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Mit vollen Segeln fuhr die Schwarze Wellenreiterin nach Süden und erreichte in der Abenddämmerung Pequa, eine klein...
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1.
Mit vollen Segeln fuhr die Schwarze Wellenreiterin nach Süden und erreichte in der Abenddämmerung Pequa, eine kleine Insel, deren helle Felsen manchmal an strahlenden Tagen von Candis‘ Hafen aus sichtbar waren. Außer zwei armseligen Fischerdörfern und einem Ausguckposten oben auf den Felsen war das Eiland unbewohnt. In einer der zahlreichen felsigen Buchten lief das Schiff ein und warf Anker. Kapitän Jaggar zweifelte nicht daran, daß seine Ankunft nicht unbemerkt geblieben war. Aber er war verhältnismäßig sicher, daß man nicht nach ihm Ausschau hielt. Der König würde nicht annehmen, daß sein desertierter Kapitän sich in die Nähe der Schlangeninsel zurückwagte. Die Chancen standen also dafür, daß Moraq gar nichts von der ganzen Sache wußte. Natürlich kannte Moraq Jaggar und die Schwarze Wellenreiterin. Sie gehörte zu den Schiffen der Bruderschaft, die immer in Candis selbst vor Anker lagen, wenn sie von ihren Beutefahrten zurückkamen. Die neunköpfige Mannschaft war völlig erschöpft. Seit Wiquin Wigors Flucht mit Sela und jenem
fürchterlichen Sturm hatten die Männer kein Auge zugetan. Die stürmische See hatte ihnen alles abverlangt auf einem Schiff, das nicht voll bemannt war. Die drei Männer, die in Phelos an Bord gekommen waren und bei Wigor angeheuert hatten, um an die myranische Küste zu gelangen, und nun davon weiter als zuvor entfernt waren, begnügten sich nicht mehr mit Murren. Sie verlangten, an Land gesetzt zu werden. Sie wollten in Fischerbooten nach Candis segeln, um dort neu anzuheuern. Aber Jaggar war sicher, daß sie über die Anwesenheit der Wellenreiterin nicht schweigen würden, auch wenn sie es jetzt beteuerten. Und das würde alle seine Pläne vereiteln. Deshalb ließ er die Männer kurzerhand in den Laderaum sperren und bewachen, mit der Androhung, sie König Jellis für seinen Krokodilteich mitzubringen. Das ließ ihr Gezeter verstummen. Selbst auf Pathos hatte man bereits von den Riesenkrokodilen des Königs der Schlangeninsel gehört, und auch, daß Jellis nicht sehr zimperlich in der Auswahl des Futters für seine Lieblinge war. Was sie nicht wissen konnten war, daß Serphat, der Priester der Schlange Mis, die Tiere getötet hatte, um Mis‘ Macht über die Geschöpfe des Wassers zu beweisen. Aber selbst wenn sie bereits von der Mannschaft das eine oder andere Wort vernommen
hatten, so schreckte sie doch die Aussicht, daß sie Gefangene des Königs sein sollten, genug ab, denn es war allgemein bekannt, daß Jellis Leben wenig achtete – mit Ausnahme seines eigenen. Eines war klar: Die Schwarze Wellenreiterin würde vorerst nicht mehr auslaufen. Es galt dafür zu sorgen, daß die Flotte sie nicht fand. Es hing von Moraq ab. Aber auch mit seiner Hilfe würde es sich nicht unbegrenzt verheimlichen lassen. Außerdem konnte die Flotte jederzeit aus Candis auslaufen. Sie ankerte vermutlich nur noch hier, um einige Nachzügler aufzunehmen. Jaggar hatte erwartet, daß sie längst nach Myra unterwegs wäre, aber die Händlerschiffe zwischen Pathos und den Miklenischen Inseln, die ihnen begegnet waren, hatten keine größere Flotte gesichtet, und es war beinahe unmöglich, in diesen häufig befahrenen Gewässern eine Kriegsflotte von dreihundert Schiffen zu übersehen. Sie mußte noch vor Candis ankern! Es galt, den König und die Bruderschaft von einem Dämon zu befreien, der jede Gestalt annehmen konnte, und der Macht über die Gedanken des Königs besaß – Serphat, der geheimnisvolle Priester der Schlangengöttin Mis. Ein Schwert oder ein Dolch konnten ihm nichts anhaben, das hatte Jaggar bereits erfahren und beinahe mit dem Tod bezahlt. Aber Feuer vermochte etwas gegen diesen Teufel, so hatte Wigor
berichtet. Es verriet seine wirkliche Gestalt – schleimiges Gewürm, das über das Deck gekrochen war und im Wasser verschwand, das es offenbar geboren hatte. Denn Serphat war aus dem Meer gekommen, in Gestalt einer riesigen Schlange. Wer oder was Serphat wirklich war, davor schreckten Jaggars Gedanken zurück. Er war der einzige, der die Gefahr zu sehen schien, in der nicht nur der König und die Bruderschaft, sondern die gesamte Schlangeninsel schwebte – und bald vielleicht alle Küsten des großen Meeres. Wenn Myra fiel und Dragon in die Gewalt dieses Priesters kam, dann Gnade den freien Völkern des Meeres. Sie würden alle Sklaven sein. Sklaven eines wieder auferstandenen Alptraums, der seit tausend Jahren vergessen war und von dem nur noch eine instinktive Furcht in den Herzen der Menschen und verfallene, überwucherte Opferstätten und Tempel im Landesinnern kündeten. Die Iquani, hieß es, waren Kinder der Schlange. Ein Einmaster kam in die Bucht, kurz bevor die Dunkelheit hereinbrach. Jaggar ordnete an, die Strickleitern auszurollen. Es war der erwartete Besuch Moraqs. Jaggar befahl seinen Männern, dafür zu sorgen, daß die Gefangenen sich nicht bemerkbar machen konnten, und die Waffen griffbereit zu halten.
Der Patrouillensegler kam längsseits mit eingerollten Segeln und vier ausgefahrenen Rudern. An Deck war in der Dunkelheit nur eine einzelne Gestalt zu erkennen, Moraq, der am Steuer stand. Fünf oder sechs Mann, schätzte Jaggar, mußten sich auf dem Schiff befinden. Mit ihnen würden sie im Notfall fertig werden ... Moraqs bullige Stimme unterbrach seine düsteren Gedanken und hallte über die stille, nächtliche Bucht. »Ha, Jaggar, bist du eine Maus, daß du dich verkriechst?« Er kletterte die Strickleiter hoch. Der schwache Schein der Lampen, die seine drei Begleiter an Bord brachten, fiel auf sein grinsendes Gesicht. Eine lange Narbe an der linken Wange gab Moraqs Zügen etwas gnomenhaft Boshaftes, obwohl seine Statur alles andere denn klein war. Er war im Gegenteil ein Hüne, und Bosheit war ihm fremd. Ein Fremder hätte ihn vielleicht falsch eingeschätzt, nicht Jaggar. Er wußte aber auch, daß die Friedfertigkeit des Mannes über einen anderen Umstand leicht hinwegtäuschte: daß er nämlich eine Klinge zu führen wußte wie nur wenige in Candis. Jaggar winkte seinen Männern, die eilig zwei Schemel brachten und einen Tisch, und Becher und Rum auftrugen. »Na«, meinte Moraq jovial, während er mit der
Zunge schmatzte und das Gesicht verzog, »der Rum ist so grauenhaft wie das, was sie in Peggara brauen. Du hast schlechte Beute gemacht, Jaggar.« Jaggar schüttelte den Kopf. »Keine Beute, Moraq. Der Rum ist hier geladen. Ich komme ohne Beute zurück, und ich brauche deine Hilfe.« Moraqs Züge wurden ernst. »Ich bin keiner von der Bruderschaft«, sagte er bedächtig. »Aber es gibt viel, das ich für dich tun würde.« Jaggar nickte. Er warf einen Blick auf Moraqs Männer, die nicht weit von ihnen an der Reling standen. »Schick sie weg! Was ich dir sage, ist nur für deine Ohren.« Moraq zögerte einen Augenblick. Er war ein vorsichtiger Mann, der spürte, daß auf diesem Schiff nicht alles stimmte. Aber er hatte mit Jaggar zusammen gefochten, bevor er Kommandant von Pequa geworden war. Und das überwog. Er befahl seinen Männern, auf ihr Schiff zurückzukehren und abzuwarten. Jaggar sah ihnen aufatmend nach. »Heraus damit«, sagte Moraq. »Was ist geschehen?« »Ist die Flotte ausgelaufen?« entgegnete Jaggar mit einer Frage. »Nein. Soviel ich erfahren habe, warten sie noch auf Meliqs Schiffe, die heute nacht eintreffen werden. Der König scheint kein Risiko einzugehen. Er kratzt alles zusammen, was Männer tragen kann. Du warst auf
Kundschaft, nicht wahr? Was hast du erfahren?« Jaggar zögerte. Es wäre leicht gewesen, nun zu schwindeln. Moraq schien ahnungslos. Aber etwas riet ihm, Moraq nicht zu belügen, sondern zu versuchen, ihn zu überzeugen. Er brauchte einen Gefährten, den auch die Wahrheit nicht entmutigte, denn früher oder später würde er sie erfahren. Die Wellenreiterin war mit der kleinen Besatzung manövrierunfähig. Mit ihr konnte er bestenfalls zu fliehen versuchen, wenn seine Pläne fehlschlugen. Aber für seine Pläne brauchte er ein anderes Schiff – eines von Moraqs Booten. »Nein, ich war nicht auf Kundschaft. Ich war krank. Und ich habe beinahe meine ganze Mannschaft verloren.« »Krank?« fragte der Kommandant von Pequa entgeistert. Jaggar nickte. »Sag mir eines, ist dieser Priester noch in Candis?« »Du meinst Serphat? Ja, und man sieht den König nie ohne ihn. Das berichten die Boten, die täglich zur Insel kommen. Ich habe ihn noch nie selbst gesehen. Ist es wahr, daß er sich in eine Schlange zu verwandeln vermag?« »Nicht nur das«, erwiderte Jaggar. »Er kann sich in jeden von uns verwandeln, ohne daß wir den Unterschied merken ...« Moraq starrte den Kapitän ungläubig an. »In jeden
von uns?« »Ja«, knirschte Jaggar. »Und er trachtet mir nach dem Leben – im Namen des Königs ...« Unbewußt fuhr die Hand des Kommandanten zum Schwert. »Was sagst du da?« Er starrte Jaggar forschend an. »Du bist desertiert, nicht wahr? Darum verkriechst du dich hier wie eine Maus ...!« »Ja und nein«, erklärte Jaggar fest, seine Lippen waren ein schmaler Strich. Nun war der Augenblick, da er Moraq verlieren oder gewinnen würde. Hart fuhr er fort: »Der König würde sagen, ich sei desertiert. Er weiß es nicht besser. Es gibt wenig, das der König wirklich weiß, seit Serphat bei ihm ist. Auch die Bruderschaft glaubt, ich wäre desertiert. Sie alle sind dem Priester hörig. Aber du hast noch einen freien Willen. Und wenn er dir lieb und teuer ist, dann hörst du mich an, bevor du dein Schwert ziehst. Der König ist in Gefahr. Wir alle sind in Gefahr ... Es gibt nur einen, der die Gefahr kennt – ich.« »Ich bin Soldat«, sagte Moraq mit spürbarer Kälte. »Ich habe kein anderes Wort als Feigheit für Desertion. Hätten meine Augen nicht oft genug gesehen, daß du nicht feige bist, Jaggar, so hinge mein Schwert nicht mehr so ruhig an meiner Seite. Bei Kelim, es muß der Teufel selbst sein, der dich zur Maus macht ...!« »Es ist der Teufel selbst«, sagte Jaggar zustimmend.
»In Serphats Gestalt.« Er goß einen Becher des abscheulichen Rums in sich hinein und stand unruhig auf. »Vor fünf Tagen kam ich von einer Erkundungsfahrt von Myras Küsten zurück. Ich warnte den König, daß ein Angriff auf Myra uns teuer zu stehen kommen könnte. Er lachte mich wie immer aus, wenn ich zur Vorsicht gemahnte. Es machte mich auch wütend wie immer, aber ich wußte, daß er meinen Bericht überdenken würde, sobald er allein war. Das hatte er immer getan. Vielleicht hätte er die Idee nicht fallengelassen, Myra anzugreifen, aber sicher wäre er umsichtiger ans Werk gegangen und hätte nicht ohne einen Vertrag mit den Kyriern im Westen die Insel so vollkommen von Streitkräften entblößt, wie er es eben tut. Er hätte auf längere Sicht geplant und mehr zu erfahren versucht über den neuen myranischen König – Dragon ...« Moraq brummte zustimmend. Das leuchtete ihm ein. Während der Dauer dieser Eroberungsfahrt würde die Schlangeninsel praktisch nackt daliegen, eine leichte Beute, nach der Kyrien und Balava die Hände ausstrecken mochten. »Aber dann kam dieser Schlangenpriester an Land«, fuhr Jaggar fort, »und ich brachte ihn selbst zum König, und seitdem hat der König keinen eigenen Gedanken mehr. Ich habe den Priester reden hören von Myra. Da dachte ich, er wäre ein Mann mit Haß im Herzen. Bald
darauf sah ich den König mit dem gleichen Haß im Herzen, und am selben Abend kamen seine Häscher auf mein Schiff, um mir die Klinge zu geben ...« »Sie sollten dich töten?« entfuhr es dem Kommandanten. »Ja. Ein halbes Dutzend. Sie stießen ihre Klingen in mein Bett, aber ich habe ein gutes Ohr für nächtliche Geräusche und hatte es längst verlassen. Ich verbarg mich auf Deck und wartete auf die Brut ...« »Die Mannschaft ...«, warf Moraq ein. »Schlief«, erklärte Jaggar. »Bootsmann Galis, den ich längst als Spitzel des Königs im Verdacht hatte, beseitigte die Deckwachen. Das alles nicht genug, schlich sich ein myranischer Junge an Bord, der seit Monden hinter mir her war und mir ans Leben wollte, weil wir vor einem halben Jahr sein Liebchen aus Deyman mitgenommen hatten und sein Bruder dabei ums Leben kam.« Jaggar nickte zu sich. »Ein guter Junge, wie ich ihn mir als Sohn wünschte – zu unerfahren noch, um alt zu werden mit seiner Tollkühnheit. Er wollte einen fairen Kampf. Als er die Meuchelmörder sah, da focht sein Arm für mich. Nur zwei kehrten heim in dieser Nacht, dem König Kunde zu bringen. Vier fanden ein nasses Grab, und der Junge wäre mit ihnen gewesen, hätte mein Dolch ihm nicht sein junges Leben gerettet ...« »Was geschah dann?« fragte Moraq atemlos.
»Der junge Wigor begrub seinen Groll gegen mich. Ich bot ihm Heuer an. Einen wie ihn konnte ich gut gebrauchen. Er nahm an. Ich hieß ihn, meinen Bootsmann Galis im Auge zu behalten. Das tat er denn auch. Einer der Diebesgilde holte Galis in den Palast. Wigor, der ihm folgte, schwor, ihn dort in den Gewölben gesehen zu haben ... tot, von einem Schwert durchbohrt ...« Der Kommandant ballte die Fäuste. »So ist es nicht der König, der dir ans Leben wollte. Er hätte nicht seinen eigenen Mann umgebracht ...« Jaggar nickte. »Solcherart überlegte ich auch. Da fiel zum erstenmal mein Verdacht auf den Priester. Ich dachte erst, er wollte nur einen Zeugen beseitigen, den wir bereits im Verdacht hatten, aber es kam anders. Am Abend desselben Tages kam Galis an Bord. Daß der Junge mich hintergangen hatte, war mein erster Gedanke. Aber sein Erschrecken war anderer Art, das konnte ich deutlich genug sehen. Auch daß mit Galis etwas nicht stimmte, fühlte ich in den Knochen. Wenn er mich ansah, fiel es mir schwer, einen Finger zu rühren. Mir war Furcht immer fremd. Aber nicht an diesem Abend. Keine Stunde später, als ich an Deck kam, sprang er auf mich los. Ich wollte ihn abwehren. Er kümmerte sich gar nicht um das Entermesser in seinem Bauch. Er packte mich mit Händen von solcher Kälte, daß in mir alles zu Eis wurde.
Ich muß geschrieen haben, bevor er mich packte, denn plötzlich waren Stimmen um mich. Die Männer zerrten uns auseinander. Das war das letzte, das ich für gute zwei Tage sah.« »Zwei Tage ...?« »Ja, zwei Tage. Und ich erwachte durch das Schreien meiner Männer und durch den Klang von Schwertern. Ein Dreimaster ohne Flaggen versuchte trotz des schweren Winds längsseits zu gehen. Ein Dutzend seiner Mannschaft waren wie Teufel über die Gischt gesprungen und lernten, daß wir eine verdammt teure Beute waren. Denn keiner verließ unser Schiff mehr lebend. Aber wir waren selbst nur noch zehn, und der Sturm trieb uns von den Fischerinseln nordwärts ...« »Kelims Blut!« entfuhr es Moraq. »Die Fischerinseln, sagst du?« »Ja. Wir hatten mächtig Fahrt drauf. So nach und nach erfuhr ich, was geschehen war. Wigor hatte das Kommando übernommen, und meine Mannschaft, die ahnte, daß ich mich in Gefahr befand, wenn sie auch noch nicht erkannt hatte, in welcher, folgte ihm. Sie ruderten noch in der Nacht aus dem Hafen und quer durch die Flotte. Es war ein Meisterstück. Sie kamen nach Pathos. Dort ging die Hälfte der Mannschaft an Land, jene, die des Königs Zorn fürchteten. Ein paar Männer aus Phelos heuerten an, die nach Myra wollten wie Wigor. Aber ich bezweifle, daß meine Männer
wirklich nach Myra gegangen wären. Sie kamen mit, um da zu sein, wenn ich erwachte und sie brauchte. Wir hatten das Inselmeer weit hinter uns, als der Sturm sich endlich legte. Wigor wollte nach Myra. Ich aber wollte zurück. Für mich gab es nur eines: Serphat, diesen Teufel, zu erledigen, bevor alle ihm hörig sind!« Moraq schüttelte nachdenklich den Kopf. »Was bringt dich auf den Gedanken, Galis wäre Serphat gewesen? Nur weil dieser Myraner behauptete, seine Leiche gesehen zu haben ...« »Er war wie Eis«, unterbrach ihn Jaggar. »Schlangen haben kaltes Blut. Er vermochte sich in Schlangen zu verwandeln, das habe ich mit eigenen Augen gesehen, und Tausende auf Minos Fest werden es dir bestätigen. Warum sollte er da nicht auch die Gestalt eines anderen Menschen annehmen können? Ich hatte keinen Grund, an Wigors Worten zu zweifeln. Aber ich hätte sicher auch gezweifelt ohne die einstimmigen Berichte meiner Männer über das, was an Deck geschehen war, nachdem sie mich dem vermeintlichen Galis entrissen hatten. Schwerter vermochten ihm nichts anzuhaben. Erst als einer ihm mit Feuer zu Leibe rückte – da löste sich seine Gestalt auf, und schleimiges Gewürm kroch über die Planken ins Meer ...« Der Kommandant war bleich geworden bei diesen Worten. »Das war nicht Galis, dem wir gegenübergestanden
hatten«, ergänzte Jaggar kopfschüttelnd. »Das war Serphat, der sich im Palast befunden hatte, als Galis ihn betrat.« Moraq leerte den Becher und goß nach. »Das ist eine verdammte Geschichte, die du da erzählst, und keinem andern würde ich sie glauben. Sag mir noch eins – welchen Haß nährt der Priester gegen dich?« Jaggar zuckte die Achseln. »Ich kann es nur vermuten. Es muß wohl sein, weil ich den König vor einem Angriff auf Myra warnte. Der Priester scheint nur ein Ziel zu kennen: Myra unter seine Faust zu bekommen, gleich um welchen Preis. Und jede Stimme dagegen ist wie ein Dorn in seinem Fleisch. Als Kapitän der Bruderschaft hätten sie meine Warnungen hören müssen im Ratssaal, ob sie dem König nun gefielen oder nicht. Natürlich genügt des Königs Wort für den Angriff, aber im Zweifelsfall wäre die Bruderschaft stark genug, sich selbst gegen den König zu stellen. Dieses Risiko, denke ich, ist es, das Serphat vermeiden wollte. Wie sehr der Priester aber bereits vorgesorgt hatte, erkannte ich, als ich versuchte, einigen der Kapitäne meine Bedenken mitzuteilen. Sie empfingen mich, als wäre ich ein Verräter, obwohl keiner noch etwas von den Dingen wissen konnte, die ich mit dem König besprochen hatte, denn keiner war nach mir beim König zur Audienz gewesen. Jemand hatte sie
beeinflußt. Und es gab nur einen, der Macht genug besaß, sie gegen einen aus ihrer Mitte aufzuwiegeln ...!« Eine Weile schwiegen die beiden Männer. Schließlich sagte Moraq: »Wo ist dieser junge Myraner?« »Er floh in der ersten Nacht, als wir wieder nach Süden segelten«, erklärte der Kapitän, und ein Anflug von Trauer überschattete sein Gesicht. »Er war zu wagemutig, ein Narr, der glaubte, mit einem Boot Myra zu erreichen.« »Myra?« entfuhr es Moraq. »Aber das bedeutet, daß man dort von des Königs Plänen weiß, wenn er die Küste erreicht hat ...!« Jaggar schüttelte den Kopf. »Da können wir unbesorgt sein. Es gab einen Sturm am Morgen, der die Wellenreiterin beinahe kentern ließ. In dem Boot hatte er keine Chance.« Und gepreßt fügte er hinzu: »Wenn ich je einer myranischen Seele nachtrauere, dann seiner. Ein wenig Zeit und Verstand, und er wäre einer von unserem Holz geworden. Laß uns einen Becher auf ihn leeren!« Er hob seinen Becher, und Moraq stieß an. »Was willst du tun?« fragte Moraq nach einer Weile. »Den König warnen?« Er schüttelte den Kopf. »Er wird dir nicht glauben. Er kann es gar nicht, wenn es stimmt, was du sagst, daß er nach des Priesters Pfeife tanzt«
»Ich muß ihn überzeugen ... oder den Priester vernichten.« Jaggar starrte den Kommandanten forschend an. »Hilfst du mir?« Moraq ließ sich Zeit, ehe er antwortete. »Wie?« Ich brauche eines deiner Boote«, sagte Jaggar rasch. »Mit der Wellenreiterin kann ich nicht nach Candis, selbst wenn ich noch genügend Leute hätte. Ich muß heimlich gehen, sonst komme ich nicht an den König heran ...« Der Kommandant nickte. »Der erste, der dich sieht, würde dich an den Mast knüpfen, und ich frage mich, warum ich es nicht selbst tue.« Er sah, daß Jaggar zusammenzuckte, und grinste. »Ein anderer, der so wie du meine Vernunft strapaziert, würde langst hängen. Aber ich habe zu oft an deiner Seite gekämpft. Dein Arm ist mir teuer geworden. Und da ist etwas an deiner Geschichte, das mich schaudern läßt. Also glaube ich dir, wie verrückt es auch alles klingt. Aber sei gewarnt. Wenn alles nur ein Spiel ist, und du meine Hand mißbrauchst für etwas, das mir Schamrote ins Gesicht treiben würde, dann hast du einen erbitterten Feind auf deinen Fersen. Hier, mein Freund!« Er reichte Jaggar die Hand, die dieser erfreut ergriff. »Ein Boot und einen Arm!« rief er, griff nach dem Becher und leerte ihn und setzte sich auf den Schemel. »Nun ist mir leichter.« Moraq lachte. »Dir vielleicht. Meine Gefühle sind
eher gegenteilig. Meine Erfahrungen, daß Freunde selten Gewinn, aber um so mehr Schwierigkeiten bringen, haben sich über die Jahre immer wieder bestätigt.« »Ah, Freund, du siehst zu schwarz. Heute nacht entführe ich den König. « »Was hast du vor?« schrie der Kommandant auf. Jaggar grinste, zum erstenmal, seit der Kommandant von Pequa an Bord gekommen war, oder wenigstens zum erstenmal mit leichtem Herzen. »Ich entführe den König und bringe ihn hierher. Und hier will ich ihm die Augen öffnen, wenn es nicht bereits die Abwesenheit des Priesters tut.« Moraq nickte. Seine Augen glänzten plötzlich in stummem Beifall. »Das ist ein Meisterstück nach meinem Geschmack, und was in meiner Macht steht, werde ich tun, damit es gelingt.« »Gut. Dann wollen wir keine Zeit mehr verlieren. Sie werden morgen auslaufen. Was zu geschehen hat, muß in dieser Nacht geschehen. Ist der König noch im Palast?« »Ja.« »Bist du sicher?« Moraq nickte. »Seit die Flotte im Hafen liegt, haben wir eine verstärkte Mannschaft auf der Insel. Ein Schnellsegler liegt in der Ostbucht in Bereitschaft. Schiffe, die zu nahe kommen und die Flotte entdecken
könnten, werden hier zum Ankern gezwungen. Da der König meine Boten persönlich empfängt, wären wir die ersten, die erfahren würden, auf welches Schiff sich der König begeben hat. Bis jetzt haben wir darüber noch keine Nachricht.« »Hast du Kontrollen, wenn du ein Boot nach Candis schickst?« »Ja. Aber keine sehr gründlichen.« »Niemand durchsucht das Boot?« »Nein, sie verlangen nur die Losung. Und sie würden selbst die nicht verlangen, wenn ich fahre. Jeder kennt mich.« Jaggar überdachte das einen Augenblick. »Wir werden also eine Botschaft nach Candis bringen. Was meinst du? Wie stehen die Chancen, daß wir den Palast erreichen?« »Gut genug.« »Werden deine Männer nicht Verdacht schöpfen?« »Ich kann sie beruhigen. Sie werden bereitwillig genug glauben, daß du in geheimer Mission des Königs hier bist. Und das ist schon die halbe Wahrheit.« »Vielleicht ist es die ganze, bevor der Morgen kommt«, erwiderte Jaggar.
2.
Kurz vor Mitternacht verließ Moraqs Boot die Insel, auf deren Felsen ein helles Leuchtfeuer brannte. Der Mond gab spärliches Licht. Vier Männer ruderten den Einmaster langsam durch das nachtschwarze Wasser. Mehrere Fackeln und Lampen kündeten weithin, daß das Boot zur Küste unterwegs war und Nachricht für den König brachte. Als sie aus den Felsen der Insel auftauchten, füllte ein leichter Wind das Segel. Moraq ließ die Ruder einziehen. Sie machten langsame Fahrt auf die Küste zu. Es war keine Eile. Moraqs Männer waren von Jaggars geheimer Mission unterrichtet. Sie wußten auch, daß der Kapitän jemanden an Bord bringen wurde. Daß dies der König selbst sein sollte, ahnten sie allerdings nicht. Nach geraumer Weile sahen sie die ersten dunklen Schatten der großen Galeeren vor sich. Moraq ließ das Segel offen. Die Ruderer nahmen ihre Arbeit wieder auf. Da die Flotte so deutlich auszumachen war, verzichtete Moraq auf den Gong, mit dem die Deckwachen ihn normalerweise nachts in den Hafen lotsten. Ein paarmal kamen halblaute Anfragen aus der Dunkelheit, auf die Moraq mit dem
Losungswort antwortete. Jaggar hatte sich unter Deck begeben und starrte gespannt aus den Ruderluken. Zum Greifen nah glitten die Bordwände der Galeeren und schnellen Segler an ihm vorbei, schwarz und drohend. Eine schier nicht enden wollende Reihe. Er schüttelte verwundert den Kopf. Mehr denn je wurde ihm nun bewußt, welch unglaubliches Wagnis Wigor auf sich genommen hatte, als er die Wellenreiterin bei Nacht unbemerkt durch dieses Labyrinth von Schiffen steuerte. Dann erreichten sie den Kai und legten an. Nur die Seehexe, des Königs Flaggschiff, lag in unmittelbarer Nähe. Aber auch auf ihr war alles ruhig. Die Mannschaft schlief. Die Deckwachen sahen wohl zu der anlegenden Schaluppe herüber, aber wohl nur der willkommenen Abwechslung wegen. Zwei Männer blieben im Boot zurück. Die anderen beiden begleiteten Jaggar und Moraq mit Lampen über den Marktplatz. Sie schritten ohne Hast aus. Als sie die ersten Häuser erreichten und in die dunklen Gassen tauchten, die den Blick vom Meer her abschnitten, löschten sie die Lampen und schlichen in der Dunkelheit weiter. Die Gassen waren leer – schwarze, stille Schlünde, durch die sich manch einsamer Fußgänger nicht wagen mochte. Die Männer kannten diesen Teil der Stadt und verloren keine Zeit. Einmal kam ihnen eine Patrouille
von Wachsoldaten entgegen, die nach Mitternacht durch die Stadt schritten. Sie drückten sich eng in einen Hausflur. Daß sie ohne Licht durch die Gassen schlichen, machte sie verdächtig, und es hatte lästige Fragen gegeben. Vielleicht hätte einer der Soldaten sogar Jaggar erkannt. Das wäre das Ende des Abenteuers gewesen. Zum Glück kümmerten sich die Soldaten wenig um die Hauseingänge. Als ihr Schritt in der Ferne verklang, eilten die vier weiter. Bald ragte der Palast dunkel über die Häuser. Ihr Schritt wurde vorsichtiger. Am Palasttor standen mehrere Wachen. Die Stelle, an der es möglich war, die hohe Mauer zu überklettern und in den Garten zu gelangen, lag direkt in ihrem Blickfeld. Der Mond war unerfreulich hell. Die vier tauchten in die Gasse zurück. »Also, es bleibt dabei«, flüsterte Jaggar. »Ihr lenkt sie ab. Während du zum König gehst und ihm die Nachricht bringst, daß die Schwarze Wellenreiterin in Pequa gelandet ist, werde ich mir einen Weg über die Mauer suchen. Und ihr horcht auf mein Zeichen. Der Ruf des Küstenvogels!« Die Männer nickten. »Wenn euch jemand fragt, mich habt ihr nicht gesehen. Es würde euren Kommandanten in des Teufels Küche bringen, wenn ihr euch verplappert.« »Alles klar, Kapitän.«
»Dann vorwärts. Die Lampen hat euch der Wind ausgeblasen. Und seht nicht zurück!« Jaggar sah Moraq und den beiden Männern nach, als sie auf das Tor zuschritten. Die Stimmen der Wachen drangen zu ihm herüber, als die Gruppe sie erreichte. Jaggar huschte los. Er erreichte die Mauer unbemerkt und verharrte einen Moment. Die Wachen wandten ihm den Rücken zu, als sie Moraq einließen und mit seinen Männern ein Gespräch begannen. Sie schienen dankbar für die Abwechslung. Jaggar schnellte hoch, erreichte die Mauerkante und zog sich keuchend auf den Sims. Dort lag er einen Augenblick flach und lauschte. Sie schienen ihn nicht bemerkt zu haben. Er atmete auf. Die erste Hürde war genommen. Lautlos ließ er sich in den Garten hinab. Er prallte dumpf auf und lauschte erneut – mit angehaltenem Atem. Die Wachen lachten. Moraqs Männer gaben irgend etwas zum Besten. Undeutlich sah er, wie Moraq das innere Palasttor erreichte und pochte. Die Tür öffnete sich. Kurz sah er Coris‘ Silhouette. Dann hastete er durch das Buschwerk, breite Rasenflächen vermeidend, auf das Palastgebäude zu. Niemand schien ihn zu bemerken. Er lehnte sich keuchend an den kalten Marmor und starrte hoch. Die erste der Terrassen befand sich nicht weit von ihm.
Vorsichtig steuerte er darauf zu. Es gab genügend Mauervorsprünge. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getrogen. Er überprüfte seinen Gürtel, den Sitz der Waffen. Das Schwert hatte er an Bord gelassen. Nur Dolch und Entermesser steckten in seinem Gurt. Er schlüpfte aus den Sandalen und schob sie unter die nächsten Büsche. Dann sprang er, erreichte den ersten Vorsprung, einen Tigerkopf, und zog sich daran hoch. Jaggar war äußerst dankbar für diese künstlerische Gestaltung der Palastmauer. Ohne die Schädel, die in regelmäßigen Abständen aus der glatten Wand ragten, wäre es verdammt schwierig gewesen, auch nur in die Nähe der Terrasse zu gelangen. Aber es war auch so ein Risiko. Es gab nichts außer den Schädeln wilder, säbelzahnbewaffneter Ungeheuer, wie sie auf der Schlangeninsel einst existiert haben mochten, wenn man den alten Legenden Glauben schenken wollte. Ein Sturz in die Tiefe mußte den sicheren Tod bedeuten. Das Pflaster lag bleich im Mondlicht. Jede Weiterbewegung bedeutete einen Sprung, ein verzweifeltes Festklammern auf dem polierten Marmor und eine Reihe von unvermeidbaren Geräuschen. Dennoch erreichte er die erste Terrasse unbemerkt. Dort verschnaufte er ein wenig. Von hier ließ sich der Hafen gut überblicken, aber er war heute dunkel
bis auf einige flackernde Lampen an der Stelle, an der die Seehexe vor Anker lag, und einem vereinzelten Licht auf Moraqs Schaluppe. Der Palastpark lag im Mondlicht. Wenn er sich weit über die Brüstung vorlehnte, vermochte er das Parktor, die Wachen und Moraqs Männer zu erkennen. Die Fenster und Türen waren dunkel. In diesem Stockwerk schien keine Seele wach. Er versuchte die Tür. Sie war verschlossen. Er fluchte, obwohl er nicht erwartet hatte, sie offen vorzufinden. Nun, da er weit genug von den Wachen entfernt war, konnte er die leichtere Methode wählen. Er starrte zu der Reihe von Balkonen hoch vor des Königs Fenstern. Aus zweien der Fenster drang plötzlich Licht. Das durfte die kleine Audienzkammer sein, die der König für nächtliche oder vertrauliche Gespräche benutzte. Moraq mußte nun bei ihm sein. Es war an der Zeit zu handeln. Er riß sein Hemd aus dem Gürtel und begann das Seil abzuwickeln, das er darunter um seine Mitte geschlungen hatte. Es dauerte eine Weile, denn es war von beträchtlicher Länge. Dann zog er den Bootshaken aus dem Gürtel hervor und knüpfte das Tau daran fest. Er starrte erneut hoch und wählte einen der Balkone vor den dunklen Fenstern. Jaggar war einer der wenigen, die wußten, wo die Gemächer des Königs lagen. Von diesem Balkon würde er direkt in das
Schlafgemach gelangen, das einzige, in dem keine Wachen stehen würden. Er wog das Eisen in seiner Hand – und warf es. Es wirbelte hoch, und mit ihm das Tau. Zu kurz! Es berührte den Balken mit leisem Klirren und fiel. Einen Augenblick verschluckten es dunkle Schatten unter den Mauervorsprüngen, und Jaggar fürchtete einen Herzschlag lang, er könnte es verfehlen und es würde mit totenerweckendem Getöse auf die Terrasse prallen. Aber dann funkelte es im Mondlicht und landete sicher in seiner Hand. Er warf es erneut – kräftiger. Befriedigt sah er, wie es über der Brüstung verschwand. Es klirrte verräterisch, als es aufschlug, und glitt scharrend über den Stein. Dann straffte sich das Tau. Er zog vorsichtig daran. Fester. Es hielt. Er wartete noch einige Atemzüge. Nichts regte sich. Dann begann er an dem Tau hochzuklettern. Er pendelte bereits hoch über der Terrasse, als er eine Bewegung am Seil verspürte. Er blickte hoch. Ein Soldat lehnte sich über die Brüstung. Er hielt einen Dolch in der Rechten und sah grinsend auf Jaggar hinab. »Sieh an, eine Spinne am Faden«, spottete er. »Ich hoffe, es ist nicht dein einziger. An dem hier wirst du gleich keine Freude mehr haben.« Mit diesen Worten begann er mit dem Dolch an dem
Tau zu säbeln. Alles in Jaggar schrie auf. Die Gefahr verlieh ihm Bärenkräfte. Mit der Gewandtheit eines Affen kletterte er das letzte Stück hoch. Das Tau begann zu reißen. »Halt!« rief eine Stimme. Der Dolch hielt inne. Die letzten Fäden hielten die nun reglose Gestalt. König Jellis‘ Gesicht erschien über der Brüstung. Es starrte unbewegt hinab auf den Kapitän. »Zieht ihn hoch!« Das Gesicht verschwand. Zwei andere erschienen. Kräftige Arme griffen über das Geländer und begannen das Seil hochzuziehen. Fäuste packten Jaggars Arme und zerrten die erschöpfte Gestalt auf den Balkon. Er stolperte auf die Beine. Ein halbes Dutzend Wachen standen um ihn, die Klingen blank in der Faust. Sie deuteten ins Innere, wo nun Lampen flackerndes Licht verbreiteten. Er atmete tief ein und folgte ihnen. Er wußte, daß es das Ende seiner Pläne war. Den Palast würde er nicht mehr lebend verlassen. Der König, angetan in einen schweren zeremoniellen Mantel, darunter aber offenbar nackt, musterte seinen Kapitän amüsiert. Im Hintergrund sah Jaggar den Kommandanten von Pequa stehen, dessen Gesicht alle Farbe verloren hatte. Kelim sei Dank schien er sich jedoch rasch zu erholen. Keiner der Anwesenden beachtete ihn. Sie hatten ihn offenbar vollkommen vergessen.
»So sehen wir uns also wieder, mein guter Jaggar«, meinte der König spöttisch. »Ich habe gehört, daß es in deiner Heimat Brauch ist, nachts ein Mädchen solcherart zu überraschen. Hattest du das im Sinn?« Die Wachen lachten. Jaggar verzog keine Miene. »Bist du allein, mein König – oder ist die Schlange in deinen Gedanken?« Jellis maß ihn einen Augenblick nachdenklich. »Du bringst eine Botschaft?« Jaggar nickte. »Mehr als das. Eine Warnung und einen Plan.« »Du bringst sie auf einem seltsamen Weg.« »Es führt kein anderer Weg zu dir selbst, König. Ich kenne Serphats Macht ...« »Was willst du damit sagen?« fragte der König barsch, aber nicht barsch genug. Es war etwas Zögerndes an ihm. »Ich werde dir frei und wahr wie immer antworten. Ich habe dich nie belogen, mein König, obwohl mir dein jäher Zorn oft gern die Klinge dafür gegeben hätte. Am Ende schätztest du es immer.« Der König nickte ungeduldig. »Schick sie fort«, sagte Jaggar und deutete auf die Wachen. »Die Wahrheit, wenn du sie nicht bereits ahnst, wird dir nicht gefallen. Noch weniger, wenn sie sie hören.« Jellis zögerte. Dann winkte er den Männern.
»Verlaßt den Raum.« Jaggar wartete, bis sie gegangen waren. »Was ist mit ihm?« fragte er und deutete auf Moraq, der mit geballten Fäusten in der Tür zum Schlafraum stand, als würde er es wahrhaft wagen, seine Klinge gegen den König zu ziehen, wenn er Jaggars Tod befahl. »Es ist gut, Kommandant, du kannst gehen«, sagte Jellis. Moraq verneigte sich und wandte sich um. »Kommandant!« rief ihn Jellis zurück. »Du kennst diesen Mann, nicht wahr?« »Ich kämpfte oft an seiner Seite.« »Wenn ich ihn töten ließe, was würdest du wohl tun?« »Ich würde ihn betrauern, mein König.« Der König nickte nachdenklich. »Es war nicht dein Boot, das ihn brachte?« Moraq zögerte nicht. »Es war nicht mein Boot, mein König.« »Es ist dein Kopf, wenn du mich belügst.« Moraq nickte ungerührt. »Ich sagte dir, daß eines der Boote fehlte auf seinem Schiff.« Jellis nickte erneut. »Ja, das sagtest du. Du kannst gehen.« Moraq verneigte sich und ging. »Er ist dein Freund, warum bedienst du dich nicht seiner?« fragte der König.
»Wenn selbst die Kapitäne der Bruderschaft unter Serphats Einfluß stehen, wie konnte ich da hoffen, ihn von einer guten Sache zu überzeugen?« erwiderte Jaggar. »Von einer guten Sache?« wiederholte der König. »Ich sehe, daß du nachdenklich bist, König«, fuhr Jaggar rasch fort. »Es ist, als ob der Priester schliefe ...« Jellis starrte ihn an. Er fühlte sich seltsam frei – und leer. Als hätte er nur verschwommene Erinnerungen in seinem Geist, über das, was in den letzten Tagen geschehen war. »Du bist aus Candis geflohen, Kapitän. Warum?« »Weißt du es nicht?« fragte Jaggar vorsichtig. Er fühlte, daß der Priester im Augenblick keine Macht über den König ausübte, was auch immer die Gründe sein mochten. Sicherlich hatte er nicht mit diesem nächtlichen Besuch gerechnet. Vielleicht brauchte er den König nicht zu entführen. Vielleicht konnte er ihn überreden und ihm so die Augen öffnen. »Waren es nicht deine Männer, die auf mein Schiff kamen, um mir im Schlaf die Klinge zu geben?« »Tat ich das?« fragte der König verwirrt. »Doch, ich muß es wohl getan haben.« Er griff mit der Hand an seine Stirn – tief in Gedanken. »Es ist als ... ja, ich erinnere mich. Ich schickte die Männer. Aber es ist ...« »Es ist nicht deine Art zu töten«, ergänzte Jaggar grinsend. »Nicht heimlich. Wenn du den Tod gibst, soll
jeder ihn genießen können, nicht wahr? Aber ich muß dich enttäuschen, mein König. Ich habe für die eine wie die andere Art wenig übrig.« »Aber ich hätte dich niemals ...« Er schüttelte verwundert den Kopf. Dann fuhr er wütend fort: »Der einzige Tod, den du durch meine Hand erlitten hättest, wäre der im Zorn gewesen, und ich hätte ihn bedauert wie Selas Verschwinden ...« Impulsiv nahm er Jaggar an den Schultern. »Und dennoch war ich es, der die Männer schickte. Ich erinnere mich. Welcher Wahnsinn läßt mich Freund und Feind nicht mehr sehen?« »Serphats Teufelei, mein König«, sagte Jaggar bewegt. »Seine dunklen Kräfte sind es, die mit jedem Tag mehr Macht über dich und die Bruderschaft, gewinnen.« »Serphat«, wiederholte der König nachdenklich. »Er hat nur ein Ziel ...« Er brach ab. Entsetzt sah Jaggar, wie sich der Blick des Königs zu verschleiern schien, wie alles Nachdenkliche aus seinen Zügen verschwand. Die muskulöse Gestalt straffte sich wie unter einem inneren Befehl. Eine dunkle Gestalt erschien in der Tür, angetan mit einem Umhang und einer Kapuze, die tief ins Gesicht gezogen war, so daß aus dessen Schatten nur die Augen leuchteten – im Widerschein der Kerzen, mochte der flüchtige Beobachter glauben. Aber Jaggar
stand nah genug, um zu erkennen, daß es ein inneres Feuer war, das in ihnen schwelte. Er hatte plötzlich Angst – ein panisches Bedürfnis zu fliehen. Aber er wußte gleichzeitig, daß es zu spät war. Mit veränderter Stimme sagte der König: »Du bist also zurückgekommen, um deinem König die Augen zu öffnen!« Er lachte, und Jaggar schauderte, denn es war nicht des Königs Lachen, das aus dessen Mund kam, sondern Serphats. Es war voller Hohn und Triumph. »Du amüsierst mich«, fuhr die Stimme fort. »Ich habe dich unterschätzt. Deine Beharrlichkeit gefällt mir. Ich werde sie nutzen. Sieh mich an!« Das letzte war ein zwingender Befehl. In instinktivem Gehorsam blickte Jaggar auf – nicht zum König, sondern zur dunklen Gestalt in der Tür. Hilflos starrte er in das Gesicht. Serphats Gesicht. Und während er starrte, löschten die schwelenden Augen etwas in ihm aus.
3.
Maratha, die Seherin, betrachtete unbewegt das Kind,
das vor ihr zwischen die Kissen gebettet lag. Ihre blinden Augen nahmen es nicht wirklich wahr, nur ihr innerer Blick strich liebkosend über das schlafende Geschöpf. »Dragomar«, murmelte sie. »Der Sohn des schlafenden Gottes!« Triumph war in ihrer Stimme. Sie schien Kraft aus dieser Tatsache zu schöpfen. Der erschöpfte Ausdruck ihres Gesichts verschwand langsam. Die tiefen Furchen des Alters glätteten sich magisch. Der Morgen kam grau über die östlichen Hügel Myras. Vielleicht war es die erwachende Sonne, aus der die Frau ihre Kraft nahm. Aber ihr blindes Gesicht war nicht dem Osten zugewandt, sondern dem Westen, wo die Stadt über den Kamm eines Hügels hinweg sanft anstieg und dann steil zur Küste abfiel. Dort auf dem Kamm des Hügels stand weiß und milchig in der Dämmerung der Marmorpalast der myranischen Könige, in dem Dragon nun schlief mit einem Lächeln auf den Lippen, und Amee, die neue Königin Myras, schwach und bleich; neben ihr in einer kunstvoll geschnitzten Wiege Atlantor, der Knabe, Dragons Sohn, den sie am Abend geboren hatte. Das Kind der Königin war es, das Marathas blinde Augen fesselte. Immer wieder verglich sie ihr eigenes Kind mit dem Amees. Ihr innerer Blick ließ sie mehr sehen als gewöhnliche Menschen. Sie sah tief unter die
Oberfläche der Dinge, und wenn es eine Seele gab, dann blieb sie ihr so wenig verborgen wie das schlagende Herz oder das Flüstern der Gedanken. Sie entdeckte keine Unterschiede mehr. Es war derselbe kleine feuchte Mund, dieselbe Nase, dieselbe Farbe der Augen, das gleiche Gewicht. Es waren zwei Söhne Dragons, zwei Söhne Amees, aus zwei verschiedenen Körpern geboren! Aber nur äußerlich. Maratha kannte die Schatten des dunklen Erbes in Dragomar, den magischen Keim in seinem Blut, der ihn dereinst zu mehr als einem König machen würde – zu einem wahren Herrscher über die Völker dieser Erde. Es war ihr Blut, aus dem diese Macht kam, eine Macht, die bewies, daß ihre Vorfahren einst den Göttern nähergewesen sein mochten. Nur dieser Sohn Dragons war es, der sein Erbe antreten sollte! Der Erstgezeugte! Dragomar! Marathas Aufmerksamkeit richtete sich auf die schlafende Frau in der Kammer neben dem Gemach der Königin. Es war Iwa, die Hetäre, Iwa, die Heilerin und Amme der Königskinder von Urgor, die Amee mit nach Myra gebracht hatte. Iwas Schlauheit würde schwerer zu täuschen sein als jede andere Person im Palast. Maratha wußte, daß sie sehr vorsichtig zu Werk gehen mußte. Es gab noch eine Gefahr im Palast, der nur schwer mit List zu begegnen war – Yina, das
Mädchen, das die Gedanken der Menschen um sie zu hören vermochte, und das nicht von Dragons Seite wich. Marathas Finger verkrampften sich. Ihr schlimmster Gegner aber war die Zeit. Sie durfte nicht warten. Während der nächsten Tage mußte sie ihren Plan ausführen. Nur für kurze Zeit würden die beiden Knaben einander so vollkommen gleichen. Wohl hatte sie Dragomars Gestalt und Aussehen formen können, solange er noch Teil ihres Leibes war. Aber sie besaß keinen Einfluß mehr auf ihn, nun da sein eigener kleiner, noch tastender Verstand es übernommen hatte, den kleinen Körper zu lenken. Er werde wachsen – und wachsend, sich verändern. Und wenn die Götter Amee nicht mit Blindheit schlugen, dann mußte sie es erkennen, daß es nicht mehr ihr eigen Fleisch und Blut war, das sie an ihren Busen hielt. Nein, es mußte rasch geschehen, so lange das kritische Auge der Mutter noch nichts Verdächtiges erkennen konnte. Morgen oder am Tag danach würde Dragomar in der königlichen Wiege liegen – in einer Wiege, die wohl die Zukunft der Welt bereithalten mochte. Ihr voller Mund zuckte, als wollte sie es laut beschwören. Ihr Gesicht war glatt und von ungewöhnlicher Schönheit. Als die Sonne aufging, lag
sie noch immer reglos, verloren in den Bildern ihres inneren Blicks, in dem Wirklichkeit sich mit Voraussicht und Träumen mischte. Sie sah nicht mehr aus wie die alternde Frau, die sie noch vor wenigen Stunden gewesen war, als die Geburt ihres Kindes sie eines Großteiles jener Kraft beraubt hatte, die die Illusion ihrer Jugend und Schönheit aufrechthielt. Jemand pochte an ihre verschlossene Tür, aber Maratha hörte es nicht. Sie war weit fort. Die Wirklichkeit war erloschen, wie so oft. In ihren weit offenen Augen winkten die Schatten ihrer Träume wie in den tiefen Kelchen dunkler Blumen. Erneut klopfte es, und die Stimme eines Mädchens sagte zaghaft. »Tomara ist hier, Herrin.« Und mit einem Anflug von Furcht, als sich nichts regte: »Geht es euch gut, Herrin? So laßt mich doch ein.« Sie vernahm die gedämpften Laute eines Kindes und erschrak. Es war während der Nacht geschehen! Das Kind war da! Aber warum rührte die Frau sich nicht? Ein tiefer mütterlicher Instinkt ließ auch Maratha das Weinen des Kindes hören. Ihre Lider zuckten. Der Augenblick, die Bilder des Sehens verschwanden. Erschöpft fuhr sie hoch, tastete nach dem Kind und zog es hoch an ihre Brust. Ihre Wangen waren aschgrau, wie immer, wenn sie aus ihrer Trance kam, ihre
Schönheit welk, als schickte sie mit dem inneren Blick einen Teil ihrer Kraft hinaus, um den Augen ihrer Seele Licht zu geben. Dann vernahm sie die Stimme des Mädchens an der Tür und ihr verzweifeltes Pochen. »Herrin! So antwortet doch!« »Ich komme, Tomara«, murmelte sie mit schwacher Stimme. Den Knaben an sich gepreßt, erhob sie sich vom Bett und ging mit erstaunlicher Sicherheit zur Tür. Sie schob den Riegel beiseite und ließ das Dienstmädchen ein. »Oh, Herrin!« rief Tomara. »Den Göttern sei Dank! Ich dachte schon, es wäre euch etwas geschehen ...« »Und warst um deinen Lohn besorgt?« erwiderte Maratha mit einem schwachen Lächeln. »Herrin, Ihr wißt, daß es nicht so ist ...« Sie schmollte, aber sie wußte, daß die Frau ihre Dienste sehr schätzte und der Vorwurf nicht ernst gemeint war. Vielleicht wurde sie mit ihr gehen, wenn sie Myra verließ. Sie hatte gesagt, eine wie sie könnte sie schon brauchen, eine die Augen im Kopf hatte und damit auch zu sehen wußte. Ihr Blick fiel auf das Kind. »Ein Knabe, Herrin? Ach, gebt ihn mir.« Sie griff nach Dragomar, und Maratha ließ sie lächelnd gewähren. »Eigentlich sollte ich euch böse sein. Ihr habt alles allein gemacht. Ihr hättet mich nicht fortschicken sollen heute nacht ...«
»Nun beruhige dich, Tomara« sagte Maratha lächelnd. »Ich bin sicher, daß auch viele myranische Frauen ihre Kinder allein zur Welt bringen ...« »Aber sie sind nicht ...« Das Mädchen schlug die Hand vor den Mund. »Sie sind nicht blind, wolltest du sagen?« sagte Maratha. Sie nickte. »Dein Mitleid ist vergeudet, kleine Freundin. Ich bin weniger hilflos als manche Sehende. Aber jetzt schließ die Tür. Wir haben viel vor. Und wir sind nicht mehr allein ...« »Sagt Ihr mir, wie er heißen soll, Herrin?« fragte Tomara und legte den Knaben auf den Tisch. Sie holte Schüsseln und Wasser. »Dragomar wird er heißen«, flüsterte Maratha und setzte sich müde auf das Bett. Aber das wird er nie erfahren, dachte sie. Denn sie werden ihn Atlantor rufen. Morgen schon werden sie ihn Atlantor rufen. »Dragomar«, wiederholte das Mädchen und begann das quiekende Bündel mit einem Schwamm zu waschen. »Das klingt nach großen Taten«, sagte sie. »Mögen die Götter sie ihm bescheren«, sagte Maratha. »Eine ist schon getan.« Das Mädchen rümpfte lachend die Nase.
4.
»Onkel«, sagte der Junge und hielt Dragon am Arm fest, »über Mädchen laßt sich ja manches sagen, da hast du recht ...« »Na warte, Kim ...!« unterbrach ihn das mausgesichtige Mädchen heftig. Dragon grinste. »Hört auf zu zanken ...« »Trotzdem hat Yina recht. Onkel. Du solltest nicht ohne uns in den Ratssaal gehen. Es ist zu gefährlich.« »Nun hört zu, ihr zwei. Ich kann nur ein guter König Myras sein, wenn ich die Gebräuche der Bürger achte, und eines dieser ungeschriebenen Gesetze verbietet es Frauen und Kindern, an den Ratsversammlungen teilzunehmen. Es ist wichtig, daß diese Männer, die heute versammelt sind, mir und meinen Plänen zustimmen. Ich will sie überzeugen, nicht mit Befehlen zwingen. Ich muß ihr Herz und ihre Ehre und ihren Verstand rühren. Das wird mir nie gelingen, wenn ich euch da mit hineinnehme. Das ist etwas, das diese myranischen Männer niemals dulden oder gestatten würden, außer mit Groll im Herzen. Es wäre sehr schwer, diesen Groll zu besänftigen. Seht ihr das ein?« Der Junge nickte. Das Mädchen sagte: »Natürlich sehen wir das ein, Onkel. Aber du hast es bereits mehrmals zu spüren bekommen, daß du nicht nur Freunde, sondern auch Feinde hast. Einer von ihnen mag dort drinnen sitzen.«
Sie zögerte. »Du brauchst uns einfach, Onkel.« Er strich ihr übers Haar. »Ich weiß, daß ich euch brauche«, stimmte er lächelnd zu. »Geht auf den Balkon, aber bleibt hinter der Balustrade verborgen, damit euch keiner sieht. Nehmt einen von Cherons Männern mit. Er kann mich warnen, wenn es nötig sein sollte. Aber ich denke nicht, daß es jemand wagen wurde, während der Ratssitzung Hand an mich zu legen.« Er sah die beiden an. »Zufrieden?« Yina nickte zögernd. »Muß man wohl«, meinte der Junge. Der große Ratssaal war fast voll. Mehr als zwei Dutzend der myranischen Daikane, der Provinzstatthalter, waren mit ihren Gefolgschaften anwesend. Sie alle leckten noch immer an den Wunden, die Dragons Heer ihnen geschlagen hatte, aber die wenigsten hegten Groll gegen den neuen König. Es war nicht ihr Krieg gewesen, sondern Zogors Feldzug. Sie hatten den Krieg gegen Urgor nicht gewollt. Es mochte Ausnahmen geben. Aber diese wenigen sahen wohl ein, daß es besser war zu schweigen. Sie hatten verloren, und es galt, den Sieger erst einmal kennenzulernen, seine Stärke auszukundschaften, vielleicht sogar, ihn in Sicherheit zu wiegen. Außerdem hatte dieser Dragon bis jetzt bewiesen,
daß er gerecht war und friedlich. Da er gegen eine Übermacht gesiegt hatte, konnte er wohl auch nicht feige sein. Wenn er nur halb der Mann war, der Zogor nie gewesen war, dann konnte man mit ihm auch auskommen. Vielleicht hatte er für die eine oder andere Provinz ein Herz. Die Steuern waren nicht immer leicht zu erbringen. Sie sahen die Erlasse und Neuerungen in der Hauptstadt mit anderen Augen. Sicher, an den meisten Küsten gab es Sklaverei, aber die östlicheren Provinzen im Landesinnern, meist angesiedelte Nomadenstämme, die ihr Bewußtsein für Freiheit über die Jahrhunderte bewahrt hatten, sie hatten nicht viel übrig für Sklaverei. Sie waren für diesen neuen König. Und sie wußten, daß er einen starken Arm brauchte, um seine Ideen durchzusetzen. Dieser Arm würden sie ihm vielleicht sein. Wenn er ihnen ein wenig Zeit ließ – denn sie waren müde, und sie sehnten sich nach ihren Frauen, ihren vertrauten Problemen, die sie zurücklassen mußten, als Zogor sie vor Monden an seinen Hof befahl. Beinahe die Hälfte ihrer Männer war gefallen. Sie würden viel Trauer nach Hause bringen und keine Botschaft vom Sieg. Aber vielleicht Kunde von einem König, der weiser war und gerechter. Einer, den die Götter liebten. Einer, den seine Männer den Schlafenden Gott
nannten. Wollten die Götter, daß er wach blieb ... Die zwölf Stadträte waren ebenfalls anwesend. Ihre Mienen hatten die Verbitterung und die dunklen Zweifel der letzten Tage verloren, seit sie wußten, daß die Flotte einmütig hinter dem König stand. Ihre Situation war sehr einfach geworden: Im Osten hinter den Hügeln der Stadt lagerte das Heer des Königs, ein siegesbewußtes Heer noch dazu, das ständig wuchs, weil es die myranischen Söldner aufnahm, die nach der Niederlage ihres Heeres und nach dem Einzug der Eroberer plötzlich brotlos dastanden. Viele von ihnen hatten nicht viel mehr gelernt, als eine Klinge zu führen, und das nicht immer mit Geschick. Was anfangs Verrat gewesen wäre, wurde immer mehr ein natürlicher Vorgang – um so mehr, als das Volk den neuen König deutlich genug fühlen ließ, daß es ihn als Befreier willkommen hieß. Diese neuen Gesetze über die Sklaverei – nun, es blieb noch abzuwarten, wer die anfallende Arbeit tat! Andererseits hatte der König deutlich genug verkündet, daß er den Frieden wollte. Das bedeutete, daß jene, die auf den Feldern gebraucht wurden, in den Mühlen, den Spinnereien ... daß sie da waren, ihre Arbeit zu tun, wenn es keine Kriege gab, in die sie
ziehen mußten. Sicher würde der König dulden, daß noch ein paar Sklaven in den Minen blieben. Niemand würde verlangen können, daß ein freier Mann in die Erzstollen stieg. Und wenn doch der Gerechtigkeitsfimmel des Königs so weit gehen sollte ... nun, dann würde man eben guten Lohn bieten müssen. Und einen guten Preis für das Eisen verlangen können. Der König würde bald einsehen, daß er sich nur selbst strafte, wenn er für jedes Schwert in seinen Waffenkammern den doppelten Preis zahlen mußte. Wenn die Kapitäne der Flotte es schafften, ohne Sklaven auszukommen, und ihre Schiffe dennoch fuhren, dann würde es auch in den Minen gelingen. Bei den Göttern! Irgendwo war Stolz in der myranischen Seele! Selbst in der des Krämers! Also: im Osten das Heer, im Hafen die Flotte, dazwischen das jubelnde Volk! Nur ein Idiot von einem Stadtrat stellte sich gegen solch einen König – selbst wenn er friedlich war. Dragon betrat die Ratshalle. Die Versammelten erhoben sich, bis er am Thronstuhl Platz genommen hatte. Dann setzten auch sie sich wieder. Die Daikane und ihre engeren Gefolgsleute, die sie mitgebracht hatten wie zu Zogors
Zeiten, ein halbes Dutzend an der Zahl, befanden sich zum erstenmal seit dem Thronwechsel im Palast. Sie waren ein wenig erstaunt über die Förmlichkeit, mit der alles seinen Lauf nahm – kein Wein, keine Tänzerinnen. Es deutete darauf hin, daß auch kein Blut fließen würde, und das war ein begrüßenswerter Umstand. Es war auch das erste, das Dragon anschnitt, denn er hatte wohl inzwischen erfahren, wie Zogor seine Ratsversammlungen abzuhalten pflegte. »Ihr, die Ihr die Würden des Reiches auf Euren Schultern getragen habt. Ihr sollt heute frei entscheiden, ob Ihr sie auch weiter unter meiner Regentschaft tragen wollt. Jeder soll frei sagen, was er denkt und fühlt, denn das Herz ist so wichtig wie der Sinn. Jeder wird gehört werden. Ich weiß von König Zogors festlichen Zusammenkünften in dieser Halle, bei denen jeder ausreichend zu trinken, aber nichts zu sagen hatte ...« Ein allgemeines Gemurmel brandete bei diesen Worten auf, das zustimmend klang. Dragon wartete, bis die Männer sich beruhigten. Dann fuhr er fort: »Es soll zur Sitte werden an meinem Hof, daß wir mit nüchternen Sinnen die Geschicke des Reiches beraten – und danach unsere Beschlüsse begießen, mit dem Blut des myranischen Weines. Das einzige Blut, das ich gern vergossen sehe ...«
Einige der Männer begannen beifällig auf die Tische zu pochen. Andere stimmten ein. Es dauerte eine Weile, bis es wieder still im Saal wurde. Dragon lächelte. Er nickte. »Ich sehe, daß wir uns in wesentlichen Dingen bereits einig sind. Das ist gut. Ich will heute Euren Rat hören. Es gibt vieles an der myranischen Lebensweise, das ich noch nicht verstehe. Ihr sollt dies ändern. Und wir wollen die Dinge besprechen, die Euch am Herzen liegen. Es soll keiner zu seinem Volk oder seinem Stamm zurückkehren ohne die Überzeugung, daß man in Myra die Probleme der äußersten Provinzen ebenso wichtig nimmt wie jene der Hauptstadt selbst. Der Schreiber des Hofes, einer der weisen Männer, der Söhne von Atlantis, wird alles aufzeichnen, was nicht gleich zu regeln ist. Außerdem ist es mein Wille, daß jeder Daikan in der Hauptstadt einen ständigen Gesandten hat, der ihn vertritt: diesem Stellvertreter sollen ein gutes Dutzend Männer zur Seite stehen, die die Aufgabe von Botenreitern übernehmen. Für die Abgesandten, ihre Männer und Familien werden standesgemäße Häuser bereitgestellt!« Das fand erneut bei der Mehrzahl der versammelten Daikane Zustimmung. Es gab ihnen zudem das Gefühl, daß ein ganz neuer Wind wehte, einer, der ihrem Stand auch am königlichen Hof den Wert gab, den sie ihm am häuslichen Herd beimaßen. In ihren Reichen, ihren
Provinzen waren sie die Stellvertreter des Königs, hatte ihr Wort Gewicht. Es schien vorbei mit der lähmenden, gefährlichen Willkür eines Zogor oder Ermyas. Es sah so aus, als sollte ihr Wort das lang entbehrte Gewicht erhalten. Die, die es nicht guthießen, waren jene, die Falschheit witterten, deren Herzen längst im Mißtrauen kalt geworden waren. Es wurde eine lange Sitzung – eine der längsten seit Antritt seiner Regentschaft über das myranische Reich. Dragons Ideen stießen nicht immer auf Zustimmung. Es gab heftige Rede und Gegenrede und Vorschläge, wie es während Zogors Herrschaft nie geschehen war. Dragon erfuhr vieles auf diese Weise, das ihm fremd war und das ihm tiefen Einblick in das myranische Leben gab. Es war wesentlich vielgestaltiger als das einfache Leben in Urgor. Es lag wohl an der Größe des myranischen Reiches, an der Vielzahl und Verschiedenheit seiner Völker und Stämme. Manche seiner Ideen mußte er zurückstecken, weil die Vernunft ihm sagte, daß es dafür noch zu früh war. Aber für die meisten Schritte, die er zu unternehmen gedachte, vermochte er die Männer zu gewinnen: die neuen Steuern, das Bündnis mit Katmahzar, dem Frauenreich im Norden, die Erstellung einer jederzeit einsatzbereiten Miliztruppe, die im Ernstfall dem König unterstand, die Errichtung von Schulen, an
denen die weisen Söhne von Atlantis unterrichten sollten, und eine Menge anderes mehr. Was Yina und Kim und sicherlich auch Dragon befürchteten, trat nicht ein. Die Gedanken des Mädchens forschten immer wieder suchend in der Menge, unermüdlich. Keine Mörderseele saß da unten im Saal. Für die anwesenden Männer war der König einer der ihren geworden. Symbolisch saß er mit ihnen am Lagerfeuer oder an der heimatlichen Festtafel. Mitternacht war längst vorbei, als Dragon fühlte, daß genug geredet war. Er ließ den versprochenen Wein bringen, und reichlich zu essen. Dann verlangte er, daß die Männer ihm myranische Lieder singen sollten und von ihren Taten berichten. Das fand begeisterte Zustimmung. Ein Barde aus Morandik, der nordöstlichsten Provinz wurde vor den Thron geschoben, wo er nach einer tiefen Verneigung an den Saiten eines lautenähnlichen Instrumentes zu zupfen begann und eine traurige Erzählung anhub, in der von einem Krieg die Rede war, in den ein junger Krieger zog; in dessen Verlauf eine Stadt erobert wurde, in der man tötete, und schändete und brandschatzte ohne Erbarmen. Es war die Eroberung einer Stadt, bei der ein Heerführer des Königs den Zorn des Totengottes Amyron auf sich lud. Dragon lauschte fasziniert, denn er war sicher, daß es die Eroberung Dans durch Kelkaris Heer war, die
der Barde in blutigen Einzelheiten beschrieb. Doch da war kein Triumph über den Sieg. Die Zuhörer schwiegen grimmig und betroffen. Die meisten von ihnen waren nicht in Dan gewesen, sondern mit Zogors Heer gegen Urgor gezogen. Und solcherart hatten sie den myranischen Triumph, die Eroberung Dans, noch nicht gesehen. Sie wußten alle, daß der Barde den Untergang Dans besang, denn es gab keinen im ganzen Heer, der nicht inzwischen vom unrühmlichen Ende Kelkaris durch die Hand des Totengottes erfahren hatte. Während dies im Palast geschah, saßen vier Männer in einer dunklen Kammer in einem anderen Teil der Stadt. Die von einer einzelnen Kerze spärlich erhellte Kammer befand sich in einem runden, aus groben Steinblöcken gebauten Turm, der wie ein drohender Finger über die ärmlichen Häuser dieses Stadtteils emporragte. Er war einst Teil eines alten Tempels gewesen, an dessen Altären man zu Mis betete, der Göttin der Schlange. Aber das war vor langer Zeit gewesen, als die Menschen Myras noch barbarischer waren und Blutbande mit ihren Göttern knüpften. Heute betete oder starb niemand mehr in Mis‘ Tempeln. Sie waren Ruinen aus einer älteren Zeit, als die meisten sich vorzustellen vermochten. Der Rest des Tempels waren von Büschen und
Unkraut überwachsene Ruinen. Nur dieser eine Turm stand noch, und die Menschen mieden ihn und verriegelten ihre Türen, wenn sie nachts Licht in den kahlen Fensteröffnungen bemerkten. Arzan Shor hauste in diesen Mauern, in denen jahrtausendealte Kräfte und Geheimnisse schlummern mußten, bereit, zu erwachen für jenen, der wagemutig genug war, die Hand danach auszustrecken. Arzan Shor war es – ein Magier, der mehr von den Göttern der Alten wußte und ihren Kräften, als die meisten ertragen hätten. Er war machtgierig, und er war Geheimnissen auf der Spur, die ihm bald diese Macht geben würden. Macht über den König und das Reich. Macht über die Menschen, selbst ihrer Gedanken. Er war ein viel zu großer, viel zu dunkelhäutiger Mann, um in Myras Grenzen geboren zu sein. Die Menschen, die von ihm wußten, bezweifelten, ob er überhaupt geboren worden war. Er mußte aus dem Süden kommen, wo die Menschen schwärzer wurden – und nicht nur äußerlich. Ein spitzer Bart stieß am Kinn abwärts wie ein silberner Dolch. Seine Nase war geknickt und verlieh ihm zusammen mit den stechenden Augen etwas Habichtartiges. Er war inkarnierte Düsternis in dem flackernden Kerzenlicht, ein Eindruck, den der schwarze Mantel noch verstärkte und die Kapuze, die
weit vorgezogen war und Stirn und Augen in Schatten hüllte. Die drei Männer, die mit ihm saßen, ebenfalls in dunkle Kapuzenmäntel gekleidet, schienen seine Gehilfen. Und sie hatten Furcht vor ihrem Herrn. Sie stand deutlich in ihren Gesichtern. Die Hand des Magiers zuckte vor wie eine Klaue. Die drei Männer fuhren zurück und ließen den Blick nicht von den Fingern, die sich zur Faust schlossen. Als der Magier die geballte Faust zurückzog, beugten sich die Oberkörper der drei Männer nach vorn, als hingen sie an unsichtbaren Fäden daran. Als er die Faust öffnete, zuckten sie zurück. Bleich. Arzan Shor lachte. »Das ist nur ein Anfang. Unsere Macht wird unermeßlich sein. Zamoc schien sie zu besitzen, aber er war zu schwach. Noch jemand ist in der Stadt, der ein wenig davon besitzt. Ich spüre es. Aber jetzt greifen wir nach dieser Macht. Und der König ist der Schlüssel. Ihn brauchen wir. Es wäre falsch, jetzt nicht alles zu wagen. Freiwillig würde uns der König den Inhalt seines Schädels nicht in den Schoß leeren. So müssen wir einen Blick hineinwerfen.« Er sah seine Gefolgsleute an, denen dieser Gedanke Furcht einzuflößen schien. Den König entführen war schon Wahnwitz genug. Aber sie wußten, daß Arzan Shor über Leichen gehen würde, und daß sie die ersten
dieser Leichen wären, wenn sie sich ihm in den Weg stellten. Aber auch sie lockte die Macht, die an der Seite des Magiers die ihre sein würde. »So trefft jetzt die Vorbereitungen. Heute nacht noch soll es geschehen. Ich habe eben erfahren, daß der König die Ratssitzung beendet hat und nun mit den Männern zecht.« Er lächelte. »Er wird müde sein. Die Gelegenheit ist günstig.« »Aber ... wer soll es tun, Meister?« fragte einer der Männer. »Es gibt in ganz Myra nur einen, der es wagen könnte, den König aus seinem Palast zu entführen, und dem es auch gelingen mag – El Dschafar.« »El Dschafar!« entfuhr es den Männern. »Er ist der selbstsüchtigste Mann des Reiches ...« »Außer mir«, unterbrach ihn Arzan Shor grinsend. »Er weiß nichts von unserem wirklichen Plan ...« »Und er hat zugestimmt?« Der Magier nickte. »Wie könnt Ihr seiner Loyalität nur sicher sein?« meinte einer der Männer. Arzan Shor lächelte. »Er wird mich nicht betrügen. Er kann es nicht. Ich habe vorgesorgt.«
5.
Eine gute halbe Stunde zu Pferd nördlich der Stadt lag ein Schiff vor Anker, ein bauchiger Kauffahrer. Er schien die Bucht gut zu kennen, sonst wäre er nicht um Mitternacht eingelaufen. Wenige wagten das, denn die Untiefen waren tückisch. Mehrere kleine Boote hatten an seiner Seite angelegt. Zahlreiche Fackeln erhellten die Szene. Das Schiff wurde entladen. Ein Stück oberhalb der spitzen Küstenfelsen standen zwei Dutzend Zelte, zwischen denen mehrere große Feuer brannten. Der Mann, der von den vordersten Felsen aus in die Bucht hinabstarrte, war mittelgroß und dicklich. Er hielt die Hände am Rücken umschlossen Die dunklen Augen in dem runden Gesicht funkelten im Fackellicht, und sein Mund verzog sich mißmutig unter dem langen, nach außen gezwirbelten Schnurrbart, als er sah, was von Renors Schiff in die Boote verladen wurde. Mädchen! Und der König hatte die Sklaverei verboten! Niemand würde in Myra wagen, Sklavinnen zu kaufen. Was bedeutete, daß er sie in den Süden bringen mußte, um sie loszuwerden. Das minderte die
Gewinnspanne beträchtlich. Zudem war es mit Gefahren verbunden, da König Jellis‘ Piraten die südlichen Meere unsicher machten. Er seufzte. Es würde eine Weile dauern, bis alle seine Mittelsmänner erfahren hatten, daß menschliche Ware vorerst mehr Schwierigkeiten als Gewinn brachten. Ein Großteil der Lichter erlosch auf dem Schiff, während die Boote an Land ruderten. Der Mann auf den Felsen wandte sich um und schritt auf eines der Feuer zu. Seine Männer machten ihm Platz. Er wechselte ein paar Worte mit ihnen, und sie lachten, als sie hörten, welche Fracht das Schiff brachte. Als die Männer mit den Gefangenen den Lagerplatz erreichten, ging der Mann ihnen entgegen und deutete auf sein Zelt. Die Männer, die die Fracht in ihren Booten geholt hatten, setzten sich ans Feuer zu den übrigen. Die gefangenen Frauen, sechs an der Zahl, wurden in das Zelt des Anführers gebracht. Ihnen folgte ein hochgewachsener Mann in einem blauen Wams und hellen Beinkleidern mit einem krummen Schwert an der Seite und, was ihn von allen anderen unterschied, einem schwarzen, breitkrempigen Hut, der sein langes, schwarzes Haar in keiner Weise bändigte. Ihn begleiteten vier seiner Männer. Sie nickten jenen am Feuer grüßend zu. Sie würden bald bei ihnen sitzen. Wenigstens eine
Weile. Der Anführer des Lagers empfing den Hutträger mit einem süßsauren Seitenblick auf die Gefangenen, die gleichmütig, mit Ketten an Händen und Füßen, zwischen ihren Wächtern standen. Sie waren alle sehr jung, zwischen fünfzehn und zwanzig Sommer. Sie trugen knöchellange seidene Röcke und schmale Oberteile. Sie wirkten kraftvoll, muskulös. Es war wenig Zartes an ihnen trotz der reizvollen Kleidung. »Na«, meinte der mit dem Hut. »Sag nur, sie gefallen dir nicht, Dschafar!« Der Anführer, El Dschafar, nickte nachdenklich. Da war eine unter ihnen, die ihm ins Auge stach. Er wußte nicht, was es war, das ihm so besonders gefiel. Aber es war etwas an ihr – vielleicht die Art und Weise des Protests in ihren Augen – oder das Raubtier, das in ihr zu schlummern schien, so wie sie dastand. »Sie sind Katmahzari, nicht wahr, Renor?« Der mit dem Hut stimmte zu. »Allerdings, sie sind Amazonen. Und sie haben großes Temperament. Wir überquerten den Sakyra, als sie uns angriffen, ein ganzes Dutzend. Sie waren auf dem Weg nach Akyrja. Sie haben gekämpft wie die Teufel. Wenn sie die Freuden des Bettes nur halb so gut ...« El Dschafar unterbrach ihn: »Es war ein guter Fang, gewiß. Das will ich dir gar nicht bestreiten.« Sein Blick wanderte wieder zu der jungen Kriegerin, die nun so
unkriegerisch wirkte und doch voll mühsam kontrollierter Wildheit war. Es mußte reizvoll sein, sie zu zähmen, dachte er. Er bemerkte Renors Blick und wandte sich rasch von der Gefangenen ab. »Du hast von dem neuen König und seinen Gesetzen gehört?« begann er. »Du warst lange fort, mehr als zwei Monde.« Renor winkte ab. »Ja, ich weiß, daß im ganzen Reich die Sklaverei abgeschafft wurde. Aber der Arm des Königs ist kurz, wenn auch sein Ruf weit dringt, und die Menschen sind es gewöhnt, zu befehlen. Sie werden aufwachen, wenn plötzlich niemand mehr da ist, den sie treten können. Ich sage dir, Dschafar, das geht rasch zu Ende. Entweder der König, oder das Gesetz, oder beides. Und wenn alle die Freiheit gerochen haben, wird es schwierig sein, sie wieder einzufangen. Nichts wird so begehrt sein wie Sklavinnen. Deshalb ließ ich sie nicht wieder laufen. Ich dachte, freilassen kannst du sie noch immer, wenn es dir zu heiß wird.« »Ungern«, erwiderte Dschafar. »Wenn ich etwas einmal in meinen Fingern habe, gebe ich es nur ungern wieder her, ohne daß Münzen klimpern.« Er schüttelte den Kopf. »Aber diesmal ist es zu gefährlich. Die Eroberer haben ein Bündnis mit den Katmahzari. König Dragon will dieses Bündnis auf Myra erweitern. Wir können nicht gut unsere Verbündeten als
Sklavinnen verkaufen, wenigstens nicht, solange der König ein Auge auf die Dinge hat.« Renor nickte langsam. »Du hast recht. Was schlägst du vor?« »Sie können nicht hierbleiben. Meine Männer würden die Finger nicht von ihnen lassen. Dagegen habe ich zwar an und für sich nichts einzuwenden. Aber die meisten würden vergessen, daß sie Kriegerinnen vor sich haben und hätten den eigenen Dolch im Leib, bevor der Spaß noch richtig losgeht. Nein ... bring sie aufs Schiff zurück.« Renor zuckte die Achseln. »Du bist der Herr.« »Ich hätte sie behalten, wenn du sie aus Balava oder sonst wo herhättest. Aber Katmahzari ...!« Er schüttelte den Kopf. »Nicht einmal König Zogor hätte sie gekauft, und der war an allem interessiert, was Röcke trug. Was hast du noch?« »Perlen«, erklärte Renor. »Aus Balava. Wein, auch aus Balava. Aber damit hast du dich noch nie abgegeben. Sie sind zudem gekauft ...« Er grinste. »Nichts für El Dschafar, den Dieb.« Dschafar erwiderte das Grinsen. »Wann fährst du ab?« »Noch heute nacht, mein Freund.« Dschafar nickte. »Wohin?« »In den Süden. Nach Sabar vielleicht. Von dort brachte ein Händler Samenkörner mit, deren Genuß
ihm Träume bescherte, wie er sie noch nie gesehen hatte.« »Bring mir davon«, sagte El Dschafar. »Nimmst du sie mit?« Er deutete auf die Kriegerinnen. Renor nickte. »Sie werden ihren Preis bringen. Was sie im Süden an Sklavinnen schätzen, ist die helle Haut.« »So laß mir die hier.« El Dschafar deutete, auf das Mädchen, das er schon die ganze Zeit über beobachtet hatte. Renor nickte grinsend. »Der übliche Preis?« fragte er dann lauernd. Als Dschafar zustimmte, atmete er auf. »Wenn ich dir einen Rat geben darf, mein Freund: Laß sie nicht aus den Ketten. Sie ist ein Teufel.« El Dschafar lachte. »Haben es deine Männer ausprobiert, Renor? Oder vielleicht du selbst?« »Du weißt, daß wir deine Ware nicht angreifen«, erwiderte Renor. »Aber wir hatten Mühe, mit ihnen fertig zu werden. Die Röcke zogen sie nur an, weil ich ihnen drohte, meine Männer würden ihnen den Harnisch vom Leib reißen. Sie verabscheuen nichts mehr als die Berührung durch Männer.« El Dschafar nickte und betrachtete das Mädchen, das seine Blicke kalt erwiderte. »Eine wie sie könnte ich an meiner Seite gebrauchen.« Seiner Stimme war nicht zu entnehmen, ob er es ernst oder im Scherz meinte. Renor lachte und gab seinen Männern einen Wink.
Sie schoben die heftig widerstrebenden Mädchen nach draußen. »Wir segeln gegen Morgen. Meine Männer waren lange unterwegs. Gewährst du ihnen Platz an deinen Feuern?« El Dschafar nickte abwesend. »Sie sind willkommen in meinem Lager.« Er hatte nur Augen für das Katmahzari-Mädchen, das stolz vor ihm stand. Er wußte nicht allzu viel von den Amazonen. Sie waren nicht die ersten, die er gesehen hatte. Aber von ihrer sprichwörtlichen Wildheit hatte er nur gehört. Er wußte, was jedermann über sie wußte: daß sie kriegerisch waren und derb, und daß sie Männer verachteten; daß es das Wort Liebe nicht gab in ihrer Sprache; und wehe den Männern, die ihnen im Frühsommer in die Hände fielen. Was dann geschah, darüber gingen die Meinungen auseinander. Es gab jedenfalls keinen, der darüber bisher berichtet hatte. Händler und fahrende Sänger erzählten von seltsamen Bräuchen in den Grenzgebieten, von Nomadenstämmen, die im Mond des Adlers und der Schlange tief in das Katmahzari-Gebiet zogen, während die Frauen und Mädchen zurückblieben. Er streckte vorsichtig die Hand nach ihr aus. Sie stand reglos, bis er sie an der Schulter berührte. Sie zischte ein Wort, das er nicht verstand, das aber nicht viel Gutes bedeuten konnte. Sie spuckte ihn an, aber er war rascher. Er faßte sie am Haar und riß ihren Kopf
zurück. »Kleine Bestie«, sagte er grinsend. Er beugte sich über sie und preßte seinen Mund auf ihren. Trotz der Ketten gelang es ihr, sich loszureißen. Im nächsten Augenblick gruben sich ihre Zähne in seine Hand, die noch immer die schwarzen Strähnen ihres Haares hielt. »Aahhh! Miststück!« Er stieß sie von sich und preßte sein blutendes Gelenk mit der anderen Hand. Aber das Grinsen verschwand keinen Augenblick aus seinem Gesicht. »Schade, daß du mich nicht verstehst. Ich könnte dir sagen, wie ergötzlich dein Widerstand ist.« Er griff blitzschnell nach dem schmalen Tuch an ihren Brüsten und riß es mit einem Ruck nach unten. Sie stand stolz und mit verachtungsvollem Blick, während er sie wohlgefällig musterte. Sie war es gewohnt, entweder im Harnisch oder nackt zu kämpfen. Die Feinde waren fast immer männlich. Scham im Sinne eines myranischen Mädchens war ihr fremd. Sie hatte nur Verachtung für die männlichen Begierden. Geringschätzung. Sie duckte, sich abwehrbereit, als er erneut nach ihr griff. Sie zerrte an den Ketten, obwohl es nutzlos war. Das hatte sie auf dem Schiff längst erfahren. Es war eine instinktive Bewegung – die eines Kämpfers, nicht die eines Mädchens. In diesem Augenblick kam jemand in das Zelt. Wütend fuhr El Dschafar herum. Eine in einen
schwarzen Kapuzenmantel gekleidete Gestalt stand vor ihm. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Jähe Erkenntnis verzerrte seine Züge. Seine Rechte sank an den Gürtel und umklammerte den Griff des Dolches. Aber er zog ihn nicht. Der Fremde starrte ihn nur an. Das Mädchen sah verwundert, daß El Dschafar wie fasziniert dem Blick des Schwarzgekleideten begegnete – und nicht mehr loskam. Sie hatte selbst Mühe, ihren Blick loszureißen. »Es ist Zeit«, sagte die dunkle Gestalt. »Ja«, erwiderte El Dschafar mit einem Gehorsam, der der Katmahzari noch seltsamer erschien. Was ging hier vor? »Du kennst den Turm?« Es war keine eigentliche Frage, die der Schwarze stellte, mehr eine Feststellung. »Ja.« Der Schwarze nickte. »Dort schaffst du ihn hin. Aber nur wenn du sicher bist, daß du alle Verfolger abgeschüttelt hast.« »Ja«, erwiderte Dschafar mit leblos klingender Stimme. Der Schwarze nickte erneut. Mit einer seltsamen Bewegung seiner Hand bedeckte er kurz seine Augen. Dann wandte er sich um und verließ das Zelt, während El Dschafar wie aus einem Traum zu erwachen schien. Benommen starrte er das Mädchen an. Sie bemerkte die Angst in seinem Gesicht. Einen Augenblick schien
es, als wollte er sie etwas fragen, doch dann besann er sich darauf, daß sie ja seine Sprache nicht verstand. Wie unter einem Zwang ging er zum Zelteingang. »Bardoc! Mengor! Selak!« Drei Männer kamen kurz darauf in das Zelt, alle wie Dschafar gekleidet – in weiße Beinkleider und bunte Hemden, die sie vorn geknotet hatten. Den Kopf bedeckte ein weißes dickgerolltes Tuch. Breite Ledergürtel hingen lose um die Hüften und hatten offenbar nur den Zweck Schwert und Dolch zu tragen. »Sucht ein Dutzend Männer zusammen. Wir haben einen Auftrag«, erklärte El Dschafar. Die Männer nickten und wollten sich entfernen. »Und bringt mir einen, der sich im Palast auskennt«, rief er ihnen nach. Einer von ihnen stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »In den Palast brechen wir ein?« »Ja«, meinte Dschafar ungeduldig. »Und wir haben keine Zeit zu verlieren.« Als die Männer das Zelt verlassen hatten, schritt der Anführer unruhig auf und ab. Das Mädchen schien er vergessen zu haben. Nach längerer Zeit erschien einer der drei wieder und stieß einen Mann ins Innere, der zu Boden fiel, als er ihn losließ und Mühe hatte, wieder auf die Beine zu kommen. »Endlich, Bardoc«, rief Dschafar aus, als bedeutete
es ihm großes Unbehagen, zu warten. Bardoc deutete auf die torkelnde Gestalt. »Melis ist der einzige, der den Palast kennt. Aber er ist vollkommen betrunken.« Dschafar stierte auf den erbleichenden Melis, dem zu dämmern schien, daß sich die Sache um ihn drehte, und daß gleich etwas geschehen würde.»Ich lasse den Hund nüchtern peitschen!« rief er. »Ich fürchte, das wird nicht viel helfen, Dschafar«, wandte Bardoc ein. Melis hob abwehrend die Arme und stammelte mit furchtgeweiteten Augen: »A-all-lles klar! Ichwwwerde euch fühhh-ren!« Damit klappte er zusammen, und selbst Dschafar schien einzusehen, daß er auch auf schmerzliche Art ernüchtert keine große Hilfe sein würde. »Es muß ohne ihn gehen«, sagte er gepreßt. »Sind die Männer bereit?« »Sie sind es, Dschafar.« »Gut. Dann wollen wir nicht zögern ...« »Herr!« rief das Mädchen, und die Götter waren Zeugen, daß ihr dieses, Herr nicht leicht fiel. »Ich weiß im Palast Bescheid!« Dschafar fuhr herum. Er starrte sie verblüfft an. Sie hatte im besten Myranisch gesprochen. Das beeindruckte ihn im ersten Augenblick weitaus mehr als die Tatsache, daß sie sich im Palast auskannte.
»Nergins Bart!« entfuhr es ihm. Auch Bardoc sah das Mädchen erstaunt an. »Es ist wahr, Herr«, fuhr sie rasch fort. »Ich bin nicht zum erstenmal in Myra. Ich war Zogors Sklavin. Und die Würmer mögen dafür an seinen Gebeinen fressen!« »Das tun sie«, erwiderte Dschafar. Ihre Augen schienen lebendig zu werden. »Nimm mir diese Ketten ab, Herr. Und laß mich diese Röcke ausziehen. Sie sind einer Kriegerin unwürdig. Ich werde dir niemals ein Weib sein, aber wenn du eine gute Klinge brauchst ... der Mann, der mich brachte, wird dir sagen, daß ich sie zu führen weiß.« »Eine Sklavin am Hof, hm?« murmelte Dschafar nachdenklich. Er schwankte, denn sie schien ihm als Frau begehrenswert, aber er wußte, daß sie eine Katmahzari war, die seine Gefühle niemals erwidern würde. Und die Zeit drängte. »Gut«, stimmte er zu. Zu Bardoc sagte er: »Hol Solac. Er soll ihr die Ketten öffnen. Und schaff mir diesen Idioten vom Hals!« Er trat mit dem Fuß nach dem schnarchenden Melis. Dann sah er zu, wie der Schmied dem Mädchen die Ketten öffnete. Er beobachtete, wie sie auflebte, als die Eisen fielen. Seltsamerweise fühlte er sich weniger frei als das Mädchen in diesem Augenblick. Er spürte, daß ihn etwas fesselte – etwas nicht aus Eisen. »Du bist geflohen?« fragte er sie.
»Ja ... Dschafar.« »Wie heißt du?« »Dajna.« »Bardoc, laß ihr Kleider und Watten bringen.« Als alle das Zelt verlassen hatten, sagte er zu dem Mädchen, das sich hastig der langen Röcke entledigte. »Merk dir eines, Dajna. El Dschafar hat noch nie etwas bereut.« Es lag eine deutliche Drohung in der Stimme. Sie gab keine Antwort. Sie dachte über die Ironie nach, mit der das Schicksal sie gestraft hatte. Vor einigen Monden war sie nach Myra gekommen und hatte sich als Sklavin ausgegeben, um König Zogors Absichten zu erfahren, denn die Königin befürchtete einen myranischen Angriff. Als geheime Kundschafterin war sie an Zogors Hof gekommen. Und als der König sie fragte, wer sie gefangen hatte, da hatte sie ihm geantwortet: El Dschafar, der Dieb. Und nun, wenige Monde nach ihrer Flucht befand sie sich wahrhaftig in El Dschafars Hand. Und wieder kam sie in den Palast! Die Wege des Schicksals waren in der Tat bemerkenswert. Aber nun schien die Zeit der Demütigung vorbei. Eine gute Klinge war wieder in ihrer Hand. Mit ihr konnte man schon ein wenig beitragen zum Lauf des Schicksal. Der Reiter, der von Nordosten in die Stadt kam, war
lange unterwegs gewesen. Er war müde, und sein Pferd nicht minder. Die dunkle, schlafende Stadt war auch nicht dazu angetan seine Lebensgeister aufzumuntern. Einmal an der Stadtgrenze hielten ihn Wachen an – keine myranischen Soldaten, sondern Krieger, wie er sie schon jenseits des Euphir gesehen hatte. Krieger aus Urgor, gegen die Myranien in den Krieg gezogen war – ohne ihn, El Haleb, den Fürsten der Silikerstämme und einstigen Daikan des Reiches. Seit seiner Flucht aus dem Palast des Königs waren Monde verstrichen. Er hatte versucht, mit einem Schilf den Göverfluß zu erreichen. Aber überall an der Küste waren des Königs Schergen. Und die große Flotte war nach Dan unterwegs gewesen. Ihren Küstenkontrollenwäre auch nicht der kleinste Segler entkommen. So war nur der Landweg geblieben. Dazu mußte er den Tälern nach Norden folgen, um an die Straßen nach Osten zu gelangen. Es war ein Weg von Monden bis zu den Quellen des Göver. Und das ganze Land schien lebendig von Zogors Soldaten. Es war ein ständiges Versteckspiel. Seine Gefährten starben bei einem nächtlichen Überfall auf ihr Lager. Mit einem Dutzend der besten war er nach Myra gekommen. Ihr Blut war sinnlos vergossen worden von einem König, dem ein Leben wenig bedeutete. Er kam ohne sie heim, und ohne Amt und Ehren. Das war etwas, das seinen
Weg schwer machte und beschwerlich. Es war Kunde von Tod und Untergang, die er heimbrachte zu seinen Stämmen. Ihnen blieb nur die Flucht. Nach Jahren der Wanderschaft aus dem Osten mußten sie nun wieder fort. Denn König Zogor würde nicht ruhen, bis kein Siliker mehr am Göver atmete, wenn dieser Krieg erst vorbei war. Aber dann kamen die ersten Nachrichten von der Niederlage des myranischen Heeres und von Zogors Tod. Versprengte Soldatentrupps, die auf dem Rückmarsch waren, entweder in ihre Heimat oder zur Hauptstadt berichteten davon. Zogor war tot, das Heer geschlagen. Myra verloren. An einen, den sie jenseits des Euphir einen Gott nannten. Dragon. Dann war nicht alles verloren – das waren El Halebs erste Gedanken gewesen. Der neue König würde Verbündete brauchen. Einem Siliker war es gleich, ob ein Myraner oder ein Urgorit über Myranien herrschte. Er kam selbst aus dem Osten, wie seine schrägen Augen und die hohen Backenknochen bewiesen. Seine Loyalität galt dem, der ihn in Frieden leben ließ. Das war der Grund, warum sich El Maleb auf den Weg nach Myra machte. Er wußte, es würde nicht leicht sein, den neuen König von seiner Willigkeit zu überzeugen. Schließlich hatte er sich offen gegen Zogor
gestellt, ihn sogar zu töten versucht. Und war Dragon auch Zogors Feind, so würde es nicht einfach sein, ihm zu beweisen, daß es nichts mit Untreue zu tun hatte, sondern mit der Notwendigkeit zu überleben. Die Wachen ließen ihn ohne Behinderung durch, als er ihnen sagte, wer er sei und was er wollte. Er erfuhr, daß er um wenige Stunden zu spät gekommen war, um an der großen Ratsversammlung der Daikane teilzunehmen. Deshalb ritt er trotz seiner Müdigkeit durch die schlafende Stadt, um in einer der Schenken am Hafen, die bis zum Morgen geöffnet waren, noch Neuigkeiten aufzuschnappen und etwas über den neuen König zu erfahren. Er begegnete einem weiteren Wachtrupp, myranische Soldaten diesmal, die grüßend an ihm vorbeiritten, als der Anführer ihn erkannte. Er erfuhr, daß es sich um eine mehrerer Patrouillen handelte, die nachts mehrmals durch die Straßen ritten, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Das war El Haleb völlig neu. Denn unter Zogors Herrschaft hatte es wohl auch nächtliche Patrouillen gegeben, aber in der Regel nur, um irgend welche Opfer aufzuspüren, denen der König an den Kragen wollte. Er erreichte die gewundene Straße des Glanzes, die
über den Berg der Könige führte, unterhalb des Palastes vorbei und nicht weniger gewunden hinab zum Hafen. Sie war eine der gepflegtesten Straßen Myras, beidseitig eingesäumt von Olivenbäumen, bis hinab zwischen die eng aneinandergedrängten Steinhäuser im Hafen. El Haleb erreichte den Kamm des Berges. Das Meer lag zu seinen Füßen mit da und dort einem der Tavernenlichter als Spiegelbilder in dem schwarzen Wasser. Er atmete auf. Der lange Ritt war zu Ende. Zu seiner Linken strebte der Palast in den Himmel, dunkel, lichtlos. Ein steiler Serpentinenweg führte zu seinen Toren hoch. Er dachte an seinen Gang zum König, der ihn morgen über diesen Weg führen würde. Während er noch starrte, sah er mehrere Gestalten den Weg hochhuschen – gebückt und vorsichtig. Ein gutes Dutzend glaubte El Haleb in der Dunkelheit unterscheiden zu können. Ihn hatten sie offenbar nicht bemerkt. Ihre Aufmerksamkeit war auf die Wachen am Palasttor gerichtet, die die Gefahr noch nicht erkannt hatten. El Haleb stieg ab. Er wußte nicht, was die Männer vorhatten. Aber es war deutlich genug, daß sie in den Palast eindringen wollten. El Haleb war im allgemeinen nicht der Mann, der sich in fremde Angelegenheiten mischte, aber er brauchte das Vertrauen des Königs, und dies mochte ein günstiger
Augenblick sein, ein wenig davon zu gewinnen. Er hätte niemanden aufgehalten, der aus dem Palast geflohen wäre. Seine eigene Flucht an der Seite dieses Katmahzarimädchens saß ihm noch zu tief in den Gliedern. Er wußte, daß es viele Gründe geben mochte, um aus dem myranischen Königspalast zu fliehen. Aber die hier wollten hinein! Vielleicht versuchten sie jemanden zu befreien. Seine Müdigkeit war verflogen. Er mußte aus nächster Nähe sehen, was dort vorging. Ein halberstickter Aufschrei drang durch die stille Nachtluft an sein Ohr. Dann nichts mehr. El Haleb sah plötzlich, daß die Wachen verschwunden waren. Gleich darauf bemerkte er drei Gestalten am Tor. Als es sich öffnete, setzte er sich in Bewegung. Er kannte einen zweiten Eingang in das Gebäude, der zwar nicht weniger schwierig und gefährlich war, aber der ihn nicht mit dem Dutzend Männer in Konflikt bringen würde, die vor den Palasttoren in den Büschen und Felsen kauerten.
6.
Yina erwachte. Sie schwitzte trotz der Kühle in ihrem Zimmer. Sie wußte instinktiv, daß eine drohende Gefahr sie geweckt hatte. Sie unterdrückte das erste Verlangen, Kim und Kano zu wecken. Das konnte sie noch immer tun. Sie hatten nur ein paar Schritte weit zu Dragons und Amees Gemächer. Wenige Augenblicke würden genügen, um Dragon zu wecken und zu warnen. Sie mußte erst herausfinden, was überhaupt geschah. Die Eindrücke waren verschwommen. Sie versuchte sich zu konzentrieren, aber die fremden Gedanken waren zu weit weg. Sie lauschte. Bis auf das unverständliche Flüstern in ihrem Kopf war alles still. Rasch erhob sie sich. Sie hob das lange Nachtgewand hoch und eilte zum Fenster. In der Dunkelheit war nichts zu sehen. Zwischen den Bäumen regte sich nichts. Myra lag dunkel weit unter ihr. Sie zog das weiße Nachthemd aus und kleidete sich an. Kim! Kano! dachte sie scharf. Die beiden Jungen hörten sie nicht sofort. Sie rief erneut. Verschlafen antwortete Kano: Was ist, Maus? Ich weiß es noch nicht. Und deshalb weckst du mich? Mich auch, dachte Kim unfreundlich. Seid still, dachte das Mädchen heftig. Wie soll ich es herausfinden, wenn ihr mir den Kopf vollquasselt?
Fremde sind im Palast, oder vor den Toren. Bist du sicher? Ja, das bin ich. Soll ich Onkelchen wecken? fragte Kano. Nein, noch nicht, erwiderte das Mädchen. Erst wenn ich Genaueres weiß. Ich gehe nachsehen. Wir gehen mit! erklärten die beiden Knaben wie aus einem Mund. Kommt nicht in Frage! Ihr bleibt oben, um ihn zu wecken, wenn ich es euch sage. Na schön, Maus. Mach dich allein wichtig! Das Mädchen atmete auf. Still jetzt! Die fremden Gedanken wurden stärker. Sie müssen schon im Palast sein, dachte sie. Sie sind flink. Kannst du sie nicht verstehen? Nein, sie sind noch zu weit weg. Hast du Angst, Maus? Ein bißchen, dachte sie zitternd. Wir wecken jetzt Onkel Dragon, sagte Kano entschieden. Ja, dachte Yina zögernd, es ist wohl besser. Sie scheinen sich im Palast auszukennen. Wie viele sind es? Sie versuchte es herauszufinden. Zwei, Kim. Nein ... da ist noch jemand. Drei. Sie öffnete die Tür ihrer Kammer und lauschte in den stockdunklen Korridor. Zu hören war nichts. Sie
befanden sich wohl noch unten in der Halle. Onkel ist wach, meldete sich Kano erleichtert. Hast du ihm gesagt, daß fremde Männer im Palast sind? Ja, natürlich, aber ... Aber? Er lacht. Was? Zögernd antwortete Kano: Etwas stimmt nicht mit ihm. Er torkelt! Der Wein! dachte Yina erschreckt. Natürlich! stimmte Kano zu. Cheron sagte zu Iwa, daß der König seine Daikane unter den Tisch getrunken hätte, und daß es wohl ein böses Erwachen geben würde. Du mußt ihn wachhalten, Kano, dachte sie eindringlich. Ja, Maus. Kim? Ich höre mit, Maus. Sag Iwa Bescheid. Sie weiß, was zu tun ist. Gemacht. Was noch, Schwester? Sie lächelte innerlich über das »Schwester«. So hatten die Jungen sie schon lange nicht mehr genannt. Hast du Angst, Kim? Ich glaube nicht. Jemand muß nach unten, ohne daß er entdeckt wird,
und die Wachablösung wecken. Ohne Licht? erwiderte er ein wenig zögernd. Natürlich ohne Licht, Dummer. Wie sollten wir sonst verborgen bleiben? Wir? fragte Kim rasch. Ich muß näher heran, sonst kann ich sie nicht belauschen. Ich erwarte dich an meiner Zimmertür. Mach rasch. Ja, Maus. Bin schon unterwegs. Sie hörte die Erleichterung in seinen Gedanken. Sie spürte sie selbst auch. Zu zweit war alles nicht so schwierig. Wenn nur Onkel Dragon wach genug wurde, um mit der Gefahr fertig zu werden! Warum schlugen die Wachen keinen Alarm? Vielleicht hatten sie gar nicht bemerkt, daß jemand in den Palast gedrungen war. Wenn nur Partho schon hier wäre. Aber er kam erst morgen oder übermorgen, sobald die Neugliederung des Heeres abgeschlossen war. Sie stand in der offenen Kammertür und lauschte in die Finsternis. Schritte näherten sich. Leise, Kim! warnte sie. Ja, ja, antwortete er ungeduldig. Gleich darauf tauchte er neben ihr auf. Von unten kam ein Laut. Ein leises Klirren von Ketten oder Waffen. Die beiden hielten den Atem an. Die verschwommenen Stimmen in ihrem Kopf wurden klarer. Sie mußten schon sehr nah sein. Dann verstand
sie die ersten hastigen Gedanken. Die eines Mannes, der Bardoc hieß, und der an einen anderen Mann dachte, dessen Name ihr bekannt war: El Dschafar. Von diesem Mann hatte sie schon gehört. Er wurde auch der Dieb genannt. Jeder in Myra schien ihn zu kennen, und man erzählte sich die seltsamsten Geschichten über ihn. El Dschafar, der Dieb, durchfuhr es sie dann. Dann war dieser Mann also hier, um etwas zu stehlen! Ein Dieb kam nicht bei Nacht in den Palast, um dem König einen Besuch zu machen! Worauf hatten sie es abgesehen? Der Mann namens Bardoc schien es offenbar nicht zu wissen. Er war froh, daß soweit alles gut gegangen war, aber er verfluchte El Dschafar innerlich, weil er ihnen nicht mitgeteilt hatte, was sie aus dem Palast mitnehmen sollten. Es mußte etwas Umfangreicheres sein, sonst hätte er nicht ein Dutzend Männer mitgenommen, die vor den Toren warteten. Seltsamerweise empfing Yina keinerlei Gedanken von El Dschafar. Das verwirrte sie. Sie nahm Kim an der Hand. Vorsichtig schlichen sie den Gang entlang auf die Stiegen zu, die in das Hauptgebäude und in die Hallen hinabführten. Kriegst du alles mit? dachte sie. Sie hatte die ganze Zeit über die aufgefangenen Gedanken im Geist wiederholt, damit die Knaben sie verstehen konnten. Ja, antworteten beide.
Berichtest du Onkel Dragon, Kano? Ja, Maus. Und er wird immer wacher. Gut. Erleichtert konzentrierte sie sich wieder auf die fremden Gedanken. Sie wurden mit jedem Schritt klarer. Aber die El Dschafars vermochte sie nicht auszumachen. Dafür entdeckte sie die einer Frau, die Dajna hieß, wie sie gleich darauf herausfand, und eine Katmahzari war. Das verwunderte sie wiederum sehr, denn die Katmahzari waren ihre Verbündeten. Auch sie schien nicht zu wissen, was El Dschafar im Palast suchte. Ihre Gedanken waren düster. Sie schien eine Gefangene zu sein. Und sie kannte den Palast genau. Er weckte böse Erinnerungen. Onkel fragt, meldete Kano sich plötzlich, ob du dich auch nicht irrst mit dem Namen Dajna? Nein, ich irre mich bestimmt nicht. Könnte sie jene Katmahzari sein, die mit diesem Silikerfürsten floh und die Botschaft an die Uska sandte? Ich weiß es nicht. Ich kann es nur erfahren, wenn sie daran denkt. Aber es wäre möglich. Da war ein kurzer Gedanke an El Haleb. Ja, sie kennt ihn. Und sie war schon einmal hier, zu Zogors Zeit. Jetzt gehört sie zu El Dschafars Kriegern. Aber sie wird fliehen, wenn das alles vorbei ist. Wenn was alles vorbei ist? Das scheint keiner zu wissen. Weder der Mann
namens Bardoc, noch die Frau. Nur El Dschafar. Aber ich kann El Dschafar nicht finden. Sagtest du nicht, es wären drei? kam Kanos Stimme wieder. Ja. Aber der dritte ist noch zu weit weg. Ich kann seine Gedanken nicht verstehen. Könnte es El Dschafar sein? Onkel Dragon meint, daß sich El Dschafar nicht mit Kleinigkeiten abgibt. Der Dieb ist dafür bekannt, daß er das Unmögliche fertigbringt. Kommen sie nach oben? Ja, antwortete das Mädchen. Sie kommen näher, sie müssen nach oben kommen. Onkel Dragon sagt, ihr sollt sie an euch vorbeilassen und euch ruhig verhalten. Und dann den Gong im Halbstock anschlagen. Das wird den ganzen Palast in Aufruhr bringen – genug jedenfalls, um die Eindringlinge abzuschrecken. Ja, das tun wir, stimmte Yina zu. Betrunken oder nicht, Onkelchen hat gute Ideen, stellte Kim fest. Sei nicht so respektlos! schalt Yina. Die Knaben lachten, und das nahm die Anspannung ein wenig von ihnen. Aber nur für einen Augenblick. Dann hörten sie die Schritte im Halbstock. Yina und Kim drückten sich eng an die kalte Wand. Die Gedanken der Eindringlinge waren nun sehr klar. Sie wußten immer noch nicht, was sie tun sollten. Sie
fühlten sich ziemlich sicher, und sie folgten jemandem. Sie gehorchten El Dschafar. Wo aber war El Dschafar? Dann fing sie endlich die Gedanken des Nachzüglers auf. Auch er war nicht El Dschafar. Er war ein alter Bekannter – El Haleb. Und er gehörte nicht zu den ersten. Er folgte ihnen. Seine Gedanken waren ein wenig wirr und nicht immer ganz verständlich unter den anderen näheren Stimmen. Er wollte zum König. Er wollte wissen, wer die drei waren und was sie wollten. Onkel sagt, das ist alles sehr verwirrend, meinte Kano. Du magst ihn trösten, erwiderte sie, das ist es auch ohne Wein. Was wird er tun? Er sucht nach seinem Schwert. Plötzlich flammte Licht auf. Jemand kam mit einer Fackel von oben. Wer ist das? schrieen die Gedanken des Mädchens. Wer ist was? Jemand kommt mit einer Fackel aus den oberen Gemächern. Vielleicht Tante Amee ... Nein, sie schläft. Das muß Iwa Onkel! Onkel ... Was ist, Kano? Er hat das Licht entdeckt. Es kam aus Tante Amees Zimmer. Er ist mit dem Schwert in der Hand hinausgestürzt ... Bleib bei ihm, Kano! Etwas stimmt hier nicht! Panik
erfaßte das Mädchen plötzlich. El Haleb denkt an drei Männer, die er vor sich hat. Er weiß nicht, daß eine Frau dabei ist, aber er denkt an drei Personen, und ich empfange nur die Gedanken von zweien. Wenn El Haleb recht hat, dann muß El Dschafar ... Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Hastige Schritte kamen die Stiegen herauf. Von mehr als zwei Personen. Die Gedanken, die sie empfing, waren einen Augenblick chaotisch. Dann kam von oben eine Gestalt mit einer Fackel um die Ecke und hüllte die Szene in flackerndes Licht. Drei wilde Gestalten duckten sich einen Moment unter dem Licht und stürzten dann auf die Fackel zu. Yina glaubte Iwas Gestalt zu erkennen und neben ihr Dragon. Und davor, halb verdeckt vom Schatten einer Säule, einen Mann mit erhobenem Dolch. Instinktiv preßte Yina ihre Hand vor den Mund Kims, um ihn an einem verräterischen Aufschrei zu hindern Eine der Gestalten sprang Iwa an und schlug sie nieder. Die Fackel fiel, flackerte noch einmal auf und verlöschte. In diesem Augenblick huschte eine Gestalt an ihnen vorbei. Danach hörten sie nur noch Schreie und Stöhnen und Kampfgetümmel. Und auch die Gedanken, die Yina empfing, waren nicht viel anders. Ein Todesschrei gellte, und jemand fiel. Yina
erkannte, daß es Bardoc war. Im nächsten Augenblick verlöschten Dragons Gedanken. Da waren nur noch jene der Katmahzari die hilflos im Griff eines Unbekannten hing. Und die Gedanken El Halebs, der erkannt hatte, daß es Dajna war, die er festhielt. Mit aller Gewalt, als wäre sie etwas, das er nicht wieder verlieren wollte. So standen sie in der Finsternis, und keiner wagte einen Laut. Aber Yinas feine Ohren vernahmen, daß sich jemand entfernte. Jemand, dessen Gedanken sie nicht aufzufangen vermochte. Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie hatte Angst. Irgend etwas Schreckliches war in der Finsternis geschehen. Mit Onkel Dragon und Iwa. Mit Kim an der Hand stürmte sie den Gang zu ihrem Zimmer zurück. Dabei stolperte sie über Bardocs Leiche und fiel mit einem Aufschrei der Länge nach hin. Als sie sich aufrappelte, war Kim verschwunden. Kim! riefen ihre Gedanken, schrill vor Entsetzen. Kim! Aber nur Kano antwortete ihren stummen Rufen. Was ist geschehen. Maus? Onkel Dragon ist ... Sie wußte nicht, was mit Dragon war. Er mochte tot sein, wie Bardoc. Aber bevor sie Kano zusammenhängend antworten konnte, schlug der große Gong an und hallte wie der Sturmschrei der Götter durch die leeren Hallen und Korridore.
Langsam flammten Lichter auf und näherten sich aufgeregte Stimmen. Der Alptraum der Finsternis begann zu weichen. Iwa stöhnte neben dem Mädchen. Ihre Gedanken erwachten, als sie zu sich kam. Schluchzend vor Erleichterung schlang das Mädchen die Arme um sie. El Haleb gelang es unbemerkt die Palastmauer zu überklettern, an einer Stelle, an der ihn wohl die Wachen bemerkt hätten, nicht aber die verborgenen Männer jenseits der Straße. Aber sie hatten die Wachen beseitigt, und das erleichterte ihm sein Eindringen beträchtlich. Im Palastgarten sah er sich kurz um und versuchte sich zu erinnern, aus welchem der Fenster sie gestiegen waren. Alles war dunkel. Er hatte den Teil des Palastes vor sich, in dem die Bediensteten wohnten, die Köche, Schneider, Vorkoster und Sklaven. Dort würde es am leichtesten sein einzudringen. Selbst wenn er entdeckt wurde, waren seine Chancen hier besser als bei den Wachen im Hauptteil des Palastes. Von hier wußte er, wie er die bewachten Hallen umgehen konnte, um zu den Gemächern des Königs selbst zu gelangen, wenn es sein mußte. Niemand bemerkte sein Eindringen. In dem finsteren Korridor tastete er sich leise in die Richtung der Empfangshalle vor. Alles war still. Die
Eindringlinge waren also noch nicht bemerkt worden. El Haleb erreichte die Stiege, die er gesucht hatte. Sie führte in den Halbstock – zu den Quartieren der Wachmannschaften. Aber jene, die dort waren, schliefen. Von ihnen würde keine Gefahr drohen. Er beeilte sich und erreichte mit unterdrücktem Keuchen einen nicht weniger finsteren Gang, der in den königlichen Flügel des Palastes führte. Er kam zur Hauptstiege und hielt an. Er lauschte. Leise Schritte näherten sich aus der Halle. Das mußten die Eindringlinge sein. Die Wachen würden nicht solcherart durch die Gänge schleichen. Die Beseitigung der Wachen mußte die drei wohl solange aufgehalten haben. Er wartete, denn er wollte in ihrem Rücken sein, um zu erfahren, was sie vorhatten. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, aber schließlich spürte er mehr als er es hörte, daß sie an ihm vorbeischlichen. Er hatte richtig geraten, sie waren auf dem Weg zu den königlichen Gemächern. Sollte der König selbst ihr Opfer sein? El Haleb folgte ihnen. Er hörte sie mehrmals flüstern, aber er verstand nicht, was sie sagten. Den Stimmen nach schien ein Mädchen dabei zu sein. El Halebs Neugier wuchs immer mehr. Sie erreichten die obere Etage unangefochten. Aber dann begannen die Schwierigkeiten. Sie waren nicht
mehr allein. Irgendwoher aus der Finsternis kamen Geräusche. El Haleb hielt sich zurück. Es mochte hier noch ein anderes Warnsystem geben, von dem er nichts wußte, und was er am wenigsten wollte, war, mit dieser Gruppe entdeckt zu werden. Im nächsten Augenblick aber wurden die Dinge völlig aus seiner Hand genommen. Jemand tauchte mit einer Fackel hinter einer Gangbiegung auf. El Haleb sah die drei Gestalten vor sich in blendendes Licht gehüllt, und er machte eine Entdeckung, die sein Herz höher schlagen ließ. In diesem kurzen Moment, da das Licht durch den Korridor flackerte, erkannte er das Mädchen wieder – Dajna, das Katmahzari-Mädchen, das ihm aus Zogors Kerker geholfen hatte und mit dem er aus Myra geflohen war. Die Götter mochten wissen, wie sie wiederum hierherkam. Sie würde ihm vieles erklären können. Es war Fügung, daß er sie hier wieder traf. Sie war diese ganzen Monde nicht aus seinem Herzen gewichen, obwohl er wußte, daß sie eine Amazone war, eine, für die der Mann Befruchtung bedeutete, nicht mehr. Die Dinge überstürzten sich. Noch eine Gestalt tauchte neben jener mit der Fackel auf und sprang dem ersten Eindringling entgegen. Jemand schlug den Fackelträger nieder. Bevor es pechschwarz wurde, hatte El Haleb das Mädchen erreicht und von hinten umklammert. Sie hatte einen Dolch in der
Rechten und wehrte sich wie ein Teufel. Einer schrie und starb in der Finsternis. Dajna erstarrte einen Augenblick, den El Haleb nutzte, ihrer Hand das Messer zu entreißen. Er umklammerte das Mädchen und brachte seinen Mund nah an ihr Ohr. »Um der Götter willen, Dajna«, flüsterte er und spürte erleichtert, wie sie ihren Widerstand aufgab, als sie ihren Namen hörte. »Keinen Laut.« In der plötzlichen Stille hörten sie, wie sich jemand entfernte, keuchend, als hätte er eine Last zu tragen. Dann begannen mehrere zu laufen, und El Haleb fragte sich, wer wohl noch alles in dieser Dunkelheit stand. Sie mußten verschwinden, bevor der ganze Palast lebendig wurde. Jemand fiel ganz in ihrer Nähe mit einem Aufschrei. Schritte entfernten sich. Dajna wurde unruhig in seinem Griff. Er gab sie frei und zog sie mit sich den Korridor entlang. Sie kamen nur bis zu den Stiegen. Der Gong dröhnte durch die Gänge. El Haleb wußte, daß sie den Palast niemals mehr ungesehen verlassen konnten, und daß er nun das tun mußte, weshalb er nach Myra gekommen war. Zum König gehen. Auch wenn alles gegen ihn sprach. Er hielt Dajna fest, als sie fliehen wollte. »Zu spät«, murmelte er. Von unten kamen Stimmen und Lichter und brandeten hoch wie eine Woge. Sie waren überall. Das
Mädchen schien einzusehen, daß es keinen Ausweg gab. El Haleb fühlte plötzlich ihre Hände an seinem Gürtel und spürte, wie sein Dolch aus der Hülle glitt. »Dajna, nein!« rief er und griff in der Dunkelheit nach ihr. Seine Stimme ließ sie innehalten mit dem Dolch bereits an ihrer Brust. »Haleb?« flüsterte sie. »Ja«, sagte er. »Die, Götter spotten uns, mein Freund«, sagte sie leise und senkte den Dolch. »Nein«, widersprach er. »Es kann nicht ihr Spott sein, der uns wieder zusammenführt. Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht.« Sie lachte leise. »Als hier mit mir zu sterben? Aber du hast recht, es ist leichter, mit dir zu sterben ...« »Nein, Dajna. Sie werden uns nicht töten. Nicht nach allem, was ich über König Dragon gehört habe. Nicht nach diesem Dienst, den wir ihm erwiesen haben.« »Du denkst, er wird sich erinnern? Du ...« »Dein Volk hat an seiner Seite gefochten«, unterbrach er sie. »Aber es ist müßig, über das Schicksal zu raten, das schon auf uns zukommt.« Er entwand ihr sanft den Dolch und steckte ihn wieder in seinen Gürtel. Es wurde heller, als der Fackelschein näherkam. Er zog Dajna an sich. Sie sträubte sich gegen die Umarmung. Aber er hielt sie fest. Es war ihm ein Bedürfnis, sie zu halten. Und sie
gab ihr Sträuben auf und legte die Arme auf seine Schultern und ihr Gesicht an seines. Vielleicht war es die Ausweglosigkeit der Situation oder die Erleichterung, hier einen getroffen zu haben, der ihr Freund war, den sie schätzte, auch wenn er ein Mann war, die sie ihren anerzogenen weiblichen Stolz vergessen und für einen Moment Geborgenheit finden ließen in seinen Armen. Oder besser, ein Gefühl, nicht allein zu sein. Ein Schluchzen in unmittelbarer Nähe beendete diesen Augenblick seltsamer Zuneigung zwischen Mann und Amazone. Sie löste sich aus seinen Armen. »Was war das?« Jemand stöhnte. Eine weibliche Stimme, und das Schluchzen verstärkte sich. Es schien von einem Mädchen zu kommen, El Haleb und Dajna beugten sich hinab und tasteten in der Finsternis. »Wer ist da?« fragte der Siliker. »Seid Ihr verletzt?« Da kamen die ersten Wachen mit Fackeln und gezogenen Klingen den Gang entlanggestürmt. Verwundert sah El Haleb eine ältere Frau am Boden, die sich benommen aufrichtete. Ihre Augen waren geweitet, als sie den Siliker und das ungewöhnlich gekleidete Mädchen sah. Die Arme um ihren Hals, die Augen ein wenig gerötet von den Tränen, die rasch versiegten, starrte ihnen ein junges Mädchen entgegen, aus dessen Zügen
die Furcht wich, als das Licht enthüllte, daß sich sonst niemand mehr hier befand. Die Wachen rissen El Haleb und die Katmahzari hoch. »Wer seid ihr zwei Vögel? Redet!« Der Anführer der Wache hob drohend die Klinge. Das Mädchen sprang auf und stellte sich schützend vor die beiden Gefangenen. »Nein, laß sie, Alaan. Die beiden sind Freunde.« Während Dajna und El Haleb erstaunt auf das Mädchen starrten, das sie noch nie zuvor gesehen hatten, nickte der Wachkommandant. »Du mußt es wissen, Yina. Irrst du dich auch nicht?« Sie schüttelte den Kopf. »Dann ist es gut. Aber kann mir einer sagen, was nun eigentlich geschehen ist und wer den Gong geschlagen hat?« »Ich«, bemerkte eine zaghafte Stimme im Hintergrund. Es gab einiges Getümmel, als die Wachen Platz machten, um jemanden durchzulassen. Dann stand Kim blinzelnd im Fackellicht. Gleichzeitig kam vom anderen Ende des Korridors Kano. Er sah sich verwirrt um. Dann bückte er sich und hob etwas auf, das nicht weit von Yina lag. Ein Schwert. »Das ist Onkels Schwert«, sagte er. »Wo ist er?« Betroffenes Schweigen antwortete ihm.
7.
Der König war verschwunden! Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im gesamten Palast. König Dragon war entführt worden. Es konnte keinen Zweifel geben, nach allem, was Yina und die Knaben und die beiden Eindringlinge auszusagen hatten. Während Kommandant Alaan, ein Urgorite, wie die meisten Soldaten im Palast, mit zwei Dutzend seiner Männer den Palastgarten und die Umgegend absuchen ließ, und dabei auf nicht viel mehr als die betäubten Torwachen stieß, und auf einige Hinweise darauf, daß sich mehrere Männer in der Nähe des Palastes verborgen gehalten haben mußten, fand in den Gemächern der Königin eine hastige Beratung statt. Boten wurden ausgesandt, um Cheron und Partho herbeizuholen. Aber El Haleb, obwohl zum Umfallen müde und erschöpft, drängte darauf, nicht erst auf die Ankunft der Helfer zu warten, sondern sofort El Dschafars Lager aufzusuchen. Auch Dajna drängte darauf. Sie hatte auch noch andere Gründe dafür. Ihre fünf Gefährtinnen befanden sich noch auf dem Schiff, das
am Morgen auslaufen und die Kriegerinnen im Süden als Sklavinnen verkaufen wollte. Sie gestand der Königin freimütig, wie es gekommen war, daß sie sich El Dschafar zu diesem abenteuerlichen Einbruch in den Palast anschloß. Weil sie erhofft hatte, dabei zu fliehen. Das sei aber unmöglich gewesen. Als Amee von den gefangenen Katmahzari hörte, schickte sie sofort einen Boten in den Hafen, einen, dem sie bei seinem Leben verbot, zu jemandem über das Verschwinden des Königs zu sprechen. Die Flotte lag im Hafen. Einige Schiffe würden sich des Kauffahrers annehmen und ihn zur Herausgabe der gefangenen Frauen zwingen. Sie wußte, wie tapfer die Katmahzari an Dragons Seite gekämpft hatten. Keine dieser Frauen durfte die Schmach der Sklaverei erdulden, nicht wenn es in ihrer Hand lag, es zu verhindern. Aber es erschien ihr auch absurd, daß El Dschafar den König entführen und in sein Lager bringen würde. Sie beschäftigte sich immer wieder mit einem Gedanken: Warum hatte Yina die Gedanken dieses Diebes nicht lesen können? Es paßte irgendwie zu dem, was Dajna berichtet hatte – daß nämlich sie und die anderen Männer nicht gewußt hatten, was El Dschafar im Palast suchte. War es möglich, daß er es selbst nicht wußte, sondern daß ihn nur ein Zwang dazu trieb – ein Zwang namens Cnossos? War es möglich, daß dieser
Teufel hundert Leben besaß und immer wieder auftauchen würde, um ihnen das Leben zur Hölle zu machen? Der Gedanke ließ sie zittern. War Dragon bereits in Cnossos‘ Hand? »Es sieht aus wie Cnossos‘ Werk«, murmelte sie. Die Kinder sahen sie erstaunt an. Daran hatte selbst Yina noch nicht gedacht. Iwa nickte. »Cnossos?« fragte El Haleb. »Ihr habt ihn gesehen, wenn auch nicht in seiner wahren Gestalt. Aber als Zamoc. Das war Cnossos, der Gott der vielen Namen, wie wir ihn in Urgor nannten. Dragons größter Feind. Er kann seine Gestalt wandeln, wie es ihm gefällt. Ihm gehorchen die Horden der Nacht, die Zom-bys, die Vampire und selbst die Menschen, die er sich zu Willen macht ...« Dajna schüttelte bleich den Kopf. »Ihr glaubt, daß El Dschafar nicht der echte El Dschafar war, sondern dieser Cnossos in seiner Gestalt ... Ist es das, was Ihr glaubt, erhabene Königin?« Amee nickte. »Dann ist es wohl nicht Cnossos« meinte Dajna aufatmend. »Als El Dschafar mich nämlich wie ein ... Mädchen zu behandeln versuchte ...« Sie hatte Mühe, ihre Geringschätzung zu verbergen. Aber sie errötete unter Amees Blick, sehr zu ihrem Mißbehagen, wie El Haleb bemerkte, der kein Auge von der jungen Kriegerin und Nichte Asmyras, der Königin der Amazonen, ließ.
»Da biß ich ihn in das Handgelenk«, fuhr sie fort und errötete erneut, diesmal vor Scham über diese unfeine Art des Kämpfens. »Ich war in Ketten«, fügte sie hinzu. »Er blutete stark. Und wenn ich mich recht erinnere, dann floß bei Zamoc kein Tropfen Blut, auch nicht, als sein Schädel bis in den Nacken gespalten war.« El Haleb nickte. Ein leises Grauen beschlich ihn bei dieser Erinnerung. »Danach war ich ständig bei ihm«, erklärte Dajna. Außerdem hatte er sich bereits verändert, als dieser Besucher ins Lager kam, von dem ich bereits berichtete. Ein schwarzgekleideter Mann in einem Mantel mit Kapuze. Von ihm muß Dschafar den Auftrag erhalten haben. Denn er vergaß mich völlig. Nichts kümmerte ihn mehr. Er hatte es sehr eilig, in den Palast zu kommen. Er rief seine Männer zusammen. Den Rest wißt Ihr bereits.« Die Königin nickte unruhig. »Wer der Schwarzgekleidete war, konntet Ihr nicht sehen?« »Nein, erhabene Königin. Aber Dschafar benahm sich sehr seltsam in seiner Gegenwart. So als wäre er betrunken. Er starrte ihn an und stimmte allem zu ...« Amee nickte erneut. »Wer dieser Besucher auch war – er hat sich Gewalt über den König der Diebe verschafft. Und es sieht immer mehr wie Cnossos‘ Machenschaft aus!« Verzweifelt sah sie von einem zum
andern. »Wir dürfen keine Zeit verlieren«, sagte sie zitternd vor plötzlicher Schwäche. Iwa trat an ihre Seite und hielt sie an den Schultern. »Ihr braucht Ruhe, Königin«, sagte sie streng. »Oh. Iwa! Wie soll ich Ruhe finden, wenn Dragon ...« Iwa unterbrach sie. »Ihr habt jetzt einen, der Euch dringender braucht als der König. Ihr habt ihm einen Sohn geboren. Er braucht Eure ganze Kraft. Überlaßt es den Männern, nach dem König zu suchen!« Dabei warf sie einen herausfordernden Blick auf Dajna, den diese ignorierte. Plötzlich stieß Dajna hervor: »Wie konnte ich es nur vergessen! Der Schwarze sagte etwas von einem Turm, zu dem die Beute zu bringen sei ...« »Ein Turm«, wiederholte die Königin hoffnungsvoll. »Das mag uns weiterhelfen.« »Aber nicht viel«, erscholl eine männliche Stimme von der Tür her. »Darf ich eintreten?« Es war Cheron. Er wartete die Antwort nicht ab. »Es gibt mehr als hundert Türme in der Stadt, und die meisten haben unterirdische Gewölbe, in denen wir tagelang suchen könnten.« »Aber was können wir tun?« »Abwarten«, erklärte Cheron. »Sie wollten den König nicht töten, sonst hätten sie es gleich hier getan ...«
»Und du meinst«, unterbrach ihn Amee heftig, »daß sie ihn früher oder später zurückbringen werden? Ist das deine ganze Weisheit. Freund Cheron?« »Verzeiht, meine Königin«, erwiderte Cheron ruhig. »Vielleicht würde Partho die Stadt umgraben lassen, und vielleicht wäre das mehr nach Eurem Geschmack. Aber seid vor einem gewarnt: Laßt das Volk nicht wissen, daß etwas mit dem König geschehen ist, so lange Ihr nicht sicher seid, ob Euer Heer bereit steht und stark genug ist, Myra noch einmal zu erobern, um Atlantor sein Erbe zu sichern.« Die Königin sah ihn bleich an. »Du hast Dragon schon aufgegeben?« »Nein. Aber was wir für ihn tun, muß heimlich geschehen.« Maratha, die Seherin, schlief unruhig in dieser Nacht. Wirre Träume ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Sie liebte die Träume, weil es für sie eine Art von Sehen bedeutete, weil sie Bilder und Farben sah, die ihren blinden Augen versagt blieben. Aber in dieser Nacht waren die Träume drohend und schienen irgendeine Gefahr zu bergen – eine Warnung, die nicht einsickerte in den Mantel ihrer bleiernen Müdigkeit. Stöhnend wälzte sie sich auf dem Lager hin und her, bis Tomara erwachte, der sie gestattet hatte, auch
nachts über zu bleiben, und sie mit ängstlichen Rufen weckte. »Herrin, wacht auf! Ihr habt einen bösen Traum! So wacht doch auf!« Erst als das Mädchen sie, kräftig rüttelte, glitt sie aus ihren bedrohlichen Träumen und fand in die Finsternis ihres Lebens zurück. Ihr Herz pochte wie rasend. Ihr Atem kam heftig. »Beruhigt Euch, Herrin«, sagte das Mädchen besorgt, »es war nur ein schlimmer Traum.« Nach einem Augenblick nickte Maratha. »Es ist gut, Tomara. Ich bin wach. Und die Götter hatten Mühe, mich zu warnen ...« »Warnen, Herrin ...?« fragte Tomara verständnislos. »Schläft Dragomar?« »Ja, Herrin.« »Gut«, murmelte Maratha und sank in die Kissen zurück. »Es ist nicht mehr lange bis zur Morgendämmerung, nicht wahr?« »Es ist nicht mehr lange, Herrin.« »So geh wieder zu Bett, Tomara. Ich werde dich rufen, wenn ich dich brauche.« Das Mädchen nickte zögernd. Dann sagte sie: »Gute Nacht. Herrin.« Und ging in ihre Kammer zurück. Eine Weile lauschte sie, aber es blieb alles still. Manchmal fürchtete sie diese seltsame blinde Frau ein wenig. Und sie hätte sich noch mehr gefürchtet, hätte sie
ihre Herrin so gesehen, wie sie nun auf ihrem Bett lag – die Augen weit offen, beinahe ohne zu atmen. Wie eine Tote. Maratha sah. Es war einer jener Momente, da ihr innerer Blick sein Ziel selbst suchte, ohne ihr lenkendes Zutun. Es war die Drohung aus ihren Träumen, die ihn lenkte. Irgend etwas in Myra, oder besser, irgend jemand, besaß mehr als menschliche Kräfte. Und er war dabei, sie zu nutzen. War Cnossos wieder auferstanden? Hatte wiederum etwas von ihm überlebt und war dabei, sich aufzubauen, Kräfte zu sammeln? War Dragon abermals in Gefahr? Ein Gesicht tauchte vor ihrem Innern auf – ein düsteres, hageres, dunkelhäutiges Gesicht mit spitzem Kinnbart und unter einer schwarzen Kapuze verborgenen Augen, deren Blicke durch das Fleisch bis in das Mark zu dringen schienen. Er saß allein und brütend in einem Raum, der spärliches Licht von einer fast niedergebrannten Kerze erhielt. Und er wartete. Es schien ein Turm zu sein, in dem er saß, aus steinernen Mauern. Aus alten Mauern, in deren Steinen etwas von einer alten, gefährlichen Vergangenheit war. Sie betrachtete den stummen Mann eine Weile. Bald schien es ihr, als hielte er ihren inneren Blick fest. Nur mit Mühe vermochte sie sich loszureißen. Er weckte
Erinnerungen in ihr, uralte Dinge, die vor ihr erlebt worden waren und die dennoch in ihr schlummerten. Sie wußte, daß etwas vom gleichen Blut in seinen Adern fließen mußte. Plötzlich erwachte der Mann aus seinem starren Brüten. Seine Aufmerksamkeit richtete sich nach draußen, woher Geräusche durch die Fenster kamen. Die Stimmen mehrerer Männer waren zu vernehmen. Dann pochte jemand an das Tor. Maratha kam völlig frei aus seinem unbewußten Bann. Trümmer eines verfallenen Tempels prägten sich ihr ein. Und ein Pferd, über dessen Sattel ein lebloser Körper hing, während ein Dutzend Reiter Mühe hatten, ihre Pferde zu beruhigen. Das Tor tat sich auf. Zwei schwarzgekleidete Männer mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen griffen nach der schlaffen Gestalt auf dem Pferd und hoben sie vorsichtig aus dem Sattel. Während das Klappern der Hufe auf dem Pflaster in der Ferne verklang, trugen die Männer ihre Last die Wendeltreppe hoch und in den Raum, in dem noch immer der Mann saß. Er erhob sich, als die beiden eintraten und ihre Last auf den Tisch legten. »Hier ist er, Meister«, sagte einer der Männer ehrfürchtig. Auch Maratha sah ihn, und ein stummer Aufschrei entrang sich ihrem Geist.
Auf dem Tisch lag niemand anderer als Dragon! Und er schien tot zu sein ...
Nach einem Augenblick, als sich ihre ungewöhnliche Sehkraft voll auf ihn richtete, erkannte sie, daß er lebte. Er atmete. Sein Herz schlug. »Bindet ihn fest!« befahl der, den sie Meister genannt hatten. Die Männer machten sich daran, den Bewußtlosen festzubinden. Maratha konzentrierte sich auf den »Meister«. Sie versuchte zu erfahren, was in ihm vorging. Wofür er sein Opfer auserkoren hatte. Aber ihre magischen Sinne prallten vor einer unsichtbaren Wand zurück. Die Drohung war wieder fühlbar. Die Drohung aus den Träumen. Es war nichts Gutes, das dieser Mann mit Dragon vorhatte. Sie mußte handeln. Aber zwei Dinge hatten mit einemmal zu geschehen! Ihre Lider zuckten. Ihre dunklen Augen schlossen sich, als das innere Licht erlosch, die inneren Stimmen verstummten. Maratha erwachte. Sie war älter geworden in diesen Augenblicken, wie immer, wenn der Blick des Geistes an den Kräften ihres Körpers zehrte. Altern war etwas, das sie ständig
ertrug. In einer Stunde mochte sie vom blühenden Geschöpf zu einer schlohweißen Greisin werden, wenn der Zustand des inneren Blicks fast alle ihre Kräfte kostete. Ruhte sie, dann kamen ihre Kräfte zurück und ihre Jugend und Schönheit. Aber für Ruhe war nun keine Zeit. Ihr ältliches Aussehen erfüllte auch einen guten Zweck. Sie brauchte ihre Gestalt nicht zu verändern, was das Mädchen sicherlich sehr erschreckt hätte, denn niemand würde in ihr Maratha wiedererkennen. Ein wenig würde sich Tomara wahrscheinlich wundern, daß ihre Herrin in dieser Nacht soviel älter geworden war. Aber sie würde es der Erschöpfung zuschreiben und dem Kind. Sie erhob sich, und da sie sich mit Hilfe des inneren Blicks ihre Umgebung genau eingeprägt hatte, fand sie die Tür sicher wie eine Sehende. Sie weckte Tomara. »Kannst du reiten?« »Ja. Herrin.« »Gut. Besorge uns Pferde. Wir werden der Königin einen Besuch abstatten.« »Der Königin?« entfuhr es dem Mädchen. »Oh. Herrin, nein, das kann ich nicht. Wie ich aussehen würde unter all den feinen Leuten am Hof. Was sollte sie von mir denken?« »Daß ihre Bürger ordentliche, einfache Leute sind«,
sagte Maratha lächelnd »... die ihr helfen, wenn sie in Not ist.« »Ist sie denn in Not?« »Ja, seit heute nacht hat sie beträchtlichen Kummer ...« »Aber woher – wißt Ihr ...?« »Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Tomara. Bring uns jetzt Pferde. Die Zeit drängt.« »Jetzt gleich. Herrin? « fragte sie verwundert »Die Sonne ist noch nicht einmal aufgegangen. Wird die Königin denn wach sein zu dieser frühen Stunde?« »Heute wird sie es sein. Nun mach schon.« Während das Mädchen zu Melocs Karawanserei lief, um zwei Pferde zu mieten, kleidete sich Maratha an. Sie sah aus wie eine vornehme myranische Frau mittleren Alters, die Witwe eines Offiziers. Sie fütterte den kleinen Dragomar und brachte ihn mit langsamen, gleichmäßigen, streichelnden Bewegungen ihrer schlanken Hände zum Einschlafen. Befriedigt legte sie ihn mit den Tüchern und Kissen in einen Tragkorb. Den bedeckte sie mit weiteren Tüchern, bis der Knabe nicht mehr zu sehen war. Sie überzeugte sich, daß er auch genügend Luft bekam. Ungeduldig wartete sie, daß das Mädchen mit den Pferden kam. Es dauerte eine Weile. Als sie schließlich kam, war sie außer Atem »Verzeiht. Herrin. Ich konnte nicht ... ich habe mein schönstes Kleid angezogen.
Ich ...« Maratha unterdrückte ihren Ärger. Sie sah in der Tat verwandelt aus in den bunten weiten Röcken. Maratha sah es nicht, aber sie spürte es. Sie lächelte. »Ich hoffe, die Königin weiß es zu schätzen. Tomara.« Das Mädchen errötete. »Verzeiht, es war nicht Eitelkeit. Aber sicher hätte die Königin gedacht, ich käme betteln zu ihr ...« »In solchen Lumpen kommst du in mein Haus?« fragte Maratha ironisch. »Nein. Herrin. Für mich sind es nicht Lumpen, nur die Kleider einer Magd. Aber in den Augen der Königin ...« »Die Königin ist auch nur eine Frau. Tomara.« stellte Maratha fest. »Ist sie schon?« »Du wirst es sehen. Nimm den Korb. Bring mich zu den Pferden!« »Wo ist Dragomar?« fragte das Mädchen. »Im Korb. Tomara. Du sorgst dafür, daß niemand sieht, was unter den Tüchern liegt. Ich denke nicht, daß er erwachen wird. Aber du läßt mir den Korb nicht aus den Augen. Nicht einen winzigen Moment, und mag die Königin dich auch noch so sehr beeindrucken. Hast du mich verstanden?« »Ja. Herrin. Seid Ihr wahrhaftig schon stark genug,
um zu reiten?« »Hab keine Angst um mich. Aber um dich, wenn du nicht stets an meiner Seite bist.« »Sorgt Euch nicht. Herrin. Ich werde immer da sein.« Maratha tastete nach dem Pferd. »Manchmal verfluche ich meine Augen. Aber ich würde auch mit keinem tauschen. Selbst mit der Königin nicht«, murmelte sie. Cherons Rat wurde befolgt. Niemand sollte vorerst etwas vom Verschwinden des Königs erfahren. Aber die ganze Stadt wußte, bei Morgengrauen, daß etwas vorging. Das ließ sich nicht verbergen. Denn Partho bestand darauf, jeden einzelnen Turm der Stadt in Augenschein zu nehmen. Soldatentrupps patrouillierten durch jede Straße. In Türme, die nicht geöffnet wurden, wurde gewaltsam eingedrungen. Viele erinnerte das an Zogors Zeiten, und sie fluchten in ihre dunklen Bärte. Es war ein mühsames und nutzloses Unterfangen. Amee war müde und den Tränen nahe. Nur Cherons Warnungen und Parthos Zuversicht hielten sie aufrecht und ließen sie nach außen hin gelassen erscheinen, wenn Boten und Stadtkommandanten zur Audienz kamen. Das ging fast pausenlos den ganzen Morgen so. Enttäuschende Nachrichten und Beschwerden. Nichts
sonst. Auch von Yina nicht, die mit Parthos Trupp unterwegs war, um Dragons Gedanken aufzuspüren, wenn er noch am Leben war. Die Hoffnung sank. Man mochte den König längst aus der Stadt gebracht haben. Die Truppen hatten zwar einen Ring um die Stadt geschlossen, durch den keine Maus schlüpfen konnte, aber zu dem Zeitpunkt, da dies geschehen war, mochte Dragon längst die Stadt verlassen haben. Nur eines wußte man sicher; kein Schiff hatte die Küste in Stadtnähe verlassen, auch nicht der Kauffahrer mit den gefangenen Katmahzari. Die Kriegerinnen trafen noch am Morgen im Palast ein, und die Wiedersehensfreude war groß, als man sie zu Dajna brachte. Die Schwäche all dieser Unternehmungen lag in der Geheimhaltung. Die Männer wußten nicht genau, wonach sie suchten. Nach Männern in schwarzen Kapuzenmänteln, die diese längst abgelegt haben mochten. Die Soldaten, die die Stadt eingeschlossen hielten, hatten wenigstens eindeutigere Befehle: niemanden durchzulassen, und wenn es der König selbst wäre. Blieb noch abzuwarten, ob sie den König wirklich aufzuhalten wagten, wenn dieser Augenblick kam. Aber selbst wenn sie ihn nicht aufhielten, war damit eine Spur gegeben. Dann kam eine fremde Frau mit ihrer Dienerin in
den Palast und bat um Audienz. Sie behauptete, die Königin allein in ihren Gemächern sehen zu müssen. Sie könne helfen. Amee sagte in ihrer Verzweiflung sofort zu. Sie griff nach jedem Strohhalm. Es war rascher und einfacher gegangen, als Maratha erwartet hatte. Sie stiegen, geführt von mehreren Wachen, die Treppen zu den königlichen Gemächern hinauf. Tomara mit großen, staunenden Augen. Sie war noch nie zuvor im Palast gewesen, und so beeindruckend das gewaltige Bauwerk von außen wirkte, es stand im Innern um nichts nach – Teppiche, polierte, spiegelnde Marmorwände, goldene Zier, dazwischen die blühenden, grünenden Innenhöfe und Terrassen, das Spiel von Sonnenlicht auf buntem Glas, das rote Flecken an die Wände warf wie von Blut, oder blaue von der Farbe des Spätnachmittagshimmels und grüne von der Tiefe verwachsener Bäche. Die Königin erwartete sie ungeduldig. Tomara erschrak, als sie das bleiche, angsterfüllte Gesicht sah, das sehr schön sein mußte, wenn es lächelte. Das grüne, bodenlange Kleid, das sie trug, war nur ein Abklatsch des Grüns ihrer Augen. Maratha verneigte sich. Das Mädchen sank in die Knie. »Kommt«, sagte die Königin ungeduldig. »Setzt Euch. Ihr sagt, Ihr könnt mir helfen? Wißt Ihr denn,
was es ist, das mir fehlt?« Maratha lauschte unmerklich. Amee schien sie nicht zu erkennen. Die Erregung der Königin hatte andere Ursachen. Während der ersten Nächte in Myra hatte sich Maratha mit Hilfe des inneren Blicks den Palast genau eingeprägt, besonders die Königsgemächer. Sie wußte jedes einzelne Möbelstück. Sie hätte durch das Zimmer gehen können, ohne daß jemand erkannt hätte, daß sie blind war. Zu ihrer Rechten vernahm sie sanfte Babylaute. Dort mußte die kunstvoll geschnitzte Wiege stehen. Ihre geschärften Sinne nahmen die Königin nah vor sich wahr. Maratha hob den Kopf, strich über ihre Stirn, als wäre sie müde und sagte: »Was Euch fehlt, Königin? Ein König, wenn mich meine Träume nicht täuschen, und das tun sie selten.« Sie hörte, wie Amee den Atem anhielt. »Ihr wißt, wo er ist?« »Ich habe ihn gesehen«, antwortete Maratha ausweichend. »Ihr habt ...«, entfuhr es Amee. »Wo, edle Frau ... sagt mir, wo! Ich bitte Euch. Und ich will Euch reich belohnen. Euch und Eure Dienerin!« »Ich will keinen Lohn«, winkte Maratha ab. Sie stützte die Stirn in die Hand. »Es genügt, wenn Ihr es wissen laßt, daß die Träume Pheleas mehr wissen, als
die Götter jedem zeigen.« »Ja, das will ich gern tun«, stimmte Amee rasch zu. »Sagt mir, wo er ist?« Maratha zuckte die Achseln. »Das müßt Ihr herausfinden. Ich kann Euch nur meinen Traum erzählen ...« »Nur einen Traum?« wiederholte die Königin enttäuscht. Sie war ein wenig seltsam berührt von dem unsteten Blick der Frau. Aber vielleicht hing das mit ihren Träumen zusammen. Starke Träume mochten Ruhelosigkeit bringen. »Erzählt den Traum«, bat sie dann rasch. Einen Moment blickte ihr die Frau direkt in die Augen, und Amee glaubte, in einen Abgrund zu sehen. Die Königin schrak zurück. »Ich sehe eine Kammer«, begann Maratha halblaut, aber deutlich verständlich. »Sie ist düster. Nur eine Kerze brennt. Eine reglose Gestalt liegt auf einem Tisch, mit schweren Eisen an Händen und Füßen ...« »Dragon?« fragte die Königin hastig. Maratha nickte. »Ja, es ist der König.« »Ist er tot?« »Nein. Aber er hat noch nicht erkannt, wo er sich befindet, und was mit ihm geschehen soll ...« »Was soll mit ihm geschehen?« Amee zitterte unwillkürlich. »Ich weiß es ebensowenig wie er. Darüber gab der
Traum keine Auskunft. Vier Männer befinden sich bei ihm. Sie tragen schwarze Kapuzen und Mäntel. Ihre Gesichter sind im Schatten. Ich vermag sie nicht zu sehen.« »Männer in schwarzen Kapuzenmänteln«, wiederholte Amee und sprang auf. »Euer Traum ist wahr!« rief sie. »Ja, er ist wahr«, bestätigte Maratha unbewegt. »Was tun sie?« »Drei haben dem König die Eisen angelegt. Sie verlassen die Kammer. Der vierte ist ihr Anführer. Er ist der stärkste; sein Blick ist der tiefste; seine Machtgier die größte. Er sucht nach einem Geheimnis, das der König kennt. Er sucht nach ...« Sie begann plötzlich zu lachen. »Wonach sucht er?« drängte Amee. »Nach den Kräften, die Zamoc besaß, als er am Hof von Myra weilte«, vollendete Maratha. »Und er glaubt, daß der König der Schlüssel zum Geheimnis sei, weil Dragon letztendlich Zamoc besiegt hat!« »Zamocs Kräfte?«, wiederholte die Königin erregt. »Aber Zamoc war längst tot. Es war ...« Sie preßte die Hand vor den Mund. »Es war Cnossos in seiner Gestalt.« Amee sah die Frau erstaunt an. »Ihr wißt ...?« »In meinen Träumen ist die Wahrheit«, erklärte Maratha gleichmütig. »Arzan Shor hat ein wenig vom
Blut der alten Götter in sich. Er kennt einige der verlorengeglaubten Geheimnisse. Und er lechzt nach den magischen Kräften des Gottes der vielen Namen. Er hat nur einen Anhaltspunkt – den König, der selber voller Geheimnisse ist.« »Arzan Shor? Das ist kein myranischer Name.« »Nein. Er ist ein schwarzhäutiger Mann aus dem tiefen Süden.« »Wenn er Cnossos findet ... wird er werden wie er?« Maratha schüttelte den Kopf. »Abermals nein. Dazu ist er zu klein. Er hat zu wenig Verstand und zu wenig vom alten Blut. Er ist nur ein drittklassiger Magier. Selbst meine Träume taugen mehr. Aber er mag dem König wohl eine Gefahr sein – wenn er nämlich herausfindet, daß die Dinge zu groß für ihn sind, nach denen er greift. Wut führt oft eine rasche Klinge.« Die Königin wurde bleich. »Wo ist er?« »Ich sehe nur einen Turm ...« »Ja, das stimmt. Wir suchen den ganzen Morgen schon in den Türmen der Stadt. Wo steht dieser Turm? Wo?« Ihre Fäuste waren geballt. »Ich weiß es nicht, Königin Amee. Aber ich sehe einen verfallenen Tempel und enge Straßen und Häuser zu seinen Füßen ...« »Ein Tempel!« rief Amee. »Bitte, wartet. Ich will nur rasch meinem Kommandanten Anweisung geben.
Dann müßt Ihr mir mehr erzählen ...!« Maratha nickte zustimmend. Amee stürzte aus dem Raum. »Wir haben sie ganz schön in Aufregung versetzt, nicht wahr?« sagte sie zu Tomara. »Ja, Herrin«, flüsterte das Mädchen. »Ist es wahr, daß der König verschwunden ist? Und daß Ihr wißt, wo er sich befindet?« »Ja, es ist wahr. Aber nun rasch ... siehst du die Wiege dort in der Ecke?« »Ja, Herrin.« »Der Sohn des Königs liegt in ihr. Bring ihn mir, ich möchte ihn im Arm halten ...!« »Herrin!« entfuhr es dem Mädchen. »Das würde die Königin niemals dulden. Wenn sie uns sieht!« »Maß dir nicht an, zu wissen, was die Königin tun oder lassen würde. Sie ist mir zu Dank verpflichtet. Und außerdem kannst du an der Tür wachen und sehen, ob jemand kommt. Mach schon!« Zögernd trat das Mädchen zu der Wiege. Einen Moment wagte sie es nicht. Dann nahm sie rasch das Kind heraus und lief damit zu Maratha. »Hier, Herrin!« Sie legte es Maratha in die Arme und rannte zur Tür. Noch kam niemand, aber das Mädchen zitterte. Sie sah sich nicht um, was ihre Herrin tat, sie hatte nur Augen für den Korridor. Maratha zögerte keinen Augenblick. Kaum hielt sie
Atlantor im Arm, tastete sie nach ihrem Korb und zog ihn vor sich, so daß Tomara, sollte sie einen Blick zu ihr her werfen, nicht erkennen konnte, was vorging. Hastig zog sie den noch immer schlafenden Dragomar aus den Tüchern und schob den erwachenden Atlantor dazwischen. Er kreischte, aber Marathas Hand beruhigte ihn, strich einschläfernd über seinen kleinen Nacken. Und nicht einen Moment zu früh schob sie die Tücher darüber. Das Mädchen kam auf sie zugestürzt. »Eine Frau kommt, Herrin!« Sie wollte Maratha das Kind aus den Armen reißen, um es in die Wiege zurückzulegen, aber Maratha hielt es fest. Nun war der geeignete Augenblick, herauszufinden, wie gut der formende Vorgang gelungen war, wie vollkommen sie ihr Kind während der Geburt dem Amees nachzubilden vermocht hatte. Es genügte nicht, daß sie es einfach austauschte – sie mußten es auch als ihres anerkennen. Nur so würde Dragomar das Erbe des Schlafenden Gottes antreten können, das ihm zustand, als dem Erstgezeugten Dragons. Die Frau kam in den Raum, und Maratha fühlte, wie sie erstarrte, als sie das königliche Kind in den Armen der Fremden sah. Maratha wußte auch, wen sie vor sich hatte, als sie die Stimme hörte. Es war Iwa, die Amme und Vertraute Amees. Sie stürzte auf Maratha zu und riß ihr das Kind aus
den Armen. »Wer seid Ihr? Wie kommt Ihr dazu, dieses Kind aus der Wiege zu nehmen? Wo ist die Königin?« Tomara brachte vor Schreck kein Wort hervor. Maratha lächelte. Sie dachte, selbst wenn nun der echte Atlantor im Korb zu schreien begann, würden sie nicht mehr zu unterscheiden vermögen, welches Kind sie nun im Arm hielten. Aber Atlantor regte sich nicht, und auch Dragomar stimmte kein Protestgeschrei an, als die fremde Frau ihn in das Bett legte. »Weiß die Königin, daß Ihr hier seid?« fragte Iwa barsch. Maratha nickte. »Ja, sie weiß es. Sie wird gleich zurückkommen ...« »Aber bestimmt hat sie Euch nicht gestattet, das Kind aus der Wiege zu nehmen!« »Sie hat es auch nicht verboten«, erwiderte Maratha ruhig. »Nur weil sie nicht dachte, daß Ihr die Impertinenz besitzt ...« »Iwa!« rief Amee von der Tür her. »Wie sprichst du mit dieser Frau? Was ist geschehen?« »Sie hatte Atlantor am Arm, als ich hereinkam«, rief Iwa aufgebracht darüber, daß die Königin offenbar die Partei der Frau ergriff. Der Schreck verschlug Amee das Wort. Wie hatte sie den Knaben nur allein lassen können? Was hätte nicht
alles geschehen können? Jemand hatte den König entführt. Jemand mochte auch seinen Sohn entführen oder gar töten, um den myranischen Thronerben zu beseitigen! »Verzeiht mir, Königin Amee«, sagte Maratha rasch. »Ich konnte das Verlangen nicht unterdrücken, den Sohn Dragons in den Armen zu halten. Ihr dürft nichts Böses denken. Ich will ehrlich sein, ich hätte es mir als Dank erbeten, ihn einmal zu halten, um die gewichtige Zukunft zu fühlen, die die Götter sicherlich für ihn bereithalten müssen.« Amees Argwohn schwand angesichts solcher Worte. »Es ist gut, Iwa. Wenn man Dragon in den nächsten Stunden wiederfindet, dann verdanken wir es dieser edlen Dame, die in ihren Träumen sah, wohin man ihn brachte.« »In ihren Träumen, so.« Das Mißtrauen schwand nicht aus Iwas Stimme. »Was manche Leute so träumen ...!« »Iwa«, rief Amee. »Du wirst dich sofort entschuldigen ...!« »Das ist nicht nötig«, sagte Maratha rasch, um die Dinge nicht noch mehr zuzuspitzen. »Es ist in diesen unsicheren Zeiten gut, jemanden mit wachen Augen um sich zu haben. Verzeiht noch einmal meine Unverschämtheit.« »Ich bin es, die Euch danken muß«, rief Amee aus.
»Partho ist unterwegs mit einigen Männern. Eine der Palastwachen glaubt zu wissen, wo sich dieser alte Tempel befindet. Er erinnert sich auch an den Turm. Mögen die Götter geben, daß es der richtige ist!« »Er ist es«, erklärte Maratha zuversichtlich. »Aber nun müßt Ihr uns entschuldigen. Vielleicht bedürft Ihr eines Tages wieder meiner Träume.« »Ich bin sicher«, sagte Amee rasch. »Sagt mir, wo ich Euch finden kann.« Maratha erhob sich und lächelte. »Das ist nicht nötig. Ich werde da sein. Ich werde es aus meinen Träumen wissen, ob Ihr oder die Euren in Gefahr sind. Die Götter wachen über dieses Kind«, fügte sie kryptisch hinzu. »Und was den Lohn betrifft, so bin ich schon belohnt. Es ist nicht allen Sterblichen vergönnt, die Geschicke von Königen zu lenken. Lebt wohl.« Erst als sie den Palast verlassen hatten, atmete sie auf. Nun war der Plan erfüllt, ihre Aufgabe in Myra beendet. Sie konnte zurückkehren an den Raxos ... nach Hause. Mit Atlantor, der von nun an den Namen Dragomar führen würde; auf den nun keine Reiche mehr warteten und kein Thron. Nur eine Hütte am Raxos und die Liebe einer nicht ganz menschlichen Mutter.
8.
Dragon erwachte durch die Berührung von kaltem Eisen an seinen Handgelenken. Es währte eine Weile, bis er in die Wirklichkeit fand. Währenddessen waren dunkle Schatten um ihn emsig bemüht, ihn festzuhalten. Er konnte sich nicht bewegen! Diese Erkenntnis brachte ihn rasch ein ganzes Stück weiter zur Wahrnehmung der Umwelt. Aber noch immer war der Wein schwer in seinem Kopf und lähmte seine Überlegungen. Sein Blick war trüb. Das Licht war spärlich. Er hatte das Gefühl, daß es nicht viel zu sehen gab, auch wenn sein Blick sich geklärt hatte. Und dann hatte er noch ein anderes Gefühl: daß ihm das, was er sehen würde, nicht gefallen würde. Was war geschehen? Flüchtige Bilder huschten irgendwo in seinem Innern vorbei, zu bedeutungslos, als daß er sie erfassen konnte. Alle seine Erinnerungen, schienen solcherart seinem Zugriff auszuweichen. Er hatte getrunken. Das war etwas, das er wußte! Das ihm einen Ankerplatz in seinen Überlegungen gab. Von hier aus konnte er mit System grübeln. System, was war das nur für ein seltsames Wort? Eines, das er sicher noch nie aus urgoritischem oder myranischem Mund vernommen hatte. Aber er verstand es. Es bedeutete soviel wie Ordnung,
Reihenfolge. Der Wein schien ein paar seiner uralten Erinnerungen zum Leben zu erwecken. Er fühlte eine seltsame innere Freiheit, ein großes Loch, aus dem jeden Augenblick etwas emportauchen konnte. Das äußere Gefühl hatte weniger mit Freiheit zu tun. Er sperrte die Augen weit auf. Mehrere dunkelgekleidete, tief verhüllte Gestalten machten sich an ihm zu schaffen. Irgendwo im Hintergrund brannte eine einsame Kerze, die zu wenig Licht spendete, als daß er die Männer genau erkennen konnte. Er versuchte sich herumzudrehen, sich hochzurappeln. Es gefiel ihm nicht, so auf dem Präsentierteller vor diesen Gestalten zu liegen. Er erkannte, daß er weder Arme noch Beine bewegen konnte. Verdammter Wein! Wie kam er hierher? Jemand hatte ihn also schließlich doch unter den Tisch getrunken und ihn samt dem Tisch hierhergebracht. Das mußte geklärt werden! Bis in alle Einzelheiten. Wer war es nur gewesen, der davon angefangen hatte, daß Zogor seine Daikane unter den Tisch trank? Sklaverei abschaffen konnte jeder und gelehrt von Zehnten und Steuern reden auf dieser trockensten aller Ratssitzungen! Was war das nur für ein König, der seine Daikane
nicht unter den Tisch trank? Dann kam ihm zu Bewußtsein, daß er nicht unter dem Tisch lag, sondern darauf. Und wer hatte schon je davon gehört, daß Betrunkene auf dem Tisch lagen? Niemand mit einer ehrlichen Zunge! Beim Schrei des Riesen! Letztere bekräftigende Worte beschäftigten ihn eine Weile. Die Erinnerung, die einen Moment lang dagewesen war, heraufbeschworen wie von Zauberhand aus dem tiefen Loch, das sich bei seinem Erwachen aufgetan hatte, verschwand wieder, bevor er ihre Bedeutung erfassen konnte. Zurück blieben nur die Worte: Beim Schrei des Riesen. Andererseits war nichts unnatürlich daran. Warum sollten nicht auch Riesen schreien? Zwei Augen näherten sich ihm bedenklich. Wenigstens empfand er es so. Er hatte plötzlich Furcht. Furcht, in dieses Loch zu fallen, das sich aufgetan hatte, hineingestoßen zu werden von diesen unerbittlichen Augen. Er begann zu kämpfen. Und wurde wach! Zum erstenmal nahm er seine Umgebung mit einer Nüchternheit wahr, die ihn selbst überraschte. Er war auf dem Tisch mit Eisen gefesselt an Händen und Füßen. Die Idee, sich daraus selbst zu befreien, konnte er begraben. Seine Chance konnte nur bei dem Mann vor ihm liegen. Er starrte ihn an, aber die Kerze im
Hintergrund gab zu wenig Licht. Er sah nur die im Widerschein funkelnden Augen tief in der Kapuze. »Wer bist du?« keuchte Dragon. Der andere gab keine Antwort. Er betrachtete seinen Gefangenen nur stumm. Dragon sah an sich hinab. Sein Oberkörper war nackt, und er trug noch die Beinkleider, mit denen er ins Bett gefallen war. Er erinnerte sich plötzlich daran, daß er zu Bett gegangen war. Dann an Kanos Versuche, ihn aufzuwecken. Und schließlich an eine Auseinandersetzung mit unbekannten Männern im Korridor des Palastes. Er hatte einen erledigt ... dann hörte irgendwie alles auf. Man hatte ihn also niedergeschlagen und hierhergeschafft, wo immer das auch war. Und nun hing er hier wie ein Schaustück. Und seinem Gegenüber hatte es die Rede verschlagen. Wo war er hier? In Mis‘ Tempel. Mis‘ Tempel? Die Worte waren plötzlich in seinen Gedanken gewesen – so als hätte er sie selbst gedacht. Oder hatte sein lichtscheuer Freund gesprochen ...? Wer war Mis? Keine myranische Gottheit, soviel ihm bekannt war. Die Göttin der Schlange. Dragon schüttelte eine Benommenheit ab, die immer mehr von ihm Besitz ergriff. Die Göttin der Schlange,
also. Das weckte keine Erinnerung in ihm. Sie ist alt, König. Älter als das myranische Reich. Dragon schrak zusammen. Jemand war in seinen Gedanken, einem Dämon gleich. Der Dämon lachte, daß es in Dragons Schädel widerhallte. Ich bin Arzan Shor. Ein Magier. Du fühlst, ist nur ein kleiner Teil meiner Macht. »Was willst du?« fragte Dragon unwillkürlich laut. Du brauchst nicht zu sprechen. Es genügt, wenn du denkst. Ich kann deine Gedanken verstehen. Was willst du? wiederholte Dragon. Er kämpfte erneut gegen die Benommenheit an. Sie hing mit der Macht zusammen, die der andere über seinen Geist besaß. Beides wuchs stetig. Er spürte die Nutzlosigkeit seines Widerstands, und es erfüllte ihn mit Wut. Ich will alles wissen, was du weißt, König. Danach magst du gehen. Wenn du noch kannst! Spott schwang mit den letzten Gedanken. Warum fragst du nicht einfach? dachte der König wütend. Du würdest nicht alles sagen, stellte der Magier fest. Auch will ich alles wissen, auch jene Dinge, die deiner Erinnerung vielleicht gerade nicht gegenwärtig sind. Meinen suchenden Gedanken bleibt nichts verborgen. Auch nicht die unwichtigen Dinge. Die kleinen
Freuden der Könige. Königin Amee, habe ich sagen hören, ist von außergewöhnlicher Schönheit. Ich bin sicher, deine Erinnerungen, König, werden mich überzeugen. Und sie werden viele Dinge enthalten, die nur der Liebhaber weiß ... Dragon lachte. »Deshalb die Mühe, Magier?« sagte er. Zum erstenmal spürte er so etwas wie Wut in den Gedanken des anderen, die dieser aus Dragons Geist rasch zurückzog, als hätte er Angst, auch seine geheimsten Absichten könnten sich in einem unbewachten Augenblick seinem Gefangenen mitteilen. »Es gibt viele seltsame Vögel in einem großen Reich wie Myranien«, fuhr der König fort. »Aber du übertriffst sie alle. Ein Magier, der Könige entführt und die alten Kräfte dazu benutzt, königliche Bettgeheimnisse ...« König, sei gewarnt! Die Gedanken peitschten wie glühende Messer durch Dragons Kopf. Er wand sich wild. Als er keuchend in seinen Fesseln hing, kamen die Gedanken Arzan Shors ruhiger, aber noch immer mit der Schärfe einer Klinge. Du siehst, wie einfach es ist, Qual zu bereiten. Ein Gedanke, und du würdest tausend Tode sterben. Spott, so weise sollte ein König sein, ist immer ein Kind der Situation. Und deine ist nicht die Lage zu spotten.
Dragon verbiß sich einen Gedanken der Erwiderung. Es war besser, diesen Narren nicht noch mehr zu reizen. Das ist die rechte Einstellung, mein Freund. Freund? Der Schmerz hatte Dragon ernüchtert. Er wußte plötzlich, daß er nicht allein auf der Welt war. Er besaß Freunde. Aber wo blieben sie so lange? Hatte keiner gesehen, daß er entführt worden war? Das wohl. Aber keiner weiß, wo du bist. Lachen. Dragon dachte an Yina, aber er verbarg den Gedanken rasch. Das Bewußtsein aber, daß sie ihn finden konnte, vielleicht als einzige, blieb. Yina? Der Magier lachte, als Dragon seine Gedanken in den Hintergrund drängte, sorgsam darauf bedacht, sie vor ihm zu verbergen. Wir wollen es nicht länger hinauszögern. Wir wollen sehen, ob mich dein königlicher Geist bereichert. Du denkst an Zamoc. Du weißt, wer Zamoc war. Du hast seinen Kräften widerstanden. Du kennst seine Kräfte. Monoton drangen die Fragen in sein Gehirn. Zamoc, dachte er. Zamoc-Cnossos ... Cnossos? Cnossos. Zamoc. Was wollte dieser verrückte Magier? Etwas über Cnossos erfahren? Ein völlig unwirkliches Gefühl zu lachen überkam ihn. Arzan Shor sah in der Tat aus wie ein Ableger Cnossos! Es wäre interessant zu erfahren, ob er blutete, wenn ihn eine Klinge traf. Sein Gesicht jedenfalls war das eines
Geiers, wenn das etwas zu bedeuten hatte. Geier? Denk darüber nach. Du weißt mehr darüber. Was bedeutet der Geier? Eine Bedrohung, dachte Dragon und glitt tiefer unter den dirigierenden Gedanken des Magiers. Eine Bedrohung ... ein altes Übel, das irgendwie mit meiner Vergangenheit zusammenhängt. Wenn ich mich nur erinnern könnte ...! Die Wirklichkeit um ihn schwand. Er trieb auf dieses Loch zu, diesen Schlund in seinem Innern. Aber nun hatte er keine Furcht mehr. Nur Neugier, die ihn vorwärtsstieß. Alles um ihn war taub. Es gab nirgends eine Wirklichkeit, nirgends eine Oberfläche, an die man emportauchen konnte. Die Gefahr lauerte nicht hier unten. Sie wartete oben. Sie wartete, daß man emportauchte mit einer Hand voll kostbarer Erkenntnisse. Er hing an einem Faden über dem Abgrund seines eigenen Ichs. Er sah hinab in die unergründlichen Tiefen von Jahrtausenden. Ein Schwindel erfaßte ihn. Er suchte nach irgend etwas, an dem er sich festklammern konnte am Rand dieses Abgrunds, in dem das Feuer und der Glanz einer anderen Zeit, einer anderen Welt loderten, die ihm vage vertraut waren und doch so unermeßlich fremd. Aber der Faden hielt ihn unerbittlich über dem Nichts.
Das Gesicht eines Mädchens tauchte empor, lächelte ihm zu mit der Trauer der Ewigkeit in den Augen. Er wußte, daß sie Mura hieß. Dann waren die Sterne um ihn – nah und greifbar. Er lag zwischen ihnen in einem seltsamen Boot, das durch den Himmel fuhr, und die Abgründe um ihn erfüllten ihn mit Schaudern. Plötzlich aber wallte Feuer empor aus einer unbekannten und doch vertrauten Stadt. Die Erde brannte und wurde hochgeschleudert. Der ganze Abgrund war ein Ofen, in dem das Feuer einer Welt loderte, die in Flammen aufging. Und er zappelte hilflos darüber. Ein Schrei entrang sich ihm, erfüllt von einer instinktiven Furcht, geboren aus den unbegreiflichen Bildern fremdartiger Erinnerungen, über denen Cnossos schwebte, Amyron gleich. Die Bilder verlöschten, aber die Furcht blieb und wallte hoch an diesem Faden, der ihn so erbarmungslos hielt. Jemand schrie, und es war nicht er selbst. In seinem Gehirn war alles zu Asche geworden, Erinnerungen und Gefühle gleichermaßen. Er öffnete die Augen. Der Magier wich mit vor Entsetzen starren Augen vor ihm zurück. Sein Mund war noch immer zum Schrei geöffnet. Er hatte gesehen, was Dragon gesehen hatte. Er hatte so wenig verstanden wie Dragon, was
die Bilder bedeuteten. Aber das Entsetzen, das sie auslösten, war in ihm ungleich stärker, weil er ein Kind seiner barbarischen Welt war, ein Geschöpf ohne Erinnerung an die Zeit der Götter ... Und ihres Untergangs. Etwas, das Dragon einst verstanden und nur vergessen hatte. Aus den Augenwinkeln sah Dragon, wie die Hand des Magiers nach seinem Dolch im Gürtel griff. »Hat dich der Mut verlassen, Arzan Shor?« Der Schwarze zögerte, aber die Furcht wich keinen Augenblick aus seinen Zügen. »Du hast zuviel gesehen, nicht wahr? Mehr als du ertragen kannst. Das ist nicht mehr die Macht, nach der du greifen wolltest! Denkst du, ich bin der einzige, in dem sie schlummert? Denkst du, du könntest sie tilgen aus dieser Welt, indem du mir den Dolch in die Brust stößt?« »Vielleicht nicht für immer«, zischte der Magier in einem kaum verständlichen Myranisch. »Aber wenigstens für den Augenblick!« »Und dann?« erwiderte Dragon ruhig, ungeachtet des erhobenen Dolches. Arzan Shor zögerte. »Möchtest du solch eine Macht zum Feind?« sagte der König drohend.
Der Magier starrte ihn an. Sein schwarzes Gesicht war fahl. Seine Kapuze war vom Kopf geglitten, und sein kahler Schädel glänzte wie poliert. So sah also der Tod aus, dachte Dragon. Ein Tumult kam von draußen durch die leeren Fensteröffnungen. Arzan Shor zuckte zusammen. Dragon lauschte angestrengt. Einen Augenblick schien es, als würde der Magier zustoßen, aber dann überwog die Furcht. Dragon verstand deutlich seine Gedanken: Das Ende ... durch einen Feind wie diesen ... muß über alle Maßen schrecklich sein. Ihr Götter ... ein Frevler steht ... Sie erloschen, als Geräusche von unterhalb der Kammer kamen. Stimmen. Kampflärm. Parthos Stimme: »Ha, Haleb, diese schwarze Brut ficht so armselig, daß ich mich frage, wie sie bei ihren dunklen Machenschaften bis jetzt am Leben geblieben ist!« Schreie drangen hoch. Dann Yinas Stimme, und sie erfüllte Dragon mit grenzenloser Erleichterung. »Oben Partho. Er lebt!« Der Magier wich an die Wand zurück. Hastige Schritte näherten sich über steinerne Stiegen. Der Magier löschte die Kerze. In der vollkommenen Dunkelheit hielt Dragon den Atem an. Sein Körper spannte sich in Erwartung des Dolches. Fäuste und Körper schlugen gegen die schwere
Bohlentür. Sie schwang auf und knallte gegen die Wand. Eine Fackel tauchte den Raum in flackerndes Licht. Dragon sah sich hastig um. In der Tür standen Partho und ein Fremder mit einer blutigen Klinge in der Faust. Dahinter Yina mit großen, ängstlichen Augen. Und hinter ihr Soldaten der Palastwache. Sonst war die Kammer leer. Arzan Shor war verschwunden.
9.
»Wir sollten die Stadt nach ihm absuchen«, meinte Partho, als sie im Palast zusammensaßen. Dragon schüttelte den Kopf. »Nein, das würde nur noch mehr Aufsehen erregen.« »Aber die Stadt ist noch abgeriegelt. Er kann nicht entkommen.« »Nein, Partho. Er fürchtet mich mehr als den Tod. Er würde alles eher wagen als mir noch einmal gegenübertreten.« »Wie ist das möglich?« Partho schüttelte verwundert den Kopf. »Es ist das alte Übel«, erklärte Dragon stirnrunzelnd,
als wäre er sich selbst seiner Worte nicht sicher. »Es hängt mit meiner Vergangenheit zusammen, mit meinen verlorenen Erinnerungen. Irgendwie ... ist es ihm gelungen, den Vorhang ein wenig beiseite zuschieben. Wir sahen beide etwas, das wir nicht verstanden ... eine ungeheure Macht ... irgendwo zwischen den Sternen, die ein ganzes Land in Feuer und Asche verwandelte. Ich fühle, nein, ich weiß, daß es mit Cnossos zusammenhängt. Ich hatte Furcht ... wie sie nur einen Mann überkommt, der sich etwas gegenübergestellt sieht, das er nicht versteht. Aber es erschreckte den Magier noch mehr.« Nachdenklich fügte er hinzu: »Er war kein gewöhnlicher Mann. Er konnte in meinen Gedanken lesen, wie manche eurer Brüder und Schwestern, Cheron. Zweifellos war es auch sein Werk, daß unsere Yina keine Gedanken von El Dschafar auffangen konnte. Vielleicht wußte El Dschafar nicht einmal, welchen Auftrag er hatte und welches Risiko er einging ...« Partho nickte. »Wir haben ihn befragt. Er gibt vor, nichts zu wissen.« »Ist es dann nicht gefährlich, diesen Arzan Shor laufen zu lassen, wenn er solche Macht über die Menschen hat, daß sie seine willigen Werkzeuge sind?« warf Cheron ein. »Sind nicht überall seinesgleichen, wohin wir schauen?« erwiderte Dragon. »Wir müßten diese halbe
blutrünstige Welt einsperren, wenn wir uns um jeden kümmern wollten, der mit grausamer Hand über andere herrscht. Oder hältst du Zogor für besser, nur weil seine Macht vom Schwert abhängig war? War er deshalb im Grunde weniger dämonisch?«Cheron schwieg. »Ja«, sagte Partho in die Stille. »Es ist besser, ihn laufenzulassen. »Er grinste. »Ob er es will oder nicht, er ist auf unserer Seite.« Die Umsitzenden sahen ihn erstaunt an. »Seht Ihr es nicht?«, meinte Partho. »Er wird in Kreisen seinesgleichen vor dem König warnen und davon berichten, was er gesehen hat. Wenn es sich weit genug herumspricht, wird es keiner mehr wagen, Hand an den großen König Myras zu legen.« Cheron nickte zustimmend. Dragon lachte. »Wenn ich ehrlich bin, Freunde, habe ich selber ein wenig Angst vor mir.« »Einer hat es nicht«, erklärte Amee. »So oft wir ihn auch vernichtet glaubten – er kam immer wieder.« »Wißt ihr denn«, fragte Cheron, »könnt ihr sicher sein, daß es nur einer ist? Könnte es nicht auch von seiner Art mehrere geben, vielleicht ein ganzes Volk? Das von den Sternen kam, so wie du es in deiner Erinnerung zu sehen glaubtest?« Dragon nickte nachdenklich. »Warum hassen sie uns nur?«
»Wohl weil ihr beide aus der alten Zeit stammt«, sann Cheron. »Es mag einen Krieg gegeben haben zwischen euch, einen Krieg mit Waffen, die Feuer speien konnten und die Erde aufreißen wie das Donnerpulver, das dir so gute Dienste leistete. Du trägst den Schlüssel in dir, König. Vielleicht werden viele wie Arzan Shor noch herausfinden, daß es gefährlich ist, einen Blick hinter diese Tür zu tun.« »Eines Tages«, sagte Dragon zuversichtlich, »wird sie sich öffnen. Ich fühle es.« Er ballte die Fäuste. Dajna stand in einem der Palasttürme und starrte hinab auf den Hafen, in dem geschäftiges Treiben herrschte. Die meisten der großen Galeeren in den Docks und an den Kais wurden ausgebessert, von Tang gereinigt, die Segel bemalt. Das Wasser des breiten Hafenbeckens war grünlichblau unter der prallen Mittagssonne. Selbst hier in den Schatten von Stein und Marmor hoch oben auf den Terrassen und Zinnen des Palastes war der Gluthauch zu spüren. Nur der gelegentliche salzige Wind vom Meer her, der deutlich erkennbar über die Wimpel und Segel strich und die Wetterhähne auf den Dächern hin und her wirbelte, spendete einen Hauch erfrischender Kühle. Dajna nahm das alles nur mit halbem Herzen wahr. Sie war tief in Gedanken. Es gab etwas, das ihr Gemüt beinahe schmerzlich berührte. Der Abschied.
Zum erstenmal hatte sie längere Zeit unter Männern gelebt, die sie nicht haßte, die ihre Gefährten waren, nicht ihre Feinde. Es war nicht so, daß ihr Männer fremd waren. Es gab sie in Kaleir, ihrer Heimatstadt, es gab sie überall in Katmahzar – auf den Bauernhöfen, in den Minen, in den Schmieden, auch in manchen Bädern und Speisehäusern. Aber die wenigsten Frauen kamen mit ihnen in Berührung, außer in den Zeiten der Befruchtung. Zudem hatten sie wenig Kriegerisches an sich, nichts, das ihnen in den Augen der Katmahzari-Frauen Ansehen oder Persönlichkeit gab – blasse Geschöpfe, die nur den einen Zweck erfüllten: die Art zu erhalten. Als Nichte der Königin genoß Dajna bereits früh Rechte, die gewöhnlichen Kriegerinnen versagt blieben. Sie kam weit herum und sah mehr als die meisten. Sie ging in geheimer Mission an den myranischen Hof, als Sklavin König Zogors. Sie kannte die Begierden, Fehler und interessanten Eigenschaften der Männer – der echten Männer, wie es sie in ganz Katmahzar nicht gab. Sie hatte noch nicht geboren, und trotzdem ihre Jungfräulichkeit nicht bewahrt – ein Preis, den sie in der Welt der Männer hatte bezahlen müssen, um ihre Maske als Weib zu wahren. Seltsamerweise war das eines der Dinge gewesen, die sie am wenigsten berührt hatten. Sie hatte
Katmahzari Frauen gesehen, die Schlimmeres mit gefangenen Männern taten. Sie hatte gelernt, daß die Grausamkeiten einzelner nicht für ein Volk oder eine Art zählten. Der Gedanke, Sklavin zu sein, entsetzte sie am meisten. Die Zeit an Zogors Hof war nur schwer erträglich gewesen, aber die Königin brauchte die wichtigen Nachrichten. Sie mußte erfahren, ob Myra einen Feldzug gegen Katmahzar plante. Die Pflicht hatte sie es ertragen lassen. Aber in all der Zeit hatte sie sich gewandelt, ohne daß es ihr bewußt geworden war. Es gab Männer, zu denen sie aufblickte, weil sie tapfere Krieger waren. Es gab solche, die sie ob ihrer muskulösen Gestalt bewunderte. Und obwohl sie erzogen worden war, Liebe und zärtliche Zuneigung nur für das eigene Geschlecht zu empfinden, gab es nun einen, der seltsame Gefühle in ihr auslöste. Diese Gefühle waren es, über die sie sich klarzuwerden versuchte, als sie mit windverwehtem schwarzen Haar und abwesendem Gesicht in den Hafen hinabstarrte. Vor allem spürte sie eine Einsamkeit, wenn sie an ihre Rückkehr nach Kaleir dachte. Es war keine körperliche Einsamkeit. Jede der übrigen Katmahzari-Kriegerinnen hier am Hof hätte es als große Ehre empfunden, mit der Nichte der Königin
Zärtlichkeiten zu tauschen und die Sinne zu befriedigen. Es waren aber nicht ihre Sinne, die sie mit Verlangen erfüllten, sondern ihre Seele, ihr Herz. Ihr Herz sagte ihr, es wäre gut, mit Haleb zu reiten. Ihr Verstand sagte, daß es falsch war, daß sie Kinder zweier Welten waren, die einander niemals vollkommen begreifen konnten, auch wenn sie es noch so sehr versuchten. War es so wichtig, dieses vollkommene Verständnis? Verstanden Mann und Frau einander hier so gut? Es sah nicht so aus. Aber sie wußte, daß sie fest bleiben mußte, daß sie zuviel verlor. Zuviel, einiger verwirrender Gefühle wegen. Für den Bruchteil eines Augenblicks beneidete sie diese myranischen Frauen in ihren seidenen Kleidern, um die unvergleichliche Art, Sklavin zu sein und doch frei, Untertan zu sein und doch zu nehmen, weich zu sein ohne Scham. »Matra!« sagte eine Stimme hinter ihr, was soviel bedeutete wie »Heilige Mutter«, Dajna fuhr herum, ein wenig bleich, weil sie sich in ihren beinah ketzerischen Gedanken ertappt fühlte. Malija stand in der Tür. Sie war die älteste der Kriegerinnen, die auf Nemors Schiff gewesen waren. »Kind, Ihr träumt«, sagte sie. »Wie viele Tage werden noch vergehen, ehe wir wahrhaftig abreiten?
Man könnte meinen, die Männer hätten es Euch angetan.« Letzteres klang, als wäre es nicht ganz frei von echten Zweifeln. Für Malija, die seit drei Dutzend Jahren an den Grenzen Katmahzars ritt und die Welt jenseits der Grenzen leidlich kannte, war es kein so absurder Gedanke wie für jene im Herzen des Amazonenreichs, die nie andere Männer als die verweichlichten Söhne ihrer Mütter gesehen hatten. Es war kein Geheimnis, daß es verachtete Überläuferinnen gab, deren Schicksal man totschwieg. Es kam ihr in den Sinn, wie leicht es im Grunde war. Hatte man erst einmal die Verachtung überwunden, dann brauchte es nicht viel, den Lockungen des Fremdartigen zu erliegen. »Es drängt dich, zurückzukehren?« fragte Dajna. »Nicht mich allein, Dajna.« »Wenn es nichts gibt, das euch hält, so reitet!« »Ihr bleibt?« Es war eine mehr als forschende Frage. »Ja«, sagte Dajna fest. »Was sagen wir unseren Schwestern, wo Dajna, die Nichte Asmyras geblieben ist?« »Dort, wo es ihr gefällt, Malija. Es gibt so vieles, das sich zu sehen lohnt im Reich unserer myranischen Verbündeten, daß ...« »Die myranischen Männer meint Ihr wohl?« warf Malija spöttisch ein. »Ist das euer Dank?« fuhr Dajna heftig auf. »Ihr
wäret ohne mich bereits Sklavinnen am Hof eines schwarzhäutigen Fürsten. Hast du das schon vergessen, Malija?« Die Frau erbleichte. »Verzeiht mir, Dajna.« »Verstehst du es nicht, Malija? Es ist eine Welt, die so ganz anders ist als unsere. Ich weiß nicht, ob ich in ihr leben möchte. Aber eins möchte ich: sie kennenlernen. Ihre Art zu leben ist nicht ohne Reiz ...« »Eines Tages«, warnte die Ältere in versöhnlichem Ton, »mag es sogar einen Mann geben, mit dem Ihr es versuchen möchtet.« Dajna zuckte die Achseln. »Es gefällt mir zu sehr hier, um nun fortzugehen. Ich glaube, daß eine gute Klinge hier gebraucht wird. Es hat in diesem Land viele Vorteile, eine Frau zu sein, die sich zu wehren versteht. Die Königin würde meine Anwesenheit am Hof sehr schätzen. Und es gibt Männer hier, die ich achten gelernt habe – und du auch, wenn du ehrlich genug bist. Der König ist einer von ihnen. Hier ist der Puls der Welt, Malija. Ich würde die Eintönigkeit am Hof Asmyras nicht lange genug ertragen, um dort in Frieden zu leben. Du hast des Königs Worte gehört. Ein Haus soll hier für Abgesandte aus Katmahzar eingerichtet werden. Das ist etwas, das mich reizt, Schwester. Und wenn du mir eine gute Freundin sein willst, wie ich es dir bin, dann berichtest du ohne Spott in Kaleir von mir.«
Die Kriegerin sank in die Knie und umfaßte ihr Schwert. »Seid gewiß, daß ich es tun werde. Ich bin auch sicher, daß die Mutter Königin nicht zögern wird, die Gesandtschaft nach Myra zu entsenden. Jeder weiß, wie sehr sie das Bündnis mit König Dragon achtet. Ihr habt recht, er ist ein vernünftiger Mann.« Sie lächelte, und es war aufrichtig gemeint, als sie sagte: »Lebt wohl, Dajna, und mögen Euch Töchter beschieden sein.« Wenig später sah sie das kleine Häufchen der Amazonen aus dem Palast reiten. Mehrere Soldaten ritten mit ihnen. Die Gruppe nahm die nördliche Straße und war bald hinter den Hügeln verschwunden. Auch nach einer Stunde waren die Soldaten noch nicht zurückgekommen, und Dajna hatte den leisen Verdacht, daß sie der König oder die Königin als Begleitschutz bis an die Grenzen befohlen hatte. Sie lächelte bei dem Gedanken. Dieses Bündnis war etwas, das tiefer schneiden würde, als sie alle ahnten. Matras Töchter würden manches lernen müssen. »Ah, El Haleb, Ihr seid mir der Rechte«, sagte Partho, während sie den Audienzraum verließen, in dem Dragon die Heerführer um sich versammelt hatte, um mit ihnen zu beraten. »Der König gibt Euch ein Schiff, das Euch zum Göver zurückbringt, was Euch einige Tage im Sattel erspart. Und Ihr seht so unzufrieden
aus, als hätte man Euch nichts Schlimmeres antun können. Was ist es, das Euch bedrückt?« El Haleb verzog sein Gesicht, als messe er der Sache im Grunde wenig Bedeutung bei. Dann sah er die ehrliche Anteilnahme in Parthos Zügen und sagte: »Es ist eine Entscheidung, Kommandant, die ich fürchte.« »Eine, die Ihr zu treffen habt?« fragte Partho. El Haleb schüttelte den Kopf. »So ist es eine, die die junge Kriegerin treffen könnte?« riet Partho. Die Züge des Silikers hellten sich auf. Lebhaft sagte er: »Es gäbe nichts, das ich lieber an meiner Seite sähe als Dajna. Sie ist ...« Er verstummte verlegen. Traurig fügte er hinzu: »Aber ich weiß, daß Sie es ablehnen würde ...« Partho nickte langsam. »Es ist gegen ihre Natur. Sie sind ein seltsames Volk, diese Amazonen. Aber ich denke doch, daß Ihr mit Dajna irgendein Abkommen treffen könnt, wenn sie es Euch wert ist, daß Ihr auch ein paar Zugeständnisse macht, die Euer Leben betreffen. Sie würde Euch niemals ein gutes Weib sein. Und sie würde sich wohl niemals befehlen lassen. Gebräuche und Erziehung lassen sich nicht abschütteln. Nicht von heute auf morgen. Wir haben an ihrer Seite gefochten und ihre Klinge schätzen gelernt, wenn uns auch sonst manches mißfiel. Aber Dajna ist anders.« Er lächelte. »Etwas gefällt ihr hier, sonst wäre
sie nicht allein hiergeblieben, während ihre Gefährtinnen vor geraumer Weile Myra verließen.« »Sie ist geblieben?« rief der Siliker erfreut. »Meinetwegen?« »Das«, meinte Partho, »müßt Ihr wohl herausfinden.« Er fand sie auf dem Turm, wo sie noch immer aus dem Fenster blickte, mit einem melancholischen Lächeln auf den Lippen, das sie ihm verwirrend weiblich erscheinen ließ. Als sie ihn kommen hörte, wandte sie sich um, und das Lächeln schwand aus ihren Zügen. »Dajna«, sagte er unbeholfen. »Der König gab mir ein Schiff für die Heimreise ...« »Ja?« sagte sie. »Er ist ein dankbarer Mann ...« »Ich würde lieber mit dir reiten, Dajna« sagte er mit unsicherer Stimme. »Wohin, Haleb? Zum Göverfluß? Zu deinen Stämmen?« »Wohin du willst«, sagte er leise. Sie sah ihn lange an. »Es ist dein Ernst?« Der Siliker nickte. Ja, es war sein Ernst. »Seit ich hier oben bin, hoffte ich, du würdest kommen ...« »So erwiderst du meine Gefühle«, entfuhr es El Haleb.
»Wie könnte ich das, Haleb?« Sie sah seine Enttäuschung und fuhr rasch fort: »Weißt du, wie die Katmahzari-Kriegerinnen ihre Kinder zeugen?« Er schüttelte stumm den Kopf. »Wir haben einen Mond der Zeugung«, erklärte sie, »in dem wir die Männer in unsere Hütten lassen oder mit in unsere Häuser nehmen. Dort füllen wir unser Geschlecht mit ihrem Samen. Es ist keine Liebe dabei, keine Leidenschaft, nur die Notwendigkeit, zu befruchten.« Sie sah ihn. »So hast du es dir nicht vorgestellt, nicht wahr? Denkst du, daß es mit uns anders sein würde?« »Ja«, erwiderte er heftig. »Siehst du nicht den Unterschied? Du hast keinen eurer Männer vor dir, die ihr verachtet, und die euch hassen oder wenigstens ebenso verachten. Ich will nicht behaupten, daß ich mir vorstellen kann, was in einem Katmahzari-Mann vorgeht. Aber eines ganz gewiß nicht. Er bringt euch keine Liebe entgegen. Aber ich ... ich liebe dich, ganz gleich, wie du es empfinden magst. Ich würde dich lieben, selbst wenn ich dein Sklave wäre, Dajna. Und du müßtest aus Stein sein, wenn du meine Leidenschaft nicht fühlen könntest. Ich habe nicht den Eindruck, daß du mich verachtest, daß du mich wie einen eurer Männer siehst ...« »Nein«, sagte sie rasch. Erregt wollte er nach ihren Armen greifen, sah die
Abwehr in ihrem Gesicht und unterdrückte das Verlangen, sie zu berühren. »Wenn nur ein wenig von dem Feuer dich erfaßt, das in meinem Herzen für dich brennt, Dajna ...« Sie sah ihn verwundert an. »Viele Frauen haben mich geliebt, Haleb. Manche, weil sie ein Bedürfnis nach Liebe hatten, andere, weil es eine Ehre für sie war, mit der Nichte der Königin das Lager zu teilen, und eine, weil sie mir von Herzen zugetan war. Aber keine hat mit solchen Worten um meine Gunst geworben, wie ... oh, Haleb ... dein Feuer ... es brennt sicher. Ich weiß es. Ich fühlte es, seit wir uns wiedertrafen. Deine Wange an meiner ... in der Dunkelheit, als du mich festhieltest, da war ich dir zugetan wie einer Geliebten. Und ich verfluchte, daß etwas sich in mir sträubte, deine Zärtlichkeit zu erwidern.« Sie trat ganz nahe zu ihm. »Haleb, mein Liebster, nimm mir das Schwert ab.« Stumm griff er nach dem Gürtel ihres Gewandes, öffnete ihn und ließ ihn mit dem Schwert zu Boden gleiten. Als er sie in die Arme zog, war es einen Moment, als bewegte er eine Statue von Eis. Aber sein Feuer, das ihm soviel Zuversicht gab, schmolz ein wenig davon ab; genug, daß er sie an sich ziehen konnte und die Wärme ihres Körpers fühlte. Nach einer langen Weile begannen ihre Hände seinen zu
antworten. Ihr Mund war nicht länger hart und verschlossen unter seinen Küssen. Plötzlich machte sie sich frei. »Ich glaube an dein Feuer, Haleb«, flüsterte sie. »Wenn du mir nur Zeit läßt, es zu fühlen ... mich aufzuwärmen. Du wirst sehr viel Geduld mit mir haben müssen!«
10.
Die letzten Tage waren sehr anstrengend gewesen. Yina blickte verlangend auf das Meer hinab, das nun ein Gemisch von Schwarz und Silber war in der Abendsonne. Sie sehnte sich wieder ein wenig nach Einsamkeit. Die gedankliche Überwachung des Königs, um ihn vor heimlichen Mördern und Mißgünstigen zu schützen, hatte ihr kaum Zeit gelassen, an Bodo zu denken. Kein Augenblick war ihr geblieben, ihn zu vermissen. Sie hatte Kapitäne und Heerführer auf ihre Loyalität überprüft, sie war fast immer in der Nähe Dragons gewesen, und mehr als einmal hatte sie die Gefahr, die ihm drohte, rechtzeitig erkannt. Aber heute abend wollte sie fort – zu ihrem geliebten Ausflugsziel. Die Bucht der Großen Steine. Das Meer und die
Sterne und den Sand wollte sie um sich haben, und die schmerzlichen Erinnerungen an Bodo. Aber diesmal wollte sie sich nicht heimlich fortschleichen aus dem Palast. Sie würde Tante Amee von ihrem Vorhaben unterrichten und Iwa. Dragon fühlte sich erschöpft. Arzan Shors Kräfte hatten ihm mehr zugesetzt, als er erst geglaubt hatte. Selbst jetzt, zwei Tage nach diesem Erlebnis, gab es noch immer Augenblicke, da eine Müdigkeit über ihn kam – so als wäre etwas tief in ihm am Erwachen und brauchte Kräfte, um stärker zu werden. Bruchstücke von Erinnerungen zogen durch seine rastlosen Gedanken. Aber wenn er nach ihnen greifen wollte, lösten sie sich auf wie Seifenblasen. Schlafen schien das einzige Mittel gegen die Müdigkeit. Es sah so aus, als hätte er endlich Zeit, sich Ruhe zu gönnen. Das Reich war fest in seiner Hand. Das Heer war stärker als je zuvor. Und seine Flotte wuchs mit jedem sonnigen Tag. Nach Plänen eines Zunter Schiffsbauers wuchsen neue Schiffe in den Docks. Es galt, die wenige Zeit zur Ruhe zu nutzen, die ihm die Regierungsgeschäfte ließen. Es gelang Yina, Partho zu überreden, sie vor Anbruch der Dunkelheit mit einem Schiff hinauszufahren zur Bucht der Steine. Das würde ihr den langen, beschwerlichen Weg ersparen. Partho, der längst wußte, welcher Herzenskummer das Mädchen
von Zeit zu Zeit in die Einsamkeit trieb, stimmte zögernd zu. Er hatte ein ungutes Gefühl. Beim letztenmal war sie von Piraten verschleppt worden. Was diesmal geschehen mochte, war nicht auszudenken. Deshalb befahl er den Männern, die Yina hinausfuhren, daß sie in ihrer Nähe bleiben und sie nicht aus den Augen lassen sollten – doch so, daß sie nicht merkte, daß sie beobachtet wurde. Wenig später starrten Kim und Kano von einem der Palastfenster in den Hafen, aus dem ein kleines Boot fuhr, in dessen einzigem Segel sich der Abendwind fing und es hinausschob zwischen den geankerten Galeeren. Sie waren verärgert und enttäuscht, denn sie wären zu gern mitgefahren. Aber Yina war aufs heftigste dagegen gewesen. Und sie hatte von Partho Schützenhilfe bekommen. Drei Jugendliche im Auge zu behalten, hätte mindestens die vierfache Schiffsbesatzung erfordert. Außerdem war es noch aus einem anderen Grund wichtig, daß die Knaben im Palast blieben. Wenn nämlich Yina wider Erwarten doch wieder etwas zustoßen sollte, dann konnte sie mit Kim oder Kano im Palast Gedankenkontakt aufnehmen, und Hilfe konnte schnellstens in die Wege geleitet werden. Als sie in dem noch warmen Sand lag, allein mit der Natur und ihren Gedanken, dachte sie über Dragons Liebe zu Amee nach, und über jene, die El Haleb, der
Daikan der Siliker, für die Katmahzari-Kriegerin empfand. Und sie verglich sie mit Bodos und ihren Gefühlen. Sie war tief in Gedanken, und sie sah die auf dem flachen Wasser heranrasenden, delphingezogenen Wellenbretter erst, als die geduckten Gestalten abstiegen, drei an der Zahl, und durch das seichte Wasser auf sie zukamen. Sie erschrak furchtbar, aber gleich darauf vernahm sie eine vertraute Gedankenstimme – die des Tainu-Mädchens Issola, die Yina freudig begrüßte. Wer die anderen beiden waren, ein Mädchen, das keine zwanzig Sommer zählen konnte und sicherlich nicht aus Myra stammte. Der andere war ein Junge, nicht viel älter als das Mädchen. Woher wußtest du, daß ich hier bin? fragte Yina, und las in Issolas Gedanken: Ich habe dich mehrmals gerufen, aber du hast mich nicht gehört. Yina wurde merklich rot im Gesicht. Sie dachte, daß Issola vielleicht ihre Gedanken über Bodo hatte lesen können. Aber wenn es der Fall war, so hätte sie sicherlich Anzeichen in Issolas Gedanken finden müssen. Von hier aus, fuhr Issola fort, hätte ich dich wieder gerufen. Du hättest mich auch im Palast gehört. Wir wollten dann hier warten, bis jemand kam. Laut sagte sie: »Das sind Wigor und Sela.« Die beiden grüßten mit einem Kopfnicken. Yina
grüßte zurück. »Wir haben sie aus dem Meer gefischt, weitab von jeder Küste, inmitten eines Sturms. Sie kamen von der Schwarzen Wellenreiterin. Es sieht so aus, als wären sie die einzigen Überlebenden, Sie waren Kapitän Jaggars Gefangene ...« Yina sah die beiden mit großen Augen an. Die Erinnerungen tauchten wieder auf – an Jaggar, der sie zu seiner Braut machen wollte. »Aber im Gegensatz zu uns«, fuhr Issola fort, »wissen sie nur Gutes von Jaggar zu berichten. Und sie wissen noch sehr viel mehr, das den König interessieren wird. Kannst du ihn rufen?« Yina nickte. »Nicht direkt, wie du weißt, aber Kano wird ihn sofort wecken. Ist es wirklich so dringend, daß wir ihn noch jetzt in der Nacht wecken?« Issola nickte und schüttelte ihr weißes, schulterlanges Haar. Ernst sagte sie: »Wir haben eine sehr wichtige Nachricht für König Dragon. Diese beiden kommen von der Schlangeninsel, zu der Jaggar uns bringen wollte. König Jellis hat dort eine Flotte von dreihundert Schiffen zusammengezogen. Sie bereiten sich auf einen Angriff vor und sind wahrscheinlich schon unterwegs. Wir haben Späher ausgeschickt, die das Meer beobachten werden. Sag dem König, das Ziel dieser Schiffe ist Myra.«
Yina starrte die drei bleich an. Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie Kim und Kano die Botschaft übermittelte, die sie an Dragon weiterleiteten. Die Nacht hatte so still begonnen. Aber heute würde keiner mehr ein Auge schließen im Palast von Myra. Nicht mit dreihundert feindlichen Schiffen im Anzug, deren Segel morgen schon am Horizont auftauchen mochten ... ENDE Weder für den Balamiter noch für den Atlanter laufen die Dinge genau nach Plan. Dafür ist der Rahmen der gegenwärtigen Auseinandersetzung zwischen den beiden Kontrahenten zu weit gespannt. Und so geschieht es, daß das Eingreifen anderer, die bisher Nebenfiguren im großen Spiel zu sein schienen, schicksalhafte Bedeutung erlangt. Das gilt besonders für die Zeit, da die Schlacht um Myra droht ... Mehr darüber schreibt Hugh Walker im nächsten Dragon-Band. Der Roman erscheint unter dem Titel: DIE BRUDERSCHAFT DES GROSSEN MEERES