EDUARD STORCH
Die Mammutjäger Roman aus der Urzeit des Menschen
1954 GLOBUS VERLAG WIEN
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EDUARD STORCH
Die Mammutjäger Roman aus der Urzeit des Menschen
1954 GLOBUS VERLAG WIEN
Ins Deutsche übertragen von Felix Rausch Illustrationen von Zdenek Burian Einbandentwurf von Hans Thomas
Vierte Auflage Alle Rechte vorbehalten Copyright 1951 by Globus, Zeitungs-, Druck- und Verlagsanstalt Gesellschaft m. b. H., Wien Gesamtausführung: Globus II, Wien VI
Vor 12.000 Jahren ... – oder waren es gar 25.000? – zogen Sippen urzeitlicher Jäger durch Mähren und Südböhmen, von der Thaya über die Gegend des heutigen Brünn an die Betschwa, von der oberen Elbe zur Moldau. Überall hinterließen sie Spuren ihrer Anwesenheit: Siedlungen in Berghöhlen, Grabstätten mit zahlreichen aus Stein verfertigten Wagen und Geräten, steinernen und knöchernen Schmuck und vor allem die Knochen der von ihnen erlegten Wildtiere. Die zahlreichen Funde aus jener fernen Zeit beweisen, daß der Mensch viel, viel älter ist als seine uns bekannte und bereits geläufige »Geschichte«, und gewähren uns einigermaßen Einblick in die Lebensweise unserer früheren Vorfahren. Wir wissen, daß sie der unerbittlichen Natur die Nahrung abjagen mußten, daß sie gezwungen waren, für ihren harten Daseinskampf Hilfsmittel zu ersinnen und anzufertigen – Wagen, Werkzeuge, Geräte –, und daß es gerade diese Tätigkeit, also die Arbeit war, die den Menschen immer mehr über das Tierreich hinaushob und ihn in der Folgezeit im Verlaufe vieler Jahrtausende zu dem machte, was wir heute sind. Damals, in jener Zeit, in die uns dieses Buch führt, waren die Menschen noch ganz anders als die Menschen von heute. Sie befanden sich auf der »Mittelstufe der Wildheit«, wie die Wissenschaft jene Periode nennt. Die Menschen lebten in Gemeinschaften, in Sippen, denn
als Einzelgänger wären sie nie imstande gewesen, im Daseinskampf zu bestehen. Sie lebten vornehmlich von Jagd, und da die Beutetiere häufig ihren Standort wechselten, mußten die Menschen, die von ihnen lebten, das gleiche tun. Das Leben der urzeitlichen Jäger war ein Leben ständiger Wanderschaft innerhalb eines größeren Jagdgebiets. Der Wildreichtum war groß: Rentiere und Wildpferde, Moschustiere und Wisente, das gefährliche Nashorn und das riesenhafte Mammut lieferten den Menschen die heißerkämpfte Nahrung. Und auch den gefürchtetsten Raubtieren, dem Höhlenlöwen und dem Höhlenbären, gingen sie kühn zu Leibe; in gemeinsamem Angriff der ganzen Jägersippe wurden die wilden Bestien mit Keulen und Speeren erlegt. Die Flüsse und die Seen wimmelten von Fischen, die Wälder boten eine Fülle von Früchten, eßbaren Wurzeln und Kräutern, deren Sammeln Aufgabe der Frauen und der Kinder war. Kraft und Rückgrat der Sippe bildeten aber die Jäger: von ihrem Erfolg hingen Leben und Wachstum aller ab. Das Leben der Mammutjäger war reich an Mühen und Gefahren. Der Kampf gegen die wilden Tiere forderte immer neue Opfer, und so mancher tapfere Jäger kehrte von den Beutezügen nicht mehr heim ins Lager. Das Feuer, der größte Schatz des urzeitlichen Menschen, mußte auf beschwerlicher Wanderung mitgetragen und sorgsam vor Regen und Wind und feindlichen Sippen behütet werden – denn wenn es erlosch oder etwa geraubt wurde, konnte es nur schwer und unter großen Mühen wiedererlangt werden: entweder durch den Fund feuerspendenden Materials oder durch Diebstahl von einer benachbarten Menschengruppe. Der Winter war stets eine Zeit größter Not: Hunger, Kälte und Krankheit gefährdeten die Sippe, Wölfe bedrohten Kinder und Vorräte. Aber auch in der schönen Jahreszeit gab es viele Gefahren; Feinde drangen in das Jagdgebiet
ein und vertrieben, wenn sie in Überzahl erschienen, seine bisherigen Besitzer, die dann weiterwandern mußten, neuen Jagdgefilden, neuen Kämpfen entgegen. Aber die Begegnungen mit fremden Sippen waren durchaus nicht immer feindseliger Art. Es wurden auch friedliche Beziehungen angeknüpft, die Anfänge eines Tauschhandels bildeten sich heraus, besonders zur Erlangung des oft von weither kommenden Feuersteins für Waffen und Geräte. Die Menschen lernten das wechselvolle Jagdglück durch beständigere Formen der Versorgung ergänzen. Wie sah es nun innerhalb einer urzeitlichen Jägersippe aus? Hierüber können die Funde wenig Auskunft geben, und auch Vergleiche mit heute lebenden primitiven Jägerstämmen – etwa Australiens oder Amerikas – bieten keine Gewähr für völlige Übereinstimmung. Immerhin können einige Grundzüge der gesellschaftlichen Gliederung der Jägersippe aus den Lebensbedingungen unserer frühen Vorfahren abgeleitet werden. In der urzeitlichen Sippe, die vornehmlich von der Jagd lebte, waren die Jäger, die auf dem Höhepunkt ihrer Körperkraft stehenden Männer, die bestimmende Kraft; der Tüchtigste und Tapferste aus ihrer Schar wurde zum Häuptling oder Anführer der Sippe gewählt. Die Alten, die Träger der Erfahrung und der Weisheit, genossen hohe Achtung und spielten eine bedeutsame Rolle im Leben ihrer Gemeinschaft. Die Scheu vor dem Alter und dessen höherem Wissen gab Anlaß zur Entstehung vieler Mythen und religiöser Vorstellungen. Die Stellung der Frau scheint auf den ersten Blick sehr gedrückt gewesen zu sein. Die Frau, vielfach durch Raub erworben, wurde mit Arbeit überlastet; aber ihre harte Lage war im wesentlichen durch die Schwierigkeiten des Lebenskampfes und nicht durch eine Versklavung von seiten des Mannes bedingt. Ihre nützliche, nimmermüde Tätigkeit in der Gemeinschaft, ihre
tatkräftige Mithilfe im Kampf um den Lebensunterhalt, all das mußte der Frau einen Platz in der Sippe einräumen, der sich wesentlich von dem untergeordneten Dasein des weiblichen Geschlechts in der späteren sogenannten vaterrechtlichen Großfamilie unterschied. In der Sippe der Mammutjäger gehörten die Kinder, wie Vergleiche mit heute lebenden Primitiven nahelegen, der Mutter, und dies war der Ausgangspunkt für eine spätere Periode, in der mit der Entwicklung des Ackerbaus und der Seßhaftwerdung der Menschen die Frau die Vormachtstellung innerhalb der Sippe erwarb, die dann auf mutterrechtlicher Grundlage aufgebaut war. Die Sprachen der Mammutjäger waren schon hoch entwickelt – und dies war ja erforderlich, da man sich im gemeinschaftlichen Zusammenwirken bei der Jagd und im Lebenskampf untereinander wirksam verständigen mußte. Nach den Verhältnissen zu urteilen, die wir bei primitiven Völkerschaften von heute vorfinden, war die Zahl der Sprachen sehr groß – vielleicht sprach jede Sippe ihre eigene. Im Vergleich zu den unsrigen waren diese Sprachen sehr kompliziert; Abstraktionen und Verallgemeinerungen fehlten gänzlich, dafür waren sie außerordentlich reich an Schattierungen und Einzelprägungen, ein Abmalen und Abtasten der Umwelt bis in ihre kleinsten Einzelheiten. Es gab kein Tier, keine Pflanze als Gattung, sondern nur ein bestimmtes Tier, eine bestimmte Pflanze; nicht ›Vater‹ oder ›Speer‹ an und für sich, sondern ›mein Vater‹, ›dein Vater‹, ›dieser Speer hier‹, ›jener Speer dort‹; nicht ›gehen‹ im allgemeinen, sondern ›hinaufgehen‹, ›hinuntergehen‹, ›schnell gehen‹, ›langsam gehen‹ usw. Der Wortschau war also ungemein reich, ebenso die Möglichkeit des Ausdrucks und der Neuschöpfung. Natürlich war der Gesichtskreis des primitiven Jägers beschränkt, aber innerhalb seiner Welt kannte er sich gut aus und beobachtete alle ihre Einzelheiten – nur daß sein
Bewußtsein sie anders ordnete und verband, als der zivilisierte Mensch von heute dies tut. Durch das Leben und Wirken in der Gemeinschaft entwikkelten sich Sprache und Denken in dauernder Wechselwirkung immer höher. Schon regte sich die ständig wachsende Bewußtheit und mit ihr höhere geistige Fähigkeiten, die den Aufschwung des Menschengeschlechts und seine Beherrschung der Natur vorausahnen lassen: Erfinderkraft, Entdeckergeist, erste Anfänge künstlerischer Betätigung. Mit einer der wichtigsten Geistestaten des urzeitlichen Menschen, mit der Erfindung des Feuerbohrens, das die Jägersippe fortan von der ständigen Sorge um das zum Leben unentbehrliche Element befreit, schließt dieses Buch über die Mammutjäger. Es gibt, soweit Funde und unsere Schlußfolgerungen dies gestatten, ein getreues Bild vom Leben des Menschen der jüngeren Altsteinzeit im Herzen Europas und bringt uns jene fremde, so weit entfernte Zeit lebendig nahe. Prof. R. Bleichsteiner
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ERSTER TEIL
Die jungen Jäger Die Sonne steht über dem höchsten Gipfel des Pollauer Bergkammes und badet ihre warmen Strahlen in den Wassern des großen Tieflandes. Dreimal mächtiger als in der heutigen Zeit windet sich die Thaya durch die Gegend, teilt sich in Arme, vereinigt diese dann wieder zu Seen und bildet verwachsene Sümpfe, so daß im üppigen Grün oftmals nicht zu erkennen ist, wo Wasser ist und wo festes Land. Die Flüsse Iglawa und Schwarzawa breiten in der unabsehbaren Ebene unzählige Arme aus, und wir wissen gar nicht, wo sie sich in die Thaya ergießen. Wolken von Mücken und Fliegen schwirren über der sumpfigen Niederung und stechen unbarmherzig Tiere und Menschen, die sich in diesem weiten Land bewegen. Wer kann, flieht vor ihnen in die Wälder und auf die Berge, wo sie doch nicht in solchen Massen vorhanden sind, weil ein frischer Wind die Insektenschwärme auseinandertreibt. Auf einer Anhöhe zwischen Thaya und Bergkamm spielt ein Haufen nackter Kinder. Vor einer Weile haben die Buben die kleinen Mädchen fortgejagt und ihnen mit Steinen gedroht; sie wollen nicht mit ihnen spielen! Aus den Buben werden doch einmal Jäger, die mit Bären, mit Mammuten und Nashörnern kämpfen – wie sollen sie sich da erniedrigen, indem sie mit Mädchen spielen, die nur Häute kauen! Die Männer sind die Herren – auch wenn sie noch so klein sind, daß sie vorläufig nicht einmal den Bogen spannen können. 12
In der Hitze des Spiels mischen sich nun aber alle Kinder doch wieder durcheinander. Und schon spielen sie lustig Verstecken – Buben und Mädchen gemeinsam. Im Spiel vergessen sie den ursprünglichsten Unterschied in der menschlichen Gesellschaft: jenen zwischen Bub und Mädel. Sie sind alle gleich geschickt, sie können gleich gut laufen, springen und auf Bäume klettern; selbst der kleinste unter ihnen hält sich tapfer und will in nichts zurückstehen. Da ist ein Knirps zwischen den Steinen gestürzt, und nun rinnt ihm das Blut von Schulter und Stirn; auch das Knie hat er sich angeschlagen, es läuft alsbald blau an. Jetzt steht er da, die Augen voll Tränen, und krümmt sich vor Schmerz. Die anderen Buben sind schon herbeigelaufen und stehen um ihn herum. Wenn er zu weinen beginnt, werden sie ihn schonungslos auslachen! Aber der verletzte Knirps wischt sich mit der schmutzigen Hand die Augen ab, schnupft kräftig auf – und es gelingt ihm sogar, zu lächeln. Das Gelächter der Gefährten wäre schmerzhafter als Hunger, beißender als Frost, wäre unerträglich wie das Feuer! Deshalb unterdrückt der Knirps den Schmerz und grinst recht kläglich. In seinen Kindersinn hat sich schon tief das in der Sippe von Geschlecht zu Geschlecht vererbte Jägergesetz gegraben, das besagt, daß für die Gemeinschaft wertlos ist, wer sich von körperlichen Schmerzen übermannen läßt. Zu Recht wird der Wehleidige mit Gelächter bestraft, denn er ist für die übrige Sippe nichts als Ballast in ihrem schweren Kampf ums Dasein. – Die Buben geben es auf – aus dem Auslachen ist diesmal nichts geworden. Käferl ist ein tapferer Bub, auch wenn er noch nicht auf Bäume klettern und weit werfen kann. Er verdient 13
Anerkennung, und alle Buben brüllen im Chor auf Bärenart: »Huaa! Huaa! Huaa!« Der Kleine nimmt mit Befriedigung das derart ausgedrückte Lob entgegen und – vergißt seinen Schmerz! Er mengt sich wieder ins Spiel und hinkt nur ein bißchen. Die Mädchen haben indessen eine Schar Rebhühner aufgescheucht, und jetzt halten alle Kinder Ausschau, wo sie niedergehen würde. Aber ein flinker Bub, etwa zwölf Jahre alt, mit einem Halsband aus einigen Knöchelchen geschmückt, zeigt plötzlich mit der Hand in die Höhe: Im hellen Blau kreist über der Niederung, dort, wo sich heute der Ort Wisternitz befindet, ein Raubvogel. Er kommt näher, fast ohne die Flügel zu bewegen; kaum sind jedoch die Rebhühner niedergegangen, stößt der große Vogel wie ein Stein zur Erde und verschwindet hinter einem Dickicht. Es dauert nicht länger, als ein Kuckuck dreimal ruft, und der Raubvogel erhebt sich wieder; in den Fängen hält er ein Rebhuhn. Er fliegt damit über den Bergkamm und verschwindet langsam in der Ferne. »Habicht jung!« sagt der Bub mit dem Halsband und zeigt mit der Hand in die Richtung der Pollauer Berge. Seine Stimme ist rauh. Man merkt, er kann sich nur schwer ausdrücken. Seine Rede ergänzt er ausgiebig mit Gebärden, wie überhaupt alle mehr mit Händen und Mienen sprechen als mit dem Mund. »Stoß – Rebhühner fangen!« fordert ein Gefährte den Buben auf und nimmt gleich Richtung dorthin, wo die Rebhühner niedergegangen sind. Stoß quiekt zustimmend und folgt seinem besten Kameraden, dem immer lustigen Eichhorn. Noch zwei Buben gehen mit, während die übrigen Kinder wieder im jungen Gebüsch herumjagen. Die vier Buben – sie mögen alle 14
zwischen acht und zwölf Jahre alt sein – schleichen zwischen Büschen und Felsblöcken vorwärts. Unterwegs klaubt jeder einige schöne Steine auf, um sich mit Wurfgeschossen auszustatten. Der lebhafte Stoß ist offenbar der Führer des kleinen Trupps; die anderen Buben folgen in allem seinem Beispiel. An der Hangbiegung bleibt Stoß stehen und blickt sich um. Die unendliche Ebene dehnt sich ins Weite, den Gesichtskreis entlang von blauen Hügeln umrahmt. Gegen Nordwesten hebt sich Welle um Welle, und in weiter Ferne ruht der Himmel auf dem böhmisch-mährischen Höhenzug. Auf den Hügeln jenseits der Thaya wechseln grüne Wäldchen mit buschbewachsenen Lichtungen. Die Thaya entlang glänzen kleine Seen und winden sich stille Wasserarme. Und da, unter dem Hügel, bezeichnet eine Gruppe von Lederzelten nahe am Fluß den Lagerplatz der Sippe. Von der Feuerstelle steigt der Rauch gerade zum Himmel; keine Stimme dringt vom Lager bis zu den Buben herauf, ja man kann von hier kaum die unten sich bewegenden Jäger erkennen. Stoß ist nun wieder vorwärtsgekrochen und hat die stachligen Brombeersträucher umgangen. Er schleicht weiter, dorthin, wo er die Rebhühnerschar zu finden hofft. Seine Kameraden sind zurückgeblieben und kümmern sich augenblicklich nicht um ihn; ihre Aufmerksamkeit ist ganz von den gerade reifenden Erdbeeren in Anspruch genommen. Der Erdbeerwuchs zieht sich den ganzen Hang entlang weiter, und die Buben sind nicht imstande, der Verlockung zu widerstehen, und verzehren eifrig die roten Früchte. Sie haben es damit so eilig, daß sie sich die Erdbeeren geradezu um die Wette in den Mund schütten. Sie schmatzen und spucken die Blätter aus, die ihnen mit den Beeren in den Mund geraten sind. Stoß schaut verächtlich auf die Erdbeernascher zurück und schreitet vorsichtig vorwärts. Geschickt nutzt er jede Deckung von Bodenvertiefungen und Gesträuch aus und kriecht wie eine Eidechse auf dem Bauch über die Felsen. Er brennt vor Jagd15
leidenschaft, denn er zählt sich nicht mehr zu dem Kinderkleinzeug ohne eigene Kraft, das sich nur auf das verläßt, was es von der Mutter kriegt oder was von den erwachsenen Jägern beim Lagerfeuer weggeworfen wird. Nein, Stoß ist kein unbeholfenes Kind mehr – die Fuchszähne an seinem Halsband zeigen, daß er sogar schon mehrere ausgewachsene Füchse im Kampf überwältigt hat! Und was er bereits an weißen Hasen, an scheuen Murmeltieren und schmackhaften Lemmingen erbeutet hat, damit prahlt ein so starker und flinker Bub gar nicht mehr, das bringt ja manchmal auch ein Mädel zustande! (Gestern hat sogar der kleine Zappel, der noch nicht einmal schwimmen und auf Bäume klettern kann, einen Ziesel gefangen!) Stoß fürchtet weder den listigen Wolf noch den wütenden Luchs, ja nicht einmal mit dem gefährlichen Vielfraß scheut er den Kampf! Es wird gar nicht mehr lange dauern, dann wird er mit den großen Buben gehen wie Schwärzel und Spürnas, die kaum um einen halben Kopf größer sind als er. Bis jetzt haben ihm die erwachsenen Jäger leider noch nie erlaubt, mit ihnen zu jagen; erst neulich haben sie ihn wie einen kleinen Buben mit Steinen zurückgejagt, als er sich einem Rentierfang hatte anschließen wollen. Und dabei kann Stoß schon pirschen, kann Wildfährten verfolgen, hält das Laufen durch dichtes Gras durch und hätte bestimmt nichts verdorben! – Nun, heute wird er zufrieden sein, wenn er wenigstens ein Rebhuhn mit einem Stein treffen kann. Holla, dort gibt Eichhorn ihm Zeichen! Da hat er sicher etwas gesichtet! Stoß umgeht vorsichtig die Sträucher und die mit kleinen Steinchen bedeckte Stelle unter dem Felsen und hockt sich zu Eichhorn. Dieser, ein Bub gleichen Alters wie Stoß und dessen treuer Kamerad bei jeder Unternehmung, deutet mit der ausgestreckten Hand zwischen die Brombeerstauden. Dort, auf einer kleinen Lichtung im Strauchwerk, bescheint die Sonne 16
einen Stein, und auf dem Stein liegt, lang ausgestreckt und bewegungslos, ein Fuchs. »Fuchs schläft«, flüstert Eichhorn Stoß zu. Die beiden Buben schleichen ein paar Schritte näher an den Stein heran. Sie drücken sich eng an die Erde und heben nur ein wenig die Köpfe über Heidekraut und Preiselbeerstauden, um besser zu sehen. Der Fuchs hat ein dichtes, glänzendes Fell; ganz gelbbraun, nur um die Schnauze und am Ende des buschigen Schweifes sind helle weiße Flecke. Ein schönes Stück ... Über dem Stein fliegen einige Krähen hin und her und krächzen aufgeregt. »Fuchs schläft nicht – tot!« sagt Stoß leise zu seinem Kameraden und deutet mit dem Kopf, Eichhorn möge die schreienden Krähen beachten. Schon wollen die Buben aufstehen, um die leichte Beute aufzuheben, da springt der bis dahin bewegungslose Fuchs blitzschnell in die Höhe und schnappt eine Krähe am Flügel. Die übrigen Vögel stürzen sich mit furchtbarem Gezeter auf den listigen Fuchs, der aber ergreift mit der Krähe im Maul die Flucht. Noch bevor er den Wechsel im nahen Gebüsch erreicht, trifft ihn der geistesgegenwärtige Stoß mit einem Stein am vorderen
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Lauf und erschwert ihm dadurch das Entkommen. Dennoch springt er hinter das Gebüsch und jagt dann in gestrecktem Lauf bergab. Sein kerzengerade hochgestellter Schweif flitzt nur so durch die Lücken im dichten Graswuchs und läßt die Richtung seiner Flucht erkennen. Und schon rennen die beiden Buben hinter dem verletzten Fuchs her. Die unverhoffte Jagd erhitzt sie, so daß sie alles andere alsbald vergessen haben. Auf einem kleinen Hügel bei einem Hartriegelstrauch bleibt der Fuchs stehen. Er hat schon bemerkt, daß er jetzt von einem gefährlicheren Feind verfolgt wird, als es die lärmenden Krähen sind, und bekundet jetzt durch Heulen seine Wut darüber. Aber er erlaubt den Buben nicht, sich ihm zu nähern, und läuft weiter den sanften Hang hinab. Stoß und Eichhorn sind gute und ausdauernde Läufer. Ihre hartgetretenen Sohlen fühlen die spitzen Steinchen, die stachligen Gräser und die dornigen Zweige nicht. Sogar durch das Brombeergestrüpp können sie laufen, das tückisch nach ihren Beinen greift, und durch gürtelhohe Brennesseln jagen. Jetzt laufen sie in einer gewissen Entfernung voneinander, um den Fuchs zwischen sich zu bekommen und ihn nicht seitwärts entwischen zu lassen. Kein Wort, keine Verabredung war nötig – sie haben beide den gleichen Gedanken. Sie geben dem Fuchs
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keine Möglichkeit, seitwärts zu entkommen, und vereiteln jeden diesbezüglichen Versuch mit Steinwürfen. Der Fuchs ist also gezwungen, geradeaus zum Fluß zu laufen; und dort – so hoffen die Buben – werden sie ihn erwischen und erschlagen. Stoß keucht heftig, sein Gesicht ist ganz dunkelrot. Er ist ein wenig zurückgeblieben, denn ein Dorn ist ihm in den Fuß geraten. Aber schon hat er den schmerzenden Dorn wieder herausgezogen und läuft nun weiter. Auch Eichhorn hat einen Augenblick haltgemacht und sich mit der Hand das Blut vom linken Fuß gewischt. Es schien ihm einen Augenblick, als fehlte ihm eine Zehe; aber nun atmet er erleichtert auf – es sind noch alle da! Zwar kann er sie nicht zählen, aber er kennt sie ja alle. Und die Jagd geht nun wieder weiter! Unter dem Hang bis ganz zum Fluß heran steht das Gras sehr hoch; die Buben müssen gut schauen, wo der Fuchs läuft, wollen sie ihn hier nicht aus den Augen verlieren. Nur an der Bewegung der hohen Halme erkennen sie, wohin der Fuchs ihnen vorausgelaufen ist. Sie nehmen alle Kraft zusammen, um das Tier nicht ins Schilf entwischen zu lassen, aber vergeblich: Sie sehen noch, wie es um einen Strauch huscht, die Krähe im Maul herumwirft und von neuem schnappt; dann schwankt das Schilf – und der Fuchs ist weg! Verlegen schauen die Buben einander an, kratzen sich die Waden und schlagen nach den frechen Gelsen und Fliegen. Die Jagd ist mißlungen.
Der Angriff der Bisons Eichhorn schnappt mit der Hand und fängt eine große Wiesenheuschrecke. Geschickt reißt er ihr Beine und Flügeldeckel aus und ißt sie dann. Stoß wischt sich den Schweiß vom 19
Gesicht, weil der ihn in den Augen beißt, und schaut zurück auf den Hügel, wo die spielenden Kinder geblieben sind. Dort ist doch etwas los! Die beiden Buben stehen regungslos mit offenem Mund da. Denn dort aus dem Wäldchen unter dem Berggürtel kommen soeben einige große Tiere. An dem hohen und mächtigen Vorderkörper ist schon von weitem leicht zu erkennen, daß es Auerochsen sind! Bisons! Voran ein starker Stier, hinterdrein drei Kühe und ein Kalb. Der Stier hält an einer freistehenden Kiefer an und reibt sich an ihr, dann setzt er im Überschwang seiner Kraft die Hörner unten an der Erde an und schlitzt mit einer mächtigen Kopfbewegung die Rinde des Baumes auf – von der Wurzel bis weit hinauf, so daß nun lange Fetzen niederbaumeln. Und noch einmal senkt der Stier den Kopf, um seine Leistung zu wiederholen, aber da hält er mit angezogenem Schwanz plötzlich inne; seine dunklen Augen blinzeln aufmerksam. Der Wind hat ihm die Rufe der Kinder zugetragen. Der Bison hebt langsam den Kopf und streckt sich in seiner ganzen furchtbaren Größe und Stärke. Er stampft auf, um seine Herde aufmerksam zu machen. Auf dieses Zeichen ihres Führers lassen die Kühe das Grasen sein, mit dem sie eben begonnen haben, und blicken ihn erwartungsvoll an ... Im Wäldchen laufen die spielenden Kinder umher. Ganz in der Nähe der Tiere schreit ein Bub auf, der auf einen Dorn getreten ist, und einige Kinder bahnen sich durch das dichte Jungholz einen Weg zu ihm. Das Rascheln des Reisigs und das Knacken der abgebrochenen Zweige scheucht die Bisons auf. Der Stier schlägt mit dem Schwanz, macht mit einem Sprung kehrt und setzt sich gegen die grasige Niederung zu in Trab. Mit kleinen Schritten läuft er den Hang hinunter, ohne sich um die Herde zu kümmern, denn er 20
weiß ja ganz genau, daß alle hinter ihm herlaufen; das Gestampfe ist deutlich zu hören. Das Kalb ist etwas zurückgeblieben, aber die Mutterkuh läßt es nicht im Stich: sie bleibt bei ihm, um es zu schützen. Nun haben die Kinder die fliehenden Bisons bemerkt und laufen aus dem Wald auf den freien Hang hinaus; das Fangspiel ist vergessen, alle schauen ganz überrascht der aufgescheuchten Herde nach. Dann, nach einer Weile stummen Staunens, beginnen die Kinder aufs neue zu schreien; sie jubeln über das unerwartete Abenteuer, und schon laufen sie alle den davoneilenden Tieren nach, hinunter zur Thaya, als ob sie sie fangen wollten. Stoß und Eichhorn sehen vom Fluß her diese Jagd. Zuerst sind auch sie freudig überrascht, aber alsbald beginnen sie zu knurren, unzufrieden darüber, daß die Kinder die Bisons gerade zum Fluß treiben. Eine Bisonherde – welch willkommene Beute für die Sippe wäre das! Aber diese Dummköpfe verderben ja alles – rennen hinter der Herde her und lassen sie nirgends zur Ruhe kommen, wo die Jäger aus dem Lager sie umzingeln könnten! Auf diese Weise werden die Bisons schließlich an den Fluß gelangen, hinüberschwimmen und sich am jenseitigen Ufer verlieren – und die Sippe kommt um eine Beute, wie sie sie schon lange nicht gehabt hat! Wenn Stoß und Eichhorn die Kinder jetzt in der Nähe hätten, erginge es ihnen schlecht! Die Haare würden sie ihnen ausreißen und den Buckel vollhauen für ihr unvernünftiges Tun! Wenn die Knirpse zumindest die Jäger im Lager aufmerksam machen wollten – aber das fällt diesen Dummköpfen gar nicht ein! Und das sollen einmal junge Jäger werden! Blinde Maulwürfe sind sie! Eine Bisonherde läuft am Lager vorbei – und die Jäger sitzen dort bei der Feuerstelle, kratzen trockene Knochen ab und wissen von nichts ... 21
Stoß durchwatet eine kleine Pfütze; auf einer mit niedrigen Weiden und Birken bewachsenen Anhöhe beschattet er seine Augen mit den Händen, und schon nickt er erfreut seinem Gefährten zu: Die Kinder haben es nicht ausgehalten, der Herde lange nachzulaufen, und sind weit zurückgeblieben. Die Bisons sind den beiden Buben schon ziemlich nahe gekommen und gehen nur mehr in langsamem Schritt. Stoß flicht aus Gräsern einen Kranz und bindet sich ihn um den Kopf; in den Kranz steckt er langes Schilf, so daß er nun eine große Krone auf dem Kopf hat. Eichhorn macht sofort dasselbe. Und schon gehen beide Buben den Bisons entgegen. Gebückt huschen sie durch das dichte Wiesengras, aber von Zeit zu Zeit tauchen sie hervor und schütteln die Köpfe. Der Bisonstier ist schon aufmerksam geworden. Die Herde bleibt stehen und schaut neugierig auf die sonderbar hergerichteten Buben. Die Buben bewegen sich langsam, sie senken die Köpfe ins Gras und heben sie wieder langsam hervor. Dann bleiben sie ruhig stehen. Die Bisons beobachten sie nun lange Zeit, ohne sich zu bewegen. Der Wind weht seitlich, so daß die Tiere keinen Menschengeruch wittern und sich beruhigen. Die Kühe rücken zusammen und reiben sich aneinander; so zerdrücken sie die lästigen Gelsen, die sich zu beiden Seiten der Bäuche in dichten Scharen niedergelassen haben. Das Kalb läßt sich sorglos den Klee, den Sauerampfer und den Löwenzahn schmecken. Der Führer der Herde senkt den Kopf, rupft ein ganzes Büschel Farnkräuter aus, aber zerkaut es nicht; mit den hängenden Farnkräutern im Maul hebt er den Kopf. Er hat nun doch etwas gewittert. Stoß und Eichhorn wimmern leise vor Aufregung. Sie sehen, wie aus dem Lager die Jäger mit Speeren und Beilen herbeieilen. 22
Also hat man im Lager doch von der Bisonherde erfahren! Daß aber jetzt die Bisons nur nicht übers Wasser flüchten! Der Leitstier wird unruhig. Bestimmt wird er im nächsten Augenblick weiterflüchten ... Achtung! Die Bisons dürfen nicht zum Fluß! Aber die Jäger sind noch ziemlich weit – wer wird der Herde den Weg verstellen? Der Leitstier hat Gefahr gewittert; er beginnt zu laufen, die übrigen Tiere hinterher. Und geradewegs zur Thaya! Stoß und Eichhorn springen auf und stellen sich herzhaft der Herde in den Weg. Sie springen im Gras hoch, schwenken Zweige und schreien aus vollem Hals. Aber der Leitstier beachtet es nicht. Er stürzt vorwärts – so plötzlich, daß die Buben, von Angst überwältigt, nur mit knapper Not ins Weidengestrüpp springen können. Der Wind weht dem Bison nun entgegen. Nur noch wenige Schritte ist der Stier von den Buben entfernt, da spürt er den unangenehmen Menschengeruch, spuckt schnaufend das Farnbüschel aus und ändert die Richtung. Er biegt vom Fluß ab und wendet sich seitwärts; Kühe und Kalb laufen blindlings hinterdrein. Die Buben springen wieder aus ihrem Versteck und grinsen voll Freude: die Bisons bleiben also am diesseitigen Ufer der Thaya! Übermütig laufen die beiden jungen Jäger neben der Herde her und wagen es sogar, das Kalb von der Kuh abzudrängen. Dabei kommt jedoch Stoß der Kuh unvorsichtig nahe, und diese geht sofort mit gesenktem Kopf auf ihn los, um ihn auf die Hörner zu spießen. Der Bub wirft sich aber auf die Erde und drückt sich so schnell in den weichen Boden, daß er augenblicklich dem wütenden Blick des mächtigen Tieres entschwindet; die Kuh fährt mit dem Maul über den Rücken ihres Kalbes und läuft mit ihm dem Stier nach. Die Pollauer Berge sind steil und ragen über dem Lager der 23
Sippe schroff auf, hier an der Thaya aber verlaufen sie nur mehr in sanften, gezogenen Wellen ins weite Tiefland. Aus einer seichten Bodenfurche dieses Hügelgeländes kommen jetzt mehrere Jäger den Bisons entgegen. Der Leitstier bleibt einen Augenblick stehen, aber er hat keine Lust zum Kampf, der sicherlich für beide Teile furchtbar wäre. Ohne zu zögern springt er ins Wasser – nicht in die Strömung der Thaya, sondern in einen ihrer vielen blinden Arme, die das Land durchziehen. Die Kühe durchbrechen das Erlengebüsch und werfen sich ihm nach. Die Bisonmutter stößt das ermüdete Kalb mit dem Kopf ins seichte Wasser. Die Bisons können hier jedoch nicht schwimmen – es ist zuwenig Wasser da! Mühselig ziehen sie die Beine aus dem bodenlosen Schlamm und kommen kaum vorwärts. Stoß ist so in Hitze, daß er gar nicht an die Gefahren des trügerischen Sumpfes denkt. Er stürzt ins Wasser, der Herde nach. Vergeblich schreit Eichhorn, er möge doch zurückkommen – Stoß hört ihn nicht. Und würde er auch hören, in diesem Augenblick ist er für Ratschläge und Warnungen unzugänglich! Das Wasser des blinden Flußarms geht Stoß am Rand kaum über die Knie, aber der Schlammboden weicht unter seinen Füßen und zieht ihn hinunter, so daß er gleich bis über die Hüften im Wasser steht. Nur mit großer Mühe zieht er die Füße aus dem klebrigen Schlamm und erreicht an einer etwas gangbareren Stelle den Leitstier. Er packt den hin und her schwankenden Riesen am Schwanz und versucht mit aller Kraft, den Bison am Weiterstapfen zu hindern. Die heraneilenden Jäger lachen über das verrückte Beginnen des waghalsigen Buben so sehr, daß sie sich die Bäuche halten. Die schweren Bisons kommen nicht vorwärts. Sie stecken in dem sumpfigen Flußarm fest, und je mehr sie sich herausarbeiten wollen, um so mehr sinken sie ein. Manchmal kann eines der Tiere zwei, drei Schritte vorwärts machen, aber tückisch gibt 24
alsbald der Schlamm unter der schweren Last abermals nach, und der Bison steckt wieder bis über den Bauch darin. Die Jäger brechen unter großem Geschrei Äste von Bäumen und Sträuchern und werfen das Holzwerk auf den Sumpfboden, damit der sie besser trage. Sie freuen sich schon auf die reiche Beute. Eine der Kühe haben sie bereits erreicht und bearbeiten sie mit ihren Speeren; die zweite Kuh ist indessen ganz im Sumpf verschwunden, die dritte hat tieferes Wasser erreicht und schwimmt schnaufend ans andere Ufer. Stoß hält noch immer den Stier hartnäckig am Schwanz und schlägt wie verrückt mit einem Knüppel auf den Rücken des riesigen Tieres ein. Der Bison wirft sich wütend herum – wehe dem Buben, wenn der Riese ihn mit dem Huf trifft! Am Ufer feuert Eichhorn ganz aufgeregt mit Rufen und Gebärden verspätet herankommende Jäger und einige Frauen zur Eile an. Alle Hände werden gebraucht! Einer abgehetzten Frau zeigt er den kämpfenden Stoß – ihren Sohn. Die Frau schreit erschrocken auf und ruft sofort mit durchdringender Stimme den Buben zu sich ans Ufer. Aber Stoß schaut sich nur flüchtig um und antwortet nicht. Wie kann jetzt jemand – und sei es auch die eigene Mutter – von ihm verlangen, daß er seinen waghalsigen Kampf vor den Augen der ganzen Sippe aufgebe? Nun ja, Frauen können eben die Jagdleidenschaft nicht verstehen! Stoß überhört absichtlich das Rufen der Mutter; er wird sich doch nicht die Schmach antun, einen Kampf aufzugeben, in dem er vor allen glänzen kann! Der Bison ist schon mehr als zur Hälfte im Schlamm versunken. Er atmet schwer; mit jedem Atemzug saugt er eine Menge Gelsen in sich hinein, so daß in der Insektenwolke, die ihn umgibt, ein leerer Fleck entsteht. Zwar hustet er den eingesogenen Schwarm sofort wieder aus, aber seine Wut wird immer mehr angestachelt. Wild rollt er die Augen, aber er kann die Gelsen nicht verjagen, die sich klumpenweise auf ihm fest25
setzen – denn sein Schwanz kann nicht zuschlagen; Stoß hält ihn unverdrossen umklammert. Die aufgeregte Mutter sieht nun, daß ihr Sohn alle Warnungen unbeachtet läßt. Da springt die Besorgte kurz entschlossen in den Sumpf und arbeitet sich an Stoß heran. Eben als der keuchende Bison sich hochreckt und den zottigen Kopf dem Buben zudreht, um ihn mit den Hörnern fortzuschleudern, packt sie Stoß an der Hand und reißt ihn weg. Sie selber aber sinkt dabei tief in den tückischen Schlamm. Schon treffen die Speere der Jäger den Bison, und der sich aufbäumende Stier wälzt sich auf die unglückliche Mutter und drückt sie unter sich in den Sumpf. Niana hat ihr Leben für den Sohn geopfert. Die Jäger dreschen mit ihren Steinbeilen wild auf das große Tier los. Sie wollen die arme Frau hervorziehen, aber sie sind nicht imstande, den schweren Bison wegzuwälzen, der noch immer heftig herumschlägt und sie gefährlich bedroht. Mit Kot vermischtes Blut deutet auf zahlreiche Wunden am Körper des immer schwächer werdenden Riesen; es geht zu Ende mit ihm. Am Ufer haben Frauen und Kinder das gefangene Bisonkalb umzingelt und necken und plagen es mit Geschrei. Sie haben gar nicht beachtet, daß die arme Niana unter dem Bison im Sumpf verschwunden ist. Nur zwei ältere Frauen, die neue Speere für die Jäger bereit halten, stehen unweit der Unglücksstelle und schauen still und mit traurigem Gesichtsausdruck dem Kampf gegen den riesigen Bison zu; sie denken an die arme Niana, die so plötzlich ihr Leben geendet hat. Aber sie klagen nicht – im Kampf weint man nicht um Gefallene. Nianas Tod wirkt nicht allzusehr auf die Sippe. Es ist nun einmal nicht anders im Jägerleben. Niemand weiß am Morgen, ob er abends noch leben wird. Im ständigen Kampf um die Nahrung siegt einmal der Mensch, ein andermal wieder das Tier – so war es, so ist es, und so wird es sein. 26
Aber Nian, Nianas Mann und Herr, ist doch bestürzt, und sein Schnauben und das auffällige Blinzeln seiner Augen zeigen, daß er bewegt und aufgewühlt ist. Er hat die Frau verloren – eine tüchtige und verläßliche Dienerin, die er einst gegen ein herrliches Bärenfell eingetauscht hat. Schwer wird er sich jetzt eine neue verschaffen können, böse Sorgen erwarten ihn. Wer wird ihm auf Jagdfahrten das Zelt tragen? Wer wird seine Felle kauen, um sie weich zu machen? Nian ist sehr traurig ... Stoß hat die Jagdleidenschaft verlassen. Reglos schaut er auf ein mit Blut bespritztes Wasserrosenblatt. Er wartet darauf, daß die Jäger den Bison fortwälzen und daß seine Mutter wieder aufsteht. Aber ein Jäger schiebt den Buben beiseite, daß er nicht im Wege stehe. Stoß bleibt noch eine Weile im Wasser, den Daumen der linken Hand zwischen die Zähne geklemmt. Dann kriecht er gesenkten Blickes an den Rand des Sumpfes und setzt sich an einen Erlenbusch. Laute Siegesschreie verkünden das Ende des Kampfes mit dem Bisonstier. Die müden Jäger kriechen aus dem Sumpf und befehlen den Frauen, beide Bisons herauszuziehen; sie selber legen sich ins Gras. Jetzt erst sprechen sie ein paar Worte über den unvermuteten Tod Nianas, der treuen Gefährtin des tapferen Jägers Nian. Die Frauen, gewohnt, den Männern zu gehorchen, sind sofort in den Morast gestiegen. Fast alle sind sichtlich krummbeinig vom ständigen Sitzen mit gekreuzten Beinen. Sie haben den ersten Bison bei Beinen, Hörnern, Mähne und Schwanz gepackt und schleppen ihn unter Anspannung aller Kräfte durch das Wasser ans Ufer. Weithin schallen Geschrei und Lärm, Weisungen und Warnungen. Das Wasser spritzt hoch auf, wenn die Arbeitenden im Schlamm straucheln, und das Kreischen der Frauen, die ihre Füße nicht aus dem Sumpf herausziehen können, vermischt sich 27
mit dem lauten Lachen der Männer, die angesichts der reichen Beute in gehobener Stimmung sind. Nach den Mühen des Kampfes ruhen die Jäger aus. Sie haben eine große Leistung hinter sich. Man würde gar nicht glauben, daß die mageren Männer über so viel Kraft und Ausdauer verfügen. Sie haben kein Fett am Körper, aber ihre Muskeln sind elastisch und zähe und ziehen sich über die Arme wie dicke Seile. In ihrer Mehrzahl sind die Jäger nackt, nur manche haben ein Fell um die Hüften gebunden – mehr zur Zierde, als weil sie es brauchen. Ihre sonnengebräunten, wind- und regengewohnten Körper sind sehr abgehärtet. Die erwachsenen Männer sind am ganzen Körper behaart, nur die Narben der furchtbaren Wunden aus den verschiedenen Kämpfen bilden unbewachsene Flecke. Ohne Narben gibt es keinen in der Sippe – es wäre doch eine Schande, wenn ein erwachsener Jäger kein Zeichen von den heldenhaften Kämpfen mit wilden Tieren an seinem Körper hätte! Sogar manche Frauen prahlen mit Narben – mit selbstzugefügten allerdings. Sie haben sich nämlich im Gesicht und auf der Brust Hautstückchen herausgeschnitten, und diese Wunden, die mit Holzasche bestreut wurden, sind dann erhaben hervorgequollen und bilden jetzt eine dauernde Verzierung der erwachsenen Mädchen und der Frauen. Die Jäger, die den im Schlamm wütenden Frauen zuschauen, lachen behaglich in der Vorfreude auf das bevorstehende reiche Mahl. Ihre geöffneten Lippen enthüllen das starke Gebiß; besonders die Eckzähne ragen wuchtig hervor, und das gibt den Gesichtern ein wildes Aussehen. Der Mund ist besonders üppig, Kinn und Stirn hingegen treten merklich zurück; besonders die Stirn verliert sich hinter den mächtigen Augenbrauenwülsten. Die Beine sind auffallend dünn, denn diese Jäger haben noch nicht so volle Waden wie die späteren, ansässigen Menschen. Und wenn die Zehen über den Lehmboden gleiten, so zeigt die 28
Fußspur sehr deutlich, wie sehr – zum Unterschied von den späteren Menschen – die große Zehe von den übrigen Zehen absteht. Ohne Zweifel würde heute jeder, der im Wald einen urzeitlichen Menschen sähe, auf den ersten Blick glauben, einen großen Affen vor sich zu haben. Aber das wäre ein großer Irrtum: denn die Mammutjäger sind schon wirkliche Menschen und sind durch den aufrechten Gang, durch die Sprache und durch den Gebrauch von Werkzeugen sogar den höchstentwickelten ihrer tierischen Vorfahren weit voraus. Sie ragen auch über die ursprüngliche Menschengattung, über den wilden Neandertaler, der in jener Zeit längst ausgestorben ist, weit hinaus. – Die kotbeschmierten Frauen haben den toten Bison nun ans Ufer gebracht, aber auf der Böschung können sie ihn nicht halten. Der schwere Körper rutscht wieder zurück ins Wasser, und die unten schiebenden Frauen können kaum ausweichen; das Wasser spritzt hoch auf. Laut lachen die Männer; sie sehen schon, daß es ohne sie nicht geht, und da fühlen sie sich eben geschmeichelt und stehen nun langsam auf. Mit verächtlichem Lachen schauen sie auf die abgerackerten Frauen und packen jetzt selber den Bison. Aber es fällt auch ihnen gar nicht so leicht, das schwere Tier an Land zu bringen. Die gespannten Muskeln, die hervorquellenden Augen und die zusammengebissenen Zähne der Männer verraten, wie sehr sie sich anstrengen. Sie brummen und schimpfen, aber endlich ist der Bison doch oben. Befriedigt tasten die Männer den großen Stier ab, aber lange halten sie sich nicht damit auf, sondern steigen wieder ins Wasser, um die im Schlamm halb versunkene Bisonkuh zu holen. Schließlich wird auch sie an Landgebracht. Erst dann durchsuchen die Männer den Schlamm an der Stelle, wo Niana versunken ist – freilich nur oberflächlich, denn es wäre vergebliche Mühe, den Körper der Verunglückten lange zu suchen; man könnte ihr ja doch nicht mehr helfen. Die Sippe 29
hat etliche Bisons erjagt und diese Jagdbeute eben mit Nianas Leben bezahlt; damit ist die Sache beglichen – und das Ergebnis ist für die Sippe befriedigend. Am Ufer hat indessen bereits der Schmaus begonnen. Die Bisons sind schon aufgeschnitten und liefern nun eine große Menge noch warmer Innereien. Die Buben sind daran, aus dem Lager Feuer zu holen, um es hier anzufachen, aber die ungeduldigen Jäger reißen Leber, Magen und andere Eingeweide aus den Tierkörpern und essen sie roh. Kinder und Frauen warten, bis die Männer satt sind. Heute ist ja genug für alle da! Man ißt sich an, bis die Bäuche zum Bersten voll sind! Die Männer haben den Frauen die abgezogene Bisonhaut gegeben, und die haben sie sofort im Gras ausgebreitet und mit scharfen Steinen abzukratzen begonnen, wobei sie das Abgekratzte eifrig naschen. Die zweite Haut haben die größeren Kinder übernommen. Hinter den Sträuchern heulen die Füchse, die durch den starken Geruch von Blut, Fleisch und Eingeweiden angelockt wurden. Eichhorn wirft mit Steinen nach ihnen, und da sie noch immer nicht davonlaufen wollen, packt er wütend einen Prügel und beginnt sie zu jagen. Aber die Jäger lachen ihn aus, denn die eben davongejagten Füchse schleichen nun prompt von der anderen Seite heran! Immer näher kommen sie und lauern, ob von dem fetten Mahl auch für sie etwas abfällt. Eichhorn gibt seine vergeblichen Bemühungen bald auf und tritt nur noch nach einem besonders frechen Fuchs, der ihm bis unter die Füße huscht. Die Jäger sitzen im Kreis um die Feuerstelle, jeder ein Stück Fleisch in der einen Hand und einen Prügel in der anderen, um die zudringlichen Füchse zu verscheuchen, die aus allen Löchern der Pollauer Berge hier zusammenzuströmen scheinen. In der glimmenden Asche an der Feuerstelle braten die Jäger die auf Stäbe gespießten Fleischstücke. Die Männer sind alle schrecklich 30
mit Blut beschmiert, sie haben sich nach dem Kampf nicht gewaschen – das tun sie überhaupt nie; im Gegenteil, sie sind richtig stolz auf die kämpferische Bemalung und prahlen damit, und gar mancher verschmiert das Blut eifrig nach allen Richtungen und freut sich, wenn er damit sein Gesicht zur Gänze rot färben kann. Sie grinsen einander an und fletschen die Zähne, daß es ganz furchtbar aussieht; aber ihnen gefällt es sehr. Ihrer Meinung nach ist man ein um so größerer und tüchtigerer Jäger, je mehr Blutspuren man aufweist.
Stoß hockt noch immer ganz allein unter dem Busch und schaut wie geistesabwesend aufs Wasser. Er läßt sich einen gebratenen Bisonschwanz schmecken; schon hat er ihn abgenagt und saugt ihn jetzt mit lautem Schmatzen aus. Mit der Hand kratzt er fortwährend seine Waden, aber er merkt gar nicht, daß die Gelsen ihn stechen. Etwas raschelt – Stoß wird aufmerksam: jenseits des Busches schleicht ein hungriger Wolf durch die Zweige! Stoß fährt vor Überraschung zusammen, und der Wolf versteckt sich sogleich. Der Bub ruft nicht um Hilfe – er ist doch kein kleines Kind! –, sondern steht leise auf und schaut sich nach einer Waffe um. Unweit sieht er einige in die Erde gesteckte Speere, nimmt einen davon und will zu seinem Busch zurück, um den Wolf zu suchen. Da wirft Zottel, ein alter, aber noch regsamer Jäger, dem Buben einen schönen, noch nicht abgenagten Knochen zu. Stoß fängt ihn geschickt mit der linken Hand und macht sich auf die Suche nach dem Wolf. Er beißt ein paarmal von dem halbgebratenen Fleisch ab und durchsucht gleichzeitig mit dem Speer in der Rechten das hohe Gras hinter dem Erlenbusch. Den Wolf aber sieht er nicht. Er geht weiter, das Ufer entlang, und da, auf einmal, husch und schnapp! – und der Wolf hat mit einem Sprung Stoß den Knochen aus der Hand gerissen! 31
Bevor noch der Bub einen Gedanken fassen kann, verschwindet der Wolf schon zwischen den Bäumen. Stoß droht ihm wütend mit dem Speer nach. Den Jägern darf er gar nicht sagen, was der Wolf ihm angetan hat – sie würden ihn ja auslachen. Übrigens – was schert er sich um den Knochen! Eigentlich hat er gar keinen Hunger. Er denkt an die Mutter. Die Bisons haben sie der Sippe weggenommen. Leben für Leben ... Stoß setzt sich auf einen aus der Erde ragenden Felsblock und schaut auf den unglückseligen Wasserarm. Unglückselig? Er hat doch der Sippe eine willkommene Beute beschert ... Aber die Mutter ist zugrunde gegangen. Wie sie stets für Stoß gesorgt hat, immer, so weit er überhaupt zurückdenken kann! Bei ihr hat er immer Zuflucht gefunden ... »Mutter, Mutter!« kommt es wimmernd aus dem Mund des Buben. Stoß beginnt untröstlich zu schluchzen. Den rauhen, fast gefühllosen Buben übermannt die Liebe zur Mutter – die innige Bindung zwischen Mutter und Kind ist das als erstes erwachte gesellschaftliche Gefühl des Urmenschen. 32
Die Bestattung Zwei Tage schmaust die Sippe am Thayaufer, dann übersiedelt sie mit Fleischvorräten und Häuten in ihr Lager. Das Kalb hat ein böses Ende genommen. Man hatte es ins Lager mitnehmen und für später aufheben wollen, hatte es aber schlecht angebunden; und in der Nacht hat es sich, von den Wölfen scheu gemacht, losgerissen und ist weit fortgelaufen, aber schließlich doch von den Wölfen zerrissen worden. Zum Glück hat die Sippe gerade Unmengen von Fleisch, deshalb spricht man nicht viel über den Verlust des Kalbes. Zu einer anderen Zeit wären die Wächter empfindlich dafür bestraft worden, daß sie ihre Pflicht nicht erfüllt und nicht besser achtgegeben haben. Rings um das Feuer sitzen die Frauen und bearbeiten das übriggebliebene Fleisch. Sie lösen die Knochen von den Keulen, schneiden das Fleisch in Stücke und stecken diese auf in die Erde gebohrte Äste; das Fleisch soll an der Sonne trocknen. Die Esser können kaum mehr kauen – die Kiefer tun ihnen schon weh! Sie sind vom ständigen Schmausen müde und wälzen sich nun oberhalb der Quelle oder zwischen den Lederzelten faul auf dem Rasen. Es ist so viel Fleisch und Fett vorhanden, daß es unmöglich ist, alles aufzuessen. Diesmal kann sich jeder Angehörige der Sippe den Körper nach Belieben mit einer dicken Fettschicht beschmieren, ohne daß ihn jemand ob solcher Verschwendung mit dem Knüppel schlägt. Fett ist der beste Schutz gegen die stechenden Mücken; es kann einige Tage am Körper halten, und die Jäger geben gut acht, daß die schützende Fettschicht nicht vorzeitig weggewischt wird. Je älter sie ist und je mehr sie stinkt, desto besser vertreibt sie die Mücken. Aus dem Feuer wälzt sich dicker Qualm; die Frauen räuchern darin auf Stöcke gespießte Fleischstücke. Flämmchen und 32
Erle, zwei schmutzige Mädchen, bringen immer wieder frische Zweige ans Feuer. Die kleine Schkuta will ihnen ein Stück Fleisch geben, aber die beiden rümpfen nur wortlos die Nase, springen über das kleine Rinnsal unter der Quelle und reißen hinter Zottels Zelt Sauerampfer ab. Dann gehen sie gemeinsam zum Fluß um junge Schilfknospen und andere Sumpfpflanzen; mehrere Mädchen folgen ihnen alsbald nach und pflücken nun ebenfalls allerlei Grünzeug, das nach dem übermäßigen Fleischgenuß gegessen werden muß, will man nicht die Verdauung gefährden. Nun setzt sich der schnellfüßige Hase zum Feuer und legt zwei schöne, gerade und sauber geglättete Stöcke neben sich. Dann nimmt er einen davon und brennt dessen zugespitztes Ende in der glühenden Asche ab. Nach einer Weile schleift er die noch 33
glimmende Spitze an einem Stein. Hase wird prachtvolle Speere haben! Auch ihm bietet Schkuta das gebratene Fleisch an, aber er wendet sich einfach ab. Sogar Freßsack, der gewaltigste Esser in der ganzen Sippe, wischt sich nur schnaufend den Schweiß vom Gesicht und winkt mit der Hand ab, als Schkuta ihm den duftenden Braten hinhält. In der Sippe fragt keiner mehr nach Fleisch, alle sind übersatt und kauen höchstens noch Sauerampfer oder Wermut. Am Abend vielleicht, wenn sie verdaut haben, werden die Jäger aus den aufgehäuften Knochen das Mark herausklopfen; denn das aus angebrannten Knochen geholte Mark ist der köstlichste Leckerbissen der Welt! Das schmeckt sogar noch bei vollgestopftem Bauch! Die Kinder sind beweglicher als die erwachsenen Jäger, keinen Augenblick können sie stillsitzen! Eichhorn hat aus einem Klumpen gelben Lehms einen Bison geformt; vier Stöcke in den Rumpf – so, das sind die Beine; und in den Kopf zwei kleine Zweige – auch die Hörner dürfen nicht fehlen. Der tönerne Bison gefällt allen Buben sehr gut. Sie tragen ihn ein gutes Stück vom Lager fort und beginnen dort eine Bisonjagd. Mit selbstverfertigten Bogen pirschen sie sich an den Bison heran und schießen ihre Pfeile ab, an deren Spitzen sie mit Harz scharfe Knochensplitter befestigt haben. Beim Spiel ahmen sie getreulich alle ihnen bekannten Jagdkniffe nach. Sie prüfen mit angefeuchteten Fingern, von welcher Seite der Wind weht, nehmen sorgsam Deckung und schleichen vorsichtig an. Großer Jubel erschallt, wenn es einem gelingt, den Bison so zu treffen, daß der Pfeil in seinem Körper steckenbleibt – als Beweis für die Jagdtüchtigkeit des Schützen. Im Lager geht indessen Wisent, einer der tüchtigsten Jäger der Sippe, zur Lagerquelle, um nach dem reichlichen Mahl zu trinken; aber dort angekommen, beginnt er erzürnt zu schimpfen. Wo die reine Quelle war, ist jetzt ein zerstampfter Sumpf! 34
Die im Gras liegenden Jäger belustigt es sehr, wie der durstige Wisent sich ärgert, sie foppen ihn auch noch. »Wisent, schmeckt der Schlamm?« ruft Marder, ein bekannter Witzbold. »Du, trink uns nicht alles aus!« mahnt schadenfroh Raufbold. Wisent schaut sie alle tadelnd an und sagt mürrisch: »Alle in die Quelle getreten. Jetzt kann niemand Wasser trinken! Starrkopf nicht trinken, Hase nicht trinken, Raufbold nicht trinken, Wisent nicht trinken – niemand! Das ist schlecht, der Fluß ist weit ...« Seine Worte wirken. Jetzt erst bedenken die Jäger, was sie da angerichtet haben: Alle sind sie das Essen begießen gegangen und haben dabei die Quelle zertreten! An die Zukunft haben sie nicht gedacht – wie gewöhnlich. Wisents Worte machen ihnen nun klar, wie leichtsinnig sie sich um das Wasser mitten im Lager gebracht haben. Mißmutig greinen sie jetzt, und bald werfen sie mit Steinen, Dornen und allem möglichen, was ihnen in die Hände kommt, aufeinander und machen einer dem anderen Vorwürfe wegen der zerstampften Quelle. Sie benehmen sich wie kleine Kinder. Wisent läßt die Gefährten streiten, sucht aus dem Knochenvorrat einen schaufelförmigen Bisonknochen heraus und macht sich daran, den Kot von der Quelle zu entfernen. Wolfsklaue und Ukmas kommen herbei und helfen ihm. Auch die beiden Mädchen Fröscherl und Flämmchen arbeiten mit: sie graben mit den Händen eine Rinne in den Boden, damit das trübe Wasser abfließen kann. Das gefällt auch den übrigen Kindern, und bald wimmelt es rings um die Quelle von Arbeitern. Wisent wälzt einen großen Stein herbei und rückt ihn an den Rand des eben ausgehobenen Brunnens, der nun auch mit anderen Steinen gestützt wird1 – er darf nicht einstürzen, auch __________________________________________________ 1
Der mit Steinen ausgebaute Brunnen von Wisternitz wurde 1927 fünf Meter unter der heutigen Erdoberfläche aufgefunden.
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wenn man hier zum Trinken niederkniet. Die Quelle wird wieder reines Wasser geben! Der herausgeholte Schlamm kommt den Kindern sehr gelegen; sie beschmieren sich damit, denn das hilft gegen die Gelsenplage, und darüber hinaus bemalen sich besonders die Buben gern auf diese Art – da schauen sie ja aus wie große Jäger nach erfolgreicher Jagd! Die Mädchen bestreichen nur die Gesichter und malen ein paar Streifen über den Körper – das genügt zum Aufputz. Die festen Stücke gelben Lehms eignen sich zu verschiedenen künstlerischen Gebilden. Die Kinder formen so viele Tiere daraus, daß binnen kurzer Zeit der ganze Felsblock nebenan von ihnen bevölkert ist. Fröscherl macht am liebsten Bären, und sie gelingen ihr wirklich recht gut; einer steht auf den Hinterbeinen, ein anderer kriecht über einen Felsen, ein dritter kratzt sich mit dem Fuß am Rücken. – Die kleine Biene wieder formt herzige Füchse mit riesigen Schwänzen2. Auch Eichhorn kommt herbei und beginnt gleich zu arbeiten. Er knetet ein großes Mammut, aber die Stoßzähne wollen ihm nicht gelingen. Zwar hat er sie auf seinem Schenkel gut gewalkt, aber bei dem Versuch, sie dem Mammut einzusetzen, biegen sie sich immer wieder und fallen hinunter. Nach einigen vergeblichen Versuchen wirft Eichhorn die weichen Lehmstangen weg und läßt das Mammut eben ohne Stoßzähne. Auch so ist es schön – das anerkennen alle Mädchen. Dann macht er sich noch über einen Bison. Weil er gerade nicht viel Lehm bei der Hand hat, formt er nur den Kopf. Aber der gelingt auch ausgezeichnet! Selbst die großen Jäger kommen, um Eichhorns Werk zu bestaunen. Wisent sagt, daß es schade wäre, einen so schönen Bisonkopf wegzuwerfen, und legt ihn zum Brennen in die glühende Asche der Feuerstelle. __________________________________________________ 2
Solche Tierfiguren aus gebranntem Lehm fand man bei den Ausgrabungen 1924/25 und 1934/35.
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So soll er erhalten bleiben und der Sippe helfen, Bisons herbeizuzaubern, wenn im Lager wieder einmal Hunger herrschen wird. Vor seinem Lederzelt, abseits von allen übrigen Jägern, sitzt der schweigende Nian. Mit einem scharfen Feuerstein schnitzt er an Bruchstücken eines Mammutstoßzahns. Er fühlt sich sehr, sehr einsam, Niana fehlt ihm überall. Oft will er sie rufen – und erinnert sich dann plötzlich, daß sie ja nicht mehr da ist. Als ihr das Unglück zugestoßen ist, da hat er es in Ruhe hingenommen – wie ein Wolf, dem das Weibchen im Kampfe fällt. Aber jetzt bemächtigt sich seiner mehr und mehr ein menschliches Gefühl – der Wunsch nach einem ihm zugesellten Wesen, das durch nichts ersetzt werden kann. Niana ist zwar seine Dienerin gewesen und als solche ihm nicht gleich, aber Nian ist sich dessen bewußt, daß sie ihm doch irgendwie mehr gewesen ist als eine Helferin. Er kann das weder begreifen noch ausdrücken, er fühlt nur eine schwere Bangigkeit, die sein Inneres erfüllt. Ohne ein Wort zu sprechen, steht er auf und geht mit langsamen Schritten aus dem Lager. Den im Gras liegenden Jägern fällt auf, daß Nian fortgeht, ohne ein Beil oder einen Speer in der Hand zu halten; das ist etwas Ungewöhnliches, denn kein Mann verläßt sonst ohne Waffe das Lager, und sei es auch nur auf eine kleine Weile. Die Jäger schauen Nian nach, dann blicken sie einander an und schweigen. Nian irrt vom Lager fort, gelangt, ohne es zu merken, zu dem blinden Arm der Thaya. Ah, da unter dem Erlenbusch sitzt jemand! Der lauert wahrscheinlich auf Fische! Nian geht achtlos vorbei, dann aber schaut er doch hinter den Busch: Das ist ja Stoß, einer seiner Söhne! Nian pfeift. Der in Gedanken versunkene Bub springt überrascht auf und lächelt dann, als er den Vater erkennt. Nian bleibt stehen. 37
Vater und Sohn schauen still auf die glänzende Wasserfläche. Stoß blickt nun mit feuchten Augen zu dem Jäger auf, der lange Zeit der Herr und Gefährte seiner Mutter gewesen ist. Aber Nian hat keine Lust, sich mit dem Sohn zu unterhalten, er will weitergehen. Da tritt Stoß an den Uferrand, gibt einen winselnden Laut von sich und zeigt mit der Hand auf das Wasser. Erst jetzt erkennt Nian, daß er an der sumpfigen Bucht steht, wo er seine Gefährtin verloren hat. Ja, hier war es, hier ... Stoß weist noch immer mit der ausgestreckten Hand auf das Wasser hinaus. Was gibt es denn dort? Nian heftet den Blick dorthin – und es scheint ihm, als rage dort ein Stück Ast aus der Flut. Oder vielleicht – Schnell steigt er ins Wasser. Er sinkt tief in den Schlamm und fühlt, wie die kleinen Luftbläschen ihn an den Beinen kitzeln. Ohne an die Gefahren des Sumpfes zu denken, macht er einige Schritte vorwärts, greift nach einigen Ästen, die noch von der Bisonjagd her stammen, und benützt sie als Stützen zu einigen weiteren Schritten. Aber er sinkt immer tiefer ein und kommt nur mühsam vorwärts. Stoß sieht, wie Nian in den tückischen Sumpf sinkt; schnell läuft er ins seichte Wasser und reicht dem Vater einen langen Ast als zusätzliche Stütze. Er tut dies nicht etwa deshalb, weil er Nian gegenüber irgendwelche kindliche Liebe fühlt – genau so wäre er jedem anderen Mitglied der Sippe behilflich. Stoß hat sich nur zur Mutter hingezogen gefühlt, die ihn von klein auf behütet hat; Vater und Beschützer ist ihm eigentlich die ganze Sippe. Stoß ist ein Kind der Sippe – so wie Eichhorn, Käferl, Wühlmaus, Zappel, Schielauge und die anderen Buben und Mädchen, die alle nur ihre Mütter haben und sich nicht um deren Gefährten und Herren kümmern. Vater – das bedeutet ihnen nichts; heute ist es der eine Jäger, nächsten Winter wird es vielleicht ein anderer sein, der sich zur Mutter gesellt. Für das Kind ist dies ganz belanglos. Aber jedes Kind steht unter dem Schutz 38
der ganzen Sippe, und das zählt weit mehr, als würde es nur einem einzigen Mann gehören. Wenn Nian zu Stoß »Sohn« sagt, nun, dann nimmt Stoß diese Bezeichnung ebenso gleichgültig entgegen wie die Bezeichnung »Dummkopf« oder andere Schimpfnamen, mit denen Nian ihn manchmal bedenkt. Aber er schätzt Nian als guten Jäger, der zu den Mutigsten der Sippe gehört. Und wenn Nian, darüber hinaus, auch sein Vater ist – nun, um so besser. Ein Ruf reißt Stoß aus seiner Versunkenheit: »Niana ...!« Nian hat den Körper der ertrunkenen Frau an den Haaren gefaßt und zieht ihn zu sich. Dabei sinken seine Füße tief in den Schlamm, schon steht er bis zum Hals im trüben Wasser! Stoß watet schnell an Nian heran und wirft ihm Äste zu. Und Nian gelingt es tatsächlich, einen langen Ast zu packen, an dem der Bub nun mit aller Kraft zieht, und da Stoß zufällig genügend fest auf dem Astbündel steht, kann er dem Vater aus der gefährlichen tiefen Stelle heraushelfen. Dann arbeiten sie sich gemeinsam aus dem Sumpfwasser ans Ufer und betten die tote Niana auf den üppigen Rasen.
Im Lager betrachtet indessen Wisent stolz sein Bauwerk. In der Quelle ist nun wieder reines Wasser! Ein Jäger nach dem anderen kniet am Brunnenrand nieder und schlürft den erfrischenden Trank. Und sie alle loben Wisent für seinen guten Einfall. Dann sitzt die ganze Sippe rings um die Feuerstelle. Die Männer halten die abgenagten Knochen ins Feuer; die heißen Knochen zerschlagen sie dann und saugen daraus mit großer Wonne das warme Mark. Sie schlecken sich nach dem Schmaus ab und geben die Knochen an Frauen und Kinder weiter, damit die auch noch die letzten Reste herauskratzen. Alle fühlen sich ungemein wohl. »Hej-uaa-oh!« 39
Überraschungsrufe schallen plötzlich durch das Lager. Unvermutet taucht Stoß unter den Jägern auf, und einige Schritte hinter ihm kommt langsam und gebeugt sein Vater – mit der ertrunkenen Niana auf dem Rücken. Nian legt den leblosen Körper nieder und schaut sich in der Sippe um. Und die Sippe nimmt mit halblautem Brummen zur Kenntnis, daß Nian seine Frau bestatten will, wie es in einer starken und ruhmreichen Sippe Brauch ist. Niana ist ohne Frage ein gutes Mitglied der Sippe gewesen, und ihr Mann ist ein Jäger im besten Sinne des Wortes; Niana verbleibt auch weiterhin bei der Sippe und wird auch nach ihrem Tod am Leben der Ihren 40
teilhaben. Man wird sie im Lagerfeuer bestatten – so verschmilzt sie am besten und für immer mit der Sippe. Ohne viele Worte nehmen Nian, Wolfsklaue und Wisent den Körper der Frau auf und legen ihn auf die Feuerstelle. Nian nimmt sein kostbares Halsband ab und legt es neben den Leichnam; es besteht aus einer Unzahl durchbohrter Fuchs- und Wolfszähne, die auf einen dünnen Riemen gefädelt sind. Auf dieses Halsband mit seinen Jagdtrophäen ist Nian stets besonders stolz gewesen ... Jeder Angehörige der Sippe sichert sich die Gunst der Toten für die Zukunft und weiteres gutes Auskommen mit ihr durch 41
irgendeine Gabe. Sie werfen Feuersteinwerkzeuge ins Feuer oder opfern ihre kleinen Schmuckstücke aus Muscheln, Knochen und Zähnen. Manche bringen ihr Lieblingsspielzeug aus den Zelten – schöne farbige Steinchen, kleine Schneckenhäuschen, abgeschnittene Geweihstücke, sogar Versteinerungen, die auf den ausgedehnten Jagdzügen durch die Lande irgendwo die Aufmerksamkeit und die Neugier der Jäger geweckt haben. Das alles hat Niana jetzt bei sich. Nian schleppt noch das Schulterblatt eines Mammuts herbei und deckt damit den Körper der Gefährtin zu. Und dann werfen alle Anwesenden Lehm auf das Grab. Auch ganze Rasenstücke bringen sie – und nach einer Weile ist unter der Lehmdecke nichts mehr von Niana zu sehen. Weißer Rauch steigt gerade zum Himmel auf ... Aber da ruft Stoß plötzlich etwas und zieht aus dem Grab einen starken, bereits glimmenden Ast. Er geht damit beiseite, legt ihn auf die Erde und bläst darauf. Lautes Brummen der ganzen Sippe begleitet sein Tun – ein Brummen des Beifalls und der Anerkennung; denn beinahe hätte man vergessen, sich ein neues Feuer zu sichern! Aber nun hat Stoß es noch rechtzeitig gerettet – er ist ein kluger Bub! Schnell springen einige Männer herbei und legen ein Häufchen Trockengras zu, das sogleich zu brennen beginnt. Nun können sie ruhig Holz nachlegen – das Feuer erlischt nicht mehr. Das Grab über der alten Feuerstelle wächst. Immer mehr Lehm kommt dazu, und der Hügel wird höher und höher. Die Jäger schaufeln mit Rentiergeweihen und breiten Schulterknochen und tragen den Lehm in Ledersäcken herbei. Auch die Kinder helfen. Die aus dem Grab aufsteigende Rauchsäule wird schwächer und schwächer ... Die Sonne geht unter. Nian winkt: der Hügel ist groß genug. Alle setzen sich rings um das Grab und beginnen zu singen: ungeformte, langgezogene 42
Töne, aber doch voll Ausdruck einer gemeinsamen Gefühlsbewegung. Bald ist in diesem Gesang ein sich formender Rhythmus zu erkennen, und im Takt ihrer Klage wiegen die sitzenden Jäger den Oberkörper hin und her. Von weitern hört man Wölfe und Hyänen heulen. Hinter den Pollauer Bergen steigen schwarze Wolken auf; vom Fluß her weht ein kühler Wind.
Wer wird Häuptling der Sippe? Stoß hält an der neuen Feuerstelle Wacht. Er sitzt auf einem Stein, legt abgebrochene Äste und unbrauchbare Knochenstücke in die Glut und sinnt in den bläulichen Rauch, dessen krause Wölkchen zum Himmel steigen. Er verharrt so den ganzen Tag beim Feuer, und alle in der Sippe wissen, daß Stoß jetzt der Wächter des Feuers ist, obwohl darüber niemand beraten hat. Die Frauen haben einen ziemlich großen Holzvorrat herangeschafft, und der Bub kann nun in Gedanken versunken ruhig ins Feuer schauen. Das Feuer ist eine gewaltige Macht. Es überwindet alles. Es vertreibt die Tiere. Es wärmt. Es brät das Fleisch. Ohne Feuer kann man den Winter nicht überstehen ... (Wie wenig hat gefehlt – und die Sippe wäre ohne Feuer gewesen!) Lehm erstickt das Feuer. Der Regen frißt das Feuer einer unvorsichtigen Sippe. Das Feuer muß man sorgfältig hüten. Ein erloschenes Feuer lebt nicht wieder auf. Jetzt wird Stoß es gut bewachen. Sein Feuer wird nie verlöschen, denn es ist ja das Feuer seiner Mutter Niana. Und die wird nie vergehen, sie ist in seinem Feuer gegenwärtig! So lange die Flammen lodern und weißer Rauch himmelwärts steigt, so lange lebt Niana in dem ihrem Grab entnommenen Feuer. 43
Stoß legt ein neues Bündel Reisig nach und beobachtet mit Wohlgefallen die Rauchwirbel, die sich hervorwälzen. Man legt Holz ins Feuer – und schau, nach einer Weile ist kein Holz mehr da! Nur Asche auf der Feuerstelle – und ein Wölkchen Rauch. Welch wunderbare Veränderung! Niemand kann das begreifen! Und beim Menschen ist es ebenso: Der Körper liegt reglos, und der Atem steigt in die Höhe, bis er zerfließt. Man sagt: »Tot!« Der Atem trennt sich vom Körper wie der Rauch vom Holz – und kommt nicht mehr zurück. Wer tot ist, der atmet nicht. Wohl der Sippe, solange sie Feuer hat! Die älteren Jäger erinnern sich noch, wie einmal, auf beschwerlicher Wanderschaft, beim Überschreiten eines Flusses die Sippe das Feuer verloren hat: Der Jäger, der den inwendig glimmenden Baumstumpf zu tragen hatte, strauchelte in der starken Strömung – und das Feuer ertrank. Das war damals ein großes Unglück für die Sippe; es dauerte lange, ehe es ihr gelang, von einer anderen Sippe für eine Anzahl Häute ein neues Feuer zu erhalten. Inzwischen, so berichten die Jäger, gingen im langen Winter viele Angehörige der Sippe durch Kälte, durch wilde Tiere und durch Krankheit infolge des Genusses von rohem Fleisch zugrunde. Es war ein furchtbares Elend ohne Feuer! Und wenn auch jener fremden Sippe das Feuer ausgegangen wäre? Oder wenn unsere Sippe keiner anderen Sippe mit Feuer begegnet oder gar auf eine feindliche Sippe gestoßen wäre? Ohne Feuer wäre sie in schrecklicher Not geblieben ... Zum ruhig flackernden Feuer tritt Ukmas mit einem Stück Fleisch. Er klopft es ein wenig mit einem Bisonknochen, gräbt dann einen glühenden Stein aus dem Feuer und legt die Fleischschnitte darauf. Er setzt sich zu dieser seiner Küche und wartet, bis sein Mahl gebraten ist. Er zieht die Knie an, schlingt die Arme darum und legt den Kopf auf die Knie. Sein mit einem Riemen zusammengebundener Haarschopf ragt in die Höhe. 44
Ukmas beachtet den Buben nicht. Schweigend sitzt er da und starrt ins Feuer. Da räuspert sich Stoß und spuckt in weitem Bogen aus, wie er es bei den großen Jägern immer sieht. Dann wendet er sich an Ukmas: »Ohne Feuer kann man nicht leben.« Ukmas schweigt. Stoß: »Feuer kommt immer von anderem Feuer.« Ukmas schweigt und beobachtet hartnäckig seinen Braten. Stoß zeigt auf das lodernde Feuer: »Regen auf Feuer – Feuer weg. Nirgends Feuer – was dann?« Als hörte der Jäger nicht, was der Bub sagt, schielt er nur zeitweilig zu ihm hinüber. Es ist zu erwägen, ob man sich auch nichts vergibt, wenn man mit einem unreifen Buben ernste Gespräche führt! Es ist ohnehin reichlich keck von dem Buben, daß er sich traut, einen erwachsenen Jäger anzusprechen! Aber nach langem Überlegen spricht Ukmas doch: »Feuer – großer Zauber. Stoß junger Bub, aber weiß schon: Aus Feuerstein fliegen Funken. Feuerstein und Stein – schlag, schlag – und Feuerfunken fliegen. Im Feuerstein ist Feuer – ja, aber sehr schwer, mit dem Funken Feuer anzünden! Das kann keiner – nur der große Häuptling Grauer Wolf hat das können. Aber Grauer Wolf führt nicht mehr seine Sippe. Grauer Wolf schlägt nicht mehr Feuer. Grauer Wolf hat seine Sippe verlassen. Viele Winter ist es her ...« Das Sprechen ist dem Jäger eine beschwerliche Beschäftigung. Lange muß er die Worte suchen, mit denen er seine Gedanken ausdrücken will. Manchmal kann er gar nicht sagen, was er möchte; dann hilft er sich mit einer anschaulichen Gebärde. Schon lange hat er keine so große Rede gehalten wie jetzt. Und er ist wirklich müde davon! Er dreht das Fleischstück auf dem Stein um und stützt den Kopf wieder auf die Knie. Das Gespräch ist beendet. 45
Stoß hat nun neuen Stoff zum Nachdenken. Daß aus Feuerstein Funken fliegen, weiß jedes Kind – und Stoß hat es tausendmal gesehen, wenn die Jäger ihre scharfen Messer, Speerspitzen und Schabsteine bearbeiteten. Auch er selber hat ja schon oft Feuerstein behauen, wenn er sich ein Messer für das Fleisch oder einen Schabstein für die Häute machen wollte. Funken gab es da stets genug, aber nie hat er gesehen, daß sie gezündet hätten! Es ist wahr, daß im Feuerstein Feuer versteckt ist – aber nur Grauer Wolf hat den Zauber gekannt, der aus den Funken Feuer macht. Und Grauer Wolf lebt längst nicht mehr – Stoß kann sich gar nicht mehr an ihn erinnern ... Ukmas spießt sein Bratenstück auf einen Knochensplitter und geht fort; Stoß wirft neue Äste ins Feuer, er nimmt seine Pflicht als Hüter sehr ernst. Sein Freund Eichhorn pfeift von weitem und ruft ihn zum Spiel, aber Stoß gibt dem Buben mit ausgestrecktem Arm ein Zeichen: Heute kann er nicht spielen – er wird seine Pflicht getreulich erfüllen. Der Bub schaut in die Flammen, um die seine Gedanken unablässig kreisen. Das Geheimnis des Feuers läßt ihn keine Ruhe finden. Vom Boden klaubt er einige verstreute Feuersteinabfälle auf und beginnt sie gegeneinander zu schlagen. Gespannt beobachtet er die Fünkchen und lenkt sie geduldig gegen trockenes Moos. Aber es zeigt sich kein Feuer. Stoß kennt den Zauber nicht ... Die Frauen bringen neue Holzvorräte heran. Sie lösen Stoß beim Feuer ab, denn sie müssen jetzt das Trocknen und Räuchern der Bisonfleischvorräte besorgen und auch für die Männer das Essen zubereiten. Schrillstimme und Biene gehen zu dem Erdloch, das der Sippe als Kellerraum dient, um das eingelagerte Fleisch zu holen. Der Vorratsraum ist nah, nur ein paar Schritte hinter der alten Feuerstelle, dem nunmehrigen Grab Nianas. 46
»Wieso das?« wundert sich Biene, als sie sieht, daß die Reisigdecke über dem Kellerloch nicht in Ordnung ist. Sie schiebt die Zweige beiseite – und schlägt die Hände zusammen. Und nun beginnt auch Schrillstimme zu jammern und schlägt sich auf die Schenkel. Die Frauen kommen vom Feuer herangelaufen und schauen – in das leere Kellerloch. Es ist wie ausgekehrt! Nur ein paar winzige Fleischstückchen sind auf dem Boden der Grube geblieben. Alles Fleisch ist weg! Die Weiber jammern. Die Jäger hören das Wehklagen der Frauen und kommen nun ebenfalls heran. Da stehen sie jetzt vor dem leeren Kellerloch und können das Verschwinden der Vorräte kaum fassen. Sie werden rot vor Zorn, knirschen mit den Zähnen, schreien und springen aufgeregt hin und her. Wisent untersucht aufmerksam das Loch, bevor die Jäger den Boden zerstampfen, und findet Abdrücke von breiten Tatzen, ähnlich jenen eines Bären, nur etwas kleiner. »Ein Vielfraß!« schreien die Jäger und die Frauen und verwünschen im Chor den nächtlichen Räuber. Die Sippe ist plötzlich ohne Mittagessen. Wer hat diese Nacht gewacht? Schlechte Wächter! Haben gar nicht gemerkt, daß ein Räuber in das Lager eingedrungen ist! Augenblicklich müssen sie auf die Jagd – und wehe ihnen, wenn sie ohne Beute zurückkommen! Das aufgeregte Geschrei der zornigen Männer erfüllt das Lager der Wisternitzer Jäger. Die beiden schuldigen Wächter verlassen das Lager, hinter ihnen her schallen Zorn und Spott der ganzen Sippe. Nach einer Weile bewaffnen sich auch Wisent, Wolfsklaue, Ukmas und einige andere Jäger mit Eichen- und Eschenspeeren 47
und schweren Beilen. Auch sie wollen auf die Jagd, denn sie verlassen sich nicht auf die unglücklichen Wächter; und die Sippe braucht Nahrung. Der Hunger ist ein böser Feind.
Nian sitzt seit früh am Morgen vor seinem Zelt und kümmert sich um nichts, was ringsum geschieht. Vielleicht weiß er nicht einmal, was der Vielfraß angestellt hat. Nian hat auf dem flachen Stein vor sich ein Klümpchen Ton und modelliert eine Figur. Schon zweimal hat er sie wütend auf die Erde geworfen, weil es ihm nicht so gelingt, wie er will, und nun muß er von neuem anfangen. Diesmal mischt er in den Ton reichlich Mehl zerriebener Mammutknochen. Die liegen in Mengen um die Zelte herum, und Nian hat auf einer Hasenhaut ein Häufchen Knochenmehl bereitet; angebrannte Knochen sind ja leicht zu zerreiben. Ein Auerochsenhorn voll Wasser hat er neben sich in die Erde gestochen. Die spannenlange Figur hat Frauengestalt: einen Kopf, einen dicken Leib und zwei Beine bis zu den Knien. Die Arme sind nur grob angedeutet, dafür gibt sich Nian mit dem Rumpf ziemliche Mühe. Er arbeitet mit einem dünnen Knochen und glättet sorgfältig die Oberfläche der Figur, die er ab und zu ein wenig mit Wasser anfeuchtet. Diesmal gelingt die Arbeit! Er formt die großen Brüste, deutet noch durch ein kleines Grübchen den Nabel an, furcht schließlich zwei schiefe Schlitze in den Kopf, um die Augen zu bezeichnen – und das Werk ist fertig. Eben kommt Stoß und schaut mit Interesse auf die Arbeit des Vaters. Nian nimmt die Figur in die Hand, streckt den Arm aus und betrachtet zufrieden sein Werk. Da ruft Stoß aus: »Mutter!« Er hat Niana erkannt. Der Vater nickt und trägt die Figur zum Brennen an die Feuerstelle. Unter einigen brennenden Scheiten gräbt er eine 48
Höhlung, reinigt sie ein wenig mit dem Stock, um die noch weiche Tonmasse vor Beschädigung zu sichern, und schiebt schließlich sein Kunstwerk vorsichtig auf den glattgefegten Platz. Das Feuer wird die Figur hart und haltbar machen. Die Tonfigur liegt zwischen den knisternden Scheiten; Stoß macht sich erbötig, sie während des Brennens zu bewachen, damit sie nicht etwa durch unvorsichtiges Nachlegen beschädigt werde. Er übernimmt wieder seine Pflichten als Hüter des Feuers, denn die Frauen, die jetzt nichts zu braten haben, sind längst von der Feuerstelle fortgegangen, so daß eigentlich niemand sich darum kümmert, den Flammen neue Nahrung zuzuführen. Auch Nian hat dies bemerkt und schimpft über die ungeregelten Verhältnisse im Lager. Wie kann man nur das Feuer ohne Aufsicht lassen! Das kommt davon, wenn jeder in der Sippe macht, was er will! Nian schimpft besonders laut, damit alle es hören. Es gibt keine Ordnung hier! Unachtsame Wächter – die Sippe plötzlich ohne Fleisch – auf die Jagd geht jeder, wann er will und wohin er will – fischen geht überhaupt niemand – der Vorrat an Häuten ist schimmelig und nicht hergerichtet – die Körbe, die Waldfrüchte für den Winter enthalten sollten, sind leer! Einige Jäger hören Nians Klagen und geben ihm recht. Sie wissen recht gut, daß die Sippe auf die Dauer nicht ohne einen starken Häuptling bleiben kann, der für Ordnung sorgt und sich um alles kümmert. Aber gibt es einen in der Sippe, der so stark und so mutig wäre, daß er sich mit der Kraft seiner Arme Gehorsam erzwingen könnte? Einen, der so streitbar wäre, daß er seine Kräfte mit allen übrigen messen wollte? Der alte Häuptling hatte die Macht in der Sippe ergriffen, indem er nacheinander alle Männer zu Boden warf. Als er aber einige Jahre später von einem verwundeten Mammut zertreten 49
wurde, blieb sein Platz leer: jeder Versuch eines Jägers, auf ähnliche Art die Häuptlingsmacht zu ergreifen, mißlang. Die zügellosen Jäger wollten nicht zulassen, daß ihnen jemand befehle. Überragender körperlicher Kraft und Tüchtigkeit würden sie sich freilich beugen, aber ein Übergewicht an Verstand wollen sie nicht anerkennen. Schlecht wird es um die Sippe stehen, wenn Streitigkeiten entbrennen! Die Frauen dürfen in die Beratungen nicht eingreifen, wenn sie auch mit Schreien die vorgebrachten Klagen und Vorwürfe unterstützen. Sie fühlen, daß die Wirtschaft der Sippe dem Zufall überlassen ist und daß schlimme Zeiten, Zeiten der Not und des Hungers kommen werden. »Nian soll Häuptling sein!« rufen einige Jäger und ermuntern einander durch Gebärden zu allgemeinem Beifall. Nian grinst. Aber er antwortet ablehnend: »Nian nicht Häuptling, Nian hat keine Frau! Nian wird Frau haben – dann Nian Häuptling.« Die Männer begreifen, daß Nian derzeit eine Wahl nicht annehmen kann. Und Nian fügt noch hinzu, daß ohnehin nicht alle im Lager anwesend sind; die übrigen Jäger wären mit Recht entrüstet, würde man eine so wichtige Sache ohne sie erledigen. Gewiß würden sie murren – und das wäre der Keim neuer Zwistigkeiten in der Sippe. Sie kommen überein, abends beim Lagerfeuer die ganze Angelegenheit zu besprechen. Jetzt gehen sie auseinander; einige Jäger bringen ihre Feuersteinwaffen in Ordnung, andere brennen Speere ab und schärfen die Spitzen für die morgige Jagd. Nian geht in sein Zelt und räumt auf. Er wirft alle Felle zum Lüften vor den Eingang, denn einige sind bereits schimmelig geworden. Unter seinen Geräten findet er ein Stück Mammutrippe, aus dem er ein schönes, breites Messer gemacht hat; nun nimmt er es am Handgriff und schwingt es um den Kopf, daß es nur 50
so pfeift. Dann sieht er es genauer an und stellt fest, daß man es am Stein ein wenig schärfen muß. Nachdem er das erledigt hat, setzt er sich auf den Rasen und beginnt mit einem scharfen Feuerstein in die glatte Fläche des Messers Linien zu ritzen, die nach einer Weile einen grasenden Bison erkennen lassen. Nian dreht das Messer um und ritzt in die andere Seite zwei Pferdeköpfe, die er schließlich mit einer tiefen Rille umrahmt. Bei der Arbeit summt er vor sich hin. Er fühlt sich außerordentlich wohl – heute gelingt ihm alles. Nians Beispiel folgend, tragen nun auch die Frauen die Felle aus den Zelten, und dann sitzen sie im warmen Sonnenschein und schmücken ihr Gewand. An ihre Lederschurze nähen sie kleine Muscheln und Zierknöchelchen; mit einer scharfen Feuersteinahle durchstechen sie das Leder und ziehen dann die Fäden aus Rentiersehnen mit einer glatten Knochennadel durch. Wo Frauen arbeiten, gibt es immer Gesang. Noch ist die Melodie einförmig; gelallte Hebungen und Senkungen im Rhythmus der Arbeit, ungeformte Laute ohne Zusammenhang – das ist das Lied der damaligen Menschen. »Hanga – a – haa – ja – ha – aa!« Auf dieses Lied der Frauen antworten die ihnen helfenden Mädchen ebenso einförmig mit höherer Stimme: »Aiaa – aiaa, oiaa – oiaa!« Mit gekreuzten Beinen sitzen sie da, und im Takt des Gesanges geht ihnen die Arbeit leichter von der Hand. Stoß bringt dem Vater die fertig gebrannte und schon ausgekühlte Figur. Sie ist wirklich gut geraten, ganz ohne Sprünge. 51
Nian bestreicht die Figur noch mit einer Mischung aus Talg und ein wenig feiner Asche und hängt sie dann in sein Zelt3. Er wird nun die Frau immer bei sich haben, nie wird er allein sein! Gegen Abend kommen die Jäger zurück. Die Beute ist mager: zwei Füchse, die keiner essen will, und ein Hirschkalb. Wisents Gruppe bringt zwei Murmeltiere vom Kamm der Pollauer Berge, zwei nicht sehr große Hasen und einige Rebhühner. Die Enttäuschung ist groß. Beim abendlichen Lagerfeuer findet dann die Unterredung über den neuen Häuptling statt. Sie nimmt einen recht stürmischen Verlauf. In den Klagen über die Unordnung in der Sippe stimmen freilich alle überein, aber sie streiten sofort, wenn sie auf die Frage kommen, wie die erwünschte Ordnung einzuführen wäre. Spricht ein Jäger von der Notwendigkeit eines sorgsamen Führers der Sippe, geben ihm alle recht – aber augenblicklich schreien sie ihn nieder, wenn er einen der Ihren zum Häuptling vorschlägt; an jedem finden sie Fehler. »Den wollen wir nicht!« heißt es jedesmal. Sie sind nicht imstande, ihre eigene Meinung dem Urteil der anderen unterzuordnen. Jeder verteidigt das, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hat, jeder spricht gegen jeden, und in der allgemeinen Erhitzung wirkt die Beratung der Sippe wie eine Meute von aufeinander losbellenden Hunden! Schließlich geht man ergebnislos auseinander; aus den Zelten dringt noch lange das laute Maulen der unzufriedenen Jäger. »Ich in der Nacht wachen!« sagt Wisent beim Feuer zu den wenigen noch dort verbliebenen Männern. Seine Wut über den __________________________________________________ 3
Diese kostbare Figur wurde im Jahre 1925 gefunden und ist in der Welt unter dem Namen »Venus von Wisternitz« bekannt; gemeinsam mit anderen Funden wird sie im Landesmuseum in Brünn aufbewahrt.
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räuberischen Vielfraß schäumt noch unvermindert; heute nacht will er sich an dem Frechling rächen. »Wer mit mir?« fügt er noch hinzu. Der alte Zottel steht auf und gesellt sich zu Wisent. Da schreit der heimtückische Jäger Raufbold von seinem Zelt herüber: »Zottel wacht? Vielfraß kann ruhig fressen!« Aber niemand beachtet die boshafte Bemerkung. Man kennt ja Raufbold und seine spitze Zunge, und man weiß aus Erfahrung, daß es besser ist, sich mit dem Schmähmaul nicht einzulassen. Stoß und Eichhorn, die beiden unzertrennlichen Freunde, schleppen ein Fell herbei und bereiten ihr Nachtlager draußen
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vor Nians Zelt. Sie haben heimlich besprochen, daß auch sie in der Nacht auf den Vielfraß lauern werden. Neue Speere mit scharfen Knochenspitzen haben sie griffbereit neben sich ... Allmählich wird es still im Lager. Der Schlaf fordert seine Rechte.
Mammute! Früh am Morgen werden die Vorräte untersucht. Diesmal fehlt nichts – die Wächter sind achtsam gewesen. Der Vielfraß hat sich nicht wieder gezeigt, von diesem Feind steht also nichts mehr zu befürchten. Da aber stürzt der Jäger Schnellfuß, der das ganze Lager durchstreift hat, aufgeregt zur Feuerstelle: »Vielfraß Nian fortgetragen! Vielfraß Nian geholt!« Und wirklich – Nian ist spurlos verschwunden, wenn ihn auch nicht der Vielfraß erbeutet hat. Man sucht nach ihm, man späht nach Fährten, aber alles vergebens; der Tag vergeht, die Nacht entfaltet sich – von Nian noch immer keine Spur! Und dann verrinnt ein zweiter Tag, ein dritter, und allmählich beginnt sich die Sippe ohne Nian einzurichten. Im Lager macht sich das Fehlen eines entschlossenen Häuptlings immer deutlicher bemerkbar; die Planlosigkeit nimmt überhand und rächt sich bitter. Da läuft unweit vom Lager eine Pferdeherde vorbei – und die Jäger machen sich zu spät zur Jagd auf, so daß sie kein einziges Tier erbeuten; und obendrein machen sie einander Vorwürfe, daß auf den Bergen keine Wachen aufgestellt waren, die rechtzeitig hätten melden können, daß eine Herde in Sicht sei. Ein andermal durchwatet ein zottiges Nashorn die Thaya, wittert das Lager – und flüchtet, ehe noch die Jäger sich versammelt haben. Die Männer zanken; einer schiebt die Schuld auf den anderen. Man sollte auf die Jagd gehen, um die schon knappen 54
Vorräte aufzufüllen, aber die Jäger sind uneins: Wo soll man jagen? Wer soll mitgehen? Und vor allem: Wer soll führen? Und ein jeder dünkt sich ungemein klug und will keine andere Meinung gelten lassen! Raufbold und Marder machen sich über alles lustig – und keiner weist sie zurecht, denn keiner fühlt sich stark genug. Alle sind unzufrieden und mißmutig, alle möchten endlich geordnete Verhältnisse in der Sippe haben, aber gehorchen wollen sie keinem! Sie sind nicht bereit, ihre Ungebärdigkeit dem Willen eines der Ihren zu unterordnen. Dabei leidet die Sippe Hunger. Die vereinzelten Jagdzüge einiger beherzter Männer bringen nicht so viel ein, daß davon das ganze Lager zehren könnte. Nian ist schon über eine Woche fort, und niemand weiß etwas von ihm. Hat ihn ein Unglück betroffen? Benagen schon irgendwo die Wölfe seine Knochen? Keinerlei Hinweis läßt auf sein Schicksal schließen. Und dann, eines Tages, taucht er plötzlich wieder im Lager auf! Müde, blutüberkrustet, kaum daß er sich auf den Beinen halten kann. An einem Riemen zieht er ein junges Weib mit gebundenen Händen hinter sich her! Die ganze Sippe läuft zusammen. »Nian hat eine Frau! Nian hat eine Frau!« schallt es durch das Lager. Eine solche Überraschung hat es schon lange nicht gegeben! Nian kniet an der Quelle nieder und trinkt in vollen Zügen. Dann steht er auf, glitzernde Tropfen im Bart, löst die Fessel von den Händen der Frau, und in die erwartungsvolle Stille ringsum spricht er nur ein einziges Wort: »Wachtel!« Das ist der Name von Nians neuer Frau. Die Jäger warten, daß Nian erzähle, wie es ihm auf der abenteuerlichen Fahrt ergangen ist und wie er sich der Frau bemächtigt hat, aber Nian läßt sich schwer auf einen Stein sinken und spricht nicht. Daß er viel mitgemacht hat, sieht man ihm 55
ja an, das muß er nicht erst sagen; aber von der fremden Frau und deren Sippe sollte Nian doch berichten. Es ist ja möglich, daß er diese Frau einer starken Sippe geraubt hat und daß diese sich das nicht so einfach gefallen läßt und sich nun rächen oder einen geeigneten Ersatz fordern wird. Die Jäger sitzen ringsum im Gras und warten mit sichtlicher Neugier auf Nians Erklärungen. Wachtel, die geraubte Frau, erschöpft wie ihr neuer Herr, hockt neben dem Stein, auf dem Nian sitzt, und schaut still von einem Jäger zum anderen; augenscheinlich hat sie sich mit ihrem Los bereits abgefunden. Als einzige Bekleidung trägt sie einen Pelzgürtel wie ein kurzes Röckchen um die Hüften und eine Schnur mit ein paar Knochenringen um den Hals. Ihr Kinn weist eine Tätowierung auf – einige kurze Striche nur, aber alle im Lager haben das sogleich bemerkt und verstehen, daß dies das Zeichen der Sippe ist, aus der Wachtel stammt. Die Frauen beäugen Wachtels Frisur. So etwas hat man aber auch noch nie gesehen! In der eigenen Sippe lassen die Frauen das Haar frei über Schultern und Rücken fallen, höchstens halten sie es mit einem kleinen Riemen zusammen. Diese Fremde aber hat ihr Haar so kunstvoll geordnet, daß die Frauen das aus nächster Nähe begutachten müssen. Sie kommen zu ihr, befühlen ihren Kopf, drehen ihn von einer Seite zur anderen und zeigen mit lauten Ausrufen ihre Überraschung. Sie haben entdeckt, daß Wachtel das Haar zu vielen kleinen Zöpfchen geflochten hat, die durch Querbänder miteinander verbunden sind. »Jejejeh!« rufen die Weiber voll Verwunderung. »Haar so nicht gut«, bekrittelt schließlich die alte Hinkerin. »Sehr schwer Läuse vom Kopf suchen!« »Wahr, wahr!« stimmen ihr die übrigen Frauen nach einer Weile Nachdenkens bei. Und schon gefällt ihnen die prahlerische Frisur der jungen Fremden nicht mehr. – 56
Nian hat sich endlich ein wenig erholt. Er steht auf und ruft laut: »Mammute, Mammute, Mammute!« Da kommt Leben in die Sippe! Aufgeregte Stimmen schwirren durcheinander: Mammute! Und sogar viele Mammute! Oh, das wäre eine großartige Beute! Und wie willkommen nach all den knappen Tagen! »Nian, wo hast du sie gesehen?« »Kommen sie her?« Von allen Seiten häufen sich die Ausrufe und Fragen. Nian beginnt zu erzählen. Augenblicklich tritt Ruhe ein. »Mammute wandern – viele Mammute – wandern her ...!« Großer Jubel begrüßt diese freudige Nachricht. Die Jäger springen in die Höhe, wälzen sich im Gras, schlagen Purzelbäume, klatschen in die Hände vor Freude. Es wird ihnen also wieder gut gehen, sie werden wieder Fleisch in Überfluß haben! Erfahrene Jäger wie Zottel, Ukmas, Wolfsklaue, Wisent und andere jubeln nicht so sehr wie die übrigen. Sie wissen, daß die bloße Nachricht über die herankommenden Mammute noch nicht sichere Beute bedeutet. Die Mammute können auch die Richtung ihres Zuges ändern und die Thaya anderswo überschreiten als gerade hier. Und schließlich – Mammute sind ja nicht Hasen oder Rentiere, und eine Mammutjagd ist ein großes und beschwerliches Unternehmen, das sorgfältig vorbereitet und umsichtig durchgeführt werden muß. Aber die Mehrheit der Sippe ist keiner vernünftigen Erwägung zugänglich und benimmt sich, als wären die Mammute schon gefangen. Schließlich wird beschlossen, einige Jäger sogleich als Kundschafter auszuschicken, um die Bewegung der Mammutherde zu beobachten; indessen sollen die übrigen Männer alle Vorbereitungen zur Jagd treffen. Die Kundschafter führt der bewährte Fährtensucher Zottel. Nian sagt ihm, in welcher Richtung die Mammute ziehen; wenn 57
die Herde sich nicht unterwegs aufhält, dürfte sie noch am gleichen Tag die Thaya erreichen. Die im Lager verbliebenen Jäger beraten, wie die Jagd durchzuführen sei. Zum Ausheben von Fallgruben reicht die Zeit nicht mehr, es bleibt also nichts anderes übrig, als daß die Sippe sich mutig auf ein vereinzeltes Mammut wirft und ihm mit Speeren möglichst viele offene Wunden zufügt, damit es durch den Blutverlust ganz entkräftet wird und schließlich fällt. Sobald dies geschieht, sollen die Jäger die Beute den Frauen überlassen und die Herde weiter verfolgen, um auf ähnliche Art ein zweites und vielleicht gar noch ein drittes Mammut zu überwältigen. Es wird eine sehr gefährliche Jagd werden, denn wehe dem Jäger, der nicht schnell genug dem wütenden Mammut ausweicht! Der furchtbare Rüssel packt ihn und schmettert ihn zu Boden; oder die gewaltigen Stoßzähne durchbohren ihn; und entsetzlich ist es, von dem wild alles niedertretenden Tierriesen zerstampft zu werden! Zahlreich sind die Lagerfeuer-Erzählungen über tapfere Jäger, die im Kampf gegen das furchtbare Mammut ein schreckliches Ende gefunden haben ... Die Lebensgefahr schreckt jedoch die Jäger nicht ab; im Gegenteil, sie reizt sie. Je größer die Gefahr, um so größer die Heldentat und der Ruhm des erfolgreichen Jägers! Schon soll die Beratung der Sippe abgeschlossen werden, da taucht ein neuer Vorschlag auf. Wisent ruft plötzlich: »Bisons im Sumpf – Mammute im Sumpf!« Er will damit sagen, daß es doch gelungen ist, die Bisons in den Sumpf zu jagen und dort ziemlich leicht zu erledigen. Ähnlich könnte man es nun auch mit den Mammuten versuchen. Die Jäger müssen eine Weile nachdenken, ehe sie voll begreifen können, was Wisent eigentlich meint; dann aber begrüßen sie mit jubelndem Geschrei diesen vorzüglichen Plan. Ja, sie werden die Mammutherde in den tückischen Sumpf treiben und dort mehrere Tiere erlegen! 58
»Hoi, hoi! Mammute in den Sumpf!« Eilig bereiten die Jäger ihre Waffen vor. Das ganze Lager wird nach Eichen-, Eschen- und Buchenschäften durchsucht, die sogleich zu Speeren zugespitzt werden – man wird ihrer viele brauchen! Überall wird fieberhaft gearbeitet, nur einer beteiligt sich nicht an den Bemühungen der Sippe: es ist Raufbold, der trotzige, ehrgeizige Jäger. Hämisch grinsend geht er durch das Lager und erzählt jedem, daß nur ein kühner und starker Führer in der Sippe Ordnung schaffen und sie zu Erfolg führen kann. In der einen Hand hat er drei Speere und in der zweiten ein Wurfbeil, das er herausfordernd über dem Kopf schwingt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Alle sollen sehen, wie kühn und stark er ist! Und Schrillstimme, das geschwätzige Weib, sagt ihm schmeichelnd, was er ja hören will: daß er Häuptling der Sippe werden müßte, nur er. Raufbold grinst selbstgefällig, aber er sagt vorläufig nichts, denn dafür ist der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen. Da hört man von weitem drei Alarmschreie – das Zeichen der ausgeschickten Späher! Mammute in Sicht! Alles auf, die große Jagd beginnt! In diesem Augenblick beherrscht alle ein einziger Gedanke – die Mammutjagd. Niemand denkt mehr an die Streitigkeiten, vergessen ist nun aller Zwist und Hader. Jeder bemüht sich, zum Erfolg der gemeinsamen Unternehmung beizutragen. Der Einzelgänger hat ja keinerlei Aussicht; der gemeinsame Nutzen beruht auf der gemeinsamen Arbeit aller Angehörigen der Sippe. Auch die Frauen gehen mit den Männern; sie tragen die Waffenvorräte und werden auch mithelfen, die Mammute zu umzingeln und mit Geschrei sumpfwärts zu jagen. Auch einige größere Buben begleiten den Trupp; sie werden flinke Boten zwischen den einzelnen Jägergruppen und auch gute Späher sein. Der erschöpfte Nian liegt in seinem Zelt in tiefem Schlaf; 59
über ihm hängt die gebrannte Tonfigur der toten Gefährtin, die ihm wirklich auf seiner Fahrt um eine neue Frau Glück gebracht zu haben scheint. Wachtel sitzt still auf dem Rasen vor dem Zelt und bleibt unberührt von den fieberhaften Jagdvorbereitungen im Lager: Wenn Nian, ihr Herr, nicht daran teilnimmt, hat auch sie nichts dabei zu suchen. Bald ist das Lager wie ausgestorben. Nur zwei ältere Frauen bleiben zurück, um das Feuer zu hüten, und die kleinsten der Kinder, die noch nicht einmal als Treiber auf die Jagd dürfen. Alle anderen eilen der Mammutherde entgegen. Zu den Jägern stößt ein Bote von Zottel, dem Anführer des Spähtrupps, und bringt Nachricht über die Herde: Sie ist groß und nähert sich flußaufwärts, und Zottel läßt sagen, die Jäger mögen sich gut verborgen halten, um von den Tieren nicht vorzeitig bemerkt zu werden, die ja dann ihre Richtung ändern und der Sippe entkommen würden. »Wir wissen, was machen!« ruft Raufbold hochmütig. »Zottel gut raten Kindern, nicht Jägern!« Wisent hingegen setzt sich für den guten Rat Zottels ein und erreicht auch, daß die Sippe sich in einige Gruppen teilt. Wolfsklaue wird mit einigen Jägern die Bergseite bewachen, Zottel soll mit seinen Gefährten das Thayaufer übernehmen und allenfalls die Mammute daran hindern, den Fluß zu überqueren; Wisents Trupp wird sich im Hinterhalt verstecken, läßt die Mammute erst passieren und jagt sie dann vor sich her gegen den Sumpf. Die Frauen schließlich sollen sich hier im Tal versteckt halten und gegebenenfalls die Herde mit Geschrei zurückscheuchen, wenn sie etwa gegen das Lager zu abbiegen will. »So jagen Wölfe im Winter!« loben die Jäger den Plan. Nur Raufbold murrt über die Aufspaltung der Sippe, aber keiner achtet jetzt auf ihn. Das Jagdfieber hat von allen Besitz ergriffen. Die Unternehmung beginnt vielversprechend. Die Mammutherde kommt näher und näher. Schon sind einzelne Tiere zu 60
unterscheiden, hinter dem Birken- und Erlenwuchs bewegen sich die mähnigen Rücken, manchmal erscheint in der Höhe ein langer Rüssel, der einen abgebrochenen Ast schwenkt; dann leuchten die weißen Bogen der ungeheuren Stoßzähne auf. Wolfsklaue gibt durch Krächzen Zeichen, daß alles gut geht. Auch Zottel meldet sich vom Fluß her mit Krächzen. Wisent im Hinterhalt ist darauf vorbereitet, daß im nächsten Augenblick die Herde vorbeikommt und er sie ins Verderben treiben wird. Hinter einem Strauch versteckt, beobachtet er wachsam jede Bewegung der Tiere. Und schon sind die ersten da! Der große Mammutbulle an der Spitze bahnt den Weg durch das Dickicht. Mit dem starken Rüssel bricht er Äste und Zweige ab, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Er wedelt mit den großen Ohren und vertreibt so die lästigen Mücken. Hinter ihm verbreitern die anderen Mammute den Weg und treten ihn so aus, daß er zu einer breiten Gasse wird. Ein Mammut reibt sich an einem Baum – und der Stamm bricht ab wie ein Grashalm! Ein Mammutjunges reißt von dem abgebrochenen Baum mit dem Rüssel den ganzen Wipfel ab; es schleift ihn auf die Erde und spielt mit ihm; schon im Jungtier wohnt viel Kraft. Noch ahnt die Herde nichts vom nahen Feind ... Fiebernde Ungeduld zittert in den in ihren Verstecken lauernden Jägern. Die Augen glänzen, die Hände umkrampfen die Waffen. Nur noch wenige Augenblicke – und der große Kampf beginnt! Da plötzlich bemerkt Wisent in den hintersten Gruppen der Herde eine lebhafte Bewegung. Die Mammute scheuen dort irgendwie, laufen aus der ausgetretenen Gasse und trompeten laut. Dort ist etwas los! Was kann die Mammutherde scheu gemacht haben? Wölfe wagen doch nicht auf Mammute loszugehen, nicht einmal ein Bär greift eine Herde an. Sollte vielleicht ein 61
Löwe oder ein Tiger aus den Berghöhlen angelockt worden sein? Die Verwirrung unter den Mammuten breitet sich aus. Schon rennen etliche Tiere mit erhobenem Rüssel in wildem Getrampel aus der ausgetretenen Bahn. Und just in diesem Augenblick werfen sich die beiden Flankengruppen der Jäger, von Wolfsklaue und Zottel geführt, kühn auf die Herde, in der Meinung, die Jagd habe schon begonnen; die Verwirrung wird immer ärger! Als Wisent sieht, daß die Mammute auseinanderlaufen, wartet er nicht länger und schickt sich an, die Herde gegen den Sumpf zu hetzen. Ein riesiges Mammut durchbricht das Dickicht und stürzt gegen Wisent los. Der Jäger wahrt kaltes Blut; er läßt den Riesen ganz an sich herankommen, weicht geschickt dem furchtbaren Rüssel aus – und jagt dem Mammut mit aller Kraft den scharfen Speer in die Weichen. Er hat gar keine Zeit, die Waffe wieder aus der Wunde herauszuziehen, das Mammut jagt mit dem Speer weiter. Wisent staunt. Er hat erwartet, das Mammut würde wütend werden und einen grausamen Kampf aufnehmen. Statt dessen beachtet das getroffene Tier die schwere Wunde gar nicht! Was bedeutet das? Gewiß ist das Mammut durch irgend etwas scheu gemacht worden und will sich nicht aufhalten lassen auf seiner wilden Flucht! Wisents Gefährten sind nicht weniger überrascht und beunruhigt als er. Sie gehen auf das Mammut los, um auf Leben und Tod zu kämpfen, und das Mammut – flüchtet! Sie sehen nur noch, wie es sich zwischen zwei Bäumen durchzwängt und dabei den aus der Wunde ragenden Speer abbricht. Es sinkt in die Knie, richtet sich aber augenblicklich wieder auf und trampelt weiter. Und schon strömen wieder ein paar Mammute vorbei. Die Äste krachen, das Gestampfe dröhnt und ganze Bäume stürzen. Zu Wisent kommt keuchend ein Bub gelaufen, es ist Stoß. Seine Augen zeigen Überraschung, Entsetzen, Verzweiflung. 62
»Fremde Jäger!« stöhnt er und wirft sich ins Gras. Wisents Gruppe, von der unerwarteten Nachricht bestürzt, verliert die Fassung. Die Jäger drehen sich ratlos herum und wissen nicht, was sie tun sollen. Kein Wunder – die plötzliche Botschaft mitten in der hoffnungsvollen Jagd wirkt wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel. Wisent packt in großer Erregung den Buben und stellt ihn wieder auf die Beine. »Was ist? Was hast du gesehen? Wo sind sie?« dringt er in ihn. Stoß ermannt sich ein wenig und bringt schwer hervor: »Jäger – Jäger – viele Jäger – hinter den Mammuten her!« Ach, das ist eine verhängnisvolle Nachricht für die Sippe! Wenn fremde Jäger die Mammutherde jagen, kommt es unweigerlich zu einem heftigen Zusammenstoß – die Sippe wird einen verzweifelten Kampf mit den fremden Eindringlingen ausfechten müssen!
Das Recht des Stärkeren Mögen die Mammute flüchten, wohin sie wollen! Wisents Gruppe beachtet die Tiere nicht mehr, ihr ganzes Interesse gilt nun den fremden Jägern, die Stoß gesichtet hat. Wer sind sie? Wo? Und vor allem: wie stark? Eilig werden zwei Männer ausgeschickt, um den übrigen Teilen der Sippe die schicksalhafte Botschaft zu überbringen: Fremde Jäger in unserem Jagdgebiet! Nur einmal noch vergessen Wisent und seine Gefährten den nahen Feind, als unweit vor ihnen plötzlich wilder Lärm entsteht, aus dem heisere Rufe hervorquellen. Schnell bahnt sich Wisents Gruppe einen Weg in die Richtung der Rufenden, und alsbald werden die Jäger ihres Gefährten Wolfsklaue ansichtig, der mit seinen Männern ein Mammut umzingelt hat und es nun wild 63
angreift. Schon stecken etliche Speere in der Haut des Tieres, das wütend hin und her springt, den mächtigen Rüssel schwenkend, dem ein Beilhieb eine heftig blutende Wunde zugefügt hat. Bei diesem Anblick ergreift die Jagdleidenschaft von Wisents Leuten Besitz, sie stürzen sich nun gleichfalls auf den verwundeten Tierriesen – und für kurze, aber kostbare Zeit sind die feindlichen Jäger vergessen. Das verwundete Mammut wütet arg. Mit seinen Stoßzähnen hat es einen Jäger zu Fall gebracht und droht ihn zu zertreten, da aber springt ein zweiter Jäger von hinten heran, und mit zwei wuchtigen Beilhieben trifft er die Hinterbeine des Tieres. Schwer fällt das Mammut mit dem Hinterteil auf die Erde, reckt den Rüssel hoch und reißt das Maul weit auf, so daß der fleischige Schlund sichtbar wird. Da schleudert ein geistesgegenwärtiger Jäger seinen Speer, und der bohrt sich dem aufheulenden Mammut in den ungeschützten Schlund. Das Tier reißt mit dem Rüssel den Speer sofort aus der Wunde und springt in wildem Schmerz auf die Beine; gefährlich blitzen die Stoßzähne, der mächtige Rüssel holt angriffstoll aus! Schnell weichen die Jäger ins Dickicht aus – aber das Mammut folgt ihnen, blindwütig alles niedertretend, was ihm im Wege ist. Und plötzlich, auf einem kleinen Hügel, steht ihm ein überraschtes Häuflein fremder Jäger gegenüber! Noch bevor die Neuankömmlinge sich zum Angriff anschicken können, wirft das Mammut zwei von ihnen zu Boden – und hätte auch die übrigen zertreten, wenn die nicht im letzten Augenblick auseinandergestoben wären. Das Mammut bleibt stehen. Es läßt den Kopf von einer Seite zur anderen pendeln und zittert am ganzen Körper. Über die Lichtung laufen zwei andere Mammute, ein Weibchen mit einem Jungen. Das verwundete Tier stampft ein paar niedrige Büsche nieder und setzt über die Lichtung seinen Herdengenossen nach. 64
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Wisent und Wolfsklaue mit ihren Gefährten haben diese Vorgänge im Dickicht verborgen beobachtet. Nun aber springen sie hervor und werfen sich ohne Zögern auf die von dem Mammut auseinandergesprengten fremden Jäger. Blitzschnell geschieht dieser Überfall, denn Schnelligkeit ist der beste Weg zum Erfolg. Die fremden Jäger – sie haben die gleiche Tätowierung am Kinn wie Wachtel, Nians neue Frau! – haben bis jetzt nichts von der Anwesenheit einer anderen Sippe gewußt, und deshalb sind sie durch den plötzlichen Angriff so überrascht und verwirrt, daß sie sich nicht einmal sehr zur Wehr setzen. Sie flüchten, und Wisents Jäger freuen sich schon auf einen leichten Sieg: Sie werden die fremden Jäger vertreiben, dann zu der Mammutherde zurückkehren und die große Jagd plangemäß vollenden! »Ihnen nach!« schreien Wisent und Wolfsklaue und schwenken ihre Waffen. Jetzt verstehen sie, warum die Mammutherde so scheu und ohne Aufenthalt vorbei wollte: die fremden Jäger haben sie getrieben. Aber die Sippe wird nicht dulden, daß Fremde in ihr Jagdgebiet eindringen; keine Sippe ließe so etwas straflos zu! Es gilt das allgemein anerkannte Gesetz: Das Wild gehört immer der heimischen Sippe, so weit der Rauch ihres Lagerfeuers zu sehen ist, so weit reicht ihr Jagdgebiet: »tabu«, verbotenes Land für alle fremden Jäger. Die fremde Sippe hat nun dieses ewige Gesetz verletzt und muß deshalb bestraft werden. Diese Jäger mit der Tätowierung am Kinn sollen ihre Verwegenheit büßen! Kampfbegeistert stürzen Wisent, Wolfsklaue, Dickwanst, Rabenschopf und die anderen dem fliehenden Feind nach und rufen übermütige Spottworte hinter ihm her. Heute gibt es einen großen Sieg und reiche Beute! Da aber geschieht etwas Unerwartetes: Eben als die Fliehenden aus dem spärlichen Buschwerk auf die freie Steppe gelangen und Wisents Schar sich bereits freut, daß die Fremden sich in 66
der grasbewachsenen Ebene nirgends verbergen können, bleiben die Feinde plötzlich stehen; sie suchen nicht mehr nach Deckung, sondern schreien und jubeln und winken jemand zu! Und kaum haben Wisents Leute das letzte Buschwerk verlassen und über die weite Ebene geschaut, da erstarren sie! Welch eine furchtbare Überraschung! Über die Steppe nähert sich eine große Schar fremder Männer! Feindliche Jäger – viele, viele! Und schon stoßen sie, von den Rufen ihrer Gefährten angespornt, ihr wildes Kriegsgeschrei aus und stürmen gegen Wisents schwachen Trupp los! Die Fremden erfassen sofort, was los ist: Ihre Vorhut, die sie zur Verfolgung der Mammutherde ausgeschickt haben, ist hier mit der heimischen Sippe zusammengestoßen. Allerdings, diese verteidigt ihr eigenes Jagdgebiet, aber die Angreifer sind zahlreicher als die heimischen Jäger – also fort mit dem Gesetz des »Tabu«! Soll die Kraft entscheiden – die Gewalt des Stärkeren gilt mehr als das Recht des Schwächeren. Los auf die heimische Sippe! Einige leichte Speere fallen zu Füßen der überraschten Jäger um Wisent nieder, immer näher, immer bedrohlicher klingt das Kampfgeschrei der Angreifer. Wisents Jäger begreifen augenblicklich, daß ein Kampf gegen eine so bedeutende Übermacht keine Aussicht auf Erfolg hätte, und so ergreifen sie die Flucht. Die fremden Jäger brüllen jetzt noch mehr und hetzen hinter den Flüchtenden her wie hungrige Wölfe hinter einem Rentier. Wehe dem, den sie erreichen – sie töten ihn auf der Stelle! Die fliehenden Jäger benützen das Dickicht, um die Verfolger über die Richtung ihrer Flucht zu täuschen, und so können sie ein wenig Abstand gewinnen. Aber dennoch müssen sie ohne Aufenthalt weiterhetzen; jedes Zurückbleiben bedeutet den Tod. Verzweifelt trachten sie beisammenzubleiben, die Schwächeren in der Nähe der erfahreneren und stärkeren Gefährten. Wer im Gestrüpp hängenbleibt, holt die anderen nicht wieder ein. 67
Wehe, welch ein schlimmer Tag! Der ganzen Sippe droht der Untergang! Nirgendhin kann man sich retten, die Feinde wälzen sich heran wie eine Wolke über die Sterne, und vielleicht ist bald kein Jäger übrig, der im verlassenen Lager schreien könnte: »Alles verloren – lauft!« Es scheint, daß das Schicksal der Sippe besiegelt ist. Keine Hoffnung auf Rettung sehen die Männer mehr. Alle werden sie umgebracht werden, und die neuen Herren werden ihr Siegesfeuer unter den Pollauer Bergen anzünden; nun werden sie in diesem mit Tieren gesegneten Gebiet jagen. Wisent, Wolfsklaue, Ukmas und andere Jäger versuchen immer wieder, die vorstoßenden Eindringlinge wenigstens eine Weile aufzuhalten, damit die übrigen sich mit den Frauen und den Kindern retten können, aber ihre persönliche Tapferkeit genügt nicht, der Übermacht der Feinde standzuhalten. Nach einigen vergeblichen Kampfversuchen müssen sie neuerlich flüchten, noch eiliger als zuvor. Fast wäre es den Angreifern gelungen, die Sippe zu umzingeln! Da bricht das verwundete Mammut aus dem Dickicht. In seinem zottigen, mit langem Haar bewachsenen Körper stecken mehrere abgebrochene Speere. Die flüchtende Sippe stürzt weiter, die fremden Eindringlinge in ihrem Kampfeifer aber werfen sich ohne Zögern auf das Mammut und stechen von allen Seiten darauf los. Das Mammut hat aus seinen zahlreichen Wunden schon sehr viel Blut verloren, es kann sich nur mehr schwach wehren und greift nicht selber an; freudig erkennen die fremden Jäger, daß sie hier leichte Beute haben, sie lassen nicht mehr ab von dem entkräfteten Tier. Auf eine Weile sind die Verfolgten vergessen – auf eine kleine Weile nur. Doch schon diese kurze Spanne des Aufatmens bedeutet für die fliehende Sippe eine unschätzbare Hilfe! An der Thaya wartet Zottel mit einigen Jägern. Sie haben die regellose Flucht der Sippe beobachtet und auch schon die 68
feindlichen Fremden gesichtet. Der erfahrene Zottel hat sofort erkannt, daß ein Kampf gegen die starken Eindringlinge hoffnungslos wäre, und nun sammelt er die verstreuten Gefährten, die Frauen und die Kinder hier an der Thaya; er will mit ihnen über den Fluß setzen, um sich und allen wenigstens das nackte Leben zu retten. Beide Teile der Sippe vereinigen sich. Entsetzen und Angst schauen aus aller Augen. Sie haben einige tüchtige Männer und zwei Frauen verloren. Sie haben den Tod der Gefährten gesehen, haben gesehen, wie die fremden Gewalttäter die Frauen fortgeschleppt haben. Laut beklagt die Sippe ihre Verluste, sie ist sehr geschwächt. Und was soll weiter werden? Wer von den noch Verbliebenen wird ebenfalls den mitleidlosen Eindringlingen in die Hände fallen? Die kurze Spanne des Ausruhens, die den Flüchtenden gegönnt ist, geht rasch vorbei. Schon trägt der Wind wieder das Kampfgeschrei der feindlichen Schar zu ihnen. Die Sippe muß weiterfliehen. Wie nötig wäre jetzt ein bedächtiger Führer, der energisch anordnen könnte, was in einem so verhängnisvollen Augenblick getan werden soll! Aber sie haben keinen Häuptling, es herrscht weder Gehorsam noch Einigkeit in der Sippe, sondern nur Verwirrung! Zottel, Wisent und Wolfsklaue beraten noch schnell. Starrkopf schreit, daß man ins Lager eilen und wenigstens noch etwas von den dort liegenden Häuten holen sollte, aber Zottel winkt unwillig mit der Hand ab. »Schweig!« ermahnt er den habgierigen Jäger. Die Flucht darf nicht verzögert werden. »Ins Wasser!« lautet schließlich der Befehl der Männer, und die Sippe springt sofort und ohne weiteres Überlegen in den Fluß. Die Jäger kennen diese Stelle; bei niedrigem Wasserstand ist hier eine gute Furt. Heute aber ist die Strömung ziemlich 69
stark, sie kann selbst einen starken Mann umwerfen. Aber es hilft nichts, man darf keine Zeit verlieren. Wer hinüberkommt, wird leben; wer ertrinkt, ist für die Sippe verloren – es geht nicht anders. »Ins Wasser!« fordern Wisent und Zottel einige immer noch Zögernde unerbittlich auf. »Einen schönen Luchspelz hab ich im Zelt!« raunzt Starrkopf. »Und eine Wolfshaut für den Winter. Und Rentierschuhe ...« Da wird er kurz entschlossen in den Fluß gestoßen – nun muß er vorwärts! Uhu, Späher und Hase zeigen im Wasser den Weg und sind schon nahe am anderen Ufer. Die Frauen mit den Kindern auf dem Rücken haben schwer gegen die Strömung zu kämpfen; die Männer müssen sie führen. Die größeren Kinder waten mutig allein, und nur wenn die Fluten eines von ihnen umwerfen, packt es der nächste Jäger an der Hand. So geht es mühsam weiter. Stoß und Eichhorn sind die ersten am drüberen Ufer. Die beiden Buben, sonst so lustig und übermütig, sind jetzt still und verschreckt. Welch ein Unglück ist über die Sippe hereingebrochen! Verloren das Lager, verloren alle Vorräte, verloren alle jene Gefährten, die im Lager verblieben sind – sie werden erbarmungslos erschlagen werden! Der schlafende Nian, viele Frauen und Kinder – verloren, alle verloren! Der Gedanke ist so furchtbar, daß lähmende Müdigkeit die Sippe befällt. Aber Wisent und Zottel drängen zur Eile und ziehen die Nachzügler an den Händen aus dem Wasser oder reichen ihnen Speere, an denen sie Halt finden können. Wer eine freie Hand hat, schließt in sie das Schutzamulett, das er um den Hals hängen hat. Der Zauber gibt Kraft im reißenden Strom – so glauben alle – und hilft in der Gefahr! Und tatsächlich kommen sie alle glücklich über den Fluß. Unter der Deckung des Buschwerks, um vom Feind nicht ge70
sichtet zu werden, geht es sogleich weiter. Zottel führt, er gönnt der Sippe keine Rast – es geht ums nackte Leben! Der Feind zeigt sich nicht; wahrscheinlich ist er noch mit dem verwundeten Mammut beschäftigt – zum Glück für die fliehende Sippe. Die Jäger atmen auf: Vielleicht wird der Feind sie nicht über den Fluß verfolgen. Aber man darf nicht darauf bauen; sie eilen weiter, flußaufwärts die Thaya entlang. Um die feindliche Sippe irrezuführen, falls diese doch die Verfolgung wieder aufnehmen sollte, waten sie an einer geeigneten Stelle ein Stück Weges im Wasser, um keine Spuren zu hinterlassen. Schließlich gelangen sie zu einem ausgedehnten Sumpfgebiet am Ufer der mächtigen Schwarzawa, die sich hier in die Thaya ergießt. Zottel biegt nordwärts ab, die Schwarzawa entlang; die Sippe folgt ihm ohne Widerrede. Die Jäger schreiten finster und wortlos einher. Sie haben weder Felle noch schöne Waffen oder Feuersteine mehr – das alles haben sie im Lager zurückgelassen. Schwer wird für sie das Leben jetzt werden! – Die erschöpften Frauen verlangen eine Rast. Sie legen die Kinder nieder und ruhen aus. Hase und Späher haben eine etwas erhöhte Stelle mit freiem Ausblick ausfindig gemacht, und dort stehen sie nun und schauen zurück zur Thaya, in der sich die untergehende Sonne spiegelt. Eine unabsehbare weite Ebene. Nur im Süden der scharfe Kamm der Pollauer Berge. Irgendwo zwischen ihnen und der Thaya ist das verlassene Lager ... Doch es ist nicht verlassen! Denn dort drüben sehen die beiden Jäger nun eine weißliche Rauchsäule aufsteigen – die kommt aus ihrem Lager! Die Fremden haben sich schon in ihren Zelten festgesetzt und ihr Feuer angefacht, das über drei Winter nicht erloschen ist. Wahrscheinlich haben sie schon das Mammut erlegt, und jetzt schmausen sie ... Hase und Späher sehen einander an und nicken schmerzlich. Vor ihrem inneren Auge erscheint das lockende Bild eines 71
fetten Mahles. Wie gierig würden sie sich jetzt auf ein Stück gebratene Mammuttatze oder auf eine Rüsselscheibe werfen! Den beiden hungrigen Jägern rinnt der Speichel vom Mund. Sie sind ganz traumverloren. Aber plötzlich fährt der wachsame Späher hoch und weist mit der Hand in die Ebene. »Schau – dort!« Gar nicht weit von ihnen ist eine Gruppe von Jägern zu sehen, eifrig nach Spuren suchend. Die Verfolger! »Da sind sie! Sie kommen!« ruft Hase aus, und schon läuft er los, um die ruhende Sippe aufzujagen. Man muß weiterfliehen, ohne der Müdigkeit nachzugeben! Hastig bricht die Sippe auf; die Wanderung ins Ungewisse geht weiter. Die feindliche Sippe muß sehr zahlreich sein, wenn sie von ihrem neuen Lager einen so starken Trupp aussenden kann, um die früheren Herren des Gebietes zu jagen! Die Fliehenden könnten nicht einmal diesem Trupp Widerstand leisten, sie sind zu müde und mutlos. Wisent und Zottel treiben zur Eile. Es ist nicht möglich, sich mit den Schwachen und Verwundeten aufzuhalten; wer zurückbleibt ist verloren. Fuchs und Krummbein mit ihren Kopfwunden und der an beiden Beinen verletzte Pfeifer sind schon unterwegs niedergesunken, und die Sippe ist gar nicht stehengeblieben. Starrkopf, Dickwanst und Ukmas, die leichter verwundet sind, halten sich noch auf den Beinen. Sie wanken mit zusammengebissenen Zähnen und gesenkten Köpfen weiter. Die hungrigen Kinder schauen sich immer wieder ängstlich um. Sie fürchten sich. Schweigend laufen sie hinter den Großen her und reißen unterwegs nicht einmal die reifen Erdbeeren ab. Sie wimmern nur leise und stolpern über Steine und Wurzelwerk: die verweinten Augen sehen nicht gut den Weg. Die kleinen Kinder werden von ihren Müttern auf dem Rücken getragen, dort festgebunden, ein zusammengeschnürtes, wimmerndes Bündel. Das Gewinsel der Kleinen verdrießt die 72
Sippe – wie leicht könnte es von den Verfolgern gehört werden und ihnen die Richtung weisen! Gereizt holt Eule, eine der Mütter, ihr Kind vom Rücken herunter und schlägt es hart. Da beginnt das Kleine laut zu weinen. Die Jäger schreien es zornig an: »Schweig, Kröte, du wirst uns verraten!« Aber das Kind läßt sich nicht beruhigen: es ist hungrig, und die Gelsen plagen es; es ist voll von ihnen um Augen und Mund. Das Weinen bricht nicht ab. Da holt die verzweifelte Mutter abermals zum Schlag aus; das Kind will ausweichen, zerrt sich los, strauchelt – und kollert hilflos den Hang hinunter in den Sumpf! Starr vor Entsetzen steht Eule da, dann wird sie von den ungeduldigen Jägern fortgerissen. Weiter! Der Feind ist ihnen auf den Fersen – für die Rettung des Kindes bleibt den Fliehenden keine Zeit. Weiter, nur weiter! Die beginnende Dämmerung macht schließlich der Verfolgung ein Ende; man kann die Fährten nicht mehr erkennen. Der feindliche Trupp macht halt und schickt sich zur Übernachtung an. Die gehetzte Sippe läuft noch ein Stück Weges weiter, dann aber, wie auf ein gegebenes Zeichen, sinkt einer nach dem anderen zu Boden. Frauen und Kinder kriechen in einer trockenen Bodenmulde zusammen, und die Jäger lagern sich um sie herum. Die Erschöpfung fordert ihr Recht, die Müdigkeit besiegt selbst die Furcht. Die Ermatteten sinken alsbald in Schlaf. Im Jungholz rauscht der Wind und bewegt die Zweige. Der Mond, von Wolken halb verdeckt, beleuchtet schwach die schlafenden Flüchtlinge. Nie mehr wird die Sippe zur Thaya an die Pollauer Berge zurückkehren ... Der Stärkere siegt; der Schwache weicht oder geht zugrunde.
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ZWEITER TEIL
Das neue Heim Erst im Hügelland um das heutige Brünn findet die überstürzte Flucht der Sippe ein Ende. Mühselig haben die Flüchtenden das ausgedehnte Sumpfland zwischen den Flüssen Schwarzawa und Cesawa überwunden – und haben damit die hartnäckigen Verfolger getäuscht; denn die, überzeugt davon, die Fliehenden würden auf dem leichteren Weg quer über den Bergkamm zu entkommen versuchen, eilten in der falschen Richtung weiter und mußten schließlich die nunmehr aussichtslose Jagd aufgeben und in das Lager an der Thaya zurückkehren, das jetzt den Ihren gehörte und wohin die Verheißung gebratenen Mammutfleisches sie immer stärker lockte. Übrigens kehrten die Verfolger ja nicht ganz ohne Erfolg zurück. Einen verwundeten Jäger der besiegten Sippe, der entkräftet und besinnungslos am Wege gelegen war, haben sie erschlagen, und aus dem Sumpf haben sie ein wimmerndes Kind gezogen und mit sich genommen: es lohnt sich, das Kleine zu füttern und großzuziehen – wie übrigens viele andere zuvor –, denn aus dem plärrenden Ding wird einmal eine tüchtige, arbeitsame Frau werden, eine Verstärkung der Sippe, zu der sie nun gehört ... Und nun ist die geschlagene Sippe nach langer Flucht in Sicherheit. Hier in den Felsschluchten und den waldigen Tälern bieten sich besonders geeignete Schlupfwinkel, und die Jäger, die von den Höhen aus nach den Verfolgern Ausschau halten, können mit ihren geübten Augen auch nicht die geringste Spur 75
eines Feindes entdecken. Die Erschöpften dürfen erleichtert aufatmen. Die Sippe läßt sich auf einige Tage nieder. Man muß einiges Wild erlegen, denn alle sind durch den Hunger schon sehr geschwächt. Die Buben sind nach kurzer Rast die ersten, die sich auf die Suche nach etwas Eßbarem begeben – der Hunger treibt sie davon. Und hier in den Tälern, wo drei Flüsse zusammenströmen, muß doch irgend etwas zu erjagen sein! »Solche Fische!« ruft Eichhorn voll Freude, kaum daß die Schar einen der Flüsse erreicht hat, und deutet an seinem Arm die Größe an: von der Hand bis zum Ellbogen! Die Buben steigen in den seichten Fluß und treiben die Fische strandwärts. Die fliehenden Fischlein schnellen hin und her, und zwei oder drei schwingen sich bis auf den Ufersand. Eichhorn läuft schnell aus dem Wasser und erhascht einen ziemlich großen Weißfisch, bevor der sich wieder in den Fluß hineinarbeiten kann; gierig beißt er in den Fisch und ißt bereits dessen krachenden Kopf, während ihm der Schwanz noch auf die Brust schlägt. Das spornt die anderen Buben an. Sie werfen sich wieder ins Wasser und umzingeln einen Schwarm von Fischen, und tatsächlich erbeuten sie einige davon. Stoß watet indessen bis ganz unter das überhängende Ufer und zieht aus einem Loch einen Krebs, den er nun in der hohlen Hand so zusammenpreßt, daß das Tier ihn mit seinen Scheren nicht zwicken kann. Großmütig wirft er seine Beute den kleinen Buben am Ufer zu, er selber verschlingt einige Schnecken, die er beim Wasser gefunden hat. Eichhorn hat seinen Fisch verzehrt und freut sich: »Da viele Fische, wenig Gelsen!« Stoß zeigt auf die Libellen, die über dem Uferschilf schweben: »Libellen – gute Freunde. Jagen Gelsen.« Aber dann haben die Buben kein Glück mehr. Die Fische sind verscheucht, und die jungen Jäger suchen im Wasser ver76
geblich nach neuer Beute. Stoß übernimmt das Kommando und führt die Bubenschar an einen anderen Plan. Sie nehmen ihren Weg über einen Hügel, um eine Flußbiegung abzuschneiden. Auf einer sonnbeschienenen Wiese bleibt Stoß plötzlich mitten im Strauchwerk stehen. Die Buben kennen schon seine Art, und deshalb halten auch sie sofort an und schauen ganz still, was ihr Führer nun tun wird. Stoß steht reglos, wie versteinert da, nur die Augen folgen irgendeiner Bewegung im Gras. Und plötzlich macht er zwei Sprünge vorwärts – und unter seinem nackten Fuß pfeift etwas: »Siek!« Stoß bückt sich und hebt am Schwanz eine tote Feldmaus hoch! Und schon knabbert er sie mit Genuß. Das behaarte Fellchen und die Knochen spuckt er aus. Jetzt springt auch Schielauge vor und schnappt flink ein zweites Tierchen, das über den ausgetretenen Weg laufen will. Und bald fangen auch die anderen Buben Feldmäuse. Sie freuen sich, wie wohlgenährt und gut die sind – die Bäuchlein sind voll schmackhafter, würziger Dinge. So eine Feldmaus ist ein guter Bissen! Den Buben kommen bald auch ein paar Mädchen nach. Sie haben schon von weitem erraten, daß die Buben etwas Eßbares gefunden haben, und wollen auch etwas davon abbekommen. Sie sind so hungrig, daß sie sich sogar zu den Buben wagen. Und diese jagen sie heute auch nicht fort, im Gegenteil, sie wollen vor den Mädchen ihre Geschicklichkeit zeigen. Aber das gelingt ihnen nicht, denn die gewitzigten Feldmäuse bleiben nun schön in ihren Löchern! Die Buben lauern vergeblich. Die enttäuschten Mädchen haben das Warten bald satt, sie wollen fortgehen und blasen verächtlich nach den Buben. Eichhorn geht beleidigt auf ein unbändiges Mädchen los und reißt es an den Haaren; einige Büschel bleiben ihm in den Fingern. Kaum hat Stoß das gesehen, kommt ihm ein ganz neuartiger 77
Einfall: Er springt schnell herbei, hält mit einer Hand die kleine Fröscherl an der Schulter und reißt sie mit der anderen kräftig an den Haaren. Was hat er vor? Fröscherl jammert. Stoß klopft ihr begütigend auf den Rücken: »Still, Fröscherl, kriegst Feldmaus!« Er nimmt Eichhorn die Haare des Mädchens, die dieser noch immer hält, aus der Hand und dreht daraus am Schenkel schnell eine dünne Schnur. Nun fügt er auch die Haare bei, die er selber Fröscherl ausgerissen hat, und macht am Ende der Schnur eine Schlinge. »Gib ein Stück!« sagt er zu Käferl, der einer erlegten Feldmaus das feine Fellchen abgezogen hat. Dem erbeuteten Tierchen reißt er ein Bein aus, und mit dem blutigen Fleischstückchen in der einen und dem losen Ende der Schnur in der anderen Hand legt er sich dicht vor einem Mauseloch platt ins Gras. Buben wie Mädchen beobachten gespannt sein Tun. Sie wissen, daß er gescheit ist, und erraten, daß er ihnen eine neue Art zu jagen zeigen wird. Sie sind ganz still und wagen vor Spannung kaum zu atmen. Stoß legt das Bein der Feldmaus vor die Öffnung des Mauselochs, und in die Öffnung drückt er die Schlinge. Das Ende der Schnur hält er fest und liegt nun regungslos auf der Lauer. Es dauert nicht lange – und aus dem Loch guckt eine Feldmaus. Augenblicklich zieht Stoß an der Schnur, springt auf – und in der Schlinge baumelt die gefangene Maus! Die Kinder reißen Mund und Augen auf. Und dann kreischen die Mädchen auf – denn alle Buben fallen über sie her und reißen ihnen büschelweise die Haare aus! Die Mädchen wollen davonlaufen, aber sie kommen nicht weit, bald sind sie eingefangen, und jeder Bub hat eine Handvoll langer Haare erbeutet. Binnen kurzem ist die Jagd in vollem Gange. Alle Buben kauern vor den Mauselöchern. 78
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Die Mädchen schauen eine Weile zu, dann setzen sie sich ins Gras und raufen sich die Haare vom Kopf. Schnüre flechten können sie besser als die Buben! Fast alle größeren Mädchen sind ja eitel und haben zum Putz Schnüre um die Hüften gebunden. So manche hübsche Vogelfeder, wie man sie im Walde findet, ist darein geflochten. Einige Mädchen tragen einen solchen bunten Schmuck auch um den Hals und sind sehr stolz darauf. Und bald sind auch die Mädchen auf Mausefang, genau so wie die Buben. Feldmäuse gibt es ja in Hülle und Fülle. Die Kinder lassen es sich gut gehen.
Die Sippe hält sich in dieser Gegend einige Tage auf. Sie lagert in einer geschützten Mulde und erholt sich langsam von der Katastrophe, die über sie hereingebrochen ist. Die Vertriebenen sammeln neue Kräfte; ihr Leben ist gerettet, und alles andere darf nicht allzu schwer genommen werden. Freilich, die verlorenen Zelte, Felle und Waffen entbehren sie sehr, und namentlich das Feuer fehlt ihnen bei jeder Mahlzeit. Ein Glück, daß die Nächte noch ziemlich warm sind und sie nicht mit Kälte bedrohen! – Essen ist nun genügend da; zwar gibt es keinen Überfluß, aber die Beutezüge der Jäger halten der Sippe den Hunger vom Leibe. Leicht ist das Leben allerdings nicht. In dieser Zeit schwerer Prüfungen haben die Streitigkeiten in der Sippe aufgehört. Alle anerkennen jetzt Zotteln Erfahrung und Umsicht, Wisents Tapferkeit und Opferbereitschaft, Wolfsklaues Ergebenheit und Kraft. Aber immer noch läßt der Neid einiger mißgünstiger Jäger nicht zu, einen von ihnen zum Haupt der Sippe zu erheben. Und einen Führer brauchen sie jetzt dringender denn je, das hat sich gerade in diesen bösen Tagen gezeigt. Schiefnase, Raufbold und Schnellfuß bemühen sich nicht mehr um die Befehlsgewalt in der Sippe, sie haben selber erkannt, daß sie keine Aussicht haben. Hingegen gewinnt der 80
gierige Starrkopf immer mehr an Einfluß. Mit seinem ständigen Klagen über die erlittenen Verluste stimmt er die Herzen aller Sippenangehörigen weich, und mit seinem nimmermüden Mahnen, die verlorenen Reichtümer zurückzuerobern, spornt er die Tatkraft seiner Gefährten an und schmeichelt ihrer Selbstgefälligkeit. Außerdem ist er ein wirklich guter Jäger, das muß man zugeben, und als es eines Tages unter seiner Führung gelingt, eine ganze Wildschweinfamilie zur Strecke zu bringen, wird er ohne besondere Wahl zum anerkannten Führer der Sippe. Wenn es hier und da einer wagt, ihm zu widersprechen, wird er gleich von allen übrigen Männern, die endlich ein wenig Ordnung haben wollen, gründlich niedergeschrien. Eine solche Ermahnung genügt immer, den Unruhestifter zu bändigen; er hätte sonst die ganze übrige Sippe gegen sich, die in diesem Punkt jetzt völlig übereinstimmt. Die übereinstimmende Meinung der Jäger ist eisernes Gesetz für die ganze Sippe, verpflichtend für alle. Wer sich ihm nicht beugt, hat sich damit selber aus der Gemeinschaft ausgeschlossen; er muß das Lager verlassen und sich fürderhin allein durchs Leben schlagen. Und das bedeutet den sicheren Untergang; im grausamen Kampf ums Dasein ist der Einzelgänger viel zu schwach und würde unweigerlich zugrunde gehen. Nur die Gemeinschaft macht den Menschen inmitten der erbarmungslosen Umwelt lebensfähig. Starrkopf verwaltet die Sippe bedächtig und gut, als ob er ein ordentlicher Häuptling wäre. Er sorgt dafür, daß die Jäger die Jagd nicht vernachlässigen, daß sie nicht sinnlos streiten und daß die Beute gerecht verteilt wird – die besten Stücke gehören allerdings immer ihm. Er dringt darauf, daß die Sippe sich wenigstens den dringendsten Vorrat an Fellen verschaffen muß, bevor der Winter kommt, und auch Feuersteine zur Ergänzung des Waffenvorrats. Es gibt viel Arbeit, man darf keinen Tag ungenützt verstreichen lassen. 81
Alle verstehen, daß man sich umsichtig auf den Winter vorbereiten muß, und wetteifern in Jagdeifer und Mut. Einige Wolfsund Fuchsfelle sind schon für die Kinder im Lager aufgebreitet. Zwar sind sie nicht besonders schön, denn es geht nichts über einen Winterpelz – aber auch diese Felle wärmen angenehm an kühlen und regnerischen Tagen. Eines Tages finden die Jäger die Spuren von Pferden, und bald erreichen sie die weidende Herde. Welch eine willkommene Beute wäre das! Sofort wird alles zur Jagd bereitgemacht, und das Unternehmen beginnt recht vielversprechend. Dann aber begibt sich etwas, das der kühnen Jagdfreude ein jähes Ende bereitet: Kaum haben sich nämlich die Jäger verteilt, da stören sie aus dem Schilf ein am Fluß ruhendes Nashorn auf. Das riesige, zottige Ungetüm mit den zwei wuchtigen Hörnern auf der Nase, einem großen vorne und einem kleineren dahinter, hebt den Kopf und stürzt gereizt aus dem Sumpf, daß das Wasser hoch aufspritzt. Die Jäger bemerken zwar sofort den gefährlichen Einsiedler und rufen laut zur gemeinsamen Verteidigung, aber das Nashorn wartet nicht! In schnellem Ausfall greift es mit bis zur Erde gesenktem Kopf mit dem furchtbar aufgerichteten halbmeterlangen Horn auf der Nase an. Wie der Blitz jagt es heran und schlitzt einem Jäger den Bauch auf! Der Unglückliche wälzt sich schreiend in seinem Blut. Und schon wirft sich das Nashorn auf einen anderen Mann! Der kann zwar dem furchtbaren Horn ausweichen, aber der wütende Dickhäuter stößt ihn doch nieder und droht ihn zu zertrampeln; im allerletzten Augenblick kann Wolfsklaue das Ungetüm durch einen Speerstich abdrängen. Die Wunde reizt das Tier zu noch größerer Wut. Es springt hin und her und geht blindlings auf jeden los, der sich ihm zu nahen wagt. Die Jäger laufen kopflos davon; ihre Waffen sind für den Riesen zu schwach, die Speere dringen nicht durch 82
des Nashorns dicke Haut. Wisent, Wolfsklaue, Uhu, Hase und einige andere Jäger zeigen zwar großen Mut und springen beherzt um den wütenden Koloß herum, aber auch die Tapfersten wollen ihr Leben nicht leichtfertig aufs Spiel setzen und bringen sich schließlich vor den wilden Angriffen des Nashorns in Sicherheit. Endlich kommt der Dickhäuter vor einem Gebüsch zum Stehen, hinter dem zwei Männer versteckt sind. Er zögert, blinzelt mit den kleinen Augen und schnaubt zornig. Da schleichen von hinten drei Jäger heran und werfen ihre Waffen gegen das riesige Tier. Aber der erste Speer gleitet an der schlammbedeckten Haut des Nashorns ab, der zweite dringt nur ein wenig durch den Hautpanzer, und nur der dritte fährt etwas tiefer in die Weiche des Tieres. Mit einem unglaublich schnellen Sprung dreht sich das verwundete Nashorn um und setzt unter die kühnen Jäger. Der bereits hinkende Rothand kann nicht schnell genug 83
flüchten, und im nächsten Augenblick wälzt er sich schon unter dem Nashorn in seinem Blut. Wisent, der keine Waffe mehr hat, will flüchten, aber als er den unglücklichen Rothand hilflos daliegen sieht, hält er an, ergreift einen großen Stein und schleudert ihn dem Nashorn an den Kopf. Nun kehren zwei weitere Jäger entschlossen um und versuchen, die Aufmerksamkeit des Nashorns von dem auf der Erde liegenden Rothand abzulenken. Der alte Zottel hält alle fliehenden Männer auf und bringt sie zum Kampfplatz zurück. Jetzt springen schon etliche Jäger um das Nashorn herum, aber sie können ihm mit ihren schwachen Waffen nicht viel anhaben; im Gegenteil, der durch die ihm zugefügten Wunden gereizte Dickhäuter richtet einige Männer übel zu. Starrkopf ist schon ganz blutiggeschunden, und der tapfere Wisent hat sich, von dem wütenden Nashorn gegen einen Baum geschleudert, eine arge Kopfwunde geholt. Es ist ein aussichtsloser Kampf. Starrkopf gibt schließlich das Zeichen zum Rückzug: er schreit und winkt mit der Hand. Die Jäger verstehen sofort, und der Kampf findet ein Ende. Zwei Männer tragen den bewußtlosen Rothand auf den Armen, die übrigen Verwundeten können glücklicherweise gehen, wenn sie sich auch schwer auf die Schultern der Gefährten stützen 84
müssen, um nicht umzusinken. Sie stöhnen fast gar nicht; mit zusammengebissenen Zähnen unterdrücken sie bewunderungswürdig den Schmerz. Die unverletzten Jäger lenken indessen noch einige Zeit das nun ebenfalls blutende Nashorn ab, und es gelingt ihnen tatsächlich, es in die entgegengesetzte Richtung zu locken. Dann ziehen sie sich eilig zurück, bevor noch der Wüterich neuerlich auf sie losgehen kann. Das Nashorn sieht plötzlich keinen Feind mehr vor sich. Wütend zertrampelt es einen Wacholderstrauch und zerwühlt mit dem Horn die Erde ringsum, schnaubend schleudert es die Rasenstücke in die Höhe. Schließlich läuft es in den Fluß und kühlt im Wasser seine Wunden und seine Wut. Die Jäger erreichen mit den entkräfteten Verwundeten das Lager. Welch traurige Rückkehr von der hoffnungsvollen Jagd! Die Frauen empfangen sie entsetzt und starr vor Schrecken. Als sie den schlimm zugerichteten Rothand sehen, ringen sie die Hände und wimmern kläglich. Und als sie erfahren, daß der junge Jäger Pechhaar nie wieder zurückkommen wird, wehklagen sie laut, und eine von ihnen sinkt zu Boden. Abermals hat ein schwerer Schlag die Sippe getroffen. Im Lager herrscht tiefe Trauer. – 85
Tags darauf wird der Leichnam des unglücklichen Pechhaar eingeholt und unweit der Stelle, an der er den Tod gefunden hat, bestattet – irgendwo zwischen dem Spielberg und der gewundenen Zwittawa. Das kostbare Halsband, das der tapfere Jäger getragen – einige hundert auf einen dünnen Riemen gefädelte Muscheln und Knochenringlein – nimmt er mit in seine letzte Ruhestätte. Und ehe das Grab zugeschüttet wird, legt Pechhaars schluchzende Gefährtin eine etwa halbellenlange Figur, die er einmal kunstvoll aus einem Mammutstoßzahn geschnitzt hat, an die Seite des Toten. Die Frau hat diese Figur stets als Zauber bei sich getragen und sich nie von ihr getrennt; sie hat geglaubt, daß sie mit Hilfe dieses Zaubers einen kräftigen Buben zur Welt bringen werde; jetzt legt sie das Amulett weinend ins Grab – und begräbt damit alle ihre Hoffnungen4. Die übrigen Verwundeten erholen sich verhältnismäßig rasch. Selbst ihre tiefen Wunden heilen bald, obwohl sie nur ungenügend behandelt werden. Aber neue Sorgen quälen die Sippe: Die Jagdzüge in dieser Gegend enden zumeist höchst unbefriedigend, es gibt nur wenig Wild, auch die Pferde haben sich nicht wieder gezeigt, ein Rentier ist hier überhaupt nicht anzutreffen. Die Sippe muß sich dazu entschließen, abermals aufzubrechen und weiterzuwandern, tiefer hinein in das Hügelland mit den waldreichen Kuppen. Als nach etlichen Regentagen, die abgewartet werden müssen, die Sonne wieder durch die Wolken bricht, gibt Starrkopf den Befehl zum Aufbruch. Nur wenig Gepäck führt die Sippe auf ihrer neuerlichen Wanderung mit sich – sie besitzt so gut wie keine Vorräte und nur wenige Felle. Der Weg führt flußaufwärts. Keinem fällt auf, daß es jetzt die Zwittawa entlang geht und nicht – wie bisher – die Schwarzawa. Es ist ihnen auch einerlei – Fluß ist Fluß, und __________________________________________________ 4
Halsband und Amulett wurden 1891 in einer im Zuge von Kanalisationsanlagen in Brünn freigelegten Grabstätte gefunden.
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jeder führt bergauf, dorthin, wo nicht so viele lästige Gelsen sind wie unten im Tiefland. Aber bald erkennen sie, daß der Weg nicht leicht sein wird. Der Fluß schäumt in rascher Strömung zwischen Felsenufern durch vielgewundene Schluchten, und die Sippe muß immer wieder hohe Kalksteinberge umgehen. Manchmal irren die Wandernden dabei ziemlich weit vom Fluß ab, und schließlich halten sie sich lieber an die kleinen Bäche. Einmal, als sie wieder einen Bach entlanggehen, begegnen sie einer seltsamen Naturerscheinung: Die Erde verschluckt plötzlich den ganzen Bach! Das Wasser fließt das Bachbett abwärts, ganz wie es immer fließt – aber auf einmal ist der Bach zu Ende, alles Wasser verliert sich in der Erde! So etwas hat noch keiner in der Sippe gesehen! Alle Jäger sind verblüfft über dieses Wunder. Sie schauen abwechselnd auf den fließenden Bach und wieder auf die trockenen Kieselsteine, unter denen das Wasser geheimnisvoll verschwindet, und keiner vermag den seltsamen Vorgang zu deuten. Lange stehen die Jäger in ratlosem Staunen vor der kleinen Steinhalde, die gleich einem unersättlichen Mund alles Wasser verschlingt. Inzwischen streifen die Buben auf den Hängen umher und sammeln Himbeeren. Auf einmal schreit Stoß: »Eine Höhle!« Und bevor noch die bedächtigen Jäger die Buben warnen können, kriechen einige der neugierigen Entdecker in die Höhle am Hang. Zum Glück haust kein wildes Tier darin, und immer mehr Kinder wagen sich in das Höhlendunkel vor. Das Geschrei der Buben hallt durch das unterirdische Felsengewölbe. Der Eingang der Höhle ist durch einen Haselstrauch halb verdeckt; dort steht Stoß, der Entdecker, und zeigt den herankommenden Jägern mit weit ausholenden Gesten, wie geräumig das Gewölbe ist. Er ist sehr stolz auf seine Entdeckung. Wisent, Wolfsklaue, Hase und andere Jäger untersuchen so87
fort die Höhle – vielleicht kann sie der Sippe als gemeinsamer warmer Unterschlupf dienen! Auch die Buben wagen sich immer tiefer in die Höhle hinein, aber dann bekommen sie es in der Dunkelheit und der plötzlichen Kühle doch mit der Angst zu tun und kehren schnell wieder ans Licht zurück. Die Innenwände der Höhle umschließen ein kellerartiges Felsengewölbe, dann verengen sie sich und bilden einen schmalen, geknickten Gang, der weiter ins Berginnere führt; dort weichen sie abermals weit auseinander und verlieren sich im Dunkel. In dem Höhlengang stoßen die Jäger, auch wenn sie sich bücken, mit dem Kopf gegen Steinzapfen, die von der Felsendecke niederhängen, und ihre Füße straucheln über Steinstümpfe, die aus dem Boden aufragen. Die Männer zeigen wenig Lust, im völligen Dunkel zwischen derartigen Hindernissen herumzukriechen, und kehren bald in das vordere, vom Eingang her spärlich erhellte Felsengewölbe zurück, wo sie bequem aufrecht stehen können. Ein mäßiger Luftzug ist spürbar, der darauf hinweist, daß die Höhle wahrscheinlich mit irgendwelchen anderen unterirdischen Gewölben verbunden ist. An den zufriedenen Gesichtern der Jäger ist zu erkennen, daß ihnen die Höhle sehr gut gefällt. Die Buben warten mit offenem Mund, was der Führer der Sippe sagen wird. Wird sie auch ihm gefallen? Auch die Frauen mit den Kindern sind schon in die Höhle gekrochen. Der vordere Teil faßt bequem die ganze Sippe, und wenn einige bis in den engen Gang weitergehen, gibt es sogar Platz in Überfluß. Hier wäre gut bleiben! Aller Augen sind auf den Häuptling gerichtet. »Höhle – unser!« verkündet Starrkopf feierlich. »Gut für Winter!« Die Buben begrüßen diese Entscheidung mit Jubelgeschrei. Und auch die Jäger nehmen Starrkopfs Worte mit zustimmendem Brummen entgegen; diese wettergeschützte Höhle im Kalkstein gefällt ihnen. Sie werden hier im langen Winter eine 88
sichere und wohnliche Zufluchtsstätte haben. Nur schade, daß die Sippe kein Feuer hat – wie schön könnte man damit die ganze Höhle beleuchten und erwärmen! Nun, auch so wird es ihnen in der Höhle besser gehen als irgendwo im schneeverwehten Gebüsch. Die Frauen gehen sogleich daran, die Höhle zu säubern. Tierknochen und dürre Zweige, die in den Winkeln herumliegen, werden hinausbefördert, und was die Sippe an Fellen besitzt, wird auf dem Boden ausgebreitet. Schwer lassen sich die müden Menschen dann darauf nieder und sind glücklich, daß sie nun wieder eine ständige Behausung haben. Draußen vor dem Eingang der Höhle spielen die Kinder. Sie haben Himbeeren und Heidelbeeren entdeckt und naschen nach Herzenslust, ihre dunkelroten Münder künden von Freude und Behagen. Ein sanfter Windhauch spielt mit den Baumwipfeln, irgendwo in den Zweigen singt ein Vogel sein Lied. Die Sippe hat ein neues Heim gefunden.
Lemminge Stoß und Eichhorn hält es nicht lange bei den Heidelbeerstauden, wo die übrigen Kinder sich gütlich tun; bald brechen die beiden Buben auf, um die Umgebung ihres neuen Wohnorts in Augenschein zu nehmen. Sie streifen den Bach entlang und stehen schließlich wieder an jener Stelle, wo er sich in die Erde verliert. Sie forschen nach einem Loch, in das der Bach sich ergießen sollte – aber sie finden keines; sie sehen nur, wie das Wasser immer spärlicher zu werden beginnt und dann völlig versiegt; nichts als ein trockenes Bachbett bleibt. Stoß scharrt etliche Steine los – aber auch darunter zeigt sich kein Loch. 89
»Und die Fische?« fragt Eichhorn verwirrt. Stoß kann ihm nicht erklären, wo die Fische hinkommen. Er läuft mit dem Freund zu einer Stelle, wo der Bach noch reichlich Wasser führt, und dort spähen sie in die Fluten – selbst ein kleiner Fisch wäre ein willkommener Bissen. »Kleiner Bach – keine Fische«, stellt Stoß schließlich bedauernd fest. Eichhorn seufzt. »Also – dann auf Hasen! Hase schmeckt auch gut.« Stoß quiekt zustimmend und weist auf den sonnenbeschienenen Hang jenseits des Wasserlaufs. Und schon laufen die Freunde los. Trotz der dürftigen Worte haben sie einander gut verstanden. Wie alle Menschen jener Zeit, teilen sie sich einander nicht nur durch die noch unzureichende Sprache, sondern zusätzlich durch Gesten und Mienenspiel mit; und durch das ständige Bemühen, sich auszudrücken und andere zu verstehen, schärft sich der Verstand, entwickeln sich die geistigen Fähigkeiten der Steinzeitjäger. Übrigens ist es eine alte Jägerregel, auf Jagdfahrt alles Geschrei und jedes unnötige Wort zu vermeiden. Wer laut zur Jagd auszieht, kehrt still zurück. Und umgekehrt: Stiller Jäger – laute Beute! Unterwegs lesen Stoß und Eichhorn geeignete Wurfsteine auf und schleichen dann den Hang hinauf. Ein Hase wartet lange, ehe er aus seinem Unterschlupf springt, aber dann läuft er wie der Wind – da muß man augenblicklich den Stein losschleudern, will man das flüchtige Ziel noch treffen! Und je näher man an das Hasenloch herankommt, um so größer wird die Aussicht auf einen erfolgreichen Wurf. Zum Gipfel des Hügels ist es nicht weit. Von hier bietet sich ein weiter Rundblick auf Täler und Bergketten, aber die beiden Buben haben jetzt kein Auge für die Schönheit der Landschaft, 90
nur der Gedanke an das Wild erfüllt sie. Im Vorgefühl des saftigen Bissens läuft ihnen das Wasser im Mund zusammen. Sie schleichen weiter, die Steine wurfbereit umklammert. Kaum hörbar sind ihre behutsamen Schritte. Plötzlich ein wundersames Pfeifen – ganz nahe! Die Buben erstarren mitten in der Bewegung und lauschen atemlos. Nach einer Weile läßt sich das Pfeifen abermals vernehmen. Was ist das? Vorsichtig arbeiten sich die Buben weiter vor, bis sie zwischen zwei Felsblöcke gelangen. Jetzt hört man den seltsamen Pfeiflaut recht deutlich – und dazu ein unwilliges Knurren. Die jungen Jäger zwinkern einander freudig zu. »Lemminge hier!« Stoß kann nicht länger an sich halten und springt vor. Einen Augenblick lang sieht er zwei oder drei der drolligen Tierchen – kugelrund, kaum so groß wie Hamster –, dann verstecken sie sich eiligst in ihren Löchern. Eichhorn hat sich inzwischen mit einer starken Rute bewaffnet und steht nun neben seinem Kameraden. Die beiden Buben warten gespannt, daß die kleinen Nager sich wieder hervorwagen – bestimmt werden sie wieder aus den Löchern kriechen, um sich an der Sonne zu wärmen. Lange rührt sich nichts; nur aus den Löchern dringt schwaches Pfeifen und Kreischen. Eben macht Stoß ein paar Schritte vorwärts, um ganz an die Löcher heranzukommen, da springt knapp vor seinen Füßen ein dichtbehaarter Lemming hervor und stellt sich dem Buben furchtlos in den Weg: er will seine Höhle gegen den Feind verteidigen. Der Lemming knurrt wütend, reckt den Hals so sehr, daß der Kopf fast den Rücken berührt. Der verblüffte Stoß sieht, wie das Tierchen ihn aus seinen Äuglein zornig anblitzt; er will es fangen. aber der Lemming springt hoch und pfaucht – und der Bub 91
zieht die schon ausgestreckte Hand schleunigst wieder zurück. Das kleine Tier zeigt keinerlei Furcht! Stoß weiß nicht, wie er es packen könnte. »Stock!« ruft er schließlich Eichhorn zu. Eichhorn hat staunend die Begegnung zwischen Stoß und dem Lemming beobachtet und die Tapferkeit des kleinen Wesens bewundert. Aber trotz aller Bewunderung – der Lemming muß erbeutet werden! Und womöglich lebend! Daheim in der Höhle würde es dann köstlichen Spaß geben! Rasch kommt er heran, will das Tier mit dem Stock zu Boden drücken und festhalten; da aber verbeißt sich der Lemming in das Holz und läßt nicht locker, auch als Eichhorn ihn durch das Gras schleift. Den Buben erscheint das über die Maßen lustig, und sie lachen so sehr über die tollen Bewegungen des Lemmings, daß sie sich den Bauch halten müssen. Und so läßt Eichhorn den Stock los, und das Tier – hopp! – schlüpft in sein Loch zurück. Wohl wirft Stoß sofort einen Stein hinter ihm her – aber der Lemming ist bereits in Sicherheit. Das Jagdpech ärgert die Buben; jetzt lachen sie nicht mehr. Emsig halten sie nach einem anderen Lemming Ausschau. Und tatsächlich steckt alsbald eines der Tiere das Köpfchen aus seiner Höhle. Sofort wirft Stoß einen Stein nach ihm, aber er verfehlt das kleine Ziel. Der Lemming versteckt sich eine Weile, aber dann steckt er abermals das Köpfchen heraus – ganz so, als wollte er die Buben auslachen! Und wieder ein Steinwurf – und wieder ist der Lemming rascher! Immer wieder steckt der Lemming das Köpfchen heraus, aber den beiden eifrigen Jägern gelingt es kein einziges Mal, das Ziel zu treffen, und schließlich haben sie auch keine geeigneten Steine mehr zur Hand. Nun kriecht Eichhorn bäuchlings dicht an das Loch heran, und als der Lemming abermals den Kopf herausstreckt, schlägt der Bub mit dem Stock zu. Aber der Lemming 92
ist wachsam gewesen: im Bruchteil einer Sekunde hat er sich zurückgezogen – und der Hieb trifft nur das Gras. Und schon guckt der Lemming neuerlich aus seinem Loch. Wie Hohn ist das! Eichhorn schlägt wütend mit dem Stock – und der Lemming weicht blitzschnell zurück. Stoß keucht schon vor Erregung und Wut: So eine dickwanstige Maus wagt es, zwei junge Jäger zu verspotten – oh! Außer sich vor Zorn, drischt Eichhorn auf die Öffnung der Höhle los. Puterrot ist er im Gesicht, aber er müht sich vergebens: just zwischen zwei Hieben steckt der Lemming geradezu hämisch den Kopf heraus, für den Bruchteil einer Sekunde nur, und zieht ihn gleich wieder ein – gerade, daß er den Buben nicht ins Gesicht lacht! Da reißt Stoß seinem Gefährten den Stock aus der Hand und stößt ihn tief in das Loch. Erstechen will er das schadenfrohe Tier! Kaum aber stöbert er mit dem Holz im Loch herum, da fühlt er, daß es innen festgehalten wird. Geistesgegenwärtig reißt Stoß den Stock heraus – es kostet einige Anstrengung –, und der Lemming, der sich daran festgebissen hat, ist draußen! Und schon wirft sich Eichhorn auf das Tier und beginnt es zu würgen. Der Lemming wehrt sich verzweifelt, kratzt, heißt mit seinen scharfen Zähnchen, aber Eichhorn läßt nicht locker. Schließlich wirft der Bub das bewußtlose Tier ins Gras. Die beiden Freunde atmen zufrieden auf. Zu guter Lebt haben sie also doch gesiegt! Der Erfolg macht ihnen Appetit zu weiterer Jagd. Und tatsächlich gelingt es ihnen, einige weitere Lemminge zu erbeuten. Den gefangenen Tieren binden sie die Hinterbeine zusammen, und so wird die Beute auf den Stock gefädelt und talwärts getragen. Stolz kehren die beiden jungen Jäger zu der neuen Behausung ihrer Sippe zurück. 93
Der Kampf mit dem Bären Es wird Abend. Nebelschleier formen sich in den Tälern, ein leichter Wind treibt sie die Berge entlang, und in jeder Felsnische bleibt ein kleiner Zipfel hängen. Müde und abgehetzt vom Spiel schlüpfen die Kinder in die Höhle zurück; und auch die Jäger kehren heim, stolz auf ihre Jagdbeute, die der Sippe ein ausgiebiges Mahl sichert. Der Geruch der ausgeweideten Tiere erfüllt die Höhle, wo alle sich behaglich zum ersten Abendschmaus im neuen Heim niedergelassen haben, und streicht auch hinaus ins Freie: eine Lockung für Fuchs und Wolf, die dieses Bergland bevölkern. Tatsächlich taucht ab und zu ein Tierkopf im Höhleneingang auf, lüstern nach dem Fleisch, das so unwiderstehlich riecht, aber keiner dieser vierbeinigen Raubgesellen wagt sich weiter vor – dafür sorgen die Steinwürfe der Buben. Verscheucht wird jeder, der sich ungebeten dem Mahle nähert! »Wölfe – kommen in der Nacht«, erklärt der erfahrene Zottel. Er weiß, daß die Wölfe unter dem Schutz der Dunkelheit versuchen werden, doch noch einige Fleischstücke zu erbeuten. Die Jäger beschließen, am Höhleneingang einen Wachtposten aufzustellen. Raufbold wird als erster dieses Amt versehen, um Mitternacht soll Wolfsklaue ihn ablösen. Unter diesem Schutz können alle anderen ruhig schlafen. Und so wird es bald still in der Höhle, denn im Dunkel haben Gespräche nicht viel Sinn – das noch sehr schwerfällige Ausdrucksvermögen der Menschen und ihr ganz ungeregelter Wortschatz bedürfen der Ergänzung durch Gesten, Grimassen und Mienenspiel, und wo diese wichtigen Verständigungsmittel von der Finsternis verschluckt werden, ist es so gut wie unmöglich, sich richtig verständlich zu machen. Es dauert nicht lange, und die Sippe sinkt in der Geborgenheit ihres neuen Heims in tiefen Schlaf. – 94
Auf der Felsstufe vor der Höhle sitzt Raufhold. Er schaut hinab in das mondbeschienene Tal, die Sinne überwach – er erwartet die Wölfe. Aber die halten sich einstweilen fern; nichts rührt sich, nichts ist zu hören, nur manchmal ruft eine Eule. Raufbold brummt leise vor sich hin, als ob er sich selber etwas erzählte. Er hat heute wenig Glück bei der Jagd gehabt, die Beute war wirklich nicht sehr beträchtlich – und das ärgert ihn ganz besonders, denn der ehrgeizige Raufbold will an Starrkopfs Stelle treten und Häuptling der Sippe werden. Aber wie soll die Sippe ihn anerkennen, wenn er ihr nur karge Jagdbeute bringt! Er legt den Speer auf die Knie, nimmt sein Halsband ab und streift ein kleines knöchernes Amulett von der Schnur. Seine Finger betasten die Linien des eingeritten Zauberbildes auf der glatten Knochenfläche: es sollte ihm Jagdglück sichern – und statt dessen wird die ganze Sippe ihn auslachen, wenn er so spärliche Beute bringt! Zornig wirft er das Amulett zu Boden, tritt darauf und schlägt mit dem Speer danach. »Ich will keinen so schlechten Zauber!« zischt er wütend. Da aber scheint ihm, als hätte er eben eine Tierstimme gehört! Sofort erstarrt er zu völliger Reglosigkeit und horcht angestrengt in die Nacht hinaus. Aber alles ist still. Raufbold beruhigt sich wieder und seht sich zurück auf den Felsen. Und doch – nach einer Weile trägt der Wind ihm abermals irgendein seltsames Brummen zu. Da scheint sich ein Tier herumzutreiben – man muß sich auf einen Angriff vorbereiten! Raufbold kriecht in die Höhle. Er will sein Wurfbeil holen, um gewappnet zu sein; aber er findet es nicht – die Jäger liegen darauf. Er müßte sie wecken, aber da bekäme er unweigerlich etliche Püffe und Tritte zu kosten, und darauf läßt er sich nicht ein. Er geht auf seinen Posten zurück; der Speer wird ihm schon genügen! 95
Das regelmäßige Atmen der Schläfer erfüllt die Höhle und sickert weiter, in die unbekannten Räume der Tropfsteingrotte. Auf eine Weile ertönt das laute, sägende Schnarchen eines unruhigen Schläfers. »Aha, Dickwanst kämpft mit Wölfen oder mit einem Bären!« denkt der hinausgehende Raufbold. Er glaubt – wie alle Menschen seiner Zeit –, daß die lebhaften Träume Wirklichkeit sind. »Morgen früh wird er erzählen, was er in der Nacht alles erlebt hat!« Raufbold schaut draußen auf den niedrig stehenden Mond. »Bald Mitternacht!« sagt er sich und setzt sich auf den Felsen. Jetzt ist alles still, und der Wächter sinkt bald in Halbschlaf. Da kommen zwei Buben aus der Höhle. Sie bleiben beim Eingang stehen. Raufbold fühlt ihre Gegenwart und reißt sich aus dem Schlummer. »Weg! Dort, hinter den Felsen!« fährt er die verschlafenen Buben an, die den Höhleneingang verunreinigen wollen. Die Buben gehorchen. Einer der beiden stolpert und greift nach einem großen Wacholderstrauch, um nicht zu fallen – und plötzlich schreit er entsetzt auf: Hinter dem Strauch erhebt sich ein furchtbares Ungeheuer schnaubend und ächzend in riesige Höhe! Der Bub taumelt vor Schrecken. Im Schatten des Strauches merkt er nicht das Gefälle und kollert unter jammerndem Geschrei über den Felsen, geradeaus in die Brombeerstauden hinunter! Der zweite Bub drückt sich vor Angst in eine Felsspalte, so daß er dort gar nicht zu sehen ist. Das ist auch das beste, was er tun kann. Auch er hat das gewaltige Tier gesehen, dessen dunkle Masse sich drohend vom Nachthimmel abhebt, und nun hält er sich in schrecklicher Furcht mit den Händen die Augen zu. Er sieht das Untier nicht mehr; und so meint er, es sei nicht mehr da. 96
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Raufbold springt herbei, um zu schauen, was los ist. Der Speer gleitet ihm aus der Hand, und im Schatten der Felswand sieht man gar nicht, wohin er fällt. Es bleibt auch gar keine Zeit, ihn im Dunkel zu suchen, denn kaum drei Schritte von Raufbold kommt in einen großen Felsblock, der vorhin noch gar nicht dort gewesen ist, plötzlich Leben! Der Felsblock bewegt sich, wiegt sich, reckt sich hoch! »Ein Bär!« schreit der Jäger auf und flieht in die Höhle. Im Eingang stößt er mit zwei Jägern zusammen, die, durch den Aufschrei des erschrockenen Buben geweckt, eben herauskriechen wollen. Ein großer Höhlenbär, viel größer als die jetzigen Bären, beschnuppert die Blutspuren, die zum Lager führen. Der frische Blutgeruch lockt ihn so sehr, daß er nicht gleich auf Raufbold losgeht, den er ja zweifellos längst bemerkt haben muß. Raufbold fliegt schon in die Höhle und schreckt die Schläfer auf. Ein Bär, ein furchtbarer Bär kommt heran! Die aus dem Schlaf Gerissenen begreifen nur allmählich, was los ist, und suchen verwirrt die überall verstreuten Waffen. In der Finsternis ist einer dem anderen im Wege. Wehe, daß sie kein Feuer haben! Wenn die gewaltige Bestie zu ihnen in die Höhle kommt, wird es einen schrecklichen Kampf in diesem engen Raum geben! Wehe, wehe! Die Frauen jammern, die Kinder wimmern verängstigt. Die tüchtigsten Jäger besetzen den Höhleneingang. Sie strecken die Speerspitzen vor und halten die Beile bereit, um den Eindringling abzuwehren. Da berichtet Raufbold, daß zwei Buben, Wühlmaus und Käferl, noch draußen sind. Die Sippe erschrickt. Wolfsklaue und Wisent schieben die Jäger beim Eingang zur Seite und treten aus der Höhle. Vorsichtig schauen sie sich um und suchen nach den Buben. Sie sichten keinen der beiden, hören 98
nur den einen jammern – der Ton kommt von dort unten, wo der Bub in die Brombeerstauden gefallen ist. Sie eilen dem Gejammer nach, um den Buben zu retten. Da tritt plötzlich der Mond hinter einer Wolke hervor – und die Jäger erblicken den Bären. Beinahe wären sie mit ihm zusammengestoßen! Der Bär spürt dauernd mit der Schnauze auf der Erde und leckt die Blutspuren; er zerbeißt auch einzelne weggeworfene Knochen und Abfälle von Innereien. Und jetzt sieht er die beiden Männer vor sich. Er erhebt sich in seiner ganzen furchtbaren Größe und wirft sich auf sie, den Körper vorgeneigt, den Rachen weit offen. Der tapfere Wisent findet auf dem Hang keinen Raum für den schweren Kampf, darum schlägt er nur mit dem Beil nach der drohenden Tatze und springt in den dunklen Schatten. Dort stößt er auf den zusammengekauerten kleinen Käferl; er nimmt den Buben an der Hand und zieht ihn so schnell als möglich zur Höhle. Aber der Bär ist flink und schlägt mit der zottigen, mit schrecklichen Klauen bewehrten Tatze nach Käferl. Wisent sieht das im Mondlicht und deckt den Buben mit dem eigenen Körper. Die Tatze des Bären schleudert das erhobene Beil des Jägers zur Erde und reißt ihm das Wolfsfell herunter, das Wisent für die Nacht mit einem Riemen festgebunden hat. Die Klauen graben sich dem unerschrockenen Jäger in den Rücken. Daß der Bär Wisent nicht zu Boden wirft, ist das Verdienst des treuen Wolfsklaue, der der Bestie im letzten Augenblick von hinten einen wuchtigen Stockschlag versetzen kann. Wisent gleitet mit Käferl in die Höhle. Ohne seiner Verwundung zu achten, will er sofort wieder Wolfsklaue zu Hilfe eilen. Aber der stürzt gerade ebenfalls in die Höhle, verfolgt von dem gereizten Raubtier. Einige Speere richten sich gegen den Bären, aber der schiebt sie spielend zur Seite und stürzt herein. Mit den furchtbaren Tatzen schlägt er nach allen Seiten, und schon wälzen sich einige 99
Jäger auf dem Boden. Die Frauen fliehen mit den Kindern entsetzt in den Tropfsteingang. Die Jäger kämpfen jetzt auf Leben und Tod. Die Angriffe und das Gekreisch haben den Bären wütend gemacht; seine Ausfälle gewinnen an Wucht, die Tatzen üben verheerende Wirkung! Und die Jäger sind in der Höhle auf engem Raum zusammengedrängt und können den Angriffen des Bären nicht gut ausweichen, besonders weil es fast vollkommen finster ist. Nur wenn gerade keiner der Kämpfenden den Höhleneingang verstellt, sickert das matte Licht des untergehenden Mondes herein. Die Klagen der Verwundeten bringen die kämpfenden Jäger zur Verzweiflung. Die rasende Bestie wird sie vielleicht alle zerfleischen! Man kann sich ihrer nicht erwehren, die schweren Steinbeile sind in der Höhle fast unbrauchbar; die Jäger stoßen damit gegen die Höhlendecke und kommen an den Bären nicht heran. Wisent strauchelt über einen verwundeten Jäger, sein Speer zerbricht; nun ist er völlig waffenlos. »Einen Speer, einen Speer!« schreit Wisent, aber kein Jäger gibt ihm neue Waffen. Jeder braucht die seinigen zur Abwehr. An die Höhlenwand gedrückt steht der verängstigte Stoß und beobachtet atemlos den furchtbaren nächtlichen Kampf. Zu seinen Füßen wälzt sich ein verwundeter Jäger. Stoß bückt sich und tastet über die Arme des Mannes – der Verwundete hält in der einen Hand einen Speer! Stoß will ihn ihm wegnehmen, aber der Jäger hält die Waffe krampfhaft fest. Erst als Stoß ihn in die Hand beißt, geben die Finger nach, und der Bub reißt den Speer an sich. Wo ist Wisent? Wo ist er? Dort huscht er am Höhleneingang vorbei! Der Bär zermalmt mit seinem starken Gebiß den Arm eines Jägers, und der waffenlose Wisent wirft sich in verzweifelter Todesverachtung von hinten auf den Bären, umklammert dessen Hals und würgt ihn mit ganzer Kraft. Die zottige Bestie spürt 100
allerdings Wisents Angriff kaum und dreht sich nur ein wenig nach dem Angreifer um; aber der Arm des unglücklichen Jägers wird dadurch von den Bärenzähnen freigegeben. Wisent tritt im Dunkel auf einen Stein. Schnell bückt er sich nach ihm und schlägt dann, ihn in seiner Faust haltend, damit auf den Bären ein – allerdings mit wenig Wirkung. Die bloße Kraft der Faust genügt nicht gegen das mächtige Tier, und der Jäger ist in großer Gefahr, von der Tatze des Bären niedergeschmettert zu werden. »Wisent – Speer!« schreit Stoß in diesem Augenblick und reicht Wisent den guten Eschenspeer; und schon muß er sich zurückziehen, sonst würden der Bär und die Jäger ihn niederwerfen. Die Frauen ziehen Zottel in den hinteren Gang; die Tatze des Bären hat seinen Kopf getroffen, so daß sein Gesicht ganz mit Blut übergossen ist. Es hat den Anschein, daß der Kampf gegen den Bären mit dem Tod aller Jäger enden muß, wenn sie nicht aus der Höhle fliehen. Und der Bär, als ob er wüßte, daß die Jäger sich durch Flucht retten könnten, steht ständig in der Nähe des Ausgangs, so daß niemand durchrutschen kann! Und auch wenn sie weiter in den Tropfsteingang flüchten, entgehen sie dem Untergang nicht! Der Bär ist in der Höhle sichtlich im Vorteil, und die Jäger leisten seinen wilden Angriffen nur mehr schwachen Widerstand. Selber greift keiner mehr den Bären an. Nur der Gedanke, daß die zottige Bestie nach ihnen auch die hinten versteckten Frauen und Kinder anfallen würde, hält die Männer noch im Kampf. Der Bär blutet aus vielen Wunden, aber sie alle sind nur leicht und schwächen ihn vorläufig nicht sehr. Die Kräfte der Jäger hingegen gehen rasch zu Ende ... Aber es ist noch nicht Schluß! Starrkopf, Wolfsklaue und Wisent ist es gelungen, den Bären in der Nähe des Ausgangs, wo es ein wenig heller ist, zu umstellen. Starrkopf befiehlt den 101
übrigen Jägern, sich zu verstecken – er will mehr Platz schaffen für den letzten Versuch, den Bären unterzukriegen. Die so gewonnene größere Bewegungsfreiheit ermöglicht es Wolfsklaue, weit auszuholen und dem Bären den Speer tief in den Bauch zu stoßen. Die Bestie brüllt so fürchterlich auf, daß die Höhle erzittert und der wütende Lärm wie ein Gewitter durch den finsteren Gang rollt. Starrkopf und Wolfsklaue treten erschrocken zurück, der Bär wendet sich gegen den beim Ausgang stehenden Wisent – und ist damit gegen den mondhellen Himmel dort draußen deutlich zu sehen. Er sperrt den Rachen auf und breitet die Vordertatzen aus. Jetzt geht es um Wisents Leben! Der tapfere Jäger, mit dem einen Fuß gegen die Wand gestemmt, hält den Speer mit beiden Händen bereit. Schon stürzt der riesige Bär auf ihn los, um ihn zu zermalmen – aber da jagt Wisent mit verzweifelter Kraft den scharfen Speer in den offenen Rachen des Bären! Er trifft nicht gerade in die Kehle, sondern bohrt aus seiner etwas angehockten Stellung die Spitze aufwärts dem Bären in den Gaumen. Nur mit knapper Not kann er dabei die Höhlenwand entlang wegrutschen, damit der Bär ihn nicht zerquetsche. Er hat nicht einmal Zeit, den Speer aus der Wunde zu ziehen. Der Bär beginnt sich unter furchtbarem Gebrüll auf dem Boden zu wälzen. Er versucht, sich mit den Tatzen den Speer herauszuziehen, und bricht ihn dabei ab. Das in den Gaumen gebohrte Speerstück verkeilt sich in seinem Rachen, so daß er ihn nicht wieder schließen kann. Je mehr er versucht, den Rachen zu schließen, um so tiefer dringt ihm die Spitze in den Kopf. Der vor Schmerz wahnsinnige Bär drischt mit den Tatzen herum und wirft sich auf der Erde hin und her. Die Jäger beachtet er nicht mehr. Er versucht vergeblich, sich von dem tief in seinem Rachen sitzenden Speerstück zu befreien. Die Jäger erkennen bald, daß der glückliche Stoß Wisents den verzweifelten Kampf zu ihren Gunsten entschieden hat. Im 102
schwachen Licht der letzten Mondesstrahlen sehen sie, wie der Bär sich machtlos herumwirft; schnell gewinnen sie ihr Selbstvertrauen wieder. Wachsam liegen sie rings um den Bären auf der Lauer, und sobald das ungestüm sich windende Tier ein wenig verschnauft, springt einer von ihnen vor und schmettert das schwere Beil gegen den zottigen Riesen. Es scheint, als ob der Bär diese Wunden gar nicht beachte; aber er erschlafft immer mehr und mehr, der Blutverlust entkräftet ihn zusehends. Und doch dauert der Kampf noch lange. Manchmal glauben die Jäger, daß das Ungeheuer schon tot sei, wenn es sich nicht mehr bewegt und ganz leblos daliegt, aber die wütende Bestie hat ein sehr zähes Leben. Jeder Jäger, der sich ihr zu sorglos zu nahen wagt, wird übel zugerichtet. Schließlich ist der Bär aber wirklich tot und regt sich nicht mehr. Die Jäger begrüßen den Sieg mit ohrenbetäubendem Jubel. Frauen und Kinder kommen aufatmend aus dem Tropfsteinversteck hervor, und die Höhle hallt vor Freudengeschrei. »Hoia! Heia! Heissa!« Der Führer Starrkopf gebietet schließlich Ruhe und Schlaf bis zum Morgen. Die Sippe wird still. Die Kinder drücken sich an den toten Bären und wärmen sich in seinem Pelz. Sie lecken das Blut von seinen Wunden. Allmählich schlafen alle nach dem aufregenden nächtlichen Kampf wieder ein, und auch das Stöhnen der Verwundeten verstummt. Von draußen hört man nun ein schwaches Wimmern ... Der nur leicht verwundete Wisent kriecht aus der Höhle und geht der Stimme nach. Nach einer Weile bringt er den halb erfrorenen und vom Weinen ganz entkräfteten kleinen Wühlmaus herein und legt ihn zu seiner Mutter. Und nun stört nichts mehr die Nachtruhe der Sippe. Die regelmäßigen Atemzüge der Schlafenden erfüllen die Höhle. 103
Der Feurige Stein Seit dem nächtlichen Kampf mit dem Höhlenbären sind viele Tage vergangen. Von den verwundeten Jägern ist einer seinen Verletzungen erlegen, ein zweiter – der tapfere Zottel – trägt bleibende Kampfspuren in seinem Gesicht, das nun so aussieht, als grinse er ständig; alle übrigen aber sind nun wieder völlig heil. Das große Bärenfell hat der Führer Starrkopf bekommen, die Eckzähne der kühne Wisent: er trägt sie stolz an seinem Halsband – jetzt wird er stark sein wie ein Bär! Von jener schrecklichen Nacht spricht man in der Sippe noch lange Zeit. Alle bedauern, daß sie kein Feuer haben – der Bär hätte sich nicht in die Höhle gewagt, wenn vor dem Eingang ein Feuer gebrannt hätte! Ach, Feuer! Wenn nur Feuer da wäre! Täglich und stündlich gedenkt die Sippe sehnsüchtig der Zeit, da im Lager ein herrliches Feuer brannte ... Wisent, Uhu, Wolfsklaue, Hase und andere Jäger machen sich zwar erbötig, in das alte Lager an der Thaya zurückzuwandern, um von dort Feuer zu holen, aber Starrkopf erlaubt es nicht – er will die Sippe nicht um so tüchtige Jäger bringen. Und es ist ja mehr als wahrscheinlich, daß sie nicht mehr zurückkehren würden. Die fremde Sippe an der Thaya ist stark, und gewiß bewacht sie ihr Feuer gut. Sie würde jeden töten, der es wagte, einen Brand von ihrer Feuerstelle zu holen! Die Tage vergehen, und der Winter rückt näher. Die Sippe hat sich schon an ihre Höhle gewöhnt, nur bis ans Ende des Tropfsteinganges ist noch niemand gekommen. Die sich am weitesten vorgewagt haben, berichten, daß der Gang mit einem gefährlichen Gefälle in die Tiefe endet. Man kann dort ohne Licht keinen Schritt weiter. Und angeblich hört man dort aus der Tiefe das Rauschen des draußen im Gestein verschwundenen Baches! 104
Die Sippe ernährt sich in dieser Gegend ganz gut. Die Hungertage sind selten, in der Regel bringen die Jäger immer irgendwelche Beute; auch der Vorrat an Fellen für den Winter ist größer geworden. Aber trotzdem ist die Sippe besorgt: Die Jäger haben keine Feuersteine mehr, sie können die zerbrochenen oder verlorenen Geräte und Waffen nicht wieder ersetzen! Einstweilen behilft man sich mit gewöhnlichem Quarz und anderen harten und spaltbaren Steinen, aber viel sind solche Notbehelfe nicht wert; es geht nichts über einen richtigen Feuerstein5! Oft steigen die Jäger auf die hohen Berge und schauen nach allen Richtungen, ob sie nicht irgendwo den Rauch vom Feuer einer herumziehenden Sippe sehen, von der man vielleicht einen Feuerbrand oder einen Feuerstein erwerben könnte. Aber sie spähen vergebens in die Ferne – nirgends am weiten Horizont zeigt sich eine blaue Rauchsäule, und nirgends sind im weichen Boden Spuren einer Sippe zu finden, die mit Feuersteinen handelt, wie solche manchmal aus dem fernen Norden kommen. Übrigens – womit sollten sie auch die wertvollen Feuersteine bezahlen? Ihre jetzigen Felle – durchwegs Sommerfelle – sind kümmerlich, und niemand würde sie erwerben wollen. Und die schönen, dichten und geschmeidigen Winterfelle, die sie einst hatten, sind alle im Lager an der Thaya geblieben ... Die Sippe muß also ohne Feuer, ohne Feuerstein auskommen. Unermüdlich sind die Jäger am Werk, die Ihren mit Nahrung zu versorgen, aber dem unerbittlich nahenden Winter blicken sie mit stets wachsendem Bangen entgegen. Ein Winter ohne Feuer – was soll aus der Sippe werden? Und dann, eines Tages, ereignet sich ganz plötzlich und unerwartet der große Umschwung in ihrem Leben – sie sind mit einemmal wieder Herren des größten aller Schätze – des Feuers! __________________________________________________ 5 Der Feuerstein ist eine Abart des Quarzes; große Vorkommen sind in den Kreidefelsen an der Ostsee- und der Ärmelkanalküste, spärlicher findet er sich auch in den Kalkfelsen um Brünn. Er ist undurchsichtig, nur an den scharfen Kanten durchscheinend.
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Und das begibt sich einfach folgendermaßen: Eines Tages spielen die Kinder in der Höhe. Es herrscht naßkaltes, unangenehmes Wetter, und da haben sie keine Lust, hinauszugehen. Sie scharren den Lehm vom Boden und formen einen kleinen Bären daraus. Er wird im Tannenreisig gewälzt – das Fell ist fertig; ein Stück Wegerich ist der Schwanz, die Schuppen eines Tannenzapfens setzen sie als Ohren ein, Wacholderkügelchen als Augen; die Zähne machen sie aus Knochensplittern und die Zunge aus einer geöffneten Hagebutte. Und dann führen sie mit ihm einen regelrechten Kampf auf; die Höhle ist erfüllt von Geschrei und Gelächter, von Stoßen und Jagen. Stoß und Eichhorn lassen die Kinder spielen, sie selber beteiligen sich nicht daran – für derlei sind sie ja schon zu groß! Hingegen gefällt ihnen das Graben im Lehm. Mit Holz- und mit Knochenstücken legen sie Gräben, Höhlen und richtige Tunnels an. Zwei Mädchen, Fröscherl und Taube, gesellen sich zu ihnen; sie legen in die ausgewühlten Löcher schöne Steinchen, Eicheln und Zapfen und erklären phantasievoll: »Das ist ein Hase – das ein Wolf – das ein Fuchs – das ein Fischotter ...« – sie haben schon eine stattliche Auswahl beisammen. »Jetzt noch ein Dachsloch!« wünscht sich Fröscherl, und Stoß gräbt in den Boden der Höhle ein tiefes Loch. Er stößt auf einen großen Knochen, zieht ihn heraus und verwendet ihn sofort zum Graben; Fröscherl und Taube heben den aufgelockerten Lehm mit den Händen aus der Grube. Neben dem emsig wühlenden Stoß häuft sich der Lehm und nimmt ihm mehr und mehr die Sicht, denn dem Licht vom Höhleneingang her wird durch den ständig wachsenden Lehmhügel der Weg versperrt. Kurz entschlossen befördert Eichhorn das Hindernis klumpenweise zur Höhle hinaus, um seinem Freund die Arbeit zu erleichtern. Stoß kniet nahe der Höhlenwand und hat sich schon mehr106
mals den Kopf an der geneigten Decke tüchtig angeschlagen. Er gräbt also eifrig in die Tiefe, und bald kann er sich zur Weiterarbeit in die Grube stellen, in der er nun bis über die Knie Platz findet: jetzt ist sein Kopf in Sicherheit! »Uh!« ruft da plötzlich Eichhorn überrascht und zeigt, was er im Lehm gefunden hat. Es ist Kohle – Holzkohle! Es muß in dieser Höhle einmal eine Feuerstelle gewesen sein ... Wer mag daran gesessen sein? Vielleicht ebenfalls Jäger, die sich hier versteckten und ihre Beute am Feuer brieten? Seither sind Jahrhunderte vergangen, die verlassene Feuerstelle verschwand unter dem Lehm, der vom Regenwasser angeschwemmt wurde – bis jetzt abermals Menschen sich hier ansässig machen und die Höhle mit ihrem Leben erfüllen. Stoß betrachtet neugierig die Kohle und findet darunter auch einen angebrannten kleinen Knochen. »Suchen – was noch!« entschließen sich die Buben und graben gemeinsam im gelben Lehm. Nach einer Weile finden sie eine größere Menge Kohle und Stücke zerschlagener Knochen. Auch eine schöne Spitze von einem Hirschgeweih entdecken sie. Das ist ein wertvoller Fund – ein solches Geweihstück kann man zu allerhand gebrauchen! »Da ein Stein«, sagt Stoß und wühlt mit dem Knochen ringsum die Erde auf, um ihn herausziehen zu können. Fröscherl hilft ihm, und nach einer Weile fliegt der Stein, so groß wie zwei Männerfäuste, aus der Höhle – und trifft den Jäger Zottel, der eben mit einem erbeuteten Luchs hereinkommt, am Fuß. »Versteck dich, Stoß!« warnt Eichhorn aufgeregt den Kameraden. Er befürchtet, daß Zottel böse sein und Stoß den Steinwurf vergelten könnte; und das wäre immerhin eine höchst schmerzhafte Angelegenheit! Aber was treibt der alte Zottel? Er läßt den Luchs von der Schulter gleiten, bückt sich, hebt den Stein auf und – vollführt 107
draußen vor dem Höhleneingang tolle Sprünge! Was hat er nur? Und er schaut alles eher denn böse drein – im Gegenteil, nun stößt er gar laute Freudenschreie aus und wirbelt den Stein in der Luft herum! Die Kinder laufen hinaus, um den tanzenden Zottel besser zu sehen. Was ist nur in ihn gefahren? »Feuerstein, Feuerstein!« jubelt Zottel. Er wirft den Stein in die Höhe und fängt ihn wieder! Die anderen Jäger eilen herbei und können vorerst nicht verstehen, was Zottel da treibt, aber als er ihnen den schönen, großen Feuerstein zeigt, stimmen sie alle in den Jubel ein. Sie werden scharfe Feuersteinmesser haben, gute Speerspitzen, herrliche Schabgeräte und Ahlen! Feuerstein! Feuerstein! Zottel packt Stoß mit seinen starken Händen, drückt ihn an sich und streichelt ihm die Wangen. Dasselbe macht er mit Eichhorn und mit Fröscherl: die drei sind ja die glücklichen Entdecker des Feuersteins! Die ganze Sippe lobt sie dafür. Niemand anderer als der Führer der Sippe darf mit der Arbeit an dem Feuerstein beginnen. Starrkopf besichtigt ihn aufmerksam und berät sich mit den erfahrensten Jägern, wie der Stein am besten zu spalten sei. Sie entdecken einige feine Sprünge, und Wisent erklärt: »Feuerstein im Feuer – im Wasser!« Damit will er sagen, daß man diesen Feuerstein einst zuerst ins Feuer gelegt und dann glühend ins kalte Wasser geworfen hat. Und das hat man wahrscheinlich mehrmals wiederholt, bis der feste Stein Sprünge bekommen hat. Das erleichtert jetzt die Arbeit. Starrkopf nimmt den Feuerstein in die Hand und begibt sich mit ihm zum Felsen, dicht gefolgt von allen Jägern; nun hebt er den Stein mit beiden Händen hoch über seinen Kopf und schleudert ihn dann mit aller Kraft gegen den Felsengrund. Der Stein springt zu Wolfsklaue, der stellt sich nun an Starrkopfs Platz und schmettert den 108
Feuerstein ebenfalls gegen den Felsen. Dann kommt Raufbold an die Reihe, nach ihm Ukmas und dann Wisent. Da zerspringt der Feuerstein schon in drei Stücke. Starrkopf, Zottel und Wisent nehmen je ein Stück an sich, setzen sich auf die Felsstufe und klopfen mit Steinen von dem Feuerstein scharfe Blätter ab. Die Jäger schauen gespannt dieser Arbeit zu, die große Erfahrung und Geschicklichkeit erfordert. Von dem Feuerstein werden durch sachkundige Schläge dünne Messerblätter oder unregelmäßige, scharfkantige, am Rande durchscheinende Blätter abgespalten, die man sehr gut zum Schaben von Knochen oder Fellen verwenden kann. Das Häufchen schöner Werkzeuge wächst, und damit wächst auch die Begeisterung der Jäger. Inzwischen gräbt Stoß mit Fröscherl, Taube und Eichhorn wieder eine Menge Kohle und einige Knochen aus. Sie werfen nicht mehr blind alles aus der Höhle, sondern besichtigen aufmerksam jeden Fund. Plötzlich stößt Fröscherl einen Schmerzensschrei aus – von ihren Fingern rinnt Blut; sie hat sich mit etwas Scharfem geschnitten. Mit der anderen Hand zeigt sie vor sich auf den Boden, wo eine scharfe Spitze aus dem Lehm aufragt. Stoß und Eichhorn graben das Erdreich rund um die herausragende Spitze auf, und kurz darauf halten sie ein etwa spannenlanges Feuersteingerät in den Händen, das die Form eines langgestreckten Blattes hat, dessen beide Enden sich zu scharfen Spitzen verjüngen. Gemeinsam bringen die beiden Buben den kostbaren Feuerstein zu den Jägern vor die Höhle. »Was habt ihr wieder, Buben?« fragt Starrkopf lächelnd. Die Buben weisen stolz auf ihren Fund. 109
»Ah!« rufen überrascht die Jäger und bewundern das kostbare Werkzeug. Wie schön regelmäßig es gearbeitet ist! Wie fein geklopft und abgespalten! Ein Lorbeerblatt aus Feuerstein6! Das kunstvolle Werkzeug geht von Hand zu Hand und erweckt immer wieder Bewunderung. In der Sippe gibt es geschickte Feuersteinschläger, aber ein so vollkommenes Werk könnte keiner schaffen! Natürlich soll es nun dem Häuptling gehören; er wird es an seinem Speer befestigen und damit eine Waffe besitzen, die nicht ihresgleichen hat! Jetzt können sich die glücklichen Finder kaum mehr des Andranges von Helfern erwehren. Alle Kinder wollen in die Höhle, um ebenfalls wertvolles Gut zu finden, aber als sie Stoß und Eichhorn die Sicht verstellen, werden sie einfach davongejagt. Also beginnen sie an anderen Stellen selbständig zu graben, und bald sind im Boden der Höhle lauter Löcher. Nun kommen etliche Frauen mit Körben voll Bucheckern, Eicheln, Hagebutten und Vogelbeeren aus dem Wald zurück; im Dunkel der Höhle gibt es infolge der vielen ausgehobenen Löcher zahlreiche böse Stürze, und es ist pures Glück, daß niemand sich dabei die Beine bricht. Unter allgemeinem Geschimpfe müssen die Kinder die Löcher wieder zuschütten. Nur Stoß, Fröscherl und Eichhorn bleiben am Werk. Sie finden noch einige Feuersteinstücke und den Unterkiefer eines Elchs. Das eifert sie so sehr an, daß sie ein großes Stück der Höhle aufgraben. Aber sie entdecken nichts Beachtenswertes mehr, und schließlich geben sie es für heute auf. Später, als die Jäger bereits Mahlzeit halten und Frauen und Kinder warten, bis die Männer ihren Hunger gestillt haben, hocken in einem Winkel der Höhle die drei glücklichen Finder beisammen und erzählen einander, was alles sie gerne __________________________________________________ 6
Dieses Feuersteinwerkzeug gehört zu den kostbarsten Funden aus jener Zeit. Unter den Archäologen ist es wegen seiner Form als das »Lorbeerblatt« bekannt.
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entdecken möchten. Ihre allergrößte Sehnsucht gipfelt darin, so ein gefundenes Kohlenstück möge noch glimmen, damit man ein knisterndes Feuer anfachen könne! »Ach, Feuer …!« seufzen sie. »Was da?« fragt Stoß plötzlich die kleine Fröscherl, die neben ihm sitzt. Das Mädel spielt unausgesetzt mit etwas, und jetzt, als auf einen Augenblick dem Licht vom Höhleneingang her durch keine dazwischentretende Menschengestalt der Weg versperrt wird, glänzt das Ding in ihrer Hand geheimnisvoll auf! »Was hast du da?« wiederholt Stoß seine Frage, fordernder als zuvor. »Im Lehm gefunden!« sagt Fröscherl und birgt schnell die Hand hinter ihrem Rücken. Aber Stoß wirft das Mädel einfach um und bohrt die Knie in ihre Brust. »Zeig!« befiehlt er herrisch. Fröscherl gibt ihren Widerstand auf und läßt sich die Faust öffnen. Zu seiner Enttäuschung sieht Stoß nichts anderes darin als einen gelblichen Stein. Schon will er sich ärgerlich abwenden, da fällt abermals ein Lichtstrahl auf den Stein in Fröscherls Hand – und wieder zeigt sich das geheimnisvolle Gefunkel! Das gefällt Stoß, also nimmt er Fröscherl das Spielzeug kurzerhand weg. Er wird selber mit dem gelben, glänzenden Ding spielen – vielleicht wird er es auch an seinem Halsband tragen! »Hast es in meinem Lehm gefunden!« rechtfertigt er den Raub, und als Fröscherl eine Grimasse schneidet, bekommt sie einen Rippenstoß. »Stoß ein Stück – Fröscherl ein Stück!« schlägt der Bub schließlich zur Versöhnung vor; er ist bereit, mit ihr zu teilen. Dazu kitzelt er Fröscherl unter der Achsel – und sie sind wieder gut. Stoß nimmt aus einem Spalt in der Höhlenwand einen dort versteckten Feuersteinabfall. Er will daran lernen, Messer abzuspalten, und jetzt kann er ihn zum Zerschlagen des glänzenden 111
Steins verwenden. Er probiert zuerst, wie hart dieser ist, bevor er richtig zuschlägt, und klopft also mit dem Feuerstein auf den gelben Stein. Da – oh! – ein leuchtender Funke fliegt in hellem Bogen auf und jagt durch das Dunkel! Stoß schlägt noch einmal – wieder eine leuchtende Funkenbahn! Jetzt schlägt er fieberhaft schnell, von dem glänzenden Feuerwerk gefesselt – und Funken stieben pfeilschnell durch die dunkle Höhle! Den essenden Jägern bleibt der Bissen im Munde stecken, ganz aufgeregt stürzen sie herbei und schauen wie gebannt auf Stoß' Hände, die nur so flimmern, wie sie aus dem Feurigen Stein7 die fliegenden Funken schlagen. Ein Feuriger Stein! Sie haben einen Feurigen Stein! Mit einem Feurigen Stein hat einst Grauer Wolf, der große Häuptling, der Sippe neues Feuer gegeben – vielleicht wird es auch diesmal glücken! Vielleicht wird es nun wieder Feuer geben! Die Jäger schreien wie verrückt, sie jauchzen, tanzen, daß sie mit den Köpfen gegen die Höhlendecke stoßen, trampeln und klatschen sich auf die Schenkel! »Stoß, da her!« ruft Zottel den Buben zum Eingang und legt ein wenig trockenes Moos auf den Boden. Stoß schlägt auf den Stein, aber die Hände zittern ihm. Da nimmt Zottel den Feuerstein und den Feurigen Stein und hämmert los, daß die Funken sprühen! Nach einer Weile steigt aus dem Moos ein kleines Rauchwölkchen, das im Funkenregen zusehends größer wird. Atemlose Spannung herrscht ringsum. Zottel legt die Steine weg, beugt den Kopf bis zur Erde und bläst leicht ins Moos. Das Rauchwölkchen schwankt, Zottel bläst vorsichtig weiter. Und nun – welch ein Anblick: im Moos zeigt sich die rote Glut! Zottel bläst abermals, und schau! – ein Flämmchen springt auf und züngelt lustig! __________________________________________________ 7
Eisenkies, Pyrit.
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»Feuer! Feuer!« schreien die Jäger, daß die Höhle erzittert, und tanzen noch verrückter als zuvor. Die Sippe rast vor Freude über das gefundene Feuer. Stoß und Zottel legen vorsichtig einige durch den Wind in die Höhle gewehte trockene Blätter auf das Feuerlein. Hase und Uhu laufen hinaus, um irgendwo unter den Felsen einige trockene Zweige zu sammeln, und kommen alsbald mit einer Handvoll trockenem Gras und ein paar Zweigen zurück. Die ganze Sippe schaut mit klopfendem Herzen zu: Wird es fangen? Und als schließlich eine Rauchsäule emporsteigt und die Flammen herausschlagen, schallt die Höhle vor Jubel. Die Sippe hat Feuer! Hoch das Feuer! Das Holz ist naß und qualmt sehr – aber die überglücklichen Bewohner der Höhle beachten es kaum. Bald, wenn sie getrocknetes Holz haben werden, wird das Feuer fast gar nicht mehr qualmen; heute opfern sie gern alle Knochen, die sie vorrätig haben, um mit ihnen das kostbare Feuer zu nähren. Oh, es soll gut gefüttert und gehegt werden, es muß fürderhin immer bei der Sippe bleiben! Wie wohl die so lange entbehrte Wärme tut! Und nun wird es immer so warm und behaglich sein, und man wird Licht haben, und man wird wieder gebratenes Fleisch essen, und kein Untier wird sich jemals wieder in die Höhle wagen – so mächtig, so gewaltig ist das Feuer! Stoß hockt vor dem knisternden Feuer, als dessen Hüter die ganze Sippe ihn anerkennt – ist es doch vor allem sein Verdienst, daß sie diesen kostbarsten aller Schätze wieder ihr eigen nennen kann. Mit dem Stock ordnet er die brennenden Scheite, ab und zu wirft er den Flammen neue Nahrung zu. Er sieht und hört nicht, was rings um ihn geschieht; gebannt schaut er in die Glut. Er ist wunschlos glücklich.
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Winter Auf den kurzen Herbst folgt ein strenger Winter. Das Wild ist in die Löcher gekrochen, und nur der Hunger treibt es manchmal in den Schnee hinaus. Die Kinder haben das Herumstreifen durch die Umgebung längst aufgeben müssen, das unwirtliche Frostwetter hält sie in der Höhle, die sie nur an den seltenen Schönwettertagen zu verlassen wagen. Ja, in der Höhle ist es behaglich und warm. Das Feuer, das kostbare Feuer spendet reichen Segen. Unwiderstehlich zieht es die Sippe in seinen Zauberkreis; Tag und Nacht lodert es, anheimelnd knistern die brennenden Scheite und versperren dem Frost den Eintritt. Draußen aber herrscht grimmige Kälte. Die hungrigen Wölfe kommen oft sehr nahe an die Höhle heran. Mit jedem Tag werden sie frecher und zudringlicher und lassen sich nun nicht mehr wie im Sommer durch Schreie und Steinwürfe verjagen. Den kleinen Käferl, den Liebling der ganzen Sippe, haben sie neulich sehr erschreckt, als der Bub, ein paar Schritte von der Höhle entfernt auf einem Stein sitzend, das Mark aus einem zerschlagenen Knochen kratzte. Ein frecher Wolf riß ihm den Knochen aus der Hand und verletzte ihm dabei die Finger. Der Bub kreischte, daß die ganze Sippe aus der Höhle herausstürzte. Einige Jäger liefen dem waghalsigen Wolf nach, konnten ihn aber nicht mehr einholen. Lange schimpften sie hinter ihm drein – so lange, wie Käferl weinte. Und gestern kam es zu einem besonders bösen Abenteuer: Die Kinder waren um Holz ausgegangen, und als sie schon auf dem Rückweg waren, kam ein ganzes Rudel Wölfe herbeigelaufen und begleitete sie. Wenn ein Kind nur ein wenig zurückblieb, gingen die Wölfe schon auf den Nachzügler los! Es wurde ein Heimweg voll Angst und Bangen. Die Kinder weinten und liefen furchtsam hinter Fröscherl her, die die Spitze des 115
Trupps bildete. An den Flanken der Kinderschar liefen die größeren Buben: Stoß, Eichhorn, Schwärzel und Spürnas. Sie hatten sich mit dicken Holzknüppeln bewaffnet und versuchten unermüdlich, die gierigen Wölfe zu verscheuchen. So mancher Stockhieb traf einen Wolf wuchtig über die Schnauze, aber auf die Dauer ließen sich die ausgehungerten Raubtiere nicht abhalten. Immer näher kamen sie heran, angriffsbereit und mit gefletschten Zähnen. Die Knüppel der Buben schreckten sie nicht mehr. Die Mädchen schrien, als ob die Wölfe sie schon erwischt hätten. Die ganze Schar blieb stehen. Die angsterfüllten kleinen Kinder duckten sich wie die Rebhühner in den Schnee und versteckten ihre Köpfe. Sie zitterten, daß ihre Zähne klapperten, und ließen sich nicht zum Weitergehen bewegen. Stoß schimpfte sie feige Hasen und unbewegliche Klötze, aber die Kleinen waren gelähmt vor Angst und rührten sich nicht mehr von der Stelle – so, als warteten sie nur mehr darauf, daß die bösen Wölfe sie zerreißen. Auch die Wölfe waren stehengeblieben. Aus den halboffenen Mäulern hingen lüstern die roten Zungen. Die Augen glänzten begehrlich, die mageren Flanken bebten. Aber noch griffen sie nicht an, und die Kinder faßten doch wieder einigermaßen Mut. Fröscherl stieß wieder ein Stück vor, und die Kinder liefen hinter ihr her, die Buben zu beiden Seiten. Aber sie kamen nicht weit. Die Wölfe nahmen sofort die Verfolgung auf und holten sie bald ein. Und diesmal umzingelten sie die Kinderschar von allen Seiten, setzten sich dann auf ihre Hinterteile und starrten bewegungslos auf die verängstigten Kinder – auf ihre sichere Beute. Einer der Wölfe – wahrscheinlich der Führer des Rudels – sperrte den Rachen weit auf und gähnte mit herausgestreckter Zunge. Die Kinder schüttelten sich vor Grauen. Der Wolf erhob sich, schlich geduckt bis dicht an die Kinder heran und erwischte 116
ein kleines Mädel bei der Hand. Das Mädel hatte Fäustlinge aus Renntierfell an; als nun der Wolf in die Hand beißen wollte, riß er den einen Fäustling, der durch einen Riemen mit dem zweiten verbunden war, herunter, und als er heftig daran zerrte, riß der Riemen die überraschte Kleine zu Boden. Schon stürzte der Wolf auf das hilflos im Schnee liegende Kind los – aber da bekam er den Prügel des wachsamen Spürnas zwischen die Ohren! Der Wolf heulte auf und schnappte nach dem Stock, aber schon traf ihn ein zweiter Schlag: diesmal war es Eichhorn, der mit ganzer Kraft dem Angreifer auf den Schädel schlug! Der Wolf setzte hinter einen Strauch, und Eichhorn drosch auf die kahlen Zweige los, um den wilden Angreifer vollends zu verjagen; der floh jedoch nicht, sondern schnappte im Gegenteil wütend nach dem Stock und riß ihn dem Buben aus der Hand, zerrte ihn durch den Schnee und stellte sich schließlich mit der Vorderpfote darauf. Der Bub wollte sich nach dem Stock bücken, aber der Wolf knurrte drohend und fletschte die Zähne, also richtete sich Eichhorn schnell wieder auf und 117
stand reglos da. Desgleichen der Wolf. So standen sie einander bewegungslos gegenüber. Aber der tapfere Eichhorn verfolgte damit einen schlauen Plan: Nach etlichen spannungsreichen Minuten der völligen Reglosigkeit machte er plötzlich eine Bewegung, als wollte er die Hand nach dem Stock ausstrecken; richtig sprang der Wolf zur Abwehr hoch – und in diesem Augenblick stieß Eichhorn mit dem Fuß den Stock zur Seite, sprang ihm nach, und noch ehe der Wolf die Lage erfassen konnte, hatte der geschickte Bub bereits wieder seine Waffe in der Hand! Und schon sauste sie auf den Rücken des Widersachers nieder! Der Wolf klemmte die Rute zwischen die Hinterbeine und schlich davon; er hatte genug. Dieser freche Angriff des Wolfes und das Weinen des kleinen Mädchens, dessen Hand heftig blutete, steigerten noch das Entsetzen der Kinder. Sie wollten davonlaufen, aber die Wölfe erlaubten es nicht; kaum schickte sich ein Kind an, die Schar zu verlassen, erhoben sich die vierbeinigen Räuber unter drohendem Geknurr und griffen es an. Erschrocken zog sich dann das Kind zurück, und die Wölfe setzten sich wieder auf ihre Schwänze. Und dann erhob sich plötzlich die ganze Wolfsmeute und kam geduckt und zähnefletschend auf die Kinder zu. Nur die Knüppel der kampfbereiten Buben hielten sie noch davon ab, den Angriff zu wagen – aber wie lange noch? Stoß riß sich die Bibermütze vom Kopf und warf sie den frechsten Wölfen zu; und die begannen sofort darum zu raufen. »Eichhorn – die Mütze!« rief Stoß dem treuen Freund zu. Eichhorn warf ohne zu zögern auch seine Mütze unter die Wölfe. »Lauf!« forderte Stoß den Kameraden auf, da er sah, daß die Tiere nun abgelenkt waren. »Zur Höhle – um Hilfe!« Beide Buben schossen los wie die Pfeile, um Hilfe zu holen. So schnell flitzten sie davon, daß die Wölfe erst nach einer Weile völliger Überrumplung die Verfolgung aufnahmen. 118
In der Kindergruppe entstand entsetztes Geschrei und Gejammer. Die Kinder glaubten, die Buben hätten sie im Stich gelassen. Sie brüllten aus voller Kehle, daß es weithin durch den Wald zu hören war. Die beiden Buben waren gute Läufer, aber die Wölfe holten sie trotzdem bald ein. Es half nichts, daß die Buben mit den Stöcken um sich schlugen – die Wölfe schnappten nach ihren Beinen. Wehe, wenn es einem Angreifer gelingen sollte, sich ordentlich in seine Beute zu verheißen! Beide Buben bluteten schon, und eben schlug ein Wolf seine Zähne in das Fell, das Eichhorn um den Leib trug, und ließ nicht wieder los. Der Bub warf geistesgegenwärtig das Fell ab und lief nackt weiter, nur mit den Hasenfellen an den Füßen bekleidet. Die Wölfe balgten sich eine Weile um Eichhorns Fellkleid, und indessen konnten die Buben ein Stück weiterlaufen. Aber bald waren die Wölfe wieder bei ihnen und griffen wütend an. Die abgehetzten Buben stellten sich mit dem Rücken gegen den Felsen und wehrten sich tapfer. Sie erkannten, daß sie sich bereits an der Felswand befanden, die zur Höhle hinaufführte, und schrien um Hilfe. Vor der Höhle stand der Jäger Hase als aufmerksamer Wachtposten. Schon mehrmals hatte der Wind ihm Laute zugetragen, die offenbar von den Kindern herrührten, aber er hatte gedacht, die Kleinen lärmten eben übermütig, weil sie beim Holzklauben viel Erfolg gehabt hatten und nun fröhlich den Heimweg antraten. Nun aber erklangen die Rufe ganz nahe, und es war klar, daß es sich nicht um Freudenlärm, sondern um verzweifelte Hilferufe handelte! Hase stürzte in die Höhle und alarmierte die Jäger: Am Fuße der Felswand droht den Kinder böse Gefahr! Und schon eilten die Männer aus der Höhle und stürzten wie eine Lawine den Felsen hinunter. Augenblicke später waren 119
sie bei den Buben und warfen sich auf die Wölfe. Einen erschlugen sie, die übrigen flüchteten. »Lauft schnell – die Kinder!« stieß der erschöpfte Stoß hervor, dann sank er neben Eichhorn in den Schnee. Die Jäger begriffen, daß die übrigen Kinder nicht weit von hier in tödlicher Gefahr schweben mußten, und liefen in größter Eile den Spuren nach. Sie kamen im allerletzten Augenblick an. Die Wölfe eröffneten eben den Angriff auf die Kinderschar, und die ermatteten Verteidiger wehrten sich nur mehr schwach. Nun aber stürzten sich die Jäger in den Kampf, und die wuchtigen Schläge ihrer Steinbeile kühlten bald die Angriffslust der hungrigen Wölfe, die nun schleunigst das Weite suchten. Die Kinder waren gerettet!
Und nun dürfen die Kinder auf Weisung Starrkopfs nicht mehr allein in den Wald. So bleiben sie also in der Höhle und ersinnen immer neue Spiele. Die Mädchen spielen mit Puppen aus Holz oder aus Tierhaut, die Buben formen am liebsten allerlei Tiere aus Lehm. Um den Lehm brauchen sie nicht weit zu gehen, er ist in der Höhle reichlich vorhanden. Die Kleider machen sie sich nicht schmutzig beim Spiel – in der Höhle sind ja alle Kinder nackt. Nur wenn die Jäger sie hinausführen, hüllen sie sich in warme Felle, ziehen eine Pelzmütze an, und um die Füße binden sie kleine Hasenfelle. Übrigens kleiden sich auch die Erwachsenen nicht anders. In einer Ecke hockt Stoß und formt Wölfe aus Lehm; er hat schon eine ganze Reihe wirklich gut gelungener Figuren rund um sich aufgestellt. Das Mädchen Fröscherl schaut ihm aufmerksam bei der Arbeit zu – sie bewundert den geschickten Buben; wie gerne würde sie mit den schönen Lehmtieren spielen! »Gib einen Wolf!« sagt Fröscherl schließlich zu Stoß. 120
Der junge Künstler betrachtet stolz seine Erzeugnisse. Er zögert eine Weile, dann greift er nach einem der Lehmtiere und stellt es beiseite – er gibt es nicht unmittelbar dem Mädel, denn das wär erniedrigend für einen großen Buben. Fröscherl packt freudig die Figur und stellt sie in eine kleine Vertiefung der buckligen Höhlenwand. »Noch einen Wolf!« bettelt das Mädchen dann. Stoß überläßt ihr eine zweite Figur. Fröscherl stellt auch sie in die Nische. Die beiden Wölflein sitzen da wie vor ihren Löchern. Sie sind im Schein des nahen Feuers schön anzusehen. »Noch einen Wolf!« verlangt das Mädchen wieder. Stoß lehnt ab: »Du hast zwei!« »Ich hab nicht!« widerspricht Fröscherl. »Du hast! – Da einer, da noch einer. Das sind zwei Wölfe.« »Was sagst du – zwei Wölfe!« wehrt sich das Mädel, das nie zählen gelernt hat. »Da ein Wolf, und da – auch ein Wolf! Einer und einer! Nirgends zwei Wölfe!« Stoß kniet dicht an der Wand nieder und zeigt dem unverständigen Mädel anschaulich: »Ein Wolf – und noch ein Wolf – sind zwei Wölfe!« »Hihihi, Stoß, Fröscherl ist nicht dumm! Fröscherl sieht einen Wolf und da auch einen Wolf ...« »Na, Fröscherl, das sind doch zwei Wölfe!« sagt Stoß siegesbewußt. »Aber nein, du siehst schlecht!« beharrt das Mädel. »Das sind nicht zwei Wölfe – das ist ein Wolf und wieder ein Wolf!« »Das sind zwei Wölfe!« erklärt Stoß entschieden. Er hat einen guten Kopf und kann schon längst zählen. Bis drei kann er ohne Fehler zusammenzählen und wegzählen, und in diesen Wintertagen hat er von Wisent sogar die Zahlenreihe bis fünf gelernt. Das kann in der Sippe außer Wisent nur noch der Führer Starrkopf; nicht einmal der alte Zottel bringt es immer 121
richtig zusammen und muß es erst mehrmals versuchen. Was mehr ist als fünf, ist »viel«. Die übrigen Jäger, die nur bis drei zählen können, bezeichnen als »viel« alles, was mehr als drei ist. Oft staunen jetzt die Jäger über Stoß' Gelehrsamkeit, wenn er ihnen vorzählen kann, wie viele Finger sie ihm zeigen oder wie viele Speere sie ihm vorlegen. Darum läßt er sich auch jetzt von Fröscherl nichts vormachen und behauptet fest, daß eins und eins zwei ist! Fröscherl hat sich nie mit Rechnen geplagt und will jetzt den Streit damit beenden, daß sie erhitzt schreit: »Dummer Bub! Das ist ein Wolf!« – und einen Lehmklumpen nach dem ersten Wolf wirft – »Und das ist noch ein Wolf!« – und auch auf den zweiten zielt. »Das sind zwei!« beharrt Stoß. »Es sind nicht und sind nicht!« schreit Fröscherl und schlägt mit den Händen auf den an der Wand klebenden Lehm. Stoß blickt überlegen auf sie herunter: »Ein Rentier und ein Rentier sind zwei Rentiere, ein Bär und ein Bär sind zwei –« »Nein!« schreit Fröscherl. »Hör auf, das ist für Fröscherl zu schwer!« Sie hält sich mit den Händen die Ohren zu. Der laute Schrei hat Eichhorn angelockt. Eben will er aus Freundespflicht Stoß unterstützen, da bemerkt er den von Fröscherls Fäusten zerquetschten Lehm an der Wand und lacht plötzlich: »Der Bison ganz plattgedrückt!' »Wo Bison?« fragt Stoß verwundert. »Da Bison!« sagt Eichhorn. Er hebt eine angebrannte Rute und zeichnet damit dem Lehmklumpen an der Wand zwei Hörner. Wirklich – auch Stoß erkennt in dem zufälligen Fleck einen Bison. Sofort zeichnet er mit einem angekohlten Holzstück dem Bison noch einen Schwanz. 122
»Und da ein Auge!« vervollkommnet Eichhorn das Bild. »Und da der Speer!« ruft Fröscherl und sticht in den Bison ein dünnes Holz. »Kinder – ein Bison!« schreit sie. Die Kinder laufen zusammen; der Bison an der Wand gefällt ihnen ganz besonders gut. Sofort wird die neue Erfindung – das Malen an der Wand – von allen nachgemacht! Stoß und Eichhorn sprechen nicht viel, aber sie malen mit leidenschaftlichem Eifer unter Verwendung von Lehm und Kohle alle Tiere, die sie kennen, an die Wand. Die übrigen Kinder machen es ihnen nach, aber ihr Interesse hält nicht lange an, 123
denn mit Lehm läßt sich nur schlecht malen: er bröckelt allzu leicht wieder ab. Stoß und Eichhorn hingegen lassen sich nicht entmutigen und sind eifrig daran, ihre Erfindung zu vervollkommnen. Sie holen von draußen ein bißchen Schnee und befeuchten damit den Lehm. Gleich geht das Malen besser von der Hand, und der Lehm fällt nicht mehr ab! Stoß kratzt mit der Hand an der angerußten Wand nahe der Feuerstelle, so kann er nun eine Weile mit seinen Fingern zeichnen – so lange Ruß drauf ist. Dann braucht er neuen Ruß; und diesmal schwärzt er sich nicht einfach die Finger, sondern scharrt ein ganzes Häufchen auf einen schaufelförmigen Knochen, um stets Vorrat bei der Hand zu haben. Bald bemerkt er, daß es sich besonders schön mit solchem Ruß malen läßt, auf den vom bratenden Fleisch ein wenig Fett gespritzt ist. Er kratzt solchen fetten Ruß von der Wand und mischt, als er davon nicht genug hat, absichtlich ein bißchen Fett in den Ruß. Eichhorn bringt eine weitere Verbesserung zuwege, indem er nun statt der Finger ein an ein Hölzchen gebundenes Stückchen Dachsfell in die fettige Farbe taucht; er malt damit wie mit einem Pinsel. Und jetzt, da den beiden Buben wirklich schöne Bilder gelingen, erwecken sie auch die Aufmerksamkeit der großen Jäger. Sie kommen herbei und staunen, und viele von ihnen wagen selber einen Versuch, mit der schönen schwarzen Farbe einen Bären oder ein Mammut zu malen. Stoß nützt für seine Zeichnungen klug die natürlichen Formen der Felswand aus. Er betrachtet eine Weile die bucklige und rissige Wand und sagt dann: »Da Mammut!« Die Risse im Kalkstein benützt er als Umrisse des Rückens und eine Ausbuchtung der Wand als Körper. Dann zeichnet er dem neuen Mammut einen gebogenen Rüssel, vier Beine und mächtige Stoßzähne – und alle bewundern das Werk des Buben. 124
In einem Winkel der Höhle entsteht eine Rauferei unter den kleinen Kindern. Um irgend etwas balgen sich die Knirpse! »Ich!« – »Ich!« – »Ich!« Sie haben den gut erhaltenen Unterkiefer eines Bären ausgegraben, und jetzt streiten sie, wem er gehören soll. Da geht Starrkopf zu ihnen hin, nimmt ihnen den Knochen einfach weg und läßt sie weiterraufen. Einen Bärenkiefer kann man als Hammer und auch als Keil beim Zerschlagen von Knochen verwenden; und derlei Kostbarkeiten sind kein Kinderspielzeug! Die Frauen nähen beim Feuer Wolfsfelle zusammen. Sie hätten gar nicht darauf geachtet, daß es bereits dämmert, wenn nicht Weide, die älteste unter ihnen, über ihre schmerzenden Augen geklagt hätte. Im Winter vergeht der Tag schnell.
Der Löwe Der Winter wütet diesmal besonders arg. Schon seit Tagen tobt ein furchtbares Unwetter, Schneestürme brausen über das Land. An Jagd ist unter diesen Umständen natürlich nicht zu denken, und der Hunger weilt bei der Höhlensippe zu Gast. Es ist eine schwere Zeit. Und dann bricht eines Tages doch wieder die matte Wintersonne durch das Sturmgewölk, endlich kann man sich wieder aus der Höhle wagen, und sogleich rüsten sich die Jäger für einen Beutezug, um der Sippe die schon dringend benötigte Nahrung herbeizuschaffen. Aber die Jagd wird nicht leicht sein, denn im tiefen Schnee kommt man nur mühsam vorwärts, und das Wild hat sich vor dem Frost verkrochen und wird nur schwer aufzustöbern sein. Die Jäger beschließen, in zwei Trupps auszuziehen. Wisent, 125
Wolfsklaue, Zottel, Hase und Uhu sollen hinauf auf den Hügelkamm und dort nach Beute ausschauen; Raufbold, Schnellfuß, Marder, Ukmas und Späher werden unten in der Schlucht ihr Glück versuchen. Die übrigen Männer bleiben zum Schutz der Frauen und der Kinder in der Höhle. Wisents Jägertrupp findet anfänglich keinerlei Wildspuren, gänzlich unberührt liegt die Schneedecke vor ihnen. Aber nach langer Wanderung stoßen sie doch auf die Fährte eines Hasen – das ist zwar wenig, aber immerhin besser als nichts. Wer Hunger hat, darf nicht wählerisch sein. Zottel und Uhu gehen der Spur nach, die übrigen drei Jäger setzen die Suche nach ergiebigerer Beute fort. Sie überqueren zwei Täler und gelangen schließlich auf eine weite Hochfläche. Und dort finden sie die Spuren mehrerer Rentiere! Das ist etwas! Oh, wenn es ihnen gelänge, ein Rentier zu erlegen! Die Spuren sind ganz frisch, noch nicht vom Wind verweht, also kann die kleine Herde nicht weit sein. Die drei Jäger 126
greifen rasch an ihre Zauberamulette, dann eilen sie den Spuren nach. Fast bis zu den Knien versinken sie im Schnee, manchmal sogar noch tiefer, nur unter Aufbietung all ihrer Kräfte kommen sie vorwärts. Aber sie arbeiten sich unermüdlich weiter – die Aussicht auf die reiche Beute spornt sie an. Die Spuren führen sie durch eine Schlucht, den Wald entlang, und dann eine Steinhalde hinauf. Und dann sehen sie in nicht allzugroßer Entfernung das Rudel der Rentiere! Die Tiere sind sichtlich ausgehungert; mit den Hufen und dem verästelten Geweih scharren sie im Schnee, um dürftige Flechten, Moos oder Gras zu finden. Wolfsklaue hat seinen Bogen und einige Pfeile mit – für den Fall, daß ihm zufällig ein Hase über den Weg laufen sollte; jetzt wird ihm der Bogen gute Dienste leisten! Wolfsklaue prüft den Wind und schleicht an die Herde heran. Wisent und Hase lauern versteckt hinter dem Gebüsch, zum Eingreifen bereit, falls die Rentiere etwa Wolfsklaue wittern und vor ihm flüchten sollten. 127
Lange warten die Jäger hinter dem Gestrüpp, von dem nur der oberste Teil aus der Schneedecke aufragt. Noch scharren die Rentiere nichtsahnend nach Flechten und Moos – doch plötzlich richten sie sich auf, zögern einen Augenblick und setzen sodann in wilder Hast über das Plateau – geradewegs auf Wisent und Hase zu. Einem der Tiere steckt ein Pfeil im Rücken. Erst knapp vor den Jägern verrät ihnen ihr scharfer Geruchssinn die Anwesenheit der Menschen. Sofort biegen sie seitwärts ab, aber da springen schon die beiden Jäger auf und schleudern ihre Speere. Wisents Speer bohrt sich einem Renntier tief in den Hals, Hases Waffe streift das Geweih eines zweiten und fällt dann harmlos in den Schnee. Der beschämte Hase bleibt eine Weile verlegen stehen und holt dann verdrossen seinen Speer. Wisent tröstet ihn: »Guter Wurf – vor den Kopf. Aber Rentier sehr zurückgezuckt!« Von weitem ruft Wolfsklaue und eilt zu ihnen. Aus seinen Rufen klingt die Freude über seinen Erfolg. »Pfeil hat getroffen!« lobt Wisent, als der abgehetzte Jäger herankommt. Sofort machen sich die drei Männer an die Verfolgung der Herde. Die Blutspuren der beiden verwundeten Tiere sind deutlich erkennbar und weisen den Weg. Bald ist die Herde wieder gesichtet, und die Jäger beobachten, daß eines der beiden verwundeten Rentiere mehr und mehr hinter den anderen zurückbleibt. Sie überqueren eine Felsschlucht und haben das Tier bald eingeholt. Von verschiedenen Seiten nähern sie sich nun der Beute – sie wollen dem Rentier keine Möglichkeit zum Entwischen geben. Das Tier wankt, sein Kopf ist tief zu Boden gesenkt, aus dem Hals ragt der tiefsitzende Speer; es hat schon viel Blut verloren. Die Jäger werfen sich nun auf das verwundete Rentier und erschlagen es. Aus der Halswunde fließt warmes Blut; die Jäger 128
schlürfen es gierig und genießen die Labung nach der beschwerlichen Verfolgung. Eine Weile rasten sie. Dann entscheidet Wisent: »Rentier bleibt hier – wir noch dem zweiten nach!« Wolfsklaue und Hase stimmen kopfnickend zu. Das erlegte Rentier lassen sie einstweilen hier liegen; nun geht es dem zweiten nach, das, obzwar ebenfalls verwundet, doch noch mehr Kräfte zur Flucht hat. Es dürfte also nur leicht verwundet sein – aber trotzdem wird es seinem Schicksal nicht entgehen: die Blutspuren im Schnee künden eindeutig vom Schwinden seiner Lebenskraft, und bald wird es, wie sein Vorgänger, hinter der Herde zurückbleiben und erschlagen werden. Zwei Rentiere – eine schöne Beute! Die Sippe wird sich freuen!
Indessen durchstreift der zweite Jägertrupp unter Raufbolds Führung die Waldgebiete in den Tälern, ohne jedoch Erfolg zu haben. Endlich finden die Jäger die Fährte eines Vielfraßes: Er ist durch den Schnee geschlichen – da ist er gewiß hinter einer Beute her! Die Fährte wird die Männer also gut führen! Sie gehen dem Vielfraß nach, und tatsächlich, es dauert nicht lange, da bemerken sie die Fährten einer kleinen Rentierherde, darunter auch Blutspuren von zwei offenbar verwundeten Tieren. Da muß Beute nahe sein! Und schau – Menschenspuren! Drei Jäger haben da die Rentiere verfolgt. Das könnten die Spuren Wisents und seiner Gefährten sein – aber die waren doch mehr als drei ... Raufbold zählt laut auf, wer alles mit Wisent gegangen ist: Wolfsklaue, Hase, Zottel, Uhu – das sind ja mehr Füße, als hier diese Spuren anzeigen! Raufbold ist sich seiner Sache aller129
dings nicht ganz sicher, er kann ja nicht gut bis fünf zählen; also stellt er sich zu den Spuren, wo sie gut erkennbar sind, und zeigt mit dem Speer darauf: »Da Wisent, da Wolfsklaue, da Hase«, – und für Zottel und für Uhu bleibt keine Spur mehr übrig. »Das sind nicht die Unseren«, stellen die Jäger übereinstimmend fest und machen sich auf, die fremden Jäger zu verfolgen, die sich unterstanden haben, hier zu jagen. Raufbolds Jäger gehen den Spuren nach, erst durch die Felsschlucht und dann aufwärts auf das Hochplateau. Und oben sehen sie nicht weit vor sich ein totes Rentier im Schnee liegen. Schon wollen sie jubelnd hinauflaufen, da wirft sich Marder, der vorderste von ihnen, plötzlich in den Schnee. Die übrigen sind dadurch gewarnt, daß etwas nicht in Ordnung ist; geduckt schleichen sie an Marder heran. Und dessen Augen sind weit vor Entsetzen! »Bär oder Bison – etwas sehr Großes!« flüstert er. Die Jäger äugen ungläubig über die Schneefläche – und wirklich, dort drüben, unweit von dem Rentier, liegt zusammengekauert irgendein riesiges Tier! Es ist kein Felsblock, wie sie an weitem geglaubt haben – es hat einen zottigen Kopf wie ein Bär, eine Mähne wie ein Bison, Hörner sind nicht zu sehen ... Was ist das? Schnellfuß sagt sorglos: »Ob Bär, ob Bison – liegt erschlagen. Ich gehe!« Und schon will er vorwärts. Aber Marder zieht ihn nieder und flüstert: »Nicht erschlagen – lebt! Achtung!« Auch die übrigen Jäger sind für größte Vorsicht und tadeln Schnellfuß für seine leichtsinnige Waghalsigkeit. »Du – Bogen – geh – Pfeil!« fordert Raufbold Ukmas auf, durch einen Pfeilschuß herauszufinden, ob das große Tier tatsächlich tot sei. Ukmas zögert eine Weile, aber dann faßt er Mut und 130
schleicht von Felsblock zu Felsblock vorwärts. Die übrigen Jäger warten in Deckung ab, was nun kommen mag. Ukmas begibt sich hinter einen Strauch, der ihn vor dem Feind einigermaßen verbirgt; nun legt er den Pfeil an die Sehne, richtet sich ein wenig auf, spannt kräftig den Bogen – und schnellt den Pfeil ab. Das riesige Tier springt von seinem Schneelager auf. »Ein Löwe!« stoßen die Jäger schreckerfüllt hervor und fühlen, wie ihnen die Glieder erstarren und der Frost über den Rücken läuft. Das furchtbare Raubtier, gegen das jeder Kampf vergeblich wäre, steht hochaufgerichtet da und schlägt mit dem Schweif den Schnee zu wildem Gestöber auf. Der Höhlenlöwe brüllt, daß es wie Donner über das weite Land schallt. Worauf wird er sich jetzt werfen? Die entsetzten Jäger zittern in maßloser Angst; wenn der Löwe sie bemerkt, sind sie alle verloren! Aber – was ist das dort oben? Irgendwelche drei Jäger nähern sich vom Kamm der Anhöhe her. Sie schleppen ein Rentier hinter sich her, aber jetzt, da das Gebrüll des Löwen donnert, lassen sie die Beute liegen und fliehen in tödlicher Angst. »Das sind die fremden Jäger!« denken Raufbolds Gefährten und schauen dann aufgeregt auf den Löwen, der sich, durch den Pfeil aufgebracht, mehrmals um die eigene Achse dreht, um den Angreifer zu suchen. Da bemerkt er jene drei Jäger! Er brüllt auf, duckt sich zum Sprung – und schon jagt er in mächtigen Sätzen den fliehenden Männern nach. »Wehe ihnen!« denken die Jäger um Raufbold und wagen die Köpfe zu heben. Der Löwe hat sie also in ihrem Versteck nicht bemerkt, aber die drei unbekannten Männer werden es büßen – wehe ihnen! Der Löwe wird sie zerreißen ... 131
Die Unbekannten hasten zwischen den Felsen davon. Ach, wie verzweifelt sie laufen! Sie fallen, erheben sich mühselig wieder, hetzen weiter in hoffnungsloser Flucht. Es gibt keine Rettung für sie: der Löwe wird sie binnen kurzem eingeholt haben, und dann ... Gebannt starrt Raufbolds Schar dem riesigen Raubtier nach, bis es, wenige Augenblicke nach seinen Opfern, hinter einem Felsvorsprung den Augen der entsetzten Beobachter entschwindet. Die Jäger atmen auf. Sie sind glücklich einer schrecklichen Gefahr entronnen. Maßlos erleichtert beginnen sie einander nun zu erklären, was sich eben zugetragen hat. Der Löwe dürfte sich an dem Rentier sattgefressen haben und dann eingeschlafen sein – - wie gut, daß sie sich ihm nicht gleich genähert haben! Liebevoll streicheln sie die Amulette, die sie am Halsband tragen. Es ist still, nichts regt sich auf der weiten Schneefläche. Die Jäger klettern furchtsam aus ihrem Versteck und wagen sich an das tote Rentier heran. Es ist ziemlich zerrissen, der Bauch ist ganz zerfetzt, aber Marder meint, daß auch nach der Löwenmahlzeit noch genügend für die Sippe übriggeblieben ist, und packt das Rentier an den Hinterbeinen. Auch die übrigen Jäger legen Hand an; sie werden das Tier über den Schnee zum Lager schleifen. Immer wieder schauen sie sich unsicher um – wenn der Löwe jetzt zurückkäme und auf sie losginge! Ein schrecklicher Gedanke! 132
Sie eilen heimwärts. Als sie schon in der nahen Schlucht sind, erinnert sich Schnellfuß: »Noch ein Rentier dort!« Er weist mit der Hand zurück. »Hol es dir!« sagt Raufbold höhnisch. Keiner zeigt Lust, um das zweite Rentier zurückzugehen, das die fremden Jäger auf dem Plateau zurückgelassen haben. Nicht für eine ganze Rentierherde würden sie an den schrecklichen Ort zurückgehen – der Löwe könnte wiederkommen! Dieser Gedanke treibt sie zu neuer Eile. Gegen Abend erreichen sie glücklich die Höhle. Zottel und Uhu sind längst zurück und weiden schon einen Hasen aus. Wisent und seine beiden Gefährten streifen wohl noch irgendwo durch die Wälder ... Eine klare, frostige Nacht bricht an. In der Höhle, beim wärmenden Feuer, erzählen Raufbold, Schnellfuß, Ukmas, Späher und Marder in allen Einzelheiten von der abenteuerlichen Begegnung mit dem riesigen Höhlenlöwen. Im Licht der Flammen kann man anschaulich berichten, und die Sippe lauscht gespannt der Schilderung. Stoß und Eichhorn, die beiden Buben, sind die aufmerksamsten von allen; 133
ihre Augen fiebern vor Erregung, der Mund steht ihnen offen – aber trotz aller Bewunderung für die tapferen Jäger sind die beiden doch froh, daß der Löwe nicht ihnen begegnet ist. – Die Jäger unterhalten sich lange und essen lange. Das gebratene Rentierfleisch duftet, das Feuer wärmt herrlich. Draußen behängt der Nachtfrost Bäume und Sträucher mit weißem, glitzerndem Reif. Wisent, Wolfsklaue und Hase sind auch bei Morgengrauen noch nicht zurück. Wahrscheinlich sind sie bei der Jagd von der Dunkelheit überrascht worden; jetzt, im Licht des neuen Tages, werden sie bald heimkommen. Marder und Ukmas steigen auf einen Hügel und schauen dort lange nach allen Richtungen aus. Aber niemand naht der Höhle… Wo nur die drei geblieben sind? Sie sind gute, erfahrene Jäger, man braucht um sie nicht unnötig besorgt zu sein; was aber, wenn – Niemand in der Sippe will den Gedanken aufkommen lassen, daß den vermißten Jägern etwas zugestoßen sein könnte. Der junge Jäger Uhu nickt Stoß und Eichhorn zu. Mit einem Augenzwinkern fordert er sie auf, ihm zu folgen. Sie nehmen Waffen an sich und verlassen die Höhle. »Habt ihr gehört?« beginnt Uhu draußen. »Noch ein Rentier dort!« Die Buben nicken bedeutsam. Sie haben sofort verstanden, was Uhu vorhat, und der Plan gefällt ihnen. Sie haben beim Nachtmahl alle Einzelheiten über die Jagdfahrt Raufbolds erfahren, dessen Trupp nicht einmal den Löwen gefürchtet und ihm ein Rentier weggenommen hat. »Wir holen das zweite!« beschließen die jungen Jäger. Aus den Erzählungen am Lagerfeuer kennen sie genau den Weg, den sie zu gehen haben. Gutgelaunt stapfen sie durch den 134
Schnee, bergauf und bergab, über Berg und Tal. Der Weg ist lang und ermüdend. Nur gut, daß der Frost die Schneedecke hart und tragfähig gemacht hat. Endlich finden sie die Spuren der Rentierherde und der Jäger und bald darauf auch die zertrampelte Stelle, wo der blutige Schnee anzeigt, daß dort das tote Rentier gelegen ist. Sie erkennen auch die tiefen Spuren des großen Löwen. Schon diese Spuren sind furchterregend! Die Buben erschauern und blicken sich ängstlich um; aber nirgends gibt es ein Anzeichen von Gefahr, und nach einer Weile beruhigen sie sich. Der Löwe ist schon weit weg – man braucht sich nicht zu fürchten. Nach einer Weile entdecken die jungen Leute auch das zweite Rentier, das starr im Schnee liegt, so wie die fremden Jäger es hingeworfen haben. Die braucht man nicht mehr zu fürchten – der Löwe hat sie bestimmt alle zerrissen. Die jungen Jäger freuen sich über die leichte Beute. Sie halten nur kurze Rast und schicken sich dann zum Heimweg an; die Tage sind kurz, und es ist weit bis zur Höhle. Sie packen das Rentier an den steifen Beinen und wenden es auf die andere Seite, um es leichter über den Schnee schleifen zu können. Und da kommt plötzlich etwas zum Vorschein: die Waffe, die das Tier getötet hat. Sie steckt tief in der Flanke des Rentiers: Uhu beugt sich sofort vor und zieht sie heraus, denn Waffen sind kostbar. Freudig zeigt er den Buben seinen Fund. Es ist ein schön gearbeiteter Pfeil, die Spitze aus Feuerstein ist in einen kleinen Spalt eingesetzt, mit Harz gekittet und mit einem dünnen Faden aus der Rückensehne eines Hirsches sorgfältig gebunden. »Pfeil – Wolfsklaue!« ruft Stoß plötzlich, zu Tode erschrocken. Er hat Wolfsklaues Arbeit erkannt! Uhu und Eichhorn stehen wie betäubt. Entsetzt und wortlos schauen sie einander an. Das waren also keine fremden Jäger, die vor dem furchtbaren 135
Löwen geflohen sind, das waren Wisent, Wolfsklaue und Hase! Wie schrecklich – der Löwe hat die tapfersten Jäger der Sippe zerrissen! Immer wieder betrachten die jungen Jäger den Pfeil und hoffen verzweifelt, Stoß möge sich doch geirrt haben; aber jeder Zweifel ist ausgeschlossen – es ist Wolfsklaues Pfeil. Den jungen Jägern stehen die Augen voll Tränen. Grausam klar ist jetzt, warum die tapferen Männer nicht zurückgekommen sind ... Welch schlimme Nachricht werden sie in die Höhle bringen! Sie beschließen, noch auszukundschaften, wie die Unglücklichen zugrunde gegangen sind. Gewiß sind sie nicht weit gekommen, und ihre abgenagten Knochen liegen irgendwo in der Nähe im Schnee ... Uhu führt seine Gefährten weiter, den Fährten der Flüchtlinge nach. Deutlich haben sich die Fußspuren der Verfolgten in den Schnee geprägt – und auch die Abdrücke der mächtigen Taben des Löwen, des furchtbaren Feindes. Der Weg führt um einen schroffen Felsvorsprung herum, dann weiter in eine enge Schlucht, verfinstert von steil aufragenden Steinwänden. Aber plötzlich wird es licht zwischen den Felsen. Die Bäume hören auf, die schneebedeckten Sträucher hören auf, die Felsen hören auf – und auch die Erde hört auf ... Eine unermeßliche Tiefe tut sich zu Füßen der drei jungen Jäger auf, ein ungeheurer Abgrund klafft unter ihnen – gähnende, schier bodenlose Tiefe. Weit drüben ragt eine weiße Felswand auf, wie aus dem Inneren der Erde emporgewachsen – aber das ist schon eine andere Welt; nur ein Vogel könnte hinübergelangen. Bestürzt stehen die jungen Jäger vor diesem schrecklichen Absturz; die Spuren führen gerade in den Abgrund: die der Fliehenden wie auch die des Löwen. In der gähnenden Tiefe haben also die drei Jäger und der Löwe ihr Ende gefunden ... Die jungen Jäger zittern, und Stoß beginnen die Zähne zu 136
klappern. Schließlich aber faßt sich Uhu ein Herz und wagt sich näher an den Rand des Felssturzes vor. Seinem Beispiel folgend lassen sich nun auch die beiden Buben von der Neugier verlocken und kriechen auf allen vieren vor. Sie halten sich an schlanken Birkenstämmen fest und beugen sich über die bodenlose Tiefe. Schwindel erfaßt sie, sie müssen sich abwenden und die Augen schließen. Der Abgrund hat keinen Boden – wohin sind da Wisent, Wolfsklaue und Hase eigentlich gestürzt? Schließlich ist Stoß' Neugier abermals stärker als seine Angst. Er beugt sich wieder über die Tiefe und ruft laut. Sofort zuckt er zurück, als seine Stimme dröhnend zurückhallt. Auch Eichhorn und Uhu schreien nun in die Tiefe und horchen auf den dumpfen Widerhall. Angespannt lauschen sie. »Ho – ioh – iah!« schreien sie alle gemeinsam. Im Abgrund hallt ihre Stimme nach, prallt von den Felsen zurück und verebbt nur allmählich. Eine Weile herrscht tiefe Stille. Und dann … Die drei jungen Jäger zucken heftig zusammen: Von unten her kommt ein stöhnender Laut! Und wieder! Und wieder! Der Ton ist seltsam gefärbt, kraftlos und dünn – aber ganz gewiß eine menschliche Stimme. Wer ist dort? Abermals dringt das Stöhnen aus der Tiefe herauf. Uhu geht prüfend den Rand des Abgrundes entlang. Zwischen zwei Steinschwellen findet er schließlich genügend Halt und läßt sich von dort auf eine tiefergelegene Felsstufe hinunter, die aus der Steinwand vorstößt. Nur vorsichtig wagt er sich an den Rand der Felsplatte vor, um nicht deren Schneeüberhang unter sich zum Absturz zu bringen. Nun kommen auch die beiden Buben herunter und schieben sich behutsam bis zu Uhu vor. Sie sehen von hier aus zwar mehr als von oben, aber noch versperrt ihnen der Felswulst den geraden Blick nach unten. 137
In kühnem Entschluß legt sich Stoß platt auf den Bauch, bedeutet Uhu, ihn an den Waden festzuhalten, und schiebt sich weit, weit vor. Und jetzt reicht der waghalsige Bub mit dem Kopf bis über den Rand der Felsstufe, der Blick nach unten ist frei. Und schon schreit Stoß in höchster Aufregung: »Unsere – da sind sie!« Von unten hört man Rufe, seltsamerweise scheinen sie aus nicht allzu großer Tiefe zu kommen. Und man kann die Stimmen erkennen! Die jungen Jäger jubeln: »Das ist Wolfsklaue!« »Das ist Wisent!« »Das ist Hase!« »Alle sind dort! Nicht bis auf den Boden gefallen! Liegen lebend in der Felsspalte!« meldet Stoß seinen Gefährten und ruft gleich hinunter, was die Verunglückten brauchen. »Ein Beil!« hört man ganz deutlich von unten. Die jungen Jäger denken nicht erst nach, wozu die dort unten ein Beil brauchen; sie sorgen sofort dafür, daß eines hinuntergelangt. Stoß bietet seinen Schurz an, der aus zwei Rentierfellen zusammengenäht ist, und sie gehen sofort daran, daraus einen langen Riemen zu schneiden. Die Felle sind weich, und Uhu hat ein gutes, scharfes Messer mit Geweihgriff im Gürtel; bald ist der Riemen fertig, dann ein zweiter, ein dritter. Schnell werden die drei Streifen zusammengebunden. Uhu befestigt an dem einen Ende das Beil, Stoß schiebt sich wieder auf dem Bauch über den Felsenwulst vor und läßt das Gerät vorsichtig hinunter. Bald zeigt ein Ruf von unten an, daß das Beil an seinem Bestimmungsort angelangt ist. Den leeren Riemen zieht Stoß wieder herauf, dann späht er in die Tiefe, was die Jäger nun machen werden. Die Männer dort unten beginnen mit dem Beil Stufen ins Eis zu hauen. Der Felsen ist dick vereist – deshalb also konnten sie von ihrem gefährlichen Platz nicht fort! Nach einer Weile hören die Schläge auf. Wisent ruft etwas. 138
Stoß meldet: »Sie brauchen Äste!« Uhu ermahnt Stoß, sich jetzt ja nicht zu bewegen, und befiehlt Eichhorn, Stoß' Füße festzuhalten. Er selber kriecht hinauf und holt ein Bündel Birkenzweige. Vorsichtig schiebt er sich wieder herunter. Ein Ausgleiten – und er stürzt! Die Zweige im Arm behindern seine Sicht, und das erhöht die Gefahr. Aber er kommt glücklich an. Er bindet das Holz mit dem Riemen zusammen und läßt das Bündel hinunter. Dann hört man wieder Beilschläge. Stoß meldet: »Pflöcke in den Felsen!« Das ständige Klopfen zeigt, daß die Männer sich verzweifelt mühen. Sie lösen einander bei der Arbeit ab und schlagen die Pflöcke fest in die Fels- und Eisspalten. Höher und höher. Stoß ruft hinunter: »Dort nicht, dort kommt ihr nicht heraus! Mehr hier!« Das Klopfen ertönt viel näher. Plötzlich ein verzweifelter Aufschrei – das Beil saust in die Tiefe! Der Frost geht allen bis ins Mark. So nahe der Rettung – und jetzt? Sie haben kein zweites Beil. Und die Speere nützen nichts ... Bleich vor Entsetzen sehen die jungen Jäger einander an. Das Leben in ihren Augen erlischt, sie erstarren und sind wie geistesabwesend. Alles verloren? Von unten wird gerufen. Stoß beugt sich vor. »Sie wollen den Riemen!« Stoß läßt den Riemen hinunter und schaut, was nun geschehen soll. Wisent bindet sich den Riemen um die Hand, klettert auf den Eisstufen und dann auf den Pflöcken die steile Wand hinauf, so weit die Pflöcke reichen. Dann ruft er hinauf: »Haltet fest!« 139
Uhu und Eichhorn halten den Riemen und stemmen mit aller Kraft die Beine gegen den Felsen. Sie wissen, daß es jetzt um Wisents Leben geht. Der Jäger hängt am unteren Ende des Riemens, sein Gewicht droht die beiden jungen Jäger in die Tiefe zu zerren. Aber sie halten stand. Und nun wagt Wisent einen verzweifelten Schritt: Er stößt sich vom letzten Pflock im Felsen ab, schwingt am Riemen einer höhergelegenen Felsstufe zu und klammert sich dort mit Zähnen und Nägeln im Gestein fest. Mit dem Fuß tappt er nach einer wenn auch noch so kleinen Stütze – und schließlich findet er eine solche und kann nun mit dem anderen Fuß eine Felsrippe erreichen, die ihm ein wenig Halt bietet. Und jetzt stemmt er sich hoch – wird seine Kraft reichen? Stoß schließt die Augen. Und dann steht Wisent endlich auf der Felsrippe und sinkt in den Schnee. Stoß jauchzt hell auf und läßt sofort den Riemen wieder hinunter, wo nun Wolfsklaue den halsbrecherischen Aufstieg beginnt. Und auch ihm gelingt es, auf die Felsrippe zu gelangen, atemlos sinkt er neben Wisent hin. Dann folgt Hase. Unter ihm fällt ein gelockerter Pflock aus der Spalte, und Hases klamme Finger können sich nicht fest genug in die Felswand krallen. Nur der Riemen hält ihn noch – und wenn der reißt oder wenn die jungen Jäger dort oben ermattet loslassen, muß er unweigerlich in die gähnende Tiefe stürzen ... Uhu zieht jetzt unter Aufbietung seiner ganzen Kraft den Riemen an, und Hase sucht mit Händen und Füßen verzweifelt irgendwelche Risse im Gestein, in die er greifen könnte. Und endlich gelingt es auch ihm, die Felsrippe zu erreichen! Wisent hat sich indessen so weit erholt, daß er nun den Aufstieg fortsetzen kann. Die Wand ist hier nicht vereist, und der geübte Kletterer arbeitet sich rasch höher hinauf. Und schon 140
erreicht er die kräftigen Arme, die Uhu ihm entgegenstreckt, und läßt sich hochziehen. Er ist gerettet! Auch die übrigen beiden Jäger gelangen so zu ihren jungen Rettern. Sie sind so entkräftet, daß sie kaum auf den Beinen stehen können. Uhu und die beiden Buben müssen sie stützen, als sie nun alle, Retter und Gerettete, über die Felsrippe am obersten Rand des Abgrundes klimmen, um sich endgültig in Sicherheit zu bringen. Und dann ist auch das geschafft, und sie kauern in einer windgeschützten Mulde und atmen auf wie noch nie zuvor in ihrem ganzen Leben. Die geretteten Jäger können es kaum glauben, daß sie wirklich lebend und gesund auf ebener Erde sind. »Habt ihr Hunger?« fragt Uhu. Wisent und seine beiden Gefährten schnaufen nur. Und schon läuft Uhu fort. Bald darauf kommt er zurück – mit einigen Fleischschnitten und einer ganzen Leber. »Das von deinem Rentier!« sagt er grinsend zu Wolfsklaue. Der beißt hungrig in die Leber und schneidet mit Uhus Messer vor dem Mund ein großes Stück ab. Den Rest gibt er Wisent, und der schneidet auf ähnliche Weise ein Stück ab und gibt die Leber dann an Hase weiter. So teilen sie auch das übrige Fleisch. Die geretteten Jäger erholen sich allmählich. Nachdem sie gegessen haben, kehren auch ihre Kräfte zurück. Wisent steht auf und versucht zu gehen – es geht schon ganz gut, als die steifen Glieder erst ein wenig gelockert sind. »Nach Hause!« sagt Wisent, und alle gehorchen gern. Sie stehen auf und machen sich auf den Weg. Das tote Rentier nehmen sie mit; abwechselnd schleifen sie es über den Schnee. Stoß ist nur dürftig bekleidet – sein Rentierschurz ist ja zu Riemen zerschnitten worden; aber trotz der strengen Kälte friert er nicht. Im Gegenteil, ihm ist so sonderbar warm, er fühlt sich so wohl, so froh, daß er am liebsten laut jubeln und singen 141
möchte! Der Bub wundert sich ein wenig darüber – er versteht ja noch nicht, daß auch die Freude wärmen kann. Wisent hat Stoß aufrichtig umarmt. Auch Uhu und Eichhorn hat er herzlich auf die Schulter geklopft. Kein Wort hat er dabei gesprochen, aber seine Augen sind beredt genug gewesen. Und auch jetzt wird nicht gesprochen, jeder hat den Kopf voll Gedanken. Sie eilen, denn es fängt an zu dämmern, und durch die Luft wirbeln kleine Schneeflocken. In der Nacht wird ein Schneegestöber kommen.
In der Höhle hat man sich bereits für die Nacht eingerichtet, schon sind die tiefen Atemzüge der ersten Schläfer zu hören. Draußen vor dem Eingang hält Marder die Wache. Alles ist still, doch plötzlich klingen Stimmen auf. Marder packt seinen Speer und lauscht angestrengt in die Nacht hinaus. Da – wieder diese Stimmen! Wer kann das sein? Wahrscheinlich Uhu mit den beiden Buben! Er müßte bestraft werden für seinen Leichtsinn – er, ein junger, unerfahrener Jäger, geht allein mit zwei unreifen Buben auf die Jagd ... verspätet sich ... verirrt sich ... nun, wenn die drei nur heil zurückkommen! Die Sippe hat den tapferen Wisent und seine beiden Gefährten verloren und ist dadurch sehr geschwächt; sie darf mit dem Leben ihrer Angehörigen nicht leichtsinnig umgehen! »Ho – ioh!« ruft Marder in das Dunkel hinein. Fröhliche Rufe antworten ihm. Wisent! Wolfsklaue! Hase! Uhu samt Stoß und Eichhorn! Alle, alle kommen sie gesund zurück! Und sie schleppen auch noch ein Rentier heran! Marder flitzt in die Höhle und brüllt wie ein Besessener: »Sie sind da! Sie sind da!« 142
Schlaftrunken torkeln alle von den Fellen auf, doch als sie erfassen, weswegen sie aufgeweckt wurden, kennt ihr Jubel keine Grenzen. Stürmisch begrüßen sie die Ankömmlinge; jeden, der in die Höhle kommt, umspringen und umarmen sie gleich kleinen, mutwilligen Kindern. Die Höhle erzittert vom Freudengeschrei der überglücklichen Sippe. Sofort werden am Feuer duftende Braten zubereitet, und die hungrigen Heimkehrer knabbern mit Genuß die saftigsten Stücke und erzählen im Kauen ihre Abenteuer. An Schlaf denkt nun niemand mehr; alle lauschen atemlos der spannenden Erzählung von dem furchtbaren Löwen und von der Befreiung aus dem Eisgrab des Abgrunds. Am meisten fesselt Wisents Schilderung; der tapfere Jäger bietet für seinen Bericht aber auch wirklich alles auf, was er an Worten, Gesten und Mienenspiel zu geben vermag, und zieht die Gefährten unwiderstehlich in den Bann seiner Rede: »Wir gehen zu dem toten Rentier. Auf einmal, knapp vor uns, brüllt der Löwe. Hou-a! Hou-a! Wir lassen das Rentier liegen – mit einem Löwen kann man nicht kämpfen! Solche Krallen! Solche Zähne! Der Löwe springt – hopp! Wir flüchten. Der Löwe uns nach. Sprung – Sprung. Schon uns auf den Fersen. Was ist das vor uns? Eine Tiefe, schreckliche Tiefe. Steile Felsen hinunter in den Abgrund ... Der Löwe brüllt – hou-a! Donner brüllt im Abgrund. Felsen zittern, haruarua! Wir rutschen und fallen hinunter – schup! Auf dem Felsen angefrorenes Eis. Wir können uns nicht halten. Wisent weiß nicht, wohin er fliegt ... Wir rutschen tiefer, tiefer, bis auf den Felsvorsprung über dem Abgrund. Hrsch – hup! Dort halten wir uns fest. Der Löwe hinter uns her! Rutscht am Eis. Seine Krallen kratzen das Eis, daß es bricht. Schkrr – um! Der Löwe springt auf den Vorsprung. Hu-up! Mit den Tatzen auf uns los, will Wisent zerreißen. Da – unter dem Löwen bricht Eis, Schnee stürzt hinunter. Der Löwe kann sich nicht mehr halten – 143
ah! Der Löwe brüllt und fliegt in die Tiefe, hua-ha! Dreht sich in der Luft – unten bumm! Still – wir allein ... Mit den Händen graben wir eine Grube im Schnee. Drücken uns aneinander. So die ganze Nacht. Lange Nacht – kalt, kalt. Ganz starr, hu! Sonne, Tag. Wir essen Schnee. Wisent will auf den Felsen klettern. Es geht nicht. Schritt – und in den Abgrund fallen. Am Felsen Eis. Frieren – zu Ende mit uns. Oah – oah! Oben Schrei. Ho-ioh-iah! Wieder Schrei Ho-ioh-iah! Jemand dort! Wisent antwortet. Erkennt Stoß. Riemen – Beil – Pflöcke ... Hinauf! Gerettet! Eja – ho!« Noch nie hat man in der Höhle eine so lange und glänzende Rede gehört.
Wieder auf Wanderung Der Winter ist diesmal grausam lang. Sein treuer Begleiter, der Hunger, dringt immer häufiger in das Höhlenheim der Sippe ein – und ist immer schwerer wieder zu vertreiben. Oft gelingt den Jägern tagelang kein Fang, denn das frierende Wild wagt sich nur selten aus den Verstecken. Mißmutig und mit knurrendem Magen kauert die Sippe in der Höhle, von Frostbeulen und bösartigen Ausschlägen geplagt; die Kinder kauen alte Fellabfälle, nur um ihre Zähne irgendwie zu beschäftigen. Von Tag zu Tag wird die Lage ärger – und noch zeigt der Winter nicht die geringste Lust, das Heft aus der frostklirrenden Hand zu geben. Am Lagerfeuer finden ernste Beratungen statt. Den Jägern ist die einst so verheißungsvolle Gegend nun gründlich verleidet; sobald der Frühling kommt, wollen sie weiterwandern – weg von den Bergen, ostwärts, immer ostwärts, wo die weite, unermeßliche Ebene sich ausbreitet, wo es große Herden von Ren144
tieren, Pferden und vielleicht gar Mammuten gibt. Sie haben die wildreiche Thayaniederung nicht vergessen, in die sie nie wieder zurückkehren dürfen, und dort drüben in der Ebene des Ostens hoffen sie reichlichen Ersatz zu finden. Fast wie ein Gefängnis ist die enge Höhle – und dort draußen lockt die schier unbegrenzte Weite der Ebene! Die Sippe beschließt, gleich zu Beginn der günstigen Jahreszeit aufzubrechen. Mit den Vorbereitungen wird sofort begonnen. Die Frauen flechten aus Bast taschenförmige Behälter; aus aufgeweichten Häuten werden Ranzen und Säcke genäht, in denen die Habe der Sippe verstaut werden soll. Stoß und Eichhorn, die beiden Buben, beteiligen sich eifrig an der Arbeit; vor allem stellen sie ein kleines, aber festes Säckchen her, in dem sie den kostbarsten Schatz der Sippe tragen wollen: den Spender von Wärme und Licht, den Feurigen Stein. Die Sippe findet nun wieder zu ihrer früheren Zielstrebigkeit zurück; die öden Wintertage haben wieder Sinn und Inhalt bekommen. Und dann ist es endlich Frühling! Junges Grün sprießt aus der Erde und aus den Zweigen, Vogelgezwitscher erfüllt die Luft, und vom Himmel lächelt die Sonne auf das überall sich regende Leben hernieder. Der Winter flüchtet eiligst, und seine Spuren – vereinzelte Schneemulden – werden hinweggefegt von Wärme und Wachstum ringsum. Und eines Tages gibt Starrkopf den langersehnten Befehl zum Aufbruch. Stoß tritt mit seinem Säckchen vor den Häuptling und bittet: »Stoß wird den Feurigen Stein tragen!« Starrkopf nickt und fügt hinzu: »Wo ist der Feurige Stein?« Aber niemand in der Sippe weiß es! Alle suchen und graben in der Höhle, aber der kostbare Stein ist nirgends zu finden. Wehe – der Feurige Stein ist verloren! Stoß möchte am liebsten weinen. Wie werden sie unterwegs 145
ohne den Feurigen Stein Feuer machen? Alle sind sehr verdrossen. Sie erinnern sich nur zu gut, wie schlimm es ohne Feuer war und wie sie sich über die Entdeckung des Feurigen Steins gefreut haben. Jetzt werfen sie einander vor, daß sie zu sorglos gewesen sind – durch ihre eigene Nachlässigkeit haben sie den unersetzlichen Stein verloren. Sie werden also glühende Kohlen mittragen müssen – ein anderes Mittel gibt es nicht. Und wenn die Kohlen verlöschen? Ein furchtbarer Gedanke! Stoß, ganz unglücklich, sucht wieder und wieder. Er gibt sich selber die Schuld, daß er nicht besser achtgegeben hat. Ach, wenn er nur den Feurigen Stein finden könnte! Wie seinen Augapfel würde er ihn hüten, nie würde er ihn verlieren ... Aber der Stein bleibt verschwunden, die Sippe muß ohne ihn aufbrechen. Das Wetter ist günstig, man darf keine Zeit verlieren. Und so tritt die Sippe ihre Wanderung an; voran der Häuptling, hinter ihm die Jäger, dann die Frauen mit den Kindern. Die Frauen tragen das ganze Eigentum der Sippe; jede hat ein Kind oder einen Ballen Felle auf dem Rücken. Auch die Mädchen tragen Ranzen und Taschen mit getrocknetem Fleisch. Hinterdrein gehen zwei Jäger als Nachhut; sie tragen nur ihre Waffen. Ein herrlicher Sonnentag. Die Erde ist mit kleinen Blumen übersät. Eine unermeßliche Menge von Schneeglöckchen, Anemonen und Veilchen bedeckt die Hänge des Tals, und aus den felsigen Schluchten gucken Schlüsselblumen und gelber Huflattich und grüßen die violetten Glocken der Kuhschellen und die gelben Sonnen des Löwenzahns auf den lichtüberfluteten Wiesen. Blütenteppiche von prächtigblauem Enzian und weißer Nieswurz bedecken die Hänge, dazwischen steht einsam der dunkle Wacholder. Zwischen den weißen Felsen leuchtet gelbes und feuerrotes Moos hervor. Die Erde schwelgt in Farben! Um all diese Frühlingspracht kümmern sich die wandernden 146
Jäger nicht: Blumen kann man nicht essen, und wenn sie auch noch so schön sind. Hingegen freuen sie sich, daß es noch keine Gelsen gibt. Abends lagern sie an einem kleinen Flüßchen. Aus den glosenden Kohlen, die sie in einem halbvermoderten Baumstumpf getragen haben, fachen sie ein Feuer an. Die Jäger erlegen etliche Enten, die Mädchen sammeln saftige Blätter, die als erfrischender Salat gegessen werden. So endet der erste Tag der Wanderung nach Osten.
Am dritten Tag ändert sich die Landschaft. Die Berge bleiben weit zurück, das Hügelland wird sanfter. Die Sippe gelangt in die nur wenig gewellte Ebene. Bis weit in die Ferne dehnen sich saftiggrüne Wiesen – ein Paradies für wilde Pferde und andere Steppentiere. Da und dort taucht ein niedriges Birken- oder Erlenwäldchen auf. Der schüttere Baumwuchs behindert weder Mensch noch Tier. Starrkopf, der Häuptling, führt die Sippe weiter, drei Tagesmärsche ostwärts. Linker Hand nähert sich eine schneebedeckte Gebirgskette, rechter Hand ein zweites, weniger ansehnliches Bergmassiv, und dazwischen bildet das sanfte Hügelland eine Pforte, ein Tor. Durch dieses Tor, so überlegt Starrkopf, müssen zahlreiche Herden ziehen, denn einen anderen Durchlaß in das futterreiche Wiesenland gibt es nicht. Die Sippe durchwatet mehrere größere und kleinere Flußläufe, die sich in vielen Windungen durch die Ebene ziehen, umgeht die Sümpfe und wandert schließlich am Ufer der Betschwa weiter, ostwärts zum Mährischen Tor, das die nördlichen Oderländer mit den Donauländern verbindet: der große mitteleuropäische Durchzugsweg der Tiere und der Menschen seit undenklichen Zeiten. Die Jäger entdecken hier auch alte Spuren anderer wandern147
der Sippen. Also Vorsicht – hier werden sie nicht allein sein! – Stoß, Eichhorn und Uhu, das junge Kleeblatt, bilden die Vorhut der Sippe und sind dieser weit vorausgeeilt. Auf einer langgestreckten Bodenschwelle halten sie Ausschau über das weite Land. Ihre Aufmerksamkeit wird durch eine sonderbare Wolke gefesselt, die sich nur wenig über den Boden erhebt und sehr rasch auf sie zuzustreben scheint. Die gelbliche Farbe verwirrt die Späher. Was ist das? Die Wolke zieht näher und näher, wie von einem starken Wind getrieben; ihr unterer Teil, der sich eng an den Boden drängt, ist dicht und dunkel, nach oben zu hellt sie sich immer mehr auf und verschwimmt schließlich ohne jede Grenze im Blau des Himmels. »Rentiere! Rentiere!« schreit Uhu plötzlich in hellem Jubel. »Die Wolke – eine große, große Herde!« Nun erkennen auch die beiden Buben die näher kommenden Tiere. Rasch zur Sippe! Man muß zu einer großen Jagd rüsten! In der Sippe erweckt die unerwartete Nachricht fieberhafte Bewegung. Binnen kurzem sind die Jäger kampfbereit und verteilen sich nach den Anordnungen Starrkopfs truppweise, um die Herde von allen Seiten angreifen zu können. Die Wolke wächst und kommt schnell näher. Schon hört man das Gestampfe der laufenden Tiere. Die große Herde der scheuen Rentiere fegt wie ein heftiger Sturm über die Hochebene. Hunderte dünner, aber zäher Beine stampfen den Boden. Die Tiere bilden eine dichte Masse und jagen vorwärts. Ihre verästelten Geweihe scheinen zu einem unzertrennlichen Dickicht verflochten. Die braunen Rücken wogen in stürmischer Bewegung. Eine Staubwolke erhebt sich bis in große Höhe und verfinstert die Sonne ... Und nun erfolgt der Angriff der Jäger. Das Leittier der Rentierherde stürzt – und schon hat es sich 148
im Gewimmel der nachdrängenden Tierleiber verloren wie eine vom Sturm in den tiefen Wald verwehte Krähenfeder. Die Herde vollführt eine Schwenkung; die ratlosen Rentiere fliehen in wahnsinniger Angst vor ihrem Feind – dem Menschen. Wolfsklaue, Ukmas, Hase und Uhu sind der Herde schon in die Flanke gefallen und wüten mit Beilen und Speeren in der dichten Masse. Sie schreien in ihrer Jagdleidenschaft aus Leibeskräften, die Münder sind weit offen, die Zähne blitzen. Schon sind drei Tiere tot zu Boden gesunken und etliche andere schwer verletzt. Der Erfolg spornt die Jäger zu weiterer Verfolgung an. Aber plötzlich scheuen die vordersten Reihen der Tiere zurück, das ganze Gefüge der Leiber stockt – dann drängt es verzweifelt seitwärts weiter. Aus dem Gras vor der Rentierherde haben sich nämlich plötzlich einige Jäger erhoben, unter ihnen der starke Wisent und Starrkopf, der Führer der Sippe. Die Jäger sind aus ihrem Hinterhalt gesprungen, als die Rentiere ganz nahe an sie herangekommen waren, und jetzt treiben sie die überraschte Herde mit Gebrüll und Lärm zurück. Ein ruhmreicher Tag! Eine große Jagd! Die Sippe tötet viele Tiere. Die Eschenspeere schwirren durch die Luft, die Beile sausen nieder, die glücklichen Jäger werfen sich auf die verwundeten Tiere, trinken gierig das rinnende Blut und wenden sich siegestrunken neuem Kampf, neuer Beute zu. Die Herde teilt sich in zwei Ströme und versucht, seitwärts zu entkommen. Aber da eilen die Frauen und die Kinder herbei, schwenken lange Zweige und jagen mit gellendem Geschrei die erschreckten und angstgepeitschten Rentiere wieder den Speeren und Beilen der Jäger zu. Schließlich sprengt die Herde aber doch davon, um viele Tiere ärmer. Das Gestampfe verebbt in der Ferne, die Staubwolke verliert sich allmählich. Die Jagd ist zu Ende. Auf der Hochfläche versammelt sich die Sippe wieder. Mit 149
Siegesgeschrei bringen die Jäger ihrem Häuptling die reiche Beute des Tages. Der gierige Starrkopf, auf seinen blutigen Speer gestützt, blickt grinsend auf die getöteten Rentiere: Welch ein Überfluß an Fleisch für alle! Jetzt kommen Tage unaufhörlichen Schmausens, Tage des Wohllebens und ungetrübter Fröhlichkeit! Starrkopf schreit laut den Signalruf der Sippe und zeigt mit dem Speer auf die Jagdbeute. Auf dieses Zeichen machen sich alle über die erlegten Tiere her. Geschickt ziehen sie die fetten Rentiere ab; zwar verwenden sie nur scharfe Feuersteinbruchstücke, aber sie schneiden, kratzen und teilen das Fleisch damit sehr gut. Die Frauen und die Kinder laufen um Holz. Der ständig grinsende alte Zottel facht aus einem glimmenden Schwamm ein Feuer an. Diesen Schwamm hat Stoß ihm gegeben, der das Feuer, den kostbaren Schatz, in der Höhlung des verfaulten Holzes verwahrt hat. Die gewandten Jäger weiden nun eines der Rentiere aus, die noch warme Leber reichen sie dem Häuptling. Starrkopf beißt mit Lust in das Fleisch. Mit dem Feuersteinmesser schneidet er vor dem Mund ein großes Stück ab und kaut gierig. Wisent, Wolfsklaue, Hase, Raufbold und die übrigen Männer teilen den Magen und die Eingeweide unter sich. Jeder schneidet sich ein Stück ab. Zottel zerteilt inzwischen das Rentier; in der Vorfreude auf das Festmahl rinnt ihm der Speichel übers Kinn. Den abgeschnittenen Rentierkopf legt Zottel beiseite und ruft: »Wolfsklaue, das Geweih!« Wolfsklaue will den Kopf holen, aber Wisent kommt ihm zuvor. »Wisent allein Geweih schneiden!« sagt er und setzt sich gleich zu dem Rentierkopf. Er ist mit Recht stolz auf seine Kunst. Keiner kann Geweihe und Knochen schneiden wie er. Er hat nämlich eine neue und 150
schnelle Methode erfunden: Früher, unter dem alten Häuptling, hat man die Geweihe mühsam mit gewöhnlichen Feuersteinen geschnitten; einmal aber nahm Wisent statt eines Steines mit glatter Schneide einen mit einigen Zähnen. Schon wollte er ihn verdrossen wegwerfen, weil er glaubte, daß man mit einem gezähnten Messer nicht schneiden könne. Es ging wirklich nicht, mochte er auch noch so sehr auf das Werkzeug drücken – es schnitt nicht. Aber unwillkürlich machte er mit dem Messer eine ziehende Bewegung – hin und her. Und schau – in dem Geweih entstand eine Furche! Wisent fuhr mit dem Messer längere Zeit über das Geweih und stellte mit Überraschung fest, daß das Werkzeug immer tiefer einschnitt. Da schrie er vor Freude und tanzte so lange um das Feuer herum, bis alle glaubten, er sei verrückt geworden! So erfand Wisent die Säge! Seit jener Zeit erzeugt die Sippe künstliche Sägen, indem sie die Schärfe geeigneter Feuersteinbruchstücke auszackt. Die Säge erleichtert viele Arbeiten ganz bedeutend. Und Wisent, der kluge Erfinder dieses Werkzeugs, ist auch der unbestrittene Meister in dessen Handhabung geworden. Es ist ganz selbstverständlich, daß auch diesmal kein anderer als Wisent das schöne Geweih zersägen wird. Mit seiner in einen knöchernen Griff eingesetzten Feuersteinsäge macht er sich an die Arbeit. Eben kommen die Frauen und die Kinder mit gesammeltem Reisig zurück. Da wirft Wisent den Rentierkopf plötzlich beiseite und springt auf. Gespannt beobachtet er die Herankommenden. Er ist sichtlich beunruhigt; es scheint ihm, daß die Frauen ängstlich zum Lagerplatz hasten und die Kinder vor sich zur Eile treiben. Sie tragen nicht wie sonst Holzbündel auf den Köpfen, jede hat nur ein paar Knüppel unter dem Arm. 151
Ist etwas geschehen, daß sie das Holzsammeln plötzlich eingestellt haben? Auch andere Jäger haben schon die ungewohnte Rückkehr der Frauen bemerkt. Der schnelle Hase läuft ihnen entgegen. Und schon hört man die Frauen den Warnungsruf der Sippe ausstoßen. Die Jäger unterbrechen sofort ihre Beschäftigung und greifen zu den Waffen. Wisent steht mit dem Speer in der Hand und mit dem Beil im Gürtel bereit, den Angriff eines wilden Tieres oder eines anderen bösen Feindes abzuwehren. Zottel und Wolfsklaue stellen sich zu Wisent. Der Führer Starrkopf hält sich noch irgendwo im Hintergrund auf; er kümmert sich mehr um die Sicherung des Essens und der Felle. Die keuchenden Frauen kommen heran. Verängstigt berichten sie, daß sie eine fremde Sippe gesichtet haben. »Ach – jeh – jeh!« Viele unbekannte Jäger schleichen durch die Büsche! Wisent stößt ein mächtiges Gebrüll aus, wie wenn ein verwundeter Hengst aufschreit. Frauen und Kinder drängen sich bei den erlegten Rentieren zusammen, und alle Jäger nehmen rings um sie Aufstellung. Und schon sind die fremden Jäger da! Sie treten plötzlich aus dem Gebüsch und nähern sich der überraschten Sippe; jedem von ihnen steckt eine lange Feder im Haar. Der fremden Jäger werden immer mehr! Ihre Übermacht ist erdrückend. Wild schwenken sie ihre Waffen, fletschen schrecklich die Zähne, knurren und kreischen und rollen unheilverkündend die Augen. Ihr Häuptling, ein großer, starker Mann, mit einem Wolfsfell umgürtet, schwingt drohend sein schweres Beil und kommt mit zornigen Ausrufen näher. Wolfsklaue, Hase, Zottel, Uhu und alle anderen Jäger aus 152
Starrkopfs Sippe antworten den Feinden mit Geschrei. Raufbold packt einen Stein, aber bevor er ihn noch auf den feindlichen Häuptling werfen kann, faßt Wisent ihn an der Hand. Der bedächtige Jäger befiehlt der Sippe mit energischer Stimme, sich vor der drohenden Übermacht zurückzuziehen. In diesem Augenblick ist Wisent der wirkliche Führer der Sippe; der erschrockene Starrkopf läuft nur verwirrt herum und schleppt die Felle von einem Platz zum anderen. Wisents Entscheidung ist richtig. Es murrt auch keiner dagegen. Sie lassen alles, wie es liegt und steht, und ziehen sich unverzüglich zur Abwehr zusammen: Frauen und Kinder in der Mitte des Trupps, die kampffähigen Männer an den Flanken – so führt Wisent, selber als letzter und die Stirn den Feinden zugewandt, die schwache Sippe zum Rückzug vor dem stärkeren Gegner. Die reiche Jagdbeute ist verloren ... Die Sippe zieht sich immer schneller und schneller zurück. Und kaum ist das erste Gebüsch erreicht, verwandelt sich der Rückzug in eilige Flucht. Die Frauen tragen die Säuglinge auf dem Rücken, die größeren Kinder laufen, so schnell die Beine sie tragen; die Männer bleiben ein wenig zurück, um die Sippe vor etwaigen Verfolgern zu schützen. Wisent ist wütend. Er spuckt vor Zorn. Oh, wenn die Frauen und Kinder nicht wären – er würde schon zeigen, daß er sich auch vor einer großen Übermacht nicht fürchtet! Wie kühn würde er das Gut der Sippe gegen die frechen Feinde verteidigen! Starrkopf zerbeißt sich vor Ärger die Lippen. So aus blauem Himmel so viele schöne, fette Rentiere zu verlieren! Wann wird der Sippe wieder eine so ausgiebige Jagd gelingen? Endlich bleibt Wisent auf einer kleinen Anhöhe stehen. Niedergeschlagen schaut er auf den verlorenen Lagerplatz zurück. Dort geht es lustig zu. Ein großes Feuer lodert verheißungsvoll, in ihm werden Rentiere gebraten, zu reichem Schmaus ... 153
Niemand verfolgt die Fliehenden, die Feinde begnügen sich mit der zurückgelassenen Beute. Die Sippe mäßigt ihren Lauf zum Trab und dann zu langsamem Schritt. Alle sind müde und atmen schwer. Die kleinen Kinder wimmern leise und ängstlich. Hunger und Trauer beherrschen alle. Auf Wisents Geheiß durchwatet die Sippe einen Fluß und bereitet dann am drüberen Ufer ihr Nachtlager. Im windgeschützten Gebüsch kriechen alle eng zusammen; Feuer gibt es keines, der Flammenschein könnte die Feinde anlocken. Wisent überblickt die erschöpften Gefährten. Da entringt sich ein Aufschrei großen Schmerzes seiner Brust: Stoß, der mutige, kluge Bub – Stoß ist nicht da ...
Gefangen! Verzweifelt irrt ein Bub durch die Gegend, über Wiesen und durch Gehölze, und läßt die ermüdeten Augen immer wieder über den Boden schweifen – auf erfolgloser Suche nach den Fußspuren der Seinen. Im Gestampfe der Rentierherde sind alle Spuren untergegangen ... Stoß hat gemeinsam mit seinem Freund Eichhorn an der Jagd auf die große Herde teilgenommen; seit er Wisent und dessen Gefährten aus dem Eisgrab des Abgrunds gerettet hat, nehmen die Jäger ihn gerne mit – als Zeichen der Anerkennung. Und Stoß ist ordentlich stolz darauf, die kühnen, starken Männer begleiten zu dürfen; er will es ihnen gleichtun an Klugheit und Mut, er will ja ein tüchtiger, angesehener Jäger werden! Diesmal hat er sich tatsächlich ausgezeichnet. Er hat sich begeistert der Herde entgegengeworfen, hat die scheuenden Tiere den Waffen der Jäger zugetrieben, ist sogar selber mit seinem Speer 154
gegen einen Wall von Hufen, Körpern und Geweihen losgegangen. Und auch dann, als die Herde davonstob, hat er nicht lockergelassen, ist auf flinken Bubenbeinen den Tieren nachgestürmt, um vielleicht noch eines von ihnen erlegen zu können. Weiter und immer weiter ging die Verfolgungsjagd, weg von den Gefährten, der fliehenden Herde nach, von fieberhafter Jagdleidenschaft getragen. Dann aber mußte der Bub erschöpft innehalten; die Herde stob davon, und Stoß war plötzlich allein – ganz allein. Stille herrschte plötzlich um ihn und brachte ihm seine Einsamkeit schmerzhaft zum Bewußtsein. Zurück zur Sippe! war sein einziger Gedanke. Zurück, ehe die Sonne sinkt! Verloren ist, wer im unerbittlichen Daseinskampf allein und ohne Hilfe der Seinen bleibt! Aber kein Laut aus Menschenkehle drang zu Stoß; der von unzähligen Hufen aufgewühlte Boden zeigte keine menschliche Fußspur. Der Bub begann zu laufen, daß die Lungen schmerzten. Aber wohin? In welcher Richtung befanden sich die Seinen? Ziellos irrte Stoß weiter, immer nur weiter – und lief doch nur im Kreise! So irrt er auch jetzt noch umher. Und die Sonne rutscht am Himmel unaufhaltsam abwärts; bald wird das Dunkel der Nacht seinen Rachen auftun ... Stoß hastet weiter. An einem Bach kniet er nieder und löscht seinen quälenden Durst, dann setzt er sich abermals in Trab, obwohl ihm die Beine schon schwer werden und das Atmen heftig schmerzt. Er muß vor Einbruch der Dunkelheit seine Sippe wiederfinden! Plötzlich bleibt er stehen, denn er merkt, daß er sich in einer ihm völlig unbekannten Gegend befindet. Aufstöhnend wendet er sich also in eine andere Richtung. Wo ist die Sippe – wo? Er muß sie finden, sonst geht er in der Öde hilflos zugrunde. Auf einmal huscht etwas an ihm vorbei. 155
Und wieder! Und wieder! Wölfe! Viele Wölfe! »Die werden mich führen!« denkt Stoß. »Bestimmt haben sie die toten Rentiere gewittert und laufen zum Lagerplatz, um einige saftige Fleischstücke zu erwischen ...« Der Bub vergißt seine Müdigkeit und läuft den Wölfen nach. Ein paarmal sieht er sie noch zwischen den Sträuchern, dann sind sie verschwunden. Oh, die Wölfe können laufen! Aber der kluge Stoß weiß nun, welche Richtung er beibehalten muß. Und wirklich führen die Wölfe ihn gut. Von einer kleinen Anhöhe aus sieht er das Lager! Von der Feuerstelle steigt dichter Rauch zum Himmel. Stoß jubelt auf und beginnt neuerlich zu laufen. Die Wölfe fürchtet er nicht; er weiß, daß sie von dem Geruch des Rentierbluts berauscht sind und ihn nicht angreifen werden. Aber er bewaffnet sich auf alle Fälle mit einem dicken Prügel. Vor Müdigkeit fast umsinkend, erreicht er schließlich das Lager. Aber – was ist das? Wo sind Wisent, Zottel, Wolfsklaue und die anderen Jäger? Wo sind Eichhorn, Käferl und die ganze Bubenschar? Die hier kennt er nicht, das sind Fremde! »Eh – hesch!« rufen die fremden Jäger überrascht, als Stoß plötzlich unter ihnen auftaucht. Sie umstellen sofort den erschrockenen Buben, lachen ihn aus, stoßen ihn herum, und einer von ihnen reißt ihm schon den Prügel aus der Hand und holt aus, um den Erschöpften zu schlagen. Aber Stoß wartet den Schlag nicht ab; wie eine Eidechse windet er sich durch eine Lücke zwischen den feindlichen Jägern, springt auf – und läuft, was das Zeug hält! Aber er kommt nicht weit. Die Jäger haben ihn bald wieder 156
eingefangen und zerren ihn zur Feuerstelle, vor den Häuptling der fremden Sippe. Der Häuptling sitzt auf einem Stein und nagt an einer gebratenen Rentierkeule. Wie furchterregend er aussieht mit seinem finsteren Gesicht und dem langen, zerzausten Haar, in dem eine lange Feder steckt und bei jeder Bewegung durch die Luft schneidet! Stoß schlägt das Herz bis zum Hals. Jemand stößt den Buben zu den Füßen des Häuptlings nieder, aber Stoß wirft sich mit dem Mut der Verzweiflung herum, behende wie eine Wildkatze – und schon beißt er den Mann, der ihn gestoßen hat, fest in die Hand. Die Jäger haben Mühe, den tollkühnen Buben wieder zu Boden zu zwingen. Der Häuptling lacht so sehr, daß er husten muß! Die Tapferkeit des Buben gefällt ihm; er befiehlt, dem Gefangenen nichts zu tun, und wirft Stoß den Rentierknochen zu: »Da – iß!« Aber der Knochen bleibt unbeachtet vor dem hungrigen Buben liegen. Stoß rührt ihn nicht an. Rund um das Feuer sitzt die fremde Sippe und tut sich an dem Rentierfleisch gütlich, das sie seinen rechtmäßigen Besitzern geraubt hat – denen, die die Tiere zur Strecke gebracht haben. Und niemand verleidet den Räubern ihre Diebsmahlzeit! Der gefangene Bub seufzt. Ach, wo ist der starke Wisent, wo sind Wolfsklaue, Zottel und die andern tapferen Jäger? Wenn sie doch kämen und den kleinen Stoß aus der Macht der fremden Räuber befreiten! Der Bub rollt sich zu einem Knäuel zusammen und weint leise. Jetzt, da ihn keiner mehr beachtet, läßt er den Tränen freien Lauf. Und allmählich, während die fremde Sippe noch in ihrer üppigen Mahlzeit schwelgt, schlummert Stoß vor Gram und Müdigkeit ein. Wer so sehr erschöpft ist, schläft tief und lange. Als Stoß wieder erwacht, steht bereits die Sonne des neuen Tages über 157
dem Bergkamm im Osten, im Lager ist schon alles auf den Beinen und mit den toten Rentieren beschäftigt. Den Tieren wird das Fell abgezogen, dann werden sie ausgeweidet, das Fleisch wird kunstgerecht in Stücke geschnitten; es gibt viel zu tun. Stoß weiß, daß man heute den ganzen Tag essen wird; und morgen wieder, und dann weiter – so lange, bis alle so überfressen sind, daß sie kein Fleisch mehr sehen können! Nach einer guten Jagd ist es immer so. Dann wandert die Sippe weiter und macht vielleicht ein paar Tage lang keine Beute; da wird dann gründlich verdaut. So ist nun einmal das Leben der Jäger: Einmal Überfluß, einmal Hunger ... Stoß ist noch ein Bub, aber er weiß schon recht gut, was Hunger für eine Sippe bedeutet! Hu! – es schüttelt ihn, wenn er an den großen Hunger in jenem Winter denkt, da die Hälfte seiner Sippe zugrunde gegangen ist! Stoß war damals noch um einen guten Kopf kleiner als jetzt, aber er kann sich in aller Deutlichkeit an jene Schreckenstage erinnern. Damals lebte die Mutter noch, und der kleine Stoß ging mit ihr durch den tief verschneiten Wald, um die Fallen nachzusehen: Hatte sich endlich doch irgendwelches Wild gefangen? Aber die Fallen waren unberührt. Das Wild war wie ausgestorben. Traurig machten sich Stoß und die Mutter auf den Heimweg. Die Wanderung durch den tiefen Schnee war beschwerlich und dauerte lange. Als die beiden müde und außer Atem den Lagerplatz erreichten, war er öde und leer: Die Schneelöcher waren verlassen ... Die Sippe war indessen aufgebrochen – irgendwohin, auf der Suche nach Nahrung. Das mußte so sein, wenn die Kundschafter irgendwo Rentiere oder Steppenpferde gesichtet hatten. Sie folgten also den Spuren im Schnee. Aber dann wurde es Abend, heftiger Schneefall setzte ein. Die Spuren verschwanden unter der Schneedecke ... 158
Sie verbrachten die Nacht, nur mit einem Fell zugedeckt, unter einem schneebedeckten Strauch. Tags darauf tobte ein Sturm, so daß sie sich nicht unter dem Fell hervorwagten. Der Hunger krampfte ihnen die Eingeweide zusammen. Stoß nagte an einem Stück Erlenrinde – wie ein Hase in der grausamen Zeit des größten Hungers. Als der Sturm nachließ, taumelte Niana aus dem Wäldchen. Sie befahl Stoß, in dem Schneeloch liegenzubleiben; sie werde Fleisch bringen. Stoß wußte, daß die Mutter keine Waffen hatte und auch sonst nichts, womit sie ein Tier erlegen könnte. Aber wenn die Mutter sagte, sie werde Fleisch bringen, dann würde sie es unbedingt bringen! Inzwischen sog er an seinen starren Fingern. Oh, wie lange wartete er auf die Mutter! Er weinte vor Hunger und kaute an der Felldecke. »Mutter, komm schon! – Mutter, Stoß Hunger, Hunger – Hunger!« rief er mit schmerzlicher Stimme in die traurige Einsamkeit. Endlich kam die Mutter zurück. Er sieht sie noch vor sich, wie sie mühsam im tiefen Schnee die Füße hob. Sie taumelte – keuchte – stieß einen Klagelaut aus – und fiel dann in den Schnee ... Stoß schrie auf – und Niana erhob sich wieder. Mühselig kroch sie über den Schnee, bis sie endlich bei ihm niedersank. »Mutter, bringst du?« rief er ungeduldig wieder und wieder. Niana hob den Kopf und lächelte. Stoß wird nie vergessen, wie ihn die Mutter damals ansah! In ihren von Tränen glänzenden Augen war etwas so Großes, ja Gewaltiges, daß er erbebte. Niana streckte die erstarrte, blaugefrorene Hand aus und hob in ihr eine Rute empor. Und daran hingen – drei große Fische! 159
Stoß jubelte auf und biß sofort in einen der Fische; es störte ihn gar nicht, daß der gefroren war. Das Glücksgefühl über die so heiß ersehnte Nahrung ließ keinen Gedanken in ihm aufkommen. Erst als er dann eng an die Mutter geschmiegt dasaß und beide sich satt gegessen und einigermaßen erwärmt hatten, fragte Stoß, wie es der Mutter gelungen sei, so schöne Fische zu fangen. Und die Mutter erzählte ihm in unzusammenhängenden und kargen Worten, daß sie im Saum ihres Fellschurzes einen knöchernen Angelhaken gehabt hatte. Die Angel aus Fischbein und das Feuersteinmesser im Gürtel waren ihr ganzes Werkzeug gewesen. Aber sie hätte auch mit einem Bären gekämpft! Sie war zu einem kleinen See gegangen, hatte den Schnee weggeräumt und dann mit einem schweren Stein das Eis durchgeschlagen. Dann hatte sie den Angelhaken an einen Riemen gebunden – und schließlich die Fische gefangen. »Mutter, das geht nicht ohne Köder!« sagte Stoß ungläubig, denn er hatte selber schon mehrmals Fische gefangen und wußte, daß man einen Wurm oder ein kleines Fischchen auf den Angelhaken stecken muß. »Es geht nicht, ja, es geht nicht, Stoß«, bestätigte die Mutter und packte den Fuß aus dem Fell. Stoß schrie entsetzt auf, als er am Fuß der Mutter eine frische, kaum getrocknete Wunde sah. Woher diese Wunde? Oh, er erriet es! Als die Mutter sich keinen anderen Rat gewußt hatte, wie sie einen Köder für die Angel beschaffen sollte, hatte sie sich ein Stückchen Fleisch aus dem Fuß geschnitten ... »Ach, Mutter, Mutter!« Er sank der Mutter in die Arme und weinte, weinte – bis er einschlief. – Die Fische boten ihnen für einige Tage Nahrung. Mutter und Sohn kauerten unter dem steifgefrorenen Fell und war160
teten. Dann, endlich, kehrte die Sippe zu ihrem alten Lagerplatz zurück, und so kamen sie wieder mit den Ihren zusammen. Ach – war das damals grausam!
Stoß wird jäh aus seinem Grübeln gerissen: Er muß vom Feuer weg, denn hier soll nun wieder gebraten und fröhlich geschmaust werden. Bald glänzen den fremden Jägern die Wangen, das Fett rinnt ihnen übers Kinn. Der Häuptling, den sie Nunuk rufen, teilt das Fleisch eigenhändig in Schnitten, die Frauen braten diese dann auf heißen Steinen. Der Jäger Umink hebt eine etwa knietiefe Grube aus und macht darin Feuer; wenn sie richtig erhitzt ist, wird man darin mit Laub und Steinen zugedeckte Fleischstücke dünsten. Ein anderer Jäger räuchert auf Ruten gespießte Rentierkeulen – die Sippe muß haltbare Fleischvorräte haben. Keiner läßt sich durch die Arbeit vom Essen abhalten, der Schmaus dauert ohne Unterbrechung an. Auch Stoß angelt sich einige Fleischbrocken heran und beginnt zu essen. Dabei schaut er einer sehr dicken Frau zu, die für den Häuptling die Rentierzungen zubereitet, die die Jäger den erlegten Tieren herausgeschnitten haben. Die Zungen sind schmutzig von Staub und Lehm, ganz mit Haaren verklebt, die Fliegen kriechen darauf umher; die dicke Frau klaubt den ärgsten Schmutz ab, dann leckt sie die Zungen sauber und legt sie auf große Klettenblätter – sie ist sehr reinlich und weiß, wie man einem Häuptling das Essen serviert! Da plötzlich – die Sippe ist eben im besten Schmausen – ertönt ein schriller Warnungsruf! Fremde in Sicht! Sofort ist alles auf den Beinen. Und schon nähert sich, durch den Duft des bratenden Fleisches angelockt, eine fremde Jägersippe dem Lagerplatz. Nunuk bereitet schnell seine Leute 161
für einen möglichen Angriff vor, die Jäger werfen das Fleisch weg und greifen zu ihren Waffen. Aber die Neuankömmlinge kommen ruhig, ohne Anzeichen von Feindschaft heran. In einiger Entfernung bleiben sie stehen und zeigen mit verständlichen Gebärden an, daß sie Hunger haben. Nunuk und seine Jäger stehen reglos da, die Waffen stoßbereit. Der Führer der fremden Sippe geht einige Schritte vor, legt ein Fell auf die Erde, holt etliche Feuersteine aus einem Sack und breitete sie auf dem Fell aus. »Rentier, Rentier, Rentier!« ruft er dann. Die fremde Sippe will also drei der erlegten Rentiere erwerben und bietet dafür Feuersteine an. Ihr Führer tritt nun zurück, und die Feuersteine bleiben in der Mitte zwischen den beiden Sippen liegen. Nunuks Augen leuchten. Sein Arm mit der Waffe sinkt herab. Sehr gern möchte er die Feuersteine für seine Sippe erwerben; die Vorräte gehen bereits zur Neige – und Jäger ohne Feuersteinwaffen sind schwach wie Schafe ... Nunuk befiehlt seinen Jägern, ein Rentier zu bringen; sie legen es neben das Fell mit den Feuersteinen. Der fremde Führer schwingt den Arm. Das bedeutet, daß er ein Rentier nicht als entsprechenden Gegenwert für die aus fernem Land herbeigebrachten kostbaren Feuersteine erachtet. Nunuk befiehlt, ein zweites Rentier zu bringen. Aber der fremde Häuptling schwingt wieder den Arm. Nunuk schaut sich mißmutig im Lager um. Nein, er kann die Fleischvorräte der Sippe nicht weiter verringern! Er gibt kein drittes Rentier! »Rentier, Rentier – hek, hek!« ruft er. Das bedeutet: Zwei Rentiere sind genug! Aber sein Gegner antwortet mit Rufen und Gebärden, daß 162
er sich mit zwei Rentieren nicht begnüge. Er bückt sich zu dem aufgebreiteten Fell nieder und räumt die Feuersteine wieder in den Sack. Nunuk, der die Feuersteine in dem Sack verschwinden sieht, zittert vor Aufregung. Seine Sippe muß diese Feuersteine haben! Was aber tun, wenn man das dritte Rentier behalten will? Da fällt Nunuks Blick auf den gefangenen Buben, der ganz in der Nähe auf der Erde sitzt! Nunuk ruft etwas, zwei Jäger packen Stoß und tragen ihn zu den zwei Rentieren neben das Fell. Und diesmal beugt sich der fremde Häuptling weit vor und berührt mit den Fingerspitzen den Boden. Der Tausch ist abgeschlossen. Die fremden Jäger nehmen die beiden Rentiere und Stoß mit sich, während Nunuks Sippe die kostbaren Feuersteine ins Lager trägt. Stoß ist ganz verblüfft durch das, was da mit ihm geschieht. Noch ehe ihm die Zusammenhänge klar werden, ist er schon um einen Feuerstein an die fremde Sippe verkauft. Erschrocken betrachtet er seine neuen Herren. Sie scheinen ihm wahrlich um nichts besser zu sein als Nunuks Jäger. Er versteht nicht, was sie untereinander sprechen, und auch nicht, was sie ihm befehlen. Nur aus ihren Gebärden entnimmt er, daß er mit ihnen gehen muß und nicht davonlaufen darf – sonst würden sie ihn erschlagen. Die Jäger eilen, um möglichst schnell von der starken Sippe Nunuks fortzukommen; das Tauschgeschäft ist zwar in Freundschaft abgeschlossen worden, aber, wer weiß, schon in Kürze kann zwischen den beiden Sippen ein wütender Kampf entbrennen. Den gefangenen Buben zerren und stoßen sie, daß er gar nicht zu Atem kommen kann. Nur vorwärts, vorwärts! drängt der Häuptling. Auch den Jägern, die die schweren Rentiere auf ihren 163
Schultern tragen, wird der Weg lang; sie schwitzen gehörig unter der unbequemen Last. Aber der Häuptling treibt sie weiter – noch weiß er seine Sippe nicht in Sicherheit. Endlich erreichen sie eine kleine Rasenfläche, die fast zur Gänze von dichtem Gesträuch umsäumt ist. Der Häuptling gibt das langersehnte Zeichen zum Lagern, aufatmend werfen die Träger ihre schwere Last ins Gras und wischen sich den Schweiß von der Stirn. Kurz danach prasselt bereits ein verheißungsvolles Feuer im Kreis der Jäger. Das Rentierfleisch duftet ... Die hungrigen Jäger können es kaum erwarten, mit dem Essen zu beginnen. Schon ist eines der Tiere abgehäutet und ausgeweidet, im Vorgenuß des üppigen Mahls läuft den Männern das Wasser im Mund zusammen, da – Aus dem Wald ertönt schallendes Trompeten! Mammute! Mammute! Ganz nahe! In der Sippe entsteht Verwirrung, alle springen erregt auf. Und ehe sich noch jemand besinnen kann, stürzt schon ein riesiges Mammut mit hocherhobenem Rüssel auf die Lichtung! Und hinter ihm drein drängen sich unter dem Krachen von Bäumen und Sträuchern, unter dem Niederprasseln von abgebrochenen Ästen zwei weitere zottige Rüsseltiere nebst einem Jungen! Die Mammute schnauben, stampfen, trompeten; in wilder Panik brechen sie vor einem noch unsichtbaren Feind durch die Büsche. Ihre langen, gebogenen Stoßzähne reißen einen breiten Weg durch das Gestrüpp. Wild trampeln die riesigen Tiere vorwärts – was ihnen im Wege steht, wird niedergestampft ... Stoß bleibt vor Entsetzen der Atem weg. Die blindwütigen Mammute stürzen geradewegs auf den Lagerplatz der Sippe zu. Noch wenige Augenblicke – und die hilflos durcheinanderlaufenden Menschen werden unter die ungeschlachten Tierleiber geraten ... 164
Da schwingt sich plötzlich ein mächtiger Tiger aus dem Gehölz und schlägt seine großen, säbelförmig gebogenen Eckzähne in das Mammutjunge. Und knapp vor den verängstigten Menschen stürzen die erwachsenen Mammute seitwärts davon, um dem furchtbaren Raubtier zu entkommen. Die Jäger, so knapp der Gefahr des Zermalmtwerdens entronnen, laufen nun in entsetzter Flucht vor dem Tiger nach allen Seiten auseinander; gleich Schlangen schlüpfen sie durch das Gebüsch. Der Tiger schlägt das junge Mammut nieder und steht erhobenen Kopfes über ihm. Er ist bereit, jeden zu zerfleischen, der ihn bei der kommenden Mahlzeit stören will. Mit Donnerstimme brüllt er seinen Sieg in die Welt. Auch Stoß flieht von dem gefährlichen Ort, sobald die Mammute ihre Richtung geändert haben. Er läuft, so schnell seine Kräfte es erlauben. Er stolpert, fällt, steht schnell wieder auf und stürmt weiter. Und plötzlich durchzuckt ein Gedanke seinen Kopf: er ist frei! Zerstoben sind die Wächter, jeder will 165
nur das eigene Leben retten; um den Gefangenen kümmert sich jetzt keiner! Frei! Frei! Stoß hastet weiter, auf der Flucht vor dem Tiger – und vor der fremden Sippe. Er will heim zu den Seinen! Nach langem Laufen sinkt er erschöpft und keuchend zu Boden. Der Kopf schmerzt ihn, der Körper ist wie zerschlagen. Alles in ihm zittert vor Erregung über das überstandene Grauen. Fieberhaft jagt sein Puls. Als er sich endlich beruhigt, steht er wieder auf und geht vorsichtig weiter. Er läuft nicht mehr, er könnte sonst vielleicht in eine neue, noch größere Gefahr geraten. Stoß ist ein kluger Bub, er wird achtgeben und umsichtig sein, damit er die wiedergewonnene Freiheit nicht abermals verliert. Wie schön es ist, frei zu sein! Er will seine Sippe wiederfinden: Eichhorn, Käferl und die anderen Buben! Er hat zwar schon oft mit ihnen gerauft – aber er hat sie doch gern!
Die Heimkehr Erschöpft durch Müdigkeit und Hunger sucht Stoß nach den Spuren der Seinen. Verzweifelter Wille treibt ihn vorwärts, er gönnt sich keine Rast – er weiß, er könnte nicht so bald wieder aufstehen, wenn er sich jetzt ins Gras fallen ließe ... Wohin mag die Sippe gewandert sein? Stoß weiß es nicht, aber er eilt ostwärts, weil es unwahrscheinlich ist, daß Starrkopf die Seinen wieder dorthin zurückführen würde, von wo der Nahrungsmangel sie vertrieben hat; Stoß ist ein kluger Bub. Mehrmals versucht der kleine Wanderer ein Tier zu erbeuten, aber vergebens; er ist unbewaffnet, und die bloße Geschicklichkeit reicht nicht aus. Der Hunger quält ihn so sehr, daß er hohe 166
Gräser aus der Erde rupft und daran zu knabbern beginnt – das ist besser als nichts. Und dann hat er Glück: Am Ufer eines schilfbestandenen Teiches entdeckt er das Nest einer Wildente, scheucht mit gutgezielten Steinwürfen das Muttertier auf, das nun schnatternd flüchtet, und stürzt dann heißhungrig über die flaumigen Jungen her. Wie wohl es tut, wieder ordentlich zu essen! Stoß weiß nicht, wie viele Entlein er verspeist – er zählt nur »viel«; also müssen es mehr als fünf sein. Dann wandert er neugestärkt weiter. Mit den körperlichen Kräften ist seine Zuversicht zurückgekehrt, er ist nun nicht mehr ängstlich und verzagt, sondern schreitet aus wie einer, der genau weiß, daß sein Weg zum gewünschten Ziel führt. Gegen Abend kommt er in ein felsiges Tal. Sofort überlegt er, daß es hier doch eine Höhle geben sollte – warm, windstill und sicher –, in der er übernachten könnte. Sogleich macht er sich auf die Suche, denn die Dunkelheit bricht rasch herein. Er klettert zwischen den Felsen auf und ab – und schau, da ist wirklich eine Höhle! Stoß läßt einen Freudenruf erschallen und klimmt die Felswand zum Eingang empor. Doch kaum hat er den Kopf in die Höhle gesteckt, um zu schauen, wie groß sie ist, da ertönt unheilverkündendes Knurren aus ihrem Inneren – wie wenn ein Bär aus dem Schlaf aufgestört wird! Zwei grünliche Funken blitzen im Dunkel der Höhle auf – ein Pfauchen und Brüllen hallt durch das Gewölbe – Aber da wälzt sich der erschrockene Bub schon im Sand unter dem Felsen. Stoß weiß nicht, was für ein Tier in der Höhle sein Lager hat, aber er läuft, was er kann, um sich schnell in Sicherheit zu bringen. Wenn ihn nun ein Bär mit seinen Tatzen zerschmettert hätte! Oder wenn es gar der schreckliche Beherrscher der Erde, der Löwe, wäre! O weh! – Es hat nicht viel gefehlt – 167
und Stoß hätte kein Nachtlager mehr nötig gehabt! Der Schrecken ist dem Buben gehörig in die Glieder gefahren. Als sich aber nirgends etwas rührt, traut sich Stoß weiter auf die Suche. Und es gelingt ihm, eine andere Höhle zu finden. Zuerst wirft er von weitem einen Stein hinein, und erst als alles ruhig bleibt, wagt er sich durch den Eingang. In der Höhle ist es angenehm warm! Beim Eingang schichtet Stoß einige Steine und Äste auf und verrammelt so die Öffnung. Dann kauert er in einem Winkel nieder, und bald schläft er bereits wie ein Wiedehopf; selbst das nächtliche Gebrüll der wilden Tiere weckt ihn nicht. Am Morgen steckt er den Kopf aus der Höhle. Er hält Umschau – aber er sieht nichts Verdächtiges. Die Sonne steht schon hoch am Himmel und wärmt angenehm. Stoß streckt sich, schlägt im Gras einen Purzelbaum und begibt sich wieder auf den Weg. Er klettert noch ein Stückchen den Hang hinauf, und da, im Gestein, erblickt er etwas, das ihn ungemein ergötzt: Drei kleine Wölflein spielen vor ihrer Höhle. Sie wälzen sich herum und tappen mit den Pfoten aufeinander los. Sie haben zottige, gelblichgraue Fellchen, helle Augen und spitze Ohren und Schnäuzchen. Stoß liegt im Gebüsch und beobachtet sie gespannt. Die Wölflein raufen um einen Regenwurm. Eines von ihnen hat ihn nun gefaßt und verschluckt ihn schleunigst, die anderen werfen es dafür um und ziehen es an den Ohren. Da kommt eine große Wiesenheuschrecke heran; die Wölflein mustern sie eine Weile – die Heuschrecke bewegt sich nicht. Ein Wölflein springt vor, aber da hüpft die Heuschrecke schon in die Höhe, die unbeholfenen Pfoten des Wolfsjungen tappen ins Leere. Stoß fällt plötzlich ein, daß er ein Wölflein fangen könnte. Der Gedanke macht ihm so warm, daß er schwitzt; sein Herz schlägt unbändig. Er versucht, noch näher an die verspielten Jungen heranzukriechen, aber es geht nicht ganz lautlos. Die 168
Wölflein stutzen und unterbrechen sofort ihr Spiel; aufmerksam äugen sie umher. Stoß sieht, daß er nicht unbemerkt herankommen kann. Er wirft sich also mit einem Sprung auf die Wolfsjungen. Und tatsächlich, er fängt eines. Die übrigen schlüpfen in ihr Loch. Stoß hält das Wölflein krampfhaft fest, aber das schlägt plötzlich mit der Pfote nach ihm und entwindet sich seiner Hand. Und schon ist es im Loch verschwunden! Schade! Etwas enttäuscht wandert der Bub weiter. Er gelangt nun wieder in flaches Land hinaus und nimmt Kurs auf einen Hügel; von dort wird er weit über die Ebene schauen können. Vielleicht steigt irgendwo am Horizont die Rauchsäule des Feuers der Sippe auf ... Da – was ist das? Etwas wirft sich da im Gras herum! Ein Hase! Stoß springt blitzschnell auf den Hasen los. Er erwischt ihn und sieht noch, wie eben ein Wiesel davonhuscht. Der Hase ist verletzt, Stoß hat wenig Mühe, ihn zu töten. Das wird ein Braten! Wenn Stoß die Sippe gefunden hat, wird er den Hasen am Lagerfeuer braten! Aber wo – wo ist die Sippe? Stoß späht von dem Hügelchen nach allen Seiten aus, aber nirgends ist Rauch, nirgends gar eine menschliche Gestalt zu sehen ... Traurig setzt er sich unter eine Kiefer, legt den Hasen vor sich hin und denkt nach, was er weiter tun soll. Husch! Vom Baum springt plötzlich ein starker Luchs, packt den Hasen und verschwindet mit ihm zwischen den Bäumen ... Stoß kann vor Schreck nicht einmal aufschreien. Er besinnt sich erst wieder, als der Luchs bereits im Wald verschwunden ist. 169
»Dieb!« schreit der Bub hinter dem frechen Räuber her. Aber es nützt nichts, der Luchs gibt seine Beute nicht wieder zurück. Stoß wandert weiter. Er muß die Sippe finden – er muß! Verbissen eilt er ostwärts, Stunde um Stunde. Als es dunkel wird, findet er in einem hohlen Baum sein Nachtlager. Er kann sich zwar darin nicht ausstrecken, aber das macht ihm nichts aus; er ist ja gewohnt, zusammengekauert zu schlafen. Und es ist ihm angenehm warm. Im Einschlafen möchte er am liebsten weinen ... Ihm ist so bang nach der Sippe. Er ist hier so allein.
Hunger und Trauer herrschen in Starrkopfs Sippe. Vergeblich suchen die Jäger nach Wildspuren – es ist nichts zu entdecken. Die Männer ärgern sich, daß sie so unrühmlich um eine so große Beute gekommen sind: um die fetten Rentiere, die ihnen für viele Tage reichlich Nahrung geboten hätten. Einige Jäger murren sogar gegen Wisent. Sie sagen, daß sie die Rentiere nicht hätten aufgeben sollen, daß es besser gewesen wäre, mit der fremden Sippe zu kämpfen. Aber der alte Zottel widerspricht ihnen; er erklärt, daß sie die Rentiere gegen die Übermacht nicht hätten verteidigen können, daß aber so mancher Jäger im Kampf zugrunde gegangen wäre. Und er lobt den klugen Wisent. Heute muß sich die Sippe mit einigen Fischen begnügen, die sie mit knöchernen Harpunen im See erlegt hat. Und Eichhorn hat mit den übrigen Buben einige Mäuse erbeutet. Das ist alles. Die Sippe lagert am Seeufer, unter einem abschüssigen Felsen. Das kleine Feuerlein bekundet, daß sie fast nichts zu essen hat. Die Kinder liegen unweit vom Feuer. Sie spielen nicht, sie lachen und lärmen nicht; sie hungern ja schon seit Tagen. Eichhorn geht am Ufer auf und ab, schaut traurig in die 170
Ferne und denkt an die Zeit, da er gemeinsam mit Stoß kleine Tiere erlegte. Wie war das damals schön! Wird er seinen verlorenen Kameraden je wiedersehen? Die ausgesandten Späher kommen ins Lager zurück. Der Häuptling hört ihre Berichte und läßt den Kopf hängen: Nirgends in der Umgebung gibt es Wild, viele Jägersippen sind hier vorübergezogen und haben die Tiere verscheucht. Es wird nichts anderes übrig bleiben, als in ein anderes Land zu ziehen. Wie viele Jäger, Frauen und Kinder werden unterwegs zugrunde gehen? Niedergeschlagenheit beschleicht alle ... Die Sippe bereitet sich auf eine lange Nahrungssuche vor. Die Männer nehmen ihre Feuersteinspeere und Steinbeile auf, die Frauen binden sich die Ranzen mit den Habseligkeiten und den kleinen Kindern auf den Rücken. Alle schauen finster drein, keiner hat Lust zu reden; nicht einmal die fröhliche kleine Fröscherl bringt jemanden zum Lachen. 171
Da plötzlich schallt lautes Getrampel über den Bergkamm! Näher und näher rollt es heran, von Schreien begleitet! Die Jäger springen jählings auf. Verblüfft schauen sie hinauf auf den steilen Hang. Und dort stürzt auf einmal etwas herunter wie ein losgerissener Felsblock – und wieder – und wieder! Pferde! Viele! Viele! Welch ein Wunder – ein Pferd nach dem anderen stürzt den Hang herunter, der hungernden Sippe gerade vor die Füße! Die Jäger jubeln laut auf, stürzen augenblicklich über die verwundeten Pferde her und wüten unter ihnen. Wisent hat mit seinem Speer schon drei Tiere durchbohrt, auch Zottel, Wolfsklaue, Hase und die übrigen Männer sind erfolgreich. Das Jubelgeschrei ist weithin zu hören. Auch die Frauen beteiligen sich an der unerwarteten Jagd; die Kinder kreischen und hüpfen vor Freude. Es wird wieder Fleisch geben, es wird ihnen gut gehen, sie werden Überfluß an allem haben! Nach kurzer Zeit liegen unter dem Steilhang etwa fünfzehn getötete Pferde und Fohlen. Die übrigen Tiere fliehen vor den Waffen der Jäger; in wildem Galopp jagen sie das Seeufer entlang davon. In der Sippe herrscht eitel Freude; Männer und Frauen tanzen um die gefallenen Tiere herum. Da kollert plötzlich ein Stein den Steilhang herunter – und aller Blicke sind sofort hinauf auf den Bergkamm gerichtet. Dort klettert ja jemand vorsichtig abwärts! »Stoß! Stoß!« jubelt Eichhorn in jähem Erkennen. Und da ist der junge Kletterer auch schon unten angelangt. Die gesamte Sippe läuft ihm entgegen, umringt ihn unter hellem Jubel, dringt mit hundert Fragen auf ihn ein. »Guter Bub, Stoß«, lobt der alte Zottel. »Hast Pferde hergebracht!« 172
Stoß muß schnell erzählen, was ihm zugestoßen ist und wie er wieder zur Sippe heimgefunden hat. Der Bub berichtet stotternd, aber voll Freude und mit leuchtenden Augen von seiner Gefangennahme, von dem Tauschhandel zwischen den beiden fremden Sippen und schließlich von seiner Flucht. Dann schildert er seine lange Wanderung: »Stoß allein – allein – geht, geht, geht – Sippe nirgends. Pferde gegen Stoß! Stoß fürchtet sich – hebt den Prügel und schreit – schreit sehr. Pferde erschrecken – kehren um. Stoß hinter ihnen – lange hinter ihnen – bis hierher!« Die Jäger heben Stoß auf die Schultern und tragen ihn rund um das Feuer. Eichhorn und die Kinder schließen sich dem Zug an. Alle schreien, so laut sie können: »Kein Hunger mehr, Stoß hat Pferde hergejagt! Aj! Aj!« Und dann folgt ein Schmaus, wie ihn selbst die alten Jäger kaum je erlebt haben! Das Feuer lodert hoch auf, es brennt Tag und Nacht.
Der große Kampf Die festlichen Tage des reichen Mahles neigen sich ihrem Ende zu. Die vorher so mageren Jäger sind jetzt kaum wiederzuerkennen, so gut haben sie sich erholt. Und gar die Frauen – wie die dick geworden sind! Wenn sie ein paar Schritte laufen müssen, keuchen und schnaufen sie schon! Die Kinder sind schlechthin kugelrund! Fleisch rühren sie überhaupt nicht mehr an, sie kauen nur mehr Sauerampfer, Sauerklee und Wurzelzeug. Alle sind träg und schwerfällig geworden. Die Jäger wälzen sich faul und angegessen im Gras und bewachen die Fleischvorräte vor Füchsen, Wölfen und Vielfraßen. An die Auffüllung dieser Vorräte denkt keiner ... In diesen Tagen seligen Nichtstuns erfüllt ständiges Gepfeife 173
das Lager – die Buben haben nämlich kürzlich das Pfeifen erfunden! Dies geschah ganz zufällig, als Stoß und Eichhorn das köstliche Mark aus einem Knochen sogen – plötzlich schrillte ein lauter Pfiff hervor. War das ein Spaß! Die beiden Buben pfiffen und pfiffen, bis zum Überdruß. Dann untersuchten sie, warum eine Rippe nicht pfeift und ein Schienbein oder ein durchlöchertes Fersenbein schon, und schließlich fanden sie heraus, daß die Knochenpfeifen durch ein eingebohrtes Loch wesentlich vervollkommnet werden können. Und nun stellten sie für alle Kinder Pfeifen her und führten die ganze Schar unter ständigem Gepfeife im Gänsemarsch durchs Lager und um die Zelte herum. Ein Glück, daß die Jäger so volle Bäuche haben und behäbig geworden sind – sonst hätten sie die ganze Pfeiferkapelle gründlich verprügelt! Die Sippe verlebt geruhsame Tage. Aber eines Tages sind die Vorräte so gut wie aufgezehrt, wohl oder übel müssen sich die Jäger nun doch wieder auf die Suche nach Wild machen. Tagelang durchstreifen die Männer die Gegend – aber sie finden keine Spuren; das Gebiet ist wildarm und kann die Sippe nicht ernähren. Schweren Herzens entschließt sich Starrkopf, abermals das Zeichen zum Aufbruch zu geben. Die Wanderung geht weiter. Die Sippe zieht die schnellfließende Betschwa entlang stromaufwärts. Es tut den Jägern gut, nach den Tagen des Rastens endlich wieder Bewegung zu machen. Ihre Laune bessert sich merklich, als sie schon nach kurzer Zeit des Wanderns auf die Spuren mehrerer Mammute stoßen. In froher Zuversicht wird der Marsch fortgesetzt. Und doch ist Gefahr im Anzug! Uhu und seine beiden jungen Freunde, Stoß und Eichhorn, gehen wieder als Vorhut voraus, den Mammutfährten nach – und da finden sie auch Menschenspuren: viele, viele! Eine fremde Sippe zieht vor ihnen die Betschwa aufwärts; die Spuren sind 174
ganz frisch, die Fremden können also gar nicht weit voraus sein! Die Kundschafter laufen sofort zur Sippe zurück und melden, was sie gefunden haben. Die Nachricht ist höchst beunruhigend, denn enge Nachbarschaft von fremden Jägern ist nie angenehm; gewöhnlich entsteht daraus ein blutiger Kampf. Es wird also gut sein, sich über die Stärke und das Ziel der fremden Sippe genau zu unterrichten. Uhu und die beiden Buben werden abermals als Spähtrupp ausgeschickt. Diesmal halten sie sich nicht an das Flußufer, sondern klimmen über einen Hügel, den die Betschwa in weitem Bogen umfließt; sie wollen die Fremden überholen. Vorsichtig schleichen sie durch das niedrige Gebüsch, um auch nicht das geringste Geräusch zu machen. Sie dürfen sich nicht verraten. Da dringt auch schon das laute Sprechen der lagernden Fremden zu ihnen. Die jungen Kundschafter bleiben bewegungslos stehen und halten den Atem an. Dann biegen sie behutsam das Gezweig der Büsche auseinander und spähen hinunter in das Lager der fremden Jäger. Was sie sehen, ist besorgniserregend genug! Die Fremden bereiten sich offensichtlich auf eine Unternehmung vor. Sie laufen emsig hin und her, holen Speere und Beile und bewaffnen sich eilig. Wollen sie Mammute oder Bisons jagen? Und wer ist der Jäger dort mit der Feder im Haar? Stoß hätte beinahe aufgeschrien. Das ist doch Umink, der bärenstarke Jäger aus jener Sippe, bei der er, Stoß, kürzlich gefangen war! Und dort drüben, die ganze Jägerschar überragend, steht Nunuk, der Häuptling, mit der schaukelnden Feder als Kopfputz! Auch Uhu erkennt mit Sicherheit die Horde wieder, die ihnen die erbeuteten Rentiere weggenommen hat. Das sind schlimme Feinde! Man muß die Sippe warnen! Uhu fordert die beiden Buben auf, hier im Versteck zu war175
ten und die fremden Jäger weiter zu beobachten. Er selber schleicht eine Strecke zurück und läuft dann zur Sippe – wie ein hungriger Wolf, der einem verwundeten Rentier nachsetzt. Atemlos kommt er bei den Seinen an und berichtet in wenigen Worten, was er herausgefunden hat. In der Sippe bricht ein Entrüstungssturm gegen die Fremden los. Die Jäger schlagen mit den Waffen auf die Erde und gegen die Bäume und stoßen die ärgsten Schimpfwörter gegen die verhaßten Räuber aus. Wenn die jetzt hier wären, die ganze Sippe würde sich in leidenschaftlicher Wut auf sie werfen! »Gehen wir! Strafe den Räubern!« fordert der kraftstrotzende Raufbold und schwingt bedeutsam sein schweres Beil. Er reißt auch die anderen Jäger mit. Der unbändige Rachedurst verdrängt jeden vernünftigen Gedanken. Vergeblich mahnen Wisent und Zottel zur Besinnung. »Wir wenige – Räuber viele!« erinnert Wisent, aber niemand achtet auf die Warnung. Schon ziehen sie voll Kampfbegeisterung los. Die Führer müssen mit ihnen gehen. Nur die Frauen und die Kinder bleiben zurück. Uhu weist den Weg, fast geräuschlos folgt ihm die schwerbewaffnete Schar. Da stürzt ihnen plötzlich der atemlose Stoß entgegen – schon an seinen weitaufgerissenen Augen erkennen sie, daß etwas Besonderes geschehen sein muß. »Sie kämpfen!« keucht Stoß. Mehr bringt er nicht hervor. »Mit wem?« fragt Wolfsklaue überrascht. »Mit einer anderen Sippe!« antwortet Stoß. Und dann erzählt er mit fliegendem Atem, daß die räuberischen Fremden einen Angriff auf das Lager einer hier ansässigen Sippe unternommen haben. Jenseits des Hügels tobt bereits ein wütender Kampf. »Los auf sie!« schreien die Jäger und lassen sich durch nichts mehr halten. Wilde Kampflust hat sie erfaßt, gieriges Verlangen, 176
sich an der räuberischen Horde zu rächen. Sie stürmen vorwärts. Bald schlägt ihnen Kampflärm entgegen. Brüllen, Kreischen, das Wehgeschrei der Verwundeten, lärmendes Getöse der Kämpfenden. Unter Donnergebrüll stürzen sie wie eine plötzliche Flut auf den Kampfplatz, wo die heimische Sippe sich verzweifelt gegen die angreifenden Räuber wehrt, die alle Federn im Haar und bemalte Gesichter haben. Viele Tote und Verwundete liegen bereits auf dem Rasen vor dem Zeltlager. Der Widerstand der Verteidiger droht zu erlahmen, die Übermacht der Angreifer ist zu groß – da aber stürzen sich Wisent, Wolfsklaue und die anderen Jäger in den Kampf. Speere schwirren, Beile schmettern nieder, orkanartig braust der Kampfruf der Sippe auf. Der plötzliche Vorstoß ruft bei beiden Kampfpartnern große Überraschung hervor. Für einige Augenblicke weiß niemand, woran er ist. Dann aber brechen die tapferen Verteidiger des Lagers in unbeschreiblichen Jubel aus – denn Wisent, Zottel, Hase, Wolfsklaue, Ukmas und viele, viele andere fallen über die Angreifer her! Hilfe, Hilfe in höchster Not! Mit neuem Mut dringen nun die Jäger der überfallenen Sippe abermals auf die räuberischen Fremden mit dem Federschmuck ein. Die können sich von ihrer Verblüffung gar nicht erholen! Zwischen zwei Trupps eingekeilt, geben sie den hoffnungslosen Kampf auf und suchen ihr Heil in feiger Flucht. Die vereinigten Sippen der Sieger jagen sie in die nahe Betschwa, und noch im Schwimmen prasseln Steine und Schmährufe auf die Flüchtenden nieder. Laut brüllen die Sieger ihren Triumph in die Welt! Dann kehren beide Sippen auf den Kampfplatz zurück und machen sich jetzt erst ordentlich miteinander bekannt. Die Verständigung mit Worten fällt ihnen zwar schwer, aber die Freude über den gemeinsamen Sieg macht ihre Gebärden und Ausrufe genügend deutlich. Die heimische Sippe bringt ihren Rettern Dankgeschenke und 177
ehrt sie, wie sie nur kann und so weit ihre Vorräte reichen. Die Jäger bringen aus ihren Zelten unter dem Felsen Felle, schöne Feuersteine und fertige Waffen und legen alles zu Füßen Starrkopfs nieder, ohne dessen tapfere Jäger das Lager den Räubern in die Hände gefallen wäre. Auch so sind viele der Ihren gefallen. Sie tragen die Toten auf einen Haufen zusammen und wehklagen über jeden einzelnen; sie rufen seine Ruhmestaten aus und verfluchen seinen Mörder. Am meisten trauern sie um ihren Häuptling, der heldenhaft an der Spitze seiner Kämpfer gefallen ist. Sie hocken sich um seine Leiche im Kreis nieder und singen, die Köpfe im Takt wiegend, in langgezogenen Lauten ein endloses Lied ohne Worte, das nur aus einigen wenigen Tönen besteht. Die Frauen bemühen sich nach Kräften um die Verwundeten. Sie legen zerkaute Blätter von Beinwurz und Wegerich auf die Wunden und verbinden sie mit Streifen von Baumrinde. Die Verletzten klagen nicht viel, sie ertragen die Schmerzen stumpf und in ihr Schicksal ergeben. Wer gesund wird, wird wieder jagen; wer nicht durchhält, muß sterben – es geht eben nicht anders. Starrkopf schickt einen schnellen Läufer um die Frauen und die Kinder. Die ganze Sippe ist bei den Geretteten zu Gast. Am Abend wird ein Siegesfeuer angezündet. Die Kämpfer erzählen von ihren heutigen Taten, und großes Beifallsgeschrei der Zuhörer belohnt jede der durch Gesten und Mienenspiel unterstützten Schilderungen. Die stürmischen Ereignisse des Tages werden hier am Lagerfeuer in aller Dramatik noch einmal lebendig. Am folgenden Tag geht man an die Bestattung der acht gefallenen Kämpfer, durchwegs stattlicher, großgewachsener Männer. Sie sind ehrenvoll gefallen, und in der Vorstellung der Jäger bedeutet das, daß die aus der Brust ausgehauchten Geister der Toten jetzt unsichtbar über den reglosen Körpern aufsteigen; 178
die toten Kämpfer schlafen eigentlich – deshalb werden sie wie zu langem, ungestörtem Schlaf gebettet: in leicht gekrümmter Körperhaltung, die Knie ein wenig abgewinkelt. Auch die zwölf getöteten Frauen und Kinder werden so gebettet. Die mörderischen Angreifer haben wirklich niemand geschont und erbarmungslos jeden umgebracht, der ihnen in den Weg gekommen ist. Insgesamt sind da zwanzig Tote aufgehäuft – die volle Hälfte der ganzen Sippe. Nun soll der Grabhügel aufgeschüttet werden; da wankt eine verwundete Frau zu dem Haufen der Toten und streut über den Leichnam eines Kindes kleine Schmuckstücke und Spielzeug aus. Dann taumelt sie fort und sinkt zu Boden. Die übrigen Mitglieder der Sippe wälzen nun Kalksteinblöcke und kleinere Steine auf das Grab und legen auch einige mächtige Mammutschulterknochen darauf, so daß die Toten bald vollkommen zugedeckt sind. Schließlich wird das Grab noch mit Lehm angeworfen. Unter der Steilseite des sich einsam über die vorbeifließende Betschwa erhebenden Kalksteinhügels, vor den Nordstürmen geschützt, gehen zwanzig Mitglieder der Jägersippe für zwanzig- oder dreißigtausend Jahre zur Ruhe ... 8 Die Feinde werden nicht bestattet – sie sind es nicht wert. Ihre Leichen werden mitten ins Lager geschleift, und aus ihnen wird ein üppiges Mahl bereitet. Die beiden befreundeten Sippen lassen sich nebeneinander nieder, jede um ihr Feuer, die siegreichen Kämpfer bekommen als besondere Anerkennung die Herzen der erlegten Feinde vorgesetzt. Die Kraft der Besiegten, so glauben sie, strömt nun in die Leiber der Sieger, so daß sie in Hinkunft doppelt stark sein werden. Nach dem Mahl erzählen sie noch lange von der grausamen Schlacht. Die Kämpfer erinnern sich an immer neue Einzelheiten. __________________________________________________ 8
Dieses Massengrab wurde 1891 in dem nun weltbekannten Lager der Mammutjäger in Predmost bei Pretau gefunden.
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»Sie sind jetzt ohne Häuptling ...«, bemerkt Zottel am Feuer von Starrkopfs Sippe und weist zu den neuen Freunden hinüber. »Wir auch!« fährt Raufbold gereizt auf. »Wieso?« fragt Zottel. »Wir haben doch einen Häuptling.« »Wir haben keinen!« gibt Raufbold scharf zurück und steht von seinem Stein auf. »Starrkopf – kein Häuptling! Hat sich im Kampf hinten versteckt!« Raufbold spricht laut aus, was alle bei sich denken: Starrkopf hat sich im Kampf nicht als tapferer Führer bewährt. Und so findet Raufbolds Bemerkung allgemeine Zustimmung. Starrkopf steht auf und stottert verlegen etwas zur Erklärung seines Verhaltens, aber als er gleich zu Anfang lauten Spott hört, dreht er sich um und verläßt das Feuer. Nach einer Weile kommt er zurück und erklärt mit entschlossener Stimme, daß er nicht länger der Führer der Sippe sein wird: »Starrkopf – kein Häuptling!« Die Sippe ist überrascht, aber nicht für lange. Die Jäger beginnen gleich zu beraten, wer der neue Häuptling sein könnte. Der ehrgeizige Raufbold versucht hartnäckig, die Aufmerksamkeit der Jäger auf sich zu lenken und mit seinen Fähigkeiten zu prahlen. »Wer wäre geeigneter als ich, die Sippe zu führen!« scheint sein herausfordernder Blick zu sagen. »Raufbold, zurück, wir haben bessere Männer!« weist der bedächtige Zottel ihn zurück. »Und wen?« fragt Raufbold anmaßend. »Wisent!« antwortet Zottel prompt. Und sofort pflichten ihm zahlreiche Jäger bei: »Ja, ja – Wisent!« Raufbold tritt vor und pflanzt sich neben Wisent auf. Herausfordernd sagt er zu ihm: »Wir werden sehen!« Seine Augen blitzen, die Zähne knirschen vor Wut. Wisent spricht kein Wort. Stumm mustert er Raufbold von 180
oben bis unten, dann wirft er das Fell ab, mit dem er umgürtet ist, und stellt sich dem Rivalen zum Kampf. Die übrigen Mitglieder der Sippe bilden einen Kreis, damit die Widersacher freie Bahn haben. Erregte Rufe klingen auf: Ein Zweikampf wird ausgetragen! Raufbold spuckt aus, wirft ebenfalls sein Fell ab und springt auf Wisent los. Wisent ist ein starker und tapferer Jäger. Ein wenig zuckt er wohl unter dem Angriff Raufbolds zusammen, aber sofort umklammert er den Gegner mit seinen muskulösen Armen. Beide Kämpfer fallen zu Boden, springen wieder auf, aber schon drückt Wisent den Widersacher abermals nieder. Er preßt ihm die Kehle zusammen, so daß Raufbold nicht atmen kann. Die Kräfte des vor kurzem noch so anmaßenden Herausforderers erlahmen; er sinkt schließlich in sich zusammen und bleibt ohnmächtig liegen. Der siegreiche Wisent erhebt sich und blickt sich im Kreise um. Er sieht, daß alle sich darüber freuen, wie eindeutig er den prahlerischen Raufbold geschlagen hat. Ernst nimmt er das Bärenfell entgegen, das bisher Starrkopf getragen hat. Er knüpft es mit einem Riemen über der Schulter fest – er ist Häuptling geworden. Es ist nicht nötig, viel darüber zu sprechen. Was geschehen ist, nehmen alle als selbstverständlich hin. Raufbold erwacht nach einer Weile aus seiner Ohnmacht. Er geht zum Bach, trinkt Wasser, wäscht sich den Kopf und kommt zur Sippe zurück. Äußerlich ruhig setzt er sich zu den anderen und hört auf den neuen Häuptling. Der Streit ist entschieden; Raufbold weiß nur zu gut, was ihn erwarten würde, wenn er sich nicht unterwerfen sollte – er würde aus der Sippe ausgestoßen werden, und das wäre gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Dem Zweikampf haben auch viele Mitglieder der heimischen Sippe zugesehen. Sofort haben sie verstanden, worum es in 181
diesem Kampf gegangen ist, und der neue Häuptling ihrer Freunde gefällt ihnen sehr. Sie treten sofort zu einer Beratung zusammen, und als Wisent fortgehen will, halten sie ihn auf. Sie umringen ihn, jubeln ihm zu und rufen begeistert: »Du – Häuptling – mein – dein!« Sie neigen sich vor ihm und legen die Hände auf ihren Scheitel. Wisent versteht nicht gleich, was das bedeutet. »Du – Häuptling – mein – dein!« rufen sie wieder. Zottel begreift. Er springt zu ihnen und reicht ihnen die Hände: »Wisent – Häuptling von allen!« Die Menge ringsum jubelt. Alle drücken einander die Hände und reiben die Nasen aneinander – als Beweis vollkommener Freundschaft und Einigung. Die Freude macht sich in immer neuen Jubelrufen Luft. Die besten Jäger der heimischen Sippe führen Wisent die rotwangige Djarga zu, die Tochter ihres tapferen Häuptlings; sie soll seine Frau sein. Wisent ist jetzt Häuptling von allen. Die beiden Sippen, geschwächt durch opferreiche Kämpfe, haben sich zu einer großen Gemeinschaft vereinigt – zu einer starken, mächtigen Sippe, die keinen Feind zu fürchten braucht. »Hoja – eja! Wisent, Wisent, Wisent!« Auf dem einsamen Felsen über dem Tal der Betschwa lodert das festliche Lagerfeuer der Vereinigung. Der gemeinsame Vorteil drängt die Menschen dazu, sich zur großen Gemeinschaft, zur Gesellschaft, zusammenzuschließen; gemeinsam ernährt man sich besser, verteidigt sich besser und lebt man besser!
Die vereinigte Sippe herrscht in dem breiten Tal des Mährischen Tores. Von ihrem Felsen oberhalb der Betschwa9 sehen die Jäger weithin nach allen Richtungen. Sie bemerken recht __________________________________________________ 9
Der Hügel Hradisko, Predmost bei Prerau.
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zeitig jede Tierherde und jede sich nähernde Jägersippe. Keine der vorüberziehenden Sippen wagt einen Angriff auf das starke Lager; im Gegenteil, sie melden sich freundschaftlich mit Geschenken oder mit Tauschangeboten von Feuersteinen oder Muscheln. Wisent versorgt die Sippe umsichtig mit einem genügenden Vorrat an Feuersteinen, die wandernde Sippen vom fernen Norden gebracht haben. Seine Jäger haben jetzt vorzügliche Waffen und eine Menge scharfer Werkzeuge. Der Sippe geht es gut. Oft meldet die Wache die Nähe von Mammuten, deren Hauptwanderstraße durch das Mährische Tor 183
führt. Die Sippe umzingelt dann die Herde und bringt gewöhnlich ein Mammut zur Strecke – und dann ist auf viele Tage für reichliches Essen gesorgt. Im Lager häufen sich die Mammutknochen, besonders Backenzähne und Stoßzähne; wenn fremde Jäger zu der Sippe kommen, um einen Tauschhandel abzuschließen, staunen sie über diesen unerhörten Reichtum. Die Jäger haben jetzt genügend Zeit, die Knochen zu geeigneten Werkzeugen zu verarbeiten. Sie erzeugen Nadeln mit eingebohrten Öhren, Ahlen, Fleischgabeln, Schaber, große Löffel, Harpunen zum Fischfang und was sie sonst noch ersinnen. In besonders gelungene und beliebte Werkzeuge ritzt der Erzeuger sein persönliches Mal – ein so bezeichnetes Gerät ist »sein«, und niemand fällt es ein, sich einen solchen Gegenstand anzueignen. Es finden sich auch Künstler, die mit scharfen Feuersteinen Bilder, zumeist solche von Jagdtieren, in die glatten Knochen ritzen. So verfließt die Zeit – ruhig und beschaulich. Doch dann gibt es eines Morgens Alarm im Lager: Djarga, Wisents junge Frau, ist in der Nacht plötzlich verschwunden! Und niemand in der Sippe hat sie fortgehen sehen! Die Jäger fahnden sofort nach ihr, aber sie finden nur ihr geflochtenes Körbchen, das unweit vom Lager im Gebüsch liegt. Und dann stellt sich heraus, daß außer Djarga auch einige Männer aus der Sippe fehlen: Raufbold, Schnellfuß, Bussard und Dickwanst ... Einige Jäger erinnern sich, daß sie diese Jäger in letzter Zeit häufig haben abseits beisammen stehen sehen, als ob sie heimlich etwas besprochen hätten. Erst gegen Mittag erklärt sich das Geheimnis. Der scharfsichtige Fährtensucher Zottel führt den Fahndungstrupp entlang den aufgefundenen Spuren der Verschwundenen, und plötzlich sichten sie Djarga: ohnmächtig im Gras liegend, das hier, auf einer kleinen Lichtung, wie nach einem Kampf niedergestampft ist. Sofort springt Wisent zu seiner Frau und hebt behutsam 184
ihren Kopf. Djarga öffnet die Augen ein wenig, erkennt Wisent aber nicht. Ihr Kopf sinkt wieder zur Erde. Die Jäger bringen in einem Fell Wasser heran und begießen die bewußtlose Frau. Djarga atmet nun kräftiger und kommt allmählich zu sich. Nach einer Weile kann sie in knappen Worten erzählen, was vorgefallen ist: Raufbold hat sie aus dem Lager gelockt und dann gezwungen, mit ihm und seiner Gruppe zu gehen. Als sie seine verräterische Absicht erkannte, widersetzte sie sich. Sie versuchte zu fliehen, wurde aber wieder eingefangen, und als sie sich an einem Baum festhielt, schlug Raufbold sie wütend auf den Kopf, so daß sie zu Boden sank. Und dann war Nacht um sie ... Zottel hat indessen festgestellt, daß Raufbolds Gruppe in den Bach gestiegen und durchgewatet ist – offenbar, um keine Spuren zu hinterlassen; die Flüchtigen rechnen also mit Verfolgung. Die Jäger warten auf ein Zeichen Wisents, die Jagd nach den Treulosen fortzusetzen; aber der Häuptling macht nur eine verächtliche Handbewegung und sagt: »Ins Lager!« Er stützt die schwache Djarga und geht mit ihr langsam zurück. Die übrigen folgen. Auf dem Heimweg sprechen sie über Raufbold und meinen übereinstimmend, daß seine Flucht von der Sippe noch schlecht enden wird; im übrigen weint man den Abtrünnigen keine Träne nach. »Gut, daß sie fort sind«, drückt Zottel die Meinung aller aus, »kein gutes Leben mit ihnen.« »Wir stark genug – auch ohne sie«, schließt Wisent das Gespräch. In der Sippe wird nicht weiter von Raufbold gesprochen.
Das tägliche Leben im Lager geht weiter wie vorher. Trotz allem Überfluß ist die Sippe nicht recht zufrieden. Die Jäger sind des ständigen Ausschauhaltens nach all den fremden 185
Sippen müde, die durch das Mährische Tor ziehen; zwar sind sie stark genug und brauchen niemand zu fürchten, aber sie müssen in ständiger Bereitschaft sein, um jeden Angriff abwehren zu können. – Noch schlimmer ist, daß das Übermaß an Fleischgenuß zu argen Krankheiten geführt hat, die infolge der allgemeinen Unreinlichkeit besonders rasch verbreitet werden. Das Bächlein, aus dem die Sippe das Trinkwasser holt, ist durch das Auswaschen der Innereien von Tieren verunreinigt; Wolken von Fliegen bedecken alle Vorräte im Lager und übertragen die Seuchen; die Unmengen von faulenden Abfällen, Därmen und Knochen stinken bereits unerträglich; und in den Zelten nimmt der Schmutz überhand, in ihrem abscheulichen Gestank gleichen sie bereits den Höhlen fleischfressender Bestien. Im Lager wüten Bauchtyphus, Ausschläge und Geschwüre. Die Körper der Menschen sind mit lästigen Schmarotzern bedeckt, das Haar ist verlaust. Unter den kleinen Kindern haben die Krankheiten schon etliche Todesopfer gefordert. Beim abendlichen Lagerfeuer spricht man über das alles, und die alten Jäger meinen, daß die Sippe sich durch längere Wanderschaft ausheilen müsse. Und eines Tages verläßt die große Sippe Wisents das stinkende Lager und begibt sich durch die Mährische Senke nordwärts; ihr Wegweiser ist die March. Wenn der Sippe unterwegs ein größerer Fang gelingt, macht sie für einige Tage halt, dann zieht sie wieder weiter. Zwar sind hier nicht so viele Tiere wie an der unteren Betschwa, aber niemand leidet Hunger. Der Gesundheitszustand der Sippe bessert sich zusehends. Sie sind nun schon wochenlang unterwegs. Das Tal, durch das sie jetzt ziehen, wird immer enger, zu beiden Seiten rücken die hohen Bergketten näher heran und vereinigen sich schließlich. Hier ist ein Weiterkommen unmöglich; die Sippe wandert eine Tagereise zurück und stößt in der Niederung auf eine große Rentierherde. 186
»Rentiere werden uns führen!« entscheidet Wisent und gibt Auftrag, die Herde sorgfältig zu beobachten und nicht aus den Augen zu lassen. Täglich erlegen die Jäger nun zwei oder drei Rentiere, die sich zu weit von den Ihren entfernt haben; die Herde selbst lassen sie jedoch unbehelligt, um deren Zug nicht zu stören, und folgen ihren Spuren. Die Rentierherde zieht westwärts, ein breites, flaches Tal entlang, einem kleinen Flußlauf folgend. Nur niedrige Hügel umsäumen das Tal. Offenbar streben die Tiere höhergelegenem, offenem Gelände zu, wo sie nicht so von Mücken und Fliegen geplagt werden wie unten in der warmen Senke. Dort ist es ja wegen der Insektenschwärme nicht mehr auszuhalten gewesen. In dichten Wolken ziehen die Gelsen über das Land, summend und singend, und stechen alles, was warmes Blut hat. Auch auf die Menschen lassen sie sich in dichten Schichten nieder, bedecken Hals und Schultern, kriechen in Mund und Augenwinkel ... Wenn man mit der Hand hinschlägt, kann man mit einem Hieb wohl ihrer hundert erschlagen – aber gleich sind hundert oder noch mehr andere da und bevölkern die freigewordene Stelle. Die Gelsen sind die größte Qual der Jägersippen, und das endlose Wegjagen der lästigen Insekten entkräftet die Menschen. Es ist ein aussichtsloser Kampf, und am besten ist es, vor der Gelsenplage in andere Gegenden zu flüchten. Wisents Sippe folgt der großen Herde. Doch eines Morgens geraten die Rentiere in einen Bremsenschwarm und ergreifen vor den angreifenden Insekten eilig die Flucht – es wäre sinnlos, ihr nachzusetzen. Wisent entscheidet, die nun einmal eingeschlagene Richtung beizubehalten, und führt die Seinen weiter. So ziehen sie wochenlang westwärts. Wenn die Täler, durch die sie wandern, in unwegsames Berggelände münden, müssen sie umkehren und andere Wege suchen. Schließlich halten sie sich an einen Fluß, der durch eine hügelige Waldgegend west187
wärts rauscht. Hier gibt es nur wenig Wild, aber die erfahrenen Jäger sagen, daß jeder Fluß schließlich in breites Tiefland führe, daß also auch dieser einer tierreichen Niederung zustrebe. Und sie täuschen sich nicht. Sie kommen schließlich an die Elbe, in ausgedehntes Tiefland. Gleich am ersten Tag erlegen sie ein stattliches Mammut und halten einige Tage Rast. Die Kundschafter fordern die Sippe auf, noch weiter nach Westen zu ziehen; dort locken weite Hochflächen, von Rentieren und Pferden bevölkert. Also weiter – der Sonne nach!
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DRITTER TEIL
Das geraubte Mädchen Der Jäger Zottel ist der beste Fährtensucher der Sippe. Schon den dritten Tag verfolgt er einen Haufen Rentiere, die von den Elbesümpfen zur Sommerweide in die höheren Lagen Südböhmens hinüberwechseln. Zottel, so genannt, weil er am ganzen Körper noch üppiger behaart ist als die übrigen Jäger, läuft geduckt von einem Busch zum anderen und beobachtet aus sicherer Deckung gespannt die unruhigen Tiere. Vor Eifer und Erregung ist sein Gesicht ganz verkniffen – und doch scheint er ständig zu grinsen: das bewirkt die gewaltige Narbe, das Andenken an jenen verzweifelten Kampf gegen den Bären. Die Rentiere sind unruhig und mißtrauisch, das Leittier grast nicht mit den übrigen Tieren, sondern reckt unausgesetzt die Nüstern witternd gegen den Wind. Die Herde verweilt nie längere Zeit an einem Ort, sondern zieht äsend weiter; wenn die Sippe nicht bald mit der Jagd beginnt, werden die Tiere außer Reichweite gelangen. Und die Sippe hat die Beute schon dringend nötig! Vor einigen Tagen, freilich, schien ein ausgiebiger Fang in greifbarer Nähe: Eine große Rentierherde, durch die wachsenden Wolken frecher Gelsen und Fliegen belästigt, erhob sich von der Elbe; Zottel sichtete sie und rief sofort die Sippe zu reicher Jagd. Aber überraschend kam eine fremde, viel stärkere Jägerschar herbei. In Wisents Sippe färbt man sich mit Vorliebe mit 189
Steinsamenwurzeln rot, die Männer der fremden Sippe hingegen waren gelb bemalt; sie verjagten Zottel und seine Gefährten, von denen zwei, arg verwundet, auf der Flucht vor Schwäche umsanken und nicht wieder aufstehen konnten – die Sippe mußte sie den Wölfen überlassen. Was anderes hätte man auf eiliger Flucht mit ihnen, die nicht mehr laufen konnten, tun sollen? – So verlor die Sippe die Beute und zwei Männer obendrein ... Die fremde Sippe heftete sich dann selber den Rentieren an die Fersen. In der Verwirrung trennten sich einige kleinere Haufen der Tiere von der Herde und liefen nach allen Seiten auseinander. Wisents Sippe blieb nur mehr die Möglichkeit, einen dieser versprengten Rentiertrupps zu verfolgen; Zottel wurde als Späher ausgeschickt – und tatsächlich gelang es ihm, die Tiere aufzuspüren. Und jetzt ist also Eile geboten! Zottel beschließt, sogleich zu den Jägern zurückzulaufen und sie dann zu den grasenden Tieren zu führen. Es ist keine Zeit mehr zu verlieren, sonst vereinigt sich der Rentierhaufen wieder mit der Hauptherde – und dann ist er für die Sippe verloren; denn auf den ungleichen Kampf mit den Fremden darf man sich keinesfalls einlassen. Rasch entschlossen kriecht Zottel durch das Gebüsch zurück und läuft dann der Sippe entgegen. Der Weg ist lang und beschwerlich, aber schließlich sichtet der beobachtungsgewandte Jäger von einer Anhöhe aus die Gefährten, die sich eben einen Weg durch das verschlungene Unterholz bahnen. Zottel schmettert ihnen laute Rufe entgegen und schwingt sein Steinbeil über dem Kopf – zum Zeichen, daß sie zu ihm eilen mögen. Bald darauf ist die ganze Sippe um Zottel versammelt. Der Fährtensucher erklärt in aller Eile, was er ausgekundschaftet hat. Der Häuptling der Sippe, der starke Wisent, begreift sofort, um was es geht, und gibt augenblicklich die Befehle zum Beginn der Jagd. 190
Rund ein Dutzend Jäger sowie einige größere Buben und Mädchen brechen mit Zottel auf. Die Mädchen, unter der Führung von Meise, sollen sich als Treiber betätigen; sie müssen sich daher beeilen, um den Rentiertrupp zu umgehen. Der Rest der Sippe, einige Frauen und kleine Kinder, sucht unweit vom Bach einen geeigneten Ruheplatz. Hier werden sie bleiben und die Rückkehr der Jäger abwarten. Wenn die nur mit recht viele Beute zurückkämen! Die Kinder, durchwegs nackt, laufen nach einer kleinen Weile Rast wieder lustig umher und machen sich mit dem Lagerplatz bekannt. Der junge Jäger Uhu ist diesmal bei den Frauen und den Kindern geblieben. Er kann nicht mit den Gefährten auf die Jagd gehen, weil er hinkt. Er hat ein zerschlagenes Knie und betätigt sich auf Anordnung des Häuptlings als Wächter des Feuers; in einem glimmenden Schwamm verwahrt er das Feuer und ist dafür verantwortlich, daß es nicht erlischt. Jetzt ist er gerade dabei, gemeinsam mit den Frauen ein Lagerfeuer anzufachen. Schon schlagen helle Flammen aus dem zusammengetragenen Reisig, und die Kinder bringen auf den Armen stets neues Futter für das gefräßige Feuer heran. Dann streifen die Kinder im Wald herum, um etwas zum Beißen zu finden. Sie kosten alles, was sie finden; sie essen Sauerampfer, einige auch Gras, Distelblüten und Schwämme. Kaum haben sie den ärgsten Hunger gestillt, geht es wieder ans Spiel; übermütig springen sie in den Bach und bespritzen einander unter lautem Geschrei. Hinter Eichhorn geht ständig eine Wildgans mit verstümmeltem Flügel einher. Der Bub hat sie einmal als ganz junges Gänslein gefangen, und seither ist sie seine unzertrennliche Begleiterin. Sie läßt sich von ihm streicheln, und wenn Eichhorn sie ruft: »Gansi! Gansi!«, meldet sie sich sofort mit lautem Geschnatter und watschelt zu ihm. Jetzt badet sie mit den Kindern im Bach. 191
Schon öfters war Eichhorns Gans in Lebensgefahr, und nur das Jammern des Buben hat sie davor bewahrt, getötet und verspeist zu werden. Eichhorn gibt sie nicht her, nein, niemand! Die Gans gehört ihm! Und wie er für sie sorgt! Beim Wandern von einer Gegend in die andere trägt er die Gans in einem Fellsack auf dem Rücken. Einmal hätte ein Fuchs sie ihm beinahe weggeschnappt, aber der wachsame Bub hat ihn noch rechtzeitig mit einem Prügel verjagt. Nein, nein, seine Gans gibt er niemand! Nach dem Bad läßt sich die Gans am Ufer trocknen. Sie glättet mit dem Schnabel die glänzenden, schöngefärbten Federn und schnattert vor Behagen. Die Frauen bereiten rings um das Feuer die Lagerstätten für die Nacht. Wenn doch die Jäger zumindest ein einziges Rentier mitbrächten! Man könnte sich endlich wieder einmal satt essen! Der Gedanke an ein üppiges Mahl zieht alle in seinen Bann. Niemand im Lager ahnt, daß in diesem Augenblick im nahen Gebüsch ein fremder Kundschafter versteckt ist ... Er liegt eng an den Boden gepreßt und beobachtet mit scharfem Blick alles, was sich am Feuer begibt. Er ist ein kräftiger junger Mann; die Stirn, die Wangen und alle jene Körperstellen, die kein Haarwuchs bedeckt, sind mit gelber Farbe dick bemalt, was wahrscheinlich als Verzierung gedacht ist, aber gleichzeitig als gutes Mittel gegen die Gelsen dient. Der Fremde liegt regungslos auf der Lauer. Die Seinen haben ihm den Namen Schlange gegeben, und er ist ein junger, aber schon in vielen Kämpfen erprobter Jäger aus jener mächtigen Sippe, die neulich Wisents schwächere Schar verjagt hat. Schlange ist auf Kundschaft in diese Gegend gekommen. Er hat die zahlreichen Menschenspuren entdeckt und bei ihrer Verfolgung das Lager gefunden. Kurze Zeit später weiß er alles, was er wissen will; leise kriecht er zurück in den Wald, ohne von irgend jemand bemerkt worden zu sein. Außer Sichtweite des Lagers steht er auf und eilt aufrecht weiter. 192
Aber er ist noch keine zwei Steinwürfe weit gekommen, da duckt er sich plötzlich zur Erde und kriecht ins Gebüsch. Einige Schritte vor ihm steht Wiesel, ein junges Mädchen aus Wisents Sippe. Sie hält ein aus Gräsern geflochtenes Körbchen in der Hand und schaut sich forschend um, weil sie ein Geräusch gehört hat. Der versteckte Schlange schleicht näher heran und betrachtet mit wachsendem Gefallen das nichtsahnende Mädchen. Wiesel, durch die völlige Stille wieder beruhigt, kommt etwas näher heran, und Schlange merkt, daß das Mädchen hinkt – es muß sich verletzt haben. – Tatsächlich, Wiesel setzt sich auf einen umgestürzten Eichenstamm, stellt das Körbchen voll Beeren auf die Erde und versucht, sich einen eingetretenen Dorn aus dem Fuß zu ziehen. Ein verdächtiges Geräusch schreckt sie auf. Sind da Füße auf Reisig getreten? Das Mädchen schaut um sich, horcht – ganz in der Nähe hämmert ein Specht gegen einen Baum. Sonst rührt sich nichts. Wiesel beruhigt sich wieder, dann stößt sie einen Wehlaut aus, aber – der Dorn ist draußen! Wieder raschelt etwas, und bevor Wiesel noch aufspringen kann, reißt sie jemand zu Boden und stopft ihr das Fell, mit dem sie bekleidet ist, in den Mund! Der Kundschafter der fremden Sippe, der junge Schlange, steht über die Überwältigte gebeugt und droht ihr mit seinem Steinbeil, das er aus dem Gürtel gezogen hat: Sie möge ja nicht wagen, um Hilfe zu schreien, sonst ... Das Mädchen muß sich fügen. Der junge Mann zieht das Fell aus Wiesels Mund und stößt sie mit dem Fuß an, um ihr zu bedeuten, aufzustehen und ihm zu folgen. Das Mädchen steht auf und schaut furchtsam und ergeben den fremden Jäger an – mit einem Ausdruck unbedingten Gehorsams. Er hat sie überwältigt, er ist ihr Herr; sie 193
muß ihm folgen, wohin er befiehlt. Wiesel weiß, was ihrer wartet: sie wird die Frau des jungen Jägers werden, der sie geraubt hat.
Die Kinder unterhalten sich indessen nichtsahnend am Bach. Sie bauen aus Steinen ein Wehr und freuen sich, daß das Wasser sich nun staut und allmählich einen ganzen Teich bildet. Sie verstehen es auch, kleine Fische zu fangen. Der kleine Zappel 194
ist dabei ins Wasser geplumpst, und jetzt plärrt er und schüttelt sich. Das Mädchen Taube tröstet ihn und zeigt ihm schöne Steinchen. Die Kinder finden da im Ufersand viele gelbglänzende Körnchen, hier und da auch größere gelbe Klümpchen, die im Sonnenlicht wunderlich funkeln. Die Kinder haben schon ein ansehnliches Häufchen gesammelt. Auch in den Steinen, mit denen sie das Wehr bauen, schimmern glänzende Körnchen. Die Kinder laufen ins Lager, um mit ihrer Entdeckung zu prahlen. Aber die Frauen schauen geringschätzig auf die Goldkörnchen – man kann sie ja nicht essen! – und lachen die Kinder aus. Auch Uhu, der das Feuer nährt, betrachtet, was die Kinder da im Bach gefunden haben. Er nimmt die glänzenden Dinger zwischen die Finger, schüttelt die Körnchen in der hohlen Hand, riecht dazu, beißt in ein größeres Klümpchen, spuckt es wieder aus und wirft dann alles verächtlich weg. Die enttäuschten Kinder gehen wieder zum Bach zurück. Sie sammeln nun keine Goldkörnchen mehr und befestigen nur mit größeren Erzstücken das Wehr, das sie vorhin angefangen haben. Das Wasser im Bach steigt höher und höher, zur großen Freude der Kinder, die jauchzend in ihren neuen Teich springen. Dort tauchen hier und da kleine Fische auf und flüchten dann eiligst vor den Kindern, so daß die Oberfläche des Wassers von ihrem Gewimmel ganz wellig aussieht. Manchmal schnellt sich ein Fischlein sogar über den Wasserspiegel hinaus in die Höhe. Eichhorn ruft: »Jeh, ein Fisch-Fisch!« – was soviel bedeutet wie ›ein großer Fisch‹. Und dann fordert er auf: »Wir treiben die Fische ans Ufer!« Sofort bilden die Kinder im Wasser eine Kette, deren beide Endglieder hurtig dem Ufer zustreben; in dem Halbkreis dazwischen sind die Fische nun eingeschlossen. Und nun drängen alle Kinder uferwärts, immer enger wird der Schwimmbereich 195
der in die Falle geratenen Fische. Aber diese sind sehr schlüpfrig – viele von ihnen rutschen zwischen den Kinderbeinen hindurch ins freie Wasser! Immerhin gelingt es den Kindern, etliche Fische endgültig an Land zu treiben, wo sie mit einem verzweifelten Sprung im Ufersand landen und dann nach wilden Zuckungen schließlich reglos liegen bleiben. Mit lautem Jubel stürzen sich die Kinder auf die Beute.
Wisent und seinen Jägern ist es indessen gelungen, zwei Rentiere zu erlegen, und nun tragen sie die Tiere, denen sie lange Stöcke zwischen die zusammengebundenen Läufe geschoben haben, dem Lagerplatz der Sippe zu. Die Jäger sind in bester Laune: die ansehnliche Beute macht den Hungertagen ein Ende! In einer Waldschlucht halten sie Rast, die müden Jäger lagern sich auf eine Weile ins Moos; sie freuen sich schon auf den bevorstehenden Schmaus. Wisent, der Häuptling, bleibt auf den Beinen. Er entfernt sich ein wenig von den Gefährten, um herauszufinden, wie der Heimweg am besten fortzusetzen sei. Doch kaum ist er eine Strecke waldeinwärts gewandert, da hört er plötzlich das Knacken von Zweigen, im Unterholz bewegt sich etwas ... Wisent stößt leise den Warnungsruf seiner Sippe aus. Und schon springen die Jäger auf und greifen nach den Waffen. Im Nu sind sie kampfbereit. Der Hang ist ziemlich dicht bewachsen, so daß sie vorerst nicht sehen können, wer oder was sich ihnen nähert. Wieder rascheln Zweige, und plötzlich springt aus dem Dickicht – ein gelb bemalter junger Jäger! Und hinter ihm – Wiesel! Schlange ist sehr überrascht, als er plötzlich eine Reihe bewaffneter Männer vor sich sieht. Er erstarrt mitten im Lauf, wie vom Donner gerührt! Und schon springt Wisent auf ihn zu, und 196
auch die übrigen Jäger verstellen dem fremden Räuber den Weg. Aber schon hat sich Schlange gefaßt. Im Augenblick erkennt er die tödliche Gefahr, dreht sich blitzschnell um und setzt mit einem tigerartigen Sprung ins Gebüsch! Das Mädchen Wiesel steht ratlos da ... Wisent stürzt mit einem Aufschrei der Wut dem fliehenden Jäger nach. Aber Schlange macht seinem Namen Ehre! Mit unglaublicher Behendigkeit windet er sich durch das dichte Unterholz, klettert dann gewandt den steilen Hang hinauf und bahnt sich durch das Geflecht der Zweige so flink seinen Weg, daß Wisent ihm nur schwer folgen kann. Einige Jäger laufen hinter dem Häuptling her, andere versuchen auf bequemeren Steigen den Flüchtling zu überholen und ihm den Rückweg abzuschneiden. Schlange kann nicht entkommen. Um der Umzingelung auszuweichen, versucht er tollkühn, sich auf einen steil aufragenden Felsblock zu schwingen – aber schon ist Wisent da, klammert sich an die baumelnden Beine des Erschöpften, bringt ihn schließlich zu Sturz und wirft sich über ihn. Indessen sind auch die anderen Jäger herangekommen – und bald ist Wiesels Entführer überwältigt. Wisent fesselt die Hände des Besiegten und schleift ihn dann durch das Gebüsch zurück; es ist ihm einerlei, daß Schlange von den Zweigen blutiggeschunden wird. Der Gefangene wird zu den erlegten Rentieren gelegt; er rollt finster die Augen, preßt die Lippen zusammen und schweigt. Die befreite Wiesel steht noch immer bewegungslos an einen Baum gelehnt. Nun, da die Jäger den Entführer überwältigt haben, erzählt sie und macht mit Gebärden anschaulich, was ihr widerfahren ist. Die Jäger sind über diesen Bericht so maßlos erbost, daß sie sich sogleich auf den Gefangenen werfen wollen, um ihn grausam zu bestrafen. Nur Wisents mißbilligendes Knurren hält sie zurück. 197
»Im Lager werden wir ihn bestrafen!« sagt der Häuptling und gibt den Befehl zum Aufbruch. Die Träger nehmen die Stöcke mit den beiden Rentieren wieder auf, die übrigen Jäger treiben den Gefangenen mit Püffen und Schlägen vor sich her. So geht es dem Lagerplatz der Sippe zu. Im Lager herrscht große Freude, als die Jäger ihre Beute einbringen. Man kann wieder essen, endlich, endlich, die Hungertage sind zu Ende! Dem gefangenen Schlange werden nun auch die Beine mit Riemen gefesselt. Ein wenig abseits vom Lager wird er ins Gras gelegt – der Anblick des verhaßten Fremden soll das Mahl nicht beeinträchtigen! –, und der junge Schwarzauge bleibt als Wächter bei ihm. Alle anderen werfen sich nun auf die erlegten Tiere. Unter Verwendung ihrer in Horngriffe eingesetzten Feuersteinmesser ziehen sie die Häute ab und schneiden sie die Tiere auf. Dann holen sie geschickt die Gedärme heraus, und jeder Jäger schneidet sich ein Stück davon ab. Sie quetschen mit den Fingern den Darminhalt heraus und verschlingen ihn gierig. Ähnlich lassen sie sich auch den Magen schmecken. 198
Frauen und Kinder sitzen ringsum und können kaum mehr erwarten, daß die Reihe auch an sie kommt. Das eine Rentier ist bereits zerteilt, die auf Äste gespießten Fleischstücke braten über dem Feuer. Die ganze Aufmerksamkeit der Sippe gilt der Zubereitung der Mahlzeit. Die Jäger erzählen ohne besondere Aufregung über die heutige Rentierjagd und darüber, wie sich einzelne von ihnen ausgezeichnet haben; andere lachen sie wegen ihrer Ungeschicklichkeit aus. Wiesel bekommt als erste der Frauen ein Stück gebratenes Fleisch. Sie schlingt es schnell hinunter und geht dann zum Bach Wasser trinken; dazu muß sie ein Stückchen bachaufwärts wandern, weil hier beim Lager das Wasser zu sehr getrübt ist. Auf dem Rückweg bleibt sie zwischen den Sträuchern in der Nähe des gefesselten Gefangenen stehen und beobachtet ihn eine Weile. Der Bratenduft würzt die Luft, und der Wächter Schwarzauge, der es vor Hunger kaum mehr aushalten kann, kriecht immer näher an das Feuer heran; aber wenn Schlange sich bewegt, packt der Bub einen Stein und wirft ihn nach dem Gefangenen. Wiesel kommt ganz nahe an Schlange heran. Mehrmals blickt sie sich um, wie um sich zu vergewissern, daß niemand ihr Tun beobachtet. Was hat sie vor – will sie sich etwa an dem Wehrlosen rächen? Horch! Wiesel pfeift – fein wie ein Murmeltier, wenn es mit seinen Jungen spielt. Und nach einer Weile meldet sich das Murmeltier noch einmal. Der Gefangene horcht auf, wendet vorsichtig den Kopf gegen das Gebüsch und erblickt das Mädchen. Und da springt Wiesel plötzlich auf Schlange zu, beugt sich zu ihm nieder und beginnt mit dem vorbereiteten Feuersteinmesser die Fessel an seinen Händen zu durchschneiden! Aber es geht ihr nicht schnell genug, flink springt sie wieder zurück ins Gebüsch, da sie fürchtet, ertappt zu werden. Das Messer fällt ihr herunter, aber sie läßt sich keine Zeit mehr, es aufzuheben. 199
Der Wächter muß etwas bemerkt haben, denn er dreht den Kopf zurück und beobachtet eine Weile den auf dem Boden liegenden Schlange. Nichts rührt sich. Aber als Schwarzauge sich wieder dem Feuer zuwendet, wälzt sich der Gefangene so nahe an Wiesels Messer heran, daß er es mit den Zähnen fassen kann. Mit festem Biß hält er den Griff und zieht den bereits angeschnittenen Lederriemen, der seine Hände fesselt, über die Schneide. Und sein Plan gelingt! Schon ist die eine Hand frei – im nächsten Augenblick auch die zweite! Jetzt geht Schlange daran, auch seine Beine zu befreien – vorsichtig, im Liegen, der Wächter darf nichts merken! Und nun ist auch das geschafft! Er ist frei! Er kann fliehen ... Aber Schlange bleibt weiter auf der Erde liegen, er streckt nur ein wenig die Glieder. Wiesel nickt ihm aus dem nahen Gebüsch zu, er möge doch rasch fliehen, aber Schlange schüttelt nur den Kopf und bedeutet ihr mit knappen Gesten, daß er nicht entfliehen will – nicht allein ... Nur mit ihr, mit Wiesel! Das Mädchen lehnt ganz verwirrt ab. Schlange setzt sich auf, bereit, im nächsten Augenblick aufzuspringen. Er wendet keinen Blick von dem Mädchen. Wiesel drückt mit seltsamen Handbewegungen ihre völlige Ratlosigkeit aus. Da schaut sich Schwarzauge wieder nach seinem Gefangenen um. Seine Augen sind vom Feuerschein ein wenig geblendet, sonst müßte er sehen, daß Schlanges Hände frei sind; er bemerkt nur, daß der Gefangene sich aufgesetzt hat, und wirft wütend einen goldschimmernden Stein nach ihm: »Wirst du liegen, du!« ruft der Bub. Schlange legt sich sofort zurück ins Gras. Er heuchelt Unbeholfenheit – so, als wären seine Hände noch gefesselt. Von 200
Wiesel wendet er kein Auge; herausfordernd starrt er sie an. Und schließlich nickt das Mädchen: Einverstanden! Schwarzauge, der Wächter, hat sich nichtsahnend abgewandt. Behende springt Schlange auf, läuft geduckt bis zu den Büschen – und schon ist er im Unterholz verschwunden! Und das Mädchen mit ihm! Am Lagerfeuer schmausen die Jäger, von dem üppigen Mahl völlig in Anspruch genommen ...
Das Feuer ertrinkt Der Schmaus dauert an. Die gute Laune der unentwegt kauenden Jäger steigert sich zu froher Ausgelassenheit. Im Lager geht es recht geräuschvoll zu. Schwarzauge, der junge Wächter, ist ganz von dem saftigen Fleischklumpen in Anspruch genommen, den einer der Jäger ihm zugeworfen hat. Erst nach geraumer Weile schaut er sich wieder nach seinem Gefangenen um. Aber – was ist das! Trügt ihn sein Blick? Wie besessen springt Schwarzauge auf und stürzt zu der Stelle, wo zuvor der gefangene Schlange gelegen ist. Aber der liegt nicht mehr da ... Schwarzauge schreit kreischend Alarm! Die Jäger springen vom Feuer auf und packen ihre Beile und Speere – vermutlich bedroht irgendein wildes Tier das Lager! Da schreit Schwarzauge abermals in höchster Aufregung, und nun laufen alle Jäger zu ihm. Er zeigt auf das geknickte Gras und stottert fassungslos einige wirre Worte. Der Gefangene – der Gefangene ist verschwunden! Es ist völlig unbegreiflich, wie der gefesselte Mann fliehen konnte. Aber zum Nachdenken ist jetzt keine Zeit – jetzt muß man handeln! Wisent packt den unglücklichen Wächter und 201
schleudert ihn wütend zu Boden, dann aber hält er sich nicht weiter mit ihm auf, sondern gibt unverzüglich den Befehl zur Verfolgung des Flüchtigen: »Ihm nach! Fangt ihn!« Alle laufen in den nahen Wald. Gewiß hat der Flüchtling diese Richtung genommen! Die Jäger untersuchen die Spuren und folgen ihnen eiligst. Der Häuptling läuft voran; sein scharfer Blick erkennt bald, daß hier zwei Spuren führen – eine leichte und eine schwere! Zottel läuft herbei, ein Fährtensucher wie kaum ein zweiter, kaum hat er die Spur betrachtet, ruft er: »Mann – Frau!« Er beugt sich zur Erde, beschnuppert die Spur, folgt mit den Blicken ihrer Richtung und erklärt dann bestimmt: »Eine Frau aus unserem Lager!« Alle sind überrascht und überblicken sofort den versammelten Haufen, um festzustellen, welche Frau aus der Sippe fehlt. Aber der Häuptling läßt sie nicht stehen, sondern treibt alle vorwärts. Die schnellfüßigen Jäger eilen hinter Zottel her, der in vollem Lauf die Spuren liest und diesen tiefer in den Wald hinein folgt. Auch die übrigen Mitglieder der Sippe laufen, so schnell sie können; auch sie wollen das Ihre zum Erfolg des Unternehmens beitragen. Sie werden den fremden Jäger wieder einfangen! Und auch die Frau, die mit ihm geflohen ist! Und sie werden sie beide töten! Auch die Kinder laufen mit, um die wilde Jagd zu beobachten; und mit ihnen die Frauen, ihre Säuglinge auf dem Rücken. Eichhorn ist der letzte; er nimmt ein Rentierfell und deckt damit seine Gans zu, aber die ist damit nicht einverstanden und arbeitet sich wieder hervor. Der Bub deckt sie noch einmal zu und drängt sie wieder unter das Fell zurück, als sie den Kopf hervorstreckt. Die Gans beruhigt sich nun, und Eich202
horn schaut, daß er seinen Freund Stoß einholt, der mit den anderen bereits im Wald verschwunden ist. Alle wollen sehen, wie der bemalte Jäger gefangen wird! Niemand bleibt im Lager. Das Feuer brennt herunter, niemand legt nach ... Eine freche Hyäne schleicht heran, völlig unbehindert, und erwischt ein Stück Fleisch. Vom Bach her ergießt sich das durch das Wehr überfließende Wasser ins Lager ... Das Häuflein Rentierfelle beginnt sich zu bewegen. Die Gans steckt den Schnabel hervor und schnattert. Unter den Fellen scheint es ihr nicht sehr gut zu gefallen. Sie schnattert unternehmungslustig und kriecht hervor. Dann spaziert sie in die Umgebung und läßt sich das Gras schmecken ...
Die beiden Flüchtlinge, Schlange und Wiesel, laufen, so schnell ihre Beine sie tragen. Sie wissen, daß der grausame Tod hinter ihnen her ist, und so spüren sie weder Dornen noch Stacheln, fühlen keine Müdigkeit, achten der stechenden Schmerzen in der Brust nicht. Sie keuchen, sind erhitzt wie von Fieber, hetzen atemlos weiter. Sie klettern einen Felshang hinauf, laufen die jenseitige Berglehne hinunter – und schließlich erreichen sie den Fluß. Ohne zu zögern, weist der schweißbedeckte Schlange auf das Wasser, und schon springt er in die Strömung der Sazawa. Wiesel stürzt ihm bedenkenlos nach. Sie überqueren den seichten Fluß, und Schlange winkt der Gefährtin, nicht sofort ans Ufer zu steigen, sondern gleich ihm noch eine Strecke flußaufwärts zu waten, um den Verfolgern das Auffinden der Spur zu erschweren. Dann huschen die beiden geduckt in das Ufergebüsch und jagen weiter – eben als vom Hang jenseits des Flusses das Geschrei der nahenden Rächer her203
überklingt. Mit verzweifelter Anstrengung hasten die Flüchtlinge davon. Schon haben die Verfolger den Fluß erreicht. »Hier sind sie ins Wasser gesprungen!« zeigt Zottel. »Ihnen nach!« ruft Wisent, und schon springen die Jäger in den Fluß. Als sie dann am anderen Ufer ankommen, hält Zottel sie mit der Warnung zurück, sie mögen die Spur der Flüchtenden nicht zerstören. So bleiben sie also vorerst im Wasser und suchen den Ufersand nach den Fährten der Verfolgten ab. Sie suchen lange – aber sie können die Spur nicht finden ... »Es dämmert! Man sieht nicht mehr!« sagt Zottel schließlich mißmutig und zuckt die Achseln. Sein von der furchtbaren Narbe verzerrtes Gesicht scheint dabei zu grinsen. Die Nachzügler, zumeist Mädchen und Frauen, steigen eben ans Ufer, und Wisent erklärt ihnen, warum die Verfolgung abgebrochen werden muß: »Das Wasser hat die Spuren genommen!« Nun, da die stürmische Jagd ein Ende gefunden hat, findet sich auch Zeit, endlich festzustellen, welches Mädchen oder welche Frau eigentlich mit Schlange geflohen ist. »Wiesel!« schreit alsbald eine der Frauen. »Wiesel ist nicht da!« Und sie spuckt verächtlich aus. »Wiesel?« wundert sich der Häuptling und macht eine ungläubige Gebärde. »Der Bemalte hat sie verzaubert ...« Unvermutet rasch bricht die Dämmerung herein, weißliche Dünste erheben sich über der Niederung. An eine weitere Verfolgung der Flüchtigen ist nicht zu denken. Müde macht sich die Sippe auf den Heimweg. Abermals geht es über den Fluß, dann den Hang hinauf, hinein in den schon völlig dunklen Wald. Die trockenen Zweige krachen unter den Füßen. Zottel führt die Sippe so sicher wie in hellem Tageslicht. Als die Jäger schließlich aus dem Waldesdunkel treten und 204
die freie, dunstüberhangene Wiese erreichen, keimen plötzlich Verwunderung und Unbehagen in ihnen auf: Wieso sieht man den Flammenschein des Lagerfeuers nicht? Ist etwas geschehen? Wer hat das Feuer ausgehen lassen? Der Unselige! Oder hat sich vielleicht ein Feind des Lagers und der Beute bemächtigt und das Feuer ausgetreten? Alle erschrecken furchtbar. Wisent nähert sich mit den tapfersten Jägern vorsichtig dem Lagerplatz. Nichts regt sich. Oder doch – dort huschen geduckte Gestalten durch die Dämmerung! Oh, der Feind ist im Lager – vorwärts, los auf ihn! Wisent stößt den Kampfruf der Sippe aus und stürzt, sein Beil schwingend, als erster ins Lager, gefolgt von anderen tapferen Jägern. Aber – was ist das? Da huschen ja nur Wölfe davon – ein jeder mit einem Stück Fleisch im Maul ... öd und verlassen liegt der Lagerplatz da. Aber was ist mit dem Feuer? Ist es erloschen? Wisent springt zur Feuerstelle und scharrt mit dem Beil in den Schlacken. In der Asche zischt es, weißer Dampf steigt auf ... Aber kein Feuer! Irgendwie ist Wasser ins Lager gedrungen und hat das Feuer ersäuft. Überall ist es naß. Was ist geschehen – es hat doch nicht geregnet! Da erinnern sich die Frauen, daß die Kinder den Bach mit einem Wehr abgesperrt haben – ja, und da ist das Wasser schließlich übergeflossen ... Wisent brüllt auf wie ein verwundeter Hengst und schwingt wutschnaubend sein Steinbeil. Frauen und Kinder erbeben – wehe dem, den der Zorn des wütenden Häuptlings trifft! Die Buben beginnen in der Feuerstelle herumzuscharren, um viel205
leicht doch noch ein Stückchen Glut zu finden. Vergebens! Auch als sie in die Asche blasen, glimmt kein Funke auf. Das Feuer ist verloren – das Feuer, das sie so sorgsam behütet haben, das ihnen in der strengen Winterszeit Wärme gespendet, das ihnen das Fleisch gebraten hat! Wehe, wehe, wehe! »Wo ist Uhu?« schreit der Häuptling. Hinter den Frauen kommt der zerknirschte junge Feuerwächter hervor. Er vor allen anderen ist daran schuld, daß das Feuer verloren ist. Er hätte das Lager nicht verlassen dürfen! Der hinkende junge Jäger senkt demütig den Kopf und erwartet im Bewußtsein seiner Schuld den Todesstreich des Häuptlings. Die Kinder beginnen ängstlich zu wimmern. Da tritt Zottel vor den Häuptling: »Halt, Wisent! Wir wissen – du bist zornig, mit Recht. Du willst Uhu töten, ja – aber bringt das neues Feuer? Eh? Uhu – guter Jäger. Stark! Jung! Tapfer! Die Sippe braucht Uhu. Warte mit der Strafe – Zottel geht fort und bringt neues Feuer! Bestimmt bringt Zottel neues Feuer – hat guten Plan! – Ihr wartet hier. Viel Fleisch hier, genug für drei Tage. Dann kommt Zottel zurück – mit neuem Feuer!« Zottels ungewohnt lange Rede macht auf die ganze Sippe großen Eindruck. Da er alles, was er ausdrücken will, zugleich mit lebhaften Gebärden begleitet, verstehen ihn alle und stimmen mit Beifallsgebrumm seinem Vorschlag zu. Wisent überfliegt mit den Augen die versammelte Sippe und bemerkt, daß Stoß und Eichhorn sich hinter den unglücklichen Uhu gestellt haben. Die Erinnerung an den furchtbaren Abgrund und an den schrecklichen Löwen steigt in ihm auf ... Der strenge Blick in Wisents Augen wird weicher, und schließlich entscheidet er: »Gut, Zottel, geh! Bring neues Feuer! Drei Sonnen werden wir warten ...« Dabei macht er mit dem Arm dreimal einen 206
Bogen, womit er drei Sonnenbahnen über den Himmel andeutet. Die Sippe atmet erleichtert auf. »Ich gehe mit dir, Zottel! Uhu hinkt – kann nicht!« sagt der junge Hase, der sich bei der Jagd schon zu wiederholten Malen durch seinen Mut ausgezeichnet hat. Wisent und Zottel nicken ihr Einverständnis. »Ich gehe auch«, meldet sich Stoß und tritt vor den Häuptling. Der alte Zottel lobt den Buben, lehnt aber ab, ihn auf den gefahrvollen Weg mitzunehmen. Die Frauen tragen die Fleischvorräte zusammen, die die Wölfe ihnen übriggelassen haben, und lassen die beiden aufbrechenden Jäger davon nehmen, was sie brauchen. Zottel und Hase befestigen je einen Fleischklumpen am Gürtel und machen sich sogleich auf den Weg. Die Sippe ruft ihnen einen Jägergruß nach. Schon vom Wald her antworten die beiden mit dem Jagdruf der Sippe. – Im Lager herrscht gedrückte Stimmung. »Da ist naß!« beschweren sich die Jäger. Der Häuptling zeigt mit der Hand auf die nahe Anhöhe, und sofort übersiedelt das Lager dorthin. Die Kinder kriechen ins Gebüsch, die Frauen legen sich zu ihnen, ringsherum lagern sich die Männer, die Waffen in Griffnähe. Jeder kaut im Finstern rohes Fleisch. Eichhorn geht nicht mit den übrigen Kindern schlafen; unermüdlich durchstreift er die Büsche, sucht und sucht, und auf einmal klingt sein Ruf durch die Abendstille: »Gansi, Gansi!« – mit einer Stimme, die es zum Weinen gar nicht mehr weit hat. Und nach einer Weile wieder: »Gansi!« »Still, Bub! Deine Gans hat sich bestimmt ein Fuchs gut schmecken lassen!« rufen die Männer. Aber der Bub läuft weiterhin ganz unglücklich um das Lager herum. Alle Büsche durchsucht er nach seiner verlaufenen Gans. – 207
Es wird eine klare Nacht; das ist gut, denn die Sippe hat heute keine Regendächer aus Ästen aufgestellt. Nach einer Weile fallen den müden Jägern die Augen zu. Auch der unglückliche Eichhorn kriecht schließlich zu den anderen Kindern; noch im Schlaf ringt er die Hände und ruft nach seiner Gans. Stoß muß ihn zwicken, um ihn zur Besinnung zu bringen. Und schließlich liegt bis auf die aufgestellten Nachtwachen die ganze Sippe in tiefem Schlaf. Aus dem Wald nähern sich leuchtende Punkte: die Augen der gierigen Wölfe, die zurückkommen, um in dem verlassenen Lager nach Beuteresten zu suchen.
Auf schwieriger Fahrt Zottel und Hase wandern still durch den nächtlichen Wald. Jeder hat ein Stück Fleisch am Gürtel befestigt, und von Zeit zu Zeit beißen sie herzhaft hinein und schneiden mit dem Feuersteinmesser ein Stück ab, dann kauen sie lang. Das Mondlicht erhellt ihren Weg. »Wohin gehen wir?« fragt Hase den erfahrenen Gefährten. »Dieser Weg – hier haben wir Wiesel verfolgt und den bemalten Jäger.« »Wahr«, antwortet Zottel, »das ist der gleiche Weg. Spuren des Fremden – führen zu seiner Sippe. Dort auch Wiesel. Und dort – Feuer!« Sie bahnen sich durch das wenig gangbare Dickicht ihren Weg vorwärts. Nach längerem Nachdenken sagt Hase: »Wir haben die Spur bei Tag nicht gefunden. Und jetzt – gar bei Nacht?« »Wieder wahr, Hase. Spuren verschwinden in der Nacht. Aber Feuer zeigt sich in der Nacht, nicht?« 208
Hase beißt in den Fleischklumpen und fragt nicht weiter. Er ist schon sehr müde, hält aber tapfer Schritt. Der Mond steht schon ziemlich hoch, als sie auf die Anhöhe vor dem Fluß kommen. »Hier rasten wir«, sagt Zottel und findet nach kurzer Suche einen geeigneten Lagerplatz. Hase kauert sich zwischen die Sträucher, deckt sich mit dem Fell zu und schläft vor Müdigkeit sofort ein. Auch Zottel ist schon ziemlich mitgenommen, aber er steigt doch noch auf einen kleinen Felsblock und schaut unausgesetzt über den Fluß hinüber ins Weite. Der kühle Nachtwind erfrischt ihn und hilft ihm, sich wach zu halten. Angestrengt späht Zottel nach einem fernen Lichtschein aus. Plötzlich stößt er einen Schrei aus und richtet sich am Felsen auf. In der Ferne leuchtet ein Feuer! Ziemlich mächtige und hochschlagende Flammen – offenbar von einem festlichen Feuer, wie es bei einem gewöhnlichen Abendessen nicht üblich ist. »Sie sind schon dort!« sagt Zottel leise zu sich selbst und prüft sorgfältig die Lage des Feuers in der Gegend. Eine Weile später legt er sich zufrieden zu Hase, zieht das Fell über die Ohren und schläft fest ein. Die vielen Mühen des Tages machen nun endgültig ihr Recht geltend. Bald nach Sonnenaufgang erwachen die beiden Jäger auf dem Felsen. Zum Morgenimbiß graben sie ihre Zähne kräftig in das Rentierfleisch, dann brechen sie sofort auf. Sie steigen zum Fluß ab, durchwaten ihn, und Zottel geht sofort, ohne sich mit weiterem Fährtensuchen aufzuhalten, auf den nahen Wald zu. Hase unterwirft sich ohne Murren der Führung des erfahreneren Gefährten – er weiß, daß keiner sich wie Zottel in einer fremden Gegend zurechtfinden kann. Zottel hat Hase gegenüber noch mit keinem Wort erwähnt, was er in der Nacht gesehen hat. Er beobachtet nur sorgfältig die Umgebung und achtet darauf, die eingeschlagene Richtung 209
beizubehalten. Den Gefährten ermahnt er, jedes unnötige Geräusch zu vermeiden. Schweigend wandern die beiden dahin. Auf einer Anhöhe bleiben sie stehen. Zottel mustert die Gegend. »Wir sind schon nahe am Ziel!« flüstert er dann – aber einen Augenblick später hat er vor Erregung alle Vorsicht vergessen: »Schau – dort!« ruft er laut und weist mit dem Arm die Richtung. »Rauch! Feuer!« schreit Hase überrascht auf. Hinter dem Wäldchen, in einer sanften Talsenke, steigt in immer größer werdenden Ringen blauer Rauch über die Baumkronen auf. Mit größter Vorsicht wagen sich die beiden Jäger vor. Sie laufen geduckt von Baum zu Baum, jede Brombeerstaude benützen sie als Deckung. Fast geräuschlos arbeiten sie sich vorwärts. Nun sind sie schon ganz nahe an das Lager der fremden Jägersippe herangekommen. Schon können sie die einzelnen Gestalten am Feuer unterscheiden, und sie beschließen, auf eine hohe Buche zu klettern, um von dort aus das ganze Lager überblicken zu können. Die feindliche Sippe ist zahlreich und mächtig. Wenn Zottel zählen könnte, würde er feststellen, daß sie über mehr als zwei Dutzend Jäger verfügt – Frauen und Kinder werden ja nicht gezählt. Der Häuptling sitzt auf einem erhöhten Platz auf einem Bärenfell, die Frauen bringen ihm gebratene Fleischstücke vom Feuer. Die Männer scheinen eben lebhaft zu beraten; die Kinder tollen in der Nähe des Feuers herum. »Wiesel – sie ist dort! Sie ist dort!« flüstert Hase atemlos. Tatsächlich, Wiesel befindet sich schon unter den Frauen der fremden Sippe. Und es scheint, daß sie nicht an Flucht denkt! Frei geht sie im Lager herum, wohin sie will. Ein junger Jäger, mit gelbem Lehm am ganzen Körper bemalt, gebietet ihr, und Wiesel bedient ihn ergeben. 210
Die beiden Jäger auf der Buche beobachten ziemlich lange das Leben im fremden Lager. Sie können vorläufig nichts unternehmen, sie sind ja nur zwei gegen eine starke Sippe ... Einige Frauen gehen jetzt aus dem Lager, um eßbare Pflanzen zu sammeln. Auch Wiesel ist unter ihnen; sie sucht am Waldrand nach Kräutern und kommt ziemlich nahe an die Buche heran, auf der ihre Stammesgenossen versteckt sind. Zottel kriecht auf dem Ast vor, um das Mädchen gut sehen zu können; da beginnt der Ast ganz gefährlich zu schwanken, und nur mit knapper Not kann der unvorsichtige Jäger einen anderen Ast packen und sich vor dem Absturz bewahren. Hase sitzt auf einem dicken Ast, mit dem Rücken gegen den Stamm der Buche gelehnt. Unwillig mahnt er den unachtsamen Gefährten: »Was machst du? Wir werden uns noch verraten!« Glücklicherweise geht gerade der Wind, und auch die übrigen Bäume bewegen sich. Wiesel reißt einige Wurzeln aus der Erde und schickt sich dann an, wieder ins Lager zurückzugehen. Da kann Zottel nicht mehr an sich halten und gibt das Zeichen von Wisents Sippe – einen leisen Ruf, einen Tierlaut, wie er im Wald häufig zu vernehmen ist, aber doch durch einen besonderen Ton hervorgehoben, der das Erkennungszeichen der Eingeweihten ist. Das Mädchen zuckt zusammen, bleibt stehen, antwortet, als das Zeichen ein zweitesmal ertönt, mit einem anderen Tierlaut, der »Nein!« bedeutet, und läuft dann eilig ins Lager ihrer neuen Sippe zurück. Keiner der fremden Jäger hat den Zeichenwechsel bemerkt. Zottel zischt voll Verachtung: »Sie gehört schon zu ihnen ...« Und dann hocken Zottel und Hase lange, lange Zeit auf dem Baum, ohne etwas unternehmen zu können. Das feindliche Lager lassen sie keinen Augenblick unbeobachtet. Endlich, nach vielen Stunden stellen sie fest, daß die Männer auf ein Zeichen ihres 211
Häuptlings nach Speeren und Beilen greifen und das Lager verlassen. Aus ihren Gebärden glaubt Zottel zu erkennen, daß ein Späher die Fährte eines Mammuts entdeckt hat und die Jäger sich nun an die Verfolgung des Dickhäuters machen. Im Lager bleiben nur zwei Wächter sowie einige Frauen und Kinder zurück, um das Feuer zu hüten. Jetzt ist die Gelegenheit günstig ... Zwischen Zottel und Hase bedarf es keiner Worte zur Verständigung, denn beide denken das gleiche: Jetzt oder nie! Behutsam lassen sie sich zur Erde gleiten und schleichen ganz nahe an das Lager heran. Dort kauern sie dann sprungbereit hinter einem Schlehdornstrauch und lauern auf einen günstigen Augenblick, wieselflink ins Lager zu huschen, einen brennenden Ast aus dem Feuer zu ziehen und dann mit dem wertvollen Raub davonzueilen. Zwei kleine Mädchen nähern sich auf der Suche nach Sauerampfern den lauernden Jägern. Zottel und Hase machen sich schon wütend bereit, aus ihrem Versteck zu fliehen, da sehen die Mädchen im Gras eine Maus, jagen ihr lärmend nach und entfernen sich dadurch wieder. Die beiden Jäger können nun wieder ruhig beobachten, was im Lager geschieht. Dort bleibt das Feuer nicht einen Augenblick unbeobachtet; die beiden Wächter sind ständig in der Nähe, legen fleißig nach, und nun lagern sie sich gar knapp vor den Flammen und beginnen ein großes Stück Rentierrücken zu braten. Wie ärgerlich – und doch lacht Hase plötzlich hell heraus! Wie toll ist er – wälzt sich auf dem Boden, hustet und krächzt und hat Mühe, nicht abermals laut herauszuplatzen! Er ist ganz rot im Gesicht! Mit Händen und Füßen schlägt er auf die Erde, und Zottel muß sich auf ihn werfen und ihn fest niederhalten – sonst könnte er leicht das ganze Lager auf die beiden Späher aufmerksam machen. 212
»Was ist mit dir, du Narr? Hat dich ein Bremse gestochen?« fragt der erboste Zottel streng. »Schau, Zottel«, bringt Hase endlich heraus, »schau, wie sie essen!« Und er bohrt das Gesicht ins Gras, um nicht laut herauszulachen. Zottel schaut zum Feuer und sieht, wie dort die beiden Wächter das gebratene Fleisch essen. »Siehst du sie, die Tiere?« sagt Hase und streckt den Kopf in die Höhe. »Ein ordentlicher Mensch beißt ins Fleisch und schneidet mit dem Messer von der Nase zum Kinn ab, von oben nach unten, so. Aber in dieser Sippe – haha! – schneiden sie verkehrt, vom Kinn zur Nase! – Ich platze ...« Und Hase gluckst und kullert. Da versetzt Zottel ihm einen derben Puff – denn eben nähert sich das Mädchen Wiesel den beiden, sie ist nur mehr knappe drei Schritte von ihnen entfernt. Zottel pfeift ganz fein wie ein Steppenmurmeltier. Das Mädchen zuckt zusammen, blickt sich um und setzt sich dann, als sei nichts Besonderes geschehen, unweit des Schlehdornstrauches nieder. Die beiden Jäger geben sich durch ihre persönlichen Zeichen Wiesel zu erkennen, dann ruft Zottel ihr halblaut zu: »Wiesel, du mit uns – flüchten!« Das Mädchen antwortet mit einer Gebärde, daß sie sie vergeblich rufen. Sie bleibt hier. Zottel schweigt eine Weile und flüstert dann wieder: »Wiesel, wir ohne Feuer ...« »Was wollt ihr? Geht fort!« antwortet das Mädchen schroff. »Gib uns Feuer, Wiesel!« verlangt Zottel und wirft dem Mädchen ein Stück Schwamm hin, das er vorhin von der Buche abgebrochen hat. Wiesel hebt unauffällig den Schwamm auf, ordnet scheinbar unbekümmert ihr Haar, dann steht sie auf und schlendert zum Feuer. Nach einer Weile kommt sie wieder zurück und läßt beim 213
Schlehdornstrauch den glimmenden Schwamm fallen. Dabei flüstert sie aufgeregt: »Geht, geht! Jäger kommen zurück – bald, bald! Dann euch finden – und erschlagen!« Hase windet sich wie eine Schlange durch das Gras, angelt nach dem Schwamm und holt ihn hinter den Strauch. Seine Augen leuchten vor Freude. »Los – laufen wir!« zischt Zottel, und schon springen sie auf und setzen in langen Sprüngen durch das Dickicht. Die Wächter im Lager haben nichts bemerkt ... Erst tief im Wald wagen die beiden Läufer eine kleine Rast. Atemlos und doch überglücklich betrachten sie das glimmende Kleinod in Hases Hand. »Gib!« sagt Zottel und bläst dann leicht in den Schwamm, so daß kleine Fünkchen aufschwärmen. »Wir haben Feuer! Hoja-hoj! Schnell zur Sippe!« Die beiden Jäger setzen sich abermals in Trab, um möglichst bald aus dem gefährlichen Gebiet zu gelangen. Zottel hat sich den Weg gut gemerkt, so daß sie schnell und ohne Aufenthalt vorwärts kommen. Hinter dem Wald öffnet sich das nur mit kärglichem Gesträuch bewachsene Steppenland. Geduckt, um nicht etwa von umherstreifenden Jägern der fremden Sippe gesehen zu werden, eilen Zottel und Hase weiter. Doch plötzlich bleiben sie überrascht stehen: vor sich sehen sie im weichen Boden die Fußabdrücke eines riesigen Tieres. »Mammut!« Beiden entfährt fast gleichzeitig dieser Ausruf. Die Fährte ist ganz frisch. Ängstlich schauen sich die beiden Jäger um – es wäre höchst gefährlich, dem riesigen Dickhäuter zu begegnen, wenn man nur zu zweit ist. Aber ringsherum ist alles still. Sie gehen also weiter. Die Sonne wärmt angenehm, sie hat schon den höchsten Punkt ihrer Tagesbahn erreicht. Irgendwo ruft ein Kuckuck, die Hummeln summen über der 214
blühenden Wiese. Und dann ist das offene Land überquert, der Weg führt nun einen waldigen Hang hinunter ins Tal. Unten rauscht ein Bach, und an seinem Ufer halten die beiden Jäger Rast. Sie klopfen mit Steinen das restliche Rentierfleisch weich und kauen dann genießerisch; der Bach beschert ihnen nach der Mahlzeit einen kühlen Trunk. Und im trockenen Schwamm glost das Feuerlein, die beiden Jäger kosen es mit zärtlichen Blicken. Sie sind glücklich. Doch da – was ist das? Sie hören Stimmen! Zu allem bereit, springen die beiden Jäger auf. 215
Die Stimmen kommen näher! »Viele! viele!« flüstert Zottel. »Fliehen wir!« Da tritt schon ein am ganzen Körper mit gelbem Lehm bemalter junger Jäger aus dem Gebüsch und erblickt überrascht Zottel und Hase. Er schreit auf. Zottel flieht ins Gebüsch, Hase wie ein Pfeil hinterher. Es ist böse! Im Augenblick haben sie Schlange erkannt, der noch gestern ihr Gefangener war. An einen Kampf ist nicht zu denken, denn die ganze feindliche Sippe kommt eben talaufwärts den Bach entlang. Schon setzt Schlange den Fliehenden nach, da schleudert Zottel einen großen Stein auf den Verfolger, und der taumelt, auf den Kopf getroffen, zurück. Aber schon hat er seine Fassung wieder und fordert seine Gefährten zu einer wilden Hetzjagd auf die flüchtenden Jäger auf; er hat Zottels grinsendes Gesicht wiedererkannt und schleudert ihm nun sein Steinbeil nach – jedoch ohne zu treffen. Und bevor noch die feindlichen Jäger in größerer Anzahl zusammengelaufen sind und Schlange ihnen wenigstens teilweise erklären kann, daß hier, in ihrem Jagdgebiet, zwei fremde Eindringlinge sind, gewinnen Zottel und Hase doch einen gewissen Vorsprung. Er ist zwar nicht groß, aber die Flüchtenden sind bereits durch dichtes Gebüsch der Sicht der Verfolger entzogen, und diese müssen eich nun mit dem Aufspüren der Fährten immer wieder aufhalten – das hemmt ihren Lauf. Zottel hat den glimmenden Schwamm in die eine Hand geschlossen, mit der zweiten bahnt er sich den Weg durch das Dickicht. Der Schaum fließt ihm aus dem offenen Mund. Ächzend vor Anstrengung versucht Hase ihm zu folgen. Er blutet stark – er hat sich an einem spitzen Stein den Fuß verletzt; die Blutspur erleichtert nun den Feinden die Verfolgung. Wieder kommt das Geschrei näher; die gereizten Jäger bren216
nen darauf, die verwegenen Fremden, die es gewagt haben, in das Jagdgebiet einer mächtigen Sippe einzudringen, grausam zu bestrafen. Zottel und Hase rennen um ihr Leben. Da stößt Zottel plötzlich einen Warnungsschrei aus. Fast wäre er gegen ein sich am Boden wälzendes Nashorn geprallt. Das mächtige Tier stellt sich nun mit unglaublicher Schnelligkeit auf die Beine, aber bevor es noch angreifen kann, flitzen die fliehenden Jäger schon an ihm vorbei und stürzen ins Gebüsch wie verwundete Eber. Und schon wird die Aufmerksamkeit des Nashorns durch die heraneilenden Verfolger in Anspruch genommen. Den Kopf zur Erde gesenkt, die beiden langen Hörner auf der Nase drohend aufgerichtet, die Beine in den Boden gestemmt – so empfängt der furchtbare Dickhäuter Schlange und dessen überraschte Gefährten. Was sich dann abspielt, sehen Zottel und Hase nicht mehr. Sie hören nur verzweifelte Schreie und durchdringendes Wehklagen ... Der Haufen der Verfolger zerstreut sich, nachdem er auf den wilden Dickhäuter gestoßen ist, im ganzen Wald. Mit schüchternen Signalen verständigen sich die Versprengten, um sich wieder zu vereinigen. Nur Schlange setzt mit drei Gefährten unermüdlich die Verfolgung fort. Die Blutspur führt zum nahen Fluß. Ohne zu zögern, werfen sich die vier Jäger in die Fluten. Am anderen Ufer angekommen, untersuchen sie sorgfältig das Gelände, um die Fortsetzung der Spur zu finden – aber vergebens. »Ah, sie wollen uns täuschen!« ruft Schlange. »Sie sind im Wasser weitergewatet – das können wir auch!« Die Verfolger schicken sich an, die Blutspur weiter flußabwärts zu suchen. Sie entfernen sich immer mehr von der Stelle, wo sie den Fluß überquert haben. Da pfeift jemand in einer dichten Baumkrone am diesseitigen 217
Ufer – fein wie ein Murmeltier. Und schon springt eine Männergestalt zur Erde – Zottel! Der alte Jäger grinst übers ganze Gesicht; seine List hat gewirkt! »Komm heraus!« ruft er jetzt. »Alle weg!« Aus einem hohlen Stamm kriecht Hase. Auch er ist vergnügt, trotz seiner Schmerzen. Die Verfolger haben die alte Weide nicht beachtet, haben voreilig den Fluß überquert und suchen nun nach Spuren, wo es keine Spuren gibt! »Hehehe!« freut sich Zottel. »Hahaha!« lacht Hase und schlägt sich auf die Schenkel. Beide schauen sich noch einmal um, und als sie nichts Verdächtiges sehen oder hören, steigen sie ins Wasser. »Warte!« flüstert Zottel plötzlich und horcht auf. »Sie kommen zurück! Verstecken!« Aber sie haben keine Zeit mehr, ein Versteck zu suchen – schon treten jenseits des Flusses die Verfolger aus dem Ufergebüsch. Zottel hockt sich ins Wasser; nur der Kopf und die Hand mit dem Schwamm ragen heraus. Hase macht es ähnlich. Ein Glück, daß hier etliche große Steine aus dem Wasser ragen – sonst würden die beiden sogleich bemerkt werden! Plötzlich fühlt Hase, wie Zottel ihm im Wasser am Bein zerrt – was will er nur? Es scheint, daß sie schon so gut wie gefangen sind. Die vier Jäger am Ufer mustern sorgfältig den Fluß und das Ufer; nichts entgeht ihnen, binnen kurzem werden sie die beiden Flüchtlinge entdecken, deren plötzliches Verschwinden sie sich nicht erklären können. Hase, bis zur Nase unter Wasser, denkt bereits mit Grauen daran, daß die Verfolger gerade auf ihn stoßen müssen, wenn sie wieder zurückwaten. Zwei gegen vier – ein hoffnungsloser Kampf! Nun ist es aus mit den herrlichen Jagdzügen auf den weiten Steppen ... Da zieht ihn Zottel abermals am Bein. Und nun dreht sich Hase zu dem Gefährten um und sieht, 218
wie der eine im Wasser treibende Erle an sich zu ziehen bemüht ist, die sich hier zwischen den Steinen verfangen hat. Und da begreift Hase! Gemeinsam mit Zottel schlüpft er unter den schwimmenden Strauch, schiebt ihn hinaus ins tiefere Wasser, hält sich fest und ... Die Sazawa abwärts treibt harmlos ein Erlenbusch; an einem der abgebrochenen Äste steckt der dort aufgespießte glimmende Schwamm. Unter dem Gezweig verborgen schwimmen Zottel und Hase davon. Die beiden Jäger haben sich und das kostbare Feuer gerettet. Am drüberen Ufer stehen ratlos die vier Verfolger. Das geheimnisvolle Verschwinden der Flüchtlinge erfüllt sie mit abergläubischer Beklommenheit.
Ein tapferer Bub In der Sippe herrscht gedrückte Stimmung. Man kann die erlegten Rentiere nicht braten – man hat ja kein Feuer. Besorgt wartet man auf die Rückkehr der beiden Jäger, die ausgezogen sind, der Sippe neues Feuer zu verschaffen. Wird das Unterfangen glücken? Werden sie überhaupt heimkehren? Die Ungewißheit drückt alle nieder. Von Zeit zu Zeit steigt einer der Jäger auf die Anhöhe und hält Ausschau, ob nicht irgend etwas in der Ferne zu sehen ist. Vergeblich. Nur die Kinder sind guter Dinge. Sie spielen wieder beim Bach mit den Goldkörnern. Das Wehr ist längst auseinandergeworfen, das Wasser ist wieder abgesunken, und das Golderz blinkt in der Sonne. Männer und Frauen treten achtlos auf dem Goldschatz herum. Wenn die Kinder ihnen eine Handvoll der glänzenden Körner zeigen, wenden sie den Blick davon ab, denn das schimmernde 219
Gold erinnert sie an das verlorene Feuer ... Ach, wenn sie nur wieder Feuer hätten! Eichhorn durchsucht noch immer das ganze Lager nach seiner Wildgans. Er kann den Verlust nicht verwinden. Und die Kinder foppen ihn bereits unter lautem Gelächter: »Gansi! Gansi!« schallt es ihm von allen Seiten entgegen. Die kleine Fröscherl führt den Chor an. Wütend will sich Eichhorn auf die lautesten Spötter werfen, aber die entwischen ihm wieselflink. Schade, daß Stoß nicht in der Nähe ist – der hätte dem Freund jetzt sicherlich geholfen! Eichhorn sieht ein, daß er keines der größeren Kinder fangen kann, und sich an den kleinen zu rächen, das wäre unter der Würde eines angehenden Rentier- und Mammutjägers! Er beendet daher die vergebliche Jagd damit, daß er sich mit den Händen auf die Erde stützt und heftig mit den Füßen scharrt, so daß Gras und Lehm gegen die ausgelassenen Spötter stieben: so drückt er seine abgrundtiefe Verachtung aus. Dann springt er auf und läuft fort. Er will mit ihnen nichts mehr zu tun haben ... Er ist unglücklich, weil seine Gans in Verlust geraten ist – und die bösen Kinder lachen ihn noch obendrein aus! Nicht einmal sehen will er sie mehr! Eichhorn ist entschlossen, weit weg zu gehen – so weit, daß alle in der Sippe um ihn weinen werden, so wie er um seine Gans weint. Auch Fröscherl, dieses abscheuliche Ding, wird weinen, wenn sie nicht mehr an seiner Seite über die Steppe jagen oder mit ihm um einen Platz am Feuer raufen kann ... Er wird ein fettes Rentier erlegen und wird es ganz allein aufessen, bis er einen Bauch haben wird wie ein Dachs! Nicht einmal einen abgenagten Knochen wird er den anderen Buben geben, nicht ein Stückchen Geweih! Und das Fell ... Eichhorn kann den Gedanken nicht zu Ende denken. Jäh bleibt er stehen und starrt auf seltsame Tierfährten, die da knapp vor ihm in den weichen Boden geprägt sind. Seine Jäger220
natur gewinnt über Trauer und Trotz die Oberhand – Spuren, frische Spuren, wer wird da noch an eine verlaufene Gans denken! Sein Interesse ist geweckt. Eingehend untersucht er die Fährten, wie er es den alten Jägern abgeguckt hat. Seine schlechte Laune ist im Nu vergessen. »Rentiere sind es nicht«, sagt er leise zu sich selbst, »Antilopen auch nicht! Aber was dann …?« Und dann folgt er im Laufschritt den Spuren. In seinem Eifer merkt er gar nicht, wie weit er sich vom Lager der Seinen entfernt. Er muß diese seltsamen Tiere, deren Fährten er nicht kennt, aufstöbern – das ist sein einziger Gedanke. Er bleibt nicht lange im Ungewissen: Als er aus dem Gehölz auf die freie Steppe hinaustritt, sieht er eine Schar von etwa zehn Moschustieren, die eben von zwei Wölfen angefallen wird. Die Moschustiere, starke, zottige Schafe, so groß wie Kälber, begeben sich sofort in eine viereckige Abwehrstellung mit nach außen gerichteten Hörnern. Das stärkste Männchen läuft rings um die Schar und stellt sich den angreifenden Raubtieren mutig entgegen. Seine kurzen, gebogenen, kräftigen Hörner können selbst einen starken Feind abwehren. Das Tier stampft erregt mit den Hufen, senkt den Kopf, daß die zottige Mähne über den Boden schleift, und geht furchtlos gegen die beiden Wölfe vor. Eichhorn sieht, wie das Moschustier den einen Wolf auf die Hörner hebt und wegschleudert, aber inzwischen verbeißt sich der zweite in den Hals eines der übrigen Tiere und richtet dadurch Verwirrung in dem geschlossenen Haufen an. Die Moschustiere ergreifen die Flucht, die Wölfe verfolgen sie ein Stück Weges, springen sie an und beißen sie, aber dann geben sie diese Jagd auf und verfolgen lieber zwei oder drei von dem Haufen abgesonderte Tiere, die vorhin einzeln zur Seite entwichen sind. 221
Eichhorn reißt vor Staunen und Erregung die Augen weit auf. Er ist von diesem Kampf der Tiere so in Anspruch genommen, daß er gar nicht daran denkt, daß er sich vor den Wölfen verstecken sollte. Da kracht es im Gebüsch, und durch das Unterholz bricht das verwundete Moschustier, gerade auf den Buben zu. Eichhorn scheint es, als müßte das Tier in wenigen Augenblicken fallen, denn es taumelt merklich und blutet aus tiefen Wunden am Hals. »Das wäre eine Beute!« denkt sich der Bub und tritt beherzt an das verwundete Moschustier heran, dem die Beine einknicken und das nun schnaufend auf der Erde liegt. Wie ein Bär sieht es im Liegen aus, mit seinem zottigen, schwarzbraunen Fell! Das Moschustier hebt den Kopf und schaut mit großen Augen auf den Buben. Eichhorn will ihm keine Gelegenheit geben, wieder aufzustehen und davonzulaufen, deshalb packt er es bei den Hörnern und rückt ihm den Körper zur Erde. Aber das Moschustier ist doch nicht so schwach, wie Eichhorn gedacht hat, und er selber ist nicht so stark, wie er in seinem Jagdeifer glaubt! Das Tier erhebt sich mit Eichhorn, der sich ihm auf den Nacken gelegt hat, um es niederzuhalten, und stellt sich auf die Beine, aber Eichhorn läßt nicht locker! Mit Händen und Füßen krallt er sich in dem zottigen Fell fest; so will er abwarten, bis das Tier verblutet. Plötzlich heulen ganz in der Nähe die Wölfe! Und ehe Eichhorn noch weiß, wie ihm geschieht, jagt das verwundete Moschustier in panischem Schrecken davon – den völlig überrumpelten Buben auf seinem Rücken! Eichhorn muß sich krampfhaft festhalten, um nicht hinunterzufallen. Noch ein Glück, daß das Moschustier so lange Haare hat! In wilden Sätzen hetzt das Tier davon, über Stock und Stein, über Lichtungen und durch Gebüsch – weiter, weiter, weg von den Wölfen! Vielleicht spürt es gar nicht, daß es den Buben auf dem Rücken trägt. Es ist eine Flucht vor dem Tode. 222
Eichhorn ist schon arg zerkratzt und zerschunden, denn das Tier in seiner blinden Panik bahnt sich den Weg mitten durchs Gebüsch. Manchmal schreit der Bub vor Schmerz auf, aber er läßt die Mähne nicht los: Lieber zugrunde gehen, als jetzt aufgeben! Und das Moschustier hetzt verzweifelt weiter, als ob es gar nicht so schwer verwundet wäre ...
Im Lager haben die Kinder indessen über anderen Spielen Eichhorn und seine Gans längst vergessen; aber die bedrückte Stimmung im Lager beginnt nun allmählich auch ihre gute Laune zu trüben. Die Jäger sind mürrisch und schweigsam. Zeitweise liegen sie auf ihren Fellen, dann stehen sie auf und gehen ziellos herum, dann setzen sie sich wieder; sie wissen nichts mit sich anzufangen. Es ist kein Leben, wie es sich für eine ordentliche Jägersippe gehört, die sich schon in so vielen erfolgreichen Jagden ausgezeichnet hat. Der Häuptling schabt mit einem scharfen Stein ein Rentierfell ab und hat schon ein paarmal streng auf Uhu, den unglücklichen Feuerwächter, geschaut. Die Frauen sprechen angesichts des finster dreinschauenden Häuptlings kein überflüssiges Wort. Noch nie ist die Zeit so langsam verlaufen wie heute. Alle bedrückt der Gedanke an das verloschene Feuer. Plötzlich läßt Wisent das Fell fallen und horcht gespannt in den Wald hinaus. Auch einige andere Jäger richten sich lauschend auf. Nun ist schon ganz deutlich das Knacken von Zweigen zu hören! Die Jäger springen auf und greifen nach den Waffen. Frauen und Kinder laufen erschrocken zusammen. Oh – dort zwischen dem Gebüsch stürzt etwas Sonderbares herbei! Stampfen – Schnauben – der Körper eines Bären – die Laufart eines Rentiers – und auf dem Rücken – 223
»Ein Moschustier! – Verwundet!« Auf ihm ein Bub – mit den Händen in den Pelz des scheuen Tieres gekrallt ... Das ganze Lager ist durch den aufregenden Anblick in Bewegung. Und schon haben die Kinder den Buben erkannt, der auf dem Moschustier reitet: »Eichhorn reitet! Eichhorn reitet!« Welch unerhörter Ritt! Eine Weile stehen Männer und Frauen in starrem Staunen, doch dann gehen die Männer auf ein Zeichen Wisents daran, das verwundete Tier zu umzingeln. Dem heftig blutenden Moschustier, vor dessen Maul weißer Schaum steht, wird der Rückweg ins Gehölz abgeschnitten; da stürmt es nun quer über den Lagerplatz – direkt auf Wisent zu, der es mit schlagbereitem Beil erwartet. Noch wenige Augenblicke – da, nun kracht das Beil gegen die Stirn des Tieres, das nun neben der Feuerstelle niederbricht. Eichhorns toller Ritt ist zu Ende. Die Kinder und die Frauen brechen in ohrenbetäubenden Jubel aus. Die Buben brüllen vor Aufregung und klatschen sich auf die Schenkel, Stoß allen voran. Eichhorn auf dem Rücken des Moschustieres hebt den Kopf und ist ganz überrascht, daß er wieder daheim ist, im Lager, bei den Seinen ... Ist das eine Heimkehr! Ein Triumph ohnegleichen! Welcher Jäger bringt das zustande, was dieser junge Bub vollbracht hat? Jeder einzelne umarmt Eichhorn, alle drücken ihm ihre Bewunderung für seine tapfere Tat aus. Das kurz zuvor so stille Lager ist nun von frohem Lärm erfüllt – und diesmal sind es die Erwachsenen, die lärmen; die Kinder stehen in ehrfürchtigem Schweigen vor Eichhorn, der nun, nach seiner kühnen Tat, nicht mehr ihresgleichen ist. Wisent nimmt aus seinem Ledersäckchen einen schönen, in Gestalt eines Blattes kunstvoll abgespaltenen Feuerstein mit 224
scharfer Spitze und reicht ihn Eichhorn als Anerkennung für dessen Jagdtüchtigkeit. Eichhorns Augen leuchten. Er nimmt den scharfen Feuerstein und drückt ihn an die Brust. Sein sehnsüchtigster Wunsch ist erfüllt: Er wird einen Speer haben wie ein richtiger Jäger! Er wird sich im Kampf mit starken Tieren üben! Oh, welches Glück! Eichhorn ist der Held des Tages. Die Sippe kann mit Recht von ihm in Zukunft ruhmreiche Taten erwarten – Taten, von denen man lange an den Lagerfeuern erzählen wird ...
Heimkehr Die Sonne sinkt, das Abendrot durchglüht den Himmel. Ein kühler Wind weht. Zottel und Hase sind noch nicht heimgekehrt. Die Sippe ist ohne Feuer ... Die Frauen rufen die Kinder zum Schlafengehen und schrecken sie, wenn sie nicht gleich gehorchen: »Warte, der Wolf wird dich holen!« – oder: »Der Bär lauert auf dich!« – und das Kind, hopp, hopp! ist schon bei der Mutter. Einige Jäger kommen mit Astwerk und Reisigbündeln aus dem Wald. »Wozu das?« zischt der Häuptling durch die Zähne. »Wir haben kein Feuer!« »Zottel, Hase – sie werden kommen. Bestimmt. Wir werden wieder Feuer haben!« erklärt einer der Männer hartnäckig. Trotzdem ist die Stimmung im Lager äußerst flau. Keiner hat rechte Lust zu langen Gesprächen – im Finstern redet es sich schwer –, und das zähe, rohe Fleisch, das die Jäger kauen, trägt auch nicht zur Hebung der Redseligkeit bei. Früher als sonst begibt sich die Sippe zur Ruhe. Wisent stellt fest, daß die Wölfe und die Hyänen immer 225
frecher werden: der Geruch des frisch ausgeweideten Moschustieres lockt sie an. Heute nacht müssen die Wachtposten besonders aufmerksam sein. Als wenig später der Mond über dem Wald aufsteigt, liegt bis auf Späher und Starrkopf, den beiden Wachen, die ganze Sippe bereits in tiefem Schlaf. Die Stunden verrinnen. Ab und zu wagt sich ein gieriger Wolf an das erlegte Tier heran, zieht sich aber schleunigst zurück, sobald die wachsamen Hüter dicke Holzknüppel nach ihm werfen. Ansonsten bleibt alles still. Aber dann, kurz nach Mitternacht, horcht Späher plötzlich auf. War da nicht eben ein seltsamer Ruf aus dem Wald zu vernehmen – ein Laut, der ganz anders klang als das Seufzen eines Schläfers, der sich auf seinem Fell herumwirft? Späher alarmiert sofort seinen Gefährten – und da, wieder klingt dieser Ruf aus dem Buschwerk: ein seltsamer Laut, Ruf und Stöhnen zugleich! Die beiden Wächter schleichen vorsichtig auf das Buschwerk am Waldrand zu. Eben tritt der Mond hinter einer Wolke hervor und erhellt die Grasfläche. Und nun sehen die beiden eine Gestalt, die aus dem Unterholz schlüpft – kein Wolf, keine Hyäne, nein, ein Mensch! Eben wollen sich die Wächter auf den Eindringling stürzen, da richtet sich die Gestalt auf – Zottel! Sie erkennen ihn im Mondschein an dem grinsenden Gesicht! Der alte Fährtensucher kann sich nur mühsam aufrecht halten, er ist völlig entkräftet. Starrkopf und Späher müssen ihn stützen; mit ihrer Hilfe gelangt er ins Lager. Sie schlagen Lärm. Sofort springen Wisent und die anderen Männer auf, bereit, jeden Angriff eines wilden Tieres oder eines sonstigen Feindes mutig abzuwehren. Da gewahren sie Zottel und umringen ihn aufgeregt. 226
»Du verwundet?« Der ermattete Jäger schüttelt den Kopf und läßt sich ins Gras sinken. Die Gefährten schieben ihm Felle unter Kopf und Rücken, damit er weicher liege. Der Kreis um Zottel wird immer dichter; auch die Frauen treten herzu, aber sie wagen nicht, sich in das Gespräch der Männer zu mischen. Es muß etwas Schreckliches geschehen sein! Zottel kaum mehr lebendig – Hase vielleicht tot – kein Feuer! Wehe! Da schöpft Zottel tief Atem und erzählt mit schwacher Stimme: »Nicht verwundet – nur erschöpft. Hase lebt – verwundet – unten im Wald geblieben. Ich ihn getragen – auf dem Rücken – über zwei Berge – dann keine Kraft mehr. Hase liegt beim großen Felsen – wartet auf Hilfe. Ich komme her, euch alles erzählen und euch zu Hase führen!« Jemand bringt Wasser vom Bach und begießt den Erschöpften. Zottel erholt sich ein wenig. Die Sippe atmet auf. Wenn nur die beiden tapferen Jäger am Leben sind! Den Verlust dieser beiden bewährten Kräfte hätte die vielgeprüfte Gemeinschaft nur schwer verwunden. Nach einer Weile kann Zottel aufstehen. Sein abgehärteter Körper erholt sich erstaunlich rasch. Wisent bringt einige Knochen, spaltet sie mit dem Beil und gibt sie Zottel, der gierig das Mark heraussaugt. »Feuer habt ihr nicht gefunden?« wagt endlich der zerknirschte Feuerwächter Uhu zu fragen. Aber Zottel hört die Frage nicht. Er ist aufgestanden und versucht, auf einen Stock gestützt, ein paar Schritte zu gehen. »Kommt!« ruft er seinen Gefährten zu. »Zottel, erst morgen früh!« sagen einige Jäger. »Du bist schwach. Wir werden nicht weit kommen.« »Hase liegt im Wald – verlassen – verwundet – blutet!« beharrt Zottel. 227
»Wir holen ihn morgen. Bleib – ruh dich aus!« drängen die Jäger. »Bleibt da – ich gehe allein!« schreit Zottel wütend und schickt sich an, das Lager zu verlassen. Da ruft Wisent: »Du gehst nicht allein, Zottel! Wir gehen mit!« Und damit ist die Entscheidung gefallen. Der Häuptling teilt seine Leute. Die eine Hälfte läßt er im Lager zurück, die andere bestimmt er zum Rettungstrupp für Hase. Er selber tritt als erster in das Dunkel des Waldes. Zottel zeigt die Richtung. Die im Lager Zurückbleibenden schlüpfen wieder unter ihre Felle – gegen Morgen wird es empfindlich kühl. Indessen bahnt sich der Bergungstrupp einen Weg durch den Wald.
Als das Morgenrot am östlichen Himmel erscheint und die Vögel zu zwitschern beginnen, tritt ein seltsamer Zug aus dem dunklen Wald: An der Spitze gehen zwei Jäger, hinter ihnen tragen vier Männer den verwundeten Hase auf einer Bahre aus Ästen. Dann folgt Wisent, der Häuptling der Sippe, mit Zottel, den er stützt, gefolgt von Marder und Wolfsklaue, die ein noch nicht abgeschabtes Bärenfell tragen. Einige mit Fleischstücken beladene Jäger beschließen den Zug. Kaum sehen die Wächter diesen Trupp, wecken sie auch schon das Lager aus dem Schlaf. Die nackten Kinder springen von ihren Lagerstätten auf und laufen dem Zug entgegen, aber alsbald trachtet jedes von ihnen, als erstes wieder zurück zu sein, um im Lager die großen Neuigkeiten zu melden: »Alle sind da!« »Sie haben einen riesigen Bären erlegt!« »Und sie bringen Feuer!« Uhu kann die frohe Nachricht kaum fassen. Feuer! Neues 228
Feuer! Sein Leben ist nun nicht mehr verwirkt! Trotz seines verletzten Fußes eilt er dem Zug entgegen und umarmt Zottel in wilder Freude. Das ganze Lager lebt auf. Überall Bewegung, überall Freude. Der verwundete Hase wird auf weiche Felle gebettet, die Frauen packen seinen verletzten Fuß in kühle Blätter. Und dann geht Wisent mit dem glimmenden Schwamm, den er nicht aus der Hand gegeben hat, zur verwaisten Feuerstelle und entfacht ein prasselndes Feuer! Die Flammen lodern hell auf. Jubelgeschrei ertönt. Feuer! Neues Feuer! Nun brechen wieder frohe Tage an! Wenig später sitzen die Jäger um das nun schon stattliche Feuer und braten das Fleisch des Moschustieres. Wisent, der Häuptling, thront auf einem großen Stein, in dem im Feuerschein die Goldadern blinken. Alle hängen an seinen Lippen, denn es ist sein Vorrecht, über die nächtliche Bergung Hases und des Feuers zu berichten. Und nun setzt er zu seiner Rede an: »Zottel wird noch viel erzählen, wenn er ausgeruht ist. Er hat Feuer gebracht – das seht ihr. Ich werde erzählen, wie wir Hase in der Nacht gefunden haben. Habt ihr ihm schon Wegerich auf die Wunde gegeben? Gut es geht ihm nicht schlecht. Er wird wieder laufen, es sind ihm noch viele Zehen am Fuß geblieben. Aber er hat viel Blut verloren ... Zottel hat uns geführt – lange, lange. Wald – Lichtung – Wald – Lichtung – wieder Wald. Plötzlich, beim großen Felsen, leuchtet etwas – Feuer! Zottel sagt, Hase ist dort. Hase hat den Feuerschwamm – bewacht ihn, inzwischen holt Zottel Hilfe aus dem Lager. Zottel ist klug. Wir laufen zum großen Felsen – was sehen wir? Hase kämpft – kämpft tapfer! Vor ihm ein großer Bär! Hase schwach, sehr schwach. Keine Kraft mehr! Wir springen hin, brüllen: Whuaa! Whuaa! Der Bär ist groß, sehr groß ...« Wisent 229
weist auf das Fell. »Hier seht ihr – ein solches Fell haben wir noch nie erbeutet.« »Hast ihm einen tüchtigen Hieb versetzt, Wisent!« platzt ein Jäger dazwischen. »Schweig!« befiehlt der Häuptling und erzählt weiter: »Nur dadurch haben wir Hase gerettet, daß wir das Ungetüm auf uns gelenkt haben. Der Bär war wild, sooo wild. Aber unsere Keulen und Speere waren stärker als er. Der Bär fällt! Hase ist gerettet – das Feuer ist gerettet! Wir gehen zurück ins Lager – mit Hase, mit Feuer, mit Bär.«
An diesem Tage und an den nächsten Tagen geht es Wisents Sippe gut. Fleisch ist reichlich vorhanden, die Gesichter der Jäger glänzen, das Fett rinnt ihnen übers Kinn. Mit lautem Rülpsen bekunden sie ihre Wonne. Das Knistern des neuen Feuers ist allen die schönste Musik der Welt. Sie sind glücklich und genießen die Trägheit. An einem solchen Tag kommen plötzlich die Kinder, die im Spiel die Umgegend durchstreift haben, angsterfüllt ins Lager gelaufen. Wolfsklaue bemerkt als erster die schreckgeweiteten Augen der Heraneilenden und läuft ihnen entgegen. Was ist geschehen? Fröscherl kommt atemlos heran, verlangsamt ihren Lauf und schreit: »Feinde im Wald ...!« Augenblicklich ist die ganze Sippe auf den Beinen. Die Männer laufen, die Waffen in den Händen, zur Verteidigung des Lagers herbei. Fröscherl wird mit Fragen überschüttet: Wo sind die Feinde? Wie viele? Aber das Mädchen kann nur knappe Auskunft geben: Ein kleiner Menschentrupp nähert sich durch den Wald dem Lager; mehr weiß Fröscherl nicht. Zottel, der sich schon fast völlig erholt hat, drückt die Befürchtung aus, die Fremden könnten Jäger jener Sippe sein, 230
der Hase und er den Feuerbrand entwendet haben, und die nun kommen, um grausame Rache zu üben. Furchtbar ist ein Feind, der den Gegner so hartnäckig und so weit verfolgt – es wird einen erbitterten Kampf geben! Fieberhaft werden alle Vorbereitungen getroffen. Wisent begibt sich mit einigen Männern in das dichte Gebüsch am Waldrand, um dem Feind einen Hinterhalt zu legen, die übrigen Jäger legen sich flach ins hohe Gras und erwarten sprungbereit das Erscheinen der Fremden; sie sind zum Äußersten entschlossen. Und schon treten tatsächlich einige Männer aus dem Wald. Sie sind bewaffnet, aber ihre Beile stecken in den Gürteln, und die Speere tragen sie zur Erde geneigt. Das ist kein Anzeichen für einen beabsichtigten Kampf! Und sie schleichen nicht an – sie gehen aufrecht, suchen nicht einmal Deckung! Zottel schüttelt den Kopf, beschattet die Augen mit den Händen und beobachtet reglos den näher kommenden Trupp unbekannter Männer. Da – Stoß stellt sich den Fremden mit einem Prügel in der Hand entgegen! Warum läuft er nicht davon? Will er denn mit ihnen kämpfen, der kleine Hitzkopf? Die Fremden rufen Stoß etwas zu und umstellen ihn. Aber seltsamerweise tun sie ihm nichts; im Gegenteil, nun kommen sie gemeinsam mit ihm auf das Lager zu! Das ist doch sonderbar! Wer sind diese herankommenden Männer? Da dringen plötzlich die erstaunten Rufe der im Gebüsch versteckten Jäger herüber: »Das ist doch Raufbold!« – »Und Bussard!« – »Und Dickwanst!« – »Der letzte ist Schnellfuß!« Die Abtrünnigen kehren zur Sippe zurück ... Wisent pfeift leise und gibt seinen Jägern damit das Zeichen, ins Lager zurückzukehren. Dort warten angsterfüllt die Frauen, auf einen blutigen Kampf oder auf Flucht vorbereitet; jetzt schickt der Häuptling sie wieder zu ihrer gewohnten Arbeit – 231
die Gefahr ist vorüber! Oh, wie sie aufatmen! Alsbald bietet das Lager wieder den gewohnten Anblick – so, als ob nichts geschehen wäre. Raufbold und seine Gefährten kommen bis ans Lager heran, aber beim ersten Zelt bleiben sie stehen. Sie alle sind stark abgemagert, ihre Körper sind mit frischen Narben übersät; sie müssen viel durchgemacht haben ... Nun stehen sie stumm da und warten auf eine Einladung zum Feuer. Aber niemand fordert sie auf, näher zu treten. Eisiges Schweigen umgibt sie. Niemand spricht Raufbold an, niemand reicht ihm oder seinen Gefährten gebratenes Fleisch. Niemand beachtet die Neuankömmlinge. Man sieht Raufbold an, daß er durch die ablehnende Haltung der Sippe sehr gedemütigt ist. Er tritt verlegen von einem Fuß auf den anderen und sucht mit den Augen im ganzen Lager nach der kleinsten Freundschaftsbezeugung bei irgend jemand. Die Jäger sitzen mit Wisent um das Feuer herum, nagen Knochen ab und kümmern sich um die ehemaligen Gefährten so wenig, als wüßten sie von deren Anwesenheit gar nichts. Nur Zappel und Käferl, die zwei Knirpse, schauen sich die fremden Gäste von der Nähe an. Sie besichtigen gründlich jeden einzelnen, erkennen sie allmählich und erinnern sich wohl auch an irgendwelche Begebenheiten aus der Zeit des Zusammenlebens. Käferl, seit jeher der Liebling aller Jäger der Sippe, packt plötzlich Schnellfuß am Fellschurz und zieht ihn ins Lager, zum Feuer. »Komm – wir haben neues Feuer, schau!« Schnellfuß läßt sich zögernd heranführen, dann nimmt er das Kind auf den Arm und setzt sich mit ihm ans Feuer, wo plötzlich in der Reihe der Jäger ein Platz frei wird. Der zweite Knirps, Zappel, macht es gleich Käferl nach und schleppt den sehr mager gewordenen Dickwanst zum Feuer. Auch für ihn findet sich ein Platz. Dickwanst ist verlegen und weiß 232
nicht, wohin er schauen soll. Er hält den Buben im Arm wie einen Säugling. Der Kleine versucht sich aufzusehen, und dabei fährt er mit einem Holzstab, den er in der Hand hält, dem überraschten Dickwanst mitten in den Mund! Und Dickwanst verkutzt sich, hustet und keucht, daß ihm die Tränen kommen! Er ist so verblüfft, daß er im ersten Augenblick gar nicht daran denkt, den Stab aus dem Mund zu ziehen! Das reizt alle derart zum Lachen, daß ein gewaltiges Gewieher durch das Lager schallt. »Zappel hat Dickwanst auf den Bratspieß gesteckt! Hehehe!« Es ist ein befreiendes Lachen – das Eis ist gebrochen! Nun kommen auch Raufbold und Bussard heran und setzen sich zum Feuer. Niemand jagt sie fort, niemand macht ihnen Vorwürfe – auch Wisent und dessen Frau Djarga nicht. Die Kinder haben der Sippe ihre ehemaligen Mitglieder wiedergegeben.
Auf dem Weißen Felsen Tage des Überflusses – Tage des Hungers – wieder reiche Beute – dann abermals Hungerzeit: in solchem Wechsel verläuft das Leben der Jägersippe. Auf der Suche nach Nahrung durchstreift sie die Lande, zieht über die große Steppe bis zur Waag, folgt dann dem Wild bis weit nach Norden, kehrt wieder zurück in die Steppe, ständig auf Wanderung. Nichts bindet den Menschen jener Zeit an den Boden: noch kennt er den Ackerbau nicht, Getreide ist ihm fremd, und er ist noch nicht darauf verfallen Nutztiere zu halten. Als Waffen und Werkzeuge kann er ausschließlich das verwerten, was die Natur ihm unmittelbar gewährt: Steine, Holz, Knochen – die kann er durch mühsam erarbeitete Geschicklichkeit gebrauchsfähiger machen; Metall kennt er noch nicht. – 233
Nach langer, wechselvoller Wanderschaft gelangt Wisents Sippe an die Moldau, an den Prager See, der den ganzen Talkessel ausfüllt und reichlichen Fischfang gewährt. Auf einem hohen, steilen Berg, dessen weiße Felswand mächtig vom Seeufer aufragt, schlägt sie ihr Lager auf. Nach Norden und nach Osten zu breitet sich die weite Steppe aus, und von dort zieht das Wild auf ausgetretenen Pfaden hinunter zum Wasser, eine willkommene Beute für die Jäger vom Weißen Felsen. Auch im waldreichen Bergland gibt es viel Wild; die Sippe lebt hier in Wohlstand und Zufriedenheit. Jenseits des Wassers, in den Schluchten der Wilden Scharka, wohnt eine andere Sippe; auch sie unternimmt Jagdzüge an das Ufer des Sees, wo in ausgedehnten Sümpfen Nashörner und manchmal auch Mammute anzutreffen sind. Zwischen den beiden Sippen gibt es keine Feindschaft, keine Zusammenstöße: Raum und Beute reichen für beide, und im übrigen sind sie ja durch das breite Flußbett getrennt. Alles wäre in bester Ordnung – wenn nicht Wisent, der Häuptling, erkrankt wäre. Ein böses Fieber zehrt an ihm, er hustet heftig und bricht unvermutet in Schweiß aus. Nur selten ist er genügend bei Kräften, sich an den Jagdzügen der Gefährten zu beteiligen, und leidet sehr darunter, nicht besser seinen Mann stehen zu können. Traurig und mißmutig liegt er auf den weichen Fellen, die die fürsorgliche Djarga für ihn aufgebreitet hat, und schilt sich für seine Schwäche. Der klugen und umsichtigen Führung ihres Häuptlings beraubt, begnügen sich die Jäger mit Angriffen auf kleineres Wild, größerer Beute stellen sie erst gar nicht nach. Und doch wäre es sehr wichtig, endlich wieder ein Mammut zu erlegen, denn die Mammutknochen und das Elfenbein werden schon dringend zur Ergänzung der Vorräte an Waffen und Werkzeugen gebraucht. Doch eine Mammutjagd ohne Wisent – das ist einfach unvorstellbar! 234
Da erlebt eines Tages der junge Stoß ein Abenteuer, das diese Frage unversehens entscheidet: Der Bub schleckt eben genäschig an einer Honigscheibe, die er aus am Felsen haftenden Waben gekratzt hat, da umschwärmen ihn die aufgeregten Bienen und er muß schleunigst flüchten. Er läuft, hetzt den Hang hinunter, stürmt ins Dickicht – und erstarrt, wie vom Donner gerührt: Vor ihm steht ein riesiges Mammut mit mächtigen, etwa drei Meter langen Stoßzähnen! Das Tier richtet den Rüssel hoch auf, trompetet schallend, hebt die säulengleiche Tatze – noch zwei, drei Schritte, und – In verzweifelter Hast umklammert Stoß einen Kiefernstamm und klettert daran hoch, um nicht von dem mächtigen Dickhäuter zertreten zu werden. Und oben hängt er nun an den Zweigen, jagenden Pulses, und das Grauen spricht aus seinen Augen ... Das riesige Tier weidet seelenruhig. Mit dem Rüssel bricht es Zweige und Äste ab und steckt sie sich ins Maul, es reißt ganze 235
Fichtenbäumchen aus dem Boden. Und nun macht es sich gar an die Kiefer heran, auf die Stoß geflüchtet ist! Vom See her hört man das Trompeten anderer Mammute; sie rufen zum gemeinsamen abendlichen Bad. Stoß ist ein beherzter Bub, aber solche Angst hat er noch nie ausgestanden wie jetzt als Gefangener auf der Kiefer! Und er hat schon viele gefährliche Abenteuer erlebt und selber schon viele Tiere erlegt. Auch seinen Namen hat er von einem Jagdabenteuer. Er erinnert sich noch gut daran – vor zweimal Schnee war es, als er noch in einem anderen Land weit von hier mit den Kindern im Nadelwald spielte und die Fährte eines jungen Rehs fand. Der Bub lief mit seinen Kameraden gleich die Fährte entlang und fand endlich nach langem Suchen das schlafende Reh. Er warf sich als erster auf das Junge – und da stieß es ihn mit dem erst mit kurzen Geweihstümpfen bewehrten Kopf so heftig, daß der Bub überrumpelt zurücktaumelte. Und seit damals nennen sie ihn in der Sippe nur mehr »Stoß« – und dieser Name ist ihm geblieben. Wie lange scheint das her ... Die Mammute am See trompeten wieder. Die Kiefer neigt sich mehr und mehr – der mächtige Mammutrüssel zerrt an einem starken Ast. Und schon hat der Dickhäuter den Ast abgebrochen – da schnellt der biegsame Stamm zurück, Stoß verliert den Halt und fliegt in weitem Bogen zu Boden! Heftiger Schmerz durchzuckt ihn. Aber er schreit nicht. Er schließt die Augen – alles ist vorbei. Im nächsten Augenblick wird das Mammut ihn zerstampfen ... Doch da ertönt abermals der lockende Trompetenruf der Herde. Der zottige Riese stutzt, dann dreht er sich um und trampelt seewärts davon. Verwundert schlägt Stoß die Augen auf – lange begreift er nicht, daß er lebt und endgültig gerettet ist. Dann schleppt er sich ins Lager. Seine zerschundenen Glieder 236
schmerzen, er fühlt sich kraftlos und schlaff. Schier endlos scheint ihm der Weg. Doch verbissen arbeitet er sich weiter. Mit dem Aufgebot seiner letzten Kraft erreicht er das Lagerfeuer der Seinen. »Mammut im Wald – Mammute am See!« stößt er noch heiser hervor, dann bricht er bewußtlos zusammen. – Die ganze Sippe ist in Bewegung. Die Frauen bemühen sich um den Buben, der auch bald wieder zu sich kommt, und die Männer besprechen eifrig die Nachricht, die Stoß gebracht hat. Mammute – nahe, ganz nahe! »Wir jagen morgen!« entscheidet schließlich Wisent. »Ich gehe mit!« Mit lautem Beifall nehmen die Jäger diesen Entschluß ihres Häuptlings auf.
Tags darauf ziehen die Jäger nach einem eiligen Morgenimbiß an den See hinunter, um den Weg der Mammute zu verfolgen. Wisent ist schweigsam, er untersucht nur eingehend die Fährten der Dickhäuter. Er hustet viel, aber er läßt sich nicht anmerken, wie das Fieber ihn schüttelt. »Mammute – Hand!« sagt er schließlich und zeigt die gespreizten Finger seiner Linken. Er hat also die Fährten von insgesamt fünf Tieren festgestellt. Den Jägern stockt fast der Atem vor Erregung. Sie warten auf die weiteren Weisungen ihres Häuptlings. Wisent führt den Jägertrupp durch den Wald auf den Kamm des Berges hinauf und biegt dann in die Richtung der nahen Sandsteinfelsen ab. Aber er bleibt bald stehen und zeigt auf eine große, vom Regenwasser ausgewaschene Bodenvertiefung, durch die der Mammutsteig führt. »Hier die Falle!« sagt er und setzt sich müde auf einen entwurzelten Baum. 237
Zwei Dutzend starker Arme beginnen sofort zu arbeiten. Die Jäger holen Sand, Lehm und Steine aus der Mulde, scharren und graben mit starken Ästen, daß ihnen der Schweiß in Bächen herunterrinnt. Die Grube vergrößert sich zusehends. Der Häuptling spornt seine Jäger zu eiliger Arbeit an und schickt Boten zum Weißen Felsen, daß auch die Frauen und die Kinder kommen mögen, um mitzuhelfen. Die Sonne steht schon über dem Berg, als der Häuptling endlich die Fallgrube für genügend groß erachtet. Durch seine kluge Anweisung, bei der Anlage die vom Wasser geschaffene Bodenvertiefung auszunützen, hat er den Jägern viel Arbeit erspart. Die Männer halten nun Rast, Frauen und Kinder brechen indessen Äste von den Bäumen und bedecken damit die Grube. Darüber werfen sie Lehm, Gras, Reisig und Laub, bis alles wieder so aussieht, als hätte keine Menschenhand hier ihr tückisches Werk verrichtet. Froh und zuversichtlich kehrt die Sippe in das Lager auf dem Weißen Felsen zurück, wo die dort zurückgelassenen Wächter mittlerweile ein Mahl zubereitet haben. Die hungrigen Jäger lassen sich die Mahlzeit gut schmecken; heute kann man getrost alle Fleischvorräte erschöpfen, denn bald wird ein Mammut in die so geschickt angelegte Fallgrube stürzen, und es wird Überfluß an allem geben! Nur Wisent, der kranke Häuptling, beteiligt sich nicht an dem Schmaus. Er sitzt etwas abseits von den übrigen auf einem Stein und hustet ärger denn je. Die Luft ist heute so trocken und stauberfüllt – Wisent schaut immer wieder besorgt gegen Westen, wo der Himmel sich seltsam zu trüben beginnt. Eigenartiges Gewölk zieht herauf ... Niemand sonst teilt die Besorgnis des Häuptlings. Die Kinder tollen ausgelassen herum, die Männer liegen nach dem üppigen Mahl faul in der Sonne und denken mit Behagen an den bevorstehenden Fang. 238
Von den Sandsteinfelsen her drängt sich indessen ein junges, etwa dreißigjähriges Mammut in der Richtung zu der waldigen Anhöhe durchs Gebüsch und trottet dann den ausgetretenen Steig entlang zum Wasser hinunter. Unterwegs reißt es Fichten- und Tannenzweige ab und läßt sie sich schmecken: der Harzgeschmack ist ihm sehr angenehm. Plötzlich ein Sturz – und das Tier ist in der Grube! Es brüllt vor Wut und zerstampft die zerbrochenen Äste. Die Jäger auf dem Weißen Felsen hören das Gebrüll des gefangenen Mammuts und springen auf die Beine. Alle Müdigkeit ist im Augenblick verflogen, und schon laufen sie im Galopp zur Fallgrube, die Kinder und die Frauen hinter ihnen her. Auch Stoß läuft mit, so schnell er kann; nur ab und zu bleibt er stehen und schöpft Atem. Er ist ein tapferer Bub, kein Weichling. Eichhorn steht ihm bei. Vor Freude über den gelungenen Fang beginnen alle einen wilden Tanz um die Grube. Dem Mammut kommen sie einstweilen nicht zu nahe – sie warten ab, bis das gefangene Tier von seinem Wüten erschöpft ist. Und schließlich ist es so weit, und nun stürmen die Jäger vor und erschlagen das Mammut mit schweren Felsblöcken, die sie herangewälzt haben. Dann springen sie in die Grube; wie Raubtiere werfen sie sich auf ihr Opfer. Wilde Schreie erschallen. Alle freuen sich auf den Schmaus. Aber es kommt nicht dazu. Der kranke Häuptling der Sippe, den Mund vor Schmerzen verkniffen, wankt aufgeregt zu den jubelnden Jägern und weist mit der ausgestreckten Hand auf den Himmel im Westen, wo gelblichbraunes Gewölk die Sonne zu verfinstern beginnt. »Sturm! Sturm!« schreit Wisent, heiser vor Aufregung. Und mit einer Stimme, die der eines angreifenden Wolfes ähnelt, befiehlt er den Jägern, noch rasch einige Fleischstücke abzuschneiden und sich dann schleunigst vor dem drohenden Unwetter in Felsspalten zu verstecken. 239
Und schon ist die Sonne gänzlich hinter dichten Staubwolken verborgen, die ersten Windstöße fahren durch das Gezweig, Äste stöhnen, Stämme neigen sich, Staub peitscht durch die Luft. Und der Wind schwillt zum Sturm, zum Orkan, und führt Unmengen von feinem Staub, den er von den ausgetrockneten Schlammfeldern, den Überresten aus der Eiszeit, aufgewirbelt hat, mit sich und verstreut ihn wie Schnee in dichtestem Gestöber! Und dann zucken Blitze auf, der Donner kracht, ein furchtbarer Gußregen geht nieder. Und dann, ganz plötzlich, ist alles wieder still. Das Sturmgewölk ist vorübergezogen, allmählich wird die Sonne wieder sichtbar. Die Jäger wischen sich den Staub aus den Augen und kriechen aus ihren Verstecken. Eine dicke Schicht aus gelbem Staub hat sich über die Gegend gelagert, vom Regen zu lehmigem Schlamm geknetet. Das Mammut ist verschüttet, die Grube bis zur Hälfte mit Schlamm gefüllt. Die Sippe wird das erlegte Tier nicht verspeisen – es muß zurückgelassen werden 10. Die Jäger nehmen wenigstens die geretteten Fleischstücke mit und gehen ins Lager auf dem Weißen Felsen, um das Abendessen herzurichten. Aber das Feuer – das Feuer ist verlöscht, erstickt von Staub und Schlamm! Welch ein Unglück. Wehe, wehe! Lautes Wehklagen tönt durch den Wald. Die ganze Sippe jammert. Stoß fließen Tränen aufrichtigen Schmerzes über die Wangen. Er fühlt tief das Unglück, das die Sippe so unerwartet getroffen hat. Er erinnert sich, wie schwer das Leben ohne Feuer war – damals in der Höhle, oder voriges Jahr, als der Bach das Feuer ersäufte. __________________________________________________ 10
Das Mammutskelett, in einer vier Meter tiefen Grube liegend, wurde im Zuge von Kanalbauten im Jahre 1906 am höchsten Punkt der heutigen Straße an der Rokoska gefunden. Teile des Skeletts sowie ein Stück eines Stoßzahns befinden sich im Besitz des Autors.
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Aber heuer ist Stoß schon groß – er wird sich melden, neues Feuer zu bringen! Ja, das wird er tun – er wird der Sippe das Feuer wiedergeben! Er ist doch klug, tapfer und schon ziemlich stark! Sein treuer Freund Eichhorn kommt herbeigelaufen, auch er hat Tränen in den Augen. Stoß ruft ihn zu sich und erzählt ihm von seinem Entschluß. Eichhorn ist ja ein verläßlicher Bub, der beste in der Sippe, der wird bestimmt nichts verderben. Gemeinsam werden sie neues Feuer suchen ... Stoß fürchtet sich vor nichts; er würde, wenn nötig, auch sein Leben einsetzen! Die Jäger sind schrecklich aufgebracht: Wo ist der unglückliche Wächter des Feuers, der seine Pflicht so gröblich verletzt und keinen Feuerbrand in Sicherheit gebracht hat? Wo ist er? Drohende Rufe werden laut. Und schon schreit jemand: »Wölfin ist heute Feuerwächter!« Der aufgeregte Raufbold springt zu der verschlammten Feuerstelle und schwingt einen dicken Knüppel: »Wo ist sie, wo ist sie? Raufbold wird strafen! Uuh« Da gewahrt er die zusammengekauerte Wölfin und versetzt ihr einen Schlag, daß sie bis zum Rand des Felsens taumelt. Ein Kind läuft schreiend zu ihr und blitzt den rohen Raufbold aus haßerfüllten Augen an: Die übrigen Jäger brummen nur. Ist es Zustimmung zu der voreiligen Tat Raufbolds oder ein Ausdruck des Unwillens, daß er sich in die Befugnisse des Häuptlings mischt? Raufbold packt das geduckte Kind und will es in die Tiefe schleudern. Da aber stößt Wisent ihn so heftig, daß er selber taumelt! Raufbold verliert durch den unerwarteten Anprall das Gleichgewicht, rutscht vom Rand des Abgrunds ab und fällt, doch kann er sich durch Festklammern an einen Felsvorsprung vor dem Absturz retten. Wisent, kreidebleich, läßt sich schwer auf einen Stein sinken; 241
ein heftiger Hustenanfall überkommt ihn. Das verängstigte Kind liegt am Rande des Felsens und klammert sich an die ohnmächtige Mutter. Raufbold klettert wieder auf den Felsrand und grinst böse. Er setzt sich abseits hin, brummt und befühlt seine zerschundenen Glieder. Niemand beachtet ihn. Die Sippe heißt also seine Tat nicht gut. Die älteren Jäger setzen sich um den Stein des Häuptlings und beraten, was nun geschehen soll. Einen Feurigen Stein zum Feuerschlagen besitzt die Sippe nicht. Der alte Zottel macht sich erbötig, wieder – so wie voriges Jahr – zu der Sippe hinter dem großen Wasser um Feuer zu gehen. Aber diesmal lassen die Jäger das nicht zu. Es sind so viele junge Männer da, die sich vor keiner Gefahr fürchten – sollen nun die einmal zeigen, was sie können! »Soll Wisent gehen!« ruft Raufbold von der Seite her. »Er ist stark – und mutig genug! Haha!« Alle wissen, daß Wisent durch seine Krankheit sehr geschwächt ist und daß er den anstrengenden Weg schwerlich ertragen könnte; Raufbold wird wegen seines heimtückischen Vorschlags scharf zurechtgewiesen. Und gleich melden sich Wolfsklaue, Ukmas, Uhu, Späher, Marder – und Stoß und Eichhorn, die beiden Buben! »Und ich gehe doch!« erklärt nach kurzem Nachdenken Wisent entschlossen. »Ich bringe selber Feuer – oder ich komme nicht zurück!« Er hustet eine Weile und sagt dann zu den versammelten Jägern: »Raufbold gut gesprochen. Ich gehe. Ihr bleibt – gehorcht Zottel.« Die Jäger verstehen Wisent: Raufbold hat ihn herausgefordert, und das Ansehen des Häuptlings läßt es nicht zu, diese Herausforderung zu übergehen. 242
Stoß und Eichhorn ziehen den Häuptling an dessen Fellschurz: »Nimm uns mit!« Wisent betrachtet sie lächelnd eine Weile und sagt dann: »Du, Stoß, hast mit Zottel wollen, damals, Feuer holen – gut, du kommst mit! Eichhorn bleibt hier. Mehr Jäger – mehr Gefahr! – Djarga, gib mir Farbe!« Djarga reicht Wisent ein Klümpchen Lehm, und er malt damit Stoß auf Stirn und Brust gelbe Striche und Ringe – ein Zauberzeichen, das vor Gefahren schützen soll; er selber läßt sich von Djarga die gleichen Zeichen aufmalen. Djarga läßt den kranken, arg geschwächten Wisent nur ungern ziehen, aber sein Entschluß steht unverrückbar fest. Die große Aufgabe erfüllt ihn mit neuer Kraft. Er ist fest gewillt, im Kampf um das Feuer zu siegen – oder zu fallen. Eine Weile später steigt der tapfere Wisent mit dem Buben vom Felsen hinunter zum See, wo im Schilf verborgen das Boot liegt, das die Sippe des öfteren beim Fischfang benützt: ein ausgefaulter Baumstamm, der im Mittelteil ausgehöhlt wurde. Wisent und Stoß ziehen das Boot ins Wasser und setzen sich rittlings auf den Stamm; in der Höhlung des einfachen Wasserfahrzeugs haben sie ihre Waffen untergebracht. Kräftige Ruderschläge mit dicken Ästen treiben das Boot immer weiter hinaus in den See ... Im Lager auf dem Weißen Felsen herrscht Stille. Die Jäger schauen wortlos über den See, wo das Boot eben hinter der Insel verschwindet. Die Sonne sinkt. Der alte Zottel steht hoch oben auf dem Gipfel des Felsens, das Gesicht dem strahlenden Sonnenuntergang zugewendet. Weit breitet er die Arme gegen das großartige Schauspiel der Natur aus, und aus seiner Kehle kommen erregte Rufe. Er feiert die lebenspendende Sonne: 243
»Meine Sonne! Du gibst Wärme! Belebst die Glieder! Komm morgen wieder! Belebe uns! Leuchte uns zu reicher Jagd! Unsere Sonne!« Es ist ein richtiges Gedicht.
Um Feuer Auch das letzte Rot am westlichen Himmel ist schon verglommen und die Berge sind in Dunkel getaucht, als die beiden Schiffer am jenseitigen Seeufer anlegen und das Boot im dichten Schilf verstecken. Vorsichtig Ausschau haltend, klettern Wisent und Stoß den Hang hinauf und steigen dann durch dichtes Unterholz ins Scharka-Tal ab. Ihre Waffen – Steinbeile aus hartem Kieselschiefer, der in der Umgehung reichlich vorhanden ist – halten sie fest umklammert, bereit, jeder Gefahr zu trotzen. Die beiden folgen einem Pfad, den das Wild auf dem Weg zur Tränke getreten hat. Plötzlich stößt Wisent einen leisen Pfiff aus – und schon liegen beide hinter einem Strauch in Deckung. Unweit von ihnen steht eine mächtige Bisonkuh mit ihrem Jungen. Während das Jungtier ängstlich blökt, steht der Tierriese angriffsbereit da, die Vorderhufe in den Boden gestemmt, den hornbewehrten Kopf zum Stoß gesenkt, den Schwanz steif von sich gestreckt, bereit, jeden Gegner zu vernichten. Augenblicke banger, lautloser Stille. Da ertönt aus dem schier endlosen Walddickicht, das hier beginnt, ein langgezogenes Brüllen; ein riesiger Katzenkörper schleicht durch den Schatten ... 244
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Die Jäger erschauern. Der Höhlenlöwe! Die furchtbarste Bestie aller Zeiten! Das Untier schickt sich an, das Bisonjunge anzufallen. Dieser Löwe ist der Schrecken aller Jäger rings um den See. Seine Höhle hat noch keiner gesehen; jeden Späher, jeden Wanderer, der ihr zufällig nahe kam, hat er mit einem einzigen furchtbaren Prankenhieb zu Boden geschmettert und dann zerfleischt. Die hier ansässige Sippe zittert vor ihm – drei tapfere Jäger hat er schon getötet, und die Sippe hat seinetwegen ihren ursprünglichen Lagerplatz aufgeben und sich mit einem weniger günstigen begnügen müssen ... Abermals brüllt nun der Höhlenlöwe. Von den Felsen jenseits des Sees kommt dumpf der Widerhall. Der Bison weicht zurück – und wäre beinahe über den hinter dem Strauch liegenden Stoß hinweggestampft. Beide Jäger müssen aus ihrer Deckung aufspringen, sie schreien in Todesangst auf. Der Löwe fährt auf, sein Schweif peitscht die Erde. Er erblickt die beiden Jäger. Da – Zur einen Seite jagt der Bison mit seinem Jungen davon, zur anderen – dem See zu – Wisent mit Stoß. Atemlos hetzen die beiden Jäger durch das Uferschilf, erreichen das Boot, schleppen es mit verzweifelter Kraft ins offene Wasser hinaus, springen auf – und liegen keuchend still. Sie sind gerettet. Der Höhlenlöwe schleicht knurrend das Ufer entlang. Er versucht einige Sprünge, faucht, brüllt und verschwindet dann landeinwärts.
Nach einigen Stunden wagen sich die beiden Jäger abermals an Land. Der Löwe zeigt sich nicht wieder. Die hier im Tal lebende Sippe ist längst zur Ruhe gegangen. Wisent und Stoß kommen unbemerkt bis dicht an das Lager heran – sie arbeiten sich so behutsam näher, daß die auf246
gestellten Feuerwächter kein verdächtiges Geräusch vernehmen. Dann warten sie, hinter dichtem Gestrüpp verborgen, auf einen günstigen Augenblick. Sie wagen nur verhalten zu atmen, ihre Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Sie wissen nur zu genau, was es bedeutet, einer Sippe einen Feuerbrand zu rauben – Feuer nehmen, das heißt: das Jagdglück nehmen; so besagt es die Überlieferung vieler Jägergenerationen. Und darum schützt jede Sippe ihr Feuer vor dem Zugriff eines Unbefugten, und wehe dem Fremden, der jenen in die Hände fällt, von deren Feuer er einen Brand genommen! Wisent beobachtet unentwegt das Lager. Die Sippe schläft zwischen vier Schutzfeuern, und die Wachen gehen von einer Feuerstelle zur anderen, um neue Scheite in die Flammen zu werfen. Und auf diese Tatsache stützt sich Wisents Plan ... Eben sind die beiden Wächter mit dem von den lauernden Jägern am weitesten entfernten Feuer beschäftigt, da gibt Wisent seinem jungen Begleiter Stoß mit der Hand ein Zeichen: Los! Und beide huschen aus dem Gebüsch, den nächstgelegenen Feuerstellen zu; Wisent der linken, Stoß der rechten. Ein Leopard könnte nicht leiser schleichen als der behende Wisent, wie er nun auf allen vieren unhörbar bis an das Feuer herankriecht! Geschmeidig schlüpft er zwischen den Schlafenden hindurch, ohne gegen einen der Körper zu stoßen, behutsam zieht er einen angebrannten Ast aus dem Feuer, wendet, schlüpft zurück ins Gebüsch, springt auf und jagt mit der Geschwindigkeit einer Antilope den Hang hinauf! Es ist gelungen – er hat Feuer! Verbissen kämpft der kranke Wisent gegen einen Schwächeanfall an, der ihn zu überwältigen droht. Mit letzter Kraft erreicht er den Bergkamm und ist nun einigermaßen in Sicherheit. Keuchend steht er da und wartet auf Stoß. Und da kommt schon der Bub, auch er hat einen brennenden Ast erbeutet und hetzt 247
nun einen anderen Weg als Wisent den Hang hinauf – um die Verfolgung zu erschweren, sollte es zu einer solchen kommen. Oben auf dem Bergkamm vereinigen sich die beiden Jäger wieder. Wisent keucht noch immer, seine Augen brennen fiebrig, aber er läßt sich von der Schwäche nicht besiegen: Er erfüllt seine Aufgabe – oder er fällt. Seite an Seite mit Stoß läuft er den flußwärts abfallenden Hang hinunter, der Moldau zu. Auf halbem Weg ins Tal muß er jedoch eine kleine Rast einschalten – aber nun kann er es mit ruhigem Gewissen tun, denn der glimmende Ast, den er trägt, ist vom feindlichen Lager aus längst nicht mehr zu sehen. Stoß läuft indessen hurtig weiter. Es schert ihn nicht, daß seine Füße blutiggeschunden sind und heftig schmerzen – wichtig ist allein, daß das große Abenteuer erfolgreich bestanden ist! Und er, Stoß, ist jetzt kein Bub mehr, nein – von heute an ist er ein richtiger Jäger, ein Beschützer und Ernährer seiner Sippe! Unten am Fluß wartet Stoß auf Wisent. Dann suchen sie das im Schilf versteckte Boot und machen es fahrbereit. Bevor sie aber den schwimmenden Stamm besteigen, entfachen sie am Ufer ein kleines Feuer. Als genügend Glut vorhanden ist, hebt Stoß ein Stück Rasen auf, häuft die Glut darauf und trägt sie so mit beiden Händen zum Boot. Aber er sieht nicht gut, wohin er tritt, und als er auf dem schwankenden Baumstamm zwei Schritte macht, verliert er mitsamt dem Boot das Gleichgewicht und fällt kopfüber ins tiefe Wasser. Die Glut zischt ... Stoß kann gut schwimmen, er erreicht bald das Ufer. Aber das Rasenstück mit dem Feuer liegt auf dem Grunde der Moldau. Stoß ist nahe am Weinen – sollte alles vergebens gewesen sein? »Nun, gehen wir noch einmal um Feuer!« sagt Wisent, scheinbar ernst. Stoß beginnt nun tatsächlich zu weinen. Da bückt sich Wisent, scharrt in den glimmenden Feuerresten 248
am Ufer, bläst geduldig, scharrt abermals, bläst wieder. Und schon vergißt Stoß das Weinen und springt hinzu, um Wisent behilflich zu sein. Und es gelingt – Flämmchen schlagen hoch, das Feuer ist gerettet! Wisent allerdings hat einen Hustenanfall, von dem er sich lange nicht erholen kann. Dann aber ist er zur Abfahrt bereit. Und diesmal bringt Stoß das Feuer ohne Unfall ins Boot. Von kräftigen Ruderstößen getrieben, gleitet der Baumstamm durch die Nacht.
Im Osten hat es noch nicht zu dämmern begonnen, als sie unter dem Weißen Felsen landen. Von oben späht der alte Zottel nach ihnen aus; in der Nacht hat er so gefroren, daß er nicht schlafen konnte. Nun sieht er auf der glänzenden Seefläche den halbversenkten Stamm schwimmen, auf ihm zwei kleine, schwarze Erhebungen – das sind sie! Aber er sieht kein Feuer ... Das Boot landet unter dem Felsen, bald darauf rascheln die Zweige des Gebüsches, und im Lager auf dem Weißen Felsen tauchen die beiden müden Wanderer auf. Zottel begrüßt sie leise; er will die noch schlafende Sippe nicht wecken, wenn Wisent und Stoß ja doch kein Feuer gebracht haben. Aber da bläst der lachende Stoß schon in die glimmenden Zweige auf dem Rasenstück, das er bisher versteckt gehalten hat! Zottel jubelt laut vor Freude. Die Sippe erwacht. Das Feuer lodert – und alle eilen herbei. Wieder Feuer! Hoch das Feuer! Die beiden mutigen Schiffer werden mit verdientem Lob überschüttet. Ausgelassene Freude erfüllt das Lager. Nur Wisent, der kranke Häuptling, freut sich nicht mit den übrigen. Er liegt zusammengekauert da und hustet. Bald zittert er vor Kälte, bald ist er von Schweiß übergossen. Wolfsklaue und Zottel 249
tragen den Kranken zum Feuer und betten ihn auf weiche Felle. Wisents Zähne schlagen im Schüttelfrost gegeneinander, Djarga versucht durch Auflegen von im Feuer erhitzten Steinen seine Pein zu lindern. Und endlich läßt der Kälteschauer nach, und der erschöpfte Häuptling schläft ein. Djarga weicht nicht von seiner Seite; immer wieder legt sie ihm die wärmenden Steine auf. Um das Feuer sitzt die Sippe. Wie gut es tut, der Morgenkühle zu entrinnen! Starrkopf ruft Raufbold zu: »Komm, wärme dich auch!« Raufbold brummt nur: »Es ist nicht kalt, ich will nicht!« Der alte Zottel nimmt ein Stück Fleisch und legt es in die glühende Asche – er kann nur gut gebratenes Fleisch essen, das rohe kann er nicht mehr beißen. Er behauptet, daß in der Asche gebratenes Fleisch einen besonders guten Geschmack hat. Dann erzählt er: »Schon lange. Ich klein. Wir ohne Feuer. Regen hat alles ertränkt. Kein gebratenes Fleisch, keine Wärme, kein Licht bei Nacht. Da, auf einmal, schwarze Wolken, Brüllen – wie von vielen, vielen Löwen! Whumm! Ein Stück Sonne abgebrochen! Fährt durch die Wolke wie ein Pfeil! Brüllt mehr als eine Herde Mammute! Beißt in eine Buche und zerreißt sie! Ich falle um, liege – lange, lange. Ich stehe auf – oh! – der Baum brennt! Viel Feuer!« So hat der Blitz damals der Sippe zu Feuer verholfen. Durch den Blitz hat der Mensch das Feuer überhaupt erst kennengelernt. Die Jäger schauen schweigend in die Flammen. Sie fühlen sich wohl. Ruhig und zufrieden genießen sie die große Freude, die Wisents glückliche Ausfahrt ihnen gebracht hat. Sie haben einen Häuptling, um den jede Sippe sie beneiden kann! Und auch auf den jungen Stoß, der nun von dem nächtlichen Abenteuer zu berichten beginnt, sind sie gebührend stolz: er wird eine Stütze seiner Sippe werden! 250
Gefährdete Beute Wisents Sippe verfügt über gute Jäger. Meisterhaft verstehen sie den Wildfährten zu folgen, unbemerkt bis dicht an scheue Waldtiere heranzukommen, mißtrauisches Wild durch naturgetreues Nachahmen von Tierlauten zu locken, scharfsinnig ausgedachte Fallen zu legen – und, wenn es sein muß, dem gefährlichen Großwild mörderische Kämpfe zu liefern. Der Sippe geht es gut; sie hat reichlich Nahrung, denn nur selten kommen die Männer mit leeren Händen von ihren Jagdzügen heim. Freilich fordert der ständige Kampf um Nahrung seine Opfer: Oftmals kehren Jäger verwundet ins Lager zurück, die Narben auf ihren Körpern mehren sich; Nashörner, Mammute und Elche sind gefährliche Widersacher. Und eines Tages findet der verwegene Raufbold auf einem Beutezug den Tod: Die Sippe hat eine Herde von Wildpferden umzingelt und dann das dürre Steppengras angezündet, um durch Flammen und Rauch den Tieren ihren letzten Fluchtweg zu versperren. Auf 251
immer engeren Raum wird die Herde zusammengedrängt, schon stürzen die Jäger mit gezückten Waffen vor – da wagt der verzweifelte Leithengst den Weg durch die Flammen! Raufbold wirft sich ihm kühn entgegen, aber zu spät; der Hengst steigt in herrlichem Sprung über das Feuer, und Raufbold, von einem Hufschlag getroffen, sinkt zu Boden – eben als die Herde in wildem Galopp ihrem Führer folgt! Viele, viele Hufe trampeln über Raufbold hinweg, er schreit gellend, schließt in wahnsinnigem Schmerz die Augen – und öffnet sie nie wieder. Sein Leichnam wird bestattet, wie die Sitte es fordert. Zwar hat Raufbold keinen wirklichen Freund gehabt, aber doch trauert die Sippe um einen tapferen Jäger ...
Einmal bringt Wolfsklaue ein lebendes Elchkalb ins Lager. Er hat es im Schlaf überrascht, als das Muttertier vor einem Bären flüchten mußte, hat mit eisernem Griff den Hals des Jungen umklammert und nicht mehr locker gelassen. Durch Gestrüpp und über Steinhalden schleifte ihn das kräftige Tier – aber seine Arme gaben nicht nach. Und schließlich ließ sich das Elchkalb, bereits ganz erschöpft, ins Lager zerren. Hier lebt es nun, an einen dicken Stamm gebunden, bei der Sippe und wird eifrig gefüttert; in der nächsten Hungerzeit wird man das indessen groß und fett gewordene Tier schlachten und so die mageren Tage besser überstehen. Auf diese Weise bedient sich die Sippe einer neuen, wirtschaftlicheren Art der Nahrungssicherung als jener der Lagerung getrockneter Fleischstücke. Das gefangene Elchkalb ist das erste Nutztier des Urzeitmenschen. Wisents Krankheit geht allmählich vorüber. Er erholt sich, sammelt neue Kräfte, und im Frühherbst kann er wieder mit gewohnter Tatkraft die Beutezüge seiner Jäger führen. Seine Genesung ist der Sippe mehr als willkommen, denn nun wird es Zeit, für ein großes Unternehmen zu rüsten: für die 252
Jagd auf die unübersehbaren Rentierherden, die alljährlich im Herbst aus den Steppen des Nordens südwärts ziehen und hier, unterhalb des Weißen Felsens, die Moldau überqueren, um dann in die Elbeniederung weiterzuwandern. Im Frühjahr ziehen sie den gleichen Weg nordwärts, auf der Flucht vor den lästigen Gelsen und Bremsen, den kühlen Steppenregionen zu, bis ihnen Gebirgsland mit Eis und Schnee Halt gebietet. Die Jäger haben beschlossen, im Lager auf dem Weißen Felsen den Herbstzug der Rentiere abzuwarten, der reiche Beute verheißt. Sollte der Jagdertrag ausreichende Fleischvorräte für den Winter sicherstellen, könnte die Sippe hier an der Moldau überwintern; wenn nicht, müßte sie aufbrechen und ein neues Jagdgebiet suchen, noch ehe die kalte Jahreszeit hereinbricht. Wisent schickt zwei seiner besten Jäger, Späher und Wolfsklaue, als Kundschafter aus. Sie sollen den Rentieren nordwärts entgegenziehen und deren Bewegungen genau beobachten, um die Sippe rechtzeitig benachrichtigen zu können, wenn eine 253
Herde sich dem Wasserlauf nähert; denn dann darf man keine Zeit verlieren. Die Jäger bringen an den folgenden Tagen ihre Waffen in Ordnung. Für die große Jagd wird ein genauer Plan entworfen. Nur eine Frage, die entscheidende, bleibt offen: Werden die Rentiere überhaupt kommen? Die Spannung im Lager wächst von Tag zu Tag. Endlich kehren die beiden Kundschafter zurück. Ja, die Rentiere kommen! In riesigen Herden! Und keine fremde Sippe wurde gesichtet, die den Zug der Tiere etwa ablenken könnte! Gute Nachricht! Nur noch wenige Tage muß die Sippe warten. Die Jäger finden es nicht mehr der Mühe wert, kleine Tiere zu jagen – jetzt, da so üppige Beute winkt! Inmitten der allgemeinen Spannung findet der junge Elch Gelegenheit, den Riemen, der ihn an den Baum fesselt, durchzubeißen und aus dem Lager zu stürmen. Zwar sind die Jäger sogleich hinter ihm her, aber es besteht nur geringe Aussicht, ihn wieder einzufangen. Da läuft das unerfahrene Tier jedoch auf einen Felsvorsprung am Abgrund und kann nun nicht mehr wie254
ter. Die Jäger verstellen ihm den Weg und locken den Ausreißer mit Birken- und Erlenreisig zurück und bemächtigen sich seiner. Da sie ohnehin fast nichts mehr zu essen haben, muß der junge Elch sein Leben lassen. Er wird getötet und ausgeweidet. Von der abgezogenen Haut kratzen zwei Mädchen mit breiten Rentierknochen Fleisch und Fett. Da stürzt plötzlich der junge Stoß ins Lager: »Rentiere! Rentiere! Rentiere!« Von der Insel schwimmen etwa drei Dutzend Rentiere über die Moldau und nehmen Richtung auf das Tal neben dem Weißen Felsen. Alle Jäger und auch die Frauen und die Kinder rennen im Galopp hinunter zum Wasser. Aber sie kommen zu spät: die Rentiere sind schon übers Wasser und traben nun davon! Enttäuscht kehrt die Sippe auf den Weißen Felsen zurück. Wisent aber erklärt zuversichtlich: »Mehr Rentiere werden kommen! Wir werden beim Wasser warten!« Sie übernachten zum letztenmal auf dem Weißen Felsen. Die heute gesichtete Rentierschar ist gewiß nur der Vortrupp einer großen Herde – die Hauptmasse wird voraussichtlich erst mor255
gen den Fluß erreichen; und dann wird ein jeder Jäger zeigen müssen, was er kann! Am folgenden Morgen, als sie sich von ihren Fellen erheben, finden sie unweit vom Feuer etwas Sonderbares: Fast mitten im Lager liegt ein von zwei Pfeilen durchbohrter Hase! Was bedeutet das? Keiner der Jäger hat den Hasen erjagt, keiner aus der Sippe hat ihn hierher gelegt. Die Jäger betrachten die Pfeile – dies sind fremde Waffen! Also hat ein fremder Jäger bei Nacht diesen Hasen zum Feuer gelegt ... Die Sippe ist bestürzt. Die Männer treten zur Beratung über diese sonderbare Handlung des fremden Jägers zusammen. Sie einigen sich schließlich auf folgende Auslegung: Eine fremde Jägersippe ist in der Nähe, und der durchbohrte Hase ist eine Botschaft von ihr. Und diese Botschaft bedeutet: Macht, daß ihr fortkommt! Flieht – flieht so schnell wie Hasen, sonst treffen euch unsere Pfeile! Das ist eine böse Nachricht! Eine fremde Sippe will sich dieses Jagdgebiets bemächtigen. Und allenfalls mit Gewalt. Es wird zu einem blutigen Kampf kommen! Doch Wisent ist zuversichtlich; er baut auf die Stärke seiner Sippe: »Wisent stark, Späher stark, Wolfsklaue stark, Rothand stark, Dickwanst stark – fürchten nicht Mammut, nicht Nashorn, nicht Bären! Und die Fremden? Sind sie stärker als Mammut – stärker als Nashorn – stärker als Bär?« Dann führt er die Sippe hinunter zum See, um am Ufer im Hinterhalt auf die Rentiere zu warten. Es geht gegen Mittag, als Stoß, der als Wache auf dem Weißen Felsen zurückgeblieben ist, herunterruft, daß die Rentiere kommen. Er sieht, wie eine unabsehbare Herde sich in den Flußarm stürzt und zur Insel schwimmt. 256
Wisent gibt in Eile die letzten Anweisungen. Er lächelt befriedigt: seine Jäger sind gut vorbereitet, jeder einzelne von ihnen weiß genau, was er zu tun hat. Und schon sehen sie, wie dichte Reihen von Rentieren sich aus dem Gebüsch der Insel ins Wasser werfen. Voran das stattliche Leittier, die übrigen in geschlossenem Haufen hinter ihm, Kopf an Kopf. Und immer neue Reihen stürzen nach. Das Geflecht der Geweihe, das aus dem Wasser ragt, macht den Eindruck, als sei der See mit windbewegtem Gestrüpp bewachsen. Zwei Boote – ausgehöhlte Baumstämme – stoßen vom Ufer ab, auf jedem zwei Jäger. Einer steuert das Boot, der andere soll mit knöchernen Harpunen die schwimmende Herde in der Flanke angreifen. Wisents Boot erreicht als erstes die Tiere, und sobald sich ein Rentierrücken in seiner Nähe über dem Wasser zeigt, schleudert der Häuptling seine Waffen. Auch das zweite Boot ist nun nahe genug herangekommen, und von ihm schnellen Wolfsklaues Geschosse gegen die Herde. Bald färbt das Blut etlicher Rentiere das Wasser. Das Leittier hat indessen das Ufer erreicht. Es schüttelt das Wasser von dem fetten Rücken und läuft voran, von all jenen Tieren gefolgt, die gleichfalls an Land gestiegen sind. Kaum befinden sie sich jedoch zwischen dem Ufergebüsch, da springen Hase, Uhu und die übrigen Jäger aus ihrem Hinterhalt und greifen sie mit ihren scharfen Speeren an. Die Tiere springen eine Weile verwirrt hin und her, ehe es ihnen gelingt, landeinwärts durchzubrechen – aber da haben die Speere der Jäger schon arg unter ihnen gewütet, viele Rentiere wälzen sich in ihrem Blut. Die Frauen und die Kinder lauern im Uferschilf, und jedesmal, wenn ein von den Harpunen der Schiffer bereits verwundetes Tier aus dem Wasser wankt, springen sie herbei und töten es durch Beilhiebe. Aber sie müssen vorsichtig zu Werke gehen, 257
denn die gereizten Rentiere können arg stoßen, und wenn jemand umfällt, stampfen unzählige Hufe über ihn hinweg. Die Jagd wird ein großer Erfolg – das steht bereits fest. Die Jäger auf dem Festland schwelgen im Jagdtaumel; ein jeder stürzt sich kühn auf die Beute, keinem fällt es ein, die Männer in den Booten zu beobachten – doch denen droht tödliche Gefahr! Die wilden Rentiere haben Wisents Boot, das zu tief in ihre Reihen eingedrungen ist, umgeworfen; Wisent und Späher, sein Steuermann, sind mitten in der Rentierherde untergetaucht. Das umgekippte Boot schwimmt davon ... Wo ist der Häuptling? Wo ist der tapfere Späher? Im Jagdeifer hat keiner gesehen, was geschehen ist. Nur Stoß, der es beim Feuer nicht ausgehalten hat und vom Weißen Felsen ans Ufer heruntergekommen ist, hat beobachtet, wie Wisent zwischen dem wimmelnden Wild versunken ist. Der Bub ist furchtbar erschrocken – wenn die Rentiere Wisent unter sich treten, kommt er nicht lebend wieder an die Oberfläche! Und die Herde nimmt kein Ende! Reihe um Reihe stürzt sich von der Insel ins Wasser und schwimmt spritzend, schnaubend und blökend heran! Wolfsklaue, der verwegene Jäger auf dem zweiten Boot, hat schon alle seine Harpunen ausgeworfen und schlägt jetzt mit dem Beil auf die Köpfe der Rentiere ein. Wisent bleibt verschwunden ... Stoß springt zwischen die kämpfenden Jäger und schreit, allen Lärm übertönend: »Der Häuptling – ertrunken!« Einige Jäger laufen mit ihm ans Ufer, und Stoß zeigt ihnen, wo das Boot umgekippt ist. Aber da – sie trauen ihren Augen nicht –, da kommt Wisent ans Ufer! Er hält einen Tierhals umklammert und wird von dem Rentier aus dem Wasser getragen! Erst auf dem Strand läßt der erschöpfte Wisent das Tier los und sinkt zu Boden. Die Jäger laufen rasch zu ihm und ziehen ihn eiligst beiseite, damit er nicht von der Herde zer258
treten werde. Wisent hustet und erbricht Wasser, aber er erholt sich rasch – es ist ihm nichts Ernstliches geschehen. Und nun taucht auch Späher, der zweite Schiffbrüchige, wieder auf, ebenfalls unversehrt; die Strömung hat ihn ein gutes Stück flußabwärts getragen, fort von dem Tiergewimmel und der Gefahr, immer aufs neue unter Wasser getreten zu werden. Indessen hat die ganze Herde das Ufer erreicht, die Jagd geht zu Ende. Die letzten verstreuten Rentiere laufen den Hang hinauf und verschwinden im Gebüsch. Die freudig erregten Jäger schleppen die erlegten Rentiere zu ihrem Häuptling. Viele, viele! Unbeschreiblicher Jubel herrscht in dem schönen Talkessel unter dem Weißen Felsen! Seit Jahren hat die Sippe keine so reiche Beute gemacht – nun wird es Fleisch, Geweihe und Felle in Überfluß geben! Da tritt hinter einem Baum eine Gestalt hervor: ein fremder Jäger, mit einem Speer bewaffnet! Um den Hals trägt er einen Riemen mit durchbohrten Wolfs- und sogar Bärenzähnen – er muß ein tapferer Jäger sein! In maßloser Überraschung starrt die Sippe auf den Fremdling. Wisent steht auf. Zwar ist er noch ziemlich schwach, aber er darf sich vor dem Fremden, dem die Jäger schweigend den Weg zum Häuptling weisen, keine Blöße geben. Der fremde Jäger beginnt ungestüm zu sprechen. Niemand in der Sippe versteht seine Sprache, aber seine Gesten sind nur zu eindeutig klar: Mit herrischen Gebärden fordert er, man möge ihm die gesamte Beute des heutigen Tages ausliefern! Wisent mißt scharf den verwegenen Gast. Mit einem entrüsteten Kopfschütteln weist er die Forderung zurück. Der Fremde gibt zu verstehen, daß ganz in der Nähe noch viele, viele Jäger seiner Sippe sind; er streckt mehrmals die gespreizten Finger seiner Hand vor, um damit auszudrücken, wie groß die Zahl seiner Kampfgenossen ist. 259
In Wisents Sippe ist jedoch keiner bereit, kampflos auf die üppige Jagdbeute zu verzichten. Da packt der Fremdling ein Rentier am Geweih und schickt sich an, es fortzuschleppen. Ein Entrüstungssturm geht durch die Sippe. Die kleine Fröscherl springt auf den anmaßenden Fremden zu und beißt ihn so heftig in die Hand, daß er sofort das Geweih losläßt und wütend davonläuft. Nach einer Weile kommt er wieder – aber nicht mehr allein: ein mächtiger Jägertrupp begleitet ihn! Wisents Sippe erschrickt über diesen schnellen Aufmarsch des Feindes. Der Häuptling erkennt sofort, daß die fremde Sippe bedeutend stärker ist als die seine und daß der Kampf zu ungleich und somit aussichtslos wäre. Also gibt er schnell den Befehl zum Rückzug, um wenigstens das Leben der ihm Anvertrauten zu retten. Frauen und Kinder laufen voraus, den Hang hinauf. Wisent folgt ihnen mit den Jägern, bereit, jeden Angriff abzuwehren. Die feindliche Sippe besetzt unter lautem Geschrei das Ufer, wo die vielen erlegten Rentiere aufgeschlichtet liegen. Die Männer tanzen jubelnd um die Beute herum. Dann aber machen sie sich an die Verfolgung der Fliehenden; sie wollen sie weit davonjagen! Wisent führt seine Sippe nicht auf den Weißen Felsen, weil sie dort zu leicht umzingelt werden könnte. Er nimmt Richtung auf den Felskamm. Die Feinde kommen näher und näher. Wisents Sippe ist ermüdet, und nur ihre gute Ortskenntnis ermöglicht es ihr, sich die ausgeruhten Verfolger vorläufig vom Leibe zu halten. Aber wie lange noch? Die Fliehenden erreichen eine Sandsteinschlucht, nun müßten sie einen Steilhang hinaufklettern. Aber die Frauen weigern sich, diesen Weg zu nehmen – sie wissen, daß hier eine Familie gewaltiger Höhlenbären ihren Unterschlupf hat. 260
»Vorwärts!« befiehlt unerbittlich der Häuptling und stößt die Zögernden weiter. Das Geschrei der Verfolger kommt näher und näher ... Alle klettern hinauf. Es geht nicht anders. Und schon kommen auch die Feinde in die Schlucht, jubelnd, daß sie die Flüchtenden bald eingeholt haben werden. Die Verfolgten klettern behende die Felswand hinauf. Der Bärenhöhle weichen sie aus. Ein Glück, daß die Bären schlafen! Stoß und Eichhorn klettern Seite an Seite durch eine gefährlich steile Felsrinne. Mehrmals rutschen sie auf lockerem Geröll zurück und finden nur mit Mühe wieder festen Halt. Große Steinbrocken rollen polternd in die Tiefe. Erregt ermahnen die Jäger die beiden Buben zur Vorsicht – der Lärm des Steinschlags könnte die Bären aus ihrer Höhle treiben! Wisent hat beinahe den Gipfel erreicht und sieht, wie die beiden Buben hurtig klettern. Eben stürzt ein großer Stein unter ihnen zu Tal, schlägt donnernd gegen den Fuß der Felswand und zerschellt. Die Jäger erschrecken – aber Wisent freut sich! »Werft Steine hinunter! Mehr Steine!« ruft er den Buben zu. Und er veranschaulicht mit lebhaften Gebärden, was er meint. Die Buben gehorchen und stoßen mit großem Vergnügen das Geröll in die Tiefe. Ein Hagel von Steinen und Felsbrocken poltert durch die Rinne in die Schlucht, donnergleich hallt der Lärm von der Felswand wider, immer neue Steine werden losgerissen, sausen den Steilhang hinab und zerschellen unter furchtbarem Getöse dicht an der Mündung der Bärenhöhle. Gerade als die Feinde heraneilen, um nun gleichfalls auf die Felsen zu klettern, erscheint in der Öffnung der Höhle der Kopf des gewaltigen Raubtiers, des Höhlenbären! Die fremden Jäger erstarren vor Schrecken. Der Bär brüllt vor Wut, weil er aus dem Schlaf aufgestört wurde, und kriecht aus der Höhle. Und hinter ihm kommt ein 261
zweiter, noch größerer und stärkerer! Und noch ein dritter Riese erscheint! Die Bären, durch die fallenden Steine gereizt, werfen sich wild auf die überraschte fremde Sippe. In der ziemlich engen Schlucht entbrennt ein furchtbarer Kampf. Die fremden Jäger geraten in Panik; schon liegen einige Tote auf der Erde, Schwerverwundete kriechen in irgendwelche Deckung. Die übrigen laufen kopflos davon. Aber die riesigen Bären lassen sie nicht so leicht entwischen und jagen sie mit wütender Hartnäckigkeit. Wisents Sippe hat indessen den Gipfel erreicht und sich in tiefen Erdlöchern versteckt. An diesem Tage wagt sich keiner hervor, die ganze Nacht kauern die Menschen in den engen Löchern; das überstandene Grauen zittert in ihnen nach. Am folgenden Morgen meldet ein ausgesandter Kundschafter, daß in der Bärenschlucht einige arg zugerichtete Leichen liegen, daß aber ringsum kein Zeichen irgendwelcher Gefahr festzustellen sei. Wiesent führt seine Sippe wieder zurück zum Weißen Felsen. Allerdings wagen sie sich nur vorsichtig vor, noch trauen sie dem tiefen Frieden in der Schlucht nicht so recht. Aber alles bleibt ruhig, sie erreichen unbehelligt das Lager. Oh, wie sie aufatmen! Das Lager ist unversehrt, kein Feind hat es betreten! Und das Feuer, das kostbare Feuer glimmt noch und läßt sich zu neuer Flammenpracht anfachen! Eine tödliche Gefahr ist vorübergezogen ... Und die reiche Jagdbeute des gestrigen Tages? Unten am Seeufer tun sich einige Wölfe und Hyänen daran gütlich – das beweißt, daß die durch die Bären auseinandergejagten Fremden nicht mehr hierher zurückgekommen sind. Die Sippe eilt den Hang hinunter, verjagt Wölfe und Hyänen und macht sich heißhungrig über das aufgehäufte Wild her. Die Mäd262
chen bringen glimmendes Holz vom Weißen Felsen und machen unten ein großes, festliches Feuer. Die Frauen legen ganze Viertel der erlegten Rentiere zum Braten in die glühende Asche und reichen dann den ungeduldigen Jägern die knusprigen Brocken. Wisent stellt zur Vorsicht Wachen auf – sie müssen die Sippe warnen, falls die Feinde vielleicht doch wieder versuchen sollten, um die große Beute zu kämpfen. Aber niemand stört ihre Ruhe, und die Sippe kann sich nach Herzenslust dem üppigen Mahl hingeben. Aber es gibt doch noch eine Störung: Als alle längst nicht mehr aus Hunger, sondern nur mehr aus Schwelgerei in die Bratenstücke beißen, kommen plötzlich die Wachen herbeilaufen und rufen erschrocken: »Feinde! Feinde!« Es wirkt wie ein Blitz aus heiterem Himmel! Die Frauen wollen sogleich davonlaufen, aber Wisent bewahrt seine Kaltblütigkeit; er befiehlt den Wachen, große Bratenstücke aus dem Feuer zu nehmen und sie den Feinden entgegenzutragen. Die Wachen gehorchen verblüfft. Und schon kommen die hungrigen feindlichen Jäger, die nach dem furchtbaren Kampf in der Bärenschlucht weit auseinandergelaufen waren, aus ihren verstreuten Verstecken hervor und nähern sich zaghaft. Nach einem gewissen Zögern nehmen sie die ihnen gesandten Geschenke an und beißen gleich hinein. Dann nähern sie sich langsam und mißtrauisch dem Lager der Sippe. Wisent läßt in der Nähe ein zweites Feuer machen und schleppt zwei Rentiere hin. Dann geht er wieder zu den Seinen. Die fremden Jäger bleiben einige Zeit unentschlossen stehen, dann kommen sie schließlich doch herbei und setzen sich an das neue Feuer. Die Sippe beachtet sie nicht. Als die Gäste sehen, daß niemand sie vertreiben will, ziehen 263
sie geschickt die beiden Rentiere ab und beginnen das Fleisch in der Asche zu braten. Die beiden Sippen, die bis vor kurzem Todfeinde waren, schmausen nun friedlich in unmittelbarer Nachbarschaft. Die hohen Feuer lodern Tag und Nacht, und die Vorräte scheinen nicht abzunehmen. Die Beute reicht für alle. Eines Morgens ist die fremde Sippe verschwunden, ohne daß jemand wüßte, wohin sie gezogen ist. Wisent und die Seinen sind wieder allein unter dem Weißen Felsen. Diesmal ist das reiche Jagdgebiet noch in ihrer Hand geblieben – aber wie wird es weiter sein? Einstweilen machen sich die Jäger jedoch keine Sorgen um die Zukunft. Sie sehen eine Menge Fleisch vor sich und genießen die angenehme Gegenwart. Ihre Gesichter glänzen vor Zufriedenheit und Bratenfett.
Feuer – ohne Feurigen Stein ! Wenige Tage später stellt der Häuptling fest, daß die Sippe ihren Feuersteinvorrat ergänzen muß. Fleisch hat sie jetzt übergenug, nun gilt die ganze Sorge der Jäger den Waffen und Werkzeugen, die in Ordnung gebracht werden müssen, bevor der harte Winter kommt. Wisent läßt den Reichtum seiner Sippe, Rentiergeweihe und verschiedene Felle, zusammenlegen und schickt vier Männer mit dieser Ladung aus, einen Tausch abzuschließen. Die Sendboten überqueren auf ausgehöhlten Stämmen den See und wandern dann schwerbeladen südwärts, wo aus einem Seitental der Moldau der blaue Rauch vom Lagerfeuer einer befreundeten Sippe aufsteigt, mit der sie schon früher einmal in gutem Einvernehmen einen Tausch abgeschlossen haben.
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Auf der Felsstufe vor der Höhle, in der diese Sippe haust11, brennt das Lagerfeuer. Wisents Boten rufen schon von weitem ihr Zeichen, damit ihnen nicht jemand vorschnell einen scharfen Pfeil entgegenschicke. Die Männer am Feuer springen auf und antworten mit freudigen Rufen, als sie die befreundeten Jäger erkennen. Sie treten zum Willkommen vor die Ankömmlinge hin, neigen sich zu ihnen, reiben die Nasen an den ihren, spucken sich in die Hände und streicheln dann die Wangen der Boten. Damit ist die Begrüßung durchgeführt, wie es der Jägerbrauch gebietet, und die Freunde werden zum Lagerfeuer eingeladen. Die Boten breiten die mitgebrachte Ware aus und bitten um Umtausch gegen Feuersteine. Der Häuptling der Gastgeber willigt alsbald ein und begibt sich mit zwei Jägern ins Innere der Höhle, wo sich ein nicht sehr geräumiger, aber ziemlich langer Gang durch die Kalkfelsen zieht12. Der vorderste Jäger leuchtet mit einem brennenden Ast und führt seine Gefährten etwa hundert Schritte durch den Gang, bis sie beim Feuersteinlager der Sippe angelangt sind. Jeder Mann nimmt einige Klumpen auf, dann kehren sie zum Feuer zurück. Sie legen die Feuersteine vor die Sendboten auf einen Haufen und setzen sich. Die Boten sprechen kein Wort. Sie werfen einen abschätzenden Blick auf die angebotenen Feuersteine, dann wenden sie sich ab und starren ins Feuer ... Nach einer Weile steht der Häuptling der heimischen Sippe abermals auf, holt wie vorhin mit zwei Männern einige Feuersteinklumpen aus dem Dunkel der Höhle und legt sie zu den bereits angebotenen. Und diesmal nicken die Unterhändler zustimmend und stopfen die Feuersteine in ihre Ledersäcke. __________________________________________________ 11
Die Prokopi-Höhle im Dalejer Tal, das bei Hlubocep in das Tal der Moldau mündet. 12 In dem heute bereits eingefallenen Höhlengang wurden im Jahre 1883 Menschen- sowie Rentierknochen gefunden. Die Funde sind im Tschechischen Nationalmuseum aufbewahrt.
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Der Handel ist abgeschlossen. Auf ähnliche Weise ist die heimische Sippe ihrerseits in den Besitz der Feuersteine gelangt; sie hat sie auf dem Tauschweg von anderen herumziehenden Sippen erworben. Heimische Feuersteine gibt es ja kaum. Die Feuersteinklumpen sind schon in ferner Vorzeit als wichtiger Tauschgegenstand von den Kreidefelsen Belgiens oder von der Ostseeküste bis zur oberen Donau, nach Mähren und an die Moldau gewandert. Zur Feier des guten Handels werden die Boten bewirtet. Beim Essen sagt der Häuptling der Gastgeber, daß seine Sippe gerne die Freundschaft mit der Sippe Wisents durch verwandtschaftliche Bande festigen möchte. Er ruft zwei halbwüchsige Mädchen herbei, die er gern gegen zwei erwachsene Mädchen vom Weißen Felsen austauschen möchte, denn die jungen Jäger seiner Sippe wachsen heran und haben keine Frauen. Die vier Boten sind mit diesem Vorschlag einverstanden und führen, nachdem sie sich verabschiedet haben, die zwei Mädchen mit nach Hause. Zwei Jäger der einheimischen Sippe gehen mit ihnen, um sich im Lager auf dem Weißen Felsen Frauen auszuwählen. Gegen Abend kehren die Boten zum Weißen Felsen zurück. Im Lager freut man sich über die Feuersteine; es wird wieder genug scharfe Messer, Schaber, Pfeile und Speerspitzen geben! Die Männer versuchen sofort, von den Klumpen scharfkantige Stücke abzuspalten, die sich für Werkzeuge eignen. Die Feuersteine werden behutsam behandelt, wie es seltenen Kostbarkeiten zukommt; zwar kann man auch aus anderem, heimischem Gestein Waffen und Geräte verfertigen – etwa aus Hornstein, aus Jaspis, aus Karneol und aus Porphyr –, aber es geht nichts über einen Feuerstein! Die heimgekehrten Boten finden lautes Lob für den erfolgreichen Tauschhandel. Die vier Jäger lächeln glücklich – vor allem der junge Stoß, der nun ein weiteres Mal 266
bewiesen hat, daß er für die Jäger seiner Sippe, zu denen er seit der geglückten Ausfahrt um Feuer gehört, eine beachtliche Verstärkung bedeutet. Ja, Stoß ist kein Bub mehr; er ist ein von allen anerkannter Jäger – und zwar der besten einer! Die beiden Jäger aus der befreundeten Sippe werden gastlich bewirtet. Nach dem Mahl werden ihnen die Mädchen der Sippe vorgeführt, und sie treffen ihre Wahl. Sie wünschen den Einheimischen gute Jagd und führen ihre Frauen nach Hause.
Und dann wird es Winter; kalter, grausamer Winter. Eisige Stürme fegen vom Norden her über das Land, Schnee fällt in ungeahnten Mengen und deckt alles Leben zu. Der Frost klirrt in den Zweigen. Im Lager auf dem Weißen Felsen hocken Männer, Frauen und Kinder dichtgedrängt am Feuer und zehren von den Fleischvorräten; doch die gehen erschreckend schnell zur Neige, und an neue Jagdzüge ist einstweilen nicht zu denken. Noch leidet die Sippe keinen Hunger, aber die Schreckenszeit der Entbehrungen wirft ihre Schatten voraus. Nur gut, daß die Sippe Feuer hat! Unausdenklich wäre ein Leben ohne den knisternden, flackernden Wärmespender! Dabei ist dieses so unersetzliche Feuer in ständiger Gefahr, von Stürmen zerrissen oder von Schneemassen erstickt zu werden; die Sippe muß es mit dem Aufgebot all ihrer Wachsamkeit und all ihrer Findigkeit hegen. Wehe, wenn das Feuer erlischt – Tod und Verderben würden in das Lager einziehen, denn die Sippe nennt keinen Feurigen Stein ihr eigen, aus dem sie neues Feuer schlagen könnte. Das Feuer ... Stoß, der junge Jäger, denkt immer wieder an die Zauberkraft der Flammen, daran, daß Wohl und Wehe der 267
Sippe an einigen glimmenden Holzstücken hängen, die unter den Unbilden der Witterung zu erlöschen und zu erkalten drohen. Wie herrlich müßte es sein, der Sippe das unentbehrliche Feuer zu sichern – allen Widerwärtigkeiten zum Trotz! Ob das jemals gelingen wird? Eines Tages wird Stoß beauftragt, gemeinsam mit seinem Freund Eichhorn die Fleischvorräte der Sippe, die abseits vom Lagerfeuer aufgestapelt liegen, gegen die frechen Vielfraße zu bewachen, die in letzter Zeit schon so manchen stattlichen Brocken erbeutet haben. Diese Wache ist alles eher denn unterhaltsam – hier lindert kein knisterndes Feuer die Winterkälte, und die Stunden schleichen unendlich langsam vorüber. Eichhorn langweilt sich, er weiß nichts Rechtes mit sich anzufangen. Gedankenlos hebt er einen kleinen Knochen vom Boden auf und läßt ihn spielerisch durch die Finger gleiten, nur um sich irgendwie zu beschäftigen. Dann sieht er eine scharfe Feuersteinspitze auf der Erde liegen, nimmt sie an sich und beginnt mit ihr ein Loch in das Knöchelchen zu bohren. Vorerst geschieht dies ganz ohne Plan, doch während der Arbeit kommt dem Buben plötzlich der Gedanke, daß man ein durchbohrtes Knochenstück eigentlich einer neuartigen, sehr nützlichen Verwendung zuführen könnte. Sogleich beginnt er eifriger zu bohren, und bald ist das Werk getan; nun bohrt er rasch auch in das Rentierfell, das er um den Leib gebunden trägt, zwei Löcher – eines links oben, eines rechts oben –, zieht einen dünnen Riemen durch, befestigt an dessen beiden Enden je ein Hölzchen und steckt diese durch den durchbohrten Knochen. Das Fellkleid hält am Körper – auch ohne Knoten! Und will man es abstreifen, braucht man nur eines der Hölzchen durch die Knochenspange zu drücken – und schon ist man so weit; wieviel einfacher geht das, als mit klammen Fingern mühselig die oft steifgefrorenen Enden des Felles zu entknoten! 268
Eichhorn freut sich über seine neue Erfindung und schickt sich sogleich an, noch eine zweite solche Spange anzufertigen. Stoß ist nun auf das Tun des Freundes aufmerksam geworden; die Spange gefällt ihm, auch er will eine herstellen. Bald hat er einen geeigneten Knochen gefunden, aber er besitzt keinen Feuerstein; da beginnt er kurz entschlossen, mit einem zugespitzten Fichtenholz zu bohren. Eichhorn lacht ihn aus – mit Holz kann man doch keinen Knochen durchbohren! – und bietet ihm seinen Feuerstein an. Aber der ehrgeizige Stoß gibt sich nicht so leicht geschlagen; verbissen bohrt er weiter, plagt sich so sehr, daß ihm trotz der Winterkälte der Schweiß von der Stirn rinnt. Und doch bleibt der Erfolg aus. Ermattet hält Stoß inne. Abermals streckt Eichhorn ihm den Feuerstein hin. Aber Stoß ist zu stolz, ihn anzunehmen. Ein neuer Einfall kommt ihm: Der Knochen läßt sich mit dem Fichtenkiel nicht durchbohren – nun gut, dann wird er eben statt der knöchernen eine hölzerne Spange anfertigen! Mit Holz wird es schon gehen! Er hebt ein pechiges Stück Kiefernholz vom Boden auf und beginnt sogleich zu bohren – und tatsächlich, der Fichtenkiel beginnt in die hölzerne Unterlage einzudringen! Stoß arbeitet mit Feuereifer. Es geht um seine Ehre! Eichhorn schaut dem Freund neugierig zu. Allmählich vertieft sich das Grübchen im Kiefernholz, aber es ist ein mühseliges Weiterkommen. Stoß muß, schon ganz ermattet, eine Pause einschalten und setzt den Fichtenkiel ab. »Schau!« ruft da Eichhorn plötzlich und zeigt auf das Grübchen – darin hat sich auf rätselhafte Weise schwärzliches Pulver gebildet! Erstaunt betrachtet Stoß diese seltsame Erscheinung. Seine Finger betasten das Kiefernholz. Und nun stößt auch er einen Ruf der Überraschung aus: »Da – warm!« ruft er und führt Eichhorns Hand über das Bohrgrübchen. 269
Tatsächlich – das Holz ist ganz warm! Die Neugier der beiden Freunde ist entfacht. Stoß beginnt abermals zu bohren, emsiger denn je. Als er erschöpft innehält, löst Eichhorn ihn ab; dann kommt wieder Stoß an die Reihe. So bohren sie aus Leibeskräften. Und im Grübchen mehrt sich das seltsame schwärzliche Pulver, und das Holz wird wärmer und wärmer! Schließlich tun beiden die Hände schon so weh, daß sie nicht mehr weiterkönnen. Eichhorn sieht den Bogen eines Jägers auf der Erde liegen, holt ihn in plötzlich aufkeimendem Übermut heran, spannt die Sehne und will das Fichtenhölzchen wie einen richtigen Pfeil abschießen. Doch in einer plötzlichen Eingebung reißt Stoß ihm Bogen samt Hölzchen aus den Händen, windet die Sehne mehrmals um den Fichtenkiel, setzt diesen im Bohrloch an und beginnt zu ziehen. Gedankenschnell begreift Eichhorn, was der Freund vorhat, und kauert bereitwilligst nieder, um die Kieferunterlage festzuhalten. Und Stoß zieht den Bogen, und das Fichtenhölzchen dreht sich emsig – viel schneller, als es zwischen den Handflächen zum Kreisen gebracht werden könnte! Plötzlich stößt Eichhorn einen Schrei maßloser Verblüffung aus: »Oh!« Aus dem Bohrloch steigt ein dünner Rauchfaden auf ... Stoß erstarrt mitten in der Bewegung. Ein Gedanke durchzuckt sein Gehirn – ein Gedanke, der so kühn, so abenteuerlich ist, daß der junge Jäger die Augen schließen muß! Ihm schwindelt. Wie, wenn ... »Schneller! Schneller!« keucht er und beginnt wieder am Bogen zu ziehen, hin und her, in fieberhafter Hast. Aber allzuoft springt der leichte Fichtenkiel aus dem Grübchen, was jedesmal eine Unterbrechung bedeutet. Kurz entschlossen steckt Stoß einen hohlen Knochen über das Hölzchen, 270
um es zu beschweren. Und nun geht die Arbeit weitaus besser vonstatten. Der aus dem Grübchen aufsteigende Rauchfaden verdickt sich. Ein richtiges kleines Wölkchen schwebt über der Kiefernunterlage ... Stoß ist in Schweiß gebadet. Er kann nicht mehr. Mit einem vor Erregung heiseren Zuruf reicht er Eichhorn den Bogen, und der Freund setzt die Arbeit fort, zieht, zieht, zieht. Rauch immer mehr Rauch. Und nun steigt schwacher Brandgeruch aus dem Grübchen auf. Stoß zittert am ganzen Körper. Ja – ja – ja – ja! jubelt es in ihm, und doch wagt er nicht an das Ungeheuerliche zu glauben, das sich da begibt. Eichhorn zieht unermüdlich den Bogen. »Schneller! Schneller!« drängt Stoß atemlos. Der Brandgeruch verstärkt sich ... Stoß legt sich platt auf den Bauch und bläst vorsichtig in das 271
Grübchen. Der Rauch steigt dichter denn zuvor. Und irgend etwas glimmt in der Kiefernunterlage auf! Blitzschnell reißt Stoß einige Zierfedern aus seiner Fellmütze und hält sie in das Grübchen. Dann bläst er, bläst – obwohl ihm der Atem versagen will ... Da – ein Licht zuckt auf, ein Flämmchen springt aus den Federn! Feuer! Feuer! Feuer! Mit zitternden Händen schieben Stoß und Eichhorn trockenes Gras und Kiefernadeln in das Feuerlein, dann wagen sie kleine Reisigstückchen zuzulegen. Und das Feuer wächst! Lustig schlagen die Flammen hoch! Stoß springt auf, hüpft, jubelt, schreit, tanzt. Er ist ganz von Sinnen. Die große Sehnsucht seines Lebens hat sich erfüllt – seine Erfindung sichert der Sippe das Feuer, für jetzt und für alle Zeiten! Ein Stückchen Holz findet sich immer! Auch Eichhorn beginnt zu jubeln und zu schreien. Feuer! Feuer! Feuer! Zottel und Uhu kommen herbeigelaufen. »Warum schreit ihr – was ist geschehen? Schlechte Wächter – da läuft ein Vielfraß davon – mit viel Fleisch! Uh!« Aber mit einemmal sehen sie etwas, das weit bedeutsamer ist als ein räuberischer Vielfraß: das lodernde Feuerlein! Und nun stimmen auch sie in das Freudengeschrei ein. Jetzt kommt auch der Häuptling mit den übrigen Jägern gelaufen, um zu sehen, was hier geschieht. Als sie herankommen, bricht aus dem Reisighaufen, unter dem die Vorräte der Sippe aufbewahrt liegen, ein zweiter Vielfraß mit einem Stück Fleisch im Maul und hetzt davon. Schon wollen die Jäger dem frechen Räuber nachlaufen, aber da erblicken sie das Feuerlein. »Wie dieses Feuer?« fragt der Häuptling neugierig, denn niemand hat vom Lagerfeuer einen Brand genommen. »Stoß hat Feuer gemacht!« erklärt Eichhorn. »Mit dem 272
Hölzchen gebohrt – lange, lange – erst Rauch, mehr Rauch – dann Feuer!« »Ohne Feuerstein?« fragt der Häuptling ungläubig. »Ohne Feuerstein!« sagt Stoß ernst. »Ohne Feurigen Stein?« fragt der Häuptling weiter. »Ohne Feurigen Stein!« antwortet der junge Jäger errötend. »Oh – oh – ein Zauber über alle Zauber!« staunt Wisent und fordert Stoß auf, ihnen zu zeigen, wie er das Feuer aus dem Holz gebohrt hat. Stoß hat sich schon einigermaßen beruhigt, aber seine Augen brennen, und er zittert vor Erregung. Er zeigt, wie er es begonnen hat, und vor den Augen der fassungslosen Männer erzeugt er mit Eichhorns Hilfe noch einmal durch Bohren des Fichtenhölzchens in die Kiefernunterlage Feuer. »Stoß, junger Jäger«, verkündet Wisent feierlich, »großer Mann! Der alte Häuptling Grauer Wolf kein Feuer ohne Feurigen Stein. Du größer als Grauer Wolf – du Feuer aus bloßem Holz! – Die Sippe nie mehr ohne Feuer ...!« Der Häuptling Wisent spricht die Wahrheit. Nie mehr wird die Sippe aus fremden Lagern Feuer holen müssen, nie mehr wird sie ohne wärmendes Feuer sein, nie mehr wird sie des Feuers wegen auf Wanderung gehen müssen. Bewundernd neigt sich die Sippe vor Stoß, ihrem großen Sohn.
Die gewaltige Erfindung ist dazu bestimmt, das Leben des Menschen von Grund auf zu verändern. Sie erleichtert sein Seßhaftwerden und damit die Entwicklung der Landwirtschaft, das Entstehen fester Siedlungen – die Voraussetzungen zum stürmischen Aufstieg der Menschheit. Mehr als zwanzigtausend Jahre ist es her, daß der Mensch lernte, mit Holz Feuer zu bohren. Viele Sagen umweben den 273
Helden, aus dessen schöpferischer Tatkraft und kühner Geistesgegenwart diese Erfindung geboren wurde, weil sie für den weiteren Aufstieg der Menschheit notwendig geworden war. Viele Völker, in allen Teilen unserer Erde, feiern einen ihrer fernsten Vorfahren als jenen Großen, der, in grauer Vorzeit lebend, den Menschen den Segen des ständigen Feuers brachte. Und einer dieser Helden war Stoß, der junge Jäger vom Weißen Felsen.
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