Die Menschenfalle von Claudia Kern
Nr. 71 Fleisch Warmes, saftiges Fleisch. Blut, das die Kehle hinunter rinnt; ein Ge...
40 downloads
495 Views
392KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die Menschenfalle von Claudia Kern
Nr. 71 Fleisch Warmes, saftiges Fleisch. Blut, das die Kehle hinunter rinnt; ein Geschmack nach Eisen, nach Leben, nach Tod. Es war ein Geschenk der Götter, eine Gabe, die so wichtig wie das klare Wasser des Flusses war und doch so selten wie ein sonniger Tag zur Winterwende. Manchmal lag der Geschmack als dunkle Erinnerung auf ihren Zungen. Dann beteten sie und blickten hinaus auf den Fluss. Wartend. Hoffend. Gierend.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten … für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde … Beim Wettlauf zum Kometenkrater, wo laut der ISS-Daten vielfältiges Leben wuchert, haben Matt Drax, Aruula und der Cyborg Aiko Konkurrenz: Der Weltrat (WCA), Nachfolger der US-Regierung unter Präsident Victor Hymes und General Arthur Crow, setzt seine Ziele unerbittlich durch, indem er barbarische Völker unterstützt, die andere Zivilisationen ständig angreifen und so klein halten. Crows Tochter Lynne leitet die WCAExpedition, begleitet von dem irren Professor Dr. Jacob Smythe. Die zweite Fraktion ist eine Rebellengruppe, die gegen die WCA kämpft, die Running Men. Ihr Anführer Mr. Black ist ein Klon des früheren USPräsidenten Schwarzenegger. Matt, Aiko und Aruula machen sich von L.A. aus auf den Weg. Mit Magnetgleitern, Schiff, Eissegler und schließlich Zeppelin geht es nach Norden. In Fort McPherson, wo das Luftschiff bruchlandet, stoßen sie auf die Expedition der Running Men, die von einer Mongolenhorde verfolgt wird. Gemeinsam stellt man sich der Gefahr und meistert sie. Die beiden Expeditionen schließen sich zusammen - nicht ohne Vorbehalte; der Rebellenführer ist Matt suspekt. Das ändert sich, als er Mr. Black näher kennen lernt und dieser ihm das Leben rettet, als ein überlebender Mongole Aruula und die Telepathin Karyaana als Geiseln nimmt. Karyaana findet den Tod, nachdem sie herausgefunden hat, dass die Mongolen - die Ostmänner - im Auftrag des Weltrats operieren. In einem Dorf an der Küste Alaskas sichern sie sich eine Überfahrt nach Russland, indem sie auf einem Schiff anheuern, das marodierende Piraten jagen will. Doch das Unternehmen wird verraten, die Freunde geraten in Gefangenschaft. Die Rettung kommt in Form von Hydriten, einer Untersee-Rasse, mit der Matt bereits mehrfach Kontakt hatte und die nun hilft, die Piraten zu besiegen. Schließlich landen Matt, Aruula, Aiko, Mr. Black und Miss Honeybutt Hardy an Russlands Küste … die inzwischen auch die WCA-Expedition erreicht hat.
3
Tagebucheintrag Dr. Jed Stuart 17. Oktober 2518 Zum ersten Mal seit langem finde ich genügend Ruhe und Kraft, um über die Ereignisse der letzten Wochen und Monate nachzudenken. So viel Schreckliches ist geschehen, dass ich es kaum in Worte zufassen vermag, und so viel Wundervolles, dass ein Teil von mir befürchtet, in einem Traum zu leben, der vergehen wird, wenn ich es wage, seine Bilder in Worte zu fassen. Meine Augen haben Dinge erblickt, die ich nie vergessen werde, egal was noch passieren wird. Ich sah Eisberge, die wie goldene Festungen in der Sonne leuchteten und sich nach Tagen mit einem solchen Getöse schmelzend ins Meer stürzten, dass viele meiner Begleiter glaubten, die Götter selbst hätten zu ihnen gesprochen. Dann waren da Meeressäuger, dreißig, vierzig Meter lang, die uns bei unserer Fahrt über die Beringsee begleiteten und an manchen Tagen so nah an die Flöße herankamen, dass man ihre seltsam weiche Haut berühren konnte. In ihren braunen Augen lag eine Sanftmut, wie ich sie noch nie bei einem Lebewesen gesehen habe. Selbst Smythe, unser wahnsinniger Tyrann, schien unter diesem Bück zur Ruhe zu kommen. Manchmal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich diese Giganten vor mir, doch meistens ist da nur sie, Majela, die neben mir liegt, während ich diese Worte schreibe. Aber ich schweife ab. Wenn diese Einträge Sinn ergeben sollen, muss ich zumindest versuchen, ihnen den Ansatz einer Chronologie zu geben. 4
Jed drehte den Kopf, als ein Nachtvogel über ihm schrie. Der flatternde Schatten verdeckte für einen Augenblick die Sterne, bevor er Teil der Küstensilhouette wurde und in der Dunkelheit verschwand. Wasser schlug leise glucksend gegen die Ränder des Floßes. Die Luft roch nach Salz und Fisch. Irgendwo, vermutlich auf dem zweiten, größeren Floß, furzte jemand. Eine Stimme grunzte zur Antwort, eine andere lachte. Jed fuhr sich müde mit der Hand über die Augen und drehte den fleckigen Umschlag des Tagebuchs, bis die halb beschriebene Seite im Mondlicht leuchtete. Unsere Reise, schrieb er in seiner sehr präzisen, beinahe gedruckt wirkenden Handschrift, verlief nach dem Zwischenfall am geografischen Nordpol sehr ruhig. Ich bin mir immer noch nicht sicher, was dort genau geschehen ist, aber es hat mehrere Menschen das Leben und Helena Lewis vielleicht den Verstand gekostet. Zu den Toten gehörte auch Lieutenant Jazz Garrett, der Mann, dem ich meine unfreiwillige Teilnahme an dieser Expedition verdanke und der seit der ersten Stunde bemüht war, mir das Leben hier so unerträglich (und so kurz) wie möglich zu machen. Dass er nun lange vor mir den Tod gefunden hat, erfüllt mich mit einer gewissen Genugtuung, für die ich mich keinesfalls schäme. Um es auf den Punkt zu bringen: Er war ein Arschloch und ohne ihn ist diese Welt ein besserer Ort. Jed zögerte unwillkürlich, als er den letzten Satz betrachtete. Er hatte in sei-
nem ganzen Leben noch nie das Wort Arschloch ausgesprochen, geschweige denn geschrieben, aber im Zusammenhang mit Garrett erschien es ihm geradezu zwingend notwendig. Seine Gedanken kehrten zu dem Abend zurück, an dem Garrett versucht hatte, Majela zu vergewaltigen. Er selbst hatte in einem der Panzer gesessen, nutzlos und ahnungslos wie so oft, und war erst dazu gekommen, als alles vorbei war. Wenn Smythe nicht gewesen wäre … Jed blätterte hastig die Seite um, als könne er damit das Erlebte hinter sich lassen. Wir überquerten den neuen Nordpol und erreichten endlich schneefreies Gebiet. Links von uns lagen hohe, schneebedeckte Berge, rechts das offene Meer. Obwohl das Land fruchtbar wirkte, sahen wir nur wenige menschliche Ansiedlungen, die aus Furcht vor Raubtieren - so sagte man uns zumindest - von hohen Palisadenzäunen umgeben waren. Die Häuser standen in vielen Dörfern auf Stelzen und ragten halb ins Meer hinaus. Es schien fast so, als trauten die Einwohner dem Land, auf dem sie lebten, nicht und wollten sicherstellen, dass sie jederzeit zurück ins Wasser fliehen konnten. In einem Dorf, in dem wir übernachteten und ein wenig Handel trieben, erzählte eine alte Frau mit kaum verständlichem Dialekt von schrecklichen Ungeheuern, die im Winter über die Dörfer herfielen und manche schon vollständig ausgelöscht hatten. Ich fragte sie, ob die Ungeheuer Menschen oder Tiere seien, aber sie schien den Unterschied nicht zu begreifen.
Smythe lachte über ihre Geschichten, aber viele der neuen Menschen - und nein, ich werde sie nicht Barbaren, Läuseschleudern, Flohspritzen oder Dumpfhirne nennen, wie es einige andere tun - waren tief bewegt und baten ihre Götter um Gnade für die Einwohner dieses Landes. Das gab mir die Gelegenheit, einige äußerst interessante Opferriten zu beobachten, bei denen deutlich wurde, dass besonders die Stämme des mittleren Westens von der christlichen Mythologie geprägt sind, während - Jed brach ab und strich die letzten Worte durch. Obwohl der Wissenschaftler in ihm jede Gelegenheit wahrnahm, um die Riten und Feste seiner Begleiter zu analysieren, fühlte er sich fast schon schuldig, als würde er damit die Freundschaft, die ihn mit vielen von ihnen verband, betrügen. In den Tiefen des Washingtoner Bunkers, wo er sich fast ein Leben lang vergraben hatte, waren sie weit entfernte Objekte gewesen, deren Sprachen und Gesellschaftsformen ihn faszinierten und die er studierte, geborgen in der Gewissheit, ihnen nie begegnen zu müssen. Hier draußen jedoch waren sie Freunde, wenn das der Begriff war, mit dem man Menschen definierte, denen man sein Leben anvertraute. Er zwang seine Gedanken zur Ordnung und setzte den Kugelschreiber wieder an. Schließlich erreichten wir die Ostspitze Alaskas und damit das Ende des amerikanischen Kontinents. Es war ein seltsames Gefühl, auf das Meer hinauszublicken und zu wissen, dass alles, was ich je aus erster oder zweiter Hand ge5
kannt hatte, hinter mir lag. Das Ziel unserer Reise, der Kratersee, erschien zum Greifen nah, obwohl er noch viele tausend Kilometer entfernt sein musste. Meine Begleiter spürten wohl das Gleiche, denn ihre Stimmung verbesserte sich, wurde beinahe schon begeistert, und sie bedrängten mich immer wieder, ihnen auf der Landkarte zu zeigen, wo wir uns befanden. Nur Pieroo, mein guter Freund und »Leibwächter« blieb gelassen und ließ sich nicht von der plötzlichen Ungeduld anstecken. Er und Smythe haben als einzige bereits einen anderen Kontinent gesehen, und während das den Professor nicht davon abhielt, beim Anblick der Landspitze in einen Moment euphorischer Raserei zu verfallen, kaute Pieroo nur ruhig auf ein wenig Pökelfleisch und begann seine Leute für den Fischfang einzuteilen. Ich schreibe »seine Leute«, auch wenn sie eigentlich Sergeant Brian Laramy unterstehen, denn in den letzten Monaten haben sich klare Stammeshierarchien gebildet, an deren Spitze Pieroo steht. Von meinen Washingtoner Kollegen scheint niemand zu begreifen, dass die Männer Laramy nur gehorchen, weil Pieroo es so möchte. Ich hoffe, dass weder unsere allseits unbeliebte Expeditionsleiterin Captain Lynne Crow noch ihr geistesgestörter Stellvertreter Professor Jacob Smythe jemals herausfinden, welche Macht Pieroo wirklich hat, denn nur ihre Unkenntnis hält ihn am Leben. Wir lagerten über eine Woche am Ende Amerikas. Einige von Pieroos Leute besserten durch Fischfang und 6
die Jagd unsere stark geschrumpften Vorräte auf. Die anderen fällten Bäume, bearbeiteten die Stämme mit einem Sirup aus Fischölen und Harz und banden sie zu großen Flößen zusammen, auf denen wir die Fahrt über die Beringsee wagen wollten. Majela nutzte die Zeit, um mir das Schwimmen beizubringen, ein Unterfangen mit anfangs sehr mäßigem Erfolg, was sie jedoch nicht davon abhielt, es immer wieder zu versuchen. Ich glaube, sie ist die starrsinnigste Frau, der ich je begegnet bin. Neben ihm seufzte Majela leise im Schlaf, als habe sie seine Gedanken gehört. Er sah nur lange schwarze Rastas; der Rest ihres dunkelhäutigen Körpers war unter dem Cabukkfell verborgen, das er in einem der Dörfer gegen seine Armbanduhr getauscht hatte. Ihre Anwesenheit auf dem Floß war ein weiterer Beleg für seine Theorie, denn im Gegensatz zu Jed, dem Smythe aus einer Laune heraus das Übernachten in den beiden Clinton-Tauchpanzern untersagt hatte, verbrachte sie ihre Nächte freiwillig unter offenem Himmel und ließ sich trotz der mittlerweile schneidenden Herbstwinde nicht umstimmen. Einige Tage, fuhr er fort, bevor wir Alaska verließen, beobachtete ich etwas Merkwürdiges, für das ich bis heute keine Erklärung habe. Im Morgengrauen, als ich gerade einem menschlichen Bedürfnis nachging, tauchte Lynne Crow plötzlich zwischen den Bäumen auf. Sie wirkte nervös, als habe sie Angst, entdeckt zu werden. In einer Hand trug sie eine dunkle Schachtel, die sie auf einem Stein absetzte und
dann öffnete. Einen Moment lang geschah nichts, dann erhob sich eine große Libelle daraus in die Luft. Sie schien sich orientieren zu müssen, denn sie drehte mehrere Kreise, bevor sie sich für eine Richtung entschied und gen Westen flog. Crow sah ihr nach, bis man den langgezogenen Körper und die schillernden breiten Flügel nicht mehr erkennen konnte, dann kehrte sie zurück ins Lager. Nun ist allgemein bekannt, dass Libellen genetisch auf bestimmte Ziele geeicht werden können und daher hervorragend für die Übermittlung von Nachrichten geeignet sind, nur frage ich mich, warum sie nach Westen flog, wo doch Washington und damit der einzige Ort, an dem man von unserer Expedition weiß, im Osten liegt. Wen soll diese Nachricht erreichen? Das ist eine Frage, auf die ich keine Antwort finde. Unter Wiilems fachkundiger Anleitung - er gehört zu einem Stamm, der Handel auf dem Mississippi betreibt, auch wenn er den Fluss Miispii nennt wurden drei Flöße gebaut und anschließend mit den Tauchpanzern vertäut. Ich hatte mich nie mit den genauen Eigenschaften dieser Fahrzeuge beschäftigt und war überrascht, dass sie tauchen und schwimmen können. Sonderlich schnell sind sie dabei zwar nicht, aber mit den angehängten Flößen wäre ohnehin keine größere Geschwindigkeit möglich. Im ersten Licht des neuen Tages brachen wir auf. Die Vorräte wurden auf ein Floß verladen, Pieroo, seine Leute und ich auf die beiden anderen. Ur-
sprünglich sollten auch Phobos und Daimos, Smythes äußerst gestört wirkende Diener mit auf unsere Flöße, aber die drei Stammesfrauen, die mit uns reisen, sprangen immer wieder ins Wasser, wenn sie die Diener sahen. Wie die meisten glauben sie, dass die beiden Männer von Dämonen besessen wären. Laramy wollte ohne sie abreisen, aber ich überzeugte ihn zum Glück davon, die beiden ausgezehrten Gestalten bei den Vorräten mitfahren zu lassen. Das war eine falsche Entscheidung, doch das konnte ich an diesem Morgen nicht ahnen … Jed legte das Buch beiseite und sah hinauf in die sternenklare Nacht. Sternschnuppen schossen wie flüchtige Gedanken über den Himmel, einen Moment lang klar und hell, im nächsten nicht mehr als eine Erinnerung … so wie Atalana. Er hatte ihr Gesicht gesehen, in diesem einen Moment. Ihren weit aufgerissenen Mund und das Wasser, das über ihre Augen rann. Sie hatte noch gelebt, da war er sich ganz sicher. Ihr Name war Atalana, schrieb er nach langem Zögern, und wir alle wussten, dass Daimos sie begehrte. Sie gehörte zu den drei, nennen wir sie Liebesdienerinnen, die zuerst in den Mannschaftstransportern und später auf den Flößen mitfuhren. Sie war höchstens zwanzig und bei den Männern wegen ihrer Schönheit und ihrer Freundlichkeit sehr beliebt. Mehrmals musste ich Streitigkeiten schlichten, die wegen ihr ausbrachen. Wenn ich sie um etwas mehr Zurückhaltung bat, lachte sie nur und winkte ab, als könne sie nicht glau7
ben, dass jemand wegen ihr einen anderen schlagen würde. So wenig Atalana sich ihrer Schönheit bewusst war, so sehr waren es Paulaa und Meymi, die beiden anderen Frauen. Allerdings reagierten sie nicht mit Neid, wie man vielleicht hätte annehmen können, sondern mit einer starken Loyalität, die sich auf alte Stammestraditionen gründete. Während sie Atalana bewunderten und manch mächtiger Krieger sogar Blumen in den eisfreien Gegenden pflückte, um ihr zu gefallen, beobachtete Daimos sie aus der Ferne. Kein Abend verging, ohne dass seine ausgemergelte, verwachsene Gestalt abseits der Feuer auftauchte und sie anstarrte. Wenn man ihn ansprach, schwieg er und zog sich in die Dunkelheit zurück. Ich glaube nicht, dass ich ihn auf dem gesamten Weg ein Wort sprechen hörte. Es war der dritte Tag unserer Reise über die Beringsee. Am Morgen des zweiten Tags hatte es angefangen zu regnen und am späten Nachmittag des dritten gab es kein Anzeichen, dass es bald wieder aufhören würde. Wir hockten unter vom Wasser schwer gewordenen Fellen, dünnen Mänteln und den wenigen Plastikplanen, die der Ausrüstung noch verblieben waren. Alles war nass und kalt, unsere Hände, unsere Füße, sogar die Nahrung, die diejenigen, die von der Seekrankheit verschont geblieben waren, mit missmutigen Gesichtern in ihre Münder schaufelten. Der Regen schlug so laut auf die Planen, dass an Schlaf nicht zu denken war und jede Unterhaltung schreiend geführt werden musste. Am ersten Tag 8
hatte man sich diese Mühe gemacht, jetzt am zweiten saßen wir nur noch stumm nebeneinander und starrten auf den schweren Seegang hinaus. Wir hatten die Seile, mit denen die Flöße verbunden waren, verlängert, um die Gefahr einer Kollision zu verringern. Ungefähr zwanzig Meter lagen zwischen jedem, genug, um sie in den Wellentälern verschwinden zu lassen. Ich weiß nicht, wer es als erstes entdeckte, aber irgendwann spürte ich Pieroos Hand auf meiner Schulter und sah seinen ausgestreckten, auf das Wasser gerichteten Arm. Zuerst sah ich nichts außer peitschendem Regen, doch dann tauchten die beiden anderen Flöße zwischen den Wellen auf. Sie waren nur wenige Sekunden zu sehen, aber die Zeit reichte aus, um zu erkennen, dass Daimos nicht mehr an Bord des Vorratsfloßes war. Nur sein Begleiter, Freund, Bruder - wie auch immer die Beziehung zwischen den beiden sein mochte - Phobos war zwischen den Kisten zu sehen. Einen Moment lang glaubte ich, Daimos sei vom Floß gespült worden und ertrunken, doch die nächste Welle gab den Blick auf das mittlere Floß frei, und ich sah, wie er einem Mann namens Ca'al mit einem Dolchstich die Kehle durchschnitt. Dann verschwand das Floß wieder hinter einer Wasserwand. Als es das nächste Mal zu sehen war, rutschte Ca'als zuckender Körper gerade ins Meer, während Daimos einen Arm um Atalanas Hals geschlungen hatte und mit dem Dolch in der Luft herumfuchtelte. Die anderen zwölf oder dreizehn Floßpassagiere waren aufge-
sprungen. Einige von ihnen bewegten sich auf Daimos zu. Pieroo überwand den Schock als erster und begann mit aller Kraft an dem Seil zu ziehen, das zum zweiten Floß führte. Wir anderen kamen hinzu, standen uns aber gegenseitig eher im Weg, als dass wir wirklich hätten helfen können. Auf dem Floß war Daimos bis an den Rand zurückgewichen. Er sah kurz zu uns herüber, schien zu begreifen, dass die Flöße einander Stück um Stück näher kamen. Atalana wand sich in seinem Griff, zwei Männer hatten sie fast erreicht. Im gleichen Moment sprang Daimos. Es war tatsächlich ein Sprung, kein Fehltritt oder Ausrutscher. Er sprang und riss Atalana mit sich ins Meer. Ich sah nach vorne zu den Panzern, die sich stur durch die Wellen fraßen. In ihrem Inneren schien niemand zu bemerken, welche Tragödie sich hinter ihnen abspielte, und wir hatten keine Möglichkeit, mit ihnen zu kommunizieren. Jemand schrie plötzlich neben mir, und ich traute meinen Augen kaum, als ich sah, wie Daimos sich auf das Vorratsfloß schob. Phobos sprang aufgeregt auf und ab, machte aber nicht den Versuch, ihm zu helfen. Dann tauchte Atalana auf. Wie Daimos musste sie sich an den Seilen bis zum Floß gezogen haben, was zweifellos auch der Weg war, auf dem er ursprünglich zu ihr gelangt war. Jetzt klammerte sie sich an die Holzstämme, während Daimos auf Knien zu ihr rutschte und seine Hand ausstreckte.
Die Zeit schien stillzustehen, brannte das Bild auf ewig ins Gedächtnis ein. Daimos, die Hand ausgestreckt, mit Fingern, die nur Zentimeter von Atalanas Armen entfernt sind. Atalana, den Kopf in den Nacken gelegt, zu ihm aufblickend und dann, in einem Moment, der uns alle aufschreien ließ, loslassend und in den Wellen versinkend. Vier Mann waren nötig, um Pieroo davon abzuhalten, ihr hinterher in den sicheren Tod zu springen. Ich wandte mich von dem Tumult ab und sah hinaus auf das Meer. Nach einigen Minuten, ich bin nicht sicher, wie viel Zeit genau vergangen war, tauchte Atalana zwischen den Wellen auf. Nur einen kurzen Moment war sie im Wasser zu sehen, bevor das Meer sie endgültig hinabzog. Niemand sonst bemerkte sie. Am nächsten Morgen ließ Smythe Daimos hinrichten. »Was machse da, Doc?« Die leise Stimme riss Jed aus seinen Gedanken. Er schluckte das Brennen herunter, das ihm von der Kehle in die Augen steigen wollte, bevor er sich räusperte und aufsah. »Was machst du da«, korrigierte er ebenso leise, »und … ich … na ja, schreibe auf, was alles, hm, geschehen ist.« Pieroo, ein stark behaarter Hüne, dessen Gesicht hinter Haaren und Vollbart kaum zu erahnen war, hockte sich neben ihn und betrachtete das Papier. Seine Schwertspitze kratzte über das Holz. »Un wo bissde … bist du?« Jed bemerkte mit einem gewissen Stolz, dass sich Pieroos Aussprache un9
ter seinem Einfluss erheblich verbessert hatte. Man musste längst nicht mehr raten, was er sagen wollte. »Ich, hm, habe gerade Atalanas … sie … ihren, du weißt schon, den …« »Tod?« »Ja, genau … ihren …« Jed hob die Schultern, froh darüber, das Wort nicht selbst aussprechen zu müssen. Pieroo strich sich über den Bart. »Ich versteh nich, warum sies gemacht hat, Doc. Hätte nich loslassen müssen.« »Nein, das, äh, hätte sie wohl nicht.« Er hatte lange über die gleiche Frage nachgedacht, ohne eine wirklich gute Antwort zu finden. »Vielleicht«, versuchte er es, »war es die Gewissheit … die, hm, Gewissheit eines sicheren Tods gegenüber der … der, äh, Ungewissheit, was, hm, Daimos mit ihr getan hätte. Es fiel ihr, nun … vielleicht fiel es ihr leichter, den Tod zu akzeptieren, als sich der … der Angst vor Daimos zu stellen.« »Vielleicht wars so.« Pieroo sah hinauf in den klaren Nachthimmel. Jed wusste, dass sein Volk glaubte, die Toten würden als Sterne den Lebenden den Weg weisen. »Schreibste … schreibst du en Rest auch noch?« »Ja.« »Wirste dann die Namen nennen von denen, dies nich geschafft ham … haben? Wenn das mal einer liest, soll er sich an se erinnern.« Jed nickte. »Das werde ich.« »Okee.« Pieroo stand auf und streckte sich. »Muss Ru'alay weckn, damit er de nächste Wache übernimmt. Gut Nach.« 10
»Gute Nacht.« Jed sah zu, wie Pieroo trotz seiner Größe elegant auf das zweite Floß sprang und Ru'alay wach rüttelte. Er bewunderte das Zeitgefühl der neuen Menschen, die stets zu wissen schienen, wie viel Zeit vergangen war, während es ihm, seit er die Armbanduhr eingetauscht hatte, gerade in der Dunkelheit schwer fiel, Stunden und Minuten einzuschätzen. Wieder eine Fähigkeit, die sie uns voraus haben, dachte er, als er den Stift erneut ansetzte und zu schreiben fortfuhr. Von diesem Zeitpunkt an verfolgte uns das Pech. Zwar hörte der Regen in der gleichen Nacht auf, aber einen Tag später stellten wir fest, dass zwei der Wasserfässer undicht und mittlerweile ausgelaufen waren. Lynne Crow tobte und befahl eine Rationierung des restlichen Wassers (von der sie und ihr geisteskranker Liebhaber natürlich ausgeschlossen waren), während Smythe den Anlass zu einem sadistischen Ausbruch nutzte und einen Mann fast zu Tode prügelte. Lynne griff nicht ein, und mein rückwirkend betrachtet dummer und sinnloser Protest brachte mir nur einen Faustschlag ein. Ich sollte endlich lernen, mich aus solchen Dingen herauszuhalten. Wären wir nicht angegriffen worden, hätte Smythe den Mann vermutlich umgebracht, so wurde er jedoch abgelenkt, als etwas unerwartet und mächtig von unten gegen die Flöße schlug. Ich verlor den Halt und stürzte ins Wasser. Um mich herum brodelten und schäumten die Wellen. Menschen schrien durchein-
ander, Smythe brüllte etwas Unverständliches, dann schlugen die ersten Geschosse ein. Wasserfontänen schoben sich wie riesige Tiere aus dem Meer empor und fielen in sich zusammen. Ich hörte das hohe Summen eines Lasers und ein Zischen, als Wasser zu verdampfen begann. Weißer Nebel breitete sich in Sekundenschnelle aus und hüllte mich ein. Irgendwo in meiner Nähe stieß ein Mann einen so entsetzlichen Schrei aus, dass ich ahnte, welches Ziel der Laser gefunden hatte. Das Summen des Lasers verstummte (zu unser aller Glück sind die Ladezeiten und der Energieverbrauch so hoch, dass man die Waffe nur selten einsetzen kann) und wurde vom Stakkato der Schnellfeuergewehre abgelöst. Ein Teil von mir hoffte, dass niemand in den Panzern auf die Idee kommen würde, die Strahlenkanone einzusetzen und uns damit im leitenden Wasser alle umzubringen, während ein anderer Teil darauf hinwies, dass Gewehrkugeln und Granaten ebenso tödlich wären. Langsam lichtete sich der Nebel und Stille setzte ein. Ich drehte den Kopf, suchte nach einem der Flöße oder nach anderen Menschen, als es plötzlich vor mir auftauchte. Jed hielt inne und versuchte sich auf das Aussehen des Wesens zu konzentrieren, das er gesehen hatte. Es war weder Mensch noch Tier, schrieb er langsam. Auch wenn sein Körper entfernt menschlich zu sein schien, hatte es doch das Gesicht eines Fisches. Wasser perlte von den hellen Schuppen ab und es verharrte vollkommen reglos, als sei es ebenso überrascht
von meinem Anblick wie ich von seinem. Sekundenlang starrten wir uns an, dann tauchte es mit einer Drehung seines Körpers ebenso rasch unter, wie es aufgetaucht war. Für einen kurzen Moment glaubte ich seine Klauen an meinen Beinen zu spüren, stellte mir vor, wie sie mich nach unten zogen, immer tiefer hinein in die Dunkelheit, aber nichts dergleichen geschah. Erst jetzt kam die Angst und hämmerte laut pochend hinter meinen Schläfen. Ich hatte von Wesen wie ihm in den Legenden seefahrender Völker gehört. Fishmanta'kan nennt man diese Meeresbewohner, deren Brutalität und Angriffslust gefürchtet sind. Es heißt, sie lauern Schiffen auf, weil sie den Reichtum der Ozeane nicht mit Menschen teilen wollen. Vielleicht ist das wahr, aber als ich wenig später von einem Floß aufgelesen wurde, sah ich unsere Toten, die man an Deck aufgebahrt hatte. Drei von ihnen waren von Granaten förmlich zerrissen worden, ein Vierter steckte voller Kugeln und der Fünfte schließlich hatte das Pech gehabt, bei lebendigem Leibe im Wasser gekocht zu werden. Keiner schien den Fishmanta'kan, von denen immerhin zwei tot im Wasser trieben, zum Opfer gefallen zu sein. Ich sprach Lynne Crow darauf an, aber sie hob nur die Schultern, als gäbe es nichts Uninteressanteres als ein paar tote Barbaren. Zwei Tage später erreichten wir endlich die Küste Nordsibiriens. Diejenigen von uns, die gehofft hatten, die Reise ginge jetzt an Land weiter, wurden jedoch enttäuscht, denn unmittelbar hin11
ter einem schmalen, zumeist felsigen Küstenstreifen lag dichter Urwald, der sich weit ins Land hineinzog und mit den Panzern nicht zu durchqueren war. Also blieben wir auf dem Wasser, sehr zu meiner Erleichterung und Majelas Enttäuschung. Sie scheint nicht die geringste Angst vor den Gefahren zu haben, die in den Wäldern auf sie lauern könnten und ich habe den Eindruck, dass sie die Reise durch dieses fremde Land als ein großes Abenteuer sieht. Er betrachtete Majela, die schlafend neben ihm lag, und fragte sich zum wiederholten Mal, was sie in ihm, einem langweiligen und zutiefst unsicheren Mann, der ohne fremde Hilfe keine zwei Stunden in dieser Welt überlebt hätte, sah. So oft hatte er mit sich gerungen, ihr genau diese Frage zu stellen, aber im letzten Moment war er stets davor zurückgeschreckt, befürchtete, sie könne vielleicht erkennen, dass es nichts gab, was sie in ihm sehen konnte. Und so zog er auch jetzt seine Hand zurück, die ohne seinen eigenen Willen fast bis zur ihrer Schulter vorgereckt und sie beinahe berührt hätte. Bald trafen wir auch auf die ersten Bewohner dieser »schönen neuen Welt«, zwei Männer, die nackt in einem ausgehöhlten Baumstamm standen und mit Speeren fischten. Als wir näher herankamen, glaubte ich im ersten Moment, die beiden seien Opfer einer furchtbaren Krankheit, bevor ich erkannte, dass es sich um Mutierte handeln musste. Der, von dem ich später erfuhr, dass er To'ob hieß, war nicht größer als einen Meter vierzig. Seine fleckige Haut schien zu groß für seinen 12
Körper zu sein, denn sie hing in Falten herab, was seinem Gesicht einen ständig traurigen Ausdruck verlieh. Er hatte vier schlanke Finger und zwei Daumen an der einen Hand, während seine andere in zwei muskulösen Fortsätzen endete, die wie Würste aussahen und sehr kräftig wirkten. Seine Beine waren stark gekrümmt und wie der Rest des Körpers unbehaart. Er hatte zehenlose Klumpfüße, die ihm das Gehen erschwerten. Sein Begleiter, Hoo'pa, war in mehrfacher Hinsicht sein Gegenteil. Er war größer als ich, vielleicht zwei Meter, und seine Körperform erinnerte mit dem breiten, fast schon rechteckigen Kopf und dem dürren Torso an einen Hammer. Seine Augen lagen extrem weit auseinander und ließen sich einzeln bewegen, so wie die eines Chamäleon. Die lederartige, nur leicht behaarte Haut war stark gerötet, als litte er unter einem ständigen Sonnenbrand. Nase und Ohren waren so flach, dass man sie auf Anhieb nicht bemerkte, und in seinem breiten, lippenlosen Mund befanden sich keine Zähne, sondern zwei Knochenplatten, zwischen denen er sogar kleinere Steine pulverisieren konnte - das habe ich selbst gesehen. Die beiden gerieten verständlicherweise in Panik, als wir ihnen den Weg zur Küste abschnitten und Pieroo und zwei andere Männer sie auf Crows Befehl an Bord eines Floßes brachten. Dort eröffnete mir Smythe, dass sie von nun an unter meiner Obhut stünden und ich von ihnen die Sprache dieses Landes erlernen sollte. Und da Smythe nun einmal Smythe ist, endete unsere kurze Unterhaltung mit seiner Drohung, ein
Fehlverhalten der Eingeborenen würde man als Fehlverhalten meinerseits betrachten und entsprechend bestrafen. Abends brachte ich Majela mit der Frage zum Lachen, ob sie glaube, Smythe könne mich möglicherweise nicht sonderlich leiden … Ich hätte mir über das Verhalten unserer neuen Mitreisenden keine Sorgen machen müssen, dann nachdem sie die erste Angst überwunden und begriffen hatten, dass sie bei uns umsonst essen konnten, bemühten sie sich sehr um einen guten Eindruck. Ihre Sprache ist erstaunlich einfach und logisch strukturiert, und selbst wenn die Sprachen, die am Kratersee gesprochen werden, von ihr abweichen, habe ich so doch ein Fundament, auf das ich aufbauen kann. Auch wenn es mir nicht passt, muss ich gestehen, dass Smythes Idee richtig war. Apropos Smythe: Es scheint Ärger im Paradies zu geben. Die fast schon Übelkeit erregende Turtelei zwischen ihm und Lynne Crow fand vor einigen Tagen ein abruptes Ende. Alles begann, als wir unser Lager an einem Sandstrand aufschlugen und Captain Crow verkündete, wir würden einen, vielleicht auch zwei Tage hier rasten. Smythe schien davon nichts zu wissen und reagierte erwartungsgemäß ungehalten. Crow gab jedoch nicht nach, was zu einem lautstarken, im ganzen Lager hörbaren Streit führte. Anscheinend verheimlicht sie etwas vor ihm und vor uns, aber was immer es auch sein mag, es verlief anscheinend nicht wie geplant, denn nach, einer dreitätigen Rast, während der sich Crow und Smythe wie
Raubtiere belauerten, zogen wir weiter. Ich habe keine Ahnung, um was es geht, doch jemand in Washington scheint davon zu wissen, denn Lynne traf ihre Entscheidung erst, nachdem sie sich mit einem der Mobilfunkgeräte, die die ISS im Orbit als Relaisstation nutzen, in den Wald zurückgezogen hatte. Vielleicht musste sie ihren Vater um Rat fragen. Dies war das letzte Ereignis, über das sich zu berichten lohnt. Am heutigen Nachmittag haben wir das Delta eines Flusses namens Lena erreicht - zumindest hieß er vor langer Zeit einmal so. Wenn man den Karten trauen kann, führt er bis in die Gegend, wo heute der Kratersee beginnen muss, und erspart uns möglicherweise einen unangenehmen Fußmarsch durch den Urwald. Leider verfügen wir nur über antikes Kartenmaterial aus der Zeit vor »Christopher-Floyd« - die aktuellen Satellitenaufnahmen von der ISS hat sich dieser Commander Drax nach der fruchtlosen Shuttle-Mission unter den Nagel gerissen. Smythe spricht manchmal von ihm, und nach seinen Flüchen muss es sich um den Antichristen oder zumindest einen Dämon handeln. Der Professor ist vom Hass auf diesen Mann regelrecht zerfressen. Nun denn, morgen werden wir zuerst die restlichen Vorräte auffüllen, dann treten wir die Reise ins Innere des Kontinents an. Lena - das ist ein schöner Name. Ich hoffe, er bringt uns Glück. *
»Ey! Nimm deine Füße aus meinem 13
Frühstück!« »Pass doch auf, Ashool!« »Halts Maul oder ich halts für dich!« Pieroo öffnete die Augen, als um ihn herum die üblichen Morgengespräche ihren Anfang nahmen. Bärtige Männer schälten sich aus den Fellen und Decken, unter denen sie die Nacht verbracht hatten, kratzten sich, spuckten aus und grunzten so lange, bis sie glaubten wach zu sein. Dann schlurften sie zum Rand des Floßes, um sich zu erleichtern oder notdürftig zu waschen. Trinken konnten sie das Wasser des Flusses, der an diesem Delta ins Meer hineinstieß, nicht, da es salzhaltig war ein Hinweis darauf, dass die Lena, durch den Kometen ihrer Quelle beraubt, nun als Kanal eine direkte Verbindung zum Kratersee darstellte. Der Umgangston unter den Männern war rau, aber ernstgemeinte Kämpfe gab es nur selten. Meistens einigten sich die Krieger nach ein paar Schlägen, und wenn das nicht half, suchten sie den Doc auf, so wie es Raa'ul und Joorje heute Morgen taten. Sie hatten sich am Vorabend beinahe gegenseitig umgebracht, aber niemand wusste, wieso. Pieroo kratzte sich, spuckte aus und grunzte, bevor er zum Rand des Floßes ging. Sie hatten die Nacht auf dem offenen Wasser verbracht, um den Moskiitos zu entgehen, die zu Tausenden im morastigen Flussdelta lauerten. Die Nächte waren zwar kühl und kündigten den bevorstehenden Winter an, aber die Tage zeigten sich noch sommerlich genug, um den Blutsaugern ein Überleben zu ermöglichen. »Scheißviecher«, murmelte Pieroo. 14
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Ru'alay neben ihn getreten war und die getrockneten Krauter auspackte, die er jeden Morgen in Trinkwasser aufweichte und kaute. Er war ein gut aussehender, eitler Mann mit einem sorgsam gestutzten Vollbart und strahlend weißen Zähnen. Obwohl er mit Yulie, der besten Freundin von Pieroos Weib Samtha zusammen war, hatte er viele Stunden mit Atalana verbracht. Ihr Tod war ihm nahe gegangen, auch wenn er sich das nicht anmerken ließ. »Kommste mit fischen?«, fragte Pieroo. Ru'alay spuckte die Krauter ins Wasser und nickte. »Wenn du es wünschst.« Sein Wortwahl zeigte den Respekt, den er dem Stammesführer trotz ihrer Freundschaft entgegenbrachte. Pieroo war froh, dass es zwischen ihnen zu keinem Machtkampf gekommen war. »Gut«, sagte er knapp. »Die anneren machen sich grad fertich … fertig.« Sein Magen knurrte so laut, dass Pieroo selbst überrascht war. Seit Beginn der Expedition war er nicht mehr satt geworden. Die Rationen waren selbst für einen Mann normaler Größe knapp bemessen, aber für ihn reichte es auch mit dem, was er zusätzlich er jagte, nicht aus. Er hoffte, dass er wenigstens ein paar Fische beiseite schaffen konnte, bevor er die Beute übergeben musste. Unter ihm bebte das Floß, als die restlichen vier Männer die Seile lösten, die es mit den Panzern und den beiden anderen Flößen verband. Mit einer Geschwindigkeit, die man nur durch große Routine entwickelt, wurde ein Segel am
Mast befestigt und das Ruder in die entsprechende Halterung eingesetzt. Beinahe unterbewusst fragte sich Pieroo, ob sie Atalana hätten retten können, wären sie damals so ausgestattet gewesen. Er verdrängte den Gedanken. Bis auf die Fischer befand sich niemand mehr auf dem Floß. Die anderen, die Jäger, die ihr Glück in den Wäldern versuchen wollten, und die Sammler, die am Ufer nach Muscheln und Beeren und Süßwasserquellen suchen sollten, waren bereits auf den anderen Flößen zum Ufer aufgebrochen. Nur die Tauchpanzer lagen reglos wie schlafende Bestien im Wasser. Ihre Fahrer sonnten sich auf der graugrünen, von Algen bewachsenen Oberfläche, der Rest der WCA-Soldaten hatte sich zum Frühstück an Land versammelt. Pieroo sah zum Mast, als der Wind in das Segel fuhr und es aufblähte. Fast ohne Verzögerung gewann das leichte Floß an Geschwindigkeit. Bis auf den Steuermann hielten alle Männer Harpunen in der Hand und blickten konzentriert auf das Wasser. Wir könnten einfach verschwinden, dachte Pieroo. Schluss mit den ständigen Befehlen und Verboten. Es wäre so leicht … »Wenn du willst«, sagte Ru'alay, als habe er seine Gedanken erraten, »müssen wir nicht zurückkehren. Wir könnten nach Süden gehen und dann zurück nach Osten, über das Meer, nicht über das Eis. Sie würden es erst merken, wenn es zu spät ist. Und sie hätten nicht genug Zeit, uns zu verfolgen.« Pieroo senkte den Kopf. Das glitzernde Sonnenlicht auf dem Wasser und
der salzige Wind auf seiner Zunge erinnerten ihn daran, wie einfach sein Leben einmal gewesen war. Aber das war längst vorbei. »Ich war ein schlechter Häuptling, wenn ich mich von solche Dinge leitn ließ«, antwortete er nach einem Moment. »Wir ham de Reise gemeinsam begönne, wir solltn sie auch gemeinsam beenden.« Ru'alay wirkte enttäuscht, nickte jedoch. »Es ist deine Entscheidung. Aber vergiss nicht, dass wir …« Der Schlag riss Pieroo von den Beinen. Holzbalken knirschten und krachten, als das Floß aus dem Wasser gehoben wurde und mit einem Knall zurückfiel. Er griff nach Ru'alay, der an ihm vorbei rutschte, packte seinen Arm und schluckte Wasser, als eine Welle über ihn hinwegspülte. Eine Regenwand prasselte auf das Floß. »Whadda fack?« brüllte einer der Männer in einer Sprache, die Pieroo nicht verstand. Neben ihm starrte Ru'alay mit schreckgeweiteten Augen nach oben. Ein Schatten legte sich über seinen Körper. Pieroo blinzelte Salzwasser aus den Augen. Er sah hoch und … *
»Ke fas cun me fackju, Doc«, nuschelte der Krieger undeutlich über aufgeplatzte Lippen. »Ke fas cun me fackju!« Ja, ich habe kapiert, dass er fackju zu dir gesagt hat, dachte Jed und fragte sich insgeheim, ob Joorjes Gehirn die gestrige Schlägerei vielleicht nicht ganz 15
heil überstanden hatte. Er hob beschwichtigend die Hände und lehnte sich gegen einen Felsen, in der Hoffnung, die eigene Ruhe auf Joorje übertragen zu können. »Okee«, antwortete er langsam in der Sprache des Kriegers. »Raa'ul stammt aus Nuu'ork. Dort, hm, sagt man fackju, wenn man jemanden begrüßen will, den man, äh, sozusagen respektiert. Es klingt genauso wie das Wort, das ihr im Westen als, hm, man könnte sagen Beleidigung benutzt, aber es heißt nicht dasselbe. Es ist eine … na, Begrüßung eben, verstehst du? Ungefähr so: Hallo, fackju. Okee?« Der Krieger machte einen Schritt zurück. Seine blau verquollenen Augen verengten sich. »Warum sagst du fackju zu mir?« Bevor Jed etwas sagen konnte, mischte sich Raa'ul ein, den er vorher energisch aus dem Gespräch verbannt hatte. »Hast du ein Problem mit Joorje, Doc? Zeigt er keinen Respekt?« Seine Nase war so stark angeschwollen, dass sie wie eine roter Ball in seinem Gesicht hing. Obwohl Jed nicht wollte, musste er immer wieder darauf starren. Joorje, der nur seinen Namen verstanden hatte und wohl eine weitere Beleidigung befürchtete, hatte bereits nach seinem Dolch gegriffen. Geistesgegenwärtig schob sich Jed zwischen ihn und Raa'ul. »Nein … äh, es ist ein Miss … verständnis … genau, ein Missverständnis«, sagte er zuerst in der einen, dann in der anderen Sprache. »Es gibt kein Problem. Okee? Kein Problem.« Die beiden Krieger belauerten sich 16
zwar weiterhin, aber zumindest berührten sie ihre Waffen nicht mehr. Jed atmete tief durch und sah aufs Meer hinaus, um sich zu sammeln. Er genoss die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht und den Anblick des Floßes, das mit weißem Segel über das blaue Wasser fuhr und wie eines der Gemälde aussah, die er aus Büchern kannte. Auf so einem Floß zu stehen, dachte er mit plötzlicher Romantik, und einfach wegzufahren. Majela und ich … Kein Smythe, keine Crow, kein Joorje, kein Raa'ul, nur wir … Und der Hunger, der Durst, der Skorbut und schließlich Wahnsinn und Tod, flüsterte eine durch und durch unromantische Stimme. Viel Spaß. Er schüttelte die Stimme ab. Draußen auf dem Wasser kreuzte das Floß gegen den Wind. Weiße Schaumkronen bildeten sich auf der sonst so ruhigen See. Ein schwarzer Schatten glitt über das Wasser, und Jed sah unwillkürlich auf, weil er einen Vogel am Himmel erwartete. Aber da war nichts, nur ein paar hohe Wolken und das Licht der Sonne, das in den Augen brannte. Jed runzelte die Stirn. Er brauchte einen Moment, um den Schatten wiederzufinden und zu begreifen, dass er unter, nicht über den Wellen war. Die Schaumkronen bildeten sich um ihn herum, waren ein Zeichen seiner Bewegung. »Ta maseka me, Doc?« Joorje berührte seinen Arm, aber Jed ignorierte ihn. Er nahm die Blicke, die beide Krieger austauschten, am Rande wahr, aber in seinen Gedanken war nur Platz für den schwarzen Schatten.
Immer näher glitt das Ding, das sich darunter verbarg, an das Floß heran. Für die Männer an Bord musste der Winkel so ungünstig sein, dass sie nichts außer dem reflektierenden Sonnenlicht sahen. Jed machte einen Schritt auf den Strand zu, dann einen zweiten. Etwas durchbrach für einen Sekundenbruchteil die Wasseroberfläche, riesenhaft und unheimlich. »Pieroo!« Er begann zu rennen, hoffte entgegen besseren Wissens, dass man ihn auf dem Floß hören konnte. »Pieroo! Vorsicht! Unter euch!« Im gleichen Moment wurde das Floß aus dem Wasser gehoben. Ein Mann ging über Bord, die anderen hielten sich an Seilen und Aufbauten fest, wurden herumgerissen und gegen den Mast geschleudert. Und dann tauchte es auf, schraubte sich aus dem Meer in den morgendlichen Himmel. Sein Körper schien nicht enden zu wollen, ragte immer höher empor, als wolle er die Wolken berühren. Allein sein Kopf war drei, vielleicht auch vier Meter lang, und als es das Maul aufriss, sah Jed Reißzähne, die so groß waren wie das Bein eines Menschen. »Mein Gott …«, flüsterte er. Auf dem Floß warf jemand - er glaubte Pieroo zu erkennen - eine Harpune. Das Wesen reagierte nicht, bemerkte den Treffer vielleicht kaum. Sein Körper pendelte langsam hin und her, beugte sich so weit nach hinten, das er fast wieder im Meer verschwand. Jed sah das Spiel der Muskeln unter der dunklen Haut und wusste plötzlich, was
als nächstes geschehen würde. Trotzdem schrie er auf, als der Körper des Ungeheuers wie ein Katapult nach vorne schoss, um das Floß und alle darauf zu zerquetschen. *
Obwohl er wusste, dass die Geste sinnlos war, riss Pieroo schützend die Arme hoch. Um ihn herum brüllten und schrien die Männer ihre Angst hinaus, aber als der Körper des Ungeheuers auf das Floß zuraste, schloss Pieroo einfach nur die Augen und dachte an Samtha, die wohl nie erfahren würde, wie sein Leben geendet hatte. Der Knall war lauter als alles, was er je gehört hatte. Schlagartig wurde er taub, spürte das Bersten der Balken nur und schrie lautlos auf, als etwas Schweres, Heißes ihn niederdrückte. Instinktiv hielt er sich an glitschigem Holz fest und öffnete die Augen. Blut. Es regnete Blut. Neben ihm klatschten Fleischklumpen ins Wasser, Reißzähne, die halb so groß waren wie er selbst, bohrten sich in die Überreste des Floßes oder schossen als Speere an ihm vorbei. Pieroo duckte sich, holte tief Luft und tauchte unter den Balken. Er wartete, bis sich schwarze Flecke vor seinen Augen bildeten und seine Lunge schmerzte, erst dann durchstieß er die Oberfläche aus Blut und Wasser wieder. Der Blutregen hörte nicht auf. Pieroo würgte, als er einatmen wollte und Blut schluckte. Er wischte sich über die Augen, sah hinauf zu dem kopflosen Hals des Ungeheuers, aus dem Fontänen 17
schossen und der ihm langsam, beinahe wie ein Baum, dem man den letzten Axtstreich zugefügt hat, entgegen kippte. Pieroo hörte die zweite Explosion nicht, sah nur, wie der Hals plötzlich auseinander platzte und nach hinten gerissen wurde. Er schlug schwer ins Wasser, löste Wellen aus, die Pieroo dankbar über sich hinwegrollen ließ, in der Hoffnung, dass sie den blutigen Schleim, der seinen Körper bedeckte, wegspülen würden. Endlich beruhigte sich die See und er hatte die Gelegenheit, sich nach den anderen Männern umzusehen. In den Trümmern des Floßes fand er sie, zuerst Bruus, der lautlos lachend inmitten des Blutmeers schwamm, dann Ru'alay, der Nichtschwimmer, der von Maa'tin gehalten wurde, und schließlich Daavy, der Junge aus Hoosten, der jeden Morgen und jeden Abend zu den Göttern gebetet hatte und jetzt aufgespießt von einem Reißzahn auf dem Mast lag. Das blutrote Segel umhüllte ihn wie ein Leichentuch. Pieroo drehte sich um, als er ein anderes riesiges Gebilde aus den Augenwinkeln wahrnahm. Im ersten Moment glaubte er, ein zweites Ungeheuer sei aufgetaucht, doch dann erkannte er die Umrisse eines Clinton-Tauchpanzers, der vor ihm zum Halten kam. Eine Luke wurde geöffnet, und Pieroo sah Majela, die ihm zuwinkte und den Mund bewegte. Ebenso wie er begriffen seine Männer anscheinend sofort, was sie wollte, denn Bruus hatte den Panzer bereits erreicht und zog sich an der Leiter nach oben. Die anderen folgten ihm. 18
Pieroo wartete einen Moment, dann schwamm er zu Daavy und schloss dessen weit aufgerissene Augen. Es tut mir Leid, dachte er, bevor er seinen Blick abwandte und den Tod ein weiteres Mal hinter sich zurückließ. *
Als der Clinton endlich an Land rollte und seine bluttriefenden Passagiere entließ, war die Stimmung der Expeditionsteilnehmer bereits so ausgelassen, dass Jed drei Anläufe brauchte, bis er sich endlich an den gratulierenden, schulterklopfenden Männern vorbeigeschoben und Majela in die Arme geschlossen hatte. »Hm, ich glaube, wir werden die … nun, nächsten zwei oder … doch zwei … Monate nur noch Seeschlange essen«, sagte er mit einem Blick auf das zweite Floß, das gerade zu Wasser gelassen wurde, um den Kadaver ans Ufer zu bringen. Bevor die junge Schwarze antworten konnte, trat Pieroo grinsend neben sie, und Jed ergriff seine Hand. »Es ist … äh … gut, dich lebend wiederzusehen, mein … Freund«, sagte er. »Die nächsten zwee Monate gibs wohl nur Schlange!«, brüllte Pieroo so laut zurück, dass der Doc zusammenzuckte. »Zwei und gibt es«, korrigierte er automatisch, bevor er Majelas Kopfschütteln bemerkte. »Die Granaten sind direkt über ihm und seinen Leuten explodiert«, sagte sie. »Sie sind taub. Ich hoffe, dass es nur vorübergehend ist.«
»Doktor Lewis sollte sie sich ansehen«, mischte sich Brian Laramy ungefragt ein. Er hatte die schlechte Angewohnheit, an allen Gesprächen teilzunehmen, egal ob sie ihn betrafen oder nicht. Jed schluckte eine Entgegnung hinunter und nickte. »Sie haben … äh, Recht, Sergeant. Das … hm … sollte sie.« Er legte eine Hand auf Pieroos Rücken und schob den Stammeshäuptling an den Kriegern vorbei. Einige folgten ihnen, als sie sahen, dass sich Majela mit den restlichen Fischern anschloss, die anderen blieben zurück und diskutierten untereinander, was sie von dem Angriff gesehen hatten. Jed war sicher, dass bereits am Abend die ersten Lieder an den Lagerfeuern gesungen würden. Wenn ein paar der Sänger überlebten und zu ihren Stämmen zurückkehrten, würden sie dort weiterleben und eines Tages in einigen Jahrhunderten vielleicht von einem Mann wie ihm ins Reich der Legenden verwiesen werden, so wie er noch vor kurzer Zeit die Fishmanta'kan zu Fabelwesen erklärt hatte. Pieroos Grunzen riss ihn aus seinen Gedanken. Anscheinend war ihm aufgefallen, dass der Weg ihn zu Helena Lewis führte, die ein Stück entfernt auf einem Felsen saß, denn er schüttelte energisch den Kopf. Kleine Blut- und Wassertropfen spritzten Jed entgegen, doch er blieb stehen und nickte ebenso deutlich. »Doch«, sagte er, obwohl sein Gegenüber ihn nicht hören konnte, »wir gehen zu ihr.« Pieroo verschränkte die Arme vor der Brust und blieb stehen. Seit Doktor Le-
wis am Nordpol von einem mysteriösen Wesen in die Tiefe eines unterirdischen Sees gezerrt worden war, verhielt sie sich merkwürdig und hatte zwischenzeitlich sogar einen Großteil ihres Wissens vergessen, das erst langsam zurückkehrte. Die meisten Krieger hielten sie für besessen. Jed konnte ihnen das nicht verübeln, denn obwohl er Begriffe wie Schockzustand und posttraumatisches Stresssyndrom kannte, war die Ärztin ihm unheimlich. Trotzdem verstärkte er den Druck auf Pieroos Rücken, wohl wissend, dass kein Krieger mehr zu Doktor Lewis gehen würde, wenn selbst der Häuptling ihr nicht traute. In diesem Fall konnte sie vielleicht wirklich kaum etwas ausrichten, aber es hatte bereits genügend andere Verletzungen gegeben, die ohne ihre Behandlung tödlich geendet hätten. Pieroo schüttelte erneut den Kopf. »Nein«, sagte er viel zu laut. Jed seufzte und griff nach dem Tagebuch, das er, seit Smythe darin gelesen hatte, zur Sicherheit stets in einer Tasche bei sich trug. Er riss eine Seite heraus, legte sie auf den Umschlag und begann in groben Strichen eine Szene zu zeichnen, die Pieroo klar machen sollte, dass er nicht nur die Verantwortung für sich selbst, sondern auch für seine Krieger trug. Also zeichnete er Pieroo, der sich von Doktor Lewis abwandte und einen Mann mit einem Pfeil in der Brust, der das Gleiche tat und auf einer Totenbahre landete. Er hielt das Blatt Pieroo entgegen, doch der runzelte nur die Stirn und hob schließlich verständnislos die Schultern. Er sieht den Zusammenhang nicht, 19
dachte Jed frustriert. Einen Moment lang zögerte er, dann nahm er ein zweites Blatt und zeichnete eine Schale, aus der Fischgräten ragten. Daneben malte er eine aufgehende Sonne, einen Pfeil und einen dunklen, hellen und wieder dunklen Mond. Dieses Mal hielt er Pieroo die Zeichnung so entgegen, dass niemand außer ihm sie sehen konnte. »Na komm schon«, sagte er. »Versteh es …« Ein Grunzen war die Antwort. Die Verständnislosigkeit wich aus dem Blick seines Gegenübers und machte einer ungläubigen Überraschung Platz. Jed nickte, als er die Wandlung bemerkte. »Ich meine es Ernst«, fügte er hinzu und hoffte, dass sein Gesichtsausdruck erklärte, was seine Worte nicht konnten. Pieroo grinste plötzlich, schlug ihm auf die Schulter und ging mit festen Schritten der Ärztin entgegen. Majela sah ihm kopfschüttelnd nach. »Was hast du ihm aufgemalt?«, fragte sie dann. Jed rieb sich die schmerzende Schulter, bevor er das Blatt Papier zusammenknüllte und sorgfältig in seine Tasche steckte. »Dass -« »Staff Sergeant?«, unterbrach ihn eine unangenehm beißend klingende Stimme. Das wird keine Lobeshymne, dachte er und drehte sich gleichzeitig mit Majela um. Lynne Crow ignorierte ihn und er musste einen hastigen Schritt zur Seite machen, um nicht von ihr umgerannt zu werden. Die Männer, ob WCA oder 20
Krieger, sahen sichtlich betreten zu Boden. »Staff Sergeant«, wiederholte Crow, ohne Majela die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben. »Sie habe ohne jegliche Autorisierung ein Fahrzeug benutzt und das Feuer eröffnet. Das ist eine Gefährdung von WCA-Eigentum und Munitionsverschwendung. Die Wilden hätten sicherlich auch ohne Ihre Hilfe die Situation gemeistert. Betrachten Sie sich als verwarnt.« Jed sah Majelas geballte Fäuste und hoffte, dass sie sich nicht dazu hinreißen ließ, auf die Provokation einzugehen. Lynne war seit dem Bruch mit Smythe unberechenbar geworden und suchte nur nach einem Anlass für weitere Bestrafungen. »Ja, Captain«, hörte er Majela zu seiner Überraschung nach einem Moment antworten. »Es tut mir Leid.« Lynne sah sie an, schien auf etwas zu warten, das nicht kam. Dann glitt ihr Blick langsam und provozierend über die Krieger und die beiden WCAAgenten, die in diesen Minuten wohl wünschten, an einem weit entfernten Ort zu sein. Das Schweigen zog sich in die Länge. Nach einer Weile drehte sich Lynne ohne ein weiteres Wort um und ging zurück zum Panzer. »Fackju, biitch«, flüsterte einer der Krieger, der ein wenig Englisch konnte, und Jed bezweifelte, dass die Begrüßungsformel gemeint war … *
Ich verliere die Kontrolle, dachte
Lynne Crow, als sie die wütenden Blicke ihrer Untergebenen im Rücken spürte. Sie wusste, dass sie den unerlaubten Waffeneinsatz hätte ignorieren müssen, aber etwas in ihr wollte die ausgelassene Stimmung niederdrücken, wollte sehen, wie das Lachen in den Gesichtern erstarrte. Sie hatte den gewünschten Anblick bekommen, aber die Zufriedenheit, die sie sich davon erhofft hatte, blieb aus. Stattdessen hatte sie zum vielleicht ersten Mal bemerkt, dass selbst die eigenen Offiziere ihr nichts außer Hass und Furcht entgegenbrachten. Und Hass und Furcht waren, das hatte ihr Vater General Arthur Crow oft genug gesagt, die schlechtesten Begleiter eines Soldaten und die treuesten Weggefährten eines Revolutionärs. Würden sie wirklich meutern?, fragte sie sich und erschrak fast ein wenig, als sie die Frage nicht vollständig verneinen konnte. Sie hatte die besten Offiziere erhalten, die der Weltrat zu bieten hatte - wenn man einmal von dem widerwärtigen und zum Glück längst verstorbenen Lieutenant Garrett absah -, und doch hatte sie ihre Leute so weit gebracht, dass eine Meuterei nicht mehr ausgeschlossen war. Und wer war Schuld daran? Jacob. Sein Name brannte sich in ihre Gedanken. Jacob, den sie begehrte wie keinen anderen. Jacob, der als erster Mann in ihrem Leben von Liebe sprach. Jacob, dessen Worte sie verzaubern konnten und dessen Hände sie auf ihrem Körper spüren wollte. Jacob, der sie verachtete. Lynne schlug in plötzlicher Wut ihre Faust gegen einen Baum. Ihr künstli-
cher Arm, von dem niemand wusste außer ihrem Vater und einem Androiden namens Miki Takeo, durchdrang das Holz mühelos und spaltete den Stamm. Die Gewalt tat ihr gut, löste etwas von der Anspannung, die wie ein heißer Ball gegen ihre Schädeldecke drückte. Sie sah sich kurz um, aber niemand schien den Zwischenfall bemerkt zu haben. Die meisten Barbaren waren damit beschäftigt, den Kadaver zu zerlegen, und die WCA-Soldaten sonnten sich am Strand oder säuberten ihre Ausrüstung. Lynne schluckte, als sie Jacob entdeckte. Er saß abseits von den anderen und schien kein Interesse an ihren oberflächlichen Gesprächen zu haben. Sie wusste, dass seine Gedanken um die wirklich bedeutsamen Dinge kreisten; Dinge, an denen er sie einst teilhaben ließ und die er jetzt nur noch seinem schwachsinnigen Diener erzählen konnte. Vorsichtig trat sie hinter den gespaltenen Stamm und sah durch die Lücke im Baum zu, wie Phobos kleine Fische auf einem offenen Feuer briet und sie Jacob auf Blättern reichte. Seit der Hinrichtung Daimos' klebte er wie eine Klette an seinem Herrn. Lynne bewunderte Jacob für seine Geduld, bemerkte aber gleichzeitig, wie unzufrieden und müde er wirkte. Er vermisst mich ebenso wie ich ihn, dachte sie. Wenn nur einer von uns den Mut hätte, über den eigenen Schatten zu springen … Der Gedanke gab den Ausschlag. Lynne trat aus ihrem Versteck und ging auf Jacob zu. Der bemerkte sie nicht, im Gegensatz zu Phobos, der sich sofort 21
umdrehte und seinem Herrn einen ängstlichen Blick zuwarf. Erst als Lynne fast vor ihm stand, sah Jacob auf. Ihr Anblick schien ihn nicht zu überraschen, denn er lehnte sich nur stumm zurück. Seine Augen musterten sie hinter der runden Sonnenbrille. Seine Finger, mit denen er die Fische gegessen hatte, glänzten fettig. Lynne schluckte. »Wir müssen reden«, sagte sie und wäre beinahe zusammengezuckt, als sie das Zittern in ihrer Stimme hörte. »Es ist wichtig.« Jacob stand betont langsam auf. »Dann rede.« »Nicht hier.« Lynne war nicht entgangen, dass ihre Unterhaltung im Zentrum des allgemeinen Interesses stand. »Im Wald.« Sie ging voran und stieß erleichtert die Luft aus, als sie Jacobs Schritte hörte. Ein Teil von ihr wusste, dass sie nur diese eine Chance hatte, um den Mann, den sie liebte, zurückzugewinnen. *
Ich hasse diese Schlampe, dachte Jacob Smythe, während er Lynne durch den Ufersand zum Wald folgte. Wenn ich sie nicht brauchen würde, wäre sie schon längst tot. Aber er brauchte sie, nicht wie diese andere, die er umbringen wollte, als sie zu vorlaut wurde. Wie war noch ihr Name gewesen … Atana, Atala … er wusste es nicht mehr. Daimos hatte auf seine krude Art versucht, sie vor dem Zorn seines Herrn zu retten, der kleine Narr. Aber die Vorsehung hatte das 22
nicht zugelassen, hatte ihn beschützt wie schon so oft zuvor. Er blieb stehen, als Lynne sich auf einen umgestürzten Baumstamm setzte. Sie knetete nervös ihre Finger und sah zu ihm auf. »Ich habe dich niemals hintergangen, Jacob«, sagte sie. »Das musst du mir glauben. Es gibt nur einige Angelegenheiten, die ich dir nicht erzählen darf … Weltrats-Angelegenheiten.« Die Art und Weise, mit der sie Weltrat betonte, reizte Smythe zum Lachen. Er versuchte das Gefühl zu unterdrücken, aber Lynne spürte es trotzdem. »Was ist daran so komisch?«, fragte sie. »Dass du ›Weltrats-Angelegenheiten‹ sagst, wenn du in Wirklichkeit deinen Vater meinst.« Er deklamierte den Satz mit der notwendigen Tragik eines enttäuschten Liebhabers und wurde damit belohnt, dass Lynne aufsprang und seine Hand ergriff. »Das stimmt nicht, Jacob. Dieses Projekt ist wichtiger als die Beziehung zwischen mir und dir oder mir und meinem Vater.« Sie versuchte den Ausdruck seiner Augen zu lesen. Smythe war froh über die Sonnenbrille. »Ich kann dir nur so viel sagen«, fuhr sie fort. »In Alaska habe ich eine Libelle zu einem bestimmten Punkt auf diesem Kontinent ausgeschickt. Es sollte ein Treffen geben, deshalb die Rast vor ein paar Tagen, aber die Leute, auf die ich wartete, sind nicht erschienen. Vielleicht hat die Libelle sie nicht erreicht, vielleicht gibt es ein anderes Problem. Das versucht man in Wa-
shington herauszufinden.« Er erwiderte den Druck ihrer Hand, gab ihr zu verstehen, dass sie auf dem richtigen Weg war. »Was sind das für Leute?«, fragte er dann und hätte ihr beinahe ins Gesicht geschlagen, als sie den Kopf schüttelte. »Das darf ich nicht sagen. Es tut mir Leid, Jacob.« Smythe beherrschte sich mühsam. Er konnte sehen, dass sie wirklich nicht bereit war, mehr über die Leute zu erzählen, denen sie Botschaften geschickt hatte - zumindest noch war sie nicht bereit dazu. »Ich verstehe das«, sagte er mit geheucheltem Verständnis. »Und ich bin froh, dass du über solch starke Loyalität verfügst.« Lynne umarmte ihn und legte ihren Kopf an seine Brust. »Du vergibst mir also?« Er streichelte ihr Haar. »Natürlich vergebe ich dir.« Ihre Umarmung presste ihm beinahe die Luft aus den Lungen. Er hatte sich schon verschiedene Male über ihre Stärke gewundert und fragte sich auch jetzt, woher sie diese Kräfte nahm. Aber noch etwas anderes fragte er sich, während sie auf der Lichtung standen und sich gegenseitig festhielten: Wäre es möglich, dass sie ebenso mit ihm spielte wie er mit ihr? Liebte sie ihn wirklich, oder wusste sie, dass das Geheimnis um die Botschaften und die unbekannten Empfänger sie am Leben hielt? Schließlich konnte Smythe sie nur töten, wenn er die uneingeschränkte Macht über die Expedition besaß. Dazu
fehlte ihm jedoch noch das Wissen um das Geheimnis und die Kontrolle über die Barbaren. Beides, so beruhigte er sich, als Lynne seine Hose zu öffnen begann, war nur eine Frage der Zeit … *
Seit zwei Tagen war Pieroos Welt sehr still. Inzwischen konnte er zwar Worte verstehen, die man ihm ins Ohr schrie, aber er fühlte sich immer noch, als stünde er neben der Welt, nicht in ihr. Ohne Geräusche erschien alles irgendwie entfernt und unwirklich, und wenn der Dämon, der sich Doktor Lewis nannte, Recht hatte, würde das noch ein paar Tage so bleiben. Pieroo hockte sich an den Rand des Floßes und tauchte eine Hand in das klare kalte Wasser. Seit dem Morgengrauen fuhren sie den Fluss hinauf, ein Panzer vor den Flößen und einer dahinter. Er wusste nicht, ob diese Anordnung dem Schutz vor möglichen Feinden diente oder verhindern sollte, dass sich Soldaten ans Ufer absetzten. Sein Blick glitt über den Urwald, der den Fluss an beiden Seiten einrahmte. Die Bäume waren hoch und ausladend, das Unterholz dicht. Schlingpflanzen zogen sich an den Ästen entlang, auf denen bunte Vögel saßen und der Prozession aus Panzern und Flößen nachblickten. Die Bedingungen für einen Hinterhalt waren gut … Sei kein Narr, schalt sich Pieroo in Gedanken. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass hier überhaupt Menschen leben. Dass man einen Hinterhalt legen 23
könnte, bedeutet noch lange nicht, dass man auch einen gelegt hat. Pieroo hätte gerne auf seine innere Stimme geachtet, wäre da nicht das ständige Gefühl gewesen, beobachtet zu werden. Es hatte begonnen, als sie aus dem Delta in den Flusslauf eingebogen waren, und ließ ihn jetzt nicht mehr los. Er wollte es bereits auf seine plötzliche Taubheit und auf die Verunsicherung schieben, die er darüber empfand, aber dann bemerkte er, dass die anderen Krieger, vor allem die, die sich in der Wildnis auskannten, das gleiche Misstrauen in den Augen hatten. Dass sie selbst etwas davon spürten, glaubte er nicht, denn im Gegensatz zu ihm wurden sie von den ständigen Geräuschen und Gesprächen abgelenkt, die in einer so großen Gruppe üblich sind. Sie konnten sich kaum auf ihre Wahrnehmung konzentrieren. Pieroo hingegen sah alles, die Blicke zum Wald, wenn die Männer von ihren Mahlzeiten aufsahen, der Griff zur Waffe, wenn sie sich unbeobachtet fühlten, und die nervöse Wachsamkeit, mit der sie über die Holzplanken schritten. Sie ahnten, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber was?, fragte er sich. Was erwartet uns in diesem Wald? Er zuckte zusammen, als eine Hand seine Schulter berührte. Einem ersten Reflex folgend wollte er zuschlagen, doch dann trat der Doc in sein Gesichtsfeld. Auch er wirkte nervös, aber das, so entschied Pieroo, war kein Grund zur Sorge, denn er wirkte seit Beginn der Reise nervös, als erwarte er jeden Moment die schlimmstmögliche Katastro24
phe. Jetzt zeigte er jedoch zu einer Lichtung, die ein Stück entfernt lag, und formte ein Dreieck mit seinen Händen. Dann zeigte er auf die Krieger. Pieroo nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Die Reise war für den Tag beendet und die Anführer hatten entschieden, dass seine Männer an diesem Teil des Ufers die Zelte aufschlagen sollten. Der Doc bat ihn als Häuptling darum, den Befehl weitergeben zu dürfen. Pieroo sah darin kein Problem. Die Krieger respektierten den Doc, weil er in vielen Zungen sprechen konnte und Dinge wusste, von denen sie noch nie gehört hatten. Er erinnerte sich an ein Gespräch zu Beginn der Reise, als der Doc ihnen gezeigt hatte, wie man Wasser abkocht, um es zu … er wusste das richtige Wort nicht mehr, es hatte jedenfalls irgendwas mit kleinen Tieren zu tun, die im Wasser lebten und krank machten. Niemand hatte ihm das so recht geglaubt, doch dann war ein Mann am Fieber gestorben. Seitdem kochten manche Krieger das Wasser, während andere so lange auf ihre Wasserschläuche einschlugen, bis sie sicher waren, dass nichts darin überlebt hatte. Das schien zu funktionieren, denn kein Krieger war seitdem krank geworden. »Befiehl ihne, de Zelte nich zu dicht am Waldrand aufzuschlagn«, sagte er und merkte am überraschten Blinzeln des Docs und den Köpfen, die sich überall zu ihm drehten, dass er viel zu laut gesprochen hatte. Vor ihm schob sich der erste Panzer aus dem Wasser. Die Mündungen der Gewehre schwenkten zuerst nach
rechts, dann nach links, suchten nach möglichen Feinden, bevor der Fahrer seine Zufriedenheit dadurch signalisierte, dass er sie in mittlerer Position einrasten ließ. Zusammen mit einigen anderen Männern sprang Pieroo in das gerade mal brusthohe Wasser und begann das Floß an Land zu ziehen. Die Strömung war nicht sonderlich stark, aber trotzdem kamen sie nur langsam voran und er hatte den Eindruck, dass niemand wirklich ans Ufer wollte. Pieroo schluckte, als die Bäume näher kamen und er für einen Moment glaubte, Gesichter zwischen den Blättern zu sehen. Doch als er genauer hinschaute, war da nichts mehr außer Grün. *
Man aß gemeinsam zu Abend, das hatte sich in den Monaten der Reise eingebürgert. Ob Krieger, Soldaten oder Zivilisten, am abendlichen Lagerfeuer waren sie alle nur Menschen, die einer feindseligen Umgebung trotzten. Wenn die Flammen hochschlugen und bizarre Schatten in die Nacht warfen, war es egal, ob man die Sprache des anderen verstand. Es reichte, eine menschliche Stimme neben sich zu hören. Majela Ncombe biss in ein Stück gegrillte Seeschlange und fragte sich, warum alles, was man nicht kannte, nach Hühnchen schmeckte. Auf dem langen Weg zum Kratersee hatte sie dieses Phänomen häufiger erleben können, als ihr lieb war. Die Erinnerung an die Dinge, die nicht nach Hühnchen schmeckten, zog sie vor zu verdrängen.
Trotz allem genoss sie jeden Tag der Expedition, und es gab keine Minute, in der sie sich ernsthaft nach den Bunkern Washingtons zurücksehnte. Die Reise war ein großes Abenteuer, eine Chance, der Enge und der ständigen Kontrolle zu entfliehen und die Welt so kennen zu lernen, wie sie wirklich wahr - nicht wie die WCA sie sich wünschte. General Crow hatte sie anfangs nicht gehen lassen wollen, schließlich war sie gerade erst zu seiner Adjutantin aufgestiegen, und da seine Anforderungen an diese Position extrem hoch waren, schien ein Ersatz in weiter Ferne zu liegen. Aber sie hatte ihn überreden können, nicht zuletzt, weil sie die Lösung für ein peinliches Problem gefunden hatte. Dass dieses Problem jetzt neben ihr saß und den Arm um ihre Schulter legte, war eine Entwicklung, mit der die junge Schwarze nicht gerechnet hatte, die sie aber ebenfalls keine Minute lang bereute. Irgendwann, dachte sie, während sie den Kopf gegen Jed Stuarts Schulter lehnte, werde ich ihm sagen müssen, wer die Idee hatte, ihn auf diese Reise zu schicken. Ein Teil von ihr wusste, dass sie es ihm schon längst hätte sagen sollen, dass der geeignete Moment, auf den sie wartete, niemals kommen würde und dass er es früher oder später von jemand anderem erfahren musste. Aber sie schob das Geständnis dennoch vor sich her und wartete. Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Woran denkst du?« »An nichts.« 25
Die Antwort kam zu schnell, um wahr zu sein, und Majela sah in seinem Blick, dass er das bemerkte. Einen Augenblick lang spielte sie mit der Idee, es ihm jetzt in diesem Moment zu sagen, doch dann spürte sie das Gewicht der kleinen Holzfigur, die er vor dem Abendessen auf ihren Schlafsack gelegt hatte, in der Hosentasche und nutzte die Gelegenheit zum Themenwechsel. »Ich habe nicht gewusst, dass du schnitzen kannst«, sagte sie. Jed runzelte die Stirn. »Was, äh, bringt dich auf die Idee, dass ich das kann?« Majela zog die Figur aus ihrer Tasche. »Du hast keinen Grund, so bescheiden zu sein, Jed. Das ist ein wirklich schönes Geschenk. Soll es ein Glücksbringer sein?« »Das … nun … das wäre sicherlich möglich, aber ich, äh, weiß es nicht, weil dieses … hm … Geschenk nicht von mir stammt.« Er nahm ihr die Figur aus der Hand und drehte sie zwischen seinen Fingern. »Sie sieht aus wie ein, hm, Talisman, ein Götterbild oder, ja, die Darstellung eines Ahnen. Vielleicht hat ihn einer der, äh, Krieger verloren.« »Auf meinem Schlafsack? Nein, das hat jemand absichtlich dorthin gelegt.« Sie wusste nicht, weshalb sie sich bei dem Gedanken plötzlich schmutzig fühlte. Beinahe ungewollt glitt ihr Blick zu der Figur in Jeds Hand, zu dem polierten braunen Holz, das die Flammen widerspiegelte. Die Gesichtszüge waren menschlich, Arme und Beine gut zu erkennen, aber irgendetwas an ihr war falsch, auch wenn Majela nicht wusste, was es war. Als sie die Figur fand, hatte 26
sie geglaubt, ein Lachen auf ihrem Gesicht zu sehen, doch jetzt erkannte Majela, dass es sich in Wirklichkeit um die eingefrorene Darstellung eines Schreis handelte. Sie fragte sich, wie sie jemals etwas Schönes darin hatte sehen können. »Skara'k …« Majela sah auf, als sie die Stimme hörte. To'ob und Hoo'pa, die beiden aufgelesenen Fischer, die eben noch neben Jed gesessen hatten, waren aufgestanden. To'ob zeigte auf die Figur. »Skara'k«, wiederholte er. Einige Krieger drehten den Kopf, widmeten sich dann jedoch wieder ihren eigenen Gesprächen, als sie nichts Spektakuläres bemerken konnten. Jed hielt To'ob die Figur entgegen. »Skara'k ma?«, fragte er. Hoo'pa ergriff To'obs Arm, schien ihn daran hindern zu wollen, mehr zu sagen. »Skara'k ma?« Jeds Stimme hatte an Schärfe gewonnen, aber To'ob hob nur die Hände, eine Geste, die einer Verneinung gleichkam. Dann setzte er sich wieder hin und starrte ins Feuer. »Weißt du, was Skarak bedeutet?«, fragte Majela. Sie versuchte den klickenden Laut zwischen den Buchstaben a und k auszusprechen, scheiterte jedoch. Jed drehte die Holzfigur nervös zwischen den Fingern. »Die Sprache«, sagte er dann, »die, äh, To'ob und Hoo'pa verwenden, ist sehr, nun, sehr … einfach strukturiert, aber sie hm verfügt über eine Besonderheit, die … hm … Interpretationen schwierig macht …«
Majela lächelte unwillkürlich. »Es ist nur ein Wort.« »Das, äh, ist nicht ganz richtig … Skara ist das Wort, 'k.« Der Klicklaut kam mühelos über seine Lippen, »beschreibt die, hm, Beziehung, die der Sprecher zu dem, nun, zu dem Objekt seiner Aussage hat …« Er zögerte einen Moment. »Wenn ich zum Beispiel, hm … Majela'o sage, bedeutet das, dass ich das Objekt meiner Aussage … nun, sehr mag …«, seine Mundwinkel zuckten kurz und er räusperte sich verlegen, »… während, äh, 'k etwas … nun ja, etwas anderes bedeutet.« Majela gewann langsam den Eindruck, dass er sich absichtlich um die Bedeutung des Buchstabens drückte. »Und was bedeutet es?«, hakte sie nach. Jed erkannte wohl, dass sie auf ihrer Frage beharren würde, denn er hob nur die Schultern und antwortete: »Tod, Panik, Vernichtung.« Majela empfand Ärger über sich selbst, als ein Gefühl der Furcht kalt und unheimlich über ihren Rücken glitt. »Das ist aber, hm, nicht unbedingt so … nun, so schlimm, wie es … auf Anhieb klingt«, hörte sie Jed lahm hinzufügen. »Schließlich ist es nur … hm … To'obs persönliche Meinung.« Sie nickte, ohne ihm richtig zuzuhören, starrte nur auf die Figur in seinen Händen, die sich bewegte und drehte fast so, als wäre sie lebendig. *
Private Dennis Wichita Blayre war ein guter Soldat, nur leider kein sonder-
lich erfolgreicher. Seit zwölf Jahren hielt er den niedrigen Rang eines Private, was, so hatte ihm sein Vorgesetzter zumindest versichert, der momentane Bunkerrekord war. Der eine unglückliche Monat, den er als Corporal verbracht hatte, zählte dabei nicht. Blayre wusste, wo sein Problem lag, hatte den Versuch, daran etwas zu ändern, jedoch längst aufgegeben und sich mit dem Schicksal abgefunden, den Rest seiner militärischen Laufbahn auf der untersten Karrieresprosse zu verbringen. Wenn er ehrlich war, fühlte er sich dort zu Hause, denn er konnte dem nachgehen, was er am besten konnte: Befehle befolgen. Blayre mochte Befehle; er mochte es, wenn jemand ihm sagte, was er zu tun und wohin er zu gehen hatte. In der gesamten Expedition gab es keinen Soldaten, der Kommandos schneller, besser und präziser befolgte als er. Nur Befehle geben konnte er leider nicht. Das war der Grund, aus dem er nach nur einem Moment im Rang eines Corporals um die Degradierung gebettelt hatte. Er konnte nicht damit umgehen, Entscheidungen für sich und andere zu treffen, und war heute noch dankbar, dass sein damaliger Vorgesetzter die Degradierung bewilligt hatte. Blayre wischte ein imaginäres Staubkorn von seiner Uniform und trat aus dem Zelt. Über den Bäumen ging bereits die Sonne auf, und für einen Augenblick befürchtete er, den Morgenappell verschlafen zu haben. Doch dann hörte er den vertrauten Trompetenklang und setzte sich gewohnt zackig in Bewegung. Etwas knackte unter seiner 27
Stiefelsohle. Blayre blieb stehen, trat mehr aus Reflex als aus Neugier einen Schritt zur Seite und betrachtete den zerbrochenen Knochen, der vor ihm im Gras lag. Er war oval, handtellergroß und fast weiß. Die flache Oberfläche war mit Symbolen bedeckt, die fremd und abstrakt wirkten. Ein roter Fleck befand sich in der Mitte. Er sah aus wie Blut. Dämliches Pack, dachte Blayre und trat den Knochen zur Seite. Überall liegt ihr abergläubischer Scheiß herum. Er wusste, wovon er sprach, denn als rangniedrigstem Offizier fiel ihm häufig die undankbare Aufgabe zu, die Barbaren auf der Jagd zu begleiten. Er wusste nicht, weshalb die Wilden nicht allein jagen konnten, hatte aber auch nie danach gefragt. Wenn man ihm das befahl, gab es wohl einen Grund. Außer ihm traten noch drei Corporals zum Morgenappell an. Sie nickten ihm zu, und Blayre salutierte vor ihnen und Sergeant Laramy. Während Laramy die Aufgaben und Ziele des Tages darzulegen begann, erwachte um ihn herum das Lager zu morgendlichem Leben. Ein paar Barbaren kümmerten sich darum, die Überreste des Feuers neu zu entzünden, während die Offiziere gähnend und halb angezogen aus ihren Zelten krochen. Die Beutel mit dem Serum, das ihnen ein Überleben außerhalb der Bunker ermöglichte, wurden sorgsam unter der Uniform verborgen, bevor man die Hemden zuknöpfte und die Waffengurte anlegte. Die ewig gleichen Bewegungen dieses Rituals wirkten beruhigend auf Blayre. 28
Als weitaus weniger beruhigend stufte er die Präsenz von Professor Smythe ein, der neben dem Doc der einzige zivile Expeditionsteilnehmer war. Auch wenn er wie jeder andere froh war, dass die Krise zwischen Smythe und Captain Crow vorüber war, so wäre es ihm doch am liebsten gewesen, wenn er den dürren, schrecklich aufbrausenden Professor nie hätte Wiedersehen müssen. Er senkte den Blick, als Smythe unerwartet hinter einem Panzer hervortrat und ihm genau in die Augen sah. Es war fast, als hätte er seine Gedanken gehört. »Private, wenn ich dann auch Ihre Aufmerksamkeit haben könnte …«, erklang Sergeant Laramys Stimme. »Ja, Sir!« Die Antwort erfolgte automatisch, ohne jede Willensleistung. Neben ihm kicherte Corporal Jackson. Laramy brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Private, nehmen Sie sich drei Flohschleudern zum Beeren und Früchte sammeln. Captain Crow springt mir ins Gesicht, wenn sie noch ein Mal Seeschlange zum Frühstück essen muss. Sie haben zwei Stunden Zeit für die Aktion, dann fahren wir weiter.« »Ja, Sir.« Blayre sah auf seine Armbanduhr, bevor er salutierte und zum Lagerfeuer hinüberging. Er hatte sich nie die Mühe gemacht, die Namen der Barbaren zu lernen oder herauszufinden, wer von ihnen Englisch sprach, deshalb zeigte er jetzt auch einfach nur auf drei von ihnen. »Du, du und du«, sagte er im Kommandoton und winkte sie in seine Rich-
tung. »Mitkommen.« Es überraschte ihn nicht, dass die Angesprochenen zuerst zu dem behaarten Hünen blickten und sein Nicken abwarteten, bevor sie aufstanden. Er hatte das schon häufig beobachtet und nahm an, dass er eine Art Häuptling für sie darstellte. Und wenn schon, dachte Blayre, als er mit den Barbaren auf den Wald zuging. Wen interessiert das? Nach wenigen Schritten in den Wald hinein war das Lager bereits nicht mehr zu sehen und selbst das Stimmengewirr drang nur noch gedämpft bis zu ihm durch. Die drei Männer wirkten eingeschüchtert, als er per Zeichensprache erklärte, was von ihnen erwartet wurde. Immer wieder sahen sie sich um, und jeder von ihnen hatte eine Hand auf den Schwertgriff gelegt. »Was habt ihr denn?«, fragte Blayre leise, so wie er mit einem nervösen Tier geredet hätte. »Es ist doch alles …« In Ordnung, hatte er sagen wollen, aber er schluckte das Satzende herunter und griff nach seinem Driller. Die Barbaren'wichen zurück, die Schwerter gezückt. Ihre Lippen bewegten sich, und obwohl Blayre ihre Sprache nicht verstand, wusste er, dass sie beteten. »Was ist das für eine Scheiße?« Seine Stimme klang heiser. »Was soll dieser Scheiß?« Die Barbaren antworteten nicht, ebenso wenig wie die mit getrockneten Blumen verzierten Tierschädel, die wie eine Kette von einem Ast hingen. *
»Was geht hier vor?« Smythe stieg über einen umgefallenen Baumstamm und trat in die Mitte des Kreises, den Barbaren und Soldaten rund um einen Ast voller Tierschädel gebildet hatten. »Das würden wir auch gerne wissen, Jacob.« Lynne zeigte auf die Schädel. »Das hier hat Private Blayre gefunden. Ähnliche Dinge sind auch schon im Lager aufgetaucht.« Er spürte ihre Verunsicherung und die Angst der Menschen um sich herum und hätte beinahe laut gelacht. Solch einfache Gemüter ließen sich nun einmal leicht aus der Fassung bringen. »Na und?«, fragte er mit dem überlegenen Tonfall, den er für Gelegenheiten wie diese reserviert hatte. »Wer auf solche Spielchen aus weichen muss, kann uns nicht überlegen sein. Ein wahrer Gegner hätte schon längst angegriffen.« »Nicht, äh, nicht unbedingt, Professor …« Smythe drehte ruckartig den Kopf, genoss es, als Stuart zurückwich und gegen einen Baum stieß. »Ich … hm, ich meine nur, dass … wir nicht wissen, ob … äh, ob es überhaupt eine Drohung ist. Es könnte ein … nun, ein Begräbnisritus, eine Warnung oder … oder sogar ein Geschenk sein. Das sollten wir … nun, wir könnten das herausfinden.« »Sie sind ein Idiot, Stuart. Niemanden interessieren ein paar Wilde. Das Ziel dieser Expedition ist die Erforschung des Kratersees, und dorthin sollten wir uns jetzt aufmachen.« Er lächelte Lynne an, hatte mit einem Mal eine honigsüße Weichheit in seiner Stimme. »Nicht wahr, meine Liebe?« 29
Ihr Blick zuckte zwischen ihm und den Tierschädeln hin und her. Er konnte sehen, wie unentschlossen sie war. Alle anderen schwiegen, überließen ihr die Entscheidung Mach schon, du dumme Kuh, dachte Smythe angestrengt. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Wag es nicht, mir öffentlich zu widersprechen. »Professor Smythe hat Recht«, sagte sie schließlich zu seiner großen Zufriedenheit. »Wir fahren weiter flussaufwärts. Zur Sicherheit verdoppeln wir die Wachen.« »Ich werde mich darum kümmern.« Sergeant Laramy salutierte und war sichtlich froh, den Anblick der Tierschädel hinter sich lassen zu können. Nach und nach kehrten auch die anderen ins Lager zurück, teils erleichtert, teils frustriert, bis nur noch Smythe und Lynne auf der Lichtung standen. Er wollte nach ihrer Hand greifen, aber sie entzog sich seinem Griff und sah zu ihm auf. »Bring mich nie wieder in eine solche Situation!« Ihr Blick flackerte. Smythe spürte, wie kleine Speicheltropfen sein Gesicht benetzten. »Ich bin die Leiterin der Expedition und werde es nicht zulassen, dass du mich vor meinen eigenen Leuten vorführst! Ist das klar?« Er öffnete den Mund, um zu antworten, aber sie stürmte einfach an ihm vorbei und war nur Sekunden später zwischen den Bäumen verschwunden. Smythe versuchte sie zu hassen, dachte an all die Dinge, die er mit ihr tun würde, wenn sie ihren Nutzen endlich verloren hatte und er sich ganz seinen Instinkten hingeben konnte, aber zu seiner eigenen Überraschung machte ihm 30
das keine Freude. Im Gegenteil: Er bewunderte die Hingabe, mit der sie ihre Macht verteidigte, und beinahe entsetzt bemerkte er, dass ein kleiner Teil in ihm begonnen hatte, sie zu mögen. *
Jed Stuart sprach nicht viel an diesem Tag. Während die Tauchpanzer sie alle tiefer ins Landesinnere zogen und die Wälder sich nach und nach um sie schlossen, saß er neben Pieroo auf dem Floß und half ihm beim Gerben der Seeschlangenhaut. Auf diese Weise konnte er zumindest allen Unterhaltungen aus dem Weg gehen und seinen Gedanken nachhängen. Und das tat er auch noch, als er nachts im Zelt lag und die Decke anstarrte. Eigentlich wollte er sich mit der Frage beschäftigen, welchen Sinn die Knochen, Blüten und Holzfiguren haben konnten, aber seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Zwischenfall am Morgen zurück. Sie sind ein Idiot, hatte Smythe gesagt, und er war einfach eingefroren, hatte nichts erwidert, nur seine Stiefelspitzen betrachtet und gewartet, bis die Aufmerksamkeit, die man auf ihn richtete, nachließ. Dabei war Lynne Crow kurz davor gewesen, ihm zuzustimmen, diesen Eindruck hatte er zumindest gehabt. Er seufzte leise und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Smythe hat Recht, dachte er. Ich bin ein Idiot. Neben ihm bewegte sich Majela in
ihrem Schlafsack. Eine Hand berührte ihn, dann hörte er ihre Stimme. »Kannst du nicht schlafen?« Sie klang undeutlich, als sei sie noch nicht ganz wach. Er setzte sich auf. »Nein. Ich glaube, ich gehe ein wenig am Fluss entlang.« »Okay, aber sei vors ….« Der Rest des Satzes ging in ihren regelmäßigen Atemzügen unter. Jed öffnete den Reißverschluss des Zeltes. Kühle Nachtluft schlug ihm entgegen, vermischte sich mit dem Geruch nach Plastik und menschlichem Schweiß. Er kroch nach draußen und schloss den Reißverschluss hinter sich. Sorgfältig schüttelte er seine Stiefel aus. Den Anblick des Kriegers, der das vor einigen Wochen vergessen hatte und wie am Spieß schrie, als etwas seine Zehen zu fressen begann, stand immer noch klar vor seinen Augen. So etwas prägte sich auch dem Vergesslichsten ein. Abgesehen vom Schnarchen einiger Männer lag das Lager ruhig vor ihm. Die Expedition war zwar mit genügend Zelten ausgestattet, aber die Krieger zogen eine Übernachtung unter freiem Himmel vor, wenn es die Temperaturen zuließen. Sie waren es nicht anders gewohnt, und die niedrigen Zelte wirkten auf sie klaustrophobisch. Nur ihre beiden Begleiterinnen hatten sich für ein Zelt entschieden, aus klar nachvollziehbaren Erwägungen. Jed wusste nicht, wie spät es war, aber das Lagerfeuer war bereits heruntergebrannt und bestand nur noch aus rotglühenden Punkten, die bei jedem Windstoß aufleuchteten. Die dunklen
Umrisse der Krieger, die rundherum am Boden schliefen, hoben sich kaum vom Waldrand ab. Irgendwo schrie ein Nachtvogel, den Jed noch nie gehört hatte. Ein anderer antwortete weit entfernt. Er stutzte, als er einen Schatten neben dem Panzer auftauchen sah, entspannte sich aber sofort wieder. »Stehst du Wache, Big'Jaak?«, fragte er und gab sich damit zu erkennen. Big'Jaak - er war größer als Pieroo und hatte sich den Kopf eines Lupas auf die Stirn tätowiert - hob die Schultern. »Ist 'ne scheiß Gegend, Doc. Zu viele Geister. Da schlafen alle besser, wenn sie wissen, dass ich hier stehe und nicht irgendein kleiner Kerl, der sich fast in die Hose macht.« »Hatte der Captain nicht doppelte Wachen angeordnet?« »Pieroo wollte, dass ich einen zweiten Mann nehme, aber ich hab ihn ausgelacht.« Big'Jaak verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Hände glichen schwarz behaarten Pranken. »Glaubst du wirklich, dass jemand an mir vorbei kommt?« Jed schüttelte den Kopf. »Nein, an dir kommt niemand vorbei.« Außer du wirst ausgetrickst, fügte er in Gedanken hinzu, denn Big'Jaak war, wie man so schön sagte, nicht der hellste Stern am Firmament. Er nickte ihm zum Abschied zu und ging weiter auf den Fluss zu. Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Schritte ihn unbewusst zu dem Platz lenkten, den sich To'ob und Hoo'pa, die ungleichen Mutanten, am Abend zum Schlafen ausgesucht hatten. Sie hielten sich immer abseits von den anderen, 31
und Jed hatte den Verdacht, dass sie ein Paar waren. Vielleicht erzählen sie ja mehr über Skara'k, wenn wir allein sind, dachte er. Sehr wahrscheinlich war das zwar nicht, aber es gab ihm wenigstens etwas in dieser schlaflosen Nacht zu tun. Jed blieb stehen, runzelte die Stirn und sah sich um. Rechts von ihm schlugen die Wellen des Flusses leicht gegen das Ufer, links standen zwei Bäume, zwischen denen To'ob eine Leine gespannt hatte, um eine gewaschene Decke über Nacht zu trocknen. Zumindest hatte die Leine am Abend noch da gehangen. Jetzt war sie weg, ebenso wie die Decken, die Wasserschläuche, die wenigen Vorräte, die jeder bei sich tragen durfte - und die Männer selbst. Jed fluchte leise, als er die Wahrheit erkannte: To'ob und Hoo'pa hatten die regelmäßige Nahrung, die Unterkunft und den Schutz, den die Gruppe ihnen bot, zurückgelassen, um sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Etwas musste ihnen eine solche Angst einjagen, dass eine einsame Flucht bei Nacht mehr Sicherheit versprach als der Aufenthalt bei der Expedition. Jed spürte, wie sein Mund trocken wurde. Er hatte plötzlich den Eindruck, leises Flüstern zu hören, glaubte unheimliche Blicke aus der Dunkelheit zu spüren. Die Bäume wurden zu verwachsenen Gestalten, ihre Schatten zu Armen, die sich ihm lauernd entgegenstreckten. Das laute Knacken eines Astes - oder ist es ein Knochen, der unter meinem Stiefel zerbricht?, hauchte eine innere Stimme - gab den Ausschlag. Mit hasti32
gen Schritten ging er zurück zum Zelt, und nur sein Stolz verhinderte, dass er den ganzen Weg rannte. *
To'ob wünschte, er könnte sich schneller bewegen, aber seine verkrüppelten Füße ließen nur diesen wackelnden Gang zu, der Hoo'pa immer wieder ungeduldig aufseufzen ließ. Die nächtliche Flucht war seine Idee gewesen, und mit jedem Schritt, den sie in den dunklen Wald hinein wagten, wuchs To'obs Überzeugung, dass sie eine voreilige Entscheidung getroffen hatten. »Wir sollten einen Baum aushöhlen und flussabwärts fahren«, sagte er nach einer Weile, aber Hoo'pa neigte nur seinen breiten Kopf. »Dafür haben wir keine Zeit. Vielleicht verfolgt man uns schon. Du weißt doch, was passiert, wenn sie uns fassen.« Mit dem Schwert, das er einem schlafenden Krieger gestohlen hatte, schlug er einige Schlingpflanzen zur Seite und half To'ob über Baumwurzeln hinweg, die wie die verknöcherten Hände einer alten Frau aus dem Boden ragten. »Wir hätten es ihnen sagen sollen«, sagte To'ob. »Sie haben uns zu essen gegeben und wie einen der ihren behandelt. Und wir danken es ihnen mit dem Tod.« »Du kennst die Geschichten.« Mehr hatte Hoo'pa dazu nicht zu sagen. Schweigend gingen sie weiter, nutzten nur ab und zu die Wildwechsel und bahnten sich ansonsten den Weg durch das dichte Unterholz. To'ob lief der
Schweiß in Bahnen über den Körper und brannte in den kleinen Wunden, die ihm Dornen und Äste gerissen hatten. Er beneidete Hoo'pa um seinen geschmeidigen Körper und um die Gleichgültigkeit, die er gegenüber den ehemaligen Reisegefährten zeigte. Natürlich hatte er Recht; jeder kannte die Geschichten, wusste, was die Geister mit denen machten, die es wagten, sich den Skara'k in den Weg zu stellen. Ihre Seelen wurden gestohlen, ihre Körper vernichtet. Jeder wusste das, auch wenn To'ob niemanden kannte, der das wirklich schon einmal gesehen hatte. Vielleicht, dachte er mit plötzlicher Klarheit, sind es ja wirklich nur Geschichten. Er spürte plötzlich einen schmerzhaft harten Griff um seinen Arm und blieb erschrocken stehen. »Ich hab was gehört«, flüsterte Hoo'pa. To'ob bewegte sich nicht, wagte es kaum zu atmen. Das Rascheln der Blätter wirkte überlaut und sein eigener Herzschlag donnerte in den Ohren. Seine Gedanken rasten, spielten die schrecklichen Szenen durch, die ihn vielleicht erwarteten, und er hoffte, dass einer von ihnen die Geistesgegenwart haben würde, das Schwert zu ergreifen und zuerst den anderen und dann sich selbst zu töten. »Sie sind hier.« Hoo'pas Stimme war wie ein eisiger Schlag ins Gesicht, und To'ob begriff, dass er nichts tun konnte, als sein Körper seinem Geist einen Streich spielte und einfach auf dem Waldboden zusammenbrach.
Schwer schlug er auf. Der Geruch modriger feuchter Blätter hüllte ihn ein. Dornen bohrten sich in seine Handflächen. Er hörte jemanden stöhnen und begriff erst nach einem Moment, dass er selbst es war. Er sah die Skara'k zwischen den Bäumen und fragte sich, weshalb er sie vorher nicht bemerkt hatte. Vielleicht, weil sie eins mit den Bäumen waren und ihre Gestalt annehmen konnten, so wie manche behaupteten. Jetzt aber waren sie klar zu erkennen, auch wenn To'ob wünschte, dass es nicht so wäre. Sein Stöhnen wurde zum Wimmern und er wandte den Blick ab, hoffte, dass er diesen Anblick nicht als letztes Bild seines Lebens ins Totenreich mitnehmen musste. Die Stirn gegen den kühlen Waldboden gepresst, erwartete er sein Ende. Er wusste nicht, wie lange er dort gelegen hatte, bevor eine Hand nach seinem Arm griff und ihn hochzog. »Komm«, hörte er Hoo'pa flüstern. »Steh auf. Sie lassen uns gehen.« Zwei Mal knickten seine Knie unter ihm ein, dann stand To'ob endlich. Eine Welle aus Erleichterung und Furcht ließ seinen Körper erbeben und heiße Tränen über seine Wangen laufen. Mit verschwommenem Blick sah er, dass die Skara'k eine Gasse gebildet hatten, die zu einem Trampelpfad führte. »Danke«, flüsterte er, während er, auf Hoo'pa gestützt, durch die Gasse stolperte. »Danke für eure Gnade … danke.« Er wiederholte diese Worte wie ein Gebet, bis die Skara'k hinter ihm eins mit den Bäumen wurden und ver33
schwanden. *
Tierknochen und getrocknete Blüten, die Muster rund um die Zelte bildeten, waren nicht das Einzige, was der Morgen der Expedition brachte. Er brachte ihr auch die blutige und zerrissene Kleidung von Big'Jaak und sein im Boden steckendes Schwert. Der Hüne selbst war verschwunden. »Die Geister dieses Landes sind böse«, sagte am Abend ein älterer Krieger namens Henn'ry, dessen Gesicht von langen Narben und tiefen Falten durchzogen war. »Wir werden alle sterben.« »Vielleicht hat er sich abgesetzt.« Der Mann, der diese Vermutung äußerte, wurde Tootooz genannt, ein Spitzname, den er seinen überdimensionalen Schneidezähnen verdankte. »Sollten wir auch tun.« »Der Häuptling entscheidet, was wir tun.« Wenn er das nur könnte, dachte Jed, der dem Gespräch zuhörte, ohne sich einzumischen. Zwar hörte Pieroo mit jedem Tag besser, aber er war noch weit davon entfernt, eine normal geführten Unterhaltung zu verstehen. Und das konnte in dieser Extremsituation zur Katastrophe führen. Die Stimmung war ohnehin schon gereizt. Nachdem Big'Jaak, To'ob und Hoo'pa nicht aufzufinden waren, hatte Captain Crow die direkte Abreise befohlen. Die Männer hatten protestiert, wollten nicht gehen, ohne nach den Verschwundenen gesucht zu haben, 34
aber Lynne war hart geblieben. Schließlich hatte sie sich durchsetzen können, auch wenn Jed der Meinung war, dass sie damit ihre letzten Sympathiepunkte verspielt hatte. Das nächste Mal würde sie die Krieger mit Waffengewalt zwingen müssen. Gebracht hatte es ihnen nichts. Wenn Lynne gehofft hatte, der Bedrohung einfach davonfahren zu können, dann belehrte sie der Fluss eines Besseren. Die Ufer rückten immer näher zusammen und die Strömung wurde so stark, dass die Panzer mit voller Leistung fahren mussten, um sich selbst und die Flöße überhaupt zu bewegen. Da die Kühlsysteme auf eine solche Belastung nicht ausgelegt waren, benötigten sie längere Pausen, damit sich die Maschinen abkühlen konnten. Jed schätzte, dass sie knapp zwanzig Kilometer zurückgelegt hatten, bevor es zu dunkel zum Weiterfahren wurde. Trotz der beengten Verhältnisse in den Panzern und auf den Flößen hatte Lynne eine Landung am Ufer verboten, und niemand hatte sich ernsthaft dagegen ausgesprochen. Der Wald und die tausend Blicke, die sie daraus anzustarren schienen, verhinderten den Wunsch nach Privatsphäre. Ein paar Mal hatte Jed während des Tages geglaubt, Gestalten zwischen den Bäumen zu sehen, aber immer wenn er versuchte, einen klareren Blick auf sie zu erhäschen, waren da nur Dickicht und Schlingpflanzen. Er lehnte sich in seinem Schlafsack zurück, als Majela die Arme um ihn legte. »Worüber reden sie?«, fragte sie mit einem Blick auf die Krieger.
Jed hob die Schultern. »Über Geister, über eine Flucht und über Big'Jaak. Er war beliebt.« »Glauben sie, dass To'ob und Hoo'pa ihn umgebracht haben?« Das war die Theorie, die Smythe aufgestellt hatte, die aber niemand außer ihm zu glauben schien. Selbst Lynne hatte Zweifel geäußert. »Nein«, sagte Jed. »Selbst zu zweit hätten sie keine Chance gegen ihn gehabt.« Er gähnte und sah auf den Fluss hinaus. Dünne weiße Nebelfahnen zogen über das Wasser. Der Wind hatte sich gelegt, trieb sie nicht mehr auseinander, wie er das in den Nächten zuvor getan hatte. Sie bedeckten die hölzernen Decks wie Schleier. Zwei Krieger hielten auf jedem Floß Wache, zwei Soldaten auf jedem Panzer. Die Mündungen der Schnellfeuergewehre waren auf die Ufer gerichtet und Leuchtpistolen lagen bereit, damit die Soldaten sofort Alarm auslösen konnten. Jede Wache wusste, dass sie sich nicht aus der Sichtweite der anderen entfernen durfte, aber trotz all dieser Vorkehrungen glaubte Jed nicht, dass irgend jemand an Bord heute Nacht schlafen würde. »Das sollten sie auch besser nicht«, sagte Big'Jaak neben ihm. Er hockte auf dem Deck, ein Knie am Boden, das andere vorgebeugt, so wie ein Krieger, der sich vor seinem Herrn neigt, aber nicht wie ein Bauer knien will. »Der Tod ist jetzt mein Herr«, sagte Big'Jaak. Jed nickte. »Das tut mir Leid.« »Ja.«
Sie schwiegen eine Weile. Der Nebel war dichter geworden, rollte in schweren weißen Wellen über das Floß. Er bedeckte Big'Jaaks Stiefel, und Jed bemerkte, dass Majela nicht mehr zu sehen war. »Was ist passiert?«, fragte er. »Wer hat dich getötet?« Big'Jaak antwortete nicht. Der Lupakopf auf seiner Stirn schien Jed anzustarren. Zwei dünne Blutfäden liefen aus den tätowierten Augen an der Schnauze entlang und tropften nach unten. Jed wartete vergeblich auf das Geräusch des Aufschlags. Der Nebel dämpfte jeden Laut. Sogar der Fluss war nicht mehr zu hören. »Sie waren da, als du mit mir sprachst«, sagte Big'Jaak unvermittelt. Blut lief jetzt in Bahnen über sein Gesicht. Es sammelte sich in den Augenbrauen, benetzte seine Wimpern und verklebte seinen Bart. »Aber sie haben mich geholt, nicht dich.« Er lachte, und ein Blutschwall ergoss sich über das Deck. Jed wollte zurückweichen, aber der Nebel hielt ihn fest. Blut schwappte über ihn hinweg. Es raubte ihm den Atem, machte ihn blind und hilflos. Als er wieder klar sehen konnte, hockte Big'Jaak über ihm. Etwas stimmte nicht mit seinem Gesicht, aber Jed wusste nicht, was es war. »Ihre Zähne«, flüsterte Big'Jaak. Seine Augen schwammen in Blut. »Ihre Zähne sind so scharf … so furchtbar scharf …« Mit einem Ruck setzte sich Jed auf. Desorientiert wollte er das Blut aus seinem Gesicht wischen, aber da war nur 35
Wasser von dem leichten Nieselregen, der auf das Floß niederging. Er schüttelte sich, um auch das Blut aus seinen Gedanken zu vertreiben, aber es ließ ihn nicht los, bedeckte schwarz und klebrig seinen Geist. Im ersten Tageslicht wirkte Majelas Gesicht grau, als sie sich bereits vollständig angezogen neben ihn hockte. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Du, hm, willst nicht wissen, was ich geträumt habe«, sagte er. Sie sah ihn an. Ihr Blick war dunkel und verstört. »Und du willst nicht wissen, was ich gefunden habe.« *
Der Anblick jagte Lynne Crow einen Schauer über den Rücken. Es mussten Hunderte Blumen sein, vielleicht sogar Tausende. Sie umgaben die Flöße und Panzer wie riesige Kränze, und sie musste unwillkürlich an schwimmende Särge denken. Mehrere Krieger hatten Blumen neben ihren Köpfen gefunden, als sie aufwachten, und das Barbarenmädchen Paulaa war sogar mit einer Blüte in ihrem Mund zu sich gekommen. Die Wachen hatten nichts bemerkt - abgesehen von Corporal Davies, der etwas bemerkt haben musste, denn von ihm hatte man nur die Uniform, den Driller und den abgeschnittenen Serumsbeutel gefunden. Selbst wenn man ihn noch nicht umgebracht hatte, war er ohne Serum dem Tod ausgeliefert. Auch einer der Barbaren war verschwunden, aber Lynne hatte sich nicht die Mühe gemacht, seinen Namen herauszufinden. 36
»Sie müssen im Nebel herüber geschwommen sein«, sagte Sergeant Laramy, der neben ihr auf der Schnauze des Panzers stand. »Nur deshalb haben wir sie nicht bemerkt.« Es klang wie eine Entschuldigung, und Lynne konnte sehen, dass Davies' Verschwinden ihm nahe ging. Solange es nur die Barbaren traf, hatte niemand die Bedrohung wirklich ernst genommen, aber jetzt hatte es einen der eigenen Leute erwischt. Sie sah zur Seite, als Jacob in der Ausstiegsluke auftauchte. Er kaute auf einem Schokoladenriegel und wirkte völlig unbeeindruckt. In Momenten wie diesen wusste Lynne nicht, weshalb sie ihn liebte. »Wir sollten weiterfahren«, sagte er zwischen zwei Bissen. »Je eher wir diese Wilden abschütteln, desto besser. Sie halten uns nur auf.« Lynne schüttelte den Kopf. »Wir wissen nicht, wie lange der Fluss noch eine solche Strömung hat. Wenn wir weiter mit so geringer Geschwindigkeit fahren müssen, können sie uns problemlos verfolgen und einen nach dem anderen umbringen.« »Du übertreibst. Sie haben uns nichts entgegenzusetzen.« »Davon merkt man im Moment aber nicht viel«, meinte Laramy. Ausnahmsweise schätzte Lynne seine Einmischung. »Er hat Recht«, sagte sie. »Technisch sind wir ihnen vielleicht überlegen, aber sie haben alle anderen Vorteile auf ihrer Seite. Sie kennen das Gelände, die Bedingungen und können nach Belieben angreifen. Und wir wissen noch nicht
einmal, wie sie aussehen und was sie von uns wollen.« Jacob schien etwas erwidern zu wollen, schwieg dann jedoch. In seinen Augen blitzte es. »Was schlägst du vor?«, fragte er schließlich. Schlägst du vor … Die Formulierung gefiel Lynne nicht, denn als stellvertretender Expeditionsleiter hatte er vorzuschlagen und sie zu entscheiden, nicht umgekehrt. Trotzdem ging sie darüber hinweg und sah zu den Flößen hinüber, auf denen die Barbaren zusammenstanden und heftig diskutierten. Die meisten hatten ihre Schwerter gezogen und wirkten, als wollten sie aufeinander losgehen. »Wir müssen unseren Barbaren etwas zu tun geben«, sagte Lynne. »Sie stehen kurz vor einer Meuterei.« Sie nickte Laramy zu. »Sie und Sergeant Ncombe stellen einen Trupp zusammen, um den Wald zu durchsuchen. Sie haben meine Erlaubnis, auf alles zu schießen, was sich bewegt.« Laramy salutierte mit grimmiger Miene. »Ja, Captain.« »Und wie lange wird diese Phantomjagd dauern?« Jacob warf sichtlich ungeduldig die Verpackung seines Schokoladenriegels in den Fluss und lehnte sich gegen die Luke. Lynne wich seinem Blick nicht aus. »So lange, wie es nötig ist, Jacob.« *
Corporal Richard »Ricky« Davies hatte in seinem ganzen Leben noch nicht so gefroren. Er war erst vor weni-
gen Minuten zu sich gekommen, aber schon jetzt wünschte er die Bewusstlosigkeit zurück. Dann hätte er wenigstens nicht gespürt, wie seine Zähne unkontrolliert aufeinander schlugen und sein Körper krampfartig zitterte. Davies wusste, dass es nicht wirklich kalt war, sondern dass sein Immunsystem wegen des fehlenden Serums zusammenbrach, aber das Ergebnis blieb das gleiche. Er fror. »Fack, fack, fack, fack, fack«, sagte eine tiefe Stimme. Seit er erwacht war, hörte er nichts anderes als diese ständige Wiederholung. Er hob mühsam den Kopf, ließ den Blick an den Wänden der kleinen moosbedeckten Höhle vorbeigleiten, bis er den gefesselten, gleichfalls liegenden Barbaren fand. »Sei ruhig, Arschloch«, sagte er heiser. »Lass mich wenigstens in Frieden sterben.« Sein Hals begann zu schmerzen. Er hustete und ließ den Kopf wieder zu Boden sinken. Der Barbar brach seine Litanei ab und starrte ihn schweigend an. Er war ein großer Mann mit kahlrasiertem Kopf und einem von Schlägereien gezeichneten Gesicht. Seine Nase war anscheinend mit zahlreichen Gegenständen kollidiert, denn sie war so breit und wulstig, dass die Augen dahinter kaum zu sehen waren. Davies zog vergeblich an seinen Fesseln. »Hast wohl ziemlich oft verloren, was, Flohschleuder?« Der Barbar grinste. »Arschloch«, sagte er deutlich. Davies sah ihn an und war plötzlich froh darüber, dass, wer auch immer sie 37
entführt hatte, seinem Gegenüber Hände und Füße zusammengebunden hatte. »Du kannst mich verstehen?«, fragte er nervös und hustete, als das Kratzen in seinem Hals erneut begann. »Etwas.« »Oh … okay.« Er sammelte sich. »Weißt du, wo wir sind, was man mit uns gemacht hat?« Der Barbar schüttelte den Kopf. »Hab geschlafen, werde wach, bin hier. Niemand gesehen, niemand gehört. Du?« Davies suchte nach seinen letzten Erinnerungen. Er hatte auf dem Panzer gestanden, den Driller in der Hand. Die Aufputschmittel, die er genommen hatte, wirkten, und er fühlte sich wach und aufmerksam. Die Welt hatte sich plötzlich gedreht, dann war er in der Höhle aufgewacht. »Nein«, sagte er. »Ich weiß auch nichts.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Fesseln zu. »Aber eins weiß ich: Dass wir hier raus müssen und zwar schnell.« »Ja.« Der Barbar sah ihn zögernd an. »Du bist krank.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Davies nickte. »Das stimmt, deshalb müssen wir uns beeilen, bevor ich zu krank werde, okay?« »Okee.« Der Barbar schien zu wissen, was von ihm erwartet wurde, denn er schob seinen nackten Körper über den felsigen Boden, bis er neben Davies lag. Der spürte kurze Zeit später dessen Finger an den Fesseln und stöhnte, als sie tiefer in sein Fleisch schnitten. »Tut mir Leid«, murmelte der Bar38
bar. »Kein Problem.« Davies spürte, wie der unheimliche Drang zu lachen in ihm emporstieg. Er versuchte es zu unterdrücken, kicherte dann jedoch leise. »Was ist komisch?« »Nichts … ich … stelle mir nur gerade vor, wie diese Situation auf einen zufälligen Beobachter wirken müsste. Du weißt schon, zwei nackte Männer …« Der Barbar schwieg einen Moment, und Davies befürchtete schon, er habe ihn beleidigt, doch dann sagte die tiefe Stimme: »Verstehe ich nicht.« »Ist okay, vergiss es. Wie ist dein Name?« »Man nennt mich Fistadeeth, nur Deeth is okee.« »Ich bin Rick, Deeth. Einfach -« Ein Husten erschütterte seinen Körper, lang anhaltend und schmerzvoll. Es dauerte Minuten, bis Davies wieder zu Atem kam und hellen Schleim ausspuckte. Deeth neigte den Kopf. »Ich beeile mich.« *
Als der Trupp aus Soldaten, Kriegern und einem Zivilisten den Wald betrat, ließ der ständige Nieselregen endlich nach. Sie hatten eine Kette gebildet; zwei Späher gingen vor, dann folgte der Haupttrupp und mit kurzem Abstand die Nachhut. Alle waren bewaffnet, und an die Barbaren, die wussten, wie man damit umgeht, hatte Lynne sogar Driller verteilen lassen. Sie muss richtig Schiss haben, dachte
Majela und fluchte leise, als sie bis zu den Knöcheln in dem aufgeweichten Waldboden einsank. Was auch immer an Spuren zu sehen gewesen war, der Regen musste sie längst weggespült haben. Sie sah sich um. Tootooz und ein Krieger, dessen Namen sie vergessen hatte, waren kaum mehr zwischen den Bäumen zu sehen. Sie bewegten sich wie Männer, die in der Wildnis auf gewachsen waren, lautlos und tierhaft. Ab und zu blieben sie stehen und bedeuteten dem Haupttrupp zurückzubleiben, aber bisher war es jedes Mal falscher Alarm gewesen. Der Haupttrupp bestand aus ihr selbst, Jed, Sergeant Laramy, Pieroo und Bruus. Private Blayre und Ru'alay bildeten die Nachhut. Bis auf Jed waren sie alle bis an die Zähne bewaffnet. Er hatte den Driller mit der Behauptung abgelehnt, er würde mit großer Wahrscheinlichkeit die eigenen Leute und nicht die Feinde treffen. Jetzt ging er neben Pieroo her und zuckte bei jedem Geräusch zusammen. Seine Nervosität war deutlich zu sehen, aber er hatte sich trotzdem entschlossen mitzukommen, um vielleicht vermitteln zu können. Majela wusste nicht, ob ihm klar war, dass das Mut war. Sie legte die Hand auf den Driller, als Tootooz vor ihr hektisch zu winken begann. Sein Begleiter war hinter einem Baumstamm in Deckung gegangen und hatte sein Schwert gezogen. Majela bedeutete der Nachhut mit einer Geste aufzurücken, bevor sie so leise wie möglich weiterging. Niemand sagte etwas. Die einzigen Geräusche
waren das Schmatzen ihrer Stiefel im Lehm und die Rufe der Vögel in den Ästen. Sie ging neben Tootooz in die Hocke und folgte seinem ausgestreckten Arm mit dem Blick. Zuerst sah sie nichts außer Grün, doch dann, als sie den Kopf nach vorne bewegte, vorbei an nassen Blättern, die über ihr Gesicht strichen, erkannte sie es: Ein Gebäude, vielleicht fünf Meter hoch, mit einem doppelten, pagodenartigen Dach. Es stand auf einer Lichtung, zusammen mit scheinbar willkürlich verteilten, geschnitzten Holzsäulen, die ebenso wie das Haus selbst mit Mustern und Fratzen verziert waren. Sie dachte an die Figur auf ihrem Schlafsack und sah die Übereinstimmungen. Ein ungewöhnlich hoher Baum mit großen ausladenden Ästen ragte weit in die Lichtung hinein. An ihrem Rand floss ein kleiner Bach, dessen Ufer verschlammt waren. »Ein Tempel«, flüsterte Jed neben ihr mit einem Blick auf das Gebäude. Sein Atem roch nach Minze. Majela nickte und gab per Handzeichen den Befehl, auf die Lichtung vorzurücken. Schritt für Schritt ließen sie das schützende Unterholz hinter sich und traten auf offenes Gelände. Die Driller, das wusste Majela, verliehen den Kriegern ein trügerisches Gefühl der Sicherheit, ließen sie größere Risiken eingehen, als wenn sie nur ein Schwert in der Hand gehabt hätten. Vor allem Bruus, der im Gegensatz zu Pieroo und Ru'alay wohl für den Rest seines Lebens taub bleiben würde, stürmte voran und hieb mit dem Schwert ins hohe Gras, während er den 39
Driller abwechselnd auf die Bäume, den Tempel und die eigenen Leute richtete. »Vielleicht war das mit den Drillern doch keine so gute Idee«, sagte Brian Laramy, und Majela hatte den Eindruck, dass er mehr zu sich selbst als zu jemand anderem gesprochen hatte. Also hob sie nur die Schultern, ohne zu antworten. Als sie alle auf der Lichtung standen, legte sich ihre Anspannung langsam. Wenn es wirklich einen Hinterhalt gegeben hätte, wäre dies der Moment zum Zuschlagen gewesen. Noch länger zu warten wäre sinnlos. Sie hatten die Lichtung auf der Rückseite des Gebäudes betreten. Majela sah weder Türen noch Fenster, nur verziertes, fast schwarz nachgedunkeltes Holz. Der Tempel musste seit Jahrhunderten hier stehen, vielleicht schon seit dem Einschlag des Kometen. Sie betrachtete die Schnitzereien, die seltsam geschwungenen Muster und die grässlichen Gesichter mit ihren weit aufgerissenen Mündern. Ein Schrei ließ sie herumfahren. Majela sah, wie die anderen zur Vorderseite des Tempels liefen, von wo der Schrei gekommen war. Sie hatte das Gebäude noch nicht ganz umrundet, als ihr Bruus entgegen taumelte. Er machte zwei Schritte auf sie zu, brach in die Knie und übergab sich. Als sie an ihm vorbei ging, sah sie, dass er weinte. Und dann hatte Majela die Vorderseite erreicht. Einige Männer blickten zu Boden, andere hinauf in den grauen Himmel. Ein Krieger kniete im hohen Gras und betete. Jed lehnte mit gesenktem Kopf an einer Säule. 40
Die Natur schien den Atem anzuhalten, als Majela den Kopf drehte und in den Tempel blickte. Sie hörte keinen Laut, keinen Vogel, keinen Wind in den Blättern. Nichts außer ihrem eigenen klopfenden Herzen. Auf dieser Seite war der Tempel offen. Öllampen standen unangezündet in einer Ecke, trockenes Holz stapelte sich in einer anderen. Majela sah Zeichnungen, die an den Innenwänden wie eine Bildergeschichte entlang liefen, und weitere Verzierungen. In der Mitte des Raumes stand ein hölzerner Altar - und darauf lag Big'Jaak. Sie wandte sich ab und atmete tief durch. Ihre Knie begannen zu zittern. Galle stieg heiß und bitter in ihre Kehle, ließ sie gleichzeitig schlucken und würgen. Es dauerte einige Minuten, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. »Ihre Zähne sind so scharf … so furchtbar scharf …«, hörte sie Jed flüstern. Zumindest glaubte sie, dass er das gesagt hatte. »Was?« Sie sah ihn an, bemüht, keinen weiteren Blick auf das … Ding im Tempel zu werfen. Jed räusperte sich. »Es … hm … gibt eine Tradition, einen, nun, einen Brauch bei manchen Völkern. Wenn die Zeit der Ernte … oder des, äh, Schlachtens gekommen ist, nimmt man die größte Frucht, beziehungsweise das schönste Stück Gemüse oder das stärkste Kalb und … schmückt es … Dann, nun, dann opfert man es den Göttern, um ihnen für den Rest der Ernte zu danken. Ich glaube, das ist hier geschehen.« »Sie haben ihn geopfert!« »Ich, äh, denke schon, ja.«
Majela schloss die Augen und öffnete sie gleich wieder, als das Ding (sie bemerkte, dass es ihr leichter fiel, an das Ding und nicht an den Menschen auf dem Altar zu denken) vor ihren dunklen Lidern auftauchte. »Was ist mit seinem Gesicht?« »Das … ja, die Haut und die anderen … äh, Verstümmelungen … ich weiß es nicht.« Er war ein schlechter Lügner. »Sie haben es gegessen, nicht wahr?« Ihre Stimme drohte zu kippen. »Sie haben sein Gesicht gegessen!« »Vermutlich.« Sie schwieg, wusste, dass es darauf nichts zu sagen gab. Auf der Lichtung verstummten die Gebete des Kriegers. Jed ergriff ihre Hand. »Komm.« Im ersten Moment wollte sich Majela wehren, als er sie auf den Tempeleingang zuzog, doch dann beschränkte sie sich darauf, auf den Boden zu starren und nicht daran zu denken, was das Summen des Fliegenschwarms vor ihr bedeutete. »Sieh dir das an«, sagte er, als sie vor einer Wand stehen blieben. Majela hob den Kopf und betrachtete die einfachen Zeichnungen, die sich nahtlos aneinander fügten. Sie versuchte sich darauf zu konzentrieren, aber der Gedanke an die Fliegen ließ sie nicht los. »Das ist eine Art … hm, Schöpfungsmythos«, erklärte Jed. Er zeigte auf das erste Bild. »Hier schlägt der Komet ein. Man sieht, äh, wie er über den Himmel zieht und dort … ja, dort am Horizont verschwindet. Das hier, das, äh, zweite Bild, siehst du's, die, äh … Eiszeit, ge-
nau. Alles ist dunkel. Viele sterben. Hier sind die Feuer und die Gruppen der Ahnen, die über jede Familie wacht. Hm, siehst du, wie viele es sind? Das muss eine furchtbare, äh, Katastrophe gewesen sein. Und jetzt passiert es, ja, genau hier, im dritten Bild. Der Stamm sondert sich von den anderen Menschen ab.« Seine Finger glitten über die Zeichnung, zeigten ihr eine kleine, sorgfältig gezeichnete Gruppe, die umgeben war von verzerrten Gestalten und seltsamen Tiergeschöpfen. »Mutationen«, fuhr Jed fort, bevor sie etwas sagen konnte. »Alles um diesen Stamm herum mutierte. Die Menschen, so wie To'ob und Hoo'pa, die Tierwelt, alles … außer diesem Stamm.« Majela wandte ihren Blick von den Zeichnungen ab, sah stattdessen Jed an. Seine Stimme hatte jegliche Unsicherheit verloren und seine Augen leuchteten. Er schien vergessen zu haben, was hinter ihm auf dem Altar lag. »Stell dir die Verunsicherung dieser Menschen vor. Nur sie sind noch normal, aber sie wissen nicht, weshalb. Also suchen sie nach Ursachen … hier, der Schamane, der die Götter um Rat bittet, die lange Suche und dann die Lösung.« Jed zeigte auf das letzte Bild an der Wand. Darauf war der Stamm zu sehen, hoch erhoben über den Mutationen, die zu den Füßen der makellosen Menschen krochen. Daneben bemerkte Majela Abbildungen von Früchten und Wurzeln, die wie auf einer Liste angeordnet waren. Unmittelbar über den Menschen 41
schwebte ein Gesicht, von dem Strahlen auszugehen schienen, die den Stamm einhüllten. Es war feiner gezeichnet als die anderen Figuren. »Ist das ein Gott?«, fragte Majela. »Entweder das«, entgegnete Jed, »oder, wie ich eher vermute, das größte Geschenk, das die Götter zu bieten haben.« Er machte eine Pause, als erwarte er von ihr, daraus eine Schlussfolgerung zu ziehen. Als sie nur die Schultern hob, fuhr er fort. »Das Obst und die Wurzeln, die du hier siehst, sind Dinge, die der Stamm essen darf. Sie sind sicher, das haben ihnen die Götter gezeigt. Aber um dem Makel der Mutation zu entgehen, glauben sie etwas anderes zu benötigen, etwas viel Selteneres … das Fleisch nicht mü-tierter Menschen.« Majela wünschte sich, er hätte etwas weniger enthusiastisch geklungen. »Sie wollen unser Fleisch?«, hakte sie nach. Allein der Gedanke erschien ihr grotesk. Er nickte. »Es sind Kannibalen.« *
Pieroo atmete auf, als der Doc endlich aus dem Tempel trat und Majela das Zeichen zum Aufbruch gab. Er war kein abergläubischer Mensch, aber wie die anderen Krieger wusste auch er, dass Big'Jaaks Geist rastlos an diesem Ort umherirrte, da er allein und unter Feinden gestorben war. Er hatte alles getan, um die Nervosität seiner Männer zu dämpfen, war von einem zum anderen gegangen, hatte ih42
nen die Hand auf die Schulter gelegt und diskret weggesehen, als Bruus erneut anfing zu weinen. Sie waren gute Freunde gewesen, er und Big'Jaak. Jahrelang hatten sie gemeinsam auf dem Miispii gefischt, bevor sie von der Expedition erfuhren und beschlossen, ihr Glück in Waashton zu versuchen. Zumindest einer von ihnen hatte es nicht gefunden … Es bringt nichts, sich darüber Gedanken zu machen, entschied Pieroo und wandte sich der nächsten unangenehmen Aufgabe zu, die vor ihm lag. »Doc«, sagte er in einer Lautstärke, von der er hoffte, dass sie annehmbar war. »Du und ich bringn Big'Jaak ins Lager.« »Das … nur … Häuptling … Schamane … nicht ich …« Mehr verstand Pieroo von der dumpfen, leisen Antwort nicht. Trotzdem konnte er sich den Rest denken. »Dann bis du jetz der Schamane. Kein Krieger wird eine unreine Leiche anfassen, und ich kann ihn nich allein tragn.« Der Doc entgegnete etwas, das er nicht verstand und von dem er annahm, dass er es auch nicht verstehen sollte, ging aber ohne weiteren Widerspruch zum Altar. Sein Blick war auf den Boden gerichtet. Pieroo zog seinen Mantel aus und warf ihn über den verstümmelten Körper, bevor er unter dessen Schultern griff und ihn mit Hilfe des Docs, der die Füße festhielt, vom Altar hob. In den Gesichtern der Soldaten konnte er sehen, dass sie nicht begeistert darüber waren, eine Leiche mitschleppen zu
müssen, aber für seine Krieger war es wichtig. Sie mussten sehen, dass ihr Häuptling niemanden im Stich ließ, egal ob lebendig oder tot. Er duckte sich unwillkürlich, als etwas an seinem Kopf vorbeiflog. Ein dumpfer Knall und leise Rufe folgten. Bereits in der Drehung sah Pieroo, dass eine Seitenwand des Tempels Feuer gefangen hatte. Der Geruch nach Öl hing schwer in der Luft, und er spürte die Hitze auf seinem Gesicht. Bruus stand vor dem Tempel, zwei Öllampen in der Hand. Er musste sie aus dem Inneren geholt haben und zündete sie jetzt nacheinander an. Seine Hände zitterten. Tränen liefen in seinen Bart. Niemand hielt ihn auf, als eine weitere Öllampe an der Wand zerplatzte und ihr Feuer darüber ergoss. Erst bei der dritten Lampe fiel ihm Majela in den Arm. Sie schlug Bruus die Lampe aus der Hand. Zu spät, dachte Pieroo, als er den schwarzen Rauchwolken nachblickte, die in den Himmel stiegen. Das Holz war zu nass, um richtig zu brennen, und schon jetzt gingen die ersten Flammen aus, aber der Rauch wollte nicht nachlassen. Er war ein Signal ihrer Präsenz, so deutlich zu sehen wie die Leuchtkugeln, die Soldaten manchmal während der Jagd abschossen, wenn sie Beute gemacht hatten, die zu schwer war, um sie ohne Hilfe ins Lager zu bringen. Nur dass es diesmal die Beute selbst ist, die auf sich aufmerksam macht. Pieroo schluckte bei dem Gedanken. »Nichts wie wech hier«, sagte er, und
es war ihm egal, wie laut seine Stimme klang. *
Tootooz schmeckte die Luft, atmete sie tief ein und ließ sie über seine Zunge gleiten. Es kommt ein Sturm, dachte er, und die dunklen Wolken, die sich am Himmel sammelten, gaben ihm Recht. Ein schwerer Sturm. Er hasste es, an der Spitze zu gehen, auch wenn er wusste, dass es kaum einen besseren Spurenleser als ihn gab. Er setzte dieses Talent gerne zur Jagd ein oder um entlaufene Biisons einzufangen, nicht jedoch, um Hinterhalte aufzuspüren und nach Dämonen zu suchen, die anderen das Gesicht wegfraßen. Und zu allem Überfluss hatte seine Gruppe neben einer Frau jetzt auch noch eine Leiche dabei, eine Kombination, von der jeder wusste, dass sie Unglück brachte. Tootooz sah kurz zu dem Soldaten, der neben ihm ging. Er kannte weder seinen Namen, noch seine Sprache, aber in seinem Gesicht stand die gleiche Angst, die auch er empfand - und das trotz der Schusswaffe, die wie ein Talisman in seiner Hand lag. Ein Geräusch ließ den Soldaten zusammenzucken. Wenn man nicht wusste, worauf man zu achten hatte, konnten die Stimmen des Waldes einem Angst einjagen. Tootooz hatte das schon oft erlebt. Deshalb stieß er den Soldaten leicht an und zeigte ihm die beiden Vögel, die abwechselnd mit ih43
ren Schnäbeln gegen einen Ast schlugen und das Geräusch verursachten. Der Soldat grinste nervös. Tootooz öffnete seinen Blick, so wie er es von seinem Vater gelernt hatte, und ließ ihn über die Bäume, das Unterholz und den Boden gleiten. Da waren Spuren von Tieren, die er noch nie gesehen hatte, Tiere, die bis zu zehn Zehen an jeder Pfote hatten und nur dreibeinig zu sein schienen. Er bemerkte schleimige Reste von etwas, das über den Wildwechsel gekrochen war, dazwischen Vogelspuren und die charakteristischen Löcher, die Spinnenbeine hinterließen. Es gab nur wenig große Tiere in diesem Wald, das sagten ihm die abgeknickten Äste und die blankgewetzte Baumrinde, an der sich Tiere gerieben hatten. Auf halber Speerhöhe endeten die meisten Schäden. Die Fratze in den Blättern tauchte so unerwartet auf, dass Tootooz noch nicht einmal Zeit für einen Schrei blieb. Etwas stach in seinen Hals, kurz und schmerzhaft wie ein Moskiito, dann versank seine Welt in dunkelster Nacht. *
Majela reagierte instinktiv. Das Explosivgeschoss ihres Drillers schlug zwischen zwei Bäumen ein, dort wo das Gesicht aufgetaucht war. Überall um sie herum knallte es, als die Soldaten und Krieger ihrem Beispiel folgten. Blätter und Holzstücke regneten auf sie herab. Lehm spritze hoch. Ganze Äste wurden von Bäumen abgesprengt. Einige bohrten sich wie Speere in den Boden. 44
»Aufhören!« Majela versuchte sich über den Lärm bemerkbar zu machen. »Hört auf zu schießen!« Nach dem vierten Anlauf ließen die Schüsse endlich nach. Die meisten Krieger und Soldaten waren hinter umgestürzten Bäumen und breiten Büschen in Deckung gegangen. Nur Pieroo stand breitbeinig über dem reglosen Tootooz, in einer Hand einen Driller, in der anderen ein Schwert. Majela drehte sich nach Jed um und sah, wie er die Leiche hinter einen Busch zog. Stille senkte sich über den Wald. Die Vögel waren verstummt, und die einzigen Geräusche, die man ab und zu hörte, war das Knacken eines Astes und das nervöse Räuspern eines Mannes. Majela spürte die Blicke, die man ihr zuwarf. Sie war die ranghöchste Offizierin und damit automatisch Befehlsgeberin, auch wenn sie sehen konnte, dass Laramy lieber selbst über ihr Vorgehen entschieden hätte. Pech, dachte sie und hob die Hand. Wochenlang hatten sie und Garrett die Kommandos mit den Kriegern geübt, und das zahlte sich jetzt aus. Bereits nach der ersten Bewegung begriffen sie, was zu tun war. Vorsichtig und jede sich bietende Deckung ausnutzend setzten sie ihren Weg fort. Ihre Blicke und Waffen waren ständig auf die undurchdringliche Wand gerichtet. Pieroo hatte sich den wesentlich kleineren Tootooz über die Schulter geworfen. Majela war erleichtert, als sie dessen rhythmische Atembewegungen sah. Hinter ihr mühte sich Jed mit der Leiche ab. Sie fragte sich, warum ihm niemand dabei half, aber noch bevor sie et-
was sagen konnte, brach Private Blayre ihr gegenüber zusammen. In seinem Hals steckte ein kleiner, mit einer einzigen winzigen Feder verzierter Pfeil. Nur zwei Schüsse fielen, bevor die Männer wieder in Deckung gingen. Majela zog Blayre mit sich und tastete nach seinem Puls. Er schlug langsam, aber regelmäßig. »Sie schießen mit Betäubungspfeilen!«, rief sie und hörte, wie Jed ihre Worte übersetzte. »Ein Kratzer genügt, um euch außer Gefecht zu setzen.« Eine innere, etwas naive Stimme fragte, weshalb die Angreifer ihre Opfer nur betäubten, und eine andere Stimme antwortete, weil sie kein Fleisch essen konnten, das sie vorher vergiftet hatten. Majela wünschte sich, die andere Stimme hätte ihr diese Erkenntnis erspart. »Okay«, sagte sie laut und ignorierte Laramys missbilligenden Blick. Zwar hatte sie selbst ein Sprechverbot verhängt, aber da die Feinde ohnehin wussten, wo sie waren, hatte sich das von selbst erledigt. »Wir sehen hier nicht gut aus, deshalb ändern wir unsere Taktik. Jeder -« Schüsse unterbrachen sie. Majela fuhr herum. Pieroo war hinter seiner Deckung aufgestanden und jagte einen Schuss nach dem anderen in den Wald. Sie wollte ihn anschreien aufzuhören, doch dann sah sie, was er längst gesehen hatte. Der Wald raste ihnen entgegen. Nein, korrigierte sie, nicht der Wald, sondern Gestalten stürmten auf sie zu, grün angemalt und mit Blättern getarnt. Sie trugen Blasrohre, Bögen und Speere
und stießen hohe, pfeifende Laute aus, die in den Ohren schmerzten. Es war unmöglich zu sagen, wie viele es waren, vielleicht fünfzig, vielleicht hundert. Die Hauptstreitmacht, dachte Majela. Die Vorhut hat uns nur aufgehalten. Jetzt kommt der richtige Gegner. Sie sprang auf. »Rückzug!« Dieses Mal benötigte niemand eine Übersetzung. Das Kommando musste den meisten wie eine Erlösung erscheinen. Endlich konnten sie das aufgestaute Adrenalin loswerden, rannten schießend, stolpernd, aber doch einer gewissen Ordnung folgend den Pfad entlang - und hinein in den Pfeilhagel. *
Wie rennt man mit einer zweihundert Pfund schweren Leiche?, war die Frage, die sich Jed Stuart mit wachsender Verzweiflung stellte. Sehr langsam, lautete die Antwort, die er darauf gefunden hatte. Um ihn herum herrschte Chaos, Schüsse fielen, Äste explodierten, die Schreie der Krieger vermischten sich mit den Lauten der Kannibalen. Pfeile bohrten sich in Baumstämme und mehr als ein Mal zuckte die Leiche auf seinem Rücken, wenn ein Speer in sie einschlug. Der Regen war zurückgekehrt, viel stärker als zuvor. Einer Wasserwand gleich fiel er vom Himmel, kaum gebremst von Blättern und Bäumen. Obwohl es gerade mal Mittag sein musste, wurde es plötzlich dunkel. Der Wind peitschte den Regen in seine Augen und nahm ihm die Sicht. 45
Ich darf die anderen nicht verlieren, dachte er, darf nicht allein mit diesen Bestien zurückbleiben … Die Soldaten waren nur Schatten im Regen. Sich nach ihnen zu richten, war gefährlich, denn ebenso gut konnte ein Kannibale hinter dem Schatten stecken. Also konzentrierte er seine Anstrengungen auf das Mündungsfeuer, das immer wieder vor ihm aufblitzte. Ein Mal glaubte er Majelas Stimme zu hören, die seinen Namen rief, aber er wagte es nicht zu antworten, aus Angst, die Verfolger auf seine Fährte zu locken. Angst. Sie war es, die ihn antrieb, die ihn einen Schritt nach dem anderen machen ließ, obwohl seine Knie zitterten und seine Schultern so heftig schmerzten, dass er kaum den Kopf drehen konnte. Er hatte Angst zu sterben, allein im Regen zu Boden zu sinken, den Pfeil zu spüren und zu wissen, dass die Dunkelheit endlos sein würde. Der Gedanke zwang ihn weiter, dem nächsten Mündungsfeuer entgegen. Big'Jaaks zerstörtes Gesicht ruhte auf seiner Schulter. Die lidlosen Augen schienen ihn anzustarren. Sein Fuß stieß gegen etwas Hartes. Jed schrie unwillkürlich auf, als er das Gleichgewicht verlor und stürzte. Lehm drang ihm in Mund und Nase, und Big'Jaaks schwerer Körper drückte ihn nur noch tiefer in die Pfütze hinein. Er spuckte Schlamm aus, drehte sich unter der Leiche, um sie beiseite zu schieben - und erstarrte. Sie waren nur Schemen, aber Jed hätte sie nie mit Soldaten verwechselt. Ihr Gang war seltsam abgehackt, und 46
sie wirkten auf eine merkwürdige Weise falsch. Er grub sich tiefer in den Schlamm hinein, bewegte die Arme wie ein Schwimmer, um seinen und Big'Jaaks Körper damit zu bedecken. Die Schemen kamen näher, glitten konturlos und verschwommen durch den Sturm. Entsetzt bemerkte Jed, dass der Regen den Schlamm sofort wegspülte. Big'Jaaks Leiche war fast vollkommen frei. Sein Rücken war gespickt mit Pfeilen. Die Schemen waren fast heran. Jed schloss die Augen, als er ihre Schritte über das Prasseln des Regens hinweg hörte. Es konnte nur noch eine Frage von Sekunden sein … Er wartete. Der Schlamm war so kalt, dass er zu zittern begann. Ein Geschmack nach modriger Fäulnis lag auf seiner Zunge, aber er wagte nicht auszuspucken. Irgendwann hob Jed den Kopf. Die Schemen waren nirgendwo zu sehen, nur der Regen fiel auf ihn herab. Für einen Moment fragte er sich, ob sie vielleicht nie existiert hatten. Dann stand er auf, lud sich Big'Jaak wieder auf den Rücken und taumelte weiter. Er bemerkte erst, dass er zusammengebrochen war, als jemand das Gewicht von seinem Rücken nahm. Benommen sah er auf zu dem Lager vorne am Fluss, zu den Panzern, die in Stellung gebracht wurden, und zu Majela, die ihm entgegenlief. Hände halfen ihm auf, Krieger gratulierten lautstark. Pieroo legte eine Hand auf seine Schulter. »Niemand hättes dir übel nommen,
wenn du ohne Big'Jaak abgehaun wärs«, sagte er. »Warum hastes nich getan?« Jed öffnete den Mund, erkannte dann jedoch, dass er keine Antwort auf die Frage hatte. »Der Gedanke«, sagte er zögernd, »ist mir einfach nicht gekommen.« *
Jacob Smythe spürte die Blicke der Verschwörer in seinem Rücken, als er an den Barrikaden entlangging. Seit Wochen hörte er ihr Tuscheln, wenn sie glaubten, allein zu sein, bemerkte, wie sie zusammenstanden und in verschiedene Richtungen verschwanden, wenn sie ihn sahen. Ihre Verschwörung war so dumm und offensichtlich, dass er sich in manchen Nächten in den Schlaf gelacht hatte. Rückblickend betrachtet war das ein Fehler gewesen, aber er hatte das Ausmaß der Verschwörung einfach unterschätzt. Auch der Herr der Welt ist vor Irrtümern nicht gefeit, dachte Smythe versöhnlich. Und die Gelegenheit ist günstig, um diesen Fehler zu korrigieren. Der zu erwartende Kannibalenangriff hatte alle in Panik versetzt. Lynne hatte die Flöße in provisorische Barrikaden verwandeln lassen und die Panzer mit Soldaten besetzt. Sie selbst hockte ebenfalls in einem der Tauchpanzer, zweifellos um fliehen zu können, sollte das Lager überrannt werden. Smythe hatte es abgelehnt, mit ihr zu warten. Bei dem, was er plante, hätte sie nur gestört.
Um ihn herum wurden Bäume gefällt und Palisaden errichtet. Der primitive Aberglauben der Barbaren machte aus degenerierten Menschenfressern dämonische Wesen mit übermenschlichen Kräften. Es überraschte Smythe, dass sich so viele der halbwegs gebildeten WCA-Agenten davon beeindrucken ließen. Das Wort »Kannibale« schien Menschen mit geringem Intellekt zu schockieren und zu verängstigen. Er gehörte selbstverständlich nicht dazu, betrachtete den bevorstehenden Angriff im Gegenteil als Gelegenheit, um die Verschwörung inmitten der Expedition zu dezimieren und vielleicht sogar ganz auszumerzen. Das hing davon ab, wie gut sich sein Feind vorbereitet hatte. Stuart. Smythe fiel das Eingeständnis, monatelang überlistet worden zu sein, immer noch schwer. Die »ähs« und »hms« des Wissenschaftlers, seine Angst und Nervosität, all das hatte ihn getauscht, hatte ihn, der sonst jeden potentiellen Feind sofort erkannte und eliminierte, in eine trügerische Sicherheit gewiegt. Zumindest bis eben, als Stuart nur Minuten bevor ein Trupp losgeschickt werden sollte, um nach ihm zu suchen, mit einer Leiche auf dem Rücken aus dem Wald gestolpert war. Smythe hätte geschworen, dass er zwischen den Bäumen gewartet hatte, bis ihm die Aufmerksamkeit am größten und der Moment am günstigsten schien. Damit hatte er das Ziel, auf das er seit Beginn der Expedition hingearbeitet haben musste, endlich erreicht: Die Barbaren vertrauten ihm vollkommen. Das war ein weiterer Fehler, den 47
Smythe vor sich eingestehen musste. Er hatte sich zu stark auf die WCA-Offiziere konzentriert und dabei übersehen, welches Potential die Primitiven darstellten. Und so war ein zweiter Machtblock in dieser Expedition entstanden, ohne dass er es bemerkt hatte. An seiner Spitze stand Stuart, daran hegte Smythe keinen Zweifel, aber es würde schwierig werden, ihn zu beseitigen, da er fast immer von Barbaren umgeben war. Es gab jedoch noch einen anderen Weg, der zwar nicht wesentlich subtiler, dafür aber mit einer nur geringen Gefahr verbunden war. »Welche Macht hat ein Kopf schon«, flüsterte er, »wenn man ihn vom Körper trennt?« Smythe lächelte und wartete auf den Angriff der Kannibalen. *
Rick Davies sank erschöpft zur Seite. Seine Stirn lag heiß auf dem kalten Felsen. »Es hat keinen Sinn«, sagte er und erschrak über den krächzenden, kranken Klang seiner Stimme. »Die Fesseln sitzen zu fest.« Er spürte Deeths Finger auf seinen wundgescheuerten Handgelenken. »Noch ein Versuch …« »Okay, wenn du meinst.« Davies war zu müde, um zu widersprechen. Seine Hände pochten im Rhythmus seines Herzschlags und fühlten sich an, als seien sie auf doppelte Größe angeschwollen. Wer auch immer sie gefesselt hatte, war ein Könner auf seinem Gebiet. Egal, welchen Strang der Seile sie lösten, die Fesseln zogen sich nur 48
weiter zu. Er war wohl eingeschlafen, denn als er das nächste Mal die Augen öffnete, war das Licht, das durch den Eingang in die Höhle fiel, fast verloschen. Draußen musste die Abenddämmerung eingesetzt haben. Die langen Schatten der Bäume waren auf dem Boden kaum noch zu sehen. »Deeth?«, fragte er und wurde für einen Moment von der Angst übermannt, allein zu sein. »Ich bin hier.« Davies drehte den Kopf. Ein plötzlicher Schmerz schoss durch seine Schläfen und ließ ihn aufstöhnen. »Wir werden es nicht schaffen, oder? Ich meine, zu fliehen.« Er hörte, wie kleine Steine über den Felsen rutschten, als Deeth sich bewegte. »Nein, keine Flucht schaffen.« Seine Stimme klang jetzt näher. »Du bist zu krank.« Davies hustete und glaubte, sein Kopf müsse platzen. Die Schmerzen trieben ihm Tränen in die Augen. »Ich verstehe nicht, warum sich niemand um uns kümmert. Wir könnten verdursten, ohne dass es jemand merkt.« Er versuchte den Gedanken an Wasser zu verdrängen. Sicherlich hatte man sie nicht in diese Höhle gebracht, damit sie hier verrotteten. Das ergab keinen Sinn. »Wer, glaubst du, hat uns entführt?« Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie entführt worden waren und dass wer auch immer dahinter steckte, vermutlich Waffen oder Vorräte wollte. Davies
hoffte auf Captain Crows Kooperation. »Junge Krieger«, sagte Deeth, »eine Mutprobe. Oder alte Krieger. Waffen.« »Dann haben sie auch keinen Grund uns umzubringen, oder? Wir bringen doch nur lebend was ein.« »Ja«, war alles, was sein Mitgefangener antwortete. Davies wusste, dass er nach Strohhalmen griff. Eine Chance zur Flucht gab es nicht, das Fieber raste durch seinen Körper und er brauchte jedes kleine bisschen Hoffnung, das er kriegen konnte. Und wenn es nur die optimistischen Worte eines Barbaren waren. Ein Stich in seiner Lunge brachte ihn zum Husten. Er holte keuchend Luft und schmeckte Blut. »Wieso …«, begann er, um sich abzulenken, und hustete erneut. »Wieso bist du mitgekommen … auf die Expedition? Wegen Geld?« »Was sonst?« Deeth war nur eine verschwommene Silhouette in den Schatten. Davies kniff die Augen zusammen, aber er konnte ihn nicht deutlicher erkennen. »Ich war Kämpfer … Fistadeeth … hast nie gehört?« »Nein, ich mag keine Schaukämpfe.« »Ich war gut. Schnell. Hab aber aufgehört.« Davies zwang sich wach zu bleiben. Seine Augenlider waren schwer geworden. Salziger Schweiß lief über seine, Lippen. »Warum?«, fragte er. »Zu gefährlich.« Deeths lakonische Antwort brachte ihn zum Lachen. Er hustete, lachte und hustete. »Zu gefährlich? Und dann heu-
erst du bei uns an?« »Hab nicht gesagt, ich bin klug. Ich …« Der Rest des Satzes ging in Davies' Husten unter. Seine Lunge schien zerrissen zu werden. Er spuckte Blut und Schleim, hustete so lange, bis schwarze Flecken vor seinen Augen tanzten und er beinahe das Bewusstsein verlor. »Ich bleibe bei dir«, hörte er Deeths beruhigende Stimme neben sich. »Du wirst nicht allein sterben.« »Ich will überhaupt nicht sterben.« Davies krächzte nur noch, wusste nicht, ob er überhaupt zu verstehen war. »Hörst du … ich will nicht sterben.« Deeth schwieg. *
Alle hatten Angst. Pieroo sah die Furcht in den Gesichtern seiner Krieger, in ihren fahrigen Bewegungen und dem Flackern ihrer Blicke. Er sah sie auch bei den Soldaten, die an den Panzern lehnten und seit Stunden mit tränenden Augen in den Wald starrten, wartend, hoffend, dass der Angriff ausblieb. Nur bei einem sah er sie nicht: Smythe. Der stolzierte an den Barrikaden vorbei, als gäbe es nichts, worüber man sich Sorgen machen musste. Sein Pferdeschwanz wippte auf und ab, und manchmal sah er ungeduldig auf die kleine Uhr, die er am Handgelenk trug. Pieroo hatte den Eindruck, dass er sich auf den Angriff freute. Und noch etwas anderes bemerkte er. Im Gegensatz zu allen anderen beob49
achtete Smythe nicht den Wald, sondern die Männer und Frauen, die hinter den Barrikaden hockten. Er schien sich die Position jedes Einzelnen einzuprägen. Ich frage mich, dachte Pieroo, wo die größere Gefahr lauert. Dort draußen oder hier drinnen … Er sah hinauf zu den Bäumen, hinter denen die Sonne dunkelrot und hinter Wolken verborgen versank. Die Nächte kamen schnell in diesem Land, und schon bald würde im Wald nichts mehr außer Dunkelheit zu sehen sein. Vielleicht war es das, worauf die Angreifer warteten. »Key!« Ru'alays Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Pieroo drehte sich um. »Was ist los?« Trotz der Situation, in der sie steckten, musste er grinsen. Sie schrien sich an wie zwei alte Männer beim Biirgelage. Ru'alay deutete auf einen der beiden Panzer, dessen Eingangsluke offen stand. Sergeant Laramy stieg gerade die Leiter herunter, dicht gefolgt von Lynne Crow, die den Doc heranwinkte, so wie sie es immer tat, wenn sie Übersetzungen benötigte. »Ist das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?«, fragte Ru'alay. Pieroo hob die Schultern. Es entging ihm nicht, dass Smythe direkt neben Crow trat, als müsse er betonen, wie eng ihre Beziehung war. »Folgendes habe ich beschlossen«, sagte die Frau, die ihrer aller Leben in der Hand hatte. Jed übersetzte, bevor sie weitersprach. »Die Barrikaden werden abgebaut und die Flöße zu Wasser gelassen. Wir werden bis zum Morgen 50
durchfahren. Niemand, egal ob auf den Flößen oder in den Panzern, wird schlafen oder reden. Wir halten höchste Alarmbereitschaft.« Ihr Blick glitt an den Männern und Frauen vorbei. »Wer beim Reden erwischt wird, erhält eine Strafe von zehn Stockschlägen. Wer beim Schlafen erwischt wird, fünfzig Stockschläge. Das gilt für Söldner, WCA-Soldaten und Zivilisten.« Einen Raunen ging durch die WCAReihen. Der Doc sah Crow überrascht an, bevor er den letzten Satz übersetzte. Einige Krieger nickten grimmig. Es verschaffte ihnen Genugtuung, wenigstens in einem Punkt mit den Uniformträgern gleichgestellt zu sein. »Das ist gerecht«, sagte auch Ru'alay. Pieroo nickte und teilte seine Männer mit einigen kurzen Handzeichen ein. Gemeinsam banden sie die Floßteile wieder zusammen, während einige Soldaten mit ihren Drillern und Gewehren Wache hielten. Die Hektik war so groß, dass zwei Männer beinahe unter einem manövrierenden Panzer begraben worden wären, doch dann hatten sie auch die letzte Ausrüstung auf den Flößen verteilt und waren wieder auf dem Wasser. Dieses Mal fuhren sie in anderer Anordnung. Beide Panzer fuhren voraus und zogen die Flöße. Pieroo war sicher, dass sie, wenn es die Situation erforderte, die Taue kappen und fliehen würden. Crow kennt nur die Loyalität, zu sich selbst und zu Smythe, hatte Majela ihn einmal gewarnt. Er hatte ihre Worte nie vergessen, und auch jetzt, als er nach den beiden Drillern tastete, die er beim
Beladen des Panzers gestohlen hatte, dachte er daran. Seine eigene Loyalität galt seinen Freunden und seinem … er zögerte, bevor er beschloss, dass die Menschen auf den Flößen wirklich sein Stamm und er ihr Häuptling war. Wenn es zur Konfrontation kommen sollte, wusste er, wo sein Platz war. Die Suchscheinwerfer der Panzer glitten über den Fluss, rissen Treibholz und dicht unter der Oberfläche schlafende Fischschwärme aus der Dunkelheit. Äste kratzten an den Flößen entlang und ein Mal sahen sie sogar den aufgeblähten weißen Körper eines Tieres, der langsam an ihnen vorbei trieb. Niemand sagte etwas, alle starrten nur hinaus zum Ufer und auf den Fluss, dessen Wasser schwarz wie geronnenes Blut war. Vielleicht war es der Gedanke an Blut, vielleicht auch eine unterbewusst gespürte Warnung, die Pieroo plötzlich zur Seite treten ließ und dafür sorgte, dass der Speer den Kopf des Mannes hinter ihm spaltete und nicht seinen eigenen. »Angriff!« Die Rufe gellten über die Flöße. Männer und Frauen rissen die Holzschilde, die sie aus den Barrikaden geschlagen hatten, über ihre Köpfe. Ein Hagel von Pfeilen ging auf sie nieder, bevor sie das Feuer erwidern konnten. Pieroo zog die Driller aus seinen Taschen und richtete sie auf das Ufer. Leuchtkugeln stiegen aus den Panzern auf, tauchten Bäume, Sträucher und umherhuschende Silhouetten in ein seltsam orangefarbenes Licht. Pieroo schoss, zwei Mal, drei Mal, konnte jedoch nicht sagen, ob er Holz oder Men-
schen traf. Neben ihm feuerten Männer Pfeile ab oder warfen Speere, die im Deck stecken geblieben waren. Jetzt endlich richteten sich auch die Scheinwerfer der Panzer auf das Ufer, aber die Bäume schluckten das meiste Licht, ließen nur die Angreifer erkennen, die sich bis an den Fluss oder bereits bis ins Wasser vorgewagt hatten. Pieroo erschoss zwei von ihnen Nur wenige Lidschläge später verlosch der erste Scheinwerfer mit einem Knall. Der andere wurde rasch zur Seite gedreht und strich über die Flöße hinweg. Männer fluchten laut, als das Licht sie blendete, bevor es das andere Ufer erreichte. Ein Knall, und er war ebenfalls verloschen. Die Dunkelheit stürzte auf Pieroo herab und trennte ihn von der Welt wie eine Mauer. Eine Unendlichkeit lang sah er nichts außer einem weißen Fleck, der Erinnerung an das Licht des Scheinwerfers, dann kehrte seine Nachtsicht langsam zurück. »Sie sind auf beiden Seiten!«, rief der Doc über den Lärm der Kanonen und das Donnern der Driller hinweg. Eine Stimme auf den Panzern antwortete. »Sie sind im Wasser!« Im gleichen Moment setzte sich das Floß mit einem Ruck in Bewegung. Pieroo konnte sich abstützen, hörte jedoch den Schrei eines Mannes, der ins Wasser stürzte. Das Mündungsfeuer der Gewehre stach in die Nacht. Beißender Rauch zog an den Flößen vorbei, die jetzt an Fahrt gewannen. Einige Krieger feuerten die Panzer an, als wären es Andronen, die bei einem Rennen liefen. Andere schossen weiter, bis der Pfeilregen 51
aufhörte und sie erschöpft und erleichtert auf das Deck sanken. Pieroo wollte sie alle zu ihrem Mut und ihrem Kampfesgeist beglückwünschen, doch dann fiel sein Blick auf Wiilem, den Floßbauer vom Miispii, der mit schräg gelegtem Kopf am Rand des Floßes stand und auf das Wasser starrte. »Was is?«, fragte er. »Ist nicht gut.« Der ältere Mann pflückte eine Laus aus seinem grauschwarzen Bart und zerbiss sie nachdenklich. Er sprach gerade so laut, dass Pieroo ihn verstehen konnte. »Ich kenn den Fluss hier nicht, aber der Miispii, wenn der so ruhig wird, heißt das, bist vom Weg abgekommen, hat dich der Troll, der auf dem Grund wohnt, in einen Seitenarm gezogen.« Er zog prüfend die Luft ein. »Und wenn er so anfängt zu stinken, heißt das, ist viel Schlamm im Wasser. Der Grund ist nah. Kann man leicht -« Weiter vorne, dort, wo die Panzer als schwarze Blöcke in der Nacht lagen, knirschte es laut. »Scheiße!«, brüllte Sergeant Laramy. »… auflaufen«, beendete Wiilem seinen Satz. Die Flöße verloren an Geschwindigkeit und kamen kurz hinter den Panzern zum Halten. Alle Krieger standen jetzt wieder, spielten nervös mit den Waffen in ihren Händen. Die Panzer kämpften gegen den Schlamm und wühlten das Wasser auf, bis das Brummen ihrer Maschinen hoch und unregelmäßig wurde. Aus den Augenwinkeln bemerkte Pieroo, dass der Doc neben ihn getreten war und zum Ufer sah. Er sagte etwas, 52
aber zu leise, um es zu verstehen. Er wollte ihn bitten, lauter zu sprechen, doch im gleichen Moment wurde das Wasser um die Flöße herum lebendig. Die Kannibalen waren da! *
»Vorsicht!« Smythe ließ sich instinktiv fallen und hörte, wie ein Speer gegen das Metall des Panzers donnerte. Brackiges Wasser schlug über ihm zusammen. Seine Hand streifte einen menschlichen Körper, dann tauchte er spuckend und fluchend auf. Die drei schlammbeschmierten Angreifer entdeckte er erst, als der erste sich auf ihn warf. Smythe fiel zurück, presste ihm den Driller gegen den Bauch und drückte ab. Der Mann wurde förmlich aus dem Wasser katapultiert und verschwand in der Dunkelheit. Dem zweiten Angreifer schoss er in den Kopf, der dritte tauchte ab, bevor Smythe ihn erwischen konnte. Schwerfällig watete er durch den knietiefen Schlamm. Der Geruch nach Blut, die Schreie der Sterbenden und das hohe Knattern der Schnellfeuergewehre erregte ihn, ließ ihn beinahe vergessen, aus welchem Grund er wirklich kämpfte. Hinter Smythe feuerten die festsitzenden Panzer ununterbrochen auf die Ufer. Mit einer Todesverachtung, die er fast schon bewunderte, stürzten sich die Kannibalen dem Ufer entgegen. Im Stroboskoplicht des Mündungsfeuers wirkten ihre Bewegungen abgehackt und fast schon komisch. Er hatte den
Eindruck, dass etwas mit ihren Körpern nicht stimmte. Um ihn herum arbeiteten sich Barbaren und Soldaten langsam nach vorne auf das Ufer zu. Leichen trieben im Wasser. Ein paar hatten Speerwunden, aber die meisten schienen von Giftpfeilen getroffen und dann ertrunken zu sein. Smythe kümmerte das nicht. Die Vorsehung entschied, wer lebte und wer starb, und wenn sie einmal versagte, half er gerne nach. Beinahe abwesend feuerte er auf einen Kannibalen, der ihm zu nahe gekommen war, während sein Blick in dem nächtlichen Chaos nach seinen Opfern fahndete. Er fand Jed Stuart in der hintersten Linie der Kämpfer, dort wo er ihn vermutet hatte. Einige Augenblicke lang spielte Smythe mit dem Gedanken, ihn einfach zu erschießen, aber er war von Kriegern umgeben und so weit von den nächsten Angreifern entfernt, dass ein Unfall zu unwahrscheinlich erschien. Smythe drehte sich nach Phobos um, konnte ihn jedoch nicht entdecken. Das Szenario, das in seinem Kopf Gestalt angenommen hatte - Phobos mit dem Messer in der Hand zu Stuart schicken und ihn anschließend für den Mord hinzurichten - zerplatzte wie der Kopf des Kannibalen vor ihm. Und dann sah Smythe Ncombe. Sie stand auf dem Panzer, der weiter vom Ufer entfernt war, und schoss ins Wasser, verhinderte, dass die Barbaren, die sich weiter nach vorne kämpften, von zwei Seiten angegriffen werden konnten. Eine uniformierte Gestalt lag reglos neben ihr, ob verletzt oder tot, war nicht
zu erkennen. Smythe tauchte unter, stieß sich mit den Füßen aus dem Schlamm ab. Das Wasser war fast schwarz, so sehr hatten die kämpfenden Parteien den Untergrund aufgewühlt. Lehm bedeckte innerhalb von Sekunden seine Kleidung und sein Gesicht, ließ ihn mit der Nacht und dem Wasser verschmelzen. Er machte sich keine Sorgen, dass man ihn mit einem Kannibalen verwechseln könnte. Die Vorsehung hatte ihn nicht an diesen Ort gebracht, um ihn dann umzubringen. Das war ausgeschlossen. Seine ausgestreckten Finger stießen gegen Metall. Smythe schob den Kopf aus dem Wasser, ertastete die Leiter, die zur offen stehenden Einstiegsluke führte, und zog sich hoch. Der Lärm des Schnellfeuergewehrs war ohrenbetäubend. Patronenhülsen bedeckten die Panzeroberfläche und rollten links und rechts von Smythe in den Fluss. Wer auch immer an den Waffenkontrollen saß, nahm den Finger nicht von der Dauerfeuertaste. Auf allen Vieren umrundete Smythe die Aufbauten des Panzers. Das Metall war glitschig und zwei Mal wäre er beinahe abgerutscht, bevor er Ncombe endlich sah. Sie drehte ihm den Rücken zu, war völlig auf ihre Aufgabe konzentriert. Das regelmäßige tiefe Donnern des Drillers klang wie ein Bass unter dem Stakkato der Gewehre. Kurz bevor er sie erreichte, stand Smythe auf und packte seinen eigenen Driller am Lauf. Für den Fall, dass man sie fand, verzichtete er auf die Genugtuung, sie zu 53
erschießen. Kurz sah Smythe sich um, zu Corporal Leary, der mit gebrochenen Augen und fünf Pfeilen in der Brust am Boden lag, und dann zu dem anderen Panzer, der in der Dunkelheit kaum zu erkennen war. Keine Zeugen; er und Ncombe waren allein. Smythe holte gerade mit dem Driller aus, als sie herumfuhr, dass ihre im Nacken zusammengebundenen Rastalocken flogen. Vielleicht hatte sie ihn gehört, vielleicht seine Anwesenheit unterbewusst erahnt, aber in ihren schreckgeweiteten Augen sah Smythe nur Entsetzen und die plötzliche Erkenntnis, dass ihr Leben vorüber war. Er genoss diese Sekunde, diesen erregenden, lange ersehnten Moment der Macht. Dann schlug er zu. Ncombe schrie nicht. Sie sackte einfach nur in sich zusammen und rutschte vom Panzer. Smythe sah zu, wie sie auf den Fluss hinausgetrieben wurde. Erst als Kannibalen wie dunkle Geister neben ihr auftauchten, wandte er sich ab und glitt zurück ins Wasser. Hinter ihm verstummte der Lärm der Gewehre. Die Schlacht war vorüber. Smythe benutzte Begriffe wie »Tragödie« und »schrecklich«, Floskeln wie »in Erfüllung ihrer Pflicht« und »für ihr Land«, als er am Ufer eintraf und von Ncombes Schicksal berichtete. Er sah etwas in Stuarts Blick zerbrechen und unterdrückte ein Kichern. Schließlich musste er sich doch abwenden und sein Lachen verbergen, als drei Barbaren nicht ausreichten, um Stuart davon abzuhalten, zum Fluss laufen. Selbst Pieroos gebrülltes »Sie ist doch schon 54
längst tot!« zeigte keine Wirkung. Erst ein Faustschlag stoppte ihn. Was für eine Nacht, dachte Smythe, der jede Sekunde der Vorstellung genossen hatte. Ein Stück entfernt fesselte Pieroo den noch bewusstlosen Stuart an einen Baum. Die Geliebte des Verschwörers tot, er selbst vernichtet. Er erlaubte sich ein kurzes heimliches Lächeln, als die Erkenntnis, den Krieg noch vor seinem eigentlichen Beginn gewonnen zu haben, warm und prickelnd in ihm aufstieg. Sex mit Lynne erschien ihm als eine geeignete Belohnung für den errungenen Sieg, auch wenn er noch nicht vollkommen war. Zuerst musste er der Verschwörung endgültig den Kopf abschlagen. Smythe schnippte mit den Fingern. »Phobos!« *
Fieberträume. Er ist in der vierten Klasse. Bonnie Reaper, die kleine Bonnie Reaper mit ihren lustigen Locken und dem Plüschdinosaurier, den sie überall mit hinnimmt. Ricky mag den Dinosaurier nicht, weil seine Augen so kalt sind, kalt wie der Stuhl, auf dem er sitzt. Bonnie und er spielen Galgenmännchen mitten im Verfassungsunterricht. Mr. Smythe ist ein langweiliger Lehrer, aber Ricky hat Angst vor ihm, weil er manchmal so schreit. Sein Dad sagt, er hat irgendwas im Kopf, das ihn komisch macht. Das Galgenmännchen ist fast fertig. Ricky wird verlieren. Er will nicht verlieren. »Ich will nicht sterben.« Davies riss die Augen auf sah Ster-
nenlicht und schwarze Bäume. Sie bewegten sich und er glaubte auf einem Schiff zu sein. Erst nach einer Weile spürte er Holz unter seinem Rücken und begriff, dass man ihn trug. »Deeth?«, fragte er in die Dunkelheit. Seine Stimme war nicht mehr als ein Hauch. Die Antwort blieb aus. »Deeth?« Lauter dieses Mal, aber immer noch so schwach, dass er sich selbst kaum hörte. Er versuchte den Kopf zu heben, aber sein Körper bewegte sich nicht. Die Anstrengung überwältigte ihn. Schwärze stieg vor seinen Augen empor. Ricky will mit dem Spiel aufhören, aber Bonnie lacht ihn aus. Nur noch zwei Striche, dann ist das Galgenmännchen fertig. Ricky weiß, was dann passieren wird. Er hat Angst davor, mehr Angst als vor Mr. Smythe. »Bonnie«, sagt er, »zeichne nicht weiter. Lass mich nicht verlieren«, aber die kleine Bonnie Reaper mit ihren traurig herabhängenden Locken und den Augen, die so kalt wie die eines Plüschsauriers sind, lächelt ihn nur an. »Du wirst verlieren«, sagt sie. Ihre Stimme ist dunkel. Es ist Mr. Smythes Stimme, und Ricky weiß, dass er ihn beim Spielen erwischt hat. Er sieht von seinem Tisch auf. Mr. Smythe steht vor ihm und greift nach seinen Händen. Ricky weiß, dass er ihn bestrafen wird. Mr. Smythes Finger sind rau. Sie umklammern seine Handgelenke. Wenn er nur nicht so schreien würde … Die Schreie schmerzten in seinen Ohren. »Mr. Smythe?« Davies spürte, wie sein Kopf von einer Seite zur anderen
pendelte. Er kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben, versuchte sich trotz der furchtbaren Schreie und der Schmerzen zu konzentrieren und den Traum abzuschütteln. Man trug ihn nicht mehr, das wurde Davies rasch klar. Erst glaubte er zu stehen, doch da war kein Boden unter seinen Füßen und sein Körper pendelte ebenso haltlos wie sein Kopf. Die Schmerzen in seinen Handgelenken, dort wo Mr. Smythe ihn festgehalten hatte, ließen nicht nach, aber aus den rauen Fingern waren Stricke geworden, die tief in seine Haut schnitten. »Ich hänge irgendwo«, flüsterte oder dachte er. Davies war sich nicht sicher, was von beidem zutraf. Unter ihm ließen die Schreie langsam nach. Durch seine geschlossenen Lider sah er Feuerschein. Über das Rauschen des Blutes hinweg drangen Gesänge und gutturale Laute zu ihm durch. Er versuchte die Augen zu öffnen, hatte jedoch nicht mehr die Kraft. »Gibst du auf?«, fragt Bonnie. Die Spitze ihres Bleistifts berührt das Papier. Ihre Haut ist zerknittert wie die einer alten Frau. »Ja«, sagt Ricky. Er ist müde und will nach Hause. »Ich gebe auf.« Mr. Smythe kommt um den Tisch herum und zieht Ricky an den Handgelenken zu Boden. Ricky ist froh, als er sich hinlegen darf. Die anderen Schüler bilden einen Kreis um ihn. Er kennt keinen von ihnen. Bonnie Reaper kniet neben ihm. Der Plüschsaurier in ihrer Hand hat einen langen glänzenden Vogelschnabel. »Du hast verloren«, sagt Bonnie Rea55
per mit der Stimme von Mr. Smythe. »Ich weiß«, sagt Ricky und schließt die Augen. »Ich will nach Hause.« Der Schnabel berührt seinen Kopf. Er liegt kalt auf seiner heißen Stirn. So kalt wie die Klinge eines Messers. *
Jed Stuart war bereits vor einer Weile zu sich gekommen, doch das ließ er niemanden merken. Zwei Mal hatte Pieroo nach ihm gesehen, zwei Mal hatte er mit geschlossenen Augen gewartet, bis sich die Schritte wieder entfernten. Nur seine Finger bewegten sich und versuchten die Fesseln zu lösen, die ihn an den Baum banden. Am Fluss hörte er laute Stimmen. Die gesamte Expedition war damit beschäftigt, die Panzer aus dem Schlamm zu ziehen. Im Licht der reparierten Suchscheinwerfer hatten die Gestalten die Schatten verzerrter Riesen. Niemand hatte Zeit, einen anscheinend bewusstlosen Mann zu bewachen. Jed spürte einen Stich, als Smythe neben einem der Panzer auftauchte. Für einen Moment sah er wieder sein Gesicht mit den zuckenden, halb grinsenden Mundwinkeln, hörte ihn »Tragödie« sagen und von ihrem Nein, befahl er sich. Denk nicht daran, nur an die Liste. Zuerst die Fesseln, dann sehen wir weiter. Die Liste war ein Schutzwall in seinem Geist, eine Mauer, die er um die Gedanken errichtete, die er sich selbst verboten hatte. Er fühlte ihre Steine bröckeln und wusste, dass er sich beeilen musste. Ihr Zusammenbrach wäre 56
auch der seine. Punkt eins der Liste: Fesseln lösen. Jed biss die Zähne zusammen, als er die Muskeln anspannte und seine Handgelenke zu pochen begannen. Die Stricke hatten sich voll Blut gesogen und waren so glitschig, dass seine Finger immer wieder abrutschten. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass Tiere ihre eigenen Pfoten durchnagten, um aus den Fallen von Jägern zu entkommen. Er schüttelte sich bei dem Gedanken. »Dreh dich nicht um.« Die Stimme hinter ihm war nicht mehr als ein Zischen. Jed erstarrte, spürte Finger auf seiner Hand, dann einen kurzen Ruck. Erleichtert atmete er auf, als der Druck der Fesseln verschwand. Er wollte sich nach vorne lehnen, um den Druck von seinen verkrampften Schultern zu nehmen, aber jemand hielt seine Hände fest. »Er bringt sie um«, flüsterte die Stimme. Jed spürte heißen Atem an seinem Ohr. »Er bringt sie um wie Atalana.« »Phobos?«, fragte Jed leise. Die Gestalt hinter ihm ließ seine Hände los. Er hörte Äste knacken, dann nur noch den Lärm, der vom Fluss zu ihm vordrang. Whispers in a dead man's ear. Die Zeile aus einem Song, dessen Titel er längst vergessen hatte, drängte sich machtvoll zurück in seine Erinnerung. War es das, was Phobos getan hatte? Hatte er sein Geheimnis einem Toten anvertraut, weil er wusste, dass es dort sicher war? Steht mein Tod bereits fest?, dachte Jed, aber die Vorstellung erschreckte
ihn nicht, so wie sie es einst getan hätte. Er wusste, was zu tun war. Punkt zwei der Liste: Leuchtpistole stehlen. Er sah zum Fluss, der von den Scheinwerfern beleuchtet wurde. Für die Leute, die dort mit dem Schlamm rangen, konnte das Ufer nicht mehr als eine schwarze Wand sein. Trotzdem wagte er es nicht aufzustehen, sondern kroch auf allen Vieren zu den Vorratskisten, die man bis zur Waldgrenze getragen hatte, um sie vor dem Schlamm zu schützen. Die Leuchtpistolen lagen in der zweiten Kiste, die er öffnete, die Munition in der vierten. Jed stopfte einige Leuchtkugeln in die Außentaschen seiner Uniform. Er hatte lange darüber nachgedacht, ob er überhaupt eine Waffe mitnehmen sollte, und sich schließlich für eine Leuchtpistole entschieden, weil er hoffte, damit die Eingeborenen erschrecken zu können, sollte man ihn - und er betete zu allen Göttern, von denen er jemals gehört hatte, dass das nicht geschehen würde entdecken. Außerdem hatte er einmal gehört, es sei fast unmöglich mit einer Leuchtpistole daneben zu schießen, und genau so eine Waffe benötigte Jed. »Guten Abend, Doktor Stuart.« Vor Schreck hätte er beinahe aufgeschrien. Sein Kopf zuckte herum und sein Blick fand Helena Lewis, die lautlos neben ihn getreten war. Ihr puppenhaft starres Gesicht war ein weißer Fleck in der Dunkelheit. »Doktor … hm … Lewis.« Jed stand auf und fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare. Helena zeigte keinerlei
Überraschung, ihn ungefesselt und mit einer Leuchtpistole in der Hand zu sehen, aber vielleicht lag es nur daran, dass sie kaum noch Emotionen zu besitzen schien. »Sie haben sich verletzt«, sagte Helena in dem monotonen Tonfall, den sie seit dem Angriff auf ihr Leben angenommen hatte. Sie musste erstaunlich gute Augen haben, wenn sie das Blut auf seinem Handgelenk erkennen konnte. »Kommen Sie, ich werde das desinfizieren.« »Nein!« Er hörte die Verzweiflung in seiner Stimme und wollte eine Erklärung hinzufügen, bezweifelte dann jedoch, dass er einen klaren Satz hervorbringen würde. Also sagte er nur ein zweites Mal, jetzt jedoch ruhiger: »Nein …« Helena Lewis sah ihn schweigend an. Nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, drehte sie sich um und ging langsam weiter durch das Lager. Jed sah ihr nach, bis sie nicht mehr zu erkennen war, dann wandte er dem Fluss den Rücken zu. Punkt drei der Liste: Die Kannibalen suchen. *
Pieroo fluchte und schleuderte die blutigen Stricke gegen einen Baum. »Durchgeschnittn. Jemann hatem geholfe, nur dasses keine Hilfe is, nen Mann innen Tod zu schicke!« Er war so aufgebracht, dass er sich keine Mühe machte, seinen Akzent zu verbergen. Neben ihm ging Ru'alay in die Knie und tastete über den Boden. 57
»War nur ein Mann«, sagte er und erhob sich wieder. Er wischte den Dreck an einigen Blättern ab und achtete sorgfältig auf die Sauberkeit seiner Hände, bevor er damit über seinen Bart strich. »Ein kleiner Mann mit geringem Gewicht. Er trägt keine Stiefel.« Es gab nicht viele, auf die eine solche Beschreibung passte. Die meisten Männer hatte man wegen ihrer Kraft ausgesucht. Nur wenige, so wie Wiilem, der Floßbauer, verfügten über spezielle Fähigkeiten, die fehlende Kraft wettmachte. »Was ist mit -«, begann er, aber eine schneidende Stimme unterbrach ihn. »Wieso seid ihr nicht im Wasser?« Pieroo drehte sich um. Smythe stand vor ihm, eine Hand locker auf den Griff des Drillers gelegt. Seine andere Hand hielt eine tragbare Lampe, deren Licht Pieroo blendete. »Is der Doc«, sagte er so deutlich wie möglich und kniff die Augen zusammen. »Jemann hat ihn befreit un jetzt isser weg.« »Tatsächlich? Wer würde nur so etwas tun?« Pieroo zögerte irritiert. Hinter dem hellen Lichtstrahl glaubte er Smythe grinsen zu sehen. »Wir müsse nen Suchtrupp bilden und innen Wald schicke. Soll ich die Männer sammeln?« Der Lichtstrahl der tragbaren Lampe wanderte über sein Gesicht und dann über Ru'alays. »Das wird leider nicht gehen. Wir können am Fluss keinen Mann entbehren, und sobald die Panzer frei sind, fahren wir ab. Es ist zu gefährlich, eine 58
Suchmannschaft zusammenzustellen oder hier auf Stuart zu warten. Die Kannibalen bereiten sich vielleicht schon auf einen weiteren Angriff vor.« Pieroo bezweifelte das. Zwar hatten sie ihre Toten und Verletzten mitgenommen, aber er schätzte, dass sie fast die Hälfte ihrer Krieger verloren hatten. »Ja, Sir«, sagte er trotzdem, weil Männer, die Smythe widersprachen, den Stock auf dem Rücken spürten. »Gut, dann geht wieder an die Arbeit.« Smythe wandte sich ab und stieß einen schrillen Pfiff aus. Nur wenige Lidschläge später tauchte Phobos neben ihm auf, duckmäuserisch und winselnd wie die zahnlosen Lupas, die fahrende Händler manchmal in den Dörfern anboten. Smythe reichte ihm ein Stück der verpackten Nahrung, die er ständig aß, und strich ihm über den kahlen Schädel. Phobos verbeugte sich so tief, dass er das Gleichgewicht verlor und in den Schlamm fiel. Pieroo bemerkte, wie klein und dünn er war. Ru'alay verschränkte die Arme vor der Brust. »Das war's. Der Doc ist so tot wie sein Weib.« »Noch nicht«, sagte Pieroo. »Noch nicht …« *
Müsste, dürfte, sollte. Die drei Worte des ewigen Verlierers. Er hätte eine Taschenlampe mitnehmen müssen, er hätte sich den Weg einprägen sollen, und vor allem hätte er nicht wie ein Idiot allein in den Wald gehen dürfen. Jed wusste nicht, wie oft er bereits
über Wurzeln gestolpert oder gegen tiefhängende Äste geprallt war, weil er unter dem dichten Blätterdach weder Mond noch Sterne sehen konnte. Der Weg zum Tempel, den er eingeschlagen hatte, weil er annahm, dass der Stamm trotz der Zerstörungen nicht einfach einen heiligen Ort verlassen würde, war längst nur noch eine vage Erinnerung, und Jed befürchtete im Kreis zu gehen. Ich hätte jemanden mitnehmen sollen, dachte er. Pieroo, Ru'alay, vielleicht Bruus, jemanden, der einen Weg im Dunkeln wiederfindet. Er stellte sich vor, wie er Pieroo mit vorgehaltener Leuchtpistole zwang, ihm den Weg zu zeigen, und schüttelte den Kopf. Es hätte keine fünf Minuten gedauert, bis er wieder an den Baum gefesselt worden wäre. Dass er allein etwas ausrichten konnte, war wohl unwahrscheinlich, aber zumindest hatte er die Chance, es zu versuchen. Wenn ich den Tempel jemals finde, fügte er in Gedanken hinzu, und wenn sie noch … Er unterbrach sich und zwang seine Aufmerksamkeit zurück zur Liste. Punkt drei: Kannibalen finden war noch nicht erledigt. Punkt vier: Majela befreien und Punkt fünf: Lebend ins Lager zurückkehren erschienen ihm wie unüberwindliche Hindernisse, geschaffen für Helden, nicht für einen Mann wie ihn. »Ich schaffe das schon«, flüsterte er, um sich mit dem Klang der eigenen Stimme zu beruhigen. »Das klappt irgendwie …« Der Schrei erschütterte ihn bis ins tiefste Innerste. Er hallte durch den
Wald, langanhaltend und schrill, schien nicht enden zu wollen und brach doch schließlich mit einem Röcheln ab. Es war der Schrei eines Mannes, und Jed verachtete sich, weil ihn das erleichterte. Die Leuchtpistole in seiner Hand erschien ihm plötzlich lächerlich. Mit zitternden Knien tastete er sich weiter an den Bäumen vorbei. Nach einigen Schritten tauchte flackerndes Fackellicht in der Dunkelheit auf. Jed duckte sich und kroch unter Büschen hindurch, um näher heranzukommen. Vor ihm plätscherte ein Bach. Seine Hände versanken im Schlamm und er verzog jedes Mal das Gesicht, wenn er sie mit einem viel zu laut erscheinendem nassen Geräusch hervorzog. Der Wald öffnete sich zu einer Lichtung, die von hellem Fackelschein erleuchtet wurde. Jed sah den Tempel und ein kleineres, provisorisch wirkendes Gebäude, das von fackeltragenden, schlammbedeckten Menschen umgeben war. Weitere saßen im hohen Gras, waren jedoch nur zu erkennen, wenn sie aufstanden. Sie sangen und wiegten ihre Oberkörper vor und zurück. Sie sind in Trance, dachte Jed. Sein Blick fiel auf den steinernen Altar, auf dem am Morgen noch Big'Jaak gelegen hatte. Jetzt lag ein anderer, kleinerer Mann darauf. Jemand hatte ihm die Haut vom Körper gezogen. Eine zweite, ebenfalls hautlose Leiche wurde auf einem niedrigeren Holztisch zerteilt und in Fässern verstaut. Jed dachte an das Pökelfleisch, das sie auf die Reise mitgenommen hatten, und schluckte seine 59
Übelkeit herunter. Seine Blicke suchten die Lichtung ab, hoffend und fürchtend zugleich. Er fand rund dreißig Kannibalen, aber keine Spur von Majela. Frustriert, jedoch mit ein wenig mehr Hoffnung drehte er den Kopf zurück zu dem provisorischen Gebäude. Eine kleine Gruppe war mit gemessenen Schritten daraus hervorgetreten und blieb jetzt stehen. Einer von ihnen, dessen vorstehender Bauch von Knochenschmuck bedeckt war, hielt eine lange Stange in der Hand, an der etwas hing, das Jed für einen Mantel hielt. Die Prozession drehte sich und kam langsam auf ihn zu. Der Mann mit dem Knochenschmuck, vermutlich der Häuptling, stimmte einen neuen Gesang an. Er hatte eine angenehm dunkle Stimme. Als die Männer um ihn herum plötzlich auseinander fächerten und ihre Fackeln hoben, glaubte Jed für einen furchtbaren Moment, man habe ihn entdeckt. Doch dann fielen sie auf die Knie und senkten die Köpfe. Nur noch der Häuptling wurde von den Fackeln erleuchtet. Jed wagte keine Bewegung, als die Holzstange, die er trug, nur wenige Meter vom Bachufer entfernt in den Schlamm gesteckt wurde. Der Häuptling sang jetzt als Einziger. Er legte den Knochenschmuck sorgfältig ab, berührte mit Daumen und Zeigefinger seinen Hals, als wolle er einen Hemdkragen öffnen … … und zog sich mit einem Ruck die Haut vom Gesicht. Jed biss auf seine Lippe, bis er Blut 60
schmeckte. Der Schmerz hielt ihn von einem Aufschrei ab. Vor ihm warf der Häuptling die Gesichtshaut achtlos in den Schlamm und begann auch aus seiner restlichen Haut zu schlüpfen, als wäre sie unnötige Kleidung. Als Jed sah, was sich darunter befand, wandte er zum ersten Mal den Blick ab. Er hatte geglaubt, To'ob und Hoo'pa seien stark mutiert, aber der Körper des Häuptlings war ein einziges Geschwulst. Es war ein entsetzlicher Anblick, einer, zu dem er sich zwingen musste zurückzukehren. Er tat es dann doch und sah, wie der Häuptling den vermeintlichen Mantel nahm und überstreifte. Eingehüllt in seine neue Haut ging er in die Knie und wälzte sich im Schlamm wie ein Tier. Ein analytisch kalter Teil von Jed Stuarts Verstand korrigierte die Theorie, die er am Mittag aufgestellt hatte. Die Kannibalen waren ebenso mutiert wie alle anderen Menschen, die er bisher gesehen hatte. Sie waren längst selbst von dem Makel befallen, den sie so gefürchtet hatten. Die Haut war nur eine Maske, ein unsinniger Versuch der Verkleidung, um sich dem für sie Undenkbaren nicht stellen müssen. Jed taten sie beinahe Leid. Vor ihm erhob sich der Häuptling aus dem Schlammloch. Die Haut war über seinem Bauch zum Zerreißen gespannt. Er musste sie am Rücken irgendwie festgebunden haben, sonst hätte sie wohl kaum gehalten. Die Prozession schloss sich ihm wieder an und ging dem Tempel entgegen. Im gleichen Moment fand Jed Majela.
Man hatte sie an den Händen gefesselt und trug sie nackt aus der provisorischen Hütte in den Fackelschein. Einer der Kannibalen warf ein Seil über einen hohen Ast und zog sie daran hoch, bis ihre Füße den Boden nicht mehr berührten. Dann band er das Seil an einem anderen Ast fest und verneigte sich tief. Majela schwang unkontrolliert von einer Seite zur anderen. Sie schien bewusstlos zu sein. Sie lebt, dachte Jed. Mein Gott, sie lebt tatsächlich noch. Er schluckte trocken und schob sich vorsichtig an den Bach heran. Das Wasser war eiskalt und voller Schlamm. Er zitterte am ganzen Körper, als er auf der anderen Seite ankam und im Dreck liegen blieb. Zumindest schob er das Zittern auf die Kälte. Seine Finger waren kaum in der Lage, die Uniformknöpfe zu lösen, und schließlich riss er das Hemd einfach auf. Der Beutel mit dem überlebenswichtigen Serum landete ebenso im Schlamm wie der Rest seiner Kleidung. Ein paar Stunden reichten die Immunstoffe in seinem Körper. Erst danach wurde es problematisch. Bis jetzt hatte er den Gedanken an das, was vor ihm lag, verdrängt, aber als seine Finger die abgelegte Haut ertasteten, verlor er dann doch die Kontrolle und übergab sich. »Komm schon«, flüsterte er heiser. »Mach jetzt nicht schlapp.« Dann legte Jed die fremde Haut über sein Gesicht. *
»Zieht, verdammt noch mal, zieht!«,
schrie Smythe mit gerötetem Gesicht wild gestikulierend. Die Soldaten nahmen seinen Ruf auf, feuerten die Männer an, die vor dem Panzer standen und ihn aus dem Schlamm zu ziehen versuchten. Captain Crow stand am Ufer und beobachtete alles schweigend. Pieroo legte sich mit aller Macht in die Seile. Obwohl er sich ein anderes Ergebnis wünschte, spürte er, wie sich der Panzer zu bewegen begann. Noch zwei, vielleicht drei Versuche, dann war er frei und damit auch der andere Panzer, denn der erste konnte den zweiten herausziehen. »Jetzt?«, fragte Ru'alay laut vom hinteren Ende des Seils. Er musste nicht flüstern, denn außer dem Doc verstand nur Pieroo seine Sprache. »Nee, warte noch.« Die Anstrengungen der Männer ließen nach. Das Seil fiel ins Wasser zurück, während sie langsam zu Atem kamen. »Schneller!«, schrie Smythe, und Pieroo fragte sich, warum er es so eilig hatte. Leise fluchend legte er sich das Seil wieder über die Schulter. »Eins, zwei, drei«, zählte er vor und zog. Die Spannung ließ das Seil aus dem Wasser schießen. Soldaten jubelten, als der Panzer Zentimeter und Zentimeter aus dem Schlammloch gezogen wurde. »Jetzt!«, schrie Pieroo und hoffte, dass er über den Lärm verstanden wurde. Die Männer stemmten sich weiter ins Seil. Der Schweiß stand ihnen auf der Stirn, ihre Armmuskulatur war fest wie Stein. Ru'alay, dachte Pieroo nervös. Was 61
machst du denn da hinten …? Wenn sie dem Doc ein wenig Zeit erschleichen wollten, dann musste es jetzt geschehen. Im gleichen Moment riss das Seil. Er musste es nicht sehen, spürte nur, wie die Spannung plötzlich verschwand und er nach vorn fiel. Das brackige Wasser schlug über ihm zusammen. Prustend kam er hoch und unterdrückte ein Grinsen. Um ihn herum tauchten verwirrte Männer auf. Soldaten fluchten wütend oder spuckten ihren Ärger aus, als sie den Panzer betrachteten, der jetzt wieder tief im Schlamm steckte und aussah, als wolle er sie verhöhnen. Captain Crow rief etwas, das Pieroo über den Lärm hinweg nicht verstand. Er sah nur, wie zwei Soldaten ins Wasser sprangen und mit gezogenen Drillern auf seine Krieger zugingen. Die Männer wurden zur Seite gestoßen, dann stand Ru'alay auf einmal zwischen den Soldaten. Sie hielten seine Arme fest und zogen ihn an Land. Pieroo betete, dass er Zeit gehabt hatte, seinen Dolch ins Wasser zu werfen. Die Soldaten tasteten seine Kleidung ab. Einer zog mit sichtlichem Triumph eine Klinge hervor. Ru'alay gestikulierte und redete in seiner Sprache. Er war ein kluger Mann und hätte die Soldaten sicherlich überzeugt, wenn sie ihn verstanden hätten. So schlugen sie ihm nur ins Gesicht. Als der Schuss fiel und Ru'alay in den Schlamm geschleudert wurde, erschraken alle, sogar Captain Crow. Sie machte einen Satz zurück und wäre beinahe gestolpert. »Wir reden nicht mit Saboteuren«, 62
brüllte Smythe in die plötzliche Stille, »wir erschießen sie!« Er zeigte mit dem Driller auf einen anderen Krieger. Der wich panisch zurück. »Du, hol ein neues Seil!« Pieroo sah zum Ufer, wo Ru'alay im Schlamm lag. Die beiden Soldaten, die ihn festgehalten hatten, standen reglos neben seiner Leiche. Ihre Gesichter waren blutbespritzt. Crow ging an ihnen vorbei, ohne etwas zu sagen, und stellte sich demonstrativ neben Smythe. Sie strich durch sein Haar. Er küsste sie. In diesem Moment wusste Pieroo, dass er beide töten würde. Nicht an diesem Tag und nicht an diesem Ort, aber er würde sie töten. Er schluckte seine verzweifelte Trauer herunter und nahm das neue Seil in die Hand. *
Der Gestank war unerträglich. Jed roch Verwesung und altes verfaultes Leder. Der Schlamm, der jetzt seinen Körper bedeckte und der wohl als Konservierungsmittel und Klebstoff gleichermaßen diente, milderte den Geruch zwar ein wenig, aber bei weitem nicht ausreichend. Die Haut schlotterte von seinem Körper, hing in großen Falten herab, und er war froh, dass man sie wie ein Korsett zubinden konnte. So musste er sie wenigstens nicht die ganze Zeit festhalten und hatte eine Hand für die Leuchtpistole frei. Kalter Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn, juckte unter der ledrigen Haut. Sie schmiegte sich nicht an sein
Gesicht an, sondern stand hart und faltig vor. Er konnte kaum etwas von den Dingen sehen, die rechts und links von ihm geschahen. Vorsichtig und den abgehackt wirkenden Gang der Kannibalen kopierend, bewegte er sich auf den Tempelplatz zu. Die Wilden beachteten ihn nicht, schienen ganz in ihren Ritualen aufzugehen. Einige schnitten das Fleisch ihrer Opfer ab, andere legten es in Fässer, aber die meisten saßen im Kreis und sangen in einem Tonfall, den Jed als religiöse Verzückung beschrieben hätte. Etwas grunzte neben ihm. Erschrocken drehte er den Kopf und sah ein kleines Mädchen im Gras sitzen und an einem Knochen nagen. Er ging hastig einige Schritte weiter, damit sie sein Würgen nicht hören konnte. Der Baum, von dem Majela hing, stand so weit vom Tempel entfernt, dass das Licht der Fackeln ihn kaum noch erreichte. Jed duckte sich neben dem Stamm und sah nach oben. Majelas Augen waren geschlossen, aber sie schien unverletzt zu sein. Das Seil, mit dem man sie gefesselt hatte, war um einen Ast geschlungen und verknotet. Jed warf einen nervösen Blick zur Seite. Die Kannibalen sangen weiter, bemerkten anscheinend nicht, was keinen Steinwurf von ihnen entfernt vorging. Er nahm das letzte bisschen Mut, das die letzten Stunden überlebt hatte, zusammen und stand auf. Seine Finger fanden den Knoten und zogen ihn vorsichtig auf. Nein, zu! Er erkannte seinen Fehler im gleichen Moment, kämpfte die aufsteigende Panik nieder und
klemmte die Leuchtpistole in eine Astgabel. Die Stricke saßen fest und er verfluchte seine Dummheit, kein Messer mitgenommen zu haben. Endlich lösten sich die Fasern. Jed zog daran, spürte Majelas Gewicht auf der anderen Seite und ließ sie vorsichtig herab. Sie landete im kniehohen Gras und er hörte ein leises Stöhnen. »Majela?« Seine Stimme war nur ein Flüstern. Er kniete neben ihr und schlug leicht gegen ihre Wangen. »Majela?« Ihre Augenlider flatterten, dann holte sie auch schon aus. Mit einem widerlich nassen Geräusch schlugen ihre gefesselten Fäuste gegen seine herabhängende Haut und verfingen sich in einigen Falten. Jed wich unwillkürlich zurück. »Ich bin's!« »Jed?« Ihre Augen öffneten sich endgültig. Er sah Verwirrung, Erleichterung, dann Ekel in ihrem Blick. »Wieso …« »Nicht jetzt. Wir …« Er unterbrach sich. Etwas, das er unterbewusst die ganze Zeit über wahrgenommen hatte, war verschwunden. Warum singen die Kannibalen nicht mehr?, dachte er und drehte den Kopf. Sie starrten ihn an, in einer Reihe stehend, schweigend und mit nur einigen Messern bewaffnet. Ihre falsche Haut war braun und fleckig. Einige hatten Löcher an Armen und Beinen, die sie notdürftig mit Schlamm bedeckt hatten. Jed wusste nicht, ob sie verstanden, dass er kein Stammesmitglied war, oder ob sie glaubten, einer der ihren vergreife sich an der Beute. Er befürchtete, dass das keinen 63
großen Unterschied machen würde. Ein solches Verhalten konnte der Stamm nicht tolerieren. Die ersten Kannibalen bewegten sich. Jed spürte, wie das Adrenalin durch seinen Körper raste, und reagierte so schnell wie noch nie in seinem Leben. Mit einem Sprung erreichte er die Leuchtpistole, hielt sie hoch und zog durch. Laut zischend schoss die Leuchtkugel aus der Mündung und bahnte sich ihren Weg in den Himmel. Das plötzliche Licht blendete ihn. Er tastete nach der nächsten Patrone, die er in den aufgerissenen Bauchfalten seiner Haut verstaut hatte, und zog sie hervor. Seine Hand zitterte so stark, dass er sie erst im zweiten Anlauf einsetzen konnte. Er ließ den Lauf einrasten und hob die Waffe. Vor ihm verschwand die Kugel wie eine rot leuchtende Sternschnuppe zwischen den Bäumen. Die Kannibalen waren zurückgewichen, einige lagen sogar am Boden. Sie hatten die Hände vor das Gesicht geschlagen, assoziierten ein solch helles Licht vielleicht mit den Waffen, die so viele von ihnen das Leben gekostet hatte. Majela war aufgestanden. Sie schwankte leicht und wirkte desorientiert, konnte sich aber allein aufrecht halten. Jed ging rückwärts auf den Rand der Lichtung zu, ließ sich von ihr leiten. Die Mündung der Leuchtpistole richtete er auf die Kannibalen, die jetzt langsam wieder auf die Beine kamen. Sie wirkten unentschlossen. Bleibt stehen, dachte er angestrengt, 64
als könnten seine Gedanken sie beeinflussen. Lasst uns in Ruhe. Er wusste nicht, woher der Häuptling plötzlich kam, hörte nur Majelas Schrei und sah eine Speerspitze auf sich zuschießen. Instinktiv ließ er sich fallen. Holz splitterte, dann riss er auch schon die Waffe hoch und drückte den Abzug. Ein Knall, ein Zischen wie von einer Feuerwerksrakete am Unabhängigkeitstag und ein Schrei. Jed kam stolpernd hoch. Hitze strich über sein Gesicht, brachte seine Augen zum Tränen. Der Geruch nach verbranntem Fleisch hing plötzlich in der Luft. »Komm!« Majela zog an seinem Arm. Jed ließ sich mitziehen, konnte jedoch den Blick nicht abwenden. Die Leuchtkugel hatte den Häuptling mitten in die Brust getroffen, fraß sich brennend durch seine neue und alte Haut. Der verunstaltete Körper glühte in ihrem Licht, riss all die Geschwüre und Mutationen aus dem Verborgenen. Jed Stuart begann zu laufen, drehte sich nur noch ein Mal um und sah die erleuchteten falschen Gesichter der Kannibalen, bevor auch sie hinter einem Vorhang aus Dunkelheit verschwanden. *
Ru'alay war umsonst gestorben, hatte durch sein Opfer kein Leben retten können, das wurde Pieroo schmerzhaft bewusst, als die letzten Krieger das Floß betraten und Smythe und Crow den Befehl gaben, die Leinen zu lösen. Sie fuhren ausnahmsweise auf dem Floß mit, um - wie sie sagten - den Männern
zu beweisen, dass sie sich für nichts Besseres hielten. In Wirklichkeit befürchteten sie wohl eine Meuterei und wollten jeden sofort erschießen, der Anstalten machte, einen Befehl zu verweigern. Das erste Tageslicht berührte die Bäume, riss sie aus ihrer nächtlichen Schwärze. Pieroo hoffte Majela oder den Doc zwischen ihnen zu sehen, aber da war nichts außer einigen Schatten. Er wandte sich ab und dachte an die Freunde, die er in dieser Nacht verloren hatte - und an die Verbündeten. »Kannibalen!« Der Ruf gellte über die Flöße. Pieroo fuhr herum und traute seinen Augen nicht, als Majela nackt am Uferstreifen auftauchte. Sie wirkte erschöpft, rannte jedoch weiter auf das Floß zu. »Wartet!«, schrie sie mit überkippender Stimme. Hinter ihr brach ein Kannibale aus dem Unterholz. Sein schlammbedeckter Körper taumelte, aber er holte stetig auf. Die ersten Schüsse fielen. Männer rissen ihre Speere hervor, suchte Pfeile und Bögen zusammen. Der Kannibale wich ihnen mühsam aus. Drillergeschosse schlügen neben ihm ein. Schlamm spritzte meterhoch über das Ufer. Der Mann schrie etwas, aber es ging in den Schüssen unter. Jetzt schrie auch Majela. Sie hatte die Flöße fast erreicht. Der Kannibale warf sich zur Seite. Seine Hände umklammerten sein Gesicht, als wolle er den eigenen Kopf abreißen und für einen Moment glaubte Pieroo, ihn habe etwas getroffen, doch dann nahm er die Hände herunter.
»Hört auf zu schießen!«, brüllte er. »Es is der Doc!« Der Ruf wurde um ihn herum aufgenommen. Männer ließen ihre Speere sinken, Soldaten ihre Driller. Pieroo sah, wie Smythe noch zwei Mal schoss, aber das schwankende Deck machte jeden Treffer zu einem Zufall. Er hörte ihn fluchen, als er den Driller einsteckte. Majela legte den letzten Meter mit einem Sprung zurück. Pieroo fing sie auf und hüllte sie in seinen Mantel ein. Sie atmete schwer und schien zu Tode erschöpft zu sein. »Du bis in Sicherheit«, sagte er. »Alles okee.« Neben ihr schlug der Doc auf dem Floß auf, rutschte ein Stück über Deck und stemmte sich langsam hoch. Er trug eine Art Lederumhang, der entsetzlich stank. »Stuart, Sie Idiot!«, brüllte Smythe. »Ziehen Sie das Zeug aus, bevor ich Sie vom Floß werfen lasse!« Pieroo sah in den Augen des Docs, was passieren würde, so wie er es schon oft in den Augen von Männern gesehen hatte, die man ein Mal zu oft erniedrigt hatte. O nein, dachte er, aber da gellte der Schrei, geboren aus Wut, Angst und Frustration auch schon über das Deck. »Fackju!«, schrie der Doc und schlug zu. *
Tagebucheintrag Dr. Jed Stuart, 26. Oktober 2518 Ich habe ein Leben gerettet, eines genommen und einem Mann die Nase ge65
brochen. Captain Crow hat angekündigt, mich bei der (eventuellen) Rückkehr nach Washington vor ein Kriegsgericht zu stellen, während Smythe allen Ernstes zu glauben scheint, dass ich der Anführer einer gegen ihn gerichteten Verschwörung bin. Er hasst mich mit einer Intensität, die fast schon verstörend ist. Ich glaube, ich stehe gleich hinter diesem Commander Drax auf seiner Liste. Trotzdem habe ich mich noch nie so lebendig gefühlt wie an diesem Tag. Wir sind weiter auf dem Fluss unterwegs und fahren in Richtung Süden. Seit Ru'alays Tod ist die Stimmung schlecht, aber ich hoffe, dass ich eine Meuterei verhindern kann. Wenn wir Washington jemals wieder erreichen sollten, dann nur in einer gemeinsamen Anstrengung. Und wenn das bedeutet, Smythe und möglicherweise auch Lynne Crow aus dem Weg zu räumen, befürchte ich, dass auch dieses Opfer gebracht werden muss. Jed schüttelte den Kopf und strich den letzten Satz sorgfältig durch. Es war zu gefährlich, solchen Gedanken durch Worte Gestalt zu verleihen. Phobos beobachtet mich, wechselte er das Thema, wenn er glaubt, dass ich es nicht bemerke. Ich rätsele immer noch über seine Worte und wünschte, er würde mit mir reden. Das Gleiche könnte ich auch über eine andere Person sagen, denn ich spüre, dass Majela etwas vor mir verbirgt. Sie hat ein Geheimnis, und auf einer Fahrt wie dieser können Geheimnisse tödlich sein. Ich werde mit ihr re-
den. Epilog
Die Verschwörer trafen sich im Morgengrauen. Seit der vierte tot war, kamen nur noch drei zu den Treffen. »Du solltes mit ihm reden«, sagte Pieroo. »Er hat sich verändert.« Sergeant Laramy nickte. »Er hat Recht. Wir brauchen ihn auf unserer Seite. Wirst du es ihm sagen?« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil Smythe glaubt, dass er der Kopf der Verschwörung ist und sich auf ihn konzentriert. Solange sind wir sicher. Außerdem glaube ich nicht, dass er mit unserem Plan einverstanden wäre.« Pieroo neigte den Kopf. »Wieso glaubs du das?« »Ich habe sein Tagebuch gelesen.« »Das war nich gut.« »Ich weiß, aber es war wichtig.« Brian Laramy spielte mit dem Driller in seiner Hand, warf ihn am Lauf hoch und fing ihn mit dem Griff auf. »Du weißt, was passieren könnte, wenn wir Smythe in seinem Glauben bestärken«, sagte er. »Er hat schon versucht, Stuart umzubringen. Vielleicht hat er das nächste Mal Erfolg. Bist du bereit, dieses Risiko einzugehen?« Majela schwieg. Nur ihr Blick folgte dem Driller, der sich auf und ab bewegte …
ENDE 66
Ausblick: Auf Leben and Tod von Michael J. Parrish Einst waren sie ein stolzes Mongolenvolk. Mit Zähigkeit und Kraft trotzten sie der Kometenkatastrophe, und die nachfolgenden Jahrhunderte des Eises ließen nur die Stärksten von ihnen überleben. Dann kamen die Götter mit ihren silberglänzenden Anzügen und mächtigen Waffen und versklavten einen Teil des stolzen Volkes, machten sie zu ihren Schergen, zu Ostmännern. Unter ihrer Herrschaft veränderten sie sich, wurden noch stärker und gnadenloser, aber auch missgebildet an Körper und Seele. Kublai Koruun will dies nicht länger hinnehmen. Ein Kampf auf Leben und Tod soll die Stämme wieder vereinen. Dafür ist ihm jedes Opfer Recht - vor allem, wenn es sich um Fremde handelt wie diese Söldner Maddrax und Aruula …
67