Das Buch Nell und Eva leben mit ihren Eltern in einem Haus am Waldrand nahe einer Kleinstadt. Beide haben große Pläne. ...
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Das Buch Nell und Eva leben mit ihren Eltern in einem Haus am Waldrand nahe einer Kleinstadt. Beide haben große Pläne. Nell möchte studieren, Eva Tänzerin werden. Doch etwas in der Welt verändert sich, die Stromversorgung wird unregelmäßig, Benzin und Lebensmittel gehen aus, es gibt keine Zeitungen mehr und erschreckende Gerüchte gehen um: Man spricht von Krieg, Seuchen, Erdbeben und einer Explosion in einem Atomkraftwerk. Als schließlich nach dem Tod der Mutter auch noch der Vater der beiden durch einen Unfall stirbt, bleiben Nell und Eva allein und isoliert zurück. Erst da beginnen die jungen Frauen allmählich zu begreifen, daß die Zivilisation zusammengebrochen, die vertraute Welt unwiederbringlich verloren ist – und daß es jetzt nur noch um ihr Überleben geht … Jean Hegland lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern im Norden Kaliforniens auf dem Land. ›Die Lichtung‹ ist ihr viel beachteter erster Roman. Im Krüger Verlag ist ihr neuer Roman ›Der Sommer, als Lucy vier war‹ erschienen. Unsere Adresse im Internet: www.fischer-tb.de
Jean Hegland
Die Lichtung Roman Aus dem Amerikanischen von Anne Steeb – Müller
Fischer Taschenbuch Verlag
Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag, ein Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, März 2004 Lizenzausgabe mit Genehmigung des Wolfgang Krüger Verlags, Frankfurt am Main Die Originalausgabe erschien 200 unter dem Titel ›Into the forest‹ im Verlag Calyx Books Corvallis, Oregon © Jean Hegland 996 Für die deutsche Ausgabe: © Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt am Main 998 Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-608-9
Die Lichtung
Für Douglas Fisher und Garth Leonard Fisher und in Erinnerung an Leonard Hegland
E
s ist ein eigenartiges Gefühl, diese ersten Worte zu schreiben: als würde ich mich über die modrige Stille eines Brunnens beugen und mein Gesicht aus dem Wasser hervorspähen sehen – so klein und aus so ungewohntem Blickwinkel, daß ich verblüfft bin, als mir aufgeht, daß es mein eigenes Spiegelbild ist. Nach so langer Zeit halte ich den Kugelschreiber steif und unbeholfen in der Hand. Außerdem muß ich gestehen, daß dieses Notizbuch mit seiner Wildnis leerer Seiten für mich eher Bedrohung als Geschenk ist – denn was kann ich hier aufschreiben, ohne daß mir die Erinnerung Schmerzen bereitete? Du könntest über das Jetzt schreiben, hat Eva gesagt, über die Gegenwart. Noch heute morgen war ich mir sicher, daß ich dieses Notizbuch zum Lernen benutzen würde. Ich mußte mir Mühe geben, nicht über ihren Vorschlag zu spotten. Aber mittlerweile sehe ich ein, daß sie recht haben könnte. Jedes Fachgebiet, das mir in den Sinn kommt – von Volkswirtschaft bis Meteorologie, von Anatomie über Geographie bis hin zur Geschichte –, scheint sich um sich selbst zu drehen und mich unweigerlich zurückzuverweisen auf das Hier und Jetzt, auf den heutigen Tag. Heute ist der erste Weihnachtstag. Darum komme ich nicht herum. Wir haben viel zu gewissenhaft die Tage 9
auf dem Kalender ausgestrichen, um uns im Datum zu irren, wie sehr wir es uns auch wünschen mögen. Heute ist Weihnachten, und der erste Weihnachtstag ist einer von vielen Tagen, die durchlebt werden wollen, einer von vielen Tagen, die durchgestanden werden müssen, damit diese Zeit bald hinter uns liegt. Weihnachten in einem Jahr wird alles vorbei sein, und meine Schwester und ich werden das Leben wiedererlangt haben, das uns bestimmt ist. Der elektrische Strom wird fließen, die Telefone werden funktionieren. Flugzeuge werden wieder über unsere Lichtung hinwegfliegen. In der Stadt wird es in den Läden Lebensmittel und an den Tankstellen Benzin zu kaufen geben. Lange vor den nächsten Weihnachtsfeiertagen werden wir in allem geschwelgt haben, was wir jetzt entbehren und herbeisehnen – Seife und Haarwaschmittel, Toilettenpapier und Milch, frisches Obst und Fleisch. Mein Computer wird laufen, Evas CD-Spieler wird funktionieren. Wir werden Radio hören, das Internet benutzen, Zeitung lesen. Banken, Schulen und Bibliotheken werden wieder geöffnet sein, und Eva und ich werden dieses Haus verlassen haben, in dem wir wie Schiffbrüchige leben. Sie wird im Ballettkorps von San Francisco tanzen, ich werde mein erstes Semester in Harvard hinter mir haben, und dieser regnerische, düstere Tag, den wir dem Kalender zufolge Weihnachten nennen müssen, wird lange, lange vorbei sein. »Fröhliche heidnische, literarisch angehauchte und höchst kommerzielle Weihnachten«, hat unser Vater uns am Weihnachtsmorgen immer gewünscht, wenn Eva und ich uns schon lange vor dem winterlichen Morgengrauen 10
auf dem Flur vor dem Schlafzimmer unserer Eltern eingefunden hatten. Zappelig vor Aufregung redeten wir auf sie ein, sie sollten doch aufstehen und mit nach unten kommen, und zwar schnell. Sie dagegen gähnten und beharrten darauf, erst ihre Bademäntel anzuziehen, sich das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen. Wenn unser Vater uns zur Raserei bringen wollte, kochte er sogar vorher noch Kaffee. Nach der Unordnung und dem Gelächter beim Auspacken der Geschenke kam das festliche Mittagessen, das wir als selbstverständlich betrachteten, gingen Anrufe von entfernten Verwandten ein, während aus dem CD-Spieler die erhabenen Klänge von Händels Messias erschallten. Irgendwann nachmittags unternahmen wir zu viert einen Spaziergang die unbefestigte Straße hinab, die zu unserer Lichtung führt. Die frische Luft und der grüne Wald klärten unsere Sinne, und wenn wir die Brücke erreicht hatten, waren wir soweit, den Heimweg anzutreten. Dann verkündete unser Vater unweigerlich: »Das ist, bei Gott, das eigentliche Weihnachtsgeschenk – Ruhe und Frieden und frische Luft. Auf sechseinhalb Kilometer keine Nachbarn und im Umkreis von fünfzig Kilometern keine Stadt. Buddha, Schiwa, Jehova und der kalifornischen Forstverwaltung seien gedankt, daß wir am Ende der Straße leben!« Später, nach Einbruch der Dunkelheit, wenn es bis auf das Leuchten der kleinen Glühbirnen am Weihnachtsbaum im ganzen Haus dunkel war, zündete Mutter die Kerzen am Krippenkarussell an, und es kehrte einen Augenblick 11
lang Ruhe ein, während wir gemeinsam davorstanden und zusahen, wie sich die Hirten, die drei Weisen aus dem Morgenland und die Engel um die kleine Heilige Familie drehten. »Jawohl«, sagte unser Vater, ehe wir nacheinander davongingen, um vom Truthahngerippe das übriggebliebene Fleisch abzuzupfen und uns vom kalten Plumpudding dünne Scheiben abzuschneiden, »so geht die Geschichte. Könnte besser sein, könnte schlechter sein. Aber wenigstens steht ein Baby im Mittelpunkt.« Dieses Jahr zu Weihnachten haben wir nichts von alldem. Es gibt dieses Jahr zu Weihnachten keine Lichterketten, keine Weihnachtskarten. Es gibt keine Geschenkstapel, keine Ferngespräche mit Großtanten und Cousins zweiten Grades, keine Weihnachtslieder. Es gibt keinen Truthahn, keinen Plumpudding, keinen Spaziergang bis zur Brücke mit unseren Eltern, keinen Messias. In diesem Jahr bedeutet Weihnachten nichts weiter als das nächste weiße Quadrat auf einem fast abgelaufenen Kalender, eine zusätzliche Tasse Tee, einige Augenblicke bei Kerzenlicht und für jede von uns ein einzelnes Geschenk. Warum wir uns die Mühe machen? Vor drei Jahren – ich war vierzehn, Eva fünfzehn – habe ich an einem verregneten Abend eine Woche vor Weihnachten die gleiche Frage gestellt. Vater stöhnte über die vielen Karten, die er noch zu schreiben hatte, und Mutter hatte sich mit ihrer schnurrenden Nähmaschine in ihrem Arbeitszimmer verschanzt. Sie kam nur hin und 12
wieder zum Vorschein, um die nächste Ladung Plätzchen aus dem Ofen zu holen und mich zu überreden, die Teigschüsseln zu spülen. »Nell, ich muß die Schüsseln gespült haben, damit ich vor dem Zubettgehen mit dem Pudding anfangen kann«, sagte sie und machte hinter dem letzten Blech Plätzchen die Ofentür zu. »Ist gut«, murmelte ich und blätterte die nächste Seite des Buchs um, in das ich vertieft war. »Heute abend noch, Nell«, sagte sie. »Wozu machen wir das eigentlich?« ereiferte ich mich und sah gereizt von meinem Buch auf. »Weil sie schmutzig sind«, antwortete sie und nahm sich die Zeit, mir einen warmen Ingwerkeks zu reichen, ehe sie zu den Geheimnissen ihrer Näharbeit zurückeilte. »Ich meine doch nicht das Geschirr«, murrte ich. »Was denn dann, Pummelchen?« fragte mein Vater. Er leckte an einem Briefumschlag und strich mit Nachdruck einen weiteren Namen auf seiner Liste durch. »Weihnachten. Das ganze Durcheinander und der Aufwand. Wir sind doch nicht einmal richtige Christen.« »Da hast du verdammt recht«, sagte unser Vater. Er legte den Kugelschreiber aus der Hand, sprang vom Tisch vorn am Fenster auf. »Wir sind keine Christen, wir sind Kapitalisten«, sagte er. »Jeder Einwohner dieses verfluchten Landes ist Kapitalist, ob es ihm paßt oder nicht. Jeder Einwohner dieses Landes ist einer der unersättlichsten Konsumenten dieser Welt. Er verbraucht die Reserven der Natur in einem Tempo, das zwanzigmal so hoch ist wie jenes, das andere auf dieser armen Erde vorlegen. Und 13
Weihnachten ist unsere einmalige Chance, das Tempo noch zu steigern.« Als er sah, daß ich mich wieder meinem Buch zuwandte, fügte er hinzu: »Warum wir Weihnachten feiern? Keine Ahnung. Ich sag dir was: Lassen wir’s doch. Werfen wir das Handtuch. Ich fahre morgen in die Stadt und gebe die Geschenke zurück. Die Plätzchen verfüttern wir an die Hühner, und dann schreiben wir unseren Freunden und Verwandten, daß wir den Vorsatz gefaßt haben, Weihnachten abzuschaffen. Nur schade um meinen vergeudeten Urlaub«, fuhr er mit gespielter Traurigkeit fort. »Ich hab’s.« Er schnippte mit den Fingern und duckte sich, als hätte ihn die Idee soeben am Hinterkopf getroffen. »Wir ziehen unter dem Boden im Abstellraum neue Balken ein. Laß das Geschirr stehen, Nell, und such mir den Wagenheber raus.« Ich sah ihn entrüstet an und haßte ihn eine halbe Sekunde lang, weil er meine Sticheleien und meine miese Laune so mühelos abfing. Ich ging schnaubend in die Küche, griff mir eine Handvoll Plätzchen und wanderte nach oben, um mich mit meinem Buch in meinem Zimmer zu verstecken. Später hörte ich ihn in der Küche rumoren. Er wusch das Geschirr, das ich stehengelassen hatte, und sang aus Leibeskräften: Drei Könige wandern aus dem Morgenland, Zigarren aus Gummi in ihrer Hand. Die war’n geladen, es gibt einen Knall, Und sie regnen herab übers Jordantal. 14
Im Jahr darauf hätte nicht einmal ich es gewagt, Weihnachten in Zweifel zu ziehen. Mutter war krank, und wir klammerten uns an alles, was hell und lieblich und warm war, als meinten wir, daß die Schatten, wenn wir sie nicht beachteten, im Schimmer der Hoffnung verschwinden müßten. Doch schon im Frühjahr nahm der Krebs sie von uns, und letztes Jahr zu Weihnachten hatten Eva und ich uns alle Mühe gegeben, zu backen, Geschenke einzuwickeln und zu singen, verzweifelte Mühe, unseren Vater und uns zu überzeugen, daß wir ohne sie glücklich sein könnten. Ich hatte gedacht, wir seien letzte Weihnachten unglücklich gewesen. Ich hatte gedacht, wir seien unglücklich gewesen, weil unsere Mutter tot und unser Vater in sich gekehrt und still geworden war. Aber wir hatten Kerzen am Baum gehabt und einen Truthahn im Ofen. Eva tanzte in der Nußknacker-Inszenierung des Balletts von Redwood die Clara, und ich hatte die Ergebnisse meiner Hochschulreifeprüfungen erfahren. Sie waren – sofern ich auch bei den Leistungstests des College Board anständig abschnitt – gut genug, um den Brief an die Aufnahmekommission von Harvard zu rechtfertigen, den ich daraufhin aufsetzte. In diesem Jahr ist es mit alledem entweder aus und vorbei oder es hängt in der Schwebe. Dieses Jahr feiern Eva und ich nur, weil es weniger weh tut, zuzugeben, daß heute Weihnachten ist, als es zu leugnen. Keine leichte Sache, sich ein Geschenk für jemanden auszudenken, wenn es weit und breit kein Geschäft zum Einkaufen gibt, wenn man selten so lange ungestört ist, 15
daß man es anfertigen könnte, wenn alles, was man besitzt, jede Bohne und jedes Reiskorn, jeder Löffel, jeder Kugelschreiber, jede Büroklammer auch der Person gehört, die man beschenken will. Ich habe Eva ein Paar ihrer eigenen Ballettschuhe geschenkt. Vor zwei Wochen habe ich das am wenigsten zerschlissenste Paar aus dem Schrank in ihrem Studio geklaut und es so gut ich konnte aufpoliert, heimlich, während sie trainierte. Mit den letzten Tropfen des Flekkenmittels unserer Mutter habe ich den zerschlissenen Satin gereinigt. Mit Nylonfaden aus dem Angelzeug unseres Vaters habe ich die Ledersohlen wieder festgenäht. Ich habe die verbeulten Zehenkappen in einer Mischung aus Wasser und Holzleim eingeweicht und so gut es ging neu geformt, habe sie zum Trocknen hinterm Ofen versteckt und sie dann noch mehrere Male eingeweicht und geformt und getrocknet. Und zum Schluß habe ich den abgenutzten Satin an der Spitze geflickt, damit ihre Schuhe ein paar Stunden länger halten, bis auch das von mir genähte Fadengeflecht durchgetanzt ist. Ihr blieb die Luft weg, als sie die Schachtel öffnete und die Schuhe sah. »Ich weiß nicht, ob sie überhaupt brauchbar sind«, habe ich abwehrend gesagt. »Wahrscheinlich sind sie viel zu weich. Ich verstehe ja nichts davon.« Aber während ich noch Ausflüchte machte, schlang sie die Arme um mich. Wir umklammerten uns eine ewige Sekunde lang und ließen dann hastig los. Heutzutage tragen wir unseren Kummer mit uns herum, als wären unsere Körper Schalen, die bis an den Rand mit Wasser 16
gefüllt sind. Wir müssen uns immer vorsehen; der leiseste Ruck, eine plötzliche Verschiebung, und schon ergießt sich unaufhaltsam das Wasser. Evas Geschenk an mich war dieses Notizbuch. »Es ist zwar kein Computer«, sagte sie, als ich es auspackte. Das zerknitterte Geschenkpapier stammte von einem längst vergangenen Geburtstag und war bislang davon verschont geblieben, zum Feuermachen benutzt zu werden. »Aber es ist völlig unbeschrieben.« »Unbeschriebenes Papier!« staunte ich. »Wo hast du das bloß her?« »Ich hab es hinter meiner Kommode entdeckt. Es muß vor Jahren dahintergerutscht sein. Ich dachte, du könntest darin aufschreiben, was jetzt vorgeht. Für unsere Enkel oder so.« Im Augenblick sieht es so aus, als könnten wir mit Enkeln noch weniger rechnen als mit Außerirdischen vom Mars. Beim ersten Aufschlagen des fleckigen Kartoneinbandes, beim Durchblättern dieser Seiten, die ein wenig muffig riechen und, von ihrem Liniengerüst abgesehen, leer sind, habe ich ehrlich gesagt mehr an meine Vorbereitung auf die Leistungstests als daran gedacht, eine Chronik des Jetzt zu verfassen. Und doch ist es ein gutes Gefühl, zu schreiben. Ich vermisse das flinke Klicken meiner Computertasten, das Leuchten des Bildschirms, aber heute abend fühlt sich dieser Kugelschreiber in meiner Hand an wie ein Zauberstab, und die Linien, die diese Worte über die Seite führen, muten an wie Kettfäden am Webstuhl unserer Mutter und sind nicht so sehr wie Hindernisse, für die ich sie zunächst 17
gehalten hatte. Ich kann bereits absehen, wieviel es zu sagen gibt. Was ich Eva am liebsten geschenkt hätte, ist Benzin. Nur ein klein wenig Sprit – genug, um den Generator anzuwerfen, damit sie wenigstens eine CD spielen und die Musik in ihren Körper einsickern lassen kann; nur ein paar Liter Benzin, damit sie ausnahmsweise einmal Ruhe hat vor dem schroffen Ticken des Metronoms. Aber es ist kein Sprit mehr da. Als wir das letzte Mal aus der Stadt heimgekehrt sind, war die unerbittliche Nadel der Benzinanzeige des Lieferwagens im roten Bereich. »Mädels, der Motor ist die letzten fünf Kilometer nur noch mit Benzindunst gelaufen«, konstatierte unser Vater. »Sieht so aus, als müßten wir uns eine Weile einigeln. Aber keine Sorge – wir haben mehr als genug zu essen, und wenn alles wieder seinen gewohnten Gang geht, nehme ich den Benzinkanister und schlage mich zu Fuß in die Stadt durch.« Nun liegt unser Vater im Wald begraben, der leere Kanister rostet in seiner unaufgeräumten Werkstatt vor sich hin, und Eva muß nach den immer leiser werdenden Klängen ihrer Erinnerung tanzen. Da kommt sie gerade aus ihrem Studio. Ihr zerfetztes Trikot ist dunkel verschwitzt, und das Pumpen unter ihren Rippen verrät, daß sie noch außer Atem ist, als sie sich bückt, um die Klappe am Holzofen aufzumachen. Das Licht des eingeschlossenen Feuers strömt heraus, wirft 18
neue Schatten in den dunkler werdenden Raum. Ich halte beim Schreiben inne, um zuzusehen, wie meine Schwester das Feuer schürt. Ich kann mit Feuer nicht umgehen. Eva sagt, meine Feuer ersticken und qualmen oder fallen auseinander, weil ich ständig an alles mögliche denke – nur nicht daran, was meine Hände tun. Sie findet, daß ich zu ungeduldig bin. Sie kann doppelt so schnell Feuer machen wie ich. Sie arbeitet mit Feuer wie mit einem Lebewesen, päppelt die Flamme aus staubigen Kohlen hoch, lockt sie aus feuchtem Reisig hervor und weiß instinktiv, wie sie die Glut aufschichten muß, damit sie bis zum Morgen vorhält. Seit unser Vater tot ist, kümmert sich grundsätzlich Eva um unser Feuer. Sie legt noch ein Holzscheit auf die Kohlen und setzt sich dann vor dem Ofen auf den Boden, um ihre Schuhe aufzubinden. »Wie war’s?« frage ich. »Weh getan hat es«, antwortet sie fröhlich und untersucht im Feuerschein ihre blutenden Füße. Aber ich weiß, daß sie nach dem schrecklichen Herbst, den wir erlebt haben, endlich wieder tanzt, so wie ich endlich wieder studiere. »Und, wie steht’s mit denen?« frage ich und zeige auf die instandgesetzten Schuhe. Sie sieht mich grinsend an. »Prima«, sagt sie. »Ich hätte weitergemacht, aber dann ist es so dunkel geworden, daß ich nichts mehr gesehen habe. Wie ist das Notizbuch?« »Auch prima«, antworte ich. 19
Sie hebt die Arme wie in der dritten Position und steht, ohne sich abzustützen, vom Boden auf, mühelos wie eine brandende Woge. »Ist schon Zeit, die Kerzen am Karussell anzuzünden?« fragt sie. »Dunkel genug ist es«, entgegne ich. »Aber meinst du wirklich, wir sollen es tun? Ich denke immer, daß wir die Kerzen für den Notfall aufheben müßten.« Sie deutet ein Achselzucken an. »Es ist doch Weihnachten, oder?« Das Karussell, aus Kiefernholz geschnitzt und leuchtend bunt bemalt, ist eine runde, in drei Stufen angeordnete Krippenszene, das leuchtende Kernstück meiner frühesten und unauslöschlichsten Weihnachtserinnerungen. Es ist in China hergestellt, und unser Vater hatte alljährlich seinen Spaß daran, daß die Hirten die dunkle Tracht chinesischer Bauern tragen, daß die Engel mit ihren schwarzen, gerade geschnittenen Pagenköpfe wie Chinesinnen aussehen und daß alle, auch das Jesuskind, elegante asiatische Augen haben. »Ich hoffe sehr, daß wir ihnen im Gegenzug blonde Buddhas schicken«, sagte er vergnügt. »Nichts ist geeigneter, religiösen Chauvinismus abzubauen, als die freie Marktwirtschaft.« »Bist du soweit?« fragt Eva und zeigt auf den Tisch, auf dem das Karussell wartet. Ich nicke, versuche nicht dauernd auszurechnen, wie viele Minuten Kerzenlicht in diesen sechs Stümpfen übrig sind, versuche nicht an den Zeitpunkt zu denken, an dem wir sie dringender brauchen als an diesem Abend. Eva stochert mit einem Kienspan in den Kohlen, und 20
als er Feuer fängt, geht sie damit hinüber zum Karussell. Nacheinander hält sie ihre kleine Fackel an die Kerzenstümpfe unten am Rand. Nacheinander springt das Feuer von Holz zu Docht über, bis in der stillen Luft sechs Lichter flackern. Es nimmt mir den Atem. Wir haben nachts nicht mehr soviel Licht gesehen, seit im vergangenen Frühjahr die Kerosinlampe endgültig erloschen ist. Es verändert unsere Stimmen, läßt unsere Worte rund und weich und voll klingen, ein wenig ehrfürchtig. Sauber und rauchlos tanzen die Flammen um ihre steifen schwarzen Dochte, und alles im Raum wirkt warm und sanft. Meine Augen füllen sich mit Tränen, und ich sehe unverwandt diese Lichtzungen an, diese Blütenblätter aus Feuer. Das Wachs wird weich und glitzert, und als die Hitze des Kerzenlichts aufsteigt, fangen die hölzernen Zungen oberhalb der Engel den warmen Aufwind ein, und das Karussell setzt sich in Bewegung. Still und bedächtig drehen sich Engel, Hirten, Schafe, die Heiligen Drei Könige und ihr Kamel um Maria, Joseph und das Christkind, die sich nicht mitbewegen. Wir sehen schweigend zu, während uns die Erinnerung an all unsere Weihnachtsfeste mit solcher Heftigkeit überkommt, daß sie unendlich schwer einzugestehen, unmöglich zu negieren ist. Ich frage Eva: »Weißt du noch, wie du gefragt hast, ob Jesus ein Er oder eine Sie war?« Der Witz war alt und in unserer Familie jedes Jahr zu Weihnachten erneut hervorgeholt worden, genau wie das Rezept für Plumpudding. 21
Sie lächelt. »Mama hat gesagt, Jesus ist ein Er, aber das ist reiner Zufall. Sie hat gesagt: ›Genausogut hätte er eine Sie sein können.‹« »Und dann hat Papa gefragt, ob die Jungfrau Maria auch ein Er hätte sein können.« Wir nicken und lächeln. Wir wagen das heikle Unterfangen, uns an die Freuden der Vergangenheit zu erinnern, ohne ihnen in der Gegenwart Bedeutung beizumessen. Eine der Kerzen geht aus. Die Flamme zischt, lodert auf und fällt in sich zusammen. Das Karussell wird langsamer. Wie sehen stumm zu, gebannt von den rotierenden Schatten an der Zimmerdecke, vom Puls der fünf verbliebenen Flammen, vom gemächlichen Glosen und vom Kreislauf der Erinnerung. »Ich finde, sie hatte unrecht«, sagt Eva, nachdem die zweite Flamme schwächer geworden ist und erlischt. »Wie bitte?« »Jesus hätte kein Mädchen sein können.« »Warum nicht?« »Alles wäre anders gelaufen, schon vor langer Zeit.« »Inwiefern?« frage ich, höchst interessiert, mit meiner Schwester über diese Idee zu sprechen. Sie zuckt die Achseln, ein wenig gleichgültig, ein wenig ungeduldig. Die Haltung ihrer Schultern, die Bewegungen ihres Körpers sind das einzig Beredte an ihr. »Ich weiß nicht, aber es wäre einfach nicht aufs gleiche hinausgelaufen, wenn Jesus ein Mädchen gewesen wäre.« »Jesetta? Jesuphina?« scherze ich. Aber es hört sich so sehr nach einem Witz unseres Vaters an, daß es seine Wirkung verfehlt. 22
Die nächste Kerze geht aus, und das Karussell bleibt stehen. Im schwächer werdenden Licht der drei restlichen Flammen knien die Hirten geduldig zwischen ihren Schafen. Die Heiligen Drei Könige tragen ihre Geschenke steif mit hölzernen Armen vor sich her und sind vom Ziel ihrer Reise so weit entfernt wie eh und je. Maria und Joseph stehen starr zu beiden Seiten des hölzernen Kindes. Der Kerzenschein wird schwächer und greller. Der letzte Docht knickt ein. Die letzte Flamme erlischt. Weihnachten ist vorbei. Die Dunkelheit hat uns wieder. Schon wieder ein Regentag. Außer einem Spurt nach draußen, um Holz zu holen und den Hühnerstall zu entriegeln, damit Bathsheba, Lilith und Pinkie im aufgeweichten Boden des Hofs herumkratzen können, haben wir den Tag drinnen zugebracht. Weihnachten liegt erst einen Tag zurück, aber wenn dieses Notizbuch und der Umstand nicht wären, daß Eva bei Morgengrauen in ihrem Studio verschwunden ist, würde nie jemand davon erfahren. »Du wirst die Schuhe an einem einzigen Tag durchgetanzt haben«, unterstellte ich ihr, als sie mittags wieder hervorkam. »Ich weiß.« Sie zupfte an ihrem schweißnassen T-Shirt, damit es nicht an ihrer Brust klebte, trank einen Schluck von dem Wasser, das sich Tropfen um Tropfen im Spülbekken ansammelt. Dann stürmte sie wortlos zurück in ihr Studio. 23
Selbst jetzt noch bringt Eva es fertig, dieses und jenes zu verbrauchen. Ich möchte alles aufheben, möchte es langsam versiegen lassen. Ich kann mit einem Dutzend Rosinen, einem zentimeterlangen Stück schaler Zuckerstange einen ganzen Abend auskommen. Ich kann den Genuß strecken, als wäre er eine Patientin in der Geriatrie, die in der Wintersonne im Rollstuhl spazierengefahren wird. Eva dagegen kann nach wie vor prassen. »Freuen wir uns dran, solange wir’s haben«, sagt sie und tanzt ihre Schuhe in Fetzen, schluckt ihre Zuteilung Rosinen auf einmal herunter, zündet Kerzen an und läßt sie brennen. Sie trauert dem, was verloren ist, nicht nach. »Warum auch?« fragt sie, wirft den Kopf zurück und hebt entschieden die Hand. »Nichts bleibt ewig. Und es ist es ja auch nicht das letzte Mal, daß wir eine Rosine zu sehen bekommen.« Letzte Woche habe ich im Lexikon von Eingeborenen in Baja gelesen, für die Fleisch eine so seltene Delikatesse war, daß sie sich ein Stück an eine Schnur banden, um es kauen und hinunterschlucken und dann an der Schnur wieder heraufziehen zu können, um das Vergnügen des Kauens und Schluckens ein zweites Mal zu erleben. Ich war peinlich berührt, als ich das las. Es erinnerte mich an mich selbst, unfähig, loszulassen, unfähig, selbst den kleinsten Verlust zu ertragen. Eva ist nicht so. »Wir haben genug zu essen«, spottet sie, wenn sie mich über eine Handvoll alter Erdnüsse oder die letzten paar Tropfen Sojasoße in Jammer versinken sieht. »Wir verhungern schon nicht.« Sie hat recht. Die Regalbretter in der Speisekammer 24
sind noch gut gefüllt mit den Vorräten, die wir bei unserem letzten Ausflug in die Stadt gekauft haben, und den Gläsern mit Tomaten, roten Beten, grünen Bohnen, Apfelbrei, Aprikosen, Pfirsichen, Pflaumen und Birnen, die wir zusammen mit unserem Vater im vergangenen Sommer eingemacht haben. Wir haben noch Reis, Weizenund Maismehl, gesprenkelte Pintobohnen und Linsen. Wir haben noch Makkaroni, Thunfisch und Dosensuppen. Wir haben ein wenig Zucker, ein wenig Salz, eine Prise Backpulver. Wir haben Trockenmilch und -käse zum Anrühren. Wir haben noch eine halbe Büchse Backfett, diverse Gewürze und ein Sammelsurium sonstiger Nahrungsmittel – die unbeschrifteten Dosen, die wir bei Fastco gekauft haben, eine Schachtel Wackelpudding mit Orangengeschmack, die mindestens sechs Jahre alt sein muß, ein Glas gefüllte Oliven. Wir haben mehr als genug, um durchzukommen. Dennoch muß ich gegen das Bedürfnis ankämpfen, alles aufzusparen, was übrig ist, als könnte uns der nächste Tropfen oder Krümel den letzten Halt kosten. Der Gedanke, wie wir gelebt haben, wie wir gedankenlos alles verbraucht haben, erfüllt mich sowohl mit Entsetzen als auch mit Sehnsucht. Ich erinnere mich, Papierkörbe geleert zu haben, die uns jetzt wie Schatzkästen vorgekommen wären – körbeweise Pappröhren von aufgebrauchten Klopapierrollen, benutzte Papiertaschentücher, abgebrochene Bleistifte, krumme Büroklammern, zerknüllte Zettel und leere Plastiktüten. Ich erinnere mich, Kleidungsstücke weggeworfen zu haben, weil sie zerrissen oder fleckig oder bloß unmo25
dern waren. Ich erinnere mich, Essen weggeworfen zu haben – haufenweise Essen von unseren Tellern in den Komposteimer –, nur weil es für die Dauer einer Mahlzeit unberührt herumgelegen hatte. Wie sehne ich mich nach diesen überquellenden Papierkörben, nach diesen Speiseresten. Ich sehne mich danach, ganze Kartons voller Rosinen herunterzuschlingen, ein Dutzend Kerzen auf einmal brennen zu lassen. Ich sehne mich danach, zu konsumieren, zu vergessen, zu ignorieren. Ich möchte unbeschwert leben, mit dem sorglosen Charme der Konsumentin, anstatt mich an alles zu klammern wie eine alte Bäuerin und mich um jeden Fetzen und Krümel zu sorgen. Im Lexikon habe ich neulich gelesen: Amnesie, Erinnerungsverlust, hervorgerufen durch Hirnverletzungen, Schock, Erschöpfung oder Krankheit. Bleibt die Amnesie längere Zeit bestehen, fängt der Betroffene gelegentlich ein neues Leben an, das mit seinen vorherigen Umständen nichts zu tun hat. Diese Reaktion nennt man Fugue oder Wandertrieb. An dieser Stelle blickte ich auf, sah draußen vor dem Fenster die Hühner auf dem verlassenen Hof scharren und dachte: Dies ist unsere Fugue – die verlorene Zeit zwischen den beiden Hälften unseres eigentlichen Daseins. Als im letzten Winter zum ersten Mal der Strom wegblieb, fiel er so selten und so kurz aus, daß wir nicht weiter darauf achteten. »Die werden an den Überlandleitungen arbeiten«, mutmaßten wir, oder: »Da wird im Regen ein Baum umgefallen sein. Die haben die Leitung sicher bald repariert.« Und tatsächlich waren bald darauf die 26
Lichter wieder angegangen. Die Waschmaschine hatte ihr Summen und Mahlen wieder aufgenommen, der Staubsauger war dröhnend zu neuem Leben erwacht, und schon eine Sekunde später war für uns elektrischer Strom wieder eine Selbstverständlichkeit. Aus heutiger Sicht bin ich sicher, daß wir alle drei im Schockzustand waren. Wir waren wie betäubt, immer noch fassungslos über Mutters Tod kaum neun Monate zuvor. Vielleicht merkten wir deshalb nicht gleich, daß nun tatsächlich, nachdem man uns jahrzehntelang gewarnt hatte und es prophezeit worden war, alles in sich zusammenbrach. Außerdem waren wir, die wir weit draußen leben, es gewohnt, daß hin und wieder der Strom ausblieb und wir warten mußten, bis die Versorgung der dichter bevölkerten Regionen gesichert war, ehe auch wir wieder Strom bekamen. Mag sein, daß wir länger brauchten als nötig, um zu merken, daß diesmal alles anders war. Aber meines Wissens sind die Veränderungen auch in der Stadt so langsam eingetreten – oder wurden so sehr als Teil der vertrauten Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten empfunden –, daß bis weit ins Frühjahr hinein niemand darauf aufmerksam wurde. Lange Zeit blieb der Strom jeden Tag nur ein paar Minuten aus, gerade lange genug, daß es ärgerlich war, eine Störung. Der Mikrowellenherd gab mittendrin den Geist auf, Kleidungsstücke klatschten naß auf den Boden des Wäschetrockners, halbgares Essen erkaltete im Ofen. Wenn eine von uns gerade unter der Dusche stand, versickerte ohne die elektrische Pumpe, die für den nötigen Druck sorgte, der Wasserstrahl zum Rinnsal. 27
Arbeitete ich am Computer, erlosch der Bildschirm, und das Gerät ging mit einem Ächzen aus. Trainierte Eva zu Hause, verstummte die CD, nach der sie tanzte. Dann kam sie taumelnd aus ihrem Studio hervor, als wäre sie soeben durch eine Ohrfeige geweckt worden. Wenn unser Vater abends von der Arbeit heimgekehrt war, riß ihn die jäh hereingebrochene Finsternis manchmal aus dem Zustand der Trauer, in den er sich verloren hatte, und er erheiterte uns mit absurden Flüchen, während er im Dunkeln umhertappte und -tastete. »Da hau doch der Herrgott auf den Krapfen«, brüllte er, oder: »Auf dem Misthaufen wachsen Rosen«, wenn er auf der Suche nach der Taschenlampe, nach Kerzen und Streichhölzern an Tischkanten stieß und Gegenstände vom Tisch fegte. Nach zehn, fünfzehn Minuten, wenn das Licht flackernd wieder anging, waren Eva und ich beinahe enttäuscht. Wir wußten, daß sich seine manische Energie bald erschöpfen und er erneut in Verzweiflung versinken würde. Lange Zeit verging kaum ein Tag, an dem der Strom nicht wenigstens einmal ausfiel. Und am Ende gab es kaum noch einen Tag, an dem der Strom überhaupt anging. Irgendwann merkten wir, daß wir es uns abgewöhnt hatten, beim Betreten eines Zimmers als erstes nach dem Lichtschalter zu tasten. Wir streckten nicht mehr automatisch die Hand nach dem Knopf am Ofen aus, wenn wir etwas kochen wollten, oder rissen die Kühlschranktür auf, wenn wir Hunger hatten. Wir entfernten die Heizdecken von unseren Betten, räumten die elektrische Kaffeemaschine weg und rollten die Teppiche 28
auf, die wir nicht mehr staubsaugen konnten. Unser Vater brachte uns bei, die Kerosinlampen zu reinigen, aufzufüllen und anzuzünden, die er einst davor gerettet hatte, daß unsere Mutter sie wegwarf, und eine Zeitlang zündeten wir sie an, sobald es dunkel wurde. Als der Winter verging und der Frühling einzog, hatten wir uns an die Unzuverlässigkeit der Elektrizität gewöhnt und lernten sie nutzen, wenn sie da war. Wir ließen das Licht in der Küche eingeschaltet, und Eva eilte, sobald es anging, in den Abstellraum, um eine Ladung Wäsche laufen zu lassen. Dann stürmte sie in ihr Studio, legte eine CD ein und fing zu tanzen an, ohne erst an der Stange zu arbeiten. Derweil spülte ich die trübe Brühe in der Toilette herunter und drehte die Hähne auf, um die Badewanne und das Spülbecken volllaufen zu lassen, solange die Pumpe in Betrieb war. Dann rannte ich zum Computer und arbeitete hastig, bis wieder alles zusammenbrach. Vater hatte vor langer Zeit einen benzingetriebenen Generator gekauft, um der Wasserpumpe Strom zuzuführen, für den Fall, daß ein Feuer ausbrach und unser Netzstrom versagte. Eva oder ich schalteten ihn hin und wieder ein und versuchten, ins Internet zu kommen, um Nachrichten abzurufen oder doch zumindest die Propaganda – geifernd oder beschwichtigend, je nach Anbieter –, die sich Nachrichten nannte. Aber es war, selbst wenn die Telefonleitung funktionierte, so gut wie unmöglich, eine Verbindung herzustellen. Daß ich die Zeit, in der wir Strom hatten, mit dem Warten auf Zugang vergeuden mußte, ärgerte mich meist so sehr, daß ich aufgab und 29
statt dessen wie wild an meinem eigenen Lernpensum arbeitete. Als jedoch mit der Zeit das Benzin knapp wurde, überzeugte uns unser Vater von der Notwendigkeit, den Generator nur noch im Notfall zu benutzen. Wenn der Strom ausblieb, während wir gerade eine Mahlzeit zubereiteten, holten wir den Campingkocher hervor, um auf seinen zischenden Ringen weiterzukochen. Eines Tages machten wir uns erst gar nicht mehr die Mühe, ihn zwischendurch wegzuräumen. Als wir den Brennstoff restlos aufgebraucht hatten und es im Haushaltswarenladen keinen mehr zu kaufen gab, lernten wir zwischen den Kohlen im Holzofen, der im Wohnzimmer steht, Kartoffeln garen und auf der Ofenfläche Pfannkuchen ausbacken, Bohnen kochen und Reis dämpfen. Die Nahrungsmittel in der Gefriertruhe hatten wir längst verbraucht. Ganz zum Schluß mußten wir auch noch den Kühlschrank aufgeben. Unser Vater hob im Bachbett eine Vertiefung aus, legte sie mit Steinen und schwarzen Plastikmüllsäcken aus, deckte sie mit einem Vorfahrtsschild ab, das er einmal auf dem Müllabladeplatz hatte mitgehen lassen, und bezeichnete das Ganze stolz als Kühlschrank. Eva und ich beschwerten uns, daß wir alles einpacken mußten, damit es nicht vom Wasser aufgeweicht wurde, und daß wir jedesmal zum Bach hinuntermußten, wenn wir Milch oder Salat oder Margarine haben wollten. Und dann hatten wir auf einmal nichts mehr zu kühlen. Mit dem Telefon ging es auf die gleiche Art bergab wie mit dem Strom. Nachdem die Stromversorgung schon nicht mehr zuverlässig funktionierte, schafften 30
wir es manchmal noch, wenn wir es hartnäckig genug versuchten, einen Anruf zu erledigen. Es konnte den ganzen Morgen dauern, daß wir immer dieselbe Nummer wählten, bis uns die sieben Ziffern höhnisch im Kopf widerhallten, und am Ende bekamen wir doch nur die Ansage der Telefongesellschaft zu hören, die mit elektronischer Höflichkeit verkündete: »Zu unserem Bedauern sind alle Leitungen besetzt. Bitte legen Sie auf und versuchen Sie es später noch einmal.« Aber früher oder später kamen wir doch durch und konnten dem Anrufbeantworter der Elektrizitätswerke mitteilen, daß wir wieder einmal keinen Strom hatten. Eines frühen Abends im Mai brachte Vater ein Jagdgewehr mit nach Hause, und wenig später kam der Tag, an dem er erst gar nicht zur Arbeit fuhr. »Sieht so aus, als würden die Sommerferien dieses Jahr früher anfangen«, sagte er am Abend zuvor, während er uns zum Abendessen auf dem Holzofen Spiegeleier briet. »Dieser verfluchte Streptokokkus sorgt dafür, daß immer nur die Hälfte der Belegschaft da ist, und offenbar findet niemand ein Antibiotikum, das dagegen hilft. Nun soll es auch noch Fälle von Hirnhautentzündung gegeben haben. Die Behörde scheint der Meinung zu sein, daß sie viel Geld sparen kann, wenn sie einen Monat früher die Schule dichtmacht.« Er seufzte und fügte hinzu: »Normalerweise wäre ich dagegen, aber dieses Jahr bin ich durchaus einverstanden mit einer Pause. Außerdem muß ich das Dach neu decken und diese verrotteten Stützbalken unter dem Abstellraum ersetzen, bevor der Herbst kommt.« 31
Etwa um diese Zeit kam der Postbote immer sporadischer, und Banken und Geschäfte blieben immer öfter geschlossen. Monatelang wurden Angestellte im Staatsdienst mit Schuldscheinen bezahlt, bis sich die Banken weigerten, das wertlose Papier in Geld einzuwechseln. Daraufhin bekamen sie gar kein Gehalt mehr. Es ist schon erstaunlich, wie schnell sich alle an diese Veränderungen gewöhnten. Ich denke, es erging ihnen so wie den Leuten außerhalb unseres Waldes, die sich längst daran gewöhnt hatten, in Flaschen abgefülltes Wasser zu trinken, auf überfüllten Schnellstraßen zu fahren und mit den automatischen Stimmen umzugehen, die sich bei fast jedem Telefonat meldeten. Auch sie fluchten und klagten, paßten sich aber bald an und vergaßen, daß ihr Leben je anders gewesen war. Vielleicht stimmt es, daß Menschen, die eine Zeit erleben, die zum Angelpunkt der Geschichte wird, am wenigsten imstande sind, diese Epoche zu begreifen. Ich frage mich, ob Abraham Lincoln in der Lage gewesen wäre, die unvermeidlichen Prüfungsfragen über die Ursachen des amerikanischen Bürgerkriegs zu beantworten. Als die Zeitung morgens nicht mehr zugestellt wurde und Rundfunksendungen zur Seltenheit wurden, waren die Nachrichten, die uns erreichten, so lückenhaft und widersprüchlich, daß wir ihnen so gut wie nichts darüber entnehmen konnten, was wirklich vorging. Natürlich war auch ein Krieg im Gange. Wir hatten das Radio unserer Mutter aus ihrem Arbeitszimmer in die Küche geholt, und bevor im vergangenen Frühjahr die Batterien versagten, schafften wir es, ihm regelmä32
ßig eine Katastrophenlitanei zu entlocken, während wir das Abendessen zubereiteten. Manchmal veranlaßten die Kriegsnachrichten Vater, mit dem Fuß aufzustampfen und zu fluchen, und manchmal setzten sie ihm so sehr zu, daß er sich lange vor dem Essen nach oben in sein Schlafzimmer zurückzog. Die Kampfhandlungen fanden auf der anderen Seite des Globus statt, den Beteuerungen der Politiker zufolge zum Schutze unserer Freiheit, zur Verteidigung unserer Lebensart. Es war ein ferner Krieg, aber er schien an unserem Tagesablauf zu haften, in unser Bewußtsein einzudringen wie weitab aufsteigender, ekelhafter Rauch. Er hatte keinen direkten Einfluß darauf, was wir aßen, wie wir arbeiteten und unsere Freizeit gestalteten, und doch konnten wir ihn nicht abschütteln – er ließ sich nicht vertreiben. Einige meinten, es sei der Krieg, der den Zusammenbruch herbeigeführt habe. Ich dagegen glaube, daß es noch andere Ursachen gegeben hat. Irgendwann im Januar kam uns zu Ohren, daß eine paramilitärische Gruppe die Golden-Gate-Brücke gesprengt hatte, und kaum einen Monat später lasen wir, daß der Devisenhandel zusammengebrochen war. Im März führte ein Erdbeben bei einem kalifornischen Atomreaktor zur Kernschmelze, und der Mississippi trat mit größerer Gewalt über die Ufer, als man es für möglich gehalten hatte. Den ganzen letzten Winter lang waren die Zeitungen – jedenfalls die, derer wir habhaft werden konnten – übervoll mit Katastrophenmeldungen, und ich frage mich, ob nicht das Zusammentreffen der vielen Unglücke uns diesen Stillstand eingebrockt hat. 33
Hinzu kamen alle üblichen Probleme. Das Haushaltsdefizit der Regierung war seit einem Vierteljahrhundert immer größer geworden. Wir befanden uns seit mindestens zwei Generationen in einer Ölkrise. Die Ozonschicht hatte Löcher, unsere Wälder verschwanden, unser Agrarland verlangte immer mehr Düngemittel und Insektizide, um immer weniger und immer giftigere Nahrungsmittel hervorzubringen. Es gab eine entsetzlich hohe Arbeitslosenquote, eine überbeanspruchte Sozialfürsorge. Und die Bewohner der Großstädte waren wütend und verzweifelt. Schulkinder lieferten sich in der Pause Feuergefechte. Halbwüchsige knallten auf den Fernstraßen vorbeikommende Autofahrer ab. Erwachsene eröffneten in Schnellrestaurants das Feuer auf beliebige andere Gäste. Aber das alles passierte nun schon so lange, daß es fast normal erschien, und als die Zeiten immer düsterer und unsicherer wurden, begannen die Menschen nach neuen Erklärungen dafür zu suchen, was schieflief. Jedesmal, wenn wir drei im letzten Frühjahr in die Stadt fuhren, erwarteten uns noch verrücktere Deutungen des Geschehens in der Welt jenseits von Redwood, bis uns der Klatsch und die Gerüchte, die wir aufschnappten, etwa so glaubhaft erschienen wie der verworrene Unsinn, über den wir als Kinder gekichert hatten, wenn wir Stille Post spielten. Wir hörten, daß die Vereinigten Staaten eine neue Präsidentin hatten, die beim Commonwealth einen Kredit beantragt hatte, um uns aus der Klemme zu helfen. Wir hörten, daß das Weiße Haus brannte und die Nationalgarde auf den Straßen von Washington gegen 34
den Geheimdienst kämpfte. Wir hörten, daß es in Los Angeles kein Wasser mehr gab, daß sich die Leute in Scharen aufmachten, um das von der Dürre heimgesuchte Central Valley zu Fuß zu durchqueren. Wir hörten, daß der Bezirk östlich von uns nach wie vor Strom hatte, daß die Dritte Welt sich zusammengetan hatte, um uns Hilfe zu schicken. Und dann hörten wir, daß China und Rußland gegeneinander Krieg führten und die USA darüber in Vergessenheit geraten waren. Obwohl die Weltuntergangsprognosen der Fundamentalisten lauter wurden und alle übrigen sich mit wachsender Erbitterung über alles mögliche beschwerten, vom Kaugumminotstand bis hin zur Schließung des Stadtkrankenhauses von Redwood, hatten die meisten von uns das seltsame Gefühl, obenauf zu sein. Dieses Gefühl war eine Art verstohlener Erleichterung ähnlich der, die Eva und ich alle paar Jahre empfunden hatten, wenn der Fluß, der durch Redwood fließt, über die Ufer trat. Wir wußten, daß eine Überschwemmung zerstörerisch war. Gleichzeitig aber konnten wir nicht anders, als eine eigentümliche Freude darüber zu spüren, daß etwas Unwägbares groß genug war, um die Unausweichlichkeit unseres Tagesablaufs aufzuheben. Mit der Besorgnis und der Verwirrung ging ein Gefühl der Kraft, der Befreiung einher. Die alten Regeln waren vorübergehend aufgehoben, und es war aufregend, sich die Veränderungen vorzustellen, die sich zwangsläufig aus den Umwälzungen ergaben, zu erwägen, was man gelernt und geändert haben würde, wenn alles wieder in Gang kam. Während das Leben des einzelnen immer 35
unsicherer wurde, schienen die meisten Leute einen neuen Optimismus zu hegen, ein kollektives Empfinden, daß wir das Schlimmste überstehen würden und daß schon bald – wenn alles wieder geradegerückt war – die Probleme, die das Chaos ausgelöst hatten, beseitigt sein und Amerika und die Zukunft besser dastehen würden als je zuvor. Die Leute suchten Trost und Inspiration in der Vergangenheit. In der Bibliothek, im Supermarkt, an der Tankstelle, ja sogar auf der Plaza wurde über die Opfer und Nöte der Pilgerväter und der ersten Siedler im Wilden Westen geredet. Wie ein Widerhall auf die verschwundenen Kolumnisten der Zeitungen, auf die Moderatoren der Talkshows ergingen sich die Leute in Erinnerungen an die Wirtschaftskrise und die Weltkriege und unterhielten sich darüber, daß diese harte Zeit Familien und Gemeinden zusammengeführt habe, daß sie unser Land gestärkt und ihm neue Energie und Zielstrebigkeit verliehen habe. Auch diesmal, behaupteten sie, brauche man nichts als Geduld und Ausdauer, um die gute Sache, um Freiheit und Demokratie weiterzubringen. Wir müßten nur unser Teil dazutun und uns zusammenreißen und abwarten. Natürlich machte sich Vater über diese Platitüden lustig, aber selbst seine Verachtung war halbherzig. Wäre Mutter noch am Leben gewesen, hätten ihm die patriotischen Sprüche, die wir mit den übrigen Neuigkeiten aus der Stadt nach Hause brachten, gewiß Tiraden über die Leichtgläubigkeit der Menschen und die Banalitäten der Politiker entlockt. Jetzt war er meist zu traurig, um sich darüber aufzuregen. 36
Immerhin schickte er zusammen mit der Einkommensteuerzahlung in diesem Frühjahr einen freiwilligen Beitrag, und er prophezeite wie alle anderen, daß im Herbst die schlimmste Not vorbei sein würde. Davon nämlich waren außer den irrsten Extremisten alle überzeugt: daß diese Situation zeitlich begrenzt sei, daß die Welt bald wieder ihren gewohnten Lauf nehmen und wir die Umstände unseres derzeitigen Lebens im Rückblick als kurze Unterbrechung sehen würden, als eine abenteuerliche Geschichte, um sie den Enkelkindern zu erzählen. Nachdem unser Vater aufgehört hatte, zur Arbeit zu fahren, waren wir selbst von Redwood so abgeschnitten, daß wir uns manchmal schwertaten, daran zu denken, daß in der Welt jenseits unseres Waldes überhaupt etwas vorging. Wir empfanden unsere Isolation als Schutz. Als im vergangenen Juni der Mond von den Bränden in Oakland rot herableuchtete, kam er uns wie eine Warnung vor, zu Hause zu bleiben, und die Neuigkeiten, die uns an Samstagabenden erreichten, bestärkten uns darin. So kam es, daß wir uns darauf einrichteten, auf den Herbst zu warten. Immer wenn ich mich nach der Stadt sehnte, erinnerte mich Vater, daß wir hier draußen eine wohlgefüllte Speisekammer hatten, einen Garten und Obstbäume, frisches Wasser, einen Wald voller Feuerholz und ein Dach über dem Kopf. Wenigstens sind wir hier abgeschirmt gegen die Wahnideen, die Gier, die Krankheiten anderer Leute. Wenigstens bleibt hier – auch jetzt noch – in unserem unterbrochenen Leben eine erkennbare Form gewahrt. 37
Die Einträge unter B fangen mit Kampfflugzeugen an – B-17, B-24, B-29, B-52. Als nächstes kommen B Cassiopeia und Ba, der Falke mit dem Menschenkopf, von den alten Ägyptern als Verkörperung der Unsterblichkeit und Vergöttlichung der Seele nach dem Tod angesehen. Kampfflugzeuge und Supernovas und eine falkenähnliche Gottheit der Seele: Tod und Flucht, der Himmel und die Himmelreiche. Auch wenn es nur ein alphabetischer Zufall ist: Dieses Nebeneinander hat eine so geglückte Richtigkeit, daß ich meinen Vater herbeiwünsche, nur um ihn ins Unrecht zu setzen. Mein Vater hatte schon immer etwas gegen Lexika. »Da ist keine Poesie drin, kein Mysterium, kein Zauber. Im Lexikon lesen, das ist, wie wenn man Johannisbrotpulver ißt und Schokoladenpudding dazu sagt, wie wenn man auf einer CD-Rom Löwen brüllen hört und sich einbildet, man wäre in Afrika gewesen.« So beklagte er sich, wenn er wieder einmal einen Nachmittag lang vergebens versucht hatte, die Lehrerin der fünften Klasse zu überzeugen, daß sie ihren Schüler das Wesen naturwissenschaftlicher Forschung beibringen sollte, indem sie sie Kaulquappen aufziehen und Schimmelpilze kultivieren statt Absätze aus dem Lexikon abschreiben läßt. »Schulische Erziehung hat mit Erkenntnis zu tun, mit dem Erkennen der Beziehungen, die überall im Universum bestehen, damit, daß jedes Kind in der Grundschule von Redwood ein paar Atome von Shakespeare im Leib hat.« »Und welche von Hitler«, fügte meine Mutter sarkastisch hinzu, aber mein Vater ignorierte den Einwurf, 38
begierig, seinen eigenen Gedankengang weiter zu verfolgen. »Das Lexikon nimmt sich ein beliebiges Thema vor und zerlegt es, saugt ihm das Blut aus, reißt es aus dem Zusammenhang. Und was lernt der kleine Tommy daraus? Daß Forschung trocken und langweilig ist, daß es viel mehr Spaß macht, fernzusehen, Bonbons zu klauen und fremdes Eigentum zu zerschlagen. Und wenn einem Forschung nur mit dem Lexikon nahegebracht wurde, ist das eine ziemlich einleuchtende Schlußfolgerung.« »Nun sei nicht so, Robert«, wandte meine Mutter ein, während sie den Abendbrottisch deckte, »Lexika haben auch ihren Nutzen. Vielleicht zeigt Janice diesen Kindern nur, wie man damit umgeht, ehe sie sie auf eigene Projekte losläßt.« »Das tut sie nicht. Sie persönlich findet Forschung auch trocken und langweilig. Außerdem denkt Janice nicht daran, die Kinder auf etwas loszulassen – weil sie dann vielleicht Fragen stellen, die sie nicht beantworten kann.« »Das Essen ist fertig.« »Laß uns erst noch schnell alle Lexika verbrennen!« Vater hatte unsere mehrbändige Enzyklopädie von seinem Fachbereich geschenkt bekommen, im selben Jahr, als er mit einem Protestplakat in der Hand an der Seite der Studenten vor dem Universitätsgebäude auf und ab marschiert war. Das Risiko, in Flammen aufzugehen, war für die Nachschlagewerke demnach nicht hoch, und es kam sogar hin und wieder vor, daß einer von uns einen Band aus dem Regal hievte. 39
Dennoch war sie wohl nicht mehr als ein Dutzend Mal benutzt worden, ehe ich sie vor ein paar Wochen aus der Versenkung geholt habe. Als im vergangenen Frühjahr die Stadtbücherei von Redwood ihre Pforten schloß, ließ mich die Bibliothekarin einen zusätzlichen Stapel Bücher mitnehmen. »Nur zu, Schatz«, sagte sie, weil meine Mutter tot war, weil mein Vater im Vorstand der Bibliothek saß, weil ich bei ihr Bücher ausgeliehen hatte, seit ich sprechen konnte, weil ich mich bei ihr nach der Adresse der Aufnahmekommission von Harvard erkundigt hatte. »Wenn du sie nicht nimmst, werden sie den Sommer über gar nicht gelesen«, sagte sie und stempelte die Bücher zur Rückgabe in drei Monaten ab. »Damit müßtest du eigentlich genug zu tun haben, bis wir im Herbst wieder aufmachen.« Aber ich hatte den Stapel schon im Juli durchgearbeitet. Im September begruben wir unseren Vater, und dann dauerte es bis Ende November, bis Eva und ich uns soweit erholt hatten, daß sie wieder zu tanzen anfing und ich meine Studien fortsetzte. Damals habe ich erst einmal einen ganzen Tag lang am Tisch gesessen, vor mir das Schreiben der Aufnahmekommission und das offizielle Handbuch der Universität Harvard. Ich habe mal das eine, mal das andere angeschaut und immer wieder die gleichen Sätze gelesen. Wir nehmen zwar keine Studenten auf, die sich erst in über einem Jahr immatrikulieren können, haben aber Ihre Akte durchgesehen und sind sowohl von Ihrem Studienprofil als auch von Ihren intellektuellen und verbalen 40
Fähigkeiten beeindruckt, soweit diese Ihren Ergebnissen bei der Hochschulreifeprüfung zu entnehmen sind, hieß es in dem Brief. Sollten Sie bei den Leistungstests des College Board ähnlich gut abschneiden, möchten wir Sie auffordern, sich zur gegebenen Zeit im nächsten Winter offiziell in Harvard zu bewerben. Im Handbuch dagegen stand zu lesen: Obwohl Leistungstests des College Board, die im Januar absolviert werden, unseren Anforderungen genügen, raten wir Ihnen dringend, Ihre Tests im Dezember abzuschließen, da sie mit einem frühzeitig eingereichten Antrag gewährleisten, daß, die Kommission Zeit hat, sich gründlich mit Ihrer Bewerbung zu befassen. Das Problem glich dem einer abgeleiteten Funktion, die ich nicht ausrechnen, einer Passage von Saint-Exupery, die ich nicht übersetzen konnte. »Was soll ich nur machen?« heulte ich schließlich Eva vor, als sie am Nachmittag aus ihrem Studio kam. »Worum geht’s denn?« fragte sie, faßte ihr ausgestrecktes Bein und hob es an, so daß es dicht an ihrem Rumpf nahezu senkrecht nach oben zeigte. »Ich hätte inzwischen längst meine Leistungstests ablegen müssen.« »Ach, du bist nicht die einzige, die sie nicht abgelegt hat. Bestimmt wird selbst Harvard dieses Jahr seine Vorschriften nicht zu eng auslegen.« »Und was ist, wenn dort längst alles seinen gewohnten Gang geht?« »Das hätten wir gemerkt.« »Woran denn?« 41
»Daran, daß Flugzeuge fliegen. Oder an sonst was.« »Selbst wenn morgen die Lichter wieder angehen, bin ich nicht soweit, den Test abzulegen.« Sie ließ das Bein los und hob es erneut zur standfesten arabesque. »Wieso nicht?« »Ich kann weder meinen Computer benutzen noch meine Sprachkassetten; die Batterien in meinem Taschenrechner sind leer. Nicht einmal Papier hab ich übrig.« »Dann lies doch. Bücher brauchen keine Batterien.« »Ich hab schon alles durchgelesen, was wir im Haus haben. Zweimal.« »Hast du auch die Lexika gelesen?« fragte sie, ließ das ausgestreckte Bein sinken und verneigte sich tief. Ich wollte, ich hätte schon früher angefangen. Kaum zu glauben, wieviel ich dabei lerne. Es ist alles da – jedes Datum, jeder Ort, jeder Künstler, Philosoph und Wissenschaftler, jeder Staatsmann und König, jeder Stern, jede Gesteinsart und Spezies, jedes Faktum und jede Theorie, jedes Bruchstück menschlichen Wissens. All das ist an einem Ort versammelt, alles, worauf es ankommt, alles, was ich je brauchen werde, und ich muß nichts weiter tun als umblättern. Es mag ein wenig stupide sein, aber es ist nicht stupider als mein Mathematikbuch oder meine Französischkassetten. Es ist nicht stupider als das, was Eva stundenlang allein in ihrem Studio treibt. Unsere Eltern haben unser Lernpensum nie strukturiert. »Sollen sie lernen, was sie möchten«, sagte mein Vater immer. »Ein Kind wird sich ausgeglichen ernähren, wenn man ihm eine Auswahl gesunder Kost vorsetzt und es in Ruhe läßt. Und wenn der Körper eines Kindes weiß, 42
was er braucht, um zu wachsen und gesund zu bleiben, warum dann nicht auch der Geist?« Seinen Freunden erklärte er: »Meine Mädchen haben unbeschränkten Zugang zum Wald und zur Stadtbücherei. Sie haben eine Mutter, die da ist, um ihnen das Mittagessen zuzubereiten und Wörter zu erklären, die sie nicht kennen. Die Schule wäre da nur im Weg. Außerdem müßten sie, wenn sie zur Schule gingen, jeden Tag über zwei Stunden im Auto hocken. Herrgott, ja, ich könnte auf diesen Fahrten Gesellschaft vertragen, aber es ist für meine Kleinen besser, im Wald zu bleiben.« Während also andere Kinder das Einmaleins aufsagten und um Erlaubnis bitten mußten, wenn sie einen Schluck Wasser trinken wollten, war es Eva und mir freigestellt, ganz nach Belieben herumzustromern und zu lernen. Gemeinsam malten wir Wandgemälde und dichteten Theaterstücke, errichteten Festungen, züchteten Schmetterlinge und entwarfen Computerspiele. Wir stellten Papier her, ersannen neue Plätzchenrezepte, gaben Rundschreiben heraus und fingen Elritzen. Wir hegten Flaschenkürbisse, pflegten aus dem Nest gefallene Küken und spielten mit Prismen. Derweil behaupteten unsere Eltern dem Staat gegenüber, daß das, was wir taten, Schule sei. Jahrelang habe ich gelernt, was ich wollte, wann und wie ich es wollte. Ein Buch folgte wahllos dem anderen, ein Interessensgebiet dem anderen, wie bei einem guten Gespräch, und oft war das einzige, was sie verband, ihre zufällige Reihenfolge auf den Regalen in Mutters Arbeitszimmer. Weil unser Vater uns manchmal Prüfungsfragen zum 43
Lösen mitbrachte, wußte ich mit zwölf Jahren, daß ich den Schulkindern in meinem Alter mindestens vier, fünf Klassen voraus war. Ich wußte auch, daß man, wenn man zur Schule geht, in Bankreihen sitzen und langwierige Aufgaben aus faden Schulbüchern erledigen, daß man erst fragen muß, wenn man aufs Klo gehen will. Dennoch kam die Zeit, als mir das egal war, als ich das Leben in den schwankenden gelben Schulbussen vermißte, als ich mich danach sehnte, mitten im Gewimmel anderer Kinder zu stehen, die ihre unbenutzten Bücher herumschleppten und so unbeschwert lachen konnten. Ich setzte eine Kampagne mit der Forderung in Gang, meine Eltern sollten mich zur Schule schicken. Das war kurz nachdem Eva das Ballett entdeckt hatte, als mir die Lücke, die ihre Tanzbegeisterung in meinem Leben hinterlassen hatte, noch große Schmerzen bereitete. Ich glaube, daß ich von meinen Eltern verlangte, mich zur Schule gehen zu lassen, weil ich mir davon versprach, daß sie meine Einsamkeit lindern würde. »Wenn ich Eva nicht habe, brauche ich jemand anderen«, sagte ich. »Es ist langweilig, den ganzen Tag hier allein zu sein.« »Ich bin doch da«, begehrte meine Mutter auf. »Aber du hast immer mit deinen Wandteppichen zu tun.« »Du könntest mir helfen. Ich könnte mir denken, daß dir die Arbeit mit den Textilfarben zusagt. Und ich kann eine Hilfe gebrauchen, die mir beim Spannen der Kettfäden zur Hand geht.« Als ich die Augen verdrehte und in meinem Sessel 44
versank, fügte sie energisch hinzu: »Ich weiß, daß du fähig bist, dich selbst zu beschäftigen, Nell. Auf jeden Fall haben wir dich nicht so viele Jahre von der Schule ferngehalten, nur damit du jetzt damit anfängst. Die Unterstufe der Highschool gehört zu den abträglichsten Erfahrungen, die ich mir denken kann.« Der Kampf ging weiter, und jede Schlacht endete meinerseits mit Empörung und Wut und mit gequältem Erstaunen auf Seiten meiner Eltern. Sie behaupteten, mich glücklich sehen zu wollen, aber in Wahrheit wollten sie mich nur auf ihre Art glücklich sehen. Ich schmollte und maulte, aber dann stieß ich auf einen Artikel über eine andere Familie, die noch weiter draußen lebte als wir und deren Kinder trotz Heimunterricht alle in Harvard studiert hatten. Ich beschloß, es diesen Kindern gleichzutun. Wenn Eva nicht bereit war, mit dem Tanzen aufzuhören, würde ich nach Harvard gehen; und wenn ich nicht in Redwood die öffentliche Schule besuchen durfte, geschah es den anderen ganz recht, wenn ich mich statt dessen am besten College des Landes einschrieb. Zu meinem dreizehnten Geburtstag wünschte ich mir einen Computer mit Modem, und ich ließ meinem Vater keine Ruhe, bis er mir Geschichtsbücher und wissenschaftliche Leitfäden mitbrachte, Französischkassetten und Mathematikbücher. Er entsprach immer meinen Forderungen – ließ es sich aber meist nicht nehmen, ein paar Krimis dazwischenzuschmuggeln. Nur wenn ich von Harvard anfing, waren seine Antworten unverbindlich. »Also, ich weiß nicht, ob dieses Institut so toll ist, wie 45
du es dir vorstellst, Pummelchen. Allerdings muß ich zugeben, daß ich stolz wäre, wenn du es aus eigener Kraft schaffen würdest, dort aufgenommen zu werden. Aber denk dran: Es ist eine Weile her, daß diese anderen jungen Leute es geschafft haben.« »In Harvard sind Studenten mit ungewöhnlichem Hintergrund gefragt«, behauptete ich. »Damals schon. Aber wer weiß, wie die Aufnahmekriterien heute aussehen? Und außerdem, was ist an Harvard Besonderes dran? Was willst du dort studieren?« Ich fand, daß es reichte, in Harvard aufgenommen zu werden, aber ich hatte soeben eine Biographie von Alexander Fleming gelesen und gab die erste Antwort, die mir in den Sinn kam: »Medizin.« »Du willst Ärztin werden?« »Kann sein«, entgegnete ich, »oder Forscherin.« »Na, dann viel Glück, Pummelchen. Ich weiß, du wirst dich auf jedem Gebiet, das du anpackst, hervortun. Ich möchte nur nicht, daß du dich selber einschränkst, ehe du nicht alles probiert hast, was es auf der weiten, weiten Welt gibt.« Je mehr Zeit verging, desto mehr strengte ich mich an, um alles zu lernen, wovon ich glaubte, daß man es in Harvard von mir erwartete, und als ich im vergangenen Frühjahr meine Antwort von der Zulassungsstelle bekommen hatte, glaubte ich, viel zu wissen. Nun jedoch eröffnet mir das Lexikon Seite um Seite, Band um Band alles, was ich noch zu lernen habe, ehe ich soweit bin, in Harvard anzutreten. Ich bemühe mich, beim Lesen Disziplin zu üben und 46
keine Einträge auszulassen, die mich nicht interessieren oder für meine Bildung unwichtig erscheinen. Ich möchte das Lexikon von Anfang bis Ende durcharbeiten. Aber heute ist Neujahr, und darum erlaube ich mir den Sprung nach vorn zum Buchstaben K. Ich will mich vergewissern, daß der Kalender, den ich herstellen will, fehlerfrei ist. Das Problem mit Kalendern ist, daß nichts genau paßt. Die Rotationen und Umlaufbahnen von Erde, Sonne und Mond stimmen nicht überein, und alles endet mit unhandlichen Dezimalstellen: Ein Sonnenjahr hat 365,2422 Tage, ein Lunarmonat 29,53059 Tage, und Wochen kommen nirgendwo anders vor als in unseren leichtgläubigen Menschenköpfen. Im Lexikon steht eine algebraische Formel, mit der ich feststellen kann, auf welchen Wochentag ein bestimmtes Datum fällt. Ich habe mit ihrer Hilfe errechnet, wann das nächste Schaltjahr ist, und dann habe ich ein ganzes Blatt Schreibpapier geopfert, um einen Kalender anzufertigen. Während ich die zwölf Unterteilungen zeichnete, die Quadrate numerierte und Feier- und Geburtstage eintrug, kam ich nicht umhin, mich zu fragen, welcher dieser noch ungelebten Tage sich als der größte Festtag erweisen wird – jener glückliche Tag, an dem uns die Welt wiedergegeben und mein hausgemachter Kalender überflüssig wird. Wir erwachen jeden Morgen vom matten Licht, das durch den Januarregen sickert. Wir erheben uns von unseren Matratzen, tauschen die T-Shirts, in denen wir schlafen, gegen Pullover und Jeans. Eva schürt das Feuer, und ich gehe hinaus, um den Hühnerstall aufzumachen und Holz 47
zu holen. Zum Frühstück essen wir Haferflocken ohne Milch oder übriggebliebenen Reis mit einer winzigen Prise Zimt. Nach dem Frühstück erledigen wir unsere Hausarbeit – Holz hacken, putzen oder das Inventar ergänzen, das wir von unseren Habseligkeiten anlegen. Eva tanzt den ganzen Nachmittag lang, während ich lese und schreibe. Wenn es so dunkel zu werden droht, daß wir aufhören müssen, scheuchen wir die Hühner zurück in den Stall, nehmen unser Abendessen aus Bohnen oder Linsen und einer der unbeschrifteten Dosen von Fastco zu uns und geben uns dann nacheinander dem größten Genuß des Tages hin. Die einzige Seife, die wir noch haben, ist der Rest, den wir für unseren triumphalen Einzug in der Stadt aufheben, für den Tag, an dem wir unseren leeren Benzinkanister auffüllen und endlich wieder von vorn anfangen dürfen. Dennoch ist für uns ein Bad eine der wenigen Annehmlichkeiten, die wir in vollen Zügen genießen können, denn erstens handelt es sich nicht um die abgeschwächte Version eines Bades, wie wir es von früher her in Erinnerung haben, und zweitens ist es erneuerbar. Solange die Quelle den Wassertank füllt und der Tank sein Gerinnsel durch die Rohre ins Haus schickt, solange das Feuer einen Kessel nach dem anderen erhitzt, wird es am Ende des Tages immer ein Bad geben. So ein Bad ist geeignet, die Alpträume fortzuspülen und mich so schlapp zu machen, daß ich nur noch im Dunkeln zu meiner Matratze kriechen kann, die der von Eva gegenüber neben dem Ofen liegt. 48
Aber selbst das heißeste, längste Bad erfüllt nicht immer seinen Zweck, und es kommt in fast jeder Nacht der Zeitpunkt, an dem mich meine Träume aus dem Schlaf jagen und ich mich, noch von Entsetzen durchdrungen, in den Wachzustand hochkämpfe. Vergangene Nacht habe ich wieder von Würmern geträumt. Nicht von den kleinen rosigen Dingern, die wir neuerdings in der Speisekammer vorfinden, sondern von Maden, die in meinen Träumen das Grab meines Vaters füllen. Gelähmt und stumm liege ich neben ihm im dumpfen Loch, während in unseren Körpern – seinem toten und meinem lebendigen – die Maden wimmeln. Mein toter Vater kann mir keinen Trost spenden. Und ich bin unfähig, mir selbst zu helfen, liege nur da und werde bei lebendigem Leib gefressen. Ich erwachte im Dunkeln vom Klang der Stimme meiner Schwester, vom festen Griff ihrer Hände. »Es ist alles in Ordnung«, versprach sie. »Du hast bloß geträumt.« Noch während sie es sagte und mein bewußtes Ich zustimmend nickte, war uns wohl beiden klar, daß Träume der Realität entspringen, daß jeder Traum nur ein Nachhall des bereits Erlebten ist. »Möchtest du eine Tasse Tee?« fragte sie. »Den von gestern hab ich längst getrunken«, jammerte ich, »und den von heute will ich nicht jetzt schon vergeuden.« »Ich schenk dir meine Tasse von heute.« »Aber das wäre dir gegenüber ungerecht.« »Das geht schon in Ordnung.« 49
Als ich nicht antwortete, stand sie auf, um die Ofenklappe zu öffnen. Sie füllte im Halbdunkel einen Becher mit heißem Wasser aus dem Kessel, der hinten auf dem Ofen stand, und fügte eine winzige Messerspitze Tee hinzu. »Danke«, sagte ich, als sie mir den dampfenden Becher reichte. »Wozu sind Schwestern da?« antwortete sie mit einem schiefen Lächeln. Ich weiß, sie hat es ernst gemeint. Aber gesagt hat sie es so leichthin, daß ich nicht darauf antworten konnte, wie es mein Herz verlangt hätte, daß ich es nicht schaffte, mich bis ans Ende aller Zeiten in ihren Armen zu vergraben. Ballett ist eine Tanzform, die aus den prunkvollen höfischen Aufzügen der Renaissance hervorgegangen ist. Seine charakteristischen Bewegungen begünstigen eine stilisierte, ätherische Anmut. Um die gewünschte Wirkung zu erzielen, müssen angehende Tänzer in jungen Jahren anfangen, ihrem Körper Leistungen abzuverlangen, die nicht zum natürlichen Spektrum menschlicher Bewegungsabläufe gehören. Manchmal, wenn mein Kopf so vernebelt ist, daß ich kein Wort mehr aufnehmen kann, lege ich das Lexikon weg, verlasse meinen Platz am Tisch vor dem Fenster und wandere den Flur entlang zu Evas Studio. Die Tür steht immer offen, und sie nimmt kaum Notiz, wenn ich hineinschlüpfe und mich an die Wand gelehnt dazusetze. Sie steht gewöhnlich an der Stange und arbeitet sich 50
durch die endlose Folge von Übungen, die mit ihrem ersten noch wackeligen, steifarmigen plié begonnen hat und nicht aufhören wird, bis sie das Tanzen aufgibt. Während ich das Auf und Ab der ewigen pliés beobachte, fällt mir die Ballerina am Bolschoi-Theater ein, die zur Zeit des Kriegsrechts in Rußland Anfang der neunziger Jahre meinte: »Revolutionen kommen und gehen, nur wir werden hinterher immer noch da sein und unsere battements tendus ausführen.« Der Tanz geht weiter – pliés, relevés, battements tendus, ronds de jambes, développés, erst an der Stange, dann in der Mitte des Raums, immer die gleiche Abfolge, wieder und immer wieder, bis nach einer Million Wiederholungen jede Bewegung geschmeidig, flüssig, perfekt ist. Selbst eine einfache Übung wie das Anheben des gestreckten Beins oder das Öffnen der Arme zur zweiten Position spricht von einer Sehnsucht, einer Wonne, einer Weisheit, die mit Worten nicht zu beschreiben ist. Manchmal läßt Eva, wenn ich dabeisitze, das exercice sein und tanzt für mich. Heute hat sie mit Claras erstem Solo aus dem Nußknacker angefangen. Es handelt sich um ein hübsches kleines divertissement, beschwingt und keck, und ich muß daran denken, wie begeistert das weihnachtliche Publikum in dem Jahr war, als sie es auf der Bühne getanzt hat. Kurz bevor die Stelle erreicht war, an der Fritz ihr den Nußknacker entreißen soll, änderten sich nun ihre Schritte. Sie tanzte etwas, das ich noch nie gesehen hatte, einen beklemmenden, herzzerreißenden Tanz, angefangen mit mehreren getragenen, besinnlichen arabesquen, 51
aus denen sie jäh in eine X-beinige, plattfüßige zweite Position zusammensackte. Dann erhob sie sich mit nach wie vor gespreizten Beinen en pointe und wirkte in dieser breitbeinigen Stellung beängstigend kräftig und hochgewachsen. Von da aus stürzte sie sich in eine Serie schneller, enger, klassischer Pirouetten, nur um erneut mit auswärts gestellten Fersen, durchgedrückten Knöcheln und abgewinkelten Ellenbogen zu enden. Und dann richtete sie sich wieder auf zur makellosen arabesque. So unwiderstehlich war ihr Tanz, daß ich beim Zusehen irgendwann auch die Musik zu hören glaubte, nach der sie tanzte, dissonante, beunruhigende Töne, eine Musik der Kontraste und raschen Umschwünge. Sie vermittelte Anspannung, Unterdrückung, ein Gefühl der Erwartung. Zugleich aber vermittelte sie bei aller eisernen Beherrschung das Aufsteigen einer Wildheit, so als würden die gespannten Knöchel und verqueren Ellenbogen, die sauberen Drehungen und vollendeten Sprünge ein ungezähmtes Tier entfesseln. Etwas Unbändiges, von dem ich bis dahin nichts gewußt hatte, schien sich in Eva hochzukämpfen. Es brachte mich in Verlegenheit, sie so tanzen zu sehen, sah es doch meiner gefaßten, graziösen Schwester so gar nicht ähnlich. Ich überlegte, ob ich gehen, ob ich zu meinen Bs zurückkehren sollte, als sie plötzlich innehielt, die Hände auf den Hüften, den linken Fuß auswärts vorgestreckt, den Kopf nach rechts gewandt. Sie verharrte einen Augenblick in dieser Pose, verlagerte dann das Gewicht auf den linken Fuß. Ihr rechter Fuß schoß vor, und ihr Kopf wirbelte herum, als habe sie 52
hinter sich etwas gespürt, dessen Herannahen sie noch nicht bereit war, zur Kenntnis zu nehmen. Dann senkte sie die Hände und ließ den Kopfkreisen und brach die Spannung, indem sie schwer atmend fragte: »Na, was meinst du?« »Weiß nicht«, antwortete ich. »Gut ist es, denke ich. Ungewöhlich ist es auf jeden Fall. Interessant. Warum machst du nicht weiter?« Sie lachte spöttisch auf und sagte zwischen zwei tiefen Atemzügen: »An dieser Stelle müßte mein Partner auftreten. Als nächstes kommt der pas de deux.« »Und woraus war das?« erkundigte ich mich. »Aus dem Anfang von Tzigane. Katherine Lee war die zweite Besetzung. Ich hab ihr immer beim Einstudieren zugesehen, bis mein Bus kam. Dabei hab ich mir einiges gemerkt.« »Hast du es je mit einem Partner getanzt?« »Nein.« Wir schwiegen beide eine Weile. Dann sagte sie: »Aber das macht nichts. Mir waren Sprünge immer lieber als Hebefiguren. Diese blöden Tanzpartner schwitzen doch nur so, daß man selber hinterher naß ist, und schleppen einen herum wie einen Brocken Fleisch.« Sie führte eine glissade und ein plié aus und setzte dann zu einem so hohen und weiten grand jeté an, daß sie vorübergehend in der Luft und in der Zeit zu schweben schien. Und als sie schließlich soweit war, zur Erde zurückzukehren, landete sie in einem scheinbar so mühelosen plié, daß das dumpfe Auftreffen ihrer Schuhe auf dem Boden als einziges die Anstrengung verriet, die der Sprung für sie bedeutet hatte. Als nächstes nahm 53
sie sich einen der Bauerntänze aus Giselle vor, eine muntere kleine Folge flinker Schritte mit ruckartigen Kopfbewegungen und geschmeidig neckischen Armen. Es war ein wunderbar irreführender Tanz, ein Tanz von so augenscheinlicher Schlichtheit, daß es schwerfiel, sich in Erinnerung zu rufen, daß jede Bewegung Teil einer Ästhetik war, die sich über die Gesetze der Physik und Anatomie hinwegsetzt. »Bravo!« rief ich, als sie fertig war, aber meine Stimme war zu leise, um die Leere zu füllen, die ihr Tanz hinterlassen hatte. Sie bedankte sich mit einem ironisch derben Knicks, und ich ging hinaus, damit sie in Ruhe ihre Beine ausschütteln, sich den Schweiß vom Gesicht wischen, die übriggebliebenen Fetzen ihrer wiederaufbereiteten Schuhe ausziehen und aus dem Studio hervorkommen konnte, um mit mir im letzten schwachen Licht des Tages das Abendessen zuzubereiten. In dem Frühjahr, als Eva zwölf war und wir unseren üblichen halbjährlichen Familienausflug nach San Francisco unternahmen, um ins Ballett zu gehen, war sie auf dem Heimweg so still und in sich gekehrt wie unsere Mutter. Sie starrte aus dem Autofenster, am kaum erkennbaren Spiegelbild ihres Gesichts vorbei in die bewegte, mit Lichtern durchsetzte Dunkelheit. Die Verstimmung meiner Mutter verflüchtigte sich ein, zwei Tage später, doch die von Eva blieb bestehen. Und verschlimmerte sich. Sie fing an, von Ballettunterricht zu reden. »Nein, Süße«, wehrte unsere Mutter ab, »ich lasse nicht zu, daß du dir so dein Leben verbaust. Ballett ist etwas 54
Grauenvolles. Es macht einen neurotisch und magersüchtig, narzißtisch und arthritisch. Absolut unnatürlich. Sieh doch, was es aus mir gemacht hat.« Woraufhin unser Vater von seiner Zeitung aufblickte, um zu fragen: »Was hat es denn aus dir gemacht?« Und Eva sagte: »Ach, bitte –« »Es ist zu weit weg. Um eine anständige Ballettklasse zu finden, müßten wir mindestens bis San Francisco fahren. Ich lasse nicht zu, daß dir eine hergelaufene Lehrerin in Redwood, die es nicht abwarten kann, dich en pointe tanzen zu lassen, die Füße kaputtmacht.« »Ich könnte doch mit Vater nach Redwood fahren und von da aus den Bus nehmen.« »Dazu bist du zu jung.« »Warum gibst du mir keinen Unterricht?« fragte Eva. »Ballettstunden geben war mir immer zuwider. Ich konnte die vielen kleinen Mädchen nicht ertragen, die bloß darauf aus waren, rosa Tutus anzuziehen, und es paßte mir nicht, die wenigen Mädchen quälen zu müssen, die etwas getaugt haben. Ballett ist eine brutale Plackerei. Außerdem«, fügte sie hinzu, in der Absicht, auszuspielen, was sie für ihre Trumpfkarte hielt, »außerdem bist du zu alt, um mit dem Tanzen anzufangen. Wer sich überhaupt eine Chance ausrechnen will, muß mit fünf oder sechs Jahren anfangen – spätestens mit acht. Wie dem auch sei: Es wird in dieser Familie keine Tänzerinnen mehr geben, Schluß, aus.« Aber schon ein, zwei Tage später telefonierte sie auf der Suche nach einer empfehlenswerten Ballettschule bei 55
ihren Freunden in der Stadt herum. Sie fluchte und Vater lachte, als sie erfuhr, daß die beste Lehrerin nördlich der Stadt ihr Studio in Redwood hatte. »Na gut«, seufzte sie, »Eva ist ja ein eigenständiger Mensch.« »Und sie ist eindeutig deine Tochter«, ergänzte unser Vater. Eine Woche darauf besuchte Eva die erste Unterrichtsstunde, schlaksig und mit spitzen Knien und Ellenbogen unter lauter Sechsjährigen mit krummem Rücken und vorgestrecktem Bauch. Unsere Mutter hoffte noch, daß sich Eva zu Rampenlicht und Pailletten hingezogen fühlte, nicht zum Tanz selbst. Sie redete sich ein, daß die Schmerzen und die Anstrengung des Trainings dazu führen würden, daß Eva das Interesse verlor. Aber sie war begeistert von der Mischung aus Arbeit und Schweiß. Sie war begeistert von der Zwanglosigkeit und vom Anspruch des Balletts, und sie tanzte gern – sowohl für sich allein als auch für Publikum. Sie ließ Sterbliche wie uns gern an ihrer Leidenschaft teilhaben. Von Anfang an lebte sie nur noch, um zu trainieren, und binnen sechs Monaten war sie weiter fortgeschritten als die Mädchen ihres Alters, die seit der Kindergartenzeit Unterricht nahmen. Sechs Monate später tanzte sie in der Schulvorstellung die Hauptrolle, und weitere sechs Monate später fing sie an, zweimal wöchentlich mit dem Bus in die Stadt zu fahren, um den Unterricht an der Schule des San Francisco Ballet zu besuchen. Ihre Lehrerin in Redwood war begeistert, ihre Lehrerin in San Francisco fand sie vielversprechend, und selbst unsere Mutter mußte 56
zugeben, daß Evas Fähigkeit, die Beine gestreckt und auswärts zu halten, außerordentlich war. Als sie jedoch außer Joghurt und Äpfeln jegliche Nahrung verweigerte, als ihr Monatszyklus unregelmäßig wurde und sie tanzte, bis die Blasen an ihren Füßen bluteten, zeigte unsere Mutter ihr die eigenen verkrüppelten Füße und flehte sie an, das Ballett aufzugeben. »Das ist doch kein Leben«, sagte sie. »Bitte werde nicht Tänzerin, Schatz. Du hast zu viele Begabungen, um alles auf eine Sache zu konzentrieren. Und was willst du anfangen, wenn du fünfunddreißig bist und deine Karriere vorbei ist, wenn du nichts anderes gelernt hast als Ballett und nicht einmal mehr richtig laufen kannst?« Als Eva zum ersten Mal ihre Absicht kundtat, Unterricht zu nehmen, dachte ich mir nichts dabei, war nur wie immer auf ihrer Seite. Eva war ja schließlich meine Schwester. Sie war meine Spielkameradin, meine beste Freundin, fast wie ein Zwilling, und was sie sich wünschte, wünschte ich mir für sie, ohne es zu hinterfragen. Doch nachdem sie eine Weile getanzt hatte, ließ mein Enthusiasmus im gleichen Maß nach, wie der ihre wuchs. Die Stunden, die sie bisher mit mir verbracht hatte – beim Toben im Wald und bei der Arbeit im Haus an einem unserer zahlreichen Projekte, bei unseren endlosen Rollenspielen draußen auf der Lichtung –, waren nun die Stunden, die sie dem Ballettunterricht und dem Training widmete. Zunächst war ich verwirrt und ein wenig verletzt, und ich richtete mich wie die anderen darauf ein, zu warten, daß Eva das Ballett aufgab und zu mir zurückkehrte. 57
Als mir endlich klar wurde, daß Eva, wie sehr ich sie auch anflehte und was ich ihr auch versprach, nicht mit dem Tanzen Schluß machen würde, schnitt ich an ihrem allerersten Paar Spitzenschuhe die Bänder durch. Sie war furchtbar wütend, als sie entdeckte, was ich den Schuhen angetan hatte, die sie so lange begehrt hatte. »Nell hat mir alles verdorben«, sagte sie heulend und kam ins Arbeitszimmer gerannt, wo sich Mutter über ihren Webstuhl beugte und ich im Zustand rastloser Langeweile herumhing. »Und Eva mir!« fuhr ich sie an. Meine Mutter warf einen Blick auf die durchgeschnittenen Bänder, seufzte und legte den Strang Seide weg, den sie als Kettfaden benutzt hatte. »Niemand kann einem anderen alles verderben«, konstatierte sie. »Beruhige dich, Eva. Penelope, bring mir den Nähkasten.« Während sie die Bänder wieder annähte und Eva in ihrem Zimmer schmollte, nahm Mutter mich ins Gebet. »Warum die Sabotage, Nellie?« fragte sie und fädelte rosa Garn ein. »Eva will nicht mehr mit mir spielen. Dauernd trainiert sie. Und überhaupt tut es ihr nicht gut.« Mutter seufzte wieder. »Tja, weißt du, es ist auch nicht das, was ich mir für sie vorgestellt habe. Aber wenn sie es sich in den Kopf gesetzt hat, Tänzerin zu werden, müssen wir uns doch wohl wünschen, daß aus ihr die beste Tänzerin wird, die sie werden kann.« »Aber sie spielt nie mehr mit mir.« »Du kannst sie nicht zwingen, mit dir zu spielen. Nell, 58
ich weiß, es gibt nun eine Lücke in deinem Leben. Aber es ist deine Sache, dir auszudenken, wie du sie füllen kannst.« »Aber …« »Sie ist ein eigenständiger Mensch, mein Schatz. Und ob es dir gefällt oder nicht: du auch.« Sie hob Evas Schuh an die Lippen und biß den Faden durch, mit dem sie das Band wieder angenäht hatte. »Hier«, sagte sie und reichte mir die reparierten Schuhe mit einem so warmen Lächeln, daß es einen Stein zum Erweichen gebracht hätte, »geh und bring sie deiner Schwester.« So kam es, daß Eva trotz Mutters Bedenken und meiner Einsamkeit weiter tanzte. Zu ihrem vierzehnten Geburtstag beschichtete Vater den Holzboden im Hinterzimmer mit Mylar-Polyester. Er brachte an einer Wand eine Stange an, versah die gegenüberliegende Wand mit Spiegeln, und dort hielt sich Eva fortan auf, bis es einem von uns gelang, sie mit Schmeicheleien, Versprechungen oder Befehlen herauszulocken. Damals hatten wir uns bereits alle auf einen festen Tagesablauf eingestellt. Eva fuhr jeden Morgen mit Vater in die Stadt, während ich im stillen Haus Schulaufgaben machte und mich ärgerte und Mutter an ihren Wandteppichen arbeitete. Drei Tage die Woche nahm Eva morgens und nachmittags Ballettstunden bei Miss Markova in Redwood. Dienstags und freitags fuhr sie mit dem Bus nach San Francisco zum Unterricht bei der dortigen Truppe, und am Wochenende tanzte sie zu Hause. Sie versuchte sich, wenn sie allein war, noch 59
mehr zu schinden, als es ihre Lehrerinnen getan hätten. Noch ein Jahr, hieß es immer, im nächsten Frühjahr ist sie ganz bestimmt soweit, heim San Francisco Ballet vorzutanzen. Noch ein Jahr, dann kann sie nichts mehr aufhalten. Aber im Sommer – dem Sommer, in dem Eva sechzehn Jahre alt wurde – erfuhren wir, daß Mutter krank war. Sie starb im folgenden Frühjahr, und weniger als ein Jahr später fuhren keine Busse mehr. Es gab nicht mehr genug Benzin, um dreimal die Woche zum Unterricht in die Stadt zu fahren. Eva sprach anfangs davon, nach San Francisco oder wenigstens nach Redwood zu ziehen, wo sie bei Miss Markova hätte wohnen und den Unterricht fortsetzen können. Aber unser Vater war untröstlich über die Idee, sie könne fortziehen, und die Leute schienen so sicher zu sein, daß im Herbst wieder alles seinen gewohnten Gang gehen würde, daß aus ihrem Vorhaben nichts wurde. Von allem hatte Eva zu leiden, als die Stromversorgung nachließ und das Benzin ausging. Es wog für sie nicht am schwersten, daß sie nicht mehr zum Unterricht kam oder den Termin ihres Vortanzens verschieben, ohne Partner oder neue Spitzenschuhe auskommen mußte, sondern daß sie ohne Musik tanzen mußte. Jedesmal, wenn der Strom ausblieb, erstarb ihre Musik, so daß sie, die eben noch zum feierlichen Jubel der Wassermusik ihre grands jetés ausgeführt hatte, nun ohne Musik weiterspringen mußte, als wäre sie von einer Klippe gestürzt. Sie machte es sich zur Gewohnheit, zu tanzen, wann immer das Licht anging, selbst mitten in der Nacht, selbst 60
dann, wenn sie gerade gegessen hatte oder ein Bad nahm. Sobald wir Elektrizität hatten, sprang sie auf, rannte in ihr Studio, drehte die Musik auf und tanzte. Doch der Strom floß immer seltener und für immer kürzere Zeit, bis sie trotz aller Disziplin verzweifelte. Eines Tages hörte ich sie hinter der geschlossenen Studiotür weinen, leise schluchzen wie ein kleines Kind, das sich in den Schlaf weint, wenn es die Hoffnung aufgegeben hat, auf andere Art getröstet zu werden, und dieses Weinen wirkte eigentümlich selbstgenügsam, wie alles andere an Eva auch. Ich stand lange vor ihrer Tür, zu ängstlich, um einzutreten, aber unfähig, mich zu entfernen. Als schließlich das Weinen aufhörte, stahl ich mich davon und fühlte mich sowohl schuldig als auch unerträglich einsam. Ein paar Tage später kam sie ins Wohnzimmer gestürmt, wo Vater und ich schweigend über unsere Bücher gebeugt saßen. »Alles geht mir flöten«, schimpfte sie. »Der Körper einer Tänzerin verliert nach zweiundsiebzig Stunden die Kondition, und ich habe seit fünf Tagen nicht mehr richtig trainiert. Wie soll ich mich da auf das Vortanzen vorbereiten?« Ich schickte mich soeben an, Evas Drama zu meinem eigenen zu machen, als unser Vater das Wort ergriff. »Dann tanz doch«, sagte er im Tonfall der Vernunft, der mich immer so erboste, wenn er an mich gerichtet war. »Wie denn?« maulte sie. »Du weißt schon …« Er hob zur dritten Position die 61
Arme über den Kopf und schwang einen wackelnden Fuß im schweren Stiefel durch die Lüfte. »… so.« Sie lachte nicht. »Ich brauche Musik«, sagte sie. »Wozu brauchst du Musik?« »Ohne Musik ist es kein Tanz – es ist Routine. Ich brauche das Gefühl. Die Emotion.« »Ich hätte angenommen, daß eine gute Tänzerin das alles in sich hat.« »Aber man braucht doch Musik, um es hervorzulokken.« »Es gab doch schon Ballerinas, bevor es elektrischen Strom gab. Wie haben die es gemacht?« »Die hatten Akkompagnisten«, entgegnete sie hochtrabend. »Nun ja, wir haben weder ein Klavier noch ein Cembalo, aber ich könnte wohl eine Trommel bauen. Ich glaube, ich habe irgendwo eine Kaffeedose und einen alten Luftschlauch herumfliegen sehen.« »Vater«, sagte daraufhin Eva eindringlich, »es geht um mein Leben.« »Ich weiß, Eva. Ich weiß.« Er seufzte. »Ich will doch bloß behilflich sein. Allerdings kommt es mir so vor, als müßte eine gute Tänzerin wie du die Emotion im Kopf behalten können.« »Und was ist mit dem Rhythmus?« konterte sie triumphierend. »Wie soll ich den im Kopf behalten?« Vater schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Ich glaube, da hab ich was für dich, draußen in meiner Werkstatt. Geh nicht weg – ich bin gleich wieder da.« »Ich will keine gottverdammte Trommel«, schrie Eva 62
ihm nach, doch die Tür hatte sich bereits hinter ihm geschlossen. Es war schon fast dunkel, als er zurückkam, aber als es soweit war, grinste er und war wieder ganz der Alte. Er verbeugte sich vor Eva und überreichte ihr ein Metronom. »Das war bei der letzten Ladung dabei, die ich von der Müllhalde gerettet habe. Es ist ein bißchen verbeult, fürchte ich. Aber es hält den Takt.« So kam es, daß sie sich angewöhnte, ohne Musik zum unbarmherzigen Schlagen des Metronoms zu tanzen. Sie lernte, in den Tanz ihre eigene Musik einzubringen, und ich denke, daß sie dadurch eine bessere Tänzerin als je zuvor geworden ist, auch wenn es bisher niemand außer mir gesehen hat. Mutter war lange Zeit besorgt, daß Eva wie jede andere Ballerina enden könnte, übertrieben ehrgeizig, verklemmt kichernd. Aber es war wohl schon vor Mutters Tod klar, daß Eva Eva bleiben würde – egal, wie weit sie es mit dem Tanzen trieb. Eva ist immer unberirrt sie selbst. Wenn sie sich in den Wandspiegeln in ihrem Studio gegenübersteht, begutachtet sie ihr Spiegelbild weder mit der Eitelkeit noch mit dem zwanghaft kritischen Blick der Tänzerin. Sie begegnet ihrem eigenen Blick mit der gleichen Offenheit wie dem aller anderen, während ich mein Spiegelbild abschätze, es anflehe, kokett werde. Ich ziehe meine Wangen ein, damit die zugehörigen Knochen deutlicher hervortreten. Ich wünsche mir meine Nase schmaler, mein Kinn weniger rund. Ich bewundere das Indigoblau meiner Augen und übe, so zu lächeln, daß man meine Zähne nicht sieht. 63
Ich versuche, mich in jemand anderen hineinzuversetzen, der mich sieht. Die Frage, die ich meinem Spiegelbild immer wieder vorlege, lautet: Wer bist du? Eva würde es dagegen nie einfallen, sich zu fragen, wer sie ist. Sie kennt sich selbst in jedem Knochen, jeder Zelle, und ihre Schönheit ist keine äußere Zier, sie ist das Element, in dem sie lebt. Trotz ihres Geschicks im Umgang mit Feuer veranlaßt mich Eva immer, an Wasser zu denken. Sie ist schmal und spritzig wie der Bach auf der anderen Seite unserer Lichtung. Wie dieser Bach scheint sie es zufrieden zu sein, einen Teil ihres Daseins im Verborgenen zu verbringen, scheint sie – selbst jetzt – sicher zu sein, daß sie, wohin auch immer, unterwegs ist. Wenn sie tanzt, kann man es sehen. Wenn sie tanzt, ist sie so sicher, so lebendig, daß es den Betrachter erfrischt. Wenn sie nicht tanzt, ist sie still, von ruhigem Temperament, ein wenig verträumt, als sei für sie Tanzen gleichbedeutend mit Leben, und solange sie in ihrem Tanz zu Leid und Verklärung fähig ist, hat sie es nicht nötig, zu leiden und Verklärung zu suchen, solange sie nur ihren Alltag verstreichen läßt. Ich bin diejenige mit der üblen Laune, den aufgebrachten Fragen. Ich bin diejenige, die nicht in ihre Haut paßt, die ihr Gesicht nicht zu deuten weiß. Ich bin diejenige, die nicht darauf vertrauen kann, was als nächstes passiert, die sich – Nacht für Nacht – selbst gegenübertreten muß, nachdem Eva längst eingeschlafen ist. 64
Heute habe ich gelesen: Als Beethoven seine Neunte Sinfonie schrieb, die viele für sein Meisterwerk halten, war er nahezu vollständig taub. Da mußte ich an Eva denken, wie sie allein nach der Musik in ihrem Kopf tanzt. Am Morgen haben wir uns oben im kühlen Halbdunkel des Schlafzimmers unserer Eltern zu schaffen gemacht, haben ihre Kleider und Habseligkeiten durchgesehen und ins Inventar unserer Besitztümer aufgenommen. Unsere Mutter hat behauptet, daß andere Familien unter all ihren Schubläden eine Kramschublade hätten – in der sich Nägel, Federringe, Zündkerzen, kaputte Ohrringe, angekaute Bleistifte, Sicherheitsnadeln, Muscheln, Schlüssel, uralte Quittungen und andere nicht einzuordnende Dinge ansammelten. Wir dagegen hätten eine Schublade, die nur deshalb keine Kramschublade sei, weil sie so ungeschickt angebracht war, daß niemand dran kam. »Dadurch wirkt alles so behelfsmäßig«, pflegte sie sich zu beschweren. Worauf unser Vater ihr fröhlich entgegnete: »O nein, meine liebe Gloria. Der viele Kram wird ewig vorhalten – und etwas davon wird sich schon irgendwann als nützlich erweisen.« Und nun fördert jede Schublade, die wir öffnen, etwas zutage, das wir brauchen können, wofür wir Verwendung haben, bis die Geschäfte wieder aufmachen. Ich jeden65
falls bin froh, daß wir endlich Bestand aufnehmen, so schmerzlich es auch sein mag. Wir haben damit wenige Wochen vor Weihnachten angefangen. Den ganzen Herbst über haben wir nur auf der Terrasse herumgesessen, wie betäubt von dem Unglück, den der Tod unseres Vaters bedeutete. Drunten im Obstgarten fielen die letzten Früchte unbeachtet vom Baum, und im Garten verkamen die letzten üppigen Feldfrüchte, die unser Vater mit unserer gleichgültigen Hilfe gepflanzt und geharkt und gegossen hatte. Sie wurden von Unkraut überwuchert, und dann verfaulten und verschrumpelten sie und knickten um. Den ganzen Herbst saßen wir betroffen herum, unfähig, an die Vergangenheit oder die Zukunft zu denken, während die wenigen Ahornbäume, die zwischen den immergrünen Nadelhölzern rund um unsere Lichtung stehen, golden wurden, gegen das ewige Grün des übrigen Waldes ansangen und dann ihre Blätter verloren. Ich lernte nicht. Ich las nicht einmal. Eva tanzte pro Tag nur eine einzige Stunde. Morgens gaben wir den Hennen ihre zunehmend magere Ration geschroteten Mais, suchten aus ihren Nistkästen die zunehmend seltener werdenden Eier heraus und ließen die Tiere zum Scharren auf den Hof hinaus. Wir spielten ununterbrochen Backgammon auf einem Brett, das sich aufklappen ließ wie ein Koffer. Eine Runde nach der anderen beendeten wir mit unseren Spielsteinen, während wir darauf warteten, daß das Telefon klingelte oder der Strom wieder anging. Wir warteten darauf, daß es Abend wurde, damit wir auf dem Kalender in der Küche einen weiteren ereignis66
losen Tag ausstreichen konnten, warteten darauf, von dem versehentlichen Abweg gerettet zu werden, auf den unser Leben geraten war. Die Temperaturen sanken, und wir zogen von der Terrasse ins düstere Wohnzimmer um. Wir gaben Backgammon zugunsten der Puzzlespiele mit eintausend Teilen auf, die unser Vater einst geliebt hatte. Dann kam der Regen, und wir zündeten den Holzofen an und setzten Puzzles zusammen, während in der Speisekammer die Säcke mit Bohnen und Reis und Mehl immer schlaffer, die Reihen selbsteingemachten Gemüses und Obsts sich lichteten. Wir aber dachten Stunde um Stunde an nichts anderes als an die bunten Pappstückchen, die zwischen uns auf dem Tisch ausgebreitet waren. Solange es noch Teile einzusetzen gab, solange das ganze Puzzlespiel auseinandergenommen und wieder von vorn angefangen werden konnte, konnten wir ausharren, warten, uns in Sicherheit wiegen. Doch dann wachten wir eines Morgens auf, und das Feuer war ausgegangen. Unser Atem stieg als sichtbare Wolke in die kalte Luft, und als wir nach draußen traten, um uns die Arme mit Feuerholz vollzuladen, war die Welt mit feinem Rauhreif überzogen. Wir gingen mit klappernden Zähnen wieder hinein, ließen unser Holz neben dem kalten Ofen fallen. Ich füllte den Teekessel mit dem Wasser, das sich über Nacht im Spülbecken angesammelt hatte, stellte ihn zurück auf den Ofen und beugte mich gleich wieder über das geordnete Meer der Puzzlestücke, während Eva niederkniete, um das Feuer zu entfachen. Sie zerbrach eine Ladung Reisig, knüllte 67
eine Viertelseite aus einem alten Katalog zusammen, griff nach den Zündhölzern und atmete keuchend aus. Ich dachte, es hätte sie etwas gestochen, so jäh und erschrocken war der Laut, den sie von sich gab. Noch ehe ich »Was ist denn?« fragen konnte, stellte ich mir einen Skorpion vor, der mit vorgewölbtem Stachel in der offenen Zündholzschachtel kauerte, und alles, was mir an Skorpionstichen angst machte, fuhr mir durch den Kopf. Doch anstatt die Zündholzschachtel von sich zu schleudern, drückte Eva sie an die Brust, und als ich endlich fragte, streckte sie sie mir entgegen, zu erschüttert, um etwas zu sagen. Ich nahm ihr die Schachtel vorsichtig aus der Hand, bekam aber nicht etwa das häßliche nackte Braun eines Skorpions zu sehen, sondern nur vier Zündhölzer mit roten Köpfen – in einer Schachtel, die einst Hunderte gefaßt hatte. »Wie konnte das passieren?« fragte ich. Eva antwortete: »Wir müssen sie verbraucht haben.« Jemand anderes konnte es nicht gewesen sein, also waren wir es wohl. Aber wir hatten sie so langsam verbraucht – ein Zündholz alle paar Tage, um morgens das Feuer neu zu entfachen, wenn die aufgeschichteten Kohlen nicht bis zum Aufwachen gereicht hatten –, daß es Eva nicht aufgefallen war, als nur noch die halbe Schachtel, dann ein Drittel, dann kaum noch eine Handvoll Hölzer übrig war. »Sind denn wirklich keine mehr da?« flüsterte ich. »Keine Ahnung.« Wir blickten einander an. Eva erhob sich, wieder 68
hoch aufgerichtet wie eine Tänzerin. »Wir müssen uns umsehen«, sagte sie. Und so begann unsere Suche. Erst war es eine hektische Jagd durchs ganze Haus, ein Tasten unter Sofakissen und Matratzen, ein Durchwühlen von Schränken und Taschen und Schubladen. Als wir ein altes Einwegfeuerzeug, in dem noch reichlich Butangas schwappte, ein halbes Dutzend ausgefranster Streichholzbriefchen und das Vergrößerungsglas aus Vaters Kleindruckausgabe des Oxford English Dictionary zusammengekramt hatten, war unsere unmittelbare Sorge gelindert, eine begründete Angst jedoch nahm zu. Auf einen Schlag hatten wir festgestellt – und konnten nicht mehr darüber hinwegsehen –, daß nicht nur unsere Zündhölzer gezählt waren, sondern auch daß die Vorräte in der Speisekammer nicht ewig vorhalten konnten, daß am Boden der Arzneiflasche nur noch wenige Aspirintabletten, nur noch eine Handvoll Tampons in der blauen Schachtel im Bad übrig waren, daß vielleicht gar unsere Kleider und Schuhe abgetragen sein werden, ehe dies alles vorbei ist. Seither sind wir systematisch vorgegangen, haben das Haus Zimmer um Zimmer durchkämmt, erst die Küche, dann Speisekammer, Abstellraum und Bad und jetzt das Schlafzimmer unserer Eltern. Wir haben sortiert, geordnet, den Wert unserer Hinterlassenschaft geschätzt – und uns für jedes Stück überlegt, unter welchen Umständen wir es selbst benutzen oder eintauschen wollten, für jede alte Flasche Hustensaft, jede Rolle Isolierband, jedes zerfetzte Laken, jeden Schraubenzieher, jedes Paar Turnschuhe, für den ganzen Kram, mit dem unser Haus angefüllt war. 69
Als ich mich neulich über Fledermäuse informiert habe, habe ich weitergeblättert, um etwas über verlängerte Tragzeiten zu erfahren, als mir ein anderer Eintrag ins Auge stach: Frostbeulen – körperlicher Schaden, der entsteht, wenn sich nach Wärmeverlust in lebendem Gewebe Eiskristalle bilden. Erfrorenes Gewebe wird blutlos, verhärtet und taub. Um Komplikationen wie Entzündungen und das Absterben des Gewebes zu verhindern, kommt es darauf an, die betroffenen Stellen so schnell und so behutsam wie möglich zu erwärmen; allerdings können beim Auftauen erhebliche Schmerzen entstehen. Ja, so hat es sich angefühlt, als wir anfingen, diese Räume durchzugehen, die Überreste unserer Kindheit, die Besitztümer der Eltern, die wir verloren hatten. Nur langsam erweichte, erwärmte sich das Gewebe, langsam stellte sich die Durchblutung wieder ein, aber der Schmerz war zeitweise so intensiv, daß ich mich danach sehnte, vereist zu bleiben. Und dennoch brannte sich eine Art Leben – eine schmerzverzerrte Zelle nach der anderen – durch die gefrorene Hülle meines Ichs. Zunächst kam es mir vor, als sei das ganze Haus mit dem erfüllt, was uns nicht mehr gegeben war. Jede Schublade war ein Füllhorn des Verlustes und der Verzweiflung. Da war die verbeulte Büchertasche unseres Vaters, seine alte Zahnbürste, sein abgenutzter Kaffeebecher. Da war der Webstuhl unserer Mutter, auf dem, mit hochstehendem Schaft, ihr letzter Wandteppich auf das nächste Durchziehen des Schußfadens wartet. Da waren ihre Einmachkrüge und Kristallgläser und – weil unser Vater es nicht geschafft hatte, etwas wegzuwerfen, das 70
ihr gehört hatte – ihre Parfümflaschen und Schlüpfer. Selbst ein unauffälliger Gegenstand wie eine Rührschüssel schien sich mit den Kuchenteigen einer Kindheit zu füllen, als wir sie aus dem Regal holten und in Augenschein nahmen, als wir uns auszudenken versuchten, wie sie in der Gegenwart und Zukunft zu verwenden war, als wir ihren Wert zu schätzen versuchten, als wir uns bemühten, nicht an die letzte süße Schleckerei zu denken, die sie uns beschert hatte. Jedesmal, wenn wir den nächsten Schrank oder eine weitere Schublade öffneten, bereitete ich mich innerlich darauf vor, zusammenzuzucken und die Flucht zu ergreifen vor dem Ansturm der Erinnerung, wenn sie mir mit klappernder Hornrassel ihre entblößten Fänge ins Fleisch schlug. Aber komischerweise waren diese Erinnerungen, auch wenn sie schmerzten, nicht giftig genug. Traurig machte mich an jenem Nachmittag, wie wenig übrigbleibt, nachdem ein Mensch von uns gegangen ist. Ein paar Fotos, ein Seidenschal, ein Scheckbuch – und wo sind sie geblieben, die Menschen, denen diese Dinge einst gehört haben? Welche Haarklammer, welches Arbeitshemd verkörpert unsere Mutter, unseren Vater? Ich wurde den Gedanken nicht los, daß wir auf etwas stoßen würden, das sie uns offenbarte. Ich stählte mich für den Fall, daß wir einen Stapel Briefe, ein pornographisches Buch, einen Zeitungsausschnitt fanden, die uns bezüglich unserer Eltern neue Einsichten brachten. Doch es gab keine Überraschungen. Alles, was wir gefunden haben, wirkt in seiner Vertrautheit beinahe anonym. Hier sind die Büstenhalter unserer Mutter, ausgeleiert, der Form 71
ihrer verschwundenen Brüste angepaßt. Hier sind die Socken unseres Vaters mit den freimütig dünngewetzten Fersen. Der Versuch, meine Eltern zu verstehen, ist so, als wollte ich meine eigenen Augäpfel sehen, meine eigene Zunge schmecken. Es ist, als wollte ich aus der Luft heraustreten. Ich weiß, sie waren Exzentriker. Aber selbst damals, als ich mir gewünscht hatte, sie würden in die Stadt ziehen, neue Autos fahren und frisch gebügelte Hosen und modische Pullover tragen, hatte ich es nicht geschafft, mir andere Eltern vorzustellen als die meinen. Meine Mutter war schön, daran ist nicht zu rütteln. Ich fand immer, daß sie wie eine Tänzerin ausgesehen hat, aufrecht und rank, mit erstaunlichen grauen Augen und einem blaßgoldenen Haarschopf, der ihren Kopf einhüllte wie eine Aura und ihr Gesicht mit seiner eigenen Lichtquelle umgab. Sie bewegte sich bis ganz zum Schluß wie eine Ballerina. Sie verlor nie die Auswärtsstellung ihrer Beine, und ihre Gesten waren nicht nur größer, sondern auch präziser, als sie hätten sein müssen, so als sei jede Bewegung, jeder Verhalt von Bedeutung. Auch wenn sie bloß Hausarbeit machte – Wäsche einräumte oder den Komposthaufen umgrub –, bewegte sie sich mit vollkommener Anmut, als wäre es eine Kunst oder ein geheimes Vergnügen, Laken zu falten oder Gartenabfälle unterzuharken. Bei aller ätherischen Schönheit hatte meine Mutter aber auch etwas Erdverbundenes gehabt. Sie hatte die derben Füße einer Tänzerin mit verkrümmten Zehen und entzündeten Fußballen, die wehtaten, wenn ein 72
Wetterumschwung bevorstand, und sie sprach mit uns immer unerschütterlich offen über das, was mein Vater »die interessanten Schweinigeleien« nannte: Körperausscheidungen, Menstruation, Sexualität und – bis es sie selbst betraf – Tod. Sie hatte beim San Francisco Ballet angefangen, als sie achtzehn war, und schon drei Spielzeiten dort getanzt, als sie sich bei einer Kostümprobe zu Dornröschen, einer Inszenierung, in der sie – als Rotkäppchen – ihre erste Solorolle übernehmen sollte, den Knöchel zerschmetterte. Sie lernte unseren Vater auf der Unfallstation kennen, wo er mit einem Zweitkläßler wartete, der an jenem Morgen mit einem blauen Auge und einem gebrochenen Arm in der Schule erschienen war. Es war Vaters erstes Jahr als Lehrer, und er hatte sich die schwierigste Schule ausgesucht, die San Francisco zu bieten hatte. Als er meine Mutter in ihrem Rotkäppchenkostüm in den Warteraum der Unfallstation humpeln sah, mit bleichem Gesicht und auf den Requisiteur gestützt, war er jedoch längst wieder soweit, daß er seine Abende gern anders verbrachte als mit Betrachtungen über das Scheitern des Vorhabens, in der Schulkantine zum Frühstück etwas Warmes zu servieren, und die wachsende Zahl von Schwangerschaften bei Mädchen unter zwölf. Als man meiner Mutter nach einem Jahr aufreibender Krankengymnastik mitteilte, daß sie ihren Knöchel noch mindestens eine Spielzeit schonen müsse und auch danach möglicherweise nicht mehr als professionelle Tänzerin auftreten könne, gab sie das Ballett ganz auf, heiratete meinen Vater und zog mit ihm auf das Anwesen, das er 73
außerhalb von Redwood aufgetan hatte, mit zweiunddreißig Hektar Wald, deren Abgelegenheit seines Erachtens dadurch sichergestellt war, daß sie an ein großes staatliches Forstgebiet angrenzten. Im Sommer jenes Jahres half sie ihm, das wacklige, zweistöckige Sommerhaus, das auf dem Grundstück stand, mit sanitären Anlagen zu versehen und einen Abstellraum anzubauen, und im Frühjahr darauf war sie schwanger. Ehe sie sich mit meinem Vater zusammentat, hatte Mutter als eine der vielversprechendsten jungen Ballerinen der Truppe gegolten, und niemand – von ihren Freunden beim Ballett bis hin zu ihren eigenen Eltern – konnte verstehen, warum sie dieses Leben so vollständig aufgegeben hatte. Sie behauptete, ihre Wahl nicht zu bereuen, aber zweimal im Jahr, immer im Frühling und im Herbst, zogen wir vier unsere schönsten Sachen an, klemmten uns in eines der klapprigen Autos, die unser Vater nacheinander besaß, und machten uns auf die dreistündige Fahrt nach San Francisco, um dort ins Ballett zu gehen. Nach der Vorstellung gingen wir hinter die Bühne, wo wir unbeholfen und schwerfällig in unserer Straßenkleidung herumstanden, während Frauen in Tutus und Strumpfhosen um unsere Mutter herumwirbelten und die langen Hälsen reckten, um die Luft neben ihren Wangen zu küssen. Es komme ihnen vor, als sei es erst gestern gewesen, behaupteten sie, daß sie mit ihnen getanzt habe, und siehe da – sie näherten sich dem Ende ihrer Karriere, und Mutter habe zwei reizende Töchter. Sie sagten alle, wie wunderbar es sei, Familie zu haben, wie sehr sie 74
unsere Mutter beneideten, wie sehr sie sich wünschten, ebenfalls zu heiraten und Babys zu bekommen. Die Heimfahrt verlief immer still. Eva und ich schliefen auf dem Rücksitz ein und wachten erst auf, wenn unser Vater uns aus dem Wagen hob. »Endstation«, sagte er, und es schien ihm noch mehr von Herzen zu kommen als sonst. »Alle aussteigen!« Und als er uns über die Terrasse ins Haus trug, konnten wir über seine Schulter hinweg unsere Mutter auf dem dunklen Hof stehen sehen, mit geraden Schultern und erhobenem Kopf, vom Haus abgewandt, der Dunkelheit und den Sternen zugewandt. Nach diesen Fahrten war sie ein, zwei Tage lang noch schweigsamer als sonst. Die Schmutzwäsche stapelte sich, und unser Abendessen kam aus der Dose. Aber dann hörten wir doch jedes Mal eines Morgens beim Aufwachen wieder Bach, Händel oder Vivaldi aus dem Radio in ihrem Arbeitszimmer erschallen, und wenn wir nach unten kamen, standen in der Küche Bleche mit Zimtbrötchen auf der frisch geschrubbten Arbeitsfläche, und auf dem Tisch neben ihr wurde eine Tasse Tee kalt, während sie für ihren nächsten Wandteppich die Bildergeschichten entwarf oder die Seide aufspulte. Ich glaube nicht, daß Mutter für das Landleben geboren war. Sie liebte die einsame Lage unseres Hauses und die Aussicht auf den Wald aus dem Panoramafenster, das unser Vater auf ihr Betreiben im Wohnzimmer einsetzen mußte. Aber sie machte sich nie etwas aus dem Landleben. Sie mochte die Arbeit im Garten nicht, und sie war allergisch gegen sämtliche Haustiere, die Eva und ich haben wollten. Sie verlor nie ihre Angst vor Klapperschlangen, 75
Zecken und Wildschweinen, und jedes Mal, wenn sie sich über die Grenzen unserer Lichtung hinauswagte, zog sie sich an den Sumachgewächsen, mit denen sie in Berührung kam, einen Ausschlag zu. Dennoch schien sie mit der Arbeit und der Stille und der Familie, die ihr Leben erfüllte, durchaus zufrieden zu sein. Seit sie aufgehört hatte zu tanzen, hatte sie sich mit scheinbar gleicher Leidenschaft an mehreren anderen Kunstformen oder handwerklichen Tätigkeiten versucht. Als wir klein waren, hatte sie in ihrem Arbeitszimmer eine Töpferscheibe und einen Brennofen stehen, und ich kann mich noch erinnern, daß ich neben ihr auf dem Boden gesessen und kleine Töpfe oder klumpige Tiere geformt habe, während die Scheibe sich dem rhythmischen Tritt ihres Fußes folgend drehte. Aber irgendwann fing ihr Knöchel an, ihr zuzusetzen, und sie besorgte sich nicht etwa eine elektrisch betriebene Töpferscheibe oder lernte die Antriebsscheibe mit dem anderen Fuß in Bewegung zu halten. Vielmehr tauschte sie ihre Töpferscheibe und ihren Brennofen gegen einen Webstuhl, ein Scherbrett und eine Spulvorrichtung ein und erlernte das Weben. Ihre Allergien hielten sie davon ab, mit Wolle zu arbeiten, daher verwendete sie Seidengarne und wob Wandteppiche mit komplizierten Blumenmustern, die sie nach dem Vorbild europäischer Millefleurs-Teppiche des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts gestaltete und über eine der exklusivsten Galerien in der Stadt verkaufte. Sie färbte die Seidengarne selbst ein, und es war für mich ein Wunder, das keine chemische Formel erklären 76
konnte, wie die stumpffarbenen, bitter riechenden Pulver, die sie in ihre Kessel schüttete, jenes Indigoblau und Violett hervorbringen konnten, jenes Smaragdgrün und Karmesin, Rotbraun und Ocker und Umbra, mit dem sie ihre Wandteppiche füllte. In der Küche gab es einen ganzen Satz Töpfe und Schüsseln, von denen wir wußten, daß wir sie wegen der giftigen Stoffarben und Fixiermittel, die darin aufbewahrt oder angerührt wurden, nicht zum Kochen benutzen durften. Erst nachdem man bei ihr Krebs diagnostiziert hatte, fing Mutter an, sich für die Verwendung von Naturfarben zu interessieren, für die Verwendung von unschädlichem Alaun und mildem Essig zum Fixieren, und bevor sie zu krank wurde, um noch ans Arbeiten zu denken, bekundete sie die Absicht, zu lernen, Farben aus den Gewächsen des Waldes zu gewinnen. Ich weiß, daß sie uns lieb hatte, obwohl sie uns meistens uns selbst überließ. Sie war nicht gesprächig wie unser Vater, und ihre Liebe zeigte sich in flüchtigen Umarmungen und Plätzchen und einem gewissen distanzierten Interesse, in sanfter Vernachlässigung. Sie hatte das Zentrum ihres Seins gefunden und erwartete, daß es bei Eva und mir genauso war. Sie hielt es, glaube ich, nicht für nötig, uns als Gefährtin oder Spielkameradin zu dienen. Du bist ja ein eigenständiger Mensch, pflegte sie zu sagen, wenn eine von uns mitten am Tag einsam oder gelangweilt zu ihr kam, du wirst schon drüber wegkommen. Worauf sie uns ein freundliches, aber entschiedenes Lächeln schenkte und sich wieder ihrem Webstuhl zuwandte. 77
Du bist ein eigenständiger Mensch. Wenn eine von uns mit einer Beschwerde über die andere zu ihr gerannt kam – Eva weigert sich, mit mir den Prinzen zu spielen, Nell schneidet ihrer Puppe die Haare ab, Eva will ihr Zimmer nicht aufräumen –, dann antwortete sie halb streng, halb stolz: Deine Schwester ist ein eigenständiger Mensch. Und du auch. Du wirst schon drüber wegkommen. Dann zauste sie uns das Haar, fuhr sie mit ihren langen Fingern einen kurzen köstliche Augenblick lang über unsere Kopfhaut, ehe sie wieder nach dem Schiffchen griff. Wir haben den Vormittag in der Werkstatt unseres Vaters verbracht, haben versucht, das Chaos, das dort herrscht, zu ordnen und Bestand aufzunehmen. Früher habe ich seine Werkstatt mit dem wilden Durcheinander, dem dumpfen Geruch nach Schimmel und Chemikalien gehaßt. Nun jedoch könnte jedes Stück Draht, jeder Schlauch, jede Schraube, jedes Werkzeug und Gerät, jede Maschine eine Verwendung finden, und es ist für mich Trost und Tadel zugleich, zwischen Vaters Habseligkeiten zu sitzen und mich mit ihnen zu beschäftigen, sie zu sortieren und zu reinigen und ihnen die Sorgfalt angedeihen zu lassen, für die er sich nie die Zeit nahm. Vater hat alles behalten, aber nichts geordnet. Unsere Mutter beschwerte sich immer, er benehme sich wie eine jener Hausfrauen, die Einkaufstüten, Margarineschachteln und Fleischpackungen aus Styropor horten. Er bewahrte 78
alles auf – kaputte Haushaltsgeräte, ausrangierte Klodekkel, verrosteten Maschendraht. Ich muß zugeben, daß er tatsächlich einiges davon wiederverwertet hat. Er hatte immer ein Brett oder eine Schraube, die paßten, auch wenn es – wie unsere Mutter gern hervorhob – einen halben Nachmittag dauern konnte, bis er das Richtige gefunden hatte. Es ist schon eine Ironie, wenn man bedenkt, daß sich all dieser Schrott nun als unser größter Schatz erweisen könnte. Jenseits unserer Lichtung ist nichts als Wald, eine nutzlose Einöde aus Bäumen und Unterholz, Wildschweinen und Würmern. Die Werkstatt unseres Vaters dagegen ist randvoll mit Dingen, die sich am Ende vielleicht doch noch bezahlt machen. An der Vorgeschichte meines Vaters war nichts Ungewöhnliches, obwohl er mir immer als ein noch schlimmerer Exzentriker erschienen ist als meine Mutter. Er ist als der mittlere Sohn einer Farmersfamilie aus dem Mittleren Westen groß geworden. »Ich bin ein Mann der Mitte«, pflegte er von sich zu behaupten, »mittleres Einkommen, Mittelschicht, mittleres Alter, aber wenigstens habe ich meinen Mittelfinger noch und verstehe, weiß Gott, noch damit umzugehen.« Heute geht mir auf, daß er eine unschöne Kindheit gehabt haben muß, auch wenn er nie darüber gesprochen hat. Offenbar war die Farm seines Vaters dauernd von Zwangsvollstreckungen bedroht. Sein älterer Bruder ist in dem Sommer, in dem er sieben Jahre alt war, bei einem Badeunfall ertrunken, und seine Mutter hat sich von dem Verlust nie wieder ganz erholt. Dennoch schien das 79
einzige, was meinem Vater aus diesen Notzeiten geblieben war, seine Abneigung gegen Milchpulver zu sein und die geniale Fähigkeit, alte Lieferwagen und Autos instand zu setzen. Selbst an das Wetter im Mittelwesten erinnerte er gern. In seiner Heimat hatte Winter einen langen Belagerungszustand durch Schnee und Temperaturen unter Null bedeutet, und er zeigte immer seine Verachtung für den sogenannten kalifornischen Winter, indem er sich weigerte, überhaupt einen Mantel zu besitzen. »Hier draußen ist entweder Sommer oder Pulloverwetter«, spottete er. »Winter – ha! Keine Jahreszeit verdient die Bezeichnung, solange man nicht damit rechnen kann, mindestens eine Woche eingeschneit zu sein. Hier kann man ja noch nicht einmal mit Frost rechnen.« Mein Vater war kein hochgewachsener Mann. Er war nur ein paar Zentimeter größer als meine Mutter – beinahe hager, aber kräftig –, und sein Haar war immer ein wenig zu lang, außer es war gerade geschnitten worden, dann sah man auf seiner Stirn, hinter seinen Ohren und an seinem Nacken Streifen ungebräunter Haut. Mein Vater hatte die blauesten Augen der Welt, und die Fältchen in den Augenwinkeln machten sie noch liebenswerter. Er besaß geschickte Hände, ein Lächeln, das so gut war wie ein Geschenk, und eine beinahe manisch zunehmende Energie. Immer hatte er Witze, Projekte und Ideen parat. Immer machte er sich an etwas zu schaffen, immer war er dabei, zu tüfteln, zu basteln, zu reparieren, noch ein Zimmer an unser weitläufiges Haus anzubauen, eine Maschine neu zusammenzubauen, eine 80
neue Klärfurche fürs Rieselfeld zu graben, den Wassertank zu reparieren. Immer arbeitete er an etwas und nannte es Spiel. »Ich glaube, ich gehe ein Weilchen auf dem Dach spielen«, rief er Mutter zu, wenn er hinausging, um die neueste undichte Stelle zu flicken. »Zeit, im Garten zu spielen«, sagte er manchmal am Samstagnachmittag, oder: »Heute werd ich wohl mal mit diesem Vergaser spielen.« Und am Montag stopfte er seine großen unordentlichen Hefte in seine leinerne Büchertasche, warf sich eine zerknitterte Cordsamtjacke über die Schulter und verkündete: »Ich fahre mal ein bißchen Rektor spielen.« Unsere Mutter hat immer gesagt, daß Vater die unerschöpfliche Gabe besaß, sich zu amüsieren, obwohl ich mich heute frage, ob es sich nicht bloß um die unerschöpfliche Gabe gehandelt hat, sie zu lieben, denn nachdem sie nicht mehr da war, wurde alles anders. Als sie starb, schien sein Leben zu kollabieren wie ein Schwarzes Loch und jene Dichte zu erzeugen, die das Lexikon als »Singularität« bezeichnet, eine Kraft, der nichts entkommt, ein Negativum, das selbst das Licht verschlingt. Das Leben ist in diesen Tagen Mitte Januar ein ermüdender Reigen der immer gleichen Tätigkeiten – lernen, essen, zu schlafen versuchen. Über Evas altem Schlafzimmer ist das Dach undicht, aber sonst ist nichts vorgefallen, das des Aufschreibens wert wäre, außer Mahlzeiten und 81
Träumen und immer noch feuchter Witterung. Eva tanzt, ich lese, und die einzigen Neuigkeiten stammen aus dem Lexikon. Dennoch finde ich es unheimlich, wie oft die streng alphabetische Ordnung mein Leben beeinflußt. Heute habe ich gelesen: Blumenzwiebel, s. Zwiebel, Gebilde aus fleischig verdickten Blättern, das Ruhestadium bestimmter Pflanzen. Die Nährstoffreserven der Zwiebel gestatten es der Pflanze, bei rauher Witterung im Ruhezustand zu verharren und erst wieder zu wachsen, wenn günstige Bedingungen eintreten. Unsere Mutter ist gestorben, ehe die Telefone zu funktionieren aufhörten. Sie ist gestorben, als elektrischer Strom noch so natürlich erschien wie das Atmen, als im Radio noch neue Songs gespielt wurden. Sie ist in einem Krankenhaus gestorben – so lange her ist das –, an einer komplizierten Krebserkrankung statt an den schnellen Viren, den Unfällen oder Erkältungen, die die Menschen heute hinraffen. Im letzten Winter ihres Lebens fuhr sie eines Sonntags, als der Himmel feucht und der Erdboden ohne Leben war, in die Stadt und kam mit Einkaufstüten voller Tulpenzwiebeln zurück. »Ich hab alle roten aufgekauft, die es in der Stadt gab«, verkündete sie triumphierend. »Ich sehe bloß braune«, sagte unser Vater. Er spähte in eine der Tüten, holte dann eine Zwiebel hevor und hielt sie ans Licht, als wolle er die Farbe prüfen. »Was ist das, Futter für die Rehe?« »Im Gartenbuch steht, daß Rehe keine Tulpen mögen«, behauptete sie. 82
»Hoffentlich haben die Rehe das auch gelesen«, entgegnete er. Zu seinem Vergnügen seufzte sie mit angestrengter Geduld, verdrehte die Augen und fragte ihn, wie tief sie sie seiner Meinung nach einpflanzen solle. Dann schleppte sie ihre Tüten hinaus und verwandte die ganze nächste Woche darauf, Tulpenzwiebeln zu setzen. Sie war bereits vom Krebs knochendürr, aber ich erinnere mich, daß ihr die frische Erde, die ruhenden Zwiebeln, die schneidend kalte Luft neue Lebenskraft zu geben schienen. Ich erinnere mich an ihre Hände, von der Kälte gerötet und rissig, und an ihren sauberen Erdgeruch, wenn sie hereinkam, um sich am Ofen aufzuwärmen, wo ich mit meinem Buch und einem Becher Kakao saß. »Wollt ihr Mädchen mir nicht helfen?« fragte sie schelmisch. Sie neckte mich, indem sie plötzlich mit eisigen Fingern meinen Rücken berührte oder ihre Wangen an meinen Hals drückte, und blieb dann an der offenen Tür zu Evas Studio stehen, um noch einmal zu fragen: »Wollt ihr mir nicht helfen?« Wir murmelten: Später, wenn das Kapitel zu Ende ist – gleich, sobald ich mit diesen pliés fertig bin. Ich wandte mich erneut der anheimelnden, schokoladensüßen Wärme meines Kakaobechers und der abgeschlossenen Welt meines Buches zu, und Eva beendete ihre pliés, um dann mit ihren frappés anzufangen. Nun frage ich mich, ob sie uns aufgefordert hat, ihr zu helfen, weil sie mit uns über ihren Tod sprechen wollte. Sie, die mit unseren Fragen bezüglich verletzter Vögel oder kranker Großmütter immer so freimütig umgegangen war, hat darüber, was mit ihr selbst vorging, 83
nie mit uns gesprochen. Deshalb frage ich mich, ob sie versucht hat, Bedingungen zu schaffen, unter denen wir uns über ihren bevorstehenden Tod unterhalten konnten. Vielleicht hätte sie draußen im Freien – auf den Knien beim gemeinsamen Einsetzen der Zwiebeln, die sie überleben würden – den Mut gefunden, uns zu fragen, wie wir darüber dachten, und uns mitzuteilen, was Sterben bedeutete und woran wir uns erinnern sollten, wenn sie fort war. Aber damals war mir nur klar, daß ich keine Lust hatte, das Haus zu verlassen. Es war zu kalt draußen, und ich hatte es behaglich am Ofen, mit Dingen beschäftigt, von denen ich etwas verstand. Ich wollte das Risiko nicht eingehen, ihren Blicken zu begegnen, wollte die Worte – Krebs und Sterben – nicht hören, jedenfalls nicht von meiner Mutter, die Krebs hatte und vielleicht sterben mußte. Ich fürchtete mich, glaube ich, unbewußt davor, daß, wenn sie nach meinem Empfinden fragte, meine entfesselte Trauer und Wut uns alle umbringen könnten. In einem Winkel meines Ichs weinte und schrie ich längst, flehte sie an, mich nicht zu verlassen, nicht fortzugehen. Wenn ich wirklich zu weinen anfing, konnte nur ihr Trost mich dazu bewegen, aufzuhören, und wenn sie starb, ehe sie mit dem Trösten fertig war, würde ich bis in alle Ewigkeit weiter weinen müssen. Außerdem hatte ich irgendwo gelesen, daß die innere Einstellung von Krebspatienten ihre Erkrankung oder Genesung fördern kann, und ich hatte wohl Angst, allein das Eingeständnis, daß sie möglicherweise sterben mußte, könne sie umbringen. 84
Darum setzte sie ihre Tulpen allein, begrub jede einzelne persönlich, und als sie alle unter der Erde waren, wandte sie sich wieder den Blumen auf ihrem Webstuhl zu und sollte nie wieder im Freien arbeiten. Als der Regen aufgehört hatte und die ersten Tulpenspitzen durch die feuchte Erde stießen, war der Tatsache nicht mehr auszuweichen, daß sie starb, aber da war sie längst zu schwach und wir waren zu verängstigt, um es zur Sprache zu bringen. In jenem Frühjahr war unsere Lichtung von Feuer umringt, von einem Kreis roter Tulpen, der nur dort unterbrochen war, wo die Straße einmündete. Die Rehe müssen wohl ein, zwei Schößlinge probiert und daraufhin entschieden haben, daß Tulpen nicht nach ihrem Geschmack waren, denn schon bald blickten wir von jedem Fenster aus auf eine Reihe scharlachroter Tulpen, deren leuchtende Farbe und elementare Form sie wie die Blumen in einer Kinderzeichnung oder die tausend Blüten auf Mutters Wandteppichen aussehen ließen. Sie bildeten eine rotes Band, das das gebändigte Grün unseres Rasens vom wilden Grün des Waldes trennte. Jeden Nachmittag saß Mutter auf dem Bett, das unser Vater ihr auf der Terrasse gebaut hatte, den kahlen Kopf mit einem Turban verhüllt, die Augen hinter dunklen Brillengläsern verborgen, und betrachtete ihre Tulpen, bis die warme Beharrlichkeit der Sonne sie wieder in den Halbschlaf versinken ließ, in dem sie immer öfter zu verweilen schien. »Die kommen jedes Jahr wieder«, hat sie einmal leise gesagt. Einen Monat später war sie tot, gerade als die 85
Glyzinien am Südende des Hauses zu blühen angefangen hatten. Da waren von den Tulpen nur noch welke Stengel übrig, deren Grün ausgeblichen war, als sie am Rand der Lichtung erschlafft waren. Sie wurde in der Stadt auf dem Friedhof begraben, an einem grellen, windigen Apriltag, an dem unsere Augen nicht nur vor Kummer brannten, sondern auch vom Sonnenlicht und vom Staub, den der Wind aufwirbelte. Ein Teil von ihr wird wohl immer noch dort sein. Aber ich bin überzeugt, daß sie sich mit jenem Ring aus Tulpenzwiebeln ihr eigentliches Grabmal geschaffen hat, und wünsche mir, daß ich ihr damals bei der Arbeit geholfen hätte. Bevor das alles passiert ist, hatten wir für Tee gar nichts übrig. Ich habe immer Kakao getrunken, und Eva mied Koffein, aber nun gehörten die alten Teebeutel unserer Mutter zu den wenigen Annehmlichkeiten, die uns durch den Tag halfen. Den Tee ist selbst Eva zu rationieren bereit. In der Schachtel von Fastco, die einmal vierhundert Beutel enthalten hat, sind nur noch neun übrig. Aber wenn man die Heftklammer oben am Beutel entfernt und den Tee in eine Schale rieseln läßt, stellt man fest, daß es eigentlich nur einer Prise Tee bedarf, um kochendes Wasser in eine Flüssigkeit mit ein wenig Substanz und Geschmack zu verwandeln – eine Art Alchemie, die Wasser zum Kulturgut macht, die – zumindest – den Geist des Tees zum Leben erweckt. So schaffen wir es, daß ein einziger Teebeutel eine Woche hält, und möglicherweise sagt uns das Abzählen 86
von Teebeuteln mehr als jeder Kalender, wie schnell diese Zeit vergeht. Ich arbeite in rasendem Tempo das Lexikon durch. Letzte Woche war ich mit D fertig, und heute nachmittag habe ich alle Einträge von Eden bis Elektrizität durchgelesen. Während ich im Licht der regennassen Sonne über Ladungen und Anziehungskräfte, über Leiter und Felder nachlas, kam mir der seltsame Gedanke, daß unser Strom vielleicht längst wieder floß. Es war durchaus möglich, daß die Glühbirne in der Küche, die wir vor sechs Monaten eingeschaltet gelassen hatten, ausgebrannt war, ohne daß wir es gemerkt hatten. Je länger ich am Tisch saß und auf den nassen Hof hinausblickte, desto mehr war ich überzeugt, daß ich nichts weiter zu tun brauchte, als aufzustehen und das Wohnzimmerlicht einzuschalten, um unserer Fugue ein Ende zu bereiten. Ich spürte die Erregung und das Bedürfnis, vorsichtig zu sein, das ich als nächstes spürte, war nicht so sehr Warnung, ich könnte mich irren, als eine Methode, den köstlichen Augenblick der Entdeckung zu verlängern – gleich würde ich von meinem Stuhl aufstehen, den düsteren Raum durchqueren und Licht machen. Ich fühlte bereits den geringen Widerstand des Schalters vor dem Einrasten. Ich sah das Licht den Raum erfüllen, hörte die Freude in meiner Stimme, wenn ich rief: Eva, Eva, komm, sieh dir das an! Ich wartete, so lange ich es aushalten konnte, und ging dann durchs Zimmer, legte einen Finger auf den Schalter, atmete tief ein und drückte darauf. Es ertönte ein kaum hörbares Klicken. 87
Und das war es auch schon. Ich empfand entsetzliche Enttäuschung, und dann dachte ich: Vielleicht ist ja diese Birne einfach auch ausgebrannt. Ich rannte ins Bad und probierte dort den Lichtschalter aus. Ich hatte das Gefühl, als müßte ich nur richtig wollen, mich nur ganz und gar darauf konzentrieren, die Elektrizität durch viele Kilometer Kabel bis zu diesem kleinen Schalter fließen zu lassen, um Licht zu schaffen. Es kam mir vor, als hinge es nur von mir ab, als könnte es mir gelingen, wenn ich mich nur genug anstrengte. Ich kniff die Augen zu, hielt den Atem an und legte den Schalter um. Einen Augenblick lang war ich sicher, durch meine geschlossenen Lider Licht sehen zu können, aber als ich die Augen aufschlug, war es finster im Bad. Ich ließ die Hand sinken. Ich spürte, wie mein ganzes Ich in einer Niederlage versank, die so gewaltig war, daß es daraus kein Entkommen zu geben schien. Dann gab mir eine noch unsinnigere Hoffnung neuen Auftrieb. Auch wenn wir immer noch keinen Strom hatten, war vielleicht das Telefon längst wieder in Betrieb, nur daß wir nichts davon merkten, bis jemand auf die Idee kam, uns anzurufen. Ich eilte in die Küche, um den Hörer abzunehmen, so wie ich früher hingerannt war, wenn es klingelte. Ich riß den Hörer von der Gabel, hielt ihn hastig ans Ohr. Aber anstelle des Summens, das ihn wie ein Lebewesen hatte erscheinen lassen, herrschte Stille. Dumpfe, leere Stille. Durch diese Stille hörte ich das unablässige Ticken von 88
Evas Metronom und das keinen Rhythmus einhaltende Rauschen des Regen. Obwohl der Regen, der so unaufhörlich auf den holprigen Hof und die stoischen Bäume fällt, der gleiche Regen sein könnte, der vor einer Woche gefallen ist, behauptet der Kalender, daß heute der erste Februar sei. Wir sind auf achteinviertel Teebeutel herunter, und ich bin mit dem Buchstaben F halb durch. Heute bin ich bei Forst angekommen, einem ausgedehnten und mannig faltigen Biotop, das von Bäumen dominiert wird und das Potential besitzt, sich selbst zu erhalten. Aber ehe ich dazu kam, mir die fünf wichtigsten Waldarten einzuprägen, die für sie typische Baumdichte, Klimazone und Bodenbeschaffenheit, wurde ich wieder einmal von einer Erinnerung eingeholt und hob den Blick, um aus dem Fenster auf den Wald zu schauen. Sobald Eva und ich laufen gelernt hatten, nahm uns unser Vater auf lange Wanderungen auf dem unbefestigten Fahrweg mit, der von unserer Lichtung durch den Wald führte. Wir betrachteten Wildblumen, lauschten Vögeln und planschten im klaren Rinnsal des Bachs. Wir sammelten Blätter auf und stießen mit Stöckchen Tausendfüßler und Wasserspinnen an, während er uns überragte, so geduldig und gütig wie ein Baum. Als wir ein wenig älter waren, erlaubte uns Mutter hin und wieder, den halben Kilometer Straße bis zur 89
Brücke allein zurückzulegen, damit wir Vater auf dem Heimweg von der Arbeit erwarten konnten. Geht nicht über die Brücke, schärfte Mutter uns ein, bis uns die Brücke eine so natürliche Grenze zu sein schien, daß wir nie darauf gekommen wären, sie zu überqueren. Was wir wirklich wollten, war im Wald spielen. Jede Blume und jeder Vogel, jedes geheimnisvolle Knacken lockte uns, zwischen die Bäume und Farne hinaufzuklettern, aber unsere Mutter bestand darauf, daß wir auf der Straße blieben. »Ihr seid noch zu jung«, sagte sie, als wir sie mit sechs und sieben Jahren anflehten, auf Entdeckungsreise gehen zu dürfen. »Ihr verirrt euch bestimmt. Es ist zu gefährlich.« »Ach, bitte«, leierten wir. »Was wollt ihr da überhaupt?« »Wir wollen bloß alles auskundschaften«, bettelten wir, »Spazierengehen, vielleicht eine Festung bauen. Wir sind auch ganz vorsichtig.« »Ihr könnt doch auf der Lichtung eine Festung bauen«, schlug sie vor. »Das ist nicht das gleiche wie eine Festung im Wald.« »Aber im Wald gibt es Zecken und Klapperschlangen und Giftsumach.« Das gebot uns vorübergehend Einhalt, bis Eva mit dem Argument kam: »Zecken und Klapperschlangen und Giftsumach gibt es auch hier auf der Lichtung. Weißt du noch, wie Papa mal eine Klapperschlange im Holzhaufen gefunden hat?« 90
»Und was ist mit den Schweinen?« fragte unsere Mutter. Mutter haßte Wildschweine. Sie lebten im Wald wie phantomhafte Pflugmaschinen, die man kaum zu sehen bekam, die jedoch tiefe Wunden im Erdreich hinterließen, wo sie nach Maden und Knollen gewühlt hatten, und verdreckte Schlammlöcher, wo sie sich in den Bächen gesuhlt hatten. Niemand, den wir kannten, war je von einem Wildschwein verletzt worden, aber sie waren irgendwie der Inbegriff aller Ängste unserer Mutter in bezug auf den Wald. »Die können zweihundert Pfund wiegen. Ihre Stoßzähne sind rasiermesserscharf. Selbst Klapperschlangen können ihre zähe Haut nicht durchbeißen. Sie ernähren sich von Dreck und Aas«, sagte sie. »Sie können euch ohne weiteres töten. Was wollt ihr Mädchen tun, wenn euch eines im Wald begegnet?« Ich war schon soweit, bis ans Ende meiner Tage auf der sicheren Lichtung zu bleiben, als sich plötzlich unser Vater einmischte. »Schon gut, Gloria. Kein Grund zur Besorgnis. Ob es dir gefällt oder nicht, die beiden hier werden früher oder später im Wald spielen. Außerdem sind Schweine menschenscheu. Eva und Nell werden genug Lärm machen, um jedes Wildschwein in Nordkalifornien in die Flucht zu schlagen. Und glaub mir, wenn es hier noch Bären gäbe, würden sie die gleich mit vertreiben. Ich würde die Mädchen in den Wald lassen.« Mutter starrte ihn finster an, aber sie fügte sich. Sie gab uns beiden jeweils eine Trillerpfeife, die wir blasen sollten, wenn wir in die Klemme gerieten. Außerdem 91
deckte sie uns mit Vorschriften ein: Wir durften uns nicht außer Hörweite vom Haus entfernen, wir mußten zusammenbleiben, wir durften nirgendwo hinfassen oder -treten, ehe wir uns vergewissert hatten, daß dort keine Klapperschlangen lauerten, wir mußten uns vor dem Betreten des Hauses nach Zecken absuchen lassen, und wir durften nichts anderes essen als die Naschereien, die sie uns einpackte. »Ihr Mädchen dürft mir nie etwas Wildes essen«, ermahnte sie uns jedesmal, wenn wir die Lichtung verließen. »Hört ihr? Wilde Pflanzen können einen umbringen.« Schon gut, Mutter. Ja, Mutter, Ehrenwort, sagten wir und pirschten uns begeistert und ängstlich in den Wald vor. Wir haben einen Mischwald, vorwiegend Tannen und junge Mammutbäume, aber auch ein paar Eichen, Hartlaubgewächse und Ahorn. Von Vater wissen wir, daß unser Land, bevor es kahlgeschlagen wurde, mit tausend Jahre alten Mammutbäumen bedeckt war. Aber an diese sagenhafte Zeit erinnerten nur noch ein paar gefallene Baumstämme, deren Länge und Dicke an gestrandete Wale denken ließen, und verkohlte Stümpfe, die so groß waren wie kleine Hütten. Als wir neun und zehn Jahre alt waren, entdeckten Eva und ich rund anderthalb Kilometer von unserem Haus entfernt einen dieser Stümpfe und erhoben Anspruch darauf. Er war hohl und bot im Innern genug Platz, um als Fort, Burg, Tipi und Kate zu dienen. Ein Wasserlauf, der in den Bach am Rand unserer Lichtung mündete, floß in der Nähe vorbei und lieferte uns Wasser zum waten, 92
waschen und Sandkuchen backen. Wir bewahrten dort droben in unserem Versteck ein angeschlagenes Teegeschirr, Decken, Sachen zum Verkleiden und kaputte Töpfe auf und verbrachten jede erschlichene oder erschmeichelte Minute damit, Was-wäre-wenn zu spielen. »Was wäre«, sagte eine von uns, sobald wir den Stumpf erreicht hatten, während wir noch außer Atem waren, »wenn wir Indianer wären.« Oder Göttinnen. Oder Waisenkinder. Oder Hexen. »Und was wäre«, antwortete die andere mit der gedämpften Eindringlichkeit, die das Spiel erforderte, »wenn wir uns verirrt hätten.« Wenn wir Rotwild jagen. Wenn wir mit den Elfen tanzen. Wenn uns ein Bär verfolgt und wir uns verstecken müssen. Damals schien der Wald alles zu enthalten, was wir brauchten. Jeder Pilz, jede Blume, jeder Farn und jeder Stein war ein Geschenk. Jedes Geräusch war ein Abenteuer, das der näheren Untersuchung bedurfte. Oft sahen wir Rehe oder Kaninchen oder hörten den Ruf des wilden Truthahns. Hin und wieder erspähten wir einen Graufuchs oder ein Stinktier. Einmal sahen wir, als wir viel später als sonst zum Abendessen nach Hause eilten, einen Rotluchs. Zweimal entdeckten wir Klapperschlangen, die sich in der Sommerhitze sonnten, konnten uns aber beide Male zurückziehen, ohne sie zu stören. Später trafen wir auf ein Rudel Wildschweine, die dunkel und derb und aus tiefer Brust zufrieden schnaufend im herbstlichen Morast wühlten. Starr vor Entsetzen sahen wir zu, wie sie unter den Eichen gruben und grunzten und sich schließlich ohne einen Blick zurück in den Wald verzogen. 93
Wir haben unserer Mutter nie von den Schlangen und den Schweinen erzählt, und sie begann uns »Waldnymphen« zu nennen, über unser zerzaustes Haar und unsere zerkratzten Arme zu lachen und zu vergessen, daß sie uns erst nach Zecken absuchen wollte, ehe sie uns ins Haus ließ. Es war ein wahres Idyll, und am Ende eines Tages im Wald ließen wir unser imaginäres Leben hinter uns und eilten zur Lichtung, zu unseren Eltern und in die behagliche Realität zurück, die warmes Essen, dampfende Wannenbäder und Gutenachtküsse versprach. Doch dann fing Eva zu tanzen an, und alles wurde anders. Anfangs versuchte ich noch, sie mit Betteln oder Bestechung dazu zu bringen, daß sie mit mir in den Wald kam. »Jetzt nicht«, sagte sie. »Ich muß an meinen fouettés arbeiten. Vielleicht später.« Wenn ich sie dann doch einmal überredet hatte, etwas zum Mittagessen einzupacken und in den Wald zu gehen, empfand ich unsere Spiele als gewollt und kindisch, und wenn wir wieder zu Hause waren, schienen wir immer einen Sonnenbrand, Zeckenbisse oder schlechte Laune zu haben. Ich versuchte, allein zum Stumpf hinaufzuklettern, aber die Zeit dort wurde mir immer zu lang. Das ferne Knacken von Schweinen oder Rehen ließ mich zusammenzukken, gefallene Äste erschreckten mich, weil sie dösenden Schlangen ähnelten, und am Ende bedeutete der Wald für mich nichts anderes mehr als die grenzenlose Entfernung zwischen zu Hause und Stadt.
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Es regnet und regnet und regnet und regnet und regnet und regnet. Der Regen fällt und fällt, große silberne Nadeln, die den trüben Himmel am durchnäßten Erdboden festnähen. Im Erdgeschoß ist das Haus dunkel und warm, aber sämtliche Farbtöpfe meiner Mutter tun im Obergeschoß Dienst. Sie fangen das Regenwasser auf, das durch das Dach sickert, das zu flicken unser Vater nie die Gelegenheit gefunden hat. Als ich die Vordertür öffne, um ein wenig mehr Licht zum Lesen einzulassen, höre ich den Bach im Regen zischen. Eva hält sich in ihrem Studio auf, und durch das Trommeln des Regens höre ich ihr Metronom ticken, erkenne ich gesummte Melodiefetzen der Wassermusik, höre ich sogar das Streifen und Aufsetzen ihrer Füße auf dem Kunststoffboden. Seit ein paar Tagen habe ich Heißhunger auf Hot dogs. Hot dogs – fade Würstchen in einem Weißmehlbrötchen, darauf eine krakelige Linie gelber Senf. Wenn man hineinbeißt, spürt man erst das Nachgeben des Brötchens wie ein Kissen, dann die milde Schärfe des Senfs, dann den sachten Widerstand, wenn die Zähne die Wursthaut zum Platzen bringen und im feingemahlenen Fleisch versinken. Und zum Schluß kommt das herrlich klebrige Kauen von Brot und Senf und Schweinefleisch. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal einen Hot dog gegessen habe, aber es muß wohl im Uptown-Café gewesen sein, mit Eva und Eli und allen anderen von der Plaza. Wir behaupteten gewöhnlich, daß die Hot dogs dort ekelerregend seien, aus lauter Dingen gemacht, an die man nicht einmal denken möchte. Aus 95
Schweinelippen, haben wir gehöhnt, und aus wer weiß was für sonstigen Körperteilen und Organen. Aber hin und wieder hat doch eine von uns einen bestellt, dann noch eine, bis wir uns schließlich alle außer Eva an viel zu großen Bissen ergötzten. Im Augenblick habe ich so Lust darauf, daß ich sogar dieses Notizbuch dafür hergeben würde, ins Uptown zurückversetzt zu werden, mit einem Hot dog in der Faust. Als Mutter endgültig ins Krankenhaus verlegt werden mußte, taten wir noch so, als würde sie bald heimkommen. Im Rückblick ist für mich nicht mehr feststellbar, ob wir von Angst oder Hoffnung getrieben wurden, ob wir zu feige waren, zuzugeben, daß sie im Sterben lag, oder ob wir uns heroisch an die letzten Reste des Glaubens an ihre Genesung klammerten. Ich weiß nicht, ob wir uns etwas vormachten, ob wir unwissend oder unschuldig waren, als wir einander versprachen, daß sie wieder zu Hause sein würde, noch ehe ihre Glyzinien verblüht waren. Am besten schien es ihr spätabends zu gehen, darum holte Vater nach der Arbeit Eva in Miss Markowas Studio ab. Sie fuhren in dem alten Dodge Pick-up, dem einzigen Fahrzeug, das mein Vater instand zu halten die Zeit fand, gemeinsam nach Hause. Dann fuhren wir drei bei Sonnenuntergang zurück nach Redwood. Dort angekommen, setzte er Eva und mich am Uptown-Café ab, wo Eva an einer Diätlimo nippte und ich eine Portion Pommes verdrückte. Währenddessen fuhr er voraus zum Krankenhaus, half seiner Frau beim Überstehen der 96
Prozeduren, denen man sie unterwarf, redete ihr gut zu, ein wenig Brühe oder Gelee zu sich zu nehmen, noch einen Schluck Wasser. Wenn sie dann aufrecht im Bett saß und die Kraft seiner Liebe einen Hauch von Farbe in ihr bleiches Gesicht gezwungen hatte, verließ er sie und fuhr durch die von Straßenlampen erleuchtete Stadt zum Café, wo ich mir den Ketchup von den Fingern lutschte und Eva die letzten Tropfen Limo aus ihrem Strohhalm saugte. Schweigend fuhren wir durch die menschenleeren Bezirke von Redwood zu dem kleinen Krankenhaus, in dem unsere Mutter lag. Eva und ich saßen nebeneinander und starrten hinaus auf die Lichtkegel der Straßenlaternen, blickten mit dumpfem Hunger auf die Fenster der vorbeiziehenden Häuser, durch deren offene Vorhänge wir uns einbildeten, Einblicke ins normale Familienleben zu erhaschen. Wir wappneten uns unterwegs, vollzogen den Übergang von einer Welt in eine andere, und Vater hing seinen eigenen Gedanken nach. Der Wagen schien damals von einer unsäglichen Traurigkeit erfüllt, und doch erinnere ich mich jetzt mit Sehnsucht an diese Fahrten. Trotz aller Ängste, die wir mitschleppten, saß unser Vater noch am Steuer, Eva und ich waren noch Kinder in der Wärme des Wageninneren, die Straßen erstrahlten noch im Licht, und unsere Mutter wartete noch auf uns mit einem Lächeln, das ihr ganzes Gesicht aufleuchten ließ.
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Heute morgen mußten wir feststellen, daß sich die Badewanne über Nacht nicht mehr aufgefüllt hat, und ich war mehrere Minuten lang sicher, daß die Quelle ausgetrocknet war, sicher, daß wir unser Wasser künftig aus dem Bach holen müßten, sicher, daß ich nie wieder ein Bad würde nehmen können. »Wie käme die Quelle dazu, im Winter auszutrocknen?« fragte Eva und prüfte, ob die Hähne versehentlich zugedreht worden waren. Wie gewöhnlich beruhigte mich ihre Frage, und wir gingen zusammen hinaus, um den Wassertank zu inspizieren. Dann kletterten wir hinter dem Haus den Hang hinauf zu der kleinen Grotte, wo die Quelle dem Hügel entspringt. Als ich neben dem hölzernen Deckel auf dem Boden kniete, konnte ich unter mir Wasser plätschern hören und den Mineralduft riechen. Ich schob den Deckel vom Zementbecken, und wir sahen gleich, daß der Abfluß am Boden mit Schlick verstopft war. Anstatt in das Rohr zu rinnen, das zum Tank auf der Lichtung führt, sickerte unser Badewasser zurück in den Boden. Wir brauchten fast den ganzen Tag für die Reparatur, obwohl wir natürlich die meiste Zeit damit verbrachten, Werkzeug zu holen, Strategien zu ersinnen und Problemen zuvorzukommen. Unser Vater hat die Wasserversorgung vor unserer Geburt gebaut, und sie war wie alles, was von ihm stammte, sowohl einfach als auch eigenwillig – ein Musterbeispiel seiner ureigenen Logik. Als uns so das Quellwasser über die kalten Hände rann und wir uns abmühten, Vaters Werk instand zu setzen, gab es Augenblicke, in denen ich mich ihm eng 98
verbunden fühlte. Vor allem aber ärgerte ich mich über die Art, wie er uns entweder das Denken abgenommen oder es uns ganz und gar selbst überlassen hatte. Nach Mutters Tod setzten wir unsere abendlichen Fahrten in die Stadt fort. Es war beinahe so, als hätten wir alle drei solchen Hunger nach Routine, daß selbst eine Routine, die mit ihrem Sterben verbunden war, eine gewisse Ordnung in unser Leben brachte. Außerdem war eine Fahrt in die Stadt eine Flucht: vor dem Haus, in das sie, wir mußten es endlich eingestehen, nicht mehr zurückkehren würde, vor der Last unserer Trauer. Wir schafften es nicht, unseren Kummer gemeinsam zu tragen, nicht einmal unter uns dreien. An der Oberfläche wirkte Evas Leid zu sehr wie mein eigenes, und der Jammer meines Vaters drohte uns alle zu überwältigen. Davon abgesehen kam es inmitten des Alptraums, den der Tod meiner Mutter bedeutete, zu Augenblicken, die mich noch mehr erschütterten als die Ungeheuerlichkeit meines Grams, Millisekunden, in denen ich erleichtert war, daß sie fort war, in denen ich erkannte, daß es eine Art Freiheit ist, von seiner Mutter erlöst zu werden und ohne sie weiterleben zu können. Und es gab andere Zeiten, wenn ich derart schmerzliche Freude aufsteigen spürte, überhaupt am Leben zu sein, daß ich mich selbst abstoßend fand. Selbst wenn ich von Qualen gepeinigt wurde, gab es Augenblicke, in denen die Begeisterung darüber, am Leben zu sein, so durchdringend war, daß 99
mir Mutters Tod nicht als ein zu hoher Preis für solch ein Gefühl erschien. Ich war entsetzt über den Verrat, den diese Gedanken darstellten, über das gefühllose Geschöpf, als das sie mich dastehen ließen. Wenn Vater und Eva ähnliche Augenblicke erlebten, verloren sie kein Wort darüber, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich ihnen von meinen hätte erzählen können, ohne sie zu enttäuschen oder in Empörung zu versetzen. Darum trauerten wir jeder für sich allein und freuten uns insgeheim auf die Abende, an denen wir in der Stadt Zuflucht suchen konnten. Jeden Samstagabend und, bevor das Benzin knapp wurde, oft auch abends an Wochentagen klemmten wir drei uns nach einem hastigen Abendessen in den Pick-up und fuhren nach Redwood. In der Stadt angekommen, gab es für uns immer Besorgungen zu machen. Wir kauften Lebensmittel auf Vorrat, machten beim Haushaltswarenladen oder am Drugstore halt, gingen in die Bücherei. Und nachdem wir alles erledigt hatten, setzte Vater uns am Uptown-Café ab, wo Eva und ich seit der Zeit, als unsere Mutter ins Krankenhaus gekommen war, schüchterne Stammkundinnen waren. Dort begannen wir den Abend mit einer eiskalten Coke und dem Dröhnen der Jukebox, während Vater ans andere Ende der Stadt zu einer ruhigen Bar fuhr, wo er sich mal mit seinem Freund Jerry traf, mal allein dasaß und Bücher aus der Bücherei las und maßvolle Schlucke von dem einen Bier nahm, das er sich gönnte. Lange wurden wir im Uptown als Außenseiter behan100
delt. Eva und ich waren Mädchen vom Land, die auch noch zu Hause unterrichtet wurden – von völlig anderem Schlag als die Stadtjugend, der die kunststoffgepolsterten Sitznischen und verchromten Theken ganz offensichtlich gehörten. Wie sehr ich mich auch beim Anziehen für diese Abende abmühte: Immer war an meinem Aufzug etwas nicht ganz richtig, und auch mein Haar ließ sich nicht dazu bringen, wie das der anderen Mädchen auszusehen. Als wir anfingen, ins Uptown zu gehen, hießen uns nur die Kellnerinnen willkommen. Die anderen Jugendlichen machten einen so selbstsicheren Eindruck, wenn sie Hamburger und Pommes frites bestellten, an der Jukebox ihre Auswahl trafen und von einer Sitznische zur nächsten wirbelten, als würden sie eine anspruchsvolle Version der »Reise nach Jerusalem« spielen. Sie scherzten und spaßten. Sie zwickten und bedrängten und umarmten sich. Sie rollten die Augen. Sie beugten sich zueinander, um sich etwas zuzuflüstern und dann vor Lachen herauszuplatzen, und ich sehnte mich danach, den Morast meines Ichs hinter mir zu lassen und eine von ihnen zu werden. Ich bin nicht sicher, wie es uns schließlich gelang, die Trennlinie zu überschreiten, aber einige Monate nach dem Tod unserer Mutter, als die hochsommerliche Sonne erst nach neun Uhr unterging und vor dem Uptown die Luft der langen Dämmerung mild war und duftete, stellten wir eines Abends fest, daß sich die Clique im Café vergrößert und uns so natürlich aufgenommen hatte, wie ein Bach jederzeit noch ein paar Tropfen Wasser aufnimmt. Vielleicht fühlten sie sich zu dem hingezogen, was mich 101
so erschreckte. Inmitten meines Grams, meines Schocks war ich zu wilder Fröhlichkeit fähig. Obwohl scheinbar alles dagegen sprach, waren Eva und ich springlebendig, und ich halte es für möglich, daß uns das unbezähmbare Wissen um unsere Lebendigkeit einen Glanz verlieh, der unsere ländliche Unbeholfenheit mehr als nur wettmachte. Wir besaßen die Leidenschaft von Überlebenden und die mangelnde Vorsicht von Überzähligen. Wir waren in jenem Sommer unsterblich, unsterblich in einer kurzlebigen Welt. Das muß die Clique im Uptown gespürt und sich aufgetan und uns eingelassen haben. Von da an begann jeder Abend, den wir in der Stadt verbrachten, erst dann, wenn wir uns gegen die Glastüren des Uptown stemmten und hineingingen, um unsere Namen gerufen zu hören – »Nell! Eva! Hier drüben! Kommt her!« Wir hingen im Café herum, schwatzten mit denen, die vor uns dagewesen waren, stürmten von einer Nische zur nächsten, tranken aus einem Glas, erzählten Witze, brüllten den anderen zu, welche Songs unserer Meinung nach als nächstes gespielt werden sollten, und begrüßten lauthals jeden Neuankömmling. Wenn wir dann soviel Limo getrunken hatten, wie wir fassen beziehungsweise uns leisten konnten, und unsere Clique die Nischen zu sprengen schien, ergriff uns eine ungeahnte Rastlosigkeit. Zu zweit, dritt oder viert drängten wir hinaus in die linde Abendluft und schlenderten über die Straße zur nach Gras duftenden Plaza. Die Plaza war eine unbebaute Fläche im Zentrum von Redwood, ein weiter grasbewachsener Platz, gesäumt von einer seltsamen Mischung aus Palmen und Mammutbäu102
men, mit einem asphaltierten Gehweg, der kreuz und quer darüber hinwegführte, sowie vereinzelten Holzbänken und Lampen. An einem Ende stand ein überdachtes Podium, auf dem am Sonntagnachmittag Quartette und Jazzbands aus der Umgebung auftraten, und in der Mitte befand sich ein plätschernder Brunnen, in den Eva und ich einst die Pennies geworfen hatten, die uns unsere Mutter gegeben hatte, damit wir uns etwas wünschen konnten. Dort trafen wir uns mit den übrigen jungen Leuten in der Stadt. Unsere Gesichter wurden von den summenden, orange leuchtenden Straßenlampen erhellt, während wir uns immer wieder neu gruppierten und wie Motten von einem Licht zum nächsten flitzten. Ich weiß nicht, ob es die unsicheren Zeiten waren, die diese Abenden eine gewisse Bedeutung annehmen ließen, oder ob für alle einmal der Augenblick eintritt, in dem sie das Gefühl haben, auserwählt zu sein, heller, heißer, heftiger zu brennen als es ein anderer je getan hat und tun wird. Aus heutiger Sicht kommt es mir vor, als hätten wir unterschwellig die anstehenden Veränderungen gespürt. Wenn ich aus der klösterlichen Stille dieser Lichtung auf jene Abende zurückblicke, kommt es mir vor, als sei die Luft selbst mit Dringlichkeit aufgeladen gewesen, und ich erinnere mich, eine Art Mitleid mit all denen empfunden zu haben, die nicht zu uns gehörten. Um elf Uhr fuhr unser Vater mit dem Pick-up an der Südseite der Plaza vor, und wir eilten ihm entgegen, verabschiedeten uns mit Zurufen über die Schulter und rannten wie zwei Aschenbrödel über das dunkle Gras, überwanden die gewaltige Kluft zwischen der scharfen 103
Unmittelbarkeit des Samstagabends und dem traurigen, unendlich lang währenden Rest der Woche. Obwohl ich auf der Plaza von Menschen umgeben war, die ich als Freunde bezeichnete, fühlte ich mich schmerzlich einsam. Meine Tage vergingen mit Lernen, mutterseelenallein mit meinen Büchern, Tonbändern und Träumen von Harvard. Ich sehnte mich danach, mit jemandem zusammen zu sein, wie ich es einst mit meiner Schwester gewesen war, bevor sie zu tanzen angefangen hatte, als sie und ich gelebt hatten wie zwei Bäche, die fröhlich plätschernd durch den Wald fließen. Zunächst versuchte ich, unter den Mädchen, die sich auf der Plaza versammelten, eine Freundin zu finden. Aber ich war ein Neuankömmling und alle anderen schienen sich schon eine Ewigkeit zu kennen. Sie waren mir gegenüber freundlich, aber unter sich hatten sie Zugriff auf ein ganzes Universum komischer Begebenheiten und Erinnerungen, kollektiver Erkenntnisse über Fernsehshows, Algebralehrer und das Essen in der Schulkantine. Es dauerte nicht lange, bis mir klar wurde, daß ich in dieser Hinsicht nicht mithalten konnte. Deshalb gab ich mein Werben um die Mädchen auf und begann die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß ein Junge meiner Einsamkeit ein Ende machen könnte. Natürlich hatte ich andere Beziehungen zwischen den Jungen und Mädchen der Clique verfolgt, hatte sie aufflackern und erlöschen sehen, hatte meine eigenen Beobachtungen und Mutmaßungen in den Gerüchtewust eingebracht, die sie umgaben. Ich betrachtete diese Paare mit unbestimmter Sehnsucht, während sie stundenlang 104
miteinander redeten oder sich nur schweigend in die Augen schauten. Ich sah sie ins Dunkel der Bäume verschwinden und paßte auf, wenn sie viel später wieder hervorkamen. Mit weichen, verquollenen Gesichtern, zerknitterter und falsch zugeknöpfter Kleidung standen sie blinzelnd im Lampenlicht. Und ich dachte, meine Sorgen könnten leichter zu ertragen sein, wenn auch ich einen Freund hätte. Nur hatte ich keine Ahnung, wie man zu einem Freund kommt. Dort unter den Straßenlaternen schienen meine Kenntnisse aus Anna Karenina, Sturmhöhe und Romeo und Julia nur wenig hilfreich zu sein. »Wünschst du dir denn gar keinen Freund?« fragte ich Eva einmal. Sie antwortete mit solchem Erstaunen »Wozu denn?«, daß mir darauf keine Antwort einfiel. Für mich war Eva mit ihrem blonden Haar, den dunklen Augen und den Beinen einer Tänzerin immer das hübscheste Mädchen auf der Plaza. Doch sie schien von keinem der Jungen Notiz zu nehmen, die an diesen langen Sommerabenden mit gespielter Lässigkeit in ihre Richtung schlenderten. Sie war nett zu allen, aber auf diese Art Anerkennung so wenig angewiesen, daß keiner sie auch nur zum Lachen oder Erröten brachte. Sie blickte keinem von ihnen verstohlen nach, wenn sie von einer Laterne zur nächsten die Runde machten. Sie merkten es und stiegen anderen Mädchen nach. Und ich war offenbar die einzige, der nicht entging, was sie verloren hatte. Eines Abends im Herbst standen ein paar von uns außer Reichweite der Straßenlampen auf dem dunklen 105
Rasen, und jemand reichte mir eine Flasche. Ich spürte das Schwappen der Flüssigkeit, die sie enthielt, und ich erlebte einen Anflug von Angst und Entzücken, als ich sie an die Lippen führte. Ich lehnte mich zurück, nahm mit bloßgelegter Kehle einen langen Schluck und reichte die Flasche weiter, während mich der Schock des Alkohols durchfuhr. Ich biß mir auf die Zunge, um nicht prusten zu müssen, und war für die Dunkelheit dankbar, die meine Tränen verbarg. Als die Flasche ein zweites Mal herumkam, nahm ich sie dennoch an und fand das Schlucken diesmal schon einfacher. Es war fast so wie damals, als ich zum zweiten Mal die hohe Rutsche im Park benutzt hatte – die Rutsche war noch genauso steil, aber hinter mir wartete ungeduldig eine Schar anderer Kinder, und außerdem hatte ich schon eine Sturzfahrt überlebt, hatte gelernt, daß die Gefühlswallung und das Kribbeln die Angst wert waren. Zum einen begann ich mich nach jenem ersten Schluck eine behagliche, mir ganz neue Kameraderie mit denen zu empfinden, deren Münder ebenfalls die Flaschenöffnung berührt hatten. Meine Einsamkeit schien ein wenig gelindert zu sein. Niemand sagte etwas anderes als sonst, aber das übliche Gerede bedeutete mehr als zuvor, als wären unsere Worte eine Art Code, der all das, was sich dahinter verbarg, nur erahnen ließ. Nach diesem Abend stand ich immer bereit, wenn die Flasche auftauchte, und ich trank, was immer sie enthielt. Meist war es Bier oder Wein, hin und wieder auch Rum, Gin oder Weinbrand. Bald war es der schönste Augenblick der Woche, in diesem Kreis von Freunden im 106
Dunkeln zu stehen und aus einer Flasche zu trinken, die von Hand zu Hand gereicht wurde. Es war ein Ritual, das mir manchmal religiös vorkam und manchmal wie ein kindlicher Reigen, das aber immer half, meine große Einsamkeit zu mildern. Manchmal überlege ich, ob mich jemals einer holen kommen wird, ob es jemals einen Jungen – einen Mann – geben wird, dem ich mich öffnen kann. Ich überlege, ob ich immer so sein werde, immer allein, immer gezwungen, mir selbst zu genügen, die eigene Hand zwischen den Schenkeln, so daß mein Körper eine Art Kreis bildet, eine Null, die die saubere Leere des Nichts umschließt, ein Möbiusband oder den Lindwurm Ouroboros, der seinen eigenen Schwanz verschluckt. Ich sehne mich danach, daß jemand Anspruch erhebt auf das, was ich zu vergeben wünsche. Aber Elis Gesicht ist immer noch das einzige, nach dem es mich verlangt. Den ganzen letzten Winter hindurch schien das UptownCafé jeden Samstag ein wenig dunkler zu werden. Irgendwann nach Weihnachten wurde die Neonschrift im Fenster abgeschaltet, und dann brannten nacheinander die Leuchtröhren an der Decke aus und wurden nicht mehr ersetzt. Nach und nach schien die Cola 107
immer dünner zu werden, die Pommes schmeckten ranziger, und die Hamburger schrumpften, bis sie fast nicht mehr zu sehen waren. Die Jukebox ging kaputt und wurde nicht repariert. Papierservietten und Strohhalme verschwanden. Und immer häufiger trat lange vor dem offiziellen Ladenschluß um neun der dicke Inhaber schnaufend an die Tische und sagte: »Okay, Kids, das Café macht zu. Ihr müßt jetzt gehen. Kommt bald wieder, okay?« Wir murrten, bestellten Limo zum Mitnehmen – solange es noch Pappbecher zum Einschenken gab – und machten uns widerstrebend auf, das Café zu verlassen und uns in die feuchte Kälte der Winternacht zu begeben. Ende Januar wurden die Stromausfälle häufiger, als man es den Winterstürmen anlasten konnte, und Ende Februar konnte es sich die Stadt Redwood nicht mehr leisten, die Straßenlampen auf der Plaza einzuschalten. Natürlich rissen wir alle Witze über die Länder der Dritten Welt, wo den Bauern jedesmal der Strom abgedreht wird, wenn im Palast die Lichter angehen, aber andererseits war uns beinahe willkommen, daß es mit dem Glosen und Summen der Laternen vorbei war. Die Nacht wurde dichter und aufregender, und wir brauchten nur ein, zwei Stunden im Finstern herumzuirren, ehe wir das Feuer entdeckten. Das Aufschichten des Feuerholzes wurde ebenfalls zum Ritual. Jemand kam darauf, daß wir den Betontrog des leeren Brunnens als Feuergrube verwenden konnten, und es wurde allmählich zur Gewohnheit, daß jeder 108
etwas Brennbares auf die Plaza mitbrachte – zersplittertes Kantholz, einen Ast, ein verbogenes Stück Sperrholz, eine Ladung Tannenzapfen. Wenn sich im Becken des Brunnens genug Holz und Müll angesammelt hatte, zündete jemand ein Streichholz an und hielt es an die Papierfetzen und das verdorrte Gras am Boden unseres Scheiterhaufens. Dann sahen wir schweigend zu, wie sich das Feuer durch das Gewirr aus Reisig und Brettern hochschlängelte und die ersten Funken zu den Sternen aufstiegen. Einen Augenblick lang waren wir uns der neuen Finsternis bewußt, die sich von hinten an uns schmiegte, doch schon bald war es mit unserem feierlichen Ernst vorbei, und wir wandten uns erneut den anderen zu, dem Netz, das unsere Clique jeden Samstagabend spann. Woche um Woche wurde es wieder ein wenig wärmer, und die Gerüchte wurden wilder und bedrohlicher. Wir hörten, daß ein neues, mit inneren Blutungen einhergehendes Fieber umging, außerdem virulentere Formen von Tuberkulose und Aids. Wir hörten, daß die Krawalle zunahmen, daß der Rauch der Brände von Los Angeles so dick geworden war, daß der Flughafen dicht machen mußte, daß die Schnellstraßen mit Autos verstopft waren, die ihre Fahrer stehengelassen hatten, als sie nicht mehr genug sehen konnten. Es ist schon komisch, wie wenig uns, selbst nachdem der Strom ganz ausgefallen war, diese Gerüchte Samstagabends auf der Plaza bedeuteten. Sie dienten der Unterhaltung, waren etwas, worüber es sich spekulieren ließ, Stoff für unsere Gespräche, kaum mehr. Die Welt 109
jenseits der Plaza war aus den Fugen geraten, für uns nicht nachprüfbar, aber das war nichts Neues – war die Erwachsenenwelt nicht schon immer so gewesen? Worauf es uns ankam, waren die Ereignisse innerhalb des Lichtkreises um unser Lagerfeuer. Nach unserem Empfinden konnte sich dermaßen Spannendes anderswo gar nicht abspielen. Irgendwann im März kam eine Flasche Whisky, der wie Feuerzeugbenzin brannte, als ich ihn herunterschluckte. Immer wieder trank ich davon, wenn ich an der Reihe war, bis schließlich die Flasche nicht mehr herumkam. Da kam mir auf einmal die Nacht duftender vor, als sie je gewesen war, und ich bedauerte zutiefst, daß ich bis dahin noch nie fähig gewesen war, all ihre Schönheit aufzunehmen. Bedauern schien mir als Gefühlsregung vertraut. Mein Bewußtsein tastete umher, so als habe jemand in einem vertrauten Zimmer das Licht ausgeschaltet, bis ich auf den Schmerz über den Tod meiner Mutter stieß. Voller Kummer besann ich mich, daß sie seit fast einem Jahr tot war. Aber selbst dieser Schmerz war nicht so heftig wie mein Leid über die Schönheit der Nacht. »Was für eine schöne, schöne, schöne Nacht«, sagte ich zu Eva. Mein Mund fühlte sich an, als wäre ich soeben vom Zahnarzt gekommen, aber in meinen Augen brannten die Tränen. Meine Schwester sah mich seltsam an. »Sie ist wie Musik«, sagte ich traurig. »Schöne Musik. Wassermusik. Schöne nächtliche Wassermusik.« Dann tanzte ich. 110
Ich streifte meine Jacke ab, schleuderte meine Schuhe von mir, zog mir die Socken aus und tanzte über Gras. Ich hüpfte, drehte mich, rannte umher, drehte mich, tanzte zur Musik der Nacht. Ich tanzte beim Klang der Sterne, tanzte instinktiv, was Eva in jahrelanger Ausbildung hatte lernen müssen. All diese Leute, diese dick angezogenen Kids, sie taten mir leid. Sie begriffen nicht, wovon jeder meiner Knochen wußte. Sie kannten ihre eigene geschmeidige Muskulatur, die Kraft ihrer eigenen prachtvollen Lungen nicht. Die Schwerkraft und ich hatten eine neue Vereinbarung getroffen. Mein Körper war ein kurzfristiges Zusammentreffen von Gewebe und Feuer und einer Musik, die nur ich hören konnte, und ich erkannte, daß ich ihm abverlangen konnte, was ich wollte. Ich tanzte und beschloß, ebenfalls Ballerina zu werden, mich ebenfalls über die Wünsche meiner Mutter hinwegzusetzen und dem Beispiel meiner Schwester zu folgen. Meinen neu entdeckten Muskeln war klar, daß ich eine ebenso gute Tänzerin wie Eva werden konnte – vielleicht sogar noch besser. Wir würden zusammen trainieren, zusammen tanzen. Wir konnten uns ihr Studio teilen, wie wir uns einst den Wald geteilt hatten. Ich würde nie mehr einsam sein. Gemeinsam würden meine Schwester und ich unser Leben dem Tanz widmen. Ich machte kehrt, um Eva ausfindig zu machen, um ihr durch die herrliche Dunkelheit zurufen: Endlich weiß ich es. Ich habe verstanden. Sieh her! Schau mich an! Doch da katapultierte mich ein letzte glorreiche tour jeté auf den Gehweg im Zentrum der Plaza. Ich vollführte mit 111
nacktem Fuß eine glissade übers Pflaster und schrammte mit dem großen Zeh daran entlang, als wäre er Kreide statt Fleisch und Blut. Ich brach benommen und keuchend auf dem Bürgersteig in mich zusammen. Über mir kreisten die Sterne. »Schon gut. Schon gut. Es ist mir nichts passiert«, sagte ich zu den Gesichtern, die ringsum auf mich herabblickten. »Ich bin bloß ausgerutscht«, erläuterte ich, »und hingefallen.« Ich merkte in dem Augenblick wenig davon, aber die Agonie jenes Sprungs machte sich noch Tage danach pochend bis in den Oberschenkel bemerkbar. Am selben Abend war mir nur ein neues Gefühl in meinem Fuß bewußt, kein Schmerz, nur Veränderung. Eva half mir nach Hause. Sie verband meinen Fuß mit einem Halstuch, das jemand hervorgezaubert hatte, und als unser Vater kam, um uns abzuholen, sagte sie zu ihm: »Nell hat sich den Zeh gestoßen.« Ich glaube, sie hat es mehr deshalb gesagt, weil sie ihm den Kummer ersparen wollte, erfahren zu müssen, daß ich betrunken war, als um mich vor seiner Enttäuschung oder Wut zu schützen. Jedenfalls war ich damals zwar dankbar für ihre Diskretion, bedauerte aber zugleich, daß er die Wahrheit nicht hörte, denn vielleicht hätte ihn das aus seiner Gleichgültigkeit gerissen. Aber Eva schob sich neben ihn auf den Fahrersitz und erlaubte mir, mich an die Tür zu lehnen und zu dösen, während sie ihm Gesellschaft leistete. Als wir zu Hause angekommen waren, half sie mir ins Haus und hinauf ins Bett. Und unser Vater sagte nur unbestimmt: »Gute 112
Nacht, Mädels. Hoffentlich geht es deinem Zeh morgen besser, Pummelchen.« Am nächsten Morgen war ich verkatert, so verkater, daß ich – obwohl es mir peinlich war – meine Schmerzen unmöglich verbergen konnte. Aber als ich mich endlich aus dem Bett gequält hatte, war Vater längst aufgebrochen, um Holz zu fällen, so daß ich nur Eva gegenübertreten mußte. Sie saß am Tisch und löste sorgfältig die Segmente aus einer Grapefruit, als ich die Treppe heruntergehumpelt kam. Mein ganzer Körper fühlte sich unförmig an. Meine Haut kribbelte über meinen hohlen Knochen, und mein Gehirn verkrallte sich in sich selbst. Verglichen mit der Agonie in meinem Kopf war mein Zeh ein geringfügiges Ärgernis. »Hi«, sagte ich jämmerlich, kläglich, Mitleid heischend. »Hi«, antwortete sie und ließ sich nichts anmerken. »Das Ganze tut mir leid.« »Schon gut.« »Danke, daß du mir geholfen hast.« Sie zuckte die Achseln. »Wozu sind Schwestern sonst da?« fragte sie. Sie erhob sich, verschwand in ihr Studio und ließ mich zurück, Schmerz und Einsamkeit pochten. Eva und ich haben den heutigen Vormittag in der Speisekammer verbracht, haben Würmer und Spinnweben aus dem Weizen- und Maismehl gesiebt und die Motten 113
mit den Schuppenflügeln getötet, die aus Nudeln und Bohnen aufgeflogen sind. Das erste Mal, daß ich Würmer in unseren Nahrungsmitteln vorfand, war irgendwann im Juli letzten Jahres. Ich schüttete eine Tasse Hafermehl in einen Topf mit kochendem Wasser, der auf dem Holzofen stand, als ich auf einmal einen Wurm erblickte, der sich durch die Haferflocken an die Oberfläche wand. »Igitt«, sagte ich unwillkürlich und warf die Tasse von mir, so daß sich die Haferflocken auf der Herdplatte und dem Fußboden verteilten. Mein Vater saß am Tisch, stumm über ein Buch gebeugt, dessen Seiten er nie umblätterte. Er blickte auf und sah mich überrascht an. »Was ist denn?« fragte er. »Ein Wurm«, sagte ich. Mir war schlecht, und ich kam mir dumm vor. Die Haferflocken auf dem Ofen begannen zu rauchen und zu verschrumpeln, und ihr Geruch verschlimmerte meine Übelkeit. »Wo ist der denn hergekommen?« fragte er. »Aus den Haferflocken. Er war in den Haferflocken.« Er klappte schwerfällig das Buch zu und stützte sich beim Aufstehen auf die Tischfläche. »Schauen wir doch mal nach«, sagte er. Ich folgte ihm in die Speisekammer, wo er den Sack Hafermehl aufmachte und wir ein paar schuppige Motten auffliegen sahen. Am zerfressenen Papier klebte klumpig mehliges Gespinst. Mehrere dünne Würmer schlängelten sich durch die Flocken. Ich bekam eine Gänsehaut. 114
»Das muß in den Müll«, sagte ich. »Geht nicht«, antwortete er. »Essen können wir es nicht mehr.« »Und was sollen wir machen, Pummelchen? In den Lieferwagen springen und mal eben zum Einkaufen bei Fastco vorbeifahren? Wir können jetzt keine Nahrungsmittel mehr wegwerfen, bloß weil ein paar Insekten drin sind.« »Aber wir können doch keine Würmer essen.« »Dann müssen wir sie eben loswerden. Wir sieben sie heraus, wie es die Pioniere getan haben.« »Aber wenn wir sie heraussieben, haben wir damit nicht die Nester beseitigt, die Eier und dergleichen. Und schon gar nicht den Gedanken.« Er zuckte resigniert die Achseln. »Gedanken bringen einen nicht um – genausowenig wie Eier oder Nester. Insbesondere dann nicht, wenn man hungrig genug ist.« Es war ein heißer, anstrengender Tag. Wir verlasen Bohnen und Makkaroni und Reis, siebten Weizen- und Maismehl durch Mutters Sieb, bis ich überzeugt war, daß ich den Krampf in meiner Hand nie wieder loswerden würde. Gemeinsam räumten wir drei jede Dose, jeden Sack, jeden Karton um. Wir wischten die Regalbretter und spülten die Einmachgläser mit kochend heißem Wasser und einem Rest Bleichmittel aus, trockneten sie und füllten sie mit gesiebtem Mehl und verlesenen Körnern. Während wir arbeiteten, mußte ich mühsam an mich halten, um nicht zu weinen, wenn ich an unsere von Würmern heimgesuchten Nahrungsmittel dachte, an Würmer in der Speisekammer meiner Mutter. 115
Heute morgen war es eine Aufgabe wie jede andere. Mir war weder traurig noch mulmig zumute, bis mein Blick, nachdem wir ungefähr eine Stunde lang Motten getötet und ihre Larven ausgesiebt hatten, zufällig auf die letzten beiden Flaschen in dem Regal fielen, das unser Vater als »Weinkeller« bezeichnet hatte. Da setzte mein Gedächtnis wieder ein, und obwohl die Erinnerung, die diese staubigen Flaschen auslösten, ein unwichtiges Ereignis betrafen, erlebte ich es unter solchen Qualen neu, daß mir einen Augenblick lang der Atem wegblieb. Es war Ende August, wenige Tage vor Vaters Tod. Wir hatten gerade Platz genommen, um unser Abendessen aus Mais und Tomaten und Salzkartoffeln zu essen, als er jäh aufsprang und in der Speisekammer verschwand. »Der beste Anlaß ist kein Anlaß«, sagte er, als er gleich darauf mit einer Flasche Rotwein und drei von den kristallenen Weingläsern unserer Mutter zurückkam. Er entkorkte die Flasche, berührte mit dem Hals den Rand eines Glases und schenkte ein. Mit einer Verbeugung reichte er Eva das Glas und schenkte mir und sich selbst ein. Dann hob er sein Glas. »Here’s looking at you, kids«, sagte er mit solcher Inbrunst, daß ich mich vor Lachen kringelte, hin- und hergerissen zwischen meiner Erleichterung über den augenscheinlichen Versuch, wieder der Alte zu werden, und meinem Ärger darüber, daß er so lange gebraucht hatte. Er schwenkte das Glas, schnupperte daran, nippte und nickte anerkennend. »Los, Mädels, trinkt aus und sagt mir, was ihr davon haltet – ist Alkohol wirklich all das, wozu wir Erwachsenen ihn hochgejubelt haben?« 116
Eva warf mir einen Blick voller abschätziger Ironie zu, und ich wußte, daß auch sie an meine Samstagabende auf der Plaza dachte. Sie nahm nur einen Schluck und ließ den Rest unangetastet. Ich trank meinen Wein langsam aus, versuchte nicht an Eli zu denken. Der Geschmack, fand ich, war mir tatsächlich nicht vertraut – zu Hause getrunken, aus einem Glas und im Beisein meines Vaters. Vater leerte erst sein Glas, dann das von Eva und dann die Flasche und gab sich derweil die größte Mühe, Witze und Anekdoten zum besten zu geben. Es war, als versuche er, Frohsinn aus dem Nichts heraufzubeschwören. Es tat weh, mitanzusehen, wie er sich zu einer Munterkeit zwang, die er nicht empfand, doch jeder abgedroschene Witz, jeder steckengebliebene Anlauf zu einer Unterhaltung erhöhte nur die Zahl der Verfehlungen, die ich ihm fast schon widerstrebend weiterhin vorwarf. Ich saß hölzern dabei, nicht bereit oder nicht fähig, zu reagieren, bis wir schließlich, nachdem die Flasche ausgetrunken war, ins Bett gingen. Hiernach war alles, was wir an Alkohol übrig hatten, eine fast leere Flasche Sherry und eine Flasche Grand Marnier, die so mit Küchendünsten und Staub bedeckt war, daß wir nicht mehr erkennen konnten, wieviel Likör sie noch enthielt. »Die bewahren wir auf«, hatte Vater gesagt, »für therapeutische Zwecke – Schlangenbisse, Frostbeulen oder Entbindungen. Und das heißt«, fuhr er fort, »daß hier in nächster Zeit nicht viel getrunken werden wird, es sei denn, das Polareis finge an, sich zu verschieben, oder 117
einer von uns würde von einer voreiligen Klapperschlange überfallen.« Wir bewahren sie immer noch auf, dachte ich, während ich das verwurmte Mehl siebte, und immer weiter – und das einzige, was uns überfällt, sind Erinnerungen, alles, was ich erleide, ist Bedauern. Ich habe heute bei Hershey, Milton Snavely, zu lesen aufgehört. Wie kommt es, daß ich von allem, was mir verlorengegangen ist, manchmal ausgerechnet das Essen am meisten vermisse? Es war mir damals nicht klar, aber eine der Gestalten, die sich über mich gebeugt hatten, während der Nachthimmel wackelte und mein Zeh blutete, war Eli gewesen – Eli mit seiner lohfarbenen Mähne, Eli mit den trägen haselnußbraunen Augen, mit dem Smaragdohrring im rechten Ohrläppchen, mit der Mundharmonika an den Lippen, Eli, der Einzelgänger, Eli, der am Samstag nach meinem Unfall zu mir kam und sagte: »Ich hab dich tanzen gesehen.« Nicht: Wie geht’s deinem Zeh? oder: Was hat dein Vater dazu gesagt? oder gar: Hattest du hinterher einen Kater?, sondern: Ich hab dich tanzen gesehen. Er erkundigte sich nicht nach meinem Zeh, obwohl ich immer noch humpelte. Statt dessen sagte er: »Ich hab dich tanzen gesehen.« Und ich wußte, daß er sowohl meine Sprünge als auch meinen Sturz gesehen hatte. Ich kam mir nackt vor – gleichzeitig stolz und verlegen. Seine Worte 118
nahmen mir den Atem. Sie richteten mir die Brustwarzen auf, betonten Kurve und Schwung meiner Taille und sorgten für einen Anflug von Verlangen an jenem neu entdeckten Ort zwischen meinen Beinen. Es waren die ersten Worte, die er direkt an mich richtete, obwohl ich ihn natürlich längst kannte und zusammen mit allen anderen Plazabesuchern katalogisiert hatte. Ich hatte sogar versucht, einzuschätzen, ob er als Freund meine Einsamkeit lindern konnte. Aber er war mir, obwohl ich seinen pfiffigen Humor ebenso schätzte wie die Musik, die er spielte, so gelassen erschienen, daß ihn seine Selbstbeherrschung wie ein Schutzschild umgab, den zu durchdringen ich mir nicht zutraute. Eli war auf eine Art distanziert, die mich erregte und mir zugleich bekannt vorkam. Er war ein Einzelgänger, ein Beobachter, der immer am Rand des Geschehens zu verharren schien, und in dieser Zurückhaltung glaubte ich mich selbst wiederzuerkennen. Mir gefiel der Gedanke, daß es mein intellektuelles Niveau war, das auch mich davon abhielt, ganz zur Clique zu gehören. Ich stellte mir vor, daß Eli und ich aus gleichem Holz geschnitzt waren, Erwachsene, die sich herabließen, Jugendliche zu sein, während der Rest der Clique aus Jugendlichen bestand, die sich als Erwachsene ausgaben. Ich hab dich tanzen gesehen, sagte er, und von dem Augenblick an, so schien es, waren wir ein Paar. Den ganzen Abend lang standen wir dem Feuer zugewandt nebeneinander, und ich aalte mich in der Wärme seiner Nähe, im Klang seiner Stimme im Dunkel über meinem Kopf. Sicher, er spielte seine Mundharmonika beinahe 119
so, als wäre ich nicht dabei, aber als ich so neben ihm stand, fühlte ich mich auf eine Weise lebendig, wie ich es nie empfunden hatte – jede Pore geöffnet, jede Zelle hellwach –, und es erschien mir unmöglich, daß ich mir seiner Gegenwart so intensiv bewußt sein konnte, ohne daß er sich meiner ebenso bewußt war. Er sagte nicht viel, aber es kam mir vor, als habe alles, was er sagte – daß er in der vergangenen Woche seinen Job verloren habe, als der Holzplatz zugemacht hatte, daß er versuche, sich selbst das Notenlesen beizubringen, daß er zu wissen glaube, wo wir noch Wein finden konnten –, eine unterschwellige Bedeutung, die für mich allein bestimmt war. Ich kam am nächsten Samstag wieder, bereit, ihn zu heiraten, bereit, ihm mein ganzes trauriges Leben zu Füßen zu legen, meine Pläne wegen Harvard aufzugeben und bis in alle Ewigkeit mit ihm in Redwood zu leben. Ich hatte mir Evas Navajo-Bluse mit den Silberknöpfen und weiten Samtärmeln geliehen, und nachdem die Sonne untergegangen war, fror ich lieber, als sie mit meiner Jacke zu verdecken. Den ganzen Abend lebte ich in überschäumender Vorfreude, aber Eli kam einfach nicht. Die ganze Woche machte ich mir Sorgen, schwankte zwischen der Angst, daß er mich vielleicht nicht leiden konnte, und der Gewißheit, daß er tot war. Doch schon am nächsten Samstag stand er wieder am Feuer, und ich verbrachte den Abend an seiner Seite. Ich hörte ehrfürchtig zu, wenn er das Wort ergriff, und hatte selbst wenig zu sagen. Spätabends spielte er ein langes Stück auf seiner Mundharmonika, das irgendwo zwischen Elegie und 120
Wiegenlied angesiedelt war – süß, schwierig und traurig. Es war eine Musik, die mich sowohl peinigte als auch tröstete, und ich war sicher, daß er sie für mich spielte, daß sie an mich gerichtet war, daß sie von mir handelte. Ich war sicher, daß seine Musik zu mir sagte: Ich verstehe, ich weiß Bescheid, und alles ist gut. Ich war überzeugt, daß wir durch ein wortloses Bewußtsein unserer Gegenwart verbunden waren. Als Eli dann, kurz bevor mein Vater kam, um uns heimzufahren, die Hand um meine Taille legte, konnte ich – Ehrenwort – kaum atmen, so stark empfand ich unsere Bindung. Ach, ich werde immer an den Augenblick zurückdenken: Obwohl das Universum über uns ausgestreut war, von unendlich vielen Sternen erhellt und vom unendlichen Raum verfinstert, konnte ich nicht glauben, daß Ptolemäus nicht doch recht gehabt hatte, daß unsere Erde, unsere kleine Sippschaft und Elis Hand an meiner Taille nicht doch der Mittelpunkt allen Seins waren. Am Samstag darauf war er wieder nicht da, und ich vertiefte mich die Woche über mit verdrießlichem Eifer in mein Studium. Bis es wieder Samstag war, hatte ich mich selbst überzeugt, daß ich mir die ganze Sache nur eingebildet hatte. Aber am Abend wartete Eli bei den Bäumen am Rand der Plaza, als ich eintraf, und sah zu, wie ich mich von meinem Vater verabschiedete und die Wagentür hinter mir zuschlug. Es war Ende April, der erste warme Abend des Jahres. Die Luft war lau, und der Sonnenuntergang tauchte alles in orchideenfarbenes Licht. Und Eli stand vor uns auf dem Bürgersteig. 121
»Hallo«, sagte er. Eva antwortete: »Hallo« und jagte mit einem chassé an ihm vorbei, dem frisch entfachten Feuer zu. Ich dagegen blieb vor ihm stehen. »Hallo«, sagte er wieder, diesmal so leise, als sei dieses einzelne Wort für ihn eine zu persönliche Angelegenheit, um sich dabei belauschen zu lassen. Ich sehnte mich danach, ihn zu fragen: Wo warst du letzte Woche? Was machst du, wenn du nicht hier bist? Gefällt dir mein Haar so? Ich wollte ihm vom Begräbnis meiner Mutter erzählen, vom Schweigen meines Vaters, von meinem Durchbruch in der Integralrechnung und davon, was ich zu Abend gegessen hatte. Statt dessen sagte ich: »Hallo.« »Hier«, erwiderte er und hielt mir etwas hin. Ich nahm es entgegen und sah, daß es sich um eine rote Rose handelte, deren äußere Blütenblätter bereits lose und weich waren, während sich die inneren noch fest umeinander krümmten. Er muß mein stilles Entzücken mißverstanden haben, denn er fügte hinzu: »Wenn du sie haben willst.« »Okay«, antwortete ich und steckte mir die Rose ins Haar, wo sie den ganzen Abend blieb, während ich mich bemühte, ihr Gewicht an meinem Ohr, den Druck ihres Stengels und ihrer Dornen zu ignorieren. Wieder daheim, nahm ich sie mir am nächsten Morgen bei Tageslicht in der Abgeschiedenheit meines Zimmers vor. Ich aß eines ihrer Blütenblätter, steckte mir ein zweites in den Büstenhalter und stellte die übrige Rose in eine Vase, wo ich sie tagelang wie ein Heiligenbild betrachtete 122
und aus ihren Protoplasmafetzen Liebe zu extrahieren versuchte. So ging es weiter, von einem Samstag zum nächsten, den ganzen Mai und bis in den Juni hinein. An manchen Abenden kam Eli nicht, und wenn er kam, nahm er manchmal kaum Notiz von mir. Und selbst wenn er mich beachtete, fühlte ich mich in seinem Beisein immer steif und um Worte verlegen. Meine Witze kamen mir zu kompliziert vor, meine Gespräche zu ernst, mein Schweigen zu lang. Und dennoch gab es Augenblicke, in denen sich alle Elektrizität, die Redwood verloren hatte, wie ein Lichtbogen zwischen uns zu entladen schien. Während der langen Wochen zwischen einem Samstagabend und dem nächsten lernte ich Differential- und Integralrechnung, paukte unregelmäßige französische Verben, plante Hochzeiten und taufte Babys. Ich befaßte mich mit den Grundzügen europäischer Geschichte, las die Ilias, lernte alles über den Zitronensäure-Zyklus und übte mich im Schreiben von Elis Namen. Ich hielt den Atem an, um das Glück herbeizurufen, und wünschte mir etwas, wann immer ich Sternschnuppen oder vierblättrige Kleeblätter sah. Selbst jetzt ist mir das alles noch so peinlich, daß ich es kaum zugeben mag. Mein Vater war so in seinen Kummer vertieft, daß er nicht merkte, was ich tat, aber Eva kam schließlich dahinter. »Was liegt an mit dem Typ?« fragte sie eines Sonntagmorgens Anfang Juni. Vater war im Garten, während 123
sie und ich an dem schweren verzinkten Becken im Abstellraum standen und Wäsche wuschen. »Welcher Typ?« sagte ich ausweichend, griff eine gründlich durchfeuchtete Jeans heraus und machte mich daran, den robusten blauen Stoff durchzuwalken. »Eli.« »Was ist mit ihm?« fragte ich, entzückt zu hören, wie bei mir zu Hause sein Name fiel. »Was ist mit ihm?« äffte sie mich nach. »Ich kann ihn gut leiden«, antwortete ich und tauchte energisch die Jeans ins Wasser. »Warum?« »Darum, weil …« hob ich an. Und verstummte. Eva hörte zu schrubben auf, um mich beobachten zu können. »Darum, weil was?« »Darum«, sagte ich diesmal indigniert, als wäre diese Antwort mehr als ausreichend auf eine so dumme Frage. »Der ist doch mindestens schon zwanzig.« »Na und?« »Und wann geht er aufs College?« »Weiß nicht. Darüber haben wir nicht geredet«, sagte ich und versuchte den Eindruck zu erwecken, als seien wir zu beschäftigt gewesen, uns über andere Themen zu unterhalten. »Hat er in seinem Leben je ein Buch gelesen?« »Na klar.« »Welches?« »Ist es nicht egal, welches? Du liest doch auch nicht.« »Ja, aber du liest.« 124
»Na und?« Sie sah mich seltsam an. »Wenn ich einen Freund hätte, müßte er etwas von Ballett verstehen.« Zum damaligen Zeitpunkt redete ich mir ein, daß sie neidisch sei, legte aber doch eine lange Liste von Gründen an, warum ich Eli leiden konnte, warum er der Richtige für mich war, damit ich beim nächsten Mal, wenn sie mich fragte, nicht um eine Antwort verlegen war. Aber sie hat nie wieder gefragt. Irgendwann Ende Juni, als der Garten zu wuchern begann und die Sommerhitze sich bis weit nach Einbruch der Dunkelheit hielt, kam der Samstagabend, an dem unser Vater auf der Heimfahrt von Redwood sagte: »Mädels, ich hasse es, euch enttäuschen zu müssen, aber ich fürchte, das war vorerst einmal unser letzter Ausflug in die Stadt. Es war nun schon die zweite Woche kein Benzin zu kriegen. Wir haben noch runde zehn Liter im Tank, aber die heben wir wohl besser für Notfälle auf, bis wir sicher sein können, daß es Nachschub gibt.« Ich saß in stiller Qual zwischen ihm und Eva auf dem Fahrersitz. Seine Worte rissen mich aus meinem geheimen Elend und raubten mir den Atem. »Aber wir müssen doch nächste Woche wieder hin«, sagte ich atemlos. Er blickte in den Lichtstrahl, den der Lieferwagen vorausschickte, und als er das Wort ergriff, klang es zerstreut. »Warum?« fragte er. 125
»Darum«, entgegnete ich verzweifelt, unfähig, mehr zu sagen. Darum, weil ich Eli wiedersehen mußte. Ich war an jenem Abend mit einem Vorhaben in die Stadt gekommen, das so tollkühn und ausgeklügelt war, als wollte ich eine Bank ausrauben. Ich hatte beschlossen, endlich die Schranke der Zurückhaltung zu durchbrechen, die uns getrennt hatte. Die ganze Woche hatte ich meinen Plan ausgefeilt, war ich ihn ein ums andere Mal wie ein Drehbuch durchgegangen, hatte ich liebevoll hier ein Wort, da eine Geste geändert, bis ich mir des Ausgangs so sicher war, als hätte ich ihn bereits in die Tat umgesetzt. Ich hatte entschieden, daß mein Bedürfnis nach einer greifbaren Beziehung zu Eli größer war als mein Stolz oder meine Angst, und mir vorgenommen, erst zu warten, bis wir unseren Anteil aus der herumgereichten Flasche getrunken hatten, bevor ich ihn bei der Hand nahm und von der Clique wegführte. Abend für Abend hatte ich andere Paare von ihren Ausflügen zwischen den Bäumen zurückkehren sehen, zärtlich und gelöst und in traulichem Miteinander, und ich glaubte, daß Eli und ich, wenn wir nur unsere Nische im Finstern fanden, weitab vom hemmenden Feuerschein und der Freunde, gewiß auch eine Möglichkeit finden würden, um die Spannung auszuleben, die sich zwischen uns aufgestaut hatte. Ich glaubte, daß unsere Körper fähig waren, unseren Worten einen Weg vom einen zum anderen zu bahnen, und ich war überzeugt, daß ich alle 126
meine Sorgen abstreifen konnte, wenn es mir nur gelang, mich in Elis Gegenwart entspannt zu fühlen. Ich verwandte den ganzen Nachmittag darauf, mich vorzubereiten. Ich machte Wasser heiß, um ein Bad zu nehmen, bürstete mein Haar in der Sonne trocken, zog mich so sorgfältig an, wie ich konnte. Bis uns unser Vater an der Plaza absetzte, kam ich mir, während ich auf Elis Erscheinen wartete, vor wie Jäger und gejagtes Reh zugleich. Aber er kam an jenem Abend erst spät. Drei lange Stunden litt ich, beobachtete verstohlen jeden Nachzügler, der sich am Feuer zu uns gesellte, und krümmte mich jedesmal in neuer Pein, wenn ich merkte, daß er es nicht war. Natürlich war ich zu schüchtern, um mich nach seinem Verbleib zu erkundigen, und als mich der eine oder andere fragte: »Wo ist denn Eli?«, mußte ich die Achseln zucken und so sorglos wie möglich antworten: »Wer weiß?« Die Flasche tauchte auf, ging herum, wurde geleert, und er war immer noch nicht da. Andere Paare hatten sich längst ins Dunkel verzogen und begannen bereits, zum Feuer zurückzuschlendern. Das Feuer selbst sank glosend in sich zusammen. Ich erlebte, wie mein Plan durcheinandergeriet wie wirre Kettfäden, und mein Gehirn sauste hin und her durch ein inzwischen vertrautes Durcheinander aus Besorgnis und Entrüstung. Eine halbe Stunde bevor unser Vater uns abholen sollte, tauchte Eli dann endlich auf. Ich hatte aufgegeben, auf ihn zu warten, und stand verkrampft und wütend am niedergebrannten Feuer, als mich mein Instinkt veranlaßte, 127
mich umzusehen. Er kam gemächlich den mondhellen Weg entlangspaziert, als hätte er keinen Grund, sich zu beeilen. Als er sah, daß ich ihn beobachtete, hob er den Arm und zeigte mit dem Finger auf mich, als würde er eine Pistole abfeuern oder sich eine Trophäe aussuchen. Es war eine intime Geste, ironisch und besitzergreifend zugleich, und hätte mich normalerweise in Begeisterung versetzt. Aber noch ehe er bei mir angekommen war, blieb er stehen, um sich mit einigen Leuten zu unterhalten, die in einigem Abstand zum ausgehenden Feuer zusammenstanden. »He, Eli«, hörte ich sie sagen. Ich hörte, wie seine Stimme antwortete, hörte die ersten leisen Töne aus seiner Mundharmonika aufsteigen und wandte mich erneut den Überresten des Feuers zu. Die Tränen in meinen Augen brannten wie Säure. Als jedoch mein verschwommener Blick die Flammen verschmelzen ließ, ging mir plötzlich auf, daß ich überhaupt kein Recht hatte, verletzt oder wütend zu sein, kein Recht, mich zu beschweren oder ungehalten zu sein. Unsere Beziehung war gänzlich undefiniert. Wir konnten uns noch nicht einmal streiten. Wir hatten uns die Verbundenheit, die einen Streit erst möglich gemacht hätte, nie eingestanden. In gewisser Hinsicht waren wir einander ferner als Fremde, denn Fremden stehen noch alle Möglichkeiten offen. Ich starrte ins Feuer, bis die Flammen ihre Form wiedererlangt und meine Tränen getrocknet waren, und als er endlich herübergeschlendert kam, führte ich bereits ein angeregtes Gespräch mit jemand anderem. Nachdem ich meinen Vater hupen gehört hatte, schaffte ich es, mich 128
von der Clique zu verabschieden, ohne Eli eines Blickes zu würdigen, und ich zwang mich, über das Gras auf den wartenden Lieferwagen zuzuhüpfen, als hätte ich nie einen Gedanken an ihn verschwendet. »Darum«, sagte ich, immer noch um eine Antwort auf die Frage meines Vaters verlegen, »weil wir zu essen brauchen.« »Ich denke, für einen Monat oder so haben wir reichlich Vorräte«, entgegnete er, »schon gar, wenn der Garten weiter so gedeiht.« »Aber da sind doch Leute, denen wir auf Wiedersehen sagen müssen«, platzte ich heraus. »Meinst du damit jemand Bestimmtes?« Ich wußte, er versuchte nur, den Schlag zu lindern, daß er uns die einzige Unterhaltung nehmen mußte, aber seine Hänselei war der perfekte Kristallisationspunkt für meinen Frust. »Wieso, verflucht noch mal, hast du uns das nicht schon früher gesagt?« »Ach, Nell, ich hab es doch selbst nicht gewußt, bis ich heute wieder versucht habe, zu tanken. Und dann hat Jerry gesagt, daß es in Redwood schon seit zwei Wochen kein Benzin mehr gibt.« »Du hättest es wissen müssen. Wenn du dich mal mit was anderem beschäftigt hättest als mit dir selbst, hättest du es gewußt.« Inmitten des Schweigens, das nun einsetzte, war mir Evas Keuchen vage bewußt. Dann meldete sich mein Vater zu Wort, und seine Stimme klang matter denn je. »Du hast vermutlich recht, und ich entschuldige mich 129
auch. Aber keine Sorge, Pummelchen. Dein junger Mann wird dich schon nicht vergessen. Und wenn er es doch tut«, fuhr mein Vater fort, »war er von vornherein keinen Spinnenfurz im Regenwald wert.« »Er ist nicht mein junger Mann, und ich bin nicht dein gottverdammtes Pummelchen«, sagte ich tonlos. Ich konnte spüren, wie sich die Fahrerkabine mit der verblüfften Kränkung meines Vaters und meinem eigenen Schmerz füllte, und ich muß zugeben, daß es ein erhebendes Gefühl war, so wütend zu sein, von einer Emotion durchflutet zu werden, die nicht drohte mich fortzuspülen. Ich hätte einlenken können. Es hätte nicht viel dazugehört – ein Wort, ein Scherz, eine Geste. Ich hätte die Hand auf sein Knie, den Kopf auf seine Schulter legen können. Ich hätte sagen können: »Tut mir leid.« Aber ich saß nur steif und unnahbar da, froh, daß ich auch einmal diejenige sein konnte, die andere außen vor ließ. Wir fuhren nach jenem furchtbaren Abend noch einmal in die Stadt. Das war gegen Ende August, vor weniger als sechs Monaten, obwohl es mir heute so weit entfernt erscheint wie ein Traum aus einem anderen Leben. Elf Samstage waren vergangen, seit wir zuletzt in Redwood waren. Wir hatten seit fünf Monaten keinen Strom mehr, seit mindestens vier Monaten hatte das Telefon nicht mehr geklingelt, aber wir taten immer noch so, als müßte bis zum Herbst – oder höchstens Winter – wieder alles beim alten sein. 130
Unser Vater hatte seit einigen Tagen in der Speisekammer und im Garten herumgerechnet, und eines Abends beim Essen sagte er: »Mädels, ich denke, wir fahren wohl besser morgen in die Stadt. Uns gehen die Vorräte aus, und je früher wir alles nachkaufen, desto besser. Es ist mir nicht recht, das Benzin zu verbrauchen, aber ich glaube, wir haben genug, um es bis Redwood und zurück zu schaffen. Jedenfalls«, fügte er seufzend hinzu, »müssen wir’s versuchen.« An dem Abend machte ich zusätzlich Wasser heiß, um mir die Haare zu waschen. Ich rasierte mir die Beine und zupfte meine Brauen und bügelte, indem ich unser elektrisches Bügeleisen auf dem Ofen erwärmte, so gut wie möglich mein grünes Sommerkleid. Während ich bügelte, zählte Vater sein Geld. »Wie gut, daß ich das schon damals abgehoben habe«, sagte er und breitete vier Hundertdollarscheine wie das siegreiche Blatt beim Poker auf dem Tisch aus. »Die Bank hat zwei Tage später dicht gemacht«, erinnerte er sich und schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich wäre auch an unser Sparkonto rangekommen.« Eva legte dreiundsiebzig Dollar auf den Haufen, ich gab ihm neunundfünfzig. Wir hatten keine Ahnung, ob das viel oder wenig war. »Natürlich kriegt ihr alles wieder, Mädels«, versicherte er und stellte für jede von uns auf der Rückseite alter Briefumschläge sorgfältig einen Schuldschein aus. »Sobald die Bank wieder aufmacht und ich an meine Ersparnisse ran kann, kriegt ihr’s wieder. Mit Zinsen.« 131
Wir standen am nächsten Morgen alle früh auf, und als wir abfuhren, kam ich mir wie eine Maid aus dem Märchen vor, wie ein Bauernmädchen, das am Markttag in die Stadt zieht, um alles Sehenswerte zu sehen, die Musik zu hören, die gebotenen Leckerbissen zu probieren, vielleicht ein buntes Band oder einen neuen Ring zu kaufen, wie ein Mädchen, das den langen Weg in die Stadt auf sich nimmt, um seinen Schatz zu sehen. Eine größere Erregung, einen süßeren Morgen als diesen kann es nicht geben, durchtränkt mit reiner, unverhüllter Freude: Ich war unterwegs in die Stadt. Die Sonne schien warm. Ich hatte mein grünes Sommerkleid an. Mein Haar ruhte hell auf meinen nackten Schultern. Ich würde Eli zu sehen bekommen. Bei aller gehobenen Stimmung war mir das Land jenseits unserer Lichtung seltsam fremd. Der kleinen Straße war bereits anzumerken, daß sie kaum noch benutzt wurde. Wo die Fahrbahn vor kurzem aufgebrochen oder rissig geworden war, wuchs Unkraut, und in der Straßenmitte verlief ein immer breiter werdender grasbewachsener Grat, der von unten gegen das Fahrwerk des Lieferwagens schlug und kratzte. Nach sechseinhalb Kilometern Fahrt hatten wir das Haus unserer nächsten Nachbarn erreicht. Die Colemans waren gläubige christliche Fundamentalisten, und Vater hatte immer behauptet, sie seien die idealen Nachbarn für uns, da wir absolut nichts gemeinsam hatten – nicht einmal eine Grundstücksgrenze, denn zwischen uns schlängelte sich der Staatsforst durch. Nun jedoch sah das einst so gepflegte Haus aus, als wäre es geplündert 132
worden. Die Fenster waren eingeschlagen, die Vordertür hing nur noch an einem Scharnier, und das Gras auf dem Hof war spärlich und braun. »Wartet hier«, sagte unser Vater. Er nahm das Gewehr zur Hand, und wir blieben im Auto, während er zum Haus ging und hineinrief. »Sie sind weg«, war alles, was er sagte, als er zurückkam. »Sieht aus, als hätte da drinnen eine Sau geferkelt.« »Wo die wohl sind?« flüsterte ich. Er zuckte die Achseln. »Vielleicht sind sie in die Stadt gezogen.« Fünf Kilometer weiter erreichten wir die asphaltierte Landstraße. Je schneller der Lieferwagen fuhr, desto weniger wußten wir zu sagen, und unsere Stimmen wurden so gedämpft, als befänden wir uns in einem Museum oder auf einer Beerdigung. Mehrere Häuser, an denen wir vorbeikamen, waren ausgebrannt oder offensichtlich ausgeraubt worden. Ein magerer Hund kam bellend aus einem Schuppen mit zugenagelten Fenstern gerannt. Erst wenige Kilometer außerhalb der Stadt sahen wir endlich einen dünnen Rauchfaden aus einem Schornstein aufsteigen. Als wir Redwood näher kamen, bemerkten wir weitere Anzeichen von Leben: eine Frau beim Wäsche aufhängen, einen grimmig dreinblickenden Mann auf einem Fahrrad, eine Handvoll Kinder, die ihr Fangspiel unterbrachen, um uns beim Vorbeifahren zu beobachten. Und doch wirkte das Land selbst an diesem hellen Sommermorgen ärmlich und überbeansprucht wie eine Region, die belagert wird. 133
Schließlich ergriff Eva das Wort. »Was geht hier vor?« Unser Vater räusperte sich. »Das werden wir in Erfahrung bringen.« Aber es gab nur wenig in Erfahrung zu bringen. Obwohl am Straßenrand einige Autos und Pritschenwagen geparkt waren, war unser Fahrzeug das einzige in Bewegung, als wir in die Main Street einbogen. Alle Geschäfte rund um die Plaza waren unbeleuchtet. Einige hatten Schilder mit der Aufschrift »Geschlossen« aufgehängt, und einige hatten sogar kleine Uhren im Fenster, die auf zehn Uhr zeigten, so als würden schon am nächsten Morgen die adretten Inhaberinnen zurückkehren und ihre Türen aufschließen. Andere Fenster waren mit einem Bogen Pergamentpapier verhängt oder mit Sperrholz geschützt, und einige waren eingeschlagen, so daß die gezackten Löcher den Blick auf das leere Innere freigaben. Als wir am Uptown vorbeifuhren, spähte ich durch die Fenster und sah Plakate von der Wand gefetzt, die Jukebox auf der Seite liegen, die Tische umgekippt. Die Plaza gegenüber war menschenleer. Das einst üppige Gras war vertrocknet und von Unkraut übersät. Außerdem hatte jemand sämtliche Straßenlampen kaputtgeschossen. Nur die Bäume sahen noch so aus wie vorher. »Wo sind denn bloß alle?« flüsterte Eva. Niemand sprach unseren Vater auf seine Behauptung an, die Leute vom Land wären hierher gezogen. Vater sagte: »Ich fahr mal eben bei Jerry vorbei. Mal sehen, was er weiß.« 134
Jerry Miller war Lehrer – er brachte der sechsten Klasse der Grundschule von Redwood Naturwissenschaften und Mathematik bei – und einer der besten Freunde unseres Vaters. Jerry war ein großer wortkarger Mann, der eine Stellung am hochangesehenen Massachusetts Institute aufgegeben hatte, weil er Kinder liebte und Politik haßte, und er und Vater hatten sich seit vielen Jahren jeden Freitagabend auf ein Bier getroffen, ehe Vater zum Wochenende heim in den Wald fuhr. Jerrys Frau war Anwältin drunten in der Stadt, und da sie und meine Mutter nie dahintergekommen waren, wie sie einen angenehmen Abend miteinander verbringen sollten, kamen unsere Familien nicht oft zusammen. Dabei hatten Eva und ich die paar Mal, die wir bei ihnen zu Besuch waren, immer genossen. Wir waren im Pool geschwommen, während sich die Erwachsenen auf der Terrasse unterhielten und ihre Stimmen auf uns herabschwebten. Die Millers lebten wenige Häuserblocks von der Grundschule entfernt im einzigen wirklich wohlhabenden Viertel von Redwood. Doch als wir die gewundenen Straßen durchfuhren, waren die Rasenflächen vor den Häusern braun und spärlich, und am Straßenrand standen aufgebockte oder reifenlose Autos herum. Vater bog in die unkrautbewachsene kreisförmige Zufahrt vor dem Haus der Millers ein. Er schaltete den Motor aus, aber noch ehe er auf seiner Seite die Tür öffnen konnte, trat uns aus dem Haus ein Mann entgegen. Er runzelte die Stirn und hatte eine Schrotflinte dabei, deren Lauf nach unten zeigte. 135
Vater beugte sich aus dem Fenster. »Hallo«, sagte er mit der festen Rednerstimme eines Grundschulrektors. Der Mann nickte. »Ist Mr. Miller da?« erkundigte sich Vater. Der Mann schüttelte den Kopf. »Und Mrs. Miller?« Wieder schüttelte der Mann den Kopf. »Nee«, sagte er. »Aha.« Vater nickte, als sei ihm nun alles klar. »Sie wissen nicht zufällig, wo sie hin sind, oder? Jerry ist ein Freund von mir.« »Ich denke, die werden nach Süden gezogen sein.« »In die Großstadt vielleicht? Wo Mrs. Miller arbeitet?« »Vielleicht.« »Seit wann sind sie schon fort?« »Weiß nicht. Bevor wir hier angekommen sind.« »Und wann war das?« Der Mann zuckte die Achseln. »Sie kümmern sich also um das Haus, bis die Millers wieder zurück sind?« Der Mann blickte finster drein und hob den Lauf der Flinte ein Stück an. »Na gut«, sagte Vater immer noch gelassen, »dann wollen wir mal wieder.« Der Mann nickte. Statt an ihm vorbei, fuhr Vater den Lieferwagen rückwärts aus der Zufahrt. Wir entfernten uns schweigend und versuchten uns nach Möglichkeit nicht auszumalen, wo die Millers hingefahren sein mochten, was aus ihnen 136
geworden war oder wann wir sie wiedersehen würden. Schließlich ergriff Vater das Wort. »Ich werde besser mal nachsehen, wie es der Schule geht«, sagte er. Wir fuhren die kurze Strecke dorthin wie im Traum, betäubt von dem dünnen Film von Fremdartigkeit, der sich über die vertrauten Straßen gelegt hatte. Als wir die Grundschule von Redwood erreicht hatten, hielt Vater neben dem nackten Fahnenmast an. Wir blieben im Lieferwagen sitzen und beäugten beklommen, was jahrelang seine zweite Heimat gewesen war. Die Türflügel am Haupteingang waren zugekettet, die lange Reihe der Klassenzimmerfenster mit Brettern vernagelt. »Das hat bestimmt Mike gemacht«, stellte Vater fest und meinte damit den Hausmeister, der noch länger als er an diesem Ort gearbeitet hatte. »Vielleicht hat Jerry ihm geholfen, bevor sie aufgebrochen sind.« Wir blickten über den leeren Schulhof auf die unbenutzten Spielgeräte. Vom Turngestänge hing drohend ein Seil, und die Ketten, an denen die Schaukelsitze befestigt gewesen waren, baumelten einfach so herab. Nach einer Weile schickte sich Vater zur Weiterfahrt an. »Wollen wir nicht reingehen?« fragte ich. »Nein«, sagte er, »da gibt es jetzt nichts mehr für mich zu tun. Außerdem denke ich, daß wir zügig unsere Besorgungen erledigen und anschließend nach Hause fahren sollten, so schnell wir können.« Er schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Ich würde zu gern jemanden finden, den wir kennen, 137
und vielleicht erfahren, was es Neues gibt. Aber mir fällt hier in der Nähe niemand ein, dem ich vertraue. Und wir können es uns nicht leisten, noch mehr Benzin zu vergeuden, indem wir herumfahren – die Fahrt nach Hause ist auch so schon heikel.« Seit Vater gesagt hatte, daß wir in die Stadt fahren würden, hatte ich an der Vorstellung von Redwood als dem geschäftigen Zentrum einer neuen – wenn auch zeitlich begrenzten – Gesellschaft festgehalten. Ich hatte mir die Plaza voller Menschen vorgestellt, umgeben von Ständen wie bei einem Markt unter freiem Himmel. Ich hatte mir Bauern vorgestellt, die gackernde Hühner verkauften, frische Eier und Gemüse, fliegende Händler, die hübsche Kleinigkeiten und gebrauchtes Gerät verhökerten. Ich hatte mir Straßenmusikanten vorgestellt, Imbißstände und Käuferinnen mit Körben am Arm, die haltmachten, um zu feilschen und zu schwatzen. Sogar Pferdefuhrwerke stellte ich mir vor, so als hätten sich alle, während wir darauf warteten, daß unser einstiges Leben wieder von vorn anfing, zur spielerischen Rückkehr in die anheimelnde und pittoreske Welt von einst verabredet. Ich hatte mir eingebildet, daß ich Eli wiedersehen würde, wenn ich nur die fünfzig Kilometer in die Stadt fahren könnte, wenn ich nur die Entfernung zwischen unserer Lichtung und der Plaza überbrücken könnte, und daß zwischen uns alles in Ordnung sein würde, wenn ich ihn wiedersah. Nun jedoch ließ die leere Plaza die Erkenntnis heranreifen, die zuvor schon allmählich bei mir durchgesickert war: Ich würde Eli nicht 138
zu sehen bekommen. Ich hatte keine Ahnung, wo er wohnte, wo ich ihn sonst hätte finden können. Ich konnte ihn nicht anrufen. Und ich konnte Eva und meinem Vater nicht zumuten, für die Suche nach ihm Zeit und Benzin zu verschwenden. Außerdem hatte ich keine Ahnung, ob er überhaupt noch in der Stadt war. Ich konnte ja noch nicht einmal sicher sein, daß er noch am Leben war. Und wenn es mir gelungen wäre, ihn zu finden, was dann? Bei unserem letzten Zusammensein hatte ich so getan, als würde ich ihn nicht bemerken. Plötzlich ging mir auf, daß meine Hoffnungen in bezug auf Eli so unrealistisch gewesen waren wie meine Markttagsvisionen. Ich hatte keine Ahnung, wer Eli war. Ich hatte nur auf meine Hirngespinste geachtet, und selbst die waren jetzt verschwunden, verwelkt wie das Gras auf der leeren Plaza. Blinde Wut erfaßte mich. Ich wollte um mich schlagen, wollte mit einem anderen so grausam verfahren wie das Leben mit mir. Ich saß benommen da, atmete kaum, versuchte mir etwas einfallen zu lassen, das meinen Vater oder meine Schwester verletzte, wenn ich es sagte, versuchte mir eine Möglichkeit auszudenken, sie auch leiden zu lassen. Aber am Ende sagte ich gar nichts und fuhr nur gequält und ernüchtert durch die häßlichen Straßen von Redwood. Vater fuhr als erstes zu Savewell, aber dort waren die Türen ebenso zugenagelt wie beim konkurrierenden Supermarkt neben dem mit einem Vorhängeschloß gesicherten Postamt. 139
»Vielleicht ist längst alles geschlossen«, flüsterte Eva. »Möglich«, antwortete unser Vater und straffte seine Schultern. Er warf einen Blick auf die Benzinanzeige und fuhr dann an den Stadtrand zum Lagerhaus von Fastco. Fastco war der einzige Billigladen, der sich bis ins entlegene kleine Redwood vorgewagt hatte, und obwohl es eine Reihe Einheimischer gab, die sich weigerten, dort hinzugehen, zog er genug Kunden an, um ständig Hochbetrieb zu haben. Bei Fastco war alles in ungeheuren Mengen abgepackt – Geschirrspülmittel in DreieinhalbLiter-Flaschen, Mehl in Fünfzig-Pfund-Säcken. Unser Vater nannte das »Massenabfertigung« und machte sich einen Spaß daraus, Mutter mit der Größe der Toilettenpapierpackungen aufzuziehen, die sie nach Hause brachte. Als er dahinterkam, daß man einen Mitgliedsbeitrag entrichten mußte, um dort einkaufen zu können, verkündete er gern und oft: »Hier in Amerika dürfen wir jetzt schon für das Privileg zahlen, einkaufen gehen zu können.« Damals hatten sich auf dem Fastco-Parkplatz noch regelmäßig die Einkaufswagen und Autos und Kinder gedrängt. An jenem Tag jedoch war der Parkplatz leer bis auf wenige armselig wirkende Fahrzeuge, die auf der weiten Betonfläche verteilt waren. Die Ladenfenster waren unbeleuchtet, die aufgeklebten Plakate, die für Dosenthunfisch, frischen Spargel und Weichspüler warben, verblaßt und zerrissen. Wir parkten dennoch, kletterten aus dem Lieferwagen und warteten, während Vater eine abgeflachte Rolle Klebeband aus dem Handschuhfach holte. Gemeinsam gingen wir auf die Lagerhalle zu. 140
»Ist sie offen?« fragte Eva, als wir die nicht reagierende automatische Tür erreicht hatten. Vater zögerte einen kaum wahrnehmbaren Augenblick lang und sagte dann: »Das läßt sich nur auf eine Art feststellen.« Er stemmte sich gegen die Tür, und sie gab nach, gab den Zugang ins hallende Warenlager frei, das kalt und luftig wie eine Kathedrale war. Wir blieben kurz an der Tür stehen und warteten, bis sich unsere Augen an das fehlende Licht gewöhnt hatten. Hoch über uns an der Decke ließen jenseits des Gewirrs aus Stahlträgern vereinzelte Fiberglasfenster einige schwache Flecken Tageslicht ein. »Ist hier jemand?« rief Vater. »Aber sicher doch«, meldete sich eine fröhliche Stimme aus dem Dunkel. »Es ist nicht viel übrig, aber solange Sie’s bar bezahlen, gehört es Ihnen.« Es war ein Schock, die riesige Lagerhalle so dunkel und leer zu sehen. Die breiten Durchgänge waren verlassen. Nirgends schoben gehetzte Mütter Einkaufswagen, die mit Einmalwindeln und Kartons mit Frühstücksflokken beladen waren. Nirgends deckten sich pensionierte Paare mit Vogelfutter oder Spirituosen ein. Nirgends fegten Gabelstapler um die Ecken der vollgestopften Regale. Und zu essen schien es gar nichts mehr zu geben. Die Regale, die vom Zementboden fast bis an die hohe Decke reichten, waren so gut wie leer. Und was wir darauf entdeckten, sah nicht nach Lebensmitteln, sondern nach Abfall aus, haufenweise verstreuter Müll, ein paar zerdrückte Schachteln und verbeulte Dosen. 141
»Wir kommen zu spät«, flüsterte Eva. »Es ist nichts mehr da.« Aber Vater hatte sich bereits an die Arbeit gemacht und einen Einkaufswagen aus dem Sammelsurium vorn im Laden herausgelöst. Als er ihn dem ersten Durchgang zuschob, zeigte sich etwas von seiner alten Entschlossenheit. »Es ist genug übrig«, rief er uns nach hinten gewandt zu, mit einer Zielstrebigkeit, die ansteckend wirkte. »Wir müssen bloß danach suchen. Greift euch einen Wagen, Mädels, und folgt mir.« Wir begannen den einst so vertrauten Marsch auf und ab durch die Gänge und sahen bald ein, daß Vater recht hatte – hier und dort fanden sich auf den breiten Sperrholzbrettern, die als Regale dienten, noch Lebensmittel, die zu retten waren. In dem Durchgang, den wir als ersten betraten, waren einmal Backwaren untergebracht gewesen. Nun lagen die Halbliterflaschen mit künstlichem Vanilleextrakt, Papierförmchen zum Muffinbacken und mehrere Großküchenbehälter mit Knoblauchsalz und Backpulver wild durcheinander. »Das wird uns beides nochmal nützlich sein«, sagte Vater und warf Backpulver und Knoblauchsalz in seinen Wagen. »Was brauchen wir sonst noch?« fragte er, und wir sahen uns an, unsicher, wie ironisch die Frage gemeint war. »Mehl«, sagte Eva, als wir an Regalen vorbeikamen, die bis auf ein wenig verstreutes Kakaopulver und eine angebrochene Schachtel Maismehl leer waren. Ganz hinten im untersten Regal, wo es besonders 142
dunkel war, stießen wir auf ein halbes Dutzend Fünfzig-Pfund-Säcke Mehl, aber als wir uns bückten, um sie auf Evas Wagen zu wuchten, stellten wir fest, daß sie halb leer waren. Und als wir sie aufzuheben versuchten, gelang es uns nur, große Mehlwolken aufzuwirbeln und zu verstreuen. »Dacht ich mir’s doch, daß uns das noch mal gelegen kommt«, sagte unser Vater und zog das Klebeband aus der Tasche. »Nichts ist verloren, solang man es mit Lassoband flicken kann«, sagte er und zitierte seinen selbst erfundenen Sinnspruch, mit dem er schon unserer Mutter auf die Nerven gegangen war. Wir halfen ihm, mit großen Klebebandkreuzen die Säcke zu reparieren, halfen ihm, sie auf den Wagen zu heben. »Damit kommen wir sechs Monate aus, ohne weiteres«, sagte er und wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab, »außer Eva beschließt, statt Ballerina lieber Sumo-Ringerin zu werden.« »Wär es nicht angebracht, für andere was übrigzulassen?« fragte Eva, als wir den letzten sperrigen Sack aufgeladen hatten. Sie zeigte auf die in Augenhöhe angebrachten Schilder mit der Aufschrift Denken Sie an den, der nach Ihnen kommt, und bescheiden Sie sich – keine staatlich verordnete Rationierung! Einen Augenblick lang blickte unser Vater tieftraurig drein. Dann sagte er. »Wir werden eine ganze Weile nicht mehr herkommen, deshalb glaube ich, daß uns diese Menge zusteht. Außerdem hat es sonst offenbar niemand eilig, es an sich zu nehmen.« Am Ende des Gangs fanden wir einen Zehn-Pfund143
Sack Zucker, der aber wohl irgendwann feucht geworden war, denn der Zucker im Innern war steinhart. »Ist nicht mehr zu gebrauchen«, sagte ich, als ich ihn befühlt hatte. »Wieso nicht?« fragte Vater. »Weil er hart ist.« »Er wäre längst mitgenommen worden, wenn er in Ordnung gewesen wäre, aber er ist immer noch süß.« Wir legten den Zucker auf meinen Wagen. Auf den Regalen im nächsten Durchgang standen mehrere Riesenflaschen Kloreiniger und zerdrückte Kartons mit Reinigungspulver für die Geschirrspülmaschine, fanden sich Besenstiele, eine aufgerissene Packung Schwämme und diverse grüne Pfützen, von denen Ammoniakgeruch aufstieg. Wir nahmen eine Kunststoffpackung, die einige abgesplitterte Stücke Handseife enthielt, und Vater klebte einen fast leeren Karton Waschmittel zu und stellte ihn zu dem, was wir schon geladen hatten. »Wir brauchen Kerzen«, sagte Eva. Aber wir konnten nichts weiter finden als eine einzelne zerbrochene Haushaltskerze. Und weiter ging es bis in die schwach erleuchteten Winkel der Halle, vorbei an unzähligen Kühltruhen, die bis auf einzelne dunkle Wasserlachen leer waren, vorbei an Stapeln unbespielter Videobänder, an Anrufbeantwortern, CD-Geräten, Computerprogrammen und Faxmaschinen, immer auf der Suche nach verwendbaren Haushaltswaren und eßbaren Lebensmitteln. Weiter hinten in der Halle, wo die Schatten noch dichter wurden, entdeckten wir von anderen übersehene 144
Dosen mit Suppe, Thunfisch, Obstsalat und Sauerkraut. Sie waren alle verrostet oder verbeult, und die meisten hatten ihre Etiketten verloren, aber wir luden sie trotzdem auf unsere Wagen, dazu zwei Zehn-Pfund-Kartons mit zerstoßenen Spaghetti und einen mit zerbrochenen Makkaroni. Wir fanden einige halbleere Säcke Pintobohnen. Wir fanden eine Fünf-Pfund-Schachtel pulverisierte Cracker und drei große Plastikeimer Erdnußbutter, deren Deckel mit teerigem schwarzem Zeug überzogen waren. Schließlich meinte Vater, daß wir genug hätten. »Ich wünschte, wir hätten noch ein paar Einmachdeckel gefunden, aber egal: Wir sind gut gerüstet, bis der Strom wieder eingeschaltet wird, schon gar mit dem Garten und dem, was im Herbst der Obstgarten hergibt.« Als wir unsere Wagen auf die Kassen zuschoben, die wie Wachtposten im vorderen Teil des Ladens aufgereiht waren, konnten wir einen Mann sehen, der an einer der mittleren Kassen saß und im schwachen Licht, das durch das Oberlicht hereindrang, ein Taschenbuch las. Er blickte auf, als wir näher kamen, und ich stellte fest, daß ich ihn dort schon öfter gesehen hatte. Er trug eine Jacke mit dem Firmenzeichen von Fastco. Auf der Höhe seines Herzens waren die Worte Statt und Stellvertretender Geschäftsführer aufgestickt. »Fertig?« fragte er lächelnd und sprang auf. »Ja«, murmelten wir, befremdet von seiner Tatkraft, von der eigentümlichen Normalität, die seine Gegenwart herstellte, und von dem winzigen Anflug von Wahnsinn in seinen braunen Augen. »Dürfte ich bitte Ihre Karte sehen?« 145
Unser Vater sah ihn einen Augenblick verständnislos an. Dann zog er seine Brieftasche hinten aus der Hose und blätterte seine Sammlung aus Scheck- und Kreditkarten, Personal- und Bibliotheksausweisen durch, bis er die leuchtend orangefarbene Karte fand, die bewies, daß er Fastco-Mitglied war. »Herzlichen Dank, mein Herr«, sagte Stan, nachdem er Vaters Gesicht mit der Fotografie auf dem Ausweis verglichen hatte. Dann sahen wir verblüfft zu, wie er die geflickten Säcke und verbeulten Dosen aus unseren Wagen hob und ordentlich in Pappkartons verpackte und dabei alles im Kopf zusammenrechnete. »Drei neunundvierzig und vier fünfundneunzig, das macht acht vierundvierzig, und eins fünfundneunzig macht zehn neununddreißig, und sieben neununddreißig sind siebzehn achtundsiebzig, und sechs neunundvierzig sind vierundzwanzig siebenundzwanzig und drei mal eins neunundachtzig macht neunundzwanzig vierundneunzig.« Er schien die Preise aus der Luft zu greifen, und mir fiel auf, daß er für jede unbeschriftete Dose neunundneunzig Cents berechnete. Auf die Idee, seine Preispolitik oder seine Addition anzuzweifeln, kamen wir erst gar nicht. Schließlich war die letzte aufgebrochene Schachtel zu unseren anderen Einkäufen gepackt, und er wandte sich unserem Vater zu, um ihm mitzuteilen: »Und elf neunundachtzig macht vierhundertvier vierundfünfzig. Darf es sonst noch was sein?« Unser Vater räusperte sich. »Danke, das war’s.« »Dann lautet ihre Gesamtsumme vierhundertvier vier146
undfünfzig. Derzeit ohne Verkaufssteuer«, fügte Stan mit einem Augenzwinkern hinzu. Unser Vater zählte seine Scheine ab und überreichte sie dem Verkäufer, der sie zwischen den Fingern rieb, sie mit einer Lupe begutachtete und zuletzt an einer Ecke mit einem Wattebausch betupfte, den er in einer Schüssel mit einer klaren Flüssigkeit getränkt hatte. »Sie bekommen wohl derzeit viele Fälschungen zu sehen?« erkundigte sich mein Vater. »Ich bekomme so gut wie gar nichts zu sehen. Aber man kann ja nicht vorsichtig genug sein. Deshalb hab ich auch Sheila hier, um mir Gesellschaft zu leisten.« Er lächelte uns erneut zu und beugte sich vor, um die Schrotflinte zu tätscheln, die er, wie wir plötzlich entdeckten, an das außer Betrieb gesetzte Ablesegerät gelehnt hatte. »Sheila hat sich als echter Kumpel erwiesen. Erst recht damals, als hier die Plünderer reinzukommen versucht haben.« Er schüttelte jäh mit grimmigem Abscheu den Kopf. »Die Leute wollen immer alles umsonst – das hat uns die ganze Unordnung erst eingebrockt. Aber Sheila hat dafür genausowenig übrig wie ich, und die haben bald gelernt, daß hier nur zahlende Kundschaft willkommen ist.« Seine Finger ruhten einen Augenblick lang auf dem Lauf der Flinte, ehe er das Geld, das Vater ihm gegeben hatte, durch den Schlitz der verschlossenen Geldkassette schob, die unter seinem Stuhl stand. »Wir wohnen ein Stück außerhalb der Stadt«, sagte unser Vater. Er bemühte sich um einen leichten Plauderton, senkte aber doch beim Sprechen die Stimme. 147
»Deshalb bekommen wir kaum einmal die neuesten Neuigkeiten zu hören.« »Gibt nicht viel zu hören«, antwortete Stan und zählte Wechselgeld aus seiner Tasche in die ausgestreckte Hand meines Vaters. »Wo sind denn alle? In der Stadt sieht es ziemlich leer aus.« »Na ja, viele Leute sind natürlich weggezogen, als die Gerüchte aufkamen. Einige sind nach Sacramento gefahren. Andere Richtung Süden. Hatten gehört, daß es da drunten Arbeit gibt – und Strom und Wasser. Das bequeme Leben, nicht wahr?« Er zuckte die Achseln. »So viele verschiedene Gerüchte. Mir war das zu riskant, aber was weiß ich? Bis jetzt ist noch niemand zurückgekommen. Das kann gut sein oder schlecht, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Es ist alles so schnell passiert«, warf ich ein. »Sehr richtig.« Er schien sich darüber zu freuen. »Das haben die meisten Leute gemeint. Aber uns hat man auf den Tagungen des Lebensmittelhandels immer gesagt, daß die Versorgung nur drei Tage lang gestört zu sein braucht, und schon leeren sich die Regale. Wenn man’s bedenkt, ist es schon erstaunlich, daß wir so lange durchgehalten haben.« Wir nickten. »Die Stadt wirkt vor allem deswegen so leer, weil die Bewohner fort sind. Außerdem haben diverse Krankheiten unter ihnen aufgeräumt. Vor einem Monat oder so sind die Masern hier durchgekommen, haben eine ganze Menge Leute hingerafft. Hab so meinen Jüngsten verloren. 148
Dann kam was anderes – eine Magengeschichte –, und schon waren die nächsten dran. Wieder andere sind auf andere Art gestorben – an Lebensmittelvergiftung, ein paar auch an Blinddarmentzündung. Ein kleiner Schnitt genügt schon, wenn er zu stark blutet oder sich infiziert.« »Wo sind denn die Ärzte geblieben?« fragte ich. Er sah mich einen Augenblick lang ratlos an und sagte dann: »Die werden wohl noch da sein, nehme ich an, wenigstens ein paar. Nicht, daß das etwas nützt, nachdem die Arzneimittel verbraucht und ihre komplizierten Apparate stillgelegt sind. Es gibt in der Stadt eine Frau, die sich mit Kräutern auskennt – zu der gehen manche, wenn sie Hilfe brauchen. Ich weiß nicht, ich persönlich würde lieber eine Pille schlucken. Aber da muß ich wohl noch eine Weile warten. Wollen hoffen, daß wir keinen ärztlichen Beistand mehr brauchen, bis alles wieder in Gang kommt.« »Und die übriggebliebenen Leute – wo sind die?« »Zu Hause. Die meisten Leute rühren sich kaum noch aus dem Haus. Also – sie arbeiten im Garten, halten Hühner und so. Sie warten ab.« Wir nickten zustimmend. »Ich selbst bin wohl aus anderem Holz«, fuhr er fort. »Ich gehe gern aus dem Haus, komme hierher und beschäftige mich.« Er schüttelte Entschuldigung heischend den Kopf. »Nicht viel los, bis die Regierung wieder auf den Beinen ist.« »Was weiß man darüber?« »Hab ein Gerücht gehört, daß ab Herbst wieder Steuern 149
erhoben werden. Aber was sind schon Gerüchte – ha! Hab gleichzeitig ein Gerücht gehört, wonach ein paar Leute in Grantsville ein Raumschiff gebaut haben und Fahrkarten zum Mond verkaufen.« Er gab ein kurzes, hartes Lachen von sich, einen verächtlichen Laut, der seine Schultern ruckartig hochfahren und wieder erschlaffen ließ. Im selben Augenblick verlor sein Gesicht seine geübte Freundlichkeit, und er sah richtig verzweifelt aus. »Was die dann besteuern wollen, weiß ich nicht. Ihre Scheine sind die ersten echten, die ich seit einer Ewigkeit zu sehen gekriegt habe. Niemand kauft etwas. Das ganze Geld ist verschwunden.« »Gibt es in der Stadt noch irgendwo Benzin?« fragte Vater und faltete unser übriges Geld, um es zurück in seinen abgenutzten Geldbeutel zu schieben. Stan lachte wieder, das gleiche verächtliche Schnauben. »Der alte Mick Mitter drüben bei Exxon behauptet, daß er in allernächster Zukunft mit einer Lieferung rechnet. Aber Sie kennen ja Mick. Oder vielleicht auch nicht. Er schwätzt gern. Hält seit Juni Ausschau nach dieser Lieferung.« Stan setzte wieder das Lächeln des stellvertretenden Geschäftsführers bei Fastco auf. Nur seine Augen hatten noch den wilden leeren Blick. Er stellte den letzten Lebensmittelkarton in Evas Wagen und fragte: »Brauchen Sie vielleicht Hilfe beim Einladen?« Heute ist ein Tag, der schlimmer als Weihnachten ist. Heute ist ein Tag, für den es sich lohnen würde, den ganzen Kalender aufzugeben. Es ist ein Tag, der nie mehr etwas anderes bedeuten kann als Bedauern und Kummer 150
und einen Gram wie Stahl – so hart, so scharfkantig, so kalt, daß selbst die Luft unerträglich erscheint. Das Atmen tut weh. Mein Herz sehnt sich unter Schmerzen danach, Blut zu pumpen. Heute wird alles, was ich berühre, anschaue, lese oder denke zu Staub, als wäre ich das Gegenstück zu König Midas. Denn heute ist der Geburtstag meines Vaters, und jeder Gedanke an ihn ist von meiner Erinnerung an seinen Tod verdunkelt. Es war Anfang September letzten Jahres. Morgens sorgte der Küstennebel für frostige Kühle, die Nachmittage waren schwül und heiß, die Abende danach mild mit einer Luft, die sich an unseren nackten Armen wie Seide anfühlte, und es gab rosa Wolken hoch am tiefer werdenden Blau des Himmels. Der Garten hatte seine beste Zeit hinter sich. Salatköpfe, Spinat und Kohl waren vor Monaten ins Kraut geschossen. Wir hatten längst alle Rettiche und Erbsen verzehrt und näherten uns bei Mais, roten Beten und Möhren dem Ende. Die Bohnen, Sommerkürbisse und Tomaten wuchsen immer langsamer nach, und im Obstgarten waren die Äpfel fast reif zum Pflücken. Vater sagte voraus, daß wir die Krise überstehen würden. Wir würden bald unseren Strom wiederhaben, versprach er. Das Telefon würde wieder klingeln, und er würde eine Wanderung in die Stadt unternehmen, um Benzin zu holen. Dann würde die Grundschule von Redwood wieder aufmachen, Eva könnte mit dem Ballettunterricht weitermachen und zum Vortanzen gehen, und ich könnte anfangen, mich ernsthaft auf meine Leistungstests im November vorzubereiten. 151
Ich hatte das Gefühl, daß sich die erdrückende Trauer, die unser Leben fast erstickte, endlich von uns hob. Vater verschwand zwar nach wie vor häufig nach oben, noch ehe die Sonne untergegangen war, aber die Stunden, in denen er Holz hackte oder im Garten arbeitete, schienen ihm neue Kraft zu geben. Er war nicht mehr so geistesabwesend und durchbrach sein stilles Leid sogar manchmal mit einem Scherz. Mittlerweile las ich – meist zum wiederholten Mal – jeden Roman im Haus. Ich hatte die letzte Ladung Bücher aus der Bücherei längst gelesen. Meine Sprachkassetten schwiegen, mein Computer war nur ein staubiger Kasten, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich von Romanen mit Gedanken und Gefühlen und Wahrnehmungen versorgen und mir ein anderes Leben vermitteln zu lassen als mein eigenes, das sich in der Schwebe befand. Siddharta. M wie Mord. Der kleine Hobbit. Das goldene Notizbuch. Tess von den d’Urbervilles. Catch – 22. Die Mars-Chroniken. Adam Bede. Während ich einen Roman las, war ich untergetaucht, versunken in die Geschichte, die er erzählte, und alles andere war eine Unterbrechung. Ich konnte stundenlang lesen, und jede Ablenkung – eine Frage, eine Mahlzeit, das Hereinbrechen der Dunkelheit – ließ mich vor Ungeduld beben. Ich ertappte mich gelegentlich dabei, daß ich von Eli träumte, aber diese Phantasien hatten einen Großteil ihrer Dringlichkeit eingebüßt. Die Erinnerung an ihn war wie ein abgewetzter Teddybär, wie etwas, auf das ich mich einst verlassen hatte, über das ich jedoch irgendwann hinausgewachsen war. Ich hielt mich hin 152
und wieder aus alter Gewohnheit daran fest, glaubte aber inzwischen auch, daß Eva recht hatte, daß Eli nicht für mich bestimmt war, und hatte angefangen, mir seinen Nachfolger vorzustellen – den Jungen, den ich in. Harvard kennenlernen würde. Vormittags machten wir ein. Mutter hatte von älteren Verwandten väterlicher- und mütterlicherseits Einmachgläser geerbt und benutzte sie manchmal, um besondere Leckereien herzustellen – Möhren mit Kräutern, Gewürzpfirsiche oder Tomatenchutney. Nachdem sie gestorben war, entdeckten wir in der Speisekammer einen fast vollen Karton mit Einmachdeckeln von Fastco, und eines Sommerabends, als die Tomatenpflanzen mit Früchten beladen waren, die roten Bete aus der Erde ragten und die Bohnen wie lange Finger von ihren schlaffen Ranken hingen, setzte sich Vater auf die Terrasse. Auf seinem Schoß lag ausgebreitet Das große Buch des Einmachens, das er vom Inhaltsverzeichnis bis zum Register vollständig durchlas. Als dann die letzte rosa Wolke ins Blauschwarz des Himmels über uns einging, klappte er das Buch zu, blickte auf und sagte: »Das war’s, Mädels – diesen Sommer essen wir, soviel wir können, aber ehe wir uns davon einmachen lassen, machen wir ein.« Danach weckte er Eva und mich jeden Tag bei Morgengrauen, und wir verlasen, wuschen, schälten, schnitten in Scheiben, packten und verarbeiteten den ganzen Morgen, bis die Schrunden und Rillen an unseren Fingern auf Dauer vom Saft der Tomaten, roten Bete und Pflaumen verfärbt und unsere Gesichter und Arme von den Kesseln 153
mit kochendem Wasser gerötet waren, über die wir uns ständig zu beugen schienen. Der Holzofen mußte bullern, um das Wasser im Einmachkessel so kochen zu lassen, wie es das Große Buch des Einmachens verlangte. Am späteren Vormittag war es im ganzen Haus derart heiß, daß uns das Atmen schwer fiel. Langsam schrumpften die Obstberge, während die mit den Kernen und Schalen wuchsen. Langsam füllte sich der Tisch mit Gläsern voller Früchte, und wir hörten über dem Brausen des Feuers erstmals das leise Ping der Einmachdeckel, die sich beim Abkühlen von selbst versiegelten. Und langsam wurden Eva und ich immer weniger hilfsbereit, immer verdrießlicher, bis mein Vater schließich sagte: »Lauft ihr Mädels schon mal los, ich kümmer mich hier nur noch um den letzten Schub. He – einundzwanzig Liter! Da haben wir heute morgen gute Arbeit geleistet.« Einmal fuhr ich ihn an: »Warum, verdammt noch mal, machen wir uns die Mühe? Ich dachte, du hast gesagt, daß alles bald wieder normal läuft.« »Ach, ich weiß nicht«, antwortete er ein wenig zu lässig. »Ein Glas Obst wird, denke ich, immer nützlich sein – als Tauschobjekt, wenn schon für nichts anderes. Außerdem wäre es schändlich, in einer Zeit wie dieser etwas zu verschwenden.« Ich runzelte die Stirn. Eva und ich stürmten aus dem Haus und überließen ihm die Sorge und das Aufräumen. Inzwischen frage ich mich, ob er mehr wußte, als er zugeben wollte, und deshalb darauf bestanden hat, daß wir jeden Morgen arbeiteten, bis alle Gläser gefüllt waren, die wir besaßen. 154
Und wenn er zur heißesten Stunde des Tage endlich aus dem Haus trat, geschah dies nur, um im Garten zu arbeiten oder im Wald Holz zu fällen. »Eigentlich wollte ich diesen Sommer das Dach neu decken und den Abstellraum abstützen«, sagte er, »aber im Augenblick sieht es ganz danach aus, als wären Feuerholz und Nahrungsmittel wichtiger.« Er wollte erreichen, daß wir für mindestens drei Jahre Feuerholz zum Trocknen aufgeschichtet hatten, bis im Winter der Regen einsetzte. Und davon abgesehen wollte er weiteres Holz zum Verkaufen haben. »Wir müssen in diesem Herbst ein bißchen vorausdenken«, sagte er einmal. »Die staatlichen Schulen sind garantiert die letzten zahlungsfähigen Institutionen in Reichweite. Und ich hab zwei Töchter, die irgendwann nach ihrer Mitgift verlangen werden. Oder wenigstens Spitzenschuhe, Unterrichtsgeld und Lippenstift der Marke Kiss Me Quick Crimson oder Move Over Mauve – so hießen sie doch, nicht wahr? Jedenfalls müssen wir für den Lippenstift ein wenig Geld auf die hohe Kante legen.« Ich wußte, daß er alles zu beseitigen versuchte, was zwischen uns an Bitternis aufgekommen war, aber so sehr mich auch danach verlangte, mich in scherzhaftem Ton mit ihm zu unterhalten, schnürte mir doch der Unmut die Kehle zu. Einerseits sehnte ich mich danach, von ihm gehänselt, verlacht und Pummelchen genannt zu werden, aber andererseits sträubte ich mich noch. Es machte mich wütend, daß er jetzt glücklich sein konnte, wütend, daß es je anders gewesen war. Ich klammerte mich an die Macht meines Zorns, an die Sicherheit, die es bedeutete, 155
die Oberhand zu haben. Und als er merkte, daß sein Friedensangebot erneut abgelehnt worden war, sammelte er seine Kettensäge und seine Spannsäge auf, verließ die Lichtung und rief im Gehen über die Schulter zurück: »Es war einmal ein armer Holzfäller, der nichts anderes vorzuweisen hatte als eine kleine Hütte im Wald und zwei gesunde Töchter, die einen Lippenstift brauchten …« So zog er durch den Wald, fällte Bäume und ließ sie in der Sommerhitze zum Trocknen zurück oder hackte die Äste von den Bäumen, die er gefällt hatte. Er schnitt sie auf Ofenlänge zurecht und stapelte sie entlang der alten Holzfällerwege, bereit, auf den Lieferwagen aufgeladen zu werden, sobald er das Benzin hatte, um damit fahren zu können. Er hatte ein wenig Benzin für die Kettensäge aufgespart. »Das ist sinnvoll genutzter Brennstoff«, erklärte er, als ich mich darüber beschwerte, daß er Benzin für seine Säge hatte, wir dagegen kein Benzin benutzen durften, um in die Stadt zu fahren. »Eine Kettensäge ist eine der nützlichsten kleinen verbrennungsmotorgetriebenen Maschinen, die es gibt. Und im Augenblick, fürchte ich, brauchen wir Feuerholz wesentlich dringender als einen Ausflug in die Stadt.« Im weiteren Verlauf des Sommers benutzte er immer häufiger seine Spannsäge und die Axt, aber das war Plackerei, und wir hörten immer noch gelegentlich seine Kettensäge in der Ferne wimmern wie eine leicht lästige Stechmücke. Während er die Nachmittage im Wald verbrachte, blieben Eva und ich auf der Lichtung. Wir jäteten halbherzig 156
das Unkraut im Garten, machten uns in der zunehmend spartanischen Küche zu schaffen oder versuchten uns mit unseren einstigen Leidenschaften die Zeit zu vertreiben. Aber wir sahen immer öfter davon ab, Arbeit vorzuschützen, und traten aus dem erdrückenden Haus in die sengende Hitze des Tages. Nebeneinander streckten wir uns auf den vom Schatten gesprenkelten Tannennadeln droben am Wassertank aus. Schwer atmend und dösend lagen wir dort und hofften auf einen leichten Luftzug. Auch an jenem Nachmittag waren wir droben am Wassertank. Es war spät, fast schon Zeit, daß Vater auf die Lichtung zurückkehrte, als wir anfingen, uns Gedanken übers Abendessen zu machen. Aus reiner Langeweile hatte ich meinen kleinen Vorrat an gehortetem Nagellack angebrochen und malte mir die Fingernägel an. Ich kann jetzt noch das kühle Kitzeln des Pinsels spüren, rieche jetzt noch den durchdringenden Chemiegeruch, der von dem niedrigen Fläschchen aufsteigt, sehe jetzt noch die nassen, leuchtendroten Ovale meiner Nägel vor dem Hintergrund meiner vom Obst verfärbten Finger, höre jetzt noch irgendwo am Rand meiner Wahrnehmung die Kettensäge singen. In meiner Erinnerung an diesen Augenblick bin ich zu unschuldig, um etwas anderes zu sein als glücklich. Dann hörten wir auf einmal einen Schrei. Es war ein Laut, der alles zerbrach, worauf wir uns zu verlassen gelernt hatten. Einen ungeheuren in die Länge gezogenen Augenblick lang konnten wir die Bedeutung dieses Lauts nicht ermessen und überlegten fieberhaft, versuchten blindlings, seine Ursache zu ergründen. 157
Ich hatte meinen Vater noch nie schreien hören, hatte mir so etwas nie vorgestellt. Wie damals, als ich ihn bei Mutters Beerdigung hatte weinen sehen, schämte ich mich, nicht so sehr deshalb, weil es etwas über ihn aussagte, sondern weil ich nie die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, daß mein Vater weinen könnte – oder schreien. Es mußte sein Schrei gewesen sein. Außer ihm war niemand in der Nähe, aber als wir durch den Wald rannten, konnte ich immer noch nicht so recht glauben, daß dieser Laut der seine war, nicht einmal dann, als wir atemlos vor Erschöpfung und Entsetzen die Stelle erreichten, an der er lag, eine klaffende Wunde im Oberschenkel, aus der pulsierend das Blut troff. Es wird mir immer ein Rätsel sein, woher wir wußten, in welche Richtung wir zu rennen hatten. Es gab einen ganzen Wald, um darin verlorenzugehen, und der Schall nimmt zwischen diesen Hügeln seltsame Wege. Wir aber wurden aus unseren Tagträumen gerissen und sprangen gemeinsam auf, rannten geradewegs auf das Echo des Schreis zu, rannten durch Sumach- und Brombeergestrüpp, rannten, ohne an Schlangen und Wildschweine zu denken, rannten dorthin, wo das Leben unseres Vaters mit seinem Blut in den Erdboden sickerte. Sein Gesicht war bleich, die Haut über seinen Wangenknochen gespannt. Er hatte das Hemd ausgezogen, und seine gebräunten, mit Sägemehl bestäubten Unterarmen standen in seltsam widerwärtigem Kontrast zu seiner bleichen Brust. Seine Augen waren dunkel, sein Blick bereits entrückt, und doch lächelte er, als er unserer ansichtig wurde. Mich aber sah er so warmherzig und traurig an, 158
so liebevoll und verzeihend, daß ich manchmal glaube, daß das die Ursache all meiner Alpträume ist. »Ist ja gut«, flüsterte er. »Ist ja gut.« Wir verhielten einen Augenblick lang, als seien wir nach unserem überstürzten Lauf durch den Wald auf einmal zimperlich geworden, nicht willens, uns die Hände blutig zu machen, nicht willens, das Fleisch, das Gemenge aus Muskel und Sehne und Fett anzusehen, das von unserem Vater übriggeblieben war. Ich glaube, wir wollten nicht zur Kenntnis nehmen, was vorgefallen war, nicht aus Angst, sondern aus der unsinnigen Hoffnung heraus, daß unser Vater, wenn wir nicht zugaben, daß er verletzt war, nicht verletzt sein würde: Weigerten wir uns, seine Wunde zu sehen, würde er sich erheben und mit uns durch den duftenden sommerlichen Wald nach Hause gehen. Aber der Augenblick verging, und schon waren wir an seiner Seite, knieten in einer Paste aus Fichtennadeln und dem Blut unseres Vaters auf dem Waldboden. »Was ist nur passiert?« schluchzte Eva. Sein Gesicht war angespannt, und er rang nach Worten. »Ein Ast. Muß gefallen sein. Hat mich getroffen. Von hinten. Hat mich umgeworfen. Auf. Die Säge.« »Ich dachte, das geht gar nicht«, keuchte ich und starrte entsetzt die blutverschmierte Säge und deren grinsende Zahnreihe an. Er verzog das Gesicht. »Hab letzte Woche. Den Unterbrecher. Abmontiert. Dumm. Geschieht mir. Recht.« »Was sollen wir tun?« fragte Eva, ohne daß klar gewesen wäre, an wen die Frage gerichtet war. Unser agnostischer Vater lächelte und antwortete mit 159
einem Laut, der einem Kichern so nahe kam, wie man es von einem Sterbenden verlangen konnte: »Beten.« »Was sollen wir nur tun?« fragte sie wieder, und diesmal war ich gemeint. Meine erste Reaktion – selbst nach so vielen Monaten der Isolation – war das Bedürfnis, Hilfe zu holen. Die Zahlen des Notrufs kamen mir ruckartig in den Sinn, und ich sah mich zum Haus zurückrennen, das Telefon an mich reißen und die drei geheiligten Zahlen eintippen. Aber dann hörte ich das Schweigen im Hörer, das seit einem halben Jahr anhielt. Als nächstes dachte ich an die Colemans, die sechseinhalb Kilometer entfernt lebten, und stellte mir vor, wie ich losrannte, um sie zu suchen. Aber dann fiel mir ein, daß ihr Haus verlassen war, ein Ort zum Ferkeln für Wildschweine. Ich dachte daran, mit rasender Geschwindigkeit in die Stadt zu fahren, bis mir einfiel, daß im Lieferwagen kein Benzin mehr war. Zuletzt dachte ich an die Trillerpfeifen, die uns unsere Mutter einst wie Amulette um den Hals gehängt hatte, und ich glaube mich zu erinnern, daß meine Finger sogar auf meiner Brust danach tasteten. Wenn ich die verlorengegangene Pfeife wiederfand und so fest ich konnte hineinblies, würde ich die Barriere zwischen den Lebenden und den Toten durchbrechen, und meine Mutter würde höchstpersönlich ihren Webstuhl verlassen und aus dem Haus geeilt kommen, um zu helfen. Ich wollte, daß jemand unseren Vater rettete. Ich hatte Angst, den Versuch zu wagen und ihn selbst zu retten. »Komm schon«, schrie Eva, »wir müssen was tun.« Ich ging neben meinem Vater in die Knie. 160
»Was?« fragte ich flehend. »Ich weiß nicht, was zu tun ist.« Ich dachte an den Erste-Hilfe-Kasten im Bad mit seinen Pflastern, seinem Jod und dem Handbuch für Notfälle. »Der Erste-Hilfe-Kasten«, sagte ich und sprang auf. »Das Handbuch wird uns sagen, was wir tun müssen!« Aber Vater antwortete: »Geh nicht, Nellie. Du würdest mir. Zu sehr. Fehlen.« Ich kam mir vor wie damals mit acht Jahren, als mein Fieber über vierzig Grad angestiegen war und meine Sinne so quälend geschärft waren, daß die verschlungenen Abdrücke an meinen Fingerspitzen wie Berg und Tal aussahen und ich meinte, jedes Körnchen Realität spüren zu können. Ich kam mir vor, als sei mein ganzes vorheriges Leben nur ein blasser Traum gewesen und ich soeben daraus erwacht – von dem Schrei, der die ganze Zeit dagewesen war, eine unterschwellige Strömung des Grauens unter jedem einzelnen Tag. Den einzigen Ausweg, das sah ich, bot der Wahnsinn. Ich hätte aufstehen, durch den sonnigen Wald davongehen und nie wieder zu Verstand kommen können, und irgendwie wäre mir das recht gewesen. Aber es war mein Vater, der dort lag, meine Schwester, die von mir erwartete, daß ich ihn retten würde. Darum tat ich, was ich konnte, auch wenn es am Ende nichts war. Er umklammerte seinen Oberschenkel, und als ich behutsam seine Hände wegzog und sah, wie die Kettensäge den blauen Drillich mit seinem Fleisch verheddert hatte, rang ich nach Atem. Ohne nachzudenken, legte ich meine zitternden Hände an seinen Schenkel, versuchte 161
ich, sein Bein neu zu formen, es zusammenzupressen, damit daraus kein Blut mehr fließen konnte. Ich glaube, daß seine Hauptschlagader im Oberschenkel durchtrennt war. Sie hatte, bis wir eintrafen, fast zu bluten aufgehört, aber jedesmal, wenn er sich bewegte, tropfte noch ein wenig Blut zwischen meinen Fingern heraus. Irgendwann fiel mir ein, daß ich versuchen mußte, die Blutung aufzuhalten, indem ich Druck auf die Arterie ausübte. Ich preßte meinen Handballen gegen sein Schambein, dort wo ich hoffte, daß die Arterie verlief. Ob er vielleicht überlebt hätte, wenn ich früher daran gedacht hätte, werde ich nie erfahren. Er hatte zu zittern begonnen, und mir ging verspätet auf, daß er sich im Schockzustand befand. Ich veranlaßte Eva, ihn mit seinem Hemd zuzudecken und seine Beine hochzulegen, indem sie seine Füße auf den Schoß nahm. Aber er zitterte, nachdem seine Beine hochgelegt und sein Hemd über ihm ausgebreitet war, immer weiter, so als wäre die Erde, auf der er lag, mit Schnee bedeckt. Er sagte, er habe Durst, worauf Eva zu seiner Thermosflasche griff und ich ihm half, die letzten verbliebenen Tropfen zu trinken. Doch was wir unternahmen, war so jämmerlich wenig. Ein Schluck Wasser, ein Baumwollhemd und unsere vier Hände konnten sein Bein nicht heilen, und ich wußte nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Er starb, als die Sonne unterging. Wir hielten ihn fest, streichelten sein Gesicht und redeten ihm gut zu, wie es Mütter mit ihren Kindern tun. Wir versprachen ihm, daß alles gut sei, raunten ihm die Lügen zu, die über 162
sich selbst hinauswachsen und einfach deshalb zu einer Art Wahrheit werden, weil die Macht der Liebe oder der Not bewirkt, daß sie ausgesprochen werden. Er hörte sich die Lügen an und bemühte sich, ruhig dazuliegen. »Ist ja gut«, keuchte er einmal, als wir es längst nicht mehr für möglich gehalten hätten, daß er etwas sagte. »Ist ja gut.« Dann nahm er sein ganzes schwächer werdendes Ich zusammen, wandte mir seinen Blick zu und sagte: »Keine Sorge. Pummelchen.« Lange nachdem sich sein Blick nach innen gewandt hatte, lange nachdem selbst sein Zittern aufgehört hatte und seine vereinzelten Atemzüge uns überraschten, redeten wir auf ihn ein. »Es tut mir leid«, würgte ich einmal hervor, als die ersten stillen Sterne am klaren Himmel erschienen. Aber als ich mich endlich überwunden hatte, die Worte auszusprechen, sprach ich längst zu einem Leichnam. Und dann waren wir Waisenkinder, allein im Wald, und die Nacht brach über uns herein. Egal, was als nächstes passiert, egal, was wir noch zu ertragen haben: Es kann keine schlimmere Zeit kommen als jene Nacht. Wir mußten bei ihm bleiben. Wir konnten den Gedanken nicht ertragen, seine Gebeine den Schweinen zu überlassen. Dabei hatten wir furchtbare Angst vor ihnen und vor den Schlangen und Geistern, die gewiß die Finsternis herbeizitierte. Es war zu spät, zum Haus zurückzukehren und Decken und Streichhölzer zu holen, zu spät, um das Gewehr zu holen und uns damit in der Dunkelheit Mut zu machen. Darum wischten wir uns, so gut es ging, an Vaters Hemd 163
die Finger ab, aber unsere Hände fühlten sich immer noch klebrig an, und der Blutgeruch war allgegenwärtig. Wir suchten uns je einen herabgefallenen Ast von der Dicke eines Baseballschlägers und kauerten uns neben der Leiche unseres Vaters zusammen. Wir beobachteten, wie die letzte Farbe am Himmel verblaßte, wie Dunkelheit das Land ergriff, und harrten der wilden Tiere oder Dämonen, die uns den Garaus machen würden. Nichts passierte. Wir schmiegten uns in der eisigen Nacht aneinander, zu benommen vor Kälte und Schock, um zu sprechen oder auch nur zu weinen, und wir tasteten jedesmal nach den Ästen auf unserem Schoß, wenn ein Zweig knackte oder ein Baum knarrte oder der hohle Ruf einer Eule erklang. Wir hielten durch. Stunde um Stunde hielten wir durch, während in uns der Schrei des Lebens unaufhörlich andauerte. Als die Sterne kaum merklich verblichen, waren wir immer noch da, atmeten wir immer noch, und unser Vater lag mit zugleich scharfen und erschlafften Gesichtszügen immer noch tot neben uns. Aber vielleicht war doch etwas passiert. Denn als der Wald wieder sichtbar zu werden begann, waren wir kaum erleichtert, ihn zu sehen. Er war nicht mehr der gütige Ort unserer Kindheit, nicht mehr der neutrale Ort, der er tags zuvor gewesen war. Der Wald, der sich offenbarte, als die Nacht zurückwich, war ein rauher, gleichgültiger Ort, ein Ort, an dem ein Mann verbluten konnte, ohne daß die Bäume, die Felsen, ja sogar die blutige Scholle dadurch verändert wurden. Nur die Geier, Schweine und Würmer waren daran interessiert. 164
Wir begruben Vater an Ort und Stelle, weil es sein mußte, mitten in diesem scheußlichen Wald, mit dem Erdreich bedeckt, das sein Blut durchtränkt hatte. Als sich der Himmel soweit erhellt hatte, daß wir den Wildpfad erkennen konnten, der uns zu ihm geführt hatte, ging Eva zurück, um Schaufeln, Wasser, Handtücher und ein sauberes Hemd zu holen, während ich wie betäubt neben dem Leichnam wartete. Als sie wiederkam, bahrten wir ihn auf, so gut es ging. Wir wuschen ihm das Gesicht, rückten seine Gliedmaßen gerade und schafften es unter Mühen, ihm das Hemd anzuziehen. Wir gruben den ganzen Tag. Wir hatten für ihn in der Nähe der Stelle, wo er lag, einen Grabplatz ausgesucht, aber nachdem mein erster Versuch, die ausgetrocknete Erde aufzugraben, nur eine verrenkte Schulter und eine Staubwolke erbracht hatte, war ich fast schon soweit, aufzugeben. Nur der Gedanke daran, was passieren würde, wenn wir ihn unbeerdigt zurückließen, veranlaßte mich, meine Schaufel erneut einzustechen. Und so hoben wir – eine Schaufelladung schwerer als die andere – das Grab unseres Vaters aus. Als der Vormittag halb um war, waren unsere Blasen aufgeplatzt und bluteten, und der lächerliche rote Lack war längst von meinen rissigen Fingernägeln abgeblättert. Gegen Mittag hatten wir alles Wasser getrunken, das Eva mitgebracht hatte, aber wir arbeiteten dennoch weiter, entschlossen, ein Grab zu graben, das kein Wildschwein aufwühlen konnte. Derweil kreisten hoch über uns die Geier, und ihre Schatten glitten kühl über unsere schwitzenden Rücken. 165
Nur das Risiko, eine weitere Nacht im Freien verbringen zu müssen, gebot uns Einhalt. Die Sonne war bereits hinter dem Hügel versunken, als wir endlich zu graben aufhörten. Da wir ihn noch mit dem Erdreich zudecken mußten, das wir bewegt hatten, fiel unser Abschied kurz aus. Wir küßten ihn, legten seinen Körper an den Rand des Grabes und schoben ihn an. Es gab keine Möglichkeit, ihn behutsam hinabzulassen, keine Möglichkeit, sanft mit ihm umzugehen und die Tatsache zu verschleiern, daß es ein Leichnam war, der dort in die Grube polterte. Es war nicht zu umgehen, daß wir Erde auf sein Gesicht schaufelten, und solange sein Körper nur halb bedeckt war, mußte ich alle Kraft zusammennehmen, um zu verhindern, daß sein Schrei erneut aus meinem Mund hervorbrach. Der Abend dämmerte herein, als wir endlich fertig waren. Wir sammelten mit aufgerissenen Händen die Schaufeln und Handtücher ein, die Thermoskanne, die leere Wasserflasche und die Spannsäge. »Was ist mit der Kettensäge?« fragte Eva. Ich blickte darauf herab, sah die dunklen Flecken und Blutgerinnsel und erschauerte. »Die lassen wir hier.« »Papa würde uns den Hals umdrehen«, flüsterte sie. »Was ist, wenn wir sie brauchen?« Als wir zu Hause ankamen, schleppten wir die Matratzen aus unseren Betten hinunter ins Wohnzimmer. Wir verriegelten die Türen, verschlossen die Fenster und stiegen nacheinander kurz ins eisige Wasser der Wanne. Nachdem wir in dem Bemühen, fortzuspülen, was wir nie wieder loswerden konnten, etwas von 166
unserer gehorteten Seife verbraucht hatten, warfen wir uns tropfnaß auf unsere Matratzen, zu benommen und erschöpft, um zu essen oder zu weinen oder uns auch nur abzutrocknen. Dann saßen wir, so scheint es, tagelang nur herum, jede für sich allein, während das Unkraut die letzten Reste des herbstlichen Gartens überwucherte. Es wäre mir, glaube ich, fast lieber, ihn ein zweites Mal sterben sehen zu müssen, als mich noch einmal der nachfolgenden Leere zu stellen. Denn was damals folgte, waren Tage der völligen Untätigkeit, an denen wir Backgammon spielten oder Puzzles zusammensetzten wie zwei Alzheimer-Patienten, die sprachlos auf etwas warten, das sie vergessen haben, unfähig, zu trauern oder zu hoffen. Irgendwann um diese Zeit fingen meine Alpträume an. Nacht um Nacht träumte ich, mein Vater werde aus seinem Grab gerissen. Ich träumte, daß ihn die Schweine doch gefunden und mit ihren brutalen Hauern aus dem Erdreich gewühlt hatten. Versuchte ich, seinen Leib erneut mit Erde zu bedecken, schmolz im Traum meine Schaufel. Wenn ich dagegen mit den Händen die Erde ins Grab zurückschaufelte, lösten sie sich auf und meine Arme verwandelten sich in Stümpfe. Die einzige Möglichkeit, meinen Vater zu begraben, war die, ihn mit meinem armlosen Körper zu bedecken, und ich hatte Angst, ihn zu berühren, Angst, daß ich mir, wenn ich ihn berührte, bei ihm den Tod holen könne. Ob ich ihn nun berühre oder vor ihm davonrenne, ob ich träume oder wach bin: An seinem Geburtstag und 167
an allen anderen Tagen ist mein ganzes Leben davon verdunkelt, daß er tot ist. Heute haben wir die letzten grünen Bohnen gegessen. Ich habe den Deckel des Einmachglases aufgestemmt und versucht, mich zu erinnern und doch nicht zu erinnern – an die Hitze, meinen gezerrten Nacken und meine ungehemmte, störrische Verdrossenheit, als ich über die Schüssel auf meinem Schoß gebeugt Erbsen geschält hatte, während mein Vater das nächste Gestell mit dampfenden Gläsern aus dem kochenden Wasser hob. Heute haben wir eine wundersame, herrliche und rätselhafte Entdeckung gemacht! Heute haben wir Licht und Wärme und Musik gefunden! Wir haben die Quelle des Antriebs und der Fortbewegung gefunden, jene Flüssigkeit, die alles ändert! Heute haben wir Benzin gefunden! Ich könnte das gesamte Notizbuch mit Ausrufezeichen füllen und immer noch nicht deutlich genug machen, wie glücklich wir darüber sind. Es war Mittag. Wir hatten den ganzen Morgen in der Werkstatt gearbeitet, hatten Ordnung in das Chaos auf dem Arbeitstisch und in den Regalen unseres Vaters gebracht. Meine Finger waren steif vor Kälte und schwarz vor Schmiere. Mein Nacken war verkrampft. Meine Füße waren taub. Es war Zeit, hineinzugehen, Zeit, das Feuer 168
zu schüren, uns die Hände zu waschen und etwas zu Essen zuzubereiten. Eva mußte trainieren, und ich wollte versuchen, vor dem Abendessen mit dem Buchstaben J fertig zu werden. Ich saß an dem stählernen Tisch und kramte in einem durchweichten Karton voller Zeug. Ich hatte alles sortiert bis auf die letzte verhaßte Handvoll verschmutzter Feststellringe, verrosteter Stahlwolle, krummer Drähte und nicht identifizierbarer Stückchen schwarzen Gummis, die – auch unter diesen Umständen noch – wahrscheinlich für nichts zu gebrauchen waren. Eva war mit den Regalen fertig und stocherte hinten in einer Ecke in einem übelriechenden Wust von Dosen herum – Emailfarben, Klarlack, Verdünner, Rostentferner und diverse Einmachgläser mit unheimlich aussehenden Flüssigkeiten, deren selbstgemalte Etiketten längst verblaßt oder abgefallen waren. Es war das größte Durcheinander, das wir noch aufzuräumen hatten, und es war das schiere Grauen, das uns veranlaßte, es bis zuletzt aufzuheben. »Fang jetzt nicht mehr damit an«, sagte ich. »Hilf mir, diesen Karton auszuleeren, dann machen wir für heute Schluß.« »Ich will nur eben sehen, was da ist«, murmelte sie und schob eine Obstkiste voller Pinsel und Farbroller und rostiger Spachtel beiseite. »Das kann bis morgen warten. Gehen wir rein. Mir ist kalt.« »Eine Minute noch. Komm, hilf mir, diesen Kompressor aus dem Weg zu räumen.« »Eva, es ist kalt. Gehen wir rein«, wiederholte ich. 169
Ich spürte beim Sprechen den Sand der Ungeduld in meiner Kehle. Da stieß sie auf einmal einen Schrei aus und hechtete hinter den Luftkompressor. »Oh, Nellie, sieh mal!« sagte sie und zerrte aus dem Gewirr eines Gartenschlauchs einen roten Kunststoffkanister hervor. »Was ist es denn?« fragte ich. »Ich glaube, es ist Benzin!« antwortete sie. Ich sprang auf. Aber dicht hinter dem Adrenalin strömte die Angst vor einer neuen Enttäuschung aus. »Bist du da ganz sicher?« fragte ich ungläubig. Sie schraubte den Deckel ab, roch daran und reichte den Kanister an mich weiter. »Riech mal«, forderte sie mich auf. Ich sog Luft durch die Nase ein, und der Geruch traf mich wie ein Rauschmittel. Der rohe, süße, Kopfschmerzen verursachende Geruch von eintausend Tankstellen erblühte in meinem Gehirn und löste weniger eine bestimmte Erinnerung als das totale Empfinden einer anderen Zeit aus. Einen Augenblick lang war mein Körper aus anderen Zellen zusammengesetzt, Zellen, von denen das Lexikon behauptet, daß ich sie längst abgesondert habe, und ich wartete wieder an der Tankstelle, während mein Vater oder meine Mutter den Wagen mit Benzin aus dem glucksenden schwarzen Schlauch füllte und der Gasolingeruch bis auf den Rücksitz vordrang. »Er ist beinahe voll«, sagte Eva. »Wir besitzen fast zwanzig Liter Benzin!« »Unglaublich«, antwortete ich. Und inmitten der Kälte und Unordnung, die in der 170
Werkstatt unseres Vaters herrschten, hüpften wir umher, umarmten uns und schrien wie besessen. Doch was gestern versprach, unsere Rettung zu sein, hat nun alles ruiniert und selbst die Luft zwischen meiner Schwester und mir verdorben. Wir trugen den Benzinkanister hinein und stellten ihn auf den Tisch, um uns an seinem Anblick zu weiden, während wir unsere Pintobohnen aßen. Wir waren stolz wie Goldgräber, die soeben auf die Erzader gestoßen sind. Den ganzen Nachmittag lang gab uns unsere Freude Auftrieb – wir besaßen Benzin, Benzin, Benzin, und darum waren unsere Probleme so gut wie gelöst. Bis wir versuchten, uns darauf zu einigen, wie wir es verwenden wollten. »Ich gehe den Generator auffüllen«, sagte Eva, als der Abend nahte und unsere Aufregung sich bis auf ein warmes, dichtes Glühen gelegt hatte. »Was?« fragte ich. »Ich werde den Generator auffüllen«, wiederholte sie, die Hand schon um den Griff des Benzinkanisters gelegt. »Jetzt gleich?« »Natürlich jetzt gleich«, entgegnete sie. »Wenn ich noch länger warte, wird es zu dunkel sein, um zu sehen, was ich tue.« »Aber wieso?« »Für unsere Feier.« »Was für eine Feier?« 171
»Wir feiern heute abend ein Fest. Wir schalten das Licht ein, duschen, waschen eine Ladung Wäsche. Und obendrein«, fügte sie überschwenglich hinzu, »spielen wir ein wenig Musik. Ich will tanzen.« »Geht nicht«, warf ich ein. »Warum nicht? Der Generator funktioniert sicher noch.« »Ich meine, wir dürfen das Benzin nicht verbrauchen.« »Warum nicht?« »Wir müssen es für den Wagen aufheben. Damit wir nicht zu Fuß in die Stadt müssen.« »Aber wir wollen doch sowieso nicht in die Stadt. Erinnerst du dich nicht an das letzte Mal?« »Doch. Aber früher oder später müssen wir hin, und wenn es soweit ist, brauchen wir das Benzin.« »Wir haben hier fast zwanzig Liter. Um in die Stadt zu kommen, brauchen wir nur ungefähr sieben.« »Und sieben für die Heimfahrt.« »Das macht vierzehn. Demnach bleiben immer noch mindestens fünf für jetzt.« »Wer weiß denn, wie weit wir fahren müssen, um welches zu bekommen. Und was ist, wenn eine von uns krank wird und wir gezwungen sind, den Generator laufen zu lassen, wenn wir es für die Kettensäge oder dergleichen benötigen? Vielleicht kommt es sogar so weit, daß wir es als Tauschobjekt einsetzen wollen. Einfach verbrauchen können wir es jedenfalls nicht.« »Wir verbrauchen es doch nicht – nur genug für ein wenig Musik, nur dies eine Mal. Das ist keine Verschwendung.« 172
»Also, Eva, tut mir leid. Aber wir müssen es für den Notfall aufheben.« »Und wenn eben jetzt so ein Notfall ist?« »Ein Notfall?« wiederholte ich verständnislos. Sie antwortete mit einer Stimme, die zugleich wütend und verzweifelt klang: »Ich muß tanzen, Nell. Ich muß zu Musik tanzen. Nur ein paar Minuten lang. Um mir Mut zu machen.« Ich sah ihre Hände an, ihre langen Finger, die den roten Griff des Benzinkanisters umklammerten. Aus irgendeinem Grund fielen mir Mutters kalte Hände ein, wie sie ihre Tulpenblüten umfingen, und ich war eine Sekunde lang bereit, mich dem Wahnsinn meiner Schwester zu beugen. Doch dann durchlebte ich noch einmal den Augenblick im Wald, als mein Vater verblutete und mir einfiel, daß in unserem Lieferwagen kein Benzin mehr war. »Ich will sehr wohl, daß du tanzt, Eva, das weißt du genau. Aber versteh doch – dieses Benzin ist unsere Lebensversicherung.« »Unsere Lebensversicherung?« »Ja.« »Unsere? Zur Hälfte meine?« hakte sie nach. »Natürlich zur Hälfte deine. Alles gehört zur Hälfte dir. Das weißt du doch.« »Und wenn ich nur meinen Anteil verbrauche?« »Es wäre nicht mehr genug übrig, um uns zu nützen. Wir müssen alles aufheben. Für die Zeit, wenn wir es wirklich nötig haben.« Ich wartete auf ihr nächstes Argument, aber ihre Miene 173
wurde ausdruckslos und verschlossen. »Bis dahin könnte es zu spät sein«, sagte sie und verließ den Raum. Ich blieb allein neben dem verdreckten Kanister stehen und haßte mich selbst, weil ich nein gesagt hatte, haßte mich selbst, weil ich recht hatte. Etwas stimmt nicht mit Lilith. Als ich heute Morgen den Hühnerstall aufgeschlossen habe, blieb sie geduckt an der Tür sitzen und rührte sich nicht einmal dann, als Pinkie, begierig nach den Resten vom Tisch, über sie hinwegflatterte. Ich hielt den Eimer schräg, um Lilith den Inhalt zu zeigen – einige dünne Kartoffelschalen und ein Apfel, der bis auf den Stengel und das Kerngehäuse abgenagt war –, und sie begutachtete sie mit stumpfem Blick. Ich stieß sie ganz sacht mit dem Fuß an, worauf sie auf wackligen Beinen einige schmerzhafte Schritte tat, doch dann ließ sie sich wieder in der gleichen halb geduckten Stellung nieder. Ihr After ist geweitet und wirkt geschwollen und scheidet einen häßlichen Ausfluß aus. Ich habe keine Ahnung, was zu tun ist. Als wir klein waren, haben Eva und ich immer so getan, als wären wir Zwillinge. Wir fanden, daß wir es eigentlich hätten sein müssen, denn wir waren jedes Jahr drei Tage lang gleich alt. Wir zogen uns gleich an, benutzten Namen, die sich reimten, waren gleiche Hälften einer Einheit. 174
Als wir klein waren, glichen Eva und ich einem Doppelstern, umkreisten wir dasselbe Schwerkraftzentrum, reflektierte eine der anderen Licht. Wir wachten so oft morgens auf und hatten das gleiche geträumt, daß wir dachten, es müßte so sein. Später bekamen wir jeden Monat um dieselbe Zeit unsere Periode, bis die von Eva wegen der Tanzerei nur noch sporadisch einsetzte. Natürlich stritten wir uns auch. Beinahe täglich lieferten wir uns Gefechte im Rahmen dessen, was unser Vater die »Nicht-Doch-Kriege« nannte, wegen der Art und Weise, wie wir jede Auseinandersetzung auf den essentiellen Konflikt reduzierten: »Ist es nicht«, sagte eine von uns und meinte damit den jeweiligen Anlaß unseres Streits, worauf die andere antwortete: »Ist es doch.« Ist es nicht. Ist es doch. Nicht. Doch. Nicht. Doch. Nicht! Doch! Waren wir soweit gekommen, fingen wir zu kichern an, und unser Spaß an der lachhaften Litanei unser Zwistigkeit versetzte uns wieder in Harmonie miteinander. Nun dagegen können wir uns nicht einmal darüber einigen, was uns das Leben retten wird. Als wir heute morgen zum Hühnerstall hinausgegangen sind, lag Lilith schlaff an der Tür, und Bathsheba und Pinkie pickten nach ihrem geschwollenen After. Voller Entsetzen verscheuchte ich die beiden. Sie stoben empört gackernd auseinander und ließen Lilith am Boden liegen. Ihre Augen standen offen, und ich konnte sehen, wie sich ihr zerzauster Leib beim Atmen hob und senkte. Ich 175
ging neben ihr in die Knie, konnte mich jedoch nicht überwinden, sie zu berühren. Ich rannte ins Haus, um im Lexikon nachzuschlagen, aber bis ich mit dem Band über Geflügel zurückkam, war Lilith tot. Ich glaube, daß ein Ei in ihr steckengeblieben ist. Ich komme nicht mit meiner Schwester aus. Ich kann noch nicht einmal eine Henne am Leben erhalten. Ich wünschte, ich hätte es wenigstens geschafft, sie zu berühren. Eva trainierte. Es regnete. Über dem Hof hing ein grausiger Dunst aus Nebel und Qualm, durch den der Regen fiel, ohne ihn zu reinigen. Ich versuchte im Lexikon zu lesen, schleppte mich durch die Ks wie durch nassen Lehm und mußte mich zusammennehmen, um nicht zu mogeln und zu einem Eintrag weiterzuspringen, der versprach, meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Ich erhob mich von meinem lästig gewordenen Platz am Tisch, um im Zimmer auf und ab zu gehen. In einem unbedachten Augenblick eilte ich den Flur entlang zu Evas Studio. Aber dann brandete die Erinnerung an das Benzin wie eine kalte Flutwelle über mich hinweg, und ich wandte mich von ihrer Tür ab. Es war drei Tage her, seit wir das Benzin gefunden hatten, und wir hatten einander immer noch nichts zu sagen. Ich stieg statt dessen die kalte Treppe hinauf und betrat das Zimmer; das einst mein Schlafzimmer gewesen war. 176
Es war düster, frostig und ohne Leben. Es roch nach Staub, und darunter nahm ich den schwachen süßen Duft einer längst eingetrockneten Parfümprobe wahr. An den Wänden hingen meine Reiseplakate – Inseln und Meere und Schlösser und Lichterstädte bei Nacht. Mein Computer war nicht abgedeckt, und auf dem Fußboden waren Steifftiere, Haarspangen und bunte Glasperlenketten verstreut, als sei die einstige Bewohnerin in Eile aufgebrochen. Wir haben noch nicht versucht, in unseren Zimmern Bestand aufzunehmen, weil wir wissen, was sie enthalten, und weil sie so wenig enthalten, das uns nützlich sein wird. Ich begann ziellos die Schubladen meiner Kommode zu durchwühlen und sah mir die vielen Kleidungsstücke an, die zu tragen es keinen Anlaß mehr gab. Es kam mir vor, als gehörten sie einer Fremden, diese zerknitterten Strumpfhosen, diese Spitzensöckchen, diese grellfarbigen Kniestrümpfe. Ich vergrub meine Arme bis an die Ellenbogen im kühlen Gewirr der Schlüpfer, und plötzlich berührten meine Finger etwas Hartes. Ich zog es aus der Schublade, ein herzförmiges Kästchen, das mein Vater mir einmal von einer Tagung mitgebracht hatte. Beinahe abwesend hob ich den Deckel an und versuchte mich zu erinnern, was für Schätze ich darin versteckt haben mochte. Da auf dem roten Satin, mit dem der Boden des Kästchens ausgeschlagen war, lagen ein kaputtes Armband, der Abriß einer Eintrittskarte, einige bunte Haarklammern, eine Amselfeder, zwei Muscheln. Und vier Stücke Kaugummi. 177
Und eine in Silberfolie eingewickelte Schokopraline. Ich schlug den Deckel zu. Ich klappte ihn wieder auf, und sie waren immer noch da – vier Stücke Gummi und eine in Folie verpackte Praline, zurückgelegt zu einer Zeit, als eine Packung Kaugummi nichts bedeutete, als es einer Handvoll Pralinen bedurft hatte, um die Gier eines Augenblicks zu stillen, zu einer Zeit, als ich so reich war, daß ich es mir leisten konnte, vier Stücke Kaugummi und eine Schokopraline zu vergessen. Am liebsten hätte ich mich auf den Boden des Zimmers gesetzt, in dem ich ein kleines Mädchen gewesen war, und hätte mir alle auf einmal in den Mund gesteckt, Kaugummi und Praline zusammen, so daß sie eine süße weiche Masse bildeten. Doch dann fiel mir Eva ein, und ich hatte eine Sekunde lang das Bedürfnis, zu ihr ins Studio zu eilen. Aber sie mußte mir erst verzeihen, daß ich das Benzin gerettet hatte. Ich stand da und wog die Praline in meiner offenen Hand. Ich erinnerte mich, wie oft sie böse geworden war, wenn sie mich Süßigkeiten essen sah. Laß es mich nicht sehen, verlangte sie barsch. Wenn du schon diesen Mist essen mußt, zwing mich bitte nicht, dir dabei zuzusehen. Der Geruch allein könnte mich dick machen. Inzwischen hatte ich die Silberfolie von der Praline abgezogen wie die Blütenblätter von einer Knospe. Die Praline im Innern war vom Alter verblaßt, aber sie roch noch nach Schokolade – ein tiefer, samtiger Geruch, der mir als die Essenz all meiner Gelüste erschien. Ich balancierte sie einen Augenblick lang auf meiner Handfläche. 178
Dann hob ich sie, noch ehe ich einen Gedanken fassen konnte, an den Mund und fuhr mit den Schneidezähnen über die fleckige Oberfläche. In meinem Mund tat sich Schokoladengeschmack auf, und die Spuren meiner Zähne brachten der Praline Narben bei. Dann war es zu spät zur Umkehr. Außerdem, dachte ich, braucht Eva ja nicht zu wissen, daß ich sie gegessen habe. Eva war zu beschäftigt, sie hatte ihren Tanz. Wahrscheinlich würde sie mir dankbar sein. Außerdem hätte sie wegen dem Benzin nicht so eigensinnig sein sollen. Ich werde ihr ein Stück von meinem Kaugummi abgeben, dachte ich. Ich saß auf dem kalten Boden und lutschte an der Praline, durchdrungen von einer tiefen materiellen Befriedigung. Ich vergaß Eva und den Regen und das Benzin und kostete in einem köstlichen Hungertraum die Praline bis zu Ende aus. Als alles vorbei war, preßte ich die Folie zu einem winzigen harten Ball zusammen, ließ die kleine Silberkugel zu dem Kaugummi in das Kästchen fallen und schob das Kästchen zurück in die Schublade. Drunten ging ich auf direktem Weg ins Bad. Ich schaute in den Spiegel und wischte mir immer wieder die Lippen. Dann spülte ich meinen Mund aus und trank und spuckte, bis nur noch klares Wasser herauskam. Nach einem klaren Morgen fängt der Märzregen von neuem an. Eva zieht sich in ihr Studio zurück. Ich wende 179
mich wieder den Ks zu und bin beim Lesen so benommen, daß ich genausogut mit den Händen anstatt mit den Augen die Seiten abtasten könnte. Ich wäre bereit, meine Seele zu verkaufen, wenn dafür der Videorecorder anspringen würde. Kurz bevor es dunkel wird, kommt Eva aus ihrem Studio, macht die Ofentür auf, nimmt davor auf den Boden Platz, reibt sich die Waden und blickt in die gebändigten Flammen. »Was sollen wir zu Abend essen?« frage ich. »Ich hab keinen Hunger.« »Reis und Tomaten?« »Mir doch egal.« »Es ist noch ein Glas Aprikosen übrig. Die könnten wir essen.« »Ich schaff das nicht mehr«, sagt sie, an das Feuer gewandt. »Ich kann nicht nur nach dem Metronom tanzen. Heute hab ich an meinen Sprüngen gearbeitet, und ich weiß, daß ich nicht mehr die gleiche Höhe wie früher erreiche.« Sie sieht mich mit der Wildheit eines gefangenen Tiers an. »Balanchine hat gesagt, Musik sei für den Tanz der Boden, und ich habe keinen Boden mehr unter den Füßen, nichts, wovon ich mich abstoßen kann. Ich komme mir vor, als würde ich fallen. Als könnte ich nie wieder Sprünge machen.« Unvermutet fleht sie mich an: »Nell, ich bitte dich, laß uns etwas von dem Benzin verbrauchen. Nur ein klein wenig. Gib mir nur zehn Minuten Musik. Bitte.« Ich kann nicht reagieren. Es macht mir angst, Eva in Verzweiflung versinken zu sehen, aber der Gedanke, 180
auch nur einen Tropfen Benzin zu vergeuden, macht mir ebenso große Angst. Schließlich sage ich: »Eva, es tut mir leid, aber wir müssen noch ein wenig länger aushalten.« »Ich kann nicht«, sagte sie tonlos. »Ich kann so nicht weitertanzen.« »Du mußt weiter tanzen«, sage ich und bin überrascht, wie sehr ich mich inzwischen daran gewöhnt habe, daß meine Schwester tanzt. Ich greife die erste Idee auf, die sich anbietet. Wie eine Mutter, die versucht, ein trauriges Kind abzulenken, sage ich fröhlich: »Ich hab eine Überraschung für dich. Es ist nicht so gut wie das Benzin, aber ich hab es gestern gefunden, und es wird dir, glaube ich, Freude machen.« Sie hebt nicht den Kopf, als ich das Wohnzimmer verlasse. Sie blickt noch nicht einmal auf, als ich mit dem herzförmigen Kästchen wieder herunterkomme. Ich halte es ihr hin. »Mach auf!« Als sie nicht reagiert, hebe ich den Deckel an und halte das Kästchen schräg in Richtung Feuer, so daß sie den Inhalt sehen kann. »Sieh nur – vier Stücke Kaugummi«, sage ich. »Wo sind die denn her?« fragt sie und berührt sie zaghaft mit dem Zeigefinger. »Ich hab sie gestern gefunden, während du trainiert hast. In meiner Wäscheschublade. Eine Schokopraline war auch dabei.« »Wo ist sie jetzt?« fragt sie. »Ich hab sie gegessen.« 181
»Wann?« »Als ich sie gefunden habe.« »Wo war ich?« »In deinem Studio.« »Während ich da drin war und zu tanzen versucht habe, hast du Schokolade gegessen?« »Ich hab gedacht, es macht dir nichts aus.« »Du hast gedacht, es macht mir nichts aus?« »Na ja, du hast trainiert. Ich wollte dich nicht stören.« »Ich finde das unglaublich.« »Du ißt doch sowieso nie Schokolade.« »Ich hab nach wie vor das Recht, die Hälfte von allem in diesem Haus zu beanspruchen.« »Aber es war meine Praline.« »Wieso?« »Weil ich sie in meiner Schublade gefunden habe.« »Heißt das, das Benzin gehört mir, weil ich es gefunden habe?« »Aber sie war doch in meiner Schublade. Ich hab sie dort hineingetan, damals, bevor es hier so richtig losging. Also gut«, sagte ich und schwankte zwischen Wut und Jammer, »entschuldige.« Aber sie war bereits zurück in ihr unbeleuchtetes Studio gestürmt und hatte die Tür zugeschlagen. Seit dem Pralinenstreit sind zwei Tage vergangen. Ich habe Eva alle Kaugummis gegeben, weiß aber nicht, ob 182
sie welchen gekaut hat. Wir können einander an solchen Wonnen nicht mehr teilhaben lassen. Keine von uns hat sich entschuldigt, aber das Leben geht tröpfchenweise weiter. Manchmal möchte ich sie anschreien: »Es war doch nur ein blödes Stück Schokolade!« Manchmal möchte ich weinen: »Tut mir leid, tut mir leid. Verbrauche ruhig alles Benzin. Verzeih mir.« Aber ich sage kein Wort, und sie auch nicht. Wir schlafen an ein und demselben Ofen, benutzen den gleichen Heißwasserkessel, essen die gleichen kargen Mahlzeiten, und es gibt Zeiten, in denen ich fast glauben möchte, daß unser Streit nur einer meiner Alpträume war. Selbst Streit ist ein Luxus, den sich jemand, dessen ganzes Leben auf eine Person beschränkt ist, nicht leisten kann. Wir waren für die Nacht gerüstet. Bathsheba und Pinkie saßen in ihrem Hühnerstall, das Holz war neben dem Ofen aufgeschichtet, die Türen waren verschlossen, unser Badewasser wurde warm. Am späten Nachmittag hatten die paar weißen Wolken am klaren Himmel angefangen, sich zusammenzubrauen und zu verdüstern, und als der Regen kam, fiel er so gleichmäßig und still, daß er fast tröstlich wirkte. Eva und ich hatten seit unserem Streit immer noch nicht viel miteinander gesprochen, aber das Schweigen begann sich zu erweichen, und es hatte den Anschein, als würde zwischen uns eine neue, wenn auch leicht angeschlagene Zärtlichkeit aufkommen. 183
Wir saßen einander gegenüber am Tisch am Fenster und aßen im letzten grauen Licht des Tages eingemachte rote Bete und Makkaronireste. Wir verhielten uns still beim Essen, lauschten dem Regen und dem Knistern des Feuers und dem Summen des Kessels, als sich das darin befindliche Wasser erhitzte, lauschten den Geräuschen, die um uns herum die Nacht einzuleiten schienen. Da klopfte es an die Tür. Es war ein leichtes Tapp, Tapp, das uns durchfuhr wie ein Schrei und uns im Kielwasser einer Adrenalinwoge gelähmt zurückließ. Wir blieben einen Augenblick lang wie vor den Kopf geschlagen sitzen. Und dann hörten wir es wieder – ein dreimaliges schnelles Tapp an einer Tür, an die, so schien es uns, seit Jahren nicht mehr geklopft worden war, ein Geräusch, das bedeutete, daß sich entweder unsere tiefsten Ängste oder unsere höchsten Hoffnungen endlich bewahrheiten würden. »Mach den Ofen auf«, flüsterte ich Eva zu. Sie ging in die Knie, zog die Ofentür auf. Im Licht des Feuers tastete ich im Dielenschrank umher und zog das Gewehr unseres Vaters hervor. Ich wußte nicht, wie ich es zu halten hatte oder worauf ich zielen sollte, darum stand es von mir ab wie ein steifer dritter Arm, und ich hatte fast genausoviel Angst vor der Waffe wie vor dem, was uns draußen erwartete. Ich schlich zur Tür, drückte mich dagegen, als könne ich so mit Hilfe eines irgendwie georteten Pulsschlags im Holz die Absichten des Menschen erkennen, den sie vor uns verbarg. »Wer ist da?« knurrte ich – oder versuchte es zumin184
dest – aus tiefer Kehle, die vor Angst wie zugeschnürt war. »Nell?« »Was wollen Sie?« »Ist Nell da?« »Oh«, flüsterte Eva, erhob sich neben dem Ofen und sah mich an. »Nell? Ich bin’s, Eli. Bist du das?« Ich war vor Erleichterung plötzlich wie von Sinnen. Ich spürte Evas stechenden Blick, aber ich hielt mich nicht damit auf, mir darüber Sorgen zu machen. Überwältigende Freude überkam mich wie ein warmer Regen. In der Sekunde, die ich brauchte, um die Tür zu entriegeln, versuchte ich mich zu erinnern, was ich anhatte und ob mein Haar gekämmt war. Es war nicht der Eli von vor einem Jahr, der draußen stand. Er wirkte größer, seine Züge markanter. Sein Gesicht war naß, und Wasser tropfte aus seinem verfilzten Haar auf den Poncho, der ihm bis auf die Knie herabhing und auch den Rucksack auf seinem Rücken bedeckte, so daß er aussah wie eine riesige Meeresschildkröte. Vielleicht war es nur der Schock, einen anderen Menschen zu sehen als meine Schwester, aber einen Augenblick lang hätte ich am liebsten die Tür zugeschlagen und so getan, als hätten wir das Klopfen nicht gehört, als wäre ich wenn schon nicht in Sicherheit, so doch wenigstens schon mit allem vertraut, was uns bedrohen konnte. Dann jedoch trat ich beiseite, und er kam zur Tür herein. Es kam mir in den Sinn, die Hand nach ihm auszustrecken, ihn zur Begrüßung irgendwie zu berühren. 185
Ein Teil von mir wollte es, doch ein anderer Teil war sich der scheinbar unzähligen Schichten des Wandels und der verstrichenen Zeit bewußt, die mich von dem Mädchen auf der Plaza trennten. Außerdem erinnerte ich mich mit einer Spur von Verdruß daran, was mir bei unserem letzten Zusammentreffen klargeworden war: So lose war unsere Beziehung, daß ich kein Recht auf eine Umarmung hatte. »Hi«, sagte ich mit leicht klangloser Stimme. Er schien es nicht zu bemerken. »Eva. Nell.« Er verneigte sich knapp erst in Evas, dann in meine Richtung, wobei allerdings Rucksack und Poncho dieser Begrüßung ein wenig von ihrer Eleganz nahmen. Dann streckte er den nassen Zeigefinger aus und berührte mich damit. Nur einen Augenblick lang ruhte sein Finger in der Vertiefung an meinem Halsansatz, dort wo die beiden Hälften meines Schlüsselbeins aufeinandertreffen. Es war eine eigenartige Geste, intimer, als er mich je zuvor berührt hatte, und ich warf ihm einen Blick zu, um festzustellen, ob er mir einen Streich spielen wollte. Aber sein Gesicht hatte seinen vergnügt distanzierten Ausdruck verloren und wirkte ernst, erschöpft. Meine Kehle kribbelte im Gefolge seiner Berührung, und ich mußte meine Hände im Zaum halten, um die Stelle nicht selbst zu betasten. »Wo ist denn euer Vater?« fragte Eli und bemühte sich, in der Schwärze jenseits des schwachen Leuchtens aus dem Ofen etwas zu erkennen. Wir schwiegen einen Augenblick lang, verwirrt, weil wir das, was wir durchgemacht hatten, in ein paar Worte 186
fassen sollten. Schließlich sagte Eva: »Er ist gestorben.« »Oh«, sagte Eli, der immer noch direkt an der Tür stand. »Aber euch geht’s gut?« fragte er und sah erst mich, dann Eva an. »Ihr seid nicht krank oder so? Bei euch beiden ist alles in Ordnung?« »Wir sind gesund«, sagte ich und hätte am liebsten geweint. »Wie bist du hierhergekommen?« fragte Eva. Er streifte den Poncho ab, wackelte mit den Schultern, bis der knarrende Rucksack herunterrutschte, schüttelte den Kopf, so daß seine schwingende Mähne Wasser versprühte und ein kurzes Zischen laut wurde, wenn die Tropfen auf dem Ofen landeten. »Erst mal bin ich auf meinem Rad gefahren, aber dann hatte ich einen Platten, den ich nicht flicken konnte. Deshalb bin ich zu Fuß weitergegangen. Seit gestern. Ich wußte nicht, welches Haus eures ist, deshalb mußte ich es bei jedem probieren. Wußtet ihr, daß ihr hier draußen allein seid? An dieser Straße lebt im Umkreis von mindestens fünfzehn Kilometern kein Mensch.« Ich wollte mich ihm an den Hals werfen, wollte weinen, bis ich weich und wund und offen war, wollte weinen, bis ich endlich Schlaf fand, den Kopf nach wie vor an seine Brust gepreßt. Dabei hatten wir, als wir uns zum letzten Mal gesehen hatten, nicht einmal miteinander gesprochen. Er war immer ein Fremder gewesen, und nun war er ein Fremder an dem Ort, an dem ich lebte. Ich fragte: »Hast du Hunger?« und beugte mich schüchtern über unsere kleinen Töpfe, um ihm auf einem dritten Teller mehr auszuteilen, als ihm zustand. 187
Wie anders das Zimmer mit ihm darin wirkte, mit einer weiteren Stimme, die das Dunkel ausfüllte. Und wie seltsam war es, mit Eli zusammen zu sein, fern der Lichter eines Samstagabends, ihm dabei zu helfen, seine Kleider zum Trocknen auszubreiten, ihm das Bad zu zeigen, das wir ihm im unbeleuchteten Badezimmer bereitet hatten. Während er im Wasser lag und seufzte, schlich ich nach oben und tastete in den Schränken nach Decken und einem weiteren Kissen. Nachdem er gebadet hatte, schürte Eva das Feuer im Ofen, so daß die Flammen einen Lichtkeil auf den Boden warfen, und wir drei setzten uns mit gekreuzten Beinen an den Rand dieses zitternden Halbkreises, die Knie vom Feuer erhellt, die Gesichter verschattet. Eine Weile blieben wir stumm, vertieft in den Anblick der Flammen. Ich erinnerte mich an die Plaza, versuchte, eine Verbindung zwischen den Feuern dort und hier herzustellen, zwischen dem zurückhaltend ironischen Eli und diesem wortkargen Mann. Doch die Plaza war Welten entfernt, und wir waren nicht mehr die Kinder, die einst großspurig und lachend unter den Palmen und Mammutbäumen gestanden hatten. »Was tut sich so in der Stadt?« fragte Eva schließlich. Sie bemühte sich, es leichthin zu sagen, wie damals unser Vater, als er sich bei Fastco mit Stan unterhalten hatte. »In der Stadt?« Elis Stimme klang belegt, so als sei er ruckartig aufgewacht. Er räusperte sich. »Nicht viel.« »Habt ihr schon wieder elektrischen Strom?« platzte ich heraus. »Nein. Noch nicht.« 188
»Und was sagt man so? Hast du eine Vorstellung davon, wann er eingeschaltet wird?« »Eigentlich nicht. Jemand hat erzählt, er hätte gehört, das sie im Osten wieder Strom haben.« Er hielt inne, als zögere er kurz, und fügte dann rasch hinzu: »Aber das ist bloß ein Gerücht.« »Was hast du sonst noch für Gerüchte gehört?« »Nicht viele. Die Leute bleiben zu Hause. Alle haben Angst vor Bakterien. Und es gibt nicht viel Grund, auszugehen. Keine Arbeit. Keine Schule. Und viele Leute sind fort. Oder tot.« »Tot?« fragte Eva. »Es hat in diesem Herbst sechs Wochen gegeben, in denen alle die Grippe gekriegt haben – oder was ähnliches«, sagte er, in das Feuer blickend, an das Feuer gewandt. »Niemand wußte so recht, was es war. Niemand wußte, was zu tun war. Jedenfalls sind viele Leute daran gestorben, und alle übrigen hat es paranoid gemacht. Meine Mutter ist gestorben.« »Deine Mutter?« fragte ich. »Ja.« Er verstummte kurz, sprach dann schnell weiter: »Die Typen von der Plaza – von denen sind auch welche gestorben.« »Wer denn?« fragte ich, obwohl ich lieber erfahren hätte, was mit seiner Mutter passiert war, wie es für ihn gewesen war, sie zu verlieren. »Justin und Bess. Von denen weiß ich. Ach ja, und Big Mike. Er soll eine Blinddarmentzündung gehabt haben. Euch hab ich auch für tot gehalten, als ihr aufgehört habt, in die Stadt zu kommen.« 189
»Uns ist das Benzin ausgegangen«, sagte ich. »Wir sind letzten Sommer noch einmal zum Einkaufen dagewesen, aber wir haben niemanden gesehen.« »Habt ihr vielleicht noch Fahrräder?« »Nein«, antwortete Eva, und ich fügte zur Erläuterung hinzu: »Unser Vater hat sie an Kinder in seiner Schule verschenkt. Es waren sowieso bloß Kinderräder.« »Zu schade«, sagte er, aber noch ehe ich fragen konnte, warum, wechselte Eva das Thema. »Und warum hast du den weiten Weg hierheraus gewagt, wenn du uns für tot gehalten hast?« Ich verfluchte sie und war ihr dankbar und hielt den Atem an. »Wie gesagt«, entgegnete er, »in der Stadt ist nichts los. Ich muß wohl gedacht haben, daß ich mir so ein wenig Abwechslung verschaffen kann.« Wir haben gestern abend vergessen, die Türen abzuschließen, ehe wir eingeschlafen sind. Ich bin zwischendurch einmal aufgewacht, erschrocken über Elis Atemzüge in der Ecke des Raums. Doch dann schmolz der Kristall der Angst, den das Geräusch in meinem Magen gezeugt hatte, und eine neue Wärme breitete sich über mir aus, zusammen mit einem Kribbeln der Erregung wie damals in der Stadt. Als der Morgen kam, war Eli immer noch da. Die Muskeln an seinen Schultern und Armen zogen sich zusammen und dehnten sich, als er aus seinen Decken aufstand, um sich zu recken. Er blickte zu mir hinüber, zerzaust und in die Fetzen eines Flanellhemdes von meinem Vater gehüllt, und sagte: »Ich hab schon immer gewußt, daß du am Morgen strahlend schön aussehen würdest.« 190
Ich spürte das Brennen der Schamröte, heiß und schwindelerregend. Ich schaffte es nicht, in seiner Stimme Ironie und Ehrlichkeit zu trennen, und die einzige Replik, die mir einfiel, war zu lang und zu jämmerlich. »Wenigstens erinnerst du dich noch, wie man Witze macht«, sagte ich und rannte davon, um mich im Bad zu verstecken. An dieser dunklen Zufluchtsstätte kramte ich im Schrank, bis ich die Schachtel fand, die Eva und ich mit dem Wort Make-up beschriftet hatten. Ich öffnete sie und holte die Flasche mit französischem Parfum heraus, die einst auf dem Frisiertisch meiner Mutter gestanden hatte. Ich hatte den Stöpsel herausgezogen, ehe mir einfiel, daß ich Eva nicht gefragt hätte, ob ich es benutzen durfte. Doch da war der Raum bereits vom Geruch meiner Mutter erfüllt. So hatte sie an jenen seltenen Abenden gerochen, wenn sie und unser Vater ohne uns ausgingen. Sie war in hohen Absätzen größer gewesen als sonst und hatte fremdartig und angenehm geduftet, wenn sie sich über uns beugte und uns einen Gutenachtkuß gab. Ich hob meine Bluse an und berührte mit dem Stöpsel meinen Solarplexus. Die stechende Süße des Parfums stieg mir in die Nase. Ich steckte den Stöpsel zurück in die Flasche, stellte die Flasche zurück in die Schachtel und die Schachtel zurück in den Schrank. In der ewigen Düsternis des Badezimmers suchte ich mein Abbild im Spiegel, so als würde es mich befähigen, darin eine Erkenntnis abzulesen, die sich in meinem Gehirn noch nicht aufgetan hatte. Ich begegnete meinem Blick und zuckte zurück, zum ersten Mal in meinem Leben erstaunt über mein eigenes Gesicht. Es war dasselbe Gesicht, das 191
ich tags zuvor kaum eines Blickes gewürdigt hatte, dieselben blauen Augen und dasselbe helle Haar, derselbe breite Mund und dieselbe stumpfe Nase. Heute jedoch kam es mir anders vor, war es ein Gesicht, das des Betrachtens wert war, ein reizvolles Gesicht, weich und eindrucksvoll zugleich, mit einer unverdorbenen Intensität, die in den Augen aufblizte. In dem Augenblick kam Eva herein, um sich die Zähne zu putzen, und ich wandte mich verlegen von meinem Spiegelbild ab, als hätte sie mich dabei erwischt, wie ich etwas ansah, das ich nicht hätte ansehen dürfen. Sie schnüffelte und warf mir einen kritischen Blick zu, sagte aber nur: »Was meinst du?« »Worüber?« Ich versenkte mein Gesicht in das kalte Wasser, das in meiner hohlen Hand schwappte, und genoß den eisigen Schock, als es meine Lider berührte. »Über Eli.« »Es ist schön, ihn zu sehen«, sagte ich und hob mein tropfnasses Gesicht. Ich fragte mich, warum es mir widerstrebte, zu antworten, warum ich mir bei meiner ganz und gar unschuldigen – und ehrlichen – Antwort unaufrichtig und konfus vorkam. Sie warf mir einen kurzen Blick zu, als wüßte sie von einem Geheimnis, das ich noch zu ergründen hatte. »Na ja«, sagte sie und reichte mir das Handtuch. Nach dem Frühstück zeigten wir Eli die Umgebung. Während einer kurzen Regenpause stellten wir ihm Bathsheba und Pinkie vor, führten ihn durch die aufgeräumte Werkstatt, nahmen ihn mit in den winterlichen Obstgarten. Er lockte die Hennen, zog im Schuppen die 192
eine oder andere Schublade auf, um ihren ordentlichen Zustand zu bewundern, ließ sich von mir die Baumarten erklären, aber ich merkte sehr wohl, daß wir erpichter darauf waren, alles vorzuzeigen, als er, alles zu sehen. Ich fragte ihn, wann wir mit dem Zurückschneiden anfangen sollten, ob seiner Meinung nach die Batterie im Lieferwagen geladen bleiben würde und wie ich Lilith hätte retten können, aber er antwortete, er habe noch nie einen Obstbaum beschnitten und wisse nicht viel über Batterien und Hühner. Er schien abwesend, so als würde das Leben, auf das es ihm ankam, anderswo gelebt. Während ich dies schreibe, liegt Eli vor dem Ofen und spielt leise auf seiner Mundharmonika. Er hält sie zwischen seinen Händen, als wolle er ihr seine Gedanken zuflüstern. Hin und wieder späht er zu mir hinüber, und wenn er den Blick abwendet und weiterspielt, habe ich das Gefühl, daß seine Musik ein Geheimnis ist, das er in einer Sprache, die ich nicht verstehe, über mich erzählt. Ich bin ungeduldig und fühle mich beobachtet. Ich wünsche mir, daß er fortgeht. Doch der Regen, der am Nachmittag vor seiner Ankunft begonnen hat, fällt auch zwei Tage später noch, und er scheint es nicht eilig zu haben. Die Hennen kommen gelegentlich hervor, suchen den durchweichten Hof nach allem ab, was krabbelt oder sprießt und bisher übersehen worden sein könnte; ansonsten ist außer Regen auf der Lichtung nichts los. Auch wir bleiben drinnen, Eli und ich im Wohnzimmer, 193
Eva bei geschlossener Tür in ihrem Studio. Sie hat es sogar aufgegeben, herauszukommen und nach dem Feuer zu sehen. Eli und mir gibt das Nachlegen von Holzscheiten etwas zu tun, etwas anderes als die ausschließliche Beschäftigung miteinander. Es ist nach so langer Zeit nicht leicht, jemand anderen in diesem Haus zu haben. Gestern noch war ich hoch beglückt, in einem warmen Zimmer mit Eli allein zu sein, während draußen der Regen herabströmte. Es war, als würde mein Leben, und sei es auf Umwegen, endlich so Gestalt annehmen, wie ich es ersehnte. Aber nach einem Vormittag im Gespräch, das nicht weniger belanglos und stammelnd ablief als seinerzeit auf der Plaza, mußte ich unwillkürlich an die Märchen denken, deren Moral lautet: Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst. Hier war ich, unfähig, zu sitzen, zu stehen, zu sprechen, ohne mir wie ein Dummkopf, ein Kind, eine alte Jungfer vorzukommen, unfähig, mich mit meiner Schwester zu verständigen, unfähig zu studieren, unfähig, etwas anderes zu tun, als seine Gegenwart zu erdulden. Bisher haben wir viel über den Regen und ein wenig über die Leute von der Plaza gesprochen. Aber selbst dieses Thema scheint schwierig zu sein, bedroht von einer Aufrichtigkeit, deren Gewicht unsere Plauderei nie verkraften könnte. Eli geht im Zimmer auf und ab, während ich aufrecht am Tisch sitze und das Gespräch in Gang zu halten versuche, ohne etwas zu sagen, und mir wünsche, er würde gehen. 194
Heute morgen ist Eva in ihrem Studio verschwunden, noch ehe Eli oder ich aufgestanden waren. Sie hatte sich nicht einmal das Gesicht gewaschen, hatte noch nicht einmal das Feuer geschürt. Als sie mittags herauskam, um ein paar verschrumpelte Äpfel zu essen, lächelte sie zerstreut, mied aber meinen Blick. Dann eilte sie in ihr Studio zurück und machte die Tür zu. Eli sah von seiner Mundharmonika auf, um zu fragen: »Ist sie etwa immer so?« »Sie trainiert viel«, sagte ich, beunruhigt, wie gleichmäßig ich meine Loyalität verteilt hatte, überrascht von der Erkenntnis, wie wenig ich mich gegenüber einem von ihnen zur Treue verpflichtet fühlte – gegenüber Eva, die mir wegen ein paar Litern Benzin und einer Schokopraline immer noch böse war, und gegenüber Eli, einem Fremden, der in meinem Haus zuviel Platz einnahm. »Ich hab sie für freundlicher gehalten.« »Sie ist freundlich. Sie arbeitet bloß schwer. Es ist nicht leicht, sich selbst zu fordern, wenn man ganz allein ist.« »Warum tut sie’s dann?« Ich wollte die Achseln zucken und das Thema wechseln, aber da wurde mir plötzlich klar, daß es mir egal war, wie meine Äußerungen bei Eli ankamen. Ich fand Höflichkeit ein Ärgernis, war es leid, mich in acht zu nehmen. Eli aß unser Essen. Er hielt mich in meinem eigenen Haus gefangen. Warum ihn also nicht mit meinen Sorgen belasten? Wenn er mich rot im Gesicht und keuchend erlebte, würde er vielleicht gehen und mich in Frieden lassen, damit ich das Lexikon durcharbeiten und mich bemühen konnte, mit meiner Schwester auszukommen. 195
Also hob ich zu reden an. Ich erzählte ihm, wie Eva das Ballett entdeckt hatte und wie verlassen ich mich anfangs gefühlt hatte, als sie ihr Leben dem Tanz gewidmet hatte. Ich erzählte ihm, wie ich beschlossen hatte, nach Harvard zu gehen, wie ich mich in den düsteren Monaten, als meine Mutter im Sterben lag, auf mein Studium konzentriert und Eva unablässig getanzt hatte. Ich erzählte ihm Dinge, von denen ich geglaubt hatte, sie nie jemandem erzählen zu können, gestand ihm die erstaunlichen Augenblicke der Erleichterung darüber, daß ich meine Mutter überdauert hatte. Ich erzählte Eli, was auf unserer letzten Fahrt in die Stadt passiert war, wie Eva und ich unseren Vater begraben hatten, wie wir seither überlebt hatten, wie Eva es geschafft hatte weiterzutanzen. Ich weinte nicht. Es kam mir selbst eher seltsam vor, aber ich fühlte mich beim Sprechen nicht im geringsten traurig oder beschämt, obwohl ich Geschichten erzählte, von denen ich mir zuvor eingebildet hatte, daß sie Elis Herz erweichen würden, Geheimnisse preisgab, von denen ich angenommen hatten, daß sie mir Schande bereiten würden. Ich war nicht mehr auf Mitleid, auf Sympathie oder gar auf Verständnis aus. Was ich am stärksten empfand, reichte beinahe an Zorn heran. Ich hatte meine eigenen Geschichten satt, war es müde, sie erlebt zu haben, müde, weil ich sie so lange hatte herumschleppen müssen. Nun wollte ich sie loswerden, und Eli war zufällig zugegen, als sie des Weges kamen. Irgendwie fühlte ich mich an die alte Holzfällerlegende erinnert, wonach es eines Winters im Lager so kalt war, 196
daß alle Worte gefroren, die die Männer aussprachen. Als dann im Frühjahr endlich Tauwetter einsetzte, war die Luft erfüllt von schmelzendem Gerede, als sämtliche gefrorenen Worte wieder zum Leben erwachten. Dann war Eli an der Reihe. Er erzählte mir, wie es in der Stadt gewesen war, und was er berichtete, war schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Die ganze Zeit habe ich mir weisgemacht, daß unser Los das härteste war, habe ich mich gefragt, ob es in Redwood nicht leichter und sicherer wäre, habe ich mich gesorgt, daß es ein Fehler gewesen sein könnte, nicht in die Stadt umzuziehen. Aber Eli erzählt mir von Hunger, Wut und Angst, von der Wiederkehr von Mißtrauen und Aberglauben. Die Leute hatten mit der unangenehmen Gegenwart und den vagen Versprechungen, daß sie sich ändern werde, die Geduld verloren. Sie hatten angefangen, den Nachbarn zu mißtrauen. Er erzählte mir von der Orientierungslosigkeit derer, die an alten Gewohnheiten festhielten, nachdem eben diese alten Gewohnheiten sinnlos geworden waren – von Hausfrauen, die jeden Morgen vors Haus traten, um die Post zu holen, nachdem schon ein halbes Jahr keine mehr ausgetragen worden war, von Männern, die am Sonntagnachmittag ihre Autos polierten, obwohl es Monate her war, seit es genügend Wasser gab, um sie zu waschen, seit es Benzin gegeben hatte, um sie zu fahren. Er erzählte mir von dem Jubel und Beifall, der eines Abends im letzten Herbst von der Plaza her zu hören gewesen war. Am nächsten Morgen hatte man den Bankdirektor an einem Lampenpfosten baumelnd 197
vorgefunden. Sein Gesicht hatte die Farbe einer verfaulten Aubergine angenommen, und seine Zehen streiften die Spitzen des bräunlichen Unkrauts. Er erzählte mir vom Einsetzen der Grippewelle, von Schock, Wut und panischer Angst, die die Leute ergriff, als ihnen klar wurde, daß es nichts und niemanden gab, dem sie sich auf der Suche nach Heilung zuwenden konnten. Er erzählte mir von der Angst vor Ansteckung, die in der Stadt um sich gegriffen hatte, von den Leuten, die aufgehört hatten, anderen die Hand zu geben, die sich in ihren Häusern versteckt hatten und doch gestorben waren, in dieser Woche noch gesund, in der nächsten schon tot. So war es auch seiner Mutter ergangen. Er erzählte mir, wie er sie begraben hatte, in einem Sarg, den er und seine Brüder aus einem alten Zaun und einer kaputten Tür gezimmert hatten, während sein Vater im Wohnzimmer saß und den leeren Fernsehschirm anstarrte und die Flasche Brandy trank, die sie aufgehoben hatten, um damit die Rückkehr des elektrischen Stroms zu feiern. Als Eli endlich die Worte ausgingen, saß er unbeweglich wie ein Stein da und blickte hinaus in den grauen Regen. Ich betrachtete ihn einen Augenblick und verzichtete dann ebenfalls auf Worte. Ich erhob mich, ging durchs Zimmer dorthin, wo er saß, und legte ihm die Hände auf die schlaffen Schultern. Dort ließ ich sie ruhen, schwer und geduldig und weiser, als ich es für möglich gehalten hatte, bis er mir das Gesicht zuwandte. 198
Alle unsere Geschichten verschwanden in seinen golden gefleckten Augen. Da jedoch sprang die Tür zu Evas Studio auf, und wir zuckten zusammen, als hätten wir uns verbrüht. »Was macht das Feuer?« fragte sie, riß die Ofentür auf und stocherte in der Glut. »Sieht ein bißchen weit niedergebrannt aus.« Das war gestern. Heute empfinde ich neue Scheu, nur daß meine Scheu heute eine gewisse Süße hat, und unser Gespräch ist zwar nicht so tiefschürfend, aber es fehlt ihm der Stachel, den ich schon fürchten gelernt hatte. Heute kann ich lesen, kann sogar aufstehen und ins Bad gehen, ohne mich damit zu quälen, was er sehen, was er hören, was er denken könnte. Wenn Eli auf seiner Mundharmonika spielt, gefällt mir heute lediglich der Klang seiner Musik. »Sieh bloß zu, daß du nicht schwanger wirst«, zischt Eva, als sie und ich am Spätnachmittag zusammen Feuerholz holen gehen. »Was?« japse ich. »Was immer du tust, sei vorsichtig. Mehr verlange ich nicht.« »Was willst du damit sagen?« »Das Letzte, was wir derzeit brauchen können, ist ein Baby. Und du weißt, daß er sich prompt aus dem Staub machen würde.« »Wie kommst du drauf, daß er so was tun würde?« 199
»Nicht er. Ihr beide.« Sie lächelt und bringt mich so aus der Fassung, daß ich unfähig bin, die gemischten Gefühle in ihrer Stimme zu deuten. Der heutige Morgen ist klar und hell angebrochen – frostig und feucht war es, als ich die Hennen auf den Hof gelassen habe, aber in der Luft lag das Versprechen, daß es später warm werden würde. Eli wartete an der Tür auf mich, als ich mit einer Ladung Holz in den Armen zurückkam. »Laß uns spazieren gehen«, sagte er. Ich klopfte an die Tür von Evas Studio, und als ich keine Antwort bekam, öffnete ich sie einen Spalt breit. Sie stand mit dem Rücken zu mir an der Stange, aber ich konnte im Spiegel ihr Gesicht sehen, friedlich wie stilles Wasser. Ihre Hand ruhte anmutig auf der Stange, während sie ihre grandes battements ausführte und ein ums andere Mal forsch wie ein Ausrufezeichen das Spielbein hob. »Eli und ich gehen spazieren«, sagte ich zu ihrem geraden Rücken. »Gut«, antwortete sie, und wieder hob sich ihr Bein. »Bis dann«, sagte ich wehmütig. Sie drehte sich nach mir um. »Viel Spaß. Iß nichts, was du nicht kennst.« Sie äffte die Worte unserer Mutter so gekonnt nach, daß ich vortrat, um auf ihren Scherz einzugehen. Doch als sich unsere Blicke trafen, war ich erschrocken, darin nicht Humor oder gar Ironie zu erkennen, sondern einen Anflug von Traurigkeit. Eli und ich tollten draußen herum wie losgelassene Kinder. Atemlos und kichernd rannten wir über den 200
schimmernden, regennassen Hof. Wir kamen an der Werkstatt vorbei, und als wir über das verwesende Gewirr der Tulpen vom vergangenen Jahr hinweghüpften, versetzte es mir kurz einen Ruck. Doch ich schüttelte ihn ab wie ein Hund, der Wasser aus seinem Fell schüttelt, und ging mit Eli in den Wald. Vom vielen Regen war der Wald ganz feucht – dampfend und üppig nahm er das plötzliche Geschenk des Sonnenlichts entgegen. Ich fühlte mich sowohl befremdet als auch neu belebt, als wäre ich soeben nach langer Krankheit aufgewacht. Wasser tropfte von jedem Blatt und jedem Zweig, ein strahlendes Nachregnen, das sich wie ein ferner Bach anhörte, während der Bach in der Nähe toste wie ein Fluß. Die Nadeln der Mammutbäume glitzerten, und überall waren die harten, festen Buckel von Knospen zu sehen, wie winzige Fäuste oder straffe Brustwarzen. Die Luft reinigte unsere Lungen. Wir kniffen im nassen Lichterglanz die Augen zu und machten uns am Bach entlang auf den Weg. Auch nach fünf Tagen in seiner Gegenwart kam ich mir immer noch vor, als würde ich neben einem Fremden hergehen. Wir hatten das muffige Zimmer verlassen, in dem wir auf und ab gegangen waren, in dem wir gegessen, geschlafen und uns unterhalten hatten, und waren nun – zum allerersten Mal – wahrhaft allein. »Wohin führst du mich?« fragte er, als er hinter mir her über die Äste und Findlinge am Bachbett kletterte. »Wie kommst du darauf, daß ich dich führe?« hänselte ich ihn. »Es ist dein Wald.« 201
Ich wollte soeben protestieren, daß mir der Wald nicht gehöre, als mir der Baumstumpf einfiel, den Eva und ich einst zu unserem Eigentum erklärt hatten. Ich spürte ein leichtes Schuldgefühl und überlegte, ob sie sich wohl verraten fühlen würde, wenn ich Eli die Stelle zeigte. Aber dann erinnerte ich mich, wie oft sie sich geweigert hatte, ihr Studio zu verlassen, wenn ich sie angefleht hatte, mit mir dort hinzugehen, und ich dachte: Es wird ihr gleichgültig sein. Und außerdem ist sowieso alles egal. »Na gut«, sagte ich, »ich werde dich führen. Komm.« »Wohin gehen wir?« »Du wirst schon sehen.« Wir hatten eine Stelle erreicht, wo der bewaldete Hang steil nach oben verlief, und obwohl kein Pfad in Sicht war, machte ich mich an den Aufstieg. Mit gebeugten Knien, die Füße seitwärts zum Hang, kletterte ich, suchte ich im Durcheinander aus Eichenlaub und Lorbeerblättern, die den Boden bedeckten, nach Halt, die Hände ausgestreckt, um die Balance zu halten oder mich festzuklammern. »Sieh nur zu, daß du nicht in den Sumach greifst«, rief ich zu Eli hinab. Ich konnte ihn unter mir klettern hören. Ich konnte das modernde Laub riechen, das meine Füße aufwühlten. Einmal glitt ich aus und fiel auf die Knie, packte nasse Hände voll Blattwerk und umfing mit den Schenkeln den Hang, bis ich zu rutschen aufhörte. Ich atmete schwer, als ich endlich das Plateau auf dem Gipfel erreicht hatte, und meine Jeans waren an den Knien feucht. Ich drehte mich um und sah zu, wie Eli die letzten paar Meter heraufkletterte. 202
»Was gibt’s hier oben?« fragte er keuchend. »Wald.« »Die ganze Kletterei wegen noch mehr Wald?« »Du wirst schon sehen.« Wir standen einen Augenblick Seite an Seite, während unser Atem zur Ruhe kam und ich versuchte, mich zu orientieren. So weit oberhalb des Bachs beginnt sich der Wald ein wenig zu lichten. Es gibt weniger Unterholz, aber die Bäume stehen immer noch so dicht, daß die Augen nicht wissen, worauf sie sich einstellen sollen, so dicht, daß man sich nach einem Stück offenen Himmels sehnt. Die Bäume sind größer, und hier und da umsteht ein Kreis aus Mammutbäumen eine breite Mulde, die das Grab eines uralten Baums ist. »Und was ist es, das ich unbedingt sehen muß?« fragte Eli. »Komm«, sagte ich. »Wenn du es siehst, wirst du’s wissen.« Er verneigte sich vor mir, und wir setzten unseren Weg fort. Kaum unterwegs, kehrte meine Befangenheit zurück. Ich erinnerte mich daran, wie Eva und ich Indianer gespielt hatten, und um meine Schüchternheit zu überwinden, versuchte ich Eli beizubringen, wie man sich so verstohlen wie möglich durch knöcheltiefes Laub und Dickicht vorwärtsbewegt. Schließlich meinte er, daß ich nun einmal leiser sei als er. Er schubste mich gegen einen gefallenen Baum, und das Spiel wurde zur Verfolgungsjagd. Wir rannten durch den funkelnden Wald, schwer atmend und lachend, laut wie der Bach. 203
»Eva und ich haben immer hier droben gespielt«, sagte ich, als wir endlich aufhörten und dicht beieinander stehenblieben, um zu verschnaufen. »Ihr seid hier heraufgekommen, als ihr klein wart?« »Die ganze Zeit. Wir haben praktisch hier oben gelebt.« »Warum macht ihr es nicht mehr?« Ich spürte, wie mein Lächeln versickerte. Dann zuckte ich die Achseln. »Eva hat zu tanzen angefangen. Und dann ist meine Mutter krank geworden. Wir sind erwachsen geworden, nehme ich an.« Eli hob den Kopf, sah mich minutenlang an, besann sich jedoch eines Besseren und sagte nichts. Statt dessen nahm er meine Hand in die seine, und wir gingen weiter durch den tropfnassen Wald. Es ist nicht leicht, Händchen zu halten, während man durch den Wald geht. Es gibt Äste, unter denen man hindurch muß, Stämme, über die man hinweg muß, Bäume, um die man herum muß. Aber wir schafften es. In der Ferne konnte ich immer noch das Tosen des Bachs hören, nachdrücklich wie immer, aber nun von einer Million Blätter gedämpft. Ich dachte an meine Schwester, wie sie im stillen Haus in ihrem Studio arbeitete, mit ausdruckslosem Gesicht und geradem Rücken, die Hand so leicht auf die Stange gelegt, als würde sie auf einer Wasserfläche ruhen, das Bein immer wieder in die stille Luft erhoben, während ich hoch über ihr im kalten, frischen Wald mit einem anderen glücklich war. Mehrmals verlor ich die Orientierung; ob es an Eli lag oder daran, daß der Wald gewachsen war und sich 204
verändert hatte, weiß ich nicht, aber keiner der Bäume sah vertraut aus, und ich war fast schon soweit, aufzugeben. Ich dachte mir gerade einen Scherz aus, den ich machen wollte, weil ich den Rückzug antreten mußte, als ich auf einmal die Melodie eines nahen Wasserlaufs vernahm. Ich drehte in die Richtung ab und erkannte das kleine Rinnsal wieder, das am Baumstumpf vorbeifloß. Ich führte Eli etwa hundert Meter stromaufwärts, und da tauchte er auch schon so unerwartet wie eh und je vor uns auf, so daß wir eben noch von dichten Bäumen umgeben waren und gleich darauf in sieben Metern Entfernung dem hohlen Stumpf eines Mammutbaums von der Größe eines kleinen Zimmers gegenübertraten. Wir blieben Hand in Hand davor stehen. Ich hatte vergessen, wie riesengroß er war, wie massiv. Er sah eher nach Stein als nach Holz aus und kam mir doch lebendig vor. Die Außenwände waren mit Miniaturwäldern aus Moos und Flechten bedeckt. An der Nordseite befand sich eine Öffnung, die groß genug war, um zwei Kinder Hand in Hand eintreten zu lassen, und ich führte Eli hinein. Die Wände im Innern waren von einem längst vergangenen Feuer verkohlt und geschwärzt, mit Flechten bewachsen und verwittert. Sie rochen ganz schwach nach einem Rauch, der so alt war, daß sich womöglich kein Lebender mehr an die Flamme erinnern konnte. Ich beobachtete Eli, der im verstreuten Laub des vergangenen Jahres stand, die Arme ausbreitete und sich langsam im Kreis drehte. Die Wände waren immer mindestens einen halben Meter außerhalb seiner Reichweite. 205
»Hast du mich deshalb hier heraufgeführt?« fragte er. »Was glaubst du?« »Ich glaube, das hier sieht gerade so aus, als wolltest du es mir dringend zeigen«, sagte er. Ehe ich dazu kam, mir Gedanken darüber zu machen, was er damit meinte, griff er nach mir und zog mich an sich. Und dann war ich zu beschäftigt mit der unerwarteten Weichheit seiner Lippen, um mir Sorgen über andere Bedeutungen zu machen. Wir hätten Wurzeln schlagen können, so lange standen wir da. Wir hätten uns Flügel wachsen lassen und durch den Schacht des Baumstumpfs zum Himmel aufsteigen können, ohne unser Gespräch in jener stummen Sprache zu unterbrechen, die wir plötzlich entdeckt und von der wir erfahren hatten, daß sie uns gemeinsam war, die flüssige und präzise Sprache der Zungen. Manchmal schien es, als ginge der Wald seinen eigenen Geschäften nach, ein andermal schien er näher zu rücken und über uns zu verharren. Wir liebten uns, auch wenn fummeln vermutlich ein besseres Wort für das ist, was zwischen uns vorging. Es herrschte eine Gewirr der Knöpfe, ein Verknoten von Hemdsärmeln und Hosenbeinen, ein gegenseitiges Entblößen, schüchtern, gierig und mit Gänsehaut versehen. Wir breiteten unsere Kleider auf dem Laub aus und taten dort auf dem kalten Boden des Waldes, wo eintausend Jahre lang ein Mammutbaum gewachsen war, wozu wir miteinander fähig waren. Die größte Offenbarung beim Sex war für mich nicht 206
Elis Penis, der mir irgendwie mädchenhaft vorkam, so glatt war er, so eifrig sprang er aus seinem Wust rotbraunen Haars hervor und hüpfte zwischen uns auf und ab wie eine Marionette. Nein, die eigentliche Überraschung war die Berührung seiner Haut mit der meinen, die feinen Abstufungen von Struktur, Temperatur und Druck. Der größte Schock war nicht unsere Unterschiedlichkeit, sondern unsere Ähnlichkeit. Wir bemühten uns lange Zeit, ihn in mir unterzubringen, und ich weiß nicht, ob seine Unerfahrenheit auch zu unserem Dilemma beigetragen hat. Jedenfalls hatte es den Anschein, als seien wir uns beide nicht nur über die Technik, sondern auch über die Etikette jenes Vorgangs im unklaren, den das Lexikon als Penetration bezeichnet. Lange rannte er gegen mich an, bis selbst mir klar wurde, daß er Hilfe brauchte, und ich mit eher vor Verlegenheit als vor Lust geröteten Wangen endlich versuchte, ihm zur Hand zu gehen. Da jedoch fummelten nur zwei Hände statt einer zwischen unseren vier Beinen herum. Ich versuchte mir gerade eine höfliche Ausrede einfallen zu lassen, um das Ganze abzublasen, als ich auf einmal ein Nachgeben spürte, eine neue, glitschige Dimension meiner selbst. Ich empfand dumpfen Schmerz, eine weitere Ebene des Widerstands, und dann bewegte er sich in mir hin und her. Ich muß zugeben, daß das Gefühl eher seltsam als angenehm war. Aber ganz am Schluß kam ein Augenblick, in dem er einen so reinen Laut hervorstieß, daß ich meinte, soeben die Stimme seiner Seele gehört zu haben. 207
Als alles vorbei war, lagen wir kurz miteinander da. Dann glitschte Eli aus mir heraus, und zurück blieb eine klebrige Nässe zwischen meinen Beinen. Wir blieben auf dem Knäuel aus Jeanshosenbeinen und Hemdsärmeln liegen. Scharfkantiges Eichenlaub blieb an unseren Rükken und Ellenbogen und Knien hängen, und Mammutbaumwedel verfingen sich in unserem Haar. Ich schlug die Augen auf, blickte durch den Stumpf am Geflecht der Zweige vorbei zum Himmel auf und glaubte, überall im Geisterwald die Säfte wallen zu hören. Ich fand es eigenartig, mit zerknitterter Kleidung und stacheligem Laub im Haar, wund und klebrig im Schritt, an Elis Hand den Hang hinabzusteigen. Eva war in der Küche, als wir heimkamen, und spülte unser Frühstücksgeschirr aus. Sie hob den Blick vom Spülbecken und fragte: »Na, wie war der Spaziergang?« »Nell hat mir den Baumstumpf gezeigt«, sagte Eli, immer noch bemüht, freundlich zu sein. Einen Augenblick lang sah Eva tieftraurig aus. Dann wurde ihre Miene verschlossen, und sie fragte, an mich gewandt: »Was für einen Baumstumpf?« Am folgenden Nachmittag lagen Eli und ich wieder zusammen im Innern des Baumstumpfs. Wir hatten soeben den Liebesakt vollzogen und rekelten uns im trägen Abglanz, dösend, kokett, ein unbestimmtes Lächeln an den verkohlten Wänden vorbei zum windigen Himmel gerichtet. Ich hatte den Kopf auf seine Brust gelegt und 208
lauschte dem sicheren, festen Schlagen seines Herzens. Aber irgendwann verzog sich meine Trägheit wie Dunst in der Morgensonne, und ich richtete mich auf, um ihm ins Gesicht zu sehen, um ihn dabei zu beobachten, wie er mir versicherte, daß unser Warten endlich vorbei sei. Drüben im Osten, in der Umgebung von Boston, versicherte er mir, geht wieder alles seinen gewohnten Gang. Er berichtete, daß es dort Strom gibt. Die Telefone funktionieren. Die Leute haben Arbeit. In den Läden sind Nahrungsmittel erhältlich. »Woher weißt du das?« fragte ich, hin- und hergerissen zwischen Freude und Ungläubigkeit. »Ein Freund meines Onkels hat es uns gesagt.« »War er etwa dort?« »Er war in Sacramento. Er ist erst letzte Woche zurückgekommen.« »Aber woher …« »Auf dem Heimweg hat er einen Mann getroffen, und sie sind fast den ganzen Weg zusammen marschiert. Dieser Mann hatte irgendwo droben bei Grantsvill Verwandte. Jedenfalls muß er einen Narren an Charlie gefressen haben, denn kurz vor Redwood hat er ihm alles erzählt und gesagt, er sei unterwegs nach Hause, um seine Familie zu holen und vor dem nächsten Winter mit ihr nach Boston zu ziehen.« Der Mann aus Grantsville hatte behauptet, daß es im Osten eine Weile schlimm gewesen sei, schlimmer als es hier je geworden war. Die Unruhen waren schrecklich, die Banden offenbar die einzigen, die für Ordnung sorgten. Viele, viele Leute waren an Hunger, Kälte und Seuchen 209
gestorben. Aber Eli hat gesagt, daß es damit inzwischen vorbei ist. Er hat gesagt, die Leute, die übriggeblieben sind, leben wie die Könige. Boston wird wieder aufgebaut. Man hat eine Interimsregierung gebildet und ein System entwickelt, das den Leuten erlaubt, Anspruch auf leerstehende Gebäude zu erheben, wenn sie sich bereit erklären, sie instand zu setzen und selbst zu bewohnen. Boston ist eine Stadt im Aufschwung. Nur versuchen die, die schon dort sind, es geheimzuhalten. Eli hat gesagt: »Wenn das ganze Land davon erfährt, wird Boston überrannt. Deshalb ist Charlie mit diesem Typen hundertfünfzig Kilometer marschiert, ehe der ein Wort gesagt hat, weil natürlich jeder, der es hört, alles einpacken und nach Osten ziehen wird.« »Wie beim Goldrausch, nur umgekehrt!« rief ich und sprang auf. »Warum hast du mir nicht schon eher davon erzählt?« Er grinste, arbeitete sich hoch. »Ich mußte erst rausfinden, wer du bist.« »Was soll das heißen? Wer bin ich denn?« »Die Frau, die mit mir dort hingehen soll.« Ich stand völlig nackt vor ihm, und die Überbleibsel unseres Liebesakts begannen aus mir auf den fruchtbaren Waldboden zu tropfen, und dennoch versetzte es mir einen Schock, zu hören, daß er mich als Frau bezeichnete. »Was soll das heißen?« wiederholte ich. »Ich möchte, daß du mit mir kommst.« Bei diesen Worten pumpte sich ein flaches, leeres Ding in meinem Innern auf wie eine neue Lunge. Ich wollte, daß er den Genuß nachwirken ließ, daß er – mit 210
mir – feierte, was er soeben gesagt hatte. Doch er hatte es eilig. »Wir müssen bald aufbrechen«, sagte er, »damit wir nicht irgendwo in South Dakota überwintern müssen. Jeder Tag, den wir ungenutzt verstreichen lassen, bedeutet, daß jemand anders uns gegenüber einen Vorsprung hat.« »Und was wird aus Eva?« fragte ich. »Die kann auch mitkommen.« Seine Brüder gehen mit. Und ihr Cousin. Mit Eva werden wir zu sechst sein. »Sechs ist eine gute Zahl«, sagte Eli. »Nicht so viele, daß es schwierig wird, alle im Auge zu behalten, aber genug, um sich wehren zu können. Allerdings müssen wir bald aufbrechen«, wiederholte er, »jetzt, wo es Frühling wird. Es ist schon Mitte März, und es wird uns weitere anderthalb Tage kosten, zu Fuß in die Stadt zurückzukehren. Mike und Adam haben gesagt, daß sie nur zwei Wochen auf mich warten können, und ich bin schon eine Woche hier.« Es war seltsam, jemanden wieder von Wochen sprechen zu hören, zu denken, daß sie irgendwo weiterbestanden, fünf Arbeitstage, die sich um ein Wochenende drehten. Ich erinnerte mich, wie bedeutungsvoll mir die Begriffe Montagmorgen oder Samstagabend erschienen waren. Und mir kam mit einem Anflug, der an Lust heranreichte, die Erkenntnis, daß diese Worte ihre Bedeutung wiedererlangt haben, drüben in Boston. Allein der Gedanke sorgte dafür, daß ich mich aufgeschlossen fühlte, großzügig, lebendig. Ich stellte mir Boston vor, strahlend hell erleuchtet. Ich stellte mir 211
Lebensmittelläden und Tankstellen, Museen und Einkaufszentren, Restaurants, Spielhallen und Theater vor. Ich dachte daran, wie es wäre, nicht mehr zu horten und den Kopf einzuziehen und zu trauern, und zum ersten Mal in meinem Leben mußte ich vor Freude weinen. »Ihr spinnt«, sagte Eva, als wir ihr am selben Abend davon erzählten, während wir drei um die offene Ofentür herum saßen. »Das schafft ihr nie.« »Natürlich schaffen wir das«, sagte Eli und stach auf die Glut in der Feuerstelle ein, während wir mit der gleichen gebannten Intensität, mit der wir früher ferngesehen hatten, in die Flammen starrten. »Ihr wollt nach Boston laufen?« fragte sie, und ich verzog das Gesicht, als ich den Hohn in ihrer Stimme hörte. »Ja«, antwortete Eli. »Vor dem nächsten Winter?« »Ja.« »Und wenn ihr es nicht bis dorthin schafft?« »Dann igeln wir uns irgendwo ein.« »Wo denn? Wer würde ein zusätzliches halbes Dutzend Menschen den Winter über aufnehmen?« »Wir würden uns unseren Unterhalt verdienen. Joe hat eine Schrotflinte. Und ein Repetiergewehr. Und wenn ihr mitkommt, haben wir auch noch euer Gewehr. Wir können jagen und Holz hacken. Wir kommen schon durch.« »Weißt du etwa, wie man jagt?« »Na klar.« Er grinste. »Wieso nicht? Ich lerne schnell.« »Und Boston hat etwas, das wir nicht haben?« 212
»Jawohl.« »Was denn?« »Strom. Zu Essen. Arbeit.« »Woher weißt du das?« »Wie gesagt: Der Freund von meinem Onkel …« »Und wenn er sich täuscht? Wenn das auch nur wieder ein Gerücht ist?« »Meinst du, daß dieser Typ, wenn es ein Gerücht wäre, so lange dichtgehalten hätte? Er und Charlie sind zusammen hundertfünfzig Kilometer marschiert, bevor er auch nur davon angefangen hat. Hört sich das wie ein Gerücht an? Außerdem ist Charlie gerissen. Der würde es merken, wenn der Typ eine Niete wäre.« »Woran?« »Er würde es merken. Aber sieh mal. Selbst wenn er unrecht hat – was nicht der Fall ist –, kann es uns nicht schlechter gehen als jetzt. Wenigstens sind wir dann an Ort und Stelle, wenn es wieder von vorn losgeht.« »Wenn du so sicher bist, daß Charlie weiß, wovon er redet, wo sind dann die Flugzeuge?« »Die Flugzeuge?« »Richtig. Warum ist nie jemand nach Westen geflogen – oder auch nur gefahren? Wenn im Osten tatsächlich wieder alles seinen Gang geht, warum wissen wir dann nicht davon?« »Ach, Eva«, sagte er mit übertriebener Nachsicht, »natürlich werden die Lichter nicht mit Benzinmotoren betrieben. Das Benzin ist längst verbraucht. Gefragt sind die Alternativen – alles wird mit Solarenergie oder Windkraft versorgt. Natürlich gibt es keine Flugzeuge. 213
Außerdem will niemand, daß das Geheimnis rauskommt. Es ist nicht genug da für alle.« »Warum willst du dann hin?« »Um mein Glück zu machen. Um im Leben weiterzukommen.« Er schwieg einen Augenblick und fügte trauriger, als ich ihn je erlebte hatte, hinzu: »Ich hab in Redwood schwere Zeiten erlebt.« »Ach, Eva«, platzte ich heraus, »du kannst dann wieder tanzen. Es wird Musik geben. Und Lehrer. Du kannst dich einer Tanztruppe anschließen – und ich kann nach Harvard gehen.« Da begegnete sie mir mit einem geraden Blick, der mir wie eine Warnung vorkam, doch was sie damit sagen wollte, war zu rätselhaft, und ich war zu verzückt, um es verstehen zu wollen. »Elis Brüder bauen einen Handkarren, und sie versuchen ein Pferd zu finden«, sagte ich. »Das ist doch verrückt«, erwiderte Eva. Darauf Eli: »Nicht verrückter, als hierzubleiben und darauf zu warten, daß die Lichter wieder angehen. Nicht verrückter, als sich hier droben in den Bergen zu verstekken, Nägel und Gummibänder abzuzählen und zuzusehen, wie sich die Speisekammer leert. Was soll aus euch beiden werden, wenn ihr hier zurückbleibt?« »Nichts. Wir werden es überstehen.« »Nichts. Ganz recht. Nichts wird aus euch werden – wenn ihr Glück habt. Wenn ihr Glück habt, werden die Lichter wieder angehen, bevor euch das Essen ausgeht, bevor eine von euch sich verletzt oder krank wird, bevor das Haus in Flammen aufgeht. Wenn ihr Glück habt. 214
Und nehmen wir mal an, ihr habt soviel Glück. Nehmen wir mal an, ihr schafft es, hier draußen zu überleben, bis der Strom wieder eingeschaltet wird – was dann? Ihr seid immer noch fünfzig Kilometer außerhalb der Stadt. Fünfzig Kilometer entfernt von einer Geisterstadt. Schon bevor das alles passiert ist, war Redwood ein Ort, den man am besten verläßt. Ich dachte, das hättest du kapiert, Eva.« Sie wurde langsam wütend. »Natürlich hab ich es kapiert. Aber wenn ich hier weggehe, dann nur, wenn ich gute Gründe habe. Nicht bloß Hingespinste.« »Wegzugehen ist weniger verrückt, als zu bleiben.« »Wenn wir hier bleiben, bleiben wir immerhin am Leben«, sagte Eva trocken, »und das ist mehr, als ich von dir behaupten kann, wenn du vor dem nächsten Winter fünftausend Kilometer Entfernung zu Fuß zurückzulegen versuchst.« »Ihr zwei geht hier draußen allein ein größeres Risiko ein als unterwegs mit mir.« Elis Stimme wurde weich. »Eva, ich bitte dich! Es ist ein Abenteuer. Komm mit uns. Und Nell gegenüber ist es auch nicht fair.« »Sie ist ein eigenständiger Mensch.« Eva erhob sich, um Holz nachzulegen. »Nell wird mit dir gehen, wenn sie es wünscht.« Ich hab es mir so sehr gewünscht. Mehr als ich mir je etwas anderes gewünscht habe, wünschte ich, mit Eli nach Boston zu gehen. Aber Eli ist fort. Eli durchquert 215
das Land ohne mich, unterwegs zu den Lichtern einer lebendigen Welt, und ich bin hier, als wäre ich nie aufgebrochen, und schreibe übers Reisen, während Eva tanzt und draußen aufs neue der Regen rinnt. Meine Socken waren gestopft, meine Jeans mit einem doppelten Flicken versehen. Der angeschimmelte Militärrucksack, den wir in Vaters Werkstatt gefunden hatten, war gereinigt und repariert und gefüllt, die Last immer wieder neu geordnet. Ich hatte meinen Brief aus Harvard eingepackt, eine Kopie meiner Noten vom Hochschulreifetest, meinen toten Taschenrechner, dieses Notizbuch. Bei jedem Pullover, jedem Streichholz, jedem Bleistiftstummel, jeder Garnrolle und jedem Reiskorn hatte ich hin- und herüberlegt, seinen Wert auf Reisen mit seinem Gewicht und Volumen verrechnet und in die Gleichung aufgenommen, wie dringend Eva es hier brauchen könnte. Wir teilten uns das Geld, aber ich ließ ihr die Lupe und die letzten beiden Teebeutel da. Und das Benzin. »Tut mir leid, daß ich dir nicht schon früher erlaubt habe, es zu verbrauchen«, sagte ich und fügte wehmütig hinzu: »Vielleicht sollten wir noch einen Tag bleiben und das geplante Fest feiern und dir beim Tanzen zusehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wenn du gehen willst, solltest du es besser gleich tun.« Sie schenkte mir die Wanderstiefel, die wir ganz hinten in Mutters Schrank gefunden hatten. Und sie bestand darauf, daß ich das Gewehr mitnehme. »Du wirst es brauchen«, sagte sie, »mehr als ich …« Ich unterbrach sie, um ihr zu danken, in diesem 216
Augenblick unfähig, etwas anderes zu empfinden als mein eigenes Entzücken. Ich war siebzehn Jahre alt, kräftig, frei und auf einmal schön. Ich war eine Frau, die mit ihrem Geliebten in die Welt hinausgeht. Allen Widrigkeiten zum Trotz war ich endlich unterwegs nach Harvard, und keine sauertöpfische Schwester konnte mir die Freude daran verderben. Ich muß zugeben, daß es sogar Zeiten gab, in denen ich meinte, daß es eine Erleichterung wäre, wenn Eva zurückbliebe. Außerdem war ich immer noch halbwegs davon überzeugt, daß sie im letzten Augenblick ihre Meinung ändern und mitkommen würde, daß uns die Wanderung wieder zu Verbündeten machen würde. Während ich sortierte, organisierte und plante, wartete ich auf den Augenblick, in dem sie endlich einlenken und anfangen würde zu packen. Doch im kalten Licht des letzten Morgens, als Eli draußen war, um eine letzte Ladung Feuerholz zu sammeln, und Eva und ich mit unserem faden Tee am Tisch saßen, war sie immer noch unerbittlich. »Nein, Nell. Ich bleibe. Diese Reise ist ein sinnloses Unterfangen.« »Aber wie steht es mit deiner Tanzerei? Die ganze Zeit hast du es geschafft, weiter zu tanzen, als niemand sonst weitergemacht hätte, und jetzt willst du dir alles durch die Lappen gehen lassen?« »Ich lasse mir nichts durch die Lappen gehen. Ich werde weiter tanzen.« »Aber Eva, was ist, wenn dies deine einzige Chance ist?« Sie fuhr zusammen und antworte dann so hastig, daß 217
ich merkte, daß sie darüber auch schon nachgedacht hatte. »Vielleicht ist das nicht das Wichtigste.« Bemüht, die Angst aus meiner Stimme herauszuhalten, fragte ich: »Was dann?« »Ich weiß auch nicht.« Ich schwankte kurz, doch dann sah ich die Rucksäcke wie Versprechungen an der Tür warten und versuchte es noch einmal: »Wir sind alles, was von unserer Familie übrig ist. Wir müssen zusammenhalten.« »Nein, das müssen wir nicht.« Sie schüttelte den Kopf, um zu verhindern, daß ich den Schlag abfing. Sie sagte: »Schon gut, Nellie. Wir haben beide unsere Wahl getroffen.« »Du kannst hier doch nicht allein zurückbleiben.« »Wieso nicht?« Da kam Eli zurück, die Arme mit Holz beladen, und Eva und ich verstummten. Wir taten so, als würden wir etwas essen. Wir unterhielten uns über die Hühner und das Wetter, versuchten zu scherzen. Schließlich machte Eli unserer Trägheit ein Ende, indem er auf eine Art aufstand, die widerstrebend und geschäftsmäßig zugleich war. »So. Bist du sicher, daß du es dir nicht noch anders überlegen willst, Eva?« »Jawohl«, sagte sie leichthin. »Ich bin sicher.« »Eigensinnig, stimmt’s?« »Jawohl«, sagte sie. »Ich bin eigensinnig.« Sie lächelten einander mit einem Verständnis zu, das so tiefgreifend und amüsiert und sicher war, daß ich auf sie und ihn ein wenig eifersüchtig war, als hätte einer beim anderen, ohne sich richtig darum zu bemühen, den 218
Platz eingenommen, den ich erstrebte. Eva wandte sich mir zu, nahm meine Hände und sah mich so liebevoll an, daß ich selbst da noch damit rechnete, daß sie zur Besinnung kommen würde. Aber sie sagte nur: »Lebwohl, Nellie. Ich werde immer deine Schwester sein.« Um den Kummer zu lindern, fügte sie hinzu: »Laß dich nicht hereinlegen. Und schreib, sobald du Arbeit hast.« Ich nickte benommen, umarmte sie zum ersten Mal wieder, seit wir das Benzin entdeckt hatten. Ich sah zu, wie Eli seinen Rucksack schulterte, das Gewehr nahm und die Tür aufmachte. Als schließlich nichts anderes mehr übrig war, was ich noch hätte tun können, wuchtete ich meinen Rucksack vom Boden, schwang ihn mir auf den Rücken und folgte ihm aus dem Haus ins grelle frühmorgendliche Licht. Es war ein herrlicher Morgen. Die Luft war kalt, doch die ferne Sonne strahlte. Meine Augen tränten, und mein Atem verließ in Form von glitzernden Wolken meine Lungen. Am Rand der Lichtung angekommen, wo sich der verwelkte Tulpenring meiner Mutter mit dem Fahrweg kreuzte, blieb ich stehen, drehte mich um und hob den Arm, um zum Abschied zu winken. Eva stand an der offenen Tür, mit ruhigem, heiterem Gesicht. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf, und die Luft darum herum schien sich zu verdichten und zu erzittern. Wir standen uns eine volle Minute lang auf der Lichtung gegenüber, dann hob sie grüßend die Hand. Hinter dieser schlichten Geste lag all ihre tänzerische Anmut und Kraft, und als ich mich abwandte, waren meine Augen tränenheiß. 219
Doch ich fing die Tränen auf, bevor sie fielen, und ihr Stechen schien nur die Schärfe des Augenblicks zu erhöhen. Ich war in diesem Augenblick eine Braut, eine Abenteuerin, eine Pioniersfrau. Die Bäume erstrahlten im Licht der eben aufgegangenen Sonne, und von der Straße stiegen leuchtende Dunstphantome auf. Der Wald roch nach Lorbeer und Föhren, und wir konnten das unbekümmerte Zwitschern der Vögel hören. Hinter uns sah ich blau und verhangen die Berge aufragen, und ich wußte, ich brauchte sie nur zu überqueren und dann immer weiterzugehen, um irgendwann alle meine Träume einzuholen. Als wir die Brücke erreichten, blieb ich stehen und blickte zwischen den zersplitterten Brettern auf das Rinnsal dort in der Tiefe hinab. Vorübergehend schien sich die Zeit selbst zu verflüssigen – wabernd und traumhaft wie die Luft über dem Schornstein. Ich erinnerte mich, daß die Brücke in meiner Kindheit meine Welt begrenzt hatte, und ich hielt inne. »Auf dem Herweg war sie noch ganz in Ordnung«, sagte Eli, und ich nickte und ging hinüber, obwohl ich das Gefühl hatte, von stillen Händen zurückgehalten zu werden. Dann war ich auf der anderen Seite angelangt, und jeder Schritt führte mich weiter fort vom Ursprung meiner Dämonen, näher heran an alles, was man mir je versprochen hatte. Ich war dieser Straße siebzehn Jahre gefolgt, nur zu Fuß war ich noch nie auf ihr gegangen. Ich hatte das Gefühl, als würden Eli und ich schon jetzt neues Terrain erkunden. Jede Biegung offenbarte 220
einen Ort, den ich scheinbar noch nie gesehen hatte, und der war strahlend vor Sonnenlicht und grün vom Regen und so schön, daß ich es nicht schaffte, daran zu denken, daß ich die Gegend durchwanderte, um sie zu verlassen. Eli legte ein hohes Tempo vor. Mutters Stiefel waren meinen Füßen fremd, und ich geriet, um mitzukommen, bald ins Schwitzen. Dennoch war es ein Vergnügen, mich seinen Schritten anzupassen, mich endlich wieder für etwas anzustrengen. Wenn wir einen neuen Ort erreichten und ihn dann hinter uns ließen, hatte ich jedesmal das Gefühl, endlich vorwärtszukommen. Der Winter hatte der Straße sehr zugesetzt. Ohne meinen Vater, der immer die Gräben freigeräumt und die Brombeerranken aus den Abflüssen gerissen hatte, konnte der Regen im Straßenbett tiefe Rinnen fräsen. Stellenweise war der Hang auf die Straße gerutscht. An einer Stelle war ein Stück Straße ganz ausgewaschen, so daß nur eine Spur am Hang übrig blieb. »Ich frage mich, ob unser Lieferwagen überhaupt noch da durch käme«, sagte ich und spähte in die Schlucht hinab, wo einst die Straße gewesen war. »Schwer zu sagen«, antwortete Eli, ohne stehenzubleiben. Wir kamen am Haus der Colemans vorbei, als die Luft noch kühl war, und erreichten vor Mittag die Landstraße. Es war ein wenig beunruhigend, zum ersten Mal wieder Asphalt zu sehen, und ich ertappte mich dabei, wie ich leiser sprach, mich verstohlen umsah und Eli hin und wieder bat, ruhig zu sein, um auf das Motorengeräusch des 221
Autos zu horchen, das ich gehört zu haben glaubte – das jedoch nie auftauchte. Mittags machten wir ein paar Minuten halt, um Wasser aus dem Bach zu trinken und von den Bohnen zu essen, die ich tags zuvor gekocht hatte. Sobald wir gegessen hatten, sprang Eli auf, nahm das Gewehr, schwang den Rucksack auf seinen Rücken und machte sich erneut vor mir her auf den Weg. Den ganzen Nachmittag marschierten wir, und Eli sprach die ganze Zeit davon, was er zu tun vorhatte, wenn wir in Redwood ankamen, während ich nickte und von Boston träumte und die Tragriemen meines Rucksacks die Haut über dem Schlüsselbein wundrieben. Eli hatte recht gehabt – die Häuser, an denen wir während des Tages vorbeikamen, standen leer. Wenn wir ihnen näher kamen, war ich es, die das Tempo steigerte, die die Augen abwandte und die Bedrohung ihrer leeren Fenster und ihre unerzählte Geschichte zu ignorieren versuchte. Die Nacht über kampierten wir im Wald, in einer Mulde, die wir zwischen der Straße und dem Bach entdeckten. Eli schichtete ein Reisigfeuer auf, und ich erhitzte die restlichen Bohnen, über die wir ein wenig geriebenen Käse streuten. Hinterher spülte ich unsere Gabeln und unseren Kochtopf im Bach aus, während Eli aus unseren Schlafsäcken am Feuer ein Nest baute. Seite an Seite lagen wir auf unserem Bett und sahen zu, wie die Sterne am mondlosen Himmel aufblühten. Eli wollte sich über die Reise unterhalten – darüber, was für Räder für den Handkarren am ehesten geeignet waren, 222
wie wir mehr Munition für mein Gewehr beschaffen konnten, wo es am leichtesten war, die Rocky Mountains zu überqueren. Dagegen stellte ich fest, daß ich mich danach sehnte, darüber zu sprechen, was ich hinter mir gelassen hatte. Wahrscheinlich hoffte ich auch, daß wir dort unter den Sternen eine Art Zeremonie abhalten würden, in Anerkennung dessen, was ich getan hatte. Aber die Worte, von denen ich mir wünschte, daß wir sie zueinander sagten, wurden nie gesprochen, und wir unterhielten uns statt dessen darüber, wie lange die Stiefel meiner Mutter halten mochten, was für Straßen wir am besten benutzen sollten und wann in Ohio im kommenden Winter der erste Schnee fallen mochte. Unser Gespräch erstarb mit dem Feuer, bis wir nur noch schweigend die voll erblühten Sterne anstarrten. Ab da war ich mit meinen Gedanken allein, und sie wandten sich Eva zu. Ich überlegte, daß sie inzwischen sicher auch gegessen hatte. Sie hatte die Türen verriegelt und das Feuer im Holzofen geschürt. Ich stellte mir vor, wie sie im dunklen Haus saß und das Niederbrennen ihres einsamen Feuers beobachtete. Ich überlegte, was sie wohl dachte, wie es sein mochte, so allein zu sein. Ich merkte, wie mein Entschluß, sie zu verlassen, ins Wanken geriet, und rief mir, um ihn zu festigen, ins Gedächtnis, wie distanziert und anders sie geworden war. Es war gewiß für uns beide das beste, daß ich fortgegangen war. All unsere Meinungsverschiedenheiten rief ich mir ins Gedächtnis und erinnerte mich mit Empörung daran, wie frostig sie Eli begegnet war, wie brutal sie mich gewarnt hatte, nicht schwanger zu werden. 223
Dabei fiel mir etwas anderes ein. Ich sagte, an Eli gewandt: »Du hast nie mit mir über Verhütung gesprochen.« Er lag so lange schweigend neben mir, daß ich schon anfing, zu glauben, er habe mich nicht gehört. Dann richtete er sich auf, griff nach einem Stock und stocherte im Feuer, stieß gegen die Glut, bis sie aufloderte und auseinanderfiel. Als er antwortete, hörte es sich fast mißtrauisch an. »Ich dachte, du würdest dich drum kümmern.« »Wie denn?« »Na ja, ich weiß auch nicht. Du hast dich doch wohl darum gekümmert, oder?« Ich merkte, daß ich mich ebenfalls aufgerichtet hatte, mit dem Ast eines Mammutbaums im Feuer herumstocherte und wie gebannt zusah, wie die Blätter zischten und sich einrollten. Aus einem unerklärlichen Grund war es meine erste Regung, so zu tun, als würde mir erst jetzt klar, daß es Folgen haben konnte, wenn wir miteinander schliefen. Schließlich sagte ich: »Als wir unsere Periode bekommen haben, hat unsere Mutter uns gezeigt, wie wir den Zeitpunkt unseres Eisprungs ausrechnen können. Ich glaube, es bestand keine Gefahr.« »Gut«, sagte er und tätschelte meinen Oberschenkel. »Dachte ich mir’s doch, daß du vorsichtig sein würdest.« »Was hättest du getan, wenn ich es nicht gewesen wäre? Oder wenn es mal nicht klappt?« fragte ich, bemüht, meine Stimme im Zaum zu halten. »Weiß ich nicht«, entgegnete er. »Die Reise könntest du mit einem Baby jedenfalls nicht antreten.« 224
Er beugte sich zu mir herüber, küßte mich auf beide Augen, so daß der warme Druck seiner Lippen auf meinen Lidern mich von jeglichem Bedürfnis erlöste, zu sehen. Dann küßte er meinen Mund, bis ich nicht mehr den Drang verspürte, zu sprechen. Als wir uns liebten, war es so dunkel, daß ich sein Gesicht nicht erkennen konnte, obwohl es sich nur einen Atemzug weit über meinem befand. Ich beobachtete statt dessen die Sterne, sah sie heller werden und herabstürzen, bis sie direkt über uns zu sein schienen, so daß ich, wenn ich gewollt hätte, die Hände von Elis Schultern nehmen und sie zu neuen Mustern zusammenschieben konnte. Da aber beanspruchte das Geschehen auf der Erde auf einmal meine ganze Aufmerksamkeit. Ich schloß die Augen, fühlte eine neue Galaxie voller Sterne in mir erblühen. Später rappelten wir uns hoch, um nach dem Feuer zu sehen und unsere zerwühlten Schlafsäcke glattzuziehen. Und dann schlief ich an Eli geschmiegt ein. Ich träumte, ich würde wieder an Vaters Grab stehen. Es war noch genauso wie an dem Tag, an dem wir ihn beerdigt hatten – da war das Loch, das ich mit Eva gegraben hatte, da waren unsere zwei Schaufeln, die blutige Kettensäge, ja sogar sein Hemd. Ich konnte sein Blut auf dem Erdboden neben dem offenen Grab sehen und trat hilflos darauf zu, voller Angst, was ich wohl als nächstes sehen würde. Doch was ich sah, war schlimmer als das, was ich befürchtet hatte – das Grab war leer. Völlig außer mir rief ich nach meinem Vater und suchte den Wald ab, verzweifelt bemüht, seinen verstümmelten Leichnam zu finden. 225
Aber er war fort. Ich muß Eva Bescheid sagen, dachte ich. Aber so sehr ich auch suchte und mir die Kehle wund schrie, konnte ich doch keine Spur von ihr entdecken. Ich wachte bei Morgengrauen auf. Tränen strömten mir über die Wangen – und nirgends eine Schwester, die mir versichert hätte, daß alles nur ein Alptraum war. Eli schlief noch, schön und entrückt wie ein griechischer Gott. Ich erhob mich, ohne ihn zu stören, zog mich an, trat hinter einen Baum, um in die Hocke zu gehen und zu pinkeln, und anschließend an den Bach, um meine Tränen mit kaltem Wasser fortzuspülen. Er hatte sich aufgesetzt, als ich zurückkam, und gähnte und streckte sich im zunehmenden Licht. »Wenn wir so gut vorankommen wie gestern, werden wir am Nachmittag in Redwood sein«, sagte er. »Was hältst du davon?« Ich schluckte und sagte, was ich mich zu sagen gefürchtet hatte: »Ich gehe nicht mit.« »Was?« fragte er und erhob sich abrupt aus dem Gewirr unserer Schlafsäcke. »Ich gehe nicht mit«, wiederholte ich. »Du gehst nicht mit?« fragte er, das Gesicht ungläubig verdüstert. »Nein«, antwortete ich. »Warum nicht?« »Weiß auch nicht. Es geht einfach nicht.« »Du hast Angst vor der Reise?« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht.« »Du willst nicht mit mir zusammen sein?« »Nein, nichts lieber als das …« 226
»Was denn dann?« »Ich glaube, ich schaff’s nicht, Eva zu verlassen.« »Sie hat selbst gesagt, es macht ihr nichts aus.« »Ich weiß.« »Nell – sie würde dich auch verlassen.« »Nein, das würde sie nicht.« »Jedenfalls war sie nicht bereit, mit dir mitzukommen.« »Das ist was anderes«, entgegnete ich hilflos. »Ach so.« »Es tut mir leid«, sagte ich. »Furchtbar leid.« »Sieh mal – du hast sie doch längst verlassen. Du bist mit mir mitgekommen. Du kannst jetzt nicht mehr zurück.« »Ach, Eli …« »Ich sag dir was: Wir gehen nach Osten und richten uns häuslich ein, und dann lassen wir sie holen. Das dauert nicht lang.« »Wie lang?« »Übernächsten Sommer werdet ihr wieder Zusammensein.« Ich überlegte, wieviel Zeit das war, überlegte, wie wenig feststand und wieviel sich ändern konnte. »Ich möchte schon«, sagte ich, »aber ich kann einfach nicht.« »Natürlich kannst du. Was du sagen willst, ist, daß du nicht bereit dazu bist.« »Nein, ich …« »Nell«, wiederholte er, »du sagst, daß du nicht bereit dazu bist.« 227
»Na gut – ich bin nicht bereit dazu«, sagte ich. Ich konnte ihm ansehen, wie er sich neue Argumente zurechtlegte. Dann jedoch hielt er plötzlich inne und blickte mich an, als ob er etwas ganz Neues in mir sähe. »Wie Eva so richtig gesagt hat – du bist ein eigenständiger Mensch.« »Es tut mir leid«, sagte ich noch einmal, aber er hatte sich abgewandt, suchte bereits seine Kleidungsstücke zusammen. Er zog sich schweigend an, und schweigend rollten wir unsere Schlafsäcke zusammen, packten unsere Rucksäcke. Schweigend schob er mit dem Fuß loses Erdreich über unser erloschenes Feuer. Schließlich gab es nichts mehr zu tun. Eli schwang sich den Rucksack auf den Rücken, reichte mir das Gewehr. »Lebwohl, Nell.« »Lebwohl«, sagte auch ich, das Gewehr unbeholfen zwischen uns haltend. Dann hielt ich es ihm hin. »Warum nimmst du es nicht?« Er zögerte einen Augenblick und antwortete dann mit Entschiedenheit: »Nein. Das Gewehr bleibt bei dir.« Er streckte die Hand aus, um meine Wange zu berühren. »Gib auf dich acht«, sagte er. »Ich werde dich immer lieben, so gut ich kann.« Er drehte sich um und ging davon und ließ mich neben der Asche unseres Feuers stehen. In meinen Ohren hallten die Worte nach, die zu hören ich ersehnt hatte, und ich mußte meine Lippen mit den Zähnen verschließen, mußte darauf beißen, bis ich Blut schmeckte, um ihm nicht nachzurufen. 228
Lange Zeit später trat ich den Rückweg an. Zitternd vor Kälte und durch meinen Tränenschleier in die Helligkeit des Morgens blinzelnd, begann ich die lange Wanderung nach Hause. Einen Kilometer nach dem anderen stolperte ich dahin. Der Rucksack lastete schwer auf meinem Rücken, und die Stiefel meiner Mutter hingen mir wie Blei an den Füßen. Ich marschierte den ganzen Tag, machte für nichts anderes halt als zum Trinken. Derweil schabten die Stiefel an meinen Fersen, und meine Zehen und ebenfalls meine Gedanken bekamen Blasen, denn sie rieben und rieben sich an den immer gleichen rauhen Flächen. Es war schon fast dunkel, als ich endlich wieder auf die Lichtung trat. Das Haus war ein Monolith vor dem sich verfinsternden Wald, und in der offenen Tür stand meine Schwester, die Tränen auf ihrem Gesicht funkelnd schön wie ein Geschenk. Er ist also fort, auf dem Weg nach Boston, und wer weiß, was er vorfinden, wem er begegnen wird. Wer weiß, was für Wunder geschehen müßten, damit ich ihn wiedersehe. Nun lassen die Tage eine ständig sich ausdehnende Stille erklingen. Nun sind die Nächte länger denn je. Manchmal ist meine Verzweiflung bei dem Gedanken, daß ich Eli verlassen habe, so ungeheuer, daß ich kaum atmen kann. Ein andermal werde ich rot vor Scham, weil ich ihn überhaupt geliebt habe, weil ich mich schlängelnd 229
und drängend an ihn geschmiegt habe. Doch das geht vorbei, und gleich darauf sehne ich mich wieder nach ihm. Das einzige, was immer wiederkehrt, ist der Regen, unzeitig und unwillkommen. Draußen kauern die Knospen verfroren am Ende ihrer Zweige. Drinnen tanzt Eva, und ich versuche zu lernen, mich auf die Ls zu konzentrieren. Das Feuer schwelt verdrießlich am feuchten Holz. In der Speisekammer werden die Säcke flacher, verschwinden die Dosen, leeren sich die Gläser. Ich glaube fast, es war immer schon so. Heute habe ich einen Blutfleck in meiner zerschlissenen Unterhose entdeckt und wurde von derart intensiver Erleichterung überflutet, daß ich kurz glaubte, in Ohnmacht zu fallen. Andererseits muß ich zugeben, daß ich neben dem Aufatmen beim Anblick meines eigenen Bluts auch Bedauern empfand, denn nun war mein Körper endgültig aller Spuren von ihm ledig. Die Blasen an meinen Füßen sind verheilt. Eva hat sie in ihre Tänzerinnenhände genommen und sie so behutsam versorgt, daß ich schon jetzt neue rosige Haut an den Fersen und Zehen habe. Eva und ich sind derzeit freundlich zueinander, doch es ist eine distanzierte Freundlichkeit, und sie scheint eher aus Reue und Verlust denn aus Verbundenheit zu erwachsen. Wir sagen nicht viel, und obwohl ich mich danach sehne, mit ihr zu 230
reden, bin ich zu zaghaft oder auch zu erschöpft, um unser Schweigen zu brechen. In einem Buch, das ich längst in die geschlossene Bücherei zurückgebracht habe, stand, daß die Bauern in China, die Tee anbauen, sich nicht leisten können, ihn zu trinken. Statt dessen trinken sie heißes Wasser und nennen es weißen Tee. Ab morgen wird auch unser Tee weiß sein. Heute abend trinken wir heißes Wasser, das wir mit dem letzten zusammengekratzten Staub am Boden des Fastco-Kartons in Tee verwandelt haben. Er verleiht der dampfenden Flüssigkeit in unseren Bechern Farbe und Duft und Geschmack, der so schwach ist, daß eine Person, die nicht weiß, daß sie Tee trinkt, ihn für schlichtes Wasser halten könnte. Wir aber wissen, daß es Tee ist. Und wir wissen, daß es ab morgen keinen mehr geben wird. Das ganze Leben kommt mir neuerdings vor wie eine Folge letzter Male: die letzte Tasse Tee, zu klarem Wasser verdünnt, die letzte Prise Zucker, zwischen Zunge und Gaumen zerrieben, bis jedes Körnchen aufgelöst ist und Tropfen für Tropfen unsere Speiseröhre hinabgeronnen ist. Die letzten Makkaronistücke. Die letzte Linse. Heute haben wir mittags das letzte Glas Apfelmus gegessen. Als Eva nicht hinsah, habe ich das Gesicht in meiner leeren Schale vergraben und sie ausgeleckt. Ich kann es immer weniger verkraften, etwas zu verbrauchen. 231
Jeder Schluck, jeder Bissen, jeder Krümel ist eine Qual, ein Nadelstich, der meinem Bewußtsein ein unauslöschliches Bild von Mangel und Not eintätowiert. Das Betreten der Speisekammer ist heute ein heroisches Unterfangen. Beim Rechnen, der schlichten Multiplikation und Subtraktion, die zeigen wird, wieviel wir an einem Tag essen, für wie viele Tage wir noch Nahrung haben, gibt es ein Resultat, dem ich mich nicht stellen kann. Mein Bewußtsein erstarrt, und völlige Leere setzt ein, wenn ich versuche auszurechnen, wie viele Tassen Mehl fünfzig Pfund ergeben oder wie viele Mahlzeiten im letzten Sack Pintobohnen übrig sind. Ich habe nie gemerkt, wieviel wir konsumiert haben. Es kommt mir vor, als seien wir nichts als Appetit, als sei der Mensch schlicht ein Bündel von Bedürfnissen, die Welt zu verzehren. Kein Wunder, daß es Kriege gibt, kein Wunder, daß Erde, Wasser und Luft verschmutzt sind. Kein Wunder, daß die Wirtschaft zusammengebrochen ist, wenn Eva und ich so viel verbrauchen, nur um am Leben zu bleiben. Manchmal denke ich, um wieviel besser es wäre, wenn wir unsere Sehnsüchte vergessen, unser Bedürfnis nach Wasser, nach einem Dach überm Kopf und nach so viel Essen abstreifen könnten. Wieso machen wir uns die Mühe? Was ist damit gewonnen? Wir erreichen damit nur, daß wir ein wenig länger nach Luft schnappen. Eva und ich haben den ganzen Tag am Rand eines Streits balanciert, haben uns angefahren und gestichelt, als hätten wir beide schon vergessen, was ich aufgegeben habe, um 232
bei ihr zu bleiben. Einerseits will ich sie anschreien, will sie verwunden, ihr die Schuld am leeren Schrank, an der ausgewaschenen Straße, an meiner Einsamkeit geben. Aber andererseits zucke ich beim bloßen Gedanken an eine Auseinandersetzung zusammen, will ich unbedingt mit dem einzigen Menschen auskommen, den ich noch habe. Gestern abend wollte Eva das letzte Glas Tomaten leeren, um unserem Reis Geschmack zu geben. Aber seit ich im Lexikon alles über Limonen gelesen hatte, mache ich mir Sorgen wegen Skorbut. »Ich finde, wir sollten es aufheben«, sagte ich. »Dieses Glas Tomaten ist das einzige Nahrungsmittel mit signifikantem Vitamin-C-Gehalt, das wir noch haben.« Sie warf mir einen vernichtenden Blick zu, öffnete die Tür zur Speisekammer und sagte, als sie sie betrat, über die Schulter gewandt: »Aufheben, wofür – für unsere Beerdigung?« »Bis wir sie wirklich brauchen«, entgegnete ich und folgte ihr in die Speisekammer. »Wir wissen nicht, wie lange wir noch hier sein werden.« »Genau«, sagte sie und griff nach dem einsamen Glas auf dem Regalbrett über ihrem Kopf, »deshalb brauchen wir hin und wieder einen Leckerbissen.« »Eva!« schrie ich und griff nach ihrem Arm, und genau da, während wir sekundenlang aus dem Gleichgewicht waren, glitt das Glas zwischen uns herab und zerschellte am Boden. 233
Lange starrten wir die Tomaten an, die uns hätten kurieren oder zumindest die Monotonie eines Essen hätten lindern können. Nun waren sie mit Glassplittern gespickt, und ihr Saft gerann wie Blut. »Ein kluger Schachzug«, zischte Eva, und auf einmal wurden meine Erschütterung und mein Bedauern von Wut verdrängt. Ich ertappte mich dabei, wie ich die Regale der Speisekammer nach einem handlichen, harten Gegenstand absuchte – nach etwas, mit dem ich sie schlagen konnte. Ich hatte bereits eine Flasche gepackt und wog ihr Gewicht in der Faust, als mir die Bedeutung dessen, was ich da vorhatte, so plötzlich aufging, als hätte ich selbst einen Schlag abbekommen. Ich sank neben den zerschmetterten Tomaten in die Knie. »Was machst du da?« fragte Eva. »Ich weiß nicht«, antwortete ich kopfschüttelnd. »Ich weiß es nicht.« »Was hast du da in der Hand?« »Was ich in der Hand habe?« wiederholte ich wie betäubt. Die Flasche war braun und kühl und so alt, daß sie sich leicht klebrig anfühlte. Ich drehte sie in den Händen und las die Aufschrift auf dem Etikett. »Grand Marnier«, antwortete ich. »Du willst mit Grand Marnier aufwischen?« »Nee«, sagte ich und fing zu kichern an. »Was ist daran so komisch? Noch vor einer Minute warst du fest entschlossen, diese Tomaten zu bunkern. Und nun, nachdem du sie vergeudet hast, lachst du.« 234
»Laß uns davon trinken«, schlug ich vor. Ich war plötzlich in Hochstimmung, durchdrungen von einem Aufwallen purer Erleichterung darüber, daß ich meine Schwester nicht umgebracht hatte. »Was?« »Wird Grand Marnier nicht aus Orangen hergestellt? Laß uns davon trinken. Vielleicht ist da auch Vitamin C drin.« »Demnach müßten wir, wenn es nach dir ginge, die Flasche aufheben«, sagte Eva. »Wofür?« spottete ich, ohne den Sarkasmus in ihrer Stimme zur Kenntnis zu nehmen. »›Schlangenbiß, Frostbeule oder Entbindung‹? Dafür haben wir immer noch den Sherry. Komm schon«, drängte ich und zitierte noch einmal unseren Vater: »›Der beste Anlaß ist kein Anlaß.‹« Ich nahm Eva am Arm und führte sie aus der Speisekammer, doch sie riß sich los und griff nach dem Besen. Vom Wohnzimmer aus konnte ich sie fegen und das Glas klirren hören. Ich war plötzlich wieder elf Jahre alt, und Eva war zu sehr in ihr Training vertieft, um mit mir in den Wald zu gehen. Ich zögerte und schraubte dann den Deckel von der Flasche. Der Geruch von Orangen und Alkohol erfüllte die Luft, und ich führte trotzig die Flasche zum Mund. Der erste Schluck war süß wie Orangensirup mit Schuß. Ich ließ einen zweiten folgen. »Eva?« rief ich. »Was ist?« »Willst du was davon?« 235
»Nein.« »Wieso nicht?« »Ich versuche, das Glas aus den Tomaten zu entfernen, die du verschüttet hast.« »Ich hab sie nicht verschüttet – das waren wir gemeinsam.« »Das würde dir so passen.« »Komm schon«, forderte ich sie auf. »Probier doch mal.« »Nein.« Ich nahm noch einen Schluck, und die unerträgliche Last meiner Einsamkeit bedrückte mich. Ich trank wieder. »Schmeckt wie Orangenlollis«, rief ich. Ich hörte sie müde seufzen. Eine Minute später kam sie mit einer Schüssel Tomaten ins Wohnzimmer. Sie nahm am Fenster Platz, wo das Licht am besten war, und fing an, mit einer Gabel in den Tomaten herumzustochern und die Fetzen Tomatenfleisch zwischen den Fingerspitzen zu reiben. »Was machst du da?« fragte ich. »Ich versuche, alles Glas zu entfernen, ehe wir davon essen – und das, obwohl du mich umbringen wolltest.« »Ach, das.« Ich trank wieder. »Ich bin froh, daß ich es nicht getan habe«, fügte ich hinzu. Ich spürte bereits die vertraute Wärme im Bauch, die Leichtigkeit im Kopf. »Eva?« »Was?« fragte sie, und die Ungeduld machte das »s« am Ende messerscharf. 236
»Ich hätte so gern, daß du mir hierbei Gesellschaft leistest. Bitte. Du fehlst mir.« Sie seufzte übertrieben und saß dann lange Zeit still, über ihre Schüssel voller zerdrückter Tomaten gebeugt. Schließlich stand sie auf und trug die Schüssel hinaus in die Küche. Als sie wiederkam, waren ihre Hände sauber. Sie setzte sich mir gegenüber an den Tisch und griff nach der Flasche. Sie hob sie an die Lippen, als würde sie nur eine weitere Pflicht erfüllen, und trank daraus. »Na?« fragte ich. »Was denn?« »Schmeckt das etwa nicht wie Orangenlollis?« »Kann sein.« Sie nahm noch einen Schluck und gab mir die Flasche. Und so ging der Grand Marnier ohne ein Wort hin und her über den Tisch, während das Licht am Himmel verblaßte. Als wir die Flasche nicht mehr erkennen konnten, stand Eva auf, um das Feuer zu schüren, und ließ anschließend die Ofentür offen. Im Feuerschein betrachtete ich das Gesicht meiner Schwester. Ich dachte an alles, was uns zurückhielt, an alles, was ich zu erfragen oder zu sagen hatte, um die Distanz zwischen uns zu überbrücken, und je länger ich ihr stilles, trauriges Gesicht beobachtete, desto unmöglicher schien es mir, daß ich mich je zum Sprechen überwinden könnte. Eva gab mir die Flasche, und ich trank daraus. Schließlich sagte sie: »Hmm.« »Was ist?« fragte ich, jede Möglichkeit ausnutzend, um mich mit ihr zu unterhalten. »Ich hab nur überlegt – was würde Vater dazu sagen?« 237
»Wozu?« »Daß wir den Grand Marnier austrinken.« »›Reich mir die Flasche‹«, sagte ich. »Du hast sie doch«, entgegnete sie. »Was hab ich?« »Die Flasche.« »Nein, das ist es, was er sagen würde.« »Was denn?« ›»Reich mir die Flasche.‹« Wir fingen zu kichern an, und das war ein herrliches Gefühl. Es war so leicht, zu kichern – und aus irgendeinem Grund so unmöglich, damit aufzuhören –, daß unser Lachen wuchs, daß es ein Eigenleben, eine eigene Triebkraft entwickelte, bis wir in Lachkrämpfe verfielen, bis uns die Bäuche weh taten und uns Tränen in die Augen traten. »Du … hast … sie doch«, prustete Eva und brach zwischendurch zweimal in hysterisches Gelächter aus. »Was hab ich?« japste ich. »Die Flasche«, antwortete sie, und wir lachten, bis die Muskeln am oberen Rand unserer Wangen weh taten. »Ich mach mir in die Hose«, stöhnte Eva, und für uns war es die komischste Bemerkung, die bisher gefallen war. »Weißt du noch«, sprudelte ich hervor, als ich wieder soweit bei Atem war, um etwas zu sagen, »als wir das große Kichern gekriegt haben, als Papas Schulrat den weiten Weg hierher zum Abendessen gekommen war?« Eva rollte auf dem Boden hin und her, stöhnte und hielt sich den Bauch. 238
»Und dir«, schnaubte ich, »ist Milch aus der Nase gespritzt …« »Über den ganzen Salat«, wieherte sie. »Und Mutter …« »Oje, aufhören, aufhören«, bettelte sie, als würde ich sie festhalten und ihr die Fußsohlen kitzeln. »… hat ihn zurück in die Küche getragen und die milchtriefenden Stücke herausgeklaubt …« »… und ihn in eine andere Schüssel umgefüllt …« »… weil kein anderer Salat da war …« »Oje, aufhören. Stop. Ich bitte dich!« »… weil es Steak gab und er gerade gesagt hatte, er sei Vegetarier.« »Und sie hat die Schüssel wieder hereingebracht …« »… aber der einzige, der damals Salat gegessen hat …« »… war der Schulrat …« »… und er hat sich zweimal nachlegen lassen!« Schließlich ließen wir unser Lachen in Stille verklingen. Ich reichte Eva die Flasche, was eine letzte Wolke Gekicher auslöste. Sie trank, setzte die Flasche mit lässiger Geste von schräg oben an die Lippen. »Was würde Mutter dazu sagen?« fragte ich nachdenklich. Eva antwortete wie aus der Pistole geschossen. »›Eine Tänzerin trinkt nicht‹, würde sie sagen.« »Ist das etwa der Grund, warum du auf der Plaza nie was getrunken hast?« Sie nickte. »Das war alles? Ich hab immer angenommen, du wärst 239
wütend auf mich. Ich hab immer angenommen, daß du dich für was Besseres als wir anderen hältst.« »Na ja, vielleicht schon. Ihr habt euch so albern benommen.« »Das war nur Spaß«, verwahrte ich mich. »Ich weiß.« Sie seufzte, und diesmal schien mir ihr Seufzer traurig zu sein. »Darf ich dich mal was fragen?« sagte ich. »Was denn?« »Wirst du mir auch antworten?« »Das weiß ich noch nicht. Vielleicht.« »Warum hast du Eli nicht gemocht?« »Ich hab Eli durchaus gemocht.« »Aber …« »Aber ich hatte was gegen die Art, wie du Eli gemocht hast.« »Was …« Sie zuckte die Achseln. »Anders weiß ich es nicht zu sagen. Es ist, als wärst du kein eigenständiger Mensch, wenn du mit ihm zusammen bist.« Sie griff zur Flasche, nahm einen tiefen Schluck und sagte: »Jetzt bin ich dran.« »Womit?« »Dich was zu fragen. Warum bist du zurückgekommen, wenn du ihn so gut leiden konntest?« Warum bist du zurückgekommen? Das war die Frage, mit der ich mich schon tausendmal herumgequält hatte, die Frage, auf die ich keine Antwort zu haben glaubte. Warum bist du zurückgekommen? fragte ich die tiefe Finternis meines Ichs, und der Grund kam hervorgequol240
len, so einfach wie Wasser. »Weil du meine Schwester bist, Dummkopf.« Sie reckte sich über den Tisch, um meine Schulter zu knuffen, und dann saßen wir lange beisammen und lauschten dem Feuer. Endlich griff ich nach der Flasche und stellte eine letzte Frage: »Eva, warum tanzt du immer weiter?« Sie zuckte die Achseln: »Was soll ich sonst anfangen mit der vielen Zeit?« Dann sagte sie lange nichts, blieb sie so lange stumm, daß ich meinte, sie denke etwas anderes. Doch dann sagte sie auf einmal: »Ich will dir ein Geheimnis verraten.« Sie legte den Kopf in den Nacken, um zu trinken. »Die Flasche ist leer«, sagte sie, nachdem sie geschluckt hatte. »Das soll ein Geheimnis sein?« »Nein – das ist eine Schande.« Wir kicherten noch einmal kurz los, und dann fuhr sie fort: »Das Geheimnis ist folgendes: Ich könnte nicht weitertanzen, wenn das Benzin nicht wäre.« »Das Benzin?« wiederholte ich schuldbewußt. »Das ist es, was mich auf Trab hält. Ich tanze weiter, weil ich weiß, daß wir das Benzin haben. Und sollte ich es mal wirklich, wirklich nötig haben, weiß ich, daß wir es benutzen könnten, um Musik zu spielen.« In ihrer Stimme lag eine angedeutete Frage, und ich antwortete sogleich mit der Großzügigkeit, die Liebe und Alkohol erzeugen: »Na klar.« Sie hielt einen Augenblick inne, um mein Zugeständnis zu erfassen. Dann fuhr sie fort: »Dieses Benzin hält alles 241
soweit zusammen, daß es glaubhaft bleibt. Wußtest du, daß ich es manchmal hervorhole, nur um es anzuschauen? Manchmal öffne ich sogar den Deckel und tupfe mir ein wenig auf die Haut wie Parfum, damit ich später beim Tanzen den Geruch genießen kann. Das Benzin«, schloß sie, »ist alles, was mich in Gang hält.« Obwohl ich ihr Schluchzen hören konnte, war mein erster Gedanke, als ich sie neben dem Hackklotz im Dreck liegen sah: Sie ist tot, meine Schwester ist tot. Nun bin ich wahrhaft allein. Ich eilte zu ihr, warf mich über sie, hielt sie umschlungen, während sie zitterte und stöhnte. »Eva, Eva, Eva, was ist nur passiert? Was fehlt dir?« flehte ich, doch sie weinte nur und wollte mir nicht antworten. Als sie mir schließlich das Gesicht zuwandte, war ihr Mund geschwollen und blutig, und ihre Augen waren die Augen eines Menschen, den ich noch nie gesehen hatte. »Was ist nur passiert?« fragte ich wieder, und endlich konnte sie es über sich bringen, zu sprechen, konnte sie die Worte zwischen aufgerissenen Lippen hervorpressen. »Ein Mann – er hat mich vergewaltigt.« Ich stützte sie beim Aufstehen, half ihr nach drinnen, verriegelte die Türen und zündete den Ofen an, wozu ich in meiner Hast ein ganzes Blatt Zeitungspapier verbrauchte. Ich verabreichte ihr ein paar kostbare Schlucke Sherry und stellte die Ofenplatte mit Wasserkesseln und -töpfen voll. Während das Wasser heiß wurde, ergoß sich endlich die ganze Geschichte aus ihr. Sie wandte mir beim Erzählen 242
den Rücken zu. Manchmal zitterte ihre Stimme und brach, und manchmal stieß sie die Worte mit tonloser, harter Stimme hervor, die ihr nicht zu gehören schien. Sie war auf dem Hof gewesen. Sie hatte Holz gehackt, hatte das mühelose Schwingen der Axt genossen, war stolz darauf gewesen, wie sie im Tanz die Holzscheite gespalten hatte. Die Sonne schien hell, warm. Es wehte ein leichter Wind. Sie hat ihn nicht kommen gehört, seine Gegenwart nicht gespürt, bis er fast neben ihr stand. Sie erschrak, aber er streckte die Hand aus, um sie zu beruhigen, als sei sie ein Tier, das er nicht verscheuchen wollte. »Ist ja gut«, sagte er. Er erzählte ihr, er sei nach Norden unterwegs, zu Freunden in Grantsville, sei aber wohl falsch abgebogen. Er sagte, er habe ihre Axt gehört und unseren Rauch gerochen und habe überlegt, er wolle mal sehen, wer da so weit außerhalb wohnt, mal vorbeischauen und seine Aufwartung machen. Seinen Namen sagte er ihr nicht. »Wie kommt ihr denn so zurecht?« fragte er und ließ seine Blicke über den Hof schweifen. »Sieht aus, als hättet ihr reichlich Holz.« Es war für sie so ungewohnt, sich mit Leuten zu unterhalten, daß sie sich ein wenig linkisch vorkam, aber Angst hatte sie keine. Sie lehnte die Axt gegen den Hackklotz und fragte: »Was gibt es Neues? Wann werden wir unseren Strom wiederhaben?« 243
Darauf er: »Wer weiß?« Und sie: »Wir haben gehört, daß es drüben im Osten wieder richtig losgeht.« »Wer hat euch das erzählt?« »Ein Freund.« »Ihr habt hier draußen Freunde?« »Nicht mehr. Er war da, um meine Schwester zu besuchen. Ist aber längst wieder fort.« »Ja. Das von wegen Boston hab ich auch gehört. Hab sogar gehört, daß es Idioten gegeben hat, die sich auf den Weg gemacht haben, Gerüchte zu jagen, quer durchs ganze Land. Die halten nicht lange durch.« Eva antwortete: »Das hab ich auch gesagt!« Sie lächelten sich an. Dann sagte er: »Ihr Mädchen habt da jedenfalls einen beachtlichen Holzstoß.« »Ja«, bestätigte sie. Er begutachtete das Holz, und seine Augen verengten sich. »Ihr habt aber doch wohl nicht das ganze Holz mit der Axt gefällt, oder?« »Mein Vater hat es gefällt«, erklärte sie. »Dein Vater?« sagte er in schneidendem Ton. »Dein Vater ist auch hier?« »Ja«, antwortete sie, selbst überrascht, wie leicht es ihr fiel, es zu sagen. »Er ist hier.« »Wo denn? Ich würde gern ein Wörtchen mit ihm reden, feststellen, was er weiß.« »Da müßten Sie ein Weilchen warten«, sagte sie mit ruhiger, unbekümmerter Stimme. »Er ist draußen im Wald.« »Habt ihr vielleicht noch Benzin übrig?« fragte er und reckte den Hals, um das Haus zu beäugen. 244
Sie wollte ihn zum Gehen bewegen. Sie antwortete: »Tut mir leid.« »Was tut dir leid?« fragte er. »Tut dir leid, daß ihr kein Benzin habt, oder tut dir leid, daß ihr mir nichts davon abgeben wollt?« Sie zuckte mit den Achseln und streckte die Hand nach ihrer Axt aus, um weiterzuarbeiten. Kurz bevor ihre Hand den Stiel der Axt berührte, packte er ihr Handgelenk und verdrehte es so, daß ihr Arm hinter ihren Rücken gerissen wurde. »Hör zu, du Miststück«, sagte er, »wenn du meinst, ihr müßtet das Benzin für einen Notfall aufheben, dann überleg mal ganz scharf, was das hier ist. Wo habt ihr es?« Als sie nicht antwortete, drehte er sie zu sich um. Sein Gesicht verhärtete sich, und er kniff die Augen zusammen, so daß die winzigen Muskeln darunter zuckten und zitterten. Sie erwiderte seinen grimmigen Blick, riß sich mit einer Schulter von ihm los und zielte mit dem Knie auf seine Leistengegend. Sie verfehlte ihr Ziel und traf statt dessen mit solcher Gewalt seinen Oberschenkel, daß ihm die Luft wegblieb und er vornüber fiel. Um sich schlagend und miteinander ringend landeten sie zusammen auf dem Boden. Ihre als Tänzerin erworbene Kraft hätte sie retten können, wenn er ihr nicht eine volle Gerade ins Gesicht verpaßt hätte, einen Schlag, der ihren Schädel mit Schmerzen erfüllte, die sie im entscheidenden Augenblick blind machten und sie so verwirrten, daß sie, als er Wo habt ihr es? fragte, nur Nein, nein, nein antworten konnte. 245
Als es vorbei war, erhob er sich, stand einen grausamen Moment lang über ihr, knöpfte seine Hose zu und rückte seine schwere, klirrende Gürtelschnalle zurecht, während sie ihm kauernd zu Füßen lag. Dann spuckte er neben ihr auf den Boden. »Tut mir ja herzlich leid, daß ich nicht bleiben kann, bis Papi wiederkommt«, sagte er. »Aber sag ihm von mir schönen Dank für den gastfreundlichen Empfang.« Er verließ die Lichtung, ließ sie auf der Erde liegen, neben ihr die Axt. Gelähmt vor Schock, Entsetzen und Schmerz lag sie da, bis ich sie fand, als ich vom Säubern der Quelle zurückkam. Als das Wasser in den Kesseln endlich heiß war, füllte ich die Wanne und führte sie ins Bad. Sie stand still wie ein Kind, als ich sie auszog und ihre Schrammen untersuchte. Blaue Flecke breiteten sich bereits auf ihren Armen aus. Ihr Gesicht war aufgeplatzt und geschwollen, und ihre Schenkel waren blutbefleckt. Sie erschauerte, als sie ins dampfend heiße Wasser stieg, und ich glaubte, sie würde wieder zu weinen anfangen, aber sie schien sich in der Hitze und Feuchtigkeit ein wenig zu entspannen. Sie sprach zum ersten Mal wieder, seit sie mir von der Vergewaltigung erzählt hatte: »Ist noch irgendwelche Seife da?« »Die Weihnachtsseife ist noch da«, sagte ich. »Ich hol sie dir.« Der winzige, rissige, unnatürlich dunkelgrüne Brocken, parfümiert mit einem Duft, der einst als Fichtennadelaroma durchgegangen sein mochte, war die letzte Seife, die 246
wir besaßen, der letzte Rest aus einem Geschenkkörbchen mit Seifenstücken, das wir bei den Sachen unserer Mutter gefunden hatten. Wir hatten die anderen langsam verbraucht, hatten sie rationiert, bis nur noch das eine Stück da war – ein Seifensplitter von der Größe eines Zehncentstücks, der Rest, über den wir uns einig waren, daß wir ihn für unseren triumphalen Einzug in der Stadt aufheben wollten. Als ich ihr die Seife in die Hände legte, hob sie sie an die Nase, atmete den verblassenden Duft ein, sah mich an und fragte: »Willst du sie wirklich nicht aufsparen?« »Nein«, sagte ich und krümmte mich, als ich den unbeabsichtigten Tadel hinter dieser Frage heraushörte. »Du sollst sie jetzt benutzen.« Sie bat um einen Waschlappen, und als ich ihr einen gab, machte sie sich über sich selbst her und schrubbte ihre Haut mit solcher Gewalt, daß ich fest damit rechnete, daß sie zu bluten anfangen würde. Sie nahm sich jeden Zentimeter ihres Körpers vor, erst mit Seife und dann, nachdem sich die Seife im abkühlenden Wasser aufgelöst hatte, mit dem Waschlappen. Sie verzog das Gesicht, als sie sich zum ersten Mal zwischen den Beinen berührte, und ich sah in ihren Augen Tränen aufsteigen. Doch sie biß die Zähne zusammen, hielt ihre Tränen zurück und wusch sich klinisch und gründlich sauber. Sie wusch Schenkel und Bauch und Brüste, wusch sich die Schultern, Ellenbogen, Handgelenke und Finger, wusch sich Knie, Schienbeine und Knöchel und zwischen den Zehen. Behutsam befeuchtete sie ihr entstelltes Gesicht mit Wasser. 247
Schließlich wandte sie sich mir zu und machte Anstalten, aus der Wanne zu klettern. Ich half ihr heraus, wikkelte sie in die Handtücher, die ich zum Anwärmen an den Ofen gelegt hatte. Ich führte sie zu ihrer Matratze, schloß ihre Finger um einen Becher mit weißem Tee und Sherry, sorgte dafür, daß sie das letzte Aspirin schluckte. Als ich es ihr gab, protestierte sie. »Das sollten wir aber aufsparen.« »Schon gut. Nimm es.« »Vielleicht brauchen wir es später noch. Vielleicht sollte ich nur ein halbes nehmen.« »Eine halbe Tablette würde nichts nützen. Du würdest die ganze vergeuden, wenn du sie halbierst«, antwortete ich und fragte mich zugleich, was ein Aspirin gegen Vergewaltigung ausrichten konnte. Sie schluckte die Tablette und sah schweigend zu, wie ich die Couch vor die Tür schob, das Gewehr aus dem Flurschrank holte und ungeschickt eine Patrone in die Kammer lud. Ich überprüfte mehrmals die Sicherung, schürte das Feuer und setzte mich dann mit der Waffe auf dem Schoß neben ihrer Matratze auf den Boden. Gegen Morgen schlief sie ein, während ich neben ihr wach blieb, ins Feuer starrte, vor dem Wind zusammenzuckte und mich sogar fürchtete, zu atmen. Es gibt keinen Ort, an dem wir uns sicher fühlen. Ins Freie treten, um Holz zu holen, erfordert allen Mut, den 248
wir aufbringen können, und ich zucke immer noch zusammen und rechne jeden Augenblick damit, angegriffen zu werden. Drinnen fühlen wir uns sowohl exponiert als auch in der Falle. Ein Dutzend Mal pro Stunde ertappe ich mich dabei, daß ich aus dem Fenster spähe und den Wald absuche, in der Erwartung, die Gestalt zu erblicken, die dort mit Sicherheit auf uns wartet. Die Atmosphäre des Vorderzimmers hat sich geändert, seit wir dort das Gewehr untergebracht haben, an den Türrahmen gelehnt wie eine Warnung. Waffen sind eine ekelhafte Sache. Anstatt mich zu beruhigen, machen mir der kühle Lauf, der schwere Schaft, der schlanke Abzug ebenso angst wie alles andere auch und erinnern mich daran, daß Gewalt allgegenwärtig ist. Es gibt kein Entrinnen. Selbst das Feuer im Ofen wirkt bedrohlich. Harz rinnt zischend aus dem knackenden Holz, die Flammen schnappen und spucken. Wir sind von Gewalt umgeben, von blinder Wut und Gefahr, so sicher, wie wir von Wald umgeben sind. Der Wald hat unseren Vater umgebracht, und aus dem Wald wird der Mann kommen – werden die Männer kommen –, die uns umbringen. Gestern habe ich mich gezwungen, hinauszugehen und den Schrotthaufen hinter der Werkstatt zu durchwühlen, bis ich auf mehrere Stücke Wellblech stieß. Ich nagelte sie vor sämtliche Fenster im Untergeschoß bis auf das eine im Wohnzimmer. Während Eva reglos auf ihrer 249
Matratze lag, das geschwollene Gesicht zur Wand gekehrt, nagelte ich die Tür von der Küche zum Abstellraum zu und verbarrikadierte die Tür nach draußen mit der Waschmaschine. Dadurch hat unser Haus jetzt nur noch ein Fenster und einen Eingang, aber gewonnen ist damit nur, daß wir hören können, wenn er einbricht, bevor er uns erreicht. Trotz des schönen Wetters und der länger werdenden Tage bleiben Eva und ich drinnen. Stunde um Stunde sitzen wir am Tisch neben dem nicht zugenagelten Fenster, das unsere einzige Lichtquelle ist. Zum Frühstück teilen wir uns eine Tasse Reis, essen nicht, weil wir Hunger haben, sondern aus reiner Gewohnheit. Das Mittagessen besteht aus selbst eingemachtem Obst, das Abendessen aus einer Schüssel Bohnen. Diese drei Ereignisse bestimmen unser Leben. Ich versuche zu lernen, aber die Worte perlen an mir ab, ohne einen Sinn zu ergeben. Sie nehmen meine Aufmerksamkeit nur dann gefangen, wenn sie mich daran erinnern, was ich versäume: Lindos. Liszt. London. Ich träume davon, daß ich Steine aufhebe, unhandliche Brocken lehmfarbenen Schiefers, auf einer kalten Ebene unter einem grauen Himmel, und begegne beim Erwa250
chen meiner Verzweiflung, die so schwer lastet, daß jede Bewegung Mühe macht. Nach dem Artikel über die Londoner Börse kommt Londonderry. Nach Londonderry kommt Lone Ranger. Und nach Lone Ranger kommt Lone Woman of San Nicolas Island, die einsame Frau von der San-Nicolas-Insel: Im Jahre 1853 stieß man auf eine Indianerfrau, die ganz allein auf einer Insel lebte, die über hundert Kilometer vor der Küste von Santa Barbara lag. Zeitgenössischen Berichten zufolge war 1835, als ihr Stamm auf Anordnung der Mission von Santa Barbara von der Insel umgesiedelt wurde, ein starker Wind aufgekommen. In der herrschenden Konfusion blieb ein Kind zurück. Als seine Mutter sein Fehlen entdeckte, schwamm sie zur Insel zurück, um nach ihm zu suchen. Während sie fort war, wurde der Sturm bedrohlicher, und der Kapitän befahl, ohne sie auszulaufen. Achtzehn Jahre vergingen, bis die einsame Frau von einer Gruppe von Seeotterjägern aufgefunden wurde. Zwar sprach niemand ihre Sprache, doch sie konnte sich mit Zeichensprache gut verständlich machen. Sie bedeutete ihnen, daß sie ihr Kind nie gefunden habe und befürchte, daß die wilden Hunde es gefressen hätten. Sie kehrte mit den Jägern aufs Festland zurück und war sehr enttäuscht, als sie erfuhr, daß ihr gesamter Stamm unauffindbar war. Sie starb sieben Wochen später. Und so nimmt die unerbittliche Ordnung des Lexi251
kons wieder einmal Stellung zu meinem Leben. Diesmal veranlaßt es mich, der schlimmsten Wahrheit von allen ins Gesicht zu sehen: Es gibt keine Rettung. Von Anbeginn an haben wir darauf gewartet, gerettet zu werden, haben wie dumme Prinzessinnen darauf gewartet, daß uns unser rechtmäßiges Leben zurückgegeben wird. Aber wir haben uns nur etwas vorgemacht, haben ein Märchen nachgespielt. Dabei kann unsere Geschichte ebensowenig einen glücklichen Ausgang haben wie die der einsamen Frau. Die Lichter werden hier draußen nie wieder angehen. Das Telefon wird nie wieder klingeln. Eva und ich werden bis zu unserem Tod so weiterleben, werden horten und uns ängstigen und schließlich verhungern – wenn wir nicht Glück haben und man uns vorher die Kehle aufschlitzt. Wie immer wir sterben, wir werden es hier tun. Allein. Aus ist es mit der Immatrikulation in Harvard, dem Debüt beim San Francisco Ballet. Aus ist es mit den Reisen, den Diplomen, dem Beifall am Ende einer Vorstellung. Es wird keine Geliebten mehr geben, keine Ehemänner, keine Kinder. Niemand wird je dieses Tagebuch lesen, es sei denn, daß die verdammten Hühner lesen lernen. Natürlich passiert so etwas dauernd. Ich habe genug Geschichte studiert, um das zu begreifen. Kulturen geraten ins Wanken, Gesellschaftssysteme scheitern, und übrig bleiben kleine isolierte Gruppen, Flüchtlinge, die sich abstrampeln, um etwas zu essen zu finden, sich vor Hunger oder Krankheit oder Plünderern zu schützen, während aus den Böden der Paläste das Gras emporwächst 252
und die Tempel verfallen. Man braucht sich nur Rom anzusehen, Babylon, Kreta, Ägypten, die Inkas oder die nordamerikanischen Indianer. Und selbst wenn dies nicht das Ende einer zweitausendjährigen Zivilisation ist, so braucht man sich doch nur die vielen kleinen Verwüstungen anzusehen – Kriege und Revolutionen, Wirbelstürme und Vulkanausbrüche, Dürreperioden und Überschwemmungen, die einst die Hochglanzseiten der Nachrichtenmagazine füllten, die wir immer gelesen haben. Man braucht sich nur an die Bilder im Schutt kauernder Überlebender zu erinnern. Man braucht nur an Südamerika zu denken, an Südafrika, Zentralasien, Osteuropa, und zu fragen, wie wir dazu kamen, so selbstgefällig zu sein. Man braucht nur an die einsame Frau von der San-Nicolas-Insel zu denken, um sich zu fragen, wie wir darauf kommen konnten, daß man uns retten wird. Die Tulpen blühen, eine leuchtende, nutzlose Mauer zwischen uns und dem Wald, die nichts von nichts trennt. Wenn ich des Fühlens mächtig wäre, würden sie mich vielleicht wütend machen. Sie sind eine so sinnlose Geste, daß ich inzwischen denke, daß ich recht damit hatte, Mutter nicht beim Einpflanzen zu helfen. Denn was sind sie anderes als Täuschung, Betrug, eine von zahllosen Lügen? Hier sitze ich in diesem höhlenartigen Zimmer, in dem ich einst in einem anderen Leben Popcorn gegessen, 253
Scrabble gespielt und mit meiner Familie Videofilme angeschaut habe. Nun blicke ich auf die Tulpen meiner Mutter hinaus und denke an Selbstmord. Es ist ein physischer Drang, größer und stärker als Durst oder der Geschlechtstrieb. Auf halbem Weg zwischen Stirn und Hinterkopf gibt es auf der linken Seite meines Schädels eine Stelle, die sich nach dem Einschlagen einer Kugel sehnt, nach dem Schuß, dem letzten leeren Zerreißen. Ich will aus dieser Höhle herausgelassen werden, will mich der Leichtigkeit des Nichtlebens öffnen. Ich habe den Kummer, das Ringen, die Sorge satt. Ich habe meine traurige Schwester satt. Ich will das letzte Licht erlöschen lassen. Ich könnte es tun. Ich könnte von diesem Stuhl aufstehen und sagen: Ich gehe Holz holen. Eva würde mir wortlos zunicken, ohne aufzublicken, ohne zu sehen, wie ich das Gewehr von seinem Posten an der Tür entferne. Ich könnte die Tür öffnen. Ich könnte hinausgehen, die Tür für immer hinter mir schließen. Ich könnte den Tulpenring meiner Mutter durchbrechen und den finsteren Wald betreten, die Waffe starr an meiner Seite. Ich könnte einen neuen Pfad durch den Wald treiben. Innerhalb eines düsteren Kreises aus Bäumen könnte ich mich auf die Erde setzen. Meinen Schuh ausziehen. Meine Zehen in den kalten Ring des Abzugsbügels stecken. Mich so lange mit dem Abzug abmühen, bis er nachgibt. Ich bin schließlich ein eigenständiger Mensch. 254
Ich stand auf. Ich nahm das Gewehr und öffnete die Tür. Ich blieb auf der Schwelle stehen und blickte hinaus auf die blassen Reste des Sonnenuntergangs jenseits der schwarzen Bäume. Da hörte ich auf einmal eine Stimme, gebrochen vor Angst. »Wo gehst du hin?« »Raus. Holz holen.« Ich sah ihr nicht ins Gesicht. Die Waldluft berührte kalt meine Wangen und Hände. »Wozu nimmst du das Gewehr mit?« »Es ist fast schon dunkel.« »Aber warum nimmst du das Gewehr mit?« »Weil ich es will, ja?« knurrte ich und fuhr mit einer Heftigkeit herum, die uns beide überraschte. Sie begegnete meinem Blick, hielt ihm stand. Ihr nach wie vor zerschlagenes Gesicht glich dem dunkler werdenden Himmel. »Na gut«, sagte sie schließlich. Ich ging hinaus, schloß die Tür, trat zitternd auf den Hof. Das Gewehr war kalt und schwer. Ich umrundete die Lichtung direkt innerhalb des Rings aus Tulpen, deren Blütenblätter wie dunkle Flammen, wie samtene Kelche aussahen. Der Wald dahinter schien eine feste Masse, schien undurchdringlich zu sein. Ich konnte keinen Weg finden, ihn zu betreten. Ich stand auf der Lichtung unter dem fahlen Himmel und sah zu, wie das Lila und Gelb verblaßten, sah zu, bis die ersten stillen Sterne auftauchten. Im Schutz dieser Dunkelheit sammelte ich einen Arm voll Holz. Im Schutz dieser Dunkelheit ging ich zurück ins Haus. 255
Und wieder hatte mich meine Schwester davon abgehalten, dort hinzugehen, wohin ich wollte. Die Tage kriechen dahin. Ich glaube, wir sind irgendwo Mitte April angelangt, obwohl ich nicht mehr auf die Zeit achte. Mehrere Wochen sind vergangen, seit ich etwas niedergeschrieben habe, und wenn ich versuche, die leeren Quadrate meines Kalenders mit den Tagen in Einklang zu bringen, die wir hinter uns gebracht haben, gelingt es mir nicht, Klarheit zu schaffen. Wir atmen, und es wird schon wieder Abend, darum nehme ich an, daß die Zeit weiter vergeht. Mein Kalender jedoch ist überflüssig. Heute nacht habe ich geträumt, daß jemand am Waldrand stand und uns bedrohte und beschimpfte, während Eva und ich im Arbeitszimmer unter Mutters Webstuhl hockten. Ich hatte eine Schere in der Hand und flüsterte Eva zu, daß wir ihm, wenn er zu nahe käme, damit die Haare abschneiden könnten. Da lösten sich plötzlich die Wände auf, und ich zielte mit dem Gewehr quer über die Lichtung. Ich schieße! schrie ich ihm zu. Das Machtgefühl, das in mir aufwallte, versetzte mich in Ekstase. Ich bring dich um, ich bring dich um, ich bring dich um! schrie ich. Triumphierend betätigte ich den Abzug. Nichts geschah. 256
Voller Verzweiflung drückte ich immer wieder ab und sah, daß anstelle einer Kugel Maden aus dem Lauf hervorquollen. Ich erwachte in panischer Angst, aber noch ehe ich mich so weit beruhigt hatte, um mir einzureden, daß es nur ein Traum war, wußte ich, daß ich lernen mußte, mit der Waffe umzugehen. Heute morgen bin ich mit dem Gewehr auf die Terrasse getreten und habe versucht, mich an das wenige zu erinnern, was mir mein Vater über Feuerwaffen beigebracht hat. Ich hatte Angst, Munition zu verschwenden, und habe lieber unzählige Male das Laden geübt, das Entsichern und das Anlegen in Richtung Wald. Schließlich rammte ich nach über einer Stunde Trockenübungen einen mannshohen Stecken neben der Straße am Rand der Lichtung in den Boden und stülpte ein leeres Einmachglas darüber. Dann ging ich zurück auf die Terrasse, stützte mich aufs Geländer, brachte Kimme und Korn in eine Linie und drückte ab. Es gab einen Knall, so laut und heftig, daß ich dachte, ich hätte mich selbst angeschossen. Meine Schulter schmerzte, meine Ohren sausten und Tränen rannen ungebeten über mein Gesicht. Als ich meine Sinne wieder beisammen hatte, stand ich einen Meter vom Geländer entfernt, das Einmachglas war unversehrt, und Eva stand erschrocken in der Tür. »Tut mir leid«, sagte ich. »Es muß sein.« »Ich weiß«, flüsterte sie und verschwand wieder im Haus. Ich zwang mich, es noch einmal zu probieren. Diesmal rechnete ich schon beim Anlegen mit dem Schlag des Laufs gegen meine Schulter, zielte zu hastig und 257
zuckte vor dem Rückstoß der Waffe zurück, noch ehe ich geschossen hatte. Der Lauf wurde mit Gewalt nach oben gerissen, und der Schuß ging in die Luft. Ich nahm mir vor, beim nächsten Mal alles richtig zu machen. Ich beschloß, mit List zu verhindern, daß ich zurückzuckte, indem ich den Abzug so langsam betätigte, daß ich nicht wissen konnte, in welchem Augenblick der Schuß losging. Die volle Wucht des Rückstoßes traf meine Schulter und der Lauf blieb horizontal, aber der Schuß verschwand im Wald, und das Einmachglas blieb am Stecken. Irgendwo meinte ich gehört zu haben, daß man immer ein wenig höher zielen müsse, und legte darum beim nächsten Schuß auf die Luft über dem Einmachglas an. Es gelang mir auch diesmal, nicht zurückzuzucken, aber der Schuß sauste, wieder ohne Schaden anzurichten, in den Wald. Ich wollte mich geschlagen geben. Meine Schulter war schwach und tat weh. Mein Kopf brummte, meine Hände waren feucht, und ich glaubte, es nicht ertragen zu können, noch einmal abdrücken zu müssen. Doch das Einmachglas am Rand der Lichtung verhöhnte mich. Verzweifelt rief ich mir ins Gedächtnis, was ich über Flugbahnen und parabolische Krümmung wußte, und überlegte, wie eine Kugel steigen muß, ehe sie fallen kann. Ich zielte nur ein wenig tiefer als eben und drückte so sacht ich konnte ab. Einen Sekundenbruchteil später zerbarst das Einmachglas, und ich blieb zitternd vor Freude und Grauen zurück. 258
Ihr Gesicht heilt, aber meine Schwester bleibt stumm, nicht verdrossen, sondern mit der hilflosen Sanftmut, die mich an das letzte Lächeln unseres Vaters erinnert, bevor er starb. Fast hat es den Anschein, als glaube sie, sich rechtfertigen zu müssen, als würde sie liebend gern ihre Erschütterung und Angst hinter sich lassen, sie abstreifen wie eine abgenutzte Haut, wenn sie nur wüßte, wie. Sie hat wieder angefangen, sich um das Feuer zu kümmern, aber ich erledige die wenigen anderen Dinge, die zu tun sind. Ich gebe ihr zu essen, und was sie nicht ißt, esse ich selbst oder hebe es für die nächste Mahlzeit auf. »Möchtest du Backgammon mit mir spielen?« fragte ich einmal, aber sie zuckte so lustlos die Achseln, daß ich wußte, es lohnte nicht, das Spiel aufzubauen. Sie hat ihr Studio seit der Vergewaltigung nicht mehr betreten. »Warum tanzt du nicht?« habe ich ihr gestern zugeredet. Überrascht blickte sie von ihrem Schoß auf. Es war, als hätte ich sie gefragt, ob sie nicht Dudelsack spielen oder gar fliegen wolle. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Laß uns das Benzin benutzen«, sagte ich, »damit du wieder ein wenig Musik zu hören bekommst.« Doch ihr Körper blieb passiv, und keine Sehnsucht hellte ihre Miene auf. »Nein«, antwortete sie. »Nein. Das heben wir besser auf.« 259
Heute morgen schien mir beim Aufwachen die Sonne direkt ins Gesicht, und die Kopfschmerzen, die mir tagelang zu schaffen gemacht hatten, waren endlich verschwunden. Ich fühlte mich so leicht wie ein Engel, durchdrungen von zittriger Energie jener Art, die sich nach langer Krankheit einstellt. Ich hatte ein flaues Gefühl in den Lungen, meine Muskeln waren erschlafft, aber mein Körper verlangte danach, benutzt zu werden. Ich nahm das Gewehr mit, als ich hinaustrat, um die Terrasse zu fegen. Dann wusch ich Wäsche und hängte sie auf die Leine in den nach Sonne riechenden Wind und empfand – außer, wenn ich gerade wieder einmal verstohlen zum Wald hinüberblickte – halbe Sekunden lang Vergnügen am Schwung des Besens und am warmen Hauch des Windes. Auf dem Rückweg vom Wäscheaufhängen kam ich am Garten vorbei. Er war verkommen, und ich fühlte mich kurz als Versagerin, als Schuldige. Wir hatten im vergangenen Herbst noch nicht einmal alles geerntet. Nie hatten wir Pflanzen ausgedünnt oder Samen aufgehoben oder Mulch gestreut. Wir hatten die Bäume im Obstgarten nicht beschnitten. Wir hätten im Februar anfangen sollen, hinter dem Ofen Schößlinge zu ziehen. Wir hätten letzten Monat die wetterbeständigen Feldfrüchte aussetzen müssen. Wir hätten Tomaten, Paprikaschoten, Gurken pflanzen und jetzt mit den Melonen anfangen müssen. Doch das letzte Mal, daß eine von uns eine Schaufel in die Hand genommen hat, geschah es, um das Grab unseres Vaters auszuheben. Ich stieß das Tor auf und betrat den Garten. Langsam schritt ich die Peripherie des Geländes ab, direkt innerhalb 260
des Wildzauns aus Maschendraht, und versuchte mich an alles zu erinnern, was ich mich je geweigert hatte, über Gartenpflege zu lernen. Unter dem Unkrautgewirr glaubte ich die Blätter einer wildgewachsenen Kartoffelpflanze zu erkennen. Ich ließ mich auf die Knie nieder, legte das Gewehr neben mich, packte mit vorsichtiger Hand einen Büschel Unkraut und zog daran. Er leistete Widerstand, so daß ich an Haar denken mußte – an Haarbüschel, die in der Kopfhaut verwurzelt sind. Ich erschauerte, biß die Zähne zusammen und zog mit größerem Nachdruck. Schließlich gaben die Wurzeln nach, und ich wäre beinahe rückwärts umgefallen, als sie herausgerissen wurden. Der so freigelegte kleine Kreis nackter Scholle war dunkel und feucht. Ich steckte die Hände hinein, spürte, wie sich Erde unter meinen Nägeln festsetzte und mir zwischen den Fingern zerbröckelte. Plötzlich jätete ich lustvoll, vergrub meine Hände im üppigen Unkraut und riß es büschelweise aus, bis meine Handflächen von ihrem grünen Sekret verfärbt waren. Die Sonne fühlte sich an wie eine Hand auf meiner Schulter, am Rand der Lichtung ertönten Vogelrufe, und einmal landete neben mir auf dem nackten Erdboden ein Schmetterling. Er saß einen Augenblick still da. Dann klappte er seine flachen Flügel auf und zu und flog weiter. Ich vergaß, den Waldrand nach Eindringlingen abzusuchen. Mir fielen die Samen ein. Ich sprang auf, rannte zur Werkstatt, fand oben auf einem Regal einen luftdichten Kunststoffbehälter voller Papierumschläge. Einige Samentüten waren gekauft, aber die meisten waren aufgehobene 261
Briefumschläge von alten Rechnungen, die unser Vater beschriftet und mit selbstgezogenem Samen gefüllt hatte. In die Umzäunung zurückgekehrt, breitete ich die Tüten auf dem Boden aus, ordnete sie und plante konzentriert und aufmerksam die Anlage eines Gartens. Als ich mittags Schluß machte, war auf der Längsseite des Gartens ein Stück Boden gejätet, umgegraben und zur Aussaat bereit. Das Lexikon erinnert mich daran, daß der ganze Daseinszweck einer Blume darin besteht, Samen hervorzubringen. Farbe, Duft und Nektar dienen ausschließlich dem Zweck, Pollen zu verbreiten, indem sie die Aufmerksamkeit von Insekten erregen oder den Wind ausnutzen. Ursache dafür, daß es Blumen gibt, sind diese unbeweglichen, unauffälligen kleinen Bröckchen und Körner, diese winzigen Chromosomen, die uns vielleicht eines Tages ernähren werden. Ich habe heute morgen Kürbissamen gesetzt – immer drei zusammen in einer Reihe an der Westseite des Gartens. Auf dem Umschlag, in dem ich sie gefunden habe, stand in der Schrift meines Vaters ein einziges Wort – Pumpkin, Kürbis. Pummelchen hatte er mich genannt, und als ich das Wort zum ersten Mal überflog, glaubte ich einen Augenblick lang, der Umschlag sei an mich adressiert, doch als ich ihn aufriß und nur Samen wie jene erblickte, die wir aus Kürbissen gekratzt hatten, quollen mir ungewollte Tränen aus den Augen. 262
Immerhin kommt es manchmal, wenn man durch seine Tränen hindurch die Welt erblickt, zu lichten Momenten, so als dienten die Tränen als Linse, die einen klaren Blick auf das gewährt, was man gerade ansieht. Und während ich das Wort anstarrte, das mein Vater mit Bleistift geschrieben hatte, sah ich, daß es vielleicht doch eine Botschaft für mich enthielt. Ich habe solche Schmerzen, daß es mir schwerfällt, den Kugelschreiber zu halten. Meine Hände pochen, sind mit Blasen und Kratzern übersät und steif von der Erde, die noch so gründliches Schrubben offenbar nicht restlos abwaschen kann. Meine Arme und Beine und mein Rükken tun weh, als hätte ich die Grippe. Daß Gartenarbeit so schwer ist, hätte ich nie gedacht. Bis jetzt habe ich über die Hälfte der Samen gepflanzt, und morgen werde ich den Wildzaun niederreißen, damit ich den Garten bis ganz an den Schuppen heran erweitern kann. So groß muß die Fläche mindestens sein, wenn sie uns am Leben erhalten soll. »Ich brauche Hilfe«, habe ich heute morgen gesagt, während ich den Dampf von meinem weißen Tee blies und einen Schluck nahm. »Im Garten.« Eva blickte auf ihren unberührten Reis herab. »Ich kann die neuen Zaunpfosten nicht allein aufstellen. Und es ist für eine Person allein so gut wie unmöglich, Maschendraht zu spannen. Er rollt sich immer wieder auf.« 263
Eva sagte: »Morgen vielleicht.« »Es ist draußen so sicher wie hier drinnen«, meinte ich. »Sicherer – weil ich das Gewehr dabei habe und es die Möglichkeit gibt, wegzurennen.« »Mir – mir ist bloß nicht danach, heute da rauszugehen.« »Aber Eva, der Garten wartet nicht, bis dir danach ist. Wir müssen so bald wie möglich mit dem Pflanzen fertig werden. Und wenn wir ihn nicht neu eingezäunt haben, ehe die Samen sprießen, die ich schon gesetzt habe, werden die Rehe die Schößlinge fressen.« »Es kommt nicht drauf an.« »Was?« »Es kommt nicht drauf an, was wir tun. Es kommt nicht drauf an, ob Rehe die Schößlinge fressen.« Ich kam mir vor, als hätte mir jemand eine Ohrfeige verpaßt. Ihre Worte bohrten sich in die Blasen an meinen Händen, schlugen auf meinen schmerzenden Rücken ein, weckten in mir das Bedürfnis, gegen den Schmerz anzugehen. Ich nahm einen Schluck von dem kochend heißen Wasser in meinem Becher, so als könne ich seine Hitze als Inspiration für die bevorstehende Auseinandersetzung nutzen. Aber noch ehe ich dazu kam, einen Streit anzuzetteln, hatten ihre Worte mein Herz erreicht. »Du hast recht«, antwortete ich leise. Sie blickte verblüfft auf. »Was?« »Du hast recht. Es kommt nicht drauf an. Wir werden vermutlich umkommen, ehe diese Samen sprießen.« Sie senkte den Kopf. Während das Schweigen andauerte, 264
aß ich meinen Wasserreis auf und versuchte, mir etwas einfallen zu lassen, wie ich die Mammutbaumpfosten, die ich für den Zaun zurechtgesägt hatte, doch allein aufstellen konnte, wie ich den Maschendraht ohne die Hilfe meiner Schwester direkt von der Rolle daran festnageln konnte. Als ich jedoch vom Tisch aufstand, stand Eva ebenfalls auf und folgte mir auf den Hof, den sie seit der Vergewaltigung nicht mehr betreten hatte. Ich hatte bereits ein halbes Dutzend kleinerer Bäume geköpft und entästet und mit Vaters klapprigem Stangenbohrer die Löcher für sie ausgehoben. Eva folgte mir zum Schuppen, sah zu, wie ich den halbvollen Sack Zementmischung hochhievte, und schlenderte dann hinter mir her, als ich ihn torkelnd in den Garten schleppte. Während ich mich abmühte, den Sack in einen Eimer zu entleeren, stand sie demütig und mit schwerfällig herabhängenden Händen daneben. »Schau mal«, sagte ich, »die untere Hälfte dieses Sacks muß naß geworden sein, aber es ist hoffentlich noch genug für die sechs Löcher übrig, schon gar, wenn es mir gelingt, etwas von dem Hartgewordenen zu pulverisieren. Könntest du mir vielleicht den Eimer halten?« Sie warf einen Blick zum Wald hin, bevor sie sich bückte und den Eimer festhielt. Sobald ich fürs erste genug Zementmischung hineingeschüttet hatte, richtete sie sich auf, als wäre damit ihre Arbeit getan. Sie machte den Eindruck, als würde sie am liebsten ins Haus zurückrennen. »Gut«, sagte ich, »nun heißt es mischen. Warum suchst 265
du nicht was zum Rühren, während ich das Wasser hole?« Sie kam mit einem Stock zurück, und ich redete weiter auf sie ein. »Ich gieße, du rührst. So ist’s recht – bis auf den Boden des Eimers. Laß mich noch ein bißchen Wasser zugeben. Okay, ich stecke den ersten Pfosten ins Loch und halte ihn grade, du klemmst ihn mit ein paar von diesen Steinen fest. Gut – so ist es gut. Als nächstes müssen wir den Zement drübergießen. Könntest du mir noch ein paar Steine besorgen?« Schritt für Schritt stellten wir die Pfosten auf. Ich erklärte ihr alles und ermutigte sie, und Eva kam stumpfsinnig meinen Aufforderungen nach. Um die Mittagszeit standen drei neue Zaunpfosten an der Westseite des Gartens. Zum Mittagessen mußte ich ein zweites Glas Pfirsiche aufmachen, und gegen Ende des Tages, als bis auf einen Pfosten auf der Ostseite alle eingepflanzt waren, kam sie von selbst darauf, was zu tun war, und steuerte gar den einen oder anderen Ratschlag bei. Eva hat heute morgen ihren ganzen Frühstücksreis gegessen. Draußen im Garten erbot sie sich, den Zement zu mischen, während ich Steine sammelte, um damit im letzten Loch den Pfosten festzuklemmen. Doch als ich mich bückte, um ihn hineinzuheben, schien bei mir im Kreuz etwas nachzugeben. Ich taumelte nach vorn und 266
fiel auf die Knie, während meine Muskeln schrien und sich verkrampften. »Was ist denn?« fragte Eva und beugte sich zu mir herab. »Mein Rücken«, stöhnte ich, »tut weh.« »Leg dich hin«, sagte sie mit einer Autorität, die ich nicht mehr gehört hatte, seit sie aufgehört hatte zu tanzen. »Auf den Rücken. Flach. Mit angewinkelten Knien. Das ganze Rückgrat soll auf dem Boden aufliegen. Du mußt es entspannen, ehe du größeren Schaden anrichtest. Hat dir nie jemand gesagt, daß du beim Heben nicht die Rückenmuskulatur belasten darfst?« Ich lag still, bis sich meine Muskeln entkrampften. Doch als ich mich aufzusetzen versuchte, zogen sie sich erneut zusammen, und ich mußte vor Schmerzen das Gesicht verziehen. »Leg dich zurück«, kommandierte Eva. »Es dauert eine Weile. Aber wenn du dich jetzt ruhig verhältst, kannst du wahrscheinlich morgen wieder tanzen – ich meine natürlich arbeiten.« »Wir waren fast fertig«, jammerte ich, »und der Kopfsalat hat zu sprießen angefangen.« »Ich mach das schon«, sagte sie. »Sollen sich die Rehe doch gefälligst ihren eigenen Salat anbauen.« So kam es, daß ich weiter mein Rückgrat an den Boden preßte, während Eva den letzten Zaunpfosten aufstellte und mit dem Maschendraht kämpfte, um damit einen Ring um den erweiterten Garten zu ziehen. »Spannen und festnageln können wir ihn morgen noch«, sagte sie, als sie fertig war. »Es ist ein Provisorium«, fügte 267
sie mit einer Genugtuung hinzu, die sich anhörte wie die unseres Vaters, »aber ich denke, es wird die Tiere eine Nacht lang abhalten. Komm, Nell. Wir müssen dich ins Bett bringen.« Am nächsten Morgen ging es meinem Rücken gut. Aber Eva bestand darauf, mich zu massieren, ehe wir in den Garten hinausgingen. »Wenn wir uns jetzt nicht darum kümmern, wird er dir noch lange zu schaffen machen. Ich weiß es«, sagte sie und stieß mich mit einer Entschiedenheit auf meine Matratze, die mich überglücklich machte. Ich hob mein Nachthemd an. Dann lag ich still da und wunderte mich, wie schnell ihre Hände schmerzende Stellen aufspürten, von deren Existenz nicht einmal ich selbst gewußt hatte. Ich seufzte und entspannte mich, während sie mich behandelte, und ließ mir von ihren Fingern die letzten Reste meiner Schmerzen nehmen. Ihre Hände fühlten sich so tüchtig an, so intelligent und behutsam, und ich schwelgte nicht nur in ihrer Berührung, sondern auch in dem, was daraus folgte: daß die Schwester, die ich so liebte, immer noch existierte und möglicherweise endlich zurückkehrte. »So«, sagte sie schließlich. »Hat es gutgetan?« Ich stöhnte vor Wonne, und sie zog sich zurück, ließ mich mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen auf meiner Matratze liegen, ein Bündel glücklichen Fleisches, das sich bereit macht für den anstehenden Tag und 268
die Pflege des Gartens, der meine ganze Aufmerksamkeit beansprucht hatte, seit ich die erste Handvoll Unkraut herausgerissen hatte. »Achtung«, sagte ich, als meine Pläne ausgereift waren und es mir unmöglich erschien, noch länger stillzuliegen, »ich komme!« Ich stemmte mich hoch und hielt Ausschau nach meinem T-Shirt, als ich auf einmal Evas ansichtig wurde. Sie saß still am Tisch und Tränen rannen ihr übers Gesicht, die ersten Tränen, die ich sie weinen sah, seit ich sie zusammengeschlagen und schluchzend auf dem Hof vorgefunden hatte. »Ach, Eva«, sagte ich, »was ist denn?« Sie schüttelte den Kopf, wie um ihr Weinen loszuwerden, doch als ihr weiter die Tränen über die Wangen liefen, antwortete sie: »Ich ängstige mich so, ich kann nicht dagegen an. Es überkommt mich wie schwarze Wellen, und ich bin nichts als ein kleiner Korken. Ich schnelle hoch an die Oberfläche und denke, ich hab’s überstanden, und dann kommt die nächste Welle, und ich drohe wieder zu ertrinken.« Ich ging zu ihr, beugte mich über sie, schlang meine nackten Arme um sie. Sie saß regungslos da, Tränenglanz im Gesicht. Dann drehte sie sich plötzlich um, schluchzte heftig auf und vergrub ihr Gesicht an meiner Brust. Sie weinte, bis meine Brüste naß von ihren Tränen waren, während ich sie festhielt und in meinen Armen hin- und herwiegte. »Nun bin ich dran«, flüsterte ich, als ihr Weinen allmählich nachließ. Sie versuchte sich lachend dagegen zu 269
verwahren und schluchzte zwischendurch immer noch einmal auf, aber ich nahm ihre Hand, zog sie vom Stuhl hoch und führte sie zu ihrer Matratze. »Leg dich hin«, sagte ich. »Mal sehen, ob ich was gelernt habe.« Ich zuckte beim ersten Kontakt meiner blasenbedeckten Handflächen mit ihrer Haut. Unter meiner Berührung fing sie noch lauter zu weinen an. »Es ist gut«, sagte ich zu ihr. »Du kannst jetzt weinen, soviel du willst.« Erst strich ich meiner Schwester lediglich über den Rücken. Sieh her, sagten meine Hände, hier ist Evas Hals, hier sind ihre Rippenbögen, dies sind ihre traurigen Schultern und die lieblichen Wirbel ihres Rückgrats, hier ist die zarte Muskelhöhlung in ihrem Kreuz. Dann begann ich, indem ich direkt unterhalb dem Hinterhauptsbein anfing, die kräftigen Trapezmuskel zu massieren, die an ihrem Hals hinab und quer über ihre Schultern verlaufen. Ich rollte sie wie Seile zwischen den Fingern, und die Symmetrie meiner Gesten glich sich der Symmetrie ihres Rückens an. Immer wieder drückte ich, löste ich und linderte ich den Schmerz dieser verkrampften Muskeln, während sie in das Laken weinte, auf dem sie lag. Ich vergaß meine nässenden Blasen, vergaß sogar den Garten, der auf mich wartete, und konzentrierte mich ganz darauf, wie meine Hände zu ihren Schultern sprachen. Nach und nach zupfte ich, rieb ich und drängte ich den aufgestauten Kummer aus ihren Schultern. Dann endlich spürte ich, wie die Muskeln anfingen, sich zu entspannen und fast unmerklich zu lockern, daß ich es für Einbildung gehalten hätte, wenn nicht auch ihr 270
Weinen leiser geworden wäre. Sie seufzte, und meine Hände begannen ihren Rücken hinab, über ihre Rippen, an ihrem Rückgrat entlang zu wandern. Als ich den Eindruck hatte, sie habe sich so weit entspannt, daß sie wieder sie selbst war, grub ich mich tiefer ein, schob, knetete und preßte ich die entsetzlichen Erinnerungen, die neuen Unarten heraus, die ihr übriger Körper beherbergte. Sie erschauerte und zuckte zusammen, erstarrte und wehrte sich und lenkte doch jedesmal ein, gab um so mehr nach, als ihre Muskeln dahinterkamen, daß keine Notwendigkeit bestand, an so viel Schmerz festzuhalten. Langsam wurde meine Schwester weich, passiv und schlaff, bis endlich jeder Muskel an ihrem Rücken gelokkert war, und als ich ihren Arm anhob, baumelte ihre Hand lose herab. Zum ersten Mal seit der Vergewaltigung hatte ihr Leib keine Angst, und ich spürte Freude in mir aufsteigen, durch meine Hände in die Arme und von da in mein Herz, weil es offenbar in meiner Macht stand, die Heilung meiner Schwester zu unterstützen. Daraufhin fing ich sie zärtlich zu streicheln an. Meine Hände streichen sacht wie ein Atemzug über ihren Rücken. Sie sagten ihr Lebewohl, sagten ihr, daß meine Arbeit getan war. Ich berührte sie, wie ich ein Küken berühren würde, liebevoll und vorsichtig wie ein Geschöpf, von dem ich kaum glauben konnte, daß es mir gestattet war, es zu halten. Doch als ich sie streichelte, um sie von meiner Berührung zu entwöhnen, spürte ich, wie sich in ihrem Körper neue Anspannung einnistete. Denn Eva war nun zwar entspannt, aber auch verletzlich und Eingriffen von 271
außen ausgesetzt, und ich merkte ihr die Angst an, daß ich sie verlassen könnte. Darum streichelte ich sie weiter und wartete auf den Zeitpunkt, an dem ihr Körper meinen Händen mitteilen würde, daß sie ihrer Berührung nicht mehr bedurfte. Ich liebte sie so sehr – meine süße, süße Schwester. Ich liebte in ihr alles andere, was ich je geliebt hatte, liebte alles an ihr, was ich kannte, und alles, von dem ich wußte, daß ich es nie erreichen würde. Ich liebte die Tänzerin, die schöne Frau unter meinen Händen, die Schwester, mit der ich einst einen Wald erforscht hatte, die Schwester, mit der ich soviel durchlitten hatte, die Schwester, die ich nicht um der Liebe, nicht um des Todes willen verlassen konnte. Ich liebe dich, sagten meine Hände. Denk dran, dies gehört dir, sagten sie zu ihr. Dieser Körper gehört dir. Niemand kann ihn dir wegnehmen, wenn du selbst ihn hinnimmst, wenn du wieder Anspruch auf ihn erhebst – auf deine Arme, dein Rückgrat, deine Rippen, dein Kreuz. Es gehört alles dir. Dieser ganze Schatz, diese ganze Schönheit, diese ganze Kraft und Anmut gehören dir. Dieser Garten gehört dir. Nimm ihn. Nimm ihn dir wieder. Ich litt, so sehr liebte ich sie. Meine Hände fuhren zitternd über ihren Rücken. Ich wollte ihr das Leben retten, wollte ihre Seele zurückrufen von jenem finsteren Ort, an dem sie kauerte. Ich liebte sie so sehr, liebte jede ihrer Wölbungen und Geraden, jede Feinheit und Eigenheit, liebte den Eifer, mit dem ihre Lungen Luft ansogen, wie ihr Rückgrat sich krümmte, während meine Hände über die Kurve ihrer Hüften wegglitten, an den Doppelsäulen 272
ihrer Schenkel entlang in ihre Kniekehlen wanderten und dann auf dem gleichen Weg zurückkehrten, um sich im Schatten zu begegnen, wo ihre Beine zusammenliefen. Als sie sich zu mir umdrehte, konnte ich sehen, daß sie endlich wieder da war. Sie war erfüllt von einem Verlangen, das mich so erschütterte, daß ich verzagen wollte. Doch ehe ich zurückweichen konnte, begann sie mir mit Fingern und Handflächen, mit Atem und Zunge mehr beizubringen, als ich ihr soeben über die Heiligkeit und Verzückung fleischlichen Seins gezeigt hatte. Wir liebten uns, meine Schwester und ich. Gemeinsam ließen wir die Freude wiederauferstehen, die uns unsere Körper bereiteten. Gemeinsam erinnerten wir uns, daß nicht alle Gewalt Schändung bedeutet, und als Eva, die sich in ihre Scham, ihr Schweigen, ihren Schmerz verkrochen hatte, sich aufbäumte und öffnete und aufschrie, wußte ich, daß etwas Kostbares wiedergewonnen war. Wir kuschelten uns aneinander wie kleine Kinder, bis wir einschliefen, und später erwachten wir, erhoben uns gemeinsam von ihrer Matratze, zogen uns an, tranken Wasser und gingen gemeinsam nach draußen, um den neuen Garten anzulegen. Es muß inzwischen fast Juni sein, aber das ist nur eine grobe Schätzung. Derzeit verbringen wir die ganze Zeit im Garten. Schon im Morgengrauen trinken wir unsere Tasse weißen Tees und essen unser karges Frühstück. Sobald die ersten Farben am Himmel erblüht sind, stehen wir fröstelnd draußen, öffnen mit klammen Fingern das Tor. Wir dünnen aus und jäten, während die Sonne aufgeht. 273
Unser Atem entweicht in weißen Wolken, unsere Körper lockern sich, wärmen sich bei der Arbeit auf. Später, wenn unsere Hände die Kälte aushalten, fangen wir mit dem Gießen an. Erst benutzen wir einen Schlauch, um die alte freistehende Badewanne zu leeren, die unser Vater aufgestellt hat, um Wasser zu sammeln, nachdem die elektrische Pumpe den Geist aufgegeben hatte. Wenn die Wanne leer ist, gehen wir unzählige Male zum Bach und schleppen das Wasser eimerweise in den Garten. Wir haben alle Samen eingepflanzt, die wir besitzen, alle Samen, die unser Vater hinterlassen hat, auch die Unidentifizierbaren, die sich am Boden des Behälters angesammelt hatten. Wir düngen jeden Wildwuchs, flehen jede Pflanze an, zu leben, zu gedeihen, zu Nahrung zu erblühen. Grabend, jätend, gießend arbeiten wir, bis die Sonne über uns steht. Wir hören mittags auf, um zu essen und uns auszuruhen, und dann arbeiten wir, bis die Sonne untergeht und die kühle Luft wie gewohnt Schwärme von Stechmücken mit sich bringt. Wenn ich abends im Bett liege, zittern meine Muskeln, und meine schwieligen Hände schmerzen. Ich schließe die Augen und sehe Erde vor mir. Aber ich träume nicht mehr. Wir spähen immer noch häufiger zum Wald hinüber als früher, und wir wagen uns nicht über die Lichtung, über den Ring verwelkter Tulpen hinaus. Wir zucken immer noch zusammen, wenn ein Falke ruft oder ein Eichelhäher kreischt oder ein Reh durchs Unterholz des Waldes bricht. Ich habe auf Schritt und Tritt das Gewehr dabei, und wir ziehen uns immer noch lange vor 274
Einbruch der Dunkelheit ins Hausinnere zurück. Lange bevor sie bereit sind, sich zum Schlafen niederzulassen, locken wir Bathsheba und Pinkie mit Gartenabfällen in den Stall. Und drinnen angekommen, überprüfen wir dreimal die zugenagelten Fenster und schieben Möbel vor die Tür, ehe wir anfangen, unser Abendessen zuzubereiten. Aber das alles hat begonnen, mir wie ein Ritual vorzukommen, nicht wie eine zum Überleben notwendige Maßnahme – ich bin so gut wie sicher, daß der Mann, der unser Leben ruiniert hat, nicht im Wald herumlungert, daß wir zumindest so lange in Sicherheit sind, bis der nächste vorbeikommt. Ich mache mir Sorgen um die Samen, die mein Vater aufgehoben hat, weil sie das Resultat der Kreuzungen des letzten Jahres sind, und ich mache mir Sorgen um nächstes Jahr. Dann nämlich werden alle Samen, die wir setzen, aus unkontrollierter Bestäubung hervorgegangen sein. Ich mache mir Sorgen darum, wann ich pflanzen, wie ich düngen soll und ob wir genug Wasser haben werden. Ich mache mir Sorgen um niedrige Keimquoten, Krankheiten, Insekten und Unglücksfälle. Dafür aber habe ich mir seit dem Tag, an dem ich den Garten betreten habe, nicht mehr den Tod gewünscht. Eva tanzt immer noch nicht. Aber sie arbeitet so schwer wie ich, und manchmal lacht sie morgens laut auf, wenn wir die Reihen neuer Schößlinge begrüßen, die sich durch die Erde hochgekämpft haben, während wir schliefen. Wir haben angefangen, uns einen Augenblick an den Händen zu halten, bevor wir essen, die Köpfe über unsere vollen Teller gebeugt. Ich kann nicht ohne weiteres erklä275
ren, was wir mit dieser Geste meinen, aber wir stellen immer wieder fest, daß wir nicht essen wollen, ohne uns vorher die Hände zu reichen. Sonst berühren wir uns nicht. Eva mußte sich gestern morgen übergeben. Meine erste Reaktion war blankes Entsetzen, denn ich dachte an Lebensmittelvergiftung, Dysenterie, Cholera, Giardia, die Grippe, an der Elis Mutter gestorben war. Ich bestand darauf, daß wir bei ihr Fieber maßen. Aber ihre Temperatur war normal, sie hatte keinen Durchfall, und sie hatte nichts gegessen, das ich nicht auch gegessen hatte. »Mir fehlt nichts«, versicherte sie immer wieder, »mir ist nur ein bißchen übel.« Schließlich schickte sie mich allein in den Garten. »Mir geht es gut«, sagte sie, »ich muß mich nur kurz hinlegen.« Und als ich mittags nach Hause kam, hatte sie das Essen fertig. Heute morgen jedoch erbrach sie sich wieder, und ich mußte erneut ohne sie in den Garten. Ich hatte die Möhrenschößlinge gegossen und zwischen den Kartoffeln gejätet. Nun war ich dabei, Feuerholz zu hacken, hatte die Axt hoch über meinen Kopf geschwungen, als mir eine Erklärung für ihre Übelkeit in den Sinn kam und meine Arme in benommener Ungläubigkeit die Axt fallen ließen. Sie streifte das hochkant gestellte Holzscheit, das daraufhin vom Hackklotz glitt und mir auf den Fuß rollte. 276
Gegen Mittag sagte Eva, es gehe ihr besser, und sie arbeitete im Garten, bis es dunkel wurde. Aber heute abend ertappe ich mich dabei, wie ich sie heimlich beobachte, verstohlene Blicke auf ihren Bauch, ihre Brüste werfe, verstohlene Blicke ins Lexikon: Außer durch ärztliche Tests zur Feststellung einer vermehrten Bildung von Choriongonadotropin kann man Schwangerschaft an Hand von Symptomen wie Übelkeit, geschwollenen Brüsten und Ausbleiben der Monatsblutung diagnostizieren. Bloß das nicht, heißt das Bittgebet, das die Stimme in meinem Kopf spricht, die Mantra der Verzweiflung. Bloß das nicht. Nach allem, was wir durchgemacht haben, bitte, bitte, bitte – bloß das nicht. Abtreibung, so steht es im Lexikon, ist die spontane oder herbeigeführte Ausstoßung des nicht lebensfähigen Fötus aus dem Mutterleib. Verfahren des vorsätzlichen Abbruchs sind mit oder ohne gesellschaftliche Billigung in fast allen Kulturen angewandt worden. Aber ich brauche keine Defininition, keine vage soziologische Abhandlung. Was ich brauche, sind Fakten. Einzelheiten. Anweisungen. Was ich brauche, ist ein Leitfaden für die Abtreibung. Es muß einen Weg geben. Ich denke ständig daran. Gebückt im Sonnenschein, auf Händen und Knien zwischen den zarten grünen Reihen, die unsere Zukunft in sich bergen, denke ich an Abtreibung. 277
Eva übergibt sich weiter und behauptet, ihr fehle nichts. Seit sie zu tanzen angefangen hat, ist ihre Periode so unregelmäßig, daß sie vielleicht noch gar nicht darauf gekommen ist. Heute morgen haben wir gejätet. Seite an Seite haben wir uns an den Bohnenreihen entlang vorgearbeitet, deren Keimblätter wie Flügelpaare aus dem Boden sprossen. Ich hatte fertig gefrühstückt, während Eva sich wieder einmal geweigert hatte, zu essen. »Nichts für mich«, sagte sie, als ich ihr ein hartgekochtes Ei anbot, das kaum größer als ein Avocadokern war, das erste, das die Hennen seit Monaten gelegt hatten. Dennoch kroch sie jetzt neben mir über den feuchten lockeren Erdboden, ihr Pfad und der meine nur durch eine Reihe zarter Pflanzen getrennt. Auf seltsame Art erschien es beinahe weihevoll, so langsam auf den Knien vorzurücken, auf die Pflanzen zu atmen und sie zu pflegen. Die Erde war kühl, die Sonne warm, die Vögel waren emsig, und ich stellte mit jäher Erschütterung fest, daß ich soeben zum ersten Mal, seit ich von Eli getrennt bin, einen Augenblick unerschrockenen, unbeschwerten Glücks erlebt hatte. »Wenn das alles wächst«, sagte ich und bezog mit ausgestrecktem Arm den erweiterten Garten ein, »könnten wir zwei es gerade eben schaffen, den nächsten Winter zu überstehen.« 278
Eva hatte auch zu arbeiten aufgehört. Sie setzte sich auf und sagte: »Wir werden zu dritt sein.« Einen entrückten Augenblick lang glaubte ich, sie meine damit, daß Eli zurückkehren werde, aber dann wurde mir klar, daß von der anderen Sache die Rede war, und ich wollte lieber weiterjäten. Doch sie blieb sitzen und sah mich an, wartete darauf, daß ich etwas sagte. »Was meinst du damit?« stammelte ich. »Ich erwarte ein Baby.« »Das hatte ich schon befürchtet.« »Ja«, sagte sie und vergrub ihre Hände im Boden, »es stimmt. Ich war erst nicht sicher. Jetzt bin ich es.« »Was willst du deswegen unternehmen?« Sie sah mich fragend an und zerdrückte dabei eine Handvoll Erde. »Was können wir schon unternehmen?« fragte sie. »Na ja, ich weiß noch nicht genau«, antwortete ich, »aber es muß einen Weg geben. Wir kommen schon noch drauf.« »Kommen worauf?« »Du weißt schon.« »Was?« »Wie man es aufhält.« »Aufhält?« Sie öffnete die Faust, so daß der Erdklumpen auf ihrer Handfläche zu liegen kam, zerfurcht und geformt vom Muster ihrer Hand. »Warum?« »Aber Eva – du kannst es doch nicht zur Welt bringen.« »Warum nicht?« fragte sie, als habe sie nicht so viele 279
Jahre in ihrem Studio verbracht und gegen etwas so Grundlegendes wie die Schwerkraft angekämpft. »Machst du Witze? Wie sollen wir uns denn darum kümmern?« »Ich weiß auch nicht. Wir finden schon einen Weg. Außerdem«, fügte sie mit einem leichten Achselzucken hinzu, »hat es begonnen. Wir können es nicht aufhalten.« »Natürlich können wir. Es gibt viele Möglichkeiten. Das Lexikon verrät nicht viel, aber ich denke, wir können selbst dahinterkommen. Da wären heiße Bäder, körperliche Anstrengung und vielleicht irgendwelche Kräuter. Wir könnten es mit dem übriggebliebenen Hustensaft versuchen.« »Weißt du eigentlich, was du da sagst? Es ist ein Baby unterwegs. Man kann ein Baby nicht einfach aufhalten.« »Jetzt ist es noch kein Baby. Und man kann es sehr wohl aufhalten, wenn man muß.« »Warum sollte ich müssen?« »Eva, du bist vergewaltigt worden«, ereiferte ich mich. Sie zuckte zusammen und hielt sich den Bauch, wie um ihn vor diesen Worten zu schützen. »Das hat nichts damit zu tun.« »Was?« »Das hat nichts damit zu tun.« »Aber Eva, es ist sein Baby.« »Wessen Baby?« fragte sie entrüstet, und ich schwöre es: Einen Augenblick lang hatte sie wirklich keine Ahnung, 280
wen ich meinte. Dann höhnte sie: »Das Baby dieses Mannes? Meinst du wirklich, er wäre fähig, ein Kind zu zeugen?« Sie ließ sich auf Hände und Knie nieder und fing wieder an, langsam neben den Bohnen vorwärtszukriechen. »Und selbst wenn es da begonnen hat«, sagte sie und zupfte unterwegs ein Kraut aus, dessen Wurzeln im Sonnenschein wie weiße Adern aussahen. »Selbst wenn es damals begonnen hat«, wiederholte sie und sah auf, um meinem Blick standzuhalten, »wie kann dieses Baby ihm gehören?« »Also, die Erbbiologie …« »Erbbiologie!« brauste sie auf, als sei dieses Wort der Name ihres Vergewaltigers. »Hast du je verstanden, Nell, wie es sein kann, daß eine Frau schwanger wird und ein Baby neun Monate austrägt, um es anschließend zu nähren, zu pflegen und ihm die Windeln zu wechseln, und daß dennoch ein Mann kommen und behaupten kann, es gehöre zur Hälfte ihm?« »Unser Vater hat unsere Windeln gewechselt.« »Dann hat er sich seinen Anteil verdient. Übrigens«, sie zupfte wieder ein Kraut aus, und ihre Stimme klang kräftig und sanft und so sicher, wie ich sie noch nie gehört hatte, »wie käme ich dazu, anzunehmen, daß dieses Baby mir gehört?« »Was willst du damit sagen?« fragte ich. »Es ist ein eigenständiger Mensch«, erwiderte sie triumphierend. 281
Nun wird also meine Schwester ein Baby bekommen. In den letzten Tagen hat mich eine Sorge überfallen, die so groß und so kalt ist, daß ich das Gefühl hatte, von einer Meereswoge erfaßt und in eisigem Wasser und körnigem Sand herumgeworfen zu werden, unfähig zu atmen, darum kämpfend, oben und unten zu unterscheiden. Dann weicht die Woge zurück, so daß ich im Trockenen stehe, Kürbisse gieße, Tomatenbeete jäte, Bohnenstangen aufstelle und Vorbereitungen für die Zukunft treffe, die uns bleibt. Vergangene Nacht habe ich geträumt, daß Eva und ich neben dem Mammutbaumstumpf, wo ich zum ersten Mal mit Eli geschlafen hatte, auf dem Boden saßen. Da kam aus dem Wald ein Bär auf uns zugetrottet. Krank vor Furcht sahen wir ihn herankommen, sahen wir, wie sich die Muskeln unter seinem dichten Pelz dehnten und zusammenzogen. Als er noch näher kam, fielen mir die Zecken rings um seine Augen auf, die erstaunliche Länge seiner vorstehenden gelblichen Krallen. Als er direkt vor uns stand, riß er das Maul auf, und ich sah seine stumpfen Zähne und das nackte Rosa seiner Zunge. Ein Schrecken so groß wie jeder, den ich je gekannt habe, breitete sich über mir aus wie eine erstickende Zudecke, und ich schloß die Augen, bot mich diesen Kiefern da. Doch ich bekam als nächstes nicht das Reißen von Zähnen zu spüren, sondern das nasse Kratzen der Zunge des Bären und den warmen Hauch seines Atems im Gesicht. Einen Augenblick später ließ er mich in Ruhe und trottete zu Eva hinüber, um sie zu lecken und zu beschnup282
pern und ihr Gesicht zwischen seine weit geöffneten Kiefer zu nehmen. Dann verschwand er im Wald, während ich neben dem Baumstumpf sitzen blieb und dachte: So also werden Babys gemacht. Im Lexikon steht nicht viel über Schwangerschaft und Entbindung, obwohl es lange Artikel gibt, die sich über Empfängnis und »fötale Entwicklung« und die Medikamente auslassen, die der Geburtshelfer während der Wehen verabreicht. Ein Eintrag berichtet über Abnormale Veränderungen während der Schwangerschaft, ein anderer von Komplikationen im Kindbett, aber ich kann mich jetzt noch nicht überwinden, sie zu lesen. Immerhin steht dort geschrieben: Die Kraft und der allgemeine Gesundheitszustand einer Frau sind zwei der vielen Faktoren, die Länge und Ausgang des Gebärvorgangs bestimmen. Außerdem: Fußmärsche gelten als die geeignete körperliche Betätigung für gebärende Frauen. Selbst mit der Machete und dem Gewehr bewaffnet waren wir überzeugt, in unser Verderben zu rennen, als wir die Lichtung verließen, um unseren ersten Spaziergang im Wald zu unternehmen. Trotz der Mittagshitze trugen wir Stiefel und lange Hosen und waren angespannt und voller böser Vorahnungen, als wir uns auf dem unbefestigten Pfad vom Haus entfernten. Der Wald wirkte üppig grün und ungefährlich, aber wir fuhren bei jedem anderen Geräusch als dem unserer Schritte herum. Selbst der Wind ließ uns zusammenzuk283
ken. Wir hatten gerade die erste Kurve des zugewachsenen Pfades umrundet, als sich etwas im Dickicht regte und mit großen Sprüngen krachend den Hang hinauf floh. Da einigten wir uns ein wenig verlegen darauf, daß wir für den ersten Tag weit genug gegangen waren, und traten den Heimweg an. Aber wir zogen am folgenden Tag wieder los und wagten uns ein Stück weiter den Pfad entlang. Tags darauf inspizierten wir den Obstgarten, und wieder einen Tag später gingen wir bis zur Brücke. Auf dem Rückweg stellte ich erschrocken fest, daß ich das Gewehr im Garten zurückgelassen hatte. Nach einem harten Winter und einem unbeständigen Frühjahr haben beide Hennen wieder zu legen angefangen, und wir haben einen Überfluß an Eiern, die wir mit Petersilie, Rosmarin und Basilikum aus dem Garten zu Rührei verarbeiten oder hart kochen, um sie mit gehortetem Knoblauchsalz bestreut zu essen. Auch der Garten macht inzwischen gute Fortschritte, obwohl nicht ein einziger Melonen- oder Brokkolisamen gekeimt hat, der Mais scheinbar zu wachsen aufgehört hat und aus der letzten Reihe Kopfsalat, die ich gepflanzt habe, nur ganz wenige kümmerliche Pflanzen hervorgegangen sind. Aber wir essen bereits Mangold und Spinat und Erbsen, und heute abend gab es einen Salat aus Rübenkraut, das beim Ausdünnen angefallen war. Ich war mir nie darüber im klaren, was für hübsche 284
Blumen in einem Gemüsegarten zu finden sind. Die Kürbisse tragen offene goldene Blüten, die Tomaten sind zwischen den grünen Ranken mit kleinen weißen Sternen übersät, die Bohnen mit lavendelfarbenen Knospen geschmückt. Drunten im Obstgarten sind die Bäume mit kleinen harten Früchten beladen, und die grünen Kapseln der Nüsse drängen sich am Walnußbaum. Evas flacher Bauch hat begonnen, eine beachtlich Wölbung zu zeigen, obwohl es nach wie vor Augenblicke gibt, in denen ich nicht glauben kann, daß sie wirklich schwanger ist, in denen ich sicher bin, daß ihre launische Regelblutung doch noch einsetzen wird. Sie hat etwas von ihrer alten Anmut zurückgewonnen und bewegt sich wieder wie früher, obwohl sie nicht tanzt. Nichts scheint ihr neuerdings Sorgen zu machen. Sie vergißt abends, die Tür abzuschließen. Sie verschwendet keinen Gedanken an die sich leerende Speisekammer. Sie bemerkt kaum die ausgezackten Löcher in den Mangoldblättern, die verhutzelten Paprikaschoten, die schäbigen Gurken, den jämmerlichen Mais. Sie sorgt sich nicht wie ich um F1-Kreuzungen oder sterile Samen. Sie ist nie darauf gekommen, die Einmachdeckel zu zählen oder sich zu fragen, was passieren wird, wenn die Quelle austrocknet. Ich dagegen mache mir genug Sorgen für uns beide. Ich mache mir Sorgen über Schädlinge und Krankheiten 285
und unglückliche Zufälle. Ich mache mir Sorgen über Brandstiftung und Plünderung. Ich mache mir Sorgen um die Hennen und den Obstgarten, um die zerbrochenen Schindeln auf dem Dach und den durchhängenden Boden im Abstellraum. Nachts liege ich wach und starre in die Finsternis und frage mich, wie wir je ein Baby aus Eva herausholen sollen und wie wir nur zurechtkommen wollen, wenn es erst da ist. Ich lese immer noch im Lexikon, nicht im Hinblick auf die Leistungstests oder Harvard-Seminare, sondern so, wie ich einst Romane gelesen habe – wegen der Geschichten, die es enthält. Ich lese jetzt nur noch abends, in den wenigen Minuten zwischen dem Ende der Arbeit und dem Hereinbrechen der Dunkelheit im Zimmer. Ich habe es aufgegeben, mich an das Alphabet zu halten, springe und überfliege lieber. Ich liege ausgestreckt auf meiner Matratze, einen Band aufgeschlagen neben mir, und lese, was mir paßt, bis mich mein müder Körper in den Schlaf zerrt und die letzten Sätze mit meinen Träumen verschmelzen. Der Küsten-Mammutbaum (Sequoia sempervirens) ist der höchstwachsende Baum der Welt und einer der langlebigsten. Herrschen in seinem Verbreitungsgebiet günstige Bedingungen, kann der Küsten-Mammutbaum über zweitausend Jahre alt werden. Obwohl nur ein Samenkorn in einer Million zum reifen Baum heranwächst, können dem ausgewachsenen Mammutbaum nur Wind und Wetter und der Mensch etwas anhaben. Selbst wenn Mammutbäume umstürzen oder sonstwie verletzt werden, haben sie die bemerkenswerte Fähigkeit, 286
sich anzupassen, um zu überleben. Die »schlafenden Augen«, auch Burl genannten warzenähnlichen Auswüchse ruhender Knospen werden zum Ausschlagen angeregt und wachsen aus einem gefallenen oder beschädigten Baum. Es kommt häufig vor, daß, man um einen beschädigten Mutterbaum herum einen Kreis aus schlafenden Augen hervorgegangener junger Bäume sieht. Wir hatten nicht vor, dort hinzugehen, als wir heute nachmittag zu unserem Spaziergang aufgebrochen sind. Erst gingen wir einfach die Straße hinab, beschlossen jedoch kurz bevor wir die Brücke erreicht hatten, auf einen Wildpfad abzubiegen, den wir vor ein paar Tagen entdeckt hatten. Er führte uns durch ein Dickicht und über eine Ebene, wo sich das Dach des Waldes hoch über uns befand und wenig Unterholz wuchs. Nach einer Weile wurden die Bäume wieder kleiner und standen dichter zusammen, und wir stellten fest, daß es bergauf ging. Wir folgten hintereinander dem schmalen Pfad, stiegen mit gleichmäßigen Schritten empor, und jede von uns war in das gleichmäßige Geräusch ihres eigenen Atems vertieft, in das ehrliche Brennen der Muskeln in ihren Oberschenkeln. Als ich merkte, daß wir durch den Teil des Waldes marschierten, durch den wir gerannt waren, um unseren sterbenden Vater zu erreichen, war mein erster Gedanke, kehrtzumachen. Doch der Impuls ging vorüber, und ich empfand plötzlich das dringende Bedürfnis, sein Grab zu 287
sehen. Ich wollte mich ihm stellen, wollte genau wissen, was passiert war. Ich wollte sehen, ob meine Alpträume der Wahrheit entsprachen. Mein Wunsch war so intensiv, daß es mir widerstrebte, ihn auszusprechen, falls Eva beschloß, den Heimweg anzutreten. Ich folgte ihr und begann mich schon schuldig zu fühlen, weil ich sie verleitet hatte, dort hinzugehen, wo sie vielleicht nicht hinwollte, als ich sah, wie sich ihre Schritte verlangsamten. Eine Sekunde später straffte sie ihre Schultern und ging weiter, und als wir an einem Büschel Wildblumen vorbeikamen, bückte sie sich, um ein paar davon zu pflücken. Bis Eva vor mir auf die Schneise trat, hatte auch ich beide Hände voller Blumen. Ich keuchte und schwitzte und hätte eine Rast dringend nötig gehabt. Dennoch betrat ich die Stätte nur zögernd, bereit, zu erschrecken und davonzulaufen. Da war das Grab, ein unversehrter, stiller Erdhügel. Trotz des winterlichen Regens, des Eichenlaubs und der Fichtennadeln wirkte der Hügel kahler als der Boden darum herum. Aber er war nicht aufgebrochen. Wir sahen nur warm werdende Erde, nicht den aufgerissenen Boden oder die verstreuten Knochen meiner Alpträume. Ich muß zugeben, daß ich beim Anblick des Grabs meines Vaters das Gefühl hatte, etwas geleistet zu haben. Irgendwie hatten wir gewußt, was zu tun war. Wir hatten tief gegraben und uns mit dem Auffüllen Mühe gegeben, so daß es jetzt sauber verheilte wie eine richtig behandelte Wunde. Wir legten unsere Blumen auf den Hügel und saßen 288
dann in tiefen Schweigen daneben wie neben einem alten Freund, mit dem man keine großen Worte mehr machen muß. Ich drückte meine Handflächen gegen die Erde über den verwesenden Zellen meines Vaters und dachte an Verfall und an Würmer und rief mir alle Alpträume ins Gedächtnis, von denen ich im Dunkel unseres Hauses aufgewacht war, alle Vorstellungen, die mich steif und durchnäßt vor lauter Grauen und Schuldgefühl zurückgelassen hatten. Ich stellte mir vor, wie das Gesicht meines Vaters anschwoll und unter der Last der Erde verfiel. Ich stellte mir die zappelnden Maden, die zähen Flüssigkeiten, die Fäulnis vor. Doch dies alles barg kein Entsetzen. Na und? dachte ich. Wir scheißen, wenn wir leben, verrotten, wenn wir tot sind. So ist die Natur. Unsere Natur. Dort im sanften Licht des frühsommerlichen Sonnenscheins döste ich, träumte wieder, nahm in der Sonne auf meinem Kopf das Gewicht und die Wärme der Hand meines Vaters wahr. Ich erinnerte mich, wie er, als ich ein kleines Mädchen war, zur Schlafenszeit in mein Zimmer kam, wie er auf meinem Bett Platz nahm, um eine Geschichte zu erzählen oder sich einen Augenblick mit mir zu unterhalten, ehe er sich vorbeugte, um mich zu küssen und »Träum schön, Pummelchen« zu sagen und mich warm und sicher in der gütigen Nacht allein zu lassen. Da wurde mir klar, daß ich im Bewußtsein, daß mein Vater und meine Mutter tot waren, Trost finden konnte, da das Mysterium des Todes sie bereits erfaßt hatte. Was immer geschieht, wenn ein Mensch stirbt, war mit 289
ihnen geschehen. Sie waren vorausgegangen, hatten den Weg geebnet, und deshalb erschien mir der Tod trauter, sicherer, ein bißchen weniger beängstigend. Da meine Eltern bereits angelangt waren – im Tod –, konnte ich es mir leisten, das Licht der Sonne zu genießen, solange es ging. Neben dem Grab meines Vaters sitzend, war ich froh – und ohne Angst –, am Leben zu sein. Da sagte Eva, die im Unkraut auf der anderen Seite des Grabes herumgesucht hatte: »Sieh dir das an.« »Was denn?« »Sind das nicht Erdbeeren?« fragte sie und streckte mir einige Beeren von der Farbe und Größe von Blutstropfen entgegen. »Kann schon sein«, antwortete ich. »Die sehen reif aus«, sagte sie und hob sie an den Mund. »Eva!« keuchte ich, ehe sie davon kosten konnte. »Was ist?« »Die kannst du doch nicht essen.« »Wieso nicht?« »Vielleicht sind sie giftig.« »Erdbeeren?« »Vielleicht sind es keine Erdbeeren.« »Was denn sonst?« »Ich weiß auch nicht. Aber du darfst nichts riskieren«, sagte ich und zeigte auf ihren Bauch. Sie blickte an sich herab, zuckte die Achseln und hielt mir die Beeren hin. »Na gut. Dann probier du sie eben.« Wild wachsende Pflanzen können töten, hörte ich meine 290
Mutter sagen, als Eva mir die Beeren in die hohle Hand schüttete. Aber sie sahen so harmlos aus, so süß und unschuldig, weshalb ich sie mir, ehe ich lange nachdenken konnte, in den Mund steckte. Die Kerne fühlten sich an, als hätte ich winzige Sandkörner zwischen den Zähnen, und der herbe Wohlgeschmack von Erdbeeren überwältigte meine Zunge. »Wonach schmecken sie?« fragte Eva. »Nach Erdbeeren«, antwortete ich, »nur stärker. Erdbeeren hoch zehn.« Ich beugte mich vor, um noch mehr zu suchen. »Wenn sie mich sowieso umbringen«, sagte ich, »möchte ich sichergehen, daß sie ganze Arbeit leisten.« »He!« rief Eva. »Gib mir auch welche ab.« Wir verließen das Grab unseres Vaters und machten uns schmausend auf den Heimweg, durchstöberten einen Flecken nach dem anderen, weideten friedlich so wie Kühe es tun, naschten gierig wie kleine Kinder, folgten dem kaum erkennbaren gewundenen Pfad der Erdbeeren, die sich von der stillen Schneise durch den ganzen Wald auszubreiten schienen. Heute abend ist es mir aufgegangen, als wir vorm Zubettgehen unseren weißen Tee schlürften – es muß im Wald noch mehr geben als nur eine nachmittägliche Leckerei in Form von Beeren. Der Wald muß randvoll mit Eßbarem sein. Die Indianer, die hier gelebt haben, sind ohne Obst- und Gemüsegärten ausgekommen. Sie haben nichts außer dem gegessen, was der Wald zu bieten hatte. Nur habe ich keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Ich 291
habe mich mit Botanik beschäftigt. Ich weiß Bescheid über die Morphologie und Physiologie der Pflanzen. Ich weiß, wie Pflanzen wachsen und wie sie sich vermehren. Ich kann eine Pflanzenzelle unter dem Mikroskop erkennen, kann die chemischen Reaktionen aufzählen, die zur Photosynthese führen. Aber ich kenne die Namen der Blumen nicht, die wir auf dem Grab unseres Vaters hinterlassen haben. Ich kenne noch nicht einmal die Namen des Unkrauts, das wir im Garten ausrupfen, oder was für Blätter wir statt Toilettenpapier benutzen. Ich kann Sumachgewächse erkennen. Ich kann eine Tanne von einem Mammutbaum unterscheiden. Aber mit all den anderen Namen – seien sie lateinisch oder indianisch oder umgangssprachlich – kann ich nichts anfangen. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, welche Pflanzen eßbar sind oder wie sie sich sonst nutzen lassen. Dieser Busch, sage ich, diese Blume oder dieses Kraut. Und wie können Büsche oder Blumen oder Kräuter uns ernähren, uns kleiden, uns heilen? Wie ist es nur möglich, daß ich mein ganzes Leben hier verbracht habe und so wenig weiß? »Es muß einen Weg geben, wie wir uns über Wildpflanzen informieren können«, habe ich heute morgen zu Eva gesagt, nachdem ich es die ganze Nacht lang zu mir selbst gesagt hatte. Sie blickte von ihren Frühstückseiern auf, um zu fragen: »Wie haben andere Leute es geschafft?« 292
»Wie meinst du das?« »Wie haben die anderen gelernt, welche Pflanzen eßbar sind?« »Ich nehme an, daß jemand sie probieren mußte.« »Und?« »So geht’s nicht – wir könnten dabei umkommen.« »Was steht denn in deinem Lexikon?« fragte sie und stand vom Tisch auf. »Nichts.« »Oje«, sagte sie. »Ich sollte mich wohl um die Bohnen kümmern.« Sie stand schon an der Haustür, als sie sich umdrehte und sagte: »Ich meine mich zu erinnern, daß Mutter mal ein Buch über Wildpflanzen gekauft hat, um sie wenn möglich zum Färben zu benutzen.« Das Arbeitszimmer unserer Mutter zu betreten war so, als würde man die schale Finsternis einer Gruft betreten. Da das Fenster zugenagelt war, blieb nicht einmal mehr so viel Licht, daß ich die Titel der Bücher auf den Regalen lesen konnte, die zwei der Wände einnahmen. Deshalb schleppte ich einen Arm voller Bücher nach dem anderen ins Vorderzimmer und stellte dann einen Arm voller Bücher nach dem anderen wieder zurück ins Regal – Bücher über Pädagogik und Webverfahren, Handbücher für die Autoreparatur, Krimis, Geschichtswerke, Biographien, Romane. Schließlich ging ich hinaus in die Werkstatt, um den Zimmermannshammer und das Brecheisen zu holen. »Wozu brauchst du die denn?« rief Eva mir aus dem Garten zu, als ich dort vorbeikam. 293
»Ich muß es hell haben«, entgegnete ich. Die Nägel quietschten und protestierten, der Hammer glitt ab, hinterließ eine Delle im Fensterrahmen, und ich schnitt mir am Wellblech die Hand auf, aber schließlich breitete sich im Arbeitszimmer meiner Mutter wieder Tageslicht aus. Ich fand Die heimische Flora Nordkaliforniens irgendwo auf einem obersten Brett eingeklemmt zwischen Madame Bovary und einem Band über den Spanischen Bürgerkrieg. Obwohl meine Mutter vorn ihren Namen hineingeschrieben hatte, war der Rücken nicht gebrochen, und die Seiten wirkten unberührt, als hätte sie nie Gelegenheit gehabt, das Buch zu lesen, bevor ihr der Krebs sogar die Liebe zu Farben genommen hatte. Ich schlug es gierig auf, nicht vom Bedürfnis nach Farbe, sondern von der Gier nach Eßbarem getrieben. Was für eine Enttäuschung. Ich hatte wohl unbewußt eine Freundin erwartet, eine Beraterin, eine Großmutter – eine weise Frau, die uns liebte und wußte, wie sehr wir gelitten hatten. Ich hatte erwartet, daß sie sich aus den Seiten des Buchs erheben und mich in den Wald führen würde, daß sie mir am Bach kniend Kräuter zeigen, mit ihrem Stock am Ufer stochernd Wurzeln ausgraben und mir geduldig beibringen würde, wo die Schätze des Waldes zu finden waren, wann ich sie ernten und wie ich sie verarbeiten sollte. Natürlich gab es keine solche Frau, nur einen Eintrag nach dem anderen mit lateinischen Namen und botanischen Beschreibungen und undeutlichen Schwarzweißskizzen oder verschwommenen Fotos. Die heimische Flora 294
Nordkaliforniens ist so wuchernd und wirr wie der Wald, den zu beschreiben sie sich vorgenommen hat. Während Eva im Garten arbeitete, drang ich finster entschlossen durch die Seiten des Buches vor und versuchte, die Kräuter im Wald mit den körnigen Fotos und Strichzeichnungen in Einklang zu bringen und die Bedeutung von Worten wiederzubeleben, die ich mir einst gemerkt hatte – Rispe, Dolde, Blütentraube. Ich bin verwirrter denn je. Heute abend würde ich für eine Stunde im Internet sogar meine Seele verkaufen. Ich komme mir vor, als sollte ich ohne die Hilfe von Tonbändern und Büchern eine neue Sprache lernen, die für niemanden mehr die Muttersprache ist, und mir kommen zum ersten Mal in meinem Leben Zweifel, ob ich der Aufgabe gewachsen bin. Neben der Werkstatt wächst eine kleine Pflanze, von der ich glaube, daß es sich um Feldampfer handelt. Im Lexikon ist Feldampfer noch nicht einmal erwähnt. Dafür bringt die Heimische Flora eine Beschreibung, die zu passen scheint, allerdings ohne Abbildung. Dort im Handbuch steht, daß Feldampfer angenehm säuerlich schmeckende ohrige Blätter hat. »Ohrig« bedeutet ohrförmig, und ich denke, man kann die lappigen Blätter als ohrförmig bezeichnen, obwohl sie meines Erachtens nicht wie Ohren, sondern eher wie Pfeilspitzen aussehen. Eine andere Beschreibung, die besser paßt, kann ich nicht finden, und ich versichere mir unzählige Male, daß 295
Feldampfer, wenn im Handbuch steht, daß er angenehm säuerlich schmeckt, nicht giftig sein kann – obwohl in der Definition zum Stichwort Belladonna auch nicht von Gift die Rede ist. Was für ein Glaubensakt, was für ein Wagnis ist es doch, ein kleines grünes Blatt zu pflücken und zu probieren. Während Eva neben mir stand und die Warnungen meiner Mutter mir durchs Gehirn schwirrten, kam ich mir vor, als würde ich die Geschichte der Menschheit wiedererstehen lassen. Ich bückte mich, riß ein Blatt ab, entfernte eine feine Staubschicht von seiner Oberfläche und biß hinein, so vorsichtig, als rechnete ich damit, mir daran die Lippen zu verbrennen. Aber es hatte ein kühles, zartes, sauberes Aroma. Es schmeckte sauer und grün, nach Chlorophyll, sauren Gurken und Abendluft. Es war ein wenig zäh, fast wie ins Kraut geschossener Salat – aber frischer, lebendiger. »Wie schmeckt es?« fragte Eva, die mich beobachtete. »Gut«, sagte ich, »ein wenig sauer.« Wir gingen ins Haus zu unserem Abendessen aus Rübenkraut, Erbsen und weichgekochten Eiern. Nachts wachte ich von einem leichten Krampf auf und lag anschließend noch lange wach, unsicher, ob ich sterben müsse, und von dem Wunsch beseelt, weiterzuleben. Es gibt im Wald nicht viel, was im Hochsommer seine beste Zeit hätte. Die Blattgemüse vom Frühjahr sind so zäh und bitter geworden, daß wir sie nicht mehr essen können, 296
und die herbstlichen Früchte und Nüsse und Samen sind noch nicht reif. Immerhin habe ich bisher Brunnenkresse, Portulak, Wegerich, Hirtentäschel, Milchsternwurzel, Rotholzampfer, weißen Gänsefuß, Amarant, Ackersenfkraut und eine späte Ernte Löwenzahn probiert. Langsam fange ich an, den Wald zu enträtseln und die Pflanzen, die ihn bevölkern, mit Namen zu versehen. Die Blätter, die wir statt Toilettenpapier benutzen, sind Blätter des Wollkrauts. Die Pflanze mit den den Gänseblümchen ähnlichen Blüten, die neben der Werkstatt wächst, heißt Matricaria matricaroides und ist mit der Kamille verwandt. Das Kraut im Garten mit den dreieckigen Blättern ist Gänsefuß. Die Büsche, die seit so vielen Jahren an der Straße stehen, sind Haselnußsträucher. Und die Blumen, die wir unserem Vater aufs Grab gelegt haben, waren blaue Binsenlilien – deren Wurzeln die Fähigkeit haben sollen, Fieber zu senken und Magenverstimmungen zu beseitigen. In der Heimischen Flora steht, daß Ahornbäume Sirup abgeben, daß wir aus Huflattichblättern Salz gewinnen können. Die Indianer, die früher hier gelebt haben, sollen bartflechtenartige Tillandsien als Windeln benutzt haben, Goldmohn als Schmerzmittel und verschimmeltes Eichelmehl als Antibiotikum. Es gibt Pflanzen zum Bekämpfen von Fieber, Pflanzen zum Lindern von Erkältungen, Pflanzen zur Hautberuhigung bei Ausschlägen und gegen Krämpfe während der Menstruation. Es gibt Pflanzen, um Evas Wehen zu verstärken und ihre Schmerzen bei der Entbindung zu erleichtern, Pflanzen, um ihr Baby zu kräftigen, Pflanzen, die bei ihr die Milchproduktion anregen. 297
Es gibt Tees. Monatelang haben wir Wasser getrunken, obwohl wir wilde Minze hätten aufgießen können, wilde Hagebutten, Brombeeren, Lorbeer, Traubenbaumblätter, schwarzen Senf, Poleiminze, Bärentraube, Fenchelsamen, Feldampfer, Brennessel, Fichtennadeln, Erdbeerbaumrinde, Yerba buena, schwarzen Salbei, Matricaria, Veilchen, wilde Himbeeren. Und dann die Eicheln. In der Heimischen Flora steht: Weltweit und quer durch die Geschichte haben Eicheln zahlreichen Völkern als Grundnahrungsmittel gedient, zum Beispiel den Japanern und Chinesen, den Mittelmeervölkern der Antike und den Nordamerikanern. Eicheln werden, da sie im Überfluß zu haben sind und einen hohen Nährwert besitzen, als Nahrungsquelle geschätzt. Im Westen der USA zum Beispiel können mehrere der von den einheimischen Indianerstämmen bevorzugten Eichenarten zwischen fünfhundert und tausend Pfund Eicheln pro Baum und Jahr erbringen. Obwohl Eichen nur wenige Wochen im Jahr Früchte tragen, schätzt man, daß eine fleißige Einzelperson, die acht Stunden pro Tag arbeitet, in der Lage wäre, über vier Tonnen Eicheln zu sammeln. Eine solche Ernte könnte bei einer Ration von über fünftausend Kalorien und fünfzig Gramm Eiweiß pro Tag eine fünfköpfige Familie über ein Jahr lang ernähren. Ich habe mein Leben lang in einem Eichenwald gelebt, ohne daß mir auch nur einmal eingefallen wäre, eine Eichel zu essen. 298
Früher hieß ich Nell, und der Wald, das waren Bäume, Blumen und Büsche. Jetzt heißt der Wald Heteromeles arbutifolia, Bärentraube, Wachsmyrte, großblättriges Ahorn, kalifornische Roßkastanie, Lorbeer, Stachelbeere, blühende Johannisbeere, Rhododendron, wilder Ingwer, Waldrose, rote Distel, und ich bin nur ein Mensch, eines von vielen Lebewesen in seiner Mitte. Allmählich wird der Wald, den ich durchstreife, mein Wald, nicht weil er mir gehört, sondern weil ich ihn kennenlerne. Ich sehe ihn mit anderen Augen. Ich beginne seine Vielfalt zu sehen – in den Formen des Laubes, in der Anordnung von Blütenblättern, in Millionen Abstufungen der Farbe Grün. Ich beginne seine Logik zu verstehen und sein Geheimnis zu ertasten. Wohin ich auch gehe, versuche ich meine Umgebung wahrzunehmen – einen Büschel Minze, eine Ansammlung von Fenchelgewächsen, ein Bärentraubendickicht, eine Amarantwiese zum sofortigen Pflücken oder zur späteren Rückkehr, wenn Bedarf besteht oder die richtige Jahreszeit gekommen ist. Warum haben wir je Blumen gekauft – große, dicke, ungeschlachte Dinger in Plastiktöpfen vom Parkplatz bei Buy-n-Save – die wir gegossen, gedüngt, eingezäunt und besprüht hatten und die am Ende des Sommers dennoch von Schnecken und Heuschrecken zerfressen waren? Warum haben wir die Blumen nicht dort wachsen lassen, wo sie wollten, gesund und kräftig und so schnell sie wollten? Ich wünschte mir, meine Mutter wäre am Leben, damit ich ihr sagen könnte, daß wir die Petunien von Buy-n-Save nicht nötig hatten, daß wir nicht einmal 299
ihre roten Tulpen nötig hatten. Clarkie. Akelei. Rote Clintonia. Blaue Binsenlilie. Wollige Braunwurz. Rote Distel. Orthocarpus. Calypsoorchidee. Gelber Fingerhut. Türkenbund. Goldmohn. Hartriegel. Butterblume. Anemone. Salomonssiegel. Lupine. Wicke. Bergiris. Säckelblume. Weidenröschen. Götterblume. Wir waren die ganze Zeit von Blumen umgeben. Wir essen wie die Königinnen vom Ertrag der Samen, die unser Vater aufgehoben hat, aus dem Garten, den wir gehackt, gemulcht, gepflanzt, gejätet und gegossen haben. Sommerkürbis und Zucchini, Kirschtomaten, Möhren und rote Beete – jede Ernte ist ein Fest, ein Geschenk, ein Glücksfall. Allerdings ist jetzt schon manche Kreuzung ein Fehlschlag. Wir haben Pflanzen, die runde Zucchini oder seltsam geformte grüne Flaschenkürbisse hervorbringen. Keiner der Weißkohl-, Auberginen- oder Rettichsamen hat gekeimt, und einige der Tomatenpflanzen, von denen ich angenommen hatte, daß sie am besten gediehen, weil ihre Blätter so üppig wuchsen, haben nicht geblüht. Davon abgesehen haben wir noch andere Sorgen. Der Mais sieht immer noch kümmerlich aus, und vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber ich glaube, daß sowohl der Bach als auch die Quelle langsamer fließen. Mittlerweile leert sich weiter der Vorratsschrank. In der Speisekammer sind nur noch ein, zwei Tassen wurmverpestetes Mehl und ein Viertelsack Pintobohnen übrig. Der Reis ist aufgebraucht. 300
Die Dosen von Fastco sind aufgebraucht. Es sind noch zwei Gläser von unserem Vater eingemachte rote Beete übrig, noch zwei Gläser Pflaumen. Nachts schwirrt mir vor lauter Fragen der Kopf: Was passiert, wenn die Bohnen mißraten? Was passiert, wenn der Mais nicht wachsen will? Was passiert, wenn die übrigen Tomatenblüten nicht aufgehen? Was passiert, wenn die Quelle austrocknet oder Schädlinge in den Garten gelangen? Was sollen wir tun, wenn wir den letzten Einmachdeckel aufgebraucht haben? Und die größte, anhaltendste Sorge von allen: Was sollen wir mit einem Baby anfangen? Neulich war ich im Wald hinterm Haus und habe für unsere wachsende Kräutersammlung in der Speisekammer Yerba buena geerntet. Ruhig und versonnen kroch ich über den sonnengesprenkelten Waldboden, pflückte Schößlinge und legte sie in das alte Osterkörbchen, das ich nun gern zum Sammeln benutzte. Ich zupfte ein schimmerndes Blatt ab, rollte es zwischen den Fingern, hielt es an meine Nase und atmete mit geschlossenen Augen den durchdringenden Geruch von Minze ein. Ich erinnerte mich, in der Heimischen Flora gelesen zu haben, daß die kalifornischen Indianer Yerba buena als Beruhigungsmittel benutzten. Eine Weile war ich es zufrieden, den Duft einzuatmen, doch als sich meine Lungen endlich gefüllt hatten und ich wußte, daß ich meinen Genuß bald würde unterbrechen müssen, um auszuatmen, schoß mir ein anderer Gedanke mit solcher Gewalt durch den Kopf, daß ich das zerdrückte Blatt in meiner Hand vergaß. 301
Heute abend habe ich, von der Arbeit erschöpft und schon halb eingeschlafen, eine dampfende Tasse Yerbabuena-Tee neben mir auf dem Fußboden, das Lexikon aufgeschlagen und noch einmal nachgesehen, was ich im letzten Winter gelesen hatte, als mich der Eintrag nur als Information betraf, die ich mir für die Leistungstests einprägen mußte: Die Indianer, die kamen, um die Region Nordkaliforniens zu bewohnen, die heute in die Bezirke Sonoma, Lake und Southern Mendocino aufgeteilt ist, werden als Pomo-Indianer bezeichnet, obwohl es sich nicht um einen einzelnen Stamm handelte. Mindestens zehntausend Jahre lang führten die Pomo vor dem Eintreffen der Spanier ein karges, aber relativ friedfertiges Leben. Da sie offenbar eine Art primitiver Geburtenkontrolle praktizierten und in der genannten Region ein gemäßigtes Klima und einen Überfluß an Jagdwild, Fischen und heimischen Pflanzen vorfanden, blieb ihre Population im Verhältnis zu den Reichtümern des Landes weitgehend konstant. Von Hungersnot war nie die Rede. Selbst in den Jahren, in denen die Eichelernte mager ausfiel, gab es immer andere Nahrungsquellen, auf die sie zurückgreifen konnten … Heute ist die Urbevölkerung Kaliforniens nur noch von geringer Bedeutung. Zwischen 1769 und 1845 ging die indianische Bevölkerung des Staates von schätzungsweise 310 000 auf 150 000 zurück. Um 1900 lebten bereits weniger als 20 000 Indianer in Kalifornien. An dieser Stelle fiel mir ein anderes Buch ein, die von einem Anthropologen herausgegebene Sammlung von 302
Geschichten, Liedern und Interviews mit kalifornischen Ureinwohnern, die ich Vorjahren einmal überflogen hatte, als Eva und ich herauszufinden versuchten, wie man ein Tipi baut. Damals hatte ich es sofort wieder weggelegt, als ich dahinterkam, daß keiner der darin erwähnten Stämme in Tipis gehaust hatte. Erst heute abend habe ich das Buch in Mutters Arbeitszimmer wiedergefunden, habe es ins Wohnzimmer mitgenommen und mich damit vor den Ofen gesetzt, um zu lesen, was die Menschen zu sagen hatten, die vor uns unseren Wald bewohnt hatten. Ich las Initiationsgesänge, Liebeslieder, Fest- und Grabgesänge. Ich las die Geschichte von Kojote und den Eicheln, die Geschichte vom Mädchen, das die Klapperschlange geheiratet hat. Ich las die Erinnerungen von Korbflechtern, Regenmachern, Jägern und Träumern, und zuletzt las ich den Bericht über das Massaker bei Needle Rock. Der nachfolgende Text geht auf ein Interview mit Sally Bell zurück, einer der Letzten vom Stamm der Sinkyone. Sie war über neunzig Jahre alt, als sie 1928 oder 1929 diese Schilderung gab. »Mein Großvater und meine ganze Familie – meine Mutter, mein Vater und ich – waren zu Hause beschäftigt und haben niemandem etwas zuleide getan. Bald darauf, gegen zehn Uhr morgens, kamen mehrere weiße Männer. Sie töteten meinen Großvater, meine Mutter und meinen Vater. Ich habe es selbst gesehen. Ich war damals schon ein großes Mädchen. Dann töteten sie meine kleine Schwester und schnitten ihr das Herz heraus und warfen es ins Gebüsch, in das ich geflohen 303
war, um mich zu verstecken. Meine kleine Schwester war noch ein Säugling und hatte gerade erst angefangen zu krabbeln. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich hatte solche Angst, daß ich einfach ganz lange in meinem Versteck ausharrte, das Herz meiner kleinen Schwester in den Händen. Mir war so schlecht und ich hatte solche Angst, daß ich einfach zu nichts anderem fähig war. Dann rannte ich in den Wald und versteckte mich lange Zeit dort. Ich lebte dort lange Zeit mit ein paar anderen Menschen zusammen, die wie ich davongekommen waren. Wir ernährten uns von Beeren und Wurzeln und wagten nicht, ein Feuer anzuzünden, da die Möglichkeit bestand, daß, die weißen Männer unseretwegen zurückkamen. Darum aßen wir, was zu haben war. Nach einiger Zeit hatten wir keine Kleider mehr und mußten unter gefallenen Stämmen und in hohlen Bäumen schlafen, weil wir nichts zum Zudecken hatten und es damals – im Frühjahr – noch kalt war.« Ich saß da, während mein Tee kalt wurde und die brennenden Holzscheite zu glühender Asche zerbröckelten, und dachte: Das also ist gemeint, wenn im Lexikon steht: »Um 900 lebten bereits weniger als 20 000 Indianer in Kalifornien.« Die Pomo unterteilten das Jahr in dreizehn Monde und benannten die meisten nach den Nahrungsmitteln, die jeweils bei Vollmond zu haben waren – der Mond, wenn 304
es Klee gibt, der Mond, wenn die Fische auf Wanderschaft gehen, der Mond, wenn die Eicheln kommen. Ich bin nicht mehr sicher, welchen Monat wir haben, aber gestern nacht war Vollmond, und wir haben heute die erste Ladung Tomaten eingemacht. Im Morgengrauen hat Eva im Ofen ein Feuer entfacht, während ich hinausging, um im frostigen Garten Tomaten zu pflücken. Als ich wieder hereinkam, fühlte sich der vom Ofen erwärmte Raum herrlich an, und als ich über die erste Schüssel Tomaten kochendes Wasser goß und eine auf die Gabel nahm, um ihr die Haut abzuziehen, war meinen kalten Händen die Hitze willkommen. Bald jedoch war es im Zimmer sengend heiß, und meine Finger pochten vom siedenden Wasser und vom säuerlichen Tomatensaft. Ich erinnerte mich an den Ausspruch meines Vaters: »Es ist mehr kochendes Wasser nötig, um eine Tomate einzumachen, als gebraucht wird, um ein Baby auf die Welt zubringen.« In meiner Handfläche fühlte sich jede geschälte Frucht wie ein Herz an. Da dachte ich an Sally Bell und erschauerte. Wir arbeiteten bis mittags, bis die letzte reife Tomate verarbeitet war und das ganze Haus Ähnlichkeit mit einem Einmachglas hatte, das eben erst aus dem brodelnden Wasserbad gehoben wurde. Schließlich ließen wir die Gläser abkühlen und das Feuer ausgehen und entflohen in den Obstgarten, um Pflaumen zu ernten. Als wir in der Abenddämmerung erneut das Haus betraten, warteten dort neunzehn Liter Tomaten auf dem Tisch. Nur bei einem hatte der luftdichte Verschluß versagt. 305
Morgen werden wir Pflaumen einmachen, und tags darauf werden wir mit den Pfirsichen anfangen. Wir haben nur noch dreiundachtzig Deckel übrig, darum wird diese schweißtreibende Arbeit bald vorbei sein, und alles, was wir nicht mit einem Deckel verschließen können, wird in der Sommersonne liegenbleiben und verrotten. Ich wünschte, wir könnten alles jetzt aufessen und in der kalten Jahreszeit Winterschlaf halten. Wir hatten den Nachmittag damit verbracht, auf dem Bergrücken über dem Haus die wachsigen Früchte der Bärentraube zu ernten, die ich einzuweichen gelernt hatte, um daraus Saft zu gewinnen. Wir befanden uns auf dem Nachhauseweg, gingen schweigend durch den heißen Wald, genossen das Gewicht der prallen Beerensäcke auf unseren Rücken und den einen oder anderen Luftzug, der kam, um uns zu necken wie eine geisterhafte Brise. Ich dachte wieder einmal an das, was mich jetzt ständig beschäftigt – daran, wie sich unsere Speisekammer füllt. Ich schätzte das Volumen unserer Bohnenausbeute, kalkulierte den Bedarf an Mahlzeiten, plante, was ich als nächstes einmachen wollte. Da ließ Eva auf einmal ihren Sack fallen und drehte ab in den Wald. »Bin gleich wieder da«, sagte sie und folgte dem Plätschern des kleinen Bachs, der an dieser Stelle parallel zu unserem Pfad dahinfließt. »Ich will mich abkühlen.« »Warte auf mich«, bat ich und stellte meinen Sack neben ihren. 306
Die Sommerhitze hatte den Bach auf kaum mehr als ein Rinnsal reduziert, doch das Wasser an meinen nackten Füßen fühlte sich wie kalte Seide an. Ich stand im Schlick und Kies des Bachbetts und spürte die Strömung an meinen Knöcheln, spürte die Kühle an meinen staubigen Schienbeinen emporsteigen. Ich vergaß vorübergehend, Einmachdeckel zu zählen. Doch dann fiel mein Blick auf etwas, das die ganze Welt starr und still werden ließ. »Was ist denn?« fragte Eva, als sie mein erschrockenes Keuchen hörte. Wortlos zeigte ich auf einen Abdruck im reglosen Schlick. Er war breit und stumpf, kürzer als mein Fuß, aber breit wie meine gespreizte Hand – eine Fußspur mit dicker Ferse, gekrönt von fünf Zehenabdrücken. Mein erster Gedanke war: Er ist zurück. Ich erstarrte dort mitten im Bach wie ein vor Angst betäubtes Kaninchen, wartete darauf, daß der Nachmittag zerrissen wurde von einem letzten Schlag und Schrei. Dann sah ich am Ende der Zehen die Krallenabdrücke im Schlick und empfand überwältigende Erleichterung, daß kein Mensch diese Spur hinterlassen hatte. Doch gleich darauf wirbelte ich herum und horchte, suchte ich den Wald nach der neuen Gefahr ab, die er verbarg. Der Wald war unverändert. Er war so still und undurchdringlich wie eine Minute zuvor. Nur wir waren anders. »Bären?« flüsterte Eva. Ich nickte. »Ich glaub schon.« 307
»Ich dachte, die wären alle fort«, sagte sie und hielt sich den Bauch, als könne sie, indem sie ihn schützte, uns alle außer Gefahr bringen. »Ich dachte, die Bären wären gegangen, als die Siedler kamen.« »Ich nehme an, sie sind wieder da«, antwortete ich, richtete mich auf und eilte weiter. Was ist schlimmer? fragte ich mich, als wir mit unseren baumelnden Säcken voller Beeren nach Hause rannten – ein Bär oder ein Mann? Schwarzbär (Ursus americanus), der am häufigsten vorkommende Bär Nordamerikas und eines der größten Säugetiere. Früher genossen Schwarzhären die Vorzüge eines weiten bewaldeten Habitats. Erst in neuerer Zeit hat sich sowohl ihr Verbreitungsgebiet als auch ihre Zahl stark verringert. Wie der Mensch sind alle Bären Sohlengänger. Sie setzen den ganzen Fuß auf und hinterlassen eine Spur, die gewöhnlich die breite Sohle samt Ballen und in manchen Fällen die Krallen zeigt. Im Gegensatz zu seinem aggressiveren nordamerikanischen Verwandten, dem Grisly- oder Braunbär, greift der Schwarzbär nur selten Menschen an. Er zieht sich im allgemeinen lieber zurück, als die Konfrontation zu suchen. Der Schwarzbär ist ein Gemischtfresser; außer Kleintieren frißt er Insekten und unterschiedliche pflanzliche Nahrung. Bei entsprechender Gelegenheit plündert er gern Müllhalden und Campingplätze. In den nördlichen Breiten überwintert der Schwarzbär schlafend in einem Bau, ist jedoch im Gegensatz zu Tieren wie dem Backenhörnchen 308
oder dem amerikanischen Streifenhörnchen kein echter Winterschläfer. Gestern abend haben wir Rauch gerochen. Es war ein heißer Tag gewesen, heiß, weil jene drükkende spätsommerliche Hitze herrschte, die einem den Atem nimmt. Wir hatten es geschafft, sowohl morgens als auch nachmittags im Garten zu sein. Wir hatten die vorzeitig in Samen geschossenen Salatpflanzen herausgerissen und die Samen gesammelt, hatten zwischen Kartoffeln und Kürbissen Unkraut gejätet und die lechzenden Pflanzen gegossen. Wir hatten unser Abendessen aus dem Garten auf der Terrasse verspeist – Tomatenscheiben mit Basilikum, gekochte grüne Bohnen und Sommerkürbis – und trödelten noch eine Weile mit unseren Gläsern Bärentraubensaft draußen herum. Wir sahen zu, wie das Licht am westlichen Himmel verblaßte und versuchten ein Lüftchen zu erhaschen, ehe uns die Dunkelheit zurück ins heiße, abgesperrte Haus jagte. Wir beschlossen, am Morgen eine weitere Ladung Tomaten einzumachen, und ich machte mir schon wieder Sorgen um unseren schwindenden Vorrat an Einmachdekkeln. Ich fragte mich, was für ein Risiko wir eingingen, wenn wir versuchten, sie einfach wiederzuverwenden. Derweil fächelte Eva sich mit träger Hand Luft zu. Die Brise, nach der wir uns gesehnt hatten, setzte endlich ein – ein Lufthauch so schwach, daß er noch nicht 309
einmal unser Haar wehen ließ. Ich mußte unwillkürlich an den Herbst denken, an morgendliche Kühle, das goldene Licht, das gelbe Laub der Ahornbäume. Ich dachte über die Launen des Gedächtnisses nach, als die Brise zurückkehrte. Zunächst glaubte ich, es sei der unbeständigen Abendluft irgendwie gelungen, den Rauchgeruch vom Schornstein zu uns herabzuleiten, doch als ich den Geruch erneut wahrnahm, fehlte ihm der alte Teergestank, den selbst ein kalter Schornstein abgibt. Ich sprang auf, schnüffelte und ging in der hereinbrechenden Dunkelheit auf der Terrasse auf und ab. »Was ist?« fragte Eva. »Ich glaube, ich rieche Rauch«, sagte ich. In Windeseile war sie ebenfalls auf den Beinen und schnüffelte. Zwischendurch war ich sicher, daß wir uns alles nur eingebildet hatten, wurde ich ungeduldig oder gelangweilt und wäre gern endlich ins Bett gegangen. Doch da sagte die eine oder andere von uns jedesmal: »Da!«, und die Luft selbst schien sich vor Angst zu versteifen. »Meinst du, er ist zurückgekommen?« wollte Eva wissen. »Ist das sein Lagerfeuer?« Der Abend war so still, die Brise so unbeständig, daß es unmöglich war, die Richtung zu bestimmen, unmöglich, zu erraten, welche Entfernung der Rauch zurückgelegt haben mochte, ehe er uns erreichte. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich und ging das Gewehr holen. Da jedoch kam ich darauf, daß ein Waldbrand die schlimmste Bedrohung war, die es gab. Mit einem Mann ließ sich unter Umständen reden – oder 310
man konnte ihn erschießen. Einem Bären konnten wir auszuweichen versuchen. Ein spätsommerlicher Waldbrand dagegen würde alles zerstören, was wir brauchten, um überhaupt eine Überlebenschance zu haben. Er würde unser Haus und unseren Wassertank ruinieren, würde unseren Garten und all unsere Nahrungsmittelvorräte versengen. Ein spätsommerlicher Waldbrand würde uns auf Gedeih und Verderb dem Wald ausliefern. »Was sollen wir tun?« flüsterte ich Eva zu, nachdem wir beide »Da!« gesagt hatten, beinahe triumphierend, weil wir wieder den schwachen, beängstigenden Geruch wahrgenommen hatten. »Es gibt nichts, was wir tun könnten«, sagte sie, »außer abwarten und sehen, was passiert.« »Und wenn es ein Waldbrand ist?« »Dann gehen wir.« »Wo sollen wir denn hin?« fragte ich. »Erst einmal zum Bach«, antwortete sie, und ich stellte mir vor, wie wir zwei in den zwanzig Zentimeter kalten, schmutzigen Wassers unterzutauchen versuchten, während über uns und um uns herum auf allen Seiten der Wald brannte und loderte und Bäume umstürzen ließ. Es war schrecklich. Wir hatten Angst, nach Einbruch der Dunkelheit draußen zu bleiben, und zugleich hatten wir Angst hineinzugehen, wo wir die Brise nicht wahrnehmen konnten. Wir blieben zu beiden Seiten der offenen Vordertür auf der Terrasse sitzen, zuckten bei jedem nächtlichen Geräusch wie erschrockene Rehe zusammen, atmeten gierig ein, wann immer ein Luftzug vorbeiwehte, und warteten darauf, daß sich die Mond311
sichel von den Baumkronen löste, warteten darauf, daß das Feuer über uns kam. Ich sagte: »Vielleicht sollten wir versuchen, ein paar Sachen zu retten.« »Wie denn?« fragte Eva vom gegenüberliegenden Türpfosten her. »Wir könnten bestimmte Sachen zum Bach hinunterschaffen.« »Ja, aber was für Sachen?« fragte sie, und ich verstummte. Wir konnten nicht mitnehmen, was die Leute früher mitgenommen haben, wenn es brannte. Wir konnten weder die Fotoalben noch die Briefe der Familie mitnehmen, weder meinen Computer noch das Videogerät, weder Kunstwerke noch das ererbte Silber. Wir müßten mitnehmen, was wir brauchen. Aber es gibt nichts, was wir nicht bräuchten. Wenn wir überleben sollen, brauchen wir alles – jedes Gefäß und jeden Nagel, jedes Kleidungsstück, jeden Fetzen Papier und jeden Essensrest, den gesamten Schrott unseres Vaters. Und vor allem brauchen wir, was wir unmöglich zum Bach schaffen können. Wir brauchen den Holzofen, die Werkstatt, den Wassertank, Gemüse- und Obstgarten und den Lieferwagen. Wir brauchen das Haus. Wenn diese Dinge verbrennen, verbrennen wir am besten gleich mit, denn dann werden wir mit Sicherheit sterben. Darum blieben wir, wo wir waren, saßen an einem angenehmen Sommerabend auf unserer Terrasse, lauschten den Grillen, betrachteten den Mond und die Sterne und stellten uns Feuerwände vor, stellten uns knirschende 312
Bäume, hochschlagende Flammen und grausiges Licht vor. Bei Morgengrauen waren wir immer noch da, hingekauert unter den Decken, die ich geholt hatte, als die Wärme in der Luft endlich versickerte. Unsere Lichtung war nach wie vor grün, unser Garten gedieh, und das Haus stand auch noch. Doch der Hustenreiz auslösende Rauch war auch in der frischen Morgenluft noch unverkennbar, und als es heller wurde, sahen wir, daß der Himmel im Norden bräunlich verfärbt war. »Wenigstens ist es kein Lagerfeuer«, bemerkte Eva. Es war ein seltsamer Tag, beängstigend normal bis auf unsere Erschöpfung und die feinen weißen Ascheflocken, die wie Elfengebeine über die Terrasse verstreut lagen. Das Licht machte einen schweren, verhangenen Eindruck, doch es schien den ganzen Tag die Sonne. Als wir hinausgingen, um die reifen Tomaten zu pflücken, stand der Garten in seiner ganzen Pracht, und die Tomaten gaben sich bereitwillig unseren Händen hin, prall, scharf duftend und noch mit der nächtlichen Kühle im Fleisch. Als sich Eva jedoch hinkniete, um den Ofen zu befeuern, damit wir das Wasser zum Einmachen erhitzen konnten, zitterte ich vor Sorge. »Vielleicht sollten wir heute nicht einmachen«, sagte ich. »Wieso nicht?« fragte sie. »Weil wir sonst nicht merken, ob das Feuer näher kommt, wenn wir zusätzlich diesen Rauch riechen.« Darauf sagte sie: »Du hast wahrscheinlich recht.« Ich warf einen Blick auf die Tomaten, beladen mit dem 313
Versprechen, uns im nächsten Winter zu ernähren, und sagte verzweifelt: »Ach, ich weiß auch nicht. Vielleicht sollten wir doch weiter einmachen. Wir können sie doch nicht verrotten lassen.« »Wir könnten sie trocknen«, schlug Eva vor. »Trocknen?« »Wie Rosinen oder Pflaumen. Es wird heute wieder sehr heiß. Warum nicht die Sonne nutzen? Außerdem hast du dir wegen der Deckel so große Sorgen gemacht.« Sie war so seelenruhig, daß ich sie hätte erwürgen mögen. Natürlich konnten wir die Tomaten trocknen. Und die Äpfel. Und Aprikosen. Und Birnen. Und Pfirsiche. Und Pflaumen. Und warum nicht auch Zwiebeln und Paprika? Es wird fast bis zum Einsetzen des Winterregens heiß bleiben – trockene Hitze Tag für Tag. Wir könnten, wenn wir wollten, vermutlich sogar Kürbisfleisch und Mangold und rote Beete trocknen. Im hinteren Teil der Werkstatt stießen wir auf zwei Aluminiumdrahttüren, und als wir sie in den Sonnenschein hinausschleppten, fiel mir der Tag wieder ein, an dem unser Vater sie mit nach Hause gebracht hatte. »Andere Leute fahren auf die Müllkippe, um etwas loszuwerden, nicht um etwas zu holen«, hatte unsere Mutter gesagt, als er damit vorgefahren war. »Was um Himmels willen sollen wir mit den abgelegten Fliegenschutztüren anderer Leute anfangen?« »Aber Gloria«, protestierte unser Vater, begeistert von seinen Türen und seiner Frau, »Liebling! Das sind gediegene Türen, erstklassige Türen. Die Rahmen sind nicht verbogen, die Drahtgitter nirgends eingerissen. Wer die 314
weggeworfen hat, kennt entweder keine Moral oder ist ein Idiot. Außerdem dachte ich mir, daß sie für den Hühnerstall gut genug wären.« Das brachte meine Mutter lange genug zum Schweigen, daß er sie in seine Werkstatt verfrachten konnte, und da waren sie geblieben, verloren hinter anderen, neueren Objekten liebevoller Streitereien meiner Eltern, bis wir sie hervorholten, um mit ihrer Hilfe unsere Nahrung für den Winter zu konservieren. Gemeinsam spülten Eva und ich den Dreck und die Spinnweben fort und ließen die Türen auf der Terrasse zurück, während wir hineingingen, um die Tomaten in Scheiben zu schneiden. »Je dünner die Scheiben, desto schneller trocknen sie«, sagte Eva mit plötzlicher Autorität, und darum schnitten wir sie dünn. Wir verteilten die Scheiben reihenweise wie Münzen auf die Drahtgitter und gingen dann in den Garten, um zu arbeiten. Als wir mittags zurückkamen, waren die Wespen in Schwärmen über die Tomaten hergefallen, und ihr Saft hatte angefangen, das Gitter zu zersetzen. »Wir müssen eine Unterlage finden, die sie vor dem Metall schützt, und etwas zum Bedecken, das die Insekten abhält«, stellte ich fest. »Und was nehmen wir dafür?« »Ich weiß auch nicht. So was wie Mull oder Gaze.« »Bettlaken?« »Zu dicht. Da kann die Luft nicht unter ihnen zirkulieren, und sie bekommen nicht genug Sonne ab.« »Ich weiß was«, entgegnete Eva und rannte ins Haus, 315
während ich mich dranmachte, die verfärbten Tomaten vom korrodierten Aluminium zu kratzen. Als Eva zurückkam, schleppte sie einen langen Kleidersack hinter sich her. »Wie wär’s damit?« fragte sie und zog den Reißverschluß des Sackes auf. Zum Vorschein kam das Hochzeitskleid meiner Mutter mit seinen Röcken aus vielen Metern weißem Tüll und Voile. »Wir könnten den Netzstoff unter die Scheiben legen – und sie damit zudecken.« Ich zog das Kleid aus seinem verstaubten Sack und erinnerte mich, als ich es hochhielt und beim Anblick des weißen Stoffs die Augen zukniff, an eine Zeit in unserer Kindheit, als wir beide behauptet hatten, dies sei das Kleid, das wir zu unserer eigenen Hochzeit anziehen wollten. »Ich weiß nicht«, sagte ich und gab es ihr zurück. »Würde es nicht auch bloß am Gitter festkleben? Diese Tomaten sind ziemlich saftig.« »Ach ja«, antwortete Eva. Sie hielt sich unbewußt das Kleid an die Schultern und strich es über ihren Hüften und ihrem geschwollenen Bauch glatt. »Und wenn wir Rahmen aus Holz bauen und das Netz draufspannen?« Ich hob den Saum des Kleides an, befühlte mit meinen mit Erde beschmutzten Händen den duftigen Stoff und erinnerte mich, daß die berühmten Gobelins des Zyklus »Die Dame mit dem Einhorn« während der Französischen Revolution von Bauern benutzt worden waren, um ihre Kartoffelernte vor dem Erfrieren zu bewahren, und daß nach der Reformation Mauersteine aus den Kathedralen 316
Englands zu Schweineställen und Türpfosten verarbeitet und Bücher aus den Klosterbibliotheken auf den Aborten Seite für Seite auseinandergerissen wurden. Ich blickte zu der vom Rauch geröteten Sonne auf. Dann ging ich ins Haus, um die Schere zu holen. Den ganzen Nachmittag arbeiteten wir, durchsuchten die Bauholzvorräte unseres Vaters nach geeigneten Brettern, maßen Rahmen aus, schnitten sie zu, zimmerten sie zusammen und spannten den Tüll darüber. Nur hin und wieder hielten wir inne, um schnüffelnd die beißende Luft einzuatmen und den Wald abzusuchen. Das Feuer blieb unsichtbar, doch seine Existenz bestimmte unsere Arbeitsweise. Wir schnitten mit neuem Eifer Tomaten in Scheiben, breiteten Netzstoff aus und richteten die Trockengestelle nach der Sonne aus. Bis die Sonne die Lichtung verlassen hatte, waren unsere Finger runzlig und schmerzten von der Säure der Tomaten. Die ersten Scheiben, die wir ausgelegt hatten, waren auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft. Sie lagen wie eingetrockneter Schorf auf dem fleckigen Tüll des Hochzeitskleides unserer Mutter, fühlten sich jedoch ledrig an und schmeckten, als wir daran knabberten, köstlich und intensiv: ein Konzentrat aus Tomate und Sonnenschein, das mit Sicherheit die nassesten Wintertage aufhellen wird. Wir trugen die Gestelle über Nacht ins Haus, schlossen die Hennen ein, aßen kalt zu Abend und ließen uns wieder zur Nachtwache auf der Terrasse nieder. Wir waren überzeugt gewesen, daß der Rauchgeruch nachließ, doch als der zunehmende Mond stumpfrot 317
an einem Sternenlosen Himmel aufging, erschien es immer noch unausweichlich, daß ein ähnlich blutiges Glühen am nächsten Morgen auch unsere Lichtung erfaßt haben würde. Dennoch nickte Eva nach einer schlaflosen Nacht voller Sorge und einem arbeitsreichen Tag bald ein. Ich dagegen empfand eine schneidende Erschöpfung, die über Schlaf so weit hinausgeht, daß Schlaf unmöglich erscheint. Darum hielt ich noch lange die Augen offen und suchte im Dunkeln nach Anzeichen des Brandes. Als ich erwachte, war der Mond weiß. Die Lichtung war in den endlosen Samt einer Sommernacht gehüllt, und das einzige Feuer, das ich ausmachen konnte, war das ferne Brennen der Sterne. Ich warf einen Blick auf Eva und sah, daß sie selbst im Schlaf ihren Bauch mit beiden Armen umfing. Ich schnupperte, konnte in der Luft jedoch keinen Rauch mehr riechen, nur den sauberen, herben Duft von Fichte, Lorbeer und Tau. Offenbar war die Gefahr vorbei, und wir werden wohl nie erfahren, wie nahe das Feuer daran war, unser Leben auszulöschen. Die Erntezeit im Garten nähert sich ihrem Ende. Wir haben jeden Einmachdeckel benutzt, den wir haben, und auf den Regalen in der Speisekammer stehen dicht an dicht Gläser mit Tomaten, grünen Bohnen, roten Beeten, Pflaumen, Apfelbrei, Pfirsichen, Aprikosen, Kürbis und Birnen. Von der Decke hängt an Schnüren aufgereihtes 318
Trockenobst, getrocknete Paprikaschoten, Bohnen und Sträuße mit Kräutern aus dem Wald. Ein zerschlissener Nahrungsmittelsack ist mit Trockenzwiebeln gefüllt, ein zweiter mit unserer mageren Ausbeute an getrocknetem Mais. Die Winterkürbisse sind in einer Ecke der Speisekammer aufgestapelt, und neben ihnen steht ein Karton voller Kartoffeln. Es sieht nach einer Menge Essen aus, aber wenn ich überlege, wieviel wir essen, kommen mir Bedenken, ob diese Speisekammer wirklich voll genug sein kann, um uns am Leben zu erhalten. Rund anderthalb Kilometer östlich von uns lichtet sich der Wald. Erst verschwinden die Mammutbäume, dann lichten sich langsam die Reihen der Fichten und Ahornbäume. Schließlich werden die Erdbeer- und Lorbeersträucher weniger, und das Gelände öffnet sich, verläuft horizontal auf einem breiten, nur mit Eichen bewachsenen Grat – immergrünen Eichen, die allenthalben so gewichtig dastehen, daß sie eher wie Denkmäler wirken, weniger wie Bäume. Außerhalb des dichten Waldes werden sie riesengroß, die Stämme dick, die Zweige mit raumgreifender Anmut über das goldene Grasland gebreitet. Es handelt sich um alte, stille Bäume mit harten, welligen Blättern und Büscheln honigbrauner Früchte. Dorthin sind wir gegangen, um zu lernen, wie man Eicheln erntet. Wer Eicheln sammeln will, muß kriechen. Man muß sich auf alle Viere niederlassen wie ein Tier oder ein Bittsteller und durch den Staub und das lockere Erdreich kriechen, muß auf Händen und Knien am Boden ent319
langkriechen und zwischen den scharfkantigen Blättern und leeren Bechern nach reifen Eicheln suchen. Dazu gehört mehr Geschick, als ich es mir vorgestellt hatte. Gestern hatte ich einen ganzen Sack voll, bevor ich darauf kam, daß selbst ein winziger, nadelfeiner Einstich in der Schale einer Eichel bedeutet, daß sich drinnen ein kleiner weißer Wurm windet. Heute morgen mußte ich deshalb jede Eichel auf Löcher untersuchen, ehe ich sie in meinen Sack stecken konnte. Aber schon am Nachmittag konnte ich bereits in den meisten Fällen die Brauchbarkeit einer Eichel daran erkennen, wie sie sich anfühlte, wenn ich sie aufhob. Unsere Hände arbeiten flink, kommen jedoch langsam voran. Einen Baum zu umrunden kann Stunden sorgfältiger Arbeit in Anspruch nehmen, angefangen am Stamm und dann spiralförmig nach außen weg bis zur Fallgrenze. Es ist heiß und staubig, anstrengend für Rücken und Knie. Aber es hat einen Rhythmus, langsam und träumerisch. Nach einer Weile ist es fast wie ein Gebet. Die Grillen zirpten, daß man meinte, den Tag selbst atmen zu hören, ein Ein- und Ausatmen in der Hitze, ein unaufhörlich sich wiederholendes Dehnen und Zusammenziehen. Manchmal erlebten wir den Segen einer Brise. Hoch am Himmel über uns kreisten drei Bussarde und schwebten so elegant dahin, daß ich mir fast vorstellen konnte, daß Aas fressen etwas Weihevolles hat. Lange Zeit arbeiteten Eva und ich, ohne ein Wort zu verlieren, und füllten unsere Leinensäcke und Kopfkissenbezüge. Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, waren alle unsere Behälter randvoll mit Eicheln. 320
Wir lehnten uns mit dem Rücken an den Stamm der Eiche, unter der wir gearbeitet hatten, aßen gekochte Eier und Äpfel und blickten hinaus auf das stille, von der Sonne getrocknete Hügelland. »Wir könnten die einzigen Menschen sein, die es noch gibt auf der Welt«, sagte Eva mit einer Stimme, die weder Angst noch Traurigkeit signalisierte. Ich nickte ein wenig verträumt und antwortete im gleichen Tonfall: »Kann schon sein.« Ich träume von dem Bären. Wieder kommt er watschelnd aus dem Wald. Wieder trottet er auf mich zu. Ich schwitze zwar auch diesmal vor Angst, aber meine Angst ist anders beschaffen, und ich erkenne, daß ich entweder nicht damit rechne, bei der Begegnung umzukommen, oder daß mir der Gedanke zu sterben nicht ganz so unangenehm ist wie früher. Wieder beugt sich der Bär über mich. Wieder reißt er über meinem Gesicht das Maul auf, so weit, daß mein ganzer Kopf in seinem Rachen verschwindet und ich in den finsteren Tunnel seiner Kehle hinabschaue. Doch diesmal spüre ich, wie seine Zahnreihen durch meinen Hals hindurch aufeinandertreffen, und weiß, daß er mir den Kopf abgebissen hat. Und als er das Maul von meinen nun unbeschwerten Schultern abhebt, kann ich die Welt sehen wie eh und je – und das mit nie geahnter Klarheit. Da denke ich: Wie mühevoll es doch war, meinen Kopf so lange mit mir herumschleppen zu müssen. 321
Die Eicheln der meisten Eichen enthalten Gerbsäure, einen natürlichen Konservierungsstoff, der jedoch dafür sorgt, daß, die Kerne unangenehm bitter schmecken. Um die Mehrheit aller Eichelsorten für den Menschen genießbar zu machen, muß darum eines von mehreren Verfahren angewandt werden, um das Tannin aus dem Fruchtfleisch zu entfernen. Eine frische Eichel schmeckt wie Ohrschmalz. Sie zieht einem die Zunge zusammen, regt den Speichelfluß an und hinterläßt einen bitteren Geschmack, der noch lange anhält, nachdem man sie ausgespuckt hat. Es dauerte mehrere Tage, bis ich eine Methode ausgearbeitet hatte, die Eicheln zu trocknen, zu schälen, zu häuten, zu zerstoßen, auszulaugen und zu kochen. Anfangs zerkleinerte ich die geschälten Eicheln mit dem Hammer, dann versuchte ich, sie mit Mutters marmornem Nudelholz auf einem flachen Stein zu zermahlen. Aber beim Mahlen wird aus den Eicheln eine Paste, die sich nicht auslaugen läßt, weil Wasser nicht durch sie durchsickert. Schließlich wechselte ich das Nudelholz gegen einen der Stahlkeile aus, die Vater zum Spalten von Holzscheiten benutzt hatte. Mir tun immer noch die Arme weh, und meine Hände sind mit Blasen und blauen Flecken bedeckt, nachdem ich stundenlang mit dem flachen Ende des Keils Eicheln zerstoßen habe. Immerhin aber wurde meine Anstrengung mit einem Literglas Eichelmehl belohnt, das nur ein wenig körniger ist als grob gemahlenes Maismehl. Zum Auslaugen habe ich einen alten Kaffeefilter genommen, durch den ich immer wieder kochendheißes 322
Wasser laufen ließ, bis die teefarbene Flüssigkeit, die aus dem Filter tropfte, klar wurde und das Mehl mild schmeckte, fast ohne Eigengeschmack, wie ungesalzene Bohnen. Anschließend habe ich das ausgelaugte Mehl mit frischem Wasser angerührt und so lange ziehen lassen, bis der Brei weich war. Ich bin sicher, daß ein Pomo-Indianer über meine Methoden gelacht hätte, muß aber zugeben, daß ich stolz war, als Eva und ich uns gestern abend zum Essen hingesetzt haben. Wir hielten uns über die dampfende Schüssel hinweg einen Augenblick bei den Händen, und dann aßen wir. Es war zugleich mild und deftig wie Reis oder Brot und schmeckte ein wenig nach Nüssen, ein wenig nach Erde – eine Kost, so dauerhaft wie die Eiche selbst. Anfangs schauderte mir, wenn ich eine Eichel durchschnitt und darin einen zappelnden Wurm vorfand. Dann las ich, daß bei den Pomo Würmer als Delikatesse galten, und nun schäme ich mich, wenn ich sie herausschneide. Ach, wenn ich doch die Larven essen könnte, die in meinen Träumen Tod bedeuten. Ach, wenn ich es doch über mich brächte, hineinzubeißen, sie zu kauen und hinunterzuschlucken. Ich möchte lernen, Würmer zu essen.
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Oberhalb des Mammutbaumstumpfs haben wir ein Gehölz aus Flachlandeichen entdeckt, und die sind mit den dicksten Eicheln beladen, die wir je gesehen haben. Als wir sie jedoch nach Hause zu schaffen versuchten, erwies sich die Wanderung als so anstrengend, daß wir völlig erschöpft waren, nachdem wir einen Tag lang immer wieder den Hang hinauf- und herabgestiegen waren. Davon abgesehen hatten wir nicht halb soviel gesammelt, wie wir erhofft hatten. Wir waren fast schon soweit, uns mit der magereren, wurmstichigeren Ausbeute aus der näheren Umgebung zu begnügen, als Eva vorschlug, die Eicheln im Wald zu trocknen und im Mammutbaumstumpf zu lagern, bis wir sie im kommenden Winter brauchten. So haben wir einen Vormittag darauf verwendet, unsere Trockengestelle hinauf zum Baumstumpf zu schaffen, zusammen mit acht Hundertlitertonnen aus Kunststoff, die wir früher zur Aufbewahrung all dessen benutzt hatten, was wir für Müll hielten. Ich glaube, daß wir seit unserem zwölften oder dreizehnten Lebensjahr nicht mehr gemeinsam zum Baumstumpf gegangen waren, und als wir versuchten, Evas vorstehenden Bauch und die erste Ladung Gerätschaften den Hang hinaufzuschaffen, fühlte ich mich seltsam unsicher, beladen mit zu vielen Erinnerungen und verwirrt durch das, was an der Gegenwart neu war – durch meine schwangere Schwester, die hinter mir her keuchte, wegen unseres dringenden Bedarfs an Eicheln. Als ich schließlich den Baumstumpf erreichte, widerstrebte es mir, in das Heiligtum einzudringen, das Eli und 324
ich daraus gemacht hatten. Doch als ich noch zögerte, kam Eva schwer atmend oben an. Sie warf stöhnend ihre Last ab, rieb sich die breite Wölbung ihres Bauchs und sah sich um. »Ich denke, es wird gehen«, sagte sie, »nur müssen wir wohl einige von diesen Schößlingen zurückschneiden, damit genug Licht zum Trocknen einfällt. Was hast du mit Eli hier droben gemacht, noch mehr Bäume gepflanzt?« Wir lachten wehmütig, und dann machte sich Eva wieder auf den Heimweg, um noch mehr Tonnen zu holen. Ich blieb zurück, um drei der dürren Fichten zu fällen, die den Platz vor dem Baumstumpf einnahmen. Als sie nacheinander umstürzten und dabei durch das Gewirr der Äste krachten, erweiterte sich jedesmal das Firmament, und etwas mehr Licht drang in die Schneise ein. Als Eva wiederkam, hatte ich bereits in einem neuen Flecken Sonnenschein die Trockengestelle ausgelegt. Wir arbeiteten den ganzen Nachmittag über, sammelten Eicheln, legten sie auf den Rosten aus, trugen die Trockengestelle hinter dem wandernden Sonnenschein her. Einmal stießen wir unterwegs auf Brombeerbüsche, die noch mit Früchten beladen waren. Wir ernteten einen Korb voll und breiteten, was wir nicht essen konnten, neben den Eicheln zum Trocknen aus. Die Luft wurde diesig und kühlte sich ab. Plötzlich brach die Abenddämmerung herein, und wir hatten das Bedürfnis, aus dem Wald herauszukommen und nach Hause zu gehen. Wir schütteten die Eicheln in eine der Tonnen, um sie vor dem Tau zu schützen, doch die Beeren 325
waren noch zu saftig und ließen sich nicht umschütten, ohne sie zu zerquetschen. »Dann lassen wir sie eben die Nacht über draußen liegen«, sagte Eva. Sie beugte sich über das Gestell und zerdrückte zwischen purpurnen Fingern erst eine, dann noch eine Beere. »Der Tau wird ihnen nicht viel schaden, aber wenn wir jetzt versuchen, sie zu bewegen, verderben wir sie.« »Werden sie dann nicht die Eichhörnchen oder die Vögel holen?« fragte ich. »Nachts? Gleich morgen früh sind wir wieder hier.« Wir brachen auf, ehe die Finsternis noch dichter wurde. Bald nach dem Morgengrauen kletterten wir wieder den Hang hinauf, keuchend und lachend trugen wir Tassen, Teller und einen Kochtopf mit Asche und lebendiger Glut durch den hellen Frühnebel. Wir hatten vor, am Lagerfeuer, das wir entfachen wollten, unser Frühstück aus Pfefferminztee, Eichelbrei und Brombeeren einzunehmen, und fühlten uns, glaube ich, fast so unbeschwert wie die Kinder, die wir einst gewesen waren, glücklich, wieder miteinander im Wald zu spielen. Ich erreichte unsere neue Lichtung einen Schritt vor Eva und schnappte nach Luft, zu erschüttert, um kehrtzumachen und davonzulaufen. Die Trockengestelle waren in alle Richtungen durcheinandergeworfen, ihre Bespannung hing in Fetzen herunter, und ihre Rahmen waren verbogen und gesplittert. Auf dem Waldboden lagen einzelne Beeren verstreut. Wir drängten uns aneinander. Der Wald war still, bis auf das 326
vertraute Zwitschern der Meisen. Ohne die zerstörten Trockengestelle als stumme Zeugen der Gewalt hätte man annehmen können, es gebe hier keinen Bären. Nun mußten wir eine Wahl treffen, eine Entscheidung über unser Leben, über die Risiken, die es wert waren, eingegangen zu werden. Wir mußten entscheiden, wovor wir am meisten Angst haben mußten. Wir mußten zwischen unserer Angst vor winterlicher Hungersnot und unserer Angst vor einem Schwarzbär im Frühherbst wählen. Wir mußten unsere Vorstellungen vom düsteren Nieseln des Winters – wenn die Speisekammer leer und wir gezwungen waren, Schuhleder abzukochen und Baumrinde zu essen – gegen die Krallen und Muskelkraft eines Bären abwägen. Am Ende entschieden wir uns, uns vor dem Winter zu fürchten. Im Lexikon steht, daß Schwarzbären scheu sind, sagten wir. Da steht, daß sie nur im Frühjahr aggressiv sind, wenn sie Hunger haben und ihre jungen noch klein sind. Wir müssen nur dafür sorgen, daß wir nicht noch einmal etwas Eßbares über Nacht draußen stehenlassen. Obwohl wir logische Argumente und komplizierte Rechtfertigungen dafür erfanden, war es wohl nicht die Logik, die uns schließlich überzeugte, sondern die Tatsache, daß es so angenehm war, draußen im Wald zu sein, Eicheln zu sammeln, Beeren zu trocknen, unsere Wildkräutertees zu trinken und auf dem Feuer, das Eva tagsüber vor dem Baumstumpf anzündete, unsere Mahlzeiten zuzubereiten. Jeden Morgen eilen wir nun, nachdem wir unsere Arbeit 327
im herbstlichen Garten erledigt haben, in den Wald. Den Bach nahe dem Baumstumpf haben wir an einer Stelle zum Becken erweitert, um dort Wasser zu holen – das wir grundsätzlich abkochen, bevor wir davon trinken –, und in gebührender Entfernung zum Bach haben wir eine Latrine gegraben. Den ganzen Tag lang sammeln und trocknen wir Eicheln, und am Abend füllen wir unsere Ernte in die Tonnen. Wir befestigen die Deckel mit elastischem Seil, versperren den Eingang mit Sperrholzbrettern, und wenn wir in der Abenddämmerung nach Hause gehen, den Hang hinab durch den Wald, der schon so wild geworden ist, daß er einen Bären beherbergt, erfaßt mich insgeheim freudige Erregung. Auf unergründliche Art fühle ich mich heute weniger allein. Vor ein paar Tagen sind wir mit der Ernte fertig geworden. Als Lohn für unsere Arbeit haben wir fünf Tonnen Eicheln und eine Vierteltonne getrockneter Brombeeren vorzuweisen. Wir haben entschieden, sie fürs erste im Baumstumpf zu lassen und die anderen beiden Tonnen mit Trockennahrung aus der Speisekammer zu füllen. So haben wir, was auch geschieht, immer noch unser Vorratslager im Wald. Auch nur eine Tonne Eicheln zu besitzen ist ein unermeßlicher Reichtum. Als wir den letzten Sack in die fünfte Tonne geschüttet hatten, beugte ich mich darüber, fuhr mit den Händen zwischen die glatten, kühlen Früchte, bis meine Arme bis zu den Ellenbogen 328
darinsteckten, und legte die Wange gegen die Eicheln, wie um sie zu umarmen. Ich atmete ihren schwachen Staub ein, dachte an den Regen, die Finsternis und den Hunger, denen sie Einhalt gebieten würden, und war auf einmal furchtbar stolz. Die schönen Tage dauern an, obwohl sie kürzer und kühler geworden sind – ein Altweibersommer vor dem Einsetzen der winterlichen Regenfälle. Die Hennen haben vor einer Weile zu legen aufgehört, und der Garten gibt so gut wie nichts mehr her außer ein paar wäßrigen Tomaten, ein paar späten Paprikaschoten und ein wenig Mangold. Sämtliche Tonnen im Baumstumpf sind mit Lebensmitteln gefüllt, ein Vorrat, von dem ich hoffe, daß er uns durch den Winter bringt. Ich habe die letzten zwei Tage damit verbracht, ein Dach aus Sperrholz und Wellblech darüberzuziehen. Nun sieht der Stumpf wie der Schuppen eines Landstreichers aus, nicht wie die Wohnstätte der Elfen, zu der wir ihn früher erklärt hatten. Evas Bauch entwickelt langsam ein Eigenleben. Wo einst eine ausschließlich aus Muskeln bestehende Fläche war, wölbt sich nun eine feste Kugel. Manchmal kann ich unter den Arbeitshemden, die sie trägt, ihren ganzen Bauch hüpfen sehen. »Es ist tänzerisch begabt«, sagt sie lachend, »trainiert seine frappés.« Doch die Bewegungen in ihrem Bauch machen mich so krank wie die Schlammlöcher, die wir bei einem Besuch im Yellowstone National Park gesehen haben, als ich acht Jahre alt war, wie der 329
träge, heiße, stumpfsinnig brodelnde Morast, der eher bedrohlich als lebendig gewirkt hatte. Neuerdings klagt sie häufiger, daß sie sich krank fühle. Sie ist blaß und müde und ißt nicht viel. Sie sagt, daß ihr dauernd schlecht sei. Wenn ich ihr dann Pfefferminztee braue, lächelt sie und behauptet, daß es ihr schon ein wenig besser gehe. Vielleicht ist mehr Zeit vergangen, als ich angenommen habe. Vielleicht wird sie schon bald gebären. Ich habe mich heute Abend endlich dazu durchgerungen, zu lesen, was im Lexikon über Abnorme Veränderungen während der Schwangerschaft und Komplikationen im Kindbett geschrieben steht. Ich habe mich über Schwangerschaftsdiabetes, Herzversagen, Eklampsie, Epilepsie, plazentare Zysten, Plazentitis, hydatidiforme Auswüchse, Toxämie, Hypertonie, Polyhydramnie, Placenta praevia, Abruptio placentae und Placenta accreta informiert. Ich habe über Frühgeburt nachgelesen, über Steißgeburten, Beckenend- und Querlage, Nabelschnurkomplikationen, Mißverhältnisse zwischen Kindsschädel und Beckenausgang, zervikale Ödeme, erschwerte Entbindung bei Steißlage, Dystokie bei Schulterlage, Uterusruptur und Gebärmuttervorfall, fetale Notlagen, Plazentarretention, Nachblutungen und Atemstillstand beim Neugeborenen. Als ich anfing, saß ich Eva gegenüber am Tisch, aber schon nach ein, zwei Absätzen mußte ich aufstehen und auf Distanz zu ihr gehen, hinaus auf die Terrasse, wo ich in Kälte und zunehmender Dunkelheit dasaß und mit Faszination und Entsetzen las. 330
Es wäre mir nie eingefallen, daß Kinderkriegen so eine riskante Sache ist. Ich kann nicht aufhören, daran zu denken. Es ist wie das Jucken, nachdem man mit Giftsumach in Berührung gekommen ist – wenn man versucht, es durch Kratzen zu lindern, verschlimmert das nur die Beschwerden. Gestern abend habe ich direkt vor der Tür eine gewaltige Ladung Feuerholz gestapelt und habe aus Decken und einer Kommodenschublade ein kleines Nest für ein Neugeborenes gebaut. Anschließend nahm ich mir in dem verzweifelten Bemühen, mich auf die Aufgaben einer Geburtshelferin vorzubereiten, erneut das Lexikon vor. Ich überflog die Abbildungen der weiblichen Geschlechtsorgane und Abschnitte mit Titeln wie Anatomische und physiologische Veränderungen an nicht der Fortpflanzung dienenden Organen und Geweben während der Schwangerschaft. Erst der Begriff Anämie erregte meine Aufmerksamkeit: Kommt es im zweiten oder dritten Schwangerschaftsabschnitt zu Erschöpfungszuständen und Übelkeit, besteht Verdacht auf Anämie; Typus und Schweregrad einer Eiseninsuffizienz können jedoch nur durch Hämatokritbestimmung festgestellt werden. Bei der anämischen Schwangeren ist das Risiko einer Problemgeburt stark erhöht; außerdem neigt sie zu Nachblutungen. Makrozytische Anämie, hervorgerufen durch einen ernährungsbedingten B12-Mangel, wird als Ursache für Hirnund Nervenschäden beim Neugeborenen verantwortlich 331
gemacht. Da jedoch B12 in fast allen Molkereiprodukten und Fleischsorten in ausreichender Menge enthalten ist, stellt dieser Typus von Anämie nur bei streng vegetarischer Ernährung eine Gefahr dar. Meine Genugtuung glich jener, die ich einst beim Einsetzen des letzten Stücks in ein Puzzlespiel empfunden hatte – wir haben, seit wir irgendwann im vergangenen Winter die letzte Dose Thunfisch aufgegessen haben, kein Fleisch mehr zu uns genommen. Eier gibt es seit fast einem Monat auch keine mehr. Und Eva ist kränklich, blaß und teilnahmslos. Problemgeburt. Nachblutungen. Hirn- und Nervenschäden beim Neugeborenen. Wenn es sein muß, könnte ich mich wohl überwinden, Bathsheba oder Pinkie zu schlachten. Aber sie sind mit der Zeit so etwas wie Freunde geworden, und wieviel B2 kann schon in einer einzelnen alten Henne drinstecken? Sowohl wildlebende Hausschweine als auch Wildschweine gehören der Gattung Sus scrofa an, die sich vor rund dreißig Millionen Jahren in Indien herausgebildet hat. Obwohl Columbus bei seiner zweiten Fahrt 1493 Schweine dabei hatte, waren die Konquistadoren die eigentlich Verantwortlichen für das Einbringen von Schweinen in die Neue Welt. Als zahme spanische Schweine in die amerikanische Wildnis entkamen, paßten sie sich rasch ihrer neuen Umwelt an. Sie büßten binnen weniger Generationen die Merkmale ein, die sie als Hausschweine 332
auswiesen, und kehrten zurück zu den aufrechten Ohren, der langen Schnauze, dem geraden Schwanz, den breiten Schultern und den vorstehenden Hauern ihrer wilden Vorfahren. Wildschweine sind aggressiv, scheinen jedoch den Kontakt mit ihren Artgenossen zu genießen. Sie sind intelligent, haben einen scharfen Geruchssinn und ein ausgezeichnetes Gehör und sind bemerkenswert flink. Wildschweine sind Allesfresser und konsumieren eine Vielfalt an pflanzlichen Stoffen, aber auch Schnecken, Schlangen, Mäuse, Insekten, Eier und Aas sowie bestimmte Erd- und Gesteinsarten, denen sie Mineralien und andere Nährstoffe entziehen. An einem Wildschwein wäre eine Menge Fleisch dran – wesentlich mehr als an einem kolumbischen Hirsch. Geeignete Stücke davon geräuchert oder im letzten Rest herbstlichen Sonnenscheins getrocknet, ließen uns an einem Wildschwein lange zehren. Außerdem ist an einem Schwein wenig Liebenswertes dran – sie sind häßlich und grob, entwurzeln Knollen und graben Schlammlöcher ins Bachbett. Es wäre anders, wenn man ein Reh mit sanften Augen und anmutigen Beinen töten müßte. Ich glaube, ich könnte ein Schwein erlegen. Ich glaube, ich muß es versuchen. Ein Wildschwein zu erlegen ist schwerer, als es sich anhört. Ich muß wohl angenommen haben, daß ich, nachdem 333
ich mich einmal dazu entschlossen hatte, nur noch das Gewehr zu nehmen brauchte, mit dem ich nie auf etwas anderes als auf Einmachgläser geschossen hatte, um damit einen kleinen Spaziergang zu unternehmen und das nette, hilfsbereite Schweinchen zu erschießen, das am Wegesrand auf mich wartete. Statt dessen wanderte ich den ganzen Tag nervös und schreckhaft durch den Wald und bekam außer Spatzen und Eichhörnchen nichts zu Gesicht. Das Gewehr unbeholfen über die Schulter gelegt, kletterte ich die steilen Hänge hinauf und hinunter, bahnte mir meinen Weg durch das Gewirr der Bäume und hielt Ausschau nach den Schweinen, die zusammen mit den ersten Europäern diesen Wald betreten hatten. Ich folgte den schmalen Einschnitten der Wildpfade und fand doch nichts als Bäume. Schließlich setzte ich mich hin, wo ich ging und stand – auf halbem Weg den Hang hinauf. Ich saß mit dem Gewehr an meiner Seite da und versuchte wie eine Jägerin zu denken, versuchte wie ein Schwein zu denken. Lange saß ich so da, beobachtete Lichtflecken, die am laubbedeckten Boden auftauchten und verblaßten, und lauschte dem Klopfen eines Spechts in der Ferne. Ich wäre am liebsten aufgestanden und nach Hause gegangen. Ich dachte: Ich kann das nicht. Doch eine unvermutete Trägheit veranlaßte mich, sitzen zu bleiben. Schließlich erhob ich mich doch, kletterte den Hang hinauf und an unserem Baumstumpf vorbei bis an den kleinen Bach. Ich wanderte stromaufwärts, bis ich zu der Suhle gelangte, an die ich mich zu erinnern geglaubt hatte. Es handelte sich um ein Loch, das so groß war wie 334
eine altmodische Badewanne, und der schwarze Morast in der Mitte war von den gespaltenen Abdrücken der Schweinehufe aufgewühlt. Ich versteckte mich in einem Dickicht aus Haselnußsträuchern, bis das Licht zu schwinden begann, doch es kam bis auf einige spät geschlüpfte Stechmücken nichts. Am nächsten Tag war ich vor Sonnenaufgang wieder da. Im ersten blassen Licht versteckte ich mich wieder zwischen den Haselnußsträuchern, fest entschlossen, auf ein Schwein zu warten. Ich verharrte dort bis Mittag in der Hocke, bis meine nervöse Unruhe gekommen und gegangen und wiedergekommen war wie ein Fieber, das steigt und fällt und erneut ansteigt, bis die Schneefinken genug Zutrauen gefaßt hatten, um mir zu Füßen ihren Geschäften nachzugehen. Einmal hörte ich ein fernes Krachen. Adrenalin jagte durch meinen Körper, aber es passierte nichts weiter. Das Krachen entfernte sich seitwärts und verhallte. Ich blieb sitzen, bis mir der Po weh tat, der Rücken steif war und die Beine schmerzten, doch es tat sich nichts. »Vielleicht werden sie erst nachts munter«, sagte Eva beim Abendessen. »Keine Ahnung. Im Lexikon steht nichts darüber.« »Warum läßt du’s nicht sein?« fragte sie lustlos. »Wir haben genug anderes Zeug zu essen.« Sie stocherte in ihrem geschmorten Kürbis mit Tomatenscheiben und Apfelbrei herum, während ich aß. Schließlich schob sie mir ihren Teller hin und fragte: »Möchtest du das? Mir ist ein bißchen komisch.« 335
Ich dachte: Problemgeburt. Nachblutungen. Hirn- und Nervenschäden beim Neugeborenen. Und sagte: »Vielleicht riechen sie mich.« Am nächsten Morgen marschierte ich mit dem T-Shirt, in dem ich geschlafen hatte, hinauf zur Suhle. Es war ein T-Shirt von meinem Vater, formlos und weich vom jahrelangen Tragen, und es roch angenehm nach meinen eigenen nächtlichen Ausdünstungen. Ich breitete es sorgfältig über den Schlamm in der Suhle und entfernte mich. Tags darauf lag es immer noch ausgebreitet und flach auf dem Schlamm. Allerdings war bräunliches Wasser in den Stoff eingesickert und hatte sich ausgebreitet wie Schimmel. Ich sah es einen Augenblick unverwandt an, ehe ich kehrt machte und, gepeinigt von dem Gefühl, versagt zu haben, wieder fortging. Als ich am nächsten Morgen an der Suhle ankam, war ich so auf eine weitere Enttäuschung gefaßt, daß ich zunächst vermutete, das Hemd sei schlicht verschwunden. Da jedoch fiel mir das in den Schlamm getretene Stoffbündel auf. Sekundenlang empfand ich es als Schock, als kleine Entweihung, das Hemd zerrissen, verschmutzt und in den Morast gepreßt zu sehen. Doch schon einen Augenblick später geriet ich in solche Hochstimmung, daß ich mich davon abhalten mußte, zu schreien. Statt dessen knöpfte ich meine abgetragenen Jeans auf, zog meine zerfetzte Unterhose aus und legte sie in den Schlamm. 336
Dann kauerte ich mich hin, pinkelte und kehrte erneut nach Hause zurück. Am folgenden Morgen war meine Unterhose in die Suhle gewühlt. »Ich lege mich kurz schlafen«, sagte ich zu Eva, als ich wieder nach Hause kam. »Ist alles in Ordnung?« fragte sie. »Ja. Ich muß mich bloß ausruhen. Ich will heut abend an der Suhle auf einen Baum steigen und auf sie warten.« »Über Nacht?« »Na klar«, sagte ich achselzuckend, noch ehe ich es mir recht überlegen konnte. »Wieso nicht? Wir haben Vollmond«, fügte ich nicht nur ihretwegen, sondern auch zu meiner Beruhigung hinzu. »Ich schaff das schon.« Kurz vor Einbruch der Dunkelheit machte ich mich auf den Weg. In dem Rucksack auf meinem Rücken führte ich den Schleifstein unseres Vaters mit, das Messer aus dem Küchenset meiner Mutter, das zum Auslösen von Knochen bestimmt war, das Beil und eine Flasche Wasser. Die Taschen meiner Jacke waren mit getrockneten Apfelscheiben und Patronen vollgestopft. Das Gewehr ruhte kameradschaftlich an meiner Schulter, als ich durch den sich abkühlenden Wald hinaufstieg, vorbei an dem riesigen Baumstumpf mit seinem Nahrungsmittelvorrat und am Bachbett entlang, bis ich bei Einbruch der Dunkelheit an der Suhle ankam. Ich sah mich nach einem geeigneten Baum zum Hinaufklettern um, aber keiner der Bäume besaß Äste, die ich hätte erreichen können. Die Bäume direkt an 337
der Suhle waren die Gerbereichen, die an diesen dicht bewachsenen Hängen überall vorkommen: hoch, schmal und bis zum Dach des Waldes so gut wie ohne Äste. Weiter weg standen Mammutbäume, deren untere Äste zehn Meter über meinem Kopf anfingen. Langsam umrundete ich ihre Stämme und dachte: Na gut, ich hab’s versucht. Es ist nicht meine Schuld, daß keine Bäume da waren, auf die ich klettern konnte. Es ist nicht meine Schuld, daß Eva schwanger ist. Sie hat vermutlich ohnehin keine Anämie. Ich bilde mir das alles nur ein. Ihre Entbindung wird glatt vonstatten gehen. Dem Baby geht es höchstwahrscheinlich blendend. Und wenn nicht, dann nicht. Es ist längst zu spät, um diesbezüglich noch was zu unternehmen. Das Licht ließ sehr schnell nach, und vielleicht war es der Gedanke, im Dunkeln nach Hause finden zu müssen, der mich veranlaßte, zu bleiben, wo ich war. Ich hatte keine Lust, die Nacht auf dem Boden zu verbringen, darum nahm ich schließlich den vielversprechendsten Baum in Angriff, den ich finden konnte – eine Eiche, die am oberen Bachufer wuchs und ihr Geäst zur Suhle hin ausstreckte. Ich schlang mir das Gewehr neben dem Rucksack auf den Rücken und legte die Hände zu beiden Seiten an den Stamm der Eiche. Er fühlte sich kalt, feucht und rauh an und war überraschend fest. Ich schob mich aufwärts. Die ersten Äste waren kaum mehr als Reisig, das mir in den Händen zerbrach, als ich mich daran festzuhalten versuchte. Dann jedoch gelang es mir, einen zu fassen, der robust genug war, um mir Halt zu geben. Ich packte ihn und zog mich höher hin338
auf, wobei mir der Gewehrlauf gegen die Wange schlug. Schließlich gelangte ich an einen Ast, der dick genug war, um mein Gewicht zu tragen. Ich kletterte darauf, schwang das Bein darüber, als sei er ein Pferd. Ich befand mich in größerer Höhe, als ich es mir gewünscht hätte, und saß auf der falschen Seite fest, so daß ich mich vorbeugen und meinen Schultergürtel verdrehen mußte, um mich der Suhle direkt zuzuwenden. Doch es war zu spät, um einen neuen Anlauf zu wagen. Ich umklammerte den Stamm und zappelte so lange, bis mir das Gewehr von der Schulter gerutscht war und auf meinem Schoß lag. Ich lud es, überprüfte dreimal die Sicherung, dachte mir eine Methode aus, Ellenbogen und Schulter an dem Ast abzustützen, auf dem ich hockte, und veranstaltete dann Zielübungen in die Suhle hinab. Als es zu dunkel wurde, um mein imaginäres Jagdopfer zu sehen, klemmte ich das Gewehr zwischen mich und den Baum und griff in die Tasche, um eine getrocknete Apfelscheibe hervorzuholen. Das letzte Licht verebbte, und ich war im Dunkeln allein. Den Mund mit durchgekauter Apfelmasse gefüllt, thronte ich auf einem Eichenbaum über einem Schlammloch mitten in einem Wald, dessen Ausmaße ich nicht kannte, und die Nacht lastete mit ihrem ganzen Gewicht auf meinem Schultern. Über mir befand sich das dunkle Gewirr der Äste, und jenseits davon konnte ich als winzige Lichtpunkte ein paar Sterne leuchten sehen. An meinem Schienbein krabbelte etwas, und ich streckte die Hand aus, um danach zu schlagen. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was es sein mochte. Der Waldboden war 339
nicht mehr zu erkennen. Ich umklammerte den glatten, kühlen Leib der Eiche und wartete darauf, daß über den Baumwipfeln der Mond aufging. Bis es soweit war, schien eine Ewigkeit zu vergehen. Ich hing lange Zeit im Dunkeln, lauschte dem müden Zirpen der letzten Grillen, versteifte mich gelegentlich, wenn unter mir ein Scharren zu hören war, verscheuchte echte oder eingebildete Spinnen. Meine Beine wurden taub, und ich fing an, mir Sorgen zu machen, daß die Schweine kommen und wieder abziehen könnten, ehe mir der Mond gestattete, sie zu sehen. Dann bekam ich Angst, daß der Mond womöglich gar nicht aufgehen würde. Vielleicht hatte ich mich in der Phase geirrt – oder vielleicht herrschte Mondfinsternis. Vielleicht war der Mond ganz verschwunden. Schließlich vertieften sich die Schatten. Erst glaubte ich, daß ich einer optische Täuschung erlag oder daß sich meine Augen doch noch an die Finsternis gewöhnt hätten, doch am Ende war ich überzeugt, daß der Mond aufgehen würde. Der Vollmond scheint im Wald wesentlich weniger hell als auf einer Lichtung. Das kühle, unerschütterliche Licht, das er verstrahlte, wurde von den Baumkronen gebrochen, so daß es in silbrigen Tupfern am Boden anlangte und die Schatten dicht und schwarz erscheinen ließ. Ich steckte die Hand in die Tasche, um noch eine Scheibe Apfel hervorzuholen. Ich versuchte, etwas Gewicht von meinen Oberschenkeln zu nehmen, versuchte den Rucksack zurechtzurücken, versuchte mich an den Ast zu lehnen, dessen Biegung mir Halt bot, drehte und wendete 340
mich, bis ich es vorübergehend beinahe bequem hatte. Ich sah zu, wie sich der Mond in ein offenes Stück Himmel über mir schob, und versuchte mir zum Zeitvertreib alles ins Gedächtnis zu rufen, was ich über ihn gelernt hatte. Ich erinnerte mich, daß der Mond im mittleren Abstand von 384 400 Kilometern die Erde umkreist, daß die Größe seiner Oberfläche der von Nord- und Südamerika entspricht und daß das Basaltgestein im mare tranquillitatis drei Komma sieben Milliarden Jahre alt ist. Außerdem habe ich etwas gelernt, was das Lexikon nicht weiß – wenn der Mond zunimmt, kann man danach greifen und seine äußere Biegung in die Handfläche der rechten Hand betten. Wenn er abnimmt, paßt er dagegen in die linke Hand. Ein leiser Wind fuhr zitternd durchs Laub. Rock-abye baby, sang eine Stimme in meinem Kopf. In the treetop. Schlafe, mein Kindchen, hoch droben im Baum, Wenn der Wind bläst, wiegst du dich im Traum. Wenn der Ast bricht, stürzt dein Bettchen ab, Purzelt das Kind samt Wiege herab. Ich ließ mit einer Hand das Gewehr los und grub in meiner Tasche nach einer weiteren Apfelscheibe. Meine Beine schmerzten, und ich versuchte mich daran zu erinnern, warum ich mich hier mitten in der Nacht an einen Baum klammerte. Ich dachte an meine Schwester und das Baby, das sie erwartete. Bei der Gelegenheit wurde mir klar, daß ich es mir immer als Mädchen vorgestellt hatte, und war mir in dieser Nacht sicher, daß ich mit meiner Intuition recht hatte. Ich wußte, daß Eva eine 341
Tochter bekam, und fing sogar an, eine widerwillige Zuneigung für das kleine Mädchen zu empfinden, das uns das Leben so schwer machen wird. Ich stellte sie mir als Mischung aus meiner Schwester, meiner Mutter und mir selbst vor. Ich fand, daß wir sie nach ihrer Großmutter benennen sollten, damit wieder eine Gloria eine Rolle in unserem Leben spielte. Ich stellte mir die Geschichten vor, die ich ihr erzählen wollte, darüber, wie es früher war, als man noch um Mitternacht das Licht einschalten konnte, als es noch Kästen gab, die Musik machten, Wäsche wuschen und Essen kochten, als sich die Leute noch im Sitzen fortbewegen konnten. Ich stellte mir die Spiele vor, die sich ergeben würden, wenn wir Eicheln sammelten, Kartoffeln ausgruben und Samen einpflanzten. Ich stellte mir vor, wie ich ihr Wildblumen und Kräuter zeigen würde und natürlich die Hand, die den zunehmenden Mond hält. Ich überlegte, daß Eva ihr Tanzunterricht geben, daß ich ihr Lesen und Schreiben beibringen würde. Und als ich mich so an die Eiche klammerte und die Zukunft meiner Nichte plante, glaubte ich die Generationen von Frauen zu spüren, die hinter uns in der Vergangenheit verschwanden beziehungsweise sich vor uns erstreckten. Ich fühlte mich sowohl meinen Vorfahrinnen als auch der Zukunft verbunden, und ich erlebte – allen Widrigkeiten zum Trotz – die tiefe Befriedigung des Beständigen. Allmählich hörten die Grillen zu zirpen auf. Der Mond hing über den Bäumen, ein stilles Rund, das zu umfangen beide Hände in Anspruch genommen hätte. Während er hoch stand, konnte ich die Suhle deutlich erkennen. Ich 342
hielt den Atem an und versuchte eine Art Bittgebet, die Schweine mögen kommen. Einmal hörte ich hinter mir im Wald ein Krachen, wagte es aber nicht, mich danach umzudrehen, und das Geräusch kam auch nicht näher. Einmal fuhr ich hoch, als ich eine dunkle Gestalt am Bachufer stehen sah. Aufregung und Angst vermengten sich zu gleichen Teilen und durchströmten meine Adern. Ich versuchte gerade, leise das Gewehr anzulegen, als mir klar wurde, daß hier etwas nicht stimmte. Das Geschöpf war zu klein, sein Schwanz zu lang. Während ich noch zögerte, trat es hinaus in einen Flecken Mondlicht, und ich sah die weißen Streifen. »Ein Stinktier, damit können wir nichts anfangen«, flüsterte ich. Stunde um Stunde döste ich und bewegte mich rastlos. Meine Beine taten weh, meine Oberschenkel waren verkrampft, Rücken und Hände wurden steif, und nichts regte sich. Der Mond schob sich zentimeterweise über den Himmel und verschwand in einem Labyrinth aus Zweigen. Danach saß ich im Dunkeln, den Baum im Arm, das Gewehr im Arm, und wartete benommen auf den Morgen. Ich spürte, wie sich der Tau sacht und kalt auf meinen Wangen, auf Haar und Händen und auf dem Gewehrlauf absetzte. Und dann wurde es langsam wieder hell, kehrten Form und Farbe allmählich in den Wald zurück. Zitternd und unter Schmerzen verfolgte ich das Anbrechen des Tages und empfand eine Art schuldbewußter Erleichterung – ich hatte mein Bestes gegeben, doch die Schweine waren klüger gewesen. Sobald es noch ein 343
bißchen heller wird, dachte ich, kann ich nach Hause und ins Bett gehen. Ich kann den Morgen über schlafen und heute nachmittag im Garten arbeiten. Ich habe getan, was ich konnte. Es war nicht meine Schuld, daß, die Schweine nicht gekommen sind. Und dann kamen sie. Sie waren leiser, als ich es erwartet hatte. Jedesmal, wenn ich sie früher gehört hatte, waren sie aufgeschreckt worden und befanden sich auf der Flucht. Nun dagegen kamen sie gemächlich einher, kamen, um nach der nächtlichen Nahrungssuche zu trinken, kamen, um sich vor der Ruhe des Tages zu suhlen, und das Geräusch ihres Kommens bestand aus nicht mehr als ein paar knackenden Zweigen und einem leisen Grunzen. Sie waren zu dritt, eines etwas größer als die anderen beiden. Ich hatte befürchtet, daß mein Geruch sie vertreiben würde, aber der Wind muß wohl günstig gestanden haben, oder vielleicht war ihnen mein Geruch vertraut, denn sie beschnüffelten nur beiläufig meine Unterhose, schnaubten und trabten weiter. Sie tranken am Bach, wo das Stinktier getrunken hatte. Im. Wald wurde es heller. Ich konnte die Blätter an den Bäumen jenseits der Suhle erkennen. Ich hielt den Atem an, beobachtete die monströsen, altertümlich wirkenden Geschöpfe, so ungeschlacht und – in diesem Augenblick – so erstaunlich schön. Ich konnte ihre steifen Riste sehen, ihre spitzen Ohren und die geraden schwarzen Schwänze. Ich hörte sie unter mir im Schlamm miteinander raunen und fühlte mich geehrt, sie so zu sehen, entspannt und ungeschützt und meiner Gegenwart nicht gewahr. 344
Da fiel mir ein, daß ich eines von ihnen töten mußte. Nur um zu sehen, wie das wäre, hob ich das Gewehr an die Schulter. Ohne zu atmen, wand ich mich und ging auf der Eiche in Stellung, einen Ellenbogen auf den Ast gestützt, mit steifen Knien am Stamm festgeklammert. Während ich die Schweine ins Visier zu bekommen versuchte, umkreisten sie einander schnüffelnd und liebkosend in zärtlichem Tanz. Die mögen sich, stellte ich fest. Und dann wurde es mir klar, unmittelbarer, intuitiver als kognitives Erkennen: Das sind eine Mutter und zwei Schwestern. Der Gedanke machte mich taumeln, und ich fürchtete kurz, aus meinem Baum zu fallen und zwischen ihnen in der Suhle zu landen, wo sie mich zertrampeln und auseinanderreißen würden, wie sie meine Kleidung zertrampelt und zerrissen hatten. Doch ich hielt mich fest und zwang mich, an Eva und ihre Tochter zu denken. Problemgeburt. Nachblutungen. Willst du etwa, daß deine Schwester verblutet, bloß weil du nicht abdrücken kannst? Hirn- und Nervenschäden beim Neugeborenen. Willst du etwa, daß das kleine Mädchen mit Schäden zur Welt kommt? Willst du etwa noch eine Nacht in diesem Baum sitzen müssen? Ich umfing die Eiche mit Knien und Schenkeln. Ich atmete dreimal tief ein und versuchte mich an alles zu erinnern, was ich übers Schießen wußte. Ich wartete, bis das Gewehr zu zittern aufhörte, und zielte dann auf die 345
Mitte des Rückens der alten Sau. Es schien kaum möglich, doch ich war zu dem Schluß gelangt, daß ich ihr das Rückgrat durchtrennen mußte, um zu verhindern, daß sie mit meiner Kugel im Leib davonrannte. Ich holte noch einmal tief Luft und hielt den Atem an. Ich atmete aus und drückte dabei so langsam ab, daß ich nicht merkte, wann es Zeit zum Zusammenzucken war. Der Lärm brach mit unbeschreiblicher Gewalt herein. Das Gewehr donnerte, und dennoch glaubte ich einen stumpfsinnigen Augenblick lang, nicht geschossen zu haben, weil ich in meiner Aufregung den Rückstoß nicht wahrgenommen hatte. Vögel, von denen ich nichts gewußt hatte, stoben in benachbarten Bäumen von ihren Schlafplätzen auf. Blätter und kleine Zweige regneten um mich herab. Unter mir kochte der Erdboden. Die jungen Schweine waren verschwunden, und ich beobachtete entsetzt, wie sich die alte Sau herumwarf und quiekte. Einmal hatte ich gesehen, wie ein paar Kinder einer Katze einen Schal um die Mitte gebunden hatten. Nun erinnerte ich mich, mit krankhafter Faszination zugeschaut zu haben, als die Katze sich zu laufen bemühte, während ihre Hinterbeine wegrutschten, sie aus dem Gleichgewicht geriet und wie betrunken umhertorkelte. Der Sau unter mir erging es ähnlich. Unfähig, zu stehen, zappelte sie und trat um sich. Mit den Vorderbeinen scharrend zog sie ihren Leib am Boden dahin, während ihre Hinterbeine hilflos zuckten. Ich hab’s geschafft! dachte ich und versuchte, noch eine Patrone in die Kammer zu schieben. Doch meine Hände zitterten so, daß die erste wie eine Eichel in 346
den Morast fiel. Endlich hatte ich doch noch eine aus der Tasche gekramt und in die Kammer gerammt und schoß. Ich verfehlte mein Ziel, versuchte es noch einmal und traf ihre Schulter. An meinen Baum geklammert, beglückt und entsetzt über das, was ich ausgelöst hatte, sah ich zu, wie die Sau mit den Schrotkugeln kämpfte, wie sie schnaubte, grunzte und mit Schlamm warf, wie sie die ganze Kraft ihres Seins entfesselte und der Welt entgegenschleuderte. »Stirb, stirb. Bitte stirb doch«, flehte ich laut. In ihrem Todeskampf hörte sie den fremden Klang meiner Stimme. Sie blickte auf, und ihre kurzsichtigen Augen schienen meinen zu begegnen. »Bitte stirb«, bat ich. »Meine Schwester bekommt ein Baby.« Sie grunzte, versuchte sich noch einmal aus der Suhle zu erheben, doch ihre Vorderbeine gaben unter ihr nach. Sie fiel taumelnd in den Schlamm und blieb schwer atmend liegen, auf einmal von ungeheurer Geduld beseelt. Ich schoß wieder und traf sie diesmal dort, wo ich hingezielt hatte – am Hinterkopf. Sie versteifte sich, als diese letzte Kugel einschlug, und erschlaffte, sank aus sich selbst zu Boden, sank aus ihrem Leben heraus. Schluchzend und bebend kletterte ich hastig aus dem Baum herab, riß mir die Hände auf, verstauchte mir die Beine. Als ich unten ankam, schrien meine Muskeln vor Schmerzen und zitterten von Adrenalin und mangelnder Durchblutung. Fast wäre ich ohnmächtig geworden. Ich ließ mich gegen den Baum fallen, auf dem ich die Nacht verbracht hatte, unfähig, die Augen 347
von dem Haufen schlammbedeckten Fleisches abzuwenden, den ich angerichtet hatte. Ich spürte das Aufwallen eines gewaltigen Machtgefühls, war von Ehrfurcht und Stolz erfüllt und – wenigstens einen Augenblick lang – überzeugt, daß mein Abschuß mehr war als bloßes Anfängerglück. Als ich endlich wieder stehen konnte, ging ich zu ihr hinüber und beugte mich über das Geschöpf, dessen Leben ich genommen hatte. Ich sah das zerfetzte Fleisch, das Blut auf der Erde, und mit ebensolcher Wucht wie der Rückstoß seines Gewehrs schoß mir das Bild meines Vaters durch den Kopf, in dem Schlamm liegend, den sein vergossenes Blut entstehen ließ. Ich schluckte schwer und würgte. Getrocknete Apfelstückchen, eingeweicht in galligen Magensaft, ergossen sich aus meiner Kehle, hinterließen ihre brennende Spur. Ich erbrach mich, bis nichts mehr übrig war. Dann sank ich in den Morast und weinte. Ich weinte um meinen Vater, um meine Mutter, um Eva, um ihre ungeborene Tochter und um mich selbst. Ich weinte um Sally Bell und die einsame Frau – um alle Frauen, die vor langer Zeit die Schwester, das Kind verloren hatten, die ich zu retten versuchte. Ich weinte um diese Sau und ihren Nachwuchs. Ich weinte vor Erschöpfung und Aufregung, und ich weinte, weil ich wußte, daß ich, wenn ich zu weinen aufgehört hatte, diesen Haufen Sehnen und Knorpel in Fleisch verwandeln mußte. Ausweiden nennt es das Lexikon, obwohl es mehr mit Auskleiden zu tun hat, und wie gewöhnlich steht im Lexikon fast gar nichts darüber, was im einzelnen zu tun 348
ist. Aber ich wußte, daß ich die Sau irgendwie mit dem Messer anstechen und ausbluten lassen mußte, daß ich ihre Eingeweide herausnehmen, ihr die Haut abziehen, ihr Kopf und Beine abhacken und das Fleisch von den Knochen lösen mußte. Außerdem wußte ich, daß ich nicht zu lange damit warten durfte, weil sonst das Fleisch verderben und die Totenstarre einsetzen würde. Du hast sie erlegt. Du schuldest ihr eine Bleibe in deinem Bauch. Sie hat es verdient, in dir und Eva und Evas Tochter weiterzuleben. Ich erhob mich, stand einen Augenblick lang über ihr und hob dann mit spitzen Fingern ein Hinterbein an und biß, als ich die steifen Borsten, den kalten Schlamm, die Restwärme spürte, die Zähne zusammen. Ich zog probeweise an dem Bein, doch der Körper der Sau blieb unbeweglich. Ich erschauderte, packte fester zu und ergriff dann das andere Bein mit der anderen Hand und zerrte daran. Das Hinterteil rückte einige Zentimeter vor. Es dauerte lange, aber langsam schleppte ich die Sau keuchend und angestrengt, erst am einen, dann am anderen Ende ziehend, aus dem Morast und versuchte sie so hinzulegen, daß ihre Kehle und ihr Bauch den Hang hinabzeigten. Das war harte Arbeit, doch als ich mich längere Zeit mit ihr abgestrampelt hatte, war ich an ihre Berührung, ihren Geruch fast schon gewöhnt. Ich packte ihre Schnauze und hob mit Gewalt ihren Kopf an. Zaghaft setzte ich die Klinge an ihrer Kehle an, doch mein Entschluß, etwas zu tun, bedeutete auch in diesem Fall nicht, daß es leicht auszuführen war. Ich 349
stach zu und hackte, bis das Messer endlich ihre Halsschlagader traf und dickes rotes Blut den Hang hinablief, den ich sie hinaufgezerrt hatte, hinab in die Suhle, in das Gemenge aus Schlamm und Erbrochenem. Ich machte mich daran, ihr mit dem Messer den Bauch aufzuschlitzen. Ich zerschmetterte mit dem Beil ihr Brustbein, und als ich mit dem Messer zwischen den immer noch geschwollenen Zitzen entlangfuhr, quollen ihre Eingeweide aus dem Spalt, den ich schuf, und ergossen sich schwer und übelriechend auf den Waldboden. Ich erweiterte mit dem Beil die Öffnung am After, fuhr mit der Hand in die klebrige, stinkende, intime Wärme, packte den Dickdarm und zog seine lange Windung heraus. Nun gibt es nichts mehr, was ich nicht tun könnte, dachte ich, als ich die warmen, schimmernden Innereien nach Herz und Leber absuchte – meinen ersten Geschenken für Eva und ihre Tochter. Den ganzen Tag rackerte ich mich ab, trennte die Haut vom Fleisch, das Fleisch von den Knochen, teilte die Sau in Fleischstücke auf – ein paar große Brocken zum Kochen und Braten, einen Berg schmaler Streifen zum Trocknen und Räuchern. Ich hielt nur inne, um Wasser zu trinken, um das Messer zu schleifen oder um mir die Jacke auszuziehen, als die Sonne den Wald erwärmte. Eine Schulter und ein Großteil ihres Rückens waren durch die Einschüsse unbrauchbar geworden, aber wir hatten dennoch mehrere Tage damit zu tun, das Fleisch der Sau zu verarbeiten. Der Vollmond, unter dem sie 350
starb, hat bereits soweit abgenommen, daß er nur noch eine Sichel ist – und Evas Wangen haben wieder Farbe angenommen. Ich döse am Baumstumpf in einem Flecken blassen Sonnenlichts und träume davon, daß ich bis an den Hals im Erdreich vergraben bin. Meine Arme und Beine laufen wie Pfahlwurzeln in ein Netz feinerer Wurzeln aus, bis es keine klare Abgrenzung zwischen diesen Wurzelhaaren und dem Erdboden mehr gibt. Als ich die Erde überblicke, dehnt sich mein Schädel aus, als würde ich durch meine Augenhöhlen die oberirdische Welt und den Himmel aufnehmen. Mein Kopf wird immer größer, bis er wie eine Hülle die ganze Erde umschließt. Ich wache sanft und mit einem Gefühl unendlicher Ruhe auf. Die Ahornbäume haben ihre Blätter verloren, und die Tage sind immer noch klar. Wir essen nach wie vor luftgetrocknetes Schweinefleisch. Außerdem ist es mir gelungen, aus Schmalz und Asche eine Art Flüssigseife herzustellen und aus einer Schale Schweinefett mit einem Seidendocht eine rauchige Lampe zu machen. Manchmal habe ich das Gefühl, als würde ich außer meiner eigenen die wilde Seele der alten Sau mit mir herumtragen. Wenn Eva und ich bei Einbruch der Dunkelheit den Hang herabsteigen und zum Schlafen ins Haus gehen, merke ich manchmal, wie ich mich mit verstohlenem Grausen in diesen Räumen umsehe. Ich 351
muß mich zur Ordnung rufen: Das ist bloß eine Tür. Das sind bloß, Wände. Die können dir nichts anhaben. Und wenn ich morgens aufwache, zeugt mein erster Gedanke manchmal von panischer Angst – ich muß hier raus. Gestern nacht bin ich vom Geräusch des ersten Winterregens aufgewacht. Ich lag in der mondlosen Finsternis und lauschte dem leisen Rauschen des Wassers, das am Fenster herablief. Da fiel mir ein, daß Eva und ich, als im letzten Jahr der Regen eingesetzt hatte, Puzzlespiele zusammengesetzt und Dosensuppe gegessen und darauf gewartet hatten, daß uns jemand rettete. Nun bekam ich Mitleid mit diesen verängstigten Mädchen. Nur nebenbei berührte mich die Ironie, daß dies nun der Herbst war, in dem Eva einem Ballettensemble beitreten sollte, der Herbst, in dem ich in Harvard anfangen sollte, und daß einer dieser auf keinem Kalender verzeichneten Herbsttage der Tag war, an dem ich achtzehn Jahre alt wurde. Heute morgen bin ich in die Speisekammer gegangen – um einfach dazustehen, umgeben von den Ergebnissen unserer halbjährigen Zusammenarbeit mit Erde, Wasser und Sonnenschein. In dem engen fensterlosen Raum stehend begutachtete ich unser Eingemachtes, die am Boden aufgeschichteten Kürbisse und Kartoffeln, das Trockenobst und die getrockneten Bohnen, die an Schnüren aufgereiht von der Decke hängen, die Büschel und Gläser voller Wurzeln, Blätter, Rindenstücke und Blüten, 352
die ich gesammelt habe, jeweils mit Notizen versehen, wo ich sie gefunden habe und was sich meines Wissens damit lindern oder auslösen oder heilen läßt. Ich habe an die Samentüten draußen in der Werkstatt gedacht, fertig getrocknet und sortiert und fürs Frühjahr bereit, an die Tonnen im Baumstumpf mit Eicheln und Beeren und getrocknetem Schweinefleisch, und hatte das Gefühl, meine Leistungstests bestanden zu haben. Auf der Wiese beginnt das frische Grün des Winters unter der Matte goldenen Grases sichtbar zu werden. Im Wald stoßen winzige grüne Schößlinge wie Funken zwischen den nassen, schwarzen Blättern hervor, und die geduldigen Sporen der Pilze wachsen plötzlich heran. Auf der Lichtung sprießen am Zaunpfosten aus Mammutbaumholz, den Eva und ich am Ende des Gartens aufgestellt haben, neue Triebe. Jeder Tag bringt Geschenke. Gestern haben wir einen frischen Büschel Feldampfer gefunden, um damit unsere Suppe aus getrocknetem Schweinefleisch zu würzen. Heute ist mir auf dem Weg zum Baumstumpf etwas aufgefallen, das wie verstreute bunte Glasperlen aussah – die Früchte eines Erdbeerbaums. Ich sammelte ein paar von ihnen auf und sprach eine Art stilles Dankgebet, bevor ich eine Beere probierte. Sie schmeckte fad und leicht süß – trockenes gelbes Fruchtfleisch um einen Kern mit dunklen Samen herum. 353
Gestern war es so naß, daß wir im Haus blieben, den feuchten Wald sich selbst überließen und dicht am warmen Ofen saßen. Wir dösten oder lauschten dem Winterregen, der seine vom Wind getriebenen Tropfen wie Samen gegen Mauern und Fenster prasseln ließ. Ich hatte Eva als Schwangerschaftstonikum eine Tasse Himbeerkräutertee gekocht, und sie amüsierte sich zwischen je zwei Schlucken damit, den Becher auf ihrem gigantischen Bauch zu balancieren und zu beobachten, wie die Fußtritte des Babys den Tee zu verschütten drohten. Ich saß am Ofen und war dabei, eine Portion Eichelmehl zu zerstoßen, als auf einmal das ganze Haus zu wakkeln begann. Aus dem verschlossenen Abstellraum ertönte ein Knirschen und Bersten und Krachen, das eine Ewigkeit anzuhalten schien. Evas Becher fiel zu Boden, und ich sprang auf. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, gefolgt von einem lauten Knacken und einer weiteren Serie krachender Geräusche. Dann war alles still. Eva sah mich entsetzt und flehentlich an. »Was sollen wir tun?« »Verstecken«, flüsterte ich. »Wo denn?« fragte sie, und ich wußte nicht, was ich ihr sagen sollte, denn im selben Augenblick begriff ich, daß jeder Winkel und jeder Schrank, in dem sie sich versteckte, ihr zur Falle werden würde, wenn der Mann endgültig die Tür eintrat und ins Haus eindrang. »Warte an der Vordertür«, flüsterte ich Eva zu. »Ich sehe nach, was hinten los ist, und wenn ich schreie, rennst du in den Wald.« 354
Sie nickte und bat: »Sei vorsichtig«, als ich das Gewehr nahm und in Richtung Küche schlich. Sobald ich sie betreten hatte, sah ich, daß etwas nicht stimmte. Tageslicht sickerte durch das Fenster in der Tür zum Abstellraum. Ich schob mich langsam darauf zu, zielte mit dem Gewehr auf den Punkt im Fenster, an dem ich mit dem Auftauchen eines Gesichts rechnete. Es schien ewig zu dauern, bis ich am Büffet entlang, am staubigen Kühlschrank und am Herd vorbeigeschlichen war. Als ich endlich an der Tür angelangt war, ging ich unter dem Fenster in die Hocke und wartete. Mir wurde schon schwindelig, und meine Beine begannen weh zu tun, aber es tat sich nichts. Als mich allein schon die Last des Schweigens zusammenzucken ließ, richtete ich mich auf und spähte durch das Fenster. Was ich zu sehen bekam, war ein Schock, daß ich mir vorübergehend keinen Reim darauf machen konnte – was ich sah, war Schutt. Die Waschmaschine war durch die Hintertür nach draußen gefallen, und der Trockenautomat lag neben dem umgestürzten Gefrierschrank auf der Seite. Der Fußboden neigte sich schräg nach unten, und das Dach war zwischen den geborstenen Balken abgesackt. Regen tropfte durch den Spalt zwischen den Trümmern und der Küchentür. Wie hat er das bloß, geschafft? dachte ich benommen. Er muß jemanden dabei haben. Doch es tat sich immer noch nichts, und als ich hinausging, um nach Spuren zu suchen, fand ich nichts als die Abdrücke von Waschbären und Opossums. Der Abstellraum war schlicht eingestürzt, das faulende Holz 355
unter dem Gewicht des gußeisernen Spülbeckens, des leeren Gefrierschranks, der nutzlosen Waschmaschine, des unbrauchbaren Trockenautomaten gebrochen. Das Haus unserer Eltern kracht um uns herum zusammen. Es ist fast schon wieder Vollmond. Der Regen hat vorübergehend aufgehört, doch das Wetter ist so kalt und Eva so unförmig geworden, daß wir uns nicht weit vom Haus, nicht weit vom Ofen, der Speisekammer und unseren warmen Matratzen wegbewegen. Eva döst vor sich hin und trinkt die Tees, die ich für sie braue. Sie strickt aus den Seidengarnen, die unsere Mutter übriggelassen hat, seltsame kleine Jäckchen, während ich das Lexikon überfliege, um die Träume zu finden, die es enthält, und im Licht des runden Mondes und des offenstehenden Ofens schreibe, winzige Kratzer und Spuren, die mein Kugelschreiber auf diesen letzten Blättern Papier hinterläßt. Heute nachmittag habe ich gelesen: In seinem ältesten Bedeutungszusammenhang war mit dem Wort »Jungfrau« nicht der physische Zustand der Keuschheit, sondern die psychische Gegebenheit gemeint, keinem Mann, also nur sich selbst anzugehören, jungfräulich sein bedeutete nicht, unberührt zu sein, sondern der Natur und dem eigenen Instinkt zu gehorchen. In diesem Sinne ist auch der jungfräuliche Wald nicht steril und unfruchtbar; er wird nur vom Menschen nicht ausgebeutet. 356
Von Kindern, die unehelich geboren wurden, hieß es früher, sie seien »von jungfräulicher Geburt«. Heute abend haben wir gut gegessen – Eichelküchlein, Kompott aus getrockneten Brombeeren, gerösteten Kürbis, ein paar Stengel Kresse von dem Beet, das ich am Bach angelegt habe. Eva ist über ihrem Königskerzentee eingenickt, während der Dampf aus der Tasse ihr ins Gesicht steigt wie das Werden eines Traums. Ich frage mich, wie es wohl heute nacht am Baumstumpf aussieht. Ich frage mich, ob das Dach dicht ist, ob die Sperrholztür hält. Ich frage mich, ob dort ein Tier Schutz gesucht hat, warm eingerollt zwischen unseren Tonnen mit Eicheln und Beeren, ich frage mich, wie es wäre, wenn wir jetzt dort säßen, wenn wir dem Regen und Wind lauschten, wenn wir die Nacht, das nasse Laub, die Erde und den alten Brandschaden am Baum riechen könnten. Ich frage mich, was für Geschöpfe uns aus dem Wald zusehen, was für Geister über uns schweben und uns im Regen umkreisen würden. Warum erscheint mir der Stumpf sicherer, realer als meine hiesige Umgebung? Es hat angefangen. Ich wage nicht daran zu denken, wie es ausgehen wird. Diese Worte zu schreiben versetzt mich allein schon in Panik – denn was ist, wenn sie sich als prophetisch erweisen? Gestern abend hat Eva von ihrer Eichelgrütze nur wenig 357
gegessen, und kurze Zeit später sprang sie vom Stuhl auf und rannte ins Bad – schneller, als ich sie seit Monaten habe laufen sehen. Als sie wiederkam, hielt sie sich mit beiden Händen den Bauch. »Fühl mal«, sagte sie. Ich betastete ihren Bauch. Er war so hart wie der Stamm einer Eiche; er war ein Ding mit eigenem Willen. »Eine Wehe?« fragte ich, als ich spürte, wie er sich entspannte. Sie nickte. »Die erste?« »Die stärkste. Sie sind schon den ganzen Tag gekommen und gegangen. Ich war nur noch nicht sicher, was es war.« »Wann war die letzte davor?« »Vor einer Weile. Vor dem Essen.« »Wie fühlst du dich?« »Ganz gut. Ein bißchen zittrig.« Sie sah mich an und fragte: »Bist du auf alles vorbereitet?« Nein, dachte ich und antwortete: »Die Frage muß lauten, bist du es?« »Ja. Nein. Vielleicht. Jedenfalls kommt es jetzt«, antwortete sie regelrecht festlich gestimmt. »Was willst du solange machen?« »Ins Bett gehen, denke ich. Versuchen, mich auszuruhen.« Sie ließ sich auf ihrer Matratze nieder, während ich das Lexikon hervorholte und mich bemühte, meine Kenntnisse noch ein wenig aufzufrischen, indem ich auswendig lernte oder von der Seite ablas, was da stand. Sie schlief ein, und ich tat es ihr wenig später nach, 358
eingelullt vom Regen und dem warmen Ofen. Kurz vor Morgengrauen wachte ich auf. Eva lag auf ihrer Matratze. Sie schaukelte hin und her und stöhnte leise. »Eva«, krächzte ich schläfrig. »Wie steht’s?« »Ganz gut, denke ich.« »Hast du immer noch Wehen?« »Ja.« »Und was machen die?« »Stärker werden.« »In was für Abständen?« Sie schaffte es, laut herauszulachen. »Kann ich mal eben deine Stoppuhr haben?« Ich ließ ein wenig Erlenrinde aufkochen und flößte ihr das Gebräu ein. Ich rührte frische Ahorngrütze an, war aber die einzige, die davon aß. Hin und wieder faßte sich Eva an den Bauch, worauf ich stehen und liegen ließ, was ich gerade tat, um mich neben sie auf die Matratze zu setzen und ihr den Schultergürtel zu massieren, bis die Wehe vorbei war. Der lange Tag verging. Ich legte Holz aufs Feuer, fegte den Boden, glättete die Laken, braute die Tees, die dazu gedacht waren, Eva die Entbindung leichter zu machen und meine Nerven zu beruhigen. Derweil lag sie auf ihrer Matratze und hielt die Wehen aus, die weder aufhörten noch schneller aufeinanderfolgten. Schließlich – es wurde bereits Abend – hob sie den Kopf vom Kissen und stellte die Frage, vor der ich mich gefürchtet hatte: »Wie lange soll das noch gehen?« »Nicht mehr lange. Du machst deine Sache gut.« »Gibt es denn gar nichts, was man noch tun könnte?« 359
»Ich weiß nicht. Ich glaub nicht.« »Was steht denn im Lexikon?« »Da steht, daß du deine Sache gut machst.« Da steht: Die durchschnittliche Geburtsdauer beläuft sich bei der Erstgebärenden auf sechzehn bis achtzehn Stunden. »Liebe Nellie«, sagte Eva und schaute mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal. »Es ist nett von dir, daß du das tust.« Ich zuckte die Achseln: »Wozu sind Schwestern da?« Aber ich kann nichts weiter tun, als ihr den Rücken zu reiben, ihr kleine Schlucke Tee zu verabreichen und sie zu belügen, indem ich ihr sage: Du machst deine Sache gut. Das Lexikon behauptet, daß der Drang, die Leibesfrucht auszustoßen, instinktiv entsteht. Aber bei Eva ist von Ausstoßen nicht die Rede. Sie sagt nur: »Jetzt kommt’s«, und dann kommt nichts als die nächste Kontraktion. Nachdem sie eine weitere Nacht und einen Tag in den Wehen gelegen hat, ist es im Haus heiß und drückend. Es riecht nach körperlichem Leiden und ist von Evas Stöhnen erfüllt. Stunde um Stunde liegt sie auf der muffigen Matratze, während ich das Feuer schüre, ihr den Rücken massiere und verzweifelt und hilflos abwarte. Soll doch der Teufel das Lexikon holen. Eva liegt im Sterben, und das Lexikon läßt sich über instinktives Verhalten aus. Selbst jetzt schwafelt es noch, 360
verflacht pedantisch und überheblich die Welt zu bloßen Fakten – und enthält mir zugleich das Wissen vor, das ich brauche, um meiner Schwester das Leben zu retten. Was weiß das Lexikon schon über instinktives Verhalten? Instinkt ist älter als Papier, unbezähmbarer als Worte. Instinkt ist weiser als jeder Artikel über die drei Perioden der Geburt und über geburtshelferische Eingriffe. Woher aber kommen Instinkte? Und wie kann ich sie jetzt aufspüren, nachdem ich so lange ohne sie ausgekommen bin? Sally Bell hatte Instinkte. Sie versteckte sich mit dem Herz ihrer Schwester in den Händen im Gebüsch, und als die Mörder fort waren, lebte sie von Beeren und Wurzeln, schlief nackt in hohlen Bäumen und überlebte das Grauen um achtzig Jahre. Die einsame Frau hatte auch Instinkte. Sie verließ ihr Volk, um ihr Kind zu retten, und als sie feststellte, daß ihr Kind nicht mehr da war, lebte sie allein weiter. Die Sau hatte auch Instinkte. Sie ist mit ihrem Nachwuchs zur Tränke gegangen und hat gegen die Kugeln angekämpft, bis es Zeit war, zu sterben. Da muß ich doch wohl auch Instinkte haben. Und dann geht mir ein Licht auf: Wir müssen aus diesem Haus heraus. Wenn Eva überleben soll, müssen wir diesen Ort verlassen, an dem sie festsitzt. Wenn Eva Mutter werden soll, müssen wir für sie eine andere Möglichkeit suchen, zu gebären. Die Dringlichkeit, die dem Gedanken anhaftet, ist so groß, daß ich das Wort ergreife, noch ehe ich dazu komme, ihn abzuwägen: »Hör mal, Eva – meinst du, du kannst gehen?« 361
»Was?« »Kannst du gehen?« »Warum fragst du?« »Ich möchte, daß wir einen Spaziergang unternehmen.« »Wohin?« »Zum Baumstumpf«, antworte ich, ohne nachzudenken. Statt ungläubig, empört oder gleichgültig, sieht sie mich mit einer Spur von Interesse an. »Zum Baumstumpf?« wiederholt sie. »Vielleicht hilft das was. Meinst du, du kannst gehen?« »Ich will mir Mühe geben«, sagt sie und reagiert auf die Gewißheit meiner Stimme, auf die Erleichterung, etwas unternehmen zu können. Sie kämpft sich von ihrer Matratze hoch. Ich fülle den Rucksack mit Steppdecken und Leintüchern, Proviant, einem Eimer mit Asche, in dessen Herzen ein paar Brocken Holzkohle glühen. Irgendwie schaffe ich es, uns warm anzuziehen, unsere Schuhe zuzubinden. Und dann brechen wir auf, um an der offenen Tür gleich wieder haltzumachen, damit Eva sich über den Krampf in ihrem Bauch beugen kann. Während ich ihr den Rücken reibe und an der Tür stehend zum graugrünen Wald hinüberblicke, packt mich ebenfalls eine Kontraktion – eine Kontraktion der Angst. Warum zwinge ich meine Schwester, durch den nassen Wald zu marschieren, nachdem sie schon fast zwei Tage in den Wehen gelegen hat? Tue ich es, um das Unausweichliche herbeizuführen, um ihren Tod zu beschleunigen? 362
Wir setzen einen Schritt vor den anderen, überqueren die Lichtung. Wir durchbrechen den Ring welker Tulpen, und schon sind wir im Wald, gehen am Bach entlang stromaufwärts. Eva stützt sich auf mich. Sie watschelt, anders als die Ballerina, die sie einst war, bietet aber doch die früher erworbene Ausdauer und Courage auf, um den nächsten Schritt zu tun. Manchmal bleibt sie stehen und krallt sich an mir fest, wenn eine Wehe sie überfällt. Wir erreichen den Hang, den wir erklettern müssen, machen halt, um die nächste Kontraktion abzuwarten, und beginnen den Anstieg. Höher. Und höher. Und stehenbleiben. Und weiter. Und höher. Ich zähle unser Vorankommen an einzelnen Schritten ab. Mein Arm wird unter ihrem Zugriff taub. Mein Rükken schmerzt unter dem Rucksack. Unsere Gesichter sind naß, sei es von Tränen oder Schweiß oder Nebel, und doch klettern wir weiter. Wenigstens bedeutet das etwas. Wenigstens unternehmen wir etwas. Aber auf halbem Weg den Hang hinauf sagt sie: »Ich kann nicht.« Sie sieht sich gehetzt, verzweifelt um, heftet dann den Blick auf mich und sagt so eindringlich, als verkünde sie die größte Wahrheit auf Erden: »Ich kann nicht.« »Es ist nicht mehr weit«, antworte ich. »Ich kann nicht«, wiederholt sie. »Es geht nicht um den Hang. Sondern hierum. Ich krieg es nicht raus. Ich krieg es nicht fertig. Ich schaff es nicht.« 363
Sie schluchzt, und dann fängt sie zu schreien an, mit zurückgeworfenem Kopf zum grauen Himmel gewandt. Ihr Gesicht sieht aus wie eine Maske, die den ewigen Schmerzen als Hülle dient. Sie ist ein Geschöpf, das nicht mehr meine Schwester ist. Sie schreit, während wir uns an den Hang klammern. Um uns herum harrt der Wald. Er lauscht und nimmt unser unbedeutendes Ringen zur Kenntnis. »Ich kann nicht. Ich kann nicht«, schreit sie. »Ich kann nicht.« Ich packe ihre zuckenden Schultern, zwinge sie, mich anzusehen, und sage mit vor Verzweiflung grausamer Stimme: »Was willst du denn sonst machen?« Einen Augenblick lang ist Eva wieder da, sieht mich aus den fremden Augen heraus an, und ich fahre sie erneut an: »Was willst du denn sonst machen?« Dann werde ich weich, flehe sie an: »Klettere erst einmal den Hang hinauf. Du brauchst das Baby nicht zur Welt zu bringen. Nur klettere bitte diesen Hang hinauf.« Sie schleppt sich weiter. Bleibt stehen. Hält sich an mir fest, schwankt vor Anstrengung, tut einen weiteren schlurfenden Schritt. Ihre Füße hinterlassen Furchen im tiefen Kompost aus Tannennadeln, Blättern und Eicheln vom vergangenen Jahr. Und so kommen wir voran, einen furchtbaren Schritt nach dem anderen – höher, immer höher. Als wir den steilsten Teil des Hangs erreicht haben, gehe ich hinter ihr her und schiebe sie an. Erst lege ich ihr die Hände auf die Schulterblätter, dann, wo es am allersteilsten ist, aufs Gesäß, so daß ich unter ihren Röcken durch das 364
Fleisch hindurch ihre Beckenknochen spüre. Ich schiebe sie hoch, jeweils ein paar Zentimeter höher. Als sie wieder »Jetzt kommt’s« keucht, halten wir an, machen uns gefaßt, lassen ihre Wehe über uns hinwegfluten, bis ich merke, daß auch ich unter ihrer Wucht erschauere. Auch ich atme so tief wie ein Ozean. Auch ich stöhne und knurre, schreie den Schmerz in den gleichgültigen Wald hinaus. Irgendwie erreichen wir den Kamm. Eva sinkt zu Boden, und ich lasse mich neben sie hinfallen, halte sie umschlungen, wiege sie in den Armen, sage murmelnd Lob und Dank und segne alles in uns und um uns herum, das uns geholfen hat, hierher zu gelangen. Als ich schließlich den Kopf hebe und mich umblicke, sehe ich den naßkalten Wald, den regenverhangenen Wald, den mit Tonnen vollgestellten überdachten Baumstumpf und bin mir einen Augenblick lang darüber im klaren, daß ich verrückt bin. Aber es gibt kein Zurück. Ich verdränge die Panik, helfe Eva auf, führe sie – Schritt für Schritt – in Richtung Baumstumpf. Mir fällt das alte Spiel ein, das wir immer gespielt haben. Nellie, du darfst zwei Schritte vorwärtsgehen. Mutter, darf ich? Ja, du darfst. Ja, du mußt. Was willst du denn sonst machen? Es ist fast schon dunkel, als Eva den Stumpf erreicht. Sie lehnt sich dagegen, während ich die Sperrholztür entferne und die Tonnen hinausrolle, um Platz für uns zu schaffen. Sie kriecht hinein, schleift mit dem Bauch 365
fast am Boden entlang. Ich breite Steppdecken aus, damit sie sich darauf legen kann, und weil sie unkontrollierbar zittert, decke ich sie mit allem zu, was ich mitgebracht habe. Dann eile ich los, um im schwindenden Licht trockenes Holz fürs Feuer zu suchen. Ich schütte die Glut aus dem Topf in die Vertiefung vor der Tür, versuche ein Feuer zu entzünden. Eva sieht mir mit trübem Blick zu. Schließlich springt ein Funke über und leckt die kostbaren Papierfetzen auf, und ich gehe in die Hocke, um die Flammen anzufachen. »Hier ist es angenehm«, sagt Eva zähneklappernd. Es sind seit Tagen die ersten Worte, die sie über etwas anderes verliert als ihren Zustand. Ich sehe mich um, und sie hat recht. Das Feuer schickt seine Funken zu den Sternen auf. Es verschattet die Falten und Windungen des Baumstumpfs, an dessen Herz wir ruhen. Wir können den sauberen Duft von verbranntem Eichen- und Lorbeerbaumholz riechen, von Humus und verkohltem Mammutbaum und der feuchten Nacht. Der Vollmond ist im Abnehmen begriffen, und es scheint heute nacht in diesem Wald nichts zu geben, das uns Schaden zufügen könnte. Statt dessen spüre ich mich von einem neuen Wohlwollen umgehen, so als habe sich der Wald endlich erbarmt, als seien wir – zusammengekauert im Innern des Baumstumpfs – endlich von Bedeutung. Eva krümmt sich unter der Wucht einer weiteren Kontraktion. Ihre Hand tastet blindlings nach meiner, umfängt sie, bis ich sicher bin, daß sie mir die Knochen brechen wird. »Ich dachte, ich hätte mich inzwischen daran gewöhnt«, 366
keucht sie und fügt wimmernd hinzu: »Schlimmer können sie nicht werden.« Können sie doch. Schwer und heftig und in dichter Folge rütteln sie an ihr wie Sturmböen und lassen ihr vor dem nächsten Ansturm nur sekundenlang Zeit, sich zu sammeln. Sie schreit nicht mehr, sondern stöhnt, und die Geräusche, die sie von sich gibt, sind jenseits von Schmerz und Mühe des Gebarens angesiedelt, jenseits des menschlichen – und tierischen – Lebens. Es sind die Geräusche, welche die Erde bewegen, die Geräusche, die den tiefen Schrunden der Mammutbaumrinde Stimme verleihen. Es sind die Geräusche, mit denen sich Zellen teilen und Atome verbinden, die Geräusche des zunehmenden Mondes und der sich bildenden Sterne. »Trink«, sage ich zur ihr und halte ihr eine Tasse Wasser an den Mund. Sie nimmt einen zittrigen Schluck und sagt: »Ich muß pinkeln.« Ich helfe ihr nach draußen, helfe ihr, die Röcke anzuheben. Ich stütze sie, als sie sich hinkauert, doch es kommt nichts außer einer Wehe. Dann höre ich einen anderen Laut, einen Grunzlaut tief in ihrer Kehle, und sie bekommt von der inneren Anstrengung ganz schmale Augen. Als es vorbei ist, sagt sie: »Ich hab gedrückt.« Es ist erstaunlich, wie nahe Zuversicht und Verzweiflung beieinanderwohnen. Ich dachte, ich hätte mich vor Stunden geschlagen gegeben, doch nun gerate ich erneut in Hochstimmung, und ich denke: Vielleicht muß meine Schwester ja doch nicht sterben. 367
Ich habe keine Ahnung, wie lange sie ausgetrieben hat. Mehrmals brannte das Feuer nieder, und ich mußte sie verlassen, um mich darum zu kümmern. Irgendwann half ich ihr, sich an die Innenwand des Baumstumpfs gelehnt aufzurichten, und als ich zwischen ihren Beinen nachsah, konnte ich im tanzenden Licht des Feuers ihre vorgewölbte Vulva erkennen. Sie drückte, und ich sah, wie sich ihre Schamlippen teilten und ein glitschiges Stück Schädeldecke zum Vorschein kam. Als die Wehe nachließ, verschwand der Kopf, doch als die nächste kam, hob ich eine ihrer Hände an und führte sie zwischen ihre Beine, damit sie das andere Lebewesen ertasten konnte. Da breitete sich auf ihrem Gesicht eine Ekstase aus, die selbst während der nächsten Kontraktionen vorhielt. Ich verabreichte ihr Wasser in kleinen Schlucken, hielt ihr die Hände, stimmte mit ermutigendem Knurren in ihr Ächzen ein. Und langsam weitete sich ihre Vulva immer mehr, und langsam schob sich der Kopf heraus. Plötzlich weiteten sich überrascht ihre Augen. Sie drückte wieder, und der Kopf schoß heraus – der Körper des Kindes war noch in ihr und sein plattes Gesicht wirkte wie das einer Gottheit aus alter Zeit. Sie drückte, und es kam mir entgegengerutscht. Ich fing es ungeschickt auf. Dabei ging es mir eher darum, zu verhindern, daß ich getroffen wurde, als darum, vor Schaden zu bewahren, was ich auffing. Es war heiß und naß und glitschig und totenstill. Eine Sekunde lang starrte ich ihm wie betäubt ins nackte Gesicht. Es erschien mir vollendet, so wie es war, und ich spürte einen eigentümlichen Widerwillen 368
bei dem Gedanken, es mit sanfter Überredung zum Leben zu zwingen. Doch als ich mir schon die Seiten des Lexikons in Erinnerung rief, auf denen die Wiederbelebung von Totgeburten abgehandelt wird, tat das Kind einen tiefen Atemzug. Und dann noch einen. Es schlug die Augen auf und sah das Feuer, den Baumstumpf, den nächtlichen Himmel an. Eva ließ sich zurücksinken. Tränen rannen ihr über die Wangen. Ich legte ihr das kleine Geschöpf auf die Brust und zog alle Zudecken um sie herum hoch. Wir weinten und lachten – was wir empfanden, ging über Worte weit, weit hinaus. Dann setzten bei Eva erneut die Kontraktionen ein, und ich erschrak, dachte einen Augenblick lang an Zwillinge, doch dann fiel mir die Plazenta ein. Eva drückte, und schon kam sie herausgerutscht, dunkelrot wie rohe Leber und mit Adern überzogen. Ich erinnerte mich, daß ich sie untersuchen mußte, war jedoch so mitgenommen, daß ich nicht mehr wußte, wonach ich Ausschau zu halten hatte. Natürlich stand im Lexikon nichts darüber, wie man die Nabelschnur durchschneidet, darum ging ich nach eigenem Gutdünken vor. Ich fing mit einem vorsichtigen kleinen Schnitt an, und als weder Eva noch das Baby zusammenzuckten, legte ich sie über die Klinge meines Messers und durchtrennte sie mit einem Ruck. Ich schürte das Feuer, während Eva ihrem Baby zuraunte, es an ihre Brust legte, kicherte, als es sich tastend und prustend rund um die Brustwarze zu schaffen 369
machte. Eine dünne Rauchfahne wehte über die Lichtung und erfüllte die morgendliche Luft mit ihrem Geruch. Die Sonne ging auf. Ich warf einen Blick auf den Wust von Decken über Evas Brust und sagte: »So, hell genug ist es jetzt. Dann wollen wir sie uns doch einmal ansehen.« Eva strich dem Kind träge mit den Fingerspitzen über den Schädel. »Es ist ein Junge.« »Was?« »Es ist ein Junge.« Ich merke, daß ich mich versteife. »Woher weißt du das?« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es seit Monaten.« »Aber es kann gar nichts anderes als ein Mädchen sein.« Sie lachte, beugte sich vor, um auf das Bündel an ihrer Brust herabzublicken. »Stimmt nicht. Es ist ein Junge. Ein reizender, stattlicher, kräftiger, schöner Junge.« »Du hast mir nie was davon gesagt.« »Du hast mich nie danach gefragt.« »Bist du wirklich sicher, daß es ein Junge ist?« »Darauf geh ich jede Wette mit dir ein.« »Du gehst jede Wette mit mir ein?« »Ich wette«, antwortete sie fröhlich, »um das Benzin. Ich wette mit dir um das Benzin, daß es ein Junge ist.« Sie schob die Decken zurück, und wir schauten nach und entdeckten zwischen den kleinen, roten, faltigen Schenkeln ein verblüffend großes Paar Hoden samt dem feisten kleinen Wurm eines Penis. »Ein Junge«, sagte ich, und die Enttäuschung war meiner Stimme so deutlich anzumerken, daß Eva auf370
blickte, um zu fragen: »Was hast du denn gegen einen Jungen?« »Eigentlich nichts. Ich hab nur gehofft, wir könnten das Kind Gloria nennen.« »Also, Gloria, das war doch ein ziemlich blöder Name für dich, nicht wahr, mein Kleiner?« flötete sie dem Baby an ihrer Brust zu. Soviel Arbeit für einen Jungen, dachte ich. Plötzlich versteifte sich der Penis und verspritzte einen kurzen Schauer. »Er pinkelt«, sagte Eva froh und bewundernd. »Er hat mich getauft.« Sie kicherte los wie eine Achtjährige, kicherte, als hätte sie zuviel Grand Marnier getrunken, kicherte so ansteckend, daß ich mit einstimmen und so erleichtert lachen mußte, daß ich mich hinterher erschöpft und geläutert fühlte. Wir lachten, und es wurde heller. Wir kicherten, bis uns das Lächeln weh tat und wir ein schwaches, zittriges Gefühl im Bauch bekamen, bis uns Tränen die Sicht nahmen und in ungehinderten Strömen über unsere Wangen liefen. Wir lachten, bis wir überzeugt waren, daß nie mehr etwas schiefgehen konnte, nachdem das Baby auf die Welt gekommen war und atmete und meine Schwester wieder Anspruch auf ihr Gesicht erhoben hatte. Wir ruhten uns bis mittags im Baumstumpf aus. Dösend und lächelnd beobachteten wir das Geschöpf mit dem zerknautschten Gesicht, wie es mit seinen unverdorbenen Augen in die Welt hinausblickte. Doch es war ein frostiger Tag. Ich mußte ständig Holz nachlegen, damit das Feuer den Baumstumpf warm genug für ein 371
Neugeborenes hielt, und ertappte mich bei dem Gedanken, daß ich Eva und das Baby am liebsten schnell wieder nach unten ins Haus verfrachtet hätte. Ich hatte das Bedürfnis, im Ofen ein verläßliches Feuer zu entfachen, eine warme Mahlzeit und Kamillentee zuzubereiten und dann tagelang zu schlafen. Ich vergrub die Plazenta und die Nabelschnur auf unserer neuen Lichtung, vergrub sie so tief, daß die Schweine sie nicht wieder ausgraben können. Ich stopfte die Decken in eine Tonne, löschte das Feuer, nahm das Baby auf den Arm und half dann – Schritt für Schritt – meiner Schwester den Hang hinab. Ich bin in der vergangenen Nacht davon aufgewacht, daß das Fenster geöffnet wurde. Das dunkle Zimmer drehte sich um mich, während ich versuchte, mich zurechtzufinden. Einen entsetzlichen Augenblick lang glaubte ich, wir hätten die letzten neun Monate nur überstanden, damit jetzt der Vergewaltiger zurückkam. Dann hörte ich, wie sich Eva zu ihrer Matratze schleppte. »Was ist denn los?« flüsterte ich. »Nichts. Es ist hier drinnen nur ein bißchen heiß.« »Ist alles in Ordnung?« »Ich glaub schon.« Ich ging zu ihr und stellte fest, daß sie kochend heiß war. Ihr Gesicht war schweißbedeckt, und sie zitterte am ganzen Leib. Ich zündete die Schmalzlampe an, holte ihr Wasser zu trinken und ein feuchtes Tuch, um ihr Gesicht 372
und Arme abzuwischen. Dann ging ich in die Speisekammer, stellte mich vor meine Waldkräutersammlung und überlegte verzweifelt, welches Kraut helfen könnte, sie wieder gesund zu machen. Ich saß noch lange neben ihr auf der Matratze, verabreichte ihr in kleinen Schlucken Erdbeerblättertee und sah kaltes Licht so langsam ins Zimmer sickern, daß es mir vorkam, als würde ich mir nur einbilden, daß es ein Vorbote der Sonne war. Befürchtungen und Zweifel kristallisierten sich in diesem Dämmerlicht heraus wie Wasser, das zu eisigen Spitzen und Zacken gefriert. Eva muß eine Infektion haben, dachte ich. Etwas anderes kann das Fieber nicht so schnell steigen lassen, kaum zwei Tage nach der Geburt. Aber ich hatte keine Vorstellung davon, wie sie sich die Infektion zugezogen hatte. Und ich hatte keine Vorstellung davon, wie ich sie kurieren sollte. Mittlerweile schrie das Baby – ein schriller, unpersönlicher Laut, der so lange anhielt, daß es wie eine Ewigkeit erschien. Mir fiel nichts ein, wie ich es davon abbringen konnte. Hochnehmen half nichts. Wiegen half nichts. Mit ihm herumgehen und ihm vorsingen half nichts. Ich wechselte ihm die Windeln und legte es in die vorbereitete Schublade, aber es schrie weiter. Ich legte es an Evas heiße Brustwarze, wo es sich bemühte, zu säugen, und dann von ihr abließ, um wieder loszuheulen. Schließlich sank es – mitten in einem Schrei – in unruhigen Schlaf, nur um wenige Minuten später weinend wieder aufzuwachen. 373
Eva regte sich, und ich wischte ihr das Gesicht und hielt einen Becher Tee aus aufgebrühter Hartriegelwurzel an die aufgesprungenen Lippen. Sie nahm einen unsicheren Schluck, sah sich plötzlich verstört nach allen Seiten um. »Wo ist mein Baby?« fragte sie – obwohl es laut heulend direkt neben ihr lag. »Es ist hier«, beruhigte ich sie. »Es geht ihm gut«, log ich. Sie ergab sich erneut ihrem Fieber und murmelte: »Und hoch das Bein. Höher. Knöchel gestreckt. Kopf hoch. So ist es gut. Auf, auf, auf.« Und dann fügte sie wehmütig hinzu: »Plié, dann arabesque, temps levé, sauté drei, vier, und pirouette.« Ich wiegte ihr Baby, ging mit ihm im säuerlich riechenden Zimmer auf und ab, wechselte das Handtuch, das ihm als Windel diente, und die ganze Zeit schrie es. Ohne zu wissen, woher ich es wußte, gab ich ihm einen feuchten Lappen zum Saugen, bot ihm meinen Finger an. Ich versuchte, es dazu zu bringen, daß es ein wenig Eichelgrütze, einen Tropfen Waldröschentee zu sich nahm. Ich redete ihm gut zu, sang ihm vor und mußte mir schließlich auf die Zunge beißen, um nicht ebenfalls zu schreien. Das Haus brannte von Evas Fieber. Es brannte von den Schreien des Babys und von meiner Angst. Das Baby hörte nicht zu weinen auf, und sein Geheul war Anklage, Verurteilung, schriller Hinweis auf mein Unvermögen, mein Unwissen. Das Geheul riß mich hinab, ließ mich von Hilflosigkeit zu Zorn und von da zu Verzweiflung übergehen, und danach weinte es immer noch. Sein 374
Gesicht war verkniffen und rot, seine Augen – aus denen keine Tränen flossen – fest geschlossen. Ich legte es wieder in seine Schublade, ging hinaus, um Holz zu holen. Als ich zurückkam, heulte es noch immer, und die Tränen, die es nicht weinte, rannen leise über Evas Gesicht. »Warum weint er?« fragte sie, als sie mich sah. »Ich glaube, es hat Hunger«, antwortete ich. »Die Milch ist bei dir noch nicht eingeschossen.« »Und wann wird sie einschießen?« fragte sie flehentlich. »Bald. Es dauert beim ersten Mal eben immer ein bißchen länger.« Als ob es ein zweites Mal gäbe, dachte ich. Sie seufzte und rollte unruhig auf dem Bett hin und her. »Wie geht es dir?« erkundigte ich mich. Sie entgegnete: »Mir ist kalt«, und ich dachte: Nun ist es doch noch soweit gekommen, daß ich sie verliere. Das Baby schrie immer noch, und das Geräusch bohrte mir ein Loch in den Kopf, vertrieb jeden Gedanken außer dem, es zum Aufhören zu bewegen. Plötzlich stürzte ich mich rasend vor Hilflosigkeit auf das Kind und packte es. Meine Finger verkrümmten sich zu Klauen und meine Arme schmerzten, so sehr sehnten sie sich danach, es seinen Schreien zu entreißen. Ich war bereit, jede Verzweiflungstat zu begehen, wenn sie nur die Stimme und ihre unmöglichen Forderungen zum Verstummen brachte. Doch statt es zu schütteln oder zu ohrfeigen oder es mit dem Kopf gegen die Ofenkante zu donnern, sank 375
ich auf meine Matratze. Ich weinte inzwischen selbst und drückte das heulende Geschöpf an mich. Da begann es an meiner Brust herumzumümmeln und zu tasten, und ich war so benommen, daß ich ihm gab, was es wollte. Ich hob mein Hemd an, legte meine eigene Brust frei, als hätte ich mich nicht gerade noch mit dem Gedanken getragen, es umzubringen. Einen Augenblick lang wackelte der schwere Kopf des Kindes wie wild auf dem Stengel seines Halses, und dann saugte es sich an meiner Brustwarze fest. Mir blieb der Atem weg. Das Nuckeln des Kleinen versetzte mir einen Schock, der so jäh und überwältigend war wie Sex. Wie ein kleiner Staubsauger, dachte ich, schwindelig vor Erleichterung, daß ich ihm nicht weh getan hatte, und vor Wonne über die plötzliche Stille. Er saugte heftig, die dunklen Augen geöffnet, ohne zu blinzeln, und sein Mund kaute so selbstverständlich an meiner Brustwarze herum wie eine Schildkröte, die ein Salatblatt verspeist. Er schien genau zu wissen, was zu tun war, und meine nächstes Gefühl war Reue, daß ich ihn mit meiner milchlosen Brust hereingelegt hatte. Ich machte mich auf den furchtbaren Augenblick gefaßt, an dem er darauf kommen würde, daß meine Brüste noch nutzloser waren als die von Eva. Ich weiß nicht, ob er die Hoffnung auf Nahrung aufgegeben hatte, oder ob er bis zur Gleichgültigkeit erschöpft war. Jedenfalls nuckelte er lange an meiner leeren Brust, als wäre menschliche Wärme für sein Überleben wichtiger als Milch. Ich beugte mich über ihn, stützte seinen Kopf mit der offenen Hand und sah zu, wie ihm langsam die 376
Augen zufielen, wie er bis auf ein gelegentliches Mampfen immer seltener die Lippen bewegte und dann ganz zu saugen aufhörte. Zuletzt rutschte meine Brustwarze triefend aus seinem schlaffen Mund, und er schlief ein. Er schlief in meinen Armen, während das Feuer im Ofen niederbrannte und das winterliche Licht aus dem Haus entwich. Er schlief in meinen Armen, bis sie so weh taten, als hätten sie die ganze Nacht einen Eichenstamm umklammert. Stundenlang schlief er, während ich auf ihn herabblickte, auf den kleinen Menschen, der bis oben hin voller Verheißung, Intelligenz und Bedürfnisse steckte, während ich mir schwor, daß er nicht sterben würde. Nicht einmal, wenn ich ihn mit meinem eigenen Blut ernähren müßte. Holunderbeeren, die Wurzeln des Hartriegels, Pfefferminzblätter und Erdbeerkraut, Bergbalsam, blaue Binsenlilie und Schafgarbe, um das Fieber zu senken; Schachtelhalm, Wermut und Lorbeerblätter, um Krämpfe zu lindern; Mammutbaumharz, Mate und Beifußblätter als Stärkungsmittel; Hagebutten, Kreuzdorn und Kamille gegen Koliken; Fenchelsamen, Brennesseln, Himbeerblätter und Rosmarin, Kamille und Rotkleeblüten, um den Milchfluß, anzuregen. Ich durchforste die Seiten der Heimischen Flora Nordkaliforniens nach überliefertem Wissen und nach Hoffnung. Die Pflanzen, die ich nicht schon in der Spei377
sekammer habe, suche ich im Wald, an Bächen und auf Wiesen. Ich nehme mit, was ich mitten im Winter dort finden kann. In das muffige Haus zurückgekehrt, schäle ich Wurzeln ab, zerstoße Blätter, koche Wasser und weiche Kräuter ein. Dabei versuche ich, nicht an meine ungeheure Unwissenheit, nicht an das Experiment zu denken, das ich durchführe. »Trink das«, sage ich, helfe meiner Schwester von ihrer Matratze auf, halte ihr die dampfende Tasse hin, während sie gehorsam daran nippt, schaudert und das Gesicht verzieht, wenn es wieder einmal streng, herb und ungewöhnlich schmeckt. Und gleich noch einen Schluck trinkt. »Das ist gegen dein Fieber, das ist für die Brustwarzen, das läßt die Milch einschießen, das wird dich kräftigen«, sage ich und dränge ihr Salben und Umschläge, Aufgüsse und Sude auf. Ich bringe weiteres Wasser zum Kochen, brühe weitere Kräuter auf und bete darum, daß der Wald sie gesund macht. Wenn der Kleine aufwacht und nuckelnd nach einer Brustwarze sucht, halte ich ihn an Evas heiße Brust. Aber wenn sie dann stöhnt und ihn fortstößt oder er sich versteift und seine Enttäuschung herausheult, nehme ich ihn doch wieder an mich, hebe mein Hemd hoch und stecke ihm meine eigene Brustwarze in den Mund. Ich nehme am Fenster Platz, wo ich mir einst die Phasen der chromosomalen Zellteilung eingeprägt habe, sehe ihm zu, wie er bei mir trinkt, und wundere mich über die seltsame Alchemie aus Liebe, Not und Chemie, die meine Brüste mit Milch füllt, über die Entschlossenheit, 378
die seine winzige Stirn bekundet, über die vollendete Form seiner Ohren. Ich habe meiner Schwester Tee aus Holunderbeeren, blauen Binsenlilien und Schafgarbe eingeflößt und werde wohl nie erfahren, ob es diese Kräuter waren, die sie kuriert haben, aber irgendwann ließ ihr Fieber nach. Ich habe ihr Kompott und Eichelbrei und Suppe aus getrockneten Schweinefleisch zu essen gegeben, und sie wurde langsam kräftiger, bis sie sich, als das nächste Mal Vollmond war, allein aufrichten und selbst den heißen Becher festhalten konnte. Ich gab ihr Tee aus Himbeerkraut, Brennessel und Fenchel zu trinken, bis bei ihr die Milch einzuschießen begann, bis ihre Brüste auf das Zweifache ihrer sonstigen Größe angeschwollen waren. Wenn jetzt das Baby schreit, breiten sich auf unser beider Hemdbrust kreisförmig dunkle Flecken aus. Eva hat ihn nach unserem Vater Robert getauft, aber ich habe mir angewöhnt, ihn Burl zu nennen, und er ist mein ständiger Gefährte. Stunde um Stunde koche, putze und sorge ich für ihn und für meine Schwester. Eva wird langsam immer kräftiger, und mein Burl wird langsam immer dicker und munterer. 379
Heute morgen habe ich, um wieder einmal aus dem Haus zu kommen, das mich offenbar ganz für sich in Anspruch nimmt, Burl auf eine Wanderung mitgenommen. Ich habe zwei Hemden seines Großvaters zu einer Art Trage verknotet und mir den Kleinen vor die Brust gebunden. Eva schlief noch, als ich aufbrach. Ich überlegte, daß ich sie hätte wecken müssen, um ihr zu sagen, wo wir hingingen, meinte aber dann doch, daß sie ihren Schlaf nötig habe. Ich schürte das Feuer, nahm meinen Sammelkorb, schlüpfte zur Tür hinaus, überquerte die Lichtung und machte mich auf den Weg zum Grab meines Vaters. Es war ein milder, feuchter Tag, ein Tag mit tiefhängendem grauem Himmel. Der Wald war üppig und feucht – er verrottete, um neu zu erblühen. Pfifferlinge lugten wie verlorene Bälle unter dem nassen Laub hervor. Die zarten Kringel der Farnschößlinge entrollten sich aus dem naßkalten Boden, und ich füllte im Gehen meinen Korb. Burl war ein angenehmer Begleiter. Er schlief unterwegs die meiste Zeit, eingerollt und still wie eine Katze. Sein Körper ruhte warm an meiner Brust. Ich war mir, selbst wenn er schlief, seiner Gegenwart bewußt, und der Wald wirkte frischer, lebendiger, weil Burl mit mir dort war. Als er aufwachte, verhielt er sich still. Eine weiche Wange direkt unterhalb meines Schlüsselbeins an mich gepreßt, drehte er so den Kopf, daß er in die Welt hinausblicken konnte. Da begann ich ihm zuzuraunen, ihm vom Wald zu erzählen, von Pilzen und Farnen, Bären 380
und Wildschweinen, Mammutbäumen, Eichen und Erdbeerbäumen. Ich erzählte ihm von seiner Familie, von seinem Großvater und seiner Großmutter, von Eva, Eli und mir – ein Netz aus Geschichten, das sich um ihn entspann und ihm schon jetzt mit seinen Fäden Halt gewährte. Als wir am Grab ankamen, war es unter einer Decke feuchten Laubes verborgen und roch frisch und alt zugleich. Ich ließ mich neben dem Erdhügel nieder, band Burl los und stillte ihn. Dem Himmel flüsterte ich zu: »Du hast einen Enkelsohn.« Als wir nach Hause kamen, saß Eva am Fenster und erhob sich, um uns mit verschlossenem Gesicht entgegenzutreten. »Wo warst du?« fragte sie und griff nach Burl, noch ehe ich ihn von meiner Brust losbinden konnte. »Spazieren.« »Ich bin aufgewacht, und es war niemand da.« »Ich hab Burl mit zum Grab seines Großvaters genommen«, erläuterte ich. »Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?« »Du hast geschlafen.« »Meinst du nicht, daß mir das auch wichtig gewesen wäre – meinen Sohn mit ans Grab meines Vaters zu nehmen?« »Wir gehen noch mal hin, sobald du kräftiger bist«, versprach ich. »Aber es wird nicht das erste Mal sein«, sagte sie und drückte Burl an sich, als hätten sie beide Schlimmes durchgemacht. 381
»Tut mir leid«, sagte ich. »Bist du denn wenigstens gut ausgeruht?« »Nein.« Sie setzte sich und öffnete ihre Bluse, und Burl begann gehorsam zu nuckeln. »Hat er nach mir geweint?« fragte sie und streichelte seinen rudernden Arm. »Nein«, sagte ich. »Hat er nicht. Burl hat überhaupt nicht geweint.« »Er heißt nicht Burl«, sagte sie und drückte seinen Kopf enger an ihre Brust. »Er heißt Robert.« Das Dach leckt wie ein sinkendes Boot. Ich muß stündlich die Treppe hinaufsteigen, um die Ansammlung von Wannen und Töpfen zu leeren, mit denen unsere ehemaligen Schlafzimmer vollgestellt sind. Zwischendurch bemühe ich mich, im Lexikon zu lesen, doch es ist sinnlos, fad – eine bedeutungslose Angewohnheit. Ich schreibe ein wenig, doch das Papier wird knapp, und meine Gedanken schweifen immer wieder ab. Das Leben müßte nach all unseren Mühen angenehm sein. Aber es ist wieder einmal etwas schiefgegangen. Ich kann zwar nicht genau sagen, was, aber mir fallen heute abend ständig die Tonklumpen auf der Töpferscheibe meiner Mutter ein. Sie schienen beinahe lebendig, wenn sie sich zwischen ihren nassen Händen drehten, und ich erinnere mich, verzückt zugesehen zu haben, wenn sie sie zentrierte und dann öffnete und zu Kelchen, Schüsseln und Vasen hochzog, wenn sie ihnen nach ihren Wünschen Gestalt verlieh. 382
Doch jedes Lebewesen hat seine eigenen Wünsche. Mutter hat immer gesagt, daß ein guter Töpfer auf den Ton hören müsse, und heute abend fällt mir ein, wie sehr die kleinste Luftblase, jedes Körnchen, jedes winzige Abgleiten ihrer Hand den perfekten Topf zum Wackeln bringen konnte. Und wenn auch nur das leiseste Wackeln unbemerkt blieb oder nicht korrigiert wurde, steigerte es sich zusehends, entwickelte ein Eigenleben und geriet schließlich so außer Kontrolle, daß es den Topf zerriß – und nasse Tonfetzen durchs Zimmer schleuderten. Wenn Eva Burl vorsingt und ich den Raum betrete, verstummt sie neuerdings. Wenn ich ihn aufhebe, sagt sie: Laß ihn in Ruhe – er muß schlafen. Wenn ich ihm die Windeln wechsle, rückt Eva sie zurecht. Wenn ich ihn zudecke, deckt Eva ihn auf. Wenn ich ihn zu stillen versuche, reißt sie ihn mir neuerdings aus den Armen. Ich sitze im Baumstumpf, während ich dies schreibe, an dem kleinen Feuer, das ich allein in Gang zu halten versuche. Es droht zu ersticken und flackert. Heftiger Qualm steigt von ihm auf, der mal in den Regen abzieht, mal mit seinen bitteren Fahnen das Innere des Baumstumpfs füllt. Bedrückend und grau dauert der Regen an. Alles tropft oder zieht sich in sich selbst zurück. Ich bin seit fünf Nächten hier, lebe von den Eicheln und Beeren und von der Trockennahrung, die wir im vergangenen 383
Herbst hier eingelagert haben. Ich lebe von Regenwasser und von Haß. Wir haben uns gestritten. Ich bin fortgegangen, bin hierher umgezogen, habe nur einen Eimer Glut, Decken und genug zum Anziehen mitgenommen, ein paar Kräuter, ein paar Gerätschaften und dieses fleckige, verblaßte Journal. »Den Rest kannst du behalten«, habe ich die Hexe angebrüllt, die einmal meine Schwester war. »Alles andere, worauf es ankommt, hast du dir ja schon unter den Nagel gerissen.« So endet die Geschichte, und wer weiß, wie weit wir zurückgehen müßten, um den Anfang zu finden. Als Eva schrie: »Laß mein Baby in Ruhe«, kam es mir vor, als hätten wir uns seit Jahren nur gestritten. »Er hat Hunger gehabt«, wandte ich ein, von Burl an meiner Brust zu meiner Schwester aufblickend, die sich von ihrer Matratze erhob, das erwachende Gesicht bereits vor Wut verhärtet. »Ich kann ihn selbst stillen«, fuhr sie mich an. »Du hast geschlafen.« »Dann weck mich auf.« »Du brauchst Ruhe.« »Er braucht keine zwei Mütter.« »Als du krank warst, hat er sie gebraucht.« »Ich bin längst wieder gesund.« »Warum können wir nicht beide …« »Nell, er ist mein Baby.« »Dein Baby«, wiederholte ich und blickte auf ihn herab, während er von meiner Brust trank, beim Saugen die 384
wohlgenährten Backen aufblies und mit winzigen Fingern meine Brust streichelte. »Dein Baby?« »Ich habe ihn neun Monate ausgetragen. Ich habe ihn geboren. Er braucht meine Fürsorge.« Sie überbrückte die Distanz zwischen ihrer Matratze und meiner und riß Burl an sich. Sein zahnloser Gaumen schabte an meiner Brustwarze, als sie ihn mir entzog. Er begann zu schreien, und auf einmal wurde ich gemein und blind vor Qual. »Wer hat dich denn monatelang am Leben erhalten, damit du dein Baby zur Welt bringen konntest? Wer hat dir bei deiner Niederkunft geholfen? Wer hat deinem Baby das Leben gerettet, als du krank geworden bist? Wer hat übrigens auch dir selbst das Leben gerettet?« »Und jetzt meinst du auch noch, ich muß dir gehören?« Nur dieser Baumstumpf gehört mir – und selbst den teile ich mir mit dem Wald. Ich verbringe meine Tage damit, am Feuer zu sitzen und nach Möglichkeit nicht zu denken, keinen Erinnerungen nachzuhängen. Statt dessen lausche ich dem Regen, beobachte den Regen, schnuppere den Regen, fühle, wie sein Dunst an meinem Gesicht haften bleibt. Meine Brüste sind riesengroß und hart wie Fäuste. Sie blähen sich auf, verformen sich vor lauter Milch, die niemand braucht. Wurmdicke Adern schlängeln sich auf ihnen, und meine Brustwarzen weinen – Trauer, die mein Hemd fleckig und steif macht. 385
Burl war das einzige, was uns geblieben war – und Burl war das einzige, was meine Schwester und ich nicht zu teilen lernen konnten. Die Pomofrauen haben Goldmohn verwendet, um den Milchfluß zu stoppen, darum gieße ich getrocknete Samenkapseln mit kochendem Wasser aus dem Bach auf und schlucke das ätzende Gebräu. Ich presse kleine Mengen dünner, süßer Milch heraus, lasse sie im feuchten Erdboden versickern und binde mir anschließend die Brüste hoch – alles, um ihren Schmerz und ihr Pochen zu lindern, alles, um meinem Körper zu helfen, damit er Burls Saugen vergißt. Es ist die Zeit des Winterschlafs, eine bedächtige, frostige Zeit des grauen Regens und grünen Lichts. Am Tag gehe ich auf Wanderschaft, träume, präge mir ein, wo die Pflanzen wachsen, die mich zu ernähren oder zu heilen vermögen. Ich zerstoße Eicheln zu Mehl, packe es in Farnwedel, lege es zum Auslaugen in Quellwasser. Ich kaue ein paar getrocknete Beeren, nage an einem Streifen Schweinefleisch, schlürfe Goldmohntee, um meine Milch versiegen zu lassen. Ich sammle Holz, kümmere mich um das Feuer, schüttle meine Decken aus, repariere das Dach. Manchmal meine ich, Stimmen zu hören, weder barsch noch liebevoll, sondern im ureigenen Tonfall des Waldes. Außer mir benutzen noch andere Geschöpfe die Lichtung. Das Reh, das grasend auf den Baumstumpf 386
zukommt, hält schnuppernd die Nase in den Wind, verharrt, als es meinen Geruch wahrnimmt, wendet mir den anmutigen Kopf zu, um mich zu begutachten, und mir geht das Herz auf und wird still. In der vergangenen Nacht ist ein Waschbär am Rand des Lichtkegels rund um das Feuer erschienen, ist über die Flammen hinweg meinem Blick begegnet. Er gab einen kehligen Laut von sich – ein langgezogenes Glucksen, irgendwo zwischen Schnurren und Geknurr – und wandte sich dann unter dem abnehmenden Mond wieder seinen Geschäften zu. Und heute morgen hat eine alte schwarze Sau meine Lichtung betreten. Auch sie hielt kurz meinem Blick stand. Dann grunzte sie und trabte davon. Ich bringe Stunden damit zu, auf mein kleines Feuer aufzupassen, und manchmal kommt mir dabei ein Gedanke. Manchmal fallen mir meine anderen Schwestern ein, die einsame Frau und Sally Bell, die sich auch nach den Angehörigen sehnten, die sie verloren hatten, die auch lernten, allein im Wald zu hausen. Manchmal denke ich an meine Mutter und meinen Vater, an das Netz, das bis auf den heutigen Tag bestimmt, wer ich bin, wie ich mich bewähre. Du bist ein eigenständiger Mensch, hatte meine Mutter gesagt. Nun endlich denke ich, daß sie recht gehabt haben könnte. Manchmal fällt mir Eli ein, wie es war, ihn in mir zu haben, während das Laub ringsum an unserer nackten Haut kleben blieb. Ich erinnere mich an sein spöttisches Lachen, an die bebende Zärtlichkeit seiner Hände und 387
frage mich, wer er war, was aus ihm geworden sein mag. Ich versuche ihn mir in Boston vorzustellen – obwohl es mir immer schwerer fällt, zu glauben, daß ein solcher Ort existiert. Ich versuche, mir Autos und Straßenlaternen und klingelnde Telefone ins Gedächtnis zu rufen, doch diese Vorstellungen sind vage und verschwommen, und meiner Sehnsucht nach ihnen fehlt der Schmerz, das Ungestüm echten Verlangens. Manchmal denke ich, daß ich Eli gern wiedersehen würde. Allerdings muß er mich, wenn er jetzt zurückkommt, hier ausfindig machen – an meinem eigenen Feuer. Das Holz brennt auf Sparflamme. Ich knabbere an einer getrockneten Aprikose, schlürfe Beifußtee, damit ich träumen kann, immer noch Goldmohn, damit meine Milch versiegt. Ich schaue ins Feuer, lausche dem Nebel, grüble mehr, als ich schreibe. Das Schreiben ist eine alte Angewohnheit. Ich halte es für denkbar, daß ich sie ablege, noch ehe mir das Papier ausgeht. Ich frage mich, ob es noch Englisch ist, was ich hier schreibe. Ich bin nur ein Kern, ein Korn, ein Stück Kohle, eingebettet in atmendes, dem Regen lauschendes Fleisch. Mein Leben ist ausgefüllt, nicht mehr karg, nicht mehr verloren oder gestohlen, nicht mehr im Wartestand vor dem eigentlichen Beginn. Ich trinke Regen, und er löscht einen uralten Durst. Dies ist kein Zwischenstadium, keine Fugue. 388
Der Mond nimmt ab, wird zur kaum erkennbaren Sichel. Meine Zufriedenheit wächst. Ich habe mir gestern zum Frühstück Eichelmus mit getrockneten Brombeeren gedünstet. Während ich im Topf rührte, fielen mir die Beeren ein, die in der spätsommerlichen Hitze getrocknet waren, das Summen der Fliegen und Bienen, die Blutstropfen an meinen Armen vom Brombeergestrüpp, die dauerhafte Verfärbung meiner Finger. Auch die langen Tage fielen mir ein, an denen ich Eicheln gesammelt hatte, das stundenlange Bücken und Umherkriechen, bis mein Rücken sich anfühlte, als werde er krumm bleiben, die Schnittwunden, die eine Million spröder Eichenblätter meinen Händen beigebracht hatte. Als ich die Augen schloß, sah ich ein Meer aus Eicheln vor mir. Der Dampf stieg warm und duftend in die eisige Luft. Ich hatte Hunger, spürte meinen Magen, der sich zusammenzog wie der kräftige Muskel, der er war. Doch als ich den ersten Löffel voll zum Mund führen wollte, hörte ich eine Stimme sagen: Warte. Einen verstörten Augenblick lang dachte ich: Mutter. Ich ging soweit, aufzustehen und ihr entgegenzutreten, sah jedoch vor dem Baumstumpf nur den vertrauten Wald, hörte nur das unaufhörliche Prasseln des Regens. Ich atmete die feuchte, grün angehauchte Luft und folgte einem Impuls, den zu verstehen ich erst gar nicht versuchen will. Ich nahm den Breitopf, umrundete den Stumpf 389
und blieb unterwegs viermal stehen, um eine Portion dampfende Nahrung auf die nasse Erde zu löffeln. Ich schürte mein Feuer, setzte mich im Baumstumpf direkt am Ausgang mit gekreuzten Beinen zurecht und beobachtete das Tropfen des Regens im Wald. Mein Magen fühlte sich angespannt und klein an, meine Lungen groß und locker. Meine Hände lagen still in meinem Schoß. Ich hatte das Gefühl, zu warten, ohne daß ich gewußt hätte, warum und worauf. Hin und wieder schossen mir Gedanken durch den Kopf: Ich müßte mal wieder Holz sammeln gehen, ich müßte mal wieder nach dem Dach sehen, ob es auch dicht hält, ich müßte mal wieder den Wassereimer in den Regen hinausstellen. Doch es fehlte ihnen an Nachdruck, und sie blieben flüchtige Feststellungen, Wahrnehmungen wie: Der Himmel ist grau. Es regnet. Ich spüre das Gewicht meines Hemdes auf meinem Rücken. Ich saß immer noch so da, als Dunkelheit den Wald überfiel. Die Luft trübte sich, der Himmel verdüsterte sich, der Wald rückte ringsum näher heran, bis ich nur noch die letzte Glut meines vernachlässigten Feuers verglimmen sah wie die Geheimnisse eines Herzens. Ich mußte gegen den Impuls ankämpfen, den ersten richtigen Impuls, seit ich mein Frühstück auf die Erde gelöffelt hatte, einen dieser roten Edelsteine aus seinem Aschebett zu holen und ihn in den Mund zu nehmen. Noch allmählicher als das Verblassen des Sonnenlichts erfolgte das Verblassen der Holzkohlenreste, doch schließlich ging es auch mit ihnen vorbei, so langsam, daß ich nicht hätte sagen können, wann sie erloschen, obwohl 390
ich ihnen meine ganze Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Als es soweit war, blieb ich in der absoluten Finsternis einer mondlosen, regnerischen Nacht zurück, und bald war die Kohle in meinem Innern das einzige Feuer, das noch übrig war. In der Schwärze um mich herum fiel weiter der Regen. Er übertönte, was es in diesem Wald sonst noch an Geräuschen geben mochte. Ich saß entleert vor dem toten Feuer und beobachtete die Finsternis. Mein Gesicht fühlte sich an, als sei es in Samt eingehüllt, und es kam mir so vor, als wären mir auf Wangen und Stirn eintausend neue Augen gewachsen, die jedoch auch nur Schwärze erblickten. Nach einer Weile dämmerte ich ein, immer noch sitzend mit gekreuzten Beinen, die schlaffen Hände immer noch auf dem Schoß. Ich erwachte im Dunkeln. Der Regen hatte aufgehört. Ein Dutzend verschiedener Träume flatterten wie scheue Engel von mir auf. Ich erwachte hungrig, durstig, unterkühlt, steif, aber dennoch nicht gewillt, den Zauber meines Sitzens zu brechen, indem ich aufstand, um Essen und Wasser zu finden, nicht einmal gewillt, meine schmerzenden Beine zu bewegen. Da kam sie. Ich spürte ihre Annäherung, lange bevor ich ihre schwerfälligen Schritte hörte, lange bevor ich ihren scharfen Geruch bemerkte. Sie beschnüffelte die Peripherie des Baumstumpfs, hielt inne, um die vier erkalteten Haufen Nahrung aufzulecken. Am Ausgang hielt sie erneut inne, während ich mich gegen die Rückwand preßte. Sie kam herein, drehte sich im Kreis wie ein müder Hund und 391
legte sich hin. Ich fühlte ihren nassen, rauhen Pelz, roch die Verwesung, die ihrem Atem anhaftete, und ich dachte: Das ist kein Traum. Ich saß in einer Finsternis, an die sich meine Augen nicht gewöhnen wollten, meiner Freiheit beraubt durch den Leib und den Willen einer Bärin. Ich lauschte dem Tropfen des Waldes, meinem Atem und ihrem. Ich rollte mich neben ihr ein und schlief. Mir träumte, daß sie mich aus dem heißen Mysterium ihres Schoßes gebar, daß sie mich durch den Tunnel ihres Ichs hinabdrückte, bis ich hilf- und wehrlos auf die Erde fiel. Blind und wimmernd erklomm ich ihren riesigen Leib, suchte, bis die Brustwarze meinen Rachen füllte. Später fand mich ihre Zunge. Beharrlich leckend formte sie den nackten Klumpen, der ich war, gestaltete sie meinen Körper und meine Sinne nach ihren groben Vorstellungen. Mit ihrem Lecken gebar sie mich zum zweiten Mal, und als sie damit fertig war, polterte sie davon und ließ mich – allein und wie Nell geformt – in ihrem Wald zurück. Ich erwachte bei Morgengrauen, und sie war fort. Ich kroch zum Ausgang, sah ihre Spuren in der weichen, toten Asche meines Feuers. Ich stand auf, und meine Muskeln verkrampften sich, meine Gelenke knackten. Ich kam mir vor, als würde ich aus einem zerstörten Leib in einen neuen steigen, und erinnerte mich, wie ein soeben entpuppter Schmetterling zittert und bebt, während das Blut seine bleichen Flügel füllt. Steif und frierend und leer hinkte ich über die Lichtung. Und betrat den Wald. 392
Eva wartete am Stumpf, als ich zurückkam. Sie saß neben dem wieder angezündeten Feuer, und Burl schlief warm eingepackt auf ihrem Schoß. Neben ihr lag ein Bettlaken, das überquoll wie das Bündel eines Landstreichers. »Hallo«, sagte sie. »Hallo«, erwiderte ich. Ich ging um ihr Feuer herum, warf einen Arm voll Reisig auf meinen Holzstoß. Weil mir der Rauch in die Nase stieg, ließ ich mich an ihrer Seite nieder, die Hände in Richtung Feuer ausgestreckt, um sie zu wärmen. »Wie geht es Burl?« fragte ich. »Es geht ihm gut.« »Und wie geht es dir?« »Gut«, antwortete sie. »Mir geht es gut. Und dir?« »Auch gut.« Wir schwiegen, und ich beobachtete Evas Feuer. Der Haufen Zudecken, der Burl verbarg, geriet in Bewegung. Eva hob ihn von ihrem Schoß auf und reichte ihn mir. Ich nahm ihn in die Arme, fühlte sein heißes, geringes Gewicht, atmete seinen Geruch ein. Ich drückte ihn an die knochige Fläche zwischen meinen Brüsten, und jede Zelle meines Seins sog sich mit Sinneseindrücken voll, wie er sich anfühlte und wie er roch. Er begann an meiner Brust zu schnüffeln und herumzusuchen, und ich warf Eva einen verstohlenen Blick zu. »Schon gut«, sagte sie. »Du darfst ihn stillen, wenn du willst.« »Es ist nichts mehr für ihn da. Ich hab meine Milch austrocknen lassen. Außerdem hattest du recht – er ist dein Baby.« 393
»Nein«, entgegnete sie. »Ich hatte unrecht. Er ist ein eigenständiger Mensch.« Wir saßen eine Minute beieinander, und dann meldete sich Eva erneut zu Wort. »Es ist angenehm, hier zu sein«, sagte sie. »Was für ein angenehmer Ort.« »Ja«, erwiderte ich. »Ich hab mich nach dir gesehnt.« Da wurde mir das ganze Ausmaß meiner Sehnsucht nach ihr bewußt und erstickte meine Antwort. Unsere Blicke begegneten sich. Ich nickte, und sie lächelte. Ich stand auf, gab meiner Schwester ihren Sohn zurück. Ich stellte einen Topf mit Wasser aufs Feuer, und wir warteten, bis es kochte und die Hagebutten aufgebrüht waren. Eva reichte mir ein wenig Trockenobst, eine noch warme gebackene Kartoffel, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Ich trank und aß, und das Feuer drang mir wieder in die kalten, nur noch an Wildnis gewöhnten Knochen. Nachdem wir alles aufgegessen hatten und unsere Tassen leer waren, ergriff Eva das Wort. »Nell. Es gibt etwas zu tun. Etwas, bei dem du mir helfen sollst.« »Okay«, sagte ich. »Was?« »Die ganze Zeit haben wir in der Vergangenheit gelebt, haben wir darauf gewartet, in die Vergangenheit zurückzukehren. Aber die Vergangenheit ist aus und vorbei. Sie ist tot. Und sie war ohnehin nicht richtig.« »Nicht richtig?« »Überleg doch mal: Selbst wenn wir zurückkönnten, selbst wenn wir irgendwann wieder Strom bekommen, wo wären wir dann?« 394
Sie zeigte mit ausgestrecktem Arm in die Runde, bezog den Wald und den Baumstumpf ein. »Kannst du dir vorstellen, daß du in einem Studentenheim in Harvard wohnst? Oder daß ich heute noch die Coppelia tanze?« Sie legte den Kopf schief und stützte das Kinn in die aneinandergelegten Handflächen. Die Pose war so albern und puppenhaft, daß ich lachen mußte. »Dies ist unser Leben«, fuhr sie mit ungeahntem Nachdruck fort. »Ob es dir gefällt oder nicht, unser Leben ist hier – deines und meines zusammen. Und wir müssen es so hinkriegen, daß wir das nicht wieder vergessen, daß wir keine Fehler mehr begehen können.« »Worauf willst du hinaus?« »Ich will, daß wir hier oben leben.« »Hier? Im Baumstumpf?« »Erinnerst du dich an das Benzin?« wechselte sie jäh das Thema. »Ja.« »Ich hab es gewonnen, stimmt’s? Als ich gewettet habe, daß das Baby ein Junge ist.« »Ja.« »Ich möchte, daß wir es verbrauchen. Jetzt. Heute abend.« »Heute abend?« »Ich zeig dir, wie. Sagen wir, es ist Weihnachten. Heute abend feiern wir Weihnachten. Okay?« »Okay«, willigte ich ein. Ich dachte an die Klänge der Wassermusik, wie sie das Dunkel durchfluteten, an Eva, wie sie noch einmal Tzigane tanzte, an elektrisches Licht und heißes Wasser zum Duschen. Ich dachte an das Fest, 395
das zu feiern wir uns, so schien es, vor Jahrhunderten vorgenommen hatten. »Okay«, wiederholte ich, »wird gemacht. Wir veranstalten eine Party. Sagen wir, es ist gleichzeitig Burls Geburtstagsparty.« »Und ich darf das Benzin verwenden, wie ich will?« »Es ist dein Benzin«, versicherte ich. »Wie du willst.« Ihre Stimmung schlug um. Sie verlor ihre Eindringlichkeit, wurde fröhlich, ausgelassen. Sie warf mir Burl zu und rannte vor mir her den Hang hinab zum Haus. Sie neckte mich, versprach mir den schönsten Weihnachtsabend, den es je gab, während ich schwerfällig dreinstolperte, den schlafenden Säugling im Arm. Als wir das Haus erreichten, war ich überrascht. Es war eine Höhle, stank nach Chemikalien und verdorbenem Fleisch. Es wirkte unbequem und beengt, undicht und halb verfallen. Einen Augenblick lang sah ich es mit den Augen eines Tieres aus dem Wald. Ich empfand ein Mißtrauen, eine Abneigung, die mich zögern ließ, hineinzugehen. Erst als ich über die Schwelle trat, wurde es wieder zum Haus, das ich seit jeher gekannt hatte. Es roch immer noch so wie in meiner Kindheit, beherbergte immer noch die Geister meiner Eltern, die Geister meines Ichs. »So«, sagte Eva mit einer Munterkeit, die mich veranlaßte, an meinen Vater zu denken, »ich geh das Benzin holen.« Sie eilte hinaus, während ich auf dem Boden herumstand, auf dem ich laufen gelernt hatte, in den Zimmern, in denen sich der überwiegende Teil meines Lebens abgespielt hatte. Ich drückte Burl an mich und dachte, wie schön es doch war, zu Hause zu sein. 396
Eva kam wieder. Atemlos und mit rosigen Wangen schleppte sie den Benzinkanister herein. Sie nahm den Deckel ab, und Benzindunst breitete sich im Zimmer aus, und ich ließ mich von ihm zu den Tankstellen meiner Kindheit zurückversetzen. Ich atmete gierig ein, schloß die Augen und hatte das Gefühl, jederzeit meine eilige Mutter und den warmen, brummenden Wagen berühren zu können. Als ich die Augen aufschlug, schüttete Eva Benzin aufs Sofa. »He!« rief ich. »Was soll das?« Sie fuhr wütend herum. »Du hast selbst gesagt, daß ich es verwenden kann, wie ich will.« »Aber was, verdammt noch mal, machst du da?« »Das Haus niederbrennen.« Sie ging aus dem Zimmer, eine Benzinspur hinterlassend, die in den Fußboden einzog, als hätte jemand ölige Tränen vergossen. Ich rannte ihr nach, sah erschüttert mit an, wie sie die Vorhänge in ihrem Studio bespritzte und anschließend auf die Küche zusteuerte. »Halt«, rief ich. »Rede doch wenigstens mit mir.« »Okay«, sagte sie, richtete den Kanister auf und umklammerte ihn. In ihren Augen loderte bereits das Feuer, das sie sich in den Kopf gesetzt hatte. »Worüber möchtest du mit mir reden?« »Was machst du da?« »Hab ich dir doch gesagt.« »Aber warum denn nur?« »Auch das hab ich dir gesagt.« »Können wir denn nicht einfach ausziehen?« 397
»Es wäre zu leicht, zurückzukommen. Ich möchte, daß wir keine andere Wahl haben. Robert braucht dich, ich brauch dich auch. Und du brauchst uns. Wir können es uns nicht leisten, im Hinblick darauf noch einmal Unsicherheit aufkommen zu lassen.« »Das tun wir bestimmt nicht. Wir haben unsere Lektion gelernt.« »Dieses Haus wird es sowieso nicht mehr lange machen.« »Wir können es doch reparieren!« »Womit denn? Es ist nichts in Vaters Werkstatt, womit wir das Dach flicken oder den Abstellraum wiederaufbauen könnten.« »Dann improvisieren wir eben.« »Wir müssen unsere Zeit anderweitig nutzen. Außerdem …« »Außerdem was?« »Komm mit.« Sie führte mich aus dem Haus ins kalte Zwielicht dorthin, wo die Straße durch den Wald verlief. »Sieh dir das an«, sagte sie und zeigte zu Boden. Ich sah neben einer Wasserlache den Abdruck eines stiefelbewehrten Fußes. Es war eine große Spur, um ein Drittel größer als meine eigene. Derjenige, der sie hinterlassen hatte, war so lange an dieser Stelle geblieben und hatte das Haus beobachtet, daß sich sein Stiefelabdruck tief in den Schlamm eingegraben hatte. »Er ist wieder da«, stellte ich fest und suchte mit einer Angst, wie ich sie seit Monaten nicht mehr empfunden hatte, den dunkler werdenden Wald ab. 398
»Ja«, entgegnete sie, »oder jemand wie er.« »Hast du ihn gesehen?« fragte ich. »Nein.« »Warum dann …« »Sieh dir das an«, wiederholte sie und zeigte die Straße hinauf. Im Halbdunkel erkannte ich drei weitere Abdrücke des bewußten Stiefels, aber verwischt und weit auseinander und von der Lichtung abgewandt. »Ich versteh das nicht«, sagte ich. »Was hat ihn wohl in die Flucht geschlagen?« Schweigend führte Eva mich zu einer weiteren Spur. Sie war breit und unbeschuht und ein wenig kürzer als mein Fuß. Als ich mich bückte, um sie aus der Nähe zu betrachten, entdeckte ich im Schlamm an der Spitze eines jeden Zehs den punktförmigen Abdruck einer Kralle. Eva setzte Burl auf ihrem Arm zurecht und sah zu, während ich in meinem Schädel verarbeitete, was die Abdrücke erzählten. »Er ist von einem Bären verjagt worden«, erzählte ich mir selbst. »Aber das war reines Glück. Wir können uns nicht darauf verlassen, daß das noch mal passiert.« Sie sah mich noch einen Augenblick bedeutsam an. Dann fuhr sie fort: »Verstehst du, was ich meine?« »Okay«, antwortete ich. »Okay. Vielleicht müssen wir tatsächlich einige Zeit hier weg. Aber warum müssen wir das Haus anzünden?« »Kapierst du denn nicht? Früher oder später wird wieder jemand versuchen, uns ausfindig zu machen. Wenn wir 399
das Haus stehenlassen, könnte derjenige hier einziehen. Wenn dagegen das Haus niedergebrannt ist und wir nicht da sind, besteht nicht mehr viel Grund, sich hier aufzuhalten.« »Und wenn Eli zurückkommt?« fragte ich, ohne nachzudenken. »Er weiß, wo der Baumstumpf ist, oder etwa nicht?« Ich nickte. Dann fragte ich: »Und wenn wir mal dies und jenes brauchen?« »Was denn zum Beispiel?« »Na ja, zu essen. Kleidung und dergleichen. Geschirr. Werkzeug.« »Den ganzen Wintervorrat haben wir doch schon im Baumstumpf untergebracht.« Sie machte sich auf den Weg zurück zum Haus. »Ich hab heute nachmittag dies und jenes eingepackt – Messer und Decken und das Vergrößerungsglas. Ein paar Krüge und Töpfe. Die Samen. Und wenn die Werkstatt nicht abbrennt, können wir immer noch herschleichen und alles mögliche holen, wenn es sein muß. Aber ich sage dir: Nichts von diesem Zeug wird ewig halten. Es ist jetzt schon abgenutzt. Wenn wir wirklich was brauchen, holen wir es uns aus dem Wald.« »Wir wissen noch nicht genug über den Wald«, wandte ich ein und folgte ihr in das stinkende Haus. Sie zuckte erneut die Achseln. »Das holen wir nach. Was wir brauchen, ist ein Abenteuer.« »Das hat Eli damals auch gesagt.« »Dies ist ein echtes Abenteuer. Seines war nur Flucht.« 400
»Laß uns noch eine Weile warten, wenigstens bis zum Frühjahr.« »Bis zum Frühjahr ist es nicht mehr weit hin. Bis dahin kommen wir auf jeden Fall durch. Aber vor allen Dingen hab ich das Gefühl, daß der Mann bald zurückkommt. Wenn wir warten, wird es zu spät sein.« »Aber das hier«, sagte ich und ließ meine Blicke durch das Zimmer schweifen, »ist alles, was wir haben. Alles, was wir je haben werden.« »Alles, was wir haben, sind wir selbst. Und der Wald. Und vielleicht ein wenig Zeit. Das hier hat uns beinahe das Leben gekostet. Wir können hier nicht bleiben.« »Ach, Eva …« »Nell«, sagte sie, »du weißt doch Bescheid.« »Bescheid worüber?« »Wie lange gibt es schon Menschen?« »Wie bitte?« »Ich meine: Wann sind sie zum ersten Mal aufgetreten?« »Der moderne Homo sapiens ist Mitte bis Ende des Pleistozäns aufgetaucht«, antwortete ich. »Und was heißt das?« »Das erste Auftreten des Menschen reicht mindestens hunderttausend Jahre zurück«, zitierte ich aus dem Lexikon. »Vielleicht sogar zwei-, dreimal so lange.« »Es gibt also seit mindestens hunderttausend Jahren Menschen. Und wie lange gibt es schon Elektrizität?« »Also, Edison hat 879 die Kohlenfadenlampe erfunden.« »Siehst du? All dies«, sagte sie und wies mit ausschwei401
fender Geste auf die Räume des einzigen Hauses, das ich gekannt habe, »war nur – wie hast du es genannt? Nur eine Fugue.« Sie zeigte auf die Finsternis jenseits der offenen Tür: »Das wirkliche Leben spielt sich dort draußen ab.« »Aber was ist, wenn uns das Essen ausgeht oder wir krank werden? Wir könnten umkommen.« »Das Essen kann uns hier ebenfalls ausgehen, und krank werden können wir auch.« Sie lachte. »Nellie, seit mindestens hunderttausend Jahren sterben hier schon Menschen. Sterben ist nicht das, worauf es ankommt. Natürlich sterben wir alle irgendwann. Übrigens«, fügte sie hitzig hinzu, »bist du diejenige, die längst dort draußen lebt. Du kannst doch dieses Haus schon seit Monaten nicht mehr ausstehen.« Sie beobachtete mich, während ich über das Gesagte nachdachte. Dann lächelte sie und streckte die Hand aus, um mein Gesicht zu berühren. »Ach, Schwester«, sagte sie, »es wird schon gutgehen. Was auch sonst passieren mag: Wir tun das Richtige. Denk doch an Burl«, redete sie mir zu. Es war das erste Mal, daß sie den Namen benutzte. »Wenn du es schon nicht um deiner selbst willen tun kannst, tu es einfach ihm zuliebe.« »Okay«, sagte ich. »Okay. Wir tun es.« Und ich atmete so tief aus, daß es mir vorkam, als hätte ich jahrelang den Atem angehalten. »Aber erst brauche ich eine Minute. Ein bißchen Zeit.« »Natürlich«, antwortete sie. »Bis zum Morgengrauen ist es noch Stunden hin.« 402
Da wachte Burl auf und schnüffelte an meiner milchlosen Brust herum. Ich küßte ihn und reichte ihn Eva. »Ich warte draußen auf dich«, sagte sie. »Ich habe schon Lebewohl gesagt.« Sie ließ mich in dem Haus allein, das unsere Eltern für uns eingerichtet hatten, an dem Ort, an dem wir beide gezeugt worden waren. Tränen strömten mir übers Gesicht, als ich die Treppe hochstieg und das Schlafzimmer meiner Eltern betrat. Ich vergrub das Gesicht in den Kleidern meiner Mutter, atmete zum letzten Mal ihren schwachen Duft ein. Ich schloß die Schranktür, legte die Fotos der Kinder, die wir gewesen waren, mit der Vorderseite nach unten auf die Kommode und ging hinaus. Drunten ließen mich die Benzindämpfe beinahe taumeln, darum versuchte ich, meinen abschließenden Rundgang so kurz wie möglich zu machen – durch die Küche, das Vorderzimmer, Evas Studio, Mutters Arbeitszimmer mit seinem unfertigen Wandteppich und den Regalen voller Bücher. Beim Anblick der übervollen Bücherregale blieb ich wie angewurzelt stehen. Im Halbdunkel des Arbeitszimmers erinnerte ich mich an alles, was ich aus Büchern gelernt hatte, auch daran, wie sie mich getröstet, amüsiert und herausgefordert hatten. Der Gedanke, sie hier alle zurückzulassen, stimmte mich untröstlich. Hastig begann ich am Boden alle Bücher aufzustapeln, ohne die ich glaubte nicht leben zu können. Platos Dialoge. Stolz und Vorurteil. Elemente der Trigonometrie. Die Abenteuer des Huckleberry Finn. 403
Das Bestimmungsbuch nordamerikanischer Vögel. Antigone. Menschenkind. Shakespeares gesammelte Werke. Über den zivilen Ungehorsam. Die viertorige Stadt. Der Weltatlas. Die Schlittenfahrt. Quantenmechanik. Das Geheul. Sturmhöhe. Ich war noch nicht mit dem ersten Brett fertig, da wußte ich schon, daß der Stapel zu schwer war, um ihn zum Baumstumpf zu schleppen. Ich sah ein, daß es absurd war, im Wald eine Bibliothek unterhalten zu wollen, wo sie dem Schimmel des Winters, der Buchrükken brechenden Hitze des Sommers ausgesetzt war und Platz einnahm, den wir für andere Zwecke brauchten. Verzweifelt versuchte ich, nur jene Bücher auszuwählen, die absolut notwendig waren. Doch ausgebreitet auf dem Boden war jeder Band seine eigene beste Verteidigung. Jedes Buch war mir auf einmal unvergleichlich kostbar. Wie konnte ich behaupten, daß die Gesamtausgabe der Gedichte von Emily Dickinson mehr wert sei als die Märchen der Gebrüder Grimm, daß Über den Ursprung der Arten zurückbleiben müsse, um für den Aufstieg und Fall des Dritten Reiches Platz zu lassen? Vorübergehend schien es mir gerechter, vielleicht sogar barmherziger zu sein, sie alle zu verbrennen. Ich sagte mir, daß das Leben, das uns bevorstand, ein Leben war, in dem es auf Bücher nicht ankam. Ich dachte an Eva, die vorn auf dem Hof auf mich wartete, rief mir in Erinnerung, daß mich das Lexikon bei ihrer Niederkunft im Stich gelassen hatte und daß mich kein Buch darauf vorbereitet hatte, meinem Vater das Leben zu retten. Dann jedoch fiel mir ein, wie sehr mein Vater Bücher 404
geliebt hatte, wie sehr er sich auf sie verlassen hatte, und ich fand, daß es eine ebenso große Entweihung gewesen wäre, mit leeren Händen fortzugehen, wie die, seinen unbegrabenen Leichnam den Schweinen zu überlassen. Ich werde nur drei mitnehmen, feilschte ich mit mir, je ein Buch für Eva, Burl und mich. Die machen’s nicht lange, wandte ich ein. Die werden naß, oder zerfleddert oder einem dringenderen Bedürfnis geopfert. Macht nichts, dachte ich. Eines Tages bekommen wir vielleicht wieder welche. Und wenn nicht, kann ich sie mir so wenigstens allmählich abgewöhnen. Bei Evas Buch fiel mir die Auswahl leicht. Für sie nahm ich die Heimische Flora Nordkaliforniens mit, da ihr das Buch möglicherweise schon einmal das Leben gerettet hat, da es die einzige Großmutter ist, die sie je besitzen wird. Burl gerecht zu werden war schon schwerer. Kinderreime? Die Geschichte von Peter Hase? Die Schatzinsel? Krieg und Frieden? Wie sollte ich wissen, was er später am dringendsten wissen, welches eine Buch er am liebsten lesen wollte? Die Odyssee? Don Quixote? Der Wüstenplanet? Am Ende beschloß ich, für Burl das Buch mit den Liedern und Erzählungen der Menschen mitzunehmen, die vor uns den Wald bevölkert hatten, das Buch mit den Geschichten über Sally Bell, Kojote und Bär, mit den Klage- und Dankgesängen, den Liedern, die Glück bringen sollen. Dann war ich an der Reihe, und ich kam mir vor wie 405
Mutter Courage, gezwungen, zwischen meinen Kindern zu wählen. Ich sah den Bücherhaufen auf dem Boden durch und liebte sie ausnahmslos. Ich liebte ihren Geruch und ihr Gewicht, die Farben ihrer Einbände, das Gefühl, wenn ich ihre Seiten anfaßte. Ich liebte alles, was sie für mich bedeuteten, alles, was sie mich gelehrt hatten, alles, was ich in ihrem Beisein gewesen war, und sie offenbarten mir die ganze Tragik der Wahl, denn eines mitnehmen hieß alle anderen zurücklassen. Ich war fast schon soweit, für mich selbst keines aufzuheben, als mir ein Buch ins Auge fiel, das noch im halbleeren Regal stand. Ich hatte es nie gelesen, hatte auf seine über tausend Seiten nie mehr als einen flüchtigen Blick geworfen. Und doch wußte ich auf einmal, daß dies das dritte Buch war, das ich mitnehmen wollte. Ich holte es herunter, fuhr mit dem Finger über den Titel: Register A-Z. Ich konnte die unzähligen Geschichten nicht retten, die unzähligen Informationen nicht vor dem Vergessen bewahren – sie waren zu zahlreich, zu verschieden, vielleicht sogar zu gefährlich. Aber ich konnte das Register des Lexikons mitnehmen, konnte versuchen, diese umfassende Liste all dessen zu erhalten, was einst erreicht, behauptet oder erkannt worden war. Vielleicht würden wir es zu einer neuen Überlieferung bringen; vielleicht würden wir neues Wissen erwerben, das uns am Leben erhielt. Aber erst einmal würde ich zum Andenken das Register mitnehmen, damit ich mich erinnern und Burl zeigen konnte, wie sie ausgesehen hatte, die Landkarte all dessen, was wir zurücklassen mußten. 406
Mit den Büchern in der Hand verließ ich Mutters Arbeitszimmer und schloß die Tür. Im Vorderzimmer nahm ich das Gewehr an mich, holte die Patronenschachtel aus dem Schrank. Alles andere ließ ich da. Ich ließ meinen Computer da, meinen Taschenrechner, meinen Brief aus Harvard, Evas Spitzenschuhe, den CD-Spieler und das Weihnachtskarussell, ein ganzes Haus voller Gegenstände, von denen wir einst geglaubt hatten, daß wir sie zum Überleben brauchten, und ging hinaus. Die hauchdünne Sichel eines zunehmenden Mondes war soeben über den Wipfeln aufgegangen. Eva hatte draußen auf dem dunklen Hof neben dem Hühnerstall ein Feuer angezündet und wartete mit Burl im Arm auf mich. »Fertig?« fragte sie. »Was machen wir mit den Hennen?« »Die nehmen wir mit. Wir bauen ihnen einfach ein neues Gehege. Außerdem sind sie sowieso schon halb wild.« »Na gut«, sagte ich. »Willst du diejenige sein, die es tut?« fragte sie. »Okay.« Wir blieben einen Augenblick lang stehen und beobachteten das kleine Freudenfeuer. Dann hielt Eva einen Mammutbaumzweig über die Flammen, bis er knackend Feuer fing. »Da«, sagte sie und gab ihn mir. »Sei vorsichtig.« Ich stieg die Stufen hinauf, überquerte die Terrasse, zögerte kurz und warf dann die Fackel durch die offene Tür. 407
Ich war kaum von der Terrasse herunter, da erfolgte auch schon die Explosion. Im Davonrennen hörte ich hinter mir einen Laut wie hastiges Einatmen und unmittelbar anschließend einen so fürchterlichen Knall, daß die Erde bebte. Fenster splitterten, und ich verlor das Gleichgewicht. Doch gleich darauf war ich neben Eva angelangt. Zitternd drehte ich mich um, den überall aufsteigenden Flammen zu. Ich beobachtete, wie sich das Feuer des Hauses bemächtigte, wie es sich brausend nach außen und oben in sämtliche Zimmer ausbreitete. Eva nahm stumm meine Hand, und wir lauschten gemeinsam dem Krachen und Knarren der einstürzenden Mauern, dem wilden Fauchen und Brausen eines so großen Feuers. Schließlich sagte ich: »Ich hab wirklich gewollt, daß du das Benzin zum Tanzen nutzt. Ich hab mir immer gewünscht, dich wieder tanzen zu sehen.« Eva lachte und sagte zu mir gewandt: »Den Wunsch kann ich dir erfüllen.« Sie reichte mir unseren Burl, hob die Arme hoch über den Kopf und fing zu tanzen an. Dort neben dem brennenden Haus tanzte sie einen Tanz, der das Ballett abstreifte wie eine zu eng gewordene Haut, der die Tanzende erfrischt, froh und ermutigt zurückließ. Sie tanzte mit einem Körper, der Samen gesetzt, Eicheln gesammelt und geboren hat. Mit neuen, noch namenlosen Bewegungen tanzte sie ihren persönlichen Tanz, mal wild, mal zart, mal schwerfällig, mal beschwingt. Über die rauhe Erde tanzte sie zur Musik unseres brennenden Hauses. 408
Zum Abschluß warf sich meine Schwester erschöpft und triumphierend zu Boden. »Fröhliche Weihnachten, Nell«, keuchte sie. »Fröhliche Weihnachten, Eva«, entgegnete ich. Wir schwiegen einen Augenblick, in die Betrachtung des brennenden Hauses versunken. Dann regte sich Burl in meinen Armen. »›So geht die Geschichte‹«, sagte ich, meinen Vater zitierend. »›Könnte besser sein, könnte schlechter sein. Aber wenigstens steht ein Baby im Mittelpunkte.‹« »Ich frage mich«, sagte Eva und stand auf, um weiter zu tanzen, »wie die Leute darauf kommen, auf dem Wasser gehen zu wollen – solange sie die Möglichkeit haben, auf festem Boden zu tanzen.« Also tanzt meine Schwester, und das tote Haus brennt, und ich bringe im Licht seines Brennens diese letzten Zeilen zu Papier. Ich weiß, ich sollte diesen Bericht ebenfalls ins Feuer werfen. Aber ich bin immer noch zu sehr Erzählerin – oder zumindest Bewahrerin – von Geschichten, bin immer noch zu sehr die Tochter meines Vaters, um diese Seiten zu verbrennen. Nun regt sich der Wind, und das Baby erwacht. Bald werden wir drei die Lichtung überqueren und für immer in den Wald gehen.
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Wenn die Vision zur Wahrheit wird Die Schwestern Nell und Eva, 7 und 8, leben weit außerhalb am Waldrand. Wie betäubt vom Tod ihrer Eltern realisieren sie zunächst nicht, was um sie herum geschieht. Nachrichten von Krieg und Seuchen kommen. Bald gibt es keinen Strom, keine Lebensmittel mehr. Nell und Eva sind von der Welt abgeschnitten. Gemeinsam müssen sie ihren Weg suchen, um zu überleben.