DSCHETSÜN GAMPOPA
Die kostbare Girlande für den höchsten Weg MÜNDLICHE UNTERWEISUNGEN VON DSCHETSÜN GAMPOPA
THESEUS
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DSCHETSÜN GAMPOPA
Die kostbare Girlande für den höchsten Weg MÜNDLICHE UNTERWEISUNGEN VON DSCHETSÜN GAMPOPA
THESEUS
Vollständiger Titel: „rDje sGam-po-pa’i zhal-gdam Lam nchog rin-po-che’i phreng-ba“ Kurztitel: Rintschen Trengwa Die Kostbare Girlande
ISBN 3-89620-134-4 1999 by Theseus Verlag Umschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld Bild: Gérard Muguet Druck: Clausen & Bosse, Leck Herausgeber: Übersetzungskomitee Karmapa Übersetzung ins Deutsche: Lama Sönam Lhüdrub
Scanned 2003 by David Lehmann
Inhaltsverzeichnis Einleitung..............................................................................................2 Die kostbare Girlande für den höchsten Weg.........................................10 Vorwort von Gampopa .......................................................................10 1. Zehn Arten der Vergeudung ...........................................................11 2. Zehn notwendige Dinge..................................................................12 3. Zehn Dinge, auf die wir uns stützen sollten ...................................13 4. Zehn Dinge, die wir aufgeben sollten.............................................14 5. Zehn Dinge, die wir nicht aufgeben sollten39 .................................15 6. Zehn Dinge, die wir verstehen sollten ............................................16 7. Zehn Dinge, in denen wir uns üben sollten ....................................17 8. Zehn Dinge, denen wir alle Energie widmen sollten......................18 9. Zehn Dinge, zu denen wir uns anspornen sollten...........................19 10. Zehn Verirrungen .........................................................................20 11. Zehn Dinge, wo wir uns irren können ..........................................21 12. Zehn Dinge, die kein Fehler sind..................................................22 13. Vierzehn Dinge, die keinen Sinn machen ....................................23 14. Achtzehn Fehler für Dharmapraktizierende .................................25 15. Zwölf unentbehrliche Dinge.........................................................27 16. Elf Zeichen edler Menschen .........................................................28 17. Zehn nutzlose Dinge.....................................................................29 18. Zehn Dinge, durch die wir unser eigenes Leid schaffen ..............31 19. Zehn Dinge, mit denen wir uns selbst etwas Gutes erweisen.......32 20. Zehn vollkommene Dinge145 ........................................................33 21. Zehn Arten von Verwirrung bei Dharmapraktizierenden.............34 22. Zehn Dinge, die du brauchst155 .....................................................35 23. Zehn Dinge, die du nicht brauchst................................................36 24. Zehn Dinge, die alles andere übertreffen......................................37 25. Zehn Dinge, die jede Handlung vortrefflich werden lassen .........38 26. Zehn Qualitäten des edlen Dbarma ..............................................39 27. Zehn Dinge, die bloss Worte sind181 ............................................41 28. Zehn Dinge, durch die sich spontan grosse Freude zeigt .............42 Nachwort ............................................................................................43 Anmerkungen .....................................................................................44
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Einleitung Dieser kleine Ratgeber für die spirituelle Praxis wurde im zwölften Jahrhundert von Dschetsün Gampopa (1079-1153), einem der grossen buddhistischen Meister Tibets, geschrieben. Er wendet sich darin an Menschen, die sich aus der Verstrickung in Ichbezogenheit lösen und mehr Mitgefühl und tieferes Gewahrsein entwickeln möchten. In knappen Merksätzen arbeitet er die wesentlichen Punkte des Übungsweges heraus und zeigt uns, wie wir zum Herz der Befreiung vordringen und Sackgassen vermeiden können.1 Campopas prägnante Unterweisungen helfen, ein Gespür für die Feinheiten echter spiritueller Praxis zu entwickeln. Sie schulen unser Unterscheidungsvermögen und lassen uns Inspiration und Klärung finden. Gampopa fasst in ihnen die wichtigsten mündlichen Unterweisungen seiner Lehrer zusammen - eine wahre Kette von Juwelen, brillant in ihrer Klarheit und Einfachheit.
Worum geht es auf dem buddhistischen Weg? Das Ziel des auf Buddha Shakyamuni zurückgehenden Weges ist vollkommene innere Freiheit durch Auflösen von Ichbezogenheit, welche die Ursache aller Erfahrung von Leid ist. Die wichtigsten Mittel dafür sind das Entwickeln von Liebe, Mitgefühl und Weisheit. Diese Qualitäten führen uns in die nicht-dualistische Dimension unseres Geistes, die oft auch ursprüngliches Gewahrsein, Natur des Geistes oder Leerheit genannt wird. Jeder, der sich auf den Weg einlässt, kann Zugang zu dieser Dimension jenseits aller Ichbezogenheit finden. Sie ist die Quelle von tiefer Seinserkenntnis, uneigennütziger Liebe und echter, nicht bedingter Freude. Alle buddhistischen Meister betonen die Wichtigkeit des authentischen, direkten Hineinfindens in diese Gewahr-seins-Dimension. Dabei sollte das Streben nach Erkenntnis stets von der Entwicklung von Liebe, Mitgefühl, Hingabe, Mitfreude und dergleichen Qualitäten begleitet werden. -2-
Den Dharmaweg gehen Der Buddha forderte uns auf, das von ihm Gelehrte sorgfältig zu prüfen und den Dharma, die Wahrheiten, von denen er sprach, in uns selbst zu finden. Die Dharmalehren beruhen auf direkter Einsicht in die Natur der Wirklichkeit und zeigen uns einen Weg zu wahrem Glück und zur Erleuchtung aller Wesen. Sie öffnen uns die Augen für Zusammenhänge, deren Kenntnis es uns ermöglicht, unser Handeln wirksam auf Glück und Erleuchtung auszurichten. Der Buddha lehrte die Wahrheit vom Leid und seiner Verursachung durch unser Haften an der Vorstellung eines Ichs. Er zeigte die Möglichkeit vollkommener Befreiung und den Weg dorthin durch Mitgefühl und Weisheit. Viele Menschen haben die tiefe, befreiende Wirkung seiner Lehren bereits erfahren. Doch damit sich diese Wirkung auch in uns entfalten kann, müssen wir die Wahrheiten, auf die er aufmerksam macht, zutiefst verstehen und nachvollziehen. Dabei sollten wir die Dharmalehren nicht einfach als Lehrsätze übernehmen, sondern uns engagiert und undogmatisch mit ihnen auseinandersetzen und in persönlicher Praxis überprüfen, ob der vorgeschlagene Weg wirklich aus der Verstrickung in Ichbezogenheit und Leid hinausführt.2 Als erstes machen wir uns auf diesem Weg mit den traditionellen Unterweisungen vertraut. Sobald ein gewisses intellektuelles Verständnis entstanden ist, beginnen wir, sie im täglichen Leben und in der Meditation auszutesten. Dabei überdenken wir die Lehren immer wieder aufs Neue und gelangen so zu einem auf persönlicher Erfahrung beruhenden Verständnis, das sich stets weiter vertiefen wird und seinerseits wieder zu vermehrter Praxis anspornt. Hierbei sind die Ratschläge Gampopas von grossem Wert, denn sie lenken unsere Anstrengungen in die richtige Richtung, so dass wir nicht auf spirituelle Abwege geraten. Wenn wir den Weg auf die von ihm beschriebene Weise mit Ausdauer weitergehen, wird sich zunehmende Gewissheit in Hinblick auf die Dharmalehren einstellen, die weit über ein bloss intellektuelles Verständnis hinausgeht.
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Die Ursprünge von Gampopas Übertragung Gampopa studierte zunächst sechs Jahre lang in der Kadampa-Tradition bei Schülern des grossen indischen Meisters Atisha (980-1052), der diese Lehren nach Tibet gebracht hatte. Die Kadampas betonen in ihrer Praxis das Entwickeln tiefer Entsagung durch die Kontemplationen über Vergänglichkeit und Karma, sowie das Hervorbringen von Liebe, Mitgefühl und der selbstlosen Haltung eines Bodhisattva, der sich ganz und gar für die Erleuchtung aller Wesen einsetzt. Die Schule wurde bekannt für die Einführung einer systematischen, stufenweisen Darstellung des Bodhisattva-Weges, für ihre grosse Gelehrsamkeit in buddhistischer Philosophie und Logik sowie für ihr striktes Einhalten ethischer Regeln.3 Nach dieser umfassenden Ausbildung durch die Kadampas fand Gampopa zu dem berühmten Yogi Milarepa aus der Kagyü-Linie4, bei dem er die Mahamudra-Lehren inklusive der Sechs Yogas von Naropa praktizierte. Diese Lehren gehen auf die indischen Meister Tilopa, Naropa und Maitripa zurück, von denen sie an den verwirklichten tibetischen Übersetzer Marpa (1012-1096), den Lehrer Milarepas, weitergegeben wurden. Die Mahamudra-Lehren betonen das Hervorbringen des ursprünglichen Gewahrseins durch völliges Auflösen aller Fixierungen in entspannter Meditationspraxis, wobei Vertrauen, Mitgefühl und Hingabe die zentrale Rolle spielen.5 Gampopa machte aufgrund seiner grossen Hingabe und Geistessammlung schnelle Fortschritte in der Praxis und wurde als Milarepas „sonnengleicher“ Hauptschüler bekannt. Er wurde der zu seiner Zeit wichtigste Verbreiter der Mahamudra-Lehren. Dabei liess er die Kadampa-Lehren mit in seine Unterweisungen einfliessen. Die Synthese dieser beiden Übertragungen wurde von da an charakteristisch für den Unterrichtsstil der Kagyü-Meister.
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Milarepas Vermächtnis an Gampopa Mit welchem Einsatz und welcher Ausdauer Milarepa, Gampopa und auch die anderen Meister der Kagyü-Linie sich der MahamudraMeditation widmeten lässt folgende Anekdote ahnen: Gampopa hatte in den drei Jahren intensiver Meditationspraxis unter Milarepas Anleitung grosse Fortschritte gemacht: Milarepa sagte ihm, dass er seine Verwirklichung nun alleine zur Vollendung bringen könne, und gab ihm alle Unterweisungen und Ermächtigungen. Am Tag, als Gampopa aufbrach, begleitete der Meister ihn zur Steinbrücke am Fluss. Dort sagte Milarepa zu Gampopa: „Die Brücke solltest du als gutes Omen allein überqueren. Lege dein Gepäck ab und dann wollen wir uns, Vater und Sohn, noch eine Weile lang unterhalten.“ Sie setzten sich nieder und Milarepa sagte: „Sohn, gib allen Stolz und Egoismus auf, durchschneide die Stricke der Anhaftung und löse dich von allen weltlichen Begierden dieses Lebens. Sei mit allen in Harmonie, bewahre immer einen edlen, geduldigen, unermüdlichen und gütigen Geist und zügle deine umherwandernden Gedanken. Rede nicht zu viel, halte dich von allen Zerstreuungen fern, verweile in Abgeschiedenheit und meditiere unermüdlich. Auch wenn du erkannt hast, dass dein eigener Geist Buddha ist, solltest du niemals deinen Meister aufgeben. Auch wenn du erkannt hast, dass alle Handlungen ihrem innersten Wesen nach rein sind, solltest du selbst im Allerkleinsten stets positiv handeln. Auch wenn du erkannt hast, dass Ursache und Wirkung in sich leer sind, solltest du nicht einmal das allerkleinste Vergehen begehen. Auch wenn du erkannt hast, dass in der Grossen Gleichheit Ich und andere eines sind, solltest du doch immer das Wohlergehen aller fühlenden Wesen in deinem Herzen bewahren.“
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Dann gab er ihm seinen Segen und sprach: „Jetzt habe ich dir alles übertragen. Sei nun glücklich und froh.“ Als Gampopa sein Gepäck geschultert hatte, sagte Milarepa zu ihm: „Ich bin noch im Besitz einer ungewöhnlich tiefen Herzensunterweisung, aber die ist zu kostbar, als dass ich sie fort geben könnte. Du kannst jetzt aufbrechen.“ Gampopa überquerte die Brücke und war schon fast ausser Rufweite, als Milarepa ihm zurief: „Wer ausser dir verdient es, diese höchst kostbare Herzensunterweisung zu erhalten. Komm her und ich werde sie dir geben.“ Voller Freude und Erwartung kam Gampopa zurück. Milarepa sagte: „Ich hoffe, dass du diese Lehre immer im Herzen bewahrst und niemals vergisst. Schau her.“ Wie er dies sagte, hob Milarepa sein Gewand und zeigte ihm sein völlig von harten Schwielen bedecktes Gesäss. „Es gibt keine tiefere Lehre als diese. Sieh, welche Anstrengungen ich in der Praxis unternommen habe. Die tiefste Dharmalehre ist unermüdliche Praxis. Allein durch unermüdliches Bemühen habe ich Gutes gewonnen und Verwirklichung erlangt. Auch du solltest unermüdlich meditieren, dann wirst du gewiss die grosse Verwirklichung erlangen.“ Mit diesen Worten schickte er ihn endgültig auf den Weg. Gampopa zog sich an den von Milarepa empfohlenen Ort zurück, erlangte in wenigen Jahren die vollkommene Verwirklichung des Geistes und widmete sich den Rest seines Lebens seinen vielen Schülern.
Herangehensweise an die Lektüre Die vorliegenden Merksätze vermitteln uns die Essenz von Gampopas Erfahrungen. Sie verbinden die Kadampa- und MahamudraUnterweisungen in der für die Kagyü-Linie des tibetischen Buddhismus seit Gampopa typischen Art und Weise. Sie sind dem Gedächtnis leicht einzuprägen und ihre Samen werden, wenn wir gut vorbereitet sind, auf fruchtbaren Boden fallen.6 Ein gutes Aufgehen der Saat setzt auch voraus, dass wir die einzelnen Unterweisungen stets im Zusammenhang des Gesamtwerkes sehen und uns nicht nur hier und da einen Satz heraussuchen, der uns gerade gefällt. Es empfiehlt sich zudem, mit einem Lehrer darüber zu sprechen, wie wir die Hinweise Gampopas fruchtbringend in unserer gegenwärtigen Situation umsetzen können. -6-
Die in 28 Gruppen zusammengefassten Unterweisungen bilden eine untrennbare Einheit. Sie führen uns von den allerersten Kontemplationen auf dem Dharmaweg bis zur höchsten Sichtweise des Mahamudra. Höhere Ebenen des Verständnisses (wie z.B. in den Kapiteln 16, 23, 27) transzendieren dabei die anfänglichen Ebenen, doch sollten wir diese verschiedenen Ebenen nicht gegeneinander ausspielen. Gegensätzliche Aussagen können zugleich wahr sein, da sie sich auf verschiedene Ebenen der Wirklichkeit und der Praxis beziehen. Zusammengenommen, sich wechselseitig ergänzend, bilden sie ein harmonisches Ganzes und spiegeln die sich wechselseitig durchdringenden und bedingenden Ebenen der relativen und absoluten Wirklichkeit wider. Gerade die vermeintliche Widersprüchlichkeit mancher Aussagen schärft unser Unterscheidungsvermögen. Wir lernen, die relative und die absolute Ebene zu unterscheiden und beide zugleich zu berücksichtigen. Dadurch finden wir zu einem ausgewogenen Verständnis. Jeder Satz lädt zum Verweilen und Überdenken ein. Und jedes Mal, wenn wir zu diesen Sätzen zurückkehren, enthüllt sich uns ein tiefer gehendes Verständnis, ein kleines Stück mehr vom Schatz dieser Unterweisungen. Bei der Lektüre von Dharmatexten - und überhaupt bei allen Tätigkeiten - spielt es eine grosse Rolle, welche Motivation uns dabei leitet. Buddhistische Lehrer empfehlen, jedes Mal vor dem Lesen den Wunsch zu entwickeln, dass diese Lektüre oder Aktivität nicht nur zur eigenen Befreiung, sondern zur Erleuchtung aller Wesen ohne Ausnahme beitragen möge. Mögen wir bei der Lektüre dieses herausfordernden Textes immer wieder daran denken, dass Entspannung und Vertrauen auch scheinbar Unmögliches möglich machen! Möge uns die Beschäftigung mit diesen Unterweisungen und ihre Anwendung in der Praxis in die Lage versetzen, anderen mehr und mehr zu helfen!
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Danksagungen Unser besonderer Dank geht an Khenpo Chödrak Gyamtso Rinpotsche vom Karmapa International Institute in New Delhi, mit dem wir viele Fragen zur Übersetzung klären konnten. Seine Erläuterungen finden sich zum Teil in den Anmerkungen, doch es war keineswegs möglich, alle seine Erklärungen aufzunehmen. Zugleich möchten wir uns bei Tina Draszczyk bedanken, die im Juni 1998 einen Kurs von Khenpo Chödrak zur Kostbaren Girlande ins Deutsche übertrug und dabei wertvolle Verbesserungsvorschläge zur Übersetzung beisteuerte. Ein besonderer Dank sei allen ausgesprochen, die beim Formulieren und Gestalten des Textes geholfen haben, sowie den uns unbekannten Zeichnern der beiden Bilder, auf deren Einverständnis für den Abdruck wir hoffen. Dem Theseus Verlag sei herzlich gedankt für das Herausbringen dieser Übersetzung mitsamt tibetischem Text, wodurch es Interessierten möglich ist, Gampopas Ratschläge im Original zu studieren.
Widmung Die Arbeiten an dieser Übersetzung sind heute, am Neumond des Novembers 1998, dem einjährigen Todestag unseres Lehrers Gendün Rinpotsche, abgeschlossen. Sie seien der Fortdauer seiner Aktivität für alle Wesen gewidmet. In 2 3 Jahren unermüdlichen Wirkens im Westen lebte er uns die hier wiedergegebenen Unterweisungen vor und verkörperte für uns Milarepa und Gampopa zugleich. Mögen wir seinem Lebensbeispiel folgen! Übersetzungskomitee Karmapa
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Dschetsün Gampopa -9-
Die kostbare Girlande für den höchsten Weg Mündliche Unterweisungen von Dschetsün Gampopa
Vorwort von Gampopa NAMO RATNAGURU (Verehrung den juwelengleichen spirituellen Lehrern) Geschmückt mit der völlig reinen spirituellen Praxis der kostbaren mündlichen Überlieferung (Kagyü), befreit Ihr uns aus dem Furcht einflössenden, schwer zu überquerenden Ozean des Daseinskreislaufes. Euer Segensstrom ist so unerschöpflich wie die Weiten des grossen Ozeans. Eure universellen, alle Zeiten umspannenden Wunschgebete erfüllen sich spontan. Ich verbeuge mich vor den edlen Lamas der makellosen Praxislinie und nehme Zuflucht. Bitte gewährt mir Euren Segen! Nachdem ich für lange Zeit immer wieder die Ratschläge beherzigt habe, wie sie die mündliche Überlieferung der Kagyü-Schule hervorgebracht hat, werde ich diese äusserst wertvollen Unterweisungen nun niederschreiben. Diese Kostbare Girlande für den höchsten Weg7 ist für all jene karmisch Begünstigten gedacht, die direkt oder indirekt in ihrem hingebungsvollen Streben mit mir verbunden sind.8 Jemand, der über die notwendigen Voraussetzungen verfügt und der Befreiung (aus dem Daseinskreislauf) und den Buddhazustand der Allwissenheit zu erlangen wünscht9, sollte immer wieder über die folgenden Punkte nachdenken:
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1. Zehn Arten der Vergeudung Dieser schwer zu erlangende, intakte Menschenkörper10 wird vergeudet, wenn wir ihn für nichtheilsame Handlungen gebrauchen. Dieses intakte Menschendasein mit den schwer zu erlangenden Freiheiten und günstigen Bedingungen11 wird vergeudet, wenn wir, ohne den Dharma praktiziert zu haben, als gewöhnliche Menschen sterben. Dieses, in Zeiten des Verfalls ohnehin kurze Menschenleben wird vergeudet, wenn wir es mit sinnlosen Aktivitäten vertun.12 Unser Geist, dessen wahres Wesen der von Vorstellungen freie Wahrheitskörper ist, wird vergeudet, wenn wir ihn im Schlamm des Kreislaufes der Täuschung versinken lassen.13 Die Chance, einen authentischen Lehrer gefunden zu haben, der uns auf dem Weg anleitet, wird vergeudet, wenn wir uns von ihm trennen, bevor wir Erleuchtung erlangt haben.14 Das Schiff der Befreiung aus Gelübden und Vajra-Banden wird vergeudet, wenn wir diese aufgrund von emotionaler Verblendung und Achtlosigkeit brechen.15 Unsere mit Hilfe des Lehrers entdeckten Erfahrungen und Verwirklichungen werden vergeudet, wenn sie im Dickicht weltlichmaterialistischen Anhaftens verloren gehen. Die tiefgründigen Schlüsselunterweisungen der Verwirklichten werden vergeudet, wenn wir sie wie Handelswaren an karmisch nicht bereite, gewöhnliche Leute verkaufen. (Die Gelegenheiten, die durch) Lebewesen - unsere gütigen, ehemaligen Eltern - (entstehen), werden vergeudet, wenn wir diese aus Hass zurückweisen und aufgeben.16 Die Jugend, in der Körper, Rede und Geist voller Energie sind, wird vergeudet, wenn wir sie in gewöhnlicher Gleichgültigkeit vertun.17
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2. Zehn notwendige Dinge Es ist notwendig, die eigenen Fähigkeiten richtig einzuschätzen, um auf der Grundlage richtiger Selbsteinschätzung fehlerfrei praktizieren zu können.18 Es ist notwendig, die Unterweisungen eines authentischen Lehrers mit Vertrauen und freudiger Ausdauer zu befolgen.19 Es ist notwendig, dass wir - ohne uns zu irren - mit Hilfe unseres Wissens über hilfreiche und verkehrte mündliche Unterweisungen, die richtigen Unterweisungen eines Lehrers wählen.20 Es ist notwendig, mit Weisheit und Vertrauen der auf Erkenntnis beruhenden Sicht21 eines authentischen Lehrers voller Energie nachzustreben. Es ist notwendig, Körper, Rede und Geist achtsam, gewissenhaft und sorgfältig von Fehlern und Vergehen freizuhalten.22 Es ist notwendig, geistig gerüstet und voller Herzenskraft sowie stabil und ausdauernd in der Praxis zu sein.23 Es ist notwendig, frei von Begierde und Verlangen zu handeln, um nicht von anderen abhängig zu werden.24 Es ist notwendig, dass wir uns fortwährend um das Vermehren der zwei Ansammlungen bemühen, indem wir Vorbereitung, Hauptphase und Abschluss praktizieren.25 Es ist notwendig, unseren Geist direkt oder indirekt mit Liebe und Mitgefühl auf das Wohl der Wesen zu richten.26 Es ist notwendig, es durch Weisheit und Erkenntnis zu vermeiden, alle Phänomene für dinglich und für versehen mit Merkmalen zu halten.27
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3. Zehn Dinge, auf die wir uns stützen sollten Stütze dich auf authentische Lehrer, die Erkenntnis und Mitgefühl besitzen. Stütze dich auf Praxisorte, die abgelegen, angenehm und gesegnet sind.28 Stütze dich auf vertrauenswürdige Gefährten, deren Sichtweise und Verhalten in Einklang sind.29 Stütze dich auf Genügsamkeit und erinnere dich der Nachteile von (zu viel) Hausrat. Stütze dich frei von Einseitigkeit auf die essentiellen Unterweisungen der Linie verwirklichter Meister.30 Stütze dich auf Gegenstände, Arzneien, Mantras und tiefgründige Wechselbeziehungen31, die von Nutzen für dich und andere sind. Stütze dich auf Nahrung und Praxismethoden, die zuträglich für deine Konstitution sind.32 Stütze dich auf eine Lehre und eine Lebensweise, die deine (Meditations-)Erfahrungen fördern. (Als Lehrer) stütze dich auf karmisch bereite Schüler, die Vertrauen und Respekt besitzen.33 Stütze dich bei allen vier Aktivitäten34 stets auf Bewusstheit und Achtsamkeit.
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4. Zehn Dinge, die wir aufgeben sollten Gib einen Lehrer auf, dessen ganzes Tun von den acht weltlichen Beweggründen durchsetzt ist.35 Gib schlechte Freunde und Begleiter auf, die der Geisteshaltung und den (Meditations-)Erfahrungen schaden. Gib Orte und Zurückziehungsstätten auf, die voller Ablenkungen oder Gefahren sind. Gib einen Lebensunterhalt auf, der auf Diebstahl, Raub und Betrug beruht.36 Gib Handlungen und Aktivitäten auf, die der Geisteshaltung und den (Meditations-)Erfahrungen schaden. Gib Nahrung und Lebensweisen auf, die der Gesundheit schaden. Gib Anhaften und Begehren auf, die dich durch Habgier an Objekte des Verlangens37 fesseln. Gib achtloses Verhalten auf, das andere ihr Vertrauen verlieren lässt.38 Gib sinnloses Herumsitzen, Herumlaufen und dergleichen auf. Gib es auf, die eigenen Fehler zu verstecken und die Fehler anderer zu verkünden.
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5. Zehn Dinge, die wir nicht aufgeben sollten39 Gib Mitgefühl nicht auf, denn es ist die Quelle des Nutzens für andere.40 Gib Erscheinungen nicht auf, denn sie sind die natürliche Dynamik des Geistes.41 Gib Gedanken nicht auf, denn sie sind das Spiel der wahren Natur. Gib Emotionen nicht auf, denn sie zeigen dir das ursprüngliche Gewahrscin.42 Gib Sinnesfreuden nicht auf, denn sie sind Wasser und Dünger für Erfahrungen und Erkenntnis.43 Gib körperliche Krankheit und geistiges Leid nicht auf, denn sie sind deine spirituellen Freunde.44 Gib Feinde und Hindernisse nicht auf, denn sie stimulieren die (Erkenntnis der) wahre(n) Natur.45 Gib nicht auf, was von selbst auftaucht, denn es ist (ein Zeichen von) Verwirklichung.46 Gib keinerlei Praxismethoden auf, denn sie sind das Trittbrett für den Weg der Weisheit.47 Gib körperliche Dharma-Aktivitäten, zu denen du fähig bist, nicht auf.48 Und gib den Wunsch nicht auf, anderen zu nutzen, selbst wenn deine Fähigkeiten gering sind.
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6. Zehn Dinge, die wir verstehen sollten Verstehe, dass äussere Erscheinungen illusorisch und von daher unwirklich sind.49 Verstehe, dass der innere Geist ohne ein Ich und von daher leer ist.50 Verstehe, dass die (Aussen und Innen) verbindenden Gedanken51 durch Umstände bedingt und von daher nur von momentaner Dauer sind. Verstehe, dass Körper und Rede aus Elementen geschaffen und von daher vergänglich sind.52 Verstehe, dass sämtliches Glück und Leid der Wesen auf Handlungen beruht und dass Handlungen unweigerlich heranreifen.53 Verstehe, dass Leid die Quelle der Entsagung und von daher unser spiritueller Freund ist.54 Verstehe, dass Freuden und Wohlergehen den Dämon des Verlangens nähren und von daher die Wurzel des Daseinskreislaufes sind.55 Verstehe, dass Geschäftigkeit zum Abweichen vom Dharma führt und von daher ein Hindernis für Verdienste ist.56 Verstehe, dass Probleme zur spirituellen Praxis anspornen und Feinde und Hindernisse von daher der Lama sind. Verstehe, dass sämtliche Phänomene in Wahrheit kein eigenes Wesen besitzen und daher alle von gleicher Natur sind.57
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7. Zehn Dinge, in denen wir uns üben sollten Bist du durch das Tor des Dharma58 eingetreten, dann renne nicht wie andere den weltlichen Belangen hinterher, sondern übe dich gemäss dem Dharma. Hast du die Heimat hinter dir gelassen, dann schlage keine neuen Wurzeln bei den Menschen, sondern übe frei von Verhaftungen.59 Hast du einen authentischen Lehrer gefunden, dann gib deinen Stolz auf und übe seinen Anweisungen entsprechend. Hast du deinen Geist durch Studium und Kontemplation vorbereitet, so belasse es nicht bei blosser Wortspielerei, sondern wende an, was du gelernt hast. Taucht Erkenntnis im Geist auf, lasse sie nicht gleichgültig verpuffen, sondern übe unabgelenkt weiter. Entsteht Praxis im Geist60, dann übe, ohne dich auf gesellige Geschäftigkeit einzulassen. Hast du Versprechen und Gelübde abgelegt, lasse die drei Tore nicht achtlos, sondern übe dich in der dreifachen Schulung.61 Hast du den Geist der höchsten Erleuchtung62 hervorgerufen, handle nicht zum persönlichen Nutzen, sondern übe dich, stets zum Nutzen anderer zu handeln. Bist du ins Mantra-Fahrzeug eingetreten, lasse die drei Tore nicht gewöhnlich, sondern übe dich in den drei Mandalas.63 Ziehe in jungen Jahren nicht sinnlos überall umher, sondern übe dich unter Entbehrungen64 zu Füssen eines authentischen spirituellen Freundes.
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8. Zehn Dinge, denen wir alle Energie widmen sollten Als Anfänger widme dich mit aller Energie dem Studium und der Kontemplation (des Dharma). Wenn Erfahrungen erscheinen, widme dich mit aller Energie der Meditation. Solange du noch keine Stabilität (in der Erkenntnis) erlangt hast, praktiziere mit aller Energie in Zurückgezogenheit.65 Bei grosser Zerstreutheit und Wildheit des Geistes widme dich mit aller Energie dem Bezähmen des Bewusstseins. Bei grosser Dumpfheit und Vernebelung widme dich mit aller Energie dem Auffrischen des Bewusstseins. Solange dein Geist noch nicht stabil ist, widme dich mit aller Energie dem ausgeglichenen Verweilen in Meditation. Auf der Basis meditativer Ausgeglichenheit widme dich mit aller Energie der Nachmeditationspraxis.66 Bei vielen Problemen und widrigen Umständen widme dich mit aller Energie den drei Arten von Geduld.67 Bei grossem Verlangen nach angenehmen Dingen widme dich mit aller Energie dem entschlossenen Sichabwenden.68 Bei schwacher Liebe und geringem Mitgefühl widme dich mit aller Energie dem Kultivieren des Erleuchtungsgeistes.
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9. Zehn Dinge, zu denen wir uns anspornen sollten Bedenke, wie schwierig die Freiheiten und günstigen Bedingungen zu finden sind, und sporne dich zum authentischen Dharma an.69 Bedenke Tod und Vergänglichkeit und sporne dich zu heilsamen Handlungen an.70 Bedenke die unausweichlichen Folgen deiner Handlungen und sporne dich an, schädliche Handlungen aufzugeben.71 Bedenke die Tücken des Daseinskreislaufes und sporne dich an, Befreiung zu verwirklichen. Bedenke das Leid der Wesen im Daseinskreislauf und sporne dich an, den Erleuchtungsgeist zu üben. Bedenke den Zustand der Täuschung und die verzerrten Wahrnehmungen aller Wesen und sporne dich zum Studieren und Kontemplieren an.72 Bedenke, wie schwierig es ist, die Muster der Täuschung aufzugeben, und sporne dich zur Meditationspraxis an.73 Bedenke, wie riskant emotionale Verblendung in dieser Zeit des Verfalls ist, und sporne dich zum (Anwenden der) Gegenmittel an.74 Bedenke, wie zahlreich die schwierigen Situationen in dieser Zeit des Verfalls sind, und sporne dich zur Geduld an. Bedenke, wie leicht du auf den Pfad der Ablenkung geraten und durch Zerstreuungen hier und da das menschliche Leben sinnlos vergeuden kannst, und sporne dich zu freudiger Ausdauer an.75
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10. Zehn Verirrungen Geringes Vertrauen bei grossem intellektuellen Verständnis führt zur Verirrung als „theoretisierender Schwätzer“.76 Grosses Vertrauen bei geringem intellektuellen Verständnis führt zur Verirrung in dogmatische Fixierungen (Fanatismus).77 Grosse, kraftvolle Anstrengung ohne Schlüsselunterweisungen führt zur Verirrung in Fehler und Sackgassen.78 Verkehrte Annahmen über die Wirklichkeit nicht zunächst durch Studium und Kontemplation überprüft zu haben führt in der Meditation zur Verirrung in dunkle Erfahrungsbereiche.79 Frisch gewonnenes Verständnis nicht in Praxis umzusetzen führt zur Verirrung als ungezähmter „spiritueller Experte“.80 Seinen Geist nicht im Methodeaspekt, dem grossen Mitgefühl, zu üben führt zur Verirrung in den Weg des geringeren Fahrzeugs.81 Seinen Geist nicht im Weisheitsaspekt, der Leerheit, zu üben führt unweigerlich zur Verirrung in die Wege Samsaras.82 Von den acht weltlichen Beweggründen beeinflusst zu sein führt stets zur Verirrung des „die Welt Verschönern Wollens“.83 Von weltlichen Leuten mit grossem Vertrauen umworben zu sein führt zur Verirrung ins Schützen des eigenen Ansehens vor gewöhnlichen Personen.84 Grosse Fähigkeiten und Kräfte bei mangelnder innerer Stabilität führen zu der Verirrung, sich mit weltlicher Gesinnung als Ausführender von Dorfritualen zu betätigen.85
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11. Zehn Dinge, wo wir uns irren können Begierde wird irrtümlicherweise für Vertrauen gehalten.86 Anhaften wird irrtümlicherweise für Liebe und Mitgefühl gehalten.87 Intellektuell geschaffene Leerheit wird irrtümlicherweise für die Leerheit gehalten, die allen Phänomenen zugrunde liegt.88 Die Sichtweise, dass „nichts existiert“, wird irrtümlicherweise für den Raum der Phänomene gehalten.89 (Meditations-)Erfahrungen Erkenntnis gehalten.90
werden
irrtümlicherweise
für
wahre
Scheinheiligkeit wird irrtümlicherweise für edles Verhalten gehalten. Besessenheit von Mara wird irrtümlicherweise für das Ende aller Täuschung gehalten.91 Betrüger werden irrtümlicherweise für Verwirklichte gehalten.92 Eigennütziges Handeln wird irrtümlicherweise für Handeln zum Wohle anderer gehalten. Betrügerei wird irrtümlicherweise für das geschickte Anwenden hilfreicher Methoden gehalten.93
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12. Zehn Dinge, die kein Fehler sind Es ist kein Fehler, das Leben eines „Haushälters“ zu verlassen und frei von jeglichem Anhaften an Besitz ein heimatloser Entsagender zu werden.94 Es ist kein Fehler, einen authentischen Lehrer und spirituellen Freund zuoberst auf dem Haupt zu tragen.95 Es ist kein Fehler, Studium, Kontemplation und Meditation des Dharma miteinander zu verbinden. Es ist kein Fehler, bei erhabener Sichtweise ein bescheidenes Verhalten zu haben.96 Es ist kein Fehler, mit einem weiten Geist verbindliche, streng anmutende Versprechen einzugehen.97 Es ist kein Fehler, bei grossem Verständnis geringen Stolz zu haben.98 Es ist kein Fehler, reich an Unterweisungen und (zugleich) eifrig in der Praxis zu sein. Es ist kein Fehler, bei guten Erfahrungen und Verwirklichung frei von Stolz und Einbildung zu bleiben. Es ist kein Fehler, sowohl ganz alleine als auch in einer Gruppe leben zu können. Es ist kein Fehler, frei von Verlangen nach persönlichem Nutzen und geschickt im Bewirken des Nutzens für andere zu sein.
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13. Vierzehn Dinge, die keinen Sinn machen Ein menschliches Leben erlangt zu haben und nicht an den Dharma zu denken ist so widersinnig, wie von einer Insel voller Juwelen mit leeren Händen zurückzukehren. Wieder ein Leben als Haushälter zu führen, nachdem du bereits ins Tor des Dharma eingetreten bist, macht so wenig Sinn, wie sich als Nachtfalter ins Kerzenlicht zu stürzen.99 Ohne Vertrauen in der Nähe eines Dharmameisters zu leben ist so absurd, wie am Ufer eines Sees an Durst zu sterben. Dharma, der nicht als Heilmittel gegen die vier Wurzelübertretungen100 und das Ichanhaften eingesetzt wird, ist so nutzlos wie eine Axt, die nur neben den Baumstamm gelegt wird. Schlüsselunterweisungen, die nicht als Heilmittel für emotionale Verblendung eingesetzt werden, sind so nutzlos wie Arzneien, die ein Kranker bloss mit sich herumträgt. Seine Zunge in tiefgründigen Worten zu üben, ohne sich diese selbst zu Herzen zu nehmen, ist so wertlos wie die Rezitationen eines Papageien. Freigebigkeit mit Geschenken zu üben, die man sich durch Diebstahl, Raub und Betrug angeeignet hat, ist so nutzlos wie das Ausschütteln eines in Wasser gewaschenen Schaffelles.101 Lebewesen Schaden zuzufügen, weil man sie den (drei) Juwelen opfern möchte, ist so widersinnig, wie einer Mutter Fleisch von ihrem eigenen Kind anzubieten.102 Sich scheinheilig aufgrund weltlicher Wünsche geduldig zu verhalten bedeutet, wie eine Katze zu sein, die einer Maus auflauert - es macht (im Dharma) keinen Sinn.103 Aus Verlangen nach Ansehen in diesem Leben, nach Gewinn und Ehren grosse Anstrengungen in heilsamen Handlungen zu machen ist so widersinnig wie das Eintauschen eines wunscherfüllenden Juwels für einen Ledersack, eine Handvoll Malz oder einen einzigen Happen Nahrung.104 - 23 -
(Den Dharma) intensiv zu studieren, aber den eigenen Geist gewöhnlich zu lassen, ist so absurd wie ein Heilkundiger, der ständig krank ist.105 In den (Meditations-)Unterweisungen bewandert zu sein, ohne Erfahrungen gemacht zu haben, ist so nutzlos wie eine reich gefüllte Schatzkammer, zu der es keinen Schlüssel gibt. Anderen die tiefe Bedeutung des Dharma zu erklären, ohne sie selbst verstanden zu haben, ist so absurd, wie als Blinder Blinde zu führen. Erfahrungen, die durch Methoden hervorgerufen werden, für das Höchste zu halten und sich nicht um die wahre Bedeutung des natürlichen Zustandes zu bemühen ist so absurd, wie Messing für Gold zu halten.106
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14. Achtzehn Fehler für Dharmapraktizierende In Zurückgezogenheit zu leben mit dem Wunsch, in der Welt gross herauszukommen, ist ein Fehler für Dharmapraktizierende.107 Einer Gemeinschaft vorzustehen, aber zum eigenen Nutzen zu handeln, ist ein Fehler für Dharmapraktizierende. Des Dharma kundig zu sein, aber schädliche Handlungen nicht aufzugeben, ist ein Fehler für Dharmapraktizierende.108 Trotz zahlreicher Unterweisungen den eigenen Geist gewöhnlich zu lassen ist ein Fehler für Dharmapraktizierende. Bei reiner (äusserer) Disziplin innerlich voller Begierde zu sein ist ein Fehler für Dharmapraktizierende. Trotz guter Erfahrungen und guten Verständnisses109 den eigenen Geist nicht zu bezähmen ist ein Fehler für Dharmapraktizierende. In das Tor des Dharma eingetreten zu sein, aber die Begierde und den Hass einer weltlichen Gesinnung nicht aufzugeben, ist ein Fehler für Dharmapraktizierende.110 Weltliche Angelegenheiten von sich zu weisen, um den authentischen Dharma zu praktizieren, aber das Geschäftemachen nicht zu lassen, ist ein Fehler für Dharmapraktizierende.111 Ein echtes Verständnis (der Lehren) gefunden zu haben, es aber nicht anzuwenden, ist ein Fehler für Dharmapraktizierende. Sich zur Praxis zu verpflichten, aber nicht dabei zu bleiben, ist ein Fehler für Dharmapraktizierende. Nichts anderes tun (zu brauchen), als den Dharma zu praktizieren, aber nicht auf sein Verhalten zu achten, ist ein Fehler für Dharmapraktizierende.112 Sich Sorgen um Nahrung und Kleidung zu machen, obwohl sie von selbst zu einem kommen, ist ein Fehler für Dharmapraktizierende. Spirituelle Fähigkeiten (nur) zum Heilen von Krankheit und Besessenheit zu gebrauchen ist ein Fehler für Dharmapraktizierende.113 - 25 -
Die tiefgründigen Schlüsselunterweisungen für Nahrung und Geld zu unterrichten ist ein Fehler für Dharmapraktizierende.114 Sich selbst geschickt zu preisen und andere raffiniert zu kritisieren ist ein Fehler für Dharmapraktizierende.115 Anderen die Unterweisungen zu erklären, ohne selbst im Einklang mit dem Dharma zu sein, ist ein Fehler für Dharmapraktizierende. Es weder alleine auszuhalten, noch mit anderen Menschen und Freunden auszukommen ist ein Fehler für Dharmapraktizierende. Mit Glück nicht zurechtzukommen116 und Leid nicht auszuhalten ist ein Fehler für Dharmapraktizierende.
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15. Zwölf unentbehrliche Dinge Als erstes ist es unentbehrlich, tiefe Furcht vor (dem Kreislauf von) Geburt und Tod mit völliger Gewissheit zu empfinden.117 Ein Lehrer, der uns auf den Weg der Befreiung führt, ist unentbehrlich. Weisheit, als ein sich im Geist enthüllendes Verständnis, ist unentbehrlich.118 Rüstungsgleiche und mutige freudige Ausdauer sind unentbehrlich.119 Nie vom Erwerben der beiden Ansammlungen und der dreifachen Schulung genug zu bekommen ist unentbehrlich.120 Die Sicht, welche die wahre Natur aller Phänomene erkennt, ist unentbehrlich.121 Die Meditation, bei der unser Geist bei dem verweilt, worauf er gerichtet wird, ist unentbehrlich. Das Verhalten, das sämtliche Aktivitäten als Weg nutzt, ist unentbehrlich. Die Unterweisungen zum Überwinden widriger Umstände, wie Hindernisse und Maras sowie Sackgassen, tatsächlich anzuwenden und es dabei nicht bloss bei Worten zu belassen ist unentbehrlich.122 Wenn sich (im Tod) Körper und Geist trennen, ist die tiefe Zuversicht eines frohen Geistes unentbehrlich.123 Die Frucht spontaner Verwirklichung der drei Buddhakörper in uns selbst ist unentbehrlich.124
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16. Elf Zeichen edler Menschen Wenig Eifersucht und Stolz zu haben ist ein Zeichen edler Menschen.125 Wenige Wünsche zu haben und mit dem Notwendigsten zufrieden zu sein ist ein Zeichen edler Menschen. Frei zu sein von pompösem Gehabe, Überheblichkeit und Stolz ist ein Zeichen edler Menschen. Frei zu sein von Scheinheiligkeit und zweierlei Mass126 ist ein Zeichen edler Menschen. Jede Handlung zunächst genau und sorgfältig zu erwägen und sie dann voller Achtsamkeit sorgfältig auszuführen ist ein Zeichen edler Menschen. In Hinblick auf die karmischen Folgen von Handlungen so wachsam zu sein, als ginge es um das eigene Augenlicht, ist ein Zeichen edler Menschen. Frei zu sein von Falschheit (d.h. zweierlei Mass) im Halten der Gelübde und der Vajra-Bande ist ein Zeichen edler Menschen. Gegenüber allen Wesen frei von Vorlieben und Vorurteilen zu sein ist ein Zeichen edler Menschen. Voller Geduld zu handeln und nicht ärgerlich zu werden, wenn andere einem Leid und Schaden zufügen, ist ein Zeichen edler Menschen. Anderen allen Sieg zu schenken und selbst die Niederlage anzunehmen ist ein Zeichen edler Menschen. Sich in allem Denken und Handeln nicht so wie weltliche Leute zu verhalten ist ein Zeichen edler Menschen.127 Dies sind die elf Zeichen edler Menschen. Ihr Gegenteil sind Zeichen, kein solch edler Mensch zu sein.128
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17. Zehn nutzlose Dinge Und verherrlichst du diesen illusorischen Körper auch noch so sehr und führst auch noch so viele Behandlungen und Rituale für ihn aus, so wird dies nichts nützen, denn er ist vergänglich und wird mit Sicherheit zerfallen.129 Und bist du, wenn es um deinen Besitz geht, auch noch so geizig und habgierig, so wird dies nichts nützen, wenn der Tod kommt, denn du wirst nackt und mit leeren Händen gehen müssen. Und hast du auch unter noch so vielen Härten Burgen und schöne Häuser erbaut, so wird dies nichts nützen, wenn der Tod kommt, denn du wirst alleine fortgehen müssen, und auch deine Leiche werden sie hinausbefördern. Und schenkst du deinen Kindern, Neffen und Nichten aus Liebe auch noch so viele Dinge, so wird dies im Tod nichts nützen, denn sie werden dir auch nicht für einen einzigen Moment helfen können. Und umsorgst du deine Verwandten und Freunde auch mit noch so grosser liebevoller Aufmerksamkeit, so wird dies im Tod nichts nützen, denn du wirst alleine, ohne Gefährten gehen müssen. Und hast du auch noch so viele Kinder, Neffen und Nichten, denen du deinen Reichtum vermachst, so wird dies nichts nützen, denn auch sie sind vergänglich und dein Besitz wird verstreut werden. Und bemühst du dich um dieses Lebens willen auch noch so sehr um Landgüter und fürstliche Macht, so wird dies nichts nützen, wenn der Tod kommt, denn du wirst gehen müssen, ohne die Verbindung zur Heimat halten zu können. Und hast du auch voller Vertrauen zum Dharma gefunden, so wird dies nichts nützen, wenn du dich nicht entsprechend verhältst, denn das Nichtbefolgen des Dharma wird zu Wiedergeburt in niederen Daseinshereichen führen.130 Und hast du durch Übung in Studium und Kontemplation auch noch so umfassendes Wissen erworben, so wird dies (letztendlich) nichts nützen,
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wenn du es nicht praktisch anwendest, denn du wirst keine Basis haben, um den Tod zur Praxis zu nützen.131 Und lebst du auch noch so lange in der Nähe eines authentischen spirituellen Freundes, so wird dies nichts nützen, wenn es dir an Vertrauen und Hingabe mangelt, denn seine höheren Qualitäten und Segnungen können keinen Eingang finden.
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18. Zehn Dinge, durch die wir unser eigenes Leid schaffen Wer ohne Zuneigung heiratet, der schafft sein eigenes Leid, so wie ein Narr, der starkes Gift zu sich nimmt.132 Wer nichtdharmische, schädliche Handlungen ausführt, der schafft sein eigenes Leid, so wie ein Verrückter, der in einen Abgrund springt. Wer andere betrügt, der schafft sein eigenes Leid, so wie jemand, der ein vergiftetes Essen anbietet.133 Wer sich mit geringen geistigen Fähigkeiten als Anführer einer Gruppe aufführt, der schafft sein eigenes Leid, so wie eine Greisin, die eine Herde zu hüten versucht. Wer sich nicht aus höherer Motivation um das Wohl anderer kümmert, sondern motiviert von den acht weltlichen Beweggründen das eigene Wohl anstrebt, der schafft sein eigenes Leid, so wie ein Blinder, der in der Sandwüste umherirrt.134 Wer allzu grosse, nicht zu bewältigende Aufgaben angeht, der schafft sein eigenes Leid, so wie ein Schwacher, der sich eine riesige Last zumutet. Wer aus Stolz die Lehren eines authentischen Lehrers oder des Buddhas herabwürdigt, der schafft sein eigenes Leid, so wie jemand, der machtvollen Beistand verliert.135 Wer die Praxis aufschiebt und sich in den Dörfern unter gewöhnlichen Leuten herumtreibt, der schafft sein eigenes Leid, so wie ein Reh, das in die Täler hinabsteigt.136 Wer nicht das natürliche, ursprüngliche Gewahrsein wahrt, sondern sich durch weltliche Geschäftigkeit der Ablenkung hingibt, der schafft sein eigenes Leid, so wie ein Garuda, der sich die Flügel bricht.137 Wer sich achtlos am Besitz des Lamas und der drei Juwelen erfreut, der schafft sein eigenes Leid, so wie ein kleines Kind, das sich glühende Kohlen in den Mund stopft.138
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19. Zehn Dinge, mit denen wir uns selbst etwas Gutes erweisen Indem wir Begierde und Hass, die durch Verstrickung in Weltlichkeit entstehen, aufgeben und den authentischen Dharma praktizieren, erweisen wir uns selbst etwas Gutes.139 Indem wir Partnerschaft (Haushalt), Familie und Freunde hinter uns lassen und einem authentischen Lehrer folgen, erweisen wir uns selbst etwas Gutes.140 Indem wir weltliche Geschäftigkeit von uns weisen und uns dem Studieren, Kontemplieren und Meditieren des Dharma widmen, erweisen wir uns selbst etwas Gutes. Indem wir freundschaftliche Beziehungen mit in der Weltlichkeit gefangenen Leuten141 hinter uns lassen und alleine in Zurückgezogenheit leben, erweisen wir uns selbst etwas Gutes. Indem wir das Verlangen nach Sinnesfreuden durchtrennen und standfest in Nichthaften verweilen, erweisen wir uns selbst etwas Gutes. Indem wir mit dem Notwendigsten zufrieden sind und frei vom Streben nach besseren Dingen leben, erweisen wir uns selbst etwas Gutes. Indem wir in unseren Entschlüssen unabhängig und standhaft sind142, ohne uns von anderen beeinflussen zu lassen, erweisen wir uns selbst etwas Gutes. Indem wir uns nicht um die kurz anhaltenden Freuden dieses Lebens kümmern, sondern uns dem Verwirklichen der beständigen Freude der Erleuchtung widmen, erweisen wir uns selbst etwas Gutes. Indem wir das Fürwirklichhalten von Dingen aufgeben und uns die Leerheit zur Praxis zu machen, erweisen wir uns selbst etwas Gutes.143 Indem wir Körper, Rede und Geist nicht gewöhnlich lassen und uns bemühen, die beiden Ansammlungen als Einheit zu praktizieren, erweisen wir uns selbst etwas Gutes.144
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20. Zehn vollkommene Dinge145 Das Vertrauen in die karmischen Folgen von Handlungen ist die vollkommene Sicht für jene mit geringen Fähigkeiten.146 Das Erkennen aller äusseren und inneren Phänomene als die vierfache Einheit von Erscheinung und Leerheit, Bewusstheit und Leerheit (usw.) ist die vollkommene Sicht für jene mit mittleren Fähigkeiten. 147 Das Erkennen der Untrennbarkeit von Gesehenem, Seher und Erkennen ist die vollkommene Sicht für jene mit grossen Fähigkeiten.148 Einsgerichtetes Verweilen mit Bezugspunkt ist die vollkommene Meditation für jene mit geringen Fähigkeiten.149 Verweilen im Samadhi der vierfachen Einheit ist die vollkommene Meditation für jene mit mittleren Fähigkeiten.150 Verweilen in der Dimension frei von Bezugspunkten, der Untrennbarkeit von Meditiertem, Meditierendem und Meditationspraxis, ist die vollkommene Meditation für jene mit grossen Fähigkeiten.151 In Hinblick auf die karmischen Folgen von Handlungen so wachsam zu sein, als ginge es um das eigene Augenlicht, ist das vollkommene Verhalten für jene mit geringen Fähigkeiten. Im Bewusstsein der traumgleichen Natur aller Phänomene zu handeln ist das vollkommene Verhalten für jene mit mittleren Fähigkeiten.152 Jeweils zu handeln, ohne zu handeln, ist das vollkommene Verhalten für jene mit grossen Fähigkeiten.153 Das beständige Nachlassen und Zur-Ruhe-Kommen des Ichanhaftens und der Emotionen sind die vollkommenen Anzeichen von Fortschritt für jene mit geringen, mittleren und grossen Fähigkeiten.
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21. Zehn Arten von Verwirrung bei Dharmapraktizierenden Sich nicht auf einen Lama zu verlassen, der den edlen Dharma korrekt praktiziert, sondern einem betrügerischen Schwätzer zu folgen, ist völlige Verwirrung. Nicht die Herzensunterweisungen der mündlichen Linie verwirklichter Meister zu suchen, sondern sich eifrig dem sinnlosen intellektuellen Dharma zu widmen, ist völlige Verwirrung. Sich in diesem Menschenleben nicht mit dem zufrieden zu geben, was im Augenblick erscheint, sondern im Glauben an Dauerhaftigkeit154 masslose, übertriebene Vorhaben anzugehen, ist völlige Verwirrung. Nicht für sich alleine über die wahre Bedeutung des Dharma nachzudenken, sondern den Dharma lieber einer grossen Zuhörerschaft zu erklären, ist völlige Verwirrung. Überflüssigen Besitz nicht als Geschenk weiterzugeben, sondern voller Geiz und Unredlichkeit Reichtümer zu horten, ist völlige Verwirrung. Seine Vajra-Bande und Gelübde nicht korrekt zu halten, sondern sich mit Körper, Rede und Geist achtlos gehen zu lassen, ist völlige Verwirrung. Sich nicht innig mit der Verwirklichung des natürlichen Zustandes vertraut zu machen, sondern dieses Menschenleben hier und dort mit unwichtigen Beschäftigungen zu vertun, ist völlige Verwirrung. Nicht die sich im eigenen Geist zeigende Verwirrung zu bezähmen, sondern den aufgewühlten, kindischen Geist anderer zähmen zu wollen, ist völlige Verwirrung. Nicht die im Geist entstandenen Erfahrungen zu kultivieren, sondern ehrgeizige, auf dieses Leben bezogene Vorhaben zu fördern, ist völlige Verwirrung. Jetzt, wo die geeigneten Bedingungen zusammenkommen, nicht mit freudiger Ausdauer an die Praxis zu gehen, sondern an gleichgültiger Faulheit Gefallen zu finden, ist völlige Verwirrung. - 34 -
22. Zehn Dinge, die du brauchst155 Zu Anfang brauchst du die tiefe Gewissheit, die Furcht vor (dem Kreislauf von) Geburt und Tod entstehen lässt, so wie ein Hirsch, der aus einer Fallgrube entflieht.156 In der Mitte brauchst du, um im Tod nichts zu bedauern, freudige Ausdauer, so wie ein Bauer, der voller Energie sein Feld bestellt. Schliesslich brauchst du den freudigen Geist, für den es keinen Tod gibt157, so wie die Freude von jemandem, der eine grosse Arbeit hinter sich gebracht hat. Zu Anfang brauchst du das Verständnis, dass keine Zeit zu verlieren ist, so wie jemand, den ein Pfeil in der Brust getroffen hat.158 In der Mitte musst du in der Meditation so unabgelenkt sein wie eine Mutter, deren einziges Kind im Sterben liegt. Schliesslich brauchst du das Verständnis, dass es nichts zu tun gibt, so wie ein Milchmädchen, dem Feinde alle Kühe fortgetrieben haben. Zu Anfang musst du Gewissheit über den Dharma entwickeln, so als wärst du ein Verhungernder, der gutes Essen findet.159 In der Mitte musst du Gewissheit über den eigenen Geist entwickeln, so wie ein Ringer, der sein Glücksjuwel findet.160 Schliesslich musst du Gewissheit über die Nondualität entwickeln, so als würde das Lügengebäude eines Betrügers einstürzen.161 (Zu guter Letzt) musst du alle Zweifel über das Sosein beilegen, so wie eine Krähe, die vom Schiff losfliegt.162
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23. Zehn Dinge, die du nicht brauchst Wenn du den Geist als leer verwirklicht hast, brauchst du weder Studium noch Kontemplation. Wenn du Bewusstheit als makellos erkennst, brauchst du schädliche Handlungen nicht zu reinigen. Wenn du auf dem Pfad der Natürlichkeit verweilst, brauchst du keine Verdienste anzusammeln.163 Wenn du den natürlichen Zustand wahrst, brauchst du nicht den „Weg der Mittel“ zu praktizieren.164 Wenn du Gedanken als die Natur der Dinge erkennst, brauchst du keine Gedankenfreiheit zu üben.165 Wenn du Emotionen als wurzellos erkennst, brauchst du für sie keine Gegenmittel anzuwenden. Wenn du Formen und Klänge als illusorisch erkennst, brauchst du nichts zu verhindern oder zu erzeugen.166 Wenn du Leid als (Hilfe zur) Verwirklichung erkennst, brauchst du nicht nach Glück zu suchen.167 Wenn du den eigenen Geist als ungeboren verwirklichst, brauchst du (im Tod) keine Bewusstseinsübertragung zu praktizieren.168 Wenn du bei allem zum Wohle anderer handelst, brauchst du nichts fürs eigene Wohl zu tun.
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24. Zehn Dinge, die alles andere übertreffen Ein einziges Menschendasein mit den Freiheiten und günstigen Bedingungen übertrifft jede andere Daseinsform in den sechs Bereidien.169 Ein einziger Dharmapraktizierender übertrifft alle gewöhnlichen Leute ohne Dharma. Dieses Fahrzeug essentieller Bedeutung übertrifft alle Fahrzeuge, die von einem Weg ausgehen.170 Ein Moment aus der Meditation geborenen Verständnisses übertrifft alles durch Studium und Kontemplation gewonnene Verständnis. Ein Moment nicht bedingten heilsamen Tuns übertrifft sämtliche (durch Dualität) bedingten heilsamen Handlungen. Ein Moment tiefer Meditation frei von Bezugspunkten übertrifft jegliches Training in tiefer Meditation mit Bezugspunkten. Ein einziger Moment makelloser Tugend übertrifft sämtliche mit Makel behaftete Tugend.171 Das Auftauchen eines Momentes der Verwirklichung übertrifft sämtliche im Geist erscheinenden (dualistischen) Erfahrungen. Ein Moment wahrhaft unbefangener Aktivität übertrifft alles in Unterscheidungen befangene positive Handeln. An nichts - was auch immer - festzuhalten übertrifft alles Herschenken materieller Dinge.
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25. Zehn Dinge, die jede Handlung vortrefflich werden lassen Wenn jemand seinen Geist dem Dharma zugewendet hat, dann ist es vortrefflich, wenn er Aktivitäten aufgibt, aber auch, wenn er sie nicht aufgibt.172 Wenn jemand seine verkehrten Annahmen über die Wirklichkeit beseitigt hat, dann ist es vortrefflich, wenn er meditiert, aber auch, wenn er nicht meditiert. Wenn jemand das Verlangen nach Sinnesfreuden aufgelöst hat, dann ist es vortrefflich, wenn er ohne Verhaftungen lebt, aber auch, wenn er es nicht tut.173 Wenn jemand die Natur der Dinge völlig verwirklicht hat, dann ist es vortrefflich, wenn er in einer leeren Höhle schläft, aber auch, wenn er als Leiter einer grossen Gemeinschaft wirkt. Wenn jemand Erscheinungen als illusorisch erkannt hat, dann ist es vortrefflich, wenn er allein in einer Einsiedelei lebt, aber auch, wenn er ziellos durchs ganze Land streift. Wenn jemand seinen Geist gemeistert hat, dann ist es vortrefflich, wenn er Sinnesfreuden aufgibt, aber auch, wenn er sich ihrer bedient. Wenn jemand den Erleuchtungsgeist besitzt, dann ist es vortrefflich, wenn er sich in Zurückgezogenheit der Praxis widmet, aber auch, wenn er zum Wohle anderer in der Gesellschaft wirkt. Wenn jemand schwankungsfreie Hingabe besitzt, dann ist es vortrefflich, wenn er zu Füssen des Lehrers lebt, aber auch, wenn er nicht bei ihm lebt. Wenn jemand den Dharma bestens kennt und den Sinn verstanden hat, dann ist es vortrefflich, wenn Verwirklichung auftaucht, aber auch, wenn Hindernisse auftauchen.174 Für einen Yogi, der höchste Verwirklichung erlangt hat, ist es vortrefflich, wenn er ebenfalls die Zeichen gewöhnlicher Verwirklichungen besitzt, aber auch, wenn er sie nicht besitzt.175 - 38 -
26. Zehn Qualitäten des edlen Dbarma Die zehn heilsamen Handlungen, die sechs befreienden Qualitäten, alle (18) Aspekte von Leerheit, die Eigenschaften der (37) Erleuchtungsfaktoren, die vier edlen Wahrheiten, die vier Stufen meditativer Sammlung (im Bereich der Form) und die vier Versenkungsstufen im formlosen Bereich, die zur Reifung bringenden und befreienden Aspekte des Mantra-Fahrzeugs und dergleichen - ihr aller Erscheinen in der Welt ist Ausdruck der Qualitäten des Dharma.176 Die vornehmen und edlen Kasten der Herrscher, Brahmanen und Hausbesitzer unter den Menschen, die sechs Klassen der Götter im Begierdebereich mit den vier grossen Königen usw., die siebzehn Götterklassen des Formbereiches und die vier Götterklassen im formlosen Bereich - ihr aller Erscheinen in der Welt ist Ausdruck der Qualitäten des Dharma.177 Die in den Strom Eingetretenen, die Einmalwiederkehrer, die Nichtmehrwiederkehrer, die Feindbezwinger, die Alleinverwirklicher und die allwissenden Buddhas - sie alle kommen in diese Welt und erscheinen als Ausdruck der Qualitäten des Dharma.178 Das spontane Erscheinen der beiden Formkörper179, welche sich, solange bis der Daseinskreislauf geleert ist, natürlicherweise aufgrund von Mitgefühl durch die Kraft des Erleuchtungsgeistes und erleuchteter Wünsche zum Wohle der Wesen manifestieren, ist Ausdruck der Qualitäten des Dharma. Wenn auf vortreffliche Weise alle lebensnotwendigen Güter für die Lebewesen erscheinen, einem jedem so wie es ihm gebührt, so geschieht dies aufgrund der kraftvollen Wünsche der Bodhisattvas und ist Ausdruck der Qualitäten des Dharma. Wenn gelegentlich ein wenig Glück in den niederen Daseinsbereichen und hinderlichen Lebensumständen180 auftaucht, so geschieht dies aufgrund von Verdiensten durch Ausführen heilsamer Handlungen und ist Ausdruck der Qualitäten des Dharma. Wenn sogar negativ eingestellte Wesen ihren Geist dem Dharma zuwenden, in die Familie edler Wesen hineinfinden und Gegenstand der - 39 -
Verehrung für andere werden, so ist dies Ausdruck der Qualitäten des Dharma. Wenn jemand, der früher sorglos schädliche, nichtheilsame Handlungen ausführte und so immer mehr Holz dem Feuer der Höllen beifügte, sich dann dem edlen Dharma zuwendet und das Glück der höheren Bereiche und der Befreiung erfährt, so ist dies Ausdruck der Qualitäten des Dharma. Wenn jemand bloss dadurch, dass er Vertrauen, Respekt oder freudige Begeisterung für den edlen Dharma empfindet oder die Roben trägt, alle anderen erfreut und von ihnen verehrt und gepriesen wird, so ist dies Ausdruck der Qualitäten des Dharma. Wenn jemand, der sämtlichen Besitz und das Haushälterdasein aufgegeben hat und als heimatloser Entsagender versteckt in einer Bergeinsiedelei lebt, dennoch aufs Beste mit allem Lebensnotwendigen versorgt wird, so ist dies Ausdruck der Qualitäten des Dharma.
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27. Zehn Dinge, die bloss Worte sind181 Da die Basis, der natürliche Zustand, nicht gezeigt werden kann, ist „Basis“ bloss ein Wort. Da der Weg jenseits von zu Gehendem und Geher ist, ist „Weg“ bloss ein Wort. Da der natürliche Zustand jenseits von zu Sehendem und Seher ist, ist „Erkenntnis“ bloss ein Wort. Da das Natürliche jenseits von zu Meditierendem und Meditierer ist, ist „Erfahrung“ bloss ein Wort. Da das Innewohnende jenseits von Handlung und Handelndem ist, ist „Verhalten“ bloss ein Wort. Da es in Wirklichkeit weder etwas zu bewahren gibt noch jemanden, der etwas bewahrt, ist „Vajra-Band“ (Samaya) bloss ein Wort. Da es in Wirklichkeit weder etwas anzusammeln gibt noch jemanden, der etwas ansammelt, ist „zwei Ansammlungen“ bloss ein Wort. Da es in Wirklichkeit weder etwas zu reinigen gibt noch jemanden, der etwas reinigt, ist „zwei Schleier“ bloss ein Wort.182 Da es in Wirklichkeit weder etwas aufzugeben gibt noch jemanden, der etwas aufgibt, ist „Samsara“ bloss ein Wort. Da es in Wirklichkeit weder etwas zu erreichen gibt noch jemanden, der etwas erreicht, ist „Frucht“ bloss ein Wort.
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28. Zehn Dinge, durch die sich spontan grosse Freude zeigt Da der Geist aller Wesen von Natur aus im Wahrheitskörper verweilt, zeigt sich spontan grosse Freude.183 Da die grundlegende Dimension der Natur der Dinge frei von den Vorstellungen begrifflichen Benennens ist, zeigt sich spontan grosse Freude. Da die Verwirklichung, welche extreme Anschauungen184 und Intellekt übersteigt, frei von voreingenommenen Vorstellungen ist, zeigt sich spontan grosse Freude. Da die Erfahrung des Freiseins von konzeptueller Aktivität frei von den Vorstellungen irgendwelcher Bezugspunkte ist, zeigt sich spontan grosse Freude. Da das Verhalten anstrengungslosen Nichthandelns frei von den Vorstellungen des Kultivierens und Vermeidens185 ist, zeigt sich spontan grosse Freude. Da der Wahrheitskörper der Untrennbarkeit von Raum und Gewahrsein frei von Subjekt-Objekt Vorstellungen ist, zeigt sich spontan grosse Freude. Da der Freudenkörper spontanen Mitgefühls frei von Vorstellungen wie Geburt, Tod, Übergang und Wandel ist, zeigt sich spontan grosse Freude. Da der sich spontan aus Mitgefühl manifestierende Ausstrahlungskörper frei von den Vorstellungen bedingter dualistischer Wahrnehmung ist, zeigt sich spontan grosse Freude. Da das Drehen des Rades der Lehre frei von den Vorstellungen des Glaubens an ein Ich und an Merkmale ist, zeigt sich spontan grosse Freude. Da die Aktivität grenzenlosen Mitgefühls frei von Unterbrechungen und Parteilichkeit ist, zeigt sich spontan grosse Freude.
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Nachwort Dies beendet die Kostbare Girlande für den höchsten Weg, eine Zusammenstellung der makellosen mündlichen Unterweisungen des Ruhmreichen Dipankara (Atisha)186 und seiner Schüler, wie ich sie von meinen gütigen Kadampa-Lehrern hörte. Atisha war von seinem Lama, der ein Verständnis jenseits aller Makel besass, und von Dschetsün Tara und anderen höchsten Meditationsgottheiten beauftragt worden, die edle Lehre im nördlichen Land des Schnees (Tibet) zu erläutern. 'Zugleich finden sich in diesem Text die makellosen Unterweisungen, mit denen mich (mein Wurzel-Lama) Milarepa, der König unter den edlen Meistern, führte. Milarepa war Halter der Herzensessenz vieler gelehrter und verwirklichter Meister, wie des Meisters Marpa von Lhodrak und der beiden erhabenen Wesen Naropa und Maitripa, die im edlen Indien bekannt waren wie Sonne und Mond. *** Diesen Text schrieb Sönam Rintschen (Gampopa), der Meditierende aus der Familie der Nyi in der Region des östlichen Dhagpo, ein Halter des Schatzes mündlicher Unterweisungen der Kadampa- wie auch der Mabamudra-Linie. Meister Campopa sagte einmal: „Menschen in der Zukunft, die mir vertrauen und die bedauern, mir nicht begegnet zu sein, empfehle ich, die Kostbare Girlande für den höchsten Weg und den Kostbaren Schmuck der Befreiung sowie meine anderen Schriften zu lesen. Das wird nicht anders sein, als mir selbst direkt zu begegnen.“ Alle karmisch Begünstigten, die Vertrauen in Meister Gampopa haben, seien ermutigt, diese Lehren eifrig anzuwenden und zu verbreiten. Möge alles glückverheissend sein!
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Anmerkungen Im Originaltext vorkommende Stichworte sowie wichtige Namen sind kursiv gesetzt. 1
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Dieser kurze Text ist laut Gendün Rinpotsche eines der wichtigsten Grundlagenwerke in der Kagyü-Linie des tibetischen Buddhismus und kommt gleich nach den vier üblicherweise in dieser Linie genannten zentralen Werken für den Einstieg in die Praxis: Der Kostbare Schmuck der Befreiung von Gampopa, Der Grosse Pfad des Erwachens von Dschamgön Kongtrul, Mahamudra - Ozean des wahren Sinnes vom Neunten Karmapa und Das Licht des wahren Sinnes von Dschamgön Kongtrul, bisher bekannt als Licht der Gewissheit. Buddha Shakyamuni zeigte auf, wie stark dieses menschliche Leben von Ichbezogenheit geprägt ist. Kaum je sind wir wirklich gelöst. Wir haben die Fähigkeit nicht entwickelt, voll und ganz loszulassen, sondern kreisen um uns selbst, gefangen in Anhaftung, Abneigung und Täuschung, kurz: Ichbezogenheit. Die aus der Ichbezogenheit resultierende, ständig bestehende Anspannung nannte der Buddha die drei Formen von Leid: (1) das offenkundige Leid körperlich und geistig unangenehmer Situationen, (2) das Leid des Nicht-Gewahrseins und Nicht-Akzeptierenkönnens der Vergänglichkeit speziell angenehmer Situationen und (3) das Leid dualistischen Abgetrenntseins als Merkmal aller ichbezogenen Geisteszustände, auch jener, die wie z.B. die Meditation als neutral empfunden werden. Der Dharmaweg führt laut Buddha zur Auflösung dieser drei Formen von Leid. Atishas Hauptschüler war der Laienpraktizierende Dromtönpa. Gampopa studierte unter dessen Schüler Tschen Ngawa sowie unter den ebenfalls bekannten Kadampa-Meistern Dscha Jülwa und Nugrumpa. Atishas Linie beinhaltet drei Übertragungen, wie der Erleuchtungsgeist hervorgebracht werden kann: die Linie des weiten Verhaltens, die Linie der tiefgründigen Sichtweise und die Linie der segensreichen Kernunterweisungen des Meisters Naropa. Die Kagyü-Linie („Mündliche Überlieferungslinie") ist eine der vier grossen Linien innerhalb des tibetischen Buddhismus. Gampopa war der Dritte in der Linie ihrer tibetischen Begründer. Sein bekanntester Schüler war der erste Karmapa Düsum Khyenpa. Mahamudra-Praxis baut auf der Einheit von Basis, Pfad und Frucht auf: Die Basis ist die Buddhanatur, das allen Wesen innewohnende, aber noch nicht erweckte Potential der Erleuchtung. Der Pfad ist das hervorbringen dieses Erleuchtungspotentials in jedem Moment, die Praxis des immer wieder Hineinfindens in die Natur des Geistes, das Enthüllen der Buddhanatur. Und die Frucht ist Buddhaschaft, die völlige Freilegung oder Verwirklichung dieses
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Potentials mit allen seinen Qualitäten, ohne dass es von irgendwelchen Schleiern getrübt würde. In der Praxis durchlaufen die Schüler zunächst eine Phase der Vorbereitung, in der grosser Wert auf das Entwickeln der richtigen Sicht gelegt wird. Dann widmen sie sich mit Hilfe der Meditation auf den erleuchteten Geist des Lamas (Guru Yoga) dem Entwickeln von geistiger Ruhe und intuitiver Einsicht. Wenn ein klares Verständnis der Natur des Geistes gefunden wurde, geht es vermehrt um die Integration der in der Meditation gewonnenen Erkenntnis in die Aktivität zum Wohle aller Wesen. Näheres zur Mahamudra-Praxis findet sich in dem dreiteiligen Werk Mahamudra, Ozean des Wahren Sinnes des Neunten Karmapa. Gut vorbereitet auf diese Lektüre sind wir dann, wenn wir die hier in kondensierter Form angesprochenen Unterweisungen bereits in ausführlicher Form erhalten oder Gampopas Grundlagenwerk Der kostbare Schmuck der Befreiung studiert haben. Nutzen aus dieser Lektüre kann aber jeder ziehen, der sich von diesem Weg inspiriert fühlt.
Zur Einführung von Gampopa: 7
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Erläuterung des Titels: Der hervorragende oder höchste Weg ist hier der buddhistische Weg des Grossen Fahrzeuges (Mahayana), welcher die vollkommene Erleuchtung aller Wesen zum Ziel hat. Diese Unterweisungen sind kostbar, weil sie so selten und wertvoll sind wie Juwelen, und mit dem Wort Girlande wird Bezug auf die ununterbrochene Übertragungslinie dieser Instruktionen genommen, die zudem in sich wie eine Perlenkette ein harmonisches Ganzes bilden. Diese Unterweisungen wurden bis zu Gampopa wie ein geheimer Schatz nur mündlich von Lehrer zu Schüler weitergegeben. Er hat sie dann für alle aufgeschrieben, die sich mit ihm in ihrem Streben verbunden fühlen, ihm aber nicht persönlich begegnen konnten. Jemand besitzt die notwendigen Voraussetzungen für die Erleuchtung und stellt somit eine Basis für das Hervorbringen des angewandten Erleuchtungsgeistes dar, wenn er das Potential des Grossen Fahrzeugs (Mahayana) besitzt, Zuflucht zu den drei Juwelen (Buddha, Dharma, Sangha) genommen hat, die grundlegenden Gelübde ethischen Verhaltens befolgt und bereits den strebenden Erleuchtungsgeist, d.h. den Wunsch nach Erleuchtung aller Wesen, hervorgebracht hat. (s. Der kostbare Schmuck der Befreiung, S. 106) Allwissenheit bedeutet, dass ein Buddha frei von jeder Täuschung ist in Hinblick darauf, wie sich die Erscheinungen manifestieren und was ihre wahre Natur ist.
Zu Kapitel 1: 10
Ein intakter Menschenkörper hat ein eindeutiges Geschlecht und verfügt über alle Sinne und geistigen Fähigkeiten. Er ist schwer zu erlangen, weil es ein besonders
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gutes Karma braucht, um diese menschliche Existenz zu erlangen, und weil es zahllose andere Daseinsformen gibt, in denen wir geboren werden können. Näheres zu den kostbaren Freiheiten und günstigen Bedingungen findet sich in Kapitel 2 von Der kostbare Schmuck der Befreiung. Eine Zeit des Verfalls ist eine Epoche, in der es immer schwieriger wird, den Dharma zu praktizieren. Die Lebensspanne nimmt ab, destruktive Geisteshaltungen, Emotionen und Leid nehmen zu und auch die Chancen, einen authentischen spirituellen Weg bzw. Lehrer zu finden, werden immer geringer. Sinnlose Aktivitäten sind alle Handlungen, die nur auf die kurzfristigen Belange dieses Lebens ausgerichtet sind und welche die Emotionen verstärken und Leid hervorrufen. Hier sind damit vor allem die ichbezogenen Handlungen gemeint, die wir aufgrund des Anhaftens an Freunden und des Bekämpfens von Feinden ausführen. Eine Handlung ist dann nicht mehr sinnlos, wenn sie auf das Wohl aller Wesen gerichtet ist und Liebe und Weisheit stärkt. Der Wahrheitskörper (Sanskrit: Dharmakaya) ist der vollkommen offene, grundlegende Zustand des Geistes, in dem es keine Subjekt-Objekt Trennung (Dualität), also keine Ichbezogenheit, gibt. Das Wort Körper drückt die Stabilität dieser Dimension aus. Wahrheit bezieht sich darauf, dass diese Dimension letztendlich wahr ist. Das Erkennen dieser Dimension ist das Erkennen der Natur des Geistes, die frei von aller Täuschung ist, d.h. von allen auf der illusorischen Annahme eines Ichs beruhenden dualistischen Vorstellungen. Es geht hier nicht darum, bis zum Erlangen der Buddhaschaft in der körperlichen Nähe des Lehrers zu bleiben, sondern innerhalb einer gewissen Zeitspanne seine Unterweisungen in vollem Umfang zu erhalten und sie dann bis zum vollen Abschluss des Weges zu beherzigen. Dafür ist in den ersten Jahren intensiver Praxis ein äusserer Kontakt zu einem Lehrer notwendig, bis wir Zugang zum inneren Lehrer der Erkenntnis der Natur des eigenen Geistes gewonnen haben. Gelübde sind hier (1) die Gelübde individueller Befreiung, wozu gehört, nicht zu töten, stehlen oder zu lügen, ein reines sexuelles Verhalten zu wahren und keine Rauschmittel zu nehmen, sowie (2) das Bodhisattva-Gelübde, bis zur Erleuchtung aller Wesen unermüdlich weiter den Dharma zu praktizieren. (3) Vajra-Bande sind die dritte Form von Gelübden und beinhalten die Verpflichtungen des Praktizierenden im Vajrayana, dem „diamantenen Fahrzeug" des Buddhismus. Sie beinhalten vor allem das Versprechen, stets eine reine Sicht des Lehrers und aller Mitpraktizierenden zu wahren. Diese Gelübde sind, solange wir sie halten, wie ein sicheres Schiff, das uns über den Ozean des Leides ans Ufer der Befreiung bringt. Emotionale Verblendung beinhaltet alle leidbringenden Geisteszustände wie Begierde, Hass, Stolz, Eifersucht und Unwissenheit. Alle Lebewesen sind laut Buddha aus früheren Leben bereits mit uns durch Familienbande verbunden. Die Begegnungen mit ihnen sind für uns eine Gelegenheit, Mitgefühl, Verständnis, Geduld, Freigebigkeit und dergleichen
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Qualitäten zu entwickeln. Diese Gelegenheiten werden nicht genutzt, wenn wir voller Abneigung sind und uns nicht wirklich auf sie einlassen. Gewöhnliche Gleichgültigkeit ist Desinteresse und Nichtstun im Hinblick auf den Dharmaweg. Für diesen Weg brauchen wir sehr viel Kraft und Ausdauer, und wir sollten damit so früh wie möglich beginnen. Jedes Kapitel endet im Tibetischen mit einer abschliessenden Wiederholung des Titels. Hier müsste es z.B. heissen: „Dies sind die zehn Arten von Vergeudung." Diese Wiederholungen wurden im Deutschen nicht übersetzt, da die Übersichtlichkeit der Seitengestaltung dies überflüssig macht.
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Richtige Selbsteinschätzung beinhaltet, dass wir uns nicht aus Enthusiasmus übernehmen, sondern sorgfältig abwägen, welche Praxis oder Gelübde wir wählen und auch imstande sind, auf Dauer durchzuhalten. Vertrauen im buddhistischen Sinn bedeutet, aufgrund von Wissen um bestimmte Dinge ein fundiertes Vertrauen in etwas zu entwickeln und nicht blindlings irgendwelchen Lehrern oder Anschauungen zu folgen. Echtes Vertrauen ist also ein auf Wissen beruhendes Gefühl von Sicherheit oder Gewissheit, wodurch sich freudige Ausdauer natürlicherweise entwickelt. Ein authentischer Lehrer hat bestimmte Qualifikationen. Näheres s. S. 45-47 in Der kostbare Schmuck der Befreiung. Dieses Wissen (kritisches Unterscheidungsvermögen gepaart mit Vertrauen) hinsichtlich der Unterweisungen eines Lehrers ist von zweierlei Art: Zum einen sollten wir den Dharma genügend kennen, um unterscheiden zu können, ob der Lehrer in Übereinstimmung mit dem Dharma unterrichtet, und zum anderen müssen wir ein Gespür, ein inneres Wissen entwickeln, welche seiner vielen Unterweisungen in einer bestimmten Situation anzuwenden sind und welche nicht. Das Kriterium dabei ist das Wohl aller Wesen, also die Frage: Wird dieses oder jenes Verhalten kurzfristig wie auch langfristig hilfreich für alle sein? Es geht darum, dem Lehrer in Erkenntnis und Verwirklichung gleich zu werden. Dann teilt sich uns auch seine innere Sicht mit, d.h. seine Art und Weise, Situationen zu sehen und mit ihnen umzugehen. Achtsam sein (drän-pa) bedeutet, während einer Handlung voller Geistesgegenwart zu sein. Es beinhaltet auch, sich an erhaltene DharmaUnterweisungen zu erinnern und sie nicht zu vergessen. Gewissenhaft sein (shes-bzhin) bezieht sich darauf, während und nach einer Handlung unserer inneren Motivation gewahr zu sein und auf korrekte Ausführung zu achten, z.B. den Anleitungen entsprechend vorzugehen. Es beinhaltet, nichtheilsame Handlungen stets zu vermeiden und nur heilsame Handlungen auszuführen. Sorgfältig sein (bag-yöd) bedeutet, vor dem Ausführen einer Handlung alle Umstände, d.h. auch ihre möglichen Folgen, zu berücksichtigen. Es beinhaltet
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also die Fähigkeit zu unterscheiden, welche Handlungen zu vermeiden und welche Handlungen auszuführen sind. Während der Handlung bedeutet Sorgfalt, darauf zu achten, wie man sie ausführt. Geistig gerüstet sein bedeutet, grosse Geduld, eine unwiderrufbare freudige Ausdauer zu entwickeln und so lange mit der Bodhisattva-Praxis fortzufahren, bis alle Wesen befreit sind, ohne je zurückzustecken. Herzenskraft ist das Selbstverständnis oder die innere Sicherheit eines Dharmapraktizierenden, aufgrund des innewohnenden Potentials der Buddhanatur Erleuchtung verwirklichen zu können. Es bezieht sich auch auf die aus Liebe und Mitgefühl geborene Kraft des Erleuchtungsgeistes beim Ausführen der Handlungen zum Wohle aller Wesen voll innerer Stärke zu bleiben und nie zu verzagen. Nicht von anderen abhängig werden - wörtlich steht im Tibetischen: „sich nicht von anderen an der Nase wegführen lassen", als hätte man wie ein Ochse einen Nasenring oder Nasenseil. Unsere Anhaftung und Begierde sind wie der Ring oder das Seil, das wir anderen in die Hand geben und durch die wir von ihnen abhängig werden. Die zwei Ansammlungen des Bodhisattva-Weges sind positive Kraft (spirituelle Verdienste durch Ausführen heilsamer Handlungen, die auf die Erleuchtung gerichtet sind) und Gewahrsein (das Erschliessen des ursprünglichen Gewahrseins durch Erkenntnis der Natur des Geistes und aller Phänomene als frei von einem Ich oder Selbst). Näheres siehe Der kostbare Schmuck der Befreiung, im Index unter „Ansammlungen". Die vortreffliche Vorbereitung ist das Entwickeln der erleuchteten Geisteshaltung zu Beginn einer Handlung. Die vortreffliche Hauptphase ist das Freibleiben von Konzepten während der Handlung (d.h. während des Erwerbens der beiden Ansammlungen). Der vortreffliche Abschluss besteht im Widmen der Verdienste zum Wohle aller Wesen. Dies sind die „Drei Vortrefflichen". Liebe ist eine Geisteshaltung frei von Neid und Eifersucht, die sich am Glück anderer erfreut und ihnen wünscht, dass sie auch in Zukunft glücklich und nie getrennt von Freude sein mögen sowie stets durch heilsames Handeln weitere Ursachen für ihr zukünftiges Glück schaffen. Mitgefühl ist eine Geisteshaltung frei von Ablehnung, erfüllt von dem Wunsch, dass alle Wesen frei von Leid sein mögen. Es ist die Bereitschaft, alles zu tun, was anderen hilft, ihr Leid und die Ursachen ihres Leides (nichtheilsame Handlungen) zu überwinden, sei es direkt durch konkrete Handlungen unsererseits oder indirekt durch unsere Dharma-praxis und Wunschgebete, (s.a. Anm. 40) Weisheit entsteht durch Studium, Erklärungen und Kontemplation der Dharmalehren, während Erkenntnis nur durch Meditation entsteht. Phänomene bezieht sich hier auf die Erscheinungen unserer Welt sowie auf alle damit verbundenen Wahrnehmungen und Gedanken, die allesamt einer
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bleibenden Wirklichkeit entbehren und letztlich nicht beschreibbar oder definierbar sind und von daher als nicht dinglich und frei von Merkmalen bezeichnet werden. Ein verwirklichter Bodhisattva (ab der 1. Bodhisattva-Stufe) erkennt in der Meditation, dass die Phänomene frei von irgendwelchen Merkmalen sind. Doch bei der Interaktion mit den Phänomene der konkreten Welt ist ihm dies zunächst noch weniger offensichtlich. Deshalb der Ratschlag.
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Solche Praxisorte liegen ausserhalb der Rufweite von Ortschaften. Sie lassen den Geist leicht zur Ruhe kommen und sind im Idealfall auch bereits von früheren verwirklichten Praktizierenden gesegnet. Die Sichtweise und das Verhalten solcher Gefährten sind in Einklang mit dem Dharma und von daher auch mit unserer eigenen Einstellung. Zudem handeln solche Gefährten in Übereinstimmung mit dem, was sie sagen. Deshalb sind sie vertrauenswürdig. Frei von Einseitigkeit zu sein bedeutet, offen für die Unterweisungen verschiedener vollkommen verwirklichter Lehrer zu sein. Essentielle Unterweisungen (män-ngag), auch Kernunterweisungen genannt, können schriftlich oder mündlich sein. Sie machen uns mit der Essenz oder dem Kern der Übertragung vertraut und erleichtern uns den Zugang zu ausführlicheren Unterweisungen. Tiefgründige Wechselbeziehungen (rten-'brel, gesprochen: Tendrel) können von vielerlei Art sein. Ihrer Anwendung liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Aussenund Innenwelt, Körper und Geist, Situationen und Geisteshaltung usw. sich ständig wechselseitig beeinflussen. Diese Wechselbeziehungen kann der Praktizierende auf dem Weg zur Erleuchtung durch gezieltes Wirken mit Körper, Rede und Geist nutzen. Dies beinhaltet laut Khenpo Chödrak auch, seine Ernährung der jeweiligen Situation anzupassen oder z.B. bei wichtigen Entscheidungen die Auswirkungen von Planetenkonstellationen zu berücksichtigen, sowie bei der Wahl und Gestaltung eines Ortes die aus der Geomantik bekannten Erfahrungen zu nutzen. Mit Praxismethoden sind alle Methoden gemeint, die uns auf dem „Weg der Mittel" (thabs lam) zur Verfügung stehen. Wir wenden sie mit Rücksicht auf unsere Konstitution an, um diesen kostbaren Menschenkörper möglichst lange für die Dharmapraxis nutzen zu können. Hier sind also nicht nur, wie gelegentlich in einem engeren Sinn, die Methoden der Sechs Yogas von Naropa gemeint. Lehrer sollten nur solche Schüler annehmen, die genug Vertrauen und Respekt haben und innerlich reif für Unterweisungen sind. Die vier Aktivitäten sind: Gehen, Stehen, Sitzen und Liegen (Schlafen), also alle Situationen unseres täglichen Lebens.
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Die acht weltlichen Beweggründe bestehen aus vier Gegensatzpaaren, dem Anstreben bzw. Vermeidenwollen von: Glück und Leid, Ruhm und Schmach, Gewinn und Verlust, Lob und Tadel. Einen Lehrer aufgeben bedeutet, sich von einem nicht vertrauenswürdigen Lehrer 7,11 trennen und keine weitere Beziehung mit ihm zu pflegen, wobei wir aber weiterhin dankbar für den Dharma sind, den wir von ihm erhalten haben. Unlauteren Lebenserwerb aufgeben bedeutet auch, keine Geschenke oder Spenden aus unlauteren Quellen anzunehmen, da dadurch unlautere Handlungen indirekt für gut geheissen würden. Objekte des Verlangens sind auch Wohlstand, Anerkennung, Macht oder Beliebtheit, sowie Interessen aller Art. Wir sollten uns so verhalten, dass andere mehr und mehr Vertrauen zum Dharma und zur Gemeinschaft der Praktizierenden gewinnen.
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Die tibetische Überschrift spricht von zehn Dingen, der Text selbst führt aber deren elf auf. Der letzte, elfte Satz mag eine spätere Einfügung sein. Mitgefühl ist der Wunsch, dass alle Wesen frei von Leid und dessen Ursachen sein mögen. Dabei sollten wir nicht nur das offenkundige Leid anderer betrachten, sondern auch die subtileren Formen des Leides in äusserlich scheinbar angenehmen Lebensumständen. Mitgefühl vertieft sich, wenn wir uns vor Augen halten, dass alle diese Wesen nach Aussage der erleuchteten Meister in früheren Leben unsere Eltern, Kinder, Geliebten usw. waren, (s.a. Anm. 26) Mit natürlicher Dynamik des Geistes (rang öd, natürliches „Leuchten") ist die dem Geist innewohnende spontane Aktivität gemeint, unaufhörlich gewahr zu sein und ständig Gedanken, sprich Erscheinungen, hervorzubringen. Gedanken sind nicht getrennt von der Natur des Geistes, sondern deren natürlicher Ausdruck. Sie sollten deshalb nicht unterdrückt, sondern zur Erkenntnis der Natur des Geistes benutzt werden. Nicht die Erscheinungen fesseln uns an die dualistische Welt (Samsara), sondern das Festhalten an ihnen durch Anhaftung und Abneigung. Alle folgenden Ratschläge dieses Kapitels bauen hierauf auf. Sie wenden sich an Mahamudra-Praktizierende, die sich darin üben, an keinerlei Geisteszuständen festzuhalten, denn alle Geisteszustände sind Ausdruck der Klarheit und Leerheit des Geistes. Leerheit bedeutet, dass sie keinerlei wahre Existenz, keinen Wesenskern besitzen, und Klarheit bedeutet, dass dieser Leerheit eine schöpferische, dynamische Kraft innewohnt. Wenn in der Übersetzung vereinfachend von Emotionen gesprochen wird, so sind damit alle leidbringenden Geisteszustände gemeint, wie Begierde, Hass, Stolz, Eifersucht usw. Sie alle entspringen der Annahme eines „Ichs". Diese irrige
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Annahme wird grundlegende Unwissenheit genannt, welche zu Anhaften und Ablehnung führt, mit allen sich daraus ergebenden Kombinationen von Gefühlszuständen. Es ist das Wesen aller Emotionen, sich augenblicklich von selbst aufzulösen, wenn wir nicht an ihnen haften und sie nicht für wirklich halten. Dies wird die „Selbstbefreiung der Emotionen" genannt und wird von fortgeschrittenen Mahamudra-Praktizierenden als Methode angewandt. Dazu bedarf es tiefer Übung im Loslassen und der Erkenntnis, dass Emotionen letztlich keinerlei Wirklichkeit besitzen. Dann zeigt sich die Natur der Emotionen als das ursprüngliche Gewahrsein, welches frei von aller Ichbezogenheit ist. Bis sich diese Erkenntnis und die damit verbundene Freiheit von Emotionen einstellt, sollten wir darauf achten, uns nicht von ihnen mitreissen zu lassen, sondern stets die entsprechenden Gegenmittel und Methoden zu ihrer Transformation anwenden. Der Begriff Sinnesfreuden beinhaltet hier alle Sinneswahrnehmungen. Mahamudra-Praktizierende brauchen sie nicht zu meiden, wenn sie nicht an ihnen haften, denn sie können als Hilfe genutzt werden, immer wieder in den Raum jenseits von Subjekt und Objekt loszulassen. Krankheit und Leid sind grosse Lehrer. Sie zeigen uns die Leidhaftigkeit des Daseinskreislaufes und motivieren uns zur Praxis. Sie helfen uns, Mitgefühl, Geduld, Erkenntnis und viele andere Qualitäten zu entwickeln. Ohne die Erfahrung von Leid ist dies schwierig. Feinde (dgra) sind menschliche Widersacher, die uns Leid und Schaden zufügen, und Hindernisse (bgegs) sind schwierige Bedingungen, die von nichtmenschlichen Wesen ausgelöst werden. Mit beiden kann man so umgehen, dass sich die Erkenntnis der Natur aller Phänomene (Sanskrit: dharmata) vertieft. Mit dem, was von selbst auftaucht, sind Dinge gemeint, die wir erhalten, ohne dafür irgendwelche Mühe aufgewandt zu haben, seien es Nahrung, Kleidung, Spenden oder Geschenke. Wir sollten diese Dinge nicht abblocken mit dem Gedanken: „Ich muss genügsam leben", „Ich darf nichts besitzen" usw., sondern sie einfach annehmen in dem Wissen, dass es ein normales Zeichen für die positive Kraft Verwirklichung) unserer Praxis ist, mühelos Förderung und Unterstützung zu erfahren. Ein echter Dharmapraktizierender pflegt die Einstellung: „Es ist in Ordnung, wenn diese Dinge vorhanden sind, und es ist genauso in Ordnung, wenn ich sie nicht habe." Auch hier ist mit Praxismethoden alles gemeint, was zum „Weg der Mittel" (thabs lam) gehört, d.h. alle Methoden, mit denen wir den Geist ausrichten, beruhigen und durch die wir zu innerer Erkenntnis gelangen. Man könnte meinen, zusätzliche Methoden seien auf dem Weg der Meditation überflüssig. Doch eine solche Einstellung unterschätzt die Stärke der Hindernisse wie auch die Kraft der Methoden. Auch wenn wir meditieren, sollten wir anderen weiterhin durch konkrete körperliche Handlungen beistehen. Richtige Meditation ist allerdings langfristig die beste Art, anderen zu helfen, weil sich in uns dadurch alle Bodhisattva-
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Qualitäten entwickeln. Der Ratschlag beinhaltet auch, körperliche DharmaAktivitäten (wie Verbeugungen, Umwandeln von Stupas, Vorbereiten von Opfergaben usw.) nicht geringzuschätzen, sondern die Zeit zwischen den Meditationssitzungen dafür zu nutzen.
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Äussere Erscheinungen bezieht sich auf die materielle Welt (das Universum) wie auch auf die darin lebenden Wesen. Welt und Wesen besitzen keinerlei bleibende Eigennatur, keinen unwandelbaren Wesenskern. Unsere Erfahrungen von der Welt und den darin lebenden Wesen spielen sich in unserem Geist ab und besitzen ebenfalls keinerlei wirkliche Existenz. Dies wird die „Leerheit" der Welt und aller Wesen genannt oder auch ihre illusorische Natur. Wenn wir nach dem Geist suchen, den wir unser Ich nennen, und schauen, an welchem Ort er ist, welche Farbe oder Form er hat usw., finden wir nichts, dem wir den Namen Geist oder Ich geben könnten. Der Geist lässt sich begrifflich nicht erfassen. Diese Abwesenheit von etwas Definierbarem wird die Leerheit des Geistes genannt. Verbindende Gedanken (bar-gyi rnamtog) sind Konzepte, die eine Verbindung zwischen der irrigen Annahme eines Selbst innen und der irrigen Annahme einer für aussen gehaltenen Welt herstellen. Sie alle haben keine Beständigkeit. Es sind blosse Ideen, die auf Täuschung beruhen und mit jedem Moment vergehen. Wer dies erkennt, haftet nicht an ihnen. Der Körper ist vergänglich, da er auf Bedingungen beruht, die bewirken, dass die fünf Elemente Erde, Wasser, Feuer, Wind und Raum für eine Weile in dieser Form zusammenfinden. Wenn diese Bedingungen nicht mehr gegeben sind, wird der Körper vergehen und damit auch die Rede als eine seiner Funktionen. Wer dies versteht, wird nicht an diesem Körper haften und sich statt dessen dem Entwickeln von Qualitäten widmen, die auch über den Tod hinaus bestehen bleiben, (s. Kap. 4 in Der kostbare Schmuck der Befreiung) Sämtliche Erfahrungen, die wir machen, beruhen auf dem Wirken von Karma oder karmischen Kräften. Damit sind alle Kräfte gemeint, die von unseren vergangenen und gegenwärtigen geistigen, sprachlichen und körperlichen Handlungen ausgehen. Wir können uns diesen Kräften nicht entziehen, sondern nur ihre Auswirkungen beeinflussen, (s. Kap. 5 in Der kostbare Schmuck der Befreiung) Entsagung ist der Wunsch, den Kreislauf des Leides für immer hinter sich zu lassen. Dieser Wunsch wird wach, wenn wir gewahr werden, dass selbst den angenehmeren Seiten des Daseinskreislaufes Leid innewohnt. Darum lehrte der Buddha die drei Arten von Leid. (s. Kap. 6 in Der kostbare Schmuck der Befreiung) Freuden und Wohlergehen sind keineswegs abzulehnen, aber sie nähren bei mangelndem Gewahrsein das Haften am Angenehmen. Anhaften ist die Wurzel
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des leidvollen Daseinskreislaufes (Samsara) und wird hier der Dämon des Verlangens genannt, da ihm die Kraft innewohnt, den Praktizierenden völlig vom Weg abzubringen. Geschäftigkeit führt zum Abweichen vom Wesentlichen und ist meist Ausdruck von Ichbezogenheit. Statt uns unabgelenkt der Dharmapraxis zu widmen, kreisen wir um uns selbst und unsere vielen kleinen und grossen Vorhaben. Verdienste sind auf die Erleuchtung ausgerichtete positive Kräfte, die aus dem Handeln zum Wohle anderer entstehen. Wenn wir heilsame Handlungen nicht der Erleuchtung widmen, führt ihre positive Kraft nur zu angenehmen Lebensbedingungen innerhalb von Samsara (wie Reichtum, Macht, Schönheit, Verstand, einflussreiche Rede usw.). Vom Standpunkt der höchsten Wirklichkeit aus gesehen, haben alle Gegebenheiten (Phänomene), die sich auf relativer Ebene innen oder aussen abspielen, keinerlei wirkliche Existenz. Und was dieses Nichtvorhandensein wirklicher Existenz, ihre Leerheit oder wahre Natur angeht, sind sich alle Phänomene vollkommen gleich, obwohl sie auf relativer Ebene deutlich verschieden sein mögen.
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Durch das Tor des Dharma eintreten bezeichnet hier den Moment, in dem wir Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha nehmen und uns für den Dharma als Lebensweg entscheiden. Jemand, der die Heimat hinter sich gelassen hat, ist entschlossen, seine gesamte Energie der Dharmapraxis zu widmen und begibt sich an einen dafür geeigneten Ort. Wenn er dort wieder Wurzeln schlagen würde, d.h., sich in die Geschäftigkeit weltlicher Belange verstricken würde, dann wird er nicht verwirklichen, was er sich vorgenommen hat. Wichtig ist, die leidbringende Identifikation mit Familie, Freunden, Heimat, Land und Rasse aufzulösen und keine neuen Identifikationen zu schaffen. Ob man dafür an einen anderen Ort umzieht oder nicht, ist nicht so wichtig. Man spricht von dem Entstehen von Praxis im Geist, wenn sich der Geist mühelos entspannt und öffnet, sowie wenn Entsagung, Mitgefühl und Hingabe vorhanden sind. Geschieht dies, sollten wir möglichst unabgelenkt weiterpraktizieren. Die drei Tore, durch die wir mit unserer Welt in Kontakt treten und mit denen wir den Dharma praktizieren, sind Körper, Rede und Geist. Die dreifache Schulung besteht aus Disziplin, Meditation und Weisheit, (s. S. 158 in Der kostbare Schmuck der Befreiung) Mit Geist der höchsten Erleuchtung (Bodhicitta) ist der feste Entschluss gemeint, von jetzt an bis zur Erleuchtung des letzten Lebewesens unermüdlich zum Wohle aller zu wirken, die noch nicht befreit sind. Diese Geisteshaltung ist die
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Grundlage des Grossen Fahrzeugs (Mahayana). (s. Kap. 9f. in Der kostbare Schmuck der Befreiung) Der Begriff Mantra-Fahrzeug (Mantrayana) ist gleichbedeutend mit den Begriffen Vajrayana und Tantra. Es handelt sich dabei um eine Form des Grossen Fahrzeugs (Mahayana). Die darin benutzten Methoden arbeiten gleichzeitig mit allen drei Toren (Körper, Rede und Geist) und ermöglichen dem Praktizierenden ein Hineinfinden in die erleuchtete Seinsweise eines Buddha. Den Körper nicht gewöhnlich zu belassen bedeutet dabei, ihn als die sichtbare Form eines Buddhas zu betrachten und nur noch heilsame körperliche Handlungen auszuführen. Die Rede nicht gewöhnlich zu belassen bedeutet, alle Worte und Klänge als spontanen Ausdruck der Kommunikation eines Buddhas zu wahrzunehmen, als Mantras und Gebete zum Wohle der Wesen, und nur noch heilsame Handlungen mit der Rede auszuführen. Den Geist nicht gewöhnlich zu belassen bedeutet, alle Gedanken als spontane Manifestationen des erleuchteten Geistes zu sehen und den Geist frei von Ichbezogenheit auf das Wohl aller Wesen ohne Ausnahme zu richten. Auf der Ebene eines Buddha werden die drei Tore als die drei vollkommen reinen Mandalas von Körper, Rede und Geist der Erleuchtung erfahren. Sie werden Mandalas genannt (was auf eine erleuchtete kreisförmige Anordnung hinweist), weil mit der Erleuchtung nicht mehr unser Ichanhaften das Zentrum von Körper, Rede und Geist bildet, sondern das erleuchtete Bewusstsein, auch Bodhicitta genannt. Körper, Rede und Geist sind dann ganz von Liebe, Mitgefühl, Weisheit und reiner Sicht durchdrungen. Wer mit den Methoden vertraut ist, seine eigenen drei Tore wie auch die drei Tore alle Wesen als von erleuchteter Natur zu praktizieren, sollte sie stets anwenden und nach Möglichkeit nicht in eine gewöhnliche Sicht von sich selbst und anderen Wesen zurückfallen. Mit Entbehrungen ist hier vor allem das Aufgeben all der verlockenden Erfahrungen gemeint, die uns - nicht nur in jungen Jahren - so sehr faszinieren und von der Dharmapraxis abhalten können.
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Idealerweise durchläuft ein Schüler zunächst eine gründliche vorbereitende Schulung bei seinem Lehrer. Dann praktiziert er allein oder unter dessen Leitung in Zurückgezogenheit, bis er alle wesentlichen Punkte der Unterweisungen in persönlicher Erfahrung und Erkenntnis nachvollzogen hat und zu Gewissheit über die Natur des Geistes gelangt ist. Das wird Stabilität der Praxis genannt. Bis Stabilität erreicht ist, sollte der Praxis in Zurückgezogenheit der Vorrang vor z.B. Dharmalehrtätigkeit eingeräumt werden. Nicht viele Schüler haben jedoch die Möglichkeit, solch einen klassischen Weg zu durchlaufen. Sie werden zwischen Phasen des Dharmastudiums, ihrem Beruf und zurückgezogener Praxis
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abwechseln. Doch auf keinen Fall sollten aus eigenem Ermessen persönliche Schüler akzeptiert werden, bevor sich diese Stabilität eingestellt hat. Die Nachmeditationspraxis umfasst alle Aktivitäten, die wir zwischen den Meditationssitzungen ausführen. Dabei geht es darum, ein Höchstmass an Gewahrsein, Entspannung und Offenheit zu kultivieren und die Praxis der Meditation in die Aktivität zu integrieren. In der Meditation selbst liegt der Akzent auf dem Entwickeln von Weisheit, während in der Nachmeditation die Betonung auf dem Ausführen verdienstvoller Handlungen liegt. Die drei Arten von Geduld sind: die Geduld des Nichtgestörtseins bei schädigenden Handlungen anderer, die Geduld im Annehmen von Leid und die Geduld im Streben nach Gewissheit über Phänomene, (s. Kap. 14 in Der kostbare Schmuck der Befreiung) Das Verlangen nach angenehmen Dingen lässt keine tiefe Motivation für die Praxis entstehen, denn die angenehmen Seiten des Lebens erscheinen uns als verlockend. Wir möchten sie noch mehr geniessen und empfinden Praxis als eine Last. Dieser Einstellung liegen drei Fehler zugrunde: Wir haben uns die weltlichen Freuden nicht genau genug in Hinblick auf ihre Vergänglichkeit und Leidhaftigkeit angeschaut. Unser Verständnis von dem, was wirkliche Freude und Freiheit ist, ist noch wenig entwickelt. Und unsere Art und Weise zu praktizieren ist noch zu angespannt, zu sehr von Hoffnung und Furcht durchsetzt. Entschlossenes Sichabwenden entsteht von selbst, wenn wir (a) erkennen, dass es im Daseinskreislauf kein wahres Glück zu finden gibt, (b) uns klar werden darüber, was die Qualitäten und der Nutzen der Erleuchtung sind, und (c) entspannter praktizieren, ohne auf kurzfristige Resultate zu hoffen.
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Durch Kontemplation der schwer zu findenden Freiheiten und günstigen Bedingungen eines auf den Dharma ausgerichteten Menschendaseins sehen wir, wie kostbar unsere jetzige Chance ist, den Dharma zu praktizieren, (s. Der kostbare Schmuck der Befreiung, Kap.2) Nach dem Tod, wenn wir alles andere zurücklassen müssen, begleiten diesen Geistesstrom weiterhin die karmischen Kräfte, die wir durch unsere Handlungen mit Körper, Rede und Geist in Bewegung gesetzt haben. Von ihnen wird es abhängen, welche Bedingungen wir in zukünftigen Leben erfahren werden. Wir sollten deswegen alles daran setzen, heilsame Handlungen auszuführen. Sie schaffen die Grundlage für weitere Leben, in denen wir den Dharma praktizieren und zum Wohle der Wesen aktiv sein können. Auch wenn manchmal lange Zeit verstreicht, bis sich ihre Wirkungen zeigen, haben Handlungen stets die ihnen entsprechenden Auswirkungen. Dies ist so unausweichlich, wie aus Apfelkernen nur Apfelbäume und aus Zitronenkernen nur Zitronenbäume werden können. Wer kein Leid erfahren möchte, sollte
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deshalb keine weiteren Samen schädlicher Handlungen setzen und heilsame Handlungen kultivieren, (s. S. 94-96 in Der kostbare Schmuck der Befreiung) Alle Lebewesen, die nicht die Natur ihres Geistes erkannt haben, sind in einer verzerrten, weil dualistischen, Wahrnehmung der Wirklichkeit gefangen. Sie gehen von der Existenz eines „Ich" aus, projizieren ein davon getrenntes „Anderes" und verstricken sich dadurch in Emotionen, Täuschung und Leid. Immer, wenn wir einer Emotion folgen, sind wir in Projektionen und damit in Täuschung befangen. Der erste Schritt zum Überwinden dieser Täuschung besteht im Studieren und Kontemplieren der Unterweisungen über den Geist, über den Mechanismus der Projektionen und über das Entstehen von Emotionen, (s. Kap. 17 in Der kostbare Schmuck der Befreiung.) Vom Zeitpunkt des Erkennens, dass wir in den Mustern der Täuschung (sprich dualistischer Projektion) gefangen sind, bis zur Auflösung dieser Muster braucht es für die meisten Menschen selbst bei energischer Anwendung der kraftvollen Vajrayana-Methoden mehrere Jahrzehnte der Praxis in diesem Leben und in den meisten Fällen noch einige Leben mehr. Es ist deshalb keine Zeit zu verlieren. Da sich diese Muster bei nachlassender Meditationspraxis immer wieder in unserem Geist ausbreiten, sollten wir äusserst kontinuierlich praktizieren, bis stabile Erkenntnis entsteht, die nicht mehr verblassen kann. In einer Zeit des Verfalls wie in der gegenwärtigen Epoche, wenn die Emotionen stark sind, riskieren wir grosses Leid für uns und andere, wenn wir uns von Emotionen mitreissen lassen. Wir sollten deshalb bei ihrem Auftreten unverzüglich und voller Achtsamkeit die entsprechenden Gegenmittel anwenden, wie z.B. Mitgefühl bei Wut, Mitfreude bei Eifersucht und Neid, Freigebigkeit bei Habgier, offenes Eingestehen bei Schuldgefühlen, Geduld bei Schwierigkeiten, Denken an Vergänglichkeit bei Begierde, usw. Es gibt viele solcher Gegenmittel auf den verschiedenen Ebenen der Dharmapraxis. Dharmapraxis ist das Gegenmittel überhaupt für Verstrickung in Emotionen. Ein Rat zum Entwickeln freudiger Ausdauer ist, jeden Abend den verstrichenen Tag zu überdenken: Womit war ich heute beschäftigt? Welche Motivation hatte ich bei den verschiedenen Aktivitäten? Hätte ich nicht vielleicht das eine oder andere sein lassen oder anders handeln können, um dadurch der Dharmapraxis den Vorrang zu geben? ...und sei es auch nur, indem ich für einige Momente innehalte? Für den nächsten Tag nehmen wir uns im Anschluss an diese Betrachtung dann möglicherweise vor, in bestimmten Situationen mehr auf den Dharma zu achten. So machen wir Tag für Tag kleine, ermutigende Fortschritte, (s. Kap. 15 in Der kostbare Schmuck der Befreiung)
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Ein theoretisierender Schwätzer hat aus mangelndem Vertrauen den Dharma trotz breitem Wissen nicht zur Transformation seines Wesens angewendet und verliert sich in intellektuellen Ausführungen.
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Hier beruht das Vertrauen in den Dharma nur auf einer emotionalen Hinwendung zur Lehre und es fehlt an echtem Verständnis und Wissen, was zu kleingeistigen dogmatischen Fixierungen und somit zu Fanatismus führen kann. Studium und Kontemplation der Unterweisungen sollten dem entgegenwirken, indem sie den Geist weiten. Jemand, der grosse Anstrengungen macht, ohne die notwendigen SchlüsselUnterweisungen erhalten zu haben, wird, weil er die richtige Anwendung der Methoden nicht gelernt hat, unweigerlich in den Sackgassen spiritueller Praxis landen. Dies kann durchaus schädlich für ihn sein. Es gibt prinzipiell zwei Arten verkehrter Annahmen über die Wirklichkeit: a) die Annahme, etwas existiere, was aber nicht existiert, wie ein „Ich", eine „Seele" usw. und b) die Annahme, etwas existiere nicht, was aber existiert, wie zum Beispiel karmische Ursache-Wirkungsbeziehungen, Wiedergeburt usw. Aufgrund solcher falschen Zuschreibungen und Annahmen irren wir im Daseinskreislauf. Meditation, die auf diesen irrigen Annahmen aufbaut, führt in so genannte dunkle Erfahrungsbereiche. Das sind Meditationserfahrungen, die nicht zur befreienden Erkenntnis führen, wie z.B. auch die meditativen Versenkungen der Götterbereiche. Spirituelle ,Experten': Solche Praktizierende haben möglicherweise zunächst gute Erfahrungen gemacht, setzen aber ihre Praxis nicht fort. Sie haben ihren Geist von daher nicht „gezähmt" und ihr aus dem Studium der Texte gewonnenes Verständnis bleibt deshalb unvollständig. Oft gleiten sie mit der Zeit in ein unachtsames Verhalten ab, meinen aber, anderen den Dharma erklären zu können. Die Praxis im Grossen Fahrzeug hat zwei Pfeiler: Methode und Weisheit, oder anders ausgedrückt das Entwickeln von Mitgefühl und die Erkenntnis der Leerheit. Beide sind unerlässlich für den Weg. Ohne Mitgefühl gäbe es nicht den Wunsch, Erleuchtung zum Wohle aller Wesen zu verwirklichen. Mitgefühl macht unseren spirituellen Weg zu einem „grossen" Fahrzeug, in dem alle Wesen Platz haben. Mangelndes Mitgefühl lasst uns nur die persönliche Befreiung von Leid und nicht die Buddhaschaft anstreben. Solch ein Weg wird deshalb ein „kleines" oder geringeres Fahrzeug genannt. Weisheit ist für das kleine wie fürs grosse Fahrzeug unerlässlich, denn ohne ein Verständnis der Leerheit wird man nie aus dem Daseinskreislauf von Täuschung und Leid (Samsara) hinaus finden. Die Welt Verschönern Wollen: Wer in die acht weltlichen Beweggründe (Glück und Unglück, Ruhm und Schmach, Gewinn und Verlust, Lob und Tadel) verstrickt ist, möchte es sich unbewusst in der samsarischen Welt schöner einrichten. Dabei übersehen wir, dass alle Verschönerungen nichts an der grundlegenden Tatsache ändern, dass ein Verweilen in der dualistischen Welt des Anhaftens (Samsara) stets Leid bedeutet. Uns entgeht, wie radikal Dharmapraxis eigentlich mit allen Anhaftungen aufräumen sollte. Wir mögen zwar den Dharma, die Lehrer, die Übertragungslinie, den erhaltenen Segen usw. in
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höchsten Tönen preisen, wenden die Unterweisungen aber nicht wirklich auf uns selbst an. Der Dharma gerät so in Gefahr, von uns als spirituelles Mäntelchen zur Verschönerung der vertrauten Welt des Anhaftens missbraucht zu werden. Weltliche Leute (wörtlich: „Städter") sind normale Menschen, die um Unterweisung im Dharma bitten, aber noch in weltliche Prioritäten und Ablenkungen verwickelt sind. Ihr Vertrauen erscheint zwar gross, ist aber noch voll emotionaler Anhaftung. Wenn der von ihnen umworbene und mit Geschenken eingedeckte Lehrer nicht frei von den acht weltlichen Beweggründen ist und Angst hat, die Gunst seiner Schüler und Gönner zu verlieren, dann wird er sich ihnen nicht so zeigen, wie er wirklich ist. Er wird es auch nicht wagen, seine Schüler konsequent auf ihre Fehler aufmerksam zu machen, was auf dem Dharmaweg aber unumgänglich notwendig ist. Mönche und auch Laienpraktizierende wurden von der tibetischen Bevölkerung oft gebeten, Rituale und Gebete an deren Stelle oder auch für Verstorbene auszuführen, um in ihrem Namen positive Kraft (Verdienste) anzusammeln. Dabei gab es meist viel zu essen und zu trinken. So mancher talentierte Praktizierende, der sich in Ritualen gut auskannte und durch seine Mantrapraxis auch bereits eine gewisse spirituelle Kraft entwickelt hatte, dem es aber an Entsagung, Erkenntnis und wahrem Mitgefühl mangelte, versackte in diesen Aufgaben und gab sich dem angenehmeren Lebensstil in den Dörfern hin, was immer weiter von tiefer, zurückgezogener Praxis wegführt.
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Begierde ('död-pa) steht hier für Anziehung, Faszination, Habenwollen und Verlangen im Hinblick auf den Dharma und den eigenen Lama, was oft mit Vertrauen (däd-pa) in den Dharma oder Hingabe zum Lama verwechselt wird. Wahres Vertrauen ist jedoch kein auf Faszination beruhender Glauben, sondern eine innere Gewissheit, die auf Erfahrung und Wissen aufbaut. Wahre Liebe und Mitgefühl sind frei von Anhaftungen. Sie sind das Gegenteil von persönlichen Vorlieben, vom Anhaften an Freunden und Ausgrenzen von Feinden, von Identifikationen mit der eigenen Familie, Bevorzugung und Parteilichkeit. Sie sind keine emotionale Reaktion des Ichs, welches das eine mag und das andere ablehnt. Intellektuell geschaffene Leerheit ist ein blosser Gedanke: „Die Phänomene sind leer." Solche Gedanken haben nicht mehr befreiende Wirkung als ein Stempel, den wir unserem Erleben aufdrücken. Vorstellung und Wirklichkeit werden verwechselt. Wahre Leerheit erschliesst sich, wenn alle Konzepte losgelassen werden. Sie ist die Dimension der Natur aller Phänomene (shes-bya, wörtlich: alles Erkennbaren) jenseits von Subjekt und Objekt. Die Sichtweise, dass nichts existiert, ist ein Festhalten an Nichtexistenz, auch nihilistische Sicht genannt. Es ist die Auffassung, Leerheit bedeute, dass nichts existiert. Der Raum der Phänomene (Dharmadhatu), die Dimension der wahren Natur aller Dinge, ist aber keinesfalls ein Nichts. Obwohl dieser „Raum" nicht als
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ein Etwas existiert und nicht näher definierbar ist, ist er zugleich die wahre Natur und Quelle aller Dinge. Meditationsetfahrungen (nyams) beinhalten stets, dass jemand meint, etwas zu erfahren (z.B. die Leerheit), und sie sind von daher dualistischer Natur. Wahre Erkenntnis (rtogs) oder Verwirklichung bedeutet hingegen, dass die SubjektObjekt Täuschung wegfällt. Da Erfahrungen in der Meditation sehr subtil sein können, werden sie häufig mit Erkenntnis verwechselt, (s.a. Anm. 106) Ein Praktizierender, der von Mara (den Gegenkräften der Erleuchtung) besessen ist, steht - ohne sich dessen bewusst zu sein - unter dem Einfluss von Stolz, Begierde usw. Er bildet sich zwar ein, frei von Täuschung zu sein, und mag auch über gewisse Kräfte verfügen, ist aber in Wirklichkeit im Griff von Unwissenheit. Sein Verhalten wird nicht von wahrem Mitgefühl und Erkenntnis bestimmt, sondern von den Impulsen des Ichanhaftens, und seine Unterweisungen stimmen nicht mit der höchsten Wahrheit überein. Er selbst kann nicht unterscheiden, ob es sich bei seinem Geisteszustand um Täuschung oder Befreiung handelt, und braucht deshalb unbedingt die nahe Führung durch einen Lehrer. Spirituelle Betrüger sind leider gar nicht selten. Sie geben sich bewusst und ohne ausreichende Qualifikationen als verwirklichte Lehrer aus und nutzen den naiven Glauben, den mangelnden Klarblick und die Unwissenheit anderer für ihre betrügerische Karriere. Ein Lehrer nutzt viele Mittel, um seinen Schülern den Weg zur Befreiung zu zeigen. Dies wird das geschickte Anwenden hilfreicher Methoden genannt. Dabei kann er durchaus auch unkonventionelle Wege einschlagen, die jedoch nie persönlichen Interessen dienen. Die Ausrede des „Anwendens hilfreicher Mittel" kann von dubiosen Lehrern als Deckmantel missbraucht werden, um Schüler zu betrügen und für persönliche Ziele einzuspannen.
Zu Kapitel 12: 94
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Haushälter (kyim-dag) sind im buddhistischen Sprachgebrauch dharmapraktizierende Laien, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten und einen Haushalt führen. Dies beinhaltet auch alleinlebende, berufstätige Laien. Heimatlose Entsagende (rab-dschung) sind Praktizierende, die um der Dharmapraxis willen ihr Zuhause aufgegeben haben, wie z.B. der Yogi Milarepa. Sie halten neben den traditionellen Laiengelübden auch das Gelübde sexueller Enthaltsamkeit. Den Lama zuoberst auf dem Haupt, wörtlich: „wie die Schädeldecke" zu tragen bedeutet, in unserer Hingabe untrennbar von ihm zu werden, indem wir uns vorstellen, dass er uns stets überallhin begleitet, als würde er auf unserem Haupt sitzen.
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Erhabene Sicht ist die weite, offene Sicht von jemandem, der wahre Erkenntnis der Leerheit erlangt hat. Er wird in allen Handlungen frei von Ichbezogenheit und äusserst achtsam sein, ohne je das Gesetz von Ursache und Wirkung ausser Acht zu lassen. Wahre Erkenntnis zeigt sich unter anderem in Bescheidenheit und Achtsamkeit. Wer einen weiten, offenen Geist hat, ist in der Lage, in völliger Freiheit streng anmutende äussere Verpflichtungen einzugehen, wie z.B. die Mönchsgelübde einzuhalten, ohne dabei innerlich eng zu werden. Mit einer weiten Geisteshaltung werden Gelübde nicht als Einengung erfahren, sondern als natürlicher Ausdruck der Ausrichtung auf das Wohl aller Wesen. Echtes Verständnis des Dharma (Weisheit) wird, wenn wir es tatsächlich auf uns selbst anwenden, zum Gegenmittel für Stolz.
Zu Kapitel 13: 99
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Haushälter meint hier im weiteren Sinne jegliche Verstrickung mit weltlichen Aktivitäten. Im engeren Sinne bezieht es sich auf Menschen, die für einen Haushalt sorgen und einem Beruf nachgehen (s. Anm. 94). Bei diesen Aufgaben bleibt weniger Zeit, den Dharma zu studieren, zu kontemplieren und zu meditieren, als wenn man sich nicht mehr um Haushalt und Beruf kümmern muss. In das Tor des Dharma eingetreten zu sein meint hier, die Gelübde der Entsagung abgelegt zu haben und in die Heimatlosigkeit gegangen zu sein. Die vier Wurzelübertretungen sind: Töten, Stehlen, sexuelles Fehlverhalten und Lügen. Ein in Wasser gewaschenes Schaffell wird laut Gendün Rinpotsche völlig steif und unbrauchbar und gibt den darin verklebten Dreck nicht mehr her. Ebenso lässt sich das Karma, welches durch nichtheilsame Handlungen wie Diebstahl angesammelt wurde, keinesfalls durch Spenden abschütteln. Nie sollten wir Lebewesen um einer Dharmapraxis willen Schaden zufügen. Das Opfern von Tieren widerspricht zutiefst dem Anliegen der drei Juwelen (Buddha, Dharma, Sangha), die wie Eltern die Beschützer aller Wesen sind. Sich so scheinheilig wie eine Katze zu verhalten bezieht sich z.B. auf Praktizierende, die edles Verhalten vortäuschen, um Spenden zu bekommen. Die Kraft heilsamer Handlungen wird sinnlos vergeudet, wenn diese auf weltliche, nur für dieses Leben gültige Ziele ausgerichtet sind. Es ist nicht sicher, ob Malz die richtige Übersetzung ist. Es kann sich auch einfach um den übrig bleibenden Bodensatz bei der Bierherstellung handeln, auf jeden Fall etwas von äusserst geringem Wert. Ein Heilkundiger sollte nicht ständig krank sein, sondern sich um seine eigene Gesundheit kümmern, um anderen besser helfen zu können. Genauso sollte jemand, der intensiv studiert hat und grosse Gelehrsamkeit in allen Bereichen von Buddhas Lehre (Sutra, Vinaya und Abhidharma) besitzt, sein Wissen auch
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auf sich selbst anwenden, damit sein Geist nicht der einer gewöhnlichen, ichbezogenen Person bleibt. 106 Wenn man bestimmte Übungen wie Visualisationen, Yogas usw. ausführt, stellen sich zwangsläufig Erfahrungen ein, die aber, weil sie sich mit Begriffen beschreiben lassen, in den Bereich dualistischer Erfahrung gehören. Sie sollten nicht mit der wahren, unmittelbaren Erkenntnis der höchsten Natur aller Dinge verwechselt werden, welche frei von dualistischer Wahrnehmung und jenseits von Begriffen ist. Bei wahrer Erkenntnis erfolgt keine Begriffsbildung, die den natürlichen Zustand verdecken würde. Nur solche Erkenntnis führt zur Befreiung, (siehe auch Anm. 90)
Zu Kapitel 14: 107 Zurückgezogenheit bezieht sich auf das Leben in einer Meditationsklausur, einem Kloster oder einem Dharmazentrum, wo wir uns verstärkt der spirituellen Praxis widmen können. Dharmapraxis bedeutet, allen weltlichen Ambitionen den Rücken zu kehren. 108 Das Aufgeben schädlicher Handlungen ist der erste Schritt und die Basis aller Dharmapraxis. Wie wollen wir anderen helfen, wenn wir nicht einmal aufhören, ihnen zu schaden? 109 Das tibetische Wort rtogs, welches normalerweise mit „Erkenntnis" übersetzt wird, bezieht sich hier nur auf ein intellektuelles Verständnis sowie auf mögliche spirituelle Kräfte, die durch Mantrarezitation und dergleichen entstanden sind. Solches Verständnis bleibt nutzlos, wenn es nicht zum Bezähmen der eigenen Ichbezogenheit eingesetzt wird. 110 Jemand, der ernsthaft den Dharmaweg beschreitet, sollte bei allen Aktivitäten den Dharma praktizieren und sich nicht in die üblichen Muster der Anhaftung und Ablehnung verstricken. 111 Weltliche Angelegenheiten von sich zu weisen bezieht sich speziell auf ordinierte Praktizierende, die den Lebensweg der Hauslosigkeit (z.B. das Leben in einem Kloster) gewählt haben. In Tibet geschah es häufig, dass Mönche weiterhin Geschäfte machten und ihre Zeit mit Tausch, Handel und dem Erwerben und Vermehren von persönlichem Besitz verbrachten. So konnte ihr Geist sich nicht aus der Ichbezogenheit lösen. 112 Wenn wir in einer Situation sind, in der wir alle Zeit dem Dharma widmen können, dann wäre es dumm, diese mit anderen Aktivitäten zu verschwenden und so in alten ichbezogenen Verhaltensmustern steckenzubleiben. 113 Das Heilen von Krankheiten ist sinnvoll, darf aber nicht wichtiger werden als die Praxis selbst, welche uns in die Lage versetzen wird, allen Wesen zu helfen. Ein bekannter Heiler zu sein kann ein Hindernis auf dem Weg zur Erleuchtung werden, weil man nicht mehr dazu kommt, höhere Ebenen der Erkenntnis zu entwickeln, und weil Heilerfolge meist den eigenen Stolz (und andere Emotionen) nähren. Besessenheit bezeichnete im tibetischen Wortgebrauch eine
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Vielzahl von körperlichen und geistigen Erkrankungen, für die es keine ausreichende Erklärung gab (z.B. wenn eine Frau immer wieder Totgeburten hatte sowie manche Formen von Verrücktheit usw.) und für die deshalb unsichtbare Kräfte verantwortlich gemacht wurden. 114 Der Dharma allgemein, aber speziell die Schlüsselunterweisungen, die das Geschenk unseres Lehrers sind, sollten ohne Erwartung einer persönlichen Gegenleistung weitergegeben werden. Seit Buddhas Zeiten wird der Dharma frei von Entgelt unterrichtet. Die Lehrer leben zwar meist von Spenden, aber die Schüler bedanken sich in erster Linie durch das Anwenden der erhaltenen Unterweisungen zum Wohle aller Wesen. 115 Dharmapraktizierende sollten niemanden kritisieren, weder offen noch versteckt, sondern stets die eigenen Fehler und die Qualitäten der anderen betrachten. Konstruktive Kritik entspringt einem Geist der Liebe und der Weisheit und ist nicht von den eigenen Emotionen motiviert. 116 Mit Glück nicht zurecht zu kommen bedeutet, in angenehmen Situationen nicht zufrieden zu sein und sich nicht entspannen zu können.
Zu Kapitel 15: 117 Wer keine Furcht vor dem Daseinskreislauf hat, ist entweder bereits durch Erkenntnis befreit oder es mangelt ihm an Verständnis der Leiden und Gefahren im Daseinskreislauf, (s. Kapitel 5 in Der kostbare Schmuck der Befreiung) Völlige Gewissheit (däd-pa brtän-po) ist das Wissen, dass der Daseinskreislauf aufgrund von Ichbezogenheit immer von Leid gekennzeichnet sein wird. Dadurch richten wir uns völlig auf die Befreiung aus diesem Kreislauf des Ichanhaftens aus und setzen all unser Vertrauen in die Methoden der Befreiung, in Buddha, Dharma und Sangha, in den Lehrer, seine Unterweisungen usw. 118 Weisheit: Wer durch Studium, Kontemplation und Meditation die Bedingungen schafft, dass der Geist sich öffnet, dem wird sich ganz natürlich ein Verständnis des Geistes, der Emotionen und aller anderen Aspekte des Dharma enthüllen. 119 Rüstungsgleiche freudige Ausdauer ist nicht zu erschüttern durch die Grösse der Aufgabe, alle Wesen zu befreien, egal wie lange es dauern mag und welchen Einsatz es braucht. Mutige (oder selbstgewisse) freudige Ausdauer ist das Vertrauen, dass wir alle Qualitäten besitzen und dass alle Bedingungen vorhanden sind, um Erleuchtung zu erlangen. Es gibt keinen Grund, zu zaudern oder an der Möglichkeit der Erleuchtung zu zweifeln, (s. Kap. 15 in Der kostbare Schmuck der Befreiung.) 120 Die beiden Ansammlungen sind positive Kraft (Verdienste) und Gewahrsein (Weisheit). Die dreifache Schulung besteht aus Disziplin, Meditation und Weisheit, (s. S. 158 in Der kostbare Schmuck der Befreiung) 121 Sicht, Meditation und Verhalten sind die drei Pfeiler der Mahamudra-Praxis. Der Praktizierende übt sich stets in allen drei Aspekten der Praxis zugleich. Zunächst bedarf es einer klaren Sichtweise, d.h. eines guten Verständnisses dessen, woraus
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der Weg besteht und welche irrigen Annahmen es zu untersuchen und auszuräumen gilt. Als nächstes bedarf es der Meditation des Verweilens mit dem untersuchten Gegenstand, d.h. mit dem Geist selbst und mit allen in ihm auftauchenden Erscheinungen. Die in der Meditation gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse führen dann zu einem Verhalten frei von Täuschung und Anhaften in allen Aktivitäten. 122 Dieser Satz enthält laut Khenpo Chödrak zwei Dinge, die unentbehrlich sind: das Anwenden der Unterweisungen zum Überwinden von (a) äusseren widrigen Umständen und (b) inneren widrigen Umständen. Diese beiden werden in einem Satz angesprochen aber separat gezählt, weshalb der tibetische Titel dieses Kapitels zwölf unentbehrliche Dinge ankündigt, aber nur elf Sätze aufführt. (a)Hindernisse (bgegs) bezieht sich auf die äusseren Schwierigkeiten und Hindernisse, die den Praktizierenden von nichtmenschlichen Wesen bereitet werden. Einige dieser Wesen gehören in den Daseinsbereich der hungrigen Geister und andere zu den Halbgöttern. Ihre spirituelle Praxis in früheren Leben liess sie zwar besondere Kräfte entwickeln, aber es mangelt an Mitgefühl und Verständnis. Sie empfinden Ablehnung, Neid und Zorn gegenüber jenen, die Fortschritte in ihrer Praxis machen. Maras (oder „Dämonen", bdäd) bezeichnet nichtmenschliche Wesen, die den Bereichen der Götter und Halbgötter zugeordnet werden. Sie haben in früheren Leben viel positive Kraft aufgebaut, jedoch vermischt mit Stolz, Wettstreben, Neid und Eifersucht. Sie bereiten ebenfalls sog. „äussere" Schwierigkeiten, doch handelt es sich hier um angenehme Sinneseindrücke, die sie dem Praktizierenden vorgaukeln, um ihn abzulenken. Dieser haftet an diesen Eindrücken und erliegt der Täuschung. Maras können den Praktizierenden auch dahingehend beeinflussen, dass er z.B. Angst bekommt oder dass er beginnt, an seinem Lehrer zu zweifeln, sich allen anderen überlegen fühlt und seine reine Sicht verliert. (b)Sackgassen (göl-sa) sind innere widrige Umstände, welche die weitere Entwicklung aufhalten. Dabei fällt der Praktizierende auf Erfahrungen herein, die er in der Meditation macht, wie z.B. den täuschenden Eindruck, die Leerheit erkannt zu haben. Äussere oder innere widrige Umstände können einem Praktizierenden nichts anhaben, wenn er nicht an den auftauchenden Gedanken, Erscheinungen und Erfahrungen haftet, sondern sie alle als illusorische Projektionen des dualistischen Geistes erkennt. 123 Es ist wichtig, im Tod keinerlei Reue darüber zu empfinden, wie wir unser Leben gelebt haben, sondern in dem Wissen, dass wir den Dharma intensiv praktiziert haben, freudigen Geistes zu sterben. Dann ist der Tod bloss ein Hinüberwechseln in die nächste Situation, wo wir weiter den Dharma praktizieren werden. Wir sind voller Zuversicht, den Dharma auch im Tod nicht zu vergessen. 124 Die drei Buddhakörper (Kayas) sind: der Wahrheitskörper, der Freudenkörper und der Ausstrahlungskörper. Diese drei Aspekte erleuchteten Seins wohnen unserem Geist als Potential bereits inne. Es liegt an uns, dieses Potential
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freizulegen und Buddhaschaft zu erlangen, denn nur dann sind alle Schleier gereinigt und alle Qualitäten hervorgebracht, (s. Kap. 20 in Der kostbare Schmuck der Befreiung)
Zu Kapitel 16: 125 Edle Menschen sind solche, die wirklich den Dharma praktizieren. Die folgenden elf Zeichen können auch als Massstab verstanden werden, wer ein guter Lehrer ist. 126 Frei zu sein von zweierlei Mass bedeutet, privat und öffentlich das gleiche Verhalten zu zeigen und in allen Situationen gleichermassen mit ganzer Kraft den Dharma zu praktizieren und nicht nach aussen hin das eine vorzugeben und im Privaten das Gegenteil zu tun. 127 Dieser Satz ist die Zusammenfassung des ganzen Kapitels. Sich nicht wie weltliche Leute zu verhalten bedeutet, frei von Ichbezogenheit und weltlichen Beweggründen zu handeln. 128 Anders herum gelesen ergeben diese elf Zeichen die elf Merkmale, kein edler Mensch bzw. kein geeigneter Lehrer zu sein.
Zu Kapitel 17: 129 In diesem Kapitel geht es darum, wie sinnlos angesichts von Vergänglichkeit und Tod die meisten Aktivitäten sind, um die sich unser Leben dreht. Wer an den Belangen dieses Lebens festhält, wird nicht zu wahrer Dharmapraxis finden. 130 Dies gilt für Praktizierende, die den Dharma aufgrund von Ichbezogenheit missbrauchen, ihn nicht wirklich auf sich selbst anwenden und andere zu falscher Praxis anleiten. Mit dem Dharma Geld zu verdienen, sich persönliche Vorteile zu verschaffen, sich als Gelehrter oder als Meister zu verkaufen usw. - das alles zählt als Missbrauch und Nichtbefolgen des Dharma. Dadurch wird viel negatives Karma angesammelt, was nach dem Tod entsprechende Auswirkungen hat. 131 Studium und Kontemplation sind zwar von Nutzen, werden aber ohne persönliche Meditationspraxis von zu schwacher Wirkung sein, um im Tod Befreiung zu erlangen.
Zu Kapitel 18: 132 Wer ohne Zuneigung heiratet, d.h. ohne den anderen zu lieben, wird stets in innerem Konflikt sein und von daher leiden. Es ist wie das Einnehmen von Gift: Zuerst merkt man es noch nicht, doch das Leid ist vorprogrammiert und unausweichlich. 133 Wer darauf aus ist, anderen zu schaden, schadet im Grunde sich selbst, denn Betrug fällt letztlich immer auf einen selbst zurück.
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134 Jemand, der von Eigennutz motiviert handelt, ist wie ein Blinder, denn er sieht nicht, dass alles Leid aus ichbezogenem Handeln resultiert. Er wird nie aus der Wüste Samsaras herausfinden, (zu den acht weltlichen Beweggründen s. Anm. 35) 135 Jemand, der aus Stolz authentische lehren kritisiert, verliert den Zugang zur Quelle, von der die Kraft der Übertragung ausgeht. Er gräbt sich selbst das Wasser ab. 136 Das Beispiel mit dem Reh bezieht sich auf jemanden, der sich eigentlich zu intensiver Praxis in die Zurückgezogenheit begeben wollte, aber dies immer wieder aufschiebt oder unterbricht, weil er an den Vergnügungen der Geselligkeit haftet. Er steigt, um im Bild zu bleiben, aus den stillen Höhen der Praxis in die Niederungen der Weltlichkeit herab und setzt sich der Gefahr aus, seine Praxismotivation gänzlich zu verlieren und wieder von weltlichen Anschauungen erfasst zu werden, so wie ein Reh, das im Tal leicht von Jägern getötet werden kann. 137 Ein Garuda ist ein mächtiger mystischer Vogel, der einem riesigen Adler ähnelt. Wer Einblick ins ursprüngliche Gewahrsein, d.h. in die Natur des Geistes, bekommen hat, der ist wie ein Garuda und könnte sich eigentlich seiner wahren Bestimmung entsprechend in die Höhen der Verwirklichung erheben, frei von allen Anhaftungen. 138 Der Besitz des Lamas und der drei Juwelen (Buddha, Dharma, Sangha) besteht aus den Spenden, die für den Erhalt und die Fortdauer des Dharma gegeben wurden. Wer damit achtlos umgeht oder sie für persönliche Zwecke veruntreut, untergräbt das Vertrauen anderer in den Dharma und schwächt den Dharma auch für zukünftige Generationen. Dadurch schafft er ein starkes negatives Karma, welches grosses Leid zur Folge haben wird.
Zu Kapitel 19: 139 Sich selbst etwas Gutes erweisen liesse sich auch übersetzen als: „sich selbst Güte und Wertschätzung erweisen". 140 Die Familie usw. hinter sich zu lassen darf nicht als Aufforderung missverstanden werden, bestehenden Verpflichtungen nicht mehr nachzukommen und ohne Rücksicht auf andere aus Verantwortungen auszusteigen. 141 In der Weltlichkeit gefangene Leute werden im tibetischen Text einfach Städter (grong-pd) genannt (s. Anm. 84). Damit sind hier Leute gemeint, die stets voller Geschäftigkeit sind, ein völlig weltliches Leben führen und den spirituellen Weg aus dem Blick verloren haben. Ein Praktizierender löst sich aus der Verwicklung mit ihnen, bewahrt aber sein Mitgefühl und macht ausdrücklich Wünsche, ihnen baldmöglichst helfen zu können. 142 Standhaft ist die Übersetzung von Jidam, welches hier in seiner ursprünglichen Bedeutung gebraucht wird und einen gefestigten Geist meint, eine geistige
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Stabilität im Umsetzen von Entschlüssen, die man sich gut überlegt hat. Jidam bezieht sich hier also nicht wie sonst auf besondere Methoden des Vajrayana. 143 Die Leerheit zur Praxis zu machen bedeutet nicht, die konkrete, alltägliche Erfahrung zu negieren und einfach zu behaupten: „Alles ist leer". Es geht darum, gewahr zu werden, dass den Erfahrungen nichts Bleibendes, kein Wesenskern innewohnt. 144 Körper, Rede und Geist nicht gewöhnlich lassen bedeutet, sie voll und ganz von Liebe, Mitgefühl, Weisheit und reiner Sicht durchdringen zu lassen, (s. Anm. 63) Die beiden Ansammlungen sind positive Kraft (Verdienste) und Gewahrsein (Weisheit). Sie bilden die beiden Pfeiler der Dharmapraxis und sollten stets als die Einheit von Methode und Weisheit praktiziert werden, (s. S. 154 u. 214f. in Der kostbare Schmuck der Befreiung)
Zu Kapitel 20: 145 Gampopa zeigt in diesem Kapitel entsprechend den Fähigkeiten des Einzelnen verschiedene Ebenen der Praxis auf: gering, mittel und gross. Wir beginnen auf der untersten Ebene und entwickeln allmählich unser Verständnis bis auch die fortgeschritteneren Ebenen zur Anwendung kommen. Gampopa zeigt uns diese Ebenen in Hinblick auf Sicht (Sätze 1-3), Meditation (4-6) und Verhalten (7-9) und beschliesst seine Darstellung mit dem Zeichen des Fortschrittes (10), welches für alle Praktizierenden gilt. 146 Zu Beginn fusst unsere Praxis in einem Verständnis des Gesetzes von Ursache und Wirkung (Karma): „Wenn ich schädliche, ichbezogene Handlungen ausführe, ist Leid die Folge. Wenn ich heilsame, auf das Wohl aller Wesen ausgerichtete Handlungen ausführe, ist Glück und Befreiung die Folge." Wir enthalten uns deshalb schädlicher Handlungen und widmen uns heilsamen. 147 Hier fusst die Praxis auf einem Verständnis der Leerheit, der illusorischen Natur aller Phänomene. Äussere Phänomene sind alle Sinnesobjekte. Innere Phänomene sind unser geistiges Grunderleben sowie alle geistigen Faktoren und Stimmungen. Vierfache Einheit meint die Einheit von Erscheinung und Leerheit (in Hinblick auf äussere Phänomene), Klarheit und Leerheit (in Hinblick auf innere Phänomene), Freude und Leerheit (in Hinblick auf Empfindungen) sowie Bewusstheit und Leerheit (in Hinblick auf die Erkenntnisfähigkeit des Geistes). 148 Sowohl das Objekt der Wahrnehmung (das Gesehene) wie auch das Subjekt der Wahrnehmung (der Sehende, der wahrnehmende Geist) und der Prozess der Wahrnehmung (das Sehen bzw. Erkennen) sind ein- und derselbe Geist und von Natur aus leer. Sie haben keine bleibende, wirkliche Existenz. Untrennbarkeit bedeutet nicht, dass diese Aspekte des Geistes nicht auseinandergehalten werden könnten, sondern dass sie hinsichtlich der entscheidenden Qualität der Leerheit nicht verschieden sind. Wer dessen gewahr ist, verfällt nicht mehr der Ich-Illusion.
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149 Die Basis aller Meditationspraxis ist das Befrieden des Geistes durch ruhiges Verweilen (Schinä/Shamatha), wobei wir als Anfänger Bezugspunkte wie z.B. den Atem oder andere Meditationsobjekte zur Hilfe nehmen. 150 Samadhi ist tiefe Meditation frei von Ablenkungen. Die hier beschriebene Meditation beruht bereits auf wirklicher Einsicht (Lhaktong/Vipassana). Der Praktizierende löst sich durch das Gewahrsein der Leerheit - d.h. durch das Gewahrsein der traumgleichen Natur aller Phänomene - von allem Anhaften an Gedanken und an der sie wahrnehmenden Bewusstheit. (zur Vierfachen Einheit s. Anm. 147) 151 Dies ist die Mahamudra-Meditation verwirklichter Praktizierender jenseits der Illusion von wirklicher Existenz von Subjekt, Objekt und Handlung. 152 Der traumgleichen Natur aller Phänomene gewahr zu sein bewirkt, dass man nicht an den Erscheinungen haftet, wodurch man frei von Anhaftung und Abneigung handelt und von daher auch keine schädlichen, leiderzeugenden Handlungen ausführt. 153 Unser Verhalten ist die natürliche Konsequenz unseres jeweiligen Verständnisses. Auf der höchsten Ebene entspricht dies einem Handeln frei von jeglicher Ichbezogenheit und Täuschung. Auf dieser Ebene können wir von wahrem Nichthandeln sprechen. Dies ist ein spontanes Handeln, ohne dass es jemanden gäbe, der handelt, und ohne dass dieses Handeln von emotionalen Impulsen bestimmt wäre.
Zu Kapitel 21: 154 Glauben an Dauerhaftigkeit meint den Glauben an stabile Umstände und entspricht im Grunde einer Blindheit in Hinblick auf die Vergänglichkeit.
Zu Kapitel 22: 155 Gampopa beschreibt hier wie in Kapitel 20 die Praxis auf drei verschiedenen Ebenen bzw. mit drei verschieden Fähigkeiten: gering (zu Anfang), mittel (in der Mitte) und gross (schliesslich, bei fortgeschrittener Praxis). 156 Das tibetische Wort däd-pa wird hier wieder mit Gewissheit statt wie sonst mit Vertrauen übersetzt, weil es die Gewissheit ausdrückt, dass uns im Daseinskreislauf nichts anderes als Leid erwartet, genauso wie auf den Hirsch in der Falle nichts anderes als der Tod wartet. Deswegen nehmen wir all unsere Kräfte zusammen, um zu entfliehen. Dafür braucht es ein tiefes Vertrauen in die Zuflucht (Buddha, Dharma und Sangha), was Vertrauen in die Möglichkeit der Befreiung beinhaltet wie auch Vertrauen in den eigenen Geist. 157 Der freudige Geist, für den es keinen Tod gibt, ist die freudige Unbekümmertheit von jemandem, der aufgrund seiner Erkenntnis der wahren Natur der Dinge Befreiung gefunden hat.
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158 Mit dem Ausführen heilsamer Handlungen ist keine Zeit zu verlieren, weil uns der Tod jeden Moment ereilen kann und es völlig ungewiss ist, ob wir dem Dharma im nächsten Leben wieder begegnen werden, da die grosse Kraft unseres noch nicht bereinigten Karmas es sonst durchaus verhindern kann. 159 In Anbetracht des Leides und der immensen Aufgabe, anderen zu helfen, widmen wir uns unverzüglich dem Studium, der Kontemplation und der Meditation des Dharma, so wie ein Verhungernder, der nicht mit dem Essen wartet. 160 Dieser Vergleich stammt laut Eric Pema Kunsang aus dem alten Indien, wo ein Ringer ein glückbringendes Juwel im Stirnband trug, um gewinnen zu können. 161 Der Betrüger ist das Ichanhaften, das uns ständig eine dualistische Wirklichkeit vorgegaukelt hat. Mit dem Auflösen der Ich-Illusion stürzt die Welt unserer dualistischen Vorstellungen zusammen. 162 Hierzu gibt es zwei unterschiedliche Erklärungen: Die eine ist, dass wir schnurstracks vom Schiff dualistischer Praxis ans sichere Land der Befreiung fliegen, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verlieren, nochmals in die Welt der Anhaftung zurückzukehren (so wie eine Krähe oder ein Rabe, die sich an Land wohler fühlen). Die andere Erklärung ist, dass wir nach unseren Ausflügen in Samsara immer wieder zum Schiff natürlicher Praxis zurückkehren und durch dieses beständige Zurückkehren zur Natur des Geistes unsere letzten Zweifel klären (so wie eine Seemöwe, die immer wieder zum Schiff zurückkehrt).
Zu Kapitel 23: 163 Wer auf dem Pfad der Natürlichkeit, d.h. jenseits aller Ichbezogenheit verweilt, der führt spontan nur heilsame Handlungen aus. Das Verweilen in solcher Natürlichkeit ist in sich die verdienstvollste Handlung, die es gibt. Es ist das Verhalten mit der grössten positiven Kraft. 164 Weg der Mittel bezieht sich hier auf alle Praxismethoden, deren Anwendung zu Anfang noch von Willen und bewusster Anstrengung geprägt ist. Diese Methoden helfen aber, in die Anstrengungslosigkeit zu finden. In völliger Natürlichkeit verweilend brauchen sie jedoch nicht weiter angewendet zu werden. 165 Wenn Gedanken in ihrer wahren Natur (Dharmata) erkannt werden, werden sie zu wahren Helfern der Praxis. Gedankenfreiheit ist von daher nicht erstrebenswert. 166 Formen und Klänge stehen hier für alle Geisteseindrücke und Gedanken. Wer sie als illusorisch erkennt, der ist frei von Anhaften und Ablehnen und braucht deswegen keinen dieser Geisteszustände zu verhindern oder irgendeinen anderen Geisteszustand zu erzeugen. 167 Wer die wahre Natur von Leid, die Leerheit, erkennt, der erlangt Verwirklichung und ist von allem Leiden befreit. Er erfährt das wahre Glück und braucht nicht danach zu suchen.
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168 Die Bewusstseinsübertragung im Tod (Phowa) beinhaltet ein Ausrichten des Geistes auf den Lama oder auf eine Manifestation der Buddhas, mit der man im Moment des Todes sein Bewusstsein verschmilzt, um in den Zustand jenseits von Dualität hinüberzuwechseln. Das Ausführen dieser Phowa-Praxis ist überflüssig, wenn man bereits im nondualen Zustand, d.h. in der Verwirklichung der ungeborenen, nicht fassbaren Natur des Geistes, verweilt.
Zu Kapitel 24: 169 Zu den Freiheiten und günstigen Bedingungen und zu den sechs Daseinsbereichen siehe Kapitel 2 bzw. 5 im Schmuck der Befreiung. 170 Mit dem Fahrzeug essentieller Bedeutung sind die Lehren über die natürliche Selbstbefreiung aller Gedanken gemeint. Aus der Sicht dieser Lehren gibt es in jedem Moment die Möglichkeit völligen Gewahrseins oder völliger Unwissenheit. Welche dieser Möglichkeiten jeweils Wirklichkeit wird, das entscheidet sich jeden Moment neu aufgrund des Vorhandenseins oder Freiseins von Anhaften. Aus dieser Perspektive betrachtet gibt es keinen allmählichen, stufenweisen Weg zurückzulegen, sondern es geht um eine Praxis von Moment zu Moment. 171 Gemeint ist der Makel des Dualismus.
Zu Kapitel 25: 172 Wenn jemand seinen Geist wirklich auf den Dharma ausgerichtet hat, dann wird er alle Handlungen zur Dharmapraxis nutzen und es gibt keinen Grund, solche Handlungen zu unterlassen. 173 Verhaftungen steht für jede Art von Sinneserfahrungen, die Anhaftungen auslösen, inklusive sexuelle Beziehungen. Wer frei von Verlangen nach Sinnesfreuden ist, kann Sinneserfahrungen nutzen, um subtile Formen der Ichbezogenheit weiter aufzulösen. 174 Hindernisse sind für jemanden, der den Sinn des Dharma verstanden hat, Helfer auf dem Weg und von daher durchaus willkommen. 175 Höchste Verwirklichung ist die Erkenntnis der Natur des Geistes und gewöhnliche Verwirklichungen sind Fähigkeiten (Siddhis) wie Gedankenlesen, Hellsichtigkeit usw.
Zu Kapitel 26: 176 Erläuterungen finden sich in Der kostbare Schmuck der Befreiung: - zehn heilsame Handlungen siehe S. 90 - sechs befreiende Qualitäten siehe Kap. 12 bis 17 - 37 Erleuchtungsfaktoren siehe Kap. 18 - Stufen der meditativen Sammlung und Versenkung siehe S. 92f.
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Die vier edlen Wahrheiten sind: die Wahrheit vom Leid, die Wahrheit vom Ursprung des Leides, die Wahrheit vom Auflösen des Leides und die Wahrheit vom Weg zur Auflösung des Leides. Der zur Reifung bringende Aspekt des Mantrayana ist die Fntstehungsphase der Meditation (Kye-rim) und der befreiende Aspekt ist die Vollendungsphase (Dzog-rim). Alle diese Wesen verdanken ihre angenehmen, privilegierten Umstände dem Ausführen positiver, heilsamer Handlungen in der Vergangenheit. Heilsames Handeln wiederum ist Ausdruck der Qualitäten des Dharma in ihrem Geist, in ihrer Erziehung usw. In den Strom (der Befreiung) Eingetretene haben Gewissheit über das Nichtvorhandensein eines Ichs erlangt und haben somit die erste Stufe des Erwachens erreicht. In den Sutras heisst es, dass sie noch höchstens sieben Leben als Menschen vor sich haben, bevor sie ihren Weg in den reinen Bereichen weitergehen. Einmalwiederkehrer heisst es, werden nur noch einmal als Menschen wiedergeboren, bevor sie in die reinen Bereiche gehen. Nichtmehrwiederkehrer wechseln direkt nach ihrem Tod in die reinen Bereiche und vollenden dort ihren Weg. Feindbezwinger (Arhats) sind völlig Verwirklichte auf dem Weg persönlicher Befreiung, die nach Aussagen der Sutras des kleinen Fahrzeugs keine Wiedergeburt mehr annehmen. Alleinverwirklicher (Pratyekabuddhas) sind ebenfalls völlig Verwirklichte auf dem Weg persönlicher Befreiung, sie haben aber kaum Kontakt zu menschlichen Lehrern und unterrichten nicht mit Worten; daher ihr Name. Die beiden Formkörper (Rupakaya) sind der Ausstrahlungskörper (Nirmanakayä) und der Freudenkörper (Sambhogakaya). Zu den hinderlichen Lebensumständen siehe Seite 32 in Der kostbare Schmuck der Befreiung von Gampopa.
Zu Kapitel 27: 181 Gampopa zeigt am Beispiel verschiedener Kernbegriffe des Mahamudra und des Dharma auf, dass uns die Praxis zu einem Verständnis jenseits aller Worte führen muss. Natürlich liesse sich jeder dieser Begriffe erklären, aber der Punkt ist hier, schlussendlich auch das Haften an Worten und Erklärungen aufzugeben. 182 Die zwei Schleier sind: die Gefühlsschleier, die aufgrund von emotionaler Verwirrung entstehen, und die Gewahrseinsschleier, welche allumfassende Erkenntnis verhindern.
Zu Kapitel 28: 183 Zum Abschluss der Kostbaren Girlande erinnert uns Gampopa nochmals eindrücklich daran, dass die grosse Freude, das grosse Glück, nach dem wir suchen und welches jenseits allen Leides ist, sich spontan und natürlich zeigt, sobald alle Komplikationen (Vorstellungen) und alles Anhaften wegfallen - weil
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diese Freude eine grundlegende, schon immer vorhandene Qualität des Geistes ist, die nicht erzeugt zu werden braucht. Wahrheitskörper (Dharmakaya) ist der Raum ursprünglichen Gewahrseins, die Dimension der Leerheit, aus der sich alles manifestiert. 184 Extreme Anschauungen sind hier im Allgemeinen sämtliche dualistischen Fixierungen und im Besonderen bezieht sich dies auf die klassischen vier philosophischen Standpunkte des alten Indiens: „Der Geist existiert", „Der Geist existiert nicht", „Er existiert und existiert doch nicht" sowie „Weder existiert er noch existiert er nicht". Sie wurden allesamt von Buddha und seinen Nachfolgern widerlegt. 185 Hiermit ist das bewusste Kultivieren von heilsamen Handlungen und Geisteszuständen sowie das bewusste Vermeiden von nichtheilsamen Handlungen und Geisteszuständen gemeint.
Zum Nachwort: 186 Atisha war einer der grossen indischen Lehrer, die den Dharma nach Tibet brachten. Er hatte viele der hier wiedergegebenen Unterweisungen zum Geistestraining von seinem Lehrer Serlingpa in Indonesien erhalten. Sein Hauptschüler war Dromtönpa, und dieser war der Lehrer von Gampopas Kadampa-Lehrem. Sarwa Mangalam.
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