Keith Roberts
Die Kreide-Riesen Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction-Bestsel...
68 downloads
533 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Keith Roberts
Die Kreide-Riesen Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction-Bestseller Band 22 038 © Copyright 1974 by Keith Roberts All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1981 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach
Originaltitel: THE CHALK GIANTS Ins Deutsche übertragen von Maike Blinde Titelillustration: David Semic Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Printed in Western Germany ISBN 3-404-22038-2
Nach dem nuklearen Holocaust bricht ein neues heroisches Zeitalter an – mit Königen, Prinzen und machiavellistischen Hofintrigen. Eine Fruchtbarkeitsgöttin wird zum Mittelpunkt der neuen Kultur. Doch Wissenschaft und Technik sind bald wiederentdeckt. Die Mythen der Vergangenheit bestimmen den Menschen auch in einer noch so fremdartigen Zukunft… „Was auf den ersten Blick wie eine Fabel über die Unbezwingbarkeit des menschlichen Geistes erscheint, entpuppt sich als eine Erforschung all dessen, aus dem unsere Mythen geschaffen sind.“ New York Times
Der Streifenwagen hat sich wieder in Bewegung ge setzt, schiebt sich vorbei an der nach Süden kriechen den Autoschlange. Aus seinem Lautsprecher kommen die Worte krächzend und flach, verzerrt durch die Augusthitze der Salisbury Ebene. Stan Potts beobachtet das blaue Signallicht und schwitzt und kratzt sich und flucht. Er will pinkeln, verspürt dm Druck schon seit mehr als einer Stunde, und der dumpfe Schmerz ist immer schärfer und schließlich zu einem alles beherrschenden Bedürfnis geworden. Er bewegt den Schaltknüppel vor und zu rück und starrt durch die fleckige Windschutzscheibe des Champ und versucht, an nichts, gar nichts, zu denken. Der Aufsichtsbeamte hat den Wolseley verlassen; Wagen für Wagen arbeitet er sich an dem Stau ent lang. Irgendwo in der Ferne bricht ein Aufruhr aus, Autohupen und Geschrei. »Niemand wird in die Sperrgebiete hineingelassen«, tönt es aus dem Laut sprecher. »Wenn Ihre Reise nicht absolut notwendig ist, kehren Sie bitte nach Hause zurück. Niemand wird in die Sperrgebiete hineingelassen.« Stan wischt sich mit dem Handrücken übers Gesicht und greift hinter sich. Irgendwo muß eine alte Köderdose her umfliegen. Er findet sie und stellt sie zwischen seine Füße.
Der Aufsichtsbeamte lehnt sich ins Fenster. Seine Arme sind mit kurzen goldenen Haaren bedeckt. »Wohin, Sir?« fragt er. »Wareham«, antwortet Stan. Der Polizist schüttelt den Kopf. Er sieht sehr jung aus. Er sagt: »Das ist ein Sperrgebiet, sie werden Sie nicht reinlassen. Es ist besser, wenn Sie umkehren.« Stan Potts’ Stimme sagt: »Ich muß es versuchen. Mein Vater ist sehr alt.« Es sind nur Wörter, völlig bedeutungslos. Aber der Polizist ist sowieso schon weitergegangen; er ist nicht interessiert. Der Wolseley rückt neben ihm auf und hält. Der Fah rer spricht in ein Mikrophon. »Vier Meilen nördlich von Amesbury«, sagt er. »Ja, in Ordnung.« Der Wa gen bewegt sich vorwärts. Stan klemmt sich die Dose zwischen die Knie, zerrt an seinen Hosenknöpfen. Das Gefühl der Erleichterung macht ihn richtig schwindelig. Der Mann am Fenster sagt: »Ich brauche Benzin.« Stan zuckt zusammen und versucht, sich zu bede cken. »Niemand hat welches«, sagt er und lehnt sich schmerzerfüllt zurück. »Neunzig Meilen bin ich gefahren«, sagt der Mann. »Ich muß Benzin haben. Was ist da drin?« »Wasser«, sagt Stan. »Wasser ist drin.« »Sie dreckiges Schwein«, sagt der Mann. »Sie haben in die Dose da gemacht.«
Der Escort vor ihm ist ein Stück weitergefahren. Stan dreht am Zündschlüssel. Der Wagen springt an. »Tut mir leid«, sagt er. »Ich habe kein Benzin.« »Sie Schweinehund«, sagt der Mann. »Ich habe Frau und Kinder da hinten.« Der Ford setzt sich erneut in Bewegung. Die Autos hinter dem Champ beginnen zu hupen. Der Mann versucht, die Wagentür zu öffnen. »Steigen Sie aus!« sagt er. Stan legt den Gang ein. Irgend etwas schlägt gegen die Seite des Champ. Er schaut zurück. Der Mann, der das Benzin wollte, ringt mit zwei hemdsärmeli gen Polizisten. Eine Uniformkappe fällt auf die Stra ße. Weiter hinten bahnt sich ein Kabriolett einen Weg. Der Fahrer schlägt mit der offenen Hand gegen die Türfüllung und schreit. Eins der Räder hebt sich und rollt über ein Hindernis. Jemand kreischt. Stan fährt 50 Meter, bremst. Es sieht so aus, als ob der Kampf weitergeht, aber der überholende Verkehr verhüllt weitere Einzelheiten. Die Dose kippt um, ihr Inhalt verteilt sich über den Boden. Er greift erneut nach ihr und stöhnt.
EINS DIE SONNE ÜBER EINEM FLACHEN HÜGEL I Es war immer dasselbe bei einer langen Fahrt. Zuerst horchte er ständig besorgt auf das Sum men des Motors und die Geräusche des Getrie bes, und irgendwann begann er, Entfernungen und Geschwindigkeit auszurechnen; schließ lich wurde das Fahren automatisch, und dann kamen ihm Erinnerungen in den Sinn; Szenen, die manchmal Jahre zurücklagen, an die er sich nicht erinnern wollte, die er aber nicht vergessen konnte. Dinge ohne jeden Sinn und Zusammenhang; wie Gesichter, die man an geblich in flackerndem Feuer sieht, die er aber nie gesehen hatte, nicht mal, als er ein Kind war. Der Champ rollte gleichmäßig dahin. Er war mittlerweile südlich von Salisbury, hatte die verwinkelten Gassen mit ihrem Lärm und Ge stank hinter sich. Die Stadt hatte schlimm aus gesehen – überall zerbrochene Fensterschei
ben, und an einer Stelle hatte er Aufruhrtrup pen mit Gewehren und Schutzschilden gese hen. Irgendwo hatte ein Gebäude gebrannt; die dicke, schwarze, stinkende Rauchwolke hatte den Turm der Kathedrale eingehüllt und wälzte sich auf die Schlangen von hupenden, ungeduldigen Wagen nieder. Er mußte sich seinen Weg Zentimeter für Zentimeter durch das Meer von Autohupen und Geschrei bah nen. Nah am Stadtrand rammte ihn ein Vaux hall, prallte gegen eine Mauer und blieb Was ser spuckend und dampfend am Straßenrand liegen. Obwohl bewaffnete Truppen in der Nähe waren, hatte er Glück und konnte unge hindert weiterfahren. Er packte das Lenkrad fester und versuchte, nicht mehr nachzudenken. Weniger als fünf Meilen von hier lag die Küstenstraße, die an Bournemouth vorbeiführte. Früher wäre er in nerhalb einer Stunde am Ziel gewesen, aber der Verkehr begann bereits wieder zu stocken und kam bald ganz zum Stillstand. Zu beiden Seiten der Straße streckten sich die Wald schneisen des New Forest hin. Er schluckte – er hatte sich bei dem Gedanken ertappt, ob die Ponys wohl überleben würden. Wenn er einen Armaturenkompaß hätte, sag te er sich zum soundsovielten Mal, würde er
eine Fahrt durchs Gelände riskieren. Letzte Woche hatte er versucht, einen aufzutreiben, aber er war zu spät gekommen. Vielleicht wa ren sie verboten worden. Er schaute sich um und befeuchtete seine Lippen. Er hatte das richtige Fahrzeug, er hatte die nötigen Land karten; aber er wußte, er würde es nicht tun. Er hatte nicht den Mut. Die Angst wallte wieder in ihm auf und schnürte ihm die Kehle zu. Er zwang sich zur Ruhe. Er fand ein Taschentuch, wischte sich die Stirn und trocknete anschließend das Lenkrad. Er horchte auf das Klopfen des kraft vollen Motors. Nach einer Weile schaltete er den Wagen wieder aus, um Benzin zu sparen. Wann und wie ihm der Gedanke gekommen war, konnte er nicht mehr sagen. Zuerst hatte er ihn weggeschoben, wie gewöhnlich; aber er tauchte immer wieder auf. Die Idee verfolgte ihn bei der Arbeit, wie eine Melodie, die man nicht loswird, und er lag nächtelang schlaflos da, während er die Uhr ticken und seine Mut ter im anderen Zimmer husten hörte. Er sagte sich, daß es nutzlos war, vollkommen nutzlos, bis er das Wort nicht mehr hören konnte; es half nichts. Seine ersten Einkäufe waren planlos gewesen – Dosen und Packungen, die er hier und da
mitnahm und nach Hause schmuggelte, um sie später zu der Garage zu bringen, in der der Champ stand. Er breitete sie auf dem Boden aus, während er zu sich sagte: »Du wirst es niemals wagen. Du traust dich nicht; und wenn du’s versuchen würdest, würde es todsicher schiefgehen.« Schließlich setzte er sich mit Stift und Papier in den Wagen. Er brauchte ein genaues Konzept, so viel war klar. Er merkte ziemlich schnell, wie wahllos und unsinnig seine Käufe gewesen waren. Die meisten Lebensmittel, gekauft in einer Art Hysteriestimmung, waren zu sperrig für seine Zwecke und außerdem nicht auf längere Zeit haltbar. In Gedanken ging er die Regale seines Supermarktes durch. Irgendwo hatte er gele sen, daß Reis mehr Menschen am Leben er hielt als irgendein anderer Rohstoff; bis jetzt war er noch gar nicht auf seinen Listen er schienen. Mehl war klar; um es zu transportie ren und aufzubewahren, würde er Feuchtig keit abhaltende Behälter brauchen, entweder aus Plastik oder aus Metall. Butter war wohl unumgänglich; sie konnte auch als Bratfett dienen, Öl war gut in Dosen zu kriegen. Salz war lebenswichtig; auch dafür würde er einen luftdichten Behälter benötigen. Die meisten Fleischkonserven waren unbrauchbar – zu we
nig feste Masse, zu viel Flüssigkeit. Corned Beef war allerdings ideal. Er riskierte es, in größeren Mengen einzukaufen. Suppen reizten ihn; er entschied sich für Pulverpackungen. Später schrieb er auf seine Reserveliste noch gebackene Bohnen. Und ständig fragte er sich: »Warum machst du das alles? Was hast du ei gentlich vor?« Aber der Kofferraum des Champ begann sich zu füllen. Er packte mit unendlicher Sorgfalt und ärger te sich über jeden ungenutzten Zentimeter. Er fügte seine Angel, eine Dose mit Haken sowie mehrere starke Schnüre hinzu. Danach folgte die Camping-Ausrüstung: ein zweiflammiger Kocher, Tassen und Teller aus Plastik. Die Stuhlkante stieß in seine Kniekehlen. Er klammerte sich an die Tischplatte und stam melte, während die Bilder vor seinen Augen verschwammen. »Sir, ich,…« »Noch fünfzig drauf, Potts!« »Ich… ich…« »Und noch hundertundfünfzig, Potts! Es geht aufwärts!« »Sir, ich…« »Und nochmal fünfzig. Punktzahl notiert, Chapman?« »Jawohl, Sir!«
»Setzen!« Die Stimme donnerte, zerschmet terte ihn. »Sir…« »Potts! Setzen!« Seine Beine gaben nach. Er hielt den Kopf ge senkt, am ganzen Körper zitternd, und das Übungsheft flimmerte vor seinen Augen. »Zweihundertfünfzig«, sagte Bates. »Fünfzig für Glück, der Rest für Frechheit. Wischt das nicht aus.« Die Kreide kratzte über die Tafel; das Klassenbuch knallte auf den Tisch. »Du mußt verrückt sein, Potts«, sagte Bates. »Du mußt verrückt sein. Schlagt Seite 123 auf.« Seine Hände schmerzten vom Umklammern des Lenkrads. Er bewegte die Finger. Es wurde langsam dämmerig, die Rücklichter der ste henden Fahrzeuge vor ihm blinkten wie Juwe len. Er schloß die Augen und versuchte auszu rechnen, wie lange er schon im Auto saß. Ein Hupkonzert hinter ihm schreckte ihn auf. Die Schlange hatte sich bewegt; er legte den Gang ein, fuhr vorwärts. Das Hupen verstummte. Er zündete eine weitere Zigarette an. Sie be gann ihm zu schmecken. Er erinnerte sich dar an, wie man ins Sonnenlicht fuhr, wenn man an der Burg vorbei und aus dem Tal heraus kam. In der letzten Kurve kriegte man es di rekt in die Augen; dann schlängelte sich die
Straße von niedrigen Mauern gesäumt bis zu der Kneipe und dem roten und gelben Wohn wagen davor und dem grellbeleuchteten Schild vor dem dunklen Himmel. Manchmal lag auch der Maidunst über den Hügeln und bewegte sich in länglichen gezackten Schwaden hinun ter auf das Dorf zu. Es war, als würde man durch Wolken fahren, und durch das Sonnen licht von oben sah alles wie eine Märchenwelt aus. Der Champ bewältigte die Steigung im zwei ten Gang; mit quietschenden Reifen bog er in den Parkplatz vor der Kneipe ein und saß und lauschte dem Ticken des sich abkühlenden Mo tors. Die Wiese war da und die grasenden Esel – nichts hatte sich verändert; die Umrisse der Hügel verschwammen, die Burg schien zu schweben im Licht der Dämmerung; Häuser lichter und Scheinwerfer blitzten auf und glit zerten; am Horizont konnte man Poole erah nen; die Luft war klar und rein. Er hörte die Gabeln und Küchenmesser, eine Handlaterne, Gasbehälter. Die Flaschen nahmen Platz weg, so daß er den für Bettzeug und Decken reser vierten Raum reduzieren mußte. Er sagte zu sich: »Du wirst niemals den Zündschlüssel umdrehen. Du wirst niemals da runter fahren, und du wirst niemals tun, was du zu tun ge
denkst, weil es Wahnsinn ist.« Und trotzdem hörte er nicht auf. Bei einem Gebrauchtwarenhändler trieb er ein Dutzend zwanzig Liter Benzinkanister auf; sie nahmen fast den gesamten restlichen Raum ein. Dann stellte er fest, daß er das Wichtigste vergessen hatte – einen Vorrat an Trinkwasser. Er mußte praktisch wieder von vorn anfangen, seine Liste umstellen, aussor tieren und reduzieren. Er fuhr den leeren Champ in die Werkstatt, schmierte ihn ab und überprüfte alles. Das versiegelte Energie-Ag gregat rührte er nicht an, aber es würde noch für hunderttausend Meilen reichen. Er stellte ein Ersatzteillager zusammen: Sicherungen, Lampen und Glühbirnen, Kühlventilator und Verteilerkappe, Kondensatoren, Zündkerzen, Keilriemen, Schläuche. In einer Eisenhalte rung, die er hastig unter das Fahrgestell ge schweißt hatte, befestigte er eine zweite versie gelte Batterie; zum Schluß nahm er den verschlossenen Kasten aus der Schublade in seinem Schlafzimmer und verstaute ihn hinter dem Fahrersitz. Mantel, Stiefel, Werkzeug und das Reserverad mußten vorne untergebracht werden. Der Champ war jetzt voll. Der Verkehr kam wieder in Bewegung. Weiter vorn auf der Hauptstraße blinkten blaue und
gelbe Lichter; von irgendwo tönte die durch dringende Sirene eines Unfallwagens. Er sah eine Limousine, die auf der Seite lag, und einen verkeilten Lastwagen. Die Straße war ein einziger Wust hupender Autos. Für den Moment hatte er Heizungsmöglich keiten außer acht gelassen. Im Notfall würden die Gasbrenner herhalten müssen. Er hatte jahrelang keine einzige Zigarette geraucht; trotzdem hatte er fünfhundert mitgenommen, in fünfziger Packungen. Weitere fünfzig Stück lagen griffbereit im Handschuhfach. Er zünde te sich eine Zigarette an. Nach dem ersten Zug mußte er husten; er inhalierte wieder und lehnte sich im Sitz zurück. Er konnte das Zit tern seiner Hände nicht abstellen. Die Erinnerungen kamen wieder hoch, wie immer. Er rieb sich müde das Gesicht; aber die Klasse 30 lachte weiter, und Sledger Bates stand da mit dem Klassenbuch unter dem Arm und seinen hellblauen Augen unter den bu schigen, rötlichen Augenbrauen. »Warum?« sagte er. »Warum? Wenn ich etwas anordne, dann wird nicht gefragt warum. Was du gerade machtest, bevor ich hereinkam…«
Stille und dann seine eigenen Füße auf dem Schotter, als er auf die Tür zuging; drinnen waren Ray und der Rest – John mit seiner be tont vornehmen Stimme, der bärtige Künstler, der immer aus einem Zinnbecher mit Deckel trank, und das Mädchen mit den furchterre gend wilden Augen, das Gitarre spielte und dazu das Lied über Arbeit sang, all die beschis sene Arbeit und keine Bezahlung – sie gefiel ihm nicht schlecht. Und der ausgestopfte Fisch in der Glasvitrine an der Wand, die Bierkrüge über der Bar und die Leuchtreklame für Bier vom Faß und die Zigarren und Zigaretten und die Plakate für englischen Landwein. Für eine Sekunde stockte ihm der Atem, denn sie war auch da. Sie trug eine karierte Bluse in Gelb- und Grüntönen, einen kurzen leinenfar benen Rock und Sandalen mit nur einem sehr sexy wirkenden Riemen zwischen den Zehen. Ihr Haar und ihre Augen waren dunkel, ihre Haut goldbraun im Lampenlicht und ihre Hän de leicht und gewandt wie Schmetterlinge. Sie war makellos, von Kopf bis Fuß. Manchmal fragte er sich, wie irgend etwas so makellos sein konnte, irgendwie wirkte es schon wieder falsch. Er schluckte und überlegte, was er sa gen sollte, aber das erwies sich als überflüssig, weil Ray von der Bar herüberrief: »Derselbe
Raum wie immer!« dabei grinste und mit einer Kopfbewegung nach oben wies. Also brachte er sein Gepäck hoch und begann auszupacken; er kannte die Möbel in dem Zimmer und das Bett mit seinen tadellosen, straff gespannten La ken. Durch das halboffene Fenster konnte er in der Ferne die Burg sehen, eine eindrucks volle Ruine im bläulichen Dämmerlicht. Er be eilte sich beim Auspacken, verschloß die Ka mera und den Belichtungsmesser in einer der Schubladen, ging hinunter zum Essen und setzte sich anschließend in die Bar. Für ganze zehn Minuten unterhielt sie sich mit ihm – fragte nach seinem Beruf und ob er eine gute Fahrt gehabt und wie lange er gebraucht hatte. Danach ging es ihm prächtig, obwohl sie nicht noch einmal mit ihm sprach; statt dessen er fuhr er, daß Johns Boß die falsche Getreideart angepflanzt und der Wind alles umgeweht hat te, und daß der Wohnwagen beim Karne valsumzug den ersten Preis bekommen hatte. Die Rückfahrt verging wie im Flug; es war, als wäre sie bei ihm. Er lächelte im Dunkeln; und der Champ glitt sanft um eine Kurve, so als wollte er Martine nicht wecken, die hundert Meilen von hier lag und schlief. Er hatte den Champ von Chalky für einen glat ten Tausender bekommen – der Himmel wuß
te, wo er ihn aufgegabelt hatte; aber als er von dem Wagen die Nase voll hatte und über den zu hohen Benzinverbrauch fluchte und sich einen alten Magnette zulegte, übernahm Stan den Champ und polierte ihn auf, ließ eine neue Windschutzscheibe und eine Motorhaube ein setzen und mietete eine Garage. Danach war er glücklich, weil er in dem Wagen sitzen und träumen konnte; als er ihn allerdings zum ers ten Mal nach Purbeck mitbrachte, vermieste ihm Ray Seddon die ganze Freude mit der Be merkung, er hätte im ersten Moment gedacht, der Kohlenwagen wäre vorgefahren. Alle seine Bekannten lachten, und er mußte mitlachen, aber dann war alles nicht so schlimm, weil sie herauskam, um den Wagen zu begutachten. Sie trug eine weiße Bluse und den leinenfarbenen Rock, und ihr Haar war kürzer geschnitten – er mochte es eigentlich lieber lang. Der Champ stand auf dem Park platz hinter der Kneipe; das Sonnenlicht schimmerte auf dem dunkelgrünen Lack, und er sah groß, kraftvoll und elegant aus. Martine hatte sich die Jacke über ihre Schultern gelegt und die Arme verschränkt. Mit ihrer spröden Stimme fragt sie: »Was bedeuten die ganzen Knöpfe?« und er antwortete: »Vierradantrieb« und dann blieb ihm die Zunge im Hals stecken,
weil jetzt der Moment da war, in dem jeder an dere einfach gesagt hätte: »Steig’ ein, ich fahr’ dich ‘ne Runde.« – Er brachte keinen Ton her aus. Die Zeit blieb für eine Weile stehen; dann kehrte sie wieder zu ihrer Arbeit zurück, und er fummelte am Verschluß des Benzinkanis ters herum, als wäre ihm alles gleichgültig; der Nachmittag war still und warm, und er fühlte sich sterbenselend. Danach war Northerton schwer zu ertragen – das Haus seiner Mutter, der Besuch des Arztes, die Imbißbude an der Ecke, die Miezen im Fernsehen und in den Zei tungen, die ihn alle nur an sie erinnerten. Der Winter stand vor der Tür; alles war schwer zu ertragen – Chalky, die Sonntagsspaziergänge durch die Gärten und am neuen Gymnasium vorbei, der graue Himmel, die aufgewühlten braunen Felder, die Stille und die blattlosen Bäume – all das schien ihm kaum erträglich, und doch konnte er mit niemandem über das sprechen, was in ihm vorging, am wenigsten mit Chalky. Obwohl er im Grunde gerade ihm die Burg und das Tal und Martine verdankte – ihm und der Urlaubswoche vor ein paar Jah ren. Chalky hatte sich, im Gegensatz zu Stan, pudelwohl gefühlt. Das Bier war gut, hatte er verkündet, die Burg ganz nett, wenn man sich für so was interessierte; und Martine war auch
nicht übel, obwohl sie nicht so wirkte, als wäre sie besonders gut im Bett. Stan dachte nach und runzelte die Stirn, während Chalky fluchte und sein Jagdhund Hasen aufspürte, die er nie fing. Manchmal tat es richtig gut, danach wie der im Champ zu sitzen und an den Gaswerken vorbei nach Hause zu fahren, die Gardinen zu zuziehen, das Fernsehen anzuschalten und für seine Mutter das Abendbrot zu machen. Der Verkehr stockte wieder; blaue und gelbe Lichter flackerten; es sah nach einer Straßen sperre aus, und er war unfähig zu überlegen, was er tun sollte. Sämtliche Lichter in der Uni brannten, so daß das Gebäude von der Seite wie ein leuchtender gelber Felsen aussah. Die Kantine war kalt und fast leer, und es stank nach den Speckrollen vom Mittag. Sie hatten zwei Tische zusammen geschoben, obwohl die fettleibige Frau durch die Essensluke geschrien hatte, sie sollten das lassen. Tasker war dabei, der einzige Rocker, mit dem sie zurechtkamen, und Quatermain und Briant und Tony Sidgwick und noch ein halbes Dutzend Leute. Der Nebel verdichtete sich zusehends, und da und dort gingen schon ein paar Leuchtraketen los, und alle machten
einen Heidenspektakel – es war Guy-FawkesNacht. Er saß mit den anderen zusammen und spürte die Gegenwart der Mädchen von der Kunstaka demie an einem der Tische hinter ihm. Die große Blonde war da, Annette Clitheroe, 88-5790, und die kleine Irin, die sich mit den Pakis tanis herumtrieb, und die andere, Helena, die, der sie damals im Korridor fast den Pulli aus gezogen hatten, und sie hatte kein Fädchen darunter angehabt. Tony Sidgwick neckte sie laufend und versuchte sie dazu zu bewegen, zum Uni-Stammtisch rüberzukommen, und dann pickte er sich Annette Clitheroe heraus – ihren Eltern gehörte der große Möbelladen im Zentrum. Sie trug das Haar zu einem Dutt hochgesteckt, und Tony wollte wissen, was um Himmels willen sie da auf dem Kopf hatte, bis sie schnippisch entgegnete, das sei ja wohl ihre Sache. Etwas später zündete Sidgwick unter dem Tisch einen Knallkörper an – sie bemerk ten es erst, als das Ding schon sprühte und gleich darauf losging; Stan Potts Gehirn arbei tete blitzschnell, so daß er es packte, über sei nen Kopf wegschleuderte und in Deckung ging. Die fette Frau schrie gellend nach dem Direk tor, und Sidgwick erstickte beinahe vor La chen.
Laut und deutlich waren ihre Absätze auf dem Betonfußboden zu hören. Sie kam quer durch die Kantine und setzte den Teller direkt vor ihm auf den Tisch. Er war gezwungen aufzuse hen, obwohl er nicht aufhören konnte zu la chen; ihre Augen blinkten und blitzten hinter den Brillengläsern, und ihre Wangen waren rot vor Wut. In der Mitte der zermatschten Teilchen, eingebettet in Baisermasse, lagen die Reste des Knallkörpers; ihr Pullover war über sät von kleinen weißen Sahnespritzern, und einen hatte sie am Kinn. Sie sagte: »Mein Cousin hat sein Auge verlo ren durch so ein Ding, du verdammter Scheiß kerl. Du mußt verrückt geworden sein…« Er hatte die Straßensperre passiert, aber er hatte lügen müssen – er hatte gesagt, er sei auf dem Weg nach Dorchester. Der Verkehr war jetzt flüssiger und die Wagen fuhren vierzig, manchmal fünfundvierzig. Aber fast über haupt kein Verkehr kam von Westen. Sein Gehirn war blank; um die unliebsamen Erinnerungen fernzuhalten, versuchte er sich auf die Strecke vor ihm zu konzentrieren. Wimborne, die Linksabbiegung kurz darauf, die kleine Brücke, das Schild mit der Auf
schrift »Willkommen in Poole« obwohl die Straße gar nicht direkt durchführte; und die neue Kreuzung weiter unten mit der Tankstel le – er konnte sich erinnern, wie sie gebaut wurde. Dann kam die nächste Kreuzung mit dem »Weißen Hirsch« und der Forschungssta tion, angeblich Marine, mit dem meilenlangen, hohen Stacheldrahtzaun. Dann die Abfahrt nach Wareham; und jenseits der Brücke… aber sein Herz klopfte wieder, hämmerte gera dezu schmerzhaft gegen seine Rippen, und er unterbrach den erst halb formulierten Gedan ken. Nach seiner ersten Reise nach Purbeck war er des öfteren wieder hingefahren, obwohl die Fahrt von den Midlands herunter ziemlich lan ge dauerte, mehr als fünf Stunden bei schlech tem Wetter. Dann blieb vom Wochenende we nig übrig, nicht mehr als eine Nacht und der folgende Vormittag. Den Abend verbrachte er in der Bar; sonntagsmorgens stand er dann früh auf und fuhr entweder zur Burg oder in die Heide hinaus. Die Burg zog ihn magisch an, diese gewaltige Ruine oben auf dem Berg, und das Dorf dagegen klein und geduckt unten im Tal. Fest und unerschütterlich lag die Festung da, umgeben von Kreidefelsen. Einmal erklet terte er einen der näherliegenden Felsen, saß
dort mehr als eine Stunde lang und starrte hin unter auf die verfallenen Mauern und auf das Pförtnerhaus mit seinen schiefen Türmchen. Ein Bach floß in der Nähe vorbei, mit dichtbe wachsenen Ufern und überschattet von hohen Bäumen; und hierher kamen im Herbst die Glühwürmchen; wie klare grüne Sterne schim merten sie im Gras. Er hätte sie gern eingefan gen und zu ihr gebracht, um ihre Finger und ihr dichtes, dunkles Haar zu schmücken. Manchmal fuhr er in die Berge, über die Landstraße, die so häufig gesperrt war. Dort gab es versteckte Buchten und verlassene, längst vergessene Dörfer; einmal sah er in un gefähr einer Meile Entfernung einen Reiter über die verbotenen Klippen galoppieren; sei ne Silhouette hob sich dunkel gegen den silbri gen Dunstschleier des Meeres ab. Er entdeckte Kimmeridge mit seinem fast schwarzen Strand und dem riesigen, vornehmen Haus, das die Bucht überblickte; auch Worth, dessen winzi ge Häuser im Seedunst verschwanden, und Dancing Ledge mit seinem bezaubernden, von Felsen umrahmten See. Zudem lernte er die Stammgäste der Kneipe kennen – John, der je des noch so entfernte Land zu kennen schien und dabei seltsamerweise von Beruf Traktor fahrer war; den Hippie Martin Jones mit sei
nen Blumenhemden und den zerzausten, schulterlangen Haaren; Maggie, die manchmal für Touristen in der »Barn-Bar« Gitarre spielte und in einem weißen Bunga low lebte, und Richard Jones, der Maler war und nebenbei ein ganz nettes Privatvermögen haben mußte. Er kannte sie, auch wenn er nicht mit ihnen reden konnte; und sie selbst schienen ihn ein wenig mißtrauisch zu beob achten, diesen fetten Mann in der Ecke mit sei nem gequälten Lächeln und den ewig auswei chenden Augen. Diese Leute bildeten so etwas wie einen nähe ren Bekanntenkreis. Aber da waren noch viele andere; Andy, der mit John zusammenarbeite te, mit seinem braunen, attraktiven Farmerge sicht, Andy, der mit Penny ging, die manchmal in der Bar aushalf; Ted und Arthur und die Dorfbewohner und die große blonde Vicky, die eine Militäruniform trug und angeblich Kran kenschwester war; sie kannte Richard – er hat te die beiden ein paarmal zusammen gesehen. Und dann die Touristen, die braunen, langbei nigen Mädchen, die mit ihren Männern auf dem Heuboden saßen und lachten und Cidre und Bier und manchmal Wein tranken. Er mochte die Barn Bar am liebsten, mit ihren ho hen kühlen Wänden, an denen Ackergeräte
und Pferdegeschirre hingen, und dem riedge deckten Dach über der Theke und der offenste henden Tür und den Mücken, die um die gel ben Lichter kreisten. Der Raum erschien in seinen Träumen; und immer war Martine da, Martine mit ihren großen dunklen Augen. Manchmal sah er sie auch in den Bergen, in den versteckten Dörfern und am Ufers des Sees. Dann wachte er gewöhnlich auf und er kannte, daß er mal wieder nur zu Hause war, daß er allein gewesen war, daß er immer allein sein würde; er starrte sich im Spiegel an, den kahlwerdenden Kopf, die blassen, schwerlidri gen Augen, und dann wußte er, daß er nie wie der zu diesem goldenen Ort zurückkehren würde, daß er nach Northerton gehörte und dort bleiben mußte. Aber die simple Wahrheit ist am schwersten zu akzeptieren; und so pack te er erneut, nur noch ein einziges Mal, hörte sich die Vorwürfe seiner Mutter an und ruhte nicht eher, als bis er die Berge wiedersah, ein gehüllt in den Dunst vom Meer. Er bog in den vertrauten Hof ein; und jedesmal, wenn er die Hoteltür aufstieß, wußte er, daß sie fort war, fort für immer. Und trotzdem war sie immer da. In den Zeiten, die zwischen seinen Reisen la gen, studierte er.
Er informierte sich über die Geologie, die Ge schichte, die Urgeschichte und die Architektur der Region. Jede Einzelheit schien mit ihr di rekt verbunden zu sein, und er fühlte sich we niger einsam. Mehr und mehr beherrschte sie seine Gedanken. Er entdeckte die Romane von Hardy und etwas später den Maler Nash; manchmal war er wie benebelt; doch dann kam ihm alles wieder zu Bewußtsein – Nor therton, die Werkstatt, Ölwechsel und TÜVPrüfungen, Chalky und die Hunde, das Fernse hen und die trübseligen Sonntagabende. Seine kreisenden Gedanken scheuten wieder einmal vor der unausweichlichen und gleichzeitig so unerträglichen Tatsache zurück – der Tatsa che, daß er fett war und glatzköpfig und vier zig, und daß sein Leben vorbei war. Dieser innere Schmerz war so intensiv, daß er Vorgänge um sich herum kaum wahrnahm; so daß er überrascht war, als er eines abends im Sommer die Bam Bar betrat und ihm eine un gewöhnliche Stille entgegenschlug; ein paar Stammgäste und Besucher hatten sich tun ein Transistorradio gruppiert, das auf der Theke stand. Die Worte, die er hörte, sagten ihm nicht mehr und nicht weniger als sonst, aber die Stille, die darauf folgte, war gespannt.
Martin Jones brach sie. Er saß da, hatte seine Knie umspannt und den Kopf zurückgelehnt. »Nun«, sagte er mit seiner ruhigen, modulier ten Stimme, »es geht los. Das ist es, worauf wir die ganze Zeit gewartet haben.« Ray, der hinter der Theke stand, runzelte die Stirn; die eine Hand hatte er wie zum Schutz um Martines Schulter gelegt. »Entzückend«, sagte er. »Dieses Lied kennen wir schon, Mar tin.« Der Hippie schüttelte den Kopf. »Diesmal ist es anders.« Er schaute gleichmütig um sich und sagte: »Ich freu’ mich drauf. Vicky genau so. Aus diesem Grund ist sie ja auch zur Armee gegangen.« Die blonde Frau drehte sich um und starrte Joyce an, sprach jedoch nicht. Jones schien immer außergewöhnlich gut in formiert zu sein. »Dies wird das Hauptvergel tungsgebiet sein«, sagte er. »Ich nehme an, wir werden über kurz oder lang verschifft werden. Einen von den Campingplätzen bei Sandbanks haben sie schon als Verladeplatz hergerichtet. Natürlich versuchen sie das alles geheim zu halten. Wird leider kein besonders günstiger Platz sein – viel zu flach.« »Wo wäre es denn deiner Meinung nach bes ser?« fragte jemand.
»Da gäb’s ‘ne ganze Menge Möglichkeiten«, sagte Martin. »Eins ist sicher; ich werde nicht in Poole bleiben.« Er gähnte. »Ich würde ein Gebiet irgendwo zwischen den Bergen und dem Meer aussuchen«, sagte er. »Man würde dort von den Purbecks gut vor Explosionen ge schützt; ich kann mir nicht vorstellen, daß was im Kanal landet. Dafür sind sie heute zu treff sicher.« Maggie sagte: »Trotzdem würde es noch ra dioaktiven Niederschlag geben.« Martin antwortete: »Ich glaube nicht, daß man sich darüber zu viele Sorgen machen müßte. Radioaktiven Niederschlag gibt es nur in Zusammenhang mit Bodendetonationen. Wenn wir mit überhaupt irgendwas rechnen müssen, dann sind es Luftstöße; die sind so wieso viel schlimmer.« Maggie sagte bitter: »Vielleicht wird es ihnen Spaß machen, uns ein paar davon zu verpas sen.« »Möglich«, sagte Jones höflich, »aber strate gisch unwahrscheinlich.« Er strich sich das helle Haar aus der Stirn. »Schließlich wollen sie – und vergiß nicht, sie könnten die Ameri kaner sein – schließlich wollen sie das Gebiet hinterher besetzen. Sonst wäre das Ganze ja sinnlos.«
Richard sagte: »Es ist gut zu wissen, daß es einen Sinn für Luftstöße gibt. Dann ist das al les hier gleich viel eher der Mühe wert.« Er wandte sich um. Wie zur Bestätigung er tönte von draußen ein ratterndes Geräusch, das immer intensiver wurde; dann konnte man durch die offene Tür gelbe Scheinwerfer und dunkelgrüne Militärfahrzeuge sehen. Die Spitze einer riesigen Kolonne bewegte sich in Richtung Worth und Meer. Sie sahen zu, wie die ersten Fahrzeuge passierten; dann zuckte Ray die Schultern. »Da haben wir’s«, sagte er. Mit ausdrucksloser Miene nahm er ein Tuch und hängte es über die Zapfhähne. Schockier tes Schweigen; jemand lachte. »Noch ist es nicht soweit«, sagten sie. »Nein«, sagte Martin. »Noch nicht. Aber bald…« Stan Potts hatte nichts gesagt. Sein Ge hirn arbeitete fieberhaft; er kannte eine Stelle, genau wie Martin sie beschrieben hatte. Er er innerte sich an die Landstraße, die sie nur ein mal im Jahr für den Verkehr öffneten, im Sommer, dann, wenn die Schießschule ge schlossen war. Das tote Dorf hinter seinem Lattenzaun, verfallene Scheunengiebel; und das große verlassene Farmhaus am Meer, di rekt unter den schwebenden Klippen. Der Hip pie hatte, wie gewöhnlich, mit ruhiger Über
zeugung gesprochen, und das Undenkbare sah, zumindest für einen Augenblick, wie praktika ble Wirklichkeit aus. Verstohlen sah er zu Ray hinüber; zu Joyce, dem Maler; zu Martin Jo nes. Ganz zum Schluß sah er Martine; ihm stockte der Atem, und sein Herz begann zu po chen, obwohl der Gedanke, der später kam, noch nicht ausgeformt war. Die Rücklichter vor ihm blinkten auf. Er bremste automatisch und starrte um sich. Einen Moment lang wußte er nicht, wo er war. Er war mit seinen Gedanken weit weg gewesen und nahm jetzt fast erschreckt die Eisenbahn linien zu seiner Linken wahr, und die lange Reihe von Tankschiffen. Weiter vorn sah er die Kurve, die die Straße nach Wareham hinein führte; und genau dort hatten sie die Sperre errichtet. Die Armee diesmal; er sah die ge parkten Lastwagen, Gestalten, die sich zielbe wußt hinter dem rot-weiß-gestreiften Schlag baum hin- und herbewegten. Taschenlampen leuchteten auf und reflektierten in den Stahl helmen. Ein Wagen wurde an die Seite gewun ken, ein anderer mußte direkt umdrehen. Er würde es also doch nicht schaffen; aber das hatte er von Anfang an gewußt.
Noch war er etwa eine Viertelmeile von der Sperre entfernt. Die Fahrzeuge vor ihm fuhren an, stoppten wieder. Einer der Wagen wurde zu der Nebenstraße dirigiert, die durch die Heide landeinwärts nach Wool führte. Ein wei teres Auto folgte; irgend etwas klickte in sei nem Gehirn. »Dies ist ein Militärfahrzeug«, schoß es ihm durch den Kopf. Er hatte das Gefühl, als ob seine Hände und Füße sich selbständig gemacht hätten. Er scherte aus, fuhr mit gellender Hupe an der Schlange vorbei. Ein Mann wandte sich um, überrascht; ein anderer nahm sein Gewehr von der Schulter. Er bremste mit quietschen den Reifen, präsentierte seinen Führerschein und sagte: »Landwehr.« Der Mann trat zurück; und er drückte erneut auf die Hupe. Eine Lampe blendete ihn. »Steigen Sie aus«, sagte jemand. »Nehmen Sie die Hände hoch.« Er ließ die Kupplung kommen, preßte den Fuß auf das Gaspedal. Der Champ heulte auf, durchbrach den Schlagbaum. Er sah einen Mann wild gestikulierend hinter ihm herlau fen. Dann war die Straße ein einziges Getöse. Die Lastwagen wurden gestartet, Zivilisten in einen Bus getrieben; und ein hämmerndes me tallenes Geräusch hinter ihm. Sein Blick ver schwamm, er schleuderte, klammerte sich ans
Lenkrad. Weiße Mauern und Häuserfronten flitzten vorbei; vor ihm erschien eine Brücke. Danach gabelte eine Seitenstraße nach rechts ab. Er trat auf die Bremse, beschleunigte wie der, schwenkte in die unebene Straße ein. Er klammerte sich an das Armaturenbrett und fuhr blind weiter. Die Räder drehten sich, faß ten wieder. Die Scheinwerfer tanzten auf und ab; dann raste er einen langen Abhang hinun ter, und hinter ihm blieb alles dunkel. Zehn Minuten später hielt er an, machte den Motor aus, öffnete die Fahrertür. Irgendwo in der Nähe tropfte Wasser, ansonsten war es to tenstill. Plötzlich begann er zu zittern. Er wollte sich übergeben. Nach einer Weile war der Anfall vorüber. Er hob den Kopf und sah sich um. Der Champ zeichnete sich undeutlich gegen den Nachthimmel ab. Im Osten reflektierte ein orangefarbener Schimmer die Lichter von Poole; und vor ihm, kaum erkennbar, lagen die Berge. Es war nicht Wasser, das da tropfte; er konnte auf einmal deutlich den starken Benzingestank riechen. Er suchte nach der Taschenlampe, leerte den Reservekanister in den Tank und warf den Blechbehälter in die Büsche. Dann untersuchte er den Champ; über die Wind
schutzscheibe liefen strahlenförmige Risse; in einer Ecke war ein rundes kleines Loch zu se hen. Er berührte es mit zittrigen Fingern. »Oh Gott«, murmelte er. Ihm war noch immer schwindlig, und seine Kehle und sein Mund waren ausgetrocknet. Er kletterte wieder auf den Fahrersitz, drehte den Zündschlüssel um, hörte den Motor ansprin gen. Die Hauptstraße lag irgendwo links von ihm; aber er wollte das Risiko nicht noch ein mal auf sich nehmen. Er fuhr langsam an, während sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Um ihn herum erstreckte sich der unebene Heideboden; in den Vertiefungen sammelte sich ein nebliger Dunst. Die Berge wurden größer, hoben sich gegen den Himmel ab; schließlich spürte er, wie die Räder über Kies rollten. Er war auf eine Landstraße oder so etwas gestoßen. Er zündete sich eine Ziga rette an. Die Angst war vorüber; statt dessen fühlte er etwas Ähnliches wie Stolz. Er hatte das Unmögliche erreicht; er hatte ein überfüll tes, hysterisches Land durchquert, um zu ihr zu gelangen. Nun war er fast am Ziel; und plötzlich wußte er, wie lange sie schon in sei ner Vorstellung lebte. Er hatte sie in Cafes und Restaurants und Supermärkten und Kneipen, an Stränden, auf Bergen und auf Straßen gese
hen; sie hatte ihn von Reklamewänden ange lacht, ihm ihren Bauch in Sonntagsmagazinen entgegengestreckt und auf dem Bildschirm ihre Beine gezeigt. All die Jahre, in denen er in den Schrebergärten arbeitete, mit Chalky und den Hunden Wanderungen machte und sams tagsabends seine halben Liter herunterkippte. Jetzt war er an einem Wendepunkt angekom men, die Welt brach auseinander, Sledger und Annette Clitheroe und die Schule und die Uni verschwanden in der Dunkelheit. Nun fuhr er zu ihr in eine ländliche Kneipe mit gelblichen Lampen über der Bar und einem ausgestopf ten Fisch an der Wand; und wenn sie sich wei gerte, mit ihm zu kommen, würde er sie schla gen, weil er lang genug gewartet hatte und müde war. Wenn sie sich wehrte, würde er sie fesseln; dafür hatte er das Seil mitgebracht, und vielleicht wäre es sowieso besser so. Der Mond ging auf und tauchte den Horizont in ein goldenes Licht. Die Dunstschwaden glänzten; der Champ bahnte sich seinen Weg durch sie hindurch, ein riesiger, vorsichtiger Schatten in der Nacht. II
Wenn Sie die folgende Szene mit den Augen von Stanley Potts sehen wollen, müssen Sie sich eigentümliche Dinge vorstellen; wogende und schillernde Farben, rollende und sich nei gende Berge, umgeben von einem Lichtkranz unter einem rauchigmilchigen Himmel. Sie müssen die Rufe der Nachtvögel in der weiten, verwunschenen Landschaft und das Rauschen der See hören, das wie Blut in den Ohren pocht; dazu müssen Sie alle Himmelschöre hö ren. Können sie den Champ sehen, wie er von Dunstwolke zu Dunstwolke schwebt? Jetzt hält er an, am Fuße einer steil aufstei genden kleinen Straße; und Stan Potts winkt durch das Fenster dem nachfolgenden Wagen zu. Der Wohnwagen, gefahren von Richard Joyce, setzt zurück; der Champ durchbricht das klapprige Tor, das den Weg versperrt; da hinter beginnt der Pfad, der sich zwischen Sta cheldrahtzäunen dahinschlängelt; das verlas sene Dorf mit den leeren Scheunen, der Kirchturm von Baumkronen überragt, das efeubewachsene Versammlungshaus mit sei nen leeren Fenstern im bräunlichen Mond licht. Er zeigt ihr alles, ohne Worte; und sie lä chelt und nickt, ihre großen Augen schimmern. Er erinnert sich an die Parties in der Uni, eine ganz genauso wie die andere;
und er erinnert sich, daß er es nie geschehen sah, aber daß überall plötzlich Paare waren; er hatte nie erfahren, wie das eigentlich vor sich ging, aber es war jedesmal dasselbe gewesen; und er hatte immer dagesessen und an seinem Bier genippt, ganz allein in der Mitte des Raumes und er hatte versucht, das Geflüster und das Kichern um ihn herum zu überhören und sich nichts daraus zu machen, daß ihn nie mand wollte. Er erinnert sich aber auch, daß das nun nicht mehr geschehen kann, daß sie nun zu viert sind, zu viert in einem verlasse nen Land. Er erinnert sich, daß sie bei ihm ist und daß Richard Joyce ihnen folgt mit Maggie, die in längst vergangenen Zeiten Gitarre spiel te. Vor ihnen taucht nun die Bucht auf, einge rahmt von Klippen, die in der Dämmerung fahl und unheimlich schimmern. Und am Rand der Klippen steht fest und unerschütter lich das Farmhaus mit seinen dunklen Fens tern und den Schornsteinen aus dicken Stein klötzen. Er würde am liebsten laut schreien vor Freude, aber er sagt nur: »Wir sind fast da«, und sie lacht und sagt: »Es ist wunder schön.« Er nimmt ihren Geruch wahr. Vor der verriegelten Tür des Hauses bringt er den Champ zum Stehen. Seine Sinne erschei
nen ihm unnatürlich geschärft. Der Cambridge hält neben ihm; er vernimmt das Knirschen der Reifen auf dem groben Kies. Er eilt zur Beifahrertür; und Martin Jones sagt: »Guten Abend!« Haben Sie sich in seine Stimmung versetzt? Haben Sie die Engel singen hören und das Zit tern gespürt, das ihn erfüllte wie sprudelnder Wein, bis es ihm schien, als würde er schwe ben? Nun müssen Sie sich eine weitere Verän derung vorstellen – die totale Vernichtung sei nes Glücks! Alles dreht sich in seinem Kopf; Himmel und Klippen verschwimmen. Er sieht sie auf ihn zulaufen; er sieht den Arm, der sich um ihre Schultern legt; er hört sie sagen: »Ich wußte nicht, wie ich hier herkommen sollte. Aber er brachte mich.« Nun sind sie zu fünft, und die Welt ist wieder verständlich; das Lächeln hat sich bereits wieder schützend auf seine Lippen gelegt. Er hat das Gefühl, er sollte eine leichte Melodie summen. Dah-dah di-di-di dah-didah, während er den Wagen ausräumt und die Schlafsäcke, den Kocher, die Dosen und Büch sen und Kästen schleppt. Jones hat das mitge bracht, was er nicht hatte, hat Decken vor die Fenster der so lange nicht benutzten Räume gehängt, Stühle und einen Klapptisch aufge
stellt. Und ein Feuer aus Treibholz knistert im Kamin; Petroleumlampen hängen von der De cke herab, sogar der Boden ist geschrubbt und sauber. Es ist ein richtiges kleines Zuhause! Er erkennt, wie sorgfältig alles geplant worden ist; er beobachtet, wie sie sich an ihn hängt, während er sie von einem Zimmer ins andere führt. Er ist froh, daß er so viel Übung darin hat, das Lächeln um seinen Mund spielen zu lassen, seine Augen niederzuschlagen und auf den Boden zu starren; denn niemand hat sein Geheimnis erraten. Es war ganz allein sein Fehler, von Anfang an. Er muß verrückt gewe sen sein; Männer mit fetten Hintern sollten sich nicht verlieben! Es gibt sogar ein Tischtuch, munter blau-weiß kariert. Sie kochen auf seinem Ofen; es besteht kein Zweifel, daß sie ihn bleiben lassen wer den. Er errötet und starrt auf das Tischtuch, als sie ihm danken für das, was er für sie getan hat; alle sind sehr fröhlich. Später werden die Autos versteckt, in einen verfallenen Schuppen gefahren und mit Gestrüpp getarnt, damit man sie aus der Luft nicht erkennen kann. Stan kramt seine Taschenlampe raus, weil es nur zwei Petroleumlampen gibt, und sie werden ja schließlich drei Räume benutzen. Es existiert tatsächlich noch ein drittes Zimmer, am Ende
eines langen, kalten Flures. Martin führt ihn hin, und das Licht der Lampe schimmert auf seinem weichen blonden Haar. Er tauft den Raum ›Junggesellen-Suite‹, und alle lachen, und Stan stimmt mit ein. Wasser gibt es nicht, erklärt der Gastgeber; aber er hat eine Schüs sel und einen Krug aufgetrieben und eine alte Lattenkiste als Waschtisch aufgestellt. Er er zählt ihm, daß er mit mehr Besuchern gerech net hat, mehr als schließlich gekommen sind. Er hofft, daß er sich wohl fühlen wird und läßt ihn allein. Einen Moment lang bleibt sie im Türrahmen stehen und lächelt, als ob sie es wirklich meint, und sagt »danke«, und fast sieht es so aus, als wollte sie ihm einen Kuß auf die Wange geben. Aber Martin ruft vom Flur herüber und fügt noch etwas hinzu, das Stan nicht versteht; er kann den Künstler lediglich lachen hören. Sie dreht sich um und geht, und er schiebt die Tür zu und hängt die Lampe an einen Haken. Dann legt er seinen Schlafsack zurecht und beginnt sich auszuziehen. Er hat keine Lust, sich noch zu rasieren. Eine Weile lang lag er schlaflos da; der Champ und er hatten nun ihren Teil getan. Draußen
wisperte die See; die stickige, feuchte Luft des Raumes stach ihm in die Wangen. Eine Zeit lang dröhnte der Verkehrslärm noch in seinen Ohren; das Geschrei und die Hupen, die lau fenden Motoren, das Geblöke der zahlreichen Lautsprecher. Dann wünschte er sich, richtig wütend werden zu können, aber seine Hem mungen waren zu groß. Männer mit dicken Hintern wirken lächerlich, wenn sie wütend werden. Seine Gedanken wanderten weiter zu anderen Dingen. Er erinnerte sich, wie Chap man eines Tages im Biologieunterricht seine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Schnabel tier entdeckte und dies per Zettel Smythe mit teilte; von da an hieß er Potts, das Schnabel tier. Der Spitzname verfestigte sich jedoch erst, als Sledge eines Tages eine Zeichnung auf der Tafel fand, durch das Kichern der anderen die Anspielung erkannte und fragte: »Wie sel ten kommt das Schnabeltier vor, Potts?«; die Klasse brüllte vor Lachen. Und er mußte auf stehen, ›auf die Hinterbeine‹, wie Sledge es formulierte, und alles herausstottern, was er über das Tier wußte; danach war der Name ge sichert. Kurz darauf kriegten ihn auch die an deren Klassen mit, und in jeder Pause und je den Nachmittag tönte es ›Schnabeltier, Schnabeltier‹ von überall, in singendem
Rhythmus, während er angerempelt und um hergestoßen wurde, um ihn herum ein Ring von Gesichtern; und es gab kein Entrinnen, er konnte nur warten, bis ihn die Pausenglocke erlöste. Zu dieser Zeit war das Lächeln ent standen, das nun schon seit 25 Jahren um sei nen Mund spielte. Schnabeltier, Schnabeltier. Potty, das Schna… Der Mond versank hinter den Klippen. Gleich zeitig zogen Wolken auf, und die Sommer nacht wurde stockfinster. In der Dunkelheit bildeten sich Dunstschwaden, die immer dich ter wurden und vom Wasser in Schwaden auf stiegen. Die Bucht begann sich zu füllen. Dann stieg der Dunst höher, umhüllte die Felsen und das Land darüber. Der Nebel blieb und ver schwand auch in den folgenden Tagen nicht. Die kleine Gemeinschaft, wenn man sie so nennen konnte, funktionierte gut. Latrinen gruben wurden ausgehoben, das Haus wohnli cher gestaltet. Joyce, der Künstler, bastelte be wegliche Jalousien für die Fenster zusammen; die Frauen kochten und brachten das Vorrats lager in Ordnung, während Martin Jones die Küste auskundschaftete und mit dem kleinen Boot zurückkehrte. Sie hörten sein Rufen
durch den Nebel und eilten hinunter an den Strand, um die Errungenschaft zu bewundern. Er schien sich gut auszukennen mit Booten; geschickt manövrierte er das Gefährt zum Strand und befestigte es mit einem Seil an ei nem Bolzen, der aus einer Felsspalte hervor ragte. Stan begab sich mit seiner Angelrute zu einer kleinen Landzunge, weit draußen im Ne bel, wo er von den anderen weit entfernt sein konnte; von Maggie mit ihren glänzenden Au gen und den dunklen Wimpern, und von Mar tine in ihrem weiten Pullover und den eng an liegenden Jeans. Er hatte überhaupt keine Übung im Angeln, aber beim zweiten Versuch fing er vier prächtige, silbrige Fische. Jones zeigte ihnen, wie man sie abschuppen und aus nehmen mußte. Sie aßen sie am Abend, gegrillt und frisch, und lauschten den immer schlim mer werdenden Nachrichten aus dem Transis torradio. Immer mehr sah es so aus, als ob Jones die Führung der Gruppe übernommen hätte. Er war es, der ihren Tagesablauf organisierte, Dienstpläne für Arbeiten wie Holzsammeln entwarf. Das, was um das Farmhaus herum lag, war schnell verbraucht; also trieb er ir gendwo einen alten Handkarren auf, mit dem er loszog in Richtung Westen, wo sich das Fest
land an die Bucht anschloß, und jedesmal kam er mit einer Ladung trockener Planken zurück. Darüber hinaus entdeckte er eine Quelle mit frischem Wasser, ungefähr eine halbe Meile vom Farmhaus entfernt. Kalt und kristallklar sprudelte sie aus den Klippen hervor; es wurde Stans Aufgabe, jeden Morgen hin und zurück zu stapfen, bis die Behälter gefüllt waren. Ein Teil von ihm war nahezu glücklich mit dem Verlauf der Dinge. Die andere Sache war ja nur voller Schwierigkeiten gewesen. Er hat te keinerlei praktische Erfahrung mit Sex, aber als Techniker bezweifelte er, daß zwei Körper so reibungslos und automatisch zusammen passen konnten, wie er es in Romanen gelesen hatte. Außerdem, was sagte man? Was konnte man zu ihnen sagen? Mit den eigenen Händen den Körper des anderen zu berühren, erschien ihm plötzlich abscheulich; deswegen war er ir gendwie froh, daß es nicht sein Problem war; er erledigte seine Pflichten, ohne sich zu bekla gen und sprach wenig. Besonders Martine mied er; er schlug die Augen nieder, wenn sie sich ihm näherte. Er erkannte, wie knapp er entkommen war. Er erinnerte sich an das Seil und was er damit zu tun geplant hatte, und er errötete vor Scham in der Dunkelheit.
Aber der problemlose, gleichmäßige Ablauf seiner Tage sollte nicht andauern. Es war Mar tin Jones, der, an einem friedlichen Nachmit tag, alles ins Wanken brachte. Sie waren mit dem Boot in den Nebel hinausgefahren, um im tieferen Wasser zu fischen; Himmel und Strand waren gleichermaßen verborgen, das Boot klatschte und trieb in der Leere, während Stan geduldig dasaß, den Kopf über den Boots rand gebeugt. Jones rekelte sich im Bug; er trug eine Öljacke und eine uralte, verbeulte Mütze; er starrte eine Weile vor sich hin; dann schnippte er einen Zigarettenstummel ins Wasser und sagte: »Wissen Sie, Potts, ich habe mal nachgedacht. Die Nahrungsmittel werden langsam knapp; und es gibt massenhaft andere Plätze in dieser Gegend. Ich glaube, es ist an der Zeit, daß einer von uns geht.« Ein wilder und absurder Gedanke schoß Stan durch den Kopf. »Was wollen Sie damit sagen?« fragte er. »Nun, betrachten Sie’s mal von meinem Standpunkt«, sagte Jones. »Sie haben den richtigen Wagen dafür, und wir werden ihnen Verpflegung für mehrere Tage mitgeben. In Kimmeridge müßte man dann mehr kriegen können. Da gab’s einen großen Laden.«
Stan sagte mit dumpfer Stimme: »Vielleicht könnte ich mal hinfahren und nachsehen, was zu finden ist.« Jones schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »das meine ich nicht.« Er beugte sich vor. »Hauen Sie ab, Potts«, sagte er. »Niemand will Sie hier.« Stan lächelte und hielt die Augen gesenkt. »Ich werde es mir überlegen«, sagte er. Jones zündete sich eine neue Zigarette an. Sein feminines Gesicht war nachdenklich. »Wahrscheinlich«, sagte er. »Aber Sie werden nicht gehen.« Er schwieg. »Sie sind eine seltsa me Figur, Potts«, sagte er dann. »Warum sind Sie eigentlich hergekommen? Was haben Sie sich davon versprochen?« Stan spürte, wie er zu erröten begann. Mit verzweifelter Gleichmütigkeit starrte er auf das Wasser und hoffte, der andere würde auf hören. »Ich glaube nicht, daß Sie schwul sind«, sagte Martin. »Also kann es nicht Richard gewesen sein. Und ich war es mit Sicherheit nicht. Sie mögen mich nicht sonderlich, oder?« »So würde ich das nicht sagen«, antwortete Stan. »Na gut«, sagte Jones. »Jedenfalls mag ich Sie nicht.« Er zog an seiner Zigarette. »Ich hoffe,
es war nicht Maggie. Sie würden mit ihr nicht viel anfangen können. Soll ich Ihnen verraten warum?« Stan antwortete nicht; der andere begann zu lachen. »Nein«, sagte er. »Ich kann es nicht glauben. Aber es stimmt, es muß stimmen. Sie lassen ja nie die Augen von ihr.« Stan sagte: »Halten Sie den Mund…« Gleich darauf hätte er sich ohrfeigen können; aber es war zu spät, die kindische Bemerkung war draußen. Jones lachte schallend. »Potts«, sagte er, »Sie werden mein Ruin sein…« dann wurde er schlagartig ernst. »Stanislaus«, sagte er, »ha ben Sie jemals mit einer Frau geschlafen?« Keine Antwort. »Noch nie, nicht wahr?« sagte Martin. »Und ich werde Ihnen was sagen. Ich glaube nicht, daß Sie es jemals tun werden.« Er schüttelte den Kopf. »Armer alter Potts«, sagte er. »Sie müssen verrückt sein…« Er hörte die Stimme seiner Mutter auf der Treppe, und die Tür schlug zu, während er da stand, puterrot und zitternd vor Scham. Sein Leben war nicht einfach gewesen. Er er innerte sich, daß es vor Jahren, noch bevor er
die Schule verließ, schon dasselbe gewesen war. Da hatte ihn sein Vater manchmal ins Va riete mitgenommen; sein Vater kannte sich im Variete aus; er behauptete, daß er die Clever neß der Programmnummern schätzte, aber je desmal, wenn sie nackt auftraten, lehnte er sich ein wenig vor. Und Stan saß da und tat so, als wäre er mit seinem Eis beschäftigt, und be obachtete heimlich die Frauen, die dort in ih ren kleinen Höschen herumliefen, und manch mal konnte er sich tagelang nicht von der Erinnerung lösen. Er überlegte sich, daß es nicht so schlimm wäre, wenn er nur eine die ser Frauen haben könnte, nur eine, ein einzi ges Mal, nur, um zu wissen, wie es war. Später, als er wußte, daß das nicht geschehen würde, fand er sich damit ab. Erst als er älter wurde, wurde es wieder schlimmer; man sah es jetzt überall, auch auf der Straße; einige waren noch Kinder, aber man konnte ihre Brustwar zen und alles genau sehen, wenn man wollte. Er wurde noch verstohlener, und er setzte sein Lächeln fast ständig auf. Wenn die Mädchen im Büro vom Lager hochkamen, konnte man alles sehen, selbst ohne es zu wollen. Und so kam der Trieb wieder hoch, stärker als zuvor, und er onanierte, obwohl er sich dabei ver fluchte. Dann lernte er Martine kennen, und
eine Zeitlang blieb seine Vorstellung von ihr rein. Aber schließlich kamen die Phantasien doch; und eines Tages überlegte er, wie wun derbar es wäre, wenn er sie sein könnte, wenn er in ihrem Körper leben und ihn für sich ha ben könnte. Er wußte, daß es nicht richtig war, aber er konnte sich von dem Gedanken nicht mehr lösen. Dann, eines Morgens fand er et was auf der kleinen Mauer vor dem Haus. Sein Herz schien stillzustehen, einfach stillzu stehen. Er wollte es nicht sehen, er versuchte, es nicht zu sehen, aber es war da, sie waren da. Er konnte sie nicht dort liegenlassen; er mußte sie an sich reißen, das Knäuel aus Spitze tief unten in seiner Jackentasche verschwinden lassen. Ihn überfiel eine panische Angst, daß ihn jemand beobachtet haben könnte; aber es war erst zwanzig vor acht, und die Straße war menschenleer. Er eilte davon, mit hochgezoge nen Schultern und brennendem Gesicht. Er wickelte seine Fund in ein Taschentuch; und es war, als würde er sie halten, sie selbst. Es war wie ein Wunder, das erste, das er erlebt hatte. Sein Herz hämmerte den ganzen Tag’ hin durch. Er versteckte die furchterregende Ent deckung in seinem Kleiderschrank, ganz hin ten im obersten Fach. Er versuchte zu
vergessen, was dort lag, aber es nützte nichts. Er mußte es tun, das Experiment durchführen. Sie waren kleiner als er gedacht hatte. Er zog sie hoch, über seine weißen Schenkel; sein Ge sicht brannte; dann war es soweit, die Ver wandlung war komplett. Er keuchte, konnte kaum atmen, verstellte den Spiegel, um besser sehen zu können. Er war der Feind geworden, das, was er gefürchtet hatte; und die Furcht war gebannt. Genau in dem Augenblick öffnete sich die Tür; er versuchte, sich zu bedecken, seinen Bauch, den Fetzen durchsichtiger Spitze um seine Lenden. Ein Schrei gellte – sein eigener Schrei aus Angst und Scham; und er sah seine Mutter zurückweichen und hörte ihre Stimme auf der Treppe. »Du mußt verrückt sein…« Ein blasser Lichtstrahl, der durch eine Ritze in der Fensterlade drang, sagte ihm, daß es bald Morgen sein mußte. Sein Blick wanderte im Raum umher. Er hatte geträumt; er hätte schwören können, daß er gerade eben mit Chalky gesprochen hatte, und Chalky hatte ihm einen ausgezeichneten Rat gegeben, aber er konnte sich nicht mehr an den Inhalt erin
nern. Er war auch wieder in der Schule gewe sen. Er sah den Klassenraum noch lebhaft vor sich; er hatte gestanden, und Sledge hatte Fra gen gebrüllt und er hatte Antworten zurückge brüllt, zuversichtlich und selbstsicher; und der Gesichtsausdruck des Lehrers begann sich zu verändern, er konnte Erstaunen und Ent zücken darin lesen, und Chapman und alle an deren saßen verstummt da. Er seufzte, weil so etwas niemals geschehen würde. Er erhob sich und zog sich an. Vorsichtig öff nete er die Tür und lugte hinaus. Der Flur lag still und grau da, niemand rührte sich. Es konnte kaum später als sechs Uhr sein. Auf Ze henspitzen schlich er an Martines Zimmer vor bei und lauschte wieder. Nun war er an der Haustür angelangt. Im Halbdunkel ertastete er die Klinke, drückte sie hinunter. Immer noch auf Zehenspitzen über querte er den Hof auf die Scheune zu. Er öffne te die Fahrertür des Champ und griff hinter den Sitz. Eine Sekunde lang fürchtete er, das Ding wäre nicht mehr da; aber dann fand er es. Er hob den Kasten heraus und schlich wieder in sein Zimmer zurück. Dort saß er dann in dem schwachen Licht und ließ seine Hände auf dem Deckel ruhen; und alles wurde wieder lebendig, der kleine
Schießstand neben der Masonic-Halle, die Zielscheiben, die riesigen Schränke, in denen die Gewehre aufbewahrt wurden. Er und die anderen Pistolenschützen hatten immer vorge geben, auf die Gewehrgruppe herunterzubli cken. Da auf dem Boden zu liegen und sich al les mögliche abzuschnüren, das war doch kein Schießen. Pistolen hatten etwas Besonderes an sich. Er war lange Jahre Mitglied im Club ge wesen und war mit der Zeit immer besser ge worden; irgendwann war er ein bißchen über geschnappt und hatte sich eine Browning gekauft. Er begann, sich für Waffen zu interes sieren, und bald kannte er jedes einzelne Mo dell. Am meisten faszinierte ihn das PKK-Ge wehr, aber das durfte er mit seiner Lizenz nicht besitzen. Wieder schien ihm das Schick sal einen Schlag versetzt zu haben, denn eine andere Lizenz konnte er sich nicht leisten. Und so mußte er sich damit begnügen, mit Chalky über das Spielzeug zu reden; bis sein Freund eines Abends ganz geheimnisvoll ankam und ihn fragte, ob er mal was ganz Besonderes se hen wolle. Als er das Gewehr dann in den Hän den hielt, konnte er es nicht mehr weggeben. Also kaufte er es, für fünfunddreißig Pfund. Danach verkaufte er die Browning und trat aus dem Club aus. Zum ersten Mal in seinem Le
ben stand er jenseits des Gesetzes; eine neue, nicht uneingeschränkt angenehme Erfahrung. Bisher hatte er nur ein einziges Mal mit dem Ding geschossen, in einer Sylvesternacht. Spä ter hatte er sich deswegen verachtet; er hatte nie zuvor eine schwere Pistole gehandhabt und einen ziemlich schlechten Schuß abgegeben. Er schloß den Deckel auf und öffnete ihn, starrte auf die Pistole hinunter. Er runzelte die Stirn, als er daran dachte, was er über die Schlagkraft der schweren Kugeln gelesen hat te, und der Raum verschwamm vor seinen Au gen. Der Anfall ging vorüber. Er öffnete die Büchse mit den Patronen, lud die Pistole. Nachdem er noch einmal alles kontrolliert und das Ding ge sichert hatte, legte er es zur Seite und wartete. Als die anderen endlich aufstanden, zitterte er; aber sein Kopf war klar. Sie wirkten ver drossen, wenig gesprächig; er fragte sich, ob sie wohl seine Abreise diskutiert hatten. Als er sich seinen Kaffee brühte, stellte er fest, daß sie bei der letzten Gasflasche angelangt waren. Er trank, wärmte seine Hände an der heißen Tasse und hörte, wie der Holzkarren draußen vorbeiholperte. Er wartete noch einen Augen blick und trat auf den Hof hinaus.
Der Nebel war immer noch genauso dicht wie zuvor, das Licht seltsam gelblich und trübe. Er folgte dem Pfad, der durch die Wiesen auf die Klippen zulief, und bewahrte sorgfältig den Abstand, den er nach dem Knirschen des Kar rens ausrichtete. Der Pfad war nicht so steil, wie er vermutet hatte. Er führte durch eine Wasserrinne im Felsen, mit feuchtem Stein zu beiden Seiten. Oben auf dem Kamm wurde das Licht heller; durch den Nebel hindurch konnte er den sich bewegenden Schatten von Jones sehen. Sein Herz schlug schneller; aber seine Ruhe blieb. Er nahm die Pistole aus der Tasche, ent sicherte sie und legte seinen Zeigefinger an den Auslöser. Der Pfad bog nach links ab, aufs Meer zu. Er rannte die letzten Meter und sah, daß der andere sich umgedreht hatte und an gestrengt in seine Richtung starrte. Er rief un sicher und fragend; als er jedoch Stan erkann te, war er beruhigt. »Potty Potts«, sagte er. »Was machen Sie denn hier, Potty Potts?« Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck. Diesmal hielt er die Pistole gut; er drückte ab. Echos hallten. Die zweite Kugel traf nicht. Denn Jones war nicht mehr da. Er bewegte sich langsam vorwärts, stoppte. Das Paradox war geklärt – Jones hatte am
Rande der Klippe gestanden. Er starrte in die Leere zu seinen Füßen und hörte das Rau schen der See. Eine Möwe kreiste über ihn und krächzte; ansonsten herrschte Stille. Er setzte sich ins Gras und blickte auf die Pis tole hinunter. Seltsam, wie einfach es am Ende gewesen war. Er stand auf und ging zu dem Handkarren hinüber. Ein Ruck, und auch der war verschwunden. Er konnte ihn undeutlich aufschlagen hören. Es dauerte eine Stunde, bis er einen Weg zum Strand gefunden hatte. Er kam nur langsam voran, kletterte über ver streut umherliegende Felsbrocken. Er sang da bei sein Lieblingslied: »Du, Gott, unsere Hilfe.« Schließlich fand er den zertrümmerten Hand karren neben einem großen, flachen Felsblock. Nicht weit davon entfernt entdeckte er etwas roten Schmier auf dem Stein, aber von der Lei che war nichts zu sehen. Die See wisperte, der schmale dunkle Sandstrand war glatt und leer. Er saß eine Weile mit geschlossenen Augen da. Er fühlte sich sehr müde. Er lauschte dem Rauschen der See und dem Geschrei der Mö wen. Dann hörte das Geschrei plötzlich auf. Er öffnete die Augen. Der Dunst um ihn her um schimmerte. Die Helligkeit nahm zu, bis
die See aussah wie ein silberner Spiegel, der eine versteckte Sonne reflektiert. Dann kam das Geräusch; zuerst ein entferntes Rumpeln, als wenn riesige Räder über den Himmel roll ten. Das Rumpeln verstärkte sich zu einem lauten Brummen. Die Klippen vibrierten; Fels brocken und Steine regneten herunter, und ir gendwo schlug etwas Größeres auf. Er rannte ins Meer hinaus, sah, wie der Nebel wie von riesigen Luftmassen auseinandergetrieben aufriß. Dann verstummte das Geräusch. Er wandte sich nach Osten und machte sich auf den Heimweg. Eine Stunde später lag die Bucht vor ihm, und er sah das Farmhaus und die Scheune, in der die Autos standen. Er hatte den Pistolengriff fest umklammert gehalten. Er zwang sich zu entspannen und be trat den Hof. Es war still ringsherum; vor der Tür saß Richard Joyce. Er ging an ihm vorbei in das Gebäude hinein, aber er wußte bereits, was er finden würde. Die Räume waren leer. Er kehrte zu Joyce zu rück. »Wo sind sie?« fragte er. Der Künstler sah ihn müde an, den Kopf ge gen die Mauer gelehnt. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen. »Sie sind weg«, sagte er. »Was heißt das?« sagte Stan. »Wohin?«
»Weg«, sagte Joyce. »Einfach weg.« Er erhob sich schwerfällig und ging. In der Nacht kam das Geräusch wieder. Da nach döste er ein. Gegen Morgen hatte er einen Traum. Zuerst war es, als würde sie ihn rufen; ihre Stimme vermischte sich mit dem Pfeifen des Windes. Dann schien er auf einer Anhöhe über einer weiten Ebene zu stehen. Er sah die Heide und die Berge, dann das ganze Land; das blaugraue Meer, die Klippen. Er sah die Burg und das Dorf, klein wie Kinderspielzeug; und er sah andere Dörfer und Städte. Dann wurde alles von einer weißen Flamme verschlungen; und als er wieder sehen konnte, waren die Dörfer und Städte weg. Ausradiert. Und das Meer schlug gegen leere Strände, der Wind pfiff durch das hohe Gras. Ihr Stimme ertönte wieder, hoch und klagend wie die eines Seevo gels. Und über einem kleinen Hügel ging die Sonne auf und brachte einen leeren Morgen.
ZWEI BRUCHSTÜCKE Maggie Jemand hat mir geschrieben, ich hätte meine Eltern getötet. Wenn das wahr ist, dann habe ich ihnen nur einen Gefallen getan, glaube ich. Ich habe ihnen die jetzige Situation erspart. Habe ich sie getötet? Eigentlich nicht. Man stirbt nicht durch Kum mer. Man stirbt ausschließlich dadurch, daß das Herz stillsteht. Aber das ist ja der Ärger mit den Gefühlen – niemand versteht sie. Alle übersehen das, was sie tun könnten, und ma chen ein Heidentheater um das, was sie nicht tun können. Ich bin sicher, daß mich niemand verstanden hat. Nach dem, was ich getan hatte, hätte ich nach ihrer Ansicht verwirrt oder bestürzt oder durcheinander sein müssen. Sie konnten es einfach nicht begreifen, daß ich überhaupt nichts fühlte, daß es mir nicht mal leid tat. Ich würde es sofort wieder tun. Ich nehme an, ich bin ganz gut davongekom men. Natürlich darf ich nie wieder unterrich
ten, aber wer zum Teufel will das schon? Wenn Sie die Schule gesehen hätten… Stellen Sie sich einen riesigen, hallenden Kas ten aus Glas und Beton vor. Oder einen Haufen von Kaninchenställen, fünfzehn oder zwanzig Meter hoch. Und rundherum, soweit das Auge reicht, die Dächer des neuen Modell-Wohnge biets. Hier und da ein bißchen Gras, das noch übriggeblieben ist. Und kleine, säuberlich an gepflanzte Bäume. Ich hatte das Gefühl, ich müßte ersticken. Wie ein Goldfisch in einem Glas. Ich kann noch immer die Kinder hören, wenn ich will. Hunderte von Kindern, deren Schritte und Geplapper das ganze Gebäude füllen. Ich kann die langen, verglasten Korridore sehen, die geometrisch angeordneten Blumenkästen mit Pfingstrosen und Geranien. Es war eine Modellschule. Modellschule und Modellsied lung. Das war der Fehler. Sie haben behauptet, ich hätte kein Gefühl für Kinder. Das war der Gipfel des Lächerlichen. Ich war die beliebteste Lehrerin im ganzen Kollegium, und das konnten die natürlich nicht gut haben. Dann haben sie gesagt, ich hätte keine Moral. Das hat gesessen. Moral ist ein Produkt des Geistes, nicht des Körpers.
Ich würde gern wissen, was mit der Schule passiert ist. Zertrümmert wahrscheinlich. Die se Geräusche… Was habe ich dem Mädchen eigentlich wirk lich getan? Zumindest das weiß ich noch genau. Ihre Zu kunft war klar. Sie würde von der Siedlung vereinnahmt werden, wie alle anderen. Sie würde heiraten, wie alle anderen. Und Kinder kriegen; diskret, im Dunkeln, wie alle ande ren. Und sie würde ihrem Mann das Leben ver kürzen durch ihr Bestreben nach einem mo dernen Kühlschrank oder einem größeren Wagen oder neuen Vorhängen oder einem Farbfernseher. Statt dessen öffnete ich ihr für eine kleine Weile die Augen. Ich lehrte sie, in der dunklen See zu schwimmen. Sie saß Sap pho zu Füßen; sie hörte das Donnern vom Olymp, und sie kannte Pan und alle seine Fau ne. Die anderen haben das allerdings anders ge sehen. Ich glaube, es kommt für jeden irgendwann der Moment, in dem die Gefühle aufhören, die Tränen einfach versiegen. Das war eine weite re Theorie von mir, etwas, das mich rasend machte: daß Gefühle nicht unendlich vorhan den sind, sondern daß wir alle mit einem be
stimmten Quantum geboren werden, und wenn wir dieses Quantum aufgebraucht ha ben, dann kommt nichts mehr. Wenn wir es also auf wertlose Dinge verschwenden, ver schwenden wir das einzige in uns, das einen Wert hat, das uns von Bäumen und Tieren un terscheidet. Holmes hat behauptet, das Gehirn sei wie eine Dachkammer, die nur eine be grenzte Menge von Gerümpel fassen kann. Deswegen hat er nie versucht, sich zu merken, ob sich die Erde um die Sonne dreht oder um gekehrt. Es war für ihn einfach unwichtig. Ich glaubte, das gleiche trifft für das Herz zu. Als ich hierher zurückkam, konnte ich keine Gefühle entwickeln. Weder Wut noch Freude. Sie sagten, ich sei kalt, das, was ich getan hät te, würde beweisen, daß ich keine Gefühle hät te. Aber so war das nicht, überhaupt nicht. Wenigstens nahm mich meine Mutter auf. Ich nehme an, ich sollte ihr dafür dankbar sein. Ich glaube, ich war es auch. Sie ließ mich zu Hause herumsitzen, sprach mit den Nachbarn, und nach einer gewissen Zeit hörte das Getrat sche auf. Ich habe mich isoliert, weil niemand ver stand, was mich verletzte. Niemand wird das verstehen in dieser Epoche. Jetzt nicht mehr. Vielleicht später einmal, wenn die Menschheit
wieder von vorn anfängt, in tausend Jahren, wenn die Asche verflogen ist; vielleicht wird’s dann eine neue Gesellschaft geben, eine, die sich Gedanken macht. Und vielleicht wird’s dann keine Kriege mehr geben, weil sie nicht mehr nötig sind. Sappho wird zurückkehren. Ganz schön viele Gedanken um einen Skandal in einer Schule! Ich glaube, wenn ich sie je mandem darlegen würde, dann würden sie nur denken, daß ich mich verzweifelt bemühe, mich zu rechtfertigen. Eins ist sicher – sie würden nicht zuhören. Ich glaube, Richard hat mich verstanden. Aber Männer sind seltsam. Die meisten wer den mit ihrer eigenen Homosexualität nicht fertig, aber unsere erregt sie. Ich habe mal mit ihm darüber gesprochen. Er meinte, wahr scheinlich wäre das Ästhetische ausschlagge bend, daß es der praktische Ablauf bei Män nern sei, der ihn abstieße, nicht die Moral. Aber ich weiß nicht. Ich glaube, da steckt noch mehr dahinter. Er war gut zu mir. Er erwartete nichts… Er hat nie versucht, mich rumzukriegen. Ich glau be, er verstand mich. Manchmal malte er, wenn es mir dreckig ging und ich mit zugezo genen Gardinen in meinem Bett lag. Oder er
saß einfach da und las oder kochte Tee. Aber ich wußte, er würde dasein, wenn ich ihn rief… Sie hätten diese Beziehung nicht verstanden. Sie hätten gedacht, ich wäre endlich »normal« geworden. Die Kneipe hat mir auch sehr geholfen. Ich habe oft überlegt, ob Ray es wußte. Jedenfalls hat er es nie gezeigt. Für das Singen hat er mich nie bezahlt. Das hätte ich auch nicht ge wollt. Aber ich konnte immer dort essen. Das half auch schon was. Im Grunde ging’s mir gar nicht schlecht. Ich konnte zu Richard gehen, wenn ich ihn brauchte, und ich hatte genug Geld, um mich durchzubeißen. Konnte sogar den Cambridge weiter halten. Ich glaube, ich war auf dem bes ten Wege, das ereignislose Leben einer alten Jungfer anzutreten. Hört sich komisch an. Ist ganz und gar Einstellungssache. Ich kenne Jungfrauen, die seit Jahren verheiratet sind, die Kinder großgezogen haben. Nur eins machte mir Angst, ganz tief drinnen. Ich fürchtete, daß meine Gefühle tot waren, daß ich am Ende meines Quantums angekom men war. Es reichte mir völlig, einfach vor mich hinzuleben, in der Kneipe zu sein und die Leute ein- und ausgehen zu sehen. Manchmal überlegte ich, ob ich mich nicht hätte umbrin
gen sollen, damals, als die Sache rauskam. Habe darüber auch mal mit Richard gespro chen. Er meint, daß niemand, der geistig gesund ist, wirklich sterben will. Er sagte, daß es für ihn eine Zeit gegeben hätte, in der er sich nichts aus dem Leben gemacht hätte, aber das wäre etwas anderes. Schade, daß Vicky herkam. Ich weiß nicht, wie er dazu stand. Zog sich ein bißchen zurück. Schade, daß das passieren mußte. Fast könnte man an personalisiertes Schicksal glauben. Ich habe ihm erzählt, daß ich Angst habe, ge fühlsmäßig tot zu sein. Eine eigenartige Situa tion war das. Ich weiß nicht, wie ich jetzt dar über denke, was ich überhaupt will. Vielleicht haben mich die Bomben stärker aufgerüttelt, als ich wahrgenommen habe. Ich wußte, was ich wollte, damals, als Marty kam. Aber ich wollte es nicht zugeben; zuerst jedenfalls nicht. Das war dumm. Wenn man aufhört, sich selbst gegenüber offen zu sein, dann ist der Zeitpunkt des Altwerdens gekom men. Ich weiß überhaupt nichts über ihre Familie. Sie hat eine Tante irgendwo in Bournemouth, aber sie besucht sie fast nie. Sie lebt zurückge zogener als die meisten anderen Mädchen in
ihrem Alter. Dreiundzwanzig inzwischen, fast vierundzwanzig. Sie war neunzehn, als ich sie kennenlernte. Ob sie es wußte? Von Anfang an? Es wird so viel Blödsinn geredet über weibliche Einge bung. Entschuldigung für leere Köpfe. Trotz dem, einige haben sowas. Die hübschen. Oder vielleicht auch alle. Ich habe nie versucht, es bei den anderen rauszukriegen. Sie mochte mich, das weiß ich. Oft saß ich nachts mit ihr zusammen. In ihrem Raum. Wir tranken Kaffee. Einmal schlief ich dort. Das war fürchterlich. Von da an hat sie es be stimmt gewußt… Sie ist wundervoll. Zuerst glaubte ich, sie müßte spanische Vorfahren haben, aber ich habe meine Meinung geändert. Nun glaube ich, daß sie eine reinrassige Keltin ist. Sie paßt hierher. Eine Göttin, in einem kurzen Röck chen und einer bernsteinfarbenen Bluse. Ich versuche, Trauer zu empfinden. Es geht nicht, es ist einfach zu viel auf einmal. Viel leicht stehe ich noch immer unter Schock. Ob der blöde Nebel noch da ist? Ich würde was drum geben, die Sonne zu sehen. Der Wind ist stärker geworden.
Ob er recht hatte mit dem radioaktiven Nie derschlag? Lieber nicht weiter drüber nach denken… Er war das Schlimmste, was passieren konn te. Zumindest von meiner Warte aus. Habe ge hört, daß er eine Frau in Poole hat. Ich habe den Mund gehalten. Hätte sowieso nur wie eine Moralpredigt ausgesehen. Und ich dürfte kaum die richtige sein, um damit anzufangen. Ich mochte ihn nicht. Eine wandelnde Fassa de, Elite-Bürgertum. Mit den zarten Gefühlen einer Klapperschlange. Aber es ist nun vorbei; das und vieles Andere auch. Ob die Kneipe noch steht…? Blöder Gedanke. Natürlich steht sie noch. Al les ist noch da, draußen im Nebel. Diese… Erd bebenherde waren Meilen entfernt. Oben in den Midlands vielleicht. Ob es jetzt alles vorbei ist…? Ich kann mich gut an die Fahrten zum Strand erinnern. Einfältig von mir, aber ich hatte nicht erwartet, daß sie so viel zeigen würde. Werde wohl altmodisch. Einmal habe ich sie eingecremt. Sie war braun. Ich habe noch nie ein Mädchen gese hen, das so braun wird. Als sie sich dann zum
Duschen auszog, konnte man deutlich den schmalen weißen Streifen auf ihrer Haut se hen… Ich hatte geglaubt, ich wäre darüber hinweg. Einmal fuhr Richard nach London, um eine Ausstellung aufzubauen. Ich hätte ihn beglei ten können. Aber ich konnte nicht weg von ihr. Es hatte mich erwischt, schlimmer als je zuvor. Eine halbe Meile von der Kneipe entfernt liegt ein kleines Wäldchen an der Straße. Ein paar Mal bin ich dorthin gewandert und habe mich irgendwo niedergelassen, wo ich die Dächer und Schornsteine sehen konnte. Dann überleg te ich, was sie wohl gerade tun mochte; ob sie sich ausruhte oder umzog oder die Regale in der Bar auffüllte. Oder ob sie vielleicht gar nicht da war, sondern im Dorf oder in Poole. Ich glaubte, ich müßte es erahnen können. Einmal passierte etwas Seltsames. Dieser Stan Potts tauchte auf, parkte seinen dicken Wagen am Straßenrand und saß da und sah zurück. Mehr als eine Stunde lang. Aber er hat mich nicht gesehen. Ob er auch in sie verschossen war? Wundern würde es mich nicht. Seltsamer Mensch. Kommt irgendwoher aus den Midlands, glaube ich. Habe nie mit ihm geredet. Hatte nie den Wunsch danach. Eines weiß ich allerdings si
cher. Wenn jemals jemand unglücklich war, dann ist er es… Ich träumte regelmäßig von ihr. Einmal fand ich sie in einem Bach. Sie lag einfach da, im goldenen Schilf. Ein wenig wie Ophelia. Ihr Kleid war offen; ihre Haut leuchtete braun im Kontrast zu dem weißen BH. Sie hatte keine Wunde, und ihre Augen waren geschlossen, als würde sie schlafen. Aber ich wußte, daß sie tot war. Ein anderes Mal war es sehr viel schlimmer. Sie lag auf der Straße. Es war nicht mehr viel von ihr übrig; aber man konnte erkennen, daß sie ihre karierte Bluse getragen hatte. Ein Haarbüschel bewegte sich im Wind; der Rest von ihr war… flach, als wenn Wagen um Wa gen sie überrollt hätte, wie sie Katzen überrol len. Als wenn eine fürchterliche Panik sie dar an gehindert hätte anzuhalten. Träume? Eher wie Vorhersehungen jetzt… Ich hatte an dem Abend gar nicht zur Kneipe gehen wollen. Aber ich mußte hin, um zu se hen, daß… Ich weiß, daß es lächerlich war. Na türlich war sie da, unterhielt sich mit Arthur und Teddy King. Ich wollte ihr sagen… was uns bevorstand, wenn wir uns nicht alle in acht nahmen. Aber natürlich konnte ich es nicht; ich kriegte keinen Ton raus. Statt dessen ging
ich aufs Klo und heulte ungefähr eine halbe Stunde lang. Sie war besorgt um mich, als ich wiederkam. Wollte wissen, was los war. Ich sagte, es wäre nichts von Bedeutung, ein verdorbener Magen. Kurz darauf begann ich zu phantasieren. Konnte nicht anders. Ich stellte mir vor, sie würde mit mir im Bungalow leben. Ich zog sie an und aus, gerade so wie ich wollte; und wir waren zusammen, die ganze Zeit, und ich hatte sie für mich allein. Es war nicht einfach, mit der Wirklichkeit klarzukommen. Jeden Tag konnte sie nun ver schwinden wie die anderen auch, um Kinder zu kriegen und einen Mann zu versorgen, der seine Abende entweder in der Kneipe oder treu und brav mit ihr vor dem Fernseher ver brachte. Ich hätte es fast besser gefunden, wenn sie – na ja, wenn sie wie Ophelia in dem Bach gestorben wäre. Das kommt dabei raus, wenn man jemand derartig liebt. Es gibt Leute, die behaupten, Kreaturen wie wir könnten nicht lieben. Sie haben Unrecht. Seltsam, daß Potts mitkam. Je mehr ich dar über nachdenke… aber das ist ja egal. Ich glau be, ich hätte das gleiche versucht. Besser als nach Poole verschifft zu werden. Schwer war es auch nicht, in dem ganzen Durcheinander…
Es scheint absurd, aber irgendwie tut es mir um Ray am meisten leid. Und um die Kneipe. Ich frage mich, ob… aber das werden wir nie erfahren. Diese Schüsse… Es waren Schüsse, das habe ich genau gehört. Und sie waren bei de draußen im Nebel. Eigenartig, wie sie reagierte. Als ob sie es ge wußt hätte. Ich wußte, was sie tun würde. Vorhersehung… Ich bin sicher, daß sie nichts mitgenommen hätte, nicht mal einen Mantel… Seltsam auch, daß wir überhaupt nicht mit einander sprachen. Wir wanderten einfach ne beneinander durch den Nebel. Ich habe Schuldgefühle wegen Richard. Viel leicht ist das, was ich vermute, gar nicht pas siert. Doch, es ist passiert, ich spüre es genau. Martin Jones wird nicht zurückkehren. Also ist Richard jetzt allein da, allein mit diesem unheimlichen Mann. Aber sie wußte nicht, was sie tat. Sie war so… eigenartig, ich mußte einfach mit ihr gehen. Er wird es verstehen… Der Weg war nicht sehr weit. Einmal begann sie zu weinen, kurz nachdem die Blitze aufge hört hatten. Ich hielt sie fest, bis der Lärm ver stummte; ich hatte sie noch nie zuvor festge halten.
Sie wäre wahrscheinlich verrückt geworden, wenn sie allein gewesen wäre. Man konnte das Haus gar nicht verfehlen. Ich dachte, es wären vielleicht Leute drin, die uns ein Nachtlager und etwas zu essen geben wür den. Wir brauchten eine ganze Stunde, um reinzu kommen. Drinnen herrschte eine seltsame At mosphäre; der Nebel, der von draußen gegen die Scheiben preßte, das unheimliche Licht, die leblosen Möbel, die sich in den polierten Fußböden spiegelten. Wenn man rief, hallte es in allen Räumen wider, aber es war niemand da, der antwortete. Wir kletterten die große Treppe hinauf, wan derten durch die Schlafzimmer und über den Dachboden. Es wirkt sonderbar, so ein großes weißes Haus im Nebel, mit allem, was man braucht, und trotzdem leer. Ganz anders als beim letzten Mal… An einem normalen Tag kann man auf die Bucht hinausblicken. Im Westen des Hauses steht ein Wald. Jemand muß mal eine Bresche geschlagen haben – man kann durch sie das Meer sehen, wie ein blasses blaues Auge. Der Vorratsschrank ist vollgestopft mit Le bensmitteln. Holz und Kohle gibt es ebenfalls;
und Gewehre. Nach der Munition mußte ich eine weitere Stunde lang suchen. Vorerst sind wir hier gut aufgehoben. Ich kann noch immer keine Angst empfinden… Ich begreife langsam, daß sie vor ihm davon gelaufen ist. Warum, weiß ich nicht; noch nicht. Ich machte Feuer in einem der Schlafräume. Wir fanden ein paar Kerzen, und ich zündete sie an. Dann brachte ich sie zu Bett. Sie sah er schöpft aus. Ich sagte ihr, daß ich die Nacht in der Küche unten verbringen würde. Ich hatte mir eins der Gewehre und eine Tasche voll Mu nition geholt. Fühlte mich sehr stark und mu tig. War das nicht das Beste, was ich tun konnte? Jemand mußte Wache halten, wegen Herum treibern und so. Und ich wollte ihr nicht zu nahe sein, ich konnte es nicht riskieren, ihr nahe zu sein. Ich hatte die besten Vorsätze. Ich kann nicht sagen, wann der Lärm losging. Ich war eingedöst. Ich weiß auch nicht, was es war. Irgendwas im Zusammenhang mit… heu te nachmittag. Ich setzte mich auf. Das Feuer war herunter gebrannt. Ich lauschte und konnte es wieder
hören. Weich und dröhnend. Ähnlich wie die merkwürdigen Geräusche, die man an einem warmen, stillen Sommertag in der Ferne hört. Dann ein anderes Geräusch, näher; und noch eins. Und dann… Ich kann nicht beschreiben, wie es war. Wie ein riesiges Pferd vielleicht, das auf das Haus zugaloppierte. Die Fenster scheiben klirrten, die Türen schwangen auf und zu; dann verlor es sich in Richtung Meer. Erst als es vorüber war, hörte ich sie schreien. Ich hatte noch nie jemanden so schreien hö ren. Ich fand eine Taschenlampe und jagte die Treppe hinauf, nahm drei Stufen auf einmal. Auf dem Treppenabsatz kam sie mir entgegen. Sie war… nun ja, außer sich. Zuerst war sie nicht dazu zu bewegen, in den Schlafraum zu rückzugehen. Schließlich ging sie dann doch, und ich erklärte ihr, daß es nun vorbei war. Ich glaube, sie hatte geträumt. Er war aus dem Meer gekommen, um sie zu holen. Sie weiß also auch, daß er tot ist. Die Kerzen waren her untergebrannt; ich zündete neue an. Sie wollte mich nicht mehr gehen lassen. Ich hielt sie in den Armen, bis sie ruhiger wurde; vielleicht stimmt es, daß Angst übertragbar ist, denn ich spürte zum ersten Mal richtige Angst, ich ver riegelte die Tür, setzte mich mit dem Gewehr im Schoß auf einen Stuhl und wartete; worauf,
das weiß ich nicht. Natürlich passierte nichts; schließlich legte ich das Gewehr zur Seite. Ich sagte: »Wenn er getötet worden „ist, dann kann er auch noch mal getötet werden.« Dann sah ich zu ihr hin. Sie beobachtete mich im Kerzenlicht; und plötzlich, glaube ich, wuß ten wir beide Bescheid. Martine Ich weiß nicht, warum ich überhaupt mit ihm ging. Vielleicht weiß ich es doch; aber man gibt so etwas nicht gern zu, nicht einmal sich selbst. Irgendwie wünschte ich, er wäre niemals auf getaucht. Aber ich wünsche mir so viel; ich wünschte, das Leben hatte einfach so weiterge hen können wie bisher. Ich liebte die Kneipe; die Arbeitszeit war recht lang, aber es war im mer was los. Und Ray war gut zu uns allen. Wo er wohl sein mag; ich hoffe, er hat nicht… Ich darf nicht an so was denken, ich darf nicht wieder durchdrehen. Ich bin hier sicher, es geht mir gut, nichts wird heute nacht mehr passieren. Das Geräusch ist weg, es war ja nur ein Geräusch.
Immer wieder überlegte ich, wo sie wohl alle sein mögen. Keine Ahnung, was geschehen ist… Ich habe Maggie schon immer gemocht. Jeder mochte sie, besonders Ray, und der kannte sie seit Jahren. Viel länger als ich. Und Richard war auch dauernd bei ihr. Sie hatten nichts miteinander, hat sie mir mal gesagt. Ich erin nere mich, daß mir die Situation peinlich war, weil sie einfach so damit herauskam. Manchmal blieb Richard abends noch länger. Ich glaube, er war ein sehr guter Maler. Ray hatte ihm eins seiner Bilder abgekauft, eins von der Bürg. Wir wollten es in der Bar auf hängen… Irgendwas war da zwischen ihm und Vicky. Habe nie rausgekriegt, was. Ich glaube, sie wa ren mal zusammen, früher… Ich weiß nicht, wie alt Maggie ist. Irgendwo in den Dreißigern. Sie ist älter als sie aussieht, und sie hat eine blendende Figur. Und sie ist so… lebendig. Besser kann ich es nicht erklä ren. Es war herrlich, sie spielen zu hören. Sie hatte so eine heisere, dunkle Singstimme. Und sie spielte ausgezeichnet Gitarre, auch wenn sie das immer abstritt. Sie mochte das, was sie für die Touristen spielte, nicht sonderlich, aber es brachte ihr Geld ein.
Vielleicht ist es jetzt vorbei. Die…Bomben. Bitte, bitte, lieber Gott, laß es vorbei sein. Viel leicht lassen sie uns alle einfach zurückkehren. Es kümmert mich nicht, ob das Land… einge nommen wird oder so was. Hat mich nie ge kümmert… Ich glaube, im Grunde war es meine Schuld. Was geschehen ist. Wenigstens teilweise… Ich wußte schon immer, daß sie mich mochte. Keine Ahnung, warum ich das so sicher sagen konnte. Ich wußte auch immer, ob sie in der Kneipe war; ich konnte ihre Gegenwart förm lich spüren, wie einen Windhauch oder ein Prickeln. Ich fragte mich oft, ob ich mich in sie verknallt hatte. Aber das war Blödsinn. Man verknallt sich nicht so einfach, jedenfalls nicht, wenn man erwachsen ist. Der Tag unten am Strand war am schlimms ten. Das war der Tag, an dem ich meinen neu en Bikini zum ersten Mal trug. Ich brauchte einen neuen Bikini, und dieser hatte so einen herrlich bräunlichen Farbton. Die Verkäuferin meinte, sie wären alle so winzig in diesem Jahr. Und ich kaufte ihn dann, weil er der ein zige in der Farbe war… Nein, ich will nicht lügen. Ich wollte, daß sie mich sah, wollte… angeben, nehme ich an. Es war wie… bewundert werden.
Als sie später hochkam, hatte ich nichts an. Sie sollte an dem Abend in der Bar arbeiten; Ray war in Bournemouth zum Kricketspielen, und Penny kam erst um sieben. Ich sagte, sie könne reinkommen. Es machte ja nichts. Nicht bei einer Frau. Ich fühlte mich… irgendwie weich in den Kni en. Sie tat überhaupt nichts, saß bloß da und redete, rauchte eine Zigarette. Abends in der Bar mußte sie sich einmal über mich beugen, um an eine Flasche zu kommen, und da legte sie ihre Hand auf meine Hüfte. Ganz leicht nur, um sich abzustützen. Ich dachte, ich wür de ohnmächtig, ich weiß nicht, was mit mir los war. Ich hätte am liebsten… einen Striptease getanzt oder irgendwas anderes Verrücktes ge tan, nur um mich ihr noch einmal zu zeigen. Sie ging, als Ray zurückkam, sagte, sie kriegte noch Besuch. Ich fühlte mich elend. Ich wollte… etwas, aber es ging nicht. Ich dachte, wenn sie vielleicht ein Mann wäre… Aber das ging auch nicht. Sie sollte nicht anders sein. Sie sollte genauso bleiben, wie sie war… Ich mochte Martin nie sonderlich. Er war zu… glatt. Dieser affektierte Akzent; dabei hat er nie eine Privatschule von innen gesehen. Es war mir ein Rätsel, wo er sein Geld herkriegte, er rührte nie auch nur einen Finger. Er be
hauptete, man würde bis ans Ende seiner Tage nur noch arbeiten, wenn man erst einmal an fing. Er war oft in Bournemouth; er sagte im mer, wenn man sich lang genug nah an der Geldquelle aufhalten würde, dann würde schon was für einen abfallen. Er war Steward auf einem Passagierschiff gewesen und hatte noch tausend andere Dinge getan. Ich konnte mich nie entscheiden, wieviel davon stimmte. Er sagte, er kenne sich mit Frauen aus. Das tat er wohl auch wirklich. Auf jeden Fall kriegte er von mir das, was er wollte. Beim ersten Mal hatten wir noch nicht mal fünf Minuten im Auto gesessen… Einmal hat er mich richtig wütend gemacht. Fragte mich, ob ich… Kondome dabeihätte. Ge rade heraus, einfach so. Ich fragte ihn, was er dächte, wer ich wäre; schließlich läuft man nicht mit solchen Dingern in der Handtasche durch die Weltgeschichte, das wäre ja, als ob man ein geladenes Gewehr herumtrüge. Von da an hatte er sie jedenfalls immer selbst da bei. Keine Ahnung, wo er sie herkriegte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er in eine Apo theke ging und danach fragte. Aber so muß er es wohl gemacht haben. Ich ging nur mit ihm, weil – ich glaube, ich wollte beweisen, daß ich… normal war, daß ich
nicht war, was ich dachte. Aber hinterher, ihr Gesicht an dem Abend… Ich hätte nicht ge dacht, daß sie es so schwer nehmen würde. Sie sagte, sie hätte eine Infektion, aber das stimm te nicht, sie hatte geweint. Ich wollte ihr doch nicht wehtun, ich… ich glaube, ich liebte sie. Normalerweise wäre ich nicht dort runterge fahren. Zu diesem Farmhaus. Und dann noch mit ihm. Aber Maggie wollte hin. Sie sagte… oh, tausende von Gründen, die ganz offen sichtlich und klar dafür sprachen. Damals je denfalls. Ich wußte nicht, was ich wollte, ich fürchtete mich so, schon seit Tagen. Ich dach te, bei ihr würde ich sicher sein. Und dann war Martin auch da. Ich hatte nicht gedacht, daß ich ihn jemals wiedersehen wür de, ich wollte ihn nicht wiedersehen. Und in der ersten Nacht sagte er etwas Abscheuliches über sie. Ich wurde ungeheuer wütend und versuchte, aus dem Bett herauszukommen, aber er hielt mich fest, und je wütender ich wurde, desto mehr lachte er. Er fand das alles furchtbar lustig, den Krieg, mich, alles. Dann die Schüsse; ich weiß, daß es Schüsse waren. Sie waren laut und gleichzeitig weit entfernt. Ich fürchtete, er würde blutüberströmt zu rückkommen, und den Gedanken konnte ich nicht aushalten. Ich lief einfach weg. Ich wußte
nicht, wohin ich wollte, ich konnte keinen kla ren Gedanken fassen. Dann kam sie hinter mir her und überredete mich, wenigstens zu war ten, bis sie mir einen Mantel geholt hatte. Sie sagte, sie würde mit mir kommen, falls ich… ihr vertrauen könnte. Ich dachte, sie würde mich hassen, wegen Martin. Aber ich… wollte bei ihr sein, ich wollte, daß sie mitkam, ich hatte keine Angst mehr. Jedenfalls nicht, bis die Bomben… Ich konnte nicht aufhören zu zittern danach. Aber sie war wunderbar. Sie erklärte mir, sie wüßte, wo wir hingehen könnten, wir würden dort sicher aufgehoben sein. Dann nahm sie meine Hand. Ich fühlte mich, als wäre ich un gefähr sechs Jahre alt. Ich mußte immer wie der an die Bomben denken, und wie das Meer geglüht hatte. Es hatte sich angehört, als wür de das Land entzweibrechen. Sie hatte gesagt, es würden Leute in dem Haus sein. Aber da waren keine. Wir wanderten ein mal ganz um das Gebäude herum. Es war rie sig, mit weißen Türmen an jedem Ende und langen Fensterreihen… Dann sagte sie, wir müßten versuchen hineinzukommen, weil mir kalt sei, und sie würde mich aufwärmen. Mit einer Brechstange ging sie auf ein paar Fens terläden los, und als sie sie offen hatte, muß
ten wir die Glasscheibe dahinter einschlagen. Ich bekam Angst. Ich fürchtete, es würde je mand kommen und uns ins Gefängnis werfen. Sie sagte, es sei niemand da, sonst hätten wir wenigstens den Hund hören müssen. Aber es blieb alles ruhig. Schließlich war das Fenster offen, und sie kletterte hinein und zog mich hinterher. Dann… es klingt verrückt, aber wir fingen bei de an zu lachen. Wir standen nämlich in einem riesigen Badezimmer. Es war wirklich riesig, ein hoher Raum von ungefähr zwölf Meter Länge, mit einem einzigen Klo in der Mitte; sie sagte etwas von Rittern, die da gesessen und Schießen geübt hätten, und ich konnte mich plötzlich nicht mehr halten vor Lachen. Dann plötzlich war es überhaupt nicht mehr lustig, weil wir in diesem großen leeren Haus standen und die Stille förmlich hören konnten. Sie nahm wieder meine Hand, öffnete die Tür, und wir erkundeten das Haus, jeden einzelnen Raum. Sie war einmalig. Sie muß auch Angst gehabt haben, aber sie zeigte es nicht. Sie hielt die Brechstange und wiederholte dauernd: »Es ist alles in Ordnung, hier ist niemand. Du siehst, daß niemand hier ist.« Es war ein wun dervolles Haus, mit hohen Räumen voller herrlicher Möbel.
In der Küche fanden wir einen Schrank voller Lebensmittel und einen Gaskocher. Das Gas war nicht abgestellt und das Wasser auch nicht; nur der Strom funktionierte nicht. Sie meinte, sie müßten das Gas wohl vergessen ha ben. Wir zündeten ein Feuer an, und dann fand sie eine große Schachtel mit Kerzen, und sie sagte, daß wir von Glück reden konnten, weil es so viele Streiks gegeben hatte. Es ging mir besser, als mir wärmer wurde. Sie kochte eine Suppe; ich dachte, ich würde nichts runterkriegen, weil ich mich auf dem Weg übergeben hatte, aber dann ging es doch. Nach dem Essen gingen wir wieder nach oben; sie sagte, sie würde mir eins der Schlafzimmer herrichten. Ich wollte unten in der Küche schlafen, aber sie meinte, es gäbe keinen Grund, warum ich nicht in einem richtigen Bett liegen sollte. Sie wählte einen Raum am Ende eines langen Flures, im anderen Teil des Hauses, weil er als einziger Vorhänge zum Zuziehen hatte. Sie zündete ein Feuer an und stellte Kerzen auf. Sie lüftete sogar ein paar Decken. Als wir endlich fertig waren, war es dunkel draußen. Ich fragte, ob sie nicht auch hierblei ben würde, aber sie antwortete, sie würde nach unten gehen und Wache halten. Sie hatte
eine Schrotflinte gefunden. Sie sagte, die Tü ren wären alle verschlossen, und es könnte niemand hereinkommen. Und sie meinte, ich sei ein… großes Mädchen, und die Bomben hätten jetzt aufgehört, und es würden auch keine mehr kommen. Sie wartete, bis ich im Bett lag, gab mir einen Kuß und wünschte mir eine gute Nacht. Dann ging sie nach unten. Nach allem, was passiert war, war ich richtig gehend müde. Ich lag eine Weile da und beobachtete die Ker zen. Es war so gemütlich und so wunderbar, hier liegen zu können. Ich überlegte, was sie wohl jetzt da unten machte, ob sie schlief oder nicht. Dann kam der Wind auf, man konnte ihn um das Haus pfeifen hören. Die Kerzen flammen bewegten sich leicht im Luftzug. Sie war vorher schon einmal hier gewesen; manchmal wurde das Haus zur Besichtigung geöffnet. Deswegen wußte sie auch von dem Spalt in den Bäumen, durch den man das Meer sehen konnte. Ich wünschte, sie hätte mir nicht davon erzählt, obwohl ich natürlich weiß, daß sie es nicht böse meinte. Ich hatte einen Traum. Ich weiß nicht, wo ich stand, aber ich konnte die Baumbresche sehen und das Meer dahinter. Das Wasser war leuch tend blau; ich hatte noch nie ein so intensives
Blau gesehen. Eine Zeitlang stand ich nur da und guckte. Dann entdeckte ich plötzlich einen Pfad, der vom Meer den Berg hinaufführte, und jemand war dabei, ihn zu erklimmen. Mir wurde angst. Ich weiß nicht, warum, aber ich wußte, daß ich ihn nicht sehen wollte, daß ich ihn nicht sehen durfte. Ich versuchte, wegzu laufen, aber ich konnte meine Beine nicht be wegen. Ich sah mich um, sah ihn durch die Schneise auf mich zukommen. Dann war er di rekt hinter mir. Sein Gesicht war ganz zerfres sen, man konnte alle Löcher und die Adern se hen, die sich öffneten und wieder schlossen, wenn er atmete. Ich wußte, daß er hinter mir her war, er war wütend, weil ich ihn hatte tö ten lassen. Ich schrie. Plötzlich war da dieses fürchterliche Klopfen und Poltern. Ich wußte, daß er im Haus war. Dann hörte ich Maggie ru fen, ich mußte zu ihr und sie warnen, ihr sa gen, daß er da war. Ich rüttelte an der Tür, aber sie ging nicht auf. Dann wußte ich plötz lich nicht mehr, wo ich war, ich glaubte, er sei mit mir in dem Zimmer, und ich konnte nicht weg. Ich kann nicht mehr sagen, was danach gesch ah. Ich glaube, sie hat mich geschlagen, aber ich erinnere mich nicht. Sie zwang mich, das Zimmer wieder zu betreten, sie durchsuchte
mit dem Gewehr in der Hand den ganzen Raum, aber wir fanden nichts. Sie sagte, der Lärm hätte nichts Schlimmes zu bedeuten ge habt, sie hätte so was schon früher einmal ge hört, wenn auch noch nie so nah. Sie meinte, es hätte mit den Bomben zu tun, irgend etwas Meteorologisches, wie Donner oder so. Merk würdig, aber das machte mir wieder Angst. Ich wußte, daß ich nur geträumt hatte, aber ich wollte sie nicht gehen lassen. Sie sagte, sie würde bei mir bleiben. Sie verriegelte die Tür und setzte sich neben mich, immer noch das Gewehr im Schoß. Warm und sicher… Es war, als hätte ein Teil meines Gehirns aus gesetzt. Etwas in mir sagte »richtig« und »falsch«, aber ich konnte es nicht mehr verste hen. Ich begriff nicht mehr, was die Worte be deuteten. Dann war es, als ob Martin und ich uns lieben würden, aber schöner als früher, viel schöner als je zuvor. Dann kam es mir vor, als ob sie verwandelt wäre, oder vielleicht auch ich – ich konnte ihren Mund küssen, alle Träume wurden wahr. In meinem Kopf drehte sich alles – der Bungalow, Boote auf dem Meer, die Bar, die weißen Klippen in der Son
ne. Und ich schmiegte mich an sie, ich konnte ihr nicht nah genug sein. Ich wollte mit ihr al les auf einmal tun, zur Burg hinaufklettern und wandern und rennen und schwimmen und tauchen; alles zur gleichen Zeit. Und nie wieder Angst haben. Ich hatte gedacht, der Morgen danach müßte furchtbar werden. Aber er war es nicht. Sie war unten und machte das Frühstück. Sie hat te eine Dose mit Würstchen gefunden, und auf dem Hof liefen ein paar Hennen umher – sie war hinausgegangen und hatte Eier gesam melt. Ich ging einfach auf sie zu und küßte sie. Es war überhaupt nicht seltsam. Sie ging zur Spüle hinüber und fing an, Teller abzuwaschen. Als sie sich umdrehte, sah ich, daß sie geweint hatte. Aber sie sprach nicht darüber. Wir erwähnten es beide nicht mehr für den Rest des Tages. Der Nebel war noch immer da. Ich glaubte langsam, er würde ewig bleiben. Als das Holz knapp wurde, begannen wir wie der Treibholz in der Bucht zu sammeln. Es lag genug davon herum. Ich dachte nicht an Mar tin. Nicht mehr. Später gingen wir den Berg hinauf ins Dorf. Da gab es eine Post, die zu
gleich ein Lebensmittelladen gewesen war. In zwischen waren wir daran gewöhnt einzubre chen. Wir nahmen solche Mengen mit, daß wir für den Rückweg unheimlich lange brauchten. Ich würde was drum geben, in einem solchen Haus zu leben. Ich weiß nicht, wie alt es ist. Achtzehntes Jahrhundert ungefähr. Ich konn te mir Maggie gut als eine Dame des achtzehn ten Jahrhunderts vorstellen. Manchmal dachte ich auch, wir könnten Fischermädchen sein. Ganz arm und zerlumpt. Ich glaube, wir durch lebten so ziemlich alle Epochen zusammen. Auf einem der Felder hinter dem Haus gab es einige Kühe. Eines morgens brüllten sie plötz lich alle, und ich dachte, sie seien krank, aber sie meinte, sie müßten nur gemolken werden. Ich weiß nicht, ob sie es schon jemals vorher getan hatte, aber sie machte es sehr gut. Wir hatten schließlich so viel Milch, daß wir nicht wußten, was wir damit machen sollten. Zuerst kochten wir sie ab, wegen TB-Gefahr. Später scherten wir uns nicht mehr darum. Dann zeigte sie mir, wie man mit einem Ge wehr umgeht. Es ist ganz einfach, man muß es nur laden und dann ist es schußbereit. Und man hat immer noch einen zweiten Schuß, wenn der erste danebengeht.
In der Bucht steht ein kleiner Betonbunker, wahrscheinlich ein Überbleibsel aus dem Krieg. Wir liebten uns einmal darin. Ganz in der Nähe fanden wir einen Haufen Hummer körbe und ein Boot. Wir ruderten aufs Wasser hinaus und versenkten die Körbe. Obwohl wir in der ersten Woche nichts fingen, gaben wir nicht auf. Ich erinnere mich genau an den ers ten Hummer, den wir im Korb hatten. Er war riesig; sie sind ganz dunkel in dieser Gegend, wegen der schwarzen Felsen. Ich wollte ihn nicht töten, und ich glaube, sie wollte es auch nicht. Aber sie meinte, entweder er oder wir, und es sei schließlich genau dasselbe, als wenn man Fleisch äße. Er schmeckte wunderbar. Ich konnte es über haupt nicht fassen. Im Garten fanden wir Sa lat, und sie machte eine herrliche Soße aus Ketchup und Sahne; und sie fütterte mich mit Hummerfleisch. Es war das erotischste Essen, das ich jemals erlebt habe. Nur einmal passierte etwas Unangenehmes. Ich sah diesen Stan Potts wieder. Ich traute meinen Augen nicht. Ich war auf dem Weg zum Strand hinunter, ohne mich groß vorzusehen. Und plötzlich stand er da, im Nebel, in diesem fürchterlichen alten Regen mantel. Er starrte zum Haus hoch, und ich
fürchtete, er könnte mich gesehen oder gehört haben. Ich schlich vorsichtig hinter einen Fel sen und entsicherte das Gewehr. »Wenn er hochkommt…«, dachte ich nur. Ich glaube, ich hätte ihn erschossen. Was wir hatten, war so schön, und niemand sollte es uns nehmen. Er kam nicht. Stand nur da und guckte trau rig, als ob er etwas verloren hätte und danach suchte. Schließlich ging er fort. Ich folgte ihm eine Weile. Er ging um die Bucht herum. Ich nehme an, er wollte zum Farmhaus zurück. Ich hatte nicht daran ge dacht, daß er noch immer dort sein könnte. Ich erzählte Maggie nichts davon. Vielleicht hätte ich es tun sollen. Ich wollte unser Glück durch nichts stören. Eines nachts hörten wir Gewehre, ziemlich nah. Wir blieben die ganze Nacht auf und lauschten, aber es kam niemand. Sie befahl mir, immer ein Gewehr mitzuneh men, bei jedem kleinsten Schritt. Ich hätte es tun sollen. Aber es kam nie wie der jemand. Es schien, als ob es außer uns kei ne anderen Menschen mehr gäbe. Ich war zum Strand hinuntergegangen, um nach den Körben zu sehen. Sie schlief noch, und ich wollte sie nicht wecken. Ich vergaß das Gewehr einfach. Ich erinnerte mich, als ich
über den Hof ging. Aber ich wollte ja nur kurz weg; es dauerte nur ein paar Minuten, um hin auszurudern. Es lohnte sich nicht, noch ein mal umzukehren. Der Nebel war immer noch dicht. Ich war ge rade in das Boot geklettert, als ich plötzlich Kies knirschen hörte. Ich sah auf. Ich konnte ihn nur undeutlich er kennen. Für eine Sekunde dachte ich, es sei wieder Stan Potts. Aber er war zu groß. Ich geriet in Panik. Wenn ich einfach im Boot geblieben wäre, hätte er mich sicher nicht ver folgt. Ich hätte irgendwo landen und von da aus zum Haus zurücklaufen können. Statt des sen wich ich über den Strand zurück. Ich sagte keinen Ton. Mein einziger Gedanke war, daß ich kein Gewehr dabei hatte. »Keine Angst«, sagte er. »Laufen Sie nicht weg…« Ich lief trotzdem. Und er folgte mir. Er war zwischen mir und dem Haus. Ich konnte nicht an ihm vorbei. Dann stolperte ich, fiel hin. Ich dachte, jetzt hätte er mich; aber ich kam gerade noch hoch. Er folgte mir immer noch. Ich konnte nicht schreien, es hätte sowieso nichts genutzt. Sie konnte mich nicht hören, sie war zu weit weg. Ich weiß nicht, was er wollte. Er rief ständig, aber ich antwortete nicht. Ich kletterte so leise,
wie ich konnte. Aber er wußte trotzdem, wo ich war. Es gibt noch einen zweiten Weg nach oben. Er führt über einen Bach. Ich glaube, er hatte mich verloren, aber dann rutschte ich aus und verriet mich dadurch. Ich dachte, daß er durch die Bomben vielleicht verrückt geworden war. Ich war mir absolut sicher, daß er verrückt war, ich weiß nicht, warum. Ich dachte daran, wie erschrocken sie sein würde. Ich fing an zu weinen, weil ich nicht wollte, daß sie sich er schrak. Es war alles meine Schuld, weil ich das Gewehr nicht mitgenommen hatte. Er rief zu mir hoch: »Ich bin der Besitzer die ses Hauses. Wer sind Sie?« Aber ich glaubte ihm nicht. Der Weg führte zwischen zwei Felsbrocken hindurch. Bevor ich denken konnte, war ich auf einen von ihnen hinaufgeklettert und lag keuchend da. Ich nahm einen großen Stein in die Hand. Er würde mich nicht sehen können. Ich wartete. Wenn er käme, würde ich den Stein auf ihn werfen. Dann hörte ich unter mir auf dem Weg seine Schritte. Er war näher, als ich gedacht hatte. Richard
Erinnerung an Nachmittage im Bungalow. Ver dorrter Rasen unter der Zypresse, rote und gelbe Blumen. Vogelbassin, steinernes Kanin chen, mit Flechten bewachsen. Schatten des Sockels fällt auf den Rasen. Könnte das in mei ner Malerei verarbeiten. Erinnere mich an die Serie, die nur aus Flech ten gestand. Gedämpftes Orange über Oliv grün. Die Burg sichtbar vom Wohnzimmerfenster. Ruine über dem Tal, offen für Luft und Licht. Nest der Sonne. Ausblick von glänzendem wei ßen Rahmen begrenzt. Weißes Haus, riecht nach neunzehnhundert fünfunddreißig. Läßt mich ihm näherkommen. Mittlere Periode vor Junkers, glühende Son nen. Schade um Maggie. Sie hat dort nicht gelebt. Weiß nicht, ob sie jemals irgendwo gelebt hat. Sprach viel von der Schule. Wespennest. Vor bei. Bin froh, daß die Burg noch da ist. Wie lange noch? Kann mir ihren Verfall nicht vorstellen. Kann mir überhaupt Verfall nicht vorstellen. Habe mir Platten angehört. Reger, Buxtehude. Der Rest des Raumes. Wollig-weicher Teppich vor dem Kamin, Matten auf dem Holzfußbo
den. Silber auf der Kommode, ein weißer Por zellanschwan. Gerahmtes Pastellbild. Whisky im Schrank, Konzentrationshilfe. Erinnere mich, wie sie auf dem Bett lag. Nach mittagssonne auf den Jalousien. Grüngoldenes Licht. Zerwühlte Decken, zusammengeknüllte Laken zwischen den Schenkeln. Lorelei, oder Jennifer. Hätte sie malen sollen. Aber ich bin nicht Picasso. Kann keine Tränen malen. Hätte sie haben können, aber das hätte nur unsere Beziehung zerstört. Erinnere mich an die Wohnung in Chelten ham. Versuchte dort zu arbeiten, aber war wie gelähmt. Beziehung zwischen Kreativität und Bumsen. Vicky verstand das Letztere, das an dere überhaupt nicht. Vielleicht ist Zeugung eine höhere Stufe von Kunst. Dann wäre Male rei Ausdruck von frustriertem Sex. Definition von Philosophie. Unpassender Zeitvertreib für erwachsene Männer. War wütend, weil sie sich nicht scheiden las sen wollte. Glaube, sie ging regelmäßig in die Stadt, um sich mit Ihrem Ehegatten zu treffen. Beachtliche finanzielle Unterstützung; macht ihr Zögern verständlich. Pech für uns beide, daß sie herkam. Aber ebenfalls verständlich. Versuchte, eigene Philosophie zu entwickeln. Habgier, Gleichgültigkeit etc. alles bewun
dernswert; Rechtschaffenheit das einzige Ver brechen. Aber die neue Ordnung würde eigene Rechtschaffenheit beinhalten, und deswegen versagen. Potts ist ein kreativer Künstler. Schießen ist ein surrealistischer Akt. Es wäre leiser und bil liger gewesen, ihn einfach die Klippen hinab zustürzen. Habe die Pistole gesehen. Hat sie in seinem Schlafsack versteckt. Verbringt Stunden um Stunden mit Säubern etc. Deutlicher Geruch von Öl. Kann kein Mitleid empfinden für Jo nes. Kann kaum ein Gefühl für irgendwas entwi ckeln. Erinnere mich an Diskussion mit Mag gie. Überfüllte Dachkammern etc. Vielleicht was dran. Eine interessante Frau, Maggie. Hat auf sozia lem Gebiet versagt, mußte deswegen auf Intel ligenz umsteigen. Fand ihre Gedanken über Moral gut. Leider hier nicht zu verwirklichen. Vielleicht in hundert Jahren mal. Keine grundsätzlichen Einwände gegen lesbi sche Liebe. Nur bei häßlichen Frauen absto ßend. Koitus zwischen Schönheitsköniginnen. Hoffe, sie kriegte Martine rum. Hätte gern Mäuschen gespielt und hurra geschrien.
Ein sehr appetitliches Mädchen, Martine. Hät te selbst nichts gegen eine gelegentliche Runde gehabt. Habe es aber nie versucht. Es muß an der Seeluft liegen. Habe die Festung als indi sches Motiv identifiziert. Sonnendurchtränk ter Pokal auf einer männlichen Säule. Hatte gerade das Programm zu Parzival gelesen. Versuchte ein Bild zu malen, aber es wurde nicht besonders. Schenkte es Maggie fürs Wohnzimmer. Sie mochte es. Bin kein Symbolist. Miro und Munch sind eine unfruchtbare Kombination. Vermisse diese Nachmittage. Hätte nichts ge gen Äußerungen über die gegenwärtige Bezie hung zu Vicky. Zum dritten Mal von vorne das Ganze – ist schon fast lächerlich. Still und ruhig, die Woche nach den Bomben. Fischen, Holzsammeln am Strand. Schade, daß er den Handkarren auch runtergestoßen hat. Hörten einmal ein Flugzeug, über dem Nebel. Flog den halben Tag über uns herum. Fragte mich, was die Erkundung sollte; erfuhr es spä ter. Wachte durch Motorenlärm auf. Das ganze Haus bebte; fragte mich, was zum Teufel los war. Landemanöver dauerte drei Stunden. Dichter Nebel, konnte kaum die Lichter des Landeflug
zeugs erkennen; Schwere Panzer, dicke Ge schütze. Kennzeichnungen brachten eine Überraschung. Jeder einzelne drehte sich don nernd auf dem Strand unterhalb des Farmhau ses und verschwand im Nebel. Müssen das Haus gesehen haben; ein Glück, daß es verlas sen wirkt. Schienen keine Infanterieunterstützung zu haben. Gut für uns, schlecht für sie. Beschießung begann in der Morgendämme rung, zuerst vereinzelt, dann kontinuierliches Donnern im Nebel. Letzte Schlacht im Westen. Keine Ahnung, wohin Potts gegangen ist. Un sere Leute gingen an der Straßengabelung in Stellung. Ein Panzer in Flammen. Vier Panzer auf der Wiese hinter der Landstraße; andere bewegten sich durch das Gestrüpp. Beobachte te das Ganze für eine Weile. Gestank von Kor dit, Beben der Erde im Rhythmus der Kano nen. Plötzlich landeten Geschosse ganz in meiner Nähe. Ging in Deckung und machte mich davon, sobald ich konnte. Zurück zum Haus. Den ganzen Tag lang Stimmen vom Strand her. Aber niemand kam. Verfluchte den Nebel, pries ihn. Nach Mittag kein Schießen mehr auf dem Berg. Gefechte weiter westlich, im Heide gebiet.
Ging jeden Abend noch mal hin. Ein Panzer im Drahtzaun vor dem Haus verkeilt. Ewas wie ein dunkelroter Fetzen neben der Luke. Unter suchte es nicht näher. Andere Panzer auf dem Feld. Eiserne Skelette, endlich schweigend. Alle tot. Sah zum Himmel hinauf – nichts als Nebel. Wäre gern Schlachtenmaler. Hätte aber kei nen Sinn diesmal. Keine Verkaufsmöglichkeit der Ergebnisse. Riesiger Blutflecken auf ihrem Ärmel. Nicht von ihr. Aschfahles Gesicht, teilnahmsloser Gang. Schien ihr egal zu sein, wo sie hinging. Sie sagte: »Wir konnten nichts tun.« War überhaupt nicht überrascht, sie zu sehen. Vom Gestank der ausgebrannten Panzer wur de mir übel. Zog sie weg, zum Haus. Sagte, Bir mingham und Glasgow seien zerstört. Zwang sie dazu, die Uniformjacke auszuzie hen. Ihre Bluse ebenfalls durchnäßt. Starrte verwundert auf das Blut, als bemerkte sie es jetzt zum ersten Mal. Kann Blut nicht vertragen. Konnte ich noch nie. Wenn es grün wäre, würde es mir nichts ausmachen. Sie fing an zu zittern. Gab ihr Whisky und hei ßes Wasser. Wie früher in der Wohnung. An schlimmen Tagen.
Sie nahm den Grog, saß da und hielt das Glas. Ich verschloß die Fensterläden, zündete ein Feuer an. Sie wollte nichts essen. Fragte sie, was sie jetzt tun wollte. Keine Antwort. Sie war noch nie sehr entschlossen. Ihr Haar hatte noch die gleiche Länge. So, wie ich es in Erinnerung hatte: verschiedenfarbige Haarsträhnen, gold, braun, rot, weiß. Machte mir noch einen Grog. Sagte, sie wolle nach draußen gehen. Glaubte nicht, daß sie zurück kommen würde. Aber sie kam. Potts kehrte zurück. Sagte nicht viel. Schaute sie nur mit einem seltsamen, verschämten kleinen Lächeln an. Fragte mich, was in ihm wohl vorging. Spricht nicht viel. Nicht mehr. Breitete den Schlafsack für sie aus. Sie saß eine Zeitlang da und starrte ihn an. Fragte mich, ob sie an Maggie dachte. Aber sie fragte nicht. Legte mich zu ihr, um sie zu wärmen. Legte meine Arme um sie. Komisch, sie wieder zu spüren. Aber meine Hände brauchten ihre Brüste nicht. Wir hatten das alles schon mal durchgemacht. Fühlte körperliche Schmerzen, wenn wir nicht Zusammensein konnten. Sie sagte, es ginge ihr ebenso. Nahm mir immer das Versprechen ab, auf der linken Seite zu
schlafen. Sie schlief dann auf der rechten Seite und tat so, als wäre ich bei ihr. Vielleicht war das der Fehler. Einfach so zu rückzukommen und die Erinnerung zu verder ben. Ich pflegte immer einen Arm unter das Kissen zu schieben, so daß ich sie an mich drücken konnte, ohne ihr Haar durcheinanderzubrin gen. Tat es jetzt genauso. Gewohnheit. Erwachte später. Sie fühlte sich warm an. Wir schliefen miteinander. Fast so gut wie in alten Zeiten. Am Morgen fragte sie mich, ob ich noch mal te. Das war ebenfalls wie in alten Zeiten. Ant wortete, ich würde mich so durchschlagen. Wußte, daß sie keine näheren Einzelheiten wollte. Sie mochte meine Bilder immer, wenn sie an der Wand hingen. Der Rest interessierte sie nicht. Ich träumte viel. Sah sie ihr Haar kämmen. Sie riß es sich büschelweise aus. Brüllte sie an, aufzuhören, aber sie hörte nicht. Sagte immer wieder, es wäre besser, wenn es weg wäre. War wütend auf sie, als ich aufwachte. Sie war fähig, so was zu tun. Ähnlich wie mit dem Blut. Es schien sie nicht zu kümmern, ob sie davon durchnäßt war oder nicht. Sie hatte sich also nicht verändert.
Erinnere mich, als sie damals die Glasschüs sel fallenließ. Sie hat immer noch die Narbe am Handgelenk. Stand da und ließ das Blut zum Fenster hinausspritzen. Wollte den Fuß boden nicht damit versauen. Sagte: »Ich hätte nicht versuchen sollen, das Ding zu retten. Die nächste werde ich fallenlassen.« Ich brachte sie zum Nähen ins Krankenhaus. Sie schien das Ganze sehr lustig zu finden. Nehme an, es war das ewige Nichtstun, das die ersten Streitereien heraufbeschwor. Tag für Tag im Nebel sitzen und abwarten, was wohl als nächstes kommen würde. Konnten den Strand nicht verlassen. Sie sag te, sie hätten an der Küste entlang eine Ab sperrkette errichtet und würden auf alles schießen, was vom Meer herkam. Es gab keine Möglichkeit herauszufinden, ob die Truppen noch immer in Stellung lagen. Hatte keine Lust, es auszuprobieren. Wanderte statt des sen zum Dorf rüber, ohne viel Erfolg. Nur ein Laden, und der war total geplündert. Mußten also irgendwo noch Leute stecken. Manchmal war ich fast sicher, daß da oben keiner mehr war. Tote Panzer, tote Häuser, tote Berge. Dann wieder kam es mir vor, als wäre ich selbst auch getötet worden an dem Tag, als sie Birmingham zerstörten.
Fragte mich, wo Potts immer hinging. Wan derte oft in den Nebel hinaus, in seinem ver schmutzten alten Regenmantel. Manchmal blieb er den ganzen Tag lang weg. Nahm nie wieder seine Pistole mit. Sie sagte, sie hielte viel von ihm. Auch wieder das alte Lied. Wie mit den Landstreichern. Konnte ihnen nicht widerstehen. Gab ihnen was zu essen, brachte sie mit in die Wohnung. Behauptete, es sei eine Folge ihrer Kranken hausausbildung. Sie hat meine Malerei nie verstanden. Und ich stand ihr näher als jeder anderen Frau, die ich bisher getroffen habe. Nicht viele solche Ent täuschungen in einem einzigen Leben. Sie sagte mal, ich täte ihr leid, weil Männer keine Kinder kriegen können. Vielleicht war sie von mir genauso enttäuscht. Potts war die Ursache für unseren letzten großen Streit. Sagte, er täte ihr leid, er wäre so einsam, hätte nie jemanden gehabt, den er lie ben konnte. Liebe wäre die wichtigste und schönste Erfahrung überhaupt etc. Ich meinte, ich hätte immer genug damit zu tun, mir selbst leid zu tun. Hätte ihre Anteilnahme ein oder zwei Mal gespürt. Ein Wort ergab das andere,
weiß der Teufel, warum. Waren wahrschein lich beide hundemüde. Zum Schluß sagte ich, ich wollte sie nicht, hätte sie nie gewollt. Sie sagte, sie würde bei ihm schlafen, zumindest würde er sich dankbar zeigen. Okay, sagte ich, prima, sie solle sich keinen Zwang antun; und dann mußte ich sie zurückhalten, als sie sich tatsächlich anschickte, aufzustehen. War im mer ihr Problem. Kein Gefühl für das Grotes ke. Am nächsten Morgen sah sie schlecht aus, meinte, es ginge ihr nicht besonders. Riet ihr, sie solle sich ein wenig schonen, aber das paß te ihr auch wieder nicht. Schließlich hatte ich die Nase voll und ging zum Boot hinunter. Während ich ablegte, hörte ich sie Holz ha cken, um sich abzureagieren. Blieb fast den ganzen Tag draußen. Fing ein halbes Dutzend Fische, mehr, als wir brauchen konnten. Hatte keine Lust zurückzukehren und ruderte weiter in Richtung Westen. Dach te, ich würde vielleicht brauchbares Holz fin den. Machte ein Feuer in einer Felsspalte, kochte mir mein eigenes Mittagessen. Genoß es nicht sonderlich. Machte alle Stimmungen durch, die ich von früher noch kannte. Jedes
mal, wenn ich sie verließ, war ich furchtbar wütend zuerst, sagte mir, daß ich mich nur ka puttmachte, daß es besser wäre, wenn wir die Finger voneinander ließen. Dazu noch der Ge danke, daß ich als Liebhaber gut genug war, nicht aber als Ehemann. Dann sah ich ihr Gesicht vor mir, den ruhi gen, erstarrten Blick, den sie jedesmal aufsetz te, wenn sie verletzt war. Wollte zu ihr laufen wie ein blöder Idiot, oder ein Telefon finden. Mir kamen Erinnerungen an gemeinsame Er lebnisse. Wie die erste Woche im Zeltlager; weißer Wein im Mondschein. Und alles ging wieder von vorne los. Es wurde bereits dunkel, als ich das Boot an den Strand zog. Ging zum Farmhaus hinauf, überzeugt, daß was nicht stimmte. Die Lampe war angezündet, und sie hatte ein gutes Essen aus unseren Resten zusammenge kocht. Sie saß am Feuer, in eine Decke gehüllt. Sah blaß aus. Meinte, es ginge ihr prächtig. Scharfer Geruch im Raum, wie im Kranken haus. Trug die Teiler zur Spüle hinüber. Mußte mich fast übergeben. Der Boden des Beckens war eine einzige Blutlache.
Rannte zu ihr, packte ihre Hand. Sie hatte sie versteckt gehalten. Der Verband, den sie sich angelegt hatte, war blutdurchtränkt. Ich war noch nie so wütend. War natürlich auch geschockt, als ich erkannte, was sie getan hatte. Jetzt hatte ich eine Göttin, der ein Fin ger fehlte. War nicht wütend auf sie, eher we gen ihr. Wie ein Idiot fragte ich sie, ob es noch immer blutete, und ob ich etwas für sie tun könne. Sie fing an, an dem Verband zu zerren, sagte, sie nähme an, ich wollte den Stumpf se hen. Ich gab ihr eine schallende Ohrfeige. Sie stand auf und starrte mich an. Meine Fin gerabdrücke weiß auf ihrer Wange. Sagte, wenn das alles sei, würde sie jetzt ins Bett ge hen. Fragte, ob ich was dagegen hätte. Ich deckte sie mit Decken zu. Sie ließ es ge schehen, lag nur da und hielt ihre verletzte Hand. Fragte sie, ob sie etwas Whisky wolle. Keine Antwort. Ich säuberte die Spüle, kramte eine Reservelampe vor, ging in Martines Zim mer. Schlafsack noch da. Luft wie in einer Grabkammer. Brauchte lange, um einzuschla fen. Magenkrämpfe. Schüttelfrost. Am nächsten Morgen war sie verschwunden. Schien zuerst unfaßbar, aber ich hätte wohl damit rechnen sollen. Versuchte gar nicht erst, nach ihr zu suchen. Hielt mich statt dessen an
den Whisky. Keine Ahnung, was ich feierte. Vielleicht, daß Tod König ist. Weiß nicht, was danach mit mir passierte. Hatte meine Gefühle restlos aufgebraucht. Verstehe deshalb nicht, warum ich auf den Knien vor der Tür lag, während mir die Tränen übers Gesicht liefen. Suchte Zentimeter für Zentimeter den Boden ab. Bis mir klar wurde, daß ich am falschen Ort suchte. Glaube, der Whisky hatte mich erwischt. Ging zum Schuppen hinüber. Blut auf dem Boden und auf Maggies Wagen. Konnte aber noch immer nicht finden, wonach ich Aus schau hielt. Konnte es nicht glauben, als ich ihn schließ lich fand. Eingewickelt in ein Taschentuch. Mir wurde schwindelig. Plötzlich wurde mir klar, daß sie mir alles gegeben hatte, was sie geben konnte, und ich hatte noch mehr verlangt. Also fing sie an, mir Teile ihres Körpers zu geben. Potts kam im Laufe des Vormittags zurück. Streunte umher, schnüffelte im Schuppen her um. Fragte, was geschehen sei und sagte dann: »Es tut mir leid.« Der Blödmann hörte sich an, als meinte er es tatsächlich. Ich fing an zu la chen, konnte nicht mehr aufhören. Rannte in den Nebel hinaus. Sah ihr Gesicht vor mir, die großen, dunklen, ruhigen Augen. Mußte sie
finden und ihr alles erklären. War mir sicher, daß alles in Ordnung gehen würde, wenn ich sie fände. Nie wieder Einsamkeit und Schmerz spüren. Erreichte das Dorf. Tot und leer. Panzerrui nen und Baumstümpfe ringsherum. Konnte es nicht glauben. Bemerkte plötzlich, daß der Nebel verschwand, helles Licht um mich herum. Rannte weiter, die Straße ent lang. Blaßblauer Himmel; Sonnenlicht, Berg vor mir eingetaucht in Gold. War überzeugt, daß das Land total verlassen war. Rannte trotzdem weiter, auf den Berg zu. Die Abenddämmerung ist eingebrochen, die lange, blaue Dämmerung des Sommers; und Potts ist allein. Er liegt in seinem Raum am Ende des Flures. Er trägt seinen alten Regenmantel; er sitzt mit dem Rücken gegen die kalte Steinwand ge lehnt, sein Kopf ist nach vorn gesunken. Er fühlt sich innerlich leer, leer wie das Haus. Er ist müde. Von irgendwo vernimmt er ein Geräusch, ein Knacken oder Knirschen. Wie das Schlurfen von Füßen. Er versucht, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sich die Tür langsam öffnete
und sie dastände. Nur sie, ganz allein. Aber das Bild vor seinen Augen entsteht nicht. Es klappt nicht, weil er weiß, daß so was nicht passieren kann. Niemand kommt zurück. Da war überhaupt kein Geräusch. Er hat sich getäuscht. Oder vielleicht war es eine Ratte. Irgendwie scheint es unwirklich, daß das Le ben so leer sein kann. Er greift nach der Pisto le. Er will sich den Lauf in den Mund schieben und abdrücken, die Leere ein für allemal been den. Aber er wagt es nicht. Trotz allem hat er noch zuviel Angst. Das ist fast das Schlimmste. Inzwischen ist es beinah dunkel; bestimmt war sie es, die da gerade auf dem Kies draußen herumläuft; er hat es genau gehört. Er ruft so laut er kann; aber es kommt keine Antwort. Er lehnt sich zurück; diesmal bleiben seine Augen geschlossen. Er runzelt die Stirn. Jetzt hört er wirklich Ge räusche, die Geräusche, auf die er gewartet hat; ein Klappern und Trappeln von Füßen, und noch etwas anderes. Ein schrilles Quiet schen; wie… das Rad eines Planwagens! Er ist sicher, daß er nicht träumt; er setzt sich auf, und plötzlich sieht er ein merkwürdiges Gefährt. Einen Moment lang ist er enttäuscht. Er hatte fast gedacht… Aber es ist unwichtig, was er gedacht hat. Er beobachtet angestrengt.
Er kann nicht sagen, auf welche Weise sich sei ne Sichtweise plötzlich verändert hat; aber das ist auch unwichtig. Schließlich sind Sichtwei sen subjektiv…
DREI MONKEY UND PRU UND SAL In Monkeys Weltbild bewegte sich die Sonne seitwärts. Diese mehr instinktive als verstan desmäßig begründete Vorstellung unterstützte ihn bei seinen ersten Versuchen, Landkarten zu lesen. Jahrelang waren die Karten, die er besaß, für ihn völlig bedeutungslos geblieben. Von Zeit zu Zeit hatte er sie aus der Ecke ge holt, in dem schlingernden Planwagen ausein andergefaltet und das leuchtende Hellblau an den Rändern und die grünen und braunen Flä chen bewundert, alles überzogen mit zarten Li niennetzen. Und er hatte die Stirn in Falten ge legt und sie resignierend wieder zusammengefaltet. Das Meer gab ihm den ersten Anhaltspunkt; diese glänzende, unendliche blaue Fläche. Man wird nie erfahren, wie der Planwagen dorthin gelangte; aber Monkey kreischte vor Ent zücken, streckte seine schwarzen, klebrigen Finger in die Helligkeit hinaus. Dann wurde er auf einmal ganz still.
Er blieb still für einen Tag, eine Nacht, und einen Teil des darauffolgenden Tages. Wäh rend dieser Zeit rumpelte und schwankte der Planwagen immer am Meer entlang. Dann zwang ein umgestürzter Baum Pru und Sal, von der Küstenstraße abzubiegen. Tief in Ge danken versunken lag Monkey da und saugte an seinen Fingern. Schließlich begann er zu dösen. Als er seine Augen wieder öffnete, be fand sich der Planwagen auf einer engen Land straße, auf beiden Seiten gesäumt von rötlich braunen Felsen und leuchtendgrünen Farnpflanzen. Monkey nahm das Grün und Braun und Blau wahr; und plötzlich drängte sich ein Gedanke in sein Bewußtsein, der sich schon irgendwo in seinem Gehirn vorgeformt hatte. Er hörte auf, an seinem Daumen zu saugen, kramte die kostbaren Karten erneut hervor; und plötzlich war ihm alles klar. Sein lautes Brüllen brachte den Planwagen jäh zum Stillstand; er setzte sich auf, eine der Karten in der großen Faust. Er schwenkte die Arme und rüttelte damit Pru und Sal aus ihrer ehernen Gleichgültigkeit; und der Planwagen drehte um, von nun an un ter seiner Kontrolle. Monkey, erfüllt mit völlig neuen Gedanken gängen, ließ den Wagen anhalten, sobald das
Blau wieder in Sicht kam. Lange Zeit saß er grübelnd da und starrte auf den meilenweiten Glanz hinaus; schließlich winkte er, noch et was unsicher, nach rechts. »Rechts« war zu dieser Zeit allerdings noch ein Begriff, der für ihn nicht existierte; vielmehr dirigierte er sein Schicksal fünf-fingerwärts. Links von ihm, also drei-fingerwärts, befand sich das Wasser; die Karte hielt er weiterhin fest in der Hand. Sein Plan war ebenso unwiderruflich wie seltsam. Er würde an der Küste entlangfahren. Den ganzen Tag hindurch und bis in die Nacht hinein trabten Pru und Sal gleichmäßig vor sich hin. Eine Zeitlang lag Monkey rastlos da; schließlich aber schläferte ihn der eintönige Rhythmus doch ein. Beim ersten Licht der Dämmerung erwachte er, und sein Gehirn war sofort wieder mit seinem großartigen Vorha ben beschäftigt. Die Gucklöcher vorn im Plan wagen und an den Seiten boten ihm zu wenig Ausblick. Unsicher erhob er sich zu seiner vol len Größe und blickte über den Wagenrand; und noch einmal kreischte er vor Verwunde rung und Entzücken über das, was sich seinen Augen bot. Vor ihm lag die zerfurchte und von Unkraut überwucherte Straße. In der Ferne schien das Land zu schwellen und wieder abzufallen, um
sich erneut zu erheben, bis es schließlich im Wasser verschwand. Unter ihm, aber weit ent fernt, lag ein breiter Sandstrand. Der Schaum auf den Wellen war ebenso weiß wie die Vögel, die über dem Wasser kreisten. Das Rauschen des Meeres erreichte ihn nur schwach, wie das Atmen eines Riesen. Monkey ließ sich in die Dunkelheit und schüt zende Wärme des Planwagens zurücksinken. Mit dem Finger folgte er den Linien auf der Karte. Das Kinn in die Hand gestützt, saß er stolz da, Herrscher über alles, was er über blickte. Auch am Mittag erstreckte sich der Strand noch unter ihm. Lagunen tauchten auf, die er auf der Karte identifizieren konnte. Eine bei spiellose Erregung breitete sich in Monkey aus. Seine gute Stimmung verlor sich jedoch im Laufe der darauffolgenden Tage. Erbarmungs los trieb er den Planwagen voran, in Richtung Sonnenuntergang; sobald die Dämmerung an brach, hielt er erwartungsvoll Ausschau nach dem blauen Glanz des Meeres fünf-finger wärts. Aber das Land ging endlos weiter; und sein Glaube wurde auf eine harte Probe ge stellt. Noch war ihm der Begriff des Maßstabes ebenso fremd wie die Vorstellung von Gott.
Zum ersten Mal spürte er ein Gefühl der Hilf losigkeit. Verzweifelt versuchte er, Pru und Sal anzutreiben, aber sie ignorierten seine Schreie und trotteten unbeirrt weiter. Es war ein trüber, naßkalter Morgen, an dem Monkey das Ende der Welt erreichte. Die auf gewühlte See trug weiße Schaumkronen; Hagel prasselte gegen die Planen. Verschlafen kroch Monkey zum vorderen Guckloch – und stieß einen triumphierenden Schrei aus. Das Land vor ihm verschwand ins Meer, und das Wasser erstreckte sich nun endlich auch fünf-finger wärts. Monkey kreischte und schrie und hops te auf und nieder, bis der Planwagen schaukel te. Die Theorie stimmte also doch! Er hatte das Geheimnis durchschaut. Der Planwagen schwenkte nach Norden, dann fünf-fingerwärts der Sonne entgegen und schließlich wieder drei-fingerwärts. Während seiner ersten großen Reise waren Monkey Hö henlinien zum Begriff geworden; er studierte die Landkarten genau und war deswegen nicht erstaunt, als er, mitten im Winter, plötzlich Berge erblickte, die größer und massiver wa ren als alle, die er je zuvor gesehen hatte. Pru und Sal stoppten abrupt bei ihrem Anblick und stampften angsterfüllt mit den Füßen. Er zwang sie nicht, sich weiter vorzuwagen, und
eine Zeitlang bewegte sich der Planwagen ziel los durch die Gegend, wie früher; Monkey war zufrieden. Schnee fiel, und ein heulender Wind fegte über das Land. Dann verschwand der Schnee, der Himmel wurde wieder blau, grüne Knospen zeigten sich an den Bäumen. Die Landkarten wurden erneut herausgeholt, und der Planwagen ging von neuem auf Expe dition. Auf diese Weise lernte Monkey das Land, in dem er lebte, verstehen. Die Bedeutung des Be griffs ›Insel‹ war sehr viel schwerer nachzu vollziehen. Die immense Ausweitung des Lan des nach Norden erschreckte ihn. Zuerst drehte sich alles in seinem Kopf, wenn er die einzelnen Karten aneinanderlegte und studier te, aber mit der Zeit wurde er sicherer. Er be gann, die Anzahl der Tage sorgfältig in das Holz des Planwagens zu ritzen. Bald konnte er fast automatisch die Zeit bestimmen, die er be nötigen würde, um von einem Punkt der Karte zu einem anderen zu gelangen. Darüber hin aus bereicherte er nun die Karten mit eigenen Zeichen, die Getreideland und gute Jagdgebie te markierten; und Pru und Sal bekamen ein glänzendes Fell und waren gut genährt. Der Vorratsschrank im Planwagen war zum Bers
ten gefüllt. Und Monkey hielt Ausschau nach neuen Welten, die er erobern konnte. Das Abenteuer, für das er sich schließlich ent schied, wurde ihm fast zum Verhängnis. Er lenkte den Planwagen in Richtung Norden mit dem Vorhaben, so weit wie möglich in dieses noch nicht von ihm erforschte Gebiet vorzu dringen; er machte sich dabei keine Illusionen mehr über das Ausmaß der Entfernungen. Pru und Sal trotteten gleichmäßig wie eh und je vor sich hin; und Tag für Tag hockte Monkey am vorderen Guckloch und wartete atemlos auf das, was da kommen würde. Wie erwartet erschienen zu beiden Seiten Berge, jeder an der richtigen Stelle. Monkey erkannte sie so fort – er konnte die braunen Flecken auf der Karte ohne Schwierigkeiten übertragen. Eine Zeitlang ging alles glatt; dann taten sich Pro bleme auf. Das erste hing mit gewissen Gebieten auf den Landkarten zusammen, in denen sich die Stra ßenlinien zu regelrechten Dschungeln verdich teten. Monkey steuerte auf einen von ihnen zu, um herauszufinden, was dieses seltsame Ge wirr bedeuten mochte; aber bereits einen gan zen Tag, bevor sie das Ziel erreichen konnten, blieben Pru und Sal plötzlich ängstlich stamp fend und zitternd stehen. Verärgert trieb Mon
key sie vorwärts, aber seine Versuche blieben ohne Erfolg. Pru und Sal tänzelten unruhig umher, schüttelten die Mähnen und schnaub ten; und ohne Vorankündigung gingen sie dann plötzlich durch. Der Planwagen wurde herumgerissen, holperte und schwankte, wäh rend Monkey sich verzweifelt festzuklammern versuchte. Die Dämmerung brach herein, be vor die kopflose Flucht langsam abklang; Mon key hatte die Orientierung verloren. Er brauchte einen oder mehrere Tage, bis sei ne blinde Wut abnahm und er sich erneut an die Landkarten heranwagte. Der seitliche Stand der Sonne ermutigte ihn. Der Planwa gen rumpelte gemächlich durch eine hügelige, bewaldete Landschaft. Dann gab ihm ein höhe rer Berg, der sich dunkel gegen den Sonnenun tergang abhob, einen Anhaltspunkt. Seine Zu versicht kehrte wieder; Pru und Sal trabten gehorsam voran. Er wußte nun, wo er war und konnte den Planwagen in die gewünschte Rich tung lenken. Noch zwei weitere Male scheuten Pru und Sal vor einem der merkwürdigen Straßendschun gel zurück; Monkey war jedoch nun auf ihre Abwehr vorbereitet und konnte den Kurs pro blemlos korrigieren. Was auch immer dort lag,
mußte scheinbar vermieden werden; vorerst beugte er sich dieser Tatsache. In den folgenden fünf Tagen ging die Reise gut voran; dann kam der Schock. Viel zu früh für seine Berechnungen fand Monkey seinen Weg versperrt – vor ihm und zu beiden Seiten er streckte sich das Meer. Der Schock beeinträchtigte seine überreizten Nerven erheblich. Eine Weile trieb er den Wa gen stumpfsinnig vorwärts, so als wolle er sich weigern, die Tatsache anzuerkennen; das Was ser spülte um die Achsen und Pru und Sal zit terten vor Entsetzen und Angst, bevor er zur Vernunft kam. Er saß einen halben Tag lang da und brütete über der Landkarte. Dann lenkte er den Planwagen drei-fingerwärts. Zwei Tage vergingen, bis ihm die See erneut den Weg ver sperrte; die richtige See dieses Mal, genau am richtigen Platz. Monkey kehrte um, und seine Panik verstärkte sich mit jeder Stunde. Das Grün und Braun auf der Karte setzte sich fort; und trotzdem fiel das treulose, betrügerische Land ins Wasser ab und verschwand unter den Wellen. Monkey heulte und schluchzte vor Wut; aber die Tränen brachten keinen Trost. Er war verzweifelt. Seine leuchtende neue Welt war zerstört.
Er spürte, wie er allmählich die Kontrolle über sich verlor. Seine Hände und Beine ge horchten ihm nicht mehr. Nachts hatte er Alp träume; er konnte das Wasser nicht bei sich behalten, so daß der Planwagen bald von ei nem scharfen Gestank erfüllt war. Wahnsinn hätte für ihn eine gnädige Erlösung bedeutet; aber schließlich rettete ihn ein unerwarteter Anblick. Seit einiger Zeit war das Land ständig ange stiegen; nun sah Monkey in der Dämmerung vor sich plötzlich die Kuppe einer gewaltigen Klippe. Das Land fiel steil zum Meer ab; das Wasser brodelte und schäumte gegen die Fels brocken. Monkey wich erschreckt zurück und trieb den Wagen voran, um möglichst schnell wegzukommen; auf der Höhe der Klippe ange kommen, begann er jedoch zu hüpfen und zu kreischen. Pru und Sal blieben gleichmütig ste hen. Gras bog sich im Wind; kleine Wolken hingen am Morgenhimmel; aber Monkey hatte nur Augen für die Straße. Es war einmal eine prächtige Straße gewesen, die größte und schönste, die er jemals gesehen hatte. Stolz und breit kam sie aus der Ferne und führte zu der Klippe. Dort hörte sie abrupt auf.
Monkey erhob sich vorsichtig, trieb Pru und Sal vorwärts, die nur langsam und widerwillig gehorchten und vor dem Rand der Klippe zu rückscheuten; aber Monkeys Furcht war ver gessen. Er starrte auf das jähe, zerrissene Ende der Straße. Weit unten ließen sich weiße Vögel vom Aufwind tragen. Die See schäumte und kochte; und auf einmal sah Monkey, was ihm zuvor entgangen war. Undeutlich, aber unverkennbar begannen das Grün und das Braun in der Ferne, jenseits des Wassers. Er ließ sich zurückfallen; die Erleichterung wirkte wie Balsam. Wieder einmal hatte er et was durchschaut; das zweite Geheimnis war seltsamer als das erste. Das Land war verän dert worden, nachdem die Landkarten ge macht wurden. Auf der rechten Seite des Planwagens wurden die Landkarten aufbewahrt. Jeder kleinste Teil des Innenraumes war genau eingeteilt. Auf der linken Seite befand sich das, was Monkey ›Werkstatt-Zubehör‹ nannte. Viel gab es davon allerdings nicht. Da war eine rote, glänzend polierte Ölkanne; daneben der Lappen, mit dem Monkey das Metall blankputzte. Dann war da noch eine Dose mit dickem, braunen Fett,
mit dem Monkey die Achsen des Planwagens einschmierte, wenn sie mal wieder zu quiet schen begannen. Das übrige Zubehör war noch weniger luxuriös. So zum Beispiel der verzink te Nagel, mit dem Monkey den Dosendeckel öffnete und der ihm seit einiger Zeit zusätzlich beim Markieren der Reiseroute half; oder ein kleiner verrosteter Schraubenschlüssel, der zu keiner Schraube im ganzen Wagen paßte, den Monkey aber trotzdem sorgfältig aufbewahrte; und schließlich ein besonders merkwürdiges Ding – ein kleines gelbes Rad aus leicht biegsa mem, elastischen Material, das sich angenehm anfühlte. Ebensowenig wie der Schrauben schlüssel hatte dieses Ding irgendeine Funkti on; aber ebensowenig war Monkey auch ge neigt, es wegzuwerfen. »Man kann nie wissen, wozu es noch mal gut sein könnte«, murmelte er von Zeit zu Zeit. Zu Monkeys Füßen stand ein Kasten, der mit einer rostigen Metallspange zu verschließen war – der Vorratsschrank. Hier bewahrte er die flachen grauen Weizenfladen auf, von de nen er sich ernährte, sowie seine Flaschen und Krüge mit frischem Wasser. Zwischen die Be hälter hatte er alte Lumpen gestopft, um nicht durch das Klappern um seinen Schlaf gebracht zu werden. In der Ecke neben der Vorratskiste
lagen weitere Lumpenfetzen, Decken und ein vergilbter Kissenbezug; außerdem noch das Stück eines Spiegels, sorgfältig eingewickelt und weggesteckt. Monkey hatte sich einmal an der scharfen Kante geschnitten und die Scher be seitdem nicht mehr benutzt. Wenn er lag, befand sich zur einen Seite sei nes Kopfes der Werkzeugkasten, zur anderen die Bibliothek. Der Werkzeugkasten beinhalte te einen Bohrer, eine kleine Säge, drei leere Pappröhren und eine Rolle mit kräftiger grü ner Schnur. Die Bibliothek war brechend voll, so voll, daß man den Deckel mit Gewalt zu pressen mußte. Manchmal nahm Monkey die obersten Bücher heraus, blätterte darin herum und bestaunte die endlose Reihe zarter schwarzer Zeichen. Die Zeichen sagten ihm nichts, aber die Bücher waren schon immer dagewesen, und deswegen wurden sie akzep tiert und respektiert. Sie gehörten zu seinem Leben wie der Planwagen. In den Wänden und im Boden gab es verschie dene Löcher, die ganz bestimmte Funktionen erfüllten. Die Gucklöcher, die mit Lederlappen bedeckt waren, wenn sie nicht benutzt wur den, boten Monkey Ausblick zu den Seiten und nach vorn. Im Boden, unter einem Holzdeckel versteckt, war das Latrinenloch; die kleineren
Öffnungen an den Seiten ermöglichten es ihm, das Innere des Planwagens von Zeit zu Zeit von seinem Dreck zu befreien. Mehr als eine Stunde verbrachte er manchmal damit, Brot krumen, Zweige und Wollflusen zusammenzu kratzen und nacheinander durch die Löcher zu schieben. Diese Tätigkeit hatte ihm schon manchen langweiligen, grauen Nachmittag vertrieben; sie gab ihm ein Gefühl von Befrie digung. Pru und Sal bildeten die Hauptbestandteile in Monkeys mobiler Welt. Wie sie zu ihm gekom men waren, oder er zu ihnen, konnte er nicht mehr sagen. Er war sicher, daß es eine Zeit ge geben hatte – von Zeit zu Zeit erinnerte er sich in vagen, traumähnlichen Bruchstücken daran –, in der Pru und Sal noch nicht dagewesen waren. Und der Planwagen wohl auch nicht. Er erinnerte sich an Flammenlicht und Wärme, an ein Bett, das nicht von hohen Holzwänden umrahmt war. Er erinnerte sich an Hände, die ihn berührten, an eine Stimme, die leise sang. Außerdem erinnerte er sich an eine trübe Zeit, voll von Klagen und Verzweiflung. Gestalten türmten sich um ihn herum auf wie riesige Bäume; da waren andere tiefere Stimmen und härtere Hände. Eins dieser Händepaare mußte ihn in den Planwagen gesetzt haben. Er erin
nerte sich an Worte, obwohl sie ihm nicht viel sagten. »Bleib da liegen, Monkey. Nun bist du bei mir. Verdammter, armer kleiner Monkey. Du bist bei mir…« Er mochte den Traum nicht. Er wachte dann immer allein im Planwagen auf, fühlte sich elend und kalt und weinte den Händen und den Stimmen nach. Vielleicht hatten Pru und Sal ihn geraubt, als er in dem neuen hellen Planwagen lag. Er wür de es nie erfahren; und sie hatten es vielleicht längst vergessen. Auch sie waren zu einem Be standteil seines Lebens geworden. Immer wenn er dalag und nachdachte oder einfach nur vor sich hindöste, konnte er ihre Schultern und Köpfe sehen, die sich dunkel gegen den Himmel abzeichneten; und ihre regen Füße stampften die Jahre hinweg. Pru und Sal waren sich im Aussehen ziemlich ähnlich. Ihr langes, ausgefranstes und von der Sonne gebleichtes Haar hing struppig von den kleinen runden Schädeln herab. Die vom Wind gebräunte Haut hatte die Farbe alten Holzes angenommen. Ihre Augen waren klein, schlitz artig und leer, ihre nicht alternden Gesichter glatt, unbehelligt von Gedanken. Auch die
Stimmen glichen einander; sie waren hart und rauh wie die Stimmen von Vögeln. Monkey war wohlbehütet in seinem endlos umherschweifenden Heim. Pru und Sal um sorgten ihn gut. An Regentagen und im Winter zogen sie eine steife graue Plane über den offe nen Wagen. Dann konnte sich Monkey in dem warmen Dunkel verkriechen, während Pru und Sal unbeirrt vorantrabten. Die Winterzeit gefiel ihm am besten; wenn der Schnee drau ßen wirbelte, sich am Planwagen Eiszapfen bil deten und Wölfe verloren und undeutlich in der Ferne heulten. Der Frühling war allerdings auch gut. Dann wehte ein leichter, milder Wind, angefüllt mit neuen Düften; der Himmel wurde heller, und die Vögel sangen. Pru und Sal zogen die Plane wieder zurück, und Monkey setzte sich auf und konnte die Wärme auf seinem fleckigen, unbe haarten Gesicht spüren. Im Sommer pflegte er nackt dazuliegen, und manchmal fiel ein war mer Regen, und er beobachtete, wie die Was sertropfen auf seiner erhitzten Haut verduns teten. Das Lesenlernen der Landkarten veränderte sein Leben unwiderruflich. Als das große Abenteuer vorüber war, blieb eine Leere in ihm zurück. Natürlich war er zufrieden über
die Eroberung seiner Insel; und die Entde ckung ihres verstümmelten Zustands ließ ihn nicht ungerührt. Jeder Tag brachte neue An blicke und Geräusche; ein Wasserfall, ein Wald, ein Vogel, ein See. Aber auch ständige Neuheit kann langweilig werden. Monkey wur de reizbar, sehnte sich nach etwas, von dem er nicht wußte, was es war und begann schließ lich, mißgelaunt den Planwagen in Ordnung zu bringen. Jedes vertraute, ehemals so hochge schätzte Ding, auf das er stieß, schien seine Frustration nur noch zu vertiefen. Sein Rad, der Nagel, der Schraubenschlüssel lagen unbe achtet da. Die Achsen des Planwagens fingen an zu quietschen, aber auch das ignorierte Monkey. Er säuberte die Vorratskiste und die Ecke, in der die Decken lagen, räumte planlos seine Werkzeuge hin und her. Nichts machte ihm Spaß. Schließlich wandte er sich der Bi bliothek zu. Gleich zu Anfang entdeckte er etwas Seltsa mes. Die Kiste war tiefer, als er gedacht hatte. Er holte alle Bücher heraus und lehnte sich zu rück, umgeben von Büchern, die er nie zuvor gesehen hatte. Wahllos öffnete er eins und stutzte; zum ersten Mal seit Wochen spürte er ein Gefühl der Erregung.
Das Buch unterschied sich in einem ganz wichtigen Punkt von den anderen. Monkey kroch näher zum Licht und blätterte mit Sorg falt die Seiten um. Außer den schwarzen Zei chen sah er Zeichnungen. Sie waren sehr de tailliert und vielfach farbig; ohne Schwierigkeiten konnte er Blumen und Bäume erkennen. Monkey, der doch selbst das Zeich nen erfunden hatte, fühlte sich beschämt; aber ein völlig neuer Gedanke ließ dieses Gefühl schnell wieder verschwinden. Er starrte von den Zeichnungen zu den kleinen Zeichen und wieder zurück. Er legte das Buch zur Seite, nahm es wieder in die Hand, öffnete es. Dann saß er lange da und brütete vor sich hin, wäh rend der Planwagen über steinigen Boden hol perte. Schließlich hatte sich der Gedanke verfestigt. Er schlug das neue Buch wieder auf, studierte die Blumen und die Bäume. Nach einer Weile öffnete er ein zweites Buch. Er entdeckte nun gewisse Ähnlichkeiten zwischen den kleinen schwarzen Zeichen. Einige von ihnen waren größer als die übrigen. Etwas in seinem Gehirn sagte »Norden«. Dies war der erste Schlüssel zu einem brandneuen Geheimnis. Monkey hat te erkannt, wie herum man eine gedruckte Sei te hält.
Monat um Monat rumpelte der Planwagen ziellos umher, während Monkey von anderen Dingen völlig in Anspruch genommen dalag. Das Gefährt wäre total vom Weg abgekommen, wären nicht Pru und Sal automatisch und stumpfsinnig der Route der vergangenen Jah re gefolgt. Sie ernteten Weizen, stampften und schälten das Korn, backten die harten Fladen; sie jagten Kaninchen und Rehwild, aßen, tran ken und schliefen. Schließlich erreichten sie wieder die Neue See und die zerstörte Straße; und dort mischten sich Monkeys triumphie rend herausgebrüllte Worte mit dem Geschrei der Vögel und verloren sich im Rauschen des Meeres. ›Obwohl wir selbst und unsere Kinder die wis senschaftlichen Erkenntnisse, die unserem Lande zugute kommen sollten, außer Acht ge lassen haben…‹ Wie das Wunder geschehen war, wird sich niemals vollends ergründen lassen. Die Leis tung war vergleichbar mit dem ersten Ge brauch des Feuers oder der Erfindung des Ra des; aber das erfuhr Monkey nie. Mit Sicherheit half ihm die Fähigkeit, Landkarten zu lesen bei seinen ersten Schritten. Daß die Bücher eine besondere Art von Karten dar stellten, war ihm immer klar gewesen; nur was
sie bedeuteten, konnte er sich nicht erklären. Es war ein sehr mühsamer, langwieriger Pro zeß. »Baum«, zum Beispiel, war nicht allzu schwer, aber »Eiche«, »Esche« und »Weiß dorn« verwirrten ihn über mehrere Monate. Die Kombination »grüner Baum« bereitete ihm ebenfalls lange Zeit große Schwierigkei ten, die er aber schließlich bewältigte. Die Ge räusche, die er zuerst herausbrachte, wenn er versuchte, die Buchstaben auszusprechen, wa ren weniger verständlich als die Äußerungen von Pru und Sal. Er mußte Geduld haben; Ge duld und einen unverwüstlichen, zähen Ar beitswillen. Das, was er im Laufe der Zeit las und ver stand, verwirrte ihn sehr; denn trotz Shakes peare traf er keine großen Könige, trotz Kip ling sah er keine Schiffe. Es war nicht auszuschließen, daß Gott am Anfang den Him mel und die Erde erschaffen hatte; aber Gott schien nicht mehr länger aktiv zu sein. Keine Geister auf Distelzweigen wie bei Tennyson; und obwohl Keats’ Nachtigallen noch sangen, stand es außer Zweifel, daß Ruth nicht mehr umherwanderte. Monkey befiel erneut Mutlosigkeit. Alle seine Bücher hatte er mittlerweile von vorn bis hin ten durchgelesen; und trotzdem schien ihm
die Einsicht, das wirkliche Verstehen, so weit entfernt wie eh und je. Pru und Sal trabten wie gewohnt voran; die Sonne ging auf und unter, es gab Regen, Wind, Nebel und Schnee. Das Meer schäumte und brodelte; aber Monkeys Geist blieb eingeengt. In keinem der Bücher hatte er eine Beschreibung gefunden, die auch nur entfernt dem Planwagen oder ihm oder Pru und Sal glich. Die Dinge jedoch, mit denen sich die Bücher mit Vorliebe zu beschäftigen schienen – Armeen und Legionen, Maler und Dichter, Königinnen und Könige –, existierten nicht mehr. Monkey lag da und grübelte. Ir gend etwas sehr Wichtiges mußte ihm bisher entgangen sein. Die Bücher präsentierten eine unerreichbare, aber sehr verlockende Welt. Auch die Landkarten hatten ihm zunächst eine Welt gezeigt, die er nicht verstand, und die jetzt vor ihm lag. Er runzelte die Stirn und dachte nach. Dann holte er, zum ersten Mal seit Monaten, die Karten hervor und betrachtete die Punkte, an denen die Straßen zusammenliefen, die eigen artigen Dschungel, die er bisher nicht hatte er forschen können. Nun war ihm klar, was sie bedeuteten. Es waren Städte; ihre Namen wa ren klar und deutlich zu lesen. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Vielleicht existierten all die
wunderbaren Dinge, von denen er gelesen hat te – die Schiffe und Könige, die Burgen und Schlösser und Menschen – doch noch? Viel leicht hatten sie die ganze Zeit in den nie von ihm besuchten Städten auf ihn gewartet? In dieser Nacht konnte er vor Unruhe und Erre gung nicht einschlafen. Wunderbare Vorstel lungen taten sich vor ihm auf; und als er schließlich eindöste, hatte er einen herrlichen Traum. Er konnte sich selbst beobachten, wie er in dem Planwagen eine große breite Pracht straße entlangfuhr. Zu beiden Seiten erhoben sich Türme und Dächer, die in ein goldenes Licht getaucht schienen. Und überall war die Straße von rufenden und winkenden Men schen gesäumt; es war, als ob all die Menschen aus den Büchern zusammengekommen wären, um ihn zu begrüßen; er war umgeben von Händen und Augen, von Lachen und Trubel, von Stimmen und der Wärme, die er bisher so selten gespürt hatte. Er richtete sich auf und spähte durch eins der Gucklöcher nach draußen. Es begann gerade zu dämmern; über ihm zwitscherte ein Vogel. Monkeys Triumphschrei verjagte ihn von dem Ast, auf dem er gesessen hatte. »Auf nach Sa lisbury!« rief er dem schlafenden Land zu.
Das einmal gefaßte Vorhaben war für ihn un widerruflich; zunächst jedoch sah es so aus, als wären die praktischen Schwierigkeiten nicht zu überwinden. Bei all ihrem sonstigen Gehorsam streikten Pru und Sal an einem be stimmten Punkt; weder Drohungen noch gutes Zureden konnten sie dazu bewegen, sich einer Stadt zu nähern. Monkey versuchte es noch mehrere Male – stets mit dem gleichen Ergeb nis. Je näher sie einer Stadt kamen, desto lang samer bewegten sie sich vorwärts, bis sie ganz stehenblieben oder sich aufbäumten wie er schrecktes Wild. Monkey sah sich am Ende ge zwungen, den Tatsachen ins Auge zu sehen; er mußte es auf eigene Faust versuchen. Mehrere Tage lang lag er da und brütete über dem Problem. Dann endlich kam er zu einer Entscheidung, und er begann zu arbeiten. Sein Vorhaben – eine Veränderung am Plan wagen – kam ihm zuerst frevelhaft vor. Aber nach einer Weile überwand er seine Skrupel. Heimlich im Dunkeln ausgeführte Messungen versicherten ihn der Praktikabilität seines Pla nes. Mit großer Sorgfalt malte er zwei Kreise auf die Seitenwände des Wagens. Dann bohrte er ein halbes Dutzend Löcher nebeneinander in eine der Kreislinien, bis er schließlich seine kleine Säge in dem so entstandenen Schlitz an
setzen konnte. Das Ganze erwies sich als sehr langwierig und aufreibend; er bekam Blasen an den Händen, aber er ertrug den Schmerz und arbeitete verbissen weiter. Dann endlich hatte er es geschafft. Die ausgesägte Holzschei be fiel heraus, und dahinter, nur wenige Zenti meter entfernt, drehte sich das eine der Räder des Planwagens. Er starrte eine Zeitlang, fasziniert von dem ungewohnten Anblick; dann machte er sich auf der anderen Seite ans Werk. Diesmal ging es schneller als beim ersten Mal, weil hier das Holz schon teilweise morsch war und sich des halb leichter sägen ließ. Durch die neuen Lö cher wurde es im Planwagen zugiger und feuchter, aber Monkey war zufrieden. Diesen kleinen Nachteil nahm er gern auf sich. Die nun folgende Phase des Plans war noch schwieriger. Unter Einsatz all seiner Überre dungskunst lenkte er Pru und Sal auf die Stadt seiner Wahl zu. Er hatte sie hauptsächlich we gen ihrer Lage in einer flachen Umgebung aus gesucht; dies erschien ihm wichtig für das Ge lingen seines Vorhabens. Die letzte Phase der Annäherung war am riskantesten. Pru und Sal stampften unruhig und zitterten; der kleinste Fehler konnte sie wieder durchgehen lassen, und dann wäre alles vergebens gewesen. Als es
offensichtlich wurde, daß sie sich nicht mehr weiter vorwagen würden, ließ Monkey sie in einem Dickicht an der Straße Rast machen für die Nacht. Er lag mit klopfendem Herzen da und wartete auf die Dunkelheit und auf den Beginn seines größten Abenteuers. Das Warten kam ihm endlos vor, aber schließ lich verblaßte das Licht am Himmel. Nach ei ner weiteren Stunde ging der Mond auf und er leuchtete die Landschaft wieder. Sehr vorsichtig richtete Monkey sich auf. Er hatte am Tag zuvor die Federn und Achsen eingefet tet, so daß er sich nicht durch ihr Quietschen verraten konnte. Er tastete sich Zentimeter um Zentimeter vorwärts. Ganz aufgerichtet war er kaum größer als dreißig Zentimeter, aber sei ne Arme hatten eine geradezu unnatürliche Länge. Wenn er sich vorn in dem Planwagen hinhockte, konnte er ohne Schwierigkeiten mit seinen großen rauhen Händen durch die neu en Löcher hindurch die Radfelgen fassen. Er schob ein wenig. Zu seinem Entzücken be wegte sich der Planwagen ein Stück vorwärts. Pru und Sal schliefen fest. Ein weiterer Stoß, und der Wagen war auf die Straße gerollt. Ohne einen Blick zurück, machte sich Monkey daran, sein klobiges Gefährt auf die Stadt zu zulenken.
Eine Stunde später war er schweißgebadet und keuchte, und seine Muskeln schienen zu brennen. Seine Hände bluteten; er mußte an halten und seine Fäuste mit Lumpen verbin den. Aber er war gut vorangekommen. Durch das Guckloch sah er das Gebüsch, in dem Pru und Sal noch immer lagen, nur noch als einen undeutlichen Fleck am Horizont. Von ihm nicht mehr weit entfernt, lag das Ziel seiner Träume. Gegen Morgen rollte der Planwagen auf einer ebenen, gepflasterten Straße dahin. Zu beiden Seiten erhoben sich, grau und staubig, die Überreste von Gebäuden. Dazwischen wuch sen Gras und Büsche, und hier und dort ver krüppelte, krank aussehende Bäume. Der An blick erschreckte und faszinierte Monkey gleichzeitig. Ängstlich hielt er nach Lebenszei chen Ausschau, aber über der riesigen verwüs teten Fläche lag ein tiefes Schweigen; nicht einmal ein Vogel sang. Die aufgehende Sonne blendete Monkeys oh nehin schwache Augen, und so erkannte er das zunehmende Gefälle der Straße nicht. Der Planwagen ließ sich ohne große Anstrengung vorwärts bewegen und wurde allmählich im mer schneller. Als er die Situation endlich durchschaute, war es zu spät. Monkey schrie
verzweifelt auf, versuchte die Felgen zu um klammern; aber die Stoffetzen lösten sich von seinen Händen – er kreischte vor Schmerz, ließ los, und der Planwagen geriet außer Kon trolle. Das Rattern der Räder schwoll zu einem Dröhnen an; Monkey wurde hin- und herge schleudert; und mit einem jähen Ruck kam der Wagen plötzlich zum Stillstand. Monkey flog in einem hohen Bogen durch die Luft, prallte kra chend auf dem Boden auf, und dann wurde es Nacht um ihn. Nach einer geraumen Weile kam er langsam wieder zu sich. Zunächst wußte er nicht, wo er war; dann erinnerte er sich und war von pani schem Schrecken erfüllt. Die Sonne brannte auf ihn nieder; hinter ihm, weit entfernt, steckte der Planwagen in einem Geröllhaufen, wie ein gestrandetes Schiff. Blinde Panik brachte Monkey auf die Beine. Er schwankte, tat die ersten drei Schritte sei nes Lebens, stolperte und fiel. Er kroch den Rest des Weges, zerkratzte sich an der rauhen Oberfläche der Straße die Knie; als er endlich den Planwagen erreichte, kam er langsam wie der zur Besinnung. Ein Schwindelanfall kam und verging. Monkey lag da und keuchte, wäh rend er die bedrohliche Verlassenheit um sich herum wahrnahm.
Von seinem niedrigen Standpunkt aus konnte er nicht viel mehr sehen als den unteren Teil der verfallenen Mauern. Er hob den Kopf, kniff die Augen zusammen; aber in seinem Schädel drehte sich wieder alles, und er konn te nichts genau erkennen. Er lag still und ver suchte, seine Kräfte zu sammeln; unter großer Anstrengung erhob er sich schließlich. Der Planwagen schien unversehrt zu sein; der Aufprall hatte lediglich die Kästen und ihren Inhalt durcheinandergeworfen. Überall lagen Bücher, Decken und Lebensmittel herum. Monkey fand ein paar Lumpen und eine unzer brochene Wasserflasche, zog sie heraus und ließ sich keuchend in den Schatten zurückfal len. Obwohl das Wasser lauwarm war, belebte es ihn. Er band die Stoffetzen so fest wie mög lich um seine zerrissenen Hände. Nachdem er sich eine Stunde lang ausgeruht hatte, begann er schmerzerfüllt und langsam von dem Plan wagen weg auf die verwüstete Stadt zuzukrie chen. Mehrere Stunden später hätte ein Beobachter an der Straße einen merkwürdigen Anblick ge habt. Die Nacht war stockfinster; weder Mond noch Sterne waren zu sehen; trotzdem war die
Straße nicht dunkel. Ein bläulicher Schimmer erhellte sie, der aus den verfallenen Gebäuden zu kommen schien. Auf der Straße bewegte sich ein kleiner hölzerner Planwagen langsam und auf seltsame Weise vorwärts. Aus einem Loch in der hinteren Wand des Fahrzeugs ka men zwei lange, glatte Stangen. Abwechselnd stießen sie sich gegen den Boden ab, während von drinnen ein angestrengtes Schnaufen und Keuchen zu vernehmen war. Von Zeit zu Zeit blieb der Wagen eine Weile stehen, als ob sein Insasse sehr, sehr müde wäre. Aber die Arbeit wurde immer wieder aufgenommen, und schließlich wurde die Steigung allmählich schwächer. Pru und Sal warteten am Rande der Straße. Zuerst standen sie fluchtbereit da, während der Planwagen sich auf sie zubewegte. Mon keys Zurufe jedoch beruhigten sie. Sein Ge sicht war geschwärzt, und seine Arme endeten in dunkelroten Stoffklumpen; aber es war ein deutig und unwiderruflich Monkey, der sie be grüßte. Sie eilten dem Planwagen entgegen, spannten sich davor und flohen, bergauf und bergab, weg von der bedrohlichen, schimmernden Stadt; und während sie trabten, ergötzte sie
Monkey mit den Nachrichten, die er mitge bracht hatte. ,Von den Teilnehmern direkt gewählte Fern gespräche werden in der Zentrale mit densel ben Zählern registriert wie Ortsgespräche’, las er triumphierend vor. ,Diese Zähler sind abso lut zuverlässig und werden regelmäßig über prüft.’ Er ließ die Broschüre fallen, ergriff eine zweite. ,So kümmern Sie sich richtig um Ihr neues Haus’, rief er. Hähne, Ventile, Abfluß rinnen…’ Pru und Sal stießen schrille Schreie aus, aber Monkeys donnernde Stimme über tönte sie. ,Was bedeutet Schrumpfung?’ grölte er. ,Ist Unvollkommenheit eine Schwäche?’ Der Planwagen neigte sich zur Seite, streifte einen Stein, richtete sich wieder auf. Monkey blätterte fieberhaft. ,Dies sind Ihre Dienstleis tungsbetriebe’, trug er vor. ,Wasserwerk, Gas werk, Elektrizitätswerk!’ Er nahm ein weiteres Papier zur Hand. ,Ich wollte ein Star sein’, brüllte er. Der Planwagen fuhr langsamer, als er zu ei ner grasbewachsenen Straße kam, die durch einen buntgefleckten Wald führte. Monkey fühlte sich plötzlich nicht mehr gut. Er würgte und versuchte, den anschwellenden Schmerz zu bekämpfen. ,Ein Lebewohl dem Bi kinimädchen von 1975’, sagte er traurig. ,Im
nächsten Jahr wird Verhüllung das Motto sein.’ Der Schmerz zentrierte sich in seiner Kehle; Monkey würgte. Der Schleim war rot und hell, lief ihm am Kinn herunter. Er stöhn te. Der zweite Anfall war schlimmer als der erste. Er spuckte in seine Hände und begann zu kreischen. Nun wurden Pru und Sal aufmerksam. Sie beugten sich über den Rand, starrten ihn an und murmelten besorgt. Und Monkeys Wan gen fielen ihm aus dem Gesicht und lagen wie helle Blütenblätter auf dem Boden. Plötzlich war das rote Wesen, das sich dort wand und krümmte, für Pru und Sal nicht mehr Monkey, sondern ein Fremder, der an Monkeys Stelle getreten war. Sie packten ihn, brüllend vor Wut, und schleuderten ihn zu Boden. Immer noch stöhnte und schrie das Wesen. Pru und Sal stampften und bäumten sich auf. Schließ lich verstummten die Geräusche, und das Ding lag still. Kopflos flohen Pru und Sal, den leeren Planwagen hinter sich herziehend. Als sie fort waren, herrschte Stille auf der Straße. Der Tag war warm und ruhig. Fliegen summ ten in der Nachmittagsluft. Gegen Abend fand ein wildes Tier auf dem Weg etwas zu fressen. Nachdem es eine Weile dagesessen und gekaut hatte, zog es sich in seine Höhle zurück; dort
säuberte es sein Fell, wusch sich die Schnauze und die Pfoten, und starb. Wolken zogen am gelblich-grauen Abendhim mel auf. Die ersten Regentropfen fielen dick und schwer durch das Blattwerk der Bäume; dann brach der Sturm los. Nach einiger Zeit zog er weiter nach Osten und ließ auf der sau bergewaschenen Straße den Duft von nasser Erde und grünen Blättern zurück. Stan ist verzweifelt. Er weiß nun sicher, daß das Land leer ist; er hat es selbst gesehen; und sie ist für immer fort. Er hat das Gefühl, an allem schuld zu sein. Wenn er nie hinuntergefahren wäre, nie ge dacht hätte… was er dachte, dann wäre viel leicht gar nichts passiert. Keine Bomben, über haupt nichts. Wenn er das doch nur gewußt hätte, wenn er es rechtzeitig erkannt hätte! Er hätte alles dafür gegeben, die Pistole, den Champ, alles; er hätte mit sich zufrieden sein können und glücklich, daß sie glücklich war, wenn auch nicht mit ihm. Er möchte gern wei nen, aber seine Augen sind so verklebt, daß er sie kaum öffnen kann. Er reibt sie sich mit den Fingern. Der Raum ist noch immer der gleiche; auf dem großen
Packkorb stehen Plastiktassen und -teller und der Kocher, und seine Sachen liegen verstreut herum. Alles ist in ein bläuliches, trübes Licht getaucht; es muß entweder Morgen- oder Abenddämmerung sein. Aber das Schauen strengt ihn an; nach kurzer Zeit schließen sich seine Augen von selbst. Aber was ist das? Ist es möglich? Plötzlich ver nimmt er neue Geräusche. Viele Geräusche. Die Dunkelheit verschwindet, und er ist er staunt. Plötzlich sieht er ganze Wälder vor sich; und auch Menschen. Reale Menschen, Männer und Frauen. Von Palisaden geschützte Dörfer; Getreidefelder, grasendes Vieh, Kar ren auf weißen, staubigen Straßen. Er denkt an all das, was er verpaßt hat; er kann sich solche Unaufmerksamkeit, solche Undankbarkeit, nicht mehr leisten. Er bereut, jemals an Selbst mord gedacht zu haben. Sein Blick ändert sich. Er sieht einen Berg, einen besonderen Berg, auf dem ein Mädchen liegt. Er scheint näher heranzugehen. Er erkennt einzelne Büsche, sogar Grashalme; dann stockt ihm der Atem. Er kann es nicht glauben, aber er kann sie auch nicht verwechseln. Sein Gebet ist erhört worden. Es gibt einen Gott; und er ist weise und gerecht!
VIER DAS HAUS DES GOTTES I Wenn Sie ausgestreckt auf dem Gras gelegen hätten wie Mata, und Ihr Ohr an den Boden ge preßt hätten, dann hätten auch Sie, weit ent fernt, das rhythmische Stampfen vieler Füße hören können. Wenn Sie den Kopf erhoben hätten, wie sie nun den ihren hob, dann hätten Sie das Rollen und Schlagen von Trommeln im Frühlingswind vernommen. Seit dem Morgen grauen bewegte sich die Große Prozession langsam auf dem Weg vom Meer entlang; jetzt war sie fast hier. Sie richtete sich auf und strich sich die schwarze Haarsträhne aus den Augen; ein dunkeläugiges, braunhäutiges Mädchen von ungefähr dreizehn Sommern. Ihr einziges Kleidungsstück, eine weiche Rehhaut, ließ ihre Arme und Beine unbedeckt; um die Taille trug sie einen Lederriemen, an dem ein kleines Messer in einer bemalten hölzernen Scheide hing. Um den Hals trug sie ein Amulett aus
glänzenden roten und schwarzen Steinen; denn Mata war die Tochter eines Häuptlings. Das Tal, über dem sie lag, öffnete seine grü nen Flächen zur See hin. Hinter ihr, auf einer Anhöhe, lag ein Dorf mit schilfbedeckten Lehmhütten, umgeben von einer Palisade aus spitz zulaufenden Baumstämmen. Vor ihr zeichnete sich der Heilige Berg scharfkantig gegen den Himmel ab; er war das Ziel der Pro zession. Dort hatten die Riesen einst gelebt, lange bevor es Menschen gab; und dort hatten sie eine große Halle errichtet. Um die Spitze des Berges lag noch immer ein Kreis von Stein klötzen, halb begraben unter den Büschen und Gräsern, die sich im Laufe der Jahre dort an gesiedelt hatten; niemand außer den Dorf priestern wagte sich zur Bergspitze hinauf. Die Riesen waren allmächtig gewesen, und auch ihre Geister waren stark und gefährlich. Als kleines Kind hatte Mata einmal begonnen, den steilen Hang des Berges hinaufzuklettern zu der Stelle, wo Cha’Acta, der Oberpriester, seine Ziegen züchtete; aber der Wind hatte das lange gelbe Gras umgebogen, die Büsche hat ten ihre ringerartigen Zweige nach ihr ausge streckt, und sie war in panischem Schrecken geflohen. Sie hatte niemandem davon erzählt,
sich seit diesem Tag aber auch der verbotenen Bergspitze nie wieder genähert. Das Schlagen der Trommeln wurde plötzlich sehr laut. Die Spitze der Prozession war beina he an der großen Kreidespalte angelangt; je den Moment mußte sie nun in Sicht kommen. Mata sah zum Dorf hinüber und biß sich auf die Lippe. Die Kinder, die man unter ihre Ob hut gestellt hatte, waren in der Familienhütte sich selbst überlassen; Häuptlingstochter oder nicht, sie würde sicher Schläge ernten, wenn man sie hier entdeckte. Ein Brombeerstrauch in der Nähe bot ihr Schutz. Vorsichtig kroch sie zu ihm hin; ihre Augen wanderten unwillentlich zum Heiligen Berg zurück. An seiner höchsten Stelle erhob sich klar und deutlich im gleißenden Sonnenlicht das längli che Dach des Gotteshauses; es war schilfge deckt, hatte kahle, weiße Wände und einen niedrigen Türeingang, der wie ein wachendes dunkles Auge aussah. Über dem Eingang, auf den Giebelspitzen, steckten fantastische Gebil de aus Binsengeflecht – die Feldgeister, die das Haus des Gottes schützen sollten. Mata zitter te, teils aus Furcht und teils aus einem ande ren, weniger einfach bestimmbaren Gefühl
heraus. Ihr Blick wanderte wieder über das Gras zurück. Ihr Herz klopfte plötzlich schneller. Soeben war die Prozession in Sicht gekommen. Sie sah die gelben Hörner und die schwingenden Peit schen der Korngeister, die von allen Geistern am meisten gefürchtet waren; hinter ihnen er schienen die leuchtenden, prächtigen Kleider der Priester, unter ihnen auch Cha’Acta mit seiner grünen, fantastischen Maske. Es folgten die Zimbelspieler und Trommler und die Hornmänner in ihren Narrenkleidern; und schließlich die singende und stampfende Mas se des Volkes, die aussah wie ein braunschwar zer Tausendfüßler. Aber diesem Teil des Zuges schenkte sie kaum Beachtung; ihre ganze Auf merksamkeit richtete sich auf die Spitze der Prozession. Sie kroch wieder etwas vor. Jetzt konnte sie Choele genau erkennen. Wie schlank sie aus sah, wie weiß sich ihr Körper gegen das Gras abhob! Wie steif sie einherschritt! Ihr langes, wallendes Haar war so golden wie das von Mata dunkel war; man hatte es mit Kränzen aus Blättern und den ersten Blumen ge schmückt. Sie hielt den Kopf hoch erhoben, die Arme vor der Brust gekreuzt; und sie war nackt, vollkommen nackt.
Die Prozession kam näher. Die Korngeister rannten und sprangen von einer Seite zur an deren, schlugen mit ihren Peitschen auf die Büsche und das tote Gras ein; die Tiertänzer stolzierten einher, und ihre Geweihe glitzerten in der Sonne. Mata kroch hastig in den Schutz der Büsche zurück und beobachtete durch die Zweige, wie Choele die Menschenmasse an führte, ohne irgend etwas um sich herum wahrzunehmen. Ihre stolze Gestalt ver schwand zwischen den Büschen und den nied rigen Bäumen am Fuße des Heiligen Berges. Das Volk folgte ihr übermütig; die Trommeln schlugen immer lauter; dann fiel plötzlich eine eisige und vollkommene Stille über das Gras. Mata kniff die Augen zusammen und sah die kleine Figur ihrer Freundin an dem Fußweg haltmachen, der zum Berg hinaufführte. Einen Moment lang sah es so aus, als ob Choele um kehren wollte; aber dann schritt sie entschlos sen weiter und verschwand zwischen den Fels brocken. Schon begannen die ersten Leute, sich vom Zug zu lösen und sich auf den Rückweg zu ma chen. Mata erhob sich widerwillig. Ihr Vater würde hungrig sein; ebenso wie das ganze Dorf hatte auch er seit dem Morgengrauen gefastet. Sie erinnerte sich an die vernachlässigten Töp
fe über dem Feuer, in denen die Suppe brodel te, und ging schneller. Am Palisadentor blieb sie stehen und blickte zurück. Einige Leute ka men bereits den Abhang hinauf; andere stan den noch immer unten und starrten auf den Heiligen Berg. Die Priester in ihren prächtigen Kleidern drängten sich auf dem Fußweg. Von ihrem erhöhten Standpunkt konnte Mata das Gotteshaus mit seinem langgezogenen grau grünen Dach deutlich erkennen; sie sah die kleine Gestalt vor dem Eingang haltmachen und dann, schnell und still wie eine Motte, hin einschlüpfen. Einen Herzschlag später ver nahm sie den jubelnden Schrei des Volkes. Wieder einmal hatte die Gottesbraut das Haus des Herrn betreten. Mata rannte zu ihrer Hütte, ohne die harte Oberfläche der Straße unter ihren Füßen zu spüren. Das Feuer war heruntergebrannt; sie blies und keuchte, legte getrocknetes Gras und Zweige auf die glühende Asche; und für eine kürze Zeit vergaß sie, was sie gesehen hatte. Spät in der Nacht begann das Schlagen der Trommeln wieder. Große Feuer brannten auf dem Platz vor der Versammlungshütte; Jun gen und Männer liefen buntbemalt und mas kiert durch das Dorf; Mädchen bewegten sich zum schleppenden, einschläfernden Rhythmus
eines Tanzes. Auf den Palisaden und den Wachtürmen brannten flackernde Fackeln. Alte Männer und Frauen schleppten ununter brochen Fässer mit dunklem Getreidebier her an. Die Kinder schliefen schon, trotz des Lärms; nur Mata lag mit weit geöffneten Au gen wach und starrte gedankenverloren durch die Türöffnung der Hütte auf das Treiben. Jedes Jahr, seit die Berge jung waren und die Riesen dort gelebt hatten, hatte ihr Volk auf diese Weise den Beginn des Frühlings gefeiert. Sie warteten geduldig darauf, daß die eisigen Winterwinde aufhörten zu wehen, daß der Schnee schmolz, daß die Erde sich wieder zeig te. Im Laufe der ersten Monate des Jahres wurde die Sonne ganz allmählich stärker; und allmählich wurden die Bäume und Felder wie der lebendig, die ersten Knospen sprangen auf. Und schließlich – nur Cha’Acta und seine Priester konnten den genauen Zeitpunkt er kennen – war der lange Kampf vorüber, und der Getreidegott, der höchste der Götter, war auferstanden in all seiner Schönheit und Männlichkeit. Dann sagte das Bergvolk ihm Dank, der sowohl Samen als auch Sonnenlicht war, und der auch diesmal zu ihnen gekom men war, um unter ihnen zu leben. Eine Braut
wurde für ihn ausgewählt, die mit ihm in dem Gotteshaus leben sollte, solange er wollte. Choele, einen Sommer älter als Mata, war ihre engste Freundin gewesen. Ihre Glieder waren schlank und gerade wie Weideruten, ihr Haar eine duftige Wolke, gelb wie die Sonne. Mehr als ein halbes Jahr zuvor hatte sie dem jüngeren Mädchen anvertraut, daß sie im kom menden Frühling die Braut sein würde. Mata hatte mit den Schultern gezuckt und ihr dunkles Haar zurückgeworfen. Es war nicht gut, leichtsinnig über einen Gott zu sprechen; und besonders nicht über den großen Getrei degott, dessen Augen die Bewegungen von Kä fern und Mäusen sehen und dessen Ohren das Wispern jedes einzelnen Grashalms hören. Aber Choele war hartnäckig geblieben. »Komm, Mata, und setz’ dich zu mir in den Schatten, und ich werde dir zeigen, woher ich es weiß.« Mata starrte eine Weile trotzig vor sich hin; aber schließlich besiegte sie die Neugier. Sie kroch neben ihre Freundin, lag schläfrig da und roch den süßen Duft des langen Grases in der Sonne. Die Ziegen, die sie hüten mußten, grasten friedlich auf der Weide vor ihnen.
Mata sagte: »Es ist nicht klug, solche Dinge zu sagen, Choele, nicht einmal zu mir. Der Gott könnte dich hören und dich bestrafen.« Choele lachte. »Er wird mich nicht bestrafen«, sagte sie. Sie hatte die Bänder ge löst, die ihr Kleid oben zusammenhielten; ge heimnisvoll lächelnd lag sie da und schob den dünnen Stoff vor und zurück. »Schau, Mata, ich bin gewachsen«, sagte sie. »Leg’ deine Fin ger hierher und fühle mich. Ich bin fast schon eine Frau.« Mata sagte abweisend: »Ich will nicht.« Sie ließ sich auf den Rücken rollen und spürte die Sonne heiß auf ihren geschlossenen Lidern; aber Choele gab nicht auf, bis sie die Augen öffnete und sah, wie voll und rund ihre Brüste geworden waren. Sie streichelte die Brustwar zen und wunderte sich über ihre Härte; dann zeigte Choele ihr noch etwas anderes, und ob wohl sie im Dunkeln spielte, bis sie schweiß überströmt war, konnte sie es nicht nachma chen. Zum Schluß weinte sie verzweifelt, weil Choele die Wahrheit gesprochen hatte; bald würde sie von ihr fortgehen, und sie würde al lein zurückbleiben. Ein Jahr lang lebte die Braut mit dem Gott; aber keine von ihnen hat te jemals hinterher über das Geheimnis ge sprochen, und alle mieden ihre früheren
Freundinnen, wenn sie zurückkehrten, und gingen mit niedergeschlagenen Augen umher. »Bei uns wird es nicht so sein«, sagte Choele am nächsten Tag. »Ich werde für eine Weile in dem Gotteshaus leben, aber danach werden wir wieder Freundinnen sein, Mata, und ich werde dir erzählen, wie es ist, von einem Gott geliebt zu werden. Aber nun komm’ und laß uns spielen; denn ich bin jetzt eine Frau und kenne mehr Wege als zuvor, um dich glücklich zu machen.« Die Trommeln dröhnten immer noch; die Feuer waren mittlerweile heruntergebrannt. Die Getreidegeister waren tot; Cha’Acta hatte sie mit seiner Magie von den Feldern vertrie ben; ihre trockenen Hüllen waren schon ge mäß dem Ritual verbrannt worden. Im kom menden Winter würden die alten Frauen, die schon viele Prozessionen erlebt hatten, neue Figuren flechten; denn auch im nächsten Jahr würde der Gott eine Braut benötigen. Mata schluckte und verdrängte einen nur halb geformten Gedanken. Sie schlich sich vorsichtig aus der Hütte, um die Kleinen nicht zu wecken. Von dem Platz vor dem Versammlungshaus am anderen Ende des Dorfes ertönten immer noch die Ge räusche der Feier; für eine Weile war sie si
cher. Sie bewegte sich im Schatten der Hütten voran und vermied sorgfältig den Schein des Feuers. An den Palisaden wurde die Luft merk lich kühler. Sie kletterte die rauhen Holzstufen zu einem der Wachtürme hinauf. Es war nie mand dort, wie sie erwartet hatte. Sie stand leicht zitternd da und starrte in die Nacht hin aus. Der Mond stand über den Bergen. Darunter, weit entfernt und klein, lag der Heilige Berg in ein silbriges Licht getaucht. Auf seiner Spitze stand das Gotteshaus. Es lag still und schein bar verlassen da; aber Mata wußte, daß der Eindruck falsch war. Ihr Geist verließ ihren Körper und schwebte schwerelos über der mondbeschienenen Land schaft. Dann schien er sich für einen Moment lang mit Choele zu vereinen, die wartend auf dem großen Reisigbett lag. Sie hörte eine Maus über den Boden huschen und dachte, es sei das Kratzen des Gottes; ihr wurde schwindelig, so daß sie schwankte und sich am Geländer des Wachturmes festhalten mußte. Nun war sie wieder zurück in ihrem Körper; und die Angst vor dem Gott ließ sie noch stärker zittern als zuvor. Sie hüllte sich fester in ihr Gewand und schaute schuldbewußt um sich; aber es hatte sie niemand gesehen, weil niemand da war,
um Wache zu halten. Sie kauerte noch sehr lange auf ihrem Aussichtspunkt, während die Feuer im Dorf zu Asche niederbrannten und der Mond hinter den Bergen versank. Schließ lich verschwand das Gotteshaus in der Dunkel heit, und sie machte sich auf den Heimweg. Der Gott war auch in diesem Jahr mit seiner Braut zufrieden. Cha’Acta verkündete das vor dem versammelten Volk; und wieder tönten die Hörner, die Trommeln dröhnten, und die Bierfässer wurden angestochen und geleert. Die Sonne wurde jetzt mit jedem Tag merklich stärker, die Tage länger. Eine Welle von grü nen Knospen überschwemmte das Land. Die Boote wagten sich weiter aufs Meer hinaus und brachten volle Netze zurück. Die Dorfbe wohner, vom Häuptling und den Priestern bis hinunter zu den Holzfällern, sahen wohlge nährt und zufrieden aus. Der Hochsommer kam mit seinen langen blauen Tagen und sei ner betäubenden Hitze; und nur Mata trauer te. Manchmal, wenn sie die Ziegen ihres Vaters hütete, flocht sie sich Rosenkränze für ihr Haar; manchmal nahm sie am Spielen und La chen der anderen Kinder teil; aber immer wie der kehrten ihre Gedanken zu dem Haus auf dem Berg zurück, zu Choele und ihrem Herrn.
Sie wachte morgens beim ersten Piepen der Vögel auf, noch bevor es hell wurde. Ständig zog sie der Heilige Berg magisch an. Oft saß sie in einer Mulde des grasbewachsenen Hügels und blickte grübelnd auf das lange Dach des Gotteshauses hinab; oder sie lief allein und un beobachtet zu dem Bach hinunter, der am Fuße des Berges dahinplätscherte. Er war von Bäumen überragt, die das Licht zurückhielten; das Wasser war klar und kühl. Ihre Füße wühl ten gräuliche Wölkchen aus Treibsand auf, die mit der Strömung davontrieben. Die Kälte des Wassers durchdrang zuerst die Unterschenkel und die Knie, dann die Oberschenkel; und wenn sie dann ganz untertauchte, spürte sie sie überall. Manchmal schaute sie, ohne es zu wollen, zu dem bedrohlichen Berg hinauf, und dann zog sie sich hastig ihre noch nassen Klei dungsstücke an und hörte nicht auf zu rennen, bis sie den Hügel erreicht hatte, auf dem das Dorf lag; erst dort wagte sie, sich umzudrehen und auf den Heiligen Berg und das Gotteshaus zu blicken, die nun in sicherer Entfernung la gen. Einmal, als sie dort stand, berührte ein kühler Windhauch ihre heiße Stirn, und sie war sicher, daß es der Gott gewesen war, der an ihr vorbeiging. Ein Glücksgefühl durch strömte sie, und sie breitete überschwenglich
die Arme aus. Denn der Gott spricht nur zu den Erwählten. Erfüllt von noch immer nicht akzeptierten Gedanken lief sie ins Dorf zurück. Wenig später sollte sie ein noch überzeugende res Zeichen erhalten. Gegen Ende des Sommers wurde sie damit be auftragt, Schilf zu sammeln; die Dorfbewohner brauchten es für die Dächer ihrer eigenen Hüt ten und für das des Gotteshauses. Das heilige Gebäude war das einzige, das jedes Jahr reno viert wurde. Für sein riesiges Dach waren nur die schönsten und längsten Schilfrohre zu ge brauchen; und so wanderte Mata auf ihrer Su che immer weiter hinaus in der geheimen Hoffnung, daß ihre Ernte das Heim des Gottes schmücken würde, und daß er davon erfahren und erfreut sein würde. Es war ein stiller, hei ßer Nachmittag. Sie arbeitete im knietiefen Wasser, umgeben von den starken hohen Roh ren; was sie mit ihrem scharfen, sichelförmi gen Messer abgeschnitten hatte, warf sie auf das Ufer, damit die Bündel in den Karren ab transportiert werden konnten. Mit der Zeit versetzte sie das leuchtende Grün, das sie von allen Seiten umgab, in eine seltsame Stim mung. Es war, als stünde ihr eine bedeutsame
Erfahrung bevor, als durchdränge etwas Über irdisches die Hitze des Nachmittags. Die Schilfrohre rieben und scheuerten, das Was ser gurgelte und zischte bei jeder ihrer Bewe gungen. Sie ertappte sich dabei, daß sie in ih rer Arbeit innehielt, dastand und wartete, jedoch nicht wußte, worauf. Unbewußt, in ei ner Art Verzückung, drang sie immer tiefer in den Sumpf vor. Das säuerlich riechende Was ser kühlte ihre Beine; Schlamm umspülte ihre Knöchel. Der Schlamm selbst fühlte sich warm und weich an; sie verspürte den Wunsch, ganz darin zu versinken. Bald schon mußte sie ih ren Rock höher ziehen, bis sie ihn schließlich um ihre Taille wand. Sie hatte eigenartige Empfindungen; um sie herum wisperte und rief das magische Schilf; und immer noch zog es sie weiter voran. Ein Windstoß ließ das Schilf um sie herum rauschen; ihre freie Hand war nun unter der Wasseroberfläche; und in ihrer Trance erfuhr sie eine große Wahrheit. Die zahllosen grünen Gräser waren der Körper des Getreidegottes; und sein Körper waren die Gräser. Sie schrie auf; dann schien sich ihr eigener Körper zu öffnen, und sie wußte, daß das große Wunder endlich geschehen war. Sie preßte sich wild ge
gen die Schilfrohre, und das Leben endete in einem wundervollen Schweben. Die Wirklichkeit kam zurück. Sie öffnete den Mund, um Luft zu holen, und schluckte Was ser. Sie schlug um sich, verspürte einen un deutlichen Schmerz; dann ließ sie ihr Messer fallen und erreichte schließlich das Ufer. Sie taumelte und wankte, klammerte sich fest, rollte auf den Rücken und lag still. Die Sonne stand tief, als sie die Augen öffnete. Zuerst wußte sie nicht, wo sie war, aber dann kam die Erinnerung zurück. Sie versuchte sich aufzurichten und mußte gegen eine Welle von Übelkeit ankämpfen. Irgendwo waren Stim men zu hören. Am Flußufer bewegte sich ein Karren entlang, gezogen von einem Ochsen. Ein Mann sammelte die Schilfbündel auf und türmte sie auf den beladenen Karren. Ihre Brust fühlte sich wund an und schmerz te. Sie sah an sich herunter. Das Kleid klebte an ihr, dunkelrot gefärbt; der Rest ihres Kör pers war von Schlamm überzogen, und unbe deckt. Die Schilfsammler hatten sie gesehen. Eine Weile standen sie wie erstarrt da, dann kamen sie vorsichtig heran. Einer von ihnen sagte mit leiser Stimme: »Es ist die Tochter des Häupt lings. Sie sollte Schilf schneiden.«
Sie lachte höhnisch und sagte: »Ich habe mehr geerntet als Schilf. Der Gott ist zu mir ge kommen, und er war sehr leidenschaftlich.« Erschöpft ließ sie sich zurücksinken und beob achtete, wie die Männer näherkamen. Sie zupf ten unbeholfen an ihrem Kleid herum, bis sich der Stoff endlich löste. Und die Dorfbewohner wichen erschreckt zurück. Über ihre Brust lie fen tiefe, gebogene Schnitte; das Mal, das ihr der Korngott mit seinen Fingernägeln gegeben hatte. Die Wunden heilten schnell; aber die geistige Verwirrung, die der Besuch des Gottes ausge löst hatte, hielt länger an. Viele Tage lang lag Mata in der Familienhütte, ohne sich zu bewe gen; sie aß und trank kaum. Draußen schien währenddessen das gesamte Dorf zu warten. Gleichzeitig wurden von überall Wunder be richtet. Magan, Matas Vater, sah mit eigenen Augen, wie sich eine riesige Wolke über dem Gotteshaus bildete, eine Wolke, die die unheil volle Form einer Klaue annahm; die Sümpfe erglühten nachts in einem gespenstischen Licht, und ein Rascheln und Seufzen in der Luft deutete die Gegenwart von Geistern an. Schließlich kam Cha’Acta, begleitet von drei Priestern; er trug seine Amtskleider, die mit dem grünen Speer des Getreidegottes verziert
waren. Mata kroch in die äußerste Ecke des Bettes, als sie ihn eintreten sah. Nie zuvor hat te Cha’Acta ihr Beachtung geschenkt; jetzt wirkte er sehr groß und furchterregend. Lampen wurden herbeigebracht, die anderen Kinder verscheucht; und der Hohe Priester be gann mit seinem Verhör. Die Wunden wurden eingehend untersucht; dann berichtete Mata ihr Erlebnis mit aufgerissenen Augen und zit ternder Stimme. Cha’Actas hageres Gesicht blieb unbewegt; die dunklen Augen beobachte ten sie, während sie sprach. Aber als er ging, konnte niemand sagen, zu welchem Ergebnis er gekommen war oder was er gedacht hatte. Später sandte er Geschenke zu der Hütte; fri sche Milch und Eier und Früchte, ein Gewand, das das von dem Gott verdorbene ersetzen sollte. Wahrscheinlich wußten alle, was das Zeichen bedeutete; nur Mata schien es nicht glauben zu können. Sie lag lange wach und starrte in die Dunkelheit, den weichen Stoff an die Brust gepreßt; aber noch immer wehrte sie sich innerlich gegen den Gedanken. Der Herbst war vergangen, bevor sie ihre Kräfte wiedererlangte; die Ernte war einge bracht, das Vieh in die Verschläge getrieben. Viele Augen folgten ihr, als sie die Dorfstraße entlangschritt, fest in den Mantel gehüllt, um
sich gegen den eisigen Wind zu schützen. Sie hielt den Kopf hoch erhoben, ohne nach links oder rechts zu sehen. Sie kletterte zu einem der Wachtürme hinauf und starrte auf das Gotteshaus hinunter. Wolkenfetzen jagten über den Himmel, und die Berge warteten ver lassen und öde auf den nahenden Winter. Normalerweise war das Gotteshaus lange vor dieser Zeit leer. Aber Cha’Acta schwieg, und Choele erschien nicht. Das Dorf wurde allmäh lich unruhig, bis eines Tages die Nachricht kam, daß der Getreidegott sein Heim für die ses Jahr verlassen hatte. Die Männer des Dor fes hasteten den Heiligen Berg hinauf, beladen mit langen, grauen Schilfbündeln. Sie erneuer ten das Dach, besserten die Wände des Gottes hauses aus und strichen sie weiß an, stampften den Boden fest und fegten ihn. Mata, die nur noch selten Hausarbeit tun mußte, beobachte te die Vorgänge vom Schutzwall des Dorfes aus. Sie sah, wie die Feldgeister durch die Stra ßen getragen und auf den Giebel gehoben wur den; zwei Tage später schritt Choele durch das Dorf. Freudig lief sie ihr entgegen; aber zehn Schrit te entfernt stockte sie. Das Gesicht ihrer Freundin war weiß und alt, die Augen von dunklen Rändern umgeben und leblos. Und
Mata wußte, daß trotz Choeles Versprechen das Geheimnis zwischen sie getreten war, un durchdringlich wie eine Wand. Verzweifelt lief sie zur Hütte ihres Vaters. Dort lag sie lange Zeit auf ihrem Lager und weinte bitterlich; dann erhob sie sich, trockne te ihr Gesicht und machte sich an die Hausar beit. Sie hatte eine Entscheidung getroffen. Im nächsten Jahr würde sie, Mata, die Getreide königin sein. Danach, wenn auch sie das Ge heimnis kannte, würde sie zu Choele gehen, und alles würde wieder so sein wie früher. In den folgenden Tagen wurde sie sehr häufig im Dorf gesehen. Bewußt oder unbewußt legte sie es darauf an, Cha’Acta zu begegnen. Immer bewegte sie sich mit schicklicher Bescheiden heit; aber ihre niedergeschlagenen Augen ver paßten nichts. Manchmal war der Oberpries ter in ein Gespräch vertieft und schien sie nicht zu bemerken; manchmal drehte er sich nach ihr um, und Mata fühlte den starren, un durchdringlichen Blick in ihrem Nacken. Eines Nachts ließ sie ihr Vater holen. Er saß in dem Versammlungshaus, einen Krug Getreide bier vor sich. Cha’Acta, die Dorfältesten und die Priester waren ebenfalls anwesend. Mata stand mit gesenktem Kopf im trüben Schein der Fackeln, während ihr Vater, scheinbar
traurig, die unglaublichen Worte aussprach; als sie das Haus verließ, war es, als hätte sie keinen Boden unter den Füßen. Sie, die Auser wählte, schien bereits weit entfernt zu sein von der normalen Welt. Die ganze Nacht hindurch lag sie schlaflos da, starrte in die glühende Asche, hörte dem At men ihrer Schwestern und dem Schnarchen ihrer Mutter zu. Jedesmal, wenn sie daran dachte, was ihr bevorstand, begann ihr Herz wild zu pochen. Endlich brach trübe und grau der Morgen an; sie erhob sich, zog sich an und ging zu einer Hütte am Rand des Dorfes. Hier lebte Meril, die alte Frau, die die Bräute des Gottes unterwies. Einen Monat lang blieb Mata bei der Alten, und sie lernte viele, keinesfalls ausschließlich angenehme Dinge. Choele hatte damals in den Bergen oft Ähnliches mit ihr getan. Aber Cho eles Finger waren braun gewesen, und süß wie Honig; die von Meril dagegen waren alt und knorpelig und rochen säuerlich. Mata zitterte und versteifte sich und schwitzte; aber sie ließ es über sich ergehen, Choele und dem Gott zu liebe. Cha’Acta sah sie nun selten. Es war noch viel zu tun; die Saat mußte vorbereitet, Bier ge braut, der Schutzwall ausgebessert werden,
und man mußte die Gotteszelte und all das Zu behör für die Große Prozession zusammenstel len. An fast allen Vorbereitungen nahm der Oberpriester regen Anteil. Währenddessen schwollen die Knospen merklich an. Regen fiel und weckte das neue Gras; und schließlich brach die Sonne hervor. Der Himmel war übersät von kleinen weißen Wölkchen; ein warmer Wind wehte, und Mata wußte, daß ihr Warten bald beendet sein würde. Dann ereignete sich das Unglück, völlig uner wartet. Choele wurde vermißt. Mehrere Tage lang durchforschten Gruppen von Männern planlos die Berge und das umliegende Land; dann keuchte eines Morgens ein alter Mann den Hang hinauf und schrie den verschlafenen Wachen unzusammenhängende Worte zu. In dem Bach am Fuße des Heiligen Berges – der Bach, in dem Mata einst gebadet hatte – trieb ein Bündel von Stoff und Haar; das war alles, was von der Braut des Getreidegottes übrigge blieben war. Das böse Omen löste im Dorf Aufruhr aus. Trommeln dröhnten vor dem Versammlungs haus, in dem Cha’Acta und seine Priester Op fer brachten und beteten, um den offenkundi gen Zorn des Gottes zu besänftigen.
Jeden Morgen blickten die Männer besorgt zum Himmel hinauf, aber seltsamerweise blieb das Wetter gut. Und so war das Ganze fast schon vergessen, als die Woche der Großen Prozession kam; nur Mata fühlte in nerlich eine Leere, die nie wieder gefüllt wer den würde. Sie kannte ihre Pflichten bereits, ebenso wie die vielen verschiedenen Wege, einen Gott zu friedenzustellen. Nach Merils rauher Unter weisung hatte Cha’Acta ihr den Rest in seiner monotonen Stimme mitgeteilt. Zwei Tage vor dem großen Ereignis begann sie zu fasten; sie trank nichts als klares Quellwasser, um ihren Körper von aller Schlacke zu befreien. Am Tag vor der Feierlichkeit nahm sie offiziell von ih rer Familie Abschied. Ein mit Bändern ge schmückter Wagen wartete auf sie; sie stieg auf und stand hoch aufgerichtet da, während das Gefährt, gezogen von Cha’Actas weißen Ochsen, das Dorf verließ. Die Wächter erho ben ihre Speere und salutierten; und dann lag das Dorf hinter ihr. Jedes Jahr, so lehrte die Litanei, kam der Gott aus dem Süden über das endlose, blaue Meer. In dem kleinen Lager, das die Priester an der Küste errichtet hatten, herrschte bereits ein reges Treiben. Über dem größten der Zelte
prangte das lange grüne Wahrzeichen des Got tes. Hier würde Mata die Nacht verbringen. Eine Welle von erregenden Gefühlen durch wogte sie. Das Zelt war für sie hergerichtet, die Lampen angezündet, der Grasboden mit heiligem Was ser gesprengt. Sie wurde wieder und wieder gebadet; dann lag sie eine Stunde lang gedul dig still, während der gerade erst gewachsene Haarflaum an ihrem Körper mit geschärften Muscheln abrasiert wurde. Ihre Brustwarzen wurden leuchtend gefärbt, ihr Haar sorgfältig gekämmt; danach durfte sie endlich allein sein und schlafen. Durch die Vorbereitungen und das Fasten er schöpft, schlief sie tief und fest; am Morgen wurde sie von Meril geweckt. Man reichte ihr ein Gewand, und sie kroch aus dem Zelt. Es dämmerte gerade; das Meer lag kalt und glatt da; ein frischer Wind brachte den rauhen Salz geruch mit. Die Götterzelte waren dreieckig und schwarz, aus undurchlässigem Filz gemacht. Sie kroch in das erste von ihnen und zitterte, denn wie wußte, was sie erwartete. Auf dem Boden stand eine große Kupfer schüssel, in der Holzkohle und die magischen Pflanzensamen schwelten. Der kleine Raum
war erfüllt von beißendem, stechendem Qualm; sie hustete, hielt die Luft an und beug te sich über die Schüssel, wie man es sie ge lehrt hatte. Im gleichen Moment hörte sie das Zischen des Blasebalgs, mit dem einer der Priester von außen Luft über die Glut blies. Der Rauch versengte ihre Lunge; sie würgte und hätte sich übergeben, wenn ihr Magen nicht leer gewesen wäre. Gehorsam atmete sie ein, schloß ihre tränenden Augen; und nach ei ner Weile schien der Rauch weniger scharf zu werden. Dann begannen seltsame Dinge zu ge schehen; ihr Körper schwebte über dem Bo den; die Schüssel und ihr Inhalt schienen sich auszudehnen, bis sie das Gefühl hatte, kopf über in eine ganze Welt von Feuer zu fallen. Der kleine Innenraum des Zeltes erweiterte sich zu einer endlosen schwarzen Leere, in der Lichter aufblitzten; sie sah Sterne und Mond und Sonnen, Kometen und goldene Früchte. Schließlich wuchs sie selbst zu einer riesigen Statue. Sie erhob sich langsam und schwan kend; sie war bereit. Draußen war es inzwischen heller geworden. Undeutlich spürte sie die Gegenwart von Men schen um sich herum, vernahm den Schrei, als das Gewand von ihr genommen wurde. Ihr Haar wurde mit grünen Kränzen geschmückt;
und dann schritt sie auch schon den steinigen Pfad von der Bucht hinauf. Hinter ihr formier te sich die Prozession; Hörner ertönten, die Trommeln begannen zu schlagen. Ihre Ohren registrierten die Geräusche wie durch eine Schicht von Watte. Der warme Wind umhüllte ihren Körper, und sie hatte das Gefühl, schwerelos über dem Bo den dahinzuschweben. Die Korngeister knallten mit den Peitschen, die Priester sangen; Cha’Acta, mit der leuch tend grünen Maske vor dem Gesicht, segnete das Land und verstreute Getreidekörner zu beiden Seiten des Weges. Und schon sah sie vor sich die Berge. Zu ihrer Rechten lag das Dorf mit seinem Schutzwall; zu ihrer Linken ragte der Heilige Berg auf. Der Pfad wurde steiler, führte an Choeles Bach vorbei; und dann lag der steinerne Fußweg vor ihr. Sie war noch nie so hoch oben gewesen. Un terbewußt hatte sie sich vorgestellt, daß hier, so nahe dem Haus Gottes, das Gras und die Büsche, ja sogar die Steine anders sein müß ten; aber auch in ihrem ekstatischen Zustand schienen sie ihr gleich. Am Ende des Fußweges drehte sie sich um und zeigte sich noch einmal dem Volk. Sie hörte die Schreie, fühlte die Bli
cke auf ihrem Körper; dann war sie allein und bahnte sich ihren Weg durch die Felsbrocken. Schließlich stand das Gotteshaus nah und ehr furchterregend vor ihr. Sie zögerte und wich zurück, die Hände an die Kehle gepreßt; für einen Moment lang wünschte sie sich an den Herd ihres Vaters zurück. Dann war es vor über; sie blieb noch ein letztes Mal stehen, um zu winken, hörte die vereinzelten Schreie und trat in die Stille und die Dunkelheit des Hau ses. Es war die Stille, die sie zuerst am meisten be lastete; eine singende Stille, verstärkt durch das Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Das langgestreckte Haus war kahl und leer. Der sorgfältig gefegte Fußboden glänzte grau braun; die rauhen Wände waren schulterhoch; hoch über ihr erstreckte sich der Giebel. Das Schilf erfüllte das Haus mit dem Geruch von Gras und Seen. Sie ging langsam vorwärts. Als ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, er kannte sie am anderen Ende des Raumes eine geflochtene Wand mit einem engen Durch gang. Sie schritt hindurch. Gleich dahinter be fand sich eine zweite geflochtene Wand mit ei nem Durchgang, der versetzt war, so daß man die Eingangstür nicht mehr sehen konnte. Hin
ter der zweiten Wand befand sich ein kleiner, quadratischer dunkler Schlafraum. Sie sah ein Lager aus dickgeschichtetem Farnkraut, dane ben auf dem gestampften Boden einen Wasser krug und einen Schöpflöffel. Das war alles. Plötzlich zitterten ihr die Knie. Sie wand sich unbeholfen die Girlanden aus dem Haar und ließ sie achtlos zu Boden fallen. Sie kniete ne ben dem Krug nieder und schöpfte Wasser. Es war klar, süßlich und sehr kalt. Sie trank in großen Zügen, um ihren Durst zu stillen, und legte sich danach auf das Bett. Sie spürte nun ihre Erschöpfung. Als sie erwachte, war es dunkel. Der kleine Schlafraum selbst war stockfinster; sie drehte den Kopf und sah die Flechtwände in ein sil bergraues Licht getaucht. Zuerst war sie ver wirrt, doch dann wurde ihr klar, wieviele Stun den sie geschlafen haben mußte. Das kalte, metallische Licht war der Mond. Die Wirkung des Kräuterrauches hatte sie nun verlassen. Sie zitterte und suchte nach ei ner Decke, jedoch vergebens. Dann erinnerte sie sich, daß sie nicht hier war, um zu schlafen. Sie schluckte. Irgend etwas mußte sie geweckt haben. Sie lauschte konzentriert. Der Wind wehte über den Berg und bewegte das Gras
und die Büsche. Irgendwo in der großen Hütte knackte ein Zweig. Ihr Herz stand still; aber es passierte nichts weiter. Das Gotteshaus war so ruhig wie zuvor. Sie runzelte die Stirn und dachte nach. Waren all die Erzählungen und Geschichten erfun den? Kam vielleicht überhaupt niemals ein Gott, um in dem Haus auf dem Berg zu leben? Oder hatte der Korngott sie verschmäht? War er vielleicht schon hier gewesen in der Dunkel heit, hatte sie als Braut nicht schön genug ge funden und war weitergezogen? Dann würde er das Tal für immer verlassen, und die Getrei desamen würden im Boden verfaulen, das Volk würde verhungern. Man würde sie steini gen… Sie zwang sich zur Ruhe. Er würde kommen, wenn es ihm gefiel; denn wer konnte einem Gott befehlen? Einmal war er schon zu ihr ge kommen, damals im Schilf; welchen Beweis brauchte sie noch? Es war ein Zeichen der Gunst gewesen, das vor ihr noch keine andere empfangen hatte. Er würde kommen, weil er immer kam und weil er sie erwählt hatte. Der Gedanke brachte neue Angst mit sich. Wie würde er sein, wenn er kam? Vielleicht war er glühend heiß oder fürchterlich anzuse hen. Vielleicht hatte er die Augen eine wilden
Tieres… Sie schob die Gedanken fort. Das War ten war hart. Sie wünschte die Wirkung des magischen Rauches zurück. Dann schlummer te sie gegen ihren Willen wieder ein. Als sie erwachte, stand der Mond bereits hö her; diesmal, dessen war sie sich sicher, hatte sie etwas anderes geweckt als der Wind. Sie lag still und zitternd da und lauschte angestrengt. Dann hörte sie die gleichmäßigen, schweren Schritte, die sich ihr näherten. Ihr wurde schwindelig. Eine Gestalt betrat den Raum. Sie blieb zusammengekauert und still liegen und schaute hinauf. Der Mond verbreitete ein trübes Licht. Aber ihre inzwischen an die Dunkelheit gewöhnten Augen konnten jede Einzelheit erkennen. Das Wesen vor ihr war nackt und schien grö ßer zu sein als ein Mann. Die Beine waren mit zarten Linienmustern tätowiert; über den Schenkeln schwang der Penis, eine große vor stehende Säule. Auch die Brust war tätowiert, und in der einen Hand hielt die Gestalt einen Stab der Macht mit dem Wahrzeichen des Korngottes auf der Spitze. Der Kopf war hinter einer fantastischen Maske verborgen, die in diesem Licht schwarz aussah, jedoch, wie sie wußte, grün war wie das sprießende Korn. Sie schrie hoch und schrill auf; und das Wesen
sagte ungeduldig: »Sei still, kleiner Dumm kopf. Der Gott ist hier.« Die Gestalt war die eines Gottes, aber die Stimme kannte sie nur zu gut. Es war die Stim me Cha’Actas. Blitzschnell versuchte sie, zur Tür zu gelan gen; aber der Oberpriester griff sie bei den Haaren und warf sie auf das Lager zurück. Keuchend lag sie da, versuchte, zur Seite zu rollen. Er beugte sich über sie; die Maske ver letzte ihre Wange. Sie wehrte sich verzweifelt, biß und kratzte; die Maske fiel herunter und enthüllte Cha’Actas verzerrtes Gesicht. Sie stürzte sich auf ihn, trommelte und schlug mit den Fäusten; aber er packte ihre Handgelenke; Schläge prasselten auf ihren Körper nieder. Sie wand sich wimmernd; Lichter drehten sich vor ihren Augen, wie die magischen Lichter des Kräuterrauches. Als das Schlagen aufhör te, konnte sie nichts mehr sehen; sie lag reglos da, unfähig, sich noch länger zu wehren, und fühlte das Gewicht Cha’Actas auf sich. Der Alp traum danach wiederholte sich viele Male, bis die Mitte ihres Körpers sich anfühlte wie ein einziger brennender Schmerz; gegen Morgen verließ sie der Oberpriester schließlich.
II Der Schlafraum war in ein kaltes graues Licht getaucht. Sie bewegte sich langsam, drehte sich herum und setzte die Füße auf den harten Erdboden. Die Bewegung machte sie schwin delig; sie versuchte, sich zu übergeben, aber es ging nicht. Nach einer Weile flaute die Übelkeit ein wenig ab. Sie öffnete die Augen und schaute an sich hinunter. Ihr ehemals glatter weißer Körper war mit blauen Flecken und Blutkrusten über sät. Sie keuchte, blickte auf ihre Hände; auch sie trugen dunkle Striemen. Sie biß die Zähne zusammen, kniete sich vor den Krug und schüttete sich Wasser über den Kopf und die Schultern. Schwerfällig und lang sam rieb sie sich sauber. Zum Schluß spülte sie den metallenen Geschmack aus ihrem Mund. Auf dem Bett lag ein Gewand aus feinem, ge bleichten Leinen, vorne verziert mit dem Zei chen des Gottes. Sie starrte es eine Zeitlang an, stand dann auf und zog es sich unter Schmer zen über den Kopf. Vorsichtig lugte sie durch die Türöffnung. Im Licht der Dämmerung er kannte sie eine zusammengekauerte Gestalt neben dem Eingang. Sie begann darauf zuzu schleichen.
Ein sechster Sinn weckte Cha’Acta. Er richtete sich auf, streckte den einen Arm aus; und die prachtvolle Maske des Gottes traf krachend auf seinem Schädel auf. Er stöhnte, packte die Fußgelenke der Braut. Mata schlug noch ein mal mit aller Kraft. Cha’Acta verdrehte die Au gen, wand sich, atmete rasselnd; aber seine Hände hielten sie noch immer fest umklam mert. Der dritte Schlag öffnete die Kopfhaut; Blut strömte; er fiel gegen die blasse rauhe Wand; und Mata floh. Die Angst verlieh ihr Schnelligkeit. Erst am Fuße des Berges machte sie halt, schaute voller Furcht um sich, sicher, daß sie gesehen wor den war. Aber das Dorf und das Gras ringsher um lagen verlassen da. Sie floh weiter, abwechselnd gehend und lau fend. Eine Weile folgte sie automatisch dem Weg der Großen Prozession. Als der Heilige Berg außer Sichtweite war, bog sie instinktiv zur Seite ab. In der Ebene, zwischen den Ber gen und dem Meer, erstreckte sich ein dunk ler, dichter Wald in dem frühen Licht. Niemals wagte sich ihr Volk dorthin; denn in dem Wald gab es Wölfe und Bären, Wildkatzen und Geis ter. Gegen Mittag war sie bereits tief in das Ge biet vorgedrungen. Hier war sie vor Entde ckung sicher.
Ihr Fasten und die Schrecken der Nacht for derten nun ihren Preis. Sie fiel häufig hin, stol perte über Äste und Baumstümpfe. Jedes Mal brauchte sie länger, um sich wieder zu erheben. Schließlich blieb sie stehen und blickte angsterfüllt um sich. Die riesigen Bäu me ließen nur ein spärliches Licht durch. Zwi schen den knorrigen Stämmen war der Boden rauh und zerrissen und mit Dornsträuchern bedeckt; kein Lufthauch bewegte die Äste, und nirgendwo ertönte die Stimme eines Vogels. Sie stolperte blind weiter, sah den Felsvor sprung zu spät; sie stürzte drei Meter tief in das schlammige Wasser. Sie schlug schwer auf, aber der weiche Boden bewahrte sie vor Knochenbrüchen; sie kroch einen halben Me ter und blieb liegen mit dem Gedanken, daß sie sich nie wieder erheben würde. Plötzlich wehte ein Wind, der die Baumspit zen bewegte und durch das verworrene Unter holz raschelte. Sie hob den Kopf, versuchte einen klaren Ge danken zu fassen. Wieder spürte sie den Wind hauch; und sie glaubte, ganz deutlich die gel ben Berghänge erkennen zu können, die sie für immer verlassen hatte. Stöhnend erhob sie sich. Hier, wohin sich nur Teufel wagten, würde niemals ein Gott nach
ihr suchen. Ihre Gliedmaßen zuckten; Tränen flossen ihr über die Wangen; aber ihr Mund flüsterte ein Gebet. An den Getreidegott, den Erwecker des Korns. Taumelnd und stolpernd durchquerte sie einen seichten Sumpf. Die Sonne stand inzwi schen höher am Himmel; fast unbewußt regis trierte sie die Hitze auf dem Rücken und den Armen. Am anderen Ufer ruhte sie sich wieder aus. Weiter vorn stieg der Boden allmählich an; und sie glaubte, ihren Herrn rufen zu hö ren, lauter und klarer als je zuvor. Sie stolper te weiter. Die Bäume standen immer weniger dicht zusammen, bis vor ihr plötzlich ein lang gestreckter, glatter Bergkamm im gleißenden Sonnenlicht lag, über den ein zerfurchter Pfad führte; am äußersten Ende des Kammes be fand sich ein Dorf, umgeben von einem Schutzwall und Wachtürmen. In einem sol chen Ort war sie geboren und aufgezogen wor den; aber dies war nicht ihre Heimat. Sie hatte das Dorf dort vor ihr noch nie gesehen. Sie rastete eine Weile; dann vernahm sie das Geräusch von Rädern. Dankbar richtete sie sich auf. Auf dem Pfad näherte sich ein zwei rädriger Karren, der mit Reisigbündeln bela den war. Der Fahrer hielt neben ihr, und sie versuchte, mit ihren verquollenen Lippen
Worte zu formen. »Bring’ mich zu deinem Häuptling«, sagte sie. »Gott wird dich dafür belohnen und dir Glück schenken.« Der Fahrer näherte sich ihr vorsichtig und beugte sich über sie. Sie wandte ihm ihr Ge sicht zu und versuchte zu lächeln; und zum ersten Mal sah sie seine Augen. Gohm, der Holzfäller, war noch nie besonders intelligent gewesen; er kaute an einem abge brochenen Fingernagel und sagte mit seiner trägen Stimme: »Wer bist du? Ein Waldgeist vielleicht, der vom Baum gefallen ist?« Er packte ihr besudeltes Gewand; der Stoff gab nach und zerriß; er starrte auf das, was sich ihm enthüllt hatte, und kicherte. »Kein Geist«, sagte er. »Auf jeden Fall ohne Zauberkraft.« Er schob zwei schwielige Finger unter ihren Kilt, und als sie aufschrie, schlug er sie auf den Mund. Danach tat er noch einige andere Dinge, bevor er sie auf den Karren lud und mit ein paar Reisigbündeln zudeckte. »Die Götter sind Gohm freundlich gesonnen«, murmelte er. Er knallte mit den Zügeln, und der Karren beweg te sich holpernd auf das Dorf zu. Am Ende der schlammigen Straße hielt der Holzfäller an. »Frau«, brüllte er, »sieh mal, was die Götter uns gesandt haben. Eine Skla vin, um deine Töpfe zu scheuern und das Feu
er in Gang zu halten; und noch nützlicher für mich.« Die Frau, die in dem niedrigen Eingang zur Hütte erschien, war so grau, faltig, dünn und flink wie er tapsig und langsam. »Was brab belst du da, du alter Dummkopf?« brummte sie, während sie auf den Karren stieg und die Reisigbündel beiseiteschob; dann erstarrte sie, mit weit aufgerissenen Augen und die Hand vor den Mund gepreßt. Auch Gohm stockte er schreckt; denn aus dem Klumpen von Kno chen und Blut starrten zwei weiße, leuchtende Augen ihn mit einem fürchterlichen Blick an. »Dies ist dein schwarzer Tag, Gohm«, wisperte das Wesen. »Deine Finger, die mich geschän det haben, werden kein Holz mehr fällen, und sie werden kein Wasser mehr holen.« Für Mata war das Leben eine dumpfe Leere, die von Zeit zu Zeit durch noch größere Schmerzen durchbrochen wurde. Sie war in ei ner frisch ausgefegten Hütte untergebracht, und mehrere Frauen hatten die Aufgabe, sie zu waschen und sich um sie zu kümmern; aber das drang lange Zeit gar nicht bis in ihr Be wußtsein vor. Inzwischen erfüllte sich die Ver wünschung gegen Gohm. Eine Woche später verletzte er sich beim Holzhacken am Wald rand zwei Finger. Die Wunden heilten nicht,
sondern öffneten sich noch weiter, wurden gelblich und begannen zu stinken; die Schmer zen machten ihn wahnsinnig. Schließlich nahm er die Axt, ging hinter die Hütte und hackte sich die Finger ab; aber dadurch ver besserte sich sein Zustand nicht. Er begann al lein umherzuwandern, mit einem grauen Ge sicht und murmelnder Stimme; und niemand war überrascht, als seine Leiche eines Tages aus dem Wald gebracht wurde. Der Körper war schrecklich entstellt, wie von Bären zerris sen, und das Gesicht war fast vollständig weg gefressen. Das geschah ungefähr einen Monat, nachdem Mata aus dem Wald gekommen war; und die Dorfbewohner wurden schweigsam und ängstlich. Die Männer schlichen zu der Hütte, in der sie lag, und brachten reiche Ge schenke, so daß sie in beachtlichem Wohlstand wieder zu Bewußtsein kam. Aber diese Tatsache bedeutete ihr zunächst nicht viel. Sie lag in der Hütte, umgeben von ihren Frauen, aß wenig und beobachtete die Wolken am Himmel, das leuchtendgrüne Blattwerk der Bäume. Der Sommer war wieder hereingebrochen; der Getreidegott hatte seine Versprechungen eingehalten, obwohl er seiner Braut beraubt worden war. Sie dachte lange darüber nach; schließlich erhob sie sich von
ihrem Lager und bat um eine Audienz beim Häuptling. Er empfing sie in der Versammlungshütte, die der ihres Vaters sehr ähnlich war. Neben ihm stand der Oberpriester; Mata starrte ihn lange Zeit unbehaglich an. Schließlich wandte sie sich dem Häuptling zu. »Was willst du von mir?« fragte sie. Der Häuptling streckte erschreckt die Hände aus. Gohms Schicksal hatte einen tiefen Ein druck bei ihm hinterlassen; dieses blasse Kind mit den blitzenden Augen beunruhigte ihn. »Es ist der Wunsch meines ganzen Volkes«, sagte er demütig, »daß du bei uns bleibst und dich von uns verehren läßt. Und wenn du für uns bei deinem Herrn ein gutes Wort einlegst, wird unser Getreide üppig wachsen.« Der Oberpriester wurde unruhig; Mata wand te ihm ihren furchterregenden Blick zu und sagte: »Es ist gut, das zu hören, und es gefällt dem Gott. Aber ich habe schon von anderen Dörfern gehört, in denen solche großen Worte gesprochen und dann nicht eingehalten wur den.« Der Häuptling brach in einen wortreichen Protest aus, und Mata sah mit Genugtuung die Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn bilde ten. »Dann sorge dafür, daß es nicht so sein
wird«, sagte sie. »Denn mein Herr liebt mich sehr und verleiht mir viel Kraft. Meine Berüh rung bringt Tod oder Schlimmeres; oder aber Glück und große Freude.« Sie streckte ihre Hand aus und war im stillen belustigt darüber, daß der andere zurückzuckte. »Nun höre den Wunsch des Gottes«, sagte sie. »Ihr sollt ein großes Haus bauen, dort auf dem Berg neben dem Dorf. Es soll dreißig Schritte lang, fünf breit und…« Aus dem Gedächtnis gab sie eine möglichst genaue Beschreibung des Gottes hauses von Cha’Acta. »Dort werde ich mit mei nem Herrn leben«, sagte sie, »und ich werde Frauen wählen, die ich unterrichten werde.« Sie warf einen Blick auf das immer dunkler werdende Gesicht des Oberpriesters und sprach schnell weiter. »Auch dein höchster Priester wird dort hinkommen, und viele schö ne Dinge werden ihm widerfahren. Er muß den Bau segnen und die Arbeiten überwachen; denn er steht in der Gunst des Gottes, und er ist ein wichtiger Mann in deinem Land.« Sie kniete vor dem Priester nieder und sah, wie der Ausdruck des Hasses sich in nachdenkli ches Mißtrauen verwandelte. Und so wurde ein neues Gotteshaus errichtet, und Mata lebte darin in großem Luxus. Zur Bettgespielin wählte sie ein schlankes braunes
Kind mit dem Namen Alissa; sie unterrichtete Alissa und lehrte sie die Geheimnisse, Göttern und anderen zu gefallen. Wenn es ihr danach war, befahl sie Cha’Ilgo, den Oberpriester zu sich; und mit der Zeit machte sie sich ihm sehr gefällig. Es war ein schönes Leben dort in dem Haus auf der Spitze des Berges; aber alle Sommer gehen einmal zu Ende. Die Blätter des Waldes hatten rote und goldene Farbtöne angenom men, als Mata den Priester und den Häuptling erneut zu sich rief. »Ich muß Euch verlassen«, sagte sie ohne Umschweife. »In der letzten Nacht ist mein Gott zu mir gekommen in der Dunkelheit, als das Dorf schlief. Sein Haar war so golden wie die Sonne, und es berührte die Dachsparren, als er an meinem Bett stand; sei ne Haut war so grün wie das junge Getreide und sein Penis größer als der eines Bullen und wunderbar anzusehen. Er vertraute mir viele Geheimnisse an, unter anderem auch dies: aus meiner Liebe zu Euch muß ich Alissa, die mir mehr bedeutet als mein Leben, bei Euch zu rücklassen als Eure neue Getreidekönigin. Auf diese Weise werdet ihr dann noch glücklich sein, wenn ich nicht mehr da bin; der Weizen wird sprießen und Eure Bierfässer füllen, und es wird Euch an nichts fehlen.«
Sie vernahmen ihre Worte mit gemischten Gefühlen. Cha’Ilgo zumindest hatte ihre Ge genwart sehr zu schätzen gelernt; trotzdem verspürte er auch Erleichterung, als ihre Sänf te zum letzten Mal durch die Stadttore getra gen wurde. Sie war einsam und ohne Freunde gekommen; sie ging mit einem prachtvollen Gefolge mit Flötenspielern und einer Truppe von Speerwerfern an der Spitze. Ihr Gewand war so weiß wie Schnee; um den Hals trug sie Ketten aus Perlen und Bernstein, um die schlanken Fußgelenke Reifen aus glänzendem schwarzen Stein. Ihr folgten weitere Sänften mit ihren Schätzen und Abschiedsgeschenken; Saatgut und Waffen, Krüge mit Honig und Bier. Am Schluß folgten Schafe und Ochsen und eine bedeutende Anzahl von Dorfbewoh nern. Die Hörner und Trommeln verkündeten Cha’Acta schon von weitem ihre Ankunft. Er begab sich zum Dorfeingang, um alles mit eige nen Augen zu sehen; Matas Volk hatte sich auf dem Schutzwall versammelt und wartete unsi cher mit Speeren bewaffnet. Es war Magan, der Häuptling, der seine Tochter als erster er kannte; überglücklich eilte er ihr entgegen, voll von Staunen über ihre Rückkehr von den Toten. Die Tore wurden weit geöffnet, und es
brach eine Zeit der Freude an. Denn die Ge treidebraut war auferstanden; von nun an würden die Götter dem Dorf wieder wohlge sonnen sein. Zunächst hielten sich Cha’Acta und seine Priester abseits und berieten sich untereinan der in der Versammlungshütte; aber schließ lich zwangen sie die Blicke der Dorfbewohner und eine deutliche Bemerkung Magans, der Sache ins Auge zu sehen. Der Oberpriester be trat die für Mata hergerichtete Hütte, erfüllt von Mißtrauen, aber sie kam ihm unter Freu denrufen entgegen. Sie brachte ihm Bier, be diente ihn mit den eigenen Händen; dann kniete sie vor ihm nieder, bat ihn um Verge bung und redete ihn als ihren Herrn an. »Mei ne Augen waren blind, und so konnte ich die Wahrheit nicht erkennen«, sagte sie. »Ich sah Cha’Acta, aber ich konnte den Gott nicht se hen.« Sie goß Bier nach, und immer mehr Bier, bis seine zusammengekniffenen Augen etwas weiter wurden. Über seine Stirn verlief eine tiefe, diagonale Narbe von der Wunde, die sie ihm mit der Maske zugefügt hatte; sie be rührte sie zärtlich und lächelte. »Dafür bin ich bestraft worden, und zu Recht«, sagte sie. Sie zeigte ihm die Narbe auf ihrem Kinn, wo Gohms Stiefel ihre Lippe weggerissen hatte,
und die Striemen auf ihren Beinen, die von ih rer wilden Flucht durch den Wald zurückge blieben waren. »Außerdem«, sagte sie und zog das Gewand noch weiter nach oben, »schau, wie ich gewachsen bin, Cha’Acta, mein Pries ter. Der Gott hat mir befohlen, zu dir zurück zukehren, um dich nun besser zu lieben als zu vor.« Diese Worte erregten Cha’Acta gegen seinen Willen, und er nahm sie mehrere Male in dieser Nacht, und es war süßer als alles, was er bisher erlebt hatte. »Der Gott ist zum ersten Mal damals im Schilf zu mir gekommen«, sagte sie später. »Nun kommt er wieder zu mir durch dich. Laß es für immer so sein, Herr.« Allmählich verloren die Bäume ihre Blätter. Eine Zeitlang blieb die Luft noch warm; aber als der erste Frost sich über die Felder legte, störten unheilvolle Nachrichten die Ruhe des Stammes. Fremde tauchten im Dorf auf, Flüchtlinge aus dem unbekannten Gebiet jen seits der großen Heide. Sie berichteten von ei nem neuen Volk, einer Rasse von Kriegern, die nicht vom friedlichen Ackerbau lebte, sondern von Plünderungen, Brandstiftung und Kampf. Manche sagten, sie kämen vom Mittelmeer, andere meinten, sie stammten aus der Hölle und könnten mit ihren schnellen, langen Schif fen die wildeste See bezwingen. Jeder der
Krieger schien den Rang eines Königs zu ha ben und mit bestimmten Göttern verwandt zu sein, deren Namen allein die Berichterstatter schon erzittern ließen. Man erzählte von der Zerstörung ganzer Dörfer, von der Ausrottung der Stämme. Die Eindringlinge fielen über das Land her wie ein Insektenschwarm und ließen es kahl und zerstört zurück. Die Dorfältesten schüttelten ratlos die Köpfe; nie zuvor hatten sie etwas Ähnliches gehört. Mit dem ersten Schneefall versiegte der Strom der Flüchtlinge, und lange Zeit kamen keine weiteren Nach richten. Mata kümmerte sich wenig um diese Ge schichten. Ihre Macht über das Volk war stetig gewachsen, denn die Erfahrungen ihrer Flucht hatten sie sehr gut gelehrt, wie man Respekt gewinnt. Ständig war sie an Cha’Actas Seite; und immer stand der große Getreidegott hin ter ihr. Man brachte ihr Kinder und Säuglinge, denn ihre Berührung hatte Zauberkraft, so daß die von ihr gesegneten Kinder gesund und stark werden würden. Gleichzeitig schien sie jedoch immer darauf bedacht, sich Cha’Actas Wünschen zu fügen, und der Oberpriester hat te keinen Grund zur Klage. Jede Nacht besuch te er sie in dem Gotteshaus; die einst so geleh rige Schülerin war zu einer willigen Geliebten
geworden. Er war so zufrieden mit ihr, daß, als der Frühling bereits wieder vor der Tür stand, die Frage nach einer neuen Getreidebraut noch immer nicht erhoben worden war. Eines Abends brachte Cha’Acta die Sache dann doch zur Sprache. Mata hörte ihm eine Weile schweigend zu, erhob sich dann, warf sich einen warmen Schal um die Schultern und ging auf die Tür zu. Dort blieb sie stehen und starrte in die Dunkelheit hinaus. Schließlich sprach sie. »Wo wird der Gott eine Braut finden, die der jetzigen gleichkommt?« fragte sie. »Gibt es eine andere, die so liebevoll, warm und dem Priester gefällig sein kann wie ich, eine, für die das Getreide besser wachsen würde?« Cha’Acta wartete; er war sich ihrer Macht be wußt. Darüber hinaus wollte er sie nicht ver lieren. Er antwortete nicht; und sie drehte sich zu ihm um, mit großen, dunklen Augen. »Was würde aus mir werden?« sagte sie. »Würde auch ich eines Tages im Bach gefunden wer den?« Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Laß uns nicht weiter darüber reden«, sagte er. »Trotz all deiner Schönheit bist du noch ein Kind, Mata. Du kannst noch nicht alle Geheim nisse verstehen.«
Sie spürte den Gott in sich, der ihr Kraft gab. Wütend sagte sie: »Ich verstehe jedenfalls so viel, daß es Geheimnisse gibt, die besser nicht an die Öffentlichkeit gelangen, Cha’Acta; denn sonst würden sich Speere erheben, und heili ges Blut würde sie besudeln.« Cha’Acta erhob sich mit vor Wut blitzenden Augen. Er näherte sich ihr, erhob die Hände; aber sie wich nicht zurück, sondern warf ihren Schal zurück und lachte. »Schau mich an, be vor du zuschlägst, Cha’Acta«, sagte sie. Er starrte sie lange an. Es wäre so einfach, sie jetzt zu erwürgen und den Rest den wilden Tie ren zu überlassen… Schweiß stand auf seiner Stirn, dann wich er zurück und stöhnte. »Quä le mich nicht, Mata«, sagte er heiser. »Ich will dir nichts Böses.« Seine Chance war verspielt, und sie wußten es beide. Sie stand noch eine Weile lächelnd da, dann beugte sie sich zu ihm. Er packte sie keu chend, und sie war sehr zärtlich. Die ganze Nacht ließ Mata ihm keine Ruhe, bis er gegen Morgen vor Erschöpfung einschlief. Sie weckte ihn später, brachte ihm heiße Suppe und Bier; dann kleidete sie sich an und setzte sich zu sei nen Füßen. »Herr«, sagte sie, »erzähle mir nun von deinen Plänen, daß ich gehen muß und eine andere meinen Platz einnimmt.«
Er schüttelte den Kopf mit niedergeschlage nen Augen. »Niemand wird deinen Platz ein nehmen, Mata«, sagte er. »Das weißt du ganz genau.« »Aber das Volk wird es wünschen«, bohrte sie weiter. »Das Volk kann beeinflußt werden«, sagte er. »Ich will meinem Herrn Cha’Acta keinen Kummer bringen.« Resigniert sagte er: »Du könntest sie überre den, Mata. Du bestimmt.« Sie sah ihn aufmerksam an. »Du gibst mir also die Erlaubnis dazu?« Er trommelte mit den Fäusten auf seine Knie, preßte sie gegen die Stirn. »Tu, was du willst«, sagte er. »Nimm alles, was du willst, sprich, wie der Gott es dir befiehlt; aber bleibe seine Braut, um meinetwillen.« Sie lehnte sich zurück und klatschte in die Hände. »Dann laß nun auch Cha’Acta seine Treue schwören, beim großen Gott, der ihm ebenso zur Seite steht wie mir.« Er stöhnte auf und sagte dann: »Ich schwöre. Hier im Haus des Gottes, wo er es sicher hören wird.« Und so wurde ein Pakt zwischen ihnen ge schlossen; sie hatte ihn mit unsichtbaren Fes
seln umgeben, die er nicht zu durchbrechen in der Lage war. Als der Sommer immer näher kam, begann das Volk öffentlich zu murren; denn noch im mer war die Prozession nicht angekündigt und auch keine neue Braut für den Gott erwählt worden. Mata sprach zu ihnen von der Ver sammlungshütte aus – so etwas hatte noch nie zuvor ein Mädchen oder eine Frau getan. »Die Prozession wird stattfinden«, verkündete sie. »Der Gott hat Cha’Acta seine Wahl kundgetan: Ich werde es sein, die die Priester führen wird; ich werde für einen zweiten Sommer seine Braut sein.« Ein erschrecktes Murmeln wurde bei diesen Worten laut, und einige schüttelten die Fäuste. Sie erstickte die Unruhe sofort. »Hört mir zu«, sagte sie. »In einem anderen Dorf hat ein Mann einmal die Hand gegen mich erhoben; sehr bald danach fiel das Fleisch von seinen Knochen. Mein Herr ist freizügig im Segen spenden, aber er ist noch freizügiger im Be strafen; seine Stimme ist der Donner des Him mels und sein Zorn der Blitz, der die stärksten Bäume zersplittert.« Noch immer murmelten die Dorfbewohner unsicher. Die Männer sahen einander fragend an und legten die Hände an ihre Dolchgriffe.
»Ich habe euch noch etwas anderes zu sagen«, rief Mata. Allmählich wurde es wieder still in der Menge. »Euer Korn wird höher und stär ker wachsen als zuvor«, sagte sie. »Euer Vieh wird gedeihen, und ihr werdet wohlhabend werden. Kein Unglück wird sich ereignen, so lange ich in dem Gotteshaus regiere. Und wenn ich gelogen habe, dann werft mich vom Berg hinunter und tötet mich.« Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, bahnte sie sich einen Weg durch die Menge, die ihr ehrfürchtig Platz machte; und keiner der Männer erhob seine Stimme, als sie gegangen war. Ihre Worte waren sehr gewagt gewesen, aber als Cha’Acta ihr das vorhielt, lächelte sie nur. »Der Gott hat durch mich gesprochen«, sagte sie. »Du wirst es ja sehen.« Es folgte ein Sommer, wie ihn das Tal noch nie zuvor erlebt hatte. Das wogende, goldene Getreide stand höher denn je. Weder Wind noch Regen zerstörten die Ernte, so daß die Vorratsgruben bis oben hin gefüllt waren und weitere ausgehoben werden mußten. Die Kühe und Schafe wurden fett, und das Dorf feierte das größte Erntedankfest seiner Geschichte; und danach machten alle Mata stets ehrfürch tig Platz, wenn sie ihr begegneten.
Cha’Acta schien es, als sei sie besessen. Sie hatte wieder angefangen, die magischen Kräu ter zu inhalieren; sie tat es ständig, mit der Be gründung, sie könne auf diese Weise die Visio nen ihres Gottes deutlicher wahrnehmen. Er kam nun öfter zu ihr; und einmal nahm er sie im Beisein des ganzen Dorfes, und sie lag auf dem Boden und krümmte sich und schrie, und Speichel lief aus ihrem Mund. Dann begannen sich die Anzeichen der Ein dringlinge wieder zu häufen. Erneut setzte ein gleichmäßiger Strom von Flüchtlingen ein. Alle waren zerlumpt, viele verwundet. Die Dorfbewohner versorgten sie aus ihren eigenen Vorräten und schauten be sorgt nach Norden. Manchmal glühte der Hori zont nachts tiefrot, so als ob ganze Städte in Brand stünden, dort in der Ferne. Einmal machte sich eine Gruppe unter Magans Füh rung in diese Richtung auf; als sie einige Tage später zurückkehrten, berichteten sie von ver wüsteten Feldern und von schwarzen Ruinen, wo einst friedliche Hütten gestanden hatten. Cha’Acta rief seine Priester und die Dorfältes ten zur Beratung zusammen; die Versamm lung dauerte einen ganzen Tag und eine Nacht. Auch Mata wohnte ihr eine Zeitlang bei; aber der Rauch, der den großen Raum erfüllte,
machte sie wütend, weil er ihr in die Augen stach, und das Stimmengewirr brachte sie durcheinander. Sie kehrte zu ihrem Haus auf dem Berg zurück und lag die ganze Nacht da und betrachtete verträumt die Sterne. Gegen Morgen inhalierte sie wieder den Kräuter rauch, und sie hatte eine so wundervolle Visi on, daß sie in der aufgehenden Sonne schrei end ins Dorf rannte. Die Nachricht, die sie verkündete, trieb die Männer zum Heiligen Berg. Heute, so erklärte sie, hatte der Gott dem Volk sein Haus geöffnet; und die Dorfbe wohner folgten ihr. Als Cha’Acta mit seinen Gefolgsleuten das Versammlungshaus verließ, fand er die Wachtürme verlassen und die Stra ßen leer; die Spitze des Heiligen Berges dage gen war schwarz von Menschen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als wutschnaubend zu folgen. Oben angelangt, vernahm er gerade noch die letzten Worte, die Mata an das Volk richtete. »Und auf diese Weise werden wir gerettet werden; denn niemand wird es wagen, die Hand gegen uns zu erheben, während der Gott selbst uns vom Berg aus bewacht. Es wird ein Kunstwerk ohnegleichen werden. Ihr werdet großen Ruhm erlangen und noch viel reicher werden; denn die Männer von anderen Stäm
men werden von weither kommen, um euer Werk zu sehen.« Cha’Acta hatte mehr als genug gehört. Er bahnte sich einen Weg zu der Mauer, auf der Mata stand. In seinen prächtigen Amtsklei dern machte er einen respektgebietenden Ein druck. Als er die Arme hob, verstummte das Stimmengemurmel um ihn herum; Mata stand lächelnd da, die Hände in die Hüften ge stemmt, und schaute gleichmütig herunter. »Komm’ da runter«, sagte der Oberpriester mit scharfer Stimme. »Und hört mich an, Leu te. Ihr habt eine schlimme Tat begangen.« Die Dorfbewohner murrten ärgerlich; aber er zeigte nach Norden. »Es ist jetzt keine Zeit für Spielereien«, sagte er. »Dort, im Norden, keine fünf Tage von hier, befinden sich viele Krieger; mehr Krieger, als ihr oder ich oder sonst ir gendwer jemals gesehen haben. Niemand weiß, woher sie kommen; aber sie bringen Tod und Feuer mit sich, und das wißt ihr bereits, ebenso wie ich. Einen Tag und eine Nacht hin durch haben wir nun im Versammlungshaus gesessen und beraten, immer in dem Gedan ken an die Sicherheit des Volkes. Eine Zeitlang waren wir ratlos; dann jedoch erschien uns ein Gott, grün und sehr groß…«
»Das ist seltsam«, unterbrach ihn ein alter Mann. »Denn der Gott war bei seiner Braut, bei Mata hier. Sie selbst hat es uns gesagt.« Noch nie hatte ein gewöhnlicher Dorfbewoh ner Cha’Acta widersprochen; er wurde rot vor Zorn und verspürte den Wunsch, den Alten niederzuschlagen. Aber er schluckte und zwang sich zur Ruhe. »Ich bin der Oberpries ter des Gottes«, sagte er mit eisiger Stimme. »Du vergißt deinen Rang; danke dem Gott, daß er so gnädig ist und dir deine Zunge läßt.« Er neut gebot er mit den Armen Ruhe. »Ich bin euer Priester«, sagte er. »Habe ich euch nicht gut beraten und euch Wohlstand gebracht?« Ein Raunen ging durch die Menge. Stimmen wurden laut. »Mata… Mata hat uns geführt…« Cha’Acta fühlte, wie ihm der Schweiß aus brach. »Hört mich an«, rief er. »Hört mich an, wenn euch euer Leben lieb ist. Die Flüchtlinge aus dem Norden haben uns gesagt, daß ein Schutzwall keine Verteidigung ist gegen diese Krieger. Was wir zu tun haben, ist folgendes. Rund um das Dorf müssen wir einen Graben ausheben. Am Ufer werden wir Kreidefelsen auftürmen, die glatt und schwer zu erklettern sind; und in den Graben werden wir dicht ne beneinandergesetzte spitze Holzpfähle setzen.
Und den Schutzwall müssen wir mit unseren besten Bogenschützen besetzen. Dies hat der Gott mir kundgetan. Wir müssen sofort anfan gen.« »Und dies hat der Gott mir kundgetan«, rief Mata. Sie bückte sich und hielt für alle sichtbar eine gegerbte Ziegenhaut in die Höhe, auf die mit breiten Kohlestrichen die Gestalt eines Mannes gezeichnet war; er schwang drohend einen Knüppel über dem Kopf; seine Augen glühten; sein Penis stand hoch aufgerichtet. »Seht das Abbild des Gottes«, sagte Mata. »So ist er mir vor weniger als zwei Stunden er schienen, als ich hier im Gras saß. Während du, Cha’Acta, und deine Greise im Versamm lungshaus die dummen Köpfe geschüttelt und Unsinn geredet habt.« Cha’Acta wurde leichenblaß. »Mata, Götter braut«, sagte er. »Du lügst…« Matas Augen blitzten vor Haß. »Und du lügst, Oberpriester«, rief sie. »Vor dem Volk, und vor dem Gott.« Sie zerrte an ihrem Gewand. »Im Schilf hat mich der Getreidegott gekenn zeichnet, bevor er mich zur Frau nahm«, sagte sie. »Das ist ein großes Wunder; größer als das Cha’Actas…«
Die Menge brüllte; und der Oberpriester rief mit heiserer Stimme: »Mata, wenn du mich liebst…« »Wenn ich dich liebe?« schrie sie. »Auf diesen Augenblick habe ich gewartet, Cha’Acta, viele Monde lang, und ich habe unter dir gelegen und dein Gewicht auf mir ertragen…« Ankla gend streckte sie einen Arm aus. »Cha’Acta nahm mich gegen meinen Willen; er zwang mich in dem Heiligen Haus, dort, wo ich dem Gott versprochen war. Und Cha’Acta hat auch die Braut Choele genommen und sie hinterher getötet, um ihre Lippen für immer zu versie geln…« Cha’Acta wartete nicht länger. Blitzschnell rannte er auf die Mauer zu. In seiner Hand blitzte ein kurzes gebogenes Messer auf. Mata rührte sich nicht; mit verächtlichem Blick stand sie da; zehn Schritte war er von ihr ent fernt, fünf, drei; und etwas flackerte in dem grellen Licht. Nur wenige sahen den Flug des Speeres, aber alle hörten den Aufschlag, als er den Oberpriester zwischen den Schulterblät tern traf. Cha’Acta stand einen Moment lang ganz still, die Augen weit geöffnet, das aschgraue Gesicht dem Mädchen zugewandt. Unsicher hob er das Messer; dann gaben seine Beine unter ihm
nach, und sein Körper rollte schnell und im mer schneller den Berghang hinab, bis er auf klatschend in dem Bach landete und davonge schwemmt wurde. Einen Moment lang starrte das Volk ihm ge schockt nach und wich langsam vor Magan zu rück, der mit aufgerissenen Augen seine Fin ger betrachtete, die den Wurf getan harten. Dann erhob Mata ihre Arme. »Errichtet dem Gott…« Der Schrei verbreitete sich; sie wurde gepackt und von der jubelnden Menge den Berg hinab getragen. Noch am gleichen Tag begannen die Dorfbe wohner, auf dem Berghang aus Seilen ein Git ternetz von fast 100 Schritten Länge und 150 Schritten Breite zu spannen. Als die Dunkel heit hereinbrach, wurden ringsherum Feuer angezündet. Die Arbeit dauerte bis weit in die Nacht hinein an. Schon im Morgengrauen des darauffolgenden Tages begann Mata, die die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, mit ihrer Aufgabe. Sie trug die Zeichnung bei sich, in die sie ebenfalls ein Gitternetz eingetragen hatte. Nach dieser Vorlage steckte sie Linien aus wei ßen Pflöcken in die Erde; gegen Mittag war be reits die Hälfte des Riesen erkennbar, und die Männer waren dabei, den Kopf auszustechen.
Im Dorf gingen die Feuer aus, hungrige Babies schrien, während die Frauen damit beschäftigt waren, die Arbeiter mit Essen und Getränken zu versorgen. Am Abend kontrollierte Mata das Ausstechen der Schultern. Die Gräben wa ren zu eng, erklärte sie und befahl, sie auf Ar meslänge zu erweitern und um einen halben Meter zu vertiefen. Sofort machte sich eine neue Schicht von Arbeitern an die Aufgabe, und am zweiten Morgen waren Kopf und Schultern fertiggestellt. Um diese Zeit tauchte eine Gruppe von Frem den auf. Sie standen weit entfernt unterhalb des Heiligen Berges und starrten hinauf. Ma gan betrachtete sie mit Sorge; sie waren zu weit weg, als daß er Einzelheiten erkennen konnte, aber sie waren nicht wie Kreidefelsen bewohner gekleidet. Auf ihren Köpfen konnte er Stahl blitzen sehen. Jeder von ihnen war be ritten; er konnte die Pferde etwas weiter unten grasen sehen. Er schickte einen Spähtrupp aus; aber lange, bevor die Männer in Rufweite kamen, bestiegen die Fremden ihre Pferde und ritten davon. Mit vor Müdigkeit dunkel umrandeten Augen dirigierte Mata noch immer die Arbeiten bis in jede Einzelheit; und ständig wuchs der leuch tend-weiße Riese. Gegen Mittag tauchten er
neut Flüchtlinge im Dorf auf. Verwundert be trachteten sie das emsige Treiben auf dem Berghang. »Was macht ihr da, ihr Irren, die ihr auf der Kreide wohnt?« rief einer von ih nen hinüber. »Meint ihr etwa, die Pferdekrie ger werden sich vor eurem kleinen Bildchen fürchten?« Magan antwortete hochmütig: »Mach, daß du zum Meer kommst, Alter, und störe uns nicht mit deinem Geschwätz. Dies ist ein Werk Got tes und es hat Zauberkraft.« Aber gleichzeitig warf der Häuptling wiederholt besorgte und forschende Blicke auf die leeren Bergrücken im Norden. Am dritten Abend ebbte der Flüchtlingsstrom erneut ab; aber überall in der Umgebung brannten Feuer, und der Wind trug das dump fe Dröhnen von Trommeln heran; und zum erstenmal unterbrachen die Dorfbewohner ihre Arbeit und blickten einander fragend an. Magan suchte seine Tochter auf, aber sie wies ihn unwirsch zurück. »Sei still, Vater«, sagte sie. »Du hast den Oberpriester getötet; halte dich zurück, oder der Gott wird dich töten.« Am vierten Morgen war der riesige Penis des Riesen fertiggestellt, und die Männer arbeite ten an seinen Unterschenkeln und den Füßen. Die Trommeln hatten die ganze Nacht hin
durch geschlagen; nun waren sie plötzlich still. Ein Späher, den Magan in der Heide postiert hatte, schwor, bewaffnete Männer marschie ren gesehen zu haben; die restlichen Späher kehrten nicht zurück. Magan erkannte nun, wohin sie der Glaube geführt hatte, aber es blieb ihm keine Zeit mehr für weitere Überlegungen. Am Horizont erschien plötzlich eine Truppe von galoppie renden Reitern, die sich mit flatternden Ban nern und Fahnen und unter lautem Kriegsge schrei rasend schnell näherte. Magan rannte den Berghang hinunter, das Schwert über seinem Kopf schwingend. Über all ließen die Männer ihre Hacken fallen und griffen zu ihren Waffen. Sie formierten sich zu einer Front, die den Angriff der Reiter, wenn auch unter beträchtlichen Verlusten, abweh ren konnte. Aber die Krieger griffen erneut an, und es begann ein verzweifelter Rückzug, den Abhang hinauf auf das Dorf zu. Währenddes sen flohen die Frauen und die Alten den Heili gen Berg hinunter. Mata, die fieberhaft in ihre Arbeit vertieft gewesen war, fand sich plötzlich allein auf dem Hang. Der Riese war fast fertig, es fehlte nur noch ein Teil des Fußes; aber ihre schrille Stimme verhallte ungehört.
Magan, der zäh und verbissen kämpfte, ver nahm auf einmal ein neues unheilvolles Ge räusch. Er drehte sich um und stöhnte entsetzt auf. Über den Palisaden stand schwarzer Rauch; der Angriff war also von zwei Seiten ge kommen; eine zweite Truppe von Reitern hatte unbemerkt das fast verlassene Dorf erreicht und die Hütten in Brand gesteckt. Alle Hoffnung war dahin; nun blieb nur noch eins. Der Häuptling hob seine Stimme zu ei nem gellenden Schrei: »Der Riese… kämpft euch zum Riesen durch und haltet die Stel lung…« Die Reihen der Dorfbewohner taumelten und wichen vor den immer und immer wieder an greifenden, unermüdlichen Kriegern zurück. Überall lagen Tote und Verletzte. Magan öffne te seinen Mund zu einem neuen Schrei, als eine Lanze seine Kehle durchbohrte. Hinter den kämpfenden Männern arbeitete Mata noch immer wie besessen. Schweiß rann ihr in die Augen; das Haar hing ihr ins Gesicht. Und plötzlich trafen sich zwei Gräben – der Gott war fertig. Sie rannte den Berg hinauf; der Boden unter ihr schwankte; in ihrer Ekstase nahm sie nichts anderes wahr. Als sie am Kopf des Rie sen angelangt war, schrie sie triumphierend
auf und blickte auf das großartige Werk, das Cha’Acta nun nicht mehr sehen konnte; und unter ihr fielen die letzten Männer des Dorfes unter den Waffen der Angreifer. Etwas surrte an ihrem Kopf vorbei. Sie be gann zu laufen. Dann sah sie ein dunkel glän zendes Geschoß auf sich zukommen. Eine Se kunde lang fragte sie sich, wie der Himmel eine Faust machen und sie so schmerzhaft auf den Mund schlagen konnte; dann gaben ihre Beine nach, und sie rollte den Abhang hinun ter. An der Ferse des Riesen blieb sie schließ lich liegen. Aus Schmerz und Dunkelheit schwebte er auf sie zu, leuchtender und schöner als je zuvor. Er beugte sich über sie, und seine großen gol denen Augen glänzten mitleidig. Ein Zucken durchlief ihren verstümmelten Körper. Sie glaubte, ihre Arme zu heben; und sein Eindrin gen war zuerst der größte Schmerz, den sie je empfunden hatte, und danach der größte Frie den. Und der Korngott hob sie auf und schweb te mit ihr in das Land des Glücks. Die Eindringlinge waren sehr zufrieden. Die Vorratslager des Dorfes waren vom Feuer ver schont geblieben und konnten für ein ganzes Jahr Getreide liefern; das Tal war geschützt
und öffnete sich gen Süden; und im ganzen Land gab es keinen einzigen Feind mehr. Potts hat einen sehr unangenehmen Traum ge habt. Da war dieses Rad. Ein riesiges goldenes Rad, daß über die Berge rollte und blitzende Strahlen aussandte. Es sah großartig aus, wie es sich so dahinbewegte, leuchtend abgehoben von dem blauen Himmel. Dann plötzlich dreh te es sich und kam auf ihn zu, mit all seinem Gewicht und seiner Größe; und als die goldene Flamme endlich verschwunden war, lag sie da, blutig und zerbrochen wie eine Puppe; er konnte es nicht fassen, als er sie sah. Es ist dunkel, als er erwacht. Er hört das Meer rauschen. Irgendwo scheint ein Vogel klagend zu singen. Aber das kann nicht sein; das Ge räusch muß in seinem Kopf sein. Er will sich bewegen, aber er kann nicht. Sei ne Arme sind schwer wie Blei; ein scharfer Schmerz in seiner Brust macht das Atmen be schwerlich. Wenn er hustet, wird der Schmerz noch schlimmer. Wenn er sich doch nur auf setzen könnte, dann würde ihm das Atmen vielleicht leichter fallen. Er versucht, sich mit den Hacken und den Handballen gegen den Boden zu stemmen und sich emporzuschieben.
Es ist schwierig, aber es wird sich lohnen, wenn dafür der Schmerz nachläßt. Da, er hat es geschafft. Und das Atmen ist leichter, viel leichter; es war klug von ihm, sich das auszudenken. Die Mauer, an die er die Schultern und den Hinterkopf gelehnt hat, ist allerdings sehr unbequem. Es wäre gut, ein Kissen dazwischen zu stecken. Eine aufgerollte Decke würde auch genügen. Aber nicht jetzt sofort. Erst muß er wieder richtig zu Atem kommen. Er bekommt plötzlich Schuldgefühle; der Schmerz hat ihn das Rad vergessen lassen und das, was mit ihr geschehen ist. Er fühlt sich schlecht wegen der Sache, aber auch verwirrt. Diesmal ist er sicher, daß es nicht seine Schuld war. Es hatte nichts mit ihm zu tun; es ist ein fach passiert, aus heiterem Himmel. Niemand hätte was dagegen tun können. Gleich wird er sich das Kissen heranziehen. Im Moment hat er gerade einen Schweißaus bruch. Komisch, als er wach wurde, hat er noch gezittert. Er öffnet den Mund und atmet tief ein; aber die Luft fühlt sich heiß an. Und es dröhnt in seinen Ohren. Wie Donner.
FÜNF DER HERRLICHE Seit Wochen dauerte die Hitze schon an. Tag für Tag brannte die Sonne unerbittlich auf die abgerundeten Kreidefelsen nieder; die Blätter hingen schlaff und vertrocknet an den Bäu men, das junge Korn verdorrte. Die Nächte wa ren nur unbedeutend kühler. Die Menschen in den von Schutzwällen umgebenen Städten und Dörfern bewegten sich nur schwerfällig, und die Launen der Pferdekrieger waren noch un berechenbarer als sonst. Gegen Ende eines solchen Tages bewegte sich eine Kolonne von Wagen und Reitern durch die hügelige Landschaft. An ihrer Spitze ritt eine Gruppe von braunhäutigen, dunkelhaari gen Kriegern. Sie trugen Pfeil und Bogen bei sich und hatten glänzend polierte Stahlhelme auf dem Kopf. Eine weitere Anzahl von Krie gern trieb am Ende des Zuges einen Haufen klagender Frauen vor sich her. Im Laufe des Tages hatten sich die Wolken immer mehr ver dichtet und auf diese Weise die Hitze noch un erträglicher gemacht. Donner grollte in der Ferne; von Zeit zu Zeit blickten die Männer un
ruhig nach oben oder zurück, wo sich gegen den Horizont der Schutzwall und die zerstör ten Wachtürme eines Dorfes abhoben. Immer noch züngelten die Flammen, und eine pur purfarbene Rauchwolke trieb langsam gen Sü den. Hinter dem letzten Wagen stolperte ein halb es Dutzend Männer einher. Sie waren prak tisch unbekleidet und mit Staub und Blut besu delt. Ihre Handgelenke waren zusammengebunden; Stricke um den Hals fes selten sie an den Wagen. Zwei von ihnen hat ten den Kampf aufgegeben; ihre Körper schleiften leblos über den holprigen Pfad. Rufe von vorn brachte die Kolonne zum Still stand. Der fahle aufgewirbelte Staub ließ sich auf Männern und Pferden nieder; die Gefange nen sanken stöhnend auf die Knie. Eine Grup pe von Männern galoppierte die Wagenreihe entlang, hielt an. Alle waren prachtvoll geklei det in Hosen und Gewänder aus bedruckter Seide; und jeder trug eine Maske aus gefloch tenem Gras. Der Anführer hatte einen vergol deten Herrscherstab in der Hand; auf seiner Brust war der große Stab des Getreidegottes eingestickt. Er nickte dem Reiter an seiner Seite zu. »Das hast du gut gemacht«, sagte er. »Der Inhalt des
ersten Wagens, das Korn und die Stoffe, ist das Bußgeld für meinen Gott, ebenso wie jedes zehnte Zugtier und die Schafe und Ziegen, die ihr von den Hügeln treiben könnt. Den Rest gibt dir der Gott zurück, und du kannst damit tun, was dir beliebt. Dies hat mir die Aufer standene aufgetragen; bist du einverstanden?« Der andere zeigte seine Zähne. »Cha’Ensil«, sagte er, »es soll so sein, wie deine Herrin es wünscht. Auch die Pferdekrieger können groß zügig sein.« Plötzlich begannen die Augen hinter der Mas ke jedoch zu blitzen. »Was haben wir denn hier?« fragte er. Der Reiter zuckte die Schultern. »Gefangene, für das Opfer«, sagte er. Er blickte zum Him mel hinauf. »Unser Gott ist mißgelaunt, wenn die Nächte schwül sind. Hast du nicht seine Hufe in den Wolken gehört?« »Ich habe den Getreidegott im Schlaf lachen hören«, sagte der Priester überheblich. Er streckte seinen Stab aus. »Zeige mir den da«, verlangte er. »Ich will sein Gesicht sehen.« Der Krieger murrte und machte ein Handzei chen. Einer der Männer stieg vom Pferd, ging auf den Gefangenen zu und riß seinen Kopf an den Haaren hoch.
Der Priester hielt den Atem an. »Näher«, sag te er. »Bring ihn hierher.« Das Opfer wurde zu ihm hingeschleift. Cha’Ensil sah hohe Wangenknochen, eine Stupsnase und graugrüne Augen mit langen schwarzen Wimpern. Getrocknetes Blut klebte am Mund und am Hals; durch die geöffneten Lippen schimmerten gleichmäßige weiße Zäh ne. Der Priester wandte sich um. »Er ist fast noch ein Kind«, sagte er. »Er wird euren Gott nicht besonders erfreuen.« Er machte eine Pause. »Der Getreidegott verlangt ihn«, sagte er dann. »Ladet ihn auf den Wagen.« Der Reiter blickte ihn wütend an, die Hand am Schwert. Cha’Ensil jedoch hielt ihm den blitzenden Stab vor die Augen. »Es ist der Wil le des Gottes«, sagte er. »Ein geringer Preis – für einen großen Segen.« Der andere zögerte, zupfte an seinem Bart. Es hätte ihm nichts ausgemacht, den Priester zu rückzuweisen; aber hinter ihm stand jemand, dessen Zorn man nicht so ohne weiteres auf sich zog. Wieder ertönte ein grollender Don ner; er zuckte die Schultern und wendete sein Pferd. »Nimm ihn«, sagte er zynisch, »wenn dein Gott solches Gefallen findet an Grün schnäbeln.«
Der Priester schaute ihm erbost nach; dann wandte er sich um, und auf ein Zeichen mit seinem Stab wurde der Strick durchtrennt. Der befreite Gefangene wurde in den vorders ten Wagen verladen, und Cha’Ensil gab den Befehl zum Aufbruch. Peitschen knallten, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Es war fast dunkel, als die Gruppe einen Paß erreichte, der zwischen hohen Kreidefelsen hindurchführte. Auf einem der Berge konnte man die Überreste eines Dorfes erkennen; am Hang prangte eine riesige Kreidefigur. Auf der Spitze eines steilen, grasbewachsenen Hügels war ein langgestrecktes Dach zu sehen; darum herum gruppierten sich kleinere Gebäude. Das Ganze war von einem Schutzwall umgeben; vor dem Tor befand sich ein tiefer Graben. Als die Gruppe herangaloppierte, wurden gerade die Fackeln angezündet und die Wachablösung vollzogen. Mit flatterndem Gewand schritt Cha’Ensil durch die Straßen bergan. In dem kleinen, fensterlosen Raum war es heiß und stickig. Das Licht der Fackel glänzte auf den weißen Wänden und dem grauen Schilf und tanzte auf dem Gesicht des Oberpriesters, der mit ausdrucksloser Miene nach unten
schaute. Schließlich nickte er. »Gut«, sagte er. »Macht ihn zurecht. Befreit ihn vom Schmutz.« Röcke raschelten, Füße huschten über den nackten Erdboden. Der Körper des schlafen den Jungen wurde gewaschen; die Finger- und Fußnägel wurden mit gespitzten Holzstäben gesäubert, das Haar unter seinen Armen weg rasiert. Sein Kopfhaar wurde gewaschen, ge kämmt und noch einmal ausgespült. Es don nerte direkt über dem Dach; Cha’Ensil umklammerte den Stab, so daß die Fingerknö chel weiß hervortraten. »Macht sein Gesicht zurecht«, befahl er. »Setzt all eure Kunst ein.« Feingeschliffene Kristallgläser wurden geöff net; die Frauen schminkten die Augenlider mit einem dunklen Grün, zupften die Brauen, schwärzten die samtenen Wimpern. Der Schla fende seufzte und lächelte. »Nun die Körperteile, die ihn zum Gott ma chen«, ordnete Cha’Ensil an. Die Brustwarzen des Jungen wurden leuch tend gefärbt; und der Priester selbst preßte und massierte die Leiste, bis der Penis steif wurde und sich hob. Bauch und Schenkel wur den mit einem feinen roten Pulver bedeckt; dann trat Cha’Ensil zurück. »Legt ihm die große Kette und die Armreifen an«, sagte er.
Der Junge wurde aufgesetzt, und man legte ihm ein Gewand aus feiner Wolle um die Schultern. Cha’Ensil faßte ihn am Kinn und drehte sein Gesicht, bis die von Drogen ver schleierten Augen in die seinen blickten. »Du warst tot«, murmelte er, »und du wurdest auf geweckt. Dein Blut wurde gestillt, der Dreck an deinem Körper fortgewaschen. Nun bist du ein Gott. Der Segen des Getreidegottes sei mit dir.« Er wandte sich abrupt ab. »Bringt ihn zum Langen Haus«, sagte er. »Dann kommt zurück. Wir müssen beten.« Das Donnern wurde immer stärker. Blitze er leuchteten Berge, Gras und Bäume in einem grauen Licht. Dann brach der Sturm los. Und mit ihm kam Regen. Aber er fiel nicht wie ge wöhnlicher Regen in Tropfen, sondern in Blö cken, so daß die Menschen von dem Lärm auf ihren Dächern geweckt wurden. Es sah aus, als würden silberne Lanzen in die Erde getrieben; Blätter und Äste wurden von den Bäumen ge schlagen. Der Bach am Fuß des Heiligen Ber ges schwoll an. Gegen Morgen ebbte der Sturm ab. Ein kalter, scharfer Wind fegte über die Berge und brachte den süßen Duft von Blät tern und nasser Erde mit. Im ersten Licht des Tages bewegten sich zwei Gestalten über den Berg. Beide trugen Mäntel und Masken. Ein
mal blieben sie stehen und blickten zu der Dor fruine und dem Kreidegiganten hinüber, der im Gras glänzte; der größere der beiden neigte den Kopf. »Herrin«, sagte er mit einer tiefen, klangvollen Stimme, »wann habe ich dich ver letzt oder dich betrogen? Wann sind meine Worte nicht wahr geworden?« Die Stimme der Frau war härter und schärfer. »Cha’Ensil«, antwortete sie, »wir sind beide erwachsen; behalte deine Geschichten für dei ne kleinen, jungen Priesterinnen; ihre Lippen sind süßer, wenn sie Angst haben. Oder erzäh le sie den Pferdemännern, die genauso kleine Kinder sind. Vielleicht gab es tatsächlich ein mal einen Gott hier, vor langer Zeit; aber er hat uns verlassen, und er wird nicht wieder kehren. Es ist nicht gut, sich darüber lustig zu machen, besonders nicht in meiner Gegen wart.« Sie waren an der Tür des Langen Hauses an gelangt. Zu beiden Seiten standen mannshohe Schilfbündel; die Zeichen des Gottes. »Herrin«, sagte der Priester mit einem ernsten Lächeln, »du bist weise, in vielen Dingen wei ser als alle Männer. Trotzdem laß mich dies sa gen: Der Gott hat viele Gestalten, und er lebt in gewisser Weise in jedem von uns. Bei den meisten Menschen ist er verborgen; aber nun
habe ich ihn gefunden, festgebunden an den Wagen eines Pferdemannes. Ich erkannte ihn an dem Blut, das er vergoß, noch bevor ich sein Gesicht sah; denn alle Götter bluten, als Buße für ihr Volk. Ich erhob ihn mit diesen meinen Händen und brachte ihn dorthin, wo er jetzt wartet. Du wirst es selbst sehen.« Sie blickte ihn an und sagte kühl: »Einst kam ein Kind hierher, und es sehnte sich nach ei nem solchen Gott. Eins laß dir gesagt sein, Cha’Ensil: ich habe dich emporgehoben, und was erhoben ist, das kann auch wieder hinab gestoßen werden. Wenn du mich jetzt zum Narren gehalten hast, dann hast du es einmal zu oft getan.« Er breitete die Arme aus. »Herrin«, sagte er demütig, »meine Hände und mein Herz gehö ren dir. Wenn ich für dich sterben muß, werde ich es willig tun.« Er bückte sich und trat vor ihr in die Dunkelheit der Hütte. Wie jedesmal hielt sie beim Anblick des erin nerungsreichen Ortes inne. Sie sah den gefeg ten und festgestampften Boden, die Dachbal ken im Halbdunkel; sie roch das Schilf. An den geflochtenen Wänden am Ende des Raumes blieb sie erneut zögernd stehen; seine Hand berührte leise ihren Arm. »Schau den Gott an«, sagte er sanft.
Der Junge lag auf dem Lager aus Farnkraut und atmete ruhig und gleichmäßig. Ein wolle ner Schal bedeckte ihn teilweise; der Priester zog ihn weg und hörte, wie ihr Atem stockte. »Wenn ich mich geirrt habe«, sagte er, »dann liegt es an der Schwäche meiner alternden Au gen.« Sie faßte ihn am Handgelenk, ohne ihn anzu sehen. »Priester«, sagte sie heiser, »du besitzt große Weisheit. Weisheit und Liebe.« Sie öff nete ihren Mantel und legte ihn zur Seite. »Ich werde bei ihm warten, bis er erwacht. Nie mand soll uns stören.« Sie setzte sich vorsich tig auf den Rand des Bettes und faltete die Hände im Schoß; Cha’Ensil verbeugte sich und verschwand. Hinter den Bäumen erhob sich der Berghang im gleißenden Sonnenlicht. Der Junge lag im Gras, das sich leise im Wind bewegte. Er konn te das Tal, den Bach und das Schilf sehen. Jen seits des Baches ragten die Kreidefelsen hoch und massiv auf. Am Horizont konnte er gerade noch den Schutzwall seines Dorfes erkennen. Er hatte sein Wams losgeschnürt und räkelte sich wohlig im kühlen Gras. Er zupfte einen Halm aus und kaute verträumt, mit geschlos
senen Augen. Etwas weiter unten grasten eini ge fette Schafe. Die Augen des Jungen öffneten sich plötzlich und verengten sich. Sie kletterte langsam den Berghang hinauf, griff nach Grasbüscheln, um sich an ihnen festzuhalten. Einmal richtete sie sich auf und schien direkt in seine Richtung zu schauen; und er runzelte die Stirn und blickte hinter sich, so als erwöge er einen weiteren Rückzug. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und suchte mit den Augen den Hang ab; dann wandte sie sich ab und setzte ihren Weg zum Bergkamm fort. Oben angekommen drehte sie sich nochmals um; ein großes, braunhäutiges Mädchen mit langem, dunklem Haar. Dann verschwand sie zwischen den Büschen. Er stöhnte auf; ein seltsames, heiseres Stöh nen, halb Ächzen und halb Wimmern. Gedan kenverloren kaute er an seiner Lippe; das Blut pochte in seinen Ohren. Schuldbewußt blickte er auf die Schafe und dann zum Bergkamm; dann erhob er sich abrupt und rannte den Hang hinauf. Kurz bevor er oben war, bückte er sich und kroch auf Händen und Knien wei ter. Schließlich erspähte er sie, etwa hundert Schritte entfernt. Er duckte sich, wartete kurz und hastete vorwärts.
Er kannte den Platz, zu dem sie immer ging – eine grasbewachsene Kuhle, umgeben von Bü schen und überschattet von einer massiven, al ten Buche. Er erreichte den Ort keuchend und kroch zu einer Stelle, von der er sie beobach ten konnte. Sie lag unter dem Baum auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die Beine langgestreckt. Ihre Füße waren nackt und schmutzig; der Rock war hochgezogen und enthüllte ihre lange braunen Schenkel. Er schob sich etwas weiter vor und stöhnte wie der. Lange lag sie bewegungslos da; dann be gann sie. Sie setzte sich auf, strich sich mit den Händen über ihre Brüste unter dem Gewand. Dann zog sie das Kleid aus und schüttelte ihre langen Haare. Er sah ihren Bauch und das dunkle Dreieck, das bewies, daß sie bereits eine Frau war. Seine Augen brannten. Er sah den Schrein, unerreichbar. Er sah, wie ihre Finger dorthin wanderten; er sah, wie sich ihr Körper wand und bog. Dann rasten Sonne und Blätter auf ihn zu, der Berghang flimmerte; und er lag keuchend da, mit nassen Händen, und hörte das Echo eines langen, durchdringenden Schreis. Danach kam er wieder zu sich und rannte schreckerfüllt fort, zurück zu den Bäu
men und den grasenden Schafen. Später schluchzte er, um der leeren Tage und Nächte willen. Seine Wangen glühten; er bat sie um Verzeihung, sie, die ihn nicht hören konnte; Dareen, deren Vater reich war und fünfzig Zie gen und doppelt so viele Schafe besaß; Dareen, deren Augen er nie mehr würde begegnen kön nen, wenn er sie auf der Dorfstraße traf. Der Traum beunruhigte ihn. Er wollte, daß er aufhörte. Endlich schien sein Wunsch in Erfül lung zu gehen. Trockener Rauch stach ihm in die Lunge; Stimmen summten; Hände preßten ihn hinab. Es schien ihm, als sei er zu einer der Höllen hinabgestiegen, in denen das Licht grell und gespenstisch ist. Er kämpfte gegen die Hände an; eine Schale wurde ihm vors Gesicht gehalten. Darin glühten Kohlen, deren Qualm seine Kehle verbrannte. Er wand sich verzwei felt und versuchte, den Kopf wegzudrehen; vergebens. Die Kohlen kamen auf ihn zu und schienen dann zurückzuweichen. Plötzlich drückte der harte Boden nicht mehr gegen sei ne Knie. Er fühlte sich wie ein Vogel, der schwerelos und ohne Anstrengung einem wun derbaren Licht entgegenflog. Dann erkannte er, daß er kein Vogel, sondern ein Gott war. Und Dareen kam zu ihm, nach all den Jahren;
er versank tief in sie hinein, voller Glücksge fühl. Als erstes registrierte er kühle Luft auf seiner Haut. Murmelnd drehte er sich um. Die herrli che Traumphase war vorbei; bald würde er aufstehen, sich ankleiden und mit der Hausar beit beginnen müssen. Die Töpfe mußten ge scheuert, das Feuer angefacht werden; er hatte Holz zu hacken und die beiden mageren Kühe zu melken. Er wunderte sich, daß er nicht sei nen Vater aus der anderen Ecke der Hütte schnarchen hörte. In der Nähe krähte ein Hahn; er öffnete seine Augen. Zunächst begriff er seine Umgebung nicht; dann plötzlich kam die Erinnerung zurück. Am ganzen Körper zitternd verkroch er sich in die äußerste Ecke des Bettes. Die Bewegung weck te die Frau an seiner Seite. Ihr Körper war braun; so braun wie der Kör per Dareens; außer goldenen Reifen an Handund Fußgelenken trug sie nichts als eine leuch tendblaue Maske, durch die schreckerfüllt ihre dunklen Augen blitzten; aber ihre Stimme war klangvoll und weich. »Hab’ keine Angst«, sagte sie. »Hab’ keine Angst, Herr. Niemand wird dir hier etwas zuleide tun.« Sie streckte einen Arm
nach ihm aus; er wich noch weiter zurück. Sie lächelte und wiederholte: »Herr… du scheinst stolz und schüchtern zu sein, wie es sich ge hört. Aber der Gott ist bereits einmal zu dir ge kommen, auf eine wunderbare Weise.« Sie be gann, mit kreisenden Fingern seine Schenkel zu streicheln; und nach einer Weile ver schwand das Zittern. »Leg dich hin«, sagte sie, »und laß mich dich festhalten; denn du bist sehr schön.« Die Wirkung des magischen Rauches schien ihn noch nicht völlig verlassen zu haben; denn trotz seiner Furcht spürte er, wie seine Augen lider herunterfielen. Sie zog seinen Kopf an ihre Brust und summte leise. Die Sonne stand hoch am Himmel, als er das nächste Mal seine Augen öffnete. Der Raum war leer. Er erhob sich schwankend, betrach tete verwundert die Goldreifen, die seinen Körper schmückten, und die Kette um den Hals. Er hob das Amulett aus glänzendem Me tall dicht vor die Augen und sah darin das Ge sicht eines Fremden oder eines Mädchens. Dann ging er langsam auf die Eingangstür zu und wich erschreckt zurück, als er erkannte, um was für eine Art von Haus es sich handelte. Neben dem Bett stand ein irdener Krug mit Wasser; gierig löschte er seinen Durst. Dann
schlang er den Schal um sich, kauerte sich auf den Rand des Bettes, stützte den Kopf in die Hände und überlegte, was er tun könnte. Gegen Mittag kam sie wieder und brachte ihm etwas zu essen und zu trinken. Sie half ihm beim Ankleiden, wusch ihn mit duftendem Öl. Ihre Hände waren sanft, und mit der Zeit ver lor er fast seine Angst vor ihr. Das Obst und das Brot verschlang er hungrig; aber das Ge tränk spuckte er entsetzt aus; er hatte den Ge schmack von Bier erwartet, und sie lachte und erklärte ihm, daß dies Mittelmeerwein sei. Ihm wurde schwindelig, denn keiner aus dem Dorf hatte je so etwas getrunken, nicht einmal T’Sagro, der Vater von Dareen mit seinen fünf zig Ziegen. Er setzte den Becher erneut an, und diesmal schmeckte es schon besser; er goß sich nach, und in seinem Kopf begann es zu kreisen wie beim Einatmen des magischen Rauches. Der Wein machte ihn mutiger. »Warum bin ich hier?« fragte er. Dies waren seine ersten Worte. Sie schaute ihn lange an, bevor sie sprach. Dann sagte sie: »Weil du ein Gott bist.« Er run zelte die Stirn und fragte: »Warum bin ich ein Gott?« Und sie erklärte es ihm mit einer Offen heit, die er noch nie erlebt hatte, und ganz be stimmt nicht aus dem Munde einer Frau. Sie
hatte eine Art zu sprechen, die in seinen Kör per einzudringen schien und ihn mit Begierde erfüllte. Nachdem sie ihn verlassen hatte, lag er auf dem Bett und versuchte zu schlafen; aber ihre Worte kehrten immer wieder zu rück, bis er das Laken beiseite schob und sich betrachtete und sich fragte, ob er wirklich so schön war, wie sie gesagt hatte. Dann erinner te er sich plötzlich an seinen Vater und seine Schwester und daran, auf welche Weise sie umgekommen waren, und er weinte. Als es dunkel wurde, setzte er sich vor die Eingangs tür und sah in der Ferne Rauch aufsteigen; vielleicht brannten die Pferdemänner dort ein anderes Dorf nieder, das sich geweigert hatte, die verlangten Abgaben zu leisten, und er fühl te sich einsamer als je zuvor. Dann überfiel ihn eine bleierne Müdigkeit, und er legte sich wie der auf das Bett und schlief. Sie kam im Mond schein; er erwachte, als sie sich kühl an ihn preßte. Er tat es so, wie er es in dem Traum ge tan hatte, drang heftig in sie ein und ließ sie verzückt aufschreien; irgendwann schlief er vor Erschöpfung ein. Später, als sie ihm das Essen brachte, fragte er: »Wie heißt du?« und sie sagte leise: »Die Auferstandene.« Bei diesen Worten kehrte sei
ne Angst zurück, aber die Nacht brachte wie der Frieden. Die Tage vergingen wie im Flug; obwohl er nicht wagte, sich weit von der Hütte zu entfer nen, bemerkte er, daß er ihre Besuche immer ungeduldiger erwartete. Auch seine Angst ver schwand; er schlief ruhiger, und seine Wangen nahmen eine frische Farbe an. Sie brachte ihm eine polierte Platte, in deren Spiegelbild er sich betrachten und bewundern konnte. Bei solchen Gelegenheiten bekam er beim bloßen Gedanken an sie eine Erektion. Oft dachte er über ihr Alter nach; denn manchmal kam sie ihm so alt vor wie die Berge, dann wieder so jung und zerbrechlich wie ein Kind. Er über legte sich, wie einfach es sein müßte, eines Ta ges die Maske herunterzureißen; aber er wagte es nicht. Er sprach nun viel freier, wenn sie kam; eines Tages sagte er ihr sogar, wie sehr er sich wünschte, daß sie bei ihm in der Hütte le ben könnte. Sie lachte froh und klatschte in die Hände; und von da an war sie ständig an sei ner Seite, und ein Priester mit einer grünen Maske oder ein Mädchen brachten ihnen ihre Nahrung. Sie sprachen oft und viel miteinan der; er erzählte ihr von seinem früheren Le ben, wie er die Schafe gehütet hatte, und wie es
war, in einem Dorf zu leben und das Kind ei nes Bauern zu sein. »Ich weiß«, sagte sie. Sie saß in der Eingangs tür; es war Abend, und die Luft war kühl und ruhig. Er legte seinen Kopf in ihren Schoß; sie strei chelte ihn eine Weile, dann zog sie ihre Hand zurück. Er richtete sich auf, in der Absicht, endlich über die Maske zu sprechen; und sie erhob sich und starrte mit verschränkten Ar men in die Ferne. Schließlich sprach sie, mit dem Rücken zu ihm gewandt. »Altrin«, sagte sie, »liebst du mich wirklich?« Er nickte und schaute verwundert zu ihr auf. »Dann«, sagte sie, »will ich dir eine Geschich te erzählen. Es war einmal ein kleines Mäd chen, jünger als deine Schwester. Sie hatte sich in einen Gott verliebt; und eines Nachts kam er zu ihr und versprach ihr viele Dinge, so daß sie in ihrer Verblendung seine Braut werden woll te.« Sie schluckte. »Sie kam in ein bestimmtes Haus. Dort lag sie und wartete, aber es kam kein Gott. Also lief sie fort. Sie wurde reich und mächtig. Als sie zurückkehrte, besaß sie Gold und andere Schätze und wurde von ihren eigenen Soldaten begleitet. Wegen ihres Reich tums liebte sie ihr Volk; und wegen seiner Lie
be gab sie ihm ein Wahrzeichen.« Sie wies mit dem Kopf auf den Hang mit dem Riesen und seinem mächtigen Penis. »Solange das Zeichen dort war, würde ihr Volk sicher sein, ver sprach ihr der Gott; aber dann wandte er sich ab. Die Pferdemänner kamen, und das Volk wurde ausgerottet, das Dorf in Brand gesteckt. Die Dienerin des Gottes wurde ebenfalls getö tet, dort auf dem Berg.« Er starrte sie an; in der Hütte war es sehr still. »Ich war das Kind«, sagte sie. »Ich bin die Auferstandene.« Ihre Stimme klang sehr kalt und weit ent fernt. »Ich lag an dem Berg«, sagte sie. »Und der Gott nahm mich und war sehr gut zu mir. Als er meiner schließlich müde wurde, gab er mir mein Leben zurück. Es war Nacht, und überall lagen Tote umher. Ich war eine von ih nen, und trotzdem kroch ich fort. Ich wußte nicht, wo ich war oder was geschehen war. Ich konnte nichts sehen. Ich legte mich an das Ufer eines Baches und trank sein Wasser. Spä ter ernährte ich mich von Beeren und Blättern. Ich wußte noch immer nicht, was mit mir ge schehen war. Eines Tages faßte ich einen Ent schluß. Ich kroch zum Wasser und schaute hinein. Die Sonne stand hoch am Himmel, und ich konnte mich deutlich sehen.«
Sie schauderte, und ihre Hand griff an ihre Maske. »Ich wußte in dem Augenblick, daß ich wieder sterben mußte«, sagte sie. »Ich hatte ein kleines Messer bei mir; aber ich hatte nicht die Kraft, mich damit zu erstechen. Ich kroch in das Wasser und hoffte, darin zu ertrinken; aber auch das ging nicht. Einen Tag und eine Nacht lag ich da und versuchte zu verhungern; dann stellte ich mir vor, mein Herz würde auf hören zu schlagen, wenn ich es mir nur ein dringlich genug wünschte. Aber der Gott woll te mein Leben nicht. Ich aß Beeren und Obst; und meine Kräfte wuchsen wieder.« Der Junge spielte nachdenklich an der Kette, die sie ihm geschenkt hatte. »Kannst du dir vorstellen, was das für mich bedeutete?« frag te sie bitter. »Ich war einmal schön gewesen; jetzt hatten mir die Götter mein Gesicht ge raubt.« Er zuckte zurück. »Ich überlegte mir, wie ich mich an den Men schen rächen könnte«, fuhr sie fort. »Denn kam eines Tages der Gott zu mir; ich hatte mei nen Körper vergessen, der noch so schön war wie früher. Ich konnte ihn nicht hassen, ob wohl er der mächtigste der Menschen ist. Er sandte mir ein neues Zeichen. Ein Vogel flog vorbei und ließ eine seiner Federn fallen. Ich
nahm sie in die Hand und sah, wie sie glänzte. Da wußte ich, daß ich wieder schön sein wür de.« Sie blickte noch immer zu dem Riesen hin über. »Aus getrocknetem Gras machte ich mir eine Maske«, sagte sie, »und eine Krone aus Blumen für mein Haar. Ich badete in dem Bach und wusch meine Kleider. Ich ging dahin zurück, wo einmal Hütten gestanden hatten; aber sie waren abgebrannt. Also wanderte ich in die Dörfer, die die Pferdemänner nicht zer stört hatten. Auf einer Wiese sah ich eines Ta ges ein kleines Mädchen Ziegen hüten. ,Verlaß deine Herde’, sagte ich, ,und komm mit mir. Ich bin die Auferstandene, und der Gott ist an meiner Seite.’ Er war tatsächlich mit mir, denn sie kam. Wir lagen zusammen, und ihre Finger waren scheu wie Blumen. Am Morgen brachte sie mir etwas zu essen. Ich sah einen jungen Mann Getreide sähen. ,Ich bin die Auferstan dene’, sagte ich. ,Komm mit mir, denn der Gott ist an meiner Seite.’ Wir kamen zu einem Dorf, das die Pferdekrie ger niedergebrannt hatten; aber weil sie ein einfaches Volk sind, hatten sie es nicht gewagt, mein Haus zu zerstören. Sie hatten in der Nähe ihre Zelte aufgeschlagen, denn zu der Zeit bauten sie noch keine Städte. Ich ging zu
ihnen. Donner folgte mir und Feuerdrachen am Himmel. ,Legt eure Waffen nieder’, sagte ich. ,Ich bin die Auferstandene, und der Gott ist an meiner Seite.’ Ich nahm ihnen das Gold ab, das sie gestohlen hatten, und die Stoffe, um damit meine Priester einzukleiden. So kam ich heim; in einer Sänfte, so wie früher, mit Trom petern vor mir und meinem eigenen Gefolge um mich herum. Aber es war niemand da, um mich zu begrüßen. Statt dessen waren viele Geister dort; Cha’Acta, den ich getötet hatte, und Magan, den ich getötet hatte, und viele an dere. Sie verfolgten mich. Die Pferdemänner kamen und fragten, wel chen Tribut der Gott verlange. Der Getreidesä her kam zu mir. Ich fragte ihn nach seinem Na men. ,Ensil’, sagte er. ,Von nun an sollst du Cha’Ensil heißen’, sagte ich, ,und du sollst ein mächtiger Priester sein. Je treuer du bist, de sto mächtiger wirst du werden.’ Trotz allem war ich einsam in meinem Haus; der, den ich einst gekannt hatte, war geflohen. Die Saat ging prächtig auf; aber ich weinte oft. Die Pferdemänner brachten mir ihre Abgaben; aber ich war traurig. Dann eines Tages kam Cha’Ensil mit der Nachricht zu mir, daß er den Gott gefunden habe. Ich glaubte ihm nicht. Er brachte mich in sein Haus; und dort lag er,
jung und schön und völlig nackt.« Sie drehte sich abrupt um, fiel vor ihm auf die Knie und preßte mit einem Schluchzen ihr Gesicht an seine Schenkel. »Verlaß mich nicht«, sagte sie. »Bitte, geh nie fort von mir.« Er strich über ihr glänzendes Haar und schau te nachdenklich in die Ferne. Der lange Sommer ging seinem Ende zu; mor gens war es neblig, und nachts kroch ein küh ler Luftzug in das Gotteshaus. Reisigbündel wurden herbeigetragen und ein großes Feuer auf dem Boden der Hütte angezündet. An man chen Tagen ließ sie ihn jetzt kaum zur Ruhe kommen. Oft, wenn er schon erschöpft war, brachte sie es doch noch fertig, ihn zu erregen; wenn alles andere nicht mehr half, gab es im mer noch den magischen Rauch und den Wein. Sie badete ihn und kämmte sein Haar; es war wild und so lang, daß es seine Schultern be rührte. Mit der Zeit wurde das Leben mit ihr jedoch langweilig. Der Winter war hereinge brochen; eisige Winde fegten über die braunen Felder und kamen durch die Ritzen in das Got teshaus. Lange grübelte er, fröstelnd ans Feuer gekauert; dann faßte er einen Entschluß. Die Gewohnheit hatte ihn gelehrt, mit ihr umzuge hen; er brachte das Thema vorsichtig zur Spra che.
»Manchmal«, sagte er, »und das weißt du noch besser als ich, verspüren selbst Götter den Wunsch, in die Ferne zu reisen und etwas von dem Land zu sehen, das ihnen gehört. Ich habe diesen Wunsch; vielleicht ist es der Gott, von dem du sagst, daß er in mir wohnt, der den Wunsch in mir geweckt hat.« Sie schien erfreut zu sein. »Das ist gut«, sagte sie. »Wenn die Leute dich sehen, werden sie glücklich sein, weil sie wissen, daß der Gott bei ihnen ist. Ich werde mit dir reiten; wir müssen mit meinem Priester sprechen.« In den vergangenen Monaten hatte er Cha’En sil selten gesehen; nun wurde er hastig herbei gerufen. Er kam prächtig gekleidet und gefolgt von seinen Dienerinnen, aber dagegen erhob die Auferstandene Einspruch. »Ich werde den Gott zurechtmachen«, sagte sie. »Ich und nie mand sonst; denn seine Schönheit ist einzigar tig.« Seine ehemals rauhen Hände waren jetzt weich und gepflegt. Sie schnitt und polierte seine Fingernägel, färbte die Hand- und Fuß flächen dunkelrot. In sein Haar wurden zarte silberne Blätter eingeflochten, und man brach te ihm Gewänder; einen Mantel aus glänzen der Seide, eine Tunika mit dem Wahrzeichen des Getreidegottes, weiche Lederstiefel. Zum
Schluß gab sie ihm eine weiße Stute, der Tribut eines Pferdemannes. Er bestieg sie mit sehr ge mischten Gefühlen, denn er war an Ochsen ge wohnt, aber das Tier war sanft und gefügig, und seine Unsicherheit wurde von niemandem bemerkt. Schließlich setzte sich die Gruppe in Bewe gung; Cha’Ensil mit seinen Priestern und Sol daten und seinen Musikanten; der Herrliche auf seinem prächtigen Pferd; die Auferstande ne und ihre Lieblingsdienerinnen in Sänften, die von kräftigen Männern getragen wurden und mit vergoldeten Federn geschmückt wa ren. Sie durchquerten die Große Heide bis zu den Dörfern in der Ebene, schwenkten nach Norden und nach Westen, fast bis zum Gebiet des Sumpflandvolkes, das keine Steuern be zahlt und seltsame Dinge tut, um seinen Göt tern zu gefallen. Überall fielen die Pferdemän ner ehrerbietig auf die Knie, denn der Getreidegott war mächtig und sein Ruhm weit verbreitet. Jeder Tag brachte Altrin seine Stär ke mehr zu Bewußtsein, und Mata beobachtete stolz, wie ihr Prinz glücklich wie ein junger Hund herumsprang und auf ihren Ruf herbei kam. Ein Häuptling nach dem anderen erschien mit Geschenken; am reichsten waren die Abgaben
aus den finsteren Städten der Pferdemänner. Die Wagen mit den Schätzen bildeten das Ende des Zuges, gefolgt von einer blökenden Herde von Ziegen. Bei diesem Anblick wurde der Herrliche nachdenklich; schließlich ließ er Cha’Ensil zu sich kommen, um sich einen Überblick über den Bestand geben zu lassen. Cha’Ensil runzelte die Stirn und hielt die ein gekerbten Stäbe mit dem Zeichen des Gottes hoch, aber der Prinz schob sie zur Seite. »Überall sehe ich wohlhabende Dörfer«, sagte er. »Trotzdem sind wir arm und besitzen kaum fünfhundert Ziegen und noch weniger Schafe. Der Getreidegott bringt den Dörfern ihren Reichtum; sie sollen ihm höhere Abgaben zah len.« Cha’Ensil kniff die Lippen zusammen. »Das liegt in der Hand der Auferstandenen, Herr«, sagte er sanft. »Denn sie ist deine Herrin, und sie ist auch die meine.« Aber Altrin lachte nur. »Ihr Wille ist mein Wille«, sagte er, »und so ist meiner auch der ihre. Erhöhe die Steuern; bis zum Herbst will ich tausend Ziegen haben.« Cha’Ensil war blasser geworden, aber er sprach weiterhin mit sanfter Stimme. »Viel leicht überschätzen auch Prinzen ihre Macht zuweilen«, sagte er.
Der Junge spuckte verächtlich ins Feuer. »Ich will dir eine Rätselaufgabe stellen, Priester«, sagte er. »Ich habe etwas an mir, das ist lang und hart, und damit sichere ich mir die Gunst, in der ich stehe. Was, denkst du, könnte dieses Ding sein?« Der andere wandte sich bebend und mit zu sammengepreßtem Mund ab, und es wurde kein weiteres Wort mehr verloren. Bald darauf hatte Altrin eine neue Idee. Zu erst liebte er die Auferstandene mit unge wöhnlicher Leidenschaft; dann lag er mit dem Kopf an ihrer Brust und fühlte darunter die Rundung ihres Bauches, der so anders war als der Bauch eines jungen Mädchens. »Herrin«, sagte er, »du bist mit deinen Geschenken mehr als großzügig gewesen. Trotzdem fehlt mir noch etwas, das ich heiß begehre.« Sie lachte und spielte mit seinem Haar. »Der Gott ist gierig«, sagte sie. »Aber das sind Göt ter nun einmal. Was wünschst du?« »Cha’Ensil ist ein Priester und hat viele Solda ten«, antwortete er. »Sie verteidigen ihn, ma chen für ihn Botengänge und stehen ständig zu seiner Verfügung. Ich aber, in dem doch der Gott lebt, habe keinen einzigen Soldaten. Da bei sollte meine Gefolgschaft ebenso groß sein
wie die seine, besonders wenn ich auf Reisen bin.« Eine Weile blieb sie still; dann schüttelte sie den Kopf. »Ein Gott braucht keine Soldaten«, sagte sie. »Seine Stärke ist in ihm selbst, und niemand wird es wagen, die Hand gegen ihn zu erheben. Soldaten sind bestimmt für Men schen von weniger hohem Rang; außerdem ist Cha’Ensil mein ältester Diener. Ich will nicht, daß ihm Unrecht getan wird.« Er spürte, daß er sich auf gefährlichen Boden begeben hatte, und ließ die Sache ruhen; spä ter jedoch verweigerte er sich ihr und verlang te ein Versprechen, das sie ihm schließlich gab, als ihr Körper nicht warten konnte. Sehr zufrieden schlief er in ihren Armen ein. Die Gruppe kehrte zu dem Haus auf dem Krei defelsen zurück. In jedem Raum des Gebäude komplexes brannten Feuer, um die Kälte des Winters zu bekämpfen. Die Tage wurden kurz; der erste Schnee fiel. In dem Gotteshaus wur de ein zweites Feuer entfacht; und die Aufer standene und ihr Herr nahmen jede Nacht ein köstliches Mahl ein, mit Wildschwein und Wein. Von Zeit zu Zeit veranstalteten die Priester oder ihre Frauen ein kleines Fest, die besonders der Prinz außerordentlich genoß.
Mit dem Beginn des Frühlings ritt Altrin er neut fort. Er nahm ein Dutzend Männer aus seiner neuen Leibwache und ebenso viele Pfer demänner mit. Die Gruppe ritt nach Osten, wo einige Fischereidörfer sich um eine Bucht gruppierten und wo der Schwarze Felsen be ginnt, den weder Götter noch Sterbliche über queren dürfen. Überall erzitterte das Volk vor dem jungen Gott mit seinen kalten, schönen Augen; und auf was er seine Augen legte, das nahm er. Er sandte Korn und Ziegen zurück; und einmal ein junges Mädchen für seine Her rin, damit es in die Riten des Gottes eingeweiht würde. Drei Wochen vergingen, bis er wieder nach Westen umkehrte. Er entließ die Pferde männer und bezahlte sie mit Korn und Gold aus seinem eigenen Bestand; schließlich er reichte er die Hütte auf dem Heiligen Berg. Sie wartete bereits auf ihn, in einem neuen, hauchdünnen Gewand in weißen und grünen Tönen. Ihren Gesichtsausdruck konnte er nicht sehen, aber sie wanderte rastlos und mit verschränkten Armen in dem Raum umher. Er eilte auf sie zu und nahm ihre Hände, aber sie entzog sie ihm. »Was ist mit dir?« fragte er halb im Scherz. »Freust du dich nicht, mich zu sehen?«
Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Wo bist du ge wesen?« fragte sie. »Was hast du dir dabei ge dacht? Eine Woche lang habe ich nach dir ge weint; dann wurde ich wütend und schließlich weinte ich wieder. Und jetzt ist es mir völlig egal, ob du wieder da bist oder nicht.« Er goß sich Wein ein, trank und wischte sich den Mund. »Ich habe dir ein hübsches Kind zum Spielen geschickt«, sagte er. »War dir das nicht genug?« »Ich habe sie zurückgesandt«, sagte sie. »Ich wollte sie nicht. Was nützen mir kleine Mäd chen? Ich wollte dich. Oh…« »Du sagst mir, ich sei ein Gott«, sagte er wü tend. »Ich trage die Kleider eines Gottes und lebe in einem Gotteshaus. Trotzdem muß ich dir wie ein niedriger Knecht für alles, was ich tue, Rede und Antwort stehen.« »Nicht wie ein Knecht, sondern wie ein Schaf hirte«, sagte sie. »Du bist ein Bauer gewesen, und du wirst immer einer bleiben. Oh…« Er hatte sich abrupt abgewandt, und sie klammerte sich verzweifelt an ihn. »Ich wollte dich«, sagte sie. »Ich wollte dich, ich fühlte mich so allein. Ich wollte wieder sterben. Ich habe das nicht gemeint, was ich gesagt habe. Bitte geh nicht weg. Tu, was du willst, aber bit te geh nicht weg…«
Er spürte seine Macht. Wie gewöhnlich erreg te ihn ihre Nähe; aber gleichzeitig hatte er den Wunsch, ihr weh zu tun. Seine Finger umkrall ten den Rand der glitzernden Maske; einen Moment lang sah es so aus, als wollte er sie fortreißen, aber dann entspannte er sich wie der. »Geh in deinen Schlafraum«, sagte er kalt. »Mach dich bereit; wenn die Begrüßung dies mal angemessener ausfällt, werde ich viel leicht bei dir bleiben.« Cha’Ensil, der in dem Moment die Eingangs tür erreicht hatte, hörte die Worte und das Schluchzen, das ihnen antwortete. Er hielt mit ausdruckslosem Gesicht inne, drehte sich dann um und ging fort. Mehrere Tage darauf begann der Bau eines neuen Gotteshauses, ungefähr vierzig Schritte unterhalb des alten. Die Auferstandene hatte entschieden, daß das alte Gotteshaus zu kalt war, um darin einen weiteren Winter zu ver bringen. Außerdem war mehr Platz erforder lich für die vielen neuen Anwärter auf die Priesterschaft. Der Ruhm des Gottes breitete sich immer weiter aus, und alle wollten etwas von seiner Gunst abbekommen. Der Prinz zeig te sich sehr interessiert an den Neuankömm lingen; er schien die hübschesten Jungfrauen und die am wenigsten anziehenden Männer
auszuwählen. Cha’Ensil hielt sich aus dieser Sache ganz heraus. Bald darauf ritt der Herrli che zweimal hintereinander nach Norden. Eine neue Kornkammer und zusätzliche Ställe wurden errichtet; und noch immer rumpelten mit Abgaben beladene Karren heran. Die Pfer demänner waren unerbittlich; wo sie hinrit ten, nahmen sie das Zeichen des Gottes mit. Rauch erhob sich über brennenden Dörfern; und irgendwann war es höchste Zeit, Einhalt zu gebieten. Cha’Ensil entschloß sich, den Prinzen aufzusuchen. Er fand ihn in dem Neu en Haus, in dem er sich die Zeit zu vertreiben pflegte. Er lag auf einem mit gelber Seide bezo genen Diwan, einen Krug mit Wein an seiner Seite. Er begrüßte Cha’Ensil mit gleichgültiger Miene, und mit seiner vor goldenen Ringen strotzenden Hand wies er ihm einen Platz zu. »Faß dich kurz, Priester«, sagte er. »Meine Herrin wartet; und gerade heute ist die Kraft des Gottes besonders stark in mir. Ich werde sie mehrere Male nehmen heute nacht.« Der Priester schluckte, setzte sich jedoch, wie ihm geheißen war. »Mein Prinz«, begann er vorsichtig, »ich, der ich dich in diesen Stand erhoben habe, spreche mir das Recht zu, dir einen Rat zu geben. Wie du weißt, sind wir ab hängig vom guten Willen der Pferdemänner.
Sie fürchten den Gott; aber sie sind wie Kin der, und die Habgier könnte irgendwann die Furcht überwinden. Die Pracht und Großherr lichkeit, in der du dich zur Schau stellst, wird dir und uns allen zum Verhängnis werden.« Der Prinz leerte seinen Becher in einem Zug und goß sich Wein nach. »Es ist meine Pflicht, mich so zur Schau zu stellen«, erwiderte er. »Aber du bist eifersüchtig, und das nicht nur aus den Gründen, die du genannt hast. Hör mir jetzt gut zu. Meine Stärke mag von dem Gott kommen oder auch nicht; ich persönlich glaube, daß sie von ihm kommt, aber das tut nichts zur Sache. Hinter mir steht jemand, dessen Willen man sich besser nicht widerset zen sollte; und solange ich sie zufriedenstelle – und das, glaube ich, tue ich – ist deine Macht beendet. Laß mich nun allein. Wimmere dei nen Dienerinnen etwas vor, wenn du den Wunsch danach hast; mich ermüdet so etwas nur.« Cha’Ensil erhob sich mit vor Wut weißem Ge sicht. »Schafhirte«, sagte er, »ich habe dich meiner Herrin zuliebe vor dem sicheren Tod bewahrt; aber laß dir eines gesagt sein. Ich werde nicht zusehen, wie sie zugrundegeht. Du bist gewarnt…«
Er verstummte, denn Altrin hatte sich eben falls erhoben und stand, vom Wein leicht schwankend, da. Ein reich bestickter Mantel lag um seine Schultern; darunter trug er ledig lich einen winzigen Lendenschurz. »Ich werde dir auch etwas sagen, Kornsäher«, sagte er. »Wenn die Kraft mich verläßt, werde ich fal len. Aber das ist zur Zeit noch ausgesprochen unwahrscheinlich. Willst du die Kraft des Got tes sehen?« Aber der Priester war schon mit bebenden Lippen hinausgestolpert. Das spöttische Ge lächter des Herrlichen folgte ihm, als er davo neilte. Das Pferd galoppierte über die Heide. Sein maskierter Reiter trug den Stab der Macht bei sich. Unablässig trieb Cha’Ensil das Pferd zu noch größerer Geschwindigkeit an. Gegen Mit tag lag das Heidegebiet hinter ihm, und in der Abenddämmerung erreichte er eine Festung der Pferdemänner, die auf einem Kreidefels vorsprung oberhalb eines Waldgebietes lag. Dort stellte er einige Nachfragen an. Sein Rang und das Gold, das er mitgebracht hatte, sicher ten ihm die Unterkunft für die Nacht und alles, was sein Herz sonst noch begehrte; der Ober priester hatte sich noch nie gute Gelegenheiten entgehen lassen. Der nächste Morgen brachte
Antworten auf seine Fragen. Weiteres Gold wechselte den Besitzer, und Cha’Ensil ritt auf einem Pferd, das noch schneller war als das vorige, weiter in Richtung Norden. Als es dun kel wurde, kam er an seinem Ziel an; es war die Hauptstadt des südlichen Königreiches der Pferdemänner, strotzend von Wachtürmen und Kornspeichern, Kasernen und königlichen Gebäuden. Hier wurde die Macht des Getreidegottes we niger gefürchtet. Cha’Ensil mußte mehr als eine Stunde lang vor den Toren warten, bevor er eingelassen wurde. Er fragte sich durch bis zum Haus eines Mittelmeerkaufmannes, der wegen seiner außerordentlichen Dienste sogar von den Pferdemännern geduldet wurde. Und wieder öffnete ihm sein Gold die Türen; ein Sklave leuchtete ihm mit einer Lampe den Weg. Eine schwere Tür wurde aufgeschlossen, und dem Priester schlug ein atemberaubender Gestank entgegen. Zu beiden Seiten des Raum es waren dreckige Strohlager ausgebreitet. Alle waren belegt, manche von Frauen, man che von jungen Knaben. Der Sklave gestiku lierte mit der Lampe, und der Priester rief. Keine Antwort.
Cha’Ensil rief noch einmal, und diesmal ant wortete eine dumpfe Stimme aus dem Hinter grund: »Was willst du von mir?« Er ergriff die Lampe, trat weiter vor und starrte. Trübe, schwarz umrandete Augen blickten aus einem fahlen Gesicht. Das Mäd chen war mit einem zerrissenen Laken zuge deckt. Cha’Ensil hob die Augenbrauen und sprach sanft auf sie ein; sie jedoch spuckte ver ächtlich aus und drehte den Kopf zur Seite. Der Priester bückte sich mit vor Ekel gespitz tem Mund. Unter dem Laken war sie nackt; er untersuchte ihren Körper gründlich nach dem Zeichen einer bestimmten Krankheit. Er fand sie nicht; schließlich richtete er sich mit einem Seufzer wieder auf. »Erheb’ dich und such’ dir was zum Anziehen«, sagte er. »Ich bin dein Freund und habe deinen Vater gut gekannt. Ich bin gekommen, um dich hier herauszuho len und nach Hause zurückzubringen.« Wenige Tage später kehrte Cha’Ensil allein zu dem Gotteshaus zurück und eilte sogleich zu seiner Herrin; aber seine Abwesenheit schien kaum aufgefallen zu sein. Während der dar auffolgenden Woche war er der Auferstande nen ein zuvorkommender Diener, und er er
wies Altrin jedesmal seine Ehrerbietung, wenn sich ihre Wege kreuzten; denn innerlich war er jetzt ruhiger. Drei Monate vergingen; das Grün des Som mers ging allmählich in ein prächtiges Gold über, als er erneut den Heiligen Berg hinabritt. Er wandte sich nach Süden, zu einem Dorf, das ihm wohlbekannt war. Dort stand auf einem Felsvorsprung über dem schäumenden Meer ein Gotteshaus, das dem genau glich, das er wenig zuvor verlassen hatte. Er wurde höflich empfangen und auf verschlungenen Wegen zu einer kleinen Bucht geführt. Ein Dutzend Kin der spielte dort am Strand, unter der Aufsicht eines Priesters und einer alten Frau. Ein Geld beutel wanderte von einer Hand in die andere, und die Frau rief mit schriller Stimme. Ein geschmeidiges, braunhäutiges Mädchen hob den Kopf und kam auf sie zu; dann stand sie, vollkommen nackt, vor ihm und erwiderte gelassen lächelnd seine forschenden und scharfen Blicke. Er sprach zu ihr, und sie knie te vor ihm nieder und senkte den Kopf, wie es der Brauch befiehlt. Er nickte zufrieden. »Ausgezeichnete Arbeit, Cha’Ilgo«, sagte er. »Der Gott möge dich be schützen und dich reich machen.« Und zu der Frau gewandt: »Sorge dafür, daß sie reisefertig
gemacht wird. In einer Stunde will ich aufbre chen.« An diesem Tag kam eine neue Priesterin im Haus der Auferstandenen an; und Cha’Ensil stellte sie mit großem Stolz vor. Altrin, der der Zeremonie ebenfalls beiwohnte, sprach kein Wort, aber er verfolgte mit den Augen jede Be wegung des Mädchens, und Cha’Ensil, der ihn heimlich beobachtete, sah, wie sich seine Stirn in Falten legte. Die Gelegenheit, auf die der Oberpriester ge wartet hatte, ergab sich sehr bald. Wenig spä ter wurde er nämlich zu Altrin befohlen. Mit undurchdringlicher Miene trat er vor seinen Herrn. Der Herrliche war offensichtlich mehr als nur beschwipst. Er blickte Cha’Ensil unheilvoll an, bevor er sprach; dann sagte er grob: »Wer ist sie?« Cha’Ensil lächelte versöhnlich. »Wen meint mein Herr?« fragte er. Der andere fluchte und griff zu der Weinfla sche. Dann lehnte er sich zurück und rülpste. »Wer ist sie?« wiederholte er. Cha’Ensil lächelte wieder. »Das Kind eines Kreidefelsenbauern«, sagte er. »Eine gelehrige Schülerin, wie mir berichtet wurde; sie wird
eine große Bereicherung für das Gotteshaus sein.« »Wer ist sie?« »Ihr Namen ist Dareen«, sagte der Oberpries ter ruhig. »Die Tochter von T’Sagro, dem Nachbarn deines Vaters, Prinz.« Der andere starrte ihn an. »Wie kann das sein?« fragte er heiser. »Ich fand sie an einem bestimmten Ort«, sag te Cha’Ensil. »Ich befreite sie in dem Glauben, nach deinem Willen zu handeln.« Er breitete die Arme aus. »Die Feindschaft zwischen uns ist beendet«, sagte er. »Ihr Glück soll meine Friedensgabe an dich sein, Herr.« Altrin erhob sich. »Bring sie her«, sagte er. Cha’Ensil schlug die Augen nieder. »Herr, ich glaube, das es nicht ratsam ist…« »Bring sie her!« Der Priester verbeugte sich. »Ich werde tun, wie mir mein Herr befiehlt.« Wenig später schob er das Mädchen ins Zim mer. »Herr, die Priesterin Dareen ist hier«, sagte er. Er schloß die Tür und blieb noch einen Moment lang stehen, bevor er leise dav onschlich. Sie schaute ihn an und sagte leise: »Warum hast du mich zu dir kommen lassen?«
Er ging auf sie zu. »Dareen?« sagte er. Er streckte die Hand aus, um ihr Gewand zu öff nen, aber sie schlug seinen Arm weg. »Rühr mich nicht an«, fauchte sie wütend. Er errötete, und der Wein machte ihn schwin delig und benommen. »Ich berühre, wen ich will«, sagte er mit schwerer Zunge. »Ich befeh le, wen ich will. Ich bin ein Gott.« Sie starrte ihn mit offenem Mund an; dann begann sie zu lachen. »Du?« sagte sie. »Du, ein Gott? Du, der die Schafe hütete und der es nicht wagte, mir auf der Straße in die Augen zu sehen? Und jetzt… ein Gott… vergib mir, mein Herr und Schafhirte. Das kommt ein wenig plötzlich…« Er blickte sie wütend an. »Ich hatte gar nicht das Bedürfnis dich anzusehen. Du warst ein Kind.« »Du hattest nicht das Bedürfnis…«, wieder holte sie verächtlich. Sie schluckte und ballte die Fäuste. »Tag für Tag ging ich dorthin, wo du die Schafe hütetest«, sagte sie. »Und Tag für Tag beobachtetest du mich, wie ein kleiner dummer Junge, und du spieltest mit dir selbst im Gras, weil du Angst hattest. Ich erniedrigte mich vor dir, weil ich dich wollte; ich wollte, daß du kamst und mich nahmst. Aber du bist nie gekommen, weil du es nicht gewagt hast.
Jetzt laß mich in Ruhe. Du bist kein Mann für mich.« Er zerrte an ihrem Mantel. Darunter trug sie das grüngoldene Kleid der Priesterinnen, das in der Taille durch einen glitzernden Gürtel zusammengehalten war. Er packte sie; und der Schlag ihrer flachen Hand hallte in dem klei nen Raum wider; er schlug zurück, und sie schwankte. Dann war es still. Sie rieb sich über den Mund und betrachtete den roten Streifen auf ihrem Handrücken. Schließlich lächelten ihre verquollenen Lippen. »Ich verstehe«, sag te sie. »Nun wirst du mich wahrscheinlich schlagen. Vielleicht wirst du mich töten. Wie heldenhaft von dir.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Nun bist du also ein Gott. Weißt du was mit mir geschah, während du zum Gott erho ben wurdest? Und mit Tamlin und Sirri und Merri und all den anderen? Weißt du das?« Ihre Augen funkelten. »Tamlin starb in einer Tretmühle. Sirri wurde an den König der Pfer demänner verkauft, und er schlug sie, bis er ihr das Rückrat brach. Merri hat die Krank heit, die das Mittelmeer-Volk bringt. Ich kam in ein Bordell; und das alles, während ein ge wisser Gott, dessen Namen ich nicht ausspre chen will, sich in Seide hüllte und sich einen Mann nannte.« Sie wischte sich wieder über
den Mund. »Mach weiter«, sagte sie. »Schlag’ mich; oder ruf deine Priester, damit sie es für dich tun. Und dann kannst du wieder zu deiner fetten alten Geliebten gehen, die kein Gesicht hat…« Weiter kam sie nicht. Seine Hände umklam merten ihre Kehle. Ein kurzer Kampf; dann war plötzlich ihr Mund auf seinem, und sie riß und zerrte an seinen Kleidern. Später, als alles vorüber war, begann er zu weinen. Sie preßte ihn in der Dunkelheit be schützend an sich, legte seinen Kopf an ihre Brust und murmelte den Namen, den seine Mutter immer benutzt hatte, als er noch sehr jung war; und er genoß ihre Wärme, nach der er sich so lange gesehnt hatte. Plötzlich öffnete sich die Tür. Er richtete sich entsetzt auf. Er sah die glitzernde blaue Maske und den Oberpriester an ihrer Seite. Mit einem Schrei sprang er auf; aber er kam zu spät. Die Tür schlug zu, und die Auferstandene und ihr Diener waren verschwunden. Es wurde allmählich hell über der Heide. Der Berg und die Gebäude über ihm lagen verlas sen da; ein feiner Nieselregen fiel zur Erde.
Er hastete gebückt vorwärts; seine Finger um klammerten das Handgelenk des Mädchens. Vor ihnen tauchten die geschlossenen Tore auf. Er zog sie über die Palisade; ihr Rock zer riß; er ergriff erneut ihr Handgelenk und zerr te sie weiter. Aus einem Zimmer oben auf dem Berg starrte die Auferstandene hinunter. Kein Zittern be einträchtigte ihr Atmen; neben ihr stand Cha’Ensil mit steinernem Gesicht. Die Flücht linge verschwanden. Die Frau wandte sich ab und preßte die Hände an die Maske. »Er muß zurückkommen, Cha’Ensil«, sagte sie. Er wartete, und ihre Schultern zuckten. »Und wenn er nicht zurückkommt?« fragte er sanft. Mit erstickter Stimme sagte sie: »Dann wird niemand an meiner Seite sitzen. Niemand darf unsere Geheimnisse erfahren, Priester. Oder die Macht, die wir besitzen, wird verloren sein…« Sie verstummte und wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte und seine Schritte verhallt waren. Dann fiel sie auf die Knie, riß sich die Maske vom Gesicht und be gann zu schluchzen.
Am Fuße des Berges floß der Bach ruhig dahin. Sie durchquerten ihn und schleppten sich wei ter; schließlich ließ er sich keuchend auf die Knie fallen; sein Gesicht war naß vor Schweiß. Eine Stimme fragte ruhig: »Und wohin jetzt, Herr?« Er hob langsam den Kopf. Ein Halbkreis von Gestalten zeichnete sich grau gegen den Him mel ab. Ein paar Schritte weiter hinten stand der Priester. Der Herrliche starrte und hob einen zitternden Finger. »Eldron, Melgro, Baath«, sagte er. »Ihr seid meine Gefolgsleute. Rettet mich vor dem Verrat…« Der Mann mit dem Namen Eldron trat vor und blickte auf ihn hinab. »Wecke den Don ner, Prinz«, murmelte er. Dann schlug er mit dem schweren. Stock, den er bei sich trug, zu. Der Prinz sank mit einem heiseren Aufschrei zusammen. Melgro rieb sich das Gesicht. »Entwurzele die Bäume, Herr«, sagte er und schlug zu. Baath lächelte und zog ein scharfes Messer aus der Scheide. »Befiehl den Blitz herbei«, sagte er, »und ich werde dich Gott nennen.« Er stach auf ihn ein, bis das Schreien verstummte und der Körper sich nicht mehr regte. Das Mädchen lag zusammengekauert da. Als der Priester sich ihr näherte, hob sie ihr asch
fahles Gesicht. »Warum, Priester?« fragte sie leise. »Warum?« Cha’Ensil beugte sich über sie und zog einen kleinen Dolch aus seinem Gürtel. »Auch ich habe ihn geliebt«, sagte er. Mit einem schnel len Griff riß er ihren Kopf nach hinten und schnitt ihr die Kehle durch. Potts hat wieder geträumt. Zuerst war er wie der ein kleiner Junge und lag zu Hause im Bett. Wahrscheinlich hatte er einen seiner häufigen Asthmaanfälle. Daß er Kind war, er kannte er an der Geschwindigkeit, mit der sei ne Mutter die Treppe hinaufrannte. Sie pflegte immer so zu rennen, wenn sie ihm seinen Tee brachte oder eine Schüssel mit Obstsalat; im Laufe der Jahre waren ihre Füße immer lang samer geworden. Etwas später schien es ihm besserzugehen, denn seine Mutter sagte mit ihrer rauhen Herzlichkeit: »Raus aus dem Bett mit dir, du bist wieder topfit.« Und er verließ das Haus und ging zu seinem Wagen – wie die Jahre verflogen – es war der alte MG, den er lange vor dem Champ gefahren hatte. Er war sein erstes Auto gewesen. Wohin er fuhr, wuß te er nicht; aber der Wagen lief besser als je
zuvor; er ließ kleine Städte und sonnenbe schienene Hügel hinter sich zurück. Er fühlte sich jetzt auch wegen der anderen Sache besser. Er hätte sich denken können, daß sie nicht tot war. Zeit ist inzwischen für ihn bedeutungslos geworden. Zwischen den Welten hat er andere erspäht; und in einer von ihnen wird er sicher irgendwann das Leuchten ihrer Augen wiedersehen und ihre Arme end lich spüren. Bis dahin ist er zufrieden. Mit den Fingern betastet er sein Gesicht. Wenn sie jetzt hereinkommen würde, sähe er bestimmt fürchterlich aus. Um den Mund scheint er einen pickligen Ausschlag zu haben; und sein Atmen hört sich seltsam gequält an. Außerdem hat er sich in der Nacht naßge macht; aber er ist sicher, daß sie Verständnis haben würde. Er wird jetzt aufhören, sich Sorgen zu ma chen; es gibt viel zu viel zu sehen. Schon hat sich eine neue Welt, die der Schiffe, vor ihm aufgetan. Bald wird er sie bestimmt wieder se hen; denn bis jetzt ist sie jedesmal aufge taucht.
SECHS RAND, RATTE UND DER TANZMANN I Es hatte die ganze Nacht hindurch geregnet, und der Kai von Crab Gut war bedeckt mit großen Pfützen. Die Menschenmenge, die sich versammelt hatte, um das große Schiff auslau fen zu sehen, stand knöcheltief im gelblichen Schlamm. Nebelschwaden füllten die Bucht, in der das Dorf lag; über den Holzdächern der Hütten erhob sich die finstere Silhouette der Festung. Looker lag bereit zum Auslaufen an seinem Liegeplatz. Es war ein schönes und starkes Schiff, prächtiger als jedes andere Kriegsschiff in Seeland; aber die Schilde außen am Schanzkleid waren zum Zeichen des Frie dens weiß gestrichen, so daß es jetzt schon wie ein Totenschiff aussah. Die Menge murmelte unruhig und blickte von Zeit zu Zeit zum Schutzwall hinaus, der die Festung umgab. Von dort setzte sich die erwartete Prozession schließlich in Bewegung. An der Spitze schritt Matt, der Navigator, ein bärtiger, untersetzter Mann mit einem Bärenfell um die Schultern,
ihm folgte Kapitän Egril, der älteste Diener des Hauses Crab, mit seinen beiden hochgewach senen Söhnen. Danach kam Ranna, der Pries ter, begleitet von einem Jungen, mit den gefes selten Hähnen für die Schiffssegnung. Eine Gruppe von ungefähr vierzig Ruderern und Matrosen schloß sich an. Den Schluß bildete Rand der Einzelgänger, ehemaliger Prinz des Crab-Landes, mit Elgro, dem Tanzmann an sei ner Seite. Rand war der einzige, der keine Kopfbede ckung trug; er hatte auch weder eine Axt noch ein Schwert bei sich. Sein langes blondes Haar klebte naß an seinem Kopf; aber ungeachtet des Regens schritt er hocherhobenen Hauptes einher. Trommeln ertönten vom Kai. Die Ruderer nahmen ihre Plätze ein; die restliche Mann schaft rannte geschäftig auf dem Schiff umher. Die Trommeln verstummten. Ranna hielt einen flatternden Hahn in die Höhe, das Mes ser in der Hand; und Rand rief ihm zu: »Kein Blut, Ranna! Wein, wenn die Götter es verlan gen, oder Wasser; aber vergieß kein Blut. Ich will es nicht.« Egril fluchte; Elgro zuckte die Schultern und spuckte aus. Der Priester wandte sein Gesicht dem Schiff zu; und auf einen Befehl von Matt
tauchten die Ruder klatschend in das Wasser ein. Die letzten Seile wurden gekappt, und dann glitt die »Looker« vorwärts. Bald war sie in der Ferne verschwunden. Das Schiff kam gut voran. Die Ruder hoben und senkten sich zum Schlagen der Trommel; die Ruderer lehnten sich im monotonen Rhythmus vor und zurück, vor und zurück. Unablässig prasselte der Regen nieder. Die kleine Kajüte unter Deck roch nach nas sem Leder und Stoff. Rand stöhnte und warf sich unruhig in seiner Hängematte hin und her. Das Gebälk des Schiffes krachte und knackte; die Schläge der Trommel hallten in dem kleinen Raum wider. Er murmelte vor sich hin und tastete nach dem Amulett um sei nen Hals. Irgendwann ließ das Fieber nach, und er fiel in einen unruhigen Schlaf. Etwas Seltsames geschah. Die dicken Seiten wände der »Looker« schienen sich in Glas zu verwandeln, SQ daß er durch sie hindurch die Wellen und den Himmel sehen konnte. Die Wellen zischten und schlugen und trugen wei ße Schaumkronen; und in ihnen schwamm ein gespenstisches Wesen mit langen, dürren Ar men. Sein Schrei gellte durch das Schiff und er schreckte die Ruderer auf ihren Bänken. Er
richtete sich ruckartig auf und stieß mit dem Kopf gegen einen Balken. Hände ergriffen ihn bei den Armen. Er schlug wild um sich; dann kam er langsam wieder zur Besinnung. Keu chend und schweißgebadet lag er da; und der Tanzmann lächelte. »Der Regen hat nachgelas sen, Herr«, sagte er. »Wir sind gut vorange kommen. Wirst du nun den Kurs setzen?« Das Schiff lag ruhig im Wasser. Rand blickte blinzelnd um sich. Achtern erkannte er, un deutlich im Licht der Abenddämmerung, die gezackten Berge des Seelandes. Die Sonne ging soeben golden unter; das Meer lag ruhig und verlassen da. Er hielt sich am Mast fest und schluckte. »Südwesten«, sagte er. »Bring mich zu den Geisterinseln, Elgro.« Hastig setzten die Männer das Segel mit dem großen roten Wahrzeichen des Hauses Crab. Die Ruder wurden eingezogen, und in der gleichmäßigen, kräftigen Brise gewann die »Looker« rasch an Geschwindigkeit, mit Kurs auf das Land der Toten. Rand stand breitbeinig auf dem oberen Deck; sein Haar wehte im Wind. Die Sonne ging glut rot unter, und die Berge versanken in der Dun kelheit. Die Ruderer bereiteten sich ihr Abend mahl, streckten die müden Glieder aus und
legten sich zum Schlafen unter die Bänke. El gro brachte seinem Herrn eine Schüssel damp fender Suppe, aber Rand lehnte sie freundlich ab und wandte seinen Blick wieder dem Meer zu. Leise fluchend machte sich Elgro auf den Rückweg und hörte, wie Dendril, einer der Ma trosen, zu seinem Freund Cultrinn Barehead sprach. »Die Nächte sind voller Wunder, wenn die Lieblinge der Götter anfangen, sich verhät scheln zu lassen«, sagte er. »Wer weiß, viel leicht finden wir bei unserer Rückkehr nach Seeland die Kindermädchen als Priesterinnen vor.« Scheinbar zufällig stolperte Elgro, und der In halt der Schüssel schwappte dem Sprecher ins Gesicht. Dendril fluchte; als er wieder sehen konnte, hatten Elgros Finger wie Schraubstö cke seine Schultern umklammert, und die blassen Augen des Tanzmannes schauten gera dewegs in die seinen. »Ich habe dich die verschüttete Suppe verflu chen hören, Freund«, sagte er. »Mehr nicht. Um so besser für dich…« Das Segel flatterte im Nachtwind. Die Ruderer schnarchten, eingehüllt in ihre Seehundsfelle; und die Trommel schwieg, auch für Rand.
Ihre Augen waren blau; leuchtend, klar und blau wie der Horizont des Meeres im Sommer. Ihr helles, mit Blumen und Beeren geschmück tes Haar reichte ihr bis zur Taille. Sie hatte schlanke Hände und breite Hüften. Glücklich lachend brach sie für ihn das Brot im Haus ih res Mannes. Das Feuer flackerte; ihre Hand streifte seinen Arm. Sie hob ihren Becher, um zu trinken; seine Lippen formten ihren Na men, Deandi. Er bewegte sich unruhig in seiner Hängemat te und murmelte vor sich hin. Damals, vor langer Zeit, war er der Prinz des Hauses Crab gewesen; ein großer, in sich ge kehrter, kräftiger junger Mann mit einem Hang zum Grübeln und zum Alleinsein. An Festtagen, wenn Honigwein und Bier wie Was ser flossen und großbusige Madchen in dem großen Saal auf den Tischen tanzten, saß Rand abseits. Er hatte sich noch nie für eine Frau in teressiert und schon gar nicht mit einer zu schlafen versucht; so daß sein Vater, der Kö nig, schließlich wütend wurde und ihn einen weichlichen Feigling schimpfte. Er schickte ihn für einen Monat zu den Fischern, zum Krab benfischen. Und die Leute kicherten hinter vorgehaltener Hand beim Anblick des Prinzen in der Kleidung eines Fischers. Rand kam sei
ner Arbeit sehr gewissenhaft nach. Manchmal, wenn ein Kriegsschiff sein kleines Boot pas sierte, begrüßte ihn die Besatzung mit lautem Hallo und amüsierte sich auf seine Kosten; aber Rand lächelte nur und winkte zurück. Er war ohne Zweifel ein sehr seltsamer junger Mann, besonders für den Sohn eines Königs. Cedda war mächtig, aber er wurde langsam alt. Mit seiner Gesundheit stand es nicht zum besten; und als er sich entschloß, die Festung seines Nachbarn Fenrick zu belagern, schüttel ten viele zweifelnd die Köpfe. Und sie sollten rechtbehalten; denn einen Monat später wur de er, vom Sumpffieber gepackt, auf einer Tra ge in sein Haus zurückgetragen. Er erlebte noch die siegreiche Beendigung der Belage rung und starb bald darauf. Er hinterließ Rand ein Königreich und eine Blutfehde; beides schien dem jungen Mann nicht viel zu bedeu ten. Denn Fenricks Halbbruder war Engor der Wolf; und Engors Frau war Deandi. Von Zeit zu Zeit rief er nach ihr in seiner Hän gematte und schlug mit den Fäusten gegen die hölzerne Kajütenwand. Er öffnete die Augen. Graues Licht erfüllte den keinen Raum; er kletterte aus der Hängematte,
hüllte sich in einen Mantel, öffnete die Kajü tentür. Das Wasser klatschte gegen den Bug; der Himmel war grau wie frisches Eisen. Die Ruderer schliefen noch. Das Land am Hori zont war verschwunden; die »Looker« war ein kleiner Fleck auf dem unendlichen Meer. Er trat einen Schritt vor und rieb sich frös telnd die Hände. Jemand berührte seinen Arm; er drehte sich herum und blickte in das von rötlichen und grauen Locken umrahmte Gesicht des Tanzmannes. »Guten Morgen, Herr«, sagte Elgro. Er schaute wieder aufs Wasser hinaus und be trachtete dann das Schiff. »Elgro«, sagte er, »wie alt ist die ,Looker’?« Elgro überlegte. »Dein Vater hat sie bauen lassen, als er selbst noch jung war, zwei Jahre vor der großen Überschwemmung. Fünf Jahre zuvor hatte er den Thron bestiegen und gegen Dendril und Erols Söhne gekämpft.« Er zuckte die Schultern. »Sie ist sehr viele Jahre alt, Herr.« Rand nickte. Sein Kopf fühlte sich hohl und leer an, so als hätte er Mittelmeerwein getrun ken. Er schloß die Augen und sagte: »Es kommt alles wieder. Letzte Nacht habe ich wie der geträumt. War es richtig, Elgro? Wegen ei ner so geringen Sünde?«
Der andere erwiderte: »Ich habe die Geister weggetanzt, als du geboren wurdest. Aber ich kann nicht für die Götter antworten.« Rand runzelte die Stirn. »Wir stehen uns sehr nah«, sagte er. »Trotzdem sind wir so weit voneinander entfernt. Manchmal fühle ich mich von allen Menschen total isoliert; selbst von dir, Elgro. Als gäbe es außer mir nieman den auf der Welt. Manchmal denke ich, daß wir alle nur Geister sind, die reden und klagen, aber unfähig sind, die anderen zu hören.« Elgro blickte ihn stumm an. Nach einer Pause sagte Rand: »Ich erinnere mich an die erste Schiffsreise mit meinem Vater. Damals war ich fünf. Wir segelten nach Seal Hold, wo Tenrils Festung stand. Erinnerst du dich?« Der Tanzmann nickte. »Es war Sommer«, fuhr Rand fort, »und die Sonne ging überhaupt nicht unter. Am Strand stand ein großes Zelt, und man konnte das Ge schrei und das Lachen hören. Ich saß da und beobachtete die Seehunde auf den Felsen. Das Licht war seltsam. Als leuchtete es von innen aus den Dingen heraus.« Elgro wartete. »Später war das Meer blau«, sagte Rand. »Man konnte das meilenweit entfernte Land
riechen. Das war die Nacht, in der sie mit mir kam.« »Herr«, sagte Elgro, »du mußt etwas essen.« Rand schüttelte den Kopf. »Sie wollte nach Norden segeln, immer weiter nach Norden; um die Eisriesen zu sehen.« Er drehte sich her um und fragte: »Wo sollen die Geisterinseln liegen? Sag es mir noch einmal, bitte.« Elgro zuckte die Schultern. »Man sagt, die Geister der Toten fliegen dorthin; und die Klippen sind voll von klagenden Göttern und Königen.« »Und was meinst du?« fragte Rand lächelnd. Elgro schüttelte den Kopf. »Ich glaube, daß die meisten Länder einander ziemlich ähnlich sind, Herr. Die Sonne geht auf und wieder un ter, die Menschen wachen und schlafen. Man che leben vom Ackerbau, andere vom Fisch fang; und einige vom Krieg.« »Und wir tun nichts von alledem«, sagte Rand. Er starrte auf das Meer hinaus. »Als sie mit mir kam, dachte ich, ich würde ewig le ben.« Im Osten ging hell die Sonne auf. Die Ruderer streckten und räkelten sich, jemand lachte. Ein neuer Tag war herangebrochen. Ein kalter, starker Wind wehte, und die »Looker« kam gut voran.
Mitten in der darauffolgenden Nacht erwach te Rand. Das Schiff schaukelte wild hin und her. Er stolperte an Deck und hielt sich an ei nem Mast fest. Im Westen erstreckte sich eine zerklüftete Küste. Er kniff die Augen zusam men, schrie eine Frage; Egril, der neben ihm stand, nickte. »Die Geisterinseln, Herr«, sagte er. »Aber wir werden hier nicht landen.« Gegen Mittag verschlechterte sich das Wetter. Windböen wühlten die See auf und warfen das Schiff hin und her. Das Segel zerriß; dann setz te die Flut ein und trieb die »Looker« auf die Küste zu. Auf Egrils Befehl nahmen die Rude rer wieder ihre Plätze ein, und ein zermürben der Kampf begann. Auch Rand und Elgro ru derten mit. Die Trommel schlug; er beugte seinen Körper vor und zurück; auf seinen Handflächen bilde ten sich Blasen; aber der Schmerz und die Ar beit betäubten die Erinnerungen. Eine Zeitlang war er beinahe glücklich. Während des Tages konnte das Schiff den Kurs halten, aber gegen Abend drehte der Wind. Matt und Egril beratschlagten besorgt. Im Süden erstreckte sich eine Landzunge; da hinter lag der große Kanal, der die nördlichen von den südlichen Geisterinseln trennte. Wenn das Schiff diesen Punkt erreichte, war
es gerettet. Nach stundenlangem, verzweifel ten Kampf hatten sie es geschafft. Aber die Atempause war nur kurz. Plötzlich verengte sich der Kanal wieder, und das Rin gen ums Überleben begann von neuem. Endlich brach die Morgendämmerung an. Die Männer seufzten vor Erleichterung. Elgro legte seinem jungen Herrn die Hand auf die Schul ter und grinste; Egril entspannte sich zum ers ten Mal seit Stunden und erlaubte sich einen Anflug von Lächeln. Die unheimliche Strö mung trug das Schiff mühelos nach Westen. Die Stimme des Mannes auf dem Ausguck war so hoch und schrill wie der Schrei eines Vo gels. Vor ihnen tauchte aus der Dunkelheit eine langgezogene Landzunge auf. Die Wellen bra chen sich an den Felsen, die ins Wasser hinein ragten; dahinter erstreckte sich ein feiner grauer Sandstrand bis hin zu den niedrigen Klippen. Die Strömung trieb sie direkt darauf zu. Ein unbeschädigtes Schiff mit einer frischen Mannschaft hätte die Situation vielleicht meis tern können. Aber bevor die erschöpften Män ner zu den Rudern greifen konnten, war die »Looker« bereits zwischen den Felsen zer schellt. Ruder, Sitzbänke, Fässer und mensch
liche Körper fielen durcheinander und wurden von den Wellen davongeschwemmt. Wasser drang in die Lunge des Königs ein. Seine Ohren dröhnten; er kämpfte verzweifelt gegen die Bewußtlosigkeit an. Undeutlich nahm er wahr, daß Hände ihn bei den Armen packten; dann berührten seine Knie sandigen Boden. Er stolperte vorwärts und ließ sich hin fallen; stöhnend und würgend lag er da. Über ihm stand keuchend der rot- und grauhaarige Mann, der ihn den Göttern entrissen hatte. Niedergeschlagen kauerten die Überlebenden auf dem Strand. Von vierzig Männern waren ganze einundzwanzig übriggeblieben; darun ter war Cultrinn, dessen Armstumpf behelfs mäßig verbunden worden war und der sich nun wimmernd am Boden krümmte. Unterhalb der Klippe lag Egril mit grauem Ge sicht. Seine Söhne beugten sich über ihn; an seiner Seite knieten Rand und der Tanzmann. Dendril ging langsam auf die Gruppe zu. Dort stellte er sich breitbeinig auf, die Hand an sei nem Schwertgriff. »König des Hauses Crab, du wirst gerufen«, sagte er verächtlich. »Aber ich sehe keinen König, der dieses Namens würdig wäre.« Er hob die Stimme. »Ich sehe einen Fi scher, der in seiner Hochmütigkeit den Göt tern ihre Abgaben verweigerte und nun erwar
tet, daß wir seine Bestrafung mit ihm teilen. Die Hälfte unserer Gruppe ist bereits tot; soll der Rest auch noch mit ihm sterben? Es wäre besser, ihn hier seinen trüben Gedanken nach hängen zu lassen und mir zu folgen. Sein Die ner wird ihn schon mit Suppe versorgen.« Rand wandte sich ab; und Elgro trat lächelnd vor. »Dendril«, sagte er, »und auch ihr ande ren alle: Eine neue Melodie ist in meinem Kopf. Ich fühle, wie meine Beine zu jucken be ginnen; wer will mit mir tanzen? Geister schweben direkt über unseren Häuptern; ein Opfer wird sie friedlich stimmen.« Eine Stille folgte; dann ergriff einer der Ruderer, ein stämmiger blonder Mann mit Namen Egrith, das Wort. »Du weißt, daß ich nichts gegen dich habe, Elgro«, sagte er. »Und ich halte die Schwüre, die ich abgebe. Aber eines muß man zugeben: Wir sind ohne ein Opfer losgesegelt, entgegen jeglichem priesterlichen Gesetz; und nun sieh, wohin uns das geführt hat.« »Ich sehe sehr wohl, wohin es dich geführt hat, Egrith«, sagte der Tanzmann. »Nach Stun den größter Lebensgefahr haben wir einen schönen Strand erreicht; bald schon werden unsere Kleider trocken sein, und wir werden etwas zu essen sammeln; und wir werden uns wie Seeländer benehmen, nicht wie kleine Kin
der. Falls du immer noch nicht zufrieden bist, solltest du vielleicht ins Meer zurückgehen.« Irgend jemand lachte, und die Spannung war gebrochen. Dendril sah seine Chancen schwinden. Er ballte wütend die Fäuste und ging fort. »So«, sagte Elgro nach einer Pause. »Geht jetzt Holz sammeln für ein Feuer. Du, Egrith, klettere auf eine der Klippen und halte Aus schau. Meine Geister sagen mir, daß es hier viele Stämme gibt, die uns nicht alle freundlich gesonnen sind.« Die Männer machten sich an die Arbeit. Im Schutz der Felsen wurde ein Feuer entfacht; ein Eisentopf wurde aus dem Wasser gefischt; Matt fand ein Faß mit Pökelfleisch und ein an deres mit Seeland-Heringen am Strand. Im Laufe der Zeit hob sich die allgemeine Stim mung allmählich. Dann riefen Galbritt und En sor Rand herbei. Der Prinz eilte zu ihnen und sah, wie der Kapitän sich aufrichtete. Zweimal versuchte er zu sprechen; er streckte den Arm aus, wurde von einem Hustenanfall geschüttelt und sank mit starren und leeren Augen zu rück. Blut rann aus seinem Mund, und er war tot. »Laßt uns ein Grabmal für ihn errichten«, sagte Elgro leise. »Er soll mit dem Blick zum
Meer hin liegen. Ich werde meinen besten Tanz tanzen, so daß seine Ruhe um so süßer sein wird.« Er wandte sich den Söhnen zu. »Ist es euch recht so?« Sie zögerten; dann sprach Galbritt, der ältere der beiden. »Er sagte seltsame Dinge, bevor er starb. Wir verstanden ihn nicht. Irgend etwas über Hexerei und über eine Fee, die den König bezauberte; aber er forderte keine Rache. Wir sind einverstanden.« Der Kapitän wurde unter einem Steinhaufen von sieben Metern Länge und drei Meter Höhe begraben. Oben auf die Spitze setzten die Män ner einen Mast der »Looker«, den die Wellen angespült hatten. Elgro tanzte zu einem wilden und stampfenden Gesang; anschließend begab er sich zu Rand, der wie immer ein wenig ab seits gestanden hatte. »Herr«, sagte er sanft. »Wir sind zwanzig Leute, und die Stimmung ist gut; obwohl einer von uns wohl besser wo anders wäre.« Er wies mit einer Bewegung des Kopfes auf Dendril, der mit finsterem Blick ne ben seinem verletzten Freund saß und de monstrativ sein Messer schärfte. Rand schüttelte den Kopf. »Elgro«, sagte er, »du kennst das Gelübde, das ich abgelegt habe. Ich habe genug Blut vergossen; laß es gut sein.« Er hüllte sich fester in seinen Mantel
und blickte aufs Meer hinaus. »Wir werden von hier weggehen. Die Männer sollen vom Wrack alles mitnehmen, was sie tragen kön nen. Es kann einige Zeit dauern, bis wir Unter schlupf finden.« Die Gruppe setzte sich in Bewegung, geführt von Rand und Egrils Söhnen. Ihnen folgte Matt, schweigsam wie immer; dann kamen die Ruderer. Am Schluß des Zuges wurde der blas se und stöhnende Cultrinn den steilen Pfad hinaufgetragen. Die Sonne stand hoch am Himmel, als sie die Spitze der Klippe erreichten. Hinter ihnen lag die See ruhig und blau da; nach Süden hin er streckte sich hügeliges Heideland. Nirgendwo war Rauch zu sehen; keine Geräusche, kein Anzeichen von Menschen. »Elgro«, sagte Rand unsicher, »ich brauche wieder deinen Rat. Du weißt, was ich vorhabe; wohin sollen wir uns wenden?« »Ich kenne die Geister bis zu einem gewissen Grad«, erwiderte Elgro. »Ich tanze für Leben und für Tod. Dein Vorhaben jedoch ist mit den Göttern verbunden; dafür brauchst du die Priester, die du zurückgelassen hast.« Rand sah ihn scharf an und zuckte die Schul tern. »In dem Fall ist es egal, welchen Weg wir
einschlagen.« Mit gesenktem Kopf setzte er sich in Bewegung; die anderen folgten ihm. Gegen Mittag machten sie eine kurze Rast. Auch als ihre Schatten bereits länger wurden, erstreckten sich um sie herum nichts als ver lassene Hügel. Der Himmel war glutrot, als sie etwas Seltsames entdeckten. Oben auf einem grasbewachsenen Hügel stand eine etwa hüft hohe Steinhütte, die in zwanzig Meter Entfer nung von aufrechtstehenden großen Steinen umgeben war. Kein Lüftchen regte sich; es war vollkommen still ringsherum. Elgro näherte sich vorsichtig. »Dieser Ort stinkt nach Göttern«, sagte er. »Irgendein Volk muß hier oben leben.« Am Eingang der Hütte hielt er inne. Dann richtete er sich mit einem kurzen Lachen auf. »Ein schöner Geist«, sagte er. »Wenn er der mächtigste ist, den das Land bieten kann, dann droht uns keine Gefahr.« Rand bückte sich und erkannte eine Figur, die in den polierten Stein eingemeißelt war. Es war ein Hase. »Menschen, die Hasen verehren, müssen ein eigenartiges Volk sein.« Plötzlich zog Galbritt, der neben Rand stand, sein Schwert. Ungefähr zwanzig Schritte ent fernt war eine kleine Gruppe von Männern aus dem Nichts aufgetaucht. Sie reichten den See
ländern kaum bis zur Schulter, waren aber kräftig gebaut. Sie trugen leichte Speere, und drei oder vier von ihnen hielten Pfeil und Bo gen. Die Seeländer rückten dichter zusammen; Rand hob seinen Arm. Langsam ging er vor wärts. »Wir sind Seefahrer und haben an eu rer Küste Schiffbruch erlitten«, sagte er. »Wir sind friedlich gesinnt und suchen lediglich eine Unterkunft für die Nacht. Einer unter uns ist schwer verletzt. Wenn eure Priester ihn heilen können, werden wir das mit Gold be zahlen.« Die Fremden schauten sie undurchdringlich an. Schließlich ergriff ihr Anführer das Wort. »Es sind friedliche Schwerter, die ich in den Händen deiner Leute sehe«, sagte er. »Und friedliche Äxte und Speere. Außerdem habt ihr einen heiligen Ort entweiht, und darauf steht die Todesstrafe.« »Wir wußten nicht, daß dies das Haus eines Gottes ist«, erklärte Rand sanft. »Sag uns, was wir tun müssen, um ihm unsere Reue zu zei gen. Ich möchte gern an eurem Feuer sitzen und mit euch reden, denn ihr scheint ein sehr altes und weises Volk zu sein.« Die Fremden beratschlagten kurz; dann sagte der Anführer: »Friedliebende Seeländer schei
nen ein wunderbares Volk zu sein. Gestern mittag wurde die Sonne auf einmal kalt, und das Land war mit Eiszapfen übersät. Heute nacht wird der Mond grün sein.« Rand drehte sich um. »Elgro«, sagte er, »sag’ ihnen, sie sollen ihre Schwerter zurückste cken.« Unwillig befolgten die Männer den Befehl. Die kleinen Fremden berieten erneut, und schließ lich schienen sie einen Entschluß gefaßt zu ha ben. Die Bogen senkten sich, und die Seelän der wurden auf einem ausgetretenen Pfad über den Berg geführt. Das Dorf, das sie schließlich erreichten, war extrem seltsam. Es gab kein einziges herausra gendes Gebäude, weder eine Häuptlingshütte noch ein Priesterhaus; von weitem konnte man überhaupt kein Gebäude erkennen, weil sich die mit Farn und Torf bedeckten niedri gen Dächer vollkommen dem Erdboden angli chen. Hier und da stieg Rauch auf; vor den Hütten saßen Frauen mit kleinen Kindern auf dem Arm und starrten die Passanten teil nahmslos an. Alle waren bis zur Hüfte nackt und ebenso untersetzt und unansehnlich wie die Männer. Es gab eine Art Versammlungshütte, vor der die Seeländer eine lange Zeit warten mußten.
Endlich trat ihr Führer wieder heraus und sag te feierlich: »Ich heiße Magro und begrüße euch. Unser großer und weiser Gott hat euch offenbar hierhergesandt, um seine Gäste zu sein. In einer Woche begehen wir sein großes Fest. Dann sollt ihr ihm eure Ehrerbietung er weisen; und euer Versprechen soll erfüllt wer den.« Er führte sie zu einer Hütte, die größer und länger war als die übrigen. Sie stand etwas ab seits auf einem Hügel, zu dessen Fuß ein Bach floß, der das Dorf mit Wasser versorgte. »Hier könnt ihr euch ausruhen«, sagte er. »Wir wer den euch zu essen und zu trinken bringen. Aber wir kennen nicht die Kunst des Heilens. Ich werde zu dem Schnellen für euren Freund beten; wenn er trotzdem stirbt, dann war es der Wille des Gottes.« Man brachte ihnen Suppe und Krüge mit schal riechendem Bier. Elgro nahm einen Schluck und spuckte ihn angewidert aus. »Nun, mein König«, sagte er, »ich hoffe, deine Buße hat dir bisher Freude bereitet. Sie hat uns ein Schiff, die halbe Mannschaft und bei nahe auch unser eigenes Leben gekostet; und wahrscheinlich werden noch mehr von uns die Heimat nicht wiedersehen. Ich würde viel drum geben, jetzt in dem großen Saal zu sitzen
und gemütlich Seeland-Bier zu schlürfen, um geben von Menschen, denen wir trauen kön nen.« Rand antwortete nicht und runzelte lediglich die Stirn. Später in dieser Nacht suchten sie Magro in seiner Hütte auf. Der kleine Häuptling saß mit einem Bierkrug vor dem Feuer, umgeben von seinen Frauen. Er begrüßte die Seeländer mit einem Rülpsen; Rand ließ sich demütig neben ihm nieder. »Hier ist etwas Gold«, sagte er. »Mein Volk ist dankbar. Und dies ist ein beson derer Schatz; ein Zauberstein, mit dessen Hilfe wir das Meer durchqueren. Er zeigt immer auf unsere Heimat.« Der Häuptling ergriff die Nadel an dem dün nen Faden, betrachtete sie gleichgültig und legte sie zur Seite. »Das Gold werden wir an nehmen«, sagte er. »Zaubersteine sind nutz los. Wir sind ein altes Volk und zu weise, um uns mit Spielzeug zu beschäftigen. Meinetwe gen können wir das Ding einer Frau um den Hals hängen.« Elgro zischte wie eine Schlange. Der Prinz leg te ihm die Hand auf den Arm. »Zuerst will ich dir von unserem Schiffbruch erzählen«, sagte er. »Wir segelten von zu Hause fort mit den Zeichen des Friedens am Schiff; denn ich hatte
gehört, daß es in diesem Land viele Götter gibt. Ich bin ein König in meinem Land; dies ist mein Tanzmann, ein Freund der Geister. Wir sind gekommen, um uns bei euch Rat zu ho len.« »Dann seid ihr Dummköpfe«, sagte der kleine Mann unumwunden. »So wie es sich für See länder und für Piraten gehört. Es gibt solche Götter; aber ihr Land liegt viele Tage südlich von hier. Ihr werdet es nicht schaffen, dorthin zu gelangen; und wenn ihr es doch tut, wird es um so schlimmer für euch sein.« Er ließ sich mehr Bier bringen. »Trinkt«, sagte er. »Wir sind ein gutherziges Volk, das Böses mit Gu tem vergilt.« Später ließ er sich auf ein Gespräch über Göt ter ein. »Vor langer Zeit gab es hier viele Götter und auch Geister«, sagte er. »Einige von ihnen leb ten in den Felsen, andere in den Bäumen und Bächen, manche im Erdboden. Damals waren wir alle ein einziges Volk auf den Inseln; wir lebten in Frieden und mit der Weisheit, die uns die Riesen überliefert hatten.« Er putzte sich geräuschvoll die Nase. »Dann kamen die Pferdekrieger; unsere prachtvollen Städte wurden zerstört. Sie eroberten den Norden. Dann kamen sie hierher. Auch unsere Dörfer
wurden zerstört. Manche von uns flohen in das Gebiet, wo das Gras dünn und der Boden un fruchtbar ist. Wir nahmen einen einzigen Gott mit, den ältesten und mächtigsten von allen.« Er hielt die kleine Tonfigur hoch, die an einer Kette um seinen Hals hing. »Der Hase ist schnell und weise«, sagte er. »Der Hase ver nichtet seine Feinde mit Hilfe von List in der Nacht. Der Hase ist der Herr der Berge und der Grasgebiete am Meer.« Er goß sich Bier nach. »Nun kommen die See länder«, sagte er. »Sie kämpfen gegen die Pfer dekrieger auf dem Land und rauben ihre Schif fe aus. Genau wie sie brennen sie nieder und morden. Ihr seid Seeländer. Trotzdem haben wir euch bei uns aufgenommen. Ihr sollt hier bleiben bis zum Fest unseres Gottes. Ihr sollt ihm eure Verehrung erweisen.« Rand runzelte die Stirn und fragte: »Häupt ling, wie soll das geschehen?« Aber Magro rülpste nur und zuckte die Schul tern. »Es wird nach unserem Brauch ablau fen.« »Ich hätte der kleinen Schlange am liebsten den Hals umgedreht, um ihr wenigstens die Weisheit des guten Benehmens beizubringen«, sagte Elgro bitter, als sie wieder in ihrer Hütte waren.
Rand lag mit weit geöffneten Augen da und starrte in die Dunkelheit. »Ich bin um des Frie dens und nicht um des Tötens willen gekom men, Elgro«, sagte er. Elgro schnaubte wütend. »Dein Wunsch nach Frieden wird sich erfüllen. Er wird in unser al ler Tod enden.« Als der Morgen anbrach, sahen sie, daß der Hase sich entschieden hatte – Cultrinn war tot. In den darauffolgenden Tagen lernten sie Ma gros Volk und seinen Gott näher kennen. Überall auf den umliegenden Hügeln standen seine Altäre. Aus ausgehöhlten Bäumen, aus Höhlen und kleinen Hütten leuchtete die klei ne Figur hervor. Er war schnell und schwach und vorsichtig; und er besaß das Land. Am vierten Tag begannen die Leute aus der Umgebung in das Dorf zu strömen. Ein ge schäftiges Treiben setzte ein. Brennholz wurde gesammelt, Zelte aufgeschlagen. Vor dem Dorf entstand ein riesiger Feuerplatz. Elgro beob achtete die Vorgänge mit wachsendem Miß trauen. »Ich finde, wir haben schon genug Göt ter, die wir verehren«, sagte er. »Außerdem ist die Sache für meinen Geschmack zu vage er klärt worden. Es gibt Arten der Verehrung, die wenig gemütlich und angenehm sind; und das weißt du ebensogut wie ich, Herr.«
Rand jedoch schüttelte den Kopf. »Dies ist ein gastfreundliches Volk«, sagte er. »Ihr Beneh men ist nicht das feinste, aber sie haben uns nichts Böses getan. Es wäre unhöflich, jetzt fortzugehen und nicht ihrem Fest beizuwoh nen. Außerdem« – er lächelte sanft – »hat ein seeländischer Tanzmann wohl wenig von ei nem Hasen zu befürchten.« Elgro zuckte die Achseln; aber von nun an ging er nur noch bewaffnet umher. Am Abend des fünften Tages begann die Pro zession. Von überall wurden die Abbilder des Hasen eingesammelt und auf je eine Sänfte ge stellt. Das Feuer wurde angezündet, und eine immer größer werdende Menge versammelte sich darum herum. Trommeln begannen zu schlagen; Bierkrüge machten die Runde; das Tanzen begann. Priester wirbelten und schri en, nur mit Fellkappen bekleidet. Der Lärm und die Hitze wurden immer inten siver; Rand spürte, wie es in seinem Kopf zu dröhnen anfing. Gierig griff er nach dem Bier, um vergessen zu können. Ihm brach der Schweiß aus; die Tänzer verschwammen vor seinen Augen. Dann schien sich alles zu dre hen. Er stand mit einem Schrei auf und fiel der Länge nach hin; er spürte vage die Hände, die ihn in die Hütte trugen. Zitternd und stöhnend
lag er auf dem Bett. Irgendwann nahm das To sen in seinen Ohren ab. Das Tanzen setzte sich bis zum Morgengrauen fort; aber es war weit weg. Sie krönten ihn zum König, setzten ihn auf den bemalten Holzthron in dem großen Saal des Hauses Crab. Einen Tag und eine Nacht lang saß er dort mit dem Schwert seines Vaters auf den Knien, während um ihn herum das Fest im Gange war. Aus jeder Festung Seelands kamen die Boten, die nach altem Brauch mit Blut und Salz ihre Freundschaft schworen; er empfing sie mit einem Lächeln und schenkte jedem von ihnen einen goldenen Ring. Aber im Laufe der Nacht wanderten seine Augen immer öfter zu den Fenstern unter dem Dach. Und noch im mer schwieg die Stimme, die er am dringlichs ten herbeiwünschte. Sie kamen im Morgengrauen; ein Dutzend finster dreinblickender Männer. Er empfing sie mit Elgro und Ranna, dem Oberpriester, an seiner Seite. Sie schritten hochmütig einher, mit schweren Waffen und dem Stab des Wolfes bei sich. Der König zog sich einen Tag lang zurück, nachdem er befohlen hatte, die Fremden mit
aller Gastfreundlichkeit zu behandeln. Schließlich traf er seine Entscheidung und rief die Männer zu sich. Sie kamen bewaffnet und mit der roten Kriegsschnur am Gürtel. Im Saal erhob sich ein Stimmengewirr, aber der König gebot Ruhe. »Laßt uns Geduld üben«, sagte er. »Es ist Unrecht geschehen; Blut wird Blut nicht wegwaschen. Und nun laßt unsere Freunde nä hertreten.« Er betrachtete jeden der Männer eingehend, bevor er fortfuhr. »Hört mir gut zu«, sagte er, »und berichtet jedes Wort eurem Herrn. Fen rick griff das Ansehen meines Vaters an, in dem er bestimmte Weidegebiete und Jagd rechte beanspruchte, die dem Hause Crab gehören. Deswegen zogen wir in den Krieg und stürmten seine Festung. Mit Engor jedoch stritten wir nicht; und das haben wir auch jetzt nicht vor. Trotzdem verlangt der Wolf Wieder gutmachung, und mit Recht.« Erneut wurden Stimmen laut, die er mit einer Handbewegung zum Schweigen brachte. »Wir behalten Fenricks Festung«, sagte er. »Das steht im Einklang mit den seeländischen Ge setzen. Ebenso beanspruchen wir das Land, das an das unsere grenzt, von der Festung bis hin zu Steffa’s Rock. Zwischen diesen Punkten
soll eine deutlich markierte Grenze gezogen werden, und das Land dahinter soll unserem Bruder Engor gehören. Sein Volk möge in Frie den dort leben. Das Vieh kann ich nicht zu rückgeben, denn es ist ein Teil der Kriegsbeu te. Aber ich…« Aufruhr im Saal. Er erhob sich; und allmäh lich wurde es wieder ruhig. »Ich jedoch«, fuhr er fort, »gebe den Beutean teil meines Vaters. Die Stoffe und den Mittel meerwein; die Gewürze und acht Barren Gold. Dazu die Waffen und das Kriegsschiff Seasna ke. Dies werde ich schriftlich niederlegen für euren König.« Er lächelte den Boten zu. »Wird es Eurem Herrn so recht sein?« Sie blickten einander schweigend an und zuckten die Schultern. Später sagte der Tanzmann: »Herr, vergiß nicht, was ich dir jetzt sage. Dieser Tag wird blutig bezahlt werden.« Rand schüttelte den Kopf. »Elgro«, sagte er, »können wir nicht in Frieden leben? Die Sonne ist für alle da, ebenso wie die Berge und die Fi sche im Meer. Ich habe meine Hand zur Ver söhnung ausgestreckt; das hat vor mir noch kein König getan. Laß uns das Leben doch ge nießen, denn es ist kurz genug.« Elgro wandte sich wortlos ab.
Die Nachricht von Rands Schenkung verbrei tete sich wie ein Lauffeuer über das ganze Land; überall schüttelten die Menschen die Köpfe und waren sich einig darüber, daß der König des Hauses Crab verrückt sein mußte. Aber Verrückte, die reich sind, sind nützliche Freunde; und zahllose Abordnungen erschie nen in der Festung mit allen möglichen Forde rungen. Manchmal schickte Rand sie fort, aber meistens gab er ihnen, was sie verlangten. In der Zwischenzeit wurde die Grenzlinie mar kiert. Engor besetzte das neugewonnene Land. Zwei Tage später kam die Nachricht, daß der Grenzzaun niedergerissen worden war und daß das Banner des Wolfes sich bis an Rands Gebiet vorgeschoben hatte. Er runzelte die Stirn, unternahm jedoch nichts gegen seinen Nachbarn. Kriegsschiffe begannen am hellichten Tage die Fischerboote des Crab-Volkes auszurau ben. Rand bemühte sich, die Entrüstung seiner Leute zu dämpfen, indem er den Schaden aus eigener Tasche bezahlte. Bewaffnete Fremde erschienen auf den Feldern, zerstörten die Saat und stahlen das Vieh. Rand sandte sehr mild formulierte Proteste an ihre Könige so wie weitere Geschenke, um den von ihm so herbeigesehnten Frieden zu erhalten. Auf die
se Weise verging ein unruhiger Sommer. Herbstliche Stürme setzten ein; und für eine Weile waren die Königtümer ruhig. Der Frühling brachte die Katastrophe, die El gro vorhergesagt hatte. Engor verkündete, daß er schon vor Einbruch des Winters auf dem Thron des Hauses Crab sitzen werde. Eilig wurde eine Versammlung einberufen. Ranna sprach sehr lange und verbittert; Elgro schimpfte; Egril schwor, er werde in den Dienst eines anderen Königs treten, wenn er noch weitere Beleidigungen ertragen müßte. Rand jedoch ließ sich nicht beeindrucken. Um Deandis willen würde er niemals Krieg gegen Engor führen. Das Volk murrte; man sprach von Rebellion und sogar von der Absetzung des Königs. Als eines Morgens eine Gruppe von Flüchtlingen vor der Festung auftauchte, die von Folter, Mord und Vergewaltigung berichtete, war das Maß voll. Rand stolperte mit grauem Gesicht in sein Zimmer und ließ Elgro und einen Schreiber zu sich kommen. Ein Bote, dem Gold mehr wert zu sein schien als sein Leben, wur de mit einem Ultimatum ausgesandt. Unruhig erwartete das Crab-Volk die Antwort. Sie ließ nicht lange auf sich warten, denn En gor hatte seine Zelte nicht mehr als zwölf Kilo
meter von der Festung seines Feindes entfernt aufgeschlagen. Schon in der folgenden Nacht rief Elgro den König aus seinem Schlafgemach. Das ganze Volk schien sich am großen Ein gangstor versammelt zu haben. Schweigend machten die Menschen dem König Platz. Rand erstarrte und wurde aschfahl. Vor dem Tor stand ein von Ochsen gezogener Karren, auf dem ein Holzpfahl errichtet wor den war. Die Gestalt, die daran festgebunden war, war von Kopf bis Fuß voll Blut. Die Augen des Boten blickten starr aus einer fleischigen Maske, von der der Penis herunterbaumelte. In jedem Crab-Dorf schlugen Trommeln. Im Schein der Feuer und Fackeln polierten die Männer ihre Waffen und schliffen ihre Äxte und Schwerter. Tag und Nacht strömten Solda ten in die Festung, und schließlich war Rand bereit. Er zeigte sich seinem Volk, das den jun gen und starken Sohn Ceddas begeistert be grüßte. Das Tor öffnete sich, und an der Spitze seiner Armee ritt der König gen Norden in den Krieg. Der Lärm, das Knallen der Peitschen und das Rattern der Räder verstummten. Unsanft wur
de er an der Schulter gepackt und gerüttelt. Er stöhnte und versuchte, sich aufzurichten. Vor der Hütte standen schweigend die Seelän der mit gezogenen Schwertern. Sechs von ih nen lagen leblos in der Morgendämmerung, daneben die Leiche eines Priesters. In seiner Hand hielt er noch immer eine Pfote. Lange Kratzer auf den Gesichtern der Toten bewie sen die Rache des Hasen. Das Dorf lag schlafend da. »Ich hoffe, dein Durst nach Weisheit ist jetzt gestillt, Herr«, sagte Elgro. »Bevor wir von hier fortgehen, werden wir dem kleinen Häuptling ein paar von unseren Fertigkeiten demonstrieren.« Rand schüttelte den Kopf. »Wenn wir das tun, sind wir alle tot«, sagte er bitter. »Alles, was wir retten können, ist unser Leben.« Wortlos verließ die kleine Gruppe das Dorf. Gegen Mittag hatten sie die Berge erreicht. Der immer dichter werdende Nebel rettete sie. Zweimal vernahmen sie die Stimmen der Ver folger in ihrer Nähe. Für die Nacht suchten sie unter einem Felsen Schutz. Als Elgro sich am nächsten Morgen erhob, war Dendril ver schwunden. Das Wetter verschlechterte sich. Tagelang fiel ein stetiger Regen nieder. In dem Nebel tapp
ten die Seeländer blind nach Süden; sie er nährten sich von kleinen Fischen und Vogelei ern. Sie wären verhungert, wenn sie nicht am Morgen des vierten Tages auf die Ruinen einer Stadt gestoßen wären. Unbehaglich wanderten sie durch die gepflas terten, mit Gras überwucherten Straßen. Wachtürme zeichneten sich verlassen und finster gegen den trüben Himmel ab. Ein brei ter Graben lag um die größte und höchste Fes tung, die sie bisher gesehen hatten. Aber auch sie war zerstört wie die Stadt. Am Rande des Ortes machte Egrith eine Ent deckung: auf einem Feld wuchsen seltsame Pflanzen mit fleischigen Stengeln und dicken Knollen an den Wurzeln. Roh schmeckten die Dinger süßlich und ein wenig nach Erde; ge kocht waren sie besser. Die Seeländer entfach ten in einem der dächerlosen Häuser ein Feuer und verbrachten den ganzen Tag damit, Topf um Topf von diesen fremdartigen Erdfrüchten zu kochen; sie schlangen sie so gierig hinunter, daß sie sich den Mund dabei verbrannten; schließlich war ihr Hunger gestillt. Sie ver brachten eine unruhige Nacht in der Ruine, schreckten bei jedem Geräusch auf. Die verlas sene Stadt schien von Geistern zu wimmeln;
sogar der Tanzmann saß mißtrauisch da, das Schwert und den Speer griffbereit neben sich. Am nächsten Morgen durchbrach die Sonne die Wolkendecke. Sie stopften sich die Taschen mit den restlichen Knollen voll. Endlich schien sich ihr Schicksal zu wenden, denn nun ließen sie die Hügel hinter sich. Hinter den Ruinen breitete sich eine große grüne Ebene aus. Am Horizont waren deutlich scharfe Bergspitzen zu erkennen, die in die blausilbrigen Wolken hineinragten. Der Anblick verlieh ihnen neuen Mut; Elgro lächelte und wies mit dem Arm dorthin. »Das da drüben scheint mir wie ge schaffen zu sein für Götter, Herr«, sagte er. Bevor sie jedoch die Hügel ganz hinabgestie gen waren, verschwand die Sonne erneut hin ter den Wolken, und der Regen war ebenso stark wie zuvor. Hartnäckig stapften sie wei ter, gönnten sich nur eine kurze Rast. Wenig später blieb Matt, der an der Spitze ging, plötz lich stehen. Rand, Egrith und Elgro gesellten sich zu ihm und betrachteten ratlos das Hin dernis, das ihren Weg versperrte. Es sah aus wie die Spitze einer riesigen er starrten Welle, mindestens sieben Meter hoch und schwarz und glänzend wie polierter Jet. Elgro näherte sich vorsichtig und stach mit sei ner Speerspitze zu. Kleine Stücke splitterten
ab; er hob eines davon auf und drehte es in sei ner Hand. Die Kanten waren messerscharf. Die Gruppe wandte sich nach rechts, um das Hindernis zu umgehen oder einen Weg dar über zu finden. Etwas weiter hatte der Rand der Klippe mehrere tiefe Risse. Vorsichtig klet terten sie in einer dieser Spalten hoch; oben angelangt blieben sie mit offenen Mündern stehen. So weit ihr Auge reichte, erstreckte sich der nackte und glänzende Felsen; nir gendwo wuchs ein Baum oder auch nur ein Grashalm. Weiter hinten ragten noch weitere von den wellenartigen Formen auf. Es war, als ob das ganze Land kochend und brennend hierhergeflossen wäre. »Der kleine Häuptling erwähnte Riesen, die einst hier gelebt haben sollen«, sagte Rand langsam. »Könnte das wahr sein, Elgro?« Der Tanzmann verzog das Gesicht. »Das weiß ich nicht«, antwortete er. »Aber wenn das hier ihr Werk ist, dann möchte ich ihnen nicht be gegnet sein.« Die Gruppe setzte ihren Weg nach Süden fort. Die Entfernungen waren noch größer, als sie gedacht hatten. Die Dunkelheit brach herein, ohne daß sie einen Unterschlupf gefunden hät ten. Mißmutig kauerten sie sich nieder und aßen die letzten Knollen. Um sie herum heulte
und pfiff der Wind wie eine ganze Legion von Geistern. Gegen Morgen wurde der Regen schwächer. Sie wrangen ihre Mäntel aus und schleppten sich weiter. Die wellenförmigen Erhebungen wurden immer steiler und höher und zwangen sie, große Umwege zu machen. Es war nach Mittag, als sie die letzte Klippe erklommen hat ten; und sie brauchten eine weitere Stunde, be vor sie einen sicheren Abstieg fanden. Sie rannten und sprangen die letzten Meter und rollten sich keuchend in dem unvorstellbaren Gras. Schließlich sagte Elgro: »Ich weiß nichts über Riesen oder über Götter; aber ein wenig kenne ich mich mit Dämonen aus; sie müssen es sein, die dieses Gebiet in Besitz genommen haben.« Als es Abend wurde, begegnete ihnen eine Herde unbewachter Schafe oberhalb eines be waldeten Tales. In einem Felsen fanden sie eine Höhle, in der sie sich niederließen und zum ersten Mal seit Wochen bequem und mit vollen Mägen schliefen. Elgro weckte seinen Herrn früh am nächsten Morgen, Rand rieb sich verschlafen das Ge sicht. Der Morgen war golden und still. Irgend wo sang ein Vogel. Rand sah Elgro fragend an; der jedoch legte den Finger auf die Lippen.
Nun hörte er es auch, weit entfernt, aber deut lich – ein hohes Pfeifen und das gleichmäßige Schlagen einer Trommel. Inzwischen waren auch die übrigen Männer erwacht und lauschten. Die Geräusche kamen näher. Vorsichtig kroch der Tanzmann aus der Höhle und spähte durch die Büsche. Er er starrte und winkte die anderen herbei. Unten im Tal bewegte sich eine seltsame Pro zession entlang. An der Spitze hüpften und sprangen die Musikanten; ihnen folgte eine Gruppe weiß gekleideter Männer; dann kam ein von Ochsen gezogener Karren, auf dem, festgebunden an einen Pfahl, ein schwarzhaa riges Mädchen in einem kurzen gelben Ge wand stand. Sie zerrte verzweifelt an ihren Fesseln. Hinter dem Karren gingen Priester; den Schluß des Zuges bildete eine buntgeklei dete Menschenmenge, die mit Pfeil und Bogen und Speeren bewaffnet war. Die Seeländer beobachteten, wie die Prozessi on den Hang erklomm. Oben angekommen, wurde der Karren zum Stehen gebracht und das Mädchen heruntergezerrt; und dann ver schwand die Menge hinter dem Bergkamm. Rand begann, gebückt auf die Stelle zuzulau fen; die anderen folgten ihm.
Schließlich konnten sie die Prozession wieder sehen, die sich am Ufer eines dunklen, ruhigen Sees unterhalb des Bergkammes um einen knorrigen, alten Baum versammelt hatte. Die Menschen schrien und gestikulierten; Hörner ertönten. Dann begann sich die Menge plötz lich hastig zurückzuziehen; das Mädchen wur de gefesselt am Ufer des Sees zurückgelassen, und die Prozession verschwand schließlich wieder hinter dem Bergkamm. Elgro zuckte die Schultern. »Das ist alles sehr eigenartig«, sagte er. »Entweder sind diese Leute verrückt, oder meine Augen haben mir einen Streich gespielt.« Von unten ertönte ein durchdringender Schrei. »Herr…«, sagte Elgro, aber es war schon zu spät. Rand hatte sich ohne ein Wort erhoben und rannte den Hang hinab. Elgro fluchte und folgte ihm, ebenso wie die restli chen Männer. Plötzlich griff Matt Elgro bei der Schulter und zeigte auf den See hinaus; vom gegenüberlie genden Ufer bewegte sich eine V-förmige Wel le auf sie zu. Eine Sekunde lang glaubten sie, eine helle Masse dahinter wahrzunehmen. Dann war sie verschwunden. Der See lag wie der ruhig und glatt da.
Als Elgro, noch immer fluchend, den Baum erreichte, hatte Rand bereits die Fesseln durchschnitten. Das Mädchen sank nach vorn; der Tanzmann packte sie und fragte: »Wie heißt dein Stamm? Dies hier ist Rand, mein Herr und ein seeländischer König. Wie heißt diese Gegend?« Sie wimmerte nur und zitterte am ganzen Körper. »In dem See war etwas«, sagte Galbritt. Sie blickten auf das Wasser hinaus, die Hände am Schwert. Seeungeheuer waren nicht unbekannt in See land. »Wir hätten sie lassen sollen, wo sie war«, sagte Egrith. »Das Ungeheuer wird wü tend sein.« Elgro schnaubte verächtlich. »Ein Seeunge heuer frißt nicht das Fleisch einer Jungfrau«, sagte er. »Es ernährt sich von Lachs und Al gen. Diese Leute sind Dummköpfe. Und über haupt – dies hier ist zu was Besserem gut.« Mit seinem Fuß schob er das Kleid des Madchen hoch und murmelte anerkennend: »Um eine Krankheit zu heilen, müssen wir einiges riskie ren«, sagte er. »Was für eine Krankheit?« fragte Galbritt ver ständnislos.
Elgro neigte den Kopf und grinste. »Die Krankheit unseres Königs«, flüsterte er. Von oben ertönte ein schriller Schrei. Elgro hob den Kopf; etwas Helles flog dicht an ihm vorbei. Ein dumpfer Schlag; und Galbritt tau melte. »Unser König«, sagte er und sank in sich zusammen. In seinem Rücken steckte ein mit bunten Federn geschmückter Pfeil. Elgro griff das Mädchen am Handgelenk und rannte. Geschosse zischten an ihm vorbei. Hinter ihm schrie Ensor auf und fiel kopfüber in den See. Die Seeländer flohen den Hang hinauf und auf einen vorspringenden Felsen zu. Dreißig bis vierzig Männer waren nun schon auf der anderen Seite sichtbar. Die Seeländer wichen zurück. Plötzlich rief Rand die anderen zu sich; in dem Felsen befand sich der Eingang zu einer Höhle. Er ließ sich hinunterfallen. Dumpf klang seine Stimme nach oben. Elgro folgte ihm und schob das Mädchen vor sich her. Auch die übrigen kamen nach. Sie be fanden sich in einem zerklüfteten Tunnel, der steil in die Dunkelheit abfiel. In der Nähe konnte man Wasser plätschern hören. Vom Höhlenspalt über ihnen ertönten aufge regte Stimmen. Sie wichen weiter zurück in die
Dunkelheit. Aber die Verfolger kamen nicht nach. »Elgro«, sagte Rand, »wohin könnte der Tun nel führen?« »Direkt in die Hölle, wenn du mich fragst«, erwiderte Elgro. »Ich habe keine besondere Lust, in die Hölle zu gehen«, sagte Egrith mit zitternder Stimme. Elgro wies mit einer Kopfbewegung zum Ein gang der Höhle. »Dann geh’ wieder zurück und nimm den schnelleren Weg«, sagte er. Er wandte sich der Dunkelheit zu und zog das Mädchen hinter sich her. Der Schacht war stellenweise nur einen Arm breit; bald war es vollkommen schwarz um sie herum; ein scharfer Fischgestank stach ihnen in die Lunge. Das Mädchen wimmerte leise. Plötzlich weitete sich der Gang, und von vorn kam ein gespenstisches graues Licht, das im mer heller wurde. Sie gelangten in eine kleine runde Höhle; am gegenüberliegenden Ende ging der Tunnel weiter; und nach oben führte ein Schacht, durch den sie ein Stück Himmel und Farnkraut an den Rändern sehen konn ten. »Wir könnten hinaufklettern, Elgro«, sag te Rand. Der Tanzmann runzelte die Stirn. »Hört!« sagte er.
Zunächst vernahmen sie nichts als das Plät schern des Wassers. Dann hörten sie weit ent fernt ein Gurgeln, das in einer Art Keuchen en dete. Das Geräusch wiederholte sich; und dazu kam noch ein anderes, ein kratzendes Rut schen, so als ob sich etwas von großem Ge wicht über den felsigen Boden schöbe. Das Mädchen schrie gellend auf. Elgro packte Rand am Arm. »Nach oben…«, befahl er. Die Gruppe machte sich hastig an den Auf stieg. Plötzlich quoll aus dem gegenüberliegen den Tunnel eine fahle Masse in den Raum. Eine glänzende Spitze tastete sich vorwärts. Rand nahm dunkelrote Muskelringe wahr und einen Mund, der sich öffnete und wieder zu schnappte. Das Mädchen schrie erneut auf; Egrith verlor den Halt und stürzte mit einem verzweifelten Schrei nach unten. Die Masse schwoll an wie ein Ballon und füllte den ganzen Raum aus; El gro hob sein Schwert und schlug zu. Die scharfe Schneide durchtrennte das Unge tüm. Es bäumte sich auf; Blut und Schaum quollen heraus; dann begann sich das Monster durch den Tunnel, durch den sie gekommen waren, wegzutasten. Nun konnten sie sehen, was es war – ein gigantischer Wurm.
Egrith lag leblos am Boden. Elgro stieg zu ihm hinab und drehte ihn mit der Speerspitze auf den Rücken. Wo das Fleisch mit dem Schleim in Berührung gekommen war, sah es weiß aus, als ob es verbrüht worden wäre; der Kopf hing grotesk zur Seite. »Er hat sich das Genick ge brochen«, sagte Elgro. Rand wandte sich zit ternd ab und kletterte weiter hinauf. Als sie in dieser Nacht in der Heide lagen, kroch der Tanzmann zu dem Mädchen und zog ihr den Mantel weg, den sie ihm gegeben hat ten. Sie begann sich zu winden und leise zu wimmern; er schlug ihr ungeduldig auf den Mund. »Sei still, du kleine Ratte«, sagte er. »Ich will dir nichts Böses; ich will dich nur wärmen. Komm jetzt und leg dich zu mir, und hör auf zu schluchzen; denn du bist für meinen Herrn, den König, bestimmt.« II Beim ersten Tageslicht erwachte er. Er tastete neben sich und war augenblicklich hellwach; sie war nicht mehr da. Er fluchte und richtete sich auf. Auf leisen Sohlen folgte er einem Pfad, der durch das Gebüsch führte. Weiter vorn knackte ein Zweig. Er duckte sich und
wartete. Eine in einen Mantel gehüllte Gestalt näherte sich. Er stürzte sich auf sie und hielt sie fest. »Laß mich los, du Hornochse«, sagte sie wü tend. »Sonst muß ich die Eier fallen lassen.« »Was?« Elgro sah sie verständnislos an. »Hier«, sagte sie; unter dem Mantel hielt sie einen Weidenkorb, der mit Eiern, Brot und Käse und einem Krug mit Milch gefüllt war. Er runzelte die Stirn. »Wo hast du das her?« frag te er. »Das ist meine Sache«, erwiderte sie schnip pisch. »Und überhaupt, es ist nicht für dich be stimmt, sondern für den Prinzen.« »Er ist kein Prinz«, sagte er. »Er ist der König des Hauses Crab.« Sie warf den Kopf zurück. »Wenn ich eine Ratte bin, werde ich ihn nennen, wie ich will. Bist du sein Diener?« Elgro reckte sich hoch. »Ich bin sein Tanz mann«, sagte er. Sie blickte ihn forschend an. »Ich habe schon von solchen Männern gehört. Kannst du Tote auferwecken?« »Wenn es sein muß, mein Kind«, sagte er. »Das möchte ich bezweifeln«, sagte sie hoch mütig. »Wenn die letzte Nacht ein Beispiel sein sollte, dann hat sich erwiesen, daß du nicht
mal die Lebenden erwecken kannst. Ich dachte immer, ihr Seeländer rühmt euch wegen eurer Verwegenheit.« Er blieb stehen und starrte sie an; lächelnd er widerte sie seinen Blick. »Na los doch«, sagte sie. »Jetzt schlag mich, um deine Männlichkeit zu beweisen.« »Als du letzte Nacht vor Angst wimmernd dalagst«, sagte er, »warst du dankbar für mei ne Gesellschaft.« »Ich habe vor Kälte gewimmert«, sagte sie. »Ich brauchte einen Mann, um mich zu wär men.« »Du bist gewärmt worden«, brummte Elgro. »Ja«, erwiderte sie, »durch deinen Mantel.« Sie kamen an einen klaren, leise plätschern den Bach. Sie gab ihm den Korb und sagte: »Wurmtöter, glaubst du, du könntest meine Eier für einen Moment bewachen?« Sie watete ins Wasser, zog sich das Kleid über den Kopf und sagte: »Ich habe so einen unangenehmen Geruch an mir. Ich glaube, es ist seeländischer Schweiß.« Während sie sich wusch, fragte sie: »Warum seid ihr so weit von eurer Heimat entfernt; ihr und euer König?« Er stierte ihre schlanke Figur und ihre klei nen festen Brüste an.
»Ich habe dich etwas gefragt, Tanzmann«, sagte sie. Er zuckte die Achseln. »Das ist eine lange Ge schichte, die niemand verstehen würde«, sagte er. »Warum bist du dir dessen so sicher?« fragte sie scharf. Er schwieg. »Wenn du dich sattgesehen hast«, sagte sie, »dann steck’ deine Augen in deinen Schädel zurück und mach das Bündel in dem Korb auf.« Das Bündel enthielt eine Hose und eine wolle ne Weste; die Kleidung eines Schafhirten in den Bergen. »Tragen die Frauen in Seeland schöne Kleider?« fragte sie, während sie sich abtrocknete und anzog. Vor seinen Augen tauchte das Bild einer be stimmten Königin auf, und er runzelte die Stirn. »Manche von ihnen«, sagte er. Als sie zurückkamen, fanden sie Rand und Matt allein vor. »Was ist geschehen?« fragte Elgro erschreckt. »Sie haben gesagt, ich sei unwürdig, ihr König zu sein«, antwortete Rand. »Da habe ich sie ge hen lassen.«
Elgro wurde dunkelrot vor Wut. »Wäre ich hier gewesen, dann wäre das nicht passiert«, sagte er. Rand schüttelte sanft den Kopf. »Es war ihre Entscheidung. Sie hätten mich auch im Schlaf umbringen können. Ich habe nicht das Recht, auf meinen Rang zu pochen.« Elgro wandte sich Matt zu. »Du hättest sie da von abhalten können«, fauchte er. »Denk mal nach, Tanzmann«, erwiderte er ru hig. »Was hätte ich allein gegen sechs Männer unternehmen können?« Elgro ballte die Fäuste; das Mädchen zuckte die Schultern. »Nun gut«, sagte sie. »Dann ha ben wir jetzt um so mehr zu essen. Tanzmann, meinst du, deine Künste könnten dazu ausrei chen, ein Feuer in Gang zu bringen?« Elgro blickte sie zornig an; aber Rand lächel te. »Ist das das kleine Ding, das du dem Wurm entrissen hast?« »Ja«, sagte Elgro kurz angebunden. Sie kniete demütig vor dem König nieder und berührte seine Handgelenke. »Diese Hände haben mein Leben gerettet. Nun gehört es dir, und du kannst darüber bestimmen.« Rand schüttelte den Kopf und strich ihr sanft das Haar aus dem Gesicht. »Dein Leben gehört dir allein, mein Kind. Und es war Elgro, der
das Ungeheuer tötete, nicht ich. Wie heißt du?« Sie senkte den Kopf. »Ratte«, sagte sie leise. Er runzelte die Stirn. »Das ist kein Name für dich«, sagte er. Sie errötete. »Er wird genügen, bis mein Herr einen anderen gewählt hat«, sagte sie. Rand betrachtete sie. »Sie weiß sich auszu drücken, Elgro«, sagte er. »Und sieh dir diese wohlgeformten Hände an. Sie ist ein hübsches Kind, und sie wird einmal eine sehr schöne Ehefrau für jemanden sein können.« Der Tanzmann war noch immer zu wütend, um zu antworten. Nachdem sie gegessen hatten, erfuhr sie, daß die Männer von Norden her gekommen waren, aus dem Land des Hasen. Sie runzelte die Stirn. »Dann seid ihr über den Schwarzen Fel sen gekommen«, sagte sie. »Wieviel Zeit habt ihr dort verbracht?« »Eine Nacht und zwei halbe Tage«, antwortete Elgro, der durch das gute Frühstück etwas mil der gestimmt war. Sie legte die Stirn erneut in Falten und kaute an ihrer Lippe. »Das war gefährlich«, sagte sie. »Wenn ihr euren König liebt, dann begeht die se Dummheit nicht noch einmal. Es leben Teu fel dort.«
»Wir haben keine Teufel gesehen«, sagte El gro. »Und selbst wenn – meine Zauberkünste sind mächtiger als sie. Ich fürchte mich nicht vor deinen Geschichten, Kind; der Felsen ist unbewohnt.« Aber ganz sicher klang seine Stimme nicht. Später zeigte sich, daß sie noch mehr über das Land wußte. »Dieses Gebiet«, sagte sie, »nennt sich Land der Hundert Seen; zur Zeit meiner Großväter wurde es von den Pferdekriegern erobert. Ihre große Festung liegt südlich von hier. Dahinter kommen das Land meines Va ters und das Meer. Dort leben die Menschen in Sicherheit und werden nicht Ungeheuern zum Fraß vorgeworfen.« »Habt ihr mächtige Götter?« fragte Rand in teressiert. »Wir haben Götter«, sagte sie zögernd. »Aber wie mächtig sie sind, kann ich nicht sagen. Je des Jahr wird die Unterdrückung der Pferde krieger unerträglicher für uns.« Ihr Gesicht erhellte sich. »Aber wir haben einen Weisen«, sagte sie. »Er lebt in einer Felshöhle und ist äl ter als die Bäume. Man sagt, daß er die Feuer riesen gesehen hat. Wenn mein Herr es wünscht, werde ich ihn zu ihm bringen.« Rand willigte ein, und die kleine Gruppe machte sich auf den Weg nach Süden. Sie wan
derten nachts und versteckten sich tagsüber. Sie passierten zahlreiche Dörfer, Farmen und Burgen; überall sahen sie Soldaten. Hätten sie das Mädchen nicht bei sich gehabt, wäre es den Seeländern schlecht ergangen; aber mor gens und abends verschwand sie und kehrte je desmal mit Nahrungsmitteln beladen zurück. Auf Elgros Fragen antwortete sie lediglich: »Ratten sind Diebe. Was erwartest du also von mir?« Am Abend des vierten Tages erreichten sie das Meer. Ratte wies mit dem Arm auf das Wasser hinaus. »Dort drüben liegt Long Spit mit der Festung, von der ich euch erzählt habe. Der Seekönig lebt dort, und mindestens tau send Männer bewachen ihn. Ich wurde auf ei nem Fischerboot überfallen und gefangenge nommen. Westlich von hier gibt es ein paar Dörfer. Wir brauchen ein kleines Fischerboot, um hinüberzugelangen.« Sie wanderten weiter und kamen an einigen schmutzigen Dörfern vorbei; aber die Boote waren fest vertäut und streng bewacht. Schließlich jedoch fanden sie ein etwas ver kommenes kleines Boot, das einsam am Strand lag. Unter großer Anstrengung schoben sie es ins Wasser und ruderten vorsichtig eine halbe Stunde lang, bevor sie das Segel setzten.
Eine leichte Brise wehte in Richtung Süden. Langsam verschwand die Festung in der Fer ne. Elgro stand neben Rand. »Herr«, sagte er sanft, »du hast dieses Land nun kennenge lernt. Es unterscheidet sich in nichts Wesentli chem von unserer Heimat; es gibt keine Geis terinseln. Außerdem« – er wies mit einer Kopfbewegung auf das Mädchen – »hast du Er satz für deinen Verlust gefunden, wenn mich meine Augen nicht täuschen. Laß uns heimse geln; es sind schon noch kleinere Schiffe als dieses nach Seeland gelangt.« Aber Rand schüttelte den Kopf. »Elgro«, sagte er, »das würde ich nie tun. Sie ist noch ein Kind, und ich habe ihr mein Wort gegeben. Was wären wir für Menschen, wenn wir sie erst vor dem Ungeheuer retten und dann in noch größeres Unglück stürzen würden?« Elgro stöhnte unterdrückt auf und schwieg. Sie kamen gut voran. Gegen Morgen sahen sie zu ihrer Linken eine breite Flußströmung. Rat te schrie freudig auf. Gegen Mittag wurde das Land gebirgig; in der Ferne erhob sich ein rie siges Massiv. »Das ist der Schneeberg«, erklär te sie. »Der höchste Berg im Land. Herr, bald wirst du in Sicherheit sein.«
Sie segelten auf die Küste zu und waren plötz lich von einer großen Anzahl von Fischerboo ten umringt. Ratte sprang im Bug auf und ab und rief. Von jedem der Boote ertönten die Antworten. Sie fuhren um eine Landzunge herum in eine sich verengende Flußmündung hinein. »Hier hatten die Urväter ihre Festung«, erklärte Rat te aufgeregt. »Dann kamen die Feuerriesen und versengten das Land. Nur wir, das Dra chenvolk, überlebten; wir sind das älteste Volk auf der Welt.« Hinter den Ruinen lag eine ansehnliche Stadt mit einem gut geschützten Hafen und einem weißgetünchten, großen Haus oben auf dem Berg. Sie zogen das Segel ein und legten am Kai an. Männer kamen auf sie zugerannt, mit Schwer tern und Speeren bewaffnet. Elgro fluchte; aber Ratte sprang an Land und jauchzte. »Dys erth, Cilcain«, rief sie. »Steckt eure Waffen weg und seid meinen Freunden behilflich; oder mein Vater wird euch die Ohren ab schneiden lassen.« Verwirrung entstand auf dem Kai. Einer der Männer warf sich zu Boden. Der Lärm nahm zu, und immer mehr Leute eilten herbei. »Rat te«, sagte Elgro, »wer ist dein Vater?«
»König Talsarno, der Herr der Westlichen Berge«, entgegnete sie lebhaft. Unzählige Fackeln tauchten den Saal in ein warmes Licht, das sich in den Gläsern und dem Silbergeschirr widerspiegelte. Auf den Ti schen türmten sich zartes Fleisch, gerösteter Fisch, mit Gewürzen und Äpfeln garnierte Spanferkel; Musikanten spielten auf einem er höhten Podest im Hintergrund; Diener husch ten zwischen den Gästen umher und füllten die Becher mit gelbem Mittelmeerwein. Die Wän de waren mit kostbaren Teppichen behangen. Es war ein Fest, wie es die Seeländer noch nie gesehen hatten. Genüßlich tranken sie von dem Wein und ließen sich und ihre Heldentat feiern. Talsarno saß am Kopf des langen Tisches, mit Ratte zu seiner Rechten; sie trug ein grünblau es Kleid, und ihr Haar war mit Blumen und sil bernen Blättern geschmückt. Der König klatschte in die Hände, und es wur de ruhig. »Nun, König Rand«, sagte er, »sage mir, was du dir wünschst. Du hast freie Wahl, denn meine Tochter ist mir mehr wert als alles andere auf der Welt.«
Rand lächelte. »Der Dank gebührt meinen Ge folgsleuten«, sagte er. »Elgro war es, der das Ungeheuer besiegte; und Matt dirigierte das Schiff.« Er spielte mit seinem Trinkbecher. »Ich suche nichts als Weisheit«, sagte er. »Un ser Volk nennt dieses Land die Geisterinseln. Wenn es möglich ist, hier die Toten aufzusu chen, dann muß ich es tun, oder ich werde nie mals meine Ruhe finden.« Der König zupfte an seinem Bart. »Dein Wunsch macht mich betrübt«, sagte er und fuhr mit leiserer Stimme fort: »Wenn ich dir aufgrund meines Alters einen Rat geben darf, dann laß mich dies sagen: Trauer vergeht; jede Art von Trauer. König Rand, du bist noch jung. Alles vergeht einmal.« »Dies wird nicht vergehen«, sagte Rand ernst. Talsarno zuckte die Schultern und leerte sei nen Becher. »Ich kenne mich in diesen Dingen nicht aus«, sagte er. »Aber meine Tochter hat dir bereits von dem Weisen erzählt. Seit mehr als vierzig Jahren scheut er nun schon das Sonnenlicht und verkehrt nur mit den Göttern. Mein Befehl wird seine Lippen öffnen, wenn es das ist, was du so inständig begehrst. Aber mein Inneres sagt mir, daß du dadurch nicht glücklich werden wirst.« Er legte Rand die Hand auf den Arm. »Laß mich ein gutes und
starkes Schiff für dich ausrüsten, das dich in deine Heimat zurückbringt. Du sollst Gold und Wein und Stoffe in Hülle und Fülle bekommen – eine Mitgift, zum Dank für das Leben meiner Tochter. Du wirst wieder in deinem eigenen Palast sitzen, und die Jahre werden dir Frie den bringen.« Aber Rand schwieg mit gesenkten Augen; und der andere seufzte. »Morgen werden meine Tochter und ich dich zu dem Weisen führen. Zwischen meinem Volk und dem Deinen soll von nun an ewige Freundschaft herrschen; das schwöre ich beim Drachen und bei den Söhnen Osins, die dieses Reich gründeten, als die Rie sen starben und die Zeit neu begann.« Die ganze Nacht hindurch warf sich Rand un ruhig auf seinem Lager hin und her und warte te sehnsüchtig auf die Dämmerung In einem anderen Raum des Hauses lag Ratte ebenso schlaflos da und benetzte die seidenen Laken mit ihren Tränen. Der Pfad führte durch ein grünes Tal und dann den Berghang hinauf. Ratte ritt an der Spitze auf einem kleinen Pony. Ihr folgten Myrnith, der Oberpriester, Rand mit seinen Männern und schließlich eine Gruppe von Talsarnos Sol
daten. Die Sonne brannte unbarmherzig her nieder. Erst oberhalb der Baumgrenze wurde die Luft etwas kühler. Das Mädchen hielt sein Pferd an. Am Rande des Pfades stand ein hoher, fremdartig bemal ter und geschnitzter Pfahl. Myrnith wandte sich zu Rand um. »Deine Männer werden hier warten«, sagte er mit ausdrucksloser Miene. »Das Gebiet, in das wir jetzt kommen, ist hei lig; nur Priester dürfen es betreten.« Elgro stieg von seinem Pferd. »Ich bin auch heilig«, sagte er. »Denn ich beschwöre die mächtigen Geister durch meinen Tanz. Außer dem bin ich der Diener des Königs. Wohin er geht, gehe ich auch.« Die Soldaten murmelten unruhig; Myrnith schüttelte den Kopf. »Es ist verboten«, sagte er. »Es ist das Gesetz des Drachen.« Der Tanzmann legte seine Hand an den Schwertgriff. »Wenn ein Gesetz auf ein ande res trifft«, sagte er gelassen, »dann prüft man gewöhnlich, welches von beiden das stärkere ist. Wer von euch will die Angelegenheit mit mir diskutieren?« Nach einer unbehaglichen Stille zuckte der Priester die Schultern. »Widersetze dich den Göttern, wenn du unbedingt willst«, sagte er. »Du wirst es ausbaden müssen.«
Ratte sprang vom Pferd und band es an dem Totempfahl fest. »Ich komme ebenfalls mit«, erklärte sie. »Denn als Prinzessin bin ich gleichzeitig Priesterin.« Myrnith blickte sie ernst an. »Du wirst nicht mögen, was du siehst«, sagte er. Der Pfad führte weiter bergan. Schließlich hob der Priester die Hand und sagte: »Wartet hier. Vielleicht wird der Weise zu euch spre chen, vielleicht auch nicht.« Er verschwand zwischen den Felsen. »Die Götter sind euch wohlgesonnen«, sagte er, als er nach einer Weile zurückkehrte. »Hört ihm zu, aber stellt ihm keine Fragen, denn er wird sie euch nicht beantworten.« Rand schritt voran, dicht gefolgt von Ratte und Elgro. In dem scheinbar massiven Felsen befand sich ein schmaler Spalt, der nach etwa zehn Schritten plötzlich weiter wurde. Der Kö nig blieb unwillkürlich stehen, und das Mäd chen klammerte sich an seinen Arm. Es war, als ob ungeheure Kräfte einmal den ganzen Berg gespalten hätten. Die Felswände zu beiden Seiten ragten zu einer unermeßli chen Höhe auf. Vom Himmel war nur ein schmaler silbriger Streifen zu sehen. Wenig Licht drang herein.
Ungefähr fünfzig Schritte weiter vorn trafen sich die Wände. Rand erkannte ein paar Stein stufen und Schüsseln mit verwesten Gaben. Darüber befand sich ein handbreites Loch, aus dem ein fürchterlicher Gestank kam; hier war der Einsiedler lebendig begraben. Sein Magen drehte sich um. Er würgte und wollte sich abwenden; aber eine Stimme ertön te dünn und gespenstisch aus der Zelle. »Vor langer, langer Zeit«, sagte sie, »kamen die Riesen. Elwin Mydroylin war damals König im Westen. Die Kriegsschiffe kamen. Auf ihren Decks wuchsen Wälder. Andere segelten unter dem Wasser und sandten Speere aus, die die Erde versengten. Die Saat verdorrte. Die Städ te der Riesen wurden zerstört. Elwin Mydroy lin und seine Söhne starben. Der Große Wan derer kam zum Weißen Berg. Er sah die Liebe der Frauen, und sie war unecht. Er sah die Lie be der Männer, und sie war unecht. Die Dra chen tauchten im Norden auf. Die Berge beb ten.« »Seher, sag’ uns, wo das Land der Geister ist!« rief Elgro. Die Worte hallten in der Schlucht wider. Die Stimme fuhr unbeirrt fort. »Elwin starb. Das Haus Mydroylin war ausgerottet. Haern kam, und Mofa, und Amlwych Penoleu. Die
Drachen kämpften im Norden, und die See drang herein. Das Unzerteilbare war zerteilt.« Der Gestank wurde unerträglicher. Rand brach der Schweiß aus, und er schwankte. Die Stimme ertönte wieder. »Das Volk der Seen nahm den Süden ein. Hinter dem Marschland entstand ein großer Wald. Wer die Götter sucht, muß ihn durchqueren. Es gelingt nie manden. Hinter dem Reich der Götter könnte das der Geister liegen.« Eine Hand kam aus dem Loch; sie war mit Dreck besudelt und voller offener Wunden, in denen das Blut pulsierte. Die Stimme erhob sich zu einem Lachen. »Komm her, Seeländer«, sagte sie. »Nimm meinen Segen entgegen.« Rand wurde schwindelig; er taumelte und fühlte, wie ihn der Tanzmann festhielt. Er schlug sich die Hände vors Gesicht und wandte sich ab; als er die Augen wieder öffnete, konn te er die Pferde und die Männer in der Ferne warten sehen. Er keuchte und zitterte; Elgro packte ihn bei den Schultern. »Nun haben wir die Weisheit gesehen«, sagte er mit zusam mengebissenen Zähnen. »Wohin geht es jetzt, Herr?«
Der Führer hielt sein Pferd an und sagte: »Folgt diesem Pfad. Jenseits der Wälder liegt das Reich des Marschland-Volkes. Die Men schen dort sind eifersüchtig und nicht vertrau enswürdig. Die Pferdekrieger halten den Sü den besetzt – von der Großen Ebene bis hin zum Meer. Wenn ihr dieses Gebiet durchque ren müßt, dann reist bei Nacht. Sie mögen kei ne Fremden.« Er wendete sein Pferd. »Hier endet Talsarnos Reich. Traut niemandem jenseits der Wälder; die Götter seien mit euch.« Er hob den Arm zum Gruß und galoppierte davon; Rand, Matt und Elgro ritten allein weiter. Sie ließen die Berge hinter sich und erreichten gegen Abend den Rand des Waldes. An einem leise plätschernden Bach hielten sie an und schlugen ihr Nachtlager auf. Elgro be gab sich zu Rand. »Ein Stück weiter hinten habe ich Pilze wachsen sehen«, sagte er. »Die werden ein leckeres Abendmahl abgeben. Ich werde nicht lange fortbleiben.« Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt davon. Als er außer Sichtweite war, verließ er den Pfad und lenkte das Pferd ins Unterholz. Der Reiter näherte sich langsam. Als er unter dem Baum herritt, ließ sich Elgro fallen und riß ihn mit sich zu Boden. Sie wand sich ver
zweifelt; Elgro hielt ihr ein Messer an die Keh le. »Antworte mir und versuche nicht, mich zu belügen«, zischte Elgro. »Bist du allein?« Sie wimmerte und nickte. »Frauen sind mein Verderben«, sagte Elgro. »Es war eine Frau, die meinen Herrn verzauberte und zu dem Kind machte, das er jetzt ist. Du hast mich ver spottet und verhöhnt. Und in deiner Dumm heit folgst du uns jetzt auch noch. Ist das ein Teil deines Spottes?« Sie stöhnte und versuchte, den Kopf zu schüt teln. »Wer hat dich gesandt, Ratte?« fragte er wei ter. »Dein Vater vielleicht?« Wieder schüttelte sie den Kopf und schloß keuchend die Augen. »Folgst du uns etwa, weil du dich in den König verliebt hast?« fragte Elgro. Sie versuchte zu husten und würgte. »Ich kenne das Theater mit der Liebe«, sagte Elgro. »Sie ist ein Fluch und eine Plage, wenn die Frauen ins Spiel kommen. Die wahre Liebe ist oben in den Sternen zu Hause. Die verrück ten Männer jedoch schmachten nach einem Gesicht oder einem Schenkel und meinen, die Welt geht unter, wenn sie nicht davon Besitz ergreifen können. Und das wißt ihr Frauen
ganz genau. Königreiche gehen unter, und Männer werden wahnsinnig euretwegen.« Er griff das Messer fester. »Kein Mann, der mich jemals verfolgte, hat es überlebt«, sagte er grimmig. »Aber meinem Herrn zuliebe wer de ich dich verschonen. Vielleicht ist das wah re Liebe; eine Liebe, die jenseits deines Ver ständnisses liegt.« Er ließ sie los und steckte sein Messer ein. »Es war dein Entschluß. Nun führe ihn auch bis zum Ende durch. Sei mei nem Herrn treu; oder mein Geist wird dich verfolgen, selbst, wenn ich schon tot sein soll te.« Taumelnd ging sie zu ihrem Pony, stieg auf und ritt hochaufgerichtet auf die Ebene zu. Sie wanderten durch das Sumpfgebiet weiter nach Süden. Von Zeit zu Zeit kamen sie an auf Holzpfählen errichteten Dörfern vorbei, aber niemand näherte sich ihnen oder bedrohte sie. Das Mädchen ertrug die Anstrengung der Rei se schweigend und ohne zu klagen. Jeden Abend kochte sie Trinkwasser für die kleine Gruppe und legte Schlingen aus, um damit Vö gel zu fangen. Oft ruhten ihre dunklen Augen auf Rand.
Eines Morgens stießen sie auf eine alte, von Gras und Unkraut überwucherte Straße, deren Oberfläche aus einem schwarzen Material be stand. Es gab solche Straßen auch hie und da in Seeland, aber niemand wußte mehr, wie sie entstanden waren. Rand war erstaunt, so et was hier vorzufinden; pfeilgerade führte die Straße nach Süden und verschwand in der Fer ne. Er beschloß, ihr zu folgen. An mehreren Stellen war die Straße über schwemmt, und die Pferde wateten bis zu den Knien im Wasser. Die Sonne brannte. Plötzlich brachte Ratte ihr Pferd abrupt zum Stillstand und starrte nach unten. Neben der Straße lag in dem kristallklaren Wasser der Körper eines Mädchens. Sie war nackt, ihre Haut weiß wie Marmor. Die Augen waren weit aufgerissen; ihr langes dunkles Haar umrahmte ihr Ge sicht. An Knien und Ellbogen war sie an Holz plöcken festgebunden. Zweimal sprach der König Ratte an, aber sie reagierte nicht. Schließlich ergriff er die Zügel ihres Pferdes und führte es fort. Sie protestier te nicht, blickte nur wortlos zu dem Ort des To des zurück. Als sie später ihr Nachtlager aufschlugen, be gab sie sich unbemerkt zum Ufer des endlosen Sees neben der Straße. Sie hockte sich nieder
und starrte lange Zeit dumpf vor sich hin. Dann zog sie das kleine Messer aus ihrem Gür tel, legte ihre Hand auf den Boden und schnitt sich ohne Umschweife die Pulsader auf. Es war Rand, der sie als erster vermißte. Be sorgt machte er sich auf die Suche und bückte sich mit einem Aufschrei zu ihr hinunter, als er sie schließlich zusammengekauert am Ufer entdeckte. Er versuchte, ihren Arm zu neh men; aber sie entzog sich ihm. »Laß mich al lein«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Es ist mein Blut, das ich vergießen kann, wie ich will.« Trotz ihrer Proteste trug er sie zum Lager zu rück und verband sie. »Warum hast du das ge tan?« fragte er. »Sind wir für dich so unerträg lich geworden, daß du dich davonschleichst und dir das Leben nehmen willst?« »Es hatte nichts mit mir zu tun«, antwortete sie bitter. »Mein Opfer sollte einen Geist beru higen. Myrnith würde die richtige Art und Weise kennen; alles, was ich hatte, war Blut.« »Wessen Geist?« »Bethan«, sagte sie. »Die Marsch-Götter ha ben sie genommen.« Er starrte sie an. »Gehörte sie zu deinem Volk?«
Sie lächelte verzerrt. »Wir haben zusammen gespielt«, sagte sie. »Später waren wir ineinan der verliebt. Sie verschwand vor einem Mo nat.« Sie schluckte. »Ich ruderte im Sturm auf das Meer hinaus, in der Hoffnung zu ertrin ken. Aber die Götter wollten mich nicht. Statt dessen fiel ich den Pferdekriegern in die Hän de.« Sie starrte ins Feuer. »Gehen wir nach Nor den«, sagte sie, »dann werfen sie uns den Seeungeheuern zum Fraß vor. Gehen wir nach Süden, ist es der Sumpf, der uns fordert. Die Seeländer greifen uns vom Westen her an, und ständig lauern die Pferdekrieger auf eine güns tige Gelegenheit, unser Land zu erobern. Wenn mein Vater nicht bald aufhört zu singen und den Weisen zu spielen, wird unser Volk untergehen. Und es wird wieder Friede herr schen auf der Erde.« Zum ersten Mal seit Ta gen blickte sie Elgro an. »Sie hat bestimmt nicht danach verlangt, dort festgebunden zu werden«, sagte sie. »Aber als Frau hat sie es zweifellos verdient.« Rand runzelte die Stirn; der Tanzmann erhob sich und ging fort. In dieser Nacht schlief sie neben dem König, eingewickelt in seine Decken. Zweimal wachte er auf und hörte sie schluchzen. Er zog sie zu
sich und streichelte sachte ihr Haar. »Du hät test uns nicht folgen sollen«, sagte er. »Deine Schuld war längst bezahlt; ich gehe in das Land der Geister, wo es nichts als Trauer gibt.« Als sie am nächsten Morgen aufbrachen, klag te der sonst so schweigsame Matt über Schmerzen im Kopf und im Rücken. Am Nach mittag lag das Sumpfgebiet hinter ihnen, aber Matts Zustand verschlechterte sich zusehends. Er begann, vor sich hinzumurmeln und Lie derfetzen zu brüllen. »Er hat das Sumpffieber«, sagte Ratte. »Zweimal habe ich ihn schlechtes Wasser trinken sehen, obwohl ich ihn gewarnt hatte; das ist nun das Ergeb nis.« Sie schaute Elgro durchdringend an. Am nächsten Morgen kam Matt kaum zu Be wußtsein. Elgro flocht eine Bahre, auf die sie den Kranken festbanden. Dann nahmen sie ih ren Weg wieder auf. Gegen Mittag stießen sie auf den Schwarzen Felsen. Rand wollte weiterreiten, aber Ratte hielt ihn zurück. »Herr«, sagte sie, »dort wartet der Tod. Niemand, der den Schwarzen. Felsen ein zweites Mal betreten hat, hat es überlebt.« Elgro stimmte ihr bei. »Meine Geister sagen mir, daß sie recht hat, Herr«, sagte er. »Es gibt viele Dämonen dort auf dem Felsen. Wir müs sen versuchen, ihn zu umgehen.«
Sie wandten sich nach Westen und zogen lan ge Zeit an dem Felsen entlang, bis er endlich in einem zerklüfteten Hang endete. Dankbar lenkten sie ihre Pferde wieder gen Süden. Das Land, in das sie nun kamen, war das selt samste, das sie bisher kennengelernt hatten. Meile für Meile erstreckten sich leuchtend grü ne Hügel, auf denen riesige, bizarr geformte Bäume wuchsen. Manche ragten wie Speere mehr als dreißig Meter hoch in den Himmel auf. Die Pferde scheuten, und Ratte sagte be sorgt: »Ich glaube, wir sollten lieber noch wei ter nach Osten reiten, Herr. Dies ist kein gutes Land; die Winde vom Schwarzen Felsen brin gen das Böse bis hierher. Man sagt, daß auch die Menschen hier zu Ungeheuern werden.« Aber Rand schüttelte den Kopf. »Wir werden uns trotzdem weiter südlich halten.« Als es Abend wurde, verschlechterte sich Matts Zustand drastisch; er fieberte und phan tasierte wild, bäumte sich plötzlich auf – und war tot. »Wir werden ihn nicht hier begraben«, sagte Rand mit tränenerstickter Stimme. »Seine Seele würde keine Ruhe finden.« Am nächsten Tag blieb die Sonne hinter einer niedrigen Wolkendecke verborgen; die Schwü le wurde schier unerträglich. Es donnerte und
blitzte, aber kein Regentropfen fiel. Gegen Abend kamen sie an den Rand einer riesigen Ebene. Rechts und links des Weges ragten hohe Pfähle auf; dunkle Haarbüschel beweg ten sich leise im Wind; oben auf den Spitzen steckten ausgebleichte Schädel. »Hier beginnt das Gebiet der Pferdekrieger«, sagte Rand und ritt weiter. Schließlich brach der Sturm los. Es regnete in Strömen, und sie waren weit entfernt von jegli chem Unterschlupf. Verbissen ritten sie durch die Nacht. Dann entdeckten sie plötzlich ein Dorf vor sich. Sie bewegten sich auf die Palisa den zu, zu erschöpft, um irgendwelche Vor sichtsmaßnahmen zu ergreifen. Nach einer Weile wurden ihre Rufe beantwortet, und nach mehreren Fragen und Antworten öffneten sich die Tore. Scheinbar hatte selbst hier im Süden der Name des Drachen noch einiges Gewicht. Die Hütten waren äußerst primitiv – in den Boden gegrabene Löcher, die mit Schilf abge deckt waren. In einer davon verbrachten sie eine ungemütliche Nacht, während der Sturm allmählich abflaute. Am folgenden Morgen begaben sie sich zu dem Häuptling, einem verbitterten, ergrauten alten Mann. »Die Pferde werden wir als Bezah lung für unsere Mühen behalten«, sagte er.
»Wenn ihr wirklich vorhabt, weiter gen Süden zu ziehen, dann müßt ihr euch als Sklaven ver kleiden; denn wir sind alle Sklaven hier. Die Pferdekrieger beherrschen das Land.« »Was weißt du über ihre Götter?« fragte Rand. Der alte Mann spuckte verächtlich aus. »Göt ter haben sie in Hülle und Fülle«, sagte er. »Manche davon verlangen Getreide, und so plündern sie unsere Felder; andere wollen Blut, und dann rauben sie uns unsere Kinder. Im Süden soll es einen besonders mächtigen Gott geben. Seine Priesterin stammt aus unse rem Volk; sie war so heilig, daß sie sie leben ließen: Sie hat auch schon einmal das Land der Geister besucht und ist eine Zeitlang dort ge blieben.« Rand packte ihn an der Schulter. »Häuptling«, sagte er erregt, »ist das die Wahrheit?« Der andere zuckte gleichmütig die Achseln. »Was soll ich von der Wahrheit wissen?« sagte er. »Einst waren wir frei, konnten unsere Äcker bestellen und das Vieh weiden. Jetzt sind wir Sklaven und küssen den Boden, so bald sich ein Pferdekrieger blicken läßt. Das sind Wahrheiten. Wenn es Götter gibt, dann
haben sie uns nie beachtet. Mehr weiß ich nicht.« Man gab ihnen Gewänder aus grobem, unge bleichtem Stoff. »Nun ist dein Herzenswunsch endlich in Erfüllung gegangen«, sagte Elgro verbittert zu dem König. »Du hast das Land verloren, das dir gehörte. Du hast deine Fes tung, ein Schiff und treue Gefolgsleute hinter dir gelassen. Wir besaßen Lösegeld, das wir für eine Nacht in einem nassen Erdloch herge ben mußten. Nun müssen wir die Köpfe sen ken und nach Bauernschweiß riechende Klei der tragen. Wenn das Weisheit ist, dann steht die Welt Kopf.« Er versteckte sein Schwert un ter seinem Gewand. »Ich nehme an, ein biß chen Dreck auf unseren Gesichtern dürfte an gemessen sein«, sagte er. »Vielleicht sollte ich mich in einem Schweinestall wälzen; wenn ich schon mitspielen muß, dann will ich es richtig tun.« Sie verließen das Dorf und wanderten weiter. Das Land war dicht besiedelt. Ständig begegne ten ihnen Kolonnen von Ochsenkarren und immer wieder Soldaten mit Stahlhelmen. Sie passierten Dörfer, die ebenso arm und trostlos waren wie das erste. Dazwischen lagen Städte mit starken Festungen, die denen in Seeland nicht unähnlich waren. Häufig warf man ihnen
mißtrauische Blicke zu, aber man ließ sie un gehindert weiterziehen. Allmählich wurde es wieder einsamer. Die Straße stieg und stieg, wand sich das kreidige Rückgrat des Landes hinauf. Schließlich näherten sie sich dem Meer. Sie kamen in ein Heidegebiet; am Horizont waren Berge zu erkennen. Ermattet und durstig schleppten sie sich die Straße entlang. Die Sonne ging gerade unter, als der Tanzmann sich umdrehte und zurückblickte. Eine stark bewaffnete Truppe von Soldaten galoppierte auf sie zu. Zu beiden Seiten der Straße erstreckte sich die Heide flach und leer; es gab kein Versteck. Demütig machten sie Platz und standen mit ge senkten Köpfen da, um die Reiter passieren zu lassen. Aber die Pferde hielten an; und ihr An führer, ein Mann mit langem Haar und einer Hakennase näherte sich ihnen. »Ich glaube, ihr seid die Leute, die wir suchen«, sagte er ohne Umschweife. »Wer von euch ist der See landkönig?« Rand schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich nicht, Herr«, sagte er. »Wir sind von der Küste gekommen, um in den Dörfern in der Großen Ebene Schafe zu verkaufen; das haben wir ge tan und sind jetzt auf dem Heimweg. Bitte, laß’
uns weiterziehen; denn es ist schon spät, und wir werden geschlagen werden.« Einer der Männer löste sich von der Truppe, ritt näher und lächelte. Er trug einen kostba ren Mantel; sein langes blondes Haar war sorgfältig zusammengebunden. »Gut gespro chen, Seelandkönig«, sagte er. »Aber du wirst deine Bescheidenheit einmal ablegen müssen. Wir hier im Süden sind ein aufrichtiges Volk und zudem bestrebt, euch zu unterhalten.« Elgro sprang blitzschnell auf ihn zu, aber der andere war schneller und setzte ihm das Schwert auf die Brust. »Laß deine Waffe fal len«, sagte der Pferdekrieger. Elgro gehorchte widerwillig. »Das ist seltsam, Dendril«, sagte er. »Im Land der Seen habe ich ein großes Ungeheuer getötet; aber scheinbar ist mir dabei ein weniger großes entwischt, und nun kleidet es sich in kostbare Gewänder.« Der Seeländer stieg ungerührt von seinem Pferd. »Wenn ich mich auf den Thron des Hau ses Crab setze – mit der Hilfe meiner Freunde hier«, sagte er, »dann werden meine Kleider noch prächtiger sein. Aber das wirst du nicht erleben.« Er wandte sich ab und sagte: »Tötet ihn. Die anderen werden keine Schwierigkei ten machen.«
Rand trat hastig vor. »Höre mich an«, sagte er. »Wir kamen mit friedlichen Absichten hier her. Wir wollten euch in euren prächtigen Städten aufsuchen und euch Geschenke brin gen. Aber wir erlitten Schiffbruch. Wir hatten nichts Böses im Sinn; wir kamen, um eure Göt ter zu ehren und uns von euren Priestern Weisheit vermitteln zu lassen.« »Nichts Böses?« fragte Dendril höhnisch. »Wo sind denn dann Cultrinn und Egril und Galbritt und all die anderen?« Er holte mit dem Schwert aus und schlug Rand zu Boden. Elgro hatte angespannt dagestanden; nun sag te er: »Gut. Wenn Könige fallen, dann ist es an der Zeit, sich nach neuen Herren umzusehen.« Er wandte sich den Pferdekriegern zu und breitete die Arme aus. »Ihr Herren«, sagte er, »ich will nicht vor meiner Zeit sterben. Außer dem besitze ich große Kräfte. In meiner Hei mat war ich ein mächtiger Zauberer.« »Tötet ihn«, sagte Dendril. Ein Schwert hob sich. »Wartet«, sagte er und wandte sich an den Anführer. »Du machst einen großen Fehler, wenn du mich tötest«, sagte er. »Ich könnte dir gute Dienste leisten. Mit meinem Tanz mache ich Männer stark, so daß sie in einer Nacht mit zwanzig Frauen schlafen und immer noch nach mehr verlan
gen. Meine Feinde beginnen zu stöhnen und vor Schmerzen zu schreien und nach dem Priester zu rufen. All das erreiche ich durch Schritte im Staub.« »Traue ihm nicht«, warnte Dendril, aber der Anführer zögerte. »Ich habe von solchen Tanzmännern gehört«, sagte er. »Er soll seine Kunst beweisen.« Er blickte Elgro an. »Tanz einen Schmerz herbei, Fremder. Wenn es dir gelingt, lasse ich dich le ben.« Elgro senkte den Kopf. »Herr«, sagte er de mütig, »es soll geschehen, wie du befiehlst.« Grinsend bildeten die Pferdemänner einen Kreis um ihn. Elgro tanzte wie noch nie zuvor. Er heulte und schrie und wand seinen Körper, sprang und hüpfte und schlug Räder. Staub wirbelte um ihn auf; und das Grinsen der Pfer dekrieger verwandelte sich in Gelächter. »Fang’ endlich mit der Zauberei an, Seeländer!« rief der Anführer. »Dies Gehüpfe ist kindisch.« Elgro führte seine Vorstellung mit einem Dut zend Saltos zum Höhepunkt. Mit dem letzten landete er neben dem Pferd des Anführers. Blitzschnell ergriff er den Dolch, der am Sattel hing und warf. Ein dumpfer Aufschlag; und Dendril starrte entsetzt an sich herunter. Er
wurde aschfahl und begann zu schwanken; er preßte die Hände gegen den Bauch und schrie. Elgro richtete sich auf. »Da hast du deinen Schmerz«, fauchte er. »Reicht das für einen kleinen Tanz?« Eine Sekunde lang herrschte erstarrtes Schweigen; dann handelten die Pferdekrieger. Langsam bewegte sich der Zug voran. Rand schwankte vor Erschöpfung und blickte um sich. Vor ihm, in einer Schneise in den Kreide felsen, erhob sich ein steiler Erdhügel, auf dem ein prachtvolles Haus stand. Aus den Fenstern leuchtete Fackellicht; rundherum brannten zahlreiche Feuer. Die Pferde trotte ten durch die Stadttore. Es wimmelte von Sol daten. Die Fesseln, mit denen er an das Pferd gebunden war, wurden durchschnitten. Neben ihm wurde das Mädchen aus dem Sattel gezo gen; er sah, wie der Tanzmann leblos zu Boden fiel. Hände ergriffen und schlugen ihn, bis er bewußtlos wurde. Das Rattern und Schlagen der Räder ließ den Boden vibrieren. Die Spitze des riesigen Rammbocks schwankte hin und her. Die Fes
tung war hell erleuchtet. Fackeln loderten auf den Palisaden; er sah Pfeile durch die Luft schwirren und sich in die hölzernen Mauern bohren. Ein Mann fiel mit einem gellenden Schrei. Wasser spritzte hoch auf; die flim mernden Lichtpunkte verschwanden. Die Räder schlugen. Er preßte die Brust gegen die Achse und stemmte die Füße gegen den festgetretenen Boden. Die Crab-Männer rann ten auf, und es ging schneller voran. Etwas schlug gegen seinen Schild und versank in der Dunkelheit. Vor ihm schrie ein Mann und fiel, die Hände vors Gesicht gepreßt. Stolpernd rannte er weiter. Noch ein Schrei; der Rammbock krachte ge gen das Tor der Festung mit einer Wucht, die ihn auf die Knie zwang. Geschosse prasselten auf das schützende Dach aus Fellen, unter dem die Seeländer, nackt bis zur Taille, hastig den riesigen Speer von seinem Tauwerk zu befrei en versuchten. Er starrte angestrengt durch die Sehschlitze seines Helmes. Wieder zisch ten Pfeile über seinen Kopf hinweg. Das Sin gen begann. »Hau… ruck, hau…ruck…« Er schloß sich der gemeinsamen Bewegung an; der Rammbock schwang. Die keilförmige, mit Eisen beschlagene Spitze donnerte gegen das Tor; und noch einmal. Plötzlich konnte man
durch die immer breiter werdende Spalte Flammenlicht sehen. Er rannte los, das Schwert in der Hand, den Schild schützend über den Kopf haltend. »Hau… ruck, hau… ruck…« Der Lichtschein wurde stärker. Das Tor löste sich aus den Angeln und stürzte nach innen. Der Rammbock schwang frei, er duckte sich und sprang nach vorn. Er kämpfte sich vor wärts, und seine Stimme dröhnte in seinem Helm; hinter ihm strömten die Crabmänner in die Halle wie eine Flutwelle. Da waren hölzerne Treppenstufen. Das Schwert schwingend rannte er hinauf. Ein Mann schrie auf und stürzte in die Tiefe. Da war eine vertraute Tür. Er warf sich mit aller Wucht dagegen; sie gab nach. Der Raum war voll von weinenden Frauen. Er stieß sie zur Seite und rannte in das Schlafgemach. Das Bett war zerwühlt das Zimmer leer. Da war noch eine weitere Tür. Er riß sie auf und taumelte zurück. Kalte Nachtluft schlug ihm entgegen; unter ihm lag das hell erleuch tete Truppenlager. In dem Saal brannte ein großes Feuer. An den Wänden hingen die Trophäen des Gottes; seine Lanzen und Speere und Schwerter. Der Raum
schien für ein Fest hergerichtet zu sein. Man schleppte ihn in eine Ecke, ließ das Mädchen neben ihm fallen. Striemen bedeckten ihr Ge sicht und ihren Hals. Man hatte ihr den Ver band vom Arm gerissen, und die Wunden wa ren wieder aufgeplatzt. Seine Handgelenke waren mit einem Leder riemen zusammengebunden. Ein Becher wur de ihm an den Mund gehalten; er trank. Der Wein machte ihn schwindelig. Trompeten ertönten, die Türen öffneten sich, und eine Prozession ergoß sich in den Saal. An der Spitze kamen Tänzer und Trompeter, da nach junge Mädchen mit Glocken, gefolgt von Wesen in Strohkostümen; und schließlich eine verhangene Sänfte, die von vier stämmigen Priestern getragen wurde. Sie war mit wippen den Maisbüscheln und dem Wahrzeichen des Gottes geschmückt – einem Phallus aus grü nen Schilfrohren. Die Sänfte wurde abgesetzt, und es wurde ganz still im Raum. Hinter den Vorhängen ertönte eine gereizte Stimme. »Tragt mich näher heran«, sagte sie. »Wie soll ich sie von hier sehen?« Die Träger gehorchten und hoben die Sänfte wieder auf die Schultern. Die Vorhänge teilten sich, und Rand starrte verwirrt auf eine Masse glänzender Federn; dann sah er schwarze Au
gen durch die Schlitze der Maske blitzen; und die Stimme sprach erneut. »Warum bist du hierhergekommen?« fragte sie. »Bringst du die Berührung, die Heilung verschafft? Deswe gen habe ich dich nämlich vor den Pferdekrie gern gerettet.« Er schluckte. »Wo ist mein Tanzmann?« frag te er. »Lebt er, oder ist er tot?« Die Maske erzitterte. »Was ist Leben?« sagte sie. »Was ist Tod? Ich, die auf dem Berg starb, kenne beides.« Sie schien den Faden verloren zu haben. »Wo ist der Gott?« fuhr sie schließ lich fort. »Was ist geschehen? Sieben Jahre lang war ich seine Braut. Niemals hat er mich im Stich gelassen… Seeländer, wo sind die Jah re geblieben? Kannst du mir das sagen?« Er senkte die Augen. »Ich kam, um Weisheit zu suchen nicht um sie zu geben.« Abrupt fragte die Stimme: »Ist dies deine Frau?« Er schüttelte gequält den Kopf. »Tu’ ihr nichts«, bat er. »Ihr Vater ist ein König im Westen. Er wird dem Gott reiche Geschenke machen.« Er schien nicht gehört worden zu sein. »Wie rot ihr Blut ist«, sagte die Priesterin. »Das Blut der Jugend…« Die Stimme verlor sich in einem Murmeln und erhob sich wieder. »Wo ist der
Gott? Was ist mit mir geschehen?« Dann, in ei nem hohen Schrei: »Ich brenne…« Rand stöhnte. »Mutter«, sagte er, »dies ist das Alter…« »Die Auserwählten können nicht altern…« kreischte sie und zog sich mit einer dürren braunen Hand die Maske vom Gesicht. Er wandte sich ab. Das verwelkte Gesicht war um die zerschlagene Nase herum eingefallen und zeigte eine große, häßliche Narbe. »Wir haben gesucht«, sagte sie. »Wir haben überall nach der Berührung gesucht, die Heilung bringen kann; aber niemand hat sie zu mir gebracht. Nun suchen wir erneut. Denn die Seele lebt im Fleisch, wie ein silberner Wurm. Wer den Wurm findet und ihn verschluckt, wird wieder jung; aber der Wurm ist flink und scheu.« Sie gab ein Zeichen, und ein großes, hölzernes Rad wurde hereingetragen und vor ihm abgesetzt. Der König erhob sich langsam, die Arme aus gestreckt wie ein plötzlich Erblindeter. Er schwankte; dann sprach das Wesen vor ihm. Es war nur noch schwer zu erkennen, daß es Elgro war, dessen Stimme da erklang. »Herr«, wisperte er, »ich glaube, deine Buße ist jetzt vollbracht.« Als die schreckliche Schlacht vorüber war, kehrte Stille in Engors Festung ein. Verzweifelt
rannte er durch die Flure. Er packte eine Frau an der Kehle und schrie nach der Königin; aber sie wimmerte nur. Er stieß sie fort und lief weiter. In dem großen Saal lagen zahllose Tote. Über all war der Boden mit Blut bedeckt. In einer Ecke saß ein Mann und hielt geduldig die Überreste einer Hand hoch; ganz in der Nähe standen einige seiner Männer schweigend um eine blutdurchtränkte Decke herum. Er wurde sich nicht bewußt, daß er um sich schlug und schrie; die Decke öffnete sich vor seinen Augen. Er wandte sich ab, die Hände vor das Gesicht gepreßt; er hatte die aschblon den Locken erkannt. Mit einem wilden Schrei sprang er auf und zer riß dabei seine Fesseln. Er ergriff ein Schwert und schlug blind zu; Schaum stand ihm vor dem Mund. Und er schlug für Egril und Cult rinn, Galbritt und Ensor und Matt. Er schlug für Cedda und Engor und für Deandi, die Fee; und jeder seiner Schläge kostete ein Leben. Irgendwann kam er wieder zur Besinnung; es war niemand mehr da, der sich ihm zur Wehr setzte. Er rannte auf das zusammengekauerte Mädchen zu, hob sie auf; in diesem Moment
flogen die Türen zum Saal auf, und er erkannte auf den Schilden der Männer das Wahrzeichen Seelands. Er rannte hinaus; das Haus war erfüllt von Rauch und Qualm. Das Feuer verbreitete sich schnell und hatte bereits das Dach erreicht. Im Nu stand das Gotteshaus in Flammen und er leuchtete die Bergspitze glühend rot. Er klet terte über den Schutzwall, zog das Mädchen hinter sich her. Stolpernd und taumelnd rann ten sie den Hang hinunter. Schließlich kamen sie an einen Bach. Er sprang hinein, zog sie hinter sich her; stöhnend, die Hände an die Schläfen gepreßt, watete er hindurch; plötzlich hörte er sie rufen. Taumelnd drehte er sich um. Sie kauerte am Ufer, zitternd und wei nend. Behutsam hob er sie hoch und trug sie durch das Wasser. Die zwei Gestalten bewegten sich langsam vor an, den langen grasbewachsenen Abhang hin unter. Dahinter lag das Meer. Der Morgen dämmerte, und das Land war in ein blasses graues Licht getaucht. Der Rand der Klippe war mit Büschen be wachsen. Vorsichtig spähte Rand hindurch. Unten am Strand lagen Kriegsschiffe vor An
ker. Wachfeuer brannten; Fahnen flatterten im Wind. Er kniff die Augen zusammen. »Das sind Seeländer«, sagte er erleichtert. »Unsere Freunde!« Er blickte sie an. »Sie sind alle tot«, sagte er. »Matt, Egrith und Egril und seine Söhne. Wenn sie in der Hölle ist, dann weiß sie, daß ich ihr zu folgen versucht habe. Ich habe mei ne besten Leute gesandt, um es ihr zu sagen.« Er hob das Mädchen erneut auf; ermattet leg te sie ihren Kopf an seine Schulter. »Wir sind alle tot«, sagte er. »Ratte ist tot. Kind, wie heißt du?« »Mavri«, sagte sie mit leiser Stimme. Er runzelte die Stirn. »In meinem Land steht eine Festung«, sagte er. »Wenn ich dorthin ge lange, werde ich versuchen, ein König zu sein.« Sie antwortete nicht; und er begann, den Pfad zu den Schiffen hinunter zu steigen. Die Kriegsschiffe verschwinden vor seinen Au gen; und Potts fühlt sich zufrieden. Die Krise ist überstanden. Er ist auf dem Wege der Bes serung, das merkt er deutlich. Wie nach einem schlimmen Asthma-Anfall. Er hat die Zeit der Genesung auch früher immer genossen; dann
wanderte er im Park umher in dem Bewußt sein, daß er noch eine Woche ohne Schule vor sich hatte. Sie wird nun sehr bald bei ihm sein. Er über legt, wie er wohl aussieht. Nicht allzu schlecht vielleicht. Er hat eine Menge abgenommen; ta gelang hat er nur Wasser getrunken und nichts gegessen. Wenn sie hereinkommt, wird er ein fach und offen mit ihr sprechen. Er versteht nicht, warum er nicht schon früher gemerkt hat, wie einfach das alles ist mit der Liebe. Er überlegt, daß er vielleicht etwas unterneh men sollte. Zum Beispiel nach draußen gehen und den Champ starten. Der Wagen wird es nötig haben, mal wieder zu laufen; die Batterie wird fast leer sein. Später vielleicht. Noch nicht jetzt gleich. Er schaut sich in dem kleinen Zimmer um. Er sieht den Kocher, die Tassen und Teller. Er wird aufräumen müssen. Neben ihm liegt die Pistole. Mit Erstaunen nimmt er einige Rost stellen wahr. Früher hätte ihn das entsetzt, aber nun kann er darüber lächeln. Sie hat ih ren Dienst getan. Er hat gewonnen, hat sie alle geschlagen. Sonnenlicht dringt durch das Fenster über ihm in den Raum. Es muß Abend sein. Das gol
dene Licht liegt über den Hügeln, der Heide und dem Meer. Er lehnt sich zurück. Er sieht vor sich riesige, majestätische Festungen auf den Bergen. Selt same Festungen aus weiß gestrichenem Holz mit massiven und grasbewachsenen Außen mauern. Er lächelt und schließt die Augen. Wieder einmal dreht sich das Rad und verwan delt den Sommer in Winter, den Winter in einen goldenen Frühling…
SIEBEN USK, DER HOFNARR I Und wieder war ein Jahr vergangen. Ein leich ter Frühlingswind wehte über das Land und die Festung in der Kreidefelsenschlucht. In seinem Zimmer hoch oben in der Burg saß König Marck und blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Er hielt eine feine Gänsefe der in der Hand; vor ihm auf dem Tisch waren Pergamentbogen ausgebreitet. Er hüllte sich fester in sein schäbiges Gewand und zog den Stuhl näher heran. »Dies ist die Geschichte von Rand, dem Sohn Ceddas«, sagte er zu sich selbst. »Derselbe Rand, der in der UsgeardSage der Wolftöter genannt wird. Es steht fest, daß er gegen Fenricca kämpfte, dessen Sippe noch heute den Wolfsstab als Wahrzeichen trägt. Aber was ist mit dieser anderen Ge schichte, die besagt, daß er in das Land der To ten reiste und Geistern begegnete? Außerdem soll er auch noch eine Prinzessin vor einem Drachen gerettet haben. »Seeungeheuer« ist
die Bezeichnung in der Usgeard-Sage. Das Seeungeheuer ist wiederum das Wahrzeichen der Fishgard-Stämme; was läßt sich daraus folgern?« »Daß die Dämonen auch schon deine Vorfah ren im Griff hatten«, sagte eine trockene Stim me hinter ihm. »Denn ihre Phantasien reich ten weiter als ihre Füße, und die Fähigkeiten ihrer Zungen stellen alles in den Schatten.« Marck sah auf und erblickte Usk, seinen Hof narren, hinter sich. Er bot einen seltsamen An blick – ein stämmiger Körper ruhte auf spin deldürren Beinen; die tiefliegenden schwarzen Augen über der ausgeprägten Hakennase hat ten einen boshaften Ausdruck. Seine mit Glöckchen besetzte Narrenkappe saß wie ge wöhnlich schief auf dem kurzgeschorenen Kopf. »Was hat der Sippen forscher Neues her ausgefunden?« fragte er. Marck begann zu erzählen. »Es war Rand, der über die Meerenge in das Land der Felsen kam«, sagte er. »Er brachte das Wahrzeichen des Hauses Crab mit sich, das mein Haus heu te noch trägt; die Blutsverbindungen sind ein deutig. Damals war Arco, der Weiße, König der Felsen. Auch seine Vorfahren waren Könige in Seeland gewesen. Dieser Arco also gewährte Rand in einer spöttischen Geste so viel Land,
wie ein Tierfell bedecken könnte; aber Rand und seine Frauen – in der Edva-Sage wird er Rand, der Schlaue, genannt – schnitten das Fell in so feine Streifen, daß der Riemen einen riesigen Hügel einkreisen konnte. Das ist der Teil der Geschichte, der mir am allerbesten ge fällt.« Usk seufzte auf, aber sein Herr war zu sehr beschäftigt, um irgend etwas um sich herum wahrzunehmen. Er fuhr sich durch das unge pflegte, gelblich-graue Haar. »Rand hatte zahl reiche Töchter, aber keinen einzigen Sohn«, fuhr er fort. »So ging die Herrschaft an Renlac, den Vater meines Urgroßvaters Bralt, über, in dem er Ellean, die Blonde, heiratete.« Er stockte. »In alten Erzählungen heißt es, daß dieses Land, die Nebelinseln, einst Geisterin seln genannt wurden. Könnte das bedeuten, daß…« Er blätterte in seinen Papieren. »Könn te das bedeuten, daß Rand, der Wolftöter, hierher kam, um sich eine Braut zu suchen? Ist diese Geschichte wahr?« Usk setzte sich und legte die Füße auf den Rand des Tisches. »Im Westen gab es einmal ein sogenanntes Drachenvolk«, sagte er. »Das hat mir mein Vater erzählt. Dieses Volk wurde von den Pferdekriegern unterjocht, bevor es unter die Herrschaft der Seeländer kam.«
»Ellean, Rands Tochter«, sagte Marck nach denklich, »hatte den Drachen als ihr Wahrzei chen. Hm, das wiederum würde bedeuten…« Hier unterbrach ihn der Hofnarr ungeduldig und setzte den Satz fort: »… daß du einen An spruch auf die westlichen Gebiete hast.« Er sprang auf und stellte sich ans Fenster. »Die Luft zittert vor erwachendem Leben, Herr. Warum sitzt du hier untätig herum?« Einen Moment lang trat ein fast sehnsüchtiger Blick in Marcks Augen; aber dann schüttelte er den Kopf. »Schweige, Narr«, sagte er. »Bald schon werden diese Länder eins sein, unter der Herrschaft König Athas. Dann werden Bü chereien gebraucht werden; und Bücher, in denen geschrieben steht, wie wir zu Ruhm und Macht kamen.« Usk verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. »Ich habe gehört, Herr, daß weise Männer un sterblich sind. Sage mir, stimmt das?« »Niemand ist unsterblich«, erwiderte Marck. »Weder König noch Untertan. Das sollten so gar Narren wissen. Was willst du damit sagen?« »Wer wird dir auf deinen Thron folgen, Kö nig?« sagte Usk. »Für wen werden all die Schätze gehortet?« Er ging zur Tür. »Ich über lasse dich jetzt deiner Arbeit. Vielleicht wer
den die Vögel dir zuliebe leise singen, um dich nicht zu stören.« Die Tür schlug hinter ihm zu. Marck fuhr sich erneut durchs Haar, setzte zum Schreiben an, warf die Feder hin und stellte sich ans Fenster. Der Wind trug den Geruch des frischen Grases heran; und, wie zum erstenmal, nahm er den klaren blauen Himmel wahr. Die Frühlingsnacht war kühl, und in den Häu sern rund um die Burg brannten flackernde Feuer. Oben im Turm schien ein einsames Licht, dort, wo der Herr des Hauses Gate noch immer mit seiner Arbeit beschäftigt war. An einem der Feuer saß eine Gruppe von Ge folgsleuten, unter ihnen auch Thoma, der be leibte Seneschall des Königs, und der Hofnarr. »Sage, Seneschall«, wandte sich Usk an Tho ma, der genüßlich an einem Hühnerschenkel nagte, »war nicht dein Großvater ein Pferde krieger?« Der andere machte eine abwehrende Handbe wegung. »Das ist lange her«, sagte er. »Längst vorbei.« »Und es ist gut so«, mischte sich einer der in der Nähe sitzenden Soldaten ein. »Die Seelän der beherrschen dieses Land, Hofnarr; das
solltest du dir gut merken.« Er stand auf und ging weg. »Trotzdem ist und bleibt es eine Tatsache, daß unsere Väter dieses Land eroberten«, sagte Usk. »Sie eroberten es und waren die Herr scher darin, bevor die Seeländer kamen.« Thoma zuckte die Schultern. »Was vorbei ist, ist vorbei«, sagte er philosophierend. »Ich für mein Teil kann mich nicht beschweren. Mir geht es gut. Aber jetzt erzähl’ mir mal, was du mit deinem Gebrabbel von einer Frau für un seren König meinst.« »Ich habe ihm viele Jahre gedient, Seneschall«, sagte Usk. »Und ich habe immer nur sein Bestes gewünscht, wie wir alle. Es be kümmert mich, ihn so einsam und allein zu se hen. Es tut ihm nicht gut. Sehr behutsam und vorsichtig habe ich versucht, ihm den Gedan ken an eine Heirat schmackhaft zu machen. Nun brauche ich deine Hilfe; denn er muß un bedingt verheiratet werden, und das möglichst bald.« »Und mit wem würdest du ihn verheiraten?« fragte eine Küchenmagd mit leisem Spott in der Stimme. Usk lächelte geheimnisvoll. » Ich wüßte je manden von hochadeliger Abstammung; äu
ßerst passend für einen König.« Mehr war aus ihm jedoch nicht herauszubringen. Stunden später, als er allein am Feuer saß, er tönte die Glocke des Königs. Der Hofnarr blickte auf. »Du kannst klingeln bis du schwarz wirst«, murmelte er. »Usk ist bei seinen Vor fahren…« Marck lag in der Stille des Morgens da und döste vor sich hin. Immer mehr schienen diese Wachträume sein Dasein zu beherrschen und auszufüllen und ihn der Wirklichkeit zu ent rücken. Irgendwann hatte er einmal am Leben teilgenommen, Wein und Wärme, Lachen und Gemeinschaft genossen. Wann hatten diese Dinge aufgehört zu existieren? Er hatte viele Träume. Vor langer Zeit hatte jemand – es konnte nicht er selbst gewesen sein – in Mittelmeerpalästen gesessen und den Worten weiser Männer gelauscht. Auch ver schleierte Frauen waren dort gewesen; in sei ner Erinnerung schienen sie ihm wie Wesen aus einer anderen Welt. Der Traum wurde von einem nächsten abge löst. Kriegslärm ertönte. Altred war der Ver walter des Reiches, als der Tod seines Vaters Marck aus seinen Studien riß. Altred nahm die
Frau seines Bruders und spaltete das König tum entzwei. In jenem großen Krieg folgte das Volk des Hauses Crab dem Banner Athas. Nach langen, verlustreichen Kämpfen kam die letzte große Belagerung; und Altred mußte sterben. Aber der Kriegslärm verfolgte Marck bis in seine Träume; um sich seinen Seelenfrieden zu erkaufen, begann Marck, die Geschichte seines Landes aufzuschreiben. Er stellte Schreiber an; eine Schriftrolle wurde König Atha zuge sandt, und dieser überhäufte den Gelehrten mit Geschenken und Ehren. Marck verdoppel te seine Anstrengungen. Sein Ruhm wuchs ständig. Er verfolgte die Wanderungen der Pferdekrieger bis zurück zu ihrer Heimat am Mittelmeer; er erforschte ihre Götter und Geister, die den Hügel bevölkerten, auf dem nun seine Festung stand. Von seinem Fenster aus blickte der König auf einen Kreidefelsen; zu bestimmten Zeiten, an Sommerabenden und in der Dämmerung, konnte man Linien dort erahnen. Manchmal sah man einen erho benen Knüppel, manchmal den Kopf und die Schultern eines riesigen Mannes; Marck wies die Geschichten über den Ursprung der Figur als Märchen zurück; aber immer wieder wurde sein Blick angezogen. Seine seeländischen Vorfahren kannten die Kreidekunst nicht;
trotzdem verfaßte er eine Schrift, in der er darlegte, wie einfach es war, die grüne Gras schicht zu entfernen. Atha sah eine neue Mög lichkeit, seine Macht zu demonstrieren und be fahl, die Grenzen seines Reiches auf diese Weise mit seinem Wahrzeichen überall dort zu markieren, wo der Boden sich dafür eignete; und so entstanden weiße und manchmal auch rote und braune Pferde, über das ganze Land verteilt. Dann befiel Marck eines Tages ein seltsames Unbehagen, ausgelöst durch das unbeschwerte Lachen eines Kindes, das zu seinem Zimmer hinaufdrang. Er verließ seinen Arbeitsplatz und betrachtete sich in einem Spiegel, zog an dem strähnigen Haar, das die Jahre grau ge färbt hatten. Er war alt, und die Räume in der Festung waren kalt, und sein Publikum be stand aus einem Hofnarren. Die Jahre des Glücks waren vorbei; ein Gefühl der Nutzlosig keit bemächtigte sich seiner; sein Seelenfrie den war zerstört. Er arbeitete an seinem bisher größten Pro jekt, einer Geschichte der Eroberungen und Reisen der Seeland-Stämme, jedoch ohne jegli chen Elan. Nächtelang saß er regungslos an seinem Tisch und starrte auf das leere Papier. Von Zeit zu Zeit sahen ihn seine Untertanen
rastlos und vor sich hinmurmelnd über die Felder reiten. Nach einer Weile ging es ihm wieder besser. Ein Teil seiner Freude und Arbeitsenergie kehrte zurück; er empfing weiterhin Gelehrte aus fernen Ländern, aber seine Augen und sei ne Gedanken schweiften ständig ab, während er ihren Reden zuhörte. Etwa zu diesem Zeit punkt begann Usk mit seinen Schmeicheleien; und seltsame Gedanken formten sich im Kopf des Königs. Eines Morgens erwachte er früh, zog sich sei ne Reitkleidung an und schwang sich auf sein Pferd. Er ließ die Festung und das Dorf am Fuße des Hügels hinter sich und ritt, tief in Ge danken versunken, dahin, bis er sich plötzlich am Rand einer Kreideklippe wiederfand; unter und vor ihm erstreckte sich das endlose Meer. Er war viel weiter geritten, als er vorgehabt hatte. Er stieg vom Pferd, lehnte sich gegen einen Felsbrocken und schloß die Augen; und er hatte eine Vision. Ihre Haut hatte einen cremig-braunen Ton; ihr volles dunkles Haar glänzte; und in ihren riesigen Augen spiegelten sich Länder und Meere. Sie überragte alles, und trotzdem wa ren die Hände, die sie auf die seinen legte, schlank und klein wie die eines Kindes. Er
fragte sich, wie so etwas sein konnte; und sie lachte, hatte seine Gedanken durchschaut. »Ich bin das, was du gesucht hast«, sagte sie. »Ich bin das Land und das Meer, der Schnee auf fernen Bergen; Sommernebel, das sprie ßende Korn, die Sonne auf dem Wasser…« Das Blut pochte in seinen Adern; er fühlte sich auf einmal glücklich und leicht. Sie erzähl te ihm von prächtigen Städten und Festungen, von breiten Straßen mit vielen Menschen; dort hatte sie einst, zur Zeit der Riesen gelebt. Sie hatte kurze bunte Kleider getragen und in ei nem gelblich erleuchteten Raum Bier ausge schenkt. Und dann hatte sie an einem Berg hang gelegen, in einem Rehfell und mit einer Korallenkette um den Hals. Sie, die in den Flammen umgekommen war, wurde als Prin zessin des Westens wiedergeboren; während die Drachen kämpften und Städte und Götter fielen und wieder aufstiegen. »Und einmal«, sagte sie, »ging ich tief ins Schilf hinein, und wundervolle Dinge geschahen dort. Diese Din ge sollst du auch tun; denn ein König muß sein Reich heiraten. Einst war ich Mata. Dann war ich die Auferstandene. Jetzt heiße ich…« Aber Marck, der plötzlich wieder zu sich kam, kannte den Namen bereits. Bis ins Innerste aufgewühlt ritt er zurück.
»Ich bin überzeugt, es war Usk, der unserem guten König mit seinem Geschwätz den Kopf verdreht hat«, sagte Thoma zu seinem Gefähr ten, dem Hauptmann der königlichen Leibwa che, während sie in einem verliesartigen Ge mäuer darauf warteten, von König Odann empfangen zu werden. »Die Welt steht Kopf, wenn die Hofnarren ihre Könige beherrschen«, erwiderte der junge Mann. »Aber nun sage mir, was hat es damit auf sich, daß der König einer Fee begegnet sein soll, die ihm große Reichtümer versprach?« Thoma zögerte, aber dann entschloß er sich doch, den anderen ins Vertrauen zu ziehen. »Die ganze Nacht saß ich mit ihm zusammen. Die Hälfte von dem, was er erzählte, habe ich längst wieder vergessen. Es hatte viel mit Göt tern und Wiedergeburt zu tun. Insofern hat der Hofnarr sicher recht; die ewige Beschäfti gung mit alten Büchern und Geschichten ver wässert das Gehirn eines Menschen.« Er schnaubte. »Ich für mein Teil wünschte, diese ganze Sache wäre endlich überstanden.« Der Hauptmann stieß ihn aufmunternd in die Seite. »Du willst doch nicht auf halber Strecke schlappmachen, Thoma? Du hast dich bisher
mit aller Kraft für den König eingesetzt und wirst bestimmt Erfolg haben. Obwohl ich sa gen muß, daß, wenn es um Göttinnen geht, wir wohl auf dem falschen Markt gelandet sind…« Er wollte noch mehr sagen, aber Thomas Blick ließ ihn verstummen. Etwa eine Stunde später öffnete sich die Tür, und ein Priester führte sie durch schwach be leuchtete Gänge in den dunklen, naßkalten Saal, in dem König Odann saß. In der einen Hand hielt er den Stab mit dem Wolfskopf auf der Spitze; die andere Hand schien er gegen seinen Körper zu pressen, wie um einen Schmerz zu lindern. Er war umgeben von Priestern und Adligen. Goldbraune Haut, Ha kennasen und dichte, schwarze Augenbrauen wiesen darauf hin, daß das Blut der Pferde krieger hier in der Ebene noch stark vertreten war. Zur Rechten des Königs stand eine Frau. Un ter der Kapuze konnte man von ihrem Gesicht nichts sehen außer den dunklen Augen; aber ihr Körper war schlank und gut geformt. Schräg hinter ihr stand Dendra, der Bruder des Königs, der den Ankömmlingen finster entgegenblickte. Um ihn herum befanden sich ungefähr zehn schwerbewaffnete Männer, die
einen ebenso abwehrenden und feindseligen Eindruck machten wie ihr Anführer. Thoma spürte die Spannung im Saal. Er trat vor und sagte: »Grüße an Odann, König der Ebene, und an sein Haus, von seinem Bruder Marck, König des Hauses Gate.« Mit einer Handbewegung brach der König die formelle Einleitung ab. Sein Gesicht verzog sich in einem Krampf. Er preßte sich gegen die Armlehnen seines Thrones. Der Anfall ging vorüber; er wandte sich dem Mädchen an sei ner Seite zu, und sie schlug die Kapuze zurück. Ihr Haar war schwarz, ihre Haut zart und braun, und sie hatte schön geformte Arme und Schultern. »Dies«, sagte Odann, »ist meine von mir selbst geliebte Tochter. Was hat der Gate-Kö nig dagegen zu bieten?« Thoma räusperte sich und lächelte. »Mein Herr ist ein einfacher Mann«, sagte er. »Aber seine Schatzkammern sind reich gefüllt. Er bietet dreißig Pferde, eine Kiste voll Gold, drei Kisten Seide und eine mit Gewürzen. Eine Wa genladung weißen und roten Mittelmeerwein…« Dendra fluchte laut und sagte: »Seide. Und Gewürze. Der Gate-König will uns beleidigen, Bruder.« Er wandte sich an Thoma. »Wir hier
in der Ebene können mit Frauenspielzeug nichts anfangen. Troll dich nach Hause, Krei debewohner, solange dich deine Füße noch tragen.« Die Soldaten lachten laut auf. Thoma trat wü tend vor und griff nach seinem Schwert; aber Odann hatte sich schwankend erhoben. »Ver gib’ meinem Bruder seine unbedachten Worte«, sagte er. »Wenn er auf diesem Thron sitzt, mag er sprechen, wie er es für richtig hält; und dann kannst du ihm auf deine Weise antworten.« Er schaute lange Zeit seine Toch ter an; dann hob er die Stimme. »Hört mich an«, sagte er. »Wir werden das Gold nehmen, und die Gewürze. Außerdem fünfzig ausgerüs tete Kriegspferde. Und nichts weniger. Bist du einverstanden?« Thoma akzeptierte. Das Mädchen sah ihn mit bleichem Gesicht an, stülpte sich die Kapuze über den Kopf und eilte aus dem Saal. Von ihrem Fenster aus beobachtete das Mäd chen den Abzug der Crab-Leute. »Ich werde nicht zu ihm gehen«, sagte sie schließlich. »Miri«, sagte Odann, »setz dich her zu mir ans Bett.« Sie gehorchte. Er strich ihr übers Haar. »Hör’ zu«, fuhr er fort. »Sehr bald wird Den
dra auf meinem Thron sitzen. Dann wird für dich hier kein Platz mehr sein.« Er nahm ihre Hand. »Versuch’ mich zu verstehen, Miri. Die ser Mann, König Marck wird dich gut behan deln. Vor vielen Jahren war ich eng mit ihm befreundet; und er hat dich auch kennenge lernt. Damals warst du ein kleines Kind…« Er seufzte. »Hier ist kein Platz für dich. Marcks Land ist reicher als unseres, und er versteht sich gut mit König Atha. In einem Monat wirst du von hier fortgehen…« Sie begann zu schluchzen. »Mein Kind«, bat er, »mach’ es mir doch bitte nicht so schwer.« »Ich werde ihm niemals gefällig sein«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Wenn du ihn nicht als Ehemann ehren kannst«, sagte der König nach langem, qual vollen Schweigen, »dann wirst du vielleicht lernen, ihn als… Vater zu lieben.« In Marcks Festung entfaltete sich eine Aktivi tät, wie sie das Crab-Volk noch nie gesehen hatte. Alles wurde gereinigt, ausgebessert und mit neuen Teppichen und Möbeln versehen. Marck überwachte die Arbeiten persönlich. Der Heiratsvertrag wurde aufgesetzt; Atha sandte seine königliche Zustimmung und dar
über hinaus reiche Geschenke für die junge Königin. Der gesamte Hofstaat wurde neu eingekleidet. Usk schien von den Veränderungen am meis ten zu profitieren. Er legte sein Narrenkleid ab und kleidete sich in Gold und Seide. Schließlich war der große Tag gekommen. Die Prinzessin näherte sich mit ihrem Gefolge der Festung. Der Anblick des Zuges machte Marck noch nervöser als zuvor. »Thoma«, sagte er, »geh’ zum Tor, um sie zu begrüßen. Nein, reite ihr besser entgegen. Nimm diesen Ring für sie mit.« »Mein Herr«, sagte Thoma, »mein Platz ist am Tor.« »Ja, Thoma, natürlich. Wo ist Briand, mein Hauptmann?« »Hier, mein König«, sagte Briand. Auch er trug nun prachtvolle Gewänder. »Guter Briand, geh’ du ihr entgegen«, sagte Marck. »Und Usk soll dich begleiten.« »Herr«, sagte Thoma entsetzt, »du kannst doch keinen Hofnarren schicken!« »Er sendet keinen Hofnarren«, sagte eine Stimme neben ihm. Der Seneschall wandte sich um und starrte, denn Usk war ebenso prächtig gekleidet wie die übrigen. Ringe glitzerten an seinen Fin
gern, und ein mit Juwelen gespickter Dolch hing an seinem Gürtel. »Geh’ du deinen Pflich ten am Tor nach, Freund«, sagte er hochmütig. »Ich werde den Gruß meines Herrn überbrin gen, mit seiner gütigen Erlaubnis.« Er nahm den Ring und verschwand; Thoma sah ihm mit einem Böses ahnenden Blick nach. Jedes Fenster in der Festung war hell erleuch tet. Der Lärm des Festes, das Geschrei und das Gelächter drangen bis zu den Torwächtern, die von Zeit zu Zeit sehnsüchtig hinaufblickten. Schweine und Ochsen wurden über den Feuer stellen im Hof geröstet; der Große Saal war überfüllt mit langen Tischen und den Gästen. Die Diener und Dienerinnen bahnten sich ih ren Weg, so gut sie konnten, und servierten dampfende Gerichte; in den Weinkellern wur de Faß um Faß angestochen. Auf dem königlichen Tisch brannten zahllose Bienenwachskerzen, die den Saal mit einem goldenen Duft erfüllten. An dem einen Ende des langen Tisches saß Marck. Dann kamen in strenger hierarchischer Reihenfolge, seine Of fiziere; Thoma und Briand, die Hauptmänner der Infanterie und der Kavallerie. Am anderen Ende saß Miri. Ihr schwarzes Haar war mit
Goldstaub geschmückt; ihre Augen wirkten im Kerzenlicht noch dunkler und größer als sonst. Sie trug ein einfach geschnittenes grü nes Kleid, das am Ausschnitt mit einem golde nen Faden bestickt war. Sie saß da, ohne je mals zu lächeln, aß sehr wenig und trank von Zeit zu Zeit aus dem Becher an ihrer Seite; Marck, dem von der Hitze und dem Wein schon ganz schwindelig war, beugte sich zu Thoma hinüber und flüsterte: »Sie ist es, Tho ma. Die Fee von dem Kreidefelsen. Thoma, sie ist es…« Der Mond versank gerade hinter den Bergen, als die letzten Gäste den Saal verließen. Die Braut hatte sich schon lange zuvor zurückgezo gen. Im Hof glimmten die Überreste der Feuer vor sich hin; zwischen ihnen stand, an eine Mauer gelehnt, der Hofnarr und starrte unbe weglich zum Burgturm hinauf, wo aus dem Schlafzimmer Licht in die Dunkelheit drang. In dem Schlafzimmer stand Marck am Fuß des königlichen Bettes, das mit Schaf- und Katzen fellen bedeckt war; und zwischen den Fellen lag die Königin. Die Schminke, die sie noch nicht abgewischt hatte, machte sie einem wil den Wesen ähnlich; und ihr Gesicht war hart.
Der König war hilflos; ihr starrer Blick raubte ihm all seine Kraft. Er versuchte zu lächeln. »Aber mein Liebes«, sagte er sanft, »ich bin jetzt dein Ehemann. Du mußt mir gehorchen.« »Du bist mein Käufer, König Marck«, erwi derte sie, »und das ist alles. Gehorsam kann nicht erkauft werden, wie du eigentlich wissen solltest. Er muß erworben werden, ebenso wie Liebe.« »Dann sag mir… was kann ich tun…«, stam melte Marck. »Bring’ mich nach Hause zurück, zu König Odann. Steht das in deiner Macht?« fragte sie. »Mein Kind«, sagte er, »das ist jetzt zu spät…« »Dann laß’ mich allein!« fauchte sie und ver grub ihr Gesicht in den Fellen. »Warum nur bin ich hierhergekommen, warum habe ich mich von ihm überreden lassen… Nein!« Dies galt Marck, der sich erneut dem Bett genähert hatte. Er hielt inne; ihre Augen funkelten ihn an und wurden dann weicher. Sie lächelte. »Herr«, sagte sie, »komm, setze dich zu mir, für eine kleine Weile.« Zögernd ließ er sich auf dem Rand des Bettes nieder. Der Duft ihres Körpers ließ sein Herz schneller schlagen; aber er wagte nicht einmal, die Augen zu heben. »Versuche mich zu verste hen«, sagte sie nach einer Pause. »Mein Vater
hat mich verkauft, für fünfzig Pferde; wie einen… Sklaven oder einen Hund. Ich kann mich nicht so schnell… hingeben.« Impulsiv ergriff er ihre Hand und küßte sie. Eine Sekunde lang sah es so aus, als wolle sie sie zurückziehen, aber dann entspannte sie sich wieder. Er sah sie voll Bewunderung an, spürte eine Welle von Glücksgefühl in sich auf steigen; und sie drückte seine Hand. »Da, wie ich schon sagte, du mein Eigentümer bist, ist mein Wille der deine. Und ich werde meine Pflichten erfüllen. Wenn du… mich zwingst, dann werde ich mich nicht widersetzen, mei nem Vater zuliebe. Aber Zwang wäre fürchter lich, besonders in der ersten Nacht, die doch den Göttern gehört, die uns erschufen. Außer dem können Frauen, die müde sind wie ich jetzt, nicht gut und wirklich lieben.« »Ich…«, stammelte er. »Ich…« Sie drückte erneut seine Hand. »Was für ein Willkommen du mir bereitet hast, Herr«, sagte sie. »Und ich habe noch nie ein so wundervol les Bett gesehen.« Sie blickte ihn mit ihren großen Augen an. »König Marck«, sagte sie, »gewähre mir einen Wunsch und mach’ mich wirklich glücklich.« »Mein Liebes«, sagte er. »Alles. Was du willst…«
»Gib mir… ein wenig Zeit«, sagte sie. »Nur ein wenig. Und ich werde dich lieben können, wie einen Freund.« Über sein Gesicht flog ein Schatten. Nach ei ner Pause nickte er schließlich. »Es soll sein… wie du es wünschst«, sagte er. Sie seufzte. »Oh«, sagte sie, »wie ich meine scharfen Worte nun bereue. Denn dein Gesicht sagt mir, daß du mir niemals etwas zuleide tun würdest. Also, wir wollen es folgendermaßen halten: Du wirst jeden Tag zu mir kommen. Und wir werden miteinander reden. Du sollst mich unterrichten; denn bei uns zu Hause sagt man, daß du der größte Gelehrte im ganzen Land bist. Außerdem möchte ich gern dein Reich kennenlernen; denn mein Vater hat mir wunderbare Dinge davon erzählt. Dann, wenn ich dein Land und dein Volk kenne und mich wirklich heimisch fühle hier…« Die Worte gaben König Marck neuen Mut. Er erhob sich. »Alles soll nach deinem Willen ge schehen, Liebes«, sagte er. »Und nun mußt du schlafen, denn ich sehe, daß du erschöpft bist.« »Ja«, erwiderte sie. »Danke.« Dann, als er sich umwandte: »Herr… gib mir einen GuteNacht-Kuß.«
Er beugte sich zu ihr hinunter und küßte ihre Augenbrauen; er roch den Duft ihrer Haare und richtete sich auf. »Die Götter mögen deinen Schlaf bewachen, König Marck«, sagte sie. Der Sommer kam, und der König zeigte Miri sein Land. Sie reisten kreuz und quer, und überall begrüßte das Volk seine schöne, junge und zu allen freundliche Königin mit Begeiste rung. Marck erzählte ihr von der großen Ver gangenheit seines Volkes, von den Schlachten und den Wanderungen; und er fand in ihr einen aufmerksamen Zuhörer. Eines Tages hielt er die Zeit für gekommen, ihr seine Vision zu offenbaren. Sie hörte ihm schweigend zu, aber als er geendet hatte, schüttelte sie den Kopf. »Herr«, sagte sie, »die Hälfte von dem, was du gesagt hast, habe ich nicht verstanden; aber ich glaube, du über schätzt mich. Herr, Frauen sind keine Göttin nen. Wir essen wie du, wir schlafen wie du, wir haben körperliche Bedürfnisse…; in mir lebt ganz bestimmt keine Göttin.« »Du hast mich nicht verstanden«, sagte Marck. »Ich kenne dich schon seit vielen Jah ren!«
»Ja, mein Vater hat mir erzählt, daß du mich als kleines Kind gesehen hast«, erwiderte sie. »Nein«, sagte er. »Nein, nein, nein…« Sie kniete vor ihm nieder. Sie trug ein weißes Kleid, und ihr Haar duftete nach frischen Som mergras. »Herr«, sagte sie, »du bist sanfter und nachsichtiger mit mir gewesen, als ich je mals zu hoffen gewagt hätte. Ich bin deine Kö nigin, und ich will offen zu dir sprechen. Mach’ keine Göttin aus mir, König Marck, und vergiß die ganze Sache. Göttinnen sind da, um ver ehrt zu werden; und ich… bin es nicht wert.« Er streichelte ihr Haar. »Du verstehst es nicht«, sagte er. »Wie solltest du auch? Miri, wenn in dir eine Göttin ist, dann braucht sie sich dir nicht zu offenbaren. Aber… höre mich an, Miri. Du hast große Freude in mein Leben gebracht. Hast du gehört, was die Leute sagen? Sie sagen: ,König Marck lacht. König Marck ist glücklich.’ Und das stimmt, Miri. Jetzt hör’ mir zu.« Sie setzte sich neben ihn, faltete die Hände im Schoß und lächelte. »In meinem Traum war ich das Korn und die Erde, der Dunst und der Himmel, die Steine, die die Riesen zwischen die Berge legten. Ich war das Land, Miri, und das Land war ich. In dem Traum fand ich eine Frau, die auch das
Land war; und wir zeugten Kinder, die… die das Land kennen und in Freuden darin lebten. Und der Traum ging noch weiter. Wir starben und wurden zu Staub; aber wir lebten weiter in unseren Kindern und in ihren Kindeskindern und in dem goldenen Getreide.« Sie blickte ihn lange an; dann nahm sie seine Hand und legte ihren Kopf an seine Schulter. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Aber… eines Tages werden diese Dinge vielleicht wahr wer den.« Sie sprachen nicht darüber, aber die Unter haltung beschäftigte die Königin häufig. Meh rere Wochen später sprach sie davon zu einer ihrer Dienerinnen. Es war inzwischen Herbst geworden. Miri lag auf Schaffellen vor einem Kamin, in dem ein wärmendes Feuer brannte. Sie trug einen grünen Leinenrock mit einem goldbestickten Gürtel. Ihr Oberkörper war nackt. Die Dienerin kniete neben ihr; ihre Au gen waren tiefblau wie das Meer, und sie glit zerten vor Vergnügen, wenn sie lachte. Sie nahm ein kleines Fläschchen mit duftendem Öl zur Hand, goß ein paar Tropfen davon zwi schen die Schulterblätter der Königin und be gann, sie sanft zu massieren.
»Warum lachst du?« fragte Miri. »Der König selbst hat mir das erzählt, und er ist der wei seste Mann im ganzen Land.« Das Mädchen kicherte erneut. »Ja, Herrin«, sagte sie. »Warum sollte es also nicht wahr sein?« frag te die Königin. »Ich habe gewisse Eigenschaf ten einer Göttin, Atta, wie du vielleicht be merkt haben wirst. Daraus folgt, daß ich auch etwas von ihrer Macht habe.« Sie seufzte. »Tiefer, Atta, tiefer. Ja, genau dort tut es weh…« Das Mädchen goß Öl nach. »Was soll ich tun, um meine Macht zu bewei sen?« fragte Miri. »Soll ich einen Dämonen herbeirufen?« Nachdenklich stützte sie das Kinn in die Hände. »Vielleicht sollte ich einen Sturm aufziehen lassen. Erzitterst du nicht?« Atta grinste, ohne zu antworten. Miri spitzte schmollend die Lippen. »Ich hab’s«, sagte sie nach einer Weile. »Da man mir nicht glaubt, werde ich Blitze herbeirufen. Wirst du mich dann lieben und verehren, Atta? Wenn du die Bergspitzen qualmen und jede Festung zerstört siehst?« Zum erstenmal zeigte sich das Mädchen beun ruhigt. »Herrin«, sagte sie unsicher, »mit sol chen Dingen sollte man nicht spaßen.«
Die Königin drehte sich auf den Rücken und ergriff ihre Taille. »Ich spaße nicht«, sagte sie mit funkelndem Blick. Dann schloß sie die Au gen und lächelte schläfrig. »Küß mich, Atta«, sagte sie. Sie zog die Dienerin zu sich herunter. »Ich werde tun, was ich will«, sagte sie. »Und du wirst meine Dienerin sein; denn eine Göttin kann nichts Falsches tun.« II Gegen Ende des Jahres wurde das Wetter im mer schlechter. Eisige Winterstürme fegten über das Land. Das graue Meer tobte, und die Wellen schlugen gegen die Klippen. Dann setz te ein starker Regen ein. Der Bach am Fuße des Hügels wurde zu einem reißenden Fluß. Das Gate-Volk verbrachte unruhige Nächte in den Hütten und Häusern, an denen der Sturm rüttelte. Als das Unwetter endlich abflaute, ließ es die Festung merkwürdig still zurück; denn ein Gerücht war im Umlauf, von dem nie mand wußte, wie und wo es entstanden war; aber alle gingen vorsichtig umher und spra chen nur leise miteinander. Als jedoch lange Zeit nichts Weiteres passierte, legte sich die
Angst, und die Leute hörten auf zu tuscheln und begannen statt dessen zu lachen. Von alldem merkte König Marck nichts. Seit Wochen arbeitete er wieder ununterbrochen, denn er hatte endlich seine innere Ruhe wie dererlangt. Er schrieb, für seine Königin, an der Geschichte der Seeland-Götter; über Ath linn, Devu, den Speerwerfer, Gelt, den Gott des Blitzes, und über Scatha. An einem der ersten Nachmittage des neuen Jahres hörte der König plötzlich ein vertrautes Räuspern hinter sich. Es war Usk. Das gute Le ben hatte ihn dicker gemacht, so daß sich sein Gewand über dem Bauch spannte; aber er trug seine Narrenkappe. »Was soll das, Usk?« fragte Marck. »Du weißt, es war mein Wunsch, daß du dich nicht mehr zum Hofnarren erniedrigen sollst.« »Bitte erzähle mir die Geschichte von Athlinn und der Fee Goieda«, sagte Usk. »Du kennst sie ebensogut wie ich«, erwiderte der König. »Es ist keine zwei Monate her, daß der Reisende aus Mawenton sie uns vorgetra gen hat.« »Aber ich würde sie gern aus deinem Munde hören«, sagte der Hofnarr mit einem gewin nenden Lächeln. »Bitte, tu’ müden Gefallen…«
»Nun gut«, sagte Marck. Er blätterte in seinen Papieren und warf dem anderen ab und zu mißtrauische Blicke zu. »Athlinn, der Herr der Götter, warb um eine Fee«, begann er. »Aber Goieda verweigerte sich ihm, weil sie Basta, einen Midgard-König, liebte. Athlinn nahm sie mit in seinen Palast und überhäufte sie mit Ge schenken. Aber sie machte sich nur über ihn lustig und nannte ihn einen Graubart und einen alten Mann…« Er stockte und erkannte plötzlich, worauf der Hofnarr hinauswollte. »Eines Tages jedoch«, setzte Usk die Ge schichte fort, »war die Geduld des Gottes er schöpft, und er schlug die Fee mit seiner Lan ze. Ihr Blut floß, und das Getreide sprießte; der Sommer kam, und das Volk war froh und glücklich.« »Sei still, mein Freund«, bat Marck. Usk fuhr unerbittlich fort: »Athlinn jedoch be reute seine Tat und floh für ein Jahr in die Ein samkeit; und Goieda konnte in dem Himmel palast ein- und ausgehen, wie ihr beliebte…« »Und schließlich kehrte Athlinn zurück«, sag te Marck. »Und Goieda wusch voll Reue seine Hände und brachte ihm Brot.« Er hob die Arme und lachte auf. »Usk«, sagte er, »ich bin kein König des Himmels. Was Götter machen, hat nichts mit mir zu tun.«
»Nein«, erwiderte Usk, »aber bedenke eines. Wenn du dir die Narrenkappe aufsetzt, was soll dann dein Hofnarr tun?« »Schweig still«, befahl Marck. »Es ist wahr, daß ich die Göttin sah und daß sie zu mir sprach. Aber vielleicht habe ich sie mißver standen… Sie ist ein Kind, mein Freund; ein Kind, das mir sehr viel Freude bereitet. Ich will nicht, daß auch nur ein einziger Tropfen unschuldigen Blutes vergossen wird.« »Dem stimme ich vollkommen zu«, sagte Usk. »Es gilt für Götter und Menschen gleicherma ßen, daß unschuldiges Blutvergießen ein Ver brechen ist.« Marck stutzte. »Was willst du damit sagen?« fragte er. »Nichts«, antwortete Usk. »Aber ich will dir eine Geschichte erzählen; die von Scatha, dem Einäugigen, und Sceola, seiner Frau, und dem Pferdekrieger des Gottes Devu.« Er legte den Kopf zur Seite und begann. »Sceola ging im mer zur Rechten ihres Mannes; auf dieser Sei te war der König blind. Eines Tages sagte Methleu, der Hofnarr der Götter zu ihm: ,Sca tha, erzähle mir, wie du dein Auge verloren hast.’ Und der König berichtete ihm, wie er den Stab erkämpfte, der Macht über die Wölfe der Nacht verleiht. ,Das ist eine gute Geschich
te’, sagte Methleu, als er geendet hatte. ,Aber laß’ mich eines sagen: Du bist vor den Wölfen der Nacht sicher; aber auf der rechten Seite bist du blind; wer wacht dort über dich?’ Und Scatha antwortete: ,Die Pferdekrieger meines Herren Devu und ihr Hauptmann, den ich hoch schätze.’ Dann fiel ihm plötzlich ein, daß seine Frau immer zu seiner Rechten weilte. Und ihm fiel ein…« Usk hielt inne, denn Marck hielt mit funkeln den Augen einen Dolch in der Hand. Ein dumpfer Aufschlag; und Usk wurde aschfahl und blickte an sich herunter. Dann eilte er aus dem Zimmer. Für den Rest des Tages gingen die Bedienste ten auf leisen Sohlen ihre Pflichten nach und blickten immer wieder besorgt zu den Fens tern des königlichen Gemachs hinauf. Nichts rührte sich dort, und auch am Abend blieb das Zimmer dunkel. Das Essen, das eine Dienerin zitternd vor die Tür gestellt hatte, blieb unan gerührt. Lange nachdem die letzten Lichter in der Festung erloschen waren, hätte ein Lau schender an Marcks Tür jedoch ein sich stän dig wiederholendes Wort vernehmen können. »Briand…«
Der Morgen dämmerte über der Heide, als der König zum Tor hinausritt. Er erwiderte den Gruß der Wachen nicht, saß steif und blaß auf seinem Pferd. Eine Stunde später passierte ein zweiter Reiter das Tor. Ebenso wie sein Herr hatte er sich in einen dicken Mantel gehüllt; und auch er lenkte sein Pferd auf die Heide zu. Die Wachen tauschten schweigend Blicke aus. Keiner wagte es, seine Gedanken zu äußern. Der Tag verging, und auch beim Einbruch der Dunkelheit war Marck noch nicht zurückge kehrt. Das Feuer flackerte, und die Flammen züngel ten an den frisch aufgelegten Holzscheiten; rundherum hatte sich eine rauhe Gesellschaft versammelt. Zwei Stallknechte, in der schmud deligen grünen und gelben Tracht des Hauses, hatten sich schon längere Zeit dem Genuß von Bier gewidmet; ein Türwächter war mit der jüngsten und am wenigsten anziehenden Kü chenmagd beschäftigt. Die am stärksten Be trunkene der Gruppe jedoch war Maia. Wie ge wöhnlich lugte ihr Haar in Strähnen unter der Haube hervor; schwankend und kichernd stand sie barfüßig und mit gespreizten Beinen
auf den Steinplatten. Sie hatte ihr Mieder gelo ckert; vor die üppigen Brüste hielt sie zwei Trinkbecher gepreßt. »So wäre es«, sagte sie, »wäre ich eine Göttin und ihr ein edler Haupt mann.« Der so adressierte Stalljunge lachte schallend auf; die Küchenmagd kreischte. »Heiraten kommt nicht in Frage, guter Haupt mann«, sagte Maia. »Jedenfalls nicht, solange es nicht mein ausdrücklicher Wille ist. Denn wie ihr ja wißt, bin ich eine Göttin. Nicht, so lange es nicht mein ausdrücklicher Wille ist.« Bei dem Versuch, einen Knicks zu machen, fiel sie beinahe zu Boden. »Solltet ihr versuchen, mich zu zwingen, Hauptmann«, sagte sie, »dann werden euch die Finger von den Hän den fallen. Oder auch ein anderes Körperteil…!« Sie kreischte vor Vergnügen; dann nahm sie allmählich die entsetzten Blicke der anderen wahr, die an ihr vorbeigerichtet waren. Langsam und erbleichend drehte sie sich um; die Trinkbecher zerschellten auf dem Boden. Sie warf die Hände vor die Brust und begann zu wimmern. In der Tür stand der Herr des Hauses Gate. Er trug ein grobes, heimgesponnenes Gewand – so hatte ihn sein Volk früher gekannt, wenn er fortritt. Sein Gesicht war aschfahl; in seinen
Augen glühte die Wildheit seiner seeländi schen Vorfahren. Er fuhr mit der Zungenspitze über die Lippen, bevor er sprach. »Du hast sie verspottet…«, sagte er. »Herr…«, wisperte jemand; aber Marcks gel lender Schrei unterbrach ihn. In der Hand hielt er einen Dreschflegel. Er hob den Arm, schlug zu; das Schreien verdoppelte sich. Mit dem ersten Schlag traf er die Stirn der Frau, mit dem zweiten ihre hochgeworfenen Arme. Wahnsinnig vor Angst suchte sie unter dem Tisch Schutz, aber Marck stieß ihn mit einem Ruck zur Seite. Es war Thoma, der von dem vor Entsetzen nur noch stammelnden Türwächter geholt worden war, der seinen Herrn die Waffe entriß; Tho ma, der ihn packte und festhielt, bis die hage ren Schultern aufhörten zu zittern. Dann blickte er ungläubig zu Boden und murmelte: »Mein Herr, was hast du getan?« Auch der König blickte nun hinunter. Spei cheltropfen hingen in seinem Bart; aber die blinde, ohnmächtige Wut war vergangen. Er sah das verstümmelte Auge, das Blut, das das schmutzige Kleid durchtränkte, die zerfleisch ten Finger. Die Frau krümmte und wand sich; er drehte sich um, die Hände gegen den Schä del gepreßt, und stürzte aus der Küche. Sie
hörten seinen klagenden Schrei, während er die Stufen des Turmes erklomm. Die Königin wartete auf ihn, als er spät in der Nacht ihr Zimmer betrat. Sie trug ein blaues, mit Silber besticktes Kleid. »Was ist gesche hen, Herr?« fragte sie. Marck starrte sie an. »Ich bin ausgeritten«, sagte er. »Hinüber zum Strand. Aber er war leer. Die Berge waren leer und das Meer eben so. Du hast sie leer gemacht.« »Herr…«, sagte sie, aber er unterbrach sie. »Mein ganzes Leben lang habe ich hier gelebt, wie es eines Königs würdig ist. Wenn die Ar men mich riefen, habe ich geholfen. Nie habe ich Gewalt angewandt. Nun ist das Übel über uns gekommen. Durch dich.« »Durch mich?« fragte sie verständnislos. »Ich habe gewartet und beobachtet«, sagte er. »Dann bin ich zurückgekommen, um zu stra fen. Aber er war fort…« »König Marck«, bat sie, »höre mich an…« »Warum hast du mich nicht gefragt?« schrie er sie an. »Was?« fragte sie. »Was?« »Ich hätte dir alles gegeben«, sagte Marck. »Verstehst du denn nicht? Ihn, alles… Nur, um
dich hier zu halten und dich glücklich zu wis sen…« Sie blickte ihn entsetzt an; dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Mein ganzes Le ben lang bin ich von Männern geplagt worden«, sagte sie mit funkelnden Augen. »Von alten Männern, von fetten Männern, von Männern, die kauften und verkauften. Was kann denn ich dafür? Ich habe niemals etwas von jemandem verlangt. Die Luft einatmen, die Sommer kommen sehen, in Frieden daliegen – das war alles, was ich wollte. Aber nein. Nein, nein, nein… Bei den Göttern, mir könnte übel werden von dem Dreck, mit dem mich Männer überhäuft haben…« Sie starrte ihn mit geballten Fäusten an; und er stöhnte gequält auf. »Ich habe dich mit Lie be überhäuft…«, sagte er. »Und ich habe dir Liebe gegeben«, schrie sie. »Soviel, wie ich eben konnte…« Dann änderte sich ihr Gesichtsausdruck erneut. »Was hast du anderes erwartet?« fauchte sie. »Du hast mich hier eingesperrt wie einen kostbaren Vo gel, mit plumpen Bauernmädchen als Gesell schaft… Was zum Teufel hast du erwartet?« Er schwieg.
»Und nun ist er fort«, sagte sie. »Du hast ihn vertrieben. Nun kannst du wieder ruhig schla fen. Es ist vorbei.« Aber Marck schüttelte den Kopf. »Es wird nie mals vorbei sein«, sagte er. Er packte sie und warf sie auf das Bett. Er riß ihr das Kleid herunter; sie schrie und wehrte sich; und er schlug sie. Danach nahm er sie, mit all der Kraft, die ihm seine Wut verlieh. Sie lag still da, als es vorüber war, die Augen fest geschlossen. Er wankte in sein Zimmer, verrie gelte die Tür und sank zu Boden. In der Festung herrschte eine unheimliche Stille. Fackeln erhellten leere Flure; niemand rührte sich. Erst gegen Morgen öffnete sich eine der Stall türen; ein Pferd schnaubte. Die Hufe klapper ten über das Pflaster und verhallten in der Fer ne. Es war wieder still. Im Schatten des Tores stand ein einziger Mann und hielt Wache. Seine dünnen Beine bildeten einen seltsamen Gegensatz zu dem wohlbeleibten Oberkörper. Lange Zeit schaute er auf die Heide im Norden hinaus; dann wandte er sich um und blickte zum Burgturm hinauf. »Nun habe ich dich endlich, mein Kö nig, dich und dein ganzes Volk«, murmelte er. »Denn dies ist kein altes Märchen…«
Dendra saß auf König Odanns Thron; seine Beine waren lässig ausgestreckt, und er hielt einen Weinkelch in der Hand. Um ihn herum standen seine Soldaten; und etwas unterhalb des Podestes stand Miri. Ihr Kleid war bis zu den Hüften mit Schlamm bespritzt, und ihre blasse Gesichtsfarbe betonte den großen Bluterguß auf ihrer Wange. »Ich habe ihn verlassen«, sagte sie leise. »Nun suche ich im Namen der Gesetze Schutz bei ei nem Blutsverwandten.« Dendra trank aus dem Kelch. »Dein Blutsver wandter ist tot«, erwidert er. »Ich meine dei nen Vater.« Die Soldaten brachen in schallendes Geläch ter aus. Sie schwankte und schloß die Augen. »Gerechtigkeit und Gnade sind also gleicher maßen tot«, sagte sie. »Das sehe ich jetzt.« Sie schluckte und benetzte ihre Lippen. »Was ist dein Wille, König Dendra?« Wieder war unterdrücktes Lachen zu hören; Dendra blickte finster um sich und gebot mit erhobener Hand Stille. »Nicht mein Wille«, sagte er, »sondern der der Götter. Du kommst hierher, in meinen Palast und bittest um Ge rechtigkeit. Vielleicht wirst du sie
bekommen.« Er leerte seinen Becher und stell te ihn beistehe. »Warum hast du das Haus Gate verlassen?« Sie blickte in dem von Fackeln erleuchteten Halbdunkel um sich; dann straffte sie die Schultern. »Sein König hat Schande über mich gebracht«, sagte sie. »Schande?« sagte Dendra. »Schande?« Er er hob sich von seinem Thron und blickte um sich. »Freunde«, sagte er, »hört euch das an. König Odanns Tochter spricht von Schande…« Als sich der Lärm wieder gelegt hatte, beugte er sich zu ihr. »Hier ist die Gerechtigkeit, für die du von so weit hergekommen bist«, sagte er mit einem Grinsen. »Wir wollen dein Vergehen nicht beim Namen nennen; aber du sollst fortge bracht und mit schweren Steinen bedeckt wer den. Und dies soll mein Akt der Gnade sein: Man wird dir die Pulsadern aufschneiden, da mit du schneller stirbst.« Sie zuckte wie unter einem neuen Schlag zu sammen; aber als die Priester auf sie zuka men, sammelte sie sich. »Fällt mein Onkel sei ne Urteile im Namen der Götter oder für sich selbst?« rief sie, den Tumult übertönend. »Mein Onkel, der zu mir kam, selbst noch ein Kind, in der Nacht, als meine Mutter starb?«
Sie stieß die Hände von sich, die sie ergreifen wollten. »Von da an schlief ich immer neben dem König. Und von da an hast du dich ver zweifelt gefragt – aber du wirst es niemals wis sen…« Aufruhr im Saal. Dendra sprang mit schamro tem Gesicht nach vorn; und wieder übertönte sie ihn. »Du darfst mich gar nicht töten«, sagte sie. »Du hast keinen Anspruch auf das Leben, das ich in mir trage.« Der König starrte sie verdutzt an. »Was?« fragte er. »Was soll das bedeuten? Welches Le ben?« Sie erwiderte standhaft seinen Blick. »Das Le ben des Erben des Hauses Gate«, sagte sie. Er nahm einen großen Schluck Wein. »Was sagen meine Priester dazu?« fragte er mit undurchdringlicher Miene. Ein Raunen ging durch die Menge. Dann ant wortete einer der Priester mit unsicherer Stimme: »Sie hat recht, Herr. Unsere Gesetze verbieten es, ihr ein Leid anzutun.« Der König lehnte sich zurück. »Dann beuge ich mich den Gesetzen. Denn ich bin ein ge rechter und gottesfürchtiger Herrscher. Nie mand soll ihr ein Haar krümmen.« »Und das Kind?« fragte Miri.
Dendra warf den Kopf zurück und lachte. »Das Kind wird geboren werden«, sagte er. »Meine Untertanen werden begierig sein, es zu sehen.« Auf sein Zeichen hin wurde sie aus dem Saal geführt. Der folgende Winter war strenger als alle vor hergegangenen. Wochenlang blieb die Sonne verborgen, und eisige Winde fegten über die Ebene und die Kreidefelsen. Auch die wieder länger werdenden Tage brachten keine Er leichterung; statt dessen fiel Schnee, der die Wege speertief verschüttete. Wölfe umkreisten Nacht für Nacht die einsamen Dörfer. Pferde stampften und schnaubten unruhig in ihren Ställen, Kinder wimmerten; Männer starrten besorgt von den Wachtürmen und Palisaden in die Dunkelheit. In den Festungen, und beson ders in der des Hauses Gate, machte sich Trostlosigkeit breit. Den König sah man nur noch selten. Diener stellten ihm das Essen vor seine Tür, aber häu fig blieben die Teller unberührt. Von Zeit zu Zeit konnte man Marck oben auf dem Turm stehen und über die Heide nach Norden bli cken sehen; aber welche Gedanken ihn dabei bewegten, wußte niemand. Der Sommer war kalt; das Getreide verrottete auf den Feldern. Erst im Herbst wurde das
Wetter besser. Plötzlich schien das Land noch einmal zu lächeln. Blumen blühten am Ufer des kleinen Baches; das Schilf wurde geschnit ten; das, was von der Ernte übrig war, wurde unter wolkenlosem Himmel eingebracht. Die Tage waren warm, die Nächte mild. Die vom Wind beschädigte Burg wurde ausgebessert und gestrichen; die dustere Stimmung jedoch hielt sich. Denn ein Handelsreisender hatte das Gerücht mitgebracht, daß sich um König Odanns Festung Krähen versammelten. Die Sonne ging gerade glutrot unter, als ein Fremder auf die Burg zuritt. Die Wachen hat ten ihn schon von weitem erspäht und warte ten gespannt, daß er näher kam. Sein langes blondes Haar flatterte im Wind. Er trug Bein schienen und einen Brustharnisch; schwere goldene Armreifen schmückten seine Arme, und ein Schwert hing an seiner Seite. Aber es war etwas anderes, das die Blicke der Betrach ter bannte: um die Hüfte trug er eine dunkel rote Schärpe, das Kriegszeichen der SeelandKönige. Dem Krieger wurde das Tor geöffnet, aber er schüttelte hochmütig den Kopf. »Ich bleibe hier, Kreidefelsenbewohner«, sagte er. »Ich bringe eine Nachricht für euren Herrn.«
Der Wachhauptmann errötete und fingerte nervös an seinem Bart. »Unser König emp fängt keine Fremden«, sagte er schließlich. »Und außer göttlichen Botschaften nimmt er keine entgegen. Sage mir, was dir zu überbrin gen aufgetragen wurde.« Der Fremde spuckte aus. »Das erste ist dies: König Marck ist ein Sohn geboren worden. Der Ret ist nur für seine Ohren bestimmt.« Seine Worte verursachten einen Aufruhr hin ter den Palisaden. Nach einer Weile öffnete sich das Tor, und Marck erschien, begleitet von Thoma. Alle waren entsetzt über das Aus sehen des Königs. Seine Augen glänzten fiebrig in seinem eingefallenen Gesicht; ein ver schmutztes Gewand schlackerte um seinen ha geren Körper; er schien sich nur mit Mühe aufrecht zu halten und stützte sich auf Thomas Arm. Seine Stimme jedoch war klar. »Wie lau tet die Botschaft, die du bringst?« fragte er. »Dies sind König Dendras Worte: Das Haus Gate hat ihm Schande gebracht, indem es sein Stammesblut gegen wertloses Gold einge tauscht hat. Er wird deswegen ein Fenster mit Blick aufs Meer haben, wie es ihm geziemt; er wird auf deinem Thron sitzen, als Wiedergut machung für das Unrecht, das ihm widerfah ren ist.«
In der versammelten Menge wurden aufge regte Stimmen laut. Marck schwankte, aber dann faßte er sich wieder und hob die Arme; es wurde wieder still. »Ich kann das alles nicht verstehen«, sagte er. »Ich will keinen Krieg ge gen Dendra fuhren; und auch gegen niemand sonst auf der Welt; denn ich habe mein Leben der Buße für schlimme Verbrechen gewidmet. Aber erzähle mir von meinem Sohn; berichte mir von ihm, und ich will dich mit Gold bezah len.« Der Fremde wendete sein Pferd. »Kein Krei dekönig bezahlt einen Mann von der Großen Ebene, außer mit Blut«, sagte er verächtlich. »Im Bezug auf deinen Sohn trug mir mein Herr folgende Worte auf: Er wurde seinem Stande gemäß geboren.« Er gab seinem Pferd die Sporen und jagte davon. Die Stimme des Königs klang schrill und rauh: »Fast den Mann!« Pfeile schwirrten durch die Luft. Einen Mo ment lang schwankte der Bote in seinem Sat tel; aber gleich darauf hatte er sich wieder im Griff, beugte sich dicht an das Pferd und gab dem Tier die Sporen. Fußgetrappel ertönte von den Palisaden und den hölzernen Treppen, die Tore öffneten sich quietschend; und eine Trup
pe von Reitern preschte heraus und nahm die Verfolgung auf. Es wurde Mitternacht, bevor sie zurückka men. Drei von ihnen waren verletzt; denn der Fremde hatte gut gekämpft. Seine Überreste schleiften hinter einem Pferd über den Boden. Sie zerrten ihm zum Wachturm und hängten ihn dort an den Füßen auf. Die ganze Nacht lang und auch am darauffol genden Tag schlug die Kriegstrommel und rief die Soldaten aus allen Teilen des Reiches her bei. Zur gleichen Zeit kam die Nachricht, daß die Königin ermordet und der Thronfolger den Krähen zum Fraß vorgeworfen worden war. Im ganzen Land loderten Fackeln an den Mau ern und auf den Wach türmen; es war, als stünde alles in Flammen. Bewaffnete und fins ter dreinblickende Männer marschierten oder ritten auf Marcks Festung zu. Zwei Tage ver gingen, und ein dritter; dann schwärmte eine Armee aus, wie Wespen aus einem bedrohten Nest. Zwei Tage später schwärmte Marcks Ar mee wie ein Bienenschwarm aus. Lange lebte der folgende Winter in den Balla den der Sänger weiter. Die Große Ebene wurde verwüstet; Marcks Soldaten metzelten alles nieder, was ihnen in den Weg kam. Dendras wilde Reiter kämpften wie die Teufel, aber die
Gegner kämpften besser. Die Männer aus der Ebene wurden zurückgedrängt; und jeder Schritt kostete ein Leben. An einem kühlen Frühlingstag betrat König Marck schließlich Odanns Festung. Lange Zeit stand er regungslos da in seiner verbeulten, besudelten Rüstung. Er sah das Licht, das durch die eingefallenen Mauern hereinfiel. Er sah die aufeinandergehäuften Leichen, das Blut, das die Fahnen befleckte, die wimmern den Frauen. Er roch den frischen, rohen Ge stank, und vielleicht roch er auch die Angst. Dann sprach er ein paar Worte, die die Umste henden erblassen ließen. In einem der oberen Räume der Festung traf Thoma auf den Hofnarren. In seinen Armen, die noch von der morgendlichen Arbeit besu delt waren, trug Usk ein Bündel mit Beute dar in. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, seine Augen flackerten nervös und blickten suchend an Thoma vorbei zur Treppe. Eine Zeitlang schwiegen beide; dann schloß der Seneschall die Tür hinter sich. »Ich habe noch eine Rechnung mit dir zu begleichen, mein Freund«, sagte Thoma.
»Was für eine Rechnung?« fragte Usk. »Bist du verrückt geworden?« Wieder benetzte er seine Lippen; dann fuhr er in seinem gewohn ten Tonfall fort: »Thoma, du Kröte, zu wenig Arbeit und zu wenig Bewegung haben dich um deinen noch vorhandenen Verstand gebracht. Laß mich vorbei…« Aber der andere packte ihn und stieß ihn zu rück. Das Bündel fiel zu Boden; Usk stöhnte auf. Dann trat Stille ein; eine Stille, in der sie beide, vermischt mit den Knistern der Flam men draußen im Hof, das Jammern der Ver dammten hören konnten. »Alter Freund«, sagte Usk, »ich habe dich zu meinem Werkzeug gemacht, und ich gestehe hiermit meinen Fehler ein…« »Du mich zu deinem Werkzeug gemacht, du Abschaum?« zischte Thoma. »Was kümmert mich das Verhalten eines Hofnarren, sei es nun gut oder schlecht? Darum geht es mir gar nicht.« »Thoma«, sagte Usk, »bei allen Göttern…« Aber der Seneschall hob den Arm und schlug mit der flachen Hand zu. »Wer trieb unseren König dazu, sich eine Frau zu suchen?« erwiderte er. »Wer verwirrte seinen Geist mit unsinnigem Gefasel von Göt tern?« Er schlug erneut, und Usk fiel stöhnend
zu Boden. »Wer brachte ihn dazu, sich ausge rechnet eine Hure aus der Großen Ebene aus zuwählen? Du wußtest sehr gut, daß die beiden Häuser verfeindet waren. Und wer flüsterte ihm schließlich das Gerücht zu, das alle ande ren von ihm fernzuhalten versuchten? Antwor te!« »Ich sprach aus Liebe«, wisperte Usk. »Ich wollte keine Schande über ihn kommen sehen. Und sieh, wie ich belohnt wurde. Er verbannte mich…« »Keine Schande?« sagte Thoma. »Wenn du nicht gewesen wärst, säßen wir jetzt in unserer Festung, und König Marck wäre bei uns. Und all dies wäre nicht geschehen.« Der Hofnarr umklammerte seine Knie. »Laß mich los!« brüllte er. Aber Usk hielt sich mit der Kraft der Verzweiflung fest. »Thoma, höre mich an«, flehte er. »Ich habe den König immer geliebt. Und Du…« Der Seneschall stieß ihn von sich. »Schweig!« sagte er angewidert. »Deine Narretei hilft dir jetzt nichts mehr.« »Narretei?« sagte Usk. Keuchend blickte er zu ihm auf. »Die Zahl der Festungen in der Ebene war gering«, sagte er. »Und nun ist sie noch ge ringer. Wer brannte sie nieder? Ein Gott –oder Usk, der Hofnarr? Jetzt werden die Long
Creek Könige kommen; sie, die mit Odann ver bündet waren. Und Morwenton, der große Atha… alle unsere Könige werden vernichtet werden. Und du, ein Pferdekrieger, willst auch nur ein Zehntel davon ungeschehen machen…« Thoma runzelte die Stirn. »Du bist verrückt.« »Ja«, sagte Usk. »Verrückt, überhaupt in die Dienste eines Seeländers zu treten; ich, dessen Väter dieses Land innehatten. Und auch du bist verrückt, wir sind alle verrückt. Aber nun kämpfen die wilden Schweine, und von jetzt an werden wir von Schinken leben…« Thoma packte ihn. »Aber mein letzter Streich war der beste«, rief Usk. »Wer brachte das Gerücht in Umlauf? Vielleicht war sie wirklich untreu, vielleicht besuchte sie ein gewisser Hauptmann tatsäch lich in der Nacht. Vielleicht nahm der König mit Recht Rache…« Mit einer blitzschnellen Bewegung riß er den Arm hoch, einen Dolch in der Hand. Mit aller Kraft stieß er die Klinge in Thomas Seite. Thoma blickte erstaunt an sich herunter; dann lächelte er, erhob seine Faust und schlug zu. Er hob den in sich zusammengesunkenen Körper des Hofnarren hoch und warf ihn aus dem Fenster. Er sah ihn durch die Luft fliegen
und hörte den dumpfen Aufschlag. Dann wur de ihm schwindelig, und er mußte sich an die Wand lehnen, die Hand in die Seite gepreßt. Stöhnend murmelte er: »Nun wird er niemals wissen…« Schwerfällig hob er den Korb hoch, den er ge tragen hatte. Auf der Treppe stolperte er; et was huschte an seinen Füßen vorbei. Er schloß die Augen und atmete schwer; dann schüttelte er den Kopf. »Ein Schwur ist ein Schwur«, sag te er. »Daß es soweit mit uns gekommen ist…« Schmerzerfüllt bewegte er sich vorwärts, den Korb fest in der Hand. »Kätzchen«, rief er. »Im Namen der Götter… hier, Kätzchen. Kätz chen…« Undeutlich und vage waren die Hügel in der Ferne im frühen Morgenlicht zu erahnen; und der immerwährende Wind wehte durch die Mähnen der Pferde, bewegte die zahllosen Fahnen. Groß und dunkel hob sich Odanns Festung mit den Palisaden gegen den Himmel ab. Rundherum stieg aus dem Lager des Hee res der Rauch vieler Feuer auf. Kein Laut kam aus der Menge der Männer, die alle regungslos nach oben starrten. Rund um die Festung waren riesige Galgen aufgerichtet worden. Nun wurde ein Signal ge geben; und am ersten Galgen strafften sich die
Seile. Ein Tier blökte vor Angst und Schmerz; und leise schwingend bewegte sich der Kada ver an der Festungsmauer nach oben. Ihm folgten weitere. Zuerst wurde das Vieh ge hängt, anschließend die übriggebliebenen Pferde; dann die Überlebenden aus der Fes tung, und schließlich jedes lebende Wesen in nerhalb der Mauern. Später, als alles still war, brachte man das Feuer. Die Flammen züngelten und breiteten sich aus, bis die ganze Festung wie ein Hoch ofen loderte, zwanzig Meilen weit sichtbar. Zwei Tage lang brannte das Feuer, stetig ge nährt von schwitzenden Männern, die alles, was von den Brücken und Palisaden noch üb rig war, hineinwarfen. Schließlich stand der Hügel kahl und nackt da. Die Festung war voll kommen verschwunden; aber Marcks Rache war noch nicht beendet. Karren wurden über die noch heiße Asche gezogen, während weite re in langen Schlangen über die Ebene fuhren, jeder beladen mit einer glitzernden Masse. Erst als der gesamte Inhalt verteilt und der Hügel und seine Umgebung knöcheltief mit Salz bedeckt waren, zog sich der König zurück in seine eigene Festung. Im Frühling des darauffolgenden Jahres ritt eine kleine Gruppe Pferdemänner auf einer
Straße entlang, die von Weißdorn und Holun der eingerahmt war. Es war ein schöner, war mer Tag; kleine weiße Wolken jagten sich am tiefblauen Himmel. Vögel sangen in den Bü schen am Wegesrand; einmal erhob sich eine Elster und flog, schwarz und weiß schillernd, davon. Der Anführer der kleinen Gruppe schien sich der Schönheit des Morgens durchaus bewußt zu sein. Während er dahinritt, ließ er seine Bli cke über die sich hinstreckende Heide und die Pinien schweifen, deren dunkle Spitzen sich über die Rhododendrenbüsche erhoben. Er nahm auch den schweren Duft; der Weißdorn blüten wahr; als die Landstraße eine Kurve machte, hielt er an. Vor ihm lag die Festung in ihrem Spalt zwi schen den Kreidefelsen. Selbst aus der Ferne sah sie wenig einladend aus. Er sah die flecki gen, verwitterten und düsteren Mauern, die halb verfallenen Wachtürme, das Dorf am Fuß des Hügels. Er blickte sich um zu seinen Ge folgsleuten, gab ohne ein weiteres Zeichen sei nem Pferd die Sporen und ritt durch die engen Gassen zwischen den staubigen Häusern. Kin der wurden aus ihrem Spiel aufgescheucht, Frauen starrten mit offenen Mündern die Rei tertruppe und ihre Ausstattung an: die Flaggen
mit ihren weißen Pferden und den vergoldeten Linien und den vierspeichigen Rädern darauf. Die Tore der Festung standen offen; der Rei sende hatte eher erwartet, sie verschlossen vorzufinden. Er ritt unter dem Portal hindurch und nickte den Wächtern freundlich zu. Ein Page rannte herbei und nahm die Zügel des Pferdes entgegen; er stieg ab und ging auf den Mann zu, der vor ihm stand. »Ist Marck, der Herr der Festung Gate, unterrichtet worden?« fragte er. »Herr«, sagte der andere unsicher und ner vös, »deine Botschaft ist weitergegeben wor den.« »Gut, dann bring mich zu ihm.« »Herr«, sagte der Mann ausweichend, »ich bin Thoma, Seneschall des Hauses Gate. Darf ich dich zu einem Becher Wein einladen?« Der helle und kühle Große Saal bildete einen deutlichen Gegensatz zu dem finsteren Äuße ren der Festung. Becher und ein Weinkrug wurden auf einen niedrigen Tisch gestellt; eine in Gelb und Grün gekleidete Dienstmagd eilte herbei, aber der Fremde winkte ab. »Bring’ mich zu König Marck«, verlangte er. »Auf der Stelle. Ich habe eine lange Reise hin ter und noch viele Meilen vor mir, bevor es dunkel wird.«
Thoma wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Es ist nicht möglich«, sagte er. »Was soll das heißen? Werde ich nicht emp fangen?« fragte der andere mit scharfer Stim me. »Du bist nicht abgewiesen«, sagte der Sene schall. »Er… empfängt niemanden.« Der Bote zog ein versiegeltes Paket hervor. »Ich will zu ihm«, sagte er. »König Atha hat mich beauftragt, ihm dies hier persönlich zu übergeben. Ihm und niemand anderem. Wo sind seine Gemächer?« Er ging auf die von einem Vorhang verdeckte Treppe zu; Thoma sprang auf und versperrte ihm mit ausgestreckten Armen den Weg. »Herr…«, sagte er flehend; dann verstummte er, denn der Fremde hielt ihm die Faust vor die Augen. Am Mittelfinger sah er das sich auf bäumende Pferd, eingemeißelt in einen matt grünen Stein. »Ja«, sagte der Bote scharf, »sein Zeichen. Wer mich zurückweist, weist damit ihn zu rück. Und jetzt bring mich zu deinem Herrn.« Mit einer Geste der Verzweiflung wandte sich Thoma um und führte ihn die hölzerne Trep penstufen hinauf.
Vom dritten Treppenabsatz führte eine offen stehende Tür in ein spärlich eingerichtetes Schlafzimmer; ohne hineinzusehen, ging der Seneschall daran vorbei, und der andere folgte ihm mit gerunzelter Stirn. Schließlich bückte sich Thoma und fingerte an einem Schloß her um. Eine Klappe schwang auf und ließ frische Luft und Licht herein. Der Bote stieg hindurch und blickte um sich. Sie befanden sich auf dem Dach der Festung. Weit unten konnte er das Dorf erkennen. Zu beiden Seiten ragten die Berge in der klaren Luft auf; dahinter lag das Meer, eine endlose kobaltblaue Fläche, die sich nach Süden er streckte. All das nahm er mit einem Blick wahr; dann richtete sich seine Aufmerksam keit auf den sonnenbeschienenen Platz vor ihm. Überall hingen verwesende Fleischköder an in den Boden gerammten Stangen. In einer Ecke waren die frischen Kadaver von etwa zwölf Krähen aufeinandergehäuft; ihre Federn bewegten sich leise im Wind. Am anderen Ende stand ein Zelt aus verwittertem Leinen, Schlitze in den Seiten dienten als Schießschar ten; aus einem dieser Schlitze wurde ein Pfeil zurückgezogen. »Was ist los?« fragte eine dün
ne, zänkische Stimme. »Was soll das? Ihr habt mir meinen Fang verdorben…« Thoma ging mit schweren Schritten auf die Zelttür zu und hob die Klappe. »Herr, dies ist König Marck«, sagte er. Schon Tage vor seiner Ankunft wußten die Kreidefelsenbewohner vom Herannahen des Heeres. Nachts waren die Lagerfeuer meilen weit sichtbar; tagsüber erhob sich eine riesige Staubwolke über die Ebene. Die vorange schickten Kuriere durchstreiften das Land und bezahlten das Getreide mit gutem Gold. Die Erde bebte unter den endlosen, mit Speeren bewaffneten Reihen der Infanterie und Kaval lerie in ihren farbenprächtigen Gewändern, jede Truppe ausgestattet mit ihren eigenen Bannern und Wimpeln. Waffen aller Art und Größe waren hier vertreten: Katapulte und Wurfschleudern, die »Katze« und die »Schild kröte«, die »Maus« und der Rammbock. Dar über hinaus gab es Waffen aus dem Mittel meer, die sagenumwobenen Feuerrohre, die hier noch niemand gesehen hatte, die Rohre, die Donner spuckten und Blitze niederregnen ließen. Jedes einzelne wurde von zwölf starken Ochsen gezogen, begleitet von der weißbeklei
deten Besatzung. Dann folgten die Pfeilschüt zen, hinter denen schließlich die SeelandHauptmänner mit ihren Kriegsbannern ritten; große und starke Männer in grellkarierten Ge wändern. An der Spitze jeder Gruppe prangte das Zeichen des Rades; und über allem erhob sich das Weiße Pferd von Morwenton, das Zei chen Athas. Die Kunde von Athas Nahen erreichte die Fes tung an einem trüben Morgen; die Wolken hin gen dicht über den zur See gewandten Hügeln, und Regenschauer fegten über die menschen leere Ebene. Wieder einmal wurde Thomas Vertrauen auf eine harte Probe gestellt; aber nachdem ein halber Tag vergangen war, be gannen die Trommeln zu schlagen, und ein weiteres Mal strömten lange Schlangen von Männern und Pferden aus den Toren der Fes tung. In der Entfernung von einer Meile ließ der Seneschall seine Gefolgsleute in einem Halbkreis aufmarschieren; und so fand ihn die königliche Vorhut. Zu seiner Rechten erstreck te sich das Moor; zu seiner Linken, halbver deckt hinter dem Regenschleier, lagen die Ber ge. Thoma beobachtete, wie die Vorreiter des Kö nigs zurückblieben. Etwa zweihundert Schritte vor seinen Männern kam auch der Rest der
Vorhut zum Stehen. Die Reiter schwenkten zur Seite; dann teilten sich die Reihen der Infante rie, und die Feuerrohre kamen zum Vorschein. Die Ochsen wurden ausgespannt und beiseite getrieben, die Geschütze gerichtet. Manche von ihnen sahen aus wie monströse Fische, an dere wirkten wie Drachen. Aber alle waren mit ihren geöffneten Schlunden auf die feindliche Macht gerichtet; und neben jedem von ihnen stand ein dunkelhäutiger Mann, eine rauchen de Fackel in der Hand. Eine Stille breitete sich aus, in der man deutlich das Rauschen des Re gens vernehmen konnte; und der Seneschall blickte den Mann an seiner Seite an. »Fahnen träger«, sagte er kurz angebunden. »Ich werde zu ihnen sprechen.« Ein Page ritt vor mit dem Zeichen des Hauses, dem roten Krebs auf gelber Seide. Thoma nick te den Hauptmännern seiner Truppen zu und galoppierte davon. Auf der Hälfte der Strecke hielt er an und wartete, barhäuptig im strö menden Regen. Eine Bewegung ging durch die feindlichen Reihen, und ein einzelner Mann löste sich und kam auf ihn zu. Ebenso wie Tho ma trug er keinen Helm. Seine ehemals blonde Haarmähne war ergraut, und die Jahre hatten sein Gesicht mit Zeichen der Erschöpfung ver sehen; aber er hielt sich sehr aufrecht in dem
schweren Kriegersattel, und er war vom Kopf bis zu den Füßen bewaffnet. »Dieser Anblick ist sehr schmerzlich für mich«, sagte er nach einem langen Schweigen. »Meine Untertanen ziehen gegen mich in den Krieg und brechen die Treue, die sie mir geschworen haben.« Der Seneschall schluckte. »Wir brechen kei nen Eid, König Atha«, sagte er. »Und wir zie hen auch nicht in den Krieg, außer gegen jene, die uns angreifen. Herr, warum bist du gekom men? Wenn es darum geht, uns zu bestrafen, dann müssen wir uns widersetzen. Denn jeder meiner Männer hat sich dem Hause Gate ver pflichtet.« Atha nickte grimmig. »Ich respektiere Treue«, sagte er. »Obwohl ich sie selten genug erlebe. Aber hier geht es nicht um Treue.« Er hob den Arm. »Ein Wort von mir«, sagte er, »und ihr seid hinweggefegt wie Spreu im Wind; du und deine ganze Armee. Und jetzt antworte mir, wirst du den Weg weiter versperren? Sprich, beim Leben all dieser Männer.« Eine Stimme hinter ihnen sagte: »Das ist un nötig.« Langsam drehte sich Thoma um. Marck trug seine verbeulte Rüstung und ein Schwert. Ein Hirtenjunge führte sein Pferd, ein etwa zehn jähriger Junge mit hellblondem Haar. Die Au
gen des Königs glänzten, und Tränen mischten sich mit dem Regen, der über seine Wangen floß und sein spärliches Haar durchnäßte. »Dies ist mein Volk«, sagte er. »Mein treues Volk, das ich regiere…« Er hielt ungefähr sechs Schritt von dem König entfernt an, betrachtete die Reihen von Kriegern hinter ihm und schüt telte den Kopf. »Dies ist Thoma, Seneschall des Hauses Gate«, sagte er, »und mein treuer und verläßlicher Vertrauter. Behandle ihn gebüh rend.« Kurzsichtig kniff er die Augen zusam men. »Warum kommst du zu mir mit einem solchen Aufgebot?« fragte er. »Darauf waren wir nicht vorbereitet, und wir hätten uns doch vorbereitet. Es ist nicht ritterlich, nicht, wie es sich für einen König geziemt. Du hast keine Nachricht gesandt…« »Ich habe dir sehr wohl eine Nachricht ge sandt«, sagte Atha grimmig. »Aber es kam kei ne Antwort zurück. Wer einen Boten zurück weist, den ich in meinem Namen gesandt habe, der weist mich zurück.« Erneut schüttelte Marck den Kopf. »Ich habe keinen Boten gesehen«, sagte er. »Meine Hof diener… aber das sind alles gute Leute. Ich… ich war sehr beschäftigt in letzter Zeit. Es… war nicht einfach, deinen Frieden im Westen zu bewahren.«
»Davon habe ich gehört«, sagte Atha spröde. Er beugte sich vor. »König Marck«, sagte er, »es ist nicht gut, hier im Regen zu stehen. Und meine Geduld ist schnell erschöpft. Willst du gegen mich kämpfen, ja oder nein?« Schlagartig richtete sich die Aufmerksamkeit des Königs wieder auf die Gegenwart. »Kämp fen?« sagte er. »Wer spricht denn von Kämp fen? Thoma etwa? Er war sehr unvorsichtig…« Er kletterte aus dem Sattel; der Junge eilte herbei, um seinen Arm zu stützen. »Wir sind gekommen, um dir als deine Untertanen unse re Ehre zu erweisen…« Er fiel vor dem König auf die Knie; Atha beugte sich herunter und versuchte, ihn hochzuziehen. »Herr«, schluchzte Marck, »großes Übel ist über uns gekommen. Und ich habe es verschuldet. Und nun kann ich keine Ruhe mehr finden. Es gibt keine Ruhe mehr für mich. Aber du, mit deiner großartigen Armee… behandle sie gerecht. Du wirst mich richten; ich bin es zufrieden…« Mit einer Geste befahl Atha seine Priester zu sich; sie trugen dunkle Gewänder und goldene Stäbe mit dem Zeichen des Rades. »Ich will es sehr zufrieden sein«, sagte Marck. »Aber Herr, sieh dieses Kind, das Kind eines Waldarbeiters. Der Vater ist tot, und seine Mutter kann es nicht ernähren. Ich stelle ihn
in deine Obhut; kümmere du dich von nun an um ihn. Ich habe großes Unrecht getan…« »Guter Freund«, sagte Atha sanft, »geh nun mit diesen Brüdern hier. Und sei beruhigt. Al les ist gut; ich werde später mit dir sprechen.« Er winkte wieder, und ein Offizier kam herbei. »Sag den Befehlshabern der Feuerrohre, daß sie wieder abbauen sollen. Und schick meine Hauptmänner zu mir.« Und zu Thoma ge wandt: »Geh du voran, guter Seneschall. Die se… Begrüßung ehrt dich. Reite mit mir, und erzähle mir von deinem Herrn; heute abend will ich mit dir essen.« Noch war die Morgendämmerung nicht über die Ebene angebrochen. Über den hohen Bäu men auf der Spitze des Hügels verbreitete sich allmählich ein Silberstreifen am Himmel; aber der Bach mit seinen dichtbewachsenen Ufern lag noch in samtenem Dunkel. Die Festung ragte bedrohlich gegen den fahlen Himmel im Westen auf; und rundherum glimmten die La gerfeuer des erwachenden Heeres. Atha stand im Außenhof und sog die kühle Luft ein. Dann wandte er sich an den Mann an seiner Seite. »Manche sagen, ich lasse einen Ir ren hier zurück«, sagte er mit ruhiger Stimme,
»und andere sprechen von einem Verräter. Wen lasse ich wirklich zurück, König Marck?« Marck rieb sich die hageren Hände warm. »Einen treuen Untertanen«, sagte er mit mü der Stimme, »der gerne mit dir in diesen Krieg reiten würde.« Der andere jedoch schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »nein, Marck, ich habe eine andere Aufgabe für dich. Bleibe hier und halte die Festung, bis ich wiederkomme, und ich werde sehr zufrieden sein.« Dann wies er auf die beiden Priester, die wie Schatten in der Nacht wenige Schritte entfernt standen. »Ich lasse dir diese guten Brüder hier; sie sind Männer Gottes und von großer Weisheit. Sie werden dir Trost bringen.« »Es gibt keine Götter«, sagte Marck dumpf. »Soviel hat mich meine Weisheit gelehrt.« »Nicht Götter«, sagte Atha leidenschaftlich. »Sondern einen einzigen Gott, der gnädig und gerecht ist. Der zu uns kam, als Mensch unter Menschen, im Seeland; der auf dem Rad getö tet wurde und wieder auferstand, um ewiges Leben zu bringen. Dies haben mich seine Priester gelehrt; und dies glaube ich.« Er be schrieb mit erhobenem Zeigefinger einen Kreis. »Sieh dieses Zeichen«, sagte er. »Bei ihm habe ich geschworen, diese Inseln zu ver
einen, den Armen und Schwachen zu helfen und jedermann Gnade bringen. Deswegen rei te ich gen Westen. Den Norden haben wir be reits besiegt, bis hin zu der Küste, vor der die Nebelinseln liegen. Sechs feindliche Festungen stehen in Flammen.« Er machte noch einmal das Zeichen. »Ein Volk«, sagte er. »Ein geein tes Volk, das einen einzigen Gott verehrt und ohne Furcht lebt. Es wird ein stolzes und großes Volk sein. Und ich brauche dabei deine Hilfe.« Aber Marck schüttelte den Kopf. »Ich bin durch ein langes Tal gegangen«, sagte er. »So gar jetzt ruft mich seine Dunkelheit. Und auch sie ruft mich, jede Nacht, von allen Hügeln herab. Sie, die so klein und schwach war.« Atha legte ihm die Hand auf die Schulter; er fühlte das Zittern des anderen. »Nein«, sagte er, »du hast mich nicht verstanden. Du hast mit dem Wahnsinn gespielt, König Marck. Aber Spiele sind für Kinder bestimmt; du bist kein Kind. Es ist vorbei.« Marck senkte den Kopf. »Ich bin deiner nicht wert, Herr«, sagte er. »Nimm die Festung von mir und übergib sie einem anderem; und laß mich meinem Leben ein Ende bereiten.« Er spürte die Antwort des anderen in seinem Schweigen. Schließlich schüttelte Atha den
Kopf. »Nein«, sagte er. »Auch in den Tod sollst du nicht flüchten. Das wäre gegen den Willen dessen, dem ich diene.« »Aber was bleibt…«, sagte Marck mit erstick ter Stimme. »Was bleibt?« erwiderte Atha. Er blickte um sich. »Die Sterne«, sagte er, »die leeren Hügel. Wir sind vollkommen allein; es ist ein Geheim nis, das dir die Brüder erklären werden.« Er schüttelte den hageren Mann leicht. »Ich brin ge dem Gelehrten des Hauses Gate Weisheit! Du wolltest sie besitzen, indem du sie mit Gold kauftest. Guter Freund, nun besitzt du sie…« Er drehte sich um und betrachtete den dunklen Turm der Festung. »Noch etwas ande res sollst du tun«, sagte er. »Hole deine Bücher hervor und baue mir eine Festung aus Stein, so wie sie die Riesen kannten. Fest und standhaft gebaut, sicher gegen Pfeile und die Geschosse der Feuerrohre. Baue sie für die Ewigkeit; und widme es ihr, wenn du es nicht mir widmen willst.« Marck benetzte seine Lippen. »Ich kann nicht«, sagte er. Erneut schüttelte Atha den Kopf. »Du hast noch immer nicht verstanden«, sagte er. »Die Brüder lehren – und ich glaube daran –, daß der Tod ein Anfang ist, nicht ein Ende. Daß wir
an einem bestimmten Tag auferstehen und vor Gott treten werden. Dann wird sie die Festung sehen. Und wird sie nicht sofort wissen, daß sie für sie gebaut wurde?« Er wandte sich ab und zerrte an seinen Hand schuhen. »Männer werden von weit her kom men«, sagte er. »Um zu lernen und zu staunen. Und auf diese Weise werden überall Festungen aus Stein entstehen, und das Volk wird ohne Angst leben können. Es werden großartige Fes tungen sein, König Marck; aber keine wird prächtiger sein als die deine, die erste.« Sein Pferd wurde herbeigeführt. Er stieg auf und wandte sich noch einmal um. »Baue die Festung«, sagte er. »Und halte hier die Stel lung für mich; Gott schütze dich.« Die Hufritte entfernten sich; sie hörten seine Stimme am Tor und das Auflachen des Wächters, so als ob er einen Scherz gemacht hätte. Marck hatte nicht geantwortet. Nun stand er da und starrte nach oben; und es war, als ob er am nächtlichen Himmel die Mauern einer rie sigen Festung sähe. Gegen seinen Willen war sein Geist von neuem angespornt. Schon sah er die Zeichnungen von Balken und Treppen vor sich; die Schlingen, mit denen sie die Steinblöcke hochziehen würden, die Gerüste, auf denen die Steinmetze arbeiten würden.
Und dann schließlich sah er die Sonne auf den Bau aus weißem Stein scheinen; und er sah die Fahnen stolz gegen den blauen Himmel we hen. Der Krebs des Seelandes, das Pferd Athas und Rad Gottes. Sein Herz schien zerspringen zu wollen; er rief die Priester zu sich und rann te zu den Stufen des Wachturms. Er sah die Fi gur des Königs in der Morgendämmerung ver schwinden; er sah die Dächer des Dorfes und die Nebelschwaden. Dann plötzlich drang der neue Gott in ihn ein, und er sah andere Dinge, zu viele, um sich daran zu erinnern oder davon zu erzählen. Blumen lösten sich vom Boden und schwebten am Himmel, Wolken schweb ten wie Blumen; und ein gewaltiger Hirsch er hob sich und schüttelte seinen rauchgrauen Kopf, dort unterhalb des Tores. Der Verkehr ist wieder ins Stocken geraten. Die endlose Autoschlange glitzert in der Hitze. Vor einer Stunde etwa hat das mit den Luftspiegelungen ange fangen. Jetzt brennt die Sonne auf das Verdeck des Champ nieder. Es stinkt nach Auspuffgasen. Der Streifenwagen hat sich wieder in Beilegung ge setzt. Aus dem Lautsprecher kommen die Worte krächzend und flach. Stan Potts beobachtet das blaue Signallicht, wischt sich übers Gesicht und flucht. Er will pinkeln, verspürt den Druck schon seit mehr als einer Stunde, und der dumpfe Schmerz ist immer
stärker und schließlich zu einem alles beherrschenden Bedürfnis geworden. Er hat es nicht gewagt, den Wa gen zu verlassen, hat es sich nicht getraut, von der Straße abzubiegen. Er bewegt den Schaltknüppel vor und zurück und starrt durch die fleckige Windschutz scheibe und versucht, an nichts, gar nichts zu denken. Der Aufsichtsbeamte hat den Wagen verlassen, ar beitet sich weiter an dem Stau entlang. Er trägt ein kurzärmeliges Hemd; unter den Armen haben sich Schweißflecken gebildet. »Wareham ist gesperrt«, sagt er. »Sie werden Sie nicht reinlassen. Am besten kehren Sie um.« Stau wünscht sich nichts sehnlicher, als daß der an dere verschwinden möge. »Ich muß es versuchen«, sagt er. »Mein Vater ist sehr alt.« Es kommt ihm vor, als würden die Worte von jemand anders gespro chen. Er schluckt und betrachtet das Armaturenbrett. Aber der Polizist ist bereits weitergegangen, er ist nicht interessiert. Er klemmt sich die Dose zwischen die Knie, zerrt an seinen Hosenknöpfen. Ihm wird ein wenig schwinde lig, aber das Gefühl der Erleichterung dauert nur einen kurzen Moment. Dann fällt ihm wieder ein, wie viele Meilen er noch vor sich hat und was am ande ren Ende geschehen muß. Er kann keinen klaren Ge danken fassen. Er muß verrückt sein; verrückt, über haupt angefangen zu haben, verrückt, hier zwischen all diesen hupenden Autos zu sitzen.
Er lehnt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück. Er weiß, daß er es nicht schaffen wird.