Ruth Rendell
Die Liebe eines Mörders Roman
Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Thirteen Steps Down«
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Ruth Rendell
Die Liebe eines Mörders Roman
Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Thirteen Steps Down«
Für P. D. James in größter Wertschätzung
1
Hier müsste eigentlich die Straße sein, genau da, wo er stand. Davon war Mix überzeugt. Unglaublich. Inzwischen hatte er seinen Schock überwunden. Bittere Enttäuschung stieg in ihm auf. Dann kam die Wut. Es schnürte ihm fast die Kehle zu. Wie konnten sie es wagen? Wie konnten diese Unbekannten etwas zerstören, was eigentlich ein Nationaldenkmal sein sollte? Das Haus hätte längst ein Museum mit einer dieser blauen Tafeln oben an der Wand sein müssen, und den Garten hätte man als Teil einer Besichtigungstour in seinem ursprünglichen Zustand liebevoll bewahren sollen. Ein Kurator wäre auch gleich bei der Hand gewesen: er persönlich. Alles war sorgfältig neu gestylt und seelenlos. Das war der richtige Begriff dafür - »seelenlos«. Er war ganz stolz auf seinen Einfall. Was für ein hübsches Fleckchen, dachte er angewidert. Genau das Richtige für Yuppies. Besonders wütend machten ihn die Petunien in den Blumenbeeten. Dass man den Rillington Place schon einige Zeit vor seiner Geburt in Ruston Close umbenannt hatte, wusste er natürlich, aber jetzt existierte nicht einmal dieser mehr. Der alte Stadtplan, den er mitgebracht hatte, half auch nicht weiter. Alte Straßen waren noch schwerer zu finden als die Spuren eines Kindergesichtes bei einem Fünfzigjährigen. Ja, ganz genau, fünfzig Jahre. Vor einem halben Jahrhundert hatten sie Reggie geschnappt und gehängt. Wenn sie schon die Straßen umbenennen mussten, 2
dann hätte man wenigstens eine Tafel mit dem Hinweis »Ehemals Rillington Place« oder irgendetwas aufstellen können, was den Besuchern verriet: Hier lebte Reggie. Sicher würden ganze Hundertschaften hierherkommen, einige
voller Erwartung und dann dementsprechend tief enttäuscht, während andere keine Ahnung von den historischen Begebenheiten hatten, die mit diesem Ort verbunden waren. Und alle würden sie vor dieser kleinen Enklave mit den roten Backsteinhäusern stehen, deren Blumenkästen üppig mit Geranien und Fleißigen Lieschen bepflanzt waren und deren Grundstücke von Blumenrabatten und Bäumen gesäumt wurden, die man wegen ihrer weiß umrandeten, goldenen Blätter ausgesucht hatte. Es war ein schöner Hochsommertag mit einem wolkenlos blauen Himmel. Üppig grün leuchteten die kleinen Rasenflächen. Eine rosarote Kletterpflanze legte sich wie ein pastellfarbener Mantel über die geschickt versetzten Gartenmauern. Mix drehte sich um. Vor unterdrückter Wut klopfte sein Herz schneller und lauter. Poch. Poch. Poch. Wenn er gewusst hätte, dass man jede Spur ausgemerzt hatte, hätte er die Wohnung im St. Blaise House nie in Betracht gezogen. In diese Ecke von Notting Hill war er nur gezogen, weil Reggie in diesem Viertel gelebt hatte. Das eigentliche Haus und die Nachbarhäuser waren weg, das hatte er natürlich gewusst. Trotzdem hatte er darauf gesetzt, dass man den Ort selbst leicht wiedererkennen könne: eine Straße, um die Leute mit schwachen Nerven einen weiten Bogen machten, eine Pilgerstätte für intelligente Kenner seines Schlages. Leider hatten sich die zart besaiteten Schwächlinge und die politisch korrekten Bürger durchgesetzt und alles abgerissen. Über seinesgleichen hätten solche Typen nur gelacht und genüsslich triumphiert, weil man einen geschichtsträchtigen Ort durch eine geschmacklose Wohnsiedlung ersetzt hatte. 3
Den Besuch selbst hatte er sich als besonderes Vergnügen für die Zeit nach seinem Einzug aufgespart. Und was für ein Vergnügen! Wie oft hatte sich in seiner Kindheit ein ganz besonderes Vergnügen als Niete entpuppt? Seiner Erinnerung nach viel zu oft. Und das ging so weiter, sobald man als Erwachsener selbst Verantwortung übernehmen musste. Ein Auszug kam trotzdem nicht in Frage, dafür hatte er an Ed und dessen Kumpel viel zu viel fürs Streichen der Wohnung und die Küchenrenovierung bezahlt. Er drehte den hübschen neuen Häuschen samt ihren Bäumen und Blumenbeeten den Rücken zu, ging langsam die Oxford Gardens hinauf und überquerte den Ladbroke Grove, um sich das Haus anzusehen, in dem Reggies erstes Opfer ein Zimmer bewohnt hatte. Wenigstens hier hatte sich nichts verändert. Dem äußeren Anschein nach hatte das Haus seit dem Tod dieser Frau im Jahre 1943 keine Farbe mehr gesehen. Offensichtlich wusste niemand, um welches Zimmer es sich gehandelt hatte. Keines der Bücher, die er gelesen hatte,
machte dazu irgendwelche detaillierten Angaben. Während er in Spekulationen und Mutmaßungen versank, starrte er zu den Fenstern hinauf, bis jemand zu ihm hinunterschaute und er es für besser hielt weiterzugehen. Je weiter er die St. Blaise Avenue bergabging, umso mehr ging es auch mit dem Viertel bergab: nur noch städtische Sozialwohnungen, Reinigungen, Geschäfte für Motorradersatzteile und an der Ecke die üblichen Tante-EmmaLäden. Die einzige Ausnahme bildete die Reihenhauszeile auf der anderen Straßenseite, die durch ihren eleganten viktorianischen Stil herausstach, und die große Villa. St. Blaise House hatte man als einziges im ganzen Viertel nicht in ein Dutzend Wohnungen aufgeteilt. Schade, dass sie nicht diesen alten Kasten abgerissen und dafür vom Rillington Place die Finger gelassen haben, dachte Mix. 4 Statt Kirschbäumen standen hier riesige großblättrige Platanen voller Straßenstaub, von deren Stämmen sich die Rinde schälte. Sie waren weitgehend daran schuld, dass es hier so dunkel war. Er blieb stehen, betrachtete das Haus und staunte wie immer über dessen Größe. Ihm war es schleierhaft, warum die Alte das Haus nicht schon vor Jahren an einen Bauträger verkauft hatte. Die grauen Stuckverzierungen des dreistöckigen Gebäudes waren früher einmal weiß gewesen. Eine Treppe führte zu einem großen Portal hinauf, das in den Tiefen eines mit Säulen verzierten Vorbaus halb verschwand. Ganz oben, knapp unterhalb des Giebels, befand sich ein kreisrundes Fenster mit bunten Glasscheiben, das von den anderen rechteckigen Fenstern abstach und schon lange nicht mehr geputzt worden war. Im Laufe der Jahre hatte sich eine dicke Schmutzschicht darauf abgelagert und trübte die Farben. Mix sperrte auf. Bereits die riesige quadratische Diele, in der es genauso dunkel war wie im übrigen Haus, hatte die Ausmaße einer normalen Wohnung. Dieser Gedanke war ihm schon bei der ersten Besichtigung durch den Kopf gegangen. Ringsum an den Wänden standen mächtige dunkle Sessel mit geschnitzten Lehnen. Darüber hing in einem geschnitzten Holzrahmen ein riesiger Spiegel mit grünlichen Flecken, die an Inseln auf einer Seekarte erinnerten. Eine Treppe führte ins Kellergeschoss hinunter, das er nie betreten hatte und vermutlich seit vielen Jahren auch sonst niemand mehr. Jedes Mal, wenn er heimkam, hoffte er, dass er sie nicht zu Gesicht bekam, was normalerweise auch zutraf, aber heute hatte er Pech. Mit einem bunten Werbeprospekt für ein tibetanisches Restaurant in der Hand stand sie neben einem geschnitzten Tisch von enormen Ausmaßen, der mindestens eine
Tonne wog. Wie üblich trug sie eine lange, ausgeleierte Strickjacke und einen Rock mit einem zipfeligen Saum. »Guten Tag, Mr. Cellini«, rief sie bei seinem Anblick vornehm nä 5
selnd. In seinen Ohren klang ihre Stimme ziemlich verächtlich. Er beschränkte seine Unterhaltungen mit Gwendolen Chawcer aufs Allernötigste und bemühte sich dabei redlich, sie zu schockieren. Leider bisher ohne nennenswerten Erfolg. »Sie werden nie erraten, wo ich gewesen bin.« »Da dies ziemlich wahrscheinlich ist«, erwiderte sie, »scheint jeder entsprechende Versuch sinnlos zu sein.« Sarkastisches altes Biest. »Am Rillington Place«, sagte er, »beziehungsweise dort, wo er früher einmal lag. Ich wollte unbedingt sehen, wo Christie die ganzen Frauen, die er umbrachte, im Garten vergraben hat, aber es ist nichts mehr zu sehen.« Sie legte den Prospekt wieder auf den Tisch, wo er zweifelsohne die nächsten Monate liegen bleiben würde. Ihr nächster Satz überraschte ihn. »In meiner Jugend bin ich einmal bei ihm im Haus gewesen.« »Wirklich? Warum?« Sie würde nicht viel verlauten lassen, das wusste er, und so war es auch. »Ich hatte meine Gründe. Der Besuch dauerte höchstens eine halbe Stunde. Er war ein unangenehmer Mensch.« Er konnte sich vor Begeisterung nicht bremsen. »Welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht? Haben Sie in seiner Gegenwart den Mörder gespürt? War seine Frau dabei?« Wie immer lachte sie kalt. »Meine Güte, Mr. Cellini, ich habe keine Zeit, lauter Fragen zu beantworten. Ich muss weitermachen. « Womit denn? Meistens frönte sie ja doch nur ihrer Dauerbeschäftigung: Lesen. Sie musste Tausende Bücher gelesen haben. Nach ihrer unbefriedigenden und gleichzeitig provozierenden Antwort fühlte er sich frustriert. Vielleicht hatte sie jede Menge Informationen über Reggie, aber in ihrer kühlen Art würde sie nie darüber reden. 5
Er begann, die Treppe hinaufzusteigen, deren Stufen er aus tiefster Seele hasste, obwohl sie weder schmal noch steil oder gewendelt waren. Insgesamt waren es zweiundfünfzig Stufen, aufgeteilt in drei Treppenabsätze. Zweiundzwanzig Stufen im ersten Treppenabschnitt, siebzehn im zweiten und dreizehn ins Dachgeschoss. Und Letzteres war ein Grund, warum Mix
die Treppe nicht ausstehen konnte. Denn nichts brachte ihn, abgesehen von unangenehmen Überraschungen und unverschämten alten Weibern, mehr in Rage als die Zahl Dreizehn. Zum Glück hatte St. Blaise House die Nummer vierundfünfzig in der St. Blaise Avenue. Eines schönen Tages hatte er in Abwesenheit der alten Chawcer die Schlafzimmer gezählt. Es waren neun, sein eigenes nicht eingerechnet. Einige waren mehr oder weniger möbliert, andere leer. Das ganze Haus starrte vor Dreck. Vermutlich hatte hier drinnen seit Jahren niemand mehr sauber gemacht, obwohl er sie auch schon mit einem Federwisch herumwedeln gesehen hatte. Der Staub von Jahrzehnten lag auf dem Holzwerk, das über und über mit Schilden, Schwertern, Helmen, Gesichtern, Blumen, Blättern, Girlanden und Bändern verziert war. Zwischen den einzelnen Sprossen des Treppengeländers hingen dichte Spinnwebennester und verbanden Gesimse und Bilderleisten. Hier hatte sie ihr ganzes langes Leben verbracht, zuerst gemeinsam mit ihren Eltern, dann nur noch mit ihrem Vater und schließlich allein. Sonst wusste er nichts über sie. Keine Ahnung, wie sie darauf gekommen war, drei Schlafzimmer in eine Dachgeschosswohnung umzubauen. Nach dem ersten Treppenabsatz wurden die Stufen schmaler, und das letzte Stück zum Dachgeschoss war nicht mit einem Teppich belegt, sondern gefliest. Eine Treppe mit glänzend schwarzen Fliesen hatte Mix noch nie zuvor gesehen. Allerdings gab es im Haus von Miss Chawcer vieles, was er noch 6
nie gesehen hatte. Diese Fliesen waren schrecklich laut, egal, welche Schuhe er trug. Entweder polterte es dumpf oder es klackerte. Die Sache mit den Fliesen hatte wahrscheinlich einen Grund: Sie wollte genau wissen, wann ihr Mieter heimkam. Er hatte es sich bereits angewöhnt, die Schuhe auszuziehen und auf Strümpfen weiterzugehen. Er wollte einfach nicht, dass sie über sein Kommen und Gehen Bescheid wusste, auch wenn er nie etwas anstellte. Das Buntglasfenster - ein Mädchen in die Betrachtung einer Topfpflanze versunken - sprenkelte den obersten Treppenabsatz mit bunten Lichttupfen. Das Isabellafenster hatte es die alte Chawcer genannt, als sie ihn zum ersten Mal hier heraufführte. Mix konnte mit dem Bild von Isabella und dem Basilikumtopf herzlich wenig anfangen. Für ihn war Basilikum ein Kraut aus einem Plastikbeutel, das man bei Tesco kaufte. Das Mädchen sah krank aus. Ihr Gesicht war das einzig weiße Glasteil. Bei jedem Betreten oder Verlassen
seiner Wohnung musste Mix sie anschauen, und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Er bezeichnete sein Zuhause als Apartment, während Gwendolen Chawcer von »Räumlichkeiten« sprach. Seiner Ansicht nach lebte sie in der Vergangenheit, aber nicht vor dreißig oder vierzig Jahren wie die meisten alten Leute, sondern ein Jahrhundert früher. Bad und Küche hatte er selbst mit Hilfe von Ed und dessen Kumpel eingebaut und eingerichtet. Eigentlich hätte Miss Chawcer keinen Grund zur Klage und müsste zufrieden sein. Schließlich hatte er den Umbau bezahlt, von dem der Nachmieter profitieren würde, sobald der berühmte Mix ausgezogen war. Leider hatte sie Sinn und Zweck eines Badezimmers nie eingesehen und ihm erklärt, in ihrer Jugend habe im Schlafzimmer ein Nachttopf und ein Ständer mit einer Waschschüssel gestanden, und das Dienstmädchen habe einen Krug heißes Wasser heraufgebracht. 7
Neben Küche und Bad verfügte Mix über ein Schlafzimmer und ein großes Wohnzimmer, in dem ein Fotoposter von Nerissa Nash alle Blicke auf sich zog. Dieses Bild war entstanden, als eine Modezeitschrift zum ersten Mal neben den Designernamen auch die Namen der Models nannte. Im Gegensatz zu heute galt Nerissa Nash damals noch weithin als die Naomi Campbell der kleinen Leute. Mix stellte sich vor das Poster, was er oft beim Betreten seiner Wohnung tat, und versank in stiller Andacht wie ein gläubiger Mensch vor einem Heiligenbild. Doch statt eines Gebetes murmelte er: »Ich liebe dich, ich bete dich an.« Er verdiente bei Fiterama ordentlich Geld und hatte es großzügig in diese Wohnung gesteckt. Fernseher, Videorecorder und DVD-Player - alle mit Chromgehäuse - sowie die meisten Küchengeräte hatte er auf Raten gekauft, aber das war Jacke wie Hose, wie Ed gern zu sagen pflegte. Das machten schließlich alle. Den weißen Teppich und die mit grauem Tweed bezogene Couchgarnitur hatte er bar bezahlt. Dabei hatte er aus reinem Impuls die schwarze Marmorstatue eines nackten Mädchens gekauft und es keine Sekunde lang bereut. Das Poster von Nerissa hatte er, passend zum Fernseher, mit einer Chromleiste rahmen lassen. Im Regal aus schwarz lasierter Esche stand seine Sammlung von Büchern über Reggie: »Rillington Place Nummer zehn«, »John Reginald Halliday Christie«, »Der Christie-Mythos«, »Mord am Rillington Place« und »Christie und seine Opfer«, um nur einige zu nennen. Die Verfilmung von »Rillington Place Nummer zehn« mit Richard Attenborough besaß er auf Video und auf DVD. Eines fand er wirklich
empörend: Von allen möglichen Hollywoodfilmen kamen laufend Remakes heraus, aber hiervon? Nicht die Bohne. Das Videoband lief oft, noch besser war aber die digitale Version, klarer und leuchtender in den Farben. Richard Atten 8
borough war wunderbar, dagegen gab es nichts zu sagen, auch wenn er Reggie nicht allzu ähnlich sah. Man brauchte einen größeren Schauspieler mit markanteren Gesichtszügen und glühenden Augen. Mix neigte zu Tagträumen. Manchmal spekulierte er darüber, wodurch er berühmt werden würde: durch seine Beziehung zu Nerissa oder durch sein umfassendes Wissen über Reggie? Unter den heutigen Zeitgenossen gab es wahrscheinlich keinen größeren Kenner dieser Materie. Nicht einmal Ludovic Kennedy, der Verfasser des wichtigsten Buches zu diesem Thema, könnte ihm das Wasser reichen. Vielleicht wäre es seine Lebensaufgabe, das Interesse am Rillington Place und an seinem berühmtesten Bewohner neu zu entfachen, auch wenn es ihm nach dem heutigen Nachmittag noch schleierhaft war, wie man das würde bewerkstelligen können. Selbstverständlich würde er dafür eine Lösung finden. Vielleicht würde er selbst ein Buch über Reggie schreiben, garantiert ohne die üblichen schwachsinnigen Kommentare über den bösartigen verdorbenen Charakter dieses Mannes. Sein Buch würde die Aufmerksamkeit auf den Mörder als Künstler lenken. Es war kurz vor sechs Uhr. Mix gönnte sich seinen Lieblingsdrink, den er selbst erfunden und wegen seiner brutalen Wirkung »Boot Camp« getauft hatte. Sonderbar, dass bisher offensichtlich keiner, dem er ein Glas davon angeboten hatte, seine Vorliebe für einen doppelten Wodka mit einem Glas Sauvignon und einem Löffel voll Cointreau über gestoßenem Eis teilte. Er besaß einen Kühlschrank, der gestoßenes Eis fix und fertig ausspuckte. Er genoss den ersten kleinen Schluck, da läutete sein Handy. Es war Colette Gilbert-Bamber, die ihm mitteilte, sie wolle unbedingt ihren Heimtrainer repariert haben. Vielleicht läge es nur am Stecker; es könnte aber auch etwas Größeres sein. Ihr 8 Mann sei nicht da, aber sie hätte daheimbleiben müssen, weil sie einen wichtigen Anruf erwartete. Mix wusste, was dahintersteckte. Trotz der Fernliebe zu seinem Star, seiner Königin und Herzensdame, durfte er sich ab und zu ruhig ein bisschen Spaß gönnen. Das würde sich grundlegend ändern, wenn er und Nerissa erst einmal ein richtiges Paar wären.
Mix stellte seinen Boot Camp in den Kühlschrank, mit leisem Bedauern zwar, aber ihm war klar, was Vorrang hatte. Er putzte sich die Zähne, gurgelte mit einem Mundwasser, das fast wie sein Cocktail schmeckte, nur leider den Kick vermissen ließ, und machte sich auf den Weg nach unten. Hier drinnen im Haus würde man nie vermuten, wie strahlend schön es draußen war, wie heiß die Sonne schien. Hier war es immer kalt und seltsam still, tagaus, tagein. Hier hörte man weder etwas von den U-Bahn-Linien Hammersmith und City, die zwischen Latimer Road und Shepherd's Bush oberirdisch fuhren, noch vom Verkehr auf dem Ladbroke Grove. Nur vom Westway drangen Geräusche herüber, die allerdings nur ein Eingeweihter als Verkehrslärm einordnen würde. Es klang wie am Meer, als würden sich Wellen am Ufer brechen, oder so, als ob man sich eine große Muschel ans Ohr hielte: ein leises unaufhörliches Rauschen. In letzter Zeit konnte Gwendolen Kleingedrucktes manchmal nur mit Hilfe einer Lupe entziffern. Leider waren die meisten Bücher, die sie lesen wollte, in einer Schriftgröße gedruckt, die man ihres Wissens als Zehn-Punkt bezeichnete. Ihre normale Brille war beispielsweise mit Papas Ausgabe von »Verfall und Untergang des Römischen Reiches« genauso überfordert wie mit ihrer derzeitigen Lektüre, einer uralten Ausgabe von George Eliots »Middlemarch« aus dem neunzehnten Jahrhundert. Der Salon erstreckte sich, wie ihr darüber liegendes Schlaf 9
zimmer, über die ganze Tiefe des Hauses. Nach vorne gingen zwei große Schiebefenster auf die Straße hinaus, während hinten Verandatüren in den Garten führten. Zum Lesen machte es sich Gwendolen auf einem mit braunem Cordsamt gepolsterten Sofa bequem, dessen Rückenlehne ein geschnitzter Mahagonidrache krönte. Der Schwanz des Drachen schlängelte sich über das halbe Sofa bis zu einer der Armlehnen hinunter, während der hoch erhobene Kopf den schwarzen Marmorkamin anfauchte. Die meisten Möbel sahen ziemlich ähnlich aus: geschnitzt, dick gepolstert und mit braunem, mattgrünem oder weinrotem Samt bezogen. Dazwischen standen einige Stücke aus dunkel geädertem Marmor mit vergoldeten Füßen herum. An der einen Wand hing in einem vergoldeten Rahmen, der über und über mit Blättern, Früchten und Schnörkeln verziert war, ein riesiger Spiegel, der im Laufe der Zeit und infolge mangelnder Pflege trüb geworden war. Im warmen Abendlicht standen die Verandatüren zum Garten hinaus offen, der in Gwendolens Augen immer noch so aussah wie einst: Der kurz gemähte Rasenteppich erinnerte an smaragdgrünen Samt, Blumen leuchteten ringsum
in den Rabatten, und die kunstvoll geschnittenen Bäume prangten im üppigen Laub. Nein, so sah sie den Garten nicht wirklich, aber so könnte er mit wenig Aufwand wieder sein. Ein Tag Arbeit -und alles wäre wieder beim Alten. Für das kniehohe Gras, die mit Unkraut überwucherten Blumenbeete und die durch totes Geäst ruinierten Bäume hatte sie keinen Blick. Das gedruckte Wort war für sie realer als eine gemütliche Einrichtung und ein gepflegtes Grundstück. Aber hin und wieder waren auch ihre Gedanken und Erinnerungen stärker als das Buch. Dann legte sie es weg, starrte nachdenklich die mit Spinnweben überzogene, braun gewordene Decke und die verstaubten Glasprismen am Kronleuchter an und rief sich Vergangenes in ihr Gedächtnis zurück. 10
Diesen Menschen, diesen Cellini, konnte sie nicht ausstehen, aber das war nicht sonderlich wichtig. Ihre kurze Konversation mit ihm hatte in ihr schlafende Dinge geweckt: Christie und seine Morde, den Rillington Place, Dr. Reeves und Bertha. Die Geschichte musste mindestens zweiundfünfzig Jahre her sein, vielleicht sogar dreiundfünfzig. Damals war der Rillington Place ein schäbiges Elendsviertel gewesen, wo die Eingangstüren der Häuserzeile direkt auf die Straße hinausgingen und am Straßenende der hohe Schlot einer Eisengießerei aufragte. Bis zu ihrem Besuch dort hatte sie nicht einmal gewusst, dass es solche Orte gab. Sie hatte ein behütetes Leben geführt - vorher und nachher. Bertha hatte sicher geheiratet. Das machte diese Sorte Leute doch immer. Hatte vermutlich Kinder wie die Orgelpfeifen, von denen das Älteste sie ins Unglück gestürzt hatte. Inzwischen müssten auch diese längst erwachsen sein. Warum verhielten sich Frauen so? Das hatte sie nie begriffen. Sie war nie in Versuchung geraten, nicht einmal bei Dr. Reeves, für den sie immer nur keusche und ehrbare Gefühle gehegt hatte, wie umgekehrt auch er. Davon war sie trotz seines späteren Verhaltens überzeugt. Vielleicht hatte sie letztlich doch den besseren Weg gewählt. Was machte Christie für Cellini dermaßen interessant? Es zeugte von keiner gesunden Geisteshaltung. Gwendolen nahm wieder ihr Buch zur Hand. In einem anderen Roman von George Eliot - »Adam Bede« - kam ein Mädchen vor, das sich wie Bertha verhalten und ein schreckliches Ende genommen hatte. Ganz versunken las sie noch eine halbe Stunde weiter und hatte nur noch Augen für die Buchseite vor ihr. Über ihrem Kopf ließen sich Schritte vernehmen. Sie wurde hellwach.
Im Gegensatz zu ihrer nachlassenden Sehkraft hatte Gwendolen ein ausgezeichnetes Gehör, und das nicht nur für eine 11
Frau ihres Alters, sondern für alle Altersstufen. Ihre Freundin Olive Fordyce war überzeugt, Gwendolen könne eine Fledermaus quietschen hören. Jetzt lauschte sie angespannt. Er ging soeben die Treppe herunter. Zweifellos bildete er sich ein, sie wüsste nicht, dass er die Schuhe auszog, um heimlich, still und leise kommen und gehen zu können. So leicht ließ sie sich nicht hinters Licht führen. Der unterste Treppenabsatz knarrte. Dagegen war er machtlos, schoss es ihr triumphierend durch den Kopf. Sie hörte ihn durch die Eingangshalle tappen, doch dann knallte er die Haustür dermaßen heftig zu, dass das ganze Haus wackelte. Von der Zimmerdecke blätterte ein weißlicher Farbfetzen ab und landete auf ihrem linken Fuß. Sie trat an eines der Vorderfenster und sah ihn in sein Auto steigen, einen blauen Kleinwagen, den er ihrer Meinung nach völlig absurd auf Hochglanz trimmte. Kaum war er fort, ging sie in die Küche hinaus, öffnete eine betagte, nie benutzte Wäscheschleuder und zog ein ehemaliges Kartoffelnetz voller Schlüssel heraus. Obwohl keiner mit einem Anhänger versehen war, wusste sie ganz genau, wie der gesuchte aussah und welche Farbe er hatte. Sie steckte den Schlüssel in die Tasche ihrer Strickjacke und machte sich auf den Weg nach oben. Der Aufstieg dauerte lange, doch daran war sie gewöhnt. Trotz ihrer mehr als achtzig Jahre war sie dünn und kräftig und in ihrem ganzen Leben noch keinen Tag krank gewesen. Natürlich konnte sie nicht mehr so schnell Treppen steigen wie vor fünfzig Jahren, aber das konnte man schließlich auch nicht mehr erwarten. Mitten auf dem obersten Treppenabsatz saß Otto und zerlegte genüsslich irgendein kleines Säugetier. Sie kümmerten sich nicht umeinander. Die Abendsonne ließ das Isabellafenster hell aufleuchten. Da draußen kein Wind übers Glas strich, zeichnete sich auf dem Boden ein fast perfektes Farbbild von dem Mädchen und dem Basilikumtopf ab, ein rundes Mosaik aus roten, blauen, purpurfarbenen und grünen 11
Flecken. Bewundernd blieb Gwendolen stehen. So klar und ruhig sah man dieses Abbild wirklich selten. Trotzdem gönnte sie sich nur eine Minute, dann steckte sie ihren Schlüssel ins Schloss und betrat Cellinis Wohnung. Überall nur weiß gestrichene Wände. Wie unklug, dachte sie, da sieht man doch jeden Fleck. Und Grau war eine schrecklich kalte und harte Möbelfarbe.
Beim Betreten seines Schlafzimmers fragte sie sich, warum er eigentlich mühsam sein Bett machte, wenn er es abends doch wieder aufdecken musste. Alles war deprimierend ordentlich. Höchstwahrscheinlich litt er an dieser Krankheit, über die sie etwas in einer Zeitung gelesen hatte, an Ordnungszwang. Die Küche sah genauso schlimm aus, wie eine Musterküche auf der Schöner-Wohnen-Ausstellung, in die sie Olive in den achtziger Jahren unbedingt hatte zerren müssen. Ein Plätzchen für alles, und alles an seinem Platz. Kein Päckchen auf der Arbeitsfläche, nicht eine Büchse, und nichts im Spülbecken. Wie konnte jemand so leben? Sie öffnete die Kühlschranktür, hinter der es herzlich wenig Essbares zu sehen gab. Nur im Türregal standen zwei Weinflaschen, und ganz vorne, im mittleren Fach, ein fast volles Glas mit einer Flüssigkeit, die an leicht gefärbtes Wasser erinnerte. Nein, kein Wasser, ganz bestimmt nicht. Hieß das, er trank? Es überraschte sie nicht sehr. Auf dem Rückweg ins Wohnzimmer blieb sie vor dem Bücherregal stehen. Bücher zogen sie stets magisch an, egal welche. Hier stand nicht die von ihr bevorzugte Lektüre herum. Vielleicht sollte niemand so etwas lesen. Bis auf ein Buch mit dem Titel »Sex für Männer im einundzwanzigsten Jahrhundert« hatten alle nur ein Thema: Christie. Über vierzig Jahre hatte sie an diesen Mann kaum einen Gedanken verschwendet, und heute schien sie nicht mehr von ihm loszukommen. Dahinter verbarg sich wohl noch eine Zwangsneurose von 12
Cellini. Je mehr ich die Menschen kenne, umso lieber sind mir die Bücher. Mit diesem Zitat ihres Vaters auf den Lippen ging Gwendolen hinunter in die Küche, wo sie sich ein Glas Orangensaft und ein Käse-Gurken-Sandwich holte, das sie bereits fertig belegt in dem Laden am Eck gekauft hatte. Damit begab sie sich wieder zum Drachensofa und versank erneut in »Middlemarch«. 12
2 Das ganze Viertel zwischen dem Westway im Norden und dem nahe gelegenen Wormwood Scrubs mit seinem Gefängnis war insgesamt ein seltsames Fleckchen Erde, an das sich Mix noch nicht gewöhnt hatte: ein Gewirr aus verschlungenen Gässchen mit Villen, Zweckbauten, hässlichen Reihenhauszeilen aus der viktorianischen Epoche, neugotischen Gebäuden, die mehr an Kirchen erinnerten als an Wohnhäuser, raffiniert gestaffelten Cottages, die aussehen sollten, als stünden sie schon seit zweihundert Jahren hier, an den Ecken Tante-Emma-Läden, TÜV-Prüfstellen, Garagen,
Andachtshäuser, echte Kirchen für Katholiken wie für Mormonen sowie Oblaten- und Karmeliterklöster. Die Bevölkerung dieses Stadtteils bestand aus Familien, die schon immer hier gelebt hatten, und solchen, deren Vorfahren aus Freetown, Goa, Vilnius, Beirut und Aleppo stammten. Auch das Ehepaar Gilbert-Bamber wohnte in West Eleven, allerdings im exklusiven Schickeriabereich. Ihr Haus am Lansdowne Walk war nicht so groß wie das von Miss Chawcer, dafür machte es mit seiner korinthischen Säulenreihe, die sich über die ganze Vorderfront hinzog, und den mit Büschen bepflanzten Ziervasen auf den Balkonen einen imposanteren Eindruck. Die Fahrt dorthin dauerte nicht mehr als fünf Minuten. Weitere fünf brauchte Mix, um sein Auto an einer Parkuhr abzustellen, was nach achtzehn Uhr dreißig nichts kostete. Beim Öffnen der Tür warf ihm Colette einen aufreizenden, wenn auch gänzlich überflüssigen Blick zu. Schließlich kannten beide den eigentlichen Grund ihres Anrufs und seines Be 13 suchs. Er dagegen gab sich betont förmlich, während er mit seinem Werkzeugkoffer lächelnd hereinspazierte und meinte, wenn er sich richtig erinnere, ginge es nach oben. »Natürlich erinnern Sie sich noch richtig«, kicherte Colette. Wieder eine Treppe, aber diese hatte breite, flache Stufen, und außerdem ging es nur einen Absatz hinauf. »Wie geht's denn Miss Nash?« Dieser Satz würde ihr nicht gefallen, das wusste er, und so war es auch. »Sicher gut. Ich habe sie schon mehrere Wochen nicht gesehen.« Bei den Gilbert-Bambers hatte er Nerissa Nash zum ersten Mal getroffen, besser gesagt, sie war ihm »erschienen«. Bis dorthin hatte er die schlanke Colette mit der langen blonden Mähne und den vollen Lippen für eine Schönheit gehalten, obwohl sie ihm von ihren Collagenimplantaten erzählt hatte. Zwischen den beiden Frauen gab es einen Unterschied wie zwischen einem Hollywoodstar und der hübschesten Sekretärin im Büro. Colette ging ins Schlafzimmer voraus. Ihr sogenannter Fitnessraum war lediglich ein begehbarer Kleiderschrank, den man ursprünglich für den Herrn des Hauses direkt neben dem Bad gebaut hatte. »Wenn er vögeln wollte, hat er bei ihr angeklopft«, hatte Colette erklärt. »Waren damals alles schräge Vögel. Das gleiche Wort, ist das nicht witzig?« Jetzt bestand das Mobiliar aus Heimtrainer, Stepper, Fitnessbike und Ellipsentrainer. Außerdem standen ein Hantelständer, eine aufgerollte Yogamatte, ein türkiser, aufblasbarer Ball herum und ein jungfräulicher Kühlschrank, der noch nie so etwas wie einen Boot Camp gesehen hatte und
nur Mineralwasser mit Kohlensäure enthielt. Auf den ersten Blick erkannte Mix, warum der Heimtrainer nicht anspringen wollte, und Colette vermutlich auch. Schließlich war sie nicht blöd. 14
Die Maschine verfügte über einen Sicherheitsmechanismus in Form eines Steckschlüssels, der in einen Schlitz am Heimtrainer passte. Am Schlüssel hing eine Schnur mit einem Karabinerhaken, den man während der Übungen an der Kleidung befestigen sollte. Bei einem Sturz würde der Schlüssel herausgezogen und der Motor unterbrochen. Mix hielt den Schlüssel hoch. »Sie haben ihn nicht reingesteckt.« »Sagte die Schauspielerin zum Bischof.« Diese Antwort war für ihn ein uralter Hut. Schon sein Stiefvater hatte diesen Spruch vor gut zwanzig Jahren zitiert. »Erst wenn der Schlüssel steckt, springt er an«, sagte er ungerührt. Er wollte sie spüren lassen, dass sie in seinen Augen nicht witzig klang. Trotzdem, beschweren konnte er sich nicht. Schließlich bekam er für seinen Besuch fünfzig Pfund Notfallzulage. Er schob den Schlüssel hinein und startete die Maschine, bis sie auf Hochtouren lief. Dann schmierte er ein bisschen Öl unter die Pedale, um die Sache ein wenig hinauszuzögern. Warum sollte alles nach ihrer Nase gehen? Colette schaltete den Apparat eigenhändig ab und führte ihn ins Schlafzimmer zurück. Manchmal fragte er sich, was passieren würde, wenn der ehrenwerte Hugo Gilbert-Bamber unerwartet zurückkäme. Doch dann könnte er immer noch in seine Klamotten springen und sich mit Schraubenzieher und Ölkännchen unter die Geräte verziehen. Mix wollte unbedingt berühmt werden. Seiner Meinung nach wünschte sich heutzutage jeder Mensch ein Leben wie die Stars. Auf der Straße mit der Bitte um ein Autogramm angehalten werden, nur inkognito verreisen, das eigene Foto in den Zeitungen wiederfinden, dauernd von Journalisten um Interviews angebettelt und in Klatschspalten zitiert werden, Fans 14
haben, die wilde Gerüchte über irgendwelche Bettgeschichten verbreiten. Eine Sonnenbrille aufsetzen, wenn man unerkannt bleiben will, nur Limousinen mit getönten Scheiben benutzen. Einen persönlichen PR-Manager und vielleicht sogar Max Clifford als Agenten haben. Am besten wäre man wegen einer Tat berühmt, die den Leuten gefällt, oder weil man angebetet wird, so wie Nerissa Nash von ihm. Allerdings wäre es auch nicht übel, ein berühmt-berüchtigter Verbrecher zu sein. Wie fühlte man sich, wenn einen die Polizei mit einem Mantel über dem Kopf aus dem Ge-
richtsgebäude geleitet, weil einen die Menschenmenge sonst in Stücke reißen würde? Ein Attentat sorgte für ewigen Nachruhm. Man musste nur an den Mörder John Lennons oder Präsident Kennedys denken oder an Princip, der den österreichischen Erzherzog erschossen und den Ersten Weltkrieg ausgelöst hatte. Andererseits wäre man als ständiger Begleiter von Nerissa Nash doch besser dran und lebte vor allem erheblich sicherer. So eine Position würde ihn schnell selbst zum Star machen. Man würde ihn zu Talkshows ins Fernsehen und auf Partys bei den Beckhams und bei Madonna einladen. Colette war selbst Model gewesen, wenn auch in einer anderen Kategorie. Die Ehe mit einem Börsenmakler hatte ihre Karriere beendet. Trotzdem war sie weiterhin eng mit Nerissa befreundet. Mix hatte sich damals ganz offiziell im Fitnessraum aufgehalten, dem ehemaligen Ankleidezimmer, und am Heimtrainer ein neues Laufband eingezogen. Andere Dinge kamen nicht in Frage, da ein Leihkoch im Haus war, um für Nerissa und Colette einen Lunch zusammenzustellen. Die beiden Frauen kamen ins Schlafzimmer, weil Colette ihrer Freundin unbedingt eine neue Kreation zeigen wollte, die sie für eine astronomische Summe in einer Boutique in Notting Hill gekauft hatte. Flüstern und Kichern drang zu Mix herüber. Irgendwie bildete er sich ein, er habe gehört, wie Nerissa 15
Colette warnte, sie solle beim Ausziehen vorsichtig sein, weil doch gleich nebenan im Fitnessraum »dieser Mann« sei. Mix kannte Colettes Benehmen und ihre Vorlieben gut genug und wusste, dass es sie nicht einmal stören würde, wenn fünfzig Männer sie mit offenem Mund vom Fitnessraum aus durch die Glastür anstarren würden. Sie würde das genießen. Trotzdem bewunderte er Nerissas Zurückhaltung. So etwas fand man heutzutage nicht mehr allzu oft. Bis zu diesem Tag hatte er lediglich ab und zu ein Foto von ihr in der Boulevardpresse gesehen. Ihre Stimme klang so hübsch und sie lachte so glockenhell, dass er jetzt wild entschlossen war, sie leibhaftig zu sehen. Dazu benutzte er einen Trick, den er immer dann einsetzte, wenn er unbedingt die Dame des Hauses sprechen musste. Er räusperte sich ziemlich laut und rief dann: »Mrs. Gilbert-Bamber, sind Sie da?« Statt einer Antwort kicherte Colette nur. Also verlor er keine Zeit mehr und spazierte ins Schlafzimmer. Außer einem knallroten BH und einem Stringtanga hatte Colette nichts an, aber schließlich hatte er schon mehr von ihr gesehen. Wie er zu sagen pflegte: Das kümmerte ihn nicht die Bohne. Außerdem hatte er nur noch Augen und Ohren für Colettes Freundin. Dass
sie die schönste Frau war, die er je gesehen hatte, wäre noch untertrieben gewesen. Blitzartig wurde ihm bewusst, dass alle gut aussehenden Frauen lange schwarze Haare, goldene Rehaugen und eine Haut wie Cappuccino haben müssten. Obendrein hatte sie eine umwerfende Figur, war groß und hatte eine graziöse Haltung. Er hatte mit einer hochmütigen Miene gerechnet und nicht mit einem warmen, liebenswürdigen Ausdruck. Als sie lächelnd »Hi« sagte, war er restlos verloren. Von nun an sammelte er in seinen Alben jedes Foto von ihr, das ihm unter die Augen kam. Einmal entdeckte er sogar in einem Touristenladen in Shepherd's Bush ihr Porträt auf einer 16 Postkarte. Bei jeder Filmpremiere wartete er, manchmal stundenlang, auf dem Gehsteig vor dem Kino, um einen kurzen Blick auf sie zu erhaschen, wenn sie aus dem Wagen stieg. Einmal wurde seine Geduld reichlich belohnt. Er hatte sich einen Platz ganz vorne in der ersten Fanreihe gesichert. Als man ihr beim Aussteigen half, schlang sie eine weiße Pelzstola um ihr durchsichtiges gelbes Hängekleid und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Hatte sie ihn wiedererkannt? In einer seiner Fantasien saß er mit ihr in einem Club allein an einem Tisch. Ihre Blicke konnten sich nicht voneinander lösen. Da kam ein Pressefotograf auf sie zu und dahinter gleich noch einer. Nerissa lächelte erst die Fotografen an, dann ihn, und flüsterte: »Küss mich.« Und das tat er. Es war die wunderbarste Umarmung seines Lebens, die das Blitzlichtgewitter und die anfeuernden Rufe der Paparazzi noch reizvoller machten. Am nächsten Tag stand ihr Kuss in allen Zeitungen, und er malte sich erregende Schlagzeilen aus: »Nerissa und ihr neuer Lover« und »Nerissa besiegelt ihre Liebe mit einem Kuss«. Und ihn würde man als »Michael Cellini, den angesehenen Kriminologen« vorstellen. Unterdessen bekam er sie und ihren goldenen, köstlich gebauten Leib nie leibhaftig zu Gesicht, obwohl er mehrmals vor ihrem Haus am Campden Hill Square gewartet hatte, um sie wenigstens einmal flüchtig am Fenster zu sehen. Colette hatte ihm Nerissas Wohnsitz verraten, wenn auch widerwillig. Er hatte von ihr wissen wollen, ob Nerissa zu Hause irgendwelche Fitnessgeräte hätte. »Sie geht ins Fitnessstudio.« »In welches?«, fragte er, wobei er sie zärtlich in den Nacken biss, wie sie es gerne hatte.
»Vermutlich ganz in der Nähe. Wieso willst du das wissen?« »Reine Neugier«, sagte er. Eines war ihm klar: Er musste ihr nachgehen, auch wenn das 17 nach Stalking roch, was er in Verbindung mit Nerissa unbedingt vermeiden wollte. Nur ein einziges Mal würde er ihr nachgehen. Sobald er das Fitnessstudio gefunden hätte, würde er dort Mitglied werden. Er war nicht so fit, wie er es in seinem Job sein sollte, und ihr Studio war so gut wie alle anderen. Warum also nicht? Seit neun Jahren arbeitete er bei Fiterama, davon acht und ein paar Tage in der Birminghamer Filiale. Als er nach London gekommen war und sich nach einer Wohnung umsah, hatte er für einige Zeit ein Zimmer in Tufnell Park gemietet. Gleich um die Ecke lag Hilldrop Crescent, eine Straße, die ihn faszinierte. Obwohl dort der Frauenmörder Dr. Crippen gewohnt hatte, der seine Frau in Einzelteilen unter dem Parkett versteckt hatte, hatte man diese Straße nicht umbenannt. Mix hatte nie etwas über Crippen gelesen. Dieses Verbrechen lag so lange zurück - noch vor dem Ersten Weltkrieg - und war praktisch uralter Schnee von gestern. Dann sah er im Fernsehen eine Sendung über Verbrecher, die man mit Hilfe des Radios gefasst hatte. Crippen war der erste gewesen. So erfuhr er auch dessen damaligen Wohnsitz. Andere würden eine solche Information angewidert oder einfach desinteressiert aufnehmen, aber nicht so Mix. Er war ganz aufgeregt und nahm die betreffende Lokalität selbst in Augenschein. Als er merkte, dass das Haus verschwunden war und an seiner Stelle neue Bauten standen, bekam er einen Vorgeschmack auf jene Enttäuschung, mit der er später wesentlich verbitterter auf die Zerstörung des Rillington Place reagierte. An allem war dieser Film schuld gewesen, den er im alten Schwarz-WeißFernseher seiner Mutter gesehen hatte. Damals wohnte er noch zu Hause. Obwohl er nie ein großer Leser gewesen war, hatte er ein Buch, das ihm zum Film passend erschien, wie er sich einbildete, in einem Ständer vor einem 17
Trödelladen entdeckt. Beim Anblick der Fotos erlebte er die eigentliche Überraschung: John Reginald Halliday Christie sah weniger wie Attenborough aus, sondern viel eher wie - Mix. Natürlich war Mix viel jünger und trug keine Brille. Um die Ähnlichkeit zu bestätigen, zwang er sich zu einem langen Blick in den Spiegel. Seltsam, diese Äußerlichkeit schien ihm den Massenmörder näherzubringen, denn seither nannte er ihn insgeheim nur noch Reggie und nicht mehr Christie. Warum auch nicht? So schreckliche
Untaten hatte er nun auch wieder nicht begangen. Was hatte die Welt schon verloren? Einen Haufen nutzloser Weiber, Nutten und Dirnen. Reggie - das klang nett, irgendwie warm und freundlich. Als Mix im Laufe seiner Lektüre merkte, dass Reggie bei den Leuten beliebt gewesen war, dass sie zu ihm aufgeschaut und ihn bewundert hatten, war er nicht überrascht. Sie hatten die Macht erkannt, die dieser Mann besaß. Und genau das schätzte Mix an ihm: dass er ein starker Mann war. Er hätte einen guten Vater abgegeben. Er hätte seinen Kids keinen Unfug durchgehen lassen, aber er hätte sie auch nicht verprügelt. Das lag nicht in Reggies Art. Wie jeden Tag dachte Mix flüchtig an Javy. Wenn es nach Mix gegangen wäre, hätten Frauen ihren Kindern keine Stiefväter andrehen dürfen. Auf der Heimfahrt von Colette fiel ihm wieder die verblüffende Bemerkung der alten Chawcer ein. Sie war tatsächlich bei Reggie zu Hause gewesen. Sie hatte Reggie getroffen. Der junge Mix hatte das Gefühl, als hätte Reggie vor ganz langer Zeit gelebt, sozusagen in grauer Vorzeit, ganz im Gegensatz zur alten Chawcer. Und das begriff er auch irgendwie. Sie musste über achtzig sein. Als Reggie am Rillington Place gewohnt hatte, war sie dementsprechend noch jung gewesen, fast noch ein Mädchen. Was stand gleich noch in allen Büchern? Was wusste jeder, der sich dafür interessierte? Reggie hatte sich als Arzt für Abtreibungen ausgegeben und so seine 18 Opfer in sein Haus gelockt. Also deshalb war sie zu ihm gegangen. Etwas anderes kam nicht in Frage. Als junger Mensch aus dem 21. Jahrhundert bildete Mix sich ein, alles wäre immer so gewesen wie jetzt und die Jugendzeit der alten Chawcer hätte sich in puncto Sex kaum von seiner eigenen unterschieden: Liebesaffären, flüchtige Abenteuer und möglichst oft Sex. Die alte Chawcer hätte eben nicht aufgepasst und wie die heutige Jugend die Pille vergessen, und schon hätte sie in der Bredouille gesteckt. Von Gesetzen hatte Mix so gut wie überhaupt keine Ahnung. Seine Rechtskenntnisse beschränkten sich darauf, in welchem Umfang Hersteller und Händler von Fitnessgeräten für die Sicherheit ihrer Produkte haftbar waren. Von Gesetzen zur Legalisierung von Abtreibungen hatte er nie etwas gehört. Er vermutete nur, dass man in der Jugend der alten Chawcer wohl nicht einfach hätte ins Krankenhaus gehen und die Sache erledigen lassen können. Logisch, sonst hätte Reggie ja nichts zu tun gehabt. Eine entscheidende Frage blieb dabei offen: Warum war sie fünfzig Jahre danach immer noch quietschlebendig, obwohl sie sich in seine Hände begeben
hatte? Vielleicht würde er nie eine Antwort bekommen, aber er hätte es nur allzu gern herausgefunden. In seiner Wohnung war kaum ein Laut zu hören. Von seinen Fenstern sah er Teile von Flachdächern und Giebeln und den wilden ungepflegten Garten hinten am Haus. Bis auf einen Garten mit gemähtem Rasen und Rosenbeeten gab es hier unten nur Wildwuchs. In den meisten Nächten sah er nach Einbruch der Dunkelheit, wie zwei leuchtend grüne Augen aus dem dichten Efeu, der ungehindert über Wände und Spalier kletterte, zu ihm heraufstarrten. Die alte Chawcer ging vermutlich früh schlafen. Da es sich um ein frei stehendes Haus handelte, drang von den Nachbarn nie ein Laut herüber. Nur wer nach vorne hinaus schlief, würde vielleicht mitunter von 19 dem schrillen Geplärr und dem dumpfen Wummern geweckt, das aus Autoradios drang und in London jetzt in war, wie man ihm erzählt hatte. Hier hinten, wo er wohnte, wurde man nur selten gestört. Als Kind der heutigen Zeit, das obendrein in einem hellhörigen Sozialbau aufgewachsen war, hätte er nichts dagegen gehabt, wenn sich das Leben draußen ab und zu lautstark gemeldet hätte. Hier vergingen die stillen Stunden, als hätten einen Zeit und Welt restlos vergessen. Die einzige Ausnahme bildete der Westway, der wie ein grauer Riesentausendfüßler auf hundert Betonbeinen über das westliche London hinwegstakste. Auf seinem Rücken herrschte ständig Bewegung. Von hier kam dieses Meeresrauschen. Er öffnete den Kühlschrank. Als zwanghaft ordentlicher Mensch bildete er sich ein, er hätte seinen Boot Camp genau mitten im mittleren Fach abgestellt, etwa fünf Zentimeter hinter der Kühlschranktür. Dass er das Glas auf der linken Seite abgestellt hatte, wo es gegen einen Schokoriegel drückte, sah ihm ganz und gar nicht ähnlich. Nachdenklich nippte er an seinem Getränk. Dafür gab es nur eine Erklärung: Beim Weggehen hatte er es wohl sehr eilig gehabt. Mit seinem halb leeren Drink stand er vor Nerissas Foto und sagte zu ihm, besser gesagt, zu ihr: »Ich liebe dich, ich verehre dich.« Er hob sein Glas und prostete ihr zu. »Du weißt, dass ich dich anbete.« 19
3 Gwendolen Chawcers Großvater väterlicherseits hatte 1860 den Familiensitz in der St. Blaise Avenue gebaut. Damals besaß Notting Hill eine ländliche Struktur mit viel freiem Platz und neuen Gebäuden und galt als gesunde Wohngegend. Bis zu den ersten Plänen für den Westway sollten noch hundert Jahre vergehen, und erst drei Jahre später wurde mit dem ersten Bauabschnitt
der Londoner U-Bahn begonnen, mit der Metropolitan Railway von der Baker Street nach Hammersmith. Wo es später eine Straße namens Rillington Place geben sollte, lag offenes Land. Gwendolens Vater, der Herr Professor, wurde im St. Blaise House in den achtzehnhundertneunziger Jahren geboren, sie selbst in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit der Gegend ging es immer weiter bergab. Hier konnte man billig leben, und so zogen in den fünfziger Jahren Einwanderer ins schäbige North Kensington, nach Kensei Town, an den Powis Square und in die Golborne Road. Ein Mann aus der Karibik entdeckte die erste Leiche im Fall Christie, als er in seiner neuen Wohnung eine Wand einriss. In den nächsten zwei Jahrzehnten lebten hier Hippies und andere Blumenkinder. Der Ladbroke Grove, den sie liebevoll nur »den Grove« nannten, war ein untrennbarer Bestandteil ihres Lebens. Sie trugen indische Baumwollstoffe und züchteten in ihren möblierten Zimmern und Mietwohnungen Cannabis in Schränken mit eingebauten Strahlern, die ultraviolettes Licht abgaben. Hier keimte die Idee von der Welt als Dorf. Von alledem hatte Miss Chawcer nicht die geringste Ah 20 nung. Sie, die im St. Blaise House geboren wurde, hatte keine Geschwister und wurde zu Hause von Professor Chawcer unterrichtet, der an der Londoner Universität einen Lehrstuhl für Philosophie hatte. Als sie Anfang dreißig war, starb ihre Mutter. Der Professor war entschieden dagegen gewesen, dass sie irgendeinen Beruf ergriff, und etwas, wogegen der Herr Professor Einwände hatte, kam nicht in Frage. Denn alles geschah stets nach seinem Belieben. Irgendjemand musste sich schließlich um ihn kümmern. Das Dienstmädchen hatte gekündigt und geheiratet, und natürlich übernahm Gwendolen dessen Position. Sie führte ein merkwürdiges, wenn auch durchaus gesichertes Leben. Vermutlich kann ein Leben ohne Angst, Hoffnung, Leidenschaft, Liebe, Veränderung oder Geldnöte gar nicht anders ablaufen. Das dreistöckige Haus mit dem grandiosen Treppenhaus über vier Stiegen war riesengroß. Quadratische Dielen oder lange Flure führten zu zahllosen Räumen. Als kaum mehr Aussicht auf eine Heirat Gwendolens bestand, ließ ihr Vater drei Zimmer im obersten Stock für sie zu einer abgeschlossenen Wohnung mit Diele, zwei Zimmern und einer Küche umbauen. Trotzdem verspürte sie nur wenig Neigung, hier einzuziehen, was nichts mit dem fehlenden Badezimmer zu tun hatte. Warum sollte sie sich dort oben aufhalten, während drunten im Salon ihr Vater irgendwie immer Appetit auf seine Mahlzeiten oder auf eine
Tasse Tee hatte? Seither hatte sie eine Abneigung gegen den obersten Stock und betrat ihn nur, wenn sie etwas verloren und bereits alle dafür in Frage kommenden Plätze abgesucht hatte. Der Rest des Hauses hatte nie einen Maler gesehen, ganz zu schweigen von irgendwelchen technischen Neuerungen. Nicht einmal elektrische Leitungen hatte man überall verlegt. In den achtziger Jahren musste das ganze Haus neu verkabelt werden,- die vorhandenen Leitungen waren lebensgefährlich 21 gewesen. Man hatte die alten Kabel herausgerissen und neue installiert, aber die dadurch entstandenen Löcher in den Wänden lediglich mit Gips zugeschmiert. Sonst wurde nichts renoviert. Gwendolen war nach ihren eigenen Aussagen nicht allzu putzsüchtig. Putzen langweilte sie. Sie war am glücklichsten, wenn sie dasitzen und lesen konnte. Sie hatte Tausende Bücher gelesen und tat nur gezwungenermaßen etwas anderes. Ihre Lebensmittel besorgte sie sich, solange es ging, in den traditionellen Geschäften. Als das Gemüsegeschäft, der Metzger und der Fischhändler verschwanden, ging sie in die neuen Supermärkte, ohne sich einer größeren Veränderung bewusst zu sein. Sie maß dem Essen keine sonderliche Bedeutung bei und hatte ihre Kochgewohnheiten seit ihrer Mädchenzeit mit einer Ausnahme nur wenig verändert: Da niemand für sie kochte, aß sie kaum etwas Warmes. Nach dem Mittagessen gönnte sie sich täglich ein wenig Ruhe. Sie legte sich hin und schlief beim Lesen ein. Sie hatte ein Radio, aber keinen Fernseher. Das Haus war voller Bücher: Fachliteratur, antiquierte Romane, alte, gebundene Ausgaben von »National Geographie« und »Punch«, längst überholte Enzyklopädien, Lexika von 1906 und Sammelbände wie »'Nachtlektüre für den Herrn von Welt« und »Gesammelte Abenteuer-, Geister- und Gespenstergeschichten«. Die meisten hatte sie bereits gelesen, einige sogar mehrmals. Im Verein der Anwohner von St. Blaise und Latimer hatte sie ein paar Damen kennengelernt, die sich als ihre Freundinnen bezeichneten. Für ein Einzelkind, das nie eine Schule besucht hatte, waren solche Beziehungen schwierig. In den Ferien war sie mit dem Professor verreist, sogar ins Ausland. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie gut Französisch und Italienisch sprach, auch wenn es ihr nur dazu nützte, Montaigne und D'Annunzio im Original zu lesen. Eines hatte sie allerdings nie gehabt: einen Freund. Im Theater und im Kino war sie gewesen, aber 21 nie in einem schicken Restaurant, in einem Club, in einem Tanzcafe oder auf einer Party. Manchmal redete sie sich ein, sie sei wie die Lucy bei
Wordsworth: »Sie wohnte, wo der Quell ertönt in unbetretener Flur.« Doch selbst das klang eher erleichtert als unglücklich. Der Professor erreichte ein hohes Alter und starb schließlich mit vierundneunzig. Die letzten Jahre seines Lebens hatte er nicht mehr laufen können und war inkontinent gewesen, aber sein Gehirn war in Hochform, und seine Wünsche kannten keine Grenzen. Gwendolen kümmerte sich um ihn. Gelegentlich wurde sie dabei von einer Gemeindeschwester und ab und zu auch von einer bezahlten Pflegerin unterstützt. Nie zeigte sie irgendwelche Anzeichen von Erschöpfung. Sie wechselte seine Windeln und zog sein Bett ab. Ihr einziger Gedanke dabei war, die Sache möglichst rasch hinter sich zu bringen, damit sie wieder zu ihren Büchern konnte. In derselben Gemütsverfassung brachte sie ihm seine Mahlzeiten und holte später das Tablett wieder ab. Offensichtlich hatte er sie nur zu einem einzigen Zweck großgezogen: Sie sollte ihm während seiner besten Jahre den Haushalt führen und ihn als alten Mann pflegen, und lesen, damit sie nicht auf dumme Gedanken kam. Manchmal hatte er sie im Laufe seines Lebens kühl und objektiv gemustert und sich dabei eingestehen müssen, dass sie gut aussah. In seinen Augen gab es für einen Mann nur einen einzigen Grund, sich zu verlieben und zu heiraten, oder wenigstens eine Ehe in Erwägung zu ziehen: wenn die Frau seiner Wahl schön war. Verstand, Klugheit, Charme, Liebenswürdigkeit, eine besondere Begabung oder Herzensgüte - nichts davon hätte seine Wahl beeinflussen können. Und so war es seines Wissens auch bei anderen intelligenten Männern. Er hatte eine Frau einzig und allein wegen ihres Aussehens geheiratet, und als er diese Schönheit bei seiner Tochter wiedererkannte, reagierte er besorgt. So etwas könnte auch ein anderer Mann 22 erkennen und sie ihm wegnehmen. Doch das tat keiner. Wie hätte ein solcher Mann sie kennenlernen können, wenn er außer dem Hausarzt niemanden zu sich einlud und sie ohne Wissen ihres Vaters keinen Schritt aus dem Haus machte? Aber endlich starb er doch. Sie blieb einigermaßen gut versorgt zurück und erbte auch das Haus. Mittlerweile schrieb man die achtziger Jahre. Die Villa war heruntergekommen und stand ziemlich eingezwängt zwischen neu angelegten Gassen und Durchgängen, kleinen Fabriken, Sozialbauten, Eckläden, schäbigen Reihenhäusern und breiten Durchgangsstraßen. Gwendolen war zu diesem Zeitpunkt eine große, dünne sechsundsechzigjährige Frau, deren Jugendstilprofil allmählich einem
Nussknacker ähnelte. Ihre schmale griechische Nase näherte sich immer mehr dem hervorstehenden Kinn an. Die ehemals zarte, helle Haut mit dem rosigen Schimmer auf den Wangenknochen war nur noch ein einziges Faltengespinst, einem Apfel ähnlich, der zu lange in einem warmen Raum gelegen hatte. Ihre blauen Augen waren zu einem durchsichtigen Grau verblasst. Die ursprünglich blonden, üppigen Haare waren nun fast weiß. Manchmal behaupteten ihre beiden selbst ernannten Freundinnen mit den roten Fingernägeln, den gefärbten Haaren und einer annähernd modischen Kleidung, Miss Chawcer kleide sich durch und durch im viktorianischen Stil. Dadurch bewiesen sie lediglich, in welchem Maße sie ihre eigene Jugendzeit vergessen hatten. Ein Teil von Gwendolens Garderobe hätte wunderbar ins Jahr 1936 gepasst, der andere ins Jahr 1953. Viele ihrer Mäntel und Kleider waren echte Modelle und hätten in den Boutiquen von Notting Hill Gate, wo man so etwas hoch schätzte, ein Vermögen gebracht. Zum Beispiel jene Stücke, die sie 1953 für Dr. Reeves gekauft hatte. Leider war besagter Herr fortgezogen und hatte eine andere geheiratet. Das waren damals gute Stücke gewesen, die sich dank sorgfältiger Pflege 23 auch später nie abtrugen. Gwendolen Chawcer war ein lebender Anachronismus. Um das Haus hatte sie sich deutlich weniger gekümmert. Allerdings muss man der Gerechtigkeit halber sagen, dass sie sich ein paar Jahre nach dem Tod des Professors entschlossen hatte, alles gründlich renovieren zu lassen und teilweise sogar neu einzurichten. Leider dauerten ihre Entscheidungsprozesse schon immer ziemlich lange. Als sie endlich bereit war, einen Innenarchitekten zu suchen, merkte sie, dass sie sich so etwas nicht mehr leisten konnte. Da keiner für sie je Sozialversicherungsbeiträge gezahlt hatte, bekam sie nur eine sehr kleine Rente, und die Rendite aus der Erbschaft ihres Vaters verringerte sich jährlich. Eine ihrer Freundinnen, Olive Fordyce, meinte, sie solle ihr Dachgeschoss teilweise vermieten. Nach anfänglichem Entsetzen erwärmte sich Gwendolen allmählich für diesen Vorschlag. Sie selbst hätte allerdings nie die Initiative ergriffen. Mrs. Fordyce entdeckte im »Evening Standard« die Anzeige von Michael Cellini. Sie war es auch, die einen Termin vereinbarte und den jungen Mann zum St. Blaise House schickte. Gwendolen, die des Italienischen mächtig war, sprach ihn mit Mr. Tschellini an, während er sich als Enkel eines italienischen Kriegsgefangenen immer nur Seilini ausgesprochen hatte. Sie blieb unbeirrt. Im Gegensatz zu ihm wusste
sie, was richtig war und was nicht. Ihm wäre bei Mix und Gwen wohler gewesen. Schließlich lebte er in einer Welt, in der sich alle mit Vornamen anredeten. Und genau das hatte er auch vorgeschlagen. »Davon halte ich wenig, Mr. Cellini«, war ihr einziger Kommentar dazu gewesen. Wahrscheinlich hätte es sie umgebracht, wenn man sie mit ihrem Vornamen angesprochen hätte, und die Koseform Gwen benutzte nur Olive Fordyce, was Gwendolen ziemlich gegen 24 den Strich ging. Sie bezeichnete ihn nicht als ihren Mieter, ja nicht einmal als »den Mann, der die Wohnung mietet«, sondern lediglich als ihren Logisherrn. Wenn er ihren Namen erwähnte, was selten genug vorkam, nannte er sie »die alte Schrulle, der das Haus gehört«. Trotzdem kamen beide alles in allem gut miteinander aus, was hauptsächlich an der Größe des Hauses lag. Man begegnete sich nur selten. Natürlich standen sie noch ganz am Anfang ihrer Bekanntschaft; schließlich wohnte er erst vierzehn Tage hier. Bei einer ihrer seltenen Begegnungen hatte er ihr erzählt, er sei Techniker. In Miss Chawcers Augen war ein Techniker ein Mann, der in fernen Ländern Dämme und Brücken baut, aber Mr. Cellini erklärte ihr, er warte Fitnessgeräte. Sie musste ihn fragen, was das sei. Da er sich nicht sonderlich gut ausdrücken konnte, musste er ihr berichten, ähnliche Geräte könne sie in den Sportabteilungen sämtlicher großer Londoner Kaufhäuser besichtigen. Harrods war das einzige Londoner Kaufhaus, das sie je betrat. Bei ihrem nächsten Besuch dort begab sie sich in die Abteilung mit den Trainingsmaschinen und betrat damit eine ihr völlig unverständliche Welt. Ihr war es ein Rätsel, warum jemand auch nur einen Fuß auf einen dieser Apparate setzen sollte, und so hegte sie starke Zweifel an Cellinis Worten. Hatte er sie vielleicht »aufgezogen«, um ein Umgangswort zu gebrauchen, das der Professor nur höchst selten verwendete und auch dann nur mit Anführungszeichen? Hin und wieder machte Gwendolen mit Staubwedel und Teppichkehrer die Runde durchs Haus, wenn auch nicht allzu häufig. Der 1951 erworbene Staubsauger hatte vor zwanzig Jahren seinen Geist aufgegeben und war nie repariert worden. So stand er nun im Keller zwischen eingerollten alten Teppichen, einer Esstischplatte, zusammengelegten Kartons, einem Grammophon aus den dreißiger Jahren, einer unbesaite 24
ten Violine unbekannter Herkunft und dem Korb eines Fahrrades, auf dem der Professor weiland nach Bloomsbury und zurück geradelt war. Der Teppichkehrer verteilte den Staub genauso regelmäßig, wie er ihn aufnahm. Bis Gwendolen zu ihrem eigenen Schlafzimmer kam, wozu sie das Ding hinter sich die Treppe hinaufschleifen musste, hatte sie das geplante Unternehmen längst satt und wollte nur noch wieder zu ihrer gegenwärtigen Lektüre zurück. Das konnte zum x-ten Mal Balzac sein oder Trollope. Da sie keine Lust hatte, den Teppichkehrer wieder hinunterzuschaffen, ließ sie ihn zusammen mit dem Staubwedel in einer Ecke ihres Schlafzimmers stehen. Und dort blieb er, manchmal wochenlang. Für den Nachmittag erwartete sie Olive Fordyce und deren Nichte zum Tee. So gegen vier Uhr. Die Nichte hatte sie nie kennengelernt, aber Olive meinte, es wäre grausam, wenn sie Gwendolens Wohnsitz nie sehen dürfe, schließlich sei sie »völlig verrückt« nach alten Häusern. Eine Stunde im St. Blaise House wäre für sie der Himmel auf Erden. Gwendolen hatte nichts Besonderes vor. Sie wollte nur noch einmal »Vater Goriot« lesen. Gleich würde sie beim Inder an der Ecke eine Biskuitrolle und vielleicht eine Packung gefüllte Vanillekekse kaufen. Früher hätte so etwas nicht genügt, aber diese Zeiten waren lange her. Seit Jahren hatte sie nichts mehr gebacken oder gekocht, höchstens mal ein Rührei. Früher wurden in diesem Hause nur selbst gebackene Kuchen, Pasteten, Haferkekse und Eclairs verspeist. Ganz besonders erinnerte sie sich noch an ein bestimmtes Rezept für eine Biskuitrolle mit zartgelbem, saftigem Teig, gefüllt mit Himbeermarmelade und mit feinem Puderzucker bestäubt. Gekaufte Kuchen kamen für den Professor nicht in Frage. Und die Teestunde war für alle drei die liebste Mahlzeit. Fremde Leute wurden, wenn über 25 haupt, nur zum Tee gebeten. Als Mrs. Chawcer schwer erkrankt war und unter großen Schmerzen langsam starb, bat man den Arzt bei seinen regelmäßigen Hausbesuchen immer zum Tee. Während ihre Mutter droben im Bett lag und der Professor irgendwo eine Vorlesung hielt, fand sich Gwendolen allein mit Dr. Reeves wieder. Die Tatsache, dass sie sich in ihn und er sich in sie verliebt hatte, war das wichtigste Ereignis in ihrem Leben. Jedenfalls redete sie sich das ein. Da er nur unwesentlich jünger als sie war, würde auch ihre Mutter ihn nicht aus Altersgründen als inakzeptabel einstufen, dachte Gwendolen. Mrs. Chawcer missbilligte Ehen, in denen der Mann mehr als zwei Jahre jünger war als die Frau. Dank seiner dunklen Locken, den dunklen feurigen Augen und der
lebhaften Mimik hatte Dr. Reeves rein äußerlich etwas Jungenhaftes an sich. Trotz seiner schlanken Figur verspeiste er bergeweise Gwendolens Teegebäck mit dicker Buttercreme und hausgemachter Erdbeermarmelade, Königskuchen und Haferkekse, während sie nur vornehm einen trockenen Keks zerbröselte. Männer sehen es nicht gern, wenn ein Mädchen sich vollstopft, sagte Mrs. Chawcer, wenn auch nur noch selten, seit ihre Tochter die dreißig überschritten hatte. Und Dr. Reeves plauderte. Vor dem Tee, während der einzelnen Bissen und danach. Von seinem Beruf und seinen Plänen, von der Umgebung, in der er wohnte, vom Koreakrieg, vom Eisernen Vorhang und den sich stetig verändernden Zeitläufen. Auch Gwendolen unterhielt sich wie nie zuvor über diese Themen und äußerte manchmal die Hoffnung, sie könne noch mehr vom Leben sehen, Freunde finden und auf Reisen die Welt entdecken. Und immer drehte sich das Gespräch um ihre sterbende Mutter. Lange würde es ja nicht mehr dauern. Und was dann? Bekanntlich haben alle Ärzte eine unleserliche Handschrift. Gwendolen studierte sorgfältig alle Rezepte, die er für Mrs. 26 Chawcer ausstellte, und versuchte, seinen Vornamen zu entziffern. Zuerst glaubte sie, er hieße Jonathan, dann Barnabas. Am ehesten tippte sie auf Swithun. Listig brachte sie das Thema Namen ins Gespräch und wie wichtig oder unwichtig sie für die jeweiligen Namensträger seien. Sie mochte ihren Namen, solange niemand Gwen zu ihr sagte. Niemand? Wer sollte sie schon versehentlich mit einem Kosenamen rufen? Bis auf ihre Eltern nannten alle sie Miss Chawcer. Doch davon erwähnte sie Dr. Reeves gegenüber nichts, sondern lauschte hingebungsvoll seinen Anmerkungen. Und dann lüftete sich das Geheimnis. »Mit dem Namen Stephen kann man nie falsch liegen. Ist zurzeit in Mode. Eigentlich zum ersten Mal. Vielleicht halten mich ja die Leute eines Tages für dreißig Jahre jünger, als ich bin.« Gwendolen liebte seine Ausdrucksweise und war begeistert, dass sie seinen Vornamen herausgefunden hatte. Manchmal formulierte sie in der Einsamkeit ihres Schlafzimmers leise interessante Kombinationen: Gwendolen Reeves, Mrs. Stephen Reeves, G. M. Reeves. Als Amerikanerin könnte sie sich Gwendolen Chawcer Reeves nennen. In einigen europäischen Ländern hieße sie Frau Dr. Reeves. Kurzum, er machte ihr den Hof, wie es die Dienstboten nannten. Davon war sie felsenfest überzeugt. Was wäre der nächste Schritt? Eine Einladung zum Ausgehen, hätte vermutlich ihre Mutter gesagt. Miss Chawcer, hätten Sie Lust, mich ins Theater zu begleiten? Gehen Sie gern ins Kino, Miss Chawcer? Darf ich Sie Gwendolen nennen?
Ihre Mutter sagte gar nichts mehr. Sie stand unter Morphium. Stephen Reeves kam regelmäßig und trank jedes Mal mit Gwendolen Tee. Eines schönen Nachmittags nannte er sie bei einem Blick über die Kuchenetagere Gwendolen und bat sie, ihn Stephen zu nennen. Kaum war man beim letzten Bissen Buttercremekuchen angelangt, kam normalerweise der Pro 27
fessor nach Hause, um ein wachsames Auge auf seine Tochter zu werfen. Gwendolen fiel auf, dass Dr. Reeves sie in Gegenwart ihres Vaters wieder mit Miss Chawcer ansprach. Leise seufzte sie. Das alles war ein halbes Jahrhundert her. Jetzt erwartete man nicht Dr. Reeves zum Tee, sondern Olive und ihre Nichte. Die Einladung für den heutigen Tag war nicht von Gwendolen gekommen, an so etwas hätte sie nicht im Traum gedacht. Die beiden hatten sich selbst eingeladen. Wenn sie damals nicht müde und Olives Gesellschaft überdrüssig gewesen wäre, hätte sie Nein gesagt. Hätte sie es doch nur getan. Mit diesen Überlegungen ging sie in das ehemalige Schlafzimmer ihrer Mutter hinauf, das zugleich deren Sterbezimmer gewesen war, und zog ein blaues Samtkleid mit einem Spitzeneinsatz im Ausschnitt an, einem sogenannten »Betrügerle«. Doch so nannte man dieses modische Detail schon lange nicht mehr. Und dieses Schlafzimmer hatte auch nicht ihre Versuche mit den unterschiedlichen Namenskombinationen vernommen. Sie legte eine Perlenkette um und steckte sich eine Brosche mit einem aufsteigenden Phönix an sowie den Verlobungsring ihrer Mutter an die rechte Hand. Diesen Ring trug sie täglich. Nachts legte sie ihn in das silberne Schmuckkästchen mit den ziselierten Glaseinsätzen, das ebenfalls ihrer Mutter gehört hatte. Die Nichte erschien nicht, stattdessen brachte Olive ihren Hund mit, einen weißen Zwergpudel mit den Füßen einer Balletttänzerin. Gwendolen war verärgert, aber nicht überrascht. Genau dasselbe war schon einmal passiert. Der Hund hatte wie ein Kind etwas zum Spielen dabei. Allerdings handelte es sich bei diesem Spielzeug um einen täuschend echt aussehenden, weißen Plastikknochen. Olive verspeiste zwei Scheiben Biskuitrolle nebst jeder Menge Kekse und erzählte von der Tochter ihrer Nichte. Wie gut, dass die Nichte nicht gekommen sei, ging es unterdessen Gwendolen durch den Kopf, 27 sonst hätten sie sich im Duett über dieses weibliche Prachtexemplar ausgelassen, über ihr Können, ihren Reichtum, ihre reizende Wohnung und darüber, wie sehr sie an ihren Eltern hing. Für sie war jedenfalls dieser Tag verdorben. Es wäre besser gewesen, wenn sie sich in aller Stille ihrer
Erinnerung an Stephen gewidmet und vielleicht sogar Pläne geschmiedet hätte. Olive trug einen leuchtend smaragdgrünen Hosenanzug und dazu haufenweise Modeschmuck, den Gwendolen insgeheim als Kitsch bezeichnete. Olive war zu fett und zu alt, um Hosen oder irgendetwas in dieser Farbe zu tragen. Sie war stolz auf ihre langen, knallroten Fingernägel, die genau zum Lippenstift passten. Gwendolen starrte Lippen und Nägel mit dem kritisch-zynischen Blick eines jungen Mädchens an. Warum hatte sie Freundinnen, obwohl sie diese eigentlich nicht ausstehen konnte und ihre Gesellschaft innerlich ablehnte? Diese Frage stellte sie sich oft. »Mit vierzehn war meine Nichte schon einen Meter achtundsiebzig groß«, sagte Olive. »Damals lebte mein Mann noch. »Wenn du noch weiter wächst«, sagte er zu ihr, »findest du nie einen Freund. Jungs wollen nicht mit einem Mädchen ausgehen, das sie überragt.« Und was geschah dann? Was glaubst du? Mit siebzehn traf sie diesen Börsenmakler, da war sie schon über einen Meter dreiundachtzig. Eigentlich wollte er Schauspieler werden, aber mit knapp zwei Meter wollten sie ihn nicht nehmen, weil er für die Bühne viel zu groß war. Also verlegte er sich auf den Aktienhandel und machte ordentlich Kohle. Die beiden passten wunderbar zusammen. Er wollte sie unbedingt heiraten, aber sie musste an ihre Karriere denken.« »Wie interessant«, meinte Gwendolen und dachte dabei an Dr. Reeves. Sie sei ein nettes Mädchen, hatte er einmal gesagt, und er schätze sie ungemein. 28 »Heutzutage ist es anders als bei uns. Mädchen müssen nicht mehr unbedingt heiraten.« Offensichtlich hatte sie vergessen, dass Gwendolen unverheiratet war, und fuhr unbekümmert fort: »Die haben nicht mehr das Gefühl, sie seien alte Jungfern. Eine Ehe ist heutzutage kein Statussymbol mehr. Es klingt kühn, ich weiß, aber ich würde nicht heiraten, wenn ich noch einmal jung wäre. Du vielleicht?« »Ich habe es nie getan«, verkündete Gwendolen streng. »Nein, das stimmt«, sagte Olive, als hätte es bei Gwendolen diesbezüglich je Zweifel gegeben. »Vielleicht hast du letztlich die richtige Entscheidung getroffen.« Trotzdem hätte ich Stephen Reeves geheiratet, wenn er mich darum gebeten hätte, dachte Gwendolen, nachdem Olive fort war und sie das Teegeschirr wegräumte. Wir wären glücklich gewesen. Ich hätte ihn glücklich gemacht, und außerdem wäre ich von Papa weggekommen. Leider hatte er sie nie gefragt. Kaum hatte er gesagt, dass er sie schätze, schien Papa gezielt
anwesend zu sein, auch wenn er diese Bemerkung nie und nimmer gehört haben konnte. Nach dem Tod ihrer Mutter stellte Stephen den Totenschein aus und sagte, für eine eventuelle Einäscherung von Mrs. Chawcer brauchte man noch die Unterschrift eines zweiten Arztes. Deshalb würde er seinen Praxiskollegen bitten vorbeizukommen. Dass er ihre gemeinsamen Teestunden genossen habe und sie und auch Gwendolen vermissen werde, hatte er nicht gesagt. Deshalb war sie sich sicher, er würde wiederkommen. Wahrscheinlich besagte eine Regel der ärztlichen Etikette, dass ein Hausarzt die Verwandten eines Patienten nie um ein Rendezvous bitten durfte. Er hätte bestimmt vor wiederzukommen und würde nur bis nach der Beerdigung warten. Gwendolen litt Höllenqualen, weil sie es versäumt hatte, ihn zur Beerdigung zu bitten. Vielleicht stand auch das im Buch für ärztliche Etikette. Ihren Vater konnte sie nicht fragen. In 29 ihrer vorschriftsmäßigen tiefen Trauer war eine derartige Frage für beide undenkbar. Dr. Reeves kam nicht zur Beerdigung, die in St. Mark's stattfand. Außer Gwendolen und ihrem Vater waren lediglich drei Personen anwesend: eine alte Kusine von Mrs. Chawcer, ihr derzeitiges Dienstmädchen, das aus religiösen Gründen teilnahm, und der alte Mann aus dem Nachbarhaus in der St. Blaise Avenue. Da Stephen Reeves nicht bei der Beerdigung gewesen war, würde er eines schönen Tages einfach zu Hause auftauchen. Davon war Gwendolen überzeugt. Aus Respekt gegenüber der Toten und den Trauernden wahrte er sicher eine kleine Weile Distanz. Wie nie zuvor oder danach verwendete sie während dieser Woche Zeit, Mühe und Geld auf ihr Äußeres. Sie ließ sich die Haare schneiden und legen, kaufte sich zwei neue Kleider, ein graues und ein dunkelblaues, und experimentierte mit Make-up. Alle machten ihr Komplimente, besonders wegen der Lippen und des Lidschattens. Zum ersten Mal im Leben legte sie Lippenstift auf, einen leuchtend roten, bis ihr Vater sie fragte, ob sie ein Feuerwehrauto geküsst hätte. Dr. Reeves kam nie wieder. 29
4 Zum dritten Mal innerhalb einer Woche saß Mix wegen der Klimaanlage bei geschlossenen Fenstern und laufendem Motor in seinem Auto am Campden Hill Square. Es war heiß und wurde jede Minute heißer. Er kam sich wie ein Stalker vor, was ihm gar nicht passte, weil ihn das an Javy erinnerte. Javy
hatte ihn mit zwölf Jahren dabei erwischt, wie er durch ein Fernglas schaute, das seinem älteren Bruder gehörte, und ihn als Spanner verdroschen, obwohl er gar nicht die Nachbarsfrau ausspioniert, sondern nur ein fremdes neues Motorrad betrachtet hatte, das am Rinnstein parkte. Doch eine solche Erklärung hätte nichts ausgerichtet. Vergiss es, redete er sich ein, denk einfach nicht mehr daran. Das versuchte er immer, sobald er in Gedanken zu seiner Mutter, zu Javy und zum Leben daheim abschweifte. Leider konnte er nie wirklich vergessen. Er hätte sich die Wartezeit mit der Lektüre von »Christies Opfer« vertreiben können, aber dann wäre er vielleicht zu sehr vertieft und würde sie verpassen. Er wartete bereits eine gute halbe Stunde darauf, dass sie herauskam. Seine Blicke wanderten zwischen ihrer Haustür und dem goldenen Jaguar in ihrer Einfahrt hin und her. Selbstverständlich hatte er sie schon bei früheren Besuchen gesehen, aber entweder war sie in Begleitung eines Mannes gewesen oder in eine Limousine mit Chauffeur eingestiegen. In letzteren Fällen trug sie unter einer Pelzstola oder einer paillettenbestickten Jeansjacke eines ihrer geliebten, halb durchsichtigen Hängekleidchen oder knallenge Jeans und dazu Pumps mit Stilettoabsätzen, die nur kleine Trippelschritte erlaubten. 30 Demnächst würde eine Politesse auftauchen und ihn wegscheuchen. Leider hatte er am Campden Hill Square keine Kundschaft, das wäre hilfreich gewesen. Bei mehreren Häusern klingelten junge, braun gebrannte Männer mit durchtrainierten Körpern. Demnach hatten die Anwohner meistens ihre persönlichen Fitnesstrainer. Wäre es sinnvoll, noch länger zu bleiben? Schließlich musste er vor dem Mittagessen noch mehrere Termine erledigen. In dem Moment trommelte eine Frau mit einer Zigarette in der Hand gegen das Wagenfenster. Sie führte ihren Hund spazieren, der kaum größer war als ein Plüschteddy und ein rotes Halsband mit einem Strassanhänger trug. In dieser Ecke waren alle reich. »Sie wissen«, sagte sie mit einer Stimme wie Colette Gilbert-Bamber, »dass es ganz und gar nicht richtig ist, wenn Sie hier mit laufendem Motor sitzen? Sie verschmutzen die Umwelt.« »Und was ist mit deiner Kippe?« Das Warten und dazu noch ihre Stimme machten ihn wütend. »Warum verziehst du dich nicht und nimmst das angeleinte Spielzeug gleich mit?« Sie sagte etwas, was ungefähr nach »Wie können Sie es wagen« klang, und marschierte unter Hinterlassung einer Aschespur davon. Er wollte eben aufgeben, da kam Nerissa zur Haustür heraus und stieg in ihr eigenes Auto.
Sie trug ein zartrosa ärmelloses Top und weiße Jeans und hatte die Haare oben am Kopf mit einem rosa Seidenband zusammengebunden. Für Mix sah sie noch reizender aus als sonst, auch wenn sie eine große schwarze Sonnenbrille aufhatte, die ihr halbes Gesicht verdeckte. Legere Kleidung stand ihr. Aber sie konnte schließlich jeden Stil tragen. Er musste unter allen Umständen hinter ihr her, auch wenn er dadurch zu spät zu seinem Termin um zwölf Uhr in der Addison Road käme. Er würde die Frau einfach anrufen und ihr sagen, er sei aufgehalten worden. Nerissa fuhr auf Notting Hill 31 Gate zu und bog dann nach Norden ab, Richtung Portobello Road, ohne diese Straße direkt anzusteuern. Stattdessen nahm sie den Westbourne Grove. Zum ersten Mal war hier ganz wenig Verkehr. Nichts drängte sich zwischen ihre beiden Autos, nichts hielt sie auf. Ganz oben mussten beide wegen Straßenbauarbeiten langsamer fahren. Er sah, wie sie den Kopf zum Fenster hinausstreckte, um zu erkennen, was eigentlich los war. Endlich hatten sie die Absperrungen und die Pylonen hinter sich. Da schwenkte sie in einer Seitenstraße urplötzlich, ohne zu blinken, in eine Parkbucht ein, warf ein paar Münzen in eine Parkuhr und rannte zur Charing Terrace Nummer dreizehn, zu einer Tür, auf der in großen Chromlettern »Shoshanas Studio für Wellness und Fitness« stand. Er konnte ihr nur noch nachstarren. Inzwischen hielt er den ganzen Verkehr auf. Unter dem wütenden Hupkonzert und den Beschimpfungen anderer Autofahrer setzte er sich schließlich widerwillig in Bewegung. Zu seinem Termin mit der Frau in der Addison Road kam er zehn Minuten zu spät. Den ganzen Weg um das große Haus herum und die Kellertreppe hinunter erteilte sie ihm eine Lektion in Sachen Pünktlichkeit, als sei sie seine Chefin und nicht seine Kundin. Beinahe hätte Mix ihr erklärt, der Fehler am Stepper käme seiner Meinung nach nicht vom häufigen Gebrauch, sondern vom Gegenteil, was ihn in Anbetracht ihrer ausladenden Figur auch nicht wundere. Doch dann verkniff er sich diese Bemerkung. Schließlich hatte sie bei Fiterama Zubehör für einen Crosstrainer bestellt und würde nach einer ungehobelten Bemerkung seinerseits vielleicht die Bestellung rückgängig machen. Das alles war längst nicht mehr wichtig, denn jetzt hatte er Nerissas Fitnessstudio herausgefunden. Das einzig Bedauerliche daran war die Hausnummer. Mix glaubte an das Übersinnliche und wurde von diffusen Ängsten geplagt. Obendrein war
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er auch noch abergläubisch, besonders wenn es darum ging, unter Leitern durchzugehen. Und um die Zahl Dreizehn machte er einen möglichst großen Bogen. Die Anfänge dieser Phobie, oder wie man es sonst nennen mochte, waren ihm unklar. Allerdings hatte Javy, den seine Mutter an einem Dreizehnten geheiratet hatte, am dreizehnten April Geburtstag. Höchstwahrscheinlich hatte er Mix auch an einem Dreizehnten so heftig verprügelt, dass er ihn beinahe umgebracht hätte. Doch daran erinnerte sich Mix nicht mehr. Für solche Überlegungen war er damals viel zu jung gewesen. Der Cockatoodle Club in Soho war überheizt, roch stark nach Rauch und grünem Thai-Curry und war nicht sonderlich sauber, jedenfalls nach Ansicht der jungen Frau, die Eds Freundin Steph für Mix mitgebracht hatte. Auch Ed arbeitete als Kundendiensttechniker bei Fiterama, war mit Mix befreundet und lebte mit Steph zusammen. Die andere fummelte ständig mit den Fingern an den Stuhlbeinen und unter dem Tisch herum und streckte sie dann betont in die Luft. »Du erinnerst mich an meine Oma«, sagte Steph. »Ein Lokal, wo man zum Essen hingeht, sollte sauber sein.« »Essen! Aber nur, wenn wir Glück haben. Unsere Garnelen haben wir schon vor über einer Dreiviertelstunde bestellt.« Die andere - sie hieß Lara und hatte Heuschnupfen,- jedenfalls schniefte sie ziemlich herum - schickte ihre Finger wieder auf Staubinspektion unter den Tisch. Steph zündete sich eine Zigarette an. Mix, der Raucher nicht leiden konnte, rechnete nach. Seit dem Betreten des Lokals musste das ihre achte sein. An normale Unterhaltung war bei der lauten Hip-Hop-Musik nicht zu denken. Wer sich Gehör verschaffen wollte, musste schreien. Wie Steph mit ihrer geschädigten Lunge damit zurechtkam, war Mix schleierhaft. Er stellte sich vor, wie ihre ganzen inneren Flimmerhärchen platt auf dem Gewebe 32 lagen. Die Bedienung brachte Garnelencurry für die Mädels und Bauernomelette für die Männer. In dem Moment berührte Laras herumwandernder Finger sein Knie und zuckte zurück, als hätte Mix sie gestochen. Sie schauten einander böse an. Dieser Lärm. Diese schreckliche Frau. Und dann roch auch noch das Omelette, als hätte sich grüner Curry hineinverirrt. Am liebsten wäre Mix heimgegangen. Für so etwas war er definitiv zu alt,
auch wenn er eigentlich noch gar nicht sehr alt war. Lara meinte, die Klamotten der Bedienung seien eine Beleidigung für alle weiblichen Gäste. »Warum? Sie sieht nett aus. Mir gefällt ihr Rock.« »Ja, das passt zu dir, Ed. Genau das meine ich damit. Wenn du mich fragst, dann hat das Ding mehr Ähnlichkeit mit einem Gürtel als mit einem Rock.« »Ich habe dich aber nicht gefragt«, brüllte Ed aus vollem Hals. »Und was die Beleidigung betrifft, ich schau sie mir doch nur an. Ich werde sie nie nicht vernaschen.« »Würdest du aber gern.« »Ach, halt die Klappe«, sagte Steph und nahm Ed zärtlich bei der Hand. Obwohl es keinem sonderlich viel Spaß machte, blieben alle. Ed spendierte eine Flasche Krimsekt und versuchte, mit Steph zu tanzen. Leider war es auf der winzigen Tanzfläche so voll, dass man kaum stehen konnte, geschweige denn sich bewegen. Lara fing wieder an zu niesen und putzte sich mit ihrer Serviette die Nase. Um zwei Uhr brachen sie auf. Erst jetzt hatte keiner mehr das Gefühl, der Himmel würde einstürzen, wenn man früher heimginge. Mix versank in einen seiner lebhaften Tagträume, der diesmal ziemlich rachsüchtig ausfiel. Darin nahm er Lara im Auto mit, doch anstatt sie in ihre Wohnung nach Palmers Green zu fahren, was für einen Typen, der in Notting Dale wohnte, zu dieser Tageszeit eine nette Strecke 33
war, brachte er sie nach Victoria Park oder London Fields hinauf, wo er sie aus dem Wagen stieß. Sollte mal sehen, wie sie von hier aus heimkäme. Wenn sie nicht vorher einem der irren Mörder zum Opfer fiele, die sich dort angeblich herumtrieben. Reggie, Reggie hätte es ihr besorgt, dachte er. Während sie stumm nach Hornsey hinauffuhren, malte sich Mix aus, wie Reggie sie zum Rillington Place gelockt hätte, indem er angeblich ihren Heuschnupfen mit seinem Inhalator behandeln wollte. Stattdessen hätte er sie betäubt. Er hätte sie in seinem Liegestuhl Platz nehmen und dann das Chloroform einatmen lassen ... »Warum hast du dich so widerlich benommen?«, wollte sie wissen, nachdem er ihr kühl »Gute Nacht« gewünscht und die Beifahrertür aufgehalten hatte. Statt einer Antwort wandte er sich ab. Sie sperrte die Haustür von Nummer dreizehn - was sonst? - auf und warf sie mit einem Knall hinter sich zu. Wahrscheinlich wohnten mindestens noch zehn Parteien in diesem Haus. Jetzt waren alle hellwach. Als sich Mix wieder hinters Lenkrad setzte, hatte er den Eindruck, als würde das ganze Viertel nachbeben.
Die Nacht war kalt. Hier draußen waren die Windschutzscheiben der geparkten Autos beschlagen. Da er sich in dieser Gegend nicht sonderlich gut auskannte, verpasste er seine Abzweigung und fand sich erst nach schier endlosem Herumfahren auf der Rückseite des Bahnhofs King's Cross wieder. Egal, er würde die Marylebone Road nehmen und dann die Überführung. Hier war Tag und Nacht etwas los. Der Verkehr riss nie ab. Die Nebenstraßen lagen dagegen verlassen da, und die Lampen, die eigentlich alles hätten aufhellen müssen, wirkten härter und bedrohlicher als die Dunkelheit. Dreimal musste er die St. Blaise Avenue entlangfahren, bis er einen für die Anwohner reservierten freien Parkplatz fand. Zu dieser nächtlichen Stunde drängten sich auf der Straße die 34
geparkten Autos, aber keine Leute. Zwischen den Säulen und unter dem Portikus war es so finster, dass er erst nach einer Weile das Schloss fand und den Schlüssel hineinstecken konnte. Beim Durchqueren der Eingangshalle erblickte er sich in dem großen Spiegel wie einen Fremden, der im Halbdunkel zur Unkenntlichkeit verschwamm. Sämtliche Lampen im Treppenhaus waren mit Zeitschaltuhren verbunden und gingen nach gut fünfzehn Minuten aus, das hatte er einmal ausgerechnet. Die Hängelampen in der Halle und im Treppenhaus waren mit so schwachen Glühbirnen bestückt, dass sich in den vor ihm liegenden Kurven und Windungen große dunkle Flecken dehnten. Er machte sich an den Aufstieg und verfluchte dabei die lange Treppe. Er war sehr müde, ohne dass er den Grund dafür gekannt hätte. Vielleicht lag es am emotionalen Stress, dem er ausgesetzt gewesen war, während er Nerissa aufgespürt und ihr Fahrtziel entdeckt hatte, vielleicht aber auch an Lara, die das totale Gegenteil zu ihr gewesen war. Mit schmerzenden Wadenmuskeln schleppte er sich mühsam dahin. Zwei Treppen höher, wo Miss Chawcer im ersten Stock hinter einer großen, weit zurückgesetzten Eichentür schlief, wurde das Licht noch matter und erlosch noch schneller. Man sah nicht einmal bis zum nächsten Absatz. Schwarzdunkle Schatten verbargen das zweite Stockwerk. Das Haus mit den hohen Räumen war so riesig, dass man selbst an einem strahlend schönen Tag ein mulmiges Gefühl bekam. Nachts verwandelten sich die geschnitzten Girlanden aus Blumen und Früchten in Gespensterfratzen, und in der Stille bildete er sich ein, er könne aus den dunkelsten Ecken leises Seufzen vernehmen. Während er wie immer heftig keuchend hinaufschlich, kam es, wie es in solchen Situationen kommen musste: Ihm fiel ein, dass er
irgendwie doch an Geister glaubte. Im Zusammenhang mit gewissen alten Häusern 35 hatte er oft erklärt, hier würde er um nichts in der Welt eine Nacht verbringen, auch wenn er nicht an Geister glaube. Irgendwie hatte er sich angewöhnt, die Stufen der letzten Treppe zu zählen, als könne er dadurch die Zahl Zwölf oder Vierzehn erzwingen. Solche Gewohnheiten schliffen sich ein. Kaum hatte er den Schalter am Fuß der Treppe gedrückt, begann er ganz automatisch zu zählen. Doch er war noch nicht bei drei angelangt, da bildete er sich ein, er würde am Treppenende im müden Lampenschein eine Gestalt erblicken. Dort oben stand ein ziemlich großer Mann mit einer Hakennase, in dessen Brille sich das bunte Licht vom Isabellafenster bündelte. Er stieß ein leises Wimmern aus, so wie man es in schlechten Träumen tut, wenn man glaubt, man würde laut aufschreien. Gleichzeitig presste er die Augen zusammen. So stand er mit ausgestreckter Hand da, bis es hinter seinen Lidern dunkler wurde. Die Lampe war erneut erloschen. Er machte einen Schritt rückwärts, drückte wieder den Lichtschalter, öffnete die Augen und schaute hin. Die Gestalt war weg - wenn es sie überhaupt gegeben haben sollte, wenn er sich das Ganze nicht nur eingebildet hatte. Trotzdem musste er seinen ganzen Mut zusammennehmen, um die Treppe hinaufzusteigen und seine Wohnung zu betreten, vorbei an der Stelle, wo die Gestalt gestanden hatte, quer über die Flecken vom Isabellafenster. Ein strahlender Morgen mit Sonnenschein vertrieb den nächtlichen Spuk. Mix schlief aus. Es war Samstag. Da lag er in der stickigen Wärme seines überheizten Schlafzimmers und beobachtete eine Taubenschar, einen einsamen, tief fliegenden Reiher und ein Flugzeug, dessen Abgase eine Wölkchenschnur über den blauen Himmel zogen. Jetzt konnte er sich die Gestalt auf der Treppe als Halluzination oder als optische Täu 35
schung durch das bunte Glasfenster erklären. Alkohol und Dunkelheit spielten dem Bewusstsein üble Streiche. Er hatte ziemlich getrunken, und dann noch Laras Wohnhaus mit der Nummer dreizehn. Das hatte ihm den Rest gegeben. Als er aufstand, um sich einen Tee zu kochen und mit ins Bett zu nehmen, sah er tief unten Ottos dunkelbraune Silhouette. Er hockte auf einer der bröckelnden Gartenmauern mit windschiefen Spalieren, an die sich uralte Bäume lehnten. An diesen Garten schloss sich ein fast genauso verwilderter an, in dem zwei Perlhühner mit aufgeplustertem grauem Federkleid zwischen
dürren Unkrautstängeln und Dornenranken herumscharrten. Otto ließ diese Perlhühner stundenlang nicht aus den Augen und überlegte sich, wie er sie fangen und fressen könnte. Trotz seiner Abneigung gegen den Kater hatte Mix ihn dabei oft beobachtet, denn insgeheim hoffte er, die Jagd und das blutige Ende mitzuerleben. Aller Wahrscheinlichkeit nach war das Halten von Federvieh nicht gestattet, aber die städtischen Behörden hatten von der Existenz dieser Tiere keine Ahnung, und kein Nachbar verlor je ein Wort darüber. Er holte seine Nerissa-Sammelalben aus einer Schublade und nahm sie mit ins Bett. An diesem schönen Vormittag könnte man wunderbar ihr Haus und vielleicht ihren Fitnessclub fotografieren. Dabei ergäbe sich vielleicht die Chance auf ein Wiedersehen. Während er die Seiten mit seiner Sammlung von Fotos und Zeitungsausschnitten über Nerissa umblätterte, malte er sich aus, wie er sie kennenlernen könnte, richtig kennenlernen. Dabei würde er sie an ihre erste Begegnung erinnern. Eine Party, bei der sie zu Gast wäre und für die auch er sich eine Einladung besorgen könnte, böte dafür genau die richtige Gelegenheit. Allmählich quälten ihn Zweifel. Hatte sie ihn vielleicht draußen vor ihrem Haus gesehen und gewusst, dass er ihr bis zum Fitnessclub gefolgt war? Er musste vorsichtiger sein. 36 Könnte er Colette Gilbert-Bamber zu einer Party überreden, oder besser gesagt, könnte er sie überreden, ihn für diesen Fall einzuladen? Ein unbekannter Faktor dabei war der Ehemann, den er nie getroffen hatte. Nicht einmal ein Foto hatte Mix von ihm gesehen. Vielleicht hasste er Partys oder mochte nur ganz steife Empfänge, wo Geschäftsleute trockenen Wein und Blubberwasser tranken und über mündelsichere Staatspapiere und eine Baisse palaverten. Angenommen, die Party fände statt. Hätte er dann den Mut, Nerissa um ein Date zu bitten? Er müsste sie in ein fantastisches Restaurant ausführen. Dafür sparte er bereits. Wenn man ihn erst einmal, besser noch dreimal, mit ihr zusammen in der Öffentlichkeit gesehen hätte, wäre er ein gemachter Mann. Dann käme die Sache ins Rollen: Angebote von den Fernsehsendern, Bitten um Interviews, Einladungen zu Filmpremieren. Er musste auf Nummer sicher gehen. Noch heute Vormittag würde er im Fitnessclub anrufen und sich nach einer Mitgliedschaft erkundigen. Was wäre, wenn er herausfände, wer ihr Guru, ihr Hellseher war, oder wie man so jemanden sonst noch nannte? Das wäre noch einfacher als die Sache mit der Party. Dass sie so etwas hatte, wusste er. Es hatte in der Zeitung gestanden. Zu einem Guru brauchte er keine Einladung. Mit der nötigen Kohle könnte er
einfach dort aufkreuzen. Nerissas Termine ließen sich herausfinden, und dann könnte er seine eigenen darum herum arrangieren. Irgendwie ginge das schon. In dem Fall müsste er auch nichts vortäuschen oder irgendwelche Tricks anwenden. Gegen ein Treffen mit einem, der sich in übernatürlichen Dingen auskannte, hätte er nichts einzuwenden. Ein Guru oder ein Medium würde ihm sagen können, ob es wirklich Gespenster, Geister und Ähnliches gab oder ob solche Begegnungen nur Hirngespinste waren. Mix trank seinen Tee aus, klappte das Album zu und zwang sich zu dem hohen Drehspiegel im Edelstahlrahmen hinüber. 37
Dort kniff er die Augen zusammen und machte sie wieder auf. Nichts und niemand stand hinter ihm - was für eine unsinnige Idee! Wie er so nackt da stand, gestand er sich insgeheim ein, dass es an ihm durchaus einiges zu verbessern gab. In seinem Job und bei seinen ehrgeizigen Plänen sollte er eigentlich eine perfekte Figur haben: ausgeprägte Brustmuskeln, Hüften ohne ein Gramm Fett und einen kleinen, knackigen Po. So hatte er einmal ausgesehen. Und genau so würde es wieder werden. Dazu war er fest entschlossen. An allem waren nur die ganzen Chips und Schokoriegel schuld. Sein Gesicht war in Ordnung. Regelmäßige Gesichtszüge, blaue Augen, ein offener, ehrlicher Blick. Er sähe gut aus, meinten Colette und andere. Sie mochten seine hübschen, hellbraunen Haare mit den blonden Strähnen, das wusste er genau. Allerdings sollte er nicht so blass sein. Sie war bestimmt prächtig gebräunte Männer mit perfekten Körpern gewöhnt. Aber dafür gab es das Fitnessstudio und das Sonnenstudio an der nächsten Straßenecke. Seine Kehrseite konnte er nicht sehen, aber die Narben waren inzwischen restlos, verschwunden, das wusste er. Wirklich schade. Insgeheim schwebte ihm immer noch eine Szene vor, die er sich damals mit blutender Kehrseite ausgemalt hatte: Wie er der Polizei oder einem Sozialarbeiter zeigte, was Javy angestellt hatte, und dann erlebte, dass man ihn in Handschellen ins Gefängnis verfrachtete. Entweder das, oder wie er ihn umbrachte. Fünf Jahre war Mix als Einzelkind der Liebling seiner Mutter gewesen. Sein Vater, ihr Jugendfreund, war ausgezogen, als Mix sechs Monate alt war. Sie war erst achtzehn und liebte ihren Sohn abgöttisch. Leider gehörte ihm ihre Liebe nicht für immer allein. Als Mix fünf war, traf sie James Victor Calthorpe, ließ sich schwängern und heiratete ihn. Javy, wie ihn alle nannten, war groß, dunkel und sah gut aus. Bis auf einen gelegentlichen Klaps beachtete er Mix anfänglich herzlich wenig, und der klei
38 ne Junge glaubte, seine Mutter würde ihn noch genauso lieben wie eh und je. Dann kam das Baby auf die Welt, ein Mädchen mit dunklen Augen und dunklen Haaren. Sie nannten es Shannon. Mix war sich keiner tieferen Gefühle für dieses Baby bewusst und konnte sich auch nicht erinnern, dass sich seine Mutter um die Kleine mehr kümmerte als um ihn. Doch genau darin läge sein Problem, erklärte ihm der Psychiater, zu dem man ihn brachte, als er älter war. Er habe es seiner Mutter verübelt, dass sie ihm ihre Liebe entzogen und sie Shannon geschenkt hatte. Deshalb habe er versucht, das Baby zu töten. Mix hatte keinerlei Erinnerung an diesen Vorfall. Er wusste nicht mehr, dass er die Ketchupflasche genommen und damit auf Shannon eingeschlagen hatte. Eigentlich hatte er nur damit im Kinderbett herumgedonnert, ohne sie zu treffen. Er wusste auch nicht mehr, dass Javy ins Zimmer gekommen war. Nur an die Prügel, die ihm Javy verabreicht hatte, erinnerte er sich noch. Und dass seine Mutter dabeigestanden hatte, ohne ihn daran zu hindern. Er hatte den Ledergürtel aus seiner Jeans gezogen, Mix das T-Shirt über den Kopf gezerrt und ihm dann den Hintern verdroschen, bis es blutete. Das kam danach nie wieder vor. Allerdings verpasste ihm Javy auch weiterhin eine Ohrfeige, sobald er aus der Reihe tanzte. Für seinen Mordversuch an Shannon hatte er nur zwei Quellen: das Gespräch beim Psychiater und - Javy, der es ihm ständig unter die Nase rieb. Mit seiner kleinen Schwester und dem ein Jahr später geborenen Terry kam er eigentlich ganz gut zurecht, aber sobald Javy ihn dabei erwischte, dass er sich mit Shannon zankte oder ihr ein Spielzeug wegnahm, tischte er erneut die ganze Geschichte vom Mordversuch auf. »Du wärst heute tot«, sagte er zu seiner Tochter, »wenn ich diesen Mörderbalg nicht aufgehalten hätte.« Und meinte dann zu seinem kleinen Sohn: »Den musst du im Blick behalten, der bringt dich im Handumdrehen um.« 38 Auch durch einen Rachemord am eigenen Stiefvater könnte man berühmt werden, dachte Mix manchmal. Aber Javy hatte sie sitzen gelassen, als Mix vierzehn war. Seine Mutter heulte und schluchzte und bekam hysterische Anfälle, bis Mix die Sache satt hatte und ihr eine Ohrfeige verpasste. »Jetzt hast du wenigstens einen Grund zum Heulen«, hatte er wütend gebrüllt. »Stehst da und schaust zu, wie er mich verdrischt.« Man schickte ihn zum Psychiater, weil er seine Mutter geschlagen hatte. Er hörte, wie ihn eine Sozialarbeiterin als künftigen Gewalttäter im häuslichen
Bereich einstufte. Mit knapp fünfzig lebte seine Mutter immer noch, aber er würde sie nie wiedersehen. Samstags konnte er an der Westbourne Park Road mehr oder weniger überall parken, wo etwas frei war. Zufällig geriet er an dieselbe Parkuhr, an der Nerissa gestanden hatte. Mix war so vernarrt in sie, dass ihn das ungemein erregte. Genauso hätte er reagiert, wenn er etwas berührt hätte, was sie in der Hand gehabt hatte, oder beim Anblick eines Schildes, das sie Stunden vorher gelesen hatte. Er ging zur Tür und drückte auf die unterste Klingel. Summend ging sie auf. Dahinter befanden sich ein wenig einladender Flur, in dem es nach Räucherstäbchen roch, eine steile und schmale Treppe und ein nagelneuer, schicker Lift aus Edelstahl und Glas, genau wie sein Spiegel. Damit ging es mehrere Stockwerke hinauf. Hier oben war alles wie der Lift: schnittig, glitzernd, elegant. Mix war erleichtert. Von der Eingangshalle gingen Türen ab, auf denen »Reflexzonentherapie«, »Massage« und »Fußpflege« stand. Im Fitnessraum tummelten sich junge Leute, die sich auf Laufbändern, Indoor Bikes und Ski-Steppern abmühten. Durch ein großes Panoramafenster sah er Mädels im Bikini und Männer mit Körpern, von denen er nur träumen konnte, in und um einen 39
großen blubbernden Whirlpool herumsitzen. Eine dünne, dunkle junge Frau, die über einem Trikot einen offenen weißen Mantel trug, erkundigte sich nach seinen Wünschen. Da kam Mix eine Idee. Er erklärte, was er beruflich so mache, und fragte, ob sie jemanden zum Bedienen und Warten der Maschinen brauchten. Seine Firma denke über einen Kundendienst für Shoshanas Studio nach. »Witzig, dass Sie uns das gerade jetzt anbieten«, meinte das Mädchen. »Der Typ, der unsere Geräte eigentlich warten sollte, hat gestern das Handtuch geworfen.« »Ich denke, wir könnten einen Termin frei machen«, sagte Mix und wollte die Preise der abgesprungenen Firma wissen. Die Antwort war nach seinem Geschmack. Das konnte er unterbieten. Inzwischen keimte in ihm ein kühner Plan. Warum sollte er den Auftrag nicht privat übernehmen? Das war zwar ein strikter Verstoß gegen die Firmenregeln, aber wie sollte so etwas auffliegen? »Ich muss erst noch Madam Shoshana fragen.« Ihre Stimme stockte. Ihre glänzenden nervösen Augen erinnerten an eine Maus. »Wären Sie so nett, mich später anzurufen?« »Aber gern. Übrigens, wie heißen Sie?«
»Danila.« »Das ist mal ein witziger Name«, sagte er. Sie sah wie sechzehn aus. »Ich komme aus Bosnien. Bin aber schon seit meiner Kindheit hier.« »Bosnien, stimmt.« Dort unten hatte es Krieg gegeben, dachte er geistesabwesend, irgendwann in den neunziger Jahren. »Einen Augenblick befürchtete ich schon, Sie wollten Mitglied werden«, fuhr Danila fort. »Wir haben eine ellenlange Warteliste. Die meisten kommen zwar höchstens viermal -viermal ist der Durchschnitt -, aber dann sind sie eben eingetragen. Als Mitglieder.« 40 Mix interessierte sich nur für ein einziges Mitglied. »Ich rufe Sie dann später an«, sagte er. Und wenn Nerissa nun hier wäre? Er schlenderte zwischen den Maschinen durch. Vor jeder hing in Augenhöhe ein kleiner Bildschirm, auf dem entweder eine Quizshow oder ein uralter Zeichentrickfilm mit Tom und Jerry lief. Die meisten sahen den Trickfilm, während sie verbissen Gewichte stemmten oder in die Pedale traten. Sie war nicht hier, dazu musste er nicht näher hinsehen. Sie stach unter den anderen hervor wie ein Engel in der Hölle oder eine Rose im Abwasserkanal. Mit ihren langen Beinen, dem gazellengleichen Körper und diesen rabenschwarzen Haaren müsste sie hier drinnen für Aufsehen sorgen. Während er noch überlegte, ob er ins Kino gehen und sich später mit Ed auf einen Drink im Kensington Park Hotel treffen sollte, in Reggies Lieblingspub, das er nur KPH nannte, dachte er wieder an die Gestalt, die ihm sein Gehirn im Treppenhaus vorgegaukelt hatte. Und wenn es keine Einbildung gewesen wäre, sondern ein echter Geist? Wenn es Reggie gewesen wäre, oder besser gesagt, sein Geist, der dazu verdammt war, in seiner ehemaligen Wohngegend zu spuken? Dass Reggie weder große Ähnlichkeit mit Richard Attenborough hatte noch mit ihm, wusste Mix. Er hatte ganz anders ausgesehen, größer, schmaler, älter. In den Büchern gab es jede Menge Fotos. Als Mix versuchte, sich den Mann auf der Treppe leibhaftig vorzustellen, bekam er richtig Angst. Der Versuch scheiterte. Er wusste nur, dass es sich um einen nicht allzu jungen Mann handelte, der vielleicht eine Brille trug. Jawohl, die Brille konnte er sich unmöglich eingebildet haben, oder? Das war nie und nimmer seiner Fantasie entsprungen.
Vielleicht war Reggie zu Lebzeiten im St. Blaise House gewesen. Warum auch nicht? Miss Chawcer war ihm entwischt, aber vielleicht hatte er sie bis hierher verfolgt. Mix kannte 41
Reggies Leben nach dessen Umzug nach Notting Hill bis ins kleinste Detail. Er malte sich aus, wie sie wegen einer Abtreibung zum damaligen Rillington Place ging und dann kalte Füße bekam und fortlief. Glück gehabt. Hatte Reggie versucht, ihr einzureden, sie solle es ihn in ihrem eigenen Haus erledigen lassen? Nein, schließlich musste er ja die Leiche loswerden. Er kam her, um sie zu einem zweiten Besuch zu überreden ... Gab es wirklich Geister? Und wenn ja, hatte er den Geist des Mörders gesehen? Warum war er zurückgekommen? Und warum hierher und nicht an den Rillington Place, der für so viele Frauen zum Friedhof geworden war? Der Grund dafür lag ziemlich auf der Hand. Nach all den Umbauten, während denen man Reggies dreistöckiges viktorianisches Haus und alle anderen bis aufs Fundament abgerissen hatte, würde er den Platz nicht mehr wiedererkennen. Die ganzen schicken neuen Häuserreihen, die Bäume und die »heitere« Atmosphäre hätten ihm eine Rückkehr ein für alle Mal vergällt. Er hätte sich zu dem Haus in Oxford Gardens begeben können, wo Ruth Fuerst ein Zimmer gehabt hatte, sein erstes Opfer. Ihren Oberschenkelknochen hatte man als Stütze an Reggies Gartenzaun entdeckt. Oder er hätte den Wohnort seines zweiten Opfers, Muriel Eady, aufsuchen können. Sie hatte in Putney gewohnt. Aber St. Blaise House lag näher und hatte sich nicht verändert. Das würde ihm gefallen, ein Haus, das noch genauso aussah wie in den vierziger und fünfziger Jahren. Dort würde er sich wohl fühlen. Außerdem hatte er hier noch eine offene Rechnung zu begleichen. Sie war inzwischen alt, ganz im Gegensatz zu Reggie. Er war noch genauso jung wie damals, als man ihn aufgehängt hatte, und würde es immer bleiben. Aller Wahrscheinlichkeit nach musste er wiederkommen und die alte Chawcer finden und sie dann an jenen unbekannten Ort mitnehmen, woher er kam, 41
oder? Schluss mit solchen Gedanken, sagte Mix zu sich selber, während er die zweiundfünfzig Stufen hinaufstieg, sonst fürchtest du dich noch zu Tode. 41
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Nerissa Nash machte sich in ihrem Haus am Campden Hill Square für einen Besuch bei ihren Eltern zum Abendessen fertig. Wäre sie zu ihrer Mama allein
gefahren, während ihr Papa in der Arbeit war, hätte sie nur Jeans, Stiefel und einen alten Pulli unter ihrem Schaffellmantel angezogen. Aber ihr Papa liebte es nun mal, wenn sie sich feinmachte. Er war so stolz auf sie. Ihr Leben lag restlos außerhalb der Begriffswelt ihrer Eltern, doch darüber machte sie sich keine Gedanken. Sie nahm einfach an, dass sich alle nach einem solchen Leben sehnten, auch wenn es nicht für jeden erreichbar war. Ein Leben, eingegrenzt auf Körper, Gesicht und Haare - auf dem Kopf eine wahre Mähne und sonst nirgends ein Härchen -, ein Leben zwischen Kleidern, Kosmetika, Schönheitsmitteln, Homöopathie, Fitness, Massage, Mineralwasser, Salat, Vitaminpillen, alternativer Medizin, Astrologie, Besuchen beim Wahrsager, dem Vorbild und dem Leben anderer VIPs, ihren Eltern und Geschwistern. Von Musik verstand sie nur sehr wenig, von Malerei, Büchern, Oper, Ballett, wissenschaftlichen Erkenntnissen und Politik hatte sie keine Ahnung und auch kein Interesse daran. Anlässlich ihrer Auftritte bei Modenschauen hatte sie sämtliche größeren Hauptstädte der Welt besucht und doch immer nur Studios, die Umkleideräume der Designer, Clubs, Fitnesscenter, Massagestudios und ihr eigenes Gesicht im Spiegel der Make-up-Spezialisten gesehen. Ihrem Leben fehlte nur eine winzige Kleinigkeit, aber sonst war sie ungemein glücklich. 42
Irgendwie hatte sie von beiden Elternteilen ein sonniges Gemüt geerbt, die Fähigkeit, sich an einfachen Dingen zu freuen, und einen liebenswürdigen Charakter. Es hieß, Nerissa täte alles, um einem Freund zu helfen. Und sie genoss fast alles, was sie tat, besonders wenn sie mit zurückgesteckten langen Haaren und einem weißen Baumwollcape über ihrem Hosenanzug von Versace vor ihrem riesigen Frisiertisch saß und sich schminkte. Im CD-Player sang Johnny Cash gerade ihren Lieblingssong und den ihres Papas. Jene Ballade über die Teenage Queen, das hübscheste Mädchen in der ganzen Stadt, die den Nachbarjungen liebte, der im Süßwarenladen arbeitete. Mit dieser erfolgreichen Schönheit identifizierte sich Nerissa fast vollständig. Da ihr Papa sie gern mit offenen Haaren sah, beließ sie es dabei. Schade, dass es heute nicht kalt war, sonst hätte sie ihren neuen Kunstpelzmantel angezogen, der wie ein Polarfuchsfell aussah. Echter Pelz kam für sie nicht in Frage, dazu liebte sie Tiere viel zu sehr. Allein beim Gedanken daran schüttelte es sie. Nein, ein Kleid aus einem dünnen Seidenstoff wäre besser. Sie ließ das Cape zu Boden fallen, wobei sie unabsichtlich einen Dosendeckel und drei Ohrringe vom Schminktisch fegte. Was sollte sie ihren Eltern mitbringen? Leider war sie nicht zum Einkaufen gekommen. Sie hatte fast den
ganzen Tag im Fitnessstudio trainiert. Zwei Flaschen Champagner wanderten aus dem Getränkeregal. Dabei fiel ein Becher mit Knabberstangen heraus, dessen Inhalt sich überall verteilte. Dann noch die riesige Pralinenschachtel, ein Geschenk von Rodney. War er nicht süß? Trotzdem musste er verrückt sein, wenn er sich einbildete, dass sie Schokolade auch nur eines Blickes würdigte. Hinter Nerissa zog sich eine Abfallspur durchs Haus. Sogar die Blumen kippten aus der Vase. Zeitschriften purzelten aus dem Ständer, überall lagen zerknüllte Papiertaschentücher 43 herum, auch unter den Tischen, Lampen fielen um, Glas zerbrach, und auf dem Teppichboden und den Fensterbänken glitzerte es verdächtig nach Schmuck. Ihrer Putzfrau Lynette machte das dank der großzügigen Bezahlung nichts aus. Sie ging durchs ganze Haus, hob alles wieder auf, bewunderte hier einen Ring und da eine Flasche Parfüm. Wenn Nerissa daheim war, bekam sie die Sachen oft sogar geschenkt. Es goss wie aus Kübeln. Nerissa zog einen weißen Lackmantel über ihr seidenes Hängekleidchen und verschwand samt Champagner und Pralinen mit einem Satz im Auto. Ihr nasser weißer Schirm, auf dem die Strandpromenade von Nizza abgebildet war, flog auf die Rückbank. Am Holland Park hielt sie an einer gelben Doppellinie, um für ihre Mama Blumen zu kaufen: Orchideen, Calla, Rosen und irgendwelches lustiges Grünzeug, dessen Namen nicht einmal der Florist kannte. Wie immer hatte sie Glück. Sämtliche Politessen saßen drinnen vor dem Fernseher und schauten die Klinikserie »Casualty«. Sie würde zu spät kommen - wann kam sie nicht zu spät? -, aber das würde Papa nichts ausmachen. Er aß sowieso lieber um neun Uhr statt um acht. Sie wohnten in Acton, in einer Straße mit Doppelhäusern im Pseudotudorstil. Ihr Haus hatte über der Garage ein zusätzliches Schlafzimmer. Hier war Nerissa mit ihren Brüdern aufgewachsen, hier waren sie zur Schule und ins Kino gegangen und hatten in den Läden am Ort eingekauft. Beide Brüder waren älter als Nerissa und bereits verheiratet. Als sie angefangen hatte, viel Geld zu verdienen, wollte sie ihren Eltern unbedingt ein Haus in der Nähe ihres eigenen kaufen, vielleicht ein schickes Cottage in der angesagten Pottery Lane. Leider hatten beide nichts davon wissen wollen. Sie fühlten sich in Acton wohl. Sie mochten ihre Nachbarn, ihr Viertel und ihren großen Garten. Hier in der Nähe lebten ihre ganzen Freunde. Von hier wollten sie nicht weg. Außerdem hatte ihr Vater im
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Garten drei Goldfischteiche angelegt, einen im Vorgarten und zwei nach hinten hinaus. Wo könnte er in der Pottery Lane einen Teich haben, geschweige denn drei? Heute Abend waren die Goldfische putzmunter. Sie liebten Regen. Als sie klingelte, kam ihr Vater zur Tür. Nerissa umarmte erst ihn stürmisch, dann ihre Mutter, und überreichte ihre Geschenke, die wie immer enthusiastisch angenommen wurden. Sie, die nie Alkohol trank, sondern nur stilles Wasser, genoss jetzt begeistert eine Tasse starken Yorkshire-Tee. Manchmal hatte sie das viele Wasser satt, das man ihr auf Schritt und Tritt aufdrängte. Ihre Mutter bat immer mit demselben Satz in einem schrecklichen französischen Akzent zum Abendessen. Nerissa hätte sich ernsthaft Sorgen gemacht, wenn sie mit dieser Gewohnheit gebrochen hätte. »Mademoiselle, est servie.« Solche Gerichte aß sie nur bei Besuchen in ihrem Elternhaus. Die übrige Zeit stocherte sie in Restaurants im Salat und zu Hause in Grapefruits herum und knabberte japanische Reiscracker. Manchmal empfand sie es als Wunder, dass ihr Magen urplötzlich legierte Suppe, Semmeln und Butter, Braten mit Kartoffeln, Eierstich und Rosenkohl ohne schädliche Nebenwirkungen verdauen konnte. Ihre Mutter glaubte, sie esse immer so. »Meine Tochter kann essen, was sie will«, erzählte sie Freunden. »Sie nimmt nie ein Gramm zu.« Als sie bei Eistorte und Apfel-Charlotte angekommen waren, erkundigte sich Nerissa bei ihrer Mutter nach ihren Nachbarn, mit denen sie eng befreundet waren und fast schon verwandtschaftliche Beziehungen pflegten. »Ich glaube, gut«, sagte ihre Mutter. »Die letzten Tage habe ich sie nicht viel gesehen. Sheila hat einen neuen Job, das weiß ich. Ach ja, Bill hat vom Krankenhaus erfahren, dass alles in Ordnung ist.« 44 »Das klingt gut.« Vorsichtig fuhr Nerissa fort: »Und der Sohn? Wohnt er immer noch daheim?« »Darel?«, meinte ihr Vater. »Wirklich ein Junge mit ausgezeichneten Manieren. Er wohnt immer noch zu Hause. Allerdings hat mir Sheila erzählt, dass er dabei ist, sich eine Wohnung im Hafenviertel zu kaufen. Er meint, es sei Zeit auszuziehen.« Nerissa wusste nicht recht, ob sie das für eine gute oder für eine schlechte Nachricht halten sollte. Bei jedem Essen im Elternhaus hoffte sie immer, Darel Jones würde läuten, um sich ein paar Teebeutel auszuleihen oder ein
geborgtes Buch zurückzubringen. Obwohl ihre Eltern und die Familie Jones nach Aussage ihrer Mutter ständig »beieinander ein und aus gingen«, hatte er so etwas noch nie gemacht. Sie malte sich aus, wie er gerade nebenan mit seinen Eltern vor dem Fernseher saß oder mit einem fremden Mädchen ausging. Letzteres war bei einem sehr gut aussehenden, charmanten Achtundzwanzigjährigen wohl eher der Fall. Sie seufzte und lächelte dann. Schließlich sollten ihre Eltern nichts merken. Gwendolen wurde selten von Schuldgefühlen geplagt. Ihrer Ansicht nach hatte sie bis zum heutigen Tag ein einwandfreies, absolut integres Leben geführt. Das Betreten und Durchsuchen der Wohnung eines Mieters in dessen Abwesenheit fiel für sie unters Mietrecht. Und wenn sie dabei noch auf ihre Kosten kam, umso besser. Die Sache hatte nur einen kleinen Haken: Nach jedem Treppenabsatz musste sie stehen bleiben und tief Luft holen. Der trank aber viel! Seit ihrer letzten Visite hier oben waren eine leere Ginflasche, eine Wodkaflasche und vier Weinflaschen in die Recyclingkiste gewandert. Offensichtlich aß er nur selten zu Hause. Der Kühlschrank war fast leer und roch nach Desinfektionsmittel. Auf dem Couchtisch lag ein großes 45 Buch mit Ledereinband. An Büchern kam Gwendolen nur schwer vorbei, ohne sie aufzuschlagen. Und genau das tat sie nun. Nur Fotografien von einer jungen schwarzen Frau in ganz kurzen Röcken oder Badeanzügen. Vielleicht war das mit Pornographie gemeint. Unter diesem Begriff hatte sie sich noch nie so richtig etwas vorstellen können. Neben dem Buch lag eine Ausgabe des »Daily Telegraph« von gestern. Gwendolen schätzte den »Telegraph« und hätte ihn selbst gekauft, wenn er nicht so entsetzlich teuer gewesen wäre. Dass Cellini so etwas gekauft hatte, verblüffte sie. Eines dieser billigen Boulevardblätter hätte besser zu ihm gepasst. Wenn sie gewusst hätte, dass er dieses Exemplar geschenkt bekommen hatte, wäre sie nicht überrascht gewesen. Ed hatte darin einen Artikel über Fitnessgeräte entdeckt, in dem Fiterama ausdrücklich erwähnt wurde, und die Zeitung weitergegeben. Gwendolen hatte eine Schwäche: Bücher und alles Gedruckte. Das musste sie einfach lesen, wenigstens teilweise. Den Artikel über Fitnessgeräte würdigte sie keines Blickes. Stattdessen las sie die Aufmacherseite und dann die Seite zwei. Es ging ziemlich gut, auch wenn sie gerne ihre Lupe zur Hand gehabt hätte. Als sie zu der Rubrik mit Geburten, Hochzeiten und Todesfällen kam, legte sie die Zeitung weg, ging zur Tür und lauschte. Obwohl er nur ganz
selten mitten am Tag wiederkam, war Vorsicht angebracht. Wie ordentlich alles war! Der Vergleich zwischen ihnen beiden amüsierte sie: Er, der penible Sauberkeitsfanatiker, würde als alte Jungfer gelten, während man ihr eher maskuline Attribute wie kultiviert und weltläufig zuordnen würde. Für Hochzeiten und Geburten hatte sie sich noch nie sonderlich interessiert. Stattdessen wanderte ihr Blick über die Spalte mit den Todesanzeigen. Das Lesen strengte sie wirklich ungemein an. Diese Leute hatten einfach kein Durchhaltever 46
mögen mehr. Tagtäglich starben Menschen, die viel jünger waren als sie. Anderson, Arbuthnot, Beresford, Brewster, Brown, Carstairs - sie hatte einmal eine Mrs. Carstairs gekannt. Sie hatte weiter unten in der Straße gewohnt, aber sie war es nicht, die hier in der Zeitung stand. Sie hatte Diana geheißen und nicht Madeleine. Davis, Edwards, Egan, Fitch, Graham, Kureishi. Gleich drei Nolan, sehr merkwürdig. Das war doch kein häufiger Name. Palmer, Pritchard, Rawlings, Reeves -Reeves! Was für ein ungewöhnlicher Zufall! Da blätterte sie nun seit Monaten zum ersten Mal im »Telegraph«, und was fand sie? Die Todesanzeige seiner Frau, denn darum handelte es sich eindeutig: »Am 15. Juni verstarb im Alter von 78 Jahren Eileen Margaret Reeves, die geliebte Gattin von Dr. Stephen Reeves aus Woodstock, Oxon. Trauergottesdienst am 21. Juni in St. Bede, Woodstock. Von Blumen bitten wir abzusehen. Spenden zugunsten der Krebsforschung erbeten.« Diese kleine Schrift konnte man nur äußerst mühsam entziffern. Trotzdem gab es keinen Zweifel. Würde er es merken, wenn sie diese Todesanzeige ausschnitt? Vielleicht, aber was sollte er schon dagegen machen? Jetzt musste sie nur noch eine Schere finden. Ihre eigene könnte im Badezimmerschränkchen liegen oder im selten benutzten Backofen, der als Stauraum nützlich war, oder irgendwo in den Bücherregalen. Eine alte Jungfer seines Schlages würde so etwas zusammen mit unnützen Gerätschaften wie Kartoffelschäler und Flaschenöffner - Letztere besäße er sicher in doppelter und dreifacher Ausfertigung - fein säuberlich in einer Schublade aufbewahren. Gwendolen stöberte in Mix' Küche herum, wobei sie sich besonders der Mikrowelle widmete, deren Funktion ihr ein Rätsel war. Spuckte dieses Gerät Toasts aus, oder machte es 46
Musik? Vielleicht handelte es sich sogar um eine winzige Waschmaschine. Die Schere entdeckte sie genau an der vermuteten Stelle. Sie schnitt die Todesanzeige der Frau aus, um sie nachher drunten mit Hilfe ihrer Lupe genüsslich studieren zu können. Sie hatte es gerade noch geschafft. Während sie die letzte Treppe hinunterging, sperrte er die Haustür auf. »Guten Abend, Mr. Cellini.« »Hallo«, rief Mix, dem immer noch durch den Kopf ging, wie sie als Schwangere bei Reggie Hilfe gesucht hatte. »Wie geht's denn? Alles in Ordnung?« Als er im Wellnesscenter anrief, berichtete ihm das Mädchen namens Danila, Madam Shoshana sei einverstanden, dass er die Wartung der Geräte übernehme. Er möge doch in der nächsten Zeit vorbeikommen und einen seiner Wartungsverträge mitbringen. Mix bastelte unter dem Firmenlogo »Mix -Service und Wartung« - darauf war er mächtig stolz - einen Vertrag zusammen und druckte zwei Kopien aus. Während die Tage verstrichen, steigerte sich seine Angst, anstatt abzuflauen. Obwohl er die Gestalt auf der Treppe nicht wieder gesehen hatte, bildete er sich mitunter ein, er würde Geräusche hören, die eigentlich nicht hierhergehörten: Schritte auf dem langen Flur, ein merkwürdiges Rascheln, als würde jemand aus einer Tüte zusammengeknülltes Papier ziehen oder umgekehrt, und einmal ganz kurz Musik. Letztere hätte allerdings auch von der Straße hereindringen können. Nachts musste er allen Mut zusammennehmen, um das Haus zu betreten. Noch schlimmer war diese Treppe, die er schon immer gehasst hatte. Sobald er St. Blaise House erreichte, zwang er sich, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und die Eingangshalle zu betreten, während die matte Beleuchtung anging. Versuch, nicht 47
daran zu denken, redete er sich während der ersten Stufen ein. Denk an Nerissa und daran, wie du wieder so fit wirst, wie sie dich gerne hätte. Warum besorgst du dir kein Trimmrad? Fiterama gibt dir so etwas zum Einkaufspreis. Geh joggen, stemm Gewichte. Seinen Kunden erklärte er immer, wie sehr sie körperlich von den Übungen an den Fitnessgeräten profitieren würden. Mach dir das doch mal selbst klar, dachte er. Und versuch mal, diese Stufen positiv zu sehen. Jeder Schritt nach oben ist eine gute Übung. Dies funktionierte wie eine Therapie, bis er zu dem Absatz unterhalb der gefliesten Treppe kam. Mattes, gebrochenes Licht fiel durch die Zweige und
Blätter des Baumes und die blinden Paneele des Isabellafensters und sprenkelte ihn im Vorbeigehen mit bunten Farbflecken. Wie eine verschmierte Kreidezeichnung zeichnete sich das Bild in dieser windstillen Nacht fast reglos auf dem obersten Flur ab. Vom Treppenende gingen leer und still zwei lange schwarze Korridore ab. Alle Türen waren geschlossen. Noch einmal knipste er das Licht an und starrte furchtsam nach links den Flur hinunter. Aus einer der Türen, die sich wie von selbst öffnete und schloss, tauchte die Katze auf. Er sah, wie sie mit funkelnden grünen Augen seelenruhig auf ihn zuspazierte. Dann war sie auch schon fauchend an ihm vorbei und lief Richtung Treppe. Wer oder was hatte die Tür geöffnet? Er stürzte in seine Wohnung und tastete hastig nach dem Lichtschalter. Endlich. Erst als es plötzlich ganz hell war, stieß er einen langen Seufzer aus und atmete erleichtert auf. Er hatte schon von Katzen gehört, die gelernt hatten, wie man Türen öffnet. Allerdings hatte seine Wohnung keine Türklinken, sondern nur Drehknöpfe. Vielleicht war es bei dieser anderen Tür anders, doch das würde er unter keinen Umständen persönlich überprüfen. Die fragliche Tür musste eine Klinke haben. Otto, dieser schlaue Teufel, hatte bestimmt gelernt, dass er sich auf die 48
Hinterbeine stellen und die Klinke mit seinen Krallenpfoten niederdrücken musste. Wer hatte die Tür zugemacht? Türen gehen von selbst zu, redete er sich ein. Das passiert ständig. Nach einem heiteren Fernsehfilm, ein Hollywoodmusical jüngeren Datums, einem Becher heißer Schokolade mit einem Schuss Whisky und drei Schokokeksen war er wieder ganz der Alte. Trotzdem würde nach dem Einstieg in sein Fitnessprogramm mit diesen Ess- und Trinkgewohnheiten Schluss sein müssen. In der Wohnung war es warm, aber nicht zu heiß. 27 Grad. Genauso mochte er es: Wärme, Süßigkeiten, die satt machen, eine dicke, weiche Matratze, faulenzen und nichts tun. Warum taten einem alle schönen Dinge nicht gut? Die Katze und ihre Augen waren für die Dauer des Musicals verbannt. Über seinem Kopf und draußen vor der Wohnungstür regte sich nichts. Als der Fernseher aus war, störte nur das Rauschen des Verkehrs auf dem Westway die Stille. Er fühlte sich besser. Er gratulierte sich zu seiner - wie hieß das noch mal? -, zu seiner Widerstandskraft. Aber als er im Bett lag und die Nachttischlampe aus war, dachte er wieder an die Katze und die Tür und kniff die Augen fest vor der Dunkelheit zu, obwohl hier ganz gewiss nichts zu sehen war.
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Am anderen Morgen war ihm beim Aufwachen bewusst, dass er sich letzte Nacht gefürchtet hatte. Trotzdem musste er sich einen Augenblick lang erst wieder auf den Grund dafür besinnen. Als er den Sonnenschein sah und im Garten neben dem Perlhuhnbesitzer Kinder spielen hörte, verringerte sich die Angst, und die Erinnerung daran verblasste. Es gab nur eine Möglichkeit: Otto hatte die Tür selbstständig geöffnet. Danach war sie von selbst wieder zugefallen. Er stand auf, duschte und brach zu einem Spaziergang auf. Das sei ein guter Start für ein Fitnessprogramm, redete er sich ein. Doch vor dem ersten Schritt ging er ziemlich vorsichtig durch den Flur auf jene Zimmertür zu, aus der vermutlich die Katze gekommen war. Na also, hier hinten hatten alle Türen Klinken. Ungemein erleichtert brach er auf. Er fühlte sich, als hätte er soeben eine wunderbare Neuigkeit erfahren und nicht nur eine Tatsache entdeckt, die er im Grunde längst kannte. Jetzt aber marsch. Weg mit den Flausen, im direkten wie im übertragenen Sinn. Er musste Sonnenschein und Energie tanken. In der Nähe des Klosters stand eine große katholische Kirche. Als er daran vorbeikam, blieb er einen Moment stehen und beobachtete die Leute, die zur Messe gingen. Es waren viel mehr, als er je gedacht hätte. Er verspürte einen Hauch von Bedauern und Wehmut. Diesen Menschen wären seine Probleme, Zweifel und Ängste fremd. Sie hatten ihre Religion und damit etwas, wohin sie sich wenden konnten, einen wie auch immer gearteten Trostspender. Wenn sie einen Geist erblickten oder Schritte und Türengeklapper hörten, würden sie laut 49
ihren Gott anrufen oder den passenden Fluch ausstoßen. In den Märchen funktionierte so etwas normalerweise. Als Kind war er religiös gewesen. Damals hatte seine Großmutter noch gelebt und ihn in die Kirche mitgenommen, aber das war lange her und für immer vorbei. Seither hatte er an so etwas keinen Gedanken mehr verschwendet. Ihm war jeglicher Glaube abhanden gekommen. Wenn er mit den anderen hineinginge und ein himmlisches Wesen um Hilfe bäte, käme er sich töricht vor und würde sich schämen. Ähnlich würde es ihm ergehen, wenn er sich an ihren Vikar wandte. Oder hieß es Priester? Mix konnte sich weder vorstellen, wie er diesem Mann sein Problem erklärte, noch dessen Antwort darauf. Das war ihm zu hoch. Montags und dienstags hatte er in der Arbeit viel zu tun, worüber er zum ersten Mal erleichtert war. In Bayswater wurde in einer Erdgeschosswohnung ein neues Laufband angeliefert, das er aufstellen und vorführen musste. Nach
einem halben Dutzend Schritten darauf war er trotz seines Spaziergangs außer Atem. Obendrein musste er sämtliche Hilferufe wegen kaputtgegangener Geräte und E-Mails mit Reklamationen oder Mahnungen beantworten. Am zweiten Abend kam er endlich dazu, Shoshanas Studio für Fitness und Wellness zu besuchen, wo er Danila erklärte, er wolle sich einen Überblick verschaffen und einen Serviceplan aufstellen. Er stand kurz davor, Danila über Nerissa auszufragen: Wann kam sie immer ins Studio? Kam sie regelmäßig? Und so weiter. Doch so etwas hätte einen seltsamen Unterton. Das würde sich anhören, als diene sein Angebot zur Wartung der Fitnessgeräte lediglich als Vorwand, um das berühmte Model kennenzulernen - was ja auch der Wahrheit entsprach. Er überreichte ihr eine Kopie seines Vertrags und trollte sich. Am Mittwochabend ging er mit Ed und Steph ins Kino, ins 50
Coronet, und anschließend noch auf einen Drink ins »Sun in Splendour«. Kaum hatte jeder der Männer einen Gin Tonic und Steph einen Wodka mit Cassis vor sich stehen, platzte Mix mit seiner Frage an Steph heraus, die er schon den ganzen Tag insgeheim geübt hatte. Leider verpuffte die kunstvoll verbrämte Methode, eine einfache Frage zu stellen, ohne dabei etwas zu riskieren. Am Ende blieb nur ein einfacher Satz übrig. »Steph, glaubst du an Geister?« Statt ihn auszulachen oder zu verspotten, reagierte sie mit einem Zitat: »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde ...« Den Rest hatte sie vergessen. »Ich stelle mir das so vor: Wenn irgendwo etwas Schreckliches passiert, zum Beispiel ein Mord, dann wäre es schon möglich, dass der Tote oder sein Mörder an den Ort des Verbrechens zurückkehrt. Das hat mit ihrer Energie zu tun.« Präziser konnte sie sich nicht ausdrücken. »Die hängt dann irgendwo herum und sorgt dafür, dass diese Person - na ja, wieder erscheint." Genau das hatte er sich auch gedacht. Er wollte sie schon fragen, was sie von der mysteriösen Tür hielt, die auf- und zugegangen war, doch dann fiel ihm wieder ein, dass es die Katze gewesen war. »Müsste es denn unbedingt der Ort des Verbrechens sein? Ich meine, dort, wo jemand starb? Könnte so etwas nicht auch am Ort eines anderen Verbrechens vorkommen?« »Mix, sie ist doch keine Expertin«, sagte Ed. »Sie ist kein Medium.« Mix beachtete ihn gar nicht. »Nehmen wir mal an, ein Mörder hätte einen zweiten Mord versucht, doch der ging schief. Würde er an dem Ort wieder erscheinen, wo die Sache schieflief?«
»Vielleicht«, sagte Steph. Es klang ziemlich zweifelnd. Dann meinte sie: »Aber passiert denn so was echt? Spukt's vielleicht in dem komischen alten Kasten, wo du wohnst?« »Komischer alter Kasten« - das traf es genau. Trotzdem war 51
Mix nicht sonderlich begeistert, wenn ein Fremder solche Bemerkungen machte. Er empfand sie als Beleidigung seiner schönen Wohnung. »Könnte sein, dass ich - etwas gesehen habe«, sagte er vorsichtig. »Und was wäre dieses Etwas?« Ed war gespannt. Die einfühlsamere und vielleicht eher intuitiv veranlagte Steph deutete Mix' Gesichtsausdruck. »Darüber will er nicht reden, Ed. Würdest du das denn? Mix, du weißt, was Ed gesagt hat. Du brauchst Hilfe.« »Ach, ja?« »Schau, ich verrate dir mal, was ich tun würde. Ich leih dir das da. Damit kannst du dieses Dingsbums vertreiben, wenn es wieder auftaucht.« Sie öffnete ihre silberne Halskette, an der ein Gothic-Kreuz mit dunkelroten und schwarzen Steinen hing. »Hier hast du's.« »Nein, nein, ich könnte es verlieren!« »Wäre auch kein Weltuntergang. Hat nur fünfzehn Piepen gekostet. Außerdem sagt meine Ma, ich sollte das nicht tragen. Sie sagt, das sei - wie heißt das gleich, Ed?« »Blasphemisch«, sagte Ed. »Ganz genau, blasphemisch. Meine Ma kennt ein Medium, und die meinte, es würde funktionieren. Wenn ich's brauchte. Sie meinte, das ginge mit jedem Kreuz.« Eingehend betrachtete Mix das Kreuz. Ein hässliches Teil. Eindeutig Glassteine, und das Silber war in Wahrheit nur Nickel. Trotzdem war es ein Kreuz, und damit könnte es klappen. Wenn er es Reggie entgegen schleuderte - vielleicht genügte es auch, wenn er es ihm nur vors Gesicht hielt -, dann würde sich der Geist vielleicht wie eine Rauchspirale auflösen oder wie ein Flaschengeist wieder in seinem Behältnis verschwinden. Gwendolen hatte in ihrem Schlafzimmer einen Plastikknochen gefunden. Zuerst hatte sie keine Ahnung, was dieses 51
Ding hier verloren hatte oder woher es kam, dann fiel es ihr wieder ein. Damit hatte Olives kleiner Hund gespielt. Sie bot ihn Otto an, doch der zuckte mit verächtlicher Miene zurück, als würde ihn der Geruch nach Hund anwidern. Der Knochen wanderte, verpackt in ein Stück Zeitungspapier, zur Aufbe-
wahrung in die Wachmaschinentrommel, während sie darauf wartete, dass Olive anrief und ihren Verlust beklagte. Mit sinkendem Einkommen war Gwendolen im Umgang mit Geld sehr vorsichtig geworden. Unnötige Telefonate waren eine Ausgabe, die sie gar nicht mochte. Olive sollte ruhig anrufen, wenn sie das Spielzeug für ihr Tier wiederhaben wollte. Sie könnte ja auch vorbeikommen und es abholen. Aber die Tage vergingen ohne Anruf und Besuch. Gwendolen nutzte die Waschmaschine immer erst, wenn sich ein Berg Schmutzwäsche angesammelt hatte. Als es so weit war, hätte sie beinahe den Knochen samt der Zeitung mitgewaschen. Sie merkte es erst, als die Wäsche schon eingeräumt war. Am Ladbroke Grove und am Westbourne Grove gab es neben den großen Lebensmittelketten mehrere kleine Geschäfte mit asiatischen Inhabern. Hier erledigte sie ihre Einkäufe, aber erst nach sorgfältigen Preisvergleichen. Schließlich zählte jeder einzelne Penny. Auf dem Weg zu diesen Läden musste sie an den Wohnblöcken vorbei, in denen Olive wohnte. Sie zog ihren guten schwarzen Seidenmantel mit den winzigen, stoffbezogenen Knöpfen an, der mittlerweile gut dreißig Jahre alt war, und setzte einen kleinen runden Strohhut auf, denn draußen schien es warm zu sein. So machte sie sich mit dem Knochen unten in ihrem Einkaufswagen auf den Weg. Der Wagen mit dem Schottenkaro sah noch fast wie neu aus. Schließlich war er ja auch erst neun Jahre in Gebrauch. Unangemeldet klingelte sie bei Olive im Foyer. Keine Antwort. Auch dem Pförtner erging es nicht anders, als sie ihn bat, bei Mrs. Fordyce in 1 IC anzurufen. Er bildete sich ein, er hat 52 te sie fortgehen sehen. Gwendolen war aufs Äußerste verärgert. Es war verantwortungslos, den eigenen Abfall in anderer Leute Häuser zu hinterlassen und anschließend diesen gesellschaftlichen Fauxpas einfach zu ignorieren. Sie war versucht, den Knochen samt Einwickelpapier in den nächsten Abfalleimer zu werfen. Leise Zweifel bezüglich der Rechtmäßigkeit ihrer Tat hinderten sie daran. Vielleicht käme so etwas einem Diebstahl gleich. Gwendolens zweitliebste Beschäftigung nach dem Lesen war Einkaufen. Mit dem Warenangebot, den Ladeneinrichtungen oder freundlichen Bedienungen hatte das nichts zu tun. Ihr ging es einzig und allein darum, die Preise zu vergleichen und Geld zu sparen. Sie war nicht blöd und wusste ganz genau, dass die Beträge, die sie hier bei einer Büchse Soßenpulver und dort bei einem Stück Cheddarkäse sparte, täglich höchstens zwanzig Pence ausmachten. Insgeheim gestand sie sich ein, dass das Ganze ein Spiel war, das den lästigen
langen Marsch hinüber zum Markt in der Portobello Road oder hinauf zu Sainsbury's fast zum Vergnügen machte. Außerdem kam sie auf einer ganz bestimmten Route nach dem Überqueren des Ladbroke Grove an jenem Haus vorbei, in dem Dr. Reeves vor langer Zeit seine Praxis gehabt hatte. Inzwischen tat die Erinnerung an ihn nicht mehr weh. Geblieben war eine beinahe angenehme Nostalgie, zu der sich jüngst durch die Todesanzeige im »Telegraph« neue Hoffnung gesellt hatte. Unmittelbar nach dem Krieg hatten die Chawcers einen Wechsel zu Dr. Odess erwogen. Zu dieser Zeit waren bei Mrs. Chawcer die ersten Krankheitssymptome aufgetreten. Doch bis zum Colville Square war man zu Fuß einige Zeit unterwegs, während man Dr. Reeves im Ladbroke Grove einfach über Cambridge Gardens erreichte. Erst während des Prozesses und der damit verbundenen Aufmerksamkeit in den Zeitungen entdeckte Gwendolen, dass Dr. Odess der Hausarzt der 53
Christies gewesen war und das Ehepaar jahrelang behandelt hatte. Heute Morgen war ein Spaziergang zum Supermarkt hinauf verlockend. Die Sonne schien, und überall blühte es. Die Stadtgärtnerei hatte an allen Straßenlaternen Körbe mit Geranien aufgehängt. Was das wohl kostet?, ging es Gwendolen durch den Kopf. Manchmal konnte sie bei ihren Einkäufen auf dem Markt - Gemüse, Kochäpfel und Bananen; an Obst aß Gwendolen nur Bananen und Apfelkompott - eine Menge sparen und hatte am Ende des Tages vierzig Pence mehr im Geldbeutel. Vor dem vierstöckigen Haus mit Souterrain und einer steilen Eingangstreppe, in dem Stephen Reeves praktiziert hatte, blieb sie stehen. Mittlerweile war das Gebäude heruntergekommen. Die Farbe blätterte ab, und in einem der vorderen Erkerfenster hatte man eine zerbrochene Scheibe mit einer Plastiktüte und Klebestreifen geflickt. Dahinter hatte sich das Wartezimmer befunden. Hier hatte sie gesessen und auf die Rezepte für ihre Mutter gewartet. In jenen Tagen hatten die Ärzte keine Leuchttafeln und Sprechanlagen, um anzukündigen, dass sie für den nächsten Patienten frei waren. Oft gab es nicht mal eine Sprechstundenhilfe. Dr. Reeves kam stets persönlich ins Wartezimmer, rief den Patienten namentlich auf und hielt ihm oder ihr höflich die Tür auf. Gwendolen war es egal, wie lange sie auf das Aushändigen des Rezepts warten musste. Denn dies tat er stets persönlich. Manchmal kam er vorher noch einige Male für den nächsten Patienten ins Wartezimmer. Doch dies geschah nur, damit er sie kurz sehen konnte, und umgekehrt. Das wusste sie genau. Immer lächelte er.
Und dieses Lächeln, das ihr galt, unterschied sich von der Art, wie er die anderen anlächelte. Es war wärmer, tiefer und irgendwie verschwörerischer. Es war, als teilten sie miteinander ein Geheimnis, was sie ja auch taten: ihre gegenseitige Liebe. Es hatte ihr nichts ausge 54
macht, dass sie die Praxis allein verlassen musste. In ein, zwei Tagen würde er wieder im St. Blaise House vorbeischauen. Dann wären sie unter sich, würden Tee trinken und sich endlos unterhalten. Im Grunde genommen waren sie allein im Haus. Bertha, das letzte Dienstmädchen, war schon lange fort, und mittlerweile forderten häusliche Bedienstete höhere Löhne, als sich die Chawcers leisten konnten. Oben schlief Mrs. Chawcer, und auch sonst wäre sie ans Bett gebunden gewesen. Der Professor kam kaum vor fünf Uhr nach Hause. Mühsam schlängelte er sich auf seinem alten Fahrrad durch den immer stärker werdenden Verkehr auf der Marylebone Road und das Straßengewirr von Bayswater und Notting Hill. Im St. Blaise House war es in den fünfziger Jahren sehr still, während Stephen Reeves und Gwendolen nebeneinander auf dem Sofa saßen und im Flüsterton plauderten. Man rückte die Welt zurecht, lachte ein wenig, Hände und Knie kamen sich ganz nahe, ihre Blicke trafen sich. Durch diese Stunden, diese Nähe, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte, betrachtete sie sich als unwiderruflich an ihn gebunden. Und dann hatte er eines Tages auch noch gesagt, er schätze sie ungemein. Damit waren sie in ihren Augen verbunden, bis dass der Tod sie scheiden würde. Lange Zeit hatte sie ihn in ihrer Verbitterung als Verräter betrachtet, als einen Mann, der sie sitzen gelassen hatte, auch wenn er ihr seine Liebe nie ausdrücklich gestanden hatte. Schließlich sagten Taten mehr als Worte. Als sie die Situation später rationaler betrachtete, wurde ihr klar, dass er mit dieser Eileen zweifellos schon vor ihrer ersten Begegnung ein Techtelmechtel gehabt hatte. Damals hatte er Gwendolen noch gar nicht näher gekannt. Vielleicht hatte man ihm im Falle eines gebrochenen Eheversprechens mit rechtlichen Schritten gedroht. Oder Eileens Vater oder ihr Bruder hatten ihn mit einer Pferdepeitsche bedroht. Dass so etwas vorkam, wusste sie aus 54 ihrer Lektüre. Ein Duell war selbstverständlich illegal und längst aus der Mode gekommen. Trotzdem musste er bereits mit seiner künftigen Frau auf Gedeih und Verderb so verbunden gewesen sein, dass ihm nur noch der Weg in die Ehe blieb. Und sie, Gwendolen, war an ihn ebenso gebunden wie seine Ehefrau.
Während sie ihren Einkaufswagen durch den Westbroke Grove zog, ging ihr einiges durch den Kopf. Interessanterweise hatte sie in letzter Zeit von einigen Leuten gehört, die sich als Witwer im hohen Alter wieder ihrer Vergangenheit zuwandten und ihre Jugendliebe heirateten. Das war der Schwester von Queenie Winthrop passiert und auch einem Mitglied des Anwohnervereins St. Blaise, einer gewissen Mrs. Coburn-French. Selbstverständlich war Gwendolen Realistin und musste sich damit abfinden, dass Frauen viel öfter ihre Männer verloren als umgekehrt. Aber manchmal starben die Frauen zuerst. Ihre Eltern waren das beste Beispiel dafür, auch wenn ihr Vater keine Jugendliebe geheiratet hatte. Aber Mr. Iqbal vom Hyderabad Emporium hatte genau das getan, nachdem er vor der Moschee in Willesden eine Dame traf, die vor fünfzig Jahren mit ihm im selben Dorf in Indien gelebt hatte. Und jetzt war Eileen tot... Stephen Reeves war jetzt Witwer. Würde er zu ihr zurückkehren? Angenommen, sie hätte einen anderen Mann geheiratet und dieser wäre verstorben. Sie würde nach Stephen suchen. Für ihn müsste doch das Band zwischen ihnen genauso unverbrüchlich und ewig gelten wie für sie. Vielleicht sollte sie den ersten Schritt tun, um ihn zu finden ... ? Vielleicht war er schüchtern. Vielleicht empfand er sogar Schuldgefühle wegen seines Verhaltens und hatte Angst, ihr gegenüberzutreten. Schließlich wusste man nur allzu gut, wie feige Männer waren. Man musste nur bedenken, wie zimperlich sich der Professor verhalten hatte, wenn es um die kleinste Handreichung bei der Pflege ihrer schwerkranken Mutter ging. 55
In Kürze würde seit ihrer letzten Begegnung mit Stephen ein halbes Jahrhundert vergangen sein. Heutzutage konnte man Menschen viel leichter und sicherer aufspüren als in Gwendolens Jugend. Das ging irgendwie mit dem Computer. Man benutzte diesen Computer und kam dann in ein sogenanntes »Net« oder »Web«, das einem alles verriet. Dafür gab es diese sogenannten Internetcafes. Am Ladbroke Grove lag auch eines. Lange Zeit hatte Gwendolen geglaubt, das seien Lokale, wo man Kaffee trank und Kuchen aß. Olive hatte sich darüber schief gelacht und sie aufgeklärt. Angenommen, sie ginge in ein solches Lokal. Würde sie Stephen Reeves nach fünfzig Jahren finden können? All das ging ihr durch den Kopf, während sie mit ihren Einkäufen heimging. Nachdem er ihr erklärt hatte, dass sie ein reizendes Mädchen sei und er sie schätze, saß sie in ihrem Schlafzimmer und übte ihren zukünftigen Namen. Sie würde mit »Gwendoleen Reeves« unterschreiben oder mit »G. L. Reeves«.
Auf Einladungskarten würde sie als Mrs. Stephen Reeves stehen. »Mrs. Stephen Reeves beehrt sich« und »Dr. und Mrs. Stephen Reeves danken für Ihre freundliche Einladung, müssen bedauerlicherweise aber absagen ...« Wie sich herausstellte, waren die beiden letzten Formulierungen für Eileen reserviert gewesen. Aber darüber müsste sie sich jetzt nicht mehr den Kopf zerbrechen, denn Eileen war tot. Irgendwie wusste sie, dass es trotz der Formulierung »geliebte Gattin« keine glückliche Ehe gewesen war. Anders konnte er es nicht ausdrücken, das machten alle, das war so üblich. Wenn er mit Eileen Streit hatte, was zweifellos häufig vorgekommen war, hatte er ihr wahrscheinlich erklärt, er hätte sie nie heiraten sollen. »Ich hätte Gwendolen heiraten sollen«, hätte er gesagt. »Sie war meine erste Liebe.« Gwendolen hatte ihm ihre Gefühle nie gestanden. So etwas 56
hätte sich damals für eine Frau nicht geschickt. Heutzutage schien das anders zu sein. Vielleicht hatte er bis heute von ihren Gefühlen keine Ahnung. Irgendwie musste sie es schaffen, sich ihm mitzuteilen, und dann käme alles ins Lot. 56
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Vor geraumer Zeit hatte er »Christies Opfer« schon einmal gelesen. Sechs oder sieben Jahre war das her. Damals hatte er den Grundstein für seine Büchersammlung zum Thema Reggie gelegt. Obwohl er den Inhalt des Buches noch ganz genau im Kopf hatte, wandelte er bis heute fasziniert auf Reggies Spuren durch das damalige Notting Hill, auf den Lebenslinien eines der berühmtesten Serienmörder aller Zeiten. »John Reginald Halliday Christie zog 1938 nach London«, las Mix beim Frühstück, »in Begleitung seiner Ehefrau Ethel. Er war ein merkwürdiger Mensch. Jeder Nekrophile zeigt zwangsläufig befremdliche, um nicht zu sagen abstoßende Züge. Erstens empfindet jeder Mensch bereits den Gedanken an Nekrophilie als widerwärtig. Zweitens muss derjenige, der unter dieser Anomalie leidet, seine Opfer erst einmal umbringen, um seiner Lust frönen zu können. Es sei denn, er hätte Zugang zu einem Leichenschauhaus, was höchst unwahrscheinlich ist. Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts betrachtet, führten die Christies keine glückliche Ehe. Fünf Jahre nach der Hochzeit verließ ihn Ethel und zog nach Sheffield. Sie lebten mehrere Jahre getrennt, bis Christie sie in einem Brief bat, zu ihm zurückzukehren. Als sie wieder zusammenlebten, weilte sie häufig bei ihren Verwandten im Norden des Landes zu Besuch. Christie war
Filmvorführer, Fabrikarbeiter und Postbote gewesen. Im Zusammenhang mit der letzten Position kam er ins Gefängnis. Er hatte Postanweisungen gestohlen. Obwohl er noch einmal im Gefängnis saß, weil er einem befreundeten ka 57 tholischen Priester das Auto gestohlen hatte, meldete er sich freiwillig bei der Reservetruppe der Londoner Polizei. Im selben Jahr, in dem er mit seiner Frau in den Londoner Westen zog, an den Rillington Place in Notting Hill, wurde seine Bewerbung angenommen. Offensichtlich betrieb die Polizei keinerlei Nachforschungen bezüglich seiner Vergangenheit, oder die Ergebnisse waren nicht schwerwiegend genug, um ihn auszumustern. Jedenfalls bekam er 1939 eine Festanstellung als Hilfspolizist. Vier Jahre später - er war immer noch bei der Polizei - begegnete er dem Mädchen, das sein erstes Mordopfer werden sollte Widerwillig riss sich Mix los und schob ein Lesezeichen zwischen die Seiten. Er hatte dieser Danila in Shoshanas Fitnessclub versprochen, er käme um zehn Uhr, um fünf Geräte zu warten. Also sollte er sich auf den Weg machen. Dieses Buch eines gewissen Charles Q. Dudley war sein viertes oder fünftes über den Mörder vom Rillington Place. Genau wie erwartet, kannte er längst sämtliche Fakten, die in dem Buch bisher erwähnt worden waren. Er war auf der Suche nach etwas ganz anderem. Vielleicht würde er ja nach der Hälfte des Buches einen kleinen Hinweis oder eine Andeutung darauf finden, dass Christie manchmal die Wohnungen seiner potenziellen Opfer besucht hatte. War ihm bei der ersten Lektüre des Buches diesbezüglich irgendetwas aufgefallen? Er konnte sich nicht erinnern. Zum Ausgleich für seine Arbeit an einem der letzten Sonntage hatte Mix heute freigenommen. Es wäre unsinnig, den Job bei Shoshana vor oder nach der Arbeit zu erledigen. Zu diesen Zeiten käme Nerissa sicher nicht dorthin. Models stünden vormittags ganz spät auf, hatte Mix irgendwo gelesen, während sie abends mit Filmpremieren, Clubbesuchen, öffentlichen Auftritten und Einladungen in die vornehmen Landhäu 57
ser beschäftigt wären. Er malte sich aus, wie es wäre, wenn erst einmal die herrlichen Zeiten angebrochen wären. Dann würde er mit ihr ausschlafen, vielleicht bis mittags oder sogar noch später. Das Frühstück brächte ein Dienstmädchen, aber ja nicht vor elf Uhr. Und dann bekäme er genau das, was er bestellt hätte: Schampus mit Orangensaft, Kaviar auf Toast und Eier ä la Benedict.
Er wandte sich wieder der Realität zu und merkte, noch ehe er am Ziel war, dass er Probleme haben würde, einen Parkplatz zu finden. Endlich entdeckte er weit weg vom Fitnessclub einen freien Platz an einer Parkuhr und steckte Geld für zwei Stunden hinein. Diese ganze Lauferei musste sich einfach positiv auf seine Figur auswirken, redete er sich ein. Als er Punkt zehn Uhr ankam, schaute er bewusst an der chromblitzenden Hausnummer dreizehn vorbei und bestieg rasch den Lift. Ein kurzer Blick in die Runde genügte einige Mädels und ein paar junge Kerle an den Trimmgeräten. Nerissa war nicht dabei. Wahrscheinlich war es für sie ein bisschen zu früh. Kritisch musterte er Danila und kam zu dem Schluss, dass sie gar nicht so übel aussah, auch wenn sie mager und verschreckt wirkte. »Madam Shoshana meinte, Sie sollten bitte nicht an den Geräten herumbasteln, die von den Kunden gerade benutzt werden. Ich gebe Ihnen nur weiter, was sie gesagt hat.« »Sie können mir vertrauen«, sagte er. »Ich weiß, was ich tue.« »Außerdem meinte sie, Sie sollten kein Öl oder ähnliches Zeug benutzen. Wenn die Kunden das auf die Kleidung bekommen, flippen sie aus. Der Satz stammt von ihr, nicht von mir.« »Ich nehme nur unsichtbares fettfreies Öl«, log Mix. Er hatte drei neue Gurte und einen Ratschensatz zum Anpassen der Einzelteile mitgebracht. Da Shoshanas Studio erst kürzlich eröffnet hatte, waren Wartungsarbeiten eigentlich 58 unnötig. Trotzdem vertrieb er sich die Zeit, indem er einen Ellipsentrainer zerlegte und an Trimmrädern die Lenkerposition überprüfte. Für diese langweilige Tätigkeit würde er Madam Shoshana ordentlich zur Kasse bitten, egal, was letztlich dabei herauskäme. Schade, dass man Danila als Aufpasserin abgestellt hatte. Sonst hätte er sich in eine Ecke gehockt und weiter in »Christies Opfer« geschmökert. Danila war extrem schlank, genau wie Nerissa, aber bei ihr wirkte es anders. Bei Nerissa sah man keine Knochen. Mit ihrer Hakennase und dem fliehenden Kinn hatte Danila ein richtiges Vogelgesicht. Trotzdem hatte sie tolle Beine und die wildeste dunkle Mähne, die Mix je bei einer Frau gesehen hatte. Für heute hatte er das Warten auf Nerissa schon fast aufgegeben. Es war bereits elf Uhr fünfzehn, und er musste um zehn vor zwölf wieder am Auto sein. Sonst bekäme er eine Kralle an die Räder, man würde ihn abschleppen oder sonst etwas mit ihm anstellen.
Danila saß hinter ihrem Empfangstresen und trank einen Becher schwarzen Kaffee. »Gibt's davon vielleicht noch einen?« »Vielleicht, aber verraten Sie mich ja nicht, okay?« Sie verschwand im verwinkelten Inneren des Studios und kam mit Kaffee, einem Kännchen Milch und Süßstoff in kleinen Papierröllchen wieder. »Für Sie. Shoshana bringt mich um, wenn sie das erfährt. Wir dürfen nur dem Personal Kaffee geben.« »Sie sind ein Schatz«, sagte Mix und entlockte ihr ein Lächeln. Besser jetzt als nie, dachte er und fuhr fort, während er die Tür nicht aus den Augen ließ, falls Nerissa doch noch um elf Uhr vierzig hereinkäme: »Hätten Sie Lust auf einen Drink? Sagen wir mal Mittwoch oder Donnerstag, wenn Ihnen das passt?« Sie war überrascht. Ihm hätte es mehr imponiert, wenn sie solche Einladungen als Selbstverständlichkeit betrachtet hät 59 te. »Hab nichts dagegen«, meinte sie. Ihr nächster Satz verdarb alles. »Meinen Sie das ernst?« »Ich hole Sie dann ab. Wo wohnen Sie?« »Oxford Gardens.« Sie nannte ihm die Hausnummer. »Ist bei mir in der Nähe«, konstatierte er. »Wir gehen ins KPH«, sagte er und vergaß dabei, dass sie mit diesen Initialen sicher nichts anzufangen wusste. »Passt es um acht?« Es wäre sinnlos, den ganzen Abend mit ihr zu verbringen, dachte er. Angenommen, Nerissa gehörte zu jenen Kunden, die sie bei seinem letzten Besuch erwähnt hatte, Kunden, die höchstens viermal ins Studio kamen und dann das Interesse verloren. Er durfte nicht ungeduldig werden, nur weil sie heute nicht erschienen war. Sie würde nicht jeden Tag kommen, selbst wenn sie ganz verrückt nach Fitnesstraining wäre. Nächste Woche würde er seine Wartungsarbeiten am Mittwoch erledigen statt am Dienstag. Und vielleicht könnte er sich zu einem Fußmarsch hierher überwinden. Könnten doch höchstens anderthalb Kilometer sein. Olive hatte vergessen, dass sie den Knochen bei Gwendolen hatte liegen lassen. Sie hatte in sämtlichen Grünanlagen der Wohnblöcke danach gesucht und sogar vor den Läden verschiedene Abfallkörbe durchwühlt. Kylie, der kleine weiße Hund, hatte verrückt gespielt. Mit ihrem Anruf bei Gwendolen wollte sie nicht den Knochen finden, sondern einer mitfühlenden Seele ihr Herz ausschütten. Aber Mitgefühl war nie Gwendolens Sache gewesen. Sie lauschte leidlich amüsiert den Nöten ihrer Freundin. Olives amerikanische Freundin, die
ebenfalls ganz verrückt auf Pudel war, hatte Kylie den Knochen geschenkt. Und Kylie hatte dieses Spielzeug von Anfang an abgöttisch geliebt. Jetzt war das gute Stück verschwunden, und Olive hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Hierzulande konnte man ein solches Spielzeug 60
nicht kaufen. Andererseits wagte sie nicht, der Freundin aus Baltimore in einem Brief ihren Leichtsinn zu beichten und um Ersatz zu bitten. Gwendolen lachte. »Du musst dich nicht mehr grämen. Er liegt hier.« »Kylies Knochen?« »Du hast ihn hier vergessen. Ich wollte ihn dir persönlich vorbeibringen, aber du warst natürlich nicht da.« Olive ließ sich nicht anmerken, ob ihr dieses »natürlich« missfiel. Gwendolen suchte im Durcheinander ihrer schmutzigen Küche nach dem Knochen. Schließlich fand sie ihn zwischen einem Zeitungsstapel, der noch aus den Tagen des Professors stammte, und einer fünfundzwanzig Jahre alten Packung mit Staubsaugertüten. »Gwen, du hast meinen kleinen Hund sehr glücklich gemacht.« »Wie beruhigend.« Gwendolens Sarkasmus war Olive nicht entgangen. Trotzdem berührte er sie nicht sonderlich. Sie war viel zu glücklich über das wiedergefundene Spielzeug. Vergnügt machte sie sich Richtung Ridgemount Mansions auf den Weg. Gwendolen war froh, sie von hinten zu sehen. Sie zog das Alleinsein der Gesellschaft ihrer Freundinnen vor. In den letzten Tagen hatte sie einen kühnen Entschluss gefasst: Sie würde versuchen, Stephen Reeves jetzigen Wohnsitz herauszufinden. Dabei wollte sie ihren Mieter, der einen Computer besaß, um Hilfe bitten. Eines Tages hatte sie bei einer zufälligen Begegnung in der Eingangshalle gesehen, wie er ein solches Gerät herumschleppte. »Den lasse ich nicht auf dem Autositz stehen«, hatte er gemeint. »Der bekommt sonst Füße.« Gwendolen hatte nicht einmal im Ansatz an so etwas gedacht und außerdem keine Ahnung, wovon er redete. »Was ist das?« 60
Misstrauisch musterte er sie. So betrachteten gedankenlose Menschen geistig Verwirrte. »Ein PC, was sonst?« Ihr leerer Blick änderte sich nicht. »Ein Computer!«, rief er verzweifelt. »Tatsächlich?« Sie zuckte mit ihren schmalen alten Schultern. »Dann sollten Sie sich beeilen und das erledigen, was Sie damit tun müssen.«
Steckte die von ihr benötigte Information automatisch in diesem Ding in dem schmalen, flachen Koffer? Könnte sie jeden Computer dafür benutzen? Oder musste man noch eine spezielle Maschine daran anhängen? Und wo war der Bildschirm, den sie in den Läden darauf stehen gesehen hatte? Ihr war bewusst, dass Mr. Cellini ihr Unwissen lächerlich gefunden hatte. Sie wollte sich unter keinen Umständen erneut zum Narren machen, auch wenn man einen Menschen, der den ganzen Gibbon und Ruskins gesammelte Werke gelesen hatte, an und für sich wohl kaum als Narren bezeichnen konnte, nur weil er nicht wusste, wie diese modernen Erfindungen funktionierten. Dennoch zog sie es vor, ihn nicht zu fragen. Auch Olive kam dafür nicht in Frage. Bei einem Besuch in Golborne Mansions würde sie erleben müssen, dass Kylie wie ein Gummiball herumtobte, und erneut die Geschichte von dem verlorenen Knochen über sich ergehen lassen. Vielleicht wäre sogar die mustergültige Nichte da oder deren Mutter. Und davor hatte sie sich aus unerfindlichen Gründen schon immer gefürchtet. Ein Besuch in einem dieser Internetrestaurants - nein, -cafes - könnte nichts schaden. Dass sie schlau war, wusste sie. Stephen Reeves hatte sie als Intellektuelle bezeichnet, und sogar Papa hatte mehrmals betont, für eine Frau hätte sie durchaus einen guten Verstand. Deshalb würde sie mit Sicherheit mit einem dieser Computer fertigwerden und ihn dazu bringen, seine Informationen auszuspucken. Als sie ihren Hut aufsetzte, musste sie an Olives Hut mit dem genau zur Nagellack 61
färbe passenden, knallroten Ripsband denken. Dann zog sie ihren schwarzen Seidenmantel an und dazu schwarze Netzhandschuhe. Schließlich war es draußen heiß. Papa hatte sie ihr zum zweiundfünfzigsten Geburtstag geschenkt. Sie hatten sich fantastisch gehalten. Der Einkaufswagen war heute überflüssig. Es war strahlend sonnig. In diesem Jahr gab es nur heiße Sommertage, und die Temperaturen stiegen immer noch an. Draußen auf der Straße trugen mehrere junge Männer und Mädchen kurzärmelige T-Shirts und Sandalen. Ein Mädchen hatte ein Bikini-Oberteil an, und ein Junge hatte anscheinend irgendwo sein Hemd liegen gelassen. Er trug nur ein Unterhemd. Gwendolen schüttelte den Kopf. Was hätte ihre Mutter gesagt, wenn sie versucht hätte, in aller Öffentlichkeit im Büstenhalter herumzulaufen? Nerissa hatte sich nach einem Besuch im Fitnessstudio eine Ganzkörpermassage und eine Gesichtsbehandlung gegönnt und war jetzt auf
dem Weg zu Madam Shoshana hinauf. Dabei trug sie wieder ihre Sonnenbrille, die sie unterwegs aufgesetzt hatte, um nicht erkannt zu werden. Die steile, schmale Treppe hatte einen uralten braunen Linoleumbelag und Metallleisten an den einzelnen Stufenkanten, die sich bereits an einigen Stellen ablösten. Man konnte leicht stolpern und böse stürzen. Nerissa trat vorsichtig auf. Ein befreundetes Model hatte sich auf einer lebensgefährlichen Treppe das Schienbein gebrochen. Als sie wieder gesund war, war ein Knöchel deutlich dicker als der andere. Obwohl auf halber Höhe ein kleines Fenster sperrangelweit offen stand, roch es im Treppenhaus übel nach abgestandenem Kohl und billigen Burgern. Vor dem Fenster blähte sich ein unglaublich schmutziger Spitzenvorhang und klatschte Nerissa ins Gesicht. Doch das war sie schon gewöhnt, schließlich kam sie jede Woche einmal hierher, um sich die Zukunft vorhersagen zu lassen. 62
An der schiefen braunen Tür hing ein Zettel mit der Aufschrift »Madam Shoshana, Wahrsagerin. Bitte klopfen.« Darunter hatte jemand mit krakeliger Schrift notiert: »Auch mit Termin.« Nerissa klopfte. »Herein«, rief eine tiefe, elektrisierende Stimme. Noch nie hatte Nerissa ein derart mit Nippes vollgestopftes Zimmer betreten. Hier drinnen war es sogar ihr fast zu heiß, obwohl sie Hitze liebte. Aus den Regalen quollen seltsame Gegenstände. Jeder Zentimeter freie Fläche war bedeckt. Das wand sich aus dem Boden empor und baumelte sogar von der Decke. Wie Stalagmiten wucherten überall Töpfe mit künstlichen Zypressen, Lilien und Passionsblumen, während von der Decke stalaktitengleich Wünschelruten, Glockenspiele, Mobiles und Kristalle herunterhingen. Doch am seltsamsten war Madam Shoshana, eine dürre alte Frau mit mehreren Lagen wallender Gewänder, deren Farben an einen sturmdurchtosten Himmel erinnerten: Indigo und Anthrazit, Taubenblau und Schief ergrau, gebrochenes Weiß und Violett, Blauschwarz und Silber. Ihre Haare hingen in weißgelblichen Strähnen über den Rücken bis zur Taille und verknoteten sich hier und da mit den Silberketten und Kristallbändern, die sie um den Hals trug. Obwohl sie eine Kosmetikserie entwickelt hatte, die sie in ihren Geschäftsräumen völlig überteuert verkaufte, trug sie persönlich nie Make-up. Ihr Gesicht wirkte ziemlich ungewaschen. Ihre Nägel erinnerten Nerissa an Vogelkrallen, die nichts Menschliches an sich hatten. Die Samtvorhänge waren zugezogen und an einigen Stellen mit altmodischen Broschen nach keltischen Motiven zusammengesteckt. Den Grund dafür kannte wohl nur Madam Shoshana persönlich. Beim Betreten des Raumes
starrte den Ratsuchenden eine Reihe ausgestopfter Vögel an, unter denen besonders eine große weiße Eule ins Auge stach. Doch die größte Verwirrung löste eine männliche Wachsfigur in einem grau 63 en Gewand aus, das an Merlin oder Gandalf erinnerte. Aus unerfindlichen Gründen hielt sie einen Äskulapstab in den Händen. Diese Puppe stand wie ein Ratgeber in allen Fragen zu antiken Weisheiten, Hexenkünsten, Wahrsagerei, Astrologie oder sonstigen ungeklärten Dingen hinter Madam Shoshana, wenn sie an ihrem breiten Marmortisch Platz nahm. Die einzige Lichtquelle war eine schwach bestückte Tischlampe, deren Design aus Zinn und opakem Buntglas entfernt an Jugendstil erinnerte. Den Marmortisch zierte ein Kreis aus Kristallen: Rosenquarz, Islandspat, Amethyst, Olivinschiefer, Basalt und Lapislázuli. Und mittendrin lag wie in Omas guter Stube ein geklöppeltes Spitzendeckchen. Shoshanas Ebenholzsessel war am Rücken und an den Armlehnen mit weißen und gelben Kristallen verziert, ganz im Gegensatz zum schlichten Holzstuhl im Windsor-Stil für den Kunden, der einige Flecken hatte, die zwar wie Blut aussahen, aber vermutlich nur von Tomatenketchup stammten. »Setz dich.« Folgsam fügte sich Nerissa der hinlänglich bekannten Routine und legte auf Madam Shoshanas Kommando ihre frisch manikürten Hände, deren blassgoldener Nagellack eine Nuance heller war als ihre Haut, auf das Spitzendeckchen im Steinkreis. Shoshana versenkte sich in den Anblick von Nerissas Händen. Ihre Augen, die jeden Kristall umkreisten, erinnerten an eine Katze, die einem Lichtfleck folgt. »Sag, spürst du, welche geheiligten Steine von deinen Fingern angezogen werden? Welche zwei Steine wandern langsam auf dich zu?« Es traf Nerissa tief, dass sie nie irgendeine Bewegung der Kristalle spüren, geschweige denn sehen konnte. Immer wurde sie für dieses Versagen getadelt. Anscheinend führte Madam Shoshana dies auf mangelnde Sensibilität oder Konzent 63
ration ihrerseits zurück. Obwohl Nerissa wusste, dass man ihr erneut ihre Unzulänglichkeit vorhalten würde, sagte sie: »Ich glaube, der dunkelblaue und der rosarote.« »Versuch's noch mal.« »Der dunkelblaue und der grüne.«
Shoshana schüttelte mehr bedauernd als verärgert den Kopf. Obwohl sie einige ihrer Kunden schon seit Jahren kannte, ließ sie ihnen keine freundlichere oder vertrautere Behandlung an-gedeihen als beim ersten Besuch. Sie sah Nerissa an, als hätte sie sie noch nie gesehen. »Heute liegen der Basalt und der Amethyst in deinem Schicksalsring.« Shoshanas Stimme klang wie aus weiter Ferne, wie aus grauer Vorzeit. So könnte sich eine Mumie anhören, wenn sie sprechen könnte. »Beide drängen mächtig gegen die Energiebarriere an, die sie von deinen Fingern trennt. Du musst loslassen und sie kommen lassen. Entspanne dich, und lade sie ein, sich dir zu nähern.« Diese Prozedur hatte Nerissa schon oft erlebt. Sie tat alles, um ihre Hände zu entspannen. Trotzdem konnte sie einfach nicht vergessen, dass die weiße Eule und die Wachsfigur sie vorwurfsvoll anstarrten. »Komm, komm, komm«, intonierte Madam Shoshana. Dabei fiel Nerissa plötzlich wieder ein, dass ihr ein arroganter Exfreund genau dieses »Komm, komm, komm« während ihrer Liebesspiele immer ins Ohr geflüstert hatte. Sie musste sich auf die Lippe beißen, um nicht loszukichern. »Konzentration«, mahnte Shoshana streng. Was wäre, wenn sich der Basalt und der Amethyst tatsächlich auf ihr Kommando in Bewegung setzen würden? Dann bekäme sie wirklich Angst, dachte Nerissa. Aber so etwas sah eben nur Madam Shoshana, die soeben verkündete: »Die Balance deines Schicksals ist tief gestört. Die Steine künden von Verwirrung, Zweifel und Furcht. Sie berichten 64 mir von einem dunklen Mann, dessen Name mit D beginnt. Er ist dein Schicksal, im Guten wie im Bösen. Sein Ziel ist ein Leben am Wasser ... Du drückst die Steine weg - ach, zu spät. Sie haben aufgehört zu sprechen. Du siehst, wie sie schrumpfen, während sie ihre Seele verlässt.« Für Nerissa sahen die Steine unverändert aus, doch das hing mit ihrer spirituellen Blindheit zusammen, das wusste sie. So hatte es ihr Shoshana bei früheren Gelegenheiten erklärt. Sie sei zu weltlich gesinnt, hatte die Wahrsagerin verkündet. Sie kümmere sich zu viel um ihr Äußeres, um Besitz und Artefakte. Die Bedeutung des Worts »Artefakt« war ihr nicht klar. Eigentlich wollte sie im Lexikon nachschlagen, doch sie vergaß es immer wieder. Die ausgestopften Vögel und der Zauberer musterten sie verächtlich. Beschämt senkte Nerissa die Augen.
Die Seance war vorbei. Als Aufgabe wurde ihr aufgetragen, auf den Mann zu achten, dessen Name mit D begann, und auf Wasser, in dem Kreaturen schwammen, die keine Fische waren. Sie stand auf und suchte in ihrer Handtasche nach ihrer Geldbörse. Im Stehen hatte Madam Shoshana nur wenig Ähnlichkeit mit ihrem sitzenden Ich und verwandelte sich in eine eher praktisch orientierte Geschäftsfrau, die sich mehr für den Geldbeutel interessierte als für die Seele. »Das macht dann bitte fünfundvierzig Pfund. Keine Euro, keine Kreditkarten«, sagte sie, als sei ihre Kundin noch nie hier gewesen. Nachdenklich spazierte Nerissa den Westbourne Grove entlang. Als Madam Shoshana den dunklen Mann als ihr Schicksal nannte, hatte sie Herzklopfen bekommen. Damit war sicher Darel Jones gemeint. Und wenn es anders wäre? Wenn sie Rodney Devereux gemeint hätte? Fragen waren sinnlos, das wusste sie. Shoshana hätte lediglich gesagt, mehr hätten ihr die Steine nicht verraten, und da 65
mit indirekt Nerissa die Schuld gegeben, weil sie die Steine durch ihre Energie behindert hatte. Beim Thema Wasser musste sie sofort an das von Rodney heiß geliebte Pacific Rim Restaurant denken, wohin er sie immer ausführte. Dort schwammen Fische in riesigen verspiegelten Becken herum und landeten zehn Minuten später auf dem Teller. Und genau das konnte Nerissa nicht mit ansehen. Irgendwie war das etwas anderes, als wenn man bei Harrods in der Feinkostabteilung zum Essen Fisch einkaufte. Den Grund dafür konnte sie nicht erklären. Trotzdem musste Shoshana genau das gemeint haben, als sie nach dem Mann mit dem Anfangsbuchstaben D auf Wasser zu sprechen kam. Natürlich hatte sie ausdrücklich betont, dass keine Fische darin schwammen, aber in diesen Becken befanden sich ja auch noch andere Dinge: Schnecken mit bunten Häuschen, kleine Kriechtiere und ein Wesen, das wie eine Wasserschlange aussah. Bei ihrem letzten Besuch dort hatte sie befürchtet, Rodney würde die Schlange essen. Und dabei war ihr ganz übel geworden. Beinahe hätte sie ihm erklärt, sie würde nie wieder ins Pacific Rim gehen, doch dann hatte sie es aus unerfindlichen Gründen doch nicht getan. Jetzt war sie gezwungen, dorthin zu gehen. Das war ihr Schicksal. »Unseres Wissens handelte es sich bei Christies erstem Opfer um eine junge Australierin namens Ruth Fuerst. 1943, bei ihrer ersten Begegnung mit Christie, arbeitete die ehemalige Krankenschwester in einer Munitionsfabrik und als Gelegenheitsprostituierte. Ob er sie damals als Streifenpolizist traf
oder in einem Cafe beziehungsweise in einem Pub, ist nicht bekannt. Allerdings behauptete er, sie sei zu ihm an den Rillington Place gekommen, während Ethel Christie in der Osram-Fabrik arbeitete. Keiner, der in diesen Fall verwickelt war, konnte sagen, ob 66 er sie je in ihrem möblierten Zimmer besucht hat, das sie in Oxford Gardens Nummer einundvierzig gemietet hatte Mix ließ das Buch sinken, behielt aber den Finger zwischen den Seiten. Das war erstaunlich! Er hatte nun wirklich jedes Buch über Christie gelesen, das er auftreiben konnte - hauptsächlich antiquarisch -, doch keines hatte den exakten Wohnort von Ruth Fuerst erwähnt. Und hier stand es nun. In derselben Straße, die ihm Danila genannt hatte, nur wenige Häuser entfernt. Wäre es doch nur dasselbe Haus, durchzuckte es ihn bedauernd. Wenn sie doch nur dasselbe Zimmer bewohnen würde! Er stellte sich vor, wie er mit ihr hinaufging und sie vielleicht genau am selben Platz vögelte, wo ... Dank seiner Entdeckung verwandelte sich das ursprünglich als lästig empfundene Rendezvous mit ihr in ein ziemlich aufregendes Erlebnis. Er las weiter. »Eines Tages, mitten im August, ermordete Christie Ruth Fuerst. >Sie entkleidete sich«, sagte er, >und wollte mit mir Geschlechtsverkehr haben.«« Ludovic Kennedy schrieb in seinem Buch »Rillington Place Nummer zehn«, das sich ebenfalls in Mix' Büchersammlung befand, ihre Beziehung hätte sich allmählich entwickelt. Er vertrat die Auffassung, sie sei mit ihm unverblümt eine geschäftliche Beziehung zwischen Prostituierter und Kunde eingegangen oder sie hätte ihm ihre Gunst kostenlos als Ausgleich dafür gewährt, dass er sie in seiner Funktion als Hilfspolizist nicht wegen Prostitution angezeigt hatte. »Er erdrosselte sie während des Akts mit einem Stück Seil. Dann wickelte er sie in ihren Leopardenfellmantel ein« - ein Pelzmantel im August! -, »schaffte sie ins Wohnzimmer und legte sie mit ihren übrigen Kleidungsstücken unter die Dielenbretter. Am selben Abend kehrte Ethel, die in Sheffield Verwandte 66 besucht hatte, mit ihrem Bruder Henry Waddington nach Hause zurück. Ihr Bruder wollte bei ihnen übernachten. Da sie nur ein Schlafzimmer hatten, das von Christie und Mrs. Christie belegt war, schlief Henry Waddington im Wohnzimmer, nur wenige Schritte von dem dort vorübergehend versteckten Leichnam von Ruth Fuerst entfernt
Hier musste Mix aufhören. Er sollte Danila um acht Uhr abholen und wollte früher weg, um sich vor die Nummer einundvierzig zu stellen und genüsslich das Wohnhaus des ersten Opfers zu betrachten. Besagtes Haus in Oxford Gardens lag auf der anderen Seite des Ladbroke Grove. Es war ziemlich schäbig und hätte dringend einen neuen Anstrich und eine gründliche Renovierung gebraucht. Ganz gewiss wäre es inzwischen enorm viel wert, doch das könnten sich die Bewohner aus den Kriegsjahren wohl kaum vorstellen, falls überhaupt noch jemand aus dieser Generation lebte. Eine ältere Katze mit grauer Schnauze, die Otto ziemlich ähnlich sah, kam über die Mauer geklettert und blieb stehen, als sie Mix hinaufstarren sah. Mix zog eine Grimasse und scheuchte sie fort, aber das Tier war gewieft und erfahren. Es warf ihm lediglich einen unergründlichen Blick zu und verzog sich dann langsam ins Gebüsch. Hatte Reggie je an dieser Stelle gestanden? War er nach einigem Nachdenken den Weg hinaufgegangen und hatte geläutet? Vielleicht war er vor dem letzten fatalen Rendezvous schon mehrfach hier gewesen. Hatte nicht der Autor des bekanntesten Buchs über Reggie angedeutet, sie hätten einander schon länger gekannt? Höchstwahrscheinlich entwickelten sich seine Beziehungen zu sämtlichen Opfern ganz langsam. Vermutlich war er manchmal bei ihnen in der Wohnung gewesen. Schließlich hatte sich ja Ethel Christie meistens daheim am Rillington Place aufgehalten, und in Cafes und Pubs hatte er sich nicht immer mit ihnen treffen können. 67
Reggie hatte Gwendolen im St. Blaise House besucht. Davon war Mix immer mehr überzeugt. Kurz nach seinem Einzug in die Wohnung hatte sie beiläufig ihre Eltern erwähnt, mit denen sie in grauer Vorzeit zusammengelebt hatte. Außerdem hatte sie davon gesprochen, dass ihre Mutter kurz nach dem Krieg verstorben war. Der Vater hatte angeblich als Professor gearbeitet, was immer das heißen sollte. Der war ganz sicher nicht zu Hause gewesen. Mix sah förmlich vor sich, wie Gwendolen Reggie hereinließ und auf eine Tasse Tee in die Küche bat. Typisch für diese arrogante Kuh! Dabei sprach man dann über die Abtreibung, und warum sie es unbedingt machen wollte, und dass er für diese Operation genau der Richtige sei. Vielleicht konnte sie sich den von Reggie geforderten Betrag nicht leisten. Andererseits hatte Mix bisher nirgendwo gelesen, dass Reggie dafür je etwas verlangt hatte ... Als er sich zwei Minuten nach acht zu Danilas Wohnhaus begab, erwartete sie ihn bereits hinter dem Haustor. Diese Mischung aus Erwartung und Verzweiflung passte ihm gar nicht. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie ihn
hätte warten lassen, und wenn es eine halbe Stunde gedauert hätte. Aber jetzt war sie eben da. Sie hatte sich ordentlich in Schale geworfen, wie seine Oma zu sagen pflegte: knallenge Lederhose, Rüschenbluse und ein Webpelzjäckchen mit Leopardenmuster. Genau wie Ruth Fuerst, dachte er und überlegte, ob Fuerst auch so ausgesehen hatte: dünn, dunkle Haare, scharfe Gesichtszüge? Hatte er schon einmal ein Foto von ihr gesehen? Er versuchte, sich zu erinnern. Sie gingen zu Fuß zum Ladbroke Grove hinauf und weiter zum Kensington Park Hotel. Seine Vorliebe für das KPH hing nicht mit irgendeiner Besonderheit dieses Hauses zusammen, sondern einzig und allein mit der Tatsache, dass sich damals Reggie hier aufgehalten hatte. Es war eine historische Stätte. Eigentlich sollte eine Tafel die Gäste darauf aufmerksam machen, dass es das Lieb 68 lingslokal des berüchtigtsten Mörders im Londoner Westen war. Aber was konnte man schon von diesen Ignoranten erwarten, die sogar den ganzen Rillington Place durch Abriss zerstörten? »Du bist aber sehr still«, sagte Danila mit einem Wodka Black Currant vor sich. »Kayleigh würde jetzt fragen, ob es dir die Sprache verschlagen hat.« »Wer ist Kayleigh?« »Das Mädchen, das im Studio die Abendschicht macht. Sie ist meine Freundin.« Als Mix keine Antwort gab, fuhr sie eifrig - oder verzweifelt? fort: »Ich habe mir heute die Karten legen lassen.« Beinahe hätte Mix gesagt, für so einen Bockmist habe er keine Zeit, doch dann fiel ihm wieder ein, dass Nerissa bei Geistheilern und Wahrsagern aus und ein ging und ein persönliches Medium hatte. Außerdem glaubte inzwischen auch er fast schon an Geister, oder? »Vermutlich ist doch etwas dran. Schließlich gibt es vieles, von dem wir keine Ahnung haben, stimmt's? Ich meine, im Laufe der Zeit wird sich für einiges davon ein wissenschaftlicher Beweis finden.« »Genau das sage ich auch immer. Ich gehe zu Madam Shoshana ins Studio. Sie ist die Chefin und gleichzeitig auch Wahrsagerin. Sie ist dafür voll ausgebildet und hat sogar einige Titel und solche Sachen.« »Was hat sie denn gesagt?« »Du darfst aber nicht lachen. Mein Schicksal sei mit einem Mann verknüpft, dessen Name mit C anfängt. Und ich habe mir überlegt, ob damit ein Typ gemeint ist, der im Studio Pediküre macht. Charlie heißt er, Charlie Owen.« Mix lachte. »Vielleicht bin ich es.« »Dein Name fängt aber mit M an.«
»Mein Nachname nicht.« »Schon, aber der beginnt mit S.« 69 .»Nein, tut er nicht. Ich muss es schließlich wissen. Er schreibt sich C - E zweimal L-I-N-I. « Sie starrte ihn an. »Du machst Witze.« »Möchtest du noch einen Drink?«, sagte er. Auf dem Rückweg in die Oxford Gardens kaufte er in der Weinhandlung zwei Flaschen kalifornischen Weißwein mit Drehverschluss im Sonderangebot, die sie auf ihrem Bett austranken. Danach fühlte sich Mix nicht mehr sonderlich gut in Form. Aber was machte das schon? Sie waren beide betrunken, und außerdem gehörte sie nicht zu der Sorte Mädels, bei denen man sich zu einer guten Nummer verpflichtet fühlte. Draußen vor ihrer Wohnungstür schwankten Boden und Decke wie auf hoher See. Auf dem Weg zur Treppe umklammerte er den Treppenlauf, stolperte und wäre fast der Länge nach hingefallen. Dabei stülpte sich sein Sakko von hinten über den Kopf. Er zupfte es, so gut es ging, wieder zurecht und machte sich dann an den Abstieg. Unterwegs kam ihm ein Mann entgegen, der vor seiner Alkoholfahne sichtlich zurückzuckte. Mix' besoffenes Hirn tippte auf einen Hausbewohner, so ein orientalischer Typ mit fahlem Gesicht und schwarzem Schnurrbart. Sahen doch alle gleich aus. Wenn er sich umgedreht hätte, hätte er gesehen, wie der orientalische Typ vom Treppenabsatz vor Danilas Wohnung ein weißes Kärtchen aufhob. Mix schlurfte durch die stickig-schwüle Nacht nach Hause. Vielleicht hätte ihn kältere Luft ein wenig ausgenüchtert, aber so wirkte sie wie ein lauwarmes Bad. Otto hockte wieder auf der Treppe und putzte sich, als hätte er gerade etwas verspeist. Mix fand die häufige Anwesenheit der Katze auf der Treppe leicht merkwürdig und nicht sonderlich angenehm. In der ersten Zeit war das nie vorgekommen. Da sie beide einander nicht leiden konnten, war Mix nicht der Anziehungspunkt. Aber was war es dann? 69
8 Nerissa gab eine Party, zu der keiner ihrer Freunde eingeladen war, weder Rodney Devereux noch Colette Gilbert-Bamber noch jenes Model, dessen einer Knöchel hinterher dicker war als der andere. Eingeladen waren lediglich ihre Familie und die nächste Verwandtschaft. Die einzige Ausnahme bildete die Familie Jones, die direkt neben ihren Eltern wohnte. Sie schickte eine ihrer wunderschönen purpurfarbenen Einladungskarten, die in goldenen Lettern
an Mr. und Mrs. Jones und an Mr. Darel Jones adressiert waren. Darunter schrieb sie mit weißer Tinte: »Bitte, kommt. Alles Liebe, Nerissa.« Daraufhin bekam sie von Sheila Jones einen durchaus höflichen, aber ziemlich kühlen Brief, in dem stand, sie könnten nicht kommen, es täte ihnen leid. Ein Grund dafür wurde nicht genannt. Nerissa hatte wahrlich keine allzu hohe Meinung von ihrer Intelligenz, aber sogar sie konnte zwischen den Zeilen herauslesen, dass Mrs. Jones der Ansicht war, diese Party mit all den schicken Leuten, die alle nach der neuesten Mode gekleidet wären und sich nur über Dinge unterhalten würden, von denen sie nichts verstünden, sei viel zu pompös für sie. Nerissa war enttäuscht, und das nicht nur, weil damit auch Darel abgesagt hatte. Das Ehepaar Jones gehörte zu jener Sorte Menschen, die sie gern hatte: ehrlich, bescheiden und nüchtern. Schade, dass sie nicht begriffen, was für eine Party es wirklich war. Anlass war der Geburtstag ihres Papas, und das hatte sie auch auf die Einladung geschrieben. Ihre Brüder würden mit ihren Ehefrauen und insgesamt sieben Kindern kommen, dazu noch Papas Cousin, der eine gewichtige Rolle bei der Ge 70 werkschaft für Transport und Verkehr spielte, die jüngere Schwester ihrer Mama, die man letztes Jahr in den Gemeinderat von Tower Hamlets gewählt hatte, die ältere Schwester ihrer Mama, die nach einer halben Ewigkeit ihre Jugendliebe wiedergetroffen und geheiratet hatte, die Tante ihrer Mama aus Notting Hill, ihre drei Nichten, die alle noch Babys waren, ihr dreijähriger Neffe und ihre Großmutter, die zweiundneunzigjährige Matriarchin der Familie, eine geborene Afrikanerin. Pech für die Familie Jones, redete sich Nerissa aufsässig ein, während sie mit Lynette allen eine Tasse Tee servierte, die keinen Champagnercocktail haben wollten. Insgeheim jedoch gestand sie sich ein, dass dies auch ihr Pech war. Nachdem Lynette mit Hilfe des Cousins von der Gewerkschaft ein paar Möbel weggerückt hatte und das Parkett zum Tanzen frei war, malte sie sich aus, wie glücklich sie in Darels Armen langsam über den Boden geschwebt wäre. Dann wurde alles noch schlimmer. Ihre Oma erzählte gerade eine spannende Geschichte über ihre eigene Mutter und einen Medizinmann, da klingelte das Telefon. Am anderen Ende war Rodney. Nerissa ging mit dem Telefon ins Arbeitszimmer und hörte sich ungeduldig seine Fragen an. Warum hatte man ihn nicht zu dieser Party eingeladen? Sie müsse verrückt sein, wenn sie zuließ, dass sich die ganze Verwandtschaft auf ihre Kosten amüsierte.
»Es ist allgemein bekannt, dass jeder seine Eltern hasst«, sagte Rodney. »Du weißt doch, was dieser Typ gesagt hat. Wie hieß er doch gleich? »Alle Eltern versauen ihre Kinder.«« »Meine haben es nicht getan. Außerdem ist derjenige krank, der so etwas gesagt hat, egal, wer es war.« »Überlass sie, um Himmels willen, sich selbst. Ich hole dich in fünf Minuten ab.« »Rod, das kann ich nicht«, erwiderte Nerissa. »»Mein Papa schneidet gerade den Kuchen an.« Sie begab sich wieder zu ihren Gästen und fütterte die Klei 71 nen, die keinen Obstkuchen mochten, mit Schokokeksen und Eis. »In ein paar Jahren wirst du selbst welche haben«, meinte ihre Tante aus Tower Hamlets. »Hoffentlich.« Nerissa dachte an Darel, der sicher irgendwo da draußen mit seiner Freundin zusammen war. Vielleicht machte er ihr sogar während dieses Gesprächs einen Heirats-an trag. »Zuerst muss ich mal heiraten.« »Die Mühe macht sich doch kaum jemand mehr«, sagte ihre Tante aus Notting Hill, die eigentlich ihre Großtante war. »Ich schon«, entgegnete Nerissa und putzte eine kleine Schnute ab, die wie ein Vögelchen nach mehr gierte. Sie legte den Johnny-Cash-Song »I Walk the Line« auf, drehte den Verstärker lauter und forderte ihren Vater zum Tanz auf. Gwendolen wäre entsetzt und zutiefst schockiert gewesen, wenn sie gewusst hätte, welche Fantasien ihr Mieter über ihr früheres Leben hegte. Zum Glück hatte sie vergessen, was sie damals in der Eingangshalle flüchtig über ihren Besuch am Rillington Place Nummer zehn erwähnt hatte. Mix Cellinis Unterstellungen hätten sie unsäglich gedemütigt. Dieser war inzwischen überzeugt, sie hätte Christie genauso gut gekannt wie Ruth Fuerst oder Muriel Eady, sie wäre bei ihm zu Hause ein und aus gegangen und er wäre für eine Abtreibung hierhergekommen. Mix war in seinen Schlussfolgerungen sogar noch einen Schritt weiter gegangen: Da Gwendolen immer noch am Leben war, hatte sie zwangsläufig Christies Abtreibungsangebot ausgeschlagen. Also hatte sie ein Kind zur Welt gebracht, das heutzutage ein Mann oder eine Frau in mittleren Jahren sein musste. Kam diese Person jemals hierher? Hatte er, Mix, dieses geheimnisvolle Wesen bereits gesehen? Zu ihrem Glück hatte Gwendolen keine Ahnung von den abstrusen Gedanken in Mix' Gehirnwindungen.
72 Ihr Besuch im Internetcafe hatte sie schon genug gedemütigt. Eine Zeit lang war sie völlig hilflos gewesen und hatte die Welt nicht mehr verstanden. Irgendwie spürte sie, dass ihre verblüffte Reaktion auf die anderen Gäste samt und sonders sehr junge Leute, die ganz selbstverständlich diese Maschinen bedienten - absurd gewirkt hatte, auch wenn sie es nicht mit letzter Sicherheit hätte sagen können. Sie interpretierte ein flüchtiges Lächeln und Köpfe, die sich abwandten, als Ausdruck amüsierter Verachtung. Obwohl sie gezahlt hatte und jede Geldverschwendung hasste, wäre sie am liebsten aufgestanden und gegangen und hätte ihren Plan, Stephen Reeves zu finden, für immer begraben. Doch als sie verzweifelt ihren Stuhl zurückschob, fragte sie ein junger Mann, der eben erst hereingekommen war, ob sie ein Problem hätte. »Es tut mir leid, aber anscheinend komme ich nicht damit zurecht ...« »Was möchten Sie denn wissen?«, fragte er. Könnte es schaden, wenn sie diesem Fremden die Wahrheit sagte? Sie würde ihn nie wiedersehen. Außerdem würde er doch nie und nimmer den wahren Grund für ihre Suche nach Stephen Reeves erraten. Oder doch? Kaum ein Entschluss war Gwendolen in ihrem langen Leben so schwer gefallen wie der, sich diesem Menschen anzuvertrauen. »Ich wüsste gerne den - äh, Aufenthaltsort eines gewissen Dr. Stephen Makepeace Reeves.« Eines spürte sie: Sobald sie Stephens Alter preisgab, würde dieser Einundzwanzigjährige höchst erstaunt reagieren. Leider ließ es sich nicht vermeiden. »Er müsste an die achtzig sein. Er ist Arzt und hatte früher einmal hier am Ladbroke Grove eine Praxis. Ach, vor langer, langer Zeit, vor fünfzig Jahren.« Ihr hilfreicher Geist ließ sich nicht anmerken, ob er ihre Anfrage seltsam fand. Trotz ihrer Hemmungen und ihrer tiefen Angst vor dem Computer und dessen möglichen Aktionen 72 verfolgte sie fasziniert, wie schnell und sicher der junge Mann ein Bild nach dem anderen auf dem Bildschirm hervorzauberte. Kunterbunte Textkolumnen, Bilderkästen und Informationsblöcke wechselten einander in schneller Reihenfolge ab, entfalteten sich und rollten herunter. Und dann war er da: Stephen Makepeace Reeves, 25 Columbia Road, Woodstock, Oxfoidshire, samt Telefonnummer und einer E-Mail-Adresse, wie es der junge Mann nannte. Diesen Informationen schloss sich eine Art Biographie an. Daraus erfuhr sie Tag und Ort seiner Geburt, wo er Medizin studiert hatte, dass er
Eileen Summers geheiratet und mit ihr einen Sohn und eine Tochter hatte. Nach seinem Wegzug aus Notting Hill war er in eine Gemeinschaftspraxis in Oxford eingestiegen, wo er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1985 tätig gewesen war. In den folgenden Jahren hatte er mehrere Bücher über das Leben eines Arztes in einer berühmten Universitätsstadt geschrieben. Eines davon diente als Vorlage für eine Fernsehserie. Leider war seine Frau Eileen kürzlich im Alter von achtundsiebzig Jahren verstorben. Gwendolen seufzte glücklich und hoffte, dass es der junge Mann nicht merkte. Eigentlich wollte sie jetzt nur noch allein sein, aber ihre Neugier siegte. Sie musste es einfach wissen. »Steht denn da drinnen über jeden so etwas?« Zaghaft deutete sie mit einem Finger auf den Bildschirm. Sie schwankte zwischen Hoffen und Bangen, ob auch ihre eigene Lebensgeschichte in den Tiefen dieser Maschine verborgen war. »Nicht in dem Umfang. Wissen Sie, er hat eine Website. Vermutlich weil er diese Bücher geschrieben hat und das Zeug im Fernsehen kam.« Obwohl sich Gwendolen auf diese Bemerkungen nicht den geringsten Reim machen konnte, bedankte sie sich bei ihm und ging. Eigentlich hätte sie noch Einkäufe machen müssen, aber das war jetzt unmöglich. Momentan war sie nur zum 73 Nachdenken fähig. Als sie fortgegangen war, hatte draußen Mr. Cellinis Wagen geparkt. Jetzt war er weg. Sie war erleichtert. Obwohl sie nur wenig Kontakt zu ihm hatte, störte bereits die Tatsache, dass er sich im Haus aufhielt, auch wenn es ganz oben in dem von ihrer Mutter so genannten Dachboden war, irgendwie den von ihr so dringend benötigten, absoluten Frieden. Sie musste nachdenken und sich erinnern und Pläne schmieden. Eine Weile saß sie im Salon, wo sie die Mischung aus staubiger Luft und muffigen Stoffen, die seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gereinigt worden waren, tröstlich an längst vergangene, glückliche Zeiten erinnerte. Doch dann trieb sie etwas in ihr Schlafzimmer hinauf, was es vor fünfzig Jahren noch nicht gegeben hatte: das unaufhörliche Dröhnen und Quietschen des Verkehrs. Hier oben war es etwas besser. Otto lag vor dem Kamin, in dem noch die Aschereste von anno 1975 ruhten, und fraß eine Maus. Im Gegensatz zu den meisten Katzenbesitzern erhielt sie von ihm nie Mäuse geschenkt. Er schleppte sie an seine Lieblingsplätze, biss ihnen den Kopf ab und fraß den Rest dann nach Belieben auf. Gwendolen beachtete ihn nicht mehr als bisher. Seit er vor einem Jahr unversehens im St.
Blaise House aufgetaucht war, hatte sie ihm lediglich Futter hingestellt. Sie entledigte sich ihrer Schuhe, legte sich aufs Bett und zog sich die mit rosa Seide bezogene Eiderdaunendecke über die Beine. Vielleicht würde sie nach Oxford fahren und dort sogar kühn ein Wochenende verbringen. Im Randolph. Dort war Papa immer abgestiegen, wenn er nicht auf Einladung eines Collegedekans in Räumlichkeiten unterkam, die besonderen Gästen vorbehalten waren. Von hier aus würde sie mit dem Taxi hinaus nach Woodstock fahren. Vielleicht gäbe es aber auch einen Bus. Taxis waren schließlich sehr teuer. Oder sie würde einen Brief schreiben. Unter diesen Umständen war es norma 74 lerweise am besten, wenn man vorher schrieb. Andererseits hatte sie bisher aber keine Erfahrung mit solchen Umständen gehabt ... Seit Betreten des Schlafzimmers hatte sie unterschwellig Musik gehört, die nun allmählich immer lauter zu werden schien. Sie drang nicht durch die Wand, sondern durch die Zimmerdecke. Demnach musste Mr. Cellini also doch zu Hause sein, obwohl sein Wagen nicht dastand. Vielleicht hatte er ihn zur Reparatur oder etwas Ähnlichem gebracht. Verärgert ging sie zur Tür und öffnete, wobei sie gleichzeitig innerlich befriedigt registrierte, dass ihr Mieter trotz allem echte Musik schätzte. Entgegen seinen Behauptungen musste er gestern »Lucia« gespielt haben. Diesmal handelte es sich um eine BachToccata. Gwendolen hätte es nicht geglaubt, wenn ihr jemand vor dem Einzug von Mr. Cellini gesagt hätte, dass sie Töne aus der vermieteten Wohnung geduldig über sich ergehen lassen und sich sogar daran freuen würde. Aber schließlich war klassische Musik auch etwas ganz anderes, und außerdem musste sie so nicht den Strom bezahlen, den das Abspielen kostete. Solange er nicht Prokofieff bevorzugte - diese Russen konnte sie nicht leiden -, würde sie sich nicht gestört fühlen. Als sie wieder auf dem Bett lag, malte sie sich ihr Treffen mit Stephen Reeves vor den Toren von Schloss Blenheim aus. Er würde sie sofort erkennen, würde ihre Hände ergreifen und ihr sagen, dass sie sich überhaupt nicht verändert hatte. Dann würde sie ihm den Verlobungsring ihrer Mutter zeigen, den sie anstelle jenes Ringes trug, den er ihr nicht gegeben hatte. Vielleicht würde er ihn ihr vom Finger streifen und an die linke Hand stecken. Mit diesem Ring nehme ich dich zur Frau ... Mix nahm in Shoshanas Club die nächste Gerätereihe in Angriff. Es war sein vierter Besuch. Seinen »Tagesjob«, wie er es 74
inzwischen nannte, hatte er bereits hinter sich. Heute war er kurz vor fünf Uhr hier eingetrudelt. Sonst hatte er mal den Vormittag seines freien Tages, die frühen Morgenstunden vor Arbeitsbeginn und seine Mittagspause dafür verwendet. Leider hatte er Nerissa bei keinem seiner Besuche gesehen. Jetzt benötigten diese Geräte mindestens sechs Monate lang keine Wartung mehr, und ihm blieb als Ausrede für sein Erscheinen nur noch ein Wiedersehen mit Danila. Wenn es nach Mix gegangen wäre, hätte er Danila in Zukunft keines Blickes mehr gewürdigt. Leider empfand sie für ihn offensichtlich genau das Gegenteil. Trotz seiner geringen Menschenkenntnis begriff er, dass sie ein Verlierertyp war, eine Frau mit wenig bis gar keinem Selbstwertgefühl, eine, die einen Mann als Liebesobjekt suchte, an den sie sich klammern und dem sie wie ein Schoßhündchen folgen konnte. Diesen Mann hatte sie in ihm gefunden, davon war sie überzeugt. Irgendwie betrachtete er sie als Opfer, auch wenn er sich das nicht so recht erklären konnte, als eine Frau, die eine solche Behandlung verdiente, weil sie sich selbst keine Bedeutung beimaß. Daher verspürte er nicht die geringste Lust, für sie Geld auszugeben oder sich mit ihr in der Öffentlichkeit zu zeigen. Er war nicht stolz auf ihren platten Oberkörper, ihre dünnen Beine und ihr Wieselgesicht mit den hungrigen Augen. Ihr gemeinsamer Abend im Kensington Park Hotel blieb ein Einzelfall. Seither war er einfach hin und wieder mit ein paar Flaschen Alkohol bei ihr in Oxford Gardens aufgekreuzt und hatte dort den Abend verbracht. Sie betrachtete ihn als ihren Freund. Er wollte unbedingt wissen, ob sie irgendeinem ihrer Bekannten von ihm erzählt hatte, und sie meinte, eigentlich hätte sie keine echten Freunde. Natürlich gäbe es Kayleigh, aber mit ihr hätte sie nicht über ihn gesprochen. Vielleicht wäre sie dann traurig. Schließlich hätte sie ja keinen Freund. Danila war erst seit sechs Mo 75 naten in London. Zuvor hatte sie in Shoshanas Schönheitsboudoir in Lincoln gearbeitet. »Madam Shoshana wollte, dass ich die Spätschicht übernehme, aber ich habe gesagt, das geht nicht, weil ich mich mit meinem Freund treffe. Wegen deines Vertrags habe ich nicht gesagt, dass du dieser Freund bist. Ich fand, das würde komisch wirken.« Eines war Mix klar: Diese Frau konnte er ohne Auswirkungen jederzeit nach Belieben fallen lassen. Bis es so weit war, hatte er nichts dagegen, sie ordentlich durchzuvögeln, wenn sie beide, entspannt vom süßen Rotwein, in Fahrt gekommen waren. Irgendwie war sie sogar besser als Colette Gilbert-
Bamber, die sich immer nur hin und her wälzte und biss und lautstark Anweisungen gab. Danila lag reglos und willfährig da, ohne etwas zu fordern. Sie nahm dankbar, was sie bekommen konnte, und lächelte auf dem Höhepunkt. Für eine derart knochige Frau fühlte sie sich überraschend weich an, und ihre schmalen Lippen schienen sich unter seinen gelegentlichen Küssen zu erwärmen und voller zu werden. Doch das alles würde nicht reichen, um ihn zu halten, sagte er sich, wenn er um Mitternacht wieder ins St. Blaise House kam. Für den Fall, dass Reggies Geist im Flur stand, wickelte er sich seinen dunklen Schal über die Augen und tappte blind die geflieste Treppe hinauf. Den Geist erwähnte er Danila gegenüber nicht. Er fragte sie nur, ob sie wüsste, dass Ruth Fuerst ganz in der Nähe in dieser Straße gewohnt hatte. »Wer?« Mix war immer wieder überrascht, wenn er einen Bewohner von Notting Hill traf, der von Christie und dessen Morden keine Ahnung hatte. Gut, die Sache war fünfzig Jahre her, aber für intelligente Menschen war das wie gestern. Aber was kann man schon von einem so dämlichen Mädchen wie Danila erwarten? 76 »Sie war Christies erstes Mordopfer. Sie wohnte in Nummer einundvierzig.« Er erzählte ihr von Reggie, während sie nach dem Akt auf ihrem Bett lagen. Ruth Fuerst, Muriel Eady, höchstwahrscheinlich Beryl Evans und ihre Tochter Geraldine, einige andere und Ethel Christie selbst. Alle erdrosselt und danach im Haus oder im Garten verscharrt. »Wenn ich er wäre - und du eine von denen«, sagte er, »hätte ich dich gebumst, wenn du noch nicht kalt gewesen wärst.« »Du machst Witze.« »O nein. Genau das hat er getan. Wenn du magst, kannst du sein Wohnhaus noch besichtigen. Es steht nicht weit von hier. Leider hat sich alles verändert.« Er bot sich nicht an, es ihr zu zeigen. »Die Alte, der meine Wohnung gehört ich meine die Hauseigentümerin -, die hat ihn gekannt. Die beiden waren gute Bekannte. Er wollte bei ihr eine Abtreibung machen, aber sie ist weggelaufen.« »Mix, bei dir bekomme ich eine Gänsehaut.« Er lachte. »Ich mach mal die andere Flasche auf. Bleib liegen.« Eine Viertelstunde vor Mitternacht zog er sich wie ein männliches Dornröschen an, um zur verabredeten Stunde daheim zu sein. Ein echtes Loch, dachte er, während er sich im Zimmer umsah, auch wenn es nicht besonders schmutzig war. Ein heilloses Durcheinander und weit und breit
kein ordentliches Möbelstück. Die Vorhänge hatten Ähnlichkeit mit einem zerschnittenen Bettlaken. »Nächstes Mal kannst du zu mir kommen«, sagte er. Im St. Blaise House wäre es sicher und wesentlich komfortabler. Zu diesem Schluss war er gekommen, nachdem er die möglichen Folgen sorgsam bedacht hatte. Sie würde tief beeindruckt sein. Schon der Gedanke daran amüsierte ihn. »Freitag, gegen acht?« »Darf ich wirklich?« Sie sah ihn mit strahlenden Augen an. Blöde Kuh, dachte er, hat ja keine Ahnung. In Wirklichkeit 77 machte er sich nichts aus ihr. Nein, das war falsch. Er hasste sie, und er wusste auch weshalb: Sie erinnerte ihn an seine Mutter. Sie machte denselben schwachen und passiven Eindruck und wirkte genauso minderwertig. Wie seine Mutter sah sie nicht gut aus, war nicht schlau und hatte keinerlei Erfolg. Sie hatte keinen Funken Stolz im Leib und ließ sich von jedem x-beliebigen Mann vögeln. Bereits am ersten gemeinsamen Abend hatte sie es mit ihm getrieben. Wertvolle Frauen sollten schwer zu erobern sein. Zu dieser Kategorie gehörte auch Colette nicht, aber sie war Nymphomanin, das sagten alle Fachleute. Er übertrug die Wut auf seine Mutter direkt auf Danila. Am liebsten hätte er sie geschlagen. Genau wie damals bei seiner Mutter, dachte er, genau das löste sie in einem Mann aus. Zu seiner Erleichterung war keiner von Danilas Nachbarn in der Nähe, weit und breit kein Zeichen von dem Orientalen. Während er in die kalte Nachtluft hinaustrat, redete er sich gut zu. Er dürfe nicht so ängstlich sein, schließlich sei er doch nicht Reggie. Er sei kein Mörder, der befürchten müsste, in der Nähe seines Tatorts erkannt zu werden. Was machte es schon, wenn ihn jemand sähe? In fünf Minuten hätten sie ihn sowieso wieder vergessen. Geistesabwesend betastete er das Kreuz in seiner Hosentasche. Neuerdings ertappte er sich immer häufiger bei dieser Geste, besonders wenn er mit der Zahl Dreizehn in Berührung kam, zum Beispiel wenn er an Oxford Gardens Nummer dreizehn vorbeiging oder bei Shoshana das dreizehnte Laufband reparierte. Anderntags dachte er, er hätte mehr davon, wenn er sich darauf konzentrierte, Nerissa kennenzulernen. Bisher war er noch keinen Schritt weitergekommen. Vielleicht sollte er sich jetzt in Shoshanas Studio auf die Warteliste für künftige Mitglieder setzen lassen. Danila könnte er leicht dazu bringen, ihn auf den vorderen Plätzen einzutragen, vielleicht sogar an 77
erster Stelle. Vielleicht würde sie ihn sogar ohne jede Wartezeit aufnehmen. Dann könnte er dort nach Belieben aufkreuzen. Und außerdem täte es ihm auch noch gut. Denn eines musste er zugeben: Bisher hatten ihm seine Fußmärsche und weniger ungesundes Essen nicht viel gebracht. Erst vor einer halben Stunde hatte er sich nach einem Besuch bei Colette einen Schoko-NussRiegel und eine Tüte Kartoffelchips gekauft, die auf geheimnisvolle Weise bis auf den letzten Krümel verschwanden, während er nachdenklich im Auto saß. Am Freitag würde er Danila fragen. Nein, nein, er würde es ihr am Freitag unverblümt mitteilen. Er würde ihr seinen Wunsch mitteilen, und sie müsste ihn erfüllen. Wenn er eine Woche lang täglich ins Studio ginge, müsste er Nerissa treffen, und dann ... Was seine Beziehungen zu Frauen betraf, hätte er allen Grund, selbstbewusst zu sein, redete Mix sich ein. Und aus diesem Selbstbewusstsein heraus bekam er auch immer die gewünschte. Meistens. Wenn er sich selbst gegenüber ganz ehrlich war, musste er zugeben, dass er bei Frauen, die er wirklich unbedingt haben wollte, doch nicht so erfolgreich war. Woran lag das? Das würde er sich vor Augen halten und ganz langsam und behutsam vorgehen müssen, sobald er Nerissa kennengelernt hätte. Eines stand zweifellos fest: Er wollte sie unbedingt haben, mehr als jede andere zuvor. Selbstverständlich um ihrer selbst willen, aber auch, weil sie ihn berühmt machen würde. Dieses Herumbohren in seinem Inneren langweilte ihn, und so driftete er auf der Fahrt zu seinem nächsten Termin in einen Tagtraum ab, in dem er Nerissa zu einem todschicken Empfang begleitete. Zum Beispiel zur Verleihung der BAFTA-Awards, wo man für die Stars schon auf dem Bürgersteig einen roten Teppich ausbreitete, den sie beim ersten Schritt aus ihren Autos betraten. Sie würde ein prächtiges, durchsichtiges Kleid tragen und dazu ihren eigenen Diamantschmuck, wäh 78 rend sein maßgeschneiderter Smoking seine neue, schlanke Figur bestens unterstriche. Mit der Ehe hatte Mix nichts am Hut. Das war der einzige Gedanke, den er bisher an dieses Thema verschwendet hatte. Damit konnte er nichts anfangen, jedenfalls jetzt noch nicht. Vielleicht, wenn er mal auf die vierzig zuginge. Aber jetzt... Warum sollte er Nerissa nicht heiraten, wenn er seine Trümpfe richtig ausspielte? Eines Tages würde er ja doch heiraten. Und wer würde besser zu ihm passen, und zwar schon heute? Gwendolen entschied sich für einen Brief. Obwohl sie schon seit vielen Jahren keinen mehr geschrieben oder erhalten hatte, vertraute sie ihrer guten Ausdrucksweise. Jeder Empfänger würde ihre Zeilen mit Vergnügen lesen
und sich dabei gerne an jene längst vergangene, gute alte Zeit erinnern, in der die Leute noch die Rechtschreibung beherrschten und ein gutes Englisch ohne Grammatikfehler schreiben konnten und wussten, wie man Sätze konstruiert. Im Anschreiben einer Firma, die angeblich ihre Gasversorgung sicherstellen wollte, hatte der Satz gestanden: »Unsere Mitarbeit setzt sich mit Ihnen in Verbindung.« Selbstverständlich hatte sie sich in ihrer Antwort mit schneidenden Worten zum raschen und sicheren Niedergang eines Industriezweiges geäußert, der so unklug war, Analphabeten zu beschäftigen. Leider hatte sie keine Antwort erhalten. Jetzt wollte sie an Stephen Reeves schreiben und - hatte Mühe damit. Zum ersten Mal in ihrem Leben vermisste sie einen Fernsehapparat. Dann hätte sie seine Sendungen über einen Landarzt sehen können. Das wäre eine Überraschung gewesen, wenn sein Name auf dem Bildschirm erschienen wäre! Wenn sie die genaue Sendezeit gewusst hätte, hätte sie sich vor das Fernsehgeschäft im Westbourne Grove stellen und die Sendung durchs Schaufenster verfolgen können. So aber konn 79 te sie ihm nicht in der Form schreiben, wie sie es gern getan hätte, nämlich dass sie seine Sendungen mit großem Vergnügen verfolgt hatte. Als ich die lebendige Umsetzung Ihrer Geschichten auf dem Bildschirm verfolgte, fühlte ich mich angeregt - nein, veranlasst, nein, ermutigt? - verpflichtet, Ihnen nach so vielen Jahren zu schreiben. Da ich mir bezüglich der Identität des Autors nicht sicher war, habe ich mich mit Ihrer Website vertraut gemacht, die... Durch den Hinweis auf seine Website würde er erkennen, dass sie mit der Zeit gegangen war. Doch dann fiel es Gwendolen wieder ein: Natürlich hatte sie die Serie gar nicht gesehen, sie besaß ja gar keinen Fernseher. Also musste sie wieder von vorne anfangen. Als ich von einem Bekannten hörte, dass Sie sich in die Fernsehwelt vorgewagt haben, beschloss ich - den jungen Mann aus dem Internetcafe könnte man doch sicher als Bekannten bezeichnen; sie war eifrig darauf bedacht, nicht bereits am Anfang die Unwahrheit zu schreiben - beschloss ich, an eine alte Freundschaft wieder anzuknüpfen - wäre das zu vorlaut? Den meisten Leuten würde es wie eine Ewigkeit erscheinen, wenn eine Freundschaft ein halbes Jahrhundert geruht hatte - beschloss ich, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Sie würde den Grund dafür nennen müssen. Sie müsste sagen, dass sie ihn sehen wolle. Niedergeschlagen zerknüllte Gwendolen ihren fünften Entwurf. Am besten wäre es, wenn sie sich vor der eigentlichen Niederschrift ohne Papier und Feder auf die sorgfältige Wahl ihrer Worte konzentrierte.
Darel Jones war ein ernsthafter junger Mann, der seinen Umzug in eine Wohnung in den Docklands mit Rücksicht auf seine Eltern behutsam anging. Während Schulzeit, Studium und Aufbaustudium hatte er zu Hause gewohnt, doch jetzt war es Zeit auszuziehen. Immerhin war er bereits achtundzwanzig und hatte einen neuen, besser bezahlten Job in Aussicht. Die 80 sen Schritt musste er noch vor seinem dreißigsten Geburtstag hinter sich bringen, das war ihm klar gewesen. Und so hatte er seit Erreichen der Volljährigkeit auf ein hohes Maß an Selbstständigkeit geachtet. Er wusch und bügelte selbst, aß viermal in der Woche auswärts und vermied es, seine Freundinnen bei sich übernachten zu lassen. Stattdessen ging er lieber zu ihnen in die Wohnung. Dies war ein ständiger Balanceakt, denn seine Mutter hätte nur allzu gern alles für ihn getan. Sie hätte die Mädchen mit offenen Armen aufgenommen und sich gezwungen, keine doppelten Maßstäbe anzulegen, indem sie ihm innerlich zu seiner Wahl gratulierte, während sie die Mädchen als kleine Huren verdammte. Mindestens zwei Abende pro Woche hatte er mit seinen Eltern verbracht. Er hatte sie ausgeführt, war mit ihnen ins Kino gegangen, hatte sich charmant um ihre Freunde gekümmert und sich bei seiner Mutter für Kleinigkeiten gewissenhaft bedankt. Jetzt zog er aus. Jetzt begann sein eigenes Leben am anderen Ende Londons. Beide Elternteile hatten keinen einzigen Einwand vorgebracht. Und doch sah er, wie seiner Mutter am Abend des Umzugstages - die neuen Möbel waren bereits aufgestellt, im Flur warteten zwei Koffer voller Kleidung auf den Abtransport in seinem Wagen - langsam eine Träne über die Wange lief. »Na, los, Mami, Kopf hoch. Was würdest du denn machen, wenn ich wie der Sohn deiner Freundin - wie heißt sie noch mal? - nach Australien ginge?« »Ich habe keinen Ton gesagt«, verteidigte sich Sheila Jones. »Tränen sagen mehr als Worte.« »Was machst du denn erst, wenn er mal heiratet?« Ihr Ehemann reichte ihr sein Taschentuch, wie er das während ihrer dreißigjährigen Ehe durchschnittlich einmal pro Woche getan hatte. »Hoffentlich tut er es. Ich werde seine Frau gern haben, das weiß ich.« 80 Darel war davon weniger überzeugt. »Bis dahin vergeht noch viel Zeit«, sagte er. »Schaut mal, ich möchte, dass ihr mir beide versprecht, am Samstagabend zum Essen rüberzukommen. Bis dahin bin ich eingerichtet.« Allmählich wurde es Sheila leichter ums Herz. »Tom und Hazel möchten unbedingt, dass wir heute Abend alle gemeinsam bei ihnen auf einen
Abschiedstrunk vorbeischauen. Ich habe schon zugesagt. Nerissa wird auch da sein.« Darel überlegte, allerdings nur kurz, und meinte dann: »Geht ihr mal. Ihr könnt für mich Auf Wiedersehen sagen.« »Ach, ohne dich würden wir nie gehen. Das wäre Unsinn. Außerdem würden wir dann die letzten kostbaren Stunden mit dir versäumen.« Vielleicht wäre er mitgegangen, wenn sie nicht die Anwesenheit dieses Models erwähnt hätte. Jeder Mann würde gestehen, dass Nerissa Nash Warum hatte sie nicht ihren interessanten Familiennamen beibehalten? wunderschön war und nach Aussage ihres Vaters eine reizende junge Frau. Trotzdem hütete sich Darel vor dieser ganzen VIP-Welt, die er nur aus der Zeitung kannte. Da sich seine Lieblingslektüre normalerweise auf die »Financial Times« beschränkte, mochte das noch nicht allzu viel heißen, aber gewisse Reizwörter im Zusammenhang mit dieser Welt erregten nun mal seinen Widerwillen: Club, Mode, Star, Auftritt in der Öffentlichkeit, Designer und natürlich auch der Begriff »VIP« an sich. Ein Mitglied dieser sogenannten Elite musste zwangsläufig ein ungebildeter Hohlkopf ohne Geschmack und Tiefgang sein. Solche Leute trieben auf ein leeres unglückliches Leben zu, auf gescheiterte Beziehungen, gestörte Familienverhältnisse und entfremdete Kinder, und wehrten sich verzweifelt gegen das Älterwerden. Oft schalt er sich insgeheim, er sei ein richtig arroganter Schnösel, und nahm sich dann immer vor, weniger Vorurteile 81 zu haben. Trotzdem verspürte er nicht den geringsten Wunsch, seine Bekanntschaft mit Nerissa zu vertiefen, sobald es um mehr ging, als zu ihr »Guten Abend« und »Hi« zu sagen und ihr aus der Ferne flüchtig zuzuwinken. 81
9 Erst als es an der Tür klingelte, fiel Mix wieder ein, dass Danila vorbeikommen wollte. Er hatte vergessen, billigen Wein zu besorgen. Jetzt musste er ihr den feinen Merlot vorsetzen, den er nur für sich gekauft hatte, um ihn am Samstagabend zu genießen. Da er mit einem Abend allein zu Hause gerechnet hatte, hatte er sich genüsslich ins dritte Kapitel von »Christies Opfer« vertieft und las gerade über ». . . Muriel Eady, 31, die in Putney wohnte und bei Ultra Radio Works in Park Royal angestellt war. Auch Christie hatte dort zu arbeiten begonnen, nachdem er die Polizei aus unbekannten Gründen verlassen hatte. Er freundete sich mit
ihr an, soweit Christie überhaupt zu Freundschaft fähig war. Und so ging man einige Male miteinander aus, Muriel und ihr Verlobter sowie Christie und dessen Ehefrau. Muriel Eady litt an chronischem Schnupfen, und Christie behauptete, er könne sie mit Hilfe eines von ihm erfundenen Inhalators davon heilen. Als seine Frau wieder einmal bei ihrem Bruder in Sheffield Urlaub machte, lud er Muriel zu sich ein und zeigte ihr bei einer Tasse Tee den angeblichen Inhalator, der tatsächlich ein Mittel gegen Erkältungen enthielt. Dass am anderen Ende ein Schlauch zu einem Gashahn führte, wusste Muriel nicht Genau an dieser Stelle musste er öffnen. Die alte Chawcer hatte es nicht für nötig befunden, für die Dachgeschosswohnung eine eigene Klingel zu installieren, geschweige denn eine Sprechanlage. Und so musste Mix, wenn einer seiner seltenen Besucher kam, alle zweiundfünfzig Stufen hinunter und da 82 nach wieder hinauf. Die alte Chawcer ging nur dann zur Tür, wenn sie einen Gast erwartete. Da dies abends eher unwahrscheinlich war, konnte Mix ziemlich sicher sein, dass sie Danila nicht einlassen würde. Kaum hatte er die oberste Stufe der gefliesten Treppe betreten, war ihm wieder eingefallen, wer da zu Besuch kam. Ehe er unten war, klingelte es noch zweimal. Wegen des Weins hätte er sich keine Gedanken machen müssen. Sie hatte zwei Flaschen mitgebracht, einen Riesling und eine Flasche Gin. Anstatt sich darüber zu freuen, löste es in ihm eine gegenteilige Reaktion aus. Seiner Ansicht nach sollten Frauen nichts zum Gelingen des Abends beisteuern. Eine selbstbewusste Frau würde so etwas nie tun, sie würde erwarten, dass der Mann vorsorgt. So wild hatte Danila ihre dunklen Haare noch nie auftoupiert. Lächerlich, dachte er. Dadurch wirkte ihr kleines verkniffenes Gesicht noch winziger. Ihre nächste Geste machte alles noch schlimmer. Kaum hatte sie die Flaschen auf den Tisch im Flur abgestellt, umarmte sie Mix stürmisch und küsste ihn. »Ich bin ja so froh, dich zu sehen. Darauf habe ich mich schon so gefreut.« Wortlos ging er vor ihr die Treppe hinauf. Vor Miss Chawcers Schlafzimmer hockte Otto und war ganz in eine gründliche Körperwäsche vertieft. »Ach, das ist aber ein nettes Miezi!« Bei Danilas schrillem Ausruf zuckte Otto zusammen, schoss hoch und machte einen Katzenbuckel. »Gehört sie dir? Die ist aber süß!« Sie machte den Fehler, die Hand nach Ottos Kopf auszustrecken. Fauchend zuckte er zurück und versetzte ihr einen Hieb mit der Pfote. Dann rannte er die Treppe hinauf. »Ach, ich habe sie erschreckt!«
»Komm schon«, sagte Mix. Auf dem Treppenabsatz vor seiner Wohnungstür wollte sie 83 wissen, warum es so dunkel sei, und meinte, beim Anblick des bunten Glasfensters bekäme sie eine Gänsehaut. Er wurde wütend. Als sie dann aber seine Wohnung bewunderte, wich sein Ärger milder Irritation. Bei ihrem Rundgang durchs Wohnzimmer streifte sie auch flüchtig das Porträt von Nerissa Nash. Ihre einzige Reaktion war ein kurzer Blick zu ihm hinüber. Von allem anderen schwärmte sie in den höchsten Tönen. Ach, diese Jalousien! Diese Kissen, die Möbel, die Accessoires, diese Lampenschirme! Dieser tolle Fernseher! Und dann noch diese hübsche graue Marmorstatue von einem Mädchen. Wer war das? »Eine Göttin. In dem Laden, wo ich sie gekauft habe, sagten sie, es sei Psyche«, erklärte er. Er schenkte ihnen beiden einen kräftigen Schluck Gin mit kaltem Tonic ein und gab Eis aus dem Tiefkühlfach dazu. Zitrone hatte er nicht. »Dann gefällt dir die Wohnung also?« »Sie ist toll. Was musst du von meinem schäbigen Zimmer halten!« »Hab mir viel Mühe gegeben, damit es so aussieht.« »Ganz bestimmt. Warum liest du solches Zeug über schreckliche Mörder, wenn du eine so reizende Wohnung hast?« Sie hatte sein Buch aufgehoben, das er, mit dem Rücken nach oben, aufgeschlagen auf der Armlehne des grauen Seidensofas liegen gelassen hatte. »Iii, klingt ja schrecklich. »Sie war bewusstlos. Er vergewaltigte sie, während er sie erdrosselte««, las sie laut vor. »Gib mir das.« Mix riss ihr das Buch aus der Hand. »Jetzt hast du es verblättert.« »Entschuldige. Ich wollte doch nur . .. « »Schon gut, vergiss es. Nimm dein Glas ins Schlafzimmer mit.« Beim Anblick der Möbel und Bilder würde er noch mal die ganze Bewunderungsarie über sich ergehen lassen müssen. 83 Am besten brächte er es rasch hinter sich, dann könnten sie endlich zum eigentlichen Anlass ihres Besuches kommen. Während sie genauso ekstatisch durchs Schlafzimmer wanderte wie vorher durch das Wohnzimmer, schenkte er sich nach und trank genüsslich. Eines musste er ihr lassen: Immerhin hatte sie den guten Bombay Gin in der blauen Flasche mitgebracht. Er schlenderte wieder hinüber und tat so, als sei er erstaunt, dass sie immer noch so viel anhatte wie vor zwei Minuten.
»Ich dachte, du wärst inzwischen im Evakostüm.« »Mix.« Sie trat zu ihm. »Mix, müssen wir das immer gleich hinter uns bringen, wenn wir zusammen sind? Können wir uns nicht ein bisschen unterhalten?« Er war überrascht. Zum ersten Mal ergriff sie die Initiative, als hätte sie beim Ablauf der Ereignisse irgendein Mitspracherecht. Er konnte erkennen, woran das lag. Mittlerweile betrachtete sie ihn als ihren Freund und nahm ihn allmählich als selbstverständlich. Bald würde sie ihm erklären, was er zu tun hätte, anstatt ihn zu fragen. »Worüber sollen wir uns denn unterhalten?«, meinte er. »Keine Ahnung. Über irgendetwas. Wie du diese Wohnung möbliert hast, über deinen Job, über meinen, über deine nette Katze.« »Diese Scheißkatze gehört mir nicht!« Er wurde ziemlich laut. »Deshalb musst du doch nicht brüllen.« Sie zog sich aus. Mix wäre es lieber gewesen, wenn sie einen aufreizenden Striptease hingelegt hätte. Leider entkleidete sich Danila, als wäre sie allein. Sie legte ihre Anziehsachen über einen Stuhlrücken und drehte sich um, während sie Tan-ga und Strumpfhose abstreifte. Nichts hasste er mehr als Strumpfhosen. Wusste sie denn nicht, dass es lächerlich aussah, wenn man darunter einen Tanga trug? Ihren BH behielt 84 sie bis zuletzt an. Sie genierte sich für ihren winzigen Busen. Die will ich nie mehr sehen, dachte er. Ich finde andere Wege, um Nerissa kennenzulernen. Sie ging zum Bett, aber er hielt sie auf. »Moment mal.« Auf seiner elfenbeinfarbenen Satindecke? Das kam nicht in Frage. Er zog die Decke ab, faltete sie zusammen und meinte dann nur: »Okay.« Sie warf ihm einen unterwürfigen Blick zu, und doch lag darin noch etwas anderes - Verwirrung. Er entledigte sich seiner Schuhe und seiner Hose, Hemd und Socken behielt er an. Ein Mann musste sich nicht komplett ausziehen, das war die Rolle der Frau. Er kochte vor Wut. Dieser kalte Zorn, den er sichr nicht recht 'erklären konnte, verhinderte, dass er sich auch nur die geringste Mühe gab. Was dann geschah, hätte man als Vergewaltigung bezeichnen können, auch wenn sie sich nicht dagegen wehrte. Er wälzte sich von ihr herunter und trank sein Glas aus. Fünf Minuten später wanderte sie schon wieder in der Wohnung herum. Er hörte sie sagen: »Warum hast du sie hier aufgehängt?« Es gab keinen Zweifel, was damit gemeint war. Trotzdem wollte er absolut sichergehen und fragte: »Meinst du Nerissa Nash?« »Stehst du auf sie, oder was?«
Mix stand auf. Irgendwie hatte er einen Hang zur Prüderie, vielleicht das Erbe einer Kindheit unter Adventisten des Siebenten Tages. Selbstverständlich hing seine ablehnende Haltung von der jeweiligen Person ab. Wenn es um Colette ging, war es schon in Ordnung, und bei Nerissa hätte es keinerlei Einwände gegeben, im Gegenteil. Aber bei Danila klang es irgendwie aufsässig, als würde sie Gegenstände und ihn als selbstverständlich betrachten und sich dagegen behaupten. Eine Frau ihres Typs wusste ganz genau, dass man nur dann 85 splitterfasernackt durch die Wohnung eines Mannes lief, wenn man guten Grund hatte, ihn als Partner zu betrachten und gewisse Besitzansprüche auf seine Wohnung zu erheben. Er holte seinen Morgenmantel aus dem Schrank und legte ihn ihr um. Widerwillig ließ sie sich diese Geste gefallen. Wie seine Mutter reagierte sie auf Tadel mit Schmollen. Noch immer stand sie vor dem Porträt und deutete darauf, ja, sie stupste sogar mit dem Finger gegen das Glas. »Die hat praktisch auch nichts an. Bei ihr ist das wohl okay.« »Sie ist schön.« Es war ihm egal, ob seine Worte wehtaten. Schweigend starrte Danila weiter auf das Bild, ohne ihren Finger wegzunehmen. Sie war noch nie sehr groß gewesen, aber jetzt schien sie ein wenig zu schrumpfen. Auf ihren nackten Unterarmen bildete sich eine Gänsehaut. Tiefe Ablehnung erfüllte ihn. Ihr Schweigen kündete spürbar, wie verletzt sie war, und das hinterließ in ihm ein unangenehmes Gefühl. »Willst du noch was zu trinken?«, stieß er hervor. »Momentan nicht.« Er öffnete die Weinflasche. Wenn er beim Gin bliebe, brächte er zum zweiten Mal keinen hoch. Und Sex war schließlich der einzige Grund für ihre Anwesenheit. Mindestens zwei-oder dreimal. Dann fiel ihm wieder ein, dass es für Danilas Besuch noch einen Grund gab. Er musste sie nach der Mitgliederliste fragen. Nein, er musste ihr lediglich eine Anweisung geben, korrigierte er sich mit dem randvollen Weinglas in der Hand. »Schau mal, wegen der Mitgliedschaft im Studio dachte ich . .. « Langsam drehte sie sich um. Er sah Tränenspuren auf ihrem Gesicht. Ohne auf seinen angefangenen Satz einzugehen, sagte sie: »Ich habe sie gesehen.« 85 »Wen?« »Sie. Nerissa Nash.« Mit dieser Entwicklung hatte er nun wahrlich nicht gerechnet. Wenn er ihr jetzt erklärte, was er von ihr erwartete, was sie mit der Liste tun sollte, jetzt, in
diesem Augenblick, dann wäre ihr sofort klar, dass seine Mitgliedschaft im Studio nur einem Ziel diente: der Begegnung mit Nerissa. Wieder einmal würde er seine Bitte aufschieben müssen Sorgfältig wählte er seine Worte. »Wo hast du sie denn gesehen? Auf einem Foto?« »Nein, in echt. Sie geht zu Madam Shoshana zum Wahrsagen.« Er hatte keinen blassen Schimmer, wovon sie sprach, und tat so, als sei er über ihre Antwort ganz erstaunt. »Dann ist sie also gar nicht Mitglied im Studio?« »Nerissa? Oh, nein. Mit der Figur geht sie sicher in ein ganz anderes Fitnessstudio. Wahrscheinlich irgendwo im West End, in Mayfair. Ich war bei Madam Shoshana zum Wahrsagen - ich bekomme Rabatt - und traf sie, als sie die Treppe heraufkam. Das war an einem Mittwoch, irgendwann im Juli. Sie war ungemein nett, sagte Hallo und meinte, das wäre ein toller Tag, da würde man gerne leben.« Er war wie gelähmt, war sprachlos. Wochenlang war er umsonst dorthin gepilgert, hatte an Geräten herumgepfuscht, die keinerlei Wartung benötigten, hatte seine Abende und sein sauer verdientes Geld an dieses blöde Weib verschwendet. Wie immer hatte sich ihre kunstvoll zerzauste Hochsteckfrisur im Bett aufgelöst und hing nun in schlaffen Strähnen herunter. Sein Schock über die wahren Gründe für Nerissas Besuche im Gebäude des Fitnessstudios hatte sich in blinde Wut verwandelt, die sich gegen diese junge Frau richtete, gegen dieses saublöde, hässliche Weib mit der teigigen Haut und dem knochigen Oberkörper. Nerissa war nicht einmal Mitglied in Sho 86 shanas Fitnessstudio. Sie hatte lediglich eine Wahrsagerin aufgesucht und sicher auch das nur ein einziges Mal. Danila, die keine Ahnung von dieser Wut hatte, sagte: »Weißt du, aus der Nähe betrachtet ist sie gar nicht das Super-model von deinem Foto. Ihre Haut ist ein bisschen rau. Na ja, bei einer so dunklen Hautfarbe ist das wohl normal. Schätzungsweise hat der Fotograf bei dem Foto kräftig retuschiert .. . « Das Ende dieses Satzes hörte er nicht mehr. Blanker Hass stieg in ihm auf und paarte sich mit seiner Wut. Wie konnte sie es wagen, die schönste Frau der Welt so zu kritisieren! Diese Beleidigung grub sich wie ein Schleifstein in sein Gehirn ein. Er suchte nach einem Gegenstand, nach einem Blitzableiter für seine Wut. Er packte die marmorne Psyche. Wieder einmal hörte er im Geiste, wie ihm Javy seine Attacke auf Shannon vorwarf und seine Mutter untätig dabeistand.
Wen wollte er mit dieser Waffe vernichten? Javy? Seine Mutter? Dieses Mädchen, diesen Wurm? »Was machst du da?« Sie sagte nie wieder etwas. Sie schrie nur und blubberte unverständliches Zeug, während er immer wieder mit der Psychestatue auf ihren Schädel einschlug. Er hatte sich eingebildet, Blut würde sachte verströmen, aber ihr Blut übergoss ihn wie eine scharlachrote Fontäne. Ihre Augen, in denen sich Entsetzen und Staunen paarten, ließen ihn nicht los. Um diesen starren Blick zu beenden, zielte er ein letztes Mal mit voller Wucht auf ihre Stirn. Sie ging zu Boden, rutschte am Bild hinunter und sackte rücklings zusammen. Mit einem scheinbar überlauten Knall donnerte er die Psyche auf die lackierten Regalbretter. Er dachte schon, jetzt würde die halbe Welt entsetzt ins Zimmer stürzen, aber niemand kam. Natürlich nicht. Stattdessen herrschte völlige Stille, die Stille einer riesigen Wüste oder eines lee 87 ren Hauses am Meer, wo sich die Wellen sachte am Strand brachen. Psyche rollte ein wenig hin und her und blieb dann reglos liegen. Nur Danilas Blut tropfte langsam am Glas hinunter, sonst nichts. 87
10 Langsam trat er ans Fenster, kippte die Jalousie, ohne sie hochzuziehen, und sah hinunter. Aus der Rückfront der Häuser in der dahinterliegenden Straße fiel Licht in die Gärten. Niemand war zu sehen. Nichts regte sich, kein Mensch, keine Katze, kein Vogel. Zwischen Wolkenstreifen war eine blasse Mondsichel am Himmel aufgegangen. Er lauschte hinter seiner Wohnungstür. Auch hier draußen war alles still und stumm. »Niemand weiß etwas davon«, sagte er laut. »Sie haben keine Ahnung, was passiert ist. Das weiß nur ich.« Und fügte dann hinzu, als müsse er sich unter Anklage selbst verteidigen: »Ich habe das nicht gewollt, aber sie hat es geradezu herausgefordert. Es ist einfach so passiert.« Ganz instinktiv wollte er sich in seinem Schlafzimmer verbarrikadieren und verstecken, wo er die Spuren seiner Tat nicht sehen konnte. Und so saß er einige Zeit bei offener Tür mit dem Kopf in den Händen auf dem Bett. Das Telefon klingelte. Noch nie hatte er sich so erschreckt. Er zuckte so heftig zusammen, dass er schon fürchtete, er hätte sich etwas gebrochen. Ich habe mich geirrt, und die Leute wissen doch Bescheid. Polizei, dachte er. Jemand hat dort angerufen. Man hat ihre Schreie und das dumpfe Geräusch der fallenden Statue gehört. Das Klingeln hörte auf. Wenige Sekunden später
setzte es wieder ein. Diesmal musste er abheben. Mit rauer, bebender Stimme meldete er sich. »Du klingst ja gerade so, als hättest du dir auch so ein blödes Tierchen eingefangen«, meinte Ed. 88 »Mir geht's gut.« »Na, denn. Fein. Mir nicht. Ich hab mir vermutlich einen Virus geholt. Könntest du morgen zwei von meinen Terminen übernehmen? Es wäre wichtig.« Ed nannte ihm die Namen und die Telefonnummern der Kunden, besser gesagt, Mix vermutete, dass er es tat, denn in seinem Gehirn blieb nichts haften. »Mir ist klar, dass es ein Samstag ist, aber es wird nicht lange dauern. Es geht mehr darum, die Leute zu beruhigen.« »Okay, hab kapiert.« »Wunderbar. Und noch was, Mix. Am Mittwoch feiere ich mit Steph Verlobung. Bis dahin muss ich wieder auf dem Damm sein. Um halb neun stoßen wir im alten Sun auf meine Kosten an. Also, sei da.« Mix legte auf und tastete sich langsam mit geschlossenen Augen ins Wohnzimmer zurück. Ehe er sie wieder öffnete, kam ihm ein Gedanke: Vielleicht hatte er alles nur geträumt. Vielleicht war alles nur ein schrecklicher Albtraum. Auf dem Boden - nichts. Sie war nach Hause gegangen. Blind stolperte er in einen Sessel. Da saß er nun, den Blick geradeaus gerichtet, und das Erste, was er sah, als er die Augen aufschlug, war das Blut am Glas, das inzwischen allmählich eintrocknete. Ein paar Rinnsale waren nicht bis auf den Boden gelaufen und klebten nun als schwarzrote Striche und Tropfen fest. Das vermeintliche Seufzen verwandelte sich in ein Schluchzen. Es schüttelte ihn. Lange. Hatte sich Reggie so gefühlt? Oder war er stärker und härter gebaut gewesen? So etwas hätte sich Mix nie und nimmer eingestanden. Die junge Frau hatte es geradezu herausgefordert, was man auch von einigen Opfern Reggies hätte sagen können. Eines war ihm klar: Er musste etwas tun, er konnte sie nicht einfach hier liegen lassen. Er musste aufräumen und entscheiden, was er mit diesem Ding da auf dem Boden tun sollte, und wenn er die ganze Nacht dazu benötigte. Er hatte ver 88 sucht, ihr die Augen zu schließen, aber sie starrten ihn noch immer unter der klaffenden Stirnwunde an. Er nahm eine graue Leinenserviette aus einer Schublade und legte sie ihr übers Gesicht. Danach war es besser.
Bis auf seine Unterhose war er immer noch nackt. Sie hatte ein paar Blutflecke. Er zog sie aus, warf sie auf den Boden und streifte Jeans und ein schwarzes Sweatshirt über. Da sie nicht auf den Teppich gefallen war, hatte sich das Blut großteils auf den hellen Parkettboden, die Wände und das Glas vor dem Porträt verteilt. Gut, dass er sich für den teuren versiegelten Boden entschieden hatte. Ein tröstlicher Gedanke. Allmählich erholte er sich. Als Erstes musste er die Leiche einwickeln und hier hinausschaffen. Und was dann? Was sollte er danach damit machen? Sollte er sie im Kofferraum in einen Park oder zu einer Baustelle schaffen und dort liegen lassen? Der Finder würde nicht wissen, dass er der Täter war. Niemand wusste, dass sie mal zusammen gewesen waren. Er fand ein passendes Betttuch. Bei seinem Einzug ins St. Blaise House hatte er nagelneue Bettwäsche gekauft, aber ein paar Stücke waren noch aus der Zeit in Tufnell Parks über. Damals stand er auf rote Bettwäsche. Seither hatte sich sein Geschmack entschieden verändert! Rot war in diesem Fall trotzdem praktisch, darauf würde man das Blut nicht sehen. Sie fühlte sich ganz leicht und zerbrechlich an. War sie magersüchtig gewesen? Vielleicht. Er wusste herzlich wenig von ihr. Sie hatte ihn nie interessiert. Nachdem er das Bündel in den schmalen Flur hinausgezerrt hatte, holte er aus der Küche einen Eimer, Putzmittel und Tücher und machte sich an die Arbeit. Zuerst widmete er sich dem Porträt. Als es wieder makellos glänzte, fühlte er sich wesentlich besser. Er hatte befürchtet, zwischen Glas und Rahmen wäre Blut eingedrungen und auf Nerissas Foto gelaufen. Gott sei Dank, nicht ein Tropfen. Ihm fiel auf, dass Nerissa für 89 die Figur der Psyche Modell gestanden haben könnte, so ähnlich sah sie ihr. Er wusch die Statuette unter fließendem Wasser im Spülbecken, zuerst mit heißem Wasser, dann mit kaltem. Das Blut löste sich vom Kopf und von den Brüsten. Rotes Wasser, rosa und schließlich ganz klar. Der Teppich hatte nur am Rand einen Fleck. Er bürstete daran herum, nahm viel klares Wasser, bürstete erneut und ließ die Stelle trocknen. Vermutlich war alles weg. Die Parkettdielen ließen sich problemlos säubern. Dank der dicken Versiegelung lösten sich die Flecken ganz leicht. Hätte er doch nur die Wand dahinter auch dunkelgrün gemalt; so aber würde er sie wahrscheinlich neu streichen müssen. Das würde er am Sonntag machen. Von der Farbe - sie hieß Cumulus - hatte er noch eine Zweiliterdose. Nachdem er fertig war - der vierte Eimer rot verfärbten Wassers war im Abfluss verschwunden und die Kleidung rotierte in der Waschmaschine -,
setzte er sich mit einem großen Glas Bombay Gin hin. Es schmeckte so herrlich, als hätte er seit Monaten keinen Alkohol mehr getrunken. Eines stand fest: Hier konnte die Leiche nicht bleiben. Eine Verlagerung in den Holland Park kam nicht in Frage. Dabei würde ihn bestimmt jemand sehen. Er hatte nur ein Problem: Bei ihrem ersten und einzigen Abend außer Haus hätten viele sie im KPH sehen können. Sie behauptete zwar, sie hätte es keinem erzählt, aber wie konnte er ihr glauben? Madam Shoshana hatte sie erzählt, sie hätte einen Freund, auch wenn sie dabei keinen Namen genannt hatte. Das hatte sie zugegeben. Und dann war da noch die Barkeeperin im KPH gewesen. Sie könnte sich erinnern. Miss Chawcer könnte auf Befragen wieder einfallen, dass es an jenem Abend geklingelt hatte, auch wenn sie selbst nicht geöffnet hatte. Vielleicht hatte sie Danila sogar durchs Fenster gesehen. Nein, er konnte die Leiche nicht einfach irgendwo abladen. 90 Sein Blick fiel auf »Christies Opfer«. Sie oder er hatte das Buch auf den Couchtisch fallen lassen. Reggie hatte mit derselben Schwierigkeit kämpfen müssen, dachte er. Man hatte ihn mit Ruth Fuerst zusammen gesehen. Mit Muriel Eady hatte er in der Kantine von Ultra Works zusammengegessen und war mit ihr und ihrem Freund ausgegangen. Er ging nicht das Risiko ein, dass man ihre Leichen irgendwo fand und ihn mit diesen Todesfällen in Verbindung brachte. Mix schlug im Buch nach. Er hatte es geschafft, in seinem Garten eine Grube für Fuerst auszuheben und die Leiche nach Einbruch der Dunkelheit hineinzulegen, obwohl ihn die Nachbarn beim Graben gesehen hatten und er mit ihnen geplaudert hatte. Und Muriel Eady hatte er nur unweit des ersten Grabes verscharrt. In der nächsten Bildstrecke stieß Mix auf ein Foto vom Garten. Ein weißer Ring markierte die Fundstelle des Oberschenkelknochens, ein Kreuz das Grab von Muriel Eady. Ohne diese Markierungen hätte nichts auf die Stellen hingedeutet. Vor der Beerdigung hatte er die Leichen aller Mordopfer vorübergehend unter den Dielenbrettern oder im Waschhaus gelagert. Mix überlegte, ob auch ihm eine dieser Möglichkeiten offen stand. Gab es hier ein Waschhaus? Einen Keller gab es sicher. Möglicherweise käme man auch in den Garten, wenn auch mühsam. Er wohnte eben in einem wesentlich größeren Haus als Reggie mit seiner Doppelhaushälfte, die eigentlich nur ein winziges Reihenhäuschen war. Er klappte das Buch zu, steckte seine Schlüssel ein und ging zur Wohnungstür hinaus. Dabei sah er auf die Uhr; halb zwölf. Obwohl die alte Schachtel für ihr
Alter erstaunlich gut hörte, würde sie um diese Zeit, zwei Stockwerke tiefer, längst schlafen. Mix stand auf dem Treppenabsatz und lauschte. Er ging nach links in den Flur hinein. Natürlich lief er Gefahr, dem Geist zu begegnen, aber er war fest entschlossen, das Vorhandensein eines Geistes nicht zu akzeptieren. Alles nur 91 Einbildung. Die Katze hatte die Tür selbst geöffnet. Für alle Fälle umfasste er das Kreuz in seiner Jeanstasche. Wie immer ging das Licht nach dem Einschalten rasch wieder aus, aber er hatte eine Taschenlampe mitgebracht. Im Dunkeln öffnete er die erste Tür links. Er stand in einem Zimmer, das direkt neben seinem eigenen Wohnzimmer liegen musste. Trotz des schwachen Scheins der Taschenlampe war es nicht dunkel. Vor dem Fenster hingen keine Vorhänge, und so drang der Widerschein von den immer noch erleuchteten Häuserrückseiten und bleiches Mondlicht herein. Dennoch wäre es ihm heller lieber gewesen. An keiner Wand entdeckte er einen Lichtschalter. Als sein Blick zu der Auslassstelle für Kabel und Fassung wanderte, hing dort nur ein merkwürdiges Objekt mit zwei Metallseilen. Beim Anblick dieses Gegenstandes wurde alles andere plötzlich unwichtig. Er richtete die Taschenlampe nach oben. Erst nach einigen Augenblicken dämmerte es ihm, dass er auf eine Gaslampe starrte. Im Fernsehen hatte er einmal eine Sendung über die Elektrifizierung Londons in den zwanziger und dreißiger Jahren als Ersatz für die Gasbeleuchtung gesehen. Nicht weit von hier, in der Portland Road, standen Häuser, die noch in den sechziger Jahren Gasbeleuchtung hatten. Im Zimmer standen ein Bettgestell und eine hohe Spiegelkommode, in der sich nach Mix' Berechnung nur ein Zwei-Meter-Mensch betrachtet haben konnte. Fast eine ganze Wand war mit einem Bücherregal gefüllt, dessen Bretter sich unter der Last der neben- und übereinander gestapelten Wälzer bogen. Er ging wieder in den Flur hinaus und in das gegenüberliegende Zimmer, das vom gelben Straßenlicht der St. Blaise Avenue hell erleuchtet war. Dadurch sah er, dass auch hier die Elektrizität nie Einzug gehalten hatte. Er kam sich wie auf einer Zeitreise vor, als hätte er Reggie und seine Taten weit hinter sich gelassen. Die moderne Tech 91 nologie und alles, was das Leben erleichterte, waren verschwunden. Er schüttelte sich. Hatte er sich tatsächlich auf eine Zeitreise begeben, aus der es kein Zurück mehr gab? War alles nur ein Traum? Der Mord, das Blut, das Gas
und die Dunkelheit? Aber solche Gedanken hatten ihn schon einmal geplagt, und er wusste, dass es anders war. Die Luft wirkte verbraucht. Im ganzen Dachgeschoss wurden lediglich die Fenster seiner eigenen Wohnung geöffnet. Alles roch muffig und verstaubt. Obwohl nie frische Luft hereinkam, krabbelten ganze Fliegenschwärme im Dunkeln auf der Fensterscheibe herum. Er drehte sich um und ging in den rechten Flur hinein, vorbei an seiner eigenen Wohnungstür. Im ersten Zimmer rechts gab es zwar elektrisches Licht, aber in der Fassung befand sich keine Glühbirne. Hier musste sich das Licht der Straßenlampen durch Vorhänge zwängen. Er zog sie auf, leider zu hastig. Stofffetzen und Staubflocken fielen aufs Fensterbrett. Dieses Zimmer war teilweise möbliert: ein eisernes Bettgestell, ein Liegestuhl ohne Bespannung, ein Toilettentisch und ein Stuhl mit hoher Lehne und abgebrochenem Bein, dem ein Marmeladenglas als Stütze diente. Der Liegestuhl erinnerte ihn erneut an Reggie, der in seiner Küche mindestens eines seiner letzten Opfer - Kathleen Maloney - zum Betäuben in einen Liegestuhl mit einer provisorischen Bespannung aus Schnüren gesetzt hatte. Auf dem Boden lag eine zusammengefaltete Zeitung, vermutlich eine uralte Ausgabe der »Sun«, die schon seit den fünfziger Jahren hier vergilbte. Aber als Mix sie aufhob und im gelben Licht das Datum entzifferte, entdeckte er, dass sie erst aus dem letzten Oktober stammte. Noch mehr verunsicherte ihn das Datum - der Dreizehnte. Die alte Schachtel musste hier oben gewesen sein und die Zeitung vergessen haben. Wer hätte gedacht, dass sie die »Sun« las? Diese Ausgabe hatte sie garantiert hier liegen gelassen, um ihm Angst einzujagen. 92 Auch das gegenüberliegende Zimmer - Wand an Wand mit dem Raum, in dem Nerissas Bild hing und Danila gestorben war - hatte Strom, aber keine Glühbirne, und war genauso stickig. Bis auf ein matratzenloses Bettgestell war es leer. Er zog die dünnen Vorhänge zurück. Draußen bot sich ihm derselbe eingeschränkte Blick wie von seinen eigenen Fenstern aus: die Giebel und Dächer der Anbauten des Nachbarhauses, die spitz zulaufenden Bäume und die niedrigen Büsche, die der alte Mann in Töpfen auf dem Dach eines Carports wachsen ließ, ein großer Kamin mit einem Dutzend Abzügen, der sich über mehrere Reihen Dachplatten erstreckte, das zerbrochene Glasdach eines verlassenen Wintergartens. Auf diese Weise könnte man leicht ins Zimmer nebenan einsteigen, dachte er und rüttelte an der Tür. Sie war versperrt. Als er sich bückte und durchs Schlüsselloch zu spähen versuchte,
konnte er keinen Schlüssel entdecken. Wenigstens hatte die Chawcer abgesperrt und sich also doch minimal gegen Einbrecher abgesichert, auch wenn es nicht viel nützen würde. Ein Wunder, dass sie in dieser Luft nicht erstickt war. Jetzt war nur noch ein Zimmer übrig, das fast leer war. Sogar das ehemalige Mobiliar war verschwunden. Eine Vorhangstange gab es noch, allerdings keine Vorhänge. Früher hatte man wohl eine Art Teppich auf den Boden genagelt und stellenweise geklebt und ihn später herausgerissen. Die Nagellöcher und klebrige Flecken kündeten davon. Manchmal kam sie also hier herauf, das stand fest, allerdings nicht in die Zimmer mit Gasbeleuchtung. Das erste mit der verwirrend altmodischen Beleuchtung würde Danilas letzte Ruhestätte werden. Christie hatte die Leiche von Ruth Fuerst unter den Dielenbrettern versteckt. Mix musste wieder daran denken, wie in dem Haus in Coventry, in dem er vor Jahren als Jugendlicher mit seiner Mutter gewohnt hatte, eine Wasserleitung eingefroren war. Damals hatte sie Kreuzschmerzen und konnte keinen 93 Handgriff selber erledigen. Javy hatte sie wieder einmal verlassen, aber er kam immer wieder zurück, bis auf das letzte Mal. Also ging Mix ins eiskalte Bad hinauf und hob unter ihrer Anleitung drei Fußbodenbretter heraus. Zuvor hatte er noch die Fliesen lockern müssen. Hier wäre alles viel einfacher, hier müsste man nur die Bretter herausheben, und auch die waren uralt. Leider hatte er jetzt nur noch das Werkzeug zur Wartung der Fitnessgeräte zur Verfügung. Er sperrte seine Wohnung auf. Dabei wäre er beinahe über die Leiche gestolpert, die er in der kleinen Diele abgelegt hatte. Mit schweißnassen Fingern durchsuchte er die Tasche mit seinem Werkzeugkasten. Schraubenschlüssel, Hammer, Schraubenzieher ... Er müsste sich mit dem größten Schraubenschlüssel begnügen und notfalls den Schraubenzieher beim Hochstemmen der Bretter ruinieren. Wieder ging er in den Flur hinaus, ließ aber seine Tür offen und lauschte ins Haus hinein. Die Stille wirkte auf ihn unheimlich, obwohl es hier drinnen immer ruhig war. Eine halbe Stunde nach Mitternacht würde die alte Schachtel garantiert schlafen, aber wo war die Katze? Nachts trieb sie sich doch auch sonst fast immer irgendwo im Treppenhaus herum. Und warum war Reggie nicht erschienen? Weil er sich mit dem Kreuz geschützt hatte oder weil alles nur Einbildung war, ermahnte er sich streng. Leider spielte ihm seine Fantasie immer noch
einen Streich und ließ in dem Moment die Gestalt mit den spiegelnden Brillengläsern direkt neben ihm aufscheinen und ihn beobachten, bis er die Augen zupresste. Es war zum Verrücktwerden. Schwer atmend hastete er in die erleuchtete Wohnung zurück. Noch einen Drink. Im Schutze seiner Tür goss er sich das größte Glas Gin in dieser Nacht ein, setzte sich neben die Leiche auf den Boden und kippte es ohne Eis auf einen Schluck hinunter. Es brannte wie Feuer. Als er sich aufrappelte, torkelte er. 94 Wieder spähte er lauschend hinaus. Dann zerrte er die Leiche aus der Wohnung und zog das Bündel samt seiner roten Hülle den Flur entlang, hinein ins erste Zimmer auf der linken Seite. Leise schloss er die Tür und knipste seine Taschenlampe an. Angeblich gingen in London nie die Lichter aus. Dank des Perlhuhnbesitzers, bei dem offensichtlich bis in die frühen Morgenstunden hinein Licht brannte, war es noch heller, sodass er die Stifte unterscheiden konnte, mit denen die Bodenbretter festgenagelt waren. Mit Hilfe des Schraubenziehers und des flachen Schraubenschlüsselgriffs ließen sie sich ziemlich leicht lösen. Soweit er erkennen konnte, befand sich zwischen den darunterliegenden Querbalken ein gut dreißig Zentimeter tiefer Hohlraum, in dem Kabel und alte Bleirohre verliefen. Ihm war es ein Rätsel, wie sich hier Staub ansammeln konnte, aber als er die Hände wieder herauszog, waren sie mit einem dicken grauen Pelz überzogen. Das Licht der Taschenlampe weckte die Fliegen, die nun um den Lichtkegel surrten. Eigentlich hatte er die Leiche noch einmal betrachten wollen, ehe er sie in die von ihm freigelegte Grube versenkte, aber inzwischen hatte er den Grund dafür vergessen und brachte es nicht fertig, das Gesicht noch einmal auszuwickeln und die Wunde anzustarren. Beinahe geräuschlos glitt der federleichte Körper in die Lücke unter dem Boden. Ein so exaktes Grab hätte man ganz genau ausmessen müssen. Im Handumdrehen waren die Bretter wieder darüber. Eine Fliege krabbelte über seine Hand. Ungewöhnlich zornig schlug er danach. Um diese Uhrzeit wagte er nicht, die Stifte wieder hineinzuklopfen. Das würde er vormittags erledigen, wenn sie oder andere damit rechnen könnten, dass er ein bisschen herumhämmerte, um beispielsweise ein Bild aufzuhängen. Plötzlich fröstelte es ihn. Hinter ihm stand Reggie und beobachtete sein Tun, das spürte er. Vielleicht beugte er sich so 94 gar ganz nahe über seinen Rücken. Diesmal erstarrte Mix tatsächlich vor Angst. Er mochte Reggie und bewunderte ihn wirklich und fand es schade,
dass er ein so schreckliches Ende genommen hatte, aber gleichzeitig fürchtete er sich entsetzlich vor ihm. Kein Wunder, wenn sich der bewunderte Mensch als Untoter entpuppte. Wenn er sich jetzt umdrehte und Reggie sähe, würde er vor Angst sterben. Diese Horrorvision würde sein Herz nicht ertragen. Mix kniff die Augen zusammen und wiegte sich leise wimmernd in der Hocke hin und her. Er wäre auch gestorben, wenn sich ihm eine Hand auf die Schulter gelegt hätte. Wenn dieses Wesen geatmet hätte, hörbar geatmet, wäre sein Herz zersprungen. Er umfasste das Kreuz. Da war nichts, selbstverständlich nicht. Da war noch nie etwas gewesen. Sämtliche Geräusche, die einmalige Erscheinung, das Öffnen der Tür - alles nur Illusionen, hervorgerufen durch diese Kulisse, die wie geschaffen war für einen Horrorfilm, durch die scheußlich-schaurige Atmosphäre dieses Hauses. Bereits die wenigen Schritte zurück in seine Wohnung erleichterten ihn ungemein. Mittlerweile begrüßte er die Stille, die zu dieser Stunde hier angemessen war. Und jetzt spürte er nur noch einen sauren Geschmack im Mund. Allmählich wurde ihm übel, und er bekam dröhnende Kopfschmerzen. Er wusste ganz genau, wie unklug jeder weitere Schluck Alkohol wäre, und doch goss er den süßen, billigen Riesling, den sie mitgebracht hatte, in sein früheres Ginglas. Als der Wein heftige Wirkung zeigte, taumelte er ins Schlafzimmer, wo ihre Kleidung noch genauso irritierend ordentlich auf dem Stuhl lag, wie sie sie hingelegt hatte. Reggie hatte Ruth Fuersts Leiche in ihren eigenen Mantel gewickelt und sie zusammen mit ihrer restlichen Kleidung begraben. Genauso hätte er es auch machen sollen. Eines wusste er aber, als er aufs Bett sackte und dabei noch mit stierem Blick feststellte, dass es zwanzig Minuten vor zwei war: Heu 95 te Nacht würde er keinen Schritt mehr in dieses Zimmer tun, die Bretter zum zweiten Mal herausnehmen und wieder hineinlegen. Am Morgen würde er die Kleidungsstücke in einer Einkaufstüte aus dem Haus schaffen und in eine oder auch mehrere Mülltonnen stopfen. Nein, er hatte noch einen besseren Einfall. Er würde sie in einen jener Sammelcontainer stecken, deren Erlös Opfern von Kinderlähmung oder Ähnlichem zugutekam. Und jetzt würde er schlafen ... 95
11 Heute jährte sich ihre erste gemeinsame Teestunde mit ihm im Salon. Zum fünfzigsten Mal. Dieses Datum hatte sie in dem Kalender mit Motiven der schönsten Plätze Großbritanniens rot eingekreist. Er hing an der Küchenwand,
über dem Kalender vom letzten Jahr mit Bildern von kleinen Katzen und dem vorigen mit tropischen Blumen. Gwendolen hatte sämtliche Kalender bis zurück ins Jahr 1945 aufgehoben. Sie hingen so lange übereinander am Küchenhaken, bis nichts mehr Platz hatte. Dann wanderten die untersten wahllos in irgendwelche Schubladen. Irgendwohin. Zwischen Bücher und alte Kleidungsstücke, mal oben auf, mal darunter. Nur von zwei Kalendern wusste sie definitiv, wo sie lagen: 1949 und 1953. Der Kalender von 1953 war ihr wieder in die Hände gefallen. Nun bewahrte sie ihn aus bekannten Gründen im Salon auf. In diesem Kalender standen alle Tage, an denen sie mit Stephen Reeves Tee getrunken hatte. Sie hatte ihn letztes Jahr ganz zufällig gefunden, als sie nach dem Schreiben einer Behörde suchte, in dem man ihr die Zahlung eines Heizungsgeldes in Höhe von 200 Pfund für Senioren angekündigt hatte. Und da lag er, direkt neben dem Kalender mit Canaletto-Motiven. Schon beim Anblick bekam sie Schmetterlinge im Bauch. Selbstverständlich hatte sie keine ihrer gemeinsamen Teestunden je vergessen, und doch wirkte ihre leibhaftige Notiz -»Dr. Reeves zum Tee« - wie eine Bestätigung dieses Ereignisses. Dadurch wurde es real und greifbar, als wäre es andernfalls vielleicht doch nur ein Traum gewesen. Unter einem Mitt 96 woch im Februar stand einer ihrer seltenen Einträge: »Weder Bertha noch sonst jemand zum Servieren des Tees. Schade.« Sogar in Gwendolens behütetem und ruhigem Leben, das durchaus als Musterbeispiel an Muße gelten könnte, hatte es einige wenige ungewöhnliche Aufregungen gegeben. Ab und zu dachte sie wieder darüber nach, wobei ihr der Besuch bei Christie nach wie vor das größte Rätsel war. Auch das war nun mehr als fünfzig Jahre her. Knapp dreißig war sie damals gewesen. Das Dienstmädchen, das heißes Wasser heraufbrachte und bei Bedarf auch die Nachttöpfe leerte, war seit zwei Jahren bei ihnen. Sie war siebzehn und hieß Bertha. An ihren Nachnamen konnte sich Gwendolen nicht mehr erinnern, falls sie ihn je gewusst haben sollte. Dem Professor fiel an Menschen nie etwas auf, und Mrs. Chawcer war viel zu sehr in ihre Tätigkeit für die katholische Kirche vertieft gewesen, um für Dienstbotennöte Zeit zu haben. Nur Gwendolen bemerkte, wie sich die Figur des Mädchens allmählich veränderte. Sie war häufiger mit ihr zusammen als die übrigen Bewohner des Hauses. »Bertha, du wirst langsam füllig«, sagte sie. Mit diesem Lieblingsausdruck beschrieben die dürren Chawcers andere Leute. Die Wahrheit hätte
Gwendolen nie und nimmer vermutet, dazu war sie viel zu unschuldig und unwissend. Berthas Geständnis schockierte sie tief. »Aber, Bertha, du kannst doch nicht guter Hoffnung sein. Du bist doch erst siebzehn. Da kann man doch nicht ...« Gwendolen brachte kein Wort mehr über die Lippen. »In dieser Hinsicht, gnädiges Fräulein, könnte ich schon seit meinem elften Lebensjahr. Allerdings war es bisher anders, und nun bin ich's eben. Sie werden es doch nicht der gnädigen Frau oder Ihrem Herrn Papa erzählen?« Dieses Versprechen fiel Gwendolen leicht. Lieber wäre sie gestorben, als dem Professor gegenüber solche Dinge zu 97 erwähnen. Und bezüglich ihrer Mutter hatte sich ein Vorfall in ihr Gedächtnis eingebrannt: Sie hatte Mrs. Chawcer ganz verschämt und schüchtern im Flüsterton erzählt, dass sich ein alter Mann vor ihr entblößt hatte. Daraufhin hieß es, sie solle solche Wörter nie mehr aussprechen und sich den Mund mit Seife auswaschen. »Was wirst du mit dem Baby tun?« »Es wird kein Baby geben, gnädiges Fräulein. Ich habe den Namen und die Adresse von jemandem, der es mir wegmachen wird.« Gwendolen befand sich weniger in einer Zwickmühle, sondern in einem unbekannten Land, in dem sich Männer und Frauen tummelten, die verbotene Dinge taten und sich dabei bestimmter Wörter bedienten, die besser ungesagt blieben. Ein geheimnisvolles Land voller Unbehagen, in dem es von hässlichen und gefährlichen Dingen nur so wimmelte. Hätte sie sich nur nicht nach dem Grund für Berthas plötzliche Gewichtszunahme erkundigt! Es wäre ihr nie eingefallen, Mitgefühl mit diesem jungen Ding zu haben, das täglich zehn Stunden für sie arbeitete und für einen winzigen Lohn Tätigkeiten verrichtete, die ihre eigene Schicht bereits beim Gedanken daran erschaudern ließ. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, sich in Berthas Lage zu versetzen und sich die Schande auszumalen, die eine unverheiratete Mutter erwartete, oder sich vorzustellen, mit welchem Entsetzen man dem eigenen wachsenden Leibesumfang zusehen musste, bis es sich nicht mehr verbergen ließ. Trotz ihrer unfreiwilligen Neugier scheute sie ängstlich zurück und wollte keinesfalls in diese Angelegenheit verwickelt werden. »Dann kommt ja alles wieder in Ordnung«, rief sie fröhlich. »Gnädiges Fräulein, darf ich Sie etwas fragen?« »Das denke ich doch«, sagte Gwendolen lächelnd. »Würden Sie mich begleiten, wenn ich zu ihm gehe?«
98 Das empfand Gwendolen als Dreistigkeit. Auf Grund ihrer Erziehung erwartete sie von Dienstboten und eigentlich von allen Leuten aus einer »niederen Schicht« Respekt. Trotzdem war sie nicht nur von Schüchternheit und Angst vor fremden Dingen, die sie nicht selbst erlebt hatte, geprägt. Neugier war für sie eine ganz neue Erfahrung. Sie spürte, wie sie sich in ihr Inneres schlich und dort zitternd wartete. Vielleicht könnte sie ein wenig mehr von jenem Neuland entdecken, dessen Grenzen sich ihr so unvermittelt geöffnet hatten. Statt Bertha mit einer Bemerkung wie »Weißt du eigentlich, mit wem du sprichst?« scharf zurückzuweisen, sagte sie lediglich ziemlich sanft: »Ja, wenn du das möchtest.« Und dabei bekam sie immer heftigeres Herzklopfen. Es handelte sich um eine verkommene Straße. Am anderen Ende ragte der alte Kamin einer Eisengießerei auf, während in der Nähe der oberirdische Teil der Stadtbahn zwischen Ladbroke Grove und Latimer Road verlief. Der Mann, den sie aufsuchen wollten, wohnte im Haus Nummer zehn. Dort roch es unangenehm und war schmutzig. In der Küche standen zwei Liegestühle. Man konnte schwer sagen, wie alt Christie war, vielleicht Mitte vierzig oder bereits über fünfzig. Er war ziemlich groß, aber schmächtig, und trug dicke Brillengläser auf seiner Hakennase. Bei Gwendolens Anblick wirkte er entsetzt. Später begriff sie, warum. Natürlich. Er wollte niemanden wissen lassen, dass Bertha hier gewesen war. Sie weigerte sich, Platz zu nehmen. Bertha setzte sich in den einen Liegestuhl, Christie in den anderen. Vielleicht hatte er etwas gegen sie, oder er verhandelte mit seinen Kunden immer nur unter vier Augen, jedenfalls sagte er sofort, er wolle mit Bertha allein sein. Seine Frau sei als Anstandsdame anwesend. Gwendolen sah und hörte nie etwas von dieser Ehefrau. Heute, sagte Christie, würden sie lediglich einen Termin für die Untersuchung und die »Behandlung« vereinbaren. Miss Chawcer 98 müsste allerdings gehen. Jedes Gespräch zwischen ihm und seiner Patientin müsse vertraulich sein. »Es wird nicht lange dauern, gnädiges Fräulein«, sagte Bertha. »Vielleicht möchten Sie am Ende der Straße auf mich warten. Es dauert keine Minute.« Trotz dieser erneuten dreisten Bemerkung wartete Gwendolen tatsächlich. Verschiedene Passanten starrten ihr sorgfältig geschminktes Gesicht, die sorgsam ondulierten Haare und ihr tailliertes, blaues Kleid mit dem Tellerrock an. Ein Mann pfiff ihr nach. Gwendolen war unbehaglich zumute, was man an ihren knallroten Wangen deutlich erkennen konnte. Endlich kam Bertha. Mit
»keine Minute« hatte sie die Wahrheit gesagt: Statt einer Minute war sie mindestens zehn Minuten weg gewesen. Der Termin sollte in einer Woche sein, an Berthas nächstem freien Tag. »Ich darf es niemandem sagen, gnädiges Fräulein, und Sie auch nicht.« Irgendwie hatte Christie Bertha Angst eingejagt. Trotz der Abwesenheit von Mrs. Christie hatte er einige merkwürdig intime Dinge gemacht. Er bat sie, ihren Mund zu öffnen, damit er ihr mit einem an einem Kabel befestigten Spiegel in den Hals schauen konnte. Außerdem sollte sie ihren Rock bis übers Knie hinauf schürzen. »Aber ich muss doch wieder hin, gnädiges Fräulein, oder? Ich kann doch kein Kind bekommen, solange ich nicht verheiratet bin.« Eigentlich hätte sich Gwendolen nach dem Vater des Kindes erkundigen müssen, das spürte sie. Wer und wo war er? Wusste er von dem Baby? Und wenn ja, gab es eine Chance, dass er Bertha heiratete? Doch solche Fragen waren viel zu peinlich und unangenehm. Zu Hause, in der ruhigen, zivilisierten Atmosphäre im St. Blaise House, nahm sie auf dem bequemen Sofa zwischen Kissen Platz und las Proust. Sie war bereits bei 99 Band sieben. Bei Proust bekam nie jemand ein Kind. Sie zog sich in ihre versponnene Welt zurück. Bertha ging nie wieder zu Christie. Sie hatte viel zu große Angst. Als Gwendolen die Zeitungsberichte über die Morde las, über die jungen Frauen, die wegen einer Abtreibung oder einer Katarrhtherapie zu ihm nach Hause kamen, während droben seine Frau saß, vielleicht sogar mit Kind, schrieb man das Jahr 1953, und Bertha war schon lange fort. Sie kündigte noch vor der Geburt des Kindes und heiratete. Gwendolen erfuhr allerdings nie, ob es sich um den Vater des Kindes gehandelt hatte. Die ganze Angelegenheit war schrecklich peinlich. Trotzdem vergaß sie nie ihren Besuch am Rillington Place. Wie leicht hätte Bertha eine der Frauen sein können, die dort in Schränken oder im Garten ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Bertha - jahrelang hatte sie nicht mehr an sie gedacht. Drei oder vier Jahre nach ihrem Besuch im Hause Christie hatte man ihm den Prozess gemacht und ihn hingerichtet. Die Suche nach dem Kalender von 1949 war reine Zeitverschwendung, aber was sollte sie sonst mit ihrer Zeit anfangen? Lesen, natürlich. »Middlemarch« hatte sie längst ausgelesen, Carlyles »Französische Revolution« schon zweimal und sogar einige Werke von Arnold Bennett, obwohl sie diese Lektüre für eine längere Beschäftigung als zu einfach empfand. Heute würde sie mit Thomas Mann beginnen, den sie nie gelesen
hatte, obwohl sein Gesamtwerk irgendwo in den vielen Bücherschränken schlummerte. Ein unverzeihliches Versäumnis! Nach einstündiger Suche entdeckte sie den Kalender von 1949 mit Fotos britischer Pilze - ein absolut lächerliches Thema! - in einem Zimmer im Dachgeschoss, unmittelbar neben Mr. Cellinis Wohnung. Vorige Nacht, kurz vor Anbruch der Dämmerung, war sie von einem Schrei und einem dumpfen 100 Schlag aufgewacht. Sie hatte sich eingebildet, der Lärm käme von hier oben, aber wahrscheinlich hatte sie sich geirrt. Auch in diesem Zimmer hatte es der Professor nicht für nötig befunden, elektrische Leitungen legen zu lassen. Obwohl Gwendolen damals noch ein Kind gewesen war, erinnerte sie sich ganz deutlich an die Verkabelung der unteren Stockwerke. Wie die Männer die Dielenbretter herausgenommen und große Löcher in den Putz geschlagen hatten. Heute Morgen war es klar und heiß. Gleißendes Licht strömte zum Fenster herein. Die Vorhänge hatten sich bereits in den dreißiger Jahren in Fetzen aufgelöst und waren nie ersetzt worden. Ihr letzter Besuch hier oben lag schon einige Jahre zurück. An den genauen Zeitpunkt konnte sie sich nicht mehr erinnern. Der Bücherschrank diente als Lagerplatz für uralte, nicht sonderlich lesenswerte Lektüre, für die unten kein Platz war: Romane von Sabine BaringGould und R. D. Blackmore, eingezwängt zwischen gebundene Ausgaben von viktorianischen Journalen, Samuel Richardsons Gesammelten Werken und Darwins »Entstehung der Arten«. Kein Thomas Mann. Vielleicht würde sie stattdessen noch einmal Darwin lesen. Sie suchte in den Schubladen unter den Regalen. Stumpfe Bleistifte, Gummiringe, quittierte Rechnungen und dazwischen, in fein säuberlich beschrifteten Tüten, zerbrochenes Porzellan, das man trotz bester Vorsätze nie repariert hatte. Ihre letzte Hoffnung war die große Kommode, die nur wenige Schritte entfernt stand. Doch dabei stolperte sie. Wenn sie sich nicht an der Oberkante des Möbels festgehalten hätte, wäre sie gestürzt. Ein Dielenbrett stand einen guten Zentimeter weit heraus. Sie beugte sich, so gut es ging, darüber und musterte kritisch den Boden. In der einen Tasche ihrer Strickjacke steckte ihre Lesebrille, in der anderen die Lupe. Sie behalf sich mit beiden. Anscheinend waren die Bretter nicht vernagelt, obwohl das ei 100 gentlich nicht sein konnte. Sehen konnte sie es nicht, dazu reichte die Stärke ihrer Gläser nicht aus. Wirklich seltsam. Vielleicht hatte sich ein Brett durch die Feuchtigkeit gehoben. Feuchtigkeit und anderes gab es genug in diesem
Haus. Mühsam kniete sie sich mit knackenden Gelenken hin und betastete die Oberfläche des vorstehenden Brettes. Ziemlich trocken. Seltsam, dachte sie. Seltsam waren auch die vielen kleinen Löcher, mit denen das Holz übersät war. Aber vielleicht war das schon immer so gewesen, und sie hatte es nie bemerkt. Als sie wieder stand, begann sie, die Kommode zu durchsuchen. In der zweiten Schublade tauchte der Pilz-Kalender auf, und dazu einer dieser Briefe eines Bauunternehmers, der ihr riesige Summen für den Verkauf ihres Hauses bot. Der Brief stammte von 1998. Warum hatte sie ihn vor Jahren hier hineingelegt? Sie wusste es nicht mehr, ganz im Gegensatz zu der Tatsache, dass das Bodenbrett damals anders ausgesehen hatte. Sie nahm den Kalender ans Fenster hinüber, um ihre eigene Handschrift besser lesen zu können. Da stand es, am 16. Juni, ein Donnerstag. »B. zum Haus am Rillington Place begleitet.« An diesen Eintrag konnte sie sich noch erinnern, an den vom nächsten Tag nicht. »Vielleicht Grippe, aber der neue Arzt meint, nur eine Erkältung.« Wieder fing ihr Herz wie wild zu schlagen an. Sie verspürte das Bedürfnis, die Hand auf die Rippen zu legen, als wollte sie es besänftigen. Damals war sie ihm zum ersten Mal begegnet. Sie war in die Praxis am Ladbroke Grove gegangen und hatte im Wartezimmer auf den alten Dr. Smyth gewartet, doch der Mann, der lächelnd die Tür öffnete und sie hereinbat, war - Stephen Reeves. Gwendolen ließ die Hand mit dem Kalender sinken und starrte zum Fenster hinaus, ohne wirklich viel zu sehen. Während sie in die Vergangenheit zurückwanderte, zu ihrer ersten Begegnung mit ihm, als sie beide noch jung waren, lag Otto 101 schlafend auf der Mauer, die Vögel mit dem Federkranz pickten in ihrem verwilderten Garten herum, und ihr Besitzer im weißen Turban kam mit Maiskörnern den Weg entlang, um sie zu füttern. Sie sah Stephen mit seinen strahlenden, lächelnden Augen und den schwarzen Haaren und hörte ihn sagen: »Heute Vormittag sitzen nicht viele Leute im Wartezimmer. Und was kann ich für Sie tun?« Wäre Kayleigh Rivers nicht mit einer fürchterlichen Erkältung aufgewacht, hätte übers Wochenende niemand Danilas Verschwinden bemerkt. Danila hatte in Shoshanas Fitnessstudio werktags zwischen acht und sechzehn Uhr gearbeitet. Kayleigh übernahm die Schicht am Samstag und am Sonntagvormittag sowie täglich von sechzehn bis zwanzig Uhr. Kayleigh versuchte, Danila auf ihrem Handy zu erreichen. Sie wollte fragen, ob sie am
Wochenende für sie einspringen könne. Als sie keine Antwort bekam, rief sie Madam Shoshana an. »Sicher schläft sie noch«, meinte Shoshana. »Genau wie ich. Sie wird ihr Handy ausgeschaltet haben. Schau mal auf die Uhr.« Sie wartete bis acht. Samstags öffnete das Studio erst um neun Uhr. Als sie auf Danilas Handy anrief, herrschte totale Funkstille. Für eine Aushilfe war es jetzt zu spät, auch wenn es noch früh am Tag war. Sie zahlte ihren Mädels illegalerweise zehn Pfund weniger als den wöchentlich festgesetzten Mindestlohn. Trotzdem sollte sich Kayleigh nur nicht einbilden, sie würde sie fürs Blaumachen bezahlen. Und was Danila betraf ... Shoshana war klar, dass sie jetzt selbst antreten musste. Widerwillig hievte sie sich aus dem Bett. Obwohl sie die Besitzerin und Managerin eines schicken Fitnessstudios mit angeschlossenem Schönheitssalon für Maniküre, Pediküre, Körperenthaarung, Gewebestraffung, Aromatherapie und Wellnessbäder war, achtete Shoshana bei sich selbst herzlich wenig 102 auf solche Dinge und wusch sich auch nicht viel. Ältere Leute mussten nur einmal wöchentlich baden und sonst gelegentlich Hände, Gesicht und Füße benetzen. Eventuelle Körpergerüche wurden mit Patchouli, Zedernöl, Kardamom und Muskatöl überdeckt. Sie selbst betrat das Studio möglichst selten. Die Einnahmen waren für sie das einzig Interessante daran. Körpertraining und Kosmetikbehandlungen, um fit und jung zu bleiben, langweilten sie. Wenn sie unten am Empfang saß, schlief sie oft ein. Bereits ihr Großvater und später ihre Mutter hatten Friseursalons besessen. Eine Fortsetzung dieser Tradition schien ganz natürlich zu sein, allerdings zu ihren eigenen Bedingungen und mit ihren Ideen in zeitgemäßer Form. Am liebsten wäre sie ein Guru mit ihrem eigenen Esoterikkult geworden. Leider war sie gezwungen gewesen, Kompromisse zu schließen, und musste sich mit der Wahrsagerei begnügen. Sie schlüpfte in ihre Unterwäsche, die sie am Abend vorher ausgezogen hatte, stülpte ein Sackkleid aus rotem Samt darüber und garnierte das Ganze mit einem Strickschal. Dann ein flüchtiger Blick in den Spiegel. Selbst nach ihren niedrigen optischen Maßstäben hatte sie eine schreckliche Frisur. Spröde Haare und überall weiße Schuppen. Sie versteckte alles unter einem rot-violett gemusterten Schal, wusch sich die Hände, spritzte sich Wasser ins Gesicht und stapfte hinunter. Ihre nie sonderlich fröhliche Laune sank auf den Nullpunkt. Ursprünglich hatte sie diesen Tag bei einem Kurs ihrer Wünschelrutenlehrerin verbringen wollen. Nach einem letzten gescheiterten
Versuch, Danila doch noch zu erreichen, zwängte sich Shoshana widerwillig auf den Barhocker hinter dem Empfang. Der erste Kunde, der kam, fühlte sich bei ihrem Anblick an die alte Frau erinnert, die er einmal auf dem Marktplatz in einem türkischen Dorf gesehen hatte. Er hatte von ihr einen Teppich gekauft. 103 Es war die schlimmste Nacht seines Lebens gewesen. Er hatte unruhig geschlafen und war jede Stunde mit brennendem Durst aufgewacht. Dieses Schreckensszenario erreichte seinen Höhepunkt, als er um neun Uhr morgens zum letzten Mal die Augen aufschlug und einen Moment lang das Ereignis und seine Tat restlos vergessen hatte. Unmittelbar darauf war die Erinnerung wieder da, und er stöhnte laut auf. Er hatte geträumt. In einem dieser Träume kam eine Kreatur über die Dächer gekrochen, kletterte an der Dachrinne zu seinem Fenster herunter und versuchte einzudringen. Zuerst glaubte er an eine Katze, doch als er das menschliche Gesicht mit den starren Augen und der klaffenden Wunde auf der Stirn sah, schrie er laut. Danach lag er zitternd da und wusste nicht, ob ihn die alte Chawcer gehört hatte. Erst nach dem Aufstehen entfaltete der Alkohol von letzter Nacht seine volle Wirkung. Er schüttete literweise Wasser in sich hinein, ohne dass sich etwas änderte. Sein ganzer Schädel brannte, als hätte man ihn mit Sandpapier malträtiert, und drinnen wanderte ein stechender Schmerz herum. Manchmal saß er über seinen Augen, dann wieder hinterm Ohr oder im Nacken. Nerissa trank nie einen Schluck Alkohol. Sie nahm nur Mineralwasser und Obstsäfte zu sich. Das hatte er in einem Interview mit ihr gelesen. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Nach einem Bad fühlte er sich ein wenig besser. Einer Dusche fühlte er sich definitiv nicht gewachsen. Für prasselndes Wasser auf seinem Scheitel war er zu schwach. Trotzdem wäre er beinahe nicht wieder aus der Badewanne gekommen. Als er endlich, ins Handtuch eingewickelt, auf der Badematte stand, taumelte er und wäre beinahe gestürzt. Das Anziehen ging nur langsam vor sich und dauerte ewig. Bei jeder Bewegung wanderte der Schmerz in seinem Schädel zwischen Stirn und Hinterkopf, zwischen Ohren und Augen hin und her. Es war der schlimmste Kater seines Lebens. Ob 103 wohl er normalerweise nicht sonderlich viel trank, fiel er in Stresssituationen buchstäblich in den Alkohol. Ich bin einfach nichts gewöhnt, das ist das Problem, redete er sich ein. Regelmäßige Säufer empfahlen gegen einen Kater
fettes Essen, Milch oder ein schottisches Spezialgetränk mit einem kräftigen Schluck Alkohol. Schon beim Gedanken an eines dieser Gegenmittel würgte es ihn. Nachdem er sich übergeben hatte, fühlte er sich etwas besser. Jetzt konnte er gerade stehen und noch mehr Wasser trinken. Dann stopfte er seine blutbefleckte Unterhose und ihre Sachen in eine Plastiktüte: einen schwarzen Wonderbra, die verhasste Strumpfhose, einen schwarzen Ledermini und gleichfarbige Stiefel, einen engen pinkfarbenen Pulli und eine cremefarbene Webpelzjacke. Mix, der an die Garderobe einer Colette Gilbert-Bamber und ihrer Freundinnen gewöhnt war, erkannte sehr wohl, dass das nicht einmal Markenware, sondern billiges Zeug aus dem Supermarkt war. Ihre pinkfarbene Plastikhandtasche enthielt, neben ihrem Handy, eine Geldbörse mit fünf Pfund und fünfzig Pence - das Geld steckte er ein -, eine Bankkarte, eine Puderdose mit Selbstbräuner, einen roten Lippenstift, eine Haarbürste und ihre Wohnungsschlüssel. Obwohl er nicht an den Vorfall denken wollte, kamen ihm die Bilder immer wieder in den Sinn: wie ihr Blut an seinem wunderschönen Porträt herunterlief; wie ihn ihre Augen ansahen. Nun, sie hatte die Sache herausgefordert. Sie hatte nur bekommen, was sie verdiente. Redete so über Nerissa daher, wagte es, ihre Haut zu kritisieren. Na klar, Eifersucht. Trotzdem hätte sie sich vorsehen müssen. So etwas hätte sie zu ihm nie sagen dürfen. Sie hätte ihn als gefährlichen Mann einstufen sollen und etwas ... Im Zimmer nebenan klappte die Tür zu. Das Geräusch riss ihn urplötzlich aus seinen Gedankengängen. Unbewusst fuhr seine Hand an die Brust. Er packte sein Sweatshirt und knüll 104 te den Stoff zusammen, als wollte er ihn an sein Herz drücken. War der Unbekannte in dieses Zimmer gegangen? Hatte er sich dort aufgehalten und war jetzt erst herausgekommen? Er hörte Schritte auf dem Boden, dann ein dumpfes Geräusch, als sei jemand gestolpert. Er hielt den Atem an. Eine Schublade ging auf, dann noch eine. Die Wände hier oben mussten ganz dünn sein. Natürlich, es war die alte Schachtel. Er erkannte sie am Schritt. So langsam und schwerfällig traten nur alte Leute auf. Aber was machte sie in diesem Zimmer? Er konnte sich nicht erinnern, dass sie schon einmal dort gewesen war. Sicher hatte sie nachts etwas gehört, den lauten Aufschrei des Mädchens, ihren Sturz, vielleicht sogar ihn selbst, als er mit Eimer und Wurzelbürste herumhantierte. Was wäre, wenn sie hereinkommen möchte und das Blut an der Wand sähe?
Hier drinnen würde sie nichts entdecken können, redete er sich ein. Und noch einmal: Nichts entdecken. Nichts. Und doch musste er sich Gewissheit verschaffen. Ignorieren konnte er es nicht. Ganz vorsichtig öffnete er die Wohnungstür und steckte den Kopf hinaus. Die Tür zu dem Schlafzimmer, wo Danila unter den Dielenbrettern lag, stand einen Spalt offen. Inzwischen drohte sein Schädel zu platzen. Ein übel pochender Schmerz presste ihm die Hirnschale zusammen. Trotzdem trat er samt der Tüte mit ihrer Kleidung hinaus. In der einen Jackentasche steckte sein Wohnungsschlüssel, in der anderen die Autoschlüssel. Offensichtlich hatte er einen Laut von sich gegeben, so wie er schon die ganze Nacht unabsichtlich gestöhnt oder geseufzt hatte. Während er noch da stand, kam plötzlich Miss Chawcer aus dem Zimmer herausgestapft und warf ihm einen höchst unfreundlichen Blick zu. »Ach, Sie sind's, Mr. Cellini.« Am liebsten hätte er gesagt: Wer denn sonst? Vielleicht Christie? Leider fürchtete er sich vor ihr genauso wie vor dem 105 Mörder vom Rillington Place, besser gesagt, vor dessen Geist, der in seiner Fantasie in diesem Haus herumspukte. Sie sagte etwas Unverständliches: »Sie sehen aus, als hätte Sie ein Wiedergänger erschreckt.« »Verzeihung?« »Ein Gespenst, Mr. Cellini, ein Phantom. Ein »Wiedergänger« ist einer, der aus dem Totenreich wiedergekommen ist.« Ein Zittern durchlief ihn. Er konnte nicht verhindern, dass sie es sah. Gleichzeitig war er ungemein wütend. Was bildete sie sich nur ein? Hielt sie sich für seine Lehrerin und ihn für einen blöden Erstklässler? So fröhlich hatte er sie noch nie lachen gehört. »Sagen Sie nur nicht, dass Sie abergläubisch sind.« Er würde ihr gar nichts sagen. Liebend gern hätte er sie gefragt, was sie in diesem Zimmer gemacht hatte, aber das ging nicht. Schließlich gehörte das Haus mit all seinen Zimmern ihr. Dann sah er, dass sie etwas in der Hand hielt, was wie ein alter Kalender aussah, und ein Buch. Vielleicht hatte sie beides dort drinnen gesucht. Ihm fiel ein Stein vom Herzen und schwebte davon. Gleichzeitig ließen seine Kopfschmerzen nach. Sie trat einen Schritt zurück und zog die Tür hinter sich zu. »Diesen Inder sollte man bei - bei den Behörden anzeigen.« Er starrte sie an. »Welchen Inder?«
»Den mit dem Turban und den Hühnern oder was das ist.« Sie ging vor ihm zur Treppe, wo sie sich umdrehte. »Wollten Sie weggehen?« Es klang, als sei dies ein Verstoß gegen die Hausregeln. »Nach Ihnen«, sagte er. Er legte die Tüte mit den Kleidungsstücken in den Kofferraum, fuhr zu einer Reihe Abfalltonnen, öffnete den Kleidercontainer und ließ ihren Rock auf den Einwurfschacht fallen. Der Container war fast voll. Er konnte die Ablage kaum dre 106 hen und das Kleidungsstück einwerfen. Mehr würde er nicht schlucken. Vielleicht sollte er die restlichen Stücke in einiger Entfernung loswerden. Er ertappte sich dabei, wie er Richtung Westbourne Grove fuhr. Um Shoshanas Studio zu vermeiden, bog er in den Ladbroke Grove ab, Richtung Bayswater Road. Beim Gedanken an das Studio fiel ihm wieder eine ihrer Bemerkungen ein, die er bis jetzt vergessen hatte. Nerissa war gar kein Mitglied. Seine Besuche dort, seine Bemühungen um den Vertrag, der Flirt mit Danila - alles war reine Zeitverschwendung gewesen. Schon vor Wochen hätte sie ihm sagen müssen, dass Nerissa dort nur zur Wahrsagerin ging. Noch ein Nagel zu ihrem Sarg, dachte er. Wenn eine Frau je ihr Schicksal herausgefordert hatte, dann sie. Während der Fahrt die Edgware Road hinauf kam er am Secondhandladen zu Gunsten der Seniorenhilfe vorbei, wagte aber nicht, die Sachen dort abzugeben. Ein Container an der Ecke von Maida Vale und noch einer in St. John's Wood wären besser. Dort nahm er die Treppe vom Aberdeen Place zum Kanal hinunter, wobei er sich versicherte, dass niemand in der Nähe war. Kein Boot kam, keiner schaute zum Fenster heraus. Erst dann ließ er ihr Handy und ihre Schlüssel in den Kanal fallen. Er nahm denselben Weg zurück, fuhr den Campden Hill Square hinauf und parkte unweit von Nerissas Haus. Vielleicht fühlte er sich dadurch etwas getröstet. Hier war sie zu Hause, hier wohnte sie, sicher mit ihren sämtlichen Dienstboten und vielleicht mit einer guten Freundin. Bereits dieses Wissen gab ihm das Gefühl, er hätte etwas, worauf er sich freuen könnte. Er könnte die Beseitigung dieses Mädchens abhaken und weitermachen. Gäbe es einen besseren Aufenthaltsort für ihn? Hier könnte er sich neue Wege ausdenken, um Nerissa kennenzulernen. Es war ein hübsches weißes Haus mit einer blauen Eingangstür und einer rot blühenden Kletterpflanze an der Fassade. Ihre Zeitung lag noch immer ne 106
ben einer Packung Milch auf der Haustreppe. Jede Minute würde ein Dienstmädchen die Tür öffnen und Zeitung und Milch hereinholen. Nerissa läge noch im Bett, allein, davon war er überzeugt. Obwohl er vermutlich jede Zeile gelesen hatte, die über sie veröffentlicht worden war, war von einem Freund kaum die Rede gewesen. Kein Skandal, keine entlarvenden Bilder, wie sie es mit irgendeinem Kerl in einem Club trieb. Sie sei die kühle Keusche, dachte er, die auf den richtigen Mann wartete ... Die Tür ging auf, doch es erschien kein Dienstmädchen, sondern sie selbst. So ein Glück. Mix konnte es kaum glauben. Ihr Anblick in Morgenmantel und Pantoffeln hätte seiner Anbetung etwas Abbruch getan, aber sie trug einen weißen Trainingsanzug und weiße Turnschuhe. Was wäre, wenn ich zu ihr hinginge und sie um ein Autogramm bäte?, schoss es ihm durch den Kopf. Allerdings wollte er kein Autogramm von ihr haben, sondern sie selbst. Sie ging mit der Milch und der Zeitung hinein, die Tür fiel zu. Ihr Anblick hatte ihn befriedigt. Wie in Trance fuhr er heim, ging hoch und nagelte die Dielenbretter in dem Zimmer fest, wo er Danila abgelegt hatte. Erst würde er sich ausruhen und eine Kleinigkeit essen, danach würde er die Wand übertünchen. In der Zentrale erwartete ihn am Montagmorgen Ed, und Ed war stinksauer. »Das ganze Wochenende haben mich die beiden Kundinnen mit Anrufen bombardiert und buchstäblich verfolgt. Und das habe ich dir zu verdanken. Die eine meint, sie würde einen neuen Ellipsentrainer kaufen, aber nicht bei uns. Außerdem wird sie sich einen neuen Kundendienst suchen.« »Ich hab keinen Schimmer, wovon du redest, Kumpel«, sagte Mix. 107 »Den -Kumpel« kannst du dir sparen. Du warst nicht einmal in der Nähe, stimmt's? Du hast es nicht einmal für nötig gehalten, wenigstens bei ihnen anzurufen und sie zu vertrösten.« letzt erinnerte sich Mix wieder an Eds Anruf von Freitagnacht. Das war kurz nach ... Nicht daran denken. »Hab's vergessen.« »Ist das alles, was dir dazu einfällt? Du hast's vergessen? Ich war todkrank, das hab ich dir erklärt. Hatte fast vierzig Fieber, und mein Hals hat mich schier umgebracht.« »Hast dich aber schnell wieder erholt«, meinte Mix, der keine Lust hatte, sich noch mehr anzuhören. »Auf mich wirkst du ganz schön fit.« »Leck mich doch«, rief Ed. Der beruhigte sich schon wieder. Bei Ed dauerte es nie lange, dachte Mix. Wenn er doch nur herausfinden könnte, wann vermutlich Nerissas nächster
Besuch bei Madam Shoshana anstünde. Wenn er sie im Treppenhaus treffen könnte, wäre ihm ein Rendezvous mit ihr sicher. Auf der Fahrt zu seiner ersten Kundin, einer Fitnessfanatikerin, die in ihrem privaten Studio in Hampstead fünf Geräte stehen hatte, malte er sich dieses Treffen im Treppenhaus aus. Er habe sie sofort wiedererkannt, würde er zu ihr sagen. Jetzt würde er nicht mehr zu Madam Shoshana gehen. Nach einem Treffen mit ihr sei sein künftiges Schicksal nicht mehr wichtig. Allerdings würde er ihr gern etwas Besonderes sagen, wenn sie sich von ihm in eine Saftbar gleich um die Ecke einladen ließe. Natürlich würde sie Ja sagen. Frauen liebten nun mal den Satz, man möchte ihnen etwas ganz Besonderes sagen. Und da sie sich für Clubs oder Pubs nicht interessierte, würde ihr der Vorschlag mit einer Saftbar gefallen. Sie würde ihren weißen Trainingsanzug tragen, und beim Betreten der Bar würden alle sie ansehen - und auch ihn. Ihr zuliebe würde er sogar einen Karottensaft trin 108 ken. Kaum hätten sie Platz genommen, würde er ihr verraten, dass er sie schon seit Jahren verehre, und ihr sagen, dass sie die schönste Frau der Welt sei, und dann würde er ... Noch ehe Mix wusste, wie ihm geschah, fand er sich am Flask Walk wieder, wo ihn die Fitnesssüchtige mit offener Haustür erwartete. Rein optisch gab sie nicht viel her. Sie war drahtig und hatte eine große Nase. Trotzdem hatte sie nichts gegen einen Flirt und strahlte etwas Geschmeidiges und Lebhaftes aus, was ihn auf den Gedanken brachte, dass hier vielleicht etwas ginge. Während er den Gurt am Laufband justierte, blieb sie da und sah ihm bewundernd zu. »Es muss toll sein, wenn man so geschickte Hände hat«, schwärmte sie. Er hatte mit einem kürzeren Termin gerechnet. So aber vergaß er, wie versprochen bei einer Kundin in Palmers Green anzurufen. Gott sei Dank war sie ein weicher Typ, den man leicht beschwichtigen konnte. Sie würde sich nicht beschweren. Erst nachdem Gwendolen den Brief an Dr. Reeves in Woodstock eingeworfen hatte, fiel ihr etwas höchst Unangenehmes ein. Angenommen, er hätte sie tatsächlich geliebt und dann erfahren, dass sie am Rillington Place gewesen war. Natürlich nicht zum Zeitpunkt ihres Besuches, denn der hatte stattgefunden, noch ehe man Christie auch nur eines Mordes verdächtigte. Damals war Christie noch nicht jene berüchtigte widerliche Kreatur gewesen, in die er sich, angesichts seiner entlarvten Verbrechen, mit Beginn seines Prozesses verwandelt hatte, sondern ein Niemand, ein ganz gewöhnlicher Kleinbürger, der in einem heruntergekommenen Viertel wohnte. Wenn Stephen Reeves
damals von diesem Besuch erfahren hätte, hätte ihn das nicht beeindruckt. Und doch - angenommen, nur mal angenommen, er hätte 109 damals Kenntnis von ihrem Besuch gehabt, weil er sie während seiner Hausbesuche auf dem Weg dorthin beobachtet hatte. Schließlich hatte sie genau einen Tag nach ihrem gemeinsamen Besuch mit Bertha bei Christie zum ersten Mal Dr. Reeves konsultiert. Höchstwahrscheinlich hätte er in ihr die Frau wiedererkannt, die er tags zuvor am Rillington Place gesehen hatte. Oder? Damals wäre es für ihn ein nichtssagender Vorfall gewesen. Als man dann aber Christie den Prozess machte, wäre ihm alles wieder eingefallen, und dann hätte er zwei und zwei zusammengezählt, wie das gewöhnliche Leute nennen. Im Januar hatte er ihr erklärt, er schätze sie ungemein, und zu Beginn von Christies Prozess war er kurz davor gewesen, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Eileen Summers hätte erfahren, dass er für sie nichts mehr empfinde. Seine wahre Liebe sei Gwendolen Chawcer. Doch als er in der Zeitung las, dass Christie Frauen mit der Behauptung, er würde illegale Operationen durchführen, in sein Haus gelockt hatte, hätte er natürlich geglaubt, Gwendolen sei wegen einer Abtreibung dorthin gegangen. Ach, wie schrecklich! Diese Schande! Selbstverständlich würde kein anständiger Mann eine Frau heiraten wollen, die eine Abtreibung hatte vornehmen lassen. Und ein Arzt würde sich noch weitaus entschiedener gegen so etwas verwahren. Das alles ging Gwendolen im Kopf herum, während sie die Cambridge Gardens entlang spazierte. Mit jedem Schritt wuchs ihre Bestürzung. Hätte sie doch nur diesen Brief nicht eingeworfen! Sie würde einen zweiten Brief schreiben, ohne eine Antwort abzuwarten. Das wäre das einzig Richtige. In Anbetracht seiner Meinung über sie würde er sich höchstwahrscheinlich nicht einmal zu einer Antwort herablassen. Kein Wunder, dass er weder bei der Beerdigung ihrer Mutter gewesen war noch Gwendolen erneut besucht hatte. Kein Wunder, dass er letztlich doch Eileen Summers geheiratet hat 109 te. Während sie noch über diese Sätze grübelte, stand sie unvermittelt Olive Fordyce gegenüber, die zusammen mit Queenie Winthrop spazieren ging. Queenie stützte sich auf einen Einkaufswagen wie auf eine Gehhilfe, und Olive führte Kylie an der Leine. »Meine Güte, Gwendolen, du warst ja wie im Traum«, rief Queenie. »Wie in einer anderen Welt. An wen hast du gerade gedacht? An deinen Herzallerliebsten?« Sie zwinkerte Olive zu, die ihrerseits zurückzwinkerte.
Diese Bemerkung ging Gwendolen eindeutig zu sehr unter die Haut. »Sei nicht albern.« »Man wird doch wohl noch einen Scherz machen dürfen«, meinte Queenie ziemlich reserviert. Jetzt schaltete sich Olive ein. »Hört doch mit dem Zanken auf. Wen haben wir denn noch außer uns?« Diesmal reagierten die beiden anderen beleidigt. »Also wirklich, Olive, herzlichen Dank. Diesen Satz weiß ich wirklich zu schätzen.« Queenie plusterte sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter dreiundfünfzig auf. »Ich habe zwei Töchter und fünf Enkelkinder, falls du das vergessen haben solltest.« »So viel Glück kann nicht jeder haben«, sagte Olive friedlich. »Also, Gwen, da ich nun schon mal die Gelegenheit habe, möchte ich dich um einen ganz großen Gefallen bitten. Es geht um meine Nichte. Darf ich sie diese Woche irgendwann zu dir mitbringen? Sie möchte wirklich liebend gern dein Haus sehen.« »Das behauptest du.« Gwendolen klang mürrisch. »Trotzdem wird sie nicht kommen. Sie kommt ja nie. Ich mache mir die ganze Mühe, und dann kommt sie nicht mal.« »Diesmal schon. Versprochen. Außerdem musst du keinen Kuchen besorgen. Wir sind beide auf Diät.« »Tatsächlich? Na ja, dann soll sie eben kommen. Sonst liegst du mir nur wieder ständig in den Ohren, bis ich Ja sage.« 110 »Könnten wir Donnerstag ausmachen? Ich werde auch meinen kleinen Hund nicht mitbringen, versprochen. Du hast da einen hübschen Ring.« »Den trage ich jeden Tag», entgegnete Gwendolen kühl. »Ohne den gehe ich nie aus dem Haus.« »Ja, das ist mir schon aufgefallen. Ist das ein Rubin?« »Natürlich.« Verärgert und bestürzt ging Gwendolen nach Hause. Doch dies galt nicht dieser albernen Olive und ihrer Nichte; beide waren sie wie eine Schnake, die nachts durchs Schlafzimmer schwirrt - einfach nur lästig. Auch dass Olive der Ring früher nie aufgefallen war, war nicht sonderlich wichtig. In Wahrheit galt ihre Sorge einzig und allein Stephen Reeves. Inzwischen hatte man die Briefkästen geleert, und der Brief war bereits auf dem Weg nach Woodstock. Sie musste noch einmal schreiben und die Dinge berichtigen. Vielleicht hatte
er sie die ganzen langen Jahre über als Frau von niedriger Moral betrachtet. Man musste ihn unbedingt dazu bringen, sie im richtigen Licht zu sehen. 160
12
Es sollte lange dauern, ehe die Polizei Kenntnis davon erhielt, dass Danila Kovic verschwunden war. Sie war eine Einzelgängerin gewesen, die auf Anweisung von Madam Shoshana von Lincoln nach London gekommen war und außer Mix Cellini in London keine Freunde gehabt hatte. Eine Londoner Bekannte ihrer Mutter hatte für sie das Zimmer in Oxford Gardens gefunden. Danila hatte weder diese Frau noch deren Ehemann kennengelernt und war auch nie bei ihnen in Ealing zu Besuch gewesen. Ihre Mutter war damals als Bosnienflüchtling mit ihrer kleinen Tochter nach Grimsby gekommen und hatte wieder geheiratet, nachdem ihr Mann im Krieg umgekommen war. Eventuellen Gesprächspartnern gegenüber erwähnte Danila manchmal, ihre Mutter interessiere sich mehr für ihren zweiten Mann und die beiden gemeinsamen Söhne als für sie. Sie habe sie nach London geschickt, um sie loszuwerden. Kaum war sie einen Monat in London, starb ihre Mutter an Krebs. Danila fuhr zur Beerdigung nach Hause, aber ihr Stiefvater machte ihr klar, dass er in Zukunft keinen Wert auf ihre Anwesenheit legte. Sie fuhr wieder nach Notting Hill zurück. Mit neunzehn war sie praktisch allein auf der Welt. Sie war nicht sonderlich attraktiv, hatte nichts gelernt und besaß keine Freunde. Mit einer Ausnahme. Als sie bis Mitte der Woche immer noch nicht zur Arbeit erschienen war, wollte Madam Shoshana nichts mehr mit ihr zu tun haben und kümmerte sich nur noch darum, einen Ersatz für sie im Fitnessstudio zu finden. Der einzige Gedanke, den sie höchstens noch an Danila verschwendete, war die Feststel 111 lung, diese hatte entweder von ihrem Job die Nase vollgehabt oder sie war mit einem Mann abgehauen. Shoshanas Erfahrung nach trieb sich immer irgendwo ein Mann herum, mit dem ein Mädchen abhauen konnte. Aus diesem Grund zogen die Leute heutzutage anscheinend nach Lust und Laune quer durchs ganze Land und halb Europa. Danila sollte sich ja nicht einbilden, sie würde ihr den Job freihalten. Kayleigh Rivers hatte keine enge Beziehung zu Danila gehabt. Sie hatten sich nie gegenseitig besucht. Nur zweimal waren sie zusammen essen gewesen und einmal im Kino. Trotzdem war sie für Danila fast so etwas wie eine
Freundin gewesen. Sie war der einzige Mensch, der sie so gut kannte, dass sie sich jetzt über ihren möglichen Verbleib Sorgen machte. Shoshana hockte in ihrem türkischen Teppichhändlerkostüm hinter dem Empfang und rief bei der Vermittlungsagentur für Schönheitsstudios an, derer sie sich schon früher bedient hatte. Man schickte ihr gerade noch rechtzeitig eine Aushilfe. Schließlich erwartete sie bereits eine neue Kundin, die sie im Wahrsagerkostüm empfangen musste. Mit einer gehässigen Nachricht auf dem Handy teilte man Mix mit, er brauche sich nicht zu bemühen, bei Ed und Stephs Verlobungsfeier zu erscheinen. Er sei nicht willkommen. Diese Party, meinte Ed, sei für Freunde und wohlgesinnte Menschen gedacht. Wer sein Versprechen nicht halte, für den sei im »Sun in Splendour« kein Platz. »Was für ein Getue wegen nichts und wieder nichts«, rief Mix laut im Auto. Als ihn dieses Mädchen in jener Schreckensnacht so provozierte, dass er sie erschlug - genauso gut hätte sie laut und deutlich sagen können: »Bring mich um« -, hatte er einige Augenblicke lang geglaubt, seine Chancen auf ein Treffen mit Nerissa seien ein für alle Mal dahin. Doch im Laufe der nächs 112* ten Tage fühlte er sich allmählich besser. Er zwang sich -darauf war er besonders stolz - zu einem Anruf im Fitnessstudio und erkundigte sich nach Danila. Die Antwort steigerte seine gute Laune ungemein. »Shoshanas Studio. Kayleigh am Apparat.« »Kann ich Danila sprechen?« »Tut mir leid, Danila ist nicht da. Sie arbeitet nicht mehr hier.« Also dachte man, sie hätte ihren Job aufgegeben. Das konnte man unschwer herauslesen. Wenn man sich Sorgen gemacht hätte, wenn man eine Entführung oder Mord oder sogar beides in Betracht gezogen hätte, hätte man nicht gesagt, sie sei nicht da. Dann hätte es geheißen, sie sei vermisst. Vielleicht vermisste man sie gar nicht, dachte er, vielleicht gab es niemanden, der sich um sie kümmerte, dem ihr Schicksal etwas bedeutete. Irgendwo hatte er gelesen, dass jährlich Tausende Menschen verschwanden, ohne dass man sie je wieder fand. Am Schluss erkundigte er sich beiläufig nach einem Termin bei Madam Shoshana. »Ich sehe nach, ob sie frei ist.« Sie war es, und er vereinbarte einen Termin. An einem Mittwochnachmittag hatte Danila auf dem Weg nach oben Nerissa getroffen, die gerade herunterkam. Warum sollte er ihr nicht an diesem Mittwoch begegnen?
Natürlich hatte er sie damals nicht an einem Mittwochnachmittag im Studio verschwinden sehen, sondern an einem anderen Tag, vormittags. Trotzdem baute er fest darauf, dass sie am nächsten Tag zu Shoshana gehen würde. Wenn es schiefginge, würde er irgendwie ihr Auto lahmlegen und dann zufällig anwesend sein, um ihr mit Rat oder Tat zur Seite zu stehen. Zugegeben, ein kühner Streich, der aber durchaus funktionieren könnte, und zwar schnell. Er würde * 113 ihre vergeblichen Startversuche miterleben und dann hinübergehen und ganz höflich seine Dienste anbieten. Mix verlor sich in diesem neuen Tagtraum. Sobald der Motor wieder ansprang, würde sie ihn aus lauter Dankbarkeit auf einen Drink hereinbitten. Da Leute wie sie immer nur Champagner tranken, hätte sie eine Flasche kalt gestellt. Aber nein, jetzt fiel ihm wieder ein, dass sie keinen Alkohol trank. Das hatte er gelesen. Trotzdem gäbe es für ihre Besucher Champagner. Sie würden zusammensitzen und sich unterhalten. Und wenn er ihr gestand, wie lange er sie schon verehrte, und von seinem Fotoalbum erzählte, würde sie ihn fragen, ob er sie am Abend zu einer Filmpremiere begleiten würde. Vorher müsste er sie aber erst einmal kennenlernen. Konnte er irgendwie ihre Autobatterie entladen, ohne dass sie es merkte? Das würde er herausfinden. Er würde sich erkundigen und dann zur Tat schreiten. Anschließend brauchte er nur noch ein Starthilfekabel. Er malte sich aus, wie sie vergeblich die Zündung einschaltete. Dabei würde sie so wunderschön aussehen. Während ihr zierlicher Fuß wie wild aufs Gas trat -leider vergeblich -, würde ihre goldene Haut vor Anstrengung und Stress zart erröten. In dem Moment würde er zu ihr hintreten und sagen: »Kann ich helfen, Miss Nash?« Und sie würde erwidern: »Sie kennen meinen Namen?« Sein rätselhaftes Lächeln würde ihre Neugier erregen. »Es liegt an der Batterie. Meinen Sie nicht?« Vermutlich, würde er sagen, aber zum Glück habe er ein Starthilfekabel dabei. Nach dem Aufladen der Batterie müsste man ein wenig herumfahren, damit sie sich wieder auflud. Ob Sie etwas dagegen hätte, wenn er das übernähme? Natürlich könnte sie während der Fahrt neben ihm sitzen. Dieses Szenario war realistischer als eine Einladung in ihr Haus bei der ersten Begegnung. Er würde sie bis nach Wimbledon Common hinunterfahren oder vielleicht nach Richmond Park. Und sie 113
wäre von seinem Fahrstil und der geschliffenen Art, wie er mit dem Auto und mit ihr umging, so begeistert, dass sie seine Frage, ob er sie wiedersehen könne, sofort bejahte. Nein, er würde nicht fragen, ob, sondern wann. Da er bereits eine halbe Stunde vor dem vereinbarten Termin vor Shoshanas Studio stand, gelang es ihm, den Wagen an einer Parkuhr abzustellen, die er allerdings erst füttern würde, nachdem die Politesse um die Ecke verschwunden war. Dann blieb er auf dem Fahrersitz sitzen und las ein weiteres Kapitel in »Christies Opfer«. Offensichtlich hatte sich Reggie keine großen Sorgen über einen möglichen Nachschub an Mädchen gemacht. Wenn er ein Mädchen haben wollte, brachte er es dazu, zu ihm nach Hause zu kommen. Danach arrangierte er sein Gasinstrument, mit dem er angeblich ihren Katarrh heilen oder die Abtreibung vornehmen wollte, und erdrosselte sie, sobald sie ohnmächtig war. Selbstverständlich fickte er sie zuvor noch. Dieser Teil war nicht nach Mix' Geschmack. Sex mit einem toten Mädchen käme für ihn nicht in Frage, aber für Reggie war es das treibende Motiv. Wie viele hatte er denn tatsächlich umgebracht? Mix war erst beim Tod Hectorina McClennans. Vermutlich kämen noch mehr. Allerdings nicht die alte Chawcer, die war noch mal davongekommen. Er, Mix, würde wahrscheinlich keinen Mord mehr begehen. Auf diese kühle und praktische Überlegung war er mächtig stolz. Die Sache war zu mühsam, besonders wenn es darum ging, nachher die Spuren zu verwischen. Die einzige Ausnahme wäre Javy. Nach seinem ersten Mord erschien ihm ein zweiter deutlich weniger schwierig. Allerdings würde es diesmal mit voller Absicht geschehen. Er las noch ein paar Seiten, merkte dann mit Bedauern, dass nur noch drei Kapitel übrig waren, legte das Lesezeichen ins Buch, schob mit einem prüfenden Blick auf die Politesse weitere zwei Pfund in die Parkuhr und klingelte bei Shoshana. Sie 114 antwortete mit tiefer, elektrisierender Stimme. Offensichtlich hatte sie noch Besuch. Er hörte, wie sie deutlich geschäftsmäßiger sagte: »Ich sehe Sie dann nächste Woche wieder.« Als er gegen die Tür drückte, glitt sie auf. Bei der Aussicht auf eine Begegnung mit Nerissa bekam er einen trockenen Hals und Herzklopfen, aber es kam lediglich eine übergewichtige Frau in mittleren Jahren herunter. Es half alles nichts. Er musste zur Wahrsagerin und versuchen, Nerissas Termine herauszufinden. Notfalls würde er direkt danach fragen. In seinem ganzen Leben hatte er noch keinen solchen Raum gesehen wie den, in dem Shoshana saß. Hier drinnen war es sehr heiß und für die Tageszeit
sehr dunkel. Seine empfindliche Nase roch Tabakrauch. Die mit großen, klobigen Broschen zusammengesteckten Vorhänge wirkten auf ihn nicht nur exzentrisch, sondern ausgesprochen unangenehm. Er bemühte sich, die Eule nicht anzusehen. Noch mehr vermied er den Blick auf den grau gewandeten Zauberer hinter Shoshanas Sessel, indem er sich bewusst schräg hinsetzte. Shoshana selbst hatte er sich als grazile, glamouröse Person mit perfektem Make-up vorgestellt, wie es sich für die Besitzerin eines Schönheitssalons gehörte. Das Wenige, was er von ihr sah, genügte: Über dunklen, wallenden Gewändern starrten ihn scharfe schwarze Augen aus einem runzeligen Gesicht an. »Setzen Sie sich«, sagte sie. »Möchten Sie die Steine oder die Karten?« »Verzeihung?« »Soll ich Ihnen die Zukunft aus Edelsteinen oder aus Karten vorhersagen?« Sie runzelte die Stirn. »Ich hoffe doch, Sie wissen, was Karten sind.« Sie zog ein angeschmuddeltes Päckchen aus einer versteckten Tasche ihres obersten Gewandes. »Das hier. Karten. Was soll's denn nun sein?« »Meine Zukunft interessiert mich nicht. Ich möchte von Ihnen einen Rat. Wegen Geistern.« 115
»Zuerst die Zukunft«, sagte sie. »Ziehen Sie eine Karte.« Er wusste nicht recht, ob er in dem Päckchen herumwühlen durfte, und nahm deshalb die oberste Karte. Es war das Pikass. Unergründlich musterte sie zuerst die Karte, dann ihn. »Ziehen Sie noch eine.« Sie hatte die erste von ihm gewählte Karte wieder unter das Päckchen gemischt. Dennoch zog er erneut Pikass. Trotz des düsteren Lichts konnte er erkennen, dass sich ihr Gesicht nach unten verzog. Sie wirkte wie eine Frau, der man soeben eine schreckliche Nachricht mitgeteilt hatte, bestürzt, aber immer noch ungläubig. »Was ist?«, wollte er wissen. »Ziehen Sie noch eine.« Diesmal war es die Herzdame. Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie nahm ihm die Karte ab, legte das Päckchen mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch, holte aus einem schwarzen Samtsäckchen einen bunten Kristall nach dem anderen und legte sie im Kreis um ein weißes Spitzendeckchen. Schwarz, kristallklar, violett, rosa, grün und dunkelblau. »Legen Sie Ihre Hände auf das Mandala.« »Was ist das?«
»Legen Sie die Hände in den Steinring. So ist's richtig. Jetzt sagen Sie mir, welcher der heiligen Steine auf ihre Finger zustrebt. Spüren Sie es? Es werden höchstens zwei sein. Welche beiden Steine bewegen sich langsam auf Sie zu?« Mix konnte eine Bewegung der Steine weder sehen noch spüren, doch das würde er nie eingestehen. Stirnrunzelnd erklärte er ganz ernsthaft: »Der weiße und der grüne.« Shoshana schüttelte den Kopf. Noch nie hatte sie ihren Kunden zugestimmt. Eigentlich untergrub sie prinzipiell deren Selbstvertrauen, damit sie sich unwissend und dumm vorkamen. Ihre Popularität beruhte auf der überlegenen Weisheit, die sie in ihr sahen und die im Kontrast zu ihrer eigenen Un 116 wissenheit stand. »Sie irren sich«, sagte sie. »Heute liegen der Lapis und der Amethyst in ihrem Schicksalskreis. Beide drängen mit aller Macht auf Sie ein, aber Ihre Finger wehren sie hartnäckig ab. Sie müssen sich entspannen und dürfen nicht mehr dagegen ankämpfen. Sie müssen sie bereitwillig kommen lassen.« Für Mix rührten sich die Steine weiterhin keinen Millimeter. Stattdessen bildete er sich ein, die Gestalt im grauen Gewand hinter Shoshanas Sessel hätte sich leicht bewegt. Die Hand mit dem verschlungenen Schlangenstab schien sich ein ganz klein wenig gehoben zu haben. Eigentlich hatte er darüber nicht sprechen wollen, aber inzwischen hatte er Angst, und die Wörter platzten aus ihm heraus. ^ »Dieses Dingsda, dieser Mann hinter Ihnen - er hat sich bewegt.« »Dann haben Sie also doch eine Art innere Vision«, sagte Madam Shoshana und fügte hinzu: »Wenn auch nur einen Hauch. Jetzt haben sich die Steine zurückgezogen. Lassen Sie ab.« Was meinte sie damit? Hatte sich die Zaubererfigur tatsächlich bewegt? Vielleicht auf Grund eines eingebauten Mechanismus? Oder besaß er die gleiche Vorstellungskraft wie sie? Mix konnte sich keinen Reim darauf machen. Um nicht zu zittern, ballte er seine Hände zu Fäusten. »Ihr Schicksal ist schrecklich aus dem Gleichgewicht geraten«, hob sie an. »Die Steine sprechen von Selbstzweifel und Unsicherheit und von der Angst, dass irgendeine Sünde ans Tageslicht kommt. Ansonsten sind sie stumm und behalten ihre Meinung für sich. Nun zu den Karten. Sie künden von Tod.« Sie hob den Kopf und starrte ihn rätselhaft an. »Wenn ich könnte, würde ich es gerne vermeiden, Ihnen davon zu berichten, aber Sie haben das Pikass
zweimal gezogen. Angesichts dieser Tatsache würde es gegen meine Pflicht versto 117 ßen, wenn ich Sie nicht vor der Todesgefahr warnen würde. Außerdem haben Sie die Herzdame gezogen. Wie allseits bekannt, verkörpert sie die Liebe. Ich sehe eine wunderschöne dunkle Frau. Ob sie Ihnen bestimmt ist oder nicht, kann ich nicht sehen, aber Sie werden ihr bald begegnen. Das ist alles.« Mix stand auf. »Das macht dann fünfundvierzig Pfund«, sagte sie. »Nehmen Sie auch einen Scheck?« »Durchaus, aber keine Kreditkarten.« Er setzte sich wieder hin, um den Scheck auszustellen. Als er das Datum eintrug, fiel ihm wieder der ursprüngliche Grund für seinen Besuch ein. »Ich wollte Sie etwas fragen. Vielleicht habe ich einen Geist gesehen.« »Was meinen Sie mit »vielleicht'?« »Es handelt sich um einen Mörder, der in der Nähe meiner jetzigen Wohnung gelebt hat. Er hat Frauen umgebracht und sie in seinem Garten vergraben. Ich habe etwas gesehen - glaube ich. Ich glaube, ich habe seinen Geist in dem Haus gesehen, in dem ich wohne.« »Hat er diese Frauen dort ermordet?« »Nein, nein. Aber vermutlich ist er manchmal dort gewesen. Könnte er könnte er zurückkommen.« Madam Shoshana saß reglos da und war offensichtlich tief in Gedanken versunken. Nach einer geschlagenen Minute meinte sie: »Warum nicht? Es wäre gut, wenn Sie nächste Woche wieder zu mir kommen. Bis dahin werde ich entschieden haben, was man dagegen tun sollte. Bedenken Sie, diese Angelegenheit bedarf größter Sorgfalt und spirituellen Schutzes. Sollten Sie diese Gestalt in der Zwischenzeit erneut sehen, halten Sie ihr ein Kreuz entgegen. Sie müssen ihr nicht das Kreuz nachwerfen. Halten Sie es einfach hoch.« »In Ordnung«, sagte Mix und freute sich. Er hatte immer noch das Kreuz, das ihm Steph gegeben hatte. 117 »Das wären dann noch mal zehn Pfund.« Kaum war er fort, zündete sich Shoshana eine Zigarette an. Bis zu Ihrem nächsten Termin hatte sie noch eine halbe Stunde Zeit. Sie hatte sich längst an ihre leichtgläubigen Kunden gewöhnt. Am Anfang hatte sie sich darüber gewundert oder lustig gemacht, doch das war längst vorbei. Diese Leute würden alles glauben. Sie selbst war eine merkwürdige Mischung: Einerseits lachte sie schallend über den ganzen okkulten Kram, andererseits glaubte sie
doch ein bisschen daran. Ohne dieses winzige Maß an Glauben hätte sie ihren selbst gewählten Lebensweg nicht gehen können. Sie war felsenfest überzeugt, dass Riten wie Wünschelrute und Exorzismus wirksame und wertvolle Methoden waren. Andererseits plädierte sie voll und ganz dafür, Dinge mit praktischen Hilfsmitteln voranzutreiben. Nur ein Beispiel: Ihr ganzes Kartenpäckchen bestand aus zwei Farben - Pikass und Herzdame. Sie hatte es in einem Laden für Scherzartikel gekauft. Die Steine hatten ihrem Großvater gehört, der sie während seiner Orientreisen gesammelt hatte, und die Zaubererfigur stammte aus dem Sonderangebot eines Ramschladens in der Portobello Road. Sie hatte sie aus einem Container gezogen, wo sie über einem Tigerfell aus Nylon und einem Porträt von Edward VII. lag. Aber trotzdem... Dieses »Aber trotzdem« spielte beim Ausloten ihres Berufes eine nicht unwesentliche Rolle. Ihre Prophezeiungen beruhten lediglich auf ihrer Fantasie und auf ihrer Beobachtungsgabe. Die Bewegungen der Steine, die jeweiligen Kartenbilder waren irrelevant. Die Kunst des Wahrsagens mit Edelsteinen war für sie ein Buch mit sieben Siegeln, und vom Kartenlegen verstand sie absolut nichts. Trotzdem war es merkwürdig und auch ein wenig unheimlich, wie oft ihre Vorhersagen ziemlich nahe an die Wahrheit herankamen. Dieser junge Mann würde höchstwahrscheinlich sterben oder einem anderen Menschen den Tod bringen, was er vielleicht 118 sogar schon getan hatte. Und von schönen Frauen wimmelte es in den Straßen von Notting Hill. So einer könnte er jederzeit begegnen. Trotzdem war an diesem Punkt ihrer Prophezeiung etwas Merkwürdiges passiert: Im selben Moment hatte sie an Nerissa Nash denken müssen. Sie war der Auslöser dafür gewesen, dass sie dann von einer dunklen Schönheit sprach. Wahrscheinlich hatte er dieses Mädchen höchstens auf Fotos und noch nie leibhaftig gesehen. Und die Sache mit dem Geist war reiner Hokuspokus gewesen. Trotzdem sah sie keine Veranlassung, davon die Finger zu lassen, wenn man damit Geld herausschlagen konnte. Der zweite Brief an Dr. Reeves entpuppte sich als schier unüberwindliches Hindernis. Mehrmals gab Gwendolen auf und spazierte durchs Haus, um sich die Beine zu vertreten und auf klare Gedanken zu kommen. Letzteres leider vergeblich. Es wäre absurd, einem Mann zu schreiben, er habe sie nur fallen gelassen, weil er glaubte, sie hätte eine Abtreibung vornehmen lassen. Damit machte sie sich lediglich zur Zielscheibe seines Gespötts. Sie musste versuchen, das Ganze zu umschreiben. Irgendwie musste es ihr gelingen. Während sie droben in ihrem Schlafzimmer zum Fenster hinausstarrte, ohne
wirklich irgendetwas zu sehen, gestattete sie sich einen Traum: Wie wäre es gewesen, wenn sie mit ihm ein Schlafzimmer geteilt hätte? Was wäre, wenn sie jetzt an ihren Kleiderschrank ginge, die Tür öffnete - intensiver Mottenkugelduft waberte heraus - und neben ihren eigenen Kleidern seine Anzüge und seinen Trenchcoat hängen sähe? Diese Möglichkeit war noch nicht ausgeschlossen. Schließlich war er jetzt Witwer. Sie machte sich auf den Weg nach oben. Ihr ganzes Leben war sie diese Treppen hinauf- und hinuntergestiegen, vom ersten Schritt an. Damals war die Treppe zum Dachgeschoss 119 noch nicht gefliest gewesen. Man hatte die nackten Holzstufen mit Drogett belegt, einer früher einmal modernen Art Auslegeware. Was war aus dem Drogett geworden? Heutzutage sah man ihn nirgends mehr. Nach einem Befall mit Holzwurm und anschließender Schädlingsvernichtung hatte Papa die Treppe fliesen lassen. Nur wenige Handwerker hatten St. Blaise House betreten, einschließlich Installateure und Elektriker. Die Fassade hatte man zum letzten Mal vor dem Zweiten Weltkrieg gestrichen, und die letzte Modernisierung der Elektrik lag noch knapp ein Dutzend Jahre weiter zurück. Nur gegen eines war Papa radikal vorgegangen: gegen Holzwürmer. Darüber hatte er sich manche schlaflose Nacht den Kopf zerbrochen. Sie könnte Stephen Reeves schreiben, sie erinnere sich noch genau, dass er sie am Tag vor ihrer ersten persönlichen Begegnung am Rillington Place gesehen hatte. Natürlich hatte sie keine richtige Erinnerung mehr daran. Sie war ja noch nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt gesehen hatte. Andernfalls würde er sie für sehr töricht halten. Vielleicht glaubte er sogar, sie hätte diese Krankheit - wie hieß sie doch gleich? Alzheimer - ja, Alzheimer. Otto saß wie eine Sphinx mitten auf der gefliesten Treppe. »Was machst du denn da?« Sie hatte ihn noch nie angesprochen. Jedenfalls konnte sie sich nicht daran erinnern. Außerdem war es sowieso lächerlich, mit Tieren zu reden. Otto stand auf, machte einen Buckel, streckte sich und funkelte sie wütend an. Dann verschwand er mit einem Satz in einem der Flure und duckte sich dort am Ende in den Schatten. Gwendolen sperrte die Tür zur Wohnung auf und trat ein. Wieder war alles deprimierend aufgeräumt. Wie fanatisch musste einer sein, wenn er die Sofakissen aufschüttelte, bevor er morgens aus dem Haus ging? Die Psyche-Figur auf dem Couchtisch fand sie vulgär. So etwas 119
stand in Möbelgeschäften, die dreiteilige Sitzgruppen mit cremeweißem Leder und Plexiglastische verkauften. Sie hob sie hoch und war überrascht, wie schwer die Figur war. Der Sockel war mit Filz bezogen. Es sah aus, als hätte ihn jemand aus Versehen in verschütteten Kaffee gestellt. Woher sollte der dunkle Fleck sonst kommen, der halb so groß wie der Sockel war? Was sonst hätte den smaragdgrünen Filz rotbraun färben können? »Die unermesslichen Gewässer färben«, zitierte Gwendolen laut, »und Grün in Rot verwandeln.« Für so etwas hatte sie Talent, und darüber freute sie sich rechtschaffen. Macbeth hatte damit natürlich Blut gemeint, während Cellinis Marmorklotz wohl kaum in einer Blutlache gestanden hatte. Kopfschüttelnd betrachtete sie die mangelhafte Ansammlung von Büchern in diesem Raum. Nur Bücher über diesen Christie. Dabei fiel ihr wieder ein, dass sie noch einen Brief schreiben musste. Trotzdem wollte sie vorher noch dem Zimmer neben seiner Wohnung einen Besuch abstatten und erneut diesen Fußboden inspizieren. Das Dielenbrett stand nicht mehr vor, auch wenn sie es anders in Erinnerung hatte. Das Ganze war wohl Einbildung gewesen. Vermutlich war sie über etwas anderes gestolpert. Wie sie so dastand und auf die gesplitterten alten Bretter hinunterstarrte, wusste sie plötzlich, was hinter all den kleinen Löchern steckte - Holzwürmer. Wie sagte Papa immer? Holzwürmer seien genauso schlimm wie Termiten, sie könnten ein ganzes Haus zerstören. Was nun? \ Sie stand unschlüssig unter der Tür und dachte wieder an ihren Brief. Einen Versuch würde sie noch machen. Vielleicht sollte sie andeuten, dass man Gerüchten nicht glauben solle. Andererseits hatte doch niemand Gerüchte über sie verbreitet, oder? Jedenfalls konnte sie ihm nicht sagen, er solle seinen eigenen Augen nicht trauen. Im Gegensatz zum letzten Mal 120 hing in diesem Raum ein leichter Geruch. Garantiert. So etwas wäre ihr aufgefallen. Kein angenehmer Geruch, wahrlich nicht. Hatten Holzwürmer einen Geruch? Vielleicht. Wenn es schlimmer würde, gäbe es keinen Zweifel mehr. Dann müsste sie einen Handwerker holen, Leute, die Fußböden, Bretter und Möbel irgendwie behandelten, um diese Dinger ein für alle Mal zu verbannen. Wenn sie ihren Brief geschrieben hätte, würde sie im Telefonbuch nachschlagen. Dort gab es die sogenannten Gelben Seiten. Man hatte es ihr auf
die Haustreppe gelegt, aber sie hatte es bisher noch nicht einmal benutzt. Jetzt würde sie es tun. 121
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»Neumodisch« - dieses Wort spielte in Gwendolens Vokabular eine ungemein wichtige Rolle. Sie verwendete es für die meisten Dinge, die seit den sechziger Jahren »auf der Bildfläche erschienen waren«. Auch Letzteres war wieder einer ihrer Lieblingsausdrücke. Computer waren genauso neumodisch wie CDs und deren Abspielgeräte. Dieses Wort galt auch für Handys, Anrufbeantworter, Parkuhren und Parkkrallen, obwohl sie den Anblick solcher Gerätschaften an falsch geparkten Fahrzeugen genoss, für Farbfotos in Zeitungen, Kalorien und Diäten, das Verschwinden von Telegrammen und selbstverständlich für das Internet. Es gelang ihr, die meisten modernen Errungenschaften zu ignorieren, aber die Gelben Seiten waren ein Buch, und Bücher waren ihr vertraut, egal welcher Art. Wie sagte Papa immer? Wenn er allein auf einer einsamen Insel wäre und nur das Telefonbuch zum Lesen hätte, würde er das lesen. So weit mochte Gwendolen nicht gehen. Allerdings stellte sich heraus, dass dieses Verzeichnis von Dienstleistern weitaus weniger neumodisch und unverständlich war, als sie befürchtet hatte. Ganze Seiten waren hier für Firmen reserviert, die die Bekämpfung von Holzwürmern übernahmen. Für welche sollte man sich entscheiden? Eine schwierige Frage. Ganz gewiss nicht für eine Firma mit betont witzigem Namen wie »Ex und hopp « — »Mit uns geht Ihr Holzwurm ex und hopp«. Auch eine im großen Stil kommerziell operierende Firma kam nicht in Frage. Schließlich entschied sie sich für »Ihr Holzteam«, hauptsächlich weil es gleich in der Nähe lag, am Kensal Green. 121 Allerdings blieb ihr damit noch nicht die schreckliche Situation erspart, dass es ihr nicht gelang, am Telefon eine menschliche Stimme zu erreichen. Erst musste sie die Taste eins drücken, dann die zwei. Das ging schief, und sie musste von vorne anfangen. Nachdem sie diese Hürden genommen hatte, wurde sie aufgefordert, die »Raute« zu drücken, fetzt musste sie um eine Erklärung bitten. Als die künstliche Stimme auf ihre Nachfrage nicht reagierte, zog sie ihre eigenen Schlüsse. Zahlen oder ein Stern schieden aus, also musste es sich um die Taste handeln, deren Symbol an ein schiefes Fallgitter erinnerte. So war es auch. Sie wartete und wartete. In der Zwischenzeit ertönte Musik, jene Art neumodische Musik, die aus den Autos dröhnte, wenn junge Männer am Samstagabend ihre Straße entlang rauschten. Endlich
kam sie durch und musste sich schockiert anhören, »ein Mitarbeiter« käme, von heute an gerechnet, in zwei Wochen und vier »Arbeitstagen« zur »Begutachtung«. Dieses Telefonat erschöpfte sie so sehr, dass sie sich im Salon hinlegen und bei einer halbstündigen Lektüre der »Entstehung der Arten« erholen musste. Olive wollte ihre Nichte zum Tee mitbringen. Trotz ihrer Behauptung, sie beide seien auf Diät, wusste Gwendolen ganz genau, wie ernst sie so etwas nehmen musste. Damit machten sie alles nur noch komplizierter. Jetzt würden die beiden nicht nur schlicht und einfach eine Tasse Tee trinken wollen, sondern kalorienarmes Knäckebrot, Diätkuchen oder sonstigen neumodischen Blödsinn erwarten. Außerdem verspeiste Gwendolen, die nie zunahm, egal, was sie aß, gerne etwas Herzhaftes zum Tee. Diese Leute machten sich einfach nie Gedanken, welche Probleme sie anderen bereiteten. Sie hatte mit Stephen Reeves so vieles gemeinsam. Es gab keinen Grund zur Annahme, dass er seine Vorlieben geändert hatte. Gwendolen vertrat die Ansicht, dass sich die Leute ei 122 gentlich herzlich wenig änderten und nur so taten, um damit anzugeben. Stephen hatte Sandwiches und hausgemachten Kuchen zum Tee geliebt, besonders ihre Biskuitrolle. Würde es ihr gelingen, für ihn zum Wiedersehen eine Biskuitrolle zu backen? Allerdings musste zuerst noch dieser Brief geschrieben werden, wenn nicht heute, dann morgen oder übermorgen. Je mehr sie darüber nachdachte, wie sie den Eindruck korrigieren könnte, den er gewiss von ihr gewonnen hatte, umso peinlicher berührte es sie, dass sie einem Mann erklären musste, sie hätte keine Abtreibung vornehmen lassen, sondern nur eine andere Frau begleitet, die so etwas beinahe getan hätte. Wobei in seinen Augen bereits dieses Verhalten verwerflich erscheinen könnte. Vielleicht würde sie eine subtile Ausdrucksweise dafür finden. Die Probe könnte sie schon jetzt einmal machen. Erneut griff sie zu Feder und Papier. »Lieber Dr. Reeves ...« Warum müsste man überhaupt die Worte »illegale Operation« verwenden? »Lieber Dr. Reeves, nachdem ich meinen vorigen Brief eingeworfen hatte, erinnerte ich mich wieder an eine Begebenheit, die unsere wechselseitige Sympathie betrifft ...« Nein, das war falsch. Es hatte sich mehr um das gehandelt, was man heutzutage eine >Beziehung< nannte. »... Erinnerte ich mich wieder an etwas, was unsere wechselseitige Beziehung betrifft.« Das würde gehen, das klang ziemlich gut. Allerdings hatte sie ihn schon lange vor ihrer Trennung nicht mehr Dr. Reeves genannt. »Lieber
Stephen, nachdem ich meinen vorigen Brief eingeworfen hatte, erinnerte ich mich wieder an eine Begebenheit, die mir entglitten war. Sie betrifft unsere wechselseitige Beziehung. Am Tag vor unserer Begegnung in Ihrer Praxis, wo ich Sie wegen einer kleineren Unpässlichkeit konsultierte ...« Sollte sie das genaue Datum dieser Begegnung anführen? Vielleicht nicht. »... wegen einer kleinen Unpässlichkeit konsultierte, habe ich mich nicht zu der Tat 123 sache geäußert, dass wir uns bereits tags zuvor gesehen hatten. « Sie hatte so wenig Gewissheit, dass er sie gesehen hatte, wie für das Gegenteil. Vielleicht war er meilenweit weg gewesen und hatte sie aus einem ganz anderen Grund verlassen. Aber, nein, das war unmöglich. Er hatte sie geliebt, das wusste sie. Und er hatte sie auch später noch geliebt, obwohl er gespürt hatte, dass sie unter diesen Umständen als Frau eines praktischen Arztes ungeeignet gewesen wäre. Was ja auch der Wahrheit entsprochen hätte, wenn sie das getan hätte, was er sich einbildete. Sie warf einen Blick auf die Uhr und erschrak. In einer Stunde würde Olive erscheinen, mit oder ohne Nichte, und sie hatte noch nicht einmal Kuchen gekauft. Sie wusste nicht einmal mehr sicher, ob sie genug Milch hatte. Dieser Brief würde bis später warten müssen oder bis sie eine Antwort auf ihren ersten bekam. Obwohl Olive betont hatte, wie sehr ihre Nichte für alte Londoner Gebäude schwärme, zeigte Hazel Akwaa wenig Interesse am St. Blaise House. Sie entpuppte sich als ruhige, wohlerzogene Frau, die still ihren Tee trank und ein Löffelbiskuit verzehrte, während Olive unentwegt plapperte. Olive hatte eine schwarze Schlaghose und einen roten Pullover mit einem Muster aus Tannenbäumen und Skiläufern an, der einer wesentlich jüngeren Frau besser gestanden hätte. Ihre Nichte dagegen trug ein graues Wollkleid und dazu eine Goldkette, die ziemlich wertvoll aussah. Als Olive sie vorstellte, hatte sich Gwendolen erst noch einmal nach dem Familiennamen erkundigen müssen. Dann bat sie, ihn zu buchstabieren. Er klinge so fremdländisch, so afrikanisch. Gwendolen kannte ihren Rider Haggard noch aus Kindertagen und glaubte zu wissen, dass in den Romanen »Sie« oder »König Salomons Schatzkammer« eine Figur namens Akwaa vorkam. Hazel - wie hieß sie 123 denn nur wieder? - hatte doch sicher keinen Afrikaner geheiratet, oder? »Möchten Sie sich im Haus mal umsehen?«, fragte Gwendolen, nachdem der Tee getrunken war. »Hier gibt es ziemlich viele Treppen.«
Eigentlich hatte sie erwartet, die Frau würde sagen, von einem kleinen Hindernis wie einer Treppe ließe sie sich nicht abhalten, aber Mrs. Akwaa wirkte alles andere als begeistert. »Also, wenn Sie nicht darauf bestehen ...« »Aber natürlich nicht. Damit wollte ich eigentlich Ihnen einen Gefallen tun, Mrs. Akwaa.« »Bitte, nennen Sie mich Hazel. Diesen entzückenden Raum kann ich bereits von meinem Platz aus bewundern, und ich kann mir kaum vorstellen, dass das restliche Haus noch Schöneres zu bieten hat.« Diese liebenswürdige Bemerkung besänftigte Gwendolen, und sie beschloss, ein wenig aufzutauen. »Und wo wohnen Sie?« »Ich? Ach, in Acton.« »Tatsächlich? Ich denke nicht, dass ich dort schon mal gewesen bin. Und wie kommen Sie jetzt nach Hause?« Es klang, als würde ihr Gast in Cornwall wohnen und Gwendolen wollte sie möglichst schnell wieder loswerden. »Hoffentlich nicht mit einer Untergrundbahn. Wer damit fährt, riskiert sein Leben.« »Meine Tochter sagte, sie würde uns um halb sechs abholen. Dann fahren wir alle gemeinsam zum Abendessen in mein Haus.« * »Wie reizend. Handelt es sich dabei etwa um dieses mustergültige Fräulein, von dem mir Ihre Tante immer vorschwärmt?« »Von 'mustergültige ist mir nichts bekannt«, sagte Hazel Akwaa fast so kühl wie Gwendolen. »Ich habe nur diese eine 124 Tochter. Für ihren Vater und mich ist sie etwas ganz Besonderes, aber wir sind schließlich auch ihre Eltern. Wären Sie so freundlich, mir zu sagen, wo Ihre Toilette ist?« Gwendolen lächelte verkniffen. »Im ersten Stock können Sie sich die Hände waschen. Die Tür liegt direkt gegenüber dem Ende der ersten Treppe.« In Abwesenheit von Hazel Akwaa beschloss Gwendolen, Olive von dem Holzwurmbefall zu erzählen. »Ich war eben erst wieder oben, um mich erneut zu vergewissern. Ich habe »Ihr Holzteam« angefordert, aber sie meinten, sie könnten mich wie alle modernen Firmen über vierzehn Tage warten lassen, bevor sie kommen. Aber vermutlich wird der Boden in den nächsten vierzehn Tagen nicht zusammenbrechen.« Sie lachte kurz und trocken auf. »Weißt du vielleicht zufällig, ob Holzwürmer riechen ?« »Wirklich, Gwen, keine Ahnung. Ich habe noch nie gehört, dass sie riechen.«
»Vielleicht habe ich es mir ja nur eingebildet. Ich würde dich ja gerne mit hinaufnehmen und es dir zeigen, aber leider wird deine Großnichte schon in fünf Minuten da sein.« Hazel kam zurück, Otto hinterdrein. »Ihr entzückender Kater strich mir um die Beine, und als ich ihn streichelte, lief er hinter mir die Treppe herunter.« »Tja, offensichtlich schenkt dieses Tier einigen Leuten seine Gunst«, sagte Gwendolen. Es hörte sich an, als könnte man über Geschmack eben streiten. Mix hatte vor Nerissas Haus am Campden Hill Square Wache bezogen und wurde dafür mit dem Anblick belohnt, dass sie kurz nach halb fünf aus der Tür trat und in ihr Auto stieg. Diesmal war sie elegant gekleidet: honiggelber Hosenanzug und ein großer goldener Hut, den sie auf dem Beifahrersitz deponierte. Als sie an ihm vorbei den Hügel hinunterfuhr, 125 bremste sie ein wenig ab, drehte kurz den Kopf und starrte ihn an. Er freute sich. Jetzt wird sie mich wiedererkennen, dachte er. Vor Dienstschluss hatte er noch einen Termin in einem Haus in Pembroke Villas. Hier wohnte eine jener seltenen Kundinnen, die ein Laufband besaßen und es tatsächlich nutzten, wenn auch nicht täglich, aber wenigstens drei- bis viermal pro Woche. Der Gurt am Gerät hatte sich auf der Walze zu weit nach links verschoben, und Mrs. Plymdale hatte trotz aller Gymnastik nicht genug Kraft, das Problem eigenhändig mit dem Schraubenschlüssel zu beheben. Ihr Haus besaß eine Einfahrt, wo er seinen Wagen abstellen konnte. Er gratulierte ihr zu ihrem intensiven Training, justierte den Gurt neu und ölte das Gerät. Allerdings sei es tatsächlich besser, einen neuen Gurt aufzuziehen. Er riet ihr umgehend zur Bestellung. Der ganze Termin dauerte nur fünfzehn Minuten. Den restlichen Tag hatte er frei. Über die Portobello Road, Ladbroke Grove und Oxford Gardens fuhr er nach Hause. Unterwegs hielt er noch an und besorgte sich eine kleine Flasche Gin, eine Flasche Rotwein und eine Portion Hähnchen Masala aus der Tiefkühltruhe. Trotz des späten Nachmittags war es sehr heiß, und der Wind war abgeflaut. Insgeheim fragte er sich, ob man inzwischen schon eine Suchaktion nach diesem Mädchen eingeleitet hatte, nach dieser Danila. In der Zeitung hatte nichts gestanden, demnach hatte die Polizei noch keinen Hinweis bekommen. Er hatte Angst vor der Wahrheit und wollte es gleichzeitig unbedingt wissen. Wenn es schon den Leuten in Shoshanas Studio egal war, dann würden sich zumindest ihre Vermieter wundern. Die doch sicher. Er bog in die St. Blaise Avenue ein. Vor dem Haus, in dem er wohnte, parkte ein goldener Jaguar an
einer durchgezogenen gelben Linie. Komisch, von hier aus sah es fast wie Nerissas Auto aus. War ja ein tol 126 ler Schlitten, so ein Jaguar, aber trotzdem sah einer aus wie der andere. Um die Ecke hatte er eine Politesse mit grimmiger Miene entdeckt. Die würde mit dem Fahrzeugbesitzer kurzen Prozess machen. Unwillkürlich wünschte er sich, er hätte sich Nerissas Nummernschild gemerkt. Leider hatte er das immer versäumt. Irgendwie war es ihm nicht wichtig erschienen. Er parkte sein Auto auf einem für Anwohner reservierten Platz, sperrte ab und ging über die Straße zu dem Jaguar hinüber. Auf dem Beifahrersitz lag tatsächlich ihr großer goldener Hut. Also war es doch ihr Auto. Er sah auf, drehte sich um und stand ihr direkt gegenüber. Ein Traum? Unmöglich, das hier war garantiert real ... »Nerissa«, sagte er, »wie schön, dass ich endlich mit Ihnen reden kann.« Wortlos sahen ihn ihre großen schwarzen Augen an. Wie unter Schock stand sie völlig reglos da. »Nerissa, Sie haben an einer gelben Linie geparkt«, sagte er. »Die Politesse wird Sie aufschreiben. Darf ich Ihr Auto wegfahren, Nerissa?« »Für Sie immer noch Miss Nash«, ertönte es hinter ihr. Da er nur Augen für sie gehabt hatte, waren ihm die beiden Frauen restlos entgangen. Sie gehörten zu jener Sorte, die genauso gut hätten unsichtbar sein können. Frauen wie sie bemerkte er nie. Die Besitzerin dieser Stimme meinte: »Danke, meine Tochter wird ihr Auto selbst wegfahren. Sie wollte es gerade tun.« Nerissa lächelte ihn so strahlend, lieb, nett und nachsichtig an, dass er beinahe vor ihr auf die Knie gefallen wäre. »Das war sehr aufmerksam von Ihnen«, sagte sie, stieg ins Auto und reichte den Frauen auf der Rückbank den Hut. Das Fenster war heruntergekurbelt. »Also, tschüss.« Kaum war der Wagen um die Ecke verschwunden, tauchte 126 die Politesse auf und näherte sich fast im Laufschritt mit dem Strafzettel in der Hand. Mix blieb noch einen Moment auf dem geweihten Parkplatz des Jaguars stehen, auf dem jetzt nur noch eine leere Bierdose, ein ölverschmierter Stofffetzen und das Einwickelpapier von einem Magnum-Eis herumlagen. Die Politesse hielt sich für witzig, als sie sagte: »Sir, wenn Sie hier stehen bleiben, bekommen Sie eine Parkkralle.« »Ha, ha«, rief Mix. Er schwebte zum Haus hinüber. So viele Vorfälle der letzten Tage erschienen ihm wie ein Traum. Entweder waren es himmlische Träume, so wie der letzte,
oder wahre Albträume. Was war mit der Realität passiert? Nun, er hatte Nerissa angesprochen und sie - Wunder über Wunder! - ihn. Das war tatsächlich passiert. Und so nett war sie gewesen, so charmant. Aufmerksam hatte sie ihn genannt. Wenn sich die Alte, die angeblich ihre Mutter war, nicht eingeschaltet hätte, hätte sie ihn wahrscheinlich das Auto wegfahren lassen. Vielleicht wäre sie sogar zu ihm eingestiegen und hätte sich von ihm nach Hause fahren lassen. Leider hatte die Alte dazwischengefunkt. Mix hätte sie am liebsten zusammengeschlagen und mit Füßen getreten. Wie konnte dieses Weib mit den rötlichgrauen Haaren und dem blassen Hundegesicht Nerissas Mutter sein? Im Haus war es immer ruhig, aber an diesem Nachmittag wirkte alles ungewöhnlich still. Er begann, die Treppe hinaufzusteigen. Beim nächsten Mal würde ihn Nerissa wiedererkennen. Dann würde sie herauskommen, sich mit ihm unterhalten und ihn vielleicht sogar auf einen Kaffee hereinbitten. Das wäre dann seine Chance, sie um ein Rendezvous zu bitten. Er würde sie zu diesem Zweisterneitaliener mit dem lustigen Namen ausführen, den man zum besten italienischen Lokal des Jahres gewählt hatte. Zum Glück hatte er sich etwas ansparen können. Eigentlich war der Betrag für einen Fern 127 seher mit Plasmabildschirm gedacht gewesen, aber Nerissa war viel wichtiger. Kaum war er an der obersten Treppe angelangt, verdrängte unweigerlich der Gedanke an Reggie und dessen Geist alles andere. Nicht einmal Nerissa besaß genügend Macht über ihn, um diese Gedanken zu vertreiben. Natürlich war es noch früh am Abend, aber es begann schon zu dämmern, und außerdem war es hier oben im Flur immer dunkel. Manchmal hätte er auf der obersten Stufe am liebsten die Augen zugemacht und sich blindlings in seine Wohnung getastet, doch dann hatte er Angst, dass sich ihm eine Hand auf die Schulter legte oder dass ihm eine Stimme etwas ins Ohr flüsterte. Da wäre es schon besser, sich dieser Situation sehend zu stellen. Keiner da, nichts. Alles war, wie es sein sollte. Oder nicht? Mix stand still da und versuchte, sich zu erinnern. Er war fast hundertprozentig sicher, dass er die Tür zu dem Zimmer geschlossen hatte, in dem Danila unter den Dielenbrettern lag. Seit er hier wohnte, hatte diese Tür noch nie einen Spaltbreit offen gestanden. Ohne selber zu wissen, warum, schlich er sich auf Zehenspitzen zu der Tür. Zuerst dachte er, es wäre am besten, wenn er sie mit einem Ruck weit aufstieße, doch dann öffnete er sie ganz behutsam. Das Zimmer war leer und sehr heiß. Die Sonne brannte aufs Fenster. Und es roch, nicht besonders intensiv, aber ziemlich unangenehm. Musste von draußen hereinkommen.
Leider war das Fenster zu. Er ging hinüber und versuchte, es hochzuschieben. Es ging nicht, die Gewichtsschnüre waren kaputt. Eine hing lose herab. In London schlichen sich Gerüche ein, deren Ursprung sich nicht nach vollziehen ließ. Anscheinend drangen sie durch winzige Risse ins Innere der Häuser. Er sah zum Fenster hinaus. Otto hockte auf der Mauer. Unter seinen wachsamen Blicken duckten sich die Perlhühner des Inders auf dem Dach eines niedrigen Schuppens. 128 Mix zog die Tür hinter sich zu und steckte den Schlüssel in seine Wohnungstür. Zu dem seltsamen Geruch gesellte sich auch noch seltsame Musik. Vermutlich hatte sie eingesetzt, während er sich in diesem Zimmer aufhielt. Diese Art Musik hatte er noch nie gemocht oder verstanden, während andere Leute offensichtlich ganz wild danach waren. Vermutlich konnten sie sie selbst auch gar nicht richtig leiden, sondern taten nur so, weil sie dann schlauer wirkten. Klaviergeklimper, vielleicht sogar zwei Klaviere, und dazu kratzte jemand auf einer Geige herum. Wo kam diese Musik her? Garantiert aus dem Schlafzimmer der alten Schachtel. Er betrat seine Wohnung und dachte dabei über das Mädchen unter den Dielenbrettern nach. Sollte er sie dort liegen lassen? In seinem ursprünglichen Plan war das Zimmer nebenan nur als vorübergehende Ablage gedacht gewesen. Eigentlich hatte er die Leiche in den Kofferraum seines Autos verfrachten und sich ihrer dann irgendwo entledigen wollen. So viel Mühe hatte Reggie sich nie gemacht. Alle seine Opfer hatten im Haus oder im Garten ihr Grab gefunden. Allerdings hatte Reggie auch kein Auto besessen. Über so etwas verfügten damals nur wenige Leute. Natürlich hatte er etwas ganz anderes erlebt als Reggie. Dieser Nekrophile hatte die Frauen nur umgebracht, um mit ihnen während oder nach ihrem Ableben zu schlafen. Er, Mix, hatte dagegen eine Frau aus reiner Selbstverteidigung getötet, weil sie ihm so fürchterliche Dinge ins Gesicht geschleudert hatte. Bei ihm handelte es sich lediglich um Totschlag. Zu Reggies Zeiten hatte die Kriminalistik noch in den Kinderschuhen gesteckt. Mix wusste darüber bestens Bescheid, wie eben jeder Fernsehzuschauer. Heutzutage könnten sie dank dieser ganzen Laboruntersuchungen genau sagen, ob er in seinem Auto eine weibliche Leiche befördert hatte, und auf Grund der DNS-Untersuchungen könnten sie ihre Identität 128
bestimmen. Reggie musste damals die Leichen vor seiner Frau verstecken, bis auch sie ihm zum Opfer fiel. Er war gezwungen, sie zu begraben. Wenn er Danila an ihrem jetzigen Platz liegen ließe, wäre er garantiert auf der sichereren Seite. Es gab keinen Grund, warum jemand hier heraufkommen sollte. Andererseits, wer war heute in diesem Zimmer gewesen? Wahrscheinlich die alte Chawcer. Vermutlich suchte sie in den Schubladen dieses Schränkchens noch mehr Müll. Und wenn es Reggies Geist gewesen wäre, der sich für das Leichenversteck eines Fremden interessierte? Angenommen, Reggie verfolgte ihn gar nicht, um ihm Angst einzujagen, sondern um auf ihn aufzupassen. Nach einem zweiten Besuch bei Madam Shoshana würde ihm wohler sein. Erst wollte er hören, was sie dazu zu sagen hatte. Furchterregend ist und bleibt ein Geist allemal, dachte er, egal, ob er dich bedroht oder dich schützt. Allein auf Grund der Tatsache, dass es sich um einen Geist handelte, betrachtete man die Welt mit anderen Augen. Er zitterte. Vielleicht wäre es nicht zu früh, sich einen Boot Camp zu mischen. 129
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Abbas Reza bemerkte Danilas Abwesenheit erst, als sie ihre Miete nicht bezahlte. Er erwartete seine Mieteinnahmen in bar, vorzugsweise in Scheinen zu fünfzig und zwanzig Pfund, die man ihm in einem Umschlag durch seinen Briefschlitz an der Wohnungstür schob. Keine Schecks, keine Kreditkarten. Ms. Kovic hatte ihre Miete am letzten Samstag nicht bezahlt, und inzwischen war schon wieder eine Woche vergangen. Er hatte bereits an ihre Tür getrommelt und wollte darum bitten, hatte aber keine Antwort bekommen, nicht einmal nachts um halb eins. Er hatte sie nie für eine dieser Nachteulen gehalten, die jeden Abend weggehen, aber er hatte sich geirrt. Jetzt war sie eben schon ein paar Monate in London und kam in die Gänge. Und wie alle tauschte sie ihre gute Lebensweise gegen eine schlechte ein. So war nun mal die westliche Welt, wo man sich über Gott lustig machte und die Moral sich in Wohlgefallen aufgelöst hatte: korrupt und vom Bösen unterwandert. Manchmal dachte er mit Wehmut an Teheran, allerdings nicht lange. Insgesamt war es hier doch besser. Die Aushilfe, die immer noch in Shoshanas Studio war, arbeitete besser und war obendrein attraktiver als die junge Bosnierin. Mit ihrer königlichen Figur, ihrem aufrechten Gang und einem Gesicht wie eine nordische Göttin war sie für das Studio eine gute Werbung. Schade, dass sie nicht blieb. Auf Shoshanas Anzeige hatten sich mehrere gemeldet, und jetzt führte sie mit den
Bewerberinnen Gespräche. Die Kunden strömten haufenweise herbei. Auch der Narr, der sich einbildete, er 130 wohne in einem Geisterhaus, war wiedergekommen. Als sie ihm erklärte, er müsse die Zahl Dreizehn meiden, wenn er den Geist nicht wiedersehen wolle, hatte sie sich sehr beherrschen müssen, um ihm nicht schallend ins Gesicht zu lachen. Sie hatte fast schon vergessen, dass Danila je existiert hatte. Ganz im Gegensatz zu Kayleigh. Vor ihrer Begegnung mit Mix hätte Danila Kayleigh als ihre einzige Freundin in London bezeichnet, auch wenn sie einander nicht viel gesehen hatten, denn Kayleigh kam erst dann zur Arbeit, wenn Danila schon am Gehen war. Da Danila in ihrem Zimmer in Oxford Gardens kein Telefon hatte, versuchte Kayleigh mehrmals, sie auf ihrem Handy zu erreichen. Es klingelte und klingelte. Leider vergeblich. Noch machte sich Kayleigh keine Sorgen. Wenn Danila etwas zugestoßen wäre, wenn man sie beraubt oder überfallen hätte, hätte es in der Zeitung gestanden. Vielleicht war sie krank und ging nicht ans Handy. Trotzdem wäre sie wohl kaum vierzehn Tage lang krank gewesen. Inzwischen waren schon über zwei Wochen seit Shoshanas Anruf vergangen, und Danila hatte sich immer noch nicht am Telefon gemeldet. Kayleigh machte sich auf den Weg zu dem Haus in Oxford Gardens. Sämtliche Wohnungen hatten eine Sprechanlage. Abbas Reza war stolz auf sein Organisationstalent. Alles funktionierte. Außerdem hatte er keine Lust, rund um die Uhr von Besuchern aufgeweckt zu werden. Kayleigh läutete bei Danila Sturm. Als sie keine Antwort bekam, drückte sie weiter oben auf die Klingel mit dem ziemlich geheimnisvollen Schild »Mr. Reza, Hausvorsteher«. Als wäre er ein Schulleiter. An der Tür erschien ein schlanker, ziemlich gut aussehender Mann, Ende dreißig, mit einem Schnurrbart und pechschwarz glänzenden Haaren. »Was kann ich für Sie tun?« Weil Kayleigh eine hübsche zweiundzwanzigjährige Blondine war, war er höflich. »Ich suche meine Freundin Danila.« 130 »Ach ja, Ms. Kovic. Wo ist sie? Genau das frage ich mich.« »Ich mich auch«, erwiderte Kayleigh. »Sie antwortet nicht auf meine Anrufe, und jetzt sagen Sie, sie sei nicht da. Könnten wir vielleicht in ihrem Apartment nachsehen?« Dieses »wir« gefiel Mr. Reza. Er lächelte aufmunternd und sagte: »Wir versuchen es.«
Zuerst klopften sie an die Tür. Dahinter war niemand, das war klar. Der Hausbesitzer nahm seinen Schlüssel, drehte einmal um, und schon waren sie drinnen. Dabei kam ihm ein Gedanke: Vielleicht lag sie ja tot dort drinnen. So etwas kam leider vor, in Teheran wie in London. Welch ein Schock für dieses zarte und gewiss noch unverdorbene junge Mädchen! Aber nein, außer der üblichen Unordnung war da nichts. Es sah aus wie bei allen Bewohnern: Überall lagen Kleidungsstücke herum, in einer leeren Teetasse gammelten uralte Teebeutel vor sich hin, und im Spülbecken lagen ein Teller, ein Messer und eine Gabel in kaltem Wasser, auf dem Fettaugen schwammen. Das Bett war nur flüchtig gemacht. Daneben lag auf einem Zeitschriftenstapel eine der türkis-silbernen Hochglanzbroschüren von Shoshanas Studio. »Die hat sich bei Nacht und Nebel davongemacht«, konstatierte Abbas Reza eingedenk seiner Miete. »Das habe ich schon oft erlebt, schon sehr oft. So hauen sie alle ab. Immer dasselbe.« »Ich glaube nicht, dass sie zu dieser Sorte gehörte. Das überrascht mich wirklich.« »Ach, Sie sind arglos, Miss...?« »Sagen Sie Kayleigh zu mir.« »Sie sind arglos, Miss Kayleigh. In Ihrem jugendlichen Alter betrachten Sie die böse Welt mit anderen Augen. Sie haben noch unschuldige und reine Empfindungen.« Mr. Reza hatte seine Ehefrau schon vor Jahren im Iran zurückgelassen und betrachtete sich in Liebesangelegenheiten als freier Mann. »Da 131 kann man nichts mehr machen. Hier geht es nur noch um Schadensbegrenzung.« »Ich habe eigentlich keinen Schaden erlitten«, meinte Kayleigh beim Hinuntergehen. »Es sei denn, man würde den Verlust einer Freundin so nennen.« »Selbstverständlich. Natürlich tue ich das.« Mr. Reza dachte bereits an einen möglichen Verkauf von Danilas Kleidern, auch wenn sie nicht viel wert waren. Allerdings waren ihm beim Aufenthalt im Apartment eine Uhr aufgefallen, die aus Gold sein könnte, und ein neuer CD-Spieler. »Kommen Sie, ich mache Ihnen eine Tasse Kaffee.« »O danke, das nehme ich gerne an.« Erst nach einer weiteren Stunde betrat Kayleigh wieder ziemlich beschwingt die Oxford Gardens. Daran war nicht nur der stärkste und dickste Kaffee ihres Lebens schuld, sondern auch ein Rendezvous am nächsten Abend mit dem Mann, den sie bereits Abbas nannte. Darüber hatte sie Danila ganz vergessen,
aber nun musste sie wieder an sie denken. Dabei merkte sie, dass sie eine ganz andere Ansicht vertrat als ihr neuer Freund, der seiner Mieterin unterstellte, sie sei schlicht und einfach bei Nacht und Nebel abgehauen. Danila ist verschwunden, sagte sich Kayleigh insgeheim. Dieser Satz klang für sie sehr ernst. Sie ist verschwunden, wiederholte sie, und das sollte die Polizei wissen. An diesem Morgen war es kühler und trüber als die letzten Tage. Mix saß wieder einmal in seinem Auto oben am Camp-den Hill Square. Eigentlich hätte er bei Mrs. Plymdale sein sollen. Sie hatte ihn auf seinem Handy angerufen und ihm in nettem Ton erklärt, gestern Abend habe sich der neue Gurt gelöst, den er am Laufband angebracht hatte. Könnte er, bitte, möglichst bald kommen und die Sache in Ordnung bringen? Mix hatte gemeint, er sei gegen elf Uhr vormittags bei ihr. Nun 132 aber hockte er in sehnlicher Erwartung vor Nerissas Haus. Anscheinend wirkte sie auf ihn wie eine Droge. Zwei Termine hatte er erledigt, einen in Chelsea, den anderen in West Kensington, aber jetzt benötigte er erst einmal einen neuen Schuss seiner Privatdroge. Erst dann würde er weiterarbeiten können. Letzte Woche hatte er sie gesehen und sich mit ihr unterhalten, doch das hatte die Situation nicht verbessert. Im Gegenteil. Alles war noch schlimmer geworden. Zuvor hatte er sie unbedingt kennenlernen wollen, weil der Kontakt mit einer prominenten Persönlichkeit auch auf ihn abfärben könnte. Jetzt war er verliebt. Er wartete und wartete und las dabei das letzte Kapitel von »Christies Opfer«. Alle paar Sekunden blickte er auf. Sie könnte ja jeden Moment erscheinen. Leider war dies erst mittags um halb eins der Fall. Sie hatte ein schickes weißes Kostüm mit einem sehr kurzen Rock an und völlig unpassende weiße Turnschuhe. In der Hand trug sie ein Paar weiße Sandalen mit zehn Zentimeter hohen Absätzen. Vermutlich würde sie diese Schuhe erst an ihrem unbekannten Ziel anziehen. Die Turnschuhe waren nur zum Fahren gedacht. Er würde ihr folgen. Kaum hatte er sie gesehen, konnte er es nicht ertragen, dass er sie aus den Augen verlor. Sie fuhr an ihm vorbei, aber er war sich nicht sicher, ob sie ihn gesehen hatte. Er folgte ihrem Wagen über Nottinghill Gate und die Kensington Church Street hinunter. Wenigstens einmal war wenig Verkehr, und er konnte hinter ihr bleiben. Von der Kensington High Street aus fuhr sie in östliche Richtung, und er hinterher. An einer roten Ampel drehte sie sich um. Da wusste er, dass sie ihn entdeckt hatte. Er winkte. Sie lächelte verkniffen und fuhr dann weiter.
Ehe Kayleigh zur Polizei ging, rief sie bei der Auskunft an und bat um die Nummer einer gewissen Mrs. Kovic, die irgendwo 133 in Grimsby wohnte. Man fand nur eine einzige Frau unter diesem Namen. Bei ihrem Anruf geriet Kayleigh zuerst an eine Engländerin aus Yorkshire, die geschiedene Frau eines Serben. Danilas Mutter war ihre Schwägerin gewesen. Sie gab ihr eine Telefonnummer, und Kayleigh rief bei Danilas Stiefvater an, der befürchtete, man wolle ihn in etwas hineinziehen. »Wenn ihr etwas zugestoßen sein sollte«, meinte er, »will ich's gar nicht wissen. Wir waren uns nicht grün. Ich habe mit der Sache nichts zu tun.« »Sie hat doch sonst niemand«, sagte Kayleigh. »Ich mache mir große Sorgen.« »Ja? Was denken Sie sich nur? Was soll ich da schon tun? Betrachten Sie die Sache doch mal von meinem Standpunkt aus. Ich habe meine Frau verloren und muss zwei kleine Jungen großziehen. Ich hatte zu Danny noch nie eine gute Beziehung, und als ich sie bei der Beerdigung sah, habe ich gesagt, ich würde meiner Wege gehen und sie ihrer - klar?« Allmählich gewann Kayleigh den Eindruck, dass sich niemand sonderlich für Danila interessiert hatte. Madam Shoshana hatte im Handumdrehen vergessen, dass sie überhaupt existiert hatte. Diese Gleichgültigkeit erschreckte sie. In ihrer eigenen Familie herrschten ganz andere Gefühle. Ihre Eltern interessierten sich lebhaft für alles, was mit ihren drei Kindern zusammenhing, und erlitten vor Sorge jedes Mal fast einen kleinen Nervenzusammenbruch, wenn sie eines von ihnen nicht sofort am Telefon erreichten. Kayleigh ging in die Polizeistation am Ladbroke Grove und füllte eine Vermisstenmeldung aus. Ihre Unterhaltung mit Danilas Stiefvater erwähnte sie dabei mit keinem Wort. Nerissa ging nur wegen eines Mittagessens mit ihrem Agenten in dieses Restaurant in St. James's. Der Termin hing mit der Anfrage eines international renommierten Hochglanzmaga 133 zins zusammen. Man wollte sie auf dem Titelblatt abbilden und einen vierseitigen Artikel über sie bringen. Sie parkte ihren Jaguar an einer Parkuhr am St. James's Square und zog statt ihrer Turnschuhe die weißen StilettoSandalen an. Das Mittagessen dürfte nicht lange dauern, sonst bekäme sie eine Parkkralle. Während sie das Auto absperrte, kam jener Mann daher, der sie am Donnerstag vor dem Haus der alten Dame angesprochen hatte. Nun begegnete sie ihm bereits das dritte Mal. Er spionierte ihr nach, dessen wurde sie sich bewusst. Und dabei wurde ihr etwas flau im Magen.
Er war nicht der erste Stalker in ihrem Leben. Es hatte mehrere gegeben. Besonders einer hatte hartnäckig immer wieder in ihrem Elternhaus angerufen. Damals war sie noch sehr jung gewesen und hatte noch zu Hause gewohnt. Ihrem Vater, einem sehr großen und tiefschwarzen Mann, war es schließlich gelungen, ihn einzuschüchtern. Eine Drohung aus diesem Munde hatte der Anrufer ernst genommen. Der liebe Papi war ein fantastischer Leibwächter. Der andere Stalker hatte sich mehr wie der jetzige verhalten. Er hatte vor ihrem Haus gewartet und war ihr nachgefahren. Er wurde von der Polizei verwarnt. Eines war wirklich komisch, dachte Nerissa, während sie in die St. James's Street hineinlief: Alle sahen sich sehr ähnlich. Alle waren mittelgroß, Anfang dreißig und blond und hatten nichtssagende Gesichter mit starren Blicken. Der hier folgte ihr jetzt in etwa fünfzig Meter Entfernung die King Street hinunter. Sie war ein bisschen zu früh dran für ihr Mittagessen und überlegte, ob sie ihn mit einer Finte würde abschütteln können. Die Geschäfte in der St. James's Street gehörten nicht zu jener Sorte, in die eine Frau einfach hineinspaziert, sich umsieht und sich notfalls hinter einem Kleiderständer versteckt oder auf der Damentoilette verschwindet. Hier konnte man sich nirgends verstecken. Angenommen, sie bliebe stehen, um ei 134 nen Blick in das Schaufenster mit den Hüten zu werfen, oder sie ginge über die Straße, um eine Weile den ziemlich pompösen Weinhändler zu begutachten. Würde er das zum Anlass nehmen, sie anzusprechen? Auf keinen Fall durfte sie zurückschauen. Das Fersenriemchen ihrer hochhackigen Sandale war heruntergerutscht. Der Schuh schlappte. Sie bückte sich, um ihn zu richten. Dabei spürte sie, dass jemand ganz dicht neben ihr stand. Unwillkürlich sah sie hoch, mitten ins Gesicht von - Darel Jones. Über den Anblick ihres Vaters hätte sie sich nicht mehr freuen können, und so rief sie fast unabsichtlich: »Ach, das ist aber schön, dich zu sehen!« Er wirkte überrascht. »Wirklich?« »Mir schleicht ein Mann hinterher. Schau. Nein, er ist weg. Daran bist sicher du schuld. Er hat dich gesehen und geglaubt, du wärst ein Freund von mir. Und dann - ist er verschwunden. Einfach wunderbar.« Hatte er etwas dagegen, dass man ihn für einen ihrer Freunde hielt? Jedenfalls ließ er es sich nicht anmerken. »Dieser Stalker - damit ist nicht zu spaßen. Das musst du unbedingt der Polizei melden.« »Ich kann sie doch nicht dauernd belästigen. Weißt du, er ist nicht der erste. Vielleicht gibt er ja nun auf. Das hoffe ich jedenfalls immer. Aber was machst du denn hier?«
»Dasselbe könnte ich dich auch fragen. Ich bin Banker.« Er deutete auf ein Gebäude im georgianischen Stil mit einem Messingschild, auf dem stand: Gebrüder Lanski, Internationales Bankhaus, seit 1782. »Ich arbeite hier.« »Wirklich?« Nerissa hatte von der Tätigkeit eines Bankers nur sehr vage Vorstellungen. »Heißt das, wenn ich dort hineinginge, um einen Scheck einzulösen, dann würdest du hinter so einem Glasding stehen und mir ein Bündel Banknoten geben?« 135 Er lachte. »Nicht ganz. Ich bin zum Mittagessen herausgekommen. Vermutlich wirst du...?« »Ich treffe mich mit meinem Agenten zum Mittagessen«, sagte sie. »Leider komme ich da nicht weg.« Sie betrachtete ihn sehnsüchtig und dachte dabei an Madam Shoshanas Prophezeiung. »Anders wäre es mir lieber, aber ich muss.« »Dann werde ich mich mal verabschieden.« Vielleicht bildete sie sich alles ja nur ein, aber so hatte er sie bisher noch nie angesehen. Interessiert, neugierig. »Weißt du«, meinte er, »du bist ganz anders als... Ich habe mir von dir eine... eine ganz falsche Vorstellung gemacht.« Und dann war er weg. Sie betrat das Restaurant, wo sie ihr Agent bereits an einem Tisch erwartete. Was hatte er mit »falscher Vorstellung« gemeint? Dass er sie für eine schreckliche Frau gehalten hatte und nun merkte, dass sie es nicht war? Oder hatte er angenommen, sie sei nett, und wusste jetzt, wie entsetzlich sie war? Letzteres hielt sie trotz seines Blicks für wahrscheinlicher. Vermutlich wollte er damit lediglich ein gewisses Mitgefühl ausdrücken. Trotzdem war er kurz davor gewesen, sie zum Mittagessen einzuladen ... Man beorderte Mix nachdrücklich in die Zentrale. Sein Abteilungsleiter, Mr. Fleisch, hatte ihm einiges mitzuteilen. Eine gewisse Mrs. Plymdale hatte angerufen, und zwar gar nicht mehr nett und umgänglich. Sie beklagte sich, der neue Gurt, den er auf ihrem Laufband montiert hatte, habe sich gelöst, und er sei nicht erschienen, obwohl er die Reparatur für elf Uhr versprochen hätte. Sie müsse täglich auf ihrem Laufband trainieren, sonst käme sie aus dem Rhythmus. Sie müsse unbedingt fit bleiben. Ihre Eltern seien beide an einer Herzkrankheit gestorben, und sie würde vor Sorge fast durchdrehen. Doch das war noch nicht alles. Mr. Fleisch hatte von Ed West gehört, Mix habe zwei wichtige Termine nicht wahrgenom 135 men, die ihm Ed übertragen hatte, da er sie krankheitshalber nicht einhalten konnte.
»Ich habe eine Pechsträhne hinter mir«, sagte Mix ohne nähere Erklärung. »Was für eine Pechsträhne?« »Es ging mir nicht gut. Ich hatte Depressionen.« »Verstehe. Ich werde Ihnen einen Termin beim Betriebsarzt machen.« Dieses Angebot hätte Mix liebend gern ausgeschlagen, wenn er nur gewusst hätte, wie. Alles würde nur noch schlimmer, wenn er beim Arzt nicht aufkreuzte, einem mürrischen ältlichen Mann, der bei der Belegschaft unbeliebt war. Mix ging heim. Es war ein mieser Tag gewesen. Während er Nerissa folgte, hatte er sich die ganze Zeit überlegt, was er zu ihr sagen würde, sobald er sie plangemäß eingeholt hätte und sie sich umdrehen und ihn sehen würde. In erster Linie würde er sie an letzten Donnerstag erinnern. Danach würde er vielleicht beiläufig erwähnen, wie leid es ihm täte, falls er ihre Mutter beleidigt hätte. Würde sie ihm zeigen, dass sie nicht nachtragend war, indem sie mit ihm eine Tasse Kaffee trank? Beim letzten Mal war sie so lieb und freundlich gewesen, dass er sich einbildete, sie würde es tun. Unter diesen Umständen könnte sie so etwas nicht wirklich ablehnen. Und dann war dieser Mann aufgetaucht, ein junger, gut aussehender Mann, der offensichtlich mit ihr befreundet war. Typisch, er hatte wieder Pech. Trotzdem würde er sich davon nicht abhalten lassen. Eine Nachricht auf seinem Handy forderte ihn auf, nach seiner Arbeit sofort bei Colette Gilbert-Bamber vorbeizuschauen. Dabei ging es nicht um einen Fehler an den Geräten, sondern um das, was Mix mit »ein bisschen etwas anderes« umschrieb. Trotzdem brächte ihm dieser Notruf vierzig Pfund ein ... Wenn er schon auf Colette so attraktiv wirkte, dann 136 sollte ihm das doch auch bei Nerissa gelingen, oder? Trotzdem würde er nicht hingehen. Er hatte einen miesen Tag hinter sich und keine Lust darauf. Wieder herrschte eine grausame Hitze. Im Haus würde es heiß und stickig sein. Wie konnte es dort drinnen trotz des strahlenden Sonnenscheins so dunkel sein? Das war ihm schleierhaft. Zog sie denn nie die Vorhänge auf? Öffnete sie nie ein Fenster? Einen Augenblick verweilte er auf der Stelle, wo letzte Woche Nerissa gestanden und so lieb mit ihm gesprochen hatte - ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter. Doch daran wollte er nicht denken. Und er mochte auch den Rettungsring nicht spüren, der sich über seinem Hosengürtel wölbte, als er die Arme vor seinem Körper verschränkte. Geh joggen, ermahnte er sich. Morgen suchst du dir eine Strecke, und dann läufst du jeden Tag.
Dieses Haus könnte ebenso gut schon jahrelang leer stehen, dachte er, während er sich an den Aufstieg machte. Würde es etwas ändern, wenn er sich bei der alten Chawcer über die schwache Beleuchtung beklagte? Dass die matten Glühbirnen bereits ausgingen, ehe er beim nächsten Lichtschalter war? Vermutlich nicht. Sie gehörte zu den Nachtschattengewächsen. Jedenfalls war es einfach lächerlich, wenn man im Sommer schon am Nachmittag das Licht einschalten musste. Auf der gefliesten Treppe funkelten ihn keine Katzenaugen an, und auch von Reggie war nichts zu sehen. Gott sei Dank. War alles nur Einbildung, dachte er. Ich hatte recht, ich hatte wirklich eine Pechsträhne. Geister waren immer nur Halluzinationen und kamen nur, wenn man unter Stress oder Druck stand, egal, was Shoshana dazu sagte. Die mattroten, grünen und purpurfarbenen Lichtreflexe vom Isabellafenster lagen wie ein gemaltes Stillleben auf dem Boden, aber als er seine eigene Wohnungstür öffnete, strömte helles, goldenes Sonnenlicht auf den Flur. 137 Vielleicht sollte er vorher noch mal ins Zimmer nebenan gehen, wo Danila lag. Er sollte wirklich täglich nach ihr sehen, bis - nun, bis was? Bis er sich an ihre Anwesenheit gewöhnt hatte? Bis er sie an einen anderen Ort verfrachtet hatte? Wegen des fröhlichen Lichtscheins ließ er seine eigene Tür weit offen stehen. Erst dann öffnete er die danebenliegende Schlafzimmertür. Hier drinnen schien die Sonne genauso, besser gesagt, sie hätte hineingeschienen, wenn man das Fenster je geputzt hätte. Doch kaum hatte er diesen Geruch in der Nase, waren solche Überlegungen wie weggeblasen. Der Gestank zwang ihn einen Schritt zurück. Und jetzt wusste er auch, was das war. Seit Wochen war es fast unnatürlich heiß gewesen. Bis gestern hatte das Thermometer dreißig Grad und knapp darüber erreicht. Der Gestank war das Ergebnis dieser unglaublichen Wärme. Er konnte es nicht fassen: Die Leiche lag doch eingewickelt unter den zugenagelten Dielenbrettern. Er riss sich zusammen, ging hinein und machte die Tür hinter sich zu. An Geister war nicht mehr zu denken. Das hier war real. Nur das hatte ihn umgetrieben. So etwas hatte er noch nie gerochen. Wie er so dastand und tief einatmete, schüttelte es ihn. Was hatte ihn dazu getrieben, heute Nachmittag hier hereinzugehen, obwohl er sich doch schon mies gefühlt hatte? Würde dieser Geruch verschwinden? Irgendwann einmal vielleicht schon. Wie lange dauerte ein Verwesungsprozess? Er hatte keine Ahnung. Wochen, Monate, sogar Jahre? Würde der Geruch nach und nach schwächer werden? Jeden Augenblick könnte die alte Chawcer hier hereinkommen. Das konnte er
nicht riskieren. Schließlich musste er arbeiten gehen. Aber wenn er außer Haus wäre, hätte er nie eine ruhige Minute. Momentan machte es keinen Sinn, in diesem Raum zu bleiben. Nach diesem Gestank könnte er vermutlich nie wieder etwas essen. Wie mussten da erst die Leichen in Reggies Haus 138 gestunken haben, besonders die beiden in der Nische hinter der Küchenwand. Vielleicht aber auch nicht. Das war damals im kalten Dezember gewesen, und kurz danach hatte man Reggie gefasst und verhaftet. Mix stand auf der obersten Stufe und lauschte. Tiefe Stille. Er spähte die Treppe hinab und ging langsam nach unten. Als er am Fuß der gefliesten Treppe angelangt war, öffnete sich ihre Schlafzimmertür, und sie kam in einem Morgenmantel aus roter Seide und mit Pantoffeln heraus, die mit Federn verbrämt waren. Schon wollte er den Rückzug antreten, da entdeckte sie ihn. »Stimmt etwas nicht, Mr. Cellini?« »Alles in bester Ordnung«, sagte er. Sie schniefte. »Ich wünschte, ich könnte dasselbe behaupten. Ich glaube, ich habe Influenza.« Diesen Ausdruck für eine Grippe hatte Mix in seinem ganzen Leben bisher nur ein einziges Mal gehört. Seine Großmutter hatte damit ein Wortspiel gekannt. »Wirklich Pech.« Wenn sie krank wäre, könnte sie besagtes Zimmer nicht betreten. Wenn sie doch nur recht lange schwer krank wäre! »Sie sollten im Bett bleiben«, sagte er. »Ich muss ins Bad. Dürfte ich Sie um einen großen Gefallen bitten? Wären Sie so freundlich, meine Freundin Mrs. Fordyce anzurufen und ihr meine Notlage zu schildern? Sie haben sie letzten Donnerstag vor meinem Haus getroffen. Die Nummer steht im Telefonbuch, direkt neben dem Apparat. Fordyce. Können Sie sich das merken?« »Ich werd's versuchen«, meinte Mix betont sarkastisch. Leider reagierte sie nicht darauf. Er ging hinunter. Das war wieder einmal typisch für sie, dachte er dabei, bekommt am wahrscheinlich heißesten Tag des Jahres eine Grippe. Das düstere Licht erschwerte die Suche nach der Nummer dieser Fordyce. Er konnte kaum etwas erkennen. Und wenn sie nun seine Stimme vom Donnerstag wiedererkennen würde? Er imitierte 138 den näselnden Ton der Oberschicht. »Miss Chawcer hat einen Virus. Sie ist sehr unpässlich. Es wäre enorm hilfreich, wenn Sie morgen bei ihr
vorbeischauen könnten. Vielleicht könnte auch ihr Hausarzt kommen, falls Sie wissen, wer das ist.« »Sie sind Mr. Cellini, nicht wahr? Selbstverständlich komme ich. Gleich in der Frühe.« In dem Fall wäre er gut beraten, hier zu verschwinden, bevor sie auftauchte. Leider käme sie ohne ihn nicht herein. Na, dann müsste eben die alte Chawcer aufstehen und öffnen. Er ging auf Erkundung. Dabei entdeckte er, dass sie die Hintertür nicht verschlossen hatte. Er drehte den Schlüssel um und schob den Riegel vor. Wäre ja eine schöne Bescherung, wenn in einem ungemütlichen Viertel wie diesem einfach ein paar Penner hereinkämen und sich nach Lust und Laune bedienen würden. Er hatte auch ohne solche Typen schon genug am Hals. In diesem riesigen Wohnzimmer war er noch nie gewesen. Sie bezeichnete es als ihren Salon, ein Begriff, der ihm nichts sagte. Er rümpfte die Nase. Es roch verstaubt und muffig, was allerdings nichts im Vergleich zu dem Gestank im Dachgeschoss war, rein gar nichts. Um die Tageszeit hätte man eigentlich noch kein Licht gebraucht, aber in diesem Haus herrschte ewige Dämmerung. Der Hauptschalter funktionierte nicht. Er ging herum und knipste die Tischlampen an, die letzte auf dem Schreibtisch, neben mehreren halbfertigen Briefen. Zum Kuckuck, wem schrieb sie nur so verrückte Dinge? Ein Brief begann mit »Lieber Dr. Reeves«, ein anderer mit »Mein lieber Doktor«. Über einem dritten stand »Lieber Stephen« und über dem letzten »Mein lieber Stephen«. Danach kam jede Menge wirres Zeug, das man auf Grund ihrer geschwungenen Krakelschrift nur mühsam entziffern konnte. Allerdings hätte man in diesem Zwielicht selbst mit einer gesto 139 chen scharfen Schrift Probleme gehabt. Dann stach ihm ein Name ins Auge: Rillington Place. »Ich weiß, Sie haben mich eines schönen Sommertages vor sehr langer Zeit am Rillington Place gesehen. Sie fuhren gerade vorbei, vermutlich auf dem Weg zu einem Hausbesuch. Am nächsten Tag kam ich erstmals in Ihre Praxis. Sie werden sich sicher noch erinnern, dass meine Eltern und ich Patienten bei Dr. Odess waren. Als man diesem Christie den Prozess machte, entdeckte ich, dass er diesen entsetzlichen Menschen medizinisch betreut hat. Auch wenn dies selbstverständlich nichts damit zu tun hatte, dass wir nicht mehr zu ihm gingen, sondern ...« Es folgten einige dick durchgestrichene Wörter. Mehr hatte sie nicht geschrieben. Das war der Beweis, dachte Mix. Also war sie wegen einer
Abtreibung bei Reggie gewesen. Vielleicht hatte sie diesem Arzt geschrieben, weil er das eigentlich hätte machen sollen, aber Reggie billiger gewesen war. Reggie hatte ihr Angst eingejagt, deshalb hatte sie einen anderen für den Schwangerschaftsabbruch gefunden. Und dieser Arzt war beleidigt, weil er sein erwartetes Geld nicht bekommen hatte. So musste es gewesen sein. Er hatte die Chawcer von seiner Liste gestrichen und sich geweigert, sie weiterhin zu behandeln. Jetzt wollte sie ihm nach all den Jahren den ganzen Vorfall schriftlich erklären. Dieser Raum war nicht einfach nur dunkel, wie es Zimmer nun mal sind, bevor das Licht angeht. Obwohl hinter den Lampenschirmen aus aufgeplatztem Pergament oder zerfranster Plisseeseide die Lichter brannten, verbreiteten sie mehr Schatten als Helligkeit. Weder in einer Nische noch an der Wand hing eine Leuchte, tiefe Dunkelheit lag in den Zimmerecken. Obendrein war es so heiß, dass ihm der Schweiß allmählich in Bächen übers Gesicht lief und den Rücken hinunter tropfte. Einen so schrecklichen Raum hatte Mix noch nie betreten. Der geschnitzte Drache, der sich oben auf dem riesigen Sofa ent 140 langschlängelte, der fleckige Spiegel im schwarz-goldenen Rahmen - in dieser Kulisse könnte man einen Horrorfilm drehen. Mit diesem Zimmer könnte sie Geld machen. So etwas müsste sie nur den Filmleuten erzählen und dann ordentlich dafür abkassieren. Die müssten gar nichts verändern. Beim Ausschalten der Lichter gruselte es ihn. Hinter ihm nichts als Dunkelheit. Kaum war die letzte Lampe aus, trat er an das raumhohe Fenster und zerrte heftig an den langen braunen Samtportieren. Ganze Staubwolken rieselten herunter. Er musste husten. Aber wenigstens drang Licht herein. Es genügte, um den schlimmsten Horror zu bannen. Doch während hier unten hinter den üblen Zuständen weiß Gott welche Geheimnisse und verborgene Bedrohungen lauerten, braute sich im Dachgeschoss, wo ihn vielleicht schon Reggie erwartete, und die Leiche unsichtbar, aber stetig verweste, buchstäblich das Grauen zusammen. Fast schien es, als hätte die Leiche ein neues Eigenleben gewonnen, als würde sie sich im Laufe der Verwandlung bewegen. Denk nicht daran, murmelte er vor sich hin. Vergiss, was Shoshana gesagt hat. Alles findet nur in deinem Kopf statt. Er ging an Chawcers Tür vorbei. Keine Spur von der Katze und natürlich auch nicht von Reggie. Dann tat er etwas, was er eine ganze Woche nicht mehr gemacht hatte: Mitten auf der gefliesten Treppe kniff er die Augen zu und öffnete sie erst wieder ganz oben. Vorsichtig und ängstlich beäugte er beide
Flure. Als er drinnen in seinem Wohnzimmer in einem bequemen Sessel saß und einen großen Gin Tonic in Reichweite hatte, redete er sich ein, alles sei gut, er hätte Glück und noch eine Weile Luft. Sie sei zu krank, um noch einmal hier heraufzukommen. Und diese Zeit - vielleicht eine Woche - würde er irgendwie nutzen müssen, um die Leiche aus dem Zimmer zu schaffen. Gäbe es eine Möglichkeit, sie in den Garten zu bringen? 141 Nicht, solange diese Fordyce hier ständig ein und aus ginge. Die Wahrheit würde sie zwar nicht vermuten, ganz sicher nicht, trotzdem würde sie der Chawcer erzählen, sie habe ihn dort draußen herumgraben gesehen. Und sogar die Chawcer könnte ihn von ihrem Fenster aus beobachten. Ihr Schlafzimmer musste genauso groß sein wie das Wohnzimmer und deshalb nach hinten und nach vorne hinaus Fenster haben. Dieses Risiko wagt er nicht einzugehen. Eigentlich solltest du etwas essen, ermahnte er sich, aber allein beim Gedanken daran schnürte es ihm die Kehle zu, und ihm wurde übel. Er war ungeheuer müde. Noch einen Gin oder einen Boot Camp, dann würde er vielleicht ins Bett gehen, auch wenn es erst sechs Uhr war. Ab ins Bett und versuchen zu schlafen. Er hatte zwei Nachrichten auf seinem Handy, aber darum würde er sich jetzt nicht kümmern. Das hatte Zeit bis zum nächsten Morgen. Vor Nerissas Foto blieb er stehen, erwies ihr seine Huldigung und sprach: »Ich liebe dich. Ich bete dich an.« Wie würde sie lächeln, wenn sie erst einmal ein Paar wären und sie ihr Foto hier sähe und er ihr von seiner tiefen Verehrung berichtete. Getröstet spazierte er ins Schlafzimmer und sah vom Fenster aus in den Garten hinunter. Wo könnte man Danilas Leiche am besten vergraben? Falls es ihm gelänge, dort hinauszukommen, falls er sie die Treppe hinunterschaffen und nach draußen bringen könnte. Reggie hatte es getan, sogar mehrmals, obwohl im selben Haus im mittleren Stockwerk ein alter Mann und im Dachgeschoss die Evans gewohnt hatten. Die Nachbarn hatten ihm beim Graben zugesehen und sich nichts dabei gedacht. Sie hatten ihm sogar noch eine typische Redensart aus der Kriegszeit zugerufen: Er grabe wohl für den Sieg. Vielleicht dort links, wo man das dichte Dornengestrüpp zurückbinden und später zur Tarnung wieder über die aufgegra 141 bene Erde breiten könnte. Oder fast ganz am anderen Ende, an der Mauer, hinter der dieser Mensch mit den Perlhühnern wohnte. Hätte er denn eine Chance?
Auf der Mauer lag Otto in voller Länge und genoss mit geschlossenen Augen die Abendsonne. Nur seine Schwanzspitze zuckte gelegentlich. 142
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Olive hatte in der Küche einen rußgeschwärzten Wasserkessel aufs Gas gesetzt und sich einmal flüchtig im Salon umgesehen. Jetzt kletterte sie mühsam mit dem Teetablett zu Gwendolens Schlafzimmer hinauf. Als sie kam, hatte sie geläutet. Daraufhin war dieser Cellini heruntergekommen, wenn auch widerwillig, und hatte sie ziemlich missmutig empfangen. Bei ihrem Telefonat mit ihm hatte sie nicht geahnt, dass es sich um denselben Mann handelte, der die liebe Nerissa draußen auf dem Gehsteig belästigt hatte. Als er die Tür öffnete, war sie ziemlich schockiert gewesen. Verständlich, dass auch sie nicht sonderlich zuvorkommend gewesen war. Die Hitze hier drinnen war eine Qual. Als wäre man im Hochsommer in Indien, in irgendeinem abseitigen, staubigen Ghetto, wo es grässlich stank. Irgendwie musste es ihr gelingen, die Fenster zu öffnen. Leider bewegte sich das Küchenfenster keinen Millimeter. Jetzt musste sie sich erst um Gwen kümmern, dann würde sie es bei den Wohnzimmerfenstern versuchen. Gwens Tür stand offen. Olive war betroffen über ihr Aussehen. Dieses eingefallene weiße Gesicht, diese leblosen Hände, die schlaff auf dem Bettüberzug lagen. Kaum begann Gwendolen mit belegter Stimme zu sprechen, musste sie abbrechen und fürchterlich husten. »Du musst zum Arzt, meine Liebe. Das steht fest.« »Ja, muss ich. Werde ich ...« Der Husten steigerte sich. »Dr. Reeves. Dr. Reeves wird kommen, wenn ich ihn holen lasse. Das tut er immer.« 142 »Gwen, ich kenne hier in der Nähe keinen Dr. Reeves. Ist er neu?« »Papa meinte, wir sollten uns von Dr. Odess trennen und den jungen Arzt ausprobieren. Und das haben wir getan.« Olive hielt es für das Beste, nicht mehr nachzufragen. Jede Antwort ging in einem qualvollen Husten unter. Die arme Gwen. »Du trinkst jetzt deinen Tee, meine Liebe, und ich werde deinen Arzt herausfinden und in der Praxis anrufen. Die Nummer steht doch sicher in deinem Telefonbuch, oder?« Den Teppichkehrer zerrte sie mit hinunter. Er stand schon so lange vor dem Kamin, dass sich bereits eine dicke Staubschicht darauf abgelagert hatte. Die schier unendliche Suche nach dem Telefonbuch endete im Waschhaus, wo sie es auf einem uralten Kupferkessel fand. Darin war zwar kein Reeves verzeichnet, aber eine Dr. Margaret Smithers. Olive hätte nie vermutet, dass
Gwen eine Ärztin hatte, aber höchstwahrscheinlich war ihr nichts anderes übrig geblieben, da sämtliche Wartelisten voll waren. Die Sprechstundenhilfe von Dr. Smithers meinte, heute könne die Frau Doktor nicht kommen, aber morgen, wenn sie nachmittags ihre Hausbesuche mache. Olive empfand das als einen Skandal. »Sorgen Sie dafür, dass sie tatsächlich kommt«, sagte Olive scharf. Gwendolens Husten hörte man bis ins Erdgeschoss. Olive hangelte sich am Treppengeländer wieder hinauf. In Gwendolens Alter wäre es wesentlich vernünftiger, in einer Wohnung zu leben statt in einem riesigen Haus mit so vielen Treppenstufen. »Morgen kommt der Arzt.« »Ich werde mein neues blaues Kleid anziehen.« »Nein, Gwen, das wirst du nicht. Du bleibst im Bett. Ich werde dir jetzt einen Krug Wasser und ein Glas bringen. Du musst viel trinken. Es ist besser, wenn du nichts isst. Ich habe Queenie erzählt, dass du krank bist. Sie wird mittags vorbei 143 schauen. Wo ist dein Haustürschlüssel?« Gwendolen gab keine Antwort. Sie hustete sich die Seele aus dem Leib. »Macht nichts, ich finde ihn schon.« Was sie auch tat. Nach einer zehnminütigen Suche. Mix hatte eine Nachricht seines Abteilungsleiters auf dem Handy, der ihm mitteilte, man habe für ihn für nächsten Mittwoch, vierzehn Uhr, einen Arzttermin vereinbart. Die andere, von einer gewissen Kayleigh Rivers, erinnerte ihn daran, dass er einen Vertrag mit dem Studio hatte. Könnte er möglichst schnell kommen? Ein Indoor Bike und ein Crosstrainer hätten den Geist aufgegeben. Das Studio war der letzte Ort, dem er sich nähern wollte. Möglicherweise würde einem der Kunden wieder einfallen, wie er sich an Danila herangemacht hatte. Außerdem hegte er aus unerfindlichen Gründen gegen das ganze Haus eine Abneigung. Ein Schritt hinein - schon würde er sich mies fühlen, das wusste er genau. Momentan würde er die Sache einfach ignorieren und später versuchen, aus diesem blöden Vertrag herauszukommen. Der Arzttermin würde sich nicht umgehen lassen. Wie alle Ärzte würde ihm auch dieser Doktor garantiert mitteilen, dass ihm etwas fehle, und dann wäre er fein raus. Damit hätte er schon im Voraus eine Entschuldigung, wenn er Anrufe vergaß und seinen Job vernachlässigte. Nein, er wollte sich nicht auf Dauer von der Arbeit drücken, nur momentan stand ihm nicht der Sinn danach. Kein Wunder, wenn er an die Leiche dachte und an den Geruch und
an die Weiber, die rund um die Uhr im Haus ein und aus gingen. Und dann noch - Nerissa. Heute hockte er seit neun Uhr vor ihrem Haus. Das war Medizin für sein Seelenkostüm. Als sie um elf Uhr immer noch nicht aufgetaucht war, gab er für heute auf und fuhr in die Pembridge Road, zu einem Antiquariat, wo er ein Buch ent 144 deckte, von dem er noch nie etwas gehört hatte: »Die größten Verbrechen der vierziger Jahre«. Er kaufte es, weil es ein Kapitel über Reggie enthielt. Kaum war er wieder am Campden Hill Square, schlug er das Buch auf. Leider enthielt es noch weniger über die Morde am Rillington Place, als er anfänglich gedacht hatte. Aber hier fand er die besten Fotos, die ihm je untergekommen waren. Besonders gut war das Titelbild, ein großes Foto von Reggie auf der Fahrt zum Gericht. Mix musterte die ziemlich scharf geschnittenen Gesichtszüge, den schmalen Mund, die große Nase und die Hornbrille. Was würdest du an meiner Stelle tun?, fragte er das Foto. Was würdest du tun? Nerissa entdeckte ihn von einem der oberen Fenster aus und überlegte, wie sie darauf reagieren sollte. Sie könnte, zum Beispiel, die Polizei anrufen. Andererseits tat er ja keinem etwas. Irgendwann würde er das Warten schon satt haben, schließlich müsste er doch auch etwas arbeiten. Außerdem wollte sie sowieso erst nach zwölf Uhr weg. Vorher wäre sie zwar gerne noch joggen gegangen, aber das war mit ihm da draußen unmöglich. Gestern Abend war sie überzeugt gewesen, Darel Jones würde bei ihr anrufen. Er könnte sich ihre Telefonnummer ganz einfach bei seiner Mutter besorgen, und diese wiederum von Nerissas Mutter. Den ganzen Abend war sie zu Hause geblieben und hatte auf seinen Anruf gewartet. Sie hatte sich sogar direkt neben das Telefon gesetzt, damit sie, falls es geklingelt hätte, rechtzeitig hätte abheben können. Wie ein Teenager. Wie damals mit fünfzehn, bei ihrem ersten Freund. Nach zehn Uhr wusste sie, dass nichts mehr kommen würde. Viele Männer würden noch nach zehn Uhr anrufen, ja sogar nach elf, aber nicht Darel. Irgendwie wusste sie das. Enttäuscht war sie früh ins Bett gegangen. 144 Einige Frauen würden nicht warten, sondern von sich aus einen Mann anrufen. Warum brachte sie so etwas nicht fertig? Sie wusste es nicht. Irgendwie lag es sicher an der Erziehung ihrer Mama. Morgen würden die Aufnahmen für das Titelblatt und die Story starten, und die Londoner Modemesse stand bevor. Dafür würde sie mit Naomi und Christy auf den
Laufsteg müssen. Das waren jetzt ihre letzten freien Tage, aber statt sie zu genießen, stand sie hier am Fenster und beobachtete einen Mann, der sie seinerseits beobachtete. Das sei der Preis fürs Berühmt sein, hatte ihr Agent erklärt und ihr geraten, sie solle die Polizei verständigen. Davor scheute sie zurück. Vielleicht sollte sie allen Mut zusammennehmen, sich einfach ins Auto setzen, ohne in seine Richtung zu schauen, und zu ihrer Schwägerin hinüberfahren, um das Baby zu besuchen. Vielleicht sollte sie aber auch ein bisschen warten und ihm noch eine halbe Stunde geben. Zuerst zu Madam Shoshana, zum Steinkreis oder zu den Karten, und sich die neueste Folge ihrer Zukunftsaussichten erzählen lassen. Wenn nur endlich dieser Kerl aufgäbe und sich trollte. Sie duschte, sprühte sich mit Jo MaJones Gardenia Parfüm ein und ließ dabei versehentlich den Verschluss auf den Boden fallen. Dann schlüpfte sie in eine Cargohose mit Camouflagemuster und in ein kanariengelbes Sweatshirt nach Ansicht ihrer Mutter eine schwierige Farbe. Trotzdem musste sie zugeben, dass Nerissa mit ihrem Teint so etwas anziehen konnte. Den Trainingsanzug, den sie bisher getragen hatte, ließ sie einfach fallen. Hinter ihr zog sich eine Spur aus Kleenex, Wattepads und Orangenstäbchen durchs Zimmer. Noch einmal sah sie zu ihrem Schlafzimmerfenster hinaus. Er war immer noch da. Wie schön wäre es, wenn dieses Haus noch einen zweiten Ausgang hätte, einen Fluchtweg in eine Seitengasse, wie bei einigen Häusern in Notting Hill. An so etwas hätte sie vor dem Kauf denken müssen. 145 Wenn sie sich nicht beeilte, käme sie noch zu spät zu ihrem Termin. Sie ging hinunter und beschloss, einen Spießrutenlauf in Kauf zu nehmen, was auch immer das bedeuten sollte. Aber als sie zum letzten Mal einen Blick riskierte, war er weg. Sie fühlte sich unendlich erleichtert. Vielleicht käme er nicht wieder, vielleicht hatte er die Nase voll. Während der ganzen Fahrt zu Shoshana rechnete sie unbewusst ständig damit, dass er plötzlich aus einer Seitenstraße auftauchte, in einem blauen kleinen Honda, dessen Kennzeichen mit LCO begann. Aber offensichtlich war er tatsächlich weg. Vermutlich arbeitete er irgendwo. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie zehn Minuten zu spät kam. Während sie die Treppe hinaufhetzte, fiel ihr plötzlich wieder ein, dass ihr einmal auf dem Weg nach unten ein junges Mädchen mit dunklem Teint und scharf geschnittenen Gesichtszügen begegnet war. Sie hatte sich an Bilder von Frauen im Bosnienkrieg erinnert gefühlt. Komisch, dass mir das jetzt einfällt, dachte sie.
Auf ihre Frage hatte Shoshana erzählt, das Mädchen arbeite im Studio. Wie hieß sie gleich wieder? Danielle? Im Zimmer war es wie immer dunkel und roch nach Räucherstäbchen. Heute hatte sich Shoshana in schwarze Seide gehüllt. Ihr Oberteil war mit Monden und Planetenringen bestickt. Ein Schleier verhüllte ihre Haare, den sie mit einer Art Tiara festgesteckt hatte. »Ich nehme die Karten, nicht die Steine«, verkündete Nerissa entschlossen. Anweisungen waren nicht nach Shoshanas Geschmack, aber sie liebte das Geld, und Nerissa war eine gute Kundin. »In Ordnung.« Man konnte heraushören, was damit gemeint war: Die Verantwortung tragen allein Sie. »Ziehen Sie eine Karte.« Nerissas erste Karte war die Herzdame, genau wie die zweite und die dritte. »Sie erwartet ungemein großes Glück in der 146 Liebe«, sagte Shoshana und fragte sich, wie sie es zulassen konnte, dass drei Damen hintereinander auftauchten. Die nächste Karte sollte besser ein Pikass sein. Leider nein. Nerissa lächelte selig. »Ein solches Maß an Glück habe ich noch nie gesehen«, meinte Shoshana, die innerlich kochte und fluchte. Sie bevorzugte eindeutig düstere Prophezeiungen, konnte aber wohl kaum eine negative Zukunft erfinden, da Nerissa ganz offensichtlich die Bedeutung der Herzdame kannte. »Ziehen Sie eine letzte Karte.« Diesmal musste es ein Ass sein, und so war es auch. Shoshana ließ sich ihre Genugtuung nicht anmerken. »Ein Todesfall, natürlich.« Sie steckte die Hände in das Säckchen mit den Steinen, holte den Lapislázuli und den Rosenquarz heraus und rollte sie zwischen den Handflächen. »Er betrifft weder Sie noch eine Ihnen nahestehende Person. Er ist bereits eingetreten.« »Vielleicht ist es meine Großtante Laetitia. Sie verstarb letzte Woche.« Shoshana hatte etwas gegen Kunden, die eigene Interpretationen vorbrachten. »Nein, ich glaube nicht. Es handelt sich um einen jungen Menschen. Um ein Mädchen. Mehr kann ich nicht sehen. Die Worte standen geschrieben, aber Wolken haben sie verdunkelt. Das ist alles.« Die Karten wurden weggelegt, die Steine wanderten wieder in ihr Säckchen. Nerissa hasste die scheinbaren Bewegungen des Zauberers im flackernden Kerzenlicht. Die weiße Eule starrte sie aus bernsteingelben Augen an. »Fünfundvierzig Pfund, bitte«, sagte Shoshana. »Dieses Mädchen, das mir einmal auf der Treppe begegnet ist, die sah nett aus. Hieß sie nicht Danielle?«
»Was ist mit ihr?« »Keine Ahnung. Ich musste nur eben an sie denken.« 147 »Sie ist weg«, sagte Shoshana und öffnete die Tür, damit Nerissa schneller ging. Zwei Polizisten statteten Mr. Reza und anschließend Shoshanas Studio einen Besuch ab. Als man ihnen beide Male mitteilte, Danila Kovic habe ihren Arbeitsplatz und ihr gemietetes Apartment verlassen, ohne zu kündigen und ohne ihrer Arbeitgeberin oder ihrem Vermieter ein Wort zu sagen, nahmen sie die Sache allmählich ernst. Für den »Evening Standard« kam ihre Pressemitteilung zu spät, aber die frühen Abendnachrichten in der BBC und die Zeitungsausgaben für den nächsten Tag erreichten sie noch. Beinahe hätte die Meldung dem Beitrag über »den heißesten Tag seit Beginn der Wetteraufzeichnung« als Aufmacher den Rang abgelaufen, aber eben nur beinahe. Nerissa hörte die Meldung, während sie als Babysitter bei ihrem Bruder war. Leider fehlte ein Foto, und so konnte sie Danila nicht als das Mädchen identifizieren, das sie auf der Treppe gesehen hatte. Auch Mix sah die Nachrichten. Er hatte sich eingebildet, das Schlimmste hätte er schon hinter sich, aber jetzt begriff er, was für ein Traumtänzer er gewesen war. Da hatte er doch die ganze Zeit über geglaubt, Danilas Verschwinden würde nie auffallen. Wieder einmal hatte er einen miesen Tag erlebt. Angefangen hatte es damit, dass er Nerissa nicht zu Gesicht bekommen hatte. Anschließend hatte es einen fürchterlichen Streit mit Colette Gilbert-Bamber gegeben. Sie hatte gedroht, sein Versagen der Firma zu melden, wenn es noch einmal vorkäme. Er hatte ihr Haus ohne einen Bissen verlassen. Nicht einmal ein Glas Wein hatte er bekommen. Und danach musste er sofort zum Arzt. Seit er gewusst hatte, dass sich dieser Termin nicht vermeiden ließ, hatte er sich selbstverständlich für einen kerngesunden, jungen und fitten Mann gehalten, dem nichts fehlte. Der 147 Arzt war anderer Ansicht. Er bestand auf einer Blutprobe, um den Cholesterinspiegel zu prüfen. Der Auslöser dafür war Mix' Blutdruck gewesen, der eigentlich um die 120 zu 80 hätte sein sollen. Stattdessen war er alarmierend hoch, 170 zu 90. »Rauchen Sie?« »Nein, ich doch nicht«, sagte Mix selbstgerecht. »Alkohol?« »Nicht viel. Vielleicht vier oder fünf Gläser in der Woche.«
Das wäre kaum mehr als eine Flasche Wein gewesen. Der Arzt musterte ihn misstrauisch und verordnete ihm körperliche Bewegung, eine fettfreie Diät, Tabletten und salzarme Kost. »Kommen Sie in zwei Wochen wieder zu mir. Schließlich wollen Sie doch nicht mit vierzig bereits Diabetiker sein, oder?« Irgendwo hatte Mix gelesen, Sorgen würden den Blutdruck in die Höhe treiben. Nun, Sorgen hatte er in letzter Zeit genug gehabt. Das Ergebnis der ärztlichen Ermahnungen waren Kopfschmerzen und ein flaues Gefühl im Magen. Er würde beim Abteilungsleiter anrufen und erklären, er fühle sich nicht wohl und ginge nach Hause. Vielleicht hatte er sich den Grippevirus der alten Chawcer eingefangen. Heute war ein strahlend schöner Tag. Sogar in diesem düsteren Haus war es zum ersten Mal ganz hell. Und so sah man, dass überall Staub lag und von den kaputten Lüstern und den verdreckten Stuckverzierungen an den Zimmerdecken die Spinnweben herunterhingen. Jemand hatte im Erdgeschoss die Fenster geöffnet und alle Vorhänge zurückgezogen. Er öffnete eine Tür, deren Klinke er noch nie berührt hatte, und starrte in einen riesigen Raum. In der Mitte stand ein Esstisch mit zwölf Stühlen. An den Wänden hingen Ölgemälde mit totem Rehwild und Hasen, mit alten Frauen in Reifröcken und Kühen auf der Weide. Auf dem ersten Treppenabsatz traf er eine völlig unbekann 148 te Frau. Das muss die sein, die Reggie nicht vernichten konnte, schoss es ihm sofort durch den Kopf, die Tochter der alten Chawcer. Aber dazu war sie zu alt, und außerdem stellte sie sich lächelnd als Queenie Winthrop vor. Warum sie dabei mit den Wimpern klimperte, war ihm schleierhaft. »Mr. Cellini, die arme liebe Gwendolen ist wirklich ganz arm dran. Sie hat über hundert Grad Fieber. Und dieser Doktor will erst morgen Nachmittag kommen. Ich finde, das ist eine Schande.« Mix, der in einer Zeit aufgewachsen war, in der man bereits Celsius- statt Fahrenheitgrade verwendete, dachte, sie müsse sich geirrt haben. Aber was konnte man in ihrem Alter anderes erwarten? »Empörend«, sagte er. »Ganz genau, so ist es. Diese Ärzte sollten sich schämen. Also, könnten Sie ihr morgens einfach eine Tasse Tee machen? Gegen halb neun komme entweder ich oder Mrs. Fordyce. Wir haben einen Schlüssel.« »Ich?«, protestierte Mix schwach. »Richtig. Wenn Sie so nett wären. Ich habe zwar keine Ahnung, wer diesen verflixten Doktor hereinlassen wird, aber eine von uns wird es wohl irgendwie schaffen.«
»Also, ich kann jedenfalls nicht«, sagte Mix und entfloh nach oben, wobei er zum ersten Mal vergaß, nach Reggie Ausschau zu halten. Er schnüffelte. Konnte er es schon hier draußen riechen? Vielleicht war aber auch das nur Einbildung. Woher sollte man wissen, was real ist und was nicht? Trotzdem würde er heute Abend nicht dort hineingehen. Er würde nachdenken und einen Plan machen. Kurz nach acht Uhr rief Ed an. Mix wünschte, er hätte nicht abgehoben. Jetzt würde Ed nur wieder darauf herumreiten, wie er ihn im Stich gelassen hätte. Stattdessen wollte Ed aber einen Strich unter die Vergangenheit ziehen. Er hätte sich nicht so aufführen sollen. Als Entschuldigung führ 149 te er an, er hätte seine Grippe noch nicht ganz auskuriert und litte immer noch unter dem Wetter. »Das geht derzeit wieder heftig um«, meinte Mix, wobei er an die alte Chawcer dachte. »Tja, und das ist noch nicht alles. Steph und ich haben Probleme, eine Hypothek zu bekommen.« Anschließend ließ er sich lang und breit über diese Wohnung aus. Hoffentlich würden sie sie kaufen können, wenn sie beide Verdienste zusammenlegten. Dann kamen Stephs Aussichten auf Beförderung an die Reihe. Und was wäre, wenn sie schwanger würde? »Dann musst du eben aufpassen, dass sie's nicht wird.« Entschuldigungen waren Mix schon immer schwer gefallen, dazu war er praktisch nicht in der Lage. Das Eingeständnis eines Fehlers empfand er als Gipfel der Demütigung. Das Wort »Entschuldigung« brachte er nicht heraus, aber irgendetwas musste er sagen. »Hast du Lust, dass wir was trinken gehen?«, schlug er vor. »Vielleicht heute Abend?« »Tja, also, heute Abend geht's nicht. Morgen um acht im »Sun in Splendour Und noch was, Mix, ganz unter uns, ja? Die im Chefbüro sind allmählich stinksauer auf dich. Dachte, ich geb dir mal 'nen Tipp.« Am folgenden Morgen hätte Mix beinahe den Tee für die alte Chawcer vergessen. Er selbst trank höchst selten dieses Gebräu. Trotzdem hatte er immer ein Päckchen Teebeutel neben seiner Kaffeedose. Als er es sah, fiel es ihm wieder ein. Er müsste auch den Zucker hinuntertragen, falls sie so etwas nähme. Sie mochte keinen Zucker und erklärte ihm das auch sofort, nachdem er geklopft hatte und eingetreten war. »Den hätten Sie sich sparen können, Mr.
Cellini. Ich nehme keinen Zucker.«' Kein Wort darüber, wie nett das von ihm sei, kein »Gu 150 ten Morgen«. Sie klang schwach und hustete unentwegt. Während sie sich mühsam aufsetzte, entdeckte er große, nasse Flecken auf ihrem Nachthemd. Sie hatte geschwitzt. »Welcher Tag ist heute?« Ungeduldig sagte er es ihr. »Dann müssten morgen die Holzwurmleute kommen. Sie wollen sich um die Holzwürmer in dem Raum neben Ihrer Wohnung kümmern. Wie die Firma heißt, fällt mir nicht mehr ein, aber das ist auch unwichtig.« Ein Hustenanfall schüttelte sie. »Oh, meine Güte, ich kann kaum sprechen. Eine meiner Freundinnen wird die Leute hereinlassen. Wahrscheinlich werden sie die Dielenbretter herausnehmen, um die Ursache dieses scheußlichen Gestanks zu finden Im ganzen Schlafzimmer lagen alte Kleider herum. Wenigstens die Asche hätte sie aus dem Kamin räumen können. Schließlich war sie ja nicht immer krank gewesen. Die Luft im Zimmer war ungemein heiß und fast zum Schneiden. Man konnte kaum atmen. Überall krabbelten Fliegen herum und surrten durch die Sonnenstrahlen, in denen Staubflocken tanzten. »Soll ich ein Fenster aufmachen?« Sie war nicht zu krank, um ihn anzuherrschen. »Bitte nicht, es sei denn, Sie möchten, dass ich mich zu Tode friere. Lassen Sie einfach alles so, wie es ist.« Hust, hust, hust... 150
16 Nerissa erkannte das Mädchen anhand des Zeitungsfotos wieder, Kayleigh weinte bei seinem Anblick, und Abbas Reza versuchte, sie zu trösten, und meinte, Danila würde sicher gesund und munter wieder auftauchen. Shoshana las nie Zeitungen. Die Barkeeperin im Kensington Park Hotel hätte in ihr vielleicht Mix' Begleiterin wiedererkannt, aber leider bekam sie das Foto nicht zu Gesicht. Sie war nach Spanien gefahren, um in einer Strandbar an der Costa Bianca zu arbeiten. Mix verspürte kein Bedürfnis, es zu sehen. Ihm genügte schon das Wissen, dass man das eine oder andere Foto veröffentlichen würde. Die Zeitung hatte das Bild von einem der Brüder Danilas bekommen. Er hatte es in Abwesenheit seines Vaters herausgegeben. Obwohl Mix schon seit einer Stunde in der Arbeit sein sollte, saß er unten im Salon und vertiefte sich in die Gelben Seiten. Auf seinem Handy standen so viele Nachrichten, dass er alle gelöscht hatte, ohne einen Blick darauf zu werfen. Am besten würde er sämtliche Spezialisten für Holzwurmbekämp-
fung anrufen und nachfragen, wer von ihnen ins St. Blaise House käme. Leider gab es Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte Firmen. Er hatte einen zaghaften Versuch gestartet und bei zwei Nummern angerufen. Dabei musste er so lange warten, immer wieder unterschiedliche Tasten drücken und sich Musikgedudel anhören, dass er aufgab. Jetzt hatte er nur noch eine Möglichkeit: Er würde sich einen Tag frei nehmen, hier bleiben und den Mann persönlich hereinlassen, besser gesagt, ihn nicht hereinlassen, sondern ihm erklären, dass man seine 151 Dienste nicht benötige. Sollte diese Fordyce oder die andere unbedingt bleiben wollen, müsste er vielleicht handgreiflich werden. Irgendwie musste er verhindern, dass es so weit kam. Er müsste im Chefbüro anrufen und sich krank melden. Der Arzt wollte irgendwann am Nachmittag kommen, der Holzwurmspezialist könnte jede Minute eintreffen. Heute Abend sollte er mit Ed einen Schluck trinken gehen. Wenn er sich nicht bereit erklärt hätte, der alten Chawcer ihren Tee zu bringen, hätte er die Sache mit dem Holzwurmspezialisten nie erfahren. Bereits beim Gedanken an die Folgen sträubten sich ihm die Haare. Mit aller Macht trieb es ihn zurück in den Raum, wo Danila unter den Dielenbrettern lag. Durch die extreme Hitze hatte sich der Gestank noch verschlimmert. Es war schrecklich. Es stank, als wären in den Untiefen eines abgeschalteten Kühlschranks irgendwelche Sachen vermodert. Am liebsten hätte er ein Fenster eingeschlagen, um wenigstens etwas Frischluft hereinzulassen, doch dann fiel ihm ein, dass der Lärm ziemlich viel Aufregung verursachen würde. Er musste die Leiche möglichst bald verlegen. Sobald er den Holzwurmspezialisten abgewimmelt hätte und den Arzt und diese blöden Weiber los wäre, würde er die Leiche herausholen und die ganzen zweiundfünfzig Treppenstufen hinunterzerren. In seiner eigenen Wohnung konnte er momentan nicht bleiben, sie war zu weit oben und damit zu abgelegen. Er musste sichergehen, dass er die Türglocke hörte, sobald jemand kam. Noch besser wäre es, wenn er sich dort aufhielte, wo er die Leute kommen sähe. Mitten auf der gefliesten Treppe hörte er, wie sich ein Schlüssel in der Haustür drehte. Oma Fordyce oder Oma Winthrop. Es war die Fordyce, die mit den langen roten Fingernägeln. Er hörte, wie sie unter ihm schwerfällig die Treppe herauf stapfte. Vor der Schlafzimmertür der alten Chawcer begegneten sie sich. »Guten Morgen. Wie geht es Ihnen heute?« 151
»Gut«, log Mix. »Haben Sie die Katze gefüttert?« »Ich?« »Ja, Sie«, sagte Olive Fordyce, »oder sehen Sie hier sonst noch jemanden? Bitte, geben Sie dem armen Ding sofort etwas zu fressen.« Sie ging ins Schlafzimmer der alten Chawcer. Redet mit mir, als sei ich ihr Dienstbote, dachte Mix. Warum füttert sie denn diese verdammte Katze nicht selbst? Obwohl er sich vor Otto fürchtete, der ihn fast schon wie ein Mensch verächtlich anstarrte, ging er in die Küche und suchte nach Dosen mit Katzenfutter. Seine Mutter war genauso unordentlich gewesen wie die Chawcer, was dazu geführt hatte, dass er selbst seine häusliche Umgebung peinlich sauber hielt. Deshalb wusste er ziemlich genau, wo er suchen musste. In einem Schrankfach voll ausgetriebener Kartoffeln und Zwiebeln mit grünen Sprossen tauchte hinten eine Dose auf, auf der eine Katze abgebildet war, die sich die Pfoten leckte. Die Hälfte des Inhalts kippte er in eine Untertasse und stellte sie auf den Fußboden neben eine große Plastiktüte mit verschimmelten Brotresten und Semmeln. Wann oder ob der Arzt käme, war nicht so wichtig. Während des Arztbesuchs könnte die Chawcer sowieso nicht aus dem Bett und herumlaufen. Entscheidend war nur der Besuch des Holzwurmspezialisten. Mix schob einen mit zerschlissenem braunem Cordsamt bezogenen Sessel dicht ans vordere Fenster. Von diesem Sitzplatz aus konnte er die Straße im Auge behalten. Sein Handy hatte er oben liegen gelassen. Macht nichts, notfalls könnte er ihr Telefon benutzen. Hier fand ihn eine halbe Stunde später Olive Fordyce. »Meiner Ansicht nach geht es Gwen kein bisschen besser. Dieser Husten klingt nach Rippenfellentzündung. Und das bei dieser Hitze, stellen Sie sich mal vor. Was machen Sie eigentlich hier?« 152 Mix gab keine Antwort. »Wie heißt die Firma, die sie wegen der Holzwürmer bestellt hat?« »Wieso fragen Sie mich das? Woher soll ich das wissen? Fragen Sie doch sie.« »Sie hat's vergessen.« Olive setzte sich. Für einen guten Engel, der Treppen steigen musste, trug sie äußerst unpassende Schuhe: rot, spitz und mit fünf Zentimeter hohen Absätzen. Ohne hinzusehen, spürte sie förmlich, wie ihre Fesseln anschwollen. »Sie wollte unbedingt, dass ich in dieses Dachzimmer hinaufsteige und ihr erzähle, was ich von der Sache halte. Sie behauptet, dort oben würde es komisch riechen.«
Wenn Mix nicht bereits gesessen wäre, wäre er vermutlich umgekippt. Vor ihm drehte sich alles. »Darum werden sich die Holzwurmspezialisten kümmern«, stieß er mit letzter Kraft heraus. »Na ja. Eigentlich habe ich keine große Lust, jetzt dort hinaufzuklettern, das muss ich schon sagen. Meine armen Füße tun mir sowieso schon weh genug. Das ist immer so, wenn es heiß ist. Gwen brauchte wirklich einen Treppenlift.« Dieser Aussage gab es nichts mehr hinzuzufügen. Beim Aufstehen fand sie nur mühsam ihr Gleichgewicht wieder. »Sie werden da sein und den Arzt hereinlassen, ja?« Am liebsten hätte ihr Mix eine grobe Bemerkung ins Gesicht gebrüllt, doch dann fiel ihm wieder ein, dass es sich bei dieser Frau um Nerissas Großtante handeln musste, auch wenn man das nicht glauben mochte. »Werd ich wohl«, sagte er. Verächtlich sah er ihr nach, wie sie die Straße hinunterwankte. Wenn diese alten Weiber wüssten, wie sie aussahen! Es klang, als käme heute weder sie noch die andere mehr wieder. Das war sein Glück. Damit hätte er das Haus und alle, die hier ein und aus gingen, unter Kontrolle. Der Holzwurmspe 153 zialist würde sich nicht mit Gewalt Zutritt verschaffen, und der Arzt hätte kein Interesse, ins Dachgeschoss zu gehen und herauszufinden, woher dieser Geruch kam. Denk immer daran, redete er sich ein, denk immer daran: Alles ist nur eine Sache des Abwartens. Der Anruf kam, während Nerissa auf ihr Taxi wartete, das sie zu einem Fototermin ins Dorchester bringen sollte. Sie hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass er sich melden würde. Wenn dich ein Mann nicht binnen achtundvierzig Stunden nach dem Rendezvous oder, wie in diesem Fall, nach dem Wiedersehen anruft, besteht kaum eine Chance, dass er es noch tut. Darel lud sie ganz offiziell ein. In diesem Stil hatte sie allerdings noch nie jemand eingeladen, und einen Moment lang fragte sie sich, ob das ein Witz sein sollte. »Meine und deine Eltern sowie dein Bruder Andrew mit seiner Frau kommen am Samstag zu mir zum Abendessen, und ich wollte fragen, ob du uns gern Gesellschaft leisten möchtest.« Sie konnte ihn nicht fragen, ob er das ernst meinte. Sie war sehr versucht, dankend abzulehnen. Allerdings war mit dieser Einladung auch das verlockende Angebot verbunden, ihn trotz sechs weiterer Gäste zu sehen und mit ihm zusammen zu sein. Sie hatte ihre Eltern gern, und zwischen ihr und
dem drei Jahre älteren Andrew hatte schon immer eine enge Beziehung bestanden, da er ihrem eigenen Alter noch am ehesten entsprach. »Nerissa?«, fragte Darel. Zögernd sagte sie: »Ja, vielen Dank. Ich - ich komme gern.« Er nannte ihr die Adresse, weit weg in den Docklands, irgendwo in der Nähe von Old Crane Stairs. Die Haltestelle der East London Line hieß Wapping. »Vermutlich werde ich mit dem Auto fahren«, meinte Nerissa. »Entschuldige, ich muss weg. Mein Taxi kommt.« 154 Was sollte das?, dachte sie, während sie ins Taxi stieg. War er schlicht und einfach nur ungeheuer altmodisch oder hatte er Angst, mit ihr allein zu sein? Oder war er am Ende gar schwul? Ihr Herz schien ganz langsam zu schlagen, dafür aber umso lauter. Nein, das war unmöglich. Sheila Jones hatte doch von irgendeiner ehemaligen Freundin erzählt. Sie dachte nach. Vielleicht wollte er sie nur testen, um zu sehen, ob seine frühere Meinung richtig gewesen war oder ob sie sich inzwischen doch völlig verändert hatte, wie er festgestellt hatte. Shoshana hatte Kundschaft, also sprach Kayleigh mit der Polizei, obwohl sie ihnen schon alles gesagt hatte, was sie wusste. An jenem Freitag hatte Danila wie üblich im Studio gearbeitet. Kayleigh hatte mit der jungen Bosnierin um fünfzehn Uhr dreißig telefoniert, eine halbe Stunde vor dem Schichtwechsel. Sie hatten sich gesehen und ein paar Worte gewechselt, dann war Danila nach Hause gegangen, in die Oxford Gardens. Einer der anderen Mieter, ein Mann aus dem zweiten Stock, hatte gesehen, wie sie ungefähr um halb fünf hereinkam. Er war im Hauseingang gewesen und hatte seine Briefe aus der restlichen Post aussortiert. Danila hatte Hallo zu ihm gesagt und war nach oben gegangen, in ihr Apartment im ersten Stock. Abbas Reza hatte sie nicht gesehen. Allerdings bildete er sich ein, er hätte gehört, wie sie am Abend, gegen zehn vor acht, das Haus verließ. Von einem eventuellen Freund wusste er so wenig wie Kayleigh. Seither hatte niemand mehr Danila gesehen. Wenn sie tot wäre, hätte man inzwischen ihre Leiche gefunden. Davon war die Polizei überzeugt und ging den Andeutungen auf einen geheimen Liebhaber nach. Aber warum sollte sie einen Liebhaber verstecken? Sie musste sich für nichts schämen und hatte auch nicht den geringsten Anlass, diskret zu sein. Die einzige, wenn auch dürftige Spur kam von dem Mie 154 ter im zweiten Stock, einem gebürtigen Chinesen namens Tony Li. Ungefähr drei Wochen vor Danilas Verschwinden hatte er eines Abends gehört, wie sie
sich mit einem Mann vor ihrem Apartment unterhielt. Gesehen hatte er den Mann nicht und auch kein Wort von dem verstanden, was er sagte. Er hatte lediglich seine Stimme gehört. Wenn man ohne jede Beschäftigung warten muss, ohne sich durch Lesen, Radio oder Fernseher abzulenken, vergeht die Zeit im Schneckentempo. Nach zwei Stunden Nichtstun ging Mix hinauf und holte sich »Die größten Verbrechen der vierziger Jahre«. Aus irgendeinem Grund wollte er derzeit nur noch Bücher über Reggie lesen, keine Zeitschriften, keine Tageszeitungen. Letztere kamen definitiv nicht in Frage. Beim Heruntergehen hörte er, wie sich die alte Chawcer die Lunge aus dem Leib hustete. Otto hockte in der Diele und leckte sich das Gesicht, nachdem er das Essen vertilgt hatte, das ihm Mix hingestellt hatte. Der Kater verhielt sich, als sei er ganz allein, als sei dieser Menschenmann so unwichtig und nebensächlich, dass er nicht im Traum daran dachte, deswegen seine gewohnte Katzenwäsche zu unterbrechen. Das Buch enthielt offensichtlich nichts Neues. Alles hatte er schon einmal woanders gelesen. Er wusste bestens über Beresford Brown Bescheid, einen schwarzen Immigranten aus der Karibik, der erst seit kurzem im Rillington Place zehn zur Miete gewohnt hatte. Als der in der Küche eine Trennwand einriss, stieß er auf eine Nische, in die man zwei Leichen gestopft hatte. Reggie war zu diesem Zeitpunkt bereits weit weg gewesen, allerdings nicht weit genug, um seiner Verhaftung ein für alle Mal zu entgehen. Obwohl Mix mit dieser Sache bestens vertraut war, las er mit Interesse die Version dieses Autors. Besonders suchte er nach einer detaillierten Beschreibung des Verwesungsprozesses. Damals, im Dezember, war es 155 kalt gewesen. Vor fünfzig Jahren, lange vor der Erderwärmung, hätte es sogar noch im März Frost gegeben. Und was den August betraf ... Er hatte wieder einmal Pech, denn heute war es, laut Fernsehberichten, heißer als in Spanien, genauso heiß wie in Dubai. Nachdem er ungefähr fünfzehn Seiten gelesen hatte - insgesamt gab es nur zweiundzwanzig über Reggie -, klingelte das Telefon. Sollte er abheben? Warum nicht? Dann hätte er wenigstens eine Beschäftigung. Eine Männerstimme sagte: »Ist Miss Chawcer da, bitte?« Der Mann klang ziemlich betagt. »Sie ist momentan nicht zu erreichen«, erwiderte Mix und fügte dann rasch hinzu: »Sind Sie vielleicht von der Firma für Holzwurmbekämpfung?« »Leider, nein. Ich heiße Stephen Reeves, Dr. Reeves.«
Das war nicht der Arzt, der später kommen sollte, sondern jener Mann, dem die alte Chawcer die ganzen Briefe geschrieben hatte. »Ach, ja?«, entfuhr es Mix. »Würden Sie ihr etwas ausrichten? Würden Sie ihr sagen, dass ich gerne bei ihr vorbeischauen würde, wenn ich demnächst in London bin?« Er nannte eine Telefonnummer. Mix versprach, sie zu notieren, tat es aber nicht. Er hatte weder Zettel noch Stift zur Hand. Vermutlich kannte sie die Nummer sowieso. Wetten? »Ich werd's ihr mitteilen«, sagte er. Zurück zum Buch. Und wieder hieß es warten. Die Illustrationen waren ein Schock und zogen doch seinen Blick magisch an. Die Leichen sahen so schmutzig aus und ähnelten mehr Lumpenbündeln als echten Toten. Ethel Christie lag vor dem Wohnzimmerkamin unter den Dielenbrettern. Würde Danila auch so aussehen, wenn er die Bretter abhob? Wenn ein anderer sie abhob? Angesichts der realen Bedrohung erschienen ihm mittlerweile Geister und seine früheren Ängste absurd und kindisch. Unter einem anderen Foto stand, Reggie hätte 156 Ruth Fuersts Oberschenkelknochen als Stütze für einen Zaunpfosten in den Boden getrieben. Die Gefühlskälte dieses Mannes faszinierte ihn. Eines war sicher: Nur wenige Leute hätten die Willenskraft und die Nerven, Teile eines Skeletts für solche Zwecke zu gebrauchen. Daran würde er während der Beseitigung von Danilas Leiche denken und daraus Kraft schöpfen. Er würde sich vorstellen, wie cool und nervenstark Reggie gehandelt hatte. Inzwischen bekam er allmählich Hunger. In der Küche der alten Chawcer war allerdings nichts nach seinem Geschmack. Er rannte die ersten anderthalb Stockwerke hinauf und nahm dabei zwei Stufen auf einmal. Danach war er so außer Atem, dass er sich auf die Treppe setzen musste. Nachdem er mühsam den Rest hinaufgetaumelt war, hörte er beim Betreten seiner Wohnung das Telefon klingeln und blieb reglos stehen. Sollte er abheben? Weder die Holzwurmfirma noch der Arzt würde bei ihm anrufen. Also könnte er es getrost ignorieren. Er stellte sich ein paar einfache Sandwiches zusammen, indem er Scheiblettenkäse zwischen vorgeschnittene Brotscheiben packte. Dann fand er noch eine Tüte Chips und einen Müsliriegel und begab sich wieder hinunter, auf seinen Posten am Fenster. Die beiden Frauen kamen gleichzeitig an. Mix sah, wie die eine aus einem Auto mit dem Schild »Arzt im Dienst« hinter der Windschutzscheibe stieg, während die andere aus einem Kleintransporter kletterte, dessen Lack mit einer Holzmaserung verziert war und seitlich in Goldlettern die Aufschrift
»Ihr Holzteam« trug. In beiden Fällen hatte er garantiert keine Frau erwartet. Viele Leute würden ihm deshalb sexistische Gründe unterstellen, dessen war er sich bewusst. Die Ärztin war zuerst an der Haustür, wenige Schritte vor der Fahrerin des Kleintransporters. Sie gab sich nicht lange mit Mix ab, sondern rief brüsk: 157 »Wo ist sie?« »In ihrem Schlafzimmer«, erwiderte er genauso patzig. »Und wo wäre das?« »Erster Stock, erste Tür links.« Schon war die Ärztin an ihm vorbei, und auch die Holzwurmspezialistin hatte bereits einen Fuß in der Tür. »Wir werden Sie nun doch nicht benötigen«, sagte Mix. »Was tun Sie da?« In ihrer sauberen braunen Uniform mit einem W auf der Brusttasche sah sie ziemlich hübsch aus. »Sie werden nicht gebraucht. Sie ist krank. Miss Chawcer, meine ich. Sie liegt im Bett. Sie kann nicht mit Ihnen sprechen. « Die Frau trat zwar wieder ins Freie, machte aber keine Anstalten zu gehen. »Trotzdem könnte ich es mir mal ansehen. Mehr brauche ich zuerst nicht. Ich muss nur den Befall sehen.« »Es gibt keinen Befall.« Um ein Haar hätte Mix sie angebrüllt. »Ich habe es Ihnen doch gesagt, sie möchte Sie nicht haben. Heute nicht. Sie ist krank. Wenn Sie wollen, kommen Sie nächste Woche wieder.« Sie wollte gerade sagen, dass sie dazu keine Lust hätte, jedenfalls nicht, wenn man in einem solchen Ton mit ihr spräche. In dem Moment knallte ihr Mix die Tür vor der Nase zu. Danach sah er erst wieder aus dem Fenster, als er den Lieferwagen starten hörte. Dabei entdeckte er Oma Winthrop, die mit vollen Einkaufstaschen mühsam den Weg heraufkletterte. Die könnte ruhig selbst aufsperren, er würde es jedenfalls nicht tun. Und wenn sie der alten Chawcer irgendetwas von dem angeschleppten Zeug zum Mittagessen machen wollte, wäre das einzig und allein ihre Sache. Woher wusste Queenie Winthrop, dass er im Salon war? Hatte sie es gerochen? Es war ihm schleierhaft. Jedenfalls steckte sie den Kopf zur Tür herein und schien unangenehm überrascht zu sein. 157 »»Was machen Sie denn hier?« »Habe die Ärztin reingelassen.« »Ach, ja, ich habe ihr Auto gesehen. Ist sie nicht eine reizende Frau?«
Mix gab keine Antwort. Plötzlich war ihm eingefallen, dass er den Anruf beim Abteilungsleiter vergessen hatte. »Ich gehe jetzt nach oben, in meine eigene Wohnung«, sagte er. »Die Katze habe ich gefüttert.« Würde sie während des Arztbesuchs zur alten Chawcer ins Schlafzimmer gehen? Die Holzwurmspezialistin hatte er zwar abgefertigt, aber selbst dann wäre es noch viel zu gefährlich, die Leiche die vielen Stufen herunterzuzerren. Nur nachts hätte er eine Chance. Am liebsten wäre er in den Garten gegangen, hätte sich umgesehen und die beste Stelle für ein Grab gesucht. Vielleicht gab es ja einen Schuppen oder irgendein Nebengebäude, wo er die Leiche während des Grabens ablegen konnte. Wegen der Dachvorsprünge und Erker konnte man von seiner Wohnung aus lediglich das Ende des Gartens überblicken. Ruf in der Zentrale an, während alle im Schlafzimmer sind. Bring's hinter dich. Später könnte er versuchen, ins Freie zu gelangen. Die Telefonistin am Apparat wartete nicht einmal, bis er seinen gewünschten Gesprächspartner nannte. »lack möchte dich sprechen. Sofort.« Jack war Mr. Fleisch, der Abteilungsleiter. »Eigentlich wollte er dich bereits dringend am Vormittag sprechen. Ich stelle durch.« Mix hatte kaum Gelegenheit, zu Wort zu kommen. »Bist du krank? Du musst wirklich schwer krank sein, wenn du vier Hausbesuche, sieben dringende Anrufe und drei SMS ignorierst. Das halbe Westend von London hat dich auf dem Kieker. Ist es mental oder physisch? Ich behaupte, mental, stimmt's? Deshalb meinst du, nach dem Arzttermin könnten dich alle mal am Arsch lecken. Mein Junge, du steckst bis zum Hals in der Scheiße.« 158 »Was soll ich sagen? Vielleicht ist es tatsächlich mental. Vielleicht habe ich eine Depression. Da muss ich wieder raus, das weiß ich genau.« »Wohl wahr. Auf der Stelle. Übrigens, wenn du schon mal dabei bist, deinen Hintern in Bewegung zu setzen: Mr. Pearson will dich gleich morgen früh sehen.« »Ich bin da«, sagte Mix. »Möchte ich dir auch geraten haben.« Wenn ihn der Geschäftsführer persönlich einbestellte, musste es wirklich etwas Ernstes sein. Vielleicht wollte man ihn feuern. Bestenfalls bekäme er eine letzte Chance. Sollten ihn doch alle mal. Darüber konnte er sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Wenn er die Leiche erst nach Anbruch der Dunkelheit unter den Brettern herausholen und in den Garten zerren könnte, würde er es
nie und nimmer schaffen, innerhalb einer Nacht ein tiefes Grab auszuheben und sie darin zu verstauen. Jedenfalls wäre er morgen früh fix und fertig, egal, wie es ausginge. Wieder stand er in dem Zimmer, wo sie lag und es immer mehr stank. Ihm war speiübel. Trotzdem war er nicht abgeneigt, die Bretter jetzt herauszunehmen. Da hörte er, wie Queenie Winthrop vom ersten Stock lauthals zu ihm heraufflötete: »Mr. Cellini, Mr. Cellini, sind Sie da? Können Sie mich hören? Können Sie eine Minute herunterkommen?« Er hatte keine andere Wahl, sonst käme sie herauf. Inzwischen roch man den Gestank bereits auf den obersten Stufen. »Okay, komme schon.« Er machte die Tür zu und ging die geflieste Treppe und die nächste hinunter. Oma Winthrop hatte vor Aufregung rote Bäckchen. »Gwendolen hat eine Lungenentzündung, was mich nicht überrascht, wirklich nicht. Dr. Smithers ist gerade unten und bestellt telefonisch einen Krankenwagen, um sie ins Krankenhaus bringen zu lassen.« 159 Mix hatte das Gefühl, sein Herz würde einen Sprung machen. Sie ging fort! Und er wäre allein im Haus, vielleicht eine ganze Woche lang. Er musste es wissen. »Und wie lange?« »Die Ärztin weiß es nicht. Mindestens ein paar Tage.« Sie ermahnte ihn wie einen Vierzehnjährigen. »Während ihrer Abwesenheit sind Sie nun für dieses Haus verantwortlich, und wir verlassen uns auf Sie. Enttäuschen Sie uns nicht.« 159
17 Steph kam natürlich auch mit, wie immer. Die beiden waren momentan unzertrennlich. So wird das noch einige Jahre gehen, dachte Mix, danach wird Ed allmählich wieder allein fortgehen, besonders, wenn erst ein Baby da ist. Bei seinem Eintreffen waren Ed und Steph bereits im »Sun in Splendour«. Beinahe hätte er ihre Verabredung vergessen. Es war bereits fünfzehn Minuten vor acht Uhr. Er hatte sich zurechtgelegt, mit welchen Worten er sich bei Mr. Pearson entschuldigen wollte, und in diese Überlegungen auch Ed einbezogen. Dabei war er ihm wieder eingefallen. Wenn er jetzt nicht aufkreuzte, würde Ed definitiv nie wieder ein Wort mit ihm reden. Außerdem hatte er gar nichts dagegen rauszukommen, frische Luft zu schnappen und mit richtigen Menschen zu reden anstatt mit diesen alten Weibern.
Beinahe fröhlich lief er die Treppe hinunter. Der Krankenwagen hatte sie um halb vier abgeholt, und gleichzeitig war auch Queenie Winthrop verschwunden. Jetzt kam es nicht mehr darauf an, dass er auf Teufel komm raus versuchte, un-entdeckt in den Garten zu gelangen. Momentan stand er nicht mehr unter Druck, die Leiche sofort zu verlegen. Er hatte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht, hatte die Beine hochgelegt und in einem Buch über Reggie geschmökert, das er schon lange nicht mehr in den Händen gehabt hatte: »Tod im Liegestuhl«. Dieses Buch hatte er bereits zweimal gelesen. Momenten war er bei dem Teil angelangt, der ihn am meisten interessierte: der Verlauf des Verwesungsprozesses bei den Leichen von Ruth Fuerst, Muriel Eady, Hectorina McClennan, Kath 160 leen Maloney, Rita Nelson und Ethel, der Ehefrau des Mörders. Es war nicht das beste Buch über Reggie, das er gelesen hatte. Der erste Preis gebührte dem Titel »Ein außergewöhnlicher Mörder«. Trotzdem würde er dieses eine Kapitel noch zu Ende lesen. Komisch, wenn ihm jemand vor sechs Monaten gesagt hätte, er würde einmal ein Buch, irgendein Buch, interessanter finden als Fernsehen oder ein PC-Spiel, hätte er ihn ausgelacht. Beim Betreten des Pubs dachte er immer noch über Reggie nach und darüber, wie dieser die Leichen versteckt hatte. Nur zwei hatte er in der Erde begraben. Mehrere wurden teilweise verbrannt. Als Ed ihn sah, meinte er lachend: »Wie immer, zu spät. Du verschusselst es immer, was?« Obwohl Mix diese Bemerkung nicht sonderlich passte, beschloss er, keinen Streit vom Zaun zu brechen. Stattdessen bewunderte er Stephs Verlobungsring und fragte, wann denn die Hochzeit sei. »Bis dahin dauert's noch 'ne Weile«, meinte Ed, während er ihm einen Gin Tonic holte. »Wie ich sehe, bist du zu den harten Sachen übergegangen.« Mix hätte es unter seiner Würde gefunden zu antworten. Eigentlich erwartete er von Ed, dass er ihn bäte, Trauzeuge zu sein. Vor ihrem Streit hätte er das getan. Vielleicht würde er es auch jetzt noch tun, wenn auch nicht heute Abend. »Bei der Zentrale steckst du bis zum Hals in der Scheiße«, sagte Ed. »Aber vermutlich weißt du das inzwischen längst.« »Du bist heute schon der Zweite, der mir das mitteilt. Ich will darüber nicht diskutieren.« »Wenn Mr. Pearson der dritte Mann ist, wirst du's wohl müssen.«
Steph kicherte, doch dann wechselte sie das Thema. Schließlich war sie kein gemeiner Mensch. Eine Weile drehte 161 sich das Gespräch um Hochzeiten, Häuser und Hypotheken, dann sagte sie einen Satz, der zum Schlimmsten gehörte, was man Mix momentan mitteilen konnte. »Sie haben hier drinnen nach dem vermissten Mädchen geforscht.« »Welches vermisste Mädchen?« Er musste sich dumm stellen. »Danila Kovic, oder wie man das ausspricht. Zwei Polizisten kamen herein und haben sich mit diesem Frank unterhalten, dem Barkeeper. Ich hörte ihn sagen, sie hätte sich hier um einen Job beworben, weil ihr Verdienst in irgendeinem Fitnessstudio nicht zum Leben ausreichte. Man hat sie nicht genommen«, sagte Ed. »Sie hätte keine Erfahrung gehabt, meinte Frank, als die Polizei wieder weg war. Er wusste alles darüber, erinnerte sich noch genau an sie. Armes Mädel nannte er sie und meinte, sie hätte noch nicht einmal so alt ausgesehen, dass sie hätte Alkohol trinken dürfen, geschweige denn verkaufen.« »Das hat der Polizei nicht sehr weitergeholfen«, warf Mix erleichtert ein. Dass man nach ihr suchte, wusste er bereits. Gott sei Dank hatte er sie nie hierher mitgebracht. Themenwechsel. »Wann soll denn Hochzeit sein?« »Das hast du mich schon am Telefon gefragt. Die Antwort ist immer noch die gleiche. Noch lange nicht.« »Bevor wir tatsächlich heiraten«, erklärte Steph, »möchten wir alles geregelt und abbezahlt haben. Damit hat eine Ehe bessere Aussichten, meinst du nicht auch?« Obwohl Mix dazu keine Meinung hatte, stimmte er ihr zu. Danach unterhielt man sich über die neue Wohnung, die Hypothek, Bausparkassen und Zinssätze, bis Ed plötzlich rief: »Frank meinte, er hätte sie noch einmal gesehen, wie sie mit irgendeinem Typen die Oxford Gardens hinunterspazierte.« 161 Mix verschüttete einen Teil seines Drinks. Jetzt stand das Glas in einer kleinen blubbernden Lache. Eigentlich hätte er daraufhin fragen müssen: »Wen hat er gesehen?« Aber er tat es nicht. Ed hatte noch nicht ausgesprochen, da wusste er ganz genau, wer mit »sie« gemeint war. »Das hat er dann der Polizei gesagt, oder?« Seine Stimme klang viel zu laut. »Er meinte, er würde es noch tun. Er hätte es vergessen, als man ihn befragt hat.«
So nahe war man noch nie daran gewesen, einen Mann in ihrem Leben zu finden. Würde dieser Frank in der Lage sein, ihn zu beschreiben? Würde er ihn wiedererkennen? »Hat Frank heute Abend Dienst?« Mix bildete sich ein, seine Stimme habe bei diesen Worten etwas gezittert und Ed habe ihn merkwürdig gemustert. »Erst später.« Warte, sag ja nicht, dass du jetzt gehst, sonst weckst du nur leise Zweifel. Er zwang sich, auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben, obwohl er das Gefühl hatte, seine gesamten Nerven wären zum Zerreißen gespannt und wollten ihn buchstäblich zur Tür hinauskatapultieren. Aber er blieb. Der Schweiß brach ihm auf der Stirn aus. »Noch einen?« Ed hatte es satt, auf eine Einladung von Mix zu warten. Eher könnten sie die ganze Nacht hier hocken, bevor der so etwas tat. »Dasselbe noch mal?« »Ich muss gehen«, sagte Mix. Wie sah dieser Frank aus? Er konnte sich nicht erinnern und auch nicht danach fragen. Beim Gehen könnte er ohne weiteres auf den Pembridge Gardens mit ihm zusammenstoßen, ohne zu wissen, um wen es sich handelte. Dagegen würde Frank ihn kennen. Er verabschiedete sich abrupt von Steph und rief Ed »Wir sehen uns« zu. Jede Menge Leute waren unterwegs. In so warmen Nächten war das normal. Jeder jüngere Mann könnte Frank sein, entwe 162 der der, der gerade von Notting Hill Gate heraufkam, oder der, der aus dem Auto stieg. Wenigstens schien keiner von beiden ihn wiederzuerkennen. Mix könnte den Bus nehmen oder laufen, allerdings würde er an der Bushaltestelle eher auffallen, während er sich zu Fuß schneller aus der Gefahrenzone entfernen könnte. Außerdem täte ihm Bewegung gut. Wenn es nicht schon sehr spät war, erwarteten ihn normalerweise im St. Blaise House zwei oder drei matt erleuchtete Fenster. Gelblich-grauer Schein drang aus dem halbkreisförmigen Fenster über der Haustür, aus den Fensterflügeln des Salons und vielleicht noch aus einem ihrer Schlafzimmerfenster. Heute war alles anders. Ungebändigte Dunkelheit starrte aus dem Haus, eine Dunkelheit, die so stark und mächtig war, dass sie von innen gegen die Fensterscheiben drückte. Hör mit diesen Fantasien auf, ermahnte er sich. Das alles findet nur in deinem Kopf statt, das weißt du doch. Er sperrte auf und trat in die erwartete, ersehnte Stille.
Es gibt keine Geister, so etwas existiert nicht. Für schnell verdientes Geld würde diese Shoshana alles erzählen. Mach nicht die Augen zu, sobald du ganz oben bist. Alles, was du zu sehen glaubst, findet nur in deinem Kopf statt. Er hielt die Augen offen, starrte die Gänge hinunter und sah - nichts. Und fang jetzt nicht wieder zu trinken an, sobald du in deiner Wohnung bist. Behalte einen klaren Kopf. Auf dem Heimweg hatte er sich entschlossen, die Leiche heute Nacht nach unten zu schaffen. Aber warum? Es gab keine Notwendigkeit, dies sofort zu erledigen. Die alte Chawcer würde eine ganze Woche weg sein. Lass die Sache bis morgen ruhen. Dann versuchst du, um vier Uhr heimzukommen, und dann erledigst du es. Das Loch kannst du am Samstag bei Tag graben. Wenn dich einer der Nachbarn nachts graben sieht, wird er nur misstrauisch. Morgen würde er damit anfangen. Für heute gäbe es noch ei 163 nen ganz kleinen Gin, und dann ab ins Bett. Kaum saß er bequem im Warmen, ging ihm sein Gespräch mit Mr. Pearson am nächsten Morgen durch den Kopf. Angenommen er würde sagen: »Wir müssen uns von Ihnen trennen.« Aber das würde er nicht, nicht wegen ein paar versäumter Kundentermine. Würde sich Frank die Mühe machen, noch mal zur Polizei zu gehen? Und könnte er in diesem Fall erklären, wen er mit Danila gesehen hatte? Sie hätte ja noch mehr Freunde haben können, und jeder von ihnen hätte sie in die Oxford Gardens heimbegleiten können. Er schlief ein, wachte auf, döste, stand auf, knipste das Licht an und betrachtete in dem langen Spiegel sein Gegenüber. Wie würde man ihn beschreiben? Er sah ganz normal aus: nicht ganz so schlank, wie er sein sollte, rosiges Gesicht, Stupsnase, graubraune Augen, dunkelblonde Haare. Eine polizeiliche Gegenüberstellung wäre allerdings etwas ganz anderes. Doch sogar Mix erkannte trotz seines leicht erschütterten Nervenkostüms, dass seine Fantasie erneut mit ihm durchging. Mr. Pearson wollte Mix nicht feuern, wie er befürchtet hatte, sondern ihm noch eine letzte Chance geben. Er neigte dazu, seinen Angestellten kleine Moralpredigten zu halten, wenn sie in Schwierigkeiten geraten waren, und genau das tat er nun auch bei Mix. »Nicht um Ihretwillen erwarten wir von Ihnen vorbildliches Verhalten, geschweige denn um meinetwillen. Davon profitieren die gesamte Technikergruppe dieser Firma und die Firma an sich. Bedenken Sie, welche unmittelbare Wirkung Sie auf einen Kunden haben, sobald Sie am Telefon auch nur den Firmennamen nennen. Dabei übermitteln Sie dem Kunden das behaglich-angenehme Gefühl, hier ist er in guten Händen, hier wird er zu
seiner vollsten Zufriedenheit bedient. Alles wird gut. Man wird sich um ihn kümmern, und zwar um 164 gehend. Diese Firma wird das Problem lösen, egal, worum es sich handelt. Und dann bedenken Sie, was es heißt, wenn ein Techniker einen Kunden zum wiederholten Mal enttäuscht. Wenn er nicht zum versprochenen Termin erscheint und versäumt zurückzurufen. Würde der Kunde - oder höchstwahrscheinlich die Kundin - unter diesen Umständen nicht allmählich das Vertrauen in die Firma verlieren? Müsste sie uns dann nicht als zweitklassige und unzuverlässige Firma einstufen? Könnte es nicht sein, dass sie vielleicht zu sich sagt: Vielleicht sollte ich mich auf den Gelben Seiten nach einer anderen Firma umsehen.«?« Mit anderen Worten will er damit sagen, dass ich die Firma enttäuscht habe, dachte Mix. Na schön, soll er mal. Es wird sowieso nicht wieder vorkommen. »Es wird nicht wieder vorkommen, Mr. Pearson.« Drunten, im Vertreterbüro, konnte Mix einen Schreibtisch benutzen und rief von hier aus in Shoshanas Studio an. Shoshana war selbst am Apparat. Die Aushilfe war wieder weg, und bisher hatte man noch keinen Ersatz für Danila gefunden. »Im Laufe der nächsten Woche werde ich mir diese Geräte mal ansehen.« »Das heißt dann vermutlich nächsten Freitagabend«, meinte Shoshana bissig. »So lange wird's nicht dauern.« Mix versuchte, ein Lächeln in seine Stimme zu legen. »Will ich auch hoffen.« Nachdem er aufgelegt hatte, drückte sie die Funktionstaste, die ihr die Nummer verraten würde, von der aus er angerufen hatte. Da er dies vermutlich von seinem Handy oder von seiner privaten Festnetznummer aus getan hatte, war sie auf eine Fehlanzeige gefasst. Stattdessen erschien nach der Vorwahl von London eine siebenstellige unbekannte Nummer, die sie sorgfältig notierte. Als Nächstes rief Mix bei Colette Gilbert-Bamber an und 164 musste sich wüste Beschimpfungen gefallen lassen. Nach allem, was sie für ihn getan hätte, wie sie es nannte, behandle er sie wie ein dahergelaufenes Callgirl, das er nach Belieben nehmen oder fallen lassen könne. Sie habe den Namen seines Geschäftsführers herausgefunden und erwäge, Mr. Pearson dasselbe zu erzählen, was sie beinahe auch schon ihrem Mann erzählt hätte: Mix habe versucht, sie zu vergewaltigen. »Also, was sagst du dazu?«
»So viel Bockmist habe ich noch nie gehört.« Beinahe wäre es ihm herausgerutscht, sie sei noch nie vergewaltigt worden, denn davon könne nur die Rede sein, wenn das Opfer sich wehre. Doch dann besann er sich eines Besseren und legte stumm auf. Anschließend ging er ins Lager, wo man stets einen kleinen Vorrat an Geräten zum sofortigen Einsatz bereithielt. Dort fand er das Gesuchte: einen sehr großen, festen, aber transparenten, hellblauen Plastiksack, wie sie ihn zum Schutz von Indoor Bikes und Laufbändern verwendeten. Nachdem er diesen im Kofferraum verstaut hatte, fuhr er von Kundschaft zu Kundschaft, ließ ihre Vorwürfe über sich ergehen und versprach, umgehend wieder vorbeizuschauen. Um vierzehn Uhr gönnte er sich mit einem gekauften Sandwich und einer Dose Cola - natürlich Diätcola, schließlich wollte er abnehmen - eine kurze Pause vor Nerissas Haus. Es war sein erster Besuch seit einigen Tagen. Leider tauchte sie nicht auf, obwohl er über eine Stunde sitzen blieb. Sobald er die Sache mit dieser Leiche erledigt hätte, müsste er sich eine neue Strategie ausdenken, eine echte Offensivkampagne, denn zu seinem Leidwesen hatte er bisher nur ein einziges Mal mit ihr gesprochen. Kurz nach halb vier nahm er seinen letzten Termin wahr, diesmal in einer großen Villa mit Blick auf Holland Park. Um Viertel nach vier trudelte er mit dem Plastiksack im St. Blaise House ein. Dass auch Queenie Winthrop anwesend war, merkte er erst, 165 nachdem er bereits sämtliche Treppen bis in seine Wohnung und anschließend wieder hinuntergerannt war, um zu prüfen, ob er die Leiche durch die Küche und die beiden angrenzenden winzigen Räume in den Garten würde schaffen können. Sie stand mit einer Schürze über ihrem roten Blümchenkleid in der Küche, räumte auf und wischte die Schränke ab. »Haben Sie daran gedacht, die Katze zu füttern?«, fragte sie. »Das werde ich jetzt erledigen.« Oma Winthrop klang so triumphierend wie jemand, der eine Herausforderung bravourös gemeistert hat und nun Beifall erwartet. »Machen Sie sich keine Mühe. Das habe ich bereits erledigt«, meinte sie und fügte hinzu: »Obwohl ich zugeben muss, dass er offensichtlich keinen großen Hunger hatte.« Mix sagte nichts. Wie lange wollte sie hier drinnen herumwuseln? Sie beantwortete seine Frage, obwohl er sie gar nicht laut gestellt hatte. »Damit werde ich wohl noch ein paar Stündchen beschäftigt sein. Die Schuhkammer
und das Waschhaus habe ich bereits aufgeräumt und gerade mit der Küche angefangen. Dieses Haus ist wirklich ein prächtiges Loch!« Er wurde stutzig. Wie hatte sie eines dieser Kämmerchen genannt? »Ein Waschhaus? Gibt es hier denn eines?« »Hier draußen. Schauen Sie.« Er folgte ihr in einen Raum, der eher einem Schuppen mit unverputzten Ziegelwänden ähnelte. In der einen Ecke stand ein unförmiges Gebilde, das an einen uralten Ofen erinnerte. »Was ist das?« »Ein Waschkessel. Vermutlich haben Sie so etwas noch nie gesehen, stimmt's? Meine Mutter hatte einen, in dem erledigte sie ihre ganze Wäsche. Grässlich. Dafür nahmen die Frauen Stampfer und Waschbrett zu Hilfe. War entsetzlich schlecht für ihre inneren Organe.« Mix merkte sich diese Information, so gut es ging. Mit den 166 Wörtern »Stampfer« und »Waschbrett« konnte er nichts anfangen, dafür aber mit dem Begriff »Waschhaus«. Christie hatte jede Leiche bis zum Begräbnis im Waschhaus von Rillington Place Nummer zehn gelagert. Dasselbe würde er auch hier machen, nachdem dieses blöde Weib endlich verschwunden wäre. Wenn er klug gewesen wäre, hätte er sich den Schlüssel zurückgeholt. Gestern hätte er sie um den Schlüssel bitten sollen, als sie ihn wegen des Katzenfütterns zugetextet hatte. Was aber wäre, wenn sie sich weigern würde? »Es wäre besser, wenn ich Miss Chawcers Schlüssel wieder an mich nehmen würde.« »Ach, warum?«, rief sie, wobei sie in die Küche ging und jede Menge parfümiertes blaues Putzgel in der Spüle verteilte. »Ich habe Gwendolen erklärt, ich würde ihn behalten. Vielleicht muss ich nach dem Rechten sehen. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich ihn für alle Fälle behalten. Vielleicht beschließen Olive und ich, dem ganzen Haus einen ordentlichen Frühjahrsputz angedeihen zu lassen und sie nach ihrer Rückkehr damit zu überraschen. Leider besitzt die arme Gwendolen kein hausfrauliches Talent.« Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Er ging wieder in seine Wohnung. War sie auch schon hier oben im Dachgeschoss gewesen? In diesem Fall hätte sie doch den Gestank gerochen und ihn sicher darauf angesprochen. Sollte er sich hinsetzen und fernsehen oder das Buch über Christie lesen? Jeder Versuch wäre sinnlos. Er müsste etwas Handfestes tun und sollte wenigstens schon einmal Vorbereitungen treffen. Vorsichtig trat er mit seiner Werkzeugtasche und dem Plastiksack hinaus auf den Flur und lauschte. Von unten war nichts
zu hören. Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer nebenan. Er hatte einen Schal mitgebracht, den er sich jetzt um Kopf und Nase wickelte. Das milderte den Geruch ein wenig, wenn auch nicht ganz. Kaum hatte er die Dielenbretter herausgehoben, stank es bes 167 tialisch. Trotzdem redete er sich gut zu: Du musst weitermachen, na los, denk nicht darüber nach, atme durch den Mund. Das Ding sah noch genauso aus wie in der Nacht, in der er es hineingelegt hatte: ein kleines zierliches Bündel in roten Tüchern. Um es herauszuheben, musste er sehr nahe herangehen. Zweimal würgte es ihn. Trotzdem gelang es ihm, es auf den Boden zu hieven. Das Ding schien schwerer geworden zu sein, auch wenn es rein äußerlich unverändert wirkte. An seiner Stelle lag nun auf den staubigen Querbalken der Tanga, ein frivoles Dessous aus elastischer Spitze in Scharlachrot und Schwarz. Warum hatte er beim Entsorgen ihrer restlichen Kleidungsstücke nicht bemerkt, dass er fehlte? Er hob ihn auf und steckte ihn in seine Tasche. Die Leiche in den Sack zu befördern war ein Kinderspiel. Als sie drinnen lag, fühlte er sich besser, und kaum hatte er den Sack oben mit einem Stück Draht zugebunden, fühlte er sich riesig erleichtert. Was aber, wenn draußen vor der Tür die Alte wartete oder wenn sie gerade die geflieste Treppe heraufkäme? Sie war nirgendwo in Sicht. Mühsam zerrte er den Sack mit der Leiche in seine eigene Wohnung. Kaum hatte er das geschafft, musste er wieder zurück, die Bretter einfügen und prüfen, ob es noch immer stank. Natürlich stank es, wenn auch deutlich weniger. Übel war der Geruch immer noch. Vielleicht würde es besser werden, wenn er erst einmal die Bretter wieder an Ort und Stelle hätte. Ob es so sein würde, konnte er nicht feststellen, aber im Laufe der Zeit würde der Geruch sicher verschwinden. Er hätte sich auf dem Heimweg noch eine Flasche Gin besorgen sollen. Sein Vorrat war bis auf einen winzigen Schluck aufgebraucht. War vermutlich besser so. Während er auf das Verschwinden von Queenie Winthrop wartete, trank er den Rest. Um achtzehn Uhr dreißig verschwand sie endlich. Mix sah ihr von seinem Schlafzimmerfenster aus nach. Er hätte fragen 167 sollen, wann sie wiederkäme. Allerdings könnte so etwas auch seltsam wirken. Solange er sich im Haus aufhielt - natürlich nicht, wenn er fortging -, könnte er an der Haustür den oberen und den unteren Riegel vorschieben. Und genau das würde er während des Leichentransports tun. Was du heute
kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Normalerweise hätte er, der Zauderer, einen solchen Satz nie benutzt, aber jetzt tat er es. Zuerst ging er hinunter und verriegelte die Haustür. Das war fast so gut, als hätte er den Schlüssel wieder. Eigentlich müsste ihm das ständige Treppensteigen guttun, auch wenn er sich nicht entsprechend fühlte. Wenigstens dachte er daran, seinen Wohnungsschlüssel einzustecken. Er zerrte die Leiche aus seiner Wohnung auf den Flur hinaus und stieß hinter sich die Tür zu. Wenn sie auch nur ein Gramm schwerer gewesen wäre, hätte er es wohl kaum geschafft. Auf der Treppe im ersten Stock traf er Otto, der vor der Schlafzimmertür der alten Chawcer miaute. Warum öffnete er die Tür und ließ ihn hinein? Mix wusste es nicht und tat es trotzdem. Vielleicht wollte er sich auch nur von dem Herunterschleppen des schweren Sacks ausruhen. Als er im Erdgeschoss war, glaubte er, er könne keinen Schritt mehr weiter. Trotzdem zerrte er den Sack mit letzter Kraft durch den Flur, Richtung Frühstückszimmer und Küche. Als er fast die Tür zum Frühstückszimmer erreicht hatte, hörte er, wie sich in der Haustür quietschend ein Schlüssel drehte. Er erstarrte, nur sein Herz raste. Die Tür war verriegelt, niemand konnte herein. Kein Grund zur Sorge. Wieder drehte sich der Schlüssel, der Deckel zum Briefschlitz klappte auf, und Olive Fordyce rief mit lauter Stimme: »Mr. Cellini, Mr. Cellini, sind Sie da?« Beinahe hätte er vor Angst nicht geatmet. Dann rief sie wieder nach ihm. »Lassen Sie mich herein! Warum verriegeln Sie die Tür? Was fällt Ihnen ein? Mr. Cellini!« 168 Sie schrie, rüttelte wieder an der Tür, klingelte und klapperte mit dem Briefkastendeckel. Stundenlang. Doch kaum hörte er sie den Weg zum Gartentor hinunterklappern, sah er auf die Uhr und stellte erstaunt fest, dass gerade mal drei Minuten vergangen waren. Der Vorfall hatte ihm solche Angst eingejagt, dass ans Graben jetzt nicht mehr zu denken war. Er fühlte sich schwach und wäre beinahe umgekippt. Trotzdem schleppte er mit letzter Kraft das Bündel im Plastiksack durch die Küche in den Raum, den Oma Winthrop als Waschhaus bezeichnet hatte. Der riesige alte Waschkessel, ein ominöses, weit über einen Meter hohes, gemauertes Gebilde mit einem Holzdeckel, belegte eine ganze Zimmerecke. Unter dem Deckel befand sich ein völlig ausgetrockneter Steinguttrog, der offensichtlich schon seit Jahren nicht mehr benutzt worden war. Prustend und keuchend beförderte er die Leiche hinein. Als er sich das Kreuz massierte, spürte er etwas Dickes in seiner Gesäßtasche. Es war der Tanga, den er ebenfalls hineinwarf. Erst jetzt legte er
den Deckel wieder auf. Niemand hätte einen Grund, den Waschkessel zu inspizieren, schon gar nicht eines der neugierigen alten Weiber. Die alte Chawcer besaß eine funktionierende, wenn auch altmodische Waschmaschine, die diesem antiken Stück trotz ihrer Schwächen ein gutes Stück voraus war. Der Spaziergang im Garten wirkte beruhigend, ja beinahe erholsam. Die Hitze des Tages war einem milden, stillen Abend gewichen. Das ungemähte Gras erinnerte an blonde Haare und war dürr wie ein Stoppelfeld. Im Garten hinter der rückwärtigen Mauer versuchte der Inder mit mäßigem Erfolg, seinen Rasen mit einem alten Handrasenmäher zu schneiden. Glucksend wackelte das Perlhuhn herum. Es gab nicht eine freie Stelle, wo man leicht hätte graben können. Jeder Quadratzentimeter war von Gras und Unkraut überwuchert. Mix hatte noch nie in seinem Leben einen Spa 169 tenstich getan, und diese Erde, so weit er zwischen mächtigen Distelstauden und anderen kratzigen Gewächsen, die er nicht einmal dem Namen nach kannte, überhaupt etwas sehen konnte, schien sich von Zement nur durch ihre schmutzig gelbe Farbe zu unterscheiden. Im Inneren des halb verfallenen Schuppens fand er rostiges Gartenwerkzeug: Spaten, Grabgabel und Spitzhacke. Morgen würde er es anpacken, und dann wäre damit Schluss. Danach haben alle Sorgen ein Ende, das musst du dir immer vorsagen, flüsterte er. Sag dir das immer vor. Er ging ins Haus und schob oben und unten die Riegel zurück. Die alte Chawcer machte keinen Lärm, wenn sie daheim war. Lesen ist eine stille Beschäftigung. Und doch wirkte das Haus ohne sie noch ruhiger. Bedrückende Stille füllte die leeren Räume. Bei seiner Erkundungstour durch den Garten hatte er staubige Schuhe bekommen. Da er von seinem Besuch an einem Ort, wo er eigentlich nichts zu suchen hatte, keine Spuren hinterlassen wollte, zog er sie aus und trug sie die Treppe hinauf. Dabei dachte er über die Aufgabe nach, die ihm am nächsten Tag bevorstand. Vielleicht hätte er eine Probegrabung vornehmen sollen, um zu prüfen, wie hart und schwer der Boden war. Andererseits - wäre das sinnvoll gewesen? Er müsste den Job sowieso erledigen, egal wie mühsam er wäre. Er sollte dem Schlafzimmer, wo sie gelegen hatte, einen letzten Besuch abstatten. Es würde ihn aufheitern, wenn der Geruch allmählich schwächer und dort drinnen alles wieder zum Normalzustand zurückkehren würde. Er hatte den obersten Treppenabsatz erreicht und öffnete die Tür. Er sollte nie erfahren, ob der Geruch verschwunden war, dazu war er viel zu kurz in
diesem Zimmer. Mitten im Raum stand unter der Gaslampe der Geist und starrte auf die Dielenbretter hinunter, unter denen Danila ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte. Mix floh. Mit zitternden Händen scharrte er an 170 seiner Wohnungstür herum, dass der Schlüssel gegen das Holz klapperte. Wirres Schluchzen stieg in seiner Kehle auf. Er hatte nur einen Wunsch: irgendwo ein sicheres Versteck. Doch das bekäme er nur, wenn es ihm gelänge, hineinzukommen. Der Schlüssel zitterte im Schloss, blieb stecken und fiel heraus. Es gelang ihm, ihn wieder hineinzuschieben. Die Tür ging auf. Er stürzte zu Boden, trat die Tür hinter sich zu, presste mit aller Macht die Augen zusammen und trommelte auf den Teppich. Shoshana hatte recht gehabt. Nach wenigen Sekunden hatte er sich so weit gefasst, dass er nach dem Kreuz in seiner Tasche tastete, aber nun war es dafür zu spät. 170
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»Sie war doch noch ein Kind«, sagte Frank McQuaid. Diesen Satz hatte er schon oft in Fernsehkrimis gehört und immer gehofft, er bekäme einmal Gelegenheit, ihn einzusetzen. Der Polizist, der ihn befragte, meinte: »Und Sie haben gesehen, wie sie mit einem Mann die Oxford Gardens entlanggegangen ist? Können Sie ihn beschreiben?« »Ein Durchschnittstyp«, sagte Frank. Es klang, als würde er von einem Skript ablesen. Während er dem Kriminalpolizisten in einem Hinterzimmer der Bar gegenübersaß, bemühte er sich um eine ernste und nachdenkliche Miene, als würden ihm Millionen dabei zusehen. »Unscheinbar - Sie wissen, was ich meine? Bräunliche Haare, bräunliche Augen, vermute ich mal. Es war dunkel.« »In London ist es nie dunkel.« Frank dachte über diese Aussage nach. Sie klang so originell, und das machte ihn misstrauisch. Er beschloss, sie zu ignorieren. »Mittelgroß oder ein bisschen darunter - Sie wissen, was ich meine?« »Mr. McQuaid, ich nehme an, damit meinen Sie ein bisschen kleiner als der Durchschnitt.« »Genau das habe ich ja gesagt. Sie war doch noch ein Kind.« Betroffen blickte Frank in eine unsichtbare Kamera. »Kam aus irgendeinem fremden Land. Albanien? Vielleicht war sie Asylbewerberin.« »Ja, vielen Dank, Mr. McQuaid. Sie haben uns sehr geholfen«, log der Polizeibeamte. 170
In jener Nacht tobte auf dem Meer ein Sturm. Jedenfalls hörte es sich so an. Als würden Wellen ans Ufer schlagen. Warum sollte der Westway so viel lauter dröhnen als sonst? Mix wusste es nicht. Vielleicht kam der Wind aus einer anderen Richtung. Er hätte diesen Arzt um Schlaftabletten bitten sollen. So aber lag er bis um vier Uhr früh wach. Anschließend fiel er in einen unruhigen Halbschlaf. Als er um acht Uhr aufwachte, trug ein strahlend schöner Morgen dazu bei, sein abgrundtiefes Entsetzen abzumildern. Jetzt hatte er nur noch Angst. Er musste hier raus. Nichts wie weg aus diesem Spukhaus. Das war sein erster Gedanke. Beim zweiten Nachdenken erkannte er, dass das unmöglich war, solange die Leiche unten im Waschhaus lag. Der Anblick von gestern Abend ließ ihn nicht los. Deshalb reagierte er kaum, als er unten von der Fußmatte einen Brief des Labors aufhob, das seinen Bluttest gemacht hatte. Der Brief war ihm über den Betriebsarzt zugestellt worden. Sein Cholesterinspiegel war alarmierend hoch, weit über zweihundert. Na, und? Dagegen gäbe es Tabletten, Statine oder sonst etwas. Würde er es nach Feierabend wagen, wieder hinaufzugehen? Mix riskierte nichts mehr, keinen einzigen verpassten Termin, keine unbeantworteten SMS. Colette Gilbert-Bamber war verloren, doch das bedauerte er nicht. Obwohl er sich Shoshanas Studio nur ungern näherte, fuhr er zum Westbourne Grove hinüber. Es war zehn Uhr vormittags. Auf sein Klingeln antwortete eine unbekannte Stimme. »Yuppieslang« nannte er eine derart affektierte und gedehnte Sprechweise. »Mix Cellini, Gerätewartung«, sagte er. Statt einer Antwort ging knarrend die Tür auf. Er trat ein, hob den Kopf und sah sich direkt Nerissa gegenüber, die gerade die Treppe herunterkam. Einen Augenblick glaubte er an eine Halluzination. Er konnte sein Glück nicht fassen. Anscheinend wollte ihn das Schicksal für das schreckliche Erleb 171 nis von gestern Abend entschädigen. Als er endlich wieder sprechen konnte, klang es ziemlich schrill. »Guten Morgen, Miss Nash.« Sie musterte ihn, ohne zu lächeln, und sagte dann: »Hallo.« Es klang verängstigt. »Bitte, fürchten Sie sich nicht«, sagte er. »Ich - ich bin eben immer glücklich, wenn ich Sie sehe.« Wie immer sah sie hinreißend aus, in Jeans und mit einem roten Poncho über einem Baumwolltop. Sie war mitten auf der Treppe stehen geblieben, als fürchtete sie sich sehr, an ihm vorbeizugehen. »Sind Sie mir hierher gefolgt?«
»Aber nein«, rief er in einem Ton, der möglichst überzeugend klingen sollte. »Nein, nein, nein. Ich arbeite hier, ich warte die Geräte.« Er trat vom Fuß der Treppe zurück und wartete neben dem Lift. »Bitte, kommen Sie herunter. Ich tue Ihnen doch nichts.« Gewiss hatten ihre Mutter, dieses alte Miststück, und ihre Großtante sie bearbeitet und gegen ihn aufgebracht. Am liebsten hätte er diese alte Fordyce umgebracht. Langsam kam Nerissa die Treppe herunter. Als sie unten angelangt war, zögerte sie und meinte dann: »Nun ... auf Wiedersehen. Bitte, halten Sie ...« Noch ehe sie ihren Satz beendet hatte, war sie schon zur Tür hinausgeschlüpft. Und Mix dachte: Sicher wollte sie sagen, bitte, halten Sie mich nicht für unhöflich, das habe ich nicht gewusst. Oder, bitte, halten Sie mich nicht auf, ich weiß ja, dass Sie mir nichts tun wollen. Oder etwas Ähnliches. Sie war nicht nur schön, nett und liebenswürdig, sondern auch genauso höflich. Die Frage, ob er ihr nachstelle, hatte ihr sicher ihre fiese alte Mutter eingetrichtert. So etwas wäre ihr von Natur aus nie über die Lippen gekommen. Mütter konnten wahre Feinde ihrer Kinder sein. Man musste sich ja nur mal seine eigene ansehen. Heiratet Javy und schleppt dann, als er weg ist, unentwegt 172 Männer ins Haus, obwohl sie drei halbwüchsige Kinder hat, die sich an ihrem freizügigen Benehmen orientieren. Nerissas Mama sollte dankbar sein, dass ihre Tochter einen Verehrer hat, der sie anbetet und auf ganz altmodische Weise respektiert, was noch höher einzuschätzen ist. Inzwischen hatte ihn der Lift zum Studio hinaufgebracht. An der Stelle, wo bei seinem ersten Besuch Danila gethront hatte, stand eine Frau, die fast so umwerfend aussah wie Nerissa, auch wenn diese nordisch-kühle Blondine das ganze Gegenteil von Nerissas dunkler Schönheit war: schneeweiße Haut, eisblonde üppige Mähne, glitzernder Silberlack auf den langen Fingernägeln. Sie musste auf sein Klingeln hin den Türöffner betätigt haben. »Ich lasse nur rasch Madam Shoshana wissen, dass Sie hier sind«, sagte sie mit ihrer Debütantinnenstimme. Das Gegenteil wäre Mix entschieden lieber gewesen. Vielleicht würde sich die verrückte alte Wahrsagerin seit der Sitzung in diesem Dachstübchen nicht mehr an ihn erinnern, vielleicht aber doch. Fände sie es befremdlich, dass er mit dem Mann identisch war, mit dem sie einen Kundendienstvertrag abgeschlossen hatte? Wäre das wichtig? Mix wäre es lieber, wenn an seinem Verhalten niemand etwas komisch fände. Er wollte unter keinen Umständen
auffallen. Jedenfalls würde sie nicht selbst auftauchen, sondern durch dieses Prachtmädchen etwas ausrichten lassen. Erneut starrte er sie unverwandt an. »Was sehen Sie mich so an? Was fällt Ihnen eigentlich ein?«, sagte sie in einem Ton wie Eliza Doolittle nach ihrer Verwandlung. Mix entfernte sich einige Schritte. »Welche Geräte müssen denn gewartet werden?« »Das wird Ihnen Madam schon zeigen. Ich bin hier neu.« Noch ehe er antworten konnte, stieg Shoshana in schwarzen Gewändern und Unmengen von schwarzen Perlenketten aus dem Lift. Sie sah aus wie ein weiblicher Druide in Trauer 173 kleidung. Noch ehe sie ein Wort gesagt hatte, wusste Mix auf Grund ihrer Blicke, dass sie ihn erkannt hatte. Schon beim ersten Wort klang ihre Stimme ganz anders als damals, als sie ihm die Zukunft vorhergesagt hatte. Es war ein schriller, scharfer Tonfall aus dem Norden Londons. »Sie haben sich aber wirklich Zeit gelassen. Wenn Ihnen das Kartenlegen wichtiger ist als Ihre Arbeit, werde Sie es nicht sehr weit bringen. Zwei Fahrräder sind zu richten, Nummer vier und Nummer sieben. In Ordnung?« »In Ordnung«, stieß Mix mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Bei ihren nächsten Sätzen wäre ihm beinahe der Unterkiefer heruntergeklappt. Er konnte sich nur mühsam beherrschen. »Sie hatten ein Auge auf das Mädchen geworfen, das hier gearbeitet hat. Auf die kleine Dürre, die ohne ein Wort abgehauen ist. Mit Ihnen ist Sie nicht durchgebrannt, oder?« Mix gelang es, verächtlich zu lächeln. So schwer war ihm noch kaum etwas gefallen. »Was, mit mir? Ich kannte sie doch kaum.« »Das behauptet ihr Männer immer. Ich kann Männer nicht ausstehen. Jetzt sollten Sie aber wirklich mit der Arbeit anfangen, für die Sie hergekommen sind.« Diese alte Schreckschraube! Noch nie war ihm ein so entsetzliches weibliches Wesen ihres Alters untergekommen. Sie stellte ja Chawcer, Fordyce und Winthrop in den Schatten. Es schüttelte ihn. Dann widmete er sich den beiden Indoor Bikes, an denen jeweils ein Teil ausgetauscht werden musste, allerdings jedes Mal ein anderes. Ersatzteile hatte er nicht dabei. So etwas müsste er sich heimlich aus dem Lager besorgen. Schließlich arbeitete er für Shoshana ja freiberuflich. Momentan wäre da nichts zu machen. Er erklärte der schönen Eisprinzessin, er würde die notwendigen Teile besorgen und wiederkommen, sobald er sie erhalten hätte.
174 »Und wann wäre das?« »In ein paar Tagen.« »Das wäre gut. Wenn Sie Madam noch länger warten lassen, dreht sie durch.« Er hatte noch weitere Kundentermine. Eine Neukundin, die ihn noch nie angefordert hatte, wollte einen Ski-Stepper bestellen. Sie wohnte in einer Straße namens St. Catherine's Mews, zwischen Knightsbridge und Chelsea. Zweimal fuhr er die Milner Street auf und ab, ohne die Adresse zu finden. Lass es, riet er sich, ruf sie an und lass dir die Anfahrt erklären. Einer der wenigen Männer, die zu Hause Fitnessgeräte hatten, hatte ihn angefordert, in die Lady Somerset Road in Kentish Town. Er musste im absoluten Halteverbot parken und hatte schon Angst, man würde ihm eine Parkkralle verpassen. Und als er ankam, war Mr. Holland-Bridgeman nicht zu Hause. Mix entschied sich für einen kurzen Abstecher zum St. Blaise House, um den Kessel im Waschhaus zu kontrollieren. Während der Anfahrt über Oxford Gardens überlegte er, was er täte, wenn vor dem Haus Polizeiautos stünden, Polizisten herumliefen und der Vorgarten mit einem blau-weißen Polizeiband abgesperrt wäre. Vermutlich umdrehen und sich irgendwo verstecken. Vielleicht würde er nach Norden fahren, nach Hause, allerdings nicht zu seiner Mutter, denn bei der wohnte entweder ein neuer Lover oder sie säße wieder im Knast. Sein Bruder? Sie waren nie gut miteinander ausgekommen. Das einzige Familienmitglied, zu dem er je eine gewisse Beziehung gehabt hatte, war Shannon ... In der St. Blaise Avenue war es menschenleer und relativ ruhig. Nur die Autos parkten auf beiden Seiten wie üblich Stoßstange an Stoßstange. Ein Parkplatz war noch für Mix frei. Er sperrte auf, blieb stehen und lauschte. Jeden Moment rechnete er damit, dass Oma Fordyce oder Oma Winthrop mit einem Staubwedel aus den Tiefen der Küche auftauchte. 174 Da er unsicher war, ob sich eine der beiden nicht doch im Haus herumtrieb, ging er vorsichtig durch das Frühstückszimmer in die Küche, die seit den Putzorgien der beiden Damen gänzlich verwandelt war, und weiter ins Waschhaus. Er schnüffelte, wartete und schnüffelte wieder. Kein Geruch. Seine Einwickeltaktik hatte Wirkung gezeigt. Vielleicht hatte auch Christie dieses Problem so gelöst. Kannte man damals schon Plastik? Er spürte, wie sehr es ihm widerstrebte, den Deckel vom Waschkessel zu heben. Er tat es trotzdem. Es wäre unsinnig gewesen, um diese Tageszeit nach Hause zu kommen und es nicht zu tun. Sie und der Sack bildeten ein gut verschnürtes Paket, das noch
genauso da lag, wie er es liegen gelassen hatte. Und sogar bei geöffnetem Deckel konnte er nicht das Geringste riechen. Dann fiel Mix noch etwas ein: Wer nicht wusste, worum es sich bei dem Paket im Waschkessel handelte, würde es für einen großen Plastiksack mit Altkleidung halten, den man zur Aufbewahrung hier hineingestopft hatte. Niemand würde weiter darin herumstochern. Da das Ding nicht roch und einem jener Säcke glich, die man in Waschsalons schleppte, lag es jetzt am sichersten Ort der Welt. Oder? Bei diesem Beresford Brown war die Situation ganz anders gewesen. Er wollte am Rillington Place eine Konsole für ein Radio anbringen und stieß dabei hinter einer Trennwand auf eine nackte Frauenleiche. Damals, mitten im Winter, war es kalt gewesen, also konnte man nichts riechen. In seinem Fall würde die Art der Verpackung keinen Geruch durchlassen. Warum sollte die Leiche also nicht an Ort und Stelle bleiben? Eine viel zu riskante und kühne Idee. Das würde nie funktionieren. Aber - warum eigentlich nicht? - Andererseits würde er doch ständig unruhig sein, solange sie hier läge. Die alte Chawcer war keine umsichtige Hausfrau. Das konnte man schon daran erkennen, wie sehr Fordyce und Win 175 throp schuften mussten, um hier Ordnung zu schaffen. Sie würde nie in die Nähe dieses Waschkessels gehen. Schließlich hatte sie ja eine Waschmaschine, die immer noch funktionierte, auch wenn es nicht das neueste Modell war. Sollte sie, was höchst unwahrscheinlich wäre, doch in den Waschkessel schauen, würde sie lediglich alte Klamotten in einem Plastiksack entdecken. Warum sollte er die Leiche also nicht hier lassen? Mix legte den Deckel auf und ging langsam in die Küche zurück. Während er über diesen neuen und einfacheren Plan nachdachte, stand er plötzlich Olive Fordyce gegenüber, die genauso erschrocken zusammenzuckte wie er gestern beim Anblick des Geistes. Allerdings hatte er auch mehr Grund zum Erschrecken gehabt. Trotzdem genoss er die Situation. Sie hatte einen kleinen weißen Hund dabei, der nur halb so groß war wie Otto. »Was machen Sie denn dort draußen?« »Ich war in der Diele«, sagte Mix, »da habe ich ein Geräusch gehört.« »Was für ein Geräusch?« Sie war sehr schroff zu ihm. »Keine Ahnung. Deshalb bin ich ja nachschauen gegangen.« Sie musterte ihn argwöhnisch und prüfend. »Wo ist der Kater?« »Woher soll ich das wissen? Ich habe ihn schon seit Tagen nicht mehr gesehen.«
Der Hund fing an, die Säume seiner Jeans zu beschnüffeln. »Wenn Sie ihn nicht füttern, läuft er weg und sucht sich einen neuen Futterplatz. Kylie, lass das, sei brav. Es wird Sie freuen, zu hören«, sagte sie und legte eine Pause ein, »dass Gwen morgen oder übermorgen heimkommen wird.« Sie lächelte ihn boshaft an, als wüsste sie, was ihm durch den Kopf ging. Aus Angst vor einem Sturz hielt er sich an der Kante der frisch geputzten Arbeitsplatte fest. Sämtliche Ideen, die Leiche am jetzigen Platz zu belassen, waren wie weggebla 176 sen. Jetzt musste er sie unter allen Umständen aus dem Haus schaffen, damit sie ein für alle Mal verschwunden wäre. »Natürlich habe ich sie, wie jeden Morgen, im Krankenhaus besucht, und dabei hat sie es mir erzählt. Die Krankenschwester hat es bestätigt. Morgen, sagte sie.« Sie hob den Hund hoch und knuddelte ihn wie ein Kind ein Spielzeug. »Wenn nicht, dann übermorgen. Heutzutage behalten sie die Patienten nicht mehr so lange wie früher. Na ja, nichts ist eben mehr, wie es war, stimmt's?« Er sagte nichts, obwohl er sehr wohl wusste, welche Bemerkung sie von ihm erwartet hatte, das heißt, wenn er ein »netter junger Mann« gewesen wäre. Zum Beispiel: »Schön, dass sie bald wieder da ist«, oder »Sie wird sich freuen, dass ihre Küche so aufgeräumt und sauber ist«. Er brachte keinen Ton heraus, kein einziges Wort. »Ich werde jetzt für sie ein bisschen einkaufen gehen. Man wird sich sehr um sie kümmern müssen.« Sie wedelte mit ihrer freien Hand herum. Dabei sah er, dass sie heute lange, spitze, blassrosa Glitzernägel wie ein junges Mädchen trug. Sie hatte keine Hemmungen, jemandem unverwandt in die Augen zu sehen, ohne zu blinzeln. Während sie ihn durchdringend musterte, reckte sie ihren Hals vor und legte den Kopf leicht schief. » Sie werden sich am Riemen reißen müssen, für sie Tee kochen und ihr alles Mögliche bringen. Wird Ihnen nichts schaden. Sie wird sich noch nicht viel bewegen können.« »Wann kommen Sie denn wieder?«, fragte er. »Was, heute? Ich weiß es nicht. Nach dem Einkaufen. Macht Ihnen das etwas aus?« »Geben Sie mir die Liste, dann erledige ich den Einkauf«, sagte er. Etwas Besseres hätte er offensichtlich nicht sagen können. Seit ihrem Zusammentreffen unter der Küchentür schlug sie 176
ihm gegenüber zum ersten Mal einen freundlichen Ton an. »Das ist ganz reizend von Ihnen. Dazu sage ich nicht Nein. Das schont meine Beine. Ich werde Ihnen etwas Geld geben.« Sie kramte in ihrer Handtasche herum, fand die Liste und gab sie ihm. »Das Geld können Sie mir danach geben.« Mit diesem Satz stimmte er sie noch sanfter. »Es könnte einige Tage dauern. Bis dahin werde ich nur kommen, wenn es unbedingt nötig ist. Queenie löst mich ab. Sie wird morgen vorbeischauen, deshalb werde ich ihr den Schlüssel geben. Sagen Sie Tschüss zu Kylie.« Nur über seine Leiche. Hatte er mit seinem Angebot, den Einkauf zu übernehmen, nicht schon genug für sie getan? In Windeseile war alles vergessen: seine beiden fixen Nachmittagstermine, das Ausfüllen des Spesenformulars, die Konferenz mit Jack Fleisch, den anderen Technikern und den Vertretern. Besser gesagt, er verdrängte einfach alles. Denn im Vergleich zu dem, was er tun musste, war alles andere unwichtig. Die Leiche musste weg, und zwar nicht nur vorübergehend, sondern für immer. Jede Zwischenlösung war hinfällig. Er hatte keine Veranlassung, nach oben zu gehen, wenigstens momentan nicht. Das hatte Zeit bis später. Er würde in einem Pub oder in einer Bar etwas trinken, damit er den Weg nach oben meistern könnte und die Kraft hätte, sich dem zu stellen, was ihn möglicherweise im Dachgeschoss erwartete. Shoshana hatte ein Grundprinzip: Geh nie zur Polizei, bevor sie zu dir kommt. Sie saß in ihrem Wahrsagerkämmerlein über dem Studio - in zehn Minuten sollte die nächste Kundin kommen - und dachte über Danila Kovic nach. Sie machte sich weder Sorgen über ihren Verbleib, noch befürchtete sie, Danila könnte tot sein. Sie hatte auch keinerlei Mitgefühl mit ihren Freunden oder Verwandten, die sie vielleicht vermissten, und 177 bedauerte auch nicht, dass sie nicht mehr im Studio arbeitete, denn jetzt hatte sie ja die schöne und tüchtige Julia. Sie betrachtete die Sache lediglich aus einem einzigen Blickwinkel heraus: Sie wollte Unfrieden stiften. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, Mix Cellini könnte mit Danila durchgebrannt sein. Warum sollte er? Soweit Shoshana wusste, hatten sich die beiden gerade mal zwei oder drei Wochen gekannt und waren vielleicht nie miteinander ausgegangen. Trotzdem braute sich in ihr allmählich ein Gefühl der Abneigung gegen Mix zusammen, das immer stärker gärte und brodelte. Es war ihm egal, dass er einen Vertrag unterschrieben hatte. Seit Danilas Verschwinden hatte er sich kein einziges Mal hier blicken lassen. Und dann
war da noch die Sache mit der Reparatur. Er habe die Ersatzteile für die Fahrräder bereits bestellt, hatte er ihr erklärt. Aber sie wäre ganz schön dumm, wenn sie ihm das glauben würde. Er wollte ihr lediglich die langfristige Prozedur aufbürden, einen neuen Techniker zu suchen. Als hätte sie nicht schon genug Schwierigkeiten damit, einen Ersatz für Danila zu finden. Bis heute Vormittag hatte sie ihre ganze Hoffnung auf Vergeltung in die Telefonnummer gesetzt, die sie sich bei seinem Anruf notiert hatte. Sie war ziemlich sicher, dass er für eine Firma arbeitete, die ihren Facharbeitern vertraglich jede Nebentätigkeit verbot. Ein Anruf beim Generaldirektor, beim Geschäftsführer, oder wie diese Leute sonst hießen, und schon wäre er seinen Job so gut wie los. Diese Rache sparte sie sich noch auf. Es sei denn, er würde sein Verhalten radikal ändern. Gäbe es nicht noch eine geeignetere Strafe? Was wäre, wenn sie ihn der Polizei als Danilas geheimnisvollen Freund melden würde? Allerdings wollte sie nicht, dass die Polizei im Studio erschien. Dort gab es Dinge, die sie eine Behörde nicht wissen lassen wollte: Die Sicherheitsvorkehrungen entsprachen bei 178 weitem nicht der Vorschrift; keines der oberen Stockwerke verfügte über eine Feuerleiter; man hatte keinerlei Geräte für Erste Hilfe installiert. Andererseits könnte ja sie zur Polizei gehen. Vielleicht war das alles auch gar nicht so brandeilig. Tu nichts aus reinem Impuls heraus, lautete eine weitere Lebensregel von ihr. Bedenke alles gründlich. Sie holte den Quarz, den Lapislázuli und die Jade aus dem Samtsäckchen und überprüfte die Karten, um sicherzustellen, dass sie in der passenden Reihenfolge auflagen. Die Kundin klopfte zaghaft an die Tür und trat ziemlich verschüchtert ein. Sie war neu, blutjung und offensichtlich von dem Raum, dem Ambiente und Madam Shoshana tief beeindruckt. Sie schlich zu dem Sessel, der auf sie wartete, und wagte einen zögernden Blick in das halb verschleierte Gesicht der Wahrsagerin. »Legen Sie Ihre Hände auf das Steinmandala, und atmen Sie tief ein, dann werden wir beginnen«, sagte Shoshana mit jener geheimnisumwobenen Stimme, die sie beim Blick in die Zukunft einsetzte. Ein halber Liter Milch, zweihundert Gramm Butter, Käse, Brot in Scheiben, ein Lammkotelett und eine Hähnchenbrust, Tiefkühlerbsen, ein Päckchen Fertigsuppe und noch so einiges -das alles packte Mix in den Kühlschrank, der inzwischen appetitlich und einladend aussah. Er hatte die Einkäufe für die
alte Chawcer ganz mechanisch erledigt und einfach die Liste der Reihe nach abgehakt, ohne sich der eingekauften Produkte richtig bewusst zu sein. Dabei hatte er auch die Quittung aus dem Supermarkt verloren. Jetzt hatte er keine Ahnung, welchen Betrag er Oma Fordyce in Rechnung stellen musste. Im KPH hatte er sich mit einigen Gläsern Gin Mut angetrunken, und ein Foto im »Evening Standard« hatte ihn regelrecht aufgeheitert: Nerissa in einem Abendkleid von Alexander 179 McQueen. So etwas Ähnliches würde sie auf ihrer gemeinsamen Hochzeit tragen und dazu ein riesiges weißes Orchideenbukett. Oma Fordyce würde heute Nachmittag nicht mehr kommen, und Oma Winthrop würde erst morgen im Laufe des Tages eintrudeln. Es war halb drei. Er durfte nicht bis morgen warten, sondern musste jetzt loslegen. Er zwang sich die Treppe hinauf. Zum Glück schien die Sonne hell durchs Isabellafenster. Eine leichte Brise ließ die Farben wie unter einem Stroboskoplicht tanzen. Nichts zu sehen, alles ruhig und still und - leer. Seufzend sperrte er auf. Mix besaß keine passenden Schuhe für schwere Grabungsarbeiten. Stattdessen zog er seine Turnschuhe mit den dicken Sohlen und alte Jeans an. Noch immer hing ein leichter Geruch in seiner Wohnung, noch mehr aber in dem Zimmer, wo sie unter den Dielenbrettern gelegen hatte. Das würde sich im Laufe der Zeit schon bessern. Er verriegelte die Haustür doppelt, falls Oma Winthrop doch noch auf die Idee käme vorbeizuschauen, und ging in den Garten hinaus. Es herrschte immer noch ein Prachtwetter, wie es die Leute nannten. Ihm wären Kälte und Nebel lieber gewesen, denn bei Wärme und Sonnenschein zog es die Nachbarn in ihre Gärten hinaus. Leute mit perfekten Gärten gönnten sich an weißen Metalltischen unter einem gestreiften Sonnenschirm einen Drink. Einige würden von ihren Sitzplätzen aus mühelos erkennen können, was er da machte. Er holte Spaten und Grabgabel aus dem Schuppen und entdeckte zwischen dem Unkrautgestrüpp eine Stelle, wo die Erde weicher aussah als der restliche steinharte Lehmboden. Graben war ein Hilfsarbeiterjob, das konnte jeder. Für ihn wäre es wahrscheinlich ein Kinderspiel. Doch dann weigerte sich der Spaten, in die Erde einzudringen. Mit äußerster Anstrengung gelang es ihm, die oberste Erdschicht zu überwinden, vielleicht knapp fünf Zentimeter tief. Darunter war alles so hart und undurchdringlich, 179
dass er ebenso gut auf Felsen hätte graben können. Vielleicht war die Spitzhacke die Lösung. Leider hatte er vor diesem Werkzeug mindestens so viel Respekt wie vor dem Mähen mit einer Sense. Trotzdem holte er das Ding aus dem Schuppen. Der Anblick des angerosteten Metalls steigerte sein ungutes Gefühl noch. Auch am Stiel war eine Stelle morsch. Er versuchte, die Spitzhacke so zu schwingen, wie er das bei Straßenbauarbeitern gesehen hatte, aber nach drei Fehlversuchen hatte er Angst, er könnte sich dabei verletzen. Zu seiner Überraschung musste man für ein solches Werkzeug offensichtlich wesentlich durchtrainierter sein, als er es war. Vielleicht hatte er sich bezüglich der Bodenbeschaffenheit an dieser Stelle getäuscht. Er entfernte sich ein Stück von der Mauer und rückte näher ans Haus heran. Spitzhacke und Grabgabel nahm er mit. Seine Schultermuskulatur verhärtete sich bereits. Von hier aus konnte er über die Begrenzungsmauer in den dahinterliegenden Garten sehen, wo statt des Perlhuhns zwei große Graugänse zwischen dem Unkraut herumspazierten. Ein Mann mit Turban und eine Frau im Sari saßen lesend in den Liegestühlen, er war in die Abendzeitung vertieft, sie in eine Zeitschrift. Obwohl er die beiden sehen konnte, wusste er nicht mit Sicherheit, ob das auch umgekehrt der Fall war. Vielleicht wäre das auch nicht wichtig. In einem Liegestuhl hatte er das letzte Mal als kleiner Junge seine Großmutter sitzen gesehen. Und doch riefen diese Gartenmöbel nicht die Erinnerung an sie und ihre Eigenheiten wach, sondern an Reggie, der nach dem Verkauf seiner Möbel die Küche mit diesen provisorischen Sitzgelegenheiten ausstaffiert hatte. Wieder begann er zu graben, diesmal allerdings mit der Grabgabel. Das ging besser. Dank ihrer scharfen Zinken durchbohrte sie die oberste Erdschicht. Nach und nach entwickelte er eine deutlich effektivere Technik, bei der er die Gabel senkrecht ansetzte und nicht schräg. Er lernte sogar, dass 180 er sein Werkzeug tiefer fassen musste, um der härteren Erdschicht Herr zu werden. Etwas anderes blieb ihm auch nicht übrig. Ein Grab müsse knapp zwei Meter tief sein, das wusste er vom Hörensagen, doch davon hatte er sich längst verabschiedet. Dass er mindestens einen Meter zwanzig tief graben müsste, war ihm klar. Nach ungefähr einer Stunde legte er eine Pause ein. Sein T-Shirt war vorne klatschnass geschwitzt. Jetzt brauchte er unbedingt etwas zu trinken, und wenn es auch nur Tee wäre, aber er befürchtete, wenn er erst einmal im Haus wäre, würde er sich vielleicht nicht überwinden können, noch einmal herauszukommen. Eine reichlich optimistische Vorstellung hatte sich leider
zerschlagen: Seine Muskeln gewöhnten sich trotz Dauerbelastung nicht an diese Tätigkeit und taten nach wie vor weh. Als er sich aufrichtete, schoss ihm ein brennender Schmerz über den Rücken in den rechten Oberschenkel. Seine Schultern drohten, sich wie ein Schraubstock um sein Genick zu legen. Er versuchte, sie durch kreisende Bewegungen zu lockern, zuerst im Uhrzeigersinn, dann entgegengesetzt, und drehte den Kopf von links nach rechts und wieder zurück. Dabei fiel ihm auf, dass ihn Otto von seinem Lieblingssitzplatz auf der gegenüberliegenden Mauer beobachtete. Der Kater hockte wie eine Museumsstatue reglos da und fixierte ihn mit seinen runden grünen Augen. Seine Mimik spiegelte wie üblich gehässige Verachtung wider. Das Paar aus Fernost war ins Haus gegangen, die Liegestühle waren leer. Obwohl Mix anfänglich noch mit der Gabel weiter in die Tiefe graben konnte, hatte er allmählich eingesehen, dass ihm der Spaten nicht erspart bleiben würde, und wenn es noch so mühsam wäre. Er ging zurück an die Stelle, wo er ihn liegen gelassen hatte, und hob ihn auf. Dabei stach ihm ein Haufen grau-schwarz gesprenkelter Federn ins Auge, die er zuvor nicht bemerkt hatte. Verstohlen warf er einen Blick zu dem 181 Kater hinauf, der irgendwie eitel und selbstzufrieden wirkte. Aber vermutlich bildete er sich das nur ein. Allerdings hatte er schon einmal etwas fälschlicherweise als Hirngespinst abgetan. Das Ergebnis sollte man durchaus bedenken. Das Hantieren mit dem Spaten entpuppte sich als Schwerstarbeit. Bei jedem Häufchen gelockerter Erde bohrten sich ihm scharfe Nadeln ins Kreuz. Du musst, du musst, du hast keine Wahl, murmelte er mit jedem Spatenstich vor sich hin. Allmählich bekam er Blasen an den Handflächen. Trotzdem musste er noch mindestens eine halbe Stunde graben. Obwohl es bereits fast sechs Uhr war, stach die Sonne immer noch vom Himmel. Durchdringendes Tröten ließ ihn zusammenzucken. Es klang, als hätte man ihm direkt ins Ohr trompetet. War da jemand? Ängstlich blickte er auf und sah, wie der Mann mit dem Turban den Gänsen, die sich unter wildem Geschnatter herandrängten und gegenseitig wegschubsten, händeweise Getreide vorwarf. Zu seiner Überraschung winkte ihm der Mann aus Fernost fröhlich zu. Also war auch er gezwungen zurückzuwinken. Nach weiteren zehn Minuten wusste er, dass für heute Schluss war. Morgen ginge es dann wieder weiter. Insgesamt keine schlechte Leistung. Gut dreißig Zentimeter hatte er bereits.
Nachdem das Werkzeug weggeräumt war, begab er sich durch das Waschhaus wieder hinein, wo er noch den Waschkessel samt Inhalt überprüfte. Mühsam hangelte er sich am Treppengeländer nach oben und musste immer wieder Pausen einlegen. Dabei fiel ihm ein, dass er schon wieder vergessen hatte, den Kater zu füttern. Dieser machte trotzdem den Eindruck, als bekäme er genug zu fressen, wenn man ihn sich selbst überließ. Wie hatte es der um einige Jahre ältere Reggie geschafft, die Gräber in seinem Garten auszuheben? Auf den Fotos wirkte dessen Garten genauso verwahrlost und zugewuchert wie dieser hier, und die Erde schien ebenfalls steinhart 182 gewesen zu sein. Natürlich hatte Reggie behauptet, er habe einen kaputten Rücken. Das hatte er beim Prozess von Timothy Evans als Grund dafür angegeben, dass er Beryl Evans Leiche nicht mehr habe bewegen können. Vielleicht hatte er sich beim Ausheben der Gräber einen bleibenden Schaden zugezogen. Mix wusste kaum, wie er die geflieste Treppe bewältigen sollte. Der Schmerz vertrieb sämtliche Gedanken an den Geist. Er taumelte in seine Wohnung, goss sich einen doppelten Gin Tonic ein und sackte aufs Sofa. Eine halbe Stunde später schnappte er sich die Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein, schloss die Augen und schlief sofort ein, obwohl aus dem Lautsprecher Rockmusik dröhnte. Noch lautere Geräusche ließen ihn wieder aufwachen. An der Haustür klingelte jemand Sturm, klapperte mit dem Briefkastendeckel und trommelte mit den Fäusten gegen die Tür. Mix schlich zu seiner Wohnungstür und weiter auf den Flur hinaus. Polizei, war sein erster Gedanke. Der Mann aus Fernost hatte gemeldet, jemand grabe in Miss Chawcers Garten ein Grab. Und nun wollte man sich vergewissern. Heutzutage musste auch die Polizei Planziele erreichen und würde begeistert jede Gelegenheit ergreifen, ein Verbrechen aufzudecken. Von den oberen Fenstern aus konnte Mix weder den Vorgarten noch die Straße überblicken. Er ging eine Treppe hinunter, dann noch eine, und weiter ins Schlafzimmer der alten Chawcer. Dort schaute er zum Fenster hinaus. Inzwischen wurde es bereits dunkel. Im Schein der Straßenlampen sah er draußen weder Polizeifahrzeuge stehen noch entdeckte er das von ihm schon einmal befürchtete Absperrband. Urplötzlich hörte der Lärm auf. Über den Weg geisterte ein Lichtstrahl, gefolgt von Queenie Winthrop mit einer Ta-
schenlampe. Als sie sich umdrehte und zu den Fenstern hinaufschaute, duckte sich Mix. Vermutlich wollte sie ihn kon 183 trollieren und sicherstellen, dass er den Einkauf erledigt hatte. Nun, diese Ungewissheit konnte er ihr nicht ersparen. Bis zum Ende des Begräbnisses würde er diese Haustür für nichts und niemanden entriegeln. Erneut machte er sich an den mühsamen Aufstieg. Letzte Nacht hatte er dort oben, in diesem Schlafzimmer, den Geist gesehen, wirklich und wahrhaftig. Damit stand eindeutig fest, dass dieser nicht nur in seiner Fantasie existierte. Steph und Shoshana hatten recht gehabt. Es lag also nicht an seinem angeschlagenen Nervenkostüm, an dem ganzen Stress im Job, an Eds Forderungen, an seinem eigenen Kummer wegen Nerissa und an seiner Sehnsucht nach ihr, und auch nicht an seinen Kindheitserinnerungen. Er hatte den Geist tatsächlich gesehen. 183
19 Der schmerzende Rücken hielt Mix wach. Wenn er sich nicht so sehr vor Christies Geist gefürchtet hätte, wäre er ins Badezimmer der alten Chawcer hinuntergegangen, um nachzusehen, ob sie nicht irgendwelche Schlaftabletten hätte. Alte Weiber hatten so etwas doch immer im Haus. Aber allein der Gedanke, dass er beim Öffnen seiner Wohnungstür diesem markant geschnittenen und doch ausdruckslosen Gesicht gegenüberstünde, dessen Augen ihn durch die Brille hindurch anstarrten, wirkte bereits entsetzlich abschreckend. Stattdessen nahm er Schmerztabletten mit einer vierhundert Milligramm starken Dosis. Der Apotheker hatte gemeint, das seien die stärksten, die man ohne Rezept kaufen könne. Leider waren sie nicht stark genug, und es brannte und pochte weiter. Solche Schmerzen hatte er zuletzt verspürt, als ihn Javy nach seinem angeblichen Übergriff auf Shannon grün und blau geschlagen hatte. Um fünf Uhr morgens zwang er sich nach einer Tasse Kaffee und einem Bissen Toast wieder ans Graben. Allmählich wurde es bereits hell. Der bevorstehende Sonnenaufgang färbte den Himmel rot-grau, auf dem Gras lag Raureif, aber zum Glück war der Boden nicht gefroren. Eines war ihm klar geworden: Es gab keine stärkere Antriebsfeder als das Bewusstsein, du musst, du hast keine andere Wahl. Sicher würde man die alte Chawcer nicht vor Mittag nach Hause bringen. Oder doch? Jedenfalls kämen sie sowieso nicht herein. Längst war ihm klar, dass er schon rein körperlich nicht in der Lage war, ein Loch mit einer Tiefe von einem Meter achtzig auszuheben.
184 Er selbst war nur wenige Zentimeter kleiner. So etwas war unmöglich. Ein Meter zwanzig würde auch genügen. Es müsste einfach genügen. Man hatte die Gänse über Nacht eingesperrt, aber jetzt öffnete der Inder mit Turban und in einem Hausmantel aus Kamelhaar die Tür zum Gänsestall, und sie watschelten schnatternd heraus. Irgendwo hatte Mix gesehen oder gelesen, Gänse seien gute Wächter. Er wollte nicht, dass sie ihn beobachteten. Otto war nirgendwo zu sehen. Er grub weiter. Den Schmerz nahm er hin, weil er wusste, dass ihm keine andere Wahl blieb. Trotzdem überlegte er ab und zu, ob er damit seinem Rücken auf Dauer schaden würde. Machte er sich für den Rest seines Lebens zum Krüppel? Erneut fragte er sich, wie Reggie das bewerkstelligt hatte. Wieso war er so ruhig und gelassen geblieben und hatte die Nerven bewahrt, während ihn laufend Leute überraschten und ihm Fragen stellten, sogar seine eigene Frau? Vielleicht war er, im Gegensatz zu mir, verrückt, dachte Mix. Vielleicht bin aber auch ich verrückt, und er war ein gesunder, tapferer, kräftiger Mann. Kurz vor zehn Uhr hob er den letzten Spaten mit Erde heraus und setzte sich auf den kalten feuchten steinigen Boden, um auszuruhen. »Ich will nach Hause«, sagte Gwendolen. »Jetzt.« »Vermutlich kann ich dir ein Taxi besorgen.« Die Stationsschwester hatte Queenie Winthrop erklärt, ein Krankenwagen würde Gwendolen um sechzehn Uhr nach Hause bringen. »Das ist der früheste Zeitpunkt.« »Taxis sind unverschämt teuer«, meinte Gwendolen. »Und am Wochenende kosten sie noch mehr.« »Ich werde es bezahlen.« Gwendolen lachte wie immer kurz und trocken auf. Allerdings hatte in den letzten Tagen niemand sie so lachen gehört. »Ich habe noch nie von jemandem Almosen angenommen und 184 werde jetzt nicht damit anfangen. Du kennst doch sicher jemanden, der ein Auto besitzt.« »Olive ist früher gefahren, aber sie hat ihren Führerschein verfallen lassen.« »la, sehr hilfreich. Und was ist mit ihrer Nichte, dieser Frau mit dem afrikanischen Namen?« »Ach, Gwendolen, die kann ich nun wirklich nicht fragen.« »Und warum nicht? Das möchte ich wirklich gerne wissen. Sie kann höchstens Nein sagen, aber das wäre dann sehr unhöflich von ihr.«
Hazel Akwaa und ihre Tochter tranken gerade in Hazels Haus in Acton Kaffee. Besser gesagt, Hazel trank Kaffee, während Nerissa Mineralwasser mit Eis und einer Zitronenscheibe trank. Bevor das Telefon läutete, hatten sie darüber diskutiert, was Hazel heute Abend zum Essen bei Darel Jones anziehen sollte. Nerissa wollte ihrer Mutter das einzige für sie passende Kleidungsstück aus ihrem Schrank leihen, einen bestickten Kaftan aus schwerer Seide. Nerissa hörte, wie ihre Mutter sagte: »Gwendolen Chawcer vom Krankenhaus abholen? Das könnte ich erst am späten Nachmittag. Mein Mann hat den Wagen.« »Sag ihr, ich werde sie fahren«, meinte Nerissa. Also fuhren sie gemeinsam nach Paddington. Der Kaftan, den sie zuvor noch vom Campden Hill Square geholt hatten, hing in einem Kleidersack über der Rückbank. Angesichts solch wahrer Freundlichkeit wurde sogar Gwendolen umgänglich: Als ihr klar wurde, welche Umstände Menschen auf sich nahmen, um ihr einen längeren Aufenthalt im Krankenhaus zu ersparen, war sie zu Nerissa äußerst freundlich. Zum ersten Mal verkniff sie sich in der Gesellschaft einer jungen Frau Bemerkungen über deren enge Jeans, die Farbe und Länge ihrer Fingernägel, das tief dekolletierte Hemd und die hohen Absätze. Stattdessen meinte sie lächelnd, es sei wirklich äußerst auf 185 merksam von Nerissa, dass sie ihren Samstagvormittag opfere, um »ein steinaltes Geschöpf wie mich zu transportieren«. Punkt zwölf Uhr standen sie vor St. Blaise House. Obwohl man Queenie Winthrop nicht um ihre Begleitung gebeten hatte, hatte sie sich ihnen angeschlossen. Die ganze Fahrt über schilderte sie Gwendolen ausführlich und sehr bissig ihren Versuch, ins Haus zu gelangen, um letzte Vorbereitungen für die Rückkehr seiner Besitzerin zu treffen. »Selbstverständlich hatte ich einen Schlüssel. Doch dann musste ich feststellen, dass man die Haustür vor mir verriegelt hatte. Jawohl, verriegelt. Und das erschien mir nun doch merkwürdig. Man sollte es nicht glauben. Vielleicht macht diesen Mr. Cellini das Alleinsein in diesem Haus nervös. Sicheres weiß ich nicht, außer dass oben und unten verriegelt war. Ich habe geläutet und geläutet und an die Tür getrommelt und mit dem Briefkastendeckel geklappert. Als alles nichts nützte, habe ich hinaufgesehen und ihn gerade noch dabei ertappt, wie er sich duckte. Und an welchem Fenster stand er? Gwendolen, du wirst es nicht glauben. An dem mittleren Fenster im ersten Stock, das auf die Straße hinausgeht. An deinem
Schlafzimmerfenster. Ich bin mir fast hundertprozentig sicher. Was hältst du davon?« »Möglicherweise hätte ich dazu eine Meinung, wenn du dir absolut sicher wärst, doch das bist du nicht. Oder?« Queenie gab keine Antwort. Manchmal ging Gwendolen wirklich ein wenig zu weit. Mit kühler, beleidigter Miene half sie ihr beim Aussteigen, war aber nicht überrascht, dass Gwendolen ihren Arm abschüttelte, als sie sich der Haustür näherten, und ihren eigenen Schlüssel ins Schloss steckte. Obwohl sie über Queenies Bericht über Mix Cellinis Benehmen gespottet hatte, hatte sie insgeheim damit gerechnet, die eigene Haustür verriegelt vorzufinden. Während sich der Schlüssel drehte, dachte sie an den scharfen Tadel, den sie ihm entgegen 186 schleudern wollte, gekrönt von einer sofortigen Kündigung. Aber die Tür glitt ohne weiteres auf. Alle gingen hinein und zogen ihre Mäntel aus. Während sie durch die Diele auf die Tür zum Salon zuschritten, kam aus der Küche Mix daher. Obwohl er sein Unternehmen vor einer halben Stunde abgeschlossen hatte und nur noch einmal zurückgegangen war, um zu prüfen, dass er keinerlei belastendes Beweismaterial hinterlassen hatte, beunruhigte ihn ihr frühes Erscheinen ungemein. Nerissas Anblick löste in ihm riesige Begeisterung, aber auch Bedenken aus, und er blieb direkt vor Gwendolen wie angewurzelt stehen. Ohne Nerissa hätte er flüchtig gegrüßt, wäre an ihnen vorbeigegangen und hätte sich mühsam mit der Hand im schmerzenden Rücken die Treppe hinauf gequält. Er war drauf und dran, alle anderen zu ignorieren und sich für Nerissa die liebenswürdigsten Worte auszudenken, da ergriff Gwendolen das Wort. »Was haben Sie in meiner Küche gemacht?« Mix hatte sich seit frühester Kindheit mit Lügen und Ausreden aus der Patsche gezogen und ging immer mit einer vorbereiteten Entschuldigung in die Defensive. »Ich wusste ja, Sie würden heute heimkommen. Da dachte ich mir, ich mache Ihnen eine Tasse Tee. Deshalb wollte ich den Wasserkessel und die Teetassen vorbereiten.« »Sehr aufmerksam«, sagte Gwendolen, die ihm kein Wort glaubte. »Darum wird sich eine meiner Freundinnen kümmern.« Damit war Mix entlassen, das wusste er genau. Er musste unbedingt mit Nerissa sprechen, bevor er wieder nach oben ging. Sie sah ihn mit einem schmalen Lächeln an. »Miss Nash, die Aufnahme von Ihnen in der gestrigen
Abendausgabe des »Standard« war wirklich super«, sagte er. »Sie hätten nicht zufällig einen Abzug, den sie für mich signieren könnten?« 187 »Das war ein Pressefoto.« Ihre Stimme klang gedrückter als vorher. »Das wird einfach geschossen. Davon bekommt man keine Abzüge.« »Schade.« Ehe sich Mix von ihr verabschiedete, war er entschlossen, sein Sprüchlein aufzusagen, das er für genau solche Gelegenheiten einstudiert hatte. »Miss Nash, Sie sind die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Sie sehen aus der Nähe genauso schön aus wie von weitem.« Er drückte sein Gesicht ganz nahe an ihres heran und meinte: »Noch schöner.« Dann wankte er nach oben, wobei er sich verzweifelt bemühte, seine Schmerzen unter keinen Umständen zu zeigen. Gwendolen hatte keine Lust, sich das alles anzuhören, und war ohne Queenie Winthrops physische Stütze, aber unter deren wachsamen Blicken in den Salon gegangen. Hazel Akwaa platzte beinahe vor Zorn. Am liebsten wäre sie Mix nachgerannt und hätte ihn beschimpft, aber Nerissa hielt sie am Arm zurück und sagte: »Nein, Mama, tu's nicht. Vergiss es.« »Wie kann er es wagen, solche Sachen zu dir zu sagen?« Hazel sprach so laut, dass es sogar noch Mix hören konnte, der inzwischen im ersten Stock angelangt war. »Mama, ich bin doch nicht die Queen. Er muss nicht erst um Erlaubnis ersuchen. Ich muss wirklich dumm sein. Mir war nicht klar, dass er tatsächlich hier wohnt. Ich meine, ich weiß ja, wir haben ihn damals draußen getroffen. Trotzdem habe ich nicht kapiert, dass er in diesem Haus lebt.« »Ich bedaure, dass Sie das alles unter meinem Dach erleben mussten«, meinte Gwendolen zu Nerissa, als diese mit ihrer Mutter den Salon betrat. Inzwischen klang ihre Stimme nicht mehr verbindlich. Ihrer Ansicht nach hatten Nerissa und Mix gemeinsam Schuld an diesem unerwarteten Ausbruch. Am liebsten wäre es ihr gewesen, alle diese Menschen würden verschwinden. Sie hatten keinen Anlass mehr, länger zu verweilen. Schließlich war sie jetzt wieder zu Hause. Obwohl 187 sie Nerissas freundliche Geste zu würdigen wusste, war sie leicht gereizt. Gwendolen hatte ihre verordneten Medikamente und Vitamine, sie war nicht hungrig und sehnte sich nur noch danach, sich aufs Sofa zu legen und die Post zu öffnen, die Queenie aus der Diele hereingebracht hatte. Darunter würde sich mit Sicherheit ein Brief von Stephen Reeves befinden. Sie war sehr müde
und wollte ihn noch unbedingt lesen, ehe sie der Schlaf übermannte. Nerissa war die Einzige, die erkannte, wie abgespannt Gwendolen war, und drängte ihre Mutter und Queenie sanft hinaus. Dabei konnte es sich Queenie nicht verkneifen, Gwendolen beiläufig zuzurufen, sie müsse sich noch unbedingt ansehen, was für einen Frühjahrsputz sie und Olive der Küche hatten angedeihen lassen. Bevor Gwendolen ihr Buch aufschlug, dachte sie daran, dass sich heute der erste Hausbesuch von Stephen Reeves bei ihrer Mutter jährte. Er war nach unten gekommen und hatte gemeint: »Es ist traurig, wenn man mit ansehen muss, dass die alten Leutchen so verfallen.« Sie hatte ihm Tee und eine Auswahl vom frisch gebackenen Kuchen angeboten. Er hatte so hungrig ausgesehen. Nerissa hatte sich über Mix' ungebetene Komplimente und sein aufdringliches Verhalten mehr aufgeregt, als sie sich anmerken ließ. Sie hatte sich ungemein bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren. Schließlich war die arme Miss Chawcer nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus eben erst wieder nach Hause gekommen. In einer solchen Situation wollte sie keine Schwierigkeiten machen. Aber kaum hatte sie ihre Mutter und Mrs. Winthrop nach Hause gefahren und war wieder in ihrem eigenen Haus, konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie redete sich gut zu: Dieser Mann hatte ihr doch nur gesagt, dass sie schön sei, und war ihr dabei etwas zu nahe gekommen. Es war vergebens. Sie brach weinend zusammen. 188 Die Tränen wirkten befreiend und heilsamer als jeder Versuch, sich zusammenzureißen. Außerdem war sie zu jung, um bleibende Spuren auf ihrem Gesicht zu befürchten. Sie rief in ihrem vertrauten Schönheitssalon an und vereinbarte einen Termin für Friseur, Gesichtsmassage und Maniküre. Gerade als sie das Haus verlassen wollte, fiel er ihr wieder ein. Mit einem Blick durch eines der Vorderfenster wollte sie sich vergewissern, ob weiter unten am Hügel das blaue Auto parkte. Das Kennzeichen kannte sie mittlerweile auswendig, auch wenn sie es nie notiert hatte. Weit und breit war nichts von ihm zu entdecken. Trotzdem lief sie nervös zu ihrem Wagen. Erst als sie im Salon war und man ihr die Haare wusch, entspannte sie sich allmählich. Während ihr Kopf von außen eine warme Dusche bekam, drehten sich hinter der Stirn weiter die Gedanken um ihn: Was wollte er wirklich von ihr? Dass sie mit ihm ausgehen sollte. Sie ermahnte sich, nicht so elitär zu denken. Ein kompliziertes Wort, das sie diesmal sicher richtig verwendet hatte. Vielleicht sollte sie nicht so snobistisch
sein, dazu hatte sie, weiß Gott, keinen Grund. Sie stammte aus keiner bedeutenden Familie, auch wenn ihre Großmama Anspruch auf den Rang einer Häuptlingstochter erhob. Er - sie wusste nicht einmal seinen Namen hatte wahrscheinlich eine bessere Erziehung genossen als sie und ging einer vernünftigen Tätigkeit nach. Er hatte ihr nichts getan. Warum also fürchtete sie ihn so sehr? Ein Mann hatte ihr einmal gesagt, sie besitze eine tiefe weibliche Intuition. Vielleicht zu Recht, denn sie witterte etwas Hässliches an ihm, das fast böse wirkte. Diese Ausstrahlung war besonders deutlich geworden, als er sie physisch bedrängt hatte. Mit wie tot wirkenden Augen und ausdrucksloser Miene hatte er ihr Komplimente über ihre Schönheit gemacht. Wie könnte sie ihn loswerden und dafür sorgen, dass er ihr garantiert nie wieder zu nahe trat? Wenn ihr doch nur etwas einfiele ... 189 Nico kam mit Föhn und Haarbürste auf sie zu. Sie drehte den Kopf und schenkte ihm ihr wunderbares Lächeln, das alle Herzen schmelzen ließ. Mix saß in seiner Wohnung und las »Ein außergewöhnlicher Mörder«. Schon bald stieß er auf eine Abbildung, die Christie von vorne zeigte. Dabei fühlte er sich wieder an den Geist erinnert. Er legte das Buch weg. Bevor er mit seiner Lektüre begonnen hatte, hatte er gehört, wie Nerissa - sie war ja so nett und freundlich und lieb gewesen - mit Oma Winthrop und ihrer Mutter, diesem alten Miststück, wegfuhr. Wie kam eine solche Frau zu so einer wunderbaren Tochter? Das war ihm unbegreiflich. Wie sie über ihn geredet hatte, während er nach oben gegangen war! Wenn er erst einmal mit Nerissa ausginge, oder wenn sie - noch besser - verheiratet wären, dann, ja dann würde er sich rächen. Er würde seine Frau dazu bringen, sie aus dem Haus zu weisen. Und heiraten würden sie, davon war er inzwischen felsenfest überzeugt. Er war ihr so nahe gekommen, dass er sie hätte küssen können, und sie war nicht zurückgewichen. Sie genoss es, wenn man ihr sagte, wie schön sie sei, natürlich tat sie das. Morgen würde er zu Fuß zu ihr gehen, sich draußen postieren und auf sie warten. Liebend gern hätte er ihr ein Ständchen gebracht. Schade, dass er nicht singen konnte. Mix merkte, wie sehr sich sein Selbstvertrauen seit der erfolgreichen Entsorgung dieser Mädchenleiche gesteigert hatte. Nachdem ihm dies trotz enormer Schwierigkeiten gelungen war, hatte es fast den Anschein, als wäre er zu allem imstande. Selbstverständlich hatte er nicht vorsätzlich gemordet, von Mord konnte hier keine Rede sein, nicht einmal von Totschlag. Das hier war lediglich ein »Tötungsdelikt mit mangelnder Schuldfähigkeit«. So nannte
man das, wenn sich herausstellte, dass man unter Zwang gehandelt hatte. Was aber, wenn er sich zu einem zweiten Mord gezwungen sähe? Kom 190 pliziert war die Sache nun wirklich nicht. Eines wusste er jedenfalls: Heute Nacht würde er gut schlafen. Seine Probleme waren gelöst. Im Nachhinein fragte er sich jetzt, warum sie ihm so unüberwindlich erschienen waren. Er und nur er hatte sich ihnen gestellt und sie gemeistert. Und sie hatten sich buchstäblich in Rauch aufgelöst. Sein Rücken war besser. Noch zwei Ibuprofen und die Beine hochgelegt - so etwas wirkte Wunder. Und der Geist? Der war noch nie hier drinnen gewesen. Solange er sich vor einem Blick in die Gänge oder vor einem Besuch in jenem besagten Zimmer hütete, hatte er gute Chancen, ihn nie wieder zu sehen. Selbstverständlich würde er hier ausziehen müssen, was angesichts seiner Investitionen in diese Wohnung wirklich schade war. Damit würde er zwar der alten Chawcer ein nettes Zubrot schenken, aber das ließe sich nun mal nicht ändern. Ihr Profit würde allerdings deutlich geringer ausfallen, sobald der nächste Mieter oder die nächste Mieterin hier oben gänzlich unerwartete Dinge sah. Die Wünschelrutengänger schlenderten in Reih und Glied angeregt plaudernd durch eine Kilburner Seitenstraße zu einem kleinen Platz hinunter, unter dem angeblich seit uralten Zeiten ein Bach floss. Das Gespräch drehte sich um vertraute Themen wie Astrologie, Kartenlegen, Exorzismus, Numerologie, das Tarot, Ailurophilia, Hypnotismus, den Astaroth-Kult und Kobolde. Es war noch zu früh, um die Wünschelruten hervorzuholen. Normalerweise sicherte sich Shoshana auf solchen Spaziergängen die Begleitung eines weiblichen Wesens, einer Hexe oder einer Wahrsagerin. Heute ging sie allein. Das Dilemma mit Mix Cellini wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Nach zehnminütigem Grübeln entschied sie sich, Rat zu suchen. Sie ließ sich ans Ende der Zweierreihe zurückfallen, wo die Hexe sie einholte. 190 Die Hexe war eine alte Bekannte, der Shoshana bereitwillig ihr Problem schilderte, ohne dabei Namen zu nennen. »Hekate, was soll ich tun? Was meinst du?« Eigentlich hieß die Hexe gar nicht Hekate. Ihre katholischen Eltern hatten sie auf den Namen Helena taufen lassen. Aber Hekate klang eben magischer und düsterer und beeindruckte ihre gebildeteren Kunden, die den Ursprung dieses Namens kannten.
»Ich könnte mir für dich einen Zauberbann ausdenken«, sagte sie, »selbstverständlich zum Sonderpreis. Ich hätte da etwas Neues anzubieten. Der Betroffene bekommt davon Schuppenflechte.« »Klingt gut. Allerdings habe ich praktisch schon zwei Möglichkeiten vorbereitet, und die will ich nicht vergeuden. Ich meine, ich will nicht gleich alle beide vergeuden.« »Ich verstehe, was du meinst«, sagte Hekate. »Also, in der nächsten Minute stehen wir über der unterirdischen Wasserader. Lass mich doch einfach mal darüber nachdenken. Ich melde mich dann am Montag bei dir.« »Na schön, aber mach so schnell, wie's geht. Ich möchte nicht, dass die Spur kalt wird.« »Montag früh schicke ich alles per E-Mail«, sagte Hekate. Die Wohnung war größer, als Nerissa erwartet hatte, und sehr ordentlich. Manchmal hatte ihr eigenes Haus Ähnlichkeit mit den Einrichtungen in einem jener Hochglanzmagazine, die sie beim Zahnarzt las, allerdings nur, wenn sich Lynette zuvor drei oder vier Stunden damit beschäftigt hatte, und selbst dann nicht lange. Die Tür zum Esszimmer stand offen. Dahinter sah sie einen sorgfältig dekorierten Tisch mit Gedecken für acht Personen und dazu noch Blumen und Kerzen. Bisher hatte noch keiner ihrer Freunde in diesem Stil Gäste bei sich zu Hause bewirtet. Wohlhabend waren alle gewesen, 191 manche sogar sehr reich, aber in allen Häusern oder Wohnungen hatte die gleiche Unordnung geherrscht wie bei ihr. Alkoholisches, Zigaretten und andere Mittel zur Bewusstseinserweiterung hatte es in Hülle und Fülle gegeben, und doch hatte sie dort nie einen gedeckten Tisch gesehen, nicht einmal etwas Essbares auf einem Tablett. Allerdings, und das musste sie sich traurigerweise immer wieder ins Gedächtnis rufen, war Darel nicht ihr Freund und würde es vermutlich auch in Zukunft nicht sein. Als Gastgeber besaß er Stil. Dass Männer sie herauspickten und ungewöhnlich zuvorkommend behandelten, daran war Nerissa gewöhnt, auch wenn sie genau das immer in Frage gestellt hatte. Ihr war klar, dass man sie als unbekannte Frau von unscheinbarem Äußeren weitgehend ignoriert hätte. Darel behandelte alle Frauen gleich höflich und aufmerksam, sie, seine Mutter, ihre Mutter und Andrews Frau. Aber diese Tatsache irritierte sie nicht, im Gegenteil. So sollte man sich eigentlich in Gesellschaft benehmen, das spürte sie ganz genau. Und doch merkte sie, dass er ziemlich oft Augenkontakt mit ihr suchte und sie immer anlächelte, auch wenn er auf der anderen Seite des Zimmers Gläser nachfüllte oder sich ums Essen kümmerte.
Auch als er ihr beim Eintreffen den Mantel abnahm, spürte sie deutlich seine bewundernden Blicke, auch wenn er ihr keine Komplimente wegen ihrer Hochsteckfrisur und wegen ihres eng anliegenden rot-goldenen Kleides machte. Heute Abend würde sie beim Essen ihre strikte Disziplin vergessen und nichts zurückgehen lassen. Schließlich wollte sie seinen Kochkünsten gebührend Tribut zollen. Im Hintergrund spielte ganz leise Musik, klassische Musik, die ihr gefiel, auch wenn sie immer behauptete, diese Musik würde sie nicht verstehen. Kein pochender Rhythmus dominierte diese sanften Melodien. Mit Ausnahme von Einladungen in ihrem Elternhaus war das die erste Party, auf der nie 192 mand zu viel trank, keiner mit einer fremden Person in einem Schlafzimmer verschwand, niemand mit schicken zynischen Schlagwörtern um sich warf und die Sprache nicht ins Obszöne abglitt. Themen aus dem langweiligen Alltagsleben oder über den Immobilienmarkt kamen nicht zur Sprache. Ihr Bruder und ihre Schwägerin waren Anwälte und erzählten über die neuesten Gerichtsfälle. Dann leiteten sie zum Aktienmarkt über, neben Politik eines von Darels Lieblingsthemen. Zum Irak-Krieg hatte jeder eine andere Meinung, die aber nie streitsüchtig geäußert wurde. Als Schulleiter vertrat Mr. Jones gut begründete, radikale Ansichten zum Thema Erziehung und Bildung. Ein wenig vermisste Nerissa den Klatsch und Tratsch, und doch schätzte sie es, dass man sich nach ihren Ansichten erkundigte. Und dass man sie nicht als hohlköpfiges Model behandelte, das lediglich sein Aussehen und sein Geld vorzuweisen hatte, freute sie ungemein. Nur ein einziges Mal fühlte sie sich nicht ganz wohl in ihrer Haut. Andrew erwähnte einen Fall, in dem er eine Wahrsagerin angeklagt hatte. Alle Anwesenden verdammten Wahrsagerei und auch die Astrologie als puren Blödsinn, wenn auch mit wohlgesetzten, höflichen Worten. Darel bezog dabei besonders scharf Position. Nerissa sagte kein Wort. Sie wollte nicht die Einzige sein, die die einzelnen Tarotkarten namentlich kannte und sich tat-sächlich die Zukunft hatte vorhersagen lassen. Trotzdem war es ihr ein Rätsel, warum Darel sie eingeladen hatte. Und doch sah sie in ihrem Besuch einen Auftakt zu etwas anderem. Sicher käme am Ende des Abends die Aufforderung zu einer Fortsetzung. Und dann würde sie versuchen, sich mehr in eine jener Frauen zu verwandeln, die er schätzte. Sie würde lernen, mehr Ordnung und System in ihr Leben zu bringen, würde mehr lesen, damit sie besser verstehen könnte, worüber Leute wie Herr und Frau Jones sich unterhielten, und sich so wie diese ausdrücken könnte. Sie würde sich ein
193 paar CDs mit klassischer Musik besorgen und keinen Hip-Hop mehr spielen und auch nicht diesen lächerlichen Song vom hübschesten Mädchen in der ganzen Stadt. Ihre Eltern brachen als Erste auf, Darel begleitete sie bis zum Eingang. Durch die geschlossene Tür drang kein Ton von der Unterhaltung draußen in der Diele ins Esszimmer, das war Nerissa aufgefallen. Man hörte lediglich, wie Darel laut Auf Wiedersehen rief und die Wohnungstür ins Schloss fiel. Auch ihren Bruder und ihre Schwägerin ließ sie noch gehen, obwohl sie ganz genau wusste, dass sie nicht als Letzte gehen durfte, auch wenn sie es liebend gern getan hätte! Sie war in Darel Jones verliebt, davon war sie überzeugt, denn schließlich war sie noch nie verliebt gewesen. Obwohl er sie nie geküsst hatte und ihre einzige Berührung ein Händeschütteln gewesen war, wusste sie, dass sie ihr restliches Leben mit ihm verbringen wollte. Wie konnte sie nur jede wache Minute an ihn denken, ohne dass die geringste Aussicht bestand, dass ihre Liebe erwidert würde? Ihr war ein düsteres Schicksal bestimmt. Und trotzdem - gab es nicht doch noch einen Funken Hoffnung? Fünf Minuten nach ihrem Bruder stand sie auf, verabschiedete sich höflich, aber durchaus selbstbewusst von Mr. und Mrs. Jones und verließ das Zimmer, gefolgt von Darel, der hinter sich die Tür zum Wohnzimmer schloss. Diese Geste löste in ihr ein erwartungsvolles Kribbeln aus. Er holte ihren Mantel und half ihr höflich hinein. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass bis zum Abschiedsgruß Schweigen herrschen würde, aber dann fragte er: »Hat dir dieser Typ, der dir nachgegangen ist, noch mal Schwierigkeiten gemacht?« »Nicht direkt«, sagte sie und dachte: Warum sollte ich gerade ihn anlügen? »Nun, eigentlich schon. Heute. Ich möcht's gar nicht näher erzählen. Das ist eine lange Geschichte. Ja, er hat mich angesprochen. Eigentlich ist er mir ziemlich nahe ge 193 treten und hat solche Sachen gesagt. Ach, nichts Schlimmes, nur Komplimente.« »Ich verstehe.« Nachdenklich schwieg er. »Wenn so etwas noch mal passiert, rufst du mich dann an? Egal, was passiert. Hier ist meine Karte mit meiner Handynummer. Machst du das?« »Aber du bist doch so weit weg.« »So weit nun auch wieder nicht, außerdem bin ich ein schneller Autofahrer. Ruf mich einfach an, auch wenn es Nacht sein sollte. Dabei brauchst du dir nichts zu denken.«
»In Ordnung«, sagte sie. »Auf Wiedersehen. Vielen Dank für die Einladung, es war sehr nett. Du bist ein ausgezeichneter Koch.« »Gute Nacht, Nerissa.« Bevor Shoshana am Sonntagabend ins Bett ging, überprüfte sie ihre E-Mails. Sie hatte nur eine neue. Darin stand: Shoshana: Nach reiflicher Überlegung halte ich es für das Klügste, wenn du deinen Plan umsetzt und bei seinem Geschäftsführer anrufst. Durch Teratomantie wurde mir der Name dieses Individuums enthüllt: Desmond Pearson. Außerdem habe ich für dich einen Zauberbann ersonnen, den ich nicht online zu schicken wage, sondern per Schneckenpost. Er ist ungemein wirksam und führt bei dem Betreffenden zu Verkrampfungen im Rückenmark. Der Bann hält bis zu einer Woche an, könnte aber auch wiederholt werden. Mit besten Grüßen aus dem Schattenreich Hekate Sehr befriedigend. Morgen würde sie in aller Frühe - das heißt, so gegen zehn Uhr, denn solche Herrschaften fangen erst um diese späte Stunde zu arbeiten an - bei Desmond Pearson anrufen und ihm mitteilen, Mix Cellini habe mit ihr einen Privatvertrag abgeschlossen und damit gegen die Regeln seiner 194 Firma verstoßen. Und sobald der Zauberbann eingetroffen wäre, würde sie sich überlegen, wie man ihn am wirkungsvollsten einsetzen könnte. Ihr fiel immer etwas ein, diesbezüglich war sie ein Naturtalent. 194
20 Vielleicht war der Untermieter zu Hause, vielleicht auch nicht. Zum ersten Mal hatte Gwendolen keine Ahnung. Sie war zu schwach, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, und zu schläfrig, um sein Kommen und Gehen zu belauschen. Dieser Unfug heute Morgen hatte sie restlos mitgenommen. So unbeherrscht wie diese jungen Leute hatte sie sich nie benommen. Am besten wäre es gewesen, wenn alle gleich wieder gegangen wären, nachdem sie sie heimgebracht hatten. Dann würde sie sich jetzt viel besser fühlen und nicht so schwach wie ein junges Kätzchen. Apropos Kätzchen. Unter den wenigen Briefen, die in der Zwischenzeit für sie eingetroffen waren, hatte sich das Schreiben eines gewissen Mr. Singh befunden, worin er sich beklagte, Otto habe seine beiden Perlhühner getötet und gefressen. Da er von Natur aus ein friedliebender Mensch sei, schrieb er, wolle er »die Sache auf sich beruhen lassen«. Er wolle sie lediglich über den »zielgerichteten Jagdinstinkt« ihres »wilden Haustiers« informiert haben. Er habe mittlerweile zwei Gänse erworben, die diesem »ornithophagen Untier« durchaus gewachsen seien. Gwendolen waren Perlhühner und eigentlich auch Otto herzlich egal. Sie
registrierte lediglich grimmig den Kontrast zwischen diesem außergewöhnlich gebildeten »Eingeborenen«, der gekonnt mehrsilbige Wörter einsetzte und fehlerfrei schrieb, und dem primitiven Englisch der heutigen Generation. Sogar sie war nicht ganz sicher, ob »ornithophag« ein anderes Wort für »Vogelfresser« war. Die restliche Post bestand aus der Stromrechnung, der Spei 195 sekarte eines vietnamesischen Lokals mit Straßenverkauf und einer Einladung zur Eröffnung eines Geschäfts in der Bond Street. Von Stephen Reeves war nichts dabei. Vielleicht machte er Ferien und war verreist. Er war schon immer viel unterwegs gewesen, und daran hatte sich sicher nichts geändert. Nie würde sie vergessen, wie er seine Flitterwochen genossen hatte, während sie auf seine Rückkehr wartete und wartete. Das würde sie nicht einmal dann vergessen, wenn sie endlich ein Paar wären. Wahrscheinlich würde er heute oder morgen von seinem unbekannten Reiseziel zurückkehren. Nach einem Schläfchen hatte sie ihre Küche inspiziert und erbost die neue Ordnung registriert. Was erlaubten sich die beiden eigentlich? Räumten einfach in ihrem Haus auf. Jetzt würde sie nichts mehr wiederfinden. In dem einen Schrank standen sämtliche Konservendosen, während der andere nur Bürsten und Staubtücher enthielt. Irgendjemand hatte die Staubtücher gewaschen und von dem Schmutz befreit, der sich im Laufe der Jahre darauf angesammelt und die gelbe Farbe so schön hatte ergrauen lassen, bis sie schließlich ein einheitliches Dunkelbraun angenommen hatten. Jetzt waren sie wieder mehr oder weniger gelb. Angewidert warf sie die Schranktür zu. Und was war aus all den Sachen geworden, die sie im Waschhaus aufbewahrte? Die Glühbirne in der Deckenleuchte hatte ihren Geist aufgegeben, aber sie würde jetzt nicht hinaufklettern und sie austauschen, nicht in ihrem momentanen Gesundheitszustand. Das könnten Olive oder Queenie morgen erledigen. Sie suchte ihre Taschenlampe, die eigentlich im Kühlschrank hätte liegen sollen. Dort könnte sie sie sehen, sobald beim Öffnen der Kühlschranktür das Licht anging. Leider befand sich die Taschenlampe nicht an ihrem angestammten Platz. Nach einer anstrengenden Suche entdeckte sie sie endlich neben mehreren Dosenöffnern, einem Schraubenzieher und der Schuhputz195 Schachtel in einem Regal. Typisch Olive und Queenie und ihr Ordnungsfimmel. Im Halbdunkel hob sie den Deckel vom Waschkessel, der früher jede Menge Kleidungsstücke enthalten hatte, die ihre besten Tage
schon hinter sich hatten. Trotzdem konnte man sie immer noch zerreißen und für Putzlumpen oder zum Abdichten des Waschbeckens verwenden, dessen Stöpsel schon vor Jahren brüchig geworden war. In ihrer selbstherrlichen Art hatten Olive und Queenie alles in Bausch und Bogen entsorgt. Sie richtete den Lichtstrahl ins Innere, sodass man bis auf den Grund sehen konnte. Was lag denn dort unten auf dem Boden? Wahrlich ein mysteriöses Objekt. Zuerst hielt sie es für eine Schleuder, eine Art Waffe, wie sie David gegen Goliath eingesetzt hatte. Das hatte man ihr in der Sonntagsschule beigebracht. Sie wusste es noch ganz genau. Ein Bruchband? Dafür wirkte es nicht kräftig genug. Vielleicht ein Suspensorium? Aber dazu fehlte ein irgendwie geartetes Säckchen. Nach mehreren Versuchen gelang es ihr, das Objekt mit Hilfe eines mit einem Haken bewehrten Stabes herauszufischen, der ursprünglich zum Öffnen eines Oberlichts gedacht gewesen war. Sie würde es Olive oder Queenie zeigen. Einer von ihnen musste dieses Ding gehören. Erschöpft von ihrer Erkundungstour ging sie ins Bett und schlief traumlos bis zum anderen Morgen. Nerissa wollte den Sonntag mit Freunden verbringen, die in Marlow ein Haus mit Blick auf den Fluss besaßen, und war mit Rodney weggefahren. Zehn Minuten später trudelte Mix zu Fuß ein. In einer Zeitschrift hatte er gelesen, der Filmstar Ramon Novarro habe sich in den dreißiger Jahren fit gehalten, indem er jeden Tag anderthalb Kilometer zu Fuß durch Hollywood spazierte und dabei seinen Nabel möglichst fest Richtung Wirbelsäule presste. Mix machte es ihm auf dem ziemlich langen Weg - mindestens anderthalb Kilometer - von der 196 St. Blaise Avenue über den Ladbroke Grove und die Holland Park Avenue bis zum Campden Hill Square nach. Dabei spürte er deutlich ein Stechen in seinem Rücken. Im Vergleich zu den Höllenqualen, die er gestern Nacht ausgestanden hatte, war das aber gar nichts, und so versuchte er, den Schmerz zu ignorieren. Draußen parkte ihr Wagen. Gut. Er hatte schon befürchtet, er sei zu spät aufgebrochen und sie wäre bereits weg. Eine gute halbe Stunde trieb er sich auf dem Platz herum und lief hin und her. Die Milch wurde geliefert und stand in der prallen Sonne auf der Haustreppe. Vermutlich rechnete sie damit, dass der Wind das Getränk kühlte. Hatte sie die Zeitung bereits hereingeholt? In dem Moment legte sie der Austräger neben die Milch auf den Fußabstreifer.
Jemand könnte die Zeitung mitsamt der Milch stehlen. Sie würde es ihm danken, wenn er läutete und ihr die Milchtüten und die dicke Sonntagsausgabe überreichte. Vielleicht dürfte er sie ihr nicht nur aushändigen, sondern sogar hineintragen. In dem Fall müsste sie eigentlich zwangsläufig fragen, ob er noch auf einen Kaffee bleiben möchte. Vermutlich wäre sie noch nicht richtig angezogen, sprich im Negligé, wie es so schön hieß. Er malte sich aus, wie sie in einem Babydoll unter einem durchsichtigen Morgenmantel vor ihm stand. Mit diesem Bild im Kopf stapfte er entschlossen zu ihrer Tür hinauf und läutete. Keine Antwort. Er drückte sein Ohr gegen die Sprechanlage. Stille. Er läutete noch einmal. Sie war nicht da. Sicher war sie zu Fuß weggegangen, vielleicht zum Joggen, oder sie war irgendwohin mit dem Zug gefahren. Er war bitter enttäuscht. So nah und doch so fern, sagte er sich, während er die Stufen wieder hinunterging. Trotzdem trieb er sich noch eine Weile in der Nähe herum. Vielleicht käme sie doch noch vom Laufen zurück. 197 Geschlagene zwei Stunden ging niemand joggen. Er würde es morgen wieder versuchen. Doch dann fiel ihm auf dem Rückweg ein, dass er gut daran täte, morgen zur Arbeit zu gehen. Außerdem hatte er nie im Büro der Geschäftsleitung angerufen und sich für Freitag krankgemeldet. Eigentlich hatte er weder telefoniert noch die Nachrichten auf seinem Handy oder seinem Anrufbeantworter überprüft. Selbstverständlich war so etwas auch unwichtig. Wenn er sich nach all den Jahren als Kundendienstmitarbeiter nicht einen Nachmittag einfach freinehmen konnte, ohne gleich wie ein blutiger Anfänger vor seinen Vorgesetzten auf dem Bauch zu kriechen, wer dann? Er rechnete damit, dass ihm mindestens eine der Kundinnen, die er am Freitag versetzt hatte, eine Nachricht hinterlassen hatte. Es stellte sich heraus, dass alle drei angerufen hatten. Eine hatte enttäuscht um einen neuen Termin gebeten, die andere war stocksauer gewesen und die dritte hatte gedroht, sich eine neue Firma zu suchen. Keine Nachricht von der Geschäftsleitung. Kein Ton von Jack Fleisch. Es hätte ihn sehr gewundert, wenn sich Mr. Pearson persönlich um ihn bemüht hätte, aber auch er hatte nichts hinterlassen. Zweifellos hatte er es für klüger gehalten, ein erstklassiges Firmenmitglied wie Mix, einen so erfahrenen und effizienten Mitarbeiter nicht noch einmal abzumahnen. Wie immer war es noch sehr schön und warm geworden. Die Gänse des Inders betrieben unter einer Palme im Sonnenschein gegenseitig Gefiederpflege. Dies war der einzige Baum im Garten, den Mix identifizieren
konnte. Er kannte ihn von einer Abbildung in der Bibel seiner Großmutter. Wo war eigentlich diese Bibel gelandet? Er hatte keine Ahnung, er erinnerte sich nur an diese Abbildung. Es sah aus, als stünde die Palme schon seit vielen Jahren an diesem Platz, lange vor dem Einzug des indischen Ehepaares. Mix war verblüfft, dass sie all 198 die Winter überlebt hatte, denn schließlich war es in Notting Hill deutlich kälter als in Jerusalem. Bis heute Vormittag war sie ihm noch nie aufgefallen. Allerdings hatte er auch noch nie so intensiv den Garten beobachtet wie jetzt. Seiner Ansicht nach stachen die beiden frisch umgegrabenen Stellen sehr ins Auge, sein erster Grabungsversuch, wo er sich dem harten Boden hatte beugen müssen, und die zweite Stelle, die er für Danilas letzte Ruhestätte ausgewählt hatte. Doch dagegen konnte man nichts machen. Er musste warten, bis wieder Unkraut darüber gewachsen war, und er wusste nicht, wie lange so etwas dauerte. Wenn er mehr Zeit gehabt hätte, hätte er tiefer gegraben. Ihre Leiche lag nur knapp einen Meter unter der Erde, und das beunruhigte ihn ein wenig. Eigentlich war es sogar noch weniger. Sie war zwar dünn gewesen, aber wenn man auf der Höhe ihres Brustkorbs graben würde, wären es höchstens ein paar Zentimeter. Andererseits -wer sollte schon hier nachsehen? Seines Wissens ging die alte Chawcer nie hier heraus, und momentan wäre so etwas noch viel unwahrscheinlicher. Oma Winthrop und Oma Fordyce hatte er nie bei einem Ausflug in den Garten erlebt. Der Alte mit dem Wintergarten von nebenan schaute vermutlich nie über die Mauer. Im Haus auf der anderen Seite gab es nur Wohnungen, aber die »Gartenwohnung« im Erdgeschoss stand seit Mix' Einzug leer. Angeblich war sie wegen Feuchtigkeit unbewohnbar. Niemand würde sich für zwei frisch umgegrabene, rechteckige Beete interessieren. Nach den Aussagen von Dr. Camps in »Der Fall Christie vom Standpunkt der Medizin und der Wissenschaft betrachtet« waren von erdbestatteten Leichen nach wenigen Monaten nur noch Skelette vorhanden. Das dauerte dann ja nicht gerade lang. Schon im kommenden Frühjahr würde sie nur noch aus Knochen bestehen. Er hatte sie im ursprünglichen Zustand liegen gelassen: 198 nackt und in das rote Betttuch gewickelt. Den Plastiksack hatte er heruntergezogen, wieder nach oben mitgenommen, sorgfältig zerschnitten und die Schnipsel in seinem Müllsack entsorgt. Den Waschkessel hatte er zweimal inspiziert, damit auch ja keine Spur zurückblieb. Obwohl es im
Waschhaus dunkel war und man nicht bis auf den Kesselboden sehen konnte, konnte er feststellen, dass dort unten kein Platz für irgendwelche Hinterlassenschaften war ... Blankes Entsetzen packte ihn. Der Tanga. Was war aus dem Tanga geworden? Plötzlich stand ihm alles wieder ganz klar vor Augen: Wie er die Ausbuchtung in seiner Hosentasche gespürt und den Tanga in den Waschkessel geworfen hatte, nachdem er die Leiche hineingehievt hatte. Und er hatte ihn hundertprozentig nie mehr herausgeholt. Also musste er immer noch dort liegen. Aber auch das ist egal, dachte er. Dort drinnen wird keiner nachsehen. Sie hatte den Deckel schon seit Jahren nicht mehr gelupft und würde es vermutlich auch nie mehr tun. Außerdem könnte er beinahe rund um die Uhr hinuntergehen und den Tanga holen. Sogar jetzt, wenn er wollte. Als er von seinem Spaziergang nach Campden Hill zurückgekommen war, hatte sie mit ziemlicher Sicherheit immer noch im Bett gelegen. Andernfalls hätte sie sich ohne Umwege auf dieses Sofa im Salon begeben. Er steckte seine Schlüssel ein und trat auf den Flur vor seiner Wohnung hinaus. Durch das Treppenhausfenster fiel strahlender Sonnenschein. Demnach versteckte sich Reggies Geist garantiert in irgendeinem dunklen Winkel. Er wollte schon die geflieste Treppe betreten, da hörte er, wie die Haustür auf- und zuging, und dann rief eine Stimme, die eindeutig Oma Fordyce gehörte: »Huhu, Gwen! Weilst du noch unter den Lebenden?« Blöde alte Schachtel. Jetzt müsste er warten, bis sie wieder weg war, und das könnte Stunden dauern. 199 Hoffentlich würde sie nicht die ganzen Treppen steigen müssen. Mit einem Stoßseufzer spazierte Olive mit ihren beiden prall gefüllten Einkaufstaschen schnurstracks in den Salon. Sie trug ihre neue schwarze Hose und eine zitronengelbe Leinenjacke, die genau zu ihrer neuen Haarfarbe passte. Erleichtert registrierte sie, dass Gwendolen aufgestanden war und auf dem Sofa lag, wenn auch noch im Nachthemd. »Ich habe dir ein paar Leckerlis mitgebracht, meine Liebe.« »Timeo Danaos et dona ferentes«, zitierte Gwendolen. »Gwen, ich kenne keinen Tim«, rief Olive unter fröhlichem Lachen, »und außerdem verstehe ich kein Wort von diesem Kauderwelsch. Wie geht's dir?« »Den Umständen entsprechend. Außerdem hättest du dich nicht um Leckerlis bemühen müssen, wie du es nennst. Ich habe keinen Appetit.« »Sei doch nicht so ein alter Brummbär. Ich versuche doch nur, dir zu helfen. Ich mache uns beiden jetzt einen Kaffee. Dauert nicht lange.«
In ihrer Abwesenheit untersuchte Gwendolen die Einkaufstaschen: Schokolade - na ja, die könnte sie wenigstens essen -, Kekse, Marzipanobst, ein grässlicher Biskuitkuchen mit künstlicher Cremefüllung. Alles in allem hatte Olive ihre Sache doch nicht so schlecht gemacht. Wenigstens gab es keine Salate und grüne Äpfel, die nach nichts schmeckten. Olive kam mit einem Tablett mit Milchkaffee und Ingwerstückchen zurück. »Du bist so dünn, du kannst so viel essen, wie du willst. Ist doch toll, oder?« »Damit willst du doch nicht sagen, du würdest Diät halten? Und das in deinem Alter?« »Ich sage immer, man ist nie zu alt, um auf sein Aussehen Wert zu legen.« »Wenn wir gerade schon beim Thema Aussehen sind. Gehört das dir?« 200 Olive musste über den Gegenstand, den man ihr in die Hand drückte, kichern. »Gwen, machst du Witze? Ist das ein Ratespiel?« »Das habe ich am Grund meines Waschkessels gefunden, in meinem Waschhaus. Gehört es dir? Und was ist das?« »Nun, Gwen, mir war klar, dass du als unverheiratete Frau über einige Dinge nicht aufgeklärt bist. Aber dass es so weit geht, hätte ich nicht gedacht.« Das war Olives Rache für viele Jahre Unhöflichkeit und Undank. »Sogar ein Kind wüsste, was das ist.« »Vielen Dank. Das war ausführlich genug. Vielleicht könntest du mir jetzt erklären, um was es sich handelt.« Diese Aufforderung brachte Olive etwas in Verlegenheit, auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Na ja, es ist - es ist eine Art - na ja, eine Art Schlüpfer. Wie ihn junge Mädchen tragen. Früher hätte ich gesagt, so etwas tragen nur ganz bestimmte Mädchen, aber die Zeiten haben sich geändert, nicht wahr? Heute ziehen so etwas auch anständige Mädchen an, ich meine, nicht nur Schauspielerinnen oder - na ja, Stripteasetänzerinnen. Du weißt schon, was ich meine.« »Oh, ich weiß ganz genau, was du meinst. Ich bin zwar durch und durch naiv und ähnle einem geistig zurückgebliebenen Kind, aber trotzdem ...« »Gwen, das habe ich doch gar nicht behauptet.« Obwohl sich Olive selbst nicht sklavisch an politisch korrekte Ausdrücke hielt, schüttelte es sie manchmal bei den Begriffen, die Gwendolen hemmungslos vom Stapel ließ. »Nein? Ich denke aber schon. Trotz meines mentalen Defizits weiß ich zufällig ganz genau, was du meinst. Sag mir ja nicht, es gehört dir. Bitte, nicht.«
Mittlerweile war Olive tatsächlich wütend. »Selbstverständlich gehört es mir nicht. Glaubst du etwa, in so etwas würde ich hineinpassen? Selbst wenn ich so - so ...« 201 »Protzig? Lüstern? Eitel?« »Ach, jetzt reißt mir wirklich der Geduldsfaden. Wenn du nicht krank wärst und nicht wüsstest, was du da sagst, wäre ich wirklich böse.« Endlich sah Gwendolen ein, dass sie zu weit gegangen war. Ein solcher Schlagabtausch forderte ihr mehr Energie ab, als sie heute aufbringen konnte. Sie trank ihren Kaffee, der ausgezeichnet schmeckte, auch wenn sie das nie laut zugegeben hätte. »Meinst du, es könnte Queenie gehören?« »Natürlich nicht. So etwas hat eine ganz junge Frau getragen. Eine Zwanzigjährige.« Sofort musste Gwendolen an Nerissa denken und damit auch an Cellini. Sie kam nach Hause, und im selben Moment spazierte er aus ihrer Küche heraus. Warum? Schließlich hatte er selbst eine Küche. »Hat eine von euch meinen Altkleidersack oben auf den Waschkessel gelegt?« »Gewiss nicht. Ich habe im Waschhaus einen Sack mit Kleidung gefunden und dort liegen gelassen, obwohl er ziemlich muffig roch, aber - schließlich geht mich das nichts an.« »Nein, wirklich nicht.« Nach dieser Bemerkung schlug Gwendolen einen liebenswürdigen Ton an. »Es war sehr nett von dir, dass du mir Schokolade und all die anderen Sachen besorgt hast. Was bin ich dir schuldig?« »Nichts, Gwen, sei nicht albern. Falls dich meine Meinung interessieren sollte, was es vermutlich nicht tut, dann hatte dieser Mr. Cellini während deines Krankenhausaufenthalts hier Damenbesuch, und die beiden haben sich an Plätzen vergnügt, wo sie eigentlich nichts zu suchen hatten. Heutzutage -na ja, eigentlich rede ich über solche Sachen nicht gern - aber die Leute heute - nun ja, also sie baden zusammen, und dabei bestünde die Möglichkeit... Verstehst du, in einem Waschkessel könnte man stehen, was man in einer normalen Badewanne nicht kann.« 201 »Ich habe keine Ahnung, was du meinst«, sagte Gwendolen. »Übrigens, ich brauchte eine leichtere Lektüre als Darwin. Könntest du, bevor du gehst, mal nachsehen, ob du »Die goldene Schale« findest? Du weißt schon, Henry James.« Er beobachtete, wie Oma Fordyce ging. Kaum war sie um die Ecke verschwunden, ging er nach unten, wobei er sich bemühte, möglichst leise
aufzutreten. Die Tür zum Salon stand offen, und er sah, dass die alte Chawcer rücklings auf dem Sofa lag und mit offenem Mund schlief. Da er für Ordnung im Haushalt, beziehungsweise das Gegenteil, einen Blick hatte, fiel ihm auf, dass die Küche in Windeseile ins übliche Chaos verfiel, obwohl das alte Mädchen erst vierundzwanzig Stunden wieder daheim war. Er war zuversichtlich, dass er den Tanga dort finden würde, wo er ihn liegen gelassen hatte. Auf Zehenspitzen schlich er ins Waschhaus und hob den Deckel zum Waschkessel. Natürlich konnte man unmöglich bis zum Boden hinuntersehen. Wie hatten die Frauen jemals das Wasser ganz herausbekommen? Vielleicht nie. Vielleicht hatte dort in den Tiefen immer eine stinkende Lake vor sich hin gedümpelt. Irgendwo musste doch eine Taschenlampe sein. Er war ziemlich sicher, dass er sie einmal mit einer Taschenlampe in der Hand gesehen hatte. Ziellos tappte er durch die Küche, sah in Schränken nach und öffnete Schubladen. Keine Taschenlampe. Stattdessen entdeckte er eine Kerze und eine Streichholzschachtel. Er befürchtete, sie könnte das Zündholz ratschen hören, und so stand er mit der brennenden Kerze in der Hand abwartend da und lauschte. Als er sicher war, dass sie sich nicht vom Sofa herunterschleppen und nach ihm suchen würde, versenkte er die Hand mit der Kerze möglichst weit in den Untiefen des Wasserkessels. Der Lichtschein genügte, um ihm die Wände zu zeigen und einen Boden, der offensichtlich aus irgendeiner 202 bläulichen Keramik bestand, und sonst - nichts. Nichts. Kein Tanga. Der Waschkessel war leer. Trotzdem hielt er weiter die Kerze hinein, als würde der Hohlraum, wenn man ihn lange genug ausleuchtete, letztlich doch noch enthüllen, dass er wider allen Erwartungen nicht ganz leer war. Er starrte hinunter. Immer wieder klappte er die Augen auf und zu, bis ihm ein Wachstropfen auf den Daumen fiel. Mit einem Satz sprang er zurück. Beinahe hätte er laut aufgeschrien. Stattdessen fluchte er leise vor sich hin, kniff die Flamme aus und legte Kerze und Zündhölzer wieder an den Platz, wo er sie gefunden hatte. Dann ging er langsam zurück, vorbei an der Salontür. Die alte Chawcer schlief immer noch. Hatte sie den Tanga gefunden? Oder eine der anderen? Dann hatten sie sicher sofort gewusst, dass er dem vermissten Mädchen gehörte, dessen Bild fast täglich in den Zeitungen stand. Erst heute hatte eine fette Überschrift gefragt: HABEN SIE DANILA GESEHEN? Droben in seiner Wohnung fragte er sich, ob er etwas tun sollte. Sollte er die alte Chawcer oder eine der anderen fragen? Andererseits wusste er sehr wohl,
wie seltsam eine solche Frage wirkte. Wie sollte er erklären, was er im Waschhaus und insbesondere am Waschkessel zu suchen hatte? Dann würde sie wissen wollen, wem dieser Tanga gehörte. Außer der Wahrheit fiel ihm keine Erklärung ein, wie der Tanga an seinen Fundort gekommen war. Vielleicht würden sie auch keine Fragen stellen. Mix konnte sich kaum vorstellen, wie andere Leute eventuell auf sein Verhalten reagierten, oder ob sie Dinge, die er für ganz normal und selbstverständlich hielt, vielleicht grundverschieden betrachteten. Trotzdem hatte er auf Grund einiger Bemerkungen der drei älteren Frauen eine leise Ahnung davon, dass ein so eindeutig erotisches Kleidungsstück wie ein Stringtanga eine wesentlich ältere Generation verlegen machen könnte. Wenn es so wäre, würden sie diesen Ge 203 genstand vielleicht stillschweigend übergehen und lieber so tun, als hätten sie ihn nie gefunden. Vielleicht würden sie ihn angewidert oder schockiert wegwerfen. Das ist reines Wunschdenken, redete er sich ein, und doch erschien ihm die Möglichkeit, dass es so wäre, nicht mehr ganz so fern. Während sie immer noch schlief, ging er in ihr Schlafzimmer und untersuchte die aus dem Krankenhaus mitgebrachten Fläschchen und Päckchen, die sie auf ihrem Nachttisch abgestellt hatte. Darunter befand sich eine Büchse, auf der seitlich ein Etikett mit folgender Anweisung klebte: Abends zwei Tabletten zum Einschlafen. Da er sicher war, dass sie die Tabletten nicht gezählt hatte, entnahm er einfach acht Stück. Wenn er nach vier Nächten Nachschub brauchte, könnte er immer wieder kommen. Statt zwei Tabletten schluckte er drei und schlief drei Stunden bleischwer. Danach lag er hellwach da und verbrachte eine unruhige Nacht. Ständig gingen ihm Argumente im Kopf herum, die seine optimistische Theorie zunichtemachten, eine der alten Damen hätte den Tanga entsorgt. Nehmen wir einmal an, Oma Fordyce hätte jeden Zeitungsbericht über Danila gelesen und wüsste, dass sie in einem sogenannten »Schönheits- und Fitnesssalon« gearbeitet hatte. Außerdem könnte sie sich unter einem Tanga etwas vorstellen und hätte daraus geschlossen, dass ein Mädchen in einem solchen Umfeld höchstwahrscheinlich Tangas trage - nur mal angenommen. Würde sie daraufhin zur Polizei gehen? Das Ganze konnte man leicht als verrückte und an den Haaren herbeigezogene Spinnerei abtun, so wie er es am helllichten Nachmittag getan hatte. In den frühen Morgenstunden nahm alles durchaus vernünftige Formen an. Um neun Uhr dreißig musste er bei der Frau am Holland Park sein und war bereits zwanzig Minuten zu spät dran. In ih
204 rer Begeisterung, dass er überhaupt gekommen war, vergaß sie ganz, ihm seine Unpünktlichkeit vorzuwerfen. Auf dem Weg nach Chelsea prüfte er seine Anrufe und war ziemlich überrascht, als eine Nachricht von Mr. Pearsons persönlicher Assistentin aufschien. Er möge dringend telefonisch einen Termin mit der Geschäftsleitung vereinbaren. Diese Nachricht hinterließ in Mix ein ungutes Gefühl, das aber bei weitem nicht jenes schreckliche Nervenflattern auslöste wie die Erinnerung an den vermissten Tanga. Wegen ein paar verpatzter Kundentermine würde sich Pearson doch sicher nicht übermäßig aufregen. Er war zu dem Mann in Chelsea ungemein höflich und zeigte ihm, wie er den Gurt an seinem Laufband selbst justieren konnte, falls dieser Schwächling genug Muckis hatte, um einen Schraubenschlüssel zu schwingen. Trotz seines Fitnesstrainings hatte dieser Typ Muskeln wie ein magersüchtiges Mädchen. Seit seinem heldenhaften Umgang mit Pickel und Spaten war Mix allmählich ganz stolz auf seine körperlichen Kräfte. Da er den Eindruck geflissentlicher Eile unbedingt vermeiden wollte, zog er vor dem Anruf bei Mr. Pearsons persönlicher Assistentin erst noch an einem Gerät in Primrose Hill ein neues Laufband ein. Sie war eine unterkühlte junge Frau, die sich selbst viel zu wichtig nahm. »Sie haben sich aber Zeit gelassen«, meinte sie. »Es ist sinnlos, euch Kerlen eine Nachricht zu hinterlassen, wenn ihr sie nie abruft.« »Wann wünscht er denn, mich zu sehen?« »Auf der Stelle. Gegen halb eins.« »Um Himmels willen, es ist ja schon viertel nach zwölf.« »Dann sollten Sie sich lieber auf die Socken machen, nicht wahr?« Plötzlich wurde sie fast menschlich, wenn auch eher von der fiesen Sorte. »Er ist wütend und fuchsteufelswild. Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken.« 204 Mix stieg in die Pedale, besser gesagt, er fuhr über den Äußeren Ring und die Baker Street so schnell, wie es der Verkehr erlaubte. Trotzdem war es beinahe zwölf Uhr fünfundvierzig, als ihn die persönliche Assistentin in Mr. Pearsons Büro bat. Pearson war der einzige Mensch, den Mix je getroffen hatte, der alle Leute, in diesem Fall seine Mitarbeiter, nur mit dem Familiennamen anredete. Dies löste in Mix Assoziationen mit Leuten beim Militär, im Gefängnis oder vor Gericht aus, und das schmeckte ihm gar nicht. »Nun, Cellini?« Was sollte er darauf antworten?
»Keine Antwort ist auch eine Antwort«, rief Pearson und lachte über seinen schwachen Witz. Sein Nachsatz klang wie ein nachträglicher Einfall: »Wir werden uns von Ihnen trennen müssen.« 205
21
Gwendolen sah von ihrem Sofa im Salon aus den Postboten kommen, sah, wie er den Weg heraufging, und hörte den Briefkastendeckel klappern, als er Stephen Reeves Brief auf den Fußabstreifer fallen ließ. Da sie sich bereits kräftiger fühlte, konnte sie ohne allzu große Anstrengung vom Sofa aufstehen und den Brief von der Haustür holen. Er kam nicht von Stephen, sondern von einer karitativen Institution, die um Unterstützung für die Mukoviszidoseforschung bat. Ihre Enttäuschung wich rasch der Vernunft. Da er von seiner Urlaubsreise erst samstags oder sonntags zurückgekommen war, konnte er ihr nur schwerlich bereits heute geschrieben haben. Kaum saß sie wieder auf dem Sofa und überlegte, dass sie in ungefähr einer Stunde nach oben gehen und ein Bad nehmen würde, da traf Queenie ein. Queenie lehnte das Schleppen von Einkaufstaschen ab und hatte ihre Mitbringsel in einen Einkaufswagen verfrachtet. »Ihr müsst ja glauben, dass ich einen Riesenappetit habe«, sagte Gwendolen und musterte nicht sonderlich begeistert das Päckchen mit Duchy Originals, die Tüte Marshmallows, zwei Rollen Rolos, die Diätjoghurts und das Schälchen Couscous-Salat. »Vielleicht stellst du mal alles in den Kühlschrank.« Und fügte dann hinzu, während sich Queenie entfernte: »Ach, und leg die Taschenlampe bitte nicht wieder an den falschen Platz.« Queenie wunderte sich zwar, welche exzentrische Marotte oder Laune jemanden dazu bringen könnte, eine Taschenlampe im Kühlschrank aufzubewahren, rührte das Ding aber nicht an. Anschließend setzte sie sich gegenüber von Gwendolen 205 brav in einen Sessel. Wegen der für diese Jahreszeit ungewöhnlichen Wärme hatte sie ihren neuen pinkfarbenen Hosenanzug angezogen und gehofft, ihre Freundin würde ihr ein Kompliment wegen ihres Aussehens machen, auch wenn sie ganz genau wusste, dass so etwas fast an Unmöglichkeit grenzte. Stattdessen hielt man ihr demonstrativ ein rot-schwarzes Beutelchen an einer Art schmalem Gürtel unter die Nase. Obwohl sie so etwas noch nie gesehen hatte, wusste sie sofort, es gehörte zum Kostüm - falls man das so nennen könnte - einer gewissen Art von Tänzerinnen. Diese Erkenntnis ließ sie tief erröten.
»Vermutlich weißt du, was das ist, und deshalb wirst du auch rot.« »Gwen, natürlich weiß ich, was das ist.« Wie immer hatte sie sehr mild geklungen, aber Gwendolen wollte unbedingt einen aufsässigen Tonfall heraushören. »Ist ja gut, deshalb musst du mir ja nicht den Kopf herunterreißen. Olive meint, es entstamme eventuell dem Besitz einer - äh, Geliebten von Mr. Cellini.« »Ist das denn wichtig, meine Liebe? Es macht keinen sonderlich wertvollen Eindruck.« »Solche Geheimniskrämereien kann ich nicht leiden«, sagte Gwendolen. »Es bedeutet, dass er oder sie oder beide in meinem Waschhaus gewesen sind.« »Du könntest ihn fragen.« »Das beabsichtige ich auch. Natürlich ist er derzeit nicht hier und geht seiner unbekannten Tätigkeit nach.« Gwendolen seufzte. »Ich glaube, ich nehme in einer Minute ein Bad.« Damit wollte sie ihrer Freundin zu verstehen geben, sie solle gehen, aber Queenie hörte etwas anderes heraus. »Meine Liebe, möchtest du, dass ich dir helfe? Das würde mir gar nichts ausmachen. Als mein lieber Mann so krank war, habe ich ihn jeden Tag gebadet.« Gwendolen schüttelte sich theatralisch. »Nein, vielen herz 206 liehen Dank. Ich komme wunderbar allein zurecht. Übrigens«, sagte sie, obwohl der nächste Satz alles andere als beiläufig gedacht war, »dieser Inder hat mir geschrieben, Otto habe seine Perlhühner gefressen.« Und fuhr dann fort, wobei sie Mr. Singhs hervorragende Prosa kurzfristig verdrängte: »Selbstverständlich würde kein Engländer bewusst gegen das Gesetz verstoßen, indem er in städtischer Umgebung irgendwelches Hühnerzeug hält, praktisch mitten in London.« Queenie brachte nur weniges auf die Palme, aber als ehrenamtliche Mitarbeiterin der Kommission für Rassengleichheit wurde sie bei diskriminierenden Äußerungen richtig wütend. »Gwendolen, wenn du eine solche Bemerkung in der Öffentlichkeit machst, könnte man dich strafrechtlich belangen. Das weißt du, oder vielleicht weißt du es auch nicht. Damit begehst du eigentlich eine Straftat.« Dann fügte sie weniger hochtrabend hinzu: »Mr. Singh ist ein reizender Mensch und sehr klug. Er war Professor im Punjab.« Gwendolen lachte schallend. »Queenie, du machst dich wirklich lächerlich. Du solltest dich mal hören. Und jetzt werde ich mein Bad nehmen. Demnach solltest du jetzt besser gehen.«
Auf dem Weg ins Freie stieß Queenie in der Diele auf Otto. Er saß mit einer halben Maus in der Schnauze auf einer der untersten Stufen. Der Kopf lag neben ihm auf dem abgetretenen Teppich. »Verschwinde, du grässliches Vieh«, rief sie ihm zu. Bei dem Blick, den Otto ihr zuwarf, war Queenie heilfroh, dass sie ein leidlich großes Menschenkind war und nicht ein pelziger kleiner Vierfüßler. Otto brachte es fertig, den Mäusekopf samt Hinterteil zu packen, und schoss wie der Blitz mit seiner Beute in den ersten Stock hinauf. Im selben Augenblick kam Mix zur Haustür herein, murmelte Queenie etwas Unverständliches zu und begab sich hinter der Katze die Treppe hinauf. 207 Mr. Pearson hatte darauf bestanden, dass Mix den Rest der Woche noch abarbeitete, obwohl dieser am liebsten auf der Stelle gegangen wäre. Und so was nannte man vierwöchige Kündigungsfrist...! Man würde ihn bis zum nächsten Monatsende bezahlen. Wenigstens etwas. Pearson hatte ihn natürlich nicht wegen versäumter Kundentermine und unterlassener Anrufe gefeuert. Shoshana hatte ihn heute Vormittag angerufen, dieses Miststück. Mix zerfloss vor Selbstmitleid, während er die geflieste Treppe hinaufstieg. Seine Verbindung zu Shoshanas Studio hatte ihm nur Probleme eingebracht. Zuerst war er hingegangen, weil er sich daraus eine Bekanntschaft mit Nerissa erhofft hatte. Er hatte sie trotzdem kennengelernt, und jetzt war sie fast schon seine Freundin. Doch das hatte er nicht diesem Studio zu verdanken, sondern seiner eigenen Willensstärke. Das Studio hatte ihm lediglich einen Kontakt zu Danila eingebracht, die ihn so beleidigt und provoziert hatte, dass ihm nur noch brutale Gewalt geblieben war. Offen gestanden, hatte sie ihn buchstäblich gezwungen, sie umzubringen. Und wieder war es Danila gewesen, wegen der er diesen Vertrag ausgearbeitet und unterschrieben hatte. Und was war das Ergebnis davon? Jetzt hatte diese Shoshana bei Pearson angerufen, ihm die ganze Sache erzählt und obendrein dreist behauptet, er hätte seinen Teil des Vertrags nie eingehalten. Bei so viel Bosheit und Heimtücke blieb ihm die Spucke weg. Was hatte er ihr je getan? Zwei Geräte hatte er nicht reparieren können, aber nicht aus Schlamperei. Er hatte ihr auch nichts verheimlicht. Bisher hatte er lediglich die Ersatzteile nicht besorgen können. Er betrat die Wohnung, holte sich eine Diät-Cola aus dem Kühlschrank, zog die Umhüllung ab und riss den Verschluss auf. Dann trank er einen kräftigen Schluck und füllte die Dose mit Gin auf. Das schmeckte besser. Selbstverständlich müsste er sich wieder um einen Job bemühen. Das bedeutete, zum Arbeitsamt zu gehen und vermutlich eine
208 Weile Arbeitslosengeld zu beziehen. Gott sei Dank würde das Sozialamt seine Miete bezahlen. Es war höchste Zeit, dass er vom Staat etwas zurückbekam. Das war sein gutes Recht, schließlich hatte er schon genug einbezahlt. Natürlich hatte ihn nicht nur diese hinterhältige Shoshana gelinkt, sondern auch Ed. Statt ein paar Tage den Mund zu halten, als Mix für ihn die beiden Termine nicht wahrgenommen hatte, war er sofort zur Geschäftsleitung gerannt. Damit hatte alles angefangen. Eines konnte er Pearson versichern: Er würde möglichst viele Kunden überreden, mit ihm zu gehen, indem er seine alte Firma unterbot. Warum sollte er nicht selbst in dieses Geschäft einsteigen? Das könnte der Schlüssel zu seinem endgültigen Durchbruch sein. Er trank noch ein paar Schlucke von der Gin-Cola-Mischung. In Mix' Gehirn nahm ein neuer Tagtraum Konturen an: Er als Gründer und Boss der größten Firma für Heimtrainer und professionelle Fitnessgeräte in England, eines Megakonzerns, der Tunturi und PJ Fitness übernahm und natürlich auch Multifit. Er malte sich aus, mit welchem Vergnügen er an seinem riesigen Ebenholzschreibtisch im dreißigsten Stock residierte, in einem Büro mit raumhohen Fenstern, während im Vorzimmer zwei glamouröse Sekretärinnen in superkurzen Miniröcken saßen. Und wie dann der zwangsweise frühpensionierte Pearson mit dem Hut in der Hand hereinkäme und ihn um eine kleine Firmenrente ersuchte ... Bis dahin lag vor ihm die Freiheit. Er würde die Zeit nutzen, um seine Freundschaft mit Nerissa zu festigen. Vielleicht könnte er sich einen neuen Grund ausdenken, um bei ihr aufzutauchen und in ihr Haus zu kommen. Wie wäre es, wenn er für sie ein Paket abliefern würde? Es müsste ja kein echtes Paket von einem Versandhaus oder eine ihrer Bestellungen aus einem Geschäft sein. In Packpapier eingewickelte alte Zeit208 Schriften würden denselben Zweck erfüllen. Wenn er erst einmal den Schritt über ihre Schwelle geschafft und sich mit Nerissa ausführlich unterhalten hätte, würde sie schon für alles Verständnis haben. Oder er könnte so tun, als würde er Wahlprospekte verteilen und ihr das Programm eines Kandidaten vorbeibringen, das man zuvor bei ihm abgegeben hatte. Im nächsten Monat wäre doch sicher wieder irgendeine Gemeindewahl. So etwas fand doch ständig statt, oder? Jedenfalls wüsste sie darüber wohl auch nicht besser Bescheid als er. Wenn er erst einmal mit ihr ausginge und in die Öffentlichkeit käme, könnte er sich vor Angeboten aus dem Fernsehen, von Zeitungsredakteuren und
Modemagazinen nicht mehr retten. Vielleicht müsste er auch gar nicht mehr selbstständig werden. Andernfalls würde ihm das Geld, das ihm seine Stellung als Nerissas neuer Lover einbrachte, einen raketenhaften Start bescheren. Und so träumte er immer weiter. In den Pausen gratulierte er sich zu seiner Zähigkeit. Wahnsinn, wie schnell er sich vom Verlust seines Jobs erholte, obwohl so etwas nach Meinung der sogenannten Fachleute zu den großen Nackenschlägen im Laufe eines Lebens gehörte, vergleichbar mit einem Todesfall. Trotzdem musste er am nächsten Tag arbeiten. Sein Schädel dröhnte vom Gin, und manchmal wurde ihm so schwindlig, dass er beinahe gestürzt wäre. Arbeiten musste er trotzdem. Bei jedem Termin erklärte er dem Kunden, er habe gekündigt und würde sich in diesem Geschäft selbstständig machen. Wer bei ihm bliebe, der bekäme einen Sonderpreis, der weit unter dem bisherigen läge, und außerdem könne man sich auf erstklassigen Kundenservice verlassen. Drei meinten, sie würden bei der bisherigen Firma bleiben. Nur die vierte erklärte sich mit einem Wechsel einverstanden, nachdem sie ihm gesagt hatte, er sähe blass aus, und ihn fragte, ob alles in Ordnung sei. In der Zentrale lief er Ed in die Arme, der ihm erzählte, Steph 209 sei schwanger. Deshalb hätten sie beschlossen, die Hochzeit bis nach der Geburt des Babys zu verschieben. »Steph meint, sie hätte keine Lust, ihren Hochzeitstag mit einem dicken Bauch zu feiern. Ihre Mama meint, die Leute würden sagen, wir hätten nur geheiratet, weil sie schwanger ist.« »Ich habe gekündigt«, sagte Mix. »Habe ich schon gehört.« Aus Eds Miene konnte er ablesen, dass dieser eine andere Version der Ereignisse gehört hatte. »Ich konnte unmöglich bleiben, nachdem du der Geschäftsleitung geflüstert hast, ich hätte dich im Stich gelassen, womit du schamlos übertrieben hast.« »Ach, ja? Was hast du denn gemacht? Wie würdest du es nennen? Hast du dich wie ein guter Kumpel benommen? Bist du für mich eingesprungen, als ich krank war?« »Warum verpisst du dich nicht?«, rief Mix. Damit endete eine wunderbare Freundschaft. Es war ihm herzlich egal. Am liebsten wäre er zu diesem Studio hinaufgefahren und hätte es dieser Shoshana gründlich besorgt. Allerdings musste er sich immer vorsagen, dass das Studio die Hausnummer dreizehn hatte, und genau darin könnte die Wurzel seiner ganzen Probleme liegen. Schon beim Gedanken an den
abgedunkelten Raum mit den schweren Vorhängen und den Figuren, der Zauberer und die Eule, vor allem aber an Shoshana, die in seinen Augen mit Liebe und Tod handelte, merkte er, dass er Angst vor ihr hatte - auch wenn er es nie so formuliert hätte, nicht einmal in jenem Teil seines Gehirns, der in Form von Selbstgesprächen Ratschläge gab, Warnungen ausstieß und Entschlüsse fasste. Dort hieß es nur, er müsse vorsichtig sein. Dass sie zum Telefon gegriffen und ihn übel verleumdet hatte, war eine Sache. Noch mehr aber fürchtete er sich vor den dunklen Gewalten, die Hexen nun mal herauf 210 beschworen: vor Zaubersprüchen und entfesselten Dämonen. Natürlich war alles reiner Blödsinn, allerdings hatte auch er einmal Geister für puren Blödsinn gehalten, und jetzt lebte er mit einem. Ab Samstag würde er mehr Zeit haben, alle Zeit der Welt hätte er. Ab dann würde er wirklich alles versuchen, um Nerissa zu treffen. Bis dahin musste er sich eine Strategie zurechtlegen. Eine Kosmetikfirma mit einer sehr erfolgreichen Make-up-Linie für dunkelhäutige Frauen hatte Nerissa gebeten, im kommenden Jahr ihr »Gesicht des Jahres« zu sein. In diesem Jahr hatten sie ein berühmtes weißes Model benutzt. Nerissa wäre die erste Schwarze in dieser Rolle. Ein irres Geld für ganz wenig Arbeit. Während sie für Vorab-Tests den Firmensalon in Mayfair besuchte, rätselte sie, warum sie nicht begeisterter reagierte. Sie brauchte nicht lange, um die Antwort zu finden. Sie kannte den Grund. Darel Jones hatte klar gezeigt, dass er sie nur als gute Freundin haben wollte, vielleicht als eine Frau, die er beschützen konnte, einen guten Kumpel, der jederzeit zur Verfügung stand, um die Zahl der Gäste bei einem Abendessen abzurunden. Ihre Mutter meinte, Männer und Frauen könnten nie nur befreundet sein. Entweder wären sie ein Liebespaar oder gar nichts. Nerissa hatte eine andere Erfahrung gemacht. In der heutigen Zeit, in der Frauen Karriere machten und immer gleichberechtigter wurden, traf diese Aussage nicht mehr zu. Sie kannte Männer, die nicht schwul und trotzdem seit Jahren mit einer Frau, mit der sie die Schule oder die Universität besucht hatten, eng befreundet waren, ohne sie auch nur geküsst zu haben. War das die Zukunft, die sie und Darel erwartete? Nicht, wenn es nach ihr ginge. Manchmal war sie optimistisch, dann wieder ziemlich niedergeschlagen, so wie jetzt. In 210 solchen Momenten war sie felsenfest überzeugt, dass ihr größter Wunsch nie in Erfüllung gehen würde: Er sollte sich in sie verlieben. Seit sie diesen Cellini
am Samstag gesehen hatte, war er nicht mehr vor ihrem Haus aufgetaucht. Obwohl ihr nichts mehr zuwider war als sein Anblick, hätte sie, sobald er in seinem Auto aufgekreuzt wäre und auf sie gewartet hätte, einen Anlass gehabt, Darel anzurufen. Sie streifte durch ihr frisch geputztes Haus, das Lynette aufgeräumt hatte, und war fest entschlossen zu versuchen, diesen Zustand beizubehalten. Sie solle nicht so schlampig sein, ermahnte Mama sie ständig und meinte, man hätte sie doch zur Ordnung erzogen; nur das viele Geld sei schuld, das sie viel zu früh verdient hätte. Darels Wohnung war ein Muster an Ordnung, auch wenn sie sicher nicht immer so aussah. Mit diesen Gedanken hob sie ein Kleenex auf, das sie auf den Badezimmerboden fallen gelassen hatte. Für seine Gäste hatte er sicher ganz besonders aufgeräumt. Trotzdem war er eindeutig ein sehr disziplinierter Mensch. Nehmen wir einmal den unwahrscheinlichen Fall an, er käme hierher, was mit jedem weiteren Tag immer weniger realistisch wurde. Dann würde er sich von den ganzen Tassen und Gläsern abgestoßen fühlen, die hier ständig herumstanden, von den auf dem Fußboden wild verstreuten Zeitschriften und von so absurden Stillleben wie einem Fläschchen Nagellack in der Obstschale. Sie sei genauso schlimm wie die alte Miss Chawcer, meinte Tantchen Olive. Die bewahre im Kühlschrank eine Taschenlampe auf und das Brot in einer Plastiktüte auf dem Fußboden. Weil Papa wieder einmal das Akwaa'sche Auto benötigte, hatte sie versprochen, ihre Mutter am Freitagnachmittag zum St. Blaise House zu fahren. Hazel meinte, es wäre höflich, wenn auch Nerissa Miss Chawcer einen Besuch abstatten, sich nach ihrem Befinden erkundigen und fragen würde, ob sie etwas für sie tun könne. Miss Chawcer sei so betagt und ge 211 brechlich und müsse infolge ihrer Krankheit ziemlich hilflos sein. »Ach, Mama, nur das nicht. Dort wohnt doch er. Kann das nicht Andrew erledigen?« »Andrew hat in Cambridge am Gericht zu tun. Nerissa, du musst ja nicht mit hineinkommen. Setz mich einfach nur ab.« Also hatte sich Nerissa bereit erklärt. Sie würde ihre Mutter absetzen und sie eine Stunde später wieder abholen. Und sollte sie diesen Mann tatsächlich sehen, sollte er herauskommen und würde sie ansprechen, dann könnte sie von ihrem Autotelefon schließlich immer noch Darel anrufen. Als Meisterin des schicken Casual-Looks wählte sie für ihr Outfit mit Bedacht eine nagelneue olivfarbene Cargohose im Militarystil, dazu ein tief ausgeschnittenes Top und einen Satinblazer. Erst als sie fertig angezogen war,
dämmerte es ihr: Ihre Kleidung, die eigentlich Darel attraktiv finden sollte, würde auch auf diesen Mann wirken. Sie zog alles aus und schlüpfte wieder in Jeans und T-Shirt. Außerdem glaubte sie, Männer würden nie merken, was eine Frau trug, sondern nur, ob sie »gut aussah« oder nicht. Auch wenn sie damit nicht nur ihre eigenen Absichten bezüglich Darel torpedierte, sondern auch das Grundprinzip jener Branche, für die sie arbeitete. Es wäre ihr sprichwörtliches Pech, wenn sie draußen gerade jetzt, da sie unter Zeitdruck stand, diesem Mann begegnen würde, aber da war niemand. Der Campden Hill Square lag verlassen und still da und flirrte in der Hitze, die nun schon bis weit in den September hinein anhielt. Ihr Wagen hatte in der Sonne gestanden. Beinahe hätte sie sich an dem heißen Fahrersitz verbrannt. Sie holte ihre Mutter in Acton ab und fuhr sie in die St. Blaise Avenue, wo sie sie vor Miss Chawcers Haus absetzte. Von dem Mann war weit und breit keine Spur zu sehen. Auch auf der Fahrt zu Tesco in West Kensington, wo sie ihren Wocheneinkauf erledigte, begegnete sie ihm nicht. Ne 212 ben vielen Flaschen Mineralwasser, jeder Menge Salat und etwas Fisch kaufte sie auch zwei Flaschen exzellenten Pinot Grigio, der ihr bei Darel aufgefallen war. Es war sein Lieblingswein. Der Zauberspruch, der beim Opfer die Funktion der Wirbelsäule störte, traf mit der ganz normalen Post ein. Hekate war schon immer ein elender Geizkragen gewesen. Shoshana hatte einen Trank oder ein Pulver erwartet. In diesem Fall hätte sie sich für die Anwendung etwas einfallen lassen müssen, denn damit wäre praktisch jeder Mensch ausgeschieden, zu dem sie nicht mühelos Zugang hatte. Aber hier handelte es sich lediglich um Beschwörungen, die man über einer Schale mit einer Räuchermischung sprechen musste. Diesen Zauberspruch hätte man genauso gut per E-Mail schicken können, fand Shoshana. Andererseits war er ellenlang, und Hekate war zu knauserig, um sich einen Scanner zu leisten. »Na schön, dann probieren wir es mal aus«, sagte Shoshana zu dem Zauberer und der Eule. Und wer wäre ein besseres Versuchsobjekt als Mix Cellini? Gwendolen war vom Sofa in einen Lehnstuhl gewechselt und fast schon am Ende des letzten Kapitels der »Goldenen Schale« angelangt. Auf ihrem Schoß lag in einer braunen Versandtasche der Tanga, damit sie ihn jederzeit dem Untermieter präsentieren konnte. Hazel hatte mit dem Schlüssel ihrer Tante aufgesperrt. Ihr Anblick schien Gwendolen nicht sonderlich zu freuen, auch wenn sie nicht entsetzt aufgesprungen war und offensichtlich keinen Herzinfarkt bekommen hatte.
Trotzdem fragte sie ihren Besuch nicht unverblümt, was sie denn hier mache. »Ich muss mir diese Schlüssel wiederholen. Ich nehme an, Ihre Tante hat noch einen nachmachen lassen. Natürlich ohne mich zu fragen.« 213 »Wie geht es Ihnen?« »Ach, viel besser, meine Liebe.« Allmählich wurde Gwendolen umgänglicher. Sie legte das Buch mit dem Brief der Mukoviszidosestiftung als Lesezeichen beiseite. »Was haben Sie denn da mitgebracht?« Kernlose weiße Trauben, Williamsbirnen, Ferrero-Küsschen und eine Flasche Merlot. Gwendolen reagierte weniger ablehnend als sonst. Zwar aß sie bis auf gedämpfte Äpfel kein Obst, aber die Schokolade und der Wein würden ihr schmecken. »Ich sehe schon, Sie haben einen besseren Geschmack als Ihre Tante und deren Freundin.« Hazel wusste nicht, was sie sagen sollte. Das Gespräch mit dieser älteren Dame - ihr eigener Vater hätte sie vor langer Zeit als Blaustrumpf bezeichnet würde nicht einfach werden, dessen war sie sich bewusst gewesen. Da Hazel nicht viel las, war ihr klar, dass sie sich nicht über Bücher oder andere für Miss Chawcer interessante Dinge unterhalten konnte. Sie quälte sich mit Bemerkungen über das Wetter, über Miss Chawcers gesundheitliche Besserung und das wunderschöne Haus ab. Plötzlich klingelte es. »Um Himmels willen, wer kann das sein?« »Möchten Sie jemanden empfangen, oder soll ich ausrichten, man möge ein andermal wiederkommen?« »Schicken Sie die Leute nur weg«, sagte Gwendolen. »Sagen Sie, was Sie wollen.« Vielleicht würde ein Brief von Stephen Reeves abgegeben, der gesondert zugestellt wurde. Bisher hatte Gwendolen noch nichts von ihm gehört, und allmählich wuchs ihre Besorgnis. Was wäre, wenn sein Brief verloren gegangen war? Hazel ging zur Tür. Auf der Treppe stand ein ungefähr sechzigjähriger, großer, gut aussehender Mann mit einem Turban. Auf Hazel wirkte er wie das Abbild eines Paschtunenkriegers, den sie einmal in einem Film über die Nord-West-Grenze gesehen hatte. 213 »Einen wunderschönen guten Nachmittag, Madam. Mr. Singh aus der St. Marks Road möchte bitte Miss Chawcer seine Aufwartung machen.« »Ich bedauere, aber Miss Chawcer geht es gesundheitlich nicht gut. Sie war im Krankenhaus. Könnten Sie vielleicht morgen wiederkommen? Nun, morgen nicht. Sagen wir, am Sonntag?«
»Ganz gewiss sage ich am Sonntag, Madam. Ich komme vormittags um elf Uhr wieder.« »Was wollte er denn?«, fragte Gwendolen. »Ich habe nicht gefragt. Hätte ich das tun sollen?« »Ist nicht wichtig. Ich weiß sowieso Bescheid. Es geht um seine verflixten Perlhühner. Otto muss sie verzehrt haben. Ich habe im Treppenhaus Federn gefunden. Nun rechne ich damit, dass dieser Mann Schadenersatz geltend machen will.« Allmählich gewann Hazel von diesem Haushalt einen höchst merkwürdigen Eindruck: die alte Jungfer, der Stalker im Oberstock und jetzt eine Person mit einem deutschen Namen, der das Geflügel der Nachbarschaft verspeiste. Sie sehnte schon Nerissas Rückkehr herbei und war erleichtert, als es klingelte. »Wer ist das denn diesmal? Ich kann mir nicht vorstellen, warum ich plötzlich so populär geworden bin.« »Es ist meine Tochter.« »Aha.« Diese Tochter brachte Gwendolen zwangsläufig mit zügellosen amourösen Abenteuern in ihrer Diele in Verbindung. Diese Assoziation sollte sie für ihr kurzes restliches Leben beibehalten. »Ich nehme nicht an, dass sie hereinkommen möchte.« Hazel empfand dies als völlig unbegründete, brüske Abfuhr und war heilfroh, dass sie gehen konnte. Warum hatte ihr Tantchen Olive nie erzählt, wie schrecklich diese alte Miss Chawcer war? Nach einer kühlen Verabschiedung lief sie 214 schnell zu Nerissa hinaus, die schon mit flatternden Nerven auf der Haustreppe wartete. Schließlich könnte dieser Mann plötzlich auftauchen. Kaum war sie fort, schlief Gwendolen ein. Seit ihrer Krankheit genügte ihr ein kurzes Nickerchen am Nachmittag nicht mehr, das merkte sie. Sie musste richtig schlafen. Auf Träume hätte sie dabei gut verzichten können, aber sie kamen trotzdem, klarer und lebendiger als jede nächtliche Episode. Sie wirkten lebensecht und spielten in der Gegenwart. Wie immer im Traum war sie jung und besuchte Christie am Rillington Place. Es herrschte Krieg, der einzige, an den sie beim Wort »der Krieg« dachte. Konflikte in Korea, am Suezkanal, auf den Falklandinseln, in Bosnien und am Persischen Golf zählten dabei nicht. Unter Sirenengejaule klopfte sie an Christies Tür, denn in diesem völlig real wirkenden Traum war sie die Schwangere und begab sich wegen einer Abtreibung zu ihm. Leider bekam sie wie Bertha, auch wenn in dieser Realität keine Bertha existierte, vor diesem Mann und seinen Instrumenten Angst und floh. Nie wieder würde sie hierhergehen. Als sie aus der Tür trat,
befand sie sich, wie das in Träumen nun mal so ist, nicht am Rillington Place, sondern saß mit Stephen Reeves im Salon vom St. Blaise House, und er erklärte ihr gerade, er sei der Vater ihres Kindes. Das war für sie ein Schock, der neben dem überraschenden Moment Erleichterung hervorrief. Dann dachte sie, jetzt würde er sie bitten, seine Frau zu werden, aber die Szene wechselte erneut. Sie stand allein vor seiner Praxis am Ladbroke Grove, und es war plötzlich dunkel geworden, und er war nirgendwo zu sehen. Auf der Suche nach ihm rannte sie hin und her, dann stürzte sie, schlug mit dem Kopf auf und - erwachte. Von solchen Träumen am helllichten Tag erholt man sich viel schwerer als von jedem Albtraum in den dunkelsten Nachtstunden. Einige Augenblicke lag sie im Lehnstuhl und 215 fragte sich, wo er sei und wann er wiederkäme. Verwundert betrachtete sie ihre Hände. Warum waren sie trotz ihres jugendlichen Alters so faltig? Wie Baumwurzeln in ausgetrockneter Erde standen die verästelten Adern heraus. Allmählich kehrte eine Realität zurück, die willkommen war und auch wieder nicht, und sie setzte sich auf. Im Schlaf, vielleicht aber auch schon während ihres Gesprächs mit Hazel Akwaa, war die braune Tüte mit dem Tanga zwischen Sitzkissen und Sessellehne gerutscht. Aber Gwendolen, die jetzt hellwach war, hatte deren Existenz völlig vergessen. 215
22 Mix' Abgang aus der Firma, für die er neun Jahre gearbeitet hatte, glich eher einem Winseln als einem lauten Knall. Keiner hatte sich angeboten, ihm einen Drink zu spendieren, geschweige denn, dass er zum Abschied eine Uhr oder ein Abendessen bekommen hätte. Auch über das Thema Abfindung war man schweigend hinweggegangen. Und jetzt war er stinksauer. Das Schlimmste aber war, dass er die Schlüssel zu dem Wagen hatte abgeben müssen, den er in der firmeneigenen Tiefgarage abgestellt hatte. Dafür tröstete er sich mit dem Gedanken, dass sich fünf seiner Kunden verpflichtet hatten, ihre Geräte in Zukunft von ihm warten und reparieren zu lassen. Bei einer Kontoabfrage am Geldautomaten erfuhr er, dass er fast fünfhundert Pfund im Plus war. Und das noch vor Überweisung der Summe, die ihm die Firma für die drei Wochen weiterzahlen würde, in denen man auf seine Mitarbeit verzichten wollte. Trotzdem fehlte ihm der Mut zu einem erneuten Besuch am Campden Hill Square. Diesmal müsste er zu Fuß
hingehen, eine andere Wahl hätte er nicht. Andererseits würde ihm der Spaziergang guttun. Am Freitag ging er allein ins Kino. Auf dem Heimweg kam er an Pubs und Cafes vorbei, wo sich die Gäste bis auf den Bürgersteig hinaus drängten und draußen im Freien aßen. Zum Abendessen kaufte er sich beim Chinesen ein Menü zum Mitnehmen sowie zwei Flaschen Wein und eine Flasche Cointreau zum Mixen von Boot Camps. Es war noch genauso heiß und trocken wie im Juli. Eines Nachmittags hatte es seit Wo 216 chen zum ersten Mal heftig geregnet, und er hatte genüsslich hinausgeschaut und dabei gedacht, dass der Regen das Unkraut über dem Gartengrab schneller wachsen ließe. Jedes Nachhausekommen war für ihn eine Zerreißprobe, die sich aber abmildern ließ, wenn er alles so organisieren konnte, dass er bei Tag heimkam. Angesichts der immer früher hereinbrechenden Dunkelheit würde das schon bald schwierig werden. Mit seinen schweren Einkaufstüten in den Händen kletterte er mit unverwandtem Blick den letzten Treppenabsatz hinauf und starrte dabei wie hypnotisiert auf seine eigene Wohnungstür. Die Straßenlampe, die direkt vor dem Haus stand, war nicht in Ordnung. Durch das Isabellafenster fiel kein Licht. Auf dem obersten Absatz war es stockfinster, aber drinnen in seiner Wohnung war alles wieder in Ordnung. Hier war er sicher. Und er hatte auch keine Rückenschmerzen mehr. Er musste wirklich ganz schön fit sein, wenn eine Verletzung an der Wirbelsäule so schnell ausheilte. Er las »Ein außergewöhnlicher Mörder«, sah mit einem Boot Camp in der Hand fern, verzehrte sein mitgebrachtes Essen und lauschte dem Summen und Surren des Westway. Wenn ihn die Polizei wegen Danila verhören wollte, hätte sie es längst getan. Vielleicht würde jemand in vielen Jahren nach dem Tod der alten Chawcer, der vermutlich noch in weiter Ferne lag, das Haus kaufen und den Garten umgraben. Aber doch nicht tiefer als einen Meter, oder? Bis dahin wäre er längst verschwunden und weit weg von diesem Spukschloss. Er würde dann mit Nerissa zusammenleben, als ihr Ehemann. Vielleicht würden sie ein Anwesen in Frankreich kaufen oder sogar in Griechenland. Selbst wenn man Danilas Leiche fände, würde man sie nie mit dem Ehemann von Nerissa Nash in Verbindung bringen, mit dem berühmten Kriminologen. In den frühen Morgenstunden erwachte er mit bösen Kreuzschmerzen. Laut stöhnend knipste er das Licht an und sah,
217 dass es erst zehn Minuten nach drei war. Das war wieder mal typisch sein Pech. Und er hatte sich noch zu seiner völligen Genesung gratuliert. So fühlte sich angeblich ein Bandscheibenvorfall an. Vier Ibuprofen und ein ordentliches Glas Gin ließen ihn erneut einschlafen, aber um sieben Uhr war er wieder wach. Eigentlich hatte er heute mit seinem Fitnessplan beginnen wollen, doch davon konnte nun keine Rede sein. Die Kreuzschmerzen machten den Eindruck, als würden sie nicht so schnell vergehen. Es war viel schlimmer als beim letzten Mal. Der ganze Rücken schien vor Schmerz zu toben. Ein heißes Bad und noch zwei Ibuprofen halfen. Allerdings fühlte er sich danach ziemlich benommen. Er fuhr mit dem Bus den Westbourne Grove entlang und stieg am Portobello Market aus. Etwas zum Essen musste er nun mal einkaufen. Auf dem Markt war es immer voll, besonders um die Stände herum, aber am Samstag konnte man sich nur dem Zufall überlassen und mit der Menge treiben lassen. Er kaufte Fertiggerichte, ein gegrilltes Hähnchen, Brot und Kuchen. Sein einziges Zugeständnis an die von den Zeitschriften so sehr propagierte »gesunde Nahrung« war ein Bündel Bananen. Mehr würde er mit diesen Höllenschmerzen im Rücken nicht schleppen können. Im Rahmen eines halbherzigen Versuchs, die Zeit zu überbrücken, bis sein eigenes Geschäft florierte, kaufte er einen »Evening Standard«, um die Stellenanzeigen zu durchforsten. Dann lief er auf der Suche nach einer Apotheke die Notting Hill High Street hinunter. Wenn er keine Schlafprobleme bekommen wollte, brauchte er mehr Ibuprofen, und außerdem sollte er sich noch etwas zum Einreiben gegen Rückenschmerzen besorgen. Vor einer Apotheke bettelte ein Mann. Ohne einen Hund, der sentimentale Herzen erweichte, oder ein Schild, das verkündete, er sei blind, obdachlos oder Vater von fünf Kindern, hockte er mit einer offenen Blechbüchse vor sich 217 auf dem Gehsteig. Bettlern gab Mix grundsätzlich kein Geld, außerdem lagen schon gut zwanzig Münzen in der Büchse. Trotzdem trieb ihn etwas dazu, den Mann näher anzusehen. War es ein Bekannter? Gab es vielleicht eine gewisse Anziehungskraft zwischen ihnen beiden? Er starrte direkt ins Gesicht von Reggie Christie. Dieser Mann war sein Ebenbild. Die ausgeprägte Kinnpartie, die schmalen Lippen, die große Nase, die kalten Augen hinter der Brille.
Schnell betrat Mix die Apotheke und kaufte sein Schmerzmittel. Liebend gern hätte er einen anderen Ausgang genommen, aber den gab es nicht, und so musste er wieder zurück auf die High Street. Der Bettler war verschwunden. Mix überquerte die Straße, um auf einen Bus zu warten, der ihn nach Hause brächte. Von Reggie war weit und breit nichts zu sehen. War er wirklich hier gewesen? Oder hatte es sich um einen Auswuchs seiner Fantasie gehandelt, weil er so viel an ihn gedacht und sich die ganzen Bilder angesehen hatte? Lag es am Stress? Reggies Geist war ihm hierher gefolgt, oder er war heruntergekommen, weil er auf eine Begegnung mit ihm hoffte - eine wahre Horrorvision. An so etwas Entsetzliches wagte er nicht einmal zu denken. Überall hatte Gwendolen nach dem Objekt gesucht, das sie inzwischen nur noch »dieses Ding« nannte. Das Wort »Tanga« erinnerte sie irgendwie an einen Tanz. Vermutlich hatte sie es an einem »sicheren Ort« verwahrt, und nun durchsuchte sie unter anderem den Ofen und den Leerraum hinter den Lexika in einem der zahlreichen Bücherschränke. Keines von all diesen möglichen Verstecken barg dieses Ding. Sie war frustriert und restlos gereizt. Wie sollte sie den Untermieter ohne das nötige Beweisstück zur Rede stellen? Von Stephen Reeves war kein Brief gekommen. Er hatte ihr geschrieben, aber sein Brief war verloren gegangen, davon war 218 sie inzwischen überzeugt. Eine andere Erklärung gab es nicht. Vor einem erneuten Schreibversuch würde sie mit diesem Untermieter ein Wörtchen reden. Höchstwahrscheinlich hatte er ihren Brief aus Versehen oder mutwillig an sich genommen. Allmählich witterte sie in Cellini die Ursache für viele ihrer derzeitigen Probleme. Vor seinem Einzug hatten geheimnisvolle Unglücksfälle nur selten ihren Weg gekreuzt. Vermutlich hatte er sie mit diesem Bazillus infiziert, der zu einer Lungenentzündung geführt hatte. Sie wollte ihn unbedingt abpassen, sobald sie ihn im Treppenhaus auf dem Weg nach unten hörte oder wenn er das Haus betrat. Dabei hatte sie allerdings ein Problem: Seit ihrer Krankheit schlief sie wesentlich leichter ein als früher. Wahrscheinlich hatte sie in der letzten Zeit gedöst, während er kam und ging. Momentan war es ihr zu viel, alle zweiundfünfzig Stufen bis zu seiner Wohnung hinaufzusteigen, auch wenn sie das niemandem eingestanden hätte. Genauso wenig hätte sie Olive oder Queenie gebeichtet, dass sie nach dem Aufstieg in ihr Schlafzimmer und dem Auskleiden restlos erschöpft war. Danach besaß sie kaum mehr die Kraft, Gesicht und Hände zu waschen.
Zweifellos betrat der Untermieter irgendwann in den späten Vormittagsstunden das Haus. Sie war fast hundertprozentig sicher, dass sie seine Schritte auf dem Weg nach oben gehört hatte. Ob er wieder herunterkäme? Sie bezweifelte, ob sie es merken würde, denn nachmittags nickte sie immer wieder ein. Gegen fünf Uhr kam Olive. Leider lehnte sie es ab, hinaufzusteigen und nachzusehen, ob er zu Hause sei. Sie ist von keiner Krankheit geschwächt, sondern einfach viel zu fett, dachte Gwendolen gehässig. »Du könntest ihn anrufen.« , Gwendolen war schockiert. »Jemanden, der im selben Haus wohnt, anrufen! O tempora, o mores.« 219 »Meine Liebe, ich weiß nicht, was das heißt. Mit mir musst du Englisch reden.« »Das bedeutet: Welch eine Zeit, welch ein Verfall der Sitten. Das war meine Reaktion auf deinen Vorschlag, man solle eine Person anrufen, die im oberen Stockwerk wohnt.« Aus diesen lächerlichen Formulierungen schloss Olive, Gwendolen müsse erschöpft sein, und erbot sich: »Ich mache dir jetzt deine Mahlzeit, Gwen.« Obwohl die Freundin vehement ablehnte, setzte sie sich nicht durch. Olive hatte alles Nötige zum Essen mitgebracht. »Olive, sag nicht »Mahlzeit««, protestierte Gwendolen matt. »Bitte, nicht >Mahlzeit<. Sag Dinner oder wenigstens »Abendbrot«.« Kaum war Olive weg, machte sie sich zum Bettgehen fertig. Bis sie oben war und ihr Nachtgewand angezogen hatte, war eine Stunde vergangen. Im Haus war es still. Ihr kam es noch stiller vor als sonst. Und es war gar nicht warm. Der Wetterbericht in ihrem Radio hatte von einem schönen Tag gesprochen mit Temperaturen von über zwanzig Grad, was auch immer das heißen sollte, und von einer ausgesprochen milden Nacht für diese Jahreszeit. Der Wind käme angeblich aus Westen und sei deshalb warm. Sie allerdings empfand den Luftzug, der durch die undichten Fenster und die Risse im Verputz drang, als kalt. Obwohl ihr Schlafzimmer zwei Fenster hatte, konnte sie aus dem einen nur Dunkelheit und graue Zweige sehen. Die Straßenlampe war ausgegangen, ihr Glaskegel kaputt. Daran waren vermutlich diese Rüpel schuld, die immer die Straßen unsicher machten. Die hatten mit Flaschen geworfen. Der Blick aus dem anderen Fenster drunten im Garten zeigte die Büsche, die sich im Wind bogen und drehten, und die Äste an den Bäumen, die nach allen Richtungen schwankten.
Zuvor hatte sie Mr. Singhs Gänse schnattern gehört, aber 220 jetzt waren sie still und saßen die Nacht über in ihrem Stall. Nichts Lebendiges rührte sich in dem windzerzausten Garten, nur Otto hockte auf der Mauer und fraß etwas, was er selbst gefangen hatte. Aus dem Fenster fiel ein gelber Widerschein in die Dunkelheit, und so konnte Gwendolen gerade noch sehen - es war mehr ein Erahnen -, dass er zum Nachtmahl die Taube verspeiste, die im Maulbeerbaum hauste. Sie wickelte sich eine dicke Wolljacke um die Schultern, kletterte ins Bett und schlief schon, ehe sie die Bettdecke über sich gezogen hatte. Seit dem Tod seiner Großmutter hatten Sonntage für Mix keine Bedeutung mehr. Inzwischen war dieser Tag nur noch ein müder, ziemlich unangenehmer und irritierender Abklatsch des Samstags. Denn an diesem Tag hatten die Läden geschlossen, waren die Straßen leer, und Männer mit Freundinnen, Ehefrauen oder Familien machten einen Ausflug mit dem Auto. Trotzdem hatte er sich genau diesen Tag ausgesucht, um die Ausführung seines Plans, Nerissa wirklich kennenzulernen, zu beschleunigen. An ein Leben ohne Auto hatte er sich noch nicht richtig gewöhnt und begab sich, genau wie gestern, um halb zehn nach unten und schlenderte hinaus, um zum Campden Hill zu fahren. Kein Auto. Nun fielen ihm die Ereignisse der letzten Tage wieder ein. Er fluchte kräftig. Schwere Dosen Ibuprofen hatten seinen Rücken betäubt, und so machte er sich zu Fuß auf den Weg. Heute Morgen blies ein kühlerer Wind. Allmählich wurde es Herbst. Da er an die Wärme im Inneren eines Fahrzeugs gewöhnt war, trug er keine passende Kleidung und zitterte beim Gehen in seinem T-Shirt. Als er sich ihrem Haus näherte, sah er ihren Jaguar in der Auffahrt stehen. Seine Laune besserte sich. Leider hatte er vergessen, etwas mitzunehmen, was er bei ihr abgeben könnte, eine Wahlkampfbroschüre oder einen 220 leeren Spendenumschlag für ein Kinderhilfswerk. Also konnte er nur abwarten und auf einen spontanen Einfall bauen. Er begann zu zittern und bekam an den Armen eine Gänsehaut. Um sich aufzuwärmen, marschierte er den ganzen Hügel hinunter, die Holland Park Avenue entlang und auf der anderen Seite des Platzes wieder hinauf. Oben war er zwar außer Atem, fror aber immer noch. Da sah er zu seinem Entsetzen, wie der Jaguar rückwärts aus der Einfahrt fuhr. Er hatte sie verpasst.
Sie fuhr an ihm vorbei den Hügel hinunter. Er winkte. Sicher hatte sie ihn nicht gesehen, denn sie schaute unverwandt geradeaus, ohne ihn anzulächeln. Jetzt konnte er sich nur noch auf den Weg nach Hause machen, wo ihm nichts weiter übrig blieb, als sich mit dem Zeug einzuschmieren, das er gekauft hatte, und Bewerbungsschreiben für zwei Jobs zu verfassen, die er im »Evening Standard« gesehen hatte. Beide kämen noch am ehesten in Frage. Der Untermieter wohnte nun schon beinahe vier Monate in ihrem Haus, und dennoch hatte sie ihn manchmal wochenlang nicht gesehen und auch gar nicht den Wunsch danach gehegt. Ein Gespräch ergab sich nur, wenn man sich zufällig traf, und auch dann dauerte es nicht lange. Er sei nicht ihr bevorzugter Umgang, hatte sie sich eingeredet, und sie umgekehrt gewiss auch nicht der seine. Deshalb fand sie es befremdlich, wie sehr sie ihn jetzt unbedingt sehen wollte. Es schien für sie von größter Wichtigkeit zu sein, dass sie ihn im Laufe dieses Sonntags irgendwann zur Rede stellte, um die Sache mit diesem Ding und dem vermissten Brief ein für alle Mal zu klären. Außerdem wäre da noch etwas: Laut Queenie und Olive hatte er es versäumt, Otto während ihrer Abwesenheit zu füttern. Dass Otto ihr selbst gleichgültig war, tat hier nichts zur Sache. Es war Cellinis Pflicht gewesen, den Kater zu füttern. Er hatte 221 es versprochen. Außerdem war sie überzeugt, Otto hätte nie die Perlhühner und die Taube getötet und gefressen, wenn man ihn ordentlich gefüttert hätte. Beim Gedanken an die Perlhühner fiel ihr wieder ein, dass Mr. Singh ihr um elf Uhr seine Aufwartung machen wollte. Sicher käme er zu spät, wie das heutzutage bei allen Leuten immer der Fall war. Umso erstaunter war sie, als es genau mit dem Glockenschlag an der Haustür läutete. Sie wollte ihren Ohren nicht trauen. Beim Aufstehen fühlte sie sich so benommen, dass sie sich an der Rückenlehne des Sofas festhalten musste. Deshalb dauerte es einige Minuten, bis sie zur Tür kam. Wieder läutete er und lieferte ihr damit eine Ausrede für ihr gereiztes Benehmen. »Ist ja gut, ist ja gut, ich komme ja schon«, rief sie in die leere Diele hinein. Er war ein gut aussehender Mann mit einem schmalen, eisgrauen Schnurrbart und größer und von einer helleren Hautfarbe, als sie gedacht hätte. Sie hatte damit gerechnet, dass er eine Art Nachthemd anhatte, aber er trug eine graue Flanellhose mit einem sportlichen Sakko und dazu ein rosa Hemd mit einer grau-rosa gemusterten Krawatte. Das Einzige, was in Gwendolens Augen nicht dazu passte, war sein schneeweißer, kunstvoll geschlungener Turban.
Er folgte ihr in den Salon, wobei er sich geduldig ihrem langsamen Tempo anpasste. »Sie haben aber ein prächtiges Anwesen«, sagte er. Gwendolen nickte. Das wusste sie, deshalb blieb sie ja auch hier. Sie setzte sich und bedeutete ihm, es ihr nachzutun. Siddharta Singh tat es, allerdings langsam. Er blickte sich aufmerksam um. Nichts entging ihm: die Ecken und Winkel, die Wände, von denen die Farbe abblätterte, und die Risse in der Decke, die klapprigen, aufgesplitterten Fensterrahmen, die Radiatorungetüme aus den zwanziger Jahren und die überein 222 andergestapelten Teppiche, an denen eindeutig kleine Nagetiere herumgekaut hatten und die zahlreiche Mottenlöcher aufwiesen. Nur in den Slums von Kalkutta hatte er vor vielen Jahren einen Verfall solchen Ausmaßes gesehen. »Falls es um Ihre Vögel gehen sollte«, meinte Gwendolen zum Auftakt, »so weiß ich wirklich nicht, was ich ...« »Verzeihen Sie, Madam.« Mr. Singh drückte sich sehr höflich aus. »Verzeihen Sie, aber die Episode mit den Vögeln gehört der Vergangenheit an. Ist praktisch Geschichte, wenn ich es so ausdrücken darf. Ich betreibe Schadensbegrenzung und schlage ein neues Blatt auf. Wenn wir schon bei diesem Thema sind, dann könnten vielleicht Sie mir, da Sie offensichtlich eine englische Dame sind, erklären, warum man hier von >Blatt< spricht. Hat es vielleicht etwas damit zu tun, dass wir in den Wald gehen und unter einem Blatt ein Geheimnis entdecken? « Unter normalen Umständen hätte Gwendolen eine vernichtende Antwort gegeben, aber dieser Mann sah so gut aus - und das nicht nur für orientalische Verhältnisse - und war so charmant, dass sie sich in seiner Gegenwart ein wenig schwach fühlte. Ihr erging es wie der Königin von Saba bei der Begegnung mit Salomo; ihr hochgemuter Sinn hatte sie verlassen. »Mit dem >Blatt< ist ein Blatt Papier gemeint«, sagte sie unsicher. »Eine Seite im - nun ja, vermutlich im Buch des Lebens.« Mr. Singh lächelte. Sein Lächeln glich dem Gunstbeweis des Sonnengottes. Ein gütiges Strahlen, das sein ganzes schönes Gesicht erhellte und Zähne aufleuchten ließ, wie sie junge Amerikaner vorwiesen, glänzend weiß und ebenmäßig. »Vielen Dank. Obwohl ich nun schon dreißig Jahre in diesem Land weile, fühle ich mich manchmal, als würde ich einem neuen Zeitalter der Aufklärung beiwohnen.« Gwendolen lächelte ihrerseits hilflos. »Möchten Sie Tee?« 222
So etwas hatte sie keinem zufälligen Besucher mehr angeboten, seit Stephen Reeves aus ihrem Leben verschwunden war. »Ach nein, vielen Dank. Ich verweile hier nur einen Augenblick. Lassen Sie mich zu meinem eigentlichen Anliegen kommen. Während es Ihnen nicht gut ging, sehe ich in Ihrer Abwesenheit Ihren Gärtner munter vor sich hinarbeiten, einen höchst fleißigen jungen Mann. Und da sage ich zu Mrs. Singh, schau, dieser junge Mann ist genau das, was wir brauchen, um hier alles ins rechte Lot zu bringen. Und deshalb komme ich zu Ihnen, um den Namen und, bitte, auch die Telefonnummer des jungen Gärtners zu erfahren, in der Hoffnung, dass er noch ein weiteres Tätigkeitsfeld benötigt.« In Gwendolens Gehirn kämpften verschiedene Emotionen miteinander. Ihre plötzliche Mutlosigkeit, als der Name von Mrs. Singh fiel, konnte sie sich kaum erklären, während sie andererseits sehr wohl verstand, warum gleichzeitig mit ihrem Erstaunen Zorn aufkeimte. Sie setzte sich aufrechter hin, wobei ihr flüchtig durch den Kopf schoss, ob er sie vielleicht für zehn Jahre jünger halten würde, als sie tatsächlich war, und sagte: »Ich verfüge über keinen Gärtner.« »Oh doch, Madam, aber ja. Sie haben einen. Vielleicht ist es Ihnen entfallen. Meines Wissens waren Sie indisponiert und im Krankenhaus. Und während dieser Zeit ist er hier gewesen. Sie haben ihn zweifellos engagiert, und er kam, um in ihrer Abwesenheit mit der Arbeit zu beginnen.« »Ich habe ihn nicht engagiert. Davon weiß ich nichts.« Sie konnte sich einfach nichts vormachen. Er musterte sie mitleidig, als sähe er in ihr keine zehn Jahre jüngere Frau, sondern eine alte Frau, die an Altersdemenz litt. »Wie sah er denn aus?«, wollte sie von ihm wissen. »Lassen Sie mich mal nachdenken. Ungefähr dreißig, helle Haare, ein typisch britisches Gesicht, blaue Augen, denke ich. Und er sah gut aus. Nicht so groß wie ich oder ...« - er muster 223 te sie kritisch - »... wie Sie, Madam, wenn ich mir diese Bemerkung mit allem Respekt erlauben darf.« »Was hat er denn genau gemacht?« »Den Garten umgegraben«, lautete Mr. Singhs schlichte Antwort. »Er hat an zwei Stellen gegraben. Wie Sie wissen, ist der Boden sehr hart, wie Stein, wie ...« - er erlaubte sich ein fantasievolles Wortspiel - »... Diamant.« Er sprach sogar dieselbe Sprache wie sie, schoss es ihr durch den Kopf. Was wäre gewesen, wenn sie ihn früher kennengelernt hätte? Hätte er dann in ihrer Gefühlswelt den Platz von Stephen Reeves eingenommen? »Der Mann,
von dem Sie sprechen«, sagte sie, wobei ihr Zorn wieder aufflammte, »ist mein Untermieter. Er wohnt oben im Dachgeschoss.« »Dann entschuldige ich mich für die Störung.« Mr. Singh erhob sich und bot Gwendolen damit erneut einen imposanten Blick auf seine schneidige Soldatenfigur mit dem Waschbrettbauch. Am liebsten hätte sie gerufen: »Gehen Sie nicht!« Stattdessen sagte sie: »Er heißt Cellini und hat keinerlei Erlaubnis, meinen Garten zu betreten.« Wieder ein Lächeln, aber diesmal traurig. »Ich möchte meine Enttäuschung nicht verhehlen. Nein, bitte, behalten Sie Platz. Sie sind noch rekonvaleszent und stehen, wenn ich das sagen darf, nicht mehr in der Blüte ihrer lugend.« Er entdeckte sein Ebenbild in einem der vielen matt gewordenen Spiegel mit den Fliegenspuren und fügte etwas taktvoller hinzu: »Doch wer ist das schon? Jetzt wünsche ich Ihnen einen guten Morgen und bedanke mich für Ihre Mühe. Ich finde schon selbst hinaus.« Er ging, und die Sonne versank. Zurück blieb ein noch heftigerer Zorn als vorher, letzt würde sie Cellini abpassen, und wenn sie dazu schwarzen Kaffee trinken müsste. Sie würde alles tun, um wach zu bleiben, bis sie ihn heimkommen hörte. Zuerst dieses Ding, dann der Brief, und nun auch noch das, 224 dachte sie. Sie würde ihn sich vorknöpfen und sich danach eine nette ruhige Dame suchen, die auch nicht mehr in der Blüte ihrer Jugend stand. Ach, wie weh hatte dieser Ausdruck getan! Auch wenn er sich selbst in diese Kategorie miteinbezogen hatte. Aber dieser Cellini, diesen Cellini würde sie, so schnell es ging, hinauswerfen. 224
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Er hatte sich zu Fuß auf den Heimweg gemacht, doch als er an einer Bushaltestelle vorbeikam, an der gerade ein Bus hielt, stieg er ein. Für einen genüsslichen Spaziergang war es heute zu stürmisch. Von den Platanen fielen schon einige gelbe Blätter und wirbelten an den Busfenstern vorbei. Beim Aussteigen an der Ecke St. Mark's Road hatte er das Gefühl, als würden ihn Eisenfinger ins Rückenmark zwicken und im Bereich der Lendenwirbel herumstochern. Die restliche Strecke musste er zu Fuß zurücklegen. Durch die erzwungene Bewegung ließ der Schmerz ein wenig nach. Wie üblich waren in der St. Blaise Avenue sämtliche für die Anwohner reservierten Stellplätze belegt. Unter den Stoßstange an Stoßstange geparkten Autos stach ihm eines ins Auge, an dem er bisher stets achtlos vorbeigelaufen
war. In einem betagten Volvo lag hinter der Windschutzscheibe ein Schild mit der Aufschrift »Zu verkaufen«, und darunter stand der Preis: dreihundert Pfund. Volvos waren gute Autos mit einer langen Lebenserwartung, und dieser sah ziemlich gepflegt aus. Als er um den Wagen herumspazierte und in sämtliche Fenster schaute, kam aus einem der Häuser auf derselben Straßenseite wie das St. Blaise House eine Frau heraus und trat auf ihn zu. »Hätten Sie Interesse?« Mix meinte, er wisse es noch nicht, vielleicht. Sie war zwar nicht mehr ganz jung, sah aber ziemlich gut aus und hatte eine kurvenreiche Figur, wie er es mochte. »Er gehört meinem Mann. Wir sind die Brunswicks - Brian 225 und Sue Brunswick. Brian ist verreist, kommt aber am Mittwoch wieder. Wenn Sie möchten, macht er mit Ihnen gern eine Probefahrt.« »Fahren Sie selbst denn nicht?« Gegen eine wie auch immer geartete Probefahrt mit ihr hätte er auch nichts einzuwenden gehabt. »Ach, ich habe schon seit Jahren nicht mehr hinter einem Lenkrad gesessen.« »Schade«, sagte Mix. »Ich werd's mir überlegen.« Als er im St. Blaise House mit der Hand im Kreuz durch die Diele tappte, merkte er, dass die Salontür offen stand, und spähte hinein. Die alte Chawcer lag auf dem Sofa und schlief tief und fest. Er machte sich an den Aufstieg. Obwohl es im Vergleich zu den letzten Tagen kalt war, hatte sich das Wetter aufgehellt, und die Sonne war herausgekommen. In den Sonnenstreifen auf den Treppenhauswänden sah man alles: kleinste, aber auch breite Haarrisse, die Hinterlassenschaften der Fliegen auf den schief hängenden Bildern, die Fliegen, die zwischen Bild und Glas in die Rahmen gekrochen und dort verendet waren, und die Spinnweben, die an Bilderrahmen, Kordeln und Leuchten klebten. Wo hielt sich Reggies Geist wohl tagsüber auf? Er ermahnte sich, daran nur im äußersten Notfall zu denken. Der Schmerz im Lendenwirbelbereich wurde stärker. Wenn sich sein Zustand nicht besserte, würde er zum Arzt gehen müssen. Gwendolens erster Gedanke nach dem Aufwachen galt Mr. Singhs Enthüllung. Im Gegensatz zu Stephen Reeves war Mr. Singh nicht für sie bestimmt, und das wusste sie auch. Sie hatte sich momentan von seinem Aussehen und seinem Charme mitreißen lassen, obwohl sie eigentlich gemischtkulturelle Ehen oder Rassenmischung, wie man das in ihrer Jugend nannte, missbilligte. Und außerdem war da noch ein entscheiden 225
des Hindernis: die Ehefrau. Sie stempelte die unbekannte und unsichtbare Mrs. Singh als »tatterige verschleierte Eingeborene« ab. Mittlerweile hatte Mr. Singhs Bericht fast alle übrigen Gedanken aus ihrem Kopf verdrängt. Während ihrer Abwesenheit - und ein Krankenhauspatient war mehr als nur abwesend - war dieser Untermieter in ihrem Garten gewesen, sogar zweimal, und hatte Löcher in die Blumenrabatten gegraben. Vor langer, langer Zeit, als die Chawcers noch wohlhabend waren, hatte sich ein echter Gärtner um sämtliche gärtnerischen Belange gekümmert. In diesen Tagen hatten in den Beeten Lupinen, Rittersporn, Zinnien und Dahlien geblüht, die Büsche waren ordentlich geschnitten gewesen und der akkurat gemähte Rasen hatte einem Samtteppich geähnelt. Bis zu einem gewissen Grad stand Gwendolen der Garten noch immer so vor Augen, besser gesagt, sie sah zwar, dass er allmählich ein wenig schäbig geworden war, aber da war nichts, was ein Faktotum mit einem Rasenmäher nicht binnen einer Stunde wieder in Ordnung bringen könnte. Und in dieses kleine Paradies war der Untermieter mit einem Spaten eingedrungen - wobei es sich mit ziemlicher Sicherheit um ihren Spaten gehandelt hatte - und hatte Löcher gegraben. Ohne ihre Erlaubnis war er einfach in den Garten spaziert und hatte Löcher gegraben. Ja, er hatte sich nicht einmal bemüht, ihre Erlaubnis einzuholen. Dabei war er zwangsläufig durch ihre Küche und ihr Waschhaus gekommen und hatte unterwegs auch noch dieses Ding in ihrem Waschkessel hinterlegt. Und warum das? Natürlich um etwas zu vergraben. Möglicherweise, nein, vermutlich hatte er ihr etwas Wertvolles gestohlen und es dort draußen vergraben, bis er einen Hehler für sein Diebesgut fand. Jetzt müsste sie das ganze Haus durchkämmen, um herauszufinden, welche Stücke fehlten. Wieder flammte die Wut in ihr auf und donnerte gegen ihre Blutgefäße. Kein Wunder, dass sie sich jetzt im wachen Zustand so 226 merkwürdig fühlte. Ihr schwindelte, und sie fühlte sich körperlich ganz schwach. Trotz allem hätte sie höchstwahrscheinlich gewagt, die Treppe langsam hinaufzusteigen, und dabei auf jedem Absatz eine Pause eingelegt, doch als sie sich gerade dazu entschließen wollte, traf Queenie Winthrop ein. Sie hörte, wie die Tür aufging, und hoffte, es wäre der Untermieter. Vielleicht könnte sie sich die zweiundfünfzig Stufen nach oben sparen. Ihre Hoffnungen zerstoben, als Queenie mit lauter Stimme rief: »Juhu, bin nur ich.« Gwendolen fragte sich, wie lange sie und Olive dieses Spiel mit dem täglichen Besuch und den Geschenken noch treiben würden. Vielleicht noch Wochen,
noch Monate. Für immer. Sie hatte keine Lust mehr auf Schokolade, Müsliriegel, Birnen oder Weintrauben. Die Flasche Portwein, die Queenie aus ihrem Einkaufswagen holte, war ihr schon wesentlich willkommener. Gwendolens Laune wurde besser, und sie bedankte sich sogar bei ihrer Freundin. »Hoffentlich werde ich nicht noch Alkoholikerin«, sagte sie. »Wenn es nach dir und Olive ginge, wäre ich es sicher bereits. Natürlich hat mich dazu mein Untermieter getrieben. Früher habe ich nie etwas Stärkeres als Orangensaft getrunken.« Eigentlich hatte sie Queenie von ihrem Treffen mit Mr. Singh erzählen wollen und von dessen unabsichtlichen Enthüllungen, aber irgendwie widerstrebte es ihr, mit Queenie oder sonst einer Person über ihren Nachbarn zu sprechen. Und das Verbrechen dieses Untermieters konnte sie ja schlecht schildern, ohne Mr. Singh hineinzuziehen. Stattdessen meinte sie: »Ich mag ja wirklich nicht gerne fragen. Irgendwie wirkt es aufdringlich, aber könntest du dich vielleicht überwinden, hinaufzugehen und an seine Tür zu klopfen, und ihm ausrichten, ich würde ihn gern heute Abend um sechs Uhr sprechen?« Und fügte dann ein »Bitte« hinzu, obwohl es ihr gegen den 227 Strich ging. »Es gibt da mehrere Angelegenheiten, über die ich unbedingt mit ihm sprechen muss.« »Aber ja, meine Liebe, das mache ich. Doch wenn du nichts dagegen hast, warte ich erst noch ein bisschen. Nach dem langen Marsch hierher bin ich immer noch etwas außer Atem. Ich habe gewartet und gewartet, aber kein Bus ist gekommen. Bevor ich mich auf den Heimweg mache, gehe ich hinauf, versprochen. Soll ich dir jetzt etwas zu essen machen?« Sehnsüchtig beäugte Queenie die Flasche. »Oder etwas zu trinken?« »Wir könnten uns beide ein Gläschen Port gönnen.« »Stimmt, das könnten wir. Schließlich ist heute Sonntag.« »Allerdings nimmt man sonntags beim Abendmahl Wein zu sich, und nicht Portwein.« »Schon möglich, meine Liebe, aber davon habe ich keine Ahnung. Ich gehe nicht zur Kirche. Soll ich eingießen?« Gwendolen schüttelte sich. »Queenie, hier handelt es sich um Dessertwein und nicht um Tee.« Sie hielt es für eine schreckliche Angewohnheit, wenn man einer kranken Freundin ein Geschenk mitbrachte und anschließend darauf wartete, es mit ihr zu teilen. Doch obwohl sie ein ganzes Leben lang ruppig gewesen war,
hätte sie sich nie dazu hinreißen lassen, allein etwas zu trinken, während andere zusahen. Sie beobachtete, wie Queenie in ihren Augen viel zu großzügig in die falschen Gläser einschenkte, und hob dann ihr Glas mit dem Trinkspruch, den der Professor unter solchen Umständen auszubringen pflegte: »Wohlsein!« Dazu verspeiste jede etwas Käse, Kräcker, Obst und ein Stück Karottenkuchen, den Queenies ältere Tochter gestiftet hatte. Der Imbiss war auf Tabletts angerichtet, die mit uralten, vergilbten Spitzendeckchen dekoriert waren, die sich in der Schublade der Anrichte gefunden hatten. »Du siehst aus, als würdest du jeden Moment einschlafen«, bemerkte Queenie. »Dieses Ding ist nicht das Einzige, worüber ich mich bei 228 dem Untermieter beschweren muss«, meinte Gwendolen, ohne im Geringsten auf Queenies Bemerkung einzugehen. »Während meines Krankenhausaufenthalts habe ich einen sehr wichtigen Brief erwartet. Eigentlich hätte man ihn hierher zustellen müssen, was aber offensichtlich nicht geschah.« Sie hatte nicht die Absicht, Queenie nähere Details über den Inhalt oder den Absender dieses Briefes zu enthüllen. »Ich habe Cellini im Verdacht, dass er dabei seine Finger im Spiel hat.« Den »Mr.« hatte sie längst fallen gelassen. »Es sei denn, eine von euch hätte sich in meine postalischen Angelegenheiten gemischt.« Und fügte dann deutlich versöhnlicher hinzu: »Was mir unwahrscheinlich vorkommt.« »Selbstverständlich nicht, meine Liebe. Woher hätte denn dieser Brief kommen sollen?« »Wahrscheinlich hätte er in Oxford abgestempelt werden müssen. Aber jetzt will ich wirklich schlafen. Vielleicht könntest du also zu diesem Untermieter hinaufgehen? Um sechs Uhr soll er sich einfinden.« Schwerfällig tappte Queenie die Treppe hinauf, nicht ohne dem Telefon im Vorbeigehen einen sehnsüchtigen Blick zuzuwerfen. Leider würde es Gwendolen bereits hören, wenn sie auch nur den Hörer abnahm, denn Gwendolen hatte trotz ihres hohen Alters wesentlich bessere Ohren als sie, und dann gäbe es ein ordentliches Donnerwetter. Auf dem ersten Treppenabsatz zog sie ihre hochhackigen Schuhe aus, die ihr ein einziges Martyrium bereiteten, holte mehrmals tief Luft und quälte sich dann mit den Schuhen in der Hand weiter. Wenn er nicht da wäre, würde sich Gwendolen einiges anhören müssen. Ihre Freundin sollte sich ja nicht einbilden, dass sie ein Vorrecht auf unhöfliches Benehmen hätte. Was du kannst, kann ich schon lange.
Er war zu Hause und kam mit einem Pullover um die Schultern barfuß an die Tür. »Ach, hallo. Was gibt's?« 229 Wenn eine Frau von einem Mann irgendetwas möchte, wenn sie in seiner Gegenwart schlicht und einfach existieren will, dann muss sie übertrieben höflich, nett und gewinnend und sogar ein wenig neckisch sein. Diese Ansicht vertrat Queenie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr und verhielt sich dementsprechend. Dadurch war ihr Leben zwar nicht bequemer geworden, aber ihre Ehe glücklicher. »Ach, Mr. Cellini, es tut mir ja so leid, wenn ich Sie belästige, und das auch noch an einem Sonntag, aber Miss Chawcer meint, ob Sie so lieb wären und sich heute Abend gegen sechs Uhr fünf Minuten Zeit für sie nehmen könnten. Wenn Sie einfach nur kurz runterspringen und mit ihr reden würden. Sie wird Sie bestimmt nicht lange aufhalten. Wenn Sie also ...« »Worum geht's denn?« »Das hat sie nicht gesagt.« Queenie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln, von dem einmal ein Mann gesagt hatte, dabei gehe die Sonne auf, und versuchte auch weiter, es allen recht zu machen. »Sie wissen ja, wie sie ist, Mr. Cellini«, sagte sie, wobei sie Gwendolen unbewusst in den Rücken fiel. »Sie nimmt jede Kleinigkeit ganz penibel. Was man aus dem Zustand dieses Hauses allerdings nicht schließen würde, nicht wahr?« »Wohl wahr.« Mix wollte möglichst rasch zu dem Fußballspiel zwischen Manchester United und irgendeinem Team vom europäischen Festland zurück, das er sich vor einigen Wochen aufgezeichnet hatte. »Sagen Sie ihr, ich werde gegen sechs da sein. Na dann, tschüss.« Als sie wieder unten im Salon war, schlief Gwendolen. Sie schrieb auf ein Blatt Papier: Mr. Cellini kommt um sechs. Alles Liebe, Queenie. Droben im Dachgeschoss fand das Videoband keine Beachtung mehr. Mix hatte sich die Nachricht angehört, ohne weiter darüber nachzudenken, doch kaum war er wieder in der Wohnung, überfielen ihn auf der Stelle Bedenken. Sicher hat sie den 229 Tanga gefunden, dachte er, denn gefunden hatte ihn ja offensichtlich jemand. Und wer käme dafür mehr in Frage als die alte Chawcer? Er musste sich einen Grund ausdenken, warum der Tanga im Waschkessel gelegen hatte, aber ihm fiel nur eine Ausrede ein: Einer Freundin sei die Waschmaschine kaputt gegangen, und er habe für sie gewaschen. Allerdings klang das völlig unglaubwürdig. Wer würde heutzutage noch in diesen uralten Löchern waschen? War der Waschsalon vielleicht ebenfalls außer Betrieb? Außerdem
wäre das keine Erklärung für die Tatsache, dass er im Waschhaus eigentlich nichts zu suchen hatte. Vielleicht könnte er alles abstreiten. Das wäre das Beste. Noch besser wäre es, wenn er unterstellen könnte, Oma Fordyce oder Oma Winthrop hätten etwas damit zu tun. Er könnte sogar behaupten, er hätte eine von ihnen mit dem Tanga in der Hand gesehen. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, redete er sich ein, denk einfach nicht daran. Denk an etwas anderes. Und woran? Dass Frank aus dem »Sun in Splendour« vielleicht in diesem Moment bei der Polizei saß? Dass Nerissa mit einem anderen Kerl ausging? Nein, denk darüber nach, ob du Brian Brunswick zweihundertfünfzig für den Volvo anbieten könntest. Warum sollte er nicht morgen wieder zu diesem Haus gehen und Sue Brunswick bitten, mit ihm eine kleine Spritztour zu machen? Sie müsste ja nicht selbst fahren, sondern nur neben ihm sitzen. Das wäre prächtig. Er könnte sie bis Holland Park hinunterfahren oder besser gleich nach Richmond und ihr einen gemeinsamen Lunch in einem der angesagten Pubs vorschlagen. Wenn sie ihr Auto verkaufen wollte, könnte sie ihm das nicht abschlagen. Und danach, während der Alte, dieser Brian, auf Achse war, könnte man in ihrem Haus ... Vermutlich bliebe es bei einem einmaligen Quickie, aber mehr wäre auch nicht nötig. Wenn er erst einmal bei Nerissa im Haus wäre und sich mit ihr bei einer Tasse Kaffee unterhalten hätte, würde er keinen Bedarf mehr an zweitklassigen 230 Frauen wie Sue Brunswick oder an gebrauchten Autos haben. Dann wäre er der stolze Besitzer eines Jaguars und - von Nerissa. Bis nächsten Sonntag könnten sich seine gesamten Lebensumstände verändert haben. Dann würde er nicht einmal mehr in dieser Wohnung leben, auch wenn sie durchaus attraktiv war, dann würde er am Campden Hill Square einziehen. Ein Job oder ein Auto wären ihm dann ebenso egal wie das, was ein Haufen alter Weiber über ihn dachte. In ihrem Haus würde kein Mörder herumspuken. Er würde ihr die Sache mit dem Tanga erzählen, und dann würden sie sich gemeinsam schieflachen, besonders über die Stelle, wie er der alten Chawcer weismachte, der Tanga gehöre Oma Winthrop. Als würde so etwas über deren fetten Arsch passen! Er nahm drei Ibuprofen mit vierhundert Milligramm Wirkstoff, zog Socken und Schuhe an, schlüpfte in seinen Pullover und ging um zehn Minuten nach sechs Uhr hinunter. Gwendolen lag nicht auf dem Sofa und saß auch nicht
herum, sondern lief wütend durch den Raum. Dieser Untermieter kam zehn Minuten zu spät! Als er auftauchte, verlor sie vor Zorn die Beherrschung: »Sie kommen zu spät. Bedeutet den Leuten Pünktlichkeit denn gar nichts mehr?« »Was wollten Sie denn?« »Sie sollten sich setzen«, rief Gwendolen. War es tatsächlich so, dass bei Ärger der Blutdruck anstieg? Dass man spürte, wie er stärker wurde und durchs Gehirn pochte? Manchmal stellte sie sich ihre Arterien vor, die inzwischen sicher ähnliche Ablagerungen wie Zahnbelag hatten. Ihr schwindelte. Sie musste sich setzen, auch wenn sie lieber gestanden und ihn um Haupteslänge überragt hätte. Andererseits fürchtete sie sich vor einem Sturz und wollte sich in seiner Gegenwart keine Blöße geben. »Heute Vormittag hat mir ein äußerst charmanter Nachbar 231 einen Besuch abgestattet«, sagte sie, wobei sie tief Luft holte. »Von diesen Einwanderern in unseren Landen könnten einige hiesige Leute lernen, was gute Manieren sind. Doch lassen wir dies mal beiseite. Jedenfalls hatte er mir etwas zu berichten. Möglicherweise können Sie erraten, worum es sich handelt.« Mix konnte. Da hatte er nun über alle möglichen Gründe nachgegrübelt, warum ihn die alte Chawcer sehen wollte, aber dieser war ihm nicht eingefallen. Dafür hatte er keine Erklärung. Mit wachsendem Entsetzen lauschte er, wie sie sich lang und breit über Mr. Singhs Besuch ausließ, wie dieser Mix' Anwesenheit im Garten falsch interpretiert hatte, sowie über ihre eigene Empörung. »Würden Sie mir vielleicht nun erklären, was Sie sich dabei gedacht haben?« »Ich habe den Garten umgegraben«, sagte Mix. »Sie können nicht behaupten, dass er das nicht nötig hätte.« »Das geht Sie gar nichts an. Der Garten ist nicht Ihre Angelegenheit.« Gwendolen hatte beschlossen, dieses Ding unerwähnt zu lassen. Mit dem Brief war es etwas anderes. »Außerdem habe ich Grund zur Annahme, dass Sie sich an meiner Post zu schaffen gemacht haben.« »Das ist eine Lüge.« »So sprechen Sie nicht mit mir, Mr. Cellini. Wie können Sie es wagen, mich der Unaufrichtigkeit zu verdächtigen? Sie haben mir noch immer keine Begründung genannt, warum Sie meinen Garten umgegraben haben. Vom
Betreten meiner Küche und meines Waschhauses möchte ich gar nicht sprechen.« Damals, in der Gesamtschule, hatte er eine ähnliche Lehrerin gehabt. Er wusste sogar noch ihren Namen: Miss Forester. Sie hatte schon seine Mama unterrichtet und seines Wissens sogar seine Großmutter. Aber erst seine, Schülergeneration hatte ihr zugesetzt. Sie musste gehen, sonst hätte sie einen Nervenzusammenbruch erlitten. Einer der Schuldigen war er 232 gewesen, aber damals hatte er auch nichts zu verlieren gehabt. Heute war die Situation anders. Nur zu gern hätte er ihr den Satz ins Gesicht gespuckt, den er damals Miss Forester zugerufen hatte, aber irgendwie wollten ihm die Worte »Verpiss dich, du alte Kuh« nicht über die Lippen. »Entweder liefern Sie mir eine zufriedenstellende Erklärung für Ihr Benehmen, oder ich kündige Ihnen fristlos Ihre Räumlichkeiten.« »Das können Sie nicht machen«, sagte er. »Es handelt sich um eine unmöblierte Wohnung. Ich genieße Mieterschutz.« Diese wenn auch skandalöse Tatsache war Gwendolen wohl bekannt, dennoch hatte sie einen Versuch riskiert. »Was haben Sie vergraben? Schätzungsweise ein Stück aus meinem Besitz. Ein wertvolles Schmuckstück? Oder vielleicht etwas vom Silber? Ich werde es überprüfen, seien Sie versichert, ich werde ein Inventar der fehlenden Stücke erstellen. Vielleicht haben Sie aber auch jemanden ermordet und die Leiche vergraben. Ist es das?« Trotz des Flecks auf dem Sockel der Psyche-Statue glaubte Gwendolen nicht einen Moment an diese Version der Ereignisse. So etwas gehörte in den Bereich der Fabel. Derartige Geschichten hatte sie im Laufe der Jahre oft genug gelesen. Sie sagte es nur, um ihn zu beleidigen, und bemerkte dabei nicht einmal, dass Mix kreidebleich geworden war und seine ausdruckslose Mimik verloren hatte. Trotzdem sagte er kein Wort, sondern senkte nur die Augen, mit denen er sie bisher fixiert hatte. Triumphierend erkannte sie, dass sie ihn restlos besiegt hatte, und jetzt würde sie zum endgültigen Stoß ausholen. »Jedenfalls werde ich morgen früh die Polizei informieren. Ich bezweifle, dass Sie nach Ihrer Haftentlassung noch den Wunsch hegen werden, hierher zurückzukommen, selbst wenn das gestattet wäre.« 232 »Sind Sie fertig?«, wollte Mix wissen.
»Beinahe«, sagte Gwendolen. »Ich wiederhole nur nochmals, dass ich morgen früh die Polizei über Ihre Vergehen informieren werde.« Als er weg war, musste sie sich unbedingt hinlegen. Kaum hatte sie gehört, wie seine Wohnungstür ins Schloss gefallen war - er warf sie mit voller Wucht zu, dass das ganze Haus zu beben schien - , rappelte sie sich mühsam vom Sofa hoch und begann, Richtung Treppe zu kriechen. Später würde sie vielleicht nicht mehr genug Kraft dazu haben, so wie sie nun bereits keine Energie mehr für den ersten Schritt nach oben hatte. Ungefähr zehn Minuten blieb sie auf dem Boden sitzen, erst danach kroch sie auf Händen und Knien die Treppe hoch. Als sie endlich ihr Schlafzimmer erreichte, hatte sie das Gefühl, Stunden seien vergangen. Nie hätte sie ihr Bett nach unten schaffen lassen, Gott behüte. Bisher hatte weder Queenie noch Olive diesen Vorschlag gemacht, aber das käme noch, ganz sicher. So etwas käme für sie nie in Frage, dachte sie, während sie sich vergeblich bemühte, sich auszuziehen und in ihr Nachthemd zu schlüpfen. Sie brachte es lediglich fertig, den Rubinring vom Finger zu streifen und in das Schmuckkästchen zu legen. Eigentlich sollte sie sich die Hände waschen. Beim Gedanken daran blieb es. Der Weg ins Bad schien genauso unmöglich wie ein Spaziergang zum Ladbroke Grove und wieder zurück. Sie legte sich hin und schloss die Augen. Ihr ganzer Körper war restlos geschwächt, und doch wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Während der letzten Woche war sie stets gegen ihren Willen ganz leicht und mühelos eingeschlummert, auch wenn sie dagegen angekämpft hatte, nun mied der Schlaf sie. Der Ärger hielt ihn von ihr fern. , Es war nicht nur die Wut über das Verhalten dieses Untermieters, auch wenn das bereits genügt hätte. Hier quoll der un 233 terdrückte Zorn eines ganzen Lebens herauf und tobte wie verrückt durch ihre Adern. Der Zorn auf Mama, die ihr beigebracht hatte, sich wie eine Dame zu benehmen, auch wenn sie dafür Redefreiheit, Geistesbildung, die Möglichkeit, sich frei zu bewegen, Liebe, Leidenschaft, Abenteuer und Glück einbüßte. Der Zorn auf Papa, der ihr echte Erziehung verweigert und dies unter dem Mäntelchen versteckt hatte, er wolle sie vor der verderbten Welt beschützen, Papa, der sie als seine persönliche Pflegerin und Gehilfin ans Haus gefesselt hatte. Der Zorn auf Stephen Reeves, der sie betrogen und eine andere geheiratet und nicht einmal ihre Briefe beantwortet hatte. Der Zorn auf dieses verfallene Ungetüm von einem Haus, das ihr Gefängnis geworden war.
Lange Zeit - wie lange, wusste sie nicht - spürte sie, dass sie rein körperlich nicht existierte, sondern nur ein Gedankengebilde war, in dem Zorn und Rachegelüste durcheinanderwirbelten. Sie tobte vor Wut, doch dann, im nächsten Augenblick, war sie leer und still. Schlief sie? Nein, das war etwas anderes. Als sie aus diesem Zustand wieder auftauchte, war ihr erster Gedanke, dass sie diesen Untermieter wenigstens mit der Polizei bestrafen konnte. Sie wollte sich aufsetzen und gab sich alle Mühe. Vergebens. Keine Müdigkeit vorschützen, noch heute Nacht würde sie den restlichen Schmuck im Kästchen überprüfen und nachsehen müssen, ob die fehlenden Stücke drunten im Garten in einem Schlammloch lagen. Sie musste unbedingt hinunter und in die Vitrine schauen, wo das Silber schon seit Jahren unberührt in einem grünen Filztuch vor sich hin schlummerte. Anscheinend hatte sie für wenige Augenblicke das Bewusstsein verloren. Würde sie aufstehen können? Sie bezweifelte es. Diesmal fürchtete sie nicht, sie könnte stürzen, weil ihr schwindlig werden würde. Offensichtlich war sie nicht in der Lage, ihre linke Körperhälfte zu bewegen. Natürlich, ein 234 Krampf. Sie litt ab und zu unter Krämpfen, und das meistens nachts. Sie rubbelte ihr linkes Bein und dann ihren linken Arm und bildete sich ein, sie bekäme wieder etwas mehr Gefühl darin. Trotzdem kostete es sie unendlich Mühe, den Fuß auf den Boden zu stellen. Ihr Arm baumelte nutzlos herunter. Sie musste versuchen, den Lichtschalter und die Tür zu erreichen, dachte sie, doch in dem Moment glitt die Tür langsam auf und Otto stromerte herein. Vor dem schwachen Widerschein der noch funktionierenden Straßenlampen zeichnete sich sein schlanker dunkelbrauner Körper ganz schwarz ab, während seine Augen so grün funkelten wie die Limetten, die der Laden an der Ecke verkaufte. Zum ersten Mal ertappte sie sich bei einem gänzlich unpassenden Gedanken, der ihr noch nie gekommen war: Er hat wunderschöne Augen. Dieser junge geschmeidige Kater war das einzige perfekte Wesen, das sie je gesehen hatte. Er aber hockte sich, ohne sie zu beachten, vor den leeren Kamin und begann, mit seinen scharfen weißen Zähnen kleine Aststücke und winzige Steine aus seinen Pfotenballen zu zupfen. Gwendolen zerrte mühsam ihr linkes Bein wieder aufs Bett und richtete es mit ihrer rechten Hand aus. Danach war sie restlos erschöpft. Otto sprang nach vollendeter Maniküre elegant aufs Bett und rollte sich neben ihren Füßen zusammen. 234
24 Mix beobachtete von seinem Schlafzimmerfenster aus, wie Mr. Singh an den Palmwedeln bunte Lichterketten befestigte, obwohl weder Weihnachten noch dieses indische Fest bevorstand, das man ungefähr um dieselbe Zeit feierte. Was trieb der Kerl also da? Vielleicht ist es ganz gut, dass wir hier keine Handfeuerwaffen besitzen dürfen wie drüben in den USA. Wenn ich ein Gewehr hätte, würde ich den Typen auf der Stelle einfach abknallen. Mr. Singh stieg von der Leiter, ging ins Haus und schaltete die Lichter ein. Jetzt glitzerte es in dem exotischen Baum rot und blau und gelb und grün. Danach kam Mrs. Singh in einem rosa Sari heraus. Jetzt standen beide in Betrachtung des Baumes versunken da und bewunderten den Effekt. Sogar um diese Tageszeit hoben sich aus einiger Entfernung die Stellen, wo Mix im Garten gegraben hatte, ziemlich deutlich ab: ein kleiner frischer Erdfleck und ein größerer. Eigentlich hätte er im Schutz der Dunkelheit graben sollen, das wusste er inzwischen, allerdings hätte das nur nach Mitternacht geschehen können. Während in den Häusern in Mr. Singhs Straße Licht brannte, konnte er auf dieser Seite nur die Gärten sehen, nicht die Terrassen. Einer der Gärten war entlang der Mauer und zwischen den immergrünen Pflanzen beleuchtet. Eine Frau war herausgekommen und hatte von der Wäscheleine eine Decke und Jeans abgenommen. Er erkannte sie wieder, es war Sue Brunswick. Mittlerweile erschien ihm die Idee, den Wagen ihres Ehemanns zu kaufen, wie ein halb vergessener Traum, ganz zu schweigen von seinen Absichten 235 mit ihr, die er sich ausgemalt hatte. Sogar Nerissa, an die er um diese Tageszeit oft wie an ein Abendlied voller Romantik gedacht hatte, verblasste allmählich. Alles war unwichtig: Jobs, Existenzgrundlage, Auto, Liebe, letzt ging es nur noch darum, den Anruf der alten Chawcer bei der Polizei zu verhindern. Und doch war er, seitdem er wieder hier oben war, vor Angst wie gelähmt. Er hatte weit mehr Ibuprofen geschluckt als die angegebene Höchstdosis. Nun war ihm übel, und seine Rückenschmerzen hatten sich auch nicht sonderlich gebessert. Er war nicht einmal in der Lage gewesen, sich einen Drink einzuschenken, über etwas Essbares nachzudenken oder sich zu setzen. Seither stand er nur hier am Fenster, suchte Halt am Fensterbrett und starrte hinaus. Sie würde es tun, davon war er überzeugt und hatte deshalb gar nicht erst versucht, sie davon abzubringen. Sie verschob es nur deshalb auf morgen, weil sie noch zu jener Generation gehörte, die meinte, sonntags würde man
nicht bei der Polizei oder beim Arzt anrufen und auch nicht zum Einkaufen gehen. Seine Omi war genauso gewesen. Für diese Leute begann am Montag wieder der Alltag, und deshalb würde sie gleich am Morgen anrufen. Ottos funkelndes Augenpaar war nirgends zu sehen. Bisher hatte Mix noch kaum einen Gedanken an Otto verschwendet, aber jetzt stellte er sich vor, welch herrliches Leben man als solch ein Kater führte. Man bekam kostenlos Essen und Unterschlupf, brauchte nie einen Job, wusste nicht, was schlaflose Nächte sind, und konnte Tag und Nacht nach Belieben frei durch ein reichhaltiges Jagdrevier streunen. Ohne Schmerzen, gelenkig und furchtlos. Und man hatte die Freiheit, alles zu ermorden, was sich einem in den Weg stellte. Selbstverständlich gäbe es keinen Sex. Otto war sicher kastriert. Aber Sex war sowieso ziemlich lästig, und außerdem konnte man schwerlich etwas vermissen, was man nie gekannt hatte. 236 Diese kleine Ablenkung von seinen Problemen trieb Mix ins Wohnzimmer, wo er sich einen Boot Camp mit einem Extraschuss Cointreau mixte. So vernünftig hätte er schon vor mehreren Stunden sein sollen. Vielleicht hätte er sich dann nicht so mies gefühlt. Wie immer wirkte der Cocktail Wunder und vermittelte ihm binnen kürzester Zeit das Gefühl, er könne alle Probleme der Welt lösen. Man musste die Dinge lediglich nüchtern betrachten und wissen, wo die Prioritäten lagen. Für ihn gab es hier und heute nur eine einzige Priorität: das Telefonat der alten Chawcer mit der Polizei zu verhindern. Vermutlich wusste sie gar nicht, was ihre Aussage bei denen auslösen würde. Er schon. Da man bereits nach Danilas Leiche suchte und ihren Mörder jagte, würden sie sofort die Chance nutzen, beide Rätsel zu lösen, und zehn Minuten später wären sie bereits hier. Das musste verhindert werden. Er wusste, wie man eine Frau mundtot machte. Er hatte es schon einmal getan. Gwendolen war sich kaum bewusst, wie sie aus dem Bett gekommen war. Sie kroch ein paar Zentimeter über den Boden. In Mr. Singhs Garten hatte sich eine Palme in einen bunten Kronleuchter verwandelt. Gewiss alles nur Einbildung. Mit ihrem Gehirn musste irgendetwas passiert sein. Schon der Weg zur Tür war unmöglich, geschweige denn die Treppe hinunter, in den Salon und zur Silbervitrine. Gern hätte sie ihre Ärztin angerufen, ja sogar Queenie oder Olive, aber dazu hätte sie sich die Treppe hinunterrollen lassen müssen. Außerdem war heute ihres Wissens immer noch Sonntag, und Mrs. Chawcer hatte ihr eingebläut, sonntags dürfe man lediglich bei Familienmitgliedern anrufen und auch an den übrigen Tagen nie nach neun
Uhr abends. So leicht ließen sich die Prinzipien ihrer längst verstorbenen Mutter nicht umstürzen, auch wenn sie noch so wütend auf sie gewesen war. Deshalb 237 kroch sie wieder zurück. Sie hatte nicht die Kraft, sich zu waschen oder »sich zu erleichtern«, wie es ihre Mutter bezeichnet hatte. Der imaginäre Baum stand immer noch da und funkelte von bunten Sternchen. Mit diesem Bild vor Augen sackte sie voll bekleidet aufs Bett. Allerdings gelang es ihr, einen Schuh auszuziehen. Den anderen schleuderte sie vom Fuß. Da lag sie nun auf dem Rücken und zog mit ihrer gesunden rechten Hand die Daunendecke über sich. Bereits die ganze letzte Stunde hatte sie vermutet, was mit ihr geschehen war, aber erst jetzt konnte sie es stumm formulieren: Sie hatte einen Schlaganfall erlitten. Mix war auf den Treppenabsatz vor seiner Wohnungstür hinausgegangen, weil sie beim Aufstehen so viel Lärm gemacht hatte. Was war mit ihr los? Vielleicht machte sie beim Zubettgehen immer so viel Lärm. Woher sollte er das wissen? Er erinnerte sich nicht, dass sie ihm dabei schon einmal aufgefallen wäre. Wäre er imstande, sie kaltblütig umzubringen? Bei Danila war das etwas anderes gewesen. Danila hatte ihn beleidigt und Nerissa grundlos attackiert und ihn dadurch so zornig gemacht, dass er die Beherrschung verloren hatte. Auf dem Treppenabsatz ging das Licht aus. Solange die Straßenlampe kaputt war, war vom Isabellafenster nichts zu sehen. Wenn ich hier erst mal alleine bin, dachte er, werde ich im ganzen Haus die Minutenschaltung anders einstellen, damit die Lampen länger brennen. Außerdem werde ich normale Hundertwattglühbirnen kaufen, vielleicht sogar welche mit hundertzwanzig Watt und nicht diesen Mist. Aber für lange wird's ja nicht sein. Bald bin ich weg. Sein Blick wanderte zu dem schmalen Lichtstrahl hinüber, der aus seiner Wohnungstür fiel. Er hatte sie einen Spaltbreit offen gelassen. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die 237 Dunkelheit, und er schaute in den linken Gang hinein, wo sich soeben eine männliche Gestalt entfernte und Mix dabei den Rücken zudrehte. Sie schien aus dem Raum nebenan gekommen zu sein. Als die Gestalt an der letzten Tür war, drehte sie sich um und erstarrte bei seinem Anblick. Mix sah die Brille auf seiner Adlernase matt aufleuchten. Dann zuckte der Geist leicht mit den Schultern, streckte die Hände in einer zweifelnden oder verzweifelten Geste
aus und öffnete den Mund, aber kein Ton drang heraus. Mix schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, war der Geist verschwunden. Offensichtlich hatte die panische Angst vor der Polizei seine übliche Furcht vor dem Geist teilweise gebannt. Er blieb wie angewurzelt stehen und starrte die Stelle an, wo der Geist gestanden hatte. Dieses Schulterzucken hatte eine Bedeutung. Der Geist hatte versucht, ihm etwas mitzuteilen. Vielleicht wollte er ihm zu der Tat raten, die schon fast beschlossene Sache war. Er, Reggie, hatte sechs Frauen ermordet, ohne sich sonderlich aus der Fassung bringen zu lassen. Obwohl niemand wusste, warum er seine eigene Frau umgebracht hatte, ging man allgemein davon aus, dass sie von seinen Morden erfahren und sich nicht nur geweigert hatte, ihn zu decken, sondern mit genau dem gedroht hatte, was die alte Chawcer jetzt ihm, Mix, anzutun gedachte. War es das, was Reggies Geist ihm mitteilen wollte? - Bring sie um. Ich habe nicht zweimal überlegt. Bring sie um, und dann mach das, was ich mit Ethel getan habe. Langsam verließen die Gedanken Gwendolens Kopf, bis er fast leer war. Stephen Reeves tauchte flüchtig auf und verschwand dann in einer langen Straße, auf der die Gedanken dahinzogen und wo Gwendolen in weiter Ferne, an der Schwelle eines undefinierbaren Etwas, schemenhafte Gestalten ausmachen konnte. Vielleicht waren es Papa und Mama, vielleicht auch 238 nicht. Allmählich verblassten auch sie und glitten über dieselbe Schwelle, hinter der auch Stephen verschwunden war. Sie war allein auf der Welt, doch das war nichts Ungewöhnliches. Sie war immer allein gewesen. Und während drinnen, im ehemaligen Hort der Gedanken, etwas rumpelte und murmelte, wusste sie, dass sie diese Welt auch allein verlassen würde. Grundlos und ohne tieferes Verlangen befahl sie ihren Händen und Armen, sich zu bewegen, jedoch gehorchten sie ihr nicht mehr, und für einen zweiten Befehl war sie viel zu müde. Sie atmete ganz langsam. Ein und aus. Ein und nach langer Zeit aus. Und wieder ganz leicht ein. Und atmete lange rasselnd aus. Wenn Menschen bei ihr gewacht hätten, hätten sie auf den nächsten Atemzug gewartet, und wenn dieser ausgeblieben wäre, hätten sie sich von ihren Stühlen erhoben, ihr die Augen zugedrückt und das Leintuch übers Gesicht gezogen. Helles Mondlicht ergoss sich ins Schlafzimmer. Gwendolen war beim Zubettgehen zu krank und zu müde gewesen, um die Vorhänge zuzuziehen. Seitdem waren vier Stunden vergangen, und jetzt stand ein fast voller Mond hoch am klaren Himmel. Das Bett war so auf die hohen, breiten Fenster
ausgerichtet, dass der Mond zwischen den halb geöffneten Vorhängen ein blasses Band auf die Betttücher zeichnete, einen weißlichen Streifen, der ihr Gesicht im Dunkeln ließ. In Mr. Singhs Haus waren die Lichter früher als sonst ausgegangen, und auch der Baum mit der Lichterkette war dunkel. Beim Betreten des Schlafzimmers entdeckte Mix bestürzt, dass er zitterte, aber nicht, weil es kalt war, sondern vor Angst. Und doch, wovor sollte er sich noch fürchten? Diesmal hatte er nicht einmal beim Anblick des Geistes eine Gänsehaut bekommen. Drunten waren sämtliche Türen .versperrt und verriegelt, so gut es ging. Er war mit ihr allein. Natürlich gab es dort oben immer noch den Geist, aber Mix war sich sicher, 239 dass Reggie sein Vorhaben billigte. Außerdem waren seine Rückenschmerzen verschwunden, auch wenn ihm das ein Rätsel war. Obwohl er kein Ibuprofen mehr genommen hatte, waren sie weg. Jetzt würde alles wieder ins Lot kommen. Als er sich dem Bett näherte, entrollte sich ein schwarzer Schatten, schoss hoch und machte einen Buckel. Die grünen Augen wirkten größer und greller als sonst. »Dich bring ich auch um«, rief Mix. Er stürzte sich auf Otto. Der aber entschlüpfte mühelos seinen plumpen Händen, zischte wie eine Schlange und sauste zur offenen Tür hinaus und weiter auf die Treppe. Die Frau auf dem Bett lag völlig reglos da. Tu's schnell, sagte er sich, tu's jetzt. Sieh sie nicht an. Tu es einfach. Ihr Kopf lag auf einem Kissen, daneben ein zweites, und ein drittes Kissen stand hochkant am Kopfende. Letzteres packte er mit zitternden Händen und presste es ihr so fest wie möglich aufs Gesicht, ohne hinzusehen. Sie rührte sich nicht. Es gab keine Gegenwehr. Sie blieb völlig still. Er ließ die Hände liegen. Sie beruhigten sich, und er zählte bis hundert, bis zweihundert... Bei fünfhundert lockerte er seinen Griff. Dabei berührte er ihre Haut im Nacken. Sie war eiskalt. Noch nie hatte er einen so alten Menschen berührt. Seine Großmutter war mit siebzig gestorben. Waren alle alten Leute so kalt? Kühlte mit dem Älterwerden allmählich das Blut ab, das warme Leben? Er legte das Kissen wieder an seinen Platz und zog die Bettdecke von ihrem Körper. Zu seiner Überraschung war sie vollständig bekleidet. Vielleicht ging sie immer so ins Bett, vielleicht zog sie sich nie aus. Er zog den Bettbezug ab und begann, den Körper darin einzuwickeln. Inzwischen hatte er schon etwas Erfahrung und arbeitete weniger ängstlich und unbeholfen. Er hatte sich mit
dieser unumgänglichen Tat abgefunden und fühlte sich sehr ruhig. Bevor er ihr den letzten Zipfel des 240 Lakens über Kopf und Gesicht wickelte, zwang er sich, sie anzusehen. Ihre weit aufgerissenen Augen erinnerten ihn an Danila, aber Danila hatte junge klare Augen und einen warmen Körper gehabt. Diese wässrig-trüben Augen ruhten in einem Faltengespinst. Und außerdem war diese alte Frau eiskalt. Sie war viel schwerer als Danila. Er brauchte lange, um sie bis ins Dachgeschoss zu zerren. Die Leiche polterte gegen jede Stufe. Er rechnete damit, dass seine Rückenschmerzen wieder aufflammten, aber dem war nicht so. Kaum lag die Leiche in seiner Wohnung, gönnte er sich ein ordentliches Glas Gin und begab sich anschließend wieder in ihr Schlafzimmer, um ihr Bett zu machen, und zwar so schlampig, wie sie es seiner Ansicht nach gemacht hätte. Ihre Schuhe stellte er zu dem restlichen Durcheinander in den Schrank. Vermutlich hatte sie sie vor dem Hinlegen abgestreift. Auf Anfrage würde er jedem erzählen, sie habe sich zu einem Erholungsurlaub entschlossen. Deshalb ließ er alles so stehen und liegen, als wäre sie tatsächlich weggefahren. Während er sie nach oben geschleppt hatte, hatte er ständig damit gerechnet, dass seine Rückenschmerzen wieder aufflammen würden, aber er war fast schmerzfrei. Und irgendwie wusste er, das würde auch so bleiben, es sei denn, sie kämen wie beim letzten Mal später wieder. Als Timothy Evans Klage eingereicht hatte, hatte Reggie dem Gericht weisgemacht, er hätte Evans' Frau gar nicht umbringen können, weil er sie wegen seines kaputten Rückens gar nicht heben konnte. Ich werde um sämtliche Gerichte einen großen Bogen machen, redete sich Mix entschlossen ein. Ich habe sie aus dem Weg geschafft, um ja keinen Gerichtssaal betreten zu müssen. Er ging nach unten und entriegelte die Haustür, falls Oma Winthrop oder Oma Fordyce auf die Idee kämen, morgen ganz frühzeitig hier aufzukreuzen, und ihnen eine verriegelte Tür seltsam vorkäme. Er wollte auf jeden Fall vermeiden, dass ir 240 gendjemandem irgendetwas seltsam vorkam. Nachts ist dieses Haus einfach schrecklich, dachte er. So etwas dürfte es eigentlich gar nicht geben. Wer hier lange wohnte, lief Gefahr, verrückt zu werden. Man spürte förmlich, wie ringsherum allmählich alles vermoderte und verrottete, das Holz, die Gardinen, die uralten Teppiche. Von Stunde zu Stunde, ja, von Minute zu Minute zerfiel alles immer mehr in seine Bestandteile. Wer still stehen blieb und
lauschte, konnte beinahe hören, wie es trippste und tropfte, wie die Motten knispelten und knuspelten, wie Holzspäne, Rost und Schimmel zu Staub zerbröselten. Wie war er jemals auf die Idee gekommen, hier leben zu wollen? Warum hatte er so viel Geld ausgegeben, um einen kleinen Teil dieses Hauses bewohnbar zu machen? Als er wieder ins Treppenhaus kam, sah er, dass Otto über ihm im ersten Stock auf dem Treppenabsatz saß. Hatte sie den Kater gefüttert? Normalerweise tat sie das vor dem Schlafengehen und würde es auch am Morgen vor ihrer angeblichen Abreise getan haben. Er ging wieder zurück, um sich selbst davon zu überzeugen. Schließlich sollte keiner der beiden Alten der leere Katzenteller seltsam vorkommen, wenn sie im Haus herumschnüffelten. Entweder hatte Otto alles aufgefressen oder nie etwas bekommen. Mix machte eine Dose auf und füllte den Teller. »Wenn ich Gift hätte, würde ich es hineinmischen«, rief er laut. Otto kam die Treppe herunter. Mix trat nach ihm. Der Kater holte im Sprung aus und zerkratzte ihm mit den Krallen den nackten Knöchel. Mix schrie auf, seine Hand fuhr ans Bein. Als er sie wieder wegzog, war sie voll Blut. Fluchend suchte er mit zusammengekniffenen Augen im Mondschein nach dem dunklen Schatten mit den leuchtenden Augen, aber Otto war verschwunden, ohne das Fressen angerührt zu haben. Blutend folgte ihm Mix. Überall drang das Mondlicht 241 herein, durch alle nackten Fenster, durch jeden Spalt zwischen Tür und Rahmen. Überall Tupfen und Streifen aus weißem Licht. Es schien durch die Fenster im Treppenhaus und kroch durch ihre Schlafzimmertür, die er offen stehen gelassen hatte. Er sah, wie über ihm Otto geräuschlos die geflieste Treppe hinauftappte. Oben strich der Kater ohne anzuhalten durch einen großen rechteckigen Fleck aus Mondlicht und bog nach links in den Gang ein. Als Mix dort ankam, war Otto nirgendwo zu sehen. Er war wie ein Hexengehilfe im Reich des Geistes verschwunden. Dorthin wagte Mix ihm nicht zu folgen, dazu hatte er viel zu große Angst. Einen Augenblick dachte er daran, noch einmal nach Gwendolens Schlaftabletten zu suchen, doch davor fürchtete er sich, obwohl er wusste, dass solche Ängste irrational waren. Genau wie eine andere Horrorfantasie: Er hätte restlos verschlafen und müsste beim Erwachen mit schlaftrunkenen Augen erleben, dass die Polizei in der Wohnung stand. Man hätte die Haustür aufgebrochen, und Oma Fordyce würde gerade das Bündel mit Gwendolens Leiche aufrollen. Er musste auf der Hut bleiben. Hinlegen und ausruhen
durfte er sich, aber nicht einschlafen. Am Morgen würde er Dinge zu erledigen haben, die keinen Aufschub duldeten. Die Familie Fordyce-Akwaa hatte Queenie zum Brunch eingeladen, was diese als außerordentlich nette Geste empfand. Schließlich würde sie neben Olive, ihrer Schwester, ihrer Nichte Hazel und Hazels beiden Söhnen mit Ehefrauen und zwei Babys die Einzige sein, die nicht zur Familie gehörte. Man hatte auch Gwendolen eingeladen, aber sie hatte abgesagt. Gwendolen war ein schwieriger Mensch, was jeder wusste, der mit ihr in Kontakt stand. Andererseits musste man auch ihr Alter berücksichtigen - sie war zehn Jahre älter als Quee 242 nie - und die Tatsache, dass sie unverheiratet war. Es war allgemein bekannt, dass jahrelanges Singleleben die Leute egoistisch machte. Obwohl Queenie und Olive oft über Gwendolens rüdes Benehmen und ihren Eigensinn diskutierten, waren sie sich einig, dass sie sich damit würden abfinden müssen. Es käme nicht in Frage, ihr deshalb die Freundschaft zu kündigen. Ferner vertraten beide die Ansicht, dass man sie in ihrem gegenwärtigen Zustand unmöglich länger als ein paar Stunden allein lassen konnte. Queenie sollte vormittags im St. Blaise House vorbeischauen, während Olive versuchen würde, zu einem späteren Zeitpunkt des Tages nach dem Rechten zu sehen. Neun Uhr war zwar früh, aber es ließ sich nicht vermeiden. Schließlich hatte sie noch einiges zu erledigen, bevor sie zu Olive hinüberging. Was sollte sie anziehen, das rosa Kleid oder den neuen weißen Hosenanzug, den sie zum Glück noch in Größe 46 bekommen hatte? Auch diese verzwickte Frage hatte sie noch nicht für sich beantworten können. Gwendolen lag vermutlich immer noch im Bett. Queenie sperrte auf und rief wie immer »Juhu«. Sie wollte ihre Freundin ja nicht erschrecken. Zuerst sah sie im Salon nach, wo immer noch die Flasche Portwein und ihre beiden Gläser mit dem inzwischen eingetrockneten, dunkelroten Bodensatz auf dem Tisch standen. In der Küche herrschte das übliche Durcheinander. Queenie wusste wohl, dass der ordentliche und saubere Zustand, den sie mit Olives Hilfe erreicht hatte, nicht lange anhalten würde. Ottos Fressnapf war halb voll. Ohne ersichtlichen Grund fühlte sich Queenie erleichtert, dass Gwendolen offenbar genug Kraft besessen hatte, ihn vor dem Zubettgehen zu füttern.
fetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als diese verflixte Treppe hinaufzusteigen. Vermutlich sogar zweimal, denn Gwendolen würde garantiert eine Tasse Tee haben wollen. Dieses Pro 243 blem ließe sich lösen, indem sie schon vorher Tee kochte. Es dauerte ewig, bis das Wasser in dem alten Wasserkessel mit den eingebrannten Verkrustungen vom Gasherd kochte. Auch innen hatte sich vermutlich eine dicke Kalkschicht abgelagert. Endlich konnte Queenie den Tee mit einer ordentlichen Portion Zucker als Aufputschmittel zubereiten, eine Tasse für Gwendolen und eine für sie selbst. Sie stellte beide auf ein Tablett und machte sich an den Aufstieg. Gwendolens Bett und auch das Zimmer waren leer. Das Bett war gemacht, wenn auch nicht im Entferntesten so, wie es bei Queenie üblich war, mit exakt eingeschlagenen Ecken wie im Krankenhaus. Gwendolens Ansprüchen würde es allerdings optimal genügen. Die Vorhänge waren halb vorgezogen, und ansonsten war alles so vollgestopft wie sonst auch. Als Queenie heraustrat, ertönte von oben eine Stimme: »Hallo, da unten.« Das ist doch ganz und gar nicht seine Art, schoss es ihr durch den Kopf. Warum war er so liebenswürdig? »Mr. Cellini, sind Sie das? Guten Morgen. Wissen Sie vielleicht, wo Miss Chawcer steckt?« Er kam herunter. Er sah schrecklich aus. Sein rundes Gesicht war ganz eingefallen, er hatte tiefe Augenringe, und auf der Haut lag ein ungesunder feuchter Film. Sein Bauch hing über den Jeansbund, und er hatte die Schnürsenkel seiner Turnschuhe nicht zugebunden. »Sie ist verreist«, sagte er. »Zur schnelleren Genesung, hat sie gemeint. Irgendwo in die Nähe von Cambridge. Sie hat dort Freunde.« Nach Queenies Wissen besaß Gwendolen außer ihr und Olive keine Freunde. Doch dann fiel ihr wieder ein, wie Gwendolen gesagt hatte, sie erwarte einen Brief aus Cambridge - oder Oxford? -, und Mr. Cellini praktisch Diebstahl unterstellt hatte. Hatte Gwendolen von diesen Freunden einen Brief bekommen, ohne ihr oder Olive etwas davon zu sagen? Schon mög 243 lich, es würde zu ihr passen. Vielleicht hatten diese Leute aus Cambridge aber auch gestern Abend angerufen. Trotzdem kam das alles sehr kurzfristig. Außerdem hatte sie nicht den Eindruck, als wäre Gwendolen auch nur in der Lage gewesen ... »Wann ist sie denn gefahren?« »Muss so gegen acht Uhr gewesen sein. Als ich unten meine Post holen wollte, stand sie mit ihrer gepackten Tasche in der Eingangshalle und wartete auf ein Taxi.«
Queenie konnte sich nicht vorstellen, dass Gwendolen ein Taxi rief, und schon gar nicht, dass sie regelmäßig Kundin bei irgendeinem Taxiunternehmen war. Aber was wusste sie schon? Und woher? »Ich nehme an, sie hat Sie gebeten, die Katze zu füttern?« »Sicher, und ich habe zugesagt, mich darum zu kümmern.« »Wissen Sie, wann sie zurückkommt?« »Sie hat nichts erwähnt.« »Nun ja, Mr. Cellini, dann macht es ja keinen Sinn, wenn ich noch hierbleibe. Man erwartet mich zum Brunch.« Queenie war stolz darauf, dass man sie als unbedeutende Witwe zu einem fremden Familienfest eingeladen hatte. »Es handelt sich um ein gemeinsames Fest von Olive und ihrer Nichte, Mrs. Akwaa.« Er starrte sie an. »Wird Miss Nash auch kommen?« Ein lächerlicher Mensch! Sie musste wieder daran denken, was er zu Nerissa an dem Tag gesagt hatte, als Gwendolen aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Offensichtlich hatte es ihn schlimm erwischt. Der ist ganz schön vernarrt, hätte ihr verstorbener Mann gesagt. »Bedauerlicherweise nicht.« Queenie konnte Männer nicht ausstehen, die andere Frauen ihr vorzogen. »Um diese Jahreszeit ist sie in alter Tradition immer einen Tag lang allein mit ihrem Vater unterwegs. Und der heutige Tag stand schon lange fest.« Sie ging die Treppe hinunter. Zu ihrer Überraschung kam er 244 hinterher. »Sind Sie mit dem Auto hierhergefahren?«, wollte er wissen, als sie in der Diele standen. »Ich besitze gar kein Auto. Warum fragen Sie?« »Ist nicht so wichtig. Ich dachte nur, Sie hätten mich sonst zum Heimwerkermarkt am Nördlichen Ring mitnehmen können.« Im Gegensatz zu Olive neigte Queenie allgemein nicht zu bissigen Bemerkungen, aber jetzt vergaß sie zum ersten Mal, einen Mann mit ihrem Charme zu gewinnen, und fuhr ihn ziemlich scharf an: »Ich muss Sie enttäuschen, so leid mir das tut. Sie werden schon den Bus nehmen müssen.« An der Haustür drehte sie sich noch einmal um. »Olive und ich werden gemeinsam wiederkommen. Wir werden Gwendolens geheimnisvollem Ausflug auf den Grund gehen.« 244
25 Er hatte sich den Kauf eines ausreichend großen und dicken Plastiksacks leichter vorgestellt. Es wurde nichts annähernd so Haltbares angeboten wie
der Sack, den er damals aus dem firmeneigenen Lager entwendet hatte. Warum war er nur so blöd gewesen und hatte diesen zerschnitten und weggeworfen? Er musste sich mit einem urindichten Matratzenbezug für ein Kinderbett zufrieden geben. Während der ganzen Rückfahrt mit dem Bus musste er daran denken, wie Danilas Leiche gerochen hatte, als sie allmählich verweste. Es war wieder wärmer geworden. An einigen Tagen hatte das Thermometer sogar über zwanzig Grad erreicht. Trotzdem war ihm klar, dass er Gwendolens Leiche unmöglich im Garten begraben konnte. Bei seinem Rundgang durch den Heimwerkermarkt hatte er gespürt, dass er allmählich wieder stechende Schmerzen bekam, die sein Rückgrat wie winzige Messer attackierten. Jeder Versuch, diesen zementähnlichen Lehmboden mit dem Spaten zu bearbeiten, könnte ihn lebenslänglich zum Krüppel machen. Er hatte die Leiche in eines ihrer abgenutzten Betttücher eingewickelt. Sie lag in seinem kleinen Flur. Beim Auspacken des Matratzenbezugs sah er sofort, dass es damit nicht gehen würde. Der Bezug war viel zu dünn und - er schüttelte sich -viel zu durchsichtig. Wenn er den benutzte, würde er im selben Schlamassel stecken wie beim letzten Mal, ja, sogar schlimmer, denn irgendwann würde man nach der alten Chawcer suchen. Jetzt konnte er nur noch bis morgen warten und versuchen, einen kräftigeren, dickeren Sack zu besorgen. 245 Er hatte wieder Rückenschmerzen. Er hätte nie diese wesentlich schwerere Leiche die vielen Stufen hinaufzerren dürfen. Aber - hatte er eine andere Wahl gehabt? Zu den Problemen im Rücken kam noch der Knöchel mit der schmerzenden Stelle, an der ihn die Katze gekratzt hatte. Ringsherum war alles rot geschwollen. Hatte Otto etwa üble Bakterien unter den Krallen gehabt? Aber mein Leben ist mir nun mal wichtiger als der Zustand des Rückens und des Knöchels, dachte er und hievte die Leiche ins Wohnzimmer, wo er sie in einer Ecke fallen ließ und zur Tarnung den Barschrank davorschob. Die Anwesenheit der Leiche ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er musste hier raus, zuerst in die Küche, dann ins Schlafzimmer. Wie sollte man sich mit einer auch noch so gut getarnten Leiche im Zimmer entspannen? Im Schlafzimmer war ihm wohler, wenigstens ein bisschen. Er lag auf dem Bett und dachte: Morgen werde ich mir irgendwo einen dickeren und stärkeren Sack kaufen und sie hineinlegen. Und dann geht's ab unter die Fußbodenbretter. Anschließend werde ich die ganze Angelegenheit einfach vergessen und nie mehr daran denken.
Nerissa war mit ihrem Vater unterwegs. Sie war seine einzige Tochter und das jüngste Kind; er liebte sie anders als seine Söhne, wenn auch nicht unbedingt mehr. Teilweise lag es daran, dass sie ein Mädchen war, und auch daran, dass ihre Haut fast genauso dunkel war wie seine. Seine Söhne sahen ihrer Mutter ähnlich und waren hellhäutiger als er. Er war stolz auf diese großen, gut aussehenden, erfolgreichen Männer, aber im Gegensatz zu Nerissa und seiner alten Mutter ähnelten sie nicht den Mitgliedern seines Stammes, dessen Frauen für ihre Schönheit berühmt waren. Dieser Tag mit «einer Tochter hatte weder religiöse noch sonstwie rituelle Gründe, er hatte sich einfach eingebürgert. Und so nahm er sich frei und fuhr mit 246 Nerissa zu dem Heim in Greenford, wo seine Mutter lebte. Wie immer brachten sie ihr ohne konkreten Anlass eine blühende afrikanische Pflanze mit. Unterwegs wickelte sich Nerissa im Auto einen prächtigen Turban in Weiß, Rosa und Smaragdgrün um den Kopf, ohne den nach Ansicht ihrer Großmutter keine ordentlich gekleidete Frau ausging. Dazu trug sie einen mit einer rubinroten Borte eingefassten, smaragdgrünen Kaftan, in dem sie wie eine Häuptlingsfrau aussah. Toms Mutter war glücklich. Sie aßen und tranken mit ihr alle möglichen feinen Sachen, die sich Nerissa später wieder mühsam würde herunterhungern müssen. Danach setzten sie sich wieder ins Auto und steuerten ihr Ziel an, das sie für diesen besonderen Tag gewählt hatten und das jedes Jahr wechselte. Letztes Mal hatten sie die Thames Barrier, die größte bewegliche Sturmflutbarriere der Welt, und das Meeresmuseum in Greenwich besucht, diesmal stand Schloss Hampton Court auf dem Plan. Vor ihrer Ankunft streifte Nerissa den Turban ab, band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und setzte eine große Sonnenbrille auf, um nicht erkannt zu werden. Den Kaftan behielt sie an. Während ihrer Besichtigungstour - es war noch ein warmer, schöner Tag geworden - erzählte Nerissa ihrem Vater aufgeregt, dass sie sich in Darel Jones verliebt hatte. »Aber so gut kennst du ihn doch gar nicht, oder?«, sagte Tom. »Nein, leider nicht. Seitdem wir alle bei ihm zum Abendessen waren, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Trotzdem weiß ich es. Ich weiß, dass ich ihn schon seit vielen, vielen Jahren liebe. Seit sie nebenan eingezogen sind.« »Liebt er denn auch dich, mein Schatz?« »Ich glaube nicht, Papa. Jedenfalls momentan nicht. Sonst würde er sich anders benehmen und mich nicht zum Abendessen einladen, wenn ihr alle dabei seid.«
247 Mittags aßen sie in einem italienischen Lokal in Hampton, das Tom entdeckt hatte. Er hatte eine gute Nase für Restaurants. Während sie ihre Zabaglione verspeisten - das hieß, Tom verspeiste sein Dessert und Nerissa tat so, als könnte sie nichts mehr essen -, erklärte er ihr Folgendes: An Darels gleichgültiger Haltung sei weder ihr Aussehen schuld noch ihr Charakter, dazu sei sie zu schön und seiner Ansicht auch noch ausgesprochen nett. »Vermutlich handelt es sich um einen Fall wie bei Dr. Hagen«, sagte Tom. »Wer ist Dr. Hagen?« »Ich lieb Sie nicht, Herr Dr. Hagen. Den Grund dafür kann ich nicht sagen, drum bitt ich Sie, mich nicht zu fragen. Ich lieb Sie eben nicht, Herr Hagen.« »Hoffentlich nicht«, erwiderte Nerissa, »sonst wäre alles umsonst.« »Die Liebe ist etwas Seltsames. Deine Mutter war eine schöne Frau und ist es in meinen Augen immer noch, trotzdem weiß ich nicht, warum ich mich in sie verliebt habe. Und wer weiß schon, warum sie sich in mich verliebt hat? Deine Großmutter würde behaupten, alles sei viel einfacher gewesen, als der Freier und die Eltern des Mädchens die Hochzeit aushandelten und der Bräutigam zusammen mit der Braut eine Ziegenherde und einige Scheffel Korn bekam.« »Darel könnte in den Docklands keine Ziegen halten«, meinte Nerissa, »und vermutlich hätte er auch für scheffelweise Korn keine Verwendung. Allerdings sagte er, ich solle ihn anrufen, und er würde kommen, wenn mich dieser Stalker noch einmal belästigen würde. Zu jeder Tages- oder Nachtzeit, hat er gesagt.« 247 »Wirst du belästigt?« Tom klang besorgt. »Nicht wirklich. Ich habe ihn schon seit einer Woche nicht mehr gesehen.« »Also, wenn du ihn siehst, ruf Darel an. Damit schlägst du zwei Fliegen mit einer Klappe.« Nerissa dachte darüber nach. »Eigentlich bin ich nicht sehr wild darauf, dass der Kerl wieder auftaucht.« »Denk noch einmal darüber nach«, sagte Tom. »Vielleicht wäre es dir sogar lieber.« Am anderen Morgen trafen sich Queenie und Olive sehr früh im St. Blaise House und hielten eine Damenkonferenz unter vier Augen ab. Beide waren empört, dass Gwendolen fortgefahren war, ohne es ihnen mitzuteilen. Sie saßen im Salon auf dem Sofa, über das sie zuvor zwei saubere Servietten gelegt hatten, tranken Pulverkaffee, den Olive gekocht hatte, und verspeisten
aus der Schachtel Konditorgebäck, ein Mitbringsel von Queenie. Keine legte sonderlich Wert auf Essbares aus Gwendolens Küche. »Dieser Raum ist dreckig«, rief Olive, »das ganze Haus starrt vor Dreck.« Sie hatte die Tassen vor dem Einschenken mit kochendem Wasser und Sagrotan desinfiziert. »Nun, meine Liebe, das wissen wir doch, aber wir müssen, Gott sei Dank, auch nicht hier leben. Solltest du in Gwendolens Abwesenheit einen kompletten Hausputz planen, dann weigere ich mich. Du weißt, wie sie sich aufgeführt hat, nachdem wir ihre Küche in Angriff genommen hatten. Ich finde, wir sollten uns um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern.« »Ich begreife einfach nicht, warum sie überhaupt weggefahren ist. In all den Jahren, seit ich sie kenne, ist sie nie weg gewesen.« »Außerdem hat sie nie Freunde in Cambridge erwähnt.« 248 »Nein, aber vielleicht hatte der Professor dort Bekannte. Eigentlich ist das ziemlich wahrscheinlich.« »Mag schon sein«, entgegnete Queenie, »aber warum hat sie es nie erwähnt? Außerdem weißt du genau, meine Liebe, dass Leute in ihrem Alter« Gwendolen war zehn Jahre älter gewesen als sie und zwölf Jahre älter als Olive - »für Reisevorbereitungen ewig lange brauchen. Ich erinnere mich noch an meine gute Mutter, als sie über achtzig war. Damals brauchte sie gut zwei Wochen zur Vorbereitung, obwohl sie lediglich zu meinem Bruder fuhr. Außerdem diskutierte sie vor der endgültigen Abfahrt täglich sämtliche Vorund Nachteile dieser Reise. Sollte sie morgens aufbrechen oder am Nachmittag? Welchen Zug sollte sie nehmen? Könnte sie meinen Bruder bitten, sie abzuholen, oder würde er das sowieso tun? Und so weiter, du weißt schon. Und bei Gwendolen wäre es nicht anders. Nein, sogar noch schlimmer.« »Na ja, ich weiß nicht. Trink deinen Kaffee, bevor er kalt wird.« »Entschuldige, Olive, aber ich kann nicht. Er schmeckt nach Desinfektionsmittel. Glaubst du, sie hat irgendwo ein Adressbuch herumliegen? Darin könnten wir nachsehen. Irgendwo muss sie doch irgendwelche Adressen notiert haben.« Sie wanderten durch den Raum, ereiferten sich über den Schmutz und die Spinnweben, zogen Bücher aus den Regalen und pusteten Staub von den Buchrücken. Plötzlich kam Mix in die Eingangshalle herunter. Er war schon auf dem Weg nach unten gewesen, um sich erneut auf die Suche nach einem dicken kräftigen Plastiksack zu machen, als er sie ins Haus kommen hörte.
Zuerst hatte er sich in seine Wohnung zurückgezogen. Dann aber war ihm eingefallen, es sei das Beste, sich ihnen zu stellen und sie zu bitten, den Hausschlüssel herauszurücken. Denn das war das Wichtigste. Wenige Augenblicke bevor er den Salon betrat, hatte Olive 249 in einer Schublade Gwendolens uraltes Adressbuch gefunden, zwischen Papierfetzen, abgebrochenen Bleistiften, Sicherheitsnadeln, Gummibändern, alten Sechzehn-Ampere-Elektrosteckern und den Kontrollabschnitten von ungefähr fünfzig aufgebrauchten Scheckheften. Als Mix auftauchte, blickte sie von den Einträgen unter B auf - weiter war sie bisher nicht gekommen - und sagte in einem unfreundlichen Ton: »Ach, guten Morgen, Mr. Cellini.« »Hallihallo«, rief Mix. »Wir hatten uns eben gefragt, ob Sie vielleicht zufällig den Namen der Freunde wüssten, bei denen Miss Chawcer zu Besuch ist.« »Nein, ich doch nicht. Sie hat nichts gesagt.« »Wir möchten es unbedingt wissen«, sagte Queenie. »Es sieht ihr gar nicht ähnlich, ohne ein Wort zu verreisen.« Trotzdem bedachte sie Mix mit einem gewinnenden Lächeln, wie sie es als Achtzehnjährige eingesetzt hatte, und legte ihm die Hand auf den Arm. Schließlich war er doch nur ein Mann. »Wir dachten, sie hätte sich vielleicht Ihnen anvertraut.« Er gab keine Antwort. »Kann ich den Schlüssel wiederhaben?« »Welchen Schlüssel?«, rief Olive scharf. »Den Schlüssel zu diesem Haus. Sie brauchen ihn ja jetzt nicht mehr. Es geht ihr wieder gut.« »Und ob wir den brauchen. Wir müssen hereinkommen und uns während ihrer Abwesenheit um dieses Anwesen kümmern. Und noch etwas: Diesen Schlüssel werde ich einzig und allein Miss Chawcer aushändigen und sonst niemandem. Haben wir uns verstanden?« »Okay, beruhigen Sie sich.« Mix wandte sich ab und rief nach hinten: »Sie wollen doch nicht, dass in Ihrem Alter der Blutdruck in die Höhe schießt, oder?« Das war eine unkluge Bemerkung, obwohl Olive rein äußer 249 lieh keinerlei Reaktion zeigte. Sie sagte keinen Ton, weder zu ihm noch zu Queenie, nicht einmal, als sie die Haustür hinter ihm ins Schloss fallen hörte. Sie setzte sich nur neben dem Tisch auf das Sofa mit den Servietten und blätterte weiter Gwendolens Adressbuch durch. »Wirklich, ein schrecklich ungehobelter Mensch «, meinte Queenie.
»Ja. Queenie, und in diesem Buch steht nicht eine einzige Adresse in Cambridge.« »Vielleicht kennt sie sie so gut, dass sie sie nicht aufschreiben muss.« »In ihrem Alter vergisst man sogar den eigenen Namen, wenn man ihn nicht aufschreibt.« Olive klappte das Buch zu. »Was machen wir jetzt? Wir können es nicht einfach dabei belassen. Als ich Gwendolen am Sonntag sah, machte sie auf mich einen sehr kranken Eindruck. Sie sah aus, als wäre sie im Bett besser aufgehoben. Und dann verschwindet sie mir nichts, dir nichts am anderen Morgen in aller Frühe und fährt zu Leuten in Cambridge, von denen noch niemand etwas gehört hat. Und das im Taxi? Wann ist Gwendolen jemals irgendwohin mit dem Taxi gefahren? Wenn sie überhaupt je gewusst hat, wie man eines bestellt.« »Na ja, mein Liebe, ich würde diesem Cellini keinen Schritt über den Weg trauen.« »Und warum hast du ihn dann so kokett angegrinst?« Eigentlich sollte er gar nicht hier sein, sondern in Heimwerkermärkten und Haushaltswarenläden. Andererseits hatte er Angst, die beiden alten Hexen allein im Haus zu lassen, denn dann würden sie garantiert herumschnüffeln. Und was wäre, wenn die alte Chawcer einen Schlüssel zu seiner Wohnung einbehalten hätte? Er hatte zwar nie danach gefragt, und sie war seines Wissens während seiner Abwesenheit nie dort oben 250 gewesen. Allerdings hatte sie ihm auch nie etwas von einem Nachschlüssel erzählt. Wenn es einen gäbe, würden die zwei ihn finden. Er wagte nicht fortzugehen. Das Risiko war ihm zu groß. So war er gleich wieder ins St. Blaise House zurückgekehrt und hockte nun vor seiner Wohnung auf der obersten Stufe der gefliesten Treppe und lauschte. Er hörte, wie sie aus dem Salon kamen, hörte, wie sie sich mit schrillen Zwitscherstimmen unterhielten, die ihn an Raubvögel erinnerten, an Raben, oder was da sonst noch an den Straßenrändern an toten Sachen herumpickte. Tote Sachen - dieser Vergleich erinnerte ihn an die Leiche, die nur wenige Schritte von ihm entfernt in ihrer unzureichenden Hülle hinter dem Barschrank lag. In der Wohnung war es sehr warm. Er musste wieder daran denken, was mit Danilas Leiche passiert war, nachdem es warm geworden war. Er ging hinein und öffnete die Fenster. Anscheinend waren die beiden in der Küche verschwunden. Er schlich ein Stockwerk tiefer. Stechende Schmerzen durchfuhren seinen Rücken. Von hier
aus konnte er sie in der Küche und im Waschhaus herumpoltern hören. Was suchten sie eigentlich? Sie kamen wieder in die Diele, und er lief die oberste Treppe zur Hälfte hinauf, auch wenn nur geringe Chancen bestanden, dass sie ihn hören oder sahen. Dazu waren sie im Treppensteigen viel zu schwerfällig und langsam. Vermutlich zogen sie sich schnaufend und keuchend am Treppengeländer hoch und mussten immer wieder Pausen einlegen. Ihr Ziel war natürlich das Schlafzimmer der alten Chawcer. Noch nie hatte er sich durch ihre Anwesenheit dort unten so unbehaglich gefühlt. Er beobachtete durch das Treppengeländer am obersten Treppenabsatz, wie sie das Zimmer betraten. Die Tür ließen sie offen. Er war erleichtert. Er hörte, wie sie drinnen herumgingen, kleine Möbelstücke verrückten und Nippes verschoben. Eine von ihnen hustete. Sicher war daran der 251 Staub schuld, der beim Aufziehen eines Vorhangs oder beim Durchsuchen eines Regals aufgewirbelt wurde. Ihre Anwesenheit dort drinnen gefiel ihm gar nicht, denn dort hatte er sie umgebracht. Hatte er vielleicht ein Beweisstück für seine Anwesenheit und seine Tat vergessen? Dann fiel ihm siedend heiß ein, dass er den obersten Bettbezug abgezogen hatte, um sie darin einzuwickeln. So etwas müsste alten Weibern sofort in die Augen stechen, solche Sachen entgingen ihnen nie. Er merkte, wie er am ganzen Leib zu zittern begann. Seine Hände bebten unkontrolliert. Aber zehn Minuten später kamen sie aus dem Zimmer, und er hörte Oma Fordyce sagen, während sie die Treppe hinuntergingen: »Queenie, ich bin mir sicher, dass wir etwas vergessen haben. Dieses Gefühl werde ich einfach nicht los.« »Ich auch nicht, meine Liebe. In diesem Haus gibt es irgendetwas, das uns sofort verraten würde, wo sie steckt und wie es ihr geht. Wir müssten es nur finden.« »Da wäre ich mir nicht so sicher.« Den restlichen Satz von Oma Fordyce konnte er nicht mehr hören, denn inzwischen waren die beiden wieder unten in der Eingangshalle, und er vernahm nur noch ihr Stimmengezwitscher. Während Queenie ihren Mantel anzog, meinte sie, es werde schon wieder heiß. Das sei doch irgendwie unnatürlich. Oder was meinte Olive dazu? »Die Erderwärmung«, konstatierte Olive. »Wahrscheinlich wird die Erde noch verbrennen, aber wenigstens müssen wir uns das dann nicht mehr ansehen. Uns wird es dann nicht mehr geben.«
»Also, wirklich, meine Liebe, ist das nicht ein bisschen makaber?« . »Nur realistisch. Mir geht immer noch dieser fehlende Bettbezug durch den Kopf. Gwen hat ja wirklich ganz besondere 252 Eigenheiten, vielleicht hat sie nie einen Bettbezug verwendet, sondern nur eine Wolldecke und ein Federbett.« »O nein, meine Liebe. Nicht, dass sie keine Eigenheiten hätte. Aber ich weiß, dass sie einen Bettbezug benutzt hat. Ich habe ihn gesehen, als wir damals öfter in ihr Schlafzimmer gegangen sind, ehe sie ins Krankenhaus kam. Daran erinnere ich mich noch ganz genau. Er war obendrein sehr schmuddelig.« »Und wo ist er dann?«, fragte Olive, während sie hinter sich die Haustür zuzogen und durch den Vorgarten auf die St. Blaise Avenue hinausgingen. Erst am späten Nachmittag gelang es Mix, einen genügend großen und kräftigen Plastiksack zu kaufen. Vormittags hatten sich seine Rückenschmerzen etwas gelegt, aber nun flammten sie umso heftiger auf. Er fühlte sich, als würden ihn Pfeile durchbohren. Sein ganzer Rücken prickelte äußerst unangenehm, als würde jemand mit rotglühenden Nadeln seine Wirbel traktieren. Eigentlich hatte er nach seinem erfolgreichen Einkauf noch beim Arbeitsamt vorbeigehen wollen, doch er merkte, dass er nur mühsam aufrecht gehen konnte und ihm bereits das winzige Gewicht des Plastiksacks zu viel war. Wenn er in diesem Zustand das Arbeitsamt beträte, würde man meinen, er wäre gekommen, um einen Antrag auf Arbeitsunfähigkeit zu stellen. Vielleicht würde es sogar noch so weit kommen, wenn es mit ihm so weiterginge ... Als er wieder daheim war, tröstete er sich mit einem großen Boot Camp. Leider reichte der Gin nur noch zu einem einzigen. Anschließend bereitete er sich darauf vor, die Leiche aus dem Betttuch zu wickeln und in den Sack zu praktizieren. Auf Händen und Knien kroch er hinüber. Aber schon als er sich am Barschrank in die Höhe zog, wusste er, dass er nicht einmal imstande wäre, ein so relativ leichtes Möbelstück zu verrücken, ohne sich vielleicht irreparable Rückenschäden zuzuzie 252 hen. Aber eine andere Möglichkeit gab es nicht, um die Leiche dahinter hervorzuholen. Die beiden hinteren Ecken des Schränkchens standen ganz dicht quer vor der Mauerecke. Panik packte ihn. Tränen stiegen ihm in die Augen, und er trommelte mit den Fäusten auf den Boden. Nur mühsam bekam er sich nach einer Weile wieder einigermaßen unter Kontrolle. Er kroch in die Küche, zog sich erneut in die
Höhe, nahm vier starke Ibuprofen und schluckte sie mit dem restlichen Boot Camp. Einige Stunden später betrat Olive in Begleitung ihrer Nichte Hazel Akwaa erneut das St. Blaise House. Sie benötigte unbedingt den Beistand eines vernünftigen jüngeren Menschen. Als die beiden Frauen den Garten betraten, ging gerade die Sonne unter und ließ den Himmel über Shepherd's Bush und Acton purpurrot aufleuchten. Auf der anderen Seite der Mauer, wo die blinkenden Lichter in der Palme mit dem Sonnenuntergang wetteiferten, warf Mr. Singh seinen Gänsen händeweise Körner vor. »Guten Abend, meine Damen«, rief er außerordentlich höflich. »Ich mag Ihren Baum sehr«, sagte Hazel. »Er sieht umwerfend aus.« »Sehr freundlich von Ihnen. In Ermangelung eines Gärtners hatten meine Frau und ich das Gefühl, dieser Ort brauchte einen Hauch von Schönheit. Wie geht es Miss Chawcer?« »Anscheinend ist sie zu Freunden gefahren, um sich zu erholen. « »Hoffentlich aber aufs Land. Das wird ihr gut tun.« Olive suchte überall nach Otto und meinte: »Wissen Sie, ich habe den Kater seit vorgestern nicht mehr gesehen.« »Jetzt, wo Sie es erwähnen«, erwiderte Mr. Singh, »ich auch nicht. Auch wenn ich das, Sie gestatten, nicht sonderlich be 253 dauernswert finde. Er ist ein ausgesprochenes Raubtier, und ich fürchte, meine Gänse könnte dasselbe Schicksal erwarten wie meine Perlhühner.« Nach einer letzten Hand voll Körner verabschiedete er sich von Olive und Hazel mit einer knappen Verbeugung und begab sich in sein Haus. Die Gänse schnatterten und schluckten gierig. »Schau dir mal dieses Blumenbeet an«, rief Hazel. »Es sieht aus, als hätte jemand dort ein Grab geschaufelt. Findest du nicht auch?« »Hazel, du hast eine viel zu lebhafte Fantasie.« »Und wenn es so wäre, dann nur, weil ich jedes Mal, wenn ich hier bin, an diesen Christie denken muss, den Mörder. Er wohnte nur einen Steinwurf weit von hier. Damals war ich zwar noch ein Baby, aber wir sind noch als Kinder zum Rillington Place gelaufen und haben sein Haus angestarrt.« »Ich erinnere mich noch gut daran«, sagte Olive. »Zuerst wurde der Platz umbenannt, dann das Haus abgerissen. Meines Wissens hat man so etwas noch mit keinem anderen Wohnhaus eines Mörders gemacht.« »Es erinnert mich an das, was die Römer mit Karthago gemacht haben. Tom hat es mir erzählt. Sie haben die Stadt bis auf die Grundmauern geschleift und
dann umgepflügt. Christie hat mehrere dieser armen Frauen in seinem Garten vergraben.« »Na ja, Gwendolen hat keiner begraben. Die Erde hier wurde schon vor einiger Zeit umgegraben. Inzwischen wuchern ja schon wieder Disteln darauf. Trotzdem frage ich mich, was aus diesem Kater geworden ist. Ich bin überzeugt, dass Gwendolen ihn ziemlich gern hat, auch wenn sie etwas anderes behauptet. Und dreimal darfst du raten, wem sie Vorwürfe machen wird, wenn sie von ihrem unbekannten Aufenthaltsort zurückkommt und der Kater nicht da ist.« 254 Sie gingen durchs Haus und spazierten langsam durch den ungewöhnlich sonnigen Abend zu Olives Wohnung zurück. Unterwegs suchten ihre Blicke immer wieder nervös die Straße ab, als erwarteten sie, im Rinnstein Ottos Kadaver zu finden. Nach einer Weile erwachte Mix ziemlich benommen. Vielleicht waren die Tabletten daran schuld oder der hochprozentige Alkohol oder beides. Er hatte nur noch leichte Schmerzen, die eher wie die Erinnerung an frühere oder ein leiser Vorgeschmack auf künftige Kreuzschmerzen wirkten. Als er sich zuvor hingelegt und die Augen geschlossen hatte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Aus irgendeinem Grund hatte er die wahre Bedeutung eines entscheidenden Vorfalls nicht erkannt. Dieser Gedanke ließ ihn nicht los, doch als der Schlaf ihn übermannte, entglitt er ihm. Inzwischen verflüchtigte sich dieses Gefühl von Benommenheit, sein Kopf schien klarer zu werden. Und jetzt wusste er auch wieder, was passiert war. Inzwischen war ihm restlos klar, was ihm dieser Vorfall signalisiert hätte, wenn er dafür aufnahmebereit gewesen wäre. Oma Winthrop hatte während ihrer Frage, ob sich die alte Chawcer ihm anvertraut hätte, mit einem Finger seinen Arm berührt, seinen nackten Arm. Und dieser Finger war warm gewesen, genauso warm wie die darunterliegende Haut. Und dabei hätte er aufmerken müssen, und nicht erst jetzt. Dieser Finger erzählte ihm, dass sich alte Leute nicht kalt anfühlten, sondern dieselbe Körpertemperatur wie junge Menschen hatten. Wenn also die alte Chawcer eiskalt gewesen war, dann nur, weil sie bereits tot war. Der Tod war bereits eingetreten, bevor e(r ins Zimmer gekommen war, bevor er sie angesehen hatte, bevor er sie berührt hatte. Deshalb hatte sich ihre Haut wie Eis angefühlt, 254 deshalb hatte sie sich nicht gewehrt, als er ihr das Kissen aufs Gesicht drückte. Schweiß brach ihm im Gesicht und an den Handflächen aus, doch gleichzeitig
durchströmte ihn Eiseskälte. Er hatte eine Tote umgebracht. Was für eine schreckliche und gleichzeitig dumme Tat. Er hatte jemanden umgebracht, der längst tot war. Irgendwie erinnerte das an Reggies Taten. Kein Wunder, dass der Geist auf ihn verständnisvoll gewirkt hatte. Natürlich hatte er sie nicht so berührt wie damals Reggie. Diese entsetzliche Vorstellung hatte einen erneuten Schweißausbruch zur Folge. Und doch war in mancher Hinsicht einiges ähnlich abgelaufen. Bedeutete dies, dass er unter Reggies Einfluss stand? Hatte ihm der Geist die Hände gelenkt? Er stand auf und ging durchs Zimmer zu der Stelle, wo die Leiche lag. Er legte die Hände oben auf den Barschrank und stützte sich ab. Allmählich dämmerte es ihm. Hätte er das nur gewusst, hätte er es doch wenigstens erkannt! Ein Blick, eine Berührung dieser kalten Haut hätte genügt, dann hätte er sie einfach dort liegen lassen können. Sie hätte der Polizei nichts mehr mitteilen können. Sie war tot. Stattdessen hatte er ihr ein Kissen aufs Gesicht gedrückt und bis fünfhundert gezählt, hatte ihr Bett abgezogen und eine Frau darin eingewickelt, die schon seit Stunden tot gewesen war. Denn erst nach mehreren Stunden ist ein Körper so kalt. Mit dieser Tat hatte er sich selbst belastet. Wer würde jetzt noch glauben, dass sie eines natürlichen Todes gestorben war? Er hatte ihre Leiche fortgeschafft und versteckt, hatte einen Bettbezug entfernt und dabei vielleicht auf ihrer Haut DNS-Spuren hinterlassen, er kannte sich mit solchen Dingen nicht recht aus. Dann hatte er den zwei alten Weibern erzählt, sie sei fortgefahren, er habe gesehen, wie sie auf ein Taxi wartete. Und jetzt lag ihre Leiche hier oben bei ihm. Würde die Polizei herausfinden können, dass sie eines natürlichen Todes gestor 255 ben war? Wäre die Justiz dazu imstande? So weit durfte es unter keinen Umständen kommen. Er musste sie noch heute Nacht in diesen Sack schaffen und unter den Dielenbrettern verstecken, egal, was das für seinen Rücken bedeuten könnte. Und wenn er sich damit lebenslänglich zum Krüppel machte. Sein Knöchel schmerzte stärker denn je. Unter der blaurot geschwollenen Haut pochte es wie verrückt. 255
26 Als er das Zimmer betrat, kam es ihm stockfinster vor. Vielleicht würde er sein Vorhaben aufschieben müssen, bis es morgens gegen halb sieben langsam
hell würde, aber allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Draußen vor dem Fenster schien der Himmel immer durchsichtiger zu leuchten, der Mond war verschwunden. Auch nach dem Ausknipsen der Taschenlampe hatte er nun genug Licht, um zu sehen. Er machte die Tür zu. Während er sich hinkniete und an die Arbeit machte, beschwor er sich, nicht an den Geist zu denken und ihn mit Gewalt aus seinem Kopf zu verbannen. Sonst würde er vor Angst keinen Finger rühren können. Als alles erledigt war, vergewisserte er sich, dass die Bretter genau im ursprünglichen Muster verlegt waren: die Schwalbenschwanzfugen exakt eingepasst, ganz parallel und ohne vorstehende Kanten. Gwendolens Leiche lag wie versiegelt in dem schweren Plastiksack. Zuerst hatte er die Öffnung mit Draht zugezurrt und anschließend alles mit Sekundenkleber versiegelt, um hundertprozentig auf Nummer sicher zu gehen. Während der ganzen Prozedur tat ihm sein Rücken weh. Manchmal war es nur ein kontinuierlicher Schmerz, dann wieder hämmerten Folterinstrumente auf seinem Rückgrat herum. Diese Schmerzattacken machten ihn zwischendurch minutenlang bewegungsunfähig. Er musste sich zusammenkrümmen, bis er fast mit der Brust die Knie berührte, und dabei die Hände mit aller Kraft ins Kreuz pressen. Als er fertig und die Leiche verschwunden war, fühlte er sich mehr als erleichtert. Es war, als hätte er oder ein anderer sie 256 verbrannt oder durch einen chemischen Prozess restlos vernichtet. Oder als wäre sie nie gestorben und man hätte sie nur versteckt, damit sie nicht mit der Polizei reden und in dieses Haus zurückkehren konnte. Nachdem sämtliches Werkzeug, der Klebstoff und der Draht weggeräumt waren, sah das Zimmer im Halbdunkel genauso aus wie immer: die alte Gaslampe, die hohe Kommode mit dem verrückten Spiegelaufsatz, das nackte Bettgestell, das Fenster, das sich nicht öffnen ließ. Noch immer hingen Spinnweben von der Decke, und auf dem Fensterbrett lag immer noch Staub. Um diese Tageszeit war es auf dem Westway am ruhigsten. Seine Lärmwellen waren fast verebbt, sein Seufzen verstummt. Er hatte das Gefühl, als wäre eine große Last von ihm abgefallen. Trotz seiner Rückenschmerzen, seines pochenden Knöchels und seiner großen Müdigkeit spürte er, dass seine Probleme bald ein Ende haben würden. Während der ganzen Zeit dort drinnen hatte er sich die Gedanken an den Geist mit Erfolg vom Leib gehalten, doch kaum stand er draußen auf dem Treppenabsatz, waren sie wieder da. In seiner Wohnung versuchte er, sich zu entspannen,
indem er zum Einschlafen das einzige Buch über Christie las, das er noch nicht angefangen hatte, obwohl er es bereits seit Wochen besaß. Er lag auf seinem Bett und blätterte in »Der Mann, der einen Richter zum Weinen brachte«, doch jede Kapitelüberschrift und jede Illustration rief erneut die Angst in ihm wach, er könnte irgendein belastendes Beweisstück vergessen haben. Außerdem erinnerte ihn dieses Buch an das Schicksal, das ihn erwartete, wenn er gefasst würde. Nein, nicht dasselbe Schicksal wie Christie, denn der hatte gemordet, als es noch die Todesstrafe gab, aber schlimm würde es allemal werden. An diesem Punkt merkte er, dass er den Mörder nicht mehr Reggie nannte, sondern nur noch bei seinem Familiennamen. Da er nicht ständig in Gedanken den Satz wiederholen woll 257 te »Ich habe eine Tote umgebracht, ich habe eine Tote umgebracht«, beschäftigte er sich mit dem Problem, wohin Gwendolen gereist sein könnte. Niemand konnte nachweisen, dass sie nicht gefahren war, niemand wäre imstande, ihr Reiseziel herauszufinden. Die beiden alten Weiber würden ihre Spekulationen über Gwendolen bald satthaben. Eine Weile würde das Haus leer stehen und er der einzige Bewohner sein. Da er in Abwesenheit der alten Chawcer keine Miete mehr zahlen müsste, würde er hier wohnen bleiben, bis er Nerissas Freund geworden war. Jetzt schien ihn nichts mehr daran hindern zu können, sie richtig kennenzulernen. Sie war immer so nett zu ihm gewesen. Wahrscheinlich wartete sie nur auf einen Besuch von ihm und war vielleicht schon enttäuscht, weil er noch nicht gekommen war, und befürchtete, er würde sie sitzen lassen. Noch heute würde er zum Campden Hill hinübergehen. Mit diesen Gedanken beruhigte er sich. Inzwischen war es zwei Uhr morgens. Er rieb sich den Rücken mit dem vom Apotheker empfohlenen entzündungshemmenden Mittel ein und spürte, wie sich daraufhin wohlige Wärme in seinen Muskeln ausbreitete. Er nahm zwei Ibuprofen, zog sich aus, legte sich ins Bett und dachte: Ich habe eine Tote umgebracht. An jenem Abend bei Darel hatte Nerissa beschlossen, nie wieder zu einer Wahrsagerin zu gehen. Nie hätte sie auf einen so offensichtlichen Blödsinn hereinfallen dürfen. Das behaupteten alle. Trotzdem zog sie erneut Madam Shoshana zu Rate. Danach aber würde ein für alle Mal Schluss sein, das stand für sie fest. Trotzdem musste sie unbedingt von der Kartenlegerin erfahren, ob sie bei ihm eine Chance hatte oder nicht. Vorher räumte sie noch ihr
Schlafzimmer auf, warf benutzte Kleenex und Wattepads in den Abfalleimer, hob gebrauchte Kleidungs 258 stücke auf und steckte sie in den Wäschesack. Sie schlug sogar die Daunendecke zurück, um Laken und Matratze auslüften zu lassen, bevor Lynette zum Bettenmachen kam. Drunten hatte sie bereits alles in Ordnung gebracht, obwohl sie diese Plackerei als ungemein lästig und mühsam empfand. Während sie schmutzige Gläser in die Küche trug, dachte sie, wie sehr Darel so etwas gefallen würde, wenn er endlich einmal herkäme. Dann würde er denken, wie gut sie zu ihm als Freundin passen würde, und sogar, dass sie eine wunderbare Ehefrau wäre. Johnny Cash und das Mädchen, das in den Jungen von nebenan verliebt war, der im Süßwarenladen arbeitete, waren verschwunden. Im CD-Player lag stattdessen die Aufnahme eines Violinkonzerts von Dvorak. Auf dem Couchtisch präsentierte sich neben zwei aktuellen Neuerscheinungen - eine über europäische Politik in der Zeit nach dem Kalten Krieg, die andere mit dem Titel »Argumente gegen das Okkulte« -nur angenehme Leere. Ach, wenn er doch nur käme und sehen könnte, in welchem gediegenen, ja sogar intellektuellen Milieu sie lebte! Während ihrer Fahrt zum Westbourne Grove quälte sie die Angst vor einer neuerlichen Begegnung mit Mix Cellini im Treppenhaus des Studios. Sie hatte weite Jeans und ein graues Sweatshirt angezogen, eine Kleidung, die ihre Figur nicht so sehr betonte, und sie hatte sich auch nicht geschminkt. Aber ihr war durchaus bewusst, dass sie eine von Natur aus schöne Schwarze war, deren Anblick auch ohne Make-up seine Wirkung zeitigte. Ihr Papa behauptete sogar, ohne Schminke sehe sie schöner aus, aber so etwas musste er natürlich sagen. Und sie musste einfach darauf hoffen, dass heute nicht der Tag war, an dem Cellini im Studio irgendwelche Gerätewartungen durchführte. Wenn sie ihm schon begegnen, müsste, dann wenigstens am Campden Hill Square. Dann hätte sie endlich einen Grund, Darel anzurufen. 258 Sie gelangte die Treppe hinauf, vor der sie sich zu fürchten begonnen hatte, ohne irgendeiner Menschenseele zu begegnen. Sie klopfte an die Tür, doch dann geschah etwas gänzlich Unerwartetes: Shoshana bat sie, eine Minute zu warten. »Nehmen Sie Platz, es dauert nur eine Minute.« Beim Blick auf ihre Uhr stellte sie fest, dass sie zwei Minuten zu früh dran war. Auch diese Lektion gehörte zu der Aktion »Wie gefalle ich Darel am besten«: Lerne, pünktlich zu sein. In dem winzigen Wartebereich gab es keinerlei
Sitzmöglichkeit. Da Nerissa keine Lust hatte, sich auf den Boden zu setzen, stand sie da und dachte an Darel Jones, an ihren neuen Job als »Gesicht des Jahres 2004«, an einen Fototermin für die »Vogue«, an Darel Jones und an die Bücher, die sie lesen wollte, um ihm zu imponieren. Dann rief auch schon Madam Shoshana mit ihrer tiefen, elektrisierenden Stimme: »Herein.« Sie hatte Nerissa aus zwei Gründen gebeten zu warten: Erstens war das Mädchen zum ersten Mal pünktlich, und zweitens war Shoshana noch mit Hekates Zauberspruch für Hexenschuss und Rückenschmerzen beschäftigt gewesen, als sie an die Tür geklopft hatte. Sie hatte den Bann bereits einmal erneuert und beschloss, es sei nun Zeit für eine Pause. Dies geschah nicht aus Mitleid für Mix Cellini, der ihr herzlich egal war. Shoshana war sparsam veranlagt. Man konnte den Zauberspruch insgesamt viermal einsetzen, zwei davon hatte sie bereits verbraucht. Wer weiß, vielleicht käme noch ein anderes Menschenkind daher, dem Shoshana gern einen Hexenschuss wünschen würde. Schließlich musste sie ja auch dafür bezahlen. Hekate hatte zwar noch keine Rechnung geschickt, doch das bedeutete nicht, dass die Hexe sie nicht würde ausnehmen wollen. Hekate ähnelte jenen exklusiven Ärzten und Zahnärzten, die zum Entsetzen ihrer Patienten erst Monate nach dem Ende der Behandlung ihre Rechnungen schickten, wenn man längst alles vergessen hatte. 259 Der Tisch war noch mit dem ganzen Brimborium für den Zauberspruch übersät, auch wenn es sich dabei nicht unbedingt um Wassermolchaugen und Froschzehen handelte. Eine Phiole mit Schwefelsäure und eine mit dem Urin einer Schwangeren - gerade der war nicht leicht zu besorgen gewesen; zum Glück hatte sich Kayleigh, die inzwischen mit Abbas Reza zusammenlebte und von ihm ein Kind erwartete, gerne dazu bereit erklärt -, ein Töpfchen Natron und ein Fläschchen grüne Tinte. Das alles musste verstaut werden, ehe Nerissa hereinkam, und dafür mussten die Edelsteine am Platz liegen. Nerissa hatte vor Madam Shoshana stets gewaltigen Respekt gehabt, in den sich auch eine gehörige Portion Angst mischte. Den Zauberer und die Eule konnte sie nicht leiden, der Schmutz stieß sie ab, nicht die Unordnung, und Shoshana selbst war so hässlich, dass Nerissa zurückzuckte. Heute hatte sich die Wahrsagerin in ein blaugraues, mit Federn besetztes Gewand gehüllt, zu dem sie einen Kopfputz aus schwarzen Federn trug. Auf Nerissa wirkte sie wie ein böser Raubvogel. Ihre krallenähnlichen Hände bewegten sich geheimnisvoll über dem Steinkreis.
»Wenn wir damit fertig sind«, meinte Nerissa zögernd, wobei sie ihre Hände in den Kreis legte, »darf ich Sie dann etwas fragen?« »Warum fragen Sie nicht die Steine? Welcher bewegt sich auf Ihre Finger zu? Was spüren Sie?« Nerissa hätte sagen können, was sie wollte, Shoshana würde immer behaupten, sie habe die falschen Steine gewählt. Da sie dies ganz genau wusste, nannte sie die ersten Farben, die ihr einfielen: »Der gelbe und der malvenfarbige.« »Wirklich? Meiner Ansicht nach konzentrieren Sie sich nicht. Heute fühlen sich von Ihnen der blutrote Karneol und der blasse Rosenquarz angezogen, das steht eindeutig fest. Richten Sie Ihre Frage an den Karneol.« 260 »In Ordnung.« Vielleicht würden Darels Essensgäste mit Genugtuung registriert haben, dass sich Nerissa wie ein Trottel vorkam, als sie einen Stein um seine Meinung fragte. Trotzdem stellte sie errötend ihre Frage. »Da gibt es einen Mann«, fing sie an und stockte. Sie räusperte sich. »Da gibt es einen Mann, von dem wüsste ich gern ... Ich hätte gerne eine Ahnung, ob er ... ob er, na ja, mich jemals lieben wird.« Wie zu erwarten war, blieb der dunkelrote Edelstein stumm. Nerissa fühlte sich besser, nachdem sie diesen Satz ausgesprochen hatte, und malte sich aus, wie es wäre, wenn der Stein zu sprechen anfinge. Beinahe hätte sie losgekichert, doch dann fiel ihr ein, dass ihr in diesem Fall wohl gar nicht mehr nach Lachen zumute wäre. Shoshana ernannte sich zur Deuterin der Steine. Danach verging Nerissa das Lachen restlos. »Du wirst ihn zu dir holen müssen. Ruf ihn, und er wird kommen. Und wenn er dann kommt, wird alles davon abhängen, wie du mit ihm sprichst. Deine Worte werden über dein Schicksal entscheiden - für den Rest deines Lebens.« Shoshana sah auf und Nerissa direkt in die Augen. »Das ist alles. Der Karneol hat gesprochen.« Nach Bezahlung der fünfzig Pfund - Madam Shoshana hatte ihre Preise erhöht - ging Nerissa die Treppe wieder hinunter, wobei sie immer noch etwas Angst vor einer Begegnung mit Mix Cellini hatte. Der einzige Mensch, den sie sah, war aber eine Frau, Madam Shoshanas nächste Kundin. Die wartete unten. Die Treppe war für zwei Leute zu schmal. Beim Aufwachen hatte Mix immer noch Rückenschmerzen, allerdings eher unterdrückt, und auch sein zerkratzter Knöchel heilte langsam ab. Er duschte, wusch sich dabei die Haare und kleidete sich sorgfältig an. Danach fühlte er
sich viel besser, obwohl ihm sein Traum nicht aus dem Kopf wollte. Darin war es um seinen Stiefvater gegangen und um die Reise, 261 die er, Mix, nach Norfolk unternahm, auf der Suche nach Javy. Er wollte ihn töten. Als Kind hatte er sich diese Tat oft in seiner Fantasie ausgemalt, jetzt allerdings schon seit Jahren nicht mehr. Mix war vierzehn gewesen, als Javy seine Mutter verlassen hatte und zu einer anderen Frau nach King's Lynn gezogen war. Aber im Traum war der Wunsch, ihn auf qualvolle Weise zu töten und sein elendes Sterben zu erleben, zurückgekehrt. Jetzt, im wachen Zustand, empfand Mix dieses Vorhaben weder als irrational noch als undurchführbar. Schließlich hatte er bereits zwei Leute getötet, beziehungsweise er hatte es sich eingebildet, ohne dass ihm etwas passiert war. Warum sollte er also nicht noch einen dritten töten? Dagegen sprach nichts. Christie hätte sich nichts dabei gedacht, für den wäre so etwas tägliche Routine gewesen. Auf Grund seiner Untaten hätte es Javy weitaus mehr verdient, sein Opfer zu sein, als eine der beiden Frauen, die junge oder die alte. Es würde nicht sehr sinnvoll sein, vor zehn Uhr zum Camp-den Hill Square zu gehen. Heute Morgen war schönes Wetter mit klarem blauem Himmel, und aus dem Frühstücksfernsehen erfuhr er, dass man einen warmen und sonnigen Tag mit kaum Niederschlag erwartete. Die Aussicht auf den Spaziergang war vielversprechend, und das Ergebnis ... Er hatte sich einen Plan zurechtgelegt, wie er in ihr Haus käme, und sich dafür mit einer orangen Mappe, einer Hinterlassenschaft aus seinem letzten Job, mehreren Wahlbroschüren, die er aus irgendeinem unerfindlichen Grund aufbewahrt hatte, und zwei Kugelschreibern ausgerüstet. Als er um zwanzig nach neun Uhr aufbrechen wollte, hörte er, wie unten die Haustür auf-und zuging und jemand die Eingangshalle betrat. Natürlich, Oma Winthrop. Es kam ja nur eine von den beiden in Frage. Sie waren wie Linienbusse, binnen einer Minute würde die Nächste kommen. Er hätte ihnen diesen Schlüssel abnehmen müssen, notfalls mit Gewalt, auch wenn er sich das 261 anschließende Gezeter lebhaft ausmalen konnte! Zuerst spürte er, wie sich seine Muskeln vor Angst verkrampften, doch dann ermahnte er sich, dass er nichts zu befürchten hätte. Die alte Chawcer hätte tatsächlich in Cambridge sein können, so gut und unsichtbar lag sie versteckt. Dieses Versteck war sogar noch sicherer, denn hier würde niemand nach ihr suchen. Deshalb rief er
Oma Winthrop im Vorbeigehen »Morgen« zu und fügte noch »Schöner Tag heute« hinzu, während er die Haustür öffnete. Soeben bog Oma Fordyce am Gartentor ein. »Wieder ein Treffen der Frauengruppe?«, fragte Mix, um einen humorvollen Tonfall bemüht. »Muss wirklich toll sein, wenn man so viel Freizeit hat.« Olive segelte mit erhobener Nase an ihm vorbei. Eine ganze Weile diskutierte sie mit Queenie empört sein Benehmen und zerlegte seinen Charakter in sämtliche Einzelteile. Anschließend saßen sie mit zwei Tassen Milchkaffee mit Schokoraspeln - die Becher hatte Queenie mitgebracht - und einem Plunderteilchen vor dem offenen Balkonfenster im Salon und beratschlagten ihr weiteres Vorgehen in Sachen Gwendolen. Es war nicht einfach gewesen, diese Fensterflügel zu öffnen. Die Riegel klemmten, bis Olive sie ölte. Endlich gelang es ihr mit einem Ruck, beide Glastüren aufzureißen. Ungefähr fünfzig tote Spinnen mit ihren gesammelten Netzen aus einem Viertel]ahrhundert fielen auf den Boden, gefolgt von einem Gebilde, das an ein uraltes, längst verlassenes Schwalbennest erinnerte. Nun lagen überall auf den Stufen Lehmbröckchen, Aststücke und zerbrochene Eierschalen herum. »Wie kann jemand nur so leben!«, rief Olive nicht zum ersten Mal. Queenie schüttelte sich theatralisch. »Wirklich schrecklich, aber du weißt, meine Liebe, wir müssen darüber nachdenken, was wir wegen Gwendolen unternehmen sollen. 262 Wenn man diesem Mann Glauben schenken sollte, so ist sie am Montag früh zum Bahnhof gefahren, um einen Zug nach Cambridge zu nehmen. Also vor zwei Tagen. Angenommen, er hat die Geschichte mit Cambridge und dem Zug erfunden. Angenommen, sie wollte nur einen kleinen Spaziergang machen und ist dabei zusammengebrochen und liegt nun irgendwo im Krankenhaus. Wer sollte das erfahren? Wem würde man so etwas mitteilen?« »Ja, aber warum sollte er das tun?« »Wer weiß schon, was in einem solchen Männerkopf vorgeht. Vielleicht hat er vor, sie aus diesem Haus zu vertreiben, damit er es übernehmen kann. Ich habe gehört, dass skrupellose Mieter genau solche Sachen mit ihren alten Vermietern machen. So etwas würde haargenau zu ihm passen.« Die eher praktisch veranlagte Olive meinte, man könnte versuchen, in den Krankenhäusern anzurufen. »Ja, sicher, meine Liebe, aber in welchen Krankenhäusern? In London muss es Hunderte geben. Na ja, wenigstens Dutzende. Wo fangen wir an?«
»Hier in der Nähe. Du meinst, sie hätte einen kleinen Spaziergang gemacht, auch wenn ich mir das bei Gwendolen kaum vorstellen kann. In diesem Fall wäre sie vor ihrem Zusammenbruch nicht weit gekommen. Also müsste es St. Charles, gleich hier um die Ecke, oder St. Mary's Paddington sein, oder? Sobald ich meinen Kaffee ausgetrunken habe, werde ich sofort in St. Charles anrufen. Ach, Queenie, schau mal, was ich neben der Sessellehne gefunden habe! Das ist doch dieser Tanga, über den sich die arme Gwen so aufgeregt hat.« »Wirklich, höchst merkwürdig. Ich werde jetzt mal die Fenster schließen. Sonst kommen noch mehr Fliegen herein.« Vor dem Verlassen des Hauses hatte er sich mit zwei großen Gläsern Wodka pur gestärkt, ohne Tonic, nur ein paar Eiswür 263 fel. Er musste sich Mut antrinken, aber nicht so verwässert wie die Europäer, sondern echt russisch. Danach würde es über Oxford Gardens zum Ladbroke Grove hinübergehen. Kreuzschmerzen hatte er keine mehr, nur ab und zu erinnerte ihn noch ein leichter Stich an die Vergangenheit. Frischer Schwung und Selbstvertrauen durchströmten ihn. Als er an Danilas ehemaligem Wohnhaus vorbeikam, redete er sich ein, es sei albern gewesen, sich ihretwegen Sorgen zu machen. Die Sache hätte keine Folgen gehabt. Irgendwo hatte er den Satz gelesen, die meisten Dinge, über die man sich den Kopf zerbräche, würden nie eintreten. Wie wahr. Über ihm stand Kayleigh an einem der Fenster der Wohnung im ersten Stock, die sie inzwischen mit Abbas Reza teilte, und blickte auf die Straße hinunter. Auf beiden Straßenseiten wuchsen Bäume, die immer noch voll belaubt waren. Nur vor diesem Haus hatte man einen umgesägt und entfernt, sodass man jetzt eine gute Aussicht hatte. Sie wollten zum Mittagessen in einen Pub am Fluss gehen, da Kayleigh erst um sechzehn Uhr zur Arbeit im Studio erscheinen musste. Eingehend suchte sie das Pflaster nach eventuellen Regenspuren ab, auch wenn sie selbst von Regenmänteln oder Schirmen nichts hielt. Abbas, der älter war, nahm solche Dinge ernst. Sie rief ihm zu: »Abbas, keine Ahnung, was gegen das Fenster gespritzt hat. Regen war es jedenfalls nicht. Komm und schau es dir selbst an.« Abbas kam herüber, legte ihr den Arm um die Taille und schaute hinunter. Ein Mann im »schicken Freizeitdress«, wie man das nannte, ging Richtung Ladbroke Grove. »Dieser dort, der ist es!« »Wer ist was, Abby?«
»Dieser Passant, der soeben vorbeigegangen ist, das ist der, dem ich nach seinem Besuch bei Miss Kovic auf der Treppe begegnet bin.« 264 »Du machst Witze.« »O nein, Kayleigh, ich scherze nicht mit dir. Er ist dieser Freund, nach dem alle suchen.« »Bist du sicher? Bist du absolut sicher? In dem Fall musst du das sofort der Polizei melden. Bis du restlos überzeugt?« »Wenn du es so ausdrückst, dann nein. Ich bin mir nicht so sicher, dass ich vor Gericht beschwören könnte, dass er es ist. Ich muss nachdenken. Wenn ich ihn nur aus der Nähe sehen könnte. Wenn ich ihm jetzt nachgehen würde ...« »Nein, Abby, das machst du nicht. Wir wollten ausgehen, weißt du noch? Und wenn du ihm zu nahe trittst und vielleicht sogar handgreiflich wirst, wird man dich verhaften, und nicht ihn.« Kein Bus kam. Also spazierte Mix den ganzen Ladbroke Grove hinunter und überquerte anschließend die Holland Park Avenue, um zu Nerissas Haus zu gelangen. Ihr Wagen stand nicht auf dem Vorplatz. Das konnte zweierlei bedeuten: Entweder hatte sie ihn in die Garage gefahren, oder sie war nicht da. Was nun? Bitte, mach, dass sie da ist, betete er zu einer Gottheit, an die er nicht glaubte. Andererseits war ihm schemenhaft bewusst, dass er ihrem göttlichen Zorn nicht entrinnen würde. Trotzdem würde sie ihm vielleicht dabei helfen, Nerissas Geliebter zu werden. Und tatsächlich, die Gottheit oder der Schutzengel hatte ein Einsehen. Gerade als er den Weg zu einem der Nachbarhäuser hinaufging und dabei ostentativ mit seiner orangen Mappe herumfuchtelte, schoss der Jaguar den Hügel herauf und bog schwungvoll in ihre Einfahrt ein. Sie konnte ihn nicht gesehen haben, ein großer, mit roten Beeren übersäter Busch verdeckte die Sicht auf ihn. Mix läutete. Als eine Frau mit schwarz umrandeter Brille und Nadelstreifenanzug öffnete, begann er allen Ernstes, ihr einen Vortrag über seine persönliche Meinung zum Verhältniswahlsystem zu halten. Wie immer hatte Nerissa beim Herauffahren die Straße 264 nach dem blauen Honda abgesucht. Wieder einmal Fehlanzeige. Jetzt war er schon mindestens zwei Wochen nicht mehr hier gewesen. Er hat es aufgegeben, dachte sie. Doch die Erfüllung dieses mittlerweile sehnlichen Wunsches lieferte ihr keine Ausrede mehr, Darel Jones anzurufen. Vor der Abfahrt hatte sie geduscht, aber nach dem Aufenthalt in Madam Shoshanas »Lasterhöhle«, wie sie es nannte, fühlte sie sich immer schmutzig.
Da sie mit dieser »Vogue«-Redakteurin zum Mittagessen verabredet war, könnte sie sich auch jetzt schon fertig machen. Und so trug sie, als Mix eine halbe Stunde später bei ihr läutete, einen zartgelben Hosenanzug mit primelgelben Wildlederstiefeln. Ihre Haare hatte sie kunstvoll hochgesteckt. Die bebrillte Frau in dem strengen Hosenanzug hatte Mix heftig zugesetzt und ihm erklärt, sie sei Parlamentsabgeordnete und habe bis vor kurzem an der London School of Economics unterrichtet. Sie wüsste alles über das Verhältniswahlsystem und damit auch über sämtliche Wahlforschungssysteme, und der Rest sei wahrlich belanglos. Er dagegen hätte keine Ahnung und wüsste nur das, was er in der Boulevardpresse darüber gelesen hatte. Er trollte sich mit dem Gefühl, man hätte ihn zu Unrecht bestraft, obwohl er doch nur versucht hatte herauszufinden, ob die Leute tatsächlich lieber für eine Einzelperson stimmten anstatt für eine politische Partei. Der Mann im Nachbarhaus hatte kein Interesse und reagierte ziemlich verärgert auf Mix' dilettantische Versuche, die Erklärungen der Abgeordneten von nebenan wiederzugeben. Direkt neben Nerissa war keiner zu Hause. Er holte tief Luft, redete sich gut zu, sie sei auch nur eine Frau wie alle anderen, und trat vor ihre Tür. Sie war entsetzt darüber, ihn zu sehen. Andere Frauen in ihrer Lage hätten ihm die Tür vor der Nase zugeknallt, ohne seine Erklärungen abzuwarten. Sie aber blieb stehen und hielt die Tür auf. Man hatte sie viel zu höflich erzogen. 265 Mix hatte seine Sätze auswendig gelernt. »Also, einen wunderschönen guten Morgen, Miss Nash. Nicht wahr, wir sind uns schon mal begegnet. Das erste Mal, wenn ich mich recht erinnere, im Hause meiner Freundin Colette. « »Ja, wir haben uns schon kennengelernt«, sagte sie. Sie sah so wunderschön aus. Nur mit Mühe gelang es ihm, das Verlangen in seinen Blicken beziehungsweise die Hoffnung in seiner Miene zu unterdrücken. Wie eine Teerose, dachte er, der lyrische Vergleiche gar nicht gewohnt war, wie eine afrikanische Königin. »Vermutlich wissen Sie nicht«, spulte er seinen einstudierten Text weiter ab, »dass ich in meiner Freizeit Marktforschung betreibe.« »Nein«, sagte sie, »nein, das wusste ich nicht.« »Heute würde ich gerne mit Ihnen über die Wahlen sprechen. Sie wissen doch, was das Verhältniswahlsystem ist?« Sie schwieg und sah ihn verblüfft an. In ihrer Miene spiegelte sich eine gewisse Hilflosigkeit, die er wahrnahm, ohne sie sich erklären zu können. »Dürfte ich hereinkommen?«
Das war das Letzte, was sie wollte. Wenn er ihr völlig fremd gewesen wäre, hätte sie es ihm abschlagen können, aber sie hatten ja schon mal miteinander gesprochen, sogar dreimal. »Ich wollte gerade weg.« Bis dorthin war noch eine Stunde Zeit. »Also dann, aber nur eine Minute.« Kaum hatte sie diesen Satz ausgesprochen, wusste sie: Das hätte sie nie sagen dürfen. Sie hätte entschlossen und stark sein sollen und wie bei allen Zeugen Jehovas und Staubsaugervertretern ihr Sprüchlein aufsagen müssen: Herzlichen Dank, aber ich habe kein Interesse. Noch ehe sie diesen Gedanken vollendet hatte, war er schon im Haus, spazierte langsam durch die Eingangsdiele und drehte bewundernd den Kopf nach links und rechts. Sein Nicken und Lächeln sprachen Bände,- er fand alles einfach wunderbar. 266 Am liebsten hätte sie ihn in der Diele festgehalten, möglichst nahe an der Haustür, aber dazu gab er ihr keine Gelegenheit. Noch ehe sie auch nur den Versuch unternehmen konnte, ihn aufzuhalten, stand er schon im Wohnzimmer. Heute war der Tag, an dem die Blumen geliefert worden waren. Ly-nette hatte sie entgegengenommen, während sie bei Madam Shoshana gewesen war, und in der cremefarbenen Keramikvase und in geschliffenen Glasschalen arrangiert. Einen Moment sah sie die Einrichtung mit den Augen eines Fremden, der prächtige Sträuße aus Flieder, Lilien und Gerbera nicht gewöhnt war. Jetzt begriff sie, warum er so beeindruckt war. »Sie haben ein ganz reizendes Zuhause, wirklich.« »Danke«, sagte sie ziemlich kleinlaut. »Darf ich mich setzen, Miss Nash? Und dann hätte ich noch eine zweite Bitte. Darf ich Sie Nerissa nennen?« Wie hätte sie beides verneinen sollen? Sie wusste es nicht. Ein Nein hätte unhöflich gewirkt, so als wäre sie etwas Besseres. Während ihrer ersten Schritte auf dem Weg zu einer bekannten und gefragten Persönlichkeit hatte sie sich geschworen, sie würde sich nie für etwas Besseres halten und es sich vor allem nie anmerken lassen. Und nun sah sie hilflos zu, wie er es sich auf einem der Sofas bequem machte, die mitgebrachte orangerote Mappe aufschlug und sie von unten herauf unverschämt angrinste. In solchen und ähnlichen Sachen hatte Mix reichlich Übung. Zumindest konnte er sich und seine verschiedenen Produkte gut verkaufen, indem er zu Frauen liebenswürdig war und beiläufig mit ihnen flirtete. Unter anderen Umständen konnte er durchaus schüchtern sein, aber das legte sich rasch, wenn er im Gespräch mit einer Frau etwas rüberbringen wollte. Außerdem
hatte der Wodka bereits Wirkung gezeigt, bevor er bei der Abgeordneten geläutet hatte. Er sah keinen Grund mehr, weiter um den heißen Brei he 267 rumzureden, und sagte: »Nerissa, ich sag es Ihnen ganz offen ... ich bin nicht hier, um über Politik, Wahlen oder ähnlich langweiliges Zeug zu reden. Davon verstehe ich sowieso nicht viel, wie mir Ihre neunmalkluge Nachbarin freundlicherweise unverblümt ins Gesicht gesagt hat. Nein, ich bin hier, um Sie zu treffen, denn das, was ich Ihnen bei unserer Begegnung im Haus der alten Chawcer gesagt habe, ist wahr, jedes Wort. Und genau das möchte ich Ihnen noch einmal sagen, wobei ich allerdings diesmal meine Worte sorgfältiger wählen möchte. Aber könntest du uns vorher noch eine Tasse Kaffee kochen, Liebling?« Sie hätte nicht sagen können, was der Auslöser gewesen war: Dass er sie »Liebling« genannt oder dass er die Freundin ihrer Großtante als »die alte Chawcer« bezeichnet hatte. Jedenfalls war sie beim Stichwort »Kaffee« froh, dass sie das Zimmer verlassen konnte und an ihr Handy kam. Nein, Darel Jones würde sie nicht anrufen, auch wenn sie ihn liebend gern gesehen hätte. Es wäre unfair, ihn aus seiner Arbeit zu reißen, und außerdem würde sie damit diesem grässlichen Menschen übel mitspielen. Wochenlang hatte sie die Gelegenheit herbeigesehnt, ihn anzurufen, und dabei sogar mit dem Gedanken gespielt, diesen Menschen zu ermutigen, damit sie endlich eine Entschuldigung hätte, aber nun brachte sie es nicht fertig. Stattdessen würde sie ihren Vater anrufen, doch vorher überbrühte sie den Kaffee in der Filterkanne mit kochend heißem Wasser. Danach rief sie bei ihrem Papa im Büro an und sagte nur, als dieser sich meldete: »Papa, er ist hier, im Haus. Dieser Stalker, von dem ich dir erzählt habe.« »Gut«, erwiderte er, »ich kümmere mich darum.« Nerissas Agentin, ja selbst ihre Eltern und Geschwister und Rodney Devereux hätten auf Befragen einstimmig bestätigt, dass Nerissa inzwischen längst gewohnt war, mit Männern umzugehen, die ihr unwillkommene Avancen machten, auch 267 wenn es bisher nur ganz wenige getan hatten. Trotz ihrer Wärme und Unschuld hatte sie eine leicht unterkühlte Ausstrahlung, bei der jedem Mann, der auch nur einen Hauch mehr Sensibilität besaß als Mix Cellini, die Lust verging. Der hingegen war nicht fähig, den Unterschied zu erkennen zwischen einer Frau, die sich bereit erklärte, ihm einen Kaffee zu kochen und
einen Sitzplatz anzubieten, weil sie unter keinen Umständen grob sein wollte, und einer Frau, die das tat, weil sie hoffte, demnächst mit ihm ins Bett zu gehen. Mit einem schiefen Lächeln und aufreizendem Blick nahm er die Tasse von ihr entgegen und sagte: »Komm, setz dich neben mich.« »Ich bleibe hier, falls es Sie nicht stört.« »Doch, es stört mich sogar sehr.« Mix verzog das Gesicht zu einem Lächeln. Es sollte einschmeichelnd wirken. »Aber das lassen wir momentan beiseite, letzt verrate mir doch mal, Nerissa, woher hast du deinen hübschen Namen? Es ist wirklich ein ganz wunderschöner Name, mir vorher noch nie untergekommen. « »Meine Mama hat ihn aus einem Shakespeare-Stück übernommen.« »Wirklich? Ich sehe schon, du stammst aus einer gebildeten Familie. Gemischte Beziehungen sind am besten, findest du nicht auch? Mit der ganzen Kreuzung der Gene und so weiter. Mein Opa war Italiener. Das erzähle ich zwar nicht jedem, aber bei dir macht's mir nichts aus: Er war italienischer Kriegsgefangener. Romantisch, was?« »Ich weiß nicht«, sagte sie hilflos. »Am besten komme ich gleich zur Sache. Übrigens, der Kaffee schmeckt ausgezeichnet. Sehr fein. Was ich sagen wollte: Ich und du, ich schätze, wir beide haben viel gemeinsam: ähnliche Herkunft, annähernd gleich alt, beide Fitnessfreaks, und wir wohnen beide im guten alten Westend. Ich sag's dir rundheraus, ich bin schon seit Ewigkeit in dich verliebt, und du 268 hast auch nicht direkt was gegen mich. Darauf bilde ich mir etwas ein. Also, was meinst du, wollen wir's mal miteinander probieren?« Inzwischen hatte sie richtig Angst und war aufgesprungen. Die Angst verstärkte sich, als auch er sich erhob. Zwischen ihnen lag nicht einmal mehr ein Meter, und er ging auch noch einen Schritt auf sie zu. »Wie war's zum Anfang mit einem Küsschen?« Sie wappnete sich zur Gegenwehr. Notfalls würde sie ihren Stiefelabsatz als Waffe einsetzen. Sie zuckte zurück. In dem Moment klingelte es an der Haustür. Das Läuten irritierte ihn. Er wirkte weder verwirrt noch enttäuscht, aber fuchsteufelswild. In seinen Pupillen glühte ein winziger roter Lichtpunkt, er hatte die Oberlippe zurückgestülpt. »Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass dieser Satz unter den momentanen Umständen lächerlich war. Sie rannte fast zur Tür, um ihren Vater hereinzulassen. Es war nicht ihr Vater, sondern - Darel Jones.
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»Dein Vater hat mich angerufen.« »Ich bringe Papa um«, war ihr erster Gedanke, doch dann durchströmte sie tiefe Liebe zu ihrem Vater. »Das hätte er nicht tun sollen«, sagte sie. »Dieser Kerl - ist er weg?« »Er ist noch da. Dort drinnen.« Darel betrat das Zimmer, wo Mix gerade im Stehen eine Glasstatuette untersuchte, die große Ähnlichkeit mit der hatte, die er gegen Danila hatte einsetzen müssen. Noch eine Gemeinsamkeit ... »Hinaus!«, rief Darel. »Verzeihung? Ich glaube nicht, dass wir uns schon mal begegnet sind. Mix Cellini. Ich bin ein Freund von Miss Nash. Wir wollten gerade besprechen, wie wir diesen Abend verbringen möchten, bis Sie uns ausgesprochen rüde unterbrochen haben.« »Hinaus, habe ich gesagt. Raus! Es sei denn, Sie möchten, dass ich Sie eigenhändig hinausbefördere.« »Um Himmels willen!« Mix stand vor einem Rätsel. »Ich wüsste gerne, was ich getan habe. Fragen Sie sie, wenn Sie mir nicht glauben.« »Ich hätte wirklich gerne, dass Sie gehen«, sagte Nerissa. »Bitte, werden Sie nicht handgreiflich. Gehen Sie einfach.« »Das tue ich, aber nur, weil Sie mich darum gebeten haben«, konstatierte Mix. »Ich weiß ja, dass Sie es nicht so meinen. Sie und ich, wir wissen beide, dass ich wiederkommen werde. Sobald Ihr Gorilla weg ist.« Er versuchte einen würdevollen Ab 269 gang Richtung Haustür. In der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: »Ich werde dich nie gehen lassen.« Dieser Satz, fand er, passte gut an dieser Stelle. Er öffnete die Haustür und zog sie hinter sich ins Schloss. »Vielen Dank für alles«, sagte Nerissa matt. »Glaubst du, das hat er ernst gemeint? Dass er mich nie gehen lassen wird?« »Nein. Vermutlich meint er, ich würde hier wohnen, ich sei deine bessere Hälfte, dein Lebensabschnittspartner oder sonst etwas.« Nur allzu gern hätte sie gesagt: Ach, wärst du's doch. Oder: Wirst du das vielleicht einmal sein? Aber sie konnte ihn nur ansehen, sein schönes maskulines Gesicht mit den schwarzen Haaren und der hellen Haut mit einem zarten roten Hauch auf den Wangen, seine schlanken Hände mit den langen Fingern, den ganzen groß gewachsenen Mann.
»Nerissa, ich muss dir etwas beichten. Seit Wochen warte ich nun schon auf eine Gelegenheit dazu.« Eine Antwort darauf konnte sie sich nicht verkneifen. »Du hättest mich anrufen können.« »Ich weiß. Ich wollte intensiv darüber nachdenken, was ich wusste und was ich wollte. Ich musste überzeugt sein, dass ich das Richtige tue. Jetzt bin ich's.« »Wovon bist du überzeugt?« Er lächelte. »Komm her. Setz dich neben mich.« Mix' Aufforderung hatte sie rundheraus abgelehnt, doch als nun Darel, der auf demselben Platz saß, diese Bitte äußerte, gab sie nach. Er drehte sich so, dass er ihr ins Gesicht schauen konnte, und ergriff ihre beiden Hände. »Bei unserem Einzug im Nachbarhaus war ich ein großer Teenager und du ein kleiner. Schon damals habe ich dich schön gefunden. Wer würde das nicht? Trotzdem habe ich keinen Schritt auf dich zu gemacht. Außerdem hatte ich sowieso bald eine Freundin. Dann war ich auf der Universität, anschließend fünf Jahre in der 270 Ausbildung, davon eines in den Vereinigten Staaten. Und bei meiner Rückkehr warst du ein berühmtes Model.« »Ich weiß«, sagte sie. »Ich habe mir eingeredet, du müsstest eine frivole Frau sein, die nichts im Kopf hat, so wie alle Models. Obendrein noch kapriziös und eingebildet, wie es meine Mutter nennt. Eine Frau nach dem Motto: Für weniger als zehn Riesen stehe ich erst gar nicht aus dem Bett auf. Natürlich fühlte ich mich immer noch zu dir hingezogen. Trotzdem bildete ich mir ein, mir würde der Kragen platzen, wenn du in meiner Gegenwart so reden und handeln würdest, wie ich es von dir erwartet hatte. Deshalb habe ich meine Eltern nicht begleitet, als uns deine Eltern zu sich auf einen Drink eingeladen haben. Ich wusste, du würdest dabei sein, und das hinderte mich daran, am Tag vor meinem Auszug mitzugehen.« »Und was ist dann passiert?« »Nun, eines war mir klar: Wenn ich je mit dir allein sein sollte, würde ich dich zwangsläufig um ein Rendezvous bitten. Immer wieder musste ich daran denken, was mir meine Mutter einmal von deiner Mama erzählt hatte: Wie unordentlich du zu Hause bist und so unpünktlich. Und das konnte ich nicht ausstehen. Nerissa, ich habe mir für mein Leben einen Plan zurechtgelegt, in allen Details. Wohin ich will und wie ich dorthin komme. Unter anderem lege
ich Wert auf eine ernste Beziehung. Ich bin fast einunddreißig und rechne mit einer langfristigen Partnerschaft, vielleicht sogar mit einer Ehe.« Sie nickte, dabei spürte sie, wie er ihre Hände fester drückte. »Eine Ehe und auch Kinder. Warum nicht? Trotzdem war ich nicht bereit, diesen Weg zu gehen, indem ich neben einer Frau, die von allen bewundert und angebetet wird, die zweite Geige spiele. Ich wollte nicht mit einer Frau zusammen sein, die unordentlich ist und - nun ja, protzig und extravagant. Außerdem kann ich Leute nicht ausstehen, die ständig zu spät 271 kommen. Offen gesagt, war ich nicht bereit, »Mr. Nerissa Nash« zu sein, der Mann, der mit einer Stunde Verspätung auf deinen typischen Partys - oder was ich dafür hielt - eintrudelt und dann keinen Gesprächspartner findet, weil du der Nabel der Welt bist.« Manches war ihr nicht ganz klar, und so hörte sie nur zu. »Doch dann kam der Tag, an dem wir uns auf der St. James's Street begegnet sind«, fuhr er fort. »Seither ist alles anders. Ich habe dich kleinen Tests unterzogen, zum Beispiel während dieser Einladung zum Abendessen. Du bist tatsächlich pünktlich gewesen. Und dann dieses Haus hier. Ich bilde mir nicht ein, dass du selbst putzt, aber wenigstens hältst du es so in Ordnung, wie es deine Haushaltshilfe hinterlassen hat. Beim Abendessen hast du über Politik und Moral diskutiert, ja sogar über Wirtschaftsfragen. Ich dachte mir, ich belasse es mal eine Weile dabei. Wenn sie mich anruft, Ansprüche stellt oder ihren Status herauskehrt, wenn sie sich einbildet, sie könnte mich nach Belieben abrufen, dann wäre es das gewesen. Aber das hast du nicht gemacht.« Er zog sie ein wenig näher zu sich heran. »Du hast den Test bestanden, mit Auszeichnung. Ich dachte: Ja, prima, sie passt zu dem, was ich mir vorstelle, sie ist wirklich okay. Also, Miss Nash, wie wär's, wenn wir heute Abend essen gingen?« Sie entzog ihm sanft ihre Hände und rückte einige Zentimeter von ihm ab. Normalerweise schlug ihr Herz, nach Aussage eines Arztes, so langsam und regelmäßig wie bei einem Sportler oder bei einer gut durchtrainierten jungen Frau. Jetzt begann es zu rasen und zu pochen. »Ich glaube nicht«, erwiderte sie. Ihre Stimme klang selbst in ihren Ohren distanziert. »Ich hatte keine Ahnung, dass ich an einem Quiz, an einem Wettbewerb oder etwas Ähnlichem teilgenommen habe. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich geweigert.« 271 »Wovon redest du denn, mein Schatz?«
»Ich bin nicht dein Schatz und werde es auch nie sein. Ich unterziehe mich keinen Tests, um festzustellen, ob ich eine -eine passende Kandidatin bin.« »Also, bitte, Nerissa.« »Ich bin, was ich bin. Und wer mit mir eine - wie hast du gesagt? - dauerhafte Beziehung eingehen will, der muss mich so nehmen, wie ich bin. Vielen Dank, dass du gekommen bist und diesen Menschen hinausbefördert hast. Dafür bin ich dir dankbar. Trotzdem werden wir uns nicht mehr sehen.« Er stand auf. Ihm war das alles völlig unbegreiflich, was man auch an seinem Gesichtsausdruck ablesen konnte. »Ade, Darel«, sagte sie. Kaum war er fort, hob sie den Hörer ab, wählte die Nummer des Restaurants, in dem sie mit der Vogue-Redakteurin zu Mittag essen wollte, und ließ ausrichten, sie käme eine halbe Stunde später. Danach weinte sie ein wenig. Während sie sich neu schminkte und die Spuren der Tränen beseitigte, klingelte das Telefon. Es war ihr Vater. »Ist er gekommen?« »Ja, ist er. Papa, das hättest du nicht tun sollen. Ich weiß ja, du hast es gut gemeint.« »Ich werde zeit meines Lebens dafür sorgen, dass mein Mädchen bekommt, was sie sich wünscht, solange es in meiner Macht steht. Wann siehst du ihn denn wieder?« »Nie. Ich rufe dich später wieder an.« Bevor sie ging, hatte sie noch ein Telefonat zu erledigen. Nach zweimaligem Läuten hob er ab. »Rodney, möchtest du heute Abend mit mir ausgehen? Irgendwohin, wo es ganz schrecklich ist? Ich hätte Lust auf diesen Cockatoodle Club in Soho, wo ich noch nie war. Wir bleiben ganz lange und kommen erst ganz spät heim und trinken Champagner. Nein, ich weiß, dass ich normalerweise nichts 272 trinke, aber heute Abend verstoße ich gegen meine Regeln. Machst du das? Du bist ein Schatz. Tschüss.« Sie brauche weder einen Partner noch eine Ehe, dachte sie, während sie ins Taxi stieg. Sie war jung. Warum sollte sie nicht einfach nur Spaß haben? Solange sie nett zu den Leuten wäre, nicht hochnäsig würde oder sich einbildete, ihr gutes Aussehen sei ihr persönliches Verdienst, auf das sie stolz sein müsste. Aber zuerst würde sie zu ihrem Friseur fahren und sich von ihm völlig umgestalten lassen, und sei es, dass er ihr Rastazöpfe flechten würde. Sie brauchte unbedingt etwas, was rebellisch wirkte ...
Heutzutage hat man nicht einmal zu Hause seine Ruhe, dachte Mix, als er nach unten kam, um nach der Post zu sehen. Vielleicht war ja etwas für ihn dabei. Schon wieder war ein Tag vorüber, und es war bereits helllichter Vormittag. Wie er so in der Eingangshalle stand, vernahm er aus dem Salon die Stimmen von drei Frauen. Oma Winthrop, Oma Fordyce, und wer war die dritte? Er lauschte. Natürlich, ihre Mutter, Mrs. Hokuspokus. Warum kamen sie nur jeden Tag wieder hierher? Durfte man nicht einmal für ein paar Tage zu Freunden fahren? Was ging das eigentlich diese Weiber an? Dann fiel ihm wieder ein, dass die alte Chawcer ja tot war. Wahrscheinlich kannte Mrs. Hokuspokus bereits die Geschichte von seiner Pattsituation mit dem Gorilla bis ins kleinste Detail. Andererseits - vielleicht hatte Nerissa ihr auch gar nichts erzählt. Vielleicht wollte sie erst den Gorilla loswerden und eine feste Beziehung mit ihm aufbauen, bevor sie ihren Eltern etwas davon sagte. Jetzt würde er die Sache erst mal ein, zwei Tage ruhen lassen und dann wieder hingehen und sich anhören, was geschehen war, nachdem er als der Klügere nachgegeben hatte und gegangen war. Dieser Gorilla strahlte rein äußerlich etwas aus, was ihn an Javy erinnerte. 273 Javy müsste inzwischen grau sein, aber bevor Mix von zu Hause ausgezogen war, hatte auch er diese olivfarbene Haut, die roten Backen und eine schwarze Mähne gehabt. Frauen fanden ihn attraktiv, obwohl Mix dafür jedes Verständnis fehlte. Er war beim Arbeitsamt gewesen, man hatte ihm ein bisschen Geld in Aussicht gestellt und jede Menge Jobs angeboten, die ihm von vorneherein nicht schmeckten. Dazu wäre in ein paar Wochen noch genug Zeit. Da er keine Lust auf eine Begegnung mit einem der drei Weiber hatte, nahm er die Reklamesendungen von Digit und Wall mit hinauf, obwohl sie ihm wenig nützten. Schließlich war er weder Gärtner noch eine Frau. Zweiundzwanzig Stufen bis zu dem Stockwerk, wo sie geschlafen hatte, siebzehn weitere bis zu einem Stock, wo niemand schlief und keiner je hinging, und noch einmal dreizehn bis ganz oben. Er zählte sie nicht immer, besonders nicht, wenn er Angst hatte, aber jetzt tat er es, als könnte er dadurch daraus vierzehn Stufen machen. Während der Tanga auf ihrem Schoß lag, wollte Hazel Akwaa von ihrer Tante und von Queenie wissen, ob sie daran gedacht hätten, Gwendolens Kleiderschrank zu durchsuchen. Beide schüttelten den Kopf, Olive zuckte die Achseln.
»Das wirkt so aufdringlich, meine Liebe«, meinte Queenie, »wie ein Einbruch in ihre Privatsphäre. Ich meine, würde es dir gefallen, wenn deine Freundinnen deine Kleider durchwühlen, während du auf Reisen bist? Da würde man sich doch vergewaltigt fühlen.« »Ja, aber nur, wenn ich ihnen erzählt hätte, wohin ich fahre, und meine Adresse hinterlassen hätte. Aber wenn ich spurlos verschwunden wäre und als vermisst gelten würde, wäre ich dankbar dafür. Dann möchte ich nämlich unbedingt gefunden werden.« »Insgesamt betrachtet sollten wir es meiner Ansicht nach 274 tun«, sagte Olive. Sie begannen, die Treppe hinaufzusteigen. »Hoffentlich füttert wenigstens jemand diese Katze.« »Der hat jeden Tag Futter bekommen, aber seit Sonntag hat er nichts mehr angerührt. Er ist irgendwohin abgehauen.« »Man hat den Eindruck, als sei er Gwendolen gefolgt«, überlegte Queenie. Sie erzählte Hazel von der Sache mit dem fehlenden Betttuch. »Bist du ganz sicher?« »Sie ist oft so seltsam. Aber ich habe in der Waschmaschine und sogar in diesem schrecklichen alten Waschkessel nachgesehen. Bei Gwendolen kann man ja nie wissen. Vielleicht hat sie ihn sogar mitgenommen.« »Wen? Den Kater oder den Bezug?« »Na ja, beide. Allerdings würde kein Mensch einen schmutzigen Bettbezug zu Besuch bei Freunden mitnehmen, niemand, nicht einmal der exzentrischste Mensch. Dafür müsste man wirklich allen Ernstes verrückt sein. Und wie sollte sie mit einer Katze zurechtkommen?« Inzwischen waren alle in Gwendolens Schlafzimmer versammelt. Olive hatte das Fenster geöffnet, weil immer noch schönes Wetter war, und die Sonne schien. »Hier riecht es aber nicht sonderlich fein«, bemerkte Hazel. Ihre Tante zuckte die Achseln. »Das tut es nun mal nicht, wenn man nicht sauber macht.« »Weißt du, eigentlich ist das ein blauer Teppich, aber inzwischen liegen so viele Katzenhaare darauf, dass er grau aussieht.« Hazel öffnete die Schranktür. Durchdringender Kampfergeruch kam ihr entgegen. Gwendolens uralte Kleider drängten sich auf Kleiderbügeln aneinander. Darunter lag ein Berg Schuhe, alle durcheinander, und nicht ordentlich paarweise. Olive fing an, sie zu zählen. »Sieben«, sagte sie. »Und das bedeutet etwas. Vor nicht all
275 zu langer Zeit hat sie mir erzählt, sie hätte sieben Paar Schuhe.« »Sie muss noch welche gekauft haben.« »Sicher nicht, das hätte sie mir erzählt. Damit möchte ich nicht behaupten, dass sie mich zu ihrer speziellen Vertrauten erkoren hat. Aber Gwendolen konnte nichts kaufen, geschweige denn einen so großen Gegenstand, ohne sich bei jedem Gesprächspartner darüber zu beklagen, wie teuer das gewesen sei.« »Ohne Schuhe konnte sie jedenfalls nicht verreisen«, sagte Hazel. »Und auch nicht ohne ihren Rubinring, meine Liebe.« Queenie hatte das Schmuckkästchen geöffnet und schaute gerade hinein. Sie hielt einen Ring mit einem roten Stein hoch. »Der hatte ihrer Mutter gehört. Ohne den ist sie nie ausgegangen.« 275
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»Willst du damit sagen, ich soll an diesem Fenster sitzen? Den ganzen Tag, jeden Tag? Nur für den Fall, dass dieser Mann vorbeikommt? Kaylee, das ist nicht dein Ernst.« »Doch, Abby, ist es. Nehmen wir einmal an, er ist es gewesen, er hat Danila als Geisel genommen und sie irgendwo eingesperrt, samt Handschellen, Knebel und all dem Zeug. Dann wirst du deines Lebens nicht mehr froh werden, wenn du nicht zur Polente gehst. Wetten, dass er oft hierher kommt? Wetten, das er irgendwo hier in der Nähe wohnt?« »Kaylee«, rief Abbas mit der Stimme eines Menschen, der soeben auf der Straße nach Damaskus eine überirdische Erscheinung hatte. »Ach, Kaylee ...« »Was ist denn? Du bist ja ganz blass!« »Kaylee! In dieser Nacht, nachdem ich ihm im Treppenhaus begegne, hebe ich eine Karte vom Boden auf. Ich sehe, wie er sie verliert. Er ist betrunken, weißt du, und sie fällt aus seiner lacke. Ich nehme sie mit in meine Wohnung und »Wo ist sie jetzt, Abby?« »Glaubst du, ich hebe so was auf? Die Visitenkarte eines Fremden?« »Aber hast du gelesen, was darauf gestanden hat?« Abbas setzte sich und zog Kaylee auf sein Knie. »Bleib bei mir sitzen, meine Blume, und hilf mir denken. Ich denke fest nach, was darauf steht.« »Ja, tu das, Liebling. Was soll unser Baby von dir denken, wenn du die arme Danila jetzt im Stich lässt?« Wenn es nach Abbas gegangen wäre, hätte ihr Baby, das mo 275
mentan noch ein winziger Fötus im Leib seiner Mutter war, sowieso nichts davon erfahren, aber selbst dann würde es sich wohl kaum im Laufe der nächsten fünfzehn Jahre für das Erinnerungsvermögen seines Vaters interessieren. Trotzdem sah er ein, dass er handeln musste, wenn es in seiner Macht stand, der Polizei bei der Suche nach dem Mann zu helfen, der Danila etwas angetan hatte, egal, was es wäre. Möglicherweise hatte sie sogar einen frühen Tod gefunden, auch wenn er das gegenüber Kayleigh nie erwähnen würde, die schwanger war und sich leicht aufregen konnte. Und so dachte er nach. »Ein Wort fällt mir von dieser Karte noch ein«, sagte er. »Kein Name oder eine Adresse ...« »Ach, Abby ...« »Warte. Ein Wort. Fiterama, jawohl, Fiterama. Was das bedeutet, kann ich nicht sagen. Aber das steht auf der Karte.« Kayleigh hüpfte von seinem Schoß. Sie war sehr aufgeregt, »Abby, ich weiß, was das bedeutet. Das ist der Name der Firma, wo der Mann arbeitet, der im Studio die Geräte wartet. Das hat mir Madam Shoshana erzählt. Er ist nicht mit den Ersatzteilen übergekommen, deshalb hat sie bei denen angerufen und sich über ihn beschwert.« Der Buchladen für gebrauchte Krimis wollte Mix fünfundzwanzig Pfund für ein Buch über Christie abknöpfen, das vor vierzig Jahren erschienen war. Kaum hatte er es aus dem Regal gezogen, um sich eine Abbildung anzusehen, da schoss auch schon die Verkäuferin auf ihn zu. »Das sind ja Raubritterpreise«, sagte er. »Hoffentlich finden Sie dafür keinen Käufer.« »Sie müssen nicht gleich ausfallend werden«, meinte die Verkäuferin. Auf dem Heimweg von Shepherd's Bush redete sich Mix ein, er würde keine Bücher mehr über Christie kaufen und keine 276 Zeile mehr über ihn lesen. Damit sei jetzt Schluss. Vielleicht würde er sogar seine Bücher zu dem Laden bringen und fragen, ob er sie kaufen wolle. Ohne Christie wäre Danila noch am Leben, und er, Mix, hätte nie eine Tote ermordet. Wenn er ganz ehrlich wäre, müsste er sagen, Christie höchstpersönlich hätte die beiden umgebracht und damit die Zahl seiner Opfer auf acht erhöht. Vor dem Sprung in die Selbstständigkeit würde er sich noch Arbeit suchen müssen. Einer der angebotenen Jobs als Bürogehilfe, Hausmeister oder Busfahrer käme dabei sicher nicht in Frage. Durch eine solche Tätigkeit stünde
er ja mit Javy auf einer Stufe. Javy. Seit jener Auseinandersetzung mit Nerissas Gorilla musste er ständig an Javy denken. Er grübelte über ihn nach und träumte sogar von ihm. Seit dreizehn Jahren hatte er diesen Mann nicht mehr gesehen, aber deshalb hasste er ihn nicht weniger. Das sei abgehakt, hatte er gedacht, doch er hatte sich geirrt. Stets hatte er Javy für ein unüberwindliches Hindernis gehalten. Inzwischen hatte er sich mit diesen zwei Weibern befasst - »sich befassen« klang realistischer als »umgebracht« -, und damit war die Vollendung der Rache an seinem Stiefvater in greifbare Nähe gerückt. Vor sich konnte er den alten Volvo der Brunswicks sehen, der immer noch am Randstein parkte. Das würde ihm gerade noch fehlen, dachte er, dass ein alter Wagen während einer längeren Reise den Geist aufgäbe und dann endlos lange in der Werkstatt stünde. Während er ihn noch anstarrte und feststellte, dass der Zettel mit den 300 Pfund inzwischen ganz schief hinter der Windschutzscheibe hing, spazierte Sue Brunswick mit einer großen rauchbraunen Katze in den Armen aus ihrer Tür. Im Verlauf des ereignisreichen Wochenendes hatte er sein Liebeswerben um sie gänzlich vergessen. »Haben Sie noch mal darüber nachgedacht, ob Sie unser Auto kaufen möchten?« 277 »Ich glaube nicht, dass ich ihn haben will«, sagte er. Den Kater hatte er noch bestens in Erinnerung. Wenn er ihn nicht bereits an seiner Farbe und Größe erkannt hätte, dann ganz sicher an dem verächtlichen, hasserfüllten Blick, den ihm Otto zuwarf. Kalt ruhten die leuchtend jadegrünen Augen auf ihm, dann kuschelte sich Otto an Sue Brunswicks fülligen Busen und rieb seinen Kopf liebevoll an ihrem Nacken. »Wie ich sehe, bewundern Sie meinen Kater. Ist er nicht ein Prachtstück? Er ist uns erst am Montag zugelaufen, und wir haben ihn adoptiert. Wegen seiner Farbe rufen wir ihn Chockie. Keine Ahnung, woher er kam, aber er ist so ein liebes und anhängliches Tier. Ich bin ganz hin und weg.« Diese Beschreibung hatte herzlich wenig Ähnlichkeit mit dem Otto, den er kannte. Ein leicht pochender Knöchel erinnerte Mix immer noch an ihre letzte Begegnung. »Na, dann viel Spaß«, rief er und ging weiter. Daheim ging er in das Schlafzimmer, wo sie unter den Dielenbrettern lag. Keines der Bücher, kein Gerichtsprotokoll hatte ihm verraten, ob Christie manchmal die Verstecke überprüft hatte, denen er seine tote Frau und die anderen anvertraut hatte. Hatte er schnüffelnd die Luft kontrolliert, wie es Mix jetzt tat? Hatte er an einem der hinteren Fenster gestanden und in den Garten des
Hauses Rillington Place Nummer zehn geschaut, um sich zu vergewissern, dass niemand die Gräber von Ruth Fuerst und Muriel Eady angetastet hatte? Außer dem üblichen Hausgeruch konnte er nichts riechen. Außerhalb der Grenzen seiner eigenen Wohnung roch es wie immer nach Staub, toten Insekten und altem, ungewaschenem Stoff. So roch ein alter Mensch, aber kein toter. Natürlich trat er nun an das Fenster mit Blick auf den ganzen Garten. Obwohl es nicht geregnet hatte, wuchs auf Danilas flachem Grabhügel kräftig grünes Unkraut. Schon bald würde außer ihm keiner mehr etwas bemerken. 278 Zeit für einen kurzen Ausflug. Warum auch nicht? Es galt, die Zeit zwischen heute und dem Tag zu nützen, den er für ein Wiedersehen mit Nerissa festlegen wollte. Wann hatte er zum letzten Mal Urlaub gemacht? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Natürlich würden die meisten Leute eine Fahrt nach Colchester und ein paar Tage bei der eigenen Schwester nicht als Urlaub bezeichnen, aber dieser Ausflug würde noch einen weiteren Zweck erfüllen. Von Shannon würde er Javys momentanen Aufenthaltsort erfahren. Garantiert wohnte er nicht mehr bei der Frau, die er gegen seine Mutter eingetauscht hatte. Javy war sicher längst weitergezogen, in ein neues Leben, zu einer neuen Freundin, zu einem neuen Sozialamt. Es war schon komisch, dass er sich von seiner ganzen Familie am besten mit seiner Schwester verstand, von der Javy behauptet hatte, er hätte versucht, sie umzubringen. Eigentlich war sie überhaupt die Einzige, mit der er zurechtkam. So etwas könnte man schon als höhere Ironie bezeichnen. Und das, obwohl sie durchaus Bescheid wusste, dafür hatte Javy schon gesorgt. Mix konnte seine Worte jetzt noch hören: »Wenn du wüsstest, was er angestellt hat, würdest du ihn nicht mit deinen Puppen spielen lassen. Er hat versucht, dich umzubringen, jawohl, hat er. Der hätte dir den Schädel eingeschlagen, wenn ich nicht rechtzeitig gekommen wäre.« Gemeinsam gingen sie am Freitagvormittag auf die Polizeistation am Ladbroke Grove. Hazel meinte, das könnten sie auch ohne sie, sie müsse nach Hause, allerdings sollten sie ihr unbedingt berichten, was die Polizei gesagt hatte und was dann geschehen sollte. Als sie hineingingen, kam gerade ein orientalisch aussehender Mann mit einer hübschen jungen Blondine heraus. »Ich frage mich, was die beiden hier wollten«, sagte Quee 278 nie. »Vielleicht ist er ein Asylbewerber, und sie will ihn heiraten, damit er die britische Staatsbürgerschaft bekommt.«
»So funktioniert das nicht mehr.« Olive starrte dem Pärchen nach. »Diese Prozedur ist inzwischen wesentlich komplizierter.« Man händigte ihnen ein Formular für eine Vermisstenanzeige aus, die Olive nach bestem Wissen ausfüllte. »Wär's das dann?«, fragte sie den jungen Kriminalbeamten. »Was soll >es< denn Ihrer Meinung nach sein?« »Für den Anfang könnten Sie mal nach ihr suchen.« Er ging fort, blieb zehn Minuten weg und kam dann mit einem anderen Beamten zurück, dem, der sich um Abbas und Kayleigh gekümmert hatte. Dieser andere Polizeibeamte sagte: »Wohnt in diesem Gebäude ein jüngerer Mann namens Michael Cellini, ehemals Angestellter von Fiterama, Herstellung und Vertrieb von professionellen Fitnessgeräten?« »Von professionellen Fitnessgeräten weiß ich nichts«, konstatierte Olive mit einem Ausdruck tiefster Verachtung, »aber der Name Cellini stimmt. Warum?« »Wenn wir bei dieser Adresse vorbeischauen, wäre dann jemand da, der uns öffnet?« »Vermutlich Cellini«, sagte Queenie. Seit Mix' Bemerkung über die Frauengruppe schenkte sie sich den »Mister«. »Nein, auf den kann man sich nicht verlassen. Eine von uns wird garantiert da sein.« »Das wären wir sowieso.« Olive klang erbost. »Der ist imstande und zündet das Haus noch an!« Sie fuhren mit dem Taxi zum St. Blaise House zurück. Zuvor hatte Queenie noch in einer Konditorei in der Holland Park Avenue zwei Stück ZitronenKäsekuchen und zwei Sahnecroissants zum Tee besorgt. »Ob er wohl oben hockt?«, fragte sich Queenie am Fuß der Treppe. 279 Genau das tat Mix. Er hatte fast den ganzen Tag bei den alten Kunden herumtelefoniert, die er noch nicht erreicht hatte. Leider hatten sich letztlich doch nur sechs davon entschlossen, geschäftlich zu ihm zu wechseln, und einer davon zögerte noch. Am frühen Abend rief er bei seiner Schwester an und fragte, ob er ein paar Tage bei ihr bleiben könne. Shannon konnte nicht begreifen, warum irgendjemand freiwillig auch nur einen einzigen Tag in einer Sozialwohnung am Rande von Colchester verbringen wollte, wo ihn eine abgearbeitete Frau, deren Freund und insgesamt fünf Kinder erwarteten, drei von ihr und zwei von ihm. Deshalb wollte sie den Grund wissen. »Muss ich denn einen Grund haben? Ich dachte mir, es wäre nett, dich und Markie und die Kids zu sehen, das ist alles.«
»Mix, ich habe ja nichts dagegen, allerdings wirst du dir die Bude mit den Jungs teilen müssen. Wir haben nur drei Schlafzimmer. « »Ich hab dich nun schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, Shan. Muss mindestens fünf Jahre her sein.« »Eher sieben«, sagte Shannon. »Lee war noch ein Baby. Hör zu, ich muss weg. Wann wolltest du denn kommen?« Morgen, sagte Mix, irgendwann im Laufe des Vormittags. Er müsse mit dem Zug fahren. »Mein Auto ist in der Werkstatt. Bekommt 'ne neue Ölwanne. Ich nehme mir dann vom Bahnhof ein Taxi.« Dass er mit dem Bus fahren würde, musste er ihr ja nicht gleich auf die Nase binden. Drunten warteten Queenie und Olive auf das Eintreffen der Polizei, die bisher noch nicht aufgetaucht war, obwohl die Beamten wissen wollten, ob später jemand da sei. Jetzt war es acht Uhr, und es wurde allmählich dunkel. Queenie stand vor den Balkonfenstern und blickte im Dämmerlicht in den Garten hinaus. Zuvor hatte sie Mr. Singh dabei beobachtet, wie er seine Gänse anlockte, um sie über Nacht einzusperren. Inzwischen war er ins Haus gegangen. Jetzt war 280 niemand mehr zu sehen. Die bunten Lichter in der Palme gingen an und wieder aus und wieder an. Sie funkelten hell. »Weißt du, meine Liebe, er ist wirklich ein ungemein gut aussehender Mann. Und er wirkt so distinguiert. Seine Haltung erinnert an einen hochrangigen Offizier. « »Queenie, sei nicht albern.« Immer wenn sich Olive in jüngster Zeit selbst zuhörte, wurde ihr bewusst, wie sehr sie Gwendolens gekünstelte Sprechweise übernommen hatte. Sie musste sich unbedingt selbst beobachten. »Vielleicht sollte eine von uns die Nacht über hier bleiben.« »Das würde ich auf gar keinen Fall. Ich würde mich zu Tode fürchten, wenn ich in diesem Haus bliebe. Hast du bemerkt, wie dunkel es hier ist? Und mehr Licht kann man nicht machen. Dafür sind die Glühbirnen zu schwach. Wir hätten ein paar Hundertwattbirnen kaufen sollen.« »Warum huschst du nicht schnell nach Hause und holst ein paar? Ich bleibe hier, bis du wiederkommst. Mir macht das nichts aus«, schlug Olive vor und spielte die Tapfere, obwohl es ihr ungemein viel ausmachte. »Ich werde meine Nichte anrufen. Vielleicht kann sie ihren Mann überreden, dass er kommt und über Nacht bleibt. Trotz seiner Größe und seines ziemlich bedrohlichen Aussehens ist er ein reizender Mensch.«
Queenie ging die Glühlampen holen, und Olive blieb, wo sie war, im Salon. Zum Abendessen hatten sie sich Rührei auf Toast gemacht und als Nachtisch Pfirsiche aus der Dose. Die Pfirsiche stammten aus Gwendolens Vorratsschrank. Da auf der Dose ein noch akzeptables Verfallsdatum angegeben war, dachte Queenie, sie könnten ihnen nicht schaden. Nach einer Weile rief Olive bei den Akwaas an, und Tom meinte, er käme gegen halb zehn vorbei. Für ihn sei eine Übernachtung in diesem verrückten Haus ein Heidenspaß. Sie musste für sich und Tom Betten herrichten, das ließ sich nicht länger aufschieben, auch wenn ihr bereits der Gedanke 281 daran zuwider war. Also quälte sie sich in den ersten Stock hinauf. Gwendolens Schlafzimmer, ihr Ankleidezimmer und das Bad nahmen den meisten Platz ein, aber es gab noch zwei Räume mit Betten und Matratzen. Sie schienen weniger feucht zu sein als das übrige Haus, und auch die Vorhänge sperrten sich weder dagegen, dass man sie zuzog, noch hingen sie in Fetzen herunter. In einem dieser Zimmer entdeckte sie in einem Schrank Betttücher, Kopfkissenbezüge und Decken. Die Decken waren nicht sonderlich sauber, und die Betttücher hatten zwar eine Wäsche, jedoch nie ein Bügeleisen gesehen. Aber es würde schon gehen. Jedenfalls für eine Nacht. Während Olive in dem Raum, der noch in Reichweite der Treppe lag, das Bett bezog, fragte sie sich, ob sie verrückt sei, dass sie sich freiwillig zum Übernachten in diesem Haus anbot. Dann hörte sie droben Mix' Schritte, und ihr war klar, dass sie recht hatte. Morgen früh würde sie bei der Polizei anrufen und sie fragen, ob sie nicht endlich kommen wollten. Auch Mix hatte sie gehört und sich gewundert, was da los war. Vermutlich gar nichts. Höchstwahrscheinlich hatten die beiden alten Geier nur beschlossen, sich aus dem vorhandenen Vorrat zu bedienen, solange die alte Chawcer fort war. So etwas wäre typisch. Wahrscheinlich hatte sie ein paar wertvolle Schmuckstücke besessen, wie das bei alten Jungfern üblich war. Er gratulierte sich selbst. In seiner Lage hätten sich die meisten Typen sofort über ihr Hab und Gut hergemacht, nachdem sie die Tote gefunden hatten. Er dagegen hatte kein Stück angerührt, und darauf bildete er sich eine Menge ein. Er hörte, wie die Haustür auf und zu ging. Dann rief Oma Winthrop irgendeinen Blödsinn über Glühbirnen. Allmählich machte ihn dieses ganze Kommen und Gehen nervös. Er ging auf den Flur hinaus. Oma Fordyce ging
gerade hinunter. Kaum war sie unten angelangt, klingelte es an der Haustür. Da dies so selten geschah, zuckte Mix unwillkürlich zusammen. Na 282 türlich war das Licht wieder ausgegangen. Obendrein war es heute, ohne Mond, besonders dunkel, und auch in den anderen Häusern waren weniger Lichter zu sehen als sonst. Daran waren teilweise diese hohen Bäume schuld, die mit ihren dicken, dunklen Ästen die Straßenlampen verdeckten. Jemand hatte die Haustür geöffnet. Er hörte eine kräftig sonore Männerstimme. Einen Augenblick durchzuckte ihn ein unmöglicher Gedanke: die Polizei. Doch dann rief Oma Fordyce: »Hallo, Tom, das ist aber wirklich lieb von dir.« »Kein Problem«, sagte die sonore Stimme. »Es ist mir ein Vergnügen. Ich habe eine Flasche Wein mitgebracht. Ich dachte, das könnte nichts schaden. Und wenn wir dann unsere Kehlen befeuchtet haben, werde ich Mrs. Winthrop nach Hause fahren. Schließlich kann ich sie in einer solchen Nacht doch nicht allein draußen herumlaufen lassen.« Dann trat Stille ein. Wahrscheinlich waren alle im Salon verschwunden. Langsam drehte sich Mix um, machte einen Schritt auf seine Wohnungstür zu, blickte nach links den Gang hinunter und sah am Ende, im tiefen Schatten, den Geist stehen. Er schlug die Hand vor den Mund, sonst hätte er laut aufgeschrien. Der Geist stand still da und schien ihn anzustarren. Dann ging er mit ausgestreckten Händen vorwärts, als wollte er um etwas bitten oder betteln. Oder - wollte er drohen? Mix hatte seine Wohnungstür nur angelehnt, jetzt stieß er sie ruckartig auf und stürzte in die Wohnung. Dabei stolperte er über die Fußmatte, lehnte sich nach hinten und drückte die Tür mit aller Kraft vor dem Geist zu. Doch da war nichts, was von außen dagegen gedrückt hätte. Endlich stand er, immer noch zitternd, auf und schob oben und unten den Riegel vor. Das hatte er bisher noch nie gemacht. Wie immer war Tom Akwaa morgens als Erster wach. An dieser Routine änderte sich auch nichts, nur weil er einen Tag frei 282 genommen hatte. »Bis die Polizei kommt, bleibe ich hier«, sagte er zu Olive, als sie zum Tee herunterkam. »Möchtest du, dass ich sie daran erinnere, dass du hier auf sie wartest?« »Würdest du das tun?« Während er am Telefon war, konnte sie nicht widerstehen und begann, die Küche zu putzen. Olive gehörte einer Generation an, die das Bett neu bezog, wenn der Arzt kam, und vor einem Reiseantritt die beste Unterwäsche anzog, falls sie einen Unfall hätte und ins Krankenhaus müsste. Jetzt putzte und
schrubbte sie die Küche und wischte alle Oberflächen ab. Es könnte ja sein, dass die Polizisten auf eine Tasse Tee hier hereinkämen. Mix war erleichtert, dass er fortkonnte. Vielleicht würde er ja nie wieder zurückkehren, jedenfalls nicht, um hierzubleiben. Höchstens um seine Sachen einzusammeln und die Möbel einlagern zu lassen, während er sich eine neue Wohnung suchte. Die Geistererscheinung von gestern Abend nach langer Pause hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Im Vergleich dazu war dieses ganze Hin und Her der Leute ziemlich unwichtig. Lästig blieb es trotzdem, und es beunruhigte ihn. Wer war dieser Mann gewesen, und was machte er hier? Seine Rückenschmerzen waren wieder da, wenn auch nicht schwer und noch lange nicht so schlimm wie in jener Horrornacht nach seiner Totengräberarbeit. Aber es genügte. Er nahm zwei Ibuprofen und begann zu packen. Vermutlich würde er bei Shannon nicht länger als eine Nacht bleiben. Die Vorstellung, ein Zimmer mit ihren zwei schwierigen Jungs zu teilen, war nicht sonderlich verlockend. Einer war vierzehn. Mit neunzehn war Shannon bereits zweifach Mutter gewesen. Er packte Jeans zum Wechseln und drei Hemden ein. Die Lederjacke würde er anziehen. Jetzt hieß es nur, noch, nichts wie raus aus dem Haus, bevor ihm eine der beiden alten Hexen über den Weg lief. 283 Nach dem Abgleich der Informationen, die zuerst Abbas Reza und dann Olive und Queenie geliefert hatten, ließ sich die Polizei nicht zweimal bitten. Ein Kripobeamter stand bereits mit Tom Akwaa draußen im Garten, als Olive Mix Cellini die Treppe herunterkommen sah. Obwohl sie nicht beabsichtigte, ihm das Eintreffen des Polizisten mitzuteilen, fing sie ihn in der Eingangshalle ab. »Wohin soll's denn gehen?«, erkundigte sie sich in ihrem herrischsten Tonfall. Er trug seinen Rucksack an einem Riemen über der Schulter. »Das geht Sie zwar nichts an, aber wenn Sie schon mal fragen: Ich fahre zu meiner Schwester nach Essex.« »In letzter Zeit habe ich Ihr Auto gar nicht mehr gesehen.« »Nein, das konnten Sie auch nicht, Frau Naseweis, weil es nämlich nicht hier war. Ich habe es verkauft.« Er öffnete die Haustür und warf sie mit voller Wucht hinter sich zu. Olive ließ ihren Putzlappen liegen und fing an, die vollgestopften Schubladen der Wohnzimmermöbel zu durchsuchen. Vielleicht besaß Gwendolen einen Schlüssel zu seiner Wohnung. Es dauerte ziemlich lange, aber als Queenie
eintraf, hatte sie bereits achtzehn Schlüssel in sämtlichen Formen und Größen gefunden. »Der ist nicht dabei«, stellte Queenie fest. »Sie hat mir aber einmal erzählt, wichtige Schlüssel würde sie - im Wäschetrockner aufbewahren.« Dieser interessante Blickwinkel auf Gwendolens Eigenheiten lenkte Olive von ihrem ursprünglichen Plan ab. »Und was war, wenn sie den Wäschetrockner brauchte?« »Den hat sie nie benutzt, meine Liebe. Jedenfalls nicht zu seinem ursprünglichen Zweck.« Sie begaben sich in die Küche. Eigentlich wäre der richtige Platz für einen Wäschetrockner im Waschhaus, aber Gwendolen hatte ihren zwischen Herd und Kühlschrank aufgestellt. 284 Vom Fenster aus konnten sie beobachten, wie der Polizist, der inzwischen Verstärkung bekommen hatte, mit einem langen Stecken in einem mit Unkraut überwucherten Hügel herumstocherte, der vor langer Zeit einmal eine Blumenrabatte gebildet hatte. Queenie öffnete die Bullaugentür des Wäschetrockners und zog ein Netz heraus, das früher wahrscheinlich Zwiebeln oder Kartoffeln enthalten hatte. Jetzt lag darin ein Dutzend Schlüssel. »Der wird es sein«, rief Olive und zog mit spitzen Fingern das vergleichsweise neueste Modell heraus, einen glänzenden Sicherheitsschlüssel aus Messing. Die zwei Polizisten kamen mit Tom Akwaa durch das Waschhaus herein. »Da werden ein paar Leute kommen, um den Garten umzugraben«, sagte der Kripobeamte. »Den Garten umgraben?« Im ersten Moment sah es so aus, als wollte der Kripobeamte den Grund dafür erklären, doch dann besann er sich eines Besseren. Er und der andere Mann begannen, mit Tom im Schlepptau, die Treppe hinaufzusteigen, gefolgt von Olive und Queenie, die jede Stufe langsamer nehmen mussten. Oben brachte Queenie kaum mehr einen Ton heraus, aber Olive hatte sich bereits wieder gefasst, als einer der Polizisten an Mix' Wohnungstür läutete. »Er ist gerade vorhin aus dem Haus gegangen.« Sie entschied sich für eine Lüge und hoffte, Queenie wäre so schlau und würde dies nicht lauthals abstreiten. »Hier ist sein Schlüssel. Er hat ihn bei mir gelassen, falls Sie sich umsehen möchten.« »Tatsächlich?« Der Kriminalbeamte war erst achtundzwanzig und hatte mit Mördern noch nicht sonderlich viel Erfahrung, trotzdem hätte er kaum damit
gerechnet, dass ein Killer die Polizei buchstäblich einlud, seine Wohnung in seiner Abwesenheit zu durchsuchen. Dennoch galt auch hier sein 285 Spruch: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Und so nahm er den Schlüssel, sperrte Mix' Wohnungstür auf, und alle marschierten hinein. Besser gesagt, die Polizei ging hinein. Da man den anderen klargemacht hatte, dass sie hier unerwünscht waren, gingen Tom, Olive und Queenie in das Schlafzimmer nebenan. Hier drinnen war es unerträglich stickig und staubig. Tom, der eine ungewöhnlich gute Nase hatte, schnüffelte, verzog misstrauisch das Gesicht und schnüffelte wieder. »Was stinkt denn hier so scheußlich?« »Ich kann nichts riechen, Tom.« »Ich auch nicht.« Tom Akwaa war ein herzensguter Mensch und hätte nicht im Traum daran gedacht, ihnen zu erklären, dass ihre Sinne vielleicht im Laufe der Jahre schwächer geworden waren, und deshalb sagte er lediglich: »Nun, ich schon.« Die Polizeibeamten gesellten sich zu ihnen. Der Jüngere schleppte einen ganzen Arm voll Bücher über John Reginald Halliday Christie. Olive, die Leseratte, beäugte neugierig die Buchrücken. »Finden Sie nicht, dass es hier irgendwie seltsam riecht?«, wollte Tom wissen. Der sehr groß gewachsene junge Mann mit Mix' Bibliothek im Arm legte die Bücher auf die Kommode und beugte sich so weit vor, dass seine Nase fast den Boden berührte. »Meine Güte, ja«, sagte er, während er sich wieder aufrichtete. Als alle bis auf Queenie, die in der Küche Kaffee kochte, wieder fort waren, machte sich Olive daran, die Betten abzuziehen, die sie und Tom letzte Nacht benutzt hatten. Sie war froh, dass sie etwas zu tun hatte, denn sie fühlte sich sehr instabil und zittrig. Schließlich war sie nicht mehr so jung wie früher, was ihr ja auch alle Leute dauernd unter die Nase rieben. Alles 285 hatte damit begonnen, dass sie diesen jungen Mann mit einem Stecken in diesem Hügel herumstochern sah, der an ein Grab erinnerte. Dann war da dieser Geruch gewesen, obwohl sie ihn nicht wahrnehmen konnte. Den Rest hatten ihr seltsamerweise die Bücher über Christie gegeben, die Bücher, das Gesicht dieses Menschen auf den Umschlägen und die tiefere Bedeutung all dieser Dinge. Sie hatte Angst, sie würde in Tränen ausbrechen, aber es war ihr gelungen, sich zu beherrschen. Während sie versuchte, die Bezüge von Toms Bett abzuziehen, zitterten ihre Hände wie papierdünne Blätter im Wind.
Gwendolen war tot, daran bestand für sie inzwischen kein Zweifel mehr. Sie hatte diese Frau, die sie als ihre Freundin bezeichnete, nicht sonderlich gemocht, aber dennoch spürte sie das ungeheure Ausmaß dieser Tatsache, den bedrohlichen Schrecken eines gewaltsamen Todes. Eine Träne stahl sich in ihre Augen und rollte über ihre Wangen. Sie wischte sie an einem Betttuch ab und stopfte es in einen Kopfkissenbezug, um alles daheim zu waschen. Draußen vor der Tür hörte sie über sich Schritte. War Cellini zurückgekommen? Sie legte das Kopfkissen mit der Wäsche hin und lauschte. Hoffentlich verfiel nicht auch noch ihr Gehör im gleichen Maße wie ihr Geruchssinn. Noch ein Schritt. Ganz instinktiv wollte Olive fliehen und möglichst schnell die Treppe zu Queenie hinunterlaufen. Trotzdem wich sie nicht von der Stelle. Cellini konnte nicht wieder da sein, das war unmöglich. Eine von ihnen hätte ihn sehen und hören müssen, sobald er das Haus betreten hätte und die Treppe zu seiner Wohnung hinaufgegangen wäre. Die Polizei war gerade mal zehn Minuten weg, und Tom war kurz nach ihnen gegangen. Olive setzte ihren Fuß auf die unterste Stufe der gefliesten Treppe und machte sich an den Aufstieg. Es war die tapferste Tat ihres Lebens. Die letzten fünf Stufen wäre sie am liebsten auf Händen und 286 Füßen hinaufgekrochen, wenn sie nicht befürchtet hätte, dass Queenie mit dem Kaffee heraufgekommen wäre und sie gesehen hätte. So aber blieb sie ganz oben stehen, klammerte sich an den Pfosten des Handlaufs und suchte die Quelle dieser Geräusche. Sie schaute nach rechts, dann nach links. Olive schrie. »Was ist los? Was ist passiert?« Sie beachtete Queenies Stimme nicht, aber sie stieß auch keinen zweiten Schrei aus. Ihre Stimmbänder verweigerten ihr einfach den Dienst. Zitternd starrte sie den Mann mit Christies Gesicht an. Er sah den Fotos auf den Buchrücken ziemlich ähnlich. Mit ausgestreckten Händen kam er auf sie zu. Gleich würde sie sterben, ihr Herz würde aussetzen, und sie würde sterben. »Bitte, nix Angst.« Er sprach mit einem starken ausländischen Akzent. Christie hätte sich ganz anders angehört, dachte Olive, schloss die Augen, öffnete sie wieder und flüsterte dann: »Wer sind Sie?« Sie räusperte sich, danach klang ihre Stimme deutlich lauter und klarer. »Wer sind Sie?« »Ich heiße Omar. Omar Ahmed. Ich bin aus Irak.« »Der Krieg ist vorbei«, sagte Olive. »Waren Sie im Krieg?«
Er schüttelte den Kopf. Ihr fiel auf, dass er samtschwarze Augen hatte, wie man sie bei angelsächsischen Leuten nie fand, und schwarze Haare mit einzelnen grauen Strähnen. Tragen diese Leute denn nicht alle Schnurrbarte?, fragte sie sich im Stillen, und prompt lieferte er ihr die Antwort darauf: »Bart weg, damit ich nix so wie Mann aus Mittleren Osten aussehe.« »Sind Sie Asylbewerber?« Er nickte, dann schüttelte er den Kopf. »Ich gerne gewesen, als ich herkam, aber ich falsch gemacht. Ich nix anmelden, jetzt ich illegal. Ich will jetzt heim, jetzt geht, ich sicher. Ich gehe nach Basra zurück.« 287 Dieses »sicher« würde ich bezweifeln, dachte sie. »Haben Sie hier gewohnt?«, fragte sie und fügte hinzu, ohne eine Antwort abzuwarten: »Kommen Sie mit hinunter, und trinken Sie mit mir und meiner Freundin eine Tasse Kaffee.« Anfänglich war Queenie schockiert, als sie es erfuhr, und befürchtete, er könnte gefährlich sein. Trotzdem hörte sie sich seine Geschichte an. Er hatte sich an einen der Waggons des Eurostar geklammert und war in Folkstone abgesprungen. So war er nach England gekommen. Von Anfang an war ihm klar gewesen, dass er etwas Illegales tat. Deshalb hatte er auch keinen Antrag als Asylbewerber gestellt, bis die Frist dafür abgelaufen war. Jetzt war es dafür zu spät. Nach London war er mit einem Lastwagen aus Prag getrampt, der einen tschechischen Fahrer hatte. Die beiden konnten sich kaum verständigen. Der Tscheche verstand kein Englisch und selbstverständlich kein Arabisch, und Omar konnte außer seiner Muttersprache nur ein paar Brocken Englisch. In London schlief er auf der Straße und bettelte tagsüber. Er beobachtete die Häuser, ganz besonders alle leer stehenden oder solche, die von Einzelpersonen bewohnt wurden. Am liebsten waren ihm betagte Besitzer oder Leute, die viel weg waren. So hatte er das St. Blaise House und Gwendolen ausfindig gemacht. Um nicht auf Dauer auf der Straße schlafen zu müssen, suchte er eine Möglichkeit, sich Zutritt zu verschaffen. An dieser Stelle wollte Queenie von ihm wissen, warum er gekommen sei und weshalb er nicht zu Hause geblieben war. Als der Name Saddam Hussein fiel und er von seiner verschwundenen Frau und den Kindern erzählte, nickte sie, legte ihre Hand auf die seine und stellte keine weiteren Fragen mehr. »Ich klettern über Dächer«, sagte er. »War leicht. Ich gehe durch Fenster, und auch das leicht.« 287 »Wann war das?«
»Ach, lange her. Februar, vielleicht März. Es war kalt.« Tagsüber hatte er Geld erbettelt, um sich Essen zu kaufen. Einmal sah er am Notting Hill Gate »den Mann, der hier leben«, und dachte, jetzt sei es um ihn geschehen, aber offensichtlich hatte der Mann mehr Angst als er. Bei ihren unvermeidlichen Begegnungen hatte sich dieser stets vor ihm gefürchtet, auch wenn Omar den Grund dafür nicht verstand. Er hätte ihm alles erzählt und ihn um Hilfe gebeten, aber der Mann hatte sich entsetzlich vor ihm gefürchtet. Das einzige Lebewesen, zu dem er seit seiner Fahrt von Folkestone nach London engeren Kontakt gehabt hatte, war eine Katze, die hier im Haus lebte. Irgendwie mochte sie ihn und schlief auf seinem Bett. Wahrscheinlich wegen der Fisch- und Fleischreste, die er an sie verfütterte. Im Keller fand er einen alten Plattenspieler und einige Aufnahmen, die er ganz leise abgespielt hatte. Er spürte, ohne Musik könne er nicht existieren. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er eines Nachts dumpfe Geräusche gehört. Als er herauskam, hatte er gesehen, wie dieser Mann einen in ein Laken eingewickelten Gegenstand die Treppe hinaufzerrte. In Basra hätte er gedacht, es sei eine Leiche, aber doch nicht hier, nicht in England. Queenie stieß einen leisen Schrei aus, während Olive sagte: »Sie müssen der Polizei erzählen, was Sie gehört und gesehen haben. Wir gehen alle gemeinsam hin, und dann müssen Sie ihnen das mitteilen und sich erkundigen, wie Sie wieder nach Hause kommen, nach Irak.« Als Omar nervös reagierte, meinte sie: »Man wird sie gern nach Hause bringen. Wenn es dort sicher ist, wird man Ihnen helfen heimzukommen. Versprochen.« Hoffentlich wird es Ihnen nach Ihrer Rückkehr dort gefallen, murmelte sie in sich hinein. 288
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Der Zug nach Norwich, mit Halt in Witham, Colchester und Ipswich, sollte planmäßig von Gleis dreizehn abgehen. Einen Augenblick dachte er daran, den ganzen Ausflug zu streichen oder den Bahnhof zu verlassen und stattdessen zu versuchen, mit dem Bus hinzufahren. Nein, jetzt hatte er sich bereits eine Fahrkarte gekauft, und das zu einem unverschämten Preis. Bei seiner letzten Bahnfahrt war er Erster Klasse gereist, aber inzwischen hatte sich die Situation geändert. Er musste vorsichtig sein. Es war schon beinahe Mittagszeit. Er ging in den Speisewagen und kaufte sich einen Hamburger mit Pommes und dazu eine Dose Cola. Und dann dachte er, was soll's, und gönnte sich obendrein noch ein kleines Fläschchen Gin für seinen Drink.
Bei Shannon erwarteten ihn trostlose Stunden. Ich hasse Kinder, dachte er. Ihm wurde bereits schlecht, wenn er nur daran dachte, dass er mit ihren schrecklichen Kindern in einem Zimmer schlafen müsste. Der Jüngere war chronisch erkältet und zog ständig die Nase hoch. Daran erinnerte er sich noch ganz genau. Beide wuschen sich nie, und Shannon war viel zu abgearbeitet und müde, um sich darum zu kümmern. Plötzlich fiel ihm der Tag wieder ein, an dem er versucht hatte, sie umzubringen. Aber hatte er es getan? Hatte er es wirklich getan? Hatte er sie tatsächlich mit dieser Flasche totschlagen wollen? In Wirklichkeit hatte er sie gar nicht angefasst, das hatte Javy verhindert. Wenn er es richtig bedachte, hatten seine ganzen Probleme damit begonnen, dass ihn Javy dafür verdroschen hatte. Später 289 kam dann die Ohrfeige dazu, die er seiner Mutter verpasst hatte. Danach war ihm nichts anderes übrig geblieben, als auszuziehen und sich allein durchzuschlagen. Das waren schon mal zwei Gründe. Und was war dann gekommen? Die Arbeit für Fiterama in Birmingham war okay gewesen, allerdings hätte er sich nie befördern lassen und nach Süden ziehen dürfen. Eigentlich hatte ihn Christie nicht sonderlich interessiert. Trotzdem war er enttäuscht gewesen, als er herausfand, dass dessen Haus nicht mehr stand. Im Vergleich zu dem Schock am Rillington Place war das allerdings nichts gewesen. Der nächste Fehler war sein Umzug nach Notting Hill. Und dann noch diese Wohnungsrenovierung. Er versank in Selbstmitleid, bis er ein Stechen in den Augen spürte. Sein ganzes Leben hatte ihn das Pech verfolgt. Er war in Shoshanas Studio gegangen, und sein Schicksal hatte ihm Danila über den Weg geschickt. Und Danila hatte ihn mit Gewalt gezwungen, sie zu töten, und ihn so zum Verbrecher gemacht. Der Inder hatte der Chawcer erzählt, er habe ihn beim Umgraben des Gartens beobachtet. Sein Rücken war so kaputt, dass er nie mehr wieder ganz gesund werden würde, und dann hatte er noch eine Frau umgebracht, die bereits tot war. Und nun saß er in einem Zug, der von Gleis dreizehn abfuhr. Er hatte mitgezählt, während er seine Schicksalsschläge Revue passieren ließ: dreizehn. Insgesamt waren es dreizehn gewesen. Unabsichtlich stöhnte er dumpf. Eine junge Frau, die ihm gegenübersaß, starrte ihn an. »Ist alles in Ordnung?« Er nickte und versuchte, sich zu einem Lächeln zu zwingen. Es misslang. Dreizehn Stufen bergab bis zu dem Punkt, an dem er jetzt angelangt war:
ohne Job, schwindender Kontostand, vermutlich für den Rest seines Lebens auf der Flucht, von allen Freunden verlassen. Dreizehn Stufen - genau wie der Treppenabsatz von seiner Wohnung hinunter in ihr dunkles Reich. 290 Und was erwartete ihn noch? Zitternd kippte er den Gin in seine halb leere Coladose. Das Mädchen, das sich nach seinem Wohlbefinden erkundigt hatte, warf ihm besorgte Blicke zu und flüsterte mit ihrem jungen Begleiter. Die Mischung aus Gin und Cola setzte ihn außer Gefecht, obwohl er sich längst daran gewöhnt haben sollte. Er fühlte sich erschöpft. Trotz des voll besetzten Waggons - hauptsächlich junge Leute, die genau dasselbe aßen und tranken wie er (vom Gin einmal abgesehen) und dabei fettiges Einwickelpapier und Dosen auf den Boden fallen ließen - nickte er ein. Es gelang ihm nicht, wach zu bleiben. Im Traum stand er ganz oben im Treppenhaus und blickte hinunter. Eine Stimme in seinem Kopf riet ihm, nicht hinunterzugehen, sondern zurückzutreten. Bleib, wo du bist, bereits der erste Schritt hat fatale Folgen. Aber irgendetwas ließ nicht locker und zog ihn vorwärts in die Tiefe, eins, zwei, drei... Ein Schritt, und noch ein Schritt, und jetzt konnte er ganz unten Reggie sehen, der auf ihn wartete. Mit einem Schrei wachte er auf. Das Mädchen gegenüber zeigte kein Mitgefühl mehr. Sie tuschelte mit ihrem Freund, und Mix wusste, was sie sagte. Er sei betrunken. Vielleicht war er das. Draußen in der frischen Luft würde er wieder einen klaren Kopf bekommen, und vielleicht wäre es gut, dass es bei Shannon keinen Tropfen Alkohol gab. Aus dem Lautsprecher verkündete eine Stimme: »Der Zug erreicht in Kürze Colchester. Nächster Halt - Colchester.« Mix holte seine Tasche aus dem Gepäcknetz und ging Richtung Tür. Im Gang standen bereits jede Menge junge Leute, bepackt mit Rucksäcken und Taschen, die sich auch zwischen den Füßen stapelten. Langsam rollte der Zug in den Bahnhof ein, und die Fahrgäste schubsten einander' beim Aussteigen auf den Bahnsteig hinaus. Mix stieg hinunter, aber weit kam er nicht. 290 Niemand legte ihm eine Hand auf die Schulter. So etwas kam nur im Film vor. Das war etwas fürs Fernsehen. Das Sprüchlein des älteren Polizeibeamten hatte er schon hundertmal im Fernsehen gehört, er kannte es auswendig. Das ganze Zeug darüber, dass alles, was man von jetzt an sage, gegen einen verwendet werden könne und so weiter. Und ob er etwas sagen wollte! Schließlich war es die Wahrheit.
»Die Sache mit dem Mädchen war Notwehr«, sagte er. »Und die alte Frau war schon tot, bevor ich sie angefasst habe. Ich bin kein Mörder, ich bin nicht Christie.« Olive hatte ihre Lesebrille verloren. Die einzige Ersatzbrille war fünfzehn Jahre alt und taugte nichts mehr. Sie wollte schon ihren Optiker anrufen und eine neue bestellen, da fiel ihr wieder ein, dass sie die Brille höchstwahrscheinlich im St. Blaise House liegen gelassen hatte. Eine Woche lang hatte bis auf Polizei, Pathologen und Gerichtsmediziner niemand dort Zutritt gehabt. Jetzt waren alle wieder weg. Mix Cellini stand wegen des Mordes an Gwendolen unter Anklage, und die Situation hatte sich ein wenig beruhigt. Tom meinte, den Mord an Danila Kovic und das Verscharren der Leiche behalte sich die Polizei noch vor, falls Cellini im Fall Gwendolen davonkäme. Dann könnte man ihn zum zweiten Mal wegen Mordes anklagen. Olive sperrte auf. Sie war entschlossen, den Schlüssel beim Weggehen endgültig hier zu lassen, ob mit oder ohne Brille. Vielleicht sollte sie ihn zu den anderen wichtigen Schlüsseln legen, in den Wäschetrockner. Durch die Rückkehr des Schlüssels an diesen lächerlichen Aufbewahrungsort würde man den wie auch immer gearteten bizarren Wünschen der ehemaligen Besitzerin Respekt zollen. Olive empfand dies als ein winziges Zeichen später Anerkennung für Gwendolen. Während Olive den Salon betrat, machte sie sich Gedanken 291 über die Zukunft dieses Hauses. Gab es irgendeinen Erben? Außer einer alten Kusine ihrer Mutter, die auf deren Beerdigung gewesen war, hatte Gwendolen nie Verwandte erwähnt. Allerdings jährte sich Mrs. Chawcers Beerdigung heuer zum fünfzigsten Mal. Soweit Olive wusste, war Gwendolen das einzige Kind von zwei Einzelkindern gewesen. Ob sie je ein Testament gemacht hatte? Für einen Baulöwen wäre das St. Blaise House Millionen wert. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wo sie sich während ihrer Stunden hier im Haus aufgehalten hatte. Selbstverständlich im Salon, in der Küche - dort hätte sie keine Lesebrille benötigt - und in dem von ihr benutzten Schlafzimmer. Sie stieg die Treppe hoch. Im Gegensatz zu ihr hatte Queenie wegen Gwendolen geweint. Olive war wütend gewesen, aber auch froh, dass sich Cellini nicht in ihrer Reichweite aufgehalten hatte, als die Wahrheit ans Licht kam. Ich wäre auf ihn losgegangen, sagte sie zu dem leeren Haus, und hätte ihm mit meinen Nägeln das Gesicht zerkratzt. Dann hätte es sich wenigstens gelohnt, dass sie immer lange, spitze Nägel getragen hatte. Sie
betrat das traurige, schmutzige, vernachlässigte Schlafzimmer. Die Suche dauerte nur drei Minuten, anschließend musste sie sich die Hände waschen. Die Brille tauchte im Salon auf. Sie lag unter einem der Sessel in einer kleinen Enklave aus Staubflocken und toten Fliegen. Sie ging in die Küche und wollte sie gerade unter dem Wasserhahn waschen, da klingelte es an der Haustür. Irgendein Fischhändler oder ein Scherenschleifer, dachte sie. Draußen standen ein älterer Mann und eine Frau in mittleren Jahren. Zwei vergessene Verwandte von Gwendolen? »Ich heiße Reeves«, sagte der Mann und strahlte übers ganze Gesicht, »Dr. Stephen Reeves. Ich war zufällig in der Gegend und dachte mir, ich schaue mal bei Miss Chawcer vorbei. Übrigens, das ist meine Frau Diana. Ist Miss Chawcer da?« 292 »Leider nein.« Nun müsste sie auch einen Grund dafür nennen, wenn auch in abgewandelter Form, das war Olive klar. »Gwendolen ist verstorben. Es kam ganz plötzlich.« Dr. Reeves schüttelte den Kopf und versuchte, betroffen zu wirken. »Ach, herrje. Nun ja, sie kam eben in die Jahre. Das steht uns allen bevor. Wir dachten eben, wir schauen mal vorbei. Eigentlich ...« - er gestattete sich wieder ein Lächeln - »... verbringen wir hier unsere Flitterwochen.«