; J. Norman Lockyer, The Dawn of Astronomy (1964), 294; William T. Olcott, Star Lore of All Ages (1911). 133.
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höchst persönlich erzählt würde: Phaethon. Als er sie erzählte, führte er allerdings einen anderen Namen, wie das in himmlischen Kreisen der Brauch war: Hephaistos.24 Im ersten Buch der Ilias versucht Hephaistos, seine Mutter Hera zu besänftigen, die sehr böse auf ihren Ehemann Zeus ist. Er sagt zu ihr; „… denn dem Olympier entgegenzutreten ist schwierig. Denn schon ein anderes Mal, als ich ihm zu wehren versuchte, warf er, am Fuß mich gepackt, mich herab von der göttlichen Schwelle, und ich stürzte den ganzen Tag; mit der sinkenden Sonne fiel ich in Lemnos herab; noch wenig Leben war in mir.”25
Hephaistos erwähnt dieses Ereignis noch einmal, nämlich als Thetis ihn bittet, den Schild für ihren Sohn Achilles zu schmieden (18.395ff): „Wirklich, da ist die verehrte und würdige Göttin im Hause, die mich errettete, als ich litt bei dem Sturz in die Tiefe nach meiner Mutter Willen, der hündischen,26 die mich verstecken wollte, den Um Mißverständnisse zu vermeiden: Wir möchten nicht auf der strikten Identität des Phaethonsturzes mit dem im ersten Gesang der Ilias beschriebenen Fall des Hephaistos bestehen. Wir vermuten, daß das Sprachbild „Jupiter-schleudert-Saturn-herab” die Bildung des Konjunktionstrigons umschreiben soll; allerdings nicht die irgendeines Trigons, sondern die des neuen Trigons, dessen erster Winkel durch eine Konjunktion der Großen Zwei zu Beginn des neuen Weltalters errichtet wurde. Andererseits könnte sich hinter dieser bildhaften Formel auch der Positionswechsel des Trigons von Konjunktionen von einer Triplizität in die nächste verbergen (vgl. Appendix 29); diese höchst formalen Probleme konnten noch nicht geklärt werden. 25 Homer, llias 1.589ff, übersetzt von R. Hampe (1979), 20. (háma d’êelíô katadýnti/káppesson en Lêmnô) 26 Homer sagt nicht „hündisch”, sondern kynopis = hundsäugig. Weitaus häufiger wird Hera allerdings „kuhäugig” (boopis) geheißen. In diesem Fall könnte sich Hera, wer immer sie sei, in der Nähe von Siri24
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Lahmen. Da hätte ich Qualen erlebt im Gemüte, hätte Eurynome nicht, des erdumkreisenden Stromes, des Okeanos, Tochter, und Thetis im Bausch mich geborgen. Neun Jahre blieb ich bei ihnen und bildete vielerlei Zierat …“27
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Wieder ein verknechteter Schmied, wie Kullervo. Krates von Pergamon28 erklärt diese Besonderheit in dem Sinne, daß Zeus die Messung der ganzen Welt anstrebte (anametrēsin tou pantos). Es gelang ihm, die Maße des Kosmos durch „zwei Fackeln, die sich mit derselben Geschwindigkeit bewegen”, festzulegen: Hephaistos und die Sonne. Den erstgenannten schleuderte Zeus just in dem Moment von der „göttlichen Schwelle” auf die Erde herab, als letztere sich vom östlichen Punkt auf ihren Weg gen Westen machte. Beide erreichten ihr Ziel zur selben Zeit: Die Sonne ging unter als Hephaistos auf Lemnos aufschlug. Krates war überzeugt, daß Homer von einer Sphäre sprach; und da er selbst an dem Koordinatensystem der Sphäre höchst interessiert war, war es für ihn keine Frage, den Schild des Agamemnon (llias 11.32f) und des Achilles (18.468ff) in seinem eigenen Sinn zu interpretieren.29 Außerdem betrachtete er Odysseus’ Schiffsreise von Kirkes Insel zum Hades als eine Reise vom Wendekreis des Steinbocks zum Südpol, wie wir von Strabon erfahren.30 Diese Idee ist nicht so merkwürdig wie es scheint. us aufgehalten haben. 27 Homer, Ilias 18.395ff, Hampe-Übersetzung, op.cit., 389. 28 Wir verdanken Hans Joachim Mette und seiner Arbeit Sphairopoiia, Untersuchungen zur Kosmologie des Krates von Pergamon (1936) die Sammlung und Kommentierung aller relevanten Zeugnisse und Fragmente. 29 Siehe H.J. Mette, Sphairopoiia (1936). 30-42, sowie seine Einleitung. 30 Strabon 1.1.7: Odysseus benutzt einen „Meeresarm und eine Ausbuchtung des Okeanos, die vom Winterwendekreis zum Südpol reicht (anáchysín tina kaì kólpon epì tòn nótion pólon apò tou cheimerinou tropikou diêkonta).” Vgl. Mette, op.cit., 75f. 250. (Siehe auch 88f für
Die Tiefe des Meeres
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Zeus, der den Aquinoktialkolur etablierte, indem er den fiktiven „Phaethon” herabschleuderte, führte einen neuen Skambha ein – man erinnere in diesem Zusammenhang Platon: „Das hört sich zwar wie ein Märchen an …“31 Aber es gibt auch Cornfords Vorstellung über die Vision des Er,32 nach der Platons „Seelen in ihrer Vision eigentlich nicht das Universum an sich sehen, sondern ein Modell, ein primitives Planetarium, das der Form nach einer Spindel ähnelt … ” Es ist traurig und mit Sicherheit sonderbar, zu beobachten, wie wenig Gelehrte ihren eigenen Augen und Worten trauen – den Eingang zum Tartaros am Südpol, eventuell auch an beiden Polen. Daß die Inder den Eingang zum Totenreich am Südpol lokalisieren, wurde bereits erwähnt.) 31 Wir können hier nicht die homerische Fassung des Topos diskutieren, von dem aus Zeus Hephaistos herabwarf; „göttliche Schwelle” ist jedoch nichtssagend (apo bēlou thespesioio). In der Antike gab es Gelehrte, die behaupteten, Krates verbinde dieses „bēlos” mit dem chaldäischen „Bel“/Baal = Marduk. Wir belassen es bei Aurigas Wagen, auf Babylonisch narkabtu, und zwar um so mehr, als auch Marduk ihn benutzte, als er Tiamat angriff. Die „babylonische Genesis” berichtet nicht, daß Marduk Menschen durch die Gegend schleuderte. Aber es gibt einen Keilschrift-Text (VAT 9947). der von Ebcling [Tod und Leben (1931), 37f] als „eine Art Festkalender” bezeichnet wird und in dem es heißt: „Den 17. nennt man (Tag) des Einzugs, da Bel seine Feinde bezwungen hat. Den 18. nennt man (Tag) der Klage, an dem man Kingu nebst seinen 40 Söhnen vom Dach wirft.” Kingu wurde auch Enmescharra genannt, der „Herr der Maße und Normen” (Tallqvist, 437). Dieser Kingu war Tiamats Ehemann (so wie Geb der von Nūt): sie hatte ihm die „Schicksalstafeln” übergeben, die Marduk nach seinem Sieg über dieses Paar an sich nahm. Und 40 ist die Zahl von Enki/Ea (siehe unten, Seite 263). Den Rest kann man sich ausrechnen. Wir sind durch unsere unangemessenen Vorstellungen über „Namen“ behindert sowie durch die irreführenden Etiketten, mit denen Übersetzer die Himmelsgestalten versehen und dabei aus Tiamat, Kingu und ihrer ganzen Sippe „Unholde” machen. 32 F.M. Comford, The Republic of Plato (1952), 350.
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etwa im Falle von Jane Harrison, die über die Titanen bemerkte: „Sie werden ständig unter die Erde in den tiefsten Tartaros getrieben und tauchen immer wieder auf. Es sind die Gewalt und die Beständigkeit, mit der sie herabgeschickt werden, die uns zeigen, daß sie eigentlich nach oben gehören. Sie prallen zurück wie göttliche Gummibälle.“33 Es ist ziemlich offenkundig, daß diese göttlichen Gummibälle nicht wirklich nach unten geschickt werden: Was niedergeworfen wurde, waren die abgelaufenen Zeitalter nebst den Namen ihrer entsprechenden Herrscher. Aber jetzt ist die galaktische Bühne leer; und es ist beinahe an der Zeit, den nächsten Skambha bei der Arbeit zu beobachten, wie er das „Schicksal” der ersten postdiluvialen Generation mahlt. Doch bevor wir dem Held des ältesten, des schwierigsten und in jeder Hinsicht sonderbarsten aller Epen gegenübertreten, gibt es ein Intervall. Wir ergreifen diese Gelegenheit, anhand einer wohlbekannten Episode Bemerkungen zur Methodik einzufügen.
J.E. Harrison, Themis (1962), 453f. Vgl für eine ähnliche Art des Mißtrauens gegenüber der eigenen Wahrnehmung M. Mayer, Giganten und Titanen, 97. 33
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Da er sehr häufig in der Literatur vorkommt, hat sicher jeder schon einmal von dem Steuermann unter der Regierung des Tiberius gehört, der, als er an einem ruhigen Abend in der Ägäis segelte, eine laute Stimme vernahm, welche verkündete: „Der Große Pan ist tot.” Diese einnehmende Mythe wurde in zweierlei Richtungen interpretiert. Einerseits kündige sie das Ende des Heidentums an: Pan mit seinen Flöten, der Dämon des stillen, sonnendurchtränkten Mittags, der heidnische Gott der Lichtung, des Weidelands und der ländlichen Idylle ist dem Übernatürlichen gewichen. Andererseits ist diese Mythe als Mitteilung über den Tod Christi im 19. Jahr des Tiberius verstanden worden: Der Sohn Gottes, der von Alpha bis Omega alles verkörperte, wurde mit Pan – „All” identifiziert.1 Otto Weinreich [„Zum Tode des Großen Pan“, ARW 13 (1910), 467473] hat den Nachweis solcher seltsamen Vorstellungen gesammelt, die zuerst 1549 (Guillaume Bigot), dann drei Jahre später in Rabelais’ Pantagruel gefunden und in späteren Zeiten verspottet wurden, zum Beispiel zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Fontenelle: „Ce grand Pan qui meurt sous Tibère, aussi bien que Jésus-Christ, est le Maistre des Demons. dont l’Empire est ruiné par cette mort d’un Dieu si salutaire à l’Universe: ou si cette explication ne vous plaist pas, car enfin on peut sans impieté donner des sens contraires à une mesme chose, quoy qu’elle regarde la Religion: ce grand Pan est Jésus-Christ luv-mesme, dont la mort cause une douleur et une consternation générale parmy les Demons. qui ne peuvent plus exercer leur tirannie sur les hommes. C’est ainsi qu’on a trouvé moyen de donner à ce grand Pan deux faces bien differentes.“ (Weinreich. 472f.) 1
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Hier ist die Geschichte, wie sie von Philippos in Plutarchs Dialog „Warum die Orakel keine Antwort mehr geben“ erzählt wird:
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Der Vater des Redners Aemilianus. den auch einige von euch gehört haben, war Epitherses, mein Landsmann und Lehrer der Grammatik. Dieser erzählte, er habe einmal auf der Reise nach Italien ein Schiff bestiegen, das Handelswaren und viele Fahrgäste an Bord hatte. Eines Abends, als sie schon auf der Höhe der EchinadenInseln waren, sei der Wind eingeschlafen und das Schiff sei treibend in die Nähe der Paxos-lnseln gelangt. Die meisten seien noch wach, einige nach beendigtem Mahl beim Trinken gewesen. Plötzlich habe man von der Paxos-Insel her eine Stimme gehört, die laut „Thamus!” rief, so daß man sich verwunderte. Thamus war aber ein Ägypter und Steuermann des Schiffes, doch nicht vielen der Fahrgäste mit Namen bekannt. Beim ersten und zweiten Anruf habe er geschwiegen, beim dritten Mal aber dem Rufer geantwortet. Dieser habe nun seine Stimme noch mehr erhoben und gerufen: „Wenn du auf die Höhe von Palodes kommst, dann melde, daß der große Pan tot ist!” Als sie das gehört hätten, so erzählte Epitherses, seien sie alle erschrocken und hätten sich darüber unterhalten, ob es besser sei, den Auftrag auszuführen, oder sich nicht darum zu kümmern, sondern es auf sich beruhen zu lassen, und Thamus habe sich dahin entschieden, wenn Wind wäre, stillschweigend vorbeizufahren, wenn aber Windstille und glatte See in dieser Gegend wäre, das Gehörte auszurichten. Als sie auf der Höhe von Palodes angelangt waren und weder Wind noch Wellengang war, habe Thamus, vom Heck nach dem Land hin blickend, gerufen, wie ihm gesagt worden war: „Der große Pan ist tot!” Kaum aber habe er diese Worte geendigt, so habe sich, nicht von einer, sondern von vielen Stimmen, ein lautes Wehklagen, vermischt mit Ausdrücken der Verwunderung, erhoben. Da nun viele Menschen dabeigewesen seien, so habe sich die Geschichte schnell in Rom herumgesprochen, und Thamus sei vom Kaiser Tiberius zur Audienz befohlen worden. Tiberius habe daraufhin der Geschichte solchen Glauben beigemessen, daß er Erkundungen und Untersuchungen über diesen Pan anstellen ließ, und die zahlreichen Gelehrten an seinem Hofe hätten
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die Vermutung geäußert, es handle sich um den Sohn des Hermes und der Penelope.”2
Plutarch wurde nicht akzeptiert; statt dessen schlug man eine „einfache” Erklärung vor: Als das Schiff an den Ufern eines Küstendorfs entlangtrieb, wurden die Passagiere von den rituellen Ausrufen und Wehklagen über den Tod von Tammuz/Adonis, dem sogenannten Getreide-Gott, aufgeschreckt, die im Mittleren Osten im Hochsommer üblich waren. Andere konfuse Rufe wurden von dem Steuermann Thamus so verstanden, als seien sie an ihn gerichtet.3 Das sei der Nährboden für eine einfältige Phantasie gewesen, welche die Geschichte ausschmückte und zum Ruhme des jeweiligen Erzählers viele Details hinzudichtete. Diese Erklärung klang überzeugend genug. Die Geschichte war normalisiert worden, das heißt: als unbedeutend abgetan. Noch heute ist es erlaubt, sich darüber zu wundern, warum damals soviel Wirbel um Ausrufe gemacht wurde, die den Zeitgenossen doch vertraut gewesen sein müssen, und warum der gebildetste Mythologe, nämlich Kaiser Tiberius höchst persönlich, die Angelegenheit für so wichtig hielt, daß ihr nachgegangen wurde – es sei denn, Plutarch habe gelogen. Bei allem gebotenen Respekt für die involvierten Gelehrten lohnt es sich also, eine andere Fährte auszuprobieren. Man kann davon ausgehen, daß nicht alles nur Hintergrundgeräusch war, wie wir heute sagen, sondern daß mit den Worten „Der Große Pan ist tot” (Pan ho megas tethnēke) tatsächlich eine richtige Nachricht durchsickerte und daß Thamus sie verkünden mußte. Dem Expertenkomitee von Tiberius (philologoi) war die Geschichte insofern Botschaft genug, als es zu dem Schluß kam, daß sie sich auf Pan, den Sohn von Penelope und Hermes bezog, 253 Plutarch, De defectu Oraculorum 419 B-E, übersetzt von Konrad Ziegler. Siehe F. Liebrecht, Des Gervasius von Tilbury Otia Imperialia (1856), 179f; J.G. Frazer, The Dying God (Golden Bough 3), 7f.
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Nummer 3 in Ciceros Liste.4 Nach den Ereignissen, die in der Odyssee berichtet werden, muß Penelope, wer auch immer sie wirklich gewesen sein mag, ein aufregendes Leben geführt haben.5 Wenn man sich dafür entschieden hat, der Botschaft Glauben zu schenken, muß man automatisch eine Menge ähnlicher Geschichten in Betracht ziehen, von denen einige von Jacob Grimm, der Großteil jedoch von Wilhelm Mannhardt gesammelt wurden.6 Im Tirol gibt es einen ganzen Geschichtenzyklus über die „Fanggen”, einer Art „Kleine Menschen” (oder Riesen), über Waldnymphen beziehungsweise Baumgeister, deren Existenz so sehr an Bäume gebunden ist, daß das Fällen eines solchen Baums eine Fangga vernichten würde. Früher einmal hatten sie bereitwillig als Dienstmägde bei den Bauern gelebt und dem Hof Segen gebracht,7 aber völlig unvorhersehbar verschwanden sie auch. Eine Lieblingsgeschichte ist die eines Hausherrn, der Cicero, De natura deorum 3.56: „Tertius Jove tertio natus et Maia, ex quo et Penelopa Pana natum ferunt.” Vgl. auch Herodot, Geschichte 2.145. 5 Was die Version betrifft, derzufolge Pari der Sohn von Penelope und all ihrer gemeinsam Freier war, bemerkt Preller [Griechische Mythologie (1964), 1, 745]: „die widerliche Sage.“ 6 J. Grimm. DM, 375. Anm. l; vgl. 845: „Der Teufel sei todt, nun könne jeder ungehindert ins Himmelreich kommen”; III, 129; W. Mannhardt, Wald- und Feldkulte,1 (1875), 89-93; 2 (1877), 148ff. 7 Im allgemeinen wird von ihnen allerdings behauptet, ziemlich empörende Angewohnheiten an den Tag gelegt zu haben – zum Beispiel aßen sie Kinder oder beseitigten sie auf andere typische Weise, indem sie sie etwa zu Schnupftabak pulverisierten. Folglich heißt es über eine Fangga: „Wenn sie kleine Buben zu fassen bekam, so schnupfte sie dieselben wie Schnupftabak in ihre Nase oder rieb sie an alten dürren Bäumen, die von stechenden Ästen starrten, bis sie zu Staub geraspelt waren.“ Es scheint ein sehr tief sitzendes Bedürfnis „höherer Mächte“ zu sein, göttliche oder menschliche Lebewesen in Puder und Staub zu verwandeln. 4
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heimkehrt und seiner Familie von einer seltsamen Botschaft erzählt, die er von einer Stimme vernommen hat und sich in etwa so anhört; „Jochträger, Jochträger, sag der Ruchrinde, daß GikiGäki auf dem Hurgerhorn tot ist.” Oder: „Jochträger, Jochträger, sag der Stutzkatze (auch Stutzamutza), daß Hochrinde tot ist.” An dieser Stelle bricht das Hausmädchen in lautes Wehklagen aus und läuft für immer davon. Oder es konnte geschehen, daß, während die Familie beim Essen sitzt, eine Stimme dreimal durch das Fenster rief: „Salome, komm!“ Woraufhin die Magd verschwand. Diese Geschichte hat ein Nachspiel: Einige Jahre später war ein Metzger gegen Mitternacht auf seinem Nachhauseweg von Saalfelden durch eine Schlucht, als ihm von der Felswand her eine Stimme zurief: „Schlachter, wenn du zur langen Unkener Wand kommst, dann ruf in den Felsspalt: ,Salome ist tot.’“ Noch vor Morgengrauen hatte der Mann besagten Ort erreicht und rief seine Botschaft dreimal in den Felsspalt. Und auf einmal drang aus der Tiefe des Berges viel Geheul und Gejammer, so daß der Mann von Angst gepackt nach Hause lief. Manchmal folgt auf die überbrachte Nachricht der Auszug ganzer Stämme von Kleinen Menschen: Es 254 war ihr „König”, dessen Tod verkündet worden war.8 Es ist bemerkenswert, daß in den meisten notierten Fällen der Herr mit „Jochträger” angeredet wurde. Keiner weiß warum. Aber die wilde Waldmaid verschwand allemal. Adalbert Stifter hat diesem geheimnisvollen „Motiv” in der Novelle „Katzengold” im Rahmen seiner Bunten Steine neues Leben verliehen.9 „No is Pippe Kong dod” (Schleswig); anderweitig „König Knoblauch”, „König Urban”; „Hipelpipel ist tot“ (Lausitz); „Mutter Pumpe is tot” (Hessen). Siehe Grimm, 375 Anm. 1; K. Simrock, Handbuch der Deutschen Mythologie (1869), f 125, S. 416f; F. Liebrecht, Zur Volkskunde (1879), 257 Anmerkung. Siehe auch Paul Herrmann, Deutsche Mythologie (1898), 89f. 9 Siehe zu diesem Thema, seiner Verbreitung und der einschlägigen Literatur auch Martti Haavio, „Der Tod des großen Pan, mit Berück8
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Felix Liebrecht berichtet von der Art bestimmter GeisterWerwölfe, den „Lubins”, die im Mittelalter in der Normandie ihr Unwesen trieben. Diese schüchternen Gespenster jagten im Rudel, aber mit nur wenig Erfolg, denn anstatt den Eindringling anzugreifen, liefen sie beim leisesten Geräusch auseinander und heulten dabei: „Robert est mort. Robert est mort.“10 Diese jeder Pointe entbehrende Geschichte gewinnt an Perspektive, wenn man ihre Spur zum „Wolfsberg” in Arkadien zurückverfolgt und zu den dort abgehaltenen „Wolfsspielen”, von denen die römischen Laupercalia herstammen. Pan soll auf diesem Berg namens Lykaios geboren worden sein;11 und er hatte dort ein Heiligtum, Hier ist es auch, wo Zeus einen „Tisch” umkippte – weshalb der Ort den Namen Trapezous erhielt –, weil der arkadische Herrscher Lykaon ihm ein Mahl aus Menschenfleisch vorgesetzt hatte, das aus dem Fleisch seines eigenes Sohns Nyktimos zubereitet worden war. Zeus verwandelte Lykaon für eine bestimmte Frist in einen Werwolf; und indem er den „Tisch” umkippte, verursachte er die Deukalionische Flut. Der Tisch repräsentiert die gedachte Ebene durch die Jahrespunkte: die „Erde”. Das ist das signifikante Ereignis in der Erzählung, und sie ist insgesamt so lang, daß kein vernünftiger Mensch versuchen würde, sie zusammenzufassen. Als nächstes steht das einschlägige Beispiel jenes Robert an, bekannt als Robert le Diable, der angeblich eine historische Figur war, von der angenommen wurde, sich von Zeit zu Zeit in einen Werwolf zu verwandeln und dann Buße zu tun, indem er „in der Verkleidung eines Hundes unter der Leiter lag”. Und daran knüpft sich das Rätsel um die Dynastie der Scaligeri in Verona sichtigung neuen finnischen Materials”, in Studia Fennica 3 (1938), 115136. 10 F. Liebrecht, Zur Volkskunde (1879), 257, Anmerkung. 11 Pindar Fragment 100 (68): Rhea hatte dort Zeus geboren (Pausanias 8.38.2f), und auf der Spitze des Berges befand sich ein temenos des Zeus, in dem nichts und niemand einen Schatten warf.
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(wir alle erinnern uns an Prinz Escalus in Romeo und Julia), deren mächtiger Begründer Can Grande della Scala, „Großer Hund der Leiter”, war. Er wurde zum Gastgeber Dantes, als dieser ins Exil ging, und entwickelte sich zum Mäzen der Göttlichen Komödie. Auch seine Nachfolger Mastino und Cansignorio trugen Hundenamen.12 Hier brechen wir tunlichst ab, nicht ohne zwei eventuell brauchbare Hinweise zu geben; Erstens nannte Pythagoras die Planeten die „Hunde der Persephone”; zweitens gibt es nur 255 eine einzige riesige Leiter, nämlich die Galaxis, und nur einen Caniden, der unter dieser Leiter liegt, nämlich Sirius. Noch aber fügen sich uns diese Töne nicht zu einer sinnvollen Melodie. Was hier zählt, ist das hartnäckige Überleben von Motiven in einfacher Umgebung. Wenn man sich einen Schritt weiter in die Folklore hineinbegibt, trifft man auf eine in ganz Nordeuropa verbreitete Geschichte, von der die folgende die englische Version ist: Eine Schar Katzen hat sich in einem verlassenen, zerfallenen Haus getroffen, wo ein Mann sie beobachtet, ohne daß er bemerkt wird. Eine Katze springt auf die Mauer und schreit: „Sag Dildrum, daß Doldrum tot ist.” Der Mann geht nach Hause und berichtet seiner Frau, was er erlebt hat. Die Hauskatze springt auf und jault: „Dann bin ich der König der Katzen!” – und verschwindet durch den Kamin.13 Auf diese Weise überlebt der „Körper” der Überlieferung den Tod ihrer „Seele”, gebrochen, von allen Ideen verlassen, konserviert wie Fliegen in Bernstein. Griechische Götter sind zu Katzen und Hausmädchen unter ungebildeten Leuten geworden; die Mächte vergehen, aber die Information bleibt. Wenn man die Wiederholungen durchgeht, erhalt man die Botschaft einer Stimme in kanonischer Form: „Wanderer, gehe und sage Dildrum, da/3 der Große Doldrum tot ist.” Der Überbringer dieser Nachricht kann ein unbekannter Steuermann sein, ein PasSiehe Otto Höfler, „Cangrande von Verona und das Hundesymbol der Langobarden”, in Festschrift Fehrle (1940), 107-137. 13 Siehe W. Mannhardt, Wald- und Feldkulte I (1875), 93. 12
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sant, ein Tier, ein Beobachter. Das Wesentliche ist, daß eine Macht verstorben und die Nachfolge offen ist. Auf seine eigene Weise hat der Kosmos von irgendeinem Schlüsselereignis Notiz genommen. Von einem anderen Beispiel kaum glaubhaften Überlebens zeugen auch die Erkenntnisse von Leopold Schmidt über „Pelops und die Haselhexe”,14 eine Sagensammlung aus den Alpendörfern Südtirols. Auch sie handelt von Hausmägden bei Bauern. Die Geschichte geht so, daß ein Knecht zufällig das Festessen einiger Hexen beobachtet, bei dem ein Hausmädchen gekocht und von ihren Mithexen verspeist wird. Eine Rippe wird in die Richtung des jungen Mannes geworfen, und als die Hexen das Mädchen nach dem Mahl wieder zusammensetzen und zum Leben erwecken, fehlt diese Rippe und muß durch einen Haselzweig ersetzt werden. Just in dem Moment, als der Landarbeiter seinem Herrn erzählt, daß sein Hausmädchen eine Haselhexe ist, stirbt dieses Hausmädchen. Das ist kein Haselstreich einer Hexe – es ist ganz einfach eine Wiederholung der archaischen Geschichte von Pelops, Sohn des Titanen Tantalos, der von seinem Vater gekocht und am Tisch der Götter als Mahl serviert worden war. Die Götter, heißt es, hielten sich von der Speise fern, weil sie ihnen verdächtig erschien – außer Demeter, die durch ihren Gram über den Tod ihrer Tochter Persephone so geistesabwesend war, daß sie ein Schulterblatt in dem Glauben aß, es sei Hammelfleisch. Die Götter erweckten das Kind wieder zum Leben. Aber ein Schulterblatt fehlte und wurde durch Elfenbein ersetzt. Im weiteren Verlauf wurde Pelops ein berühmter Held, nach dem der Peloponnes benannt ist. Und in Olympia gewann er den Wettlauf mit König Oinomaos und weihte auf diese Weise die Olympischen Spiele ein. Aber Olympia wurde deshalb heilig, weil es der Schauplatz war, wo Zeus seinen Vater Kronos überwältigte15 und ihn aus dem königlichen Wagen herabwarf. In der 14 15
L. Schmidt, „Pelops und die Haselhexe”, Laos 1 (1951), 67-78. Pausanias V.7.10. Es geschah nicht aus bloßen „religiösen” Gründen,
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Nähe von Olympia kann man den Kronos-Hügel sehen, der noch immer den Abdruck des himmlischen Hinterteils trägt. Die offiziellen Figuren traten ab. Nur die großen Olympischen Spiele blieben ein „internationales ” Ereignis, das alle vier Jahre stattfand und zur griechischen Methode avancierte, die Zeit zu zählen. Was hat all dies mit einem kleinen, märchenhaften Hausmädchen Tausende von Jahren später in den Österreichischen Alpen zu tun? Auf den ersten Blick nichts; aber wer weiß, was möglicherweise herauskommen würde, wenn man dem Stichwort „Schulterblatt” auf den Fersen bliebe?16 Die Überlieferung daß „in dem Hippodrom die Säule, die den Startpunkt markierte, an ihrer Seite einen Altar der Himmlischen Zwillinge hatte“ (Pind. Olympian Odes III.36; Paus. V.15.6): vgl. F.M. Cornford in Harrison [Themis (1962). 228]: für den Circus Maximus in Rom siehe auch oben, Seite 190f. Fußnote 6. 16 Es gibt nicht nur „moskhou omon chryseion”, die goldene Schulter des Ochsen in den Händen von Mithras (Ägyptisch Maskheti, der Stierschenkel, Ursa Maior), und Ilumeri, ein antiquiert lateinischer Name für Orion, wie wir von Varro wissen; Amma, der höchste Gott der westsudanesischen Dogon (beziehungsweise der Clarias senegalensis, der Wels, ein Avatara des „Moniteur Faro” der Dogom der dasselbe Emblem trägt wie der ityphallische Min, der ägyptische Pan), trägt in seinem humeri die ersten „acht Körner”, und diese 8 Getreide Sorten (stereotyperweise einschließlich Bohnen) spielen ihre kosmogonische Rolle von den Dogon bis zu den Chinesen (siehe für eine andere verblüffende Ähnlichkeit zwischen Westsudan und China den Abschnitt über die „schamanistischen” Trommeln, aber es existieren noch mehr Beispiele). Es gibt auch die Erzählung aus dem modernen Griechenland [siehe Johann Georg von Hahn, Griechische und Albanische Märchen (1918), I. 181-184] über den „Sohn des Schulterblattes”, einer jener „Starken Knaben”, der nach seinen Abenteuern im Land der Geister seine Mutter mit einer Handmühle zu Haferbrei mahlt. Wie diese und andere Überlieferungen mit dem Schulterblatt-Orakel zusammenhängen, sofern sie überhaupt etwas damit zu tun haben, kann bislang nicht gesagt werden.
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setzt sich hartnäckig fort, selbst durch Zeitalter verschütteten Wissens hindurch. Aber immerhin ist inzwischen eine gewisse Distanz zu den Fruchtbarkeitsriten Frazers und anderer gewonnen worden Um auf Plutarchs Text zurückzukommen, so erweckt der redselige Stil des Dialogs den Eindruck des Beiläufigen; aber für gewöhnlich wußte Plutarch in solchen Sachen weitaus mehr als er zu diskutieren geneigt war. Es gab also einen Steuermann, einen kybernêtês, der vom Heck (prymnê) seines Schiffs eine Ankündung machte. Diese Einzelheilen scheinen mitnichten beliebig zu sein. Denn es gibt ein Heck und einen Steuermann, die in der Mythologie nicht zu übersehen sind. Das Heck ist jenes der Konstellation Argo, ein Schiff, das fast nur aus dem Heck besteht. Es wird als das Totenschiff mit Osiris an Bord verstanden,17 und der Steuermann ist Canopus selbst, der Sitz des großen babylonischen Gottes Ea (in Sumer Enki), dessen Name auf Sumerisch mulNUNki lautet; und Enki ist der Vater von Tammuz, was uns die Spur wiederaufnehmen läßt. Das Überraschende aber ist, daß der mesopotamische Canopus den Namen „Joch-Gestirn des Meeres” trägt18 – das „JochGestirn des Himmels” ist Draco. Wir treffen hier also auf ein Todesschicksal, einen Steuermann und einen Jochträger in einer unerwarteten, jedoch vielsagenden Verknüpfung. Wenn man sich mit derart profunden Experten des archaischen Mythos wie Platon und Plutarch beschäftigt, wird man voraussichtlich nicht den „ägyptischen König Thamus” im Phaidros (274C-275B) übersehen, der dem Thot/Hermes, welcher so stolz darauf ist, soeben die Schrift erfunden zu haben, klar macht, daß diese neue Kunst Laut Plutarchs Isis und Osiris 359 EF ist Osiris der stratêgos des Schiffs. 18 Siehe P.F. Gössmann, Planetarium Babylonicum (1950), 281; J. Schaumberger in Kuglers 3. Ergänzungsheft (1935), 325 mit Fußnote 2 (eine Version: das „Joch des Ea”); P. Jensen, Die Kosmologie der Babylonier (1890), 16ff, 25; F. Boll und C. Bezold, Farbige Sterne (1916), 121. 17
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ein zweifelhafter Gewinn sei. Es muß ein mächtiger „König” gewesen sein, der es wagte, Merkurs Verdienste zu kritisieren. Aber die Kapitel über die Milchstraße und den Sturz des Phaethon werden deutlich gemacht haben, daß geographische Termini nicht beim Wort genommen werden dürfen, am allerwenigsten „Ägypten”, das ein Synonym für den zweideutigen Nil ist. Um ein wenig mehr über den eigentlichen Inhalt der Botschaft zu erfahren, wenden wir uns an einen undatierten Text: die sogenannte „Nabatäische Landwirtschaft”, die zwar sehr wenig mit Ackerbau zu tun hat, dafür aber sehr viel mit Agrarzeremonien. Der Autor Ibn Wa’shijja machte geltend, sein Buch aus einer fast uranfänglichen chaldäischen Quelle hergeleitet zu haben.19 Moderne Kritiker sind zu dem Schluß gekommen, daß es ein Machwerk ungewisser Herkunft sei, eine sogenannte Fälschung. Was auch immer es sein mag: Es ist kein Original. Solche Dinge werden aus überliefertem Material zusammengebastelt. Maimonides hielt es für wertvoll genug, um es ausführlich zu zitieren; Chwolson und Liebrecht analysierten es, indem sie es mit an-Nadims Bericht Über das Tammuz-Fest der Harranier verglichen, das im Juli abgehalten und el-Bûqat genannt wurde, Tatsächlich behauptete er (und andere), das Buch sei von drei (oder sogar noch mehr) Autoren geschrieben worden, nämlich von Ssagrît, Janbûschâd und Qutârnâ. Der erste lebte im siebten Jahrtausend der 7.000 Jahre des Saturn – die dieser gemeinsam mit dem Mond beherrschte –, der zweite am Ende desselben Jahrtausends, der dritte tauchte auf, nachdem 4.000 des 7.000-Jahre-Zyklus der Sonne vorbei waren, so daß zwischen dem Anfang und dem Ende des Buches 18.000 Sonnenjahre vergangen sind (laut Maqrîzî). Siehe Daniel Chwolson, Die Ssabier und der Ssabismus (1856), 1, 705f (vgl. Seite 822 für das besondere Alphabet, das Janbûschâd benutzte). Somit haben wir es mit einem weiteren „Trismegistos“ zu tun: drei Male der größte, nicht einfach „dreimal”. [A.d.Ü.: Im Original schreiben die Autoren: „… ihree times great, not just ‚thrice’.“ Dieses „Wortspiel“ mit der Zeit läßt sich leider nicht ins Deutsche übertragen.] 19
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die „weinenden Frauen”.20 Hier ist zunächst eine Textstelle, die von Liebrecht untersucht wurde:21 Die Zeitgenossen Janbûschâds … behaupten, daß alle Sakâïn (eine gewisse Art von Engeln) der Götter und die Götterbilder über Janbûschâd nach dessen Tode trauerten, ebenso wie die Engel und alle Sakâïn über Tammûzì getrauert hatten. Die Götterbilder, meinen sie, hätten sich aus allen Gegenden der Erde in dem Tempel elAskûl in Babel versammelt, und begaben sich darauf alle in den Sonnentempel, nämlich zum großen goldenen Götterbilde, welches zwischen dem Himmel und der Erde (d.h. in der Luft) hing. Das Sonnenbild stand mitten im Tempel umgeben von allen Götterbildern der Erde, und zwar standen ihm zunächst die Sonnenbilder aller Länder, dann die Bilder des Mondes, darauf die des Mars, dann die des Mercur, die des Jupiter, die der Venus, und zuletzt die des Saturn.22
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Weiter heißt es bei Chwolson: Das Sonnenbild fing an über Tammûzì zu wehklagen, die Götterbilder weinten, und das Sonnenbild stellte eine feierliche Todtenklage über Tammûz an und erzählte die Geschichte desselben. Alle Götterbilder weinten vom Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang am Schlusse dieser Nacht, worauf sie nach ihren Ländern zurückkehrend davonflogen.
So lautet die Geschichte, die, wie Chwolson sagt, in den Tempeln nach den Gebeten aufgesagt wurde, worauf es noch mehr Weinen und Wehklagen gab. Das ist also die archaische Fassung. Sie bezieht sich auf Planetengötter, den großen Kult von Harrän. Zwei dieser Götter ragen, fast ex aequo, hervor: Tammuz und D. Chwolson, Ssabier (1886), II, 27f, 207, 209. F. Liebrecht, Zur Volkskunde (1879), 251 f. 22 Wir sollten anmerken, daß die Planeten nicht in der astronomischen Reihenfolge ihrer Perioden genannt werden, sondern in der durch das Heptagramm, das die Wochentage beschreibt, vorgegebenen Reihenfolge (vgl. Dio Cassius XXXVII.18.4-19.3). 20 21
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Janbûschâd. Nun ist letzterer kein anderer als Firdausis Jamschyd.23 Es ist bereits bekannt (Seite 134), daß Jamschyd auf Avestisch Yima xsaēta heißt, das ist der Name, aus dem im Lateinischen Saturnus wurde. Es besteht also kein Zweifel, daß es hier um Saturn/Kronos, den Gott des Anfangs, Yima (auf Indisch Yama), den Herrn des Goldenen Zeitalters geht. Ein Klagelied über das Ableben von Kronos wäre selbst in Griechenland angebracht gewesen,24 da er von Zeus entthront und abgelöst worden war. Aber wer war Tammuz? Der Getreidegott, der mit der Jahres- 259 zeit starb, der ländliche Adonis würde kaum in solch eine erhabene Gesellschaft passen. Mittlerweile ist klar, daß er zuallererst astronomischer Natur war. Es ist soviel über seine Fruchtbarkeitsriten geschrieben worden, daß es lange Zeit brauchte, um das wirkliche Datum ausfindig zu machen, das von Franz Cumont angegeben wird.25 Die Totenklage über Tammuz/Adonis Siehe F. Liebrecht, op.cit., 251, Fußnote: „Der babylonische Izdubar [= Gilgamesch] heisst in Ibn Wakschis (Wa’hschijjas) Buch über die nabathäische Landwirtschaft ,Janla-Schad’ (Janbûschâd) d.i. Dschemschid … So Rawlison im Athenaeum vom 7. December 1872.” 24 Vgl. den Bericht von Plutarch (Isis und Osiris 363E) über Ägypten: „Es gibt auch ein religiöses Klagelied, das über Kronos gesungen wird. Das Klagelied gilt ihm, welcher in der linken Region geboren ist und in der rechten Region unter Auflösung leidet, denn die Ägypter glauben, daß die östlichen Regionen das Antlitz der Welt sind, die nördlichen zur Rechten und die südlichen zur Linken. Folglich wird vom Nil, der aus dem Süden kommt und im Norden vom Meer verschluckt wird, natürlich gesagt, seine Geburt auf der linken und seine Auflösung auf der rechten Seite zu haben.“ Kronos als einstiger Herrscher über „galaktische Zeiten” (Geb „in” Nūt): Das ergibt mehr Sinn als es den Anschein hat. Vgl. die Sternliste der Dogon in M. Griaule und G. Dieterlen, Le Renard Pâle (1965), 515, s.v. „yalu ulo tolo: ,étoile de la Voie Lactée’, Saturne (?)”. Siehe auch Kapitel 13, „Über Zeit und die Flüsse”. 25 F. Cumont, „Adonis et Sirius”, Extrait des Mélanges Glotz (1932), 1, 257-264. Aber siehe für die unterschiedlichen Daten der Adonia Franz 23
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wurde nicht einfach im „Spätsommer“ angestimmt: Sie fand in der Nacht vom 19. auf den 20. Juli statt, genau an jenem Datum, das den Beginn des ägyptischen Jahres kennzeichnete und beibehalten blieb, um den Julianischen Kalender festzulegen. 3.000 Jahre lang hatte es den heliakischen Aufgang des Sirius markiert. Tammuz war extrem langlebig, denn er ist bereits in Sumer unter dem Namen Dumuzi als das Objekt der HochsommerLamentationen zu finden. Es ist gezeigt worden, daß er als Sohn des Enki, des sumerischen Kronos, verehrt wurde. Dieser Kult wurde in Harrân bis in das späte 13. Jahrhundert beibehalten, lange nachdem der Islam die ssabische Bevölkerung überflutet hatte. Trotz des ernsthaften Mißfallens seitens des Kalifen von Bagdad, blühte er in einem Gebiet, das sich von Armenien bis nach Chusistan (Südwestiran) erstreckte, immer wieder auf – zwar nur sporadisch, dafür aber um so intensiver.26 Wie bereits erwähnt, wurde die Zeremonie el-Bûqat genannt, die „weinenden Frauen”. Und die Klage galt hauptsächlich dem Gott, der auf grausame Weise getötet wurde, indem man ihn zwischen Mühlsteinen zermahlte – genau wie Hans Gerstenkorn in dem schon früher zitierten Reim:27 Man sott ihm auf der Flamme Rost Das Mark aus dem Gebein; Ein Müller quetscht’ – das ist zu arg! Ihn zwischen Stein und Stein.
Karl Movers, Die Phönizier (1841), 1, 195-218, insb. 205. Siehe auch Marcel Detienne, Les Jardins d’Adonis (1972) und Gerhardt J. Baudy, Adonisgärten (1986). 26 Siehe F. Liebrecht, Gervasius von Tilbury (1856), 180-182; Zur Volkskunde (1879), 253ff; W. Robertson Smith, The Religion of the Semites (1957), 412 (Klagelieder über „den König der Dschinns” und über „Uncûd, Sohn der Weintraube”). 27 Es war Felix Liebrecht, der sich als erster an Hans Gerstenkorn erinnert fühlte.
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Welche Art des Mahlens könnte es gewesen sein? Sicherlich bezog sich das Klagelied im Allgemeinbewußtsein auf den Tod eines Getreidegottes, auch Adonis (der Herr) genannt, der von einem wilden Eber getötet worden war. Aber verglichen mit dem landwirtschaftlichen überwiegt der überdies himmlische Aspekt; das gilt um so mehr, als es sich bei dem „wilden Eber” um Mars handelt.28 Eine vertrackte Geschichte bleibt hier zu entwirren – eine 260 Aufgabe, die erheblich erschwert wird durch die zahlreichen als erwiesen akzeptierten „Identifikationen” seitens der Gelehrten, die zuvor mit großem Eifer die Dimension der Zeit aus der ganzen Mythologie herausoperiert haben. In Wirklichkeit weiß man nach wie vor nicht, „wer“ Tammuz sei.29 Es sieht beinahe so aus, als handle es sich um einen Titel, so wie auch „Horus” ein Titel war. Es gibt Zweifel über seine „Identität” – im üblichen Sinne verstanden – mit Adonis oder mit Osiris,30 Attis, Balder31 und Siehe Nonnos 41.208ff über Aphrodite: „Als Seherin wußte sie, daß Ares, in Gestalt eines Ebers mit gezacktem Hauer und tödliches Gift ausspeiend, dazu bestimmt war, in eifersüchtigem Wahn Adonis zum Verhängnis zu werden.” Vgl. für die anderen Quellen F.K. Movers, Die Phönizier (1841) I, 222ff. 29 Um wenigstens ein Minimum an Beispielen zu geben: Tammuz = Saturn (Jeremias in Roscher s.v. Sterne, Spalte 1443); Tammuz = Mars [Wolf Wilhelm Graf Baudissin, Adonis und Esmun (1911), 117, die Chronik des Barhebräus zitierend]. Für die ungeheure Anzahl von Namen, die „Tammuz“ in Mesopotamien gegeben wurde, siehe Maurus Witzel, Tammuz-Liturgien (1935). Für seinen Namen „Himmelsdrachen“ (Ušungal-an-na) = Sin (der Mond) siehe K. Tallqvist, Akkadische Götterepitheta (1938), 482; siehe auch 464, wo Tammuz = „Mutterschafbild“. 30 Es ist beachtenswert, daß der Tod von Osiris seinerseits von den „Pans und Satyrn” verkündet wurde, „die in der Region um Chemmis (= Panopolis) lebten; und so wird bis auf den heutigen Tag die plötzliche Verwirrung und Bestürzung einer Menschenmenge Panik genannt.” (Plutarch: Isis und Osiris, Kap, 14, 356D) 28
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anderen. Die „Nabatäische Landwirtschaft“ läßt keinen Zweifel daran, daß es Totenklagen für Tammuz und Janbûschâd/Jamschyd gab. Die Ägypter beklagten Kronos und Maneros32 (Herodot II.79). Tammuz war schließlich nicht der einzige Stern, der im Verlauf der Präzession zu Fall kam. (Und war nicht König Frodi eine Wiederholung von Freyr, Kai Chosrau eine Wiederholung von Jamschyd, wie auch Apis eine Wiederholung von Ptah, dem ägyptischen Saturn/Hephaistos, und Mnevis die von Rā war?) Dies ist ein langer Weg vom Großen Pan, und es ist noch nicht klar, von wem oder was zur Zeit des Tiberius angenommen wurde, daß es oder er vergangen war, das heißt; welcher „Pan” dahinging. Friedrich Creuzer33 erklärte ohne Umschweife, Pan sei Sirius – und noch hat jeder Vorschlag von Creuzer großes Gewicht –, der erste Stern des Himmels sowie der Dreh- und Angelpunkt archaischer Astronomie. Und Aristoteles34 sagt, es sei gestattet, zur Umschreibung von „Hund” die Begriffe „Hundsstern” (Sirius) oder Pan zu verwenden, weil Pindar ihn als „Gestaltwechselnden Hund der Großen Göttin” bezeichne (Ô mákar, hón te megálas theou kýna pantodapón kaléousin Olýmpioi.)35 Das ist im Moment mehr als genug. Die einzigartige Bedeutsamkeit von Sirius als dem Führer der Planeten, als sozusagen dem achten Planeten,36 sowie von Pan, dem Tanzmeister Alle Götter des Nordens kamen in bester „nabatäischer“ Manier herbei, um Balders Tod zu beweinen. 32 Die Fälle Linos, Maneros, Memnon, Bormos usw. lassen wir jedoch beiseite. Siehe Movers, op.cit., 244. 33 F. Creuzer, Symbolik und Mythologie der Alten Völker (1842), 4, 65ff. 34 Aristoteles, Rhetorik 2.24. 1401 a 15. 35 Frg. 77 Tusculum-Ausgabe mit irreführender Übersetzung (Frg, 96, Snell). Siehe auch Platons Kratylos 408B: „ton Pana tou Hermou einai hyon diphyē echei to eikos.“ 36 Creuzer hält Pan/Sirius für Eshmun/Shinun, „den achten” großen Gott von Chemmis. 31
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(choreutes) und wahren kosmokrator, der über die „drei Welten” herrscht,37 würde einen kompletten Band füllen. Der wesentliche Punkt ist, daß die außergewöhnliche Rolle von Sirius nicht das Phantasieprodukt alberner Hohepriester ist, sondern eine astronomische Tatsache. Während der gesamten dreitausendjährigen Geschichte Altägyptens ging der Sirius (in Memphis) alle vier Jahre am 20. Juli des Julianischen Kalenders auf. Mit anderen Worten: Sirius war von der Präzession nicht betroffen; und das muß zu der Überzeugung geführt haben, Sirius sei mehr als nur ein Fixstern unter vielen. Wir hegen den stillen Verdacht, daß der Vgl. die Orphische Hymne au Pan (Nr. 11; siehe auch Hymne 34.25): „Pana kalō krateron, nomion, kosmoio to sympan / ouranon ēde thalassan ide chthona pambasileian / kai pyr athanaton … Echous phile … ” pantophyēs, genetōr pantōn, polyōnyme daimon / kosmokratōr … Plassmann übersetzt: „Pan den Starken rufe ich an, / Den Hirtengott, die Gesamtheit des Alls – / Himmel. Meer. Allkönigin Erde / Und das unsterbliche Feuer, / Denn alle sind Glieder des Pan. / Komm, Seliger, Springender, laufend im Kreise, / Der mit den Horen herrscht, / Ziegenfüßiger Gott; / Freund der gottbegeisterten Seelen, / Verzückter, wohnend in Höhlen – / Du spielst die Weltharmonie / Mit scherzendem Flötengesang …“ Was seine Liebe zu Echo betrifft, so erklärt Macrobius (Sat. I.22.7) diese als eine Harmonie der Sphären: „quod significat harmoniam caeli, quac soli amica est, quasi sphaerarum onmium de quibus nascitur moderatori, nec tamen potest nostris umquam sensibus deprehendi.“ Aber Macrobius gehörte zu den Mythologen mit einem „Sonnenstich“, d.h. er identifizierte ohne weitere Umstände Jupiter, Saturn und alle anderen – einschließlich Pan – mit der Sonne. Nicht das Echo selbst ist die Sphärenharmonie, sondern die Syrinx (Pan fertigt sie aus den Schilfrohren an, in die sich seine geliebte Echo verwandelt hatte); und die sieben Schilfrohre von Pans Flöte sind in der Tat die sieben Planeten, wobei das kürzeste den Mond und das längste Saturn verkörpert. Es scheint erwähnenswert, daß in China das Echo als akustisches Pendant zum Schatten verstanden wurde; folglich gab es unter dem Kien-mu, dem Baum im Zentrum der Welt, weder Echo noch Schatten. 37
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Tod des Pan den Beginn der präzessionalen „Betroffenheit” des Sirius bedeutet, obgleich dieses Phänomen erst 139 n.Chr. allgemein aktenkundig wurde, nämlich beim Anbruch einer neuen Sothisperiode.38 Nun hatte Creuzer kein Monopol darauf, die mit Pan verbundenen Vorstellungen von den Ägyptern abzuleiten, noch ist diese Herleitung hier „unabhängig erfunden“ worden. Wilhelm Heinrich Roscher unternahm diese Aufgabe in seinem Artikel über „Die Legende vom Tode des Großen Pan”39 und war überzeugt, daß diese Mythe nicht mit Hilfe griechischer Vorstellungen und Meinungen verstanden werden könne, um so weniger, als uns Herodot (II.145) über das Folgende informiert: Die Griechen halten den Herkules, Dionysius und Pan für die jüngsten Götter, bei den Ägyptern hingegen ist Pan der älteste und gehört zu den acht, welche zuerst für Götter erkannt worden waren, Herkules in die zweite Ordnung der zwölf, Dionysius aber in die dritte oder unter diejenigen, welche von den zwölf geboren wurden. Wieviel Jahre von dem Herkules bis auf den König Amasis nach der Meinung der Ägypter abgelaufen sind, habe ich schon zuvor berichtet. Von dem Pan sollen noch viel mehr Jahre, von dem Dionysius aber die wenigsten gezählt werden, und von diesem an rechnen sie doch fünfzehntausend Jahre bis auf den König Amasis. Dieses wollen die Ägypter sicher wissen, indem sie die Jahre beständig gerechnet und aufgeschrieben haben. Aber von Dionysius an, welchen Semele, die Tochter des Kadmus, geboren haben soll, sind bis auf meine Zeit höchstens tausendsechshundert Jahre vergangen und
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Von diesen heiklen Problemen wird außerhalb dieses Essays die Rede sein. Bemerkt sei hier nur, daß der Ausdruck „Julianisches Jahr” in diesem Zusammenhang irreführend ist: Das ägyptische Jahr von 365 ¼ Tagen war kein fehlerhaftes tropisches, sondern ein ausschließlich auf Sirius ausgerichtetes Jahr. 39 W.H. Roscher, „Die Legende vom Tode des Großen Pan” in Fleckeisens Jahrbücher für klassische Philologie (1892), 465-477. In Bezug auf das „panische” Element in Mannhardts Geschichten über die Fanggen erklärt Roscher es zu „einem zufällig ähnlichen Motiv“. 38
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von Herkules, der Alkmene Sohn, nur neunhundert Jahre, ja von Pan, welcher nach dem Vorgeben der Griechen die Penelope von Merkur geboren hat, noch weniger Jahre als von dem Trojanischen Krieg, nämlich bis auf meine Zeit nur achthundert.40
Wer glaubt, diese abgelaufenen Jahre seien historischer Natur,41 setzt eine besondere ägyptische (babylonische, indische usw.) Geistesverfassung, in der Tat eine menschliche Natur voraus, die sich von der unseren grundlegend unterscheidet – und vergißt, daß wir alle Angehörige ein und derselben Spezies Homo sapiens sind.
A. Wiedemann, Herodots zweites Buch (1890), 515-518. (Wiedemann bezeichnet Kapitel 145 fälschlicherweise als Kapitel 137.) 41 Siehe John Marsham, Canon chronicus Aegipticus, Ebraicus, Graecus (1672), 9: „Immensa Aegyptiorum chronologia astronomica est, neque res gestas sed motus coelestes designat!” Siehe auch L. Ideler, Historische Untersuchungen (1806), 93. 40
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In seiner ersten niedergeschriebenen Version geht das Gilgamesch-Epos auf sumerische Zeiten zurück.1 Mit Variationen wurde es von Hurri und Hethitern, von Babyloniern und Assyrern nacherzählt. Selbst in den am besten erhaltenen Rezensionen gibt es große Lücken, denn viele Tafeln sind irreparabel beschädigt. Gleichviel: Die Geschichte ist über lange Zeiten wieder und wieder erzählt worden und scheint in ihren Grundzügen einigermaßen gesichert zu sein – ein Erbstück der Weltliteratur. So irreführend dieser Anschein gesicherter Grundzüge auch sein mag – der Weg durch solche Texte ist unglaublich schlüpfrig –, ist es doch geraten, ihn erst einmal anzunehmen und einen knappen Umriß des akzeptierten Handlungsschemas in Alexander Heidels Version wiederzugeben. Danach wird es möglich sein, bestimmte Punkte, die eventuell das gesamte Schema ins Wanken bringen, unter die Lupe zu nehmen. Von Gilgamesch wird angenommen, er sei einer der ersten Könige von Uruk (beziehungsweise Erech) gewesen. Die Umstände seiner sagenhaften Geburt machen ihn zu zwei Dritteln zum Gott und zu einem Drittel zum Menschen. Das bedeutet im mesopotamischen Sexagesimalsystem, sein „göttlicher” Anteil betrug 2/3 von 60 = 40; Siehe zum Beispiel Samuel Noah Kramer, „The Epic of Gilgamesh and Its Sumerian Sources”, JAOS 64 (1944), 11: „Im wesentlichen war das Gedicht in jener Fassung» in welcher wir es kennen, schon in der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends v. Chr. geläufig.” 1
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und 40 war die zu Enki/Ea gehörige Zahl, weswegen dieser auch „Shanabi” (= 2/3 , d.h. von 60) und „Nimin” (Sumerisch = 40) genannt wurde.2 Wie dem auch sei: Es wird erzählt, daß er ausschweifend und in Prunk lebt und anderen Leuten solange auf die Nerven geht, bis die Götter seinem Volk Erleichterung verschaffen, indem sie einen Menschen großziehen – entweder einen Zwilling oder ein Ebenbild3 –, der es mit ihm aufnehmen kann. Es ist Enkidu, der Wildmensch; eine Art Wolfskind, das so unbedarft wie die Raubtiere ist, mit denen es spielt; ein glückli- 264 cher Naturbursche, der am ganzen Körper behaart und zu enormer Stärke herangewachsen ist. Eine Dirne wird zu ihm geschickt, um ihn zu verführen. Und durch sie lernt er die Liebe sowie die Lebensweise der Menschen kennen und wird in die Stadt gelockt (Appendix 30), Sein erstes Zusammentreffen mit Gilgamesch besteht aus einem heftigen Kampf, der das Versammlungshaus erzittern läßt und bei dem anscheinend der Türpfosten beschädigt wird (Appendix 31), bis es dem König gelingt, Enkidu zu Boden zu zwingen; und er entscheidet, daß Enkidu es wert sei, sein Freund und Spielkamerad zu werden. Gemeinsam planen sie eine Expedition in den großen Wald, um den schrecklichen Oger Huwawa oder Humbaba4 zu überwältigen, den der Gott Enlil, der sogenannte „Sturmgott” oder „Luftgott”, zum Wächter des Waldes bestimmt hatte. In der Tat Ernst Weidner, RLA, II, 379. Anu stand für 1, für 60 und für Potenzen von 60, Enlil/Marduk für 50. Siehe auch Wolfgang Röhlig, „Götterzahlen” in RLA III, 499f. 3 Tatsächlich erschafft ihn die Göttin Aruru „als Abbild von Anu”. wörtlich „ein zikru von Anu, das sie in ihrem Herzen erdachte”. Allerdings heißt es von Enkidu auch, daß er „bis aufs Haar“ wie Gilgamesch aussieht. Siehe Adolf Leo Oppenheim, „Mesopotamian Mythology”, Orientalia 7 (1948), 24, 28. 4 Huwawa in der altbabylonischen und hethitischen Version, Humbaba in der assyrischen Version. 2
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heißt es: „Enlil hat ihn zum siebenfachen Schrecken für die Sterblichen ernannt … sein Brüllen ist (wie das von) einer Sturmflut, sein Rachen ist Feuer, sein Atem ist Tod!”5 Selbst wenn erwiesen ist, daß Kämpfe mit Drachen oder Riesen früher einmal eine populäre Angelegenheit waren, können einige nüchterne Daten über dieses „Ungeheuer” nicht schaden. Er „wird in den Texten ausnahmslos als ein Gott bezeichnet”6 und scheint dem elamitischen Gott Humba oder Humban zu entsprechen, der den Titel „der Herrschende, der Starke” mit den Planeten Merkur und Jupiter sowie mit Prokyon (alpha Canis minoris) teilt. Darüber hinaus taucht er in einer Sternliste auf, versehen mit dem Stern-Determinativ mul (babylonisch kakkab): mulHumba (Appendix 32). Die Gleichsetzung mit Prokyon könnte sich schließlich als der entscheidende Anhaltspunkt herausstellen, der die sumerische Version mit den vielen anderen in Einklang bringt. Antike Texte werden nicht dadurch klarer, daß jedem fremd anmutenden Aspekt stillschweigend aus dem Weg gegangen wird, und so ist es angebracht zu erwähnen, daß Humbaba eine Art „Gott der Eingeweide” ist. Sein Kopf beziehungsweise Gesicht besteht sogar aus Eingeweiden, und Langdon (MAR 5.254) lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß „das Gesicht dieses Ungeheuers … mit einer einzigen gewundenen Linie gezeichnet wird, mit Ausnahme der Augen”. In seiner Untersuchung des babylonischen Ursprungs des Labyrinths betonte Böhl7 überdies die babylonische Vorstellung von den Eingeweiden als ein „labyrinthisches Bollwerk aus Gedärmen”. Tafel III.136f, 109-111, Heidel-Übersetzung, 35. S. Langdon, Semitic Mythology (1931), 253. Siehe auch F. Hommel, Ethnologie und Geographie des Alten Orients (1926), 35, 42, der geltend macht, daß hum „Schöpfer” bedeutet und von Humbaba (= Hum-istder-Vater) als von dem „Wächter der Zeder des Paradieses” spricht. 7 Franz Marius Theodor de Liagre Bohl, „Zum babylonischen Ursprung des Labyrinths“, in Festschrift Deimel (1935),6-23. 5 6
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Soviel über die „Person” Humbaba, bei der es sich keineswegs 265 um ein primitives Monster handelt, und dies um so weniger, als sein unattraktives Gesicht verblüffende Ähnlichkeit mit den Charakterzügen von Tlaloc hat, dem sogenannten „Regengott” der Azteken, dessen Gesicht von zwei Schlangen geformt wird (Abbildungen 30 und 31). Voreilige Identifikationen richten nur Schaden an,8 und trotz vieler Bemühungen ist der „Fall Humbaba” nicht einmal teilweise geklärt. Die einzigen unzweifelhaften Züge der Geschichte scheinen die zu sein, daß die Helden den Zedernwald erreichen, von dem gesagt wird, daß er sich über „zehntausend Doppelstunden” (etwa 70.000 Meilen) erstrecke, und daß sie Humbaba den Kopf abschlagen, nachdem sie offenbar die größte der Zedern gefällt haben, die Enlil Humbaba zum Schutz anvertraut hatte. Aber die Tat kann nicht ohne die mächtige Hilfe von Schamasch/Helios vollführt werden, „der große Sturmwinde gegen Humbaba erweckte”, um das Monster zu blenden und es den beiden auszuliefern. Zurück in Uruk wäscht Gilgamensch sein Haar und kleidet sich in ein festliches Gewand. Als er sich seine Tiara aufsetzt, ist die Göttin der Liebe, Ischtar (in Sumer Inanna), so von seinem Aussehen hingerissen, daß sie ihn bittet, sie zu heiraten. Gilgamesch weist sie zurück und erinnert sie mit verächtlichen Worten daran, was ihren vorherigen Gatten widerfahren war, einschließWährend er sich mit einer elamitischen Sternenliste beschäftigt, macht Fritz Hommel in Ethnologie und Geographie (1926), 35, die Gleichsetzung „Amman-ka-sibar (abgeleitet von Chumban-uk-sinarra … also Chumban, König des Riegels? …) = Ninib-Mars”. Wir würden eine vorzeitige Wette darüber abschließen, daß außer Prokyon Merkur der sicherste Tipp und Jupiter der zweitbeste ist; aber der letztgenannte würde niemals einen überzeugenden Eingeweidegott abgeben, noch würde das irgendein anderer äußerer Planet tun: Ihre Umlaufbahnen lassen solche Vorstellungen nicht zu – und Venus ist viel zu regelmäßig für diese Rolle (vergleiche Abbildungen 32 und 33).
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lich dem unglücklichen Tammuz, später bekannt als Adonis. Es ist nicht ungewöhnlich für einen Helden, die Liebe und die beispiellosen Geschenke zu verweigern, die ihm eine Göttin anbietet. In all diesen Fällen kommen nur zwei Himmelspersönlichkeiten als mögliche Kandidatinnen für diese Rolle in Frage: Venus und Sirius alias Sothis, der etwas von dem Ruf einer Dirne anhaftet. Es gibt die Geschichte des ugaritischen Aqht, der Anat mit spöttischem Hochmut begegnet,9 oder von Pikos, der das Angebot Kirkes kategorisch ablehnt und demzufolge von der verärgerten Göttin in einen Specht verwandelt wird. Da ist Arjuna – eine „Portion von Indra” –, der die himmlische Urvashi zurückweist, die er als „Mutter meiner Rasse” betrachtet und für ihn „Objekt meiner Verehrung ist … Und es gehört sich für dich, mich als einen Sohn zu beschützen.“10 Da ist auch Tafa’i von Tahiti (Maori: Tawhaki), der mit seinen fünf Brüdern auszieht, um einer Unterweltprinzessin den Hof zu machen. Als Prüfung wird den Verehrern aufgetragen, „einen Ava-Baum mitsamt den Wurzeln herauszureißen, der einem Dämon gehörte, welcher all jenen den Tod gebracht hatte, die versucht hatten, den Baum zu zerstören”. Drei der Bruder werSiehe Cyrus H. Gordon, Ugaritic Literature (1949), 84-103. Diese „Legende von Aqht” ist insofern relevanter, als die Göttin nichts weiter als „den Bogen” haben will, der vom Deus Faber angefertigt wurde und in Aqhts Besitz ist. Und sie verspricht ihm alles, einschließlich der Unsterblichkeit, falls der junge Mann ihr mulBAN, so der schicksalhafte Name des Bogens, überläßt. Für diesen Bogen vgl. oben, Seite 197f. 10 Mbh. 3.45-46. „Vor Wut zitternd“ verurteilte die Göttin Urvashi den Helden dazu, seine Zeit „unbeachtet unter Frauen” zu verbringen „und als Tänzer und bar der Männlichkeit und verhöhnt als Eunuch”. Sie war um so zorniger, als sie sich in Vorfreude, also bevor sie Arjuna tatsächlich aufgesucht hatte, „im Geiste mit ihm auf einem großen und vortrefflichen Bett, das mit Himmelslaken bezogen war, getummelt hatte”. Arjuna wurde von Urvashis Fluch im dreizehnten Jahr des Exils der Pandavas getroffen, aber gegen Jahresende erlangte er seine Manneskraft zurück. 9
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den von dem Dämon verschlungen; Tafa’i erweckt sie wieder zum Leben und verzichtete daraufhin freudig auf die Hand der Prinzessin.11 (Ava = Kawa und steht für den „nächstbesten Ersatz” für Amrita, das Unsterblichkeitsgetränk, welches Eigentum der Götter ist; mythologisch entspricht die polynesische Kawa in etwa dem Soma der vedischen Literatur; sogar die Rolle des „Kawa-Filters” ist eine uralte indische Reminiszenz. Und wie es sich für ein Pseudogetränk-der-Unsterblichkeit gehört, wird es von Maui oder von Kaulu gestohlen, genauso, wie es in Indien geschieht, in der Edda und sonstwo.) Inzwischen steigt die verschmähte Ischtar zornig zum Himmel empor und ringt Anu das Versprechen ab, den Himmelsstier herabzuschicken, um sie zu rächen.12 Der Stier steigt herab und ist gar fürchterlich anzusehen. Mit seinem ersten Schnauben legt er hundert Krieger flach. Aber die beiden Helden packen ihn. Enkidu hält ihn am Schwanz fest, so daß Gilgamesch, quasi als Espada, zum Todesstoß zwischen den Hörnern ausholen kann. Die Kunsthandwerker der Stadt bewundern den Umfang der Hörner: „Aus dreißig Pfund Lasurstein sind sie gebildet.“ (Lapislazuli ist die der Styx geweihte Farbe. In Mexiko ist es Türkis.) Ischtar erscheint auf den Mauern von Uruk und verflucht die beiden Helden, die sie beschämt haben; aber Enkidu reißt dem Himmelsstier die rechte Keule aus und wirft sie ihr unter scheußlichen Verhöhnungen ins Gesicht (Appendix 33). Das scheint in solchen Kreisen zu den eingefahrenen Verhaltensweisen zu gehören. Susa-no-wo machte dasselbe mit der Sonnengöttin Amaterasu, und auch Odin der Wide Jäger verfuhr auf diese Weise mit jenem Mann, der seinen Plan vereitelt hatte. T. Henry, Ancieni Tahiti (1928), 516ff. Auch die ugaritische Anat geht, nachdem sie von Aqht zurechtgewiesen worden ist, zu ihrem Vater und bittet um Rache.Und sie geht „zu ’Il am Lauf der Zwei Flüsse (in der Mitte der Ströme) der Zwei Tiefen” (Gordon, 91). Ginsberg-Übersetzung (ANET, 152): „Zu El von der Quelle der Fluten (in der Mitte der Hauptwasser) der Zwei Meere.”
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Es folgt eine Szene allgemeinen Triumphierens und Frohlockens. Aber die Götter haben beschlossen, daß Enkidu sterben muß, und er wird durch einen düsteren Traum vorgewarnt, nach dem er krank wird.13 Bis hierher ist die Komposition des Epos plump und redundant gewesen; an dieser Stelle wird sie poetisch, obwohl sie redundant bleibt. Die Verzweiflung und das Entsetzen Gilgameschs beim Anblick des Todes seines Freundes ist eine ergreifendere Szene als Prinz Gautamas „Entdeckung” der Sterblichkeit.14 „Hört mich, ihr Ältesten von Uruk, ihr Männer hört mich an! Um Enkidu weine ich, um meinen Freund, Wie ein Klageweib bitterlich klagend! Enkidu, mein Freund, mein [jüngererBrud]er (?),15 Du flüchtiger Maulesel, Wildesel des Gebirges, Panther der Steppe! Nachdem wir, alles gemeinsam verrichtend, den Berg erstiegen, Den Himmelsstier packten und töteten, Auch den Chumbaba umbrachten, der da wohnte im Zedernwald –! Hier wird regelmäßig Genesis XLIX.5-7 ins Spiel gebracht: die „Zwillinge” Simeon und Lewi, wie sie den Stier zerstümmeln; aber wir lassen dieses ganze Kapitel XLIX beiseite, das vor Anspielungen auf verlorenes Wissen nur so strotzt. 14 Die Anführungszeichen, die das Wort „Entdeckung” einschließen, sind eine Vorsichtsmaßnahme, die in unseren, vom Euhemerismus beherrschten Zeiten ratsam erscheint; das erbaulichste unter den Paradebeispielen finden wir in Diakonoffs Rezension von Böhls Übersetzung des GE: „F.M.Th. de Liagre Böhl teilt die Meinung von A. Schott, daß die Frage nach der menschlichen Sterblichkeit ursprünglich unter der Herrschaft von Schulgi erhoben wurde” [= Dritte Ur-Periode, zwischen 2400 und 2350 v. Chr., laut T. Jacobsen, The Sumerian King List (1939), Tafel 11]. Dieses „ursprünglich” reicht aus, um zu demonstrieren, was Orientalisten widerfährt, wenn evolutionistische Platitüden erst einmal Besitz von ihnen ergriffen haben. 15 Siehe Appendix 34. 13
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Was ist das nun für ein Schlaf, der dich gepackt hat? Du wurdest umdüstert und hörst mich nicht mehr!” Der aber schlägt die Augen nicht auf, Und da er nach seinem Herzen faßte, schlug es nicht mehr! Nun, da er dem Freund gleich einer Braut das Gesicht verhüllt hat, Springt er über ihm umher wie ein Adler, Wie eine Löwin, die ihrer Jungen beraubt ist … „Werd ich nicht, sterbe ich, ebenso sein wie Enkidu? Harm hielt Einzug in meinem Gemüte, Todesfurcht überkam mich, nun lauf ich herum in der Steppe; … Es hat ihn ereilt die Bestimmung der Menschheit Um ihn weint’ ich sechs Tage und sieben Nächte, Ich gab nicht zu, daß man ihn begrübe, Bis daß der Wurm sein Gesicht befiel. … Ach, wie soll ich stumm bleiben? Ach, wie schweigen? Mein Freund, den ich liebte, ist zu Erde geworden!“16 Gilgamesch hat kein metaphysisches Naturell wie Buddha. Er 268 begibt sich auf seine große Reise, um Utnapischtim den Fernen zu finden, der an der „Mündung der Flüsse” lebt und der ihm wahrscheinlich sagen kann, wie man die Unsterblichkeit erlangt. Er kommt auf dem Paß des Berges Maschu („Zwillinge”) an, über dessen Gipfeln „nur die Himmelshalde hinwegragt, / Denen unten die Brust an den Höllengrund stößt – / Skorpionmenschen halten am Bergtor wacht, / Deren Furchtbarkeit ungeheuer ist, deren Anblick Tod ist, / Deren großer Schreckensglanz Berge überhüllt, / Die beim Auszug und Einzug der Sonne die Sonne bewachen.”17 Schott: Taf. IX, Col. 11, 4-9. Heidel: Tabl. VIII, Col. II; Tabl. IX, Col. I, 1.3-5 (62ff); Tabl. X Col. II, 1.11-12 (73). Schott: Taf. VIII, Col. II, 13, 8-19 (680; Taf. X, Col. V, 14-16, 20-21 (84). 17 Schott: Taf. IX, Col. II, 4-9. Daß der Maschu-Berg (oder die MaschuBerge) dieses „jeden Tag” tut, wie von Alexander Heidel, Ephraim Avigdor Speiser und anderen übersetzt wurde, ist offensichtlich falsch. Selbst wenn wir uns, um des lieben Friedens willen, auf einen terrestri16
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Der Held wird zwar von Angst und Schrecken ergriffen, aber als er sie inständig anfleht, erkennen die Skorpionmenschen seine zum Teil göttliche Natur. Sie warnen ihn, daß er durch eine Finsternis reisen werde, durch die noch nie jemand gereist sei, aber sie öffnen ihm das Tor. „Dicht ist die Finsternis, kein Licht ist da! / Zum Sonnenaufgang lenkt sich der Weg, / Zum Sonnenaufgang …”18 Während der aufeinanderfolgenden Wegstrecken von erst 1, dann 2, dann 3 und so weiter bis zu 12 Doppelstunden reist er in völliger Dunkelheit. Am Ende gibt es Licht, und er findet sich in einem Garten mit Edelsteinen, Karneol und Lapislazuli wieder, wo er Siduri trifft, die göttliche Bardame, „die da wohnt am Rande des Meeres”. Unter den Augen strenger Philologen – diesen Sklaven der exakten „Wahrheit” – traut man sich kaum, diese vermeintlich „geographische” Einzelheit mit ihrem leicht surrealistischen Beigeschmack näher zu beleuchten. Hier ist eine ausgemacht göttliche Bardame am Rande des Meeres, die in vielen Sprachen einen Namen hat. Ihre Bar muß so lang wie jene berühmt-berüchtigte in Shanghai sein, denn sie hat in ihren Regalen nicht nur Wein und Bier, sondern allerlei fremdländische und antiquierte Getränke vieler Kulturen – wie Honigmet, Soma, Sura (eine Art Weinbrand), Kawa, Pulque (ein berauschendes mexikanisches Agaven-Getränk), Peyote-Cocktail oder Ginseng-Sud. Kurzum: Aus aller Weit bietet sie Rauschgetränke an, welche jenen trübseligen Seelen Trost spenden, denen der Unsterblichkeitstrunk verweigert wird. Alles in allem könnte man diese Getränke Lethe nennen (Appendix 35). Gewissenhafte Übersetzer sind allen Ernstes zu dem Schluß schen Berg einigen sollten, hat die Sonne nicht die Angewohnheit, jeden Tag an derselben Stelle aufzugehen, und es bedarf keiner profunden astronomischen Kenntnisse, um dieser Tatsache gewahr zu werden. 18 Schott: Taf. IX, Col. III, 11-13.
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gekommen, daß es sich bei dem „Meer”, in dessen Abgeschiedenheit die Bardame wohnt, um das Mittelmeer handeln muß; aber es wurde auch für das Armenische Gebirge votiert. Die Reisebeschreibung des Helden läßt jedoch eher an die Himmelslandschaft denken, und die Skorpionmenschen sollten um den Skorpion herum gesucht werden. Dies gilt um so mehr, als lambda epsilon Scorpii zu den babylonischen MaschuKonstellationen gerechnet werden; und diese Zwillinge Lambda- 269 Epsilon spielen als Marduks Waffen auch in dem sogenannten babylonischen Schöpfungsmythos eine wichtige Rolle. Jedenfalls hat Siduri, die in enger Beziehung zu Ägir und Ran der Edda mit ihrer seltsamen „Bierstube” gesehen werden muß – und zu der Nonne Gertrude, in deren Gasthaus die Seelen ihre erste Nacht nach dem Tod verbringen (siehe oben, Seite 192) –, Mitleid mit Gilgamesch in seinem abgerissenen Zustand und hört sich seine Klagegeschichte an. Sie rät ihm jedoch, wieder nach Hause zu gehen und das Beste aus seinem Leben zu machen. Sogar Schamasch kommt zu ihm und sagt ihm: „Das Leben, das du suchst, wirst du sicher nicht finden!” Aber Gilgamesch hat nach wie vor Angst vor dem ewigen Schlaf: „Mögen meine Augen die Sonne erblicken, ich am Licht mich ersättigen.”19 Und er besteht darauf, daß man ihm den Weg zu Utnapischtim zeigt. Siduri warnt ihn: „Nicht gab es, Gilgamesch, je eine Übergangsstelle, / Und niemand, der seit vergangenen Zeiten herkommt, geht übers Meer. / Meerüberschreiter ist nur Schamasch, der Held; / Wer geht außer Schamasch hinüber? / Mühe schafft der Übergangsort, mühselig ist der Weg dahin, / Und dazwischen liegt das Gewässer des Todes, das unzugänglich ist!“ Außerdem warnt sie ihn, daß sich bei den Gewässern des Todes Urschanabi aufhält, „Utnapischtims Schiffer! … Geh hin, daß er dein Angesicht schaue!“20 Altbabylonische Version, Schott: Taf. X, Col. I, 8, 13. Assyrische Version, Schott: Taf. X, Col. II, 21-25, 28, 30, Schanabi bedeutet 40, Ur-schanabi so etwas wie „er von 40”; Hummel übersetzt
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Siduri/Sabitu sitzt „auf dem Thron des Meeres” (kussu tamtim), und indem William Faxwell Albright21 einen Gedanken von Peter Jensen aufgreift, vergleicht er Siduri eingehend mit Kalypso, deren Insel Ogygia von Homer „der Nabel des Meeres” (omphalos thalassēs) genannt wird. Ferner weist Albright auf „die gleichartige Gestalt der Ischara tam.tim” hin, Ischara des Meeres, wobei letztere die Göttin von Scorpius ist22 und mit der ägyptischen Skorpion-Göttin Selket korrespondiert, wie auch mit „Mutter Skorpion … die am Ende der Milchstraße wohnt, wo sie die Seelen der Toten empfängt; und von ihr, die als Mutter mit vielen Brüsten, an denen Kinder saugen, vorgestellt wird, kommen die Seelen der Neugeborenen.” Diese „Mutter Skorpion” ist eine rechtmäßige Bürgerin des antiken Nikaragua und Honduras,23 ein Ableger der „Alten Göttin mit dem Skorpionschwanz” der Maya.24 An diesem Punkt tritt noch eine weitere Variante des entmutigenden Zusammenbruchs der Kommunikation zwischen Gelehrten auf Die Geschichte des Gilgamesch für ein „normales Epos” haltend, suchen die Orientalisten nach Spuren des Helden in der physischen Landschaft des Nahen Ostens und ignorieren dabei die Arbeit gleichermaßen gebildeter Gelehrter, deren wohlpräpa„Priester von 40”. 21 W.F. Albright, „The Goddess of Life and Wisdom”, AJSL 36 (19191920), 258-294. 22 Siehe Appendix 36 sowie Abb. 25 bis 27. Der Name der Göttin wird Isch-chara ausgesprochen. 23 H.B. Alexander, Latin American Mythology (1920), 185. 24 Die vielbrüstige Mutter Skorpion Zentralamerikas paßt gut zu dem Bauernkalender im alten Rom, der den Skorpion Diana zuschreibt [siehe F. Boll, Sphaera (1903), 473; W. Gundel, RE s.v. Scorpius, 602]. Es bleibt allerdings noch im Dunkeln, was Athanasius Kircher dazu veranlaßte, die vielbrüstige Diana der Epheser im Wassermann unterzubringen und diesen Himmelsbezirk überdies „Regnum Canubicum” zu nennen.
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rierte und -sortierte Werkzeugkästen seit langem für die Suche zur Verfügung stehen. Man fragt sich, ob die Orientalisten in ihrem festen Entschluß, den Text zu rekonstruieren, überhaupt jemals etwas von Boll und Gundel oder Männern wie ihnen gehört haben. Vielleicht nicht, denn sie gehen wortlos an ihnen vorbei. Auf alle Fälle ist es angebracht, hier zum wiederholten Mal zwei wertvolle Werkzeugkästen zu erwähnen, die von Franz Boll25 zusammengestellt wurden, der die gesamte Überlieferung über die Sternbilder „Hades”, „Acherusischer See” und „Fährmann” zusammenträgt und dabei weitaus mehr Details nennt, die in der astrologischen Überlieferung überlebt haben, als wir im Moment benötigen. Diese Topoi sind gemeinsam in der Nähe der südlichen Kreuzung von Galaxis und Ekliptik auffindbar, also zwischen Scorpius und Sagittarius. Boll hebt hervor, daß Vergil und Dante anstelle der Skorpionmenschen26 Kentauren vor den Eingang der Unterwelt postieren, die den Schützen verkörpern. Zurück aber zu der Suche: Gilgamesch erblickt Urschanabi und rechnet damit, über die Todesgewässer geschifft zu werden. Der Bootsmann gibt sich jedoch zurückhaltend, denn Gilgamesch habe die „Steinbilder” zerbrochen (Appendix 37). Aber nach langem Hin und Her weist er den Pilger schließlich F. Boll, Sphaera, 19f, 28, 48, 173, 246-161; Aus der Offenbarung Johannis (1914), 71ff, 143. Siehe auch W. Gundel, Neue Texte des Hermes Trismegistos (1936), insb. 235ff (auf Seite 207 plädiert er anstelle des Schützen für Centaurus als Wächter der Unterwelt). 26 Der Königsmantel Heinrichs II zeigt die eingewebte Verlautbarung Scorpio dum oritur, mortalitas gimnitur (= gignitur). E. Maass, Commentariorum in Aratum Reliquiae (1898), 602; R. Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt (1910), 13; F. Boll, Aus der Offenbarung, op.cit., 72. Wir können zudem auf Ovids Schilderung des Sturzes von Phaethon verweisen, derzufolge der Sohn von Helios die Nerven verlor und die Zügel losließ, als der Skorpion sich näherte; sowie auf den Tod von Osiris am 17. Athyr, dem Monat, in dem die Sonne durch Scorpius ging (Plutarch, De Isis et Osiris, c. 13, 356c). 25
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an, „120 Stangen zu fünfmal zwölf Ellen” zu schneiden. Mit diesen muß er das Boot so staken, daß seine Hände nicht mit dem Gewässer des Todes in Berührung kommen können. Endlich erreichen sie das weit entfernte Ufer; und dort ist Utnapischtim der Ferne. Der Held ist verwirrt: „Schau ich auf dich, Utnapischtim, / So sind deine Maße nicht anders – wie ich bist du, / Ja, du bist nicht anders – wie ich bist du! / Mein Herz ist ganz darauf gerichtet, mit dir zu kämpfen, / Und doch ist mein Arm untätig gegen dich! / Daher sage mir: wie tratst du in die Schar der Götter und gingst dem [immerwährenden] Leben nach?”27 Utnapischtim ist munter genug, in allen Einzelheiten die Geschichte der Sintflut zu erzählen. Er schildert, wie ihn Enki/Ea vor Enlils Beschluß warnte, die Menschheit auszulöschen, und ihn anwies, die Arche zu bauen, ohne anderen etwas von der drohenden Gefahr zu sagen. „Du Mann, zu ihnen sollst also du reden: … So will ich steigen hinab zum Apsu. Dann wohn ich bei meinem Herrn Ea.” Mit großer Sorgfalt beschreibt er den Bau und das Kalfatern des Schiffs: sechs Decks, ein iku (Acre = 4.047qm) die Bodenfläche, dasselbe Maß für jede Seitenwand, so daß es ein perfekter Würfel war, genau wie Ea ihn zu tun beauftragt hatte. Dieses Maß „1-iku” ist der Name des Pegasus-Vierecks (Abbildungen 34 bis 41) sowie auch des Marduk-Tempels in Babylon, wie aus dem Neujahrs-Ritual in Babylon hervorgeht, wo es heißt: „Iku-Stern Esagil, Bild von Himmel und Erde.“28 Schamasch hatte Utnapischtim wissen lassen, wann er das Schiff betreten und die Tür schließen solle. Dann öffnen sich die Schleusen des Himmels: „Eragal [= Nergal] reißt den Schiffspfahl heraus [ApSchott: Taf. XI, 2-7. Übersetzt von Abraham Sachs, ANET, 332, II. 275ff. Bezüglich des Rechtecks von Pegasus siehe B.L. van der Waerden, „The Thirty-Six Stars”, JNES 8 (1949), 13-15; C. Bezold, A. Kopff und F. Boll, Zenit- und Äquatorialgestirne am babylonischen Fixsternhimmel (1913), 11. Vgl. auch Willy Hartner, Die Goldhörner von Gallehus (1969), 54ff, 61f, 65, 98, l00ff.
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pendix 38], Ninurta geht, läßt das Wasserbecken ausströmen, / Die Annunaki29 hoben Fackeln empor, / Mit ihrem grausen Glanz das Land zu entflammen. / Die Himmel überfiel wegen Adad Beklommenheit,30 / Jegliches Helle in Düster verwandelnd … / Vor dieser Sintflut erschraken die Götter, / Sie entwichen hinauf zum Himmel des Anu – / Die Götter kauern wie Hunde, sie lagern draußen (?)!31 /Es schreit Ischtar wie eine Gebärende, /Es jammert die Herrin der Götter, die schönstimmige: / ,… Wie konnte in der Schar der Götter ich Schlimmes gebieten, / Den Kampf zur Vernichtung meiner Menschen gebieten! / Erst gebäDiese göttlichen Wesen der „Unterwelt” (ihre Äquivalente „oben” sind die Igigi) wurden auch A-nun-na-nunki (Deimel, PB, 57f) geschrieben, das heißt, daß sie zu NUNki = Eridu (Canopus) gehören, dem Sitz von Enki/Ea. Der sumerische Name Anunna wird laut Adam Falkenstein [„Die Anunna in der sumerischen Überlieferung”, in Festschrift Landsberger (1965), 128ff] als „(Götter, die) der Samen des ,Prinzen’ (sind)” interpretiert. Siehe auch D.O. Edzard, „Die Mythologie der Sumerer und Akkader”, in Wörterbuch der Mythologie, I, 42: „Die ‚fürstlichen’ Samens [sind]”, wobei der „Prinz” (NUN) Enki/Ea von Eridu ist. Bezüglich NUN = „Prinz”, von Thorkild Jacobsen definiert als „jemand mit einer Autorität, die nur auf Respekt beruht und Dispute auslöst, ohne auf Gewalt zurückzugreifen”, erwähnt Falkenstein höflich: „Ganz abweichend K. Oberhuber: Der numinose Begriff ME im Sumerischen, S. 6f.” Der Titel dieses Werks (Innsbruck 1963. Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Sonderheft 19) drückt zu genüge die Vorschläge zu ME, NUN und anderen Termini aus, die in ihm enthalten sind. 30 E.A. Speiser, ANET, 94, Fußnote 207, bemerkt: „Der Terminus šuharratu … bedeutet nicht ‚Zorn’, sondern ‚Erstarrung, Verwirrung, Bestürzung’”, und er übersetzt 11.106-106: „Bestürzung über Adad erreicht das Himmelsgewölbe, / Der all das in Schwärze verwandelte, was Licht gewesen war.” [A.d.Ü.: Diese letzte Anmerkung bezieht sich auf die Heidel-Übersetzung des GE, in der es heißt: „The raging of Adad reached unto heaven …”] 31 E.A. Speiser (11.115): „Die Götter kauern wie Hunde, gegen die Außenwand geduckt.” 29
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re ich meine lieben Menschen, / Dann erfüllen sie wie Fischbrut das Meer.’/ Die Anunnaki-Götter klagen mit ihr, / Die Götter (…) sitzen da und weinen.”32 Das Ende der Geschichte ähnelt fast haargenau Noahs Landung auf dem Berg, nur daß Noah einen Raben und zweimal die Taube ausschickt, während Utnapischtim Taube, Schwalbe und Raben fliegen läßt.33 Als Enlil noch immer erzürnt war, weil eine Familie hatte entfliehen können, stellte ihn Enki/Ea zur Rede, er, der allein „sich auf alles versteht” (XI.176), um ihn zu fragen: „Ach, wie machtest unüberlegt du die Sintflut?” In aller Schärfe fügte er hinzu, Enlil hätte nur die Sünder bestrafen und die Unschuldigen verschonen können. Diese Bemerkung gehört zu denen, über die fromme Bibelexegeten noch immer nachgrübeln. Enlil ging daraufhin zur Arche, bat um Verzeihung und gewährte Utnapischtim und dessen Frau die Unsterblichkeit: „Uns Göttern gleiche fortan Utnapischtim und sein Weib! Wohnen soll Utnapischtim fern an der Ströme Mündung!” (XI.194-195) „Wer aber”, beschließt der alte Mann seine Erzählung (XI.197ff), „wird nun zu dir die Götter versammeln, daß du findest das Leben, welches du suchst? Auf, begib des Schlafs dich sechs Tage und sieben Nächte!” An dieser Stelle erhalten wir einen freundlichen Hinweis vom Alten-der-Tage (Sumerisch: Ziusudra, bei Berossos: Xisuthros), auch Atrahasis genannt, „der Außerordentlich Weise”. Er läuft auf folgende Aussage hinaus: „Junger Mann, du bist in das Land Schott: Taf. XI, 101-106, 113-117, 120-126. Die Quellenangaben im Text beziehen sich ebenfalls auf die Übersetzung von Albert Schott. 33 Gewöhnlich neigt man dazu, Motive wie das Aussenden von Vögeln – ganz zu schweigen von der speziellen Gattung – für untergeordnet zu halten, aber mit ihrer gründlichen Untersuchung The Raven and the Carcass: An Investigation of a Motif in the Deluge Myth in Europe, Asia, and North America (1962) kann uns Anna B. Rooth eine bemerkenswerte Lektion erteilen. 32
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gekommen, wo die Zeit zu ihrem Ende gelangt ist; und die uns gewährte Unsterblichkeit besteht darin, bei Bewußtsein zu bleiben und an der Wahrheit teilzunehmen, während wir nicht völlig wach sind. Versuch das mal.” Aber Gilgamesch schafft es nicht: „Als er sich nun zu Boden setzt – Wie ein Nebel haucht der Schlaf ihn an.” (XI.200ff) Man kann sich vorstellen, wie Atrahasis/Utnapischtim während Gilgameschs Schlaf einige wesentliche Dinge erklären würde: Der Außerordentlich Weise würde auf „seinesgleichen” verweisen, auf Kronos, der auf Ogygia in einer goldenen Höhle schläft, wie von Plutarch geschildert wird,34 und dennoch kontinuierlich „all die Maße der gesamten Schöpfung” an seinen geliebten Sohn Zeus weitergibt, wie von Proklos geschildert wird.35 Unbefangen würde sich der Außerordentlich Weise auf Gestalten berufen, die sowohl zeitlich36 als auch geographisch weit entfernt sind, wie allein er berechtigt ist, es zu tun – zum Beispiel auf Kiho-tumu, den Schöpfergott der Tuamotu-Inseln, Kiho- 273 Plutarch, De facie in orbe lunae 941A. Siehe Fragment Nr. 55, Orphicorum Fragmenta hrsg. von O. Kern (1963). 36 Die ältesten und präzisesten Merkmale haben ein überraschendes Talent zum Überleben und zum Auftauchen an unerwarteten Orten. Roger Sherman Loomis [Arthurian Literature in the Middle Ages (1959), 70f] sagt: „Wir haben eine einzigartige Version über Arturs Überleben, auf die um (190 Gottfried von Viterbo, Sekretär von Friedrich Barbarossa, anspielt. Merlin prophezeit, daß der König, obwohl er seinen Wunden erliegt, nicht ganz sterben wird, sondern in den Tiefen des Meeres aufbewahrt und, wie zuvor, für immer herrschen wird.“ Wie konnte der Sekretär von Friedrich Barbarossa – ein Kaiser, der selbst an den Ort gebunden war, wo abgelaufene Zeitalter und ihre Herrscher schlafen – in den Besitz der „richtigen” Version gelangen? [Überdies wären wir froh, zu erfahren, wo der Archäologe Pierre Plantard – zitiert von Gerard de Séde, Les Templiers sont parmis nous (1962), 280 – in den Besitz der Information gelangte über „Canopus, l’oeuil sublime de l’architecte, qui s’ouvre tous les 70 ans pour contempler l’Univers”.] 34 35
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tumu die „All-Quelle” (All-Source), der mit dem Gesicht nach unten in „Groß-Havaiki-dem-Unerreichbaren” schläft und doch in Aktion tritt, wenn die „Administration” die von ihm aufgestellten „Gesetze” und Maße überschreitet. Mit den liebenswürdigsten Worten würde Utnapischtim die Kinder unseres Jahrhunderts ermahnen, die Göttermumien von Ptah und Osiris – Osiris der „stratêgos” des Schiffs Argo – zu begreifen und zu beginnen, über die Mumien von Göttern im allgemeinen nachzudenken, über die Idee von den Sieben Schläfern von Ephesus an Bord der Argo, über die Angaben im Liber Hermes Trismegistos über die relevanten Grade (im Stier, sich mit Breiten südlich des Schiffs beschäftigend), die zu Saturn gehören und „continua vero delectatio, diminutio substantiae, remissio malorum” bedeuten. Atrahasis würde von dem „Alten Unsterblichen des südlichen Himmelspols” der Chinesen erzählen, von den zahlreichen schlafenden Kaisern in Berghöhlen (Appendix 39) – und die Stunden würden wie Sekunden vergehen; aber man weiß, daß Utnapischtim, halb träumend und halb lehrend, dennoch die ganze Zeit ein Auge auf den schlafenden „Helden” hätte. Er sagt zu seiner Frau; „Ist dies der starke Mann, der möchte, daß das Leben ewig währt?” Und dann weckt er jenen Mann am siebten Tag auf, und der erschreckte Gilgamesch reagiert folgenderweise: „Sowie der Schlaf auf mich niederquoll, / Hast du alsbald mich angerührt und mich aufgestört!” Les jeux sont faits. Man gibt ihm Kleider zum Wechseln und bedeutet ihm, nach Hause zu gehen. Dem Bootsmann Urschanabi wird aufgetragen, ihn zu begleiten; und offensichtlich gibt es für Gilgamesch keine Rückkehr zur pī nārāti, zur Mündung der Flüsse. In letzter Minute sagt jedoch Utnapischtims Ehefrau zu ihrem Mann: „Gilgamesch kam, hat sich abgemüht, abgeschleppt – Was solltest du ihm geben, daß er kehrt in die Heimat?” Utnapischtim hat Erbarmen und wendet sich an den Helden:
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„Ein Verborgenes, Gilgamesch, will ich dir enthüllen, und ein Unbekanntes will ich dir sagen: Es ist ein Gewächs, dem Stechdorn ähnlich. Wie die Rose sticht dich sein Dorn in die Hand. Wenn dieses Gewächs deine Hände erlangen, findest du [neues] Leben!” (XI.264-270)
„Neues Leben” klingt irreführend, und Speiser bemerkt: „Man beachte, daß es sich um einen Prozeß der Verjüngung und nicht um einen der Unsterblichkeit handelt.”37 Um in den Besitz dieser Pflanze zu gelangen, die offenbar in einem Schacht wächst, der zum Apsu führt und den der Held öffnen muß, taucht Gilgamesch tief hinab und beschwert sich dabei mit Steinen. Aber dann, als er mit dem Schiffer bereits auf dem Heimweg ist und anhält, um in einem Brunnen zu baden, kriecht eine Schlange (wörtlich: Erdlöwe) aus dem Wasser, schnappt sich die Pflanze – und häutet sich, während sie ins 274 Wasser zurückkehrt. Die letzte Hoffnung ist dahin – zumindest hat es so den Anschein in der Übersetzung. Da dies kein Handbuch über das Gilgamesch-Epos ist, muß diese ganze Geschichte mit der Pflanze, dem Tauchen und dem schicksalhaften Bad im Brunnen so stehen bleiben, wie sie ist – obgleich jedes Wort wie eine Fußangel ist (Appendix 40) –, um zu dem Punkt zu kommen, auf den es jetzt ankommt. Das Boot an der Küste zurücklassend, müssen Gilgamesch und der Bootsmann weitere 50 Doppelstunden zurücklegen, bis sie zu Hause ankommen. Als sie hinein nach Uruk-Gart kamen, sprach Gilgamesch zu ihm, zum Schiffer Urschanabi: „Steig einmal, Urschanabi, auf die Mauer von Uruk, geh fürbaß, prüfe die Gründung, besieh das Ziegelwerk, ob ihr Ziegelwerk nicht aus Backsteinen ist, ihren Grund nicht legten die sieben Weisen!” (XI.301-305)
Doch noch bevor das Epos überhaupt anfing (Tafel I, 19), hieß es bereits, daß „die sieben Weisen” den Grund für die Stadt Uruk 37
E.A. Speiser, ANET, 96, Fußnote 227.
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gelegt hatten. Der Kreis hat sich also geschlossen. Aber was heißt das? Warum wird Urschanabi als einziger gebeten, Uruk zu vermessen, das – den Regeln entsprechend – von sieben Mauern umgeben ist? Und was haben die Sieben Weisen mit der Grundsteinlegung von Gilgameschs Stadt zu tun? Um die letzte Frage zuerst zu beantworten: Die Sieben Weisen sind die Sterne des Großen Wagen, die indischen Saptarshi, die Sieben Rishis.38 Während mehrerer Jahrtausende lief der Solstitialkolur durch einen Stern dieser Konstellation nach dem anderen (beginnend mit Eta um 4000 v.Chr.); die Inder nannten den Solstitialkolur denn auch „the line of the seven Rishis” (die Sieben-Weisen-Linie, siehe erneut Abbildungen 23 und 24), und für die Bestimmung und Festlegung dieses Kolurs hat man die „internationale” Formel „den Himmel aufhängen” geprägt. Die Babylonier nannten den Großen Wagen „Himmelsband”, „Mutterband des Himmels”, die Griechen schrieben ihn „Omphaloessa”. Nächste Frage: Warum ist es Angelegenheit des Schiffers vom „Zusammenfluß der Ströme” (denn das ist es, was pī nārāti bedeutet), die Maße von Uruk zu überprüfen? Es ist anerkannt, daß der Name des Bootsmanns „Diener (oder Priester) von 40 oder von 2/3” war,39 und das macht ihn zu einem „Stück” – oder wie auch immer man das benennen möchte – von Enki/Ea, genannt Schanabi = 2/3 (von 60 = 40). Enkis Residenz ist Eridu, am Zusammenfluß der Ströme, also am mulNUNki = Canopus (alpha Carinae), dem Sitz der me, der Normen und Maße. Von dort müssen diese me herbeigeschafft werden. Urschanabi scheint Und genauso, wie die indischen Schriften viel zu sagen wissen über die Sieben Rishis mit ihrer Schwester (und Ehefrau) Arundati, so reden auch die mesopotamischen von den „Sebettu mit ihrer Schwester Narundi” [siehe Heinrich Zimmern, „Die sieben Weisen Babyloniens”, ZA 35 (1923), 153; D.O. Edzard, I, 55; Hildegard und Julius Lewy, „The Origin of the Week”, HUCA 17 (1942-1943), 44]. Arundati = Alkor, der winzige Stern neben zeta Ursae maioris. 39 Siehe auch S. Langdon, Semitic Mythology (1931), 213. 38
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durch enge Familienbande an Enki/Ea geknüpft, nämlich sein Schwiegersohn zu sein, der Ehemann von Nansche.40 Zahlreiche Texte und Inschriften zeigen, daß Enki/Ea, der Herr des Apsu, für den Grundplan der „Tempel” zuständig war, und zwar sowohl der himmlischen als auch der irdischen. Diejenige, welche die Pläne eigentlich zeichnete – mit dem „heiligen Griffel” von Eridu –, war Nansche, Enkis Tochter, Und ihr, der Ehefrau von Urschanabi dem Schiffer, „war das heilige Schiffsheck geweiht”.41 Wenn man bedenkt, daß die Argo nur aus einem Achterschiff besteht und daß Eridu/Canopus das Steuerruder der Argo markiert, dann ist der Schluß angebracht, daß sich Gilgamesch, indem er Urschanabi persönlich mitbringt, „die me von Eridu” besorgt hat. So wird es im sumerischen „Dialekt” dargestellt;42 in der internationalen mythologischen Sprache liest sich der Terminus technicus „die Tiefe des Meeres messen”. Odysseus übrigens, fortgeschrittener und entsprechend erheblich bescheidener als Gilgamesch, brachte nicht einmal ein veritables Ruder mit von Teiresias. Er besorgte sich von letzterem nur jenen Rat, nach welchem er später ein Ruder nehmen und es so weit ins LandesT. Jacobsen, „Parerga Sumerologica”, JNES 2 (1943), 117f, Siehe auch D.O. Edzard, I, op.cit., 109. 41 Gudea Cylinder A XIV, in A. Falkenstein und W. von Soden, Sumerische und Akkadische Hymnen (1953), 152; siehe auch Fritz Hommel, Die Schwur-Göttin Esch-Ghanna und ihr Kreis (1912), 57. 42 Siehe zum Beispiel S. Kramers Sumerian Mythology (1944), 64-88, sowie sein Enmerkar and the Lord of Aratta (1952), 11. Wir neigen zu der Überzeugung, daß jener vieldiskutierte „Gott Boot” (Dieu Bateau) auf zahlreichen Siegelzylindern „die me von Eridu bringt”, insbesondere, wenn die Siegelbilder einen Grundplan oder einen im Bau befindlichen Stufenturm zeigen. Siehe Pierre Amiet, La Glyptique Mesopotamienne Archaïque (1961), 177-186, Tafel 106-109; Henry Frankfort, Cylinder Seals (1939), 67-70, Tafeln XIV, XV, XIX-XIX; siehe auch Abbildungen 42 bis 45 in diesem Buch. An anderem Ort wird darauf ausführlicher eingegangen werden. 40
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innere tragen sollte, bis er auf Menschen traf, die noch nie ein Schiff gesehen noch von einem solchen gehört hatten (Appendix 41). Daß Gilgamesch die Welt „vermißt”, wird nun ausdrücklich in einem Text gesagt. (Daß diese Wahrheit unfreiwillig ausgerechnet von jenem Übersetzer verbreitet wird, welcher meinte, „daß er alles sah”, macht sie um so angenehmer.) Die von Wilfred G. Lambert zitierte Invokation lautet: Gilgamesh, supreme king, judge of the Anunnaki, deliberative prince, the … of the peoples, Who surveys the regions of the world, bailiff of the underworld, lord of the (peoples) beneath, You are a judge and have vision like a god. You stand in the underworld and give the final verdict. Your judgement is not altered, nor is your utterance neglected. You question, you inquire, you give judgement, you watch and you put things right Shamash has intrusted to you verdicts and decisions. In your presence kings, regents and princes bow down, You watch the omens about them and give the decision.43
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Daß weder dieser noch andere eindeutige Hinweise auf jene Gelehrten Eindruck machen können, welche sich ein für allemal als Euhemeristen begreifen, versteht sich von selbst. Lambert erwähnt einen Text (43), der sich mit dem Graben von Brunnen beschäftigt und „eine Anleitung für die Sprechweise der Worte ‚der Brunnen von Gilgamesch’ enthält …, wenn der Brunnen gegraben ist. Da, wenn das Wasser erreicht ist, eine Libation für Schamasch, die Annunaki und jedweden anderen Geist fällig ist, wird der Brunnen als Verbindung mit der Unterwelt verstanden.” {Appendix 42) Jeder unvoreingenommene Student, der von diesem Text erfahrt, würde wenigstens für ein paar Minuten W.G. Lambert in Gilgamesh et sa légende (1960), 40. Vgl. E. Ebeling, Tod und Leben nach den Vorstellungen der Babylonier (1931), 127: „der die Welträume überschaut.” (A.d.Ü.: In diesem Falle wurde das englische Zitat beibehalten, da sonst die Kritik der Autoren an der Übersetzung des Verbs „to survey” weniger nachvollziehbar wäre.)
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ins Grübeln geraten über jenen geöffneten Wasserschacht oder über den Brunnen, in dem der „Held” ein Bad nahm. Es scheint offensichtlich, daß die Angaben über Gilgamesch – so inkompatibel sie sich im Moment auch anhören mögen – früher oder später auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden müssen. Aber es sieht nicht danach aus, als würde dies jemals zustande gebracht, es sei denn, die Spezialisten gäben verschiedene ihrer fest verwurzelten Vorurteile auf und entschlössen sich zu einer gründlichen Neuüberprüfung des gesamten Falls. Es lohnt sich, die Aufmerksamkeit auf Informationen zu richten, wie sie etwa von Strabon (XVI.1.5) über das Grab von Bel (ho tou Bēou taphos) in Etemenanki, dem Turm zu Babel, gegeben wird, und sich um den vertrackten mesopotamischen Text zu kümmern, der von Göttern handelt, die sich gegenseitig den Hals abschneiden und einander die Augen ausreißen. Auch könnte es sich als lohnenswert erweisen, sich die Gräber von Anu und Marduk anzuschauen44 und über die fundamentale Rolle des Abaton in Philae nachzudenken, über das Grab des Osiris45 sowie über Göttergräber ganz allgemein. Das GrundE. Ebeling, Tod und Leben (1931), 25f, 39; siehe auch Gerhard Meier, „Ein Kommentar zu einer Selbstprädikation des Marduk aus Assur”, ZA 47 (1942), 241-248. Heinrich Zimmern, „Zum babylonischen Neujahrsfest”, BVSGW 58 (1906), 127-136. Svend Aage Pallis, The Babylanian Akītu Festival (1926), 105-108, 200-143. 45 Abgesehen von der Schabaka-Inschrift, deren Ende von größter Wichtigkeit ist, werden die höchsten Eide von den Ägyptern „bei Osiris, der in Philae liegt” geschworen, wie wir von Diodoros (I.C.22) erfahren. Die griechischen Götter leisteten ihren feierlichsten Eid bei den Wassern der Styx. Wir erinnern an Vergils Information über die Styx, die den südlichen Himmelspol sieht, sowie über die Anhänger von Zeus, die, bevor sie Kronos angriffen, bei Ara (= Sternbild des Altars) schworen. Unter den südlichen zirkumpolaren Konstellationen sind ziemlich regelmäßig „Schwur-Sterne” zu finden [siehe z.B. L. Ideler, Sternnamen ((1809), 238, 249]. Was das Schwören bei Gilgamesch betrifft, siehe Ebeling, op.cit., 127. Vergleiche auch Pallis (op.cit., 238), der 44
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problem, das es zu überwinden gilt, ist unsere Unwissenheit über die Bedeutung des Fachausdrucks „Grab” – ob wir es mit dem Omphalos zu Delphi, dem Grab von Python,46 mit dem „Grabhügel der tanzenden Myrina” (Ilias 2.814), mit dem Grabhügel von Lugh Lamhfadas Stiefmutter, um den herum die Spiele von Taillte ausgetragen wurden, oder ob wir es mit einer der vielen anderen Grabstätten zu tun haben. Was hier auftaucht, ist der Verdacht, daß „Uruk” für ein „neues” Totenreich steht und daß Gilgamesch derjenige ist, welcher ausersehen war, „den Weg” zu diesem Wohnsitz „zu öffnen” und sein König sowie der Richter über die Toten zu werden, wie Osiris und auch Yama, von dem der Rigveda sagt (X.14.1-2): „Der den großen Wasserläufen nachgezogen ist und für viele den Weg entdeckt hat, dem Vivasvats Sohn, dem Sammler der Menschen, dem König Yama huldige mit Opfer! Yama hat uns zuerst den Weg aufgefunden; dieser begangene Weg ist (uns) nicht mehr zu entreißen; auf welchem (Wege) unsere Vorväter abgeschieden sind, auf dem (ziehen) die Geborenen je ihre Straße.”47 die „Mysterien des Osiris” in Abydos mit dem babylonischen Neujahrsfest vergleicht, das um den „toten” Marduk herum (der während der Zeremonien „in der Mitte von Tiamat” sitzt) inszeniert wurde. 46 Omphalos gehört zu den Begriffen, die zwar schnell gesagt, aber nur schwer „vorstellbar” sind. Doch während des Mittelalters wurde Jerusalem – mit dem Heiligen Grab – als Omphalos der Erde verstanden, und darüber hinaus wurde die Grabstätte von Adam unter dem Kreuz in Golgatha lokalisiert, „in der Mitte der Erde”. Siehe zum Beispiel Vita Adae et Evae in F. Kampers, Mittelalterliche Sagen vom Paradiese und vom Holze des Kreuzes Christi (1897), 23, 106f; W.H. Roscher, Omphalos (1913), 24-28. Auch dieser Formelkomplex muß andernorts ausführlich behandelt werden. 47 Vgl. Atharva Veda 18.1.50 (Whitney-Übersetzung): „Yama first found for us a track, that is not a pasture to be borne away; where our former Fathers went form, there (go) those born (of them), along their own roads.”
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Daß weder von Yamas noch von Gilgameschs „Weg” ursprünglich angenommen wurde, für immer und ewig zu gelten, versteht sich von selbst. Die me müssen immer wieder aufs neue von Eridu herbeigeschafft werden, respektive muß die Tiefe des Meeres immer neu gemessen werden; und immer wieder muß der Himmel mittels der „Linie der sieben Rishis” „aufgehängt” werden – die riesige Präzessionsuhr bleibt nicht stehen. Was statt dessen stehen blieb, ist das Verständnis unter den Erben der mythischen Sprache, die aus Ignoranz nicht in der Lage waren, dieses Idiom „präzedierten” Verhältnissen anzupassen. Ohne zu überlegen verwandelten sie einen Film in eine Serie von Standfotos, indem sie eine komplexe Bewegung auf konventionelle Plakate projizierten; und mit diesem Maßnahme zerstörten sie den ganzen Sinn eines sorgfältig durchdachten Systems.48 Man könnte das als eine untergeordnete Tragödie abtun; aber es ist gerade eine jener „Fortschrittsmaßnahmen”, die gewaltsam die Kontinuität der Überlieferung unterbricht. Es muß mehrere solcher eruptiven und rücksichtslosen „Stilkorrekturen” gegeben haben – ansonsten wäre es völlig unbegreiflich, warum die meis- 278 ten unserer ältesten Texte aus „Scholien” bestehen, die das eine oder andere „vorsintflutliche Buch mit sieben Siegeln” interpreIn unseren höchst unachtsamen Zeiten wird es nicht einmal jemand bemerken, wenn in nicht allzu ferner Zukunft der Löwe im Meer ertrinkt, sobald er das Herbstäquinoktium erreicht hat: Die Konstellation des Löwen, der unumstrittene „König” der heißen Savannen, wurde zu einer Zeit geprägt, als Seine Majestät des Zodiaks über das Sommersolstitium herrschte, dem höchsten und heißesten „Punkt” der Sonnenbahn. Und wer wird sich um den bedauernswerten Wassermann kümmern, der kein Wasser mehr aus seinem Krug zu verschütten hat, sobald er am Frühlingsäquinoktium angekommen ist – aber wer hat damals an die armen Fische gedacht, die seit der Zeit Christi, dem Eröffner des Pisces-Alters, „hoch und trocken” auf dem Festland nördlich des Äquators liegen? Offiziell wird sein Titel „Fisch”, griechisch Ichthys* von den Anfangsbuchstaben von „Iēsous Chreistos Theou Yios Sotēr” abgeleitet: Jesus Christus Gottes Sohn Erlöser. 48
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tieren. Im Falle der soeben erwähnten mißachteten Tragödie49 – einer Tragödie, die aus Geistesabwesenheit resultiert – wurde der Gnadenschuß jener Überlieferung gegeben, welche „uns“, die Menschheit, als Einheit begründet hatte. Und wenn wir nicht Platons Timaios hätten, wäre es ein insgesamt hoffnungsloses Unterfangen, den Grund zu verstehen, warum es in jenen „archaischen” Zeiten obligatorisch war, die gewaltige kosmische Uhr mit höchster Sorgfalt zu beobachten. Dieser Essay könnte viele Kapitel auf den Timaios verwenden, auf jenen „Topos”, dem alle „Flüsse” kosmologischen Denkens entspringen und in den sie wieder zurückfließen; und einige weitere Kapitel könnten Phaidros und dem Politikos oder der Epinomis (intartarosiert durch das Etikett „Pseudo-”) gewidmet werden. Aber wir wollen es kurz machen. Wir lassen die eigentliche „Schöpfung” beiseite, die Timaios wie die Fabrikation eines Planetariums stilisiert – was exakt der Grund ist, warum diese Schöpfung für Nicht-Mathematiker so schwierig zu verstehen ist. Aber hier geht es auch so. Was zählt, ist folgendes: Nachdem der timäische Demiurg das „Gerüst”, Skambha, konstruiert hatte, das vom Äquator und von der Ekliptik beherrscht wird – bei Platon „der Selbige” und „der Andere” genannt –, die ein X (schreib X, sprich Chi) repräsentieren; und nachdem er die Umlaufbahnen der Planeten entsprechend harmonischen Proportionen reguliert hatte, schuf er „Seelen“. Bei ihrer Herstellung verwendete er dieselben Zutaten, die er benutzt hatte, als er die Seele des UniverOhne ins Detail zu gehen, halten wir es für möglich, daß es gerade dieser Wechsel von „Konstellationen” zu „Zeichen” war, sowie, allgemein gesagt, die Inthronisierung jener astronomischen Sprache, welche allein von zeitgenössischen Historikern als „wissenschaftlich” anerkannt wird – das heißt: die Terminologie der „Positions-Astronomie” – , welche die homerische Tradition unterbrachen; die Griechen zitierten Homer den ganzen Tag lang, sie interpretierten ihn, sie zerbrachen sich den Kopf über die Bedeutung von Einzelheiten; seine Terminologie war schon lange vorher gestorben. 49
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sums gemacht hatte, allerdings waren die Zutaten „nicht in der nämlichen Reinheit wie zuvor”. Der Demiurg schuf „Seelen in gleicher Zahl wie die Sterne (psychés isaíthmous tois astrois): auf jeden Stern kam eine Seele.” Indem er sie so gleichsam auf einen Wagen setzte, eröffnete er ihnen den Blick in die Natur des Alls und verkündete ihnen die unabänderlichen Schicksalsgesetze [nómous te toūs heimarménous]; danach sollte die erste Geburt für sie alle in der nämlichen Form erfolgen, um dadurch jedem Gedanken an eine etwaige Benachteiligung durch ihn vorzubeugen; sodann verpflanzt auf die Werkzeuge der Zeit – und zwar eine jede auf das ihr zukommende – müßten sie die gottesfürchtigsten Geschöpfe unter allen lebenden Wesen werden; und da die menschliche Natur von doppelter Form sei, so sollte das stärkere von beiden Geschlechtern von der Art sein, wie das späterhin mit dem Namen „Mann” gekennzeichnete Geschlecht. Wenn sie nun kraft der Notwendigkeit in körperliche Gebilde eingepflanzt wären und beim Körper ein beständiger Zu- und Abfluß erfolge, würde sich erstens notwendig bei allen ein und dieselbe Form der Wahrnehmung herausbilden als natürliche Form der sich aufdrängenden Erregungen, sodann die Liebesleidenschaft, 279 gemischt mit Lust und Leid; dazu ferner auch noch Furcht und Zorn nebst allem was damit in Zusammenhang steht oder sich als Gegensatz davon unterscheidet. Wenn sie diesen Erregungen gegenüber die Herrschaft behaupteten, dann würde ihr Leben ein gerechtes sein, ließen sie sich aber von ihnen überwältigen, dann ein ungerechtes. Und wer die ihm zugemessene Zeit tadellos durchlebt hätte, der würde dann, wieder heimgekehrt in die Stätte des mit ihm gepaarten Gestirnes, ein glückseliges und ebenbürtiges Leben führen. Wer aber hierin hätte fehlen lassen, der müßte bei der zweiten Geburt die Natur des Weibes annehmen; und wenn er auch in dieser Gestalt sich noch nicht seiner Boshaftigkeit entschlagen hätte, dann müßte er sich entsprechend der Art seiner Schlechtigkeit jedesmal in ein tierisches Wesen von ähnlicher Beschaffenheit verwandeln, wie er sie in sich selbst hätte entstehen lassen, und könne dieses leidvollen Wechsels nicht eher ledig werden, als bis er dem Umschwung des Selbigen und Einförmigen in sich selbst folgend
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der mannigfachen Wirrnis, die auch weiterhin durch den Einfluß von Feuer, Wasser, Luft und Erde sich als störende und sinnlose Macht in ihn eindrängte, durch vernünftige Einsicht Herr geworden und so wieder zu der Form seiner ersten und edelsten Beschaffenheit zurückgekehrt wäre. Nachdem er dies alles gesetzmäßig für sie bestimmt hatte, um sich selbst von jeglicher Schuld an ihrer späteren Schlechtigkeit frei zu halten, verpflanzte er sie teils auf die Erde, teils auf den Mond und teils auf die anderen Werkzeuge der Zeit.50
Es besteht keine Notwendigkeit, sich der vergeblichen Mühe zu unterziehen, über die Gerechtigkeit des Demiurgen und seine Behauptung zu diskutieren, daß in ihrer ersten Inkarnation alle Seelen dieselbe Chance hatten. Daß Gott unschuldig zu sein hat und daß der Mensch sowieso schuldig ist, ist keine Frage, die mit Platon zu diskutieren sich lohnen wurde. In der Tat ist dies jene Hypothese, auf welcher das ganze Gebäude christlicher Religion wie auch unserer Rechtssprechung ruht. Auf jeden Fall verteilte der Demiurg die Seelen – und zwar in gleicher Zahl wie die Fixsterne – auf die „Werkzeuge der Zeit” (also auf die Planeten), unter die Timaios die Erde rechnet; tatsächlich verpflanzte er „eine jede auf das ihr zukommende“. Was heißt das? Timaios spielt hier auf ein altes System an, das die fixen zu den wandernden Mitgliedern der Sternengesellschaft in Verbindung setzt – und damit sind nicht nur die zodiakalen „Häuser” und „Exaltationen” der Planeten gemeint, sondern die Fixsterne im allgemeinen. Man kennt dieses Verfahren von astrologischen Keilschrifttexten, die eine beachtliche Anzahl von Angaben über fixe Repräsentanten von Planeten und vice versa enthalten. Aber man weiß nicht genug, um die Regeln dieses anspruchsvollen Schemas erklären zu können. Um es mit den Worten von Ernst Weidner zu sagen: „Jedenfalls liegt ein sehr kompliziertes System vor. Nur eine erneute Sammlung und Platon, Timaios 41E-42D, übersetzt von O. Apelt (1922; 1988), 62f. Die Hervorhebung durch Kursivschrift ist von uns. 50
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Nachprüfung des gesamten Materials wird vielleicht dazu füh- 280 ren, die noch bestehenden Rätsel zu lösen.”51 Ptolemaios führt die planetarischen Charaktere von Fixsternen in seiner Tetrabiblos auf,52 und das taten alle antiken und mittelalterlichen Astrologen, Und das taten auch, könnte man hinzufügen, die indischen und mexikanischen Astrologen. (Siehe oben, Seite 144, über das von Mars und den Plejaden genossene Privileg, sich in Babylonien und Indien gegenseitig zu repräsentieren.) Die Seelen wurden sodann von ihrem Fixstern weg auf die korrespondierenden Planeten verpflanzt, der Demiurg zog sich zurück, und die Zeitmaschine wurde in Gang gesetzt. In seiner englischen Übersetzung und seinem Kommentar zum Timaios sagt Cornford: „In der Maschinerie des Mythos ist es nur natürlich, vorauszusetzen, daß die erste Generation von Seelen auf die Erde verpflanzt wird, während die restlichen, ohne körperliche Gestalt, auf den Planeten warten, bis sie an der Reihe sind.“53 Bei allem gebotenen Respekt für Cornford: So kann es schwerlich funktionieren, und vorgeblich „natürliche” Voraussetzung gelten nicht. Der Demiuig des Timaios ist zu sehr Systematiker, um eine solche Lösung zuzulassen. Es ist im Gegenteil doch wohl klar – sofern man gründlich die Art und Weise beobachtet, in welcher der Deus Faber schrittweise und systematisch seine ursprüngliche Mischung von Sein, Gleichem und Anderem verdünnt, wie es in Timaios 35 beschrieben wird –, daß ein neues Prinzip, eine neue „Dimension” an genau dieser Stelle eingeführt werden muß. Die in Einheit verharrende Ewigkeit bleibt schlechterdings E. Weidner, RLA 3, 81 f. Vgl. Carl Bezold in Franz Bolls Antike Beobachtungen farbiger Sterne (1916), 102-125 (Tafel, 138); A. Jeremias, HAOG (1929), 200ff. 52 Ptolemaios, Tetrabiblos I.9: „Über die Kraft der Fixsterne.“ 53 Plato’s Cosmology. The Timaeus of Plato. Trslt. with a running Commentary by F.M. Cornford (1957), 146. 51
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„draußen”, jenseits des Sicht- und Lokalisierbaren, Sozusagen „innerhalb” dieser denknotwendigen Ewigkeit bewegt sich ständig die Zeit gemäß der Zahl - die Zeit wurde ja definiert als das „nach der Zahl (in bestimmten Maßen) fortschreitende Abbild der in Einheit beharrenden Ewigkeit (ménontos aiônos en henì kat’arithmòn iousan aiônion eikóna)”54 –, und sie tut dies sowohl mittels der täglichen Umdrehung der Fixsterne im Sinne des „Gleichen”, also mittels des Himmelsäquators, als auch mit Hilfe der Werkzeuge der Zeit, den Planeten, die sich in entgegengesetzter Richtung entlang dem „Anderen” bewegen, also entlang der Ekliptik. Zusammengenommen verkörpern sie die „acht Bewegungen”. Beim nächsten Schritt, dem von den Planeten zu den lebenden Kreaturen, scheidet die Bewegung gemäß der Zahl aus. Sie muß ersetzt werden durch die fundamental unterschiedliche Qualität von „Bewegung” durch Fortpflanzung (zu Platons großem Bedauern.) Wenn sie auch „verschieden” sind, sowohl von der in Einheit verharrenden Ewigkeit als auch von der regelmäßigen Bewegung der Fixsternsphäre, so bleiben die Planeten doch immerhin „sie selbst” und sieben an der Zahl. Die Seele des Menschen reinkarniert sich nicht nur immer wieder, sondern teilt sich dabei auch immer weiter auf, so daß sich die Menschheit vermehrt – genauso, wie es das Korn tut, mit dem der Mensch so häufig verglichen wird. Dieses Gleichnis – von dem „FruchtbarkeitsKonzern” aufs immer neue fehlinterpretiert – sollte sehr ernst genommen werden, und wörtlich. Der Demiurg schuf nämlich nicht die individuelle Seele jedes einzelnen Menschen, der in irgendeiner Zukunft geboren werden soll; er schuf die ersten Ahnen von Völkern, Dynastien usw., den „Samen der Menschheit”, der sich vermehrt und in der Mühle der Zeit zu mehligem Staub zermahlen wird. Die Idee von den „Fixstern-Seelen”, von denen das sterbliche Leben ausgegangen war und zu denen außerge54
Platon, Timaios 37D, Apelt-Übersetzung, op.cit., 55.
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wöhnlich tugendhafte Seelen jederzeit zurückkehren können, wohingegen das Durchschnitts„mehl” aus der Mühle geduldig auf den „Jüngsten Tag“ warten muß, an dem es hofft, desgleichen tun zu können – diese Idee ist nicht nur ein lebendiger Teil des archaischen Weltsystems, sie erklärt auch bis zu einem gewissen Grad das nahezu obsessive Interesse am himmlischen Treiben, das frühere Jahrtausende beherrschte. Obwohl noch in unserer Zeit die meisten Kinder ermahnt werden, sich anständig zu benehmen, weil sie sonst keine Chance hätten, in den Himmel zu kommen, haben die Christen das timäische Modell abgeschafft. Sie verurteilten die Auffassung des Origenes als Häresie, der zufolge die nach dem Jüngsten Gericht wiederbelebten Seelen einen ätherischen und einen kugelförmigen Leib (aithêrión te kaì sphairoeidés) annehmen würden.55 Das timäische Grundkonzept ist in vielen Sprachen im gesamten Hochkultur-Gürtel ausgedrückt worden. Manchmal ist die Metaphorik unmißverständlich, manchmal ist sie zweideutig genug, um moderne Interpreten völlig in die Irre zu führen – etwa wenn der Sternen„samen” von Bevölkerungsgruppen unter der Bezeichnung „Totem” unseren Weg kreuzt.56 Aber unter den unmißverständlichen gibt es eine rabbinische Überlieferung, die besagt, daß in Adam die 600.000 Seelen Israels enthalten waren – wie die vielen Fäden, die zum Docht einer Kerze zusammengedreht sind; und das zählt um so mehr, als auch gesagt wird: „Unsere Rabbinen gesegneter Gedächtniß haben gesagt: der Sohn Davids [das ist der Messias, H.v.D.] kommt nicht, biß das alle Seelen, die an dem Leib des ersten Menschen gewesen seynd, ein Ende nehmen.”57 Unmißverständlich ist auch die My55
Siehe Harald A.T. Reiche, Empedocles’ Mixture (1960) 37, Anmerkung
6. Siehe zum Beispiel M. Griaule und G. Dieterlen, Le Renard Pâle (1965), 468, in Bezug auf die Dogon: „A chaque totem est associé un astre ou une constellation.” 57 J.A. Eisenmenger, Entdecktes Judenthum (1711), II, 16. Gesagt haben 56
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the der Skidi-Pawnee, die vom „letzten Tag” handelt: „Der Befehl für das Ende aller Dinge wird vom Nordstern gegeben werden, und der Südstern wird die Befehle ausführen. Unser Volk wurde von den Sternen geschaffen. Wenn die Zeit des Sterbens für alle Dinge gekommen ist, wird sich unser Volk in kleine Sterne verwandeln und zum Südstern fliegen, wohin sie gehören.“58 Wie schon im Kapitel über Indien erwähnt (Seite 71), berichtet das Mahābhārata, wie sich die Pandavas an dem verschneiten Berg abmühten und sich verirrten und wie Yudhishthira schließlich mitsamt seinem Körper in den Himmel geholt wurde. Obwohl es planetarische „Helden” waren, ist die Formulierung ihres Endes für bloße menschliche Lebewesen aufschlußreich. Die traurigen Helden werden „Portionen” von Göttern genannt, und als die dritte Welt zu Ende geht und das Kali-Yuga beginnt – es konnte nicht beginnen, „solange die Sohle von Krishnas heiligem Fuß die Erde berührte” –, werden die „Portionen” wieder mit den Göttern vereint, von denen sie ein Teil sind. Krishna kehrt wieder in Vishnu zurück, Yudhishthira in Dharma, Arjuna wird von Indra absorbiert, Balarama von der Shesha-Schlange und so weiter. Diese Beispiele sollen genügen. Was sie demonstrieren, ist folgendes: Der Timaios – und in der Tat die meisten Platonischen Mythen – wirkt wie ein Flutlicht, das breite Strahlen auf die ganze „hohe Mythologie” wirft. Platon erfand seine Mythen nicht, er wendete sie im richtigen Kontext an – hin und wieder spöttisch –, ohne dabei ihre präzise Bedeutung preiszugeben. Jeder, der ein Anrecht auf Kenntnis der angemessenen Terminologie hatte, würde sie verstehen. Alles in allem kümmerte sich Platon nicht viel um das „Mehl”. In unseren Tagen, in denen nichts vor der Presse verborgen bleibt und jede schwierige Wissenschaft „leicht gemacht” wird, sind wir nicht gerade in der besten Verfassung, uns die strenge die Rabbinen das in dem Talmudischen Tractat Avóda tára, fol. 5, col. 1. 58 H.B. Alexander, North American Mythology (1910), 117.
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Geheimhaltung vorzustellen, welche die archaische Naturwissenschaft umgab. Tatsächlich ist unsere Verfassung so schlecht, daß bereits diese simple Tatsache häufig als Legende abgetan wird. Aber das ist sie mitnichten. Wir brauchen nicht einmal auf babylonische und antike Beispiele zurückzugreifen: Die Notwendigkeit, Naturwissenschaft als exklusives Wissen zu behandeln, wird noch von Copernicus selbst bekräftigt – und bestand nicht Galileis ärgste „Sünde” darin, daß er anhob auf Italienisch zu publizieren, anstatt sich an das, dem homo normalis unzugängliche Latein zu halten? Seit seinen Studententagen ein Anhänger pythagoreischer Konzeptionen, bedankte sich Copernicus bei den großen Vertretern der Schule wie Philolaos und Hiketas (er erwähnt auch Aristarchos), die ihm den Mut gegeben hatten, gegen die zu seiner Zeit gängigen philosophischen Vorstellungen zu opponieren. Es ist die Autorität dieser antiken Meister, die ihm die Unabhängigkeit seiner Urteilskraft gaben, um die zentrale Position der Sonne im Planetensystem zu erkennen. Als scheuer und zurückgezogener Gelehrter appellierte er an die große Tradition, die selbst zu Galileis Zeit die „pythagoreische Überzeugungskunst” genannt wurde, um zu vertreten, was gemeinhin als revolutionäre und subversive Theorie angesehen wurde. Wenn er sich erst in seinen letzten Jahren zur Veröffentlichung seines Hauptwerks ent- 283 schließen konnte, so geschah dies in erster Linie aus der inneren Aversion heraus, die Sache in der Öffentlichkeit zerredet zu sehen. In seiner „Vorrede von Nicolaus Copernicus zu den Büchern der Kreisbewegungen an den Pontifex Maximus Papst Paul III”59 berichtete er, er sei lange unschlüssig gewesen, ob er seine Erkenntnisse über die Bewegung der Erde „herausgeben solle, oder Nicolaus Copernicus, Die Kreisbewegungen der Weltkörper (De Revolutionobus Orbium Caelestium), Erstes Buch, zweisprachige Ausgabe (beruhend auf der Übersetzung von C.L. Menzzer), hrsg. von Georg Klaus. Anmerkungen von Aleksander Birkenmajer (Berlin 1959), 5, 15. 59
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ob es besser wäre, dem Beispiel der Pythagoreer und einiger anderer zu folgen, welche die Geheimnisse der Philosophie nur ihren Verwandten und Freunden, nicht schriftlich, sondern mündlich zu überliefern pflegten, wie das der Brief des Lysias an Hipparch beweist.“ Dann aber habe er sich, dank des Zuredens guter Freunde, doch zur Publikation entschlossen; und wenn nun (15:) „Schwätzer kommen, die, obgleich in allen mathematischen Wissenschaften unwissend, sich dennoch ein Urteil darüber anmaßen, … so mache ich mir nichts aus ihnen … Mathematische Dinge werden für Mathematiker geschrieben. (Mathemata mathematicis scribuntur).” Der erwähnte sogenannte „Brief des Lysias an Hipparch” (von ungeklärter Herkunft, Alexander Birkenmajer bezeichnet ihn als ein „Apokryph”)60 zählt sicherlich zu dem, was man „Fälschungen” nennt. Aber Copernicus akzeptierte ihn eindeutig als ein echt pythagoreisches Zeugnis und übersetzte ihn selbst aus dem Griechischen ins Lateinische. Der dem pythagoreischen Eid treue Lysias macht dem „Verräter” Hipparch61 schwere Vorwürfe, weil er publik mache, was geheim zu halten sei. Es sei „ein Akt der Pietät, sich auf des Meisters göttliche Lehre zu besinnen (pium tamen est divinorum illius praeceptorum meminisse), und es Nikolaus Kopernikus, Gesamtausgabe- II: De Revolutionibus Orbium Caelestium. Textkritische Ausgabe (München 1949), 30f; Nicholas Copernicus, On the Revolutions, übersetzt und kommentiert von Edward Rosen (London 1978), 25f. Siehe auch A. Birkenmajer in Die Kreisbewegungen der Weltkörper (1959), Anm. 3, S. 96, Anm. 137, S. 177: Der Brief bildete ursprünglich den Schluß des ersten Buches von De revolutionibus, wurde dann aber, nach Abfassung des Widmungsbriefs an den Papst, gestrichen und ist in den Erstdruck von 1543 und in einigen späteren Ausgaben nicht aufgenommen worden. 61 Es handelt sich nicht um den großen Astronomen, sondern angeblich um einen Schüler des Pythagoras. Laut Birkenmajer (op.cit., 96) wird von einigen Philologen die Ansicht vertreten, Hippasos sei gemeint, jener berühmte Pythagoreer, der die Konstruktion des Dodekaeders verraten haben soll. 60
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sei zu unterlassen, die Gaben der Philosophie jenen mitzuteilen, die von einer Läuterung der Seele noch nicht einmal träumten (neque communicare philosophiae bona iis, qui neque animae purificationes somniaverunt) … Denn sie vermischen ungeordnete und unreine Sitten mit den erhabenen Lehren der Philosophie. Das Resultat ist, wie wenn man klares Wasser in einen schlammigen Brunnen gießt: der Schlamm wird aufgewühlt, und das Wasser ist verschwendet (nam caenum conturbet et aquam amittit).”62 Die philosophische Sprache der Zukunft prägend, sprach Pla- 284 ton noch die alte Fachsprache, ein lebender Stein von Rosette.* Und entsprechend hat – so befremdlich das für Experten des klassischen Altertums klingen mag – lange Erfahrung die folgende methodologische Faustregel geprägt: Jedes in Mythen von Irland via China bis zum präkolumbianischen Amerika vorkommende Schema, auf das Platon anspielt, ist „steinalt” und kann für bare Münze genommen werden. Sie entstammt jener „protopythagoreischen” Münzstätte irgendwo im Vorderen Orient, die einst die Fachsprache prägte und sie an die Pythagoreer (und selbstverständlich an viele andere Kunden) lieferte. Das klingt zugegebenermaßen seltsam, aber es funktioniert. Es hat Die Praxis öffentlicher Vorträge habe Pythagoras verboten; so lautet das Ende des Briefes in der Übersetzung von Rosen (op.cit., 26): „… who willed his notes to his daughter Damo with an order not to tum them over to anybody outside the family. Although she could have sold them for a lot of money, she refused to do so, considering poverty and her father’s commands more precious than gold. They also say that when Damo died, she left the same obligations to her own daughter Bitale. Yet we of the male sex disobey our teacher and violate our oath. If, then, you mend your ways I cherish you. But if you do not, as far as I am concerned, you are dead (sin minus, mortuus es mihi).” * A.d.Ü.: Jean François Champollion, frz. Archäologe (1790-1832), entzifferte aufgrund der dreisprachigen Inschrift des Steins von Rosette (arab. Raschid) die ägyptischen Hieroglyphen und begründete so die Ägyptologie. 62
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funktioniert, lange bevor wir uns entschlossen, Platon in zweifelhaften Fällen komparativer Mythologie zum Höchsten Berufungsrichter zu wählen – so zum Beispiel, als Hermann Baumann63 in der Mythe von Platons Symposium (dort von Aristophanes erzählt) den Dietrich für die Tür zu tausend und einer Mythe entdeckte, die alle von bisexuellen Göttern, bisexuellen Seelen usw. handeln. Platon wußte – und es gibt Gründe anzunehmen, daß dies auch für Eudoxos gilt –, daß die Sprache des Mythos prinzipiell eine ebenso rücksichtslose Verallgemeinerung ist wie ein heutiger „Fachjargon”. Die Art, wie er sie verwendete, sowie die Phänomene, die er vorzugsweise im mythischen Idiom ausdrückte, verraten sein echtes Verstehen. Augenscheinlich gibt es keine andere Technik außer dem Mythos, der es gelingt, von Strukturen zu „erzählen” (man denke erneut an Kipling und wie er das Problem anging, indem er von dem Schiff erzählte, „das sich selbst fand” – siehe oben, Seite 45). Der „Trick” besteht darin: Man beginnt mit der Schilderung der Kehrseite dessen, was als Realität bekannt ist, und behauptet, daß die Dinge „früher einmal” so und so waren und sich auf sehr merkwürdige Weise verhielten; aber dann geschah es, daß … Was zählt, ist einzig das Ergebnis, das Resultat der erzählten Ereignisse, im allgemeinen wird übersehen, daß diese Art des Stilisierens nur ein technisches Mittel ist; und den alten Mythographen wird vorgeworfen, sie hätten tatsächlich „geglaubt”, daß in früheren Zeiten alles auf dem Kopf stand (siehe oben, Seite 267, Fn. 14, über die bedauernswerten Mesopotamier, die sich ihrer eigenen Sterblichkeit nicht bewußt waren, bevor das Gilgamesch-Epos geschrieben wurde). Da es eine richtige Sprache ist, bringt das Idiom des Mythos das Auftreten von Dichtung mit sich. Jeder klassische Philologe muß zugeben, daß zum Beispiel Hyginus und andere den myH. Baumann, Das doppelte Geschlecht. Ethnologische Studien zur Bisexualität in Mythos und Ritus (1955).
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thologischen Handlungsablauf zwar ziemlich wortgetreu in drei bis zehn Zeilen „korrekter” Sprechweise wiedergeben, daß sich diese fabulae aber kaum interessanter lesen als die durchschnittlichen „summaries”, wohingegen diese instrumentelle Sprache, wenn sie von Aischylos verwendet wird, noch heute das Herz zu ergreifen vermag. Aber wie sehr auch immer sich die Mythographen in ihrem dichterischen Rang unterscheiden mögen: Diese Terminologie wurde geprägt, lange bevor Dichter, deren Namen uns vertraut sind, die Bühne betraten. Von „Terminologie” zu reden klingt jedoch zu trocken und unangemessen, denn aus dieser Prägestätte sind scharfgeschliffene Typen hervorgegangen – die zum Beispiel in den Spielen unserer Kinder überleben, in unseren Schachfiguren und unseren Spielkarten –, gemeinsam mit den ihnen vorbestimmten Abenteuern. Und diese gesprochenen Bilder haben den Aufgang und Untergang von Imperien überlebt und wurden auf neue Kulturen und neue Umgebungen abgestimmt. Als Hauptverdienst dieser Sprache erwies sich die ihr innewohnende Doppeldeutigkeit. Der Mythos kann als ein Medium benutzt werden, um solides Wissen weiterzugeben, und zwar unabhängig vom Grad der Einsicht jener Menschen, welche die Geschichten, Sagen usw. jeweils erzählen. In alten Zeiten gestattete diese Sprache den Mitgliedern des archaischen „braintrust” überdies, in der Gegenwart von Laien ungestört zu „fachsimpeln”: Die Gefahr, etwas auszuplaudern, war praktisch gleich Null. An dieser Stelle sollte man, für einen Moment zu dem „Abenteuer und der Suche” zurückkehrend, betonen, daß es natürlich befriedigend ist, über Keilschrifttexte zu verfügen, und daß es beruhigend ist, daß die Experten wissen, wie man unterschiedliche Sprachen des antiken Nahen Ostens zu lesen hat; aber Gilgamesch und seine Suche nach Unsterblichkeit waren in den Zeiten vor dem Entziffern der Keilschrift keineswegs unbekannt. Das ist die Folge jenes speziellen Verdiensts der mythologischen
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Terminologie, nämlich dem, daß sie unabhängig vom Wissen des Geschichtenerzählers weitergereicht wird. (Der offensichtliche Nachteil dieser Technik ist, daß die Zweideutigkeit nach wie vor besteht: Unsere zeitgenössischen Experten sind genauso von dem Dialog ausgeschlossen, wie es damals die Laien waren.) Folglich bleiben die „Geschichten” selbst dann am Leben – und oft genug in der wahren alten Fassung –, wenn man unterstellt, daß Platon zu den letzten gehörte, die diese Fachsprache wirklich verstanden. Entsprechend kann man zuschauen, wie der Held des „Alexanderromans”, der für sich genommen unumstritten eine historische Persönlichkeit ist, in Gilgameschs Gewänder hineinschlüpft, während er gleichzeitig aus ganzen Kapiteln nüchterner Geschichtsschreibung herausschlüpft. Alexander mußte die Meerestiefe messen, er wurde von Adlern in den Himmel getragen, und auf der Suche nach dem Wasser der Unsterblichkeit reiste er zu den unglaublichsten „Meeren”. Davon ausgehend, daß dieses Wasser im Paradies zu finden sei, segelte er den Nil beziehungsweise den Ganges hinauf – aber warum das Kapitel über Eridanus wiederholen? Als wahres Gegenstück von Gilgamesch segelte Alexander zu jenem magischen Ort, aus dem alle Wasser kommen und wohin sie zurückkehren. Und wenn es angeblich eine Schlange („Erdlöwe”) war, die Gilgamesch der verjüngenden Pflanze beraubte, so wurde der Alexander der Sage unabsichtlich von einem Fisch hintergangen – ausgerechnet von einem gesalzenen, der als Reiseproviant mitgenommen worden war. Absichtlich wurde er allerdings von dem Koch Andreas betrogen (laut PseudoKallisthenes), dem aufgefallen war, wie der Fisch wieder zu leben begann, als er in den Bach fiel, und der selbst von dem Wasser trank, ohne Alexander von seiner Entdeckung zu erzählen. Zurecht empört, ließ der König den Koch mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer werfen und hinderte ihn auf diese effektvolle Weise daran, seine Unsterblichkeit zu genießen. Der Umfang bedeutungsvoller Variationen in den vielen Ale-
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xander-Geschichten erlauben bestenfalls ein paar oberflächliche Bemerkungen, aber sie betreffen Gilgamesch, den wir notgedrungen in einer Dunkelheit zurückgelassen haben, die zum großen Teil künstlich ist. Es ist möglich, einige Fragen zu umreißen, die das Problem von Gilgamesch aus seiner Stagnation herausholen könnten. Außerdem gibt es ein Detail, das in die Richtung jenes Vorschlags weist, welcher bezüglich Gilgamesch vorgebracht wurde (Seite 277). Wie die Sage berichtet, befragt Alexander das Orakel von Sarapis in Ägypten, genauso wie Gilgamesch Utnapischtim befragte. Was die Alexander zugedachte Lebensdauer betrifft, antwortet Sarapis ausweichend. Aber er verweist auf die Gründung von Alexandria und kündet an, daß der König in dieser Stadt „tot und nicht tot“ fortleben wird, da Alexandria sein Grabmal sein werde. In einer anderen Version sagt Sarapis: „Du aber wirst nach Deinem Tode unter die Götter versetzt und göttlich verehrt werden und wirst Geschenke von vielen empfangen, wenn Du gestorben und doch nicht gestorben bist. Denn Dein Grabmal wird eben diese Stadt sein, die du gründest.”64 Franz Kampers, Alexander der Große (1901), 94, Anmerkung 1. Die Ableitung des Namens Sarapis von Enki/Eas Namen šar apsī, wie von Carl Friedrich Lehmann-Haupt vorgeschlagen (siehe auch A. Jeremias in Roscher s.v. Oannes, 3.590), macht Sinn; um so mehr, als sie die Verbindung von Sarapis mit Apis nicht ausschließt, zumal Apis den Titel „die Wiederholung von Ptah” trägt. Der Zufall wollte es, daß uns ein ziemlich enthüllendes Beweisstück in die Hände fiel, enthalten in E.A. Wallis Budges Übersetzung des äthiopischen Alexanderromans [The Life and Exploits of Alexander the Great (1896), 9]: Nachdem Nektanebos, König von Ägypten und Vater von Alexander, nach Makedonien geflohen war, bat das Volk von Ägypten seinen Gott, ihm zu sagen, was seinem König widerfahren sei.“ Das ist, was der äthiopische Text sagt, und Budge fügt hinzu: „In Meusels Text wird der befragte Gott ,Hephaistos, das Haupt der Götterrasse’ genannt, und in Müllers Text wird von ihm gesagt, er lebe im Serapeum.” Der gemeinsame Nenner von Ea/šar apsī, Ptah/Hephaistos, „der,
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Als Fingerzeig erweist sich das groteske Ungeheuer Huwawa. Für welche Betrachtungsweise auch immer man sich entscheidet, sollte Huwawas Verbindung zu Prokyon, Jupiter und/oder Merkur65 berücksichtigt werden, und dies um so mehr, als die hurritischen Fragmente das Gedicht unter dem Titel „Epos von Huwawa” zu kennen scheinen.66 Und einhergehend mit dieser Erwägung muß mit gebührender Aufmerksamkeit der babylonische Namen für das Sternbild Cancer beachtet werden: Nangar(u), „der Zimmermann”. Das ist deshalb wichtig, weil in der zwölften Tafel des Gilgamesch-Epos, die nur in der sumerischen Sprache erhalten ist, Gilgamesch sich bitter darüber beklagt, seine „pukku und mikku” verloren zu haben, anstatt sie „im Haus des Zimmermanns” gelassen zu haben,67 wo sie augenscheinlich sicher gewesen wären.68 welcher südlich seiner Mauer ist”, „Herr der Triakontaeteris (= der Periode von 30 Jahren)”, ist und bleibt Saturn. Zugegebenermaßen wußten wir das vorher, aber wir möchten den Punkt hervorheben, daß jene verschmähten „späten” Überlieferungen brauchbare „Konservendosen” verkörpern, das heißt: Wenn der Roman Utnapischtim vom Zusammenfluß der Ströme durch Sarapis ersetzt, dann können wir uns darauf verlassen, daß es eine gültige Gleichung gab, die irgendwo niedergeschrieben worden und den verschiedenen Redakteuren bekannt war – die allesamt eng verwandt mit „Wagner” und jedem potentiellen „Faust” feindlich gesonnen waren. 65 Es ist bemerkenswert, daß von dem tuamotischen „Hiro gesagt wird, er sei Prokyon” [M.W. Makemson, The Morning Star rises (1941), 270, Anm, 769]. Hiro (Maori: Whiro), der Meisterdieb, ist eine unmißverständlich merkurianische Gestalt, und tatsächlich informiert uns Makemson (270, Fußnote 769): „Whiro, der Maori-Name für Merkur und den Dunkelmond, wird von Best mit ,stiehlt sich davon und versteckt sich’ übersetzt.“ Der fiktive „Dunkelmond” ist just so ernst zu nehmen wie das prä-Lavoisier’sche Phlogiston. 66 Heinrich Otten in Gilgamesk et sa légende (1958), 140. 67 Ein sorgfältiger Rechercheur muß auf die zahlreichen Fallen achtgeben, die auf seinem Weg lauem, wie etwa die Angewohnheit, Skorpion
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Es wird wohl keiner, der das Epos in seinen vielen Übersetzungen liest, die Hinweise auf einen „Zaun” und/oder einen „Türpfeiler” beziehungsweise Türrahmen übersehen, die sich ausgerechnet an einem so unwahrscheinlichen Ort wie Huwawas großem Zedern„wald” befinden sollen. Warum sollte man nicht auch versuchen, nach dem „Einschließen von Gog und Magog” Ausschau zu halten, das Alexander fertiggebracht hat und wovon noch in der 18. Sure des Korans die Rede ist, in derselben Sure, die davon handelt, wie Moses’ Reiseproviant-Fisch am „Zusammenfluß der Ströme” wieder zu leben beginnt? Dieses „Einschließen” ist ein großes Thema mittelalterlicher Folklore, das auf schreckliche Weise durch das plötzliche Auftauchen mongolischer Invasoren am Leben erhalten wurde. Die Geschichte ging so, daß Alexander eiserne Tore auf den Gebirgspässen errichtet hatte und die fürchterliche Hunnenhorde in den grenzenlosen Ebenen des Ostens durch Trompeten in Schach gehalten wurde, die von dem Paß ertönten und auf einen scheinbar unsterblichen Eroberer schließen ließen, den „zweigehörnten” Helden, der über die Pässe wachte. Aber plötzlich waren die 288 Trompeten verklungen, und als ein Zwerg aus der Horde seinen Weg zum Paß riskierte, fand er die Sperre verlassen vor. Die Trompeten waren nichts weiter als Äolsharfen, zum Schweigen gebracht durch eine Gruppe Eulen, die sich in ihnen ihre Nester gebaut hatte.69 und Krebs miteinander zu vertauschen (Cicero nennt zum Beispiel beide Sternbilder nepa), was auf die Ähnlichkeit zwischen dem Skorpion und dem Landkrebs (Gecarcinus ruricola) zurückzugehen scheint. 68 „Pukku und mikku” (Siehe unten, Seite 432) sind „beim Geschrei eines kleinen Mädchens” verlorengegangen (Cyril John Gadd, „Epic of Gilgamesh”, RA 30, 132): Das klingt recht unwahrscheinlich. Wenn überhaupt, ist es das Lachen, welches das alte Weltalter vernichtet und das neue einleitet. Maui verlor seine Unsterblichkeit, weil seine Begleiter lachten, als er durch das „Haus des Todes” der Großen-Nacht-Hina hindurchging. 69 Vgl. die gründliche Untersuchung von Andrew Runni Anderson,
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Die uralte Geschichte von Gog und Magog, die von den Arabern wiederbelebt wurde, spielt eine derart entscheidende Rolle im Alexanderroman, daß wir uns auf das ehrwürdige Alter des Schemas verlassen können: Eigentlich müßte es in unserem Epos vorkommen. Wenn man bedenkt, daß Gilgamesch allem Anschein nach einen neuen Weg öffnet, dann muß der alte geschlossen werden. Im Fall von Odysseus ist das auch geschehen. Nachdem er erst einmal in Ithaka mit den Bedingungen für einen neuen Vertrag mit Poseidon angekommen war, waren die armen Phäaken erledigt. Scheria sollte es nicht mehr geben. Diese Station war geschlossen, und wuchernde Berge sollten die schöne Insel der Nausikaa abriegeln, zu der Reisende fortan keinen Zutritt mehr hatten. In Polynesien sind einige verblüffende Parallelen vorhanden: Sobald der jüngere Maui in der Unterwelt dem „alten” Maui (Mauike, Mahuike usw.) das Feuer gestohlen hatte, wurde der von ihm benutzte Durchgang verschlossen. Das ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil „es Tikis Loch war, durch das Maui auf seiner Suche nach dem Feuer in das Heim von Mauike hinabstieg.” Tiki (Ti’i) war der „erste Mensch”, und „Tikis Loch war die Straße gewesen, welche, wie man annahm, die Seelen auf ihrem Weg hinab nach H(Avaiki) benutzt hatten.” Folglich mußten die Seelen einen anderen Weg finden, „nachdem dieses Loch verschlossen war”,70 also nachdem der junge Maui das Feuer geraubt hatte. Die Idee des Feuers ist in ihren zahlreichen Erscheinungsformen ein immer wiederkehrendes Thema dieses Essays gewesen. Gilgamesch ist, ebenso wie Prometheus, aufs engste mit ihr verbunden. Eine Annäherung an das Prinzip Feuer sowie an die Alexander’s Gate, Gog and Magog, and the Enclosed Nations (1932). Eine frühe Version der Geschichte stammt von dem weitgereisten Franziskaner Ricoldo da Montecroce. 70 W.W. Gill, Myths and Songs from the South Pacific (1876), 57; vgl. R.W. Williamson, Religious and Cosmic Beliefs of Central Polynesia (1924), 2, 252 (Austral Islands, Samoa).
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Mittel seiner Herstellung beziehungsweise Aneignung ist mit diesen beiden Helden bestens gewährleistet.
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… quand les esprits bienheureux Dans la Voie de Laict auront fait nouveaux feux … D’AUBIGNÉ
Feuer ist in der Tat ein Schlüsselwort und verdiente eine Spezialuntersuchung. Im Moment ist es jedoch nicht wichtig, alles über die verschiedenen Normen und Maße, Regeln und Vorschriften zu verstehen, die von jenen Göttern oder Helden herbeigeschafft werden müssen, welche vom Schicksal dazu auserkoren sind, „neue Wege” zu öffnen. Man kann hier die wahre Natur und Identität der verschiedenen „Schätze“ ignorieren, ob sie nun „Ruder” genannt werden oder „Fährmann” oder „hvarnamelammu” oder „Goldenes Vlies” oder „Feuer”. Das soll nicht heißen, daß all diese Termini verschiedene Namen für ein und dieselbe Sache sind, sondern daß sie unterschiedlichen Teilen des Gerüsts entsprechen.1 Selbst bei einer oberflächlichen Studie des chinesischen Romans Feng Shen Yen I (das heißt: Volkstümliche Beschreibung der Beförderung zur Göttlichkeit), der uns – in der Verkleidung einer „Historiographie” vom Ende der Shang-Dynastie und dem Aufkommen der Chou handelnd – eine phantastische Schilderung der großen Wende zwischen zwei Weltaltern beschert, wird dem aufmerksamen Leser die Menge „neuer Gottheiten” auffallen, die – als Verantwortliche für alte kosmische Funktionen – bei einer neuen Null eingesetzt werden müssen, beginnend mit 365 Göttern, 28 Mondstationen usw. 1
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Es ist sinnvoll, die Vorstellungen über das Gerüst zu rekapitulieren, wie sie anhand der griechischen Präzedenzfälle herausgefunden werden konnten. Es begann, in aller Harmlosigkeit, mit dem Rahmen eines Schiffs (siehe oben, Seite 210f), wie es die Griechen sahen, und endete mit dem verwirrenden „Weltbaum”, genannt Skambha, den wahrscheinlich selbst Platon sperrig gefunden hätte. Zum Schluß ist es nichts weiter als die Struktur der Weltkoluren. Ein weiterer Punkt, den man im Sinn behalten sollte, ist die kosmologische Relevanz von „Wegeröffnern” und „Pfadfindern” wie Gilgamesch. Sie sind diejenigen, welche die mannigfachen Maße aus dem geheimnisvollen Zentrum, genannt Canopus oder Eridu oder „der Sitz des Rita”, holen. Dieses Grundschema läßt sich mit Hilfe von zwei Abenteuern illustrieren. Mit dem Goldenen Vlies an Bord mußten die Argonauten die 290 Symplegaden durchqueren, die zusammenschlagenden Felsen. Wenn ein Schiff mit seiner Besatzung erst einmal durchgekommen war,2 würden die Symplegaden – so hatten es die „Seligen” (makaroi) vor langer Zeit beschlossen – in ihrer Erstarrung bleiben und keine zusammenschlagenden Felsen mehr sein.3 Nach dieser „Anerkennung der neuen Gesetze der befestigten Erde” würden sie „allen Schiffen eine leichte Durchfahrt gewähren, nachdem sie erst einmal eine Niederlage erfahren hatten”.4 Dies Die Symplegaden schnitten allerdings das Ornament des Achterschiffs (aphlastoio akra korymba) ab, wo nach der damaligen Vorstellung die „Seele“ des Schiffs wohnte. Noch kennen wir nicht die genaue Bedeutung dieses Merkmals. Vgl. H. Diels, „Das Aphlaston der antiken Schiffe”, in Zeitschrift des Vereins für Volkskunde (1915), 61-80. Es muß betont werden, daß, im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Meinung, die Plankten und die Symplegaden nicht identisch sind. 3 Apollonios Rhodios, Argonautica 2.592-606; Pindar, Pyth, 4.210: „Aber jene Reise der Halbgötter ließ sie im Tode erstarren.” 4 Claudianus XXVI (= De bello gothico, LCL. ed. II, 126), 8-11: stupuere superbae / arte viri domitae Symplegades et nova passae / iura soli 2
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ist nur eine Station der „Wege-öffnenden” Reise der Argonauten, die – das Goldene Vlies (eines Widders) transportierend – aller Wahrscheinlichkeit nach unternommen wurde, um das Zeitalter des Widders einzuleiten.5 Jedoch verkörpert diese Fahrt bestens den relevanten Punkt, nämlich die „neuen Gesetze”. Ein anderes und in der Tat entscheidendes Beispiel einer Wegöffnung erreicht uns von den Catlo’Itq in BritischColumbien.6 Wir möchten es eine Taschenenzyklopädie des Mythos nennen; Ein alter Mann hatte eine Tochter, welche einen wunderbaren Bogen und Pfeil hatte, mit dem sie alles erlegen konnte, was sie haben wollte. Sie aber war träge und schlief beständig. Darüber ward ihr Vater böse und sprach: „Schlafe nicht immer, sondern nimm Deinen Bogen und schiesse in den Nabel des Oceans, damit wir das Feuer erhalten.” Der Nabel des Oceans war aber ein ungeheurer Wirbel, in welchem Hölzer zum Feuerreiben umhertrieben. Die Menschen hatten damals noch kein Feuer. Das Mädchen nahm nun ihren [sic.] Bogen, schoss in den Nabel des Oceans und das Reibefeuerzeug sprang an’s Land. Da freute sich der Alte. Er entzündete ein grosses Feuer und, da er es für sich allein behalten wollte, baute er ein Haus mit einer Thür, die wie ein Maul auf und zuschnappte und jeden tödtete, der hereintreten wollte. Die Menschen aber wussten, dass er das Feuer im Besitze hatte, und der Hirsch beschloss, es für dieselben zu raucunctis faciles iam puppibus haerent / ut vinci didicere semel. 5 Siehe den Ersten Vatikanischen Mythographen (Kapitel c.24, ed. Bode, I, 9), der über „Pelias vel Peleus” sagt, daß er Jason nach Kolchis schickte, „ut inde detulisset pellem auream, in qua Juppiter in caelum ascendit”, das heißt: um das Goldene Vlies zu holen, in dem Jupiter den Himmel erklimmt. Für vergleichbares Material siehe auch Arthur Bernard Cook, „The European Sky-God”, Folk-Lore 15 (1904), 271f. 6 F. Boas, Indianische Sagen von der Nord-Pacifischen Küste Amerikas (1895), 80f. Vgl. J.G. Frazer, Myths from the Origin of Fire (1930), 164f sowie L. Frobenius, The Childhood of Man (1960), 395f.
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ben. Er nahm harziges Holz, spaltete dieses und steckte sich die Splitter in die Haare. Dann band er zwei Boote zusammen, bedeckte dieselben mit Brettern und tanzte und sang auf denselben, während er zum Haus des alten Mannes fuhr. Er sang: „O, ich gehe und wer- 291 de das Feuer holen.” Die Tochter des alten Mannes hörte ihn singen und sagte zu ihrem Vater: „O, lass den Fremden in’s Haus kommen, er singt und tanzt so schön.” Der Hirsch landete nun und näherte sich singend und tanzend der Thür. Er sprang dabei auf die Thür zu und stellte sich, als wolle er in’s Haus hineingehen. Da schnappte dieselbe zu, und während sie sich wieder öffnete, sprang er in’s Haus hinein. Dort setzte er sich an’s Feuer, als wolle er sich trocknen, und sang weiter. Er liess dabei seinen Kopf über das Feuer sinken, so dass er ganz russig wurde und das Holz, das in seinen Haaren steckte, sich endlich entzündete. Da sprang er hinaus, lief von dannen und brachte den Menschen das Feuer. [Appendix 43]
Das also ist die Geschichte von Prometheus bei den Catlo’Itq. Aber sie ist mehr als nur irgendeine Geschichte. Denn der Hirsch stand lange Zeit für Kronos. In der Hindu-Tradition heißt er Yama, dem wir bereits als Yama Agastya begegnet sind und der „dem Lauf der Großen Flüsse folgend, den Weg für viele entdeckte”. Dieser Hirsch ist überall in der archaischen Welt verbreitet, und zwar immer mit denselben Konnotationen. Und er ist der archaische Prometheus/Kronos, der „alles verschlingt … , um selbst es zu mehren. Du hältst die unzerreißbare Fessel um das unermeßliche All … Allerzeuger des Zeitraums, buntschillernd von List … verschlagener, trefflicher Prometheus.“ Auf Griechisch: semnē Prometheu. Das hinterläßt keine Zweifel. Die orphische Invokation des Kronos, die wir gleich zu Beginn auf Seite 11 zitiert haben, definiert ihn als „trefflich” und verbindet ihn mit dem Namen von Kronos dem Titan. Um zu vermeiden, daß die Dinge unnötig durcheinander gebracht werden, ist der Name Prometheus bis jetzt sparsam verwendet worden. Er wartet mit einem außergewöhnlichen Implex auf. Gemäß einem SophoklesScholion befand sich „in der Akademie ein alter Altar, worauf
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dargestellt war hò mèn Promêtheùs prôtos kaì presbýteros en dexia skêptron échôn, hò dè Hêphaistos neòs kaì deúteros“. Daß Prometheus der erste und ältere war, der in der rechten Hand das Szepter hielt, Hephaistos aber der jüngere und zweite.7 Dieses sind die Untergrundbereiche griechischer Mythologie, von denen die Schüler von Frazer und Harrison auf ihrer Suche nach prähistorischen Kulten und Symbolen in der klassischen Welt nach wie vor kaum Notiz nehmen. Doch tritt hier plötzlich der antike griechische Mythos inmitten amerikanischer Indianerstämme ans Tageslicht und ist zudem erstaunlich gut erhalten. Es ist gerade die Unnatürlichkeit der Erzählung, an der man sehen kann, wie einzelne Stufen über Zeitalter hinweg ineinandergeschoben oder weggelassen werden. Mit einem Mal taucht der Wasserstrudel als Träger der Feuerhölzer von Pramantha und Tezcatlipoca auf. Aber warum sollten sie sich in dem Strudel befinden? Der Mythos hat seine eigenen logischen Kürzel, um jene herumtreibenden Reibhölzer mit dem kosmischen Strudel in Beziehung zu bringen. Und in dieser Logik werden auch die weiteren Grundthemen miteinander verknüpft: der Pfeil und der Bogen des himmlischen Königtums – jener Pfeil und Bogen, der auf Sirius, Stella maris (vgl. Appendix 2), zielt beziehungsweise in ihm endet. Das Singen und Tanzen des Hirschs ist auf komplizierte Weise mit einem proto-pythagoreischen Thema verwickelt. Und dieses Thema kommt in einer weiteren Erzählung aus dem amerikanischen Nordwesten erst richtig zur Geltung: Der Sohn von Woodpecker (Specht) stimmte ein Lied an, bevor er mit seinem Bogen schoß; und sobald er die richtige Note gefunden hatte, traf jeder seiner Pfeile in das Ende des vorher abgeschossenen, bis die „Pfeilkette“ fertig geschossen war und der Aufstieg in den Himmel beginnen konnte. Frazer hat dies, in seiner trefflichen M. Mayer, Giganten und Titanen (1887), 95, Der Scholiast zu Oidipus auf Kolonos beruft sich auf Polemon und Lysimachides.
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Übersetzung und Kommentierung von Apollodoros,8 mit der Erstürmung des Olympos in der Gigantomachie verglichen. Aber es geht um mehr. Obwohl nicht ausdrücklich gesagt wird, daß die „zusammenschlagenden Türen” des alten FeuerBesitzers aufhörten zusammenzuschlagen, öffnete der Hirsch mit Sicherheit einen neuen Durchgang, indem er bei seiner Suche nach dem „Feuer” im vorbestimmten rechten Augenblick durch die Tür ging. Es gab wenig Raum für Erfindungen und Variationen in diesem ernsten Spiel mit den großen Themen, obgleich der Phantasie etwas Freiheit vorbehalten blieb. So mag man versucht sein, die unmotivierte Faulheit der Tochter des alten Manns für reine Phantasie zu halten. Und doch; Hat es wirklich nur mit Phantasie zu tun, wenn man in ihr den Prototyp von Ischtar entdeckt, von der gesagt wurde (siehe oben, Seite 197), daß sie „den Apsu vor Ea aufrührt”? Da weibliche Bogenschützen eine seltene Spezies sind, lohnt es sich, zu berücksichtigen, was der babylonische astronomische Text, genannt „Serie mutAPIN” (das Pflug-Gestirn = Triangulum, und mit diesem Triangulum beginnt das Verzeichnis der Sterne auf dem Anu-Weg), konstatiert zu dem Sternbild des Bogens mulBAN (akkadisch kakkabQaštu): „Die hohe (?) (Gottheit) Ištar, die Tochter von (der Gottheit) Enlil.”9 Die Bogenkonstellation, gebildet aus Sternen von Argo und Canis Maior, ist bereits erwähnt worden (siehe oben, Seite 198, sowie Abbildungen 17 bis 20), Sie begegnet uns wieder im Enuma elisch, dem sogenannten babylonischen „Weltschöpfungslied”, wo sie als Anus Tochter bezeichnet wird und eine bedeutsame, wenngleich undurchsichtige Rolle spielt.10 Apollodoros, The Library, LCL, Band II, 318-326. II.7f, Bezold-Kopff-Boll, Zenit- und Äquatorialgestirne, 23; vgl. Hermann Hunger and David Pingree, MULAPIN (1989), 32: „The Bow, the Elamitic Ishtar, the daughter of Enlil (Qaštu Ištar elamattu mârat Enlil).” 10 ANET 69, EE VI.79-90: „All the gods apportioned the stations of 8 9
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Und auf dem runden Tierkreis von Dendera sehen wir die göttliche Bogenschützin der Ägypter, Satit, wie sie ihren Pfeil auf Sirius anlegt. Dem akkadischen Qaštu entspricht hebräisch Kešet: der Kriegsbogen. Und eben dieser Kriegsbogen wird nach der Sintflut etabliert als Zeichen des Bundes mit Noah.11 Ob man dem „Regenbogen” nicht endlich den Laufpaß geben sollte? Wenn man ein kurzes Märchen entdeckt, das auf wundersame Weise große Mythen in wenigen Worten zusammenfaßt, kommt man zu der Vermutung, daß solche Märchen Fragmente langer und ausgeklügelter Rezitationen sind, die dazu gedacht waren, das Publikum stundenlang zu fesseln. In Wirklichkeit jedoch stellen sie so etwas wie einen „Apollodoros” oder „Hyginus” dar, welche die essentiellen Informationen in knappen Abstrakta weitergaben. Aber hinter letzteren stand eine vollentwickelte und mächtige literarische Tradition von griechischen Dichtern, die den Ideen Fleisch und Blut verliehen, wohingegen bei einem heaven and earth. / The fifty great gods of destiny set up the three hundred [in heaven]. / Enlil raised (he bo[w, his wea]pon, and laid (it) before them. / The gods, his fathers, saw the net he had made. / When they beheld the bow, how skillful its shape, / His fathers praised the work he had wrought. / Raising (it), Anu spoke in the Assembly of the gods, / As he kissed the bow: ,This is my daughter.’ / He named the names of the bow as follows: / ,Longwood is the first, the second is […]; / Its third name is Bow-Star, in heaven I have made it shine.’” A. Jeremias (ATAO, 143) übersetzt: „Das Netz, das er gemacht hatte, sahen die Götter [seine Väter], / sie sahen den Bogen, daß er kunstvoll [gefertigt war], / und das Werk, das er vollendet hatte, priesen sie… /Es erhob Anu in der Versammlung der Götter …/ den Bogen (kašta) küßte er: ,Er ist … .’ / [Die Namen] des Bogens nannte er folgendermaßen: / ,Langholz’ (işşu arik) ist der eine, der andere … / sein dritter Name ,Bogenstern am Himmel’ (kakkab kaštu ina šamê) / Er setzte fest seinen Platz … ” Siehe auch E. Ebeling, AOTAT 123; ANETSupplement, 503. 11 Vgl. A. Jeremias, ATAO 143, der allerdings in dem Bogen die Mondsichel erkennen will.
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schriftlosen neolithischen Volk wie den Catlo’Itq anscheinend nur das rohe Skelett, also „Hygini Fabulae”, überlebt hat – es sei denn, wir unterstellen den Informanten, den Ethnologen die reichhaltigeren Versionen vorenthalten zu haben. (Ein Kollege berichtete uns einmal von einem tibetanischen Barden, der auf die Bitte, die Sage von Bogda Gesser Khan vorzutragen, fragte, ob er die lange Version oder die kurze zum Besten geben solle; die lange Version hätte Wochen in Anspruch genommen, um sie angemessen zu rezitieren.) Es wurde bereits früher gesagt und sollte erneut festgestellt werden, daß man sich „Feuer” als einen großen Kreis dachte, der von einem Himmelspol zum anderen reicht, und auch, daß die Feuerhölzer als ein wesentlicher Bestandteil des Gerüsts zum Skambha gehören (Atharva Veda X.8.20). Von den Dingen, die uns halfen, „Feuer” als den Äquinoktialkolur zu erkennen, sei hier nur eine Tatsache erwähnt, nämlich daß die Azteken Castor und Pollux (alpha beta Geminorum) für die ersten Feuerhölzer hielten, von denen die Menschheit lernte, wie man Feuer drillt. Das ist durch Sahagún bekannt.12 Wenn man bedenkt, daß der Äquinoktialkolur des Goldenen Zeitalters durch die Zwillinge (und den Schützen) lief, dann liefern die Feuerhölzer in Gemini einen passenden Reim auf den Vers eines mongolischen Hochzeitsge- 294 bets, in dem es heißt: „Das Feuer ward geboren, als Himmel und Erde sich trennten.“13 Mit anderen Worten: Vor dem Auseinanderfallen von Ekliptik und Äquator gab es kein „Feuer”; es wurF.B. de Sahagún, Florentine Codex (übersetzt von Arthur J.O. Anderson und Charles R Dibble), VII, 60. Siehe auch Rémi Siméon, Dictionnaire de ta Langue Nahuatl (1885) s.v. „mamalhuaztli: Les Gémeaux, constellation”, der allerdings nicht erwähnt, daß Sahagún mamalhuaztli mit „astijellos”, Feuerhölzer, gleichsetzt. Auch die Tasmanier fühlten sich Castor und Pollux für das erste Feuer zu Dank verpflichtet [siehe J.G. Frazer, Myths of the Origin of Fire (1930), 3f]. 13 U. Holmberg, Die religiösen Vorstellungen der altaischen Völker (1938), 99. 12
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de zum erstenmal im Goldenen Zeitalter der Zwillinge entfacht. Es ist noch nicht sicher, ob es feststehende Regeln gibt, nach denen das eine Feuer aus dem Norden und das andere aus dem Süden geholt werden muß; beide Methoden kommen vor. Die Finnen zum Beispiel bestehen auf der „Wiege” des Feuers „am Nabel des Himmels”, von wo es durch sieben oder neun Himmel ins Meer rauscht, genauer gesagt: auf den Meeresgrund.14 Und von Tezcatlipoca wird behauptet, er habe am Himmelsnordpol gesessen, als er nach der Flut im Jahre 2-Rohr das Feuer drillte. Über den sogenannten „Feuer-Gott” Mesopotamiens heißt es hingegen; Gibil, der erhabene Held, den Ea mit dem schrecklichen Glanz [= melammu, H.v.D.] schmückte, der im reinen Apsu aufwuchs, der in Eridu, dem Ort der vorherbestimmenden Schicksale, unversiegbar zubereitet wird, dessen reines Licht den Himmel erreicht – seine breite Zunge leuchtet auf wie der Blitz; Gibils Licht flammt auf wie der helle Tag.15
Gibil wird auch kurz „Held, Kind des Apsu” genannt. Wenn das „Feuer”, geschmückt mit „schrecklichem Glanz” – melammu /hvarna –, in Eridu zubereitet wird, sollte es einem erlaubt sein, daraus den Schluß zu ziehen, daß es von dort herbeigeschafft werden muß, genauso wie der rigvedische Agni-Matarishvan – einer von den Agnis, also den „Feuern” – am „Zusammenfluß der Ströme” gesucht werden mußte (Appendix 44). Ob das „Feuer” nun von „oben” oder von „unten” kommt, die göttlichen oder halbgöttlichen Lebewesen (oder zu zwei Dritteln göttliche wie Gilgamesch), die es von einem der beiden Topoi holen, könnten alle nach ihrer gemeinsamen Funktion benannt werden – wie etwa in Mexiko, wo Quetzalcoatl auch „Ce acatl” =
K. Krohn, Magische Ursprungsrunen der Finnen (1924), 115. W.F. Albright, „The Mouth of the Rivers”, AJSL 35 (1919), 165; siehe auch K. Tallqvist, Akkadische Götterepitheta (1939), 313. 14 15
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1-Rohr genannt wird,16 und Tezcatlipoka „Omacatl (Ome acatl)” = 2-Rohr. Gleichermaßen könnte man die Helden der Alten Welt „1-Narthex”, „2-Narthex” usw. titulieren, nach dem Pflanzenstengel,17 in dem der Titan Prometheus (= eine „Portion” des Saturn) das gestohlene „Feuer” vom Himmel brachte. Ohne sich unbefugt an der hitzigen Debatte über die Lesart und Interpretation des bloßen Namens Gilgamesch zu beteiligen – zum Glück kommt er als Gilgamos bei Aelianus vor18, kann 295 man sagen, daß GIŠ „Holz, Baum” und MEZ/MAS eine bestimmte Holzart bedeutet,19 und daß es Gründe gibt, unseren Tatsächlich repräsentiert Acatl/Rohr das Pfeilholz, das Bohrholz zum Feuerreiben und ist das „Symbol gerichtlicher Gewalt”. Siehe E. Seler, Gesammelte Abhandlungen (1960-1961), 2, 996, 1102; 4, 224. 17 narthêx m., ist laut Liddell-Scott „giant fennel, Ferula communis”, wobei ferula = „the plant fennel-giant, Ferula, Linn.”; laut Lewis-Short auch Fenchel; laut Pape „eine hochgewachsene Doldenpflanze, ferula”. Adalbert Kuhn [Die Herabkunft des Feuers und des Göttertrunks (1886), 24] spricht von „Narthex-Staude” und vermerkt (215, Anm.), „daß deutsche Glossen die ferula (Narthex) dem Farn gleichsetzen”. 18 Aelianus, De natura animalium XII.21. 19 Vgl. René Labat, Manuel d’Epigraphie Akkadienne (1963), Nr. 296, S. 1372, Nr. 314, S. 143; F. Hommel [Ethnologie und Geographie des alten Alten Orients (1926), 783, mit Anm. 5, siehe auch 539, Anm. 2]: „Der gesamte Name des alten Heros Gilgamesch, Giš-gibil-fa-meš heißt nicht etwa ,der Vater ist ein Holz’, sondern ,das feuererzeugende mešHolz’.” Dagegen S.N. Kramer [JAOS 64 (1944), 11]: „gi(b)ilg(a)-mes, ,the father, the hero’ … In any case, the assumption that the sign GIŠstands for giš, ,tree’ … is more than unlikely.” Vgl. auch Th. Jacobsen, The Sumerian King List (1969), 89f, Anm. 128; A. Falkenstein, RLA III, 357ff; K. Tallqvist, Akkadische Götterepitheta (1934), 312; D.O. Edzard, Mythologisches Wörterbuch I, 69 (mit Berufung auf Falkenstein, An.Or. 28, 91): „Der sumerische Name geht wahrscheinlich auf eine Form Bilga-mes zurück, die etwa ,der Alte ist (noch) ein junger Mann’ bedeutet,” In Anton Deimels Pantheon Babylonicum (1914), Nr. 633, S. 95, hieß es noch: „Interpretatio huius nominis non est proposita ulla.” 16
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Helden als wahren Pramantha/Prometheus zu begreifen. An dieser Stelle werfen wir tunlichst einen Blick auf das 1955 von Felix Gössmann – aufgrund neu gefundener Textbruchstücke – neu edierte und übersetzte „Era-Epos”.20 Das ist ein düsteres Gedicht, dessen Grimmigkeit dem Wesen des Gottes entspricht. Erra (auch Era, Irra, Ira geschrieben)21 ist kein anderer als Mars, eine „Portion” des NergaL Die erwartungsgemäß reichlich lückenhaften fünf Tafeln des Epos handeln von der schweren Bedrohung des „Welt”-Friedens durch Erra, der während eines vorübergehenden Aufenthalts von Marduk in der „Unterwelt” das Universum verwaltet, mehrere Städte verwüstet – insbesondere Babylon, Marduks Stadt. Und es handelt von der beabsichtigten Entfesselung der Flut, die dann aber doch nicht stattfindet. Im Gegensatz zum Sinn der stürmischen Vorgänge, kommt der Schauplatz der Ereignisse im Erra-Epos ein wenig deutlicher heraus: „(Der Stern, der an der Deich)sel des Wagens steht, ist das Fuchsgestirn Era, der Gewaltige unter den Göttern”, wie wir aus der Serie MUL.APIN I.16-17 erfahren.22 Daß P.F. Gössmann, OESA: „Das Era-Epos” (1955). Siehe auch E. Ebeling, AOTAT, 212-223 („Der Mythos ,Herr aller Menschen’, vom Pestgotte Irra”) und S. Langdon, MAR V, 137-146 (,„King of all habitation’ or the Series Irra”). 21 Für die Lesart und Interpretation siehe J.J.M. Roberts [JCS 24 (1971). 1116]: er erklärt Erra für die korrekte Lesung, betont Erras „martial character”, ernennt den Gott zur „personification of ,scorched earth’ which often results from war” und bezweifelt, wohl mit Recht, die übliche Deutung als „Pest-Gott”. Siehe auch K. Tallqvist, Götterepitheta (1914), 329. 22 P.F. Gössmann, Planetarium Babylonicum (1950), Nr. 205, S. 81; Bezold-Kopff-Boll, ZÄF 19; Hunger-Pingree, MULAPIN 23 („The star Stands in the cart-pole of the Wagon, the Fox, Erra, the strong one among the gods”). Siehe auch E. Weidner, RLA III, 119f; Armas Salonen, Landfahrzeuge (1951), 124 („Deichsel”); Eric S.J. Burrows, in Festschrift Deimel (1935), 38 („Zügelring”); B. Meissner, Babylonien und Assyrien II, 411 („… der Stern, der am Orte des Joches (?) des Lastwagens steht”). 20
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es sich bei dem Fuchs-Stern um Alkor handelt, hat Franz Boll schon eruiert (Sphaera, 406); unter demselben Namen Alopex/Fuchs kreuzt dieser „Däumling”-Stern in den AratScholien unseren Weg23, worüber im Appendix 16 nachzulesen ist. Selbstredend „ist” Alkor nicht gleich Erra. Er ist einer von dessen fixen Stellvertretern. „Im astrologischen Sprachgebrauch”, so läßt uns wiederum Gössmann wissen, „vertritt mulKA .A [Šelebu/Fuchs] vor allem den Planeten Mars.” Be5 dauerlicherweise sind Gössmann diese seine Kenntnisse bezüglich Erra/Mars/Alkor – von den Plejaden als dem wichtigsten Vertreter-Sternbild hörten wir schon wiederholt – bei seiner Behandlung des Erra-Epos abhanden gekom-men wie auch alle anderen Sternbild- und Planetennamen, die dort vorkommen; nur der Jupiter (ilŠUL.PA.E) wird pflichtschuldigst erwähnt.24 Eben dieser Marduk/Jupiter maßregelt den Erra mit strengen Worten, weil er ausgezogen sei, das zu zerstören, was nach der (vorhergegangenen) Flut übriggeblieben war. (In derselben Tonart hatte einst Ea mit Enlil nach der Utnapischtim-Flut geredet.) Damals allerdings konnte Marduk sieben Weise (ummâni) retten, indem er sie veranlaßte, in den Apsu hinabzusteigen. Und er rettete auch die wertvollen mes-Bäume, indem er ihren Standort wechselte. „Wegen dieses Werkes, O Held, das du auszuführen befahlst, wo ist der mes-Baum, das Fleisch der Götter, die Zierde der Könige?” „Der mesu-Baum”, sagt Marduk, „hatte seine Wurzel im weiten Meer, in der Tiefe von Arallu, und seine Spitze erreichte den hohen Himmel.” Er fragt Erra, E. Maass, Commentariorum in Aratum Religuiae (1958), 391. P.F. Gössmann, Planenetarium Babylonicum (1950), IV, 124, S. 32: „Des Jupiters Glanz will ich hinstrecken, die Fixsterne verunglimpfen. Des Baumes Wurzel will ich abschneiden.” S. Langdon (MAR V, 144): „The brilliance of Jupiter (Marduk) will I cause to fall and the stars will I suppress. The root of the tree will I tear up.” E. Ebeling (AOTAT, 227): „Šulpae’s [Fußnote: „Stern Jupiter”] Glanz will ich ‚fällen’, und die Sterne verfinstern. Des Baumes Wurzel will ich ab(schneiden).“ 23 24
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wo der Lapislazuli, wo die Götter der Künste und die sieben Weisen des Apsu seien.25 Von dieser vorausgegangenen Flut betont Marduk nachdrücklich, daß er sie selbst veranlaßt habe, wozu Ebeling vermerkt: „Marduk hatte danach also früher eine Sintflut veranstaltet, der Bericht darüber ist nicht erhalten.”26 Aber stimmt das? Enlil ist ebenso wie Marduk eine „Portion” des Jupiter; und die von Enlil verordnete Flut ist die von Utnapischtim im Gilgamesch-Epos geschilderte. Um die Ereignisse einzuleiten, hatte Erra damals unter dem Namen Irragal/Erragal den „Schiffspfahl” (DIM.GAL/tarkullu) herausgezogen. Jetzt droht er wiederum, den tarkullu herauszurupfen.27 Wo beziehungsweise wann die Erra-Flut stattfinden sollte, verrät uns das Epos nicht. Lösungsversuche hätten in erster Linie die „Siebengötter” zu berücksichtigen,28 die ständigen Begleiter des Erra. Über die multivalenten „Sieben” wird an anderer Stelle die Rede sein. Prinzipiell kann es sich um die Wagensterne handeln – sofern begleitet von ihrer „Schwester“ Narudu/Narundi — Alkor (wie in Indien die „Sieben Weisen” von Arundati, Gattin des Vasishtha/zeta Ursae maioris) –, um die Plejaden und um die sieben Planeten. Letztere scheiden in diesem Fall mit Sicherheit aus. Langdon votiert für die Plejaden,29 und auch Edzard P.F. Gössmann, op.cit, 12-14; E. Ebeling, op.cit., 217f; S. Langdon, op.cit., 139f. 26 E. Ebeling, op.cit., 217, Anm. e. 27 IV.118, P.F. Gössmann, op.cit., 31; zu DIM.GAL/tarkullu siehe Appendix 38. 28 A. Deimel, Pantheon (1914), Nr. 2892, S, 233: „dSibittum, ilSibi”; Tallqvist, op.cit., 442: „Sibibi, si-bit, im Singular und Plural gebraucht”; P.F. Gössmann, Era-Epos (1956), 7ff; D.O. Edzard, Wörterbuch d. Mythologie 1, 124; „Sebettu, akkadisch ,die Sieben’, sumerisch Imina-bi ‚ihrer sieben’.” 29 S. Langdon, MAR V, 147, mit Berufung auf C.F. Jean, RA 21 (1924), 93-104. 25
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konstatiert: „Als astrale Gottheit verkörpern die Sebettu die Plejaden.“30 Erras „Sieben” hatte Anu mit ersetu gezeugt (Tafel 1.2829: sibi-ilâniMES), was gewöhnlich mit „Erde” übersetzt wird. Ersetu/Irsetu ist allerdings jene „Unterwelt”, die den Enkidu gepackt hat und über die Gilgamesch nach seinem Tode herrschen wird – so wie Nergal über Arallu. Um welche Scorpius-Sterne es sich bei der Mutter der zu Erra gehörenden „Sieben” handelt, steht noch nicht fest. Die epischen „Abenteuer” finden allesamt am Himmel statt, was man schon dem Umstand entnehmen kann, daß das keilschriftliche Determinativ für „Gott” ein Stern gewesen ist;31 und wir haben es ja kontinuierlich mit „Göttern” zu tun. Dieser Umstand ist allen Assyriologen bekannt, aber er wird beharrlich verdrängt.32 Das muß nicht bedeuten, hienieden täte sich gar D.O. Edzard, Wörterbuch I, 125, ebenfalls mit Berufung auf C.F. Jean. Zu untersuchen ist auch die Bewandtnis der „Sieben” aus dem Lugalbanda-Epos. Von Lugalbanda heißt es: „Lugalbanda, der achte von ihnen”. Diese Sieben sind „an der Tafel Ans aufgezogen worden [Claus Wilcke, Das Lugalbandaepos (1969), 49f] und sind unzertrennlich, während sich Lugalbanda von ihnen entfernen kann, um dann erneut zu ihnen zu stoßen (Z, 320-325, Wilcke, 120). 31 Vgl. A. Falkenstein, Archaische Texte aus Uruk (1936), 31, 60, Zeichenlisten S, 51ff; R. Labat, Manuel (1963), Nr. 13, S. 48f; B. Meissner, Babylonien und Assyrien II (1925), 130; U. Seidel, RLA III, 485. 32 Wie sich von selbst versteht, hat es durchaus Gelehrte gegeben, die sich der astronomischen Natur des Gilgamesch-Epos bewußt gewesen sind, insonderheit Franz Xaver Kugler, der berühmteste der sogenannten „Keilschrift-Astronomen” [„Die Sternenfahrt des Gilgamesch”, in Stimmen aus Maria Laach (1904), 432-449, 547-561]: Das GilgameschEpos „vollzieht sich nicht auf der Erde, sondern am gestirnten Himmel” (op.cit., 435). Aber die Rekonstruktion der von ihm vorausgesetzten Jahresreise des „Sonnenhelden” durch den Tierkreis ist nicht sonderlich befriedigend ausgefallen, zumal er den „Sonnenhelden” von der Ekliptik abweichen ließ, weil er die „Mündung der Ströme/Eridu” auf Rigel (beta Orionis) festnagelte; Enkidu suchte er in Auriga und 30
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nichts. Die Geographie ist von Beginn an von der Uranographie abgeleitet worden, und jedem Topos „oben” entspricht einer „unten”. Es gibt diverse (vielleicht auch viele) Angaben über solche Projektionen – erwähnt wurden Marduks Tempel in Babylon = Pegasus-Viereck und natürlich Eridu = Canopus33 –, und anstatt zungenfertig von „Lokalkulten” zu sprechen, sollte man herauszufinden suchen, welche mesopotamischen Städte welchen „Häusern” oder welchen „Hypsomata/Exaltationen” welcher Planeten entsprochen haben; dann ließen sich vielleicht auch die auf Erden zelebrierten „Götterreisen” besser verstehen. Es ist an der Zeit abzubrechen – beziehungsweise mit Erra zu sagen: „Open the way, I will take the road, the days are ended, den Zedernwald „im dichten östlichen Teil der Milchstraße”. 33 E. Weidner (OLZ 16 (1913), 55) hat angekündigt: „Die ganze Frage der astrologischen Geographie werde ich in allernächster Zeit an anderem Orte sehr ausführlich behandeln.” In seinem Handbuch der babylonischen Astronomie [I (1915), 60, 125] verwies er auf das Kapitel V, wo die astrologische Geographie ausführlich zur Sprache kommen werde. Das Kapitel V ist nicht erschienen; Band I des Handbuchs besteht nur aus den Kapiteln I und II. In OLZ 1913, 56, bringt Weidner einen Text, demgemäß Cancer zu Sippar gehört, die Wagensterne zu Nippur, DIL.GAN zu Babylon. DIL.GAN nimmt er für Aries; aber DIL.GAN = iku, also das Pegasus-Viereck. Siehe auch Weidner, „GestirnDarstellungen auf babylonischen Tontafeln”, 24 (SÖAW 1967), für die Verbindung von Cancer mit „Tigris, Euphrat und Sippar”. Die weitgehend undurchschaubaren, stark beschädigten dort publizierten Texte überläßt man besser zur Gänze den Experten; erwähnt sei aber ein Text (S. 25), in dem zum Capricornus gesagt wird „Tag des Ackerstücks von Eridu (ikuurueridu)”. Dazu vermerkt Weidner: „Eridu wird auch in anderen Texten mit Capricornus kombiniert (s. AfO 20, S. 118b, Z. 44).” Das wäre eine „Kombination” der Tiefe des Süßwasserozeans /Canopus mit der Tiefe des Salzmeeres/Capricornus am Wintersolstitium im Aries-Alter. Aber was hat es mit dem „Ackerstück” hier auf sich (iku war das grundlegende Flächenmaß der Sumerer)?
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the fixed time has passed” (Langdon, 141) – und wieder auf „unsere Welt” umzuschalten, in der Mars/Erra/Nergal einige Lichtminuten von uns entfernt ist, Marduk/Jupiter ungefähr acht Minuten, Enki/Ea/Saturn eine Stunde. Zwar hören wir noch gerne in Haydns Schöpfung, daß die Planetensphären die Ehre Gottes erzählen und der Fixsternhimmel seiner Hände Werk verkündet,34 aber in unserer Welt, auf die der griechische Terminus „Kosmos” nicht mehr zutrifft, haben die Planeten einen wesentlich bescheideneren Stellenwert; und der ehemals „Achte”, der alles bergende „Fixsternhimmel“, hat sich in einen unendlichen, von Galaxien wimmelnden Raum aufgelöst, der sich der Vorstellungskraft entzieht. Lediglich der Canopus, auf den sich die alten Götter und Könige nach Ablauf ihrer Weltalter zurückzogen und der den Vorvätern die „Tiefe des Meeres” anzeigte, von der man sich die me besorgte – lediglich dieser Canopus hat auch heute noch eine herausragende Funktion: als Peil-Stern für interplanetarische Raketen. Bevor jedoch die alten Lichter erlöschen, sei in letzter Sekunde noch die im Erra-Epos erhaltene und wohl deutlichste Aussage über die Präzession angeführt. Marduk sagt zu Erra: Als ich grollte und mich von meinem Sitz erhob und die Flut kommen ließ: Da hatte ich mich von meinem Sitz erhoben und das Gericht von Himmel und Erde war gelockert Die Götter, welche zitterten, die Sterne des Himmels: Psalm XVIII (XIX.2 (Luther): „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk.“ Bei Clemens Alexandrinus heißt es (Stromateis VI.c.l6, 141.6; Stählin-Früchtel, 503): „hebdomàs doxázê tên ogdoáda kaì ’hoi ouranoìtois ouranois diêgountai dóxan theou”; in der Übersetzung von Overbeck (563): daß „die Siebenzahl die Achtzahl verherrlicht und ,die Himmel den Himmeln die Ehre Gottes erzählen’”. LXX: „Hoi ouranoì diêgountai dóxan Iheou, poieêsin dè cheirôn autou anaggéllei to steréôma.” 34
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ihr Standort änderte sich und ich brachte sie nicht an ihren Ort zurück.35
Erra-Epos, 1.132-134 (RF. Gössmann, op.cit., 98). Seite 12 hatte Gössmann übersetzt: „(Am Tage an welchem) ich von meinem Sitze mich erhob und die Flut hereinbrechen ließ, / Da ging … (das Gericht) von Himmel und Erde aus den Fugen. / Die Stätte der Götter der weiten (Erde wie) der Götter des Himmels / War anders geworden und ich brachte (sie) nicht an ihren Ort zurück.“ Bei Ebeling, dem die neuen Bruchstücke noch nicht vorlagen, liest man (AOTAT 217); „[Nachdem ich …] von meinem Sitze aufgestanden war, die Sintflut gemacht hatte, /[…] wurde das Gericht über Himmel und Erde ‚gelöst’ – Anmerkung: „D.h. eingestellt“ – / … [ ] der Himmelsgötter Standplatz wechselte, ich (?) brachte […] an ihren Ort.”
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von GIORGIO de SANTILLANA
… und da wahrscheinlich jede Kunst und jede Philosophie nach Möglichkeit oftmals erfunden und wieder verloren würde, so können diese Ansichten gleichsam deren Reste (leipsana) sein, die sich bis heute erhalten haben. ARISTOTELES
I Während wir uns* auf den Schluß dieses Essays zubewegten, kam uns nach vielen Jahren durch irgendeinen glücklichen Umstand oder Zufall oder eine Art Absicht die Arbeit eines Autors unter die Augen, der uns zum Führer wurde, als wir uns um ein erstes Verständnis des frühen Bewußtseins der Menschen beIm Verlauf des Texls wurde das Pronum wir so wenig wie möglich benutzt, weil es schwierig ist, zu wissen, was es von einer Verwendung zur nächsten bedeuten soll. Auf den jetzt folgenden Seiten wird wir notwendigerweise häufiger vorkommen und sich einzig auf uns, die Autoren, beziehen. Postskriptum, H.v.D.: Diese Anmerkung ist irreführend. Giorgio de Santillana hätte anstelle von „wir” hier tunlichst „ich” geschrieben. Er hat dieses Kapitel zu Beginn seiner langen Krankheit verfaßt – als letztes, soweit ich weiß.
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Epilog
mühten. Gemeint ist Ernst Cassirers Opus über das mythische Denken. Und mit allem Respekt, zu dem man gegenüber dem großen Historiker der Philosophie der Renaissance verpflichtet ist, waren wir äußerst überrascht. Anhand der überzeugenden und klaren Prosa verfolgten wir das allmähliche Wachsen der Konzeption von wilden und ungehobelten Anfängen bis hin zur Höhe Kantschen Bewußtseins und ließen erneut den stattlichen Aufzug großer Gelehrter und Forscher Revue passieren: Humboldt, Max Müller, Usener und Wissowa, Frazer und Cumont sowie viele andere – jene imposante Phalanx, in welcher Philologie, Ethnologie, Religionsgeschichte, Archäologie und nicht zuletzt Philosophie ihr wohldurchdachtes Vordringen in geordnetem Zustand entfalteten, um schließlich von den modernen Kulturhistorikern gesichtet und geklärt zu werden. Aber dann, als wir weiter darüber nachdachten, daß hier das Material war, das in den gewaltigen Universitäten der Zukunft die StudiumGenerale-Kurse für Fortgeschrittene beliefern würde, um für die Massen die schillernde Maschinerie elektronisch verarbeiteter und audiovisueller Allgemeiner Geisteswissenschaft zu errichten, wurden wir plötzlich von der unvergeßlichen Erinnerung an jenes unermüdliche, engagierte und lächerliche Paar Bouvard und Pécuchet überwältigt. Die gnadenlose Ironie Flauberts war im Falle Cassirers mit Sicherheit nicht angebracht; aber derselbe Genius, der Madame Bovary schuf, zeigte uns plötzlich die Umrisse gewisser bevorstehender Dinge. Ein edles Unternehmen war zum Scheitern verurteilt. Was Flauberts pathetische, kleine autodidaktische Figuren mit dem souveränen Kulturhistoriker gemeinsam hatten, lag klar auf der Hand: Es war intellektueller Stolz, der von der Höhe des Fortschritts aus urteilt und die zahllosen Jahrhunderte der archaischen Vergangenheit zu arglosem, primitivem Geplapper komprimiert, das analog den überlebenden „Primitiven” um uns herum verstanden werden muß. Zuviel dieser Primitivität liegt in den Augen des Betrachters selbst. Es bedurfte des Scharfsinns ausgebildeter Beobachter wie Griaule,
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mit einem Mal jenes Universum des Denkens aufzudecken, welches Generationen moderner Afrikanisten verborgen geblieben war. Das große Verdienst von Ernst Cassirer liegt in seinem Aufspüren der Existenz von „symbolischen Formen” aus der Vergangenheit inmitten der historischen Kultur. Wer außer ihm wäre in der Lage gewesen, die Gesichtszüge des archaischen Mythos überhaupt zu erkennen? Doch blieb er aufgrund seiner herablassenden Betrachtungsweise verblendet. Evolution – ein brillantes biologisches Konzept, das man zu einer universalen Banalität hat verkommen lassen – hielt ihn in Bann. Infolge jener Verwechslung von biologischer Zeit, also der Zeit der Evolution, mit der Zeit der Menschheit – eine Verwechslung, die sich früh eingeschlichen hatte –, konnte er seiner eigenen Einsicht nicht folgen. Die Zeit des Menschen, während der er ein Verstandesleben gelebt hat, reicht zwar ein paar Jahrzehntausende zurück, aber sie ist nicht dasselbe wie die biologische Zeit. Immer wieder haben wir in diesem Essay auf diese sich zäh behauptende Verwechslung von biologischer und historischer Zeit hingewiesen. Wenn bereits Cassirers Vorstellungen vom mythischen Denken veraltet sind (wie auch seine Quellen), so hat man von den besagten Studium-Generale-Kursen der Zukunft zu gewärtigen, daß sie sich stetig in die Richtung soziologischer Psychologie und anthropologischer Soziologie bewegen – bis alle Spuren der Vergangenheit ausgelöscht sein werden. Die Massen werden dann über eine Kultur der Allgemeinplätze verfügen, errichtet auf den allgemeinen Ideen der letzten zweihundert Jahre. Selbst Cassirer, der die Verkettung von Sprache und Gedanken in der modernen Naturwissenschaft wahrzunehmen vermochte, wurde von seinen Talenten im Stich gelassen, sobald er die faden Berichte von Missionaren und die naiven Interpretationen der Spezialisten seiner Zeit akzeptierte. Das macht sein Werk „passé”. Das ist der Lohn für die Sünde des intellektuellen Hochmuts. Mit dem Verfahren, eine Identität von nicht-diskursivem Symbolis- 302
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Epilog
mus und „Primitivität” herzustellen, hat er sich selbst von der Kantschen Synthese abgeschnitten. Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr? Gleich zu Beginn von Mythos und Sprache – eine kuriose und ziemlich ungewollte Zweideutigkeit – tritt mit den Worten Platons aus dem Phaidros recht unbeabsichtigt eine vergnügliche Stichelei gegen die intellektuellen Übungen des Neunmalklugen mit Mythen und „Mythologemen” auf. Cassirer hat eindeutig die Absicht, den Leser auf seine Seite zu ziehen und ihn mit der Autorität des Meisters daran zu erinnern, daß nüchternes Denken angebracht sei, selbst wenn es sich um „ungehobelte Wissenschaft” handelt. Erwartet er von einem, den Timaios zu vergessen? Denn in diesem Dialog, einem seiner letzten, beschäftigt sich Platon ernst und feierlich mit den ersten und letzten Dingen, nämlich mit dem Universum und dem Schicksal der Seele. Und doch ist der Timaios offen und ausdrücklich eine große Mythe und nichts weiter. Ist er also „unernst”, wie Platon launisch gewissen Gelehrten einreden will? Sie sind in die Falle gegangen. Denn Platon hat in sein Stück nicht nur die ihm verfügbare Naturwissenschaft eingebaut, er hat ihm überdies exklusives Wissen von großer Wichtigkeit anvertraut, das er von seinen archaischen Vorgängern erhielt; und nüchtern beschwört er den Leser, dieses Wissen nicht ernstzunehmen, sondern es statt dessen zu verstehen, so er es vermag. Der Gelehrte befindet sich bereits in einem hoffnungslosen Durcheinander, und der Herr stehe ihm bei. Ein einfacher Ausweg wäre, zuzugeben, daß der Mythos weder eine unverantwortliche Tagträumerei noch das Objekt einflußreicher Psychologen oder sonst etwas dieser Art sei. Er ist etwas „völlig anderes” und verlangt, mit offenen Augen betrachtet zu werden. Das haben wir versucht zu tun.
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Wandelt sich rasch auch die Welt Wie Wolkengestalten, Alles Vollendete fällt Heim zum Uralten. RILKE
Um sich zurechtzufinden, kann man für einen Augenblick auf die Gedanken zweier Moderner zurückgreifen: Leo Nikolajewitsch Tolstoi, der letzte große Epiker, und Simone Weil, die letzte große Heilige des Christentums, auch wenn es sich dabei um ein gnostisches handelt. In seinen späteren Jahren quälte Tolstoi die Frage, ob ein Weg zu finden sei, den historischen Ereignissen, wie er sie kannte, einen Sinn abzugewinnen. Verzweifelt gelangte er zu dem Schluß, daß es mitnichten einen Sinn gibt, daß die sogenannten Geschichtemacher Marionetten des Schicksals sind, welche Rechtfertigung auch immer den Philosophen einfallen möge. Die Realität des Kriegs zerstörte jeden Anschein von Rationalität und hinterließ nur ein entsetzliches Durcheinander. Dem modernen Bewußtsein werden die starren Ereignisse vor Augen geführt, aus denen man bloß pragmatische Rückschlüsse ziehen kann, davon ausgehend, was als Fait accompli in Erfahrung gebracht wird. Vielleicht finden wir uns hier einem der Tolstoischen Paradoxa gegenüber, das auf eine fast unerträgliche Spitze getrieben wird. In seinem denkwürdigen und verzweifelten Brief, den er 1908 an Ghandi – damals ein unbedeutender Anwalt – schrieb und der für diesen den Ausschlag gab, seinen Weg von der Lehre der Gewaltfreiheit, satyagraha, zu beschreiten, in diesem Brief prangerte Tolstoi die verschiedenen Formen von Gewalt, Mord
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und Betrug an, auf denen die Gesellschaft basiert und die Erziehung und Klassentrennung verewigen. Er schloß damit auch alle offiziellen Religionen ein. Und dann verwies er auf die Naturwissenschaft als die Hauptschuldige, weil sie dem Menschen beibringe, sich selbst und ganz besonders der Natur Gewalt anzutun. Natürlich dachte Tolstoi dabei an den arroganten Geist des Szientismus. Es wäre ihm nicht einmal im Traum eingefallen, die Naturwissenschaft könnte in Wirklichkeit von einer ganz anderen Gesinnung getragen sein, nämlich vom Verlangen nach Erkenntnis und von strenger Sachlichkeit. Heute würden wir die Technologie als die Hauptschuldige bezeichnen. Aber der Finger zeigt unzweideutig auf unsere moderne und vulgarisierende Idee von der „Wissenschaft für die Massen” sowie auf die Konsumgesellschaft. Dem setzte Tolstoi allein die christliche Nächstenliebe in ihrer reinen und schlichten Form entgegen, als das einzig Spontane, Natürliche und Zwingende. Zu Tolstoi und seinen Erleuchtungen Abstand haltend, könnten wir sagen, daß das, was er einklagt, der Respekt für das Leben und die Spontaneität ist. Verloren im Tumult des Zweiten Weltkriegs, dachte Simone Weil, rückwirkend eine Antwort bei den Griechen zu finden, bei Homer selbst, der der Lehrer Griechenlands genannt worden war. Sie nannte die Ilias das „Gedicht von der Stärke”, weil es die Stärke im Zentrum der menschlichen Geschichte zeige, dem gewaltigen und klaren Spiegel der menschlichen Verfassung – ohne Hinzufügung besänftigenden Unsinns. Tod für die Besiegten, Nemesis für den Eroberer – dies sind zwei Faktoren der Gleichung. Die streng geometrische Sühne, die mit dem Mißbrauch der Macht einhergeht, waT3äs Hauptthema griechischen Denkens. Es hatte Bestand, wohin auch immer griechisches Denken gelangt war. Und doch hat es der westliche Mensch, der Erbe judäo-christlicher Tradition verloren – und zwar so gründlich, daß es in keiner westlichen Sprache ein Wort gibt, um es auszudrücken. Die Begriffe von Grenzen, von Maßen,
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von Kommensurabilität, welche das Denken der Weisen leitete, haben nur in der griechischen Wissenschaft und in der Katharsis der Tragödie überlebt. Das schien die Grenze des Verstehens zu ziehen. Es sei eine befremdliche Wahrheit, notierte Simone Weil, daß die heutigen Menschen nur hinsichtlich der Materie Geometer seien. Aber von Platons berühmter verlorengegangener Vorlesung über das Gute ist bekannt, daß sie auf geometrischer Beweisführung beruhte. So war es in Griechenland von Anfang an gewesen. Nicht nur Anaximanders ethische Statik des Kosmos, sondern die gesamte pythagoreische Theorie hatte diese drei mathematischen Wissenschaften zur Grundlage: Mathematik, Musik, Astronomie. Hierin lag der unwandelbare Kern der Wahrheit, auf dem das Gute ruhen kann, und der Rest war eine Sache der Techniker. Sogar bei Thukydides gibt es eine Art reductio ad absurdum. Und es zeigt, daß – wenngleich die Griechen nicht weniger unglücklich mit ihrem Leben waren als wir – die große epische Idee erhalten blieb: kein Haß für den Feind, keine Verachtung für das Opfer. Die Maße des Kosmos entfalteten die Fakten. Macht und Notwendigkeit müssen als einer Ordnung inhärent betrachtet werden. Das entscheidende Wort bleibt jenes des Timaios (48A); „… bei Entstehung dieser Welt wirkten Notwendigkeit und Vernunft in Gemeinschaft miteinander; dabei hatte aber die Vernunft die Oberhand über die Notwendigkeit; denn es gelang ihr, die Notwendigkeit durch Überredung zu bestimmen, bei dem Werden der Dinge das Meiste zum Besten zu führen.“ Das ist ein großer Gedanke. Er umschreibt die Grenze, bis zu welcher der Verstand zu denken vermochte und dennoch in der Lage war, der Realität einen Sinn zu verleihen. Das ist es, was die Griechen als Grenzlinie des Denkens akzeptiert hatten. Wie originell ihre Ansichten auch waren, könnte man gleichwohl sagen, daß es das Erbe der archaischen Maße war, welches ihr Vermögen aufgebaut hatte – und Der zwar Mensch unzerstörbar. ist darüber hinausgegangen und hat die Kraft der Mathematik zur Eroberung der Materie benutzt, bis tief hinab
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Epilog
zum Atomkern und weit hinaus bis zu den außergalaktischen Nebeln vordringend. Aber es ist genauso, wie Simone Weil bemerkte: Die Menschen sind nur in Bezug auf Materie und Energie Geometer. Den Rest muß man Ereignissen und Wahrscheinlichkeiten überlassen, der Physik des Staubs. Der Mensch starrt weiterhin auf das, was innerhalb seines eigenen Rahmens die Absage an das Denken ist: das Fait accompli. Man traut sich nicht einmal, die Konsequenzen dieser Geometrie zu überprüfen; furchtsam ertasten sich die Menschen ihren Weg um so schicksalsbeladene Folgeerscheinungen wie „Information” und „Overkill” herum, welche sich unter den eigenen Augen zu Faits accomplis verwandeln. Die historische Betrachtungsweise eignet sich nicht zur Kontemplation. Aber insofern, als der Mensch versucht, seine Erfahrung des Wahren mit Hilfe des Gegensatzes aufzubauen, stellt er fest, daß die Wahrheit im Streit mit seinem uralten Glauben an Kontinuität liegt. Auf der subatomaren Ebene entfernt sich die wissenschaftliche Vorhersage von „unmittelbaren Katastrophen” und bricht sich an dem unaufhörlichen Wiederaufleben der Falsifizierbarkeit. Was immer mit authentischem Ausdruck in der Kunst gemeint sein mag, verzettelt sich, vom Kontext bereinigt, in der unendlichen Vielfalt von Stilrichtungen, von Resonanzen, von Vorkommnissen und Entdeckungen; nicht einmal die scheinbare Gegenwart, sondern der fraktale Augenblick ist für uns das Jetzt der Zeit.
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III History is a nightmare frorn which I am trying to awake. JOYCE
Im Gegensatz zur jetzigen Welt spricht viel für die archaische Vergangenheit. Sie basierte auf einer Kultur von künstlerisch hohem Rang wie auch auf einer wissenschaftlichen Kultur. Sie brachte die erste technologische Revolution hervor, auf der die sogenannte Antike für Jahrtausende ruhen sollte. Jedoch lebte sie fort, blühte auf und ließ die Welt leben. Die Menschen neigen dazu, diese archaische Wissenschaft zu ignorieren, weil sie von den falschen Grundlagen ausging und allerlei falsche Schlüsse zog. Aber Historiker wissen, daß Unrichtigkeit kein Kriterium für Relevanz ist, daß ein Argumentationsgang unabhängig von seinen Endpunkten wissenschaftlich von Bedeutung sein kann. Unsere Vorfahren bauten ihr Weltverständnis auf einer Vorstellung auf, die man geozentrisch nennt; sie endeten bei Spekulationen über das Schicksal der Seele in einem Kosmos, in dem Geographie und Himmelskunde noch miteinander verwoben wurden. Und was vielleicht noch schlimmer ist: Sie bauten ihre Spekulationen auf einen Zeitbegriff auf, der sich von dem modernen metrischen, linearen und monotonen Zeitbegriff gänzlich unterscheidet. Ihr Universum konnte nichts mit dem unsrigen zu tun haben insofern, als es von den scheinbaren Umläufen der Sterne abgeleitet war, also von reiner Kinematik, Es hat viele große Gelehrte beträchtliche Mühe gekostet, sich in diese Anschauungsweise zurückzuversetzen. Die Ergebnisse sind erstaunlich 306 fruchtbar gewesen- Denn jene Vorfahren bauten die Zeit nicht nur in eine Struktur, der zyklischen Zeit, ein: mit ihr einher ging
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ihre schöpferische Idee von der Zahl als dem Geheimnis aller Dinge. Wenn sie sagten „Dinge sind Zahlen”, schlugen sie einen großen Bogen über das weite Feld astronomischer, mathematischer und harmonikaler Ideen, aus dem die eigentliche Naturwissenschaft hervorgehen sollte. Diese unbekannten Genies brachten das moderne Denken auf den Weg. Dabei waren ihre Gedanken nicht minder kompliziert als die unseren. Kosmologische Zeit – der „Tanz der Sterne”, wie Platon sie nannte – war kein bloßes Winkelmaß, kein leerer Behälter, zu dem sie inzwischen geworden ist; ein Behälter für die sogenannte Geschichte und als solcher angefüllt mit furchterregenden und bedeutungslosen Überraschungen, die Fait accompli zu nennen die Menschen sich abgefunden haben. Die Zeit wurde als wirksam genug empfunden, auf unbeugsame Weise Ereignisse insofern zu kontrollieren, als sie sie zu ihren eigenen Abläufen innerhalb einer kosmischen Mannigfaltigkeit modellierte, in welcher Vergangenheit und Zukunft sich gegenseitig beim Namen riefen. Die Tiefe rief die Tiefe, und das furchteinflößende Maß antwortete, gab als Echo die Struktur in vielerlei Art wieder, gab der Zeit ihre Skandierung, die unerbittlichen Entscheidungen, durch die ein Augenblick „fällig wurde”. Diese ineinandergreifenden Maße waren deshalb mit einer derartig transzendenten Würde ausgestattet, weil sie der Realität eine Grundlage verschafften, welche die gesamte moderne Physik nicht zustande bringt; denn anders als die Physik vermittelten sie die erste Vorstellung von dem, „was es heißt, zu sein”. Und das, worauf sie sich konzentrierten, geriet fast zu einer Verschmelzung von Vergangenheit und Zukunft, so daß die Zeit die Tendenz hatte, im wesentlichen orakelhaft zu sein. Sie bot sich dar, sie verkündete sozusagen; sie richtete die Menschen auf das Ereignis aus – in derselben Weise, wie es später der Chor in der griechischen Tragödie tun sollte. Welche Vorstellung auch immer sich der Mensch von sich selbst machen konnte: Das geheiligte Ereignis entfaltete sich vor ihm von selbst und bewahrte ihn
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davor, der „Traum von einem Schatten” zu sein. Immer wieder haben wir im Verlauf dieses Essays auf der Nichtigkeit jeglichen Versuchs insistiert, ein „Bild” von dem archaischen Kosmos zu geben – selbst wenn es ein solches wäre, wie es Rembrandt von der kabbalistischen Erscheinung malte, die sich dem Eingeweihten offenbart, oder wie es plötzlich Faust im Zeichen des Erdgeists sah. Selbst als magisches Schema wäre es nur der Entwurf einer unauflöslichen Komplexität. Weit schlimmer erging es unseren wissenschaftlichen Vorgängern, als sie sich an einem als mechanisch vorgestellten Modell versuchten, einem Planetarium vielleicht, wie es Platon ironisch in seiner unbewegten Art mit seinen Spinnwirteln und Spindeln und Gerüsten und Säulen vorschlug. Ein richtiges Modell könne in der Tat hilfreich sein, fährt er ohne mit der Wimper zu zucken fort; und man erkennt, daß es in die Preiskategorie eines ZeissPlanetariums fiele, wobei es zwar noch immer der kinematischen 307 Strenge der Himmelskräfte treu bliebe, aber blind wäre für den Betrieb ihrer sich bewegenden Seele – und prompt löst sich Platons Mechanismus in seinen eigenen Widersprüchen auf: Es ist mitnichten ein richtiges „Modell”. Platon wird niemals von seiner „Unernsthaftigkeit” ablassen, die für ihn eine Frage des Prinzips ist, eine Art, das Geheimnis sich selbst zu überlassen, während man die Vernunft so weit respektiert, wie sie gehen kann. Ein anderes häufig und im ganzen Hochkulturgürtel benutztes „Bild” – älter als Planetarien ähnelnde Modelle – war das vom himmlischen Gewebe, das Bild von „der Gottheit lebendigem Kleid”, gewirkt „am sausenden Webstuhl der Zeit”, wie wir es aus dem Faust kennen. Aber wie in all diesen Bildern, sind auch hier die eigentlichen Termini Leben und Harmonie – viele Harmonien, wie sie die Pythagoreer aufs immer neue ermittelt haben. Unsere eigene „Rekonstruktion”, was immer das sein mag, käme einer Harmonie in dem Maße gleich, wie es einer Katze gelingt, wenn sie sich bis zur vollen Länge auf der Klaviertastatur ausstreckt. Keplers Versuch, die Partitur der „Harmonie der
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Sphären” niederzuschreiben, mußte notwendigerweise darin scheitern, die wahre Gesetzmäßigkeit wiederzugeben: das, was Platon das Lied der Lachesis nannte. Menschen haben gelernt, das zu respektieren, ohne darüber nachzudenken. Selbst heute beschwört man, wenn man Weihnachten feiert, das einzigartige Geschenk jener zyklischen Zeit – nämlich das Geschenk, nicht geschichtlich zu sein, sich dem Zeitlosen zu öffnen. Mit dem Rest der ihnen noch verbliebenen Aufrichtigkeit erflehen die Menschen die Vergebung uralter Sünden und sogar die Wiedergeburt der Seele, wie es bereits vor Jahrtausenden getan wurde. Von dieser Zeit erbitten sie erneuerte Kraft zum Weitermachen in einer sinnlosen Realität – und noch immer bitten sie ihre Kinder, ihrem Unglauben aufzuhelfen. Wahre Geschichte richtet sich nach Mythen. Ihre Mächte sind mythisch. Wie Voltaire kühl bemerkte, besteht die entscheidende Frage darin, welchen Mythos man sich aussucht. Der Begriff Revolution ist eigentlich ein Fachausdruck des astronomischen Wissens und des Mythos’: Es ist das, was immer zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt. Der Terminus wurde beharrlich mit der Idee von der Großen Wende identifiziert. Sobald die Menschen begannen, ihn mißzuverstehen, setzte er die Geschichte mit ihren irreversiblen Umbrüchen in Bewegung. Aber noch im Mittelalter verhieß er eine Rückkehr zu den undefinierten Ursprüngen, zum Goldenen Zeitalter, in dem Adam grub und Eva spann, beziehungsweise im christlicheren Sinne: als der Herr noch auf Erden wandelte. Joachim von Floris (ca. 11321202) war noch ein Prophet jener Großen Wende, welche die eigentliche Erfüllung uralter Weissagungen sein sollte. Die Menschen erwarteten, daß sich nach dem Zeitalter des Vaters und des Sohnes unverzüglich das Zeitalter des Heiligen Geistes einstellen werde, in dem alle Menschen Brüder sind – ein großer revolutionärer Augenblick, ausgelöst durch den Orden der Franziskaner. Diese Erwartung lebte in dem geschrumpften Gesichtskreis der Aufklärung fort, die den Bogen zurück zu den Griechen
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und Römern als Halbgötter schlug. Und doch war dieser Traum schon in jenen klassischen Zeiten vorhanden gewesen. Es war der Traum von einer Rückkehr zu der lange zurückliegenden Geburt eines wundersamen Kindes sowie von der noch weiter zurückliegenden, deutlicheren Idee von kosmischen Konfigurationen, so wie sie waren, als die Zeit noch nicht in Bewegung gesetzt worden war. An dieser Stelle kam der Timaios. Es versteht sich von selbst, daß eine reale Chronik der archaischen Zeitalter „barbarische” Ereignisse am laufenden Band zu verzeichnen hätte. Was „Wanderungen” wie die der Seevölker oder der Kimmerer an Zerstörung und Vertreibung angerichtet haben, liegt jenseits unserer Vorstellungskraft. Man nennt das die primitive Lebensweise und stellt unbekümmert Mutmaßungen über Ausrottung im biologischen Sinn an, dabei vergessend, was die Biologie über wirkliche Konflikte zwischen Tierhorden zu sagen weiß. Es ist nur der Mensch – genauer gesagt: der moderne Mensch –, der die Kunst des perfekten Tötens beherrscht, die schnelle wie die langsame. Aber die archaischen Kulturen – zwar frei von Geschichte, jedoch eingetaucht in den Mythos – sahen nicht in Ereignissen die Überraschung jenes Faxt accompli, welches die Vernunft in einer Weise lähmt und vernichtet, wie Auschwitz es mit uns getan hat. Die mythische Erfahrung hat ihre eigenen Wege, Katastrophen zu begegnen. Die Menschen waren in der Lage, die Dinge nobel zu betrachten. Die Darstellung der Tatsachen wurde episch. Das große Epos vom Untergang der Nibelungen widerspiegelt auf seine eigene Weise die Invasion Attilas und der Hunnen, der „Geißel Gottes”. Die offizielle Geschichtsschreibung mag den mongolischen Horden mit dem römischen Sieg auf den Katalaunischen Feldern entgegentreten, aber der Attila der Legende, der Chef von Gog und Magog, bleibt beeindruckender – sogar noch, als er leise aus der Szene verschwindet – als Dschingis oder Tamerlan (Timur Leng) mit ihren historisch verbrieften Eroberungen und Pyramiden von Schädeln. Er hat nur wenig zu tun; er ist
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der typische Kaiser des Mythos. Wie Dietrich, wie Artus, wie Kai Chosrau ist er der unbewegte Schachkönig, um den herum sich die Figuren bewegen. Die Nibelungen-Geschichte zeigt, wie das mythische Denken mit der Krise umging. Es ist Nemesis, was die germanischen Krieger letztendlich vernichtet. Attila, „König Etzel”, leidet seinerseits, ohne die Würde des Eroberers zu verlieren. Sein Kind stirbt von der Hand Hagens, des letzten aus der sündigen Brut, der als Gefangener von der vor Zorn entbrannten Mutter erschlagen wird, die wiederum von Hildebrand umgebracht wird, der sich mit dem Eroberer ausgesöhnt hat und das Drama auf eine Katharsis zuführt. Attila der Hunne und Theoderich der Gote – in der Sage als Alliierte vereint – werden zurückgelassen, um gemeinsam den Tod großer Helden zu beweinen. Kein Haß, kein Entsetzen bleibt übrig – außer über das Walten des Schicksals. Was von der letzten Nacht von Troja, das dem Erdboden gleichgemacht wurde, im lebendigen Mythos übriggeblieben ist, ist die Flucht der wenigen Überlebenden zu neuen Ufern. Dort werden sie ihrerseits zu mythischen Gründerhelden, umworben von den großen Städten des Westens. Auf diese Weise verfährt der Mythos mit seinesgleichen; und man spürt, wie Nemesis am Ende das Römische Reich einholt. Homers epische Gelassenheit leitete den antiken Geist den ganzen Weg bis hin zum Ende der klassischen Welt – frei von Ressentiments und Haß, aber nirgendwo eindrucksvoller als in Vergils ergreifender Beschwörung der Götter, sie möchten Rom und den jugendlichen Octavian beschützen: „Wir büßten doch wahrlich übergenug den lastenden Fluch trojanischen Meineids / satis iam pridem sanguine nostro Laomedonteae luimus periruria Troiae.”1 Es ist eine Untergangsvision zu einer Zeit, in der sich Rom seines immerwährenden Fortbestands sicher wähnte. Aber eine Buße in vollem Maße gibt es nicht innerhalb des unaufhörlichen 1
Vergil, Georgica I.501f, Götte-Übersetzung (1959), 84
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Rhythmus’ von Zyklen und Megazyklen, der eine lebendige Dialektik mythischer Vorstellungskraft errichtet. Die durch Alexanders Eroberungen bewirkte Neugestaltung der damaligen Welt war sicherlich wichtiger als irgendwelche Heldentaten, die dem sagenhaften König von Uruk zugeschrieben wurden. Aber der aus einer anderen Welt herrührende Glanz des letzteren strahlte auf den Makedonier zurück, und die Überlieferung zwang ihn in das Verhaltensmuster eines anderen Gilgamesch, der nach wie vor dazu tendierte, die ganze Erde, das Wasser und die Luft bis zum Ende der Welt und darüber hinaus zu entdecken und zu erobern, noch immer auf der vergeblichen Suche nach Unsterblichkeit. Die modellierende Fähigkeit des etablierten Mythos schuf die historischen Episoden, die der Held brauchte, um in die Rolle zu passen; und sie ging über ihn hinaus, um jenen „zweigehörnten” Halbgott Dhul-Karnein aufzubauen, welcher eine eherne Mauer errichtete, die der Zerstörung aus dem Osten, der Gefahr von Gog und Magog, den Weg versperrte – ein Märchen, an das selbst der spätere Ruhm des Römischen Kaiserreichs nicht heranreichen konnte. Denn diese Art der Zeit neigt immer dazu, die Formen der Zeitlosigkeit anzunehmen. Wir sollten zurückkehren zum Ende des großartigen Abenteuers von Dantes Odysseus, als er von der Straße von Gibraltar aufbricht; Das Hinterschiff dem Morgen zugekehrt, mit tollen Ruderschlägen ging der Flug hinaus und vorwärts, immer mehr nach links.2 Das heißt, daß er „sein Hinterschiff dem Osten zugekehrt” hat und den Kiel direkt dem Westen; er fährt weiter, indem er „immer mehr nach links” segelt. Mit anderen Worten sieht es so aus, als versuche er, Afrika zu umsegeln, nicht wie es Kolumbus, 2
Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, Vossler-Übersetzung (Neuaus-
gabe 1886), 150f.
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sondern wie es Vasco da Gama auf seinem Weg nach Indien machte. Die Hauptrichtung dieses „tollen Flugs” ist tatsächlich Süden, über den Äquator und dann den Wendekreis des Steinbocks hinweg, genauso wie er es bereits bei Homer unter Kirkes Segelanweisung getan hatte: „Folge dem Wind aus dem Norden.” Er sucht noch immer nach der „sinnlichen Erfahrung der unbewohnten Welt dort jenseits der Sonne”. Aber gemäß Dantes Weltschema ist er eindeutig auf dem Weg zu den Antipoden, womit in etwa die unbekannte Südsee gemeint ist. Bald sah man nachts des andern Poles Sterne, und wie sie alle kamen, sank der unsre, bis er sich nicht mehr aus dem Meer erhob. Schon fünfmal hatte volles Licht vom Mond herabgestrahlt und fünfmal war’s geschwunden seit wir zur großen Fahrt uns aufgemacht. Da tauchte dunkel in dem fernen Dunst ein Berg herauf und schien mir riesenhoch, so hoch, wie ich noch nichts gesehen hatte. Wir jubelten. — Die Lust ward bald zunichte …3 … denn es handelte sich, wie wir bereits wissen (siehe Kapitel 14, „Der Wasserstrudel”), um den Berg des Fegefeuers, zu dem die Lebenden keinen Zutritt haben. Entsprechend verordnete die Göttliche Fügung einen Wasserstrudel, der das Schiff mit Mann und Maus verschlang; und das war das Ende. Was hatte Kolumbus entdeckt? Nicht viel mehr. Dantes Schilderung war keine Erfindung im eigentlichen Sinn; sie war aus Schriften seiner eigenen Zeit abgeleitet, und wir stoßen auf sie in Kolumbus’ persönlich transkribierten Auszügen und Notizen, die er in Spanien während der Jahre des Wartens aus seiner Lieblingslektüre machte: „… subtle-shining secrecies / Writ in the glossy margents of such books.“4 Es geht noch immer 3 4
Dante, op.cit., 151. W. Shakespeare, Rape of Lucrece, Vers 15. The Oxford Shakespeare Com-
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um das Land Eden: Eine große Entfernung über Land und Wasser von unserem bewohnbaren Land; es ist so hoch, daß es die untere Sphäre berührt, und nie berührten es die Wasser der Flut … Das Gewässer, welches von diesem sehr hohen Berg herabfließt, bildet einen gewaltigen See. Das Herabstürzen solcher Wasser macht einen derartigen Lärm, daß die Bewohner taub geboren werden. Aus diesem See als der einzigen Quelle fließen die vier Flüsse des Paradieses: Physon, welcher der Ganges ist, Gyon, welcher der Nil ist, Tigris und Euphrat … Es gibt dort eine Quelle im Paradies, die den Garten der Freude bewässert, und die sich in die vier Flüsse ergießt. Laut Isidor, Johannes von Damaskus, Bedo, Strabo und Peter Comestor … Plinius und Solinos zeigen die Korrekturen des Ptolemaios durch Marinus von Tyros, daß das Meer mit günstigen Winden binnen weniger Tage überquert werden kann, indem man per deorsum Africae, entlang dem Rücken Afrikas segelt … denn die Erde umfaßt von Spanien bis Indien mehr als 180°. Und der Beweis ist, daß Esra sagt, daß 6/7 des Erdballs Land sind, Ambrosius und Augustinus halten Esra für einen Propheten … ein Grad entspricht 52 2/3 römischen Meilen …
Die Quellen von Kolumbus sind wohlbekannt; eine von ihnen 311 ist Pierre d’Aillys berühmtes Imago Mundi aus dem 14, Jahrhundert, und eine andere ist Aeneas Sylvius’ Historia Rerum ubicumque gestarum aus dem 15. Jahrhundert. Pierre d’Ailly unterscheidet sich sogar noch mehr von Ptolemaios, indem er dessen Himmelskoordinaten ruiniert, während Aeneas Sylvius’ nichts weiter als eine Kompilation ist, ein vager miroir historial. Und doch sind dies die Bücher, denen Kolumbus sein Vertrauen schenkte, weitaus mehr als seinen Karten – und das zurecht. Selbst Toscanellis berühmter Brief an Martius geht nicht über die Hervorhebung von Marco Polos Zipangu (Japan) hinaus, das er tausend Meilen östlich ansiedelt – was den Genuesen, der sich bis zum Schluß die Existenz des Pazifiks nicht vorstellen konnte, plete Works (1969), 1088.
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immerhin ermutigte und ihn nach den goldenen Häusern von Zipangu suchen ließ, während er Kuba entdeckte. Sein Nimmermehr-Land, seine eigene Insel von St. Brandaen, muß sich in seinem Sinn irgendwo zwischen den Kanaren und dem Kaiserreich des Priesterkönigs Johannes*, entlang dem „Rücken von Afrika” befunden haben. Und das war ihm Antrieb genug, Amerika zu entdecken – vielmehr es aus seinem mythischen Enthusiasmus heraus zu erfinden, noch immer nach dem Garten Eden mit seinen Nachtigallen trachtend. Was den „Kosmographen” Toscanelli betrifft, so ging sein Impuls nicht so sehr von seinen geographischen Kenntnissen über China aus, sondern von seiner Prophezeiung eines neuen Weltalters. Kolumbus' und Toscanellis klare und sehr moderne Absicht bestand darin, „über den Weg des Westens den Osten zu suchen”. Aber worauf lief das hinaus? Einer der Autoritäten versicherte, das Aryim, umbiculus maris, wo immer es sich befinden möge, auf keinen Fall „in der Mitte der bewohnbaren Welt” liege, sondern weiter weg, jenseits von 90°. Eine andere Kapazität sagte, daß die Entfernung zwischen Spanien und dem östlichen Rand von Indien „nicht groß” sei. Einmal draußen auf dem Atlantik, mußte sich Kolumbus auf seinen Glauben an den zeitlosen Mythos, von Gilgamesch bis Alexander, verlassen. Selbstverständlich hatte er den Kompaß, aber seine Kosmographie hatte ausgerechnet die Vorstellung vom Himmel verloren; und ebenso wie seine odysseischen und mittelalterlichen Vorfahren mußte er auf der Suche nach der Insel der Seligen bleiben: Es mag sein, daß wir die Glückseligen Inseln finden Und den großen Achilles treffen, den wir einst kannten … Was ihn zu seiner Entdeckung führte, war seine großartige Geschicklichkeit als Navigator, der er es verdankte, ÄquinoktialA.d.Ü.: Legendärer König und Priester des Mittelalters, von dem angenommen wurde, entweder im Fernen Osten oder in Äthiopien geherrscht zu haben. *
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stürme heil zu überstehen und nie ein Schiff zu verlieren, wenn er seine Karavellen durch die tückischen Kanäle der Ostindi- 312 schen Inseln hindurchfädelte. Amerika war die Belohnung für Paolo Toscanellis5 und Christopher Kolumbus’ archaischen Glauben. Die Beziehung des Mythos zur Geschichte ist in der Tat sehr wichtig, aber der Einfluß des einen auf die andere stellt sich häufig quer zu den meisten Interpretationen jener, welche den Mythos seines Nimbus berauben. Die berühmte Nachtigall von Eden, von der Kolumbus schrieb, er habe sie gehört, als er auf der Watling-Insel landete, ist nur ein schlagendes Gegenbeispiel. Aber davon gibt es mehrere. Zum Beispiel hatte der Mythos Einfluß auf die Geopolitik großer Eroberer aus dem Osten wie Tamerlan und Mohammed II. Diese beiden Männer der Tat – und zwar entscheidender Tat – waren weit davon entfernt, ungebildet zu sein. Sie hatten die Kulturen zweier Sprachen, Türkisch und Persisch, zu ihrer Verfügung, und ihre wißbegierigen Gemüter liebten es, im Geiste bei großen Plänen über Abenteuer in Richtung Westen zu verweilen. Doch obgleich sie von der Zerstörung des Kaiserreichs von Rūm (Rom) besessen waren, ist nachgewiesen worden, daß sie noch nie etwas von Cäsar und seinen großen Nachfolgern gehört hatten. Ihre Geschichtsinformation ging nicht über den „Alexanderroman“ in seiner persischen Version hinaus. Man landet wieder bei Gilgamesch als der Ur-Quelle. Der Vergleich geht ganz zu ihren Gunsten aus. Während sich die Potentaten Europas in unseligen Streitereien verloren, dabei ihre Chancen vergeudeten und sogar eine Allianz mit den Türken suchten, fand allein der kranke und im Sterben liegende Papst Aeneas Sylvius die der Situation angemessenen Worte: „Die Barbaren haben den Nachfolger Konstantins gemeinsam mit seinem Volk umgebracht, die Tempel des Herrn entweiht, die Altäre umgestürzt, die Reliquien der Märtyrer den G. de Santillana, „Paolo Toscanelli and His Friends”, in Reflections on Men and Ideas (1968), 33-47. 5
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Schweinen vorgeworfen, die Priester getötet, ihre Frauen und Töchter vergewaltigt, sogar die Gott geweihten Jungfrauen; sie haben das heilige Bild unseres gekreuzigten Erlösers durch das Lager geschleift und dazu ,dort geht der Gott der Christen’ gebrüllt und es mit Dreck und Spucke besudelt – und wir scheinen uns um nichts zu kümmern.” Es war tatsächlich die Abschlußtragödie des Christentums, das sich zuerst gen Westen, dann gen Osten auflöste. An diesem Punkt fand nur der erobernde Sultan die der Situation angemessenen Worte. „Der Herrscher der Welt” – schreibt sein Chronist Tursum Beg – begab sich wie ein Geist auf die Spitze der Hagia Sophia, er beobachtete die Zeichen des bereits herannahenden Untergangs und formulierte elegische Gedanken; „Die Spinne dient als Wächter in den Säulengängen der Kuppel von Chosrau. Die Eule gibt das letzte Signal im Palast von Afrasiab. So ist die Welt, und sie ist dazu verdammt, zu Ende zu gehen.”
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IV Welche Zeitspanne umfaßte die archaische Welt innerhalb unserer eigenen Struktur? Ihr Anfang ist bereits im Neolithikum angesiedelt worden, ohne eine Grenze nach hinten in die Vergangenheit zu setzen; darüber sollen Prähistoriker entscheiden. Das astronomische System scheint sich einen Begriff vom Goldenen Zeitalter, der Saturnischen Ära, als bereits mythisch im richtig verstandenen Sinn zu machen. Man kann also sagen, daß es etwa 4000 v. Chr. Gestalt annahm6 und daß es bis in die Protogeschichte hinein und noch darüber hinaus währte. Der Verlust an Substanz, den die Überlieferung im griechischen Mittelalter erlitt Siehe W. Hartner, „The Earliest History of the Constellations in the Near East and the Motif of the Lion-Bull-Combat”, JNES 24 (1965), 116, 16 Tafeln.
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(vor dem Mittleren Reich geschah dasselbe auch in Ägypten), hat eine nahezu unüberbrückbare Kluft zu dem geschaffen, was wir Klassische Antike nennen; aber es blieb genug übrig, um eine Kontinuität mit jenen Vorfahren sicherzustellen, welche Platon und Aristoteles gerne „die den Göttern nahen Menschen“ nannten und denen sogar noch in unserer Renaissance auf diese Weise gedacht wurde. In Platons Philosophie blieb die archaische Zeit intakt; sie wurde entschieden als „gänzlich anders” in ihren Ausmaßen begriffen, als gänzlich unvereinbar mit dem, was Parmenides in seiner Offenbarung bereits erfaßt hatte, und mit dem, womit Demokrit nüchtern theoretisierte. Aber archaische Zeit ist das Universum, und wie dieses ist sie zirkulär und endlich. Sie ist die Essenz der Definition, und das bleibt sie durch die gesamte Klassische Antike hindurch, die nicht an Fortschritt, sondern an ewige Wiederkehr glaubte. In jener Welt war es der Raum, der – wenn man ihn für sich betrachtet – Unbegrenztheit und Inkohärenz ins Spiel brachte. Letzten Endes war der Raum bei Platon mit der Natur des Nicht-Seienden gleichgesetzt. Platon nannte den Raum „das Gefäß”. Dieser Gedanke, der für uns so verwirrend ist, die wir in räumlichen Begriffen denken und die Realität, wie Henri Bergson sagte, anhand von in den Raum gezeichneten punktierten Linien zerlegen, muß für Platon eine einfache und natürliche Schlußfolgerung gewesen sein. Er hatte die Vorstellung geerbt, daß Realität – oder vielmehr das Sein – vor allem in zeitlichen Begriffen definiert wurde. Es war der Raum, der Durcheinander, Vielfalt und Widerstand gegen die Ordnung mit sich brachte, also das, was Platon das Widerspenstige und Unregelmäßige nannte und was sich der Vernunft stets widersetzt. Es hatte den Anschein, als habe sich im Anfang der Raum sogar der Vernunft des Schöpfer-Demiurgen widersetzt, denn er konfrontierte ihn mit dem ursprünglichen Chaos, das heißt: mit „plemmelôs kaì átaktôs kinoúmena”, mit „ohne Ordnung und ohne Takt/Rhythmus Bewegtem“ (kinoúmena = neutrum plural; was sich da unrhythmisch bewegt, wird offengelas-
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sen). Selbst der Demiurg hatte Mühe, das Vorgefundene – für das er nicht verantwortlich zeichnete – so gut wie eben möglich in Ordnung zu überführen. Wann ging die archaische Welt zu Ende? Es gibt viele Zeugnisse der bestürzenden Wende. Plutarch (ca. 45-120 n.Chr.), ein wahrer Heide, sann darüber nach, warum es so sei, „daß Orakel aufgehört haben, Antworten zu geben”. Es ist bei dieser Gelegenheit, daß er von der Sage über die Stimme erzählte, die aus dem Meer kam und dem Steuermann sagte: „Der Große Pan ist tot.“ Als wir sie bei einer anderen Gelegenheit nacherzählten (siehe oben, Seite 251f), merkten wir an, daß die Experten von Kaiser Tiberius entschieden, es müsse sich um Pan Nr. 3 handeln. Ein anderes Weltalter muß vorübergegangen sein, zusammen mit den zu ihm gehörenden Göttern. Für Traditionalisten war es in der Tat ein weiteres Anzeichen für den Untergang des Zeitalters des Widders und den Advent des Zeitalters der Fische. Historisch ist diese Wende bekannt als der Advent der christlichen Revolution, die auf vielerlei Weise durch das Symbol des Fisches gekennzeichnet ist. Vielleicht hat diese Ankunft mit dem Edikt des Theodosius im Jahre 390 stattgefunden. Es sollte ein so tiefgreifender Umschwung werden, daß er bei Plutarch eine Orientierungslosigkeit verursacht hätte. Es war das Ende der Parzen, jener Göttinnen, die das Schicksal verkörperten. Das Lied der Lachesis war zum Schweigen gebracht worden. Innerhalb weniger Jahrhunderte war es, als ob über den Köpfen der Menschen, die in einer klassischen Kultur aufgezogen worden waren, neue Sterne schienen. Die Einführung neuer Götter aus dem Osten trug mit Sicherheit zu der rapiden Konversion der römischen Elite bei, die den Christen wie ein Wunder in sich erschien. Orakel und Omen waren ein Teil des Gewebes der zirkulären Zeit gewesen; sie hatten jene sibyllinische Sprache verwendet, welche kontinuierlich eine Regenbogen-Brücke von der Vergangenheit in die Zukunft schlug. Wie spätere Entwicklungen zeigen sollten, erlitt das große
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Gewebe der zyklischen Zeit einen irreparablen Schaden durch die Lehre von der Fleischwerdung; allerdings fiel es nicht sofort auseinander. Der christliche Glaube an die zweite Herabkunft hielt die Zeit noch lange zusammen. Aber als sich die Lehre durchgesetzt hatte, daß die Ankunft Christi in der Welt die Zeit in ein absolutes Vorher und Nachher gespalten hatte und daß es sich um ein einmaliges, nicht wiederholbares Ereignis handle, da wurde Dauer zur simplen Ausdehnung, ein Warten auf den Tag des Jüngsten Gerichts, zunehmend abhängig von den Wechselfällen des Glaubens. Ich habe einmal versucht, aus den Zeugnissen der künstlerischen Praxis heraus die Periode zu bestimmen, ab wann das Zeitgerüst der Wirklichkeit spürbar und in Begriffen des dreidimensionalen Raums beschrieben wurde.7 Dieses erste Zeichen der wissenschaftlichen Revolution fiel zusammen, so schlug ich vor, mit der Erfindung der Perspektive im 15. Jahrhundert. Sie ging gewissermaßen heimlich vonstatten, den Köpfen großer Künstler und Technologen entspringend (wobei Künstler damals die Bezeichnung für Kunsthandwerker war). Eindeutig ist, daß gegen Ende der Renaissance Zeit und Raum zu dem geworden waren, was wir darunter verstehen, Newton verstand die Struktur des Universums als aus absolutem Raum und absoluter Zeit geschaffen. Die Denkweise wurde natürlich und warf erst mit Einstein neue und große Probleme auf, die sich der Vorstellungskraft widersetzten. Heute sollte man dazu übergehen, die erhabene Einfachheit des archaischen Gerüsts zu schätzen, das die Zeit als die eine Struktur auffaßte, wenn auch zu dem schrecklichen Preis, den Kosmos selbst in ein „Blasen-Universum” zu verwandeln. Das war eine entscheidende Option. Die Wahl wirkte sich bis tief in die Wurzeln des menschlichen Seins aus. Sie bedingte gleichermaßen aristotelische Theorie und christliche Phantasie. Sie setzte sogar Copernicus und Kepler unter Druck. Beide schreckten vor der UnbeG. de Santillana, „The Role of Art in the Scientific Renaissance”, in Reflections on Men and Ideas (1968), 137-166.
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grenztheit zurück. Das ist der Grund, warum man in Aristarchos, Bruno und Galilei nicht nur unerschrockene Verallgemeinerer und Erforscher von Regelmäßigkeiten sieht, sondern sie als Geister von übermenschlicher Kühnheit betrachtet. Aristarchos blieb ein Einzelgänger, der zu seiner Zeit sogar von dem souveränen Geist des Archimedes mißachtet wurde. Zwanzig Jahrhunderte später war Bruno weniger ein Denker als ein inspirierter Prophet der Unermeßlichkeit Gottes, die mit dem Universum selbst identisch war. Galilei, der wahre Wissenschaftler, blieb noch zur Genüge von der Zirkularität beherrscht, die er für seinen Kosmos benötigte, so daß er sich nicht traute, das Prinzip der geradlinigen Massenträgheit zu formulieren, das in seinem Kopf bereits vorhanden war. Leidenschaftlich hielt er an dem zirkulären Kosmos fest. Der Kreis war für ihn eine Metapher des Seins, die er noch immer zu akzeptieren bereit war – selbst um den Preis unakzeptabler Epizyklen. Aber wie sehr er auch den vollkommenen Kreis durch sachliche und nüchterne Argumente rechtfertigte, blieb er für ihn doch in erster und letzter Linie eine „symbolische Form” – etwa wie Jamschyds Becher mit den sieben Ringen, der magische Kessel von Ceridwen oder wie der Cromlech von Stonehenge. Die Ent-Stimmung der Welt, die Auflösung des Kosmos sollte erst mit Descartes eintreten. Es wurde bereits früher, in Bezug auf die Astronomen der Maya, gesagt, daß es die Verbindungen waren, worauf es ankam. Im archaischen Universum waren alle Dinge Zeichen und Signaturen voneinander, eingeschrieben in das Hologramm, um scharfsinnig geweissagt zu werden. Das war auch die Philosophie der Pythagoreer, und im Unterschied zur zeitgenössischen beherrschte diese Philosophie alle klassischen Sprachen. Der moderne Kritiker Roland Barthes hob dies scharfsichtig in Le degré zero de l’Écriture hervor. „Die Ökonomie der klassischen Sprache”, sagt er, „ist rational, was bedeutet, daß in ihr die Worte im Interesse der Beziehungen so weit wie möglich abstrahiert werden … Kein Wort hat eine Dichte aus sich selbst heraus; es ist
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weniger das Zeichen für eine Sache, sondern mehr das Mittel, eine Verbindung auszudrücken.“ Heutzutage besteht der Gegenstand eines modernen Gedichts nicht dann, bereits konventionell abgesegnete Beziehungen zu definieren oder zu qualifizieren; man fühlt sich gewissermaßen von der Welt der klassischen Newtonschen Physik in die Zufallswelt subatomarer Partikel befördert, die von der Wahrscheinlichkeitstheorie beherrscht wird. Der Anfang hiervon war bei Cézanne, bei Rimbaud und Mallarmé spürbar. Es ist eine „Explosion von Wörtern” und Formen, befreiten Wörtern, unabhängigen Objekten – diskontinuierlich und magisch, nicht kontrolliert, nicht durch eine Abfolge „neutraler Zeichen” organisiert. Der unterbrochene Fluß der neuen poetischen Sprache, bemerkt Barthes, „initiiert eine diskontinuierliche Natur, die nur stückweise enthüllt wird.“ Natur wird zu einem „fragmentierten Raum, der aus vereinzelten und schrecklichen Objekten besteht, denn die Verknüpfungen zwischen ihnen sind nur potentiell vorhanden”. Mehr noch: Sie sind willkürlich. Es wird angenommen, ihre Beschaffenheit sei gleich dem des antiken portentum. Aber die einzige Bedeutung, die man diesen Verknüpfungen entnehmen kann, ist die, daß sie geistesverwandt mit jenem Verstand sind, welcher sie schuf. Der Verstand hat abgedankt, oder er schrumpft in apokalyptischem Schrecken dahin. In den Künsten ist die Rede von Amorphismus beziehungsweise „Desintegration der Form”, von „Triumpf der Inkohärenz” in konkreter Dichtung und zeitgenössischer Musik. Die neuen Synthesen befinden sich – sofern überhaupt welche möglich sind – jenseits unseres Horizonts.
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L’ENVOI From harmony, from heavenly harmony, This universal frame began; When nature underneath a heap Of jarring atoms lay, And could not heave her head. The tuneful voice was heard from high. „Arise, ye more than dead!” Then cold, and hot, and moist, and dry, In order to their stations leap, And Music’s power obey. From harmony, from heavenly harmony, This universal frame began; From harmony to harmony Through all the compass of the notes it ran, The diapason closing full in Man … As from the power of sacred lays The spheres began to move, And sung the great Creator’s praise To all the Biest above; So when the last and dreadful hour This crumbling pageant shall devour, The dead shall live, the living die, And music shall untune the sky! DRYDEN, A Song for St. Cecelia’s Day
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Schlußbemerkungen zur deutschen Ausgabe von HERTHA von DECHEND
Aus dem, was heute unverständlich scheint, ursprüngliche Vernunft wieder aufleuchten zu lassen, mag sie nach gemeinem Menschenlose noch so tief in Irrtümer verstrickt gewesen sein, ist das Recht und der Gewinn geschichtlicher Betrachtung. BOLL
Die verhältnismäßig schlichte Mär, von der wir ausgegangen sind, hat eine zusätzliche Dimension gewonnen; und so geht es, wie wir gesehen haben, mit zahlreichen anderen harmlos anmutenden „Geschichten1' und sogenannten „Märchen-Motiven”, die sich im Licht vergleichender Forschung als Bestandteile, als Vokabular und Sätze einer spezifischen Fachsprache erkennen lassen. Zu dieser erscheinen noch einige zusätzliche Bemerkungen angebracht. Das hervorstechende Stratagem des Mythos ist es, Erscheinungen und deren Beziehungen zueinander generell, im besonderen aber Strukturen und das Funktionieren ihrer Teile darzustellen, indem man deren génesis erzählt, also beschreibt, wie sie zustande gekommen seien. Um das anschaulich zu machen, werden „Kräfte” personifiziert und Abstrakta vermenschlicht. Nehmen wir als Musterbeispiel wieder die Trennung der Welteltern Uranos und Gaia:1 Kaum jemand hat je „geglaubt” oder Zu der geographischen Verbreitung siehe H. Baumann, Das Doppelte Geschlecht, 254-267 und Karte IV. 1
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sollte glauben, Äquator und Ekliptik oder deren Achsen hätten einst aufeinander gelegen; aber der Zustand des um 23 ½ ° Geneigtseins (die Schiefe) der Ekliptik sowie das Funktionieren des ganzen Gefüges des timäischen Xi lassen sich in Worten sehr schwer beschreiben, weswegen ja auch jeder Studienanfänger der Astronomie auf rotierende Himmelsgloben und geometrische Zeichnungen verwiesen wird.2 Unbeschadet des Faktums, daß er den Mythos von der Trennung der Welteltern durch die Schilderung der Konstruktion einer Armillarsphäre ersetzte – also aus der archaischen in die griechische (und unsere) wissenschaftliche Diktion übersetzte –, hat sich Platon, wie schon betont, auf die mythische Technik verstanden. Möglicherweise ist er für geraume Weile der letzte gewesen, denn seine vielen Kommentatoren haben sich jahrhunZwar hat es auch bildliche Darstellungen des Xi-Gefüges gegeben, aber sie sind so „verkürzt”, daß sie nicht ohne weiteres verstanden werden. Da haben wir vor allem das „Symbol” Yang-Yin, das in Mexiko als das Kalenderzeiehen Olin wiederkehrt – gewöhnlich mit „Bewegung” übersetzt –und ideographisch den Ballspielplatz wiedergibt. [Zelia Nuttal, The Fundamental Principles of Old and New World (1901), 12f, deutete, im Einverständnis mit Troncoso und Lockyer, die Chiffre Olin als „figurative representation of the annual apparent movements of the sun, and recorded its positions at the solstitial and equinoctial periods”.] Die „eleganteste“ Lösung scheint mir die aus dem Codex Borbonicus zu sein: Bei der Tlazolteotl, der Regentin des 13. Tonalamatl-Abschnitts Ce Olin/1 Olin, findet man das Xi gebildet aus Schlange und Tausendfüßler, von Seler gedeutet als „Abbild des Himmels und der Erde” (Cod. Borgia I, Abb. 49, S. 15). Die Schlange stünde für den sich als Ganzes gleichförmig bewegenden Fixsternhimmel, repräsentiert durch den Äquator, der Tausendfüßler für den die vielfältigen Planetenbewegungen umfassenden „Anderen”, die Ekliptik. Und das reimt sich auf den Pyramidentext 663 a: „The Uraeus-Serpent belongs to heaven, the Centipede of Horus belongs in the earth” (Mercer) oder: „O Snake in the sky! O Centipede on earth!” (Faulkner). Siehe auch Abbildungen 46 und 47 in diesem Buch. 2
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dertelang darüber gestritten – und tun das noch immer –, ob oder ob nicht er wirklich gemeint habe, was er im Timaios ausführte, nämlich eine génesis des Kosmos.3 Ein Indiz scheint dafür zu sprechen, daß Xenokrates, der Vorsteher der Akademie nach Platons Tod, noch eine gewisse Ahnung hatte, denn Aristoteles spielt auf ihn an, wenn er in seinem Buch Über den Himmel konstatiert: Die Hilfe aber, die einige von denen, die lehren, der Himmel sei unvergänglich, aber doch entstanden (áphtharton mèn einai genómenon dé), sich zu bringen suchen, nützt nichts. Sie behaupten nämlich, sie würden in ähnlicher Weise wie jene, die geometrische Figuren zeichnen, vom Entstehen sprechen, nicht als ob er wirklich einmal entstanden wäre, sondern nur aus pädagogischen Gründen, da man es eher erkenne, wenn man es wie auf einer Zeichnung entstehen sehe (ouch hôs genoménou poté, allà didaskalìas chárin hôs mallon gnôrizóntôn, hôsper tò diágramma gignómenon theasaménous).4
Auch ohne diesen Casus hätte man längst gewahren können, Vgl. z.B. Plutarch, De animae procreatione in Timeo, 1013E-1014C, 1016E-1017B, mit Anmerkungen von Chemiss (LCL); Proklos, TimaiosKommentar II, 276.30-293, Andre Jean Festugière, Comnwntaire (196668) II, 121-144. 4 Aristoteles, De caelo , 279B-280C.2. Olof Gigon, Vom Himmel (1950), 88f (siehe auch Paul Gohlke, 54). Revised Oxford Translation 464: „Some of those who hold that the world, though indestructable, was yet generated, try to support their case by a parallel which is illusory. They say that in their Statement about its generation they are doing what geometricians do when they construct their figures, not implying that the universe really had a beginning, but for didactic reasons facilitating understanding by exhibting the object, like the figure, as in the course of formation.” Vgl. dazu A.E. Taylor, A Commentary on Plato’s Timaeus (1928), 67-69; F.H. Cornford, Plato’s Cosmology (1957). 26, 178, 207 (Fußn. 1); Harold Chemiss, Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy (1962), 421-432; Konrad Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre (1968), 187f, 269, 408 (Anm. 249), 550f mit Anm. 68. 3
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daß es sich beim „Mythischen” um eine spezifische Terminologie handelt, wenn nicht – infolge der seit rund eineinhalb Jahrhunderten endemisch gewordenen Verwechslung von Kulturgeschichte mit Evolution – automatisch „Primitivität” erwartet worden wäre und wenn nicht ausschließlich auf Geisteswissenschaften Spezialisierte es somit verabsäumten, nach der möglichen Realität von „Göttern” und „Helden” zu fragen und sich der Tatsache bewußt zu bleiben, daß naturwissenschaftliche Phänomene sich per se nur mittels „Fachjargon” verlautbaren lassen. Bezeichnenderweise ist es Isaac Newton gewesen, der den – nicht zu Ende geführten – Versuch unternahm, die „Sprache der Propheten” zu entschlüsseln.5 Er war überzeugt, diese Sprache sei „so certain and definite in its signification as is the vulgar language of any nation”; man müsse sie halt erst lernen, wie andere Sprachen auch, und es nicht wie die Übersetzer machen, welche die „prophetic types and phrases” auf jeweils die Bedeutung hinbiegen, die ihnen ihre Phantasie und ihre HypoI. Newton, „The First Book concerning the Language of the Prophets”, siehe I. Bemard Cohen, ISIS 51 (i960), 500. (Newtons „Absichten” allerdings hatten mit den unseren nichts gemeinsam.) Als Exponate für Palmströms „Museum der Gegenbeispiele“ empfehlen sich auch Äußerungen wie die von J. Marsham [Chronicus Canon Aegyptiacus, Hebraicus … . (1672), 7]: „Nam immensa illa Aegyptiorum chronologia est astronomica, neque res gestas, sed motus coelestes designat”; oder von Charles Dupuis [Origine III (1795), 3421: Als er von Tierkreisdarstellungen spricht, möchte er doch lieber anerkennen, daß er selbst nicht imstande sei, die Bedeutung der Hieroglyphen zu enträtseln, als vorauszusetzen, die Ägypter hätten mit ihnen keinen Sinn verbunden („ … de manière que j’aimerois mieux reconnaître, que je n’ai pu en diviner le sens, que de supposer qu’ils n’y en attachèrent aucun”). Oder aber von G. Higgins [Anacalypsis I (1833), 55]: „We shall never have an ancient history worthy of the perusal of man of common sense, till we cease treating poems as history, and send back such personages Hercules, Theseus, Bacchus, etc., to the heavens, whence their history is taken, and whence they never descended to the earth.” 5
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thesen nahelegen. Newton war auf Fachsprachen gefaßt. An „Warnungen” haben es antike Autoren nicht fehlen lassen. Um nur wenige Beispiele zu geben: Der Geograph Strabon bespricht im 3. Kapitel des 10. Buchs eine ganze Anzahl von Mythen, insbesondere über die Kureten und die Korybanten, und gesteht, er habe für Mythen nichts übrig, da die Alten die von ihnen gehegten physischen Vorstellungen von Fakten in Rätseln ausdrückten und ihre Aussagen immer mit Mythen vermischten; es sei nicht leicht, all diese Rätsel korrekt zu lösen.6 Clemens Alexandrinus7 konstatiert bezüglich der Sprechweise orphischer und pythagoreischer Autoren: „… und tausend und abertausend rätselhaft ausgedrückte Aussprüche der Philosophen und Dichter könnte man finden, da ja auch ganze Bücher den vom Schriftsteller gewollten Sinn nur versteckt anzeigen, wie z.B. auch Heraklits Werk über die Natur, der aus eben diesem Grunde der ,Dunkle’ zubenannt wurde.”8 Plutarch zählt in seinem Buch über Isis und Osiris9 die griechischen Philosophen auf, die sich in Ägypten von „Priestern” belehren ließen, und fährt fort: „Namentlich Pythagoras hat, wie 321 es scheint, … ihre symbolische und geheimnisvolle Weise nachgeahmt, indem er seine Lehre mit Rätseln vermengte. … Ich glaube auch, daß wenn jene Männer die Monade Apollon, die Hebdomade Athene und den ersten Kubus Poseidon nennen, Strabon, Geographie X.3.23, 474: „ainittomenôn tôn palaiôn hàs eichon ennoías physikàs perì tôn pragmátôn kaì prostithéntôn aeì tois lógois tòn mython. hápanta mèn oun tà ainígmata lýein ep’akribès ou rádion.” Strabons eigene dürftige „Lösungs”vorschläge bezeugen nur seinen Widerwillen gegen das Thema. 7 Clemens Alexandrinus, Strom.V.8.50; Stählin, 360, Overbeck, 451. 8 Wenn Clemens Alexandrinus dann u.a. die Alexandra des Lykophron als „Übungsstätte für die Auslegung“ empfiehlt, so sei dem „Anfänger“ dringend abgeraten: Das ist eine Sammlung von Kurzformeln. 9 Plutarch, De Is.Os., c10 und 11, 354 EF, 355 B; Theodor Hopfner, Plutarch über Isis und Osiris II (1967), 8f, 85-92, 94. 6
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dies dem gleicht, was bei den (ägyptischen) Tempeln aufgestellt ist. Wenn du also hörst, was die Ägypter über die Götter erzählen, Irrfahrten, gliedweise Zerstückelungen10 und vieles Derartiges, so mußt du des eben Gesagten gedenken und glauben, daß nichts davon als tatsächlich so geworden und getan erzählt wird.“ Von dem gelehrten Ägypter Chairemon, der Vorsteher des Musaions in Alexandria war und nachmals Privatlehrer des Kaisers Nero in Rom, erfahren wir durch das Zeugnis des PorphyriDie grausliche Mär von dem Knaben Zagreús – das war der erste Dionysos, Sohn der Persephone, zum Unterschied vom zweiten Dionysos, dem von Theben, Sohn der Semele, dessen Ammen die Hyaden waren –, den die Titanen in sieben Teile zerrissen (hépta dè pánta mélè koúrou diamoirêsanto), hat die Gelehrten zur „Rekonstruktion” urigblutiger Riten und Jane Harrison [Prolegomena (1957), 480f] zu dem markigen Urteil ermuntert, Zagreús sei „essentially a ritual figure, the centre of a cult so primitive, so savage, that a civilized literature instinctively passed him by … ” Man hätte Plutarchs Warnung beherzigen sollen: Nicht nur bezeichnet schon Alkman (auch Alkmaon und Alkmaion, ca. 650-600 v.Chr.) Zagreús als den allerhöchsten sämtlicher Götter, zusammen mit Gaia: „Pótnia Gê, Zagreù te theôn panhypértatos pántôn” (Preisendanz, Zagreus; Roscher VI, 532). Vielmehr erzählt Proklos – die Quelle von Kerns Orphischem Fragment 210 (s. 228ff) – die ZagreúsGeschichte in seinem Kommentar zu Platons Timaios (II.145.18-146.I8, Festugière III, 187f; 11.197,24-198.14, Festugière III, 244f; siehe auch Festugière III, 54, 115, 341). Zugegeben: Proklos berichtet über die Zerstückelung des ersten Dionysos nicht direkt zu Timaios 36BC, also der vom Demiurgen vorgenommenen Spaltung des „Anderen”, der Ekliptik, in die sieben Planetenbahnen, sondern zu Timaios 35A, zu Beginn seines Berichts über die Konstruktion der Weltseele (Cornford, op.cit., 59, bezeichnet die Stelle als „one of the most obscure of the whole dialogue”); aber in jedem Falle hat das Thema Zagreús mit der Konstruktion der Weltseele zu tun, mit Mathematik, Astronomie und Harmonielehre, und schlechterdings nichts mit „primitiven” Riten im Sinne des Fruchtbarkeits-Konzerns. 10
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os bei Eusebius,11 daß die Ägypter „nichts voraussetzen, was dem sichtbaren kosmoi voranginge, vielmehr erklären sie die Götter der Ägypter für nichts anderes als die sogenannten Planeten und Tierkreisbilder und deren Paranatellonta, sowie die Dekane und die horoskopoi”, und „daß sie die Überlieferung von Osiris und Isis, und überhaupt die heiligen Mythen deuteten auf die Sichtbarkeits- und Unsichtbarkeitsperioden der Sterne und ihren Aufgang, oder aber die Phasen des Mondes, oder auf den Lauf der Sonne durch die nächtliche und tagsüber sichtbare Halbkugel, oder auf den Fluß“.12 (Ob mit dem „potamós” die Milchstraße oder der Nil gemeint war, läßt sich nicht sicher entscheiden.) Es sei auch nicht vergessen, was Sokrates in Platons Kratylos Eusebius, Epistola ad Anebonem, 11.12-13 (Eusebius, Praeparatio evangelica, III.4.1-2, III.9.15): siehe Pornrio, Lettere ad Anebo (1954), 56ff; Peter Willem van der Horst, Chairemon (1984), 14f, Frg. 5 und 6. 12 Erudierten arabischen und jüdischen Autoren des Mittelalters war noch geläufig, daß gleichweiche „heidnische” (d.h. NichtOffenbarungs-) Religion „Astralreligion'1 gewesen ist. [Vgl. D. Chwolson, Die Ssabier (1965), Einleitung und I 162, 254f, 260; II 391-413, 495ff, 504f.) Maimonides z.B. meinte hinsichtlich jüdischer und islamischer Überlieferung – an dieser Stelle (II, 453) über Abraham –, daß es keine Tradition gebe, die der biblischen Überzeugung widerspreche, „ausgenommen die Überreste jener verächtlichen Religion, welche in den äußersten Ecken der Erde sich erhalten hat, wie die ungläubiger Türken in den äußersten Enden des Nordens und die Inder in denen des Südens; denn diese sind noch Überreste der Anhänger der Ssabischen Religion, welche damals den ganzen Erdkreis erfüllte” und behauptete, „daß es außer den Sternen keinen Gott gäbe” (II, 452), Lange zuvor hatte Philon von Alexandria sich ereifert über „die Chaldäer, die sich am meisten mit Astronomie beschäftigt haben und alles von den Bewegungen der Gestirne herleiten“ und „den Kosmos für die Gottheit selbst” halten, „indem sie in unfrommer Weise das Geschaffene dem Schöpfer gleichsetzen” (De Abrahamo 15, apud Jeremias, Roscher IV, 1433). 11
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(397cd) sagt: „Die ersten Menschen, die Hellas bewohnten, scheinen für Götter allein das gehalten zu haben, was jetzt noch viele Barbaren dafür ansehen, Sonne, Mond, Erde, Sterne und Himmel”, oder ein athenischer Dialogpartner in den Gesetzen (821b 5-9, 822a 4-8): „Ach, ihr guten Leute, wir Griechen reden nachgerade insgesamt lauter Lügen von den großen Göttern und zugleich von Sonne und Mond. … Wir sagen, sie gehen niemals den gleichen Weg, … wir heißen sie ja Planeten und Irrsterne. … Gerade das Gegenteil ist der Fall. Jedes davon wandelt seinen stets gleichen Weg – nicht viele Wege, sondern nur einen einzigen im Kreislauf; daß es so viele Bahnen hat, ist nur äußerlicher Schein.” Näheres Eingehen auf diesen Passus sowie auf die Bemühungen der griechischen Astronomen, die Kreisbahnen der Planeten, dem Augenschein zuwider, zu beweisen,13 verbietet sich hier. Anzumerken bleibt jedoch das Folgende: Van der Waerden hat in seinem RE-Artikel über die Pythagoreer14 den Unterschied zwischen babylonischer und griechischer Astronomie am kürzesten formuliert: „Die babylonischen Astronomen hatten 1) langjährige Beobachtung, 2) sehr genaue Perioden, 3) arithmetische Methoden zur Berechnung von Himmelserscheinungen, insbesondere durch steigende und fallende arithmetische Reihen. Die griechische Astronomie dagegen ist vorwiegend geometrisch. Ihre Hauptfrage lautete nicht ,Wie kann man Himmelserscheinungen berechnen?’, sondern ,Durch welche Annahmen von gleichmäßigen Kreisbewegungen kann man die ErscheinunSiehe zu der, beinahe ungezählte Male abgehandelten, auf die Pythagoreer oder auf Platon zurückgeführten Forderung, „die Phänomene zu retten (sôzein tà phainómena)“, Geminos I.19-20 (Manitius, II); Proklos, Hypotyposis I.I.7-9 (Manitius, 3ff), 34 (18f). Vgl. Thomas Heath, Aristarchus of Samos (1966), 269-272, sowie die gründliche Arbeit von Walter G. Saltzer, Theorien und Ansätze in der griechischen Astronomie (1976), 9ff, 98 und passim. 14 RE XXIV, 289f. Siehe auch O. Neugebauer, QS B III, 258f. 13
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gen erklären?’.“ Die griechischen Astronomen gaben sich mit der Berechnung der Planetenbewegungen nicht zufrieden, sie weigerten sich, „ihren Augen zu trauen”,15 und machten sich daran, geometrische Modelle zu finden, welche die merkwürdigen Phä- 323 nomene – vor allem Stillstände und Schleifenbildungen – erklären könnten: und zwar so, daß sich anhand dieser Modelle das Zustandekommen des Augenscheins rekonstruieren und demonstrieren ließ, was ja dann dem Ptolemaios perfekt gelungen ist. Warum lautete nun aber die babylonische Hauptfrage „Wie kann man Himmelserscheinungen berechnen?“, und warum plagten sich die babylonischen Astronomen nicht ab mit geometrischen Hilfskonstruktionen wie Exzentern und Epizyklen? Der Grund war wohl, daß man sich vor den Hellenen ernsthaft nur um Zeiten gekümmert hat: Was zählte, war, welche Zeit ein Planet für seine períodos benötigte, weniger die Form der von ihm eingeschlagenen Bahn – was nicht heißen muß, diese wäre unbeobachtet geblieben. Was auf einer Kreisbahn liegt, sind die Orte, zu denen ein Planet zurückkehrt, die Punkte, an denen sich nach unterschiedlich langen Intervallen Konjunktionen wiederholen usw.16 15 Seiner Abneigung gegen alles Augenscheinliche und Pragmatische entsprechend, wollte Platon auch von perspektivischen Darstellungen nichts wissen – es gab zu seiner Zeit schon perspektivisch gehaltene Bühnenbilder, geschaffen von dem Maler Agatharchos speziell für Dramen des Aischylos –, weil man die Dinge darstellen solle, wie sie seien, und nicht so, wie unser Auge sie wahrnehme. (Cf. Rep., 598 ab, Kritias, 107 cd; Vitruvius VII.11, 158f (Fensterbusch, 309); Janus Six, „Agatharchos”, in Journal Hellenic Studies (1919), 180-189.) 16 Vgl. dazu Harald A.T. Reiche, Xenophanes (1971), 89f: „… insofar as motions are in fact periodic, they are traditionally thought of as akínêtoi katà kýklon, whether or not these motions are spatially circular. … What matters is (hat all these various non-circular motions [hier ist jedoch nicht speziell von Planeten die Rede, H.v.D.] are yet temporarily periodic, symmetric. For that is the necessary and sufficient rea15
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Von hier aus versteht sich auch besser der Zusammenhang zwischen Himmelsbewegungen und dem Tanz, worüber sich am deutlichsten Lukian ausgesprochen hat (den Polarstern nannten die Griechen auch choreutês = Reigenführer). Der Tanz bestand ja nicht in simplem Kreistrott, sondern im Beschreiben kunstvoller Figuren entlang der Kreisbahn; und nicht von ungefähr ist der Tänzer par excellence der Mars mit seinen auffälligen Schleifen – ob er „Jung-Krieg” heißt (Neoptolemos, der Troja durch seinen Tanz eingenommen haben soll) oder in Rom Mars Ultor, ob Skanda, „der Hüpfende”, im alten Indien oder Ueuecoyotl, der uralte Koyote, wie die Azteken ihren Tanzgott nannten. In Lukians Perì orchêseôs / De Saltatione, Abschnitt 7, belehrt der Erzähler einen alten Freund und dezidierten Gegner jeglicher Tanzerei darüber, was es mit dem Tanz in Wirklichkeit auf sich habe, und konstatiert, die zuverlässigsten Historiker seien sich darüber einig, der Tanz sei gleichzeitig mit dem Universum ins Leben getreten, zugleich erschienen mit dem archaischen Eros – nicht also mit dem vergleichsweise harmlosen Sohn der Aphrodite, sondern mit dem kosmogonischen Eros Hesiods und der Orphiker. „Tatsächlich”, fährt Lukian fort, „sind der Reigentanz der Sterne, das Sich-Verflechten der Planeten in Bezug auf die Fixsterne, ihr rhythmisches Zusammenkommen und die taktgemäße Harmonie Zeugnisse für die Uranfänglichkeit des Tanzes.”17 Die koinônía, das Zusammenkommen im Geflecht von son of their being classified as ,cyclical’ and hence ,immobile’.” Gemeint ist ein Fragment des Empedokles (FVS 31 B 17, 13; Kirk und Raven Frg. 423, S. 327, Neuausgabe 1983 Frg. 348, S. 287; Freeman, Ancilla, 53). Zu diesem ebenso wichtigen wie schwer korrekt zu übersetzenden Begriff „akínêtos katà kýklon = unbewegt in Bezug auf den Kreis“ wird Harald A.T. Reiche in einer späteren Publikation ausführlich Stellung nehmen. 17 „hê goun choreía tôn astérôn kaì hê proś tous aplaneis tôn planêtôn symplokê kaì eúrhylhmos autôn koinônía kaì cútaktos harmonía tês prôtogónou orchêseôs deígmatá estin.” A.M. Harmon (LCL) über-
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Planeten und Fixsternen, ist eúrhythmos: Sie erfolgt in einem guten Rhythmus. Und die harmonía ist kein fortdauernder Zustand, sondern etwas, das sich „in gutem Takt” einstellt: eútaktos harmonía – schließlich ist die Harmonia die Tochter von Mars und Venus (Ares und Aphrodite). Und daran anschließend unterrichtet uns Lukian über das „Programm”, das ein guter Tänzer beherrschen mußte: eine komprimierte Fassung des Corpus griechischer Mythologie. Es ließen sich mehr relevante Passagen anführen, aber hier sei nur noch – zu Gunsten unseres Skambha – zitiert, was Aristoteles in seinem Buch Über die Bewegungen der Tiere über den Atlas sagt,18 nämlich daß ihn die Mytographen als den Durchmesser verstünden, der den Himmel um die Pole dreht (tôn Atlanta … hôsper diámetron ónta kaì stréphonta tôn ouranòn perì tous pólous). Diámetros ist beim Kreis der Durchmesser, bei der Kugel die Achse. Der Atlas ist nun aber nicht jeder beliebiger Skambha, sondern speziell der des (heroischen) PlejadenWeltalters: die Plejaden (und die Kalypso) sind seine Töchter. Deshalb betont der gelehrte Ovid deutlich, zur Zeit des Hyas (woher die Hyaden) habe Atlas den Himmel noch nicht getragen: „nondum stabat Atlas umero oneratus Olympo / cum satus est … Hyas (Noch stand Atlas nicht fest, auf den Schultern die Last des Olympus / Da kam Hyas zur Welt (Fasti V, 169f, Tusculum)”. Und beim Tode des Hyas heißt es (Fasti V, 180): „Atlas beweint ihn, des Pols künftiger Träger (cervicemque polo suppositurus Atlas).” Was eine Datierung des „rätselhaften” Codes anlangt: Die Difsetzte: „In fact, the concord of the heavenly spheres, the interlacing of the errant planets with the fixed stars, their rhythmic agreement and timed harmony, are proofs that dance war primordial.” 18 Aristoteles, De motu animalium, 699 c 25-30; Revised Oxford Translation, 1088: „They make Atlas a kind of diameter, twirling the heavens about the poles.” Martha Craven Nussbaum hält es in ihrer Übersetzung [(1978), 3] inkorrekterweise mit „a kind of radius”.
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fusion im gesamten Hochkulturgürtel spricht von vornherein für dessen stattliches Alter. Darüber hinaus ist das Phänomen zu berücksichtigen, daß häufig ein „Buch” den Anfang und die Grundlage einer Kultur markiert, das durch Jahrhunderte und Jahrtausende unermüdlich enträtselt, d.h. gedeutet und erklärt werden mußte: Brahmanas, Upanishaden und Sutras interpretieren und kommentieren den Rigveda, die riesige rabbinische Literatur das Alte Testament; die ägyptischen Totenbuchtexte wurden kontinuierlich kommentiert und ausgelegt19 – daß man an den völlig unverständlich gewordenen Namen der Sternbilder während der ganzen Geschichte Ägyptens herumgerätselt hatte, wurde schon gesagt –, und in Mexiko erwähnt Chimalpahin das „Auslegen” alter Handschriften. Das Nachsinnen über die Datierung des „Jargons” ergibt allerdings die Forderung, eine verläßliche „innermythische” Chronologie herauszuarbeiten. In der berühmten Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft20 vergleicht Kant das Prinzip seiner eigenen Verfahrensweise mit dem „ersten Gedanken des Kopernikus … der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.” Gemäß eben diesem Prinzip – wenn auch quasi in umgekehrter Richtung – wird hier vorgeschlagen, die Siehe z.B. Peter Le Page Renouf [The Book of the Dead (1907), 41,43] zum 17. Kapitel des Totenbuchs: „The very earliest monuments which have preserved it have handed it down accompanied with scholia and other commentaries interpolated into the text. … It would take an entire volume to give the translations of all die forms the chapter has assumed. It must be sufficient here to give the earliest forms known to us of the text and of the first commentaries, all of which are of extreme antiquity.” 20 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1787; 1956), 20. 19
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„Bewegung” tunlichst den Himmelskörpern zu überlassen, anstatt sie den rastlos umgeschneiderten „Weltbildern“ zuzuschreiben, die irgendwelche „Priester” ex nihilo ausgeheckt haben sollen. Wenn man in einer Relation Bewegung und Veränderung jeweils dem falschen Partner zuschiebt, muß man die abenteuerlichsten Konstruktionen austüfteln, um die Phänomene zu retten. Da wird, um ein paar Beispiele zu nennen, die Erfindung „neuer Götter” verfochten oder sich mit der „Ausbreitung des Osiriskuites” beschäftigt, obwohl uns doch so unmißverständlich in zahllosen Bildern demonstriert wird, daß Osiris eine Mumie, und in Texten, daß er gestorben und zum Herrscher des Totenreichs geworden sei. Da ist kein neuer Gott samt Kult kunstreich ersonnen worden, sondern unter seinem neuen Namen ist ein Stern X zum Herrn des Totenreichs aufgerückt – zuweilen wird er deutlich als Kreis abgebildet: die Zehenspitzen am Hinterkopf. Wie Osiris hieß solange er „lebte”, wissen wir vorläufig so wenig wie, was der Begriff „leben” für einen Planeten oder einen Fixstern exakt bedeutet hat, Oder aber der Assyriologe Eric Burrows sagt bezüglich mesopotamischer Tempel: „Man könnte beinahe ein Gesetz formulieren, daß im Alten Orient zeitgenössische kosmologische Doktrin in der Struktur der Tempel registriert worden ist.”21 Da sollen sich also die „kosmologischen Doktrinen” ändern. Was sich tatsächlich ändert, sind die Stellungen der „Götter”: Jeder Tempel hatte sein Horoskop, und dem haben die Tempelarchitekten Rechnung getragen. Horoskopcharakter hatten auch die mesopotamischen Grenzsteine (Kudurrus), und die berühmten „Schildbeschreibungen“ nicht weniger: Vergil sagt unumwunden, daß der von Vulcanus gefertigte Schild des Aeneas das „Horoskop” der Roma aeterna enthielt: „Also bestaunt der Held den Schild der Mutter, ergötzt sich / An den Gebilden Vulcans: dann, unkund, was sie bedeuten, / Hebt er und schultert Ruhm 326 Eric Burrows, S.J., „Some cosmological patterns in Babylonian religion”, in The Labyrinth, hrsg. Samuel Henry Hooke (1935), 45. 21
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und Glück und Ehre der Nachfahrn (… attolans umero famamque et fata nepotum).”22 Oder Otto Gruppe beschreibt den griechischen „Götterstaat” und befindet: „Das Göttervolk besteht … aus denjenigen Göttern, die durch ihre Namen offenbar an ein bestimmtes Naturobjekt oder an eine bestimmte Funktion gebunden waren. … Zu Titanen eigneten sich besonders solche Wesen, die … im Kultus hoch gefeiert wurden, jedoch nicht in der Zeit und in den Landen der Dichter.”23 Es handelt sich nicht um „Zeit und Land der Dichter”, die kommen gar nicht ins Spiel: Seit ihrem „Sturz” am Ende des Gemini-Alters fuhren Kronos und seine Mit-Titanen zwar fort, ihre Runden zu drehen, aber unter neuen Namen – aus Kronos wurde zunächst Prometheus, später Hephaistos –, und „Titanen” waren sie auch nicht länger. Vermerkt muß indessen werden, daß 1) zuweilen längst „abgelaufene” Avataras sich fort und fort größter Beliebtheit im Kult erfreuen – man denke nur an Krishna – und daß 2) das Um-Benennen von Gottheiten bei Anbruch eines neuen Weltalters den späteren Interpreten offensichtlich Schwierigkeiten bereitet hat. Als einschlägiges Beispiel haben wir oben Snorris Gylfaginning zitiert. Ähnlich hilflos wirken die Feststellungen von Pedro de los Rios, dem Interpreten des Codex Telleriano-Remensis zu den aztekischen Tzitzimime (Singular Tzitzimitl), „tenedores y sustentadores del cielo”, „dioses, signos y planetas”, die einst vom Himmel fielen. Zu ihnen gehörten „Itzpapalotl, Quetzalcouatl, Uitzilopochtli, Tezcatlipoca, Tonacatecutli, Youaltecutli und Tlauizcalpantecutli. Diese sind Söhne der Citlaliçue und Citlallatonacs” – Söhne der Milchstraße also. Zu dem Fest Quecholli bemerkt Pedro de los Rios, es sei eigentlich „als der ,Fall der Dämonen’, von denen man sagt, daß es Sterne seien, zu bezeichnen, und noch gäbe es Sterne am Himmel, die mit ihren Namen benannt seien, und es seien die folgenden: YaVergil, Aeneis VIII.729-31, in der Übersetzung von Alexander Schröder 23 O. Gruppe, Griechische Mythologie und Religionsgeschichte (1906), 1097. 22
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catecutli, Tlauizcalpantecutli, Ce acatl, Quetzalcouatl, Achitometl, Xacopancalqui, Mixcouatl, Tezcatlipoca, Tzontemoctli. Als Götter, und als sie vom Himmel gefallen wären, hätten sie diese Namen gehabt, und jetzt nenne man sie tzitzimitli, das heißt soviel als etwas Ungeheures und Schreckliches.”24 Das QuecholliFest memoriert den „Sturz” der „Träger” des goldenen Skambha. Aber während der westliche Mythendialekt das Goldene (Milchstraßen-) Alter mit den Gemini verknüpft – und dessen Ende mit dem Sturz des Phaethon in den Eridanus –, hielt man es im Osten, besonders in China und Zentralamerika, mit den genau gegenüberliegenden Sternbildern: Quecholli markiert den Übergang von Sagittarius (wo höchstwahrscheinlich Tamoanchan zu suchen ist) zu Scorpius. Zu betonen bleibt, daß die kosmologische Sprache nicht ausschließlich mit Astronomie befaßt war: Harmonielehre und Mathematik waren von Beginn an von Astronomie nicht zu trennen, nur sind sie hier sträflich vernachlässigt worden. Wer Sachkenntnis und eine gute Portion Unerschrockenheit mitbringt, 327 wird reichliche Belehrung aus den beiden Bänden des Freiherrn von Thimus25 ziehen, zum Beispiel über das Anaximandersche „Einander-Buße-zahlen” und „Rechnung-ablegen” von Dur- und Mollreihen. Weniger Todesmut, aber wiederum Sachverstand erfordern die umfassenden und gründlichen Ausführungen über Akustik von Joseph Needham.26 Seit Ende der sechziger Jahre hat sich die Situation nicht unwesentlich verändert, insofern man allenthalben „Archäoastronomie” und „Ethnoastronomie” betreibt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Indianern Nord-, Mittel- und SüdameriSiehe E. Seler, Codex Vaticanus B (1902), 90. Albert Freiherr von Thimus, Die harmonikale Symbolik des Alterthums I (1868) und II (1870-1876). 26 J. Needham, Science and Civilization in China IV (1962), 126-228. Siehe auch M. Granet, Danses et Légendes de la Chine Ancienne (1959) sowie Das chinesische Denken (1963). 24 25
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Schlußbemerkung
kas. Die astronomische und mathematische Bedeutsamkeit der megalithischen Denkmäler Europas sind von Alexander Thom und seinen Schülern, von Gerald Hawkins und anderen27 herausgearbeitet worden. Als Norman Lockyer 1906 sein Opus Stonehenge and other British Stone Monuments astronomically considered veröffentlichte, mochte noch niemand etwas davon wissen.28 Gladwin, Lewis, Finney29 und andere haben die bislang magere Kenntnis der Navigations-Astronomie von Mikronesiern und Polynesiern erheblich erweitert und vertieft.30 Alexander Thom, Megalithic Sites in Britain (1969); ders., Megalithic Lunar Observations (1971); ders. und A.S. Thom, Megalithic Remains in Britain and Brittany (1978); Gerald Hawkins, Stonehenge decoded (1965); ders., Beyond Stonehenge (1973). Siehe auch C.L.N. Ruggles (Hrsg.), Records in Stone. Papers in Memory of Alexander Thom (1988); Rolf Müller, Der Himmel über dem Menschen der Steinzeit. Astronomie und Mathematik in den Bauten der Megalithkultur (1970); Lothar Wanke (Hrsg.), „Großsteinbauten zwischen Indien und Europa”, in Jahrbuch der Gesellschaft für vergleichende Felsbildforschung (1981/82); Rudolf Drößler, Als die Sterne Götter waren: Sonne, Mond und Sterne im Spiegel von Archäologie, Kunst und Kult (1981); ders., Astronomie in Stein (1990). 28 Vgl. für weitere Vorläufer John Michell, A little History of Astroarchaeology. Stages in the Transformation of a heresy (1977). 29 Thomas Gladwin. East is a Big Bird. Navigation and Logic on Puluvat Atoll (1970); David Lewis, We, the Navigators. The ancient art of landfinding in the Pacific (1972); ders., The Voyaging Stars. Secrets of the Pacific Island Navigators (1978); Ben R. Finney (Hrsg,), Pacific Navigation and Voyaging (1976); ders., Hokule’a. The Way to Tahiti (1979). 30 Schon 1966 hatte Oscar Marcel Hinze die Aufmerksamkeit auf die „Gestaltastronomie” gelenkt, d.h. auf die Figuren, die entstehen, wenn man die Punkte im Tierkreis miteinander verbindet, an denen Planeten heliakisch aufgehen oder sich Planetenkonjunktionen wiederholen (das Trigon der Großen Konjunktionen wurde weiter oben kurz besprochen); als Beispiele seien genannt das Pentagramm, das Venus jeweils in acht Sonnenjahren verfertigt, sowie das Hexagramm des Merkur. [O.M. Hinze. „Studien zum Verständnis der archaischen Astronomie”, in Symbolon, Jahrbuch für Symbolforschung 5 (1966), 16227
Schlußbemerkung
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Inzwischen wird also eingeräumt, daß man in der „Vorzeit“ und bei vielen sogenannten „Naturvölkern” mit beträchtlichen astronomischen Kenntnissen zu rechnen hat. Kulturhistorische Folgerungen indessen sind bislang nicht gezogen worden. Noch auch hat man viel nach dem Vehikel gefragt, mittels dessen das einmal Erkannte durch die Jahrhunderte und Jahrtausende 328 transportiert worden ist31 – und das ungeachtet des wohl erstaunlichsten Novums, nämlich der Berichterstattung von Marcel Griaule und Germaine Dieterlen über die Dogon im Nigerbogen, im ersten Teil von Le Renard Pâle, in dem uns eine noch in diesem Jahrhundert „angewandte”, d.h. tagtäglich gelebte Kosmologie archaischen Stils vor Augen geführt wird (siehe oben, Seite 491). Auch die großen anonymen Schöpfer der altorientalischen Astronomie konnten auf bedeutenden vorangegangenen Leistungen aufbauen, zuvörderst auf die Tradition von Sternbildern, geprägt von ebenso anonymen Jungpaläolithikern. Aber wir sind an das Wort und den Begriff „Sternbilder” so gewöhnt, daß man sie als quasi naturgegeben, jedenfalls aber für „naheliegend” erachtet. So ist man denn geneigt, gleichweicher Population zuzutrauen, sie habe sich spontan und unabhängig ihre eigenen Bilder zusammengebastelt – wenn nicht gar verfochten wurde [wie von Georg Thiele in seinem vielzitierten Werk Antike Himmelsbilder (1898)], Sternbilder „drängten sich” dem Betrachter auf: ein grober Unfug, dem Franz Boll energisch ein Ende bereitet hat.32 219; erweiterte Fassung in O.M. Hinze, Tantra Vidyâ (1983)]. Vgl. auch Martin Knapp, Pentagramma Veneris (1934). 31 Zu den wenigen Ausnahmen zählen mehrere Arbeiten von Harald – A.T. Reiche, etwa The Language of Archaic Astronomy: A Clue to the Atlantic Myth? (1979), 153-189, sowie The Archaic Heritage. Myths of Decline and End in Antiquity (1985), 21-43. 32 Laut Boll (Sphaera, 184) hat ursprünglich Ph. Buttmann diese Idee ausgeheckt, und zwar in seiner Abhandlung über die Entstehung der Sternbilder auf der griechischen Sphäre (APAW 1826).
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Schlußbemerkung
Nach Aratos hat jemand in der Zeit der Ahnen (tá tis andrôn ouket’ eóntôn) … sie erschaut und ihnen allzumal So Namen wie Gestalt verliehn, doch war die Zahl Der Sterne wohl zu groß, aus allen solchen Zeichen Zu bilden. Oftmals sind sie gleich gefärbt, und gleichen Einander auch an Glanz am Riesenrund des Himmels. Drum hat es jenem Mann inmitten des Gewimmels Der Sterne hier beliebt zu einen, dort zu trennen, So daß es Bilder gab. Die Sterne zu benennen War’s möglich nun – nicht mehr ist ratlos ihr Beschauer, Da jedem seinen Ort ein klares Bild genauer Bestimmt.33 Ohne Einteilung der Fixsternsphäre in Sternbilder wären Himmelsbewegungen nicht beschreib- und erzählbar;34 und der schiere Name „Astronomie”, astro-nomía, bedeutet eigentlich die „Einteilung des Himmels in Konstellationen”.35 Aratos, Sternbilder und Wetterzeichen, übersetzt von Albert Schott (1958), 373ff. 34 Mit den zählebigen, wenn auch sinnentleerten Resten solchen Erzählens sind wir aus unserer Kindheit wohlvertraut. „Hilfsalte” oder „Dankbare Tiere” können dem Prinzen oder der verwunschenen Prinzessin Ratschläge für bevorstehende Situationen geben, weil die Königskinder den Zodiak entlangeilen. Wenn die Märchenhelden (oder auch „Unholde”) so häufig die Gestalt wechseln (shape-shifting): die Tierkreisbilder nebst ihren Paranatellonta sind nicht nur Schlösser, Herbergen oder Köhlerhütten, nicht nur Fahrzeuge oder Reittiere, sondern auch Kostüme und „Masken”, Waffen und Kleinode der ewig reisenden Planeten. Häufig genug hat sich die Terminologie von ihrem ursprünglichen „Gegenstand” abgekoppelt und führt ein vergnügliches Eigenleben, nicht nur im Märchen. 35 Vgl. Paul Tannery, Recherches sur l’histoire de l’astronomie ancienne (1976), 5: „Si astre signifie constellation et si l’on prend aus sens propre le radical némô (je partage), il est clair qu’astronome veut dire étymo33
Schlußbemerkung
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Sollte die Existenz einer alten kosmologischen Fachsprache – und die Zeit als die einzige sie interessierende Dimension – erst einmal akzeptiert sein, werden sich zahlreiche Pseudoprobleme von alleine erledigen – allerdings nur, um ebenso vielen anderen Platz zu machen, die sehr viel schwieriger zu „bewältigen” sein werden. Sobald man zum Beispiel die übliche Ausdrucksweise „die 329 Ägypter“ (oder wer auch immer) „glaubten nämlich“ rechtens ersetzt durch „die Ägypter formulierten nämlich”, ist man zwangsläufig gehalten zu eruieren, was genau sie denn jeweils formuliert haben. Erübrigen werden sich, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, Diskussionen um „Versionen” (im Plural) des „Weltschöpfungsmythos” (im Singular), etwa im Rigveda, sowie die Frage, welche „Version” wem in die Schuhe zu schieben sei (etwa Ureinwohner versus Eroberer), sobald man – wiederum rechtens – „Welt” durch „Welt-Alter” ersetzt (auch die Bibel redet deutlich von „einem neuen Himmel und einer neuen Erde“36, und „Schöpfung” durch „Vermessung”: d.h. das Ausmessen eines neuen Skambha, ausgedrückt durch Kurzformeln im Stile von „den Himmel aufhängen” (an einem Polarstern), „die Erde gründen” beziehungsweise „die vier Ecken festsetzen” und „die Tiefe des Meeres messen”.37 logiquement ,celui qui partage les astres’, autrement ,qui groupe les étoiles en constellations’. ” Er verweist auch auf die Suda: astronomía hê tôn ástrôn dianomê. 36 Jesaja 65.11, 66.22; Psalm 102.26-27; 2 Petrus 3, 13; Offenbarung 21.1; siehe auch Appendix 15, Anmerkung 15. 37 Siehe z.B. Karl Heinrich Brugsch, Religion und Mythologie der alten Ägypter (1991), 503-506: „Chnum-Re, der Kyrios von Latopolis, PtahTanon, welcher im südlichen Teil des Landes weilt …, welcher den Himmel aufhing zu seiner Tempelwohnung, welcher die Erde gründete, die seine Gestalt trägt, und der Tiefe ihre Tiefe gab”, oder vom Horus von Behdet: „Sich von den Göttern trennend, hing er den Himmel
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Schlußbemerkung
Wenn man solchermaßen wie bei einem „Kippbild” – man nimmt entweder einen Kelch wahr oder zwei einander zugekehrte menschliche Profile, entweder einen Hasenkopf oder den einer Ente – den Blick von „chthonischer” Primitivität kippen läßt auf Bolls „ursprüngliche Vernunft”, wird sich der angemessene Respekt vor der intellektuellen Würde jener fernen Vorfahren wieder einstellen, denen wir die Grundlagen unserer Naturwissenauf zur Wohnungshalle für seine Seele und legte die Tiefe, um seinen Leib zu verbergen.” Das „Fest des Aufhängens des Himmels” fand zum Frühlingsanfang am 1. Phamenoth statt. Zu dem Messen der Meerestiefe als „Schöpfungs”akt ist auch der weitverbreitete Mythos vom „Erdtauchen” zu stellen: Das erste Krümelchen Erde wird von einem unter mehreren konkurrierenden Vögeln oder Vierfüßlern – in den dualistischen Mythen Osteuropas und Asiens vom „Teufel” – aus der Tiefe des Meeres heraufgeholt und in mehreren altweltlichen und neuweltlichen Fällen durch stetiges Umlaufen vergrößert. (Die Diskussion, ob es sich um die Tiefe des „Urmeeres” oder um die einer „Flut” handle, gehört wohl zu den sich erübrigenden.) Verbreitung: Osteuropa, Mittel- und Nordasien, Indien, Südost-Asien, Nordamerika. Fehlanzeige: Afrika. Südamerikanische Belege [hinausgehend über die wenigen Anspielungen bei Paul Ehrenreich, Mythen und Legenden (1905), 31] sollen sich in einer unpublizierten M.A.-Thesis der Columbia University (New York 1948) von Pessoa finden lassen [siehe Francis Lee Utley, in Current Anthropology 15 (1947), 8]. Vgl. O. Dähnhardt, Natursagen (19907-1912), I, 42-89; L. Walk, „Die Verbreitung des Tauchmotivs in der Urmeerschöpfungs- (und Sintflut-) Sage”, in MAGW 63 (1933), 60-76; Gudmund Hatt, Asiatic Influences in American Folklore (1949), 12-36; Verrier Elwin, Myths of Middle India (1949), 27, 33, 37f, 42, 45; ders., Tribal Myths of Orissa (1954), 426, 433f. Für Verbreitungskarten für Nordamerika siehe Werner Müller, Die Religionen der Waldlandindianer Nordamerikas (1956), 207; A. B. Rooth, The Raven and the Carcass (1962), 175. Mehrere, auch die Details der Mythen berücksichtigende Karten hat Wolfgang Stein seiner gründlichen, leider unpublizierten Magisterarbeit Der Tauchmythos in den Schöpfungsmythen der nordamerikanischen Indianer (1981) beigegeben, die mir László Vajda freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.
Schlußbemerkung
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schaft verdanken. Und nicht nur der Naturwissenschaft: „Living the sky” – so hat Ray A. Williamson sein Opus The Cosmos of the American Indian (1984) betitelt – war kein Monopol der amerikanischen Indianer. Man hat diesen Kosmos „gelebt” in ungezählten Ritualen und Festivitäten,38 in Tänzen, Agonen, Pferderennen, in Ball- und Brettspielen (durch das chinesische Schachbrett läuft die Milchstraße, das indische Schach hieß „Planetenkämpfe“). Architekten haben den Kosmos zu bauen versucht; auch wurden „Sakralstaaten” etabliert, in denen der König zugleich Polarstern und Saturn (oder Jupiter) zu spielen hatte und in einigen Kulturprovinzen nach Ablauf bestimmter Perioden getötet wurde.39 Daß unter den ungezählten Erben (und Umgestaltern) der alten Terminologie solche waren, die kosmologische Formeln „beim Wort” nahmen und in „religiöse” Taten umsetzten – wie eben zum Beispiel den rituellen Königsmord –, das laste man tunlichst diesen Erben an, nicht aber der Terminologie. Gewiß, im griechischen Mythos schindet der Leierspieler Apollon den flötenden Marsyas, und der japanische Susa-no-wo schindet den Himmelshengst und wirft ihn rückwärts in die Webhalle der Amaterasu. Aber: dergleichen wurde rezitiert. Die Azteken hingegen scheinen solches und ähnlich Drastisches getan zu haben, an beinahe jedem ihrer achtzehn Kalenderfeste.40 Lassen wir aber derartige Fälle mißbräuchlicher Anwendung Siehe dazu Platons Gesetze 653c-654a, 903c. Vgl. J.G. Frazer, The Dying God (1911), 47-89. Siehe auch L. Frobenius, Erythräa. Länder und Zeiten des heiligen Königsmordes (1931), mit Verbreitungskarten 1 und 2, S. 42, 328, sowie Sture Lagercrantz, Contribution to the Ethnography of Africa (1950), 347-360. 40 Dieses Phänomen unter vielen anderen sollte man gelegentlich bedenken, wenn die (natürlich berechtigte) Schelte der bitterbösen Weißen in romantische Legendenbildung ausartet: Die Welt, über welche die weißen Kolonialherren herfielen, war nicht bewohnt von unschuldig-sanften Halbengeln. 38 39
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Schlußbemerkung
auf sich beruhen. Es ist hoffentlich plausibel geworden, daß man die Anfänge naturwissenschaftlichen Denkens und Beobachtens viel weiter in die Vergangenheit zurückverlegen muß. Wer die von Aristoteles so hervorgehobenen „ersten Schritte” ermißt, wird davon absehen, es für „auf der Hand liegend”, „obvious” oder „natürlich” zu halten, daß man spinnt und webt, Keramik brennt und Metalle schmilzt, Pflanzen veredelt und Tiere kreuzt, daß man Saiteninstrumente baut, bestimmte Zahlen zu „heiligen” erklärt, daß man Sterne zu „Bildern” zusammenfaßt – Ähnlichkeit mit realen Tieren und dergleichen war nachweislich nicht beabsichtigt – und einen Tierkreis konzipiert, in dem man den Planeten – die ja schließlich erst einmal entdeckt sein wollten –„Häuser” usw. zuweist, daß man Segelschiffe konstruiert und Navigationsregeln ersinnt, mit denen man – lange vor der Erfindung des Kompasses durch die Chinesen – den Pazifik durchmaß. Wer also Leistungen ermißt, anstatt die erwähnten und viele andere Phänomene für „naheliegende“, spontan sich einstellende Lösungen zu erklären, für Gemeinplätze, die sich vor jedermanns Haustür so einladend ausbreiten, daß sie sich beliebig oft „unabhängig” voneinander und „zwangsläufig” einstellen – dann nämlich, wenn die Rolltreppe namens „Zeit” lange genug „hinaufgefahren ist –, dessen Nase beginnt Witterung für prähistorische Leonardos und Galileos aufzunehmen: Und er wird anheben sich zu wundern über die geographische Verbreitung von Kultur und dabei lernen, daß – überspitzt formuliert – „die Menschheit” vom unabsehbar langen Prozeß der Tradierung und Mehrung, des Verlusts und der Renaissance naturwissenschaftlicher Einsichten konstituiert worden ist.
Abbildungen
ABBILDUNGEN
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Abbildungen
Abbildung 1. Eine schematische Darstellung der Präzession der Äquinoktien. Die symmetrische Zeichnung macht deutlich, daß das Phänomen an beiden Polen auftritt.
Abbildung 2. Dargestellt ist die relative Entfernung der Wagensterne vom Polarstern um 2770 v. Chr., 1800 v. Chr. und im Jahr 2000. Die Abbildung illustriert, daß die Polarregion des Himmels im frühen Altertum weitaus beeindruckender war als sie es heute ist.
Abbildung 3. Grenze der nördlichen Zirkumpolarsterne (von Paris aus gesehen) heute und in ungefähr 13.000 Jahren, beziehungsweise vor 13.000 Jahren. Der Mittelpunkt der Begrenzungskreise dreht sich um den Nordpol der Ekliptik.
Abbildung 4. Grenze der südlichen Zirkumpolarsterne heute und in beziehungs-weise vor 13.000 Jahren.
Abbildung 5. Das Anvisieren des Polarsterns (links) und die Beobachtung des Meridiandurchgangs von Kassiopeia (rechts). Die Darstellung ist einem „Kalender für Schäfer" aus dem Jahre 1493 entnommen.
Abbildung 6. „Die innere Bewegung des kosmischen Baumes", wie es in den Worten der Nordwestafrikaner heißt. „Am Himmel kennzeichnet diese Bewegung die Rotation der Sterne oberhalb und unterhalb der Erde um die feststehenden Pole, indiziert durch die Achse … in der Mitte des kosmischen Baumes."
Abbildung 7. Der Weg, den der Demiurg nach Auffassung der Bambara während des Schöpfungsaktes ging:
„Um Himmel und Erde zu schaffen, dehnte sich der Schöpfer zu einer konischen Helix aus: die Umkehrungen der Spirale sind graphisch durch die Schenkel zweier Winkel dargestellt, die auch den oberen und den unteren Raum repräsentieren.“
„Um die vier Elemente (Luft, Feuer, Wasser, Erde), aus denen alles entstanden ist, miteinander zu vermischen und sie nach unten an die Randzonen des Raumes zu biegen, den er dadurch festgelegt hatte, daß er ihn einfaßte, reist der Schöpfer durch das Universum und dreht sich dabei um sich selbst. Die Bewegungen werden durch vier Spiralen symbolisiert, die miteinander verbunden sind und gleichzeitig die zirkulären Reisen sowie die vier Winkel der Welt versinnbildlichen, in denen die Vermischung der Elemente sowie auch die Bewegung der Materie stattfindet."
Abbildung 8. Der Wasserstrudel von Athanasius Kircher – hier „Norvegianus Vortex“ genannt, im allgemeinen aber als „gurges mirabilis“ bezeichnet –, wie er ihn in seinem Mundus Subterraneus veranschaulicht hat.
Abbildung 9. Kirchers ziemlich kuriose Vorstellung des unterirdischen Laufs der Flüsse mag von Sokrates’ letzter Erzählung erweckt worden sein, wurde aber auf eine streng geologische Ebene übertragen. Die Zeichnung illustriert die unterirdische Verbindung zwischen dem Strudel westlich von Norwegen und der Ostsee.
Abbildung 10. Eine Detail-Skizze aus Olaus Magnus’ Carta Marina, die nach Meinung von Martti Haavio auf Väinämöinens Spiel mit der Kantele deutet.
Abbildung 11. Wie Kronos dem Zeus kontinuierlich „all die Maße der gesamten Schöpfung“ gibt: Keplers Darstellung des Trigons, daß alle 20 Jahre durch die Große Konjunktion von Saturn und Jupiter entsteht. Die Wanderung dieses Trigons durch die Tierkreiszeichen untergliederte den Zyklus der Präzession und fungierte als ein Feineinsteller dieses großen Zyklus. Ein Winkel des Trigons benötigt schätzungsweise 2400 Jahre, um den ganzen Zodiak zu umkreisen; um von einem Zeichen einer elementaren Triplizität zu dem nächsten desselben Elements zu gelangen, braucht es ungefähr 800 Jahre.
Abbildung 12. Die Asuras als „Wächter“ am Siegestor des Tempels von Angkor.
Abbildung 13. Die in die Planetenbahnen einbeschriebenen Polyeder. Keplers Zeichnung ist eine geometrische Phantasiekonstruktion; aber sie beabsichtigt, den tatsächlichen Verhältnissen zwischen den Radien der planetarischen Umlaufbahnen zu entsprechen. Er schreibt dazu (Mysterium Cosmographicum, 27): „Terra est Circulus mensor omnium: Illi circumscribe Dodecaedron: Circulus hoc comprehendens erit Mars. Marti circumscribe Tetraedron: Circulus hoc comprehendes erit Jupiter. Joui circumscribe Cubum: Circulus hunc comprehendes erit Saturnus. Iam terrae inscribe Icosaedron: Illi inscriptus Circulus erit Venus. Veneri inscribe Octaedron: Illi inscriptus Circulus erit Mercurius."
Abbildung 14. Wie Gott die Sterne erschafft. Die Umlaufbahnen der Planeten sind nach dem Konzept des Ptolemaios wiedergegeben. Jede Umlaufbahn ist durch einen Stern gekennzeichnet: Die vierte Sphäre – jene der Sonne – wird durch einen halb sichtbaren Kreis markiert.
Abbildung 15. Die Carta Marina von Olaus Magnus (16. Jahrhundert) zeigt unten rechts die „horrenda caribdis“ – also den Maelström – mit Schiffen, vernichtenden Seeungeheuern und Eisbergen auf der linken Seite.
Abbildung 16. Die Detail-Skizze aus Olaus Magnus' Carta Marina zeigt den Wasserstrudel.
Abbildung 17. Die mesopotamische Konstellation von Pfeil und Bogen (mulBAN und KAK.SI.DI beziehungsweise gag.si.sa), rekonstruiert nach astronomischen Keilschrifttexten. KAK.SI.DI, der „Pfeil-Stern", ist Sirius.
Abbildung 17a. Die von denselben Sternen von Argo und Canis Maior gebildete chinesische Konstellation in China. Dort ist der Pfeil jedoch kürzer und Sirius ist nicht die Pfeilspitze, sondern deren Ziel: der Himmels-Schakal T’ien-lang.
Abbildung 18. Chinesische Sternenkarte aus dem Jahre 1092. Bogen, Pfeil und Schakal sind nahe der Mitte der unteren Hälfte zu sehen.
Abbildung 19. Das Spannen des Bogens in Richtung Sirius, wie es von den mythischen Kaisern in China gehandhabt wurde.
Abbildung 20. Auf dem sogenannten „Runden Zodiak“ von Dendera (römisch-ägyptisch) zielt die Göttin Satit mit demselben Pfeil und Bogen auf den Kopf der Sothis-Kuh (in der unteren Hälfte rechts), der wiederum Sirius symbolisiert. Das ägyptische Konzept steht dem chinesischen näher als dem babylonischen.
Abbildung 21. Der Berg Meru, der Weltenberg, wie er aus dem Meer aufsteigt, überragt von heiligen Strahlen und von Sonne und Mond umkreist – nach einer bildlichen Darstellung in einem alten buddhistischen Höhlen-Sanktuarium im chinesischen Turkestan.
Abbildung 22. Das durch Buddhas Tod verursachte Zerbrechen des sanduhrförmigen Meru; Sonne und Mond rollen herunter; im Mond sieht man den Hasen. In diesem Buch werden viele umgestürzte Weltsäulen, aus den Angeln gehobene Mühlenachsen, entwurzelte Bäume und dergleichen mehr erwähnt. Dies ist eine der wenigen bildlichen Darstellungen eines zerbröckelnden skambha.
Abbildung 23. Die Position des Solstitialkolurs um 2800 v. Chr., 1950 v. Chr. und 1822 n. Chr. mit der Linie der Sieben Rishis: Cratu, Pulahya, Pulastya, Atri, Angiras, Vasishta und Marichi.
Abbildung 24. Die indischen Mondstationen (Nakshatras) und ihre göttlichen Regenten.
Abbildung 25. Die ägyptische Göttin Serqet beziehungsweise Selket.
Abbildung 26. Dieser Skarabäus griechisch-phönizischer Herkunft (6.-5. Jahrhundert v. Chr.) zeigt die Göttin mit dem „Hinterteil eines vierbeinigen geflügelten Skorpions".
Abbildung 27. In dem Maya-Codex Tro-Cortesianus treffen wir erneut auf die „alte Göttin mit dem Skorpionschwanz", wenngleich in unterschiedlicher graphischer Konvention. In Nikaragua und Honduras wird „Mutter Skorpion am Ende der Milchstraße" als vielbrüstig beschrieben.
Abbildung 28. Eine detaillierte Darstellung der Bewegungen des Trigons der Großen Konjunktion in den Jahren 1583 bis 1763.
Abbildung 29. Die beiden von Sternbildern eingerahmten Figuren sind Fu Hsi und Nu Küa, der chinesische Deus Faber und seine Gefährtin, welche die „Rundheit des Himmels“ und die „Viereckigkeit der Erde“ mit ihren Instrumenten ausmessen: mit dem Winkelmaß und dem von ihm herabhängenden Bleilot sowie mit dem Zirkel. Die verflochtenen, schlangenartigen Körper der beiden Gottheiten deuten – wenn auch in einer uns nicht vertrauten „Projektion“ – auf kreisförmige Umlaufbahnen, die einander in regelmäßigen Intervallen schneiden.
Abbildung 30. Terrakotta-Maske von Humbaba/Huwawa, dem Wächter der von Gilgamesch und Enkidu gefällten Zeder. Er führt auch den Titel „Gott der Festung der Eingeweide“. Einige Gelehrte halten Humbaba für den Bewohner und Herrn des Labyrinths, einen Vorläufer des Minotaurus.
Abbildung 31. So wenig einladend wie die des Humbaba sind auch die Gesichtszüge von Tlaloc, dem sogenannten „Regengott“ der Mexikaner. Sein aus zwei Schlangen konstruierter Kopf ließe sich mit dem Äskulapstab von Hermes/Merkur in Verbindung bringen.
Abbildung 32. Der Grund, warum der Äskulapstab – das Gesicht von Tlaloc – sowie die Idee eines „Gottes der Eingeweide“ ausschließlich auf Merkur hindeuten (zusammen mit Venus einer der unteren Planeten, die näher an der Sonne sind als die Erde), geht aus dieser Darstellung hervor, die Merkurs Bewegung demonstriert.
Abbildung 33. Die Beziehung zwischen Äskulapstab und Merkur wird noch ersichtlicher, wenn man Merkurs Rennleistung innerhalb eines Jahres vergleicht mit der eines oberen Planeten während derselben Zeit: Saturn benötigt knapp 30 Jahre, um zu demselben Fixstern zurückzukehren (siderlische Umlaufzeit); Merkur schafft das in 87 Tagen.
Abbildung 34. Das Pegasus-Viereck, „1-Iku“ (das Standardflächenmaß der Sumerer), rekonstruiert nach astronomischen Keilschriften
Abbildung 35. Dieselbe Konstellation nach Arthur Ungnad, der „1-Iku“ für das Paradies hielt. Abweichend von der üblichen Anordnung der Sternkarten sind Ungnads Skizzen seitenverkehrt.
Abbildungen 36 und 37. Jeder, der nicht dazu neigt, es für „naheliegend“ oder für „in der Natur der Sache liegend“ zu halten, ein „Feld“ oder ein Spielbrett mit zwei Fischen oder zwei Eidechsen oder einer Schildkröte mit Fischschwänzen in Verbindung zu bringen, ist eingeladen, diese beiden Belegstücke mit den vorangegangenen zu vergleichen: Das Pegasus-Viereck „1-Iku“ zwischen den Fischen, wie es im runden (Abbildung 37) und im rechteckigen (Abbildung 36) von Dendera abgebildet ist.
Abbildungen 38 und 39. Zwei Kalebassen von der afrikanischen GuineaKüste. (Die Lücken ergeben sich aus dem Unterfangen, die in eine Hemisphäre eingeritzten Darstellungen auf einer Fläche abzubilden.)
Abbildung 40. Die Tierkreisfische, gezeichnet von den Toba-Batak auf Sumatra.
Abbildung 41. Darstellung auf einem prähistorischen Gefäß aus NeuMexiko, beschrieben als „zusammengesetztes Tier, Kopf und Körper einer Schildkröte, Doppelschwanz eines Fisches“.
Abbildung 42. Der mesopotamische Siegelzylinder zeigt im oberen Teil den „Gott Boot"; in der unteren Hälfte bauen Menschen eine Zikkurat. Unser Vorschlag: Der „Gott-Boot" bringt die me – die Schöpfungsmaße – von Eridu/Canopus.
Abbildung 43. Der „Gott Boot", umgeben vom Halbmond, drei einzelnen Sternen und mehreren Konstellationen: Erkennbar sind der Skorpion, der Pflug (mulApin = Triangulum) und eventuell der Löwe, der direkt hinter dem Boot folgt. Der Krug oberhalb des Löwen könnte auf den Wassermann deuten.
Abbildung 44. Dasselbe Wesen kommt auch deutlich erkennbar im MayaCodex Tro-Cortesianus vor (zweite Reihe).
Abbildung 45. Der „Gott Boot“ in der ihm angemessenen Umgebung auf dem arabischen Himmelsglobus, der von Tabarī (im Jahre 684 nach Hijra) nach dem Sternenkatalog von ’Abd ar Rahman as Sufi angefertigt wurde. Der Name von Suhayl (= Canopus) steht unterhalb des Ruders dieses personifizierten Schiffes, also der Argo, ganz nahe dem Südpol der Ekliptik.
Abbildung 46. Schlange und Tausendfüßler in Form eines Xi aus dem mexikanischen Codex Borbonicus (Blatt 13): Es gehört zu Tlazolteotl, der Regentin des 13. Tonalmatl-Abschnitts ce olin („eins rollende Bewegung“), und wird von Seler als „Abbild des Himmels und der Erde“ gedeutet.
Abbildung 47. Schlange und Tausendfüßler im Codex Vaticanus B (Blatt 15/16), von Seler betitelt mit „Oben und unten. Haus des Regens und Haus der Dürre.“ Der dazu passende Pyramidentext 663 lautet: „The Uraeus-Serpent belongs to heaven, the Centipede of Horus belongs in the earth“ (in der Übersetzung von A.B. Mercer) oder „O Snake in the sky! O Centiped on earth!“ (in der Übersetzung von R.O. Faulkner)
Abbildung 48. Die „unvergleichlich mächtige Butterung des Milchmeeres“, wie sie im Mahābhārata und Ramayana beschrieben wird. Die Köpfe der Götter auf der rechten Seite versinnbildlichen die Asuras und haben unverkennbar „typhonische“ Charakteristika. Sie stehen für dieselbe Macht wie die Titanen, die Turanier und das Volk von Untamo, kurzum: für die „Familie“ der bösen Onkel, deren ältester Repräsentant Seth ist; er befeindet Horus, den Sohn (und Rächer) seines Bruders Osiris.
Abbildung 49. Die vereinfachte Version des Amritamanthana zeigt noch den Berg Mandara, der als Drillstab benutzt wird und auf der Schildkröte ruht. Und auch hier weist der Kopf auf der rechten Seite „typhonische“ Merkmale auf.
Abbildung 50. Der Maya-Kodex Tro-Cortesianus gibt das Ereignis in einer anderen „Projektion“ wieder. Wie alle Bilder der Maya, ist die Illustration schwer zu entschlüsseln, aber die Schildkröte, das Seil und das (sanduhrförmige?) Butterfaß sind zu erkennen; und „kin“, das Zeichen der Sonne, gleitet das Schlangen-Seil entlang.
Abbildung 51. Horus und Seth beim Drillen oder Buttern. Horus hat einen Falkenkopf; der des Seth/Typhon zeigt die merkwürdige Mischung aus Hund und Esel, die für das sogenannte „Seth-Tier“ charakteristisch ist. Dieses Bild-Motiv wird durchgehend als „Vereinigung der beiden Länder“ fehlinterpretiert, ob es nun Horus und Seth sind, die den Drill bedienen, oder – was weitaus häufiger der Fall ist – die sogenannten „Nilgötter“ (siehe auch Frontispiz).
Abbildung 52: Das „Böse Auge“ auf einem römischen Mosaikpflaster. S. Seligmann [Der Böse Blick und Verwandtes (1910), 7] schreibt dazu: „Auf der Augenbraue sitzt eine Eule, und darum herumgruppiert sind zwei Löwinnen, ein Scorpion, ein Ziegenbock, ein Hirsch, ein Stier, eine Schlange, ein Rabe, eine Taube auf einem Oliven- oder Lorbeerzweig. Das Augenlid allein ist rotgefärbt. Über dem Bilde befindet sich die Inschrift: Intrantibus hie deos/Propitios et basiliae Hilarianae (Den hier Eintretenden mögen die Götter gewogen sein und die Hilarianischen Basilien).“
Abbildung 53. Auf dieser Gemme ist das „Böse Auge" laut Siegfried Seligmann umgeben von „Eule, Schlange, Hirsch, Scorpion, Hund, Löwe, Blitz“.
Abbildung 54. Ein goldenes Amulett aus Sizilien. Hier wird das „Böse Auge“ umkreist von „Eidechse, Schwan, Schlange, Hahn, Hund, Löwe, Phallus, Scorpion, Blitz“ (Siegfried Seligmann).
Abbildung 55. Das goldene Amulett aus Herculaneum zeigt das „Böse Auge“ umgeben von „Blitz, Eidechse, Phallus, Scorpion, Stern (Seestern?), Elephant, Schwan, undeutlicher Gegenstand, Schlange“ (Siegfried Seligmann).
Abbildung 56. Das „Böse Auge“ auf einem pompeiianischen Öllämpchen mit Stierhörnern und Skorpion.
Liste der Appendices
APPENDICES
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514
Liste der Appendices
Liste der Appendices
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Liste der Appendices
Appendix 1 Seite 339 Zu Seite 8: Germaine Dieterlen über die KlassifikationsSystem der Dogon Appendix 2 Seite 340 Zu Seite 11: Hamlets Vater Orvandillus/Orendel/Earendel; Tell; Stella maris Appendix 3 Seite 345 Zu Seite 72: In den Bergen unter Schnee begraben: Kai Chosrau, Henoch, Quetzalcoatl; sind die Berge Epagomenen? Appendix 4 Seite 346 Zu Seite 73: Krishnas böser Onkel Kansa, ein mûraDeva/Wurzel-Deva; Mûra/Mûla = lambda epsilon Scorpii, der Skorpionstachel Appendix 5 Seite 347 Zu Seite 80: Spezifische Wörter in Snäbjörns Kenning Appendix 6 Seite 349 Zu Seite 82: Mysing, Sohn der Maus; Apollon Smintheus; die Maus im Welthoroskop des Bundahishn; Makaliis Schwester Appendix 7 Seite 350 Zu Seite 83: Olrik und Genzmer über das Ende des GrottiLiedes
335
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Liste der Appendices
Appendix 8 Seite 351 Zu Seite 85: Bergelmir und der Mühlkasten in der Edda Appendix 9 Seite 352 Zu Seite 85: Amlethus von „Amelmehl”, griechisch ámylon? Anat zermahlt Mot Appendix 10 Seite 353 Zu Seite 95: Väinämöinens Kantele, die irische Harfe (cruit), Apollons zwei Leiern, die Plejaden als Leier der Musen; Michael Scotus über die aus der Schildkröte vom Bug der Argo gefertigte Leier 336
Appendix 11 Seite 354 Zu Seite 116: Der himmlische Schmied; das persische Königsbanner bei Firdausi; Kavya Ushanas; das Lebenswasser Appendix 12 Seite 358 Zu Seite 122; Kronos, Chronos, Kāla; die Kāla-Hymnen des Atharva Veda Appendix 13 Seite 361 Zu Seite 122: Milton, Paradise Lost, 10; die Vertreibung aus dem Paradies = die Etablierung der Schiefe der Ekliptik Appendix 14 Seite 362 Zu Seite 126 (sowie 159): Technologie von kontinuierlicher und alternierender Drehbewegung; Samson Appendix 15 Seite 365 Zu Seite 127: Die indogermanische Wurzel manth- indiziert die Drill-Bewegung; Mundilföri, pramantha-Prometheus, das Amritamanthana; Zeus drillt mit dem Goldenen Seil, Ilias VIII.10-26; Platons Politikos-Mythos
Liste der Appendices
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Appendix 16 Seite 373 Zu Seite 130: Über das Abschießen des Polarsterns und das Durchbeißen des „Jochs” Appendix 17 Zu Seite 130: Ptolemaios’ Almagest VII.2 und 3
Seite 376
Appendix 18 Seite 377 Zu Seite 131: Über „Löcher” im Himmel und das „Evil Eye” Appendix 19 Seite 378 Zu Seite 143: Surt, Herr von Gimle, dem Gefilde der Seligen Appendix 20 Zu Seite 146: Heimdall und sein „Haupt”
Seite 380
Appendix 21 Seite 381 Zu Seite 146: Aries als „Kopf” des Tierkreises; Chnum und der Meßstrick Appendix 22 Seite 381 Zu Seite 148: Heimdallarhljódh und das Gjallarhorn Appendix 23 Seite 383 Zu Seite 153: Submarines Feuer in russischen Zauberformeln; der indische Aurva; Dadhyank und der Pferdekopf; Vadavamukha/Stutenmaul – der Eingang zur Hölle am Südpol Appendix 24 Zu Seite 161: Über das Einreißen von Häusern
Seite 387
Appendix 25 Seite 388 337 Zu Seite 215: Wie Kara Pār den „Nabel der Welt“ herauszieht (zitiert nach Radloff) Appendix 26 Seite 389 Zu Seite 227: Das Aufsteigen in die „Luft“; „Engelsfürsten'* in der rabbinischen Literatur
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Liste der Appendices
Appendix 27 Seite 390 Zu Seite 239: Estnisches Survival, in dem ein Fluß davonfliegt Appendix 28 Seite 392 Zu Seite 243: Rohinis Wagen in Taurus als indisches Survival von Phaethons Sturz? Appendix 29 Seite 393 Zu Seite 244: Große Konjunktionen von Jupiter und Saturn Appendix 30 Seite 395 Zu Seite 264: Der indische Rishyasringa wird wie Enkidu in die Stadt gelockt Appendix 31 Seite 395 Zu Seite 264: Der Ringkampf zwischen Gilgamesch und Enkidu; „Türpfosten” und „Türen” im GE Appendix 32 Seite 396 Zu Seite 264: Humbabas Beziehungen zu Merkur und Prokyon; Prokyon = Hypsoma Jupiters; Humbaba – Hanuman?; Kombabos Appendix 33 Seite 397 Zu Seite 266 (sowie 226): Enkidu wirft den rechten Schenkel des Himmelsstiers = Maskkheti, die Wagensterne?; amputierte Sternbilder Appendix 34 Seite 398 Zu Seite 267: Der ältere, haarige „Zwilling” (HundeZwilling): Seth, Enkidu, Esau, Hono-Susori; Parallele bei den Cherokesen Appendix 35 Seite 399 Zu Seite 268: Der Trank des Vergessens und der des Erinnerns; wo ist Lethe? (nach Macrobius im Sternbild Crater); Devayana und Pitryana/Weg der Götter und Weg der Ahnen
Liste der Appendices
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Appendix 36 Seite 402 Zu Seite 269 (sowie 222): Ischara tam-tim (ägyptisch Selqet), die Skorpiongöttin, und die „Wurzel” mûla = lambda epsilon Scorpii [vgl. Appendix 4 und 45) Appendix 37 Seite 403 Zu Seite 270: Die undurchschaubaren „Stone-Things“/šu-ut abnē, die Gilgamesch zerbrach; die ”Urnu”-Schlangen, die Urschanabi sammelte Appendix 38 Seite 405 338 Zu Seite 271: Das Herausreißen, von Masten und Landepfosten (sumerisch DIM.GAL, akkadisch tarkullu, ägyptisch mnj.t/menat); der Landepfosten auf astronomischen Deckenbildern in Ägypten; Ähnlichkeit des Schiffspfahls mit dem Nasenbein des Horus-Auges (numerischer Wert 1/64) Appendix 39 Seite 410 Zu Seite 273: Schlafende Kaiser; Kronos in Ogygia; König Artus Appendix 40 Seite 412 Zu Seite 274: Gilgamesch und das Verjüngungskraut; rātu, das Wasserrohr, und die „Kanäle” (shithin) der jüdischen Überlieferung Appendix 41 Seite 414 Zu Seite 275: Styx-Wasser macht zum König oder tötet; Thetis benutzt es für Achilles Appendix 42 Seite 415 Zu Seite 276: Brunnen als Verbindung zur Welt der Ahnen; der den Brunnen verschließende Stein; lapis manalis; agelastos petra/der Felsen ohne Lachen der Demeter; zum Lachen bringen (Ra, Demeter, Skadi, Amaterasu, „Mother Sun” der Cherokesen) gehört an den Anfang eines neuen Weltalters; Amaterasus Umzug in eine „Neue Halle”
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Liste der Appendices
Appendix 43 Seite 419 Zu Seite 291: Über den Hirsch und über verschiedene Arten von Jahren” (eniautos) Appendix 44 Seite 420 Zu Seite 294; Die einander ablösenden Agnis; Apām Napāt und andere „Neffen”; das Kürzel für Neffen = Appendix 45 (Exkurs über Gilgamesch) Seite 422 Das Vermessen eines neuen Weltalters im Enuma elisch; Nibiru; Lumaschi-Sterne; „1-Iku”, das Pegasus-Viereck; der MES-Baum; der Huluppu-Baum und seine „Einwohner”; pukku und mikku; gefällte, gebrochene und entwurzelte Bäume in Indien, Mexiko, Finnland und auf dem TuamotuArchipel; über Kenningar in Mesopotamien; Arallu und Ersetu
Appendices
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Appendices
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Appendix 1 Der bis heute einzige Meister der Beobachtung dieser Art ist Marcel Griaule gewesen (gest. 1956), aber er hinterließ eine eindrucksvolle Schar von Schülern. Sie haben das Verständnis afrikanischer Studien erneuert, indem sie aufzeigten, daß solche Systeme bei den Dogon, die Griaule im wahrsten Sinn des Wortes „entdeckte”, noch am Leben sind. Wie Germaine Dieterlen schreibt: „Der kleinste alltägliche Gegenstand kann die bewußte Reflexion über eine komplexe Kosmologie enthüllen. Folglich besitzen zum Beispiel afrikanische Techniken, die in ihrem Erscheinungsbild so ärmlich sind wie etwa die der Landwirtschaft, des Webens und Schmiedens, einen reichen, verborgenhen Gehalt an Signifikanz … Wenn es von den notwendigen und wirkungsvollen Gesten begleitet wird, ruft das Opfer eines bescheidenen Huhns im Denken jener, die es erlebt haben, die Erinnerung an ein Verstehen wach, das zugleich echt ist und mit den Ursprüngen und der Funktionsweise des Universums zusammenhängt.” „Die Afrikaner”, schreibt Germaine Dieterlen weiter, „mit denen wir in der Region des Oberen Niger zusammengearbeitet haben, verfügen über Zeichensysteme, die sich in ihrer Anzahl auf über Tausend belaufen, sie haben ihre eigenen astronomischen Systeme und kalendarischen Messungen, Berechnungsmethoden sowie ein umfassendes anatomisches und physiologisches Wissen wie auch eine systematische Pharmakopöe. Die ihrer gesellschaftlichen Organisation zugrunde liegenden Prinzipien finden ihren Ausdruck in Klassifikationen, die viele Naturerscheinungen umfassen. Und diese wiederum bilden ein Sys-
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Appendices
tem, in dem – um Beispiele zu nennen – Pflanzen, Insekten, Textilien, Spiele und Riten in Kategorien eingeteilt sind, die weiter unterteilt werden können, numerisch ausgedrückt und aufeinander bezogen sind. Es sind eben diese Prinzipien, auf denen die politische und religiöse Autorität von Häuptlingen, das Familiensystem und juristische Rechte aufgebaut sind … ”1 Es versteht sich von selbst, daß wir die Meinung der Autorin nicht unterschreiben müssen, daß die Mande-Völker ihre eigenen astronomischen Systeme” erfanden.
Appendix 2
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Der Vater von Saxos Amlethus war Horvandillus, auch Orendel, Erentel, Earendel, Oervandill oder Aurvandil geschrieben. Der Appendix zum Heldenbuch erklärt ihn zum ersten Helden, der jemals geboren wurde. Die wenigen über ihn bekannten Daten sind von Jacob Grimm zusammengefaßt:1 Auf der Meerfahrt leidet er Schiffbruch, wird bei einem Fischermeister Eisen2 geborgen, erwirbt den ungenähten Rock des Herrn und nachher Frau Breide, aller Weiber schönste; König Eigel von Trier hieß sein Vater. Das ganze Gewebe der Fabel mahnt an die Odyssee, der Schiffbrüchige hält sich an die Diele, gräbt sich ein G. Dieterlen in der Einleitung zu Conversations with Ogotemmêli, Marcel Griaule (1965), xiv. 1 J. Grimm, Deutsche Mythologie, 310f (der besseren Lesbarkeit zuliebe, wird von der konstanten Kleinschreibung Grimms abgesehen). Siehe auch Karl Simrock, Der ungenähte Rock oder König Orendel (1845), ix. 2 Auch Ise oder Eise geschrieben und von Simrock von Isis hergeleitet; wenn man bedenkt, daß das bescheidene Heim des Fischers sieben Türme aufweist und er 800 Fischer als Diener hat, ähnelt Ise/Eisen mehr dem Fischerkönig aus den Artus-Romanen. 1
Appendices
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Loch, hält sich ein Laub vor; selbst der ungenähte Rock kann Inos Binde, der Fischer dem Sauhirt verglichen werden, die Tempelherrn der Frau Breide wären Penelopes Freier, und oft werden Engel, gleich Zeus Boten entsendet. Doch wendet sich vieles anders, mehr nach deutscher Weise, und es treten Umstände hinzu, wie das Legen des nackten Schwerts zwischen die Neuvermählten, wovon die griech. Sage nichts kennt. Den Eigennamen weisen schon ahd. Urkunden: … Orentil trad. fuld … ; Orendil ein bairischer Graf … ; ein Dorf Orendelsal (heute Orendensall) liegt im Hohenlohischen … Aber die Edda hat einen andern Mythus, den vorhin schon bei dem Stein in Thôrs Haupt zu erwähnen Anlaß war. Eben ist Grôa geschäftig, ihren Zauber auszusprechen, als zum Lohn für nahende Heilung ihr Thôr die frohe Kunde bringen will, daß er aus dem Norden von Iötunheim kommend im Korb auf dem Rücken ihren Mann den kühnen Örvandill getragen habe, der nun bald heimkehren müsse; zum Wahrzeichen fügt er hinzu, Örvandils Zehe sei aus dem Korb vorgestanden und erfroren, weshalb er sie abgebrochen, an den Himmel geworfen und daraus einen Stern erschaffen habe, der Örvandilstâ heißt. Vor Freude über diese Botschaft vergaß aber Grôa ihres Spruches, und der Stein wurde nun im Haupte des Gottes niemals los. Sn. 110.111 [= Snorris Skaldskap. 17, H.v.D.].
Frederick Powell3 wiederum vergleicht in seiner kühnen Interpretation den Held mit Orion: Die Geschichte von Orwendel (das Analogon zu Orion dem Jäger) muß hauptsächlich aus der Prosaedda zusammengetragen werden. Er war ein Jäger, groß und tapfer genug, um es mit Riesen aufzunehmen. Er war der Freund von Thor, der Ehemann von Groa, der Vater von Swipdag, der Feind des Riesen Coller und des Ungeheuers Sela. Die Geschichten seiner Geburt und seines Erblindens sind in den germanischen Geschichten offensichtlich verlorengegangen, es sei denn, wir nehmen an, daß der Aderlaß Robin Hoods, den die verräterische Priorin solange an ihm vornahm, bis er nicht mehr sehen konnte, das letzte Überbleibsel der Geschichte vom Tod des großen Bogenschützen ist. Dr. Rydberg betrachtet ihn und seine 341 3
In seiner Einleitung zu Eltons Übersetzung von Saxo (1894), cxxiii.
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Appendices
Verwandtschaft als Dubletten dieser drei Helden: Eigil der Schütze, Wielant der Schmied und Finn der Harfenist; und diese wiederum als Dubletten der drei Ur-Künstler, der Söhne Iwaldis, deren Geschichte in der Prosaedda erzählt wird.
Es ist nicht bekannt, welcher Stern oder welche Konstellation Orvandils-tâ vermutlich war. Abgesehen von solchen wilden Vorstellungen wie der, daß der ganze Orion seinen Zeh repräsentiert4 – ihn mit Rigel, also beta Orionis, zu identifizieren, wäre der Diskussion wert –, versucht sogar Otto Sigfrid Reuter, sich selbst davon zu überzeugen, daß Corona Borealis „wie eine Zehe aussieht”,5 weil er sich nicht von den Fesseln jahreszeitlicher Interpretation des Mythos befreien konnte noch sich traute, die romantische Autorität Ludwig Uhlands anzugreifen, der das Dogma geprägt hatte, Thor habe das Frühlingszeichen in seinem Korb transportiert; entsprechend mußte eine Konstellation gefunden werden, die das Frühjahr verkünden konnte, und Reuter, der die Wahl zwischen Arkturus und Corona hatte, entschied sich für letztere. Es ist jedoch nicht seine Zehe allein, die dem Vater Hamlets seinen kosmischen Hintergrund verleiht: Einige Zeilen aus Kynewulfs Crist widmen dem Helden folgende Worte; Heil Earendel, der Engel glänzendster, über Mittgart den Menschen gesandter, du sicher-wahrer Strahl der Sonne, über die Sterne strahlend, der du aus dir selbst leuchtest.6 Die Experten sind sich nicht einig, ob Earendel hier auf Christus oder auf Maria verweist und ob die Venus als Morgenstern gemeint ist oder nicht – eine Identifizierung, die sich anbietet, da R.H. Allen, Star Names (1963), 310. O.S. Reuter, Germanische Himmelskunde (1934), 255. 6 O.S. Reuter, op.cit., 256. Siehe auch DM, 311; L Gollancz, Hamlet in Iceland (1898), xxxvii. 4 5
Appendices
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alte Glossen Earendel mit „Jubar“7 wiedergeben; und Jubar wird generell als Venus anerkannt – allerdings unter der ebenso generell akzeptierten Voraussetzung, „Morgenstern” meine stets und überall die Venus, was aber nicht der Fall sein muß: Jeder heliakisch aufgehende Stern kann als „Morgenstern” fungieren; der „Morgenstern” der Skidi Pawnee zum Beispiel ist der Mars. Was juba angeht- wörtlich; „die Mähne irgendeines Tiers”, jubar: ein strahlendes Licht, Glanz” –, haben wir allerdings die klare Feststellung des römischen Gelehrten Varro; „iuba dicitur Stella Lucifer.”8 Trotzdem sind mehrere Experten gegen die Gleichung Orendel/Earendel – Venus.9 Gollancz enthält sich präziser Iden- 342 tifikationen, aber er liefert ein weiteres Beweisstück bezüglich des Wortes Earendel: In anglo-sächsischen Glossarien wird „earendel” … oder „oerendil” mit jubar interpretiert, aber Morgengrauen” oder „Morgenstern*' wäre wahrscheinlich eine bessere Übertragung, wie in der einzigen anderen Textstelle, die in der altenglischen Literatur bekannt ist, nämlich den Blickling Homilies (Seite 163, 1.3): „Nu seo Cristes gebyrd at his aeriste, se niwa eorendel Sanctus Johannes; and nu se leoma thaere sothan sunnan God selfa cuman wille.” Das heißt: Und jetzt (war) die Geburt Christi dabei, zu erscheinen, und der neue Tages-Frühling (beziehungsweise die Morgendämmerung) war Johannes der Täufer. Und jetzt wird der Glanz der wahren Sonne, Gott selbst, kommen.10
Danach scheint Orendel/Earendel der erste unter denen gewesen zu sein, die irgendeinen „Advent” verkündeten, nicht unähnlich der Passage in der Odyssee (XIII.93f), die von Odysseus’ Ankunft in Ithaka handelt: „Als nun der hellste Stern [astēr phaO jubar, angelorum splendidissime … Siehe Richard Heinzel, Über das Gedicht von König Orendel (1892), 15. 8 Siehe Wilhelm Gundel, De stellarum appelatione et religione Romana (1907), 106; O.S- Reuter, op.cit., 256, 295ff. 9 Zum Beispiel A. Scherer, Gestirnnamen (1953), 79-81. 10 I. Gollancz, Hamlet in Iceland (1898), xxxvii, Fußnote. 7
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Appendices
ántatos] emporstieg, der als der erste kommt und das Licht ankündigt der frühgeborenen Eos, kam das meerdurchfahrende Schiff nah bis an die Insel.” Das kann erneut auf die Venus hindeuten, aber es gibt Gründe, an Sirius zu denken, den hellsten aller Fixsterne, wie sich später herausstellen wird. Ein anderer Diskussionsgegenstand ist die Etymologie des Namens gewesen, und da die Identität von Orendel auf der Etymologie seines Namens beruhen könnte, müssen wir uns wenigstens oberflächlich in dem Material umschauen. Jacob Grimm gab freimütig zu: Ich bin nur unschlüssig wie das Wort genau zu schreiben und auszulegen sei; ahd ôrentil führt auf ags. eárendel und beide forderten dann altn. aurvendill, eyrvendill; geht man aber von altn. örvendill aus, so schiene ags. earendel, ahd. erentil vorzuziehen. Im zweiten Theil der Composition liegt sicher entil = wentil.11 Der erste würde entweder ôra, eāre (auris) oder altn. ör, gen, örvar (sagitta) enthalten. Da in einer Fabel bei Saxo Gramm. … ein Horvendilus filius Gervendili vorkommt und ahd. der Eigenname Kêrwentil … und Gêrentil … , geir (hasta) aber besser zu ör stimmt als zu eyra (auris), so darf die letzte Erklärung auf Beifall rechnen; Einsicht in die vollständige Sage würde die Ursache des Namens aufklären. Mir scheint auch Orentils Vater zu beachten, Eigil ist ein gleich alter dunkler Name … Sollte die Sage von Orentils Irrfahrten so alt bei uns sein, daß in Orenlil und Eigil von Trier jener Ulysses und Laertes zu suchen wäre, den Tacitus an unsern Rhein setzt? Die Eigennamen verrathen nichts Gemeinschaftliches.
343
Dazu Scherer (79): „Es gehört nicht zu [der Wurzel] âusôs, ‚Morgenröte’, auch nicht … zu ae. éar n. ,Ähre’ … , vielmehr zu ae. éar m. ,Woge, See’, an. aurr ‚Feuchtigkeit’.” Gollancz, der daDM, 311f. In einer Fußnote fragt Grimm (und wir wären froh, die Antwort zu wissen!); „Woher hat Matthesius (bei Frisch 2, 439a): Pan sei der Heiden Wendel und obrister Sackpfeifer? Soll Wendel auf die Verwandlungen des flöteblasenden Halbgottes gehn? In Hexenprocessen ist Wendel ein Name des Teufels. Mones anz. 8, 124.” 11
Appendices
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zu tendiert, Earendel mit Ostern (ushas, eos, aurora usw.) zu verbinden, erwähnt geläufigere Herleitungen, darunter auch die von aurr „Feuchtigkeit” und von dem Stammwort, das auf Griechisch „brennen” bedeutet: euo, lateinisch uro, Ves-uvius usw. Entscheidend erscheint uns die Herleitung von ör = Pfeil, die von Grimm vorgeschlagen wird, wie auch die von Uhland, der Orendel zu dem erklärt, „der mit dem Pfeil operiert” (im Gegensatz zu seinem Großvater Gerentil, der mit dem ger = Speer arbeitete). Und Simrock ist der Meinung, daß gerade die Glosse „Earendel Jubar” Earendel ausdrücklich als „Glanz” (oder „Strahl”) bezeichnet, „was im MHD oder Italienischen noch immer ,Pfeil’ bedeutet”.12 Simrock ging noch weiter. In Betracht ziehend, daß im Heldenbuch Orendel Erendelle und an anderen Stellen auch Ernthelle buchstabiert wird, hält er es für wahrscheinlich, daß „Ern” als Epitheton ornans fallengelassen wurde;13 und er schließt daraus, daß die Geschichte, wie Tell den Apfel vom Kopf seines Sohns schießt, einst über Orendel selbst erzählt wurde. Daß der historische Tell – so es ihn gegeben haben sollte – nicht der Erfinder des berühmten Schusses war, ihn nicht einmal ausführte, scheint ziemlich sicher. Wie Grimm (DM, XXVI) treffend sagt: Die Tellsage erzählt keinen wirklichen Vorgang, aber unerdichtet und ungelogen ist sie echtmythisch im Schoße der Schweiz neu aufgestiegen, um ein das Volk aufs innerste ergreifendes Ereignis zu schmücken.
Nun läßt sich kein Pfeil ausfindig machen, der bezüglich mythischer Bedeutsamkeit mit Sirius konkurrieren könnte. Aus SuK. Simrock, Handbuch der Deutschen Mythologie (1869), §82, Seite 243. K. Simrock, op.cit. Siehe auch Simrock, Die Quellen des Shakespeare (1870), 129f: „Dies ward aber wohl in Teil gekürzt, weil man die erste Silbe für jenes vor Namen stehende ‚Ehren’ ansah, das nach dem d. Wörterbuch, III 52, aus ,Herr’ erwachsen, bald für ein Epitheton ornans angesehen wurde.“
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Appendices
mer kennen wir mulKAK.SI.DI, den „Pfeil-Stern“, wie auch „Tishtriya”, den Pfeil des alten Iran – er wird von einem Bogen abgeschossen, der aus Sternen von Argo und Canis Maior (auf Sumerisch; mulBAN) gebildet ist. Genau derselbe Bogen kann auch in der chinesischen Sphäre ausfindig gemacht werden; aber dort ist der Pfeil kürzer und zielt auf Sirius, den himmlischen Schakal oder Wolf, wohingegen derselbe ägyptische Pfeil den Stern auf dem Kopf der Sothis-Kuh anvisiert – wie es in dem sogenannten „Runden Zodiak” von Dendera dargestellt wird –, also wieder Sirius. In Indien ist Sirius der Bogenschütze selbst (Tishtriya), und sein Pfeil wird von den Sternen des Oriongürtels verkörpert. Und über sie alle werden mannigfaltige Legenden erzählt. Folglich könnte „Earendel, der Engel glänzendster” sehr wohl auf den leuchtendsten unter den Fixsternen hindeuten: auf Sirius (siehe erneut Abbildungen 17 bis 20). Doch selbst die Ableitung aus der Wurzel aurr = Feuchtigkeit, ear = Meer würde Sirius nicht ausschließen. Ganz im Gegenteil. Im babylonischen Neujahrsritual heißt es: „Pfeil-Stern, der die Tiefe des Meeres misst“, das Avesta sagt: „Tishtriya, durch den die Wasser zählen”. Und wie Tishtriya, „der Pfeil”, den See Vurukasha im Auge hat (siehe Seite 198), so ist der germanische Egil der Wächter des Hwergelmir, des Wasserstrudels, sowie von Eliwagar, südlich von dem „die Götter einen ,Vorposten’, einen ,Saeter’ haben, der von kühnen Wächtern bewohnt wird – im Thorsdrapa 8 werden sie snotrir vikinger genannt –, die durch Eid gebunden sind, den Göttern zu dienen. Ihr Anführer ist Egil, der berühmteste Bogenschütze in der Mythologie. Als solcher wird er auch Orwendel (derjenige, der sich mit dem Pfeil beschäftigt) genannt.“14 Wir sollten besser aufhören, uns in Sirius den Pfeil und seine Rolle als Wächter sowie als „Vermesser der Meerestiefe” zu vertiefen; die wenigen hier gegebenen Hinweise müssen ausreichen, um die Ebene aufzuzeigen, auf der wir nach Hamlets Vater zu 14
V. Rydberg, Teutonic Mythology (1907), 424ff, 968ff.
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suchen haben. Da wir jedoch niemals der Versuchung widerstehen können, schöne Gedichte zu zitieren, müssen wir noch unseren Verdacht äußern, daß es sich auch beim „Stella maris” um Sirius handelt Man weiß genug über Isis/Sirius als Schutzgott der Navigatoren, dem die „Carra navalis” gehört; und war es nicht „Maria oder Christus”, die/der mit „Heil Earender angeredet wurde? In derselben Weise beginnt die Hymne „In Annunciatione Beatae Mariae” mit den Strophen: Ave, maris stella Dei mater alma atque semper virgo felix caeli porta Sumens illud Ave Gabrielis ore funda nos in pace mutans nomen Evae. Und es gibt eine weitere Hymne, die, dem Römischen Brevier zufolge, während der Advents- und Weihnachtszeit nach dem Abendgebet gesungen und Herimanus Contractus von Reichenau (gest. 1054) zugeschrieben wurde, der als Krüppel in seinem Kloster gelebt haben und gestorben sein soll: Alma redemptoris mater, quae pervia caeli porta manes et Stella maris, succurre cadenti, surgere qui curat, populor tu quae genuisti (natura mirante) tuum sanetum genitorem, Virgo prius et posterius, Gabrielis ab ore sumens illud Ave, peccatorem miserere. „Was ich vorzuschlagen versucht habe”, sagt der Interpret 345 dieser Hymne,15 „ist, daß der Reiz dieses bezaubernden mittelal15
Herbert Musurillo, S.J., „The Medieval Hymn, Alma Redemptoris”,
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terlichen Gebets und Weihelieds in hohem Maße der absichtlichen Zweideutigkeit entspringt, den verschiedenen Bedeutungsebenen und der versunkenen Bildsprache … Die ,nährende Mutter’ ist vielleicht als eine feste Konstellation am Himmel vorgestellt, vielleicht auch als der Morgenstern, der diejenigen leitet, die zur See fahren. Sie ist ein himmlischer Durchfahrtsweg, der immer passierbar und ewig zugänglich ist … Das Stürzen und Emporsteigen hat inzwischen (abgesehen von den ständig fallenden Sündern) den zusätzlichen Beigeschmack von auf- und untergehenden Himmelskörpern, eventuell auch von Schiffen, die auf dem Meer auf- und niedertanzen, und zuletzt von wackligen Kindern, die der Hilfe ihrer Mutier bedürfen, um laufen zu können … Das Gedicht ist sehr eindrucksvoll, und aus meiner Sicht entsteht seine Kraft aus der subtilen Metaphorik der ersten drei Zeilen … Sie offerieren uns ein Symbol, eine verbale Ikone, von der Gesamtsituation des Menschen auf Erden in seinem Kampf, zu den Sternen emporzusteigen, von seinem Bedürfnis nach einer Kraft von einer anderen Welt, die zugleich stark und liebend ist.”
Appendix 3 Abgesehen von dem Umstand, daß von dem den Anhängern Kai Chosraus, Henochs und Quetzalcoatls zugeschriebenen Schneebegräbnis kaum behauptet werden kann, es sei ein „naheliegender” Zug, könnte das Schicksal von Quetzalcoatls Kameraden unserem Verständnis förderlich sein, genauer gesagt: der Topos, an dem sich das Ereignis zugetragen haben soll. Die „fünf Berge” Classical Journal 52 (1957), 171-174. Diesen Hinweis verdanken wir unserem Kollegen Harald A.T. Reiche.
Appendices
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des mexikanischen Mythos, respektive ihre „Götter”, die Tepictoton,1 verkörpern offenbar die fünf Uayeb (= Maya; bei den Azteken: Nemontemi), die Epagomenen, also jene Tage, die Merkur während eines Dame-Spiels vom Mond gewann, um Rhea/Nūt zu Tagen „außerhalb des Jahres“ zu verhelfen, an denen sie die fünf Planeten gebären konnte. Tatsächlich führt Sahagún in seinem Kapitel über die Kleidung und Embleme der Götter die „Berg-Götter” am Ende der Liste auf.2 Erwähnenswert mögen zwei weitere Wesenszüge sein, die Quetzalcoatl mit seinen Brüdern aus der Alten Welt teilt: Von Quetzalcoatl und Uemac heißt es, sie hätten, wie Kai Kawus und 346 Kai Chosrau, gemeinsam geherrscht; und Quetzalcoatl werden inzestuöse Beziehungen zu seiner Schwester vorgeworfen, genauso wie es bei Hamlet, Kullervo, Yama und – könnten wir hinzufügen – König Artus der Fall gewesen ist.3
Appendix 4 Es ist noch zu früh am Tag, um sich mit „Onkel Kansa” zu beschäftigen, den Lexikographen zu einem „mūra-deva”, einem angeblichen „Verehrer von Wurzeln” (mūla/mūra – Wurzel) machen. In seinen Kleinen Beiträgen (11) will uns Jarl Charpentier ernsthaft als Tatsache glauben machen, „daß es unter den indiSiehe E. Seler, Gesammelte Abhandlungen (1960/61), 2, 507, für eine aztekische Zeichnung des Tepictoton. 2 Siehe Thomas S. Barthel, „Einige Ordnungsprinzipien im Aztekischen Pantheon”, Paideuma 10 (1964), 80f, 83. In dieser Abhandlung hat Barthel auf ziemlich überzeugende Weise die Präsenz von Dekanen in der mexikanischen Astronomie nachgewiesen. 3 Siehe W. Krickeberg, Mexikanisch-peruanische Parallelen”, in Festschrift P.W. Schmidt (1928), 388. 1
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schen Eingeborenen, die gegen die einmarschierenden Arier kämpften, solche gab”, nämlich „Verehrer von Wurzeln” (und auch Verehrer von Würmern). Obwohl wir nicht daran zweifeln, daß die Spezies Homo sapiens zu jedem „Glauben” fähig ist, können wir keinen einzigen triftigen Grund ausfindig machen, warum wir uns Charpentiers Sichtweise anschließen sollten, Mūla/mūra, die „Wurzel”, ist ein Nakshatra, eine Mondstation, um die viele Sagen gesponnen sind: Es ist der Stachel des Skorpions, der in der „Babylonischen Genesis” Marduk als Waffe dient, und dem polynesischen Maui als Fischhaken; bei den Kopten ist es „statio translationis Caniculae … unde et Siôt vocatur”, das heißt: Die koptische Tafel der Mondstationen nimmt lambda epsilon Scorpii als die genaue Opposition zu Sirius/Sothis, wie wir von Athanasius Kircher erfahren, während die indischen Tafeln die Rolle der exakten Opposition Beteigeuze, regiert von „Rudra-der-zerstörende-Bogenschütze”, zuweisen. Obwohl wir an dieser Stelle diese und andere Sagen nicht weiter verfolgen können, halten wir es zumindest für angebracht, die konkreten Probleme zu erwähnen, die mit solchen Charakteren wie „Onkel Kansa” auftauchen, anstatt einen echten Asura der „Verehrung von Wurzeln” zu bezichtigen.
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Appendix 5 Sem Snaebjoern kvad: Hvatt kveda hraera Grotta hergrimmastan skerja ut fyrir jardar skauti Eyludrs niu brudir; thaer er, lungs, fyrir laungu lid-meldr, skipa hlidar
Appendices
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baugskerdir ristr bardi bol, Amloda mólu Her er kallat hafit Amloda Kvern. Gollancz übersetzte seine Übersetzung zurück ins Altnordische, so daß die ursprüngliche und die nolens volens interpretierende Übersetzung miteinander verglichen werden konnten. Die Rückübersetzung lautet so: „Kveda niu brudir eyludrs hraera hvatt hergrimmastan skerja grotta ut fyrir jardar skauti, thaer er fyrir longu molu Amloda lid-meldr; baugskerdir ristr skipa hlidar bol lungs bardi.“1 Oliver Elton übersetzt die Passage folgenderweise: Men say that the nine maidens of the island-mill (the ocean) are working hard at the host-devouring skerry-quern (the sea), out beyond the skirts of the earth; yea, they have for ages been grinding at Amlodi’s meal (the sea).2
Auch Rydberg bietet eine Übersetzung an: It is said, that Eyludr’s nine women violently turn the Grotte of the skerry dangerous to man out near the edge of the earth, and that those women long ground Amlode’s lid-grist.”3
Trotz der Kompliziertheit und der Fußangeln des Textes verI. Gollancz, Hamlet in Iceland (1898), xi. Saxo Grammaticus, Danish History (1894), 402. [A.d.Ü.: Annähernd ins Deutsche übertragen lauten die Zeilen: Die Menschen sagen, daß die neun Mägde der Insel-Mühle (der Ozean) hart an der Unmengen verschlingenden Felsen-Mühle (dem Meer) arbeiten, weit jenseits des Saums der Erde; sie haben fürwahr seit einer Ewigkeit Amlodhis Mehl (das Meer) gemahlen.] 3 V. Rydberg, Teutonic Mythology (1907), § 80, Seite 568. [A.d.Ü.: Annähernd ins Deutsche übertragen: Es heißt, daß Eyludrs neun Frauen nahe dem Rande der Welt heftig den Grotti der für die Menschen gefährlichen Felseninsel antreiben und daß diese Frauen lange Zeit Amlodis Schrot mahlten.] 1 2
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sucht Gollancz, den Fall zu lösen; tatsächlich ist es ein verzweifelter Versuch: „Die Zusammensetzung ey-ludr, ‚Insel-Mühle’ übersetzt, kann als Synonym für den Vater der neun Mägde angesehen werden. Ludr ist streng genommen ,der Vierkantbehälter, in dem der untere und der obere Mühlstein ruhen’, somit die Mühle selbst, beziehungsweise die Handmühle.” Als Vergleich hierzu O.S. Reuters Erklärung: „Litdr = Mühlengebälk (dän. Luur = das Gerüst zu einer Handmühle)”.4 In der Fußnote auf Seite 242 überträgt er die Zeilen aus Skaldskap. 25: „Neun Schärenbräute rühren den Grotti des Inselmühlkastens (eyludr) draussen an der Erde Ecke (ut fyrir jardar skauti)”, und fügt hinzu: „Das (kosmische?) Weltmeer ist als ,Hamlets Mühle’ gesehen.” Immerhin dachte er an „kosmisch”, wenn auch in Klammern und mit einem Fragezeichen – Rydberg ist der einzige, der diesen Punkt vollständig erfaßt hat. „Eyludr”, fährt Gollancz fort, „ist die ‚Insel-Handmühle’, das heißt: ‚das Mahlwerk von Inseln’, die Mühle des Ozeans, das Meer, der Meeresgott und schließlich Ägir. ,Ägirs Töchter’ sind die wogenden Wellen des Ozeans; sie betreiben Grottis ‚Mahlwerk’, die große Mühle des Ozeans (hier ,skarja grotti’ genannt, das Mahlwerk von kleinen Felseninseln, den einsamen Felsen im Meer), ‚jenseits des Saums der Erde’ oder besser: ,weit hinter dem Vorgebirge’. Letztgenannte Bedeutung der Wörter ,ut fyrir jardar skauti’ würde vielleicht am besten zu der Textpassage passen, sofern Snaebjörn auf einen bestimmten Wasserstrudel hinweist.” Non liquet: weder Ägir = eyludr noch die neun Mägde = Wellen, ob nun wogend oder nicht. Wir bleiben jedoch für ein paar weitere Zeilen bei Gollancz: „Die eigentliche Schwierigkeit”, sagt er, „liegt in Snorris Zusammenfassung von Snaebjörn in der letzten Zeile: Die Anordnung der Wörter ist verwirrend, die Interpretation der wichtigsten Phrasen äußerst fragwürdig. Insbesondere ,lid-meldr’ hat O.S. Reuter, Germanische Himmelskunde (1934), 239, Reuter fügt auch eine Zeichnung der Mühle bei.
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den Kommentatoren viel Kummer bereitet: ,Meldr’, im Isländischen gegenwärtig obsolet, bezeichnet ,Mehl oder Korn in der Mühle’; aber das Wort ‚lid’ ist eine veritable Crux. Es kann entweder das Neutrum ,lid’ sein, das ,ein Gastgeber, Landvolk, Volk’ oder Schiff bedeutet, oder das maskuline ‚lidr’ ,ein Körpergelenk’. Die Herausgeber des Corpus Poeticum Boreale lesen ,meldr-1id’ und übertragen das Wort mit ‚Mehl-Boot’; den Abschnitt übersetzen sie ,die vor langer Zeit Amlodis Mehl-Boote mahlten = den Ozean’; aber ,mala’ ,mahlen’ kann kaum synonym mit ‚hraera’ ,bewegen’ in den ersten Zeilen sein, und es ergäbe keinen Sinn, wenn die Wellen den Ozean mahlten. Demzufolge scheint es keinen Grund zu geben, warum meldr-lid lid-meldr vorgezogen werden sollte, zumal letzteres sehr wohl für ,Schiffsmehl’ (Mehl des Meeres) stehen könnte und somit vergleichbar wäre der eddischen Phrase ,graedis meldr’, das heißt ,Mehl des Meeres’, eine poetische Umschreibung für den Küstensand. Rydberg (Teutonic Mythology (1907), 570ff = (1889), 388393), der sich auf die Verbindung mit der Mythe von Hymirs Nachfahren Bergelmir besann, welcher gemäß einer geistreichen Interpretation eines Vafthrudnismål-Verses ,unter den Mühlstein gelegt’ wurde, äußerte die Theorie, daß ,lid-meldr’ ,KnochenSchrot’ (limb grist) bedeute. Entsprechend dieser Auffassung sind es die Gliedmaßen und Gelenke der Ur-Riesen, welche in Amlodis Mühle zu Mehl transformiert werden … Snorri kommt uns nicht zu Hilfe. In der Fußnote zu Snaebjörns Strophe fügt er 349 nur hinzu, daß hier das Meer ,Amlodis Kvern’ genannt wird.” Gollancz ergänzt in einer Fußnote, daß er in irgendeinem anderen Manuskript die Version gefunden hat; „Hier wird das Meer ,Amlodis Mehl’ genannt” (Amloda melldur). Und er schließt: „In der frühen nordischen Dichtung oder Saga ist keine ausdrückliche Erklärung zu finden. ,Hamlets Mühle’ kann fast alles bedeuten.“ So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Außerdem ermittelte Gollancz (Fußnote auf Seite xvii) in den folgenden vier zitierten Zeilen weitere relevante Redewendungen,
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die er Snaebjörn zuschreibt: „Die Insel-Mühle gießt das Blut der Schwestern der Flutgöttinnen aus (i.e.: Meereswellen), so daß (es) aus dem Fäller des Landes hervorbricht: Stark beginnt der Wasserstrudel.” svad or fitjar fjoetra, flods asynju bolde (roest byrjask roemm) systra rytr, eymylver snyter. Dem fügt er hinzu: „Eymylver kommt in keiner anderen Drottkvoett-Strophe vor; vgl. oben, eyludr.”
Appendix 6 Es ist nicht so leicht, sich Mysings zu entledigen, wie es die Spezialisten vorgeben, indem sie seinen Namen zum Beispiel als „mausgrau” interpretieren anstatt ihn mit dem gleichermaßen möglichen „Sohn einer Maus” zu übersetzen. Und Axel Olrik plädiert geradewegs für die Gleichsetzung von „König Mysing, der Frith-Frothi tötete, mit der Kuh, die Frothi den Friedvollen niederstreckte … König Mysing ist nur eine rationalistische Erklärung für das uralte Ungeheuer.”1 (Für den Tod von Frodi durch eine Seekuh siehe auch Paul Herrmanns Kommentar zu Saxo, 380-384. Diese „Kuh” – in Island bleibt man im Rahmen der Zoologie und macht aus ihr einen Hirsch – war laut Saxo eine Hexe, die von Frodis Männern durchbohrt wurde. Danach hielten sie Frodis Tod drei Jahre lang geheim, genauso wie es Snorri in seiner Heimskringla bezüglich Freyr erzählt.) Aufmerksamer verglich Alexander H. Krappe Mysing mit 1
A. Olrik, Heroic Legends of Denmark (1919), 459f.
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Apollon Smintheus, dem alten „Maus-Gott” [ARW 33 (1936), 4056]. Er hatte jedoch nur die Verbindung – so unbestreitbar sie ist – zwischen Mäusen und Ratten und der Pest im Sinn, und das Hinzuziehen von Smintheus trägt nicht viel zum Verständnis von Mysing bei. Dieser Stand der Dinge änderte sich mit der Veröffentlichung der Arbeit von Henri Grégoire, Roger Goossens 350 und Marguerite Matthieu, Asklepios, Apollon Smintheus et Rudra: Études sur le dieu à la taupe et le dieu au rat dans la Grèce et dans l’Inde, obgleich sie unseren Mysing nicht einmal erwähnen und obgleich sie lauthals das Verdienst von Meillet anpreisen (157), „… d’avoir fait descendre la mythologie du ciel sur la terre”; mit Rudra und mit der Ratte von Ganesha (der übrigens seinen Elefantenkopf deshalb erhielt, weil der Planet Saturn, der nicht zur Kinds„taufe“ eingeladen worden war, mit seinem bösen Blick auf das Baby geschaut und dadurch dessen Kopf zerstört hatte, der dann erfolgreich durch den eines Elefanten ersetzt wurde) hat die Maus-Fabel einen viel tieferen Hintergrund erhalten. Trotzdem lassen sich die Identität und die Rolle der Maus-Gottheit kaum klären, ohne in Betracht zu ziehen 1) „die geschwänzte und mit Flügeln ausgestattete Mûs Parîk; die Sonne hatte sie an ihren eigenen Strahl gefesselt, so daß sie kein Unheil anrichten konnte; wenn sie frei kommt, wird sie der Welt solange großen Schaden zufügen, bis sie wieder eingefangen wird, indem sie der Sonne Auge in Auge gegenübersteht”; diese rätselhafte geflügelte Maus stammt aus dem Welthoroskop im iranischen Bundahishn (Kapitel V, A. Anklésaria-Übersetzung, 63); 2) die farbenprächtigen polynesischen Mythen, die von der Ratte handeln, welche die „Netze von Makalii” – also die Hyaden und Plejaden – durchnagt; das konnte sie nur deshalb ungestraft tun, weil sie Makaliis eigene Schwester war; 3) die als Mäuse verkleideten Krieger von Llwyd, Sohn des Cil Coed, „die über die sieben Zauberer von Dyfed einen Bann aussprachen … , um Gwawl, Sohn des Clud, zu rächen”, und zwar im dritten Zweig des Mabinogion. Sicher gibt es noch weitere Fälle, aber wir müssen es dabei belassen.
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Wir möchten betonen, daß uns die überheblichen Urteile über Snorris Erzählung, wie sie etwa von Genzmer, Olrik und anderen abgegeben werden, nicht unbekannt sind. Ihre Meinungen gehen dahin; „Der letzte Teil der Geschichte von Grotti und Mysing ist ,Wie das Meer salzig wurde’. Dies ist ein anderes Motiv, das in keiner Weise etwas mit dem Frothi-Frieden zu tun hat.“1 Genzmers Formulierung ist noch arroganter. Mysings Transport der Mühle und das Mahlen von Salz an Bord des Schiffs ist „die Anschweißung einer zweiten selbständigen Sage; der großartig einfache, ahnungsvolle Schluß unserer Dichtung wird durch ein solches Anhängsel tödlich geschädigt.“2 Es wäre angemessener zu sagen, daß der Mythos durch die modernen Experten „tödlich geschädigt” wurde, nicht aber durch Snorri. Wenn wir zu der kleinen Salz-Mühle von Kronos kommen, wird der Leser den Plot besser verstehen. Jedoch hat Olrik einige hübsche Überbleibsel anzubieten: Im Jahre 1895 wurde Dr. Jakob Jakobsen, der wohlbekannte Sammler von Resten der alten „Norn”-Sprache der Hebriden, von einem alten Mann von den Shetland-Inseln, dessen Eltern von den Orkney-Inseln (Ronaldsey) gekommen waren, darüber informiert, daß es nahe der nördlichsten dieser Inseln einen Wasserwirbel gab, der „Swelki” genannt wurde [das ist Snorris svelgr, „See-Mühle, da, wo die Strömung in das Mühlsteinloch stürzt”, H.v.D]. An der Stelle stehe eine Mühle auf dem Meeresgrund und mahle Salz; und mit ihr sei eine Legende über Grotti-Fenni und Grotti-Menni verbunden. Im Verlauf späterer Nachforschungen auf den Orkney-Inseln selbst (Süd-Ronaldsey) erfuhr er von der Salz mahlenden See-Mühle im Pentland Firth. Im Jahre 1909 wurde Herrn A.W. Johnstone von einer Dame von der Fair-Insel berichtet, daß Grotti-Finnie und 1
A. Olrik, The Heroic Legends of Denmark (1919), 460. 2 Edda, übersetzt von F. Genzmer (1922), Thule 1, 181.
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Glücks-Minnie in ihrer Heimat wohlbekannt sind und gelegentlich angerufen werden, um ungezogene Kinder zu erschrecken. Obwohl sich in diesen Teilen die Sage in einem fragmentarischen Zustand befindet, reduziert auf nicht übereinstimmende Überlebsel, beweist die Zähigkeit der mündlichen Überlieferung, wie tiefverwurzelt diese Sage auf den Inseln ist. Außerhalb der Orkney-Inseln sind der Überlieferung weder Mysing noch seine Salzmühle bekannt, außer in den Liedern der Edda, die selbst den Stempel westlicher Herkunft tragen.3
Appendix 8 Vafthrudnismål 35 wird von Hugo Gering folgendermaßen übertragen: „Ungezählte Winter vor der Schöpfung / Geschah Bergelmirs Geburt, / Als frühestes weiß ich, daß der erfahrene Riese / Im Boote geborgen ward.” Simrock übersetzt auf ähnliche Weise und merkt an: „Das dunkle Wort ludr für Boot zu nehmen, sind wir sowohl durch den Zusammenhang als durch die Mythenvergleichung berechtigt.”1 Rasmus B. Anderson übersetzt die von Snorri (Gylf. 7) zitierte Strophe wie folgt: „Countless winters / Ere the earth was made, / Was born Bergelmer, / The first I call to mind / How the crafty giant / Safe in his ark lay.”2 Gustav Neckel und Felix Niedner stellen fest, Bergelmir (und seine Frau) „stieg auf seinen Mühlkasten und rettete sich so”. Die obigen Zeilen geben sie mit den Worten wieder: „Als frühestes weiß ich, daß der vielkluge Riese in die Höhe gehoben ward.” In einer Fußnote fügen sie hinzu: „Das oben mit .Mahlkasten' wieA. Olrik, op.cit., 457. K. Simrock, Handbuch der Deutschen Mythologie (1969), §9. 2 R.B. Anderson, The Younger Edda (1880), 60f. 3 1
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dergegebene Wort übersetzt man gewöhnlich mit ,Boot’ oder auch mit ,Wiege’, ohne Begründung und gegen den Wortlaut der Prosa. Gegen den gewöhnlichen Wortsinn ,Mahlkasten’ (Mühlsteinbehälter auf Pfosten) spricht nichts. Freilich kennen wir den angedeuteten Vorgang nicht und wissen daher auch nicht, warum der Riese gehoben (,gelegt’) werden mußte und wer ihn aufhob.”3 Das dunkle Wort ludr taucht erneut im Helgakvida Hundingsbana II, 2-4 auf, wo Helge – Zuflucht vor Hunding suchend – als Frau verkleidet in einer Mühle arbeitet und beinahe den ludr ruiniert. Gemeinsam mit den Mythologen, die in Vafthrudnismål 35 das „Boot” verteidigen, sich dazu aufgrund vergleichender Mythologie berechtigt fühlend (siehe einige Zeilen weiter oben Simrock), und die er ausdrücklich bekämpft, hält auch Rydberg die Ansicht aufrecht, daß es sich bei der Arche um ein Schiff handelt. Es wird sich später herausstellen, daß diese allgemeine Vorstellung inkorrekt ist.
Appendix 9 Tatsächlich traute sich bereits Simrock, Fenge (Amlethus’ bösen Onkel) als „das Mahlwerk” zu interpretieren, und Amlethus als „das Korn”: „… wo selbst der Name mit Amelmehl [auf Griechisch amylon, H.v.D.], Stärkemehl, Kraftmehl übereinstimmt.“1 Er dachte sogar an die Möglichkeit (obwohl er diesen Gedanken für „gewagt” hielt), den Familiennamen von Dietrichs Clan, also den Namen der Amelungen, von „Amelmehl” herzuleiten. Wir 3 1
G. Neckel und F. Niedner, Die jüngere Edda (1942), 54f. K. Simrock, op.cit., 240f.
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werden nicht näher auf die seltsame Information eingehen, die von Athenaios über „Achilles, beziehungsweise sehr feine Gerste”2 (cf. Teophr. 8.4.2 Aristoph. Eq., 819: Achilles-Kuchen) oder über den Beinamen von Ningishzida, nämlich Zid-zi „Mehl des Lebens” gegeben wird;3 und wir verweisen nur auf Ras ShamraTexte, in denen die Dame Anat den Mot mahlte.4 H.C. Ginsberg übersetzt I AB, Reihe II folgendermaßen:5 She seizes the Godly Mot With swords she does cleave him With fan she does winnow him With fire she does burn him With hand-mill she grinds him In the field she does sow him. Birds eat his remnants Consuming his portions Flitting from remnant to remnant Eine erstaunte Fußnote besagt: „Aber irgendwie erwacht Mot in Column VI zum vollen Leben, und Baal sogar früher.” Aber es gibt nichts, was erstaunlich genug wäre, den festen Glauben von Experten an „chthonische” Gottheiten zu erschüttern.
Athenaios, Deipnosophistai 3.114f . Vgl. Teophrast 8.4.3 Aristophanes, Equites, 819: Achilles-Kuchen. 3 K. Tallquist, Akkadische Götterepitheta (1938), 406; vgl. M. Riemschneider, Augengott und Heilige Hochzeit (1953), 133. 4 Siehe C. Gordon, Ugaritic Literature (1849), 45. 5 H.C. Ginsberg, ANET, 140. 2
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Appendix 10 Für die erste irische Harfe (cruit) siehe Eugene O’Curry, On the Manners and Customs of the Ancient Irish, 3 (1873), 236f; siehe auch Rudolf Thurneysen, Die irischen Helden- und Königssagen bis zum 17. Jahrhundert (1921), 264f: Es lebte einst ein Ehepaar … Und die Frau erfaßte Haß gegen ihn, und so floh sie vor ihm in die Wälder und in die Wildnis; und er folgte ihr beständig. Und als die Frau eines Tages zur Küste von Camas kam … traf sie am Strand auf das Skelett eines Wals, und sie hörte die Töne, die der Wind von sich gab, während er durch die Sehnen des Wals auf dem Strand strich, und diese Töne schläferten sie ein. Ihr Ehemann kam hinter ihr her; und er erkannte, daß es von den Tönen kam, daß der Schlaf über sie gekommen war. Daraufhin ging er weiter in den Wald hinein und formte eine Cruit;1 und er tat Sehnen des Wals in sie hinein; und das war die erste Cruit, die jemals angefertigt wurde.
In Marbhans Sage über die Anfänge der Instrumente und Verse heißt es weiter: Und erneut hatte Lamec Bigamas zwei Söhne, deren Namen Jubal und Tubal Cain waren. Einer der Söhne war ein Schmied, nämlich Jubal; und eines Tages entdeckte er in der Schmiede in den Klängen, die zwei Schmiedehämmer (auf dem Amboß) machten, daß es Verse (oder Noten) von gleicher Länge waren, die sie sprachen, und er komponierte aus diesem Anlaß einen Vers; und das war die erste Strophe, die jemals komponiert wurde. Die Sage berichtet weiter, daß der Timpan – ein weiteres, von der Cruit verschiedenes Saiteninstrument – deshalb Timpan Naimh (oder Timpan des Heiligen) genannt wurde, weil „zu der Zeit, als Noah, der Sohn von Lamech, in die Arche stieg, er eine Anzahl von Musikinstrumenten bei sich hatte, darunter auch einen Timpan, der einem seiner Söhne gehörte, der wußte, wie man sie spielt.” Als sie schließlich die Arche verlie„Das Wort Cruit … kennzeichnet wörtlich eine steile, hohe Brust wie die einer Gans, eines Reihers oder eines Brachvogels.” (O’Curry, 1.c.) 1
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ßen, überredete Noah seinen Sohn, das Instrument nach ihm zu be- 354 nennen, und nur unter dieser Bedingung werde er es ihm zurückgeben. „So daß sein Name von der Zeit an Noahs Timpan ist; und daß sie nicht das ist, wofür ihr unwissenden Timpanisten sie haltet, sondern der Timpan der Heiligen.”
Diese Legende stellen wir aus mehreren Gründen vor: Erstens, weil wir uns sofort, wie auch O’Curry (237), an Pythagoras erinnert fühlten, „von dem es heißt, er sei zu der Entdeckung des musikalischen Effekts von Schwingungen eines Akkords gekommen, während er den Ton verschiedener Stöße auf dem Amboß beobachtet hatte, obgleich die irische Sage … weniger auf die Töne als auf den Rhythmus der Musik Wert zu legen scheint.” Zweitens, weil wir erneut von zwei nacheinander entstandenen Saiteninstrumenten erfahren, die sozusagen durch eine Flut getrennt werden: Vainämöinen verlor seine Kantele, als er sich auf den Weg machte, um den Sampo zu stehlen; und danach mußte er sich eine neue aus Holz anfertigen. Diese Überlieferungen müssen eines Tages sorgfältig mit den verschiedenen Leiern der Griechen verglichen werden; wir wissen, daß eine von Apollon zerstört wurde – absichtlich in einem Anfall von Reue –, nachdem er Marsyas geschunden hatte, und daß Hermes eine neue machte und sie Apollon gab. Augenscheinlich haben der Hecht und der Wal der nördlichen Meere die Schildkröte des griechischen Mythos ersetzt. Wir wissen außerdem, daß die Plejaden, von den Orphikern die Lyra der Musen genannt, Seite an Seite mit dem Sternbild Lyra (Leier) existierte. Und Michael Scotus war noch eine Schildkröte bekannt, die sozusagen als Bug der Argo fungierte und „aus der die Himmelslyra gefertigt ist”.2 Aber bevor wir in Teufels Küche geraten, hören wir lieber auf, obwohl diese Schildkröte scheinbar genau dorthin plaziert wurde, wo sie sein „sollte”, wenn man bedenkt, daß auf ihrem Rü„Testudo eius (navis) est prope quasi prora navis … de qua testudine facta est lyra caeli.” Vgl. F. Boll, Sphaera (1903), 447. 2
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cken das Amrita-manthana inszeniert wurde. Wir werden später mehr über diesen bemerkenswerten und mysteriösen Michael Scotus erfahren (siehe Seite 236). Worauf all diese verschiedenartigen Überlieferungen hinauslaufen, ist, daß ein neues Weltalter neuer Instrumente oder neuer Saiten bedarf: einer neuen Sphärenharmonie.
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In seiner Arbeit über die Kajaniden stellt Arthur Christensen1 fest: „La tradition nationale fait grand cas du forgeron Kâvag, qui s’insurgeait contre l’usurpateur Dahâg (le Dahâka des Yashts) et hissait son tablier de cuir sur une lance, ce qui fut l’origine du drapeau de l’empire sassanide, appelé drafš ê kâvyân, ,drapeau de Kâvag’. Cette légende, née d’un malentendu, la vraie signification du nom de drafš e kâvyân étant ,le drapeau royal’, est inconnue dans la tradition religieuse.” Mit derlei Feststellungen – ganz abgesehen von dem „bescheidenen” Ansinnen, Firdausi habe ganze Kapitel seines Schahnameh aus „Mißverständnissen” zusammengebastelt – wird der Weg zu relevanten Fragestellungen erfolgreich blockiert. Die Geschichte von dem Schmied Kâvag – auch Kâweh2 oder Kawa geschrieben – wird von Firdausi in jenem Buch erzählt, welches von der 1000jährigen Herrschaft des Dahâg handelt, jenes unmenschlichen Tyrannen, aus dessen Schultern zwei Schlangen A. Christensen, Les Kayanides (1932), 43. Ferdinand Justi, Iranisches Namenbuch (1895), 160. In der jüngsten Übersetzung des Schahnameh [Firdousi: Das Königsbuch (1967) – bis jetzt ist nur Teil 1, Bücher 1-5, erschienen] identifiziert Helmhart Kanus-Credé den Schmied Kawa kühn mit „awestisch Kawâta”, das heißt: mit Kai Kobâd, dem ersten iranischen Herrscher. 1 2
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wuchsen,3 die täglich mit den Gehirnen zweier junger Männer gefüttert werden mußten. Der vom Schicksal auserkorene Drachentöter und heißersehnte Erlöser Faridûn – avestisch Thraethona –, ein echter Vorgänger von Kai Chosrau, wurde als Säugling aus den Fängen Dahâgs gerettet und in den Bergen versteckt gehalten. Als der Erzteufel Dahâg die Opferung des letzten Sohnes von Kâweh verlangte – schon siebzehn Söhne waren an die Drachenköpfe verfüttert worden –, brach der Schmied um Faridûns willen den Aufstand vom Zaun: Das Schurzfell, womit sich die Füße decken Die Schmiede, wenn sie das Eisen strecken, Das steckte der Kaw’ auf ein Lanzenrohr, Da stieg vom Markte der Staub empor … Voran in Mitten der Schaar schritt der Held, Kein kleines Heer um ihn gesellt. Er wußte schon, wo Feridun zu Haus; Er hob die Schultern und schritt gradaus. Hin kam er zum Hofe des Fürsten jung, Sie sahn ihn von weitem mit Jubelung, Als er das Fell auf der Lanze sah, Daraus macht ein Zeichen des Glückes der Schah. Er schmückt es mit griechischem Stoff im Rund, Gebild von Juwelen, von Gold der Grund, Mit rot, gelb, blauer Troddeln Zier, Und nannt es das Kawijani-Panier, Hob’s über sein Haupt wie ein Sternenbild, Dahâg ist mit seinen beiden zusätzlichen Schlangenköpfen derselbe wie der „mächtige, rasende Dasa mit 6 Augen und 3 Köpfen” des RV X.99.6: Visvarupa, Sohn des Tvashtri und „Schwestersohn der Asura”; vgl. Mbh. XII.343 (Roy-Übersetzung, 10, 572). 3
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Das für ein Zeichen des Glückes gilt. Drauf jeder, der gelangte zum Thron, Aufs Haupt sich setzte die Schahenkron’,
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Jenes wertlose Schmiedefell Behing neu um neu mit Perl’ und Juwel, Mit seidenen Stoffen stets herrlichen; So ward es der Kawijani-Stern, Der in der Nacht eine Sonne war, Die Hoffnung der Welt und Wonne war.4 Wenn es nur darum gegangen wäre, die „königliche” Flagge zu erklären, warum sollte Firdausi (beziehungsweise seine Quellen) einen Schmied namens Kâweh (Kâvag, Kawa) erfinden, wenn es keine wie auch immer geartete Verbindung zwischen der Königswürde und dem Schmied gab? Selbst wenn wir sowohl das weitverbreitete Motiv großer Schmiede als Pflegevater und Erzieher des Helden5 als auch die mythischen Schmiede Chinas ebenso unberücksichtigt lassen wie das ganze von Andreas Alföldi in seinem (ungarisch geschriebenen) Artikel „Schmied als Ehrentitel” (von mongolischen und türkischen Königen) gesammelte Material:6 Der bloße Name jener Dynastie iranischer Könige, welche für uns von größtem Interesse ist, also die der Kajaniden, ist von Kavi/Kawi7 hergeleitet. Der am meisten Friedrich Rückert, Firdosi’s Königsbuch I (1890, Neuauflage 1976), 47f. Erwähnt seien nur Mimir, Regin oder Gobann. Übrigens wurde Kâwehs Sohn Karnâ, dessen Leben dank der Rebellion verschont blieb, ein berühmter Paladin von Faridûn, sowie auch Witege/Wittich, Sohn von Wielant dem Schmied, ein tüchtiger Paladin von Theoderich wurde. 6 A. Alföldi, Magyar Nyelv 28 (1932), 205-220; für türkische Überlieferungen siehe auch Richard Hartmann, „Ergencqon“ in Festschrift Georg Jacob (1932), 68-79. 7 Für das Wort kavi siehe H. Lommel, Die Yäšt’s des Awesta (1927), 171f; E. Herzfeld, Zoroaster and His World (1947), 100-109. 4 5
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„kawische” Schah ist Kai Chosrau, dessen Name das relevante Wort sogar zweimal enthält: der „Kavi Kavi-Usan”, der nicht vom Kavy Usha (oder Usanas Kavya) des Rigveda und des Mahābhārata getrennt werden kann,8 welcher mehrere der entscheidenden Charakteristika des Deus Faber aufweist. Nicht nur, daß von ihm gesagt wird, anstelle von Tvashtri die Waffe fiir 357 Indra geschmiedet9 und Indra den Soma gegeben zu haben, der anderweitig den Soma im „Haus von Tvashtri” gestohlen (oder einfach ausgetrunken) hat (zum Beispiel RV III.48.2f)); uns wird außerdem berichtet, daß die Asura – während einem der nicht enden wollenden Kämpfe gegen die Deva um die „drei Welten” – Kavya Ushanas zu ihrem „Priester” oder „Boten” wählten,10 die Deva ihrerseits wählten Brihaspati (oder Vrihaspati, also Jupiter, im Taittiriya Sanhita Agni). Auf beiden Seiten wurden viele Krieger getötet, aber – so berichtet das Mahābhārata – „der aufgeschlossene Vrihaspati konnte sie nicht wiederbeleben, weil er die Sanjivani genannte Kunst (Wiederbelebung) nicht beherrschte, auf die sich der mit großer Energie ausgestattete Kavya so gut Siehe Lommels Artikel „Kavy Ugan” in Mélanges linguistiques offerts à Charles Bally (1939), 210f. Daß sich Christian Bartholomae [Altiranisches Wörterbuch (1904), Spalte 405] dazu bekennt, daß er „unfähig [ist], Beziehungen zu finden” zwischen dem iranischen Kavi Usan und dem rigvedischen Kavy Usha ist ein Juwel in der Sammlung philologischer Ungereimtheiten: „Falls meine Etymologie richtig ist, entfällt auch die Namensähnlichkeit.” Ähnlichkeit nennt er das! Im Verlauf dieses Essays wird sich herausstellen, daß sein Vorschlag, nämlich den Namen Usan herzuleiten von „usa- m. (1) Quelle, Brunnen; (2) Abfluß, Leck …”, mitnichten ein Hindernis ist, Kavy Usan zu verstehen. Auch Kronos ist aus dem griechischen krounós abgeleitet, also aus „Quelle”, „Brunnen” [siehe Eisler, Weltenmantel (1910), 3782, 3850, der uns außerdem an die pythagoreische Formel für das Meer erinnert: „Kronou dakryon, die Träne des Kronos”]. 9 RV I.51.10, 121.12; V.34.2, Es ist besonders im Shushna-Mythos, daß Kavy Usha Tvashtri vertritt. 10 Taittiriya Sanhita 2.5.8 (Keith-Übersetzung, I, 198). 8
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verstand. Und folglich waren die Götter in großer Sorge.”11 Der Bundahishn gibt seinerseits folgenden Bericht in Kapitel 32, das den Häusern gewidmet ist, „welche die Kajaniden ruhmreich errichteten und die sie Wunderdinge und Wundertaten nennen”.12 In Vers 11 heißt es: „Von den Häusern des Kay Us sagt man: ,Eines war aus Gold, in dem er sich niederließ, zwei waren aus Glas, in denen sich die Ställe befanden, und zwei waren aus Stahl, in dem seine Herde untergebracht war; von dort kamen alle Geschmacksrichtungen und Gewässer der Quellen, die jenen Unsterblichkeit verliehen, die von hohem Alter geplagt waren – das heißt: wenn ein altersschwacher Mensch durch das eine Tor hineingeht, kommt er aus dem anderen als Jugendlicher von fünfzehn Jahren wieder heraus –, und auch den Tod zerstreuen.’” Laut Firdausi hatte Kai Ka’us eine Art Salbe, mit deren Hilfe er Sohrab wieder zum Leben hätte erwecken können; aber er gab sie nicht an Sohrabs Vater Rostam weiter, der ihn um diese Gabe anflehte.13 Lommel bemerkt dazu: „Und das ist der häßlichste Zug im Bilde des Kay Kâus, daß er die Herausgabe des Wunderheilmittels verweigert, da Rostem und Sohrab, wenn beide am Leben wären, vereint ihm zu mächtig wären.”14 Es ist Mbh. I.76 (Roy-Übersetzung, I, 185). Für diese Rolle von Kavya Ushanas siehe Karl Friedrich Geldner, in R. Pischel und K.F. Geldner, Wedische Studien, 2 (1897), 166-170; für einen wiederbelebenden See oder Brunnen im Besitz der niederträchtigen Dânavas” siehe Mbh. VIII.33 (Roy-Übersetzung, I, 83). In Irland waren die Tuatha Dé Danann in der Lage, die Gelöteten (in der Zweiten Schlacht von Mag Tuired) wieder zum Leben zu erwecken, die Fomorier waren es nicht. 12 Zand-Akâsîh: Iranian or Greater Bundahishn, übersetzt von T.D. Anklésaria (1956), 271; vgl. A. Christensen, Les Kayanides (1932), 74. 13 In gleicher Weise verweigert Lugh – der für die Tuatha Dé Danann die Kraft und das Herz verkörperte wie Krishna für die Pandavas – Tuirill die reanimierende Schweinehaut, mit der dieser das Leben seiner drei Söhne Brian, Iuchair und Iucharba hätte erneuern können. 14 H. Lommel, „Kavy Uçan”, Mélanges Linguistiques offerts à C. BDolly (1939), 212. 11
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eine ziemlich müßige Beschäftigung, im „Charakter” des Demiurgen nach „häßlichen Zügen” zu suchen, selbst wenn er uns als Schah verkleidet über den Weg läuft. Diese wenigen Hinweise müssen einstweilen genügen; es ist schlimm genug, daß in unserem heruntergekommenen Jahrhundert die ganze Last des „Beweises” auf den Verteidigern von 358 Sinn beruht, während jeder, der Un-Sinn und „Mißverständnisse” voraussetzt, mit den absurdesten Behauptungen davonkommen kann. Mit anderen Worten: Selbst wenn Kâweh/Kâvag als Einzelperson von Firdausi „erfunden” sein sollte, ist die Vorstellung vom Deus Faber und vom Himmelsschmied als dem Verteiler und Wächter von Königswürde,15 als dem ursprünglichen und legitimen Eigentümer des „Lebenswassers”16 keineswegs das Zufallsprodukt einer Phantasie.17 Und die Signifikanz und Bedeutung der Schürze des Schmieds als „kawische Flagge” hätte man von China bis Irland verstanden.
Um es zu wiederholen: Der „Herr des Triakontaeteris” – des Zeitabschnitts von dreißig Jahren, also des ägyptischen und persischen „Königs-Jubiläums” (Saturns siderische Umlautzeit) – ist Ptah/Hephaistos. 16 Wie auch des berauschenden Getränks, das es ersetzt: Soma gehörte zu Tvashtri; der irische Goibniu braute das Ale, das die Tuatha Dé Danann unsterblich machte; und das Bier des kaukasischen Schmieds Kurdalogon spielte dieselbe Rolle. Als die sumerische Inanna beinahe in der Unterwelt verlorenging, war es Enki, der seinen Boten die wiederbelebende Flüssigkeit gab, mit der die Göttin besprenkelt werden mußte. Und zu guter Letzt ist es Tane/Kane, der polynesische Deus Faber, dem das „Lebenswasser” gehört. 17 Wenn ihm unterstellt wurde – wie es manchmal geschah –, auf afrikanische Informanten hereingefallen zu sein, die sich jede Menge Märchen „ausdächten”, die nicht „wahr” seien, pflegte Leo Frobenius nachsichtig zu lächeln und auf das zu verweisen, was er „stilgerechte Phantasie” nannte. 15
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Es sollte betont werden, daß die Abneigung von Philologen, die „essentielle” Verbindung von Chronos und Kronos zuzulassen, auf dem festen Glauben beruht, daß der „Gott” Saturn nichts mit dem Planeten Saturn zu tun habe, und auf der Annahme, daß ein Experte in klassischer Philologie nicht das geringste aus indischen Schriften lernen kann. Wenn dem nicht so wäre, wären sie vielleicht über Kāla, also Chronos, als ein Name für Yama, also Kronos alias der Planet Saturn, gestolpert. Die Inder haben in der Tat mehr über ihren Kāla geschrieben – und die Iraner über ihren Zurvan – als die Griechen über Chronos; aber so, wie die übersetzten Veden nun einmal ausschauen, können wir nicht behaupten, die relevanten Texte seien transparent oder deren gelehrte Interpretationen sonderlich aufschlußreich, zumal alle Experten gleichermaßen von der unbegründeten Überzeugung ausgehen, „Astrologie” müsse ein „spätes” Phänomen sein. Mit schnellen „Identifikationen” um sich zu werfen, führt unserer Meinung nach zu nichts, weshalb wir auch nicht beabsichtigen, die Dinge zu vereinfachen, indem wir Kāla/Chronos ein für allemal darauf festnageln, genau derselbe wie Yama/ Kronos/Saturn zu sein. In Kronos/Saturn den auctor temporum zu erkennen, ist einstweilen ausreichend,1 und dasselbe gilt für die indischen Vorstellungen, nach denen Yama oft Kāla genannt wird; in anderen Textpassagen ist er der Befehlshaber von Kāla (und Kāla wiederum der Befehlshaber von Mrityu, Tod).2 Wir halten es nicht für einen „Zufall”, daß der Verursacher der Zeit mit dem Buchstaben X beginnt, der in Platons Timaios die Schiefe der Ekliptik symbolisiert. 2 Siehe Isidor Scheftelowitz, Die Zeit als Schicksalsgottheit in der indischen und iranischen Religion (1929), 18ff. Siehe auch Ebenezer Burgess [Sūrya Siddhānta (1935), 5], der verallgemeinert: „Im metaphorischen Sinn ist die Zeit für die Hindus, wie für uns, der große Allesvernichter; 1
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Kāla spielt seine unmißverständliche Rolle bereits in Rigveda I.164, aber der Atharva Veda widmet diesem „Gott” zwei ganze Hymnen (XIX.53 und 54), und es lohnt sich, Eislers Feststellung in Erinnerung zu rufen: „Zu dieser Kāla-Lehre des Atharvaveda ist später nichts mehr dazugekommen; die jüngeren Quellen führen nur die Vorstellungen weiter aus.”3 Hier sind einige Verse aus diesen dem Kāla gewidmeten Hymnen:* 19.53: (1) Der Kâla fährt – das Ross – mit sieben Zügeln – nicht alternd, zeugungskräftig, tausendäugig. Es steigen auf ihn Weise, hehre Seher, die Wesen (Welten) all sind seine Wagenräder. (2) Mit sieben Rädern fährt er, dieser Kâla, hat sieben Naben, Ewigkeit zur Achse. Er fährt herbei mit jenen Wesen (Welten) allen, es läuft der Kâla als der Götter Erster. (3) Die volle Urne, die dem Kâla aufliegt, die haben wir vielfältiglich vor Augen; er fährt mit jenen Wesen (Welten) allen rückwärts, – den Kâla nennt man ihn im höchsten Himmel. (4) Er ist es, der die Wesen (Welten) schuf zusammen, er ist es, der im Lauf die Wesen (Welten) einschloss. Ihr Vater – ward er doch zu ihrem Sohne, und über ihn geht keine Lebenskraft mehr. (5) Der Kâla hat den Himmel dort, Kâla die Erden hier erzeugt. Was ward, was wird, obgleich bewegt, auf Grund des Kâla steht es fest. als solcher wird sie mit dem Tod identifiziert, und mit Yama, dem Herrscher der Toten.” 3 R. Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt (1910), 499. * A.d.Ü.: Die Autoren zitieren die englische Übersetzung von Maurice Bloomfield [Atharva Veda (1964), 224f], wahrend hier die deutsche Übersetzung von J. Grill [Hundert Lieder des Atharva Veda (1888/1971), 73f] zugrunde liegt. Im Gegensatz zu Grill erwähnt Bloomfield nicht den Namen Kāla, sondern setzt ihn von vornherein mit „Zeit“ gleich. Da eine deutsche Übersetzung von XIX.54 nicht vorliegt, werden diese Verse in der englischen Übersetzung von Bloomfield zitiert. In beiden Fällen wurde auf die Wiedergabe der zahlreichen Fußnoten und Vergleiche mit anderen Übersetzungen verzichtet.
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(6) Der Kâla schuf den Erdenplan; in Kâlas Schoss die Sonne glüht. Im Kâla ist was irgend ward; im Kâla nimmt das Auge wahr … (8) … Der Kâla ist der Herr des Alls, der Vater Er Prajâpatis. (9) Er gab Bewegung und Entstehn der Welt da, ist ihr Fundament. Der Kâla wird zum Brahman selbst, trägt nunmehr den „Höchststehenden“. (10) Der Kâla schuf die Kreatur, Er den Prajâpati zuerst. Der durch sich seiende Kaçyapa, Urfeuer auch von Kâla stammt. XIX.54: (1) From Time the waters did arise, from Time the brahma (spiritual exaltation), the tapas (creative fervour), the regions (of space did arise). Through Time the sun rises, in Time he goes down again. (2) Through Time the wind blows, through Time (exists) the greal earth; the great sky is fixed in Time. In Time the son (prajāpati) begot of yore that which was, and that which shall be. (3) From Time the Rks (= the Rigveda) arose, the Yajus (= the Yajur Veda) was born from Time; Time put forth the sacrifice, the imperishable share of the gods. (4) Upon Time the Gandharvas4 and Apsarases are founded, upon Time the worlds (are founded), in Time this Angiras and Atharvan rule over the heavens. (5) Having conquered this world and the highest world, and the holy (pure) worlds (and) their holy divisions; having by means of the brahma conquered all the worlds, Time, the highest God, forsooth, hastens forward.
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Wo wir alternativ „Wesen” und „Welten” lesen, lautet das Sanskrit-Wort bhuvana, hergeleitet von der Wurzel bhū- (= griechisch phyō-) als unterschieden von der Wurzel as-: bhū- bedeutet Siehe A. Weber [„Die Vedischen Nachrichten von den Naxatra”, Teil 2, APAW (1862), 278: Fußnote 3] über die Gandharvas als Repräsentanten der Tage des 360 Tage zählenden „Jahres”, entsprechend dem Bhagavata Purāna 4.29.21 (Sanyal-Übersetzung, 2, 145); die Inder rechneten mit verschiedenen „Jahres”typen gleichzeitig, und das taten auch die Maya. 4
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„sein” im Sinne ständiger Veränderung, „sein werden und gewesen sein”, während as- für die unveränderte, zeitlose Existenz jenseits der planetaren „Instrumente der Zeit” reserviert ist, der organa chronou in Platons Timaios. In der Tat hätte Platon die Verben bhū- und as- sofort verstanden, und er hätte der Äußerung des besiegten Daitya-Königs Vali sicherlich applaudiert:5 O Indra! Warum brüstest du dich so sehr? Praktisch alle Menschen werden von Kāla angetrieben, sich auf Gefechte einzulassen. Den Helden widerfahren nacheinander Ruhm, Sieg, Niederlage und Tod. Das ist der Grund, warum die Weisen dieses Universum als von Kāla geleitet betrachten, und deshalb sind sie weder betrübt noch mit Freude erfüllt.
Noch auch läßt sich „primitiver Glaube” aus solchen Feststellungen wie „viele tausend Indras und andere Gottheiten sind im Verlauf von Weltperioden von Kala eingeholt worden” herauslesen.6 Aber die Klassizisten ziehen es gewöhnlich vor, sich über den besonders aufschlußreichen Satz von Anaximander auszuschweigen, der uns durch Cicero (De Natura Deorum I.25) überliefert wurde: „Anaximander ist der Auffassung, Götter würden in langen Intervallen des Auf- und Untergehens geboren, und sie seien ungezählte Welten (oder aber die – viel diskutierten – ungezählten Welten, Anaximandri autem opinio est, nativos esse deos longis intervallis orientis occidentisque eosque innumerabiles esse mundos)”; und wenn sie nicht schweigen, behaupten sie, 361 es sei „viel natürlicher“, diese Intervalle als räumliche anstatt als zeitliche aufzufassen,7 wodurch jeder Weg zum Verständnis effektiv verbaut ist.
Bhagavata Purāna VI.11(Sanyal-Übersetzung, 3, 126); vgl. auch Mbh. XII.224-227 (Roy-Übersetzung, IX, 143-151). 6 Zitiert von R. Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt (1910), 501. 7 Siehe Jahn Burnet, Early Greek Philosophy (1930), 60. 5
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Appendix 13 Same sayt he bid his angels turn askance The poles of earth, twice ten degrees and more Front the sun’s axle, they with labour pushed Oblique the centric globe: some say, the sun Was bid turn reins from the equinoctial road … … else had the spring Perpetual smiled on earth with vernant flowers Equal in days and nights, except to those Beyond the polar circles; to them day Had unbenighted shone; while the low Sun To recompense his distance, in their sight Had rounded still the horizon, and not known Of east or west; which had forbid the snow From cold Estotiland, and south as far Beneath Magellan. At that tasted fruit The sun, as from Thyestean banquet, turn’d His course intended; else how had the world Inhabited, though sinless, more than now Avoided pinching cold and scorching heat? Milton, Paradise Lost, 10 In der deutschen Übertragung von Adolf Böttger [Das verlorene Paradies (1896), 256]; Wie manche sagen, hieß der Höchste dann Den Engeln schief die Erdenpole drehn. Zwei Mal zehn Grad und mehr noch von der Axe Der Sonne. Mühsam schoben sie nun schräg Den in den Mittelpunkt gestellten Ball Noch And’re meinen auch, die Sonne hätte Die Laufbahn lenken müssen von dem Pfad Der Nacht- und Tagesgleiche …
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… Früher hatte Mit Blumen ein beständiger Frühling nur Bei Tag und Nacht dem Erdenrund gelacht, Nur jenen Kreis an Polen ausgenommen. Doch als die Frucht genossen war, da wandte Die Sonne sich von ihrer frühern Bahn, Wie später einst beim Gastmahl des Thyest. Wie hätte sonst die Welt, da sündenlos, Der Kälte Graus und wie der Hitze Glut Vermeiden können? …
Appendix 14 Um vorschnelle Kritiker davon abzuhalten, uns das vorzuwerfen, was sie möglicherweise als „völlige Abwesenheit technologischen Wissens” formulieren könnten, beeilen wir uns zu versichern, daß die relevanten Untersuchungen uns nicht so fremd sind, wie sie es annehmen mögen.1 E. Cecil Curwen könnte auf sein erhellendes Urteil verweisen: Um nur einige hilfreiche Titel zu nennen: Joseph Needham, Science and Civilisation in China (1965), 4, Teil II; Gordon Childes Kapitel über „Rotary Motion”, in Charles Singer et al. (Hrsg.), A History of Technology (1954), 1, 187ff; Hugo Theodor Horwitz, „Die Drehbewegung in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der materiellen Kultur”, Anthropos 28 (1933), 29 (1934). John Storckund Walter Dorwin Teague, Flour for Man’s Bread: A History of Milling (1952); Lynn White, Medieval Technology and Social Change (1962) = Die mittelalterliche Technik und der Wandel der Gesellschaft (1968) – dieser Titel ist eine starke Untertreibung: Es werden die wesentlichen Probleme der gesamten Technikgeschichte souverän abgehandelt. 1
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Glücklicherweise sind wir über das Stadium seliger Unwissenheit über den Gegenstand hinaus, das einen derartigen Anachronismus wie Decamps’ berühmtes Bild von „Samson mahlend im Gefängnis“ ermöglichte, auf dem man Samson sieht, wie er mittels eines langen Hebels, der einer Winde ähnelt, einen riesigen Mühlstein dreht, nach der Manier römischer Sklaven etwa tausend Jahre später.2
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Es gibt in der Tat „a number of reasons for questioning the common belief that grainmills were rotary”, wie Moritz feststellt (53). Und während Robert James Forbes für „rotierende Mühlen … in assyrischen Zeiten” votiert,3 erklärt Lynn White (engl. 108, dtsch, 90): „Aber während nun an der großen ,mola versatilis’ (dem ,drehbaren Mahlstein’) und natürlich auch bei der Wassermühle, die im 1. vorchristlichen Jahrhundert auftritt, ständige Drehbewegungen schon allgemein üblich waren, ist es keineswegs klar, von welcher Zeit an diese Art der Betätigung an Handmühlen verwandt worden ist.” Was sicherlich stimmt. Daß eine echte Drehbewegung schon viel früher bei der Töpferscheibe benutzt wurde, steht außer Frage und ist um so relevanter, als auch die Töpferscheibe zur kosmologischen Ausstattung gehört, zum Beispiel in den Händen von Ptah und Khnum. Entscheidend ist das altägyptische Werkzeug zum Ausbohren von Steingefäßen, das vielleicht sogar mit einer Kurbel versehen war; aber unter den Technologie-Historikern herrscht keine Einstimmigkeit bezüglich der wahren Natur dieses Geräts. In diesem und im Fall der Mühle liegt der Akzent auf der „echten” Drehbewegung, denn es gibt zwei Umdrehungsarten, zu denen wir Gordon Childe (Singer, 187) zitieren über den Unterschied „zwischen kontinuierlicher, echter und vollständiger Umdrehung und partieller oder diskontinuierlicher Umdrehung. Für die echte DrehE.C. Curwen, „Querns”, Antiquity II (1937), 133f. Siehe auch L.A. Moritz, Grain-Mills and Flour in Classical Antiquity (1958), 12 – er macht daraus eine mittelalterliche Mühle. 3 R.J. Forbes, Studies in Ancient Technology (1955), III, 155: Fußnote 3. 2
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bewegung muß der rotierende Teil des Werkzeugs frei sein, um sich unbegrenzt in dieselbe Richtung drehen zu können. Es gibt jedoch zahlreiche Arbeitsgänge, die eine partielle Drehung des Werkzeugs einschließen, wie etwa das Bohren und Drillen per Hand. Es gibt sogar Maschinen wie den Bogendrill und die Drehbank mit Pedalantrieb,4 die eine Anzahl – aber nur eine begrenzte Anzahl – kompletter Umdrehungen der rotierenden Teile zulassen. Partielle Drehbewegungen dieser Art sind von Menschen seit viel längerer Zeit angewendet worden als die echte Drehbewegung.” Wir wollen aber nicht Whites Fußnote (109, sie fehlt in der deutschen Übersetzung) unterschlagen, wo er von Fenjas und Menjas Grotti behauptet, es handle sich um einen Apparat mit alternierender Bewegung, und dies „ohne Zweifel”. Das mag der Fall sein, wiewohl wir mit dem „ohne Zweifel” nicht übereinstimmen: Zweifel sind erlaubt. Jedoch halten wir uns nach wie vor von der Diskussion dieser und ähnlicher Fragen fern, solange wir nicht genau und gründlich verstehen, wie man sich in Indien und Ägypten sowie in den Überlebseln bei Homer und Platon das „Buttern des Milchmeeres” dachte, bei dem die Spezialisten darauf beharren, den Himmelsquirl als ein „Symbol für die Vereinigung der zwei Länder” zu bezeichnen (siehe Appendix 15). Einstweilen denken wir, daß das älteste technologische Gerät, von dem in der kosmologischen Terminologie Gebrauch gemacht wird, tatsächlich ein Drill war und alternierende Bewegungen implizierte. Der Punkt ist: Ob nun Samson oder Fenja und Menja eine alternierende oder eine echte, rotierende Mühle bedienten, ist eine kosmologische Frage und wird kaum von TechnologieHistorikern entschieden werden. Um dies zu illustrieren, werfen wir einen Blick auf jene „Mühle” der Cherokesen, welche im KaVgl. J. Needham, Science and Civilization in China IV.2 (1965), 55f, 95; L. White, Die mittelalterliche Technik und der Wandel der Gesellschaft (1968), 96. 4
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pitel über die Milchstraße erwähnt wird, wo es heißt, daß „das Volk im Süden eine Kornmühle hatte”, aus der immer wieder Mehl gestohlen wurde. Die Eigentümer entdeckten den Dieb, einen Hund, der „jaulend zu seinem Heim im Norden lief, wobei ihm beim Laufen das Mehl aus dem Maul tropfte, so daß er dort eine weiße Spur hinterließ, wo wir jetzt die Milchstraße sehen, welche die Cherokesen bis heute ,wo der Hund lief’ nennen.” In seinen ergänzenden Fußnoten (443) erklärt James Mooney: „In der Ursprungsversion war die Mühle wahrscheinlich ein hölzerner Mörser, wie er gemeinhin von den Cherokesen benutzt wurde … ” Nun, in der Ursprungsversion, wie sie von den Cherokesen erzählt wurde, können wir uns darauf verlassen, daß sie tatsächlich von einem Mörser redeten – aber mit Sicherheit war davon in dem wirklich „ursprünglichen” Mythos keinesfalls die Rede: Es gibt keinen wie auch immer gearteten Weg, aus „primitiven” Mörsern (oder Mahlsteinen) eine kosmologische Vorstellung zu „entwickeln”. Mit anderen Worten: Der Mörser der Cherokesen ist eine „heruntergekommene” Mühle (ob alternierend oder nicht). Die kosmische Maschine (Mühle, Drill oder Butterquirl) produziert Zeitperioden, sie bringt die „Trennung von Himmel und Erde” usw. mit sich. Entlang des Wegs ihrer Verbreitung in unvertrauten Umgebungen, insbesondere den tropischen (Fehlen von Getreide, Pflugkultur usw.), hört die Mühle (oder der Quirl) auf, verstanden zu werden, während sich das Gedächtnis an ein Werkzeug zum Zerkleinern von Lebensmitteln heftet. Und plötzlich wird uns in verschiedenen Kontinenten berichtet, wie sich der Himmel, der einst dicht auf der Erde lag, zurückzog, weil er sich über Frauen ärgerte, die mit ihren Mörsern beschäftigt waren und dabei ständig mit den Stößeln gegen den Körper des Himmels stießen. Das ist eine jeglicher Pointe ermangelnde Vorstellung, deren Ursprung nur verstanden werden kann, wenn wir ihn zu der höchst komplizierten Maschine zurückverfolgen, die an seinem Anfang stand (sowohl historisch als auch sinnge-
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mäß) und die ganz unschuldig solche seltsamen Sprößlinge zeugte. Obwohl wir nur ungern naturwissenschaftliche Modelle auf historische Phänomene anwenden, mißbrauchen wir an dieser Stelle die Entropie: Grotti (das Amritamanthana usw.) von jenen äußerst unsinnigen Frauen herzuleiten, die ihre Stößel gegen den „Himmel” rammten, wäre auf demselben Niveau wie die Ableitung der Ursubstanzen aus dem Zustand vermischter Gase. So wenig zum technologischen Problem. Wir halten diese Fragen mit Absicht im Hintergrund und nicht, weil es uns nicht aufgegangen wäre, daß der technologische Aspekt ein sehr wichtiger ist. Im Gegenteil: Wir hegen den Verdacht, daß so gut wie niemand eine Vorstellung von den gewaltigen Schwierigkeiten hat, die sich aus Quirl, Mühle und Feuerdrill ergeben, sofern man sie im richtigen Sinn als Maschinen versteht, die dazu dienten, die Bewegungen ineinandergeschachtelter Sphären zu beschreiben.
Appendix 15 Der Name Mundilföri (Mundel-fere) wirft eine Reihe problematischer Fragen auf, und es ist nichts gewonnen durch ausweichende Erklärungen wie der von Jan de Vries: „Mundilferi. Name des Vaters des Mondes … Mundil Name einer legendären Figur.”1 Was das Femininum mund betrifft, so bedeutet es „Hand” (Cleasby-Vigfusson, 437); de Vries verweist auf „ahd. munt, ,Hand, Schutz, Vormund’, afr. mund, mond m. ,Schutz, Bevormundung’.” Das Neutrum mund bedeutet „Zeitpunkt” (de 1
J. de Vries, Altnordisches Etymologisches Wörterbuch (1961), 395.
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Vries); laut Cleasby-Vigfusson ist mund – „a moment, the nick of time” – im Singular ein Neutrum, im Plural feminin, mundir. Gewiß ist Mundill (Mundell) eine unbekannte „legendäre Figur”; wir wären froh, wenn wir wüßten, was der Name genau zu erkennen gibt, aber die Spezialisten sagen es uns nicht. Es gibt einen kleinen aber vielversprechenden Hinweis; In seinem Kommentar zur Edda bemerkte Gering (1, 169): „Der Name taucht erneut in den Saekonunga Heitis Sn, E. II, 154, auf.” Heitis sind eine Art von Benennungen (Neckel übersetzt es „Fürnamen”), welche die Skalden neben den Kenningar (Umschreibungen) benutzten. Die Liste von „Heitis für Seekönige” befindet sich im Dritten Grammatischen Traktat, das in Snorris Edda enthalten ist (und Snorris Neffen Olaf zugeschrieben wird), und unter den 24 Heitis ist Nummer 11 Mysingr und Nummer 15 Mundill.2 Niemand, der vertraut ist mit den vielen Namen für kosmische Persönlichkeiten in der babylonischen, indischen, chinesischen usw. Astronomie – spezifische Namen ändern sich gemäß der Anordnung der Zeit (Anaximanders katà chrónou táxin) –, wird so leicht auf die Idee verfallen, diese Heitis seien Namen historischer Könige.3 Die Konsequenzen, die sich aus dem Verständnis von Mysing und Mundill (sowie 22 weiterer Heitis) als Repräsentanten ein und derselben kosmischen Funktion ergeben, werden hier nicht in aller Einzelheit ausgearbeitet: Derjenige, der sein Augenmerk ausgerichtet hält auf die verschiedenen Furten, Fährmänner, Steuermänner, personifizierten göttlichen Schiffe und Könige des tiefen Meeres, die seinen Weg im Verlauf dieses Essays kreuzen, wird schließlich zu seinen eigenen Lösungen kommen. Bezüglich des Wortes fere (in Mundelfere) fühlt sich Den tredje og fjaerde grammatiske afliandling i Snorres Edda, hrsg. von Björn Magnússon Ólson (1884), 111.15; Edda Snorra Sturlusonar (Nachdruck 1966), II, 154. 3 Als augenscheinlich verstockter Euhemerist sagt Ólson in einer Fußnote; „Hoc versu memoriali viginti quatuor nomina archipiraiorum sive regulorum maritimorum continentur.” 2
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Gering sicher, daß es sich um dasselbe Wort wie ahd. ferja, mhd. verge, also Fährmann, handelt und daß der Name „Fährmann von Mundell” bedeutet. Gering bezieht sich auf Finnur Johnsson, der das mund des Namens als „Zeit” auffaßte und „den Namen, den er für den ursprünglichen Namen des Mondes hielt, mit ,den der bewaeger sig efter besternte tider’ erklärte”, das heißt: je- 366 mand, der sich nach festgelegten Zeiten bewegt, sozusagen nach seinem Fahrplan (beziehungsweise Stundenplan). Es gibt keinen Grund zu der Annahme, „ursprünglich” sei Mundilföri der Name des Mondes gewesen, zumal dieses Gestirn nicht der einzige zur Verfügung stehende Zeitmesser ist. Vafthrudnismål 23 sagt von Sonne und Mond, den Kindern von Mundilföri, daß sie den Himmel umkreisen und dabei als Zeitindikatoren dienen.4 „Fährmann der Zeit” ergäbe einen gewissen Sinn, aber nicht in ausreichendem Maß, um uns über Mundill „selbst” aufzuklären. Dasselbe gilt für Simrocks ziemlich phantasievollen Mundilföri = „Achsenschwinger”; aber Simrock hat wenigstens über eine vernünftige Bedeutung nachgedacht, und vielleicht hat er ja unwissentlich den Kern getroffen. Auch Ernst Krause zermartete sich das Gehirn, bescheiden die Experten darum bittend, doch die Beziehung dieses mundil zu dem lateinischen mundus zu überprüfen.5 Wir haben nicht vor, uns ernsthaft in diese spezielle Frage einzumischen – um so weniger, als das mit „die Welt” übersetzte mundus zu einem insgesamt leeren und nichtssagenden Begriff geworden ist; aber mit Sicherheit ist es deprimierend, die Fortschrittler dabei zu beobachten, wie sie ihre letzten „Lösungen” für das lateinische mundus ausarbeiten – als da waren 1) „Schmuck”, 2) „Putz der Frauen”6 –, ohne sich des griechischen Gering, 1.c.: „himen hverfa … ,den Himmel umkreisen’ … aldom at ártale, ,um den Menschen die Zeitrechnung zu ermöglichen’. Daher führt auch der Mond den Namen ártale ,Zeitberechner.’” 5 E. Krause, Tuisko-Land (1891), 326; siehe auch 321. 6 Siehe Walde-Hofmann, Lat. Etym. Wb., 2, 126f. 4
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kosméô zu entsinnen, was sicherlich auch „schmücken” bedeutet, aber nicht „ursprünglich” und nicht im wesentlichen: Ordnung herstellen, insbesondere im Sinne von „eine Armee aufstellen” – das ist es, was kosméô bedeutet und woher Kosmos stammt. Und wir haben kein Recht, einem derart zentralen Begriff wie mundus die trivialste aller denkbaren Bedeutungen zu geben. Den fraglichen Wörtern möchten wir uns annähern mit Hilfe der Wurzel manth/math, aus der die große Familie von Sprachbildern erwachsen ist; wie zum Beispiel der (Berg) Mandara, wie Mandala, lateinisch mentula (Penis) und wie unser möndull,7 von dem angenommen wird, daß es die ältere Form mandull ersetzt hat. Freilich ist mandull/möndull noch immer nicht mundill, und mundus ist nicht identisch mit Mandala; aber die ganze Wortgruppe hängt an einem zentralen Begriff, der fest mit mnt/mnd verhaftet ist, und diese Konsonanten schließen in sich durchweg eine wirbelnde, bohrende Bewegung ein. Wir sind hier einem veritablen Dschungel von Mißverständnissen ausgeliefert, und je weiter wir uns in die „Ars interpretandi“ von Profis vertiefen, um so undurchdringlicher wird der Dschungel. Aber wir sollten versuchen, wenigstens eine Spur von Sinn zu bekommen, indem wir die mehr oder weniger „unbewußten” Schnitzer bloßlegen, die von jenen Interpreten zustande gebracht werden, welche sich mit der Wurzel manth beschäftigen, dem Herzen und Zentrum des indischen Amritamanthana, dem „Buttern von Ambrosia”, also dem Buttern des Milchmeers, um Amrita/Ambrosia zu gewinnen, den Trank der Unsterblichkeit. Es ist eine Art Fallgeschichte, wobei der „Fall” darin besteht, daß manth/math dem Vernehmen nach zwei grundsätzlich verschiedene Bedeutungen (und noch einige mehr) hat, für die wir MacVgl. A. Kuhn [Die Herabkunft des Feuers und des Göttertranks (1886), 16], wo er sich auf Aufrecht bezieht: „möndull m., axis rotarum, cotis rotatilis et similium instrumentorum”; ebda., Fußnote 2, Egilson zitierend: „möndull m. lignum teres, quo mola trusatilis circumagitur, mobile, molucrum; möndultrè m. manubrium ligneum, quo mola versatur.” 7
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donells Sanskrit-Wörterbuch (218) zitieren: „manth – a churning, killing, mixed beverage (= the Soma mixture); mantha-ka m. churning stick; manth-ana, producing fire by attriction.” Auf Seite 214 finden wir unter dem Stichwort math/manth: „whirl around (agnim), rub (a fire stick), churn, shake, stir up, agitate, afflict, crush, injure, destroy, … mathita bewildered, … strike or tear off, … uproot, exterminate, kill, destroy, … strike or tear off, drag away.”8 So weit, so gut. Aber warum auf solchen irreführenden Verben wie „abschlagen” oder „abreißen” beharren? Haben wir nicht von Fenja und Menja gehört, die gegen Frodi „ein plötzliches Heer heranmahlten”, nämlich Mysing? Und das ist kein Einzelfall. Wir wissen zum Beispiel von einem außerordentlich relevanten hethitischen Gebet an Ischtar von Ninive, die gebeten wird, „den Feinden ihre Männlichkeit, Kraft und Gesundheit wegzumahlen”9 – die Hethiter sind respektable Mitglieder der indogermanischen Sprachfamilie. Ob nun etwas gewonnen oder verloren wird – Friede, Gold, Gesundheit, Köpfe, Manneskraft und dergleichen mehr –, es wird hervorgemahlen oder weggemahlen, wenn das zugrunde liegende Bildnis eine Mola versatilis ist; es wird hervorgequirlt oder weggequirlt, wenn die Bewegung des Kosmos als alternierende Bewegung verstanden wird, wie es beim indischen Butterfaß der Fall ist. Wir haben Grund genug, die alternierende Bewegung für das ältere Konzept zu halten, aber das ist hier und jetzt irrelevant; relevant ist die Grundidee – ausgedruckt durch vielfältige, aus der Wurzel manth/math hervorgegangene Wörter –, daß jedes Ereignis der kreisenden Bewegung (ob „echt” oder alternierend, vgl. Appendix 14) der Siehe auch H. Grassmann, Wörterbuch zum Rig-Veda (1955), 976f. Siehe L. Wohleb, „Die altrömische und hethitische evocatio”, in ARW 25 (1927), 209: Fußnote 5: „Ferner mahle den Männern (nämlich des feindlichen Landes) Mannheit, Geschlechtskraft (?), Gesundheit weg; (ihre) Schwerter, Bogen, Pfeile, Dolch(e) nimm und bringe sie ins Land Chatti.” 8 9
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Himmelsmühle beziehungsweise des Himmelsquirls verdankt wird,10 das heißt: den kombinierten Bewegungen der Planetensphäre und der Fixsternsphäre. Im selben Moment, in dem wir Mühle und Butterfaß als Himmelsmaschinen begreifen, wird der Stolperstein von „quirlen” versus „rauben, zerstören” bedeutungslos, und das ist wichtig genug, zumal es hilft, den ehrbaren Namen des heiß diskutierten Prometheus zu klären. Adalbert Kuhn – mit Sicherheit ein großer Gelehrter – hat sich umfassend mit der Wurzel manth beschäftigt, mit dem Berg Mandara, dem Quirlstab, der von den Asura und Deva benutzt wurde, um das Milchmeer zu quirlen, und er war fleißig bemüht, eine glückliche Ehe zwischen diesem manthana und dem griechischen manthánô, „lernen”, zustande zu bringen – wobei er uns mit seiner recht merkwürdigen Auffassung von dem konfrontiert, was „natürlich” sei. Er sagt folgendes (15ff): Mit der bisher entwickelten Bedeutung der Wurzel manth hat sich aber schon in den Veden die aus dem Verfahren natürlich sich entwickelnde Vorstellung des Abreißens, Ansichreißens, Raubens entwickelt und aus dieser ist die Bedeutung des griech. manthánô hervorgegangen, welches demnach als ein an sich reißen, sich aneignen des fremden Wissens erscheint. Betrachten wir nun den Namen des Prometheus in diesem Zusammenhang, so wird wohl die Annahme, daß sich aus dem Feuer entzündenden Räuber der vorbedächtige Titane erst auf griechischem Boden entwickelt habe, hinlänglich geWir streifen nur leicht die Herkunft von Amlodhis kvern; es muß genügen festzustellen, daß quairnus im Gotischen „Mühlstein, Mühle” bedeutet, während altnordisch kirna das Butterfaß ist. Jacob Grimm [Geschichte der deutschen Sprache (1848), 47] wollte quairnus von žarna, žrno, lit. girna, latw. dsirnus = Korn, Kern herleiten, aber von dort führt kein Weg zu englisch churn und zu kirna, dem altnordischen Butterfaß. Kuhn (104) lenkt die Aufmerksamkeit auf sanskritisch cûrna, gemahlenes Pulver, im Petersburger Wörterbuch hergeleitet von carv, zerquetschen, (zer)kauen.
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rechtfertigt erscheinen und zugleich klar werden, daß diese Abstraktion erst aus der sinnlichen Vorstellung des Feuerreibers hervorgegangen sein könne. Was die Etymologie des Wortes betrifft, so hat auch Pott… dasselbe auf manthano in der Bedeutung von mens provida, providentia zurückgeführt … , aber er hätte, sobald er das tat, das Sanskritverbum nicht unberücksichtigt lassen sollen … Ich halte daher an der schon früher ausgesprochenen Erklärung fest, nach welcher Promētheús aus dem Begriff von pramātha, Raub, hervorgegangen ist, so daß es einem vorauszusetzenden skr. pramāthyus, der Räuberische, Raub liebende, entspricht, wobei jedoch wohl auch jener oben besprochene pramantha [= der aufrechte Bohrstock] auf die Bildung des Wortes mit eingewirkt hat, zumal Polt auch noch einen Zeus Promantheus … aus Lycophron 537 nachweist, so daß in dem Namen auch der Feueranzündende zugleich mit ausgedrückt wäre.
Es versteht sich von selbst, daß wir es weder für „natürlich” noch für „offensichtlich” halten, lernen aus rauben zu „entwickeln” oder Vorbedacht aus Lernen: Prometheus (Lykophrons Promatheus)-pramantha bohrte neues Feuer an einem neuen Ort, an neuen Kreuzungen zwischen Ekliptik und Äquator; den „Göttern” gefiel das nicht (darüber später mehr). Nun zu pramantha, dem männlichen Feuerreibholz: Angesichts der bekannten unpassenden Assoziationen und des um die Ecke lauernden Fruchtbarkeits-Konzerns, fochten die klassischen Philologen gegen Kuhns Vorschlag bittere Kämpfe zur Ehrenrettung des noblen Prometheus, der einfach kein Feuerreibholz oder gar das fascinum sein durfte. Die höchst empfindsamen Klassizisten trugen auf diesem Schlachtfeld solange den Sieg davon, bis sich die neuesten Nachrichten von Manfred Mayrhofer11 herumgesprochen halten, der entschlossen bestimmte: „manth, ,quirlen’ ist etymologisch von math-, mathnāti ,rauben’ (offenbar nasallos) 369 verschieden.” Nachdem er sich mit den verschiedenen, uns inM. Mayrhofer, Kurzgefaßtes Etymot. Wörterbuch des Altindischen (1963), 2, 567f, 578ff.
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zwischen bekannten, Bedeutungen der Wörter auseinandergesetzt hat, fährt er fort: „An außerindischen Nachweisen der Vorstufe von ai. math- ‚rauben’ … besteht vorerst nur die vorsichtig ausgesprochene, aber sehr glaubhafte Zusammenstellung von ai. pra- math- mit griech. Promētheús, dor. Prometheús (Narten).“ Genau das ist es, was heutzutage mit „Fortschritt” gemeint ist: daß uns im Jahre 1963 eine „vorsichtig ausgesprochene, aber sehr glaubhafte Zusammenstellung von sanskr, pra-math mit griech. Prometheus” als brandneu angeboten wird, während Kuhns zweite Auflage bereits 1886 veröffentlicht wurde. Wir möchten nicht bei der behaupteten „etymologischen Verschiedenheit” der Wurzeln manth und math verweilen: Wenn Philologen eine Sache nicht verstehen, erfinden sie unterschiedliche Wurzeln, die in späteren Zeiten absichtlich „vermischt” wurden, wie hier mathund manth „in postvedischen Zeiten“.12 Prometheus war ein „pramantha”, wie es auch Quetzalcoatl, Tezcatlipoca, die vier Agnis und viele andere waren, die mit dem „Berg Mandara” oder mit Mondull drillten oder quirlten. Warum sollte man ihn nicht Mundilföri, der Achsenschwinger, nennen? Tatsächlich haben wir altaische Geschichten über den einen oder anderen Mundilföri, wie er Sonne und Mond „zeugt”. Uno Holmberg erklärt: In den Mythen der Kalmücken erscheint der Weltberg – Sumer, Meru alias Mandara – ferner als Mittel der Schöpfung. Die Welt entstand danach so, daß vier mächtige Götter mit vereinten Kräften den Sumer ergriffen, der hier offenbar säulenförmig gedacht wird, und ihn im Urmeer umherwirbelten, so wie ein Kalmückenweib Der schlimmste unter den relevanten Fällen ist der der griechischen Wurzel lyk, von der die Experten beharrlich behaupten, sie bestehe eigentlich aus zwei unterschiedlichen Wurzeln – nämlich lyk = Licht und lyk = Wolf –, ohne dabei einen Gedanken an Pythagoras zu verschwenden, der uns lehrte: „Die Planeten sind die Hunde der Persephone.” Alle mythischen Caniden haben alles und jedes mit Licht zu tun. 12
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beim Buttern den Stößel umherdreht. Aus dem so in heftige Bewegung geratenen Meer entstanden u.a. Sonne, Mond und Sterne. Dieselbe Bedeutung hat zweifellos eine Erzählung der Dörböten, wonach, ehe Sonne und Mond existierten, irgend ein Wesen das Urmeer mit einer 10.000 Klafter langen Stange umzurühren begann und so Sonne und Mond hervorbrachte. Eine ähnliche Weltschöpfung beschreibt ferner eine Mongolensage, wo erzählt wird, wie ein vom Himmel gekommenes Wesen13 mit einem „Eisenstab“ die Urmeerflüssigkeit umrührt und so einen Teil der Flüssigkeit zur Erde verdickt.14
Diese „Schöpfungsgeschichten” sind mehr oder weniger heruntergekommene Überreste des Amrithamanthana, „der unvergleichbar mächtigen Butterung”, durch dessen Bewegung eine 370 Konstellation nach der anderen aus dem heftig aufgewühlten Milchmeer emportauchte.15 Und dasselbe gilt für die „Schöpfung“, die von den japanischen „Welteltern” vollbracht wurde, die, auf der Himmelsbrücke stehend, das Urmeer solange mit dem himmlischen Juwelenstab umrührten, bis sich Teile des Urmeers verdichteten und zu Inseln wurden (Siehe Abbildungen 48 bis 50 sowie erneut 12, 21 und 22). Mehr oder weniger deutliche Anspielungen auf den als alterBei diesem Wesen hanttelt es sich vermutlich um ein Lama; siehe U. Holmberg, Finno-Ugric and Siberian Mythology (1922), 328. 14 U. Harva, Die religiösen Vorstellungen der altaischen Völker (1938), 63. Siehe auch die Seiten 22 und 89f. [A.d.Ü.: Uno Holmberg ist die schwedische, und Harva die finnische Lesart; er hat unter beiden Namen publiziert.] 15 Der Sammler erheiternder Marginalien mag sich an der folgenden Geschichte aus der Schweiz erfreuen (Grimm, DM, 580): „Nach einer schweizerischen Alpensage waren im goldenen Zeitalter Bäche und Seen milcherfüllt, ein Hirte schlug mit dem Nachen um und ertrank; seinen lange gesuchten Leichnam brachte, als man butterte, der schäumende Rahm zum Vorschein, und er ward in einer Höhle begraben, welche die Bienen mit Honigwaben groß wie Stadttore durchwirkt hatten.“ 13
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nierende Bewegung verstandenen Schöpfungs- bzw. Welterhaltungsmodus finden sich auch in Griechenland. Zu Beginn des achten Gesangs der Ilias versammelt Zeus seine Mitgötter auf dem Gipfel des Olymp und droht ihnen mit schrecklichen Konsequenzen, sollten sie weiterhin auf troischer oder griechischer Seite in den Krieg eingreifen. Er sagt: Aber wohlan, versucht es, ihr Götter, dann seht ihr es alle, Hängt eine goldene Kette16 oben herab von dem Himmel, Fasset alle daran, ihr Götter und Göttinnen alle, Dennoch zöget ihr nicht vom Himmel herab auf den Boden Zeus, den höchsten Berater, auch wenn ihr euch noch so sehr mühet; Sondern sobald es mir im Ernste gefiele zu ziehen, Zog ich euch selbst mit der Erde empor und selbst mit dem Meere. Und ich würde die Kette sodann um das Horn des Olympos Binden, und alles hinge dann wiederum in der Schwebe.17
Ausschlaggebend in Vers 26 ist das Wort „wiederum” („tà dé k’aute metêôra panta genoito”), also daß wiederum das Ganze zu metêôra (= zu in der „Luft” Schwebendem) würde.18 Demnach hat Zeus schon mindestens einmal an dem goldenen Seil gezogen.19 Von „Kette” ist im Original nicht die Rede: seirê chryseîê ist das goldene Seil. Vgl. Platon, Theätet 153c: „Und über dies alles soll ich dir … beweisen, daß unter dem goldenen Seil Homeros nichts anderes versteht als die Sonne und also andeutet, solange der gesamte Weltkreis in Bewegung ist und die Sonne, so lange sei auch alles und bleibe wohlbehalten bei Göttern und Menschen” – eine, ihrer zu weit getriebenen Verkürzung wegen, eher irreführende Erklärung. 17 Homer, Ilias VII.18-26, in der Übersetzung von Roland Hampe (1988), 143. 18 Wenig später (8.46) fährt Zeus selbst auf seinem Wagen „zwischen der Erde dahin und dem sternebesäeten Himmel“: messêgýs gaîês te kaì ouranou asteróentos. 19 Ein vergleichbarer Fall findet sich beim Propheten Haggai II,6 (Kau16
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In dem Mythos, den Platon im Politikos, dem „Staatsmann“, 371 erzählen läßt, werden die Weltalter als Ergebnis alternierender Bewegung aufgefaßt; jedoch einer alternierenden Bewegung, die nicht durch das Tauziehen zweier Götter oder Götterparteien zuwege gebracht wird. Vielmehr hält der Demiurg das Universum lange Zeit in rechtläufiger Bewegung, dann läßt er es fahren, und es rollt eben so lange Zeit zurück. (Wie Wilhelm Busch so richtig sagte: „Der liebe Gott muß immer ziehn, dem Teufel fällt’s von selber zu.“) Vom Goldenen Zeitalter wird im Politikos nachdrücklich betont, damals habe natürlich der Demiurg das Heft in der Hand gehalten (27ld, 272c). Desweiteren heißt es im Politikos: Zuzeiten ist die Gottheit selbst beteiligt an der Leitung der Bewegung und Umwälzung dieses unseres Weltalls, zuzeiten aber überläßt sie es wieder sich selbst, wenn die Umläufe das Maß der ihm tzsch): „Denn so spricht Jahwe der Heerscharen: Noch eine kleine Frist währt es, so erschüttere ich den Himmel und die Erde, das Meer und das Trockene.” Eine Fußnote vermerkt: „… zu entfernen ist ’achat = (noch) einmal (erschüttere ich), das von einer Variante herrührt.“ Die Septuaginta sagt: „Dióti táde légei kýrios pantokrátôr: eti hápax egô seisô tòn ouranòn kaì tên gên …”; in der Revised Standard Version heißt es: „Once again, in a little while, I will shake the heavens and the earth …” Auf eben diese Stelle kommt Paulus im Hebräerbrief zurück (XII.26-27): „… dessen Stimme zu der Zeit die Erde bewegte, nun aber verheißt er und spricht; ,Noch einmal will ich bewegen nicht allein die Erde, sondern auch den Himmel.’ Aber solches ,noch einmal’ zeigt an, daß das Bewegliche soll verwandelt werden, als das gemacht ist, auf daß da bleibe das Unbewegliche.“ (hou hê phônê tên gên esáleusen tóte, nyn dè epêggeltai lêgôn: éti hapax egô seisô ou mónon tên gên allà kaì tòn ouranón. tò dè ‘eti hapax ‘dêloi tên tôn saleuoménôn metáthasin hôs pepoiêménôn, hina meînê tà mê saleuómena; Revised Standard Version: „His voice then shook the earth; but now he has promised: ,Yet once more I will shake not only the earth but also the heavens.’ This phrase ,Yet once more’ indicates the removal of what is shaken, as of what has been made, in order that what cannot be shaken may remain.”)
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zukommenden Zeit erreicht haben: dann wälzt es sich, dem eigenen Triebe folgend, wieder in entgegengesetzter Richtung um, als beseeltes und vernunftbegabtes Wesen; denn als solches hat es Gott von Anfang an gebildet … Das beständige Beharren in dem nämlichen und gleichen Zustand ohne jede Veränderung seiner selbst kommt nur den allergöttlichsten Wesen zu, wogegen die Natur des Körperlichen zu einer anderen Ordnung der Dinge gehört. Was aber unserer Benennung zufolge Himmel und Welt heißt, das ist zwar von dem Schöpfer mit vielen Herrlichkeiten ausgestattet worden, aber es ist doch eben auch mit dem Körperlichen behaftet. Daher kommt es, daß es nicht völlig unberührt von Veränderung bleiben kann; aber seine Bewegung ist doch nach Möglichkeit die denkbar gleichförmigste: sie ist nur eine und vollzieht sich in demselben Raum. Das ist die Bedeutung der immer in sich zurückkehrenden Kreisbewegung, die ihr zuteil geworden ist als diejenige, welche den denkbar geringsten Wechsel der eigenen Bewegung zeigt. Eine immerwährende Umdrehung sich selbst zu geben ist wohl keinem möglich; nur der Leiter aller bewegten Dinge vermag dies zu bewirken. Aber ihm steht es nicht an, die Bewegung bald so bald wieder in der entgegengesetzten Richtung vor sich gehen zu lassen. Dem allen zufolge darf man also weder sagen, daß die Welt sich von selbst immer in Umdrehung erhalte, noch auch, daß sie immer als Ganzes von der Gottheit in zwiefachen und entgegengesetzten Umläufen gedreht werde, noch auch, daß zwei miteinander in Gegensatz stehende Götter (abwechselnd) sie drehen, sondern es bleibt bei dem oben gesagten als dem allein noch Möglichen, nämlich: sie wird zuzeiten mitgeleitet von einer außer ihr liegenden göttlichen Kraft, wodurch sie wieder zu frischem Leben gelangt und die vom Weltbildner wiederhergestellte Unsterblichkeit erhält, zuzeiten aber wieder, nämlich nach Einstellung der göttlichen Leitung, bewegt sie sich durch eigene Kraft; und zwar ist der Zeitpunkt, wo sie sich selbst überlassen wird, so günstig gewählt, daß sie Myriaden über Myriaden von Umläufen rückwärts machen kann, weil sie als Größtes und an Gleichgewicht Unübertreffliches ihre Bewegung auf der kleinsten Basis vollzieht.20
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Platon, Politikos 269c-270a, in der Übersetzung von Otto Apelt (Nachdruck 1988), 41.
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Wie ersichtlich, lehnt Platon im Politikos das Schema von den zwei Tauziehern ab.21 In anderem Zusammenhang betont Plutarch (Is.Os., Kap. 48, 3701), daß sich Platon in den „Gesetzen”, als er beträchtlich älter geworden sei, deutlich (das ist: ou di ainigmôn oude symbolikôs = nicht in Rätseln und nicht symbolisch) dahingehend ausgedrückt habe, daß der Kosmos nicht von einer Seele bewegt werde, sondern vielleicht von mehreren, bestimmt aber von zweien, von denen die eine agathourgón (Gutes) bewirkend sei, die andere aber entgegengesetzt (Nomoi 896d899). Wir können jedoch weder auf die Passage in den „Gesetzen” näher eingehen noch auf den Politikos-Mythos22 und seine Relation zum Schema im Timaios, d. h. den rechtsläufigen „Gleichen” und linksläufigen „Anderen”. In ägyptischen Texten ist uns, außer den für sich sprechenden Darstellungen des von Horus und Seth bedienten Drill-Apparats – das sogenannte Reichsvereinigungszeichen (Abbildung 51 sowie Frontispiz) –, keine als solche erkennbare Schilderung der alternierenden Bewegung erhalten. Es sagt uns aber Plutarch (Is.Os., Kap, 62, 376b, mit Berufung auf Manetho), die Knochen des Horus seien aus Magneteisenstein, die des Seth/Typhon aber aus Eisen: Und wie Eisen sich so verhält, daß es das eine Mal von dem Magneten angezogen wird und ihm folgt, das andere Mal aber sich abwendet und nach der entgegengesetzten Richtung abweicht, so sorgt die förderliche, gute und vernünftige Bewegung des Universums dafür, daß die Typhonische Bewegung abgemildert und ihre Wirkung reduziert wird; wenn dieser sanft überredende Einfluß aber nachläßt, so kehrt die Typhonische Bewegung wieder in sich zuAuch in Indien besteht, ungeachtet des Amritainanthana, die Vorstellung, das Universum bewege sich rechtsläufig solange Vishnu wache, es drösele sich linksläufig auf solange Vishnu schlafe. 22 Vgl. für diesen und seine Beziehung zu Platons Der Staat 546c James Adam, The Repuhlic of Plato (1980), II, 206f, 295-305. 21
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rück und taucht unter in den mangelhaften Zustand (eis heautên anéstrepse kaì katédysen eis tên aporîan).
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In Kapitel 49 (371b) hatte Plutarch konstatiert, der Name Seth/Typhon bedeute „das Obherrschende, das Überwältigende, häufig das Rückdrehende und hinwiederum das Überspringende, Überschreitende (phrazei mèn tò katadynasteion kaì katabiazómenon, phrazei dè tò pollákis anastrophên kaì pállin hyperpêdêsin)” – was sich nun wiederum anhört, als seien dort alle Untugenden der ausschierigen Ekliptik-Familie zusammengefaßt. Ein letztes verkümmertes Überlebsel findet sich, wieder einmal, in Jacob Grimms Deutsche Mythologie (770, 876f), wo sich ein Bauer mit dem Wilden Jäger – hier Wod geheißen – im „Tauziehen” mißt und siegt, weil er, von Wod unbemerkt, die Kette um eine Eiche geschlungen hat. Eine nähere Beschäftigung mit dem Seil muß andernorts erfolgen; es ist häufig genug verwendet worden, ob es nun beispielsweise galt, Amaterasu aus ihrer Höhle herauszuziehen und sie zum Lachen zu bringen – auch die eddische Skadi wird durch ein leicht obszönes Tauziehen zwischen Loki und einer Ziege zum Lachen veranlaßt – oder das Hölzerne Pferd in die Festung Troja einzuschleusen.
Appendix 16 Was das Entfernen des Polarsterns betrifft, so wird die drastischste Version von den Lappen erzählt: Wenn Arcturus (alpha Bootis, den man sich als Schützen denkt, wobei Ursa Maior sein Bogen ist) am letzten Tag mit seinem Pfeil
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den Nordnagel herunterschießt, wird das Firmament einstürzen, die Erde unter sich zermalmend und alles in Brand setzend.1
Andere Sagen ziehen es vor, sich mit dem Schicksal der zirkumpolaren Sterne zu beschäftigen, wobei das Ergebnis dasselbe ist: Die sibirischen Kirgisen nennen die drei Sterne des Kleinen Bären, die dem Polarstern zunächst liegen und einen Bogen formen, „das Seil”, an dem die zwei größeren Sterne desselben Sternbilds, die zwei Reitpferde, festgebunden sind. Eines der Pferde ist weiß, das andere blau-grau. Die sieben Sterne des Großen Bären nennen sie die sieben Wächter, deren Pflicht es ist, die Pferde vor dem lauernden Wolf zu beschützen. Wenn es dem Wolf einmal gelingt, die Pferde zu töten, wird das Ende der Welt hereinbrechen. In anderen Sagen sind die Sterne des Großen Bären „die sieben Wölfe“, die jene Pferde verfolgen. Kurz vor dem Ende der Welt werden sie sie gefangen haben. Einige stellen sich sogar vor, daß auch der Große Bär am Polarstern festgebunden ist. Reißen die Stricke einmal, so entstehen am Himmel große Störungen.2
Nach einem russischen Volksglauben ist ein Hund an Ursa Minor gefesselt und versucht unaufhörlich, die Fesseln zu zerbeißen; wenn es ihm gelungen ist, ist das Ende der Welt gekommen: Andre erzählen, daß das Sternbild des Großen Bären aus einem Gespann Pferde mit Geschirr besteht; jede Nacht nagt ein schwarzer Hund, um das Geschirr zu zerbeißen und dadurch die Welt zu vernichten; aber das gelingt ihm nicht; denn wenn er zur Zeit der Mor- 374 genröte nach einer Quelle läuft, um zu trinken, erneuert sich inzwischen das Geschirr und wächst wieder zusammen.3 U. Holmberg, Finno-Ugric and Siberian Mythology (1964), 221. Siehe die von Johan Turi angefertigte Zeichnung in Das Buch des Lappen Johan Turi (1913), Tafel XIV: Arcturus = Favtna, Polarstern/Nordnagel = Boaje-naste oder Bohinavlle. 2 U. Holmberg, op.cit., 425; vgl. U. Holmbergs Die religiösen Vorstellungen der altaischen Völker (1938), 40. 3 A. Olrik, Ragnarök (1919), 309f. Der Autor betrachtet es als „ein neues 1
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Eine sehr seltsame und offensichtlich steinalte Geschichte wird von den Skidi-Pawnee über das Ende der Welt und den Anfang einer neuen erzählt.4 Verschiedene Vorzeichen werden dem vorausgehen: Der Mond wird rot werden und die Sonne wird am Himmel sterben. Der Nordstern ist jene Macht, die am Ende aller Dinge das Sagen haben wird, so wie der leuchtende Abendstern der Herrscher war, als das Leben begann. Der Morgenstern, der Himmelsbote, der den Menschen die Geheimnisse des Schicksals offenbarte, sagte, daß am Anfang, bei dem ersten großen Rat, der dem Sternenvolk ihre Positionen zuwies, zwei Ratsmitglieder krank wurden. Der eine war alt, und der andere war jung. Sie wurden auf Tragen gelegt, die von Sternen (Ursa Maior und Ursa Minor)5 getragen wurden, und die beiden Tragen wurden am Nordstern festgebunden. Jetzt steigt der Südstern, der Geiststern oder Todesstern, immer höher den Himmel hinauf und kommt dem Nordstern immer näher, und wenn die Zeit für das Ende allen Lebens naht, wird der Todesstern so dicht an den Nordstern herangekommen sein, daß er die Sterne, welche die Bahre schleppen, einfängt und den Tod jener verursacht, die krank auf Motiv, daß der Hund am Himmel angebracht ist und mit den Sternbildern zu tun hat. Sonst haben wir die Hunde in einem Berg am Ende der Welt …“ 4 H.B. Alexander, North American Mythology (1916), 116f. 5 Die Sioux halten Ursa Maior für einen Sarg, der von Trauernden begleitet wird. Dieses Bild ist nicht allzu „naheliegend”, und so ist es von Bedeutung, daß Ursa bei den Arabern Benât na’sch ist, also die Bahre und ihre Töchter; die Bahre wird vom Kasten des Wagens gebildet, Elna’sch, während der Griff des Bären die Töchter darstellt. Siehe L. Ideler, Sternnamen (1809), 19f, Paul Kunitzsch, Arabische Sternnamen in Europa (1959), 149: Fußnote 71, fügt hinzu, daß laut Athanasius Kircher christianisierte Araber in dem Sternbild den Sarg des Lazarus erkannten, dem die Trauernden Mariam, Martha und ihre Magd (al-ama) folgten. Siehe auch Joseph Henninger, ZfE 79, 81. Aufgrund islamischen Einflusses wird die Konstellation vom Stamm der Minangkabau in Süd-Sumatra Bintang al’nasch, Stern der Bahre, genannt. [Siehe Helmut Werner, „Die Verstirnung des Osiris-Mythos“, IAfE 16 (1954), 154.]
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diesen Sternenbetten liegen. Der Nordstern wird dann verschwinden und sich hinwegbegeben, und der Südstern wird von der Erde und ihren Völkern Besitz ergreifen. Der Befehl für das Ende aller Dinge wird vom Nordstern gegeben werden, und der Südstern wird die Befehle ausführen. Unser Volk wurde durch die Sterne geschaffen. Wenn die Zeit für das Ende aller Dinge gekommen ist, wird sich unser Volk in kleine Sterne verwandeln und zum Südstern fliegen, wo sie hingehören.
Um in bekanntere Gefilde zurückzukehren: Proklos informiert uns, daß der Fuchs-Stern ohne Unterlaß am Riemen des Jochs nagt, das Himmel und Erde zusammenhält; der deutsche Volksglaube fügt hinzu, daß die Welt zu Ende geht, wenn es der Fuchs geschafft hat.6 Dieser Fuchs-Stern ist kein anderer als Alkor,7 der kleine Stern g nahe zeta Ursae maioris (in Indien Arundati, die gemeinsame Ehefrau der sieben Rishis, alpha bis eta Ursae; siehe Seite 274 über Arundati und die elamitische Narundi, Schwester 375 der Sebettu, der „Sieben”), der seit babylonischen Zeiten als solcher, d.h. Fuchs-Stern, bekannt ist.8 Derselbe Stern begegnet uns wieder in Arat-Scholien,9 wo uns (Proklos ad Hesiod, opp. 382) Boll und Gundel in Roscher, s.v, Sternbilder, 876. 7 Für den Namen Alkor und seine Tradition siehe Kunitzsch, 125f. 8 Siehe F.X. Kugler, S.J., Ergänzungsheft zum 1. u. 2. Buch (1935), 55f; P.F. Gössmann, Planetarium Babylonicum (1950), 205: „,(Der Stern, der an der Deich)sel des Wagens steht, ist das Fuchsgestirn, Era, der gewaltige unter den Göttern.’ [= Serie mulAPIN, I.16, H.v.D.] … Im astrologischen Sprachgebrauch vertritt mulKAsA vor allem den Planeten Mars.” Siehe auch F.F. Weidner, Handbuch Babyl. Astr. (1915), 141; E. Burrows, S.J., „The Constellation of the Wagon and Recent Archaeology”, in Festschrift Deimel (1935), 34, 36. Der besagte Nergal, also Mars, zu dem Alkor in den Serien mulAPIN „gehört”, läßt unter dem Namen Era die erste Flut entstehen, wie wir von Utnapischtim erfahren – siehe Seite 271f–, und dem Era-Epos zufolge gelingt es ihm, eine weitere in Bewegung zu setzen. 9 257; E. Maass, Commentariorum in Aratum Reliquiae (1898), 391, Zeile 3ff. 6
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gesagt wird, er sei Elektra, Mutter von Dardanos, die, verzweifelt über Ilions* Untergang, ihre Position unter den Plejaden verließ und sich „oberhalb des zweiten Sterns der Deichsel … , andere nennen diesen Stern ,Fuchs’”, zur Ruhe setzte. Dieses kleine Beweisstück mag dem Leser zwei Dinge vor Augen führen; 1) daß der Untergang von Troja das Ende eines veritablen Zeitalters bedeutete. Zur Zeit nehmen wir an, daß das Ende des plejadischen Zeitalters gemeint sei; zu den verschiedenen Gründen zählt, daß Dardanos laut Nonnos nach der dritten Flut nach Troja kam. 2) daß es mit der Anwesenheit von Ursa Maior und den Plejaden auf dem Schild des Achilles, dem Zerstörer Trojas, eine präzise Bewandtnis hat und daß wir nicht berechtigt sind zu unterstellen, der ignorante Homer habe außer diesen (plus Arcturus, Orion und Sirius) keine Sternbilder gekannt, wie uns diverse Spezialisten glauben machen wollen. In Wirklichkeit gibt es viel zu viele Überlieferungen, die Ursa und die Plejaden mit dieser oder jener Katastrophe verbinden, als daß man sie übersehen könnte. Von den vielen nennen wir nur ein Beispiel aus den späteren jüdischen Sagen, indem wir einige Zeilen aus der höchst phantasievollen Schilderung von Noahs Flut herausgreifen, die von Frazer zitiert wird:10 Nun wurde die Sintflut von den männlichen Wassern des Himmels hervorgerufen, während sie sich mit den weiblichen Wassern trafen, die aus der Erde hervorkamen. Die Löcher im Himmel, durch die die oberen Wasser entkommen waren, hatte Gott hinterlassen, als er Sterne aus der Konstellation der Plejaden entfernte; und um diese Regengüsse zu stoppen, mußte Gott anschließend die beiden Löcher mit einem Sternenpaar zustopfen, das er sich vom Sternbild der Bärin ausgeliehen hatte. Das ist der Grund, warum die Bärin bis auf den heutigen Tag hinter den Plejaden herläuft: Sie will ihre Kinder zurückhaben; aber sie wird sie nicht einholen, bis der Jüngste Tag gekommen ist. *
A.d.Ü.: Antiker Name für Troja. J.G. Frazer, Folk-Lore in the Old Testament (1918), 1, 143f.
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Appendix 17 Ptolemaios, Almagest VII.2 (Manitius II, 12): Aus diesem und ähnlichem Beobachtungsmaterial kann uns der Schluß nahegelegt werden, daß schlechthin allen sog. Fixsternen einerlei Verhalten und dieselbe Bewegung eigen sei. Daß aber auch ihre Sphäre eine ganz eigenartige Bewegung in der dem Umschwung des Weltalls entgegengesetzten Richtung vollziehe, d.h. nach der Seite hin, welche östlich des durch die beiden Pole des Äquators und der Ekliptik gezogenen größten (Kolur-)Kreises liegt, das wird uns hauptsächlich daraus ersichtlich, daß die nämlichen Sterne in vergangener Zeit nicht dieselben Entfernungen wie heutzutage von den Wende- und Nachtgleichenpunkten einhalten, sondern je nach der Länge der verflossenen Zwischenzeit gegen früher in immer größerer Entfernung östlich des betreffenden Punktes gefunden werden. In der Schrift „Über die Veränderung der Wende- und Nachtgleichenpunkte” (Perì tês metaptôseôs tôn tropikôn kaì isêmerinôn sêmeìôn) gelangt nämlich Hipparch durch Vergleichung von zu seiner Zeit genau beobachteten Mondfinsternissen mit solchen, welche noch früher von Timocharis [ca. 290 v.Chr., H.v.D.] beobachtet worden waren, zu dem Ergebnis, daß die Spika von dem Herbstnachtgleichenpunkt gegen die Richtung der Zeichen zu seiner Zeit 8°, zu Timocharis’ Zeit dagegen nahezu 13° entfernt stand.
Und Almagest VII.3 (Manitius II, 160: Indem es nun die weitere Aufgabe ist, die Art der geschilderten Bewegung zu untersuchen, d.h, ob sie sich um die Pole des Äquators oder um die Pole der Ekliptik vollziehe (póte perì toùs tou isêmerinou pólous ê perì toùs tou lóxou), so würde die Frage schon mit dem Vorrücken in Länge entschieden sein, … wenn nicht in der (verhältnismäßig) so kurzen Zeit der Fortschritt in Länge nur ganz unbedeutend wäre und deshalb (bei Beziehung desselben auf den Äquator) der aus dem genannten Grunde sich etwa äußernde Unterschied (der Bogen) noch kaum bemerkbar sein könnte. Am besten dürfte diese Frage entschieden werden durch die Positionen der Fixsterne in Breite, wie sie ehemals waren und wie sie es heutzutage
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sind; denn zu welchem der beiden Kreise, zum Äquator oder zur Ekliptik, die Fixsterne ewig dieselben scheinbaren Abstände in Breite einhalten, um dessen Pole wird sich offenbar auch die Bewegung ihrer Sphäre vollziehen. Schon Hipparch erklärt sich nun für die Bewegung um die Pole der Ekliptik; er betont nämlich in der Schrift „Über die Veränderung der Wende- und Nachtgleichenpunkte“ den Umstand, daß gerade wieder die Spika nach den von Timocharis und von ihm selbst angestellten Beobachtungen nicht zum Äquator, sondern zur Ekliptik den Betrag ihres Abstandes in Breite innegehalten habe und nach wie vor 2° südlich der Ekliptik stehe. Deshalb nimmt er auch in der Schrift „Von der Länge des Jahres” einzig und allein die Bewegung an, welche sich um die Pole der Ekliptik vollzieht, ist aber gleichwohl seiner Sache noch nicht gewiß, wie er selbst versichert, weil erstens auf die Beobachtungen aus der Schule des Astronomen Timocharis wegen ihrer sehr oberflächlichen Fassung kein rechter Verlaß sei, und weil zweitens der in der Zwischenzeit eingetretene Unterschied noch nicht groß genug sei, um aus ihm einen sicheren Schluß ziehen zu können. Wir dagegen, die wir die in Frage stehende Erscheinung sowohl auf Grund einer noch längeren Vorzeit als auch so ziemlich an allen Fixsternen beobachtet vorfinden, können natürlich schon mit größerer Zuversicht an die Bewegung der Fixsterne um die Pole der Ekliptik glauben.
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Appendix 18 Man vergleiche dazu die Tat des „Unholds” Kung Kung (oder Kong Kong), der mit seinen Hörnern den Pu-tchu-Berg (in der gültigen Umschrift Buzhoush-an) einstieß und damit die Schiefe der Ekliptik herstellte. Joseph Needham (III, 213f) zitiert dazu Huai Nan Zi (ca. 120 v.Chr.):
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In ancient times Kung Kung strove with Chua Hsu for the Empire. Angered, he smote the unrotating Mountain, Heaven’s pillars broke, the bonds with Earth were ruptured, Heaven leaned over to the north-west; Hence the sun, moon, stars and planets were shifted, And Earth became empty in the south-east.1
Bei Henri Maspero lautet es: „Seit dieser Zeit lehnt sich der Himmel nach Nordwesten und die Erde nach Südosten, der Polarstern ist nicht im Zentrum des Himmels, und die Gestirne ,fließen’ von Osten nach Westen.”2 Der Große Yü tötete den Kung Kung „dort ganz im Nordwesten des Universums, wo der Himmel fehlt, und wo die Neun Dunkelheiten regieren”, wie Marcel Granet uns wissen läßt.3 Zur Erklärung der Neun Dunkelheiten fügt er (523, Anm. 1) aus einer Glosse zu Huai Nan Zi hinzu: „Yin Suprême ou Neuf Yin désignent la région du NW où (par suite du trau fait par Kong Kong à la Matière) le Ciel manque.” Maspero (29, Anm. 2) verweist auch auf ein Gedicht des K'iu Yuan, „où le poète, ayant parcouru le monde entier fini par se pencher au bord du Grand Abîme, là où ,en bas c’est un gouffre profond, et il n’ya pas de terre, en haut c’est l’espace immense, et il n’ya pas de ciel’.” Im Buch Henoch XVIII.12 lesen wir: „Hinter diesem Abgrund sah ich einen Ort, wo weder die Himmelsfeste drüber, noch die festgefügte Erde drunter, noch Wasser ,unter’ ihr waren, sondern ein Ort war es, wüste und grausig. Ich sah dort sieben Sterne wie große brennende Berge.” (Die Fortsetzung wird auf Seite 139 zitiert werden.) In der jüdischen Überlieferung scheint kein „Unhold” für das Zustandekommen dieses „grausigen Ortes” verantwortlich gemacht zu werden, vielmehr Gott selbst, wie wir jüdischen Sagen entnehmen können: Vgl. auch SMT, Chavannes-Übersetzung, I, 11f. H. Maspero, „Légendes mythologiques dans le Chou King”, Journal Asiatique 204 (1924), 26, 53f. 3 M. Granet, Danses et Legendes (1959), 522f. 1 2
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In seiner Weisheit gab der Herr der Welt vier Seiten: Morgen und Abend, Mittag und Mitternacht. (…) Von Mitternacht her, der Seite, die unvollendet blieb, kommt die Finsternis in die Welt. Warum ist aber die Mittemachtsseite unvollendet geblieben? Ja, denn der Herr sprach: „So einer kommt, der von sich spricht, er wäre Gott, so möge er hingehen und den Teil der Welt ausbauen, den ich unfertig gelassen habe; dann wird man wissen, ob er ein Gott ist.”4
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Ich hege seit langem den Verdacht, „the Evil Eye“ – dieser Ausdruck scheint treffender als unser böser „Blick” – möchte die Gegend um den Ekliptikpol repräsentieren, diese ewig „leere” Mitte, um die sich die Tierkreisbewohner drehen. Bildliche Darstellungen, die den Schaden des Bösen Auges abwehren sollen, zeigen das Auge von allen Seiten bewacht (oder attackiert) von Tieren, inbesondere Tierkreistieren – und der Skorpion ist immer dabei (häufig auch der Donnerkeil). Selbst die Öffnung in der Mitte kleiner Öllampen muß so gefahrvoll gewirkt haben, daß man sie mit Stierhörnern und dem Skorpion einfaßte (Abbildungen 52 bis 56).5 Gewiß, zu bedrohlichen Löchern assoziierte der Normalverbraucher zu allen Zeiten bevorzugt andere Sujets, weshalb das wirkungsvollste Abwehrmittel ein Phallus-Amulett gewesen ist. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, daß der Äquator nebst Äquatorachse und Fixsternhimmel den „Vater“ Himmel repräsentierte, die Ekliptik mit dem Tierkreis die „Mutter” Erde, oder daß zum Beispiel gemäß einem hurritischen Text Enki/Ea Bin Gorion, Die Sagen der Juden (1969), 47; bei Ginzberg [Legends of the Jews (1954), L 12] lautet es: „In the east, the west, and the south, heaven and earth touch each other, but the north God left unfinished … ” 5 Siehe Frederick Th. Elworthy, The Evil Eye (1895/1958), Abbildungen auf den Seiten 130f, 213; Edward A. Armstrong, The Folklore of Birds (1958), 120; Siegfried Seligmann, Der Böse Blick (1910), II, Abbildungen auf den Seiten 95, 99 und 101 (Zusammenfassendes über diesen Darstellungstyp in II, 151-156). 4
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mittels MAR.GID.DA (= der Große Wagen) mit der „Erde” Zwillinge zeugte. Es gibt viel mehr Geschichten über „Löcher”, denen nachzugehen wäre, angefangen mit dem „Luftloch” in den Plejaden, durch das „unablässig Frost und schneidender Wind” blasen.6 Aber über diese und die entsprechenden Öffnungen oder „Fenster” in mythischen Palästen, Tempeln und selbst in Kirchen wird an anderem Ort die Rede sein müssen.
Appendix 19 In Gylf. 17 sagt Snorri: „Am südlichen Ende des Himmels ist endlich der Ort, der von allen der schönste ist und glänzender als die Sonne. (…) Er heißt Gimle1 und wird bestehen, wenn auch Himmel und Erde untergehen, und die rechtschaffenen Menschen werden dort in Ewigkeit wohnen. Entsprechend heißt es in der Völuspa 64: Einen Saal sah ich stehen /die Sonn’ überstrahlt er, mit Gold gedeckt, / auf Gimles Höhen, dort werden wohnen /wackere Scharen und ein Glück genießen / das nimmer vergeht. Gangleri fragte: „Wer hütet diesen Ort, wenn Surts Lohe Himmel und Erde verbrennt?” Har antwortete: „So sagt man, daß im Süden über unserem Himmel ein anderer sich erhebt, der Widblain heißt, und über diesem ein dritter, der Andlang genannt wird: an diesem (letztgenannten) Himmel meinen wir, daß jener Ort sich befinde. U. Holmberg, FFC 125, 178f, 196. Gimle wird von gim, Gemme, Edelstein abgeleitet. Kummer bemerkt (123): „… auch Stern, vielleicht zu gimir als Ausdruck für Mars, s. Hj. Falk, Festschrift Heggstad, 34ff.”
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Jetzt aber, glauben wir, bewohnen nur die Lichtalben jene Gegenden.“
So Gering.2 Bei Neckel und Niedner ist Widblain (Weitblau) der dritte und höchste Himmel: „… und auf diesem obersten Himmel denken wir uns Gimle, und für jetzt wohnen lediglich Lichtelben dort oben.“ Für Gimle im dritten Himmel stimmen auch Jacob Grimm3 und Sigurdur Nordal.4 Der Herr dieses elysischen Ortes soll Surt, der Schwarze, sein, das sagt jedenfalls Rydberg; „In the text found in the Uppsala Codex, Gylfaginning makes him lord in Gimle, and likewise the king of eternal bliss. After Ragnarök it is said: ,Here are many good abodes and many bad’; best it is lo be in Gimle with Surt (margar ero vistar gothar og margar illar, bezt er at vera a Gimle medr surtr).”5 In der Edda Snorra (I, 198f) liest man: „bezt er tha at vera á Gimli á himni, ok allgott”, lateinisch; „tum Optimum est versari in Gimlio, (qui locus est) in coelo (interiori)”. Die Fußnote 9 verzeichnet: „… Reg. á Gimle methr Surti, U, áä Gimli medh Surti … ” Mit „Reg” ist der Codex Regius in Kopenhagen gemeint, mit „U” der Codex Upsaliensis (Edda Snorra, VI). In den Übersetzungen von Gylf. 52 hält man vergeblich Ausschau nach einer diesbezüglichen Fußnote. Aber angesichts der zitierten Kunstgriffe der Übersetzer der Orphischen Hymnen (siehe oben, Seite 120), mit denen sie den Prometheus aus dem Hymnos an Kronos hinauskomplimentiert haben, der doch klärlich in dem etablierten Text steht, wird man sich über das Verschweigen bloßer „Varianten” nicht wundern. Wenn wir indessen ernstlich mit Surt in Gimle rechnen müssen – der Gedanke an die Kronos-Insel Ogygia, auf der das Goldene Zeitalter fort H. Gering, Die Lieder der sogenannten Älteren Edda (1898), 313. J. Grimm, DM, 674: Anm. 2, 687 4 S. Nordal, Völuspa (1980), 111. 5 V. Rydberg, Teutonic Mythology (1907), 561. 2 3
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und fort dauert, liegt nahe – und wenn sich weiterhin bewahrheiten sollte, Suttung, der Besitzer des Skalden-Mets, den Odin ihm raubte, gehöre zu „Surts Rasse” und der Met sei aus „Surts tiefen Tälern” entwendet worden,6 so müßten diverse Gedankenschienen verlegt werden.
Appendix 20 Für Hallinskidi siehe Reuter, 237; Simrock, Handbuch 277; Gering (Edda-Übersetzung, 320): „gebogene Schneeschuhe habend”. Rudolf Much (in Festschrift Heinzel, 259), der –skidi mit keltisch sketo, skeda (deutsch: Oberarmknochen, Schulterblatt) verbindet und halle für „Stein” hält, wagt die Rekonstruktion vorzuschlagen: „Der mit der Steinschulter … , was eine ähnliche Geschichte voraussetzen würde wie die von Pelops und seiner Schulter aus Elfenbein.” Bezüglich mjötvidr übersetzt Ǻke V. Ström, 2:1 Ich erinnere mich neun Welten Neun im Baume (oder neun Heime), des ruhmvollen Maßbaums unter der Erde. Und er zitiert Holmbergs Feststellung: „Der Baum selbst ist Vgl. J. de Vries, Religionsgeschichte (1935), § 160, Seile 184: „Gibt es einen Zusammenhang zwischen Surtr und Suttungr?”, mit Fußnote 4. Der hier naheliegende Gedanke an den rigvedischen Soma-Besitzer Tvastri wird einem sogleich vergällt, weil der „Dieb“ Indra war, und der hat mit Odin gar nichts, dafür um so mehr mit Thor zu tun. 1 Ǻ.V. Ström, „Indogermanisches in der Völuspa”, Numen 14 (1967), 173f. 6
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das Maß für die Existenz der umgebenden Welt – in der Zeit.”2 Die letzte Bemerkung versteht sich von selbst: Mythische Maße sind generell Zeitmaße; aber diese Tatsache wird so selten erkannt, daß dieser weiße Rabe begeistert willkommen geheißen werden sollte. Die Lokalisierung „unter der Erde” deutet auf den (unsichtbaren) Süden der Welt hin, wie sich später herausstellen wird. Womit wir nicht sagen wollen, wir hätten das enigmatische Bild dieses Maßbaums verstanden. Als ständige Feinde, die sie sind, töten sich Heimdall und Loki bei der Götterdämmerung nun gegenseitig. Aber Heimdalls Tod wird mittels einer sehr merkwürdigen Waffe herbeigeführt, nämlich einem „Kopf“. Snorris Skaldskaparmål 8 (siehe auch 69) offeriert eine zweideutige Kenning: „Heimdalls Kopf ist das Schwert beziehungsweise das Schwert ist Heimdalls Kopf.“3 Beziehungsweise werden wir unterrichtet, daß das Schwert „miötudr Heimdaler” genannt wurde, und das ist laut Jacob Grimm4 „der Messende (Sektor, Vermesser)”. Folglich mißt Heimdall – oder wird er gemessen? – mit Hilfe eines Schwerts, von dem auch gesagt wird, daß es sein eigener Kopf sei. Das sind in der Tat merkwürdige Vorgänge. Ǻke Ohlmarks5 erklärte das Schwert zur Sonne – das ist zunächst eine angenehme Abwechslung, da bei ihm ansonsten alles und jeder der Mond ist –, aber obgleich als Meßinstrument geWarum der Autor in diesem ausgezeichneten Artikel „ekstatische Visionen“ mit hineinzieht, bleibt unbegreiflich, es sei denn, wir zögen es vor, jede Darstellung astronomischer Sachlagen „ekstatische Visionen” zu nennen, was ein echter mjötvidr wäre, um die tiefe Kluft zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften in unserer Zeit zu messen. 3 Heimdalur hoefut heitir sverdh; vgl. K. Simrock, Handbuch (1869), 272f. 4 TM, 22 (siehe auch 1290); in der englischen Übersetzung heißt es „der Wolfskopf“, aber im Original (DM, 15) wird ein Wolf nicht erwähnt. 5 Ǻ. Ohlmarks, Heimdalls Horn (1937), 151. 2
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wöhnlich die Sonne gilt, ob nun als „goldenes Seil” oder nicht (siehe Seite 140, Fußnote 10, über Varuna und Seite 225 über Theäthet 153C), haben wir den Verdacht, daß der Fall von Heimdalls Kopf/Schwert komplizierter ist und daß er nicht zu den Akten gelegt werden kann, bevor wir mehr über Loki wissen.
Appendix 21 Den Arat-Scholien zufolge nannten „die Ägypter” Aries „Kopf.“ Mit den Ägyptern sind die Astrologen Nechepso und Petosiris gemeint (2. vorchristliches Jahrhundert).1 Gleichwohl: In seiner Arbeit über Chnum-Shu als Patron der Feldmesser erwähnt Paul Bargouet Darstellungen von Meßstricken, die in einen Widderkopf auslaufen.2 Das Lexikon der Ägyptologie (I, 951) führt unter den Titeln des Widdergottes Chnum an: „Chnum an der Spitze seines Strickes (hntj w3rt.f).” Zu w3r.t verzeichnet das AW (I, 252): „Schnur, Strick, seit Tb. I. Zugschnur … . II. Fangseil … hntj w3r.f, Beiname des Chnum als Vogelfänger, Gr. III Gr. auch als Meßstrick und vom Strick bei der Gründungszeremonie.“ Dergleichen nannte Jacob Grimm „kahle Bezüge”; aber Chnum an der Spitze des Meßstricks, der – wenn auch erst aus griechischer Zeit belegt – zur Schnurspannungszeremonie gehörte (vgl. oben, Seite 67, Fußnote 21), gibt doch zu denken und verdiente eine nähere Untersuchung. Siehe F. Boll, Aus der Offenbarung Johannis (1914), 44: Anmerkung 3; B.L. van der Waerden, SHAW 1972; W. und RG. Gundel, Astrologumena (1966), 27-36. 2 P. Bargouet, „Khuoum-Chou, patron des arpenteurs”, Chronique d’Égypte 55 (1953), 223-227. 1
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Appendix 22 Ganz so einfach ist es um das Gjallarhorn nicht bestellt, und man kann de Vries nur beistimmen, wenn er feststellt: „Die trümmerhafte Überlieferung ist gerade für die Kenntnis der an Heimdallgeknüpften Mythen verhängnisvoll.”1 In Völuspa 27 sagt die Völva: „Ich weiß Heimdalls Horn verborgen unter dem … heiligen Baum” (Gering). Genzmer (bei ihm – Völuspa 16): „Ich weiß Heimdalls Horn verborgen unterm heiligen Himmelsbaum.” Hollander: „Where Heimdall’s horn is 382 hid, she knows.” Der Gegenstand heißt Heimdallarhljódh und wird meistens für identisch mit dem Gjallarhorn gehalten. Nun haben Jan de Vries (§ 250, Seite 298) und Ǻke V. Ström (Germanische Religion, 161) lautstark betont, hljódh bedeute niemals „Horn”, sondern „Gehör, Schweigen, Laut, Ton” – Grönbech (II, 325) interpretiert „kultisches Schweigen”; Cleasby-Vigfusson verzeichnen „hljódh A. Hearing, a hearing, listening, silence … B. The thing heard, sound.” Genau mit diesem Wort hebt die Völva an zu prophezeien (Völuspa 1): „Hljódhs bidh … Gehör heisch’ ich … von Heimdalls Kindern.” Ström schlägt vor: „Wie Odin sein Auge [Völuspa 29, H.v.D.J, so hat Heimdall sein Gehör, vielleicht sein eines Ohr, unter dem Weltbaum verborgen.” Weitaus kniffliger scheint Völuspa 46 zu sein: „Mims synir en mjotudhr kyndiz; at hino gamla Gjallarhorni hátt blaess Heimdallr” (Kummer, 26). Das wird wiedergegeben von Gering; „Mims Söhne hasten, es meldet das Ende der gellende Ton des Gjallarhorns, laut bläst Heimdall.” Genzmer (Völuspa 33): „Es gärt bei den Riesen; des Gjallarhorns, des alten, Klang verkündet das Ende. Hell bläst Heimdall.” Simrock (Völuspa 47): „Mimirs Söhne spielen / das Schicksal entzündet sich / beim gellenden Ruf des Gjallarhorns.” Kummer: „Es spielen Mims Söhne, aber der Maßbaum entbrennt. Auf dem alten Gjallarhorne laut bläst 1
J. de Vries, Religionsgeschichte (1935), II, § 250, Seite 299.
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Heimdall.” Grönbech (II, 326); „Nach der Vol. wird der Kampf zwischen Asen und Jöten dadurch angekündigt, daß der mjotudhr in Brand gesteckt wird, wenn Heimdall das alte Gjallarhorn erhebt und laut hineinbläst.” Und Ohlmarks (316f) besteht darauf: „… der Weltenbaum wird an dem alten Gjallarhorn angezündet.” Kynda bedeutet in der Tat „to kindle, light a fire; kyndill, a candle, a torch” (Cleasby-Vigfusson, 366f). Lange zuvor meinte Karl Müllenhoff:2 „Was bedeutet miotudhr kyndiz? Gewiß, miotudhr kann miotvidhr sein. (…) Aber hier, der Weltbaum wird sich entzünden, wird in Brand geraten bei dem Schalle des Gjallarhornes? Den Unsinn des Causalnexus, das in diesen Worten liegt, hat man lange Zeit durch ein Komma zu verstecken gesucht, und dadurch ohne Bedenken Heimdall auch zum Spielmann der Mimssöhne gemacht. (…) Eine Selbstentzündung oder auch nur ein inneres Erglühen des Weltbaumes beim Schellen des Hornes ist nach alter Anschauung ebenso unfaßbar, als das Anzünden durch das Horn.” Am Ende schlägt er vor (144f): „‚En miotudhr kyndiz’ heißt also ,aber das Ende bricht an, die Entscheidung tritt ein’.”
Appendix 23 Mansikkas bereits erwähnte Untersuchung russischer Zauberformeln1 enthält eine bemerkenswerte Anzahl von Informationen über Unterwasserlebewesen; so vermischt, wie das Material mit des Autors ziemlich hitziger „Interpretatio christiana” ist, ist es nahezu unmöglich, die nackten Fakten ausfindig zu machen. SoK. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde (2. Auflage 1908), V, 143; sein Vorwort stammt aus dem Jahre 1881. 1 Viljo Johannes Mansikka, Über russische Zauberformeln (1909), 168-213: „Das Meer, der Stein, die Jungfrau Maria”. 2
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viel kann jedoch gesagt werden: In der Mitte des „Blauen Meeres” (oder in der „Mitte der gesamten Erde”) gibt es entweder a) eine Insel – meistens Bujan genannt, derselben Wurzel wie Boje entstammend –, „das Zentrum himmlischer Macht”, auf der sich ein Baum oder ein Stein oder ein Baum auf einem Stein befindet, manchmal das Kreuz oder der „Berg Zion” selbst;2 b) oder es gibt dort den „Weißen Altarstein“, bei dem es sich um einen „feurigen” handelt, der im Nabel des Meeres liegt, ohne von einer Insel getragen zu werden. Unter diesem Stein befindet sich ein „ewiges, unauslöschliches Feuer“, das „unter dem Stein hervorgeholt werden muß” (Mansikka, 188 – uns wird nicht gesagt, zu welchem Zweck das Feuer von dort geholt werden muß; der Text sagt nur „zum Brennen”). Manchmal heißt es, daß sich auf diesem Stein – ungeachtet dessen, daß er „heilig” und der „Altarstein” ist, ja sogar der „Thron Christi” – die „Wohnung des Teufels” höchstpersönlich befindet.3 In anderen Zauberformeln wird der Punkt hervorgehoben, daß dieses Feuer „die verfallene, unreine Macht des Teufels versengt und verbrennt”. Solange die unauslöschliche Flamme sicher unter einem Stein bleibt, droht keine Gefahr. Entsprechend besagt eine germanische Zauberformel (Mansikka, 37): „Im Garten Christi gibt es einen Brunnen, in dem Brunnen gibt es einen Stein, unter dem Stein liegt eine goldene Schlange.” Diese Schlange kann auch ein Skorpion sein, wie wir soeben gesehen haben (Fußnote 3).
Entsprechend heißt es, daß „auf den Bergen Zions, auf dem weißen Stein, die Säule und der Altar Christi stehen” oder „eine Säule von der Erde bis zum Himmel”. In einem Gebet wird Christus mit „O, du tödliche Steinsäule” angeredet (Mansikka, 187). 3 V.J. Mansikka, op.cit., 189; siehe auch die Zauberformel auf Seite 35f; „Es gibt ein heiliges Meer, in seiner Mitte liegt ein weißer Stein, aus dem weißen Stein kommt eine grimmige Schlange, der Skorpion, hervor … In dem teuflischen Sumpf liegt der weiße Stein Latyr; auf dem weißen Stein Latyr aber sitzt der leibhaftige Teufel.” 2
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Die Mordwinen4 wissen eine lange Geschichte zu erzählen über Gott, Tscham-Pas, der im Urmeer auf einem Stein hin- und herschaukelte und dabei gründlich nachdachte, wie er die Welt erschaffen und wie er sie anschließend regieren solle, und er beklagte sich; „Ich habe weder einen Bruder noch einen Gefährten, mit dem ich diese Sache besprechen könnte.” Verärgert spuckte er ins Meer, der Speichel verwandelte sich in einen hohen Berg, aus dem Satan emporstieg und sich als Gesprächspartner anbot. Tscham-Pas schickte seinen neuen Gefährten auf den Meeresgrund, um von dort Sand zu holen. Dabei ermahnte er ihn, seinen (Gottes) Namen zu nennen, bevor er den Sand berühre. Sa- 384 tan tat es nicht und erlitt schwere Brandverletzungen von den Flammen, die aus dem Meeresgrund emporschossen; das wiederholte sich, und Tscham-Pas warnte Satan, daß ihn die Rammen, wenn er beim dritten Tauchen den göttlichen Namen nicht erwähnen sollte, vollständig verschlingen würden. Diesmal gehorchte der schlechte Kamerad und brachte schließlich den für die Schöpfung erforderlichen Sand. Aber da er nicht davon abließ, Streiche zu spielen, jagte Gott ihn weg, indem er sagte: „Du paßt mir nicht zum Gefährten, denn du bist schlecht, ich aber bin gut; sei daher verflucht und gehe auf des Meeres Grund, auf die andere Welt, in jenes Feuer, das dich verbrannt hat, weil es dein Stolz nicht zuließ, daß du den Namen deines Schöpfers erwähntest. Sitz dort und bleibe dort in aller Ewigkeit.” In Indien, wo das Wort „Ewigkeit” nicht so gedankenlos verwendet wird wie in europäischen Sagen, erzählt uns das Harivamsa laut John Dowson5 folgendes über den Sprößling des Weisen Aurva (das heißt: „aus dem Schenkel geboren”, uru): Der Weise wurde von seinen Freunden gedrängt, Kinder zu zeugen. Er gab nach, aber er sagte voraus, daß sein Nachkomme von der O. Dähnhardt, Natursagen (1907-1912), I, 60ff. J. Dowson, A Classical Dictionary of Hindu Mythology (8. Auflage, 1953), 32f.
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Vernichtung anderer leben werde. Dann ließ er aus seinem Schenkel ein verzehrendes Feuer entstehen, das mit einer lauten Stimme ausrief: „Ich bin hungrig; laß mich die Welt verschlingen.“ Die verschiedenen Regionen standen bald in Flammen, als Brahmā einschritt, um seine Schöpfung zu retten und dem Sohn Aurvas eine angemessene Bleibe sowie Unterhalt versprach. Der Wohnsitz war am Badavā-mukha, der Meeresmündung; denn Brahma war im Meer geboren und ruhte dort; und er und das jüngst geschaffene Feuer sollten die Welt am Ende eines jeden Zeitalters gemeinsam verschlingen und am Ende der Zeit alle Dinge mitsamt den Göttern, Asuras und Rākshasas verzehren. Folglich kennzeichnet der Name Aurva kurzum das Unterwasserfeuer. Es wird auch Badavānala und Samvarttaka genannt. Es wird als Flamme mit einem Pferdekopf dargestellt, und es wird auch Kākadhwaya genannt, weil es ein Banner trägt, auf dem eine Krähe abgebildet ist.
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Im Mahābhārata6 wird diese Geschichte vom Rishi Vasishtha (zeta Ursae maioris) erzählt, um seinen Enkelsohn zu beschwichtigen, der desgleichen den Wunsch hegt, die Welt ohne Aufschub zu vernichten; „Dann, O Kind, schleuderte Aurva das Feuer seines Zorns in den Wohnsitz von Varuna.7 Und das Feuer, welches die Gewässer des großen Meeres verzehrte, verwandelte sich in einen riesigen Pferdekopf, den diejenigen, die in den Veden bewandert sind, mit dem Namen Vadavamukha rufen. Und sich selbst aus jener Mündung verströmend, verzehrt es die Wasser des großen Meeres.” Dieser feurige Pferdekopf führt den Neugierigen geradewegs in die Labyrinthe des Mahābhārata und des Shatapatha Brahmāna, wo sie deshalb höchst undurchdringlich sind, weil sie von der rätselhaften Geschichte des Rishi Dadhyañk handeln, dessen Pferdekopf im See Saryanāvant verblieb, nachdem er den Ash-
Mbh. I.180-182 (Roy-Übersetzung, I, 410-414). Laut H.G. Jacobi, Mahābhārata (1903), 20: „Das Wasser, von dem die Welt ihren Ursprung nahm.“ 6 7
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vins, den Dioskuren,8 das „Geheimnis von Madhu” (madhuvidyâ; madhu = Honig) enthüllt hatte, und Tvashtri schmiedete aus den Knochen des Pferdeschädels für Indra den Donnerkeil, ihn auf diese Weise in die Lage versetzend, „die 99 Vritas” umzubringen9 – so wie auch Samson die Philister mit dem Kinnbacken eines Esels tötete –, wohingegen Vishnu diesen Kopf dazu verwendete, die Veden zurückzuerobern, die zwei Daityas während eines „Yoga-Schlafs” Vishnus weggetragen hatten. Der Veden beraubt, war Brahma, dem sie als „Augen” dienten, unfähig, das Schöpfungswerk fortzusetzen, so daß er den Herrn des Universums anflehte, aufzuwachen. „Gelobpreist von Brahma, schüttelte der erlauchte Purusha … seinen Schlummer ab und entschloß sich, die Veden zu retten (von den Daityas, die sie gewaltsam an sich gerissen hatten). Seine Yoga-Kraft anwendend, nahm er eine zweite Gestalt an … Er eignete sich einen Pferdekopf von großem Glanz an, welcher der Wohnsitz der Veden war. Mit all seinen Gestirnen und Konstellationen wurde das Himmelsgewölbe zur Krone seines Kopfes … Der Herr des Universums verschwand sogleich und begab sich zu den niederen Regionen”10 – um erfolgreich mit den Veden zurückzukommen und, wie sich von selbst versteht, seinen Schlaf wiederaufzunehmen. Mit anderen Worten: Der „Pferdekopf“ ist eine ebenso wichtige wie enigmatische Erscheinungsform von Vishnu, über die uns das große Epos folgendes berichtet: In alten Zeiten inkarnierte sich Narayana [= Vishnu, H.v.D.] als der Rishi Vadavamukha, um der Welt Gutes zu tun. Während er damit Vgl. RV I.116.12; ŚB XIV.1.1.18 (Eggeling-Übersetzung. 5, 444f); Saunakas Brihad Devata III.16.25 (Mcdonell-Übersetzung, 2, 82-85). 9 Vgl. RV I.84.13; Mbh. XII.343 (Roy-Übersetzung, 10, 578). Siehe für die gesamte Überlieferung Kanten Rönnow, „Zur Erklärung des Pravargya, des Agnicayana und des Sautrāmanī”, Le Monde Oriental (1929), 113-173; siehe auch A. Keith, „Indian Mythology”, MAR VI (1917), 61, 64. 10 Mbh. XII.48 (Roy-Übersetzung, 10, 605). 8
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beschäftigt war, sich auf der Brust von Meru in strenger Askese zu üben, rief er das Meer zu sich. Das Meer kam jedoch seinen Aufforderungen nicht nach [auch der griechische Okeanos hatte die Angewohnheit, nicht in Erscheinung zu treten, wenn Zeus jeden aufforderte, sich bei ihm zu versammeln, H.v.D]. Darüber erzürnt, bewirkte der Rishi mit der Hitze seines Körpers, daß die Gewässer des Meeres im Geschmack so salzig wurden wie der menschliche Schweiß. Ferner sagte der Rishi: „Fortan soll dein Wasser nicht mehr trinkbar sein. Nur wenn der Pferdekopf dein Wasser trinken wird, während er dich durchstreift, wird es süß wie Honig sein.“ – Es ist aufgrund dieses Fluchs, daß die Gewässer des Ozeans bis auf den heutigen Tag salzig schmecken und von niemand anderem als dem Pferdekopf getrunken werden.11
Ohne sich auf das erste Buch des Epos zu beziehen, bemerkt der Übersetzer, Pratap Chandra Roy, in einer Fußnote (583): 386
Die Hindu-Schriften erwähnen, daß es einen Pferdekopf von gewaltigen Ausmaßen gibt, der durch das Meer streift. Aus seinem Maul kommen ständig lodernde Flammen, und diese trinken das Meerwasser aus. Unaufhörlich gibt er ein brüllendes Geräusch von sich. Er wird Vadava-mukha genannt. Das aus ihm hervorzüngelnde Feuer wird Vadava-nala genannt. Die Gewässer des Ozeans sind wie abgeklärte Butter. Der Pferdekopf trinkt sie, wie das Opferfeuer die über ihm ausgegossenen Trankopfer aus abgeklärter Butter trinkt. Die Herkunft des Vadava-Feuers wird manchmal dem Zorn Urvas zugeschrieben, ein Rishi aus dem Geschlecht des Jamadagni. Von daher wird es manchmal Aurvya-Feuer genannt.
Keiner der bisher zitierten Autoritäten hielt es für erforderlich zu erwähnen, wo sich dieser Vadava-mukha eventuell befinden könnte. Erst als wir das Wort in Macdonells Practical Sanskrit Dictionary (267) überprüften, erfuhren wir – genau wie vorhergesehen, obgleich Macdonell wahrscheinlich einen terrestrischen Südpol meint –, daß „vádabā, f. = mare; Vivasvat’s wife, who in the form of a mare became the mother oft the Ash11
Mbh. XII.343 (Roy-Übersetzung, 10, 583).
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vins … vadaba-agni, m. submarine fire (supposed to be situated at the south pole) … vadaba-mukha, n. mare’s mouth = entrance of hell at the south pole.” Es besteht wenig Aussicht, diese düsteren Fabeln in eine klare und verständliche Geschichte umzuändern, indem wir uns hier und jetzt entweder näher mit Dadhyañk beschäftigen – von dessen Namen es heißt, er bedeute „Milch gerinnen lassend”, und der ein „Erzeuger von Agni” ist – oder indem wir die verschiedenen Charaktere vergleichen, denen vorgeworfen wird, den Ozean zu verschlucken: Wir hoffen nur, die Aufmerksamkeit auf eines von den vielen nicht wahrgenommenen konkreten Problemen zu lenken. Den meerverschlingenden Pferdekopf mit dem gleichermaßen durstigen Agastya/Canopus zu verknüpfen,12 dazu ermuntert uns kein Geringerer als Ptolemaios (Geogr. I.7.6,),13 der, Marinos zitierend, arabische Sternnamen aufzählt, darunter „kaì tòn Kánôbon astéra, hostis ekei légetai híppos kaí esti notiôtatos (und den Stern Kánôbos, der dort Pferd genannt wird, und der der südlichste ist).” Wenig später (I.7.8.) wird der Name Hippos erneut anstelle von Kánôbos genannt. Allerdings bleiben die hier Siehe Seite 240. Vgl. auch Varāhamihīra, The Brihad Sanhita, übersetzt von H. Kern, in JRAS 5 (1871), 24. Für eine verwandte und sehr merkwürdige Sage der Maori siehe The Lore of the Wharewānanga, übersetzt von S. Smith, in Mem. Polynesian Soc. 3 (1913), 156f, 164, sowie für eine Zusammenfassung M. Makemson, The Moming Star Rises: An Account of Polynesian Astronomy (1941), 157. Dort erhitzten sich und verdampften die Himmelswasser von Rangi-tamaku (das heißt: jener Himmel, welcher direkt oberhalb des sichtbaren liegt), so daß ganze Gruppen von Himmelsfischen auswandern mußten, indem sie die „Straße der Spinne“ hinabstiegen, auf der sie Tawhaki trafen, der auf seinem Weg nach oben war, um seinen Vater zu rächen. 13 F. Boll, Sphaera (1903), 468, Anm. 1; A. Scherer, Gestirnnamen (1953), 126; P. Knnitzsch, Arabische Sternnamen in Europa (1959), 208f, Anm. 2; H. von Dechend, „Bemerkungen zum Donnerkeil”, Festschrift Willy Hartner (1977), 99. 12
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wiedererzählten Geschichten so undurchsichtig, wie sie es zuvor gewesen sind, weil wir noch nicht wissen, von welchen planetarischen Stellvertretern des Canopus jeweils die Rede ist. Da es nicht gerade „natürlich” genannt werden kann, Pferde und Pferdeköpfe mit tiefsten Gewässern zu verbinden, schließen wir mit einer von Jacob Grimms Geschichten:14 Ihre Tiefe zu messen leiden die Seen nicht. Nachdem die Messer bereits neun Zwirnnetz Garn mit einem Senkel in den Mummelsee herabgelassen, ohne Boden zu finden, begann das Floß, worin sie saßen, plötzlich zu sinken und in schneller Flucht ans Land mußten sie ihr Heil suchen … Einer fuhr mit einem Kahn auf die Mitte des Titisees und warf an fast endloser Schnur das Senkblei aus. Da rief es aus der Flut in fürchterlichem Tone: „Missest du mich, so fresse ich dich!” Nun voll Schrecken ließ der Mann von seinem Unternehmen ab, seitdem hat niemand gewagt die Tiefe des Sees zu ergründen. Ähnlich erzählt Thiele … vom Huntsöe, als man die Tiefe ermessen wollte und ein Pflugeisen am Seil hinab ließ, erscholl eine Stimme der Geister von unten herauf: „I maale vore vägge, vi skal maale jeres lägge!” Erschrocken zog man wieder herauf, fand aber statt des Eisens einen alten Pferdeschädel am Seil.
Appendix 24 Vergleiche Popol Vuh: The Sacred Book of the Ancient Quiché-Maya [engl. Übersetzung von D. Goetz und S. Morley (1951), 99-102]. Was die Flucht von Zipacna betrifft, vergleiche die von Leo Frobenius gezeichnete Verbreitungskarte [Paideuma I (1938), 8, Karte 3 – „Der Lausbub im Hauspfeiler”]. Für das gesamte Motiv des Einstürzens von Pfeilern und Häusern vergleiche Eduard Stucken, Astralmythen (1896-1907) 73f für 14
J. Grimm, DM, 497 (TM 597f).
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den Tod von Nebrôd, laut Cedrenus – von Kain, laut Leo Grammaticus Chron., 8 (Kain, hōs legei Mōysēs, tēs oikias pesousēs ep’auton eteleutēsen); 329f für den Fall Susa-no-Wo; 348 für den türkischen Depe Ghöz; 402f für Zipacna: dort möchte er auch Hiob 1.18 eingliedern. Stuckens völlige Blindheit für die bloße Existenz von Planeten hat ihn von einem besseren Verständnis abgehalten. Folglich behauptet er im Fall Hiob 1.18: „Auch hier ist es die Orion-Gottheit (Satan-Ahriman), welche den Hauseinsturz verursacht, um die Plejaden-Gottheit (Hiob) zu züchtigen.” Diese Blindheit ist um so erstaunlicher, als Stucken Eisenmengers gewaltiges Werk Entdecktes Judenthum (1711) gelesen hat, in dem er die (in rabbinischen Schriften vertretene) Identität des Planeten Mars mit der Schlange im Paradies, mit Kain, Esau, Abimelech, Goliath, Samuel, dem Sündenbock und vielen anderen hätte feststellen können.
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Appendix 25 Wilhelm Radloff, Proben der Volksliteratur der Türkischen Stämme Süd-Sibiriens II(1868), 242f, Zeile 597-664: Wohin er ritt, Wusste Kara Pār selbst nicht, Sein Auge vermochte nichts zu sehen, Da blieb das mondschwarze Pferd stehen. Als der neunjährige Kara Pār nachsah, Steht am Nabel der Erde ein kupferner Pfeiler Um diesen kupfernen Pfeiler herauszuziehen, Haben sich dort Helden und Starke versammelt, Sie vermochten ihn nicht herauszuziehen. Der Jüngling mit dem weissblauen Pferde kam auch hierher. Der neunjährige Kara Pār spricht: „Wenn man zu diesem Pfeiler kommt, „Geziemt es den namenlosen zu benennen, „Hast du einen Namen?” also Fragte er den Jüngling mit dem weissblauen Pferde. „Ich habe keinen Namen”, spricht er. „Wenn du keinen Namen hast, „Will ich dir einen Namen geben! „Sei du Alyp Salai mit dem weissblauen Pferde! „Steig’ ab und hebe diesen Pfeiler auf!” Alyp Salai stieg ab, Seine beiden Aermel streifte er auf, Seine beiden Rockschösse steckte er zurück, An den Pfeiler presste er sich. Als er sogleich zog, Diese Erde von unten her, Diese Erde von oben her Krachte, Aufzuheben vermochte er ihn nicht Zum zweiten Male packte er ihn,
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Wiederum zog Alyp Salai, Aber heben konnte ihn nicht Alyp Salai. Zum drittenmal presste er sich an den Pfeiler, Als er schnell anzog, Hebt sich die Erde mit in die Höhe, Bis zum Knie hebt sie sich, Herauszuziehen vermochte er nicht, liess ihn los. Der neunjährige Kara Pār Stieg vom Pferde, Seine beiden Aermel streifte er auf, Seine beiden Rockschösse steckte er auf Hinzueilend packte er ihn. Schnell zu dem kupfernen Pfeiler kommend, Hob er den kupfernen Pfeiler auf Die schwarze Erde hob sich mit auf Bis zum Knie hob er ihn. Herausziehen konnte er nicht, liess ihn los. Zum zweiten Male packte er den kupfernen Pfeiler, Auch die Erde hob sich auf Bis zum Gürtel hob er ihn auf, Herausziehen konnte er nicht, liess ihn los. Zum dritten Male packte er ihn, Sogleich hob er ihn, Die schwarze Erde hob sich mit, Bis zur Schulter und zum Kopf hob er ihn, Den kupfernen Pfeiler zog er heraus. Die Erde senkte sich wieder. Hundert Klafter weit trug er ihn, Ihn zurückbringend, stellte er ihn wieder hin. An diesen Pfeiler schrieb er eine Schrift: „Seit Alters her „Konnte man den Pfeiler nicht bewegen, „Der neunjährige Kara Pār „Hat diesen Pfeiler herausgezogen, „Die späteren Geschlechter
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„Mögen sich hier versammeln und zusehen, „Ob sie ihn herausziehen können. „Ob sie ihn nicht herausziehen können … ”
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Solche Geschichten sind keine Witze, wiewohl sie diesen Eindruck machen, wenn wir im eurasischen Volksglauben auf sie treffen. „Luft” ist ein streng astronomischer und folglich auch ein „religiöser” Terminus. Entsprechend erfahren wir von Rabbi Eleazar b. Pedath (ca. 270 n.Chr.): „Als der Pharao aus Ägypten auszog, die Israeliten zu verfolgen, erhoben sie ihre Augen gen Himmel und sahen den Engelsfürsten Ägyptens in der Luft fliegen.” „Das bedeutet Ägyptens eigenen Sturz”, kommentiert Alfred Bertholet, der diesen Fall in seinem Artikel über den, im Buch Daniel X.13 begegnenden, „Schutzengel Persiens” erwähnt [Festschrift Pavry (1933), 38]. In diesem Zusammenhang verweist er auch auf die Äußerung des Rabbi Chanina (ca. 225 n.Chr.): „Nicht bestraft Gott eine Nation eher, als bis er zuvor ihren Engelsfürsten im Himmel bestraft hat“, und auf Jesaja XXIV.21: „Und an jenem Tag wird Jahwe bestrafen das Heer der Höhe in der Höhe, und die Könige der Erde auf der Erde” (KautzschÜbersetzung; LXX: kaì epáxei ho theòs epì tòn kosmón tou ouranou tên cheira, kaì epì tous basileis tês gês). Diese „Schutzengel” wird man früher oder später identifizieren, sofern dies nicht schon in älteren Schriften geschehen ist, die unsere Zeitgenossen als „obsolet” verschmähen; einer von ihnen, der „Engelsfürst” von Esau/Edom, mit dem – dem Sohar zufolge – Jakob kämpfte (Genesis XXXII.24-33), ist der Planet Mars.1 Wie 1
Siehe J. Eisenmenger, Entdecktes Judenthum 1 (1711), 844-846; vgl. The
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das ganze System wirklich funktioniert, wird man nicht verstehen, solange man nicht Platons Timaios so ernst nimmt, wie es von dem Pythagoreer Timaios selbst geschah, den Platon als „astronomikōtaton hēmōn” vorstellte, das heißt: als den am meisten astronomisch Denkenden unter uns – und solange der Timaios nicht als Grundlage akzeptiert wird, auf die man für weitere Untersuchungen aufbauen muß. (Siehe unten, Kapitel 22, für ein oberflächliches Eingehen auf dieses kosmische System.)
Appendix 27 Ein schwaches, wenngleich erfreuliches Echo auf derart gewaltige Ereignisse stammt aus einer estnischen Geschichte über den See Eim, der sein Bett wechselt:1 Wilde böse Menschen wohnten an seinem Ufer, sie mähten die Wie- 391 sen nicht, die er wässerte, besäten die Acker nicht, die er fruchtbar machte, sondern raubten und mordeten, daß die klare Flut durch das Blut der Erschlagenen getrübt wurde. Da trauerte der See; eines Abends berief er seine Fische alle und hob sich mit ihnen in die LüfZohar, 144a, 146a [übersetzt von H. Sperling und M. Simon (1956), 2? 63, 70f]: „Denn Jakob besiegte die Schlange durch Klugheit und Geschicklichkeit, aber hauptsächlich mit Hilfe des Ziegenbocks; und obgleich die Schlange und Sammael dieselben sind, bezwang er Sammael durch eine andere Methode, wie in der Textstelle beschrieben, die besagt: Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach (Genesis XXXII.25-26).” Und: „Einen weiteren Segen erhielt er [Jakob] von jenem Engel, dem Anführer (chieftain) von Esau.” A. Jeremias (ATAO, 324) behauptet, daß der Kampf am „Nibiru” stattfand, das er hier mit dem Solstitium gleichsetzt; aber siehe Appendix 45. Für Engel als Sterne siehe auch M. Knapp, Antiskia (1927), 33-36. 1 J. Grimm, DM, 498f.
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te. Als die Räuber das Tosen vernahmen, riefen sie: „Der Eim ist aufgestiegen, laßt uns seine Fische und Schätze sammeln.“ Aber die Fische waren mit gezogen und nichts fand sich in dem Grund als Schlangen, Molche und Kröten, die stiegen heraus und wohnten bei dem Räubergeschlecht. Aber der Eim stieg immer höher und eilte einer weißen Wolke gleich, durch die Luft; die Jäger in den Wäldern sprachen: „Welch ein dunkles Wetter zieht über uns?”, die Hirten: „Welcher weiße Schwan fliegt in der Höhe?“ Die ganze Nacht schwebte er unter den Sternen, am Morgen erblickten ihn die Schnitter, wie er sich senkte, und aus dem weißen Schwan ein weißes Schiff, und aus dem Schiffe ein dunkler Wolkenzug ward. Und es sprach aus den Gewässern: „Hebe dich von dannen mit der Ernte, ich will wohnen bei dir.” Da hießen sie ihn willkommen, wenn er ihre Äcker und Wiesen bethauen wolle, er senkte sich nieder und breitete im neuen Lager sich aus nach allen Enden. Sie ordneten sein Bett, zogen Dämme, pflanzten junge Bäume ans Ufer, seine Wellen zu kühlen. Da machte er die ganze Gegend fruchtbar, das Gefilde grünte und sie tanzten um ihn, daß der Alte jugendlich froh ward.
In einer Fußnote zitiert Grimm die Meinung von Friedrich Thiersch über diesen See: Sollte Eim nicht der Embach (Mutterbach, von emma Mutter … ) bei Dorpat sein, dessen Entstehung in folgender Sage berichtet wird? Als Gott Erde und Himmel erschaffen hatte, wollte er den Thieren einen König verleihen, der sie in Ordnung halte, und befahl ihnen zu dessen Empfang einen tiefen, breiten Bach zu graben, an dessen Ufern er sich ergehen könne; die ausgegrabene Erde sollte einen Berg, wo der König wohne, bilden. Alle Thiere stellten sich zur Arbeit, der Hase maß ab und der Schwanz des ihm nachspringenden Fuchses bezeichnete den Lauf des Embachs; nach völliger Ausgrabung des Flußbettes goß Gott aus seiner goldenen Schale Wasser hinein.
Wie zäh das Leben der Überlieferung ist! Und wie naheliegend – an dieser Stelle meinen wir es wirklich so –, daß es um
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mehr geht als nur um die Veränderung des Laufs eines Flußbettes oder Sees; daß Flüsse ihre eigene Methode haben, sich einen neuen Lauf einzurichten, ohne mitsamt den Fischen in die Luft zu fliegen und unter den Sternen zu hängen, ist eine Tatsache, die – und darauf verlassen wir uns – unseren Vorfahren nicht unbekannt war, ob es sich dabei um Esten handelte oder nicht.
Appendix 28 Ein Überlebsel, das sehr vage ist und offensichtlich einen Streitwagen mit einem Lastkarren verwechselt, finden wir in Indien. Der Sūrya-Siddhānta stellt fest: „Im 17. Grad des Stiers wird ein Planet, dessen Breitengrad etwas über zwei Grad südlich ist, den Karren von Rohini spalten.”1 Laut Burgess enthält Rohinis (= Aldebaran) Karren „fünf Sterne, in deren Gruppierung Hindu-Phantasie die Figur eines Karrens gesehen hat”, also die Hyaden, die epsilon delta gamma nu alpha Tauri enthalten. Burgess fährt fort (249): „Der Siddhānta sagt uns nicht, was die Konsequenzen eines solchen Vorkommnisses wären; das gehört eher in die Domäne der Astrologie als in die der Astronomie. Wir zitieren aus dem Pancatantra (VV. 238-241) die folgende Schilderung dieser Konsequenzen, abgeleitet aus den astrologischen Schriften von Varahamihira: ,Wenn Saturn hier in dieser Welt den Wagen von Rohini spaltet, wird der Mādhava 12 Jahre lang nicht auf die Erde regnen. Wenn der Wagen von Prajāpatis Mondstation gespalten wird, präsentiert die Erde, die sozusagen eine Sünde begangen hat, ihre OberSūrya-Siddhānta, übersetzt von E. Burgess, (1860; Neuauflage 1935), VII. 13, 248ff.
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fläche in einer Weise, daß sie mit Asche und Knochen bestreut ist, die Kāpālika-Strafe. Wenn Saturn, Mars oder der absteigende Knoten den Wagen von Rohini spaltet, wird – warum muß ich das erst sagen? – ein Meer von Unglück und Zerstörung über die Erde kommen. Wenn der Mond seine Position in der Mitte von Rohinis Wagen hat, wandern die Menschen rücksichtslos umher, ohne Obdach, das gekochte Fleisch von Kindern essend und Wasser aus Gefäßen trinkend, die von der Sonne gebrannt wurden.’
Auf welcher Konzeption dieser kuriose Zug alter HinduAstrologie beruht, entzieht sich völlig unserer Kenntnis.” Im Gedächtnis indischer Astrologen scheinen die schlechten Erfahrungen, die Saturn mit Aurigas Fahrzeug – ob nun beta zeta Tauri oder die Hyaden – hatte, eine tiefe Spur hinterlassen zu haben.
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Appendix 29 Siehe Johannes Kepler: „De Stella Nova in Pede Serpantarii et qui sub ejus exortum de novo iniit Trigono Igneo”, in Opera Omnia, hrsg. von Christian Frisch (1859), II, 636. Siehe auch Johannes Kepler; „De vero anno quo Aeternus Dei Filius humanam naturam … assumsit”, in Opera Omnia (1863), IV, 346ff. Kepler interessierte sich weniger für die Umlaufzeit eines Winkels des Trigons durch den gesamten Zodiak als für die Zeitspanne, welche die Konjunktionen benötigen, um alle vier „Elemente” zu passieren, insbesondere zwischen Konjunktionen der „Feuer-Triplizität”. Der Zodiak wird auf folgende Weise in vier „elementare” Trigone oder Triplizitäten unterteilt:
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Feuer: Erde: Luft: Wasser:
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Aries, Leo, Sagittarius Taurus, Virgo, Capricornus Gemini, Libra, Aquarius Cancer, Scorpio, Pisces
Die „große Konjunktion” von Saturn und Jupiter, die alle zwanzig Jahre auftritt, verweilt etwa 200 Jahre innerhalb einer Triplizität; um sich durch alle vier „Elemente” zu bewegen, braucht sie 800 Jahre (genauer: 794 1/3 Jahre). Mit Hilfe der durchschnittlich 800 Jahre, welche die Konjunktion benötigt, um von einer „Feuer-Triplizität” in die nächste zu gelangen, rekonstruierte Kepler Geschichte: 4000 v. Chr. Adam 3200 Henoch 2400 1600 800
Noah Moses Jesaja
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Christus
800 n.Chr.
Carolus Magnus
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Rudolph II
Creatio mundi Latrocinia, urbes, artes, tyrannis Diluvium Exitus es Aegypto. Lex Aera Graecorum, Babyloniorum, Romanorum Monarchia Romana. Reformatio orbis Imperium Occidentis et Saracenorum Vita, facta et vota nostra, qui haec disserimus
Was die – weit entfernten – 2400 n. Chr. anbelangt, so bemerkt Kepler: „Ubi tunc nos et modo florentissima nostra Germania? Et quinam successores nostri? An et memores nostri erunt? Siquidem mundus duraverit.” („Florentissima Germania”: das wurde vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges geschrieben.) Vergleiche Hans H. Kritzinger [Der Stern der Weisen (1911), 35, 44, 59], der sich ausführlich mit der Bedeutung „großer Konjunktionen” beschäftigt und ergänzt:
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„Dieselbe Tafel wurde, mit präziseren Angaben, von Riccioli in seinem Almagestum Novum Tom. 1, 672-675, wiederholt, beginnend mit den Zeilen: Ignea Triplicitas, coniunctio Maxima dicta Saturniq. Jouisque, annis redit Octingentis.” Was hier „große Konjunktion” genannt wird und alle zwanzig Jahre stattfindet, ist in früheren Zeiten, das heißt; in sassanidischer und arabischer Astrologie, als „kleine Konjunktion” formuliert worden, wie wir von Edward S. Kennedy erfahren:1 Nach etwa 12 solcher kleinen Konjunktionen wird die nächste Konjunktion in die nächste Triplizität vorrücken. Dieses Ereignis, Wechsel oder Transit (intiqâl al-mamarr) genannt, ist auch als die mittlere Konjunktion bekannt … Vier mittlere Konjunktionen tragen das Phänomen durch alle Triplizitäten und ergeben eine große Konjunktion. Aber damit der gesamte Zyklus von einem bestimmten Ausgangszeichen an, für das man den Steinbock nimmt, wieder von vorne beginnen kann, sind drei große Konjunktionen erforderlich, die eine mächtige Konjunktion ergeben.
Eine „mächtige Konjunktion” korrespondiert folglich mit der Umlaufzeit eines Winkels oder einer Ecke des Trigons der Jupiter-Saturn-Konjunktionen – aufgebaut innerhalb von annähernd 60 Jahren – durch den gesamten Zodiak, die nach ungefähr 2400 Jahren (respektive 2363 Jahren) vollzogen ist. Es steht zu vermuten, daß diese „mächtige Konjunktion” auch der Gegenstand des (Pseudo-) Ptolemaischen Centiloquium (Kapitel 50)2 ist: „IgnorieE.S. Kennedy, „The Sasanian Astronomical Handbook Zîj-i Shâh, and the Astrological Doctrine of ,Transit’ (Mamarr)”, in JAOS 78 (1958), 259. 1
Ptolemaios, Pseudo-Plotemaei Fructus sive Centiloquium, hrsg. von E. Boer (1961), BT), 49: „Mê paradrámês tàs 119 synódous tôn planêtôn. En autais gàr keitai hê gnôsis tôn genoménôn en tô kósmô tês genéseôs kaì tês phthoras.” (119 Konjunktionen = 2362,3907 Jahre, laut Stefan Fuchs.) 2
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re nicht die 119 Konjunktionen der Planeten, denn auf ihnen beruht unser Verständnis aller Dinge, die entstanden sind im Kosmos des Entstehens und Vergehens.” Auf die Rolle von Saturn-Jupiter-Konjunktionen im allgemeinen sowie des Trigons im besonderen in Iran, Indien3 und anderwärts kann hier nicht eingegangen werden. Dem Vernehmen nach wurden große Konjunktionen weder in der indischen noch der hellenistischen Astrologie berücksichtigt. Aber wo immer wir auf Zyklen von 60 Jahren stoßen – wie in Indien,4 bei den Dogon und bei den griechischen Daidalia –, muß Vertrautheit 395 mit dem Trigon wenigstens erwogen werden. Da bleibt noch viel zu tun.
Appendix 30 Eduard Stucken [Astralmythen (1896-1907), 190ff] und später William Faxwell Albright (JAOS 40, 329f) machten darauf aufmerksam, daß genau dieselbe Methode angewendet wurde, als Rishyasringa – Sohn von Vibhandaka (Sohn von Kashyapa) und einer Hindin – von einer Kurtisane, die von König Lompada beaufDavid Pingree, „Astronomy and Astrology in India and Iran”, in ISIS 54 (1963), 244ff; al-Bīrūnī, Chronology of Ancient Nations, 28f, 91; Oskar Marcel Hinze, „Studien zum Verständnis der archaischen Astronomie”, in Symbolon, Jahrbuch für Symbolforschung 5 (1966), 203ff; B.L. van der Waerden, „The Conjunctions of 3102 B.C.”, in Centaurus 24 (1980), 117-131. Diese, nicht beobachtete, sondern in späterer Zeit auf den 17. (oder 18.) Februar 3012 v.Chr. zurückberechnete Konjunktion leitet die Flut und den Beginn des Kali-Yugas im Mahābhārata ein. 4 Siehe zum Beispiel al-Bīrūnī, India (1964), Kapitel 62, II, 123-126; dort handelt es sich aber ausschließlich um die „Abrechnung”, das einander „Buße-zahlen” von Jupiter und der Sonne. 3
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tragt worden war, in die Stadt des letzteren gelockt wurde, denn nur wenn er anwesend wäre, würde das Land Regen haben.1 Der Hauptunterschied zwischen GE und der im Mahāhhārata III.110-113 (Roy-Übersetzung, 2, 242-248) erzählten Geschichte besteht darin, daß Vater Vibhandaka derjenige ist, „dessen Körper bis zu den Spitzen der Nägel mit Haaren bedeckt war … und dessen Leben rein war und mit religiösen Meditationen verbracht wurde”; verführt wird der Sohn, der augenscheinlich nicht behaart ist, aber „da wuchs ein Horn auf dem Kopf dieses edelmütigen Heiligen“. „Heilige“ waren sie beide – jene Inder der „Urzeit” hatten die Angewohnheit, tapas, „asketische Hitze”, zu erzeugen, ein Instrument von höchster kosmischer „Effizienz”, wenn wir es so formulieren dürfen.
Appendix 31 Es ist noch nicht einwandfrei erwiesen, was das Wort sĭppu bedeutet.1 Für den Stil dieses Kampfes, von Cyrus Gordon als „Gürtelringen” charakterisiert (INES 7, 264), siehe Adolf Leo Oppenheim, Or. 17, 29f. „Sie packten einander (bei den Gürteln), wie Experten / Rangen sie. / Sie zerschmetterten den Türpfosten / Es erbebte die Wand.“' Siehe auch E.A. Speiser, „Akkadian Myths and Epics”, ANET, 78. Dieser „Türpfosten” ist keine quantité negligeable, denn am „Eingang“ zum Zedernwald treffen wir auf ein ähnliches „Objekt”, das mit dem armen Enkidu die teufVgl. Heinrich Lüders, „Die Sage von Rishyashringa”, Philologica indica (1940), 1-42; auch H. Lüders, ,,Zur Sage von Rishyashringa”, ebda., 43-73. 1 Siehe W. Baumgartner, „Untersuchungen zu den akkadischen Bauausdrücken”, ZA 36 (1925), 27, 63; Albert Schott, „Zu meiner Übersetzung des Gilgamesch-Epos”, ZA 42 (1934), 105f. 1
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lischsten Dinge anstellt.2 Wären wir vom GE ausgegangen, anstatt ihm nur einen gelegentlichen Besuch abzustatten, hätten die 396 verschiedenen „Türen” mit ihren „Pfosten” oder die „Säulen” mit ihren „Füllungen” in der Tat eine so paralysierende Wirkung auf uns gehabt wie das Auge der Medusa.
Appendix 32 Siehe Felix Gössmann, Planetarium Babylonicum (1950), 99; „ilDapinu, ,der Herrschende, der Starke’, Beiname von Nusku (passim), von Nabu, von Marduk … Als Stern-Gott ist ilDapinu der Marduk-Stern Jupiter, identisch mit dSUL.PA.E3 … , mulUD. AUTAR … Da mit UD.AL.TAR auch der Fixstern Prokyon gemeint sein kann, muß auch ilDapinu diese Bedeutung haben (Jensen: ,der Furchtbare, Gewaltige (= Humbaba)’, ZDMG 67, S. 517).”1 Siehe auch Gössmann, 137, s.v. mulUD.AL.TAR; „I. Akkadisch soviel wie umu dapinu … der volle Name von Jupiter, II. Prokyon. Prokyon scheint zu Jupiters Hypsoma, Cancer, gerechnet worden zu sein.” Siehe auch E. Weidner, Handbuch der Babylonischen Astronomie (1915), 25. Für Prokyon als Teil des Krebses siehe RLA III, 77; für al.lu5, manchmal das Tierkreiszeichen Krebs, ansonsten Prokyon symbolisierend, siehe B.L. van der Waerden, „The Thirty-Six Stars”, JNES 8 (1949), 21. Langdon [Semitic Mythology (1931), 268] erwähnt die Gleichsetzung Humbaba = Prokyon, ohne die Quelle anzugeben und ohne Konsequenzen aus dieser Identifikation zu ziehen. Vgl. Johannes Friedrich. „Die hethitischen Bruchstücke des GilgamešEpos“; ZA 39 (1929-1930), 48f. Friedrich bewies immerhin, daß es nicht der Riegel war. 1 Für die Identifizierung von Nusku mit Merkur siehe Hildegard und Julius Lewy, „The God Nusku”, Or, 17 (1948), 146-159. 2
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Was Humbaba mit der Determinante mul (respektive kakkab auf Babylonisch) anbelangt, so informiert uns Weidner (RLA II, 389) über die Existenz von zwei Listen, die von „7 astralen EnlilGottheiten” handeln. Liste 1 erklärt – wir zitieren sie nach Weidner, da es an dieser Stelle unwesentlich ist, ob die Identifizierungen durchgehend richtig sind oder nicht: „Perseus ist der Enlil von Nippur, g-Ursae maioris ist der Enlil von Enamtilla, alpha Kassiopeiae ist der Enlil von Hursag-kalama, Columba ist der Enlil von Kulab, Taurus ist der Enlil von Arrata, kHumba (= ?) ist der Enlil von Šuba (?)-Elam, Arkturus ist der Enlil von Babylon.” Liste 2 läßt mulHumba aus (vergleiche auch Weidner, Handbuch, 58-60). Auf F. Boll / C. Bezold [Antike Beobachtungen farbiger Sterne (1916), 121] verweisend, konstatiert Gössmann (188), daß laut VAT 0418 III 3 „mulHUMBA mulAPIN ersetzt”. Letzteres, das „Pflug-Gestirn”, ist Triangulum und g-Andromedae (siehe van der Waerden, JNES 8, 13). Nun ist es von erheblichem Interesse, von Georg Hüsing2 zu erfahren, daß „der höchste Gott von Elam … Humban (Hanubani, Hamban-Umman, Imbi)” (vermutlich) derselbe wie Hanuman ist, der Affen-Gott, der listige Ratgeber von Rama (Hüsing hält auch Humban für einen Affen); und bei Charles Dupuis lesen wir: „Dans l’explicalion des Fables Indiennes, nous avons toujours trouvé que Procyon étoit le fameux singe Hanuman. Il fixe le lever du Sagittaire, avec lequel le singe est en aspect (Kircher, Oedipus 2 II, 201).”3 Wenn man bedenkt, daß Prokyon zu den Sternen des Krebses gezahlt wurde – eine Konstellation, die den Namen Nangar = Zimmermann trug –, könnte die Zwölfte Tafel des GE, die rein sumerischer Herkunft ist, eine völlig neue Bedeutung erhalten. Dort jammert und klagt Gilgamesch ausgiebig über den Verlust G. Hüsing, Die einheimischen Quellen zur Geschichte Elams (1916), 11, 95. 3 Ch. Dupuis, L’Origine de tous les Cultes ei toutes les Religions (1975), 3, 363. 2
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einiger Gegenstände, die er dort zurückließ (beziehungsweise es versäumte, sie zurückzulassen), wo sie in Sicherheit hätten sein sollen, nämlich im „Haus des Zimmermanns”, Nangar. Wenn Humbaba einmal von seinem Ruf als „Unhold” befreit sein wird, wird die Zeit gekommen sein, sich außer Prokyon, dem FixsternRepräsentanten von Jupiter und Merkur, auch Kombabos und seinen Doubles in iranischer und indischer Mythologie zuzuwenden.4 Die Geschichte des jungen Kombabos, der sich vorsichtshalber kastrierte, als er zum Reisebegleiter von „Cäsars Ehefrau” ernannt wurde, ist bis heute mit dem „Ungeheuer” aus dem Zedernwald unvereinbar gewesen, obwohl die Gelehrten darin übereinstimmen, daß die Namen Humbaba und Kombabos identisch sind. Es würde sich lohnen zu überprüfen, ob die vorgeschlagene Gleichung Humbaba = Merkur auch auf Kombabos zutrifft oder nicht. Franz Karl Movers neigte allerdings dazu, Kombabos mit Saturn gleichzusetzen.5
Lukian, „De Dea Syria”, in Lucian, übersetzt von A.M. Harmon, 4, 1927, LCL. Lukian behauptet, daß Kombabos der Prototyp der galloi war, was bedeutet, daß nach seinem Beispiel die Priester der Großen Göttin sich selbst kastrierten und weibliche Kleidung trugen. Siehe auch F. Liebrecht, Des Gervasius von Tilbury Otia Imperialia (1856), 216f; Ganschinietz, in RE XI, 1132-1139; Émile Benveniste, „La Légende de Kombabos”, in Mélanges Syriens offerts à René Dussaud (1939), 249-258. 4
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RK. Movers, Die Phönizier (1841/1967), I, 154, 306-309, 686-689.
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Siehe A.L. Oppenheim, „Mesopotamian Mythology”, Or. 17 (1948), 40; „Nachdem Enkidu ihr das entgegengeschleudert hat … , was euphemistisch als die ,rechte Keule’ des Stiers bezeichnet wird, zelebrierten die Göttin und ihre Anhänger uralte Rituale über diesem Teil des Stiers.“ So wahr wie diese Feststellung sicherlich ist, erklärt sie nicht viel – noch wird gefragt, warum es ausgerechnet die rechte Keule sein muß (imittu).1 Indem sie übersehen, daß das GE ausdrücklich von dem Himmelsstier spricht, hält ihre übereinstimmende Meinung die Experten von den relevanten Fragen ab, und ihre Überzeugung, daß Mesopotamier und Ägypter nicht viel gemeinsam haben, hindert sie daran, den „Stierschenkel” als solchen auch zu erkennen, wenn sie ihn sehen. Aber es gibt ihn: „Maskethi”, den Stierschenkel, Ursa Maior, bildlich dargestellt auf den astronomischen Deckenbildern in den Grabstätten von Senmut, Seti, im Ramesseum usw. In der altaischcn Mythologie verwandeln sich die Wagensterne in das Bein eines Hirschs; in Mexiko finden wir sie als den verlorenen „Fuß” von Tezcatlipoca. Die Konstellationen sind nach einem System benannt; und wenn wir unter ihnen auf „unvollständige” oder verstümmelte Figuren treffen, müssen wir nach dem hinreichenden Grund fragen, warum zum Beispiel das Schiff Argo nur aus einem Heck besteht, warum Pegasus nicht einmal ein halbes Pferd ist – abgesehen davon, daß es auf dem Kopf steht und Flügel hat – und warum Taurus der Kopf und das erste Drittel eines Stiers ist, dessen „Schenkel” in der zirkumpolaren Region kreist. Dementsprechend mag es zum Nachdenken anregen, daß im Runden Zodiak von Dendera (römische Periode) der zirkumpolare Vgl. Harri Holma, Die Namen der Körperteile im AssyrischBabylonischen (1911), ]31f. Für den „Euphemismus” siehe Holma, 96f.
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„Schenkel” mit einem auf ihm sitzenden Widder abgebildet ist, der überdies nach hinten blickt, wie es dem Widder des Tierkreises (Aries) gebührt.2 In „A Pair of Constellation” erwähnt G.A. Wainwright, unter Bezugnahme auf Bénédite, einen Schenkel aus Edfu mit dem Kopf eines Widders, genannt das „Vorderbein des Khnum”.3
Appendix 34 Im GE erscheint Enkidu später auf der Bühne des Geschehens als Gilgamesch. Das berechtigt uns nicht, in ihm den Prototyp des jüngeren Bruders” zu sehen.1 Tatsächlich ist der behaarte Partner der Zwillinge, der „Hund”, der Prototyp des Älteren, der auf verschiedene Weise um sein Erstgeburtsrecht betrogen wird. Esau, der Behaarte, ist der Erstgeborene; dasselbe gilt für Honosusori no Mikoto,2 der – nachdem er von dem japanischen „Ja- 399 kob” überholt worden war – gemeinsam mit seinen Nachkommen achtzig Generationen lang als „Hunde”, Clowns, Schauspieler und Wächter des kaiserlichen Palastes zu dienen hatte; zum Neujahrfest und während der Krönungszeremonien mußten diese Hayahito dreimal bellen. Dieser Fall ist insbesondere in Ägypten offenkundig, wo wir von Hermann Kees erfahren: „wtw bedeutet ‚Schakal’ und ‚der Siehe Franz Joseph Lauth, Zodiaques de Denderah (1865), 44. G.A. Wainwright, „A Pair of Constellation”, Studies presented to F.L. Griffith (1932), 373; vgl. Hippolito Rosclini (Hrsg.), Monumenti dell’Egitto e della Nubia (1844) 3y Tafel 24. 1 Wie zum Beispiel W.F. Albright, „Gilgamesh and Engidu”, JAOS 40 (1920), 312, 318. 2 Nihongi, übersetzt von W.G. Aston (i960), 92-108; Karl Florenz, Die historischen Quellen der Shinto-Religion (1919), 204-221 2 3
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Alteste’”;3 und Kees machte diese Bemerkung, während er sich mit einem klassischen Betrugsfall beschäftigte: nämlich als Geb/Kronos Horus zum Ältesten erklärte und dabei Seth/ Typhon völlig ausschloß, wie in der Shabaka-Inschrift berichtet wird. Tatsächlich behauptet Geb, Horus sei Upuaut, der Wegöffner – Upuaut war der oberägyptische Schakal oder Wolf. Der Komplex des „Hundezwillings” ist jedoch von einem solchen Ausmaß und Gewicht, daß er hier nicht in Angriff genommen werden kann. Ein besonders relevanter und aufschlußreicher Fall von unzertrennlichen „Zwillingen” begegnet uns in der Mythologie der Cherokesen, wo die Donnerknaben „kleine Männchen” genannt werden. Zu Beginn erfahren wir nur von einem Jungen, der, wie es sich gehört, ehelich von dem „Glücklichen Jäger“ und „Korn” geboren wird; aber bald „findet” der Junge im Fluß seinen „älteren Bruder”, und letzter trägt den Namen „Er-der-wildaufwuchs.“ Diese beiden richten die Welt und das menschliche Leben so ein, wie wir es jetzt vorfinden – sie sind Musterbeispiele dessen, was Ethnologen „Kulturheroen” nennen. Ganz Gilgamesch und Enkidu, wurden sie überall um „Urteile” alias Orakel gebeten, nachdem sie schließlich die „Erde” verlassen hatten.4
Appendix 35 Wir könnten das Getränk Lethe nennen und es dabei belassen, wäre da nicht die bedauerliche Unsicherheit bezüglich Lethes Lokalisierung, insbesondere hinsichtlich der Reiseroute der SeeH. Kees, Der Göttergtaube im Alten Ägypten (1956), 193: Anm. 3. J. Mooney, „Myths of the Cherokee”, 19, ARBAE 1897-1898 (1900), 243-250. 3 4
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le. So groß wie die Milchstraße nun einmal ist, ist es nicht hilfreich zu erklären, daß man sich nach einem galaktischen Abschnitt umzuschauen hat. Schlimmer noch: Es bleibt unklar, bei welcher Gelegenheit die Seelen vermutlich vom Wasser dieses Flusses des Vergessens tranken, ob sie es kurz nach ihrer Ankunft im Hades oder vor ihrer Reinkarnation oder zu beiden Zeitpunkten taten. Obgleich die Vermutung eines Zugangs zu Lethe direkt am Eingang des Hades der Rechtsprechung der Unterwelt ihrer Signifikanz berauben würde – und damit auch der guten oder schlechten Belohnungen für vorheriges Betragen –, wurden beide Standpunkte vertreten.1 Unsere kompetentesten Zeugen orphisch-pythagoreischer 400 Überlieferung halten Lethe für die letzte „Station“ vor der Wiedergeburt, zum Beispiel Platon im Mythos von Er (Der Staat X.620) und Vergil im sechsten Buch der Aeneis (748-751); einzig Macrobius gibt vor, die Quelle des Tranks zu kennen; die Konstellation Crater, der „Krug von Bacchus”.2 Das ergibt keinen Sinn,3 aber wie dem auch sei: Er läßt die Seelen durch die nördliSiehe H.W. Stoll, in Roscher s.v. Lethe, Spalte 1957; O. Gruppe, Griechische Mythologie und Religionsgeschichte (1906), 403ff, 1036-1041. Auf Seite 760, Fußnote 8, zitiert Gruppe eine Textstelle, derzufolge eine Seele, die den Fluß Lethe noch nicht überquert hat, zurückkehrt, um die Lebenden zu belästigen. 2 Macrobius, Commentary an the Dream of Scipio, Übersetzt von W. Stahl (1952), I.12.8. 3 Macrobius’ „Uranographie” ist höchst befremdlich. Er behauptet, daß „von den Seelen angenommen wird, daß sie noch so lange in der Begleitung von Göttern sind, wie sie auf ihrer Fahrt nach unten im Krebs bleiben, denn in dieser Position haben sie die Milchstraße noch nicht verlassen. Aber wenn sie auf ihrem Abstieg den Löwen erreicht haben, landen sie auf den ersten Stufen ihrer weiteren Verfassung … Die Seele wird, während sie von der Stelle aus herabsteigt, wo sich der Zodiak und die Milchstraße schneiden, auf ihrem Abwärtskurs von einer Sphäre, welche die einzige göttliche Gestalt ist, in einen Kegel ausgezugen … ” Wir haben bereits festgestellt (Seite 221), daß Macrobius, 1
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chen Schnittpunkte der Milchstraße mit dem Zodiak hinabsteigen und die südlichen Schnittpunkte, zwischen Skorpion und Schütze, als Eingang benutzen, was zu den „HadesKonstellationen” der Sphaera barbarica paßt. Doch haben wir in anderen Teilen unseres Globus (siehe Seite 221f) einige Unsicherheiten bezüglich des Eingangs beziehungsweise Ausgangs beobachtet: Die nikaraguanische „Mutter Skorpion am Ende der Milchstraße” empfängt die Seelen der Toten und kümmert sich um die Säuglinge, die wiedergeboren werden sollen, wohingegen die Cherokesen den Eingang offenbar am „nördlichen Ende” der Milchstraße (Zwilling-Stier) vermuten, von wo aus die Seelen zum „Geist-Stern” im Skorpion wandern. Wir sind nicht genau darüber informiert, ob die Seelen der Milchstraße für einen ganzen Halbkreis folgen, sich dabei entweder nach Norden oder nach Süden wendend, oder ob sie zuerst in eine Richtung gehen und später auf demselben Weg zurückkehren. Letzteres scheint im Vishnu Purāna ausgedrückt zu sein, das den „Väterweg” auf die Region nördlich von Canopus und südlich von drei Mondstationen in Scorpius und Sagittarius beschränkt; der „Götterweg” (devayana) verläuft nördlich von drei Mondstationen in Aries und Taurus sowie südlich von den Sieben Rishis, den Wagensternen. Im Vishnu Purāna 2.8 [Wilson-Übersetzung (1961), 186] heißt es: indem er das „Tor des Krebses” als Kreuzung zwischen Galaxis und Tierkreis bezeichnet, von Zeichen und nicht von Sternbildern spricht. Und das tut er auch, wenn er den „Krug von Bacchus” –Crater – „in den Bereich zwischen Krebs und Löwe” verpflanzt: Crater befindet sich „zwischen” Löwe und Jungfrau, das heißt: südlich dieser Konstellationen. Wie Seelen, während sie von jenen Kreuzungen zwischen Galaxis und Ekliptik – also zwischen Stier und Zwilling – „herunter”steigen, jemals an Lethe im Crater, südlich vom Löwen und der Jungfrau, herankommen sollen, bleibt ein Geheimnis. Macrobius hatte offensichtlich nicht die Angewohnheit, sich den Himmel anzuschauen; und in dieser Hinsicht war er ein sehr moderner Mensch.
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Im Norden von Agastya und im Süden der Linie der Ziege [Aya- 401 vithi, das sind die drei besagten Nakshatras im Skorpion und Schützen, H.v.D.] liegt die Straße der Pitris. Dort wohnen die großen Rishis, Feueropfer darbringend und die Veden verehrend, nach deren ausdrücklichem Befehl die Schöpfung begann, und die den Verpflichtungen dienstbarer Priester nachgingen: Denn wenn die Welten vernichtet und erneuert werden, erlassen sie neue Verhaltensregeln und führen aufs neue das unterbrochene Ritual der Veden ein. Voneinander abstammend, die Vorfahren aus den Nachfahren kommend wie die Nachfahren aus den Vorfahren, in der alternierenden Abfolge der Geburten, erscheinen sie wiederholt in unterschiedlichen Häusern und Geschlechtern, mitsamt ihrer Nachkommenschaft ihren frommen Bräuchen und festgeschriebenen Heilighaltungen, südlich der Sonnenbahn verweilend, solange der Mond und die Sterne bestehen.
In eine ähnliche Richtung mag der Bericht von Pausanias über die Orakel von Trophonios deuten, die in einer tiefen Höhle stattfinden (IX.39.8); Der Besucher gelangt zuerst zu „Wasserquellen, die sehr dicht beieinander liegen.4 Hier muß er von jenem Wasser trinken, welches das Wasser des Vergessens (Lēthēs hydōr) genannt wird, auf daß er alles vergessen möge, was er bis dahin gedacht hat; und dann trinkt er von einem anderen Wasser, dem Wasser des Erinnerns (hydōr mnēmosynēs), das ihn sich all dessen erinnern läßt, was er nach seinem Abstieg sieht.” Damit nicht genug: Nachdem das Orakel verkündet wurde und der Fragende wieder aus der Schlucht heraufgestiegen ist (IX.39.13), „wird er erneut von den Priestern bei der Hand genommen, die ihn auf einen Stuhl setzen, genannt der Stuhl des Erinnerns (epi Dasselbe trifft auf die Flüsse der Begierde und der Trauer (Hēdonē und Lypē) von Theopompus (Buch 8 seiner Philippika) zu, die von Erwin Rohde [„Zum griechischen Roman”, Rh. Mus. 48 (1893), 123f] mit unseren Flüssen verglichen worden sind. In Polynesien treffen wir dicht beieinander auf das „Lebenswasser“ und das „Todeswasser“ [siehe R.W. Williamson, Religious and Cosmic Beliefs of Central Polynesia (1924), 1, 334, 344; 2, 169f].
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thronon mn.), und wenn er dort Platz genommen hat, fragen sie ihn nach allem, was er gesehen oder erfahren hat. Nachdem sie diese Information erhalten haben, vertrauen sie ihn seinen Verwandten an. Diese heben ihn, der vor Schreck gelähmt und sich weder seiner selbst noch seiner Umgebung bewußt ist, hoch … Danach wird er jedoch alle seine Fähigkeiten zurückerlangen, und auch die Kraft zu lachen wird zu ihm zurückkehren.“5 Auch dieser „Stuhl des Erinnerns” bleibt keineswegs ohne Partner: Apollodoros (Epit. 1.24) berichtet uns von dem „Stuhl des Vergessens”, auf dem Theseus und Peirithoos „festwuchsen und mit Knäueln von Schlangen zusammengehalten wurden”. Daß wir auch etwas über die „Häuser” der Lethe erfahren (Plutarch, Consolatio ad Apppolonium, Kap. 15, 110E), trägt nicht gerade zur Erhellung dieser Unterkunft bei. Auf der etruskischen Bronzeleber von Piacenza teilt letham, der Fluß, die untere – ansonsten leere – Seite in annähernd gleiche Hälften: der unsichtbare südliche Bogen der Milchstraße? Diesen Zustand der Verwirrung und Unsicherheit in Betracht ziehend, verzichten wir darauf, Lethe geradeheraus das Getränk des Vergessens oder des Erinnerns zu nennen, wiewohl eins davon, wenn nicht gar beide, sehr wohl in den Regalen von Ischara tam.tim alias Mutter Skorpion gefunden werden könnten.
Von beachtlicher Bedeutung sind mehrere irdische Flüsse, die Lethe genannt und von Gruppe erwähnt werden [Griechische Mythologie (1906), 817]: Sie fließen am Fuß verschiedener „Weißer Felsen” (Leuketēs skopelos), und von diesen trägt einer den Namen agelastos petrē, der Felsen ohne Lachen. 5
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Appendix 36 Siehe P.F. Gössmann, Planetarium Babylonicum (1950), 94: „mulGIR2TAB dIshara tam-tim. Anton Deimel [Pantheon Babylonicum (1914), 148f] hält mulGIR.TAB nur für beta delta alpha Scorpii: ‚Ishara est dea quaedam partus, quae relationem habet ad Gestin anna, Adad.’“1 Uns könnte ein plumper Widerspruch vorgeworfen werden, weil wir in Appendix 2 von Sirius behauptet haben, der „MeerStern” zu sein, obwohl hier klar ersichtlich ist, daß Ischara tam.tim, die Göttin des Skorpions, ein Recht auf diese Stellung hat. Wir sind uns dieses offensichtlichen „Widerspruchs“ nicht nur bewußt, sondern hoffen auch, dieses Geheimnis in der Zukunft zu enträtseln. Es ist zwar ein mysteriöses Schema, aber kein hoffnungsloser Fall. Anhaltspunkt Nummer 1 ist in der koptischen Liste der Mondstationen enthalten, die bereits in Appendix 4 erwähnt wurde2 und wo es hinsichtlich der zwanzigsten Mondstation, des Stachels des Skorpions (lambda epsilon Scorpii), heißt: „Aggia, Sancta, Arabice al-Sa’ula [das ist „der Stachel”, Rv.D.], statio translationis caniculae in coelum, unde et siot vocatur … Longitudo huius stationis est a quarto Sagittarii usque ad decimum septimum eiusdem. Haec statio ab Aegyptiis quoque vocatur soleka sive Astrokyon … statio venationis.” Eduard Stucken identifiziert diese soleka sofort mit der ägyptischen Selqet/Serket, der mesopotamischen Ischara tam.tim, der Skorpiongöttin.3 Ob es die strengen Gesetze der Linguisten zulassen oder nicht, ist es eine Tatsache, daß wir auf den ägyptischen astronoSiehe auch William J. Hinke, A New Boundary Stone of Nebuchadnezzar I front Nippur (1907), 223, 243; A. Jeremias, HAOG (1929), 223,385; F. Hommel, Ethnologie und Geographie des Alten Orients (1926), 563, 770-774; D.O. Edzard, „Die Mythologie der Sumerer und Akkader”, in Wörterbuch der Mythologie, 1, 9. 2 Vgl. A. Kircher, Oedipus Aegyptiacus (1653), 2, Teil 2, 246. 3 E. Stucken, Der Ursprung des Alphabets und die Mondstationen (1913), 7. 1
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mischen Deckenbildern Selqet regelmäßig oberhalb, das heißt: hinter dem Stierschenkel (Großer Wagen) stehend vorfinden, was bedeutet, daß Selqet die Opposition zu dem ständigen Mittelpunkt der Aufmerksamkeit verkörpert: zu Sirius/Sothis. (Ja, wir sind uns der Tatsache bewußt, daß 14 Grad keine ideale Opposition zu einem Stern sind!) Anhaltspunkt Nummer 2 sind die Geschichten, die um die indische mura, „die Wurzel” (oder „Entwurzler”) – erneut lambda epsilon Scorpii – gesponnen werden (vergleiche Appendices 4 und 45) und die mit den vielen Geschichten kombiniert werden müssen, die von Mandragora (Alraune) handeln, jener berühmten Wurzel, welche nur von einem Hund herausgezogen werden kann, der sofort nach Vollendung seiner Tat stirbt. Anhaltspunkt Nummer 3 verbirgt sich sorgfältig hinter mexikanischen Traditionen, die das Jagdfest Quecholli betreffen (statio venationis, und Quecholli kann nicht von der „Jagd” nach hikuli, Peyote, getrennt werden, wie sie von Huichol und Tarahumare unternommen wird), das dem Gedenken des „Sturzes” der Götter gewidmet ist, die in Tamoanchan, dem „Haus des Herabsteigens”, die verbotenen Blumen gepflückt hatten.
Appendix 37 So entscheidend sie sind, widersetzen sich diese unbekannten Faktoren bislang erfolgreich jeder Entschlüsselung. Šu-ut abnē, „jene aus Stein”, repräsentieren „einen Ausdruck, der sich wiederholt und nicht erklärt worden ist”.1 Alexander Heidel bemerkt; „Die hethitische Version hat ,zwei Bilder aus Stein’. Vielleicht sind diese Bilder Götzenbilder eines apotropäischen We1
S. Langdon, Semitic Mythology (1931), 213f, 405.
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sens gewesen, die es Urschanabi ermöglichten, die Wasser des Todes zu überqueren.”2 Speiser konstatiert „anscheinend Steinfiguren mit ungewöhnlichen Eigenschaften …“3 Laut Speiser erklärt Urschanabi: „Deine Hände, Gilgamesch, haben [die Überquerung] verhindert: Du hast die Steinernen zerbrochen … ”4 Was kaum zutreffen kann, da sie schließlich doch übersetzen. F.M.Th. de Liagre Böhl scheint in seiner Übersetzung des GE behauptet zu haben, daß es sich bei den „Steinobjekten” um „Teile des Zauns von Siduris Hof“ handelt, wozu Igor Michailovič Diakonoff bemerkt: „Die šut abnē können keinerlei Verbindung mit Siduris Hof haben (tatsächlich wird ein solcher Hof nicht erwähnt).”5 Daniel David Luckenbill scheint für Anker votiert zu haben.6 Florence Day schlug vor einigen Jahren mündlich „Magnetsteine” vor. Für weitere gewagte Vorschläge siehe Armas Salonen, Die Wasserfahrzeuge in Babylonien (1939), 131f. Etwas neues Licht wirft ein neobabylonisches Fragment auf 404 diese Objekte, das von Donald John Wiseman veröffentlicht wurde;7 aber der Autor räumt selbst ein, daß die neue Lesart (u šu-ut NA4.MES) „gegenwärtig für das Verständnis dieses vieldiskutierten Begriffs wenig hilfreich zu sein scheint. Die jetzt mögliche Restaurierung von Teilen von II.35-41 zeigt, daß der A. Heidel, The Gilgamesh Epic and Old Testament Parallels (1963), 74: Fußnote 157 3 E.A. Speiser, „Akkadian Myths and Epics”, ANE7, 91: Anm. 173. 4 Assyrische Version, Tafel 10, Col. 3.37f, ANET, 92; vgl. A. Heidel, op.cit., 76. 5 I.M Diakonoff, Bibliotheca Orientalis 18 (1961), 65. Es handelt sich hier um eine Rezension der GE-Übersetzung von F.M.Th. de Liagre Böhl und P.L. Matous. 6 D.D. Luckenbill, AJSL 38 (1922), 96-102; siehe Paul Garelli (Hrsg.), Gilgamesh et sa légende (1958), 17, 146. 7 D.J. Wisemann in P. Garelli (Hrsg.), op.cit., 128ff. 2
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Schluß der Columne die Art und Weise schildert, in der Gilgamesch Urschanabi traf und sich das Boot und seine Ausrüstung für seine Fahrt über das , Todeswasser’ verschaffte. When Gilgamesh heard this, he took up the axe in his hand, drew the dragger from the belt, crept along and went down … Like a lance he fell among them … within the forest he sat down and … Ur-shanabi saw the flashing of the dagger, heard the axe and … Then he smote his head … Gilgamesh seized the wings … its breast and the sūtabnē … the boat … ” Noch ärgerlicher ist, daß diese Steinernen nicht die einzigen irritierenden Artikel sind, die man in nächster Umgebung von Urschanabi findet. Heidel läßt sie einfach fallen und übersetzt Zeile 29 der assyrischen Version (Tafel 10, Col. 2, Seite 74): „With him are the stone images (?), in the woods he picks … ”, und entsprechend verfährt er mit Col. 3.38f: Nur die Steinernen sind erwähnt. Speiser (ANET, 91), macht nach den „Steinernen” so weiter: „Drinnen im Wald sammelt er [,urnu’-Schlangen].” Und Col. 3 übersetzt er: ,,Du hast die Stein-Dinger zerbrochen, hast gesammelt [die ,urnu’-Schlangen]. Die Stein-Dinger sind zerbrochen, die ,urnu’ ist nicht [im Wald].” In Fußnote 174 verweist Speiser auf Benno Landsberger,8 der „hervorhebt, daß von der Urnu-Schlange lange angenommen wurde, bei den Seefahrern beliebt gewesen zu sein. Auf alle Fälle scheinen ihre Eigenschaften, was immer der Terminus in der vorliegenden Verbindung bedeuten mag, denen der Steinernen ebenbürtig zu sein.“ Drücken wir erst einmal unser Mißfallen über Urschanabis Mangel an „Fairneß“ aus – so wie Lommel über den „häßlichen 8
B. Landsberger, Die Fauna des Alten Mesopotamien (1934), 63.
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Zug” im Charakter des Kai Ka’us, bloß meinen wir es nicht ernst – für den Fall, diese Übersetzung sei korrekt: Siduri stellt es als wohlbekannt hin, daß „Urschanabi, bei dem die Stein-Dinger sind”, in den Wäldern „Urnu-Schlangen sammelt”; und hier wirft Urschanabi Gilgamesch vor, es ebenfalls getan zu haben und hält das augenscheinlich für eine unanständige Tat! In der 405 zweiten Zeile identifiziert Landsberger die „Urnu-Schlange” (vielleicht auch „die gelbe (grüne) Schlange”, mŭs.sig7. sig7) versuchsweise mit dem Waran und erwägt – zumal Warane sogar noch heute gegessen werden –, daß die Urnu gesammelt wurde, um für die Seefahrer als Röstfleisch zu dienen.9 Aber wenn Urnus zum üblichen Reiseproviant gehörten, warum sollte dann das Sammeln dieser Tiere ein Hinderungsgrund für die Überquerung der Wasser des Todes gewesen sein? Obwohl man andere nicht kritisieren sollte – am wenigsten einen Scholaren vom Range Landsbergers –, wenn man selbst keine positiven Vorschläge anzubieten hat, wird es beim Lesen dieser gelehrten Arbeit immer unbegreiflicher, wie Landsberger diese Tiere, insbesondere die Schlangen, irrtümlich für eine veritable terrestrische Fauna halten konnte – diese siebenköpfigen, einäugigen, einhörnigen Kreaturen, die zu Anu, Nergal, Ningishzida usw. gehören!
Appendix 38 Wenn man bedenkt, daß abmontierte Pfosten oder Pflöcke, herausgerissene Zapfen, ruinierte Achsen und gefällte Bäume diese ganze Untersuchung wie eine Art Basso ostinato begleitet haben, können wir nicht stillschweigend über diesen äußerst wichtigen Pfosten hinweggehen; wenn man andererseits bedenkt, daß 9
B. Landsberger, op.cit., 63; vgl, 45f, 52, 60.
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technische Details schwerlich eine angenehme Lektüre ergeben, ziehen wir es allerdings vor, uns mit diesem Exemplar außerhalb des Haupttextes zu beschäftigen, obwohl wir es für wesentlich erachten. Der Gegenstand, den Irragal herausreißt, wird tarkullu genannt, sumerisch DIM.GAL, was als „(Anker-)Pfahl“, „Schiffsmast”, „mooring post” (Heidel), auch als der „Anker” selbst und sogar als „Steuerruder” (Jensen)1 übersetzt worden ist. Eine neue Katastrophe verkündend, droht Erra (= Irragal = Nergal) im ErraEpos an, daß er den Tarkullu herausreißen wird, daß er das Schiff abtreiben lassen und das Steuerruder so zerbrechen wird, daß das Schiff nicht anlegen kann, und daß er den Mast mit allem, was dazugehört, entfernen wird.2 Wir treffen auf diesen Begriff auch in Namen, die Tempeln gegeben wurden, wie wir von Eric Burrows erfahren,3 der über „die Offenkundigkeit der Beziehung der Tempel zu (1) Himmel, (2) Erde, (3) Unterwelt” nachgedacht hat und uns folgendes berichtet: Siehe R Jensen, Die Kosmologie der Babylonier (1890), 377, 422f; K. Tallqvist, Akkadische Götterepitheta (1934), 244 (siehe auch 283; Dim gul-an-na „Himmelspfahl = Ninurta sowie Dim gulkalam-ma „Weltpfahl” = Ninurta). Siehe C. Bezold, Babylonisch-Assyrisches Glossar (1926), 296: „Pfahl, Prügel, Schiffspfahl, Mast”; A. Salonen, Nautica Babylonica (1942), 85: „(Anker)pfahl“. Auf Seite 104 erklärt Salonen tarkullu als „der Mast”, und es ist der Mast von Eas Schiff: „Sein (des EaSchiffs) Mast ist in der Schiffsmitte aufgestellt, schwebt am Himmelsband.” Siehe auch R. Labat, Manuel d’Epigraphie Akkadienne (1963), Nummer 94, 81: DIM riksu, lien; dimmu, colonne; DIM-GAL tarkullu, mât; Nummer 122a, Seite 93: DIM GUL tarkullu, mât. Vgl. B. Meissner, Beiträge zum Assyrischen Wörterbuch 1 (1932), 58f, und A. Schott, Das Gilgamesch-Epos (1958), 90: Fußnote 19: „Das Weltenruder?” 2 Für die Erklärung der verschiedenen Termini siehe P.F. Gössnnann, Das Era-Epos (1956), 55; siehe auch E. Ebeling AOTAT, 227. 3 E. Burrows, S.J., „Some cosmological patterns in Babylonian religion”, in The Labyrinth, hrsg. von S.H. Hooke (1935), 46ff. (Daß wir die allzu einfachen Ansichten des Autors nicht teilen, versteht sich von selbst.) 1
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(l) The idea of the Bond of Heaven and Earth is given explicitly. Dur-an-ki, was the name of sanctuaries at Nippur, at Larsa, and probably at Sippar. Also in Semitic markas šamē u irsiti, Bond of Heaven and Earth, is used of the temple E-hursag-kur-kur-ra and of Babylon. (2) Idea of Bond of the Land. Probably by extension of religious use the royal palace of Babylon is called markas (bond) of the Land. An ancient Sumerian temple-name, which probably expresses an analogous idea, is „dimgal of the Land”. This was the name of the temple of Der, an old Sumerian center beyond the Tigris; a name given to Gudea’s temple at Lagash; a temple of Šauška of Niniveh; and probably the temple of Nippur was another „dimgal of the Land”. The pronounciation and meaning of dimgal are disputed. „Great binding-post” is perhaps a fair translation. The religious terms „dimgal of the Land” and the like perhaps indicate the temple as a kind of towering landmark which was a center of unity by its height. (3) Idea of the bond with the underworld. Gudea uses dimgal also with reference to the abzu, i.e., the waters of the underworld: he laid two temens, ritual foundations – the fernen „above” or „of heaven” and the temen „of the abzu”, and the latter is called „great dimgal.” The idea may be that the temple is as it were a lofty column, stretching up to heaven and down to the underworld – the vertical bond of the world. The same passage mentions, it seems, a place of libation to the god of the underworld. Drains or pipes apparently destined for libations to the underworld have been discovered at Ur. Thus, if these interpretations are right, the temples expressed not only, in their height, the idea of the bond with heaven but also, in their depth, that of union with the netherworld.
Wenn wir weniger von „turmhohen Marksteinen” und „hochragenden Säulen” hörten und uns statt dessen ein einziger Gedanke angeboten würde, der sich der Tatsache widmet, daß diese angeblichen „Tempel” und „Säulen” herausgerissen wurden, um eine Flut entstehen zu lassen, wären wir besser dran. Noch erstaunlicher ist jedoch die Tatsache, daß sich niemand die Mühe gemacht zu haben scheint, nach relevanter Aufklärung in Ägyp-
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ten zu suchen, das heißt: sich mit dem ägyptischen mnj.t auseinanderzusetzen. Laut Adolf Erman und Hermann Grapow4 wird das Wort verwendet als 1) symbolischer Ausdruck für den König (als Lenker des Staatsschiffs), 2) symbolischer Ausdruck für Isis und Neph-thys, die Osiris aus dem Wasser holten. Es ist eine Konstellation, das Werkzeug zum Pfählen, der Pfahl, an den eine Person zur Strafe gebunden wird. Das transitive Verb (mnj) bedeutet „an einen Pfahl binden, anpflocken”; das intransitive Verb bedeutet „landen” – von Personen und von Schiffen – und „sterben” und wird manchmal mit „bei Osiris” ergänzt (bei Osiris landen). Von diesem mnj.t wrj – Samuel Mercer schreibt es min.t –, dem „großen Landungspfahl”,5 heißt es in den Pyramidentexten, daß er um die Seelen der Toten „trauert”,6 und Mercer kommentiert,7 daß „der große Pfahl … als ‚trauernde Frau’ personifiziert wird, hier auf Isis bezogen.” Da der „Landepfosten” eine Konstellation ist, wie sogar das Wörterbuch der Ägyptischen Sprache zugeben muß, lautet die Frage, wo man nach diesem mnj.t suchen muß. Die Konstellation – von Karl Heinrich Brugsch menat8 und von A. Erman und H. Grapow, Wörterbuch der Ägyptischen Sprache (1957), 2, 72ff. 5 Siehe W. Max Müller, Egptian Mythology (1918), 376: Fußnote 79. 6 Pyramid Texts, hrsg. von S. Mercer (1952), 794c: „The great min.t (stake) mourns for thee”; vgl. 876c, 884b („the great min.t laments for thee, as for Osiris in his suffering”) und 2013b. 7 Pyramid Texts, 2, 399; siehe auch 361. Siehe 371, 398 für mini „to pasture, to land (i.e., to die)” und für min.w, abgeleitet von mini, als Epitheton von Anubis 793c: „he who is upon the min.w. The min.w here seems to indicate a cask for the limbs of Osiris.” 8 K.H. Brugsch [Thesaurus Inscriptionum Aegyptiacorum (1883-1891; Neuauflage 1968], 122, 130, 188) halt es für ein „Messer” oder „Schwert”; später [Die Aegyptologie (1891), 343] buchstabiert er es „Schiffspflock” und „Doppelpflock”. 4
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Otto Neugebauer mnit9 transkribiert – taucht in zwei Kategorien astronomischer Monumente auf, nämlich 1) in den ramessidi schen Sternuhren10 und 2) in den Deckengemälden königlicher Grabstätten, in den Zodiaks von Dendera usw. Jedesmal ruht der Pflock oder Pfosten in den Händen von Isis, die als Nilpferd verkleidet ist; an dem Pfosten ist ein Seil oder eine Kette festgemacht, an dessem/derem anderen Ende Maskheti, der Stierschenkel, also der Große Wagen, festgebunden ist. Und in einer der Schriften wird erklärt, „daß es die Aufgabe von Isis/ Hippopotamus ist, diese zu zu hüten”.11 Den ramessidischen Sternuhren zufolge, enthält mnj.t sechs verschiedene Teile,12 und erst nach diesen sechs Teilen folgen rrt, also das „weibliches Nilpferd”, das acht Positionen umfaßt. Boll merkt an, daß man sich diese Konstellation entweder parallel zum Äquator oder zum Zodiak und als ziemlich „lang” denken 408 muß, „sonst könnte sie nicht … mehr als 4 Stunden zum Aufgang gebraucht haben”.13 Die meisten Gelehrten, die sich mit den astronomischen Deckenbildern in Ägypten beschäftigen, hielten es für selbstverständlich, daß die Hauptszene die nördlichen zirkumpolaren Konstellationen wiedergab, weil dem Großen Wagen, Maskheti, die „bestimmende” Position auf der Bühne zukommt. Und sie versuchten ihr Bestes, Isis-Hippopotamus, die den Landepfosten hält und auf ihrem Rücken ein Krokodil trägt, mit einer KonstelO. Neugebauer und R. Parker, The Ramesside Star Clocks (1964), 7. Früher wurden sie Thebanische Stundentafeln oder Thebanische Tafeln stündlicher Aufgänge genannt. 11 K.H. Brugsch, Thesaurus Inscriptionum Aegyptiacarum (1968), 122. 12 O. Neugebauer und R. Parker, op.cit., 7: 1) der „predecessor” beziehungsweise die „front of the mooring post”, 2) „is not translatable”, 3) „follower of the front of the mooring post”, 4) „mooring post”, 5) „follower of the mooring post”, 6) „follower which comes after the mooring post”. 13 F. Boll, Sphaera (1903), 222. 9
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lation sehr nahe dem Pol zu identifizieren. Nun werden wir uns nicht auf die Details des ägyptischen Sternhimmels einlassen, so wie er in den Deckenbildern dargestellt wird – das ist eine diffizile Aufgabe, und die diversen Bemühungen, sie durch einfaches Betrachten des Himmels (ärger noch: von Sternkarten) zu lösen oder durch eigene „Katasterisierungen” Zeus zu imitieren: diese Bemühungen haben wenig gefruchtet. Nur soviel sei gesagt: 1) Bis jetzt ist kein einziger Vorschlag bezüglich des den Landepfosten haltenden Nilpferds zufriedenstellend;14 2) daß die entscheidende Gruppe der Deckenbilder – wesentliche Bestandteile des „Gerüsts“ zeigen: Leo, Scorpius, Taurus,15 die somit als eine Art Wir hofften, daß der dritte Band von Neugebauers Egyptian Astronomical Texts Licht in die Angelegenheit bringen würde. Hinsichtlich der Stundensterne stellt er in II, 7, fest: „To what extent, if at all, the constellations of the lion, the mooring post, the hippopotamus, and perhaps others, can be identified with similar figures in the so-called ‘northern’ constellations as depicted on many astronomical ceilings … is a problem into which we do not intend to enter until all the evidence can be presented in our final volume. That the problem is more complex than would appear at first glance – at least in so far as the two hippopotami are concerned – is sufficiently indicated by the fact that on the ceilings the hippopotamus is never named rrt, never is shown with two feathers as a headdress, and very frequently has a crocodile on its back.” (Unsere Hoffnung auf den dritten Band war vergebens. Ansonsten sind wir jedem nur zu dankbar, der erkennt, daß die Probleme „komplexer” sind – hundertmal so komplex – „als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag”. Die Hervorhebung von „sogenannten ,nördlich’” stammt von uns, die der beiden „niemals” von Neugebauer.) 15 Daß die Wagensteme als Stierschenkel aufgefaßt werden, verweist deutlich genug auf Taurus. Wir haben erwähnt, daß auch ein „Vorderbein von Khnum” zur Verfügung steht, also das eines Widders, und daß in Dendera ein Widder auf dem Ursa-Bein sitzt: Wessen Bein das ist, hängt von der Konstellation ab, die das Frühlingsäquinoktium markiert. Auf den Einwand, daß die auf ägyptischen Bildern dargestellte Konstellation das Hinterbein zeigt, müssen wir entgegnen, daß 14
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„Schlüssel” zu der Gesamtdarstellung dienen.16 Aber wenn unser „Gerüst” gemeint sein sollte, also die Struktur der Koluren, wo ist dann die südliche Himmelslandschaft? Wir wagen es nicht, den Leser mit dem undurchdringlichen Text zu belästigen (Brugsch, Thesaurus, 122), aus dem wir nur einen Satz zitierten, 409 welcher besagt, daß Isis/Hippopotamus die Kette bewacht; zumindest soviel ist erkennbar: daß dieser Text vom Großen Wagen – via „die Mitte des Himmels” – zu Positionen „südlich von Sah-Orion” springt. An dieser Stelle kommt Paul Casanova17 recht gelegen mit seinem Vorschlag, mnj.t (er schreibt es menat) als Menouthis aufzufassen, die Frau von Kanopos, dem Steuermann des Menelaos, den wir aus spätgriechischen Texten kennen (auch Eumenouthis geschrieben). Epiphanius18 spricht vom Grabmal der beiden, also von Kanopos und seiner Frau, in Alexandria. Stephanus von Byzanz kennt ein Dorf „bei Kanobos”, das den Namen Menouthis hatte.19 Es würde uns zu weit wegführen, wenn wir uns mit Kadie Texte beharrlich vom Vorderbein des Stiers sprechen. Mit anderen Worten: die tatsächliche Ähnlichkeit zählt offenbar nicht so viel (vgl. Appendix 33). 16 Selbst wenn wir keine anderen Zeugnisse hätten, wäre das Ramesseum ausreichend, zeigt es doch in der Mitte, exakt unterhalb von Maskheti, den Pavian auf dem Djed-Pfeiler sitzend – wir wissen von Horapollo (1.16), daß der hockende Pavian die Äquinoktien anzeigt-, wohingegen das dritte, unterste Register an beiden Enden die sitzenden Hunde zeigt; und wir wissen von Clemens Alexandrinus (Strom, 5.7; 433), daß diese die Wendekreise repräsentieren. 17 P. Casanova, „De quelques Légendes astronomiques Arabes”, BIFAG 2 (1902), 18. 18 Zitiert von Paul Ernst Jablonski, Pantheon Aegyptiorum (1752), III, 141f. 19 Nach P. Casanova, op.cit., 153. Vgl. H. Kees in RE s.v. Menuthis, 968f, der auch eine Weihung für „Eisidi Pharia, Eisin tēn en Menouthi” erwähnt und auf ein Heiligtum der Menouthis verweist, das als „Sanatorium” berühmt war und später durch ein Kloster ersetzt wurde. Wil-
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nopos-Steuermann-von-Menelaos und der kanopischen Mündung des Nils beschäftigten: Der moderne Homo occidentalis wird zwangsläufig vor dem bloßen Gedanken zurückschrecken, daß der Nil einen Kreis verkörperte, in dem „Quelle” und „Mündung” aufeinandertreffen, so daß es nichts Absurdes an der Vorstellung gab, daß man im geographischen Norden auf eine kanopische Mündung stößt. Aber hier ist es nicht erforderlich, dieses Thema zu diskutieren. Es ist verblüffend genug, den Landepfosten in ähnlicher Weise mit Canopus „verheiratet“ zu sehen, wie Urschanabi mit Nansche „verheiratet” ist, Enkis Tochter, der das heilige Heck des Schiffs geweiht ist. Zugegebenermaßen wissen wir genausowenig wie zuvor, wo genau man nach dem mnj.t der Sternuhren zu suchen hat;20 aber helm Max Müller wiederum [Egyptian Mythology (1918), 397: Fußnote 94] informiert uns: „In der griechischen Periode wurde der Name Menuthias (,Insel der Amme’) einer geheimnisvollen Insel im Süden verliehen, da man sie als den Wohnsitz der göttlichen Amme [von Horus, Kv.D.] erachtete, und später wurde diese Insel mit Madagaskar als der entferntesten Insel im Süden, also der Unterwelt, identifiziert.“ Müller scheint Menouthis für dieselbe wie Termouthis zu halten, die Tochter jenes Pharaos, die Moses im Nil fand (vgl. Josephus, Jewish Antiquities 2.9.5-7; Buch Jub. XLVII.5: Tharmuth), allerdings nennt er dafür weder Quellen noch Gründe. Wir würden sehr gerne wissen, ob mnj.t identisch ist oder überhaupt etwas zu tun hat mit „Menāt von Heliopolis”, die Brugsch mit Satit von Elephanline identifiziert; es wäre entscheidend, dies zu wissen. [Vgl. K.H. Brugsch, Religion und Mythologie (1891), 301, sowie Thesaurus (1968), 107.] 20 Vor einigen Jahren glaubte ein Frankfurter Mathematiker, der viel Computerzeit in die Sternuhren investiert hatte, mit Sicherheit sagen zu können, daß mnj.t in alpha Centauri enden muß. Was die astronomischen Decken anbelangt, müssen wir vermutlich die Art und Weise berücksichtigen, wie die späten Zodiaks von Dendera und Esne (römische Zeit) den Großen Wagen/Maskheti, die Stierkeule (zusammen mit Isis/Hippopotamus und der Kette) in den Zodiak „projizieren”, nämlich zwischen Skorpion und Schütze (Esne) und zwischen Schütze
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wir haben es wenigstens plausibler gemacht, daß 410 DIM.GAL/tarkullu/mnj.t jene entscheidende Senkschnur sein muß, welche die bewohnte Welt mit dem Himmelssüdpol – oder sozusagen mir dem Orbis antarcticus – verbindet: Indem Osiris als Kreis abgebildet ist,21 deutet das Verb mnj.t, „landen (bei Osiris)”, in diese Richtung. (Wir rufen noch einmal Vergils Aussage in Erinnerung, daß die „manes profundi” und die Styx den Südpol sehen.) Es ist unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen, daß GE XI.101 von Pfosten im Plural zu sprechen scheint, so wie wir auch in manchen ägyptischen Schriften das „Doppel-mnj.t” haben. Noch kennen wir nicht den Grund: Das Erra-Epos verwendet den Singular; aber Erra hat vor, einen anderen Pfosten herauszuziehen als den, welchen er zuvor im GE unter dem Namen Irragal herausgerissen hat. Es gibt Lösungsmöglichkeiten, aber wir überlassen dieses Thema sich selbst – ebenso wie das nächste schwierige Problem, das aus der verdächtigen Ähnlichkeit des Schiffspfahls mit dem Nasenbein des Horus-Auges (numerischer Wert 1/64) resultiert, so reizvoll dieses Problem auch sei.
und Steinbock (Dendera). Es gibt überdies ein bemerkenswertes arabisches Survival im Werk eines gewissen Tenkeluscha, das hinsichtlich Sagittarius 30° feststellt: „Zur rechten Seite des Grades befindet sich die Gestalt des Meschkedâi, des Verfertigers der Götterbilder, wie er ein Götterbild [in weiblicher Gestalt, H.v.D.] aus Marmor aushaut … “ [D. Chwolson, Überreste Altbabylonischer Literatur in arabischen Übersetzungen (1859), 468 (140)]. Roben Böker [in A. Schott und R. Böker, Aratos Sternbilder und Wetterzeichen (1958), 113: Anm. 2] bemerkt: „Wir erkennen in dem Wort das maskheti-Gestirn (= der Stierschenkel, der große Bär).“ 21 Siehe z.B. K.H. Brugsch, Religion and Mythologie (1891), Tafel gegenüber Seite 216.
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Allein die Vorstellung, daß die Kaiser schlafen, spricht eindeutig dafür, daß von ihnen erwartet wird, eines Tages aufzuwachen und zurückzukehren;1 sei es Quetzalcoatl (im Herzen des Meeres), der ogygische Kronos persönlich oder Artus, der „Herrscher der unteren Hemisphäre”, der in einem fiktiven Brief verkündet, „daß er mit einem Heer antipodischer Untertanen gekommen ist“2 – laut Étienne de Rouen (ca. 1169);3 daß Gottfried von Viterbo Artus geradewegs in die Meerestiefe plaziert hat, ist auf Seite 272, Fußnote 36, erwähnt worden. Nur wenigen Gelehrten – darunter Franz Kampers und Robert Eisler – ist das Ehrfurcht gebietende Alter solcher Überlieferungen aufgefallen, und selbst diese sind außerstande gewesen, den heißersehnten „Erlöser“ und „Kosmokrator” bei seinem eigentlichen Namen zu nennen: Saturn. Bezüglich der apokryphen Apokalypse Daniels sagt Kampers:4 Alexander wird hier … nicht bei seinem Namen genannt, sondern er wird als Johannes eingeführt. Nach all dem Gesagten wird es Siehe für das umfangreiche Thema „Bergentrückte Helden” J. Grimm, DM, 794-803; TM, 951-962; Axel Olrik, Ragnarök (1922), 353-362. 2 Diese Rolle wird anderweitig Beli (oder Bilis), Bruder von Bran, zugeschrieben, dem „Zwergenkönig der Antipoden” – später trug er den Namen Pelles. „In der walisischen Dichtung wird auf das Meer als Belis Schnaps und auf die Wellen als Belis Vieh Bezug genommen” [R.S. Loomis, The Grail (1963), 110-112]. „Anderswo wird er beschworen als siegreicher Beli … , auf daß die guten Eigenschaften der Honiginsel von Beli erhalten bleiben.’” (John Arnott McCulloch, in ERE 3, 290). 3 Siehe R.S. Loomis (Hrsg.), Arthurian Literature in the Middle Ages (1959), 69. 4 F. Kampers, Vom Werdegang der abendländischen Kaisermystik (1924), 109 sowie Alexander der Große und die Idee des Weltimperiums in Prophetie und Sage (1901), 145-148. 1
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nicht mehr allzu kühn erscheinen, in diesem Namen Johannes eine prophetische Chiffre zu erkennen. Wenn Nimrod in einer allslawischen Sage auch Johannes heißt, wenn der erdichtete Erretterkönig der Kreuzfahrer, wie wir sehen, Johannes genannt [= Priesterkönig Johannes, H.v.D] und auch in Beziehung gesetzt wird zu dem Weltenbaum, so dürfte die Annahme, daß hier fortlebende altorientalische Oannes-Erwartungen sich äußern, nicht von der Hand zu weisen sein.
Und an genau dieser Stelle bezieht er sich auf Robert Eislers Kapitel „Johannes-Oannes?”, in dem es heißt:5 Wir sollten nicht zögern vorauszusetzen, daß es denselben Synkretismus von Johannes und Oannes, der bei den neo-babylonischen Gnostikern [gemeint sind die Mandäer, H.v.D.] so selbstverständlich scheint, auch bei den unmittelbaren jüdischen Anhängern des Täufers gab, und dabei sollten wir erkennen, daß ein Einfluß des babylonischen Glaubens an immer neue Inkarnationen des UrOannes – Berossos weiß von immerhin sechs solcher Inkarnationen in vergangenen Zeiten – auf die messianischen Hoffnungen der späteren Juden weit davon entfernt ist, glaubhaft zu sein. In Kapitel 12f von IV Esra (temp. Domitian, 81-96 AD) wird erwartet, daß der himmlische „Mann“ aus dem „Herzen des Meeres” aufsteigen werde, vor seiner Ankunft, wie Daniel (VII. 13) sagt, „mit den Wolken des Himmels, denn wie kein Mensch das zu suchen oder zu entdecken vermag, was in den Tiefen des Meeres ist, so kann kein Sterblicher jemals den Sohn Gottes sehen, außer in den Stunden Seines Tages.“
Entsprechend finden wir in 4 Esra XIII.36 die sechste Vision des Propheten: „Ich schaute, siehe da führte jener Sturm aus dem Herzen des Meeres etwas wie einen Menschen hervor.” In einer Fußnote (395) wird die lateinische Übersetzung dieser syrischen Version zitiert: „Et vidi et ecce ipse ventus ascendere faciebat de R. Eisler, Orpheus the Fisher (1921), 151-162, insb. 153. In E. Kautzsch (Hrsg.), Pseudoepigraphen des Allen Testaments (1900), 395 mit Fußnote 7.
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corde maris tanquam similitudinis hominis.” Wir wissen nur zu gut, daß es sich bei dem Oannes von Berossos um Ea handelt, also um Saturn, dessen „Stadt” Eridu/Canopus ist, die eigentliche Meerestiefe. Daß der ogygische Kronos unmißverständlich der Planet Saturn ist, kann von keinem übersehen werden, der Plutarchs Bericht (Defacie quae in orbe lunae apparet 941) über die „Diener” von Kronos liest, die – alle dreißig Jahre, wenn Saturn im Stier steht – nach Ogygia segeln, um dort für dreißig Jahre in Stellung zu bleiben, wonach es ihnen freisteht, zu gehen; aber die meisten ziehen es vor zu bleiben, weil dort, auf Saturns Insel, daß Goldene Zeitalter immer fortbesteht. Die Diener verbringen ihre ganze Zeit mit Mathematik, Philosophie und dergleichen. Und es gibt keinen Grund, sich um die Verpflegung zu sorgen, denn alles ist bequem erreichbar. Das Widerstreben, die nahezu unheimliche Kraft der ältesten Überlieferungen zu erkennen, ist eine sehr moderne Erfindung, Kampers wußte noch sehr gut, daß der „Typus” des mittelalterlichen Kaisers im allerältesten Nahen Osten geprägt wurde, wobei Alexander eine „Wiederholung” von Gilgamesch ist und die Kaiser immer aufs neue Alexander wiederholen.7
Appendix 40 Tatsächlich stehen wir vor einer vollkommen unbegreiflichen Schilderung von Ereignissen, die sich während einer Seereise zutrugen. Von der Pflanze, laut Albright wörtlich eine „dornige Weintraube“,1 wird angenommen, sie wachse im Apsu und sei nur durch ein „Wasserrohr” erreichbar. Jedoch ist ausgerechnet 7 1
Vgl. F. Kampers, op.cit., 21f, 35 und passim. W.F. Albright, AJSL 36, 281: Fußnote 2.
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hier dieses Rohr, rātu, eine Konjektur: Das Wort taucht erst später auf, nämlich als sich Gilgamesch nach seinem Bad im Brunnen und dem anschließenden Verlust der Pflanze bitter über seinen Mißerfolg beklagt, das heißt darüber, eine Gunst für den „Erdlöwen” erworben zu haben anstatt für sich selbst. Von dem mit der diebischen Schlange identifizierten „Erdlöwen” wiederum wird angenommen, „in einem Brunnen, der mit dem Apsu in Verbindung stand” zu leben.2 Es ist an dieser Stelle (GE XI.298), daß der Held sagt; „Als ich das Wasserrohr öffnete und […] das Werkzeug, fand ich das, was mir als Zeichen gesetzt war: Ich soll zurückweichen und das Schiff am Ufer lassen” (SpeiserÜbersetzung, ANET, 96f). Heidel macht daraus: „Als ich den … öffnete, fand ich etwas, das mir zum Zeichen [gesetzt ist]; ich will mich zurückziehen!” Anstelle des „Zeichens” erkennt Albright (RA 16, 175f) eine Flut, die aus dem Rohr emporsteigt (wenn dem so ist, warum spricht Gilgamesch dann erst nach seinem Bad im Brunnen davon?): „Als ich das Wasserrohr öffnete, stieß ich den Deckel (?) um. Laß das Meer nicht bis zu meiner Seite steigen, b[evo]r (es) mich zurückziehen läßt”; und so übersetzen auch Ungnad-Gressmann (63f) und Schmökel (111). Aus dieser Textstelle leiten die Übersetzer das Vorkommen des Wortes rātu in der vorherigen Textstelle ab, wo Gilgamesch nach der Pflanze taucht. Allein Speiser3 bezieht sich auf einen weiteren Anlaß, bei dem das Wort verwendet wird, nämlich in der (zu Unrecht so genannten) „Eridu-Schöpfungsgeschichte” (V.11), wo gesagt 413 wird, daß damals, bevor irgend etwas geschaffen und alles Land W.F. Albright, AJSL 35, 194. E.A. Speiser, ANET, 96: Fußnote 232. Die Schlußfolgerungen, die N.K. Sandars in seiner Übertragung des GE in Form einer „schlichten Erzählung“ aus dieser Fußnote zieht, sind, wie sein ganzes Unternehmen, eine vorsätzliche Verdrehung der Wahrheit – es sei denn, man hält das Wegwischen von 1001 Stolpersteine und Obskuritäten sowie das Fabrizieren eines „Gilgamesch leicht gemacht” für einen lobenswerten Fortschritt [N.K. Sanders, The Epic of Gilgamesh (1960), 53, 113]. 2 3
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noch Meer (tam.tim) war, „die Quelle, die sich im Meer befand, ein Wasserrohr war; dann wurde Eridu geschaffen, ward Esagila gebaut.“4 Archibald Henry Sayce (ERE IV, 129) macht daraus eine „Strömung“ innerhalb des Meeres; bei Peter Jensen ist es ein „Wasserbecken”,5 bei Ebeling (AOTAT, 130f) eine „Schöpfrinne“. Wenn man in Betracht zieht, daß Eridu gleich Canopus und Esagil (Esagila) gleich „1-Iku“ ist – das Pegasus-Viereck zwischen den beiden Fischen, die während des Zeitalters der Zwillinge über das Wintersolstitium herrschten –, scheint dieses besondere rātu die Verbindung zwischen den zwei Meerestiefen gewesen zu sein: zwischen den Fischen als der Tiefe des Salzmeeres und dem Apsu als dem Süßwasserozean. Obgleich es wahrscheinlich ist, daß die Idee von einem oder mehreren solcher „Rohre” dieselbe ist wie die jüdische von den „Kanälen”, shithin, die hinab zur Tehom führten und von Gott während der Schöpfung gegraben worden waren, ist dies nicht der Ort, sich mit diesem Plot ausführlich zu beschäftigen. Auf jeden Fall kommt Gilgamesch, den einen oder anderen rātu öffnend, nahe an David heran, der beim Graben eines solchen Kanals den Eben Schetija fand. Das relevante (und aufschlußreiche) Material ist von D. Feuchtwang in seinem Artikel „Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien” zusammengestellt worden.6 Von beachtlicher Bedeutung sind Informationshäppchen, die von Nikander und Aelianus (De natura animalium VI.51) stammen und mit denen sich Langdon beschäftigt (MAR V, 227ff), der sich seinerseits auf Sophokles7 und mehrere andere Dichter Alexander Heidel, The Babylonian Genesis (1963), 61f. P. Jensen, Assyrisch-Babylonische Mythen und Epen (1900), 41. 6 D. Feuchtwang, „Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien”, in Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 54 (1910), 535-552, 713-729; 55 (1911), 43-63. 7 Frg. 363 (hrsg. von Pearson) = Frg. 335 Tragicorum Graecorum Fragmenta, hrsg. von A, Nauck (1964), 209f, von Kōphoi Saturoi. 4 5
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bezieht, deren Werke verloren sind. Während sich Aelianus – dem wir übrigens die einzige Erwähnung des Namens unseres Helden in der griechischen Literatur verdanken (De natura animalium XII.21: Gilgamos) – mit einer bestimmten teuflischen Schlange namens Dipsas (wörtlich „Durst”) beschäftigt, berichtet er uns folgendes: Es heißt, daß Prometheus das Feuer stahl, und der Mythos besagt, daß Zeus erzürnt war, und er ließ jenen, die ihn über den Dieb informierten, eine Droge zukommen, mit der man hohes Alter abwenden konnte. Soviel ich weiß, nahmen sie die Droge und packten sie auf einen Esel. Der Esel setzte mit der Last auf seinem Rücken seinen Weg fort; und es war Sommer, und der Esel kam in seinem Bedürfnis nach einer Erfrischung durstig an eine Quelle. Nun versuchte die Schlange, welche die Quelle bewachte, dieses zu verhindern und den Esel zurückzudrängen. Und in seiner Qual gab der Esel ihr als Preis für den Pokal die Droge, die er zufällig trug. Und 414 so gab es einen Austausch von Geschenken: Der Esel bekam sein Getränk, und die Schlange streifte ihr hohes Alter ab und erhielt als Zugabe, so sagt die Geschichte, den Durst des Esels. [Im SophoklesFragment heißt es, daß seitdem die Schlangen jedes Jahr ihre alte Haut abstreifen: kath’hékaston eniautón, H.v.D.]
Wie von Langdon zitiert, ergänzt Nikander die Geschichte, indem er uns das Datum nennt, an dem dieser „Austausch von Geschenken“ stattfand; nämlich anläßlich einer Verteilung der „Drei Wege”; und er berichtet, „daß als Kronos’ ältester Sohn Gebieter des Himmels wurde, er in seiner Weisheit die ruhmreiche Herrschaft unter seinen Brüdern aufteilte und den kurzlebigen Menschen zur Belohnung die Jugend schenkte; so ließ er ihnen seine Anerkennung zuteil werden, weil sie den Feuerdieb verraten hatten – Narren, die sie waren!, denn sie zogen keinen Gewinn aus ihrem Vertat.“
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Appendix 41 Ein paar schwache und verwischte Signale kann man aus jener Region empfangen, in welcher die Styx fließt – angesichts des himmlischen Südpols, wie wir gehört haben. Photios1 berichtet uns von Hyllos, Sohn des Herakles, auf dessen linker Kopfhälfte ein kleines Horn wuchs, und davon, wie Epopeos von Sikyon2 das Horn abbrach, nachdem er Hyllos in einem Zweikampf getötet hatte, sich mit diesem Horn Styxwasser holte und König des Landes wurde. Warum hätte er sich dieses viel gefürchtete Wasser besorgen sollen, wenn es ihm nicht dazu verholfen hätte, König zu werden? Angeblich sind die Sagen „spät”, in denen behauptet wird, daß Thetis den Knaben Achilles mit Hilfe von Wasser aus der Styx unverwundbar machte – mit Ausnahme der Ferse, wie wir wissen. Andererseits wurde der Sage zufolge Alexander mit Styxwasser getötet, wie Pausanias, der skeptisch blieb, berichtete (siehe auch Seite 185, Fußnote 16). Folglich wurden beide mit stygischem Wasser in Berührung gebracht, der eine beinahe im richtigen Augenblick – aber eben nur beinahe – und der andere zur völlig falschen Zeit, weit entfernt von jenem unbekannten Tag im Jahr, an dem man von dieser Flüssigkeit annahm, sie mache den Trinkenden unsterblich, wohingegen sie an jedem anderen Tag unweigerlich den Tod bedeutete.
Photius Biblioihèque, hrsg. von R. Henry (1962), 2, 56. M. Riemschneider [Augengott und Heilige Hochzeit (1953), 59] interpretiert den Namen: „der Hinaufschauer, der Hinaufwürfler.” 1 2
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Appendix 42 Für verwandte Vorstellungen in Rom siehe Festus (128M, BT (1965), 115): „Manalem fontem dici pro eo, quod aqua ex eo semper manet … Manalem lapidem putabant esse ostium Orci, per quod animae inferorum ad superos manarent, qui dicuntur manes.”1 (Um einseitige Begriffe daran zu hindern, sich in das Bild einzuschleichen, siehe auch Festus 156M, 147: „Manes di ab auguribus vocabantur, quod eos per omnia manere credebant, eosque deos superos atque inferos dicebant”) Hiermit sollte man das umfangreiche Material vergleichen, das von F.M. Cornford2 über unterirdische Konstruktionen in Griechenland angeboten wird: „phrear, das Äquivalent zum lateinischen puteus”. Sowie über den „Curtius-See”, Lacus Curtius – der ein mundus repräsentiert –, der laut Dion.Hal. 2.42 en mesō tēs Romaiōn agoras zu finden war, das heißt: direkt in der Mitte des Forums (siehe auch Festus 49M, 42). Cornford erklärt:3 Die Sage von Curtius, dessen Selbstaufopferung eine Flut stoppte und der mit dona ac fruges honoriert wurde, das man in seinen lakkos warf, kann, etwas Licht auf den Brauch in Athen werfen, mit Honig verknetetes Weizenmehl in jene Erdspalte im Bezirk von Ge Olympia zu werfen, in welche das Wasser nach Deukalions Flut ablief, Paus. I.18.7.
Der von einem Stein verschlossene Brunnen – hier sogar von einem veritablen römischen General samt Pferd – ist uns inzwischen vertraut, nach allem, was wir über Eben Schetija, den Brunnen der Ka’aba usw. gehört haben. Es gibt noch andere kuriose Verbindungen zwischen Brunnen und Steinen, die in künfSiehe Franz Bömer, „Der sogenannte Lapis Manalis”, ARW 33 (1936), 281; Kroll, RE 16 s.v. mundus, Spalte 561f. 2 F.M. Cornford, „The Eleusinian Mysteries”, in Festschrift Ridgeway (1913), 160ff. 3 F.M Cornford, op.cit., 162: Fußnote. 1
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tigen Untersuchungen berücksichtigt werden sollten, wie etwa die drei folgenden Items: 1) Der Stein, den das Kind den Drei Weisen aus dem Morgenland gegeben hatte; Marco Polo hat die Legende aufgezeichnet. „Die Weisen begriffen nicht die Bedeutung des Steins und warfen ihn in einen Brunnen. Sogleich kam ein Feuer vom Himmel herab, welches ,sie in ihr eigenes Land trugen und es in einer reichgeschmückten und schönen Kirche unterbrachten’.” Leonardo Olschki4 erwähnt auch die Version der Uiguren von dieser Geschichte, „wonach der Stein von dem Kind aus Seiner Krippe herausgeholt und in einen Brunnen geworfen wurde, weil sein Gewicht so überwältigend war, daß alle menschlichen oder Anstrengungen von Tieren, ihn wegzutragen, vergebens waren. Angeblich soll aus dem Brunnen, in den der Stein gefallen war, eine Feuersäule aufgestiegen sein, die bis zum Himmel reichte und jenes Feuer entfachte, welches von den Magi ,bis auf den heutigen Tag’ verehrt wird.” 2) Der Stern der Weisen, der laut Gervasius von Tilbury5 in den Brunnen von Bethlehem fiel, nachdem er seinen Zweck erfüllt hatte, die Weisen Männer auf den „neuen Weg” zu führen. 3) Der herabfallende Stern, welcher der Offenbarung zufolge den Abyssus öffnen wird – zur Abwechslung einmal ein zukünftiges Ereignis. Aus diesem Brunnen steigt Rauch auf, der die Sonne und die Luft verfinstert, und Franz Boll wies treffend auf das „Räucherfaß” südlich von Schütze und Skorpion hin: Ara, der Altar in der Galaxis;6 und unter eben diesem Altar befinden L. Olschki, „The Wise Men of the East in Oriental Traditions”, in Festschrift Popper (1951), 386. 5 Sunt qui dicunt, stellam Magomin suo completo ministerio in puteum cecidisse Bethlehemicum et illic cam intro videri autamant. Siehe F. Liebrecht, Des Gervasius von Tilbury Otia lmperiaiia (1856), 1, 53. 6 Thymiatherion oder thyterion. Michael Scotus nannte ihn noch „puteus sive sacrarius”. Siehe F. Boll, Sphaera (1903), 446 sowie Aus der Offenbarung Johannis (1914), 75. 4
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sich die Seelen der Zeugen Gottes und warten auf den Jüngsten Tag (Offenbarung VI.9). Laut Eratosthenes’ Katasterismus leisteten Zeus und seine Anhänger auf diesem Altar ihren Eid, bevor sie Kronos angriffen.7 Mag sein, daß der Leser unfreundlich reagiert und behauptet, es gebe keine Veranlassung für eine wie auch immer geartete Verbindung zwischen Sagen über die Drei Weisen, der Offenbarung und dem „Brunnen von Gilgamesch”. Doch Franz Boll hat in jenen seltsamen Heuschrecken-Dämonen der Offenbarung – sie kommen aus dem Brunnen des Abyssus –, die Pferden mit Menschenköpfen ähneln sowie Flügel und Skorpionschwänze haben, den Schützen-Kentaur von mesopotamischen Grenzsteinen wiedererkannt, der auch auf dem rechteckigen Zodiak von Dendera zu finden ist.8 Die Offenbarung sagt außerdem, daß sie Kränze wie aus Gold auf ihren Köpfen haben: Der ägyptische Sagittarius trägt eine Doppelkrone, die Teukros-Überlieferung schreibt der Konstellation das „Königsgesicht” zu (to prósōpon basilikón.9 Im Gilgamesch-Epos bewachen Skorpion-Menschen den Weg zur anderen Welt; Vergil (Aeneis 6.286) macht daraus Kentauren. Dabei müssen wir es belassen: Das Kapitel „Sagittarius und Saturn” würde uns zu weit wegführen. Wir wollten bloß zeigen, daß Gilgameschs Brunnen und die Öffnung neuer Wege kein „prähistorisches Geschwätz” sind, das nichts mit unserer postgriechischen, christlichen Zivilisation zu tun hat. Es geschah aus echter Ehrfurcht, daß Boll feststellte: „Von der Konstanz aller Es wird sich zeigen, ob Ara etwas mit dem enigmatischen Brunnen aus Genesis XXI.31, 33, genannt Beerseba, zu tun hat, der entweder der „Brunnen der Sieben” oder der „Brunnen des Schwurs” ist. Die Septuaginta votiert für den „Schwur”, XXI.31: phrear horkismou; XXI.33: kai ephyteusen Abraam arouran epi tō phreati tou horkou kai epekalesato ekei to onoma Kyriuu Theos aiōnios. [Vergleiche auch Theodor Nöldeke, „Sieben Brunnen”, ARW 7 (1904), 340-344.] 8 F. Boll, Aus der Offenbarung Johannis (1914), 69ff. 9 F. Boll, Sphaera, 181f. 7
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wesentlichen Charakteristiken in diesen Sternbildtypen macht sich der Fernerstehende schwer einen Begriff.“10 Obwohl dies alles posterior cura bleiben muß, möchten wir gerne den von Cornford angebotenen Vorschlag erwähnen, „daß einer dieser phreata (= Brunnen) in Eleusis durch den agelastos petra verschlossen wurde”, also durch den Felsen ohne Lachen, Demeter war wegen des Verlusts von Persephone agelastos, und sie saß auf ihrem gelächterlosen Felsen, von dem Cornford vorschlägt, ihn für „den Doppelgänger des anaklēthra bei Megara” zu halten, „der, wie sein Name besagt, jener Ort war, wo Kore ,herausgerufen’ wurde”.11 Das mag sein, aber es wirft nicht viel Licht auf dieses ganze Schema, wohingegen es wichtig scheint, sich daran zu erinnern, auf welche Weise der Zustand des „ohne Lachen seins” der Göttin geändert wurde: nämlich durch die recht unangebrachten Scherze von Baubo/Iambe. Nun taucht genau dieses Merkmal wiederholt innerhalb des Schemas von Weltaltern auf. Die japanische Sonnengöttin Amaterasu, die sich, erzürnt über Susa-no-Wos Vergehen, in eine Felsenhöhle zurückgezogen hatte und die Welt in äußerster Finsternis zurückließ, wurde nur durch die lasziven Tänze des „häßlichen Himmelsweibs” Uzumue dazu veranlaßt, wieder hervorzukommen: Den himmlischen Juwelenbaum auf dem Kopf tragend, tanzte Uzumue inmitten der 800.000 in der Milchstraße versammelten Götter herum und machte anschließend Feuer. Der ägyptische Rā, der sich von einer Welt zurückgezogen hatte, die ihm nicht mehr gefiel, wurde von Isis mit derselben Art von Scherzen dazu „überredet”, seine Pflichten wieder aufzunehmen („Und daraufhin lachte der große Gott sie an.”). Das Motiv taucht auch in der Edda auf, wo Loki und ein Ziegenbock die verärgerte Skadi zum Lachen bringen und sie auf diese Weise daran hindern, sich an F. Boll, Aus der Offenbarung Johannes (1914), 73: Fußnote 4. F.M. Cornford, „The Aparchai and the Eleusinian Mysteries”, in Festschrift Ridgeway (1913), 161.
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dem Mörder ihres Vaters Thjazi zu rächen.12 Obgleich in reichlich unpointierter Form, hat diese Geschichte auch auf den polynesischen Marquesas-Inseln überlebt und in hervorragendem Zustand bei den Cherokesen; dort fehlt zugegebenermaßen der Sexappeal, aber die agelestos-Figur ist Mutter Sonne, die untröstlich über den Tod ihrer einzigen Tochter ist: eine wahre Demeter. (Wobei ihre Tochter Eurydike ähnelt: Man hatte sie schon den halben Weg zurückgebracht, als die Psychopompoi einen Fehler machten, der es ihr ermöglichte, in den Hades zurückzukehren,) Der anstößige Tanz wird durch das Konzert eines JugendOrchesters ersetzt. Wir haben von einem angeblich irdischen agelastos petra gehört (Appendix 35), an dessen Fuß ein Fluß fließt, genannt Lethe. Außerdem erwähnten wir, daß Eleusis „Advent” bedeutet und auf den Umstand hinweist, daß Demeter dort ankam und daß sie, bevor sie Zeus geboren hatte, den Namen Rhea trug (Orph. Frg. 145, Kern 188). Der Umzug von Rhea-Demeter nach Eleusis ist eine in der Tat gewaltige und verwirrende Geschichte, in die Bienen, ein Specht – dessen Töchter zu Priesterinnen der eleusischen Demeter befördert wurden –, Ziegen und was nicht sonst noch alles verwickelt sind, und wir können dieses Ereignis hier und jetzt nicht 418 umfassend behandeln. Daß wir es mit einem gewichtigen Wechsel des Wohnsitzes zu tun haben, kann dem Parallelfall der Amaterasu entnommen werden, die, nachdem sie durch Uzumues Tanz dazu gebracht worden war, ihre Höhle zu verlassen, ehrfurchtsvoll in eine „Neue Halle” geleitet wurde, wie wir aus dem Kogo-shui erfahren.13 Und „dann hängten Ama no Koyane no Skaldskap. 1. Zum Lachmoliv bei Snorri, in Griechenland, Ägypten und Japan vgl. Franz Rolf Schröder Skadi und die Götter Skandinaviens (1941), 8, 11, 19-27. 13 K. Florenz, Die historischen Quellen der Shinto-Religion (1919), 423; siehe auch 37ff, 153-162, und Nikongi, übersetzt von W. Aston (1956), 40-49. 12
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Mikoto und Futo-tama no Mikoto ein erhabenes Sonnenseil rund um diese Halle auf.”14 Da wir keine Experten in eleusischen Angelegenheiten, Topographie usw. sind (sie blieben bis zum Schluß ein Geheimnis), fühlen wir uns nicht dazu berechtigt, uns – über das Aufwerfen einiger Fragen hinaus – mit diesen Punkten zu beschäftigen. Zu fragen wäre etwa: Welcher Brunnen war – sofern Cornfords Vermutung richtig ist – durch den Felsen ohne Lachen verschlossen? War es ein früherer Lapis manalis? Was geschah mit dem agelastos petra, nachdem Demeter zum Lachen gebracht worden war? Und wie könnte dieser Felsen, der einen mit der Unterwelt verbundenen Brunnen zudeckte, mit den Sagen kombiniert werden, die Demeter für das Entstehen der stygischen Quelle verantwortlich machen (Aelianus, De natura animalium X.40) oder dafür, daß die Wasser der Styx schwarz wurden (O. Waser, Roscher IV.1572)? Angeblich hat Demeter die Farbe der stygischen Gewässer geändert, als sie, auf der Suche nach Persephone vor Poseidon fliehend und sich in eine Stute verwandelnd, an der arkadischen Quelle der Styx ankam und in dem Wasser ihre eigene Mißgestalt erblickte. Und wie könnte andererseits die Entstehung der Styx und Demeters Sitzen auf dem Felsen ohne Lachen mit der orphischen Behauptung kombiniert werden, nach der Demeter „die zweifache Speise der Götter trennte”, sie in Nektar und Ambrosia spaltend,15 die beide aus dem „Horn von Amaltheia”, also alpha Aurigae, stammen? Wenn man die Menge von Zeugnissen für Steine, TonscherDie Frage bleibt bestehen, ob dieses „erhabene Sonnenseil” dasselbe ist wie das „linke Seil” – deshalb so genannt, weil es von links nach rechts geflochten ist – und wie das „Seil, dessen Wurzelenden miteinander verflochten sind” und mit dessen Hilfe Amaterasu dem Nihongi und Kojiki zufolge daran gehindert wurde, jemals wieder die Höhle (ohne Lachen) zu betreten [siehe K. Florenz, Quellen der ShintoReligion (1919), 40: Fußnote 22]. 15 Orph. Frg. 189, Kern 216: Dēmētēr prōtē kai tas dittas trophas dieilen. 14
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ben, Bäume und Stöpsel bedenkt, die den einen oder anderen Brunnen, Abyssus oder Wasserstrudel verschließen und deren Herausreißen oder sonstige Entfernung große Katastrophen auslöst, dann mag man von uns erwarten, daß wir dies alles zu einem einzigen Paket schnüren – vom Eben Schetija über die Tehom bis zu Tahaki, der den Baum von Tane-von-den-heiligenWassern herausreißt; von Alexander, der den Jochknopf herauszieht, wie Kara Pār den kupfernen Weltnabel, bis zu dem boshaften Affen, der den Korb entfernt. Aber abgesehen von der Tatsache, daß es noch viel mehr, in diesem Essay nicht erwähnte 419 Beispiele gibt, die ebenfalls ihren Platz in besagtem Paket finden müßten, lauert hinter jedem Baum, Stein und Brunnen sozusagen die Gefahr der Vereinfachung und des skrupellosen Identifizierens; zu simplifizieren ist jedoch genau jene Gefahr, welche wir am allermeisten vermeiden wollen. Mit anderen Worten; Es ist nicht unsere Absicht, vergleichende Mythologie „einfacher” zu machen, indem wir einen simplen Nenner liefern, auf den all diese Dinge gebracht werden könnten; wir denken im Gegenteil, daß wir einer beinahe unzählbaren Anzahl von Unbekannten gegenüberstehen, für die in der Zukunft in langen und beschwerlichen Untersuchungen die passenden Gleichungen herausgearbeitet werden müssen.
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Appendix 43 Ein Seitenlicht fällt auf die mit dem Hirsch verknüpften Vorstellungen durch Horapollons Aussage hinsichtlich der ägyptischen Schreibweise von „Ein langer Zeitraum: Jedes Jahr wachsen dem Hirsch Hörner. Eine Abbildung von ihnen bedeutet einen langen Zeitraum.“1 Chairemon (Hieroglyphe Nr. 15, zitiert von Tzetzes) faßte es kürzer: „eniautos: elaphos”. Louis Keimer hob das Fehlen von Hirschen in Ägypten hervor und verwies auf den Ibex (Steinbock) als angemessenen „Ersatz”,2 dessen Kopf tatsächlich benutzt wurde, um das Wort rnp = Jahr zu schreiben, gelegentlich in „der Herr des Jahres”, einem wohlbekannten Titel für Ptah.3 So selten wie diese Schreibweise des Wortes gewesen zu sein scheint – das Wörterbuch der Ägyptischen Sprache 2, 429-433, erwähnt diese Variante nicht einmal –, lohnt es sich dennoch, sie in Betracht zu ziehen (was für alles gilt, womit sich Keimer beschäftigt hat), um so mehr, als Chairemon4 seine Liste fortsetzt, indem er als Nummer 16 angibt: „eniautos: phoinix“, also eine andere Zeitspanne, nämlich die vieldiskutierte „Phönix-Periode” (ca. 500 Jahre). Es gibt zahlreiche ägyptische Wörter für „das The Hieroglyphs of Horapollo, übersetzt von G. Boas (1950), 89 = Horap. 2.21.: „Pōs polychromon. Elaphos kat’eniauton blastanei ta kerata, zōgraphoumenē de, polychronion sēmaiei.” 2 L. Keimer, „Interpretation de plusieurs passages d’Horapollon”, in Suppl. 5 aux Annales du Service des Antiquites de l’Égypte (1947), 1-6, „Les Égyptiens avaient remarqué la resemblance existant entre les corries d’un Bouquetin, caracterisées par de nombreux noeuds, et le signe … qui est originairement une branche de dattier.” Wobei dieser Palmzweig den Hauptteil der Hieroglyphe für „Jahr – rnp” ausmacht. 3 M. Sandmann Holmberg, The God Ptah (1946), 22, 64f, 77, 178-180. 4 F.J. Laulh, „Horapollon“, SBAW (1876), 68. Es ist und bleibt eine Tragödie, daß nur neunzehn von Chairemons Erklärungen durch Tzetzes erhalten blieben, der nur feststellte, daß Chairemon „kai hetera myria” geliefert hatte. 1
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Jahr”, und dasselbe trifft auf andere antike Sprachen zu. Folglich schlagen wir vor, eniautos als jenen speziellen Zyklus zu verstehen, welcher dem jeweils zur Debatte stehenden Charakter gehört: Das bloße Wort eniautós („in sich”, en heautô; Platons Kraty- 420 los 41 OD) besagt nicht mehr als eben dieses. Es erscheint ungerechtfertigt, das Wort als „das Jahr” zu übersetzen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es so etwas wie das Jahr nicht gibt: Zunächst einmal gibt es das tropische Jahr und das siderische Jahr, von denen keines dieselbe Länge wie das Sothis-Jahr hat. Tatsächlich sollten uns die Methoden der chinesischen und indischen Zeitrechnung sowie die der Maya lehren, sehr viel sorgfältiger mit den Begriffen umzugehen, die wir verwenden. Zum Beispiel rechneten die Inder mit fünf unterschiedlichen Arten von „Jahren”, darunter mit einem Jahr von 378 Tagen, für das Albrecht Weber keine Erklärung hatte.5 378 Jahre beträgt der synodische Umlauf des Saturn. Man gewinnt nichts, wenn man das altägyptische astronomische System mit Gewalt in den „primitiven” Rahmen zwängt, der üblicherweise vorausgesetzt wird. Das eniautos des Phönix wären die genannten 500 (oder 540) Jahre; aber noch kennen wir nicht den Zeitplan des Hirsches: Sein „Jahr” sollte entweder 378 Tage oder 30 Jahre betragen, aber es gibt weitaus mehr mögliche Perioden als wir uns träumen lassen. Das wissen wir von Timaios. Im Augenblick ist nur wichtig, sich der Pluralität von „Jahren” bewußt zu werden und die Augen offen zu halten für weitere Informationen über das „Jahr des Hirsches” (oder des Ibex) – und für andere eniautoí, insbesondere jene, die in uns angeblich so vertrauten griechischen Mythen vorkommen: die achtjährige Periode etwa, die Apollon auf der „Flucht” verbrachte, nachdem er Python getötet hatte,6 beziehungsweise das „eine ewige Jahr” (aídion eniautón), das ebenfalls acht Jahre betrug und während dessen Kadmos Ares dienA. Weber, „Die Vedischen Nachrichten von den Naxatra” Teil 2, APAW (1862), 281-288, insb. 286f. 6 Plutarch, De defectu oraculorum, c.21, 421 c. 5
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te.7 Acht Jahre sind nicht nur eine bekannte Schaltperiode: Acht Jahre entsprechen fünf synodischen Umläufen von Venus.
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Siehe RV X46.2; vgl. V. Rydberg, Teutonic Mythology (1907), 587. Vage wie immer, formuliert Geldner „der Gewässer Behausung”. Agni ist jedoch ein Titel, und der Rigveda hebt immer und immer wieder hervor, daß bereits drei Agnis dahingegangen sind, „verzehrt” vom „Opferdienst”. Auch stammt Agni nicht nur, wie Gibil, von dem Zusammenfluß der Ströme, sondern ist außerdem im „höchsten Himmel” geboren (RV VI.8.2): „Im höchsten Himmel geboren, wachte Agni über die (Opfer-) Regeln als ihr Hüter. Der Klugsinnige maß den Luftraum aus.” Tatsächlich hat er in der Regel drei Geburtsorte, nämlich in den „drei Welten”. (Wir haben bereits erwähnt, daß einer der Agnis „sieben Mütter” hatte, wie Heimdall.) Aber wo auch immer einer der drei Agnis zu „finden“ ist, er ist ein sehr fleißiger Vermessen RV VI.7.6 sagt: „Durch das Auge des Vaisvānara, durch das Wahrzeichen der Unsterblichkeit sind die Höhen des Himmels ausgemessen. Auf seinem Haupte (stehen) alle Welten, wie die Zweige sind seine sieben Arme (?) gewachsen.” RV VI.7.1-2 nennt denselben Agni Vaisvānara „Haupt des Himmels, Lenker1 der Erde, zur rechten Zeit geboren … der Apollodorus III.4.1 siehe auch II.5 mit einer langen Fußnote von Frazer. 1 Karl Friedrich Geldners Übertragung von Sanskrit aratí in „Lenker” (Wagenlenker) ist von Paul Thieme bestritten worden [Untersuchungen zur Wortkunde und Auslegung des Rigveda (1949), 26-35]. Da aratí (fem.) von ará, die (Rad-) Speiche stammt, laut Thieme die Totalität aller Speichen, übersetzt er RV VI,7.1: „(den Agni), das Haupt des Himmels, den 7
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Nabel des Opfers”. Strophe 5 derselben Hymne stellt fest: „Vaisvānara! Diese deine hohen Anforderungen hat noch keiner angetastet, o Agni, der du im Schoße der beiden Eltern geboren, das Wahrzeichen in der Reihenfolge der Tage fandest.“ Über einen anderen „gerade geborenen” Agni, den „besten Pfadfinder”, sagt RV VIII.103.11: „Der bei (Sonnen) Aufgang die angebundenen Schätze erkundet.“ Keiner, der den „Implex” im Kopf hat, wird an den täglichen Sonnenaufgang denken, sofern es überhaupt um die Sonne geht: Dies ist eine Konjektur von Geldner; wir haben es entweder mit dem heliakischen Aufgang des „diensthabenden Agni” am Frühlingsäquinoktium oder am Tag des Aufgang des Sirius zu tun. Wir fragen uns, wann endlich der glorreiche Tag kommen wird, an dem die Philologen beginnen, die rein kosmologische Signifikanz von „Opferhandlungen” zu erkennen, sowie von „Opfern”, die an einem „Opferpfahl” oder an einem Berg festgekettet sind. Die stattliche Menge von Zeugnissen für Agni und Soma als Koluren muß andernorts abgehandelt werden, ausgehend von einer Untersuchung der sogenannten Shunashepa-Hymnen des ersten Mandalas des Rigveda. Im vorliegenden Zusammenhang möchten wir nur noch auf einen weiteren Namen von Agni – der selbst ein Titel ist – hinweisen, nämlich auf Apām Napāt, eine Bezeichnung, die auch zum iranischen Tishtriya, Sirius, gehört. Gewöhnlich wird sie mit „Kind der Wasser” übersetzt, aber mit dieser Interpretation von napāt (woher auch Neptunos) als „Kind” können wir uns nicht einverstanden erklären. Nicht nur, daß Boisacq in seinem Dictionnaire étymologique de la langue grecque nur Neffen und Nichten in Verbindung mit dieser Wurzel zuläßt, in der Mythologie haben wir es überdies immer nur mit Neffen zu tun – angefangen mit unserem eigenen Helden Amlethus über Horus, Neffe von Seth, und Kullervo, Neffe von Speichenkranz der Erde”, wobei er auch auf I.59.2 verweist: „Agni ist das Haupt des Himmels, der Nabel der Erde. So ward er der Speichenkranz der beiden Welten.”
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Untamo, bis hin zu Reineke Fuchs, Neffe von Isengrim, und so weiter. Was zählt, ist eine Art von „gebrochener” Beziehung, ein Thema, das ein ausführliches Kapitel verdiente. Aber da das graphische Zeichen, das diese „Beziehung” am besten ausdrückt ( ) und zum generellen Verständnis des Schemas beitragen könnte, aus der Mande-Tradition im West-Sudan stammt, schieben wir die Untersuchung dieses gesamten Komplexes auf.
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Appendix 45 Exkurs über Gilgamesch Es gibt viele Ausgangspunkte, von denen aus man neue Forschungsreisen in das Gilgamesch-Epos unternehmen kann, sofern erst einmal zugegeben ist, daß es begründete Fragen zu stellen gibt. Unter den vielen wählen wir zwei aus, ohne zu beabsichtigen, der Sache gänzlich „auf den Grund” zu gehen: die erste betrifft den „Fährmann”, die zweite betrifft „Bäume”. Angesichts des Fährmanns Urschanabi – einer Art personifiziertem me, der vom „Zusammenfluß der Ströme” fortgezerrt wurde, um die Richtigkeit der Maße von Uruk zu überprüfen – kann es kaum für einen weithergeholten Gedanken angesehen werden, daß wir in anderen mesopotamischen Schriften nach vergleichbaren „Personen” oder „Orten“ fragen. Eine verzweifelte Suche ist dabei nicht erforderlich: Die Enuma elisch offeriert uns ein gleichermaßen entscheidendes Merkmal, von dem das ganze „Gradnetz” abhängt, nämlich Nibiru (oder nēbēru). Es gibt in der sogenannten „Babylonischen Genesis” drei Textstellen, die – auf den ersten Blick wiedererkennbare – Einzelheiten des Vermessens der neuen Welt angeben, wie es von Marduk/Jupiter vollzogen wird. In Speisers Übersetzung lauten
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sie folgendermaßen (ANET, 67, 69): 4.141ff He crossed the Heavens and surveyed the regions. He squared Apsu’s quarter, the abode of Nudimmud [Ea], As the lord measured the dimensions of Apsu, The Great Abode, its likeness, he fixed as Esharra The Great Abode, Esharra, which he made as the firmament. Anu, Enlil, and Ea he made occupy their places. 5.1-8
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He constructed stations for the great gods, Fixing their astral likeness as constellations. [Heidel: The stars, their likeness(es), the signs of the zodiac, he set up.]1 He determined the year by designating the zones: He set up three constellations for each of the twelve months. After defining the days of the year (by means) of (heavenly) figures, He founded the Station of Nebiru to determine their (heavenly) bands, That none might transgress or fall short. Alongside he set up the stations of Enlil and Ea. They raised high the head of Esagila equaling Apsu. Having built a stage-tower as high as Apsu, They sat in it an abode for Marduk, Enlil (and) Ea.
Der Terminus lautet „Lumaschi“-Sterne, und es ist noch nicht eindeutig, welche Sterne gemeint sind. F. Kugler [Sternkunde und Sterndienst in Babel (1907-1913), I, 259] votiert für Tierkreiszeichen; E. Weidner [Reallexikon der Assyriologie (1932), 3, 83J begrenzte diese Bezeichnung auf das 5. Jahrhundert v.Chr. und später, wohingegen O. Neugebauer [The Exact Sciences in Antiquity (1962), 1401 konstatierte, daß die Tierkreiszeichen (im Gegensatz zu den Sternbildern) in 418 v.Chr. noch nicht eingeführt waren. Es gibt Texte, in denen zu den Lumaschi-Sternen Cygnus, Kepheus, Aquila, Orion, Sirius, Centaurus gezählt werden [A. Jeremias, HAOG, 200; P, Gössmann, Planetarium Babylonicum (1959), 250], und das schließt den Zodiak offensichtlich aus. C. Bezold [Boll/Bezold, Antike Beobachtungen farbiger Sterne (1916), 149; siehe 1
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Den spezifischen Charme dieser Textstellen beiseite lassend – nämlich den Umstand, daß die Plätze von Anu, Enlil und Ea in IV.146 nicht dieselben sind wie ihre Stationen in V.8 –, konzentrieren wir uns auf EE V.6: „Er gründete die Station von Nibiru, um ihre (himmlischen) Bänder zu bestimmen” (Speiser), oder „Er gründete die Station von Nibiru, um ihre Pflichten bekannt zu machen” (Heidel), oder „Er setzte ein den Nibirupunkt, um festzusetzen ihre Verknotung” [= riksu; Weidner, Handbuch (1915), 33]; sowie auf EE V.8: „Längsseits errichtete er die Stationen von Enlil und Ea” (Speiser), oder „Er etablierte die Stationen von Enlil und Ea mit ihm zusammen” (nämlich mit dem Nibirupunkt, Heidel), oder „Den Enlilpunkt und den Eapunkt setzte er bei ihm fest” (Weidner). Das bedeutet, daß die Position der „Wege von Anu, Enlil und Ea” eine Funktion von Nibiru war. Daß nur das Festsetzen der Plätze oder Stationen von Enlil und Ea erwähnt wird, laßt vermuten, daß Marduk/Jupiter die „AnuSchaft” für sich selbst beansprucht.2 Die Experten scheinen mit der Gleichung „Nibiru = Jupiter” recht glücklich zu sein (siehe unten). Aber was ist seine „Station” beziehungsweise sein Platz? Wenn man bedenkt, daß auf eben diesem Platz von Nibiru die gesamte Dreiteilung des Universums während des von Marduk/Jupiter regierten Zeitalters ruht, dann ist es überraschend, wie wenig sich die Fachleute darum kümmern. Die Bedeutung von nibiru ist „Fähre, Fährmann, Furt” – mikis auch Bezold, Babylonisch-Assyrisches Glossar (1926), 1601 schlug vor, die Lumaschi-Sterne als „Jupiter-Sterne” aufzufassen; das wurde von B. Meissner akzeptiert [Babylonien und Assyrien (1932), 2, 408], Weidner (RLA III, 80) jedoch behauptete, Bezold sei von falschen Prämissen ausgegangen. 2 Diese Sonderstellung muß nach der ersten (?) Flut abhandengekommen sein (oder durch sie?), sonst könnte Marduk nicht vorwurfsvoll nach dem Verbleib von „Niniginangargid, der große Zimmermann meiner Anuschaft” fragen [Erra-Epos, Tafel 7,155; P.F. Gössmann, Das Erra-Epos (1956), 98].
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nibiri ist die Gebühr, die man bezahlen muß, um den Fluß zu überqueren –, von eberu, „überqueren”.3 Alfred Jeremias bestand darauf, daß Nibiru „in den Sterntexten der späteren Zeit” auf Canopus hinwies, und er hielt diesen Stern für den Lieferanten des Meridians der Stadt Babylon.4 Es hat andere Identifizierungen gegeben (sogar die mit einem Kometen!): mit dem Sommer- 424 solstitium5 oder mit dem Himmelsnordpol6 Die von Gössmann7 gesammelten Meinungsäußerungen und Urteile belegen eindeutig, daß Nibiru für den Augenblick ein unbekannter Faktor bleibt. Diese bedauernswerte Situation wird durch die nächste Gelegenheit keineswegs verbessert, bei der uns das ominöse Wort entgegengeschleudert wird, nämlich in EE VII.124ff, wo dem neuen Herrscher, Marduk/Jupiter, fünfzig Namen verliehen werden, darunter auch Nibiru. Speiser-Übersetzung: Nebiru shall hold the crossings of heaven and earth; Those who failed of crossing above and below, Ever of him shall inquire. Nebiru is the star which in the skies is brilliant. Vgl. C Bezold, Glossar (1926), 13f; E. Ebeling, RLA 3, 2f; P. Jensen, Kosmologie (1890), 128; E. Weidner, Handbuch (1915), 26; P.F. Gössmann, Planet. (1950), 311: „Nibiru ist eigentlich die ,Überfahrtsstelle’. Der ,Stern der Überfahrtsstelle’ ist der Mardukstern Jupiter, wenn er den Meridian überschreitet.“ 4 HAOG, 134; E. Weidner (RLA 2, 387): „Ob der Stern Marduk-Nebiru wirklich = Canopus, bleibt freilich ebenfalls unsicher.” Auf Seite 247, Fußnote 2, verallgemeinert Jeremias (op.cit.) ohne weitere Umstände: „Kulminationspunkt der Sterne im Ortsmeridian.” 5 E. Weidner, Handbuch (1915), 33; aber das schrieb er mindestens dreißig Jahre früher als seine Artikel in RLA. 6 Bruno Meissner, Babylonian und Assyrien 2 (1925), 408. 7 P.F. Gössmann, Planetarium Babylonicum (1950), 311. 3
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Verily, he governs their turnings, to him indeed they look Saying: „He who the midst of the Sea restlessly crosses, Let ,Crossing’ be his name who controls its midst. May they uphold the course of the stars of heaven; May he shepherd all the gods like sheep.”
Heidel-Übersetzung: Nibiru shall be in control of the passages in heaven and on earth, For everyone above and below who cannot find the passage inquires of him. Nibiru is his star which they caused (?) to shine in the sky. He has taken position at the solstitial point (?), may they look upon him, Saying: „He who crosses the middle of the sea without resting, His name shall be Nibiru, who occupies the middle thereof; May he maintain the course of the stars in heaven; May he shepherd all the gods like sheep
Von Soden (ZA 47, 17): Nebiru soll die Übergänge von Himmel und Erde besetzt halten, denn droben und drunten fragt jeder, der den Durchgang nicht findet, immer wieder ihn. Nebiru ist sein Stern, den sie am Himmel sichtbar werden ließen; er faßte Posten am Wendepunkt, dann mögen sie auf ihn schauen und sagen: „Der die Mitte des Meeres (Tiamat) ohne Ruhe überschreitet, sein Name sei Nebiru, (denn) er nimmt die Mitte davon ein. Die Bahn der Sterne des Himmels sollen sie (unverändert) halten …“
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Wie sicher und unerschütterlich der Boden ist, auf dem wir gehen – dem unergründlichen Ratschluß der Experten zufolge –, mag aus Albrecht Götzes Übersetzung der Zeilen 128-1338 abgeA. Götze, „Akkadian d/tamtum”, in Festschrift Deimel (1935), 185191.
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schätzt werden, der von der Überzeugung ausgeht, daß eberu = „binden, einschließen” sei, was ihm – kombiniert mit der „Lösung”, daß tam.tim „Kampf“ bedeutet – augenscheinlich gestattet, von der „Mitte von Tiamat” loszukommen: Who enclosed (in his net) indeed amidst the struggle without loosening, May his name be „encloser”, who seizes amidst (it). Of the stars of heaven may he uphold their courses May he shepherd the gods. all of them like sheep.
F.M.Th. Bohl9 war zumindest verwirrt genug, um einzugestehen: „Der Passus gehört zu den sachlich schwierigsten der Tafel, ohne daß der ziemlich vollständig erhaltene Kommentar hierbei wesentliche Hilfe leistet.“ Aber indem er Standpunkte aufrechterhält, die nicht miteinander zu vereinbaren sind – weil sie auf zweifelhaften Identifizierungen beruhen —, war er der Sache nicht dienlich. Auf der einen Seite behauptete er, Nibiru sei der „dem Planeten und seinem Hypsoma” verliehene Name; auf der anderen Seite hielt er Nibiru für einen Stern oder ein Sternbild, der bzw. das den Punkt markiert, wo Jupiter den „Weg des Anu” betritt, wobei er hinzufügt: „Die Beobachtungszeit ist die Nacht des Frühlingsäquinoktiums, wenn die Sonne im Schnittpunkt von Äquator und Ekliptik im Sternbild Widder steht.” Er verrät nicht, woher er diese überraschende Kenntnis bezogen hat; er scheint sich auf die Identifizierung von „1-Iku” mit Aries/Cetus zu verlassen, die aber nicht stimmt: Es ist das Pegasus-Viereck;10 aber diese Konstellation wird in VII.124ff nicht erwähnt. Was nun? Abgesehen von diesem Umstand wissen wir nicht, ob zur Zeit der Enuma elisch Aries für Jupiters Hypsoma gehalten wurde; es scheint – bereits zu diesem Zeitpunkt – Gründe zu geben, den Krebs (genauer: Prokyon) – Nangar = der Zimmermann als F.M.Th. Böhl, „Die fünfzig Namen des Marduk”, AfO 11 (1936), 210. Böhl erwähnt diese Identifizierung (211: Fußnote 47) unter Hinweis auf Bezold und Schott.
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Jupiters Exaltation anzuerkennen.11 Drittens: Wenn Böhl 1-Iku für den das Frühlingsäquinoktium regierenden Widder hält, wie könnte dann Jupiter dort den „Weg von Anu” betreten?12 Der „Weg des Anu” repräsentiert ein Band, das den Äquator begleitet und von 15 (oder 17) Grad nördlich des Äquators bis 15 (oder 17) Grad südlich desselben reicht; der „Weg von Enlil“ verläuft parallel im Norden zu dem des Anu, der „Weg von Ea” im Süden.13 Daß der Standort der Sterne auf diesen drei „Wegen” aufSiehe E. Weidner, „Babylonische Hypsomatabilder” OLZ 22 (1910), Spalte 14ff; E. Weidner, Gestirn-Darstellungen auf Babylonischen Tontafeln (1967), 9f, 134: Fußnote 166, sowie Tafeln V, VI (VAT 7847). Es muß auch ein Passus aus dem Taittiriya Brahmana (5.1.1) in Betracht gezogen werden: „Als Jupiter zuerst geboren ward, besiegte er das Nakshatra Pushya durch sein Leuchten.” P.C. Sengupta, der die Zeile in seiner Einleitung von Burgess’ Übersetzung des Sūrya Siddhānta (1935), xxxiv zitiert, fehlinterpretiert sie gründlich dadurch, daß er geltend macht, sie schildere „die Entdeckung von Jupiter“, sowie dadurch, daß er hinzufügt: „In der Sterngruppe von Pushya (delta eta gamma Canari) finden sich keine leuchtenden Sterne, und der Planet Jupiter wurde entdeckt, als er nahe an diese Sterngruppe herankam.” Den Experten, die steif und fest mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Umstand verweisen, daß das Nakshatra Pushya früher Tishya genannt wurde [siehe z.B. A. Scherer, Gestirnnamen (1953), 150] – und das heißt: Sirius –, können wir im Moment nur versichern, daß wir uns dieses speziellen Umstands bewußt sind. Voreilige „Lösungen” sind von keinem Nutzen. 12 Sicher sagt Böhl das nicht explizit, zumal seine Formulierungen so unpräzise wie nur möglich sind. Er behauptet, daß zur Neujahrszeit (Frühlingsäquinoktium) „die Umlaufbahn von Jupiter besonders sorgfältig beobachtet wurde”. „Man beobachtete – so dürfen wir annehmen – wie er (wohl von der äußeren Ea-Sphäre her [sic!]) in den AnuBereich eintrat, diesen Bereich durchquerte (ebēru, itburu) und ihn dadurch gleichsam feierlich in Besitz nahm.” 13 Für diese vieldiskutierten „Wege” siehe B.L. van der Waerden, „The Thirty-Six Stars”, JNES 8 (1949), 16; E. Weidner, Handbuch (1915), 4649; B. Meissner, Bab. und Assyr. II (1925), 407f; Bezold/Kopff/Boll, 11
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grund der präzessionalen Verschiebung der Kreuzungspunkte von Ekliptik und Äquator nicht immer derselbe ist, versteht sich von selbst. Tatsache aber ist, daß „1-lku” – wie von Böhl dunkel angedeutet – wirklich ins Spiel gebracht wird, nämlich, wie oben zitiert, in EE VI.62: „They raised high the head of Esagila equaling Apsu.” Und was dieses Esagil (oder Esagila) anbelangt, so erfahren wir aus dem Ritualtext für das Neujahrsfest in Babylon,14 daß der Urigallu-Priester „hinaus zum Erhabenen Hof gehen, sich gen Norden wenden und den Tempel Esagil dreimal mit dem Segen ‚Iku-Stern, Esagil, Bild von Himmel und Erden’ segnen soll.” „1-Iku”, das Pegasus-Viereck (= alpha beta gamma Pegasi, alpha Andromedae, siehe erneut Abbildungen 34 bis 41), ist in der Tat von äußerster Wichtigkeit, wobei Iku das fundamentale Flächenmaß15 darstellt; und Arthur Ungnad faßte dieses von den Fischen eingeschlossene Sternbild als das „Paradies” auf, sozusagen als die UrFläche.16 Noch wichtiger ist, was Utnapischtim Gilgamesch über seine Arche erzählt (GE 11.57), welche, wie der Apsu, ein exakter Würfel war: „Ein Iku groß war seine Bodenfläche.”17 Gewiß sagt uns das noch lange nicht, wo sich Marduk wohl aufgehalten haben mag, als er den Titel Nibiru empfing – es könnte für den Planeten ausschlaggebend gewesen sein, gemeinsam heliakisch mit „1-Iku”, dem Himmelsmodell von Esagil, aufzugehen. Aber wann?18 Der heliakische Aufgang von „1-Iku” „Zenite und Äquatorialgestirne“, SHAW (1913); J. Schaumberger, 3 Erg., 321-330. 14 Siehe Sachs-Übersetzung, ANET, 232,1. 274f. 15 Ungefähr 3-600 Quadratmeter; siehe Heidel, GE, 82: Fußnote 173. 16 A. Ungnad, Das wiedergefundene Paradies (1923), 11. 17 Schott-Übersetzung: „Ein ‚Feld’ groß war seine Bodenfläche.“ Für Einzelheiten vergleiche A. Schott, „Zu meiner Übersetzung des Gilgamesch-Epos“. ZA 42 (1934), 37f, 40. 18 Wenigstens ein Schlüssel zu dieser Situation (wahrscheinlich gibt es
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– genau; beta Pegasi – fiel mit dem Wintersolstitium in 4000 v. Chr. zusammen; um 1000 v. Chr. fand er am 25. Januar statt.19 ,,1Iku”, das Pegasus-Viereck, wird in der „Serie mulAPIN” (PflugStern, Triangulum) – von Weidner „Ein babylonisches Kompendium der Himmelskunde” genannt20 – als „die Wohnung der Gottheit Ea, der Anführer der Sterne von Anu” bezeichnet.21 Laut van der Waerden ist diese Serie eine Kompilation, „um 700 v. Chr. oder etwas früher zusammengestellt22 – in der Material aus verschiedenen Zeitabschnitten zwischen -1400 und -700 verwendet wurde”: Demzufolge würde „1-Iku” – als „Führer” der Sterne auf dem „Weg von Anu” stehend – Ende Januar aufgehen, also recht lange vor dem Frühlingsäquinoktium, an dem das Neujahrsfest abgehalten wurde. weitaus mehr) ist in der Keilschrift-Tafel K 3476 enthalten, die von dem babylonischen Neujahrsfest handelt, übersetzt und kommentiert von Heinrich Zimmern [„Zum babylonischen Neujahrsfest“, BVSGW 58 (1906), 3, 127-136], und in der es heißt (Zeilen 20-21): „(Das ist) Marduk […] [der (?) mit (?)] seinen Füßen innerhalb (?) Eas liegt.” In einer Fußnote empfiehlt Zimmern, diese Zeile als „eine Anspielung auf ein mit Marduk (Auriga?) verbundenes Sternbild, das in ein mit Ea (Aries?) verbundenes Sternbild hineinreicht“ aufzufassen. Svend Aage Pallis, der nicht zu astronomischen Vorstellungen neigte, machte daraus, daß „Marduk vor (?) Ea liegt (?)”; die unzweifelhafte Anwesenheit des Planeten Venus im zweiten Teil des Satzes (kakkabuDIL.BAT) zwang ihn zu dem Eingeständnis: „Vielleicht bezieht sich das auf bestimmte astronomische Gegebenheiten” [The Babylonian Akïtu Festival (1926), 217]. Im Jahre 1926 stand genügend Literatur über die „Drei Wege” zur Verfügung. 19 Siehe W. Hartner, „The Earliest History of the Constellations in the Near East”, JNES 24 (1965), 13, 15. 20 E. Weidner, AJSL 40 (1924), 186-208. 21 Bezold/Kopff/Boll, op.cit., 23. 22 Siehe auch A. Schott, „Das Werden der babylonisch-assyrischen Positions-Astronomie und einige seiner Bedingungen”, ZDMG 88 (1934), 331, 333.
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Das ist soweit alles ganz gut und schön und sicherlich höchst interessant, aber wissen wir mittlerweile, was sich hinter Nibiru, „Fähre, Fährmann, Furt”, tatsächlich verbarg? Selbst wenn wir davon absehen, uns wegen Jupiters und seines Verbleibs Sorgen zu machen? Wir wissen es nicht; und wir sind geneigt zu sagen: „quod erat demonstrandum”, nämlich daß die vielen wortreichen Übersetzungen, eloquenten Artikel und Bücher nicht die entscheidenden Punkte jenes kosmologischen Systems geklärt haben, welches die Enuma elisch, das Gilgamesch-Epos, das ErraEpos und all die anderen vermeintlichen „Gedichte” beherrscht. Nibiru ist nur ein Fall unter vielen, aber es ist ein recht signifikantes Musterbeispiel, um zu beweisen, daß kein konkretes Problem gelöst werden kann, solange die Astronomie-Experten zu hochmütig sind, „mythische” Ideen anzufassen – von denen man natürlich fest annimmt, daß sie blanker Unsinn sind –, solange Religionshistoriker darauf schwören, daß Planeten und Sterne erst „sehr spät“ in ursprünglich „gesunde” Fruchtbarkeitskulte und naive Märchen hineingeschmuggelt wurden – weshalb die ungesunden Subjekte aus Prinzip vernachlässigt werden sollten –, und solange sich die Philologen einreden, daß Vertrautheit mit Grammatik naturwissenschaftliche Kenntnis ersetzt. Aber selbst wenn sich die verschiedenen Spezialisten dazu herabließen, die ihnen gemeinsame Arroganz zu überwinden, denken wir nicht, daß es eine große Chance gibt, zu einer befriedigenden Lösung konkreter Details und zu einem adäquaten Verständnis des Systems als Ganzes zu kommen, ohne vergleichbare 428 Systeme in anderen Teilen der Erde in Rechnung zu ziehen; Mesopotamien ist mitnichten die einzige Provinz im Hochkulturgürtel, wo die Astronomen mit einer Dreiteilung der Sphäre arbeiteten – ganz abgesehen von der Vorstellung, die uns angeblich so vertraut, in Wirklichkeit aber höchst unbekannt ist: nämlich die „Wege” von Zeus, Poseidon und Hades bei Homer (Ilias XV.187-193). Die Inder haben ein sehr ähnliches Schema der Un-
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terteilung des Himmels in Wege23 (sie nennen sie sogar „Wege”). Und dasselbe trifft auf die Polynesier zu, die uns viele Einzelheiten über die zu den drei Zonen gehörenden Sterne erzählen (und darüber, von welchem Planet sie „gezeugt“ wurden); aber niemand hielt es für lohnenswert, den größten Navigatoren, die unser Globus jemals gesehen hat, überhaupt zuzuhören; noch hat irgendein Ethnologe unserer fortschrittlichen Zeit es für erwähnenswert erachtet, daß die megalithischen „heiligen Plätze” Polynesiens (Maraes) ihren imponierenden Status der „Heiligkeit” (Tabu) gewannen, wenn die „Unu-Bretter” zur Stelle waren. Diese geschnitzten Unu-Bretter repräsentierten die „Säulen von Rumia” – „the sky of Rumia” wiederum ist dem Anu-Weg vergleichbar –, woselbst Antares als „Eingangssäule“ fungierte. Zu den anderen „pillars” gehörten u.a. Aldebaran (das war die Tätowiersäule), Spika („the pillar of perfect purity”), Prokyon (verbunden mit Rhetorik) und Arkturus, aber auch der in Tahiti unsichtbare Polarstern.24 Indessen ist auch in mulAPIN Polaris „der vornehmste Sohn Anus“. Aber ist Nibiru nun tatsächlich so wichtig? Wir denken schon. Oder um es andersherum auszudrücken: Erst wenn dieser astronomische Terminus – und mit ihm zwei oder drei weitere – zuverlässig festgelegt ist, kann man ernsthaft damit beginnen, der mesopotamischen „Dichtung“ auf die Schliche zu kommen – und sie zu übersetzen.
Siehe Willibald Kirfel, Die Kosmographie der Inder nach den Quellen dargestellt (1920), 140f. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als sei nur der Kreis der Mondstationen in diese drei Wege unterteilt, aber die Herrschaftsgebiete gehen weit über die Grenzen der „bewohnten Welt” hinaus, und zwar in beide Richtungen, nach Norden und Süden, wie es auch bei den Wegen von Enlil und Ea der Fall ist. 24 T. Henry, Ancient Tahiti (1938), 361. 23
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II Für unsere bescheidenen Ansprüche bieten die Epen von Gilgamesch und Erra viel zu viele Bäume an. Allerdings haben diese verschiedenen hölzernen Individuen den einen Vorteil, daß die Lust der Experten, tiefschürfende Worte über den „Weltbaum” zu verbreiten, dahinwelkt. Als erstes gibt es den Mesch-Baum, der im Namen des Helden enthalten ist25 –nach dessen Verbleib Marduk Erra strenge Die Identität dieses Baumes steht nicht fest. R. Labat (Manuel d’Epigraphic Akkadienne (1963), Nr. 314] schlägt „cèdre (?micocoulier?) [Celtis australis, „gemeiner Zürgelbaum” – Celtis occidentalis ist der amerikanische Nesselbaum, Rv.D.] gisMEZ-MA-GAN-(NA) musskānūmurier (?micocoulier de Magan?)” vor. (Vgl. Labat, Nr. 296: „GIŠ, bois, arbre. Déterminatif précédant les noms d’arbres et d’objets en bois.”) Siehe auch Friedrich Delitzsch, Assyrisches Handwörterbuch (1896), 410, s.v. miskanu, musukanu: „Ein Baum … , wechselt mit mis-ma-kan-na, d.i. MIS-Holz von Makan.” Selbst dieses Mes-Holz aus Makan kann nicht als „unerheblich“ für das GE abgetan werden, weil im sumerischen Mythos „Gilgamesch und das Land der Lebenden” (S.N. Kramer, ANET, 49, 1.111-115) Gilgamesch die rätselhaftesten Worte von sich gibt, als er Enkidu angeblich ermahnt, nicht vor Humbaba zurückzuweichen: „Hilf du mir [und] ich werde dir helfen, / Was kann uns geschehen? / Nachdem es gesunken ist, nachdem es untergegangen ist, / Nachdem das MakanSchiff gesunken ist, / Nachdem das Schiff ,die Macht von Makilum’ untergegangen ist.“ Siehe auch F. Hommel, Ethnologie und Geographie des Alten Orients (1926), 539, 783. Laut Meissner, zitiert bei Weidner [„GestirnDarstellungen auf Babylonischen Tontafeln”, SOAW 254 (1967), 181, ist gisMES = mēsu die Eberesche. Was das astrologische System des Verbindens von Bäumen (sowie Steinen und Tieren usw.) mit dem Zodiak betrifft, bringen die von Weidner übersetzten Tafeln den Mes-Baum zweimal mit dem Wassermann (18, 35) und einmal mit dem Widder (31) zusammen. Das Holz des Mes-Baums und des Huluppu-Baurns kommt im Gudea-Zylinder A VII 16-18 als Baumaterial für den Wagen 25
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Fragen stellt –, gefolgt von der Zeder des Huwawa/Humbaba, die – wie uns von den Spezialisten beigebracht worden ist — von Gilgamesch und Enkidu gefällt wurde. Doch Samuel Noah Kramer zufolge26 ist Huwawa „das Wächter-Ungeheuer des ,Landes der gefällten Zeder’.” Zugegebenermaßen hob Kramer auch schon bei einer früheren Gelegenheit seine Meinung hervor, daß „das weit entfernte ,Land der Lebenden’ auch das ,Land der gefällten Zeder’ war“,27 aber wir haben noch keine Spur irgendeines Gedankens oder irgendeiner Konsequenz gefunden, die auf eine derart alarmierende Feststellung folgen müßte. Allerdings darf man auch nicht erwarten, daß von einem Gelehrten ernst(narkabtu) von Ningirsu vor [vgl. A. Salonen, Prozessionswagen (1946), 6, sowie Die Landfahrzeuge des Alten Mesopotamiens (1951), 111f]. Dieser Baum ist auch Bestandteil des Namens von MES.LAM.TA.E3.A., den man für den ältesten bekannten Namen des Gottes Ncrgal hält [siehe Joseph Böllenrücher, Gebete und Hymnen an Nergal (1904), 7], sowie einer der Namen der Zwillinge, MES,LAM.TA.E.A., was „derjenige, der aus MES.LAM hervorkommt” heißt. MES.LAM war der dem Heiligtum Nergals in Kutha verliehene Name und bedeutet: „der üppig wachsende Mes-Baum” – laut Gössmann [Das Erra-Epos (1956), 67], der hinsichtlich des Namens MES.LAM.TA.E.A, fortfährt: „Später diente der Name in erster Linie als Bezeichnung für einen der beiden Zwillinge (Planetarium Babylonicum, 271), bezw. als Tummelplatz philologischer Spielereien. Auf Grund solcher Philologeme wurde der Name auf Marduk und Gilgamesch übertragen (Tallqvist, 374).” Es zeugt nicht von bestem wissenschaftlichen Stil, sich schwieriger Formeln zu entledigen, indem man sie zu philologischen Spielereien erklärt. Da MES.LAM augenscheinlich ein „fixer” Topos ist, können wir kaum davon ausgehen, daß „aus MES.LAM hervorzukommen” ein Monopol von Nergal/Mars gewesen sei. Aber siehe unten, Seite 439. 26 S.N. Kramer, The Sumerians (1963), 277. 27 S.N. Kramer in Gilgamesh et sa légende, hrsg. von P. Garelli (1958), 64. In „Gilgamesh and the Land of the Living”, JCS 1 (1947), 4, hatte er es bescheidener formuliert: „Das weit entfernte Land der Lebenden (auch als Zedernland bekannt)”.
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hafte Gedanken über sumerische Konzepte verschwendet werden, der über die der Bewässerungstechnik überaus kundigen Mesopotamier schrieb, daß „den sumerischen Dichtern und 430 Priestern die wirklichen Quellen von Tigris und Euphrat in den Bergen Armeniens von geringer Bedeutung waren. Im Gegensatz zu uns hatten sie keine Ahnung, daß die Wasservolumina der beiden Flüsse davon abhängig waren, daß sie von ihren Nebenarmen ,gespeist’ wurden oder daß es der schmelzende Winterschnee war, der die jährliche Überflutung verursachte oder daß Tigris und Euphrat ihr Hochwasser in den Persischen Golf ,entleerten’. Tatsächlich war ihre Betrachtungsweise genau entgegengesetzt: Es war der Persische Golf, den sie für das Wasser des Tigris und des Euphrat verantwortlich machten, sowie für die überaus wichtige Überflutung. Mythologisch ausgedrückt war es Enki, der den Tigris und den Euphrat mit schäumendem Wasser füllte und der, indem er auf dem Meer ritt, das Wasser desselben sowie das von Tigris und Euphrat turbulent und ungestüm werden ließ … Kurzum: So wie die Sumerer es sahen, waren es nicht die Flüsse, die das Meer ,speisten’, … sondern es war eher das Meer, welches die Flüsse ,speiste’.”28 Außer mit dem Mes-Baum und der ungeklärten Zeder von Huwawa/Humbaba – ob sie nun von unseren Helden gefällt wurde oder nicht – konfrontiert uns das Gilgamesch-Epos mit dem Huluppu-Baum, der von Labat mal für eine Weide und mal für eine Eiche gehalten wird,29 von Salonen30 für eine Art Lorbeergewächs. Alle Identifizierungen sind dezenterweise mit einem Fragezeichen versehen. Dieses Exemplar kreuzt unseren Weg in der sumerischen Version des Gilgamesch-Epos, von der ein Teil als Tafel XII in das akkadische Epos aufgenommen wur-
S.N. Kramer, „Dilmun, the Land of the Living”, BASOR 96 (1944), 28. Für die Weide siehe R. Labat, Manuel d’Epigraphie Akkadienne (1963), Nr. 371, 589; für die Eiche R. Labat im Assyrian Dictionary 6 (1964), 55f. 30 A. Salonen, Die Landfahrzeuge des Alten Mesopotamien (1951), 111f 28 29
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de; der sumerische Text ist von CJ. Gadd31 und von S.N. Kramer32 übersetzt worden. Wir zitieren die von Kramer in seiner ersten Übersetzung gegebene Zusammenfassung [(1938), 12], und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie kürzer ist als die in JAOS 64 (1944), 19-21. In der Zwischenzeit ist dem Text ein anderer Name gegeben worden, nämlich „Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt”. Die erste Hälfte des folgenden Satzes ist natürlich kein Zitat und würde von dem Autor wahrscheinlich nicht unterschrieben werden. Anläßlich einer neuen Verteilung der „Drei Wege”,33 „an jeC.J. Gadd, „Epic of Gilgamesh, Tablet XII” in RA 30 (1933), 129-143. S.N. Kramer, „Gilgamesh and the Huluppu Tree”, Assyriological Studies 10 (1938). Vgl. S.N. Kramer, Sumerian Mythology (1944), 33-37 sowie From the Tablets of Sumer (1956), Seite 222-226. 33 Was den Anfang dieses Texts [(1938), 1f] betrifft, so erhält der Leser, der eifrig die verschiedenen „Übersetzungen“ studiert, einen Schock nach dem anderen: Es ist kaum zu glauben, daß sie aus ein und demselben sumerischen Original übertragen wurden. Aus den ersten Zeilen baute Kramer [Sumerian Mythology (1944), 30ff] die sumerische Schöpfungsgeschichte auf, die er für unbekannt hielt (und hält?); in JAOS 64, 19, unterstrich er erneut: „Die ersten dreizehn Zeilen dieses Passus enthalten einige unserer Grunddaten für die Analyse des sumerischen Begriffs von der Schöpfung des Universums.” Aus den folgenden Zeilen 14-25 konstruierte er einen Drachenkampf. Unter Bezug auf bis dato unveröffentlichte Teile machte Kramer 1958 geltend (Gilgamesh et sa légende, 66), daß „die ersten sieben Zeilen des Gedichts nunmehr vollständig wiederhergestellt werden können”. Allerdings fügte er hinzu: „Unglücklicherweise ist die Bedeutung des Passus keineswegs sicher und sind die mythologischen Implikationen ziemlich obskur, wie aus dem folgenden Übersetzungsversuch hervorgeht: 31 32
Die Tage der Schöpfung, die entfernten Tage der Schöpfung, Die Nächte der Schöpfung, die weit zurückliegenden Nächte der Schöpfung, Die Jahre der Schöpfung, die entfernten Jahre der Schöpfung, –
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nem Tag”, geschah es, daß „ein Huluppu-Baum (sehr wahrscheinlich eine Weide), der am Ufer des Euphrats gepflanzt und von dessen Gewässer genährt worden war, durch den Südwind entwurzelt und vom Euphrat weggespült wurde. Eine Göttin, die am Ufer entlang ging, ergriff den dahintreibenden Baum und brachte ihn auf Geheiß von Anu und Enlil zu Inannas (d. i. IschNachdem in (?) alten Zeiten alles Notwendige zur Existenz gebracht worden war, Nachdem in (?) alten Zeiten alles Notwendige befohlen worden war. Nachdem in den Schreinen (?) des Landes Brot (?) gekostet (?) worden war Nachdem in den Öfen des Landes Brot (?) gebacken (?) worden war.” Keiner wird der festgestellten Unklarheit der Bedeutung widersprechen; es wäre ratsam, die Äußerung von Margarete Riemschneider [Augengott und Heilige Hochzeit (1953), 190) zu beherzigen: „So lange sie sinnlos sind, stimmen unsere Übersetzungen nicht.” Die von strengen Fachrezensenten [T. Jacobsen, JNES 5 (1946), 128-152; M. Witzel, Or. 13 (1948), 393-415] erhobenen Einwände bleiben durchweg im für Spezialisten für Grammatik und „Religion” üblichen Rahmen, und es ist schwer zu entscheiden, wer in diesem Rennen willkürlicher Interpretationen den Ruhm davonträgt. Der bemerkenswerte Punkt der neuen „Verteilung“ scheint darin zu bestehen, daß Ereschkigal fortan zur Unterwelt gehört. 1938 übersetzte Kramer Zeile 12: „Nachdem Ereschkigal der (?) Unterwelt als Geschenk (?) überreicht (?) worden war”; in seiner Sumerian Mythology machte er daraus, nachdem er den Drachenkampf „entdeckt” hatte: „After Ereshkigal had been carried off into Kur as its prize.” Witzel (Or. 17, 402) übersetzte diese Zeile: „Als (der) Ereschkigal mit der Unterwelt Geschenk ‚aufgewartet’ worden war …” Da wir noch nicht wissen, welcher Stern oder welche Konstellation Ereschkigal verkörpert haben soll, sagt uns dies nicht mehr, als daß diese (unbekannte) Sterngruppe den Weg von Ea „betreten” hatte, das heißt: daß sie unterhalb des 15. (oder 17.) Grads südlicher Breite gesunken war.
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tar) Garten in Uruk. Inanna behandelte den Baum sorgfältig und liebevoll, darauf hoffend, aus seinem Holz einen Thron und ein Bett für sich anfertigen lassen zu können. Nachdem zehn Jahre vergangen waren und der Baum ausgereift war, fand sich Inanna zu ihrem Verdruß außerstande, ihre Hoffnungen umzusetzen. Denn in der Zwischenzeit hatte ein Drache seine Höhle im Fuß des Baumes gebaut, der Zu-Vogel hatte seine Jungen in der Krone abgesetzt, und in der Mitte hatte die Dämonin Lilith ihre Behausung errichtet. Aber von ihrem Kummer benachrichtigt, eilt Gilgamesch Inanna zur Hilfe und erschlägt den Drachen mit seiner gewaltigen Bronze-Axt, welche sieben Talente und sieben Minen wiegt. Daraufhin fliegt der Zu-Vogel mit seinen Jungen zum Berg, während Lilith, starr vor Schreck, ihr Haus niederreißt und in die Wüste flieht. Nachdem Gilgamesch den befreiten Baum entwurzelt hat, zerschneiden seine Anhänger, die Männer von Uruk, seinen Stamm und geben Teile von ihm Inanna für deren Thron und Bett. Aus den Überresten” – also aus der Wurzel und der Krone – „stellt Gilgamesch für sich selbst die pukku und mikku her, zwei hölzerne Gegenstände von magischer Bedeutung”. (Es versteht sich von selbst, daß kein Hauch von „magischer Bedeutung” in dem Text zu finden ist.) Hier endet die Zusammenfassung von 1938, und wir fahren mit JAOS 64, 20, fort: „Es folgt ein Passus von zwölf Zeilen, die Gilgameschs Umgang mit diesen pukku und mikku, mit der ,Trommel’ und dem ,Trommelstock’ [siehe unten, H.v.D.] in Uruk schildern. Trotz der Tatsache, daß der Text in einwandfreiem Zustand ist, ist es noch nicht möglich, seine Bedeutung zu durchschauen. Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, daß er in diversen Einzelheiten die anmaßenden und tyrannischen Taten beschreibt, die, der ersten Tafel des Gilgamesch-Epos zufolge, den Einwohnern von Uruk Kummer bereiteten und die, erneut nur dem babylonischen Epos zufolge, zur Erschaffung von Enkidu führten.“ Entsprechend dieser Einschätzung versucht Kramer nicht
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einmal, die Zeilen 24-35 wörtlich zu übersetzen, die sich angeblich in „einwandfreiem Zustand” befinden. Gadd (RA 30, 131) übersetzt den Passus folgendermaßen: 22. Aus der Wurzel fertigt er sein pukku [gisRIM (ellag)] 23. Aus der Spitze fertigt er sein mikku [gisE.AG] 24. Er sagt „ellag“, außer (?) „ellag” laß ihn nicht sprechen 25. … sagend, außer (?) … laß ihn nicht sprechen 26. Die Männer seiner Stadt sagen „ellag” 27. Er besah sich seine kleine Schar, die nicht … 28. ?? sein Totenlied sie sangen [a-geštin-nu a-geštin-nu] 29. Der, der eine Mutter hatte, (sie) brachte Brot für ihren Sohn 30. Der, der eine Frau hatte, (sie) schenkte Wasser ein für ihren „Bruder” 31. Der Wein (?) wurde weggetragen [dgeštin-an-na] 32. An (?) seinem Platz, wo das pukku hingestellt war, zeichnet er einen Kreis 33. Er hob das pukku vor sich hoch und ging ins Haus 34. Am Morgen besah er sich seinen Platz, wo der Kreis gezeichnet war 35. Die Erwachsenen (?)--- nicht … 36. (Aber) beim Geschrei eines kleinen Mädchens ,..
In Kramers Übersetzung heißt es weiter: „Wenn die Geschichte wieder verständlich wird, fährt sie mit der Feststellung fort, daß pukku und mikku ,wegen des Aufschreis der jungen Mädchen’ in die Unterwelt hinabfielen. Gilgamesch steckte sowohl seine Hand als auch seinen Fuß hinein, um sie zurückzubekommen, aber er war nicht in der Lage, sie zu erreichen. Und so läßt er sich am Tor zur Unterwelt nieder und klagt: O mein pukku, O mein mikku. Mein pukku, dessen Tatkraft unwiderstehlich war, Mein mikku, dessen Schlagen nicht übertönt werden konnte.45 In From the Tablets of Sumer (1956), 224, übersetzte Kramer: „Mein pukku mit unwiderstehlicher Tatkraft, mein mikku mit unübertroffenem Tanzrhythmus.”
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Mit der folgenden Zeile, die Zeile 1 von Tafel XII darstellend, setzt die akkadi-sehe Übersetzung ein:35 „In jenen Tagen, als mein pukku wahrlich bei mir war im Haus des Zimmermanns,36 (Als) die Frau des Zimmermanns wahrlich zu mir war wie die Mutter, die mich gebar, (Als) die Tochter des Zimmermanns wahrlich zu mir war wie meine jüngere Schwester, Mein pukku, wer wird es aus der Unterwelt heraufholen, Mein mikku, wer wird es vom ,Antlitz’ der Unterwelt heraufholen?
Sein Diener Enkidu, sein ständiger Gefolgsmann und Begleiter, erklärt sich daraufhin freiwillig bereit, in die Unterwelt hinabzusteigen und sie ihm heraufzuholen. … Als er das großzügige Angebot seines Dieners vernimmt, warnt Gilgamesch ihn vor einer Reihe von Unterwelttabus, auf die er achtzugeben hat … Aber Enkidu beachtet die Anweisungen seines Herrn nicht und begeht genau all jene Taten, vor denen Gilgamesch ihn gewarnt hat. Und so wird er von Kur gepackt und ist außerstande, wieder zur Erde zurückzusteigen.” Wir können hier auf die anschließende Schilderung der Vorgänge in der „Unterwelt” verzichten, eine Schilderung, die dem sumerischen Mythos vom Huluppu-Baum und der Tafel XII des akkadischen Epos gemeinsam ist. Kramer (JAOS 64, 23) beendet Direkt nachdem Urschanabi die Maße von Uruk überprüft hat (XI.307), folgt also als Zeile 308 = XII.1: „In jenen Tagen, als … ” 36 A. Heidcl (95) übersetzt die Zeilen 1-3: „O hatte ich doch heute das pukku im Haus des Zimmermanns gelassen! O hätte ich es bei der Frau des Zimmermanns gelassen, die zu mir war wie die Mutter, die mich geboren hat! O hätte ich es bei der Tochter des Zimmermanns gelassen, die mir (wie) meine jüngere Schwester war!” In einer Fußnote erklärt er: „Hätte Gilgamesch seine pukku und mikku im Haus des Zimmermanns gelassen, wären sie sicher gewesen und nicht in die Unterwelt gefallen.” Er ergänzt: „Die Übersetzung der ersten drei Zeilen ist etwas tentativ.” Nur die der ersten drei Zeilen? 35
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seine Untersuchung der sumerischen Quellen des GilgameschEpos mit den Worten: „Schließlich beweist ein Vergleich des Texts der ,zwölften’ Tafel des Gilgamesch-Epos mit jenem unseres sumerischen Gedichts ,Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt’ jenseits aller Zweifel, daß die ,zwölfte’ Tafel ein unorganisches Anhängsel ist, das dem babylonischen Epos angegliedert wurde, dessen erste elf Tafeln eine ziemlich wohlintegrierte poetische Einheit bilden.” Dem möchten wir weder zustimmen noch widersprechen, nur scheinen dieses ,jenseits aller Zweifel” und ähnliche Urteile wenig angebracht, wenn man bedenkt, wie wenig wir von dem Epos wissen. Selbstverständlich wäre es von großem Vorteil für uns, wenn wir mehr über die Gegenstände „pukku” und „mikku” wüßten, die sich den redlichsten Bemühungen mehrerer Gelehrter widersetzen, unter denen an erster Stelle Sidney Smith zu nennen ist.37 Es wurden Netze und Windinstrumente (Flöten und Hörner) vorgeschlagen, und Margarete Riemschneider votierte für eine bestimmte Falle, und zwar für genau dieselbe recht unheimliche 434 Falle, die uns aus den Pyramidentexten bekannt ist (und den „Palast” von Oberägypten verkörpert).38 Die meisten Interpreten haben Landsbergers ersten Vorschlag „Trommel” und „Trommelstock“ akzeptiert;39 per se ist gegen diese Lösung solange nichts zu sagen, wie die Bedeutung von Himmelstrommeln erkannt wird (siehe Kapitel 12, „Schamanen und Schmiede”), sowie unter der Prämisse, daß vergleichbare Himmelstrommeln angemessen untersucht werden – zum Beispiel jene der chinesischen Sphäre. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es keinen triftigen Grund, an „Trommel” und „Trommelstock” festzuhalten, S. Smith, „b/pukk/qqu and mekku”, RA 30 (1933), 153-168 M. Riemschneider, Augengott und Heilige Hochzeit (1953), 50f. 39 Marius Schneider votiert in seinem Artikel „Pukku und Mikku. Ein Beitrag zum Aufbau und zum System der Zahlenmystik des Gilgamesch-Epos”, Antaios 9 (1967), 280f, für „Rahmentrommel” und „Harfe” oder „Lyra”. 37 38
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um so weniger, als Landsberger seine frühere Idee – zu der er ausdrücklich feststellt, daß er sie niemals erhärtet hat – zugunsten von „Reifen” und „Treibstock” fallen ließ.40 In der gegenwärtigen Situation wissen wir jedoch nichts über die Funktion von pukku und mikku, und diese Tatsache sollte unnützen Spekulationen vorbeugen. Nicht weniger beklagenswert als der Verlust dieser Gegenstände ist der Umstand, daß wir nicht mehr über Inannas unwillkommene Untermieter in ihrem Huluppu-Baum wissen, über Lilith und über den Drachen in der Wurzel; daß er dem Nidhöggr aus der Edda entspricht, klärt uns nicht hinsichtlich seiner Identität auf. Immerhin ist uns der Zu-Vogel bekannt – heutzutage liest man ihn „Anzu”: Es ist der Planet Mars.41 Aber noch wagen wir es nicht, aus dieser Identifizierung konkrete Schlüsse auf jenes „Nest'* oder „Haus” des Planeten zu ziehen, welches ihm weggenommen wurde. Der tote Punkt wird kaum nur mit Hilfe mesopotamischer Texte zu überwinden sein, und das gilt sowohl für den Huluppu-Baum als auch den Mes-Baum, Huwawas Zeder und jenen Baum im Erra-Epos, von dem Erra verkündet (Tafel IV.123-126, B. Landsberger, „Einige unerkannt gebliebene oder verkannte Nomina des Akkadischen”, WZKM 56 (1960), 124ff. Es empfiehlt sich in Erwägung zu ziehen, daß Landsberger das Vorkommen des Wortes pukku in GE I.II.22 nicht anerkennt, während Schott und Schmökel die vermeintliche Trommel pukku ohne zu zögern in die erste Tafel ihrer Übersetzung einbringen. Auf den ersten Blick mag es irrelevant erscheinen, ob pukku in der ersten Tafel vorkommt oder nicht. Aber etwas konzentriertes Nachdenken wird diesen Eindruck korrigieren: Da pukku aus dem Holz des gefällten Huluppu-Baumes hergestellt worden ist, könnte der gesamte Zeitplan des Epos, insbesondere die korrekte Zuordnung der 12. Tafel und des sumerischen Gedichts vom Huluppu-Baum, von der richtigen Antwort auf genau diese Frage abhängen: Ob pukku in der ersten Tafel in Erscheinung tritt oder nicht? 41 Siehe RR Gössmann, Planetarium Babylonicum (1950), 195: mul dIMDUGUDmusen 40
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Gössmann, 30f; Langdon, MAR 5, 144), er werde seine Wurzel herausreißen; zuvor hatte er versichert, die Himmel sollten schwanken, und er werde „den Glanz des Jupiter [ilŠUL.PA.E3] hinstrecken, die Sterne verunglimpfen (siehe Seite 296 mit Fuß- 435 note 24).42 Die Wurzel des Baumes werde ich herausreißen, und sein Sproß wird nicht gedeihen.” Für den Fall, wir sollten diese Ermittlung in Zukunft wieder aufnehmen, würden wir von zwei indischen nakshatras (Mondstationen) ausgehen sowie von den mit ihnen verbundenen Sagen: mūla (oder mūra) „die Wurzel”, auch „der Entwurzler” genannt (siehe auch Appendices 4 und 36 sowie erneut Abbildung 24), und sogar „Yamas zwei Losbinder”, also der Stachel des Skorpions43 (lambda epsilon Scorpii) – in der babylonischen Astronomie mulŠAR.UR und mulŠAR.GAZ, die Waffen Marduks im Kampf gegen Tiamat; und das Antares (alpha Scorpii) enthaltende nakshatra, welches den Namen „die Ältesten” oder „der die
S. Langdon (MAR V, 144f) verweist auf die Prophezeiung gegen Babel und seinen König in Jesaja XIII, 13: „… eindeutig diesen Passus erinnernd … : ,Darum will ich den Himmel bewegen, daß die Erde beben soll von ihrer Stätte’ [Luther; Langdon: „I will make the heaven to tremble and the earth shall be shaken out of her place“, H.v.D.]. So sprach der hebräische Autor, und sogar noch offenkundiger ist seine Anleihe beim Irra-Mythos, wenn er den König von Babel mit Hêlêl vergleicht: ,Wie bist du vom Himmel gefallen, O Hêlêl, Sohn des Morgens!’ Im Keilschrifttext des Irra-Mythos wird Marduk Shulpae genannt, das ist der Name Jupiters am frühen Morgen; und es kann kaum Zweifel geben, daß Hêlêl eine Transkription des babylonischen Titels für Marduk-Jupiter, elil, ,der Leuchtende1, ist.“ 43 Die Inder behaupteten, daß sich genau gegenüber mūla Beteigeuze befinde, regiert von „Rudra-dem-vernichtenden-Bogenschützen“, wohingegen die koptische Liste der Mondstationen [A. Kircher, Oedipus Aegyptiacus 2 (1653), Teil 2, 246] den Stachel des Skorpions (al-Sha’ula) folgendermaßen nennt: „Soleka statio translationis caniculae in coelum … unde et Siôt vocatur, statio venationis.” 42
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Ältesten Tötende” trägt44 – auf Tahiti: „parent pillar of the world”. Von Indien sollten wir uns dem bereits erwähnten Held Tahaki in den tuamotuischen Texten zuwenden,45 weil er den nahezu „professionellen” Rächer seines Vaters repräsentiert. Gleich von Beginn der Ereignisse an jammert Tahakis Mutter darüber, daß es dem Helden vorbestimmt ist, in einem weit entfernten Land zu sterben; und durch die gesamte Entfaltung der Sage hindurch singt Tahaki immer wieder: „Ich gehe zum Nachtreich von Kiho, dem letzten Quell der Ruhe.” Als er noch ein Kind ist und mit seinem Cousin Perlentauchen spielt, tötet und zerstückelt dieser ihn. Aber sein Pflegebruder rettet Tahikis noch lebende Teile (anders als im Fall von Osiris), aus denen seine Mutter ihn wieder zum Leben erweckt. Er macht sich mit seinem Bruder auf A. Weber [„Die Vedischen Nachrichten von den Naxatra”, APAW (1862), 219f] übersetzt Jyesthaghnī: „die ältesten (Geschwister) tödtend“, was uns nolens volens an den Pyramidentext 399 ab erinnert, wo es heißt (Mercer): ,Jt is N. who judges with him whose name is hidden (on) this day of slaying the oldest (gods)”; in der Übersetzung von Faulkner: „For it is the king who will give judgement / In Company with Him whose name is hidden / On that day of slaying the Oldest ones.” In diesem sogenannten „Kannibalenspruch” verspeist der König diese „Ältesten”; Shesmu tranchiert sie (403 b), und sie werden auf einem Feuer gekocht, von dem es heißt (405 a b): „It is the Great Ones in the north of the sky / Who set the fire for him.” Shesmu (śsmw) ist die „Kelter”, und das ist ein Dekan, der zuweilen Sagittarius, zuweilen Scorpius zugeordnet worden ist [siehe K.H. Brugsch, Thesaurus (1968), 156, 166 und passim; W. Gundel, Dekane (1936), 77]. Wir haben es also in Ägypten mit dem nämlichen Himmelssektor zu tun wie in Indien. Das ist kein Zufall. Aber die nähere Erörterung dieses Falls muß bis zu einer Spezialuntersuchung der Konstellation Sagittarius und der Rolle der von Śunahśepa/Kynosoura/Ursa Minor eingeführten sogenannten „Kurzkelterung des Soma“ (RV I.24-30, bes. 28) vertagt werden. 45 J.F. Stimson, The Legends of Maui and Tahaki, Bull, BPB Mus. 727 (1933), 50-77. 44
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den Weg, um seinen Vater von den „Kobold-Myriaden” zu befreien (siehe oben, Seite 161). Als er das Haus seiner Großeltern erreicht, gewinnt er die Liebe von Hapai, Tochter von Tane, dem Deus Faber. Als Hapai ihrem Vater von dem jungen Mann erzählt, antwortet er ihr; „Wenn er wirklich Tahaki ist, dann geh und sage ihm: ‚Tane-von-uraltem-Wasser’ sagte mir, daß du Tahaki sein mußt, wenn du vor seinem Antlitz vorübergehen kannst; wenn du auf seinem vierbeinigen Hocker sitzen kannst, mußt du Tahaki sein; wenn du seinen geheiligten Baum mit den Wurzeln herausziehen kannst, bist du mit Sicherheit Tahaki.’ Daraufhin ging Tahaki zu Tane-von-uraltem-Wasser und stellte sich neben ihn; sofort ging er an seinem Antlitz vorbei, setzte sich auf den hohen vierbeinigen Hocker – und dieser brach unter ihm in Stücke; dann hob Tahaki Tanes geheiligten Baum mitsamt den Wurzeln hoch – und Tahaki schaute hinab und erblickte unter sich den Eingang zu Havaiki.46 Dann sangen Tahaki und Tane-von-uraltem-Wasser ein Lied über Tahakis Tod.“47 Nichtsdestoweniger lebte das Paar, mit Tanes Einverständnis, noch „viele Monate” zusammen, „bis zu einem bestimmten Tag, an dem Streit zwischen ihnen aufkam … Also ging Tahaki weit, weit weg in ein entferntes Land, in der Hoffnung, dort getötet zu werden. Und das Land, in dem Tahaki schließlich umgebracht wurde, war als Hafen-von-erfrischendem-Regen bekannt.” Nach einem ausgedehnten Ausflug nach Mexiko und dem „gebrochenen Baum” (von dem angenommen wird, er sei die Milchstraße48), dem „Haus des Herabsteigens” (dem Schauplatz Vergleiche E.S. Craighill Handy über die Marquesas (Bull. BPB Mus. 69, 132): „Als Vaka-Uhi auf dem Meer eine bestimmte Stelle erreicht hatte, konnte er unten auf dem Meeresgrund Havaiki sehen.” Wir scheinen noch immer die Stelle unter dem Wasserstrudel zu umkreisen, die von Adam von Bremen und den Cherokesen beschrieben wurde (siehe Seite 190f). 47 J.R Stimson, op.cit., 73. 48 W. Krickeberg, Paideuma 3 (1944-1949), 132. 46
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des Sturzes der Götter, welche die verbotenen Blumen gepflückt hatten), sollten wir noch einmal zu dem Schatzhaus prächtiger Survivals zurückkehren, nämlich nach Finnland, und dort insbesondere zu den vielen Lesarten des „Fällens der großen Eiche”.49 Diese Aufgabe auszuführen war mitnichten einfach, aber die Eiche hatte von Anfang an Probleme bereitet. Als (in der zweiten Rune des Kalevala) Sampsa Pellervoinen Bäume gesät hatte, war es allein die Eiche, die solange nicht wachsen wollte, bis vier oder fünf hübsche Wasserbräute und ein Held aus dem Meer den Boden mit Feuer gereinigt und eine Eichel in die Asche gepflanzt hatten; und nachdem es erst einmal begonnen hatte, konnte niemand das Wachsen des Baums aufhalten: 437
Bald schon breitet er die Äste, Dehnt und reckt die dichtbelaubten, Hoch zum Himmel strebt der Wipfel In die Lüfte steigt das Laubwerk, Hält die Wolken ab vom Wandern, Hemmt den Flug der Federwölkchen, Schiebt sich vor den Schein der Sonne, Deckt den milden Strahl des Mondes. Väinämöinen drauf, der alte, Wägt es ab und überlegt es: Wer könnte diesen Baum zerbrechen, Diese schöne Eiche schlagen? Leidig ist des Menschen Leben, Furchtbar ist der Fische Schwimmen Ohne allen Schein der Sonne, Ohne allen Glanz des Mondes. „Man suchte hoch im Himmel, im Schoß der Erde suchte man“, wie wir aus Variationen erfahren; aber dann bat Väinämöinen seine göttliche Mutter um Hilfe. 49
K. Krohn, FFC 52 (1942), 183-199.
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Da entstieg ein Mann dem Meere, Hob ein Held sich aus den Wogen; Er war nicht der allergrößte, Doch auch keineswegs der kleinste: Lang wie eines Mannes Daumen, Hoch wie eines Weibes Handspann. Das „Meeresmännlein”, dessen „Barthaar bis zum Knie reicht, fersenlang das Haupthaar hinten”, verkündet: „Kam die Eiche umzulegen, morschen Baum dir zu zermalmen.” Und das tut er dann auch. In mehreren Varianten heißt es, die Eiche sei über den Nordlandfluß gefallen und habe so die Brücke zum Wohnsitz der Toten gebildet. Holmberg50 hielt die Eiche für die Milchstraße. In Betracht ziehend, daß allein derselbe haarige Winzling auch in der Lage war, den riesigen Ochsen – wie können ihn ruhig „Stier” nennen – zu töten, bei dessen bloßem Anblick sich alle Helden auf die höchsten Bäume flüchteten, können wir kaum die Möglichkeit übersehen, daß wir es mit einer Art „Enkel” des behaarten Enkidu zu tun haben. Die Eiche wäre dann eine schwache Widerspiegelung der Zeder. Obgleich sie an Abzehrung leidet, hört sich eine estnische Lesart hingegen mehr wie die Geschichte vom Huluppu-Baum an: Eine Maid pflanzt die Eichel – es ist typisch, daß Krohn (187) die Version aus dem russischen Karelien „entstellt” nennt, in der die Eichel „taivon tähti”, also 438 „Himmelsstern”, genannt wird –, der wachsende Baum gefährdet den Himmel, indem er versucht, „die Himmelsgestirne zu zerreißen oder sie zu verdunkeln”. Deshalb bittet die Maid ihren Bruder, den Baum zu fällen. Aus seinem Holz werden Geschenke für die Verwandten des Bräutigams gemacht, und für die Jungfrau selbst wird eine Truhe angefertigt. Da wir nicht vorhaben, die Expedition in vergleichende Baumkunde hier und jetzt zu unternehmen, müssen wir es dabei 50
Zitiert von Lauri Honko, „Finnen”, Wb. Myth. II, 369.
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belassen. Daß mythische „Bäume“ nicht von irdischer Provenienz sind und daß wir mit den unterschiedlichen BaumIndividuen nicht unter der Überschrift „der Weltbaum” fertig werden – nicht obwohl sondern weil sie „kosmische” Bäume sind –, dieses Verständnis konnte von jedem erwartet werden, der seine Zeit und sein Denkvermögen auf den Baum des Kreuzes verwendet hat; auf Yggdrasil (und Ashvatta); auf den „Salzwasserbaum” der Curia-Indianer; auf Zeus’ Eiche, von der ein Teil zum Bau der Argo benutzt wurde; auf den Feigenbaum beim Wasserstrudel, der Odysseus rettete; auf den Lorbeerbaum, der noch nicht den Omphalos von Delphi markierte, als Apollon Python tötete („nondum laurus erat“, Ovid) – er mußte nach der acht große Jahre währenden Verbannung Apollons aus Tempe herbeigeschafft werden; auf Ullers Eibe (zu Sirius gehörend), mit deren Saft Hamlets Vater ermordet wurde; auf – außer den erwähnten mesopotamischen Baum-Individuen – den „dunklen Kishkannu-Baum”, der in Eridu wächst, wohin kein Sterblicher jemals Zutritt hat; auf die Tamariske bei Beerseba in Genesis XXI; auf den ereíkê-Baum,51 der „durch sein Wachsen die Truhe einhüllte und umschloß und sie mit seinem Stamm verborgen hielt”, wobei es sich bei der „Truhe” um Osiris’ Sarg handelte;52 und auf den König des Landes, der „den Teil abschlug, der die Truhe einschloß und ihn als Pfeiler benutzte, um das Dach seines Hauses zu stützen”, bis Isis diesen „Pfeiler” wegtrug. Diejenigen, die es vorziehen, diese Items (und noch viele andere) zu überseUm welche botanische Gattung es sich bei ereíkê handelt, scheint noch nicht entschieden zu sein (Pape: „Heidekraut, eine strauchartige Gattung, erica arborea”; Liddell-Scott: „Erica arborea”). Babbit (LCL) übersetzt „heather”. Hopfner (I, 7) beläßt es bei Ereikê, Griffith übersetzt „heather tree” (141) und spricht von „erica tree” (321), Griffith (322-326) diskutiert ausführlich alle ins Spiel gebrachten Lösungen, zuvörderst Sethes Vorschlag: Zeder oder Zypresse [Ä.Z. 45 (1908/9), 13ff; siehe auch Hopfner I, 50f]. 52 Plutarch, De Iside et Osiride, Kapitel 15, 357A. 51
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hen, mögen sich darauf besinnen, wie häufig wir von schwerem Seufzen und bitterlichem Weinen über gefällte, in zwei Teile gesägte oder sonstwie mißhandelte Bäume hören53 – schließlich wurde auch Yima-Jamschid in zwei Teile zersägt, und zwar von Azhi Dahâg –, sowie von Tammuz, dem „Herrn des großen 439 Baumes, besiegt vom Zorn seiner Feinde”, und von den zahlreichen Vergleichen mesopotamischer Tempel mit Bäumen.54 Es wäre eine Zumutung für den Leser, ihn solch endlosen Litaneien auszusetzen, ohne ihn wissen zu lassen, „zu welchem Ende” (um mit Schitier zu sprechen) wir uns mit diesen Bäumen und Pfosten beschäftigen: Wir wollen wissen, um welchen „Neuen Weg” es sich handelte, der von Gilgamesch, der „Holz” vom Mes-Baum war, „geöffnet” wurde, und wir hoffen, die chronologische Reihenfolge der Himmelsereignisse herauszufinden, wie sie in der Enuma elisch, im Gilgamesch- und im ErraEpos berichtet werden. Die Irrelevanz der gelehrten Suche nach „Dichtern” (und danach, wer von wem abschrieb) ist inzwischen begriffen worden: Es sind die Himmelsphänomena, die sich bewegen und verändern, und nicht die „mythopoetische Phantasie” oder die „Lehrmeinungen” von Dichtern und Hohepriestern. Demzufolge müssen wir herausfinden, wer als Herrscher der „Unterwelt” zuerst kam, Nergal oder Gilgamesch, oder ob diese beiden tatsächlich ein und derselbe sind, was wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt bezweifeln. Allerdings haben wir beSiehe R. Eisler, Orphisch-Dionysische Mysterien-Gedanken in der christlichen Antike (1925; Neuauflage 1966), 246, 248. Vergleiche auch das „Epitheton” des ugarithischen Baal, ’alíyn, und seine mögliche Ableitung von ’allôn (’êlôn), Eiche, Therebynth, heiliger Baum, sowie allânati als Name für den vierten Monat, also des Monats von Tammuz [H. Birkeland, Norsk Tidskrift for Sprogvidenskap 9 (1938), 338-345; W. Robertson Smith, The Religion of the Semites (1957), 196: Fußnote 4]. 54 Vgl. Maurus Witzel, Texte zum Studium Sumerischer Tempel und Kultzentren (1932), 37f, sowie Tammuz-Liturgien und Verwandtes (1935), 108f. 53
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reits gehört (Seite 428, Fußnote 25), daß Nergals Name MES.LAM.TA.E.A. Gilgamesch verliehen wurde. Wie Lambert feststellt: „Nach seinem Leben auf der Erde wurde Gilgamesch König der Unterwelt, ein babylonischer Osiris. Eine formale Verlautbarung darüber wird in einem späten religiösen Text abgegeben: ,Meslamtaea ist Gilgamesch, Gilgamesch ist Nergal, der in der Unterwelt residiert.’ Das stammt aus einem der Texte, welche die Funktion von Gottheiten erklären, indem sie sie mit anderen Göttern oder Göttinnen in die Form einer Gleichung bringen, ein sehr bedeutsamer Typ von Darstellung.“55 Dieser „significant type of exposition” ist in der Tat die Technik altnordischer Skalden, und wir haben einige perfekte Kenningar aus Mesopotamien, wie zum Beispiel „Ninurta ist der Marduk der Stärke”, „Nergal ist der Marduk des Kampfes”, „Nabu ist der Marduk des Geschäfts”,56 „Enzak ist der Nabu von Tilmun”.57 Nun heißt es in dem von Lambert zitierten Passus: „dgilgameš dnergal (u.gur) āšib (dúr) ersetimtim.“ In dem Text (oben zitiert), der Gilgamesch anredet mit „höchster König, Richter der Anunnaki … du stehst in der Unterweit, sprichst das letzte Urteil” kommt wieder dieses ersetu vor, und laut GE XII.56 ist es ersetu, was Enkidu gepackt hat. Folglich könnte uns die Zeile zu sagen versuchen, daß „Gilgamesch der Nergal von Ersetu ist”, während Nergals eigene „Unterwelt” Arallu (Aralu) ist. Albright sagt:58 „Eridu wird als Namen für den Apsū verwendet, genauso wie Kutu (Kutha), die Stadt Nergals, ein gebräuchlicher Name für Aralu ist.” Demnach wäre es gerade das Vertrauen in den Brauch, ein und demselben Topos unterschiedliche Namen zu W.O. Lambert, in Gilgameš et sa légende, op.cit., 39f. A. Jeremias, HAOG, 190; siehe auch B. Meissner, Babylonien und Assyrien II (1925), 133; M. Witzel, Tammuz-Liturgien (1935), 470f. 57 D.O. Edzard. „Die Mythologie der Sumerer und Akkader”, Wörterbuch der Mythologie I (1965), 130. 58 W.F. Albright, „The Mouth of the Rivers”, AJSL 35 (1919), 165; siehe auch K.Tallqvist, Sumerisch-Akkadische Namen der Totenwelt (1934), 35. 55 56
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geben – und ganz allgemein das Vertrauen in „Synonyme” –, das quasi zwangsläufig zu verzerrten Übersetzungen führt. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß die letzte Entscheidung jenen überlassen bleiben wird, welche die sumerische und akkadische Sprache beherrschen – in Zukunft: Spontane ärgerliche Zurückweisungen sollten nicht akzeptiert werden. Aus schlechten Erfahrungen mit dem Ägyptischen Wörterbuch klug geworden, das siebenunddreißig ägyptische Spezialausdrücke mit dem einen Wort Himmel übersetzt, unterstellen wir den Assyriologen, entsprechend mit ihrer „Unterwelt” zu verfahren – und natürlich auch mit ihrem „Himme“. Eingestandenermaßen versuchen die Autoren des Assyrian Dictionary, so präzise wie nur möglich zu sein; so liefern sie mehrere spezielle Bedeutungen von ersetu (IV, 308-313): „1) die Erde (im kosmischen Sinn); 2) die Unterwelt; 3) Land, Territorium, Bezirk, Quartier einer Stadt, eines Gebiets; 4) Erde (im konkreten Sinn), Erdboden, Grund, trockenes Land”; aber da Übersetzungen eine Funktion der Erwartungen des Übersetzers sind, müssen die Kategorien zwangsläufig fundamental anders ausfallen, sobald man dazu übergegangen sein wird, die Erwähnung von Sektionen des Fixsternhimmels zu gewärtigen. Aber wohin führt uns die Proportion „Gilgamesch gehört zu Ersetu wie Nergal zu Arallu”? Das kann noch nicht richtig ausgemacht werden; zu viele Rätsel lauern hinter jedem Wort. Über den Mes-Baum wußte Marduk (im Erra-Epos) zu sagen, daß er „seine Wurzeln im weiten Meer hatte, in der Tiefe von Arallu, und seine Spitze erreichte den Hohen Himmel”; und vorwurfsvoll fragt er Era: „Wegen dieses Werks, das du, O Held, befahlst zu verrichten, wo ist der Mes-Baum, das Fleisch der Götter, die Zierde der Könige?”59 Hinsichtlich des Maschu-Bergs (Maschu = Zwilling), der von den Skorpionmenschen bewacht wird, sagt das GE: „Über den nur die Himmelshalde hinwegragt; / Dem unten die Brust an den Höllengrund stößt”, wobei es sich bei 59
S. Langeion, Semitic Mythology (1931), 140.
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diesem „Höllengrund” um Arallu handelt. Gewiß haben wir die ganze Zeit gewußt, daß wir es mit Scorpius (und wahrscheinlich mit einem Teil von Sagittarius) zu tun haben, doch bietet dieses riesige Sternbild genügend Raum für mehr als nur einen Abstiegsweg. Es ist insbesondere aus diesem Grund, daß wir uns ein besseres Verständnis von der indischen Mondstation 1) lambda epsilon Scorpii alias „die Wurzel” alias „der Entwurzler“ alias „Yamas zwei Losbinder” sowie aus 2) Antares, „die Ältesten” alias „der die Altesten Tötende” erwarten: Im Sinne der Präzession geht der Stachel des Skorpions Antares voran. Wenn wir die genaue „Ausdehnung” der Scorpius-Göttin (Ischara tam.tim, ägyptisch Selqet) wüßten, wären wir besser dran. Und zwar deshalb: GE Tafel VII, Col. 4, 10, die von Enkidus vermeintlichen Krankenbett-Halluzinationen handelt, läßt Enkidu jener „Dirne” – in der hethitischen Version ist sie es, die den Namen Siduri trägt –, welche ihn in die Stadt gelockt hat, folgende Prophezeiung machen; „[Deinetwegen (?)] soll die Gattin, die Mutter von sieben, verlassen werden.“ (Speiser: „[Wegen dir] soll die Gattin verlassen werden, (obwohl) Mutter von sieben”; Ebeling, AOTAT, 105: „[Um deinetwillen soll] verlassen werden die Mutter der sieben, die Hauptgattin.”) Diese „Mutter der sieben” müßte Ischara tam.tim, die Scorpius-Göttin, sein, deren sieben Söhne notorisch bei ihr sind60 – jedenfalls ist es albern, die eine oder andere rechtschaffene Hausfrau in Uruk oder sonstwo zu assoziieren; aber wann immer wohlerzogene Gelehrte auf eine „Dirne” treffen, halten sie es für ihre Pflicht, moralische Lektionen in dem diese Dame umgebenden Text zu entdecken, überempfindlich wie sie nun einmal sind! Der erste Teil der Zeile existiert jedoch gar nicht, und erneut ist es ihre Erwartung, welche die Philologen nötigt, „[Deinetwegen (?)]“ zu ergänzen. Hier käme zur Abwechslung einmal Freud sehr gelegen – aber um der Übersetzer, nicht des Textes willen. Der lesbare B. Meissner, Babylonien und Assyrien (1925), II, 26; D.O, Edzard, Wb. Myth. (1965), I, 90. 60
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Teil der Zeile besagt nichts anderes, als daß „die Gattin, die Mutter der sieben, verlassen werden soll”. Aber da wir die gesamte Ausdehnung der Herrin Ischara tam.tim, die verlassen werden sollte, noch nicht kennen, kennen wir auch noch nicht die Position von Gilgameschs „neuem Weg” – nach ersetu, wie wir annehmen, oder auf dem Weg über ersetu. Ersetu könnte Ischara tam.tim ersetzt haben, zumal wir ganz am Anfang des Erra-Epos (Tafel 7.28-29, Gössmann, 8) erfahren, daß Anu „die Siebengötter” (ilSIBIti) mit Ersetu, übersetzt mit „die Erde”, als Begleiter für Erra zeugt. Derjenige, der bezweifelt, daß dort oben überhaupt „gezeugt” wurde, sollte anfangen, über den hurritischen Text nachzusinnen, in dem MAR.GID.DA, der Große Wagen (alias die Sieben Rishis), mit „der Erde” Zwillinge zeugt.61 Es ist offenkundig, daß wir nach wie vor weit entfernt sind vom ersten der vorgeschlagenen Ziele; aber wir ziehen es vor, uns zu diesem Stand der Dinge zu bekennen als in die bodenlose Grube der Spekulation zu stürzen – beziehungsweise in die vielen einladenden Abgründe,
Der Große Wagen tut dies auf Geheiß von Ea. Siehe H. Otten, Mythen vom Gotte Kumarbi. Neue Fragmente (1950), 7f.
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Liste der Abkürzungen
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Liste der Abkürzungen ABAW Äg.Wb ÄZ AfO AJSL ANET An.Or. AOTAT APAW AR ARBAE ARW ATAO AV BA BAE BASOR Bdh. BIFAO BPB Mus.
Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Wörterbuch der Aegyptischen Sprache Zeitschrift für Ägyptische Sprache und Altertumskunde Archiv für Orientforschung American Journal of Semitic Languages and Literature Ancient Near Eastern Texts relating to the Old Testament Analecta Orientalia (Rom) Altorientalische Texte zum Alten Testament Abhandlungen der Preussischen Akademie der Wissenschaften Annual Report Annual Report of the Bureau of American Ethnology (Washington) Archiv für Religionswissenschaft A. Jeremias: Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients Atharva Veda Baessler Archiv (Bertin) Bureau of American Ethnology Bulletin of the American Schools of Oriental Research Bundahishn Bulletin de l’Institut Français d’Archéologie Oriental (Cairo) Bernice Pauahi Bishop Museum (Honolulu)
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BVSGW BT DM EE ERE FFC FUF FVS GE HAOG HUCA IAfE JAOS JCS JNES JRAS JSA LCL LXX MAGW MAR Mbh MVAG OLZ OR PB QST RA RC
Liste der Abkürzungen
Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften (Leipzig) Bibliotheca Teubneriana J. Grimm: Deutsche Mythologie Enuma elisch, das Babylonische Schöpfungsepos Encyclopaedia of Religion and Ethics (ed. James Hastings) Folklore Fellows Communications (Helsinki) Finnisch-Ugrische Forschungen Fragmente der Vorsokratiker Gilgamesch-Epos A. Jeremias: Handbuch der Altorientalischen Geisteskultur Hebrew Union College Annual (Cincinnati) Internationales Archiv für Ethnographie (Leiden) Journal of the American Oriental Society Journal of Cuneiform Studies Journal of Near Eastern Studies Journal of the Royal Asiatic Society Journal de la Société des Africanistes Loeb Classical Library Septuaginta Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft Wien Mythology of All Races Mahābhārata Mitteilungen der Vorderasiatischen Gesellschaft Orientalistische Literaturzeitung Orientalia, N.S. (Rom) A. Deimel; Pantheon Babylonicum Quellen und Studien zur Geschichte der Mathematik, Astronomie und Physik (Berlin) Revue d’Assyriologie et d’Archéologie Orientale Revue Celtique
Liste der Abkürzungen
RE Rh.Mus. RLA Roscher SB RV SBAW SBE SHAW SÖAW SPAW TM WB WZKM ZA ZDMG ZfE ZW
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Realencyclopaedie der Klassischen Altertumswissenschaften (ed. Pauly-Wissowa) Rheinisches Museum für Philologie Reallexikon für Assyriologie Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie Shatapathabrahmāna Rigveda Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Sacred Books of the East Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Sitzungsberichte der Oesterreichischen Akademie der Wissenschaften Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften J. Grimm: Teutonic Mythology Myth./Wörterbuch der Mythologie Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes Zeitschrift für Assyriologie und vorderasiatische Archäologie Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft Zeitschrift für Ethnologie Zeitschrift des Vereins für Volkskunde
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Liste der Abkürzungen
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Abbildungsverzeichnis
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Abbildung 1 Schematische Darstellung der Präzession der Äquinoktien: Nach einer Zeichnung von Stefan Fuchs, Frankfurt/Main Abbildung 2 Relative Entfernung der Wagensterne vom Polarstern um 2700 v.Chr., 1880 v. Chr. und 2000 n. Chr. Z. Nuttall, The Fundamental Principles of Old and New World Civilizations (Cambridge, MA 1901, Archaeological and Ethnological Papers of the Peabody Museum. 2) New York: Kraus Reprint 1970, Seite 21 Abbildungen 3 und 4 Die Polpräzession. Grenzen der nördlichen und der südlichen Zirkumpolarsterne: The Flammarion Book of Astronomy (Simon and Schuster: New York 1964) Figuren 63 und 64, Seite 44f Abbildung 5 Ein Schäfer beim Anvisieren des Polarsterns (links) und eines der Stundensterne (Kassiopeia): R. Eisler, The Royal Art of Astrology (Herbert Joseph: London 1946) Figur 17b. Seite 86 Abbildung 6 „Die innere Bewegung des kosmischen Baumes” nach Auffassung der Nordwestafrikaner: V, Pâques, L’arbre Cosmique
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dans la Pensée populaire et dans la Vie cotidienne du Nord-Ouest Africain (Institut d’'Ethnologie. Musée de l’Homme, Paris 1964) Figur 17, Seite 99 Abbildung 7 Die Wege des Demiurgen während der Schöpfung nach Auffassung der Bambara: D. Zahan und S, de Ganay, „Études sur la cosmologie des Dogons et des Bambara du Soudan Français”, Africa 21 (1951) Figuren 1 und 2, Seite 21 (International African Institute, London) Abbildung 8 Der Wasserstrudel „Norvegianus Vortex”: A. Kircher, Mundus Subterraneus (Amsterdam 1665) Seite 149 Abbildung 9 Kirchers Vorstellung von der unterirdischen Verbindung zwischen dem Wasserstrudel westlich von Norwegen und der Ostsee: A, Kircher, op.cit., Seite 148 Abbildung 10 Detailskizze aus Olaus Magnus’ Carte Marina, Väinämöinens Spiel auf der Kantele andeutend: M. Haavio, Vainämöinen, Eternal Sage (Acad. Sci. Fenn., Helsinki 1952) Figur 24, Seite 169 Abbildung 11 Das Trigon der Großen Konjunktionen: J. Kepler, Mysterium Cosmographicum [M. Caspar (Hrsg.), Gesammelte Werke 8, Beck: München 1963] Seite 26 Abbildung 12 Die Asuras am Siegestor des Tempels in Angkor: M. Hürlimann, Ceylon und Indochina (Berlin 1929) Seite 210 (Orbis Terrarum)
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Abbildung 13 Die in die Planetenbahnen eingeschriebenen Polyeder: J. Kepler, Mysterium Cosmographicum, op.cit., Falttafel zwischen Seite 48 und 49 Abbildung 14 Gott erschafft die Sterne: Abbildung auf einer Postkarte, Copyright 1962 Verlag Karl Alber, Freiburg im Breisgau Abbildung 15 Der Maelström („horrenda caribdis”) auf der Carte Marina von Olaus Magnus: E. Lynam, The Carla Marina of Olaus Magnus (Tall Tree Library, Jenkintown (PA 1941) Figur 6, Seite 21 Abbildung 16 Der Maelström, Detailskizze aus Olaus Magnus’ Carta Marina: M. Haavio, op.cit,, Figur 27, Seite 193 Abbildung 17 Die mesopotamische Konstellation „Pfeil und Bogen” (mulBAN und mulKAK.SI.DI bzw. gag.si.sa): B.L. van der Waerden, Anfänge der Astronomie (Birkhäuser: Basel 1965) Figur 9, Seite 69 Abbildung 17a Die aus denselben Sternen von Argo und Canis Maior gebildete Konstellation in China (aber Sirius nicht als Pfeilspitze, sondern als Ziel): G. Schlegel, Uranographie Chinoise (Leiden 1875/Taipeh 1967) Seite 434 Abbildung 18 Chinesische Sternkarte aus dem Jahr 1092: J. Needham, Science and Civilization in China. III (Cambridge U.P. 1959) Seite 377
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Abbildung 19 Das Spannen des Bogens in Richtung auf Sirius, den Himmelsschakal, wie es von den mythischen Kaisern Chinas gehandhabt wurde: J.C. Ferguson, Chinese Mythology (Marshall Jones: MAR VIII, Boston/MA 1937) Seite 83 Abbildung 20 Satit auf dem sogenannten „Runden Zodiak” von Dcndera (römisch-ägyptisch): E. Zinner, Die Geschichte der Sternkunde (Julius Springer: Berlin 1931) Tafel 2 gegenüber Seite 22 Abbildung 21 Der Weltberg Meru: A. Grünwedel, Altbuddhistische Kultstätten aus Chinesisch Turkestan (Berlin 1912) Figur 482, Seite 216 Abbildung 22 Das durch Buddhas Tod verursachte Zerbrechen des sanduhrförmigen Meru: A. Grünwedel, op.cit. Abbildung 23 Der Solstitialkolur (die Linie der Sieben Rishis) um 2800 v.Chr., 1950 v. Chr., 1822 v. n.Chr.: W. Brennand, Hindu Astronomy (1896; New Delhi: Caxton Publications 1988) Taf. 10, gegenüber Seite 72 Abbildung 24 Die indischen Mondstationen (Nakshatras) und ihre göttlichen Regenten: G.E. Gibson, „The Vedic Naksatras and the Zodiac”, Festschrift Popper (1951) Abbildung 25 Die ägyptische Göttin Serket/Selqet: Sir N. Lockyer, The Dawn of Astronomy (1894; Cambridge/Ma: MIT Press 1964) Seite 289
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Abbildung 26 Die Göttin mit dem „Hinterteil eines vierbeinigen geflügelten Skorpions” auf einem Skarabäus griechischphönizischer Herkunft: G.M.A. Richter, Catalogue of Engraved Gems (Metropolitan Museum: New York 1956) Figur 15, Tafel IV Abbildung 27 „Die alte Göttin mit dem Skorpionschwanz” im MayaCodex Tro-Cortesianus: E. Seler, Gesammelte Abhandlungen IV, Figur 970, Seite 748 Abbildung 28 Das Trigon der Großen Konjunktion in den Jahren 15831763: J. Kepler, De Stella Nova in Pede Serpentarii [M. Caspar (Hrsg.), Gesammelte Werke I, Beck: München 19381 Seite 179 Abbildung 29 Der chinesische Deus Faber Fu Hsi und seine Gefährtin Kü Nüa vermessen die „Rundheit des Himmels” und die „Viereckigkeit der Erde”: Sir A. Stein, Innermost Asia. III (Clarendon Press: Oxford 1928) Abbildung 30 Terrakotta-Maske von Humbaba/Huwawa, dem Wächter der von Gilgamesch und Enkidu gefällten Zeder: S.H. Langdon, Semitic Myihology (Marshall Jones: MAR V, Boston 1931), Figur 79, Seite 254 Abbildung 31 Kopf des mexikanischen Tlaloc, des sogenannten „Regengottes”. Steinfigur im Berliner Museum für Völkerkunde: E. Seler, Codex Borgia I (Berlin 1904) Textfigur 299
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Abbildung 32 Die Bewegungen des Planeten Merkur während eines Jahres: H. von Baravalle, Die Erscheinungen am Sternenhimmel (Verlag Freies Geistesleben: Stuttgart 1962) Seite 91, 117 Abbildung 33 Die Bewegungen des Planeten Saturn während eines Jahres: FL von Baravalle, op.cit,, Seite 120 Abbildung 34 Das Pegasus-Viereck „1-Iku” (Standard-Flächenmaß der Sumerer), rekonstruiert nach astronomischen Keilschrifttexten: B.L. van der Waerden, op.cit., Figur 7, Seite 66 Abbildung 35 Dieselbe Konstellation als Darstellung des „Paradieses”: A. Ungnad, Das wiedergefundene Paradies (Selbstverlag: Breslau 1923) Abbildungen 36 und 37 1-Iku zwischen den Fischen auf dem runden (oben) und dem rechteckigen (unten) Tierkreis von Dendera: A. Ungnad, op.cit. Abbildungen 38 und 39 Zwei Kalebassen von der afrikanischen Guinea-Küste: J. Dahse, „Ein zweites Goldland Salomons”, in ZfE 43 (1911) Seite 67f. Abbildungen 40 und 41 Die Tierkreisfische, gezeichnet von den Toba-Batak auf Sumatra: Maass, „Sternkunde und Sterndeuterei im malaiischen Archipel”, Tijdschr. Ind. Taal-, Land- en Volkenkund 66 (Weltevreden 1926) Abbildung 27 gegenüber Seite 619
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Abbildung 42 Der „Gott-Boot” auf einem frühen mesopotamischen Siegelzylinder: R Amiet, La Glyptique Mesopotamienne Archaique (Éditions du Centre National de la Recherche Scientifique: Paris 1961) Figur 1444, Tafel 109 Abbildung 43 Der „Gott-Boot” umgeben von Halbmond, drei Einzelsternen und mehreren Konstellationen: P. Amiet, op.cit, Figur 1427, Tafel 107 Abbildung 44 Dasselbe Wesen im Maya-Codex Tro-Cortesianus: F. Anders (Hrsg.), Codices Selecti Phototypice Impressi VIII (Akad. Druck- und Verlagsanstalt: Graz 1962) Seite 96 Abbildung 45 Der „Gott-Boot” auf einem arabischen Himmelsglobus: P. Casanova, „De quelques Légendes astronomiques Arabes, considérées dans leurs rapports avec la Mythologie Égyptienne”, BIFAO 2 (1902) Figur gegenüber Seite 38 Abbildung 46 Schlange und Tausendfüßler in Form eines Xi im mexikanischen Codex Borbonicus (Blatt 13): E. Seler, Codex Borgia I Berlin 1904) Figur 49, Seite 15 Abbildung 47 Schlange und Tausendfüßler im Codex Vaticanus B (Blatt 15/16): E. Seler, Codex Fejérvary-Maier (Berlin 1901) Textabbildung Seite 15 Abbildung 48 „Die unvergleichlich mächtige Butterung des Milchmeers”: A.B. Keith, Indian Mythology (Marshall Jones: MAR VI Boston 1927) Figur 2, Seite 104
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Abbildung 49 Vereinfachte Version des Amritamanthana: J.D. McGuire, „A Study of the primitive methods of drilling”, Annual Report U.S. National Museum for 1894 (Washington 1896) Figur 177, Seite 742 Abbildung 50 Das Amritamanthana im Maya-Codex Tro-Cortesianus: E. Seier, Gesammelte Abhandlungen IV (Berlin 1923/Akademische Druck- und Verlagsanstalt: Graz 1961) Figur 724, Seite 663 Abbildung 51 Horus und Seth beim Drillen oder Buttern. Relief am Thron Sesostris’ 1 (12. Dynastie): digitale Rekonstruktion auf der Basis einer Photographie von Jürgen Liepe, mental images, Berlin 1993 Abbildung 52 Das „Böse Auge” auf einem römischen Mosaikpflaster: E.A. Armstrong, The Folklore of Birds (Collins: London 1958) Figur 72, Seite 120; unvollständig abgebildet und besprochen (152f.) in S. Seligmann, Der Böse Blick und Verwandtes (Herman Barsdorf: Berlin 1910) Figur 124, Seite 117 Abbildung 53 Das „Böse Auge” umgeben von „Eule, Schlange, Hirsch, Scorpion, Hund, Löwe, Blitz”: S. Seligmann, op.cit., Figur 122, Seite 113 (Text 152) Abbildung 54 Goldenes Amulett aus Sizilien mit dem „Bösen Auge”, umgeben von „Eidechse, Schwan, Schlange, Hahn, Hund, Löwe, Phallus, Scorpion, Blitz”: S. Seligmann, op.cit., Figur 117, Seite 95 (Text 151)
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Abbildung 55 Das „Böse Auge” auf einem goldenen Amulett aus Herculaneum, umgeben von „Blitz, Eidechse, Phallus, Scorpion, Stern (Seestern?), Elephant, Schwan, undeutlicher Gegenstand, Schlange”; S. Seligmann, op.cit., Figur 119, Seite 99 (Text 151) Abbildung 56 Das „Böse Auge” auf einem pompeiianischen Ollämpchen mit Stierhörnern und Skorpion: F.T. Elworthy, The Evil Eye (London 1895); The Julian Press: New York 1958), Figur 86, Seite 213 Für die Beschaffung der Vorlagen zu den meisten Abbildungen sind wir Katharina Lommel, früher am Staatlichen Museum für Völkerkunde in München, zu großem Dank verpflichtet.
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Nachwort des Herausgebers
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Nachwort des Herausgebers Das Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe des Buchs Hamlets Mill An Essay ort Myth and the Frame of Time von Giorgio de Santillana und Hertha von Dechend in einer grundlegend überarbeiteten und erweiterten Form im Verlag Kämmerer & Unverzagt innerhalb der Buchreihe Computerkultur ist für alle an dem fünfjährigen Prozess der Entstehung Beteiligten ein großer Erfolg. Mein Dank gilt vor allen Hertha von Dechend, die nicht nur eine durchgehend autorisierte Übersetzung möglich gemacht hat, sondern auch die Gelegenheit ergrifffen hat, das Buch in erheblichem Umfang umzugestalten und ferner unter Berücksichtigung neuerer Forschungsergebnisse seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe im Jahr 1969 zu überarbeiten und zu erweitern sowie ein Vorwort und ein Nachwort zu verfassen. Die Realisierung dieser Ausgabe des Buchs unter Erfüllung der daran geknüpften hohen Ansprüche wäre vermutlich nicht gelungen, wenn nicht Beate Ziegs die Aufgabe der Übersetzung der ersten Fassung übernommen und deren kontinuierliche Überarbeitung in enger Zusammenarbeit mit Hertha von Dechend durchgeführt hätte – ein Prozeß, der sich über mehr als drei Jahre hingezogen hat. Im Zuge dieser Arbeit wurden von ihr gegebenenfalls die deutschsprachigen Äquivalente aller Quellentexte der amerikanischen Ausgabe und weitere Zitate in Absprache mit der Autorin ermittelt und eingefügt. Das Literaturverzeichnis wurde entsprechend ergänzt und durchgängig überarbeitet. An der Entstehung der endgültigen Fassung maßgeblich beteiligt waren auch die beiden Lektorinnen, Lisa Steinhauser und Sabine Süß, die auch das außerordentlich umfangreiche Literaturver-
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Nachwort des Herausgebers
zeichnis und das Register mitüberarbeitet haben. Die Arbeiten seit Vorliegen der ersten Textfassung der deutschsprachigen Ausgabe haben insgesamt noch einmal mehr als ein Jahr gedauert. Dabei sind alle weiteren Ergänzungen und Verbesserungen der Autorin bis zum endgültigen Abschluß der Arbeiten an der Druckvorlage im September 1993 berücksichtigt worden. Es bleibt mir noch, Hertha von Dechend und der literarischen Agentur, der Paul & Peter Fritz AG, für das entgegengebrachte Vertrauen zu danken, das darin zum Ausdruck kommt, daß der sehr kleine Verlag Kämmerer & Unverzagt die Rechte an diesem einzigartigen und hochinteressanten Werk aufgrund von Engagement und nachweisbarer Kompetenz erhalten konnte. Auf der Suche nach gut verkäuflichem Lesestoff sind deutsche Verlage ja in jüngerer Zeit auch auf ‚Kosmologie’ gestoßen – vorzugsweise in einem den Intentionen dieses Buchs widersprechenden Sinn verstanden. Dabei wird auf das sinngebende Potential der Grenzbereiche der Naturwissenschaft spekuliert, in der Regel ohne den Preis einer wissenschaftlichen Darstellung des Kernbereichs dafür zahlen zu wollen. In den siebziger und achtziger Jahren konnte allein schon eine sehr kurzgefaßte Darstellung von Grundgedanken des Buchs wie etwa der Aussage, Astronomie sei die Hauptgrundlage des Mythos, und die daraus resultierende Rückdatierung der Anfänge der Naturwissenschaft und Neubewertung ihres kulturellen Gewichts, bei deutschen Intellektuellen heftigste Abwehrreaktionen hervorrufen. Selbst ,kulturell interessierte’ Naturwissenschaftler zeigten oft ein besonderes Interesse daran, Schutzgebiete des ‚wilden Denkens’ aufrechtzuerhalten, nicht zuletzt, um ihrerseits durch diese Art von Mimikry gesellschaftlich akzeptiert zu werden. Gelesen aber hatte und hat es bis heute kaum einer von ihnen. Die Lektüre eines derart komplexen Buchs in englischer Sprache fällt eben doch sehr schwer, vor allem, wenn man eigentlich gar nicht verstehen will. Inzwischen sind ‚Weltbilder’ in das Angebot der Bildungsein-
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richtungen integriert worden als könnten sie aus Inneneinrichtungskatalogen ausgewählt werden. Naturreservate des Irrationalen werden liebevoll gepflegt wie früher der Schulgarten. Man hofft, den letzten ,Aborigines’ den Schock der Begegnung mit der Zivilisation' zu ersparen, um später dafür um so mehr für den Eintritt in das Reservat – in zeitgemäßer ,medialer’ Form oder auch realiter – verlangen zu dürfen, und ist natürlich enttäuscht, wenn sie gar keine so großen Schwierigkeiten haben, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zurechtzukommen – von der Astronomie ganz zu schweigen. Die Vorstellung davon, welche Konflikte und Diskussionen eine leicht zugängliche und lesbare Ausgabe des Buchs daher auslösen kann, ist für das Projekt eine der ergiebigsten Energiequellen gewesen. Obendrein erscheint das Buch in der Buchreihe Computerkultur, und obwohl diese Tatsache auch als rein formaler, publikationstechnischer Aspekt betrachtet werden kann, könnte für manche Leser damit eine gewisse Irritation verbunden sein. Sie ist nur insoweit unbeabsichtigt, als dadurch keineswegs der Eindruck einer Vereinnahmung des Buchs für etwas entstehen soll, das den inhaltlichen Intentionen der Autoren widerspricht. Wenn auch nunmehr das Zeitalter der Rechenmaschinen begonnen hat, so zeigen Giorgio de Santillana und Hertha von Dechend, daß das diesem vorausgegangene und zugrundeliegende Zeitalter des Berechnens sehr viel länger gedauert hat als es bisher üblicherweise angenommen wird. Die Entdeckung des abstrakten Berechenbarkeitsbegriffs und damit des Begriffs des universellen Computers durch Alan Turing, die den Beginn des Computerzeitalters sub specie aeternitatis markiert, hat einen „unabsehbar langen Prozess der Tradierung und Mehrung, des 499 Verlusts und der Renaissance naturwissenschaftlicher Einsichten” zur Voraussetzung, dessen Anfange ‚ausgegraben’ zu haben das herausragende Verdienst des vorliegenden Buchs ist. Nicht eine Mühle oder sonst ein mechanisches Gerät ist das
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Urbild für die Mühle des Hamlet, sondern diese wird als Bild für den sich Lebewesen einprägenden und somit schließlich ‚beobachtbar’ werdenden Teil des Kosmos mit seiner (die) Zeit konstituierenden Regelhaftigkeit der Mond-, Planeten- und Sternbewegungen selbst als das Urbild des abstrakten Maschinenbegriffs erkennbar, während andererseits jetzt in den avanciertesten Teilen der Naturwissenschaft dazu übergegangen wird, die Natur als Maschine im Licht der Ergebnisse der Berechenbarkeits- und Komplexitätstheorie zu untersuchen. Der Kreis schließt sich.
Berlin, September 1993
Rolf Herken
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Vom Scanner eingefügte Korrekturen: S. 008: berharrlichen – beharrlichen S. 009: Netwon - Newton S. 029: zum melken - zum Melken S. 048: Regierungssmethoden – Regierungsmethoden S. 060: urprünglichen – ursprünglichen S. 132: ingesamt – insgesamt S. 141: gegegeben – gegeben S. 142, Fußnote 16: Ilions Falls – Ilions Fall S. 145, Fußnote 28: Gemanen – Germanen S. 161, Fußnote 21: auf – of S. 180: enstehen – entstehen S. 187: Vorstellungkraft – Vorstellungskraft S. 214, Fußnote 17: enstand – entstand S. 217, Fußnote 24: Lizenausgabe – Lizenzausgabe S. 218: Propfen – Pfropfen S. 218: zebrochenen – zerbrochenen S. 224: Fühlingsäquinoktialsonne – Frühlingsäquinoktialsonne S. 249: Vison des Er – Vision des Er S. 250: gegegenübertreten – gegenübertreten S. 252, Fußnote 2: Konrat – Konrad S. 257, Fußnote 19: der tritte – der dritte S. 258, Fußnote 22: Heptagrammm – Heptagramm S. 263, Fußnote 3: Tasächlich – Tatsächlich S. 265, Fußnote 8: Tip – Tipp S. 278, Werzeuge – Werkzeuge S. 284, Fußnote *: Hieroghlyphen – Hieroglyphen S. 286, Fußnote 64: wiederfahren – widerfahren S. 301: hingeweisen – hingewiesen S. 321, Fußnote 10: Planetennbahnen – Planetenbahnen S. 330: chinesiche – chinesische S. 330, Fußnote 39: Könisgmordes – Königsmordes
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S. 341: irgendeines Tieisr - irgendeines Tiers S. 362, Fußnote1: abgehandelt.. – abgehandelt. S. 364: verschmischter – vermischter S. 373: Goße Bär – Große Bär S. 382: Vöuspa 1 – Völuspa 1 S.384: angemesse – angemessene S. 385: giechische Okeanos – griechische Okeanos S. 399: unzertrenntlichen – unzertrennlichen S. 408: Fußnote14: can bei identified – can be identified S. 423: abode für Marduk – abode for Marduk S. 431, Fußnote 33: unveröffentliche Teile – unveröffentlichte Teile S. 443: Altertumskund – Altertumskunde S. 443: Near Estern – Near Eastern S. 446: Anderson, Andrew Runni: (falscher Absatz) S. 463: Literaturgeschchte – Literaturgeschichte S. 466: Apokryphen ud – Apokryphen und