Martin Schröder Die Macht moralischer Argumente
Bürgergesellschaft und Demokratie Band 35 Herausgegeben von Ansgar Kl...
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Martin Schröder Die Macht moralischer Argumente
Bürgergesellschaft und Demokratie Band 35 Herausgegeben von Ansgar Klein Ralf Kleinfeld Frank Nullmeier Dieter Rucht Heike Walk Ulrich Willems Annette Zimmer Die Schriftenreihe wird unterstützt von Aktive Bürgerschaft e. V. (Berlin).
Martin Schröder
Die Macht moralischer Argumente Produktionsverlagerungen zwischen wirtschaftlichen Interessen und gesellschaftlicher Verantwortung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18058-8
Inhalt
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis............................................................... 9 1
Einleitung................................................................................................... 11 1.1 Offene soziologische Fragen: Wie wirken moralische Argumente als soziale Mechanismen?.............................................. 14 1.2 Offene wirtschaftswissenschaftliche Fragen: Wie wirken moralische Erwägungen außerhalb von Experimenten? ................... 18 1.3 Offene politökonomische Fragen: Wie beeinflussen moralische Argumente Verlagerungsentscheidungen? ....................................... 19 1.4 Gliederung der Arbeit ....................................................................... 21
2
Forschungsdesign...................................................................................... 23 2.1 Auswahl der Fälle ............................................................................. 23 2.2 Vergleich der Fälle ........................................................................... 25
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Ergebnisse einer Befragung zu moralischen Bedenken......................... 27 3.1 Regressionsvariablen ........................................................................ 28 3.2 Ergebnisse......................................................................................... 29
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Einführung in das Feld: Interessen, Rechte und Pflichten in Produktionsverlagerungsdiskussionen.................................................... 33 4.1 Die Stellung des Vorstands in Diskussionen um Produktionsverlagerung .................................................................... 33 4.2 Die Stellung des Aufsichtsrats .......................................................... 34 4.3 Die Stellung von Gewerkschaften .................................................... 34 4.4 Die Stellung von Betriebsräten ......................................................... 36
6
Inhalt
5
Unternehmen Müller: Wie moralischer Einfluss zur Neuberechnung wirtschaftlicher Strategien führt ................................. 39 5.1 Müllers wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter....................................................................... 39 5.2 Moralische Argumente im Konfliktverlauf....................................... 41 5.2.1 Erste Phase: Gewerkschaft appelliert an gesellschaftliche Verantwortung .................................................................................. 42 5.2.2 Zweite Phase: Hohe Gewinne gelten als unmoralisch ...................... 44 5.2.3 Dritte Phase: Einigung durch gemeinsame Werte ............................ 48 5.3 Wie wirkten moralische Argumente bei Müller?.............................. 49 5.3.1 Bedeutung moralischer Appelle an die Geschäftsleitung ................. 49 5.3.2 Bedeutung moralischer Argumente als Machtressource................... 50
6
Unternehmen Steche: Wie moralisch wirkendes Handeln Interessenverfolgung ermöglicht ............................................................. 53 6.1 Steches wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter....................................................................... 53 6.2 Moralische Argumente im Konfliktverlauf....................................... 56 6.2.1 Erste Phase: Moralische Argumente sind bei geteilter Krisenwahrnehmung bedeutungslos ................................................. 56 6.2.2 Zweite Phase: Moralische Bedenken überwiegen wirtschaftliche Einsicht..................................................................... 65 6.2.3 Dritte Phase: Moralische Behandlung bringt Zugeständnisse........... 72 6.3 Wie wirkten moralische Argumente bei Steche? .............................. 78 6.3.1 Bedeutung moralischer Appelle an die Geschäftsleitung ................. 78 6.3.2 Bedeutung moralischer Argumente als Machtressource................... 80
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Die Unternehmen Wolder und Tehnwolder: Wie moralische Argumente Unternehmensstrategien beeinflussen................................. 83 7.1 Wolders wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter....................................................................... 84 7.2 Moralische Argumente bei Wolder................................................... 88 7.2.1 Erste Phase: Bei hoher Rendite gelten Kündigungen als unmoralisch ...................................................................................... 88 7.2.2 Zweite Phase: Appell, dass Produktionsverlagerung bei hohem Gewinn verantwortungslos ist .......................................................... 91
Inhalt
7 7.2.3 Dritte Phase: Moralische Appelle versagen – Trümmerwalde wird geschlossen ..................................................... 95 7.2.4 Vierte Phase: Moralische Diskreditierung beeinflusst Absatz........ 100 7.2.5 Fünfte Phase: Gewinnmaximierung gilt als unmoralisch ............... 103 7.3 Tehnwolders wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter..................................................................... 105 7.4 Moralische Argumente bei Tehnwolder ......................................... 109 7.4.1 Erste Phase: Appell an soziale Verantwortung beeinflusst Interessenverfolgung....................................................................... 109 7.4.2 Zweite Phase: Die Geschäftsleitung grenzt sich von Wolder ab .... 114 7.4.3 Dritte Phase: Moralische Beteuerungen beeinflussen wirtschaftliche Interessenverfolgung .............................................. 117 7.5 Weshalb wirkten moralische Argumente bei Tehnwolder stärker als bei Wolder? ................................................................... 120 7.5.1 Warum moralische Appelle nur bei Tehnwolder wirkten............... 120 7.5.2 Warum moralische Argumente nur bei Wolder zur Konfliktressource wurden............................................................... 124
8
Die Unternehmen Fernlich und Kuhle: Wie sich traditionale und kapitalistische Wirtschaftsethik unterscheiden.................................... 129 8.1 Fernlichs wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter..................................................................... 129 8.2 Moralische Argumente bei Fernlich ............................................... 135 8.2.1 Erste Phase: Forderungen der Geschäftsleitung zerstören den guten Willen der Arbeitnehmer ...................................................... 135 8.2.2 Zweite Phase: Geschäftsleitung erklärt Gewinnmaximierung als sozial verantwortlich ................................................................. 138 8.2.3 Dritte Phase: Arbeitnehmer erschweren Gewinnmaximierung durch moralisierende Kampagnen .................................................. 147 8.2.4 Vierte Phase: Die Geschäftsleitung beschränkt Gewinnmaximierung auf sozial akzeptierte Vorgehensweisen ...... 152 8.3 Kuhles wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter..................................................................... 158 8.4 Moralische Argumente bei Kuhle................................................... 161 8.4.1 Erste Phase: Appell, am Heimatstandort zu investieren ................. 163 8.4.2 Zweite Phase: Vertrauen ersetzt wirtschaftliche Kalkulation ......... 165
8
Inhalt
8.4.3 Dritte Phase: Geschäftsleitung übt über Vertrauen Druck aus........ 167 8.4.4 Vierte Phase: Gegenseitiges Vertrauen führt zu Übereinkunft ....... 168 8.5 Weshalb brachten moralische Argumente bei Fernlich und nicht bei Kuhle die Öffentlichkeit auf?........................................... 174 8.5.1 Warum Appelle an die Geschäftsleitung bei Kuhle wirkten und bei Fernlich nicht ..................................................................... 175 8.5.2 Weshalb moralische Argumente Fernlichs Belegschaft im Gegensatz zu Kuhles aufwiegelten ................................................. 180 8.5.3 Warum moralische Agitation der Öffentlichkeit bei Fernlich wirkte und bei Kuhle nicht nötig war ............................................. 183 9
Wie Interessen und moralische Argumente sich beeinflussen ............ 187 9.1 Wie moralische Argumente Interessenverfolgung einschränken.... 189 9.1.1 Gewissensmobilisierung ................................................................. 191 9.1.2 Belegschaftsmobilisierung.............................................................. 194 9.1.3 Öffentlichkeitsmobilisierung .......................................................... 197 9.1.4 Bedingungen und Erfolgsaussichten der drei Einflussmechanismen ..................................................................... 199 9.2 Wie moralische Argumente Interessenverfolgung ermöglichen..... 202 9.3 Wie Interessen moralische Argumente einschränken ..................... 206 9.4 Wie Interessen moralische Argumente ermöglichen ...................... 208
10 Wie Moral und Interessen zusammenspielen – Antworten auf Forschungsfragen.......................................................... 211 10.1 Ökonomische Erklärungen wirtschaftlichen Handelns................... 211 10.2 Soziologische Erklärungen wirtschaftlichen Handelns................... 214 10.3 Politökonomische Erklärungen von Standortkonflikten ................. 217 10.4 Moral Economy: Die Bedeutung von Moral im Kapitalismus ....... 218 Danksagung ..................................................................................................... 223 Quellen............................................................................................................. 225
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9:
Die ungeklärte Wirkung moralischer Argumente ...................... 17 Umsatzentwicklung Wolder und Tehnwolder............................ 85 Belegschaftsentwicklung Wolder und Tehnwolder ................... 85 Renditeentwicklung Wolder und Tehnwolder ........................... 86 Belegschaftsentwicklung Fernlich und Kuhle.......................... 130 Umsatzentwicklung Fernlich und Kuhle.................................. 131 Rendite- und Eigenkapitalentwicklung Fernlich und Kuhle .... 131 Aktienkursentwicklung Fernlich.............................................. 132 Drei Mechanismen, mittels derer moralische Argumente wirtschaftliche Interessen beeinflussen.................................... 190
Tabelle 1: Tabelle 2:
Überblick über die untersuchten Unternehmen........................... 24 Logistische Regression von Einflüssen auf moralische Bedenken ................................................................................... 30 Unterschiede Wolder – Tehnwolder ........................................... 84 Unterschiede Fernlich – Kuhle ................................................. 174 Mechanismen gegenseitiger Beeinflussung von Moral und Interessen .......................................................................... 188
Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5:
1 Einleitung
„The social responsibility of business is to increase its profits“, so der Titel des bekannten Aufsatzes des Nobelpreisträgers Milton Friedman (2001 [1970]). Man kann dieser Aussage kaum widersprechen, schließlich fasst sie die Grundidee des Kapitalismus zusammen: Unternehmen sollen Gewinn machen und damit Mehrwert schaffen. Es scheint daher zunächst abwegig, wirtschaftliches Handeln durch die moralischen Argumente erklären zu wollen, mit denen es konfrontiert wird. Doch genau darum geht es in dieser Arbeit: Sie untersucht, wie moralische Argumente wirtschaftliches Handeln beeinflussen. Wenn eine Geschäftsleitung Produktion verlagert, rechtfertigt sie dies nur in Ausnahmefällen öffentlich mit ihrem wirtschaftlichen Interesse an einem hohen Gewinn. Eher wird sie argumentieren, dass eine Verlagerung das Unternehmen oder die verbleibenden heimischen Arbeitsplätze wettbewerbsfähiger macht – vielleicht sogar, dass sie ausländische Arbeitsplätze schafft. Geschäftsleitungen legitimieren ihr Handeln regelmäßig mit allgemein anerkannten Werten und Interessen, weil sie auf gesellschaftliche Legitimation angewiesen sind (Pfeffer/Salancik 1978: 194; Wieland 1999: 328f.; Kostova/Zaheer 1999: 64; Bathelt/Glückler 2002: 197f.; ferner Boltanski/Chiapello 1999; Boltanski/Thévenot 2006 [1991]). Soziale Bewegungen oder Arbeitnehmervertreter kritisieren solche Rechtfertigungen; oft argumentieren sie, Unternehmen verhielten sich unmoralisch, anstatt die Belange ihrer Arbeiter, Konsumenten und der Gesellschaft zu beachten (Soule 2009: 59). Aus den moralischen Rechtfertigungen von Geschäftsleitungen und aus solchen Gegenargumenten entstehen öffentliche moralische Diskurse über die Legitimität wirtschaftlichen Handelns. Diese Arbeit untersucht den Umstand, dass dabei möglicherweise rein taktische Rechtfertigungen eine Eigendynamik entwickeln können, die wirtschaftliches Handeln beeinflusst. Wer sich damit rechtfertigt, im Ausland Arbeitsplätze zu schaffen, willigt implizit ein, sich am Kriterium geschaffener Arbeitsplätze messen zu lassen. Wer argumentiert, zum Schutz der heimischen Belegschaft die Produktion zu verlagern, hat damit implizit eine Verantwortung für die Heimatbelegschaft bekundet. Gewerkschaften, Betriebsräte und zivilgesellschaftliche Akteure nutzen solche Rechtfertigungen – sowie eigene, daran anknüpfende Argumente – um zu beeinflussen, wie Geschäftsleitungen wirtschaftliche Interessen definieren und verfolgen. Die vorliegende Studie zeigt, wie dies funktioniert.
M. Schröder, Die Macht moralischer Argumente, DOI 10.1007/978-3-531-93196-8_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Einleitung
Sechs Diskussionen um Produktionsverlagerung werden die Mechanismen zeigen, mittels derer moralische Argumente beeinflussen, wie Unternehmen wirtschaftliche Interessen definieren und verfolgen – und darauf basierend ihre wirtschaftlichen Entscheidungen treffen. Beispielsweise appellierte der Betriebsrat des im Hauptteil (vgl. Kapitel 8) untersuchten Familienunternehmens Kuhle an seine Geschäftsleitung, es sei gegenüber der langjährig treuen Heimatbelegschaft unmoralisch, zu verlagern. Nach Diskussionen blieb der Vorstand daraufhin trotz niedriger Rendite am Heimatstandort (vgl. Kapitel 8.4). Auch der Vorstand des Familienunternehmens Tehnwolder nahm nach moralischen Appellen seine Verlagerungspläne zurück. Tehnwolders schärfster Wettbewerber Wolder verteidigte seine Verlagerungspläne dagegen unter ähnlichen wirtschaftlichen Umständen als alternativlos – nachdem ein ausländischer Finanzinvestor ihn aufgekauft hatte und ein Management ohne Bindungen an die Heimatregion berief (vgl. Kapitel 7). Die Fallstudien im Hauptteil dieser Arbeit werden darlegen, wie moralische Argumente auf wirtschaftliches Handeln wirken. Die Einleitung erörtert die wichtigsten dazu nötigen Konzepte. Anhand von Durkheims wegweisendem Moralbegriff legt sie dar, was unter Moral und moralischen Diskursen zu verstehen ist. Anschließend arbeitet sie offene Fragen der Soziologie, der Wirtschaftswissenschaften und der Politischen Ökonomie heraus, die die Ausgangspunkte der vorliegenden Untersuchung darstellen. Wie lässt sich der Begriff Moral definieren und welchen potenziellen Einfluss haben moralische Argumente? Émile Durkheim definiert moralischen Einfluss wie folgt: „Die Moral […] diktiert dem Menschen Ziele, die er verfolgen soll.“ Diese wandeln sich zwar mit den „Orten und Epochen“, also der Gesellschaft, in die das Individuum eingebunden ist (Durkheim 1986 [1917]: 38). Es sind jedoch immer Ziele, die das Individuum „verpflichten, in bestimmter Weise zu handeln, die den Neigungen des einzelnen Grenzen setzen und deren Überschreitung verbieten“ (Durkheim 1999 [1902]-b: 17). Moral beschränkt somit Interessen, die der Gesellschaft zuwiderlaufen, und fördert Interessen, die der Gesellschaft dienen (Durkheim 1986 [1917]: 40f.). Die damit verbundene, gesellschaftliche – und insofern dem Individuum äußere – Beeinflussung durch Moral ist der zentrale Punkt von Durkheims Moralkonzeption. Moral wird gesellschaftlich diktiert, besonders durch Eltern und Schule (vgl. Durkheim 1999 [1902]-a: 184). Erst die dadurch entstehende moralische Verhaltensregulierung macht die Triebe und Interessen des Individuums berechenbar, was die Grundlage eines zivilisierten und menschlichen Zusammenlebens ist. Die Gesellschaft muss das Individuum mit sanktionsbewehrter Moral zu seinem langfristigen Glück zwingen, weswegen „Sanktion das Definitionsmerkmal sämtlicher moralischen und rechtlichen Regeln“ ist (Durkheim 1999 [1902]-b: 11; vgl. auch 1953
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[1924]: 43f.). Wann also kann von moralischem Einfluss gesprochen werden? In Anlehnung an Durkheim wird hier immer dann von moralischem Einfluss gesprochen, wenn Akteure ihre eigenen Interessen zugunsten gesellschaftlicher Interessen und Werte zurücknehmen.1 Moral kann jedoch nicht ausschließlich als gesellschaftlich auferlegte und sanktionsbewehrte Pflicht verstanden werden; vielmehr benötigt sie langfristig das Einverständnis, geradezu das Verlangen (désir) des Einzelnen. Sie kann aber auch nicht rein utilitaristisch erklärt werden, da moralischen Regeln mitunter auch gefolgt wird, wenn dies einer individuellen Kosten-Nutzen-Kalkulation widerspricht (Durkheim 1953 [1924]: 45; vgl. auch Wertrationalität in Weber 1976 [1922]: 12f. und Etzioni 1996: 12). Wir sind nicht nur moralisch, weil wir es wollen, sondern auch durch gesellschaftlichen Zwang; trotzdem kennt jeder das befriedigende Gefühl, „das Richtige“ getan zu haben. Moral steht somit eigentümlich zwischen gesellschaftlichem Zwang und dem individuellen Wunsch, sich infolge der Internalisierung von Normen moralisch verhalten zu wollen. Da nie vollständig zu klären ist, ob Menschen aufgrund gesellschaftlichen Zwangs oder der Verinnerlichung von Regeln – und somit „aus sich“ heraus – moralisch handeln – wenn sie es tun – geht es hier nicht darum, das richtige Modell individueller Agency zu finden, sondern moralische Argumente als soziale Mechanismen zu verstehen, die weitgehend unabhängig von individuellen Motivationen wirken. Anstatt zu fragen, ob Menschen moralisch sein wollen oder nicht, ist für diese Arbeit relevant, dass es interpretationsbedürftig ist, was überhaupt als moralisch zu gelten hat. Gerade für Unternehmer sind moralische Verhaltensregeln vage; Durkheim bezeichnet sie als „kaum greifbare Gemeinplätze“, denen es an „Konsistenz und Autorität“ mangelt (Durkheim 1999 [1902]-b: 21; vgl. auch Etzioni 1996: 139; Jackall 1988: 101). Wegen dieser Unbestimmtheit moralischer Verhaltensregeln sind Menschen moralischen Argumenten nicht willenlos ausgesetzt, sie sind nicht übersozialisiert (vgl. Wrong 1961; Joas 1992). Sie interpretieren abstrakte moralische Regeln vielmehr in ihrem Sinne und drängen diese Interpretation anderen auf (Mead 1992 [1934]: 168; Goffman 1959; Garfinkel 1967). Diese Studie nimmt derartige Diskussionen, in denen Geschäftsleitungen, aber auch Gewerkschaften und Betriebsräte versuchen, ihr Handeln als moralisch angemessen darzustellen, als Ausgangspunkt. Geschäftsleitungen können etwa argumentieren, dass es doch nicht unmoralisch sei, mit einer Verlagerung ins 1
Abgeleitet aus: „Jamais, en fait, la qualification de moral n’a été appliquée à un acte qui n’a pour objet que l’intérêt de l’individu, ou la perfection de l’individu entendue d’une manière purement égoïste […]. D’où l’on conclura que, s’il y a une morale, elle ne peut avoir pour objectif que le groupe formé par une pluralité d’individus associés, c’est-à-dire la société“ (Durkheim 2002 [1906]: 5f.).
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Ausland Arbeitsplätze schaffen zu wollen. Ob sie an die dabei vorgebrachten Argumente tatsächlich glauben, steht hier nicht im Zentrum des Interesses. Zentral ist vielmehr, dass Akteure sich in solchen moralischen Selbstrechtfertigungen – oder denen, die andere ihnen aufzwingen – verstricken können. Weil sie ihren anfänglichen Rechtfertigungen nicht widersprechen wollen (oder können), können sie über ihre eigenen Argumente und deren Implikationen zu etwas gebracht werden, was sie anfangs nicht als in ihrem Interesse stehend definierten; sie können öffentlich „in die Ecke argumentiert“ werden (vgl. Keck/Sikkink 1998; Risse/Jetschke/Schmitz 2002; Krebs/Jackson 2007). Zwei später detailliert besprochene Fallbeispiele werden verdeutlichen, was mit diesem „In-die-Ecke-Argumentieren“ gemeint ist (vgl. Kapitel 5 und Kapitel 8). Die Patriarchen Peter Müller und Magnus Kuhle forderten in ihren Unternehmen Konzessionen der Belegschaft. Sie rechtfertigten diese Forderungen damit, dass die Konzessionen die Heimatarbeitsplätze wettbewerbsfähiger machen würden und sie als Unternehmer damit ihrer Verantwortung für die Heimatbelegschaft gerecht würden. Es ist nie vollständig erklärbar, ob solche Rechtfertigungen nur aus taktischen Erwägungen gemacht werden, um leichter an Zugeständnisse zu kommen. Unabhängig davon können sie in ihren Konsequenzen real werden. Bei Müller und Kuhle führten die Rechtfertigungen der Geschäftsleitung beispielsweise dazu, dass die Patriarchen der jeweiligen Unternehmen auf daran anknüpfende Argumente der Arbeitnehmervertreter eingehen mussten. Diese argumentierten, die Unternehmensleiter müssten die Heimatbelegschaft bei Produktionsverlagerungen schonen, wenn sie ihr gegenüber tatsächlich die Verantwortung verspürten, mit der sie ihre Forderungen anfangs legitimierten. Der Wirtschaftsethiker Josef Wieland (1999: 325) behauptet daher: „Ein Unternehmen, das moralische Ansprüche öffentlich kommuniziert, bindet sich selbst an diese Kommunikation und die daraus folgenden Ansprüche.“ Inwiefern moralische Argumente tatsächlich die Definition von Wirtschaftsinteressen beeinflussen, kann jedoch nicht abstrakt-normativ hergeleitet, sondern nur aus der Empirie entwickelt werden. Solch eine empirische Untersuchung baut auf Erkenntnissen von Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern und Politökonomen auf. Gleichzeitig beantwortet sie offene Fragen dieser Forschungsrichtungen. Die folgenden Kapitel entwickeln aus dem bisherigen Stand der Forschung die grundlegenden Fragen dieser Arbeit. 1.1 Offene soziologische Fragen: Wie wirken moralische Argumente als soziale Mechanismen? Welche Fragen zum Zusammenspiel von Moral und wirtschaftlichen Interessen sind in der Soziologie schon beantwortet? Die Forschungstradition der „Moral
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Economy“ hätte am ehesten beantworten können, wie moralische Argumente in kapitalistischen Gesellschaften wirtschaftliches Handeln beeinflussen. Meine Untersuchung knüpft an diese Forschungstradition an. Vertreter des „Moral-Economy“-Ansatzes dokumentierten, dass moralische Argumente in vorkapitalistischen, traditionalen Gesellschaften wirtschaftliches Handeln eingrenzten (vgl. Scott 1976; Thompson 1971; Polanyi 1944: 46ff.; 1992 [1957]; Booth 1994: 656; einführend Mau 2006). Der Historiker E. P. Thompson (1971) zeigt in seiner Untersuchung „The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century“, dass damalige Hungeraufstände nicht nur eine instrumentell sinnvolle Reaktion auf Nahrungsmittelknappheit waren. Vielmehr werden sie erst verständlich, wenn man sich die Empörung verdeutlicht, die dahinterstand. Für moderne, kapitalistische Gesellschaften, beantwortet die Moral Economy jedoch nicht, wie Moral und wirtschaftliche Interessen zusammenspielen (Granovetter 2002: 42). Daher liefert sie auch keine Antwort auf die Frage, inwiefern heutiges wirtschaftliches Handeln in einem sozialen Umfeld eingebettet ist – und den moralischen Argumenten, die in diesem Umfeld laut werden (vgl. für diese Kritik Granovetter 1985: 482; 1992: 28; Hyden 2001: 10022; und implizit Durkheim 1977 [1893]: 259).2 Die vorliegende Arbeit möchte diese offene Frage nach dem Zusammenspiel von moralischen Argumenten des sozialen Umfelds und wirtschaftlichen Interessen beantworten. Sie konzentriert sich auf den Einfluss moralischer Argumente auf unternehmerisches Handeln, weil dies ein „least likely case“ ist (vgl. Eckstein 1975: 119). Die bisherige Forschung untersuchte den Einfluss moralischer Argumente vornehmlich in Bereichen, in denen man moralische Beeinflussung für wahrscheinlicher halten würde als bei unternehmerischen Entscheidungen. So beobachtete Richard Titmuss (1971), dass Menschen Blut spenden, wenn ihr gesellschaftliches Umfeld dies als selbstverständliche Pflicht präsentiert. Dies erlaubt ihm, Moral als sozialen Einfluss zu konzeptualisieren: „The ways in which society organizes and structures its social institutions […] can encourage or discourage the altruistic in man“ (Titmuss 1971: 225; vgl. auch Callon 1998; Mau 2003: 35; Steiner 2003: 158; vgl. abweichend aus der Perspektive des methodologischen Individualismus Arrow 1972: 350ff.; Solow 1971: 1703f.). Diese je nach sozialem Umfeld variierende Wirkung moralischer Argumente demonstriert auch Kieran Healy (2004; 2006). Am Beispiel der Frage, wann Menschen Organe spenden, zeigt er statistisch, dass Individuen nicht in 2
Eine Ausnahme ist Steffen Mau (2003), der Wohlfahrtsarrangements durch moralische Normen erklärt. Ebenso erklärt Peter Swenson (1989) das Verhalten von Gewerkschaften dadurch, dass diese die moralischen Ansprüche ihrer Mitglieder auf einen gerechten Lohn im Auge behalten müssen.
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1 Einleitung
erster Linie aufgrund individueller Charaktereigenschaften moralischen Ansprüchen nachkommen (Healy 2006: 19 und 73). Eher hängt dies davon ab, wie und wie intensiv jemand mittels moralischer Argumente dazu aufgefordert wird (Healy 2006: 2). Ähnlich wie Titmuss schließt Healy daher, dass Menschen in Abhängigkeit von ihrem sozialen Umfeld auf moralische Argumente eingehen, statt in Abhängigkeit von ihrem Charakter. Doch die Studien von Titmuss und Healy legen eine Forschungslücke offen. Beide zeigen, dass moralische Argumente Handeln beeinflussen. Sie können jedoch nicht zeigen, unter welchen Umständen und mittels welcher Mechanismen moralische Argumente wirken – und wann sie entsprechend nicht wirken (Healy 2004: 401). Dies ist die Forschungslücke, die die vorliegende Studie schließen möchte. Sie wird zeigen, unter welchen Umständen moralische Argumente mittels welcher Mechanismen wirken. Dabei baut sie auf der Arbeit von Viviana Zelizer auf. Zelizer illustriert am Beispiel von Lebensversicherungen, wie sich Menschen auch in modernen Gesellschaften an moralischen Argumenten orientieren. Erst als Lebensversicherungen nicht mehr als unmoralische Wette auf den Tod eines geliebten Menschen verstanden wurden, sondern als liebevolle Fürsorge für Hinterbliebene, wurde ihr Vertrieb rentabel. Menschen mussten Lebensversicherung als moralisch vertretbar sehen, dann fingen sie an, diese zu kaufen (vgl. Zelizer 1978; 1979; 1981; 1985). Ähnlich wie Titmuss und Healy schließt Zelizer, dass moralische Argumente wirtschaftliche Interessenwahrnehmung beeinflussen. Doch auch sie deckt nicht die Mechanismen dieses Einflusses auf, was sie selbst beklagt: „Researchers have so far produced no more than scattered findings on how ethical questions actually arise within economic life, how economic actors respond to them, and what effects those responses have“ (Zelizer 2007: 9). Die bisherige Forschung postuliert somit zwar, dass moralische Argumente wirken; unklar bleibt jedoch, wie sie unternehmerische Entscheidungen beeinflussen; viele Forscher sehen darin eine Wissenslücke (vgl. Berger 1995: 409; Elster 2000: 694; Granovetter 2002: 42; Mau 2003: 24). Speziell stellt sich die Frage, wie Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Akteure und soziale Bewegungen Unternehmen beeinflussen, obwohl sie kaum formelle Macht über deren Geschäftsleitung ausüben können (vgl. Kapitel 4). Wie solch formell machtlose Akteure moralische Argumente nutzen, um in Verlagerungsdiskussionen für ihre Interessen zu werben, ist eine weitere offene soziologische Frage, zu deren Beantwortung diese Arbeit beiträgt. Zwar zeigen Keck und Sikkink (1998: 161), wie Aktivisten versuchen, Unternehmen über internationale Institutionen zu kontrollieren. Doch sie gehen nicht darauf ein, welche moralischen Argumente sie dabei vorbringen und wie diese auf Unternehmen wirken. Hiß (2006) argumentiert, dass Unternehmen sich aufgrund zu-
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nehmenden gesellschaftlichen Erwartungsdrucks sozial verantwortlich verhalten, und stellt dabei öffentlichen Druck als Anfangspunkt von „Corporate-SocialResponsibility“-Initiativen dar. Auch diese Forschungsrichtung rekonstruiert jedoch nicht, mittels welcher Mechanismen solch moralischer Druck wirkt (vgl. Hiß 2006: 275ff.; vgl. ebenso die Fallstudien in Stehr/Henning/Weiler 2006; Marquis/Glynn/Davis 2007). Eine weitgehend amerikanische Diskussion analysiert, wie soziale Bewegungen Märkte durch moralischen Protest umstrukturieren (King/Pearce 2010; Luders 2006). King und Soule (2007: 430; vgl. auch 2008) zeigen, dass medial begleitete Proteste gegen Unternehmen deren Aktienwert um circa 1 Prozent senken. Doch auch sie beklagen, dass bisher noch unklar sei, wie solche Proteste und die entsprechenden moralischen Argumente genau wirken (King/Soule 2007: 438). Trotz der bestehenden Forschung stellt sich somit immer noch die Frage: Warum sollten Unternehmen auf moralische Argumente eingehen? Auf der Basis bisheriger Studien argumentiert die „Corporate-SocialResponsibility“-Literatur zwar, dass Unternehmen auf moralische Ansprüche der Gesellschaft eingehen sollten (vgl. beispielsweise Frank 2004). Doch indem sie postuliert, dass Unternehmen sich sozial verantwortlich verhalten sollten, behandelt auch sie die empirische Frage, wie moralische Argumente auf Unternehmen tatsächlich wirken, bisher als Blackbox (vgl. Margolis/Walsh 2003: 273; Healy 2004: 400; Vaara/Tienari/Laurila 2006: 792; Shamir 2008: 12ff.). Es ist also nicht geklärt, wie moralische Mobilisierung gegenüber verlagernden Unternehmen funktioniert: „We still know very little about how movements external to the organization attempt to influence organizational-level processes“ (King/Soule 2007: 413f.; vgl. ähnlich Vaara/Tienari/Laurila 2006: 789). Abbildung 1 veranschaulicht diese Forschungslücke. Abbildung 1:
Die ungeklärte Wirkung moralischer Argumente
Gesellschaftlicher Erwartungsdruck in Form moralischer Argumente
Unklarer Beeinflussungsmechanismus
Definition und Verfolgung wirtschaftlicher Interessen und darauf aufbauendes wirtschaftliches Handeln
Diese Arbeit will darum verstehen, wie Mechanismen wirken, verstanden als Prozesse, die bestimmte Ursachen mit bestimmten Wirkungen verbinden (Mayntz 2002: 24f.; 2004: 241; Hedström/Swedberg 1998: 10; Gross 2009: 358, 364). Aus dieser übergeordneten Frage, ergibt sich die konkretere, wie es Arbeitnehmervertretern und zivilgesellschaftlichen Gruppen gelingt, Teile der Geschäftsleitung, der Belegschaft und der Öffentlichkeit gegen vermeintlich unmo-
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1 Einleitung
ralische Unternehmensentscheidungen zu mobilisieren. Wie baut dies Druck auf und wie reagieren Unternehmen darauf? Über welche Mechanismen beeinflusst gesellschaftlicher Druck durch moralische Argumente Unternehmen und wann versagen diese Einflussmechanismen? 1.2 Offene wirtschaftswissenschaftliche Fragen: Wie wirken moralische Erwägungen außerhalb von Experimenten? Auch in den Wirtschaftswissenschaften werden moralische Einflüsse diskutiert. Wirtschaftswissenschaftler konzeptualisieren moralische Einflüsse jedoch nicht als Argumente des sozialen Umfelds. Vielmehr zeigen Verhaltensökonomen in Laborexperimenten, inwiefern Menschen auch ohne unmittelbare soziale Beeinflussung das tun, was in einer Gesellschaft als moralisch gilt.3 Doch die Experimente, die zu diesen Ergebnissen führen, abstrahieren vom realen sozialen Umfeld der Versuchspersonen. Verhaltensökonomen bemängeln darum, dass unklar bleibt, inwiefern und wie moralische Erwägungen nicht nur im Laborexperiment, sondern auch als moralische Argumente in der sozialen Realität wirken: „Theorie und Laborexperiment allein [reichen] nicht aus, um der Komplexität realer sozialer Phänomene in bestimmten Kontexten umfassend gerecht zu werden. Der Grund ist, dass Modelle stets von der Realität und oft auch von relevanten Kontexten abstrahieren, um Kausalitäten aufdecken zu können. Daher ist komplementär zur Mikrofundierung in der Ökonomik der Einsatz von Fallstudien und anderer empirischer und theoretischer Methoden notwendig, um die relevanten Komplexitäten adressieren zu können.“ (Greiner/Ockenfels 2010: 238; vgl. ebenso Gintis et al. 2005: 5)
3
Im sogenannten Ultimatumspiel erhält einer von zwei anonymen Spielern einen Geldbetrag, etwa 100 Euro in Fünfeuroscheinen. Der Spieler kann diese Summe mit einem Mitspieler beliebig aufteilen. Dem Abnehmer steht es frei, den Austausch abzulehnen, wenn die angebotene Geldmenge seiner Meinung nach zu gering ist. In diesem Fall würden beide, Geber und Nehmer, leer ausgehen. Materiell rational ist es, dass der Anbieter die geringstmögliche Summe anbietet (einen Fünfeuroschein) und der Abnehmer dies akzeptiert, denn wenig ist besser als nichts. Doch in der Realität wird oft wesentlich mehr als das Minimum angeboten, häufig sogar 50 Prozent. Der Grund liegt darin, dass Mitspieler in der Regel Anteile, die weniger als circa 30 bis 40 Prozent der Gesamtsumme betragen, ablehnen. Abnehmer verzichten lieber auf etwa 30 Prozent einer Summe, um ein Verhalten zu bestrafen, das sie als unfair wahrnehmen. Das sogenannte Diktatorspiel unterscheidet sich vom Ultimatumspiel dadurch, dass der Mitspieler den Austausch nicht ablehnen kann. Umso erstaunlicher ist es, dass im Durchschnitt immer noch 20 bis 30 Prozent der zu verteilenden Gesamtsumme abgegeben werden (vgl. Güth/Schmittberger/Schwarze 1982; Forsythe, et al. 1994; Camerer 1997; Thaler 2000; Henrich, et al. 2001; Gintis, et al. 2005; Falk/Fischbacher 2006; Gintis 2010).
1 Einleitung
19
Vielfach wird in solcher Weise betont, dass „gegenüber der Künstlichkeit von Laborexperimenten“ (Diekmann 2008: 530f.) Feldstudien nötig seien, um zu verstehen, wie in der sozialen Realität moralische Einflüsse wirken. Verhaltensökonomische Experimente weisen somit zwar den Einfluss von Moral nach, doch auch hier stellt sich die Frage nach konkreten Mechanismen, mittels denen Moral wirkt, also die Frage nach Mechanismen gesellschaftlicher Beeinflussung, welche diese Arbeit untersuchen wird (vgl. auch Schröder 2011). 1.3 Offene politökonomische Fragen: Wie beeinflussen moralische Argumente Verlagerungsentscheidungen? Neben der in der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften offenen Frage, wie moralische Argumente als gesellschaftliche Beeinflussung auf Unternehmen wirken, stellt sich drittens die Frage, wie moralische Argumente speziell Produktionsverlagerungsentscheidungen beeinflussen. Die Literatur zu industriellen Beziehungen postuliert, dass Geschäftsleitungen berechnen, ob ein potenzieller Auslandsstandort günstiger ist als der bisherige Inlandsstandort. Daraufhin fordern sie gegebenenfalls Konzessionen von der Heimatbelegschaft (vgl. MassaWirth 2007: 174, 180). Bekommen Geschäftsleitungen diese Konzessionen nicht, verlagern sie, denn durch die Möglichkeit, „die Produktion dauerhaft ins Ausland zu verlagern, entsteht in der Lohnverhandlung eine Randbedingung: Der Unternehmensgewinn muss mindestens so hoch sein wie der potenzielle Gewinn im Ausland“ (Peters 2001: 141). Diese Konzeption setzt jedoch voraus, dass überhaupt berechenbar ist, ob sich eine Produktionsverlagerung lohnt. Da jedoch zum Zeitpunkt einer Verlagerungsentscheidung unsicher ist, ob diese sich in der Zukunft als profitabel erweisen wird, verlaufen Verlagerungen häufig anders als erhofft: Etwa jede sechste Verlagerung scheitert an unvorhergesehenen Komplikationen (FraunhoferInstitut 2004: 10, 27; Lay/Kinkel/Maloca 2004: 1; Buhmann/Kinkel 2004: 33; Blohm/Lüder 1995: 225; Schulte 2002: 44f.).4 Da die rationale Kalkulation wirtschaftlicher Eigeninteressen in komplexen Situationen aufgrund von Ungewissheit unmöglich ist und sich somit verschie4
Wirtschaftswissenschaftler (Porter 1976: 25ff.; 1998: 341; Lay/Kinkel/Maloca 2004: 1ff; Kinkel 2004: 4; Grabow/Henckel/Hollbach-Grömig 1995: 139f.; Fraunhofer-Institut 1998: 4ff, 12; Deuster 1996: 71ff.), Betriebswirtschaftler (Jansen 1986: 304–312; Hardock 2000: 29f.; Bauer/Hardock 2003: 270f.; Perlitz 1997: 133), Managementratgeber (Goette 1994: 233; Buhmann/Schön 2004: 254f; Richter/Buchner 2004) und Wirtschaftsgeografen (Schamp 2002) sind sich einig, dass nicht vollständig kalkulierbar ist, ob sich ein Auslandsengagement als profitabler erweisen wird als ein Verbleiben am Heimatstandort. Vergleiche für eine detaillierte Aufzählung der Unkalkulierbarkeiten bei Produktionsverlagerungen Kinkel (2004: 11).
20
1 Einleitung
dene Entscheidungen als wirtschaftlich rational legitimieren lassen, öffnet sich eine Rationalitätslücke und damit ein Diskussionsspielraum, den diese Arbeit in seinen Folgen für wirtschaftliche Entscheidungen thematisiert.5 Da bisher die Folgen von Ungewissheit für wirtschaftliche Strategien kaum erforscht sind, kritisieren Bathelt und Glückler (2002: 135; vgl. ähnlich Dörrenbächer/Riedel 2000: 18), dass die bisherige Konzeption von Entscheidungen über Produktionsverlagerung: „das wirtschaftliche Verhalten der Akteure nicht ursächlich erklärt, sondern bereits in Modellen als normative Handlungsvorschrift voraussetzt, denen Akteure in der Realität angeblich folgen […]. Das Soziale wird als Ausgangspunkt wirtschaftlicher Entscheidungen überhaupt nicht thematisiert. So bleiben neoklassische Standortmodelle letztendlich abstrakte Projektionen von Variablenbeziehungen, die in der Realität nur teilweise und eher zufällig mit dem Handeln von Akteuren übereinstimmen.“
Das bisherige Verständnis von Verlagerungsentscheidungen, so die Kritik, erklärt das Verhalten von Geschäftsleitungen nicht adäquat, weil es rationale Kalkulation voraussetzt, obwohl diese aufgrund von Ungewissheit nicht restlos möglich ist. Aufgrund dieser Erklärungslücke stellt sich die Frage, inwiefern und wie moralische Erwägungen, artikuliert als moralische Argumente des sozialen Umfelds, die Rationalitätslücke füllen. Diese Frage hat die politökonomische Diskussion über Verlagerungsentscheidungen von der Soziologie übernommen; Amitai Etzioni (1996: 170) argumentiert etwa, „daß normativ-affektive Faktoren die Informationen, die gesammelt werden, die Art, wie diese Informationen verarbeitet werden, die Schlüsse, die gezogen werden, die Optionen, die in Betracht gezogen werden, die Optionen, die schließlich gewählt werden, in einem großen Maße determinieren“. Inwiefern Unternehmensentscheidungen dadurch beeinflusst werden, dass sich Verhandlungspartner im Rahmen industrieller Beziehungen auf moralische Argumente berufen, untersuchte Holger Lengfeld empirisch (2003; vgl. auch Liebig 1997; Lengfeld/Liebig 2003). Er kommt zu dem Ergebnis: „Wenn sich Interessen auf Werte berufen können, sind sie in der Lage, den Handlungen der Organisationsmitglieder Widerstandskraft zu verleihen“ (Lengfeld 2003: 49). Ideen beeinflussen demnach, was jeweils als moralisch gilt und wie Verhandlungsteilnehmer ihre wirtschaftlichen Interessen definieren und verfolgen (vgl. zur Bedeutung von Ideen als „Weichensteller“ Weber 1978 [1920]: 252). Doch da bisherige Studien industrieller Beziehungen sich weitgehend auf Umfrageda5
Vergleiche klassisch zur Bedeutung von Ungewissheit für wirtschaftliches Handeln Knight (1921: 229), Keynes (1973 [1936]: 162f.), March/Simon (1958: 137) und Simon ([1947] 1957; 1954). Vergleiche für die Wirtschaftssoziologie Beckert (1996: 805; 2003). Vergleiche an empirischen Studien dazu Uzzi/Lancaster (2004) und Kaplan (2008).
1 Einleitung
21
ten beschränkt haben, um den Einfluss moralischer Argumente zu messen, thematisieren auch sie nicht, mittels welcher sozialen Mechanismen moralische Argumente wirtschaftliches Handeln beeinflussen (Lengfeld 2003: 16; Ahonen et al. 2007: 2). So können bisherige Studien nicht erklären, warum der Patriarch eines Familienunternehmens auf Gerechtigkeitsvorstellungen seines sozialen Umfelds eingeht, während der Vorstandsvorsitzende eines anderen Unternehmens sich dagegen wehrt, ähnlichen Gerechtigkeitsansprüchen seines sozialen Umfelds entgegenzukommen (vgl. die Unternehmen Fernlich und Kuhle in Kapitel 8). Verschiedene Forschungstraditionen fragen somit, wie moralische Argumente unternehmerisches Handeln beeinflussen. In der Soziologie stellt sich die Frage, unter welchen Umständen moralische Argumente als gesellschaftliche Einflüsse wirken. In den Wirtschaftswissenschaften stellt sich die Frage, inwiefern moralische Argumente außerhalb verhaltensökonomischer Experimente wirken. Innerhalb der Politischen Ökonomie geht es um die Frage, wie im Rahmen industrieller Beziehungen moralische Argumente Produktionsverlagerungsentscheidungen beeinflussen. Diese bisherige Forschung legt nahe, dass moralische Argumente in bestimmten Situationen wirken. Sie kann jedoch nicht erklären, wie dieser Einfluss wirkt. Deswegen sucht diese Arbeit in Diskussionen um Produktionsverlagerung nach verallgemeinerbaren Mechanismen, wie moralische Argumente – je nach sozialer Situation – wirtschaftliches Handeln beeinflussen. Keinesfalls soll dies moralische Argumente als alleinige Erklärung wirtschaftlichen Handelns darstellen. Es geht vielmehr darum, wie diese neben und innerhalb von Institutionen, Machtkonstellationen und wirtschaftlichen Umständen wirken. 1.4 Gliederung der Arbeit Kapitel 2 präsentiert das Forschungsdesign, welches die gestellte Forschungsfrage beantworten soll. Kapitel 3 legt statistisch dar, in welchen Unternehmen moralische Bedenken bestehen und inwiefern diese mit geringerer Verlagerungswahrscheinlichkeit einhergehen. Kapitel 4 verdeutlicht, welche Interessen und Durchsetzungsmöglichkeiten Vorstände, Aufsichtsräte, Gewerkschaften und Betriebsräte in Diskussionen um Produktionsverlagerung haben. Die Kapitel 5 bis 8 sind das Herzstück dieser Arbeit. Sie rekonstruieren anhand von Diskussionen in sechs Unternehmen, wie moralische Argumente wirtschaftliche Entscheidungen beeinflussen. Jedes Kapitel präsentiert zuerst die wirtschaftlichen, sozialen und persönlichen Rahmenbedingungen des entsprechenden Unternehmens. Anschließend zeigt eine Prozessanalyse der stattgefundenen Diskussion, wer welche moralischen Argumente vorbrachte und wie diese wirkten oder nicht
22
1 Einleitung
wirkten. Das aufregendste Kapitel ist dabei vielleicht die Diskussion im Unternehmen Fernlich, in den Kapiteln 8.1 und 8.2. Das Unternehmen Fernlich zeigt, wie ein unnachgiebiger Vorstand und unnachgiebige Arbeitnehmervertreter sich bis aufs letzte bekämpfen. Leser, die sich direkt vor Augen führen wollen, welche Wellen moralische Diskussionen um Produktionsverlagerung schlagen können, sollten mit diesem Kapitel beginnen. Kapitel 9 zeigt basierend auf den analysierten Diskussionen, wie moralische Argumente Geschäftsleitungen (Kapitel 9.1.1), Belegschaft (Kapitel 9.1.2) und Öffentlichkeit (Kapitel 9.1.3) mobilisieren und dadurch bestimmte wirtschaftliche Interessen einschränken (Kapitel 9.1), während sie andere ermöglichen (Kapitel 9.2). Die aufgestellte Typologie veranschaulicht umgekehrt auch, wie die Wahrnehmung wirtschaftlicher Interessen bestimmte moralische Argumente behindert (Kapitel 9.3), während sie andere erst ermöglicht (Kapitel 9.4). Kapitel 10 legt dar, inwiefern die untersuchte Empirie die in der Einleitung genannten offenen Fragen der Wirtschaftswissenschaften (Kapitel 10.1), der Soziologie (Kapitel 10.2) und der Politischen Ökonomie (Kapitel 10.3) beantwortet. Die Arbeit schließt mit einer zusammenfassenden Konzeptualisierung des Einflusses moralischer Argumente auf wirtschaftliches Handeln (Kapitel 10.4).
2 Forschungsdesign
Die Einflussmechanismen, mittels derer moralische Argumente wirken, lassen sich am zweckmäßigsten mit komparativen Fallstudien rekonstruieren. Diese vergleichen, unter welchen Umständen moralische Argumente in einem Unternehmen wirtschaftliches Handeln beeinflussten, während sie in einem anderen, ähnlichen Unternehmen keinen Einfluss ausübten.6 Dieses Kapitel beschreibt, nach welchen Kriterien die untersuchten Unternehmen ausgewählt, analysiert und verglichen wurden. 2.1 Auswahl der Fälle Die Fallstudien wurden aus einer Liste von zweiundzwanzig Unternehmen ausgewählt, in denen nach Ansicht der IG Metall (Interview 04.01.2007) und des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall (Interview 04.04.2007) moralische Argumente die Pläne der Geschäftsleitung erkennbar beeinflussten oder nicht beeinflussten. Unternehmen, in denen moralische Argumente wirtschaftliches Handeln nicht beeinflussten, müssen untersucht werden, um keine „Schönwettertheorie“ zu präsentieren, sondern um vielmehr auch zu zeigen, wann moralische Einflussnahme gerade nicht funktioniert. Nach einer Durchsicht aller vorgeschlagenen Fälle blieben Diskussionen in sechs Unternehmen übrig – mit einer Ausnahme bekannte deutsche Industrieunternehmen. Die folgende Tabelle liefert eine Übersicht darüber.
6
Vergleiche zur komparativen Methodologie von Fallstudien Lijphard (1971; 1975), Yin (1994), King/Keohane/Verba (1994: 31) Gerring (2004) und George/Bennett (2005).
M. Schröder, Die Macht moralischer Argumente, DOI 10.1007/978-3-531-93196-8_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
24
2 Forschungsdesign
Tabelle 1: Überblick über die untersuchten Unternehmen
Vorstand
Müller
Steche
Wolder
Tehnwolder
Fernlich
Kuhle
Peter Müller
Heiner Scherelich, dann James Hermann Layden Thüren, dann Heinrich Lauer
Reinhard Tehnwolder, Friedrich Enteler, Daniel Wolder
Heinrich Zalohma
Magnus Kuhle
Börse – verstreuter Besitz
Familie Kuhle
Eigentümer
Familie Müller
Finanzinvestor
Finanzinvestor
Familie Tehnwolder zu 1/3, industrieller Investor zu 2/3
Mitarbeiter (vor Verlagerung)
140
3.500
5.200
2.800
50.000
35.000
Rendite (vor Verlagerung)
2 Prozent (Ebit)
Ca. 10 Prozent (Ebit), stark fallend
18 Prozent (Ebitda)
18 Prozent (Ebitda)
11 Prozent (Ebit)
3 Prozent (Ebit)
Verlagerungspläne rückgängig gemacht?
Ja
Erst ja, dann durchgesetzt
Nein
Ja
Nein
Ja
Gütliche Einigung?
Ja
Erst nein, dann ja
Nein
Ja
Nein
Ja
Nein
Nein
Ja
Nein
Ja
GeschäftsJa Moralische leitung Argumente wirkten Belegschaft Nein über… Öffentlichkeit Nein
Ja
Ja
Nein
Ja
Nein
Nein
Ja
Nein
Ja
Nein
Verhältnis Geschäftsleitung – Arbeitnehmer
Gut, patriarchalisch
Erst schlecht, Schlecht dann gut
Gut
Schlecht
Gut
Soziale Einbindung der Geschäftsleitung an den Herkunftsort
Stark
Schwach
Stark
Schwach
Stark
Renditeorientierung
Subsistenz
Maximierung Maximierung Maximierung Maximierung Subsistenz
Schwach
Fallstudien können nie zeigen, was typisch ist, sondern immer nur, was möglich ist. Deshalb kann diese Untersuchung nicht die statistische Wahrscheinlichkeit angeben, mit der die zutage geförderten Mechanismen moralischer Beeinflussung auch in anderen Unternehmen wirken. Da aber Geschäftsleitungen, Gewerkschaften und Betriebsräte betonten, dass die hier untersuchten Diskussionen um Produktionsverlagerung typisch seien, können die untersuchten Unternehmen allgemeine theoretische Zusammenhänge erhellen. Diese sollten allgemein genug
2.2 Vergleich der Fälle
25
sein, um wirtschaftliches Handeln nicht nur in den spezifischen Situationen zu erklären, in denen es stattfindet. Denn auch Geschäftsleitungen in anderen Situationen rechtfertigen ihr Handeln mit Bezug auf gesellschaftliche Interessen und Werte, woraufhin Betriebsräte, Gewerkschaften und soziale Bewegungen an diese Argumente anknüpfen und damit „argumentativen Zwang“ aufbauen. 2.2 Vergleich der Fälle Jeweils innerhalb der Gruppe verlagernder und nicht verlagernder Unternehmen untersuche ich mit der „method of agreement“, inwiefern moralische Argumente über analoge Mechanismen wirken (John Stuart Mills (2004 [1843]; vgl. auch Przeworski/Teune 1982). Zwischen je zwei „matched pairs“ der beiden Gruppen analysiert eine „method of disagreement“, inwiefern verschiedene Ergebnisse mit unterschiedlichen Verhandlungsprozessen einhergehen. Dies soll kontrolliert vergleichen, nach welchen Mechanismen moralische Argumente jeweils einen Einfluss ausüben oder nicht ausüben (George/Bennett 2005: 81; vgl. auch Lijphard 1975). Quantitativ orientierte Forscher bemängeln an einem solchen Ansatz, dass die niedrige Fallzahl (n = 6) nicht alle relevanten Einflussfaktoren auf die abhängige Variable kontrollieren kann (vgl. King/Keohane/Verba 1994: 199–207). Wie ist es dann möglich zu verstehen, warum gerade moralische Argumente wirtschaftliches Handeln beeinflussen, wo dieses doch gleichzeitig von so vielen anderen Einflüssen abhängig ist? Eine Prozessanalyse kann solch Einflüsse auseinanderhalten, da sie den Prozess thematisiert, durch den Anfangsbedingungen zu Resultaten führen.7 Dabei ist es wichtig, nicht a priori instrumentell-rationales oder normgetriebenes Handeln zu unterstellen (Hall 2002; 2007; George/Bennett 2005: 214). Anstatt überhaupt von bestimmten Motivationen als Handlungsgrundlage auszugehen, untersucht eine Prozessanalyse ethnomethodologisch, wer welche Argumente zu welchem Zeitpunkt machte und wie sich Menschen dabei schrittweise auf Ansichten einigen (vgl. Clayman 2001: 4865f.; Garfinkel 1967: 225; Schütz 1932). Nach dem Vorbild von Unternehmensstudien wie Gouldners (1954) „Patterns of Industrial Bureaucracy“ nutzt diese Arbeit deswegen eine „dichte Beschreibung“, um zu klären, wer zu welchem Zeitpunkt des Verhandlungs- und Konfliktverlaufs welche moralischen Argumente und Appelle vorbrachte und wie sich die Verhandlungen daraufhin veränderten (vgl. Geertz 1973: 5ff.). 7
„When it is not possible to find cases similar in all respects but one – the basic requirement of controlled comparisons – one or more of the several independent variables identified may have causal impact. Process-tracing can help to assess whether each of the potential causal variables in the imperfectly matched cases can, or cannot, be ruled out as having causal significance.“ (George/Bennett 2005: 214)
26
2 Forschungsdesign
Um zu solch einer dichten Beschreibung zu gelangen, wertete ich in einem ersten Schritt Zeitungsartikel, Briefverkehr und Mitschriften aus. Die erste Phase war mit einer „detaillierten Narration“ (George/Bennett 2005: 210f.) abgeschlossen. Anschließend habe ich über einen Zeitraum von vierzehn Monaten Interviews mit den zuständigen Betriebsräten, Gewerkschaften und Geschäftsleitungen, oft auch Arbeitnehmern, dem Arbeitgeberverband und Aufsichtsratsmitgliedern geführt (vgl. zur Vorgehensweise der Interviews Witzel 1989; 2000; Aspers 2004: 10f.; Gläser/Laudel 2004). Im Mittelpunkt stand die Frage, wer in der jeweiligen Diskussion um Produktionsverlagerung welche moralischen Argumente äußerte und wer wie darauf reagierte. Zu jedem kritischen Punkt wurden zwei Interviewpartner gefragt, die gegenteilige Meinungen dazu haben sollten (meist Geschäftsleitung gegenüber Gewerkschaft/Betriebsrat). Dies sollte nicht nur herausfiltern, was subjektive Interpretation und was intersubjektiver Konsens ist (vgl. Glaser/Strauss 1967: 67ff.). Auch glich es meine Interpretationen mit den Handelnden ab, da die eigene Sicht sonst immer nur das „Konstrukt eines Konstrukts“ ist (Schütz 1932; 1971: 5ff.). Alle Gespräche wurden aufgenommen, anonymisiert und archiviert.8 Theorien dienten dabei als sensibilisierende Konzepte, als Heuristiken, die einen bestimmten Blick auf die Empirie ermöglichen, aber nicht erzwingen dürfen (vgl. Blumer 1954: 7; Glaser/Strauss 1967; Strauss/Corbin 1994; 1990; vgl. abweichend Glaser 1978; 1992). Ziel des methodischen Vorgehens war eine „theoretische Sättigung“ (Glaser/Strauss 1967: 61f.), die die Empirie hinreichend durchdrungen hat, um mit einer Theorie mittlerer Reichweite plausibel darlegen zu können, durch welche Mechanismen moralische Argumente die Definition und Verfolgung wirtschaftlicher Interessen beeinflussen (vgl. Merton 1949; Charmaz 2001: 6398).
8
Da Betriebsräte, Gewerkschaften und Geschäftsleitungen vertrauliche und ehrliche Informationen gaben, die teils persönlich waren und Geschäftsgeheimnisse enthielten, musste das Forschungsprojekt ihnen möglichst weitgehende Anonymität zusichern. Alle verwendeten Namen sind daher Pseudonyme. Das Datum von Zeitungsartikeln wurde entfernt und bestimmte Wörter durch Synonyme ersetzt, sodass Originalzitate nicht mehr über eine Internetrecherche zu den Zeitungsartikeln führen. Veränderte dies den Sinn einer Aussage nicht, blieb diese als Zitat gekennzeichnet. Aus Interviewaussagen wurden Namen und Versprecher entfernt. Wenn Informanten dies wünschten, mussten Aussagen gänzlich ohne Zitierung bleiben. Anderenfalls hat jede Aussage aus Interviews eine Zeitmarke, sodass sie zur passenden Stelle im aufbewahrten Tondokument zurückverfolgt und abgeglichen werden kann. Wenn mehrere Zitate ohne Quelle hintereinander folgen, so ist die Quelle die nächste im Text genannte.
3 Ergebnisse einer Befragung zu moralischen Bedenken
Bevor die Unternehmensanalysen zeigen, wie moralische Argumente wirtschaftliches Handeln beeinflussen, umreißt dieses Kapitel, wie stark und wo sie wirtschaftliches Handeln beeinflussen. Welche Unternehmen nennen moralische Bedenken? Geht dies mit geringerer Verlagerungswahrscheinlichkeit einher? Eine repräsentative Umfrage des Statistischen Bundesamts befragte Unternehmen, wie relevant „Wirtschaftsethische Probleme (zum Beispiel soziale Verantwortung, Corporate Citizenship)“ als „Barriere bei der Verlagerung wirtschaftlicher Aktivitäten“ wirkten.9 50 Prozent der befragten Unternehmen (n = 16.628) nannten wirtschaftsethische Probleme als „sehr relevante“ oder „relevante“ Verlagerungsbarriere. Moralische Bedenken wurden damit öfter als Verlagerungsbarriere genannt als etwa unzureichendes Know-how, die Abwesenheit geeigneter Zulieferer im Ausland, Zölle, Gefahr von Patentrechtsverletzungen und Unsicherheit über internationale Standards (Statistisches Bundesamt 2008: 10). Zumindest in anonymen Umfragen geben Unternehmen also an, dass moralische Argumente ihr wirtschaftliches Handeln beeinflussen. Eine logistische Regression zeigt, welche Unternehmen „wirtschaftsethische Probleme“ als „relevante“ oder „sehr relevante“ Verlagerungsbarriere angaben.10 Die folgenden Absätze beschreiben die in der Regression verwendeten Variablen. 9
10
Die Umfrage richtete sich an die Geschäftsführer oder den jeweils für Verlagerung zuständigen Mitarbeiter. Sie befragte alle Unternehmen der „gewerblichen Wirtschaft des produzierenden Gewerbes […] und des Dienstleistungssektors mit Ausnahme des Kredit- und Versicherungsgewerbes“ (Zwania 2008: 481). Es wurden nur Unternehmen mit über 100 Mitarbeitern angeschrieben, die resultierende Stichprobe bezeichnete das Statistische Bundesamt als repräsentativ. Gefragt wurde nach: 1) Aspekten der Verlagerung wirtschaftlicher Aktivitäten (Motivationsfaktoren, die Verlagerungen vorantreiben; Barrieren, die Verlagerungen erschweren; Zugehörigkeit zu einer Unternehmensgruppe); 2) Verlagerungserfahrung und -plänen (Zeitplan verlagerter Aktivitäten, Zielregionen, Kooperationspartnern); 3) Auswirkungen der Verlagerung wirtschaftlicher Aktivitäten ins Ausland (Auswirkungen auf das Unternehmen, Auswirkungen auf die Arbeitsplätze, Arbeitsmarkteffekte) und der 4) zukünftigen Entwicklung der Verlagerung wirtschaftlicher Aktivitäten (Destatis 2008: 8). Da die Unternehmensdaten Rückschlüsse auf einzelne Unternehmen zulassen, diese aber ihre Angaben unter der Zusicherung der Anonymisierung machten, war es vonseiten des Statistischen Bundesamtes nicht möglich, die Daten direkt zu bearbeiten. Deshalb wurde das Statistische
M. Schröder, Die Macht moralischer Argumente, DOI 10.1007/978-3-531-93196-8_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
28
3 Ergebnisse einer Befragung zu moralischen Bedenken
3.1 Regressionsvariablen Unternehmen, in denen jemand für das Unternehmenshandeln persönlich verantwortlich ist (mit eigenem Vermögen haftet), könnten stärkere Bindungen an ihren Heimatstandort haben als Unternehmen, die schon aufgrund ihrer Finanzierungsstruktur keinen Adressaten für moralische Appelle bieten, etwa wenn der Unternehmensbesitz über Aktien verstreut ist. Daher untersuche ich mit einer ersten Variablengruppe, ob Personengesellschaften11 mit höherer Wahrscheinlichkeit moralische Probleme als Verlagerungsbarriere nennen als 1) GmbHs, 2) Aktienunternehmen, 3) Unternehmen mit einer sonstigen privaten Rechtsform, 4) einer öffentlichen Rechtsform und 5) einer unbekannten Rechtsform. Zweitens könnten stärker sozial eingebettete Unternehmen eher moralische Bedenken gegenüber Verlagerungen angeben. Mit einer zweiten Variablengruppe erfasse ich, ob 1) Auslandstöchter von Unternehmen, 2) in Deutschland heimische Unternehmen und 3) Unternehmen, die „keine Angabe“ gemacht haben, eher als Unternehmen, die in keinem Unternehmensverbund stehen, wirtschaftsethische Probleme bei Verlagerungen angeben. Möglich ist auch, dass Unternehmen, die aus nur einem Betrieb bestehen, an ihrem Heimatstandort stärker verwurzelt sind (schließlich ist es der einzige Standort, den sie haben) und darum eher moralische Bedenken als Verlagerungsbarriere anführen. Mit einer dritten Variablengruppe überprüfe ich darum, ob Einbetriebsunternehmen eher moralische Bedenken nannten als 1) Mehrbetriebsunternehmen, 2) Mehrländerunternehmen, 3) Betriebe, die Teil eines Mehrländerunternehmens sind und 4) Betriebe, die Teil eines Mehrbetriebsunternehmens sind. Denkbar ist viertens, dass kleinere Unternehmen aufgrund persönlicherer Bindungen zu den Arbeitnehmern eher moralische Bedenken nennen. Da größere Unternehmen sich gegenüber einer möglicherweise kritischen Öffentlichkeit rechtfertigen müssen, könnte es aber auch sein, dass kleinere Unternehmen eher moralische Bedenken als Verlagerungsbarriere angeben. Mit einer vierten Variablengruppe untersuche ich deshalb, ob Unternehmen der kleinsten verfügbaren Kategorie (mit 100 bis 249 Beschäftigten) eher moralische Bedenken als Verlagerungsbarriere nennen als Unternehmen mit 1) 250 bis 499 Beschäftigten 2) 500 bis 999 Beschäftigten und 3) 1.000 und mehr Beschäftigten. Möglich ist auch, dass jüngere Unternehmen weniger moralische Probleme mit einer Verlagerung haben, da in diesen noch keine „tra-
11
Bundesamt um eine Sonderauswertung gebeten. Die unten aufgezählten unabhängigen Variablen wurden nach einigen Testläufen aufgenommen. Offene Handelsgesellschaften, Kommanditgesellschaften sowie alle weiteren Unternehmen, bei denen ein Einzelinhaber oder mehrere Personen mit ihrem Privatvermögen haften.
3.2 Ergebnisse
29
ditionale“ Wirtschaftsethik12 Fuß fassen konnte. Eine fünfte Variablengruppe soll daher klären, ob Unternehmen des „übrigen verarbeitenden Gewerbes“ gegenüber Unternehmen der 1) Hightech-Industrie, 2) wissensintensiver Dienste und 3) „übriger Wirtschaftsbereiche“ eher moralische Probleme als Verlagerungsbarriere angeben. Zusätzlich erfasse ich, ob Unternehmen nicht nur aus dem Grund keine moralischen Probleme mit einer Verlagerung angeben, weil sie diese noch nicht durchführten oder nicht planen. Dadurch wird auch geprüft, ob moralische Verlagerungsbedenken und Verlagerungswahrscheinlichkeit überhaupt zusammenhängen. Mit zwei weiteren Variablen untersuche ich, ob Arbeitsplätze durch die Verlagerung abgebaut wurden. Anderenfalls wäre es möglich, dass Unternehmen moralische Gründe lediglich deswegen nicht als Verlagerungsbarriere nennen, da mit einer Produktionsverlagerung keine Arbeitsplatzverluste einhergingen. 3.2 Ergebnisse Mehr als die Hälfte der Unternehmen (4.060 gegenüber 3.671), für die genügend Daten für die logistische Regression verfügbar waren, nannte „wirtschaftsethische Probleme“ eine relevante oder sehr relevante Verlagerungsbarriere. Die unten wiedergegebenen Odds-Ratios13 zeigen, wie sehr die Variablen auf die Chance einwirken, dass ein Unternehmen zu der Gruppe gehört, die moralische Bedenken als Verlagerungsbarriere angaben.
12
13
Eine „traditionale“ Wirtschaftsethik orientiert sich gegenüber einer kapitalistischen Wirtschaftsethik daran, „genug“ Profit zu machen, statt diesen zu maximieren. Man kann argumentieren, dass diese eher zu finden ist, wenn sich soziale Bindungen in einem Unternehmen etablieren, was Zeit benötigt (Weber 1976 [1922]: 22; 1988 [1920]: 44–55). Der Odds-Ratio von 0,806 (neben „Mehrländerunternehmen vs. Einbetriebsunternehmen“) bedeutet zum Beispiel, dass Mehrländerunternehmen gegenüber Einbetriebsunternehmen eine um 19,4 Prozent verringerte Chance haben, zu der Gruppe an Unternehmen zu gehören, die wirtschaftsethische Probleme als Verlagerungsbarriere angeben.
30
3 Ergebnisse einer Befragung zu moralischen Bedenken
Tabelle 2: Logistische Regression von Einflüssen auf moralische Bedenken Variablen, die einen Einfluss auf moralische Bedenken haben könnten
Moralische Bedenken in Personengesellschaften vs.
Moralische Bedenken in Unternehmen, die nicht Teil eines Unternehmensverbunds sind, vs.
Moralische Bedenken in Einbetriebsunternehmen vs.
Moralische Bedenken in Unternehmen mit 100 bis 249 Mitarbeitern vs.
Moralische Bedenken im übrigen verarbeitenden Gewerbe vs.
Moralische Bedenken in Unternehmen, die noch nicht verlagert haben vs. Moralische Bedenken in Unternehmen, in denen Verlagerungen Arbeitsplätze geschaffen haben, vs.
OddsRatio
95 Prozent Wald Confidence Limits
Signif. (Pr >ChiSq)
GmbHs
0,904
0,726
1,126
0,3676
AGs beziehungsweise KGaAs Unternehmen mit sonst. priv. Rechtsformen Unternehmen mit öffentlichen Rechtsformen
1,019
0,767
1,353
0,8983
1,087
0,75
1,575
0,6606
0,876
0,455
1,684
0,6912
unbekannten Rechtformen
1,623
0,143
18,355
0,6956
Auslandstöchtern
1,142
0,998
1,307
0,0535
heimischen Unternehmen Unternehmen, die keine Angabe machten
1,057
0,954
1,171
0,2861
2,404
0,632
9,143
0,1982
Mehrbetriebsunternehmen
0,948
0,823
1,092
0,4585
Mehrländerunternehmen Betrieben eines Mehrbereichsunternehmens Betrieben eines Mehrländerunternehmens
0,806*
0,721
0,902
0,0002
0,187
0,013
2,583
0,2105
0,475
0,04
5,67
0,5565
250 bis 499 Mitarbeitern
1,036
0,921
1,165
0,5585
500 bis 999 Mitarbeitern
1,160
0,979
1,375
0,0867
1000 und mehr Mitarbeitern Unternehmen der HightechIndustrie Unternehmen wissensintensiver Dienste Unternehmen übriger Wirtschaftsbereiche Unternehmen, die verlagert haben Unternehmen, die eine Verlagerung planen Unternehmen, die keine Angabe machten Unternehmen, in denen Verlagerungen keine Arbeitsplatzeffekte hatten Unternehmen, in denen Arbeitsplätze verlagert wurden
1,162
0,933
1,446
0,1802
0,856*
0,758
0,967
0,0122
0,955
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1,163
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0,961
0,766
1,206
0,7335
* Signifikant auf 0,01-Niveau N = 7731
3.2 Ergebnisse
31
Vier unabhängige Variablen weisen eine statistisch signifikante Beziehung zur abhängigen Variable auf.14 Unternehmen, die schon Verlagerungen durchführten, haben eine um 23,7 Prozent verringerte Chance, zu der Gruppe an Unternehmen zu gehören, die wirtschaftsethische Bedenken äußern. Unternehmen, die Verlagerungen planen, weisen eine um 30,5 Prozent geringere Chance auf. Dies lässt vermuten, dass moralische Bedenken wirtschaftliches Handeln „irgendwie“ beeinflussen; denn Unternehmen, die verlagern, äußern demgegenüber auch weniger moralische Bedenken.15 Außerdem weisen Mehrländerunternehmen gegenüber Einbetriebsunternehmen eine um 19,4 Prozent geringere Chance auf, wirtschaftsethische Probleme als Verlagerungsbarriere anzugeben. Dies ist interessant, da Mehrländerunternehmen gegenüber Einbetriebsunternehmen sozial wahrscheinlich weniger stark eingebunden sind. Umgekehrt sind Einbetriebsunternehmen besonders stark an ihren einzigen Standort gebunden. Gerade Unternehmen, die an einem Standort stark eingebunden sind, geben moralische Bedenken als Verlagerungsbarriere an – so zumindest kann man die Ergebnisse deuten. Die Produktionsverlagerungsdiskussionen werden diesen Zusammenhang erklären, denn sie zeigen, inwiefern erst eine regionale Bindung der Geschäftsleitung ermöglicht, durch moralische Argumente wirtschaftliche Interessen zu beeinflussen. Zudem weisen Unternehmen der Hightech-Industrie gegenüber dem übrigen verarbeitenden Gewerbe eine um 14,4 Prozent verringerte Chance auf, wirtschaftsethische Probleme mit Verlagerungen anzugeben. Hightech-Unternehmen sind in der Regel moderner, möglicherweise konnte dort eine „traditionale“ Wirtschaftsethik noch nicht Fuß fassen. Auch darauf kommt die Analyse der Produktionsverlagerungsdiskussionen zurück. Darüber hinaus ist keine der Variablenbeziehungen statistisch signifikant.16 14 15 16
Dies ändert sich nicht bei einem Signifikanzniveau von 0,05 statt 0,01. Dies ähnelt einer von Bauer und Hardock (2003: 276–281) durchgeführten Untersuchung, in der 21 Prozent (r²) der Verlagerungsvarianz von Unternehmen über den Indikator „Verbundenheit mit dem Inland“ erklärt wird. So steigt oder sinkt die Chance, moralische Bedenken als Verlagerungsbarriere anzugeben, nicht mit der Rechtsform eines Unternehmens. Eine separate Auswertung ergab, dass es unter allen Rechtsformen mehr Unternehmen gibt, die wirtschaftsethische Bedenken als Verlagerungsbarriere angeben. Von allen untersuchten Personengesellschaften gaben 190 wirtschaftsethische Probleme als Verlagerungsbarriere an, während 157 keine Bedenken hatten. Bei GmbHs ist die Verteilung 3.462 zu 3.168 (moralische Bedenken/keine Bedenken), bei AGs und KGaAs 254 zu 215, bei sonstigen privaten Rechtsformen 100 zu 73 und bei öffentlichen Rechtsformen 22 zu 19. Es ist jedoch schwer, diesbezüglich nützliche Kategorien zu bilden. So ist zwar denkbar, dass Familienunternehmen eher moralische Probleme mit einer Verlagerung haben. Doch auch eine Aktiengesellschaft (die hier als Rechtsform operationalisiert werden konnte) kann in Familienbesitz sein. Auch ob ein Unternehmen Teil eines Unternehmensverbundes ist, hat keinen Einfluss auf die Chance, moralische Bedenken anzuführen. Ebenso hat die Beschäftigtengröße keinen Einfluss. Möglich ist, dass zwei Effekte sich dabei gegenseitig ausbalancieren. Einerseits könnten Unternehmen mit weniger Beschäftigten eine engere, persönlichere Bindung zwischen Geschäftsleitung und Belegschaft aufweisen. Auf der anderen Seite müssen sich größere Unter-
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3 Ergebnisse einer Befragung zu moralischen Bedenken
Die vorhandenen Korrelationen lassen vermuten, dass Unternehmen umso empfänglicher für moralische Argumente sind, desto stärker sie in ihr soziales Umfeld eingebettet sind und desto stärker dort eine traditionale Wirtschaftsethik herrscht. Dies ist jedoch Spekulation. Festzuhalten bleibt, dass es einen statistischen Zusammenhang zwischen moralischen Bedenken und Verlagerungswahrscheinlichkeiten gibt. Weitere Zusammenhänge lassen sich kaum statistisch untersuchen. Denn inwiefern ist es überhaupt hilfreich zu wissen, dass Hightech-Unternehmen und Mehrländerunternehmen weniger moralische Bedenken haben und dies mit geringerer Verlagerungswahrscheinlichkeit einhergeht? Statistisch zu zeigen, dass moralische Bedenken eine Bedeutung haben, ist zwar wichtig, um nicht qualitativ nach etwas zu suchen, was es gar nicht gibt. Doch die grundlegende Idee, dass moralische Bedenken „irgendwie“ wirtschaftliches Handeln beeinflussen, ist von der Literatur bereits weithin akzeptiert, wie die Einleitung dieser Arbeit darlegte. Die offene Frage lautet vielmehr, wie und weshalb moralische Argumente Handeln in einem Umfeld beeinflussen, das auf der Wahrnehmung wirtschaftlichen Selbstinteresses beruhen sollte. Auf diese Frage werden die Unternehmensdiskussionen eine Antwort geben. Um in die Diskussionen einzuführen, erläutert das folgende Kapitel, welche Rechte, Pflichten und Interessen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter in Diskussionen um Produktionsverlagerung haben.
nehmen möglicherweise stärker öffentlich rechtfertigen. Beide Effekte könnten dazu führen, dass ethische Bedenken als Verlagerungsbarriere angegeben werden, sodass es zu keinem eindeutigen Zusammenhang kommt. Insignifikant sind auch die Variablen, die kontrollieren, ob Unternehmen nur deswegen keine Probleme mit einer Verlagerung haben, weil es zu keinem Arbeitsplatzabbau kam.
4 Einführung in das Feld: Interessen, Rechte und Pflichten in Produktionsverlagerungsdiskussionen 4
Einführung in das Feld
Dieses Kapitel legt dar, welche Interessen und Möglichkeiten zu deren Durchsetzung Geschäftsleitungen, Betriebsräte und Gewerkschaften in Produktionsverlagerungsdiskussionen haben. Es erklärt damit das institutionelle System industrieller Beziehungen, in dem in Deutschland moralische Argumente gemacht werden können. Leser, die sich mit der deutschen Corporate Governance auskennen (Aufgaben, Interessen und Durchsetzungsmöglichkeiten des Vorstands, Aufsichtsrats, des Betriebsrats und der Gewerkschaften), können dieses Kapitel überspringen. 4.1 Die Stellung des Vorstands in Diskussionen um Produktionsverlagerung Mit einer Ausnahme wurden alle untersuchten Unternehmen von einem Vorstand geleitet,17 der diese Aufgabe eigenverantwortlich wahrnimmt (§ 76 Abs. 1 AktG; Gerum 2007: 115). Dessen Vorsitzender, den – je nach Unternehmensgröße – mehrere Vorstandskollegen unterstützen (§§ 84 Abs. 2 und 105 AktG; Gerum 2007: 131), darf nicht gegen die Mehrheit seiner Vorstandskollegen entscheiden (§ 77 Abs. 1 AktG). In der Regel sollten Vorstandsentscheidungen sogar einstimmig gefällt werden. Daher muss der Vorstandsvorsitzende seine Kollegen überzeugen, was seine Macht einschränkt, anders als bei seinem amerikanischen Pendant, dem „Chief Executive Officer“. Dies nimmt deutschen Unternehmen Flexibilität, richtet ihr Handeln dafür jedoch an möglichen Einwänden des sozialen Umfelds aus. Besonders muss der Vorstandsvorsitzende die Arbeitnehmer berücksichtigen, denn in Kapitalgesellschaften ab 2.000 Mitarbeitern ist vorgeschrieben, dass auch ein Arbeitsdirektor (§ 33 MitbestG) Vorstandsmitglied ist. Dieser ist für Personal- und Sozialfragen zuständig und wird in der Regel mit Unterstützung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gewählt (Gerum 2007: 17
Die Ausnahme ist das Unternehmen Müller, welches als GmbH keinen Vorstand, sondern eine Geschäftsführung hat. Diesen Fall werde ich im Rahmen der Unternehmensanalyse noch besprechen.
M. Schröder, Die Macht moralischer Argumente, DOI 10.1007/978-3-531-93196-8_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Einführung in das Feld
133). Insgesamt muss der Vorstand somit – auch moralische – Einwände der Arbeitnehmer insofern beachten, als dass diese über den Arbeitsdirektor im Vorstand repräsentiert sind. 4.2 Die Stellung des Aufsichtsrats Der Aufsichtsrat prüft den Unternehmenszustand, grundsätzliche Fragen und stellt sicher, dass der Vorstand die Aktionärs- und (in mitbestimmten Unternehmen) die Arbeitnehmerinteressen beachtet (§§ 90 und 111 Abs. 1 AktG; Wöhe/ Döring 2008: 61ff.). Zur Wahrnehmung seiner Kontrollpflichten kann der Aufsichtsrat nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG Vorstandsmaßnahmen ablehnen. Da er jedoch nicht anstelle des Vorstands beschließen kann, kann er diesen auch nicht ersetzen. In Kapitalgesellschaften ab 501 bis 2.000 Mitarbeitern können die Arbeitnehmer ein Drittel des Aufsichtsrats mit ihren Repräsentanten und einer gesetzlich vorgeschriebenen Anzahl an Gewerkschaftsvertretern besetzen (dies geschah im Unternehmen Steche). Bei mehr als 2.000 Beschäftigten wählen Arbeitnehmer sogar die Hälfte des Aufsichtsrats (§§ 1, 4 DrittelbG; § 95 AktG; §§ 7, 15 MitbestG), was in den Unternehmen Wolder, Tehnwolder, Kuhle und Fernlich geschah. Dann begrenzt jedoch ein doppeltes Stimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden für die Arbeitgeberseite die Macht der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat (§ 96 AktG und §§ 29, 31 MitbestG). Im Gegenzug ist in mitbestimmten Unternehmen ein Arbeitnehmervertreter Stellvertreter des Aufsichtsratsvorsitzenden (§ 27 MitbestG). In circa zwei Drittel der deutschen Unternehmen ist dies ein Betriebsrat, sonst meist ein Gewerkschaftsvertreter (Gerum 2007: 240ff.). Eine Entscheidung mit dem doppelten Stimmrecht des Vorsitzenden soll in der Regel vermieden werden. Die Geschäftsleitung hat darum einen Anreiz, die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat von den Vorstandsplänen zu überzeugen und auf ihre Argumente einzugehen. Ist auf der Arbeitgeberseite auch nur eine Person aufseiten der Arbeitnehmer, so können diese in großen Unternehmen über den Aufsichtsrat den Vorstand kontrollieren. 4.3 Die Stellung von Gewerkschaften Welche Interessen und welche Möglichkeiten, sie durchzusetzen, haben Arbeitnehmervertreter in Produktionsverlagerungsdiskussionen? In den hier untersuchten Unternehmen waren 30 bis 60 Prozent der Belegschaft gewerkschaftlich organisiert, außer in einem Fall immer in der IG Metall. Verlagerungen gefähr-
4.3 Die Stellung von Gewerkschaften
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den die Arbeitsplätze von Gewerkschaftsmitgliedern. Die IG Metall bezeichnet sie auch deshalb als überbewerteten „Hype“ (IG Metall 2008: 8). Ein Konflikt um Produktionsverlagerung kann der IG Metall die Möglichkeit bieten, neue Mitglieder zu gewinnen, indem sie sich als unerlässliche Interessenvertretung präsentiert. Wenn eine Verlagerung das Unternehmen jedoch wettbewerbsfähiger macht, hat die IG Metall sogar einen Anreiz, diese zu unterstützen, da sie damit am Standort verbliebene Arbeitsplätze sichern oder sogar neue Beschäftigte und damit Mitglieder gewinnen kann. Die IG Metall geht außerdem davon aus, dass Deutschland im Globalisierungsprozess insgesamt mehr Arbeitsplätze gewinnt als verliert (IG Metall 2008: 14). Da sie vermeiden möchte, dass ein Unternehmen verlagert oder in Konkurs geht, kann sie alternativ zustimmen, vom Tarifvertrag abzuweichen, beispielsweise durch Mehrarbeit oder Lohnkürzungen. Obwohl sie davon ausgeht, dass Geschäftsleitungen „die Sorge der Beschäftigten [ausnutzen], um im Unternehmersinne auf bestehende Arbeitsbedingungen einzuwirken“ (IG Metall 2008: 14), erklärte sich die Gewerkschaft 2004 im „Pforzheimer Abkommen“ bereit, „vorübergehend durch den Abschluss von Ergänzungstarifverträgen die flächentariflichen Standards zu unterschreiten. Voraussetzung ist, dass dadurch Beschäftigung im Inland geschaffen oder gesichert wird“ (IG Metall Bayern online 01.08.2008).18 Im Kern dürfen Unternehmen dadurch Tariflöhne unterschreiten, wenn sie Standorte durch Investitionen sichern. Die IG Metall stimmt dem im Einzelfall jedoch nur zu, wenn dies unter „Abwägung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen zur Sicherung oder Schaffung von Arbeitsplätzen erforderlich ist“ (Südwestmetall online, ohne Datum).19 Indem sie dem Arbeitgeber nur entgegenkommt, wenn dieser dafür Beschäftigung und Investitionen garantiert, will sie Schließungen und Abwanderungen verhindern, bevor Unternehmen in eine Krise geraten. Um zu prüfen, ob eine Krise bevorsteht, verlangt die IG Metall Einsicht in die Unternehmensbücher. Doch auch seitens der Gewerkschaft besteht ein interpretationsbedürftiger Ungewissheitsspielraum, ob Konzessionen angebracht sind. Die IG Metall verringert diesen Unsicherheitsspielraum und erhöht ihre Legitimität, indem sie die organisierte Belegschaft selbst über die Öffnung des Tarifvertrags entscheiden lässt; infolgedessen treten auch vorher nicht organisierte Arbeitnehmer bei, um abstimmen zu können. Doch da der örtliche Gewerkschaftssekretär, anders als der Betriebsrat, den Tarifvertrag schützen muss, wird die IG Metall nicht leichtfertig Konzessionen zugestehen, selbst wenn Beschäftigte dies fordern. Lieber eine temporäre Ausnahme als ein
18 19
URL: http://www.igmetall-bayern.de/News-Ansicht.26.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=884&tx_ ttnews[backPid]=18&cHash=7b650cd8e3 URL: http://www.suedwestmetall.de/swm/webswm.nsf/id/DE_Abkommen_von_Pforzheim
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4 Einführung in das Feld
insolventes Unternehmen, aber keine Ausnahme, wenn es nur um höhere Unternehmensgewinne geht – so lässt sich die Devise der IG Metall zusammenfassen. Einigen sich IG Metall und Geschäftsleitung nicht, vom Tarifvertrag abzuweichen, ist ein Streik die letzte Waffe der Gewerkschaft gegen eine Produktionsverlagerung. Dieser darf sich zwar nicht gegen die Verlagerung an sich richten, doch nach einem Präzedenzurteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein darf die Gewerkschaft Tarifforderungen aufstellen, wie die von einer Verlagerung Betroffenen zu behandeln sind, und dafür auch streiken, selbst wenn dies die Umsetzung der Verlagerung erschwert (LAG Schleswig-Holstein, 27. März 2003 – 5 Sa 137/03). So weit ist es bisher jedoch selten gekommen. Stattdessen argumentiert die IG Metall, dass andere Länder immer günstiger produzieren können, der Unternehmer müsse darum „besser statt billiger“ werden. Indem die Gewerkschaft den Standpunkt vertritt, dass ein Unternehmen „für mehr Verantwortung trägt als seine Bilanz und seine Aktionäre“ und „die Gewerkschaften in ihrer klassischen Rolle als Tarifpartei mit diesem Problem überfordert [seien]“ (IG Metall 2008: 18 und 27), will sie die öffentliche Meinung beeinflussen. Da die IG Metall Geschäftsleitungen nicht zwingen kann, am Heimatstandort zu bleiben, moralisiert sie mit der „Besser-statt-billiger“-Strategie (vgl. Wetzel 2005). Ein guter Unternehmer mache sich Gedanken, wie er seine Interessen verfolgen kann, ohne die Interessen anderer in Mitleidenschaft zu ziehen. Nur dann sei wirtschaftliches Handeln legitim, so die Grundargumentaton der IG Metall. Wann dieses moralische Argumente greift und wann nicht, zeigen die Diskussionen um Produktionsverlagerung im Einzelnen. 4.4 Die Stellung von Betriebsräten In Betrieben mit mindestens fünf Mitarbeitern kann die Belegschaft einen Betriebsrat wählen. Ab zweihundert Mitarbeitern ist ein Betriebsratsmitglied von sonstiger Arbeit freigestellt, in größeren Unternehmen mehrere (§§ 9, 38 und 37 Abs. 2 BetrVG). Der Betriebsrat entscheidet mehrheitlich, dessen Vorsitzender vertritt die Beschlüsse. Die Belegschaft wählt den Betriebsrat alle vier Jahre. Für diesen Zeitraum muss der Betriebsrat die Belegschaftsinteressen mit allen rechtlichen Mitteln vertreten (vgl. Wöhe/Döring 2008: 63ff.). Mitglieder dürfen sich zwar als Betriebsräte nicht an Arbeitskämpfen beteiligen, wohl aber als Arbeitnehmer und Gewerkschaftsmitglieder (§ 74 Abs. 2 BetrVG). Da weitreichende Mitbestimmungsrechte den Betriebsrat zu einer Art Ko-Management machen, nimmt er eine institutionalisierte Zwischenrolle zwischen Belegschaft und Geschäftsleitung ein (vgl. differenzierend Rehder 2003). Entsprechend verpflichtet § 2 Abs. 1 BetrVG die Geschäftsleitung und den Betriebsrat zu „vertrauensvoller Zusammenarbeit“. Durch § 38 des BetrVG muss der Arbeitgeber nicht nur die
4.4 Die Stellung von Betriebsräten
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Kosten der Betriebsratsarbeit tragen, er darf seinem Betriebsrat auch im Rahmen von § 103 BetrVG nicht kündigen und muss ihn mit allen Informationen versorgen, die ihm zur Verfügung stehen. Nicht einmal mit Verweis auf Betriebsgeheimnisse darf die Geschäftsleitung dem Betriebsrat Informationen vorenthalten. Umgekehrt macht der Betriebsrat sich strafbar, wenn er Betriebsgeheimnisse kundtut (§§ 79 und 80 Abs. 1 BetrVG). Der Betriebsrat ist in Unternehmen mit über zwanzig wahlberechtigten Arbeitnehmern bei Betriebsänderungen, zu denen auch Verlagerungen gehören, anzuhören (§ 111 BetrVG). Mit einem Katalog aus Verweigerungsgründen darf er personellen Einzelmaßnahmen widersprechen, darunter auch betriebsbedingten Kündigungen (§ 102 BetrVG). Diese dürfen dann erst durchgeführt werden, wenn eine Gerichtsentscheidung seine Zustimmung ersetzt (§§ 99 Abs. 4 und 102 Abs. 5 BetrVG). Auch kann der Betriebsrat bei Massenentlassungen einen Sozialplan verlangen, der die Entlassenen entschädigt (§§ 112, 112a BetrVG). Der Betriebsrat wird nicht die Bedenken der IG Metall teilen, durch Konzessionen den Flächentarifvertrag zu gefährden, insofern ihm die Signal- und Konkurrenzwirkung auf andere Unternehmen gleichgültig sein kann. Gemäß seinem Statut und seinem Interesse, wiedergewählt zu werden, wird er sich stattdessen an den Belegschaftspräferenzen orientieren. Den nötigen Einfluss vorausgesetzt, kann er jedoch auch mit eigenen Vorschlägen die Interessen der Belegschaft und Geschäftsleitung beeinflussen und Alternativen zu einer Verlagerung erarbeiten, die die Belegschaft schonen (vgl. Dörre/Elk-Anders/Speidel 1997: 64). Dazu kann er sich in Unternehmen mit mehr als dreihundert Beschäftigten auf Unternehmenskosten von einem Sachverständigen beraten lassen, beispielsweise um Produktionsverlagerungspläne extern auf ihre Wirtschaftlichkeit zu prüfen und Alternativen zu entwickeln (§ 111 BetrVG). Die Regelungsbefugnis des Betriebsrats endet, wo der Tarifvertrag beginnt (§ 77 Abs. 3 BetrVG). Doch Betriebsräte kooperieren in der Regel mit der Gewerkschaft, um Konzessionen der Arbeitnehmer gegen eine Produktionsverlagerung abzuwägen. Die Gewerkschaft wiederum ist auf den Betriebsrat angewiesen, denn dieser kennt das Unternehmen besser und kann insofern eher beurteilen, ob Konzessionen angebracht sind. Der Betriebsrat wird die Solidarität mit der Gewerkschaft jedoch hinterfragen, wenn sie das Wohl des Unternehmens dem Flächentarifvertrag unterordnet. Generell wird ein Betriebsrat versuchen, zusammen mit der Geschäftsleitung eine Strategie zu finden, die zwar wirtschaftlich sinnvoll ist, aber die Belegschaftsinteressen nicht vernachlässigt. Durch die Mitwirkungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer sind „Internationalisierungsstrategien Aushandlungsbeziehungen, über deren Ausgestaltung nicht allein das Management der Schlüsselunternehmen entscheidet“ (Dörre/Elk-Anders/Speidel 1997: 62). Dabei sind Einsprüche des Betriebsrats, im Idealfall und im Sinne eines „beneficial
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4 Einführung in das Feld
constraints“ (Streeck 1997), der institutionalisierte Versuch einer „high road“, bei der Geschäftsleitungs- und Belegschaftsansprüche zum Zwecke wirtschaftlichen Erfolgs verbunden werden. Es besteht weitgehender Konsens, dass „Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung nun einmal vorwiegend Machtveranstaltungen sind“ (Lengfeld 2003: 54). Doch fraglich ist, wie moralische Argumente diese Machtbeziehungen beeinflussen. Dies zeigen die folgenden Diskussionen um Produktionsverlagerung.
5 Unternehmen Müller: Wie moralischer Einfluss zur Neuberechnung wirtschaftlicher Strategien führt 5
Unternehmen Müller
Im Unternehmen Müller führten moralische Argumente gegenüber einer sozial eingebundenen Geschäftsleitung zur Änderung wirtschaftlicher Pläne. Alles begann damit, dass Peter Müller, patriarchischer Inhaber, Chef und Namensgeber des Unternehmens, von seinen einhundertvierzig Mitarbeitern Mehrarbeit forderte, da die Rendite zu gering sei. Sollte er keine Mehrarbeit bekommen, müsse er die Produktion verlagern. Nach langen Verhandlungen bewilligte die IG Metall nicht nur wirtschaftliche Konzessionen, sondern beeinflusste Müller auch durch moralische Argumente. Da der Erfolg einer Produktionsverlagerung ungewiss war, konnte die Gewerkschaft Müller von einer Option überzeugen, die alle Beteiligten moralisch vertretbarer fanden als eine Verlagerung. 5.1 Müllers wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter In den drei Jahren vor den Verlagerungsverhandlungen hatte das Zulieferunternehmen einen Umsatz von jährlich circa 25 Millionen Euro und eine rückläufige Unternehmensrendite zwischen 2,4 und 2,8 Prozent. Die Eigenkapitalquote betrug nur circa 10 Prozent. Bei Familienunternehmen kann die Renditequote zwar weniger wichtig sein, da für den Anteilseigner relevant ist, wie viel er persönlich verdient, was bei einer niedrigen Rendite und hohem Umsatz genauso viel sein kann wie bei hoher Rendite und niedrigem Umsatz. Doch der Gewinn muss mindestens so hoch sein, dass die Geschäftsleitung damit Investitionen tätigen und die Eigentümer ihr Leben finanzieren können. Der mehr als 70 Jahre alte Peter Müller leitete seinen Familienbetrieb seit den sechziger Jahren am Heimatstandort. Sein Sohn und ein außerfamiliärer Manager unterstützten ihn; beide hatten jedoch keinen nennenswerten Einfluss auf die Verhandlungen. Die IG Metall charakterisierte Peter Müller als Patriarchen, der besonders hartnäckig Konzessionen aushandelte. Der örtliche Gewerkschaftssekretär attestierte ihm aber auch Verantwortungsgefühl für seine Heimat-
M. Schröder, Die Macht moralischer Argumente, DOI 10.1007/978-3-531-93196-8_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Unternehmen Müller
region und seine Belegschaft (Müller 2. Interview).20 Müller wollte zwar die niedrige Rendite steigern – notfalls mit einer Produktionsverlagerung; er betonte aber im Interview, Unternehmensgewinn sei für ihn kein Selbstzweck, sondern notwendige Voraussetzung, um Kunden, Arbeitnehmern und seiner Heimatregion gerecht zu werden: „Insbesondere wenn man, wie ich, das seit siebenundzwanzig Jahren macht, da fühlt man sich schon für die Mitarbeiter verantwortlich. Da sind ja auch Familien dahinter, Kinder und Sicherheiten und, also, wo finden die ’nen Arbeitsplatz? Also, da fühlt man sich schon verantwortlich. Auf der anderen Seite, […]21 man hat ja auch eine Verantwortung für den Kunden. Der Kunde will ja auch sicher sein, dass er auf die Lieferanten, die er hat, dass er auf die bauen kann und dass da nicht Insolvenzen kommen, dann stehen bei dem ja auch die Bänder still. Also, man hat sie gegenüber dem Kunden, die Verantwortung, man hat sie aber auch in der Region hier, wo die Menschen, die hier arbeiten, wohnen oder die Stadt, die die Steuern braucht.“ (Müller 1. Interview: 13. Min.)
Laut eigener Aussage ging es Müller nicht um Gewinnmaximierung. Stattdessen wollte er einer Verantwortung gegenüber Arbeitnehmern, Abnehmern und seiner Heimatstadt entsprechen. Ob diese Haltung tatsächlich seiner inneren Überzeugung entsprach, lässt sich nicht abschließend beurteilen. Doch auch die Gewerkschaft äußerte, Müller sei gegenüber seiner Belegschaft bisher immer umsichtig gewesen. Er bezahlte diese auch nach dem Flächentarifvertrag und sie war zu Konfliktbeginn nur zu 30 Prozent gewerkschaftlich organisiert. Über Gewerkschaftssekretär Junker meinte Müller, dass dieser zwar „die Ziele seiner Organisation vertrete“, doch er das Glück habe, mit ihm einen „einigermaßen vernünftigen Mann zu haben“, der konstruktive Vorschläge mache, wie die Unternehmensmit den Gewerkschafts- und Arbeitnehmerinteressen in Einklang gebracht werden können (Müller 1. Interview: 39. Min.). Junker sei zwar „ein beschlagener Mann, der auch die Zahlen kennt, der auch viele Werte aus anderen Unternehmen natürlich zur Kenntnis bekommt. Aber er ist kein bornierter Ideologe, er ist eben Realist, der weiß, was los ist am Markt“ (Müller 1. Interview: 33. Min.). Junker und Müller respektierten sich. Zu seinem Betriebsrat hatte Müller dagegen ein schlechtes Verhältnis. Er unterstellte ihm mangelnde Unternehmensloyalität, da er ein „Auto asiatischer Herkunft“
20 21
Dieses Interview wurde nicht aufgezeichnet. Im Unterschied zu anderen Interviews fehlen daher die Minutenangaben. Drei Punkte in Aussagen ĺ … symbolisieren eine Pause im gesprochenen Wort. Drei Punkte in eckigen Klammern ĺ […] symbolisieren eine Auslassung im Text, die vom Autor vorgenommen wurde.
5.2 Moralische Argumente im Konfliktverlauf
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fahre (Schriftverkehr 29.10.2004). Interessanterweise hatte Müller kein Interesse an einem schwachen Betriebsrat, sondern forderte Widerspruch: „So mit über den Tisch ziehen, einen Betriebsrat oder eine Belegschaft, das mag hier und da mal gelingen, aber so rigoros sind wir nicht und ich halte das auch nicht für fair […]. Wenn der [Betriebsrat] aber so schwach ist, dass der gar nichts tut, weil er schwach ist oder unsicher ist oder Dinge nicht beurteilen kann … Ich weiß nicht, wir haben das auch schon so oft gesagt: ‚Ihr müsst eure Einstellung ändern, dann ist das für ein Unternehmen nicht positiv.‘ […] Ich mein’, ich mach’ das ja nun schon sechsundzwanzig Jahre. Das ist auch bei diesem neuen Betriebsrat. Das sind alles junge unerfahrene Kerlchen, die sich an den Zipfel der IG Metall hängen, und das ist keine Stärke für so ein Unternehmen.“ (Müller 1. Interview: 39. Min.)
Auch Junker beklagte in einer Verhandlungsnotiz, dass der Betriebsrat zu schwach sei. Im Gegensatz zu den anderen untersuchten Unternehmen machte der Betriebsrat keine eigenen Vorschläge. Die Diskussion fand darum zwischen dem Vertreter der IG Metall Junker und dem Patriarchen Müller statt. 5.2 Moralische Argumente im Konfliktverlauf Die Diskussion in dem Zulieferunternehmen begann, als dessen Abnehmer Ende 2003 eine 5-prozentige Preissenkung forderten und dafür Aufträge versprachen, die eine Umsatzverdoppelung erwarten ließen. Bei der niedrigen Umsatzrendite würden 5 Prozent niedrigere Preise jedoch jährliche Verluste von 1,1 Millionen Euro bedeuten. Sollte Müller die zusätzliche Produktionskapazität darum im Ausland aufbauen? Der Geschäftsleiter konfrontierte Betriebsrat und Belegschaft mit der Möglichkeit einer Produktionsverlagerung nach Polen, wo die Lohnkosten um 80 Prozent niedriger lägen. Bei einer Rendite von circa 2 Prozent müsse aufgrund der geforderten Preissenkungen etwas geschehen, sonst wären Investitionen am Heimatstandort nicht finanzierbar. Müller schrieb seiner Belegschaft jedoch ebenfalls, dass er und die anderen Mitglieder der Geschäftsleitung „eine Verpflichtung gegenüber unserer Stammbelegschaft fühlen“ und er darum bereit sei, „den Standort zu erhalten […], wenn alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit leisten“ (Brief 29.03.2004). Als Verlagerungsalternative forderte er wöchentlich 5 Stunden unentgeltliche Mehrarbeit, also eine 40-Stunden-Woche, die in anderen Betrieben schon längst üblich sei. Gewerkschaftssekretär Junker schätzte es als realistisch ein, dass Fertigung und Montage ins Ausland verlagert würden, falls er und die Belegschaft Müllers Forderungen nicht nachkämen (Müller 2. Interview). Forschung und Entwicklung würden dann zwar am Heimatstandort bleiben, allerdings nur mit den nötigsten Investitionen ausgestattet,
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5 Unternehmen Müller
während im Ausland Kapazitäten aufgebaut würden. Zwar äußerte Müller von Anfang an, dass er niemanden entlassen wolle, aber etwas musste geschehen, damit die Produktion am Heimatstandort profitabel blieb. In Müllers Argumentation sollte die Belegschaft zu ihrem eigenen Wohl Einbußen hinnehmen, damit er sie weiterbeschäftigen könne. Da er Einsparforderungen nicht über sein Eigeninteresse begründete, sondern über eine Verantwortung für die Belegschaft, legitimierte er sich moralisch. Entweder wollte er sein Eigeninteresse an einer Verlagerung damit verbergen oder sich selbst nicht als interessenmotiviert sehen – möglicherweise, weil er es nicht war. Relevanter als diese Spekulation ist, wie sein Umfeld auf seine Einsparforderung reagierte. Die Mehrheit der Belegschaft stimmte unentgeltlicher Mehrarbeit zu (Notizen der IG Metall ohne Datum). Sie glaubte Müller, dass er seinen Profit nicht auf ihre Kosten erhöhen wollte, und war von der Abwanderungsdrohung eingeschüchtert. Beschäftigte überlegten schon, wie sie ihre Fahrgemeinschaften an längere Arbeitszeiten anpassen könnten. Da das Unternehmen tarifgebunden war, musste Müller jedoch auch mit Junker verhandeln, der erst einmal eine Betriebsversammlung erwirkte. Dort argumentierte Müller, entweder müsse die Belegschaft 40 Stunden pro Woche arbeiten oder er müsse Produktion verlagern. Der Patriarch weigerte sich aber, gegenüber der IG Metall seine Forderung mit Unternehmenszahlen zu dokumentieren. Seine Probleme könne er am besten alleine mit seiner Belegschaft lösen. Notfalls werde er aus dem Flächentarifvertrag austreten (Müller 1. Interview: 34. Min.). Auf die von Junker ins Spiel gebrachte Möglichkeit, dann einen Firmentarifvertrag auszuhandeln, verwies er auf die geringe betriebliche Organisationsquote der IG Metall von nur 30 Prozent. Junker war auf die Unternehmenszahlen angewiesen, um zu prüfen, ob tatsächlich eine so schwierige Situation anstand, dass Mehrarbeit gegenüber Konkurrenten legitimierbar wäre. Er war jedoch angesichts des unzureichenden Organisationsgrads der Belegschaft und ihrer persönlichen Loyalität gegenüber dem Patriarchen machtlos. Würde er den geforderten Konzessionen nicht zustimmen, könnten die Beschäftigten ihm auch noch Gleichgültigkeit gegenüber ihren Arbeitsplätzen vorwerfen. 5.2.1 Erste Phase: Gewerkschaft appelliert an gesellschaftliche Verantwortung Junker schien in dieser Situation machtlos; aber er hatte einen Vorteil, und den nutzte er. Müller legitimierte seine Einsparforderungen moralisch (die Belegschaft sollte ihnen zustimmen, da er sie weiterbeschäftigen wollte). Junker konnte versuchen, ihn in diese moralischen Argumente „einzuwickeln“. Das tat er auf der Betriebsversammlung dann auch. Er argumentierte, Müller als ehrlicher Kaufmann habe es doch nicht nötig, seine Zahlen zu verstecken. Die Belegschaft mit seinen
5.2 Moralische Argumente im Konfliktverlauf
43
Forderungen „überfallartig zu konfrontieren“ sei doch kein Stil für einen „gestandenen Unternehmer“, der eine moralische Verantwortung betone und bisher auch praktiziere (Zitate von Junker). Um die Arbeitsplätze am Heimatstandort zu halten, würde die IG Metall möglicherweise Mehrarbeit akzeptieren. Aber wenn seine Angaben wahr seien, warum wolle er dann nicht die Unternehmenszahlen offenlegen (Müller 2. Interview)? Habe er etwas zu verbergen? Junker äußerte später, er wollte mit dieser Argumentation der Belegschaft zeigen, dass Müller die Konsequenzen aus seinen eigenen Aussagen ziehen müsse. Nachdem dieser die Mehrarbeitsforderung mit einer Verantwortung für die Belegschaft begründet hatte, konnte Junker ihn an seine einmal gemachten moralischen Bekundungen erinnern, wodurch er sich vor der Belegschaft in seiner eigenen Argumentation verstrickte, da er nicht als unehrlich oder inkonsistent dastehen wollte. Ein Anwesender berichtete, dass Müller daraufhin auf der Betriebsversammlung tobte; er könne in seinem eigenen Unternehmen doch wohl noch machen, was er wolle und lasse sich dies nicht von der IG Metall vorschreiben. Die Belegschaft war verunsichert und erstaunt, dass ihr Chef so außer Fassung geriet. Entgegen der Vermutung des Betriebsrats erklärte Müller sich daraufhin jedoch bereit, die Zahlen herauszugeben. Gemäß der These des Sich-Verstrickens in eigene moralische Argumente begründete er die Herausgabe der Zahlen damit, dass er für eine faire Behandlung plädiere und diese darum auch der IG Metall zubilligen müsse: „Das ist völlige Voraussetzung, dass man sich fair behandelt fühlt. Aber das hat die IG Metall auch verlangt, die wollten natürlich unsere Bilanz […]. Man kann ja nicht sagen, uns geht es ganz dreckig und hat dann ’nen Bombengewinn […] dann würde man ja betrügen.“ (Müller 1. Interview: 30. Min.)
Mit der Prüfung der Unternehmenszahlen hatte Junker Zeit gewonnen. Als Nächstes organisierte er Machtressourcen. Er brachte den schwachen Betriebsrat auf seine Seite, indem er argumentierte, dass möglicherweise Produktion am Heimatstandort gehalten werden könne, ohne die 40-Stunden-Woche einzuführen. Dies müsse zumindest erst einmal ergebnisoffen geprüft werden, bevor man Mehrarbeit zustimme. Junker baute darauf, dass Müller tatsächlich nicht zum Ziel hatte, den Unternehmensgewinn zu maximieren, sondern am Heimatstandort bleiben wollte, solange er vom Unternehmensgewinn seinen Lebensstil finanzieren konnte.22 Unklar war jedoch, wo genau die Schmerzgrenze wäre, bei der Müller eine Produktionsverlagerung durchführen würde. Daher gab Junker im Nachhinein an, er habe seine Aufgabe darin gesehen, den Verbleib am Heimat22
Technischer gesprochen ging Junker davon aus, dass Müller „satisficing“ und nicht „optimizing“ betrieb (vgl. Simon [1947] 1957; 2001) und einer traditionalen statt einer kapitalistischen Wirtschaftsethik folgte.
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standort betriebswirtschaftlich zu begründen, damit Müller die moralische Orientierung, die Junker ihm unterstellte, mit seiner Rolle als Unternehmer in Einklang bringen konnte. Diese Überlegung beruhte zwar auf Intuition, doch Junker hatte keine andere Wahl, als darauf aufzubauen (Müller 2. Interview). Im Laufe des Konflikts merkte die Belegschaft, wofür sie eine gewerkschaftliche Vertretung brauchte, und der gewerkschaftliche Organisationsgrad stieg von 29 auf 61 Prozent. 5.2.2 Zweite Phase: Hohe Gewinne gelten als unmoralisch Eine Wirtschaftsprüferin untersuchte die Unternehmenszahlen für die IG Metall und äußerte daraufhin in einem Brief Unverständnis über die Mehrarbeitsforderung: „So ist aus wirtschaftlicher Sicht nicht nachvollziehbar, warum die Gesellschaft einen Beitrag der Arbeitnehmer möchte. Das Unternehmen macht einen gesunden und soliden Eindruck. Es liegen weder Ertragsprobleme noch ein Liquiditätsengpass vor, die einen solchen Schritt nachvollziehbar machen würden. Im Gegenteil, der Gesellschaft geht es so gut, dass die Gesellschafter in den letzten Jahren relativ hohe Entnahmen tätigen konnten.“
Im Jahr 2001 hatte Müller eine Umsatzrendite von 2,2 Prozent, 2002 und 2003 jeweils 2,5 Prozent, im Jahr der Verlagerungsdiskussion 1,9 Prozent. Das Finanzergebnis war aufgrund von Verbindlichkeiten gegenüber Banken sogar leicht negativ. Die Gesellschafter entnahmen nie mehr als 1,5 Prozent vom Umsatz. Die Rendite war zwar tatsächlich so hoch, dass das Unternehmen trotzdem noch Gewinn machte. Anders als von der IG Metall angegeben, hatte es jedoch keinen hohen Gewinn (beispielsweise verglichen mit den anderen Zulieferern in dieser Untersuchung). Was als ein „angemessener“ Gewinn zu gelten hat, ist allerdings nicht objektiv festgelegt, sondern berührt die Frage, wie sehr der Eigentümer einer Sache (in diesem Fall eines Unternehmens) von seinem Privateigentum profitieren darf und wie weit er im Umgang damit die Interessen anderer berücksichtigen muss. Wer also hat ein legitimes Anrecht auf einen (zurückgehenden) Unternehmensgewinn? Und wie ernst würde demgegenüber ein alteingesessener Familienunternehmer mit der Drohung machen, sich aus sozialen Bindungen zu lösen, obwohl er sich diesen moralisch verpflichtet fühlte? Dies kann insofern nicht über wirtschaftliche Kalkulation beantwortet werden, als dass es nicht um die Frage ging, was Nutzen optimierend, sondern was moralisch angemessen ist. Jemand, der kein Gespür für die moralischen Befindlichkeiten seiner sozialen Umgebung hätte, würde darum bei der Suche nach einer (auch
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wirtschaftlich) vernünftigen Lösung versagen. Ein Beispiel dafür wird das Unternehmen Fernlich liefern. Die IG Metall lehnte aufgrund der Stellungnahme der Wirtschaftsprüferin die Mehrarbeitsforderungen anfangs ab. Provozierend fragte sie Müller in einem Brief, warum er denn genau 5 Stunden Mehrarbeit fordere? Warum nicht „1,8 oder 6,3“ Stunden? Die Mehrarbeitsforderung als willkürlich darzustellen, erlaubte der IG Metall, die Beliebigkeit ökonomischer Kalkulation zu thematisieren, welche prinzipiell aufgrund der Ungewissheit über Gewinnaussichten besteht. Die Argumentation der Gewerkschaft machte Müller erneut sehr wütend. In einem Antwortbrief erzürnte er sich, er werde seinen „Belegschaftsmitgliedern in aller Deutlichkeit mitteilen, wem sie die bald erfolgenden Kündigungen zu verdanken haben und anregen, sich um einen neuen Arbeitsplatz bei der IG Metall zu bewerben“.23 Anhand der Gewinnsituation müsste doch ein „Viertklässler“ berechnen können, dass er durch die fünfprozentige Preissenkung in die Verlustzone gerate. Wolle die IG Metall möglicherweise Mehrarbeit nicht zustimmen, da sie „ideologisch verbohrt“ sei? Er habe schließlich „mehrfach ausführlich dargelegt“, dass er Arbeitsplätze im Inland „mittelfristig sichern wolle“. Eigentlich sei er sogar ein „schlechter Unternehmer“, wenn er nicht verlagere. Trotzdem würde er darauf verzichten, wenn die IG Metall nun endlich den geforderten Konzessionen zustimmen würde. Er gab an, dass er und die anderen Mitglieder der Geschäftsführung sich schließlich „neben einigen sachlichen Gründen – wie besserer Infrastruktur – auch unseren Mitarbeitern in […] verpflichtet fühlen, die zum Teil viele Jahre zu uns gehören“. In dem Antwortbrief an die IG Metall hieß es weiter: „[Sie tragen] mit Ihrer Haltung dazu bei, dass hier Kündigungen ausgesprochen und Arbeitsplätze verstärkt ins Ausland verlagert werden. Sie handeln gegen die Interessen unserer Mitarbeiter und informieren wahrheitswidrig […]. Wir werden dies unseren Mitarbeitern ungeschminkt weitergeben, sofern Sie Ihre Entscheidung nicht revidieren und ein neues Gespräch mit uns suchen, zu dem wir nicht zuletzt im Interesse unserer Mitarbeiter verpflichtet sind“.
Wieder argumentierte Müller moralisch statt mit seinem wirtschaftlichen Selbstinteresse. Die IG Metall handele nicht etwa gegen seine Interessen, sondern „gegen die Interessen unserer Mitarbeiter“. Den Unternehmensgewinn wolle er nicht steigern, um selbst davon zu profitieren, sondern um Arbeitsplätze zu sichern. Dementsprechend schrieb er kurz darauf (diesmal sachlicher) an die IG Metall, er sei gegenüber „den langjährig für uns beschäftigten Mitarbeitern wie auch der Stadt“ verpflichtet, den Standort zu sichern und benötige darum die Mehrarbeit. Weil er „in Polen für Montagearbeiter „75 Prozent geringere Lohn23
Alle folgenden Aussagen in Anführungszeichen, auch einzelne Wörter, sind Originalaussagen aus dem Brief der Geschäftsleitung an die Gewerkschaft.
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kosten, […] bei gleicher Leistung“ wie am Heimatstandort zahle, sei seine Bereitschaft, den Heimatstandort aufrechtzuerhalten, gleichbedeutend mit Gewinnverzicht. Er handele somit schon fast gegen seine wirtschaftlichen Interessen und könne nicht auch noch Abstriche bei der Forderung nach einer 40-Stunden-Woche machen, denn „Preisnachlässe, die wir Ende 2003 für 3 Jahre in Höhe von rund 1,1 Millionen E p.a. zugestehen mussten, [machen] eine Reduzierung der Personalkosten um circa 300.000 E notwendig“ (Brief 23.09.2004). Würde er die geforderten 300.000 Euro Lohnkosteneinsparung ausschließlich über Arbeitszeitverlängerung anstreben, wäre „eine Verlängerung auf 42,5 Wochenstunden notwendig“. Eine 40-Stunden-Woche habe er dagegen vorgeschlagen, da diese „inzwischen auch in Deutschland […] keine Schockwirkung mehr hervorruft“. Zusammen mit weiteren Einsparungen und Verzicht der Gesellschafter auf Entnahmen von 100.000 Euro jährlich könnten die nötigen Kostenentlastungen erreicht werden. Doch „jede Reduzierung dieser Stundenzahl führt dazu, dass wir die ohnehin schon zu knappe Kostenentlastung weiter unterschreiten und zu stärkerer Verlagerung ins Ausland gezwungen werden“. Die Alternative sei jedoch nicht Renditemaximierung, sondern ein „angemessener Gewinn“ am Heimatstandort. Diesen definierte Müller in einem Brief vom 29. Oktober 2004 sogar: „Angemessen ist ein Gewinn dann, wenn er 6 Prozent vom Umsatz übersteigt.“ Wieder nutzte Müller moralische Argumente, um für seine wirtschaftlichen Interessen zu werben. Er argumentierte nicht mit seinem Selbstinteresse an einem hohen Gewinn, sondern immer mit Verantwortungsargumenten, dass er überhaupt Gewinn machen müsse. Anstatt seine wirtschaftlichen Interessen (und vor allem Gewinnmaximierung) als legitime Rechtfertigung zu nennen, setzte er sich sogar eine Gewinnobergrenze. Dies ist erstaunlich. Schließlich hätte er auch argumentieren können, das legitime Ziel eines Unternehmens sei Gewinnmaximierung und darum könne kein Gewinn hoch genug sein. Diese Argumentation verfolgte beispielsweise der Geschäftsleiter Zalohma im Unternehmen Fernlich (siehe Kapitel 8.2). Doch Müller gab stattdessen an, „keine Schockwirkung“ mit seinen Forderungen hervorrufen zu wollen. Als er im Interview später gefragt wurde, ob er nicht auch hätte argumentieren können, dass eine Rendite nie hoch genug sein könne, antwortete er: „Ja gut, okay, ja, da ist man vielleicht als Mittelständler, und vor allem, wenn man etwas älter ist, wie ich, da ist man etwas nachsichtiger“ (Müller 1. Interview: 32. Min.). Es ist nicht zweifelsfrei zu klären, ob Müller wirklich so dachte; doch sein Handeln entsprach dieser geäußerten Einstellung. Auch die Gewerkschaft bestätigte, dass diese Haltung tatsächlich typisch für ihn sei, obwohl er auch hart verhandeln könne (Müller 2. Interview). An die Stelle eines Maximierungskalküls trat bei ihm die Vorstellung eines branchenspezifischen Normalgewinns, der zur
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Deckung des Lebensbedarfs ausreichen muss. Dies reflektiert den Unterschied zwischen einer „kapitalistischen“ Wirtschaftsethik, nach der ein Gewinn nie hoch genug sein kann, und einer „traditionalen“ Wirtschaftsethik, nach der ein Gewinn der Situation angemessen sein muss (vgl. Polanyi 1944: 47; Weber 1988 [1920]: 44–55). Dieser Unterschied ist von Bedeutung dafür, wie moralische Appelle wirtschaftliche Entscheidungen beeinflussen. Denn einer traditionalen Wirtschaftseinstellung folgend erklärte sich Müller bereit, ab einem EBIT24 von 4 Prozent seine Belegschaft am Unternehmensgewinn zu beteiligen: „Weil ich der Meinung bin, dass man bei einem entsprechenden Ergebnis, an dem ja die Belegschaft mitgewirkt hat, nicht ausschließlich, da kommen ja viele andere Dinge zusammen, dass man die durchaus daran teilhaben lassen sollte, weil sie daran mitgewirkt hat und das ja auch dem Unternehmen, wenn es ordentliche Ergebnisse hat, auch gar nicht wehtut.“ (Müller 1. Interview: 36. Min.)
Umgekehrt verkündete er: „Wenn die Umsatzrendite unter 4 Prozent sinkt, dann können wir auch keinen Bonus bezahlen“ (Müller 1. Interview: 23. Min.). Erst die Wahrnehmung wirtschaftlicher Interessen in Form von Gewinnerzielung ermöglichte – und forderte aber auch – die moralische25 Behandlung der Arbeitnehmer mit einer Gewinnbeteiligung. Dem Unternehmen musste es gut gehen, damit Müller die moralischen Forderungen der Belegschaft überhaupt erfüllen konnte. Dafür konnte er dann von seiner Belegschaft fordern, mehr als im Rahmen eines formellen Arbeitsvertrags zum Unternehmenswohl beizutragen, denn durch sein Verhalten waren seine Arbeitnehmer besonders motiviert. Die Aussage Müllers, er wolle eine niedrige Rendite vermeiden, aber nicht seine Rendite maximieren, schätzte Junker als wahrhaftig ein. Umgekehrt schätzte Müller Junker immer noch als ehrlichen Gesprächspartner ein, der am Wohl des Unternehmens interessiert sei, selbst wenn dies eine Verlagerung bedeuten würde. „So weit ist die IG Metall eigentlich nicht gegangen, zu sagen: ‚Ihr müsst bleiben. Kann sowieso auf euch zukommen, dass ihr da [im Ausland] fertigen müsst, wenn eure Kunden das von euch verlangen.‘ Die Kunden sagen: ‚Im Inland könnt ihr gar nicht so kostengünstig fertigen, dass ihr unsere Preisvorstellungen erfüllen könnt.‘“ (Müller 1. Interview: 47. Min.)
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EBIT ist eine Kennzahl, die den Unternehmensgewinn vor Steuern, Finanzergebnis (zum Beispiel Zinsen) und außerordentlichen Aufwendungen wiedergibt. Der EBIT gibt also das Unternehmensergebnis wieder, bereinigt um Kosten und Erträge, die nicht aus der eigentlichen betrieblichen Tätigkeit entstanden sind. Er ermöglicht so den Vergleich des Gewinns verschiedener Unternehmen, auch wenn diese eine unterschiedlich hohe Zins- und Steuerlast zu tragen haben. Moral ist, wie eingangs erläutert, immer in dem Sinne gemeint, dass gesellschaftliche Normen und Interessen anderer (in diesem Fall der Arbeiter) beachtet werden.
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5.2.3 Dritte Phase: Einigung durch gemeinsame Werte Dieses gegenseitige Vertrauen, dass jede Seite die Interessen der anderen mitberücksichtigen würde, löste die Frage, was als angemessener Gewinn zu sehen sei und wem dieser zustehe. Spieltheoretisch formuliert erkannte jede Seite, dass die andere prinzipiell zu Kooperation bereit war, weswegen sie nicht mehr nur die Selbstinteressen hinter deren Aussagen wahrnahm. Junker erkannte nun den wahrheitsbezogenen Geltungsanspruch Müllers an, dass eine Produktionsverlagerung sinnvoll sein könnte, selbst wenn diese den Gewerkschaftsinteressen zuwiderlief. Er akzeptierte auch Müllers Geltungsanspruch, dass seine Forderungen normativ angemessen seien (vgl. zur Terminologie Habermas 1981a: 29ff.). Er bestätigte, dass Müller ein legitimes Anrecht auf höheren Gewinn habe, wenn dieser den Arbeitnehmern diene, und dass dieser höhere Gewinn, wenn nötig, auch über Konzessionen der Belegschaft ermöglicht werden müsste. Nachdem Junker sogar akzeptiert hatte, dass es langfristig sinnvoll sein könnte, Produktion zu verlagern, wich auch Müller von seiner kategorischen Forderung nach einer 40-StundenWoche ab, solange er einen Großteil der geforderten Einsparungen realisieren konnte. Mitte Dezember 2004 einigten sich Junker und Müller in einem Telefongespräch über eine Ausnahmeregelung vom Tarifvertrag. Diese sah vor, die gesamte Produktion in Deutschland zu halten. Wieso kam es paradoxerweise zu einer Einigung, die eine Produktionsverlagerung verhinderte, nachdem Junker anerkannt hatte, dass eine Verlagerung sinnvoll sein könnte? Junker äußerte später, dass Müller im Verlauf der Verhandlungen erkennen ließ, dass er gerne am Heimatstandort bleiben würde, sich das aber rechnen müsse, und er selbst nicht genau wisse, was die optimale wirtschaftliche Strategie sei (was er aber so wiederum auch nicht zugeben wollte). Erst als Junker zu erkennen gab, dass er nicht pauschal gegen ein Auslandsengagement war, konnte Müller seinerseits akzeptieren, dass der Gewerkschaftsvorschlag, am Heimatstandort zu verbleiben, betriebswirtschaftlich sinnvoll sein könnte; zumindest nahm er nicht mehr an, die IG Metall verhalte sich „ideologisch“ (Müller 2. Interview). Auch er begann, Junkers Geltungsansprüche auf Wahrheit anzuerkennen. Umgekehrt machte Junker Konzessionen, die jedoch nicht so weit gingen wie Müllers Anfangsforderungen, denn Junker nahm an, dass Müller am Heimatstandort bleiben wollte, da er sich seiner Belegschaft moralisch verpflichtet fühlte (Müller 2. Interview). Für das erste, zweite und dritte Jahr der Tarifabweichung beschlossen Müller und Junker nach den Pforzheim-Regeln (siehe Kapitel 4.3) eine Abweichung vom Flächentarifvertrag mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 39, 38,5 und 38 Stunden. Dafür gab Müller eine Arbeitsplatzgarantie für drei Jahre, gewährte jährlich zwei bezahlte Brückentage und für 2006 und 2007 eine Gewinnbeteili-
5.3 Wie wirkten moralische Argumente bei Müller?
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gung pro Arbeitnehmer von 400 Euro ab einem Gewinn vor Steuern von mindestens 4 Prozent. Für 2008 beschlossen die Verhandlungspartner ab einem Gewinn vor Steuern von 5 Prozent eine Gewinnbeteiligung von 750 Euro. Müller und Junker gaben übereinstimmend an, ein Ergebnis gefunden zu haben, „mit dem beide leben konnten“ (Müller 1. Interview: 35. Minute; IG Metall NRW Pressemitteilung). Bei einer Abstimmung sprachen sich auch 75 Prozent der IGMetall-Mitglieder für den gefundenen Kompromiss aus. 5.3 Wie wirkten moralische Argumente bei Müller? Wie in den anderen Unternehmensanalysen werde ich hier erst einmal darauf eingehen, wie moralische Argumente als Appelle an die Geschäftsleitung wirkten. Danach zeige ich, wie sie als Argumente „extern“ auf die Geschäftsleitung Druck ausübten, indem sie Belegschaft und Öffentlichkeit aufwiegelten. 5.3.1 Bedeutung moralischer Appelle an die Geschäftsleitung Müller entschied sich gegen eine Produktionsverlagerung; er meinte, „das war uns dann doch zu unsicher“ (Müller 1. Interview: 1. Min.). Auch für Gewerkschaftssekretär Junker war die Erfolgsaussicht einer Verlagerung ungewiss. Keine der Optionen war erkennbar wirtschaftlich rationaler als die andere, darum konnte der Konflikt nicht ausschließlich mit wirtschaftlichen Argumenten ausgetragen werden. An deren Stelle traten normative Konflikte. Diese drehten sich um die Frage, ab wann Mehrarbeit zugestanden werden solle, damit Müllers Gewinn angemessen sei. Wirtschaftliche Daten markierten zwar den Rahmen der Diskussion, aber innerhalb dieses Rahmens gab es eine beträchtliche Grauzone, die moralische Diskussionen ausfüllten. Müller selbst wollte die Konzessionen der Belegschaft nicht als Umverteilung zu seinen Gunsten verstanden wissen, sondern als Beitrag zu einem gemeinsamen Projekt, zu dem auch er beisteuere: „Ich halte es auch für absolut angemessen und gerecht, wenn Gesellschafter Opfer bringen, indem sie das Geld nicht aus dem Unternehmen nehmen, sondern wenigstens ’nen größeren Teil stehen lassen, damit Eigenkapitalstärke kommt, damit man einen modernen Maschinenpark hat, damit man eine Expansion auch bezahlen kann. Das kann man ja nicht alles mit Kredit machen. Wenn der Lieferant sich beteiligt, wenn der uns auch bessere Konditionen liefert, dann halte ich es nur für absolut korrekt, dass eine Belegschaft sich auch einbringt und auch ihren Preis zahlt, zumal wenn sie auch für den Beitrag, den sie liefert, über den Bonus auch was zurückbekommt. Und das ist meine persönliche Überzeugung […]: ‚Das tut ihr nicht nur um
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den Unternehmenserfolg, der notwendig ist, den Gewinn zu sichern, der notwendig ist, sondern ihr tut es auch zur Sicherung eurer eigenen Arbeitsplätze. Wir garantieren euch ja jetzt für sechs bis acht Jahre euren Arbeitsplatz.‘“ (Müller 1. Interview: 32. Min.)
Dass Müller nicht das Ziel hatte, seine Rendite zu optimieren, sondern einen branchentypischen Normalgewinn zu erzielen, um seinen Lebensstil und die betrieblichen Arbeitsplätze zu sichern, zeigte sich an seinen Äußerungen. Doch folgten dem auch Taten? Immerhin beteiligte er seine Beschäftigten ab einer Rendite von 4 Prozent am Gewinn. Dazu äußerte er, als Mittelständler solle man sich nicht an allzu hohen Renditen orientieren (Müller 1. Interview: 13. und 32. Min.). In der Logik einer kapitalistischen Ethik, die in den Äußerungen von Fernlichs Vorstand erkennbar wird (vgl. Kapitel 8.2), kann es dagegen keinen angemessenen Gewinn geben; schließlich kann ein Unternehmen immer versuchen, seine Rendite zu steigern. Da Müller dies erkennbar nicht versuchte, erklärte sich die IG Metall zu Mehrarbeit bereit, denn sie beurteilte seinen Anspruch auf höheren Gewinn als gerechtfertigt, insofern sie glaubte, dass dieser nötig war, um seiner geäußerten Verantwortung gegenüber der Belegschaft zu entsprechen. Als Junker überzeugt war, dass Müller mit seinen wirtschaftlichen Plänen einer Verantwortung für seine Belegschaft entsprechen wollte, stellte er nicht einmal mehr ein Auslandsengagement infrage, zu dem es dann aber paradoxerweise gerade deswegen nicht kam. 5.3.2 Bedeutung moralischer Argumente als Machtressource Müllers wollte den Arbeitnehmern die Sichtweise vermitteln: „Das ist mein Arbeitsplatz und da kann ich drauf bauen und ich werde fair behandelt und gerecht behandelt“ (Müller 1. Interview: 28. Min.). Seine Mitarbeiter sollten ihren Arbeitsplatz als einen Ort ansehen, an dem sie mit ihm über die legalen Pflichten eines Arbeitsvertrags hinaus kooperieren. In diesem Sinne betrachtete er sein Unternehmen als soziale Gemeinschaft, in der es um mehr als rein ökonomischen und zweckrationalen Austausch ging. Da er den Wert hohen Vertrauens zwischen sich und seinen Mitarbeitern betonte, konnte Junker drohen, dieses gegenseitige Vertrauen und Sozialkapital26 zu beschädigen, indem er argumentierte, Müller behandele die Belegschaft (wegen der angedrohten Verlagerung) nicht verantwortungsvoll. Müller wollte das vermeiden. Er forderte daher nach dem Konflikt, dass Junker den Kompromiss vor der Belegschaft legitimiere, um das strapazierte Gemeinschaftsgefühl im Betrieb zu stärken (Müller 1. Interview: 26
Vergleiche für eine Definition von Sozialkapital Fußnote 75.
5.3 Wie wirkten moralische Argumente bei Müller?
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ca. 18. Min.). Dazu war Junker auch bereit. Im Unterschied zu anderen Unternehmen mussten moralische Argumente kaum genutzt werden, um über eine Verringerung von Vertrauen und damit Sozialkapital wirtschaftlichen Druck auszuüben. Auch nutzte die Gewerkschaft moralische Argumente nicht, um dem Unternehmen über öffentliche moralische Diskreditierung zu schaden. Stattdessen kam es vorher zu einer Einigung. Woran lag das? Wenn Junker Müller richtig einschätzte und wenn Müller ernst meinte, was er äußerte, so wollte er, über den instrumentellen Nutzen einer kooperativen Beziehung zu seiner Belegschaft hinaus, auch tatsächlich nicht als deren Ausbeuter dastehen. Diesem öffentlichen Bekenntnis musste er dann jedoch auch Taten folgen lassen und auf entsprechende moralische Argumente eingehen. Zusammen mit den Konzessionen, die Junker gegenüber dem Firmenchef machte, da er dessen Forderungen für moralisch angemessen hielt, vermied dies eine Produktionsverlagerung. So füllten moralische Argumente die Rationalitätslücke, die aufgrund der (notwendigerweise vorhandenen) Ungewissheit über eine wirtschaftlich optimale Lösung bestand.
6 Unternehmen Steche: Wie moralisch wirkendes Handeln Interessenverfolgung ermöglicht
Im Unternehmen Steche spielten moralische Argumente anfangs keine Rolle. Denn die Rendite war so niedrig, dass auch Arbeitnehmervertreter Konzessionen der Beschäftigten befürworteten. Ob diese moralisch angebracht waren, stand nicht zur Debatte, denn zunächst musste Steches bevorstehender Konkurs vermieden werden. Als die Geschäftsleitung dann aber Produktion verlagern wollte, obwohl die Arbeitnehmer schon Konzessionen geleistet hatten und sie vorher das Gegenteil versprochen hatte, stimmte der Betriebsrat keinen Einschnitten mehr zu, obwohl das Unternehmen sie nötiger denn je hatte. Eher hätte der Betriebsrat nun eine Insolvenz in Kauf genommen, als weitere Zugeständnisse gegenüber dem wortbrüchigen Vorstand zu machen. Nachdem allerdings der unbeliebte Vorstand ausgetauscht worden war, stimmte der Betriebsrat den Konzessionen zu, die er vorher vehement bekämpft hatte. Der Fall Steche zeigt darum, dass Arbeitnehmervertreter nicht unbedingt dann Konzessionen zustimmen, wenn ein Unternehmen in einer schwierigen Situation ist, sondern wenn sie Konzessionen für moralisch vertretbar halten. Insofern kann eine Geschäftsleitung vor allem dann mit wirtschaftlich effizienter Kooperation rechnen, wenn sie ihre Forderungen als moralisch angemessen präsentiert. 6.1 Steches wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter Steche hatte sich einen Namen als Innovationsführer gemacht. Das Unternehmen beschäftigte weltweit über 3.000 Arbeitnehmer, circa die Hälfte davon an seinem Heimatstandort, ein weiteres Drittel in einem osteuropäischen Werk. Durch den Verkauf an einen Finanzinvestor27 hatte das Unternehmen jedoch hohe Schulden. Zwar hatte es auch eine hohe Umsatzrendite, als aber ein wichtiger Abnehmer absprang, verschlechterte sich die Lage drastisch. Steche konnte auf einmal die 27
Finanzinvestoren kaufen Unternehmen, um diese möglichst schnell zu einem möglichst hohen Preis weiterzuverkaufen. Aus der Differenz des Kauf- und Verkaufspreises berechnet sich ihr Gewinn (Engelen/Konings/Fernandez 2008; Schmidt/Spindler 2008).
M. Schröder, Die Macht moralischer Argumente, DOI 10.1007/978-3-531-93196-8_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Unternehmen Steche: Wie moralisch wirkendes Handeln Interessenverfolgung ermöglicht
Schulden seines eigenen Verkaufs nicht mehr bedienen.28 Der Vorstand forderte darum Einsparungen und drohte mit Verlagerungen. Vor dem Verkauf an einen Finanzinvestor gehörte Steche Heiner Scherelich, den die Belegschaft scherzhaft „Papa Scherelich“ nannte (Steche 4. Interview: 23. Min.; Steche 3. Interview: 10. Min.). Mitte der neunziger Jahre brachte er Steche aufgrund restriktiver Kreditvergabe der Banken an die Börse. Dadurch änderte sich das Betriebsklima, wie ein Betriebsrat bemerkte: „Wir waren, in Klammern, eine Familie. Aber […] das hat aufgehört, als Steche an die Börse ging. […] Da reden die zwar von Familie und wir sitzen alle in einem Boot und all so ein Scheiß, aber das ist alles Quatsch, alles nur Gelaber. […] Nach 1995 war er [Scherelich] ja auch fremd gesteuert, er musste ja die Aktie hochhalten.“ (Steche 1. Interview: 17.–19. Min.)
Mitte der neunziger Jahre forderte Scherelich von seiner Stammbelegschaft 2,5 Stunden wöchentliche Mehrarbeit und den Verzicht auf übertarifliche Leistungen. Dafür wollte er bei einer anstehenden Verlagerung 300 Arbeitsplätze weniger abbauen als geplant. Er argumentierte, die geforderte Mehrarbeit sei deswegen zum Wohle der Belegschaft. 85 Prozent der Beschäftigten stimmten daraufhin Mehrarbeit zu (Steche 3. Interview: 3. Min.; Steche 2. Interview: 3. Min.; Steche 4. Interview: 27. Min.). Ähnlich wie bei Müller sah die Belegschaft hinter Scherelichs Forderung kein Profitinteresse, sondern einen Beitrag zur eigenen Arbeitsplatzsicherheit. Dieses Vertrauen ging verloren, als ein Finanzinvestor Steche übernahm. Im Jahr 2000 verkaufte Scherelich die Mehrheit Steches an den angloamerikanischen Finanzinvestor Greymore. Um einen höheren Preis zu erzielen, verheimlichte er, dass der wichtigste Abnehmer bald abspringen würde.29 Da der Finanzinvestor den Kaufpreis hauptsächlich nach der guten Unternehmensrendite ansetzte und Steche technologisch Spitzenreiter war, bezahlte der Finanzinvestor einen hohen Preis: „Wichtig war nur die Umsatzrendite. Die Umsatzrendite hat aufgrund des Dreijahresvertrags [Liefervertrag] absolut gestimmt. Wir waren damals, vor allem technolo28
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Steches Kauf wurde nur zu einem geringen Teil über Eigenmittel des Finanzinvestors finanziert. Den Rest des Kaufpreises lieh sich der Finanzinvestor von Banken und bürdete Steche die entsprechenden Schulden auf. Dies bedeutet – bei Erfolg – einen Hebeleffekt des Investments. Bei Misserfolg, wenn das Unternehmen die Schulden nicht mehr bezahlen kann, muss der Finanzinvestor umso mehr Schulden zurückzahlen. Zwei Jahre vorher weigerte sich Steche, seinen wichtigsten Abnehmer zu beliefern. Offizieller Grund war ein Unfall in der Produktion. In Wirklichkeit handelte es sich um einen kaum verschleierten Versuch, höhere Preise durchsetzen. Mit Auslaufen der Lieferverträge konnte sich der Abnehmer rächen und Steche boykottieren.
6.1 Steches wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter
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gisch, immer Vorreiter. Alle großen Hersteller wollten nur mit uns zusammenarbeiten. Wir hatten all die dicken Aufträge noch, und in der Regel dauert ja so ein Auftrag sieben Jahre.“ (Steche 1. Interview: 24. Min.)
100 Millionen Euro bezahlte der Finanzinvestor direkt, 380 Millionen Euro brachte er über Kredite auf, die er Steche als Schulden aufbürdete. Wie bei Finanzinvestoren üblich, wollte Greymore sein Investment nach drei bis fünf Jahren möglichst gewinnbringend verkaufen, wozu er kurzfristig die Rendite erhöht musste, damit das Unternehmen attraktiv aussah (Steche 2. Interview: 4. Min.). Der Finanzinvestor setzte Hermann Thüren als Vorstandsvorsitzenden ein und Florian Esche für das Controlling – keiner von beiden hatte eine Bindung zur Region. Beide betonten zwar, es sei ihnen wichtig, mit der Belegschaft zu kooperieren, doch sie ließen dem keine vertrauensbildenden Taten folgen. Da sie nur Fünfjahresverträge hatten, erwartete auch der Betriebsrat keine langfristige Herangehensweise von ihnen (Steche 1. Interview: 4. Min.; Steche 4. Interview: 60. Min.). Die Belegschaft mochte die beiden Manager nicht, da sie kein Interesse an deren Wohlergehen erkennen ließen. Arbeitnehmervertreter waren besorgt, dass moralische Appelle nun nicht mehr wirken würden, wie sie es bei Scherelich noch taten: „Da kriegt man vielleicht einen Kontakt zu, dieses moderne Management ist da eigentlich sehr unkompliziert. […] Aber eine persönliche Betroffenheit, eine Verhaftung mit den Mitarbeitern, mit der Region kann man kaum noch hinbekommen. […] Das war bei Dr. Scherelich noch möglich.“ (Steche 4. Interview: 31. Min.) „Ein Unternehmer, der eine Verbundenheit mit dieser Region hat, da können wir schon als IG Metall einschätzen: […] Wie verbindlich ist der? Das ist ein feiner Unterschied.“ (Steche 3. Interview: 60. Min.)
Der lokale Bevollmächtigte der IG Metall Michael Dörfer und der Betriebsratsvorsitzenden Lutz Heilig vertraten die Arbeitnehmer. Beide sahen Arbeitskämpfe als mögliche Option, waren jedoch aufgrund Steches Verschuldung besorgt, das Unternehmen damit in die Insolvenz zu treiben. Der Betriebsrat Heilig musste außerdem auf Gastarbeiter achten, die nicht an das Unternehmen gebunden und darum nicht zu Konzessionen bereit waren. Anfangs interessierte sich die Belegschaft nicht für den Eigentümerwechsel, denn sie wusste nicht, wie ein Finanzinvestor in der Regel vorgeht. Außerdem blieb Ex-Vorstand Scherelich zunächst im Aufsichtsrat und die Belegschaft hatte daher noch ihren alten Ansprechpartner (Steche 4. Interview: 20. Min.). Doch die sozial nicht eingebundene Geschäftsleitung konnte schon nicht mehr mit denselben Argumenten Konzessionen fordern, wie Scherelich es noch konnte.
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6 Unternehmen Steche: Wie moralisch wirkendes Handeln Interessenverfolgung ermöglicht
„Die Belegschaft hat dem Scherelich noch lange nachgehangen. Diese Familie, die er da erzeugt hat, aus welchen Gründen auch immer … Er war trotzdem ein harter Manager, aber es hat schon Auswirkungen gehabt. Es gab auch […] den Effekt, dass eine hohe Zustimmung da war, ihm was zu geben.“ (Steche 4. Interview: 64. Min.)
6.2 Moralische Argumente im Konfliktverlauf 6.2.1 Erste Phase: Moralische Argumente sind bei geteilter Krisenwahrnehmung bedeutungslos Die absehbare Katastrophe trat ein, als sich im Jahr 2001 tatsächlich Steches wichtigster Abnehmer zurückzog. Steches Börsenwert und Umsatz fielen um über 80 Prozent, die Umsatzrendite (Ebitda)30 von 21 auf 13 Prozent (Steche 2. Interview: 75. Min.). Scherelich wusste, dass dies geschehen würde, er hatte den Finanzinvestor also bewusst in die Irre geführt. Damit war er als Aufsichtsratsmitglied nicht mehr haltbar (Steche 1. Interview: 21. Min.). Doch nun begannen die Probleme, denn Steches Rendite durfte nicht weiter fallen, sonst hätte es die Schulden seines eigenen Verkaufs nicht mehr bedienen können. Thüren und Esche verknüpften Kostensenkungsforderungen mit Verlagerungsdrohungen. Sie wollten die Rendite hochhalten. „2002 gab es kontinuierlich den Anspruch […]: Wir müssen die Kosten senken hier, ansonsten gehen die Arbeitsplätze nach [Osteuropa] und da gab es irgendwann schrittweise Beiträge der Belegschaft durch Betriebsvereinbarungen. […] Wenn man jetzt die Renditeerwartungen um ein paar Prozent reduziert hätte … ist ja die Frage, musste es denn 12, 13 Prozent sein oder hätte man sich nicht mit 8 Prozent oder 7 Prozent oder 5 Prozent zufriedengeben können? Wo vielleicht ein normales, ortsansässiges Unternehmen anders mit umgegangen wäre.“ (Steche 3. Interview: 15. und 20. Min.)
Um Sanierungsmaßnahmen nicht mit Aktionären abstimmen zu müssen, nahm die Geschäftsleitung das Unternehmen von der Börse. Aufgrund der schwierigen Lage befürwortete Betriebsrat Heilig die Forderung, übertarifliche Leistungen abzubauen. Die Arbeitgeberseite versprach dafür eine Beschäftigungsgarantie über sieben Jahre und drei zusätzliche Produktionsbänder am Heimatstandort 30
Im Unterschied zum EBIT (earnings before interest and taxes) rechnet das EBITDA (earnings before interest, taxes, depreciation and amortization) nicht nur Zinsen und Steuern aus dem Betriebsgewinn, sondern auch Abschreibungen. Die Kennzahl macht somit Unternehmensgewinne zwischen Unternehmen vergleichbar, die nicht nur unterschiedlicher Steuer- und Zinslast ausgesetzt sind, sondern auch unterschiedlichen Abschreibungen auf das Anlagevermögen.
6.2 Moralische Argumente im Konfliktverlauf
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(Steche 2. Interview: 60. Min). Zwar beschwerten sich besonders die Gastarbeiter über die monatlichen Lohneinbußen von 50 bis 170 Euro, doch die Zukunft schien vorerst gesichert. Moralische Diskussionen fanden nicht statt, da alle Parteien die Einsparungen als überlebensnotwendig ansahen (Steche 1. Interview: 26.–27. Min.). Hier wird die Grenze moralischer Argumente erkennbar: Ohne wahrgenommene Ungewissheit über eine optimale Handlungsoption gibt es auch keinen Grund, diese zu diskutieren. Doch der eigentliche Konflikt stand noch bevor. Zwei Jahre später brauchte Steches Heimatstadt das Werksgelände, wollte aber dafür ein neues zur Verfügung stellen. Die Geschäftsleitung äußerte, an einem neuen Unternehmensstandort nur Platz für 1.050 (von bisher circa 1.750) Arbeitnehmer zu benötigen. Gegenüber der Stadt präsentierte sie dies aufgrund der schwierigen Geschäftssituation als Entgegenkommen. Die geringere Produktion sollte mit 1.100 Arbeitsplätzen im bestehenden osteuropäischen Werk kompensiert werden. Doch dann sprach der Vorstand seinen Betriebsrat Heilig an: „Wenn Sie möchten, dass wir mit 1.350 [Arbeitnehmern am Heimatstandort] umziehen, dann sorgen Sie dafür in Ihrem Betriebsratsgremium, dass wir eine Standortsicherung machen, wo letztendlich zuerst einmal die 40-Stunden-Woche rauskommt oder alternativ die Belegschaft Kosten einspart“ (Steche 2. Interview: 7. Min.). Um ihre Entlassung zu vermeiden, sollten die Arbeiter wöchentlich 5 Stunden unentgeltlich länger arbeiten, die Angestellten 2,5 Stunden. Die gesamte Belegschaft sollte zwei Jahre auf Tariferhöhungen und die ERA-Auszahlung31 verzichten, Vertrauensarbeitszeit sollte eingeführt werden und ein Sozialplan sollte 400 der 1.750 Arbeitsplätze abbauen. Als Gegenleistung versprach der Vorstand 20 Millionen Euro Investitionen und eine sechsjährige Beschäftigungsgarantie für die restlichen 1.350 Arbeitnehmer. Vorstand und Führungskräfte versprachen außerdem, zwei Jahre auf Gehaltserhöhungen und 80 Prozent ihrer variablen Vergütung zu verzichten. Ab einer Rendite vor Steuern von über 10 Prozent wollte der Vorstand die Belegschaft am Gewinn beteiligen. Insgesamt sollte der Betriebsrat Personalkosteneinsparungen über 24 Millionen Euro zustimmen (Steche 4. Interview: 5.–7. Min.). Betriebsrat Heilig fühlte sich betrogen. Erst vor zwei Jahren hatte er Einschnitten zugestimmt, weil der Vorstand ihm dafür sichere Arbeitsplätze garantierte. Ging es der neuen Geschäftsleitung 31
Früher galten für Arbeiter und Angestellte unterschiedliche Vergütungsregeln. Diese wurden bis 2010 durch einheitliche Regelungen („ERA“) ersetzt. Dabei stiegen für ein durchschnittliches Unternehmen die Lohnkosten um 2,8 Prozent an. Da die Arbeitgeber den einheitlichen Vergütungsregeln nur unter der Bedingung der Kostenneutralität zustimmten, verzichteten die Arbeitnehmer auf entsprechende Lohnerhöhungen. Wenn die realen Kosten der Lohnerhöhungen im Unternehmen unter 2,8 Prozent der Lohnsumme lagen, werden die restlichen Mittel in einem Fonds aufbewahrt und stehen eigentlich den Arbeitnehmern zu. Sie können allerdings als Verhandlungsmasse genutzt werden.
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überhaupt um das Wohl des Heimatstandorts? Heilig kritisierte, die Verlagerungspläne seien verantwortungslos. Der Vorstand hätte erst prüfen müssen, ob er das Unternehmen nicht auch ohne Arbeitsplatzabbau sanieren könne. Thüren antwortete, nicht verlagern zu wollen; doch um dies zu vermeiden, bräuchte er weitere Konzessionen der Belegschaft (Steche 2. Interview: 70. Min.). Moralische Argumente dieser Art funktionierten, wenn sie von Firmenpatriarchen wie Müller oder Scherelich kamen. Voraussetzung dafür war jedoch, dass die Arbeitnehmervertreter glaubten, der Belegschaft ging es besser, wenn sie auf die Forderungen eingingen. Dies war der Fall, wenn Arbeitnehmervertreter der Geschäftsleitung vertrauten, aus Verantwortung für die Belegschaft zu handeln. Den beiden eingekauften Managern ohne soziale Bindungen an den Heimatstandort nahm Heilig ihre Bekundungen sozialer Verantwortung aber nicht ab; stattdessen unterstellte er ihnen kurzfristige Gewinnmaximierungsabsichten: „Thüren und Esche hatten einfach den Auftrag, das Unternehmen verkaufsfertig zu machen. Nach uns die Sintflut. […] Hauptsache, wir kommen da einigermaßen raus und weg“ (Steche 4. Interview: 43.–47. Min.). Nachdem er sich der Spannungen bewusst wurde, suchte der Vorstandsvorsitzende keine Gespräche mehr, um seine Forderungen zu erläutern. Der Betriebsrat bewertete das als „Feigheit vor dem Feind“ (Steche 2. Interview: 11. Min.). Da Thürens Forderungen den Tarifvertrag sprengten, zog der Betriebsrat die örtliche IG Metall hinzu (Steche 2. Interview: 22. Min.). Deren Bevollmächtigter Michael Dörfer kannte das Unternehmen und vermutete, dass „im Ausland teilweise Verluste gefahren wurden, aber im Grunde genommen das Gesamtunternehmen als negativ dargestellt wurde“ (Steche 3. Interview: 15. Min.). Dörfer informierte den übergeordneten Landesverband der IG Metall, dass Steche 400 Arbeitsplätze abbauen wolle und circa 500 weitere abbauen könnte, wenn es die 40-Stunden-Woche nicht bekäme. Um die Forderungen der Geschäftsleitung besser einzuschätzen, schlug er eine externe Unternehmensprüfung vor (E-Mail 29.06.2005). Dörfer drohte aber auch mit Arbeitsniederlegungen, sollte das Unternehmen entgegen der vor zwei Jahren getroffenen Zusage Produktion verlagern. Genauso wenig wie sein Kollege Heilig vertraute er Thüren, denn dieser hatte aus seiner Sicht keine erkennbare Langzeitperspektive im Unternehmen (Steche 3. Interview: 55. Min.). Heilig ging zwar davon aus, dass die Belegschaft gegen die Geschäftsleitung mobilisierbar wäre. Der Betriebsrat durfte dem Unternehmen jedoch keinen zusätzlichen Schaden zufügen: Wenn Steche durch Streiks und damit verbundenen Lieferproblemen weitere Kunden verlieren würde, könnte es zur insolvent werden (Steche 4. Interview: 35.–36. Min.). Der Betriebsrat hätte Konzessionen darum prinzipiell zugestimmt, denn wirtschaftlich hielt er sie für notwendig. Doch er konnte nicht unterscheiden, ob Konzessionen der Rendite des Finanzin-
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vestors dienten oder der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit Steches – und damit den Arbeitsplätzen der Belegschaft. Mitte der neunziger Jahre vertrauten in derselben Ungewissheit noch 85 Prozent der Belegschaft Scherelichs Argument, dass Mehrarbeit zu ihrem eigenen Wohl sei. Doch gegenüber dem neuen Vorstand äußerten Beschäftigte nun auf einer Betriebsversammlung, schon genug gegeben zu haben und „wenig genug zu verdienen“ (Steche 4. Interview: 11.–14. und 40. Min.; Steche 2. Interview: 9. Min.; Steche 3. Interview: 55. Min.). Der Betriebsrat konnte ihnen die schwierige wirtschaftliche Situation kaum vermitteln, denn operativ machte das Unternehmen noch Gewinn. Allein die Zinszahlungen, wegen der Schulden seines eigenen Verkaufs, senkten die Rendite um circa 4 Prozentpunkte und machten Einsparungen nötig. Dem Betriebsrat musste es zunächst gleichgültig sein, warum das Unternehmen finanzielle Probleme hatte, Tatsache war, dass es sie hatte und er nicht darauf vertrauen konnte, dass der Finanzinvestor frisches Kapital zur Verfügung stellen würde. Trotzdem konnte er den Forderungen nicht stattgeben, denn dazu vertraute auch er dem neuen Vorstand nicht genug. Für viele Beteiligte wurde der Druck fast unerträglich: „Wenn Sie seit 1996 unter dem Druck der Verlagerung stehen: ‚Entweder ihr macht das oder ihr fliegt raus‘, dann hat die Belegschaft irgendwann die Schnauze voll. Dann macht man sich auch unglaubwürdig irgendwann. Ich hätte das auch nicht mehr gemacht. […] Ich wollte eigentlich aussteigen, ich konnte das nicht mehr. Ich hatte ja nur Horror hier, nur Verlagerung über Verlagerung, und dann immer noch der Insolvenzdruck.“ (Steche 1. Interview: 28.–29. Min.)
Heilig und Dörfer kamen zu dem Schluss, der Vorstand könne gar nicht so schnell verlagern, wie er es androhte, denn ihm fehlten dazu Geld, Personal und Wissen. Insofern waren die Arbeitnehmervertreter eigentlich in einer guten Verhandlungsposition (Steche 2. Interview: 19. Min.; Steche 4. Interview: 39. Min.). Aber das nutzte ihnen nichts, solange Steche tatsächlich Zugeständnisse brauchte, um eine Insolvenz zu vermeiden. Damit Abnehmerunternehmen nicht beunruhigt würden, verschwieg der Vorstand die desolate Unternehmenssituation nach außen. Aus demselben Grund musste er auch vor der Belegschaft das Ausmaß der Probleme verschweigen; daher war diese aber auch nicht mehr bereit, Einsparungen zuzustimmen. „Da ich Aufsichtsratsvorsitzender war, war ich mit denen immer im Gespräch, ich kannte die Zahlen. Im Prinzip hätte ich schon fast sagen müssen: ‚Wir müssen eigentlich nach Osteuropa gehen.‘ Wie wollen wir das sonst noch hinkriegen hier? Das haben wir natürlich nicht gesagt, sondern wir haben die deutschen Bänder für die First-Class-Sachen hier behalten. […] Das war ein Riesenstress hier, das möchte
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ich nicht noch einmal in meinem Leben erleben, den Stress, ehrlich nicht. Bis dahin, dass der Betriebsrat sich auseinandergelebt hat. Was glauben Sie, was hier los war? Nehmen Sie mal Leuten Weihnachts- und Urlaubsgeld weg! Erstens sagen die nicht ‚Danke‘, ist ja keine Lohnerhöhung. Und man darf trotzdem nicht sagen: ‚Ist ja zwingend erforderlich‘, weil sonst geht die Bude Hops.“ (Steche 1. Interview: 26.– 28. Min.)
Obwohl ihnen die missliche Lage nur teilweise vermittelt werden konnte, sprachen sich alle IG-Metall-Mitglieder für Verhandlungen aus, sofern die Geschäftsleitung ein schriftliches Angebot vorlege (Steche 1. Interview: 9. Min.). Um zu prüfen, ob möglicherweise geringere Zugeständnisse ausgereicht hätten, setzte die IG Metall eine gewerkschaftsnahe Unternehmensberatung durch (Angebot Unternehmensberatung 17.08.2005, Steche 4. Interview: 33. Min.). Heilig und Dörfer kamen überein, dass Arbeitsplatzabbau unvermeidlich sei (Steche 3. Interview: 35. Min.). Mit dem Vorstand einigten sie sich trotzdem nicht, da sie misstrauisch blieben, ob Konzessionen das Unternehmen wettbewerbsfähiger machen oder die Rendite des Finanzinvestors erhöhen sollten. Hätten die Arbeitnehmervertreter dem Vorstand vertraut, hätte dieser die geforderten Konzessionen wahrscheinlich bekommen. Sie konnten ihm aber nicht vertrauen, weil er keine sozialen Bindungen zu ihnen hatte, die eine moralische Verantwortung glaubhaft erscheinen ließen. Nun trugen die Arbeitnehmervertreter den Konflikt in die Belegschaft, indem sie in einem Flugblatt ihr Dilemma offenlegten: „Der Vorstand der Steche AG muss ein Zukunftskonzept vorlegen. Wir brauchen konkrete Zahlen und belastbare Aussagen […]. Steche ist ein gesundes Unternehmen. Wir sind der weltweit führende Anbieter unserer Branche, wir beliefern fast alle großen Hersteller der Welt. Trotzdem schlägt der Vorstand Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich vor. Wie passt das zusammen? Der Vorstand will alle 1.350 Arbeitsplätze sichern und plant deshalb, erhebliche Millionenbeträge in den neuen Standort zu investieren. Dafür aber will der Eigentümer Greymore erst grünes Licht geben, wenn die Belegschaft diese Kredite mitfinanziert.“
Aus Sicht der Gewerkschaft forderte Thüren einen „hohen Preis“ für seine Investitionszusagen (IG Metall Mitgliederbrief 22.08.2005). Die Gewerkschaft bezeichnete es in einem Flugblatt als unvertretbar, dass der Vorstand allein aufgrund des Finanzergebnisses Konzessionen forderte. Der Vorstand äußerte sich nicht zu den Vorwürfen. Fünf Wochen später stellte die Unternehmensberatung das beauftragte Gutachten fertig. Sie bezeichnete Steches Lage als „ernst“, denn die Rendite des deutschen Standorts sei zwar mit 9,1 Prozent (EBIT 2005) noch ausreichend, sie sinke aber jedes Jahr. Der osteuropäische Unternehmensteil mache dagegen sogar Verluste (–1,2 Prozent EBIT-Marge 2005). Da der wichtigste Kunde abgesprungen war, würden in den nächsten fünf Jahren circa 172
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Millionen Euro fehlen. Das Gutachten zeigte außerdem, dass Thüren fast alle neuen Produktionsanläufe in Osteuropa plante; die bisherigen Verluste dort sah er als Kinderkrankheiten. Bis 2009 sollten 30 Prozent des Unternehmensumsatzes im Ausland erwirtschaftet werden, wodurch der Lohnkostenanteil an den Produktionskosten von 7 auf 3 Prozent sinken sollte. Laut der Unternehmensberatung bewertete der Vorstand die Option einer Verlagerung zu optimistisch. Er unterstelle für Osteuropa dieselbe Produktivität wie für den Heimatstandort und rechne mit 5 Prozent jährlicher Lohnsteigerung, während bisher 6 bis 10 Prozent üblich waren. Außerdem unterschlage er höhere Lieferkosten aus dem Ausland, Sozialplankosten am Heimatstandort, Umzugskosten, Wechselkursrisiken, Qualifizierungsmaßnahmen und Produktivitätsverluste durch neu anzulernende Mitarbeiter sowie mögliche Preisreduzierungsforderungen der Abnehmer wegen der Verlagerung. Die unterschlagenen Kosten betrügen bis zu 10,6 Millionen Euro (Unternehmensberatungsgutachten 07.10.2005). Durch eine Produktionsverlagerung könne der Vorstand aber höchstens 7,4 Millionen Euro jährlich einsparen, ohne die Kosten für den Umzug, die weiter entfernte Fertigung und die geringere Produktivität einzurechnen. Am Heimatstandort könne er dagegen relativ risikofrei jährlich 6 Millionen Euro einsparen, wenn die Arbeitnehmer sich bereit erklärten, wöchentlich 40-Stunden ohne Lohnausgleich zu arbeiten und auf Lohnsteigerungen und die ERA-Auszahlung zu verzichten. Die Unternehmensberatung empfahl daher, 404 Arbeitsplätze statt der vorgeschlagenen 576 abzubauen.32 Sie schätzte es jedoch als problematisch ein, selbst die von Thüren in Aussicht gestellten 1.350 Arbeitsplätze langfristig zu halten. Da eine Rendite von 10 Prozent kaum erreicht werden könne, werde es außerdem schwierig, zum Flächentarifvertrag zurückzukehren. Die Arbeitnehmer waren überrascht, wie weit die Verlagerungspläne schon fortgeschritten waren. Die Mehrheit der IG-MetallMitglieder war darum nun zu Zugeständnissen bereit, solange Mehrarbeit ausblieb. Denn diese würde 80 bis 100 Arbeitsplätze gefährden, wie der Vorstand auf Nachfrage eingestand (Steche 3. Interview: 25. Min.). Mit der Unternehmensberatung erstellte der Vorstand ein „Steche Konzept der Zukunft“. Dieses beanspruchte für sich, „Fertigungskonzepte zu entwickeln, die die bestehenden Lohnkostennachteile gegenüber den Billiglohnländern abfedern“ (Auszug). Steche sollte Produkte in Asien kaufen und in Deutschland zusammenfügen, um so jährlich 6 Millionen Euro einzusparen. Der Vorstand wollte 0,8 Millionen Euro als Lohnverzicht selbst beisteuern (Steche 2. Interview: 16. und 79. Min.). Zwar war der Betriebsrat unverändert der Meinung, dass der Vorstand sich nicht um die Bedürfnisse der Arbeitnehmer kümmere; das Vertrauensproblem 32
Diese Unterschiede scheinen gering, doch musste die Unternehmensberatung die Zahlen zur Personalplanung von der Geschäftsleitung weitgehend übernehmen, da sie keine Ressourcen hatte, diese nachzuprüfen (Steche 2. Interview: 20. Min. und Unternehmensberatungsgutachten).
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existierte weiterhin. Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation lag ihm jedoch an einer schnellen Lösung, denn er wusste: Die Zeit wurde knapp (Steche 1. Interview: 9. Min.; Steche 4. Interview: 42. Min.). Moralische Appelle spielten hier keine Rolle, denn der Betriebsrat war sich sicher, dass diese gegenüber dem Vorstand nicht wirken würden. Er wollte auch nicht mit moralischen Argumenten Belegschaft oder Öffentlichkeit mobilisieren, da er fürchtete, damit Schaden für das Unternehmen und vielleicht sogar eine Insolvenz herbeizuführen. Die IG Metall erklärte sich aufgrund des Gutachtens prinzipiell zu Lohnund Urlaubsgeldkürzungen bereit. Doch Dörfer konnte aus den Zahlen nicht abschließend erkennen, ob der Auslandsstandort wirklich produktiver war als der Heimatstandort, und fragte sich: „Wie können diese Zahlen beziffert werden […], welche Folgekosten [der Verlagerung] werden nicht berechnet?“ (Steche 3. Interview: 30. Min.). Das aus der Literatur über Produktionsverlagerungen bekannte Problem lag auch hier vor: Geschäftsleitungen, Betriebsräte und Gewerkschaften wissen in der Regel nicht, ob sich eine Produktionsverlagerung lohnt. Deswegen entsteht eine Rationalitätslücke; niemand kann eine wirtschaftlich optimale Lösung kalkulieren. Im Unterschied zu Müller wollten Steches Arbeitnehmervertreter aber im Zweifel keine Konzessionen leisten, da sie der Geschäftsleitung nicht vertrauten, damit in ihrem Sinne umzugehen. Doch für Dörfer war es zunächst nebensächlich, dass der Vorstand die Konzessionen nutzen könnte, um die Rendite des Finanzinvestors zu erhöhen. Denn das Gutachten der Unternehmensberatung belegte, dass Konzessionen von circa 3 Millionen Euro jährlich allein schon nötig waren, um Steches Insolvenz abzuwenden. Die Geschäftsleitung aber forderte 6 Millionen. In diesem Korridor wirtschaftlicher Ungewissheit verhandelten Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter. Moralische Argumente machte niemand, da sich alle Akteure einig waren, dass Konzessionen nötig seien. Es ging den Arbeitnehmervertretern nur noch darum, wie viele Zugeständnisse nötig wären, um das Unternehmen zu retten, ohne die Rendite des Finanzinvestors mehr als nötig zu steigern. Thürens Forderungen widersprachen immer noch dem Gerechtigkeitsempfinden der Belegschaft. Denn aus ihrer Sicht gaben sie im Rahmen eines „sozialen Tausches“ (Blau 1964: 94) Konzessionen für Arbeitsplätze, wobei ihnen jedoch nicht klar war, ob der Vorstand seinen Teil des Tausches einhalten würde: „Die Belegschaft war schon nicht mehr […] bereit, diesem Unternehmen immer nur was zu geben, weil wir in den letzten Jahren durch interne Vereinbarungen immer wieder einen Beitrag geleistet haben für den Standort und trotzdem wurden die Arbeitsplätze reduziert. […] Also, das war das Schizophrene, um das mal so zu formulieren. Die Rendite war ja da, große Rendite, und trotzdem wurden die Arbeitsplätze runtergefahren.“ (Steche 3. Interview: 30. Min.)
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Damit der Vorstand die Konzessionen nur im Sinne der Arbeitnehmer einsetzen konnte, schlug die IG Metall vor, dass die Arbeitnehmer 35 statt 17,5 Stunden jährlich in Weiterbildung investierten, die Belegschaft zugleich dafür eine Gewinnbeteiligung ab 5 Prozent Rendite bekäme und 1.350 Arbeitsplätze garantiert würden. Dafür sollte der Vorstand darauf „verzichten, Serienfertigungen, für die langfristig eine Produktion im Ausland vorgesehen war, dort zu tätigen“, um stattdessen „mehr Produktionsaufträge als ursprünglich geplant am Heimatstandort“ durchzuführen (Entwurf Standortsicherungsvertrag). Thüren forderte in einem Brief jedoch weitere Konzessionen, da alle Konkurrenten bereits an Niedriglohnstandorten seien: „Bitte verstehen Sie, dass wir vor diesem Hintergrund Ihre Unterstützung brauchen, um weiterhin am Standort Deutschland im Wettbewerb bestehen zu können.“ Mit einem Jahresgewinn von nur noch 9 Millionen Euro, dem jährliche Zinsforderungen von 20 Millionen Euro gegenüberstanden, machte Steche nämlich inzwischen Verluste (Steche 2. Interview: 77. Min.). Zudem hörte Heilig von Betriebsräten aus anderen Unternehmen, dass Steche Rechnungen nur noch mit Verzögerung begleichen konnte (Steche 2. Interview: 27. Min.). Gegenüber Zulieferern und Abnehmern beschwichtigte der Controller Esche die Lage; gegenüber dem Betriebsrat dramatisierte er sie durch kreative Buchführung, um diesen zu Konzessionen zu bewegen: „Die Zahlen, die uns von Verhandlung zu Verhandlung präsentiert wurden, waren ganz offensichtlich sehr widersprüchlich. […] Man hat versucht, die Zahlen so darzustellen, dass die immer dramatischer wurden, um uns dann zu signalisieren: Komm, jetzt unterschreib’ uns endlich den Vertrag und gib uns die sechs Millionen!“ (Steche 2. Interview: 23. Min.)
Heilig vermutete, die Geschäftsleitung verschweige ihm immer noch die Wahrheit. Kurz darauf weigerte sich sogar Steches Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, die Jahresbilanz abzuzeichnen, da sie inkonsistente Angaben enthielt. Heilig brauchte Klarheit. Er nahm den Unternehmensberater, der vor einigen Monaten die Verlagerungspläne bewertet hatte, mit in das Gespräch, um Esche mit den widersprüchlichen Zahlen zu konfrontieren. Nach einer Weile darauf äußerte dieser: „Sie haben recht, ich muss rausrücken mit der Sprache, das Unternehmen steht vor der Insolvenz.“ Die schlechten Daten machten dem Betriebsrat klar: „Wenn wir denen nicht helfen, helfen wir uns nicht“ (Steche 2. Interview: 24. und 34. Min.). Unterdessen erklärte sich der abgesprungene Großabnehmer dazu bereit, neue Verträge auszuhandeln (Steche 2. Interview: 41. Min., Unternehmensaushang Geschäftsleitung). Konzessionen waren zwar weiterhin notwendig, doch die Arbeitnehmervertreter hatten nun Grund zur Hoffnung. Außerdem bot die Geschäftsleitung an, auf Mehrarbeit zu verzichten und 20 Millionen Euro am Heimatstandort zu investieren. Unter dem Insolvenzdruck stimmten die Arbeitnehmerver-
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treter einem Standortsicherungsvertrag zu (Steche 2. Interview: 14. und 32. Min.). Die Geschäftsleitung bekam die geforderten 6 Millionen Euro jährlichen Personalkosteneinsparungen. Sie selbst versprach, 0,8 Millionen Euro dazu beizutragen. Das Urlaubsgeld wurde vom Gewinn abhängig, die Belegschaft verzichtete auf Lohnerhöhung und die ERA-Auszahlung. Der Standortsicherungsvertrag versprach dafür: „Sicherung von Arbeitsplätzen […] in den deutschen Standorten […]. Insbesondere ist angestrebt, auf Basis des Zukunftskonzeptes die ab 2009/2010 (bisher für das Ausland) geplanten Neuanläufe in Deutschland zu realisieren und dauerhaft zu platzieren […]. Darüber hinaus wird sie [die Geschäftsleitung] neue Fertigungskonzepte entwickeln, die die bestehenden Kostennachteile gegenüber sogenannten Billiglohnländern abfedern und die Fertigung […] am Standort Deutschland langfristig sichern.“ (Standortsicherungsvertrag)
Die Einigung war somit ein klares Bekenntnis zum Heimatstandort. Die Geschäftsleitung verpflichtete sich, den Arbeitnehmervertretern regelmäßig Bericht zu erstatten, inwiefern sie die zugesagten Versprechen einlöste. In einem Flugblatt lobte die IG Metall die Übereinkunft, da sie unbezahlte Mehrarbeit und Produktionsverlagerungen vermied. Moralische Appelle spielten keine Rolle, denn der Betriebsrat bemerkte: „Diese moralische Geschichte funktioniert nur, wenn man einen Kontakt aufbauen kann, idealerweise einen persönlichen Kontakt“ (Steche 4. Interview: 28. Min.; Steche 3. Interview: 55. Min.). Die Geschäftsleitung habe jedoch zumindest „akzeptiert, dass wir eine Gegenberechnung machen. Die haben sich nicht mit uns auseinandergesetzt, so nach dem Motto: Ihr habt alle Unrecht […], sondern eher nach dem Motto: Wir sind selber unter Zugzwang. […] Wir haben eine vernünftige Ebene geschaffen, eine sachliche Ebene“ (Steche 3. Interview: 65. Min.). Die Verhandlungspartner einigten sich letztlich auf die Empfehlung der Unternehmensberatung: „Bei denen geht das rein betriebswirtschaftlich. Diese moralische Betrachtung, Verbundenheit mit der Region, würde ich da nicht so sehen. […] Ich würde es ruhig in diese Kategorie einstufen, dass man sagt, es ging nur um ihre Interessen.“ (Steche 3. Interview: 75.–80. Min.) „Wir müssen sagen, dass wir mit den beiden Vorstandsmitgliedern Thüren und Esche, als wir damals verhandelt haben, nicht das Gefühl hatten, man würde uns über den Tisch ziehen. Es war eine sachliche Auseinandersetzung. […] Anhand von Zahlen haben wir es ’runtergebrochen.“ (Steche 3. Interview: 50. Min.)
Die Arbeitnehmervertreter glaubten also, in einem Interessenausgleich zumindest fair behandelt worden zu sein. Der Finanzinvestor hoffte, durch die Einsparun-
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gen bald einen Käufer zu finden (Steche 2. Interview: 39. Min.). Der Vorstand bedankte sich für die „positive Beendigung der Abstimmung zu unserem Haustarifvertrag“ und die „jederzeit konstruktive Einstellung, mit der Sie die Gespräche zur Standortsicherung begleitet haben“. Persönlich bedankte sich Thüren bei dem IG Metall Bevollmächtigten Dörfer: „Damit haben Sie einen wesentlichen Beitrag zum Erhalt der Arbeitsplätze an diesem Standort geleistet. Wir sind fest davon überzeugt, dass […] eine gesunde Basis für einen langfristigen Erhalt der Produktionsarbeitsplätze und der zugehörigen indirekten Bereiche geschaffen wurde. Wir hoffen, dass wir von Zeit zu Zeit Gelegenheit zu einem weiteren Gedankenaustausch über den Erhalt von Produktion unserer Industrie in Deutschland haben werden.“ (Brief 15.03.2006)
Um Kunden und Zulieferer nicht zu beunruhigen, sprach die Geschäftsleitung von einem Verbands- statt von einem Sanierungstarifvertrag (Steche 2. Interview: 25. Min.). Jedoch stimmten nur 55 Prozent der IG-Metall-Mitglieder dem Kompromiss zu, denn die Belegschaft fühlte sich durch die Forderungen erpresst. Sie konnte die schlechte Unternehmenslage schließlich nicht vollends nachvollziehen, doch musste trotzdem sparen. „Nach 1996 war es ja eine Dauererpressung. Immer nach dem Motto: Entweder ihr macht es oder wir gehen nach Osteuropa. Und irgendwann hat die Belegschaft die Schnauze so voll gehabt, ich sag’ das mal so, insbesondere die Montagebelegschaft, weil bis aufs äußerste Limit ist alles gekürzt worden, dass die gesagt haben: ‚Mit uns nicht mehr, Feierabend, nach uns die Sintflut.‘“ (Steche 2. Interview: 40. Min.)
Da die IG Metall sich nicht damit abfinden konnte, dass nur eine knappe Mehrheit ihrer eigenen Mitglieder das Ergebnis befürwortete, setzte sie eine zweite Abstimmung an. Nachdem mehrere Redner die Konzessionen befürwortet hatten, erhöhte sich die Zustimmung auf 68 Prozent. Aus Sicht des Betriebsrats gelang es allerdings nicht, „jemandem beizubringen, dass er etwas abgeben muss, um etwas, was eigentlich einen höheren Wert hat, zu bekommen“ (Steche 4. Interview: 16. Min.). Wie der Fortgang der Verhandlungen zeigen sollte, war die Skepsis der Belegschaft berechtigt. 6.2.2 Zweite Phase: Moralische Bedenken überwiegen wirtschaftliche Einsicht Die gerade erzielte Übereinkunft brachte keinen dauerhaften Frieden. Ein halbes Jahr später beschwerte sich der Betriebsrat in einem Flugblatt, die Belegschaft habe „drei Standortvereinbarungen unterschrieben und fast alles hergegeben: übertarifliche Leistungen, Tariferhöhungen, Sonderzahlungen. Von 2.650 Be-
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schäftigten wurden 1.000 entlassen, 300 sollen noch folgen. […] Aber was nutzen unsere Opfer?“ Wieder sorgte sich der Betriebsrat, der Vorstand könnte Konzessionen nutzen, um die Rendite des Finanzinvestors zu erhöhen. Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter konnten ihren Interessenkonflikt nicht lösen, denn keine der beiden Seiten konnte darauf vertrauen, dass die andere auf sie Rücksicht nehmen würde. Als das Unternehmen kurz vor der Insolvenz stand, überbrückten die Parteien für kurze Zeit ihre Differenzen, doch nun begannen sie wieder durchzuschlagen. Zudem konnte der Finanzinvestor Steches Probleme nicht mehr geheim halten, bis ein neuer Käufer gefunden war. Kurzfristiger Gewinn rückte für den Greymore in weite Ferne, weswegen er Steche mit 145 Millionen Euro Verlust an vier Investoren verkaufte: eine deutsche Bank, eine US-Investmentbank und zwei englische Finanzinvestoren (Steche 2. Interview: 35. Min.). Dies änderte nichts daran, dass etwa ein Jahr nach der erreichten Einigung 40 Millionen Euro fehlten, um laufende Rechnungen zu begleichen. Es wurde eine Aufsichtsratssitzung anberaumt, die zwölf Stunden dauern sollte. Um zwei Uhr nachts war Steche zahlungsunfähig; die neuen Eigner wollten kein Kapital mehr zur Verfügung stellen. Erst um drei Uhr nachts entschied sich einer der neuen Eigner, 40 Millionen Euro Kapital einzubringen, von denen 20 Millionen Euro schon für Berater und Juristen verplant waren (Steche 2. Interview: 38. Min.). Hinter der Finanzspritze stand die Hoffnung, der Umsatz werde bald wieder ansteigen, da die Abnehmer die Unternehmensprodukte immer noch schätzten (Steche 2. Interview: 36. Min.). Problematisch war jedoch, dass sie Steche aufgrund der internen Dauerkonflikte nicht mehr als verlässlichen Geschäftspartner sahen (Steche 4. Interview: 47–48. Min.; Steche 2. Interview: 42. Min.). Keine Partei hatte bis zu diesem Zeitpunkt moralische Argumente genutzt, da sich alle auf eine wirtschaftlich vertretbare Option geeinigt hatten. Nun geschah das Gegenteil. Obwohl selbst die Arbeitnehmervertreter Einbußen der Belegschaft für wirtschaftlich sinnvoll hielten, lehnten sie weitere Einschnitte ab, weil sie sich unmoralisch behandelt fühlten. Dies begann damit, dass die Geschäftsleitung zehn Monate nach dem Standortsicherungsvertrag überraschend und entgegen vorherigen Zusagen verlangte, die Produktionskapazität von zweihundert Arbeitnehmern außerplanmäßig nach Osteuropa zu verlagern, da es Steche immer noch schlecht gehe. Die Geschäftsleitung bat die IG Metall, vom Tarifvertrag abzuweichen, um „die zur Sanierung der Gesellschaft zwingend erforderlichen Maßnahmen unter größtmöglicher Wahrung des Betriebsfriedens umzusetzen“ (Brief des Vorstands). Aus einem Gutachten ging jedoch hervor, dass die Geschäftsleitung die zusätzliche Produktionsverlagerung nach Osteuropa schon fest einplante. Die Arbeitnehmervertreter waren empört. Nach ihrer Meinung hatten die Beschäftigten Einbußen akzeptiert, damit Arbeitsplätze lang-
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fristig am Heimatstandort blieben. Doch der Vorstand plante schon fest mit der Entlassung zusätzlicher Arbeitnehmer und ging offensichtlich davon aus, dass die Arbeitnehmervertreter aufgrund der Unternehmenssituation ohnehin zustimmen müssten. In der Tat bezweifelte der Betriebsrat nicht, dass Steche weitere Konzessionen brauchte. Trotzdem weigerte er sich nun, zu verhandeln. „Da haben wir nicht mehr mitgemacht. Wir haben einen Tarifvertrag. Wir sind Verpflichtungen eingegangen, hier zu investieren, hier auch Projekte anzuschieben für neue Produktionsmethoden, Produktionslinien, Produktentwicklung zu betreiben, Qualifizierung der Beschäftigten. Es war nichts passiert. Und dann kam man irgendwie mit uns nicht weiter und wollte Plan B durchziehen: ‚Wir machen zu‘ […] Weil man angeblich zur Erkenntnis kam, dass das, was wir alles berechnet hatten, falsch war.“ (Steche 3. Interview: 30.–50. Min.)
Die Arbeitnehmervertreter sahen bisher Konzessionen für das Wohl des Unternehmens und der Arbeitnehmer als unerlässlich an – und fanden sie darum auch moralisch unproblematisch. Nun weigerten sie sich, über weitere Zugeständnisse auch nur zu diskutieren, da sie sich betrogen fühlten.33 Die IG Metall war allenfalls bereit, Maßnahmen zu diskutieren, die den Krankenstand senken und die Produktivität erhöhen sollten. Sollte der Vorstand jedoch den damals beschlossenen Standortsicherungsvertrag infrage stellen, so wollte sie ihn zwingen, Personalkosteneinsparungen zurückzuzahlen. Das würde nach Ansicht der Gewerkschaft die Geschäftsleitung mehr kosten, als eine Produktionsverlagerung einsparen könnte. Die Situation eskalierte, als ein Mitarbeiter kurz darauf eine scheinbar zufällig auf dem Kopierer vergessene Notiz fand: „Jede andere uns bekannte Alternative [zu einer Verlagerung] würde die Existenz des Unternehmens dadurch gefährden, dass wir aufgrund der reduzierten Ergebnissituation die notwendigen Investitionen nicht tätigen könnten. […] Leider hat ein erstes, gestern geführtes Gespräch mit Vertretern der IG Metall und dem Betriebsrat nicht erkennen lassen, dass seitens dieser Partner eine Bereitschaft besteht, über diese Modifikationen zu diskutieren. […] Wir müssen uns daher schnell auf einen ‚Plan B‘ vorbereiten, der davon ausgeht, dass der Standortsicherungsvertrag aufgekündigt wird. In diesem Fall müssten wir die im Standortsicherungsvertrag zugesagten Einsparungen wieder zu33
Dies ist ein realweltliches Beispiel für das Ultimatumspiel (vgl. Fußnote 3). Beim Ultimatumspiel ist es „rational“, auch ein sehr geringes Angebot zu akzeptieren. Entsprechend müssten Steches Arbeitnehmervertreter eine Verlagerung akzeptieren, die sie für wirtschaftlich rational hielten. Doch es geht Menschen nicht nur um dasjenige, was wirtschaftlich rational ist. Ähnlich wie der zweite Mitspieler, der beim Ultimatumspiel aus moralischer Empörung über eine zu niedrige angebotene Geldsumme diese nicht akzeptiert, um damit den anderen für seine Missachtung moralischer Verhaltensregeln zu bestrafen, so verweigerten die Arbeitnehmervertreter die Kooperation, um die Geschäftsleitung zu bestrafen, und riskierten dabei wirtschaftlich desaströse Folgen für alle Beteiligten.
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rückzahlen. Um dies zu können, müssen wir zwingend einen kostenmäßigen Ausgleich dadurch finden, dass wir so schnell wie möglich die gesamte Produktion nach Osteuropa verlagern.“ (Internes Vorstandsschreiben 16.01.2007)
Ein Vorstandsmitglied bestätigte den Inhalt des angeblich ungewollt aufgetauchten Schreibens. Der Umsatz sei gegenüber der Planung des Standortsicherungsvertrags derart eingebrochen, dass weitere Personalkosteneinsparungen unerlässlich seien. Wenn die Arbeitnehmervertreter ihre Zustimmung verweigern, müsste nur umso schneller verlagert werden. Doch die Arbeitnehmervertreter lehnten es nun kategorisch ab, mit dem Vorstand zu verhandeln, da er sein Versprechen gebrochen hatte, die Arbeitsplätze am Heimatstandort zu halten. Der Betriebsrat vermutete, jemand habe den Brief bewusst auf dem Kopierer platziert, um Druck auszuüben (Steche 2. Interview: 47. Min.). Indem die Arbeitnehmervertreter den Vorgang an Zeitungen weiterreichten, nutzten sie erstmals moralische Argumente als Waffe. Sie seien bereit, den Standort zu retten, aber sie könnten nie wissen, ob der Vorstand ihre Konzessionen entsprechend honorieren würde, denn sie könnten ihm keine Verantwortung für den Heimatstandort unterstellen. Zeitungen kritisierten daraufhin, der Vorstand habe die IG Metall „über den Tisch gezogen“ und deren Vertrauen missbraucht. Außerdem seien Einsparungen nur durch die hohen Zinszahlungen nötig, was ebenfalls ein Skandal sei, denn so finanzierten Mitarbeiter mit ihren Konzessionen den Verkauf von einem Finanzinvestor zum nächsten (Zeitungsartikel). Der Vorstand beschwichtigte, er „stehe zum Standort“, auch wenn er „über Alternativen nachdenken“ müsse. Er äußerte außerdem, „es gebe keine Überlegungen von Steche, diesen Standortsicherungsvertrag zu kippen, [aber] es gibt Überlegungen zu aktuellen Modifizierungen“ (Zeitungsartikel). Den Unterschied zwischen einer Abwendung vom Tarifvertrag und „aktuellen Modifizierungen“ ließ er offen. Die IG-Metall-Mitglieder lehnten weitere Konzessionen jedenfalls ab. Sie bezweifelten nicht, dass diese nötig waren, sondern dass sie sie der Geschäftsleitung anvertrauen konnten. Auf einem Treffen äußerten sie (Protokoll der Sitzung): „Auch wenn der Vorstand bestimmte Garantien gibt, wissen wir nicht, ob er sie einhalten kann, weil das Sagen die neuen Eigentümer haben.“ „Das Glas ist voll. Keine Kompromisse mehr!“ „Wenn wir nachgeben, will der Arbeitgeber immer mehr. Es wird kein Ende nehmen.“ „Die neuen Eigentümer wollen jedes Jahr 15 Millionen Euro haben. Wer gibt uns die Garantie, dass sie nachher nicht mehr wollen?“ „Die Mitarbeiter haben ihren Beitrag geleistet. Der Arbeitgeber muss das auch.“
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Außerdem hatte das Management nicht die versprochenen 0,8 Millionen Euro jährliche Lohneinsparungen eingebracht und stattdessen 22 Millionen Euro für Berater ausgegeben (Steche 2. Interview: 16. Min.). Das entsprach den Lohneinbußen der Arbeitnehmer über vier Jahre. Der Betriebsrat unterstellte der Geschäftsleitung und dem Finanzinvestor inzwischen sogar, mit den Beratungsgesellschaften unter „einem Dach zu stecken“ (Steche 2. Interview: 29. Min). Dann entdeckte der Betriebsrat auch noch, dass der Vorstand einen Bauzeichner unter Druck gesetzt hatte, ein geplantes Fließband am Heimatstandort einzuzeichnen, obwohl es dort gar nicht hinpasste. Für die Arbeitnehmervertreter war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. „Da war ich natürlich bei dem, der das erstellt hat, und hab’ gesagt: ‚Lutz, bist du da unter Druck gesetzt worden? Hast du da etwas eingesetzt, was überhaupt nicht reinpasst?‘ ‚Ja, wenn du die Schnauze hältst …‘ Also beschissen worden, von Anfang an.“ (Steche 2. Interview: 47. Min.)
Als der Vorstand daraufhin ankündigte, das Produktionsband, dessen Verbleib am Heimatstandort er vorher garantiert hatte, nach Osteuropa zu verlagern, platzte Heilig endgültig der Kragen (Steche 1. Interview: 12. Min.). Er schrie Thüren an: „Mit mir nicht, kein Stück!“ und fügte trotzig hinzu: „Dann macht mal schön die Insolvenz“ (Steche 2. Interview: 45. und 48. Min.). Weil der Betriebsrat sich unmoralisch behandelt fühlte, lehnte er Aktionen ab, die er selbst für wirtschaftlich sinnvoll hielt (Steche 1. Interview: 26–28. Min.). Genau wie bei Müller ging es nicht mehr um die Frage, was wirtschaftlich richtig, sondern was moralisch angemessen ist. Der Vorstand versuchte konsequenterweise gar nicht mehr, mit wirtschaftlichen Argumenten zu überzeugen. Jede Seite wollte die andere nur noch zwingen, ihr zuzustimmen. Die Geschäftsleitung argumentierte, der Standortsicherungsvertrag gelte nach einer demnächst anstehenden juristischen Verschmelzung der Steche AG zur Steche Holding nicht mehr. Die IG Metall forderte den Arbeitgeberverband, auf den Vorstand einzuwirken, damit dieser sich an den Standortsicherungsvertrag halte, denn auch ein mögliches Nachfolgeunternehmen Steches sei daran gebunden. Außerdem seien die zugesagten Maßnahmen und Investitionen bisher ausgeblieben. Vor dem örtlichen Amtsgericht forderte die IG Metall, die neue Steche Holding nicht in das Handelsgesetzbuch aufzunehmen, denn ihr „Eindruck ist, dass die Eigentümer der Steche AG sich den tarifvertraglichen Verpflichtungen zum Erhalt der Arbeitsplätze durch diese Verschmelzung entziehen wollen“ (Brief IG Metall). Der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes bestätigte, dass jegliche Abweichung vom Tarifvertrag rechtlich unzulässig sei. Ein Jurist der IG Metall legte dem Vorstand dar, dass er rein rechtlich zwar mehr Beschäftigte entlassen könne, als im Standortsicherungsvertrag festgeschrieben sei. Dann müsse er aber auch die 24 Millionen Euro Lohn-
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kosten zurückzahlen, die dieser ihm erspare und mit circa 12 Millionen Euro Sozialtarifvertragskosten rechnen. Die Arbeitnehmervertreter wussten, dass der Vorstand dieses Geld nicht hatte (Steche 1. Interview: 14. Min.). Es war ein Machtkampf, in dem IG Metall und Betriebsrat alle institutionellen Ressourcen mobilisierten. Gegenüber ihren Mitgliedern polemisierte die IG Metall: „Die Eigentümer von Steche sind nur auf Rendite aus und spekulieren.“ Sollte die Geschäftsleitung sich entgegen der Vereinbarung dazu entscheiden, Produktion nach Osteuropa zu verlagern, so werde sie Vergeltungsaktionen „zu spüren bekommen“ (Redeauszüge). Heilig war zunehmend resigniert; er wollte der Geschäftsleitung zwar noch Strafzahlungen abringen, glaubte aber nicht, eine Verlagerung noch verhindern zu können. „Im Prinzip haben wir gesagt: ‚Ihr könnt alles verlagern, was ihr wollt, aber entlassen werden darf keiner‘, erstens. Zweitens: ‚Ihr kriegt von uns eine Vertragsstrafe aufgebrummt, von Rückzahlungen der erbrachten Gelder plus 5 Millionen Euro für Abfindungen.‘ […] Wir haben natürlich relativ schnell festgestellt, dass über 20 Millionen hier für Berater ausgegeben wurden. Und so viel Geld, das denen nachgeschmissen wurde, sollte nicht noch einmal von uns gegeben werden.“ (Steche 2. Interview: 50. Min.)
Da Heilig inzwischen so resigniert war, dass er kaum noch versuchte, die Verlagerung abzuwenden, vertraute die Belegschaft ihm weniger als vorher. Schon machten Gerüchte die Runde, er habe geäußert, „er hätte seine Ruhe, wenn alles nach Osteuropa verlagert wäre“ und „dass die Mitarbeiter selbst an der Misere schuld seien, weil sie dem Standort-Tarifvertrag zugestimmt haben“ (Protokoll Arbeitnehmertreffen). Die Situation war in jeder Hinsicht angespannt. Etwas musste geschehen, doch eine Lösung war nicht in Sicht. Überraschend entließen die neuen Anteilseigner Controller Esche, der die Unternehmenszahlen nach Bedarf schönte oder dramatisierte (Steche 2. Interview: 44. Min.). Sie beriefen den Rechtsanwalt Ulrich Weiner, einen Spezialisten für Unternehmenskommunikation und Insolvenzen, als „Chief Restructuring Officer“ in den Vorstand. Bei Amtsantritt gab dieser sich selbstsicher: Er werde „das mit den Gewerkschaften schon erledigen“, äußerte er (Steche 2. Interview: 49. Min.). Obwohl die hohen Zinszahlungen das Unternehmen weiterhin belasteten, besserte sich gleichzeitig das operative Geschäft. Der Abnehmer, der zuvor die Geschäftsbeziehung aufgekündigt hatte, orderte wieder. In den letzten Jahren waren 600 Stellen schon weggefallen, was die Kosten für das Unternehmen senkte. Die IG Metall wusste jedoch immer noch nicht, ob die restlichen Vorstandsmitglieder den Standortsicherungsvertrag einhalten würden. Sie forderte den Arbeitgeberverband erneut auf, Druck auszuüben. Als sie selber Druck machte, indem sie gegenüber den Beschäftigten in einem Flugblatt
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schilderte, dass die Geschäftsleitung 200 Arbeitsplätze rechtswidrig abbauen wolle, verschärfte der Vorstand die Drohungen noch. Er könne auch 450 Beschäftigte entlassen, wenn die Arbeitnehmervertreter ihm nicht bald entgegenkämen, äußerte er dem Betriebsrat gegenüber. Doch die Arbeitnehmervertreter ließen sich darauf nicht ein und argumentierten unverändert, dass der Standortsicherungstarifvertrag gelte. Sie forderten sogar, diesen zu verschärfen, sodass bei Kündigungen Strafen fällig würden (Brief IG Metall 28.03.2007). Das war eine Provokation, denn der Vorstand würde kaum den Vertrag, den er aufzukündigen beabsichtigte, noch mit einer Konventionalstrafe versehen. Der neue Anwalt Weiner äußerte wieder das Unvermeidlichkeitsargument. Die Arbeitnehmervertreter hätten aufgrund der drohenden Insolvenz gar keine andere Wahl, als den Kündigungen zuzustimmen. Die Arbeitnehmervertreter waren jedoch bereits dermaßen über das Verhalten des Vorstands erbost, dass sie sogar eine Insolvenz akzeptierten. Der Arbeitgeberverband wirkte nun auf die neuen Vorstandsberater ein, wie sich ein Aufsichtsratsmitglied erinnert: „Die jungen Burschen wollten dann hier aufräumen und haben gesagt: ‚Das mit den Gewerkschaften regele ich.‘ Ja, herzlichen Glückwunsch, da haben wir die da unten mit dem [Geschäftsführer des Arbeitgeberverbands] stehen lassen […] und haben gesagt: ‚Mal gucken, was die da mit unserem Angebot machen. Insgesamt kostet euch das 50 Millionen Euro, wenn ihr die Arbeitsplätze nach Osteuropa bringen wollt, macht mal!‘ […] Da hat der sofort in der nächsten Aufsichtsratssitzung gesagt: ‚Das wird doch schwieriger.‘ Ich hab mich kaputtgelacht.“ (Steche 1. Interview: 15. Min.)
Einen Tag nach dem Gespräch mit dem Arbeitgeberverband begrub der neue Vorstand den Plan, mehr Produktion zu verlagern, als der Standortsicherungsvertrag vorsah. Weiner teilte Führungskräften und Betriebsrat mit, dass Aktionen abzubrechen seien, die „einer Verlagerung nach Osteuropa dienen würden. Wir befinden uns in Gesprächen mit der IG Metall, dem Betriebsrat und AG-Verband. Diese sind noch nicht abgeschlossen, und ich möchte keinesfalls den Eindruck erwecken, dass bereits finale Entscheidungen über die Verlagerung getroffen worden waren“ (Briefauszug). Er sicherte nun auf einmal zu, alle weiteren Entscheidungen nur noch mit Zustimmung des Betriebsrats zu fällen. Auf die Frage, wie es zu diesem Sinneswandel kam, vermutete ein Arbeitnehmervertreter: „Wenn die einen Vertrag haben mit mir und die diesen Vertrag nicht einhalten, dann kann ich natürlich sagen: Bitte schön, dann fühlen wir uns verschaukelt und versuchen dann, über andere Möglichkeiten den Leuten deutlich zu machen: so nicht. Das heißt, die IG Metall versucht dann, diese moralische Schiene zu ziehen. […] Im Augenblick nehmen sie Rücksicht auf diesen Vertrag, den sie mit der IG Metall geschlossen haben,
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weil wenn sie das nicht machen, kommen sie überhaupt nicht mehr weiter, weil dann wird es einen Großkonflikt geben.“ (Steche 3. Interview: 60. und 70. Min.)
Die IG Metall schrieb am Tag darauf der Geschäftsleitung, dass auch über 2009 hinaus Produktion am Heimatstandort gehalten werden müsse. Bezüglich des Standortsicherungsvertrags gebe es „keine Veranlassung, von diesen Bestimmungen abzuweichen oder darüber Verhandlungen zu führen“. Die Arbeitnehmervertreter verhinderten somit Konzessionen, obwohl sie vorher selbst zu bedenken gaben, dass diese wirtschaftlich sinnvoll seien (Steche 1. Interview: 26.– 28. Min.). Sie konnten dem Vorstand jedoch keine Zugeständnisse anvertrauen, da sie keinen Grund hatten, ihm zu glauben, dass er im Gegenzug ihre Interessen berücksichtigen und in diesem Sinne somit moralisch verhalten würde. Auf diese Weise verhinderten moralische Bedenken eine Handlung, die die Arbeitnehmervertreter selbst als wirtschaftlich sinnvoll sahen. Genau das Gegenteil geschah, als die Arbeitnehmer unter Scherelich noch Zugeständnisse leisteten. Damals äußerten Arbeitnehmervertreter, dass es für moralische Argumente oder Bedenken keinen Raum gebe, da unstrittig war, was wirtschaftlich nötig sei. In der folgenden dritten Phase hat eine Behandlung, die die Arbeitnehmervertreter als weniger unmoralisch betrachteten, dazu geführt, dass sie jenen Konzessionen zustimmten, die sie bis dahin noch abgelehnt hatten. 6.2.3 Dritte Phase: Moralische Behandlung bringt Zugeständnisse Der Vorstand sah nicht von einer Verlagerung ab, da er auf moralische Argumente einging oder da solche Argumente Öffentlichkeit oder Belegschaft gegen ihn aufbrachten. Stattdessen waren es institutionelle Machtressourcen der IG Metall und des Betriebsrats, die ihn zwangen einzulenken. Die Arbeitnehmervertreter konnten sich jedoch nicht über ihren Sieg freuen, denn würde Steche in Konkurs gehen, wäre auch ihnen nicht geholfen. Außerdem vertrauten sich Arbeitnehmervertreter und Geschäftsleitung nicht mehr. Der gute Wille der Belegschaft war der Geschäftsleitung erkennbar gleichgültig, sonst wäre sie nicht so mit ihr umgegangen (Steche 3. Interview: 55. Min.). Gerüchten zufolge strebte sie sogar eine Insolvenz an, denn dann hätte sie Arbeitnehmer ohne Sozialplan entlassen können. Vielleicht hätte Steche eine Insolvenz überlebt, doch mit Sicherheit wären dadurch weitere Kunden und Lieferanten verloren gegangen (Steche 2. Interview: 52. Min.). In dieser schwierigen Situation machte der Aufsichtsrat dem Betriebsrat ein Angebot (Gesprächsauszug): „Was halten Sie davon, wir schmeißen den Vorstand raus? Der hat das nicht mehr im Griff hier. Und wir suchen uns einen neuen Vorstand?“
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„Das ist das Beste, was wir jetzt machen können, wenn wir einen guten neuen Vorstand haben, aber den zu finden …“ „Wir haben einen, wir haben zumindest einen in petto. Lernen Sie den mal kennen!“ (Steche 2. Interview: 52. Min.)
Tatsächlich entließen die neuen Anteilseigner Thüren (Steche 1. Interview: 14.– 15. Min.). Die Presse nannte als Grund, er sei mit den Gewerkschaften aneinandergeraten, da er „Arbeitsplätze in Billiglohnländer verlagern wollte“ (Zeitungsartikel). Betriebsrat Heilig war wegen des Konflikts nervlich derart strapaziert, dass er selbst überlegte, zu kündigen. Doch nun kam der neue Vorstandsvorsitzende Heinrich Lauer. Dieser verfügte über langjährige Erfahrung in der Branche, gewann mit seiner Persönlichkeit und symbolischen Aktionen schnell Vertrauen und hielt Heilig davon ab, zu kündigen. Wie machte er das? Als Erstes bat er Heilig, alle bestehenden Probleme aufzuzählen. Dieser klagte, Steche sei eine einzige Baustelle, etliche Köpfe müssten rollen, trotzdem hoffe er kaum noch, das Unternehmen retten zu können. Zu seinem Erstaunen fühlte sich Heilig von Lauer „sofort verstanden“ (Steche 1. Interview: 40.–41. Min.). Nach dem Gespräch rief er dem Aufsichtsratsvertreter des Finanzinvestors ins Telefon: „Ich bleibe! Das kriegen wir wieder hin“ (Steche 1. Interview: 40.–41. Min.). Als Heilig gefragt wurde, warum er mit Lauer wieder Vertrauen schöpfte, antwortete er: „Eine Vertrauensperson ohne Ende, kein Herr Doktor oder so. Ganz einfach. Der geht mit dir mittags an den Tisch und sagt: ‚Komm, können wir nicht zusammen essen? Können wir zehn Minuten wenigstens sprechen?‘ Wir haben jetzt eine Weihnachtsfeier gehabt, und da sagt der Veranstalter: ‚Das kostet uns, wir brauchen Kellner.‘ Und der Lauer sagt: ‚Was? Kellner? Wir zahlen nichts! Kellnern wird der gesamte Vorstand und alle Geschäftsbereichsleiter. Jeder muss sich eine Stunde zur Verfügung stellen!‘ Und dann haben die uns abends Bier eingeschenkt! Die Stimmung muss wieder auf Vordermann! Das hat gefruchtet, das hat gepasst! Wir haben jetzt eine Betriebsversammlung gehabt; das geht wieder nach oben, man merkt es.“ (Steche 1. Interview: 40.–42. Min.; vgl. ähnlich Steche 4. Interview: 32. Min.)
Lauer vermittelte der Belegschaft, er empfinde eine Verantwortung für ihre Arbeitsplätze und werde Konzessionen nutzen, um diese sicherer zu machen. Die Anteilseigner machten zwar weiter keinen Hehl daraus, dass sie Steche möglichst bald – voraussichtlich 2012 – mit möglichst hohem Gewinn verkaufen wollten. Im Unterschied zu Greymore halfen sie jedoch, Steche neu auszurichten, ohne den Arbeitnehmern dabei das Gefühl zu geben, ihre Interessen zählten nicht (Steche 2. Interview: 94. Min.). Der entscheidende Unterschied war, dass die neuen Anteilseigner sich (aus wirtschaftlichem Interesse) so verhielten, dass die Arbeitnehmer dies als moralische Behandlung wahrnehmen konnten. Die
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6 Unternehmen Steche: Wie moralisch wirkendes Handeln Interessenverfolgung ermöglicht
Schlüsselrolle dabei kam Lauer zu. Im Unterschied zu Thüren und seinen Beratern distanzierte er sich nicht, sondern setzte auf vertrauensbildende Maßnahmen. Als er als Sparmaßnahme das warme Wasser abstellte, galt dies auch für den Vorstandsbereich; um Kosten zu sparen, rief er möglichst auf dem Festnetz an und verzichtete auf einen teuren Dienstwagen. Es kam nicht auf wenige Cent eingesparter Heizwasser- oder Telefonkosten an, sondern auf die Symbolik seiner Aktionen. Nach kurzer Zeit akzeptierte die Belegschaft Lauer (Steche 4. Interview: 48. Min.). Auf die Frage, was sich durch Lauer änderte, antwortete der Betriebsrat: „Dass hier ein Ruck durch die Belegschaft geht, dass der glaubwürdig rüberkommt, indem er das aber auch vorlebt. Der ist auch nicht so der Krawattenträger. Der kommt, also ganz locker, kommt der angewackelt und kommt absolut glaubhaft rüber, aber ohne Show. […] Was täglich erarbeitet und erreicht wird, das kommuniziert der auch sofort, sodass die Belegschaft erkennen kann: ‚Dass wir da was gemacht haben, das hat was gebracht.‘ Und das gab es früher nicht, die Kommunikation war völlig beschissen. Das interessierte früher keinen. Der [frühere] Vorstand, die hatten eigentlich nur den Auftrag, uns zu verkaufen, damit sie ihr Geld wenigstens einigermaßen wieder zurück haben.“ (Steche 2. Interview: 84. Min.)
Interessant ist, dass Lauer genau denselben Auftrag hatte wie Thüren. Auch er sollte das Unternehmen verkaufsfertig machen. Nicht was er tat war anders, sondern wie er es tat. Warum kooperierte Lauer im Gegensatz zu Thüren und war darin auch glaubhaft? Heilig nahm an, Lauer habe aufgrund seiner vorherigen Erfahrung eine bestimmte Unternehmensphilosophie internalisiert. Er war nach Heiligs Einschätzung überzeugt: „Ohne das gesamte Team schaffen wir das nicht“ (Steche 2. Interview: 59. Min.). Lauer verzichtete nicht auf Restrukturierungsmaßnahmen, glaubte aber, diese besser mit als gegen die Interessen der Belegschaft durchführen zu können. Hinter dieser moralischeren Behandlung der Arbeitnehmer standen handfeste wirtschaftliche Gründe. Denn große deutsche Automobilunternehmen drohten, keine Waren mehr abzunehmen, wenn Steches Geschäftspolitik nicht berechenbarer würde. Wenn Steches Finanzinvestoren damals angegeben hatten, mit dem Unternehmen über einen „langen“ Zeitraum von circa drei Jahren zu planen, wandten Einkäufer ein, dass sie eine Planungssicherheit von über zehn Jahren bräuchten, um Steche nach all den Problemen wieder als strategischen Zulieferer einstufen zu können. Sie könnten Steche aber überhaupt nicht mehr als strategischen Partner einstufen, wenn nicht der Dauerkonflikt dort beigelegt würde. Lauer bat die Abnehmerunternehmen, sich nicht zurückzuziehen, und versprach dafür, langfristiger zu planen und im Gegensatz zu Thüren keine Konflikte mehr zu erzeugen. Da er vielen Abnehmern seit Langem bekannt war, glaubten diese ihm
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größtenteils. Die Risikomanagementabteilung eines der größten Abnehmer ließ sich jedoch nicht von der Einschätzung abbringen, dass von Finanzinvestoren aufgekaufte Unternehmen einen zu kurzfristigen Planungshorizont hätten, um als langfristiger Kooperationspartner eingestuft zu werden. Daraufhin mussten Steches Finanzinvestoren Zusagen unterschreiben, dass sie langfristige Investitionen und eine kooperative Beziehung mit den Arbeitnehmern anstrebten. In ein Unternehmen langfristig zu investieren, ist das Gegenteil des eigentlichen Geschäftsmodells eines Finanzinvestors. Das Investorenkonsortium hatte aber keine Wahl, da es sonst die Unternehmensprodukte nicht mehr hätte absetzen können. Lauer überzeugte in einem Gespräch unter vier Augen den Vorstandsvorsitzenden des großen Abnehmerunternehmens, Steche nicht fallen zu lassen (Steche 2. Interview: 57. Min.). Die Arbeitnehmer gewannen dadurch den Glauben zurück, dass die Geschäftsleitung auf ihre Belange Rücksicht nahm: „Ich hatte früher viel mehr Angst gehabt vor den Heuschrecken. Ne, die wollen sich auch etablieren. Die sind jetzt an ihrem Image interessiert. […] Und das machen die gerade bei einem großen Abnehmerunternehmen auch alles schriftlich. Die wollen alles schriftlich haben. Dass die Steche nicht fallen lassen, Steche wird nicht zerschlagen, und so weiter. Steche wird nur in Hände gegeben, die auch langfristig das Vertrauen von dem Abnehmer haben können, also nicht irgendwelche, die Steche nur zerfleischen wollen, sondern dass auch der Abnehmer in Zukunft planen kann. Dieses Vertrauen sind die gerade dabei, aufzubauen. Und das bedeutet, der Aufsichtsrat ruft mich unheimlich oft an und fragt: ‚Wie war die Betriebsversammlung? Wie sieht die Belegschaft das? Ist die Stimmung gut?‘ Das war bei Greymore nicht so. Die haben jetzt Angst […], dass die Belegschaft nicht zufrieden ist, dass die also unzufrieden sind und Mistarbeit machen, wenn wir das Vertrauen in der Industrie verspielen. Also müssen die jetzt darauf achten, dass die Belegschaften mitziehen. […] Das merkt man mittlerweile.“ (Steche 1. Interview: 32.–39. Min.)
Statt wie Thüren gegen die Belegschaft zu agieren, musste Lauer mit ihr kooperieren. Dadurch konnte er Einsparungen durchsetzen, die unter Thüren auf erbitterten Widerstand stießen. Mit der Verlagerung eines Produktionsbandes plante Lauer, mehr Arbeitsplätze abzubauen, als der Standortsicherungsvertrag erlaubte. Der Landesbevollmächtigte der IG Metall kannte das Unternehmen nicht gut genug, um einzuschätzen, ob dies betriebswirtschaftlich sinnvoll wäre. Er fragte daher Betriebsrat Heilig, was er davon hielt (Gesprächsauszug): „‚Lutz, du entscheidest das jetzt. Machen wir das, oder machen wir das nicht? Ist das gut fürs Unternehmen, ist es das nicht?‘ Ich sage ihm: ‚Robert, wir müssen das machen!‘“ (Steche 2. Interview: 53. Min.). Wie bereits erwähnt, war Heilig also nicht gegen die Verlagerung an sich, er hielt sie sogar für wirtschaftlich sinnvoll. Er wollte Thüren jedoch keine weiteren Zugeständnisse machen, da er ihm nicht
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vertraute, die Interessen der Arbeitnehmer zu berücksichtigen – er unterstellte ihm keine aus seiner Sicht moralische Haltung. Doch wie sollten die mit dem Produktionsband verbundenen Arbeitsplätze abgebaut werden? Lauer einigte sich mit Heilig auf ein Abfindungsprogramm, das es ermöglichte, bei doppelter Abfindung freiwillig auszuscheiden (1,0 statt 0,5 Bruttogehältern pro Beschäftigungsjahr). Das Unternehmen gab in einer Pressemitteilung bekannt, die Geschäftsleitung wolle so „die Wettbewerbsfähigkeit unseres traditionsreichen Entwicklungs- und Produktionsstandorts in Deutschland wieder herstellen“. Da Arbeitnehmer freiwillig ausschieden, hatte Heilig keine Probleme mit der Maßnahme, auch wenn sie den Standortsicherungsvertrag verletzte. Er war vielmehr erleichtert, dass Steche mit der Maßnahme Teile seiner unmotivierten Belegschaft loswerden konnte: „Wir haben einen hohen Anteil an […] Arbeitnehmern, denen geht das [Unternehmen] völlig am Arsch vorbei. […] Wer sich also nicht mehr mit Steche verbunden fühlt, soll gehen“ (Steche 1. Interview: 48.–49. Min.; vgl. auch Steche 2. Interview: 53. Min.). Obwohl dies die Belegschaft um 200 Mitarbeiter reduzierte, war die zugrunde liegende Idee gegensätzlich zur vorherigen Maßnahme. Die Geschäftsleitung entließ nicht Arbeitnehmer, obwohl dies Sozialkapital zerstörte. Stattdessen beabsichtigte sie, die Belegschaft auf diejenigen Arbeitnehmer zurückzuführen, die noch an Steche gebunden waren – und so Sozialkapital aufzubauen. Zehn Tage später versuchte Lauer, auch die IG Metall von seinen Plänen zu überzeugen. Er konzedierte, dass „fast alle Beteiligten bereits hohe Beiträge geleistet“ hätten. Die Arbeitnehmer verzichteten auf 6 Millionen Euro jährlich (inklusive der Vorstandseinsparungen), Zulieferunternehmen senkten Preise, die neuen Investoren retteten Steche, indem sie auf Altkredite verzichteten und neues Kapitel in Höhe von 40 Millionen Euro zuschossen. Es sei jedoch unumgänglich, dass von 2007 bis 2011 der Anteil der Wertschöpfung in Hochlohnkostenstandorten von 95 auf 70 Prozent schrumpfe (Präsentationsunterlagen 27.06.2007). Thürens Konzept, Produkte in Asien zu kaufen und in Deutschland zusammenzubauen, würde dafür nicht ausreichen und könnte sogar dazu führen, Know-how an asiatische Firmen zu verlieren. Einfache Produktion habe am Heimatstandort keine Zukunft. Dort könne jedoch mit Forschung, Entwicklung und innovativen Produkten die Grundlage für die Produktion der Auslandsstandorte gelegt werden (Steche 2. Interview: 64. und 80. Min.). Die Arbeitnehmervertreter hatten wider Erwarten nichts gegen Lauers Verlagerungspläne, obwohl sie umfangreicher als Thürens waren. Denn im Unterschied zu Thüren unterstellten sie Lauer, dass er sich für das Wohl der Arbeitnehmer einsetzte, auch wenn dies Verlagerungen bedeutete. Ein Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat äußerte, nachdem Lauer seine Pläne vorgestellt hatte:
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„Wir haben jetzt schon einen Businessplan bis 2012 im Aufsichtsrat verabschiedet. Das heißt, die planen jetzt langfristig mit uns. Bis 2012 wird es auch gelingen, ich bin da unheimlich optimistisch, dass Steche auch wieder nach vorne kommt. […] Das heißt auch, dass Arbeitsplätze am Heimatstandort gehalten werden. Das werden keine einfachen Montagedinger sein, das wird hier nicht mehr passieren. Aber hier wird dann endverheiratet, das heißt, die ganze Qualitätsübersicht kommt dann aus Deutschland. Früher war das nur noch ein Abwickeln [ruft und haut auf den Tisch] und jetzt spürt man wieder richtig Unternehmertum! Hier wird wieder was unternommen!“ (Steche 1. Interview: 40.–44. Min.)
Kurz darauf verkündete Lauer in einer Pressemitteilung, „globale Expansion“ werde die bisherigen „regionalen Strukturen“ ablösen. Zwar wolle er verstärkt in Asien absetzen und in Osteuropa und Mexiko produzieren. Am Heimatstandort wolle er jedoch 1.300 Arbeitnehmer weiterbeschäftigen, denn diese seien „mit sehr deutlichen Zugeständnissen entgegengekommen. […] Wir sind uns einig, dass der Heimatstandort Hauptsitz bleibt. Es ist unser Ziel, dass wir die Produktentwicklung weltweit von dort führen“, hieß es weiter. Ein Aufsichtsratsmitglied sah gerade aufgrund der Verlagerungen die Zukunft Steches positiver; am wichtigsten sei, dass Arbeitnehmervertreter und Geschäftsleitung wieder miteinander verhandelten und Steche darum nicht mehr lahmgelegt war: „Da wird in der Tat zwischen Betriebsrat und Vorstand verhandelt, und zwar in der Tat verhandelt, mit Daten und Fakten, und da wird vernünftig miteinander gesprochen. Das heißt, die Firma muss absolut topp werden. Die Produktion topp, die Qualität topp, die Flexibilität topp. Dann bleiben wir hier. Wenn das alles passt, dann sind wir besser als der Osteuropäer und dann haben die Lohnkosten am Produkt bei Weitem nicht mehr die Höhe, dass es sich lohnt, die Produktion wegzugeben. Aber die einfache Produktion, die jetzt schon in Osteuropa gemacht wird, da ist Osteuropa jetzt schon zu teuer, die wird jetzt in China gemacht. Und Lauer hat uns versprochen, der gesamten Belegschaft versprochen, auch in einer Betriebsversammlung: ‚Die Produktion ist nicht tot, hier wird nicht mehr erpresst. Wir werden hier die Fabrik des Jahres aufbauen und hier werden allerdings qualifiziertere Arbeitsplätze entstehen.‘“ (Steche 1. Interview: 45.–47. Min.)
Heilig glaubte ebenfalls, dass vor allem osteuropäische Arbeitsplätze nach Asien verlagert würden (Steche 2. Interview: 47. Min.).34 Es kam somit weniger darauf an, was die Geschäftsleitung forderte, sondern wie sie es forderte. Das Vertrauen, dass Verlagerungen nicht gegen die Interessen der Heimatbelegschaft durchgeführt werden, konnte die Geschäftsleitung jedoch nicht beliebig herstellen. Lauer 34
Dies ist per se nicht moralischer als die Verlagerung deutscher Arbeitsplätze. Insofern ist, wie in der Einleitung angemerkt, Moral immer die Moral der konkreten Situation und wird von Akteuren jeweils genutzt, um für ihre Interessen zu argumentieren.
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musste es erst schaffen, indem er mit symbolischen Gesten, zum Beispiel dem Kellnern bei der Betriebsversammlung, signalisierte: „Ich bin einer von euch, darum sind mir eure Interessen nicht gleichgültig.“ Kurze Zeit nach dem neu gestarteten Asiengeschäft beschrieb Lauer die Unternehmenssituation. Zwar verbrauche Steche „noch mehr Geld, als es verdient“, weswegen es noch nicht „über den Berg“ sei. Doch Kunden könnten schon wieder „auf lange Sicht“ mit dem Unternehmen planen: „Wo immer ich mit unseren Geschäftspartnern zusammenkomme – die Atmosphäre ist eine andere als noch vor neun Monaten. Man freut sich über unsere wieder gewonnene Stärke und auf eine langfristige Zusammenarbeit und ermutigt uns, diesen Weg weiterzugehen. Dies ist unter anderem das Ergebnis der neuen Kommunikationskultur […]. Wir alle können stolz auf das bisher Erreichte sein und so wird es weitergehen!“ (Unternehmenszeitung)
Lauer forderte die Belegschaft auf, sich zu engagieren: „Wenn man hört oder sieht, dass es irgendwo schleift oder pfeift, […] darf man nicht denken, dass sich schon jemand anderes darum kümmern wird“ (Unternehmenszeitung). Lauer wollte an Scherelich anknüpfen, der Sozialkapital aufbaute und pflegte. So äußerte ein mittlerer Manager, der Heimatstandort sei schon einmal „eine Vorzeige-Fabrik [gewesen], dann bekam Steche damals jedoch eine neue Führung und man hat den Fokus verlagert. Man legte nicht mehr so viel Wert auf die Produktion. Gott sei Dank hat sich das mit Lauer wieder geändert. […] Was mich begeistert, ist dass man die Leute alle wieder in ein Boot kriegt“ (Unternehmenszeitung). Kurz darauf verkündete Lauer auch öffentlich, dass Steche auf dem Wege der Gesundung sei (Zeitungsartikel). Heilig und ein Aufsichtsratsmitglied bestätigten, die Lage bessere sich, die Stimmung sei gut und die neue Führung habe daran einen maßgeblichen Anteil (Steche 1. Interview: 40.–42. Min.; Steche 4. Interview: 32. Min.). 6.3 Wie wirkten moralische Argumente bei Steche? 6.3.1 Bedeutung moralischer Appelle an die Geschäftsleitung Nach der empirischen Prozessanalyse soll dieses Kapitel darlegen, wie moralische Argumente wirkten. In einer ersten Phase unter Scherelich, wirkten moralische Argumente, diesmal seitens der Geschäftsleitung, weil die Arbeitnehmervertreter ihrem Vorstand vertrauten, mit ihren Konzessionen nicht nur eigene Interessen zu verfolgen. Sie waren deswegen zu Zugeständnissen bereit (Steche 1. Interview: 20. Min.). Die Situation war mit der bei Müller vergleichbar:
6.3 Wie wirkten moralische Argumente bei Steche?
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„Der härteste Faktor ist, wenn ein örtlicher Bezug da ist. Wenn ein Firmenbesitzer auch in der Stadt als Stadtrat, als Honoratior für einen Verein, was weiß ich … im Musikchor war, Kirchenvorstand, meinetwegen die ganze Familie hier in den Schulen. Da kommt man natürlich viel besser ran. […] Dann kann man als Betriebsrat andere, moralische Argumente bringen. Wenn man es schafft […], dass der Firmenbesitzer diese moralische Verantwortung annimmt, dann fällt das [Verlagerung] auch sehr viel schwerer.“ (Steche 4. Interview: 52.–53. Min.)
Gegenüber Thüren gab es dagegen keine Appelle an moralische Verantwortung, denn zunächst musste eine Insolvenz vermieden werden. Deshalb stimmte Heilig Konzessionen anfangs diskussionslos zu (Steche 1. Interview: 3. Min.). Doch weil Thüren dennoch an seinen Verlagerungsplänen festhielt und eigene Interessen nicht im Gegenzug wie versprochen zurücknahm, war Heiligs Vertrauen in ihn bald erschüttert. Der Betriebsrat bewertete Thürens Forderungen daher gar nicht mehr danach, ob sie wirtschaftlich angemessen seien. Die Arbeitnehmervertreter waren vielmehr moralisch so empört über seinen Vertrauensbruch, dass sie eher einen Konkurs in Kauf nahmen, als ihn noch einmal zu unterstützen. Sie bewerteten nicht mehr den Geltungsanspruch auf Wahrheit seiner Forderungen, sondern nur noch den auf normative Richtigkeit (vgl. Habermas 1981a: 29–43).35 Moralische Erwägungen prägten nicht nur den Verlauf der Diskussion, sondern überlagerten, was die Arbeitnehmervertreter als wirtschaftlich vernünftig ansahen. Betriebsrat Heilig war zwar überzeugt, dass eine Produktionsverlagerung wirtschaftlich rational wäre. Mit entsprechenden Bemerkungen brachte er sogar die Belegschaft gegen sich auf (Steche 1. Interview: 26.–28. Min.). Doch dieselben wirtschaftlichen Maßnahmen, die er gegenüber der Belegschaft als sinnvoll bezeichnete, wollte er Thüren nicht zubilligen. Dies scheint irrational, solange die sozialen Umstände hinter seiner Entscheidung ignoriert werden. Heilig konnte jedoch aufgrund mangelnden Vertrauens nie wissen, ob Thüren die Konzessionen im Sinne der Arbeitnehmer nutzen würde. Vertrauen, statt wirtschaftlicher Rahmendaten, entschied somit, ob Arbeitnehmervertreter zu Konzessionen bereit waren. Aus demselben Grund konnte der neue Vorstand Lauer die Einsparungen durchsetzen, die vorher am Widerstand der Arbeitnehmervertreter gescheitert waren. An den wirtschaftlichen Rahmendaten hatte sich nichts geändert, doch die Arbeitnehmervertreter vertrauten nun. Die Denkrichtung hatte sich umgekehrt: Wenn Lauer Arbeitsplätze abbaute, so sah der Betriebsrat dies als nötig an, damit Steche am Heimatstandort überleben könne. Thüren dagegen
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Sie bewerteten das Handeln Thürens nicht mehr in Hinblick auf Markterfolg, sondern danach, ob er eine Allgemeinwohlorientierung hinter seinen Forderungen und eine (paternalistische) Verantwortung für seine Belegschaft erkennen ließ (vgl. zu diesen verschiedenen Bewertungskriterien Boltanski/Chiapello 1999: 61ff.).
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6 Unternehmen Steche: Wie moralisch wirkendes Handeln Interessenverfolgung ermöglicht
unterstellte er, die schlechte Unternehmenssituation zu nutzen, um Arbeitsplatzabbau zu erpressen (Steche 2. Interview: 70. Min.). Die Arbeitnehmervertreter billigten Konzessionen jedoch nicht aus dem Grund zu, weil sie eine bestimmte Geschäftsleitung persönlich als „menschlicher“ oder „weichherziger“ beurteilten. Über Thüren äußerte Heilig: „Menschlich war der immer absolut in Ordnung. […] Da würden Sie sofort sagen: ‚Was für ein netter Mensch‘“ (Steche 2. Interview: 73. Min.). Relevant war stattdessen, in welcher sozialen Lage sich die jeweilige Geschäftsleitung befand. Thüren meinte, die Arbeitnehmer täuschen zu müssen, um durchzusetzen, was er für wirtschaftlich sinnvoll hielt. Er sah daher eine (aus Sicht der Arbeitnehmer) moralische Behandlung der Belegschaft als unvereinbar mit dem Unternehmensinteresse an und konnte diese folglich auch nicht glaubhaft versprechen. Lauer dagegen war in einer Situation, in der Abnehmerunternehmen die „moralische“ Behandlung der Belegschaft belohnten. Er konnte umgekehrt seine wirtschaftlichen Interessen nur durchsetzen, indem er sich moralisch verhielt – zumindest dem Anschein nach, möglicherweise aber auch einer Gesinnung folgend. Bemerkenswert ist, dass wirtschaftliche Interessen in einem finanzinvestorgeführten Unternehmen Druck auf die Geschäftsleitung ausübten, eine moralische Einbettung nachzustellen, die in Familienunternehmen zu vermuten wäre. Die Geschäftsleitung konnte Produktionsverlagerungen nicht ohne ein Mindestmaß an Konsens durchführen, denn sie benötigte die Kooperationsbereitschaft der Arbeitnehmer. Lauer musste Vertrauen schaffen und damit die „moralische Einbettung“, die durch Thüren verloren gegangen war. Er musste der Belegschaft signalisieren: „Wir ziehen doch eigentlich an einem Strang, wir sind doch Teil derselben Gemeinschaft.“ Nachdem dies gelungen war, stimmten die Arbeitnehmervertreter Einsparungen und Verlagerungen zu, die sie vorher noch abgelehnt hatten. Ob Arbeitnehmervertreter Einsparungen zustimmen, hängt also nicht nur von der wirtschaftlichen Angemessenheit der Maßnahmen ab, sondern davon, ob sie der Geschäftsleitung eine moralische Behandlung der Belegschaft unterstellen können. 6.3.2 Bedeutung moralischer Argumente als Machtressource Weil Thüren erst Konzessionen gefordert hatte, dann aber trotzdem Produktionsverlagerungen ankündigte, nahmen die Arbeitnehmervertreter eher Steches Konkurs in Kauf, als erneut auf seine Forderungen einzugehen (Steche 2. Interview: 46. und 49. Min.). Sie brandmarkten sein Verhalten außerdem öffentlich als nicht vertrauenswürdig und insofern als unmoralisch. Abnehmerunternehmen stuften Steche daraufhin ebenfalls als nicht vertrauenswürdig ein. Deswegen musste die
6.3 Wie wirkten moralische Argumente bei Steche?
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Geschäftsleitung zu einer Behandlung der Arbeitnehmer übergehen, die auf diese moralischer wirkte; dies kam in Lauers Anstellung und Thürens Kündigung zum Ausdruck. Die sektorale Struktur der Automobilindustrie, mit ihren langfristigen Kooperationen, übte somit wirtschaftlichen Druck aus, Arbeitnehmer so zu behandeln, dass der Eindruck einer moralischen, langfristigen Verantwortung entstand. In dieser Hinsicht ermöglichte Handeln, das sich moralisch gab, erst die Verfolgung wirtschaftlicher Interessen. Diese Nutzung moralischer Argumente als Macht-, statt als Überzeugungsressource, wird auch in den folgenden Verlagerungsdiskussionen eine große Rolle spielen.
7 Die Unternehmen Wolder und Tehnwolder: Wie moralische Argumente Unternehmensstrategien beeinflussen
Während die beiden bisher analysierten Unternehmen keinen expliziten Vergleichspartner hatten, sind Wolder und Tehnwolder ideal, um im Sinne von John Stuart Mills (2004 [1843]) „method of disagreement“ darzulegen, wie moralische Argumente wirtschaftliches Handeln in unterschiedlichen sozialen Situationen auch unterschiedlich beeinflussen. Denn Wolder und Tehnwolder ähneln sich in jeder Hinsicht – mit der Ausnahme, dass Tehnwolders operatives Management soziale Bindungen an die Heimatregion des Unternehmens hatte, Wolders jedoch nicht. Amerikanische Investoren kauften beide Unternehmen, die daraufhin hohe Renditen erwirtschaften mussten. Bei Tehnwolder leitete die Eigentümerfamilie jedoch das operative Geschäft weiter. Dies führte trotz ähnlicher wirtschaftlicher Ausgangsbedingungen zu einer völlig anderen, aber genauso erfolgreichen Strategie wirtschaftlicher Interessenverfolgung. Wie noch gezeigt wird, lag der Grund hierfür darin, dass Tehnwolders Geschäftsleitung offen gegenüber moralischen Appellen war. Dass sich beide Unternehmen in derselben wirtschaftlichen Situation befanden, ist ebenso wie deren Namensähnlichkeit kein Zufall. Denn Wolder und Tehnwolder waren ursprünglich dasselbe Unternehmen, das sich später aufspaltete. Wolder lockerte seine Bindungen an die Heimatregion, während Tehnwolder dieser „bis heute noch verbunden ist. Es hat sich von daher ein anderes Image bei der Belegschaft entwickelt“, wie ein Gewerkschaftsmitarbeiter meinte (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 2. Min.). Wolder und Tehnwolder produzieren für denselben Markt und sind weltweit ihre gegenseitig schärfsten Konkurrenten (Tehnwolder 1. Interview: 57. Min.; Tehnwolder 4. Interview: 50. Min.; Zeitungsartikel). Die folgende Tabelle fasst Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Unternehmen zusammen. Wolders entbettete Geschäftsleitung gab vor, aus wirtschaftlichen Gründen Produktion verlagern zu müssen, auch wenn dies als unmoralisch kritisierbar sei. Die sozial eingebundene und darum für moralische Appelle empfänglichere Geschäftsleitung Tehnwolders gab dagegen in einer ähnlichen wirtschaftlichen Situation an, aus wirtschaftlichen Gründen am Heimatstandort bleiben zu müs-
M. Schröder, Die Macht moralischer Argumente, DOI 10.1007/978-3-531-93196-8_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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7 Die Unternehmen Wolder und Tehnwolder:
sen. Beide Unternehmen rechtfertigten somit gegenteilige Strategien mit wirtschaftlichen Argumenten. Da sich ihre wirtschaftliche Situation aber kaum unterschied, reflektierten ihre Aktionen eher ihre jeweilige Empfänglichkeit für moralische Argumente statt ihre jeweilige wirtschaftliche Situation. Der Vergleich der beiden Unternehmen zeigt darum, dass moralische Argumente beeinflussen, wie Geschäftsleitungen ihre wirtschaftlichen Interessen verfolgen, auch wenn ihnen dies mitunter nicht bewusst ist. Tabelle 3: Unterschiede Wolder – Tehnwolder Wolder
Tehnwolder
Unternehmensgröße 2006
940 Millionen Euro Umsatz, 5.200 Mitarbeiter
570 Millionen Euro Umsatz, 2.800 Mitarbeiter
Eigentümer
Amerikanischer Finanzinvestor
Amerikanischer industrieller Investor zu zwei Drittel, Familie zu einem Drittel
Einbettung der Geschäftsleitung
Engländer ohne Bindungen an die Heimatregion des Unternehmens
Familie, die seit über 100 Jahren in der Heimatregion wohnt. Betriebsrat und Geschäftsleitung kennen sich persönlich
Gewinnsituation (EBITDA-Marge 2005)
18,3 Prozent
18,0 Prozent
Handlung
Verlagerung nach Asien
mehr Produktion am Heimatstandort
Produzierte Güter
kaum Unterschiede, die Unternehmen sind schärfste Konkurrenten
7.1 Wolders wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter Wolder erreichte 2006 einen Umsatz von über 900 Millionen Euro und einen Weltmarktanteil seiner Produkte von 10 Prozent. Seit den neunziger Jahren hatte das Unternehmen Werke im Ausland, die aber nur circa 15 Prozent der Wertschöpfung ausmachten. Die Unternehmensprodukte galten weltweit als teuer und hochwertig. In den Jahren vor der Produktionsverlagerung wuchs Wolders Unternehmensumsatz, doch Tehnwolder holte auf.
7.1 Wolders wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter
Abbildung 2:
Umsatzentwicklung Wolder und Tehnwolder
Abbildung 3:
Belegschaftsentwicklung Wolder und Tehnwolder
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7 Die Unternehmen Wolder und Tehnwolder:
Im Gegensatz zu Tehnwolder baute Wolder jedoch Arbeitsplätze ab. Mit 5.200 Arbeitnehmern, 4.500 davon in Deutschland, war Wolder während der Diskussion um Produktionsverlagerung immer noch größer als der aufholende Konkurrent. Beide Unternehmen hatten Renditen zwischen 15 und 20 Prozent. Abbildung 4:
Renditeentwicklung Wolder und Tehnwolder
In den neunziger Jahren verkaufte die damalige Eigentümerfamilie Wolder an einen Finanzinvestor, der das Unternehmen nach einigen Jahren an einen zweiten Finanzinvestor weiterverkaufte. Wie bei Steche investierten die Investoren kaum, sondern finanzierten den Verkauf mit Schulden, die sie dann dem Unternehmen aufbürdeten. Beim zweiten Verkauf ersetzte außerdem der Engländer James Layden, der vorher Marketingchef in amerikanischen Firmen war, den alten Vorstand (Wolder 1. Interview: 5. Min.). Arbeitnehmervertreter verstanden nicht, warum der alte Vorstandsvorsitzende gehen musste. Schließlich genoss er bei den Arbeitnehmern hohes Ansehen und erwirtschaftete eine hohe Rendite (Wolder 1. Interview: 6. Min.). Doch Layden verkündete zu seinem Einstand, die bisherigen Renditen zwischen 15 und 20 Prozent seien zu niedrig (Zeitungsartikel). Zeitungen kritisierten, es fehle ihm an „Gespür im Umgang mit Mitarbeitern“, außerdem habe er keine Erfahrung in deutschen Unternehmen. Angestellte gaben an, durch den Abgang des alten Vorstands und Laydens Auftreten sei die Stimmung im Unternehmen „saumäßig“. Einige Arbeitnehmer wechselten zu anderen Unternehmen, manche zum Konkurrenten Tehnwolder (Zeitungsartikel). Als einziger mit Erfahrung in deutschen Unternehmen blieb Arbeitsdirektor
7.1 Wolders wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter
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Dieter Scholz aus dem alten Vorstand übrig. Er versuchte, Layden die deutsche Arbeitnehmermitbestimmung nahezubringen, doch dieser hatte kein Verständnis dafür, Wolder nicht so führen zu dürfen, wie er es für richtig hielt. Der örtliche Bevollmächtigte der IG Metall äußerte, Layden habe von der Branche keine Ahnung und „keinerlei emotionale Bindungen an das Unternehmen und dessen Standort. Es gibt einen Maßstab, das merkt man in Gesprächen […], das ist Gewinn“ (Wolder/Tehnwolder 2. Interview: 5. Min.). Je nach Werk waren 20 bis 50 Prozent der Belegschaft gewerkschaftlich organisiert (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 23.–24. Min.). Da Wolder vor dem Verkauf übertariflich bezahlte, sahen Arbeiter keine Notwendigkeit, der Gewerkschaft beizutreten: „Warum soll ich in die Gewerkschaft gehen? Ich bin doch bei Wolder“, so äußerten sie gegenüber Gewerkschaftsmitarbeitern (Wolder 1. Interview: 76. Min.). Doch in dem bald aufziehenden Konflikt baute die IG Metall ihre Machtbasis aus. Die IG-Metall-Bezirksleitung eines der Wolder-Werke war auch für Tehnwolder zuständig, da die Werke nahe beieinanderlagen. Die Gewerkschaft spielte jedoch keine große Rolle, denn es stand wegen der hohen Rendite nicht zur Diskussion, vom Tarifvertrag abzuweichen (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 42. Min.). Die Abwanderungspläne diskutierten vor allem der Vorstandsvorsitzende James Layden, Arbeitsdirektor Dieter Scholz, der Betriebsratsvorsitzende Paul Pintona und Lutz Schäfer, Betriebsrat eines besonders gefährdeten Werkes. Paul Pintona wollte als Betriebsratsvorsitzender eine Produktionsverlagerung verhindern, aber Wolder nicht durch einen ausufernden Konflikt beschädigen. Zudem waren die Werke unterschiedlich bedroht und konfliktbereit. Die Geschäftsleitung schüchterte die Betriebsräte einiger Werke so sehr ein, dass sie auch Jahre später nicht bereit waren, Interviews zu geben; andere Betriebsräte suchten dagegen deutschlandweite Aufmerksamkeit. Die Betriebsräte hatten ein schlechtes Verhältnis zu Layden. Sie unterstellten ihm mangelnde soziale Verantwortung, und dass es ihm nur darum ging, den prestigeträchtigen Namen des Unternehmens möglichst gut zu vermarkten, statt hochwertige Produkte herzustellen (Wolder 2. Interview: 32. Min.). Der Betriebsratsvorsitzende Pintona war froh, dass zumindest Arbeitsdirektor Scholz im Vorstand blieb, obwohl Headhunter versuchten, ihn abzuwerben (Notizen Betriebsratssitzung 07.09.2004). Er war das einzige Vorstandsmitglied, dem die Arbeitnehmervertreter noch vertrauten (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 66.–67. Min.; Wolder 1. Interview: 90. Min.).
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7 Die Unternehmen Wolder und Tehnwolder:
7.2 Moralische Argumente bei Wolder Mit dem Argument, notwendige Sanierungsmaßnahmen seien bisher unterblieben, forderte Layden kurz nach seinem Antritt, 150 Millionen Euro einzusparen. Betriebsrat Pintona hatte bereits vorgeschlagen, über 120 Millionen Euro einzusparen. Strittig war, ob dafür Produktionsverlagerungen genutzt werden sollten. Außerdem war für Pintona problematisch, dass die Unternehmensberatung McScott das Gutachten zu den Einsparvorschlägen erstellen sollte. Denn zwei Drittel der Mitarbeiter des Finanzinvestors hatten vorher für McScott gearbeitet, was seiner Meinung nach die Unabhängigkeit des Gutachtens gefährdete. Das Gutachten sollte außerdem 8 bis 11 Millionen Euro kosten, was allein schon über 5 Prozent der anvisierten Einsparungen entsprach. Zudem verwehrte Layden Einsicht in den Beratervertrag. Insofern konnte der Betriebsrat nicht ausschließen, dass die Studie nicht einfach Druck ausüben und Maximalforderungen der Geschäftsleitung legitimieren sollte (Wolder 2. Interview: 38. und 54. Min.). Pintona war besonders verärgert, da Wolder operativ circa 200 Millionen Euro Jahresgewinn machte, die Werke mussten sogar Überstunden leisten, weil sie die Nachfrage kaum befriedigen konnten. Erst die jährlichen Zinskosten von 220 Millionen Euro, die Wolder wegen seines mit Schulden finanzierten Verkaufs zu bedienen hatte, machten die Einsparungen nötig. 7.2.1 Erste Phase: Bei hoher Rendite gelten Kündigungen als unmoralisch Die Diskussionen begannen, als Zeitungen und die IG Metall öffentlich kritisierten, die Belegschaft müsse Wolders „völlig überteuerten“ Verkauf mit Einkommenseinbußen bezahlen (Zeitungsartikel). Layden entgegnete, von jedem Investment erwarte man doch möglichst viel Gewinn. Er könne darum die „ganze Aufregung“ nicht verstehen, da die Belegschaft in jedem Fall Konzessionen leisten müsse, entweder um die Schulden des Unternehmensverkaufs abzuzahlen und dem Investor so einen höheren Wiederverkaufspreis zu ermöglichen oder um eine möglichst hohe Rendite zu erwirtschaften (Zeitungsartikel). Die Kritik an Layden und dem Finanzinvestor war jedoch grundlegender, weswegen Zeitungen seine Argumente nicht akzeptierten. Hinter der öffentlichen Kritik stand die Einschätzung, Einsparungen seien prinzipiell unmoralisch, wenn sie eine hohe Rendite von fast 20 Prozent noch steigern sollten, damit ein Finanzinvestor einen Kauf über Schulden finanzieren konnte. Diese öffentliche Kritik an Renditemaximierung übten Arbeitnehmervertreter immer wieder; auch im Unternehmen Fernlich war sie zu beobachten. Offensichtlich wird es für unmoralisch gehalten, Einsparungen oder Kündigungen zu fordern, um mehr als einen
7.2 Moralische Argumente bei Wolder
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„Normalgewinn“ zu erwirtschaften. Die IG Metall stellte daher auch klar, dass sie eine Abweichung vom Tarifvertrag nicht einmal diskutieren werde. Gewerkschaft und Betriebsrat lehnten das Gutachten von McScott schon ab, bevor sie es geprüft hatten (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 13. Min.; Wolder 1. Interview: 91. Min.). Layden schrieb der Belegschaft, es gehe ihm darum „die Kosten sinnvoll zu senken und die Zukunft des Unternehmens und die Beschäftigung zu sichern“ (Unternehmensaushang). Doch es machten bereits Gerüchte die Runde, dass Produktionslinien an den Heimatstandorten auslaufen sollten. Die IG Metall verschickte an ihre Mitglieder einen Auszug der Unternehmensgrundsätze, welche ein „Klima von Offenheit und Vertrauen [als] Voraussetzung zum Ausbau und Verteidigung unserer Wettbewerbsposition“ forderten. Dies sollte an die Geschäftsleitung appellieren, die Belegschaft moralisch zu behandeln, nicht zuletzt im eigenen Interesse. Das McScott-Gutachten diagnostizierte einen „Mismatch“, denn Wolder hatte 80 Prozent seiner Produktion, aber nur 20 Prozent seines Absatzes in Deutschland. Der Anteil an Wertschöpfung in Niedriglohnländern müsse darum von 20 auf 80 Prozent steigen und bis zu 2.700 der 4.500 deutschen Arbeitsplätze sollten dazu abgebaut werden. Von den vier Werken solle lediglich die Konzernzentrale mit Entwicklungs- und Designzentrum in Deutschland bleiben. Die Geschäftsleitung solle sie allerdings aus der ländlichen Umgebung möglichst in eine „international ausgerichtete Großstadt“ verlegen, um Führungskräfte anzuziehen. Die gesamte Produktion solle im Ausland stattfinden, wo circa 1.500 neue Arbeitsplätze entstehen sollten (Zeitungsartikel). Als Alternative zur Schließung aller deutschen Werke schlug das Gutachten in einem zweiten Szenario vor, nur 1.570 Stellen abzubauen und das ostdeutsche Werk Trümmerwalde zu schließen. Dieses stellte Nischen- und Designprodukte her, die eher zu Wolders gutem Ruf als zu dessen Umsatz beitrugen. Der Vorstand favorisierte diese abgemilderte zweite Variante, bei der 1.500 Stellen abgebaut werden sollten (Pressemitteilung). Die Arbeitnehmervertreter konnten erst gar nicht glauben, dass die Geschäftsleitung Entlassungen in dieser Größenordnung tatsächlich plante. „Wir haben bei Arbeitsplatzabbau immer nach außen geguckt und haben gesagt: ‚So etwas kann uns nicht passieren, waren da auch ziemlich arrogant teilweise.‘ Und für viele Leute brach eine Welt zusammen. Die Eltern haben hier gearbeitet, die Kinder sind schon wieder drin, zum Teil haben die Großeltern bei Wolder gearbeitet. ‚So etwas gibt es nur woanders und nicht bei Wolder‘, haben wir gedacht. Und auf einmal hat es uns getroffen, aus heiterem Himmel.“ (Wolder 1. Interview: 30. Min.)
Die IG Metall bezeichnete die McScott-Studie als wirtschaftlich unsinnig. Sie vermutete, die Geschäftsleitung habe sie nur in Auftrag gegeben, „um eine
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Rechtfertigung von Externen zu haben, die die Standortschließungsnotwendigkeit begründet“ (Wolder 3. Interview: 16. Min.). Tageszeitungen schrieben, der Vorstand unterschlage mit dem 80/20-Argument, dass Wolder 76 Prozent seines Umsatzes zwar im Ausland, aber in Europa mache. Das einzige Werk in Asien „dümpele vor sich hin“. Doch das „Horrorszenario von der asiatischen Konkurrenz“ dürfe „in keinem McScott-Bericht fehlen“, denn der Vorstand wolle „umerziehen“ und nutze das Gutachten als „Blitzableiter“ für den Zorn gegenüber seinen Einsparmaßnahmen (Zeitungsartikel). Besonders Lutz Schäfer, Betriebsrat des gefährdeten Werks Trümmerwalde, lehnte die McScott-Empfehlungen ab. Dies ist zunächst nicht überraschend, schließlich würde er seinen Arbeitsplatz verlieren, wenn sie umgesetzt würden. Doch außerdem bemängelte er, dass die Gutachter nur zwei Stunden sein Werk besichtigten und demzufolge keinen fundierten Eindruck davon hätten (Wolder 2. Interview: 23. Min.). Auch die Geschäftsleitung Trümmerwaldes konnte sich nicht erklären, wie McScott mit den wenigen angeforderten Daten die Wirtschaftlichkeit des Werks errechnete (Wolder 2. Interview: 78. Min.). Arbeitnehmervertreter kritisierten Layden als „beratergesteuert“. Er könne Wolders wirtschaftliche Situation nicht einschätzen, da er bisher nur im Marketing gearbeitet habe (Wolder 1. Interview: 15. Min.). Kurz nachdem das McScott-Gutachten bekannt wurde, forderte der Trümmerwalder Betriebsrat Schäfer Layden auf, das Werk persönlich zu besichtigen und appellierte: „Herr Layden, die Belegschaft von Trümmerwalde fragt jetzt nicht, was Sie für uns tun, sondern was wir für Sie tun können.“ Offenbar war es seine Absicht, Verantwortungsgefühl hervorzurufen. Doch Layden entgegnete: „Das haben Sie jetzt ja clever gemacht.“ Im Rückblick meinte Schäfer, dies sei „der schwärzeste Tag“ in seinem Leben gewesen. Denn obwohl es noch keinen offiziellen Beschluss gab, war er sich sicher, dass sein Werk geschlossen würde (Wolder 2. Interview: 48. und 100. Min). Der Betriebsratsvorsitzende Pintona argumentierte gegenüber Layden und Scholz, dass man so weitreichende Einsparungen bei hoher Rendite mit Rücksicht auf die moralischen Befindlichkeiten der Belegschaft und Bevölkerung „einfach nicht machen kann.“ Er hatte sogar den Eindruck, dass Layden und Scholz dafür prinzipiell Verständnis zeigten. Selbst Layden, der aus England kam, hatte eine deutsche Frau, wohnte in Deutschland und versuchte sich in Zeitungsinterviews als hart, aber verantwortungsvoll darzustellen. Über Arbeitsdirektor Scholz vermutete der Betriebsrat sogar, dass er die Produktion in Deutschland halten wollte, aber in einem Dilemma steckte: „Zu sagen, ‚ich trage das nicht mit‘, wäre für ihn in seiner Funktion das Aus gewesen, [dann lieber] mitschwimmen und versuchen, ein klein bisschen die Fäden zu ziehen“ (Wolder 1. Interview: 100. Min.). Auf Pintonas Argument, die Kündigungen seien verantwortungslos und wirtschaftlich nicht zwingend, antworteten Layden und Scholz,
7.2 Moralische Argumente bei Wolder
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dass sie ja durchaus bereit wären, weniger Arbeitnehmer zu entlassen. Sie könnten jedoch nicht aus moralischer Rücksichtnahme wirtschaftlich irrational handeln und müssten darum eine vernünftige Alternative haben, um die 150 Millionen Euro einzusparen (Wolder 1. Interview: 72. Min.). Da für Layden unklar war, wie das Geld am besten eingespart werden könnte, stattete er Pintona mit Mitteln für ein Gegengutachten aus, das prüfen sollte, ob die anvisierten Einsparungen auch sozialverträglicher erreicht werden könnten. Wieder war es Ungewissheit über eine optimale Interessenverfolgungsstrategie, derentwegen moralische Argumente auf eine sozialverträglichere Interessenverfolgungsstrategie hinwirkten. Obschon die Gewerkschaft drängte, weigerte sich Pintona, eine gewerkschaftsnahe Unternehmensberatung zu beauftragen, denn das Gutachten hätte Layden als Gefälligkeitsgutachten abtun können (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 16. Min.; Wolder 1. Interview: 8. Min.). Aus dem Gegengutachten ging hervor, dass die Produktivität der deutschen Werke jährlich um 10 bis 15 Prozent gesteigert werden könnte. Die Geschäftsleitung müsste Einkauf, Logistik und Produktion optimieren und könnte dadurch die geforderten Einsparungen längerfristig genauso erreichen wie durch Produktionsverlagerungen. Mit diesem Szenario ging jedoch der Abbau von nur 842 statt 1.500 Stellen einher. Das Gegengutachten empfahl zwar ebenfalls, das Werk Trümmerwalde zu schließen, doch ausländische Werke bezeichnete es als unnötig. Die Einsparungen, die das McScott-Gutachten durch Verlagerungen für möglich hielt, bezeichnete das Gegengutachten als überzogen (Wolder 1. Interview: 25. Min.). Eines der Gutachten empfahl nun, Produktion zu verlagern; das andere empfahl, sie am Heimatstandort zu optimieren. Dadurch entstand erneut eine „Rationalitätslücke“, die Arbeitnehmervertreter mit moralischen Argumenten zu füllen versuchten. 7.2.2 Zweite Phase: Appell, dass Produktionsverlagerung bei hohem Gewinn verantwortungslos ist Um die Empfehlungen des zweiten Gutachtens durchzusetzen, planten Betriebsrat und IG Metall nun auch Konfliktstufen, die mit Warnstreiks und Kundgebungen begannen und in Arbeitsniederlegungen münden sollten, falls die Geschäftsleitung auf ihren Plänen beharren sollte (Wolder 1. Interview: 66. Min.). Außerdem stieg der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Beschäftigten, denn der Konflikt verdeutlichte ihnen die Notwendigkeit einer organisierten Interessenvertretung (Wolder 1. Interview: 75. Min.). Zwar war die Belegschaft weitgehend konfliktbereit, doch Betriebsrat Pintona wollte ihre Organisationsfähigkeit nicht strapazieren, damit sie im Ernstfall nicht „streikmüde“ wäre (Wolder 1. Interview: 73. Min.).
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Ein bekannter Arbeitsrechtsanwalt sollte die Arbeitnehmer vertreten. Dieser legte das McScott-Gutachten nach den ersten drei Seiten beiseite und sagte, er könne sich die weitere Lektüre ersparen. Enttäuscht fragte Pintona, warum er den Fall nicht übernehmen werde. „Doch, doch“, bot der Anwalt genau dies an und fügte mürrisch hinzu: „äußerst interessantes Gutachten“. „Ja, wollen sie es sich denn nicht angucken?“, fragte Pintona. Darauf antwortete der Anwalt: „Wenn Sie die ersten drei Seiten gesehen haben, sehen Sie, dass McScott-Gutachten alle gleich sind. Durch die Bank alle gleich. Ob da jetzt Wolder drinnen steht und ob da andere Zahlen drinnen sind: von Unternehmen zu Unternehmen wiederholt sich das, die sind alle gleich. Das brauche ich mir nicht anzuschauen.“ (Wolder 1. Interview: 62. Min.)
Betriebsrat und Gewerkschaft nutzten moralische Argumente nun nicht mehr als Appelle an Layden oder Scholz, sondern um die Belegschaft und die Öffentlichkeit aufzuwiegeln und damit Druck auszuüben. Betriebsrat Schäfer argumentierte, ein Unternehmen mit fast 20 Prozent Rendite dürfe seine Produktion nicht verlagern, um seine Gewinne noch zu steigern (Wolder 2. Interview: 44. Min.). Mit Hinweis darauf, dass die Geschäftsleitung trotz hoher Gewinne Produktion verlagere, bat Pintona die örtliche Bundestagsabgeordnete um Hilfe. Diese prangerte das Gewinnstreben der Geschäftsleitung daraufhin öffentlich an (Wolder 1. Interview: 12. Min.). Das gesellschaftliche Echo darauf überraschte sogar Pintona. Selbst der Bundeskanzler empörte sich über das angeblich überzogene Gewinnstreben der Geschäftsleitung. Politiker aller Parteien und sogar wirtschaftsliberale Zeitungen kritisierten es als unmoralisch, eine derart hohe Rendite durch Produktionsverlagerungen und Entlassungen noch steigern zu wollen (Zeitungsartikel). Layden verteidigte sich in Zeitungsinterviews, die geplanten Maßnahmen seien wirtschaftlich unumgänglich. Da es ihm darum gehe, Wolder wettbewerbsfähig zu machen, verhalte er sich nicht unmoralisch (Zeitungsartikel). Layden wagte es interessanterweise nicht, Gewinnmaximierung selbst als moralisch vertretbar darzustellen. Dabei war es doch als Vorstandsvorsitzender seine Aufgabe, die Rendite zu steigern. Warum bekannte er sich dann nicht dazu? Auch Scholz brachte das Unvermeidlichkeitsargument; er bemerkte zwar, ihm tue jede einzelne Entlassung leid, doch es sei „einfach notwendig, die Märkte zu besetzen, auch mit Produktionsstandorten, wo wir hohe Umsätze haben und auch hohe Wachstumsraten in Zukunft“ (Fernsehreportage). Aufgrund des öffentlichen Protests lud das Bundeswirtschaftsministerium Scholz und Layden vor. Man warf ihnen vor, dass sie dem Unternehmensimage schadeten. Scholz und Layden entgegneten, sie müssten eine wirtschaftlich richtige Entscheidung treffen, keine möglichst populäre. Mitarbeiter des Ministeriums teilten dem Betriebsrat daraufhin mit, sie könnten letztlich niemanden daran
7.2 Moralische Argumente bei Wolder
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hindern, mit seinem Eigentum zu verfahren, wie er es für richtig halte (Wolder 2. Interview: 44. Min.). Während das Wirtschaftsministerium darlegte, wie sich Layden und Scholz moralisch verhalten sollten, argumentierten diese, wie sie sich aufgrund der wirtschaftlichen Fakten verhalten mussten. Es ist somit nicht erstaunlich, dass es zu keiner Einigung kam, denn normative Rechtfertigungen standen (vom Anspruch her) faktischen gegenüber. Die öffentliche Kritik am Unternehmensverhalten hatte jedoch auch Folgen für den amerikanischen Finanzinvestor. Ein Journalist berichtete in dessen Heimatland, er wolle zwecks Renditemaximierung ein ertragreiches Werk in Deutschland schließen. Für den Finanzinvestor war dies ein Desaster, denn kurz zuvor hatte er geplant, sich an der Infrastruktur einer amerikanischen Stadt zu beteiligen und hatte bereits 17 Millionen Dollar investiert. Doch dann kam es zu einem Bürgerbegehren, weil Einwohner nicht wollten, dass Teile der öffentlichen Infrastruktur einer Renditemaximierung unterworfen würden. Solche Bürgerbegehren machten es für den Investor schwieriger, Investments zu finden, weswegen er stärker auf seinen Ruf achten musste. Layden wurde daher von der Führungsebene aufgefordert, in Deutschland eine „Charmeoffensive“ zu starten (Wolder 2. Interview: 72. Min.). Gleichzeitig war die Belegschaft erbost über Layden. Erstens konnte sie prinzipiell nicht verstehen, warum er über Kündigungen nachdachte, während Wolder fast 20 Prozent Rendite und volle Auftragsbücher hatte. Darüber hinaus verstand sie nicht, warum die Geschäftsleitung nicht nach dem gemäßigten Gegengutachten des Betriebsrats sparen wollte, sondern weiterhin Produktionsverlagerungen plante. Als die Betriebsräte in Betriebsversammlungen begannen, gegen die Einsparpläne Stimmung zu machen, eskalierte der Konflikt mit Demonstrationen und Warnstreiks vor der Hauptverwaltung (Wolder 1. Interview: 20. Min.). Layden und Scholz mussten eine Aufsichtsratssitzung in die nächstgelegene Großstadt verlegen und sich von Leibwächtern schützen lassen (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 18. Min.; Wolder 1. Interview: 22. Min.). Die Arbeitnehmervertreter argumentierten auf der dortigen Sitzung, dass wirtschaftliche Gründe gegen eine Verlagerung sprächen. Sie führten die hohe Fluktuation der ausländischen Arbeitnehmer an, die Werke verließen, sobald sie woanders marginal mehr verdienten, schließlich seien sie im Gegensatz zur deutschen Belegschaft nicht emotional an den Standort gebunden (Wolder 1. Interview: 81. Min.). Außerdem, so die Betriebsräte, habe das Betriebsratsgutachten doch gezeigt, dass die 150 Millionen Euro auch mit Verbesserungen an den Heimatstandorten eingespart werden könnten. Wenn eine wirtschaftlich optimale Strategie unklar sei, könne man doch auch die Option wählen, die moralisch am wenigsten fragwürdig sei, und sich damit loyale Kunden und Arbeiter bewahren (Wolder 1. Interview: 28. Min.). Während das Argument der höheren
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7 Die Unternehmen Wolder und Tehnwolder:
Fluktuation der Arbeitnehmer im noch zu besprechenden Unternehmen Tehnwolder die Verlagerungsdiskussion maßgeblich beeinflusste, war dies bei Wolder nicht der Fall. Denn Layden und Scholz stimmten Pintona zwar in vielem zu: So gab sich Layden besorgt über das zunehmend schlechte Unternehmensimage, auch hielt er das Gegengutachten für plausibel. Er meinte sogar, dass er sich selbst in der Klemme befand, da er sich schon öffentlich auf die Linie des McScott-Gutachtens festgelegt hatte (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 15. Min.). Allerdings blieb er dabei: Produktionsverlagerungen seien sinnvoll. Nur so könne Wolder trotz hoher Fixkosten, Billigkonkurrenz und Plagiaten aus dem Ausland überleben. Mit der geringen Loyalität der Arbeitnehmer im Ausland und anderen Problemen müsse man leben. Es gehe nicht an, in Deutschland 80 Prozent der Produktion, aber nur 20 Prozent des Absatzes zu haben, nötig wäre ein Verhältnis von 50/50 (Zeitungsartikel). Auf die moralischen Argumente des Betriebsrats erwiderte er, sein Handeln sei unproblematisch, denn es gehe ihm nicht um Renditesteigerung, sondern um Wettbewerbsfähigkeit (Wolder 1. Interview: 13. Min.). Abermals bekannte sich Layden nicht zur Renditemaximierung als Ziel, obwohl dies doch die legitime Aufgabe eines Vorstandsvorsitzenden sein sollte (vgl. Friedman 2001[1970]). Er nannte das 80/20-Verhältnis als Problem, während das Vergleichsunternehmen Tehnwolder es als Erfolgsgeheimnis bezeichnete, wie das nächste Kapitel zeigen wird. Als ein Reporter Layden später fragte, warum Tehnwolder in einer ähnlichen wirtschaftlichen Situation ohne Kündigungen auskomme, antwortete er verärgert, man möge doch bitte dessen Geschäftsbericht lesen. Er werde nur über Wolder sprechen (Zeitungsinterview). Ein Vertreter der örtlichen Gewerkschaft beschrieb, warum er Layden im Unterschied zur Geschäftsleitung Tehnwolders nicht davon abbringen konnte, Produktion zu verlagern, obwohl die beiden Unternehmen wirtschaftlich in einer ähnlichen Situation waren: „Da kommen wir zum Kern der Frage: Fühlt sich ein Unternehmen einer Region oder den Beschäftigten verbunden? Tehnwolder sagt: ‚Wir haben hier einen Namen, wir haben hier Qualität, wir produzieren hier.‘ Layden dagegen hat gesagt: ‚Das ist egal, wo wir produzieren, wir müssen so billig wie möglich produzieren. Für uns ist nur der Name Wolder wichtig. Das ist ein Markenname, der sich verwerten lässt.‘“ (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 14.–15. Min.)
Nach der Aufsichtsratssitzung verkündete Layden auf einer Betriebsversammlung, sozialverträgliche Kündigungen seien unvermeidlich; seine Belegschaft buhte und pfiff ihn dafür von der Bühne. Die Stimmung war laut Aussage eines Anwesenden explosiv (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 34.–36. Min.). Pintona warf Layden vor, es sei niemals sozialverträglich, wenn jemand seinen Arbeitsplatz verliere. Dieses Argument hatte jedoch keine Wirkung, anders als bei Tehnwolder: „Ich
7.2 Moralische Argumente bei Wolder
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denke, da schüttelt man sich, geht raus und sagt: ‚Ok ist zwar nicht schön, [aber] lieber rechtzeitig fünfzig verlieren, als irgendwann fünfhundert verlieren‘“, wie ein Betriebsrat bemerkte (Wolder 1. Interview: 33. Min.). Layden und Scholz glaubten vermutlich, dass sie dem Unternehmen mit Produktionsverlagerung am ehesten dienten. Bemerkenswert ist jedoch, dass sie sich weigerten, Renditesteigerung als Motivation anzugeben. Stattdessen versuchten sie ihr Vorgehen moralisch zu verteidigen, indem sie sich nicht mit ihren wirtschaftlichen Interessen, sondern mit einer Verantwortung für das Unternehmen rechtfertigten. Die Mitarbeiter waren trotzdem verärgert. Als Layden dies merkte, ließ er sich bei unternehmensinternen Gesprächsanfragen immer öfter entschuldigen, er sei wegen Shareholdermeetings terminlich ausgebucht. Scholz übernahm die Konfliktmoderation. Die IG Metall äußerte über ihn, er habe „immer mal wieder versucht, den Guten zu spielen und mit uns zu reden, aber er hatte natürlich auch keine Freunde im Aufsichtsrat. Denn er war der einzige Überlebende aus dem alten Vorstand“ (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 20. Min.). Pintona und die IG Metall vermuteten, Scholz sei „gezwungen, mitzuschwimmen“, obwohl er eigentlich moralische Bedenken gegenüber den Verlagerungsplänen habe (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 67. Min.; Wolder 1. Interview: 90. Min.). 7.2.3 Dritte Phase: Moralische Appelle versagen – Trümmerwalde wird geschlossen Schon Jahre bevor ein Finanzinvestor Wolder übernommen hatte, empfahl eine Unternehmensberatung, den ostdeutschen Standort Trümmerwalde zu schließen. Laydens Vorgänger schrieb damals der Belegschaft, er habe sich „gegen die Empfehlungen der Berater für die Erhaltung von Trümmerwalde ausgesprochen“. Zwei Betriebsräte erinnerten sich, warum der damalige Vorstandsvorsitzende den Standort erhalten wollte: „Da glaube ich schon, dass es soziale Aspekte waren, die da mitspielten. Da glaube ich schon, dass es die Personen, sprich Scholz und der damalige Vorstandschef waren, die sagten: ‚Die haben wir nach der Wende quasi zum Nulltarif bekommen, die wollen wir jetzt nicht in den Arsch treten.‘ Das hat nie einer in der Form ausgesprochen, aber ich denke mal, dass das die Entscheidung war.“ (Wolder 1. Interview: 54. Min.) „Der damalige Vorstandschef hat nichts dazu gesagt. Ich weiß aber, dass er sich im Nachhinein für uns eingesetzt hat, obwohl er uns das nie gesagt hat, da ist er nicht der Kerl dafür. Wenn er so etwas gemacht hat, dann hat er nicht damit geprahlt.‘“ (Wolder 2. Interview: 15. Min.)
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Der damalige Vorstand beabsichtigte also nicht, ein Werk zu schließen, das keine Verluste machte (auch wenn es weniger profitabel als die anderen Werke war), für das er nach der deutschen Wiedervereinigung Subventionen bekommen hatte.36 Auch in der aktuellen Diskussion um Produktionsverlagerung versicherte Scholz dem Bürgermeister Trümmerwaldes noch, er wolle lieber in Ostdeutschland als in China einkaufen (Aussage des Bürgermeisters in Fernsehreportage). Doch dann verkündete der Arbeitsdirektor auf einer Betriebsversammlung die Werksschließung: „Scholz ist dann auf den Betriebsversammlungen […] ausgepfiffen worden. Aber er ist ja auch Mann genug, um das auszuhalten. Muss man einfach sagen, absoluter Managertyp. Er hat da eine Botschaft verkündet, den Auftrag hatte er. Er hat auch gesagt: ‚Wir können da noch mal über das eine oder andere reden, aber im Grundsatz ändert sich nichts mehr.‘ […] Es war eigentlich eine grundbetriebswirtschaftliche Logik, die gesagt hat: ‚Es geht einfach nicht anders. Leute, ihr müsst Verständnis haben, das tut uns auch leid für die Region, aber wir müssen das Unternehmen im Wettbewerb behaupten. Wenn wir das nicht machen, dann gehen wir unter.‘“ (Wolder 3. Interview: 14. Min.)
Die Stimmung auf der Betriebsversammlung kochte, als ein zweiter Personalverantwortlicher den Beschäftigten nahelegte, sie seien durch ihre hohen Lohnforderungen selbst für die Werksschließung verantwortlich. Daraufhin kam es fast zu Handgreiflichkeiten; Betriebsrat Schäfer verwies den zweiten Personalchef des Geländes (Wolder 2. Interview: 85. Min.). Berater von McScott argumentierten, Personalkosten seien Faktorkosten; deutsche Arbeitnehmer seien Faktoren, chinesische Arbeitnehmer Talente, was die Stimmung auf der Betriebsversammlung noch einmal anheizte. Auf die Frage, ob ihre Verlagerungsvorschläge nicht unmoralisch seien, entgegneten die Berater von McScott, sie schützten mit ihren Vorschlägen letztlich deutsche Arbeitsplätze, denn ohne Einsparungen würde das Gesamtunternehmen leiden (Wolder 2. Interview: 25. Min.). Schäfer versuchte noch, Layden über Konzessionen umzustimmen. Gegen den Willen (und seine Befugnisse gegenüber) der IG Metall bot er an, die Belegschaft könne auf circa 20 Prozent ihres Gehalts verzichten. Seiner Meinung nach lägen die Produktionskosten damit niedriger als in China (Zeitungsartikel). Dieser Vergleich war jedoch hypothetisch, da es ein Werk in China noch nicht gab und auch die vorgeschlagenen Produktionsbedingungen in Trümmerwalde rein hypothetisch waren (Wolder 1. Interview: 53. Min.; Wolder 2. Interview: 75. 36
Ein Beleg dafür, dass unter dem damaligen Vorstandsvorsitzenden noch keine Schließung des Werks geplant wurde, ist, dass der Finanzinvestor bei Schließung des Werks Vertragsstrafen an die örtlichen Stadtwerke bezahlen musste, da die vorherige Geschäftsleitung langfristige Stromlieferverträge abgeschlossen hatte (Wolder 2. Interview: 56. Min.).
7.2 Moralische Argumente bei Wolder
97
Min.). Scholz entgegnete wieder mit dem Unvermeidlichkeitsargument: Trümmerwalde sei Opfer des „strukturellen Problems“, dass Wertschöpfung in wachstums- und umsatzstarken Regionen fehle. Eine 40-Stunden-Woche oder Urlaubsverzicht können dieses Problem nicht lösen (Fernsehreportage). Auch die IG Metall verzweifelte an dieser Argumentation: „Dann hat aber die Arbeitgeberseite mal irgendwann durchblicken lassen: ‚Es ist uns völlig egal, ob ihr in der Lage seid, dieselbe Rendite zu erwirtschaften wie in China. Weil das absolute Zuwachspotenzial [im Ausland] ein sehr viel Höheres ist.‘ […] Weswegen es auch völlig egal war, von unserer Seite darauf hinzuweisen, dass die Kommune bei einem Wegzug massive Steuerausfälle hat, es war ja der einzige Großbetrieb in der Region. Dass die im Umfeld befindlichen Dienstleister und Zulieferer Schwierigkeiten bekommen werden […]. Dass die Jugend, die in der Region einen Ausbildungsplatz sucht oder einen Job finden muss, natürlich abwandern könnte. Dass wir auch relativ klar gesagt haben: ‚Wenn ein Unternehmen, das Subventionen bezieht und nach der Bindungsfrist einfach abhaut, dass das im Mindesten nicht einer sozialen Verantwortung entspricht.‘ Also, alle Grundargumente zu Ethik und Verantwortung haben letztlich nicht mal im Ansatz dazu geführt, dass man auf der Arbeitgeberseite was machen konnte.“ (Wolder 3. Interview: 4. Min.) „Ihre Strategie war ganz einfach zu sagen: ‚Wir können Produkte deutlich billiger fertigen und […] damit Gewinne machen. Das könnt ihr mit eurer 40-Stunden-Woche‘ … und was weiß ich … in Trümmerwalde wurde weiß der Teufel was angeboten, die waren zum Schluss billiger als die Chinesen. Das hat die [Geschäftsleitung] aber nicht interessiert. Es funktioniert wirklich so, ich wollte es ja auch nicht glauben, dass wenn eine strategische Entscheidung in einem Unternehmen gefallen ist, dann ziehen die das durch. Da können Sie argumentieren, wie Sie wollen.“ (Wolder/Tehnwolder 2. Interview: 22. Min.)
Diese Aussagen sind zwar durch die Enttäuschung der Gewerkschaft gefärbt. Festzuhalten bleibt jedoch, dass moralische Appelle und wirtschaftliche Argumente gegenüber einer Geschäftsleitung versagten, die keine soziale Bindung an die Standortregion hatte, während ähnliche Appelle bei Tehnwolders sozial eingebundener Geschäftsleitung in einer ähnlichen wirtschaftlichen Situation wirkten, wie das nächste Kapitel zeigen wird. Per Pressemitteilung teilte Layden nun mit, er sei „zu der Entscheidung gezwungen“, die Arbeitnehmer des ostdeutschen Standorts zu entlassen, um die Zukunft Wolders zu sichern. Schließlich habe selbst das Gegengutachten des Betriebsrats dies empfohlen (Zeitungsartikel; Fernsehreportage). Layden erklärte sich jedoch zu hohen Abfindungen bereit und gründete eine Transfergesellschaft, um die entlassenen Arbeitnehmer zu vermitteln. Die IG Metall vermutete, er und der Finanzinvestor wollten damit Schadensbegrenzung für das Unternehmensimage betreiben (Wolder 3. Interview:
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7 Die Unternehmen Wolder und Tehnwolder:
8.–11. Min.). Trümmerwaldes Bürgermeister erklärte, die Arbeitslosigkeit werde nun auf 30 Prozent ansteigen und Stadtbibliothek, Tierpark und Schwimmbad müssten geschlossen werden (Zeitungsartikel). Der örtliche Bevollmächtigte der IG Metall äußerte sich auch Jahre später noch enttäuscht über die geringe Wirkung moralischer Appelle: „Das war eine ganz üble Geschichte. Und da haben die gezeigt, es geht darum, Profit zu machen, und nicht um die Menschen. Da haben die moralischen Appelle nicht interessiert. Die haben ganz offen gesagt: ‚Moral hat im Geschäft nichts zu suchen.‘ Die haben einen Auftrag, bei ihnen ist Geld angelegt, die haben den Auftrag, das Geld anzulegen, die Rendite so hoch wie möglich zu erwirtschaften. Ist zwar bedauerlich, wenn Menschen auf der Strecke bleiben …“ (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 20. Min.)
Nicht nur sah die Geschäftsleitung keinen Raum, moralischen Appellen der Arbeitnehmervertreter zu entsprechen. Sie argumentierte vielmehr, sie verhalte sich moralisch, indem sie moralischen Argumenten zunächst widerstanden hatte und stattdessen wirtschaftlich sinnvoll handelte. Zumindest Scholz hatte jedoch anscheinend ein schlechtes Gewissen und setzte sich nach der Schließung Trümmerwaldes dafür ein, dass Betriebsrat Schäfer sein altes Gehalt weiterbezog, um einen neuen Investor für das Gelände zu suchen: „Er hätte das nicht machen müssen, er hätte sagen können: ‚Was geht mich das an, verklag’ doch Wolder. Ich lehn’ mich da zurück und fertig.‘ Da kam aus meiner Sicht so etwas wie Verantwortung dazu. […] Und es kann auch sein, dass es so eine menschliche Komponente mit den Leuten hier in der Region hatte.“ (Wolder 2. Interview: 63. Min.)
Einige Monate später hatte Schäfer ein Gespräch mit einem befreundeten Manager. Dieser vertraute ihm an: „Du hättest machen können, was du wolltest, es wurde beim Verkauf [an den Finanzinvestor] entschieden“ (Wolder 2. Interview: 77. Min.). Schon vor dem McScott-Gutachten hatte der Finanzinvestor also beschlossen, Trümmerwalde zu schließen. Dies hätte nach Einschätzung von Betriebsrat und IG Metall nur verhindert werden können, wenn alle Werke dagegen gestreikt hätten. Doch so weit ging die Solidarität der Belegschaft nicht. Einerseits meinten die westdeutschen Betriebsräte, dass Trümmerwalde tatsächlich weniger effizient produzierte; andererseits waren sie erleichtert, dass der ostdeutsche Standort statt ihres eigenen geschlossen würde (Wolder 2. Interview: 54. und 81. Min.; Wolder 3. Interview: 13. Min.; Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 23. Min.). Es gab sogar Gerüchte, die Geschäftsleitung habe einen Betriebsrat mit dem Versprechen geködert, sein Werk zu schonen.
7.2 Moralische Argumente bei Wolder
99
Bei den Betriebsratstreffen herrschte „eine ganz eigenartige Stimmung. Nicht so, das lassen wir nicht mit uns machen, sondern jedes Werk schaut, dass es möglichst wenig Beschäftigung verliert“ (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 54. Min.). In zwei Werken, die nach dem McScott-Gutachten besonders gefährdet waren, durfte der Betriebsrat nicht einmal mehr anbringen, dass es prinzipiell sinnvoll sei, die 150 Millionen Euro einzusparen. Als Arbeitnehmer in einem dritten Werk merkten, dass sie weniger gefährdet waren, wollten sie nicht mehr für die anderen Werke streiken. Trotz dieser Differenzen waren sich die Betriebsräte einig, dass es nötig werden könnte, die Situation eskalieren zu lassen. Unklar war aber, wann es zu welcher Eskalationsstufe kommen sollte, denn jeder Betriebsrat musste die Konfliktbereitschaft seines Werks berücksichtigen (Wolder 1. Interview: 87. Min.). Währenddessen machten Layden die öffentlichen Proteste persönlich zu schaffen. Nachdem eine Zeitung ihn „Deutschlands meistgehassten Manager“ genannt hatte, beklagte er sich bei Pintona: „Das tut einem schon weh, wenn man so was liest.“ Ein Arbeitnehmervertreter sagte im Nachhinein zu dem Gespräch: „An solchen Kleinigkeiten merkt man, sie sind natürlich auch sozial in einem bestimmten Kreis eingebettet, sie haben ja nicht nur Geschäftsfreunde, sondern auch private Freunde. Und wenn man mit diesen Dingen konfrontiert wird, dann ist das eine Seite. Aber die andere Seite ist, die für sie noch viel schlimmer ist, dass beispielsweise die Fachhändler von ihnen nicht mehr Produkte gekauft haben. Als sie auf einmal gemerkt haben, ihre Produkte waren nicht mehr in Deutschland gefragt. Und das ist auch das einzige wirkliche Druckmittel, das wir haben. Dass wir sagen können: ‚Wenn ihr jetzt nicht aufhört mit der oder der Maßnahme, dann werden wir an die Öffentlichkeit gehen.‘“ (Wolder/Tehnwolder 2. Interview: 31.–33. Min.)
Nun ließen die Arbeitnehmervertreter die Situation eskalieren. Dass die Geschäftsleitung Trümmerwalde schloss, verdeutlichte ihnen, dass ihre moralischen Appelle37 nicht fruchteten. Doch die Arbeitnehmervertreter konnten die Belegschaft nicht mehr ohne Weiteres mobilisieren, da diese gespalten und eingeschüchtert war. Daher nutzten sie moralische Argumente, um Wolders Absatz über eine Imageschädigung zu beeinflussen und damit Druck auf die Geschäftsleitung auszuüben.
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Der Begriff „Appell“ bedeutet im Gegensatz zu „Argument“, dass es sich um eine Bitte handelt, sich moralisch zu verhalten. Dies ist etwas anderes als der Druck, sich moralisch zu verhalten, da sonst Belegschaft und Öffentlichkeit mit moralischen Argumenten mobilisiert werden könnten.
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7 Die Unternehmen Wolder und Tehnwolder:
7.2.4 Vierte Phase: Moralische Diskreditierung beeinflusst Absatz Nachdem Arbeitnehmervertreter öffentlich beanstandet hatten, dass Layden trotz Rekordgewinne Arbeitsplätze abbaue, brach infolge von Kundenboykotten kurzfristig der Unternehmensabsatz ein (Aushang Trümmerwalde 31.03.2005). Zeitungen kritisierten, die Geschäftsleitung habe den Auslandsumsatz zwischen 1999 und 2004 von 64 auf 80 Prozent gesteigert und stelle nun das Resultat ihrer eigenen Aktionen als Problem dar, infolge dessen in Deutschland Arbeitsplätze abgebaut werden müssten. Laydens „Sparwut“ sei außerdem nur durch die hohen Schulden zu erklären, die das Unternehmen aufgrund seines eigenen Verkaufs trage, er handele darum unverantwortlich (Zeitungsartikel). Journalisten prophezeiten, der Absatz werde unter dem schlechten Image leiden. Wer sei bereit, die hohen Preise für die Unternehmensprodukte zu zahlen, wenn diese im Niedriglohnausland produziert würden? Angebliche Bracheninsider äußerten, Konkurrenten würden den in Mitleidenschaft gezogenen Markennamen Wolders „brutal ausnutzen“ (Zeitungsartikel). Tatsächlich startete Tehnwolder nun eine Werbekampagne, in der es sich als verantwortungsvolles Familienunternehmen präsentierte und in Anspielung auf die Namensähnlichkeit den Slogan „Wolder gehört nicht zur Familie“ prägte (siehe Kapitel 7.4). Empörte Kunden und Händler schrieben Wolder, sie würden nur noch bei Tehnwolder kaufen, falls das McScott-Gutachten umgesetzt würde. Die Verlagerung sei nicht zu rechtfertigen, solange Wolder nicht um sein Überleben kämpfe, sondern eine hohe Rendite noch erhöhen wolle. Tehnwolders Umsatz stieg kurzfristig ungefähr in dem Maße, wie Wolders schrumpfte (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 49. Min.).38 Layden und die Geschäftsleitung reagierten empfindlich: „Jedes Mal, wenn Öffentlichkeit erzeugt wurde, wurden die ganz nervös. Das merkte man an ihrem ganzen Verhalten, am Auftreten. Man kennt die Person dann ja auch schon ein paar Tage, und an ihrem Verhalten merkt man das. Dann kommt sofort: ‚Können wir uns nicht mal unterhalten? Haben Sie nicht mal Zeit auf einen Kaffee? Wir sind doch gar nicht die Schlechten!‘ So an Kleinigkeiten merkt man das.“ (Wolder 1. Interview: 57. Min.)
Öffentlich äußerte Layden dagegen Unverständnis über den Boykott. Es handele sich um eine sehr „deutsche Debatte“, für die es im Ausland „überhaupt kein Verständnis“ gebe. Das in Mitleidenschaft gezogene Unternehmensimage sei „ärgerlich, aber unvermeidlich“. Er müsse die Situation jetzt zusammen mit dem 38
Genaue Berechnungen, warum und wie stark der Umsatz schrumpfte, sind kaum möglich, da Wolder seinen Wirtschaftsbericht 2005 geheim hielt (Wolder 2. Interview: 59. Min.). Zumindest deutet dies darauf hin, dass der Vorstand etwas zu verschweigen hatte.
7.2 Moralische Argumente bei Wolder
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Finanzinvestor durchstehen, würde „jederzeit wieder so handeln“ und werde der „Politisierung“ von Kunden und Händlern entgegenwirken (Zeitungsinterview). Pintona begrüßte den Boykott anfangs noch als wirksames Druckmittel. Kurz darauf appellierte er aber schon wieder, Unternehmensprodukte zu kaufen, sonst würden alle Arbeitsplätze verloren gehen. Käufer sollten jedoch darauf achten, deutsche Produktlinien zu kaufen (Wolder 1. Interview: 36. Min.; Wolder 2. Interview: 91. Min.). Später warnte er sogar die IG Metall davor, Wolder weiteren Imageschaden zuzufügen (Wolder 2. Interview: 67. Min.). Die weitere Diskussion konzentrierte sich darauf, wie viele Arbeitsplätze noch zu streichen seien. Das McScott-Gutachten markierte mit bis zu 3.000 Entlassungen die Obergrenze, das Betriebsratsgutachten mit 842 Entlassungen die Untergrenze, um die geforderten 150 Millionen Euro Einsparungen zu erreichen. Da sich die Berater von McScott weigerten, ihre Analyse der Belegschaft vorzustellen und Layden sich wegen eines „Shareholdermeetings“ entschuldigen ließ, präsentierte Scholz der Belegschaft die Einsparalternativen. Er begründete die Verlagerung erneut damit, dass in Deutschland 80 Prozent der Produktion stattfinde, aber nur 20 Prozent des Umsatzes gemacht würden, und der inländische Umsatz zudem schrumpfe. Jährliche Zusatzkosten von 12 Millionen Euro seien durch steigende Rohstoffpreise zu erwarten. Außerdem sei das Unternehmen durch ausländische Konkurrenten gezwungen, seine Preise zu senken. Jedes Jahr wirtschafte es bis Mitte November, um seine Fixkosten abzudecken. Dies lasse nicht genug Rendite, um die Schulden durch den Verkauf an den Finanzinvestor zu bedienen. Der starke Euro belaste Wolder zusätzlich, weswegen es außerhalb der Eurozone produzieren müsse. Um international flexibel liefern zu können, sei ein asiatisches Werk unumgänglich. Noch könne die Geschäftsleitung aus einer Position der Stärke heraus handeln, Stellenstreichungen müssten deshalb bald erfolgen. Die Geschäftsleitung sehe das Gegengutachten jedoch als Alternative zum McScott-Gutachten. Er und Layden seien bemüht, mit möglichst geringen Stellenstreichungen auszukommen, trotzdem seien 1.500 Arbeitsplätze „sehr gefährdet“ (Internetartikel). Teile der Belegschaft wollten daraufhin streiken. Auch weil die juristische Rechtmäßigkeit eines Streiks gegen Produktionsverlagerung umstritten war, fand der Betriebsrat solche Aktionen verfrüht. Am Standort Lutter plante die IG Metall eine Demonstration gegen die Geschäftsleitung. Vierzig Arbeitnehmer gründeten den „Wolder-Solidarkreis“. In dessen Gründungsdokument hieß es: „Die Kolleginnen und Kollegen sind bisher mit Herzblut zur Arbeit gegangen, nicht nur um das Geld mitzunehmen. ‚Die‘ wollen jedoch nur Abzocken [sic!]. Wenn Konzerne das Recht haben, Tausende [sic!] Angestellte und Arbeiter zu entlassen, dann haben wir ein Recht auf Kampf. […] Wir wollen nicht wie das Vieh zur Schlachtbank geführt werden.“
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Mit wachsender Verzweiflung der Betroffenen wurde auch die Kritik immer drastischer. Zuerst forderten Menschen auf der Internetplattform des Solidarkreises ein Streikrecht gegen Werkschließungen; die Belegschaft in einer Demokratie müsse mitentscheiden dürfen, was mit ihrem Werk geschehe. Betroffene äußerten immer radikalere Forderungen, bis es schließlich zu Mordaufrufen gegen Layden kam. Die Betreiber mussten die Seite daraufhin schließen (Internetartikel). So konnte es nicht weitergehen. Doch Pintona, Layden und Scholz hatten sich unter dem zunehmenden Druck angenähert. Layden und Scholz sahen ein, dass Beschäftigungsabbau in der Größenordnung des Betriebsratsgutachtens ausreichen würde. Ihnen ging es schließlich um die Einsparungen, nicht um möglichst viele Kündigungen als Selbstweck. Pintona dagegen sah ein, dass er einen gewissen Beschäftigungsabbau nicht würde verhindern können. Selbst das von ihm in Auftrag gegebene Gutachten hielt Kündigungen für nötig. Zu klären blieb, wie diese möglichst sozialverträglich stattfinden könnten. Pintona musste gewährleisten, dass die Betriebsräte zusammenarbeiten, um den Sozialplan auszuhandeln, anderenfalls wären die Abfindungen bei Trümmerwalde der Maßstab gewesen. Obwohl diese für Ostdeutschland hoch waren, konnten die Betriebsräte mehr erreichen, wenn sie bundesweit geschlossen auftraten (Wolder 2. Interview: 117. Min.). Es gelang ihnen, mit wochenlangen gemeinsamen Arbeitsniederlegungen zu drohen, sollten die Verhandlungen scheitern (Wolder 1. Interview: 64. Min.). In diesem Klima kamen Geschäftsleitung und Betriebsräte bei einer Verhandlungsrunde um fünf Uhr morgens überein. „Die ganze Nacht über ging das hin und her. Gebt hier noch ein bisschen, gebt da noch ein bisschen, wir geben nichts mehr, dann lassen wir es eskalieren. Bis zum Ende, und selbst wenn sie dann alles platt machen, da haben wir keine Angst mehr vor, weil wir dann auch sicher waren, dass es nicht geht. Das waren wirklich harte Verhandlungen. Unsere Lutteraner Kollegen haben nachts um ein Uhr ihr gesamtes Betriebsratsgremium aus dem Bett geholt. Da haben sich die zusammengesetzt und haben gesagt: ‚Kommt, wir haben uns den [bekannten Arbeitsrechtsanwalt] geholt als Berater, der sagt: mehr geht nicht, dann überreizen wir.‘ Akzeptieren wir es, akzeptieren wir es nicht? […] Wir haben etwas mehr gekriegt, als wir festgelegt hatten, also konnten wir unterzeichnen, aber das war heiß.“ (Wolder 1. Interview: 64. Min.)
Layden und Scholz kamen Pintona weit entgegen. Dieser merkte, dass Layden Ruhe vor dem eskalierenden Konflikt haben wollte. Umgekehrt führte das zu der Versuchung, den Sozialplan immer weiter in die Höhe zu treiben (Wolder 2. Interview: 118. Min.). Nach der gefundenen Regelung erhielt jeder Gekündigte eine Abfindung in Höhe seines Alters, multipliziert mit den Jahren seiner Betriebszugehörigkeit und seinem Monatseinkommen, geteilt durch 35, maximal aber 80.000 Euro. Die Geschäftsleitung beabsichtigte, 1.240 Arbeitsplätze abzu-
7.2 Moralische Argumente bei Wolder
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bauen, 943 durch Entlassungen und 297 durch Pensionierung. Alle Entlassenen konnten in eine Transfergesellschaft wechseln, die ihnen bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz half und ein Jahr lang 80 Prozent ihres letzten Einkommens zahlte. Die übrigen Arbeitnehmer erhielten bis 2008 eine Arbeitsplatzgarantie (Zeitungsartikel). Die Geschäftsleitung baute also etwa im Rahmen des Betriebsratsgutachtens Beschäftigung ab. Wäre das Gegengutachten zuerst erschienen, so vermutete Pintona, hätte Layden sich direkt daran orientiert. Daran hinderte ihn jedoch seiner Meinung nach die enge Verflechtung des Finanzinvestors mit der Unternehmensberatung McScott (Wolder 1. Interview: 56. Min.). Layden bezeichnete es als Pintonas Verdienst, dass Wolder weniger Personal entlassen müsse als geplant. IG Metall und Betriebsräte lobten den Sozialplan, wandten aber ein, dass dieser keinen Arbeitsplatz ersetze (Zeitungsartikel; Flugblatt IG Metall; Wolder/Tehnwolder 2. Interview: 19. Min.; Wolder 2. Interview: 119. Min.). Die Arbeitnehmervertreter vermuteten, die Geschäftsleitung stimme dem Sozialplan vor allem zu, um weiterem Imageschaden vorzubeugen (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 37. Min.; Wolder 1. Interview: 57. Min.). 7.2.5 Fünfte Phase: Gewinnmaximierung gilt als unmoralisch Trotz der Einigung und gegen Pintonas Willen, plante die IG Metall noch, eine Protestkundgebung durchzuführen (Wolder 1. Interview: 66. Min.). Es gehe ihr darum, „ein Zeichen zu setzen, wie Unternehmen mit Menschen umgehen“ (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 46. Min.). Damit verfolgte sie auch eigennützige Ziele, denn sie wollte über die Belegschaft und Öffentlichkeit auf das Unternehmen Druck ausüben und gegenüber anderen Unternehmen ein Exempel statuieren. Vor zweitausend Demonstranten kontrastierte die Gewerkschaft erneut die hohen Unternehmensgewinne mit den Kündigungen und warf Layden vor, es gehe ihm „nicht um Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt, sondern um rigorose Gewinnmaximierung auf dem Rücken der Beschäftigten“ (Internetartikel). Unternehmerisches Handeln müsse Arbeitsplätze schaffen, statt Gewinne zu maximieren. Ein Kirchenvertreter argumentierte, nach der christlichen Sozialethik habe Arbeit vor Kapital zu stehen. Dies würde von Finanzinvestoren missachtet, was Kommunen in Schwierigkeiten stürze und „fleißige Familien“ sowie die „deutsche Industrie“ ruiniere. Die Stadt sah Wolders Gewinnmaximierung sogar als dermaßen unakzeptabel, dass sie eine Straße mit dem Unternehmensnamen umbenennen wollte (Zeitungsartikel). Layden entgegnete, er nehme doch die „soziale Verantwortung für seine Mitarbeiter sehr, sehr ernst“, was er durch den „unglaublich großzügigen Sozialplan“, die „üppigen Abfindungen“ und die Transfergesellschaft bewiesen habe (Zeitungsinterview). Absender einer
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Bombendrohung gegen Wolder, die nach der Demonstration bei der örtlichen Polizeiwache einging, sahen das offenkundig anders. Sie drohten, aufgrund der „Art und Weise, wie in Trümmerwalde mit unseren Kolleginnen und Kollegen umgegangen wird“, zwei im Unternehmen angeblich versteckte Sprengsätze zu zünden.39 Wie konnte es zu so dramatischen Protesten dagegen kommen, dass Layden sich an einem Ziel ausrichtete, welches doch in einer kapitalistischen Gesellschaft normal sein sollte: Profitmaximierung? Sicherlich waren Menschen enttäuscht, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Aber nicht jede Entlassung geht mit Bombendrohungen einher. Außerdem beteiligten sich an den Protesten auch Menschen, die der Arbeitsplatzabbau gar nicht betraf und die somit nicht aus Eigeninteresse demonstrierten. Die Aussagen der Zeitungen und der Protestierenden lassen vermuten, dass Laydens Vorgehen eine weit verbreitete Überzeugung verletzte, dass Renditemaximierung oberhalb einer bestimmten Grenze unmoralisch sei, wenn sie ohne soziale Rücksichtnahme stattfindet. Interessanterweise versuchten selbst Layden und Scholz nicht, Gewinnmaximierung als legitimes Unternehmensziel darzustellen40; sie argumentierten stattdessen wiederholt, es gehe ihnen um Wettbewerbsfähigkeit. Entweder teilten sie die Sicht der Bevölkerung oder sie wollten sie zumindest nicht infrage stellen. Mit dem Sparprogramm konnten die 150 Millionen Euro ein Jahr schneller als geplant eingespart werden, Umsatz und Gewinn stiegen an (siehe Abbildung 2 und Abbildung 4). Wolder hatte sogar so viele Aufträge, dass die Geschäftsleitung einhundert Kündigungen zurücknehmen musste. Auch Jahre später noch versuchte der ostdeutsche Betriebsrat, einen Investor für das geschlossene Werk zu finden, von dem Layden sagte, eine gewinnbringende Produktion sei dort nicht möglich. Ein Interessent war angeblich Tehnwolder. Warum Tehnwolder in ähnlichen wirtschaftlichen Situationen immer das Gegenteil von Wolder machte, thematisiert das folgende Kapitel.
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Die Absender schrieben: „Leider sehen wir uns in unserer aktuellen Situation zu diesem Schritt gezwungen. Die Art und Weise, wie in Trümmerwalde mit unseren Kolleginnen und Kollegen umgegangen wird, ist menschenverachtend und wir sind aus diesem Grund bereit, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Sollten die Vorstände des Unternehmens nicht bereit sein, wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren und ihre Entscheidung, das Werk zu schließen, rückgängig zu machen, werden wir ebenso unverhältnismäßig und unsachlich reagieren und den Schaden, den unsere Region durch eine Werkschließung erleiden würde, weitergeben. Unsere Erfahrungen und Tests haben gezeigt, dass der Sprengsatz aus alten Sowjetbeständen hierzu mehr als ausreichend ist. Dieses Schreiben geht ausschließlich an Sie [die Polizei]. Sollte die Werksführung keine Gesprächsbereitschaft signalisiert bekommen, werden wir zünden.“ Es ist unklar, wie mit der Situation umgegangen wurde, es schien aber zu keiner Explosion gekommen zu sein. Dies geschah dagegen im Unternehmen Fernlich (siehe Kapitel 8.2).
7.3 Tehnwolders wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter
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7.3 Tehnwolders wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter Ähnlich wie Wolder steigerte Tehnwolder seinen Auslandsumsatz in zehn Jahren von 25 auf knapp 80 Prozent. Doch während Wolder dies als Verlagerungsgrund sah, bezeichnete Tehnwolders Geschäftsleitung die deutsche Produktion als Erfolgsrezept (Tehnwolder 1. Interview: 4. Min.; Tehnwolder 4. Interview: 40. Min.). Moralische Argumente beeinflussten, wie die Geschäftsleitung wirtschaftliche Interessen verfolgte, so dass sie davon absah, Produktion zu verlagern. Sie baute sogar ein weiteres Werk in Deutschland und erwirtschaftete damit zeitweise eine höhere Rendite als Wolder, dessen Geschäftsleitung meinte, man könne in Deutschland nicht profitabel genug produzieren. Tehnwolder war 2006 mit 570 Millionen Euro Umsatz (Wolder: 940 Millionen Euro) und 2.800 Arbeitnehmern (Wolder: 5.200) etwas mehr als halb so groß wie sein Konkurrent (siehe auch Abbildungen 2 und 3). Teile der Belegschaft arbeiteten in dritter Generation im Unternehmen. Im ländlichen Heimatort stellte Tehnwolder jeden vierten Arbeitsplatz (Zeitungsartikel). Die Unternehmensrendite (EBITDA) war mit 15 bis 20 Prozent vom Umsatz vergleichbar mit der Wolders (siehe Abbildung 4). Da Wolder und Tehnwolder denselben Markt belieferten, sah Tehnwolders Vorstand Wolder als härtesten Konkurrenten: „Jeder arbeitet darauf hin, dass er eine minimierte Kostenstruktur kriegt. [Wir] stehen in beinharter Konkurrenz“ (Tehnwolder 4. Interview: 50. Min.; Zeitungsartikel). Das Einzige, was die beiden Unternehmen nennenswert unterschied, war ihre soziale Einbettung, da bei Tehnwolder die Familie noch die operative Unternehmensleitung innehatte. Ab Mitte der neunziger Jahre internationalisierte sich Tehnwolder, indem es zunehmend Wachstumsmärkte erschloss (Tehnwolder 3. Interview: 1. Min.). Tehnwolders Vorstandsvorsitzender war Reinhard Tehnwolder, Enkel des Unternehmensgründers und Erfinder zahlreicher Unternehmensinnovationen. Der Betriebsrat meinte, Reinhard Tehnwolder sei eng mit seinem Unternehmen und dessen Arbeitnehmern verbunden: „Und am Heimatstandort gibt es immer welche, die zu seiner Frau oder ihm ankommen und sagen: ‚Hilf uns, weil im Geschäft ist der böse oder der Meister …‘ Also auch auf sehr kleiner Ebene, dass das dann zu ihm hochgetragen wird. Ich glaube, man kann es sich gar nicht vorstellen, wenn man das Kleine, das Ländliche gar nicht kennt. Dann tut man sich schon schwer, so etwas zu glauben. So funktionieren doch Unternehmen nicht!“ (Tehnwolder 1. Interview: 84. Min.)
Ein Vorfall Mitte der neunziger Jahre illustriert Reinhard Tehnwolders Herangehensweise. Tehnwolder hatte damals wirtschaftliche Probleme, woraufhin er Mehrarbeit ohne Lohnausgleich forderte (Tehnwolder 2. Interview: 11. Min.).
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Als Reaktion auf den daraufhin von der IG Metall organisierten einstündigen Warnstreik verkündete er per Aushang im Unternehmen, dass er Protestaktionen an seinem Heimatort als „persönliche Beleidigung und persönlichen Affront empfinde“ (Zitat). Doch direkt nach dem Konflikt schenkte er jedem Belegschaftsmitglied eine Flasche Sekt und ein Glas mit der Bitte, den Ärger damit runterzuspülen, damit das gute Betriebsklima zurückkehre, das für Tehnwolders Erfolg doch so zentral sei. Laut IG Metall war dies typisch für ihn, denn ihm liege viel an seinem regionalen Ansehen und er federe Meinungsverschiedenheiten über symbolische Maßnahmen ab, da er überzeugt sei, er und seine Belegschaft seien Teil einer regionalen Gemeinschaft; dementsprechend äußerten die Arbeitnehmervertreter, er fühle sich seinen Mitarbeitern auch moralisch verpflichtet (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 4. Min.). Wenn schon die IG Metall derart positiv über einen Geschäftsleiter urteilte, ist es nicht überraschend, dass ein Vorstandsmitglied ihn ähnlich charakterisierte: „Wir versuchen, das immer in einem Konsens zu machen, und sind bisher auch nicht schlecht damit gefahren. […] Da gibt es von dem Reinhard Tehnwolder eine starke Verbindung zu dieser Gegend hier, obwohl er schon ein sehr weltoffener Mensch ist. […] Teile des Managements wohnen hier und wir haben natürlich auch sehr viele Mitarbeiter, die im Ort oder in der näheren Umgebung wohnen.“ (Tehnwolder 3. Interview: 18. Min.)
Tehnwolder orientierte sich an ähnlich hohen Renditen wie das Konkurrenzunternehmen Wolder. Nicht was Reinhard Tehnwolder machte, sondern wie er es machte, war anders. Auch ihm war klar, dass die Ziele der IG Metall nicht immer die seinen waren. Er unterschied sich jedoch von Layden dadurch, dass er der Gewerkschaft den Eindruck gab, deren Argumente zumindest ernsthaft zu prüfen (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 11. Min.). Neben Reinhard Tehnwolder war sein Sohn Daniel als stellvertretender Vorstandsvorsitzender zuständig für die Unternehmensstrategie. Daniel Tehnwolder hielt Vorträge darüber, dass man nicht verlagern müsse, um wettbewerbsfähig zu sein, und äußerte, stolz zu sein, in Deutschland Arbeitsplätze zu schaffen. Er schrieb auch den „Tehnwolder-Preis“ für „regional verwurzelte Unternehmen“ aus, die „nicht nur auf Zahlen achten“, sondern „unternehmerische Werte pflegen und nachhaltig wirtschaften“ (Ausschreibungstext). Der Betriebsrat, der mit Daniel Tehnwolder seit seiner Kindheit befreundet war, meinte, dieser habe eine enge Bindung an die Region: „Das ist nicht nur so dahergeredet, das meint er durchaus ernst. Er ist stolz darauf, dass man das in Deutschland über den Weg hinkriegt. Dass das ein harter Weg ist und dass das nicht vom Himmel fällt, das ist auch klar. […] Aber insgesamt ist er auf diese Sache, und wo wir stehen, sehr stolz. Das ist sein Lebenswerk.“ (Tehnwolder 2. Interview: 68. Min.)
7.3 Tehnwolders wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter
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Obwohl Daniel Tehnwolder der designierte nächste Vorstandsvorsitzende war, spielte er im Vorstand einstweilen vor allem eine symbolische Rolle, schließlich sei es „der Stolz der Belegschaft, dass wir der echte Wolder sind […], die Namen ‚Tehnwolder‘, die machen natürlich sehr viel aus“ (Tehnwolder 2. Interview: 61. Min.). Friedrich Enteler leitete das Unternehmen dagegen kaufmännisch. Er gehörte zwar nicht zur Familie, der Betriebsrat beschrieb ihn aber als „eine Persönlichkeit mit einer sehr hohen Loyalität, auch zur Familie Tehnwolder. […] Das bringt ihn natürlich zu einem Spagat, dass es ihn wahrscheinlich hier und da fast zerreißt“ (Tehnwolder 1. Interview: 81. Min.). Enteler musste als Finanzvorstand die sozialen Ansprüche der Familie mit dem zusammenbringen, was jeweils als wirtschaftlich rational definiert wurde. Dafür konnte er aufgrund der bisherigen moralischen Rücksichtnahme auf eine loyale und motivierte Belegschaft zählen. Obwohl Enteler hartnäckig finanzielle Ziele verfolgte, äußerte ein Arbeitnehmervertreter, er stimme mit ihm meist „gesellschaftspolitisch, aber auch betrieblich überein“. Die Arbeitnehmer beschrieben auch Enteler als offen für ihre Vorschläge (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 48. Min.). Die Aussagen der Arbeitnehmervertreter über die Geschäftsleitung waren damit durchweg positiv: „Bei Tehnwolder ist die Situation entstanden, weil sie gewachsen ist, weil eine Verbundenheit zwischen Belegschaft und Geschäftsführung da ist, weil sie in der Region eingebettet sind, die Führungskräfte.“ (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 13. Min.) „Ich unterstelle der Geschäftsleitung bei Tehnwolder, dass sie eine gesellschaftspolitische Verantwortung in ihrem Verhalten sehen und sagen: ‚Ich kann einfach nicht diejenigen, die mich reich gemacht haben, die sozusagen dafür gesorgt haben, dass der Erfolg da ist, einfach vor den Kopf stoßen.‘ Aber wie gesagt, die andere Seite ist auch, dass sie sagen: ‚Mit einer motivierten Mannschaft, die hinter dem Produkt steht, die hinter dem Unternehmen steht, kann ich eine ganze Menge Erfolge erzielen.‘ Und wie man sieht, erzielen sie sie auch.“ (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 8. Min.) „Ich glaube […], dass sie tatsächlich ihre moralische Verpflichtung und ihre soziale Verantwortung wahrnehmen. Und auch das muss man zugutehalten; sie handeln nicht irgendwie fahrlässig oder nur nach wirtschaftlichen Kennzahlen, sondern sie sagen: ‚Wir wissen, als Unternehmen haben wir auch eine soziale Verpflichtung.‘“ (Tehnwolder 1. Interview: 66. Min.)
Da die Unternehmensanteile über die Familie Tehnwolder zersplittert waren, Reinhard Tehnwolder aber bei Entscheidungen einen zentralen Ansprechpartner brauchte, verkaufte er 2002 die Unternehmensmehrheit an den amerikanischen
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7 Die Unternehmen Wolder und Tehnwolder:
industriellen Investor Maxwell.41 Reinhard Tehnwolder äußerte, viele Arbeitnehmer „dachten, jetzt gehe die Welt unter“ (Zeitungsartikel). Doch Maxwell beließ die operative Unternehmensführung unter der Bedingung einer hohen Rendite bei ihm. Trotzdem waren auch Arbeitnehmervertreter skeptisch: „Weil ich weiß, ich habe fünf Vorstände am Tisch, ich habe Maxwell im Nacken und den Druck der internationalen Fertigung gegenüber, wo ich sage, wenn ein Einzelner mir etwas verspricht: ‚Du kannst mir viel versprechen. Wenn deine Vorstandskollegen dagegen stimmen, nimmst du es wieder zurück.‘“ (Tehnwolder 1. Interview: 85. Min.; vgl. ähnlich Tehnwolder 2. Interview: 31. Min.)
Doch Maxwell war vorsichtig und ließ die Familie auch weiterhin Führungskräfte aus der Region rekrutieren. Der Betriebsrat erläuterte, warum: „Wenn es dann der Finanzvorstand wäre, das wäre der Super-Gau für uns. Dann ist das Geflecht weg und dann ist auch das Vertrauen weg. Momentan haben wir das Vertrauen definitiv. Es ist ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis. Die TehnwolderFamilie weiß, dass es für einen Mitarbeiter sehr viel bedeutet, hier zu arbeiten. Es ist ja ein langjähriges Familienunternehmen. Aber genauso wichtig ist es für die Belegschaft, dass im Vorstand jemand Tehnwolder heißt.“ (Tehnwolder 2. Interview: 62. Min.)
Maxwell war also daran gelegen, das Vertrauen zwischen Geschäftsleitung und Belegschaft zu bewahren, denn der Investor sah dies offensichtlich als wirtschaftlichen Vorteil an, der beide Seiten motivierte, sich loyal zu verhalten und mehr als „Dienst nach Vorschrift“ abzuleisten. Da die Geschäftsleitung zu keinem Zeitpunkt darum bat, vom Tarifvertrag abzuweichen, spielte die IG Metall kaum eine Rolle. Der Betriebsratsvorsitzende Reinhard Hobner, sein Stellvertreter Arndt Kaltra, der Patriarch Reinhard Tehnwolder und der Finanzvorstand Friedrich Enteler regelten die kommenden Konflikte darum unter sich. Die beiden Betriebsräte stammten selbst aus der Region und waren mit den Vorständen
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Im Unterschied zu einem Finanzinvestor hat ein industrieller Investor in der Regel nicht vor, ein Unternehmen nach ein paar Jahren zu verkaufen, sondern dessen Gewinne dauerhaft abzuschöpfen (vgl. Schmidt/Spindler 2008). Einen Verkauf der Familienanteile an einen Finanzinvestor lehnte Reinhard Tehnwolder mit dem Argument ab, dies seien „Leute, die nur den schnellen Profit suchen“ (Zeitungsartikel). Maxwell dagegen hielt schon vorher eine Minderheit am Unternehmen. Zu einigen der Manager hatte sich „ein fast freundschaftliches Verhältnis aufgebaut“ (Zeitungsartikel). Doch als Reinhard Tehnwolder klar wurde, dass er durch den Verkauf de facto die Kontrolle über Tehnwolder verloren hatte, bemühte er sich, Anteile zurückzukaufen, Maxwell wollte diese aber nicht mehr abgeben (Tehnwolder 1. Interview: 33. Min.; Tehnwolder 2. Interview: 33.–35. Min.; Tehnwolder 4. Interview: 37. Min.).
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teils zusammen zur Schule gegangen. Gelegentlich lud man sich an Wochenenden zum Abendessen ein. Ein Betriebsrat räumte ein, es gebe Meinungsverschiedenheiten, doch „man kennt sich, man akzeptiert und respektiert sich“ (Tehnwolder 1. Interview: 60. Min.). Zwar glaubte er, die Geschäftsleitung schenke seinen Argumenten Gehör. Doch ein Konflikt wäre auch für ihn nicht einfach, denn auch die Belegschaft war gegenüber ihrem Chef sehr loyal: „Ich kann mich an Tarifrunden erinnern, […] da guckten mich alle an und sagten: ‚Wenn es gegen Reinhard Tehnwolder geht, dann geh ich nicht auf die Straße‘“ (Tehnwolder 1. Interview: 44. Min.). Wie beeinflussten in einer solch starken sozialen Einbettung – im Gegensatz zu Wolder – moralische Argumente die Definition und Verfolgung wirtschaftlicher Interessen? 7.4 Moralische Argumente bei Tehnwolder 7.4.1 Erste Phase: Appell an soziale Verantwortung beeinflusst Interessenverfolgung In den neunziger Jahren begann Tehnwolders Vorstand, über Auslandswerke zu diskutieren (Tehnwolder 1. Interview: 6. Min.). Im Jahr 2003 überlegte er, in China angemietete Werkshallen zu einem Produktionsstandort auszubauen. Die chinesischen Lohnkosten seien so niedrig, dass er dies erwägen müsse, rechtfertigte er sich gegenüber den Betriebsräten Kaltra und Hobner. Es sei jedoch „nie ein Argument, dass wir aus Lohngründen im Ausland produzieren. Das war und wird immer verbunden sein mit einer Marktentwicklung“, meinte der Vorstand gleichzeitig (Tehnwolder 3. Interview: 14. Min.). Es gehe vielmehr darum, den asiatischen Markt mit einem dortigen Werk beliefern zu können. Doch „so richtig geglaubt hat das niemand“, wie der Betriebsrat und auch der Vorstand einräumten (Tehnwolder 2. Interview: 20. Min.; Tehnwolder 1. Interview: 7. Min.; Tehnwolder 4. Interview: 3. Min.). Der Betriebsrat wandte ein, die Produktivität eines hypothetischen Auslandsstandorts sei immer „ein Stück weit Spekulation.“ Würden nicht außerdem durch eine Verlagerung Plagiate der teuren Unternehmensprodukte wahrscheinlicher? Könnten die ausländischen Märkte nicht auch zur Falle werden? Wegen solcher Ungewissheiten konnte der Betriebsrat nicht kalkulieren, ob dem Unternehmensinteresse mit einer Verlagerung optimal gedient sei (Tehnwolder 1. Interview: 24. Min.). Als weiteren Nachteil einer Auslandsproduktion betonte er die hohe Fluktuation der ausländischen Beschäftigten im Vergleich zur loyalen Heimatbelegschaft. Wie in anderen Unternehmen auch würden nach dem chinesischen Neujahrsfest beispielsweise nur circa ein Drittel der chinesischen Wan-
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derarbeiter zurückkommen, da sie woanders marginal mehr verdienten (Tehnwolder 3. Interview: 24. Min.; Tehnwolder 4. Interview: 17. Min.). Der Vorstand gab zu, dass diese Probleme im Ausland durchaus zu erwarten wären, doch unter den derzeitigen Bedingungen könne er nicht in Deutschland investieren. Er wolle jedoch nicht der Belegschaft den Lohn kürzen, sondern er sei durchaus bereit, einen Weg zu finden, am Heimatstandort zu investieren (Tehnwolder 4. Interview: 14. Min.). Anders als im Unternehmen Wolder legte der Vorstand seine Ungewissheit darüber offen, ob es sich lohne, zu verlagern; er kalkulierte verschiedene Szenarien, von denen manche zwar auf eine höhere Produktivität bestimmter Auslandsstandorte hinausliefen, andere aber vermuten ließen, dass der Heimatstandort produktiver sei. In Anbetracht der Lohnkosten schien eine Produktionsverlagerung sinnvoll. Wenn Enteler aber diverse Zusatzkosten hinzurechnete, deren Größe prinzipiell unklar war, so wurde ungewiss, ob eine Verlagerung sich wirklich lohnte. Wie teuer wäre es, im Ausland einen Qualitätsstandard aufzubauen? Wie hoch wären Kosten durch Lieferschäden? Wie oft müssten deutsche Techniker und Führungskräfte aushelfen? Wie würden sich die Wechselkurse entwickeln? Da viele dieser Kosten keinem auch nur prinzipiell vorhersehbaren Muster folgen, sind sie unabhängig von der Rationalität des planenden Akteurs nicht kalkulierbar. Je nachdem, wie hoch Enteler die entsprechenden Kosten ansetzte, zweifelte er mehr oder weniger am Sinn einer Verlagerung (Tehnwolder 4. Interview: 6. Min.). Er erkannte jedoch, dass er nicht einfach Produktivitätsraten gegeneinander verrechnen konnte, um zu einer Lösung zu kommen. Im Interview meinte er darum später: „Berechnen kann man gar nichts, man kann nur Rahmen setzen“ (Tehnwolder 4. Interview: 48. Min.). Betriebsrat und Vorstand wollten es über die ungewisse optimale Strategie zu keinem Machtkampf kommen lassen, der das hohe Vertrauen und Sozialkapital Tehnwolders hätte beschädigen können (Tehnwolder 2. Interview: 22. Min.; Tehnwolder 3. Interview: 3. Min.). Zur Möglichkeit eines Arbeitskampfs äußerte der Betriebsrat, diese „Keule stehe in der Ecke“, doch „wir müssen ja verhandeln, es nutzt ja nichts“ (Tehnwolder 1. Interview: 25. Min.). Gegenüber dem Vorstand appellierte er, dass dieser „doch nicht einfach gehen könne“, schließlich habe er eine (selbst bekundete) moralische Verpflichtung gegenüber Belegschaft und Heimatregion (Tehnwolder 4. Interview: 15. Min.). Enteler und Reinhard Tehnwolder entgegneten, auch sie würden lieber in Deutschland als in China produzieren. Dies müsse sich aber rechnen. Gleichzeitig meinte der Betriebsrat, es war „ein gewisses latentes Drohpotenzial vorhanden. Wobei, es wurde nie direkt kommuniziert: ‚Wenn ihr nicht, dann …‘, sondern es wurden uns nur die Möglichkeiten aufgezeigt, die sonst eintreten könnten. […] Die probieren also ständig den Beschwichtiger, offiziell. Inoffiziell, in Verhandlungen mit dem Betriebsrat, wird es manchmal auch angebracht[, dass man verlagern könnte]“ (Tehnwolder 2. Interview: 74. und 22. Min.).
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Der Vorstand verlangte zwar von Anfang an einen Beitrag der Beschäftigten (Tehnwolder 4. Interview: 11. Min.). Doch ging es weniger um einen Konflikt als um dessen Vermeidung, indem man sich auf eine Lösung einigte. Diese sollte wirtschaftlich sinnvoll sein, wozu aber auch gehörte, die Identifikation der Beschäftigten mit dem Unternehmen nicht zu schädigen und so deren Motivation zu erhalten. Das Argument, der Vorstand sei gegenüber dem Heimatstandort verantwortlich, lenkte den Konflikt von Anfang an in Richtung einer gemeinsamen Einigung. Denn die Betriebsräte brachten dieses Argument vor, als der Vorstand nicht genau berechnen konnte, ob es wirtschaftlich sinnvoll sei, zu verlagern. Der Vorstand entwickelte daher einen Alternativplan, um die Lohnstückkosten an das mittlere projizierte chinesische Niveau anzugleichen. Dies wurde dagegen bei Wolder als nicht durchführbar angesehen, weswegen das Schwesterunternehmen das Werk Trümmerwalde schloss. Tehnwolders Vorstand schlug ein Arbeitszeitmodell mit siebzehn Schichten vor, bei dem die Maschinen sechs Tage pro Woche laufen sollten (Tehnwolder 2. Interview: 52. Min.; Tehnwolder 3. Interview: 9. Min.). Als Ausgleich musste jeder Arbeitnehmer innerhalb von fünf Wochen nur vierundzwanzig statt der üblichen fünfundzwanzig Tage arbeiten. Weiterhin wollte die Geschäftsleitung als Gegenleistung investieren und die Belegschaft um 10 Prozent aufzustocken. Laut Betriebsrat versuchte sie, damit „schmackhaft zu machen, dass man jetzt eine Verlagerung nicht nur hinnehmen muss, sondern dass man auch andere Wege finden kann, um das zu gestalten. Weil unser Patriarch, der will auch schon etwas Gutes für die Belegschaft, da war schon eine Überzeugung da“ (Tehnwolder 1. Interview: 36. Min.). Ein weiterer Betriebsrat meinte dazu: „Das ist eigentlich sehr geschickt gemacht. Sie sagen nicht: ‚Entweder ihr macht jetzt das oder wir hauen hier alles zusammen.‘ Sondern sie sagen: ‚Wir können uns vorstellen, dass wir gemeinsam die und die Maßnahme ergreifen, die vielleicht nicht ganz so populär ist. Aber wenn wir es nicht tun, dann ist natürlich unsere Wirtschaftlichkeit in Gefahr. Dann wird der Maxwell kommen und operativ eingreifen und was dann passiert, das können wir alle nicht sagen.‘ Über den Weg läuft das alles.“ (Tehnwolder 2. Interview: 23. Min.)
Da der Vorstandsvorschlag keine übertarifliche Mehrarbeit beinhaltete, erklärte sich der Betriebsrat nach kurzen Verhandlungen einverstanden. Der Flächentarifvertrag erlaubte, dass bis zu 18 Prozent der Gesamtbelegschaft mehr als 35 Stunden arbeiteten. Dies nutzte das Unternehmen, indem in Vertrieb und Forschung zwischen 80 und 90 Prozent der Belegschaft über 35 Stunden arbeiteten, während Mehrarbeit in der Fertigung gänzlich vermieden wurde. Enteler und Reinhard Tehnwolder befürworteten dies nicht nur, um im Rahmen des Tarifvertrags zu bleiben. Sie stimmten auch mit dem Betriebsrat überein, dass mehr
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als 35 Stunden Wochenarbeitszeit der Produktivität der Arbeiter abträglich sei. Außerdem wurde die Mehrarbeit bei vollem Lohnausgleich erbracht, da sich Enteler und Reinhard Tehnwolder auch hier überzeugen ließen, dass alles andere zu sinkender Produktivität führe. Aus welchem Grund konnte sich der Betriebsrat so problemlos mit Enteler und Reinhard Tehnwolder einigen, während ähnliche Probleme im Unternehmen Wolder zu einem ernsten Konflikt führten? Ein Betriebsrat vermutete: „Man wollte [eine Abwanderung] auch verhindern. Weil es sind hier recht dünn besiedelte Regionen, und wenn man dann natürlich ein Unternehmen hat, an dem 2.000 Arbeitsplätze hier in der Region hängen, dann ist es natürlich eine Riesenkatastrophe, das wäre regional furchtbar. Und das ist dem Unternehmer durchaus bewusst, dass er da auch Verantwortung hat. Wobei er das natürlich immer gerne ein bisschen relativiert. Erst muss der Geldbeutel stimmen und dann kommt das Soziale.“ (Tehnwolder 2. Interview: 75. Min.)
Statt drei Anlagen im Ausland zu bauen, mietete Tehnwolder aufgrund des Schichtmodells nur eine Anlage auf zehn Jahre, wodurch am Heimatstandort noch Arbeitsplätze entstanden (Tehnwolder 2. Interview: 22. Min.; Tehnwolder 3. Interview: 5. Min.). Einige Jahre später wurde Tehnwolder auch deswegen in der Umfrage einer Fachzeitschrift zu den größten Arbeitsplatzbeschaffern in Deutschland gewählt. Da Tehnwolder den Tarifvertrag nicht berührte, war die IG Metall nicht an den Verhandlungen beteiligt (Tehnwolder 4. Interview: 15. Min.). Sie äußerte allerdings, es hätte nicht „der Philosophie der Unternehmerfamilie“ entsprochen, per Verlagerungsdrohung Konzessionen zu erpressen (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 59. Min.). Zwar musste die Belegschaft mit dem neuen Schichtmodell keine Einkommenseinbußen hinnehmen oder schneller arbeiten. Da die neuen Arbeitszeiten ihr aber größere Flexibilität abverlangten, gewöhnte sie sich nur zögerlich daran. Der Betriebsrat hatte sich vor allem mit dem Vorstand abgestimmt und somit „nicht mit der Belegschaft, sondern über die Belegschaft entschieden“ (Tehnwolder 2. Interview: 49. Min.).42 Er musste 42
Anfangs war nur ein geringer Teil der Belegschaft bereit, die Produktionszeit auszuweiten (Tehnwolder 4. Interview: 11. Min.). Der größte Teil fragte sich, ob die Produktion bei Ausweitung der Maschinenlaufzeit wirklich in Deutschland gehalten und ob ein Nachgeben nicht zu neuen Forderungen führen würde (Tehnwolder 4. Interview: 14. Min.; Tehnwolder 2. Interview: 47.–49. Min.). Das diesbezügliche Vertrauen zum Vorstand variierte stark zwischen zwei Werken. Ein relativ neues Werk beschäftigte viele ehemals Arbeitslose, die Unternehmensumstrukturierungen zum Opfer gefallen waren. Die Belegschaft dort meinte, langfristig seien Kündigungen unvermeidbar, da dies ihrer Erfahrung in anderen Unternehmen entsprach. Im Stammwerk dagegen, wo die Belegschaft die Geschäftsleitung schon lange kannte, gab es kaum Sorgen, dass Konzessionen zu Arbeitsplatzabbau oder weiteren Konzessionen führen würden (Tehnwolder 1. Interview: 43. Min.).
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ihr jedoch plausibilisieren, dass das neue Schichtmodell in ihrem Sinne sei, sonst wäre er bei den nächsten Betriebsratswahlen abgewählt worden. Der Vorstand erklärte die neue Regelung daher in Kleingruppengesprächen, um den Betriebsrat zu unterstützen und sich damit auch selbst zu helfen (Tehnwolder 1. Interview: 39. Min.; Tehnwolder 2. Interview: 44. Min.). „Dann bin ich hier um 24 Uhr zur Nachtschicht gekommen und habe das den Leuten erklärt im Einzelnen. Wir haben uns auch der Diskussion gestellt. Und das war eigentlich der Schlüssel, dass die Leute sagen: ‚Okay, das verstehen wir.‘ Wobei, ich will es nicht schöner machen, die Leute haben immer Angst. Alles, was sie als Expansion an einen anderen Standort machen, da sagen die automatisch: ‚Aber vielleicht betrifft es uns.‘“ (Tehnwolder 4. Interview: 13. Min.)
Doch die flexiblere Arbeitszeit überzeugte den überwiegenden Teil der Belegschaft. Der Vorstand äußerte, „die Mitarbeiter würden heute nicht sagen: ‚Das sind geldgierige Typen‘, sondern sie sagen: ‚Wenn wir auf dieser Erfolgswelle mitschwimmen wollen, dann braucht das Unternehmen eine bestimmte Rendite‘“ (Tehnwolder 4. Interview: 37. Min.). Der Vorstand war auch nicht der Ansicht, sich auf einen unvorteilhaften Kompromiss eingelassen zu haben. Reinhard Tehnwolder war mit dem Kompromiss vielmehr äußerst zufrieden. Der Schwerpunkt der Produktion bleibe am Heimatstandort, denn Tehnwolder könne es sich nicht leisten, Produktion zu verlagern, „um dann festzustellen, dass wir dort Qualitätsprobleme haben. Dann wären wir nämlich pleite. Wir sind auf verlässliche und qualifizierte Mitarbeiter angewiesen“, wie er immer wieder öffentlich betonte (Zeitungsartikel). Außerdem schaffe die neue Regelung Arbeitsplätze und garantiere „bestmögliche Auslastung der Kapazitäten“ (Zeitungsartikel). Darum äußerte er, es „sprechen viele gute Gründe dafür, das Verhältnis zwischen In- und Auslandsproduktion nicht umzukehren: die hohe Facharbeiterqualifikation, die gute duale Ausbildung und das Tüftlertum [für das die Heimatregion bekannt ist]. Dazu ist der Automatisierungsgrad in unseren deutschen Werken sehr hoch und die Auslastung durch neue, flexible Arbeitszeitmodelle gesichert. Außerdem steht das Signum ‚Made in Germany‘ immer noch für Qualität und trägt so zu unserem Markterfolg rund um den Globus bei.“ (Pressemitteilung)
Der Technikvorstand äußerte zwar ebenfalls, die gefundene Regelung berücksichtige die moralischen Befindlichkeiten der Belegschaft, sie sei aber trotzdem auch betriebswirtschaftlich richtig (Tehnwolder 3. Interview: 7. Min.). Mit dem Argument, nur in Deutschland sei die Qualität der Produktion hoch genug, ließ sich auch der Investor Maxwell überzeugen, zumal Tehnwolders Rendite nach dem gefundenen Kompromiss sogar die des Konkurrenten Wolders überstieg
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(siehe Abbildung 4). Zwar konnten Enteler und Reinhard Tehnwolder ihre Aktionen wirtschaftlich begründen; entscheidend war jedoch, dass Wolders Management in einer ähnlichen Situation keine „wirtschaftlich rationalen“ Gründe fand, die Produktion am Heimatstandort zu halten, um moralischen Appellen zu entsprechen. Denn bei Wolder fehlte eine soziale Bindung der Geschäftsleitung an die Heimatregion, die dazu hätte führen können, dass aufgrund moralischer Rücksichtnahme „noch einmal nachgerechnet“ würde, ob man nicht ohne eine Produktionsverlagerung auskommen könnte. Bei Tehnwolder dagegen führten moralische Appelle dazu, dass die Geschäftsleitung redefinierte, was sie im Nachhinein als wirtschaftlich optimale Interessenverfolgung ausgeben konnte. Diesen Prozess des „Noch-einmal-Nachrechnens“ verdeutlicht auch die weitere Verlagerungsdiskussion. 7.4.2 Zweite Phase: Die Geschäftsleitung grenzt sich von Wolder ab Während sich Tehnwolders Geschäftsleitung mit dem Betriebsrat gütlich einigte, kritisierte die Öffentlichkeit Wolder, da solch eine einvernehmliche Lösung dort ausblieb. Da die beiden Unternehmen oft verwechselt wurden, geriet auch Tehnwolder ins Schussfeld. Als Daniel Tehnwolder an einem Samstagmorgen die Sonne auf seinem Balkon genießen wollte, blaffte ihn sein Nachbar ärgerlich an, was er denn „eigentlich mache“ und „ob er jetzt etwa pleite sei“ oder warum er „all diese armen Leute entlasse“ (Zitate Daniel Tehnwolder aus Zeitungsartikel). Bei Tehnwolders Öffentlichkeitsabteilung beschwerten sich Kunden über die Geschehnisse bei Wolder (Zitat aus Brief): „Ihr Säcke, baut in Deutschland Arbeitsplätze ab und haut nach Asien ab, bei euch kaufen wir nichts mehr“ (Tehnwolder 4. Interview: 25. Min.). Zwischenhändler drohten, Tehnwolders Produkte nicht mehr zu verkaufen; nicht nur, weil sie das Unternehmensverhalten moralisch verwerflich fanden, sondern auch, da sie besorgt waren, dass durch eine Verlagerung deren Qualität sinken würde. Tehnwolder musste zwei Mitarbeiter beschäftigen, die sich mit wütenden Kunden zu befassen hatten, die das Unternehmen verwechselten (Tehnwolder 4. Interview: 29. Min.). Dementsprechend kann man sich vorstellen, wie viele Arbeitskräfte bei Wolder, als dem eigentlichen Adressaten der Proteste, damit beschäftigt waren, den Ärger zu beschwichtigen. Friedrich und Reinhard Tehnwolder bemühten sich, weiteren Problemen zuvorzukommen, denn auch die Belegschaft war zunehmend besorgt, dass Tehnwolder früher oder später Wolders Beispiel folgen würde. Reinhard Tehnwolder beschwichtigte, Tehnwolder werde im Gegensatz zu Wolder die „Kultur des Familienunternehmens“ trotz des amerikanischen Investors bewahren (Zeitungsartikel). Diese Bekundungen kamen den Arbeitnehmervertretern sehr recht:
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„Das sind bei denen [Belegschaft] Amis. Der Ami ist Investor und darum geht es bei Tehnwolder bald bestimmt genauso zu. Und um [dieser Angst der Belegschaft] zu begegnen, braucht man einen Vorstand, der sich ganz klar zum Standort Deutschland bekennt. In dem Moment, in dem er das macht, kommt es darauf an, wie er tickt. Ein Patriarch wird daraufhin das nicht mehr zurücknehmen und wird alles daransetzen, dass hier produziert wird. Aus welchem Grund auch immer, das wird immer ein Geheimnis bleiben. Sei es, weil er sich einfach nur gerne feiern lässt, aber das ist ja egal.“ (Tehnwolder 2. Interview: 31. Min.)
Wolders Management rechtfertigte seine Verlagerungspläne mit der schwachen Inlandsnachfrage, hohen Lohnkosten, einem starken Euro und steigenden Rohstoffkosten. Alle diese Probleme galten für Tehnwolder genauso. Doch Reinhard Tehnwolder äußerte dazu nur abschätzig über Wolders Geschäftsleitung: „Wer seine Schulaufgaben macht, muss auch nicht seine Produktion ins Ausland verlagern.“ Das Klagen von Wolders Geschäftsleitung über den Standort bezeichnete er als „Ablenken von eigenen Fehlern und Ausdruck fehlender Kreativität“. Statt mit einer risikoreichen Verlagerung „ein paar Prozent Lohnkosten zu sparen“, sollte sie besser ihre Produktion effizient organisieren. Wenn außerdem durch die bessere Ausbildung der Arbeitnehmer am Heimatstandort „nur ein Prozent weniger Ausschussware entsteht“, seien mögliche Verlagerungseinsparungen schnell wieder reingeholt (Zeitungsartikel). Tehnwolder habe ein Vollbeschäftigungsprinzip. Reinhard Tehnwolder versprach: „Solange die deutschen Betriebe nicht ausgelastet sind, wird auch keine Produktion verlagert.“ Er werde auch zukünftig die deutsche Belegschaft vergrößern, denn im Unterschied zu Wolder gehe es ihm nicht um „schnelle Gewinnmaximierung“ (Zeitungsartikel). Das sei zwar nicht schriftlich fixiert, „aber sonst können wir uns in unserem Heimatort, wo uns jeder kennt, nicht mehr blicken lassen“. Statt auf eine rechtliche oder vertragliche berief sich Reinhard Tehnwolder somit auf eine soziale Verpflichtung gegenüber seiner Heimatregion, der er nachkommen müsse, um sich dort weiterhin „blicken lassen zu können“. Indem er seinen Vorstand später an diese Bekundungen erinnerte, konnte der Betriebsrat zukünftige Diskussionen um Produktionsverlagerung beeinflussen. Einstweilen pflichtete er öffentlich bei, der Vorstand habe tatsächlich immer die Stammbelegschaft geschützt (Tehnwolder 2. Interview: 73. Min.). Als weitere Abgrenzungsmaßnahme gab der Vorstand sogar ein Werbevideo in Auftrag. Dieses verkündete vor feierlicher Musik und Ausschnitten bekannter Fernsehserien, die Familie hinter Tehnwolder sei nicht „grantig“ und nicht „verrückt“. Immer wieder zeigte das Video den Firmengründer Tehn Wolder, zu dessen Tradition sich das Unternehmen bekenne. Die Belegschaft, hieß es, „gehört zur Familie“, der Investor Maxwell „gehört zur Familie“, „2.000 Patente in 100 Jahren … gehören zur Familie.“ Dann blendete das Video Wolders Logo ein, die Musik riss abrupt ab und der Schriftzug erschien: „Pardon … gehört nicht zur Familie“.
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Angesichts der Diskussion bei Wolder fragten Journalisten, ob es denn nicht geradezu unvernünftig wäre, am Heimatstandort zu bleiben (Tehnwolder 4. Interview: 7. Min.). Enteler verwies dann auf Tehnwolders hohe Rendite (Tehnwolder 4. Interview: 36. Min.). Eine Auslandsproduktion lohne sich außerdem nicht, da der Personalkostenanteil nur 7 bis 10 Prozent der Gesamtkosten ausmache und durch die „ausgezeichnete Qualifikation unserer heimischen Arbeitskräfte“ wettgemacht werde (Zeitungsartikel). Tehnwolder verzichte nach eigener Wahrnehmung nicht aus moralischen Gründen auf Gewinn; stattdessen seien „Vertrauen und die Anerkennung der Leistungen der Belegschaft wichtige Faktoren, um mittels eines stabilen Umfelds wirtschaftlich erfolgreich zu sein“ (Pressemitteilung). Auf diese Weise definierte die Geschäftsleitung es als wirtschaftlich rational, auf moralische Argumente einzugehen. Sie äußerte, da die Arbeitnehmer nirgends so engagiert seien wie am Heimatstandort, sei die deutsche Fertigung trotz belastender Bürokratie und Überregulierung sogar billiger als die chinesische. Tehnwolder bekenne sich zu einer „Verantwortung für das Gemeinwohl“ (Zeitungsartikel). Eine hohe Rendite sei zwar nicht verwerflich. Doch gerade weil die Geschäftsleitung dem Heimatstandort gegenüber moralisch verpflichtet sei, könne sie diese erreichen – und zwar indem sie den guten Willen der Belegschaft wirtschaftlich nutze (Tehnwolder 4. Interview: 30. Min.). Wolders Geschäftsleitung immunisierte ein als unmoralisch kritisiertes Verhalten, indem sie es als wirtschaftlich rational legitimierte. Bei Tehnwolder geschah genau das Gegenteil. Enteler musste sein moralisch wirkendes Verhalten als wirtschaftlich rational rechtfertigen, um nicht als schlechter Kaufmann dazustehen.43 Die moralischen Bekundungen, die der Vorstand während der Differenzierungskampagne machte, konnte der Betriebsrat später nutzen, um den Vorstand in seine eigenen Aussagen einzuwickeln: „Nachdem das dort drüben so in Verruf gekommen ist, alle auf Wolder geschaut haben, hat man gesagt: ‚Wir brauchen dringend eine Differenzierungskampagne.‘ Man wollte sich also ganz bewusst differenzieren. Dann haben wir die […] Kampagne angefangen, inklusive seiner [Reinhard Tehnwolders] Aussage: ‚Nein, ich bin nicht dieser, ich bin der Gute.‘ Und daran haben wir ihn natürlich auch immer wieder gemessen und haben gesagt: ‚Dann musst du dich aber auch anders verhalten als die da drüben.‘ Also, das war dann die moralische Ecke, wo man wieder ein bisschen kehren konnte.“ (Tehnwolder 1. Interview: 52. Min.)
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Eine dritte Variante der Verquickung moralischer und interessenbasierter Argumente fand im Unternehmen Fernlich statt. Dort wurde argumentiert, dass gerade die Verlagerung von Produktion moralisch sei, weil man damit dem Unternehmenswohl diene, die Rendite steigere und Arbeitsplätze im Ausland schaffe.
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Tehnwolders dritte Konfliktphase zeigt, wie der Betriebsrat den Vorstand in dieser Weise an seine Versprechen erinnerte und damit eine Verlagerung verhinderte. 7.4.3 Dritte Phase: Moralische Beteuerungen beeinflussen wirtschaftliche Interessenverfolgung Zwei Jahre nach der Differenzierungskampagne wurden die damals gemachten Bekundungen auf die Probe gestellt. Denn die Produktionskapazität der deutschen Werke reichte nicht mehr aus; es stellte sich die Frage, wo neue Produktion angesiedelt werden sollte (Tehnwolder 1. Interview: 14. Min.; Tehnwolder 4. Interview: 32. Min.; Zeitungsartikel). Abermals überlegte der Vorstand, in China zu investieren; doch der Technikvorstand gab wieder zu bedenken, dass die realen Kosten einer ausländischen Produktionsanlage nie den vorherigen Projektionen entsprechen. Eine Alternative bestand darin, zusätzliche Produktion in einem neuen deutschen Werk anzusiedeln und einfache Produkte aus China zuzukaufen (Tehnwolder 3. Interview: 14. Min.). Der Betriebsrat äußerte erneut Ungewissheit darüber, wie die Unternehmensinteressen optimal verfolgt werden könnten: „Wenn ich ehrlich bin, habe ich da ab und zu meine Zweifel. Da ist die Frage der Interessenlage und dann wird gerechnet. Je nach Verfechter haben wir dann auch unterschiedliche Zahlen auf dem Tisch“ (Tehnwolder 1. Interview: 71. Min.). Erneut führten daraufhin moralische Argumente zu einer wirtschaftlichen Interessenverfolgungsstrategie, da eine optimale Lösung nicht vollständig kalkuliert werden konnte. Enteler wollte in Deutschland investieren. Er musste aber hinreichend sicher sein, dass dies auch effizient wäre. Vom Betriebsrat forderte er daher weitere Zugeständnisse; er schlug vor, die 40-Stunden-Woche einzuführen und Schichtzulagen abzubauen (Tehnwolder 4. Interview: 32. Min.). Er wusste zwar, dass dies gegenüber der Gewerkschaft nicht durchsetzbar wäre, hoffte jedoch stillschweigend auf eine 38-Stunden-Woche (Tehnwolder 4. Interview: 33. Min.). Der Betriebsrat lehnte Mehrarbeitsforderungen ab und erklärte sich lediglich bereit, die vorhandene Regelung zur Arbeitszeitflexibilisierung auf ein neues Werk auszudehnen. Auch ohne weitergehende Ausnahmeregelung würden die qualifizierten Facharbeiter und eine gute Infrastruktur die hohen Lohnkosten ausgleichen, argumentierte der Betriebsrat (genauso wie vorher die Geschäftsleitung selbst). Würde man den Facharbeitern jedoch die Löhne kürzen oder sie länger arbeiten lassen, werde deren Produktivität sinken, was letztlich der Rendite schaden würde. Enteler selbst sagte, er sei aus den Verhandlungen um längere Arbeitszeit „mit leeren Händen rausgegangen“ (Tehnwolder 1. Interview: 19. Min.). Warum beharrte er nicht auf Lohnkürzungen?
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„Da bin ich relativ ehrlich. Da haben wir gesagt, das machen wir nicht. Weil wir gesehen haben, wenn wir den Mitarbeitern so tief ins Portemonnaie greifen, dann geht es für die Leute teilweise schon um richtig Geld. […] Es gibt halt Mitarbeiter in bestimmten Familiensituationen, die brauchen jeden Eurocent. […] Und das war schon ein Argument, wo wir dann gesagt haben: ‚Gut, dann ist die 40-Stunden-Woche nicht realisierbar, ohne dass es Blut kostet.‘“ (Tehnwolder 4. Interview: 9. und 46. Min.)
Enteler und die Familie Tehnwolder wollten die Unternehmensinteressen nicht auf eine Weise verfolgen, die „Blut kosten“ würde. Doch auch Enteler steckte nicht nur zurück. Ihm war wichtig, dass der Betriebsrat das flexible Arbeitszeitmodell und stärkere Weiterbildung der Beschäftigten anbot, damit er es als interessenförderlich sehen konnte, auf das einzugehen, was die Arbeitnehmervertreter forderten (Tehnwolder 4. Interview: 34. Min.). Denkbar ist auch, dass Enteler moralische Gründe lediglich im Nachhinein für eine Strategie angab, die er von Anfang an als wirtschaftlich optimale Interessenverfolgungsstrategie ansah. Der Betriebsrat schätzte dies nicht so ein, was aber nicht heißt, dass er Enteler blind vertraute: „Auf einer persönlichen Ebene muss ich schon sagen, ich habe eigentlich dieses Vertrauen schon zum Vorstand. [Aber] ich würde jetzt nicht ein Blankoformular unterschreiben und dann sagen: ‚Jetzt schreib mir darüber eine Betriebsvereinbarung.‘ Das wäre also völlig der falsche Weg.“ (Tehnwolder 2. Interview: 56. Min.)
Obwohl der Betriebsrat also überzeugt war, dass Enteler und der Rest der Geschäftsleitung für moralische Appelle empfänglich waren (sei es aus „Gesinnungsethik“, sei es aus wirtschaftlichen Interessen), musste er doch immer wieder erklären, wie das, was der Vorstand als wirtschaftliches Interesse definierte und das, was als moralisch gesehen wurde, zusammenzubringen sei. Die Aussagen, mit denen der Vorstand sich von Wolder abgrenzte, engten dabei den Spielraum ein, in dem er seine Interessen verfolgen konnte. Der Betriebsrat nutzte dies und erinnerte den Vorstand an dessen Versprechen: „Da gibt es dann diesen Prozess, in dem man versucht, durch teilweise an der Öffentlichkeit stattfindende Gespräche das Netz engmaschiger zu machen und sie an ihre Aussagen und Verantwortungen zu binden. Man webt sie dann schon ein Stück weit ein, sodass sie dann sagen: ‚Na ja, jetzt kommen wir aus der Nummer schon fast nicht mehr raus. Ihr habt es in der Presse, ihr habt es beim Bürgermeister.‘ Und dann geht es natürlich immer an den großen Bruder in den USA [den amerikanischen Finanzinvestor], dem man das dann plausibel machen muss.“ (Tehnwolder 1. Interview: 22. Min.)
7.4 Moralische Argumente bei Tehnwolder
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Vorherige moralische Bekundungen verkleinerten zwar den Handlungsspielraum des Vorstands. Sie schnitten ihm aber möglicherweise nur Handlungsmöglichkeiten ab, die er auch gar nicht als wirtschaftlich rational sehen wollte. Durch Rücksichtnahme auf moralische Befindlichkeiten hoffte er, die Belegschaft motivieren zu können. So antwortete der Betriebsrat auf die Frage, ob der Vorstand wegen moralischer Bedenken auf Gewinn verzichte: „Er stopft sich die Taschen voll! Aber er hat irgendwann einmal erkannt, dass die Taschen viel voller werden, wenn ich das zehn Jahre lang konstant mache, wie ein Jahr lang mal richtig reingreifen und dann habe ich keine Taschen mehr, weil die kaputt sind“ (Tehnwolder 2. Interview: 69. Min.). Immer wenn der Betriebsrat versuchte, ausschließlich mit moralischen Argumenten für Deutschland zu plädieren, reagierte der Vorstand daher verärgert. Er lasse sich zwar nicht in einen Topf mit Wolder werfen, könne aber kaufmännisches Handeln nicht ausschließlich auf moralische Überlegungen stützen (Tehnwolder 1. Interview: 53. Min.). Aufgrund dessen präsentierte der Betriebsrat seine moralischen Argumente als wirtschaftlich effiziente Forderungen: „Man wird es auch schwer haben, mit rein moralischen Argumenten einen Standort zu verteidigen. Man kann die mit ansprechen, aber selbst wenn man noch so stark von denen überzeugt ist, man muss sie auf die wirtschaftliche Seite bringen, dann erst hören sie [die Geschäftsleitung] zu“ (Tehnwolder 2. Interview: 83. Min.). Moralische Appelle beeinflussten wirtschaftliches Handeln folglich dadurch, dass die Geschäftsleitung ihretwegen eine moralisch motivierte Strategie als wirtschaftlich sinnvoll definierte. Dies ist weder rational noch irrational, insofern ohnehin ungewiss ist, wie wirtschaftliche Interessen optimal verfolgt werden können. Jedenfalls ging Tehnwolders Vorstand auf moralische Appelle ein und baute am Heimatstandort ein neues Werk, nach eigenen Angaben mit „chinesischem Kostenniveau“ (Tehnwolder 4. Interview: 8. Min.). Gegenüber dem Investor Maxwell legitimierte er dies mit wirtschaftlichen Argumenten; Kunden würden für die edlen Produkte des Unternehmens mehr als das Doppelte ausgeben, wenn diese aus Deutschland statt aus Asien kämen (Tehnwolder 3. Interview: 23. Min.). Gegenüber Maxwell rechtfertigte die Geschäftsleitung ihr Handeln als optimale wirtschaftliche Interessenverfolgung. Der Investor könne nur eine hohe Rendite erwarten, wenn die Produktion in Deutschland bleibe (Tehnwolder 2. Interview: 2. Min.). Im Gegensatz dazu argumentierte Wolders Geschäftsleitung, die Produkte, derentwegen Tehnwolder zusätzliche Kapazitäten in Deutschland aufbaue, könne man am heimischen Standort gar nicht gewinnbringend produzieren. Offensichtlich lag dies nicht an den Produkten oder an Deutschland – denn diese Faktoren waren in beiden Unternehmen konstant. Stattdessen folgten die unterschiedlichen wirtschaftlichen Strategien einer unterschiedlichen Empfänglichkeit für moralische Argumente.
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7 Die Unternehmen Wolder und Tehnwolder:
7.5 Weshalb wirkten moralische Argumente bei Tehnwolder stärker als bei Wolder? Tehnwolders Betriebsrat konnte wirksam an eine soziale Verantwortung für die Heimatregion und die Belegschaft appellieren, denn sein Vorstand wollte die Unternehmensrendite zwar erhöhen, jedoch dabei sozialverträglich handeln. Nachdem Tehnwolders Vorstand sich auch noch von Wolder abgegrenzt hatte, konnte der Betriebsrat immer wieder an die dabei gemachten moralische Bekundungen erinnern. Unter anderem deswegen baute Tehnwolder ein neues Werk in Deutschland, während Wolder im selben wirtschaftlichen Umfeld ein Werk schloss. Bei Wolder entwickelte sich ein Konflikt, in dem die Parteien nicht mehr mit- sondern übereinander redeten. Die Arbeitnehmervertreter nutzten moralische Argumente als Waffe, um die Geschäftsleitung bloßzustellen und Druck auszuüben. Indem sie Legitimität entzogen, schadeten sie Wolder mit moralischen Argumenten. Warum aber konnten moralische Argumente in einem Fall als Appelle beeinflussen, wie eine Geschäftsleitung ihre wirtschaftlichen Interessen verfolgte, während sie in einem anderen Fall erst zu einer diskursiven Waffe werden mussten, die dem Unternehmen schadete und so Druck ausübte? Wann orientieren sich Geschäftsleitungen also an moralischen Argumenten in Form von Appellen? Und wie werden sie ansonsten gezwungen, auf moralische Argumente einzugehen, indem über solche Argumente Druck ausgeübt wird? Die folgenden zwei Kapitel beantworten diese Fragen. 7.5.1 Warum moralische Appelle nur bei Tehnwolder wirkten Tehnwolders Betriebsrat begründete die Wirkung moralischer Appelle damit, dass der Vorstand in eine soziale Struktur eingebunden war, die es ihm nicht gestattete, als unmoralisch zu gelten: „Man kann den Vorstand schon so weit beeinflussen, dass er sich in der Presse, wie auch in der Vergangenheit immer wieder geschehen, zum Standort bekennt. Vor allen Dingen, wenn man einen Patriarchen hat […]. Es ist ja unserem Vorstand auch ganz wichtig, Wolder und Tehnwolder klar zu trennen. Das geht natürlich nur, indem du das auch der Bevölkerung immer mal wieder kundtust: ‚Wir stehen zu unserem Standort, wir bauen unser Werk am Heimatstandort.‘ Dann lasse ich ihn das auch verkünden und dann habe ich ihn moralisch auch eingefangen. Weil ein Patriarch wird sich niemals als Lügner ausgeben. […] Die Zeitungsberichte, die sammeln wir natürlich auch. Da muss man natürlich manchmal dran erinnern. Gleichzeitig ist es aber auch auf der Gegenseite eine sportliche Aufgabe: ‚Wir können trotzdem günstiger sein als die Chinesen.‘“ (Tehnwolder 2. Interview: 29. und 41. Min.)
7.5 Weshalb wirkten moralische Argumente bei Tehnwolder stärker als bei Wolder?
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Außerdem schaffte sich Tehnwolders Vorstand (in seiner eigenen Wahrnehmung) einen „beneficial constraint“ (Streeck 1997), indem er sich von Wolder abgrenzte; denn dies zwang ihn, die Belegschaft gut zu behandeln. Diese Selbstbindung erzeugte guten Willen des sozialen Umfelds, der auch wirtschaftlich produktiv war. Eine Einbettung, in der dies möglich ist, muss jedoch „natürlich“ wachsen, wie alle Gesprächspartner betonten. Man kann sie kaum um ihrer selbst willen strategisch aufbauen, höchstens im Einzelfall durch charismatische Führungspersönlichkeiten, wie Steches Vorstand Lauer. Im Fall Tehnwolder war die Voraussetzung, dass Daniel Wolder im Vorstand war: Er bekannte, dass „seine Welt zusammenbrechen würde“, wenn die Familie als Ausbeuter gesehen würde (Tehnwolder 2. Interview: 84. Min.). Alle weiteren Akteure an der Verlagerungsdiskussion meinten ebenfalls, dass Tehnwolder im Unterschied zu Wolder „noch einmal nachrechnete“, ob sich eine Verlagerung nicht doch vermeiden ließ, da die Familie, die Tehnwolder leitete, sozial an ihrem Heimatstandort eingebunden war. „Das ist tatsächlich so, dass wir aufgrund der Anteilseigner einen anderen Weg gegangen sind. Das war der einzige Grund. Wäre bei uns ein Finanzinvestor, wäre es genau andersrum gelaufen. Es lag also letzten Endes daran und das hat was mit Moral zu tun.“ (Tehnwolder 2. Interview: 81. Min.) „Erfahrungsgemäß kommen die Leute dann her und entscheiden knallhart nach betriebswirtschaftlichen Kennzahlen. Das ist aber verkehrt, man braucht da Bauchgefühl und muss etwas weiter schauen. Die Lohnkosten in China, die steigen um jährlich 10 Prozent. Die Keypeople in China, die kosten fast, was sie hier kosten, wenn sie gute Leute wollen. Die Fluktuation ist weit größer. […] Das ist anders, wenn man aus einem soliden Hintergrund kommt. Und auch anders, wenn die Eigner mit in der Unternehmensleitung sind. […] Das ist einfach die Heimatverbundenheit und die Verbundenheit hier mit dem Ort.“ (Tehnwolder 3. Interview: 25. Min.) „Ich glaube eigentlich, dass es ein Stück weit aus einem Jahrhundert Kultur kommt. […] Wir haben Beschäftigte in dritter oder in vierter Generation. Da kommt ein Reinhard Tehnwolder, der dann sagt: ‚Ich kann doch nicht dem seinen Vater rausschmeißen!‘ Da spielt dann schon wirklich das Familiäre und Emotionale ein Stück weit mit rein. Dann kommt der Nächste und sagt: ‚Was interessiert mich das, was vor zwanzig Jahren war? Heute müsste man das wirtschaftlich so und so machen.‘ Und aus diesem Riesenballen wird dann etwas geknetet, wo man hoffentlich auch in der Zukunft noch einen vernünftigen Standort hat.“ (Tehnwolder 1. Interview: 69. Min.; vgl. ähnlich Tehnwolder 3. Interview: 15. Min.)
Als „beneficial constraint“ wirkt Moral zwar erst einschränkend, doch dann versuchen wirtschaftliche Akteure, diese Einschränkung in einen Vorteil umzuwandeln, indem sie das soziale Umfeld auf eine gewinnsteigernde Art moralisch
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7 Die Unternehmen Wolder und Tehnwolder:
behandeln (vgl. Streeck 1997). Doch welche Unternehmenskultur war es genau, derentwegen die Familie hinter Tehnwolder ihre wirtschaftlichen Interessen nur im Rahmen dessen verfolgte, was sie diskursiv als „moralisch“ legitimieren konnte? Einerseits äußerte Enteler, dass eine sozial nicht eingebundene Geschäftsleitung versuchen würde, eine noch höhere Rendite zu erreichen: „Die moralischen Ansprüche sind eigentlich schon verbunden mit Tradition und dass man sagt: ‚Ihr habt eine Verpflichtung zur Wertschätzung der Mitarbeiter.‘ Und der Spagat fürs Management war schon: ‚Wie bringe ich diesen moralischen Anspruch unter in einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung?‘ Und jetzt will ich mal sagen, wir haben schon ein Stück weit verzichtet auf Gewinnmaximierung [betont: -maximierung].“ (Tehnwolder 4. Interview: 44. Min.)
Dies scheint jedoch nicht damit zusammenzupassen, dass Enteler andererseits äußerte, gerade deswegen eine hohe Rendite erwirtschaften zu können, da er auf moralische Argumente einging (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 3. Min.). Wie konnte er gleichzeitig verkünden, es sei sinnvoll, auf moralische Argumente einzugehen, als auch, dass er deswegen auf Profit verzichte? „Bei allen moralischen Dingen, wir müssen ja auch Profit bringen. […] Man braucht eine Wirtschaftlichkeit, sonst können wir unsere Investitionen nicht bezahlen. Das Zweite aber stimmt, dass man eine starke Sozialbindung hat, weil in einem Unternehmen mit einer über hundertjährigen Geschichte arbeiten drei, vier Familiengenerationen zusammen. […] Wenn man Verluste macht, dann werden alle diese Werte natürlich in gewisser Weise nicht geopfert, aber sie werden gestrippt. Weil nachher muss ich ja gucken, dass das Unternehmen als Ganzes überlebt.“ (Tehnwolder 4. Interview: 22. Min.)
Kurzfristig auf Gewinn zu verzichten, sah Enteler somit als eine Investition an, die den guten Willen der Belegschaft förderte und damit langfristigen Gewinn sicherstellte. An seine Zeit als Geschäftsleiter eines Börsenunternehmens hatte er eine andere Erinnerung. Denn anstatt dort langfristig die Rendite hochzuhalten, mit der man sich dann ab einem bestimmten Punkt zufriedengebe, sei die Rendite nie hoch genug gewesen. Daher gab es dort „einen ganz anderen Druck. Da kommt jemand und sagt: ‚Ihr habt über 20 Prozent [Rendite]. Dann kommt der Nächste und fragt: ‚Warum macht ihr nicht 25?‘ Und dann müssen Sie schon irgendetwas tun, was man vielleicht in einem Familienunternehmen nicht tut. Auf dem Altar der Kostensenkung wird eine Kultur geopfert.“ (Tehnwolder 4. Interview: 53. Min.)
7.5 Weshalb wirkten moralische Argumente bei Tehnwolder stärker als bei Wolder?
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In einem börsennotierten Unternehmen war nicht der Zeitrahmen gegeben, um über moralische Behandlung in den guten Willen der Belegschaft zu investieren, was Enteler letztlich für wirtschaftlichen Nachteil hielt. Insofern wirkten moralische Argumente nicht, weil Tehnwolders Vorstand aufgrund seiner sozialen Einbettung (oder aus sonstigen Gründen) ein „weicheres Herz“ hatte. Vielmehr wirkten sie, weil Tehnwolders Unternehmenskultur die Art der Profitverfolgung bestimmte und es als profitbringend darstellte, auf moralische Appelle einzugehen. Genau dies war bei Wolder anders. Dessen Vorstand war nicht etwa „böse“ oder hartherzig und ging darum auf moralische Appelle nicht ein. Ganz im Gegenteil gab Wolders Geschäftsleitung an, dass sie nicht unmoralisch handeln wollte, jedoch aufgrund der wirtschaftlichen Situation dazu gezwungen sei (Wolder 1. Interview: 67. Min.). Bei Wolder war also die Art, wie man glaubte, Profit erzielen zu müssen, die „unabhängige“ Variable, die man nicht glaubte beeinflussen zu können. Bei Tehnwolder dagegen war die Einbettung in ein soziales Umfeld die „unabhängige Variable“, die die Methode der Profiterzielung bestimmte. Der Betriebsrat konnte entsprechend argumentieren, es maximiere zwar kurzfristig nicht den Gewinn, auf moralische Argumente einzugehen, führe dafür aber langfristig zu mehr Rendite (Tehnwolder 2. Interview: 83. Min.). Denn Tehnwolder profitiere dadurch vom guten Willen der Kunden und der Belegschaft. Kurzfristig müsse er sich leisten können, moralische Rücksicht zu nehmen, und in ökonomisch schwierigen Zeiten könnte er diese Rücksicht einschränken. Die kurzfristigen Kosten moralischer Rücksichtnahme seien allerdings tolerierbar gegenüber der daraus langfristig resultierenden Folge guten Willens, welcher auch wirtschaftlich sinnvoll sei. Es ist derselbe Mechanismus wie bei einer Investition (vgl. Blau 1964: 206). Diese muss sich ein Unternehmen auch erst leisten, später bringt sie jedoch Profit. So zumindest argumentierten bei Tehnwolder Vorstand und Arbeitnehmervertreter mehr oder minder implizit. Tehnwolder war empfänglich für moralische Argumente seines sozialen Umfelds, da die Geschäftsleitung zwar hohe Gewinne machen wollte, dann aber eine traditionale Wirtschaftsethik verfolgte. Danach musste Gewinn zwar hochgehalten, aber darüber hinaus nicht kurzfristig maximiert werden (vgl. Weber 1988 [1920]: 44). Dies schuf Spielraum, auf moralische Argumente einzugehen, was wiederum diese Ethik profitabel machte, da es guten Willen der Belegschaft förderte. Eine traditionale Wirtschaftsethik und moralische Argumente unterstützen sich im Idealfall in diesem Sinne gegenseitig, indem sie wirtschaftlich effiziente Kooperation ermöglichen. Bei Wolder war dieses Positivsummenspiel von Moral und Interessenverfolgung dagegen nicht möglich, denn der Vorstand konnte für moralische Appelle der Arbeitnehmervertreter nicht offen sein; er war schließlich nicht an diejenigen gebunden, für die Arbeitnehmervertreter eine moralische Behandlung verlangten. Arbeitnehmervertreter vermuteten sogar, der
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7 Die Unternehmen Wolder und Tehnwolder:
Finanzinvestor setzte Layden als Vorstand ein, gerade weil er keine sozialen Bindungen hatte und deswegen uneingeschränkter agieren konnte: „Das Problem war, sie kommen an die Leute nicht ran. Layden ist eine Marionette. Layden war vorher bei einem amerikanischen Unternehmen. Man nimmt einfach jemanden, der mehrere Sprachen spricht und den schickt man dann hierher und trägt ihm auf: ‚Du ziehst das jetzt einfach durch.‘“ (Wolder 2. Interview: 64. Min.) „Das sind Menschen in Führungspositionen, […] die gelernt haben, für einen bestimmten Herren einen bestimmten Job zu machen, wie die alten Landsknechte: dessen Brot ich ess’, dessen Lied ich sing. Und diesen Job versuchen sie so gut wie möglich zu machen, und da haben moralische Bedenken eine zweitrangige Bedeutung. Ein Familienunternehmen denkt da in vielen Bereichen anders.“ (Wolder/ Tehnwolder 1. Interview: 66.–67. Min.; vgl. ähnlich Wolder 1. Interview: 99. Min.)
Layden äußerte immer wieder, er könne nicht aufgrund moralischer Appelle unwirtschaftlich handeln (Wolder/Tehnwolder 2. Interview: 36.–39. Min.).44 Da er nicht davon zu überzeugen war, aus wirtschaftlicher Rationalität auf moralische Argumente einzugehen, vertraten Arbeitnehmervertreter ihre Interessen stattdessen mit moralischen Argumenten als Waffen. 7.5.2 Warum moralische Argumente nur bei Wolder zur Konfliktressource wurden Bei Tehnwolder versuchten Arbeitnehmervertreter nicht, die Geschäftsleitung moralisch bloßzustellen, da die Parteien einen Konsens erzielten. Dies war bei Wolder anders. Als moralische Appelle dort scheiterten, wurden Appelle zu Argumenten und Argumente zu Waffen. Der Betriebsratsvorsitzende gefährdete Wolders Renditeziele, indem er den Vorstand als unmoralisch darstellte und so die Kooperationsbereitschaft der Arbeitnehmer zerstörte (Wolder 1. Interview: 41. Min.). Da die Belegschaft es für unmoralisch hielt, ihre Arbeitsplätze für eine höhere Rendite zu opfern, folgte sie auf dieser Argumentation. Ihre moralische Empörung war aber zum Teil nur vorgeschoben. Denn sobald einzelne merkten, dass ihr eigener Arbeitsplatz nicht gefährdet war, sank ihre Konfliktbereitschaft. Daher kam aus den anderen Werken kaum Protest, als die Geschäftsleitung Trümmerwalde schloss (Wolder 1. Interview: 37. und 82. Min.; Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 27.
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Diese Gegenargumentation wird im Unternehmen Fernlich (vgl. Kapitel 8.2) auf die Spitze getrieben.
7.5 Weshalb wirkten moralische Argumente bei Tehnwolder stärker als bei Wolder?
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Min.; Wolder 3. Interview: 7. Min.; Wolder 2. Interview: 98. Min.).45 Zwar demotivierte das Verhalten der Geschäftsleitung die Beschäftigten, die sich mit „ihrem“ Unternehmen nicht mehr identifizierten, es führte jedoch nicht zu einem flächendeckenden Streik (Wolder 1. Interview: 41. Min.; Wolder/Tehnwolder 2. Interview: 4. Min.). Layden versuchte, die sinkende Motivation mit Videobotschaften zu heben, in denen er auf die hohe Unternehmensrendite hinwies und den Arbeitnehmern mitteilte, wie wichtig sie ihm seien. Doch da seine Taten dem widersprachen, glaubte die Belegschaft ihm nicht: „Wie kommt es bei einer Montagedame an oder bei einem Gießer oder einem Schleifer? Die sagen: ‚Ist der bekloppt? Erst macht er eine Milliarde Umsatz, und was dann das Ergebnis daraus ist, das interessiert ihn doch gar nicht mehr.‘ Da sind die viel zu weit weg. Das ist auch gar nicht böse gemeint. Da können die gar nicht näher dran sein. Dann sehen die die Milliarde [Umsatz] und fragen sich: ‚Und wofür hat er dann 1.000 Leute rausgeschmissen?‘“ (Wolder 1. Interview: 31. und 51. Min.)
Anstatt sich wie Tehnwolders Geschäftsleitung sozial an einen Standort zu binden, beugte Layden dem sogar vor, indem er anordnete, die Führungskräfte sollten in die nächste Großstadt umziehen. Der Betriebsrat meinte dazu: „Der will sich nicht einem Standort zugehörig fühlen. In der Großstadt ist das ein Glaspalast über vier Etagen. Das ist da einer unter vielen, ein kleiner … das nimmt keiner wahr. Hingegen hier kriegt er doch immer nur Druck, bei jeder Entscheidung“ (Wolder 1. Interview: 111. Min.; vgl. ähnlich Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 9. Min.). Dass sein als unmoralisch wahrgenommenes Verhalten die Arbeitnehmer von ihm entfremdete, nahm Layden nicht nur in Kauf; er förderte es mit dem Umzug sogar noch, um nicht mehr mit sozialen Ansprüchen in Form moralischer Argumente belästigt zu werden. Während somit bei Tehnwolder hohes Sozialkapital zu wirtschaftlichen Strategien führte, die dieses noch steigerten, war bei Wolder geringes Sozialkapital der Grund für eine Strategie, die dieses auch in Zukunft nicht steigen ließ. Einmal kam es zu einer Spirale gegenseitiger Unterbindung, einmal zu gegenseitiger Ermöglichung, und beides erbrachte eine ähnlich hohe Rendite. Beeinflussung der Öffentlichkeit durch moralische Argumente Wolders Belegschaft war gespalten und konnte darum auch nicht durch moralische Argumente aufgewiegelt werden. Diese entwickelten ihre Durchschlags45
Auch dies war im Unternehmen Fernlich anders (vgl. Kapitel 8.2). Mit seinen radikalen Äußerungen brachte dessen Vorstand die Belegschaft so gegen sich auf, dass alle Betriebe gegen ihn mobilisiert werden konnten.
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7 Die Unternehmen Wolder und Tehnwolder:
kraft als Waffe daher nicht gegenüber der Belegschaft, sondern gegenüber der Öffentlichkeit. Arbeitnehmervertreter mobilisierten die Öffentlichkeit mit dem Argument, es sei unmoralisch, Arbeitsplätze zu opfern, um eine hohe Rendite zu erhöhen (Wolder 1. Interview: 37. Min.). Layden und der Finanzinvestor unterschätzten trotz Marketingexpertise, „welchen Proteststurm der Stellenabbau auslösen würde“, und mussten deswegen an ihrem öffentlichen Image arbeiten (Zeitungsartikel). Die öffentliche Aufwiegelung war aus zwei Gründen erfolgreich. Layden wollte nicht in der Öffentlichkeit als unmoralisch gelten und er wollte, dass seine Strategie als wirtschaftlich richtig anerkannt wurde: „Zum Teil ist es denen egal, aber auf einer anderen Art wieder nicht, weil sie glänzen wollen. Die wollen wirklich die Guten sein. Die machen das eine bestimmte Zeit mit, während der man sagt: ‚Das sind die Bösen!‘, aber dann möchten sie auch den Umkehreffekt haben, dass alle sagen: ‚Das sind ja doch die Guten, die haben alles richtig gemacht!‘“ (Wolder 1. Interview: 40. Min.)
Dementsprechend äußerte Layden wiederholt den Wunsch, zu Deutschlands „Manager des Jahres“ gewählt zu werden (Wolder 1. Interview: 50. Min.). Dass ihn die öffentliche Kritik schmerzte, wurde nicht nur deutlich, als er einen Betriebsrat anrief und sich beschwerte, dass ihm die öffentliche Berichterstattung „schon wehtut“ (Zitat). Der Betriebsrat merkte dies auch jedes Mal, wenn Medien nach einer Stellungnahme der Arbeitnehmervertreter fragten. Denn dann baten ihn Pressesprecher und Vorstand immer wieder, Laydens Handeln nicht zu negativ darzustellen (Wolder 1. Interview: 33. Min.). Offensichtlich wollte Layden für seinen Kurs nicht verachtet werden. Doch die öffentliche Brandmarkung des Unternehmenshandelns übte nicht nur persönlichen, sondern auch wirtschaftlichen Druck aus: „Es kann nur Druck ausgeübt werden, wenn die Manager begreifen, dass sie ihre Zahlen nicht realisieren können, wenn ihr Image ganz gewaltig nach unten geht, wenn sie einen Ruf zu verlieren haben.“ (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 22. Min.) „Weil Leute gesagt haben: ‚Wir wollen keine Produkte, die in China oder sonst wo hergestellt werden. Wir wollen deutsche Produkte haben und so könnt ihr nicht mit uns umgehen.‘ Und interessanterweise, das, was wir an Umsatz verloren haben, hat der Tehnwolder hinzugewonnen.“ (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 49. Min.; vgl. ähnlich Wolder/Tehnwolder 2. Interview: 23. Min.)
Die IG Metall ging sogar davon aus, dass sie durch moralische Diskreditierung langfristig den Unternehmenserfolg beschädigen könnte. Denn Layden sah einen intakten Markennamen als größten Wettbewerbsvorteil an (Wolder/Tehnwolder 1. Interview: 46.–48. Min.). Die Strategie, dem Unternehmen durch moralische
7.5 Weshalb wirkten moralische Argumente bei Tehnwolder stärker als bei Wolder?
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Diskreditierung Schaden zuzufügen, reizten die Arbeitnehmervertreter im noch zu besprechenden Unternehmen Fernlich maximal aus. Hier jedoch krankte dieses Vorgehen daran, dass der Betriebsrat es nicht unterstützte; er wollte schließlich gegenüber dem Konkurrenten Tehnwolder keine Marktanteile einbüßen. Daher stockte die Nutzung moralischer Argumente als Legitimitätsentzug und konnte auch eine Verlagerung nicht verhindern. In den bisher besprochenen Unternehmen beeinflussten moralische Appelle wirtschaftliche Interessen, wenn eine Geschäftsleitung aufgrund ihrer sozialen Eingebundenheit zu erkennen gab, ihrem Heimatstandort moralisch verpflichtet zu sein. Nachdem sie auf moralische Appelle eingegangen war, wies die jeweilige Geschäftsleitung die daraufhin durchgeführte wirtschaftliche Handlung aber nicht mehr nur als moralisch, sondern auch als wirtschaftlich rational aus, um sich in einem System zu legitimieren, das darauf beruht, wirtschaftliche Interessen ökonomisch rational zu verfolgen. Indem Geschäftsleitungen auch Handlungen als wirtschaftlich rational legitimieren, die möglicherweise moralisch motiviert sind, wird es schwer, zwischen moralischen und wirtschaftliche Interessen wahrnehmenden Handlungen zu differenzieren. Für Tehnwolder erwies sich die infolge moralischer Appelle gewählte wirtschaftliche Strategie tatsächlich als wirtschaftlich rational, gemessen an der damit erreichten Unternehmensrendite. Ohne soziale Anbindung der Unternehmensleitung können moralische Appelle allerdings nicht wirken, wie der Vergleich zu Wolder gezeigt hat. Versagen moralische Appelle, erschweren anklagende moralische Argumente in einer zweiten Phase die wirtschaftliche Interessenverfolgung der Geschäftsleitung. Arbeitnehmervertreter stellen dabei das Handeln der Geschäftsleitung öffentlich als unmoralisch hin. Daraufhin verweigern ihr die Belegschaft, und mitunter auch die Öffentlichkeit, die Kooperation. Moralische Argumente können somit beeinflussen, wie Akteure ihre wirtschaftlichen Interessen wahrnehmen, wenn sie Vertrauen, Sozialkapital, Motivation und Produktivität der Belegschaft oder auch gesellschaftliche Legitimität beschädigen und die Geschäftsleitung sich von diesen Ressourcen abhängig sieht. Während Tehnwolder zeigt, wie Arbeitnehmervertreter moralische Appelle erfolgreich nutzen, veranschaulicht der Fall Wolder, wie Arbeitnehmervertreter moralische Argumente als Waffe nutzen. Es zeigt jedoch auch, dass diese Waffe stumpf ist, wenn die Geschäftsleitung unabhängig vom guten Willen ihrer Belegschaft oder der Öffentlichkeit ist. Beide Produktionsverlagerungsdiskussionen verdeutlichen jedoch, dass auch in modernen Wirtschaftsordnungen moralische Argumente wirken, indem sie beeinflussen, wie Geschäftsleitungen wirtschaftliche Interessen verfolgen, denn beide Geschäftsleitungen ließen sich auf weniger Entlassungen ein als ursprünglich geplant.
8 Die Unternehmen Fernlich und Kuhle: Wie sich traditionale und kapitalistische Wirtschaftsethik unterscheiden
Wenn man Kuhle und Fernlich von den bisherigen Unternehmen abgrenzt, zeigt sich, worum es bei ihrem Vergleich geht (siehe zusammenfassend auch Tabelle 1). Im Gegensatz zu Wolder entschuldigte sich Fernlichs Vorstand nicht für Renditemaximierung und versteckte sich auch nicht vor Kritik dagegen. Er bezeichnete Renditemaximierung als per se gerechtfertigt und sah Verlagerungen und Kündigungen als probates Mittel, um sein Ziel zu erreichen. In dieser Hinsicht steht Fernlich für eine radikalere Position als Wolder. Kuhle dagegen unterscheidet sich von Tehnwolder, da Kuhles Geschäftsleitung tatsächlich aus moralischen Erwägungen darauf verzichtete, eine hohe Rendite zu erwirtschaften, während Tehnwolder moralische Rücksichtnahme als Vorbedingung einer hohen Rendite definierte. Insofern beeinflussten bei Kuhle moralische Appelle nicht nur, wie die Geschäftsleitung Gewinn erzielte, sondern sie verhinderten, dass überhaupt mehr als ein „Normalgewinn“ erzielt werden sollte. Ebenso wie Fernlich eine extremere Version von Wolder ist, ist Kuhle eine extremere Version von Tehnwolder. 8.1 Fernlichs wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter Fernlichs Vorstandsvorsitzender Zalohma äußerte unumwunden, was die Vorstände in den bisher untersuchten Unternehmen kaum zu sagen wagten: Aktienwert und Gewinn zu maximieren sei an sich schon moralisch, auch wenn dafür Arbeitsplätze abgebaut werden. Dies entrüstete die Öffentlichkeit dermaßen, dass er unter Druck geriet, seine Argumentation zurückzunehmen. Er weigerte sich jedoch standhaft, dies zu tun. Das Beispiel Fernlich veranschaulicht darum, wie die ausschließliche Orientierung an Profitmaximierung moralisch verteidigt werden kann. Nachdem wegen Zalohmas Verteidigung moralische Appelle an ihn gescheitert waren, versuchten Arbeitnehmervertreter, ihn mit moralischen Argumenten öffentlich zu diskreditieren, um so wirtschaftlichen Druck auszu-
M. Schröder, Die Macht moralischer Argumente, DOI 10.1007/978-3-531-93196-8_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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8 Die Unternehmen Fernlich und Kuhle
üben und Handeln in ihrem Sinne zu beeinflussen. Aber auch dem widerstand Zalohma. Der Fall Fernlich illustriert somit, inwieweit moralische Argumente wirtschaftliche Interessen beeinflussen, wenn der Adressat dieser Beeinflussungsversuche besonders standhaft ist. Als eines der größten Industrieunternehmen Deutschlands ist Fernlich auch das größte hier untersuchte Unternehmen. Es beschäftigte zum Zeitpunkt der Verlagerungsdiskussion über 50.000 Arbeitnehmer an über sechzig Standorten. Davon waren über 30.000 an mehr als zehn deutschen Standorten beschäftigt. Fernlich vergrößerte weltweit seine Belegschaft, während die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland stagnierte. Es hatte ungefähr doppelt so viele Mitarbeiter wie Kuhle, dessen Mitarbeiterzahl in Deutschland aber im Unterschied zu Fernlichs anstieg. Abbildung 5:
Belegschaftsentwicklung Fernlich und Kuhle
Von 1994 bis 2006 verdreifachte sich Fernlichs Umsatz von 5 auf 15 Milliarden Euro. Ein Teil dieses Zuwachses ging auf Firmenkäufe zurück. Damit war Fernlich in seiner Branche überdurchschnittlich erfolgreich, auch im Vergleich zu Kuhle, das in derselben Branche tätig war. Auch Fernlichs Rendite (EBIT) war, gemessen am Branchendurchschnitt, hoch und stieg mit Ausnahme des Geschäftsjahres 2000/01 von 3,7 (1994) auf 10,8 Prozent (2006) des Umsatzes. Ebenso stieg das Eigenkapital, ein Maß für die langfristige Solvenz eines Unternehmens, seit 2001 von 14 auf 40 Prozent
8.1 Fernlichs wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter
131
des Umsatzes an und lag zuletzt sogar höher als im langfristig ausgerichteten Familienunternehmen Kuhle. Abbildung 6:
Umsatzentwicklung Fernlich und Kuhle
Abbildung 7:
Rendite- und Eigenkapitalentwicklung Fernlich und Kuhle
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8 Die Unternehmen Fernlich und Kuhle
Der zeitweise große Erfolg Fernlichs zeigte sich auch im Aktienkurs, der sich in fünf Jahren verfünffachte und dann aus Gründen abfiel, die noch zu besprechen sind. Abbildung 8:
Aktienkursentwicklung Fernlich
Vor Zalohma war Ludwig Hagenau bis 2001 Fernlichs Vorstandsvorsitzender. In einem Zeitungsartikel schrieb er Ende der neunziger Jahre, er fühle sich als „Diener der Aktionäre“. Die Unternehmensaktien befanden sich zu über drei Viertel in angloamerikanischem Streubesitz. Hagenau zitierte einen amerikanischen Investor, dem zufolge ein hoher Aktienkurs „im sozialistischen Deutschland“ nicht durchsetzbar sei. Derselbe Investor kaufte jedoch Aktien, nachdem Hagenau die Belegschaft einer Fabrik gegen erhebliche Widerstände halbiert hatte. Es sei zwar zynisch, dass ihm „die Not der Arbeitnehmer Erfolg bei den Aktionären brachte“, denn er habe „die Fabrik ja nicht halbiert, um Aktionären zu gefallen“, sondern damit Fernlich nicht „in Not gerät“. Er sei auch nicht bereit, „Arbeitnehmer der Rendite zu opfern“, und müsse „neben dem Aktionär auch die Belegschaft und den Kunden im Blick haben“, doch er brauche die Investoren, da er „auf einen hohen Aktienkurs angewiesen“ sei, um das Unternehmen „vor einer Übernahme [zu] schützen“. Außerdem sei es ja nicht unmoralisch, den Unternehmenswert zu erhöhen, schließlich verwalteten die Fonds, die in Fernlich investierten, auch das Geld von einfachen „Arbeitern und Ange-
8.1 Fernlichs wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter
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stellten“, so schrieb er damals in einem Zeitungsartikel. Hagenau sah also ein Dilemma zwischen seiner Verantwortung für die Belegschaft und für die Investoren. Dies wird noch eine entscheidende Rolle spielen. Als 2001 die Unternehmensrendite einbrach (siehe Abbildung 7), löste Heinrich Zalohma den Vorstandsvorsitzenden Hagenau ab (Fernlich 3. Interview: 48. Min.). Zalohma hatte in Deutschland und Frankreich Mathematik und Management studiert und sah sich im Unterschied zu Hagenau keineswegs als „Diener der Investoren.“ Er bezeichnete sich als „unabhängiger denn je“ (Zeitungsartikel). Da er selbst täglich 12 Stunden arbeite (Zitat: „Ich habe, anders als meine Mitarbeiter, abends nichts anderes vor“), könne er von seiner Belegschaft zumindest eine wöchentliche Arbeitszeit von 45 Stunden verlangen (Zeitungsartikel). Nach seinem Antritt äußerte er, eine „ausreichende“ Rendite gebe es für ihn nicht, schließlich könne man immer noch mehr Gewinn machen. Bis 2010 sollte deswegen 60 Prozent der Produktion in Niedriglohnländern stattfinden, entsprechende Verlagerungen seien nur noch eine Zeitfrage. Zeitungen beschrieben Zalohma als „uneitel, klar strukturiert und frei heraus“. Die Ansprüche, die er an andere stelle, stelle er auch an sich (Zeitungsartikel).46 Wie seine zerknautschten Anzüge wirkten, schien ihn nicht zu interessieren, seine Brille war ein klobiges Kassengestell. Er weigerte sich, einen großen Dienstwagen zu fahren und bei Bahnfahrten die erste Klasse zu benutzen. Dazu kommentierte er: „Wie könnte ich sonst von meinen Leuten verlangen, länger zu arbeiten?“ (Zeitungsartikel). Obwohl sein Jahresgehalt mit 1,5 Millionen Euro niedriger als das vergleichbarer Vorstände war, nannte er es „angemessen“, denn „langfristig kann Geld sowieso nicht motivieren. […] Das geht nur über das Erreichen von Zielen“ (Zeitungsartikel; Ansprache Hauptversammlung).47 Außerdem sei es wichtiger, zu sparen, als die Technologieführerschaft zu behalten, denn jeder Innovationsvorsprung könne innerhalb eines Jahres aufgeholt werden (Ansprache Hauptversammlung). Daher müsse Fernlich seine Preise jedes Jahr um 5 Prozent senken (Fernlich 3. Interview: 14. Min.). Ein Analyst schrieb über Zalohma, er „würde 46
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Davon nahm er auch den Vorstand nicht aus. Als ein Mitglied des Führungsstabes forderte, mehr als die üblichen 150 Euro pro Hotelübernachtung ausgeben zu dürfen, rügte ihn Zalohma: „Wir verlangen gerade von unseren Mitarbeitern in den Fabriken, dass die von 37 auf 40 Stunden hochgehen. Und das, was ich […] ausgebe in einer Luxussuite, dafür müssen fünf bis sechs Arbeiter eine Woche arbeiten. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, dass Sie das hier haben wollen.“ (Fernlich 3. Interview: 87. Min.) Es ist erstaunlich, wie nahe Zalohma mit seinen Aussagen Max Webers Idealtyp (1988 [1920]: 54) kapitalistischer Ethik kommt, wonach Arbeit und Sparsamkeit als Lebensmaxime gelten. Weber (1988 [1920]: 55) schilderte, was genauso auch auf Zalohma zutraf: „Der ‚Idealtypus‘ des kapitalistischen Unternehmers […] scheut die Ostentation und den unnötigen Aufwand ebenso wie den bewussten Genuss seiner Macht […]. Seine Lebensführung trägt m.a.W. oft […] einen gewissen asketischen Zug an sich […]. Er ‚hat nichts‘ von seinem Reichtum für seine Person, – außer: der irrationalen Empfindung guter ‚Berufserfüllung.‘“
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sich sofort selbst wegrationalisieren, wenn er glaubt, dass das dem Unternehmen Geld spart“ (Zeitungsartikel). Ein Gewerkschaftsvertreter beschrieb, Zalohma sei von seinen Äußerungen völlig überzeugt und setze sie darum durch, ohne Kritik zu berücksichtigen (Fernlich 5. Interview: 3. Min.). Der zweite Mann im Unternehmen war Personaldirektor Manfred Stoller; er versuchte erfolglos, Zalohma zu überzeugen, die Motivation der Arbeitnehmer als wertvolles Kapital zu sehen (Fernlich 4. Interview: 22.–25. Min.; Fernlich 1. Interview: 7. Min.). Stoller leitete wegen Zalohmas undiplomatischen Vorgehens später die Verhandlungen (Fernlich 3. Interview: 34. Min.). Die Presse berichtete, er sorge bei den Beschäftigten für „Ausgleich“, gelte als „sparsam, umgänglich und kommunikativ“ (Zeitungsartikel). Fernlichs Gewerkschaft stand im Ruf, konfliktscheu zu sein; stärker noch als die IG Metall setzte sie auf kooperative Sozialpartnerschaft. Heiner Luftero, ihr lokaler Bevollmächtigter, war zuerst ratlos, wie er mit Zalohma umgehen sollte. Er beauftragte schließlich eine Werbeagentur, die wichtigsten Tageszeitungen auf Rechtfertigungen zu durchsuchen, mit denen man auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten gegen Mehrarbeits- und Flexibilitätsforderungen argumentieren konnte, ohne dass die Arbeitnehmervertreter als „Betonköpfe, die keine Veränderung wollen“ dastünden (Fernlich 4. Interview: 2. Min.). Die Werbeagentur empfahl, gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Entlassungen bei hohen Unternehmensgewinnen als unmoralisch zu kritisieren – wie es bei Wolder geschah. Mit diesem Argument versuchte Luftero, spätere Produktionsverlagerungspläne zu beeinflussen, scheiterte jedoch weitgehend an Zalohma. Der Betriebsrat bestand aus Florian Harz, Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat und Marius Lutsche, Betriebsratsvorsitzender und Betriebsrat eines gefährdeten Werks. Beide versuchten, mit Zalohma zu kooperieren, bis ihnen klar wurde, dass jedes Zugeständnis nur neue Forderungen nach sich zog. Als Zalohma auf einer Betriebsrätekonferenz verkündete, Fernlich können seinen Hauptsitz „auch sonst wo“ haben, verbündeten sich die Betriebsräte stärker mit der Gewerkschaft (Fernlich 4. Interview: 32. Min.). In dem traditionsreichen Unternehmen erwarteten die Arbeitnehmervertreter, dass Zalohma den Heimatstandort respektvoll behandele, damit die alteingesessene Belegschaft vor Kündigungen sicher sei (Fernlich 2. Interview: 55. Min.). Doch Zalohma lag nichts ferner, als auf solche Forderungen nach sozialer Rücksichtnahme einzugehen.
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8.2 Moralische Argumente bei Fernlich 8.2.1 Erste Phase: Forderungen der Geschäftsleitung zerstören den guten Willen der Arbeitnehmer Als Fernlich in den neunziger Jahren feindlich übernommen werden sollte, demonstrierte die Belegschaft noch für die Selbstständigkeit „ihres“ Unternehmens (Fernlich 4. Interview: 30. Min.). Mithilfe von Großaktionären gelang es, den Übernahmeversuch abzuwehren. Der Vorstand war von da an jedoch dauerhaft besorgt, dass ein zu niedriger Aktienkurs einen weiteren Übernahmeversuch nach sich ziehen könnte. Kurz nach seinem Amtsantritt verknüpfte Zalohma Ersatzinvestitionen in das Werk Taubingen, um das später ein deutschlandweiter Konflikt ausbrechen sollte, mit der Forderung eines flexiblen Arbeitszeitkorridors von 35 bis 40 Wochenstunden, um dadurch circa ein Fünftel der Werksbelegschaft einzusparen. Die Gewerkschaft war einverstanden, da ihre Tarifverträge bis zu 40 Wochenstunden erlaubten und Zalohma über natürliche Fluktuation abbauen wollte. Ein Gewerkschaftsvertreter meinte: „Wenn Investitionen sind, gibt es gewisse Rationalisierungsmaßnahmen […], die wir dann ja auch bereit waren abzufedern. Also zu sagen: ‚Dann werden hier eben einhundertsechzig Leute weniger sein, wobei da keiner entlassen wurde‘“ (Fernlich 4. Interview: 43. Min.). Der Betriebsrat betonte, „die Regelung sei nach vielen harten Diskussionen schließlich von allen Seiten für gut befunden worden“. Eine Pressemitteilung der Geschäftsleitung versprach, die flexible Arbeitszeit werde Kurzarbeit und betriebsbedingte Kündigungen vermeiden und sei darum auch im Interesse der Arbeitnehmer. Taubingen übernahm durch die hinzugewonnene Flexibilität überschüssige und komplizierte Produktion von anderen Werken, und der erste Konflikt endete damit gütlich (Zeitungsartikel). Aufgrund der Konzessionen fand Taubingens Belegschaft, Zalohma habe nun eine moralische Bringschuld, die restlichen Arbeitsplätze zu halten (Fernlich 1. Interview: 1. Min.). Doch schon bald forderte er wieder eine längere Arbeitszeit, denn es sei „skandalös, dass wir hoch qualifizierte Arbeitskräfte nach 37 Stunden nach Hause schicken“. Die Beschäftigten müssten sich darüber klar werden, dass „nicht 35 bis 37 Stunden pro Woche die normale Arbeitszeit sind, sondern 43 bis 45 Stunden“ (Zeitungsartikel). Ein Jahr später wollte Zalohma entsprechend dieser Äußerungen die Durchschnittsarbeitszeit der flexiblen Regelung von 37,5 auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich erhöhen, um bis Ende 2006 bis zu vierhundert Beschäftigte (knapp die Hälfte der Werksbelegschaft) zu entlassen. Dafür wollte er über 20 Millionen Euro investieren. Würden sich die Arbeitnehmervertreter nicht innerhalb von zehn Tagen einverstanden erklären, werde er jedoch im Ausland investieren (Zeitungsartikel). Weil Zalohma sie
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dermaßen einschüchterte, identifizierten sich die Arbeitnehmer nun schon weniger mit ihrem Unternehmen. Auch die Arbeitnehmervertreter wurden skeptischer: „Man kann mit Angst Leistung steigern. Das funktioniert bis zu einem gewissen Punkt. Nur wo der Punkt ist, das ist schwer messbar. […] Weil, das fängt erst ganz langsam an, dass die Leute sich innerlich verabschieden. […] Also, da gab es dann die ersten größeren Gruppen, die gesagt haben: ‚Dem können wir sowieso nicht mehr glauben, dem geben wir gar nichts mehr.‘ Wir als Gewerkschaften und Betriebsrat kamen auch schon unter Druck von der Belegschaft. Also, diese Vereinbarung war schon eine Gratwanderung. Aber es war immer noch von dem Glauben geprägt, dass man sich auf Vereinbarungen verlassen kann.“ (Fernlich 4. Interview: 44.–46. Min.)
Wieder einmal fragten sich die Arbeitnehmervertreter nicht nur, ob Konzessionen wirtschaftlich angemessen wären. Sie mussten auch entscheiden, ob sie sie der Geschäftsleitung anvertrauen wollten. Würde die Geschäftsleitung sie nutzen, um Arbeitsplätze zu erhalten? Noch einmal vertrauten die Arbeitnehmervertreter ihrem Unternehmensmanagement. Die Gewerkschaft stimmte zu, die Wochenarbeitszeit um eine Stunde zu verlängern und weitere einhundertachtzig Stellen zu streichen. Dafür flossen 20 Millionen Euro Investitionen und die Geschäftsleitung bezeichnete Taubingen als „wichtigen Standort in der Zukunft“. Im Sinne eines sozialen Austauschs (vgl. Blau 1964: 94) meinte die Gewerkschaft, nun im Gegenzug ein Anrecht auf moralische Behandlung zu haben. Sie meinte, freiwillig die Interessen ihrer Klientel eingeschränkt zu haben, was sie im Gegenzug nun auch von der Geschäftsleitung erwartete. Doch drei Tage später stellte Zalohma öffentlich klar, dass ihr Entgegenkommen weitere Verlagerungen nur hinauszögern konnte (Zeitungsartikel). Die Stimmung wurde angespannter. Einige Monate später verkündete Zalohma dann tatsächlich, dass „Zahlen einfach nicht mehr zusammenpassen“ und er Produktion in Niedriglohnländer verlagern müsse. Er könne sich nicht darauf ausruhen, dass es „einigermaßen läuft“ und er könne auch nicht weiter automatisieren, da das zu teuer werde. Daher werde Fernlich in dreißig Jahren wahrscheinlich „keine Fabriken mehr“ in Deutschland haben. Schließlich sei der deutsche „technische Vorsprung nur ein gerne gepflegtes Märchen“ und auch stabile politische Rahmenbedingungen kein Vorteil, denn: „Wo wir das kulturelle, das unternehmerische und administrative Risiko höher einschätzen, müssen wir einfach höhere Gewinnchancen sehen. Wenn wir mit einer Investition in Deutschland X Prozent verdienen, muss die Verzinsung etwa in Brasilien um 10 Prozent höher liegen. Wir haben eine interne Länderliste, in der die notwendigen Aufschläge stehen“ (Zeitungsartikel). Inso-
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fern war ein Auslandsengagement für Zalohma keine unberechenbare Ungewissheit, sondern ein kalkulierbares Risiko (vgl. zur Unterscheidung Knight 1921: 229 ff.). Er rechnete eine optimale Unternehmensstrategie aus, von der er, weil sie optimal war, dann nicht mehr abweichen durfte. Infolgedessen sah er es als sozial unverantwortlich an, auf moralische Appelle einzugehen, denn er müsse und wolle im Dienste der Investoren für eine hohe Rendite sorgen. Er strebe ja nicht aus Eigeninteresse eine hohe Rendite an, sondern weil dies die gesellschaftliche Aufgabe und sogar Verpflichtung eines Unternehmens sei. Deshalb sei es moralisch, ein profitables Werk zu schließen, wenn dies die Rendite steigere (Zeitungsartikel). Allerdings äußerte Zalohma all dies ohne externen Rechtfertigungsdruck. Offenkundig wollte er seiner Meinung Gehör verschaffen. Er war ein Überzeugungstäter auf einer „mission civilisatrice“ und meinte, die Öffentlichkeit über Tatbestände aufzuklären. Nachdem er eine Strategie als „objektiv richtig“ ausgerechnet hatte, musste er es als Fehler ansehen, davon abzuweichen, meinten die Arbeitnehmervertreter: „Dem ist jegliches Moralische und Emotionale fremd. Das ist gar nicht böse gemeint, der ist einfach durch und durch Mathematiker. […] Der ist eine Natur, da gibt es nur null oder eins. Von daher ist das für ihn ganz klar. Irgendwann hat er die Philosophie für sich entwickelt: ‚Das ist der Weg‘ und dann nimmt er solche Sachen wie ein fehlgeschlagenes Auslandsengagement gar nicht wahr. Da sagt er: ‚Das ist aber langfristig richtig und dann muss man auch mal bereit sein, Geld zu verlieren.‘“ (Fernlich 4. Interview: 6. und 84.–86. Min; vgl. ähnlich Fernlich 2. Interview: 38. Min.)
Ungewissheit schien in Zalohmas Denken nicht vorzukommen. Da er Fernlich erfolgreich führte, bestätigte sich seine Sicht einer durch und durch berechenbaren Welt, in der man eben nur richtig kalkulieren muss, auch immer wieder (Fernlich 4. Interview: 88. Min; Fernlich 5. Interview: 1. Min.). Im Übrigen waren Verlagerungen für Fernlich tatsächlich nicht so risikoreich wie für andere Unternehmen, da es bestehende Werke in Niedriglohnländern nur noch vergrößern musste, statt neu zu bauen. Moralische Appelle, am Heimatstandort zu bleiben, waren für Zalohma deswegen Appelle, sich wirtschaftlich irrational zu verhalten. Auch Partnerunternehmen kritisierten Zalohmas Verlagerungspräferenz: „Die haben so einen Filter, das haben die gar nicht realisiert. Wenn man da dann was dagegen sagt, dann sind die völlig irritiert. Das ist einfach so unbewusst und so früh einprogrammiert“ (Mittelständler 1. Interview: 46. Min.).48 Die Arbeitnehmer Fernlichs hielten sich 48
Solche kognitiven „Filter“ werden von Kaplan (2008) dafür verantwortlich gemacht, dass wirtschaftliche strategische Entscheidungen überhaupt getroffen werden können, obwohl aufgrund von Ungewissheit nicht errechenbar ist, ob eine Entscheidung Interessen maximiert. Wenngleich Kaplan betont, dass solche Filter prinzipiell in Diskursen beeinflusst werden können, unterschied sich Zalohma von anderen Geschäftsleitungen dadurch, dass dies bei ihm nicht möglich war.
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jedoch für mehr als eine mathematische Größe, die nach Zalohmas Berechnungen optimiert werden müsse. Der Betriebsrat fasste seine Äußerungen als endgültigen Vertrauensbruch auf. Der Gewerkschaftsvorsitzende meinte, Zalohmas dauernde Provokation sei „irritierend und unverantwortlich, vor allem gegenüber der eigenen Belegschaft und deren Motivation“. Auch der Ministerpräsident des Bundeslandes und Politiker aller Parteien kritisierten seine Äußerungen als „inakzeptabel“ (Zeitungsartikel). 8.2.2 Zweite Phase: Geschäftsleitung erklärt Gewinnmaximierung als sozial verantwortlich Zalohma hatte einen Konflikt angefacht, ohne bisher überhaupt eine Verlagerung rechtfertigen zu müssen. Arbeitsdirektor Stoller versuchte, seine Äußerungen in ein positiveres Licht zu rücken. Fernlich habe die Geschäftsmoral nicht als „modisches Thema entdeckt“. Stattdessen seien „solides Management, Bescheidenheit und akkurate Buchführung dauerhafte Grundwerte“ im Unternehmen. Es sei Ausweis sozialer Verantwortung, dass auch in guten Zeiten nach „Frühsignalen für Fehlentwicklungen“ gesucht werde, denn nur so sei es möglich, „zu handeln, ehe das Wasser an der Unterlippe steht“. Dass Zalohma trotz gesellschaftlicher Beeinflussungsversuche klar kommuniziere, was wirtschaftlich rational sei, habe einen einfachen Grund. Es sei Ausdruck seiner Weitsichtigkeit und seiner Verantwortung zum Unternehmen und dessen Aktionären. Um Fernlich langfristig verantwortungsvoll aufzustellen, sei nun einmal die Rückkehr „zu weltweit kompetitiven Arbeitskosten und damit Arbeitszeiten [nötig], die nicht nur über den ideologisierten 35 Stunden, sondern über der 40-Stunden-Marke liegen“. Selbst dies werde jedoch „mittelfristig nicht ausreichen, um Konkurrenzfähigkeit zu bewahren“. Zalohma sei jedoch wenigstens redlich genug, dies zuzugeben, so Stoller (Zeitungsartikel). Stollers und Zalohmas Aussagen waren die kristallklare Manifestation einer kapitalistischen Wirtschaftsethik49, in der allein Gewinnmaximierung als Unternehmensziel anerkannt wird. Beide erklärten diese als moralisch gerechtfertigt, schließlich gehe es nicht um ihre eigenen Interessen; vielmehr seien sie den Aktienhaltern gegenüber verpflichtet und verantwortlich. Profit zu generieren sei moralisch, denn dieser sei als Mehrwert auch im Sinne der Gesellschaft. In keinem anderen untersuchten Unternehmen bekannte sich eine Geschäftsleitung zu dieser kapitalistischen Ethik in dieser Reinform. Entsprechend immunisiert waren Zalohma und Stoller gegen die zunehmende öffentliche moralische Empö49
Vgl. zum Unterschied einer traditionalen und kapitalistischen Wirtschaftsethik das Einführungskapitel und das Schlusskapitel 10.4.
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rung. Die Wirtschaftselite feierte Zalohma wegen dieser Einstellung. „Endlich jemand, der offen sagte, wovor viele zurückschrecken“, hieß es hinter verschlossenen Türen. Da Zalohma „in drei Jahren den Aktienkurs mehr als verdreifachte und einen Verlust in einen Gewinn von einer Milliarde verwandelte“ (Zeitungsartikel), wählte ihn ein Wirtschaftsmagazin zum derzeit besten Manager Deutschlands. Doch der eigentliche Konflikt begann jetzt erst. Vielleicht war Zalohma von seinem Erfolg beflügelt, wahrscheinlich sah er es schlicht als ökonomisch rational an, nun zum dritten Mal Konzessionen zu verlangen. Er forderte die 40-Stunden-Woche (die er zuletzt nicht durchsetzen konnte) innerhalb der flexiblen Arbeitszeit für das Werk Taubingen. Werde die Gewerkschaft nicht umgehend zustimmen, werde er Produktion in ein bestehendes Werk in Osteuropa verlagern. Schließlich koste die Herstellung eines der Unternehmensprodukte dort nur 3 statt 5 Euro. Ein drittes und letztes Mal erklärte sich die Gewerkschaft widerwillig bereit, die Arbeitszeit auf 39 Stunden zu erhöhen. Dadurch verloren die Arbeitnehmer zwar umgerechnet 9,7 Prozent ihres Stundenlohns. Immer noch glaubten sie aber, dadurch ihre Arbeitsplätze retten zu können (Fernlich 2. Interview: 29. Min.). „Weil wir in der festen Annahme waren, Fernlich hält sich auch an die Spielregeln, die bleiben dann hier. […] ‚Ihr verzichtet auf die Verlagerung und wir verzichten auf Geld. […] Wir können die Arbeitsplätze hier halten. Verdienst ist auch nicht so dramatisch, dass dann jemand seine Miete nicht mehr bezahlen kann.‘ […] Jetzt haben wir auch erst mal wieder eine Perspektive und in zwei Jahren, waren wir auch davon ausgegangen, boomt der Markt wieder so, dann ist das Werk hier nicht mehr in Gefahr. […] Wir haben gedacht, wir kommen damit durch das Tal der Tränen.“ (Fernlich 4. Interview: 33.–36. Min.)
Für die Mehrarbeit sicherte die Geschäftsleitung Arbeitsplätze und eine Mindestproduktion zu. In drei Jahren wollte sie ein Zukunftskonzept für Taubingen ausgearbeitet haben. Doch dies war die letzte Regelung, auf die sich Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter einigten. Es begann ein Konflikt, dessen Intensität in Deutschland bisher unbekannt war. Denn laut Gewerkschaft hatte Zalohma mit der offiziellen Standortvereinbarung einen „impliziten Vertrag“ geschlossen. Im Sinne eines sozialen Austauschs sollte er sich nun nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch verpflichtet fühlen, Arbeitsplätze zu erhalten. Zalohma hielt sich jedoch nicht an diese Spielregeln der Gewerkschaft. Schon kurze Zeit später kaufte er einen Konkurrenten, um dessen Produktion umgehend ins Ausland zu verlagern. Die Arbeitnehmervertreter waren empört, dass er wiederholt Konzessionen forderte, gleichzeitig aber genug Geld hatte, Konkurrenten aufzukaufen. Die Gewerkschaft plante nun zur Hauptversammlung Proteste (Fernlich 4. Interview: 52. Min.). Bisher hatten Obergrenzen das Vorstandsgehalt
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bei steigenden Aktienkursen gedeckelt. Diese Obergrenzen schafften die Aktionäre auf der Jahreshauptversammlung ab, mit der Begründung, ansonsten gäbe es „außer Stolz keinen Anreiz“ (Protokoll Jahreshauptversammlung), den Aktienkurs zu erhöhen. Während die Aktionäre mit Zalohma zufrieden waren, hegten die Arbeitnehmer Groll. Aufgrund ihrer Protestkundgebung berichteten Medien nicht nur über die ausgezeichneten Unternehmensergebnisse, sondern auch über soziale Spannungen im Unternehmen. Die Gewerkschaft wollte damit Druck ausüben: „Fernlich ist nur nervös zu kriegen, wenn die Aktie anfängt, nervös zu werden. Deswegen haben wir auch die Veranstaltung vor der Hauptversammlung gemacht. Das sind alles Dinge, um den Anleger nervös zu machen: ‚Bei Fernlich ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen.‘ Und wir wissen, dass natürlich Investoren genau hingucken: ‚Wie läuft das denn da, das soziale Verhältnis im Unternehmen?‘ Das ist zwar erst drittrangig oder viertrangig, aber bei der Gesamtbewertung des Unternehmens spielt es eine Rolle.“ (Fernlich 4. Interview: 19. Min.)
Die Belegschaft karikierte ihren Chef als „Raupe Nimmersatt“, die frisst, bis ihr schlecht wird.50 Konzessionen der Arbeitnehmer seien ungerechtfertigt, wenn das Unternehmen hohe Gewinne mache, so die Demonstranten (Fernlich 1. Interview: 9. Min.). Auf ihren Protestschildern stand: „Zufriedene Mitarbeiter steigern die Gewinne“, „Heute Gewinne, morgen Arbeitsplatz weg“, „Aktionäre sind wie Raupe Nimmersatt, machen unsere Arbeitsplätze platt“. Die Gewerkschaft forderte Zalohma auf, „seiner Verantwortung für Region und Beschäftigte gerecht zu werden“. Zwar sei Profit wichtig, doch „moralische Barrieren dürfen nicht überschritten“, Menschen nicht „zu reinen Kostenfaktoren werden“. Seien diesbezüglich keine klaren Zeichen zu vernehmen, wären „weitere Aktionen nicht ausgeschlossen“ (Zitate aus Zeitungsberichten). Gewinnmaximierung sei nur vertretbar, wenn sie nicht nur rechtliche, sondern auch soziale Grundsätze einhalte, denn auch wirtschaftliches Handeln unterliege gesellschaftlichen Normen. Mit Verweis auf die Studie eines Fraunhofer Instituts argumentierte die Gewerkschaft, kostengetriebene Verlagerungen würden die Qualitäts- und Technologieführerschaft gefährden. Sie stellte ein langfristig wirtschaftlich sinnvolles moralisches Verhalten einem aus ihrer Sicht kurzfristig maximierenden und unmoralischen Verhalten gegenüber. Die Gewerkschaft wollte mit solchen moralischen Argumenten Zalohmas wirtschaftliche Interessenverfolgung eindämmen, doch alles prallte an ihm ab. 50
Es fällt nicht schwer, hier die implizite Kritik an einer kapitalistischen Wirtschaftsethik zu sehen, denn kritisiert wird schließlich, dass Zalohma nicht auch einmal „genug habe“, sich also nicht an traditionaler Bedürfnisbefriedigung orientierte.
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Keines der Argumente wirkte wie in den Familienunternehmen Müller und Tehnwolder. Zeitungen schrieben von einem „Klassenkampf“, bei dem Zalohma „auf der Anklagebank“ sitze. Anders als Wolders Vorstandsvorsitzender leistete Zalohma der Kritik jedoch sogar noch Vorschub, indem er seine Aussagen nie abschwächte. Gerade dass er Unternehmensinteressen entschieden wahrnehme, bezeichnete er als moralisch, schließlich handele er nicht aus Eigeninteresse, sondern im Dienste der Aktionäre. Fernlich sei in einem „harten Wettbewerb“ und er wolle nicht, dass dieses traditionsreiche deutsche Unternehmen als „Tochtergesellschaft eines chinesischen Konzerns“ ende. Die Proteste bezeichnete er deswegen als „nicht nachvollziehbar“. Er werde weiter nach Osteuropa expandieren und im Sinne des Unternehmens und der Aktionäre handeln (Zeitungsartikel). Auch wenn die Belegschaft besorgt sei, „deswegen können wir ihnen doch die Tatsachen nicht verschweigen“. Nicht nur bei den Arbeitern kamen seine Argumente nicht an: Ein Chefentwickler kündigte aufgrund „unterschiedlicher Auffassungen über die Geschäftsstrategie“ (Zeitungsartikel). Doch fast schien es, als ob Widerspruch Zalohma erst recht motiviere, seiner Linie treu zu bleiben. Er sehe nicht ein, warum in Deutschland nicht 42 Stunden wöchentlich gearbeitet werde, er werde von seiner „betriebswirtschaftlich richtigen Strategie“ nicht abweichen, nur weil die Gewerkschaft, die nichts anderes sei als eine „nationale Interessengruppe“ diese als unmoralisch bezeichne, um für ihre eigenen Interessen zu werben. Wer an seinem Kurs zweifle, der möge sich Fernlichs Aktienkurs und Rendite anschauen (Zeitungsartikel). All dies geschah noch vor der eigentlichen Verlagerungsdiskussion. Diese begann, als Zalohma den Arbeitnehmervertretern kurze Zeit später auf einer Aufsichtsratssitzung unerwartet mitteilte, er werde trotz der Konzessionen der Arbeitnehmer und seinen eigenen Zusicherungen das Werk Taubingen schnellstmöglich schließen. Als Grund nannte er lediglich „unerwartete Marktentwicklungen“. Der Taubinger Betriebsrat Harz entgegnete fassungslos, es sei völlig ausgeschlossen, die Produktion zu verlagern, Zalohma brauche gar nicht weiter darüber nachdenken. Denn erstens erwirtschafte Taubingen jährlich 20 Millionen Euro Gewinn51 und zweitens wäre die Schließung ein Rechtsbruch gegenüber dem erst vor sechs Monaten abgeschlossenen Standortsicherungsvertrag. Zalohma argumentierte wie gewohnt: Er könne eine wirtschaftlich sinnvolle Entscheidung nicht ändern, nur weil sie unbequem und nicht jeder damit einverstanden sei. Fabriken könnten gar keine Gewinne abwerfen, das könnten nur die Verkaufszentren. Und während ein bestimmtes Spezialprodukt aus Taubingen 12 Euro koste, könne das günstigste Werk es für 8 Euro produzieren. Bei 1,5 Millionen Produkten jährlich wären somit 6 Millionen Euro Einsparung möglich. Nur ein schlechter Kaufmann würde diese Einsparung nicht realisieren. Der Gewerk51
Gemessen am Verkaufspreis der Produkte minus den dafür anfallenden Produktionskosten.
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schaftssprecher Luftero argumentierte dagegen, dass Zalohma „für eine Zigarettenschachtel“ pro Produkt ein Werk schließen wolle (Fernlich 3. Interview: 8. Min.). Auch hier argumentierten Arbeitnehmervertreter wieder, Gewinnstreben als Maximierung sei unmoralisch. Insgesamt plante Zalohma, mit der Schließung lediglich circa 0,05 Prozent des jährlichen Unternehmensumsatzes und 0,5 Prozent des jährlichen Gewinns einzusparen. Darüber entbrannte ein deutschlandweiter Grundsatzkonflikt, in dem Zalohma Opfer einer Medienkampagne der Gewerkschaften wurde. Schon bevor er ankündigte zu verlagern, war nach Harz’ Einschätzung auch dem größten Teil der Geschäftsleitung unwohl bei dem Gedanken, das profitable Heimatwerk zu schließen, um den schon hohen Unternehmensgewinn noch minimal zu steigern. Kein Vorstandsmitglied traute sich jedoch, Zalohma zu widersprechen: „Man hat natürlich auch deutlich gemerkt, vom Vorstand, wer da nervös wurde. Wer da wie herumrutschte, wer das Wort führte und wer sich abgeduckt hat. […] Die wussten gar nicht mehr, wo sie hingucken sollten vor Scham. Einer wäre bald unter den Tisch gerutscht. Aber nichtsdestotrotz, drei Stunden später haben wir einen Anruf bekommen: ‚Die Entscheidung ist gefallen, wir verlagern die Produktion.‘ Da hat sich dann der Vorstandsvorsitzende durchgesetzt.“ (Fernlich 2. Interview: 33.– 35. Min.)
Die Kommunikationsabteilung warnte Zalohma, die Beschäftigten hätten schon drei Mal Einbußen zugestimmt, immer in dem Glauben, ihre Arbeitsplätze dadurch zu erhalten. Sein Verlagerungsplan könnte aufgrund des hohen Unternehmensprofits zu einem Imagedesaster führen, das die Ersparnis der Verlagerung möglicherweise aufzehre. Doch Zalohma meinte, er könne nicht aus Rücksicht auf seinen Ruf von einer wirtschaftlich sinnvollen Entscheidung absehen. Er müsse schließlich keinen Beliebtheitswettbewerb gewinnen, sondern ein Unternehmen lenken. Der Chef der Kommunikationsabteilung widersprach ihm, dass es nicht auf die wirtschaftliche Angemessenheit der Entscheidung per se ankäme, sondern wie die Öffentlichkeit darauf reagiere, weil dies wirtschaftliche Folgen habe. Zalohma antwortete, er sei nicht Vorstandsvorsitzender geworden, um sich eine betriebswirtschaftliche Entscheidung von Medien, Betriebsrat und öffentlicher Meinung aufoktroyieren zu lassen (Fernlich 3. Interview: 7. und 32. Min.). Nichts konnte ihn davon abhalten, die wirtschaftliche Strategie zu verfolgen, die er für richtig hielt. Persönlich verkündete er Taubingens Belegschaft, er werde sie schnellstmöglich entlassen. Fernlich habe Überkapazitäten und müsse die Produktion dort schließen, wo sie am teuersten sei. Leider habe er keine andere Wahl, als dieser wirtschaftlichen Logik zu folgen. Die Standortvereinbarung, die Kündigungen ausschloss, sei für ihn irrelevant, da er sich „nur an Verträge halte,
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die ich selbst unterzeichnet habe“ (Zitat Zeitungsartikel).52 Ein Arbeiter und zwei Arbeitnehmervertreter erinnern sich an die Betriebsversammlung, in der Zalohma den Arbeitern mitteilte, dass er sie schnellstmöglich kündigen werde: „Der hat uns knallhart gesagt, wie es ist und dass er es gut findet, dass wir uns so aufgepäppelt haben, aber dass es leider nicht reicht. […] Der wurde richtig ausgebuht. Es gab Trillerpfeifen, die Leute haben dazwischengerufen, haben geschrien: ‚Was ist mit meinen Kindern, was ist mit meinem Haus?‘ […] Erst mal hat er, glaube ich, Angst gehabt, dass die Leute gleich auf ihn losgehen. Da standen auch ziemlich viele Bodyguards. Er hat das halt immer aus so einer Buchhalterdistanz betrachtet. […] Ein Arbeitskollege von mir hat dann auch gefragt, ‚Was ist denn mit meinen Kindern?‘ Da hat er dann auch gesagt, dass er da halt nichts machen kann.“ (Fernlich 1. Interview: 3.–8. Min.) „Ich habe mich gewundert, dass er da heil rausgekommen ist. […] Aber das ist seine Art, sich diesen Sachen zu stellen und das auch schonungslos zu sagen. Und er erwartet auch nicht, dass er dafür Beifall oder Verständnis kriegt. Aber er sagt: ‚Ich sag euch das, wie es ist. Ich lüg hier nicht rum.‘ […] Darum sagt er das jedem genau, auch die unangenehmen Sachen. Und er sagte: ‚Ich will euch sagen, wo ihr nächstes Jahr steht, und da seid ihr eben alle arbeitslos. Deswegen sage ich euch das jetzt, damit ihr euch darauf einstellen könnt.‘“ (Fernlich 2. Interview: 42. Min.) „Da hätte er noch zwei Worte sagen müssen, dann hätten sie ihn gelyncht.“ (Fernlich 6. Interview: 2. Min.)
Wichtig ist, dass gerade Zalohma nicht darauf verzichtete, sich moralisch zu rechtfertigen. Da er glaubte, eine optimale Unternehmensstrategie kalkulieren zu können, und da er die daraus resultierende Gewinnmaximierung für moralisch hielt, hatte er jedoch andere moralische Grundsätze als seine Belegschaft. Weder legitimierte er seine Entscheidung über Selbstinteresse noch warf ihm dies jemand vor. Doch während er angab, gegenüber dem Unternehmen und den Aktionären moralisch verpflichtet zu sein, meinten die Arbeiter, er sei auch ihnen gegenüber verpflichtet. In einer Pressemitteilung wandte er sich nach der Betriebsversammlung an die Öffentlichkeit. Er habe sich seine „Entscheidung nicht leicht gemacht, jedoch einfach keine andere Wahl. Die Abmachung wäre natürlich nicht abgeschlossen worden, wenn die in letzter Zeit eingetretene Marktentwicklung schon damals absehbar gewesen wäre“. Er wolle die Beschäftigten „nicht verunsichern oder durch ein Wechselbad der Gefühle schicken, geschweige denn ein Schreckensszenario für weitere Zugeständnisse schaffen“. Indem er die Betriebsvereinbarung kündige, würden weder die darin vereinbarte 52
In der Tat war für die damals getroffene Vereinbarung gar nicht notwendig, dass der Vorstandsvorsitzende sie unterschrieb.
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längere Arbeitszeit noch die Arbeitsplatzgarantie weiter gelten. Soziale Verwerfungen, die dadurch entstünden, seien zwar bedauerlich, jedoch angesichts wirtschaftlicher Zwänge unvermeidlich. Zwar seien die Geschäftsergebnisse glänzend, doch zwischen dem guten Geschäftsergebnis und der Schließung Taubingens gebe es keinen kausalen Zusammenhang, schließlich müsse auch ein erfolgreiches Unternehmen einsparen (Fernlich 3. Interview: 2. Min.). Laut Betriebsrat und Gewerkschaft könne die Geschäftsleitung die Betriebsvereinbarung zwar bei „unvorhersehbarer Marktentwicklung“ kündigen, davon könne aber sechs Monate nach deren Abschluss keine Rede sein. Ganz im Gegenteil sei der Aktienwert Fernlichs seit Jahresbeginn um 50 Prozent gestiegen und die betroffene Unternehmenssparte erwirtschafte 15 Prozent Rendite (EBIT). Zwar verweigerte Zalohma es, die genaue Werksrendite herauszugeben, doch obwohl Taubingen nur circa 1 Prozent der Produktion dort hatte, erwirtschafteten die dortigen High-End-Produkte 10 Prozent des Unternehmensumsatzes und 20 Prozent des Gewinns. Auch die Arbeitnehmervertreter gestanden jedoch ein, dass andere Werke möglicherweise noch profitabler sein könnten (Fernlich 2. Interview: 25.–27. Min.). Der Betriebsrat rief daraufhin mit einem Flugblatt zu einer Betriebsversammlung auf: „Gier und ewig steigende Renditeziele sind die einzige Motivation des Vorstands. Der Mensch zählt nichts! Jetzt sollen sogar gewinnträchtige Standorte geschlossen werden. Die Gleichung Kostensenkung = Wettbewerbsfähigkeit = sichere Arbeitsplätze gilt nicht mehr.“ Die Betriebsversammlung eskalierte zu einer spontanten Kundgebung. Empörte Demonstranten legten die Produktion still, indem sie Plakate am Werk und der Innenstadt vorbeitrugen. Ein immer wiederkehrendes Plakat trug den Slogan: „Mensch(en) Würde(n) Arbeit(en)“. Der Gewerkschaftsführer Luftero forderte, Zalohma solle „sich seiner sozialen Verantwortung stellen“. Vor der Hauptverwaltung baute die Gewerkschaft eine Bühne auf. Sprechchöre forderten ihn vergeblich auf, zu erscheinen (Fernlich 1. Interview: 16. Min.). Medien berichteten ausgiebig über die Wut der Arbeitnehmer. Konkurrenzunternehmen nutzten die Gunst der Stunde und bekundeten in Zeitungsanzeigen, dass sie Deutschland, im Gegensatz zu Fernlich, verbunden seien. Die deutsche Wettbewerbsfähigkeit sähen sie „nicht so schwarz“. Im Gegenteil, sie schätzten „deutsche Wertarbeit“ und versuchten, „mit und ohne formell abgeschlossenem Standortsicherungspakt“ ihre Werke zu optimieren, statt Produktion zu verlagern. Ein Manager aus einem Konkurrenzunternehmen kritisierte, Zalohma habe sich „vollends ins Abseits“ gestellt (Zeitungsartikel). Der Landesbischof schrieb, es gebe eine „ethische Grenze“ des Profitstrebens. Zeitungen warfen Zalohma einen „kranke[n] Raubtierkapitalismus“ vor. Händler aus der Region berichteten, ein Viertel ihrer Kunden boykottierten Fernlichs Produkte, andere Händler weigerten sich, diese noch zu führen
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(Zeitungsartikel). Zalohma blieb unbesorgt, denn vor einigen Jahren hatte er ein Werk im Ausland geschlossen, woraufhin angedrohte Boykotte ausgeblieben waren (Fernlich 3. Interview: 30. Min.). Er kommentierte: „Wenn der Kunde bereit wäre, mehr für das Produkt zu bezahlen, weil es aus Deutschland kommt, könnten wir hier fertigen. Das ist aber nicht so“ (Zeitungsartikel). Unternehmerverbände sprachen sich gegen einen Boykott aus, denn manchmal sei es eben notwendig, auch profitable Werke zu schließen. Zudem gefährde ein Boykott alle Konzernmitarbeiter (Zeitungsartikel). Taubingens Betriebsrat Harz wusste, dass er alleine nicht gegen Zalohma ankam. Sein Werk repräsentierte nur circa 1 Prozent der Beschäftigten, deshalb musste er die anderen Werke mobilisieren. Dies war allerdings nicht schwer, schließlich ließen Zalohmas markige Äußerungen keinen Zweifel, dass langfristig jeder Arbeitsplatz bedroht sei. Harz argumentierte außerdem, es sei rechtswidrig, die Betriebsvereinbarung zu kündigen, da dies nicht über die Sonderrücktrittsklausel der unerwarteten Marktentwicklung gedeckt sei. Als die Belegschaft daraufhin deutschlandweit protestierte, äußerte Harz in einem Zeitungsartikel, eine „solche Solidarität habe er bei Fernlich noch nicht erlebt. Um den Vorstand wird es einsam.“ Gewerkschaftsvertreter und Arbeitnehmer führten die Solidarität darauf zurück, dass niemand sich vor Zalohma sicher fühlte (Fernlich 7. Interview, Vertrauensleute; Fernlich 4. Interview: 37. Min.). Auch der Geschäftsleitung entging dies nicht. Ein leitender Angestellter bemerkte beispielsweise, dass seine Arbeitskollegen im Sportverein keine Unternehmensmützen mehr tragen wollten (Fernlich 3. Interview: 26. Min.). Zalohma wollte den höheren Angestellten seine Gründe für die Verlagerung erklären. Für Luftero, den Bevollmächtigten der Gewerkschaft, waren solche Treffen bisher immer „die Hölle“ (Zitat), denn dort waren größtenteils Kaufmänner, die die Geschäftsleitung unterstützen (Fernlich 4. Interview: 57. Min.). Doch diesmal kam es anders: „Ich hab’ das in einer Hauptverwaltung nie erlebt. Erstens, dass ein Gewerkschaftsfunktionär freundlich begrüßt wurde. […] Und da war es das erste Mal, dass Zalohma wirklich von seinen eigenen Leuten ausgezählt wurde, dass sich wirklich auch Leute hingestellt haben und gesagt haben, wie man das Problem lösen kann, dass man den Standort halten kann, zum Beispiel Leute aus dem Verkauf, die haben so ein Callcenter. Die haben zum Beispiel gesagt: ‚Mensch, wir können doch die Produkte gar nicht liefern, weil wir gar keine Produktionskapazitäten haben. Warum machen wir das nicht in Taubingen?‘“ (Fernlich 4. Interview: 54. Min.)
Zalohma erwiderte, Fernlich sei zwar tatsächlich hochprofitabel, arbeite am Rande seiner Produktionskapazitäten und müsse zusätzliche Kapazitäten aufbauen. Neue Produktionskapazitäten im Ausland seien aber noch profitabler als die schon ertragreichen deutschen Werke, die er darum schließen werde. Darauf-
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hin wurde er „wütend niedergebrüllt“ und ausgepfiffen (Zeitungsartikel). Auch die höheren Angestellten vertraten die Ansicht, dass Profitmaximierung als Verlagerungsmotiv „nicht vertretbar“ sei. Zalohma entgegnete: „Sie lassen sich alle nur von den Gewerkschaften aufhetzen.“ Daraufhin erhob sich ein altgedienter Angestellter aus dem mittleren Management und fragte: „Hören sie mal, Herr Zalohma, meinen Sie, wir können nicht unterscheiden zwischen dem, was wahr und was unwahr ist?“ (Zitate eines Anwesenden). Zalohma entgegnete, er habe Fernlich immer profitabel und sicher geführt. Der einmal gefasste Plan zur Werksschließung müsse nun durchgezogen werden. Er habe ja außerdem erklären wollen, warum dies wirtschaftlich sinnvoll sei, aber man lasse ihn nicht einmal mehr ausreden, sondern steigere sich in Emotionen (Fernlich 2. Interview: 20. Min.). Selbst bei seinen Managementkollegen fand Zalohma kein Gehör mehr; der Konflikt eskalierte, wie Arbeitnehmervertreter, aber auch ein Vorstandsmitglied später anmerkten: „Die Argumentation hat dann auch im oberen Management etwas ausgelöst […]. Die haben da natürlich auch gesagt: ‚Na ja, meine Kinder sollen ja eigentlich auch einmal eine Lehre machen, sich entwickeln können, oder was auch immer. Und für so ein paar Groschen mehr dann berufliche Aussichten zu zerstören …‘ Das sind dann so Gedanken, die die dann haben.“ (Fernlich 2. Interview: 59. Min.) „Sie kriegen das nicht sauber erklärt, weil da kommt etwas hinein, was Sie eben in einem Fall wie Taubingen überhaupt nicht mehr kontrollieren und das hat etwas mit Emotionen zu tun. […] Sie kommen mit Sachargumenten gegen Emotionen nicht an.“ (Fernlich 3. Interview: 2. Min.) „Ich stand neben ihm und hab’ gedacht: ‚Mein Gott, da kannste mal sehen, großer Börsenfürst steht da und ist nervös wie ein kleines Kind.‘ Er hat mir die Hand gegeben. Der war schweißnass, weil er gemerkt hat, dass seine eigenen Mitarbeiter ihn nicht mehr tragen. Das heißt, die Moralisierung gemeinsam mit der Geschichte der wirtschaftlichen Vernunft hat total getragen. Weil es gibt in Deutschland so ein gewisses, auch egal welche wirtschaftlichen Zeiten wir auch immer durchgemacht haben, so ein gewisses … Geld ist auch gut, jeder soll auch viel Geld verdienen. Aber es müssen alle irgendwie noch überleben können. Diesen Grundkonsens gibt es in der Gesellschaft und den hat Zalohma mit der Geschichte verletzt.“ (Fernlich 4. Interview: 55.–58. Min.)
Zalohma kam mit betriebswirtschaftlichen Argumenten nicht mehr gegen seine emotional aufgeladenen höheren Angestellten an. Sie hörten ihm gar nicht mehr zu, denn jeder von ihnen fürchtete, bald selbst betroffen zu sein (Zeitungsartikel). Es ging den Angestellten jedoch nicht nur darum, ihren eigenen Arbeitsplatz zu retten. Luftero meinte, die Belegschaft sei auch empört, weil Zalohma gegen
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moralische Grundsätze verstoßen hatte, indem er einen „impliziten Vertrag“ mit der Belegschaft aufkündigte. Zalohma änderte jedoch nichts an seiner Position. Denn er betrachtete es als sozial verantwortlich, seine wirtschaftliche Entscheidung ehrlich zu kommunizieren. Für die Entscheidung selbst sei er jedoch nicht verantwortlich zu machen, schließlich ließen wirtschaftliche Fakten ihm keine Wahl. Als Antwort mobilisierte die Gewerkschaft mit moralischen Argumenten nun auch die Öffentlichkeit, um so weiteren Druck auszuüben. 8.2.3 Dritte Phase: Arbeitnehmer erschweren Gewinnmaximierung durch moralisierende Kampagnen Gewerkschaft und Betriebsrat kamen nicht weiter und änderten daher ihre Strategie. Sie versuchten nicht mehr, Zalohma mit moralischen Appellen zu überzeugen. Sie redeten vielmehr über, statt mit ihm. Die Gewerkschaft wollte nun nicht mehr nur die Belegschaft, sondern auch die Öffentlichkeit mit moralischen Argumenten mobilisieren, damit ihn sein als unmoralisch deklarierbares Verhalten teuer zu stehen käme und dadurch wirtschaftlich unattraktiv würde. „Im Grunde genommen spielte für uns das Unternehmen und die Person an sich in der ganzen Strategie keine Rolle, sondern für uns war wichtig, über die öffentliche Meinung so viel Druck zu machen, dass Zalohma sich das überlegt, ob es sinnvoll ist, diesen Krieg, am Ende war es ein Krieg, zu Ende zu führen, oder ob es nicht besser ist, zu versuchen, mit uns einen Kompromiss zu machen. […] Wir mussten permanent gucken: Was ist möglich? Was ist interessant für die Medien? Wenn alle Betriebsräte zusammenkommen und dann auch noch vor der Hauptverwaltung, also vor der Aufsichtsratssitzung demonstrieren … wir hatten extra so einen Künstler geholt, der hat da so Sachen gemacht, das war um die Weihnachtszeit, mit Schleife und so. Bilder zu schaffen für die Medien, das war ein wichtiger Teil in der ganzen Strategie.“ (Fernlich 4. Interview: 60. Min.)
Die Medien ließen sich von der Gewerkschaft instrumentalisieren. Der Zeitungsartikel „Zalohma Nimmersatt“ griff das Bild der Raupe Nimmersatt auf, die frisst, bis ihr schlecht wird. Immer wieder argumentierten Zeitungsartikel, Gewinne seien nur bis zu einem gewissen Punkt moralisch vertretbar: „Warum […] haben die Beschäftigten Opfer gebracht, wenn Zalohma daraufhin das Fallbeil senkt?“ Journalisten nannten Zalohma einen Vampir und verglichen ihn mit Wolders Unternehmensleitung. Wegen ihm seien Arbeitnehmer „in aller Öffentlichkeit in Tränen ausgebrochen“, es stelle sich „angesichts von Rekord-Bilanzen die Frage nach seiner sozialen Verantwortung“. Dabei tat Zalohma doch nur, was von einem Vorstandsvorsitzenden verlangt werden sollte; er erhöhte die Rendite und teilte den Beschäftigten die Kon-
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sequenzen ehrlich und frühzeitig mit. Trotzdem – oder gerade deswegen – musste er gegen eine ansteigende Woge öffentlicher Empörung ankämpfen. Als Einstieg zu einem Interview mit einer großen deutschen Zeitung wurde er gefragt, wie es sich eigentlich als „marktradikaler Rambo“ lebe. So sehe er sich nicht und werde darum auf derartige Fragen erst gar nicht eingehen, antwortete er. Denn trotz Verfünffachung des Aktienwertes in vier Jahren und einer Rendite von 18 Prozent auf das eingesetzte Kapital stelle sich für ihn nicht die Frage, wann Profitstreben unanständig werde. Schließlich würden Gewinne von heute aus der Arbeit von gestern resultieren. Er könne sich doch nicht einfach auf vergangenen Erfolgen ausruhen, sondern müsse weiterhin eine hohe Rendite erarbeiten. Dazu müsse er manchmal auch ein Werk schließen, selbst wenn dies die Öffentlichkeit provoziere. Politiker seien im Übrigen die Letzten, die ihm zu sagen hätten, wie er ein Unternehmen zu führen habe, denn „Profit ist eine Frage der weltweiten Märkte und nicht der deutschen Politik“. Bei nur noch 10 Prozent deutscher Aktionäre habe er einfach keine andere Wahl, als die Rendite zu maximieren. Sonst werde Fernlich „den Anschluss im globalen Wettbewerb“ verlieren und „Übernahmekandidat“ werden. Patriotismus dürfe in seiner Kalkulation keine Rolle spielen, denn erstens bringe es nichts, „300 Stellen in Osteuropa“ zu streichen, um dann festzustellen, „dass ich morgen 600 in Deutschland abbauen muss, weil die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens insgesamt gelitten hat“. Da Stellenabbau die Wettbewerbsfähigkeit erhöhe und so die weltweite Belegschaft schütze, sei er auch sozial verantwortlich. Es sei ja durchaus „tragisch“ und „schwer vermittelbar“, dass er Taubingen schließen werde, obwohl die Gewerkschaft erst kurz vorher der „Erhöhung der Arbeitszeit auf 40 Stunden zustimmte“. Er verstehe den Ärger, schließlich hätten die Beschäftigten Opfer gebracht „und es hat dennoch nicht gereicht“. Doch ein kapitalistisches Unternehmen könne einfach keine Arbeitsplatzgarantie geben, da es ja auch keine Abnahmegarantie bekomme. Soziale Verantwortung sei auch ihm wichtig und er sei ihr nachgekommen, indem er den Beschäftigten ihren Arbeitsplatzverlust frühzeitig mitteilte, sodass sie sich schon einmal darauf einstellen konnten.53 Seine Vorgehensweise sei zwar hart, aber gerade deswegen sozial verantwortlich, denn sie maximiere die Rendite. Es sei nun einmal „schwierig, sich gegen Werke in Niedrigkostenstandorten langfristig zu behaupten“. Längere Arbeitszeiten könnten darum Verlagerungen nur kurzzeitig aufhalten. „Ich behaupte nicht, daß wir die Weisheit für uns gepachtet haben“, doch er habe noch von keiner besseren Alternative gehört. In der ihm eigenen Radikalität und Offenheit kündigte er stolz an, nun auch „Entwicklung und Verwaltung bis in die EDV“ 53
Dieser Sichtweise blieb Zalohma bis zum Ende hin treu. Das Einzige, was er im Nachhinein als Fehler ansah, war, den Standortsicherungsvertrag überhaupt abgeschlossen zu haben, obwohl er vorher nicht sicher sein konnte, ihn einhalten zu können (Fernlich 3. Interview: 44. Min.).
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auf Verlagerungspotenziale zu prüfen und im Fernen Osten bald einen IT-Standort zu eröffnen. Während andere Vorstände beschwichtigten, kündigte er an, „über kurz oder lang“ alle deutschen Standorte zu schließen (Zeitungsartikel). Da Renditemaximierung sozial verantwortlich sei, war sein Handeln aus seiner Sicht moralisch einwandfrei. Der Gewerkschaft hielt er sinngemäß wieder vor, nur eine nationale Interessengruppe zu sein: „Der Mitarbeiter in Osteuropa kann nicht verstehen, warum wir die Produkte hier bauen […]. Deshalb sage ich immer wieder: Die ökonomische Moral in diesem Land ist eine sehr lokale. Ich kann und darf keinen Unterschied machen zwischen einem deutschen und einem rumänischen Arbeitsplatz.“ (Zeitungsartikel)
„Das heißt, es kratzt niemanden, wenn wir Arbeitsplätze in Osteuropa abbauen?“, antwortete auch jemand aus der Geschäftsleitung gereizt auf die gewerkschaftliche Dauerkritik (Fernlich 3. Interview: 45. Min.). Dies brachte die Gewerkschaft in potenzielle Erklärungsnot, denn möglicherweise hatten andere Länder die Beschäftigung tatsächlich nötiger als Deutschland. Die Medien ließen sich jedoch nicht auf diese Argumente ein. Sie erwiesen den Gewerkschaften jeden Dienst, indem sie immer wieder Familien präsentierten, deren Arbeitsplätze von der Werkschließung angeblich bedroht waren (Zeitungsartikel). Reportagen porträtierten zwei Familienväter, die angaben, durch die anstehenden Entlassungen bald ihre Familien nicht mehr ernähren zu können. Damit unterschlugen Journalisten wider besseres Wissen, dass Beschäftigte mit Familie nicht gekündigt würden, und manipulierten so die öffentliche Meinung im Sinne der Gewerkschaften. Eine Boulevardzeitung schrieb: „Aus dem Manager des Jahres ist der Kotzbrocken des Jahres geworden.“ Fernlich lade seine Verwaltungsangestellten zur Weihnachtsfeier in ein erstklassiges Restaurant ein, während der Rest der Belegschaft Verzicht übe. Die Boulevardzeitung verschwieg allerdings, dass die Weihnachtsfeier nur 10 Euro pro Person kostete (Fernlich 3. Interview: 76. Min.). Weil Beschäftigte gegen die Feier protestieren wollten, musste die Geschäftsleitung sie daraufhin absagen. Die Medien reagierten auf Emotionen statt auf Fakten. Dass zur selben Zeit ein anderes Großunternehmen circa hundertmal so viele Entlassungen wie Fernlich plante, thematisierten sie weniger, als dass Zalohma Taubingen schließen wollte, denn seine Äußerungen machten ihn zum perfekten Feindbild. Die Geschäftsleitung sah sich als Opfer einer Hetzkampagne, die die Öffentlichkeit geschickt über deren moralische Befindlichkeit mobilisierte und wirtschaftlichen Druck ausübte, indem sie das Unternehmensimage schädigte. Obwohl die Öffentlichkeitsabteilung Zalohma genau dies prophezeite, heizte er mit seinen Äußerungen die Kampagne weiter an (Fernlich 3. Interview: 6. Min.). Die hohe Rendite wurde so von einer Legitimation zu einer Last, die selbst Rechtfertigung verlangte. Der Wirtschaftsminister des Bundeslandes, der Ministerpräsident und der Oberbürgermeister baten
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Zalohma um Vier-Augen-Gespräche. Anschließend gaben sie jedoch bekannt, es sei ihnen nicht gelungen, Zalohma nahezulegen, dass ein gewinnbringender Betrieb nicht geschlossen werden dürfe. In einer Landtagsanhörung bekundeten alle Fraktionen ihre Solidarität mit den Beschäftigten. Eine Partei rief sogar zu einem Boykott des Unternehmens auf (Zeitungsartikel). Der Präsident des Arbeitgeberverbandes forderte, Unternehmen sollten eine Vereinbarung einhalten, wenn sie sich das leisten könnten, denn sonst würden sie ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. Die Gewerkschaft bediente sich nun auch anderer Mittel als moralischer Argumente. Eine Prüfung durch eigene Juristen habe ergeben, die Werksschließung sei wegen der geltenden Betriebsvereinbarung ein Rechtsbruch. Sie werde Fernlich darum notfalls gerichtlich verpflichten, die Produktion weiterzuführen. Auch Taubingens Betriebsrat hielt die erst sechs Monate alte Standortvereinbarung für rechtlich bindend. Er äußerte jedoch hinter verschlossenen Türen, kaum noch Hoffnung zu haben, die Produktion langfristig halten zu können. Als nächste Eskalationsstufe rief er zusammen mit der Gewerkschaft bundesweit zu öffentlichen Betriebsversammlungen auf. Zalohma erklärte, dies „ zielt eindeutig darauf ab, eine größtmögliche öffentliche Wirkung zu entfalten und macht dadurch einen ernsthaften internen Dialog unmöglich“ (Zeitungsartikel). Die für ihre sozialpartnerschaftliche Ausrichtung bekannte – und kritisierte – Gewerkschaft argumentierte dagegen, „wenn Menschen, Verbände, Unternehmer orientierungslos, ohne Wertvorstellungen leben und handeln, kann kein Gemeinwesen funktionieren“ (Pressemitteilung). Renditestreben sei unmoralisch, wenn es profitable Arbeitsplätze abbaue; die Medien folgten ihr (Fernlich 4. Interview: 8. Min.). Eine Reportage mit dem Titel „Bosse ohne Moral“ beschrieb Zalohma als „Vertreter einer ausschließlich von der Wall Street geprägten Ideologie, für die Deutschland irrelevant ist und die an den Grundlagen der Gesellschaft rüttelt“. Die Reportage stellte Zalohma Unternehmer gegenüber, die angaben, eine langfristige Perspektive zu haben und über Verantwortung für ihre Arbeitnehmer deren Motivation wirtschaftlich zu nutzen. Durch Zalohmas Beispiel verliere der Kapitalismus insgesamt an Legitimation, so ein Manager. Wie könne er eine langfristige Vereinbarung mit dem Argument brechen, dass sich der „Markt eklatant gedreht hat“, jedoch gleichzeitig von einem „sehr guten Geschäft in Europa“ sprechen (Zeitungsartikel)? Mehrere Zeitungen vertraten die Ansicht, der sozialpartnerschaftliche Kurs der Gewerkschaft sei zu „blauäugig“. Doch „was macht man“, illustrierte ein Gewerkschaftssprecher das Problem, „wenn ein Mitspieler sich auf einmal weigert, die Spielregeln einzuhalten oder sogar einfach den Ball nimmt und vom Platz geht“ (Fernlich 5. Interview: 4. Min.)? Auch Taubingens Betriebsrat fragte sich, ob er zu blauäugig gewesen sei, und äußerte verärgert: „Wenn wir rote
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Zahlen schreiben würden, könnte man ja über alles reden. […] Aber wenn man gerade einen solchen Riesengewinn gemacht hat …“ (Internetartikel). Die Arbeitnehmervertreter wussten nicht, wie sie weiter vorgehen sollten. Mit ihnen waren die Belegschaft, die Medien, die Öffentlichkeit und sogar ein Teil der Geschäftsleitung gegen Zalohma. Doch der weigerte sich, von einer aus seiner Sicht richtigen Entscheidung abzurücken. Anstatt durch moralische Diskreditierung Druck auszuüben, schadeten die Arbeitnehmervertreter Fernlich daher nun auch direkter. Längst ging es um mehr als die 320 Kündigungen, die nur 1 Prozent der deutschen Belegschaft ausmachten. Es ging darum, ob Zalohma die Unternehmensrendite mit allen Mitteln maximieren durfte, und die Gewerkschaft kämpfte mit allen verfügbaren Mitteln. Auch der Gesamtbetriebsrat wollte alle deutschen Betriebsvereinbarungen kündigen, wenn die Schließung nicht innerhalb von zwei Wochen zurückgenommen würde. Dies würde Fernlich jährlich 42 Millionen Euro kosten und damit siebenmal so viel, wie die Schließung Taubingens jährlich einsparen sollte (Zeitungsartikel). Doch im Gegensatz zu Teilen der Geschäftsleitung beeindruckte Zalohma diese Drohung nicht. Er habe zwar „nichts in der Schublade“, was er für eine Zusammenarbeit anbieten könne, doch der Betriebsrat habe langfristig doch ohnehin keine Wahl, als mit ihm zusammenzuarbeiten, deshalb könnten ihn die Drohungen nicht schrecken (Zeitungsartikel; Fernlich 3. Interview: 70. Min.). Es gelang der Gewerkschaft, Broker davon zu überzeugen, dass der Aktienkurs unter den sozialen Spannungen leiden werde. Eine große Bank kritisierte den „negativen Newsflow“ des Unternehmens und empfahl, die Aktie wegen eines „internen und externen Image- und Glaubwürdigkeitsschadens“ zu verkaufen. Es würden Auseinandersetzungen und Streiks drohen, „die zu Millionen-Schäden führen könnten“ (Zeitungsartikel). Den Arbeitnehmervertretern gelang es aber nicht, andere Unternehmen zu einem Boykott anzuregen, da der Betriebsrat des Hauptabnehmers in eine Korruptionsaffäre verstrickt war und die Beziehungen zu anderen Betriebsräten nicht eng genug waren (Fernlich 4. Interview: 13.–15. Min.; Fernlich 2. Interview: 65.–67. Min.). Kurz darauf sagte die Geschäftsleitung für ein Betriebsratstreffen ihre Teilnahme ab und weigerte sich auch, die Kosten zu übernehmen, denn der „demonstrative Charakter“ des Treffens verhindere, dass „Ruhe einkehrt und die bestehenden Meinungsverschiedenheiten sachlich und mit dem Ziel der Verständigung ausgeräumt werden“ (Brief Geschäftsleitung 09.12.2005). In Reaktion darauf demonstrierten die Betriebsräte am Folgetag. Selbst der Betriebsrat des ausländischen Werks, welches von der Verlagerung profitierte, bekundete seine Solidarität. Viele Beschäftigte trauten sich jedoch nicht zu demonstrieren, da die Geschäftsleitung drohte, sie abzumahnen. Die Gewerkschaft wusste nicht, wie sie mit der verärgerten, aber eingeschüchterten Belegschaft Druck ausüben sollte
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(Fernlich 6. Interview: 16. Min.). Politiker warfen Zalohma auf der Kundgebung vor, die über hundertjährige Unternehmensgeschichte mit Füßen zu treten. Doch der kündigte daraufhin nur an, schon einmal eine erste Maschine zu verlagern. Der Betriebsrat drohte, dagegen mit rechtlichen Schritten vorzugehen, woraufhin die Geschäftsleitung zum ersten Mal zurückwich und die Ankündigung zurücknahm. Fernlichs Kommunikationsabteilung war unterdessen „entsetzt über Zalohma, weil er sich an keine Regeln der internen Kommunikation gehalten hat“ (Fernlich 6. Interview: 2. Min.). Sie musste zusehen, wie er ein Desaster für das Unternehmensimage vorbereitete: „Das ist, wie wenn Sie sehen, dass da ein Zug auf irgendetwas zufährt und Sie können ihn nicht mehr anhalten. Sie kriegen ihn nicht mehr zu stoppen! Dann kommt eine Eigendynamik ans Werk und dann geht das Gesicht-Wahren los, auf beiden Seiten“ (Fernlich 3. Interview: 91. Min.). Die Öffentlichkeitsabteilung wollte klarstellen, dass niemand einfach auf die Straße gesetzt würde und es einen Sozialplan gäbe. Die Medien blendeten dies aber bewusst aus und zitierten lieber Zalohmas Sprüche. Bei Darstellungen stellten sie dem Unternehmenssprecher fünf Menschen gegenüber, die sich negativ über das Unternehmen äußerten. Journalisten wiesen in solchen Fällen darauf hin, das Unternehmen sei doch immerhin zu Wort gekommen (Fernlich 3. Interview: 22. Min.). Die Medien berichteten nicht über die Gewerkschaftskampagne, sie wurden Teil davon. Fernlichs Öffentlichkeitsabteilung führte dies darauf zurück, dass die meisten Journalisten Zalohmas Haltung auch persönlich unmoralisch fanden und somit befangen waren. Die negative Berichterstattung kostete Fernlich laut einer Medienresonanzanalyse seiner Marketingabteilung circa 1,5 Millionen Euro (Fernlich 3. Interview: 23. Min.).54 8.2.4 Vierte Phase: Die Geschäftsleitung beschränkt Gewinnmaximierung auf sozial akzeptierte Vorgehensweisen Schließlich eskalierte der Konflikt auch im Aufsichtsrat. Im Vorfeld einer Sitzung hatte der Landesvorsitzende einer großen Partei schriftlich von allen Aufsichtsratsmitgliedern eine moralischere Unternehmenskultur gefordert. Der Ge54
Eine Medienresonanzanalyse wertet die Berichterstattung über ein Unternehmen aus. Bei positiver Berichterstattung wird gefragt, wie viel man für Werbeanzeigen ausgeben müsste, die der positiven Berichterstattung vom Umfang her gleichkommen. Bei negativer Berichterstattung wird dieser Wert ins Negative verkehrt. Es handelt sich dabei jedoch um Schätzwerte. Sowohl die Frage, ob positive Berichterstattung einen ähnlichen Effekt hat wie Werbeanzeigen, als auch die Frage, wie stark eines von beiden zum Unternehmensgewinn beiträgt, bleibt spekulativ. Zumindest schien das Unternehmen davon auszugehen, dass negative Berichterstattung Kosten verursache.
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werkschaftsvorsitzende, zugleich stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender, lehnte es ab, „eine Unternehmenspolitik mitzutragen, die ausschließlich an der Rendite orientiert ist“ (Zeitungsartikel). Üblicherweise stimmten die Arbeitnehmer- und die Anteilseignerseite ihre Position vor jeder Sitzung intern ab und tauschten sich dann im Aufsichtsrat nur noch aus. Doch dieses Mal war die Arbeitgeberseite gespalten, drei ihrer Mitglieder sympathisierten mit der Arbeitnehmerposition. Der Aufsichtsratsvorsitzende und ehemalige Vorstand Hagenau berichtete: „Ich bin heute mit dem Taxi hergekommen und da schimpft der Taxifahrer eine halbe Stunde nur über diese Scheißkapitalisten bei Fernlich. Ich hab’ mich gar nicht getraut zu sagen, wer ich bin“ (Zitat durch einen Anwesenden wiedergegeben). Zwei weitere Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitgeberseite argumentierten, Zalohma könne nicht jegliches Handeln mit der Rendite legitimieren, er habe auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Ein Anwesender meinte: „Die Anteilseigner im Aufsichtsrat, die haben sich da schon klar positioniert. Die haben klar gesagt, dass sie erwarten, dass der Vorstand den Konflikt löst. Die hatten auch die Schnauze voll, da jeden Tag negative Schlagzeilen zu lesen.“ Andere Aufsichtsratsmitglieder vertraten die Ansicht, Zalohma habe einfach nur dem Markt zu folgen, was ihm auch keiner vorwerfen könne. Doch die Mehrheit wollte seine Gewinnmaximierung nicht grenzenlos unterstützen: „Es gibt es offensichtlich, dass wir, irgendwie verinnerlicht, ein Modell haben. Sie akzeptieren zwar eine Wirtschaftsweise, die auf Privateigentum und Renditeorientierung beruht, aber haben, in quantitativen Margen auch gar nicht ausformulierte Grenzen. Ich glaube, das ist zwar ein schwächer werdender, aber durchaus immer noch vorhandener Zug, selbst gestandener Unternehmerpersönlichkeiten. Und in diesem Aufsichtsrat waren es welche. Da gab es welche, die waren Hardliner, die waren auch bis zum Ende durchgängig Hardliner, die sich exponiert haben, allerdings damit auch ein Stück weit isoliert haben. Diese Apologeten eines freien Unternehmertums haben sich da auch isoliert. Und diese rheinische Variante, die hat dann, nennen Sie es Skrupel, nennen Sie es dann doch noch: Gewissen gehabt. Die Arbeitnehmerseite hat erfolgreich daran appellieren können. Das ist gelungen.“ (Zitat eines Anwesenden: 22.–24. Min.)
Selbst in einem börsennotierten Unternehmen, das Zalohma zweifellos erfolgreich führte, fand er keine Mehrheit für seine Strategie. Die meisten Aufsichtsratsmitglieder vertraten die Ansicht, es dürfe keinen Machtkampf zwischen Zalohma und der Gewerkschaft geben, sodass eine der beiden Seiten im Unternehmen handlungsunfähig werde (Fernlich 5. Interview: 21. Min.). Der Aufsichtsrat verlangte von Zalohma, sich mit der Gewerkschaft so zu einigen, dass die negative Berichterstattung aufhöre. Auch die Gewerkschaft schwächte nun ihre Position ab, indem sie eine sozialverträgliche Verlagerung als „akzeptabel“ bezeichnete (Zeitungsartikel). Es gehe ihr schließlich nicht darum, Werks-
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schließungen per se zu unterbinden, doch Zalohmas Fixierung auf den Aktienkurs sei „fanatisch“. In der Folge bot Zalohma erstmals an, Taubingen sechs Monate später als geplant zu schließen, immerhin noch sechs Monate vor Ablauf der Standortvereinbarung. Das war den Arbeitnehmervertretern nicht genug. Auch der Vorsitzende des europäischen Betriebsrats kritisierte, wie Zalohma vorging; Betriebsräte aller europäischen Standorte kündigten an, sich gegen ihn zusammenzuschließen (Zeitungsartikel). Doch es war kurz vor einer Weihnachtspause und es war (auch wenn Zalohma das nicht wissen konnte) der letzte Monat des Konflikts. Jedenfalls dachte er, Öffentlichkeit und Belegschaft seien konfliktmüde und nicht mehr mobilisierbar. Er lehnte weitere Verhandlungsrunden sowie den gewerkschaftlichen Vorschlag eines Vermittlers ab. In einem Interview verkündete er sogar, die Diskussion um sein Verhalten sei ihm völlig gleichgültig. Er könne sich nicht für die Strategie entscheiden, mit der er in Deutschland einen Beliebtheitswettbewerb gewinne, denn seine „unternehmerische und soziale Verantwortung“ (Zitat) gelte weltweit. In einem Zeitungsinterview äußerte er: „Man kann kein Unternehmen führen, wenn man die Mitarbeiter nicht hinter sich hat. Der Vorstand hat Verantwortung für über 80.000 Arbeiter weltweit, aber keine Sonderverantwortung speziell für einen deutschen oder amerikanischen Standort. Was denken Sie, würden die ausländischen Mitarbeiter sagen, wenn wir den geplanten Stellenabbau aufgrund des öffentlichen Drucks entgegen unserer wirtschaftlichen Urteilskraft rückgängig machen? Die Lage ist genauso schwierig für die weggefallenen Arbeiter in verschiedenen Auslandsstandorten. International interessiert das Thema Taubingen niemanden. Die Angelegenheit ist politisch aufgebauscht. Auch falls ich mich wiederhole: Dieser Aufschrei der Entrüstung ist Resultat einer lokalen Moral.“
Dass er selbst dagegen einer globalen Moral folge, habe er möglicherweise bisher „nicht offen und verständlich genug kommuniziert“, was man ihm vorwerfen könne. Entsprechend forderte er noch einmal besonders deutlich eine deutschlandweite 40-Stunden-Woche und maximal 4 Wochen Jahresurlaub. Selbst dann könne er jedoch ehrlicherweise „nicht genau sagen“, wie lange sich dadurch Verlagerungen hinauszögern ließen (Zeitungsartikel). Den Widerstand der Gewerkschaften tat er mit der Bemerkung ab: „Die Handvoll verbliebener Ideologen werden wir auch noch zur Einsicht bringen.“ Zalohma hatte mit seinem Vorwurf der „lokalen Moral“ Recht. Während deutsche Zeitungen ihn wegen 320 Arbeitsplätzen am Heimatwerk angriffen, schloss er in den USA ein dreimal so großes Werk, worüber jedoch niemand berichtete (Fernlich 3. Interview: 66. Min.). Die Gewerkschaft bewertete sein Interview in einer Pressemitteilung als „klares Zeichen, dass er kein Interesse an einer Lösung habe“. Insgeheim begrüßte sie seine Äußerungen jedoch, denn er hatte ihr damit
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„natürlich auch jeden Gefallen getan. Gleich Anfang Januar hatte er ein Interview gegeben, dass er uns auch gar nicht verstehen könnte. Wir wären doch alle nicht ganz richtig im Kopf und man müsse die 42-Stunden-Woche einführen – und hatte damit natürlich immer wieder Ereignisse geliefert, auf die wir reagieren konnten. Und jedes Mal die Journalisten … ich habe manchmal das Gefühl gehabt, sie freuten sich, wenn er ein Interview gegeben hat, weil sie genau wussten, jetzt geht der Konflikt noch zwei Wochen weiter und wird auch noch medial von uns begleitet.“ (Fernlich 4. Interview: 64.–67. Min.)
Noch am Tag der Interviewveröffentlichung scheiterte eine weitere Verhandlungsrunde. Danach übernahm Personaldirektor Stoller die Verhandlungen, denn Zalohma trug nicht unbedingt zu einer Einigung bei (Fernlich 4. Interview: 89. Min.). Der Vorsitzende der Gewerkschaft schrieb in einem Flugblatt nun, der Konflikt sei „von grundsätzlicher Bedeutung“: „Zalohma will ungezügeltem Profitstreben Tür und Tor öffnen. Er will eine Wirtschaft und Gesellschaft, in der soziale Teilhabe und Mitsprache bedeutungslos sind. Das widerspricht der hier gewachsenen Tradition von Sozialpartnerschaft, es ist ein Angriff auf Mitbestimmung, Betriebsräte und Gewerkschaft. Wenn Zalohma den selbst beobachteten ‚Aufschrei der Empörung‘ abschätzig als ‚Resultat einer lokalen Moral‘ bezeichnet, dann zeigt dies, was er von der Sozialen Marktwirtschaft und dem Sozialstaatsgebot unseres Grundgesetzes hält.“
Anstatt den Vorwurf der lokalen Moral als Kritik anzunehmen, drehte die Gewerkschaft ihn um. Die lokale Moral, die sie vertrete, sei das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes und der sozialen Marktwirtschaft. Diese Normen, so die Gewerkschaft, gelten auch für Zalohma. Beide Seiten redeten nun aneinander vorbei. Zalohma meinte mit der „lokalen Moral“, dass es der Gewerkschaft nur um deutsche Arbeitsplätze gehe. Die Gewerkschaft bezog die „lokale Moral“ auf in Deutschland allgemein anerkannte Normen. Zudem versuchte jede Seite, ihre Partikularinteressen als deckungsgleich mit dem Allgemeinwohl darzustellen. Zalohma bezeichnete längere Arbeitszeiten als im Allgemeininteresse stehend, denn nur so könne Deutschland wettbewerbsfähig werden. Die Gewerkschaft – und die Medien mit ihr – argumentierten dagegen, der Kapitalismus insgesamt verliere an Legitimation, wenn Zalohmas Verhalten Schule mache. Arbeiter kritisierten, die Gewerkschaft sei nur zu „Geschwätz“ fähig (Fernlich 1. Interview: 14. Min.). Würde sie nicht bald Erfolg haben, sei ihre Glaubwürdigkeit verspielt (Fernlich 4. Interview: 69. Min.). Luftero beabsichtigte, die Situation erneut eskalieren zu lassen und seine Handlungsfähigkeit zu beweisen. Er plante Anhörungen im Landtag und ein Solidaritätskonzert, um den Konflikt in den Medien zu halten. Fünfzig Betriebsräte erklärten sich angesichts der öffentlichen Berichterstattung nun auch bereit, ihre Werke durch „Dienst
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nach Vorschrift“ lahmzulegen (Zeitungsartikel). Die Situation spitzte sich zu. Sollte Zalohma nicht innerhalb einer Woche zu einer Einigung bereit sein, würde die Gewerkschaft einen Tariftatbestand über Abfindungsregeln schaffen, der es ihr ermöglichen würde, zu streiken (Fernlich 6. Interview: 81. Min.). Selbst der gemäßigte DGB rief nun zu Protesten auf. Zwar war es den Arbeitnehmervertretern bisher nicht gelungen, Aktienwert oder Absatz zweifelsfrei messbar zu senken; doch eine weitere Bank stufte die Fernlich-Aktie von „Buy“ auf „Hold“, da ein absehbarer Streik mehrere Hundert Millionen Euro kosten könnte (Fernlich 2. Interview: 73. Min.; Zeitungsartikel). Zwei Tage später gipfelten die Proteste darin, dass laut Gewerkschaftsangaben fast die gesamte deutsche Belegschaft die Arbeit ruhen ließ, was übrigens juristisch fragwürdig war. Auf jede Kündigung kamen fast einhundert Streikende. Vor der Unternehmenszentrale demonstrierten Arbeiter, per Pressemitteilung verkündete die Gewerkschaft: „Dass Zalohma sich im Zuge seiner Gewinnorientierung über Menschen, Moral und jetzt sogar rechtliche Verbindlichkeiten hinwegsetzt, wird vom Betriebsrat und Gewerkschaften als neue Dimension der Gewinnmaximierung gesehen. Mehr denn je sind die Arbeitnehmervertreter gefragt, Arbeitnehmer zu schützen.“
Nach diesem massiven öffentlichen Protest kam die Wende. Die Geschäftsleitung erklärte sich angesichts des öffentlichen Drucks bereit, alle zu entlassenden Arbeitnehmer mit einem sehr guten Sozialplan auszustatten. Sie beklagte vor allem noch, dass die Gewerkschaft das Doppelte der üblichen Abfindungen forderte (Fernlich 3. Interview: 34. Min.). Die Gewerkschaft wiederum sah ein, dass sie ihrer eigenen Klientel schaden würde, wenn sie Fernlich dauerhaft lahmlegte. Endlich kam es zu einem Kompromiss. Die Geschäftsleitung schloss Taubingen ein Jahr später, als sie ursprünglich geplant hatte (Fernlich 3. Interview: 36. Min.). Statt der anfänglich angebotenen 9.000 Euro Abfindung zahlte sie pro Arbeitnehmer durchschnittlich 35.000 Euro. Sie würde das Werk zwar schließen, jedoch alle Arbeitnehmer in einer Qualifizierungsgesellschaft weiter- und umschulen, außerdem würde sie betriebsbedingte Kündigungen ausschließen. Daher konnten alle Arbeitnehmer nach Qualifizierungsmaßnahmen, während derer sie im ersten Jahr 90 Prozent und im zweiten Jahr 67 Prozent ihres Gehalts bezogen, zu Fernlich zurückkehren oder freiwillig ausscheiden. Ein anonymer Experte rechnete vor, es koste die Geschäftsleitung Taubingens circa 50 Millionen Euro, den Standort zu schließen und die Arbeiter umzuschulen. Das wären circa 150.000 Euro pro Arbeiter – dies scheint sehr hoch angesetzt zu sein. Der Vorstand selbst sprach von circa 15 Millionen (Fernlich 3. Interview: 79. Min.). Ersteres entsprach der Summe, die die Werksschließung innerhalb von 8,3 Jahren einsparen sollte, letzteres der Summe, die sie in 2,5 Jahren einsparen sollte. Zu diesen Kosten der Werkschließung kamen noch die – nicht genau bezifferbaren – Kosten durch schlechte
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Publicity. Ein Vorstandsmitglied Fernlichs äußerte später anerkennend, die Gewerkschaft habe ihre Karte mit der Medienkampagne „100 Prozent richtig gespielt“ (Fernlich 3. Interview: 42. Min.). Die professionelle Manipulation der Medien habe Fernlich „Millionen gekostet“ (Fernlich 4. Interview: 40. Min.). Mitglieder der Geschäftsleitung äußerten anonym, der Konflikt habe mehr gekostet, als die Verlagerung je einsparen sollte. Gegenüber der Gewerkschaft sprach Arbeitsdirektor Stoller von einem „wichtigen gemeinsamen Schritt“; gegenüber den Medien verkündete er, die Geschäftsleitung habe „gezeigt, was wir beschließen, ziehen wir durch“. Die Gewerkschaft bedauerte, die Produktion nicht halten zu können, doch dafür habe sie den „Arbeitnehmern eine neue und sichere Perspektive eröffnet“ (Zeitungsartikel). Sie nahm den Konflikt als Beweis, dass Unternehmen auf ein gutes Ansehen angewiesen seien und dass man sie daher unter Druck setzen könne, indem man ihnen öffentlich unmoralisches Verhalten vorwirft (Fernlich 4. Interview: 40. Min.). Mehr als einen guten Sozialplan habe die Gewerkschaft jedoch nicht erwarten können, wie ihr Bevollmächtigter im Nachhinein anmerkte: „Das hat was mit Realismus zu tun. Für uns war von Anfang an klar: das Werk zu halten, wird fast unmöglich. Weil auch klar war, dass Zalohma von seiner Entscheidung nicht wieder zurückkommt. Das haben wir natürlich öffentlich nie bekundet, das konnten wir nicht. Für uns ging es aber darum, dass dieser Prozess so verläuft, dass die Mitarbeiter eine vernünftige Perspektive haben.“ (Fernlich 4. Interview: 70. Min; vgl. ähnlich Fernlich 2. Interview: 23. Min.)
Zalohma war unzufrieden, denn eine Werksschließung mit Auslaufen der Standortvereinbarung hätte er auch ohne Konflikt haben können. Er gab einem der Betriebsräte die Hand mit den Worten: „Eins zu null für Sie“ (Fernlich 2. Interview: 21. Min.). Eine große Zeitung titelte zum Kompromiss: „Zu seinem RamboImage trägt Zalohma selbst bei […]. Vorstandschef zieht sich viel Zorn zu.“ Auch die Gewerkschaft kritisierte immer noch, der Beschluss Taubingen „platt zu machen [sei] allein grenzenlosem Profitstreben geschuldet“. Andere Unternehmer beanstandeten, Zalohma gefährde mit seinem Verhalten die erfolgreiche deutsche Sozialpartnerschaft. So viel Ärger seien 320 von 80.000 Konzernarbeitsplätzen nicht wert gewesen: „Zu lange habe er kompromisslos auf Zahlen herumgehackt, als ein mitfühlendes Wort notwendig war“ (Zeitungsartikel).55 55
Später stellte sich heraus, dass die Schließung Taubingens teilweise aus einem Missverständnis resultierte. Nachdem ein Teilnehmer einer Vorstandssitzung fälschlicherweise den Eindruck bekommen hatte, dass das Werk geschlossen werden sollte, teilte er dies dem Betriebsrat mit. Als dann Journalisten anriefen, wollte niemand die Schließung bestätigen oder dementieren. Als das Gerücht im Umlauf war, entschloss sich die Geschäftsleitung dazu, die Gelegenheit zu nutzen, um das Werk tatsächlich zu schließen. Dann nahmen die Geschehnisse die oben geschilderte Eigendynamik an (Interview Vorstandsmitglied ohne Aufnahmegerät).
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Auch Jahre später hielt Zalohma an seiner Position fest: Er habe die damalige Aufregung nie verstehen können, schließlich sei ein ausländischer Arbeitsplatz genauso wertvoll wie ein deutscher. Er müsse die Rendite nun einmal kontinuierlich steigern, statt sich auf Erfolgen der Vergangenheit auszuruhen, und könne dazu ausrechnen, wann eine Verlagerung angebracht sei, schließlich seien alle relevanten Faktoren „messbare Werte“. Sei es denn nicht unverantwortlich, wenn er in Deutschland „letztlich zum Schaden des Unternehmens Arbeitsplätze um jeden Preis halte, obwohl es für uns viel mehr Sinn macht, anderswo zu investieren?“ Er habe „die Spielregeln nicht gemacht“, sondern handele nur nach ihnen. Der Erfolg schien ihm Recht zu geben. Wer zu seinem Amtsantritt Fernlich-Aktien gekauft hatte, hatte damit über sieben Jahre eine durchschnittliche Jahresrendite von 32 Prozent verdient (Zeitungsartikel). Doch als Zalohma einen großen Konkurrenten erwarb, brach Fernlichs Aktienkurs vorübergehend von 100 auf 20 Euro ein (siehe Abbildung 8). Es geschah, was Zalohma immer vermeiden wollte: Ein Familienunternehmen kaufte die günstigen Aktien Fernlichs auf. Gerüchten zufolge half dabei der vorherige Vorstandsvorsitzende Ludwig Hagenau, der Zalohma schon als Aufsichtsratsvorsitzender zu einem Kompromiss bewegte. Da das aufkaufende Familienunternehmen zwar den Ruf hatte, die Arbeitnehmerinteressen kaum zu berücksichtigen, doch zumindest langfristig zu agieren, unterstützten viele Arbeitnehmervertreter die Übernahme. Zalohma gab seinen Posten als Vorstandsvorsitzender auf. Doch auch spätere Diskussionen um Werksschließungen verliefen konfliktträchtig. Offensichtlich gab es, unabhängig von den jeweiligen Protagonisten, etwas in der sozialen Struktur Fernlichs, was unerbittliche Konflikte bedingte. Warum der Konflikt bei Fernlich so vehement war und moralische Argumente nicht berücksichtigt wurden, zeigt der Kontrast mit dem Familienunternehmen Kuhle. 8.3 Kuhles wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter Bei Kuhle beeinflussten moralische Argumente nicht, wie die Geschäftsleitung Gewinn maximierte; sie führten sogar dazu, dass die Geschäftsleitung von Gewinnmaximierung absah. Denn anders als Fernlichs, Wolders und Tehnwolders Vorstand gab sich Magnus Kuhle – ähnlich wie Peter Müller – aufgrund moralischer Appelle mit einem relativ niedrigen Gewinn zufrieden, der seinen Lebensstil und Ansprüche seines sozialen Umfelds befriedigte. Damit könnte der Unterschied von Kuhle zu Fernlich nicht größer sein. Denn während bei Fernlich moralische Appelle gegenüber einem Maximierungskalkül versagten, verhinderten sie bei Kuhle genau solch ein Maximierungskalkül.
8.3 Kuhles wirtschaftliche Situation, Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter
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Kuhle ist wie Fernlich eines der größten deutschen Industrieunternehmen. In einem wirtschaftlich angespannten Umfeld vergrößerten sich langsam aber stetig der Unternehmensumsatz sowie die deutsche und weltweite Belegschaft (siehe Abbildung 5 und Abbildung 6). Die Eigenkapitalquote war mit circa 30 Prozent des Umsatzes solide und schwankte kaum. Die Rendite (EBIT) war mit 2,5 bis 4,5 Prozent des Umsatzes nur circa halb so hoch wie die Fernlichs, dafür jedoch stabiler (siehe Abbildung 7). Vor 2002 erfasste Kuhle sie in Form des EBIT überhaupt nicht. Die Gewerkschaft meinte, Kuhle investiere überdurchschnittlich in regionale Ausbildungsprogramme und rekrutiere auch Führungskräfte regional. Die Geschäftsleitung beschrieb dies als nicht aufgesetzte „Corporate Identity“, denn die Belegschaft sei motivierter und produktiver, wenn Geschäftsleitung und Belegschaft sich als Teil einer regionalen Gemeinschaft fühlten (Kuhle 5. Interview: 28. Min.; Kuhle 2. Interview: 75. Min.).56 Die Fluktuation der Arbeitnehmer war gering; viele Familien arbeiteten seit mehreren Generationen im Unternehmen und waren entsprechend integriert (Kuhle 3. Interview: 55. Min.). Mitte der neunziger Jahre baute das Unternehmen aufgrund niedriger Lohnkosten, Subventionen und des Drucks der Abnehmer Fabriken in Osteuropa auf, die sich bald zu einem besonders profitablen Konzernzweig entwickelten. Da die inländische Beschäftigung weiter anstieg, sah der Betriebsrat sie nicht als Konkurrenz, zumal sie aus den deutschen Standorten viel technische Unterstützung benötigten (Kuhle 2. Interview: 30. Min.). Magnus Kuhle führte sein Unternehmen in der vierten Familiengeneration und teilte sich die Geschäftsleitung mit dem familienfremden Manager Dieter Wendling.57 Er gab an, „flache Hierarchien, die Delegation von Verantwortung, die Beteiligung der Arbeitnehmer an der Unternehmensstrategie und eine kontinuierliche Aus- und Weiterbildung der Beschäftigten“ sowie „Vertrauen, Motivation und Qualifikation“ seiner Mitarbeiter seien entscheidend für den Unternehmenserfolg. Ein Mitglied der Geschäftsleitung äußerte, es gehe Magnus Kuhle nicht darum, kurzfristige Ergebnisse zu erzielen, sondern für den Unternehmenserfolg ein Klima zu schaffen, in dem man vernünftig miteinander umgehe (Kuhle 3. Interview: 51. Min.). Auch die zuständige Gewerkschaft stimmte dem zu und äußerte, Magnus Kuhle betrachte das Unternehmen als sein Lebenswerk, von dem auch seine Kinder noch etwas haben sollten. Wegen seiner langfristigen und meist arbeitnehmerfreundlichen Haltung vertrauten ihm Gewerk56 57
Siehe dazu auch Granovetter (2005: 42): „Employers would have reason to recruit through social networks, insofar as they feel confident that the prevailing culture supports their own goals.“ Kuhle ist eine Aktiengesellschaft, deren Anteile zu je 50 Prozent der Familie Kuhle und einer weiteren Familie gehören. Letztere verzichtete jedoch darauf, Einfluss auszuüben. Da keine Familie ihre Anteile ohne Zustimmung der anderen verkaufen kann, kann das Unternehmen den Familienbesitz nicht verlassen (Kuhle 4. Interview: 6. Min.).
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schaft und Belegschaft (Kuhle 5. Interview: 42.–44. Min.). Die Geschäftsleitung unterschied sich somit vollkommen von Zalohma und seiner Unternehmensphilosophie. Es stellt sich daher die Frage, wie moralische Argumente (und besonders moralische Appelle) bei Kuhle wirkten. Denn auch Magnus Kuhle wollte sein Unternehmen betriebswirtschaftlich rational führen. Der Amerikaner James Blake leitete den Geschäftsbereich, in dem Produktionsverlagerungen anstanden. Seine fachliche Qualifikation erkannten die Arbeitnehmervertreter zwar an, sie kritisierten jedoch, dass er „mit allen Mitteln“ gute Zahlen bringen wolle (Kuhle 2. Interview: 35. Min.). Auch aufgrund seiner geringen Deutschkenntnisse projizierten die Arbeitnehmer auf ihn Ängste, bei denen „die Interpretation intensiver genutzt wird als das tatsächliche Verständnis“ (Kuhle 4. Interview: 18. Min.; Kuhle 2. Interview: 40. und 75. Min.; Kuhle 1. Interview: 7. Min.). Ein Arbeitnehmervertreter beschrieb, wie er Blakes Einstand wahrnahm: „Als erste Wirtschaftsausschusssitzung hat er angekündigt, er wollte vierhundert Mann rausschmeißen. Wir hätten einfach vierhundert Mann zu viel. […] Wie Blake kam, als Geschäftsführer, waren diese moralischen Bedenken erst mal nicht mehr da. Wir sind sehr oft in der Anfangskarriere von Blake zu Magnus Kuhle gegangen und haben gesagt: ‚Kuhle, was haben Sie denn mit dem? Pfeifen Sie den mal zurück!‘ Ja, okay, er hat das ein, zwei Mal gemacht, er hat aber natürlich beim dritten und vierten Mal gesagt: ‚Jungens, ich kann dem nicht immer vor die Knie treten. Ich erwarte von dem Ergebnisse, ist doch klar. Dafür habe ich ihn eingestellt, dann verlangt der auch eine gewisse autonome Arbeitsweise.‘“ (Kuhle 2. Interview: 80. Min.)
Dies lässt vermuten, dass Magnus Kuhle selbst in einem Dilemma steckte. Er wollte die Interessen der Arbeitnehmer beachten, musste sie allerdings teils auch gegen das Unternehmensinteresse abwägen. Er und sein Betriebsrat Michael Granten vertrauten sich jedoch weitgehend. Granten war erst kurze Zeit Betriebsrat und unterstützte Kuhles langfristige Strategie, auch wenn dies mitunter Verlagerungen bedeutete. Er musste aber auch die Arbeitnehmer am Heimatstandort schützen, denn die hatten ihn gewählt (Kuhle 2. Interview: 60. Min.). Die zuständigen Vertreter der IG Metall waren der Bezirksbevollmächtigte Julius Klein und der Landesbevollmächtigte Carsten Heidrich, der auch Mitglied im Aufsichtsrat war. Beide betonten, Magnus Kuhle zu vertrauen, da dieser bisher immer zu seinem Wort gestanden habe (Kuhle 5. Interview: 26. Min.; Kuhle 6. Interview: 13. Min.). Die IG Metall hatte jedoch ein besonders starkes Interesse, Kuhle an den Tarifvertrag zu binden, denn wenn ein so großes Unternehmen ausscherte, könnte dies einen Dominoeffekt auf andere Unternehmen auslösen. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Belegschaft lag vor der Diskussion um Produktionsverlagerung bei 44 Prozent; im Konfliktfall waren die Beschäftigten bislang stets zu mobilisieren gewesen. Als es zu ernsten Konflikten mit der
8.4 Moralische Argumente bei Kuhle
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Geschäftsleitung kam, stieg der Organisationsgrad auf 49 Prozent an (Kuhle 6. Interview: 8. Min.). 8.4 Moralische Argumente bei Kuhle Die Geschäftsleitung des Unternehmens Kuhle war vergleichsweise stark sozial eingebunden. Inwiefern wirkten moralische Argumente daher anders als bei Fernlich? Kurz vor der Diskussion um Produktionsverlagerung erwirtschaftete Kuhle weniger als 3 Prozent Gewinn (EBIT-Marge). Seit zwei Jahren sank außerdem das Eigenkapital (siehe Abbildung 7). Dies gefährdete langfristig die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Unternehmens und senkte die Mittel für Investitionen. Mit dem Argument, Arbeitsplätze stünden durch die verschärfte Wettbewerbssituation langfristig zur Disposition, forderte Magnus Kuhle kostenlose Mehrarbeit von seiner Belegschaft (Kuhle 3. Interview: 23. Min.). Doch anstatt wie Zalohma zu versuchen, eine Arbeitszeitverlängerung als „wirtschaftlich richtig“ anzuordnen, versuchte er, seine Belegschaft von deren Notwendigkeit zu überzeugen. Er beruhigte sie außerdem, ihre Einkommen nicht kürzen zu wollen (Kuhle 5. Interview: 38. Min.). Betriebsrat Granten hatte zu konkreten Einsparungen bisher nur Gerüchte gehört. Als er zum Gesamtbetriebsratsvorsitzenden gewählt wurde, trafen sich Betriebsrat und Geschäftsleitung „in einem romantischen Klosterdörfchen […]. Am ersten Abend kam […] alles, was im oberen Management Rang und Namen hatte. Abends wurde der Gesamtbetriebsratsvorsitzende verabschiedet, mit Umtrunk und allem Drum und Dran […] und der nächste Tagesordnungspunkt war das Sparpaket. Wir hatten vorher noch überhaupt nichts Konkretes. Wir hatten mal gehört, da kommt was. Und in dieser Sitzung hat man uns das Sparpaket vorgelegt. Ja, und dann war erst mal Ratlosigkeit, dann Wut und Tumult. Weil, wenn man das Ding gelesen hat, dann hat man gedacht: ‚Sind die eigentlich doof?‘ […] Irgendwann müssen sie es uns ja vorstellen. Aber in so einem Rahmen? Abends hat man noch zusammengesessen, zusammen getrunken, schön über Gott und die Welt geredet, am anderen Tag kriegt man so einen Hammer auf den Tisch. Natürlich erst mal Wut und Empörung. In den [einen Monat später folgenden] Betriebsversammlungen war das unser Hauptthema und wir haben richtig in die Bresche geschlagen. Die Belegschaft war in heller Aufregung. So nach dem Motto: ‚Die sind wohl bescheuert.‘“ (Kuhle 2. Interview: 60.–65. Min.)
Wieder einmal zeigt sich, was schon andere Diskussionen um Produktionsverlagerung verdeutlichen. Nicht nur die Einsparforderungen an sich beeinflussen die Akzeptanz oder Ablehnung der Arbeitnehmervertreter. Wichtig ist vielmehr, wie diese Einsparforderungen präsentiert werden. Bei Kuhle spielte dies eine große Rolle, insofern sich die Arbeitnehmervertreter überrumpelt fühlten. Blake und Magnus Kuhle forderten 35 Millionen Euro an Einsparungen, um eine Arbeits-
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platzgarantie geben zu können. Sie schlugen Personalkosteneinsparung durch Mehrarbeit, Verzicht auf Lohnerhöhungen und weniger Urlaubs- und Weihnachtsgeld vor. Dies sei notwendig wegen der allgemeinen wirtschaftlichen Lage, hoher Materialpreise, des starken Euros und des Preisdrucks der Abnehmer. Würden sie die Einsparungen nicht bekommen, müssten sie Neuaufträge in Osteuropa fertigen lassen (Kuhle 2. Interview: 15. Min.). Da Forderungen in dieser Größenordnung bisher nie vorkamen, zeigte die Geschäftsleitung Verständnis dafür, dass die Arbeitnehmer schockiert waren (Kuhle 3. Interview: 24. Min.). Granten griff zuerst auch gar nicht die Forderungen selbst an, sondern bemängelte, dass die Geschäftsleitung ihn erst so spät in ihre Überlegungen einbezog. Dass er dies erwartete, illustriert den bei Kuhle normalerweise recht vertrauensvollen Umgang zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern. Personalleiter Jachtenfuchs hatte offiziell die Verhandlungsführung. Seine Anstellung in einem amerikanischen Unternehmen gab er auf, weil er dort vor allem für Entlassungen zuständig war. Zwar vertrauten ihm die Betriebsräte, doch was die Geschäftsleitung nun auf einmal forderte, nahmen sie ihm übel. Jachtenfuchs versuchte zu beschwichtigen: „Leute, das waren alles so interne Gespräche. Wenn ich den Auftrag sehe, euch zu informieren, dann mache ich das auch. Das wisst ihr doch!“ (Zitat durch einen Anwesenden wiedergegeben). Er hoffte, dadurch die Verhandlungen auf „eine einigermaßen vernünftige emotionale Ebene zurückführen“ zu können (Kuhle 3. Interview: 26. Min.). Die Belegschaft war über die Forderungen empört. Schon vorher arbeitete sie im Rahmen einer Betriebsvereinbarung zu Stoßzeiten 38,5 Stunden. Die maximal 3,5 Stunden Mehrarbeit konnte sie bisher in weniger arbeitsintensiven Zeiten als Urlaub nutzen. Sie verstand nicht, wie die Geschäftsleitung Konzessionen verlangen konnte, obwohl Kuhle Gewinn machte, neue Beschäftigte einstellte und Mehrarbeit nötig war, um die vorhandenen Aufträge überhaupt abzuarbeiten (Kuhle 4. Interview: 24. Min.). Auch die Angst, durch eine Verlagerung ihren Arbeitsplatz zu verlieren, konnte die Arbeitnehmer nicht motivieren, Konzessionen zuzustimmen, denn niemand begründete ihnen die Forderungen der Geschäftsleitung schlüssig, wie sich der Betriebsrat erinnerte: „Weil erst mal kam nur die Begründung: ‚Wir brauchen Geld, darum wollen wir von euch Geld haben.‘ Und dann: ‚Ja, warum denn von uns? Wir haben doch hier immer alles gemacht. […] Und jetzt können Sie uns doch nicht das Weihnachtsgeld abnehmen.‘ Also, es war Wut und Empörung da.“ (Kuhle 2. Interview: 65. Min.)
8.4 Moralische Argumente bei Kuhle
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8.4.1 Erste Phase: Appell, am Heimatstandort zu investieren Anders als Zalohma forderte Magnus Kuhle jedoch nie, deutsche Werke zu schließen, da ausländische Werke noch profitabler seien. Vielmehr nannte er als wichtigstes Argument für Einsparungen, diese sollten Investitionen für das deutsche Werk ermöglichen (Kuhle 3. Interview: 1. Min.; Kuhle 4. Interview: 15. Min.). Seien die deutschen Arbeitskosten aber so hoch, dass kein Raum für Investitionen bliebe, so sei er gezwungen, im Ausland zu investieren. Auch Magnus Kuhle verwies darauf, dass es keine Alternativen zu den Einsparungen gebe. Im Gegensatz zu Zalohma war er aber nicht der Ansicht, dass früher oder später in jedem Fall verlagert würde, sondern versprach den Arbeitnehmern, wegen ihrer Konzessionen nicht zu verlagern. Dass die Belegschaft Konzessionen zustimmen sollte, riet er ihr aber gerade deswegen energisch an. So zeigte er den Arbeitnehmervertretern eine osteuropäische Fabrik und argumentierte, er könne dort jederzeit die Produktion ausweiten. Im seinem Beisein bot ein Konzernmanager einem Arbeitnehmervertreter sogar die Wette an, bis Ende des Jahres die 40-Stunden-Woche durchzusetzen. Doch immer war dies mit dem Lockargument verbunden, dass Kuhle lieber am Heimatstandort investieren würde, solange dies finanziell machbar wäre. Die Arbeitnehmervertreter gingen davon aus, dass der Heimatstandort aufgrund langfristiger Verpflichtungen und der Forschungs- und Entwicklungsabteilung ohnehin nicht geschlossen werden könnte. Sie waren jedoch über ein „langsam ausbluten“ besorgt (Kuhle 5. Interview: 11.–13. Min.; Kuhle 2. Interview: 50. Min.; Kuhle 6. Interview: 54. Min.). Die Geschäftsleitung wollte ihrerseits zwar verdeutlichen, dass sie verlagern könne. Allerdings war es nicht ihre Absicht, dass die Arbeitnehmer sich durch ihr Fordern erpresst fühlten, denn das hätte das gute Verhältnis zu den Beschäftigten beschädigt (Kuhle 3. Interview: 32. Min.). Für alle Konfliktparteien war die Meinung der Belegschaft von zentraler Bedeutung: Der Betriebsrat musste periodisch von ihr wiedergewählt werden, die IG Metall wollte Mitglieder gewinnen und die Geschäftsleitung sah sich auf die Motivation ihrer Belegschaft angewiesen. Alle Parteien bemühten sich deshalb, die Beschäftigten auf ihre Seite zu bringen. Wem dies gelang, der konnte über Konzessionen bestimmen, und davon hing ab, ob eine Verlagerung stattfand. Da der Tarifvertrag Mehrarbeit verbot, übergab der Betriebsrat die Verhandlungsführung über den „Horrorkatalog“, wie er ihn nannte, an Julius Klein von der IG Metall (Kuhle 2. Interview: 5. Min.). Dieser schrieb in einem Flugblatt, die Beschäftigten hätten schon genug Konzessionen geleistet. Betriebsrat Granten fügte hinzu: „Viele fragen sich jetzt natürlich, ob das der Dank dafür ist.“ Die Geschäftsleitung müsse investieren und Lösungen mit statt gegen die Beschäftigten suchen. Carsten Heidrich, Mitglied der IG Metall Landesverwal-
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tung und des Aufsichtsrats, hatte ein gutes Verhältnis zu Magnus Kuhle, doch er meinte über ihn: „Er braucht uns hier. Das weiß er auch, das ist seine Geschäftspolitik. Und wir glauben ihm auch, dass er uns braucht. Aber was er da verlangt, das ist zu viel“ (Kuhle 5. Interview: 49. Min.). IG Metall und Betriebsrat gründeten eine Tarifkommission, um zu verhandeln, wie weit sie auf die Geschäftsleitung zugehen sollten. In einem zweiten Flugblatt bezichtigte Granten die Geschäftsleitung, mit der schlechten Stimmung im Land Konzessionen erpressen zu wollen. Die IG Metall sah in der Arbeitszeitausweitung eine Gefahr für die Arbeitsplätze. Es sei nicht sinnvoll, die Arbeitskosten zu senken, denn Niedriglohnländer könnten diese immer unterbieten. Intern versuchte die IG Metall, beim Arbeitgeber zu sondieren: „Was wollen sie eigentlich wirklich mit welcher genaueren Begründung?“ (Interne Memo). Die Verhandlungen begannen unter Jachtenfuchs Leitung. Dieser verknüpfte die Einsparforderungen nur widerwillig mit Verlagerungsdrohungen, da er bei seiner vorherigen Anstellung für Massenentlassungen zuständig war: „Jetzt bin ich aus der einen Scheiße raus, jetzt bin ich in dieselbe Scheiße reingerutscht. Und das kotzt mich so was von an“, äußerte er einmal gegenüber einem Arbeitnehmervertreter (Kuhle 2. Interview: 85. Min.). Er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass Menschen ihren Job verlieren, und begründete die Konzessionsforderungen damit, dass das Unternehmen bald nicht mehr genug einnehme, um noch zu investieren (Kuhle 6. Interview: 38. Min.; Kuhle 5. Interview: 9.–11. Min.). Es gehe der Geschäftsleitung jedoch nicht per se darum, Produktion zu verlagern, „sondern neue Projekte dort zu platzieren, wo das möglich ist“ (Kuhle 4. Interview: 3. Min.). Klein und Granten beharrten anfangs darauf, dass nicht Konzessionen der Belegschaft, sondern Profite für Investitionen genutzt werden müssten. Doch für weitreichende Investitionen war der Unternehmensgewinn mit einer EBIT-Marge um 3 Prozent tatsächlich zu niedrig. An die IG Metall schrieb die Geschäftsleitung: „Wir brauchen bessere Erträge in Deutschland, sonst können wir unsere Investitionen hier nicht finanzieren und gehen mit den demnächst anstehenden Projektentscheidungen ins Ausland, wo billiger gearbeitet wird.“ Schließlich müsse Kuhle „es sich leisten können“, am Heimatstandort zu investieren (Kuhle 3. Interview: 14. Min.; Kuhle 4. Interview: 4. Min.). Unter den Beschäftigten habe „Wut und Empörung“ geherrscht, bis die Geschäftsleitung erklärte, sie fordere nicht Konzessionen, „um sich zu bereichern, sondern um Standorte zu sichern und notwendige Investitionen zu tätigen, um die Aufträge dann in den nächsten Jahren zu bekommen“ (Kuhle 2. Interview: 70. Min.). Mit dieser Erklärung konnte Granten mehr anfangen als mit der vorher weitgehend pauschalen Forderung nach Zugeständnissen. Er verstand die neue Begründung so, dass die Geschäftsleitung lieber mit den Arbeitnehmern ein Sparpaket schnüren wollte, als sich vom Kapitalmarkt Geld zu leihen und da-
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durch von externen Kapitalgebern abhängig zu werden (Kuhle 2. Interview: 5. Min.). Magnus Kuhles Begründung war demnach völlig anders als die Zalohmas, der anführte, seine Verantwortung liege darin, maximalen Gewinn für das Unternehmen und dessen Aktionäre zu erwirtschaften. Zalohma fragte auch nicht, ob er es sich „leisten könne“ am Heimatstandort zu investieren, sondern ob es nicht noch profitabler sein könnte, ins Ausland zu gehen. Kuhles Geschäftsleitung argumentierte ganz im Gegenteil, dass sie sparen müsse, um ihrer Verantwortung für die Heimatbelegschaft auch in Zukunft entsprechen zu können. Betriebsrat Granten vertraute darauf, dass die Geschäftsleitung Konzessionen forderte, um die Heimatbelegschaft langfristig abzusichern. Er schlug deshalb vor, eine Unternehmensberatung ausrechnen zu lassen, wie viel die Arbeitnehmer zugestehen müssten, um wieder Spielraum für Investitionen zu schaffen. Das Gutachten einer gewerkschaftsnahen Unternehmensberatung verwies darauf, dass Kuhle zwar gerade den höchsten Umsatz der Unternehmensgeschichte erzielt habe, seine Rendite von nur 2,7 Prozent (EBIT-Marge) sei jedoch niedrig. Daher wurde argumentiert, dass Investitionen in den nächsten Jahren zunehmend schwer finanzierbar würden, was sich negativ auf den Heimatstandort auswirken werde. Wenn in absehbarer Zeit jedoch Investitionen getätigt würden, sei innerhalb von fünf Jahren mit Rückflüssen zu rechnen. Das Gutachten überzeugte Granten, dass Einsparungen nötig waren; er war sich jedoch über deren Höhe unsicher, da die präsentierten Zahlen (vor allem die in die Zukunft projizierten) Spielraum ließen (Kuhle 2. Interview: 50. Min.). Auch bei Kuhle war es somit aufgrund eines Ungewissheitsspielraums nicht möglich, eine optimale Lösung zu kalkulieren. Die Geschäftsleitung hatte Granten jedoch zumindest überzeugt, Einsparungen prinzipiell zuzustimmen. Dazu trug bei, dass ihre soziale Situation es ihr glaubhaft ermöglichte, zu versprechen, die Beschäftigten nicht zwecks Gewinnmaximierung auszubeuten, sondern im Gegenteil, mit der Forderung nach Konzessionen einer Verantwortung für die Beschäftigten zu entsprechen. Wie dies genau funktionierte, wird im Folgenden ersichtlich. 8.4.2 Zweite Phase: Vertrauen ersetzt wirtschaftliche Kalkulation Auch bei Kuhle konnte die Geschäftsleitung nicht einfach berechnen, welcher Standort am produktivsten war, denn in der Unternehmensbuchhaltung bezahlten die ausländischen Produktionsstandorte für die Forschungs- und Entwicklungsleistungen des Heimatstandorts. Da dessen Forschungsleistungen aber verschieden hoch bewertet werden konnten (ihr objektiver Wert war ungewiss), waren Wertschöpfung und somit Rendite des Heimatstandorts interpretationsoffen. Jede Seite konnte ihre Annahmen, dass der Heimatstandort im Vergleich zum Ausland
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mehr oder weniger produktiv sei, deswegen rational begründen. Es blieb unklar, inwieweit Mehrarbeit tatsächlich nötig war (Kuhle 6. Interview: 47. Min.). Trotzdem wurden die Arbeitnehmervertreter kompromissbereiter. In einer Sitzung der Tarifkommission argumentierten sie mit dem Unternehmensberatungsgutachten, eine 40-Stunden-Woche führe zum rechnerischen Verlust von circa 600 Arbeitsplätzen, außerdem seien jährliche Einsparungen über 35 Millionen Euro überzogen. Doch die Mehrheit der Tarifkommissionsmitglieder wollte zumindest verhandeln, da das Unternehmensberatungsgutachten die Notwendigkeit von Einsparungen plausibel nahelegte (Kuhle 3. Interview: 3. Min.; Kuhle 4. Interview: 31. Min.). Durch die Unklarheit der Zahlen hätte Granten seiner Geschäftsleitung auch eigennützige Ziele unterstellen können, beispielsweise, dass sie ihren persönlichen Gewinn erhöhen wolle. Doch stattdessen stellte er zusammen mit Klein von der IG Metall klar, wann er Einschnitten zustimmen würde. Die beiden forderten eine langfristige Standortentwicklung, vertragliche Festlegung auf Investitionen und Qualifizierungsprogramme, bei hoher Rendite einen Bonus für IG-Metall-Mitglieder, baldige Rückkehr zum Tarifvertrag sowie die Einbeziehung des Betriebsrats bei einer anzustrebenden Regelung (Memo IG Metall). In einem vierzehnstündigen Verhandlungsmarathon stimmte Jachtenfuchs den meisten Forderungen zu. Er bekam dafür Mehrarbeit ohne Lohnausgleich, wenn auch weniger als anfangs gefordert. Die übergeordnete Geschäftsleitungsebene wollte jedoch noch mehr Konzessionen und lehnte den Kompromiss ab (Kuhle 5. Interview: 123.–128. Min.). Granten bezeichnete dies als schwierigsten Moment der Verhandlungen und meinte: „Die jonglieren hier mit uns […], die wollen einen Basar hier, die wollen ausloten, wie viel sie kriegen können. Denen geht es nicht wirklich um die Geschichte, sondern die wollen gucken, wie weit sie gehen können“ (Kuhle 2. Interview: 85.–89. Min.). An der Äußerung „wie weit sie gehen können“ wird erneut die Sorge der Arbeitnehmervertreter vor einer kapitalistischen Ethik ersichtlich, nach der die Geschäftsleitung sich nicht mit einem bestimmten Gewinn zufriedengibt, sondern nimmt, was sie bekommen kann. Blake trat dabei in Grantens Wahrnehmung dermaßen harsch auf, dass der Betriebsrat einmal sogar aus Protest den Raum verließ: „Blake fühlte sich nun bewogen, den Leuten da zu zeigen, wie man verhandelt. Die Verhandlungsrunde hat eine Stunde gedauert, da sind wir aufgestanden und gegangen. Weil, er wollte da den Harten markieren, so nach dem Motto: ‚Betriebsräte, wenn ihr nicht wollt, mach’ ich euch den ganzen Laden dicht.‘ Und da haben wir gesagt: ‚Unter den Bedingungen verhandeln wir nicht.‘“ (Kuhle 2. Interview: 50. Min.)
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Danach übernahm Benitz die Verhandlungsführung.58 Blake spielte nur noch eine untergeordnete Rolle, nicht nur aufgrund seines Verhaltens, sondern auch weil die Arbeitnehmervertreter weder fähig noch willens waren, auf Englisch zu verhandeln (Kuhle 5. Interview: 127. Min.; Kuhle 1. Interview: 7. Min.). Die IG Metall schlug vor, Investitionen mit bedarfsorientierter Arbeitszeitausweitung zu finanzieren. Arbeiter sollten Mehrarbeitsstunden auf ein Arbeitszeitkonto einzahlen und bei geringer Arbeitsnachfrage als Urlaub abrufen können. Im Wesentlichen entsprach dies der vorherigen Regelung. Die Geschäftsleitung lehnte dies erwartungsgemäß als unzureichend ab und bestand auf jährlichen Personalkosteneinsparungen von 35 Millionen Euro. Daraufhin kam es zu einem zweiten und dritten Tarifgespräch, beide endeten ergebnislos. Die Tarifkommission wollte immer wieder auf Basis der Vorschläge der IG Metall verhandeln, die Geschäftsleitung lehnte dies immer wieder ab. Klein konnte, selbst wenn er gewollt hätte, den Mehrarbeitsforderungen der Geschäftsleitung nicht ohne Weiteres zustimmen, da dies einen Dominoeffekt auf andere Unternehmen hätte haben können. So konnte keiner der Akteure auf den anderen zugehen (Kuhle 4. Interview: 41. Min.; Kuhle 3. Interview: 42. Min.). Nun wurden moralische Argumente gegenüber der Belegschaft wichtig. 8.4.3 Dritte Phase: Geschäftsleitung übt über Vertrauen Druck aus Magnus Kuhle warf sein hohes Ansehen bei der Belegschaft in die Waagschale und schrieb jeden Arbeitnehmer persönlich an: „Wenn wir bis Oktober keine Lösung haben, geben wir neue Projekte nach Osteuropa und streichen 1.000 Arbeitsplätze.“ Er wollte mit dem Schreiben seine Entschlossenheit demonstrieren und die Belegschaft auf seine Seite ziehen, indem er sie einschüchterte. Würde ihm dies gelingen, müsste auch der Betriebsrat auf seine Forderungen eingehen. Dann wäre es wiederum für die IG Metall schwer gewesen, Forderungen zu widerstehen – der Konflikt wäre entschieden (Kuhle 5. Interview: 55. Min.). Dass Kuhle auf diese Weise Druck über die Belegschaft ausübte, sahen Arbeitnehmervertreter als Abweichen von seinem normalerweise moralischen und rücksichtsvollen Umgang an.
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Benitz kam aus einem der vier Geschäftsbereiche des Unternehmens und hatte dort, als die IG Metall besonders schwach war, einen Tarifvertrag mit einer christlichen Gewerkschaft geschlossen. Dieser erlaubte es ihm, Arbeitskonditionen weitgehend selbst zu diktieren. Benitz war deshalb „personalmäßig als harter Hund verschrien“, wie ein Arbeitnehmervertreter meinte (Kuhle 5. Interview: 122. Min.). Trotz seines harten Kurses wurde er von den Arbeitnehmervertretern jedoch geschätzt, da man mit ihm mit der Unternehmensspitze verhandelte.
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„Das mit dem Brief, da hat das Unternehmen dann so ein bisschen die moralische Schiene verlassen. Das haben wir ihm auch sehr hoch angekreidet. […] Und haben den Vorstand dann auch gewarnt, diesen Konflikt aus den Familien rauszulassen. Denn das ist klar, das war für die natürlich auch ein Druckmittel. Wenn Papa da nach Hause kommt und hat drei Kinder, Mutter hat ’nen Brief da liegen. Da sagt die natürlich: ‚Hör mal Papa, mach’ da nicht so ’nen Larry, du brauchst deinen Job.‘ Das war natürlich moralischer Druck, den wir auch als sehr unfair … den wir dann auch klargemacht haben, dass so Aktionen … dass die völlig zu unterlassen sind. […] Da haben wir auch gesagt: ‚Wenn ihr so agiert, dann machen wir die Schotten dicht, [wird laut] dann schmeißt Tausend raus! Dann sind wir auch nicht mehr bereit.‘ Weil wir wussten auch, sie konnten keine Tausend rausschmeißen. Weil, erst mal, so schnell kann ich keine Straße verlagern, die haben ihre Lieferverpflichtungen, und und und.“ (Kuhle 2. Interview: 35.–40. Min.)59
Bei dem Versuch, die Belegschaft auf seine Seite zu ziehen, hatte Magnus Kuhle gegenüber Fernlichs Vorstand einen entscheidenden Vorteil: Das Vertrauen seiner Belegschaft. Durch das persönliche Anschreiben vertrauten die Arbeitnehmer darauf, dass ihm eigentlich daran gelegen war, den Konflikt einvernehmlich zu lösen. So entstand Druck auf die Arbeitnehmervertreter, doch nun „endlich“ Magnus Kuhles Forderungen zuzustimmen (Kuhle 3. Interview: 43. Min.; Kuhle 4. Interview: 43. und 70. Min.). Nicht nur die Arbeitnehmervertretung, auch die Geschäftsleitung kann die Belegschaft durch moralische Argumente für ihre Zwecke mobilisieren – zumindest unter bestimmten Umständen. Denn mit demselben Brief hätte Zalohma lediglich den Zorn der Belegschaft geschürt und so den Arbeitnehmervertretern in die Hände gespielt. Magnus Kuhles Belegschaft dagegen machte in der Folge dem Betriebsrat Druck, den Wünschen der Geschäftsleitung zuzustimmen. Arbeitnehmer sprachen en Betriebsrat an: „Granten, 160 Stunden mehr. Könnt ihr doch machen! Ist doch kein Problem, ist doch euer Arbeitsplatz. Guckt doch mal hier in der Gegend! Guckt doch mal hier über den Zaun! Wo sollen die Leute denn arbeiten? Ihr seid doch hier der größte Arbeitgeber. Gutes Geld verdient ihr doch auch. Seid doch zufrieden, wenn ihr dafür Arbeitsplatzsicherung kriegt!“ (Kuhle 2. Interview: 85. Min.)
8.4.4 Vierte Phase: Gegenseitiges Vertrauen führt zu Übereinkunft Granten schloss sich der Belegschaftsmeinung an. Er tat dies jedoch nicht blind, sondern weil er über die Jahre Vertrauen zu Magnus Kuhle aufgebaut hatte. Auf 59
Auch dieses Verhalten ist ein realweltliches Beispiel für das Ultimatumspiel (vgl. Fußnote 3). Genau wie in einem Ultimatumspiel geringe Angebote aus wirtschaftlich irrationaler, moralischer Empörung meist abgelehnt werden, befürwortete Granten eher die Kündigung der Belegschaft, statt das Angebot der Geschäftsleitung anzunehmen.
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die Frage, warum er dieses Vertrauen eigentlich hatte, verglich er Kuhle spontan mit Fernlich: „[Das dortige Vorgehen] ist nicht die Philosophie des Hauses Kuhle. Das ist ganz klar. Und hinter dieser Philosophie steht Magnus Kuhle. Also, sein Kommentar zu Fernlich, die haben ja so ’nen ähnlichen Vertrag gemacht wie wir und ein halbes Jahr später haben die das ja alles kaputt geschlagen. So, der Kommentar von Magnus Kuhle dazu: ‚Er hält so was für einen Skandal.‘ Er hält so was für einen Skandal, denn er sagt: ‚Wenn ich mit euch solche Verträge mache und in einem halben Jahr schmeiß ich hier alles über den Haufen, dann macht ihr nie wieder einen Vertrag mit mir und ich mit euch keinen.‘ Also, das Vertrauen muss da sein und das ist unser Vorteil als Familienunternehmen.“ (Kuhle 2. Interview: 25. Min.)
Nicht nur Vertrauen, sondern auch Druck spielte eine Rolle. Granten bemerkte, dass die Geschäftsleitung bereits plante, eines der Hauptprodukte im Ausland herzustellen. Er sprach nun persönlich mit Magnus Kuhle: „Die Produktionslinie, die eigentlich auch mit unser Rückgrat war hier, die habe ich dann persönlich als Zusage von Magnus Kuhle bekommen. Er hat zu mir gesagt: ‚Granten, wenn wir da was hinkriegen, verspreche ich Ihnen, die Produktionslinie kommt nicht nach Osteuropa, obwohl wir sie eigentlich vom finanziellen Standpunkt her nach Osteuropa bringen müssten.“ (Kuhle 2. Interview: 50. Min.)
Magnus Kuhle äußerte zwar, nicht nur aufgrund „finanzieller Standpunkte“ zu handeln. Doch da es sich dabei nur um eine persönliche Zusage handelte, hatte Granten keine Garantie, dass Magnus Kuhle sich bei Konzessionen wirklich für die Belegschaft einsetzen würde. Selbst formale Verträge boten diese Garantie nicht, denn Geschäftsleitungen können diese im Extremfall brechen, wie bei Fernlich geschehen. Doch Granten vertraute Magnus Kuhle und plädierte deshalb gegenüber der IG Metall für Konzessionen. Er stimmte diesen zu, weil er Magnus Kuhle vertraute, sie nicht eigeninteressiert zu verwenden: „Die Dinge, die so informell gelaufen sind, haben dann auch die offiziellen Verhandlungen vorwärtsgebracht. […] Vertrauen, das Sie aufbauen über eine gewisse Zeit zu den Kollegen von der anderen Seite, das spielt eine große Rolle. Und natürlich auch der Herr Kuhle. Wenn er Aussagen macht, dann sind die so und da kann man sich dann auch drauf verlassen. Das ist schon ein Wert an sich, dieser Familienbetrieb.“ (Kuhle 3. Interview: 62. Min.)
Magnus Kuhle verkörperte zwar die Unternehmensphilosophie und wegen ihm hatte Granten Vertrauen; entscheidend dafür war aber die soziale Struktur eines Familienunternehmens, die Magnus Kuhle repräsentierte (Kuhle 2. Interview:
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20.–25. Min.; Kuhle 5. Interview: 22.–24. Min.). Vertrauen konnte in dieser Struktur bis zu einem gewissen Grad Zwang ersetzen, was auch im Sinne der Geschäftsleitung war, um „dieses Betriebsklima, das wir hier haben, nicht kaputtzumachen, weil uns das schon was wert ist“ (Kuhle 3. Interview: 68. Min.). Forderungen konnten aufgrund starker sozialer Einbettung so gestaltet werden, dass sie die enge Bindung zwischen Geschäftsleitung und Arbeitnehmern nicht schädigten. Eine einmal vorhandene soziale Einbettung schützt sich so bis zu einem gewissen Grad selbst. Das Gegenteil war bei Fernlich der Fall. Da dessen Chef nicht an das Unternehmen und seine Arbeitnehmer gebunden war, konnte er auch nichts glaubhaft versprechen und im Gegenzug Konzessionen fordern. Anders als der Betriebsrat war die IG Metall von Magnus Kuhle sozial zu weit entfernt, als dass sie ihm einfach vertrauen konnte. Sie hatte auch eine andere Interessenlage, da sie bei Ausnahmen vom Flächentarifvertrag den Effekt auf andere Betriebe bedenken musste. Auch Klein als Bevollmächtigter der IG Metall sah jedoch, dass Kuhles Rendite niedrig war und dies ein Verlagerungsgrund sein könnte (Memo ohne Datum). Zudem wollte er die Sozialpartnerschaft bei Kuhle nicht aufs Spiel setzen, weswegen Granten ihn von Konzessionen überzeugen konnte (Kuhle 3. Interview: 45. Min.; Kuhle 5. Interview: 101. Min.). Mit der Geschäftsleitung verhandelte Klein noch über deren genaue Höhe. Zwar war er gegenüber Arbeitszeitverlängerungen skeptisch, er bot aber an, 6 Millionen Euro aus dem ERA-Anpassungsfonds abzutreten.60 Gespräche führten jedoch zu keinem Ergebnis, da Granten und Klein nicht die geforderten 35 Millionen Euro zugestehen wollten. Daraufhin konfrontierte die Geschäftsleitung sie mit einem undurchsichtigen „Plan B“: „Sie wussten, dass wir den Weg nicht mitgehen, dass sie keine 35 Millionen bekommen. Wir wussten jetzt nicht was passiert, wenn wir das hart durchziehen. […] Sie suggerierten uns, dass sie im Falle des Worst Case, alles scheitert, einen Plan B hätten. […] Sie haben gesagt: ‚Also, wenn ihr das wollt, dann lasst das Scheitern, aber dann ziehen wir den zweiten Plan durch und der sieht noch viel bitterböser aus.‘“ (Kuhle 2. Interview: 45. Min.; vgl. ähnlich Kuhle 5. Interview: 18. Min.)
Als klar war, dass sich die Parteien nicht einigen konnten, geriet der Konflikt auf die nächste Eskalationsstufe; eine Fernsehreportage thematisierte die Verhandlungen in dem öffentlichkeitsscheuen Unternehmen. Die Geschäftsleitung wollte dies unbedingt vermeiden, da sie auf ihr Ansehen in der Region bedacht war. Darin unterschied sie sich von Fernlichs Vorstand, der nicht davor zurück60
Bei Kuhle war es im Zuge der ERA-Anpassung (Vereinheitlichung der Bezahlung von Arbeitern und Angestellten) nur zu einer Lohnerhöhung von 1,1 Prozent (statt der üblichen 2,8 Prozent) gekommen, weswegen normalerweise circa 6 Millionen Euro aus einem Fonds an die Arbeitnehmer ausgeschüttet worden wären. Diese boten Klein und Granten nun der Geschäftsleitung an.
8.4 Moralische Argumente bei Kuhle
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schreckte, den Konflikt öffentlich auszutragen. Doch nicht nur die Geschäftsleitung, auch der Betriebsrat war bemüht, den Konflikt zu lösen; er warb noch einmal bei der IG Metall für Konzessionen. Bevor der Konflikt öffentlich zu eskalieren drohte, zeigten auch Wendling und Benitz Kompromissbereitschaft (Kuhle 5. Interview: 129.–131. Min.). „Die Themen, die dem Betriebsrat besonders wichtig waren, haben wir zunächst angeguckt. Das waren dann so Themen wie Jubiläumszuwendungen, Zusatzurlaube und solche Themen. Die hat man dann rausgestrichen, um die Arbeitnehmer da nicht zu überfahren, und hat sich dann konzentriert auf die Arbeitszeit.“ (Kuhle 3. Interview: 32. Min.)
Die Geschäftsleitung akzeptierte, Lohn und Weihnachtsgeld nicht zu kürzen, denn viele Arbeitnehmer hatten ihr Weihnachtsgeld schon für private Rentenvorsorge eingeplant. Solche Rücksichtnahme hätte die Geschäftsleitung nicht an den Tag legen müssen. Wie Zalohma hätte sie argumentieren können, sie sei nicht für die privaten Finanzen ihrer Arbeitnehmer verantwortlich. Doch stattdessen näherte sie sich den Forderungen der Arbeitnehmervertreter und bot einen Standortsicherungsvertrag mit einer Laufzeit von vier Jahren an, doch die IG Metall forderte fünf Jahre (Kuhle 3. Interview: 50. Min.). Zunächst lehnte die Geschäftsleitung diese Forderung ab: Mehr könne sie nicht bieten. Doch einen Tag später und nach Rücksprache mit Magnus Kuhle erklärte Wendling, die Verhandlungen nicht an der Laufzeit platzen zu lassen. Es kam zu einem Abkommen mit konditioniertem Sonderkündigungsrecht der Geschäftsleitung für das fünfte Jahr. Beide Seiten befanden, die andere sei auf sie zugekommen (Kuhle 5. Interview: 132–137. Min.; Kuhle 3. Interview: 38. Min.). Auf die Frage, warum die IG Metall letztlich zustimmte, antworteten Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter: „Ich glaube, das war unsere Kompromissbereitschaft, die Dinge, die wir den Leuten hätten wegnehmen können, was sie übertariflich alles hatten, was sie behalten durften. Das konnte der Betriebsrat meiner Meinung nach auch bei den anstehenden Betriebsratswahlen ganz gut verkaufen. So nach dem Motto: ‚Wir haben für euch gekämpft, haben diese Themen heraushalten können, nur mussten jetzt den Kompromiss mit der Arbeitszeit eingehen.‘ […] Wenn wir uns stur gestellt hätten, wäre es nie zu einem Kompromiss gekommen, so wie die andere Seite sich auch flexibel gezeigt hat.“ (Kuhle 3. Interview: 68. Min.) „Und mit der Zeit kam dann auch das Verständnis. Weil dann da rauskam, wenn wir da was machen, gibt es auch wieder fünf Jahre Beschäftigungssicherung. Das heißt, fünf Jahre keine Entlassungen. Du hast fünf Jahre einen sicheren Job. Dann kam hinzu, dass einige hier in der Gegend auch große Probleme hatten.“ (Kuhle 2. Interview: 70. Min.)
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„Nachdem dann die Führungsspitze dabei war, wurde das nicht mehr so scharf verhandelt. […] Wo dann auch die Arbeitgeber zurücksteckten und gesagt haben: ‚Okay, das wollen wir nicht, da gehen wir nicht mit, da gehen wir nicht mit.‘ Bis wir dann real da waren, wo wir dann gesagt haben: ‚Okay, das Paket können wir unter den Bedingungen [abschließen].‘“ (Kuhle 2. Interview: 45. Min.)
Gerade weil die Unternehmensleitung nicht alles forderte, was sie hätte fordern können, erreichte sie einen Kompromiss.61 Die Arbeitnehmer sollten anfangs auf ein dreizehntes Gehalt, Urlaubsgeld und übertarifliche Leistungen verzichten sowie wöchentlich 40 Stunden arbeiten. Kern des tatsächlich erreichten Übereinkommens war eine 37,5-Stunden-Woche mit Gewinnbeteiligung für die Arbeitnehmer, die die unbezahlte Mehrarbeit ausgleichen sollte. Für zusätzlich geleistete Stunden bekamen die Arbeitnehmer 30 bis 120 Prozent des Durchschnittsgehalts, bei einer Umsatzrendite von 3 bis 6 Prozent. Wenn das Unternehmen wenig Gewinn machte, vergütete es die Mehrarbeit kaum, bei hohem Gewinn konnten die Arbeiter überdurchschnittlich viel verdienen. Wie auch im Unternehmen Müller war die Geschäftsleitung bereit, Gewinn ab einer bestimmten Größenordnung mit den Arbeitern zu teilen, statt diesen zu maximieren. Damit untermauerte sie mit Taten ihr Versprechen, dass die Mehrarbeit lediglich dazu dienen sollte, einen Normalgewinn zu erreichen, und nicht Renditemaximierung. Nach fünf Jahren sollte Kuhle zum Flächentarifvertrag zurückkehren. Die Geschäftsleitung erklärte sich bereit, 200 Millionen Euro zu investieren und der Tarifkommission regelmäßig darüber zu berichten. Sie erhielt die Vollzeitarbeitsplätze, übernahm dafür jedoch nicht mehr alle Leiharbeiter, um die längere Arbeitszeit auszugleichen. Da die IG Metall ihre Mitglieder hauptsächlich unter den Kernarbeitern hatte, konnte sie damit gut leben. Von den geforderten 35 Millionen Euro jährlichen Einsparungen bekam die Geschäftsleitung circa 15 Millionen (Kuhle 2. Interview: 30. Min.; Kuhle 3. Interview: 49. Min.). Die IG Metall schrieb in einem Flugblatt zufrieden, das 175 Millionen Euro schwere Sparpaket (35 Millionen mal 5 Jahre) sei vom Tisch und „für die Beschäftigten […] – insbesondere für die tarifgebundenen IG Metall-Mitglieder – bedeutet das echte Stabilität für die nächsten Jahre.“ Die Gewerkschaftsmitglieder sahen dies genauso: 90 Prozent stimmten für das Ergebnis. Erneut führte Granten die
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Peter Blau (1964: 208f.) beschreibt, dass Herrschaft erst dann als legitim anerkannt wird, wenn derjenige, der sie ausübt, gerade nicht im vollen Maße von seinen Möglichkeiten Gebrauch macht, sondern seine Rechte freiwillig einschränkt zugunsten der Interessen anderer. Dieses „NichtGebrauch-Machen“ von eigenen Möglichkeiten zugunsten anderer entspricht auch Durkheims Moraldefinition aus Kapitel 1. Insofern führte in diesem Sinne moralisches Verhalten dazu, dass Kuhles Geschäftsleitung als legitim anerkannt wurde und ihren Forderungen stattgegeben wurde. Auf diesen Zusammenhang wird das Schlusskapitel noch genauer eingehen.
8.4 Moralische Argumente bei Kuhle
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Bereitschaft, etwas zu geben, auf die bisherigen Erfahrungen mit Magnus Kuhle zurück: „Ich muss sagen, die Akzeptanz zu dieser Geschichte war eigentlich sehr groß. […] Die [Arbeitnehmer] wussten ganz genau, wenn es mal eng wird, Kuhle hat immer versucht, die Kollegen auf die anderen Werke zu verteilen, was zumutbar war. […] Aber man wusste ganz genau, nach ’nem halben Jahr habe ich ’nen Job hier wieder. Und das war eigentlich in den Köpfen und deshalb auch die große Akzeptanz. […] Das ist ja nun ganz wichtig. Es ist ja nun kein Pappenstiel, den Kollegen zu sagen: ‚Du musst jetzt 160 Stunden hier für nothing arbeiten und deine 500 Euro aus dem ERA-Fonds, die kriegst du auch nicht.‘ […] Und ich muss sagen, wir haben jetzt zwei Jahre hinter uns, also den dicken Berg. Da zeigt es sich eigentlich, wie wertvoll diese Vereinbarung war.“ (Kuhle 2. Interview: 10.–20. Min.) „Das war eigentlich ein Befund, wo wir wussten, wir geben was, aber das bedeutet auch für die nächsten fünf Jahre Stabilität für das Unternehmen, sichere Arbeitsplätze und für die Zukunft wettbewerbsfähig. […] Denn es hat keiner in der Republik so viel sichere Geschichten bekommen für das, was wir gegeben haben, alleine die Investitionszusagen.“ (Kuhle 2. Interview: 45. Min.)
Offenkundig zweifelten die Arbeitnehmervertreter nicht daran, dass Magnus Kuhle seinen Teil der Vereinbarung einhalten werde, obwohl beispielsweise Steches und Fernlichs Geschäftsleitungen dies nicht getan hatten. Doch Kuhles Geschäftsleitung hatte in der Vergangenheit Glaubwürdigkeit aufgebaut, die man auch „moralisches Kapital“ nennen könnte. Man nahm ihr ab, ihre Interessen gegebenenfalls für Andere zurückzunehmen, und war darum bereit, dasselbe für sie zu tun. Sie setzte nicht alle ihre wirtschaftlichen Interessen gegenüber der Belegschaft durch, weswegen die Arbeitnehmervertreter ihr Rücksichtnahme unterstellen konnten. Auch diese Vereinbarung bezeichnete die Geschäftsleitung als „Kompromiss, und da müssen beide Seiten nachgeben“ (Kuhle 3. Interview: 48. Min.). Erneut wird der völlige Gegensatz zum Umgangston im Unternehmen Fernlich deutlich, wo Zalohma wirtschaftliche Strategien nach vermeintlich exakten Kalkulationen unverändert durchsetzen wollte. Der Kompromiss führte zur Sanierung des Unternehmens. Zwei Jahre später waren die Kosten pro Arbeitnehmer um 2,5 Prozent gesunken. Der Umsatz war um 26 Prozent gestiegen, die Eigenkapitalquote von 27 auf 31 Prozent, die Umsatzrendite von 2,7 auf 4,0 Prozent (EBIT). Auch die Abstimmung der Unternehmenszusagen mit dem Betriebsrat funktionierte nach dessen Aussage: „Das ist im letzten Jahr hervorragend gelaufen. Die Daten, Zahlen und Fakten mit Investitionssummen wurden uns exakt vorgelegt“ (Kuhle 2. Interview: 25. Min.). Außerdem hatte der Vertreter der IG Metall von der Geschäftsleitung den „Eindruck, dass das, was sie zugesagt haben, zu 100 Prozent eingehalten wird“
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(Kuhle 6. Interview: 13. Min.). Das nächste Kapitel beschreibt, warum man sich hier reibungslos einigte, während der Konflikt bei Fernlich ausuferte. 8.5 Weshalb brachten moralische Argumente bei Fernlich und nicht bei Kuhle die Öffentlichkeit auf? 8.5 Weshalb brachten moralische Argumente die Öffentlichkeit auf? Fernlich und Kuhle waren zwar in derselben Branche tätig, unterschieden sich jedoch im Grad ihrer sozialen Einbettung. Zalohma betonte eine weltweite Unternehmensverantwortung, so deutlich wie er „bekenne sich niemand zu Verlagerungen in Niedriglohnstandorte“, schrieb eine Tageszeitung. Magnus Kuhle war das Gegenteil davon, er bekannte sich zu einer Verantwortung für seine Heimatregion und gab an, mit einem branchentypischen Normalgewinn zufrieden zu sein. Die folgende Tabelle fasst die Unterschiede zusammen. Tabelle 4: Unterschiede Fernlich – Kuhle
Eigentümerstruktur Verhältnis Geschäftsleitung – Arbeitnehmervertreter Ungewissheit über wirtschaftlich optimale Interessenverfolgung
Fernlich Kuhle Aktiengesellschaft in vorwiegend Am Heimatstandort eingebundenes angloamerikanischem Streubesitz Familienunternehmen Konflikthaft, kein Vertrauen
Kooperativ, vertrauensvoll
Geschäftsleitung sieht keine, Arbeitnehmervertreter stimmen teils zu
Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertreter einig über ungewissen Verlagerungserfolg
Renditeziel
Maximierung
„Ausreichender“ Gewinn für Lebensunterhalt und Investitionen
Ebene des Konflikts
Gespräch übereinander
Argumente der Geschäftsleitung Argumente der Arbeitnehmervertreter Strategie der Arbeitnehmervertreter Funktion moralischer Argumente
Gespräch miteinander Renditemaximierung und VerRenditemaximierung ist moralisch, lagerung sollten nicht entgegen den Verlagerung ist sinnvoll Belegschaftsinteressen stattfinden Aufwiegelung der Belegschaft und Appell, die Normen und Interessen Öffentlichkeit gegen Renditema- der Arbeitnehmer auch weiterhin zu ximierung beachten Über moralische Argumente Einigung auf gemeinsame Werte Schaden zufügen Rücknahme wirtschaftlicher MaxiVerteuerung der Verlagerung mierungsinteressen
8.5 Weshalb brachten moralische Argumente die Öffentlichkeit auf?
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Woran genau lag es nun aber, dass Magnus Kuhle wegen moralischer Appelle seine Profitinteressen einschränkte und sich mit der Hälfte der anvisierten Einsparungen zufriedengab, während moralische Argumente in der sozialen Struktur Fernlichs zu Waffen in einem Machtkampf wurden? Dies wird folgendes Kapitel zeigen. 8.5.1 Warum Appelle an die Geschäftsleitung bei Kuhle wirkten und bei Fernlich nicht Ein Unternehmen mit niedrigem Gewinn wird eher die Produktion in das Ausland verlagern als eines mit hohem Gewinn – so sollte man annehmen. Doch trotz niedrigen Gewinns blieb Kuhle am Heimatstandort, während Fernlich sein profitables Heimatwerk schloss. Das scheint paradox, solange der Einfluss moralischer Argumente ignoriert wird. Warum also war Zalohma, im Gegensatz zu Magnus Kuhle, moralischen Argumenten gegenüber unempfänglich? Da er einen hohen Aktienkurs geradezu als seine moralische Pflicht ansah und dies Verlagerungen rechtfertige, konnten moralische Appelle nicht an Wertrationalität ansetzen. Ein zweites Einfalltor für moralische Argumente wäre Ungewissheit, denn wenn unklar ist, was wirtschaftlich rational ist, kann man sich auch an moralische Argumente halten. Doch Zalohma glaubte, genau ausrechnen zu können, ob es sich lohnen werde, zu verlagern. Moralische Appelle konterte er routiniert mit dem Argument, die „Fakten ließen […] keine andere Wahl“ (Fernlich 3. Interview: 31. Min.). Dies war anders bei Kuhle. Auch dieses Unternehmen hatte zwar profitable Standorte im Ausland und schreckte nicht per se vor einem Auslandsengagement zurück. Doch seine Geschäftsleitung war zumindest ungewiss über die Zukunftsaussichten der ausländischen Werke: „Da war eine Unsicherheit. Ganz bestimmt. Weil die sind ja schon im osteuropäischen Ausland und da machen die ihre Erfahrung. Die machen die Erfahrung, dass Löhne steigen, die holen ja auf. Und die machen die Erfahrung, dass die Prozesse, die in Deutschland teilweise schon nicht hundertprozentig rund laufen, da teilweise noch schlechter laufen.“ (Kuhle 6. Interview: 41. Min.)
Ebenso gab die für Kuhle zuständige Gewerkschaft zu, „mit sehr vielen Unbekannten“ rechnen zu müssen. Daher konnte – im Gegensatz zu Fernlich – bei Kuhle niemand die eigene Sicht als optimale Wahrnehmung wirtschaftlicher Interessen legitimieren (Kuhle 5. Interview: 37. Min.).62 Dass bei Kuhle in die62
Deshalb war nicht nur ungewiss, ob eine Verlagerung sich lohnt. Ebenso wenig wussten die Arbeitnehmervertreter, wie ernsthaft die Verlagerungsdrohung wirklich war (Kuhle 6. Interview: 54. Min.). Aus Sicht der Gewerkschaft war es wie eine Geiselnahme, bei der man nicht wusste, ob die Waffe überhaupt geladen war (Kuhle 5. Interview: 5. Min.).
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8 Die Unternehmen Fernlich und Kuhle
sem Sinne unklar war, was optimal wär, öffnete erst die notwendige Rationalitätslücke, in der eine Diskussion überhaupt stattfinden konnte. Doch warum einigten sich Arbeitnehmervertreter und Geschäftsleitung dann tatsächlich auch? Schließlich hätte Ungewissheit über eine sinnvolle Option auch gerade dazu führen können, dass sie sich zerstritten. Es lohnt sich, diese Frage spieltheoretisch zu analysieren. In den meisten hier untersuchten Fällen entspricht eine Verhandlung über Produktionsverlagerung einem „Gefangenendilemma“. Arbeitnehmer und Geschäftsleitung wünschen sich eine kooperative Gegenseite, weil dies langfristig produktiv ist. Kurzfristig ist es für jede Partei jedoch rational, Kooperation nur vorzutäuschen. Die Geschäftsleitung kann, um Konzessionen zu erlangen, so tun, als ob sie danach nicht verlagern wird, dann aber trotzdem eine Verlagerung durchführen – so wie Zalohma. Die Arbeitnehmer können so tun, als ob sie Mehrarbeit leisten werden, dann aber unmotiviert arbeiten. Die Arbeitnehmer wissen nicht, ob die Geschäftsleitung verlagert, obwohl sie Konzessionen einmal zugestimmt haben (siehe Steche). Die Geschäftsleitung weiß nicht, ob Arbeitnehmer sich tatsächlich anstrengen, wenn sie am Heimatstandort verbleibt. Kooperation wird dann erst möglich, wenn eine Partei auf moralische Behandlung durch die andere vertrauen kann. Denn Moral fordert, eigenbezogene Interessen zugunsten anderer zurückzunehmen, und genau darauf wird vertraut. Insofern vertraute der Betriebsrat Granten Magnus Kuhle, der in der Vergangenheit die Arbeitnehmer teils auch gegen seine eigenen Interessen unterstützte – solange sie aus seiner Sicht im Recht waren (Kuhle 2. Interview: 55. Min.; Kuhle 3. Interview: 64. Min.). Daher unterstellten die Arbeitnehmervertreter ihm auch nicht, seine kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen maximieren zu wollen, und stimmten Konzessionen zu, die eine Verlagerung verhinderten (Kuhle 4. Interview: 7. Min.). „Das hat auch eine große Wirkung gehabt auf Entscheidungen des Vorstands. Weil Magnus Kuhle seit Jahrzehnten, öffentlich auch, erklärt hat, dass er expandieren will, aber zum Schutz, zur Weiterentwicklung der heimischen Arbeitsplätze.“ (Kuhle 6. Interview: 14. Min.)
Dadurch profitierten beide Seiten – Moral ermöglichte Vertrauen, und dies löste das Gefangenendilemma zugunsten eines „sozialen Tauschs“ (vgl. Blau 1964: 94). Die Arbeitnehmer machten Zugeständnisse, zu denen sie rechtlich nicht verpflichtet waren, und vertrauten darauf, dass Magnus Kuhle sie im Gegenzug ebenfalls besser behandeln würde, als er rechtlich verpflichtet wäre. Auch bei Fernlich versuchten die Arbeitnehmer mit ihren anfänglichen Zugeständnissen solch einen sozialen Tausch. Zalohma enttäuschte sie jedoch immer wieder, weswegen sich die Prozesse in den beiden Unternehmen in entgegengesetzte
8.5 Weshalb brachten moralische Argumente die Öffentlichkeit auf?
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Richtungen hochschaukelten: bei Fernlich zu einer rein instrumentellen, ökonomischen Austauschbeziehung zwischen Arbeitnehmern und Geschäftsleitung; bei Kuhle zu einer sozialen Austauschbeziehung, in der jede Seite für die andere mehr leistete, als sie musste, da sie auf Reziprozität vertraute. Darum konnten die Verhandlungspartner kooperieren, auch wenn das in einer Gefangenendilemmasituation ungewöhnlich ist. Dagegen konnten die Arbeitnehmervertreter Zalohma nicht vertrauen, da er offen betonte, er werde die Unternehmensinteressen über die Interessen der lokalen Arbeitnehmer stellen (Fernlich 3. Interview: 44. und 61. Min.).63 Dieses Verhalten wollte er dann aber als moralisch gegenüber den Aktienhaltern verstanden wissen. Gerade Zalohma sah somit nicht davon ab, sein Handeln moralisch zu rechtfertigen, was moralische Appelle der Arbeitnehmervertreter unmöglich machte: „Wenn der dann sagt: […] ‚Das bin ich doch den Eigentümern des Unternehmens schuldig, dass ich deren Wert steigere. Ich bin ja kein schlechter Kaufmann‘, [dann] wird es mit moralischen Appellen einfach schwierig“ (Fernlich 2. Interview: 36. Min.). Selbst Zalohma sah somit nicht davon ab, die Wahrnehmung wirtschaftlicher Interessen zu rechtfertigen. Die Frage ist damit weniger, ob Akteure ihr wirtschaftliches Handeln moralisch rechtfertigen, denn dies scheint in der Regel der Fall zu sein. Vielmehr geht es darum, ob eine bestimmte Gruppe an die jeweils vorgebrachten Argumente anknüpfen kann. Bei Zalohma war dies nicht möglich; die Arbeitnehmer konnten ihm nicht vertrauen oder mit ihm kooperieren: „Es ist heute noch so, dass Vereinbarungen mit der Geschäftsleitung ein ganz schwieriges Problem von Arbeitnehmerseite sind. Weil man sich nicht mehr vertraut. Dieser Konflikt hat zu einem grundsätzlich veränderten Verhalten der Be63
Spekulativ ist die Frage, ob Zalohma so standhaft auf seiner Position hätte beharren können, wenn er sie nicht als moralisch gerechtfertigt gesehen hätte. Von seinen Geschäftspartnern wurde seine Art der Wahrnehmung moralischer Verantwortung durchaus respektiert. Ein großer deutscher Elektrokonzern und ein großer deutscher Automobilkonzern sorgten zum Beispiel dafür, dass einer ihrer Zulieferer an Fernlich statt an einen Finanzinvestor verkauft wurde. So sollten die Unternehmensteile bei einem „zuverlässigen Partner“ landen. Denn Zalohma fühle sich zwar nicht Deutschland verpflichtet, dafür aber dem Gesamtwohl des Konzerns, was einige seiner Geschäftspartner durchaus als moralische Verantwortung werteten (Zeitungsartikel). Umso schlimmer war es für Zalohma hinter seiner unerschütterlichen Fassade anscheinend persönlich, dass die Medien ihn als unmoralisch darstellten. Denn nach seinen Maßstäben hatte er sich moralisch verhalten, indem er einer Obligation gegenüber den Aktienhaltern entsprach, wie ein Vorstandskollege betonte: „Bei Zalohma ist es sicherlich so, dass man ihm diese Verletzlichkeit überhaupt nicht zutrauen würde. Aber ich kenne ihn persönlich und weiß, er wird das offen nie gesagt haben, aber ich habe das gespürt, auch an seinem Verhalten, dass dieser 150 Prozent rationale Mann an dieser oder jener Stelle plötzlich selber irrational wurde, aufgrund dieser Verletzung. Also dieses Ding, wie sich das aufgeschaukelt hat“ (Fernlich anonymes Interview: 71. Min.).
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triebsräte geführt. Heute wird alles mit eigenen Sachverständigen nachgerechnet, was nicht ganz billig ist für das Unternehmen, weil es die bezahlen muss. Es wird nichts mehr geglaubt. Also, früher ging das schon mal so, da kam der Personalchef rein und dann hat man per Handschlag gesagt: ‚Okay, du machst das so, ich mach’ das so.‘ Diese Gentlemen’s Agreements, die es ja in jedem Unternehmen gibt, die gibt es nicht mehr hier. Solange Zalohma da sein wird, wird es die nicht mehr geben. […] Die brauchen heute, um was zu verhandeln, dreimal so lange, wie sie vorher gebraucht haben.“ (Fernlich 4. Interview; vgl. auch Fernlich 3. Interview: 26. Min.)
Gänzlich anders verlief der Konflikt bei Kuhle, weil die Geschäftsleitung an ihren Heimatstandort gebunden war und dies auch glaubhaft kommunizieren konnte. Auf die Frage, wie wichtig die Bindung an den Heimatstandort sei, antwortete ein Mitglied der Geschäftsleitung: „Wenn [Produktion] sich hier rechnet, wenn es hier machbar ist, dann ist es in Ordnung. Also nicht, weil das woanders billiger ist. Das ist nicht immer unsere Entscheidung. Aber es muss sich rechnen. Wer subventioniert hier die Arbeitsplätze, wenn es hier gemacht werden muss? […] Die Philosophie hier ist schon: traditionelles Unternehmen, Familienunternehmen. Das sind ganz andere Werte. Und das einzige Argument, über das diskutiert wurde, ist: Funktioniert es, können wir es uns leisten, ja oder nein? Alles andere war eigentlich selbstverständlich. Natürlich zählt hier der Mensch und der Mitarbeiter. Das ist Philosophie des Hauses, das zweifelt auch keiner an. Das ist unkritisch. Aber wir sind halt auch nicht die Caritas. […] Es wird so eingestellt, dass die Beschäftigung möglichst gewährleistet ist und nicht hire and fire. Dieses Prinzip gibt es hier nicht. Aber wie gesagt: langfristig, aber es muss finanzierbar sein. Wir haben keine Finanziers, wir wollen keine, um unabhängig zu bleiben.“ (Kuhle 4. Interview: 54. Min.)
Kuhle blieb nach Aussage seiner Geschäftsleitung – und im Gegensatz zu Fernlich – am Heimatstandort, solange „es hier machbar“ und „finanzierbar“ sei, statt zu überlegen, ob woanders nicht noch mehr Gewinn gemacht werden könne. Er strebte dementsprechend nicht nach Renditemaximierung, sondern nach langfristigem und stabilem Wachstum und Profit. Schließlich wollte Magnus Kuhle für Investitionen nicht auf äußere Geldgeber angewiesen sein, sondern auf sein soziales Umfeld Rücksicht nehmen können (Kuhle 4. Interview: 13. Min.).64 Das offenbarte sich nicht nur daran, wie er die Belegschaft behandelte, sondern auch an einem „Ehrenkodex“. Danach nahm er jedes Jahr lediglich eine Summe aus dem Unternehmen, die auch Arbeitnehmervertreter als „moderat“ bezeichneten (Kuhle 2. Interview: 75. Min.). Gewerkschaft und Betriebsrat glaubten ihm daher, dass es ihm um das Wohl der Belegschaft gehe statt um Renditemaximie64
Renditemaximierung und Aktienwertsteigerung sind hier insofern gleichgesetzt, als dass beide Ziele eine Verpflichtung gegenüber den Anteilseignern erkennen lassen.
8.5 Weshalb brachten moralische Argumente die Öffentlichkeit auf?
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rung, und sie glaubten ihm auch, dass die geforderten Konzessionen wirklich nötig seien. Umgekehrt konnten Gewerkschaft und Betriebsrat durch diese Form sozialer Einbettung der Geschäftsleitung durch moralische Appelle möglicherweise aufkommende, wirtschaftliche Maximierungsinteressen einschränken, und die Geschäftsleitung gab sich mit ungefähr der Hälfte der anvisierten Einsparungen zufrieden, bevor es zu einem größeren Konflikt kam. Sie sah diese Rücksicht im Gegensatz zu einem rein profitorientierten Handeln als Grundlage des Unternehmenserfolgs und äußerte: „[Andernfalls] wären wir auch nicht mehr, wie wir jetzt sind. Und schon gar nicht über 100 Jahre alt geworden“ (Kuhle 1. Interview: 9. Min.; Kuhle 4. Interview: 51. Min.). Möglicherweise begründet diese nicht kurzfristig maximierende Strategie tatsächlich den langfristigen Erfolg. Doch sie zeigt auch, dass moralisch motiviertes Verhalten als langfristig wirtschaftlich sinnvoll umdefiniert werden kann – und vielleicht auch muss („Innerhalb von einhundert Jahren lohnt sich das umso mehr.“), um es in der Wirtschaftspraxis zu legitimieren. Dass Magnus Kuhle nicht mehr verdienen wollte, als er zum Leben brauchte, entspricht Max Webers (1988 [1920]: 44, siehe auch 48f.) Beschreibung „traditionaler“ Arbeitsethik: „Der Mensch will ‚von Natur‘ nicht Geld und mehr Geld verdienen, sondern einfach leben, so leben wie er zu leben gewohnt ist und soviel erwerben, wie dazu erforderlich ist.“ Diese Ethik schafft Raum, um auf moralische Ansprüche einzugehen, auch wenn diese nicht von Anfang an als wirtschaftlich effiziente Forderungen formuliert werden können. Kuhle zeigt, dass ihretwegen auch weltweit erfolgreiche Unternehmen Gewinn nicht als Selbstzweck ansehen, sondern als Mittel, um Arbeitsplätze zu sichern, zu denen sie einen sozialen Bezug haben. Dass es aber bei Abwesenheit solch einer traditionalen Ethik auch oft gar nicht möglich ist, moralische Appelle erfolgreich anzubringen, die Gewinnverzicht fordern, veranschaulicht wiederum der Fall Fernlich. Denn Zalohma betonte zwar durchaus eine Verantwortung für das Unternehmen, aber nur für dessen Aktienwert und Gewinn, nicht für dessen Belegschaft. Wieder waren Personen nicht aus dem Grund für moralische Argumente offen, weil sie „böse“ oder „gut“ gewesen wären. Vielmehr befand sich Zalohma in einer sozialen Situation, in der er kein Mandat hatte, etwas anderes als die Aktionärsinteressen zu verfolgen, wie Fernlichs Betriebsrat und Geschäftsleitung in seltener Übereinstimmung äußerten: „Bei einem Unternehmen wie der Fernlich AG, wo rund 90 Prozent der Aktien im Streubesitz sind, da haben Sie keinen Eigentümer mehr, der sich für das Unternehmen verantwortlich fühlt. Dem kann ich nicht mehr mit Moral kommen.“ (Fernlich 2. Interview: 10. Min.) „Wir sind ein börsennotiertes Unternehmen, wenn sie so wollen natürlich auch kapitalistisches Unternehmen, […] und da spielt man nach anderen Regeln wie ein Familienunternehmen. Da sagt man vielleicht: ‚Ich habe schon drei Autos, ich
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brauch kein Viertes. Ich komme auch mit einer Refinanzierung von 5 oder 6 Prozent zurecht, kann auch mal ein Jahr gerade sein lassen.‘ Wenn wir ein Jahr gerade sein lassen, würde die Aktie runtergehen, dann wird das Unternehmen übernommen, auseinandergenommen, verkauft.“ (Fernlich 3. Interview: 47. Min.)
Dass Magnus Kuhle sich nicht auf moralische Argumente einließ, war auch nicht etwa in seinem Charakter begründet. Vielmehr bedingte die vertrauensvollere Struktur eines Familienunternehmens, „das zwar ein Konzern ist, aber trotzdem […] mittelständisch geprägt ist […], dass sich alle Seiten mit Hängen und Würgen bewegt haben, und dadurch war das auch so möglich“ (Kuhle 1. Interview: 12. Min.). Als Familienpatriarch, dem die Hälfte des Unternehmens gehörte, hatte Magnus Kuhle auch erst das legale Recht, mit dem Unternehmen als seinem Privateigentum so zu verfahren, wie er es für richtig hielt, und auf moralische Appelle einzugehen, ohne sich dafür vor Aktienhaltern rechtfertigen zu müssen. Drei Gründe waren somit dafür entscheidend, dass die Arbeitnehmervertreter gegenüber Kuhles Geschäftsleitung moralische Appelle nutzen konnten, während dies bei Fernlich unmöglich war. Kuhles Geschäftsleitung war erstens unsicher, ob es wirtschaftlich sinnvoll wäre, zu verlagern. Dies öffnete eine Rationalitätslücke, in der über eine optimale Unternehmensstrategie diskutiert werden konnte. Zalohma dagegen war sich sicher, dass Produktionsverlagerungen in Niedriglohnländer wirtschaftlich alternativlos seien; auf moralische Appelle der lokalen Arbeitnehmervertreter einzugehen, bedeutete für ihn, sich wirtschaftlich irrational zu verhalten. Zweitens akzeptierte Kuhles Geschäftsleitung, dass Gewinnverfolgung nur eines von mehreren Unternehmenszielen sei. Zalohma dagegen deklarierte Gewinnmaximierung und Aktienwertsteigerung als einzig mögliche und legitime Wahrnehmung (auch) moralischer Verantwortung. Drittens hatte Magnus Kuhle überhaupt die Verfügungsgewalt, moralische Appelle zu berücksichtigen. Zalohma dagegen konnte und musste sich darauf zurückziehen, nur Sachwalter der Aktionäre zu sein und keine andere Wahl zu haben, als deren Interessen zu verfolgen. Bei Fernlich scheiterten daher moralische Argumente als Appelle. Die Frage, wie sie als Konfliktressource wirkten, behandeln die folgenden Kapitel. 8.5.2 Weshalb moralische Argumente Fernlichs Belegschaft im Gegensatz zu Kuhles aufwiegelten Aufgrund Magnus Kuhles sozialer Einbettung war es kaum möglich oder auch nur nötig, die Belegschaft durch moralische Argumente zu agitieren. Die Belegschaft war sogar gegenüber den Argumenten der Arbeitnehmervertreter skepti-
8.5 Weshalb brachten moralische Argumente die Öffentlichkeit auf?
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scher als gegenüber denen der Geschäftsleitung. Zalohma entfremdete dagegen die Belegschaft von der Geschäftsleitung und schaffte eine Spaltung, in die Arbeitnehmervertreter moralische Argumente wie einen Keil hineintrieben (Fernlich 3. Interview: 25. Min.). Doch diese Strategie hatte für die Arbeitnehmervertreter keinen Erfolg, weil die Unternehmensleitung ohnehin nicht auf eine moralisch motivierte Belegschaft setzte und sie darum die Motivation der Belegschaft nicht als Hebel nutzen konnten, auf den moralische Argumente wirken. Bezeichnend dafür ist folgende Anweisung, die ein Arbeiter von seinem Kollegen erhielt, als er bei Fernlich anfing: „‚Mach nicht zu viel! Wenn du zu viel machst, dann kommen die in zwei Wochen, dass du es immer machen sollst. Das bringt dir hier nix, du bist halt ’ne Nummer.‘ […] Dadurch wird auch der Druck die ganze Zeit aufrechterhalten, dass du immer schön straff stehen musst, nie krankmachen, schnell arbeiten. […] Wenn drei oder vier Tage lang jemand zu dir kommt und dich stoppt und merkt: ‚Der ist ja fünf Minuten schneller‘, dann kommt irgendwann mal vom Vorarbeiter ein Brief und dann sind es nicht mehr 600, sondern 650 [Produktionseinheiten pro Zeiteinheit]. Und deswegen war es auch so, immer wenn die Leute ’rumgelaufen sind, dann hast du ganz, ganz langsam gearbeitet. Ich, zum Beispiel, konnte nach einer Weile pro Stunde zehn Minuten Pause machen.“ (Fernlich 1. Interview: 25. und 39. Min.)65
Der Versuch, die Belegschaft durch moralische Argumente zu demotivieren, wäre daher von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Die Geschäftsleitung fürchtete sich entsprechend nicht davor, da die Arbeitnehmer ohnehin nur noch „Dienst nach Vorschrift“ leisteten (Gespräch Vertrauensleute; Fernlich 3. Interview: 17. Min.; Fernlich 4. Interview: 99. Min; Fernlich 5. Interview: 12. Min.). Damit diese Beeinflussungsstrategie wirkt, muss also ein mittleres Identifikationsniveau bei der Belegschaft gegeben sein. Arbeiter, die sich nicht mehr mit ihrem Unternehmen und ihrer Arbeit identifizieren, können auch nicht mehr demotiviert werden. Dies war bei Fernlich der Fall. Gegenüber einer Belegschaft, die sich aber so mit ihrer Geschäftsleitung identifiziert, dass sie sich gar nicht vorstellen kann, von ihr unmoralisch behandelt zu werden, fallen entsprechende Agitationsversuche negativ auf die Arbeitnehmervertreter zurück. Dies war in Ansätzen bei Kuhle und stärker noch bei Tehnwolder der Fall. Bei Kuhle wurde die Belegschaft dagegen nicht aufgewiegelt, weil der Geschäftsleitung ohnehin an deren guter Behandlung lag und man etwas anderes der Belegschaft auch kaum hätte vermitteln können, wie ein Mitglied der IG Metall meinte: 65
Dieses Verhalten ist typisch für Arbeitnehmer, die eine niedrige Identifikation mit ihrem Unternehmen aufweisen, wie Granovetter (2005: 41) ausführt: „It has been well known since the 1930s that groups of workers arrive at ‚quotas‘ for what is an appropriate amount to produce, and that ‚rate-busters‘ risk being ostracized (Homans 1950).“
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8 Die Unternehmen Fernlich und Kuhle
„Ich glaube schon, dass Magnus Kuhle eine Unternehmerpersönlichkeit ist, die von ihrer Grundanlage her eher den Zugang zu einem Gedanken hat: ‚Ich muss mit den Menschen, die für mich arbeiten und die für mich einen Mehrwert schaffen, kooperieren.‘ […] Das kann man jetzt alles unter den Gesichtspunkt Moral stellen. Aber Moral ist in dem Zusammenhang immer das Ensemble ihrer bisherigen Erfahrungen und der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die das machen. Unser Ansatz, solche moralischen Faktoren zu nutzen, um durch die Belegschaft Kraft zu entwickeln, [ist], dass diese moralischen Faktoren bei der Belegschaft ankommen und die Belegschaft für den Unternehmer wichtig ist. Das ist sozusagen die Kette. […] So ein Leiharbeitsunternehmen, die Leute dauernd austauschen, denen ist das doch so was von egal. Eine Heuschrecke, die das Unternehmen sowieso nur gekauft hat, um es zu zerlegen, denen ist das egal. Während ein Unternehmen, das sozusagen in seiner Strategie im Grunde auf stabile Strukturen setzt, aus durchaus betriebswirtschaftlich nachvollziehbaren Erwägungen, für die ist das nicht egal. […] Was meinen Sie, was eine Belegschaft, die nicht motiviert ist, aber in komplexen Produktionszusammenhängen steht, was die den Laden durcheinanderbringt. […] Wir würden nie darauf setzen, wenn wir mit moralischen Appellen argumentieren, zu glauben, wir könnten das Herz eines Unternehmers erweichen. Das wäre ja auch mangelnder Respekt vor ihm als Unternehmerpersönlichkeit. Der hat gar kein Herz zu haben, ganz nüchtern betrachtet. Aber was wir erwarten, ist, dass er den Menschen als Faktor, durchaus aus seiner unternehmerischen Perspektive, betrachtet.“ (Kuhle 5. Interview: 75.–81. Min.; vgl. ähnlich Kuhle 2. Interview: 85. Min.; Kuhle 4. Interview: 70. Min.)
Im Fall Kuhle wirkten somit zwar moralische Argumente. Sie wirkten jedoch nicht, da deren Adressat ein „weiches Herz“ hatte. Wichtig war im Gegenteil, dass die Geschäftsleitung die moralische Behandlung der Belegschaft als wirtschaftlich rational ansah. Arbeitnehmervertreter können immer versuchen, Geschäftsleitungen als unmoralisch darzustellen, und damit die Belegschaft aufwiegeln. Dies funktioniert, wenn die Belegschaft auf die entsprechenden Argumente eingeht und die Gefahr besteht, dass ihre Motivation dadurch sinkt. Die Geschäftsleitung muss ihrerseits die in Mitleidenschaft gezogene Motivation für wirtschaftlich wertvoller halten als die möglichen Einsparungen durch eine Verlagerung. Da weder der Wert einer motivierten Belegschaft noch die Einsparungen einer Verlagerung genau errechenbar sind, wird der Erfolg dieser Strategie jedoch zu einer Gesinnungsfrage: Empfindet die Geschäftsleitung eine moralische Verantwortung für ihre Belegschaft am Heimatstandort? Dies wiederum ist der Fall, wenn die Geschäftsleitung soziale Bindungen an den Unternehmensstandort hat. Bei Fernlich jedoch war die Belegschaft bereits demotiviert, sodass moralische Argumente gegen die Geschäftsleitung deren Produktivität nicht mehr merkbar senkten. Auch waren viele Arbeitnehmer durch Angst motiviert. Doch
8.5 Weshalb brachten moralische Argumente die Öffentlichkeit auf?
183
da die Belegschaft gegen Zalohma moralisch entrüstet war, also nicht nur durch Angst vor Verlust des eigenen Arbeitsplatzes motiviert, schlossen sich Teile der Öffentlichkeit den Protesten an, was eine dritte (öffentliche) Nutzung moralischer Argumente möglich machte, die bei Fernlich im Vergleich zu allen untersuchten Unternehmen am wichtigsten war und dort auch am besten dokumentiert ist. Wie also brachten Arbeitnehmervertreter über moralische Argumente die Öffentlichkeit auf, um wirtschaftlichen Druck aufzubauen? 8.5.3 Warum moralische Agitation der Öffentlichkeit bei Fernlich wirkte und bei Kuhle nicht nötig war Die vertrauensvolle Abstimmung zwischen Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertretern vermied bei Kuhle einen öffentlich ausgetragenen Konflikt (Kuhle 3. Interview: 47. Min.). Doch Zalohma hörte weder auf individueller Ebene auf moralische Appelle, noch konnten moralische Argumente über eine Agitation der Belegschaft wirken. Arbeitnehmervertreter kritisierten sein Verhalten darum öffentlich. Gewerkschaft und Geschäftsleitung erklärten später, wie diese Strategie wirkte. „Auch bei nüchterner Einschätzung gilt: ‚Brauche ich Leute? Habe ich mit der Stadtverwaltung zu tun? Bin ich vielleicht sogar Sponsor, also in gewisser Weise als Nicht-Unternehmer in dieser Standortregion tätig? […] Die Offiziellen der Stadt waren aufseiten der Beschäftigten. Das ist jetzt nicht so, dass die die Gewerbesteuer raufsetzen, so simpel ist es sicherlich nicht. Aber gleichwohl, vorstellbar ist: Wie behandelt eine Gewerbeaufsicht ein Problem mit Fernlich? […] Bis hin zu handfesten wirtschaftlichen Folgen. Es soll Fälle gegeben haben, wo Leute beim Kaufen ausdrücklich etwas verlangt haben, was nicht von Fernlich ist. Auch diese Karte hätte noch schärfer gespielt werden können, aber dabei muss man natürlich auch bedenken, dass man die Arbeitnehmer aufs Spiel setzt. […] Aber da haben die Leute ohne Steuerung von sich aus gesagt: ‚Jetzt will ich das Unternehmen nicht auch noch unterstützen, denn sie sind für mich moralisch diskreditiert.‘“ (Fernlich 5. Interview: 15.–18. Min.) „Ich glaube, dass es tatsächlich so eine Mischung war aus öffentlichem Ansehen und: ‚Hoppla, wir können uns nicht leisten, dass der Kratzer, den wir jetzt haben, noch tiefer wird.‘ Und das noch gespiegelt nach innen. Wir können die latente Unruhe, die in der Belegschaft drinnen ist, weil diskutiert wird, nämlich die, die sagen: ‚Ist doch alles völlig richtig, was das Unternehmen mit den Kollegen macht.‘, und die, die sagen: ‚Ich halte das für nicht richtig.‘ Ich denke, da ist eine Gemengelage entstanden, wo Arbeitsdirektor Stoller völlig richtig gesagt hat: ‚Einer der beiden Gründe würde schon reichen, aber beide zusammengefasst bedeuten, dass wir das
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8 Die Unternehmen Fernlich und Kuhle
Ding tatsächlich möglichst bald befrieden müssen.‘ (Fernlich 3. Interview: 42. Min.; vgl. ähnlich Fernlich 2. Interview: 82. Min.)
Die Gewerkschaft fügte hinzu, die öffentliche Moralisierung mobilisiere auch die Belegschaft: „Durch den Druck der Medien wird die Belegschaft handlungsfähiger, denn sie sieht, dass sie moralisch auf der überlegenen Seite ist“ (Fernlich 5. Interview: 11. Min.). Der öffentliche Skandal, zu dem die Gewerkschaft Zalohmas Verhalten mit moralischen Argumenten machte, gefährdete nach Meinung einiger Beobachter sogar seinen Verbleib als Vorstandsvorsitzender.66 Doch warum fand die Öffentlichkeit sein Verhalten überhaupt dermaßen unmoralisch und sogar skandalös? Dies hatte nichts mit der Menge der Entlassungen zu tun. Als Fernlich 320 Arbeitnehmer entließ, kündigte ein anderer Großkonzern über 10.000 Arbeitnehmern; darüber berichteten die Medien allerdings weniger und vor allem nicht moralisierend (Fernlich 2. Interview: 20. Min.). In dem Jahr, in dem Zalohma das Werk Taubingen schloss, schuf er insgesamt 400 deutsche Arbeitsplätze. Auch dies fand nicht Eingang in die Medien, denn es hätte nicht in ihre Berichterstattung gepasst (Fernlich 3. Interview: 28. Min.). Wenn es somit nicht die tatsächlichen Arbeitsplatzverluste waren, was brachte die Öffentlichkeit dann gegen Zalohma auf? Laut Gewerkschaft war der Stein des Anstoßes, dass er Gewinn nicht nutzte, um Arbeitsplätze zu erhalten: „Früher war es ja so, dass wir auch immer gesagt haben: ‚Man kann nur die Kuh melken, die Milch gibt. Wenn die Gewinne sprudeln, dann sind die Arbeitsplätze sicher. Und genau das hat er zum ersten Mal infrage gestellt. Die Gewinne sprudeln, aber die Arbeitsplätze sind nicht sicher“ (Fernlich 6. Interview: 58. Min.). Die Gewerkschaft argumentierte, die Geschäftsleitung spare mit der Schließung Taubingens höchstens das Äquivalent von 0,5 Prozent des jährlichen Unternehmensgewinns. Alle berichtenden Medien stimmten mit ihr überein, dass man dafür kein profitables Werk und dessen Arbeitsplätze abbauen dürfe. Zalohma widersprach somit der Einstellung, dass hoher Gewinn nicht noch marginal durch Arbeitsplatzabbau gesteigert werden dürfe. Gerade weil er ökonomisch nutzenmaximierend handelte, wurde öffentliche moralische Empörung gegen ihn mobilisiert. Dass die Bevölkerung sich so aufregte, 66
Das öffentliche Anprangern eines Verhaltens, das als moralisch problematisch gesehen wird, aber eigentlich gang und gäbe sei, könne dazu führen, dass ein Vorstand zurücktreten müsse, wie ein Gewerkschaftsvertreter meinte: „Bei Siemens, Kleinfeld, der ist doch erst gegangen, als die Medien so einen Druck entwickelt haben, dass der gar keine andere Wahl hatte. Obwohl er doch Erfolg hatte, ist er gegangen. An sich sind doch Schmiergeldzahlungen im Ausland gang und gäbe, aber das darf man nicht sagen. Und genau so, genau das war das Kalkül der Gewerkschaften. Den Druck so aufzubauen, den öffentlichen Druck, dass Zalohma im Grunde genommen nur zwei Möglichkeiten hatte: Entweder er setzt sich mit uns an einen Tisch oder er geht.“ (Fernlich anonymes Interview: 67. Min.)
8.5 Weshalb brachten moralische Argumente die Öffentlichkeit auf?
185
war in Anbetracht einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung irrational. Schließlich gibt es keine ökonomische Regel, nach der Gewinn Arbeitsplätze schaffen soll; es gibt diese Regel anscheinend aber als moralische Norm, deren Verletzung Zalohma umso stärker als gesellschaftlichen Protest zu spüren bekam. Zweitens empörte sich die Öffentlichkeit über Zalohma, weil moralisches Handeln offenkundig als intentional wahrgenommen werden muss, um anerkannt zu werden. Eine Handlung wird nicht als moralisch wahrgenommen, weil sie als Nebeneffekt Dritte begünstigt. Die im Ausland durch die Verlagerung geschaffenen Arbeitsplätze wurden nur als Nebeneffekt (aber nicht als Intention) der Verlagerung gesehen und konnten daher Zalohmas Handeln nicht moralisch rechtfertigen. Es wäre demnach etwas anderes, wenn sich Zalohma vorher mit den Arbeitnehmervertretern verständigt hätte, dass die deutsche Belegschaft gegenüber der ausländischen in ungerechtfertigter Weise bevorzugt wird, und er deswegen gehandelt hätte. Zusammenfassend bleibt der Gegensatz zu Magnus Kuhle festzuhalten. Dieser ging auf moralische Appelle ein, die forderten, er möge sein soziales Umfeld berücksichtigen. Er gab sich mit einem „Normalgewinn“ zufrieden, statt seine Rendite zu maximieren. Gegenüber Zalohma blieben moralische Appelle dagegen wirkungslos, da er erstens keine Ungewissheit kannte und es somit keine Rationalitätslücke gab, die moralische Appelle hätten ausfüllen können; zweitens hielt er das Eingehen auf moralische Argumente weder für renditemaximierend noch wollte er als Vorstandsvorsitzender eines börsennotierten Unternehmens auf Renditemaximierung verzichten. Auch er legitimierte sein Handeln jedoch keineswegs mit selbstbezogenen Interessen, sondern führte an, gegenüber den Anteilseignern verpflichtet zu sein. Da er nicht mit Selbstinteressen, sondern mit den Interessen der Aktienhalter argumentierte, sah er sein Handeln auch als moralisch an. Mit der anfangs angeführten Definition von Moral als Rücksichtnahme auf die Interessen und Normen anderer Menschen ist sein Handeln tatsächlich vereinbar. So konnte er Rendite- und Aktienwertmaximierung als moralisch verteidigen, was die Öffentlichkeit jedoch nicht akzeptierte. Arbeitnehmervertreter übten deshalb über die öffentliche Meinung wirtschaftlichen Druck aus. Sie warfen Zalohma vor, genau das zu tun, was eigentlich von ihm zu erwarten ist: wirtschaftliche Unternehmensinteressen wahrzunehmen. Die ökonomische Wirkung dieser moralischen Argumente führte nach Meinung vieler Beteiligte dazu, dass es teurer wurde zu verlagern, als am Heimatstandort zu verbleiben. Wenn moralische Argumente wirken, beeinflussen sie also zunächst Interessendefinitionen. Das, was als moralisch artikuliert wird, wird dann als „im Interesse liegend“ umdefiniert, bei Kuhle in Richtung der Interessen der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter, denn diese warben mit moralischen Appellen. Theo-
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8 Die Unternehmen Fernlich und Kuhle
retisch formuliert: Moralische Appelle wirken darauf hin, dass Akteure das als zweckrational definieren, was ihnen gegenüber als wertrational artikuliert wird (vgl. Weber 1976 [1922]: 12). Wenn entsprechende Appelle nicht wirken, definieren Akteure dagegen das, was sie als zweckrational sehen, als wertrational, um sich gegen Beeinflussungsversuche zu immunisieren. Möglich wird dies aufgrund von Ungewissheit, was am zweckrationalsten ist, aber auch, was jeweils als wertrational zu gelten hat. Darüber hinaus wirken moralische Argumente, da es für ein Unternehmen teuer sein kann, vor seiner Belegschaft und der Öffentlichkeit als unmoralisch bezeichnet zu werden. Neben der Beeinflussung von Interessendefinitionen sind dies der zweite und dritte Mechanismus, wie moralische Argumente Interessen beeinflussen, nämlich über die Mobilisierung von Belegschaft und Öffentlichkeit. Die Schlusskapitel integrieren die beschriebenen Beeinflussungsmechanismen in eine Typologie und zeigen den mit dieser Typologie verbundenen Erkenntnisgewinn auf.
9 Wie Interessen und moralische Argumente sich beeinflussen
Eine Typologie, wie moralische Argumente und wirtschaftliche Interessen sich beeinflussen, fasst im Folgenden die zerstreuten Befunde der letzten Kapitel zusammen. Die untersuchten Unternehmen verdeutlichen, dass eine Geschäftsleitung nicht mit absoluter Gewissheit kalkulieren kann, ob eine Entscheidung ihre Interessen realisieren wird, da die Zukunft prinzipiell offen ist und die Effekte eigenen Handelns nicht vollständig vorhersehbar sind. Zwar können Geschäftsleitungen und Arbeitnehmervertreter wirtschaftliche Rahmendaten berechnen und in die Zukunft projizieren. Doch wie die Diskussionen, die hier analysiert wurden zeigen, können Befürworter und Gegner einer Unternehmensstrategie so lange Annahmen in ihre wirtschaftliche Kalkulation integrieren, bis ihre Präferenz rational begründbar erscheint. Wenn sich Geschäftsleitungen daraufhin entscheiden, zu verlagern oder zu bleiben, kann dies deswegen niemals aus einem gänzlich rationalen Optimierungskalkül erklärt werden. Zwar müssen Entscheidungen rational begründet werden, das bedeutet aber nicht, dass sie tatsächlich aus rationalem Kalkül getroffen werden können. Genauer betrachtet wird klar, dass das, was wirtschaftliche Akteure als wirtschaftlich rational „entdecken“, vorher auch immer erst als solches konstruiert wurde. In diesem Konstruktionsprozess beeinflussen moralische Argumente das, was überhaupt als rational gilt (vgl. Etzioni 1996: 170). Durch dieses Einfallstor können Arbeitnehmervertreter und soziale Bewegungen versuchen, Unternehmen in ihren Entscheidungen zu beeinflussen. Dass moralische Argumente dabei „irgendwie“ Interessen beeinflussen, ist nicht neu, wie die Einleitung gezeigt hat. Doch wie diese Beeinflussung stattfindet, war bisher unbekannt; daher haben Forscher in Ermangelung einer besseren Alternative die Interaktion von Interessen und moralischen Argumenten konzeptualisiert als: „On one side, a self-contained world of hard-nosed rationality; on the other, another self-contained world of sentiment and obligation“ (Zelizer 2007: 10). Es ist sicher, dass moralische Argumente irgendeinen Einfluss ausüben, aber unklar ist, wie er erfolgt; es fehlten bisher die Mechanismen. Die hier analysierten Diskussionen um Produktionsverlagerung haben einige dieser Mechanismen aufgezeigt, mittels derer moralische Argumente wirtschaftliche Inte-
M. Schröder, Die Macht moralischer Argumente, DOI 10.1007/978-3-531-93196-8_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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9 Wie Interessen und moralische Argumente sich beeinflussen
ressen formen und von ihnen geformt werden. Die in Tabelle 5 präsentierte Typologie konzeptualisiert diese Formen gegenseitiger Beeinflussung.67 Hiernach dämmen moralische Argumente einerseits bestimmte Formen wirtschaftlicher Interessenwahrnehmung über drei Mechanismen ein (Feld 1), andererseits ermöglichen sie erst die Wahrnehmung anderer wirtschaftlicher Interessen (Feld 2). Ebenso schränkt wirtschaftliche Interessenwahrnehmung die Reichweite moralischer Argumente ein (Feld 3), andererseits ermöglicht sie es teils auch erst, auf moralische Argumente einzugehen (Feld 4). Die folgenden vier Kapitel gehen auf jedes dieser vier Felder ein, um die damit verbundenen Möglichkeiten des Zusammenspiels von Moral und Interessen abzudecken.
Moral wird beeinflusst
Moral übt Einfluss aus
Tabelle 5: Mechanismen gegenseitiger Beeinflussung von Moral und Interessen
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Formen gegenseitiger Einschränkung: Interessenverfolgung behindert oder wird behindert.
Formen gegenseitiger Ermöglichung: Interessenverfolgung ermöglicht oder wird ermöglicht.
1) Moral schränkt Interessen ein a) Durch Gewissensmobilisierung „Das kann ich aufgrund der vorgebrachten moralischen Appelle nicht mit mir vereinbaren.“ b) Durch Belegschaftsmobilisierung „So kann ich aufgrund der vorgebrachten moralischen Argumente nicht weitermachen, sonst entfremde und demotiviere ich meine Belegschaft.“ c) Durch Öffentlichkeitsmobilisierung „So kann ich aufgrund der vorgebrachten moralischen Argumente nicht weitermachen, sonst lassen mich Kunden und Öffentlichkeit fallen.“
2) Moral ermöglicht Interessen „Da ich mein soziales Umfeld schon immer gut behandelt habe, arbeitet es für mich und hilft mir auch über rechtliche Verpflichtungen hinaus.“
3) Interessen schränken Moral ein „Ich muss dem Markt folgen, ob ich das für moralisch richtig halte oder nicht.“
4) Interessen ermöglichen Moral „Ich kann mich moralisch verhalten, weil das meinen Interessen nicht widerspricht.“
Hirschman (1989) hat eine ähnliche Typologie für den Kapitalismus als Gesellschaftssystem und seine normative Rechtfertigung und Durchsetzung entworfen. Jedoch erklärt er nicht, wie interessenwahrnehmendes Handeln in Konflikten moralisch verteidigt und angegriffen wird. Anders als Hirschman geht es mir nicht darum, einen starken/schwachen Kapitalismus einem starken/schwachen normativen Grundgerüst der Gesellschaft gegenüberzustellen, sondern zu zeigen, wie Moral und Interessen ineinander übergehen und sich gegenseitig behindern und ermöglichen.
9.1 Wie moralische Argumente Interessenverfolgung einschränken
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9.1 Wie moralische Argumente Interessenverfolgung einschränken Obwohl eine kapitalistische Wirtschaftsethik wirtschaftliches Handeln in der Theorie von „moralischem Ballast“ befreit (vgl. Smith 1993 [1776]: 22), wird es vom Handelnden und seinem sozialen Umfeld in der Realität auch immer moralisch bewertet. Im Rahmen des Forschungsprojekts wurde über ein Jahr lang versucht, einen Fall zu finden, in dem jemand sein wirtschaftliches Handeln über egoistische Interessenwahrnehmung rechtfertigte. Doch die Interviewpartner äußerten wiederholt, so etwas sei ihnen in ihrem Berufsleben noch nicht begegnet. Tatsächlich argumentierte in den Diskussionen um Produktionsverlagerung niemand damit, persönlich möglichst viel profitieren zu wollen; jeder wollte sein Handeln moralisch rechtfertigen. Auch ökonomisches Handeln wird insofern immer moralisch gerechtfertigt, bewertet und sanktioniert. Der hier untersuchte Standardfall (Feld 1) ist die darauf aufbauende Eindämmung wirtschaftlicher Interessen durch moralische Argumente, welche in der Regeln erst einmal an Selbstrechtfertigungen anknüpfen, die dadurch entstehen, dass niemand sein Handeln egoistisch rechtfertigen möchte. Dieser Einfluss ist in der Regel nicht offensichtlich; es reicht nicht, eine Geschäftsleitung darauf hinzuweisen, dass eine Unternehmensstrategie moralisch verwerflich sein könnte. Welche wirtschaftliche Strategie könnte im Übrigen nicht moralisch verwerflich sein? Der Einfluss moralischer Argumente ist subtiler und ihre Effektivität basiert auf ihrem sozialen Kontext. Wie sie Interessenverfolgung eindämmen, ist in einem Drei-Stufen-Modell fassbar. Danach mobilisieren sie in einem ersten Schritt das Gewissen von Entscheidungsträgern, in einem zweiten die Belegschaft und in einem dritten die Öffentlichkeit.68 Moralische Argumente zu nutzen, ist eine mehr oder weniger bewusste Strategie von Akteuren und damit per se noch kein Mechanismus. Der Mechanismus besteht darin, dass diese Strategie wirkt und moralische Argumente somit Handeln beeinflussen (vgl. Mayntz 2002: 24ff.; 2004: 241). Die erste Stufe des Einflusses dieses Prozesses beginnt mit einem Appell an das Gewissen des jeweilig Handelnden. Die untere Spitze des im Folgenden wiedergegebenen Dreiecks illustriert den Anfang und die kleinstmögliche Konfliktebene, nämlich einen Konflikt mit oder innerhalb eines Individuums oder einer Geschäftsleitung. Auf der zweiten und dritten Stufe dagegen werden moralische Argumente eine Waffe, um Proteste der Belegschaft und daraufhin der Öffentlichkeit gegen eine als unmoralisch präsentierbare Entscheidung zu mobi68
Implizit war dieses Modell in der Fallstudienanalyse schon vorhanden. Es entwickelte sich im Sinne der Grounded Theory durch fortwährenden Vergleich des empirischen Materials mit dessen theoretischer Konzeptualisierung (vgl. Glaser/Strauss 1967: 71; Charmaz 2001: 6397f.; Strübing 2004: 15; King/Keohane/Verba 1994: 23, 46).
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9 Wie Interessen und moralische Argumente sich beeinflussen
lisieren und damit die Kosten-Nutzen-Balance wirtschaftlichen Handelns zu verschieben, statt gegenüber dieser Kosten-Nutzen-Balance moralisch zu argumentieren. Abbildung 9:
Drei Mechanismen, mittels derer moralische Argumente wirtschaftliche Interessen beeinflussen
Die drei Mechanismen bauen aufeinander auf, denn kein Arbeitnehmervertreter wird einen gesamtgesellschaftlichen Konflikt riskieren, ohne vorher versucht zu haben, den Konflikt im Betrieb zu lösen. Das wiederum geschieht erst, wenn er in direkten Gesprächen mit der Geschäftsleitung kein zufriedenstellendes Ergebnis erreicht hat. Die folgenden Kapitel legen dar, wie die drei Mechanismen wirken und was ihre Vorbedingungen sind.
9.1 Wie moralische Argumente Interessenverfolgung einschränken
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9.1.1 Gewissensmobilisierung Ein Konflikt über Produktionsverlagerung beginnt üblicherweise damit, dass an den jeweiligen Entscheidungsträger mit wirtschaftlichen und moralischen Argumenten appelliert wird, noch einmal nachzurechnen, ob seine gewählte Strategie wirklich alternativlos ist. Sind die von ihm angestrebten wirtschaftlichen Ziele wirklich nötig? Können sie nicht mit moralisch weniger fragwürdigen Methoden erreicht werden? Dabei wird an gemachte moralische Versprechen erinnert, sofern es sie denn gab.69 Eine „moralische Rekalkulation“ erfolgt dann, wenn moralische Appelle einem Akteur es so unangenehm machen, seine Interessen zu verfolgen, dass er von sich aus davon absieht.70 Da der betreffende Akteur hierbei innerlich einen Konflikt auskämpft zwischen dem, was ihm sein Umfeld als moralisch suggeriert, und dem, was er als sein Interesse definiert, ist die „moralische Rekalkulation“ wirtschaftlicher Interessen ein dem jeweiligen Akteur intrinsischer Mechanismus – und damit auch nur in Grenzen beobachtbar. Der entsprechende Appell ist einerseits ein Geltungsanspruch auf normative Richtigkeit, denn offensichtlich macht man eine Aussage über den normativen Rahmen, in dem jemand sich bewegt: Was ist moralisch angemessen? Gleichzeitig wird jedoch auch ein Geltungsanspruch auf Wahrhaftigkeit laut, denn mindestens implizit wird der Handelnde immer auch gefragt: Kannst du dein Handeln wirklich mit deinem Charakter vereinbaren (vgl. Habermas 1981a: 41ff.)? Die Wirkung dieses Mechanismus beruht somit darauf, dass Manager und Geschäftsleiter sich als moralisch sehen möchten.71 In der Tat waren die Vor69
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71
Arbeitnehmer bieten zusätzlich mit ihren materiellen Zugeständnissen einen reziprozitätsbasierten „sozialen Austausch“ (Blau 1964: 94) an. Denn mit ihren Konzessionen hinsichtlich Mehrarbeit, um eine Verlagerung zu verhindern, drücken sie gegenüber der Geschäftsleitung sinngemäß aus: Wir müssen das nicht machen, tun es aber trotzdem. Jetzt seid ihr verpflichtet, uns moralisch zu behandeln und uns nicht zu entlassen. Die entscheidende Frage ist dann, ob die Geschäftsleitung sich dadurch verpflichtet fühlt oder ob sie ihre Austauschbeziehung zu den Arbeitnehmern weiter als rein ökonomischen (nicht reziprozitären, weil mit keinerlei sozialen Verpflichtungen verbundenen) Tausch definiert. Albert Hirschman spricht davon, dass Menschen nicht nur Präferenzen haben, sondern auch mobilisierbare Meta-Präferenzen (Werte statt Vorlieben [„tastes“]). Diese führen dazu, dass Akteure ihre Präferenzen aufgrund ihrer Werte hinterfragen: „Men and women have the ability to step back from their ‚revealed‘ wants, volitions, and preferences, to ask whether they really want these wants and prefer these preferences“ (Hirschman 1984: 89). Dies ist durchaus der Fall. In einer Befragung des Aspen-Institutes geben zukünftige Manager zwar an, ihr wichtigstes Ziel sei Aktienwerterhöhung. Dieses Ziel möchten sie aber möglichst sozial verantwortlich verfolgen. Außerdem nennen sie als weitere Ziele, die Arbeitnehmer und das soziale Umfeld des Unternehmens gut zu behandeln (Aspen Institute 2008: 4). Managementhandbücher der neunziger Jahre beschreiben zudem, dass Manager ihr Gehalt als „magere Kompensation ansehen, solange sie nicht das Gefühl haben, dass ihre Arbeit dem Allgemeinwohl zuträglich ist“. Manager verlangen, dass ihre Arbeit „nicht nur ein Leben ermöglicht, sondern
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9 Wie Interessen und moralische Argumente sich beeinflussen
stände in den analysierten Unternehmen nicht nur materiell motiviert, sondern auch darum bemüht, ihrer Identität treu zu bleiben. Diese Identität kann, muss aber nicht aus reiner Profitorientierung bestehen. Der Aufruf: „Kannst du dein Handeln mit deinem Gewissen/deiner Identität vereinbaren?“, wirkte, wenn die Geschäftsleitung „embedded ties“ (vgl. zur Terminologie Uzzi/Lancaster 2004: 321) zum Heimatstandort unterhielt. Diese prägten ihre Identität dergestalt, dass ihre Wertvorstellungen mit denen des sozialen Umfelds, das moralische Appelle nutzte, übereinstimmten. Dahinter steht Max Webers Theorie sozialer Integration, wonach Menschen sich miteinander identifizieren und in Form von „Vergemeinschaftung“ Bindungen entwickeln, wenn sie über längere Zeit zusammenarbeiten: „Jede noch so zweckrationale und nüchtern geschaffene und abgezweckte soziale Beziehung (Kundschaft z. B.) kann Gefühlswerte stiften, welche über den gewillkürten Zweck hinausgreifen. Jede […] auf längere Dauer eingestellte, soziale Beziehungen zwischen den gleichen Personen herstellende und nicht von vornherein auf sachliche Einzelleistungen begrenzte Vergesellschaftung – wie etwa [in] der gleichen Werkstatt – neigt, in freilich höchst verschiedenem Grade, irgendwie dazu.“ (Weber 1976 [1922]: 22)
Dass Menschen auf die moralischen Befindlichkeiten ihres sozialen Umfelds eingehen, lässt sich bereits an Kindern beobachten, die sich automatisch in die Rolle anderer Personen hineinversetzen. George Herbert Mead (1992 [1934]: 151f.) hat dies zum Ausgangspunkt seiner Arbeit gemacht.72 Erwachsene entwickeln demnach aus der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen auch die Gabe, „sich selbst gegenüber die Perspektive der Gemeinschaft ein[zunehmen]“ (Ludwig-Schneider 2002: 207; vgl. dazu Joas 1999: 177f.; Joas/Knöbl 2004: 191f.). Moralische Argumente sind dann die sichtbaren Spuren davon, wie Menschen ihre eigenen Vorstellungen über angemessenes Handeln mit denen der umgebenden Gemeinschaft abgleichen. Auf der einen Seite kann dieser Einflussmechanismus wirken, wenn Menschen explizit aussagen, es gehe ihnen „nicht nur ums Geld“. Der in diesem
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auch Lebenssinn ermöglicht“ (Boltanski/Chiapello 1999: 102; eigene Übersetzung). Donaldson und Lorsch (1983: 23; vgl. auch Granovetter 1992: 48f.) haben durch empirische Studien ebenfalls herausgearbeitet, dass Manager nicht per se den Aktienwert ihres Unternehmens erhöhen wollen, sondern Erfolg je nach Kriterien ihrer sozialen Bezugsgruppe definieren. Laut Mead ist diese Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, für menschliches Zusammenleben unerlässlich, da erst sie es ermöglicht, zu kommunizieren. Nur wenn ich die symbolisch vermittelte Kommunikation meines Gegenübers ungefähr deuten kann, sind dessen Kommunikationsversuche für mich sinnvoll (Mead 1992 [1934]: 144–149). Ich muss zum Beispiel wissen, ob ein Augenzwinkern als symbolisches Zeichen zu deuten ist oder nicht (vgl. Geertz 1973: 3–30).
9.1 Wie moralische Argumente Interessenverfolgung einschränken
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Sinne eindeutigste Einfluss moralischer Argumente auf wirtschaftliches Handeln (diesmal aufseiten eines Arbeitnehmervertreters) war, dass Steches Betriebsrat Heilig seiner Geschäftsleitung Konzessionen nicht gönnte, weil er diese für unmoralisch hielt, obwohl er die Konzessionen, die er verweigerte, selbst als wirtschaftlich notwendig bezeichnete. Kuhle und Müller verzichteten dagegen erkennbar darauf, die Unternehmensrendite über ein „normales“ Niveau zu steigern, um Appellen entgegenzukommen, ihre Belegschaft gut zu behandeln. Die mit diesem Einflussmechanismus verbundene moralische Einschränkung von Interessen ist jedoch verbreiteter, als dieser explizite Einfluss erkennen lässt. Denn man kann (und möchte) sich gar nicht vorstellen, wozu Menschen fähig wären, wenn sie ihre Interessen aufgrund moralischer Bedenken nicht einschränken würden. So „kriechen“ moralische Erwägungen teils unbemerkt in wirtschaftliche Entscheidungen, etwa wenn Menschen moralischen Appellen folgen und ihr daran ausgerichtetes Handeln im Nachhinein als wirtschaftlich rational oder interessenmaximierend legitimieren.73 Moralische Erwägungen wirken auch schon vorher, wenn Menschen ihretwegen gar nicht erst daran denken, dass sie ihre eigenen Interessen auch unmoralisch verfolgen könnten (wie auch die meisten Menschen nicht an Mord denken, selbst wenn dieser ihren Interessen förderlich wäre und unerkannt bliebe). In beiden Fällen ist der Einfluss moralischer Argumente kaum merkbar, da er vorbewusst ist. Menschen wollen sich in der Wirtschaft sogar oft nicht als moralisch motiviert sehen, denn dies ist nicht „culturally plausible“ (Healy 2006: 13; DiMaggio 1994: 37).74 Erkennbar wird dieser subtile Einfluss moralischer Argumente jedoch im Vergleich zweier Unternehmen, die unter ähnlichen wirtschaftlichen und unterschiedlichen sozialen Bedingungen unterschiedlich handelten, wie Wolder und Tehnwolder. Im Vergleich der beiden Unternehmen zeigt sich, dass Situationen mit einer unterschiedlichen Empfänglichkeit für moralische Appelle auch zu unterschiedlichem Handeln führen, selbst wenn die betreffenden Geschäftsleitungen im Nachhinein nicht unbedingt angeben, dass sie moralisch motiviert waren. Immer wenn Geschäftsleitungen sozial an ihren Heimatstandort gebunden waren und von dort moralische Appelle laut wurden, fanden diese Appelle Gehör. Immer wenn dies geschah, endeten Konflikte einvernehmlich. Dies war der Fall in den Unternehmen Müller, Tehnwolder und Kuhle sowie bei Steche unter 73
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Psychologische Experimente belegen, dass Menschen sich nicht aufgrund ihrer eigenen Kalkulation, sondern basierend auf ihrem sozialen Umfeld entscheiden, sich dessen aber nicht gewahr sind und ihre Entscheidung kontrafaktisch ihrer individuellen Kalkulation zuschreiben (Shiller 1984: 465f.). Fast immer, wenn dieses Forschungsprojekt einen Manager befragte, ob seine wirtschaftliche Handlung moralisch motiviert war, gab dieser wirtschaftliche Interessen an, um seine moralisch erscheinende Handlung zu legitimieren. Wenn dagegen gefragt wurde, warum er Interessen auf eine bestimmte Art verfolgte, legitimierte er dies oftmals moralisch.
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9 Wie Interessen und moralische Argumente sich beeinflussen
Scherelich. Doch dieser Einfluss muss nicht explizit sichtbar sein. Eher beeinflussen moralische Argumente Entscheidungen von Akteuren in der Weise, dass diese überhaupt erst im Rahmen von Denkmustern der für sie relevanten Gruppe definieren, was rational ist – oft, ohne dass sie dies bemerken (vgl. Etzioni 1996: 320–325). Auch darum scheinen vor allem jene Geschäftsleitungen offen für moralische Argumente, welche stark in das soziale Umfeld ihres Heimatortes eingebettet sind, in dem eine traditionale Wirtschaftsethik vorherrscht (vgl. dazu Kapitel 10.4). Dies ist besonders bei Familienunternehmen der Fall. Diese weigern sich daher auch, moralisches und wirtschaftlich interessenmaximierendes Handeln überhaupt zu trennen, denn sie gehen zwar oft auf moralische Argumente ein, wollen diese aber nicht als interessenhindernd, sondern als interessenfördernd sehen. Dass es wirtschaftliche Interessen fördert, auf moralische Argumente einzugehen, ist aufgrund der Ungewissheit darüber, welche wirtschaftliche Handlung optimal ist, auch nie auszuschließen. Funktioniert dieser Mechanismus moralischer Einflussnahme durch moralische Appelle nicht, werden moralische Argumente von Appellen zu Waffen und der Konflikt erreicht die nächste Ebene, auf der moralische Argumente über den Mechanismus der Belegschaftsmobilisierung wirken. 9.1.2 Belegschaftsmobilisierung Gelingt es Betriebsrat und Gewerkschaft nicht, an Werte der Geschäftsleitung zu appellieren, so nutzen sie moralische Argumente als eine Waffe gegen sie; Gewerkschaft und Betriebsrat suggerieren der Belegschaft, die Geschäftsleitung habe eine implizite gemeinschaftliche Bindung zu ihr aufgekündigt, indem sie moralischen Appellen kein Gehör schenkte und mit einer Verlagerung potenziell entbehrliche Kündigungen in Kauf nahm. Statt mit der Geschäftsleitung zu reden, wird über sie geredet. Welcher Mechanismus ist hinter dieser Strategie am Werk? Die vorgebrachten moralischen Argumente mobilisieren moralische Empörung, die Sozialkapital75 zerstört. Denn das Gemeinschaftsgefühl, das hinter der effizienzsteigernden Wirkung von Sozialkapital steht, wird durch das Argument angegriffen, die Geschäftsleitung verhalte sich unmoralisch. Dies kann wiederum Transakti75
Sozialkapital sind persönliche Bindungen, die Transaktionskosten verringern, weil sie Informalität ermöglichen. Dies lehnt sich an Putnam (1993: 35f.) an, der Sozialkapital definiert als: „features of social organizations, such as networks, norms, and trust, that facilitate action and cooperation for mutual benefit. Working together is easier in a community blessed with a substantial stock of social capital.“ Vergleiche als weiterführenden Überblicksartikel Portes (1998; vgl. ferner Arrow 1970; Coleman 1988; Lin 1999; Jackman 2001).
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onskosten in Arbeitsbeziehungen erhöhen.76 Dann (und nicht per se) gilt: „Layoffs can also cause major morale problems among in-house ‚survivors‘, in some cases leading to disaffection and work slowdowns“ (Overby 2003: 4). Haben Arbeitnehmer sich vorher noch intrinsisch motiviert angestrengt, so leisten sie jetzt nur noch Dienst nach Vorschrift und hören auf zu arbeiten, sobald ihre Mindestquote erfüllt ist. Wer darüber hinausgeht, den sanktionieren sogar seine Mitarbeiter, wie bei Fernlich (vgl. auch Granovetter 2005: 41). Die Funktionsweise und Effektivität dieses Mechanismus liegt in der Natur von Arbeitsverträgen begründet. Hinter jedem „formellen“ Arbeitsvertrag steht ein „impliziter Vertrag“, den kulturelle Werte tragen. Danach vertraut die Geschäftsleitung, dass Arbeitnehmer mehr als „Dienst nach Vorschrift“ leisten und von „shirking“ (Drückebergertum) absehen (vgl. Arrow 1970: 70f.; 1980: 20; Blau 1964: 205; Berger 1995: 417ff.; Durkheim 1977 [1893]: 267ff.; Etzioni 1996: 139; Frey 1997: 88–102; Gambetta 1988; Gouldner 1954: 137, 179; Granovetter 1985: 487–493; Hirsch-Kreinsen 1999: 117ff.; Macaulay 1963; Uzzi 1996: 676ff.; ablehnend Williamson 1975; 1985).77 Damit die Geschäftsleitung von ihrer Belegschaft mehr als Dienst nach Vorschrift erwarten kann, benötigt sie Autorität statt nur Macht. Denn während Macht die Möglichkeit bietet, den eigenen Willen anderen aufzuzwingen, bedingt Autorität, dass Befehle freiwillig befolgt werden. Ausschließlich durch Macht kann Management nicht funktionieren. Deshalb ist es wichtig, dass Manager gerade nicht alle Rechte ausnutzen, die ihnen formell zustehen: „By not using some of his power, he [the manager] invests it in social obligations. The advantages subordinates derive from his pattern of supervision obligate them to reciprocate by complying with his directives and requests“ (Blau 1964: 206; vgl. auch Weber 1980 [1922]: 28).78 Man nimmt also eigene Interessen zurück, um im Gegenzug zu erhoffen, dass die Gegenseite deswegen ebenfalls nicht rein selbstinteressiert handelt, sondern kooperiert. Insofern eine Geschäftsleitung ihre Interessen gegenüber der Belegschaft ohne Zwang (und damit einhergehenden Kontrollkosten) durchsetzen will, muss sie auf diese Weise auf deren moralische Befindlichkeiten und entsprechende Ar76
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Daneben sollte das Vorhandensein von Sozialkapital in Betrieben auch mit tatsächlichen, nicht nur instrumentellen moralischen Bindungen einhergehen, die der Geschäftsleitung die Verlagerung moralisch erschweren (Granovetter 1992: 42; vgl. ferner Durkheim 1992 [1902]). Insofern ist diese Konfliktebene mit der ersten verbunden. Uzzi (1997: 51; vgl. auch Uzzi/Lancaster 2004: 340) verdeutlicht dies am Beispiel von „embedded ties“: „Embedded ties promote each party’s commitment to exceed willingly the letter of a contract, to contribute more to the relationship than is specified, and solve problems such that categorical limits are sufficient to motivate a high level of quality in production.“ Ob Vertrauen und Verträge sich gegenseitig ersetzen, verstärken oder unterminieren, diskutiert der Aufsatz „Trust, Contract and Relationship Development“ (Woolthuis/Hillebrand/Nooteboom 2005). Der gleichen Logik entsprechen die experimentellen Ergebnisse Freys (1997), wonach Zwang zu einem „crowding out“ intrinsischer Motivation führt.
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gumente eingehen, denn sie kann nur von der Belegschaft erwarten, dass diese sich ihr gegenüber moralisch verhält, wenn sie auch selbst dazu bereit ist. Deswegen können Geschäftsleitungen nicht alles tun, wozu sie formell das Recht hätten. Zu dieser Rücknahme der eigenen Interessen gehört, dass sie Mitarbeiter nur entlassen, wenn dies unvermeidbar ist, nicht jedoch zur kurzfristigen Profitmaximierung, obwohl sie im Kapitalismus das formale Recht, ja sogar die Pflicht zur Profitmaximierung haben (Akerlof 1982: 550 und 555). Während etwa in den Unternehmen Müller, Kuhle und Tehnwolder, sowie später bei Steche, die Geschäftsleitung einige ihrer Interessen zurücknahm und dafür vom guten Willen der Arbeitnehmer profitierte, geschah das Gegenteil bei Fernlich und Wolder, anfangs auch bei Steche. Die Geschäftsleitung und die Arbeitnehmervertreter dort versuchten, gegenüber der anderen Seite ihre kurzfristigen Maximierungsinteressen durchzusetzen, worauf die Gegenseite genauso reagierte. Der Austausch zwischen den Parteien verlor in der Folge immer mehr seinen sozialen Aspekt und näherte sich einem rein ökonomischen Austausch an (vgl. unterscheidend Blau 1964: 94). Im ersten Fall schaukelt sich gegenseitige moralische Rücksichtnahme auf, im letzten verringert sie sich. Das Szenario, in dem sich beide Seiten moralisch behandeln, schafft Vertrauen und beruht auf Vertrauen (vgl. dazu die Kritik in Granovetter 1985: 502ff. an Williamson 1975, 1985). Laut Granovetter (2005: 33; vgl. auch Coleman 1988: S101; 1983: 190–195; Portes 1998: 15f.; Uzzi 1997: 45) sind soziale Netzwerke Vorbedingung für Vertrauen. Solche sozialen Netzwerke, die eine Gemeinschaft bilden, können in Unternehmen entstehen, müssen es aber nicht. Auf Granovetter (2005: 42) aufbauend kann man daher sagen, dass der Mechanismus der Belegschaftsmobilisierung in „loyalty systems“ greift, die er definiert als: „attempts to elicit cooperation from workers deriving not only from incentives but also from identification with the firm“. Dieser Mechanismus wirkt somit nur in dem Maße, wie Unternehmen von den sozialen Strukturen abhängig sind, in denen Empörung mobilisiert wird. Belegschaftsmobilisierung greift, wenn ein Unternehmen abhängig von einer Belegschaft ist, die erstens dadurch motiviert ist, dass sie sich mit dem Unternehmen identifiziert, und wenn zweitens diese Motivation unter dem Argument leidet, die Belegschaft werde unmoralisch behandelt. Da Geschäftsleitungen dabei aufgrund äußerer Gegebenheiten und nicht eigener Überzeugung gezwungen werden, moralische Argumente in ihre Interessenwahrnehmung zu integrieren, handelt es sich um eine extrinsische Eindämmung wirtschaftlicher Interessen. Anstatt zu einer „moralischen Rekalkulation“, als Folge einer Gewissensmobilisierung, führt dieser
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Mechanismus zu einer „strategischen Rekalkulation“, die zwar auf moralische Argumente eingeht, aber vor allem aus strategischen Gründen.79 Im Rahmen der Belegschaftsmobilisierung werden nicht nur moralische Argumente gegenüber wirtschaftlichen Anreizen formuliert. Vielmehr verändern hier moralische Argumente wirtschaftliche Anreize. Sie wirken über die Belegschaft, selbst wenn Adressat oder Vorbringer sie nicht akzeptieren.80 Wenn die Geschäftsleitung realisiert, dass moralische Argumente gegen eine Verlagerung die Restbelegschaft demoralisieren, dies zu niedrigerer Produktivität durch höhere Transaktionskosten und niedrigerer Motivation führt und die Geschäftsleitung dies als Problem sieht, sollte sie ihre Verlagerungsentscheidung rückgängig machen oder zumindest in Richtung eines Eingehens auf die gemachten moralischen Argumente abschwächen.81 Die Angst, dass moralische Argumente in dieser Form genutzt werden könnten, trug bei Müller, Steche, Kuhle und Tehnwolder zu einer Lösung bei. Bei Fernlich und Wolder verteuerte Belegschaftsmobilisierung die Verlagerung, konnte sie jedoch nicht aufhalten. Der Mechanismus moralischer Beeinflussung lief dort über eine Mobilisierung der Öffentlichkeit. 9.1.3 Öffentlichkeitsmobilisierung Im Unterschied zur Gewissensmobilisierung, in der moralische Argumente als Appelle wirken, wirken sie hier erneut als Waffe. In diesem Fall aber nicht auf Betriebsebene, mit der Belegschaftsmotivation als Hebel, sondern auf der Makroebene der Gesellschaft. Dort mobilisieren moralische Argumente die Öffentlichkeit, die auf die Geschäftsleitung Druck ausübt. Auf dieser Eskalationsstufe prangern Gewerkschaften und Betriebsräte öffentlich an, dass die Geschäftsleitung ihre Interessen nicht zurücknimmt und sich somit in ihren Augen unmoralisch verhält. Die Arbeitnehmervertreter argumentieren somit, dass die erste Konfliktstufe erfolglos verlief (die Geschäftsleitung weigerte sich, ihre Pläne zu überdenken) und dass die zweite Konfliktstufe erfolglos verlief (die Geschäftsleitung weigerte sich, 79 80
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Das Gegenteil davon nennt Gouldner (1975: 285) „beneficence“. In Fällen von „beneficence“ wird nicht geholfen, weil man etwas zurückerwartet (Reziprozität), sondern einfach nur, weil Hilfe angemessen scheint. Die Strategie funktioniert deswegen in dem Maße, in dem Colemans (1988: s98) Definition von Sozialkapital auf den jeweiligen Fall zutrifft: „some aspect of social structures, [that] facilitate certain actions of actors – whether persons or corporate actors – within the structure. Like other forms of capital, social capital is productive […].“ Das Problem daran ist jedoch, dass der wirtschaftliche Wert von Sozialkapital nicht klar messbar ist und insofern nur begrenzt über moralische Argumente als Druckfaktor genutzt werden kann (vgl. Geyer/Straubhaar 2005; Kinkel 2004: 9).
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die Heimatbelegschaft zu schonen). Das typische moralische Argument an dieser Stelle lautet, dass das Unternehmen zwecks Profitmaximierung Arbeitsplätze abbaut. Warum und wann wirkt solch eine Strategie? Zunächst ist festzustellen, dass moralische Beschwerden in der Öffentlichkeit überhaupt erst einmal Gehör finden (vgl. Boltanski/Chiapello 1999; Vaara/Tienari/Laurila 2006; Vaara 2008; Vaara/Tienari 2008).82 Geschäftsleitungen fürchten moralische Proteste, die kurzfristig zu wirtschaftlichen Verlusten führen können (King/Soule 2007; King 2008; Soule 2009; King/Pearce 2010). Langfristig bedingt ein unmoralisches Image beispielsweise, dass qualifizierte Bewerber das betreffende Unternehmen meiden (vgl. empirisch Frank 2004: Kapitel 5). Deshalb müssen Geschäftsleitungen die Position vertreten, dass sie mit den Werten der jeweiligen Gemeinschaft übereinstimmen, und sie müssen ihr Handeln über den Verweis auf Profit hinaus als gesellschaftlich nützlich, als legitim darstellen (vgl. Bathelt/Glückler 2002: 197f.; Boltanski/Chiapello 1999; DiMaggio/Powell 1991 [1983]; Kostova/Zaheer 1999; Pfeffer/Salancik 1978: 194; Wieland 1999: 328f.). Wenn sie dies tun, können sie jedoch auch auf die entsprechenden Bekundungen festgenagelt werden. Betriebsräte und Gewerkschaften können androhen, „Reputationskapital“ (Priddat 2002: 223f.) zu entwerten, was Bewerber, Absatz und, abstrakter, gesellschaftliche Legitimität negativ beeinflusst. Wie über die zweite Konfliktstrategie, verändern moralische Argumente so die ökonomische Anreizstruktur der Geschäftsleitung. Dieser Mechanismus greift also, wenn moralische Argumente die Öffentlichkeit derart aufbringen, dass erstens die Legitimität des Unternehmens leidet, zweitens das Unternehmen abhängig von dieser Legitimität ist und drittens die Geschäftsleitung diese Abhängigkeit erkennt. Diesem Einflussmechanismus liegt zugrunde, dass Unternehmen auch in kapitalistischen Gesellschaften ihr Handeln nicht allein durch ihre institutionelle Aufgabe der Gewinnmaximierung rechtfertigen können. Eine erfolgreiche Öffentlichkeitsmobilisierung verstärkt auch den Mechanismus der Belegschaftsmobilisierung, da die Belegschaft durch die Öffentlichkeit signalisiert bekommt, im Recht zu sein. Sie stärkt außerdem den Einflussmechanismus der Gewissensmobilisierung, weil Manager öffentlich nicht als unmoralisch wahrgenommen werden wollen: „Managers not only face the highly specific and usually ideological standpoints of one or another ‚special-interest’ group but, even more fearsome, the vague illformed, diffuse, highly-volatile, and often irrational public opinion, that is both the target of special-interest-groups and the lifeblood of the news media. Those imbued 82
Die englische Sunday Times erhält beispielsweise seit einigen Jahren zu keinem anderen wirtschaftlichen Thema so zahlreiche Reaktionen der Leser, wie der Herausgeber des Wirtschaftsteils David Smith (2006: 250) berichtet.
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with the bureaucratic ethos thus make every effort to mold public opinion to allow the continued, uninterrupted operation of business. Moreover, since public opinion inevitably affects to some extent managers’ own conceptions of their work and of themselves, public goodwill, even that which managers themselves create, becomes an important part of managers’ own valued self-image.“ (Jackall 1988: 611f.)
Wie die Belegschaftsmobilisierung kann der Einflussmechanismus der Öffentlichkeitsmobilisierung zu einer „strategischen Rekalkulation“ von Interessen führen. Arbeitnehmervertreter nutzten sie (erfolglos) bei Wolder und Fernlich; die gesellschaftliche Empörung, die sie dadurch hervorriefen, zehrte im Fall Fernlich möglicherweise die Ersparnisse der Verlagerung auf. 9.1.4 Bedingungen und Erfolgsaussichten der drei Einflussmechanismen Akteure verfolgen nicht ausschließlich ihr Eigeninteresse: Auf diesem Prinzip beruht die Möglichkeit der Gewissensmobilisierung. Teils liegt das daran, dass interessenmaximierende Entscheidungen aufgrund ihrer Komplexität prinzipiell nicht vollständig kalkulierbar sind (vgl. Beckert 1996) – dann schleichen sich moralische Argumente durch die „Hintertür“ ein. Teils entscheiden sich Menschen aufgrund moralischer Appelle aber auch bewusst dagegen, ihre Eigeninteressen zu verfolgen (vgl. Etzioni 1988). Statt Interessenverfolgung wird dann entscheidungsrelevant, welche Normen im sozialen Netzwerk des entscheidenden Akteurs mobilisiert werden können (Granovetter 2005: 34). Die daraus resultierenden Appelle führen, wenn sie wirken, zu einer „moralischen Rekalkulation“; allerdings ist es nie genau erkennbar, warum Menschen letztlich so handeln, wie sie handeln, und auf moralische Argumente eingehen (vgl. Weber 1976 [1922]: 4; Abel 1948). Die Belegschafts- und die Öffentlichkeitsmobilisierung sind dagegen kompatibel mit einer instrumentellen Sicht wirtschaftlichen Handelns, denn sie führen bei Erfolg nicht zu einer moralischen, sondern zu einer strategischen Rekalkulation von Interessen. Sie zeigen jedoch, dass es etwa gegenüber einer kritischen Belegschaft und Öffentlichkeit kostspielig sein kann, gegen moralische Argumente zu verstoßen. Die statistische Analyse (vgl. Kapitel 3) und die Diskussionen um Produktionsverlagerung legen nahe, dass Geschäftsleitungen in dem Maße in ihren wirtschaftlichen Entscheidungen beeinflusst werden, wie sie im sozialen Umfeld ihres Unternehmen eingebettet sind (zum Beispiel die Eigentümerfamilie dort lebt). Wie erfolgreich moralische Argumente aber im Einzelfall sind, ist insofern nicht abzusehen, als dass unklar ist, wie mobilisierbar das Gewissen der Akteure, die Belegschaft und die Öffentlichkeit jeweils sind. Dies hängt davon ab, was jeweils als moralisch bedenklich und was dagegen als
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legitime und effiziente Wahrnehmung der eigenen Interessen gilt – und das variiert wiederum je nach konkreter sozialer Einbettung und Gesellschaftsmoral. Auch wirken moralische Argumente je nachdem, ob eine moralisch empörte Belegschaft und Öffentlichkeit Kosten verursachen und diese erkannt werden. In allen analysierten Unternehmen galt jedoch, dass Gewinnmaximierung kritisiert werden kann, wenn die Rendite eine branchenübliche Marge überschreitet und auf Kosten der Arbeitnehmer noch gesteigert werden soll. Eine solche Kritik fand ungefähr ab einer 10-prozentigen EBIT-Marge statt. Unternehmen sollen zwar Gewinn machen, aber nicht zu viel, so zumindest die hier erkennbare Sicht von Medien, Arbeitnehmervertretern und Öffentlichkeit. Dies veranschaulicht, inwiefern Geschäftsleitungen den Verfügungsspielraum überschreiten können, den die Gesellschaft ihnen über ihre privaten Produktionsmittel zubilligt. Die moralische Einschränkung wirtschaftlicher Interessen führt mithin dazu, dass zwar bis zu einer (im Einzelfall zu quantifizierenden) Grenze ein Anrecht auf Gewinn zugestanden wird. Darüber hinaus wird aber öffentlich ins Feld geführt, dass die Geschäftsleitung ihre Arbeitnehmer dadurch ausbeutet, dass sie ihren Profit maximiert. Durch den damit verbundenen Entzug sozialer Legitimation untergräbt sich Profitmaximierung ab einer bestimmten Grenze selbst, denn die Wirkung moralischer Argumente hat wirtschaftliche Folgekosten. Das „Nachrechnen“ wirtschaftlicher Interessen durch moralische Beeinflussung Die erfolgreiche moralische Beeinflussung von Interessen kann dazu führen, dass Akteure von bestimmten Interessen zugunsten anderer absehen. Die Regel ist jedoch, dass moralische Argumente zu einer Rekalkulation anregen, hin zu einer Strategie, die die gleichen Interessen mit Mitteln verfolgt, welche den moralischen Ansprüchen des sozialen Umfelds entgegenkommen. Moralische Argumente beeinflussen dann nicht die Interessendefinition, sondern die Interessenverfolgung.83 Adressaten moralischer Argumente suchen in der Folge eine funktional äquivalente Lösung, die genauso nützlich sein kann, zugleich aber moralisch akzeptabler ist, weil sie beispielsweise weniger Arbeitsplätze abbaut. Moralische Argumente sind dann ein „beneficial constraint“ (Streeck 1997). Erst werden sie nur als Beschränkung wahrgenommen; sie drängen jedoch auf eine Lösung hin, die zwar anspruchsvoller ist, da sie unterschiedliche Interessen berücksichtigen muss, die dafür aber von der Loyalität und dem gutem Willen (definiert als Gegenteil von Opportunismus) des sozialen Umfelds profitieren 83
Allerdings sind Interessendefinition (Ziel) und Interessenverfolgung (Mittel) nicht immer klar trennbar (vgl. Whitford 2002).
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kann, dessen Interessen sie berücksichtigt. Da nur mit vielen Unbekannten kalkulierbar ist, ob es sich im Einzelfall lohnt, auf moralische Argumente einzugehen, wird das Eingehen darauf zu einer Gesinnungsfrage, selbst wenn die resultierende wirtschaftliche Handlung im Nachhinein als „wirtschaftlich rational“ gerechtfertigt wird, um sie in einem System zu legitimieren, das darauf beruht, Eigeninteressen wahrzunehmen. In jedem Fall kann die Geschäftsleitung die neue, moralische Argumente aufnehmende Interessenverfolgungsstrategie immer damit legitimieren, dass sie sich „verrechnet habe“ und die zuvor berechnete Strategie doch nicht so nützlich gewesen sei wie gedacht. Kann wirtschaftliches Handeln entmoralisiert werden? Diskussionen in der Wirtschaft sind mitunter paradox, denn in der ökonomischen Theorie – und daher teilweise auch in der ökonomischen Praxis – wird eine Norm genutzt, um zu legitimieren, dass wirtschaftliches Handeln (in seinen Intentionen) nicht durch moralische Normen bewertet werden soll. Der Bezug auf die Handlungsanweisungen der ökonomischen Theorie ermöglicht es, interessengeleitetes Handeln jenseits von Maßstäben wie „Gut und Böse“ zu präsentieren. Interessenwahrnehmendes Handeln kann sich dann per se als moralisch ausgeben, da es für sich in Anspruch nehmen kann, „irgendwie“ über die „unsichtbare Hand“ Adam Smiths das Wohl aller zu erhöhen. Wirtschaftliche Akteure können entsprechend äußern, man könne ihnen doch nicht vorwerfen, ihre Selbstinteressen wahrzunehmen. Doch obwohl genau diese „Entmoralisierung“ wirtschaftlichen Handelns den Kapitalismus charakterisiert, bleibt sie ein unerreichtes Ideal ökonomischer Modelle. Denn bisher gelingt es nicht, wirtschaftliches Handeln frei von moralischen Einwänden zu halten, wie die statistische Analyse (vgl. Kapitel 3) und die Unternehmensdiskussionen zeigen. Die Forderung, eigeninteressierte Akteure nicht mit moralischen Argumenten zu bedrängen, wird zudem selbst moralisch, insofern man sie mit dem Allgemeininteresse begründet. Wer selbstbezogene wirtschaftliche Interessen verfolgt, kann gegenüber moralischen Argumenten ins Feld führen, er komme damit der gesellschaftlichen Verpflichtung nach, Mehrwert zu schaffen; eine Argumentation, die Zalohma auf die Spitze trieb. Die klarste Artikulation dieser Position, nach der die Generierung von Profit schon der Wahrnehmung sozialer Verantwortung entspricht und damit per se moralisch ist, findet sich bei Milton Friedman (2001 [1970]). Durch diese Verteidigungsmöglichkeit wird die eigeninteressierte Wahrnehmung von Wirtschaftsinteressen im Prinzip moralisch unangreifbar, denn sie kann sich sogar als moralische Standfestigkeit gebärden. Dass Zalohma durchaus Bewunderung für seine Standfestigkeit gegenüber moralischen Einwänden bekam, verdeutlicht, dass die
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zugrunde liegende kapitalistische Wirtschaftsethik in Teilen durchaus anerkannt wird. Der Umstand, dass Zalohma Opfer einer Medienkampagne wurde, demonstriert dagegen, dass auch in einer kapitalistischen Gesellschaft eine kapitalistische Wirtschaftsethik nicht dominiert, wie die Öffentlichkeit über Gerechtigkeit denkt. Festzuhalten bleibt daher, dass selbstbezogene und wirtschaftliche Interessenwahrnehmung moralisch legitimiert wird. Die Empfänglichkeit für moralische Argumente variiert darum nicht nach „guten“ und „schlechten“ Menschen, denn jeder will seine Interessenwahrnehmung moralisch rechtfertigen. Sie variiert stattdessen mit dem sozialen Kontext, in dem nur bestimmte Argumente anerkannt werden. Doch während die Freistellung wirtschaftlichen Handelns von moralischer Einflussnahme selbst eine moralische Norm ist, ist die normativ-moralische Ordnung der Gesellschaft nicht das Resultat wirtschaftlicher Eigeninteressen. Solange sich wirtschaftliches Handeln noch nicht über eine Norm (diskursiv legitimiert als „Vernunft“) mit Verweis auf eine abstrakte Nutzenfunktion und unsichtbare Hand so legitimieren kann, dass es gegenüber Einwänden eines Alltagsverständnisses sozialer Gerechtigkeit immun wäre, kann wirtschaftliches Handeln auch nur aus seinem sozialen und damit moralischen Handlungskontext heraus verstanden werden. Dies hat nicht nur mit Wertrationalität im Sinne von Moral zu tun. Auch stößt der theoretisch denkbare Versuch, amoralisch zu kalkulieren, an die strukturelle Grenze, dass interessengeleitete Strategien nur in ökonomischen Modellen überhaupt genau kalkulierbar sind. In der Praxis ist dagegen ungewiss, wie Interessen optimal verfolgt werden können. Dies eröffnet einen Spielraum: Wenn ohnehin ungewiss ist, was Interessen maximiert, kann man sich auch an moralische Argumente des sozialen Umfelds halten. Außerdem ist Interessenwahrnehmung nicht nur deswegen nicht moralfrei zu denken, weil moralische Argumente bestimmte Interessen beschränken. Moral ermöglicht im Gegenteil bestimmte Interessenverfolgungsstrategien überhaupt erst, worauf das folgende Kapitel eingeht. 9.2 Wie moralische Argumente Interessenverfolgung ermöglichen Dieser Aspekt scheint paradox, wenn man ihn mit der Definition von Moral als Zurücknahme eigener Interessen kontrastiert. Wie kann es sein, dass Interessen erst durch ihre Zurücknahme verfolgt werden können? Jedes Wirtschaftssystem, so Hirschman (1984: 93), benötigt „one important prerequisite or ingredient known variously as morality, civic spirit, trust, observance of elementary ethical norms“. Unternehmen können beispielsweise durch moralisch erscheinendes Verhalten Vertrauens- und Principal-Agent-Probleme lösen sowie Kunden und Arbeitnehmer binden (Frank 2004: Kapitel 4). Letztlich fordern auch Argu-
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mente, die im Rahmen der Belegschafts- und Öffentlichkeitsmobilisierung wirken, nichts anderes, als auf moralische Argumente einzugehen, um wirtschaftliche Interessen verfolgen zu können. Ein weiterer, schon mehrfach erwähnter Grund für Moral als Voraussetzung wirtschaftlicher Interessenverfolgung, ist, dass aus (illegitimer) Macht (legitime) Autorität entsteht, wenn man mit eigenen Ressourcen, von denen andere abhängig sind, nicht verfährt, wie man juristisch das Recht hätte, sondern freiwillig auf andere Rücksicht nimmt, sich also moralisch verhält (Blau 1964: 200ff.). Die Folge dessen ist, dass andere dadurch im Sinne von Reziprozität auch auf einen selbst Rücksicht nehmen und man nicht mehr Zwang benötigt, um seine eigenen Interessen ihnen gegenüber durchzusetzen. Ich schränke meine eigenen Interessen heute für jemanden ein, dafür kann ich davon ausgehen, dass dieser das morgen auch für mich tut, selbst wenn ich ihn dazu nicht zwingen kann. Moral unterstützt Interessenverfolgung außerdem auch dadurch, dass andere einem weniger Steine in den Weg legen, wenn sie die eigenen Interessen für moralisch angemessen halten. „Ohne einen positiven Bezug auf Verteilungsideale wäre das Interesse eines Akteurs am Erhalt bestimmter Güter im analytischen Sinne des Wortes ‚asozial‘, und zwar deshalb, weil er eigennützigerweise stets das größte Stück vom gemeinsam gebackenen Kuchen wollte, ohne dass er sich oder Anderen gegenüber rechtfertigen könnte, warum gerade er einen maximalen Anteil erhalten soll. Weder könnte er seine Ansprüche durch Verweis auf Verteilungsregeln legitimieren, noch könnte er Vertretungsinstanzen überzeugen, sich ausgerechnet für seine Partialinteressen einzusetzen.“ (Lengfeld 2003: 18f.)
In diesem Sinne kann der Bezug auf Moral die eigenen Interessen legitimieren und ihnen damit zur Durchsetzung verhelfen. Populäre Versuche der Rechtfertigung selbstbezogener Interessen durch moralische Argumente lauten etwa, dass individuelles Gewinnstreben optimalen Umgang mit knappen Ressourcen gewährleistet und Produktionsverlagerungen Arbeitsplätze im Ausland schaffen. Solchen Begründungen ist gemein, dass Akteure ihr Handeln nicht mit eigenen Interessen, sondern mit allgemein anerkannten Normen oder Kollektivinteressen rechtfertigen. Können die eigenen Interessen sich nicht auf allgemein anerkannte Werte und Ziele stützen, wird es ungleich schwerer, diese zu verfolgen. Interessant ist weiterhin, dass in den Verlagerungsdiskussionen niemand auch nur versuchte, seine Interessenverfolgung egoistisch zu rechtfertigen, vermutlich, weil auch in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung Akteuren klar ist, dass sie ihre Interessen nur verfolgen können, wenn sie sich auf zustimmungsfähige Kollektivnormen beziehen. Dass nur ein expliziter Bezug auf Moral Interessendurchsetzung ermöglicht, zeigt das Beispiel Heinrich Zalohmas. Im Gegen-
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satz zu den Unternehmern Peter Müller, Heinrich Lauer, Magnus Kuhle und Reinhard Tehnwolder konnte er seine Interessen nicht durchsetzen, denn die Normen, mit denen er versuchte, sein Handeln zu legitimieren, waren nicht allgemein akzeptiert. Es genügt offenkundig nicht, die eigene Interessenverfolgung lediglich als wirtschaftlich effizient und daher notwendig darzustellen, um sie durchzusetzen. Theorien oder Weltsichten, die kompromissfreie Eindeutigkeiten unterstellen, die man nur finden und durchsetzen muss, werden stattdessen öffentlich als pathologisch wahrgenommen und lassen sich darum nur durchsetzen, wenn zwischen den beteiligten Seiten ein extremes Machtgefälle besteht. Darüber hinaus illustriert der Fall Fernlich auch, dass es nicht ausreicht, eine wirtschaftliche Handlung mit dem Hinweis zu rechtfertigen, sie begünstige als Nebeneffekt Dritte. Es reicht beispielsweise nicht, zu argumentieren, dass durch Profitmaximierung auch Wert für die Aktionäre geschaffen werde und deswegen „irgendwie“ das Wohl aller steige, und damit letztlich auch der Arbeiter, die dafür Überstunden leisten müssen. Weil Menschen die Idee einer „unsichtbaren Hand“, die „private vices into public virtues“ (Smith 1976 [1776]; Mandeville 1989 [1705]) transformiert, immer noch frivol finden, müssen Akteure ihre Interessenwahrnehmung legitimieren, indem sie konkrete und lokale positive Folgen ihrer Handlung benennen. Dagegen wird das Ausspielen einer universalistischen Moral („Irgendwie wird dies allen Nutzen.“) gegen lokale Reziprozitätserwartungen in der Regel als rhetorischer Trick verstanden, zumal wenn die angebliche Orientierung an universalistischen Prinzipien zugleich den Nutzen einer Partei auf Kosten einer anderen vergrößert. Doch ist nicht auch eine Entmoralisierung wirtschaftlichen Handelns denkbar? Warum sollte wirtschaftliche Interessenverfolgung prinzipiell nur innerhalb moralischer Normen stattfinden können? Angenommen, erstens, ein Akteur könnte die sozialen Folgen seines Handelns völlig außer Acht lassen – eigentlich eine exklusive Fähigkeit derer, die man unter der klinischen Bezeichnung „Psychopathen“ zusammenfasst. Angenommen, zweitens, derselbe Akteur sei nicht auf Kooperation angewiesen und könnte darum mit seinem sozialen Umfeld verfahren, wie es ihm passt. Angenommen, drittens, er könnte eine alle Unabwägbarkeiten abwägende Kalkulation durchführen und wüssten daher überhaupt, wie er seine Interessen maximieren könnte, ohne moralische Normen als „Ersatzrationalität“ zu benötigen. In diesem Fall wüsste unser psychopathischer Superkalkulator ohne sanktionierendes soziales Umfeld immer noch nicht, was überhaupt in seinem konkreten Interesse liegt (vgl. Parsons 1937). Er hätte keine Antwort auf die Frage: „Was soll ich wollen?“ Denn Interessen entstehen oft erst durch Diskurse mit dem sozialen Umfeld und sind vorher nur diffus vorhanden (Whitford 2002; vgl. in Bezug auf Verlagerungsdiskussionen Piotti 2007). Zwar mag ein diffuses Interesse vorhanden sein, gut zu wirtschaften. Doch was jeweils darunter zu verstehen ist, ist spezifikationsbedürftig und verhandelbar. In diesem
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Sinne dienen Argumente, was jeweils als gerecht zu bewerten ist, „nicht allein der Legitimation von Verhandlungspositionen. Ebenso entscheidend ist ihre interessenformierende Funktion“ (Lengfeld 2003: 53). Moral ermöglicht also Interessenverfolgung insofern, als das, was für moralisch gehalten wird, im Nachhinein als interessenförderlich deklariert werden kann. Die Vorgänge bei Kuhle und Tehnwolder veranschaulichen dies: Dort war zwar die rücksichtsvolle Behandlung der Arbeitnehmer nach Aussage aller Beteiligten moralisch motiviert, sie wurde aber im Nachhinein von der Geschäftsleitung über die Idee legitimiert, dass die moralische Behandlung der Belegschaft langfristig interessenförderlich sei. Insofern führt moralischer Einfluss überhaupt erst zu dem, was nachher als Interesse ausgegeben wird. Generell gilt: Akteure müssen die Fähigkeit haben, mit den moralischen Ansprüchen ihres sozialen Umfelds umzugehen, wenn sie ihre Interessen verfolgen wollen (siehe demgegenüber Fernlichs Imagedesaster). Erst dadurch, dass Menschen ihrem sozialen Umfeld ein Mindestmaß an moralischer Rücksichtnahme entgegenbringen, können sie es nutzen, um Eigeninteressen zu verfolgen. So waren Arbeitnehmervertreter immer dann zu Konzessionen bereit, wenn sie vorher den Eindruck hatten, moralisch behandelt zu werden, und deshalb davon ausgingen, ihre Konzessionen würden von der Geschäftsleitung honoriert. Vertrauen in die moralische Orientierung eines anderen kann demzufolge dessen präferierte Interpretation der Fakten glaubwürdig machen und füllt so Lücken in der betriebswirtschaftlichen Kalkulation, was wiederum wirtschaftliche Interessenverfolgung ermöglicht. Beschäftigte müssen jedoch das Gefühl haben, dass die Geschäftsleitung sie tatsächlich aus moralischen Gründen gut behandelt, nicht weil sie eine Gegenleistung von ihnen a priori erwartet. Denn jede moralische Behandlung, die nur aus instrumentellen Gründen geschieht, würde aufgegeben, sobald sie ihren instrumentellen Nutzen nicht mehr erfüllt; daher wird ihr keine hohe Glaubwürdigkeit zuteil. Dies ist der Grund, warum vor allem Familienunternehmen mit ihren Mitarbeitern kooperieren können, denn gerade ihnen nimmt man eine genuin moralische Behandlung ab. Zwar ist es sinnvoll, Moral und Interessen gegenüberzustellen, wie zum Beispiel bei Etzioni (1988; 2003) und Habermas (1981a: 29–43 und 129ff.). Man muss dabei jedoch die Paradoxie aushalten, dass Moral und Interessen nicht nur gegenübergestellt sind, sondern dass das Eingehen auf moralische Argumente Interessenverfolgung über die oben beschriebenen Mechanismen oft auch erst ermöglicht. Die entsprechenden Einflussmechanismen zeigten sich empirisch besonders bei Tehnwolder und Kuhle. Dort äußerten Geschäftsleitung, Betriebsrat und Gewerkschaft, das Unternehmenshandeln fuße auf moralischen Grundsätzen; eine Vermutung, für die die Geschäftsleitung tatsächlich Ansatzpunkte lieferte. Wichtig ist jedoch vielmehr, dass die Geschäftsleitung erst dadurch, dass sie als moralisch wahrgenommen wurde, in der Lage war, in einem stabilen sozialen
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Umfeld ihre wirtschaftlichen Interessen langfristig profitabel zu verfolgen. Denn erst die Wahrnehmung als moralisch ermöglichte es ihr, vom guten Willen ihres sozialen Umfelds zu profitieren. Dieser gute Wille wiederum entstand durch eine moralische Behandlung, die gerade nicht die Generierung dieses guten Willens als Ziel haben durfte, sondern als Gesinnung wahrgenommen werden musste, um wirksam zu sein. Insofern hilft Moral dabei, wirtschaftliche Interessen zu verfolgen; sie tut dies paradoxerweise aber vor allem dann, wenn sie Interessen vorausgeht und von ihnen unabhängig ist.84 9.3 Wie Interessen moralische Argumente einschränken Nicht nur schränken moralische Argumente Interessen ein (Feld 1) und wird die Definition und Verfolgung von Interessen durch (ein Eingehen auf) moralische Argumente erst ermöglicht (Feld 2). Auch schränken bestimmte Arten der Interessenwahrnehmung umgekehrt die Reichweite moralischer Argumente ein. Symptomatisch dafür ist das folgenlose Bedauern eines Akteurs, er könne in wirtschaftlichen Zusammenhängen (leider) nicht anders, als seine Interessen zu verfolgen, selbst wenn dies den moralischen Argumenten seines sozialen Umfelds widerspricht. Solche Begründungen sind nicht außergewöhnlich; allgemein bekannt sind Situationen, in denen das eigene Ziel nur durch eine Handlung verfolgt werden kann, die andere unmoralisch finden – fast jedes Liebesdrama einer „ménage à trois“ veranschaulicht dieses Dilemma. Ein zweiter Fall, wie Interessen Moral einschränken, liegt vor, wenn sich moralisch motiviertes Handeln zumindest als wirtschaftlich interessenorientiert ausgeben muss („langfristig rechnet sich das umso mehr“), um den Rollenansprüchen eines „harten Geschäftsmanns“ zu entsprechen. Dies beschränkt Moral auf jene Verhaltensweisen, die öffentlich als wirtschaftlich interessenmaximierend „verkauft“ werden können. Dies wird neben objektiven Zwängen auch in dem Maße nötig, wie die Wirtschaftswissenschaften ein amoralisches Verhaltensideal für wirtschaftlich effizient erklären und jede Abweichung davon deswegen dem Vorwurf sentimentaler Irrationalität ausgesetzt ist. Mit dieser Ideologie hemmen die Wirtschaftswissenschaften eventuell vorhandene moralische 84
Wenn somit „beneficence“ und nicht Reziprozität hinter der moralischen Behandlung gesehen wird (Gouldner 1975: 285). Die Feinjustierung dieses Arguments hat Brian Uzzi (1997) vorgenommen. Als „Paradox of Embeddedness“ beschreibt er, wie Unternehmen nur erfolgreich sind, wenn sie ihre Geschäftspartner nicht ausschließlich instrumentell behandeln (sondern „embedded ties“ unterhalten). Gleichzeitig beschreibt er jedoch auch, wie Unternehmen neue Möglichkeiten nicht wahrnehmen, wenn sie ausschließlich enge soziale Beziehungen aufrechterhalten, da diese sie aufgrund umfassender moralischer Rücksichtnahmepflichten einschnüren.
9.3 Wie Interessen moralische Argumente einschränken
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Bedenken, sodass wirtschaftliche Akteure ihre Interessen „ungestört“ verfolgen können (Callon 1998; vgl. auch MacKenzie/Millo 2003; Garcia 1986). Das Eingehen auf moralische Argumente ist dann nur innerhalb der entsprechenden Interessen(-definition) der Handelnden möglich. Ebenso wie die Einschränkung wirtschaftlicher Interessen wegen Moral (Feld 1) stößt auch die umgekehrte Einschränkung von Moral wegen wirtschaftlicher Interessen (Feld 3) auf die strukturelle Grenze, dass der wirtschaftliche Nutzen moralischen Handelns nie vollständig ersichtlich ist. Auf moralische Argumente einzugehen verursacht Kosten, wenn dies wirtschaftlichen Interessen zuwiderläuft. Auf moralische Argumente einzugehen verursacht dagegen Nutzen, wenn wirtschaftliche Strukturen auf Vertrauen und sozialer Anerkennung beruhen. Insofern soziale Anerkennung durch Eingehen auf moralische Argumente entsteht und als nützlich angesehen wird (zum Beispiel in Form guten Willens der sozialen Umgebung), kann das Beachten moralischer Argumente auch unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten verteidigt werden. Dadurch entsteht ein Anreiz, aus Selbstinteresse (schein-)moralisch zu handeln. Dies wiederum führt zu weitverbreitetem Misstrauen gegenüber moralischen Begründungen allgemein und moralischen Begründungen wirtschaftlichen Handelns im Besonderen. Insofern begrenzt (Selbst-)Interesse Moral, denn es begrenzt die moralischen Argumente, die jemand glaubhaft vorbringen kann, ohne dass Andere dahinter Eigennutzmotivierung vermuten. Trotz berechtigter Skepsis, dass moralisch scheinendes Handeln „in Wirklichkeit“ nicht moralisch motiviert ist, sondern im Hinblick auf dessen Nützlichkeit nur als moralisch ausgewiesen wird, geschieht es allem Anschein nach trotzdem, dass Menschen ihre Selbstinteressen einschränken, weil sie auf moralische Argumente eingehen (siehe die Ausführungen zu Feld 1 in Kapitel 9.1.1). Das umgekehrte, strategische, auf Reziprozität spekulierende, nur dem Schein nach moralische Handeln läuft außerdem Gefahr, als solches enttarnt zu werden, da Handelnde nicht immer schauspielern können (vgl. Frank 2004: 20ff.). Es würde spätestens „enttarnt“, wenn es nicht mehr zweckmäßig wäre, denn dann würde es aufgegeben. Darum wird – wie schon erwähnt – jenes moralische Handeln eher langfristig sozial anerkannt, das erkennbar nicht durch wirtschaftliches Selbstinteresse motiviert ist, sondern beispielsweise religiös (vgl. Durkheim 1953 [1924]: 48; vgl. auch die Ausführung zu den protestantischen Sekten in Weber 1988 [1920]). In jedem Fall wird der Bereich moralischen Handelns dadurch eingeschränkt, dass dieses sich in wirtschaftlichen Zusammenhängen als nützlich und effizient legitimieren muss. Das beste empirische Beispiel dafür ist die Geschäftsleitung Tehnwolders, deren moralische Handlungsreichweite gegenüber der Belegschaft auf das beschränkt war, was sie gegenüber dem amerikanischen Investor als wirtschaftlich interessenförderlich legitimieren konnte. Da prinzipiell unklar ist, was wirtschaftliche Interessen optimal fördert, Tehnwolder je-
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9 Wie Interessen und moralische Argumente sich beeinflussen
doch hohe Gewinne erwirtschaftete, hatte die Geschäftsleitung weiten Spielraum in dem, was sie als moralisch und trotzdem interessenfördernd definieren konnte. Das anschaulichste Beispiel dafür, dass Interessendefinitionen auch die Wirkung moralischer Argumente begrenzen, ist dagegen die Standhaftigkeit des FernlichVorstandsvorsitzenden Zalohma gegenüber den Arbeitnehmervertretern, deren Forderungen er für nicht kompatibel mit wirtschaftlichen Interessen hielt. 9.4 Wie Interessen moralische Argumente ermöglichen Einerseits begrenzen somit moralische Argumente Wirtschafts- und Eigeninteressen (Feld 1), andererseits schränkt die Verfolgung von Wirtschafts- und Eigeninteressen die Reichweite moralischer Argumente ein (Feld 3). Insofern stehen die beiden Aspekte sich gegenüber, allerdings nicht nur als „mehr oder weniger“. Denn tatsächlich stehen Moral und Eigeninteressen sich nicht nur gegenüber, sondern ermöglichen einander auch erst (rechte Seite der Tabelle 5). So ermöglicht das Eingehen auf moralische Argumente nicht nur, Wirtschafts- und Eigeninteressen zu verfolgen (Feld 2); zugleich ermöglicht die Verfolgung von Wirtschafts- und Eigeninteressen den Erfolg vieler moralischer Argumente erst (Feld 4). Ich verfolge meine Interessen, also kann ich auf moralische Argumente eingehen. Tehnwolder und Kuhle wären hierfür kein geeignetes Beispiel, denn alle Beteiligten meinten, dort ginge eine kooperative Unternehmenskultur der wirtschaftlichen Interessenverfolgungsstrategie voraus. Ein anschauliches Beispiel dafür, wie eine passende Interessenlage es erst erlaubte, moralische Argumente anzunehmen, ist Steche; dort weigerten Abnehmer sich, weiter Waren zu kaufen, solange das Unternehmen nicht berechenbarer würde, indem es seine Belegschaft gemäß geäußerter moralischer Argumente behandele und ihr eine langfristige Beschäftigungsperspektive gebe. In solchen Fällen erlaubt erst eine passende Interessenlage, sich auf moralische Argumente einzulassen. Das noch grundlegendere Beispiel für die Ermöglichung moralischen Verhaltens durch wirtschaftliche Interessenwahrnehmung ist, dass ein Unternehmen Gewinn machen muss, um kostspieligen moralischen Forderungen überhaupt entsprechen zu können. Tehnwolder verdeutlicht dies. Tehnwolders Geschäftsleitung konnte nur auf moralische Argumente eingehen, weil sie aufgrund des hohen Gewinns in moralische Behandlung der Belegschaft „investieren“ konnte. Bei Müller und Kuhle dagegen musste die Geschäftsleitung zunächst unmittelbar Profit verfolgen und sich damit diesen Handlungsspielraum erst verschaffen. Sie argumentierte sinngemäß: „Erst muss dem Unternehmensinteresse in Form von Profit gedient sein. Dies schafft die Voraussetzung, die Belegschaft moralisch zu behandeln, indem wir sie am Unternehmenserfolg beteiligen.“
9.4 Wie Interessen moralische Argumente ermöglichen
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Die hier dargestellten Mechanismen gegenseitiger Einflussnahme zeigen, inwiefern Moral und Interessen nicht „self-contained“ (Zelizer 2007: 10) sind. Sie beeinflussen und überschneiden sich, etwa wenn Geschäftsleitungen oder Gewerkschaften moralisches Verhalten als wirtschaftlich interessenförderlich darstellen, und dann möglicherweise auch so sehen. Oder wenn sie es als moralisch legitimieren, eigene Interessen zu verfolgen, und auch diese Rechtfertigung dann tatsächlich glauben. Die gegenseitige Beeinflussung von Moral und Interessen, besonders die drei Mechanismen, nach denen moralische Argumente wirtschaftliche Interessen beschränken, haben Implikationen für Forschung in den Sozialwissenschaften. Diese stellt folgendes Kapitel vor, um die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen zu beantworten.
10 Wie Moral und Interessen zusammenspielen – Antworten auf Forschungsfragen
Die aufgedeckten Mechanismen, mittels derer sich moralische Argumente und wirtschaftlichen Interessen beeinflussen, gestatten es, die in der Einleitung aufgeworfenen wirtschaftswissenschaftlichen, soziologischen und politökonomischen Fragen zu beantworten. Abschließend fasst diese Studie alle Ergebnisse zusammen, um die Bedeutung von Moral im Kapitalismus zu konzeptualisieren. 10.1 Ökonomische Erklärungen wirtschaftlichen Handelns Obwohl Ökonomen üblicherweise vorgeworfen wird, Handeln einseitig durch die Wahrnehmung von Selbstinteresse zu erklären, geben einige Ökonomen auch zu bedenken, die Bedeutung von Moral für menschliches Handeln sei „too strongly rooted in folk wisdom to be entirely hot air“ (Kreps 1997: 360; für eine typisch selbstinteressenbezogene Erklärung menschlichen Handelns vgl. Becker 1993: 395; als Kritik an solchen Erklärungen vgl. Hirschman 1984: 95). Einige renommierte Wirtschaftswissenschaftler versuchen deshalb, moralischen Einfluss zu konzeptualisieren; beispielhaft dafür sind die in der Einleitung skizzierten verhaltensökonomischen Experimente.85 Ein dabei gemachtes Argument lautet, dass Menschen Normen in ihre Interessenkalkulation einfaktorieren, da 85
Robert Shiller (vgl. 1984: 465f.) beschreibt, wie das soziale Umfeld eines Akteurs dessen Entscheidung beeinflusst; selbst wenn Handelnde ihre Entscheidung im Nachhinein als atomistische Kalkulation rechtfertigen. Richard Thaler (2000: 140) fordert, das ökonomische Menschenbild des homo oeconomicus müsse zu homo sapiens werden. Bruno Frey (1997) modelliert mathematisch, wie Menschen nicht nur aufgrund extrinsischer Anreize handeln, sondern auch aufgrund moralischer Argumente. Ähnlich wie Titmuss (1971) argumentiert er, dass Anreize wie monetäre Bezahlung einen „crowding out effect“ auf moralisches Verhalten haben und manchmal stärker demotivieren als motivieren. Herbert Gintis (2010: 35) fordert: „The human predisposition to internalize social norms, and more generally to include ethical values as arguments in personal preference orderings, should be included in analytical models of strategic interaction.“Akerlof und Kranton (2005: 19; vgl. als konzeptuelle Vorarbeit Akerlof/Kranton 2000) kritisieren: „Economic models have no place for the agent to feel moral obligation.“ Solange dies so sei, könnten Ökonomen menschliche Motivation nicht verstehen, so die beiden Autoren über ihre eigene Zunft.
M. Schröder, Die Macht moralischer Argumente, DOI 10.1007/978-3-531-93196-8_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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10 Wie Moral und Interessen zusammenspielen – Antworten auf Forschungsfragen
ihnen dies in Anbetracht ihrer – wiederum sozial beeinflussten – Identität von ihrem sozialen Umfeld nahegelegt wird (vgl. Akerlof/Kranton 2005: 9ff.). In der Tat können die Unternehmen Steche, Müller, Tehnwolder und Kuhle erst verstanden werden, wenn man berücksichtigt, dass Menschen auf diese Weise durch moralische Argumente beeinflusst werden. Denn die Mitarbeiter dieser Unternehmen waren nicht nur durch Bezahlung motiviert, sondern durch Identifikation mit „ihrem“ Unternehmen. In allen vier Unternehmen äußerte die Geschäftsleitung, dass sie die Identifikation der Belegschaft mit „ihrem“ Unternehmen bewusst nutze, um deren Produktivität zu steigern. Stellvertretend für viele Ökonomen schlagen Akerlof und Kranton daher vor, neben Eigeninteressenorientierung auch Orientierung an moralischen Wertvorstellungen, die durch das jeweilige soziale Umfeld artikuliert werden, als Grundlage menschlichen Handelns anzusehen (Akerlof/Kranton 2005: 12; vgl. ebenso Gintis 2010: 35ff.). In diesem Sinne argumentieren auch Ökonomen, dass die bisherige ökonomische Theorie nicht genug von der Realität erklärt, um menschliches Handeln zu verstehen. Die vorliegende Studie hat daher versucht, anhand der Untersuchung sozialer Einflüsse eine Konzeption wirtschaftlichen Handelns zu erarbeiten, die abseits der Modellwelt ökonomischer Gleichungen auch tatsächlich in der Realität anzutreffen ist. Zwei Beispiele hierfür sind die Unternehmen Steche und Kuhle: Dort haben die Arbeitnehmervertreter zwischenzeitlich lieber eine „Lose-lose“-Situation bevorzugt, statt den als unmoralisch empfundenen Forderungen der Geschäftsleitung zuzustimmen (vgl. die Fußnoten 33 und 59). Solch anscheinend irrationales Handeln scheint nur unlogisch, wenn man außer Acht lässt, dass Menschen von sich und anderen verlangen, moralischen Regeln zu entsprechen. Gemäß dieser erweiterten Handlungskonzeption verlieren Menschen somit Nutzen, wenn ihr Verhalten im Gegensatz zu den moralischen Argumenten eines sozialen Umfelds steht, mit dem sie sich identifizieren. Problematischer an der ökonomischen Mainstreamsicht auf wirtschaftliches Handeln ist jedoch in Anbetracht der Ergebnisse dieser Arbeit, dass Ökonomen in der Regel einen „methodologischen Individualismus“ nutzen, um Handlungen aus relativ stabilen, äußerlich unbeeinflussten individuellen Eigenschaften zu erklären. Dies wird dadurch perfektioniert, dass immer mehr individuelle Aspekte der Handlungsentscheidung modelliert werden, zum Beispiel über ein genaueres Verständnis der neuronalen Schaltkreise des Gehirns (vgl. Fehr et al. 2008). Was ist problematisch an dieser Sicht? Die Fallstudien dieser Arbeit zeigten, dass das, was Individuen als rational definieren, – oft unbemerkt – durch ihre Referenzgruppe beeinflusst wird (vgl. Etzioni 1996: 320–325; Shiller 1984: 465f.). Somit sind es nicht mehr oder weniger moralische Charaktereigenschaften von Individuen, die deren Handeln erklären. Vielmehr entscheidet der soziale Kontext darüber, welche moralischen Argumente erfolgreich vorgebracht werden
10.1 Ökonomische Erklärungen wirtschaftlichen Handelns
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können und damit individuelles Handeln beeinflussen (Healy 2004: 400).86 Dementsprechend meinen auch Verhaltensökonomen: „Widely observed ethical behavior dramatically reveals the standard game theory’s error in embracing not just the self-regarding actor model, but the whole philosophy of methodological individualism“ (Gintis 2010: 38). Moralisches Verhalten ist somit nicht aus Charaktereigenschaften der jeweils handelnden Individuen abzuleiten, sondern folgt einem gesellschaftlichen Anreiz, etwa in Form moralischer Argumente (vgl. auch Jackall 1988: 101). Demzufolge determinierten Eigenschaften von Individuen in den untersuchten Unternehmen nur mittelbar deren Entscheidungen. Tatsächlich stand hinter einer Art, sich zu entscheiden, hinter vermeintlichen „Charaktereigenschaften“, immer ein bestimmter sozialer Kontext. Die Vorstände der Unternehmen Wolder und Fernlich, die nicht auf moralische Argumente ihres sozialen Umfelds eingingen, waren keine „bösen“ Menschen; nicht einmal ihre Opponenten, die Betriebsräte und Gewerkschafter, unterstellten das. Vielmehr befanden sie sich in Situationen, in denen sie das, was sie als ihr Interesse definierten, und das, was ihr soziales Umfeld als moralische Argumente vorbrachte, nicht zusammenbringen konnten. Auch die Geschäftsleitung der Unternehmen Tehnwolder, Müller und Kuhle, die ihre Produktion nicht verlagerte, bestand nicht aus „Gutmenschen“; sie war vielmehr in der glücklichen Lage, über eine Handlungsmöglichkeit zu verfügen, die wirtschaftlich rational und moralisch erschien. Zwar mag es insofern der Fall sein, dass Menschen unterschiedlich stark ausgeprägte moralische Charaktereigenschaften haben. Doch erst das konkrete soziale Umfeld entscheidet, welche dieser Eigenschaften aus einer normalerweise breiten Palette zutage treten. Anstatt Handeln an stabilen und individuellen Charaktereigenschaften festzumachen, legt diese Herangehensweise darum nahe, dass vor allem soziale Einflüsse Handeln bedingen. Um nicht in die Falle eines übersozialisierten Akteurs zu geraten (vgl. Wrong 1961), muss der soziale Kontext jeder Handlung analysiert werden, um daraus das jeweilige Handeln erklären zu können. Nur so ist zu verstehen, wie moralische Argumente und Interessenwahrnehmung in einer bestimmten Situation zu einer bestimmten Handlung führen. Da es dabei immer auf den Einfluss des konkreten sozialen Umfelds ankommt, ist das Prob86
So liegt beispielsweise der Anteil der Bevölkerung, die schon einmal Blut gespendet hat, in europäischen Ländern zwischen 14 Prozent (in Luxemburg) und 44 Prozent (in Frankreich). Es ist nicht plausibel, dass sich individuelle Charaktereigenschaften derart über Ländergrenzen unterscheiden, und es kann auch nicht an kulturellen Gründen liegen, denn viele kulturell ähnliche Länder haben unterschiedliche Spenderaten und umgekehrt (Healy 2006: 73). Die Blutspendewahrscheinlichkeit hängt vielmehr davon ab, wie Menschen nach einer Spende gefragt werden (Healy 2006: 63) und weniger davon, dass sie jeweils besonders altruistische oder egoistische Individuen wären.
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10 Wie Moral und Interessen zusammenspielen – Antworten auf Forschungsfragen
lem dieses Ansatzes seine geringe Generalisierbarkeit. Trotzdem bedeutet dies nicht, dass damit keine allgemeingültigen Aussagen möglich sind. Die folgenden Kapitel stellen eine soziologische statt einer individualistisch-atomisierten Konzeption der Interaktion von moralischen Argumenten und Interessen vor. Diese soziologische Konzeption vermeidet eine Dichotomie, nach der es einerseits „gute Menschen“ gibt, die moralischen Argumenten entsprechen und andererseits „böse Menschen“, die dies nicht tun. 10.2 Soziologische Erklärungen wirtschaftlichen Handelns Dieses Kapitel beantwortet die in der Einleitung aufgeworfenen soziologischen Forschungsfragen anhand der Empirie des Hauptteils. Wie die Diskussionen um Produktionsverlagerung gezeigt haben, ist eine wirtschaftlich optimale Interessenverfolgungsstrategie unter komplexen Bedingungen nicht vollständig kalkulierbar. Statt lediglich genauer Berechnungen benötigt eine wirtschaftliche Entscheidung daher auch immer unternehmerischen „Blick“ (Schumpeter 1997 [1934]: 125). Soziologen hätten untersuchen können, inwiefern dieser unternehmerische Blick moralisch beeinflusst ist. Dafür hätte Etzionis „The Moral Dimension“ (1988) die Grundlage bilden können. Doch anstatt Etzionis Ansatz zu nutzen, erklären Soziologen seit Granovetters (1985) wegweisendem Aufsatz Handeln vorrangig aus der Position eines Akteurs in einem sozialen Netzwerk (vgl. Beckert 2008: 136f.). Granovetters Ansatz beschreibt zwar, dass durch soziale Netzwerke auch Normen kommuniziert werden (vgl. Granovetter 2005: 34; Podolny/Baron 1997: 676). Doch sein Ansatz „struktureller Einbettung“ erklärt nicht, wie moralische Argumente des einbettenden sozialen Netzwerkes wirken, ihm fehlen die Mechanismen. Dies gilt ebenso für die in der Einleitung thematisierte Forschung von Richard Titmuss (1971), Viviana Zelizer (1978; 1979; 1981; 1985) und Kieran Healy (2004; 2006). Habermas (vgl. 1981a: 385) nennt den Austausch von Argumenten, bei dem Menschen ernsthaft bemüht sind, ihre Situationsdefinition herrschaftsfrei abzustimmen, „kommunikatives Handeln“. Doch auch er untersucht nicht, wie außerhalb dieser Idealsituation reale Abstimmungsprozesse stattfinden, die zudem wirtschaftliches Handeln anleiten. Er betont zwar, dass in Diskussionen verschiedene Arten von Geltungsansprüchen zutage treten, darunter auch normative.87 Er untersucht jedoch nicht, wie Akteure sich in ihren normativen 87
Ich kann Handeln nicht nur mit Verweis auf meine Ziele als rational darstellen (nach Habermas ein Geltungsanspruch auf Wahrheit), sondern auch mit Verweis darauf, dass ich so handele, wie es nach gesellschaftlich akzeptierten Regeln für richtig gehalten wird (Geltungsanspruch auf normative Richtigkeit). Drittens wird wirtschaftliches Handeln auch mit Verweis darauf legitimiert, dass ich handele „weil ich so bin, wie ich bin“ (Geltungsanspruch auf Wahrhaftigkeit, vgl. Habermas 1981a: 29–41 und 129–141).
10.2 Soziologische Erklärungen wirtschaftlichen Handelns
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Geltungsansprüchen „verstricken“, da sie sich selbst nicht widersprechen wollen, und wie sie deswegen dazu gebracht werden können, in Einklang mit (eigenen oder äußeren) moralischen Argumenten zu handeln. Wie dies geschieht, haben besonders die Unternehmen Kuhle, Müller und Tehnwolder gezeigt. Dort machte die Geschäftsleitung moralische Versprechungen, denen sie dann selbst nicht mehr widersprechen wollte, was ihr Verhalten moralisch „einschnürte“ – vielleicht nicht einmal gegen ihren eigenen Willen. Einen ähnlichen Prozess haben Risse, Jetschke und Schmitz (2002) an Diskussionen über Menschenrechtsverletzungen beobachtet. Ähnlich haben Krebs und Jackson (2007) beschrieben, wie Politiker sich derart in den Argumenten eines Opponenten verfangen können, dass sie sich mit Argumenten, die sie und andere als kulturell legitim anerkennen, nicht mehr daraus befreien können (vgl. ebenso Keck/Sikkink 1998: 23f.). Daher können sie über Argumente dazu gebracht werden, etwas zu tun, wozu sie normalerweise nicht bereit wären. Krebs und Jackson (2007: 36) nennen dies „rhetorischen Zwang“ („rhetorical coercion“). Die vorliegende Studie hat ähnliche Zwänge bei der Verfolgung wirtschaftlicher Interessen aufgezeigt. Dies zeigte, inwiefern moralische Argumente mehr sind als nur „cheap talk“. In den untersuchten Fällen beeinflussten sie über rhetorischen Zwang (Müller, Tehnwolder) und Legitimitätsentzug (Steche, Wolder, Fernlich) wirtschaftliches Handeln. Es ist ein Gemeinplatz, dass Unternehmen Legitimität benötigen, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen (Bathelt/Glückler 2002: 197f.; Kostova/Zaheer 1999: 64; Pfeffer/Salancik 1978: 194; Wieland 1999: 328f.; vgl. ferner Boltanski/Chiapello 1999; Boltanski/Thévenot 2006 [1991]). Soziologen vermuten, dass Unternehmen, die sich über moralische Argumente legitimieren, auch daran halten müssen. Sie stehen schließlich durch ihre moralischen Bekundungen unter verschärfter Beobachtung der Belegschaft und der Öffentlichkeit (Hiß 2006; Priddat 2002: 219f.; Smith 2006: 250; Wieland 1999: 325). Nico Stehr (2007) und Fourcade/Healy (2007: 303ff.) gehen sogar davon aus, dass Unternehmen sich zunehmend moralisch verhalten müssen, um auf Märkten gegenüber kritischen Käufern zu bestehen. Ein Beispiel für diese These ist die „CorporateSocial-Responsibility“-Literatur. Diese thematisiert zwar, dass Unternehmen sich aus finanziellen Gründen sozial verantwortlich verhalten sollten, jedoch kaum, wie sie sich empirisch zwischen Gewinninteressen und normativen Ansprüchen tatsächlich verhalten haben (vgl. Margolis/Walsh 2003). Healy (2004: 400) bemängelt dementsprechend: „Altruistic action may be structured and developed by the organizational and institutional environment. Yet there has been little investigation of the particular circumstances and conditions under which this happens.“ Festzuhalten bleibt dazu als soziologisch relevantes Ergebnis dieser Arbeit, dass die Legitimierung des eigenen Handelns sich in eigenen und anderen moralischen Argumenten verstrickt, weswegen es durch die moralischen Argumente beeinflusst
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10 Wie Moral und Interessen zusammenspielen – Antworten auf Forschungsfragen
wird, mit denen es sich legitimiert, selbst wenn diese möglicherweise nur als bloßes Lippenbekenntnis gemeint waren. Die Unternehmen Müller und Tehnwolder zeigen solche Prozesse von allen Unternehmen am besten. Weiterhin zeigt diese Arbeit, dass eine Entscheidung zwar im Nachhinein oft als wirtschaftlich rational (und insofern alternativlos) hingestellt wird; im Verlauf der Diskussion treten jedoch Alternativen auf, die vielleicht genau so ökonomisch rational sind, später jedoch ausgeblendet werden und sich nur noch als Spuren in Befragungen und Dokumenten der damals stattgefundenen Diskussion zeigen. Die Innovation der vorliegenden Studie liegt deswegen auch darin, gezeigt zu haben, wieso Unternehmen überhaupt etwas als „im Interesse stehend“ definieren, was ihnen vorher als moralisch suggeriert wurde – und wann deswegen von Unternehmen „corporate social responsibility“ zu erwarten ist. Dies ist der Fall, wenn: 1. moralische Argumente in einem sozialen Netzwerk vorgebracht werden, das aus „embedded ties“ besteht, und die Geschäftsleitung überzeugen, dass es ihren Interessen nicht in unzumutbarer Weise widerspricht, auf diese Argumente einzugehen; 2. ein Nicht-Eingehen auf moralische Argumente das Sozialkapital und damit die Produktivität der Arbeitnehmer in stärkerem Ausmaß verringert, als das Unternehmen durch Verlagerung einsparen würde – und die Geschäftsleitung dies auch so sieht; 3. die Geschäftsleitung meint, gesunkene Legitimität gegenüber Öffentlichkeit und Kunden zehre die Einsparungen einer Verlagerung auf. Vor allem die Unternehmen Fernlich und Steche haben veranschaulicht, wie moralische Argumente gesellschaftliche Legitimität entziehen und damit wirtschaftliches Handeln beeinflussen. Die Grenzen dieser Strategie wurden insbesondere an Fernlich aufgezeigt. Denn Unternehmen können auch gegen das verstoßen, was als legitim angesehen wird und trotzdem Gewinn erzielen, was die Literatur über Legitimität bisher jedoch weitgehend vernachlässigt hat (aber vgl. Kostova/Zaheer 1999: 77). Demgegenüber haben die Fälle Tehnwolder, Müller und Kuhle dokumentiert, dass die Drohung, Legitimität zu entziehen, dazu führt, dass Unternehmen Interessenverfolgungsstrategien ändern, bevor es überhaupt zu einem öffentlichen Konflikt kommt. Denn solch einen Konflikt wollen Unternehmen und ihre Geschäftsleitungen in der Regel vermeiden. Damit ist diese Arbeit einen Schritt weiter gegangen als bisherige Diskursanalysen, die zwar danach fragen, wie Geschäftsleitungen Verlagerungsentscheidungen öffentlich legitimieren, allerdings nicht erklären, wie dies auf die wirtschaftliche Entscheidung zurückwirkt (Vaara 2008; Vaara/Tienari 2008; Vaara/Tienari/Laurila 2006; Ahonen et al. 2007).
10.3 Politökonomische Erklärungen von Standortkonflikten
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10.3 Politökonomische Erklärungen von Standortkonflikten Ausgehend von den in dieser Arbeit untersuchten Unternehmen können nun einige der Ausgangsfragen zu Standortkonflikten und industriellen Beziehungen beantwortet werden, die in der Einleitung aufgeworfen wurden. Bisher hat sich die Literatur auf die Frage konzentriert, wie Geschäftsleitungen auf der Basis ökonomischer Rahmendaten androhen, Produktion zu verlagern und Arbeitnehmer deswegen Konzessionen leisten (Peters 2001: 12; vgl. auch Massa-Wirth 2007; Rehder 2003; Seifert 2002). Demgegenüber postuliert eine Reihe von Autoren, dass auch gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, Fairnessüberlegungen und Gerechtigkeitsvorstellungen betriebliche Aushandlungsprozesse und Verlagerungsentscheidungen beeinflussen (vgl. Bathelt/Glückler 2002: 148; Dörrenbächer/Riedel 2000: 18; Lengfeld 2003; Lengfeld/Liebig 2003; Liebig 1997). Analog dazu betonen Modelle von Unternehmensentscheidungen, dass vermeintliche ökonomische Fakten immer durch kognitive und sozial beeinflusste Wahrnehmungsfilter interpretiert werden (vgl. Kaplan 2008). Die Folge wäre, dass zwei Unternehmen in derselben wirtschaftlichen Situation, aber unter anderen sozialen Bedingungen, auch andere wirtschaftliche Strategien als wirtschaftlich optimal sehen würden. Auf der einen Seite hebt die Literatur also hervor, dass Verlagerungsentscheidungen nicht allein durch rationales Kalkulieren wirtschaftlicher Parameter getroffen werden können. Vielmehr seien Verlagerungen, als Verhandlungsergebnisse zwischen Arbeitnehmervertretern und Geschäftsleitungen, auch immer davon abhängig, was die Beteiligten als gerecht wahrnehmen, denn das beeinflusst, was sie als wirtschaftlich rational sehen. Auf der anderen Seite ist in Ermangelung eines besseren Verhaltensmodells bisher keine andere Wahl geblieben, als entgegen besseren Wissens vollständig rationale und sozial unbeeinflusste Akteure anzunehmen, um Produktionsverlagerungen zu erklären (vgl. Kapitel 1.3). Diese defizitäre Konzeption kann nun um den Einfluss moralischer Diskurse ergänzt werden. Was einer Geschäftsleitung als moralisch nahegelegt werden kann, beeinflusst demnach, ob sie es als wirtschaftlich rational definiert, zu verlagern (vgl. auch Schröder 2010). Dies ermöglicht nicht nur, die Bedeutung moralischer Argumente im Zustandekommen von betrieblichen Bündnissen zu verstehen, sondern auch eine teils als naturgesetzlich dargestellte Verknüpfung von Gewinninteressen und Produktionsverlagerungen aufzulösen und den insofern kontingenten Charakter von Verlagerungsentscheidungen zu verdeutlichen.88 88
Für diese Formulierung danke ich Steffen Mau.
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10 Wie Moral und Interessen zusammenspielen – Antworten auf Forschungsfragen
10.4 Moral Economy: Die Bedeutung von Moral im Kapitalismus Abschließend fasst dieses Kapitel die Bedeutung von Moral für wirtschaftliches Handeln in kapitalistischen Gesellschaften zusammen. Die vermeintliche, von Adam Smith beschriebene Grundlage kapitalistischer Gesellschaften ist, dass über Eigennutzmaximierung der Wohlstand aller steigt (Smith 1976 [1776]; Friedman 2001 [1970]). Bestimmt Eigennutzmaximierung demzufolge menschliches Handeln? Nicht nur Unternehmensskandale wie bei Enron oder die Finanzkrise im Jahr 2008, auch ethnografische Studien deuten darauf hin: wir leben in einer „business civilization in which the old notion of stewardship has been lost“ (Jackall 1988: 198). Dementsprechend preist der Neoliberalismus das Verfolgen eigener Interessen nicht als abgesonderte und begrenzte Form sozialen Handelns an, sondern als natürliches Organisationsprinzip für Politik und Gesellschaft (Shamir 2008: 6). Grundlage menschlichen Handelns und der Gesellschaft sei eine dem Menschen eingebaute „natural propensity to truck, barter and exchange“ (Smith 1993 [1776]: 21f.). Doch moralisches Verhalten kann genauso als „natürlich“, sogar als genetisch „hard-wired“ erklärt werden wie egoistisches (vgl. Fehr et al. 2008; Frank 2004: 3–27; Gintis et al. 2005: 22ff.; Wright 1995;). Fourcade und Healy (2007: 295) bemerken jedoch, bisher sei kaum untersucht worden, wie moralische Argumente vielmehr je nach sozialem Zusammenhang wirken. Die vorliegende Studie hat sich dieser Frage gewidmet. Sie hat gezeigt, dass das routinemäßige Absehen von moralischen Argumenten weder empirisch anzutreffen ist noch effizientes Handeln ermöglicht.89 Wie die untersuchten Unternehmen gezeigt haben, bedarf auch die egoistisch-rationale Nutzenmaximierung im Sinne des Handlungsmodells des Homo oeconomicus der gesellschaftlichen Lizenzierung. Zumindest wenn nicht eine der beiden Seiten völlig machtlos ist, während die andere Seite vollkommene Machtfülle besitzt. Im Kapitalismus ist somit egoistisch-rationales Verhalten sozial legitim, aber auch hier nur in Grenzen; wo die Grenzen liegen, ist umstritten und muss in moralischen Diskursen, die zugleich Prozesse kollektiver Mobilisierung sein können, von Fall zu Fall präzisiert werden.90 Wie aber sieht dann eine verallgemeinerbare und realistische Konzeption wirtschaftlichen Handelns aus, die dieses als Ergebnis wirtschaftlicher Interessenverfolgung und moralischer Argumente versteht? Dazu seien ein letztes Mal 89
90
Menschen sind in dieser Perspektive zwar keine sozial unbeeinflussten Nutzenmaximierer, sie sind aber auch keine „kulturellen Trottel“ (Garfinkel 1967: 225), die blind normativen Ansprüchen ihres sozialen Umfelds folgen und dabei die eigenen Interessen regelmäßig aus den Augen verlieren (vgl. Joas 1992). Für diese Formulierung danke ich Wolfgang Streeck.
10.4 Moral Economy: Die Bedeutung von Moral im Kapitalismus
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die Unternehmen Kuhle und Fernlich bemüht, die den Unterschied kapitalistischer und traditionaler Wirtschaftsethik illustrieren (vgl. zur Unterscheidung Weber 1988 [1920]: 44–55). Kuhles Geschäftsleitung fragte, ob sie es sich leisten könne, in Deutschland zu bleiben (Kuhle 4. Interview: 4. Min.). Sie gab sich mit einem „Normalgewinn“ zufrieden, um dem eigenen Lebensstil und normativen Anforderungen ihrer sozialen Außenwelt zu entsprechen. Sie sah nicht Renditemaximierung als Unternehmenszweck, sondern die moralische Behandlung des sozialen Umfelds, wozu Gewinn jedoch nötig sei. Im größtmöglichen Gegensatz dazu argumentierte Fernlichs Vorstand Zalohma, alle normativen Anforderungen hätten hinter Gewinnmaximierung zurückzustehen, weswegen kein Arbeitsplatz dauerhaft sicher sei. Nicht soziale Verantwortung bedingte hier, dass Gewinn erwirtschaftet werden müsse, sondern Gewinnerwirtschaftung bedingte, was als sozial verantwortlich definiert werden konnte. Denn gerade durch Renditemaximierung kam Zalohma aus seiner Sicht seiner sozialen Verantwortung (definiert als Investitionsmehrung) nach. Schließlich hatte auch er nicht das Ziel, sich möglichst viel in die eigene Tasche zu wirtschaften, sondern Mehrwert für die Anleger zu schaffen. Trotzdem kam es gegen ihn zu deutschlandweiten Protesten. Dies ist zentral für die Bedeutung von Moral im Kapitalismus: Nicht weil ein Unternehmen sich im Kapitalismus nicht kapitalistisch verhält, sondern weil es sich kapitalistisch verhält, wird es Opfer moralisierender und moralisierter sozialer Bewegungen. Demgegenüber können langfristig subsistenzorientierte Interessen sich gegen und durch moralische Argumente verteidigen. Denn traditionale Interessen darf insofern jeder wahrnehmen, als jedem das Recht zugestanden wird, zu überleben. Kapitalistische, kurzfristig Profit maximierende Interessen werden dagegen durch moralische Argumente beschränkt, da offenkundig auch kapitalistische Gesellschaften nicht ohne Weiteres das Recht zugestehen, Interessen zu maximieren, ohne die Interessen und Normen anderer zu beachten. Die dabei diskursiv geforderten Einschränkungen sind zwar nur informeller Art (und nicht juristisch festgelegt), werden deshalb aber nicht minder vehement eingeklagt. Dies ist paradox. In kapitalistischen Gesellschaften, die auf der privaten, eigeninteressierten Verfügung über Produktionsmittel beruhen, sind Proteste gegen eben diese private und eigeninteressierte Verfügung über Produktionsmittel normal. Der Grund dafür ist, dass Menschen ihre wirtschaftlichen Eigeninteressen nur wahrnehmen dürfen, weil dies ein normativ legitimiertes Verhaltensideal ist, mit dem sich die Hoffnung auf gesellschaftlichen Wohlstand verbindet. Dass Eigeninteressenwahrnehmung in diesem Sinne in Grenzen durchaus legitim ist, heißt aber nicht – und das ist der Denkfehler, der im Alltagsdenken und in der wissenschaftlichen Literatur oft begangen wird –, dass es menschlich „normal“ wäre, von moralischen Argumenten abzusehen und man aufgrund der Wahrnehmung seiner eigenen Interessen keine Kritik zu befürchten hätte.
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Etzioni (1988; 2003; vgl. ebenso Sen 1977) würde das Nicht-Eingehen auf moralische Argumente, mithin eigeninteressiertes Verhalten, damit erklären, dass Menschen jeweils in einer bestimmten Situation gerade „interessen-“ statt „normmotiviert“ sind. Bei egoistischem Verhalten wäre nach Etzioni eine Hälfte des Menschen am Werk, seine egoistisch-nutzenmaximierende. Dieser individuell dualistischen Sichtweise kann nun eine gesellschaftlich monistische Konzeption zur Seite gestellt werden, die das oben angesprochene Paradox auflöst. Dazu schlage ich das Konzept einer „Freihandelszone“91 vor, innerhalb derer die Gesellschaft Amoralität zulässt. Wer diese „Blase“, in der wirtschaftliches Handeln stattfindet, isoliert analysiert – so wie Wirtschaftswissenschaftler es oft tun –, kann der falschen Wahrnehmung erliegen, Handeln könnte von moralischen Argumenten absehen, vor allem wenn schon das heuristische Analyseraster dieses Ergebnis vorwegnimmt (vgl. Elster 2009: 8). Doch vielmehr ist der Bereich wirtschaftlichen Handelns selbst normativ. Die Norm, die diese metaphorische Freihandelszone reguliert, lautet jedoch: „Hier musst du keine Norm beachten! Hier kannst du deine Interessen verfolgen, weil die Gesellschaft hofft, dass dies zu gesellschaftlich wünschenswerten (moralischen) Resultaten führt.“ Es ist somit das normative Recht, ihre Interessen zu verfolgen, das Unternehmer in gesellschaftlichen Konflikten beanspruchen. Angenommen, jemand würde sich dagegen öffentlich mit dem Argument verteidigen, er wolle mit einer Verlagerung einfach möglichst viel in die eigene Tasche wirtschaften. Nicht nur wäre dies öffentlich nicht vermittelbar, es ist auch anzunehmen, dass niemand sich selbst so sehen will. Gesellschaftliche Konflikte entzünden sich dann an der Frage: Wie groß ist der Bereich moralisch lizenzierten amoralischen Verhaltens – wie groß darf die Freihandelszone werden? Während der Kapitalismus diese metaphorische Freihandelszone expandieren ließ, kommt es doch regelmäßig zu einem „Polanyi’schen Punkt“ (vgl. Polanyi 1944). Wenn individuelle Interessenverfolgung moralische Normen überstrapaziert, folgen moralische Appelle: „Diese Interessenverfolgung bringt der Gesellschaft nichts mehr, sie muss begrenzt werden!“ Solch ein Punkt war beispielsweise auch die Reaktion auf die Finanzkrise ab Ende des Jahres 2008. Die hier präsentierten Unternehmensanalysen verdeutlichen die Mechanismen, die in solchen Momenten zum Tragen kommen. Menschen weigern sich ab einem bestimmten Punkt zu glauben, dass die Verfolgung von Individualinteressen Kollektivinteressen fördert. Ein Alltagsverständnis sozialer Gerechtigkeit überlagert die Ideologie des Kapitalismus und insbesondere die des Neoliberalismus als Zuspitzung davon.
91
Für diese Idee möchte ich Wolfgang Streeck danken.
10.4 Moral Economy: Die Bedeutung von Moral im Kapitalismus
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Die moralische Bewertung wirtschaftlichen Handelns konkretisiert sich an der Frage: Wie weit ist der Umgang mit Privateigentum von gesellschaftlichen Ansprüchen freigestellt und wie weit muss er hingegen gesellschaftliche Ansprüche berücksichtigen? Wichtig dafür, wie dies im Einzelfall beantwortet wird, sind die jeweiligen institutionellen Bedingungen. So bietet die deutsche Arbeitnehmermitbestimmung Einspruchsrechte, die Akteure unter Zwang setzen, ihre Handlungen zu legitimieren. Auf der anderen Seite ermöglicht im Kapitalismus institutionalisiertes Privateigentum an Produktionsmitteln, damit „nach Belieben zu verfahren“; aber auch das nur in Grenzen, und zwar solange dem nicht „Rechte Dritter entgegenstehen“ (§ 903 BGB). Diese in Grenzen legitimierte und institutionell garantierte Möglichkeit zur eigeninteressierten Verfügung über private Produktionsmittel ist eine moderne Konstruktion und nötig, da der Inhaber von Privateigentum dieses in der Regel mehren will, was auch den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand steigert. Doch die Gesellschaft lizenziert Privateigentum nicht „umsonst“. Gerade weil der Eigentümer einer Sache damit juristisch nach Gutdünken verfahren kann, wird er auf der kulturell-informellen Ebene umso vehementer aufgefordert, mit seinem Eigentum gemäß gesellschaftlicher moralischer Normen umzugehen. Dies zeigt sich auch im allgemeiner gehaltenen Grundgesetz: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ (Artikel 14, Absatz 2). Die daraus entstehende Spannung äußert sich in allgegenwärtigen Diskursen darüber, was als legitim zu gelten hat, wobei moralische Argumente das Gewissen von Entscheidungsträgern sowie Arbeitnehmer und Öffentlichkeit beeinflussen. Privateigentum lizenziert die Gesellschaft somit nur für den Preis, damit „freiwillig“ innerhalb moralischer Grenzen zu verfahren. Dieser Umstand löst das zentrale Paradox auf, welches zwischen Moral und Interessenverfolgung in modernen Marktwirtschaften besteht. Denn er erklärt, wie es sein kann, dass eigeninteressierte Interessenverfolgung auf der einen Seite konstitutives Merkmal des Kapitalismus ist, dass aber auf der anderen Seite Unternehmen und Individuen, die ihre Wirtschaftsinteressen strikt eigeninteressiert verfolgen, dafür moralisch geächtet werden. Der Preis, den die Gesellschaft verlangt, um Privateigentum zu akzeptieren, kann zwar durch neoliberale Argumentationen gesenkt werden – es gibt dann Phasen, in denen die Freihandelszone moralisch lizenzierten amoralischen Verhaltens expandiert; die Erlaubnis zu interessenverfolgendem Handeln ist und bleibt jedoch ein gesellschaftlicher Akt, der normativ reguliert ist und über entsprechende moralische Argumente – je nach gesellschaftlicher Einbettung – begrenzt wird. Das Vorherrschen einer traditionalen oder kapitalistischen Wirtschaftsethik, ebenso wie die Orientierung an kollektiven oder individuellen Interessen, ist also nicht dadurch determiniert, dass wirtschaftliches Handeln in einer kapitalisti-
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schen oder traditionalen Wirtschaftsordnung stattfindet. Es muss stattdessen als Variable gesehen werden, die mit der konkreten sozialen Einbettung des jeweiligen Unternehmens und seiner Geschäftsleitung schwankt. Die individuelle Entsprechung zu diesem variablen Vorhandensein einer kapitalistischen Wirtschaftsethik lautet, dass die Wahrnehmung wirtschaftlicher Selbstinteressen immer in Konflikt steht mit moralischen Argumenten, die gesellschaftliche Normen und Interessen reflektieren. Selbstinteressiertes Optimieren der eigenen Interessen kann folglich auch in wirtschaftlichen Zusammenhängen nicht vorausgesetzt werden, sondern ist variabel; es findet innerhalb einer Freihandelszone moralisch lizenzierten amoralischen Verhaltens statt, deren Ränder immer wieder gesellschaftlich umkämpft und festgelegt werden.
Danksagung
Ein Buch ist nie ausschließlich das Ergebnis der Ideen der Person, unter deren Namen es erscheint. Besonders danke ich Wolfgang Streeck für maßgebliche inhaltliche Anregungen. Ich danke Helmut Voelzkow, die Grundbausteine meines soziologischen Denkens gelegt zu haben. Auch meinen Freunden und Kollegen am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung gebührt Dank für Ideen und Rat, besonders Marius Busemeyer, Jürgen Feick, Martin Höpner, Roy Karadag, Philipp Klages, Mark Lutter, Geny Piotti, Sigrid Quack, Britta Rehder und Sara Weckemann. Weiterhin möchte ich mich bei Gesprächspartnern aus Harvard bedanken, die mir während eines Auslandssemesters bei der theoretischen Nutzbarmachung der Empirie Anregungen gegeben haben, ohne die diese Arbeit jetzt nicht das wäre, was sie geworden ist. Vor allem möchte ich mich bedanken bei Frank Dobbin und Michèle Lamont vom Department of Sociology, Peter Hall vom Center for European Studies, Joseph Badaracco und Michel Anteby von der Harvard Business School und Roberto Fernandez, von der MIT Sloan School of Management. Für eine Durchsicht des Manuskripts und hilfreiche Anregungen möchte ich mich besonders bei Jens Beckert, Martin Ehlert, Tobias Lenz, Steffen Mau, Elisabeth Müller-Schröder und Claudia Winkelmann bedanken.
M. Schröder, Die Macht moralischer Argumente, DOI 10.1007/978-3-531-93196-8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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