Romane und Erzählungen
TERRY CARR hat verschiedene Science-FictionAnthologien zusammengestellt, ist aber auch selbst ...
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Romane und Erzählungen
TERRY CARR hat verschiedene Science-FictionAnthologien zusammengestellt, ist aber auch selbst als Verfasser einer Anzahl Romane und Stories bekannt geworden. Von TERRY CARR ebenfalls in den KÖNIG Taschenbüchern herausgegeben: Die Welt, die Dienstag war. Science Fiction Stories (SF 7)
Die Königin
der Dämonen
Science Fiction Stories Herausgegeben von Terry Carr
König Verlag Buch und Taschenbuch GmbH München
August 1973 Deutsche Erstveröffentlichung Umschlaggestaltung: Rudolf Huber-Wilkoff, München Auswahl aus dem 1972 im Verlag Ballantine Books, New York, erschienenen Band »The Best Science Fiction of the Year. Edited by Terry Carr« Originaltitel der ausgewählten, ungekürzten Erzählungen: The Queen of Air and Darkness (Die Königin der Dämonen; deutsch von Ute Seeßlen) von Poul Anderson; The Frayed String on the Stretched Forefinger of Time (Die höhere Instanz; deutsch von Otto Martin) von Lloyd Biggle jr.; Occam's Scalpel (Occams Regel; deutsch von Rosemarie Ott) von Theodore Sturgeon; How Can We Sink When We Can Fly? (Warum ertrinken wir, obwohl wir fliegen können?; deutsch von Rosemarie Ott) von Alexei Panshin; Vaster Than Empires and More Slow (Die unfaßbaren Wesenheiten; deutsch von Marien Scherm) von Ursula K. LeGuin © 1972 der amerikanischen Originalausgabe bei Terry Carr © 1973 der deutschen Ausgabe beim König Verlag, Buch und Taschenbuch GmbH, München Gesamtherstellung: Friedrich Pustet, Regensburg Scan by Brrazo 11/2007 ISBN 3-8082-0072-3
Inhalt
Poul Anderson
Die Königin der Dämonen
Lloyd Biggle jr.
Die höhere Instanz
Theodore Sturgeon
Occams Regel
Alexei Panshin
Warum ertrinken wir, obwohl wir fliegen können?
Ursula K. LeGuin
Die unfaßbaren Wesenheiten
Poul Anderson
Die Königin der Dämonen
Das letzte Glühen der untergegangenen Sonne würde bis tief in den Winter hinein nicht mehr schwinden. Aber dafür würde es auch nicht mehr Tag werden über den Nordlanden. Die erwachten jetzt erst richtig zum Leben. Blüten öffneten ihre Kelche, der Feuer dornbusch flammte auf, blaue Stahlblumen sprossen zwischen Brok und Regenkraut auf den Berghängen, und in den Tälern blühte das zarte weiße Küßmich nicht. Flatterlinge mit schillernden Flügeln schossen hin und her, ein Kronenbock schüttelte sein gehörn tes Haupt und stieß einen Trompetenschrei aus. Über dem Land wurde es Nacht. Die beiden Monde waren aufgegangen; in ihrem Licht wirkten die Blätter wie vereist und das Wasser wie geschmolzenes Blei. Hin ter dem Polarlicht, welches die Monde umgab und mit seinem Flimmern die von ihnen geworfenen Schatten verwischte, traten die ersten Sterne hervor. Ein Junge und ein Mädchen saßen auf Wolunds Barrow zu Füßen des Steingrabmals. Ihre von der Sonne gebleichten langen Haare glänzten im Mond licht, während ihre gebräunten Körper, die nur mit Girlanden geschmückt waren, sich kaum von Erde, Busch und Stein abhoben. Er blies auf einer Kno chenflöte, und sie sang dazu. Seit kurzem waren sie 8
ein Liebespaar. Sie mochten etwa sechzehn Jahre zählen, aber davon wußten sie nichts; sie fühlten sich als Wildlinge, denen die Zeit nichts bedeutete, und erinnerten sich kaum mehr daran, daß sie einst unter den Menschen gelebt hatten. Das Mädchen sang mit lieblicher Stimme, um spielt von der Flötenmelodie: »Aus Staub und Tau die Nebelfrau webt ein Netz im Mondenschein, fängt dich in den Zauber ein.« Das Rauschen eines Bachs, der gleißendes Mondlicht zu dem entfernten Fluß führte, antwortete dem Ge sang. Ein Schwarm Flugmäuse strich vorbei und ver dunkelte das Polarlicht. Von Cloudmoor her näherte sich eine Gestalt mit zwei Armen und zwei Beinen, aber die Beine ende ten in Klauen, und das Geschöpf war gefiedert und besaß einen Schwanz und zwei mächtige Flügel. Sein Gesicht, das von den großen Augen beherrscht wur de, sah fast menschlich aus. Wenn Ayoch in der La ge gewesen wäre, sich aufzurichten, dann hätte er dem Jungen etwa bis zur Schulter gereicht. Das Mädchen erhob sich. »Er trägt eine Last«, sagte sie. Ihre Augen waren nicht dafür geschaffen, in der Dämmerung zu sehen, wie es die Nordlandge schöpfe vermochten, aber sie hatte gelernt, alle übri gen Sinne zu Hilfe zu nehmen. Ein Puck flog doch 9
sonst immer! Und Ayochs Gang war so besonders schwerfällig. »Und er kommt von Süden«, meinte der Junge aufgeregt. Er lief den Hügel hinab. »Ho, Ayoch!« rief er. »Ich bin hier, Nebelhirt.« »Und Traumschatten auch«, sagte das Mädchen lachend und folgte ihm. Der Puck blieb stehen. Sein Keuchen übertönte das Säuseln und Ächzen der Natur. »Wir treffen uns gerade rechtzeitig zur Winterge burt«, krächzte er. »Ihr könnt mir helfen, dies hier nach Carheddin zu bringen.« Er streckte ihnen seine Last entgegen. Das Bündel bewegte sich und stieß wimmernde Laute aus. »Das ist ja ein Kind«, sagte Nebelhirt erstaunt. »Genau wie du es warst, mein Sohn, genau wie du. Hoho, was für ein Fang!« brüstete sich Ayoch. »Sie waren zu zwanzig in einem Lager drüben bei Fal lowwood, alle bewaffnet, und außer Wachmaschinen hatten sie noch große, häßliche Hunde, die aufpaß ten, wenn sie schliefen. Ich habe sie beobachtet und bin dann mitten hineingeflogen, und mit einer Hand voll Schlafstaub –« »Das arme Ding!« Traumschatten nahm den klei nen Jungen in die Arme. »Und so müde bist du, nicht wahr?« Schlaftrunken suchte das Kind ihre winzige Brust. Sie lächelte es durch ihren Haarschleier an. »Nein, dafür bin ich noch zu jung und du schon zu alt. Aber warte nur, wenn du in Carheddin unterm Berg erwachst, wirst du genug zu essen bekommen.« 10
»Still«, sagte Ayoch. »Sie hat uns gesehen und ge hört. Sie kommt.« Er faltete seine Flügel zusammen und duckte sich. Sogleich kniete auch Nebelhirt nie der und nach ihm Traumschatten, doch ließ sie das Kind nicht aus den Armen. Die hohe Gestalt der Königin verdunkelte die Monde. Sie blickte eine Zeitlang schweigend auf die drei und ihre Beute hinab. Endlich fragte Ayoch flüsternd: »Habe ich recht getan, Sternenmutter?« »Wenn du ein Kind aus einem Lager gestohlen hast, in dem es viele Maschinen gab«, erwiderte die Königin mit lieblicher Stimme, »dann waren es wahrscheinlich Leute von weit unten im Süden, die es nicht so demütig hinnehmen werden wie die Bau ern.« »Aber was können sie uns denn anhaben, Schnee macherin?« fragte der Puck. »Wie sollen sie unsere Spur finden?« Nebelhirt hob das Haupt und sagte stolz: »Jetzt haben auch sie unsere Macht kennengelernt.« »Es ist ein herziger Bub«, meinte Traumschatten. »Und wir brauchen noch mehr wie ihn, nicht wahr, Himmelsdame?« »Einmal in einer Dämmerung mußte es gesche hen«, sagte die hohe Gestalt zustimmend. »Nehmt ihn mit und sorgt für ihn.« Sie hob die Hand. »Unter diesem Zeichen gehört er zu uns.« Sie ließen ihrer Freude freien Lauf. Ayoch wirbel te radschlagend über den Boden, hüpfte auf einen 11
Zitterblattbaum, wo er sich halb verdeckt von dem unruhigen Laub auf einen Ast setzte und vergnügt krähte. Der Junge und das Mädchen trugen das Kind singend und tanzend nach Carheddin. »Wahaii, wahaii! Wayala, laii! Weh mit dem Wind hoch am Himmel, schrill schreie, rinn mit dem Regen, stürz über Steine, werd wie die Woge des Wassers, die die Strahlen der Sterne trinkt.« Trotz ihres Schmerzes und ihrer Empörung war Bar bro Cuilen ein wenig bestürzt, als sie den Raum betrat. Unordnung, wohin sie blickte! Auf den Ti schen stapelten sich Zeitschriften, Tonbänder, Filmspulen, Akten, Zettelkästen und beschriebene Blätter. Fußboden und Schränke waren mit einer dicken Staubschicht bedeckt. An einer Wand stand eine komplette Laboreinrichtung mit Mikroskop und allen übrigen Geräten. In der Luft lag ein leichter Ge ruch nach Chemikalien. Der Teppich war abgewetzt, die Einrichtung schäbig. Sie hatte sich das Büro et was anders vorgestellt. Das war also ihre letzte Chance? Eric Sherrinford trat auf sie zu. »Guten Tag, Mrs. Cullen.« Sein Händedruck war fest, und seine Stim 12
me hatte einen entschlossenen Klang. Sein abgetra gener Anzug störte sie nicht. Denn sie selbst küm merte sich auch nur wenig um ihre äußere Erschei nung, außer bei besonderen Anlässen. (Aber so etwas würde es in ihrem Leben kaum wieder geben, es sei denn, sie bekäme Jimmy zurück). Worauf sie aller dings Wert legte, war eine gewisse Sauberkeit. Er lächelte sie an, wobei sich kleine Fältchen um seine Augen bildeten. »Entschuldigen Sie den An blick meines Junggesellenhaushalts. Auf Beowulf haben wir – das heißt, hatten wir – für alle diese Dinge Maschinen, ich habe mich nie selbst darum gekümmert. Hier müßte ich jemanden anstellen, aber ich hasse es, wenn meine Sachen durcheinanderge bracht werden. Außerdem ist es für mich bequemer, in der Wohnung arbeiten zu können, statt jedesmal erst in ein Büro zu gehen. Wollen Sie sich nicht set zen?« »Danke, nein. Das kann ich jetzt nicht«, murmelte sie. »O ja, das verstehe ich. Aber Sie erlauben, daß ich mich setze. Ich funktioniere am besten, wenn ich mich entspannen kann.« Er ließ sich in einen Sessel fallen und schlug seine langen Beine übereinander. Dann zog er einen Ta baksbeutel und eine Pfeife hervor und begann sie zu stopfen. Barbro wunderte sich, daß er auf so altmodi sche Weise Tabak rauchte. Auf Beowulf besaß man doch alle neuen Errungenschaften, die man sich auf Roland noch immer nicht leisten konnte. Aber viel 13
leicht war es auch einer von den vielen alten Bräu chen, die in den Kolonien überlebt hatten. Die Men schen waren zu den Sternen geflogen in der Hoff nung, so überholte Werte wie ihre Muttersprache, die Form der gesetzmäßigen Regierung oder die techni sche Zivilisation bewahren zu können … Sherrinford riß sie aus ihren Gedanken. »Sie müs sen mir noch nähere Angaben über Ihren Fall ma chen, Mrs. Cullen. Sie haben mir bis jetzt nur erzählt, daß Ihr Sohn entführt worden ist und daß die örtliche Polizei nichts unternommen hat. Ansonsten weiß ich über Sie nur, was sich unschwer erraten läßt: daß Sie vermutlich nicht geschieden, sondern verwitwet sind; daß Sie als Tochter von Siedlern in Olga-IvanoffLand aufgewachsen sind und daß Ihre Eltern aber trotzdem in ständiger Telefonverbindung mit Christmas Landing standen; daß Sie eine naturwis senschaftliche Ausbildung haben und daß Sie in Ih rem Beruf einige Jahre pausiert haben, bevor Sie vor einiger Zeit wieder angefangen haben.« Sie starrte verblüfft in dieses von schwarzen Haa ren umrahmte Gesicht mit den grauen Augen, den hohen Backenknochen und der Adlernase. Sein Feuerzeug machte klick. Die Flamme, die hochsprang, schien den ganzen Raum zu erleuchten. Es war sehr still hier oben über der Stadt, durch die Fenster kroch winterliche Dämmerung. »Woher, im ganzen Kosmos, wissen Sie das alles?« hörte sie sich erstaunt ausrufen. Er zuckte die Schultern und verfiel ins Dozieren. 14
»Meine Arbeit besteht hauptsächlich darin, Fakten zu beobachten und sie zusammenzufügen. Auf Roland haben sich seit seiner Besiedlung vor über hundert Jahren Dialekte herausgebildet. Sie rollen das R, wie man es in Olga-Ivanoff-Land hört, während Sie die Vokale durch die Nase aussprechen, wie es hier üb lich ist, obwohl Sie in Portolondon leben. Das veran laßt mich zu der Annahme, daß Sie schon als Kind viel mit der Hauptstadt in Berührung gekommen sind. Dann haben Sie mir noch erzählt, daß Sie an Matsuyamas Expedition teilgenommen haben und dabei Ihren Sohn mitnehmen durften. Das hätte man einer einfachen technischen Assistentin nicht erlaubt; also müssen Sie für die Expedition von besonderem Wert gewesen sein. Das Team führte ökologische Untersuchungen durch, also müssen Sie naturwissen schaftlich ausgebildet sein. Aus dem gleichen Grund müssen Sie auch schon praktische Erfahrungen ge habt haben. Aber Ihre Haut ist zart und hell und zeigt nicht den lederartigen Charakter, den sie angenom men hätte, wenn sie dieser Sonne lange ausgesetzt gewesen wäre. Demnach müssen Sie sich längere Zeit in geschützten Räumen aufgehalten haben, be vor Sie auf diese unglückselige Expedition gingen. Und was Ihre Witwenschaft anbetrifft – Sie haben mir gegenüber Ihren Mann nicht erwähnt, aber Sie müssen einen Mann gehabt haben, den Sie so hoch schätzten, daß Sie noch immer seinen Ring tragen-« Ihre Augen füllten sich mit Tränen bei der Erinne rung an Tim, seine unbeschwerte Fröhlichkeit, sein 15
Lachen und seine Zärtlichkeit. Sie wandte sich ab und starrte zum Fenster hinaus. »Ja, Sie haben recht«, brachte sie schließlich hervor. Das Gebäude, in dem sie sich befanden, stand auf einem Hügel hoch über Christmas Landing. Unter ihnen dehnte sich das Häusermeer der Stadt mit ihren erleuchteten Straßen, durch die sich winzige Autos bewegten, dem Hafen und der Venture Bay, über die Schiffe zu den Sunward Islands und entfernteren Tei len des Borealen Ozeans fuhren, der im Nachglanz des untergegangenen Charlemagne wie Quecksilber schimmerte. Der Mond Oliver stieg orangefarben auf; je näher er dem Zenith kam, den er jedoch nie ganz erreichte, desto mehr nahm er die Farbe silb rigweißen Eises an. Der weiter entfernte und deshalb kleiner wirkende Aide war eine schmale Sichel in der Nähe des Sirius, der, wie sie sich erinnerte, nicht weit von Sol entfernt war, aber Sol konnte man nur durch ein Teleskop erkennen. »Ja«, sagte sie. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Mein Mann ist seit ungefähr vier Jahren tot. Er ist von einem wilden Monocerus getötet worden, als ich unser erstes Kind erwartete. Wir hatten drei Jahre zuvor geheiratet. Wir hatten uns auf der Universität kennengelernt – wissen Sie, auf der Zentralschule lernt man nicht genug. Wir gingen dann als Team unter Vertrag und führten ökologische Studien durch – Sie wissen schon, Probleme von der Art: Kann ein bestimmtes Gebiet besiedelt werden, ohne daß das Gleichgewicht der Natur gestört wird? Welche 16
Pflanzen kann man dort anbauen. Mit welchen Ge fahren muß man rechnen, und so weiter. Später ar beitete ich im Labor einer Fischereigesellschaft in Portolondon. Aber die Eintönigkeit der Arbeit und dieses Eingeschlossensein bekamen mir nicht gut. Dann bot mir Professor Matsuyama an, mit seiner Forschungsgruppe nach Commissioner-Haunch-Land zu fahren. Ich dachte mir, Jimmy – Tim wollte, daß er James getauft wird, nachdem durch Tests feststand, daß es ein Junge würde; weil sein Vater so hieß und weil ich dann einen Timmy und einen Jim my gehabt hätte – o ja, ich dachte mir, Jimmy wäre im Lager vollkommen sicher. Ich konnte es nicht er tragen, mich für Monate von ihm zu trennen. Er war ja noch so klein. Wir sicherten alles ab, so daß er nicht allein hinauslaufen konnte, und was hätte ihm innerhalb des Lagers schon passieren können? An diese Geschichten von Wildlingen, die Kinder rau ben, habe ich nie geglaubt. Ich habe mir immer ge dacht, die Eltern, die ihre Kinder verloren haben, machen sich etwas vor, weil sie nicht wahrhaben wollen, daß sie allzu sorglos gewesen sind und ihr Kind allein in die Wälder gelassen haben – nun, ich bin eines anderen belehrt worden, Mr. Sherrinford. Die Alarmanlagen waren intakt, aber sie sind ir gendwie umgangen worden, die Hunde wurden be täubt, und als ich erwachte, war Jimmy verschwun den.« Er betrachtete sie durch den Rauch seiner Tabaks pfeife. Barbro Engdahl Cullen war eine hochgewach 17
sene Frau um die dreißig, vollbusig, mit kräftigen Schultern, langen Beinen und einem geschmeidigen Gang. In ihrem großflächigen Gesicht fielen die of fenen haselnußbraunen Augen und der volle, beweg liche Mund auf. Sie hatte rötlichbraunes Haar, das bis über die Ohren reichte, und eine etwas heisere Stimme. Sie trug ein einfaches Straßenkleid. Damit sie aufhören sollte, nervös die Finger ineinander zu verschlingen, fragte er skeptisch: »Und jetzt glauben Sie an die Wildlinge?« »Nein. Ich bin nur nicht mehr so sicher wie frü her.« Sie drehte sich um und streifte ihn dabei mit einem Blick. »Wir haben auch Spuren gefunden.« »Ein paar Versteinerungen.« Er nickte. »Und ein paar Artefakte, die denen aus der Jungsteinzeit ähn lich sind. Aber sie scheinen schon Jahrhunderte alt zu sein. Genaueste Nachforschungen haben bisher noch keinen Beweis dafür erbracht, daß die Verferti ger dieser Artefakte überlebt haben.« »Wie genau können Nachforschungen sein in einer Wildnis nahe dem Nordpol, in der es im Winter nicht hell wird und im Sommer stürmt?« fragte sie. »Wir sind vielleicht eine Million Menschen auf dem gan zen Planeten, wovon die Hälfte sich in dieser Stadt zusammendrängt.« »Während die andere Hälfte über diesen einen bewohnbaren Kontinent verstreut ist«, ergänzte er. »Arktika umfaßt fünf Millionen Quadratkilome ter«, gab sie zurück. »Ein Viertel davon nimmt die Polarzone ein. Uns fehlen die industriellen Möglich 18
keiten, um Flugzeuge zu konstruieren, auf die bei den dortigen Witterungsverhältnissen Verlaß ist, oder um Straßen durch die verdammte Wildnis zu bauen, damit wir sie von festen Beobachtungsstationen aus kennenlernen und bezwingen können. Himmel noch mal! Generationen einsamer Siedler haben Geschich ten über den Graumantel berichtet, und erst letztes Jahr ist dieses Monstrum zum erstenmal von einem zuverlässigen Wissenschaftler gesichtet worden.« »Und trotzdem zweifeln Sie noch immer an der Existenz der Wildlinge?« »Könnte es sich nicht auch um eine Gruppe von Menschen handeln, die in ihrer Isolation und Unwis senheit einem Geheimkult huldigen, in der Wildnis hausen und Kinder rauben, um sie –« Sie schluckte und senkte den Kopf. »Aber auf dem Gebiet sind Sie ja der Experte.« »Nach dem, was Sie mir am Visifon berichtet ha ben, hat die Polizei von Portolondon den Bericht Ih res Teams angezweifelt und behauptet, Sie seien alle hysterisch gewesen; Sie hätten nicht genügend Si cherheitsvorkehrungen getroffen, und das Kind habe sich selbständig gemacht und sich in den Wäldern verlaufen.« Seine nüchternen Worte versetzten sie in Zorn. »Wie die Kinder der Siedler? Nein, ich habe nicht nur gejammert. Ich habe mich an die Datenspeiche rung gewandt. Es sind schon so viele solcher Fälle vorgekommen; das können nicht alles Unglücksfälle gewesen sein! Und man kann die Berichte veräng 19
stigter Eltern über das Wiederauftauchen ihrer Kin der doch nicht einfach ignorieren! Als ich mit mei nen Fakten wieder bei der Polizei erschienen bin, hat man mich kurzerhand abgewimmelt. Das hängt be stimmt nicht nur damit zusammen, daß sie dort un terbesetzt sind; Ich glaube, sie haben auch Angst. Die Polizeibeamten kommen meistens vom Lande, und Portolondon liegt nicht weit von der Grenze zum Unbekannten.« Ihre Kraft ließ langsam nach. »Auf Roland gibt es keine zentrale Polizei, an die ich mich wenden könn te«, schloß sie mutlos. »Sie sind meine letzte Hoff nung.« Er paffte ein paar Rauchwölkchen in die Luft. Als sie bereits im Dämmerlicht verschwammen, sagte er mit freundlicherer Stimme: »Bitte, setzen Sie nicht allzuviel Hoffnung auf mich, Mrs. Cullen. Ich bin der einzige Privatdetektiv in dieser Welt und besitze keinerlei Hilfsquellen, und außerdem bin ich ein Neuling.« »Wie lange sind Sie schon hier?« »Zwölf Jahre. Das reicht kaum aus, um mit den re lativ zivilisierten Küstenländern einigermaßen ver traut zu werden. Aber selbst ihr Siedler, die ihr schon seit mehr als einem Jahrhundert hier seid, wißt so gut wie nichts über die inneren Regionen von Arktika.« Sherrinford seufzte. »Ich übernehme den Fall, hauptsächlich aus Interesse. Ich werde Ihnen nur das Notwendigste berechnen. Aber ich stelle die Bedin gung, daß Sie dabei meine Assistentin sind und mich 20
führen, wie hart es Sie auch ankommen mag.« »Aber natürlich! Ich könnte es nicht ertragen, un tätig zu warten. Doch warum gerade ich?« »Jemanden mit der gleichen Befähigung wie Sie anzuheuern, käme auf einem neubesiedelten Plane ten, wo jede Kraft hundertfach gebraucht wird, viel zu teuer. Außerdem haben Sie ein persönliches Mo tiv, und Sie kennen sich ein bißchen aus. Ich, der ich in einer vollkommen fremden Welt aufgewachsen bin, weiß nur allzu gut, welch schwierige Aufgabe uns bevorsteht.« Über Christmas Landing wurde es Nacht. Die Luft blieb mild, doch Nebelschwaden, die sich über die Straßen legten, riefen den Eindruck von Kälte her vor, und noch frostiger wirkte das Polarlicht, das zwischen den Monden pulsierte. In dem immer dunk ler werdenden Raum trat die Frau unwillkürlich nä her an den Mann heran; beide kannten das Gefühl der Verlassenheit auf Roland. Schließlich drückte er auf einen Lichtschalter. Ein Lichtjahr ist nicht sehr viel, gemessen an galakti schen Dimensionen. Wenn man sich vor zweihun dertsiebzig Millionen Jahren, im Permzeitalter, als erst Vorstufen zum Dinosaurier existierten, auf den Weg gemacht hätte und bis zum heutigen Tag, wo Raumschiffe weit größere Entfernungen überwinden, weitermarschiert wäre, dann hätte man ungefähr die se Strecke zurückgelegt. Aber die nächsten Sterne sind etwa neun Lichtjahre entfernt, und nur ein Hun 21
dertstel von ihnen besitzt Planeten, die für Menschen bewohnbar sind. Außerdem ist die Geschwindigkeit der Raumschiffe auf etwas weniger als Lichtge schwindigkeit begrenzt. Selbst die relativistische Zeitdilation im Verein mit Kälteschlaf während der Reise nützt da nicht viel. Sie lassen die Reise für die Teilnehmer zwar relativ kurz erscheinen, aber die geschichtliche Entwicklung auf dem Heimatplaneten geht indessen ungehindert weiter. Deshalb werden Reisen von einem Sonnensystem zum anderen immer selten bleiben. Die Siedler, die sich auf derartige Abenteuer einlassen, haben ganz spezielle Gründe für ihren Entschluß. Sie führen Keimplasma von wertvollen Pflanzen, von Haustie ren und sogar von menschlichen Wesen mit sich, damit sich die Bevölkerung rasch vermehren kann und dem genetischen Tod entgeht. Schließlich kön nen sie sich nicht darauf verlassen, daß weitere Sied ler nachfolgen werden. Zwei- oder dreimal in einem Jahrhundert kommt vielleicht ein Schiff von einer anderen Kolonie zu ihnen. (Allerdings nicht von der Erde. Die Erde ist dann längst in einer weit entfern ten Zone des Weltraums angelangt.) Der Ursprungs planet des Raumschiffs ist eine alte Kolonie. Die neuen sind nicht in der Lage, Raumschiffe zu bauen oder zu bemannen. Ihre Überlebenschancen sind zweifelhaft. Die Gründerväter müssen das Beste aus dem machen, was sie in einer Welt vorfinden, die nicht unbedingt für Menschen geschaffen wurde. 22
Roland, zum Beispiel, ist einer der seltenen Glücksfunde, eine Welt, in der Menschen leben, at men, natürliche Nahrung essen, Wasser trinken und nackt herumlaufen können, wenn es ihnen Spaß macht, ihre Pflanzen anbauen, ihre Tiere züchten, Bergbau betreiben, Häuser bauen und ihre Kinder und Kindeskinder aufziehen können. Dieser Planet ist es wert gewesen, daß Menschen mehr als ein hal bes Lichtjahrhundert durchreisten, um hier auf frem dem Boden neue Wurzeln zu schlagen und die alten Werte zu bewahren. Aber die Sonne Charlemagne gehört zu dem Typ F 9, ist vierzig Prozent heller als Sol, hat eine viel stärkere ultraviolette Ausstrahlung und sendet stän dig einen Strom von elektrisch geladenen Teilchen aus. Die Umlaufbahn des Planeten hat eine auffal lend exzentrische Form. In der Mitte des kurzen, glühend heißen Sommers ist die Sonnenstrahlung von doppelt so hoher Intensität wie auf der Erde, während des langen nordischen Winters von etwas weniger als der durchschnittlichen Intensität auf der Erde. Die Vegetation ist überall auf dem Planeten üppig. Doch die Menschen halten es nur in den höheren Breiten aus und sind ökonomisch noch nicht in der Lage, für mehr als ein paar Wissenschaftler die nöti ge Ausrüstung herzustellen, mit deren Hilfe sich auch in anderen Breiten leben läßt. Die Umlaufbahn des Planeten und seine dazu in einem Winkel von zehn Grad stehende Achse bewirken, daß der nördli 23
che Teil des arktischen Kontinents die Hälfte des Jahres ohne Sonne ist. Der Südpol ist von einem rie sigen Meer umgeben. Es gibt noch andere Unterschiede zur Erde, die auf den ersten Blick vielleicht gewichtiger erscheinen mögen. Roland hat zwei kleine, fast parallel laufende Monde, die starke Gezeiten hervorrufen. Der Planet dreht sich in zweiunddreißig Stunden einmal um sei ne eigene Achse, und das bedeutet für Organismen, die sich seit Millionen Jahren in einem anderen Rhythmus entwickelt haben, eine ständige, fast un merkliche Störung. Die Witterungsverhältnisse sind vollkommen anders als auf der Erde. Der Durchmes ser des Planeten beträgt nicht mehr als 9.500 Kilo meter; seine Schwerkraft beträgt nur das 0,42fache der Schwerkraft der Erde, der Luftdruck in Meeres höhe etwas mehr als eine irdische Atmosphäre. (Die Erde ist ja im Grunde nichts als eine Laune der Na tur, und der Mensch existiert nur, weil durch ein zu fälliges kosmisches Ereignis der größte Teil der At mosphäre um sie herum weggeblasen worden ist, die ein Himmelskörper ihres Umfangs wie etwa die Ve nus sonst normalerweise besitzt.) Der Homo sapiens aber macht seinem Namen am meisten Ehre, wenn er seine besondere Begabung in möglichst unspezifischer Weise einsetzt. Alle Versu che, sich selbst auf ein allgemeingültiges Verhal tensmuster, eine Kultur oder eine Ideologie oder wie immer er es genannt hat, zu fixieren, haben immer wieder zum Scheitern geführt. Doch wenn man ihm 24
die Möglichkeit läßt, sich einfach und praktisch im Leben einzurichten, gelingt ihm dies meist recht gut. Innerhalb gewisser Grenzen ist er sehr anpassungsfä hig. Diese Grenzen sind vorgegeben durch sein Be dürfnis nach Sonnenlicht und die Tatsache, daß er unabdingbar und für alle Zeiten ein Lebewesen ist, das zum Teil durch seine Umwelt und zum Teil durch seinen eigenen Geist bestimmt wird. Die Hafenanlagen von Portolondon mit ihren Kais, Schiffen und Lagerhäusern säumten den Golf von Polaris. Dahinter drängten sich die Behausungen der fünftausend Einwohner: Zementbauten, Windschutz läden, spitze Ziegeldächer. Ihre bunte Bemalung wirkte im Licht der Straßenlampen etwas trübselig; diese Stadt lag schon innerhalb der Polarzone. Sherrinford meinte jedoch: »Nette Gegend, nicht wahr? Auf so etwas hatte ich gehofft, als ich damals nach Roland kam.« Barbro antwortete nicht. Die Tage in Ghristmas Landing, in denen er seine Vorbereitungen getroffen hatte, hatten sie sehr mitgenommen. Sie blickte aus der Kuppel des Taxis, das sie von der Landestelle des Wasserfahrzeugs ms Zentrum brachte: Üppige Wäl der und saftige Wiesen säumten die Straße, in den Gärten blühten Blumen in leuchtenden Farben, und durch die Luft schwirrten Vögel. Im Gegensatz zu der kargen Vegetation in den kalten Zonen der Erde ziehen die arktikanischen Pflanzen aus jeder Stunde 25
Tageslicht Kraft für ihr hektisches Wachstum. Erst wenn die fiebrige Hitze des Sommers dem milden Winter gewichen ist, beginnen sie zu blühen und Früchte zu tragen; dann kommen auch die Tiere her vor, die in ihren Höhlen den Sommerschlaf verbracht haben, und die Zugvögel kehren in ihre Heimat zu rück. Die Aussicht war reizvoll, das mußte sie zugeben: Hinter den Wäldern stieg die Landschaft allmählich zu entfernten Bergkuppen an, die im Mondlicht und den gebrochenen Strahlen der hinter dem Horizont liegenden Sonne silbergrau schimmerten. Eine Landschaft von grausamer, satanischer Schönheit, dachte sie. Die Wildnis hatte ihr Jimmy gestohlen. Ob sie ihr wenigstens seine kleinen Kno chen zurückgeben würde, damit sie sie neben seinem Vater zur Ruhe betten konnte? Sie merkte plötzlich, daß sie schon bei ihrem Ho tel angekommen waren und daß Sherrinford von der Stadt gesprochen hatte. Da Portolondon nach Christmas Landing die zweitgrößte Stadt auf dem Planeten war, hatte er sie sicherlich schon oft be sucht. Auf den Straßen herrschte Lärm und Gedrän ge; Leuchtreklamen blitzten auf, und aus Läden, Re staurants, Sporthallen und Tanzlokalen kam das Ge plärr von Musik; Fahrzeuge konnten sich nur im Schrittempo vorwärtsbewegen; mehrstöckige Ver waltungsgebäude ragten hell erleuchtet gen Himmel. Portolondon war die Verbindung der zivilisierten Welt mit einem riesigen Hinterland. Den Gloria Ri 26
ver herab kamen Flöße mit Holz, Erzen, den Ernten von abgelegenen Höfen, deren Bewohner es langsam lernten, den Boden nutzbar zu machen, kamen Fleisch, Elfenbein und Felle, die von Rangern in den Bergen jenseits von Troll Scarp gesammelt wurden. Vom Meer liefen Küstenfrachter, Fischereiboote und große Schiffe ein, die Erzeugnisse der Sunward Is lands und Schätze aus südlichen Kontinenten, in die einige abenteuerlustige Männer vorgedrungen waren, nach Portolondon brachten. In Portolondon wurde gelärmt, gelacht, geschimpft, geprahlt, gestohlen, gepredigt, gefressen, gesoffen, geschuftet, begehrt, aufgebaut und zerstört, gestorben und geboren, und die Menschen waren glücklich, zornig, traurig, gie rig, liebevoll, ehrgeizig, menschlich. Weder die Glut der Sonne im Süden noch die die Hälfte des Jahres andauernde Dämmerung hier – bei völliger Nacht um die Wintermitte – konnten den Fortschritt der Men schen aufhalten. Das behaupteten jedenfalls alle. Alle – außer denen, die sich als Siedler in der Wildnis niedergelassen hatten. Barbro hatte bisher geglaubt, daß sie in ihrer Abgeschiedenheit notge drungen seltsame Gebräuche, Legenden und aber gläubische Furcht entwickelt hätten, was alles von selbst in Vergessenheit geraten würde, sobald die Wildnis erforscht und gezähmt war. In letzter Zeit hatte sie daran zu zweifeln begonnen. Schuld daran waren möglicherweise Sherrinfords Andeutungen über seine früheren Forschungen, die ihn selbst zu 27
einer anderen Auffassung gebracht hatten. Aber vielleicht brauchte sie auch nur etwas, wo rüber sie nachdenken konnte, um sich nicht ständig in Gedanken damit zu beschäftigen, wie Jimmy am Tag vor seinem Verschwinden auf die Frage, ob er lieber Hafer- oder Weizenbrot essen wolle, mit aller Ernsthaftigkeit geantwortet hatte: »Ich möchte eine Schnitte Weißrot.« (Er hatte gerade begonnen, Inter esse für das Alphabet zu zeigen.) Gänzlich abwesend stieg sie aus dem Taxi, trug sich im Hotel ein und ließ sich zu einem primitiv möblierten Zimmer führen. Erst nachdem sie ihre Sachen ausgepackt hatte, fiel ihr ein, daß Sherrinford sie um eine vertrauliche Unterredung gebeten hatte. Sie ging den Gang hinunter und klopfte an seine Tür. Das Pochen ihres Herzens erschien ihr lauter als das Anklopfen. Er öffnete die Tür, legte den Finger auf die Lippen und wies sie in eine Ecke. Sie wollte gerade ihre Ent rüstung über dieses Benehmen äußern, als sie auf dem Bildschirm des Visifons Polizeichef Dawson gewahr wurde. Sherrinford mußte den Ton abge schaltet und sie mit Absicht außerhalb von Dawsons Blickfeld geführt haben. Sie setzte sich auf einen Stuhl und sah zu, wobei sie nervös mit ihren Fingern spielte. Der hagere, lange Privatdetektiv kauerte sich wie der in seinem Sessel zusammen. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung«, sagte er. »Ein Mann hatte sich in der Tür geirrt. Er hatte anscheinend ein bißchen 28
viel getrunken.« Dawson kicherte in sich hinein. »Davon gibt's hier 'ne ganze Menge.« Barbro erinnerte sich wieder dar an, wie geschwätzig der Polizeichef gewesen war. Er zupfte an seinem Bart, mit dem er den Anschein er wecken wollte, ein Siedler zu sein, und kein Städter. »Sie sind meistens ganz harmlos. Sie haben nur eini ges abzureagieren, nachdem sie sich wochen-oder monatelang in der Wildnis aufgehalten haben.« »Wie ich hörte, soll diese Umgebung manchmal schlimme Auswirkungen auf die Persönlichkeit ha ben – wahrscheinlich weil sie so völlig verschieden ist von der, in der sich die Menschheit entwickelt hat.« Er stopfte seine Pfeife. »Wie Ihnen sicher be kannt ist, war meine Praxis bisher auf städtisches Gebiet beschränkt. Auf abgelegenen Höfen benötigt man selten einen Privatdetektiv. Aber anscheinend hat sich das jetzt geändert. Ich habe Sie angerufen, um Ihren Rat einzuholen.« »Ich will Ihnen gern helfen«, sagte Dawson. »Ich habe nicht vergessen, was Sie im Tahoe-Mordfall für uns getan haben. Aber erklären Sie mir doch erst einmal Ihr Problem«, fügte er vorsichtig hinzu. Sherrinford zündete seine Pfeife an. Rauchwolken vertrieben den Duft nach Grün, der selbst hier, kilo meterweit von den nächsten Wäldern entfernt, über den Straßenverkehr weg durch das Fenster herein wehte. »Es handelt sich bei meinem jetzigen Auftrag nicht um die Aufspürung eines flüchtigen Schuldners oder Industriespions, sondern um eine Art wissen 29
schaftliche Forschungsreise«, erklärte Sherrinford. »Ich sehe zwei Möglichkeiten: Entweder gibt es eine kriminelle oder religiöse oder wie immer geartete Organisation, die schon seit langem zu irgendeinem Zweck Kinder raubt, oder die Wildlinge, von denen man sich erzählt, existieren wirklich.« »Hm?« Barbro bemerkte, daß Dawson ebenso be stürzt wie überrascht dreinblickte. »Das meinen Sie doch nicht im Ernst!« »Warum nicht?« Sherrinford lächelte. »Gerüchte, die seit Generationen nicht verstummen, sollte man nicht einfach als Märchen abtun. Vor allem wenn sie immer häufiger werden. Und die verbürgte Tatsache, daß im Laufe der Zeit über hundert Kleinkinder spur los verschwunden sind, dürfen wir erst recht nicht außer acht lassen. Ebensowenig wie die archäologi schen Funde, die beweisen, daß Arktika einstmals von einer intelligenzbegabten Rasse bewohnt war, deren Nachkommen im Innern des Landes überlebt haben könnten.« Dawson beugte sich vor, so als wolle er im näch sten Moment aus dem Bildschirm steigen. »Wer hat Sie beauftragt?« fragte er. »Etwa diese Cullen? Sie kann einem ja leid tun, natürlich, aber ihre Geschich te war der reinste Unsinn, und als sie uns dann auch noch beschimpfte –« »Aber haben ihre Begleiter, die doch alle namhafte Wissenschaftler sind, ihre Geschichte nicht bestä tigt?« »Da gibt es nichts zu bestätigen. Sie hatten das 30
Lager mit Alarmanlagen abgesichert und führten au ßerdem Wachhunde mit sich – das sind die üblichen Schutzmaßnahmen in einem Land, in welchem je derzeit hungrige Saurier auftauchen können. Nichts und niemand konnte in das Lager eindringen, ohne daß Alarm ausgelöst worden wäre.« »Ja, auf dem normalen Weg. Aber durch die Luft?« »Wenn ein Mann mit einem Hubschrauber im La ger gelandet wäre, hätte der Lärm alle aufgeweckt.« »Ein geflügeltes Lebewesen würde nicht soviel Lärm machen.« »Ein geflügeltes Lebewesen, das einen dreijähri gen Jungen davontragen kann, gibt es nicht.« »Sie meinen, es ist in der wissenschaftlichen Lite ratur nicht aufgeführt. Aber denken Sie einmal an die Entdeckung des Graumantels; denken Sie daran, wie wenig wir bis jetzt über den Planeten Roland wissen. Auf Beowulf gibt es zum Beispiel derartige Flugwe sen – und wie ich gelesen habe, auf Rustum eben falls. Ich habe das Verhältnis von Luftdichte und Schwerkraft auf diesem Planeten berechnet und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß es gerade noch möglich wäre. Ein solches Geschöpf hätte das Kind ein kurzes Stück davontragen können, bevor seine Flügel erlahmt wären und es auf dem Boden hätte aufsetzen müssen.« Dawson schnaubte verächtlich. »Zuerst landete es im Lager und spazierte in das Zelt, in dem Mutter und Sohn schliefen. Dann trug es das Kind durch die 31
Luft davon, und als es nicht mehr fliegen konnte, schleppte es das Kind auf dem Boden mit sich fort. Würde sich so ein Raubvogel verhalten? Und das Kind hat weder geschrien, noch haben die Hunde angeschlagen.« »Diese Unstimmigkeiten sind ja gerade das Inter essante an dem Bericht«, meinte Sherrinford. »Ich gebe Ihnen vollkommen recht, es ist kaum möglich, daß ein Mensch unbemerkt in das Lager hätte ein dringen können, und ein Raubvogel hätte sich anders verhalten. Aber für ein intelligenzbegabtes Flugwe sen würden diese Einwände nicht zutreffen. Der Jun ge könnte betäubt worden sein. Die Hunde waren es allem Anschein nach jedenfalls.« »Die Hunde haben allem Anschein nach einfach geschlafen. Nichts hat sie aufgeschreckt. Das Kind, das sie kannten, konnte unbemerkt an ihnen vorbei laufen. Wir brauchen gar nichts weiter anzunehmen, als daß das Kind unruhig geworden ist und daß die Alarmanlagen ein wenig nachlässig aufgebaut waren – aus dem Lager selbst brauchte man ja keine Gefahr zu befürchten. Der kleine Kerl ist hinausgelaufen, und wir müssen, so leid es mir tut, wohl damit rech nen, daß er verhungert oder von wilden Tieren getö tet worden ist.« Dawson wartete einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Wenn wir mehr Leute zur Verfügung gehabt hätten, dann hätten wir uns mit der Angelegenheit sicherlich noch länger befaßt. Wir haben eine für die Piloten äußerst gefährliche Flugzeugsuche durchge 32
führt. Unsere Thermaldetektoren hätten das Kind im Umkreis von fünfzig Kilometern aufspüren müssen, wenn es noch am Leben gewesen wäre. Die Suchak tion verlief vollkommen ergebnislos. Wir haben wichtigere Dinge zu tun, als nach den Überresten einer Kinderleiche zu suchen.« Er schloß mit den brüsken Worten: »Wenn Mrs. Cullen Sie beauftragt hat, kann ich Ihnen nur raten, sich so rasch wie möglich unter irgendeinem Vor wand aus der Affäre zu ziehen. Das wäre auch für Mrs. Cullen das Beste. Sie muß sich mit den Tatsa chen abfinden.« Barbro biß sich auf die Zunge, um einen Aufschrei zu unterdrücken. »Dies ist nur der letzte einer ganzen Reihe von Fällen, in denen Kinder verschwunden sind«, be merkte Sherrinford. Barbro begriff nicht, wie er die Ruhe bewahren konnte, wo Jimmy doch verloren war. »Dieser Fall ist viel besser belegt als alle voran gegangenen und läßt deshalb auch mehr Schlüsse zu. Die Siedlerfamilien haben jedesmal, wenn ein Kind verschwunden war, behauptet, daß es von den Wild lingen geraubt worden sein müsse. Genauere Anga ben konnten sie meistens nicht machen. Jahre später kamen sie dann vielleicht noch einmal wieder und beschworen, sie hatten das Kind, das inzwischen er wachsen war und mehr einem übernatürlichen Wesen als einem Menschen glich, wiedergesehen, wie es durch ein Fenster geblickt habe, in der Dunkelheit an ihnen vorbeigehuscht sei oder ihnen irgendeinen 33
Streich gespielt habe. Wie Sie ganz richtig sagten, haben weder die Behörden noch die Wissenschaftler genügend Personal und Mittel zur Verfügung, um eine gründliche Untersuchung durchzuführen. Aber meiner Meinung nach verdient es die Angelegenheit, untersucht zu werden. Vielleicht kann ich als Privat mann da etwas ausrichten.« »Hören Sie, die meisten von uns Polizisten sind auf dem Land aufgewachsen. Sie machen dort nicht nur Patrouillenritte, sondern kehren auch zu Famili enfesten oder im Urlaub dorthin zurück. Wenn es wirklich eine Bande gäbe, die … die Menschen op fert, dann wüßten wir es.« »Das will ich Ihnen gern glauben. Aber ich weiß auch, daß dort, wo Sie herkommen, der Glaube an Wesen mit übernatürlichen Kräften weit verbreitet ist. Bei vielen Familien ist es sogar Brauch, diese Wesen durch rituelle Handlungen und Opfergaben gnädig zu stimmen.« »Ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen«, sagte Dawson spöttisch. »Ich habe es schon mehr als hun dertmal von Sensationsmachern gehört: Die Wildlin ge sind die Nachkommen der Urbevölkerung. Das hätte ich eigentlich nicht von Ihnen erwartet. Sie wa ren doch bestimmt schon mal im Museum, und Sie haben sicher auch schon Literatur über Planeten ge lesen, auf denen es tatsächlich Ureinwohner gibt – ja verdammt noch mal, können Sie denn Ihren Verstand nicht gebrauchen?« Er hob seinen Zeigefinger. »Überlegen Sie mal«, 34
fuhr er fort. »Was haben wir denn eigentlich gefun den? Ein paar bearbeitete Steine; einige Megalithen; ein paar in Felswände eingeritzte Zeichnungen, die Pflanzen oder Tiere darstellen könnten, aber gänzlich anders, als sie in irgendeiner menschlichen Kultur dargestellt worden wären; Spuren von Feuerstellen und Teile von Knochen; Knochenfunde von Schä deln und Fingern, die darauf hindeuten könnten, daß ihre einstmaligen Besitzer einer intelligenzbegabten Rasse angehört haben. Aber mit Menschen hatten sie nicht die entfernteste Ähnlichkeit, und schon gar nicht mit Engeln. Ganz und gar nicht! Die Rekon struktionen zeigen eine Art von zweibeinigem Kro kagator. Warten Sie, lassen Sie mich ausreden. Diese Ge schichten über die Wildlinge – oh, ich kenne sie alle. Als Kind habe ich daran geglaubt. In diesen Ge schichten wird behauptet, daß es Wesen von ver schiedenster Art sind: Einige von ihnen sind geflü gelt, andere nicht, einige sehen menschenähnlich aus, andere vollkommen menschlich, nur daß sie viel leicht ein bißchen zu schön sind – alles genau wie im Feenland vormals auf der Erde, finden Sie nicht? Ich habe mich mal für diese Dinge interessiert und in den Mikroaufzeichnungen der Bibliothek für Erbgut her umgestöbert. Und wissen Sie was? Fast genau die gleichen Geschichten sind Jahrhunderte vor dem Raumzeitalter unter der Landbevölkerung der Erde erzählt worden. Das alles läßt sich schlecht in Einklang bringen 35
mit den spärlichen Funden, falls sie überhaupt echt sind, oder mit der Tatsache, daß ein Bereich von der Größe Arktikas nie und nimmer ein Dutzend ver schiedene intelligenzbegabte Lebewesen hervorbrin gen könnte, oder … ja, zum Teufel, Mann, der ge sunde Menschenverstand sagt einem doch einfach, daß eine Urbevölkerung sich bei der Ankunft von Menschen anders verhalten hätte!« Sherrinford nickte. »Ja, ja«, sagte er beschwichti gend. »Ich bin nur nicht ganz so überzeugt davon wie Sie, daß der gesunde Menschenverstand von nicht menschlichen Wesen genauso funktioniert wie der unsere. Und selbst da habe ich schon allzu viele Ab weichungen erlebt. Aber zugegeben, Ihre Einwände sind gewichtig. Und die wenigen Wissenschaftler auf Roland haben bestimmt Dringlicheres zu tun, als den Ursprüngen eines, wie Sie meinen, wieder aufgeleb ten mittelalterlichen Aberglaubens nachzuspüren.« Er umschloß den Kopf seiner Pfeife mit beiden Händen und blickte in die Glut. »Was mich vielleicht am meisten interessiert«, sagte er leise, »ist die Fra ge, weshalb über eine Zeitlücke von Jahrhunderten hinweg, die das Maschinenzeitalter und damit eine völlig veränderte Weltsicht gebracht haben und in denen alle Tradition abgerissen war – weshalb unter nüchtern denkenden, technisch organisierten und aufgeklärten Siedlern der längst in Vergessenheit ge sunkene Glaube an übermenschliche Wesen wieder aufgetaucht ist.« »Wenn in der Universität tatsächlich die psycho 36
logische Abteilung eingerichtet wird, von der ständig die Rede ist, dann wird vielleicht eines Tages jemand über Ihre Frage eine Doktorarbeit schreiben«, sagte Dawson mit rauher Stimme. Er schluckte, als Sher rinford erwiderte: »Ich möchte gleich mit der Untersuchung begin nen, und zwar im Commissioner-Haunch-Land, weil der letzte Fall sich dort ereignet hat. Wo kann ich ein Fahrzeug mieten?« »Oh, das dürfte sehr schwierig sein!« »Ach, machen Sie mir doch nichts vor. Ich bin hier zwar noch ein Neuling, aber einigermaßen weiß ich trotzdem Bescheid. In einer Mangelwirtschaft, wie sie hier vorliegt, besitzen nur wenige schwere Fahrzeuge. Aber wenn dringend eins gebraucht wird, läßt es sich immer mieten. Ich benötige ein Luftkis senfahrzeug, das für jedes Terrain geeignet ist. Ich möchte ein paar Ausrüstungsgegenstände einbauen lassen, die ich mitgebracht habe, und das Verdeck soll durch einen Geschützturm ersetzt werden, der vom Fahrersitz aus kontrolliert werden kann. Für die Waffen sorge ich selbst. Ich habe ein paar Gewehre und Pistolen, und außerdem stellt mir das Polizeide partment von Christmas Landing einige Geschütze zur Verfügung.« »Sie haben also tatsächlich vor, Krieg zu führen gegen … gegen einen Mythos?« »Drücken wir es mal so aus: Ich beuge mit Sicher heitsmaßnahmen, die nicht allzu kostspielig sind, ge gen den Eintritt einer vagen Möglichkeit vor. Könn 37
ten Sie mir außer dem Bus noch ein kleines Flugzeug beschaffen, mit dem ich Erkundungsflüge machen kann?« »Nein.« Dawsons Stimme hatte jetzt einen ent schiedenen Klang. »Das ist zu gefährlich. Wir kön nen Sie mit einem großen Flugzeug zu einem Stand quartier fliegen lassen, wenn die Wettervorhersage günstig ist. Aber der Pilot muß sofort zurückkehren, bevor das Wetter wieder umschlagen kann. Die Me teorologie ist auf Roland noch ziemlich unterentwic kelt; um diese Jahreszeit ist das Wetter außerdem besonders wechselhaft, und es ist uns noch nicht ge lungen, Flugzeuge zu entwickeln, die gegen alle Launen der Natur gefeit sind.« Er holte tief Luft. »Wissen Sie denn nicht, mit welcher Geschwindig keit ein Wirbelsturm daherkommen kann oder wie groß die Hagelkörner sind, die plötzlich aus heiterem Himmel herunterprasseln können, oder – wenn Sie einmal dort sind, bleiben Sie besser am Boden, Mann.« Er zögerte. »Das ist auch einer der Gründe, weshalb wir erst so wenige Informationen über die Wildnis besitzen und weshalb die Siedler dort so ab geschnitten sind.« Sherrinford stieß ein klägliches Lachen aus. »Wenn ich genaue Beobachtungen machen will, wird mir wahrscheinlich sowieso nichts anderes übrig bleiben, als mühsam voranzukriechen.« »Sie werden eine Menge Zeit vergeuden«, sagte Dawson. »Ganz zu schweigen von dem Geld Ihrer Klientin. Hören Sie, ich kann Ihnen zwar nicht verbie 38
ten, sich auf diese unsinnige Suche zu begeben, aber –« Sie diskutierten fast eine Stunde lang miteinander. Als der Bildschirm schließlich dunkel wurde, stand Sherrinford auf, streckte sich und ging zu Barbro hinüber. Ihr fiel von neuem sein seltsamer Gang auf. Von einem Planeten, dessen Schwerkraft um ein Viertel größer war als auf der Erde, war er hierher gekommen, wo die Schwerkraft und damit auch das Körpergewicht gemessen an der irdischen Norm we niger als die Hälfte betrugen. Sie fragte sich, ob er wohl manchmal Schwebeträume hatte. »Es tut mir leid, daß ich Sie so abgeschoben ha be«, sagte er. »Ich hatte nicht erwartet, Dawson so bald zu erreichen. Er sagte, er sei sehr beschäftigt. Und als wir plötzlich Verbindung miteinander hatten, wollte ich ihn nicht mehr als nötig an Sie erinnern. Er kann mein Vorhaben als sinnlose Phantasterei ab tun, die ich wahrscheinlich bald aufgeben werde. Aber wenn er Sie gesehen und gemerkt hätte, wie entschlossen wir sind, dann hätte er sich vielleicht ganz ablehnend verhalten und uns womöglich Schwierigkeiten gemacht.« »Aus welchem Grund eigentlich?« fragte sie voll Bitterkeit. »Angst vor den Folgen, die um so schlimmer ist, weil er sie sich nicht eingesteht und weil er sich vor etwas fürchtet, dem er keinen Namen geben kann.« Sherrinfords Blick wanderte zum Bildschirm und dann zum Fenster hinaus zum Himmel, wo das Po larlicht hoch oben bläulichweiß pulsierte. »Sie haben 39
sicher bemerkt, daß er sich ängstigt. Nach außen hin gibt er sich konventionell aufgeklärt und verächtlich, aber im Grunde seines Herzens glaubt er an die Wildlinge – o ja, er glaubt an sie.« Nebelhirt sprang leichtfüßig über Yerbahalme und war schneller als das vom Wind getragene Treib kraut. Neben ihm trottete schwarz und ungestalt der Nikor Nagrim, unter dessen schweren Schritten schwadenweise zertretene Pflanzen zurückblieben. Dahinter schwebte über den flammenden Blüten ei nes Feuerdornbusches die verfließende Gestalt des Geistes Morgarel. Vor ihnen erstreckte sich Cloudmoor mit seinen Hügeln und Dickichten. Ringsum herrschte Stille; nur hin und wieder drang von ferne gedämpft das Heulen eines wilden Tieres herüber. Es war dunkler als sonst zur Zeit der Wintergeburt, die Monde waren noch nicht aufgegangen, und vom Nordlicht war nicht mehr zu sehen als ein blasses Flackern über den Berggipfeln der nördlichen Weltecke. Umso deutli cher traten dafür die Sterne hervor, deren Scharen den Himmel bedeckten. Und dazwischen zog sich wie mit Tau gepflastert die Straße der Geister ent lang. »Da drüben!« bellte Nagrim und wies mit allen vier Armen die Richtung. Sie hatten einen Hügel er klommen. In der Ferne schimmerte ein Licht. »Ho ho! Sollen wir sie zerstampfen oder langsam Stück für Stück auseinanderreißen?« 40
Wir werden nichts dergleichen tun. Morgarels Antwort glitt durch ihre Köpfe. Es sei denn, sie grei fen uns an, und das werden sie nicht tun, wenn sie uns nicht bemerken. Und sie hat befohlen, daß wir zuerst einmal ihre Absichten auskundschaften sollen. »G-r-r-u-m-m. Ich kenne ihre Absichten. Bäume fällen, das Land umpflügen und ihren verfluchten Samen in den Boden und in ihre Weiber streuen. Wenn wir sie nicht bald ins Bitterwasser treiben, werden sie zu stark für uns werden.« »Aber doch nicht zu stark für die Königin«, wand te Nebelhirt erschrocken ein. Jedenfalls scheinen sie neue Kräfte zu besitzen, meinte Morgarel, die wir mit aller Sorgfalt prüfen müssen. »Und dann können wir sie mit aller Sorgfalt zer treten?« wollte Nagrim wissen. Diese Frage entlockte Nebelhirt trotz seiner Unru he ein Lächeln. Er klopfte Nagrim auf den schuppi gen Rücken. »Red' nicht soviel«, sagte er. »Das tut meinen Ohren weh. Und denk auch nicht soviel; das schadet deinem Kopf. Komm, laß uns laufen.« Aber vorsichtig, mahnte Morgarel. Du hast zuviel Leben in dir, Menschenkind. Nebelhirt schnitt eine Grimasse, aber er gehorchte dem Geist und lief langsamer, wobei er Deckung suchte, wenn sich eine Gelegenheit bot. Denn er war im Auftrag der Lieblichen unterwegs, um herauszu finden, was die beiden Sterblichen hierher geführt hatte. 41
Suchten sie nach dem Jungen, den Ayoch geraubt hatte? (Er hatte zuerst noch ständig nach seiner Mut ter gerufen, aber nach und nach schien er sie über den Wundern Carheddins zu vergessen.) Vielleicht. Eine Flugmaschine hatte sie und ihr Fahrzeug bei dem verlassenen Lager abgesetzt, das sie in immer größer werdenden Spiralen umkreist hatten. Doch als sie in weitem Umkreis keine Spur von dem Jungen hatten finden können, hatten sie sich nicht gleich wieder zurückfliegen lassen. Und das nicht, weil das Wetter, wie es öfter geschah, die Wellen ihrer Weit sprechgeräte nicht durchreisen ließ. Nein, das Paar war stattdessen aufgebrochen zu den Bergen von Moonhorn. Auf ihrer Fahrt würden sie an einigen abgelegenen Wohnstätten von Eindringlingen vor beikommen und dann in Bereiche gelangen, in die noch nie ein Wesen ihrer Rasse seinen Fuß gesetzt hatte. Es war also keine gewöhnliche Suche. Aber was war es dann? Nebelhirt begriff nun, weshalb sie, die Herrin, ihre sterblichen Adoptivkinder dazu angehalten hatte, die umständliche Sprache ihrer Erzeuger beizubehalten oder neu zu lernen. Er hatte diesen ungewohnten Drill gehaßt. Aber natürlich gehorchte man ihr, und nach einiger Zeit sah man dann ein, wie weise sie gewesen war … Jetzt ließ er Nagrim hinter einem Felsblock zurück – der Nikor würde nur in einem Kampf von Nutzen sein – und kroch von Busch zu Busch naher an das 42
Lager heran, bis er nur noch um Manneslängen von den Menschen entfernt war. Eine Regenpflanze streifte mit ihren weichen Blättern seinen nackten Leib und hüllte ihn in Dunkelheit. Morgarel hatte sich auf die Krone eines Zitterblattbaums gesetzt, wo seine zarte Gestalt kaum von dem ständig bewegten Laub zu unterscheiden war. Er würde ebenfalls keine große Hilfe sein. Und das war das Beunruhigende, ja Erschreckende an der Sache hier. Geister wie Morga rel gehörten zu den Wesen, die nicht nur Gedanken senden und empfangen, sondern auch Illusionen er zeugen konnten. Doch Morgarel hatte mitgeteilt, daß seine Kraft diesmal an einer unsichtbaren, kalten Mauer abprallte, die sich um das Fahrzeug herum zog. Sonst hatte das Paar weder Wachmaschinen noch Hunde bei sich. Vielleicht glaubten sie, daß so etwas nicht nötig war, denn sie schliefen in dem langen Fahrzeug, mit dem sie hergekommen waren. Aber eine solche Geringschätzung der Macht der Königin durfte nicht geduldet werden, oder? Im Schein des Lagerfeuers glänzte Metall. Sie sa ßen sich gegenüber und schützten sich mit Mänteln gegen die Kälte, die der unbekleidete Nebelhirt kaum spürte. Der Mann sog Rauch ein. Die Frau starrte an ihm vorbei in die Dämmerung, die ihren lichtgeblen deten Augen als undurchdringliche Schwärze er scheinen mußte. Der Flammentanz machte sie deut lich sichtbar. Ja, nach Ayochs Bericht zu urteilen, war sie die Mutter des neuerworbenen Kindes. 43
Ayoch hatte auch mitkommen wollen, aber die Wunderbare hatte es verboten. Ein Puck konnte sich für solch eine Aufgabe nicht lange genug stillhalten. Der Mann sog an seiner Pfeife. Seine Wangen wirkten eingefallen. Das Licht fiel auf seine Brauen und seine Nase und machte ihn auf beunruhigende Weise einem Scherenschnabel ähnlich, der sich jeden Augenblick auf seine Beute stürzen konnte. »- nein, Barbro, wie oft soll ich es denn noch wie derholen, ich habe keine Theorie«, sagte er. »Wenn die Fakten nicht ausreichend sind, ist es lächerlich, wenn nicht gar gefährlich, Theorien aufzustellen.« »Aber Sie müssen doch eine gewisse Vorstellung haben von dem, was Sie tun«, sagte sie. Es war of fensichtlich, daß sie über dieses Thema schon öfter gesprochen hatten. Keiner von den Ansässigen konn te so hartnäckig fragen wie sie oder so geduldig blei ben wie er. »Die ganze Ausrüstung – dieser Genera tor zum Beispiel, der ständig läuft –« »Ich habe ein oder zwei Arbeitshypothesen, auf grund deren ich die Ausrüstung zusammengestellt habe.« »Warum sagen Sie mir dann nicht, wie diese Hypothesen aussehen?« »Weil es aus ihnen selbst heraus im Augenblick nicht angezeigt erscheint. Ich taste mich noch durch das Labyrinth und hatte bisher keine Gelegenheit, meine Hypothesen auf festen Grund zu stellen. Wir sind eigentlich auch nur gegen sogenannte telepathi sche Einflüsse geschützt –« 44
»Was?« Sie zuckte zusammen. »Meinen Sie … diese Geschichten darüber, daß sie auch Gedanken lesen können –« Sie verstummte und blickte über seine Schulter in die Dunkelheit. Er beugte sich vor. Seine Stimme verlor ihre Nüchternheit und wurde ernst und weich. »Barbro, hören Sie auf, sich so zu quälen. Das nützt Jimmy nichts, wenn er noch am Leben ist, im Gegenteil, wir werden Ihre Kraft später vielleicht sehr nötig brau chen. Wir haben noch eine lange Fahrt vor uns. Bes ser, Sie finden sich darein.« Sie nickte heftig, biß sich auf die Unterlippe und antwortete: »Ich werd's versuchen.« Er lächelte hinter seiner Pfeife. »Es wird Ihnen si cher gelingen. Sie kommen mir nicht so vor wie je mand, der leicht aufgibt oder sich in seinem Leiden gefällt.« Sie legte ihre Hand auf die Pistole an ihrem Gür tel. Ihre Stimme klang verändert und schneidend, als sie sagte: »Wenn wir auf sie stoßen, werden sie er fahren, wer ich bin. Was Menschen sind.« »Sie müssen auch Ihren Zorn vergessen«, sagte der Mann. »Wir können uns keine Gefühle leisten. Wenn die Wildlinge tatsächlich existieren, wie ich vorerst einmal annehme, dann kämpfen sie um ihre Heimat.« Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Ich denke mir, wenn bei den ersten Erkundungen lebende Bewohner entdeckt worden wären, dann hät ten die Menschen Roland vielleicht gar nicht besie delt. Aber jetzt ist es zu spät. Wir können nicht mehr 45
zurück, auch wenn wir es wollten. Wir müssen bis zum bitteren Ende gegen Feinde kämpfen, die so li stig und verschlagen sind, daß sie uns noch nicht ein mal haben merken lassen, daß sie gegen uns Krieg führen.« »Sind sie das wirklich? Ich meine, wenn sie sich in der Wildnis verstekken und hin und wieder ein Kind rauben –« »Das ist ein Teil meiner Hypothese. Ich nehme an, daß das mehr sind als bloße Störaktionen, nämlich taktische Maßnahmen im Dienst einer ausgeklügel ten Strategie.« Das Feuer zischte und sprühte Funken. Der Mann zog eine Weile gedankenvoll an seiner Pfeife und fuhr dann fort: »Ich wollte Sie nicht unnötig aufregen und unbe gründete Hoffnungen in Ihnen erwecken, während Sie auf mich warten mußten, zuerst in Christmas Landing und dann in Portolondon. Danach waren wir ganz damit beschäftigt, uns davon zu überzeugen, daß Jimmy weiter vom Lager fortgeschleppt worden ist, als er auf seinen eigenen Beinen hätte laufen können. Deshalb teile ich Ihnen erst jetzt mit, wie gründlich ich mich mit allem erreichbaren Material über … über das Wundersame Volk beschäftigt habe. Ich tat es zuerst, um jede vorstellbare Möglichkeit, wie absurd sie auch sein mochte, auszuschließen. Als Ergebnis erwartete ich eine endgültige Widerlegung. Aber ich ging alles durch – Funde, Analysen, ge schichtliche Darstellungen, journalistische Berichte, 46
Monographien; ich sprach mit Siedlern, die sich zu fällig in der Stadt aufhielten, und mit allen Wissen schaftlern, die sich mit diesem Gebiet beschäftigt haben. Ich eigne mir ziemlich rasch Kenntnisse an. Und ich schmeichle mir, über diese Dinge jetzt eben sogut Bescheid zu wissen wie jeder Experte- obwohl es hier, weiß Gott, wenig genug zu wissen gibt. Au ßerdem habe ich, der ich auf Roland noch relativ fremd bin, das Problem wahrscheinlich mit etwas unvoreingenommeneren Augen betrachtet. Und da haben sich für mich Zusammenhänge ergeben. Wenn die Urbevölkerung tatsächlich ausgestorben ist, warum sind dann nicht mehr Spuren gefunden worden? Arktika ist nicht allzu groß und für rolandi sche Lebewesen sehr fruchtbar. Es hätte eine Urbe völkerung hervorbringen müssen, deren Handwerks zeug sich über Jahrtausende angesammelt haben müßte. Wie ich gelesen habe, sind auf der Erde Zehntausende von Äxten aus der Altsteinzeit gefun den worden, und zwar weniger bei archäologischen Ausgrabungen als durch Zufall. Nun gut. Nehmen wir einmal an, daß in der Zeit zwischen der Abfahrt des letzten Forscherteams und der Ankunft der ersten Kolonisationsschiffe alle Ge räte und Versteinerungen absichtlich beiseite ge schafft worden sind. Ich habe für diese Hypothese einige Anhaltspunkte in den Tagebüchern der For scher entdeckt. Sie waren zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Bewohnbarkeit des Planeten zu über prüfen, als daß sie Zeit gehabt hätten, über die urzeit 47
lichen Funde genaue Aufzeichnungen zu machen. Aber Nebenbemerkungen lassen darauf schließen, daß sie viel mehr gesehen haben als spätere An kömmlinge. Das aber würde bedeuten, daß das, was wir gefunden haben, nur das ist, was die Beseitiger der Spuren übersehen haben oder an das sie nicht herangekommen sind. Das würde auf eine geschulte Intelligenz hinwei sen, die in großen Zeiträumen zu denken vermag, nicht wahr? Und schließlich auch darauf, daß diese Ureinwohner mehr waren als steinzeitliche Jäger und Ackerbauern.« »Aber keiner hat jemals Gebäude oder Maschinen oder etwas Derartiges gesehen«, wandte Barbro ein. »Nein. Wahrscheinlich haben sie nicht die gleiche metallurgisch-industrielle Entwicklung durchge macht wie wir. Ich könnte mir andere Möglichkeiten vorstellen. Ihre Zivilisation hat vielleicht mit Natur wissenschaft und Technik begonnen, statt damit zu enden. Sie könnten Kräfte des Nervensystems wei terentwickelt haben, die bei ihrer Gattung stärker ausgebildet waren als bei uns. Sie wissen ja, daß wir diese Fähigkeiten in einem gewissen Maß auch be sitzen. Ein Rutengänger spürt zum Beispiel feinste Veränderungen in einem magnetischen Kraftfeld, die durch eine unterirdische Wasserader hervorgerufen werden. Doch diese Fähigkeiten treten bei uns Men schen zu selten auf und sind nicht sehr zuverlässig. Wir haben deshalb andere Möglichkeiten entwickelt. Wer braucht noch telepathische Fähigkeiten, wenn es 48
das Visifon gibt? Bei dem Wundersamen Volk war es vielleicht gerade umgekehrt. Sie haben mögli cherweise Geräte, die für uns Menschen nicht zu er kennen waren oder sind.« »Aber sie hätten sich den Menschen doch zeigen können«, sagte Barbro. »Warum haben sie das nicht getan?« »Ich könnte mir eine Menge von Gründen vorstel len. Vielleicht hatten sie schlechte Erfahrungen mit früheren Besuchern von anderen Planeten gemacht. Wir sind kaum die einzigen Lebewesen, die Raum schiffe entwickelt haben. Aber wie gesagt, ich mag nicht theoretisieren, ohne irgendwelche Beweise in der Hand zu haben. Lassen wir es dabei bewenden, daß das Wundersame Volk, wenn es tatsächlich exi stiert, anders ist als wir.« »Für einen exakten Logiker sind das ziemlich ge wagte Gedankengänge.« »Ich sagte doch, daß das Ganze nur eine vorläufi ge Hypothese ist.« Er blinzelte durch den Rauch des Lagerfeuers zu ihr hinüber. »Barbro, Sie sind zu mir gekommen und haben entgegen der offiziellen Mei nung darauf bestanden, daß Ihr Junge entführt wor den sei, aber Ihre Vorstellung von Kindesentführun gen zu kultischen Zwecken war lächerlich. Weshalb sträuben Sie sich so dagegen, die Existenz von nichtmenschlichen Wesen anzunehmen?« »Obwohl das wahrscheinlich die einzige Chance ist, daß Jimmy noch lebt. Ich weiß.« Sie seufzte und schüttelte sich dann leicht. »Vielleicht wage ich es 49
einfach nicht.« »Nichts von dem, was ich Ihnen erzählt habe, ist nicht schon in Büchern abgehandelt worden«, fuhr er fort. »Natürlich stehen diese Spekulationen etwas in Verruf. In hundert Jahren ist noch nicht ein einziger überzeugender Beweis dafür gefunden worden, daß die Wildlinge mehr sind als bloßer Aberglaube. Eini ge Wissenschaftler haben jedoch erklärt, es sei zu mindest möglich, daß sich in der Wildnis intelligenz begabte Ureinwohner aufhalten.« »Ich weiß«, sagte sie. »Aber mir ist noch immer nicht klar, weshalb Sie diese Argumente plötzlich so ernst nehmen.« »Nachdem Sie mich veranlaßt hatten, über diese Dinge nachzudenken, wurde mir klar, daß die Siedler auf Roland sich von isolierten mittelalterlichen Kleinbauern in vielem unterscheiden. Sie besitzen Bücher, Telekommunikationsmittel, mechanische Geräte und Motorfahrzeuge; und vor allem haben sie eine moderne, wissenschaftsorientierte Erziehung gehabt. Aus welchem Grund sollten sie plötzlich abergläubisch werden? Dafür muß es doch einen An laß geben.« Er schwieg. »Ich höre mit diesem Thema besser auf. Meine Thesen gehen noch weiter; aber wenn sie wahr sind, ist es gefährlich, sie laut auszu sprechen.« Nebelhirts Bauchmuskeln spannten sich. Dieser Mann mit dem Gesicht eines Scherenschnabels war gefährlich. Die Girlandengeschmückte mußte ge warnt werden. Er überlegte einen Augenblick, ob er 50
Nagrim befehlen sollte, die beiden zu töten. Wenn der Nikor sich rasch auf sie stürzte, würden ihnen ihre Feuerwaffen vielleicht nichts nützen. Aber nein, das ging nicht. Vielleicht hatten sie eine Botschaft hinterlassen, oder – Er spitzte wieder die Ohren. Das Gespräch hatte eine andere Wendung genommen. Barbro murmelte gerade: »- weshalb Sie auf Roland geblieben sind?« Der Mann lächelte. »Nun, das Leben auf Beowulf war mir etwas zu langweilig. Heorot ist – bezie hungsweise war, es ist ja schon Jahre her – dicht be völkert, gut organisiert und furchtbar eintönig. Das lag zum Teil daran, daß die Grenze nach Süden eine Art Sicherheitsventil bildete, durch das alle, die mit diesem Leben unzufrieden waren, abwanderten. Aber ich konnte den Kohlendioxydgehalt der Luft dort un ten nicht vertragen. Dann wurde eine Expedition aus gerüstet, die eine Reihe von Koloniewelten besuchen sollte, vor allem solche, die noch nicht so weit waren, Laserkontakte aufnehmen zu können. Sie erinnern sich bestimmt noch an den Zweck dieser Unterneh mung: neue Ideen in Wissenschaft, Kunst, Soziologie und Philosophie aufzugreifen, die sich als wertvoll erweisen könnten. Ich fürchte, sie haben auf Roland nicht viel gefunden, das für Beowulf von Bedeutung gewesen wäre. Aber ich, der ich mir auf dem Raum schiff ein Plätzchen ergattert hatte, sah hier Möglich keiten für mich und beschloß, hierzubleiben.« »Waren Sie auf Beowulf auch schon Detektiv ge wesen?« 51
»Ja, bei der Polizei. Dieser Beruf ist in meiner Familie Tradition. Das kommt wohl zum Teil von meinen Cherokeevorfahren, falls Ihnen der Name etwas sagt. Aber wir sollen in der Seitenlinie auch noch von einem der ersten Privatdetektive auf der Erde abstammen, der lange vor der Raumfahrtzeit gelebt hat. Egal, ob das nun stimmt oder nicht, für mich war er immer ein nützliches Modell. Wissen Sie, so eine Art Archetyp –« Der Mann brach ab. Sein Gesicht zeigte Unruhe. »Wir gehen jetzt lieber schlafen«, sagte er. »Morgen früh haben wir eine lange Fahrt vor uns.« Sie blickte in die Dunkelheit. »Hier gibt es keinen Morgen.« Sie zogen sich zurück. Nebelhirt erhob sich und bewegte seine Glieder, um sie wieder geschmeidig zu machen. Bevor er zur Schwester des Vergessens zurückkehrte, wagte er noch einen Blick durch das Wagenfenster. Schlafplätze waren Seite an Seite her gerichtet, darauf lagen die beiden Menschen. Aber der Mann hatte sie nicht berührt, obwohl ihr Körper lieblich war, und nichts war zwischen ihnen vorge fallen, das auf eine solche Absicht hindeutete. Menschen. Kalt und lehmartig. Und sie wollten die schöne, weite Welt in Besitz nehmen? Nebelhirt spuckte verächtlich aus. Das durfte nicht geschehen. Das würde nicht geschehen. Sie, die Herrscherin, hatte es geschworen. Die Ländereien von William Irons umfaßten ein wei 52
tes Gebiet. Aber das war nötig, damit er, seine Fami lie und sein Vieh sich von den heimatlichen Pflanzen ernähren konnten, über deren Anbau man noch im mer nicht genügend wußte. Er züchtete auch terre strische Pflanzen, bei künstlichem Sonnenlicht und in Gewächshäusern. Doch das war reiner Luxus. Das einzige, was sich dem Boden des nördlichen Arktika abzugewinnen lohnte, war Yerbaheu, Bathyrhiza holz, Pericoup und Glycophyllon, später, wenn der Markt besser erschlossen war, vielleicht auch Chal canthemum für Blumenläden in der Stadt und Felle von gezüchteten Wandertieren für Pelzgeschäfte. Aber das war Zukunftsmusik, die Irons nicht mehr mit eigenen Ohren zu hören erwartete. Sherrinford fragte sich, ob der Mann überhaupt daran glaubte, daß irgendjemand einmal in diesen Genuß kommen würde. Das Zimmer war warm und hell. Munter prasselte ein Feuer. Leuchtstoffstrahlen fielen auf handge schnitzte Truhen, Stühle und Tische, auf Tellerborde und farbige Webstoffe. Der Siedler saß behäbig auf seinem erhöhten Sitz; ein langer Bart wallte über sei ne Brust herab. Seine Frau und seine Töchter brach ten Kaffee für ihn, seine Gäste und seine Söhne, und der würzige Duft vermischte sich mit den noch in der Luft liegenden Gerüchen des kräftigen Mahls, das sie zu sich genommen hatten. Doch draußen heulte der Wind, Blitze zuckten, Donner rollte, der Regen trommelte aufs Dach und gegen die Hauswände und schoß in gurgelnden Bä 53
chen über das Kopf Steinpflaster des Hofs, Schuppen und Stallungen standen eng beieinander, wie um sich gegen die ungeheure Weite der Wildnis zu schützen. Bäume ächzten – und klang neben dem Brüllen einer verängstigten Kuh nicht auch ein bösartiges Geläch ter mit? Hagelkörner trommelten gegen die Ziegel, so daß es klang, als ob jemand Einlaß begehre. Man spürt direkt, wie weit die nächsten Nachbarn entfernt sind, dachte Sherrinford. Und trotzdem wa ren es diese Menschen, mit denen man am meisten Kontakt hatte, mit denen man am Visifon Geschäfte abschloß (falls nicht gerade ein Solarsturm ihre Stimmen und Gesichter verzerrte), mit denen man sich traf, Feste feierte, Klatsch austauschte, Streite reien hatte und in deren Familien die eigenen Kinder einheirateten; und am Ende waren sie es, die einen zu Grabe tragen würden. Die Lichter der Küstenstädte waren allzu weit entfernt. William Irons war ein starker Mann. Doch als er jetzt sprach, lag ein Unterton von Furcht in seiner Stimme. »Sie wollen tatsächlich über Troll Scarp hi nausfahren?« »Sie meinen Hanstein Pahsades?« antwortete Sherrinford. Es war mehr eine Herausforderung als eine Frage. »Die Siedler nennen es nur Troll Scarp«, sagte Barbro. Wie konnte ein solcher Name, Jahrhunderte nach dem Mittelalter und viele Lichtjahre von der Erde entfernt, wieder auftauchen? 54
»Aber Jäger, Trapper, Waldläufer-Ranger, wie ihr sie nennt- begeben sich doch auch in jene Berge«, meinte Sherrinford. »Nur in bestimmte Gebiete«, sagte Irons. »Das be ruht auf einer Abmachung, die die Königin mit ei nem Mann getroffen hat, nachdem er einem von ei nem Satan verletzten Bergesel geholfen hatte. Über all wo die Plumablanca wächst, dürfen auch Men schen ihren Fuß hinsetzen. Sie müssen allerdings als Bezahlung für das, was sie aus diesem Land holen, Güter der Menschen auf den Altarsteinen niederle gen. In andere Gebiete zu gehen –« seine Faust schloß sich fest um die Stuhllehne und lockerte sich dann wieder »-ist nicht weise.« »Aber einige haben es doch getan, nicht wahr?« »O ja. Und einige sind auch unversehrt wieder zu rückgekommen –das behaupteten sie jedenfalls; ich habe allerdings gehört, daß sie später nie mehr glück lich waren. Andere kamen nicht zurück und blieben verschwunden. Und wieder andere berichteten bei ihrer Rückkehr von Wundern und Schrecken und blieben ihr Leben lang verstört. Seit langem ist nie mand mehr so unbesonnen gewesen, die Abmachung zu brechen und die Grenzen zu übertreten.« Irons blickte Barbro mit beinahe flehendem Gesichtsaus druck an. Seine Frau und seine Kinder starrten stumm vor sich hin. Draußen pfiff der Wind ums Haus und rüttelte an den Fensterläden. »Tun Sie es nicht.« »Ich habe Gründe anzunehmen, daß mein Sohn 55
dort ist«, antwortete sie. »Ja, ja, das haben Sie schon gesagt, es tut mir sehr leid. Vielleicht kann man da etwas tun. Ich weiß auch nicht was, aber, äh, ich könnte für Sie zur Mittwinterzeit eine doppelte Spende auf Unvars Bar row niederlegen und mit einem Steinmesser ein Bitt gesuch in den Torf ritzen. Vielleicht geben sie ihn dann zurück.« Irons seufzte. »Obwohl sie so etwas seit Menschengedenken noch nie getan haben. Ihr Sohn hätte auch ein schlimmeres Los haben können. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen, wie sie ü bermütig durch die Dämmerung getollt sind. Sie scheinen glücklicher zu sein als wir. Vielleicht täte man Ihrem Sohn keinen großen Gefallen, wenn man ihn wieder nach Hause ließe.« »Wie im Lied von Arvid«, sagte seine Frau. Irons nickte. »Hm. Und noch in vielen anderen, wenn man's recht bedenkt.« »Was ist das für ein Lied?« fragte Sherrinford. Er fühlte sich unter ihnen mehr denn je als Fremder. Er war ein Kind der Städte, der Technik und vor allem der skeptischen Intelligenz. Diese Familie aber glaubte. Es war beunruhigend, in Barbros langsa mem Nicken mehr als nur einen Anflug der gleichen Haltung zu bemerken. »In Olga-Ivanoff-Land kennt man diese Ballade auch«, erklärte sie ihm; ihrer Stimme war anzumer ken, daß sie nicht so gelassen war, wie ihre Worte klangen. »Es ist eine von den alten Weisen, von de nen niemand weiß, wer sie verfaßt hat; man singt sie 56
zu einem Reigentanz auf der Wiese.« »Ich habe unter Ihrem Gepäck eine Multileier be merkt, Mrs. Cullen«, sagte Irons' Frau. Sie war of fensichtlich darum bemüht, von dem gefährlichen Thema einer Unternehmung gegen das Wundersame Volk abzulenken. Musik war dazu besonders geeig net. »Möchten Sie uns nicht etwas vorspielen?« Barbro schüttelte den Kopf; sie war um die Nase herum weiß geworden. Der älteste Sohn sagte rasch und ein wenig wichtigtuerisch: »Ich kann ja singen, wenn unsere Gäste etwas hören möchten.« »Es würde mich sehr freuen.« Sherrinford lehnte sich zurück und stopfte seine Pfeife. Wenn sich diese Gelegenheit nicht spontan ergeben hätte, dann hätte er die Unterhaltung wahrscheinlich darauf hinge lenkt. In der Vergangenheit hatte er wenig Anlaß gehabt, sich mit der Folklore der Siedler zu beschäftigen, und seit Barbro mit ihrem Anliegen zu ihm gekom men war, hatte er kaum Zeit gefunden, die spärlichen Hinweise über dieses Gebiet zu lesen. Doch er war mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, daß er das Verhältnis der Grenzbewohner auf Roland zu den Wesen, von denen sie heimgesucht wurden, ver stehen lernen mußte – und zwar genügte nicht ein bloß anthropologisches Verständnis. Was er brauch te, war eine innere Einsicht. Es folgte ein geschäftiges Durcheinander, die Sitzordnung wurde verändert, Kaffeetassen wurden neu gefüllt und Brandy angeboten. Der Junge erklär 57
te: »Die letzte Zeile ist der Refrain. Alle singen mit, ja?« Offensichtlich hoffte auch er, auf diese Weise die Spannung ein wenig zu lockern. Katharsis durch Musik? fragte sich Sherrinford, um sich gleich darauf selbst die Antwort zu geben: Nein, eher so etwas wie eine Teufelsaustreibung. Eins der Mädchen spielte Gitarre. Der Junge sang zu einer Melodie, die sich gegen den Sturm behaup ten mußte: »War einst der Ranger Arvid,
ritt heimwärts durch die Nacht,
vorbei an Zitterblattbäumen
entlang dem flüsternden Bach.
Und der Tanz geht um den Feuerdorn. Der Nachtwind raunte leise,
die Luft war süß und lau,
die Monde stiegen höher,
auf Hügeln lag silberner Tau.
Und der Tanz geht um den Feuerdorn. Er träumt von seiner Liebsten,
die im Sonnenlicht wartet auf ihn,
da blendeten ihn die Sterne,
und das war sein Ruin.
Und der Tanz geht um den Feuerdorn. Dort unter einem Hügel
das Wundersame Volk
58
im Licht des Mondes tanzte in Schuhen aus Glas und Gold. Und der Tanz geht um den Feuerdorn. Zu silbrigen Harfenklängen schlossen sie einen Kranz, wie Wasser, Wind und Feuer sie wurden nicht müde beim Tanz. Und der Tanz geht um den Feuerdorn. Es näherte sich Arvid die Königin der Luft und Finsternis persönlich, umgeben von lieblichem Duft. Und der Tanz geht um den Feuerdorn. Sie blickt' ihn mit lieblichen Augen, mit schrecklichen Augen an, und sprach mit lockender Stimme –« »Nein!« Barbro sprang auf. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt, und Tränen liefen ihr über die Wan gen. »Wie könnt ihr so sprechen – von diesen Un holden, die meinen Jimmy geraubt haben!« Sie lief aus dem Zimmer und nach oben in ihre Gästekam mer. Doch sie sang das Lied selbst zu Ende. Das war etwa siebzig Stunden später, als sie ihr Lager in den Bergen aufgeschlagen hatten, wohin kein Ranger sich mehr traute. 59
Sie und Sherrinford hatten nicht mehr viel Worte mit den Irons gewechselt, nachdem sie auf deren wiederholte Bitten, das verbotene Land nicht zu be treten, unnachgiebig geblieben waren. Und zuerst hatten sie auf der Fahrt nach Norden auch nicht viel miteinander gesprochen. Doch dann begann er sie nach ihrem Leben zu fragen, und nach einer Weile hatte sie ihren Kummer fast vergessen, als sie von ihrem Elternhaus und von alten Nachbarn erzählte. Dabei machten sie unverhofft ganz neue Entdeckun gen, nämlich daß sich unter seiner berufsmäßigen Nüchternheit ein Feinschmecker und Opernliebhaber verbarg, der ihre Weiblichkeit zu schätzen wußte, und die, daß sie trotz allem noch lachen konnte und das wilde Land, durch das sie fuhren, schön fand – und sie stellte halb schuldbewußt fest, daß das Leben für sie noch andere Hoffnungen bereithielt, neben der, den Sohn wiederzufinden, den sie von Tim emp fangen hatte. »Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß er noch lebt«, erklärte der Detektiv. Er runzelte die Stirn. »Es tut mir jetzt, ehrlich gesagt, leid, daß ich Sie mitgenommen habe. Ich war der Meinung, wir würden auf dieser Fahrt nur einige Fakten sammeln, aber jetzt sieht es doch nach mehr aus. Wenn wir es mit Wesen zu tun haben, die tatsächlich existieren und ihn geraubt haben, dann kommen auch echte Ge fahren auf uns zu. Ich sollte eigentlich zum nächsten Hof zurückkehren und anordnen, daß Sie mit einem Flugzeug abgeholt werden.« 60
»Zum Teufel nochmal, das werden Sie nicht tun«, sagte sie. »Sie brauchen jemanden, der sich mit den Lebensbedingungen hier draußen auskennt, und au ßerdem kann ich ganz gut schießen.« »Hm … das würde ja auch eine beträchtliche Ver zögerung bedeuten, nicht wahr? Ich müßte einen lan gen Umweg machen, und ich würde mit keinem Flugzeug Verbindung aufnehmen können, solange sich die augenblickliche solare Störung nicht beru higt hat.« Am nächsten »Abend« holte er die übrigen Ausrü stungsgegenstände hervor und stellte sie auf. Einige Geräte waren ihr bekannt, wie zum Beispiel der Thermaldetektor. Doch andere, die er nach den fort schrittlichen Apparaten seiner Heimatwelt hatte ko pieren lassen, waren ihr fremd. Er wollte ihr jedoch nichts darüber erzählen. »Ich habe Ihnen doch schon erklärt, daß ich den Verdacht habe, daß diejenigen, die wir aufspüren wollen, telepathische Fähigkeiten besitzen«, sagte er entschuldigend. Ihre Augen weiteten sich. »Sie meinen, daß die Königin und ihr Volk tatsächlich Gedanken lesen können?« »In den Geschichten über sie wird es jedenfalls behauptet, und davor fürchten sich die Leute ganz besonders. Dabei ist das Phänomen an sich ganz na türlich. Es ist schon vor Jahrhunderten auf der Erde erforscht und wissenschaftlich definiert worden. Die Berichte darüber sind bestimmt in einer Bibliothek in Christmas Landing vorhanden. Aber ihr Rolandianer 61
habt bis jetzt einfach keine Gelegenheit gefunden, so etwas nachzulesen, ebenso wie ihr bis jetzt noch nicht nachgeschaut habt, wie man Strahlenwerfer oder Raumschiffe baut.« »Wie kommt so etwas wie Telepathie dann also zustande?« Sherrinford merkte, daß sie nicht nur eine Erklä rung, sondern auch Trost erwartete. So antwortete er betont nüchtern: »Ein Organismus sendet weitrei chende Strahlen aus, die im Prinzip durch das Ner vensystem reguliert werden können. Praktisch sieht es jedoch so aus, daß die ausgesandten Signale zu schwach sind und ihr Informationsgehalt zu gering, so daß sie sich nur schwer feststellen und messen lassen. Unsere vormenschlichen Ahnen haben sich deshalb auf verläßlichere Sinne wie das Gesicht und das Gehör eingestellt. Was wir an telepathischen Übermittlungen leisten, ist verschwindend wenig. Doch bei Erkundungsflügen sind außerterrestrische Wesen entdeckt worden, die dieses System in ihrer spezifischen Umgebung weiterentwickelt haben und uns darin weit voraus sind. Ich könnte mir vorstellen, daß es unter diesen Wesen welche gibt, die ver gleichsweise wenig Sonnenlicht brauchen – die sich vielleicht sogar davor verstecken. Und die diese Fä higkeit so weit ausgebildet haben, daß sie im Nahbe reich die schwachen Ausstrahlungen der Menschen aufnehmen können.« »Das würde eine Menge erklären, nicht wahr?« sagte Barbro leise. 62
»Ich habe unseren Wagen jetzt durch ein Schutz feld abgeschirmt«, meinte Sherrinford. »Aber es reicht nur ein paar Meter weit. Dahinter könnte einer von ihren Spähern leicht Ihre Gedanken lesen und gewarnt werden, falls Sie genau darüber informiert sind, was ich vorhabe. Mein Unterbewußtsein ist darauf trainiert, daß ich über diese Dinge nur auf Französisch denke, wenn ich mich vom Wagen ent ferne. Wenn es mit der Kommunikation klappen soll, sind dafür bestimmte Sprachstrukturen Vorausset zung, verstehen Sie, und Französisch ist ganz anders strukturiert als Englisch. Doch die einzige menschli che Sprache, die auf Roland gesprochen wird, ist Englisch, und das Wundersame Volk hat sie be stimmt gelernt.« Sie nickte. Im Großen und Ganzen kannte sie sei nen Plan; es war allzu offensichtlich, was er vorhatte, als daß er es ihr hätte verheimlichen können. Das Hauptproblem bestand darin, mit den Fremden, falls sie tatsächlich existierten, in Kontakt zu treten. Bis her hatten sie sich immer nur einem oder wenigen Hinterwäldlern auf einmal zu erkennen gegeben, wo bei ihnen ihre Fähigkeit, Halluzinationen zu erzeu gen, zustatten gekommen war. Einer größeren Expe dition, die durch ihr Gebiet reiste und vielleicht nicht so leicht zu beeinflussen war, würden sie sich kaum nähern. Aber zwei einzelne Menschen, die scheinbar alle Vorsichtsmaßnahmen außer acht ließen, würden ihnen kaum als große Gefahr erscheinen. Dies wäre das erste menschliche Team, das zum einen von der 63
Voraussetzung ausging, daß die Wildlinge tatsäch lich existierten, und das zum andern die modernsten technischen Hilfsmittel besaß. Auf diesem Lagerplatz ereignete sich nichts. Sher rinford meinte, er habe es nicht anders erwartet. Das Wundersame Volk schien in der Nähe von Siedlun gen vorsichtig zu sein. Auf ihrem eigenen Terrain wagten sie vermutlich mehr. Und in der nächsten »Nacht« war das Fahrzeug weit in jenseitiges Land eingedrungen. Als Sherrin ford den Bus auf einer Wiese zum Halten brachte und den Motor drosselte, brach die Stille wie eine Woge über sie herein. Sie stiegen aus. Barbro bereitete auf dem Kocher eine Mahlzeit, während Sherrinford in der Nähe Holz sammelte, damit sie nachher ein Lagerfeuer anzün den konnten. Er blickte oft auf sein Handgelenk, an dem statt einer Uhr eine Skalenscheibe befestigt war, die anzeigen sollte, was die Instrumente im Wagen registrierten. Wozu brauchte man hier eine Uhr? Hinter den schimmernden Nordlichtern kreisten unmerklich langsam Sternkonstellationen. Der Mond Aide stand über einer schneebedeckten Bergkuppe, die in sei nem Schein silbrig glänzte. Die übrigen Berge waren von den umgebenden Wäldern verdeckt. Diese be standen hauptsächlich aus Zitterblattbäumen und flaumigen weißen Plumablanca, die geisterhaft zwi schen ihren eigenen Schatten standen. Dazwischen glühten wie Laternen die Blüten des Feuerdornbu 64
sches. Das dichte Unterholz verströmte einen süßen Duft. Man konnte in der blauen Dämmerung erstaun lich weit sehen. Irgendwo in der Nähe plätscherte ein Bach, und ein Vogel flötete sein Lied. »Es ist schön hier«, bemerkte Sherrinford. Sie wa ren vom Essen aufgestanden und hatten sich noch nicht wieder niedergesetzt und das Feuer entzündet. »Aber auch seltsam«, antwortete Barbro ebenso leise. »Ich frage mich, ob dieses Land wirklich für uns gedacht ist. Ob wir tatsächlich hoffen können, es eines Tages in Besitz zu nehmen.« Er deutete mit dem Mundstück seiner Pfeife zu den Sternen hinauf. »Die Menschen haben sich schon zu seltsameren Orten als diesem vorgewagt.« »So? Ich … oh, ich glaube, das ist ein Überbleib sel aus meiner Kindheit in der Wildnis, aber wenn ich unter dem Sternenhimmel stehe, kann ich mir die Sterne einfach nicht als Gasbälle vorstellen, deren Energie gemessen worden ist und auf deren Planeten die Menschen ihren Fuß gesetzt haben. Nein, für mich sind sie klein, kalt und voll magischer Kraft; unser Leben ist an sie gekettet; und wenn wir gestorben sind, flüstern sie uns in unseren Gräbern zu.« Barbro blickte zu Boden. »Ich weiß, daß das Unsinn ist.« Sie konnte im Dämmerlicht erkennen, wie sein Gesicht sich straffte. »Ganz und gar nicht«, antwor tete er. »Was die Physik sagt, ist gefühlsmäßig viel leicht noch größerer Unsinn. Und schließlich, nach dem genügend Generationen vergangen sind, folgt der Verstand dem Gefühl. Die Menschen sind im 65
Grunde keine rationalen Wesen. Sie könnten aufhö ren, an das zu glauben, was die Wissenschaft sagt, wenn es ihrem Gefühl nach nicht mehr richtig ist.« Er wartete einen Augenblick. »Diese Ballade, die wir nicht mehr zu Ende gehört haben –«, sagte er, ohne sie dabei anzusehen. »Weshalb hat Sie das so aufgeregt?« »Ich konnte es nicht ertragen, zu hören, wie sie gepriesen wurden. So kam es mir jedenfalls vor. Es tut mir leid, daß ich mich so hab' gehenlassen.« »Ich nehme an, diese Ballade ist typisch für eine ganze Anzahl von Liedern.« »Nun, ich habe bis jetzt noch nicht daran gedacht, sie zu zählen. Für kulturelle Anthropologie hatten wir auf Roland keine Zeit, oder besser gesagt, wir haben uns nicht damit beschäftigt, weil es so viel an deres zu tun gab. Aber jetzt, da Sie davon sprechen, kommt mir zu Bewußtsein, in wie vielen Liedern und Geschichten das Arvidmotiv auftaucht.« »Könnten Sie mir den Schluß der Ballade rezitie ren?« Sie lachte. »Wenn Sie wollen, singe ich es Ihnen auch vor. Ich hole nur eben meine Multileier.« Den Refrain am Ende jeder Strophe ließ sie jedoch aus, und nur ganz zum Schluß nahm sie ihn wieder auf. Er blickte sie an, wie sie vor Mond und Polar licht stand und sang: – und sprach mit lockender Stimme:
»Steig ab, du fremder Mann.
66
Komm zu uns, Ranger Arvid,
und schließe dich uns an,
wir Wildlinge führen ein Leben,
wie's keiner der Menschen kann.«
Er sagte mit stolzer Stimme:
›Laßt ab, das kann nicht sein,
in Ländern unter der Sonne
ein Mädchen wartet mein.
Dort warten meine Freunde,
dort gibt es viel zu tun,
denn wer ist Ranger Arvid,
wenn er sein Werk läßt ruhn?
Drum zeigt nur eure Rache,
schlagt mich in Zauberbann,
und solltet ihr mich töten,
ich bleib ein freier Mann.‹
Nordlichter umblitzten das Antlitz
der schönen Königin,
sie stand in Pracht und Schrecken,
er wagte kaum hinzusehn.
Bis daß sie hellauf lachte
und zornig zu ihm sprach:
›Dein Los, auch ohne Zauber,
ist Trauer und Ungemach.
67
Und wirst du heimwärts kehren,
die Erinnrung läßt dich nicht,
an den Wildlingsreigen im Mondlicht,
Nachtlüfte, Tau und mich.
Und das wird sein ein Schatten,
der die hellste Sonne trübt,
und Kummer, der Abend für Abend
neben deinem Lager liegt.
Bei Arbeit, Spiel und Freundschaft
wirst schmerzlich du bereun,
was du in dieser Stunde
hast ausgeschlagen zu sein.
Kehr heim zu deinem Mädchen,
dem armen, stumpfen Ding,
als freier Ranger Arvid,
und achte sie nicht gering.‹
Das Volk der Wildlinge lachte,
verschwand im Mondenlicht,
und Arvid stand bis zum Morgen
und weinte bitterlich.
Und der Tanz geht um den Feuerdorn.« Sie legte die Leier nieder. Ein Windstoß strich durch die Blätter. Nach langem Schweigen sagte Sherrin ford: »Und Geschichten wie diese begleiten das Le 68
ben der Siedler in der Wildnis?« »Ja, so könnte man sagen«, erwiderte Barbro. »Obwohl nicht alle von übernatürlichen Wesen han deln. Einige haben auch traditionelle Themen wie Liebe oder Heldentum.« »Ich glaube nicht, daß diese Tradition aus sich selbst heraus entstanden ist«, meinte er in scharfem Ton. »Ich nehme sogar an, daß viele eurer Lieder und Geschichten von außermenschlichen Wesen verfaßt worden sind.« Er preßte die Lippen zusammen und weigerte sich, noch mehr über dieses Thema zu sagen. Sie gingen bald darauf schlafen. Stunden später wurden sie durch ein Alarmge räusch geweckt. Das Summen war nur leise, aber sie wachten so fort davon auf. Sie schliefen in einer Art Overalls, um in Notfällen keine Zeit mit dem Ankleiden zu verlieren. Durch das Verdeck hindurch erhellte das Himmelsglühen den Wagen. Sherrinford erhob sich von seinem Lager, zog seine Schuhe an und machte das Pistolenhalfter am Gürtel fest. »Bleiben Sie hier«, befahl er. »Was ist los?« Ihr Puls flatterte. Er blickte auf das Armaturenbrett des Wagens, an das die verschiedenen Instrumente angeschlossen waren, und verglich die Anzeigen mit der erleuchte ten Skalenscheibe an seinem Handgelenk. »Drei Le bewesen«, erklärte er. »Aber keine wilden Tiere. Das eine ist ziemlich groß homeo-thermisch und, dem 69
Infrarotanzeiger nach, ein ganzes Stück entfernt. Dann eins … hm, niedrige Temperatur, ungleichmä ßige Ausstrahlung, so, als sei es nur eine irgendwie koordinierte Zellenansammlung … pheromonal? … ebenfalls in einiger Entfernung. Aber das dritte hält sich ganz in unserer Nähe im Unterholz auf; und al lem Anschein nach ist es ein menschliches Wesen.« Sie bemerkte, wie er vor Eifer zitterte, ganz und gar nicht mehr der nüchterne Wissenschaftler. »Ich werde versuchen, einen von ihnen zu fangen«, erklär te er. »Wenn wir erst einmal jemanden haben, den wir befragen können – bleiben Sie hier und halten Sie sich bereit, um mich so rasch wie möglich he reinzulassen. Aber begeben Sie sich auf keinen Fall in Gefahr. Und halten Sie das schußbereit.« Er drückte ihr ein geladenes Gewehr, wie es Großwild jäger benutzen, in die Hand. Er blieb beim Eingang stehen und schob ihn einen Spalt breit auf. Ein kühler, feuchter Luftzug drang herein, der Wohlgerüche und murmelnde Geräusche mit sich brachte. Der Mond Oliver war inzwischen ebenfalls aufgegangen; beide Monde strahlten in un wirklichem Glanz, und das Polarlicht wallte weiß und gletscherblau. Barbro sah, wie Sherrinford wieder auf die Ska lenscheibe an seinem Handgelenk blickte. Sie zeigte wahrscheinlich an, wo die Beobachter sich im ge sprenkelten Laub verborgen hielten. Mit einem Satz war er draußen, lief an der erkalteten Feuerstelle vor bei und verschwand unter den Bäumen. Barbros 70
Hand schloß sich fest um den Lauf ihrer Waffe. Im nächsten Augenblick wurden zwei miteinander kämpfende Gestalten auf der Wiese sichtbar. Sherrin ford hielt eine kleinere menschliche Gestalt um klammert. Barbro konnte im Mondlicht erkennen, daß es ein geschmeidiger, unbekleideter Jüngling mit flatternden langen Haaren war. Er kämpfte wie ein Teufel, versuchte, sich mit Kratzen, Beißen und Tre ten zu befreien, und stieß dabei schrille Schreie aus. Sie erkannte sofort, daß es eines jener Geschöpfe war, das als kleines Kind vom Wundersamen Volk geraubt worden und bei ihnen aufgewachsen war. Und solch ein Geschöpf würden sie auch aus Jimmy machen! »Ha!« Mit einem gewaltigen Ruck schleuderte Sherrinford seinen Gegner herum und schlug ihm mit der Faust in die Magengrube. Der Junge stöhnte auf und sackte zusammen. Sherrinford zog ihn in Rich tung auf den Wagen. Aus dem Wald trat ein Riese. Man hätte ihn mit einem Baum verwechseln können, schwarz, runzlig, mit vier dicken, knorrigen Ästen; doch der Boden zitterte und bebte unter seinen Wurzelbeinen, und sein dumpfes Brüllen erfüllte die Luft. Barbro schrie auf. Sherrinford wirbelte herum. Er riß seine Pistole heraus und feuerte im Halbdunkel eine Salve von Schüssen ab. Mit dem anderen Arm hielt er den Jüngling fest. Die Trollgestalt schwankte im Kugelhagel, fing sich dann wieder und näherte sich langsam und vorsichtig in einem Bogen, um 71
Sherrinford den Weg zum Fahrzeug abzuschneiden. Sherrinford konnte nicht mehr an ihm vorbeikommen, es sei denn, er ließ seinen Gefangenen zurück – den einzigen, der ihn zu Jimmy würde führen können. Barbro sprang aus dem Wagen. »Nein!« schrie Sherrinford. »Um Gottes Willen, bleiben Sie, wo Sie sind!« Das Ungeheuer knurrte und schnappte nach ihr. Sie drückte auf den Abzug. Der Rückstoß riß ih re Schulter zurück. Der Koloß schwankte und kippte um. Irgendwie kam er wieder auf die Beine und stapfte schwerfällig auf sie zu. Sie wich zurück. Sie feuerte noch einen Schuß ab und dann noch einen. Das Ungeheuer fletschte die Zähne. Blut tropfte an ihm herunter und bildete ölige Flecken im Tau. Es drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit. Man hörte, wie unter seinem Gewicht Zweige und Äste brachen. »Gehen Sie zurück!« schrie Sherrinford. »Sie ha ben das Schutzfeld verlassen!« Dicht über ihr glitt ein Nebel vorbei. Sie konnte es gerade noch wahrnehmen, bevor sie am Rand der Wiese eine neue Gestalt auftauchen sah. »Jimmy!« schrie sie. »Mutter!« Er streckte die Arme nach ihr aus. Mondlicht spiegelte sich in seinen tränengefüllten Augen. Sie ließ die Waffe fallen und lief auf ihn zu. Sherrinford stürzte ihr nach. Jimmy verschwand im Unterholz. Barbro kämpfte sich durch das Ge strüpp und folgte ihm. Dann wurde sie gepackt und davongetragen. 72
Sherrinford stand über seinen Gefangenen gebeugt und verstärkte die Leuchtstoffstrahlung, bis die Wildnis draußen nicht mehr zu erkennen war. Der Junge wand sich unter dem grellen, farblosen Licht. »Du wirst sprechen«, sagte der Mann. Seine Stimme klang ruhig, obwohl sein Gesicht verstört aussah. Der Junge starrte ihn durch seine Haarmähne an. Sein Kinn war rot und geschwollen. Er war wieder zu Kräften gekommen, und beinahe wäre ihm die Flucht gelungen, als Sherrinford erfolglos nach der Frau gesucht hatte. Als dieser wieder zurückgekom men war, hatte er den Jungen gerade noch packen können. Da die Wildlinge jeden Augenblick mit Ver stärkung anrücken konnten, hatte Sherrinford keine Möglichkeit gehabt, seinen Gefangenen sanfter zu behandeln. Er hatte ihm einen Kinnhaken versetzt und ihn dann in den Bus gezerrt. Jetzt saß der Junge gefesselt auf einem Drehstuhl. Er spuckte aus. »Mit dir soll ich sprechen, Men schenklumpen?« Doch auf seiner Haut glänzte Schweiß, und seine Augen glitten unablässig über die Metallwände, die ihn einschlossen. »Sag mir, wie du heißt.« »Damit du einen Zauber über mich werfen kannst?« »Ich heiße Eric. Wenn du mir nicht sagst, wie du heißt, muß ich dich … hm … Waldmännchen nen nen.« 73
»Was?« Der Gefesselte wirkte zwar unheimlich, aber er war doch ein junger Mensch. »Na gut, also – ich heiße Nebelhirt.« Der rhythmische Schwung sei nes Englisch stand in seltsamem Gegensatz zu sei nem widerspenstigen Wesen. »Das ist nur die über tragene Bedeutung, und außerdem ist es auch nur der Name, mit dem ich angesprochen werde.« »Ihr habt also noch einen geheimen Namen, den ihr als den wirklichen betrachtet?« »Nicht wir – sie. Ich weiß selbst nicht, wie ich heiße. Nur sie kennt die wirklichen Namen von al len.« Sherrinford zog die Brauen hoch. »Sie?« »Die herrscht. Sie möge mir vergeben, daß ich das Zeichen der Verehrung nicht machen kann, da meine Arme festgebunden sind. Einige Eindringlinge nen nen sie die Königin der Dämonen.« »So.« Sherrinford zog Pfeife und Tabaksbeutel hervor. Während er seine Pfeife stopfte und anzünde te, schien sich das Schweigen zu vertiefen. Schließ lich sagte er: »Ich muß gestehen, daß das Wundersame Volk mich überrascht hat. Ich hatte mit einem solchen Un geheuer unter ihnen nicht gerechnet. Alles, was ich bisher erfahren konnte, deutete darauf hin, daß sie mit Betrügereien und Illusionen auf meine Rasse – die auch die deine ist, Junge – einwirken.« Nebelhirt nickte trotzig. »Sie hat erst vor kurzem die ersten Nikoren erschaffen. Glaub nur nicht, daß sie nichts weiter als Blendwerk hervorbringen kann.« 74
»Nein, gewiß nicht. Aber ein Stahlmantelgeschoß tut auch seine Wirkung, nicht wahr?« Sherrinford fuhr leise, wie zu sich selbst fort: »Ich glaube trotzdem, daß die, äh, Nikoren – alle diese halbmenschlichen Geschöpfe – hauptsächlich dazu da sind, um gesehen zu werden, und nicht, um etwas zu leisten. Die Kraft, Trugbilder hervorzurufen, muß ziemlich begrenzt sein, sowohl was ihre Reichweite anbetrifft als auch die Zahl der Individuen, die diese Kraft besitzen. Sonst wäre dieses langsame, listige Vorgehen nicht nötig gewesen. Selbst außerhalb des Schutzfeldes hätte Barbro –meine Begleiterin – Wi derstand leisten können, wäre ihr bewußt geblieben, daß das, was sie gesehen hat, unwirklich war … wenn sie weniger verstört gewesen wäre, weniger von einem inneren Bedürfnis getrieben.« Sherrinfords Gesicht verschwand hinter einer Rauchwolke. »Was ich erlebt habe, war etwas ande res, als was sie erlebt hat«, fuhr er fort. »Ich glaube, uns wurde nur der Befehl gegeben: ›Du siehst das, was du auf der Welt am meisten liebst, vor dir da vonlaufen in den Wald.‹ Sie kann nur wenige Meter weit gekommen sein, bevor der Nikor sie gepackt hat. Es hatte für mich wenig Sinn, ihnen zu folgen; ich bin kein arktikanischer Waldläufer, und man hät te mich allzu leicht überwältigen können. Deshalb bin ich zu dir zurückgekehrt.« Grimmig fügte er hin zu: »Du bist meine einzige Verbindung zu eurer Oberherrin.« »Glaubst du etwa, ich werde dich nach Starhaven 75
oder Carheddin führen? Versuch nur, mich dazu zu zwingen, Menschenklumpen.« »Ich möchte verhandeln.« »Du willst doch bestimmt mehr als das«, antworte te Nebelhirt mit erstaunlichem Scharfsinn. »Was wirst du berichten, wenn du nach Hause zurück kehrst?« »Ja, das ist allerdings ein Problem. Barbro Cullen und ich sind keine verängstigten Siedler. Wir kom men aus der Stadt. Wir haben Aufzeichnungsgeräte mitgebracht. Wir wären die ersten Menschen, die über ihre Begegnung mit dem Wundersamen Volk einen glaubwürdigen Bericht abgeben könnten. Das würde natürlich Folgen haben.« »Siehst du, deshalb fürchte ich mich auch nicht davor, zu sterben«, erklärte Nebelhirt, obwohl seine Lippen dabei ein wenig zitterten. »Wenn ich dich dort hinführte und du tätest meinen Leuten deine Menschendinge an, dann besäße ich nichts mehr, wo für es sich für mich zu leben lohnte.« »Du brauchst jetzt keine Angst zu haben«, sagte Sherrinford. »Du bist nur ein Köder.« Er setzte sich nieder und betrachtete den Jungen äußerlich ruhig. In seinem Innern aber schrie es fortwährend: Barbro! Barbro! »Sieh mal, eure Königin kann mich schlecht zurückreisen lassen, mit einem Gefangenen und der Nachricht, daß sie Menschen gefangenhält. Sie muß das irgendwie zu verhindern suchen. Ich könnte mich durchkämpfen – dieses Fahrzeug ist besser bewaff net, als ihr wißt –, aber dadurch würde niemand be 76
freit werden. Deshalb bleibe ich hier. Sie wird neue Truppen herschicken, so rasch es geht. Und wie ich annehme, werden sie sich nicht blindlings in das Feuer eines Maschinengewehrs, eines Geschützes und eines Flammenwerfers stürzen. Sie werden zu erst unterhandeln wollen, ob sie es nun ehrlich mei nen oder nicht. Auf diese Weise wird die Verbindung aufgenommen, an der mir gelegen ist.« »Was hast du vor?« Angst lag in der Stimme des Jungen. »Zuerst gebe ich ihnen eine Art Einladung.« Sher rinford beugte sich vor und betätigte einen Schalter. »So. Ich habe das Schutzfeld, das mich gegen Ge dankenbeeinflussung und Trugbilder abgeschirmt hat, ausgeschaltet. Die Anführer zumindest werden spüren können, daß es verschwunden ist. Das wird ihnen Zutrauen geben.« »Und dann?« »Dann warten wir. Möchtest du etwas essen oder trinken?« Während sie warteten, gab Sherrinford sich Mühe, mit Nebelhirt ms Gespräch zu kommen und etwas über sein Leben zu erfahren. Doch er erhielt nur kur ze, einsilbige Antworten. Er dämpfte die Beleuch tung im Wagen, setzte sich bequem hin und spähte hinaus. Es vergingen lange Stunden. Plötzlich stieß der Junge einen Laut aus, der halb wie ein Freudenschrei, halb wie ein Schluchzen klang. Aus den Wäldern kam eine Abordnung des Wundersamen Volkes hervor. 77
Einige von ihnen waren deutlicher zu erkennen, als es im Schein der Monde, Sterne und Nordlichter möglich erschien. Der die Vorhut bildete, ritt auf ei nem weißen Kronenbock, dessen Hörner mit Girlan den umwunden waren. Seine Gestalt war menschlich, aber von überirdischer Schönheit. Unter dem ge weihgeschmückten Helm fiel silberblondes Haar um das stolze, kalte Gesicht. Auf seinem Rücken flatter te ein Umhang, so daß es aussah, als habe er Flügel. Seine frostfarbene Rüstung klirrte, während er heran ritt. Rechts und links hinter ihm ritten zwei, die Schwerter trugen, auf denen kleine Flammen blitz ten. Über ihnen tummelte sich ein fliegender Schwarm lachend und trillernd im Wind. Ein halb durchsichtiger Nebel trieb nebenher. Die anderen, die hinter ihrem Anführer unter den Bäumen hervorka men, waren schwerer zu erkennen. Doch sie beweg ten sich mit leichtfüßiger Anmut, wie zu Harfen- und Flötenklängen. »Lord Luighaid«, sagte Nebelhirt. »Ihr Meister wisser – persönlich.« Noch nie war Sherrinford etwas so schwer gefal len, wie jetzt am Schaltbrett zu sitzen, den Finger in der Nähe des Schalters für das Schutzfeld, ohne ihn zu berühren. Er rollte das Verdeck ein Stück zurück, damit die Stimmen besser zu hören waren. Ein Windhauch streifte ihn, der den Rosenduft aus seiner Mutter Garten herantrug. Hinter ihm im Wagen wand sich Nebelhirt in seinen Fesseln, bis er den heranna 78
henden Trupp sehen konnte. »Ruf sie und frag, ob sie mit mir sprechen wol len«, sagte Sherrinford. Unbekannte, lieblich klingende Worte flogen hin und zurück. »Ja«, erklärte der Jüngling. »Lord Luig haid ist bereit. Aber ich kann es dir gleich sagen, man wird dich niemals fortlassen. Kämpf nicht gegen sie. Gib nach. Komm mit uns. Du weißt ja nicht, was Leben ist, solange du nicht in Carheddin unterm Berg gewesen bist.« Die Wildlinge kamen nahe heran. Sie sah von Jimmy noch einen schwachen Schimmer, dann war er verschwunden. Barbro lag von starken Armen gehalten an einer breiten Brust und fühlte un ter sich die Bewegungen eines Pferdes. Es mußte ein Pferd sein, obwohl auf den Höfen nur noch wenige gehalten wurden, meistens zu besonderen Zwecken oder aus Liebhaberei. Sie fühlte, wie sich die Mus keln unter seiner Haut bewegten, hörte, wie es Laub streifte, und das Dröhnen, wenn sein Huf auf einen Stein traf; in der Dunkelheit spürte sie Wärme und pulsierendes Leben. Der sie in den Armen hielt, sagte freundlich: »Hab keine Angst, Liebling. Es war nur ein Trugbild. Aber er wartet auf uns, und wir sind auf dem Weg zu ihm.« Ihr war irgendwie bewußt, daß sie eigentlich Schrecken oder Verzweiflung oder so etwas fühlen müßte. Aber die Erinnerungen lagen hinter ihr – sie 79
wußte nicht einmal genau, wie sie hierhergekommen war – sie wurde getragen von dem Gefühl, geliebt zu werden. Ruhe, Frieden, in der sicheren Erwartung kommender Freude … Nach einiger Zeit lichtete sich der Wald. Sie über querten eine Wiese, auf der sich im Schein der Mon de grauweiße Felsblöcke abzeichneten, deren Schat ten durch das unruhige Licht des Polarlichts zu schwanken schienen. Flatterlinge schossen wie klei ne Kometen von Blume zu Blume. Hoch oben glänz te ein Berggipfel, dessen oberste Spitze in Wolken gehüllt war. Barbros Augen waren nach vorn gewandt. Sie er blickte den Kopf des Pferdes und dachte mit leichtem Erstaunen: Das ist ja Sambo, der mir gehört hat, als ich noch ein kleines Mädchen war. Sie sah auf den Mann. Er trug einen schwarzen Umhang mit Kapuze, so daß sein Gesicht nur schwer zu erkennen war. Sie unterdrückte einen lauten Aufschrei und flüsterte: »Tim.« »Ja, Barbro.« »Ich war dabei, als sie dich ins Grab legten –« Er lächelte unendlich zart. »Dachtest du, wir sind nicht mehr als das, was dem Boden zurückgegeben wird? Mein armer, gequälter Liebling. Sie, die uns gerufen hat, ist die Allheilerin. Nun ruh dich aus und träume.« »Träumen«, sagte sie, und einen Augenblick lang kämpfte sie darum, aufzuwachen. Aber sie ließ es gleich wieder sein. Weshalb sollte sie diese langwei 80
ligen Geschichten glauben … über Atome und Ener gien – gab es nichts anderes, um diese unendliche Leere zu füllen … Geschichten, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte … da nun Tim sie auf dem Pferd, das ihr Vater ihr geschenkt hatte, zu Jimmy brachte? War das andere nicht vielleicht nur ein bö ser Traum gewesen und dies das erste, noch schlaf trunkene Erwachen? Er murmelte, so, als habe er ihre Gedanken ver nommen: »In den Ländern der Wildlinge gibt es ein Lied. Das Lied von den Menschen: Ein unsichtbarer Wind treibt die Segel der Welt. Licht umwirbelt den Bug, das Kielwasser ist Nacht. Aber die Ansässigen kennen solche Traurigkeit nicht.« »Ich versteh' es nicht«, sagte sie. Er nickte. »Es gibt sehr viel, was du lernen mußt, Liebling, und ich kann dich erst wiedersehen, wenn du diese Wahrheiten verstanden hast. Aber inzwi schen wirst du mit unserem Sohn zusammensein.« Sie wollte den Kopf heben, um ihn zu küssen. Er hielt sie zurück. »Noch nicht«, sagte er. »Du bist noch nicht unter das Volk der Königin aufgenommen wor den. Ich hätte eigentlich nicht kommen dürfen, um dich zu holen, aber sie ist zu barmherzig, als daß sie es verbieten würde. Leg dich zurück und ruh dich aus.« 81
Die Zeit flog dahin. Das Pferd galoppierte ohne zu ermüden und ohne zu stolpern den Berg hinauf. Einmal erblickte sie einen Trupp, der den Berg hin abritt, und dachte, daß sie zu einem letzten Gefecht im Westen zogen gegen … wen? … einen, der in Ei sen und Kummer eingeschlossen war – Später würde sie sich an den Namen des Mannes erinnern, der sie in das Land der Wundersamen Wahrheit gebracht hatte. Schließlich ragten vor ihnen prächtige Türme zu den Sternen auf, die klein und voll magischer Kraft sind und uns Trost zuflüstern, wenn wir gestorben sind. Sie ritten in einen Hof, in dem Kerzen brannten, Brunnen plätscherten und Vögel sangen. Die Luft duftete nach Brok und Pericoup, Gartenraute und Rosen, denn nicht alles, was die Menschen gebracht hatten, war schrecklich. Die Ansässigen standen würdevoll zu ihrem Empfang bereit. Hinter ihnen schlugen Pucks in der Dämmerung Purzelbäume; Kinder liefen unter Bäumen umher; neben feierlicher Musik erklang fröhliches Gelächter. »Wir sind da –« Tims Stimme war plötzlich nur noch ein Krächzen. Barbro wußte nicht, wie er mit ihr vom Pferd gestiegen war. Sie stand vor ihm und bemerkte, daß er schwankte. Angst stieg in ihr auf. »Fehlt dir was?« Sie ergriff seine Hände. Sie fühlten sich kalt und rauh an. Wo war Sambo geblieben? Sie blickte forschend zu der Kapuze auf. Die Beleuchtung war jetzt hell genug, so daß sie das Gesicht ihres Mannes deutlich hätte er 82
kennen müssen. Aber die Züge waren verwischt und veränderten sich ständig. »Was ist denn, oh, was ist los?« Er lächelte. War das das Lächeln, das sie so ge liebt hatte? Sie wußte es nicht mehr genau. »Ich, ich muß gehen«, stammelte er so leise, daß sie ihn kaum verstand. »Unsere Zeit ist noch nicht gekommen.« Er entzog sich ihr und stützte sich auf eine verhüllte Ge stalt, die an seiner Seite aufgetaucht war. Um beide bildete sich eine Dunstschicht. »Sieh nicht hin, wenn ich zurückgehe … in die Erde«, bat er. »Das würdest du nicht ertragen. Bis unsere Zeit kommt- Da, unser Sohn!« Sie konnte nicht anders, sie mußte sich umdrehen. Sie kniete nieder und breitete weit die Arme aus. Jimmy schoß auf sie zu und schmiegte sich an sie, warm und fest. Sie wühlte in seinem Haar; sie küßte seinen Hals; sie lachte und weinte und redete wirr durcheinander; dies war kein Geist, keine Erinne rung, die sich davonstehlen konnte, wenn sie die Au gen abwandte. Sie suchte nach Anzeichen von Ver letzungen, von Hunger, Krankheit oder Angst, aber sie konnte keine finden. Zwischendurch warf sie ei nen Blick auf ihre Umgebung. Die Gärten waren ver schwunden. Doch das kümmerte sie nicht. »Ich hab' dich so vermißt, Mutter. Bleibst du jetzt hier?« »Ich nehme dich mit nach Hause, Liebling.« »Bleib doch. Hier ist es so lustig. Ich zeig dir alles. Aber du mußt hierbleiben.« 83
Ein Seufzen ging durch die Dämmerung. Barbro erhob sich. Jimmy klammerte sich an ihre Hand. Vor ihnen stand die Königin. Eine hohe Gestalt in Gewändern, die aus Nordlicht gewebt waren, eine Sternenkrone auf dem Haupt und geschmückt mit Girlanden aus Küßmichnicht. Sie erinnerte an die Venus von Milo, deren Abbild Bar bro in den Ländern der Menschen gesehen hatte, nur war das Antlitz der Königin noch schöner und ho heitsvoller, der Blick ihrer nachtblauen Augen maje stätischer. Um sie herum tauchten die Gärten wieder auf, der Hof der Ansässigen und die zum Himmel ragenden Türme. »Sei willkommen für immer«, sprach sie; es klang wie ein Lied. Trotz ihrer Scheu sagte Barbro: »Mondmutter, laß uns heimkehren.« »Das ist nicht möglich.« »In unsere kleine, geliebte Welt«, bat Barbro wie im Traum, »die wir für uns und unsere Kinder errich ten.« »Zu stumpfen Tagen, qualvollen Nächten, Wer ken, die zwischen den Händen zerbröckeln, Liebe, die verfault oder versteint oder wie Treibkraut ver weht, Verlust und der einzigen Gewißheit, daß am Ende nichts ist. Nein. Auch du, Wanderfuß, wie du heißen sollst, wirst jubilieren, wenn unsere Heerscha ren die letzten Städte erobert haben und die Men schen zum wirklichen Leben erweckt werden. Nun geh mit denen, die deine Lehrer sein werden.« 84
Die Königin der Dämonen hob den Arm. Doch niemand folgte ihrer Aufforderung. Über dem Plätschern der Brunnen und den süßen Melodien erhob sich ein furchtbares Grollen. Feuer blitze und Donnerkrachen wechselten einander ab. Ihr Heer rannte schreiend vor der Stahlmaschine, die den Berg heraufbrauste, auseinander. Die Pucks wa ren unter erschrecktem Flügelflattern davongeflogen. Die Nikoren warfen sich mit ihren Leibern auf den Eindringling aus Stahl, bis ihre Mutter ihnen befahl, zurückzuweichen. Barbro bettete Jimmy auf den Boden und warf sich schützend über ihn. Türme schwankten und lösten sich auf. Der Berg stand kahl im Mondenlicht, schroffe Klippen zeichneten sich ab und in der Ferne ein Gletscher, in dem sich das bläuliche Flimmern des Polarlichts spiegelte. In einer Klippe öffnete sich ein dunkler Höhleneingang. Dorthin strömte das Volk, um im Innern des Berges Zuflucht zu suchen. Unter ihnen waren einige menschliche und einige groteske Gestalten wie Pucks, Nikoren und Geister; aber die meisten waren hagere, schuppenbedeckte Wesen mit langen Schwänzen und langen Schnäbeln, die weder Menschen noch Wildlingen ähnlich sahen. Jimmy weinte an Barbros Brust – vielleicht aus Angst, vielleicht aber auch, weil der Zauber zerstört war. Einen Augenblick tat ihr die Königin leid, die allein in ihrer Nacktheit stand. Dann war auch sie geflohen, und Barbros Welt zersplitterte. Der Geschützdonner verstummte; das Fahrzeug 85
hielt an. Heraus sprang ein Jüngling, der verzweifelt rief: »Traumschatten, wo bist du? Ich bin's, Nebel hirt. Komm, komm her!«, bevor ihm einfiel, daß sie früher in einer anderen Sprache als der der Menschen miteinander gesprochen hatten. Er rief in ihrer Spra che weiter, bis aus einem Gebüsch, worin es sich versteckt hatte, ein Mädchen hervorkroch. Sie starr ten einander durch Staub, Rauch und Mondschein an. Das Mädchen lief auf ihn zu. Vom Wagen her rief eine andere Stimme: »Bar bro, wir müssen uns beeilen!« In Christmas Landing war es Tag; er war um diese Jahreszeit zwar nur kurz, aber es gab hier Sonne, blauen Himmel, weiße Wolken, glitzerndes Wasser, salzige Seewinde, die durch belebte Straßen strichen, und die beruhigend normale Unordnung in Eric Sher rinfords Wohnzimmer. Sherrinford saß da, schlug die Beine übereinander und stellte sie wieder gerade und zog so heftig an seiner Pfeife, als wolle er sich in einen Schleier hül len. Schließlich sagte er: »Haben Sie sich wirklich wieder ganz erholt? Sie dürfen sich auf keinen Fall überanstrengen.« »Es geht mir gut«, antwortete Barbro Cullen. Doch ihre Stimme klang matt. »Ich bin noch etwas müde, ja, und man sieht es mir sicherlich auch an. Über ein solches Erlebnis kommt man wohl nicht in einer Woche hinweg. Aber ich bin wenigstens wieder auf den Beinen. Um ganz offen zu sein, ich muß wis 86
sen, was geschehen ist und was geschehen wird, be vor ich mich wieder ganz erholen kann. Ich habe nir gendwo eine Nachricht darüber gefunden.« »Haben Sie mit anderen darüber gesprochen?« »Nein. Ich habe allen Besuchern erklärt, ich sei zu erschöpft, um zu sprechen. Ich nahm an, daß die Zu rückhaltung der Presse einen Grund hat.« Sherrinfords Gesicht verriet Erleichterung. »Das war sehr klug von Ihnen. Ich habe darauf gedrungen, daß die Presse noch schweigt. Sie können sich vor stellen, welche Sensation es geben wird, wenn das veröffentlicht wird. Die Verantwortlichen waren auch der Meinung, daß sie etwas Zeit brauchten, um die Fakten zu sondieren und in einer ruhigen Atmo sphäre darüber nachzudenken und zu diskutieren, damit sie ihren Wählern, die zu hysterischen Reak tionen neigen, gleich eine vernünftige Lösung anbie ten können.« Seine Mundwinkel zuckten leicht. »Außerdem können Sie und Jimmy sich noch etwas erholen, bevor die Journalisten über Sie herfallen. Wie geht es ihm denn?« »Ganz gut. Er plagt mich allerdings ständig mit der Bitte, ihn an dem Wunderbaren Ort mit seinen Freunden spielen zu lassen. Aber er wird schon dar über hinwegkommen – in seinem Alter vergißt man schnell.« »Vielleicht trifft er sie später einmal wieder.« »Was? Wir haben doch nicht-« Barbro rückte in ihrem Sessel hin und her. »Ich habe auch schon alles vergessen. Ich kann mich an den letzten Teil der 87
Fahrt kaum mehr erinnern. Haben Sie von den ge raubten Kindern einige zurückgebracht?« »Nein. Der Schock, den sie erlebt haben, war schon schlimm genug. Hätte man sie gleich noch in eine … eine Anstalt stecken sollen? Nebelhirt, der im Grunde ein ganz vernünftiger Junge ist, hat mir ver sichert, daß sie durchkommen würden; sie können sich zumindest das Lebensnotwendigste beschaffen, bis irgendwelche Maßnahmen getroffen werden.« Sherrinford zögerte. »Ich weiß nicht, wie diese Maß nahmen aussehen werden. Das weiß im Augenblick noch niemand. Wahrscheinlich wird dazu gehören, daß diese Leute – oder ein Teil von ihnen, vor allem die, die noch jung sind – wieder in die menschliche Gesellschaft eingegliedert werden. Obwohl sie sich in unserer Zivilisation vermutlich niemals heimisch fühlen werden. Aber das ist vielleicht ganz gut so. Wir brauchen irgendeine Art von Verbindung zu den Ansässigen, die von beiden Seiten akzeptiert werden kann.« Daß er so sachlich darüber sprechen konnte, mach te sie beide unbefangen. Barbro konnte fragen: »Hab' ich mich eigentlich sehr komisch aufgeführt? Ich er innere mich daran, daß ich geheult und meinen Kopf gegen den Boden geschlagen habe.« »Aber nein, wieso denn.« Sherrinford zögerte ein paar Sekunden und dachte an den Stolz dieser Frau, bevor er aufstand, zu ihr hinüberging und ihr die Hand auf die Schulter legte. »Sie sind in einem Au genblick, in dem die Wirklichkeit einem Alptraum 88
glich, durch die geschickte Ausnutzung Ihrer verbor gensten Instinkte verführt und geködert worden. Da nach, als das verwundete Ungeheuer Sie davontrug, hat Sie offenbar ein anderes Wesen, das starke neu ropsychische Kräfte besitzen muß, in Halluzinatio nen versetzt. Meine Ankunft und die plötzliche bru tale Zerstörung aller Trugbilder hat Ihre Nerven sehr angegriffen. Kein Wunder, daß Sie vor Schmerz ge schrien haben. Aber vorher sind Sie noch selbständig mit Jimmy in den Wagen gekommen, und Sie haben mich in keinem Augenblick irgendwie behindern wollen.« »Und was haben Sie getan?« »Ich bin so schnell wie möglich zurückgefahren. Nach mehreren Stunden hatten sich die atmosphäri schen Störungen so weit gelegt, daß ich mit Porto london Verbindung aufnehmen konnte, und ich be stand darauf, daß man uns sofort mit einem Notflug zeug abholte. Nicht, daß es unbedingt notwendig gewesen wäre. Unsere Feinde hatten keine Chance, uns aufzuhalten. Sie haben es nicht einmal versucht. Aber der rasche Transport war bestimmt ganz nütz lich.« »So ähnlich hatte ich es mir gedacht.« Barbro fing seinen Blick auf. »Nein, was ich eigentlich fragen wollte, ist: Wie haben Sie uns dort gefunden?« Sherrinford trat einen Schritt zurück. »Mein Ge fangener hat mir den Weg gezeigt. Ich glaube nicht, daß ich einen von den Ansässigen getötet habe, die gekommen waren, um mit mir zu verhandeln. Ich 89
hoffe es jedenfalls nicht. Nach einigen Warnschüssen haben wir mit dem Wagen ihre Reihen durchbro chen, und dann konnten sie uns nicht mehr einholen. Es war wohl nicht sehr fair, Stahl und Treibstoff ge gen Fleisch und Muskelkraft einzusetzen. Vor dem Höhleneingang mußte ich ein paar von diesen Troll wesen niederschießen. Ich bin ganz und gar nicht stolz darauf.« Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Aber Sie waren ihre Gefangene, und ich konnte nicht wissen, was sie Ihnen alles antun würden.« Nach abermaligem Schweigen fügte er hinzu: »Ich möchte nicht, daß noch mehr Blut fließt.« »Wie haben Sie … den Jungen dazu gebracht … Ihnen zu helfen?« Sherrinford ging zum Fenster hinüber. Dort blieb er stehen und schaute auf den Borealen Ozean hin aus. »Ich hatte das Schutzfeld ausgeschaltet«, sagte er. »Ich ließ sie nahe herankommen, in vollem Glanz der von ihnen erzeugten Illusion. Dann schaltete ich das Schutzfeld wieder ein, und wir beide erblickten sie in ihrer wahren Gestalt. Auf der Fahrt nach Nor den habe ich Nebelhirt erklärt, wie er und seine Ge fährten getäuscht und gezwungen worden sind, in einer Welt zu leben, die niemals wirklich existiert hat. Ich habe ihn gefragt, ob er und die, an denen er hängt, weiter so leben wollten bis zu ihrem Tod, wie Haustiere – ja, die in begrenzter Freiheit auf Hügeln herumlaufen dürfen, aber immer wieder in den Traumkäfig zurückgerufen werden.« Aus Sherrin 90
fords Pfeife stiegen mächtige Rauchwolken auf. »Es war sehr bitter für ihn. Man hatte ihn glauben ge macht, daß er frei sei.« Wieder trat Stille ein, die nur durch den von unten heraufdringenden Verkehrslärm gestört wurde. Char lemagne hatte sich tief zum Horizont gesenkt und würde gleich untergehen; im Osten begann es schon zu dunkeln. Schließlich fragte Barbro: »Wissen Sie, warum?« »Warum sie Kinder geraubt und so aufgezogen haben? Das gehörte wohl mit zu dem Plan der An sässigen; außerdem gab es ihnen die Möglichkeit, Angehörige unserer Gattung genau zu beobachten und mit ihnen zu experimentieren – mit ihrem Geist, wohlgemerkt, nicht mit ihrem Körper; und schließ lich besitzen wir Menschen bestimmte Fähigkeiten, die ihnen vielleicht nützlich waren, wie zum Beispiel die Fähigkeit, das Tageslicht zu ertragen.« »Aber was war letztlich das Ziel von alldem?« Sherrinford begann im Zimmer auf und ab zu ge hen. »Die wirklichen Motive der Ureinwohner sind uns natürlich nicht bekannt«, sagte er. »Wir können nur zu erraten versuchen, wie sie denken mögen, ganz zu schweigen davon, wie sie fühlen. Aber unse re Vorstellungen scheinen sich mit den Fakten ver einbaren zu lassen. Weshalb haben sie sich vor den Menschen ver steckt? Ich nehme an, sie oder vielmehr ihre Vorfah ren – denn sie sind ja keine übernatürlichen Elfenwe sen, sondern fehlbar und sterblich wie wir –, ich 91
nehme an, sie waren zuerst nur vorsichtig, vorsichti ger als primitive menschliche Stämme, obwohl es auf der Erde einige gegeben hat, die sich fremden Ein dringlingen ebenfalls erst nach langer Zeit gezeigt haben. Rolands Ureinwohner werden die Ankömm linge beobachtet und belauscht und soviel von ihrer Sprache aufgeschnappt haben, daß sie sich eine Vor stellung davon bilden konnten, wie verschieden die Menschen waren und wie mächtig; und sie müssen erfahren haben, daß mehr Raumschiffe mit Siedlern ankommen würden. Es ist ihnen wohl nicht in den Sinn gekommen, daß man ihnen das Recht zugeste hen könnte, ihr Land zu behalten. Vielleicht sind sie noch versessener auf ihr Gebiet als wir. Und so be schlossen sie, uns auf ihre Weise zu bekämpfen. Wenn wir erst einmal Einblick in ihre Mentalität ge winnen, dann steht unserer psychologischen Wissen schaft bestimmt eine geistige Umwälzung bevor.« Begeisterung flammte in ihm auf. »Und das ist nicht das einzige, was wir lernen werden«, fuhr er fort. »Sie müssen eine eigene Wissenschaft besitzen, eine nichtmenschliche Wissenschaft, die auf einem anderen Planeten als der Erde entstanden ist. Denn sie haben uns so gründlich beobachtet, wie wir selbst es nicht besser können; sie haben einen Plan gegen uns aufgestellt, bis zu dessen Vollendung noch ein ganzes Jahrhundert oder mehr vergangen wäre. Und was mögen sie sonst noch alles wissen? Wie können sie ihre Kultur aufrechterhalten, ohne daß man etwas von Ackerbau, Bergbau, Häusern und dergleichen 92
bemerkt? Wie können sie ganz neue, intelligenzbe gabte Gattungen von Wesen erschaffen? Tausende von Fragen und Millionen von Antworten!« »Können wir tatsächlich von ihnen lernen?« fragte Barbro leise. »Oder werden wir doch nur über sie herfallen? Das ist's doch, wovor sie Angst haben, nicht wahr?« Sherrinford blieb stehen, stützte einen Ellbogen auf den Kaminsims und betrachtet seine Pfeife, wäh rend er antwortete: »Ich hoffe, daß wir sie mit mehr Nachsicht behandeln werden, als geschlagene Fein de. Sie sind zwar geschlagen und Feinde. Ihr Ver such, uns zu besiegen, ist fehlgeschlagen, und jetzt sind wir gewissermaßen dazu verpflichtet, sie zu be siegen. Denn sie müssen Frieden schließen mit der Welt der Maschinen, die sie auslöschen wollten. Aber sie haben uns niemals solche Grausamkeiten zugefügt wie wir unseren Mitmenschen in der Ver gangenheit. Und, ich wiederhole es, wir können er staunliche Dinge von ihnen lernen, und sie können auch von uns lernen, wenn sie erst einmal soweit sind, sich einer anderen Lebensweise gegenüber tole ranter zu verhalten.« »Vielleicht könnten sie in einer Reservation le ben«, schlug Barbro vor und war erstaunt, als er das Gesicht verzog und erregt antwortete: »Lassen wir ihnen ihren Stolz und ihre Ehre! Sie haben gekämpft, um die Welt, die sie seit jeher kennen, zu bewahren und zu schützen gegen diese dort –« Er deutete auf die Stadt. »Wir wären vielleicht glücklicher, wenn 93
wir ein bißchen weniger von all dem hätten.« Er ließ die Schultern hängen und seufzte. »Doch ich nehme an, wenn das Elfenland gesiegt hätte, dann wären wir Menschen auf Roland schließlich – zu frieden oder sogar glücklich – ausgestorben. Wir le ben mit unseren Archetypen, aber können wir auch unter ihnen leben?« Barbro schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.« »Wie?« Er war so überrascht, daß er seine Melan cholie vergaß, lachte und sagte: »Wie dumm von mir. In den letzten Tagen habe ich diese Vorstellung so vielen Politikern, Wissenschaftlern, Kommissaren und Gott weiß wem auseinandergesetzt, und da habe ich ganz vergessen, daß ich es Ihnen noch gar nicht erklärt habe. Auf unserer Fahrt war es nur eine ziem lich vage Idee von mir, und ich mag nicht über Ideen sprechen, die sich nicht beweisen lassen. Aber nach dem wir auf die Wildlinge gestoßen waren und er kannt hatten, wie sie vorgehen, bin ich mir ganz si cher geworden.« Er drückte den Tabak tiefer in den Pfeifenkopf. »In begrenztem Maß habe ich mein ganzes Berufsle ben hindurch einen Archetyp benutzt: den des ratio nal denkenden Detektivs. Es war nicht so sehr eine bewußte Pose, sondern einfach ein Bild, das zu mei ner Persönlichkeit und zu meinem Berufsstil paßte. Und dieses Bild veranlaßte andere Menschen zu ei ner entsprechenden Reaktion, egal, ob sie von dem Urbild gehört hatten oder nicht. Dieses Phänomen ist 94
gar nicht so ungewöhnlich. Man trifft zum Beispiel ab und zu Menschen, die in verschieden starkem Grade an Christus oder Buddha oder die Erdmutter, oder drücken wir es mal etwas weniger übertrieben aus, an Hamlet oder d'Artagnan erinnern. Solche hi storischen, erdichteten oder mythischen Personen sind urtümliche Vorstellungen der menschlichen Psyche. Wenn wir ihnen in unserem wirklichen Le ben begegnen, so reagieren Tiefschichten unserer Person, aber nicht unser Bewußtsein auf sie.« Sein Gesicht war wieder ganz ernst geworden. »Die Menschen haben auch Archetypen erschaffen, die nicht individuell sind. Die Anima, den Schatten – und, wie es mir scheint, die andere Welt. Die Welt des Zaubers und der Verzauberung mit halbmensch lichen Wesen wie Ariel oder Caliban, beide frei von den Schwächen und Leiden Sterblicher und deshalb über die Maßen mutwillig und leichtsinnig grausam; Wesen, die in der Dämmerung und im Mondschein leben, keine wirklichen Götter, aber im Dienste von solchen Herrschern, die über Wissen und Macht ver fügen – Ja, unsere Königin der Dämonen wußte ge nau, in welcher Gestalt sie einsamen Wanderern er scheinen mußte, welche Illusionen sie den Menschen ab und zu vorspiegeln und welche Lieder und Sagen sie unter ihnen in Umlauf setzen mußte. Ich möchte wissen, wieviel sie und ihre Untergebenen aus Mär chen der Menschen entnommen und wieviel sie sich selbst ausgedacht haben und wieviel die Menschen, ohne die Tradition zu kennen, wieder erfunden ha 95
ben, als in ihnen das Gefühl aufstieg, am Rande der Welt zu leben.« Schatten legten sich über den Raum. Es wurde käl ter, und der Verkehrslärm legte sich langsam. Barbro fragte mit gedämpfter Stimme: »Aber was sollte das alles bewirken?« »Das Leben eines Siedlers ist in mancher Hinsicht mittelalterlich«, antwortete Sherrinford. »Er hat we nige Nachbarn, erfährt kaum Nachrichten von außer halb, müht sich ab, in einem Land zu überleben, das ihn über Nacht mit unvorhersehbaren Katastrophen überraschen kann. Die Maschinenzivilisation, die seine Vorfahren hierher gebracht hat, ist sehr anfäl lig. Er könnte sie verlieren, wie das Mittelalter Grie chenland und Rom ›verloren‹ hat, wie die Erde die ser Zivilisation verlustig gegangen zu sein scheint. Nehmen wir einmal an, er wird durch die andere, ar chetypische Welt lange, stark und geschickt genug beeinflußt, dann wird er zu der festen Überzeugung gelangen, daß der Zauber der Königin der Dämonen stärker ist als die Kraft von Maschinen; zuerst folgt ihr nur sein Glaube, dann seine Tat. Oh, so etwas geht ganz langsam vonstatten. Es würde zuerst kaum bemerkt werden, höchstens von selbstzufriedenen Stadtmenschen. Aber wie lange könnten sich diese am Leben erhalten, nachdem sich eines Tages das ganze Hinterland dem alten Glauben zugewandt hat?« Barbro holte tief Luft. »Sie sagte zu mir, daß wir uns freuen würden, wenn ihre Heerscharen die letz 96
ten unserer Städte eingenommen hätten.« »Das würden wir dann sicherlich auch«, gestand Sherrinford ein. »Trotzdem glaube ich daran, daß man sich sein Schicksal selbst wählen sollte.« Er schüttelte sich, so als müsse er eine Bürde von sich abwerfen. Dann klopfte er die Asche aus seiner Pfeife und reckte sich. »Aber die Wildlinge werden keine Gefahr mehr sein.« Sie sah ihn gerade an. »Das haben wir Ihnen zu verdanken.« Seine hageren Wangen röteten sich. »Ich bin si cher, daß irgend jemand beizeiten – Aber das Wich tigste ist nun, was wir als nächstes tun werden, und das ist eine Entscheidung, die kaum ein Individuum oder eine Generation allein treffen kann.« Sie stand auf. »Es sei denn, die Entscheidung be trifft einen selbst, Eric«, sagte sie, wobei auch sie errötete. Seine Schüchternheit überraschte sie. »Ich hatte eigentlich gehofft, daß wir uns wiedersehn.« »Das werden wir bestimmt.« Ayoch saß auf Wolunds Barrow. Das Polarlicht pul sierte und warf so helle Strahlen über den Himmel, daß die abnehmenden Monde kaum mehr zu erken nen waren. Der Feuerdornbusch hatte seine Blüten verloren; nur hin und wieder leuchtete noch eine Blü te am Boden zwischen vertrocknetem Brok, das kni sterte, wenn man darauf trat, und einen Geruch nach Holzfeuer verströmte. Die Luft war warm, aber dort, 97
wo die Sonne untergegangen war, blieb kein Glühen zurück. »Laßt es euch gut gehen«, rief der Puck. Nebelhirt und Traumschatten drehten sich nicht mehr um, so als fürchteten sie sich davor. Sie gingen auf das La ger der Menschen zu, dessen Lichter im Süden einen neuen Stern bildeten, und waren bald nicht mehr zu sehen. Ayoch zögerte. Er hatte das Gefühl, daß er sich nun auch von ihr verabschieden müsse, die seit kur zem zwischen den Steinen des Grabhügels bei ihm schlief. Die Zeit für Liebe oder Zauber schien hier für immer vorbei zu sein. Ihm fiel nur ein altes Lied ein, das seine Gefühle ausdrücken konnte. Er sang leise vor sich hin: »Aus ihrer Brust eine Blume ersproß, die der Sommer verbrannte. Das Lied ist aus.« Dann breitete er die Flügel aus und begab sich auf die weite Reise.
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Lloyd Biggle jr.
Die höhere Instanz
Wie eine mächtige bebrillte Spinne saß InspectorCommander J. Harwell Graham inmitten seines Poli zeiapparates, immer auf dem Sprung, blitzschnell einzugreifen, wenn die Fäden des elektronischen Netzes berührt wurden. Grahams Aktionen waren aber geistiger Art. Durch die Kraft seiner Gedanken verstrickte er seine Opfer in ein Geflecht, das sie aus ihren verbrecherischen Plänen selber spannen. Der Inspector-Commander war ein Mensch, der sich während der Dienststunden ins Gewühl der Welt stürzte, sich dann aber, weil er überall nur auf Miß achtung des Gesetzes stieß, geschlagen zurückzog. Er beendete sein Nachmittags-Diktat mit einem Blick auf die Uhr. Der Diktatschreiber spie den letz ten Aktenvermerk auf seinen Schreibtisch aus. Gra ham las ihn sorgfältig durch, unterschrieb ihn und gab ihn der Maschine zum Kopieren und zur Vertei lung zurück. »Zehn Minuten vor Dienstschluß«, sagte er ins Mikrophon. »Wollen mal sehen, was die Mordverhü tung heute bringt.« »Bereit zur Vorführung, Sir«, antwortete seine Se kretärin sofort. Graham drückte auf einen Knopf, lehnte sich be 99
quem an die nachgiebigen Luftpolster und sah sich den Tagesbericht der Mordverhütung auf dem Wandbildschirm an. Der neu ernannte Assistant Inspector-Commander Roger Proller starrte auf die Bildfläche. Er war erst den zweiten Tag im Dienst, hatte aber schon alle Il lusionen aufgegeben. Der Inspector-Commander hat te die vorgesetzte Behörde im Verdacht, daß sie ihn eines Tages durch einen der neuen Assistenten erset zen wolle. Er behandelte sie sehr grob und ver brauchte vier im Jahr. Dabei gab es gar keinen Grund dafür. Denn die vorgesetzte Behörde hielt den In spector-Commander für unersetzlich. Man sagte den Assistenten ganz offen: Passen Sie auf ihn auf, scho nen Sie seine Kräfte, wo es nur geht, und bewahren Sie ihn unter allen Umständen vor einem Fehlschlag. Ein Versagen könnte ihn zugrunde richten. Worte und Zahlen flimmerten so rasch über den Bildschirm, daß Proller nur aus dem Zusammenhang gerissene Sätze erhaschen konnte: … wird morgen in London Mittag essen mit … Fall 2936 nichts Neues … ihr Auftrag für siebzehn … Fall 3162 … war nicht anwesend … übliche Rou tinearbeit …nichts Neues …Fall 3299 …kommt nicht zurück vor … Der Inspector-Commander, der diese Einzelheiten nicht nur las, sondern sie auch im Gedächtnis behielt und im Labyrinth seines Gehirnes registrierte, würde gleich nach beendeter Vorführung Prollers Gedächt nis erbarmungslos prüfen und es lückenhaft finden. 100
Ein roter Stern blitzte auf. Die unübersichtlich schnelle Folge der Worte verlangsamte sich und stand dann still, CLINGMAN, WALTER, FALL MV 3497. HAT AUFTRAG AUF ZWEI DUTZEND PUPPEN ERTEILT. DOKTOR STILER EMPFIEHLT ER NEUT VORGANG ABZUSCHLIESSEN. Proller sah in sein Notizbuch. Die Leute, die man im Verdacht hatte, daß sie einen Mord begehen woll ten, waren ja schon immer seltsame Zeitgenossen gewesen, aber dieser hier schien es ganz besonders zu sein. Er hatte ein kleines Vermögen in plastische, lebensgroße Nachbildungen eines Konkurrenten sei ner Firma gesteckt, verteilte sie in verschiedenen Po sen auf seinem Grundstück und machte jeden Abend seinen Rundgang, wobei er mit Messern nach ihnen warf. Die Ärzte hielten das für eine heilsame Abreak tion von mörderischen Impulsen. Der InspectorCommander hatte eine Ahnung, daß es sich um alles andere als um eine Abreaktion handelte, sondern ganz einfach um eine Zielübung. »Clingman, Walter, Fall MV 3497«, krächzte Graham. »Ärztliche Empfehlung abgelehnt. Überwa chung fortsetzen.« Wieder flimmerten Worte und Zahlen und zogen schneller vorüber. … 3545 ÜBLICHE ROUTINEARBEIT … HAT DREI ANGESTELLTE ENTLASSEN … FALL 3601 … HAT RECHTSANWALT AUFGESUCHT … VON GESTRIGEN EINKÄUFEN ZURÜCK GEKEHRT … 101
Wieder ein roter Stern, STAMITZ, CHRISTO PHER. FALL MV 3742. FELIX MANELLOW HAT DAS BÜRO DES VERDÄCHTIGEN HEUTE 14,36 AUFGESUCHT. WEGGANG 15,10. SOFORT ZUM VERHÖR GEHOLT. BEHAUPTETE, SEIN BESUCH WÄRE NUR EINE PRIVATE GE SCHÄFTSANGELEGENHEIT GEWESEN, VER WEIGERTE JEDEN WEITEREN KOMMENTAR. Graham knurrte wütend in das Mikrophon: »Ser geant Ryan! Sofort!« Ryan erschien fast sofort. Er war gerade im Sicht bereich des Fernauges gewesen, nun erschien sein Kopf zuerst. Graham richtete seine Augen auf den Schirm, während Ryan sich aufrichtete und salutierte. »Setzen Sie sich, Ryan. Stamitz hat sich also eine Handwaffe angeschafft.« »Es ist möglich, Sir. Man hätte sich Manellow vornehmen sollen, bevor er mit Stamitz zusammen kam. Bevor er wegging, hat ihn aber von den Män nern vom Dienst keiner erkannt.« Graham machte eine Geste der Ungeduld. »Manel low hat seit Jahren keine Waffe mehr persönlich ab geliefert. Wieviel Geld hatte er denn bei sich?« »Einen Hunderter, einen Fünfziger und einen Zeh ner. Etwas Kleingeld. Er könnte nicht mehr als eine erste Anzahlung kassiert haben.« »Oder eine letzte«. Graham wandte sich zur Sprechanlage. »Ich brauche einen Finanzbericht über Christopher Stamitz, MV 3742. Vor allem möchte ich wissen, ob er Geld auf ein illegales Konto abge 102
zweigt hat. Möglich, daß er das schon vor fünf Jah ren vorgehabt hat.« Er lehnte sich zurück und richtete seinen Blick auf Ryan. »Fünfzehn-Zehn. Stamitz ist jetzt im Besitz der Waffe.« »Die Männer sind mächtig auf der Hut, Sir!« »Korrektur. Er hat jetzt zu der Waffe Zugang. Ma nellow und Stamitz sind alle beide nicht dumm. Die Waffe liegt jetzt bestimmt an einem vorher verein barten Ort. Juristisch betrachtet also geliefert.« Gra ham dachte einen Augenblick mit gerunzelter Stirn nach. Mit seinen plumpen Fingern trommelte er auf den Schreibtisch. »Ich muß sagen, ich bin von Sta mitz etwas enttäuscht«, meinte er. »Er ist ein wissen schaftliches Genie und der begabteste Mordverdäch tige, der uns jemals in die Quere gekommen ist. Ich hätte nie gedacht, daß er seine Zuflucht zu einer plumpen Handwaffe nimmt.« Er drehte sich zu Ryan um. »Ist Bryling gewarnt worden?« »Jawohl, Sir. Man hat ihm Dauerüberwachung an geboten. Hat es natürlich abgelehnt. Machte seine Witze darüber. Hat keine Angst vor Stamitz, ob Handwaffe oder nicht. Das Übliche.« »Aber er steht doch trotzdem unter Schutz? Gut. Entschuldigen Sie mich, während ich mir noch die Mordverhütung bis zum Ende ansehe.« Als der Schirm endlich dunkel wurde, lehnte sich Graham mit geschlossenen Augen zurück. Einen Augenblick später erhob er sich. »Ich muß Stamitz aufsuchen. Vielleicht ist es noch zu früh, aber mir bleibt keine andere Wahl.« 103
Proller sprang besorgt auf. »Könnte ich das nicht übernehmen, Sir?« Der Inspector-Commander würdigte ihn keiner Antwort und sagte nur: »Kommen Sie mit. Alle bei de.« Es war eine Straße mit alten, uralten Häusern aus echten Ziegeln und mit merkwürdigen Geschäften für ganz besondere Kunden: Ein Pelzhändler, der keck behauptete, daß die Besätze auf den Kleidungs stücken, die er verkaufte, »direkt vom Tier zu Ihnen« kämen; eine Firma für naturechte Lebensmittel, die damit warb, daß sie echten Kaffee und echten Zucker auf Lager hatte. Das verblüffte Proller weniger als der Gedanke, daß es Leute gäbe, die so etwas auch tatsächlich haben wollten. Ein altmodischer Arzt, dessen verblaßtes Schild »Dr. med.« im leichten Wind knarrte, neben dem Schild des unvermeidli chen Apothekers, der die Tränke verkaufte, die der Arzt seinen arglosen Patienten verschrieb; Antiquitä tengeschäfte, von denen das eine um Kunden warb, die Sehnsucht nach Kunststoffartikeln aus alten Zei ten hatten. Keines der Gebäude hatte eine Parkmög lichkeit auf dem Dach. Sie mußten daher von der nächstgelegenen öffentlichen Arena aus laufen. Gra ham ging mit einem watschelnden Schritt, der sein Gewicht und sein Alter Lügen strafte. Proller schwitzte und behielt ihn sorgsam im Auge. Das Geschäft von Stamitz war ebenso schäbig und ausgefallen wie die anderen, aber es wies eher in die Zukunft als in die Vergangenheit. SUS-AN stand auf 104
dem Firmenschild, eine unbeholfene Bemühung von Stamitz, mit John Brylings luxuriösem Studio zu konkurrieren, das seine prächtige Fassade im näch sten Geschäftsviertel zur Schau stellte: LIFE SUSPEN SION UNLIMITED. Das Schaufenster von SUS-AN ent hielt nur ein paar staubige Prospekte, aber Graham blieb stehen, um sie zu studieren. Proller hätte gern gewußt, ob sein Chef jetzt vielleicht nicht recht wuß te, wie er vorgehen solle. Interviews waren immer der heikelste Teil einer Mordverhütung. Bei richtiger Handhabung und zum passenden Zeitpunkt wurden neun von zehn Mordwilligen wieder auf den rechten Weg gebracht, aber ungeschicktes Vorgehen konnte Monate gründlicher Polizeiarbeit zunichte machen. Ein Summer ertönte, als Graham die Tür öffnete und verstummte, als Ryan sie hinter ihnen schloß. Stamitz saß in einer Ecke des Raumes an einem Schreibtisch – ein kleiner, unordentlich gekleideter, traurig in die Welt sehender Mensch, bei dem die Fülle des Haupthaares im Gegensatz zu dem glatten Gesicht stand. Wenige würden ihm einen zweiten Blick gönnen, viele ihn überhaupt übersehen, aber Graham hatte ihn hochbegabt genannt. Proller be trachtete ihn neugierig und überlegte dabei, ob dieses traurige Stück Mann tatsächlich imstande wäre, ins geheim Pläne zu schmieden und sie vor Eingriffen durch andere mit der Kraft des Genies zu schützen. Stamitz raffte sich auf und streckte die Hand aus. Graham berührte sie nur flüchtig. »Christopher Sta mitz«, sagte Stamitz sanft. 105
Graham stellte sich kurz vor und legte seinen Ausweis auf den Tisch. Stamitz warf einen flüchti gen Blick darauf und sah Graham unschuldig mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Tatsächlich? Hat sich einer Ihrer Verdächtigen durch die Lebensunter brechung aus dem Staub gemacht?« Graham sah ihn finster an. »Wie bitte?« »Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Stamitz entschul digend und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Graham und Proller nahmen die zwei abgenutzten Besucher stühle in Beschlag; Sergeant Ryan blieb stehen. Das einzige noch vorhandene Möbelstück war ein niedri ger Tisch, auf dem unordentlich die gleichen Pro spekte wie im Schaufenster aufgestapelt waren. »Ich habe mich schon immer darüber gewundert«, fuhr Stamitz fort. »Ein Mensch begeht ein Verbre chen und unterzieht sich dann der Lebensunterbre chung, bis es verjährt ist. Nach unseren gültigen Ge setzen völlig legal. Nichts zu machen. Eine gesetz lich genehmigte Unterbrechung kann nur aus medi zinischen Gründen abgekürzt werden, und in dem einzigen Fall, in dem tatsächlich einmal ein medizi nisches Problem zur Debatte stand, war der Behan delte schon tot. Ich treffe jede erdenkliche Vor sichtsmaßnahme, aber ich habe weder die Zeit noch das Geld, um meine Kunden ordnungsgemäß zu prü fen. Andererseits, nachdem die Unterbrechung die Anwesenheit von zwei medizinischen Technikern, einen notariell beglaubigten Antrag und eine Ge nehmigung durch das Bezirksgericht erfordert, wer 106
den die meisten Verbrecher das für ein riskantes Abenteuer halten.« »Das Gericht verlangt üblicherweise eine polizei liche Untersuchung, bevor eine Genehmigung erteilt wird«, sagte Graham. »Immerhin, das ist nicht mein Problem. Meine Aufgabe ist die Verhütung.« »Aha! Sie befassen sich mit Verbrechen, bevor sie überhaupt begangen werden. Ja, ich kann mir vor stellen, daß jemand alle Vorbereitungen für eine Un terbrechung trifft und sein Verbrechen dann auf dem Weg zum Labor begeht. Er wäre dann mitten in der Behandlung, ehe jemand ahnte, daß ein Verbrechen begangen worden ist.« »Interessante Idee«, murmelte Graham. »Ich wer de mich damit befassen. Jetzt aber untersuche ich den Mordanschlag auf John Bryling.« »Bryling? Ist Bryling ermordet worden?« »Nein, nicht worden. Wird werden. Natürlich habe ich vor, das zu verhindern.« »Natürlich«, echote Stamitz. »Nur, ich verstehe nicht –« »Natürlich verstehen Sie.« Graham griff nach seiner Packung Rauchkapseln, steckte sich eine in den Mund, biß den Verschluß ab und paffte kräftig drauf los. Stamitz blies ein Rauchwölkchen an die Decke und wandte sich mit unschuldigem Gesicht zu Graham. »Ich habe durchaus Verständnis«, meinte Graham. »Moralisch ist Bryling ein Ungeheuer, aber eines, das sich an das Gesetz hält. Er hat Ihnen Ihre Firma und Ihre wissenschaftlichen Verfahren gestohlen, hat 107
Sie in einen Bankrott manövriert und erreicht, daß Sie zu einer Geldstrafe verurteilt und eingesperrt wurden. Und das wegen privater Forschung auf dem Verfahrensgebiet, das Sie selbst entwickelt haben. Er hat Ihre Familie ruiniert, mit Methoden, die zu ab scheulich sind, als daß man sie erwähnen könnte und er hat alles das getan, ohne ein einziges Gesetz zu verletzen. Nun brauchen Sie eine Lizenz für die Ver fahren, die er Ihnen gestohlen hat, damit Sie dieses schäbige Unternehmen führen können. In letzter Zeit unterbietet er nun auch noch die Preise, um Sie er neut zu ruinieren. Ich bin nicht dahinter gekommen, aus welchem Grund. Wissen Sie es?« Stamitz lächelte versonnen. »Ich glaube, er fürch tet mich, weil er Angst davor hat, ich könnte mich mit irgendeinem wissenschaftlichen Trick an ihm rächen. Mit gleicher Münze zahlen, wissen Sie!« Er lächelte wieder. »Ich glaube an eine höhere Gerech tigkeit, Inspector-Commander. Dieser Glaube hat mich am Leben gehalten.« Graham sagte trocken: »Trotz vieler offensichtli cher Fehler ist die einzige Gerechtigkeit, an die ich glaube, die Gerechtigkeit des Gesetzes. Ich habe Bry ling zu schützen, und damit schütze ich gleichzeitig auch Sie davor, das zu ruinieren, was von Ihrem Le ben noch übriggeblieben ist. Sind Sie bereit, sich ei ner hypnotischen Analyse zu unterziehen?« Stamitz platzte verblüfft heraus: »Aber warum denn?« »Um die Einzelheiten Ihres Anschlages auf John 108
Bryling offen darzulegen.« Stamitz kicherte. »Wenn ich einen Anschlag auf Bryling vor hätte, dann wäre er so tief begraben, daß ich selbst nichts davon wüßte. Ich wäre ebenso daran interessiert, es herauszufinden, wie Sie selber. Natür lich werde ich mich Ihrer hypnotischen Analyse un terziehen.« »Wann?« Stamitz zuckte die Schultern. »Wann es Ihnen paßt. Nein, sagen wir, nach vorheriger Vereinbarung. Ich kann es mir nicht erlauben, das kleine Geschäft, das ich habe, zu vernachlässigen.« »Morgen nachmittag?« Stamitz schlug einen Terminkalender auf und hielt ihn hoch, um die unbeschriebene Seite zu zeigen. »Morgen zu jeder Zeit.« »Wie ist es mit heute abend?« Stamitz blätterte eine Seite um. »Ich habe zwei Behandlungen vor. Mein größter Tag seit Monaten. Aber morgen jederzeit.« Graham kritzelte etwas auf eine Karte und übergab sie ihm. »Mein Büro ist in der Polizeizentrale. Ich werde das Nötige veranlassen.« Als sie das Gebäude verließen und zur Arena gin gen, meinte Proller: »Er scheint doch bereit zu sein, mit uns zusammenzuarbeiten.« »Bereit sein wird er morgen«, krächzte Graham böse. »Das war es, was ich herausfinden wollte. Er wird morgen bereit sein, weil er Bryling heute nacht ermorden will.« 109
Die vorgesetzte Dienststelle, genauer gesagt Com missioner Eustace Jevan, starrte ungehalten auf Prol ler und sagte gereizt: »Wenn der InspectorCommander sagt, Stamitz plant einen Mord, dann plant Stamitz einen Mord; darauf können Sie sich verlassen.« »Das erscheint so unglaublich«, protestierte Prol ler. »Wer kann denn genau sagen, warum sich Ma nellow mit Stamitz traf? Vielleicht wollte er nur ei nen Kostenvoranschlag für eine Unterbrechung. Der Inspector-Commander hat es doch nicht einmal für nötig gehalten, Stamitz danach zu fragen.« »In der ganzen langen Amtszeit von Graham ist in diesem Bezirk noch kein einziger geplanter Mord vorgekommen«, sagte die vorgesetzte Dienststelle kühl. »Er will beweisen, daß dieser Fall keine Aus nahme ist, und Sie können sicher sein, daß ihm das auch gelingt.« Der einsame See war ringsum von bunten Lichtern erhellt, die sich in dem leicht bewegten Wasser spie gelten. Die Villenterrasse hob sich als rechteckiger Lichtfleck vor der dunklen Weite des Waldes ab. Ei ne Polizeipatrouille führte Proller zu einem Anlege platz in der Nähe des Polizeiwagens, der in einer kleinen Lichtung parkte. Der Anführer des Polizeitrupps begrüßte Proller säuerlich. »Wissen Sie eigentlich, was hier vor sich geht?« »Der Inspector-Commander Graham ist dabei, ei 110
nen Mord zu verhindern.« »Er verhindert einen Mord! Und was machen wir in dieser Wildnis?« »Bryling wird von einem Fachmann für Lebensun terbrechung namens Stamitz ermordet werden«, sag te Proller. »In diesem Augenblick befindet sich Sta mitz in seinem Geschäft in der Innenstadt, zusammen mit zwei Medizintechnikern, einem Rechtsanwalt und einem bevollmächtigten Beamten des Bezirksge richts. Stamitz bereitet zwei Kunden auf die Unter brechung vor. Bryling hat, wie Sie wissen, Freunde zu sich eingeladen. Keiner von den beiden Über wachten wird in absehbarer Zeit das Haus verlassen, aber Stamitz hat eine Handwaffe und könnte einen anderen mit einem Verbrechen beauftragen. Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, daß heute nacht kei ner Bryling zu nahe kommt.« »Einschließlich seiner Gäste, nehme ich an«, sagte der Offizier in bitterem Ton. »Wenn ich viermal so viel Leute hätte wie jetzt, könnte ich etwas tun – vielleicht. Das Hauptquartier hat die Stärke nach dem üblichen Schlüssel festgesetzt, aber man hat dort noch nie etwas von Bäumen gehört. Ich habe jeden meiner Männer herangezogen, sie müssen die Nacht hier draußen zubringen, ohne Ablösung. Wenn ich sie an Brylings Zaun verteilt habe, dann sind sie so weit voneinander entfernt, daß jeder x-beliebige mit einem Infrarotdetektor glatt zwischendurch gehen könnte. Das Dickicht ist so dicht, daß ein Mann ge rade noch die Hand vor Augen sehen kann. Soeben 111
habe ich die Männer beauftragt, das Haus zu sichern. Das bedeutet einen unbefugten Eingriff, und Bryling wird uns morgen alle vor Gericht bringen. Es ist ganz ausgeschlossen, sich in diesem Schlamassel ruhig zu bewegen. Bei jedem dritten Schritt, den einer meiner Männer tut, stolpert er und fällt mit einem solchen Krach auf die Nase, daß Bryling und seine Gäste auf springen und ihre Gläser umwerfen werden. Ich staune nur, daß er noch nicht die Polizei gerufen hat.« »Es handelt sich darum, daß er morgen noch lebt – im Gerichtssaal oder außerhalb. Was ist?« »Der Inspektor-Commander möchte mit Ihnen sprechen.« Graham schnauzte Proller an. »Kommen Sie. Ich habe eben die Überwachung von Brylings Grund stück zurückgezogen.« »Aber warum denn?« »Habt Ihr Narren denn keine Verbindung mit den Männern von der Überwachung? Bryling ist vor fünf Minuten in seinem Privatwagen weggefahren, Rich tung Innenstadt. Stamitz hat ihn angerufen, und Bry ling hat das Haus sofort verlassen. Das haben wir erwartet. Er trifft sich mit Stamitz.« »Warum haben Sie das erwartet?« »Weil Stamitz in so verdächtiger Weise zuver sichtlich war. Er wußte genau, daß es uns nicht schwer fallen würde, ihn von Bryling fernzuhalten, aber er wußte auch, daß wir keine Möglichkeit hät ten, Bryling von ihm fernzuhalten, wenn Bryling ein 112
Zusammentreffen wünschte. Offenbar war er sicher, daß er es schaffen würde, Bryling zu einem Treffen mit ihm zu veranlassen.« »Was hat er ihm denn gesagt?« »Das werden wir nie erfahren. Brylings Visifon ist mit einem Zerhacker ausgerüstet, und Stamitz hat offenbar einen selbstgebauten. Unser Labor versucht es gar nicht erst, das Gespräch zu entschlüsseln.« »Dann ist hier also nichts mehr zu tun?« »Nein«, sagte Graham. »Kommen Sie mit. Wenn Bryling das Büro von Stamitz lebend verläßt, dann braucht er daheim keine Überwachung mehr.« Die alten Gebäude erschienen nachts merkwürdig gestaltlos. Nur das Geschäft von Stamitz war er leuchtet; die nächste Staßenbeleuchtung war weit entfernt. Wenn der Halbmond nicht gerade von Wol ken verdeckt war, gab er fast ebenso viel Licht. Proller duckte sich im Torweg des Pelzhändlers zusammen, beobachtete die Fenster von Stamitz und wünschte, Graham würde sich beeilen. Der Inspec tor-Commander war unterwegs, um einen Richter aufzutreiben, den er zur Ausstellung eines VorbeugeHaftbefehls überreden könnte. Er hatte aber keine andere Begründung vorzubringen als seine persönli che Vermutung, und das Unternehmen war nicht sehr erfolgversprechend. Bryling war schon lange vor Proller angekommen. Bald nach Bryling folgte ein Mann, den der Polizei trupp als dessen Rechtsvertreter erkannte. Im Büro von Stamitz war nun eine Konferenz im Gange: Bry 113
ling, Brylings Anwalt, die zwei Medizintechniker, die Stamitz für seine sonstigen Fälle angestellt hatte, der Anwalt von Stamitz und der Richter befanden sich in einer langen und, wie es schien, sehr angereg ten Diskussion. Stamitz schien darin keine Rolle zu spielen, und als die Besprechung schließlich mit vie len Floskeln und dem Unterzeichnen der Dokumente zu Ende ging, wurde ihm keines der Schriftstücke vorgelegt. Stamitz wartete mit höflicher Geduld, bis Brylings Anwalt die Papiere feierlich zusammengefaltet und in seiner Aktentasche verstaut hatte. Dann brachte er seinen eigenen Stapel von Schriftstücken hervor, und die beiden Anwälte begannen, sie genau zu prüfen. Zwei dunkle Gestalten watschelten über die unbe leuchtete Straße: Inspector-Commander Graham und ein wohlbeleibter, verdrießlicher Richter. »Richter Klinger«, stellte Graham vor. »Er möchte sich durch persönlichen Augenschein überzeugen, bevor er eine Verfügung ausstellt.« Proller berichtete, was er wahrgenommen hatte. Der Richter schnaubte verächtlich. »Das sieht ja so aus, als ob Bryling eine Unterbrechung antreten wollte. Natürlich braucht man dazu einen Haufen Papiere – wenn ein Multimillionär die Unterbre chung nimmt, dann sind tausend Dinge zu beden ken.« »Bei einem Konkurrenten?« fragte Graham. »Bei seinem schlimmsten Feind?« Selbst in der Dunkelheit war das betonte Schulter 114
zucken des Richters zu sehen. »Stamitz ist eine aner kannte Autorität, und bei einem Mann von seinem beruflichen Ansehen ist es unwahrscheinlich, daß er sich in seiner Arbeit von persönlichen Gefühlen be einflussen läßt.« »Unter normalen Umständen vielleicht nicht«, räumte Graham ein, »aber wenn Sie einen Mann rui nieren, dann sollte Ihnen Ihr gesunder Menschen verstand sagen, daß Sie ihm nicht Ihr Leben anver trauen.« »Das Gesetz ist nicht dazu dämmen Menschen da zu zu zwingen, seinen gesunden Menschenverstand zu gebrauchen«, sagte der Richter trocken. »Gehen wir hinein!« Sie gingen hinein und sahen sich verblüfften Ge sichtern gegenüber, die sehr bald einen ganz unter schiedlichen Ausdruck zeigten: Ärger bei den Spe zialisten, Wut bei Bryling und eine milde Amüsiert heit bei Stamitz. Proller murmelte, zu Graham ge wandt: »Er hat uns erwartet.« Graham nickte. Stamitz sagte sanft: »Wir hatten uns für morgen nachmittag verabredet, Sir.« »Das war vorgesehen unter der Voraussetzung, daß Bryling morgen nachmittag noch lebt«, knurrte Graham. Bryling errötete und sagte ärgerlich: »Ich habe es Ihren Leuten schon einmal gesagt – wenn ich wün sche, daß sich die Polizei in meine Angelegenheiten einmischt, dann werde ich sie darum ersuchen.« 115
Richter Klinger gebot mit einem Wink Schweigen. »Der Inspector-Commander hat eine schwerwiegen de Anklage erhoben«, kündigte er an. »Erwünscht einen Vorbeuge-Haftbefehl, ausgestellt auf Christo pher Stamitz. Die amtliche Begründung: Leben von John Bryling muß geschützt werden. Sind Sie aus eigenem freien Entschluß hier, Mr. Bryling?« »Natürlich.« »Sind Sie der Meinung, daß ihr Leben in Gefahr ist?« »Natürlich nicht.« »Es wird angenommen, daß Sie hier sind, um eine Unterbrechung anzutreten. Auf wie lange?« »Das Maximum. Fünfhundert Jahre.« »Ich frage nun die Zeugen: Ist Ihrer Meinung nach John Bryling aus seinem eigenen, freien Willen hier und führt sein Vorhaben durch?« Sie nickten ernst und antworteten im Chor: »Ja.« Der Richter sah den Justizbeamten streng an: »Wollen Sie bezeugen, daß das Vorhaben dieses Staatsbürgers sowohl legal wie freiwillig ist?« »Ich habe es schon getan.« Der Richter wandte sich an Graham. »Einer der Zeugen ist sein eigener Rechtsvertreter. Es steht Ih nen frei, das zu prüfen.« Graham fragte Bryling: »Wann haben Sie diesen freiwilligen Entschluß gefaßt?« »Ich habe schon seit Jahren daran gedacht. Das macht jeder, der mit unserer Branche zu tun hat.« »Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Wann 116
haben Sie sich endgültig entschlossen?« »Heute abend.« »Heute abend, inmitten einer Party, bei der Sie Gastgeber waren, haben Sie sich plötzlich ent schlossen, die Unterbrechung anzutreten. Daraufhin setzten Sie sich mit ihrem geschäftlichen Rivalen in Verbindung –« »Er hat sich mit mir in Verbindung gesetzt. Er sagte, er bearbeite zwei Fälle; er habe die notwendi gen Zeugen da und könne ebenso gut drei Fälle wie zwei bearbeiten, und er erinnerte mich, daß ich ihm schon lange zuvor gesagt hatte, eines Tages –« »Hat er einen besonderen Anreiz geboten?« Bryling gab keine Antwort. »Was für eine Drohung hat er ausgesprochen?« »Keine«, sagte Bryling. »Es war mein eigener Entschluß«. »Es gibt also keine gesetzliche Grundlage für eine Einmischung«, warf Richter Klinger ein. »Ich habe eine Bitte«, sagte Graham. »Ich möchte den medizinischen Experten des Amtes als Beobach ter einsetzen.« »Auf wessen Kosten?« fragte Stamitz. »Auf Amtskosten.« »Dann habe ich nichts dagegen. Wenn er innerhalb einer Stunde herkommen kann, dann kann er beo bachten oder teilnehmen oder was er sonst wünscht.« Der Richter fragte Bryling: »Sind Sie damit ein verstanden?« »Ich habe keine Einwände«, antwortete Bryling. 117
»Nun gut. In Anwesenheit des Medizintechnikers des Amtes kann die Behandlung vorgenommen wer den. Das verfüge ich hiermit.« Er nickte Graham flüchtig zu und watschelte da von. »Und das«, murmelte Graham, »ist das Beste, was ich tun konnte. Morgen, wenn Stamitz zur hypnoti schen Analyse erscheint, wird sich schon herausstel len, was wirklich passiert ist.« Der Rechtsanwalt war ruhig und von einer mit Verachtung gemischten Höflichkeit. »Als Gegenlei stung für seine Zusammenarbeit trotz der unglaubli chen Absonderlichkeiten Ihres Amtes, InspectorCommander, wurde mein Klient einer unerhörten und ungesetzlichen Belästigung ausgesetzt. Ich habe hier eine richterliche Verfügung, wonach jede weite re Einmischung in seine rechtmäßigen privaten und beruflichen Handlungen untersagt wird. Christopher Stamitz wird nicht zur hypnotischen Analyse er scheinen, und Sie werden aufgefordert, jede Überwa chung seiner Person und seines Eigentums zu unter lassen.« »Ich habe eine Vollmacht für die Überwachung geplanter Morde, die von drei Richtern unterzeichnet ist«, sagte Graham steif. »Seitdem das vermeintliche Opfer die Unterbre chung angetreten hat, braucht er wohl kaum noch weiteren Schutz durch Ihr Amt.« »Legen Sie Ihre Verfügung meiner Sekretärin vor, sie wird das Erforderliche veranlassen«, sagte Gra 118
ham. Der Rechtsanwalt ging, und Graham sank in seinem Stuhl zusammen und murmelte: »Geschla gen.« »Drei Medizintechniker haben bestätigt, daß die Behandlung normal vor sich gegangen ist«, meldete Proller. Graham schüttelte den Kopf. »Bryling ist tot.« »Die Kontrolluntersuchungen nach der Unterbre chung haben ergeben, daß der Behandelte alles gut überstanden hat.« »Nein. Er ist tot.« Die vorgesetzte Dienststelle starrte auf Proller. »Ihr einziger Auftrag«, bemerkte Commissioner Jevan kalt, »war der, darüber zu wachen, daß er nicht versagt. Mußte ich Ihnen dazu noch sagen, daß es auch Ihre Pflicht war, darauf zu achten, daß er nicht glaubt, versagt zu haben?« »Nein, Sir«, sagte Proller, »aber in diesem Augen blick weiß jeder, daß etwas sehr Merkwürdiges pas siert ist. Der Instinkt des Inspector-Commanders nennt es Mord. Die Untersuchungen der Medizin techniker haben aber ergeben, daß Bryling in übli cher Weise behandelt wurde und vollkommen ge sund ist. Alles, was ich brauche, ist eine amtliche Anordnung, daß sich das Labor damit beschäftigt, und dann kann ich die Wahrheit herausfinden.« »Wenn Ihre Tests negativ sind, dann wird nichts bewiesen und auch nichts widerlegt. Der InspectorCommander wird weiterhin denken, daß er versagt hat. Wenn Ihre Ergebnisse positiv sind, wird er wis 119
sen, daß er versagt hat. Bitte, erklären Sie mir doch, was diese Tests zur Ausführung Ihres Auftrags bei tragen könnten.« »Aber Sir –« »Der Inspector-Commander hat Hunderte vor ei nem Mord bewahrt. Er wird noch mehr davor behü ten, wenn nur seine Karriere nicht durch diesen einen lächerlichen Fall beendet wird. Ihre Aufgabe, Proller, ist es, die Karriere des Inspector-Commander zu ret ten.« »Jawohl, Sir.« Stamitz machte ein finsteres Gesicht. »Sie sind Grahams Assistent. Ich habe eine gerichtliche Verfü gung erhalten –« Proller winkte uninteressiert ab. »Ich will Sie nicht belästigen. Ich hab' nur mal rasch reingesehen, um meine Sympathie auszudrücken.« »Womit?« Proller sagte besänftigend: »Nach allem, was Bry ling Ihnen angetan hat, muß es doch ein schreckli ches Gefühl für Sie gewesen sein, eine Unterbre chung zu leiten, die ihn völlig dem Zugriff des Ge setzes entzieht. Er wird doch über Sie lachen, wenn er aufwacht.« »Ihr Mitgefühl ist verschwendet«, sagte Stamitz. »Ich stehe Bryling völlig objektiv gegenüber, abge sehen davon, daß ich ihm für das abgeschlossene Ge schäft dankbar bin. Eine 500-Jahre-Unterbrechung bringt einem schon etwas ein.« »Ich kann mir aber nicht helfen, wenn ich darüber 120
nachdenke, was er sagen wird, wenn er in fünfhun dert Jahren die Augen wieder aufschlägt. 'Ich bin entkommen! Ich habe meine Millionen beisammen, und Stamitz ist seit ein paar hundert Jahren schon zu Staub geworden und kann mir nichts mehr anhaben!' Was glauben Sie wohl, was er denken wird?« »Bryling läßt mich kalt«, sagte Stamitz wieder. »Wie ich Ihnen schon sagte, ich glaube an eine höhe re Gerechtigkeit. Wenn ich Bryling dieser überlasse, genügt mir das.« »Reicht die höhere Gerechtigkeit auch über fünf hundert Jahre hinweg?« fragte Proller. Stamitz gab keine Antwort. Proller stürzte in Grahams Büro und rief: »Stamitz hat gestanden!« »Das möchte ich bezweifeln«, sagte Graham matt. »Warum sollte er das tun?« »Um seinen Kopf zu retten. Er hat soeben eine Unterbrechung angetreten. Wenn das kein Einge ständnis –« »Stamitz? Eine Unterbrechung?« »Ja, Sir. Offensichtlich hat er Angst gehabt, daß wir ihm auf die Schliche kommen, was er getan hat, und so hat er sich über die Verjährungsfrist hinaus aus dem Staub gemacht.« »Für wie lange denn?« »Vierhundertneunundneunzig Jahre und acht Mo nate.« »Sie Vollidiot!« Graham sprang auf und lief auf geregt auf und ab. »Das ist kein Geständnis, das ist 121
ein Eingeständnis eines Fehlers! Das beweist, das die Unterbrechung vollkommen in Ordnung war. Stamitz wird gerade solange vor Bryling herauskommen, daß ihm noch die Zeit bleibt, einen Mord zu planen. Da er das Unterbrechungsverfahren erfunden hat, wer den die ahnungslosen Wissenschaftler der Zukunft ihn zweifellos in den Stand ihrer Forschungen ein weihen, und es wird ihm großen Spaß machen, mit dem Team zu arbeiten, das Bryling wieder erweckt!« »Dann – waren Sie also im Unrecht, wenn Sie glaubten, daß Bryling ermordet wurde?« »So ist es. Aber mit dieser Art Fehler will ich mich gerne abfinden«, sagte Graham frohlockend. »Veranlassen Sie, daß dem medizinischen Protokoll von Stamitz noch ein amtliches Schriftstück beige fügt wird. Die Techniker, die ihn aufwecken, sollen die Behörden verständigen, daß Stamitz die Unter brechung angetreten hat, um einen Mord zu begehen. Und dann können Sie unsere Akten schließen.« »Jawohl, Sir. Aber mit welcher amtlichen Begrün dung?« Graham lächelte. »Für die Personen, um die es hier geht, sind wir nicht mehr zuständig.« Der Labortechniker hatte nur eine zweitrangige Stel lung. Er wurde hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, eine komplizierte Analyse ganz allein zu machen und der Besorgnis, daß man ihm wegen ei genmächtiger Benutzung oder wegen Verschwen dung von Staatseigentum das Fell über die Ohren 122
ziehen würde. Er berichtete: »Ich habe alle Tests noch einmal gemacht. Es hat sich herausgestellt, daß die Verbindung M 4939 auf Quecksilberbasis ver wendet worden ist.« »Wenn es eine industriell hergestellte Verbindung ist, von wem sollte sie Stamitz dann bekommen ha ben?« »Ein Chemiker von seinen Graden könnte sie im Schlaf herstellen, und die nötigen Chemikalien hatte er.« Proller nickte nachdenklich. »Er hatte die Chemi kalien, und da diese Verbindung früher einmal all gemein verwendet wurde, dann muß doch eine Men ge medizinischer Literatur über die Giftwirkung exi stieren.« »Für etwas so Kompliziertes wie eine Unterbre chung braucht er doch bestimmte Informationen.« »In den letzten zwei Jahren hat er eine Menge Versuchstiere gebraucht«, sagte Proller. »Er hatte eine Lizenz für die Arbeit an einem neuen Unterbre chungsverfahren.« »Wie hat er es dann fertig gebracht, drei Medizin techniker zu täuschen und nicht auch Sie?« »Die Medizintechniker haben mit jeder Charge der verwendeten Mittel ihre eigenen Tests gemacht, so bald die Mittel fertig waren. Ich habe ein paar von Stamitzens Teströhrchen mitgehen lassen, und wenn er nicht hinsah, habe ich auch Muster von jeder Charge mitgenommen, nachdem er sie in Bryling hineingepumpt hatte. Das Gift war in der letzten 123
Charge. Offensichtlich hat er es fertiggebracht, das Gift hineinzuschmuggeln, nachdem die Techniker ihre Tests abgeschlossen hatten.« »Dann müssen wir also einen Mord anzeigen.« »Es liegt kein Mord vor«, sagte Proller. »Im Ge genteil – Bryling ist vollkommen gesund.« »Immerhin ist sein Leben in Gefahr. Man sollte etwas tun.« Proller schüttelte den Kopf. »Solange er sich in der Unterbrechung befindet, ist er vollkommen si cher. Wenn er aufgeweckt wird, wann immer das auch sein mag, hat er nur noch ein paar Minuten zu leben, nachdem der Organismus wieder angefangen hat zu funktionieren, und auch die werden voller Qual sein.« »Dann sollte man für eine gerichtliche Verfügung sorgen, daß er ausgepumpt wird.« »Jetzt ist er eingefroren. Sie können nichts aus ihm herauspumpen, wenn Sie ihn nicht gänzlich auftauen, und das heißt Wiederbelebung. Es würde sowieso nichts mehr nützen – das Gift ist schon in seine le benswichtigen Organe eingedrungen, und er war ihm schon ausgesetzt, bevor die Auswirkungen entdeckt wurden. Sagte ich Ihnen nicht, daß Stamitz zwei Jah re lang Versuche mit Tieren gemacht hat? Wenn Bryling erweckt wird, dann hat er gerade noch so lange zu leben, um zu sterben – unter Schmerzen.« »Aber wie zum Teufel hat Stamitz es denn nur fer tig gebracht, Bryling in sein Geschäft zu locken?« Proller lächelte gequält. »Er hatte Unterstützung – 124
durch uns! Er bezahlte Manellow dafür, daß er ihm einen Besuch machte, und Inspector-Commander Graham ging ihm wider besseres Wissen auf den Leim –Das war seine Pflicht. Dann verschaffte er Bryling massiven Schutz gegen die Handwaffe, die Manellow nie verkauft hatte und die Stamitz auch in keinem Fall benutzt hätte. Der ganze Schutz hat schließlich nur dazu gedient, Bryling halb zu Tode zu ängstigen. Dann führte Stamitz ein verschlüsseltes Gespräch mit Bryling und sagte: »Ich habe eine Menge Handwaffen und Leute, die sie auch bedienen können. Sie werden gerade jetzt von ihnen über wacht.« Und Bryling, der soeben mitangehört hatte, wie sich im Wald nahe seiner Terrasse vier Kompa nien Polizei tummelten, war wahrscheinlich dem To de nah. Stamitz stellte ihn vor die Wahl, entweder augenblicklich zu ihm zu kommen und eine 500 Jahre-Unterbrechung anzutreten, oder sofort zu ster ben.« »Das mag alles stimmen«, sagte der Techniker. »Aber warum hat Bryling denn keine Hilfe geholt?« »Er hat geglaubt, daß ihn die Mörder im Wald er schießen würden, sobald er das Haus verläßt. Er tat genau das, was Stamitz ihm gesagt hatte – er blieb in Sicht und machte keine falsche Bewegung, während er seinen Anwalt verständigte und seinen Wagen kommen ließ. Dann fuhr er schnell direkt zum Büro von Stamitz, weil Stamitz ihm gesagt hatte, daß er verfolgt würde, und das stimmte auch – durch eine ganze Polizeikolonne. Sobald er ankäme, so meinte 125
er, würden sich aus dem Hinterhalt Waffen auf ihn richten. Selbst als die Polizei kam, machte er daher keinen Fluchtversuch. Seit Jahren hatte er vor Sta mitz Todesangst – das geht aus allem hervor, was er tat. Er war überzeugt, daß Stamitz eine Handwaffe benutzen würde, wenn er eine hätte, und die Polizei hatte ihm gesagt, daß Stamitz eine besitze. Er glaub te, die einzige Alternative zu einem augenblicklichen Tod sei eine Unterbrechung. Sobald er sich damit abgefunden hatte, zog er natürlich eine freiwillige Unterbrechung vor. Er wünschte sie sogar so schnell wie möglich.« »Aber warum hat denn Stamitz eine Unterbre chung angetreten?« »Um das herrliche Vergnügen zu haben, Bryling sterben zu sehen. Wozu denn sonst? Eine Zeitlang habe ich geglaubt, ich hätte es ihm selbst eingeredet, aber das war, bevor Sie mit Ihrer Analyse fertig wa ren. Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet, es tut mir leid, daß ich sie zerreißen muß. Aber wenn In spector-Commander Graham sie sieht, dann wird er wissen, daß es seine erste Panne in der Mordverhü tung war.« »Wir sollten trotz allem etwas tun«, sagte der Techniker hartnäckig. Proller schüttelte den Kopf. »Nein. Überhaupt nichts, und ich werde auch Grahams Auftrag nicht beachten, seinem medizinischen Protokoll eine In formation beizulegen. Sehen Sie, wir wissen – noch – nicht, wie die natürliche Sterblichkeit während der 126
Unterbrechung sein wird.« »Ja, das stimmt«, pflichtete der Techniker bei. »Und ob der Mensch nach der Erweckung durch die Nachwirkung eines fünfhundertjährigen Schlafes nicht doch bald stirbt.« »Das kann ja sein, aber ein Mensch wurde ermor det oder wird jetzt ermordet oder wird ermordet wer den. Sollte so etwas nicht Commissioner Jevan ent scheiden?« »Das hat er schon getan. Er hat mir seine Anwei sungen gegeben, und ich werde sie befolgen. Ich denke auch daran, daß der Inspector-Commander selber Bryling ein Ungeheuer genannt hat. Er hat Stamitz seine Firma und seine wissenschaftlichen Verfahren gestohlen, hat ihn zum Bankrott getrieben und es fertiggebracht, daß Stamitz zu einer Geldstra fe verurteilt und eingesperrt wurde wegen privater Forschung in Verfahren, die er selbst entwickelt hat te. Dann hat er seine Familie in einer Art und Weise ruiniert, die zu abscheulich ist, als daß man sie er wähnen könnte – alles, ohne das Gesetz zu verletzen. Er brachte Stamitz sogar dazu, die Lizenzen für seine eigenen gestohlenen Verfahren zu erwerben und da mit ein Unternehmen zu betreiben, das ihm gerade das Existenzminimum sicherte. Dann hat Bryling ein zweites Mal versucht, ihn durch Preisunterbietung zu ruinieren. Alles das, und trotzdem ist das Gesetz im mer noch auf seiner Seite. Was sagen Sie dazu?« »Ich verstehe. Ein Mord in fünfhundert Jahren ist keine Sache, die einem den Schlaf rauben sollte, be 127
sonders, wenn das Opfer ein Schweinehund ist wie Bryling. In diesem Fall werden Sie und ich die höhe re Instanz sein, und das Protokoll zerreißen.« »Nicht ›höhere Instanz‹«, sagte Proller mit einem Lächeln. »Höhere Gerechtigkeit.«
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Theodore Sturgeon
Occams Regel
I Joe Trilling hatte einen erfreulichen Weg gefunden, sein Leben einzurichten. Es war ein gutes Leben, wenn es auch den üblichen Konventionen nicht ent sprach. Er lebte in den Bergen, eine halbe Meile von einem malerischen Dörfchen entfernt, in reiner Luft, zwischen Pinien, Birken und Berglorbeer, und er war sein eigener Herr. Für seine Tätigkeit hatte er kaum eine Konkurrenz zu befürchten. Seine Frau und seine Kinder waren immer um ihn, und er bekam mehr Aufträge, als er erfüllen konnte. Er war ein Nacht mensch. Wenn seine Familie zu Bett gegangen war, konnte er ruhig und ohne Unterbrechung arbeiten. Er war glücklich wie eine Muschel. Eines Nachts- besser gesagt, sehr früh am Morgen – wurde er jedoch unterbrochen. Tok-tok, tok, tok. Ein Klopfen am Fenster, zweimal kurz, zweimal lang. Er erstarrte, er wirbelte herum, denn er kannte dieses Klopfzeichen. Er hatte es seit Jahren nicht mehr gehört, aber es war zu einem Teil seines Le bens geworden, seit er geboren war. Er sah das Ge sicht draußen vor den Scheiben und füllte seine Lun gen, um einen Freudenschrei auszustoßen, der das 129
ganze Haus geweckt und die Feuerwehr alarmiert hätte, aber dann sah er den Finger auf den Lippen und ließ die Luft unhörbar wieder entweichen. Der Finger winkte ihm, und er eilte freudig erregt, aber leise zur Tür. Er huschte hinaus, schloß die Tür vor sichtig und spähte in die Dunkelheit. »Karl?« – »Seht!« Dort war er, unter den Bäumen. Joe Trilling ging zu ihm, und sie begrüßten sich mit Boxschlägen, flü sterten Flüche und benannten sich mit den unflätig sten Namen. Dieses etwas eigentümliche menschli che Verhalten hätte ein Außerirdischer kaum ver standen. Es heißt: Ich möchte dich berühren, es heißt: Ich liebe dich. Sie waren Männer und Brüder, und so schlugen sie sich auf die Arme und auf die Schultern und schleuderten sich gegenseitig Beleidigungen ins Gesicht, aber sie meinten genau das Gegenteil. Sie standen im Schatten, hielten sich aneinander fest, grinsten und verschlangen sich mit den Augen. Dann machte Karl eine Kopfbewegung zur Straße, und sie gingen vom Haus fort. »Ich möchte nicht, daß Hazel uns hört«, sagte Karl. »Ich möchte nicht, daß sie oder irgendjemand anderer weiß, daß ich hier war. Wie geht es ihr?« »Ausgezeichnet. Willst du sie denn nicht sehen – oder die Kinder?« »Ja, aber nicht dieses Mal. Da ist der Wagen. Wir können uns dort unterhalten. – Ich habe vor diesem Dreckskerl wirkliche Angst.« »Ah«, sagte Joe. »Wie geht es dem großen Mann?« 130
»Armselig«, entgegenete Karl. »Aber wir sprechen von zwei verschiedenen Dreckskerlen. Der große Mann ist nur der reichste Mann der Welt, aber vor ihm habe ich keine Angst, besonders jetzt nicht. Ich spreche von Cleveland Wheeler!« »Wer ist Cleveland Wheeler?« Sie setzten sich in den Wagen. »Das ist ein Leihwagen«, erklärte Karl. »Es ist so gar schon der zweite. Als ich aus dem Firmenflug zeug stieg, nahm ich mir einen Dienstwagen. Nach einer Weile ließ ich ihn stehen und mietete mir einen anderen, und danach diesen. Er hat mit ziemlicher Sicherheit keine eingebauten Lauschmikrofone. Das ist die eine Antwort auf deine Frage, wer Cleve Wheeler ist. Die andere heißt, daß er der Mann hinter dem Thron ist. Der nächste in der Linie, ein vielge sichtiges Genie. Ein Killerhai.« »Der nächste in der Linie«, sagte Joe, auf die ein zigen Worte eingehend, die für ihn einen Sinn erga ben. »Ist der alte Mann auf dem absteigenden Ast?« »Offiziell – und es ist ein offenes Geheimnis – sein Hämoglobingehalt beträgt vier. Sagt dir das et was, Herr Doktor?« »Natürlich, Herr Doktor. Malnutritive Anämie, wenn die anderen Gerüchte, die mir zu Ohren ge kommen sind, auf Wahrheit beruhen. Der reichste Mann der Welt – und er stirbt den Hungertod.« »Und an Altersschwäche – und an Dummheit – und an Dickköpfigkeit. Möchtest du etwas über Wheeler hören?« 131
»Erzähle.« »Er ist ein Hans im Glück. Ihm wurde alles in die Wiege gelegt. Ein griechisches Profil. Muskeln wie von Michelangelo. Seine außergewöhnlichen Talente wurden durch einen aufgeschlossenen Volksschuldi rektor frühzeitig erkannt, und er wurde auf eine Pri vatschule geschickt. Er war ein lernbegieriger Junge, der seine Lehrer mit Fragen bestürmte. Mit zwölf Jahren kam er auf die Hochschule. Er war ein guter Sportler –Basketball – Football und Hochsprung – und für jede dieser Sportarten erhielt er Auszeich nungen. Er promovierte innerhalb drei Jahren summa cum laude. Seit Beginn aller Zeiten gab es kein sol ches Talent. Er vereinigte in sich alle Eigenschaften des Erfolgsmenschen. Auf dem College war es das gleiche: er bewältigte den Stoff von mindestens sechzehn Semestern in seinem ersten und promovier te natürlich wieder mit höchsten Auszeichnungen.« Joe Trilling, der sich durch das College und die medizinische Fakultät wie ein Bagger durchgefressen hatte, brummte neidisch: »Ich habe ein oder zwei solcher Genies gesehen. Jeder bewundert sie, aber niemand sieht, wie leicht es ihnen eigentlich fällt.« Karl schüttelte den Kopf. »Mit Cleve Wheeler war das nicht so. Er hatte das Rüstzeug, ja, aber er mußte sich alles schwer erarbei ten. Er war wie ein 400-PS-Wagen im 60-PSVerkehr. Wenn seine Kraft gefordert wurde, so ge brauchte er sie, bis zur Erschöpfung. Er war ein sehr willensstarker Junge. Gut – er konnte sich seinen 132
Platz wählen, er hatte das Zeug dazu, Karriere zu machen. Er ging in eine Architekturfirma, in der er seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Mathematik und der Kunst und seine administrativen Fähigkeiten gut anwenden konnte. Er arbeitete sich bald bis an die Spitze vor und wurde Partner des Firmeninha bers. Nebenbei machte er noch seine Doktorarbeit, und er verheiratete sich ausgesprochen gut.« »Hans im Glück«, sagte Joe. »Hans im Glück, ja. Hör zu. Wheeler wurde also ein Partner, und er verrichtete seine Arbeit und er war mit der Materie vertraut – er konnte alles lernen und alles verstehen. Doch Lernbereitschaft und Ver ständnis reichen nicht aus, um mit Dingen wie Gier oder Dummheit oder korruptem Geschäftsgebaren konkurrieren zu können. Zwei seiner Partner hatten sich in einen Handel eingelassen, mit dessen Einzel heiten ich dich nicht langweilen will. Es ging um ei nen großen Apartment-Komplex am falschen Platz, für den falschen Auftraggeber und um den Erwerb eines Grundstücks auf nicht korrekte Art. Wheeler sah das Unglück voraus. Er rief die Partner zu sich und besprach mit ihnen den Fall. Sie sagten ja-ja, gingen und taten, was sie wollten, – Wheeler hätte ein solches Verhalten niemals erwartet. Hohe Fähig keiten, ausgeprägte ethische Grundsätze und eine gute Erziehung bewahren einen nicht vor Naivität. Und Cleve Wheeler war naiv. Die reine Unschuld. Nun, es passierte genau das Unglück, das Cleve vorausgesehen hatte, aber es war noch viel schlim 133
mer, als er es erwartete. Wie so oft bei diesen Din gen, zog ein Unheil das andere nach sich. Die Firma brach zusammen. Cleve Wheeler hatte in seinem ganzen Leben noch keinen Fehlschlag erlebt. Das war die einzige Sache, in der er noch keine Erfah rungen sammeln konnte. Der gesunde Menschen verstand hätte ihm jetzt sagen müssen, es sei das be ste, fortzugehen, sich hinzulegen, sich auszuruhen, die Verluste so gut es ging zu verschmerzen. Doch das entsprach nicht der Natur eines Cleveland Whee ler.« Karl Trilling lachte plötzlich. »In einem von Phillip Wylies Romanen gibt es ei ne Beschreibung von einem fürchterlichen Wald brand und von der Flucht der Tiere. Füchse und Ka ninchen rennen Schulter an Schulter, die Eulen flie gen am Tag, um den Flammen zu entrinnen. Dann ist da ein kleiner Käfer, der auf dem Boden krabbelt. Der Käfer nähert sich den Flammen, dem Rand einer brennenden Hölle. Er hält inne, er wittert mit seinen Fühlern, und er beginnt, um das Feuer herumzulau fen.« Er lachte wieder. »Und siehst du, das ist die Art von Cleve Wheeler. Sein Instinkt, der unter seinen Muskelpaketen und seinem brillanten Geist schlum mert! So wie der Käfer floh er nicht, und er gab nicht auf. Und wenn er auch nicht viel mehr tun konnte, als drumherumzulaufen, er blieb und lief.« »Was passierte dann?« fragte Joe. »Er blieb, und er versuchte zu retten, was zu retten war. Er setzte alles ein, was ihm zu Gebote stand. Er 134
brauchte seinen Verstand und seine ganze Persön lichkeit und seinen Ruf und sein ganzes Vermögen. Er pumpte und er versprach – und er arbeitete. Oh, und wie er arbeitete! Kurz und gut, er bewahrte die Firma vor dem Ruin. Er säuberte sie von allem Unrat und baute sie völlig neu auf, und sie wurde stark und ehrlich. Aber das kostete ihn viel. Es kostete ihn Zeit – alle Stunden eines jeden Ta ges, mit Ausnahme der wenigen, die er zum Schlafen brauchte. Und als er endlich einen Erfolg sah, sein Ziel fast erreicht hatte, da kostete es ihn seine Frau.« »Du sagtest, er sei gut verheiratet gewesen?« »Er hatte geheiratet, wie man eben als junger, er folgreicher Mann heiratet. Sie war ein nettes Mäd chen. Man kann ihr vielleicht noch nicht einmal ei nen Vorwurf machen, denn sie war es noch viel we niger gewöhnt, Fehlschläge hinzunehmen, als er. Er hatte die Stärke, es zu ertragen. Ihm genügte es, in einem möblierten Zimmer zu leben und mit dem Bus zu fahren. Sie ging, und sicherlich hat sie sich den bei Frauen üblicherweise in irgendeinem Winkel ab gelegten Liebhaber zurückerobert.« »Wie nahm er es auf?« »Schwer. Er hatte geheiratet, wie er überhaupt al les tat, mit seiner ganzen Kraft und aus vollem Her zen. Ob er nun Ball spielte oder Examen ablegte, er nahm nichts auf die leichte Schulter. Aber ich glau be, daß dies das gravierendste Ereignis in seinem bisherigen Leben war. Doch er ließ sich dadurch nicht unterkriegen. Er ließ sich durch nichts unter 135
kriegen. Verbissen arbeitete er weiter, bis alle Rech nungen bezahlt waren, bis auf den letzten Cent. Er ruhte nicht eher, bis die Firma wieder denselben Wert hatte wie vor dem Zusammenbruch. Und dann gab er sie weg. Er gab sie weg! Er verkaufte seine Rechte und Titel für einen Dollar!« »Schließlich verrückt geworden, hm?« Karl Trilling warf seinem Bruder einen fast ver ächtlichen Blick zu. »Verrückt! Das ist eine Sache der Definition. Er war wieder auf der untersten Sprosse der Erfolgslei ter angekommen, sein Kontostand war null! Kannst du das verstehen? Was ist Erfolg überhaupt? Bedeu tet Erfolg, daß man sich nur seinem eigenen Gewis sen gegenüber verantwortlich fühlt, das tut, was der Augenblick einem eingibt, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen zu nehmen?« »So gesehen«, warf sein Bruder ein, »ist auch Selbstmord ein Erfolg.« Karl schaute ihn lange und durchdringend an. »Richtig«, sagte er und dachte einen Moment dar über nach. »Aber warum hat er das getan?« fragte Joe. »Ich habe Nachforschungen über Cleve Wheeler angestellt, aber in seinen Kopf konnte ich nicht schauen. Ich weiß es nicht. Ich kann mir höchstens eines denken: Er wollte niemandem Dank schuldig sein. Ich weiß nicht, wie er sich der Firma gegen über, die er gerettet hatte, verpflichtet fühlte. Ich stel le mir vor, daß er es vor sich selbst nicht verantwor 136
ten konnte, sich in irgendeiner Form an ihr zu berei chern. Vielleicht wollte er aussteigen, aber nur unter der Voraussetzung, daß nichts zurückblieb, was ge gen ihn sprach.« »Okay«, sagte Joe. Karl Trilling dachte: Das Schöne am alten Joe ist, daß er warten kann. Die ganzen Jahre, in denen wir kaum Verbindung miteinander hatten, außer den ge legentlichen Geburtstagskarten – und manchmal noch nicht einmal die – und nun ist er da, so als seien wir jeden Tag zusammen gewesen. Ich wäre nicht hier, wenn es sich nicht um etwas Wichtiges handel te; ich würde ihm das alles nicht erzählen, wenn er es nicht wissen müßte; und diese Notwendigkeit be stünde nicht, wenn ich nicht seine Hilfe brauchte. Alles das bleibt ungesagt – ich muß nicht erst fragen: Warum breche ich in sein Leben ein? In welcher Weise störe ich sein Leben? Ich brauche mir darüber keine Sorgen zu machen. Er wird schon selbst darauf achtgeben. Er sagte: »Ich bin froh, daß ich hergekommen bin.« Und Joe sagte: »Ist schon in Ordnung.« Und in diesen Worten lag all das, was Karl gedacht hatte. Karl grinste und schlug ihm auf die Schulter, dann fuhr er fort zu erzählen. »Wheeler verschwand in der Versenkung. Es ist nicht leicht, seine Spuren in dieser Periode seines Lebens zu verfolgen. Er lebte in mindestens drei Kommunen, in denen chaotische Zustände herrsch 137
ten, als er kam, und die vorbildlich waren, als er sie verließ. Er begann eine rege Tätigkeit. Rief Dinge ins Leben, die es niemals vorher gegeben hatte. Zum Beispiel einen großen Supermarkt ohne Regale, ohne Musikberieselung, ohne Preisausschreiben oder Ra battmarken. Es gab nur aufgestapelte, offene Kar tons, aus denen sich die Kunden das holten, was sie brauchten. Übersichtliche Preislisten hingen an den Kassen, worüber die Leute besonders erfreut waren, denn man war sich doch nie sicher, ob die Kassierer alle Preise im Kopf hatten. Wheeler begann mit nichts als einer riesigen, leeren Lagerhalle, Tausende von Leuten kauften täglich bei ihm ein. Seine Preise unterboten alle bisherigen Diskontläden. Er verkaufte auch dieses Geschäft und fing das nächste an. Er be gann mit der Produktion von Babynahrung ohne Konservierungsmittel, und er verkaufte die Rechte. Er erfand einen Plastikbehälter, der ohne Rückstände verbrannte, ließ ihn patentieren und verkaufte das Patent.« »Davon hörte ich bereits. Gibt es das also wirk lich?« »Das gibt es«, bestätigte Karl. »Mit einer Firma in Pasadena machte er es genauso. Ich habe nie gehört, daß ihm irgend etwas mißlungen wäre.« »Das hört sich fast so an, als sei er eine jüngere Ausgabe des großen Mannes, deines verehrten Chefs.« »Du bist nicht der erste, dem das auffällt. Der Boß mag in vielen Dingen nicht ganz koscher sein, aber 138
seinen Geschäftsgeist hat noch niemand bezweifelt. Er hatte immer einen guten Riecher für gute Gele genheiten und für besonders befähigte Menschen. Ich weiß, daß er sich schon lange für Wheeler interes sierte. Und ich bezweifle nicht, daß er ihm schon früher Angebote gemacht hat. Doch es dauerte eine ganze Weile, bis Wheeler sich dazu bereit fand, sich dem Zwang des großen Mannes zu unterwerfen. Er war es bisher immer gewöhnt, selbständig zu arbei ten und nach eigenem Gutdünken zu handeln.« »Ein rechtmäßiger Erbe«, sagte Joe. »Genau«, nickte Karl. »Ich sehe, du beginnst mich zu verstehen, noch bevor ich fertig bin.« »Aber sprich trotzdem zu Ende«, sagte Joe. »Natürlich. Ich möchte, daß du alles weißt. Ich erwarte nicht, daß du verstehst, was das bedeutet, oder was das alles mit Cleve Wheeler zu tun hat. Ich brauche deine Hilfe, und du kannst mir nur helfen, wenn du die ganze Geschichte kennst.« »Schieß los.« Und das tat Karl Trilling. »Wheeler fand ein Mädchen. Sie hieß Clara Prieta und stammte aus Sonora. Sie hatte ein helles Köpf chen. Ich glaube, sie war so aufgeweckt wie Cleve, wenn auch nur mit dem zehnten Teil seines Wissens begabt. Und sie war hübsch, und es war Cleve, den sie wollte, nicht nur das, was er ihr zu bieten hatte. Sie liebte ihn, als er nichts hatte, und als er sich nichts wünschte. Sie liebten sich um ihrer selbst wil len. Jeder war die tägliche, stündliche Freude des an 139
deren. Ich glaube, das war die Zeit, in der er wieder mit seinen Geschäften begann. Er kaufte ein kleines Haus und einen Wagen. Dann kaufte er zwei Wagen, einen für sie. Sie wollte ihn sicherlich gar nicht ha ben, aber er konnte nicht genug für sie tun – er sann immer darauf, wie er ihr eine Freude bereiten konnte. Eines Abends trafen sie sich im Haus von gemein samen Freunden. Sie kam vom Einkauf, er von seiner Arbeit, so daß sie mit beiden Autos unterwegs waren. Auf dem Heimweg fuhr er hinter ihr her und mußte mit ansehen, wie sie die Kontrolle über ihren Wagen verlor und hinausgeschleudert wurde. Sie starb in seinen Armen.« »Jesus!« »Hans im Glück. Höre weiter: Eine Woche später wurde er Zeuge eines Banküberfalls. Ein Streifschuß traf ihn im Genick. Sieben Monate mußte er stillie gen. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, erfuhr er, daß sein Geschäftsführer alle Gelder verun treut und sich mit der Sekretärin in den Süden da vongemacht hatte.« »Was hat er getan?« »Er arbeitete und bezahlte seine Krankenhaus rechnung.« Lange Zeit saßen sie schweigend in dem dunklen Wagen, bis Joe sagte: »War er gelähmt, damals im Krankenhaus?« »Ja, fast fünf Monate lang.« »Was mochte er wohl empfunden haben?« Karl Trilling sagte: »Das kann ich mir ungefähr 140
vorstellen, doch ich weiß nicht, wozu er sich schließ lich entschlossen hatte – was er vorhatte – was er tun wollte. Verdammt, ich finde nicht die richtigen Wor te dafür. Wir alle tun doch unser Bestes, oder versu chen es. Oder sollten es zumindest versuchen. Er tat es –und unter den bestmöglichen Voraussetzungen. Er arbeitete schwer. Er war redlich, gerecht und ehr lich, und er war clever und gerissen. Als er aus dem Krankenhaus kam, waren nur noch die beiden letzten Eigenschaften vorhanden. Gott allein weiß, wo die anderen geblieben waren.« »Und so begann er, für den alten Mann zu arbei ten?« »Ja – und irgendwie erschreckt mich das. Es ist fast so, als hätten all seine Fähigkeiten nicht ausge reicht. Erst all diese Dinge, die passierten, haben ihn zu dem gemacht, was er heute ist.« »Und was ist er?« »Darauf kann ich dir keine Antwort geben, Joe. Der alte Mann wurde zu einem modernen Mythos. Niemand hat ihn jemals gesehen. Niemand kann vor hersagen, was er tut oder warum er es tut. Cleveland Wheeler trat in seinen Schatten und verschwand fast genauso vollständig wie der Boß. Es gibt nur sehr wenige Dinge, die man mit Sicherheit sagen kann. Der Boß hat immer wie ein Einsiedler gelebt, und während der zehn Jahre, die Cleve Wheeler nun bei ihm ist, ist auch er es geworden. Natürlich entwickelt er seine gewöhnliche Geschäftigkeit, das heißt, die konstante Ungewöhnlichkeit seines Beschäftigungs 141
ablaufs – lange Perioden des Nichtstuns und der Ru he, und dann dieses spektakuläre, unerwartete Rac kern und Wühlen. Man nimmt an, daß der alte Mann all diese Dinge ersinnt und einem kraftvolleren Ge nius wie Wheeler die Ausführung überläßt. Doch könnte es dieser Genius selbst sein, der die Verände rungen anregt. Wer kann das wissen? Nur die Men schen in seiner unmittelbaren Nähe – Epstein und ich. Und ich weiß es nicht.« »Aber Epstein ist gestorben.« Karl Trilling nickte in der Dunkelheit. »Epstein ist gestorben. Das heißt, daß nur noch Wheeler zurückbleibt, um den Schatz zu bewachen. Ich bin der persönliche Arzt des alten Mannes, nicht der von Wheeler, und es gibt keine Garantie, daß ich jemals Wheelers Arzt sein werde.« Joe Trilling streckte seine Beine aus, lehnte sich zurück und blickte in die flüsternde Nacht hinaus. »Langsam nimmt es Gestalt an«, murmelte er. »Wie du wohl sehr richtig vermutest, ist der alte Mann auf dem absteigenden Ast, und dieser Wheeler ist der einzige, der seinen Platz einnehmen könnte.« »Ja. Und ich weiß nicht, was er ist und was er zu tun gedenkt. Er wird mehr Macht in sich vereinigen, als jedes andere menschliche Wesen auf der ganzen Welt. Er wird so viel Macht haben, daß er jenseits von jeglicher Begierde steht. Wir beide sind nicht fähig, uns auch nur annähernd eine Vorstellung da von zu machen. Aber du siehst, daß er ein Mann ist, der, sagen wir mal, bewiesen hat, daß er gut und edel 142
und stark und ehrbar sein kann. Wird er all diese Fä higkeiten einsetzen? Wie werden seine Entscheidun gen aussehen? Wohin wird das führen? Das einzige, das man mit einiger Sicherheit sagen kann, ist, daß er in allem, was er beginnt, erfolgreich sein wird. An ders kennt er es nicht.« »Was wünscht er sich? Ist es das, was du heraus finden möchtest? Was kann sich ein Mann wün schen, wenn er weiß, daß er alles bekommen kann?« »Jetzt kommen wir zum Kern der Sache«, sagte Karl fast glücklich. »Das ist es genau. Auch ich habe alles, was ich brauche, und ich kann hingehen, wohin ich will. – Ich wollte, Epstein wäre noch bei uns, aber er ist tot und eingeäschert.« »Eingeäschert?« »Ja – du wirst nichts davon wissen. Anweisung vom alten Mann. Ich habe sie selbst ausgeführt. Du hast sicher schon von heißen und kalten privaten Swimmingpools gehört – aber ich wette, du hast noch nie ein privates Krematorium im zweiten Un tergeschoß erlebt.« Joe schlug die Hände überm Kopf zusammen. »Ich glaube, mit genügend Geld kann man alles haben. Aber ist das legal?« »Wie du ganz richtig sagst – wenn man genug Geld hat, ist alles legal. Natürlich muß der Amtsarzt zugegen sein und die Papiere unterschreiben. Und er muß auch dabei sein, wenn der alte Mann einmal ab tritt. Nun – ich will den Amtsarzt in keiner Weise anschwärzen. Er war nicht gekauft. Er hat an Epstein 143
eine sehr korrekte Untersuchung vorgenommen,« »Okay! Wir wissen jetzt, was uns erwartet, wenn die Zeit gekommen ist. Das ist es doch, was dir Sor ge bereitet.« »Genau. Was hat der alte Mann – ich spreche jetzt von dem alten Mann als Institution – was hat er all die Zeit getan? Was hat er in den letzten zehn Jahren getan, seit Wheeler bei ihm ist? Und gibt es einen Unterschied zu dem, was er davor getan hat? Wie groß ist dieser Unterschied, wenn es einen gibt, und inwieweit hatte Wheeler darauf Einfluß? Das alles müssen wir klären, Joe, und davon ausgehend he rausfinden, was Wheeler mit der größten wirtschaft lichen Macht, die es je auf der ganzen Welt gab, zu tun gedenkt.« »Laß uns darüber sprechen«, sagte Joe, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Karl Trilling kannte dieses Zeichen, und so lächel te auch er ein wenig. Und sie sprachen darüber. II Das Krematorium im zweiten Untergeschoß war rein funktionell, wenn man von den Konzessionen absah, die an die Gefühle und an das Totenritual gemacht worden waren. Die letzten sorgfältigen Vorbereitun gen wurden getroffen, als der alte Mann endlich ge storben war. Alles wurde nach seinen eigenen An weisungen gehandhabt. Unmittelbar nachdem es zur absoluten Gewißheit geworden war, daß er nicht 144
mehr lebte, und noch bevor diese Tatsache der Öf fentlichkeit bekanntgegeben wurde, öffnete sich der viereckige Schlund des Ofens mit einem furchterre genden Geräusch. Eine Hitzewoge und blendende Helle schlug den Anwesenden entgegen. Der einfa che Sarg glitt schnell in die feurige Öffnung, und die Tür schnappte zu. Es dauerte einen Moment, bis sich die Augen wieder an das Dämmerlicht des düsteren, leeren Raums gewöhnt hatten. Und ebensolang dau erte es, bis sich der Geruch von verbranntem Pinien holz verflüchtigt hatte. Der Amtsarzt lehnte sich über einen kleinen Tisch und unterzeichnete die Dokumente. Karl Trilling und Wheeler folgten seinem Beispiel. Der Amtsarzt nahm eine Kopie, faltete sie zusammen und steckte sie in seine Brusttasche. Er schaute auf die geschlos sene viereckige Eisentür. Er öffnete seinen Mund, als wollte er etwas sagen, doch dann schloß er ihn wie der. Er reichte Karl Trilling die Hand. »Gute Nacht, Herr Doktor.« »Gute Nacht, Herr Doktor. Rugosi ist draußen, er wird Ihnen den Weg zeigen.« Der Amtsarzt schüttelte Cleveland Wheeler wort los die Hand und verließ den Raum. »Ich weiß, wie ihm zumute ist«, sagte Karl. »Er glaubte, ein paar Worte sagen zu müssen. Einen Nachruf auf das Ende einer Ära. Etwa wie: ›Ein klei ner Schritt für den Menschen …‹« Cleveland Wheeler lächelte das strahlende Lä cheln eines College-Helden, das nun, nach fünfzehn 145
Jahren, etwas weniger strahlend war. Mit einer Stimme, die gebieterisch klang, ganz gleich, was er äußerte, sagte er: »Wenn Sie glauben, Sie könnten die ersten Worte zitieren, die ein Astronaut auf dem Mond sagte, so sind Sie im Irrtum. Er sagte, als er von der Leiter aus seinen Schuh auf die Mondober fläche setzte: ›Es ist ein weiches Material, ich kann es mit meinem Fuß aufwirbeln.‹ Ich finde so etwas viel besser. Es war real, nicht einstudiert oder aus wendig gelernt oder ausgedacht, es war aus der Si tuation heraus entstanden. Der Amtsarzt sagte gute Nacht, und Sie sagten ihm, der Chauffeur erwarte ihn draußen. Ich glaube, das ist besser, als irgend etwas Erzwungenes zu sagen, und ich denke, er empfand es ebenso.« Wheeler unterstrich seine Worte, indem er mit seinem kräftigen, etwas eingekerbten Kinn auf die heiße schwarze Tür zeigte. »Aber er war nicht menschlich.« »Man sagt so.« Wheeler lächelte ein wenig, als er sich anschickte, den Raum zu verlassen. Karl emp fand eine gewisse Spannung. Der Raum war plötz lich nicht mehr so wichtig, jetzt war es an Wheeler, etwas zu tun, und alles, was danach kam, würde viel wirklicher sein, als das Hier und Jetzt. Karl wollte schnell zu einem Ende kommen. Er sagte leichthin: »Ich meinte es so, wie ich es sagte, Wheeler.« Es konnten nicht die Worte sein, die Wheeler zu einem Stirnrunzeln veranlaßten. Es war der Ton und vielleicht das »Wheeler«. In diesen Dingen gab es 146
ein gewisses Ritual. Für die wenigen, die auf seiner Ebene oder darüber standen, war er Cleve. Die unter ihm stehenden nannten ihn Mister, und höchstens hinter seinem Rücken nur »Wheeler«. Niemand von seinesgleichen würde ihn Mister nennen, und keiner seiner Untergebenen würde ihn jemals nur mit »Wheeler« ansprechen. Was immer auch der Grund für diese Anrede sein mochte, sie veranlaßte Whee ler, seine Hand vom Türknopf zu nehmen und sich umzuwenden. Auf seinem Gesicht kämpften Wach samkeit und Interesse miteinander. »Erklären Sie mir, was Sie meinen, Doktor.« Karl sagte: »Ich werde etwas besseres tun. Kom men Sie.« Ohne eine Geste oder eine weitere Erklä rung ging er zu der rückwärtigen Wand und überließ Wheeler die Entscheidung, ob er ihm folgen wollte oder nicht. Wheeler folgte ihm. In der linken Ecke drehte sich Karl zu ihm um. »Wenn Sie über die Dinge, die Sie jetzt sehen werden, zu irgend jemandem etwas sagen, dann wer de ich alles ableugnen. Und wenn Sie jemals zurück kommen sollten, werden Sie nichts finden, das Ihre Geschichte beweisen könnte.« Er nahm eine große Stahlklinge von seinem Gürtel und steckte sie in die Fuge zwischen den Marmor blöcken. Langsam und schwerfällig glitten die Blöc ke in die Höhe. In dem schwachen Licht des schma len Korridors, der sich dahinter befand, konnte man erkennen, daß es sich um wirkliche Steinblöcke han delte. Durch eine raffinierte Technik war es möglich, 147
sie ohne Schlüssel, nur mit einer Klinge, die an einer bestimmten Stelle angesetzt wurde, zu öffnen. Karl ging weiter, wieder ohne sich darum zu kümmern, ob Wheeler ihm folgte. Aber Wheeler kam ihm nach. Karl hörte seine Schritte hinter sich und bemerkte mit Vergnügen, daß Wheeler sich umblick te, als sich die schweren Blöcke senkten und den Durchgang hinter ihnen fest verschlossen, aber er blieb nicht stehen. »Wie Sie vielleicht bemerkt haben, sind wir jetzt neben dem Ofen«, sagte Karl, und nach einer Weile: »Und jetzt hinter ihm.« Er trat zur Seite und ließ Wheeler vorbeigehen. Sie befanden sich in einem kleinen Raum. Aus der Rüc kenwand des Ofens ragten Schienen hervor. Daneben war gerade genug Platz zum Stehen. Auf einem klei nen Tisch stand ein schwarzer Koffer. Auf den Schienen stand der Sarg. Die Kanten waren ange sengt, doch der Deckel und die Seiten glänzten vor Nässe und dampften ein wenig. »Es tut mir leid, daß ich das steinerne Tor ver schließen mußte«, sagte Karl. »Zwar erwarte ich nicht, daß uns hier jemand überrascht, aber ich möchte doch sicher gehen. Was ich Ihnen zu sagen habe, ist für keine anderen Ohren bestimmt.« Wheeler starrte auf den Sarg. Er wirkte durchaus gefaßt, aber das schien nur so. Karl wußte ganz ge nau, welche Überwindung ihn diese Haltung kostete. Wheeler sagte: »Ich wollte, Sie würden mir das endlich erklären.« Und dann lachte er plötzlich. Es 148
war das erste Mal, daß Karl erlebte, wie dieser Mann etwas Häßliches tat. »Sofort!« Eröffnete den kleinen, schwarzen Koffer und breitete seinen Inhalt auf dem Tisch aus. Es wa ren kleine Werkzeuge in Etuis, und es glitzerte von Chrom und blankem Stahl. Als erstes nahm Karl ei nen Schraubenzieher zur Hand. »Bei Einäscherungen ist es nicht notwendig, den Sarg zu verschrauben.« Er schob den Schraubenzieher unter den Rand des Deckels und hob ihn ab. »Lehnen Sie ihn hinter sich an die Wand, bitte.« Wortlos tat Cleveland Wheeler, wie ihm geheißen. Es lenkte ihn ab. Er konnte etwas tun, und es gab ihm die Chance, für einen Augenblick den Kopf ab zuwenden. Es gab ihm die Möglichkeit, zu denken, und Karl hatte Gelegenheit, seine Fassung zu be wundern. Er ist ein Mensch, dachte Karl. Er ist wirklich … Wheeler stellte den Deckel behutsam ab, und dann standen sie zu beiden Seiten der Schiene und blickten in den offenen Sarg hinab. »Er ist ein wenig älter geworden«, sagte Wheeler endlich. »Sie haben ihn in letzter Zeit nicht gesehen.« »Ich meine hier, da drinnen. In den letzten Mona ten habe ich mehr Zeit mit ihm verbracht, als wäh rend der ganzen letzten acht oder neun Jahre. Doch es waren immer nur wenige Minuten.« Karl nickte verständnisvoll. »Ich weiß. Telefonanrufe zu jeder Tages- und 149
Nachtzeit, und dann wieder Tage, an denen er nie manden sehen wollte.« »Wollen Sie mir nicht etwas über diese OfenAttrappe erzählen?« »Das ist keine Attrappe. Wenn wir hier unsere Ar beit beendet haben, wird er seinen Dienst erfüllen.« »Aber warum das ganze Theater?« »Das war für den Amtsarzt. Die Papiere, die er un terzeichnet hat, sind nun in einer Art Niemandsland. Sobald wir den Sarg den Flammen übergeben, wer den sie ihre Gültigkeit erhalten.« »Aber warum …?« »Weil es einige Dinge gibt, die Sie unbedingt wis sen müssen.« Karl griff in den Sarg und zog die verkrampften Hände auseinander. Widerstrebend trennten sie sich, und Karl preßte sie an den Seiten des Körpers nieder. Dann knöpfte er das Jackett und das Hemd auf und öffnete die Hose. Als er damit fertig war, schaute er auf und sah den stechenden Blick Wheelers nicht auf die Leiche, sondern auf sich gerichtet. »Ich habe das Gefühl«, sagte Wheeler, »daß ich Sie noch niemals vorher richtig gesehen habe.« Karl Trilling dachte bei sich: Aber jetzt sehen Sie mich. Danke, Joe. Du hattest verdammt recht. Joe hatte die Antwort auf die quälende Frage gewußt: Wie soll ich mich verhalten? Sprich so wie er, hatte Joe gesagt. Sei so wie er, die ganze Zeit … Sei so wie er. Ein Mann ohne Illusionen und ohne 150
Hoffnung, ein Mann, dem die unverkennbare Aura des Erfolgs anhaftet. Und wer kann schon sagen, es sei ein schöner Tag, wenn jeder in seiner näheren Umgebung Haltung annimmt und: Ja, Sir! sagt. »Sie waren immer sehr beschäftigt«, erwiderte Karl kurz. Er zog sein Jackett aus, faltete es zusam men und legte es auf den Tisch neben die Instrumen te. Dann zog er Gummihandschuhe an und griff nach einem sterilen Skalpell. »Die meisten Menschen schreien und fallen in Ohnmacht, wenn sie das erste Mal einer Obduktion beiwohnen.« Wheeler rang sich ein dünnes Lächeln ab. »Ich schreie nicht, und ich falle nicht in Ohn macht.« Doch als er den Körper des alten Mannes anschaute, entrang sich ihm ein erstaunter Ausruf. »Ich dachte mir, daß Sie das überraschen würde«, sagte Karl leichthin. »Doch trotz Ihrer Verwunde rung muß ich Ihnen sagen, daß er tatsächlich männli chen Geschlechts war. Diese Spezies scheint eierle gend zu sein. Säugetiere zwar, aber eierlegend. Es sieht genauso aus, als seien das weibliche Ge schlechtsmerkmale. Aber das ist keine Vagina, das ist eine Kloake.« »Bis zu diesem Augenblick«, sagte Wheeler mit belegter Stimme, »dachte ich, Ihre Bemerkung ›nicht menschlich« sei nur eine Redensart gewesen.« »Nein, das dachten Sie nicht«, entgegnete Karl scharf. Er ließ diese Worte in der Luft hängen, als wollte er ihnen durch sein Schweigen eine besondere Be 151
deutung verleihen. Mit einem kräftigen Schnitt öffnete er die Leiche vom Sternum bis zur Symphyse. Für einen Beobach ter ist das immer ein kritischer Moment. Es ist schwer, sich vorzustellen, daß der Leichnam keinen Schmerz fühlt und nicht protestiert. Karl bemerkte, daß Wheeler den Atem anhielt. »Es würde Wochen in Anspruch nehmen, wenn wir in alle Details gehen wollten«, sagte Karl und brachte einen Querschnitt unterhalb des Brustkorbs an, »aber da ist eine Sache, die ich Ihnen zeigen möchte.« Er griff in das Fleisch an dem Kreuzpunkt der Schnittlinien und hob es zur linken Seite an. Es war nicht rosa, sondern weiß mit einem lila Schim mer. Die Hautschichten mit dem Fett darunter ließen sich leicht abheben. Jetzt waren die Muskelstränge über den Rippen zu erkennen. »Wenn Sie die Brust des alten Mannes berührten«, sagte Karl und demon strierte es an der rechten Seite, »dann würden Sie glauben, sie fühlten normale menschliche Rippen. Aber sehen Sie sich das hier an.« Mit einem kräftigen Ruck trennte er die Muskeln von den Knochen. Eine Rippe kam zum Vorschein, und nachdem er die Öffnung vergrößert hatte, die zweite, und man konnte sehen, daß die Rippen mit einer dünnen Hornschicht verbunden waren. »Es ist wie Gummi- Walknochen«, sagte Karl. »Sehen Sie?« Er schnitt ein Stück heraus und bog es. »Mein Gott!«
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III
»Und jetzt sehen Sie sich das an.« Karl legte den ganzen Brustkorb bis zum Schlüsselbein frei. Dann griff er unter die Rippen und zog sie nach oben. Mit einem dumpfen Knall öffneten sie sich wie eine Tür und enthüllten die Lunge. Die Lunge war weder rosa, noch zeigte sie die schwärzlich-braune Färbung, wie man sie von Rau chern gewöhnt ist. Sie war gelb – das helle, kräftige Gelb des Schwefels. »Sein Stoffwechsel«, sagte Karl und richtete sich auf, »ist phantastisch. Oder er war es. Er atmete Sau erstoff wie wir, aber er mußte mit Kohlenmonoxyd, mit Schwefeldioxyd und -trioxyd und Kohlenstoffdi oxyd angereichert sein. Wenn er gezwungen war, das zu atmen, was wir eine reine Luft nennen, so konnte er nicht lange damit existieren. Er mußte sich oft zu rückziehen, um ein wenig von seiner eigenen Atmo sphäre atmen zu können. Als er jünger war, konnte er es viele Stunden aushalten. Doch als er in die Jahre kam, mußte er immer mehr und mehr Zeit in dem Smog verbringen, den er atmen konnte. Diese langen Perioden der Zurückgezogenheit und Abgeschieden heit – sie waren nicht ganz so närrisch, wie die Leute annahmen.« Wheeler deutete auf den Leichnam. »Aber was ist er? Woher …?« »Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Sie wissen ebensoviel wie ich, ausgenommen ein paar medizini 153
sche und biochemische Details. Er kam hierher, ir gendwie und von irgendwoher. Er kam, er sah, und er begann sein Leben unter uns. Schauen Sie mal hierher.« Er öffnete die andere Seite der Brust und brach den Rippenbogen ab. Die Lunge bestand nicht aus zwei Flügeln, sie nahm in einem Stück den ganzen Brustkorb ein. »Eine Lunge. Niere und Leber zeigen die gleiche rechts-links Verbindung.« »Ich glaube Ihnen aufs Wort«, sagte Wheeler ein wenig heiser. »Verdammt nochmal, was ist er denn eigentlich?« »Ein federloser Zweibeiner, wie Plato einst den Homo Sapiens beschrieb. Was er wirklich ist, kann ich Ihnen auch nicht sagen. Ich weiß nur, daß es so etwas gibt, und ich dachte, Sie sollten es auch wis sen. Das ist alles.« »Aber Sie haben schon einmal so ein Wesen gese hen. Das ist unverkennbar.« »Sicher. Epstein.« »Epstein?« »Ja, Epstein. Der alte Mann brauchte einen Mit telsmann, jemanden, der sich ohne Verdacht zu erre gen überall bewegen konnte. Der alte Mann konnte viel über das Telefon erledigen, aber nicht alles. Ep stein war seine rechte Hand, wie man so schön sagt, und er konnte den Atem länger anhalten als der alte Mann. Aber lange hielt er es nicht durch, er starb schließlich daran.« »Warum haben Sie das nicht schon früher gesagt?« 154
»Hauptsächlich, um meine Haut zu retten. Ich könnte sagen, meinen Ruf, aber Haut trifft's besser. Ich unterschrieb einen Vertrag als sein persönlicher Arzt, denn er brauchte einen persönlichen Arzt. Aber er hat sich kaum meiner Dienste als Arzt bedient, außer per Telefon, und dann meist nur zum Zeitver treib. Auch ein Arzt kann, glaube ich, sehr vertrau ensselig sein. Telefonisch wurden mir hin und wieder einige Krankheitssymptome offeriert, und ich machte dann vorsichtige Vorschläge für die Therapie. Später wurde ich nochmals angerufen. Man teilte mir mit, daß sich der Zustand des Patienten gebessert hätte. Das war alles. Ich bekam auch Auswurf, Blut, Urin und Stuhl zur Untersuchung. Nie ist mir aufgegan gen, daß das alles aus der gleichen Quelle stammte wie die Leiche, für die der Amtsarzt den Totenschein unterschrieb.« »Was meinen Sie mit der gleichen Quelle?« Karl zuckte die Schultern. »Er konnte alles bekommen, was er wollte – alles.« »Dann war, was der Amtsarzt geprüft hat, nicht …?« Wheeler machte eine Handbewegung zu dem Sarg hin. »Natürlich nicht. Aus diesem Grund hat das Kre matorium eine Hintertür. Ein kleiner Taschenspieler trick. Dieser Körper hier befand sich im Ofen. Sein Doppelgänger, der weiß Gott woher kam – ich schwöre Ihnen, ich weiß es nicht – lag draußen für den Amtsarzt bereit. Wenn der Sarg in den Ofen glitt, schob er diesen da, der gleichzeitig mit Wasser 155
berieselt wurde, nach hinten. Und während wir jetzt hier reden, verbrennt der menschliche Körper zu A sche. Als Epstein starb, zog mich der Boß ins Ver trauen. Seine geheime Anweisung lautete, daß man bei Epstein und ihm selbst so lange warten solle, bis ich sicher sein konnte, daß ich allein war und unge sehen bis hierher gelangen konnte. Von hier aus kann ich einen anderen Mechanismus betätigen, der den Sarg wieder zurück ins Feuer gleiten läßt. Der Boß selbst sorgte dafür, daß keine Nachforschungen be trieben, keine Fragen gestellt und keine Meldung gemacht wurde.« Er lachte plötzlich. »Wissen Sie, warum der alte Mann und auch Epstein – Sie haben wahrscheinlich nie darauf geachtet – niemandem die Hand gaben?« »Ich nehme an, daß sie sich vor Infektionen fürch teten.« »Nein, sondern weil ihre normale Körpertempera tur zweiundvierzig Grad betrug.« Wheeler umfaßte eine seiner Hände mit der ande ren und sagte nichts. Als Karl das Gefühl hatte, daß das Schweigen lan ge genug gedauert hatte, sagte er: »Nun, Boß, was tun wir jetzt?« Cleveland Wheeler drehte sich langsam um, als müsse er sich zwingen, seinen Blick von der Leiche zu reißen. »Wie haben Sie mich eben genannt?« Karl lächelte. »Ich arbeite für die Gesellschaft, und die Gesell 156
schaft, das sind jetzt Sie. Ich unterstehe jetzt noch gewissen Weisungen. Aber sie gelten nicht mehr, sobald ich diesen Knopf drücke. Andere Weisungen gibt es für mich nicht. Es liegt also an Ihnen.« Wheelers Augen wanderten wieder zu der Leiche. »Sie meinen wegen ihm? Was wir mit ihm tun sol len?« »Ja. Sollen wir ihn verbrennen und das alles ver gessen? Oder sollen wir eine wissenschaftliche Kommission einberufen? Oder sollen wir die ganze Welt in Panik versetzen, indem wie die Sache publik machen? Sicher, darüber müssen wir uns klar wer den. Aber ich dachte eigentlich an weit mehr.« »Und das wäre?« Karl deutete mit einer Kopfbewegung auf den Sarg. »Was tat er hier? Und was versuchte er zu tun?« »Fahren Sie fort«, sagte Wheeler, zum ersten Mal wirkte er fast schüchtern. »Sie hatten Zeit, darüber nachzudenken. Ich …« Er breitete hilflos die Arme aus. »Ich verstehe das«, sagte Karl freundlich. »Ich konfrontiere Sie plötzlich mit verwirrenden Dingen, ich weiß. Doch ich täte es nicht, wenn ich nicht über zeugt wäre, daß Sie diese Dinge mit weniger Verwir rung aufnehmen werden, als sonst irgendjemand. Nun gut. Es gibt eine einfache Technik, die Sie be reits in der elementaren Algebra gelernt haben. Es hat etwas mit der Konstruktion von Diagrammen zu tun. Nach einer bestimmten Anweisung setzen Sie 157
einen Punkt in das Diagramm. Sie bekommen weite re Werte und setzen einen zweiten Punkt ein, dann einen dritten. Die drei Punkte – natürlich, je mehr, desto besser, aber es genügen drei Punkte – können Sie nun miteinander verbinden. Auf diese Weise er halten sie eine bestimmte Kurve. Diese Kurve weist bereits gewisse Eigenheiten auf, auf Grund derer man sie ein Stück weiterführen kann, in der Annahme, daß später erhaltene Werte damit übereinstimmen.« »Extrapolation.« »Extrapolation. X-Achse, das Leben des alten Mannes. Y-Achse, die Zeit. Die Kurve ist sein Schicksal, um nicht zu sagen, sein Einfluß.« »Ein umfangreiches Diagramm.« »Über dreißig Jahre.« »Trotzdem, recht umfangreich.« »In Ordnung«, sagte Karl. »Nun stellen wir uns über den Zeitraum dieser dreißig Jahre hinweg eine weitere Kurve vor: die Veränderung der Umwelt.« Er hob eine Hand. »Ich möchte hier beileibe keine Vor lesung über Ökologie halten. Wir wollen objektiv bleiben. Lassen Sie uns also lieber nur Wandel im Allgemeinen sagen. Okay: ein meßbares Ansteigen der mittleren Temperatur durch CO2 und den Ge wächshaus-Effekt. Ziehen Sie die Kurve. Die Um wandlung von Schwermetall, Quecksilber und Li thium in organisches Gewebe. Ziehen Sie die Kurve. Übermäßiges Wachstum der Phosphate bei Algen durch chlorsaures Hydrocarbonat, Einfall der Son 158
nenbestrahlung … lassen Sie uns all diese Kurven in das gleiche Diagramm eintragen.« »Ich sehe, worauf Sie hinaus wollen. Aber Sie müssen doch ein bißchen vorsichtig sein bei dieser Art von statistischer Spielerei. Sowie die Zunahme tödlich verlaufener Verkehrsunfälle mit dem wach senden Verbrauch von Aluminiumdosen oder Baby windeln zusammentreffen kann, ohne daß ein Kau salzusammenhang besteht.« »Ganz richtig. Doch ich glaube nicht, daß ich in diese Falle stolpern werde. Ich versuche nur, eine brauchbare Antwort auf eine Anzahl von unerklärli chen Situationen zu finden. Eines ist sicher: Wenn die Veränderungen auf unserem Planeten bloß ein Resultat von Nachlässigkeit sind – eine mehr oder weniger zufällige Sache, Nachlässigkeit – wie kommt es dann zu dieser Nachlässigkeit? Wie kommt es, daß sich niemand dazu verpflichtet fühlt, die Umwelt zu schützen? Streichen Sie das. Ich ver sprach, keine Lektion über Ökologie. Berichtigung: Wie kommt es zu der Nachlässigkeit, daß man zwar einen Wandel befürwortet, aber nicht eine Erhaltung? Nächste Frage: Was ist das Ziel der Verwandlung? Sie haben sicher die spekulativen Schriften gelesen, die sich mit der ›Terra-Gestaltung‹, mit der Verände rung anderer Planeten zum Zwecke der menschlichen Besiedlung, befaßten. Nehmen wir einmal an, daß auch von außen ein Versuch unternommen wurde, die Erde zu verwandeln, um sie für irgendjemand anderen als den Menschen bewohnbar zu machen. 159
Nehmen wir einmal an, sie würden zum Zwecke der Wassergewinnung das Polareis durch den Gewächs haus-Effekt abschmelzen, den Sauerstoff mit Schwe fel anreichern, die Meeresfauna eliminieren, und die Bevölkerung durch das Anwachsen von Lungen krebs, Emphysem, Herzinfarkt und auch Kriegen re duzieren.« Die beiden Männer blickten auf das schlafende Ge sicht im Sarg. Karl sagte sanft: »Sehen Sie, was er in sich vereinigte – all die chemischen Vorgänge, die eine Wandlung bewirken, oder zumindest zu einer Wandlung beitragen-« »Sie können ihn nicht für alles verantwortlich ma chen.« »Sicherlich nicht. Doch er fand Millionen von wil ligen Helfern.« »Denken Sie vielleicht, er wollte eine ganze Welt verändern, nur, damit er bequem in ihr leben konn te?« »Nein, das denke ich nicht – und das ist der sprin gende Punkt, auf den ich jetzt kommen werde. Ich weiß nicht, ob es noch mehr Wesen wie ihn oder Ep stein auf unserem Planeten gibt. Wenn es so ist, dann müssen wir damit rechnen, daß das Tempo der Um weltveränderung zunimmt und uns darauf vorberei ten.« »Und was wollen Sie dagegen unternehmen? Wol len Sie die ganze Welt gegen die Invasoren mobili sieren?« fragte Wheeler. »Keineswegs. Ich werde langsam und ruhig den 160
Wechsel ins Gegenteil verkehren. Wenn dieser Pla net normalerweise für sie unbewohnbar ist, dann müssen wir ihn nur so erhalten. Ich denke nicht, daß sie umkehren werden, ich denke, daß sie erst gar nicht kommen.« »Oder sie versuchen es auf eine andere Art.« »Das glaube ich nicht«, sagte Karl. »Weil sie es auf diese Weise versucht haben. Wenn sie davon überzeugt wären, sie könnten unsere Welt mit einer Flotte von Raumschiffen erobern, dann hätten sie es längst getan. Nein – dies ist ihr Versuch, und wenn er nicht gelingt, dann werden sie ihn irgendwo anders wiederholen.« Wheeler zupfte gedankenverloren an seinen Lip pen. Karl sagte wieder mit sanfter Stimme: »Alles, was nötig ist, ist einer, der weiß, was er getan hat, der eine gewisse Machtposition bekleidet und der den Verstand hat, sein Wissen richtig anzuwenden. Denn sie wollten das Leben eines Menschen manipulieren, um sich dieses Menschen für ihre Zwecke zu bedie nen.« Bevor Wheeler antworten konnte, nahm Karl sein Skalpell in die Hand. »Ich möchte, daß Sie etwas für mich tun«, sagte er scharf, in einem ungewohnten Befehlston. »Ich möchte, daß Sie es tun, weil ich es auch getan habe, und ich will verdammt sein, wenn ich der einzige Mensch auf der Welt sein will, der das getan hat.« Er beugte sich über den Kopf im Sarg und machte 161
einen Einschnitt am Haaransatz von Schläfe zu Schläfe. Dann stützte er die Ellbogen auf den Rand des Sargs und führte das Skalpell über die Stirn und über die Nase, teilte sie in zwei Hälften. Dann glitt das Messer hinunter über die Oberlippe und die Un terlippe, über das Kinn bis zur Kehle. Dann richtete sich Karl auf. »Legen Sie Ihre Hände auf seine Wangen«, befahl er. Wheeler runzelte die Stirn (wie lang war es her, daß jemand so mit ihm gesprochen hatte?), zögerte ein wenig, dann gehorchte er dem Befehl. »Jetzt drücken Sie ihre Hände nach unten.« Der Einschnitt weitete sich langsam unter dem Druck, dann gab das Fleisch plötzlich nach und die ganze Gesichtshaut glitt ab. Durch den plötzlichen Ruck rutschten Wheelers Hände bis auf den Boden des Sargs und er fand sich plötzlich Gesicht an Ge sicht mit der Leiche. Wie die Lunge und die Nieren waren die Augen – Augen? – in der Mitte miteinander verbunden. Die Pupillen waren oval. Die Haut war von fahlem Lila und mit gelben Adern durchzogen, und anstelle der Nase gähnte ein von Haaren eingesäumtes Loch. Der Mund war kreisrund, die Zähne strahlenförmig ange ordnet. Ohne sich zu bewegen, schloß Wheeler die Augen, hielt sie für eine Sekunde geschlossen, dann öffnete er sie wieder mutig. Karl legte seinen Arm um Wheelers Schultern. Wheeler lehnte sich einen Au genblick schwer dagegen, dann richtete er sich 162
schnell auf und schob den Arm brüsk zur Seite. »Das hätten Sie nicht tun sollen.« »Doch, ich mußte es tun«, sagte Karl. »Oder wür den Sie gerne der einzige Mensch auf der Welt sein, der das durchgemacht hat – und niemand ist da, mit dem Sie darüber sprechen können?« Wheeler konnte nur noch lachen. Als er wieder Atem geschöpft hatte, sagte er: »Drücken Sie auf den Knopf.« »Geben Sie mir den Deckel.« Gehorsam brachte Wheeler den Deckel, und sie verschlossen den Sarg. Karl drückte auf den Knopf, und sie beobachteten, wie der Sarg in den glühenden Schlund des Ofens glitt. Dann gingen sie. Joe Trilling hatte einen erfreulichen Weg gefun den, sein Leben einzurichten. Es war ein gutes Le ben, wenn es auch den üblichen Konventionen nicht entsprach. Er lebte in den Bergen, eine halbe Meile von einem malerischen Dörfchen entfernt, in reiner Luft, zwischen Pinien, Birken und Berglorbeer, und er war sein eigener Herr. Für das, was er tat, hatte er kaum eine Konkurrenz zu befürchten. Er stellte medizinische Plastiken her, hauptsäch lich für das Militär. Natürlich wurde er auch von me dizinischen Fakultäten, Filmproduzenten und von privaten Institutionen mit Aufträgen überhäuft. Er konnte Modelle von jedem Körperteil, ob außen oder innen, machen. Er konnte ganze Körper modellieren, die kaum von einem natürlichen Körper zu unter 163
scheiden waren, die so rochen und sich so anfühlten wie richtige Körper. Er konnte Einzelstücke oder ganze Serien produzieren. Joe Trilling war, um es kurz zu sagen, eine Kapazität auf seinem Gebiet. »Der Clou«, erzählte ihm Karl (in einer entspann teren Atmosphäre als bei ihrer ersten Zusammen kunft, diesmal am Tag und bei einem Glas Bier), »der wirkliche Clou war das Gesicht. Großer Gott, Joe, das war ein wunderbares Stück Arbeit.« »Ein Kinderspiel. Das Beste dabei war deine Idee – daß er hinlangen mußte.« »Wie meinst du das?« »Ich muß immer wieder daran denken«, sagte Joe. »Dir ist vielleicht noch nicht klar geworden, wie bril lant diese Idee war. Es war sehr gut, dem Burschen eine demonstrative Schau zu bieten, aber ihn dazu zu bringen, sie auch mit den Händen aufzunehmen, nicht nur mit den Augen und dem Gehirn, das war ein geradezu genialer Einfall. Ich kann mich noch sehr gut an eine Begebenheit erinnern, die nachhalti gen Eindruck auf mich gemacht hat. Ich war noch ein Kind und kam von der Schule nach Hause. Ich legte meine Hand auf ein Geländer, auf das jemand ge spuckt hatte.« Er spreizte seine Hand und schüttelte sie. »Nach so vielen Jahren kann ich mich noch an dieses Gefühl erinnern. Die ganzen Jahre her konnte ich es nicht von mir abschütteln, und nichts konnte es wegwaschen. Das ist mehr als nur eine gedankliche oder psychische Sache, Karl – mehr als die Erinne rung an eine Episode. Ich glaube, daß in den Ge 164
fühlsnerven eine besondere Art von Erinnerungsme chanismus steckt, ganz besonders an den Händen. So lange er lebt, wird Cleve Wheeler dieses Gefühl nicht los werden, wie die Haut unter seinen Handflächen fortrutschte, und wie er sich plötzlich Nase an Nase mit dem Gesicht sah. Nein, du bist das Genie, nicht ich.« »Na, du weißt ganz gut, was du getan hast. Ich ha be nichts getan.« »Zur Hölle, nein, du hast nichts getan.« Er lehnte sich in seinem Liegestuhl zurück, hob sein Bierglas gegen die Sonne und betrachtete, wie sich die Strahlen in der Flüssigkeit brachen. Er mur melte beiläufig: »Karl?« »He?« »Hast du jemals etwas von Occams Regel ge hört?« »Hm. Ist schon eine Zeit her. Philosophische Prin zipien. Oder Logik, oder so etwas ähnliches. Laß mich überlegen: Wenn man es mit einem bestimmten Effekt und einer Anzahl möglicher Ursachen dafür zu tun hat, so spricht die größte Wahrscheinlichkeit immer für die einfachste und simpelste dieser Ursa chen. Ist es das?« »Nicht genau, aber beinahe«, sagte Joe Trilling träge. »Hm. Du vergehst die Auffassung, daß Logik allein ausreichend ist und nicht erst durch die Wahr heit bestätigt werden muß.« »Ja, und das verfechte ich noch immer.« 165
»Okay. Nun, wir beide wissen, daß menschliche Gier und Unachtsamkeit ausreichen, um diesen Pla neten zu zerstören. Aber wir wußten auch, daß diese Tatsache für Menschen wie Cleve Wheeler, die wirk lich die Möglichkeiten hätten, etwas dagegen zu un ternehmen, nicht beweiskräftig genug war, und so präsentierten wir ihm einen Smog atmenden Außer irdischen. Wir glaubten, er habe nicht genug getan, um unsere Umwelt zu schützen, und so gaben wir ihm eine Ahnung davon, was uns erwartet, einen Denkanstoß direkt aus unseren Köpfen.« »Not macht erfinderisch. Ja. Was hältst du nun da von, Joe?« »Oh – nur, daß unser aufwendiger Betrug eigent lich ganz einfach und simpel war, in dem Sinne, daß er alles auf eine einzige Ursache zurückführte. Oc cams Regel führt die Dinge auf ihre einfachsten Ur sachen zurück. Und nur einfache Ursachen haben die Chance zuzutreffen.« Karl setzte sein Bierglas mit einem Ruck ab. »Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich war immer viel zu beschäftigt, um darüber nachzudenken. An genommen, wir hätten recht gehabt?« Sie sahen sich verstört an. Schließlich sagte Karl: »Wonach halten wir jetzt Ausschau, Joe – nach Raumschiffen?«
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Alexei Panshin
Warum ertrinken wir,
obwohl wir fliegen können?
I Es ist leicht, eine Geschichte zu beenden. Schwerer fällt es schon, den Anfang zu finden, wenn alle Mög lichkeiten noch offen sind. Man muß sich in etwas Fremdes, Neues hinein denken und es dann zum Leben erwecken. Dazu braucht man die Nerven eines Revolutionärs, oder die einer Braut. Doch wenn Schriftsteller diese Art von Nerven hätten, dann wären sie keine Schriftstel ler. Sie würden Revolutionen beginnen und heiraten. Und so bestellen wir unsere Gärten und grübeln ge legentlich etwas nach. Wenn mir der Anfang noch schwerer fällt als ge wöhnlich, und wenn die Neuigkeiten, die bis in unse re Landeinsamkeit durchdringen, nicht sehr inspirie rend sind, dann versuche ich, Rob irgendwo zwi schen Springfield, Massachusetts und hier aufzustö bern und ihn für ein Wochenende einzuladen. Wir leben in Pennsylvania, und die Leute hier sind zwar gute und freundliche Leute, aber sie schöpfen ihr ganzes Wissen nur aus den Abendnachrichten. Man kann sich mit ihnen nicht unterhalten. Mit Rob kann 167
man sich unterhalten. Er hat immer eine ganze Men ge Gerüchte und Geschichtchen auf Lager. Seine Neuigkeiten sind zwar auch von keiner besseren Qualität als die meinen, aber wenigstens sind sie ein wenig ungewöhnlicher. Außerdem tut es ihm mal ganz gut, hierherzu kommen. Springfield ist nicht der richtige Ort zum Leben. In gewisser Weise fühle ich mich fast ein we nig verantwortlich für Rob. Springfield wurde von William Pynchon gegründet, und das war ein Vor fahre von mir. In Griechenland schrieb er ein Buch: Der Preis unserer Erlösung. Es wurde 1650 von der Kirchenbehörde in Boston als religiöse Irrlehre ver brannt. Er kehrte nach England zurück und lebte noch lange genug, um Springfield und eine Seitenli nie der Familie meiner Mutter zu gründen. Und da mit übertrug er mir die Verantwortung für Rob. Sollte mir jemals Thomas Pynchon über den Weg laufen, der fünfte in unserer Linie, werde ich ihn fra gen, was er über Springfield, Mass. denkt. Ich erwartete Rob und Leigh. Doch als wir sie am Freitagmorgen an der Bushaltestelle auf der anderen Seite des Flusses in New Jersey abholten, hatten sie noch einen jungen Mann bei sich. Leigh ist in den Dreißigern. Sie ist ein guter, stiller, starker und grad liniger Mensch. Sie schreibt Western. Rob hat sie in New York aufgelesen. Ich konnte mir nicht denken, wo sie diesen Jungen her hatten. »Das ist Juanito«, sagte Rob. Der Junge war blond und frisch wie ein Maientag. 168
Er trug Blue Jeans, und auf seinen Wangen zeigten sich erste Anzeichen eines Bartes. Ich kannte ihn nicht, doch er sah so aus, als sei er ein Mitglied unse rer Zunft. »Ich bin Alex und das ist Cory«, stellte ich uns vor und er nickte. Dann kletterten wir fünf in unseren alten 51er Plymouth. »Ich bin so froh, wieder einmal hier herauszu kommen«, sagte Rob und schaute zurück, als wir über die Brücke nach Pennsylvania fuhren. »Es erin nert mich an Springfield.« Unsere Stadt ist ein deprimierendes, schäbiges, kleines Kaff. Ein Ort, den man besser hinter sich läßt. Cory sagte: »Und stell dir vor, es gibt Leute, die in New York arbeiten und jeden Tag hin und her fah ren. Zweimal zwei Stunden täglich!« »Allerhand Aufwand, nur um zu ein paar ver gammelten Häusern heimzukommen«, sagte Rob. »Aber ich glaube, das ist die Art Leben, die ihr liebt.« Er drehte sich nach vorne und genoß die Aus sicht auf die Hügel von Pennsylvania. »Na, dann wolln wir mal. Zeigt uns eure Schafe und Gänse und Katzen.« »Wir haben jetzt auch ein paar Enten«, erklärte ich, »und Gemma hat drei junge Kätzchen.« Die einzigen Lebewesen, die uns gehören, sind zwei Katzen. Außerdem streunen noch zwei gestreif te Kater bei uns herum, und es gibt eine Unzahl von Ochsenfröschen. Die Schafe und ihre Lämmer gehö 169
ren den Farmern. Der Rest ist Eigentum unserer Wir tin, droben in dem großen Gutshaus. Leigh fragte: »Wie alt sind die Kätzchen?« Cory drehte sich nach hinten. »Sie haben noch nicht einmal die Augen geöffnet.« Als wir den Delaware überquert hatten, kamen wir an einem großen Feld vorbei, das mit Autowracks übersät war. Wir fuhren über die kleinste überdachte Brücke des Landes und hielten auf die Hügel zu. »Du bist also steckengeblieben«, sagte Rob. »Steckengeblieben!« sagte ich. »Ich arbeite an ei ner Story für eine Anthologie neuer Geschichten. Die Idee stammt von Isaac Asimov.« »Du bist ein Zeilenschinder«, sagte Rob. »Du ar beitest für Geld.« »Natürlich«, entgegnete ich. »Ich arbeite, um zu leben, und ich lebe, um zu arbeiten. Aber mein Pro blem liegt woanders: Ich will Asimovs Idee gerecht werden, ohne ihn Wort für Wort zu kopieren. Ich glaube, alles hängt daran, daß ich den richtigen Weg von unserem Jetzt zu seiner Zukunft nicht finden kann. Ich sitze vor meiner Schreibmaschine, aber ich schreibe nicht. Die Story ist in meinem Kopf, ich se he ihren Aufbau, aber ich finde den Anfang nicht.« »Du solltest nicht zu viel darüber grübeln«, sagte Leigh. »Setz dich hin und schreib die Geschichte mit den einfachsten Worten.« Ein gutgemeinter Rat. Aber nach dem, was Leigh manchmal von ihrer eigenen Arbeit erzählt, hat sie eine ganz andere Technik zu schreiben. 170
»Hast du kürzlich irgendwelche Filme gesehen?« fragte Rob. Keine müßige Frage. »Keine«, antwortete ich. Die Filme, die man hier in der Gegend zu sehen bekommt, sind nicht gerade dazu angetan, mich zu reizen. Ich bin nicht mehr in dem Alter, um mich für Anthony Quinn und Ingrid Bergman in einer Liebesgeschichte zu erwärmen. Außerdem entferne ich mich nicht gerne von meiner Schreibmaschine, wenn eine Geschichte im Entste hen ist. »Hast du in letzter Zeit etwas verkauft?« Eine au tomatische Frage. »Erst eine Sache in diesem Jahr, und gerade noch zur rechten Zeit. Wir haben das Geld dringend nötig. Man hat mir versprochen, bis Ende dieses Monats zu zahlen, und heute ist schon der zehnte.« »Wie steht's mit Briefen?« fragte Rob. »Hast du immer deine Post beantwortet?« »Briefe? Ich bin sehr beschäftigt. Meine ganze Zeit geht mit Schreiben drauf – Briefe? Das nenne ich nicht schreiben.« »Reisen? Seid ihr kürzlich irgendwo gewesen?« Der Umfang des geistigen Volumens eines Schriftstellers kann ziemlich genau anhand seiner Beschäftigungen ermessen werden. Es ist weniger eine Sache des Einkommens, als der Unfähigkeit, irgendetwas anderes zu tun als zu schreiben – zum Beispiel nicht schreiben. Wenn ein Schriftsteller nichts anderes tut, als dasitzen und nachdenken, dann sitzt er in einem Boot ohne Ruder. 171
Cory antwortete statt meiner: »Nicht seit Weih nachten.« »Sehr schön«, sagte Rob, wie ein Arzt, der soeben ein interessantes Symptom festgestellt hat. »Bist du fähig zu lesen?« »Ich höre nie auf zu lesen«, sagte ich. »Ich bin nicht so verbohrt!« »Dann nenne mir einen guten Roman, den du kürzlich gelesen hast.« »Muß es unbedingt ein guter sein?« »Nenne mir einen, er muß nicht gut sein.« »Wie du willst. Aber ich lese keine Dichtung. Kreative Mythologie, der vierte Band von Die Mas ken Gottes.« »Ist das so anspruchsvoll, wie es sich anhört?« »Als ich halb durch war, verlor ich die Lust«, ge stand Cory. »Mich inspiriert es«, sagte ich. »Dann: Persönli che Erkenntnisse von Poianyi. Das ist Nahrung fürs Gehirn. Und: Helden und Ketzer, eine gesellschafts kritische Betrachtung über Andersdenkende. Das war's. Ich nehme das eine oder andere Buch morgens zur Hand, lese einen Satz oder eine Seite, und dann denke ich wieder über die Asimov-Geschichte nach.« »Oh, ihr glücklichen Schriftsteller!« rief Leigh. »Eure Zeit gehört euch allein.« Rob ließ mich endlich vom Haken. »Ich werde mir einmal ansehen, was Asimov ge schrieben hat. Dann können wir uns weiter darüber unterhalten.« 172
Plötzlich huschte ein Reh vor uns über die Straße und verschwand zwischen den Bäumen. Nur Cory und ich, die wir vorne im Auto saßen, und Juanito hatten es deutlich sehen können. Leigh bekam nur einen flüchtigen Eindruck, und Rob war es völlig entgangen. Ich versuche immer, die Leute auf die malerische Umgebung aufmerksam zu machen, aber man muß auch Augen dafür haben. Rob kümmerte es wenig. »Schön«, sagte Leigh. »Letzte Woche saßen wir bei Sonnenuntergang an der Geigel Hill Road und beobachteten ein ganzes Rudel, mindestens zwölf Tiere, die die Straße über querten und auf der Lichtung ästen«, sagte ich. »Und als die Tochter unserer Wirtin Ostern aus England zu Besuch hier war, erzählte sie, sie habe in dem Park gleich hinter der Farm auch ein Rudel gesehen.« »Gleich hinter der Farm?« fragte Leigh. »Wie weit ist das von eurem Haus?« »Nicht weit«, erklärte Cory. »Nur zehn Minuten zu laufen. Wir können heute nachmittag hingehen und schauen.« »Aber ohne mich«, sagte Rob. »Ich bin seit dreißig Stunden auf. Ich muß mich ausruhen.« »Ich werde mitgehen«, sagte Juanito. Diese Landschaft von Pennsylvania bietet alles, was man sich nur wünscht. Wir waren schon fast ein Jahr hier und entdeckten immer noch die erstaunlich sten Dinge. Jede Meile unserer Umgebung barg im mer neue Überraschungen: wilde Zwiebeln, wilde 173
Erdbeeren, giftigen Efeu. Wenn man nur eine Meile weit fährt, kann man hintereinander dreihundert Jah re alte Gehöfte, Autobahnkreuzungen, eine zufällige Vorstadtwelt und riesige Wälder in jeder nur denkba ren Zusammensetzung und Beschaffenheit, durchzo gen von kleinen Tälern und versteckten Schluchten finden. Doch auch die Industrie hat sich schon ein genistet. »Was ist das?« fragte Juanito. Das ist ein Teil der Szenerie, aber man muß schon einen Blick dafür haben. Wenn man mehr davon sä he, hätte man es vielleicht schon früher wieder ver schwinden lassen. Ich stoppte unseren alten Plymouth und fuhr rückwärts um die letzte Kurve. Anfang April, wenn die Bäume noch fast kahl sind, kann man es gut von der Straße aus sehen: die winzigen Gebäude und ein halbes Dutzend riesiger Seen aus Chemikalien, von denen gelbe und blaue Rinnsale in den Fluß führten. »Immer wenn es regnet, fließen sie über«, erklärte ich. »Das sind die Abfälle der Revere-Chemie. Die Anlage stammt aus dem Jahr 1965. Die Leute der Gesundheitsbehörde haben von Anfang an protestiert dagegen. Doch es hat fünf Jahre gedauert, bis sie eine Stillegung erwirken konnten. Jetzt dampfen die Pfüt zen vor sich hin und rinnen.« »Hoffentlich trinken die Rehe nicht davon«, sagte Leigh. »Die gehen schließlich dasselbe Risiko ein wie wir«, sagte Rob. Ich fürchte, das Leben in Spring 174
field hat ihn ein bißchen säuerlich gemacht. Als wir die Farm erreichten, hielt ich am Anfang der langen Kiesauffahrt an. »Kann vielleicht mal jemand rausspringen und in den Postkasten schauen?« Rob machte keine Anstalten, sich zu bewegen. »Rob, er ist auf deiner Seite«, sagte ich. »Ich bin seit dreißig Stunden auf«, sagte er. »Ich werde nachsehen«, erbot sich Juanito. Er öffnete die Klappe des großen weißen Postka stens, und ich konnte sehen, daß er leer war. Das Postauto war auch noch nicht in Sicht. Juanito zögerte einen Moment und bückte sich; der Wind zerzauste sein blondes Haar. Er kam zum Auto zurück. In der Hand hielt er eine leere Bierfla sche, eine von den kleinen, dicken, die man nicht mehr zurückgeben kann. »Was ist damit?« fragte er. Ich war irritiert. Ich hatte fest damit gerechnet, Post vorzufinden, wenn wir von Frenchtown zurück kamen. »Ach, werfen Sie sie wieder weg!« sagte ich un geduldig. »Sie wollen doch wohl nicht alles aufhe ben, was so herumliegt. Damit werden Sie ja nie fer tig.« Der Junge schien ein wenig verwirrt über meine Heftigkeit. Im gleichen Augenblick tat es mir leid. Ich stellte den Motor ab und sprang heraus. »Passen Sie auf!« Ich öffnete den Kofferraum. »Werfen Sie die Flasche hier rein.« Er tat es. 175
Dann holte ich aus dem nahen Feld die von Rost zerfressene Radfelge, die ich schon, seit sie dort lag, hatte mitnehmen wollen, und legte sie auch in den Kofferraum. Die Gänse begannen wie immer zu schnattern und zu flattern, als wir in den Hof fuhren. Die Gans heißt Phoebe, der Ganter Alexander. Alexander gibt hier im Hof den Ton an, Phoebe ist mehr für Harmonie. Doch wenn sie durch die Farm streifen, dann ist Phoebe die Anführerin, und Alexander watschelt, in dem Versuch, eindrucksvoll auszusehen, hinter ihr her. Fang verjagte die Gänse und strich uns um die Beine, ein Miniaturpanther im Gewand eines Pingu ins. Wir folgten ihr ins Haus. Das Haus war früher einmal ein Wagenschuppen gewesen. Die Originalbalken mit den Löchern und Haken für die Ladekräne durchziehen die Decke des Wohnzimmers. An dem niedrigsten Balken hängt ein Glaskandelaber. Das Gebäude ließ eine sehr großzü gige Aufteilung zu. Die Küche liegt hinter dem Wohnraum, die Schlafzimmer sind im ersten Stock, und die Bibliothek und das Arbeitszimmer sind an gebaut. Es ist ein niedliches kleines Haus, mit dem ganzen Charme eines Bauwertes von Frank Lloyd Wright, aber ohne die düstere Enge der Räume, auf der Wright so beharrlich bestand. Während des Mittagessens nahm mich Cory bei seite: »Wir brauchen mehr Schinken und ein Dut zend Eier«, sagte sie. 176
»Ich fahre noch heute Nachmittag zum ›Elefant‹«, versprach ich. »Bring auch ein paar Flaschen Milch mit.« Dann fragte sie: »Wer ist dieser Junge, Alexei? Er schaut nur herum und spricht wenig.« »Er scheint zu Robs Freundeskreis zu gehören.« »Rob ist sonderbar.« »Das stimmt. Ich glaube nicht, daß ich diesen Jua nito den Nachbarn vorstellen werde.« Dann sagte Cory: »Alexei, was tun wir mit der Steuer, wenn das Geld nicht kommt?« »Es kommt bestimmt«, beruhigte ich sie. »Doch wenn es wirklich nicht rechtzeitig kommen sollte, dann können wir einen Scheck ausstellen und den Scheck von Henry einzahlen, sobald er hier ist. Mach dir keine Sorgen.« Ich denke nie an Geld, außer, wenn es unumgäng lich ist. Im übrigen wurstle ich mich so durch, ohne nachzudenken, und das Geld kommt gewöhnlich von irgendwoher, wenn wir es brauchen. Geldsorgen wür den mich nur von meiner Schreibmaschine fortlocken. Nach dem Essen sagte Rob: »Na, dann laß mich mal diese Asimov-Idee sehen, bevor ich zusammen klappe.« Cory und Leigh und Juanito machten sich auf den Weg in den Park hinter der Farm, um das Rudel Re he zu beobachten. Rob und ich gingen ins Arbeitszimmer. Der Raum ist klein. Die Leute, die vor uns hier wohnten, haben ihn als Kinderzimmer benützt. Jetzt stehen unsere 177
Schreibtische darin, zwei kleine Lehnstühle, drei schmale Bücherregale für die Belegexemplare, die elfte Auflage der Britannica, die wir für 50 Dollar in Doylestown gekauft haben, und ein Katzenkistchen. Ich hob Wolf, unsere kleinere Katze, aus meinem Stuhl hoch. Sie ist schildpattfarbig mit nadeldünnen Streifen, hat ein orangefarbenes Näschen und einen langen, schwarzen, fettglänzenden Schnurrbart. Sie leistet mir Gesellschaft, wenn ich schreibe. Fünf Monate alt, ist sie noch klein genug, um in dem Ka sten mit Schreibpapier Platz zu finden. Dort schläft sie zusammengeringelt, wie eine Maus, die sich in einem Schweizer Käse zum Winterschlaf verkrochen hat. Ich setzte mich hin und nahm sie auf den Schoß. Rob fragte: »Wie ist es zu der Zusammenarbeit mit Cory gekommen?« Cory und ich haben einen Kontrakt für einen Fan tasy-Roman in vier Bänden. »Cory hat bis jetzt nur den Roman gelesen, den ich mit achtzehn Jahren geschrieben habe. Ich wollte ihr ein bißchen Mut machen, und sie fand die Geschich te sehr mutig.« »Ist sie denn schlecht?« »Glücklicherweise erinnere ich mich nicht mehr so genau daran. Cory sagt, sie handle von einem un glaublich beschränkten und mißtrauischen jungen Mann, dessen vorherrschender Charakterzug darin besteht, aus allem einen Ausweg zu suchen.« »Das ist alles?« »Das ist alles!« 178
Das war nicht alles, aber ich wollte Rob nicht mehr sagen. Es gab noch ein riesiges galaktisches Reich, in dem schreckliche Dinge geschahen, und mein Held suchte einen Weg, um daraus zu entflie hen. Wenn ich diese Geschichte heute noch einmal schreiben würde, dann würde er, glaube ich, versu chen es zu verändern. »Hm«, machte Rob. Auch er hatte mit achtzehn einen Roman geschrieben. Der einzige Unterschied besteht darin, daß seiner verlegt wurde und meiner nicht. Damit hatte er mehr zu bereuen. »Jetzt möchte ich hören, was Asimov zu sagen hat.« Ich durchsuchte den Papierstoß auf meinem Schreibtisch. Während ich kramte, schaute Rob die Bücher auf dem Regal durch. Er kam mit den Per sönlichen Erkenntnissen von Polanyi zurück und blätterte darin. »Was hast du daraus gelernt?« fragte er. Es ist ein schwer verständliches Büchlein, kleingedruckt und mit umfangreichen Fußnoten versehen. »Generell ist es nicht gerade empfehlenswert«, sagte ich. »Es sind hauptsächlich Briefe. Über die Natur und die Grenzen unseres Wissens.« »Und was für Lehren hast du daraus gezogen?« »Die Kraft des Geistes, die Welt zu gestalten. Die Notwendigkeit des verantwortungsvollen Denkens. Nicht, daß diese Idee neu wäre. Einer meiner Vorfah ren …« »Ich weiß. Einer deiner Vorfahren hat Springfield gegründet.« Rob ist sich nicht ganz sicher, ob ich 179
ihm über William Pynchon die volle Wahrheit gesagt habe. Manchmal führen wir uns bewußt gegenseitig in die Irre. Mir macht es Spaß, die Wahrheit oft so zu formulieren, daß sie sich wie eine Lüge anhört, nur aus reiner Freude am fabulieren, und ich weiß nicht, was an den Geschichten, die Rob mir erzählt, erfun den ist oder der Wahrheit entspricht. »Ich wollte nur sagen, daß einer meiner Vorfahren der Bruder von Hosea Ballou war, der die Bewegung der Universalisten ins Leben gerufen hat. Der Vater des amerikanischen Universalismus!« »Was ist das?« »Der Zusammenschluß mit den Unitariern. Jetzt sind sie alle unitarische Universalisten. Und ein an derer Vorfahre war ein Cousin von Sam Adams. Das waren Männer mit Gewissen.« »Was immer man darunter verstehen will.« »Was immer man darunter verstehen will.« Ich reichte ihm den Asimov-Entwurf. »Hier lies! Das ist der maßgebliche Teil.« Rob las ihn einige Male durch. Er lautete: Das Kind als junger Gott. Stellen wir uns eine Gesellschaftsform mit nur wenigen Kindern vor. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von fünfhundert Jahren beträgt der Anteil der Kinder an der Bevöl kerung, nehmen wir einmal an, nur den zwanzigsten Teil dessen, was heute üblich ist. In einer derartigen Gesellschaft bringt 180
einem die Tatsache, ein Kind zu haben, ungeheures soziales Prestige ein, jedoch keine speziellen Rechte an seinem eige nen Kind. Alle Kinder sind Kinder der gan zen Gesellschaft, und jeder hat die Ver pflichtung, das Sorgerecht eines Vaters oder einer Mutter zu übernehmen. Das Kind ist das Goldene Mädchen oder der Goldene Junge des jeweiligen Gemeinwe sens, und es herrscht beträchtlicher Kum mer, wenn ein Kind das Erwachsenenalter erreicht hat, ohne daß ein Kind geboren wurde, das seinen Platz einnimmt. Diese Geschichte sollte jung und progressiv sein, denn sie wird vom Gesichtspunkt eines Kindes geschildert, das die Schwelle zum Erwachsensein erreicht hat und sich dage gen wehrt, die goldenen Zeiten der Kind heit zu verlieren, und das vielleicht auf ein anderes Kind eifersüchtig ist. Das Problem der Rivalität also. Ich streichelte Wolf, während Rob las. Wolf schnurr te, doch er lag nicht still, sondern schlug nach meiner Hand. Ich nahm einen Pfeifenreiniger, wickelte ihn um meinen kleinen Finger und warf ihn auf den Bo den. Wolf sprang mit einem Satz von meinem Schoß, schnappte nach dem wolligen kleinen Ring und jagte grimmig aus dem Arbeitszimmer. Er liebt es, mit ei nem zusammmengedrehten Pfeifenreiniger durch das 181
ganze Haus zu tollen. Ein verrücktes kleines Luder! Als Rob zu Ende gelesen hatte, schaute er auf und sagte: »Es erinnert mich an etwas, das du einmal ge schrieben hast.« »Was meinst du?« »Rite oi Passage« Rite of Passage war mein erster Roman. Er han delte von einem Mädchen, einem aufgeweckten Su perkind, das in einer Zukunftsgesellschaft mit zah lenmäßig geringer Population an der Altersgrenze vom Kind zum Erwachsenen steht. Ansonsten gibt es aber nicht viel Übereinstimmendes. »Hm. Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Aber ich denke, daß die Ähnlichkeit nicht so augenfällig ist, daß sie ein Problem darstellt. Nicht der Gedanke, ich könne mich selbst kopieren, ließ mich zaudern. Was hältst du von dem Entwurf?« »Wann soll diese Geschichte spielen?« fragte Rob. »Im nächsten Jahrhundert. Das einzige Datum, das erwähnt wird, ist 2025. Nach 2025, nehme ich an.« »In fünfzig Jahren also! Und woher kommen dann all die fünfhundert Jahre alten Leute?« Ich winkte ab. »Ich habe vor, sie hundert oder hundertfünfzig Jahre alt zu machen, plus großer Lebenserwartung.« »Dann müßten diese Leute jetzt schon leben«, sag te Rob. »Genau«, sagte ich. »Darüber sollte man nachden ken.« 182
Das ist einer der Punkte, warum ich Rob so gerne kommen lasse. Er erwägt Möglichkeiten. »Sind dir irgendwelche Einschränkungen auferlegt worden?« »Vierzig Manuskriptseiten und keine zotige Spra che.« »Und wie steht's mit zotigen Ideen?« »Davon wurde nichts gesagt, aber ich glaube, das befürchtet man auch nicht. Jeder weiß, daß ich in meinem Leben noch nie zotige Ideen hatte.« »O ja. Hm!« lächelte Rob. »Schau mal, ich weiß, das ist eine rücksichtslose Andeutung, aber was hin dert dich zu schreiben, die Idee so zu nehmen, wie sie dasteht? Das ist eine Story!« »Ich weiß«, sagte ich. »Ich möchte sie schon seit langer Zeit schreiben, doch wenn ich versuche anzu fangen, kann ich es nicht. Da hänge ich bereits. Der Eröffnungssatz gefällt mir. Er gefällt mir – ›Das Kind als junger Gott‹. Das ist provokativ. Das spricht zu mir. Doch welch eine Entfernung zu dem, was dann kommt: banale Rivalität. Warum schreibe ich Science Fiction? Warum schreibe ich überhaupt?« »Was ist los mit dir, Alex?« fragte Rob. »Sehnst du dich wieder einmal nach Erheblichkeit?« Dieser philosophische Wortstreit entbrennt immer zwischen uns. Rob ist der Ansicht, daß eine Story nichts anderes als unterhaltend zu sein hat. Ich nahm den Whole Earth Catalog von Corys Schreibtisch und zeigte ihn Rob. »Lies das.« 183
Wir sind wie Götter, und vielleicht werden wir eines Tages auch so gut sein wie sie. Bisher jedoch reichten Macht und Ruhm – verkörpert durch Regierung, Geschäft, Er ziehung und Kirche – nur aus, daß der scheinbare Gewinn die echten Werte über flügelte. Als Antwort auf dieses Dilemma und um die wahren Werte zu erhalten, ent wickelte sich die Macht der persönlichen In itiative, die Fähigkeit individueller Wissens begierde und Lernbereitschaft, eigene Inspi ration und der Wille, seine Umwelt selbst zu gestalten. Hinzu kommt der Wunsch, diese Eigenschaft mit Gleichgesinnten zu teilen. Gesucht und gefördert werden diese fort schrittlichen Kräfte durch den Whole Earth Catalog. »Darüber möchte ich einiges sagen«, begann ich. »Ich habe noch keine endgültige Lösung gefunden. Man kann nicht auf vierzig Manuskriptseiten ein le bensfähiges, funktionierendes und über alle Kritik erhabenes Utopia aufbauen. Aber um Gottes willen, Rob, soll ich nicht wenigstens versuchen, etwas Er hebliches zu sagen? Wie die Dinge nun einmal ste hen, glaube ich nicht, daß wir die Chance haben, in zwanzig Jahren noch am Leben zu sein, geschweige denn in fünfhundert Jahren.« »Ich weiß, das sagtest du bereits.« 184
»Nicht in dieser Form. Wenn die Gesellschaft die Probleme gelöst hat, von denen Asimov schreibt – und wir müssen sie lösen – , das ist es, worüber ich schreiben möchte. Selbst auf die Gefahr hin, an spruchsvoll und nicht unterhaltend zu sein. Dieser Entwurf von Asimov enthält eine Story, die ich ein mal schreiben werde. Irgendwann. Und das wird dann nicht die Geschichte von einem Kind sein, das nicht erwachsen werden will. Ich muß sie nur erst finden.« »Und wie willst du sie finden?« fragte Rob. »Ich setze mich hin und starre auf meine Schreib maschine und warte, bis sie kommt. Oder ich buddle im Garten.« »Hast du wirklich einen Garten?« »Natürlich. Tom Disch sagte, man müsse jeden Tag eine halbe Stunde im Garten arbeiten, das halte die Seele rein.« Tom ist auch Schriftsteller. Wir ge ben uns immer gute Ratschläge, wie etwa diesen. »Ich werde es mal versuchen. Vielleicht tut es mir ganz gut.« »Dann mach das, und viel Spaß«, sagte Rob. »A ber ich muß mich jetzt ein wenig hinlegen. Ich bin total erledigt.« Ich schaltete meine Schreibtischlampe aus. Wäh rend ich aufstand, fragte ich beiläufig: »Übrigens, wer ist dieser Junge, dieser Juanito?« »Er ist kein Junge mehr, er ist in deinem Alter«, antwortete Rob. Das hätte ich nicht gedacht. Ich gehe auf die Drei 185
ßig zu. Ich fragte: »Wer ist er?« »Wer er ist?« Rob grinste. Er grinste so, als wollte er sagen, das sei eher unterhaltend als erheblich. »Er ist Juanito der Wächter. Er ist der Gradmesser deiner Erheblichkeit. Er beobachtet und taxiert. Wenn du okay bist, dann bleibt er kühl. Bist du aber nicht in Ordnung, dann zerspringt er ohne ein Wort. Wahre deine Chance.« »Vielen Dank, mein Freund.« Rob stieg die Treppe hinauf, um sich auszuruhen, und ich wanderte die Straße hinunter, um nach der Post zu sehen. Sie war da. Mein Scheck nicht. Lausi ge Post. Ich sortierte sie und spazierte die lange Kiesauf fahrt wieder zurück. Im Farmhaus hinterließ ich die Post für Mrs. S. hauptsächlich Rechnungen und Flugblätter, dann bewaffnete ich mich mit einem Spaten und machte mich, gefolgt von den jungen Entchen, an die Gartenarbeit. Ich war unglücklich, daß der Scheck nicht ge kommen war, und so grub ich mit wahren Rachege lüsten die Erde um. Die Entchen, die seit Ostern schon erheblich gewachsen waren, aber noch immer ihr gelbes Flaumkleid trugen, rannten schnatternd um meine Füße und schnappten gierig nach den Wür mern, die ich ihnen aus der warmen Erde heraushol te. Sie wußten, daß man sich um ihr Wohlergehen bemühte. Ich wollte, ich könnte dasselbe von mir sa gen. Der Frühling war in diesem Jahr spät und feucht. 186
Nur die Weide hinten im Hof hatte ihre gelben Kätz chen hervorgezaubert. Die übrigen Bäume spreizten ihre noch kahlen Winteräste in den Himmel. Die Ta ge waren kühl und der Himmel teilweise bewölkt. Gartenarbeit ist ein Ausdruck des Glaubens, des Glaubens daran, daß die Jahreszeiten sich ändern und daß bald die Wärme und die Blumen kommen. Gar tenarbeit ist ein Ausdruck des Glaubens. Ich bin ein Pessimist, trotzdem arbeite ich im Garten. Es ist wie mit der Zeit. Unsere Gesellschaft ist unvollkommen. Wir wis sen es, und wir sagen es, und mit einem Achselzuc ken lassen wir es dabei bewenden. Die Gesellschafts formen verändern sich von selbst, wenn es Zeit dafür ist, ein einzelnes Individuum kann selten direkten Einfluß darauf nehmen. Doch die meisten Menschen versuchen es auch gar nicht erst. Sie haben genug damit zu tun, ihr Leben zu leben, und was an Energie noch übrigbleibt, das verwenden sie zu ihrem eige nen Nutzen. Die Politik überlassen sie den Politikern. Doch seien wir aufrichtig. Unsere Gesellschaft ist nicht nur unvollkommen. Unsere Gesellschaft ist ein fürchterliches Schlachtfeld. Wenn wir die Politik ausschließlich den Politikern überlassen, die Wissen schaft den Wissenschaftlern, den Krieg den Generä len und den Gewinn den Spekulanten, sehen wir ei ner unheilvollen Stagnation entgegen. Ich lese. Ich beobachte. Ich höre. Und ich urteile nach meinen eigenen Erfahrungen. Selbst die Besten von uns sind jämmerliche Krea 187
turen. Wir alle nehmen Drogen, Alkohol, Tabak und dutzendweise Pillen. Wir arbeiten, um zu leben, und wir leben, um zu arbeiten – ein endloser, unbefriedi gender Kreislauf. Die Jobs sind nicht vergnüglich. Die Arbeitgeber schieben uns von einem Plastikpa radies ins andere. Ein Viertel der Landbevölkerung begeht jedes Jahr Landflucht und strömt in die ohne hin schon überfüllten Städte. Keine Verwurzelung, keine Stabilität. Wir leben unser Leben in der Öffentlichkeit, mit immer weniger Kontakt zu unseren Mitmenschen. Die Farmer können ihre Landwirtschaft nicht mehr erhalten. Kleine Geschäftsleute gehen zu Grunde. Die großen Konzerne überrennen sie und drängen sie zur Seite. Der Machtkampf zwischen den Wirt schaftsgiganten ist mörderisch. Nur die skrupellose sten überleben. Das Resultat: stinkende Flüsse, die von den indus triellen Abwassern verseucht werden, tote Fische. Der Smog über den Städten ist so dick, daß man sich das Rauchen sparen könnte. Und das Land außerhalb der Städte verwandelt sich langsam in riesige Müll plätze. Chemische Abfälle töten die Vegetation, und auf den Feldern rosten die Autowracks. Und währenddessen wächst die Bevölkerung stän dig. Neue Konsumenten. Als ich geboren wurde, 1940, hatte dieses Land 140 Millionen Einwohner, jetzt sind es schon über 200 Millionen, die Hälfte von ihnen sind erst seit 1940 geboren. Unsere Institu tionen werden mit dieser Bevölkerungsexplosion 188
nicht mehr fertig. Es gibt nicht genug Häuser, nicht genug Schulen, nicht genug Ärzte, Lehrer und Ar beitsplätze. Nicht genug Raum an den Küsten. Und nicht genug Küsten. Nicht genug Nahrung. Die Welt beginnt langsam zu verhungern. Und trotz des Geredes von der ›Grü nen Revolution wird es bald kaum mehr natürliche Nahrung geben. Schon jetzt müssen wir Lamm fleisch aus Australien importieren und Rindfleisch aus Argentinien. Wie bald werden wir alle den Gür tel enger schnallen müssen? Unser Land handelt wie ein selbstgerechter Riese. Wir gängeln die ganze Welt im Namen eines großen Ideals. Das heißt, wir unterstützen Diktatoren, und wir unterdrücken Menschen, die nichts anderes wol len, als frische Luft atmen, wie wir alle. Das heißt, wir nehmen, nehmen, nehmen nur, mit beiden Hän den. Die Bevölkerung unseres Landes macht sechs Prozent der Weltbevölkerung aus, und wir verbrau chen fünfzig Prozent der Weltproduktion. Wie lange wird das noch so weitergehen? Wer wird uns Einhalt gebieten? Und je mehr sich Unzufriedenheit ausbreitet, um so mehr wächst die Kriminalität an. Frauen mar schieren. Die Schwarzen verbrennen ihre Slums und bewaffnen sich. Kinder protestieren gegen das Esta blishment. Die Sicherheit eines jeden ist in Frage ge stellt. Auch die meine ist es. Wir bewegen uns in der Mitte von zwei Extremen, Polizei und Demonstranten. 189
In unserer Gesellschaft geht es schlimmer zu als auf einem Schlachtfeld. Trotz Erfindungen, Wissen schaft und Fortschritt werden unsere Probleme nicht geringer. Das Chaos wird von Jahr zu Jahr größer. Demonstrationen! Ausschweifungen! Morde! Krimi naldelikte! Frustration! Krankheiten! Und auf der ganzen Linie Unfähigkeit, mit diesen Mißständen fertig zu werden. Wir befinden uns in einem Teufelskreis. Und nie mand hat eine Lösung anzubieten. Nackenschläge und Unterdrückung sind keine Lö sung. Barrikaden sind keine Lösung. Blutige Revolu tionen sind keine Lösung. Doch unsere Probleme sind wirklich und gegen ständlich. Man kann jenen, die hungrig, unzufrieden, arbeitslos, heimatlos oder einfach nur chronisch un glücklich sind, nicht einfach den Mund verbieten. Die ioo Millionen von uns, die jung sind, kann man nicht einfach fortschicken. Die 20 Millionen von uns, die schwarz sind, kann man nicht einfach töten, de portieren oder noch länger unterjochen, wenn wir unseren Anspruch, menschliche Wesen zu sein, nicht vollständig untergraben wollen. Es gibt also keine Lösung. Immer nur die gleichen knieweichen Reak tionen auf die Konfrontationen – und Unterdrückung. Das ist wirklich keine Lösung. Wir sind in eine Sackgasse geraten, die nur in tota ler Verwüstung enden kann. Vielleicht sind dies die letzten Jahre der menschlichen Rasse oder zumindest die letzten erträglichen. 190
In Zeiten wie dieser ist Gartenarbeit ein Ausdruck des Glaubens. Daß die Jahreszeiten sich wandeln, und die Wärme und die Blumen kommen. Es ist das beste, was wir tun können. Wir arbeiten im Garten. Und so arbeitete ich und dachte – dachte an meine Story. Und an einen möglichen Ausweg aus unserem Jetzt in eine schönere Zukunft. Ich glaubte, daß es ihn gab. Und so arbeitete ich. Der Frühling war feucht, und der Boden, in dem ich buddelte, war schlammig. Ich stand bis zu den Knien im Schlamm, ich kniete darin, ich stützte mich auf die Ellbogen. Ich suchte Würmer für die Entchen. Ein paar Spuren von dem Schlamm zieren die vierte Seite dieses Manuskripts. Wenn un ser Drucker das Salz in der Suppe wert ist, dann überträgt er diese Spuren wahrheitsgetreu ins Orgi nal. Wann und wo immer Sie es lesen, es ist ein Hauch von Garten. Nach einiger Zeit wackelte Alexander, der Ganter, gewichtig heran, um zu untersuchen, was ich und die Entchen hier machten. Wenn man sagt: ›dumme Gans‹, so ist da schon was dran. Alexander senkte seinen Kopf, öffnete seinen Rachen wie ein wütendes Krokodil und fauchte mich an. Wenn er Krokodil spielt, dann spiele ich auch Krokodil. Und da ich größer bin als er, trollte sich Alexander wieder. Doch die Entchen waren nicht so überlegen wie ich, und Alexander jagte sie vor sich her, immer im Kreis herum. Sie piepten und rannten, piepten und rannten. Alexander tat ihnen nichts, aber er mußte 191
doch zeigen, wer der Stärkere war. Er brachte sie völlig aus der Fassung. Sie waren zu verstört, um noch Würmer zu fressen, und das ist umwerfend. Nachdem ich mir das ein paar Minuten mit ange sehen hatte, ließ ich die Schaufel fallen und schnapp te das wütende Gänsetier. Ich hielt Alexander fest und begann seine Bauchfedern zu streicheln. Ich streichelte, streichelte, streichelte, und nach einer Weile verebbte seine Wut. Er hörte auf zu zischen. Wohlige Wellen gingen über seinen Körper, und sei ne Augen glänzten. Schließlich stellte ich ihn wieder auf die Füße, und ein wenig benommen watschelte er davon. Er schien verblüfft zu sein und wußte wohl nicht so recht, was mit ihm geschehen war. Er schüt telte seinen kleinen Kopf und spreizte die Flügel. Schließlich blieb er mitten auf der Kiesauffahrt ste hen und hielt leise schnatternd ein Selbstgespräch. Ich nenne das verbesserte Schutzreaktion. Das würde ich auch gerne einmal bei unseren sogenann ten Führern versuchen. Eine plötzliche Unruhe unter den Lämmern auf der Koppel kündigte mir die Rückkehr von Cory, Leigh und Juanito an. »Hallo, Liebling«, rief ich. »Habt ihr was gese hen?« Sie strahlte. »Ja, wir haben am Drei-Meilen-Stein ein ganzes Rudel getroffen. Die Rehe tollten durch das Tal, als wollten sie Fangen spielen.« »Das ist ja großartig«, sagte ich. 192
Leigh nickte lächelnd. Sie ist nicht sehr gesprä chig. Ich schon, und so unterhält sie sich mit mir ab und zu ganz normal, so wie Rob sich mit mir unter hält. Wenn sie sich aber mit Rob unterhält, dann ge stikuliert sie und er nickt, und dann gestikuliert er und sie nickt. Sie fand einen Wurm in der von mir umgegrabenen schlammigen Erde und hielt ihn ei nem kleinen Entchen hin; das schlang ihn hinunter. Cory sagte: »Wir wollen uns jetzt Gemmas Kätz chen ansehen.« »Gut«, sagte ich. »Ich glaube, ich habe meine hal be Stunde absolviert. Ich komme mit.« »Warst du schon beim ›Elefant‹?« »Oh, das habe ich vergessen«, rief ich aus. »Ich habe nach der Post geschaut. Sie war da.« »Was dabei?« »Nichts Gutes«, sagte ich. »Juanito, wollen Sie mit mir zum ›Elefant‹ fahren?« Er sah wirklich nicht so aus, als sei er in meinem Alter. »Gerne«, sagte er. Cory und Leigh gingen zum Haupthaus, um sich die Kätzchen anzusehen. Die Entchen zögerten einen Moment, dann purzelten sie mit wackelnden Schwänzchen hinter den Frauen her. Als Juanito und ich zum Wagen gingen, erinnerte ich mich an die Radfelge. »Eine Minute«, sagte ich und holte die rostige Felge aus dem Kofferraum. »Ich will das noch schnell wegräumen, solange ich daran denke. Neh 193
men Sie ihre Flasche.« Er fischte die Flasche unter dem Reserverad her vor, unter das sie gerollt war, dann folgte er mir durch die Werkstatt in den Traktorschuppen. Ich stopfte die Felge in eine große Mülltonne. »Die Flasche hier hinein«, sagte ich und deutete auf eine kleinere Tonne. Juanito setzte die leere Bier flasche wie eine Krone auf den Abfallhaufen. »Was passiert damit?« fragte er. »Wenn der Boden trocken ist, nehmen es die Far mer und vergraben es irgendwo im Wald.« Aus den Augen, aus dem Sinn. »Oh«, sagte er. Wir fuhren in dem alten Plymouth zum ›Elefant‹. Er war einmal ein Hotel, ein Gasthof an der Straße. Jetzt ist in dem alten Gebäude ein Geschäft und eine Bar untergebracht. Wir kaufen dort, wenn wir schnell etwas brauchen. Es ist eine Meile von uns entfernt. Alles andere ist fünf oder mehr Meilen entfernt. Meist mehr. »Fahren Sie oft allein?« fragte Juanito. »Nicht oft«, sagte ich. »Cory kann noch nicht fah ren, so kaufen wir zweimal in der Woche zusammen ein.« Die Fahrten nach Doyelestown und Quaker town liebte ich nicht sehr, da sie mich oft in meiner Arbeit unterbrachen. »Woher kommen Sie, Juanito?« fragte ich. »Eigentlich nirgendwoher«, antwortete er. »Ich bin viel unterwegs. Ich bleibe eine Zeitlang, wo es mir gefällt, dann wandere ich wieder weiter.« 194
»Immer in Bewegung?« Ich fuhr um ein totes Opossum herum. Opossums gehen abends gerne mit ten auf der Straße spazieren. »Ja, so ähnlich«, sagte er. »Ich könnte das nicht«, sagte ich. »Als ich acht zehn war, bin ich durchs ganze Land getrampt. Doch jetzt könnte ich die Unsicherheit auf der Wander schaft nicht mehr ertragen. Ich brauche Wurzeln und Routine, um arbeiten zu können.« Wir fuhren die gewundene Straße hinauf. Zur Rechten sah man ein verkommenes Gebäude. »Was ist das?« fragte Juanito. »Das war einmal eine Fabrik. Sie wurde vor einem Jahr stillgelegt. Fünf Jahre lang liefen die Anträge. So etwas scheint immer fünf Jahre zu dauern.« Ich kurvte auf den Parkplatz neben dem ›Elefant‹. Schinken, Eier und Milch waren in einer Kühlbox in der Bar. Zwei Männer befanden sich in dem Raum, die etwas tranken, aber niemand stand hinter der Theke, so warteten wir. Über der Theke hing ein Bild mit einer Inschrift: »Hotel Elefant – 1848«, mit der Silhouette eines Elefanten drumherum. Einer der Anwesenden schaute zu uns herüber. Er hatte ein runzeliges, verdrücktes Gesicht. Er sagte mit lauter Stimme: »Hippies! Ich mag sie nicht. Schmutzige Hippies! Verderben das ganze Land. Wir wollen sie nicht haben. Basta!« Der Mann, der am anderen Ende der Bar saß, schien peinlich berührt zu sein und schaute in eine andere Richtung. So etwas war mir noch nicht pas 195
siert, und ich wußte nicht, wie ich reagieren sollte. Der Mann machte noch ein paar bissige Bemer kungen. Schließlich trat ich zwei Schritte auf ihn zu und sagte irgend etwas Dummes, etwa: »Wollen Sie vielleicht, daß jeder so angezogen ist und so aussieht wie Sie?« Es war albern, denn er war wirklich fast ebenso gekleidet wie ich. Er hob die Hände vors Gesicht und sagte ängst lich: »Gehen Sie weg von mir! Gehen Sie weg von mir!« Ich hielt den Mund und wandte mich von ihm ab, und er redete weiter ins Leere: »Krüppel! Machen nur Ärger!« Von der Tür her, die zum Laden führte, sagte Mrs. Lokay: »Mr. Pinchen.« Ich war froh über diese Unterbrechung. Sie kannte meinen Namen nicht richtig, und sie wußte nichts von William Pynchon oder den Verdiensten unserer Familie. Doch als ich einmal nicht genügend Geld bei mir hatte, gab sie mir ohne weiteres Kredit. Wir folgten ihr in den Laden. Sie sagte: »Nehmen Sie ihn nicht ernst. Sein Stiefsohn hat ihn so verrückt gemacht. Er sollte nicht so mit Ihnen sprechen. Ich bin froh, daß Sie keinen Stunk gemacht haben. Ich werde mit ihm reden.« Ich sagte mit einem Achselzucken: »Ist schon gut«, weil mir nichts anderes einfiel. Ich war ruhig, aber ich war ein wenig aus dem Gleichgewicht gera ten. Wir warteten im Laden, während Mrs. Lokay in 196
die Bar ging, um die Sachen zu holen, die wir bestellt hatten. Ich zog es vor, den Ladenausgang zu benüt zen und um das ganze Haus zu laufen, als noch ein mal durch die Bar zu gehen und den Mann noch mehr in Rage zu bringen. Ich mag keinen Ärger, und ich gehe Schwierigkei ten aus dem Weg, wo ich nur kann. Ich klammerte mich am Lenkrad fest. Anstatt direkt nach Hause zu fahren, lenkte ich den Wagen zu den östlichen Hü geln, wo das bebaute Ackerland langsam in ein riesi ges Waldgebiet übergeht. Ich knirschte mit den Zäh nen und fuhr und dachte darüber nach, was ich alles hätte entgegnen können. Ich hätte sagen können: »Okay, alter Junge. Ich habe eine Erlaubnis, so auszusehen. Man nennt diese Erlaubnis Verfassung.« Ich hätte sagen können: »Haben Sie nicht gesehen, daß das Haar von Lyndon Johnson bis über seinen Kragen fiel?« Ich hätte sagen können: »Was ist los? Können Sie keinen einfachen Bauernjungen mehr erkennen?« Aber ich habe nichts dergleichen gesagt. Juanito meinte: »Sie sollten sich einen großen Pla stiksack anschaffen, mit einem Reißverschluß und mit zwei Schläuchen. Einen für eine warme Salzlö sung, den anderen für Luft. Verbringen Sie die Nacht darin. Das ist sehr beruhigend.« »Das erinnert mich an Barry Goldwater, der auf dem Grund seines Swimmigpools eingeschlafen war. Keine Sorge, ich habe etwas ebenso Gutes.« 197
Ich lenkte den Wagen an den Straßenrand und hielt an. Auf dieser Seite war Wald. Auf der anderen gab es Springbrunnen, Spazierwege, Pflanzungen und zwei große Stufenpyramiden. »Was ist das?« fragte Juanito. »Das ist der Meditationspark der Rosenkreuzer sekte«, erklärte ich und stieg aus. Auf dem Schildstand, daß der Garten jeden Mor gen ab 8.30 Uhr geöffnet sei. Ich habe hier noch nie einen anderen Menschen getroffen. Ich wanderte einige Zeit umher. Dann beobachtete ich die Kaulquappen in dem Teich, der sich um die kleinere Pyramide erstreckte. Ich beruhigte mich langsam – dank der Rosenkreuzerlehre. Als wir zur Farm zurückfuhren, kamen wir an dem Felsensteinbruch vorbei. »Der Felsensteinbruch«, beantwortete ich Juanitos Frage. »Aber es wird hier nicht so häßlich bleiben. Wenn der Damm fertig ist, wird dies alles unter Wasser liegen. Dann können wir uns auf eine Invasi on von Motorbooten gefaßt machen.« In diesem Teil von Pennsylvania gibt es keine Seen, und so macht man halt welche. »Ich weiß davon«, sagte Juanito. »Cory erwähnte es.« Der See wird auch den Park hinter der Farm über schwemmen, wo die Rehe sind. Ich finde keinen Ge fallen an dieser Art Geschäftemacherei. Oh, aber am Fortschritt! Nach dem Abendessen versammelten wir uns alle 198
im Wohnzimmer. Cory holte mich aus dem Arbeits zimmer, in das ich mich zurückgezogen hatte, um wenigstens zehn Minuten auf meine Schreibmaschi ne zu starren. »Hast du gearbeitet?« fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. »Nichts geschrieben. Nur große und herrliche Ideen gehabt.« »Alexei, was tun wir, wenn das Geld nicht kommt?« »Henry versicherte mir, er habe den Scheck abge schickt. Wir müssen nur vertrauensvoll warten, daß er kommt.« Ich öffnete die Schreibtischschublade und ent nahm ihr das Scheckbuch mit dem unterernährten Kontostand. Ich schrieb einen Scheck über 371.92 Dollar aus, mehr, als zur Verfügung stand. »Hier«, sagte ich. »Steck ihn in einen Umschlag. Sobald der Scheck von Henry kommt, schicken wir diesen ab.« Cory schob den Scheck in den Umschlag, klebte ihn aber nochmal zu. Als wir in das Wohnzimmer traten, sagte Rob: »Oh, ich vergaß fast. Ich hab dir ja was mitge bracht.« Er kramte in seiner Tasche. Ich wartete. Ich liebe Geschenke. Ich fühlte die erwartungsvolle Gespannt heit wie am Weihnachtsmorgen. Er überreichte mir ein Taschenbuch. Hoffmanns Erzählungen, Teile der Gerichtsprotokolle über die Verhandlung gegen die 199
Demonstranten vom republikanischen Parteikongreß in Chicago. »Vielen Dank«, sagte ich. »Ich werde es morgen lesen.« Das war typisch für Rob, mir so etwas zu schen ken. Seiner Ansicht nach war eine Gerichtsreform in unserem Land das vordringlichste Anliegen. Wie nö tig sie war, konnte jeder, der die unbeschreiblichen Zustände in den Ämtern und Gefängnissen aus eige ner Erfahrung kannte, nur bestätigen. Zumindest in dieser Hinsicht waren Rob und ich uns einig. Er fragte: »Wie geht's deiner Story?« Ich antwortete: »Ich werde das Buch in der Bade wanne lesen.« »Hast du vor, den ganzen Tag in der Badewanne zu verbringen?« »Warum nicht?« Wir machten alle Lichter aus, außer dem Wand leuchter, der mattes gelbes Licht verbreitete. Cory brachte eine Kerze und stellte sie in ein farbiges Weinglas. Wir gruppierten uns um die Kerze auf den Boden, nur Leigh setzte sich auf einen niedrigen Stuhl. Das flackernde Licht der Kerze ließ alle Kon turen verschwimmen und zauberte ein warmes, herbstliches Glühen an die Decke. Wir unterhielten uns, und ich legte Platten auf. Great Speckled Bird, von Crosby, Stills, Nash and Young. Und die neue Platte von Joan Baez. Rob zog Highway 61 Revisned heraus, und ich hörte es be wußter als jemals zuvor. 200
Wolf und Fang kamen hereingetollt und spielten im ganzen Raum Fangen. Als sie müde waren, setz ten sie sich auf die Fensterbank und starrten in die Nacht. Rob, der mit gekreuzten Beinen auf dem Boden saß, warf plötzlich die Frage auf: »Gibt es wirklich eine Mafia?« »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Du bist näher daran als ich.« »Stimmt. Ich habe täglich Kontakt mit Leuten, die glauben, daß es sie gibt, die denken, daß sie dazuge hören. Ich könnte schon tot sein. Was ich mit meiner Frage sagen wollte, das ist, ob es die Mafia wirklich gibt, oder ob einige Leute einfach nur Mafia spie len.« Eine gute Frage. Sind die Dinge tatsächlich vor handen, oder bildet man sie sich nur ein? Spielt man nicht nur irgendetwas? Ich sagte: »Gibt es wirklich eine Revolution?« Im letzten Sommer, kurz bevor Cory und ich von Cambridge nach hier übergesiedelt sind, genauer ge sagt, einen Tag davor, rief mich William James Heckmann an. Bill war mein Zimmernachbar in der Vorbereitungsschule, und seit dem Tag, an dem wir unsere Schlußprüfung gemacht haben, habe ich nichts mehr von ihm gehört. Wir waren nicht sehr eng miteinander befreundet, wir hatten wenig ge meinsame Interessen. Trotzdem lud ich ihn ein, zu uns zu kommen. Ich war gespannt. Im Frühling, elf Jahre nach un 201
serer Schlußprüfung, wurde ich zu einem Klassen treffen eingeladen. Ich mußte ein Buch fertigschrei ben und konnte leider nicht hinfahren. Es tat mir sehr leid. Ich war in der Schule immer ein Einzelgänger, und es wäre interessant gewesen, zu sehen, was aus all den vielversprechenden Jungens geworden war. Ich bin immer sehr begierig darauf, das Ende einer Geschichte zu kennen, und eine Periode von elf Jah ren wäre ein guter Gradmesser der Entwicklung der einzelnen gewesen. Bill hatte nicht zu den begabte sten Schülern gehört, doch unter diesen Umständen war ich bereit, ihn als Ersatz für das Klassentreffen zu akzeptieren. Bill hatte sich verändert. Doch um gerecht zu sein, auch ich hatte mich verändert. Sein Haar wurde be reits dünn. Er trug einen Schnurrbart mit herunter hängenden Enden und ein buntgestreiftes Hemd. Wir unterhielten uns zuerst über Belanglosigkeiten und aßen Chips. Er war in Cambridge, um seine frü here Frau zu besuchen. Er studierte Theaterwissen schaften in Cornell. Er hatte Kurse bei Joanna Russ belegt, einer Schriftstellerin, mit der ich befreundet war, und hatte erwähnt, daß er mich kannte. Darauf hin gab sie ihm meine Adresse. Dann sprachen wir über Erheblichkeit und An spruch. Er sagte, daß auch er mehr wolle, als nur un terhalten. Als er sich bereits verabschiedete, sagte er plötz lich mit einem gewissen Stolz: »Ich bin wirklich ein Revolutionär. Ich arbeite für die Revolution.« 202
»Das tue ich auch«, sagte ich, und als er bereits im Treppenhaus war, rief ich ihm ein wenig ironisch nach: »Tun wir das nicht alle?« Gibt es wirklich eine Revolution? Oder gibt es ein fach nur ein paar Leute, die sie spielen? Was wird passieren, wenn genügend Leute spielen, intensiv genug und lange genug? Wir fünf und die zwei Katzen hatten uns an einem späten Frühlingsabend um eine Kerze versammelt. Wenn es wirklich eine Revolution gab, waren wir dann ihre Anführer? Was wäre, wenn wir lang genug und intensiv genug spielten? Und ich überlegte, in wie vielen anderen Zimmern Leute um eine Kerze saßen und vielleicht die glei chen Gedanken dachten wie wir, und die gleichen Träume träumten. Es mußte neue Wege geben, bes sere Wege, wir alle wußten das. Später in der Nacht, als wir im Bett lagen, sagte Cory: »Hast du irgend etwas über Juanito herausgefun den? Ich habe Leigh gefragt, aber sie wußte auch nichts. Er war einfach plötzlich da.« Ich sagte: »Rob hat auch nur in Rätseln gespro chen.« Ich erzählte ihr, was er mir über Juanito ge sagt hatte. Wir lachten und schliefen ein. Als wir am Morgen aufstanden, war Juanito ver schwunden. Rob schlief noch auf der Couch. Leigh schlief im zweiten Schlafzimmer. Und Juanito war verschwun den. 203
Ich ging nach draußen, um ihn zu suchen. Ein Schaf knabberte an einem Rosenstock an der Scheu ne. Ich scheuchte es fort und schob es unter dem Zaun durch auf die Koppel. Es strampelte und hinter ließ an dem Draht ein Büschel Wolle. Nichts von Juanito. An der Eingangstür stand ein Mülleimer, den ich nicht dorthin gestellt hatte. Er war angefüllt mit lee ren Bierdosen, Bier-und Limonadenflaschen, Eis cremebehältern, Zigarettenkippen, leeren Zigaretten schachteln, ein paar zerfledderten Zeitschriften und Plastik, Glas und Chromteilen vom letzten Autoun fall. Ich schleppte den Müllkübel fort. Als ich wieder zurückkam, stand Cory in der Tür. »Ich habe meine Story«, sagte ich. »Ich habe mei ne Story.« »Endlich!« sagte sie. II Mit dreißig Jahren war Little John noch immer ein Kind, mit der Ungeduld eines Kindes, erwachsen zu werden. Mehr als alles andere – mehr als das lange Studium und den langen Weg der Reife, die ihn, wie ihm seine Führerin versicherte, ans Ziel seiner Wün sche brachten – wünschte er sich, fertig zu sein, be freit zu sein von den endlosen Lektionen. Er war ein Kind, eines der wenigen auserwählten, bevorzugten. Auf der einen Seite liebte er dieses Leben, genoß 204
seine Privilegien und akzeptierte sie als sein natürli ches Vorrecht, auf der anderen Seite empfand er es als entwürdigend. Er war nur einer der Auserwähl ten, nur ein Junge, und er wünschte sich, erwachsen zu sein, so zu sein wie jeder andere. Es war nun durchaus nicht so, daß ihm das Talent dafür fehlte. Selbst gewöhnlichere Leute als er hatten etwas aus sich gemacht. Ihm fehlte nur bis jetzt noch die Idee. Er war auserwählt, aber nicht berufen. Er erkannte den Fortschritt in den Lektionen auf seinem Weg der Gnade. Das war es, was Samantha ihn lehrte zu glauben. Doch aus diesem Glauben er wuchs die Ungeduld darüber, eine Lektion nach der anderen schlucken zu müssen. Das hatte ihn verleitet anzunehmen, daß eine reine Anhäufung von Wissen genüge, und er hatte ganze Schränke voller Notizen. Man hatte ihn aber auch gelehrt, nicht alles zu glau ben, was man ihm sagte und selbst nachzudenken. Aber die Notiz über diese Information schien in ir gendeinem der Schränke verloren gegangen zu sein. So ungeduldig er auch war, so versuchte er doch, seine Ungeduld vor Samantha zu verbergen. Er fürchtete seine Führerin. Ihr Alter, ihr Ansehen und ihre Verschlossenheit flößten ihm Ehrfurcht ein. Zwischen ihnen beiden herrschte eine unüberbrück bare Distanz. Gleichzeitig akzeptierte er es als not wendig und richtig, daß man jemanden wie sie zu seinem Führer auserkoren hatte. Denn er war ein Auserwählter. Samantha förderte seine Furcht. Furcht, ebenso 205
wie Ungeduld, war ein Zeichen der Unreife, ein Maßstab für die Entfernung, die er noch zu überwin den hatte, bis er zu der Einsicht gelangte, daß die Lektionen, die er bis jetzt einfach nur ansammelte, auch anwendbar waren. Das war das einzige auf der Welt, das sie ihn nicht lehren konnte. Eines Tages würde er es selbst entdecken. Doch hinter ihrer un durchdringlichen Maske seufzte sie oft über seine Furcht, schüttelte den Kopf über seinen zunehmen den Stolz und lächelte über seine kribbelige Unge duld. Und dann wurde seine Geduld auf eine harte Probe gestellt. Als er von seinem Ausflug in das Jahr 1381 zu rückkehrte, gab ihm Samantha eine Woche Zeit, um über seine Eindrücke nachzudenken, bevor sie dar über diskutierten. »Ich könnte im Jahre 1381 leben, und ich wäre ein Gott«, sagte Little John. »Es wäre nicht leicht, aber ich habe genug gesehen. Man braucht nur Ausdauer und Beharrlichkeit. Das ist die Hauptsache.« Sie sprachen einen ganzen Monat darüber, Tag für Tag. Sie sprachen über die Probleme, wie man sich in jener Zeit innerhalb der menschlichen Gemein schaft eingliedern und trotzdem ein Gott bleiben könne. Wie sich das Verhältnis eines Gottes zu sei ner Umwelt gestaltete. Über die Probleme der Be wältigung von Dummheit und Ignoranz. Und wäh rend dieser ganzen Zeit war Little John sichtlich be gierig, einen neuen Ausflug zu unternehmen. Schließlich sandte sie ihn wieder aus. Sie sandte 206
ihn zurück ins Jahr 1381, damit er sich neue Ein drücke holen konnte. Es ist ein Problem, wenn ein machtloser, kraftloser Mensch die edlen Ziele einer Gottheit zu erreichen versucht. Buddha wußte das, aber Little John sah es nicht. Ihn beseelte nur der Wunsch, neue Zeitalter und neue Probleme kennen zulernen. Als ob Göttlichkeit an der Anzahl der Rei sen in die Zeiten und nicht an dem, was sie aus ihnen machte, ermessen werden könnte. So sagte er wieder: »Ich könnte im Jahre 1381 le ben, und ich wäre ein Gott. Ausdauer. Das ist die Hauptsache, nicht wahr?« Sie gebot ihm, darüber nachzudenken. Und so sprachen sie einen weiteren Monat darüber. Während des Gesprächs sagte er etwas über die psychologi sche Schwierigkeit, Kraft zu verströmen, wenn be hauptet wird, die Kraft sei ein Geburtsrecht. Er sagte: »Man kann sein Geld und sein Eigentum der Kirche geben. Das wäre ein Weg.« »Wäre das ein göttlicher Weg?« »Vielleicht. Sie glauben, er könnte es sein.« »Denkst du auch so?« »Ich traf einen sehr bescheidenen Franziskaner.« »Organisierte Göttlichkeit?« Und so sprachen sie weiter über die Zeiten und über die Möglichkeit, in ihnen zu leben und gut zu sein, wenn deine Gefährten Wölfe sind, gewillt, Wöl fe zu bleiben bis zum Tode, und gewillt zu sterben, um Wölfe bleiben zu können. Und Little John er kannte, daß es wirklich ein schwieriges Problem war, 207
ein göttliches Opfer von Wölfen zu sein. Er fühlte, daß sich die Erkenntnisse aus seinem letzten Ausflug erschöpften, und er machte sich be reit für den nächsten, lange bevor Samantha willens war, ihn auszusenden. Und als er dann den dritten Ausflug zurück in das Jahr 1381 unternahm, zu ei nem Aufenthalt in einem Kloster, fühlte er sich – nun, nicht gerade betrogen, so doch entschieden ent täuscht. Er nahm keine weiteren Eindrücke mit, machte nur die üblichen Notizen. Und nach einer Woche der Diskussion wurde sei ne Ungeduld unerträglich. Er sagte: »Keats starb mit fünfundzwanzig. Ma saccio starb mit siebenundzwanzig und ebenso Henry Gwyn-Jeffreys Moseley.« Er zählte eine ganze Reihe von Leuten auf, von Emily Bronte bis Michail Jurje witsch Lermontow. »Ich bin bald dreißig, und ich will endlich das tun können, was ich will. Und ich will hinaus in die Welt.« Er wollte nicht begreifen, daß nicht die Vollen dung, sondern der Weg dahin das Ziel war. Jene, die Freiheit erwarteten, waren niemals frei. Samantha, die für ihre Bissigkeit bekannt war, sagte: »Ja, und Christopher Marlowe starb mit neunund zwanzig und war doch der bedeutendste Vorläufer Shakespeares. Glaubst du, daß vierzig oder fünfzig Jahre zu viel sind, um sich auf ein so langes Leben, wie es dich erwartet, vorzubereiten?« »O nein«, sagte er. »O nein!« Aber in seinem Her 208
zen dachte er anders. »Ich bin es nur müde, immer wieder in das Jahr 1381 zurückzukehren. Es ist leicht, dort ein Gott zu sein. Es ist zu leicht. Ich möch te eine schwerere Aufgabe. Schicken Sie mich in das Jahr 1970. Ich bin gerüstet. Wirklich, ich bin es.« 1970 hatte einen besonderen Ruf. Wenn man dort ein Gott sein konnte, dann konnte man es überall sein. Little John sah das als eine endgültige Prüfung an, und er wünschte so sehr, sie abzulegen. »Glaubst du, daß du mit 1970 fertig wirst?« fragte Samantha. »O ja«, sagte er. »Bitte.« Er saß mit gekreuzten Beinen vor ihr. Sie befan den sich auf dem Gipfel des runden Hügels, der sich über den Gemeinschaftsgebäuden und den blühenden Feldern erhob. Hier gab es ein Freilichttheater, und hier wurden auch Versammlungen abgehalten. Es war ein guter Platz, um den Sonnenuntergang und den Aufgang des Mondes zu beobachten. Seine Spa ziergänge mit Samantha brachten ihn oft hierher. Er hatte Angst davor, wie Samantha seine Frage aufnehmen würde. Ängstlich beobachtete er ihr Ge sicht, ungeduldig auf die Antwort wartend. Doch wie gewöhnlich war ihr Gesicht verschlossen und un durchdringlich. Little John wartete so lange, und ihr Gesicht war so still, daß er schon fast fürchtete, sie sei einge schlafen. Er versuchte zu meditieren, doch er wurde das Opfer seiner Gedanken und verlor den Faden. Er gebot sich selbst Ruhe und absolutes Stillschweigen 209
seiner Gedanken, das war alles. Endlich sagte sie: »Diese Sache sollte man nicht übereilen. Ich denke, wir haben für heute genug ge sprochen. Geh, meditiere und bedenk deine Lektio nen.« »Und dann?« »Komm morgen zu der üblichen Zeit in mein Zimmer.« Und sie entließ ihn mit einer Geste. Er erhob sich, sammelte seine Notizen ein und wanderte den Hügel hinab. Samantha blieb still sit zen. Als der steinige Weg eine Biegung machte, blickte er noch einmal zurück. Sie saß ruhig da und schaute über das Tal. Shelley Anne Fenstermacher, eine andere Auser wählte, wartete auf ihn. Sie war zehn Jahre alt und nur halb so groß wie er. Er war für sie ein Vorbild, so wie Hope Saltonstall für ihn ein Vorbild gewesen war, als er noch jünger war. Sie leerte ihren Eimer mit Abfall in den Schweinetrog, kletterte vom Zaun und lief auf ihn zu. »Hast du gefragt? Hast du gefragt? Was hat sie ge sagt?« »Sie sagte, ich solle gehen und meditieren.« »Was glaubst du, was sie denkt?« »Ich weiß es nicht.« Er ging in sein Zimmer und holte seine letzten No tizen aus dem Schrank. Er wußte nicht, was Saman tha dachte, doch er wußte, daß er ihre Anweisungen befolgen würde. Er befolgte immer ihre Anweisun gen, selbst, wenn er sie nicht verstand. 210
»Kann ich mitkommen?« fragte Shelley, als er wieder herauskam. »Heute nicht«, sagte er. »Heute gehe ich lieber al lein.« »Oh«, sagte sie. »Tut mir leid.« So spazierte er in den Wald, meditierte und las seine Notizzettel, ängstlich bemüht, alles in seinen Kopf zu stopfen. Wenn sie ihn prüfen sollte, dann wollte er darauf vorbereitet sein. Er hatte jedes Wort, das sie gesagt hatte, aufgeschrieben. Er wollte ihr zeigen, daß er bereit war. Als er und Samantha sich am nächsten Tag trafen, war er gerüstet, gerüstet auf alles, nur nicht auf das, was kam, und das war – nichts. Samantha tat so, als habe er nie eine Frage gestellt. Sie nahm die Diskus sion wieder auf, die sie am vergangenen Tag unter brochen hatten, und sie gingen, und sie sprachen wie gewöhnlich, und sie sagte kein Wort über seine Frage. Und Little John, viel zu ängstlich um zu sprechen, sagte auch kein Wort. Doch er zitterte ein wenig. Nach zwei Stunden sagte sie: »Das waren frucht bare Stunden, nicht wahr?« Er nickte ein wenig stumpfsinnig. Dann sagte er: »Bitte, Ma'am, sind Sie zu einem Entschluß gekom men?« »Ja«, antwortete sie. »Ich habe dir etwas mitge bracht.« Sie griff in ihre Tasche und holte einen win zigen Tabakbeutel hervor. »Das ist ein Geschenk für dich. Nimm es mit auf den Hügel heute abend, und 211
wenn der Mond zwei Hand breit über dem Horizont steht, dann rauche und meditiere.« Am Abend saß er auf dem Hügel, an seinem Lieb lingsplatz. Er beobachtete den Sonnenuntergang und beobachtete den Aufgang des Mondes. Er maß mit seiner Hand. Als der Mond zwei Hände breit über dem Horizont stand, füllte er seine Pfeife und rauch te. Und er dachte, und seine Gedanken füllten die ganze Nacht. Es waren gute Gedanken, doch sie krei sten nur um 1970 und um seine Erhebung in den Stand eines Gottes. Es war ein guter Tabak. Aus Dankbarkeit brachte er Samantha den besten Apfel, den er finden konnte. Er suchte den ganzen Obstgarten ab, bis er seine Wahl traf. Seine Lehrerin war sehr erfreut über den Apfel. »Vielen Dank, Little John«, sagte sie. Sie aß den Apfel und hob das Kerngehäuse für die Schweine auf. »Zu welchem Entschluß bist du letzte Nacht ge kommen?« fragte sie. Seine Gedanken waren nicht in Worte zu kleiden, und so sagte er etwas vage: »Novalis ist mit achtund zwanzig gestorben.« »Ja, das ist er«, sagte Samantha. Schweigend wanderten sie weiter. Zwei Stunden wanderten sie schweigend. Für jemanden ihres Alters war Samantha recht gut zu Fuß. Sie umrundeten den ganzen Hügel. Der Tag war heiß und schwer. Ein Adler kreiste über ihnen, und Little John beneidete ihn. Er wollte, er könnte auch fliegen. Als sie wieder zu Hause waren und durch die rei 212
fen Felder gingen, sprach Samantha endlich: »Verbringe die Nacht in Mutter. Wir treffen uns morgen wieder.« »Ohne Tempus?« fragte er. »Ja, ohne Tempus.« »Aber das habe ich noch nie getan.« Sie sagte: »Die Mutter gab es schon, bevor wir Tempus hatten. Versuch es, du wirst sehen.« »Ja, Ma'am«, sagte er. Er mußte Shelley Anne von seinem Fortschritt be richten. Nach dem Abendessen saßen sie auf der Treppe in dem warmen und stillen Abend und er er zählte ihr, was Samantha von ihm verlangt hat. »Wirklich?« sagte sie. »Das habe ich noch nie ge hört. Glaubt sie, du würdest deine Meinung ändern?« »Ich weiß nicht. Aber ich muß es tun, wenn sie es will.« Während sie sich unterhielten, kam Lenny heraus. »Hallo, Kinder«, sagte er. »Kommt ihr mit zu der Versammlung heute abend?« Shelley Anne sagte zu, Little John aber meinte, er habe noch zu tun, und überhaupt habe er andere Plä ne. Lenny und Shelley Anne gingen zusammen und ließen Little John allein zurück. Er konnte das Feuer auf dem Hügel sehen und die Stimmen hören. Schließlich ging er hinein und stellte Mutter auf, genauso, als würde er einen Trip machen, nur ohne Drogen. Er prüfte den Luftschlauch, und er prüfte den Schlauch für die Salzlösung. Und er stellte den Wecker. 213
Er zog sich aus und warf seine Kleider in die Ec ke, eine noch recht kindliche Angewohnheit von ihm. Es kam ihm zu Bewußtsein, wie ungöttlich sein Verhalten war, und er hob sie wieder auf. Dann öffnete er den Reißverschluß von Mutter und kletterte hinein. Das Plastikmaterial legte sich kalt um seinen nack ten Körper. Ihn fröstelte, als habe er sich auf einen kalten Toilettendeckel gesetzt. Er nahm das Mund stück des Luftschlauches in den Mund. Er schloß den Plastiksack erst, als er ganz sicher war, daß er richtig atmen konnte. Als die warme Salzlösung in den Sack rann, klär ten sich seine Sinne. Er schwebte wie auf Wolken. Rasch wurde ihm warm. Er hatte Mutter bisher nur für seine Trips benützt, und er hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, warum man sie ›Mutter‹ nannte. Jetzt lehnte er sich zurück, ließ sich treiben und träumte in Mutters warmen Armen, und sie war sehr gut zu ihm. Seltsam unwirkliche Träume fluteten durch sein Gehirn. Angenehme Träume. Er sah Shelley Anne Fenstermacher als alte Frau, sie nickte ihm zu und sagte lächelnd: »Hallo«, so wie sie es immer tat. Er sah Samantha als zehnjähriges Mädchen mit einer Puppe im Arm. Er sah seine alten Freunde in dem Kloster im Jahre 1381, und sie begrüßten ihn herz lich. Er flog mit seinem Freund, dem Adler, durch den blauen Himmel und ließ sich vom Sommerwind über die stille Welt treiben. 214
Und dann blieben die Träume zurück. Am Morgen, einem kühlen, ruhigen Morgen, saß er im ersten Sonnenlicht, hörte das Lied der Drossel und versuchte, sie in den Zweigen des Walnußbaums zu erspähen. Samantha kam zu ihm. Er glaubte, in ihr noch das zehnjährige Mädchen zu erkennen, selbst ohne die Puppe. »Wie war die Nacht?« fragte sie. »Gut«, sagte er. »Ich habe noch niemals vorher ei ne solche Nacht erlebt. Sie war sehr beruhigend.« »Ah, war sie das?« Und dann, ohne jede weitere Vorrede, sagte sie: »Willst du noch immer ins Jahr 1970 reisen?« »Ja,Ma'am«, sagte er. »Ich bin vorbereitet dafür. Ich will Ihnen beweisen, daß ich es bin. Was soll ich noch tun?« »Nichts. Wenn du wirklich gehen willst, wenn du fest entschlossen bist, dann werde ich dich nicht mehr zurückhalten.« Little John war nahe daran, vor Freude einen Luft sprung zu machen und sie zu umarmen, doch er be zwang sich. Samantha hätte ihm gar nicht so viel Ehrfurcht zugetraut. So bekam Little John also seine Chance, sich zu bewähren. Mutter wurde wieder bereitgestellt, nicht für eine gewöhnliche Wanderung, sondern für einen Traum mit einem bestimmten Ziel. Samantha be rechnete selbst die Mischung von Tempus. Sie sagte: »Es wird anders sein als in den Zeiten, in denen du bisher gewesen bist.« 215
»Oh, ich weiß das«, sagte er. »Wirklich? Ich kann mich noch selbst gut daran erinnern. Es war nicht so wie jetzt.« »Ich werde schon damit fertig.« »Das will ich hoffen. Ich werde dafür sorgen, daß du in gute Hände kommst. Es wird dir nichts Ernst haftes passieren.« »Machen Sie es nicht zu leicht«, bat er. »Sag mir das, wenn du wieder zurück bist. Ich ge be dir ein Mnemonik mit. "Wenn du den Ausflug abbrechen und früher zurückkommen möchtest, dann konzentriere dich auf das Mnemonik. Hast du ver standen?« »Ich verstehe.« Sie prüfte ihn noch einmal in allen Punkten, ein mal, zweimal, und dann noch einmal, bis sie ganz zu frieden war. Schließlich kletterte er in das Innere von Mutter und trank das Gebräu, das sie ihm reichte. »Gute Reise«, sagte sie. »Keine Sorge, Ma'm«, entgegnete Little John. Dann füllte sich der Sack und er trieb von ihr fort, zurück in die Zeit, zurück in seine Gedanken. »Ich werde eine gute Zeit haben.« Es konnte nicht schwer sein, 1970 ein Gott zu werden. Er hatte alle Voraussetzungen dafür. Er war gerüstet. Aber er kam bald zurück. Und er hatte keine gute Zeit gehabt. Er war enttäuscht, verbittert und in tiefster Seele verwundet. Er wollte nicht einmal mit Shelley Anne 216
Fenstermacher sprechen. Ohne sich bei Samantha oder irgendjemand ande rem zu melden, verschwand er im Wald. Zwei Tage blieb er dort, mit sich und seinen Gedanken allein. Er versuchte, die ganze Zeit den Sinn dessen zu erkennen, was er gesehen hatte, und er konnte es nicht. Er versäumte die Zusammenkünfte mit Saman tha. Als er endlich wieder zurückkehrte, entschuldig te er sich nicht einmal für seinen Ungehorsam. »Sie hatten recht«, sagte er bloß. »Ich war nicht genügend vorbereitet. Senden Sie mich wieder zu rück ins Jahr 1381. Bitte.« »Vielleicht«, sagte Samantha. »Ich verstehe es nicht. Ich verstehe es nicht. Ich wußte, daß mich Dinge erwarteten, die für meinen Begriff nicht richtig waren, aber so hatte ich es mir nicht vorgestellt. Die Menschen rennen mit geschlos senen Augen in ihr Unglück. Sie wissen gar nicht, was ihnen bevorsteht. Nicht wirklich. Steuern sind das einzige, worüber sie sich den Kopf zerbrechen. Eine Revolution steht kurz vor dem Ausbruch. Sind die Dinge immer so schrecklich, bevor sie sich ändern?« »Ja«, antwortete sie. »Immer. Der einzige Unter schied besteht in der Art der Veränderung. Dabei hast du noch nicht einmal das schlimmste gesehen. Nicht die Hälfte davon, Little John.« »Wirklich nicht?« fragte er überrascht. »Ich dach te, es könne nicht schlimmer sein.« Sie war viel zu verständnisvoll, um ihn auszula chen. 217
»Aber es war so beängstigend, so grausam, so zer störerisch!« sagte er. »Diese Menschen waren gar nicht so schlimm«, sagte Samantha. »Auch meine Eltern haben damals gelebt.« »Oh, das tut mir leid, Ma'am.« »Und deine Großeltern waren auch nicht anders. Aber sie lernten aus ihren Fehlern. Das ist das Wich tigste, und das solltest du nicht vergessen. Wenn sie sich nicht geändert hätten, wäre keiner von uns jetzt hier. Denk immer daran.« »Aber sie hatten so viel Kraft«, schrie er hinaus. »Sie hatten die Kraft von Göttern, und sie haben sie so schlecht genützt.« Little John war vielleicht dumm, abgrundtief dumm, und er war vielleicht noch unreif, und viel leicht hatte er noch mehr Jahre vor sich als Shelley Anne Fenstermacher, bis er die Befähigung erlangte, in die Welt hinausgeschickt zu werden; aber er war doch fähig, Dinge zu erkennen, Dinge, die eine allzu deutliche Sprache sprechen. III Es ist leicht, eine Geschichte zu beenden. Schwerer fällt es schon, den Anfang zu finden, wenn alle Mög lichkeiten noch offen sind. Beginnt jetzt!
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Ursula K. LeGuin
Die unfaßbaren Wesenheiten
Du schaust auf die Uhr. Sie hat Zeiger, und die Zif fern sind kreisförmig angeordnet. Die Zeiger bewe gen sich. Du kannst nicht sagen, ob sie sich mit der selben Geschwindigkeit bewegen, oder ob einer sich schneller bewegt als der andere. Was hat dieses als zu bedeuten? Zwischen den Zeigern und dem Zif fernkreis gibt es eine Beziehung, und der Name die ser Beziehung liegt dir auf der Zunge; die Zeiger ste hen … in irgendeiner Beziehung zu den Ziffern. O der sind es die Ziffern, die zu den …? Was bedeutet zu den? Es sind Ziffern, und dein Wortschatz ist durchaus nicht geschrumpft. Und natürlich kannst du zählen, eins, zwei, drei, vier und so weiter. Ärgerlich ist nur, daß du nicht sagen kannst, welche Eins eins ist. Jede Eins ist eins: sie selbst. Wo willst du anfan gen? Wenn jede Eins eins ist, dann gibt es doch kein … Ach, wie heißt nur das Wort, ich hatte es doch eben … Ein Dingsda, das zwischen den Einsen. Nein, da gibt es kein Dazwischen. Es gibt nur ein hier und hier, ein eins und eins. Es gibt kein dort. Maya ist ge fallen. Alles ist hier jetzt eins. Aber wenn alles jetzt ist und alles hier und eines dies, dann gibt es kein En de. Da es nicht begann, kann es auch nicht enden. O Gott, wenn nur eines mich hier herausbrächte … 219
Ich versuche die Empfindungen eines durch schnittlichen Menschen beim NAFAL-Flug zu be schreiben. Für den einen oder anderen, dessen Zeit sinn sehr ausgeprägt ist, kann es noch viel schlimmer sein. Für andere ist es eine ruhevolle Angelegenheit, etwa so wie ein Drogennebel, der den Geist aus der Tyrannei der Stunden befreit. Und für ganz wenige ist es ganz gewiß ein mystisches Erlebnis. Der Zu sammenbruch von Zeit und Relation führt sie direkt zur Intuition des Ewigen. Aber die Mystik ist ein ra rer Vogel, und die meisten kommen ihrem Gott in der paradoxen Zeit nur näher in unartikuliertem und ängstlichem Gebet um Befreiung. Früher setzte man die Leute für die weiten Raum sprünge unter Drogen, aber als man sich der Auswir kungen bewußt wurde, unterließ man es wieder. Was bei nahezu Lichtgeschwindigkeit in kranken, verletz ten oder unter Drogeneinfluß stehenden Menschen vorgeht, ist natürlich nicht vorherzusehen. Ein Sprung von zehn Lichtjahren dürfte logischerweise einem Masernkranken oder einem, der an einer Schußwunde leidet, nicht viel ausmachen. Der Körper altert ja nur wenige Minuten; warum trägt man aber einen Ma sernkranken als Aussätzigen und den mit der Schußwunde als Leiche von Bord? Das weiß niemand – au ßer vielleicht die Leiche, was wiederum die Logik des Fleisches beweist, das weiß, daß es von Schwären zer fressen wurde, blutete oder für zehn Jahre von Drogen in eine schwebende Bewußtlosigkeit geworfen wurde. Viele Idioten gingen daraus hervor, und der Fisher 220
King-Effekt war als Tatsache bewiesen. Deshalb hör ten sie auf, Drogen zu verwenden, Kranke, Verwun dete und Schwangere zu transportieren. Du mußt vollkommen gesund sein für einen NAFAL-Flug, und du mußt ihn eben so nehmen, wie er kommt. Besonders vernünftig brauchst du dabei nicht zu sein. Nur während der ersten Dekaden der Liga kam es vor, daß Erdenmenschen, vielleicht um das ziemlich angeschlagene kollektive Ego ein wenig aufzupolie ren, ihre Schiffe auf ungeheuer weite Reisen schick ten, die weit über das bisher Bekannte hinausführten, über die nächsten Sterne und noch viel weiter. Sie suchten nach Welten, die noch nicht wie alle bekann ten Welten von den Gründern von Hain besiedelt oder wenigstens besamt worden waren, also richtige neue, fremde Welten; und alle Mannschaften dieser Schiffe der Extremen Inspektion bestanden aus gei stig nicht sehr stabilen Menschen. Wer sonst wäre bereit gewesen, Informationen zu sammeln, die erst nach vier, fünf oder sechs Jahrhunderten empfangen werden konnten? Empfangen von wem? Das war, ehe man den Instant-Kommunikator er fand; bis dahin waren sie in Zeit und Raum isoliert. Kein vernünftiger Mensch, der den Verlust auch nur weniger Dekaden zwischen nahen Welten erlebt hat te, dachte daran, sich für eine Rundreise zu verpflich ten, die ein halbes Jahrtausend dauern konnte. Diese Inspekteure waren Flüchtlinge, Eigenbrötler und Verrückte. 221
Zehn von ihnen kletterten in Smeming Port auf Pesm an Bord der Raumfähre und versuchten unge schickt, einander während der drei Tage, welche die Fähre brauchte, um ihr Schiff, die Gum, zu erreichen, besser kennenzulernen. Gum ist ein auf Low Cetia gebräuchlicher Spitz name, etwa wie ›Kindchen‹, ›Lämmchen‹ oder so ähnlich. Der Mannschaft gehörten an ein Low Cetia ner, ein Hairy Cetianer, zwei Männer von Hain, ein Beldene und fünf Terraner. Gebaut war das Schiff auf Cetia, gechartert von der Regierung der Erde. Die bunt zusammengewürfelte Mannschaft quetschte sich einer nach dem anderen durch die enge Kupplungs röhre wie ahnungsvolle Spermatozoen, die das Uni versum befruchten. Die Fähre legte wieder ab, und der Navigator brachte die Gum auf Kurs. Ein paar Stunden lang blitzte sie immer wieder ein paar hun dert Millionen Meilen von Pesm entfernt am Rand des Raumes auf, dann verschwand sie plötzlich. Nach zehn Stunden und neunundzwanzig Minuten oder zweihundert-sechsundfünfzig Jahren erschien die Gum wieder im normalen Raum; man nahm an, sie befinde sich in der Nähe des Sterns KG-E-96651. Klar, diesen fröhlich blinkenden goldenen Steckna delkopf von einem Stern gab es. Irgendwo in einem Umkreis von vierhundert Millionen Kilometern war auch ein grünschimmernder Planet, die Welt 4470, die von den cetianischen Kartenzeichnern schon vor sehr langer Zeit aufgenommen worden war. Diesen Planeten mußte das Schiff nun finden. Das war nicht 222
so einfach, wie es sich vielleicht anhört, denn man mußte eine Nadel in einem Heuhaufen von vierhun dert Millionen Kilometern suchen. Mit nahezu Lichtgeschwindigkeit konnte die Gum auch nicht einfach im planetaren Raum herumschwirren; täte sie es, dann könnten sie, der Stern KG-E-96651 und die Welt 4470 glatt in die Luft gehen. Also mußte sie mit ihren Antriebsraketen und einer Geschwindigkeit von ein paar hunderttausend Kilometern pro Stunde dahinkriechen. Asnanifoil, der Mathematiker und Navigator, wußte ziemlich genau, wo der Planet sein mußte, und glaubte, er könne ihn innerhalb zehn Er dentagen finden. Inzwischen konnten die Leute des Inspektionsteams einander noch ein bißchen besser kennenlernen. »Ich kann ihn einfach nicht ertragen«, sagte Por lock, der ›harte‹ Wissenschaftler – Chemie, Physik, Astronomie, Geologie und so weiter –, und kleine Speicheltröpfchen blieben in seinem Schnurrbart hängen. »Der Mann ist verrückt. Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb man ihn für geeignet hielt, zu einem Inspektionsteam zu stoßen – außer es handelt sich hier um ein beabsichtigtes Experiment in Unver träglichkeit, das die Behörden mit uns als VersuchsKaninchen geplant haben.« »Wir auf Hain nehmen für diesen Zweck im all gemeinen Hamster und unsere heimischen Gholen«, bemerkte Mannon, der ›weiche‹ Wissenschaftler höf lich; er vertrat Psychologie, Psychiatrie, Anthropolo gie, Ökologie und so weiter. »Wir verwenden keine 223
Kaninchen. Nun ja, ich meine, Mr. Osden ist ein sehr seltener Fall. Er ist tatsächlich der erste wirklich ku rierte Fall eines Renderschen Syndroms – eine Abart des infantilen Autismus, den man bisher für unheil bar hielt. Der große Analytiker Hammergeld von Terra führte aus, daß in diesem Fall die Ursache der autistischen Erkrankung eine weit über dem Durch schnitt liegende empathische Veranlagung sei und entwickelte eine geeignete Behandlung. Mr. Osden ist der erste Patient, der dieser Behandlung unterzo gen wurde. Er lebte sogar bis zu seinem achtzehnten Jahr ganz bei Dr. Hammergeld. Die Therapie erwies sich als äußerst erfolgreich.« »Erfolgreich?« »Sicher. Er ist ganz gewiß kein Autist.« »Nein, er ist unerträglich!« »Verstehst du«, fuhr Mannon fort und musterte mild lächelnd die Speicheltröpfchen in Porlocks Bart, »die normale defensiv-aggressive Reaktion zwischen zwei Fremden, die einander kennenlernen – nennen wir sie zum Beispiel Porlock und Osden – kommt dir kaum zu Bewußtsein. Gewohnheit, Höf lichkeit und Unaufmerksamkeit führen dich daran vorbei; du hast gelernt, darüber hinwegzusehen, so gar die Reaktion als solche zu leugnen. Mr. Osden ist jedoch Empath und fühlt es. Er fühlt seine Gefühle ebenso wie die deinen und kann dann kaum mehr sagen, wessen Gefühle es nun gerade sind. Sagen wir einmal, es gibt ein normales Element der Feindselig keit jedem Fremden gegenüber in deiner emotionel 224
len Reaktion auf ihn, wenn du mit ihm zusammen triffst, plus eine spontane Abneigung, die sich auf sein Aussehen, seine Kleider, seinen Händedruck oder was immer bezieht. Er spürt diese Abneigung. Da seine autistische Defensive nicht geschult ist, be dient er sich einer aggressiv-defensiven Methode als Antwort auf die Aggression, die du unwissentlich auf ihn projiziert hast.« Mannon sprach noch eine ganze Weile so weiter. »Nichts gibt einem Menschen das Recht, ein sol ches Ekel zu sein«, erwiderte Porlock. »Und er kann uns nicht abschalten?« fragte Har fex, der Biologe und zweite der Leute von Hain. »Es ist genauso wie Hören«, erklärte Olleroo, die Assistentin des ›harten‹ Wissenschaftlers, die ihre Zehennägel eben mit fluoriszierendem Lack bemalte. »Auf den Ohren hat man eben keine Augenlider, und ein Empathe hat keinen Aus-Schalter. Er nimmt un sere Gefühle auf, ob er nun will oder nicht.« »Weiß er denn auch, was wir denken?« fragte Eskwana, der Ingenieur und sah bestürzt von einem zum anderen. »Nein«, knurrte Porlock. »Empathie ist doch nicht gleich Telepathie! Telepathie hat doch keiner!« »Und doch …«, erwiderte Mannon mit seinem kleinen Lächeln. »Gerade als ich Hain verließ, kam ein ungemein interessanter Bericht von einer kürzlich wiederentdeckten Welt herein. Ein junger Helfer na mens Rocannon behauptet, bei einer mutierten homi niden Rasse gebe es eine lehrbare telepathische 225
Technik. Ich sah nur eine ganze kurze Zusammenfas sung im HILF –Bulletin, aber …« wieder sprach er lange weiter, aber die anderen hatten inzwischen schon begriffen, daß sie selbst auch weiterreden konnten, während Mannon sprach; es schien ihm nichts auszumachen, aber er überhörte auch kaum etwas von dem, was die anderen redeten. »Aber warum haßt er uns dann?« fragte Eskwana. »Niemand haßt dich, Süßer«, erwiderte Olleroo und betupfte Eskwanas linken Daumennagel mit dem fluoreszierenden Rosa. Der Ingenieur wurde rot und lächelte vage. »Aber er benimmt sich so, als haßte er uns«, sagte Haito, die Koordinatorin. Sie war eine sehr zart und delikat aussehende Frau rein asiatischer Herkunft mit einer erstaunlichen Stimme – tief, sehr tief und weich, ein bißchen heiser, wie von einem jungen Ochsenfrosch. »Wenn er doch unter unserer Feindse ligkeit leidet, warum verstärkt er sie noch mit ständi gen Angriffen und Beleidigungen? Ich halte wirklich nicht viel von Dr. Hammergelds Kur, Mannon; ich würde Autismus vorziehen …« Sie schwieg. Osden war in die Hauptkabine ge kommen. Er wirkte ungeheuer ausgezehrt. Seine Haut war unnatürlich weiß und dünn und sah mit ihren durch scheinenden Adern wie eine verblichene Straßenkar te in Rot und Blau aus. Sein Adamsapfel, die Mus keln, die seinen Mund umgaben, die Knochen und Sehnen an Händen und Handgelenken, alles war 226
deutlich sichtbar wie für eine Anatomiestunde zur Schau gestellt. Sein Haar war von blasser Rostfarbe, etwa so wie lange getrocknetes Blut. Er hatte zwar Augenbrauen und Wimpern, aber die waren nur in einem gewissen Licht zu sehen; was man sah, waren nur die Knochen der Augenhöhlen, die Äderchen der Lider und die farblosen Augen. Sie erschienen nicht rot, denn er war ja eigentlich kein Albino, aber sie waren auch nicht blau oder grau; in Osdens Augen gab es keine Farben. Deshalb waren sie von wäßriger Klarheit, von unendlicher Durchsichtigkeit. Niemals sah er einen direkt an. Sein Gesicht wirkte so aus druckslos wie eine anatomische Zeichnung oder wie enthäutet. »Ich gebe euch darin recht«, sagte er mit hohem, hartem Tenor, »daß selbst eine autistische Zurückge zogenheit dem Nebel eurer billigen, abgenützten Emotionen, mit dem ihr mich umgebt, vorzuziehen wäre. Porlock, welchen Haß wirst du jetzt wieder gegen mich ausschwitzen? Du kannst meinen An blick nicht ertragen? Dann beschäftige dich doch mit Autoerotizismen, wie du's vergangene Nacht getan hast; sie verbessern deine seelischen Schwingungen … Wer, zum Teufel, hat an meinen Bändern hier herumgepfuscht? Rührt meine Sachen nicht an! Kei ner von euch! Ich kann das nicht leiden.« »Osden«, sagte Asnamfoil, der Hairy Cetianer mit seiner vollen, langsamen Stimme, »warum bist du denn auch ein solches Ekel?« Ander Eskwana kauerte sich zusammen und be 227
deckte sein Gesicht mit den Händen. Streit ängstigte ihn. Olleroo, die ewige Zuschauerin, sah auf mit ei nem leeren, gleichzeitig jedoch eifrigen Ausdruck. »Und warum soll ich kein Ekel sein?« erwiderte Osden. Er hielt sich körperlich, soweit wie es in die ser engen Kabine möglich war, von den anderen ent fernt und sah auch Asnanifoil nicht an. »Keiner von euch schafft in sich selbst einen Grund dafür, daß ich mein Benehmen ändere.« Asnanifoil zuckte die Achseln; Cetianer sind sel ten bereit, das Offensichtliche zuzugeben. Harfex, ein in sich gekehrter und geduldiger Mann, sagte: »Der Grund ist der, daß wir einige Jahre zusammen verbringen müssen. Das Leben wird für uns alle er träglicher sein, wenn …« »Könnt ihr denn nicht verstehen, daß mir ver dammt wenig an euch allen liegt?« entgegnete Osden, nahm seine Mikrobänder und ging hinaus. Eskwana war plötzlich eingeschlafen. Asnanifoil zog mit dem Finger Stromlinien in die Luft und murmelte dazu die rituellen Primzahlen. »Seine Zugehörigkeit zu diesem Team kann man sich nur mit einem Komplott der Terrabehörden er klären«, sagte er. »Das habe ich fast sofort festge stellt.« »Dieser Auftrag geht daneben«, flüsterte Harfex der Koordinatorin zu und schaute dabei über die Schulter. Porlock fummelte am Verschluß seines Ho senlatzes herum; er hatte Tränen in den Augen. Ich sagte ja gleich anfangs, daß alle verrückt waren, aber 228
man hat sicher geglaubt, ich übertreibe. Trotzdem, sie hatten in gewisser Weise recht. Die Leute von der Extremen Inspektion erwarteten, daß die Kameraden ihres Teams intelligent, ausgezeich net ausgebildet, labil und persönlich nett und ver ständnisvoll waren. In engen Räumen und an recht unangenehmen Orten mußten sie Hand in Hand ar beiten und durften damit rechnen, daß die Paranoias, Depressionen, Manien, Phobien und Zwangsvorstel lungen der anderen milde genug waren, um noch gu te menschliche Beziehungen zu ermöglichen, wenig stens die meiste Zeit. Osden mochte zwar intelligent sein, doch seine Ausbildung war bruchstückhaft, seine Persönlichkeit verheerend. Man hatte ihn nur wegen seiner einmali gen Gabe, der Kraft der Empathie, mitgeschickt; ge nau gesagt, wegen seiner weitreichenden bioempa thischen Empfangsfähigkeit. Sein Talent war nicht artspezifisch; er konnte Gefühle und Empfindungen von jedem fühlenden Lebewesen aufnehmen. Mit einer weißen Ratte konnte er die Lust, mit einer zer tretenen Küchenschabe den Schmerz, mit einem Nachtfalter die Phototrophie fühlen. Die Behörden hatten entschieden, es sei nützlich zu wissen, ob auf einer fremden Welt alles in der nächsten Umgebung empfindungsfähig sei, und wenn ja, welche Gefühle einem diese Lebewesen entgegenbrächten. Osdens Titel war deshalb auch ganz neu: Er war der Sensor des Teams. »Was ist Emotion, Osden?« fragte Haito Tomiko 229
eines Tages in der Hauptkabine im Versuch, wenig stens einmal mit ihm irgendwie in Rapport zu kom men. »Was, genau gesagt, fängst du eigentlich mit deiner empathischen Sensitivität auf?« »Dreck«, antwortete der Mann mit seiner hohen, erregten Stimme. »Die psychischen Exkremente des animalischen Reiches. Ich wate durch eure Fäkali en.« »Ich wollte mich ja nur weiterbilden«, antwortete sie überzeugt davon, daß ihr Ton bewundernswert ruhig war. »Dich interessieren doch keine Tatsachen«, ent gegnete er. »Du wolltest an mich herankommen – mit Angst, Neugier und viel Widerwillen. Ungefähr so, wie du einen toten Hund mit der Schuhspitze um drehen würdest, um die Maden kriechen zu sehen. Willst du denn nicht ein für allemal verstehen, daß ich es nicht leiden kann, wenn man sich an mich her anmacht? Daß ich in Ruhe gelassen werden will?« Seine Haut hatte rote und violette Flecken, und seine Stimme war noch höher und schriller geworden. »Roll dich doch in deinem eigenen Mist, du gelbe Pest!« schrie er sie an. »Beruhige dich nur wieder«, antwortete sie ihm noch immer ruhig, aber sie ging sofort in ihre eigene Kabine. Natürlich hatte er ihre Motive richtig erra ten; ihre Frage war ein Vorwand gewesen, ein Ver such, sein Interesse zu erregen. Welchen Schaden konnte man damit schon anrichten? Schließlich setz te dieser Versuch einen gewissen Respekt vor dem 230
anderen voraus. Als sie die Fragen stellte, hatte sie nur ein vages Mißtrauen für ihn gefühlt, doch im we sentlichen tat ihr der arme, arrogante, giftige Kerl, dieser Mr. Ohne-Haut, wie Olleroo ihn nannte, ein fach leid. Was wollte er mit seinem Benehmen errei chen? Liebe? »Ich glaube, er kann es nicht ertragen, daß er ei nem Menschen leid tut«, meinte Olleroo, die auf dem unteren Bett lag und ihre Brustwarzen vergoldete. »Dann ist er aber keiner menschlichen Beziehung fähig. Alles, was dieser Dr. Hammergeld zuwege brachte, war, einen Autismus von innen nach au ßen …« »Armer Hund«, sagte Olleroo. »Tomiko, du hast doch nichts dagegen, wenn Harfex heute für kurze Zeit reinkommt, oder?« »Kannst du denn nicht in seine Kabine gehen? Ich habe es gründlich satt, immer bei dieser abgehäuteten Rübe in der Hauptkabine sitzen zu müssen.« »Du hast ihn doch ordentlich dick, was? Und das wird er eben spüren. Aber ich hab ja auch vergange ne Nacht mit Harfex geschlafen. Asnanifoil könnte eifersüchtig werden, weil sie ja die Kabine teilen. Hier wäre es eben viel netter.« »Dann bedien sie doch beide«, schlug Tomiko mit der Grobheit ihrer über Gebühr beanspruchten Be scheidenheit vor. Ihre terranische Subkultur, die ost asiatische, war puritanisch. Sie war keusch erzogen worden. »Ich mag pro Nacht bloß einen«, erwiderte Olle 231
roo voll unschuldiger Heiterkeit. Der Gartenplanet Beldene hatte weder die Keuschheit, noch das Rad entdeckt. »Versuch's doch mal bei Osden«, meinte Tomiko. Ihre persönliche Instabilität war selten so deutlich sichtbar wie jetzt: ein sich als Destruktivismus mani festierender tiefgreifender Argwohn. Sie hatte sich freiwillig für diesen Job gemeldet in der Überzeu gung, es habe doch keinen Sinn. Die kleine Beldene sah auf, das goldene Pinsel chen noch in der Hand. »Tomiko, das, was du da sagtest, war aber schmutzig!« »Warum?« »Es wäre lasterhaft. Osden zieht mich nicht an.« »Ich wußte ja nicht, daß dir das was ausmacht«, antwortete Tomiko gleichgültig, als wüßte sie es. Sie schob einige Papiere zusammen und verließ die Ka bine. Unter der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Ich hoffe, du bist mit Harfex, oder wer immer es ist, bis zur letzten Wache fertig. Ich bin nämlich müde.« Olleroo weinte, und Tränen tropften auf ihre klei nen goldenen Brustwarzen. Sie weinte immer sehr leicht. Tomiko hatte seit ihrem zehnten Lebensjahr nicht mehr geweint. Es war kein glückliches Schiff, aber es wurde ein wenig besser, als Asnanifoil und sein Computer die Welt 4470 errechnet hatten. Da lag sie, ein dunkel grünes Juwel, wie die Wahrheit auf dem Grund eines tiefen Brunnens. Als die Jadescheibe sich allmählich vergrößerte, entwickelte sich zwischen ihnen so et 232
was wie ein Gefühl der Vertraulichkeit. Osdens Selbstsucht, seine gezielte Grausamkeit, schloß die anderen stärker aneinander. »Vielleicht hat man ihn uns als eine Art Sündenbock mitgegeben«, vermutete Mannon. »Dann wäre sein Einfluß schließlich doch noch positiv.« Keiner widersprach ihm, denn alle bemühten sich, nett zueinander zu sein. Sie schwenkten in die Umlaufbahn ein. Auf der Nachtseite waren keine Lichter zu sehen, auf den Kontinenten keine der Linien und Klumpen, die auf Tiere hinweisen, welche Bauten errichten. »Keine Menschen«, murmelte Harfex. »Nein, natürlich nicht«, fauchte Osden, der einen eigenen Sichtschirm hatte. Über den Kopf hatte er eine Haube aus Polythen gezogen. Er behauptete, der Kunststoff dämme die empathischen Geräusche, die er von den anderen empfange, merklich ein. »Wir sind zwei Lichtjahrhunderte hinter den Grenzen der Hainischen Expansion, und dahinter gibt es keine Menschen. Nirgendwo. Glaubst du vielleicht, die Schöpfung habe diesen grauenhaften Fehler zweimal gemacht?« Niemand gab viel auf ihn acht; sie schauten liebe voll auf diesen immensen jadegrünen Körper hinun ter, auf dem es Leben gab, wenn auch kein menschli ches Leben. Sie waren alle Eigenbrötler, und was sie da sahen, war nicht Trostlosigkeit, sondern Friede. Selbst Osden schaute nicht so ausdruckslos drein wie sonst; er runzelte die Brauen. Auf einem Feuerstrahl machten sie Planetenfall 233
über der See; dann folgte die Lufterkundung, schließ lich die Landung. Eine Ebene, die mit einer Art dic kem, grünem, starkhalmigem Gras bestanden war, umgab das Schiff, streifte an die ausgefahrenen Rundblick-Kameras und verschmierte die Linsen mit feinem Blütenstaub. »Das sieht wie eine saubere Phytosphäre aus«, meinte Harfex. »Osden, nimmst du irgendwelche Empfindungen auf?« Alle wandten sich dem Sensor zu. Er hatte den Sichtschirm verlassen und goß sich eben eine Tasse Tee ein. Er antwortete nicht. Selten beantwortete er an ihn gerichtete, in Worte gefaßte Fragen. Die gepanzerte Starrheit militärischer Disziplin ließ sich bei solchen Teams verrückter Wissenschaft ler nicht anwenden; die Art der Befehle bewegte sich zwischen einem parlamentarischen Verfahren und der Hackordnung eines Hühnerhofs; diese Prozedur hätte jeden Offizier einer Streitmacht zum Irrsinn getrieben. Der unergründbare Beschluß einer Behör de hatte jedoch Dr. Haito Tomiko den Titel eines Koordinators verliehen, und nun machte sie zum er stenmal davon Gebrauch. »Mr. Sensor Osden, ant worten Sie bitte Mr. Harfex«, sagte sie. »Wie kann ich etwas von draußen aufnehmen«, antwortete Osden, ohne sich umzudrehen, »wenn die Emotionen von neun neurotischen Hominiden um mich herumwimmeln wie Würmer in einer Büchse? Wenn ich etwas zu sagen habe, dann sage ich es schon. Meine Aufgabe und Verantwortung als Sen 234
sor kenne ich. Wenn Sie jedoch, Koordinator Haito, noch einmal versuchen sollten, mir einen Befehl zu erteilen, dann betrachte ich meine Verantwortung als erledigt.« »Schön, Mr. Sensor. Ich hoffe, in Zukunft sind weitere Befehle auch nicht mehr nötig.« Tomikos Ochsenfroschstimme war ruhig, aber Osden schien leicht zusammenzuzucken, als er mit dem Rücken zu ihr dastand, so etwa, als sei eine Welle unterdrückten Grolls gegen ihn angestürmt. Die Ahnung des Biologen erwies sich als richtig. Als sie mit ihren Feldanalysen begannen, fanden sie keine Tiere, nicht einmal unter den Mikrobiota. Niemand fraß hier den anderen. Alle Lebensformen beruhten auf Photosynthese oder Fäulnis; sie lebten also vom Licht oder vom Tod, nicht aber vom Leben. Pflanzen gab es in unendlicher Vielfalt, doch keine Spezies war den menschlichen Besuchern bekannt. Grüne, violette, purpurne, braune und rote Farben wechselten einander in zahllosen Schattierungen ab. Und es herrschte ein unendliches Schweigen. Nur der Wind bewegte sich, ließ Blätter rascheln und Ranken schwingen, und der warme, sausende Wind war trächtig von Sporen und Pollen, und er trug den sü ßen, blaßgrünen Staub über unendliche Grasflächen, über Heiden ohne Heidekraut, über blumenlose Wäl der, die kein menschlicher Fuß je betreten, kein Auge je geschaut hatte. Es war eine warme, traurige Welt, traurig und gleichzeitig von ruhiger Heiterkeit. Die Inspektoren wanderten wie Sonntagsausflügler über 235
sonnige Ebenen mit violetten, zartfiedrigen Farnge wächsen und sprachen nur leise miteinander. Sie wuß ten, daß ihre Stimmen das Schweigen von tausend Millionen Jahren brach, das Schweigen von Wind und Blättern, Blättern und Wind, der blies, einschlief und wieder zu wehen begann. Sie sprachen nur leise, aber da sie Menschen waren, mußten sie sprechen. »Armer alter Osden«, sagte Jenny Chong, Biologie und Technik, als sie den Helijet in das Nordpolgebiet lenkte. »Dieses ganze fantastische Hi-Fi-Zeug in sei nem Gehirn und nichts zu empfangen. Diese Pleite!« »Er sagte mir, daß er Pflanzen hasse«, erklärte Ol leroo kichernd. »Und dabei sollte man meinen, er mag sie, weil sie ihn doch nicht belästigen können, wie wir's tun.« »Ich könnte eigentlich nicht behaupten, daß ich dieses Grünzeug gerne mag«, sagte Porlock und schaute hinunter auf die purpurnen Wellen der Wald flächen am Polarkreis. »Immer dasselbe. Kein Geist. Keine Veränderung. Ein Mensch allein müßte hier völlig durchdrehen.« »Aber es lebt doch alles«, warf Jenny Chong ein. »Und wenn es lebt, dann haßt Osden es.« »In Wirklichkeit ist er nämlich gar nicht so schlimm«, erklärte Olleroo großmütig. Porlock warf ihr einen Seitenblick zu. »Sag mal, hast du je mit ihm geschlafen, Olle roo?« fragte er. Olleroo brach in Tränen aus. »Ihr Terraner seid obszön?« 236
»Nein, das hat sie nicht«, antwortete Jenny Chong, um sie zu verteidigen. »Du vielleicht, Porlock?« Der Chemiker lachte unbehaglich. Speicheltröpf chen erschienen auf seinem Schnurrbart. »Osden kann es nicht ertragen, berührt zu wer den«, flüsterte Olleroo zitternd. »Ich bin nur einmal zufällig an ihn gestreift, und da hat er mich von sich weggestoßen, als sei ich ein … sehr schmutziges Ding. Für ihn sind wir alle nur Dinge.« »Er ist böse«, bemerkte Porlock mit so angestreng ter Stimme, daß die zwei Frauen erstaunt aufschau ten. »Es wird damit enden, daß er dieses Team auf bricht, es sabotiert; auf die eine oder andere Art. Denkt an meine Worte! Er ist einfach nicht fähig, mit anderen Menschen in einer Gemeinschaft zu leben.« Sie landeten am Nordpol. Eine Mitternachtssonne schwelte über niederen Hügeln. Kurze, trockene, grünlich-rosa moosige Gräser erstreckten sich kilo meterweit nach Süden. Die drei Inspektoren stellten, vom unglaublichen Schweigen bedrückt, ihre Geräte auf und sammelten ihre Proben ein – drei Viren, die ein wenig auf dem Fell eines unbeweglichen Riesen herumwimmelten. Niemand schlug Osden vor, er solle mitkommen und sich als Pilot, Fotograf oder Toningenieur für die Bandaufnahmen betätigen; er meldete sich auch nie mals freiwillig und verließ deshalb sehr selten das Lager. Er ließ Harfex' botanisch-taxonomische Daten durch den Schiffscomputer laufen und betätigte sich als Assistent bei Eskwana, der hier hauptsächlich mit 237
Reparaturen und Instrumentenpflege beschäftigt war. Eskwana hatte angefangen, sehr viel zu schlafen, und er verschlief oft fünfundzwanzig Stunden von den zweiunddreißig, die ein Tag hier dauerte. Manchmal schlief er bei der Reparatur des Schiffsradios oder der Führungskreise eines Helijets ein. Der Koordina tor blieb einen Tag zur Beobachtung im Schiff. Nie mand sonst war anwesend außer Poswet To, die ab und zu epileptische Anfälle hatte; Mannon hatte sie an diesem Tag an einen Therapie-Stromkreis ange schlossen, um sie in einem Zustand präventiver Kata tonie zu halten. Tomiko sprach Berichte für die Spei cherbanken und ließ Osden und Eskwana nicht aus den Augen. Zwei Stunden vergingen. »Vielleicht möchtest du lieber die 860 Mikrowal dos nehmen, um diese Verbindung zu festigen«, sag te Eskwana mit seiner leisen, zögernden Stimme. »Ach nein!« »Entschuldige. Ich sah nur eben, daß du die 840 hattest …« »Die ersetze ich schon, wenn ich die 860er he rausnehme. Wenn ich nicht weiß, wie ich weiterzu machen habe, Ingenieur, dann werde ich schon um Rat fragen.« Nach einer Minute sah sich Tomiko um. Natürlich schlief Eskwana tief und fest mit dem Kopf auf dem Tisch und dem Daumen im Mund. »Osden.« Das weiße Gesicht wandte sich ihr nicht zu; er sprach kein Wort, ließ aber erkennen, daß er voll 238
Ungeduld zu hören bereit war. »Du mußt doch wissen, wie verletzlich Eskwana ist.« »Ich bin für seine psychopathischen Reaktionen nicht verantwortlich.« »Aber für deine eigenen. Eskwana ist für unsere Arbeit hier lebenswichtig, aber du bist es nicht. Wenn du deine Feindseligkeit nicht unter Kontrolle halten kannst, mußt du ihm eben aus dem Weg ge hen.« Osden legte sein Werkzeug weg und stand auf. »Mit Vergnügen!« antwortete er mit seiner kratzen den, bissigen Stimme. »Du kannst dir wohl unmög lich vorstellen, wie es ist, Eskwanas irrationale Äng ste mitzuerleben. Seine entsetzliche Feigheit teilen zu müssen, mit ihm vor allem und jedem zurückzuwei chen!« »Willst du damit deine Grausamkeit ihm gegen über rechtfertigen? Ich dachte, du hättest mehr Selbstrespekt.« Tomiko zitterte vor Verachtung und Zorn. »Wenn deine empathischen Fähigkeiten dich wirklich zwingen, das Elend anderer zu teilen, war um ruft das dann nicht wenigstens die Spur eines Mitgefühls in dir hervor?« »Mitgefühl!« knurrte Osden. »Mitgefühl? Was weißt du schon von Mitgefühl?« Sie sah ihn scharf an, doch er hob den Blick nicht. »Soll ich etwa deinen augenblicklichen emotionel len Affekt mir gegenüber in Worte fassen?« fragte er. »Das kann ich nämlich viel genauer als du selbst. Ich 239
bin darin geschult worden, solche Reaktionen zu ana lysieren, sobald ich sie empfange. Und ich empfange sie.« »Wie kannst du erwarten, daß ich dir freundliche Gefühle entgegenbringe, wenn du dich so be nimmst?« »Welche Rolle spielt es, wie ich mich benehme, du blödes Weib? Glaubst du, das macht etwas aus? Glaubst du, der Durchschnittsmensch ist ein uner schöpflicher Brunnen liebender Güte? Mir ist lieber, ich werde gehaßt oder verachtet. Da ich kein Weib und kein Feigling bin, ziehe ich es vor, gehaßt zu werden.« »Das ist ja morbid. Selbstmitleid. Jeder Mensch hat …« »Ich bin kein Mensch«, fiel ihr Osden ins Wort. »Da seid ihr alle – da bin ich. Ich bin eins, einer.« Sie schwieg eine Weile erschüttert, da sie in die sen Abgrund von Ichbezogenheit geschaut hatte. »Du könntest dich selbst töten, Osden«, stellte sie dann voll klinischer Sachlichkeit, ohne Ekel oder Mitleid fest. »Das ist deine Art, Haito«, höhnte er. »Ich bin ja nicht depressiv, und von seppuku halte ich nichts. Was erwartest du von mir?« »Daß du gehst. Daß du uns deine Anwesenheit er sparst. Nimm das Luftboot und einen Datenzähler und geh Spezies zählen. Geh in den Wald. Harfex hat den Wald noch kaum angekratzt. Nimm dir ein Waldgebiet von ein paar hundert Quadratmetern vor, 240
irgendwo innerhalb Radioweite, aber außerhalb dei ner empathischen Empfangsgrenzen. Melde dich täg lich um acht und um vierundzwanzig Uhr.« Osden ging, und fünf Tage lang hörte man nichts von ihm als zweimal täglich die lakonischen Radio signale Alles in Ordnung. Die Stimmung im Basisla ger änderte sich, so, als habe man neue Kulissen auf gebaut. Eskwana blieb bis zu achtzehn Stunden täg lich wach; Poswet To nahm ihre heimatliche Laute zur Hand und spielte und sang die himmlischen Harmonien (Musik hatte Osden zur Weißglut getrie ben). Mannon, Harfex, Jenny Chong und Tomiko brauchten keine Tranquilizer mehr. Porlock destil lierte etwas in seinem Labor und trank alles allein; danach hatte er einen schrecklichen Kater. Asnanifoil und Poswet To feierten eine Zahlen-Epiphanie, jene mystische Orgie höherer Mathematik, welche das größte Vergnügen der sehr religiösen Cetianerseele ist. Olleroo schlief mit jedem. Die Arbeit ging sehr gut vorwärts. Der ›harte‹ Wissenschaftler rannte keuchend durch das hohe, dichte, hartstengelige Gras dem Basislager entgegen. »Etwas … im Wald …« Er atmete schwer, seine Augen quollen ihm aus den Höhlen, Bart und Finger zitterten. »Etwas Großes. Bewegte sich hinter mir. Kam mir nach. Als wolle es sich aus den Bäu men schwingen. Hinter mir.« Mit vor Schreck und Erschöpfung geweiteten Augen sah er die anderen an. »Setz dich doch, Porlock, und beruhige dich wie 241
der. Erzähl's noch mal. Du hast also etwas gesehen.« »Nicht deutlich. Nur eine Bewegung. Gezielte Bewegung. Ein … Ich weiß nicht, was es gewesen sein könnte. Etwas, das sich in den Bäumen, oder wie ihr das Zeug nennen wollt, bewegt hat. Am Waldrand.« Harfex sah grimmig drein. »Hier gibt es nichts, was dich angreifen könnte, Porlock. Hier gibt es nicht einmal Mikrozoen. Es kann hier kein großes Tier geben.« »Könnte es nicht vielleicht eine Luft- oder Schma rotzerpflanze oder eine herunterfallende Ranke ge wesen sein?« »Nein«, erwiderte Porlock. »Das Ding kam hinter mir sehr schnell durch die Äste herunter. Als ich mich umdrehte, verschwand es nach oben. Es machte einigen Lärm, so etwas wie ein Krachen. Wenn es kein Tier war, dann weiß Gott, was es war! Und es war mindestens so groß wie ein Mensch. Vielleicht von rötlicher Farbe. Ich habe es aber nicht gesehen, also weiß ich es nicht bestimmt.« »Das war Osden«, meinte Jenny Chong. »Er hat Tarzan gespielt.« Sie kicherte nervös, und Tomiko unterdrückte ein höhnisches Gelächter. Aber Harfex lachte nicht. »Unter diesen Arboriformen wird einem recht un behaglich zumute«, bemerkte er mit seiner höflichen, zurückhaltenden Stimme. »Das habe ich schon be merkt. Vielleicht habe ich deshalb die Arbeit in den Wäldern aufgegeben. Die Farben, die Formen und 242
auch die Entfernungen der Stämme und Äste vonein ander wirken irgendwie hypnotisch, besonders die spiralförmig angeordneten. Und die Sporenpflanzen wachsen in so regelmäßigen Abständen, daß es ganz unnatürlich wirkt. Subjektiv gesprochen finde ich das äußerst unangenehm. Ich überlege mir schon, ob das in einer gewissen Konzentration nicht Halluzinatio nen hervorrufen könnte …« Porlock schüttelte den Kopf. Er befeuchtete seine Lippen mit der Zunge. »Es war da«, sagte er. »Et was, das sich mit einer gewissen Absicht bewegte. Das mich von rückwärts her anzugreifen versuchte.« Als Osden sich, pünktlich wie immer, meldetete, berichtete ihm Harfex Porlocks Erlebnis. »Bist du auf etwas gestoßen, Osden, das Porlocks Eindruck von einer beweglichen, fühlenden Lebensform im Wald bestätigt?« Sssss, machte das Radio. »Nein, Quatsch«, erwi derte Osden mit seiner unangenehmen Stimme. »Du warst länger in den Wäldern als irgend je mand von uns«, sagte Harfex voll unerschütterlicher Höflichkeit. »Teilst du auch meinen Eindruck, daß der Wald hier einen störenden, vielleicht sogar hallu zinogenen Effekt auf die Wahrnehmung hat?« Sssss. »Ich bin auch der Meinung, daß Porlocks Wahrnehmungen leicht zu stören sind. Haltet ihn lie ber in seinem Laboratorium, da kann er nichts an richten. Sonst noch was?« »Im Augenblick nicht«, erwiderte Harfex, und Osden schaltete sofort ab. 243
Niemand glaubte Porlocks Geschichte, niemand konnte sie aber auch nicht glauben. Er war sich des sen völlig sicher, daß etwas Großes überraschend versucht hatte ihn anzugreifen. Das ließ sich schlecht verneinen, denn sie befanden sich ja auf einer frem den Welt, und jeder, der den Wald betreten hatte, war sich eines unangenehmen Fröstelns, einer unheilvol len Vorahnung unter den ›Bäumen‹ bewußt gewesen. »Sicher kann man diese Dinger ›Bäume‹ nennen«, hatte Harfex dazu bemerkt. »Das sind sie in gewis sem Sinn auch – nur sind sie natürlich eben doch ganz anders als normale Bäume.« Sie pflichteten ihm bei, daß sie sich selbst unbehaglich gefühlt hatten, daß sie sich eines Gefühls bewußt gewesen seien, etwas beobachte sie hinter ihrem Rücken. »Das müssen wir klären«, forderte Porlock; er ver langte daher, vorübergehend als biologischer Assi sent, etwa so wie Osden, in den Wald geschickt zu werden, um zu forschen und zu beobachten. Olleroo und Jenny Chong meldeten sich freiwillig, falls man sie zusammen gehen ließe. Harfex schickte sie alle in den Wald in unmittelbarer Nähe des Basislagers, das in einem riesigen Waldgebiet lag, welches etwa vier Fünftel des Kontinents D bedeckte. Er untersagte die Mitnahme von Schußwaffen und die Überschreitung eines Halbkreises von fünfzig Kilometern, der Os dens derzeitiges Gebiet mit einschloß. Drei Tage lang meldeten sie sich zweimal täglich im Lager. Porlock berichtete, einen Umriß in halb aufrechter Haltung gesehen zu haben, der sich durch die Bäume 244
und über den Fluß bewegte; Olleroo war überzeugt, in der zweiten Nacht etwas gehört zu haben, das sich in Zeltnähe bewegte. »Auf diesem Planeten gibt es keine Tiere«, erklär te Harfex dickköpfig. Dann meldete sich Osden am nächsten Morgen nicht. Tomiko wartete nicht einmal eine Stunde und flog mit Harfex in jenes Gebiet, aus dem sich Osden in der Nacht zuvor gemeldet hatte. Als aber der Helijet über dem Meer aus purpurfarbenem, unermeßlichem und undurchdringlichem Blattwerk hing, fühlte sie die Verzweiflung der Angst. »Wie sollen wir ihn hier finden?« klagte sie. »Er berichtete doch, er sei am Flußufer gelandet. Also müssen wir nur sein Luftboot finden. Sein La ger hat er sicher in der Nähe aufgeschlagen. Spezies zählen ist eine mühselige Arbeit. Und da ist auch schon der Fluß.« »Und da ist auch sein Luftboot«, sagte Tomiko, als sie das fremdartige Glitzern unter den Farben und Schatten der Pflanzen bemerkte. »Also herunter.« Sie ließ das Schiffchen in der Luft hängen und warf die Leiter aus. Sie und Harfex stiegen ab. Das Meer des Lebens schloß sich über ihren Köpfen. Als ihre Füße den Waldboden berührten, machte sie die Holsterklappe auf und sah Harfex an, der un bewaffnet war. Also ließ auch sie die Waffe im Hol ster. Doch ihre Hand tastete immer wieder danach. Kaum hatten sie sich ein paar Meter von dem brau 245
nen, langsam fließenden Fluß entfernt, als auch nicht mehr das leiseste Geräusch zu vernehmen war. Es herrschte gedämpftes Licht. Die Stämme standen ziemlich weit auseinander, fast in regelmäßigen Ab ständen, fast alle gleich. Es waren weichrindige Ge bilde, die einen glatt, die anderen schwammig, grau, grünlichbraun oder braun, mit Ranken dick wie Taue, untereinander verbunden und mit Epiphyten eingefaßt; sie streckten starre, ineinander verschlun gene, büschelweise stehende dunkle, tellerförmige Blätter aus, die ein zwanzig bis dreißig Meter dickes Dach bildeten. Der Waldboden war elastisch wie ei ne Sprungfedermatratze, von Wurzeln durchzogen und von kleinen Pflanzen mit fleischigen Blättern überzogen. »Hier ist sein Zelt«, sagte Tomiko und zuckte zu sammen, als sie in der riesigen Gemeinschaft der Stimmlosen ihre Stimme vernahm. Im Zelt fanden sie Osdens Schlafsack, ein paar Bücher, einen Karton mit Rationen. Wir sollten nach ihm rufen, dachte sie, doch sie sprach diesen Gedanken nicht aus. Auch Harfex sagte nichts dergleichen. Vom Zelt aus schlu gen sie getrennt einen großen Bogen, waren jedoch sorgfältig darauf bedacht, daß sie einander zwischen den dichtstehenden Wesenheiten, die den Himmel verdunkelten, nicht aus den Augen verloren. Keine dreißig Meter vom Zelt entfernt stolperten sie über Osdens Körper, angezogen vom weißen Schimmer eines heruntergefallenen Notizbuches. Er lag mit dem Gesicht nach unten zwischen zwei Bäumen mit 246
enormen Wurzeln. Kopf und Hände waren mit Blut bedeckt, das teils eingetrocknet war, stellenweise aber noch immer floß. Harfex trat zu Tomiko. Seine blasse hainische Haut wirkte im Dämmerlicht grün. »Tot?« fragte er. »Nein. Er wurde geschlagen. Von hinten niederge schlagen.« Tomikos Finger tasteten den blutigen Kopf, den Nacken und die Schläfen ab. »Eine Waffe oder ein Werkzeug … Eine Fraktur kann ich nicht feststellen.« Sie drehten Osdens Körper um, so daß sie ihn auf heben konnten; da öffnete er die Augen. Tomiko hielt ihn fest und beugte sich über sein Gesicht. Seine blassen Lippen verzerrten sich. Eine tödliche Furcht packte sie; sie schrie ein paarmal laut auf, versuchte wegzurennen, stolperte und taumelte in der tiefer werdenden Dämmerung. Harfex fing sie auf; die Be rührung seiner Hände und der Klang seiner Stimme nahmen ihr etwas von ihrer Angst. »Was ist los? Was ist denn?« fragte er. »Ich weiß es nicht«, schluchzte sie. Ihr Herz schlug so heftig, daß es sie schüttelte, und sie konnte noch nicht klar sehen. »Die Angst … Ich bekam Angst, als ich seine Augen sah.« »Wir sind beide nervös. Ich verstehe nicht, wie …« »Jetzt geht es schon wieder. Komm, wir müssen ihn zurückbringen, damit er richtige Pflege erhält.« Sie arbeiteten in unsinniger Hast, schleppten Osden zum Flußufer, befestigten ein Seil unter seinen 247
Armen und zogen ihn nach oben. Wie ein Sack schwang er über dem dunklen, klebrigen Blattmeer. Endlich hatten sie ihn im Helijet und hoben ab. Eine Minute später hingen sie über der offenen Prärie. Tomiko hängte sich an den Leitstrahl des Basisla gers. Sie holte tief Atem und schaute Harfex an. »Ich war so verängstigt, daß ich fast ohnmächtig wurde. Das ist mir noch nie passiert.« »Ich habe mich ebenso … maßlos geängstigt«, gab der Mann von Hain zu. Er sah gealtert und sehr er schüttert aus. »Nicht ganz so schlimm wie du, aber auf ganz unvernünftige Art.« »Es kam, als ich Kontakt mit ihm hatte, ihn hielt. Einen Augenblick lang schien er aus seiner Ohn macht zu erwachen.« »Empathie? Ich hoffe, er kann uns sagen, wer ihn angegriffen hat.« Osden lag, blutig und schmutzig, wie eine zerbro chene Puppe auf den Rücksitzen, wo sie ihn in fürch terlicher Hast verstaut hatten. Bei ihrer Ankunft im Basislager gab es neuen Schrecken. Die sinnlose Brutalität des Angriffs war beängstigend und erschreckend. Da Harfex hartnäc kig jede Möglichkeit animalischen Lebens verneinte, stellten sie Spekulationen an über fühlende Pflanzen, Gemüsemonstren und psychische Projektionen. Jen ny Chongs latente Phobie brach wieder aus, und sie konnte über nichts anderes mehr reden als über die Dunklen Egos, welche den Menschen heimlich hinter ihrem Rücken folgten. Sie, Olleroo und Porlock wa 248
ren ins Basislager zurückbeordert worden, und keiner hatte Lust, nach draußen zu gehen. Osden hatte während der drei oder vier Stunden, die er allein draußen gelegen hatte, viel Blut verlo ren. Eine Gehirnerschütterung und schwere Prellun gen hatten einen Schock und eine Art Koma verur sacht. Als er endlich daraus auftauchte, bekam er leichtes Fieber. Da rief er ein paarmal mit klagender Stimme, »Doktor! Doktor Hammergeld …« Zwei lange Tage später kam er wieder zu vollem Bewußt sein. Tomiko rief Harfex in seinen Schlafraum. »Osden, kannst du uns sagen, was dich angegrif fen hat?« Die blassen Augen huschten an Harfex' Gesicht vorbei. »Du wurdest angegriffen«, erklärte ihm Tomiko freundlich. Der huschende Blick war verhaßtvertraut, doch da sie Ärztin war, hatte sie sich um den Verletzten zu kümmern. »Vielleicht kannst du dich jetzt noch nicht erinnern. Etwas hat dich ange griffen. Du befandest dich im Wald.« »Ah!« schrie er. Seine Augen wurden durchsich tig, sein Gesicht verzerrte sich. »Der Wald … im Wald …« »Was ist im Wald?« Er rang nach Luft. Dann sah er plötzlich klarer und bewußter drein. »Ich weiß nicht«, antwortete er nach einer Weile. »Hast du gesehen, was dich attackierte?« fragte Harfex. 249
»Ich weiß nicht.« »Jetzt erinnerst du dich aber.« »Ich weiß nicht.« »Daran hängt vielleicht unser aller Leben. Du mußt uns sagen, was du gesehen hast.« »Ich weiß nicht«, rief Osden und schluchzte vor Schwäche. Er war zu schwach, um die Tatsache zu verbergen, daß er die Antwort kannte, aber nicht sa gen wollte. Porlock befand sich in der Nähe und kau te an seinem pfefferfarbenen Schnurrbart herum, während er zu hören versuchte, was in dem Schlaf raum vorging. Harfex beugte sich über Osden. »Du wirst es uns sagen.« Tomiko mußte ihn wegschieben. Jeder konnte sehen, welche Anstrengung es Har fex kostete, seine Selbstbeherrschung nicht zu verlie ren. Schweigend ging er in seinen Schlafraum, wo er eine doppelte oder dreifache Tranquilizerdosis nahm. Die anderen Männer und Frauen verteilten sich auf das große, zerbrechliche Bauwerk, das aus einer lan gen Haupthalle und zehn abgeschlossenen Schlaf räumen bestand. Sie sagten nichts, sahen aber alle sehr deprimiert und gereizt drein. Osden war auch jetzt so wie immer – sie waren seiner Gnade ausge liefert. Tomiko sah auf ihn hinunter, mit einem Haß, der wie bittere Galle in ihrer Kehle brannte. Dieses egoistische Monstrum, das sich an den Emotionen anderer sattfraß, diese absolute Selbstsucht war schlimmer als die häßlichste Deformierung des Kör pers. Dieses Monster hätte man nicht am Leben las sen sollen; es dürfte nicht leben, hätte sterben müs 250
sen. Warum war sein Schädel nicht zersplittert wor den? Er lag lang ausgestreckt, flach und weiß da; seine Hände lagen hilflos an den Seiten, die Augen hatte er weit geöffnet, und Tränen liefen ihm aus den Au genwinkeln. Tomiko trat schnell neben ihn. Er ver suchte zurückzuweichen. »Nicht«, sagte er leise mit schwacher Stimme und versuchte die Hände zu he ben, um seinen Kopf zu schützten. »Nicht …« Sie setzte sich auf den Klappstuhl neben seinem Feldbett, und nach einer Weile legte sie ihre Hand auf die seine. Er versuchte sie zurückzuziehen, doch er war zu schwach dazu. Sie schwiegen sehr lange. »Osden«, murmelte sie. »Es tut mir sehr leid, wirklich sehr leid. Ich meine es gut mit dir. Erlaube mir, daß ich es gut mit dir meine, Osden. Ich will dir nicht wehtun. Hör mir zu. Ich verstehe jetzt, daß es einer von uns war. Das stimmt doch, nicht wahr? Nein, du brauchst nicht zu antworten, du brauchst es mir nur zu sagen, wenn es nicht stimmt. Aber ich irre mich nicht … Natürlich gibt es Tiere auf diesem Pla neten. Zehn. Es ist mir egal, wer es war, und es ist auch nicht wichtig, oder? Ich könnte es ebenso gut gewesen sein. Jetzt gerade. Ich bin mir darüber klar. Ich verstand nicht, wie es ist, Osden. Siehst du denn nicht, wie schwierig es für uns ist, dich zu verstehen? Aber hör mir zu … Wenn es Liebe wäre statt Haß und Angst … Ist es denn niemals Liebe?« »Nein.« 251
»Warum nicht? Warum kann es niemals Liebe sein? Sind denn die Menschen alle so schwach? Das ist schrecklich. Aber macht nichts. Hab keine Angst. Mach dir keine Sorgen und sei ruhig. Wenigstens jetzt ist es doch kein Haß, nicht wahr? Sympathie ist es, Sorge um dich, gute Wünsche für dich. Spürst du das, Osden? Ist es das, was du fühlst?« »Unter … anderem«, antwortete er fast unhörbar. »Geräusche aus meinem Unterbewußtsein viel leicht. Und die anderen alle in diesem Raum … Hör zu, Osden, als wir dich da draußen im Wald fanden, als ich dich umzudrehen versuchte, da wachtest du für einen Moment auf, und ich fühlte schreckliches Entsetzen vor dir. Für eine Minute war ich vor Angst fast von Sinnen. War das deine Angst vor mir, die ich fühlte?« »Nein.« Ihre Hand lag noch immer auf der seinen. Er wirk te jetzt entspannt, ließ sich in den Schlaf treiben, wie ein von Schmerzen gepeinigter Mensch, dem man den Schmerz genommen hatte. »Der Wald«, murmel te er; sie konnte ihn kaum verstehen. »Angst …« Sie drängte nicht weiter, ließ aber ihre Hand auf der seinen liegen und beobachtete ihn, bis er ein schlief. Sie wußte, was sie fühlte, was also auch er fühlen mußte. Sie wußte es: Nur eine Emotion, einen Zustand des Seins gibt es, der sich selbst völlig um kehren, polarisieren kann –innerhalb eines einzigen Moments. Auf Hain gibt es nur ein Wort für Liebe und Haß – onti, polarisierter Haß. Sie hielt seine 252
Hand, und zwischen ihnen flossen die unendlichen Ströme der Berührungselektrizität, die er immer ge fürchtet hatte. Als er schlief, entspannten sich die deutlich wie in einem anatomischen Atlas hervortre tenden Muskeln um seinen Mund, und Tomiko las in seinem Gesicht das, was nie jemand an ihm gesehen hatte – ein hauchzartes Lächeln, das schnell verging. Er schlief weiter. Er war zäh. Am folgenden Tag setzte er sich auf und hatte Hunger. Harfex wollte ihn gerne ausquet schen, aber Tomiko wehrte ihn ab. Sie hängte einen Polythenvorhang über seine Schlafraumtür, wie es Osden selbst oft getan hatte. »Dämmt das wirklich deinen empathischen Empfang ein?« fragte sie, und er antwortete in dem nüchternen, etwas vorsichtigen Ton, dessen sie sich nun bedienten: »Nein.« »Dann ist es also eigentlich nur eine Warnung.« »Teilweise. Vielleicht Heilung durch Glauben. Dr. Hammergeld dachte, das müßte wirken … Vielleicht hilft es auch wirklich ein wenig.« Einmal hatte es Liebe gegeben. Ein verängstigtes Kind, das im Ansturm der riesigen Gefühlswellen von Erwachsenen zu ersticken drohte, ein ertrinken des Kind, das von einem Mann gerettet wurde. Er lernte zu atmen, zu leben – von einem Mann. Va ter/Mutter/Gott – nur er, kein anderer. »Lebt er noch?« fragte Tomiko, dachte an Osdens unglaubliche Einsamkeit und die seltsame Grausam keit der großen Ärzte. Sie war erschüttert, als sie sein gezwungenes, blechernes Lachen vernahm. 253
»Er starb vor mindestens zweieinhalb Jahrhunder ten«, sagte Osden. »Vergißt du denn, wo wir sind, Koordinator? Wir alle haben doch unsre kleinen Fa milien zurückgelassen …« Außerhalb des Polythenvorhangs bewegten sich die acht anderen Menschen auf Welt 4470 sehr vor sichtig. Ihre Stimmen waren leise und angestrengt. Eskwana schlief; PoswetTo stand in Behandlung; Jenny Chong versuchte in ihrer Zelle die Lichter so anzuordnen, daß es keinen Schatten gab. »Alle haben Angst«, sagte Tomiko, die auch Angst hatte. »Alle grübeln darüber nach, was dich angegriffen hat. Eine Art Affenkartoffel, eine riesige Spinatpflanze mit Fängen – ich weiß nicht … Sogar Harfex grübelt. Du hast sicher damit recht, wenn du es nicht verraten willst. Das wäre noch schlimmer, wenn einer dem anderen nicht trauen würde. Aber warum sind wir alle so leicht umzuwerfen? Warum können wir uns nicht den Tatsachen stellen? Warum sind wir so leicht zu erschüttern? Sind wir denn wirklich alle verrückt?« »Bald werden wir noch verrückter sein.« »Warum?« »Es ist hier etwas.« Er schloß den Mund. Die Lippenmuskeln waren straff gespannt. »Etwas Fühlendes?« »Ein Empfindungsvermögen.« »Im Wald?« Er nickte. 254
»Was ist es denn?« »Die Angst.« Wieder sah er angestrengt aus; er bewegte sich unruhig. »Als ich dort stürzte, weißt du, da verlor ich nicht sofort das Bewußtsein. Oder ich kam immer wieder zu mir. Ich weiß es nicht. Es war fast so wie gelähmt sein.« »Das warst du auch.« »Ich lag auf dem Boden. Ich konnte nicht aufste hen. Mein Gesicht lag im Schmutz, in diesem wei chen Blattbrei … Er war in meiner Nase, in den Au gen. Ich konnte mich nicht bewegen. Nicht sehen. So als wäre ich im Boden versunken, würde als Teil von ihm festgehalten. Ich wußte, daß ich mich zwischen zwei Bäumen befand, doch ich konnte sie niemals sehen. Ich glaube, ich fühlte die Wurzeln. Unter mir im Boden, immer tiefer hinunter. Meine Hände wa ren voll Blut, das fühlte ich, und das Blut machte den Schmutz auf meinem Gesicht klebrig. Ich fühlte die Angst. Sie wuchs immer mehr. Als hätten sie endlich gewußt, daß ich da war, daß ich unter ihnen, zwi schen ihnen, auf ihnen lag, dieses Ding, das sie fürchteten, das Teil ihrer Furcht war. Ich konnte nicht damit aufhören, diese Furcht zurückzuschicken, und sie wuchs und wuchs weiter, ich konnte mich nicht bewegen, ich konnte nicht weglaufen. Ich glau be, ich wollte ohnmächtig werden, aber die Furcht hat mich zurückgebracht, und ich konnte mich noch immer nicht bewegen. Und sie konnten es auch nicht.« Tomiko fühlte, wie sich ihre Haare aufstellten in 255
einem Gefühl unheimlicher Angst. »Sie, Osden, wer sind sie?« »Sie … es … ich weiß nicht. Die Angst.« »Worüber redet er eigentlich?« wollte Harfex wis sen, als ihm Tomiko diese Unterhaltung berichtete. Sie ließ es noch nicht zu, daß Harfex selbst Osden ausfragte, denn sie hatte das Gefühl, Osden vor den übermächtigen, zu lange unterdrückten Gefühlen des Mannes von Hain schützen zu müssen. Unglückli cherweise heizte gerade das die paranoide Beklem mung an, die in dem armen Harfex schwelte, und er glaubte, sie und Osden hätten sich miteinander ver bündet, um eine Tatsache von großer Wichtigkeit oder Gefahr dem übrigen Team vorzuenthalten. »Es ist ungefähr so, als wolle ein Blinder versu chen, einen Elefanten zu beschreiben. Osden hat die se … Empfindungsfähigkeit weder gesehen, noch gehört – ebenso wenig wie wir.« »Aber er hat sie gefühlt, meine liebe Haito«, erwi derte Harfex voll mühsam unterdrückter Wut. »Nicht empathisch. Auf seinem Schädel. Es kam, schlug ihn nieder und bearbeitete ihn mit einem groben, schwe ren Instrument. Hat er denn nicht einen Blick auf dieses Ding werfen können?« »Und was hätte er gesehen, Harfex?« fragte Tomi ko, doch er wollte ihren bedeutungsschweren Ton nicht zur Kenntnis nehmen. Selbst er hatte das Ver ständnis dafür ausgesperrt. Was einer fürchtet, ist fremd. Der Mörder ist ein Außenseiter, ein Fremder, keiner von uns. Das Böse ist nicht in mir! 256
»Der erste Schlag schon hat ihn fast bewußtlos gemacht«, sagte Tomiko ein wenig mißmutig. »Er sah überhaupt nichts. Als er wieder zu sich kam und sah, daß er sich allein im Wald befand, fühlte er gro ße Angst. Nicht seine eigene Angst; sondern einen empathischen Affekt. Das weiß er ganz bestimmt. Und ganz gewiß war es nichts, das er von uns hätte aufnehmen können. Also ist es doch offensichtlich, daß die planetaren Lebensformen nicht alle empfin dungsunfähig sind.« Harfex musterte sie einen Augenblick lang grim mig. »Haito, du willst mir wohl Angst einjagen, o der? Deine Motive verstehe ich nicht.« Er stand auf und ging langsam und steifbeinig zu seinem Labor tisch. Er wirkte wie ein Mann von achtzig, nicht wie einer von vierzig Jahren. Sie sah sich nach den anderen um und fühlte eini ge Verzweiflung. Ihre neue, ziemlich zerbrechliche tiefgreifende Abhängigkeit von Osden gab ihr, und dessen war sie sich deutlich bewußt, zusätzlich Kraft. Aber wenn selbst Harfex keinen kühlen Kopf behal ten konnte, von welchem der anderen sollte sie es dann erwarten? Porlock und Eskwana hatten sich in ihren Zellen eingeschlossen. Die anderen arbeiteten oder waren irgendwie beschäftigt. Irgendetwas stimmte hier absolut nicht, aber eine ganze Weile konnte der Koordinator nicht sagen, was es war. Doch dann sah sie es: Alle saßen so, daß sie den na hen Wald vor sich hatten. Olleroo spielte mit Asnani foil Schach und hatte ihren Stuhl so herumgerückt, 257
daß er fast neben dem seinen stand. Sie ging zu Mannon, der gerade ein Gewirr spin nenfüßiger brauner Wurzeln zu sortieren versuchte. Sie bat ihn, nach dem rätselhaften Muster dafür Aus schau zu halten. Er sah es sofort und sagte unge wohnt kurz: »Sie behalten den Feind im Auge.« »Welchen Feind? Was fühlst du, Mannon?« Sie setzte plötzlich einige Hoffnung auf ihn, der ja Psy chologe war, denn auf diesem obskuren Grund aus Ahnungen und Empfindungen waren Biologen hilf los. »Ich fühle eine starke Unruhe mit einer spezifi schen räumlichen Orientierung. Aber ich bin ja kein Empath. Deshalb ist die Unruhe erklärbar in der Terminologie einer besonderen Streß-Situation, das heißt, die Attacke auf ein Mitglied des Teams im Wald; auch in den Begriffen der totalen StreßSituation, das heißt, meine Anwesenheit in einer völ lig fremden Umgebung, für welche die archetypische Bezeichnung des Wortes ›Wald‹ nur eine unver meidbare Metapher ist.« Stunden später wachte Tomiko auf, weil sie Osden in einem Alptraum schreien hörte. Mannon beruhigte ihn, und sie ließ sich wieder in ihre dunkel verzweig ten, pfadlosen Träume zurückfallen. Am Morgen wachte Eskwana nicht auf. Auch mit stimulierenden Drogen konnte man ihn nicht aufwecken. Er klam merte sich geradezu an seinen Schlaf, zog sich immer tiefer in ihn zurück, murmelte dann und wann leise etwas, dann legte er sich auf die Seite, krümmte sich 258
zusammen, hielt den Daumen an die Lippen und war unansprechbar. »Zwei Tage – zwei Verluste. Zehn kleine Neger lein. Neun kleine Negerlein …« Das war Porlock. »Und du bist das nächste kleine Negerlein«, fauch te ihn Jenny Chong an. »Geh und analysiere lieber deinen Urin, Porlock!« »Er treibt uns alle zum Wahnsinn«, sagte Porlock, stand auf und schwang seinen linken Arm. »Spürst du es denn nicht? Um Gottes willen, seid ihr denn alle taub und blind? Spürst du nicht, was er tut? Die se Emanationen? Sie kommen alle von ihm … aus diesem Raum dort, aus seinem Geist. Er treibt uns mit seiner Angst alle noch zum Wahnsinn!« »Wer denn?« fragte Asnanifoil, der schwarz, haa rig und groß über dem kleinen Terraner lehnte. »Muß ich wirklich seinen Namen nennen? Gut, al so Osden. Osden! Osden! Warum, glaubst du, habe ich ihn zu töten versucht? In Notwehr! Um uns alle zu retten! Ihr wollt ja nicht sehen, was er uns allen antut. Er hat unsere Mission sabotiert, weil er uns alle in den Streit trieb, und jetzt treibt er uns in den Wahnsinn, indem er Angst auf uns projiziert, so daß wir nicht schlafen, nicht denken können, wie ein rie siges Radio, das keinen Ton von sich gibt, aber un unterbrochen sendet; du kannst nicht schlafen, du kannst nicht denken. Haito und Harfex sind bereits unter seiner Kontrolle, aber der Rest von euch kann noch gerettet werden. Ich mußte es tun!« »Sehr gut hast du es aber nicht gemacht«, sagte 259
Osden, der halbnackt, nur aus Schienen und Verbän den bestehend, an der Tür seines Schlafraums lehnte. »Ich selbst hätte mich wirksamer treffen können. Teufel, ich bin's nicht, der dich zu Tode ängstigt, Porlock! Es ist draußen, dort, in den Wäldern?« Porlock versuchte ziemlich ungeschickt, Osden anzuspringen. Asnanifoil hielt ihn zurück, so daß Mannon ihm ein Sedativum einspritzen konnte. Man brachte ihn weg, und er schrie noch immer von riesi gen Radios. Eine Minute später wirkte das Sedati vum. Er war dann ebenso friedlich und schweigsam wie Eskwana. »Schön«, sagte Harfex. »Und jetzt, bei allen mei nen Göttern, wirst du uns sagen, was du weißt, und zwar alles.« Osden sagte: »Ich weiß gar nichts.« Er sah ziemlich mitgenommen und schwach aus. Tomiko befahl ihm, er solle sich setzen, ehe er zu reden anfange. »Nachdem ich drei Tage lang im Wald gewesen war, dachte ich, gelegentlich empfinge ich eine Art schwachen Affekts.« »Warum hast du das nicht berichtet?« »Ich glaubte, ich drehe allmählich durch – wie ihr alle.« »Trotzdem hättest du es berichten müssen.« »Dann wäre ich ins Basislager zurückgeholt wor den, und das hätte ich nicht ertragen. Ihr müßt euch doch darüber klar sein, daß es ein sehr schwerer Feh ler war, als man mich mit euch auf diese Mission 260
schickte. Ich bin einfach zu keiner Koexistenz mit neun neurotischen Persönlichkeiten fähig, die auf engem Raum zusammengepfercht sind. Es war ein Irrtum von mir, mich freiwillig für dieses Projekt zu melden, und die Behörden haben einen Fehler ge macht, als sie mich annahmen.« Niemand sprach; aber Tomiko sah genau, wie diesmal Osdens Schultern ein wenig abfielen, wie sich seine Gesichtsmuskeln spannten, als er die stumme Zustimmung der anderen zur Kenntnis nahm. »Jedenfalls wollte ich nicht zum Basislager zu rückkehren, weil ich neugierig war. Selbst wenn ich darüber verrückt werden sollte – wie konnte ich em pathische Affekte aufnehmen, wenn es keine Kreatur gab, die sie ausschickte? Da waren sie noch nicht schlimm. Sehr vage. Ein bißchen merkwürdig. Wie ein Luftzug in einem geschlossenen Raum, wie eine aus dem Augenwinkel heraus aufgenommene Bewe gung. Nichts – wenn man es genau besieht.« Es regte ihn an, daß sie ihm zuhörten, deshalb sprach er weiter. Er war ganz ihrer Gnade ausgelie fert. Wenn sie ihn haßten, mußte er sie hassen; ver spotteten sie ihn, wurde er grotesk; hörten sie ihm zu, war er der Geschichtenerzähler. Er fügte sich hilflos und gehorsam dem Verlangen ihrer Emotionen, Re aktionen und Launen. Es waren sieben, und das wa ren zuviel, als daß er mit ihnen hätte fertigwerden können, und so wurde er ständig von der Laune des einen zu der eines anderen gestoßen. Er konnte kei 261
nen Zusammenhang finden. Selbst während er sprach und sie damit zusammenhielt, konnte die Aufmerk samkeit des einen oder anderen abschweifen. Olleroo dachte vielleicht, daß er doch nicht ganz unattraktiv sei; Harfex suchte das letzte Motiv für seine Worte; Asnanifoils Geist, der nicht lange von der Wirklich keit festgehalten werden konnte, strebte dem ewigen Frieden der Zahl entgegen; und Tomiko wurde von Mitleid, von der Angst abgelenkt. Osdens Stimme riß ab, er verlor den Faden. »Ich … ich dachte, es müß ten die Bäume sein«, sagte er, dann schwieg er. »Es sind nicht die Bäume«, antwortete Harfex. »Sie haben sowenig ein Nervensystem als die Pflan zen der hainischen Abkömmlinge auf der Erde.« »Du siehst den Wald vor lauter Bäumen nicht«, bemerkte Mannon und lächelte boshaft. Harfex starr te ihn an. »Und was ist mit diesen Wurzelknoten, an denen wir seit nun mehr zwanzig Tagen herumrät seln?« »Ja, was ist mit ihnen?« »Sie sind, und daran ist nicht zu zweifeln, Verbin dungen zwischen den Bäumen. Gelenke könnte man sie fast nennen. Richtig? Und nun wollen wir einmal annehmen, wenn das auch höchst unwahrscheinlich ist, daß du nichts weißt von der animalischen Ge hirnstruktur. Man gibt dir ein Rückenmark oder eine abgetrennte Glialzelle, die du nun untersuchen sollst. Fändest du es wahrscheinlich, daß du herausfindest, was es ist? Würdest du daran sehen, ob oder daß die Zelle einer Empfindung fähig war?« 262
»Nein, weil sie es nicht ist. Eine einzelne Zelle ist einer mechanischen Reaktion auf ein Stimulans fä hig, aber nicht mehr. Willst du die Hypothese auf stellen, daß individuelle Arboriformen ›Zellen‹ in der Art eines Gehirns sind, Mannon?« »Nein, nicht genau. Ich weise lediglich darauf hin, daß sie ja mehrfach miteinander verbunden sind, einmal durch die Wurzelgelenkknoten und zum an deren durch die grünen Lufttriebe in den Bäumen, in den Ästen. Das ist eine Verkettung von unglaublicher Vollständigkeit, schon rein körperlich gesehen. Nun, selbst die Präriegrasformen haben diese Wurzelkon nexionen, nicht wahr? Ich weiß, daß Empfindungsfä higkeit und Intelligenz keine Dinge sind. Die findest du nicht in den Gehirnzellen und kannst sie auch nicht analysieren. Sie sind eine Funktion miteinander verbundener Zellen. Es ist, in gewissem Sinn, die Verbindung, die Fähigkeit zur Verbindung unterein ander. Sie existiert nicht. Ich versuche nicht zu sa gen, daß sie existiert. Ich vermute nur, daß Osden vielleicht fähig wäre, es zu beschreiben.« Und Osden nahm diesen Faden auf; er sprach wie in Trance. »Empfindungsfähigkeit ohne Sinne. Blind, taub, nervenlos, bewegungslos. Einige Reizfähigkeit, Reaktion auf Berührung. Reaktion auf Sonne, auf Licht, auf Wasser, auf Chemikalien in der Erde um die Wurzeln herum. Nichts, was einem animalischen Geist verständlich wäre. Eine Anwesenheit ohne Geist. Bewußtheit des Seins, ohne Objekt oder Sub jekt. Nirwana.« 263
»Aber warum empfängst du dann Angst?« fragte Tomiko leise. »Ich weiß es nicht. Ich sehe nicht, wie sich die Bewußtheit von Gegenständen, von anderen, über haupt ergeben kann. Eine nicht wahrnehmbare Reak tion … Aber da war tagelang dieses Unbehagen. Als ich dann zwischen den zwei Bäumen lag und mein Blut auf ihre Wurzeln sickerte …« Osdens Gesicht glänzte vor Schweiß. »Da wurde es Angst«, fuhr er schrill fort, »nur Angst.« »Wenn eine solche Funktion existiert«, sagte Har fex, »dann wäre sie nicht fähig, eine selbst bewegende materielle Wesenheit aufzunehmen oder auf eine solche zu reagieren. Es kann sich ebenso wenig unser bewußt werden, wie wir die Unendlich keit erfassen können.« »Die Stille dieser unendlichen Weiten beängstigt mich«, murmelte Tomiko. »Pascal war sich der Un endlichkeit bewußt. Durch die Angst.« »Einem Wald könnten wir etwa als Waldbrände erscheinen«, meinte Mannon. »Als Hurrikane. Ge fahren. Was sich schnell bewegt, ist gefährlich für eine Pflanze. Die Wurzellosen sind fremd, schreck lich. Und wenn es Geist ist, dann wäre es nur allzu wahrscheinlich, daß es sich Osdens bewußt wird, dessen eigener Geist weit offen ist für Konnexionen aller anderen untereinander, solange er selbst bei Bewußsein ist, und der in Schmerz und Angst mitten drinnen, genau gesagt, innen drinnen lag. Kein Wun der, daß es Angst hatte …« 264
»Kein ›es‹«, warf Harfex ein. »Es gibt kein anima lisches Geschöpf, keine riesige Kreatur, keine Per son! Höchstens und nur eine Funktion.« »Es gibt nur eine Furcht«, sagte Osden. Alle schwiegen eine ganze Weile, und sie hörten die Stille draußen. »Ist das, was ich fühle, die ganze Zeit hinter mir hergegangen?« fragte Jenny Chong flüsternd. Osden nickte. »Ihr alle fühlt es, wie unempfindlich ihr auch seid. Eskwana ist am schlimmsten dran, weil er tatsächlich einige empathische Fähigkeiten hat. Er könnte senden, wenn er es jetzt lernen würde, aber er ist zu schwach. Weiter als bis zum Medium wird er es nie bringen.« »Hör mal, Osden«, sagte Tomiko. »Du kannst senden. Dann sende doch; sende dem Wald und der Angst da draußen, daß wir nichts Böses wollen. Da es eine Art Affekt kennt oder ist, der das, was wir als Emotionen kennen, in etwas Adäquates überträgtkannst du nicht zurückübersetzen? Schick deine Bot schaft aus: Wir sind harmlos, wir sind freundlich ge sinnt.« »Haito, du mußt wissen, daß niemand eine falsche empathische Botschaft ausschicken kann. Du kannst nichts senden, was es nicht gibt.« »Aber wir wollen doch nichts Böses. Wir sind freundlich gesinnt.« »Wirklich? Als du mich im Wald aufhobst – hat test du da freundliche Gefühle?« »Nein. Ich war verängstigt. Aber das ist doch … 265
es, der Wald, die Pflanzen, nicht meine eigene Angst, nicht wahr?« »Worin liegt da ein Unterschied? Du hast sie doch gefühlt. Verstehst du denn nicht« – Osdens Stimme hob sich in äußerster Erregung –, »warum ich euch alle nicht mag, warum ihr mich nicht mögt – alle, alle? Versteht ihr denn nicht, daß ich nur jeden nega tiven oder aggressiven Affekt, den ihr gegen mich gefühlt habt, seit wir uns kennenlernten, wieder zu rückwerfe? Ich gebe euch eure Feindseligkeit mit Zinsen zurück. Das ist Notwehr, nichts anderes. Wie bei Porlock. Aber es ist Notwehr. Es ist die einzige Technik, die ich entwickelt habe um meine ursprüng liche Verteidigung des totalen Rückzugs von anderen zu ersetzen. Leider wird dadurch ein geschlossener Stromkreis geschaffen, der sich selbst erhält und selbst verstärkt. Eure anfängliche Reaktion mir ge genüber war die einer instinktiven Antipathie einem Krüppel gegenüber. Jetzt ist es natürlich Haß. Könnt ihr denn meinen Standpunkt nicht verstehen? Der Wald-Geist da draußen produziert und überträgt jetzt Angst, und die einzige Botschaft, die ich jetzt senden kann, ist Angst, weil ich nichts als Angst senden kann, wenn ich ihr ausgesetzt bin.« »Was müssen wir dann also tun?« fragte Tomiko. »Das Lager verlegen«, antwortete Mannon prompt. »Auf einen anderen Kontinent. Wenn es auch dort Pflanzen-Geister gibt, dann werden sie einige Zeit brauchen, bis sie uns bemerken – ebenso wie hier. Vielleicht nehmen sie gar keine Notiz von uns.« 266
»Es wäre natürlich eine große Erleichterung«, be merkte Osden steif. Die anderen hatten ihn mit einem ganz neuen Interesse beobachtet. Er hatte sich selbst enthüllt, und sie hatten gesehen, was er war – ein hilfloser Mann in einer Falle. Vielleicht hatten sie so wie Tomiko gesehen, daß die Falle, seine krasse und grausame Ichbezogenheit, ihre eigene Konstruktion war, nicht die seine. Sie hatten den Käfig gebaut und ihn hineingelockt, und wie ein in einen Käfig ge sperrter Affe warf er nun Schmutz und Unrat durch die Stäbe. Hätten sie ihm, als sie ihn kennenlernten, Vertrauen entgegengebracht, hätten sie die Kraft be sessen, ihm Liebe und Zuneigung anzubieten, wie hätte er ihnen dann erscheinen müssen? Keiner von ihnen hätte es damals tun können, und jetzt war es zu spät. Man hätte ihm Zeit und Einsam keit geben müssen, dann hätte Tomiko vielleicht in ihm eine langsame Gefühlsresonanz aufbauen kön nen, ein Mitschwingen des Vertrauens, eine Harmo nie; aber sie hatte keine Zeit, und ihre Arbeit mußte getan werden. Sie hatte auch nicht genug Platz, um große Gefühle zu kultivieren, und so mußte sie es mit Mitgefühl, Mitleid, dem Kleingeld der Liebe versu chen. Ihr selbst hatte das Kraft verliehen, aber für ihn war es zuwenig, viel zuwenig. In seinem blassen Ge sicht erkannt; sie seine wilde Verachtung für ihre Neugier, selbst für ihr Mitleid. »Leg dich wieder hin, deine Wunde blutet«, riet sie ihm, und er gehorchte ihr. Am nächsten Morgen packten sie zusammen, 267
schmolzen den Sprayformhangar und die Wohnräu me zusammen, hoben mit dem mechanischen An trieb die Gurn in die Luft und brachten sie halbwegs herum um die Welt 4470, über die roten und grünen Lande, die warm-grünen Seen. Auf Kontinent G hat ten sie einen Platz ausgesucht, zwanzigtausend Qua dratkilometer einer windzerzausten Prärie von Gras gewächsen. Im Umkreis von hundert Kilometern gab es keinen Wald, keine einzelnen Bäume und keine kleinen Gehölze. Die Pflanzenformen traten nur in großen Spezieskolonien auf, niemals miteinander vermischt mit Ausnahme einer winzigen, allgegen wärtigen Fäulnispflanze und einigen Sporenträgern. Das Team sprühte Holomeld über Strukturformen, und am Abend des Zweiunddreißigstundentages stand das neue Lager. Eskwana schlief noch immer, und Porlock stand noch unter der Wirkung von Seda tiven, aber sonst waren alle wesentlich fröhlicher. »Hier läßt sich's wenigstens atmen«, sagten sie im mer wieder. Osden kam wieder auf die Beine und ging noch ein wenig wackelig zur Tür. Dort lehnte er und schaute durch das Zwielicht über die allmählich ver dämmernden Weiten wiegenden Grases, das kein Gras war. In der Luft hing ein schwacher, süßer Duft nach Pollen. Kein Geräusch gab es, nur das leise, un endliche Säuseln des Windes. Den bandagierten Kopf hatte er ein wenig schief gelegt, und so stand der Empath lange bewegungslos da. Dann kam die Dunkelheit, die Sterne erschienen, die Lichter in den 268
Fenstern der fernen Menschheit. Der Wind hatte nachgelassen, und nun herrschte absolute Stille. Er lauschte. Auch Haito Tomiko lauschte in die lange Nacht hinaus. Sie lag ruhig da, spürte das Blut in ihren A dern, hörte das Atmen der Schläfer, das Säuseln des Windes, die herannahenden Träume; die unendliche Statik der Sterne wuchs, als das Universum langsam dahinstarb; sie hörte den Tod einherschreiten. Sie kämpfte sich von ihrem Bett auf, floh die win zige Abgeschiedenheit des Schlafraums. Eskwana schlief noch immer. Porlock lag in der Zwangsjacke und schwatzte leise und schnell in seiner merkwürdi gen Heimatsprache vor sich hin. Olleroo und Jenny Chong spielten Karten und hatten grimmige Gesich ter. Poswet To war in der Therapienische und hatte sich angeschlossen. Asnanifoil zeichnete ein Manda la, das Dritte Muster der Primzahlen. Mannon und Harfex saßen mit Osden zusammen. Tomiko wechselte die Verbände von Osdens Kopf. Sein dünnes, rötliches Haar sah dort, wo sie es nicht hatte abrasieren müssen, seltsam aus; es war mit weißen Haaren untermischt. Ihre Hände zitterten, als sie arbeitete. Niemand hatte noch ein Wort ge sprochen. »Wie kann die Angst auch hier sein?« fragte sie, und ihre Stimme klang flach und falsch in der schrecklichen Stille der pflanzlichen Nacht. »Es sind nicht nur die Bäume; auch die Gräser …« »Aber wir sind zwölftausend Kilometer von dort 269
weg, wo wir noch heute früh waren. Wir ließen die sen Fleck auf der anderen Seite des Planeten.« »Das ist alles gleich«, sagte Osden. »Ein großer grüner Gedanke. Wie lange braucht ein Gedanke, um von einer Seite deines Gehirns zur anderen Seite zu gelangen?« »Es denkt doch nicht. Nein, es denkt nicht«, erwi derte Harfex mit fast lebloser Stimme. »Es ist nur ein Netzwerk von Prozessen. Die Äste, die Luftgewäch se, die Wurzeln mit diesen Knotengelenken zwischen den Individuen; sie alle müssen fähig sein, elektro chemische Impulse aufzunehmen und zu übertragen. Es gibt also, genau gesagt, keine individuellen Pflan zen. Selbst der Pollen ist nur Teil der Kette, eine Art windgeborener Empfindungsfähigkeit, welche über Seen hinweg verbindet. Aber es ist nicht wahrnehm bar. Daß die ganze Biosphäre eines Planeten ein ein ziges Netzwerk von Kommunikationen sein soll, von sensitiven, irrationalen, unsterblichen, isolierten …« »Isolierten, das ist es«, warf Osden ein. »Das ist die Angst. Es ist ja nicht so, weil wir Bewegungs vermögen haben oder destruktiv wären. Es ist nur deshalb, weil wir sind. Wir sind anders. Hier hat es nie etwas anderes gegeben.« »Damit hast du recht«, flüsterte Mannon. »Es hat keine Herren, keine Feinde, keine Beziehung außer zu sich selbst. Eines für immer allein.« »Und wie ist dann seine Funktion im Überleben der Arten?« »Vielleicht gibt es keine«, meinte Osden. »Warum 270
wirst du plötzlich teleologisch, Harfex? Du bist doch von Hain? Ist nicht das Maß der Schwierigkeit auch das Maß der ewigen Freuden?« Harfex nahm den Köder nicht auf. Er sah krank aus. »Wir sollten diese Welt verlassen«, schlug er vor. »Jetzt weißt du also, weshalb ich immer heraus will, weg will von euch«, sagte Osden mit einer Art morbider Liebenswürdigkeit. »Die Angst der anderen ist nicht angenehm, was? Wenn es nur eine animali sche Intelligenz wäre … Zu Tieren kann ich durch kommen. Mit Kobras und Tigern komme ich gut zu recht. Der Vorteil ist hier die überlegene Intelligenz. Man hätte mich in einen Zoo stecken müssen, nicht in ein menschliches Team … Wenn ich nur durch käme zu diesen verdammten stupiden Kartoffeln! Es ist nur so überwältigend … Weißt du, ich nehme immer noch mehr auf als nur die reine Angst. Und ehe es in panische Angst verfiel, gab es … ah … eine gewisse Heiterkeit. Ich konnte es da nicht erfassen, und ich wußte nicht, wie groß es war. Es war ja schließlich das ganze Tageslicht und die ganze Nacht. Alle Winde und auch die Windstillen, die Wintersterne und gleichzeitig auch die Sommerster ne. Wurzeln haben und keine Feinde. Ganz sein. Vollständig. Verstehst du? Keine Invasion. Keine anderen. Vollständig sein …« So hat er noch nie gesprochen, dachte Tomiko. »Du kannst dich nicht dagegen wehren, Osden«, sagte sie. »Deine Persönlichkeit hat sich schon ver 271
ändert. Du bist ihnen gegenüber verletzlich. Viel leicht werden wir nicht alle wahnsinnig, aber du wirst es bestimmt, wenn wir nicht weggehen.« Er zögerte, dann sah er Tomiko voll an – zum er stenmal hatte er ihr in die Augen gesehen, und sein Blick war lang, ruhig, klar wie Wasser. »Was hat geistige Gesundheit mir je Nutzen ge bracht?« fragte er fast spöttisch. »Aber da hast du etwas, Haito. Wirklich, du hast etwas.« »Wir sollten hier weg«, murmelte Harfex. »Wenn ich mich ihm ausliefere«, überlegte Osden, »könnte ich mich dann mit ihm verständigen?« »Ich nehme an, du meinst mit ›ausliefern‹, daß du damit aufhörst, die empathische Information zurück zuwerfen, die du von der Pflanzen-Einheit emp fängst«, sagte Mannon mit rascher, nervöser, fast ge hetzter Stimme. »Wenn du die Angst nicht mehr zu rückwirfst, sondern sie absorbierst. Entweder bringt dich das sofort um, oder es treibt dich zurück in eine totale psychische Zurückgezogenheit in dich selbst, in den Autismus.« »Warum?« fragte Osden. »Seine Botschaft ist ja die Zurückweisung. Aber meine Erlösung ist auch die Zurückweisung. Es ist nicht intelligent. Aber ich bin es.« »Das ist ein falscher Maßstab. Wie kann sich ein einzelnes menschliches Gehirn gegen etwas so Rie siges behaupten?« »Ein einzelnes menschliches Gehirn kann Proben von Sternen und Galaxien aufnehmen und sie als 272
Liebe interpretieren«, sagte Tomiko. Mannon sah von einem zum anderen. Harfex schwieg. »Im Wald wäre es leichter«, bemerkte Osden. »Wer von euch will mich hinüberfliegen?« Sie flogen in einem Helijet ab. Eskwana schlief noch immer tief und zusammengekrümmt im hinteren Ab teil. Tomiko flog den Jet, Harfex und Osden schwie gen und hielten nach der dunklen Linie des Waldes Ausschau, die hinter der grauen, sternenbeschienenen Ebene allmählich auftauchte. Sie flogen sehr tief, um einen Landeplatz zu fin den; sie mußte sich erbittert gegen ihren fast gierigen Wunsch nach Höhe zur Wehr setzen; sie wäre am liebsten umgekehrt, ganz weggeflogen. Die ungeheu re Vitalität der Pflanzenwelt war hier im Wald viel eindringlicher und stärker, und ihre panische Angst brach sich in riesigen dunklen Wellen an ihnen. Vor ihnen lag ein blasser Fleck, ein nackter Hügel, der ein wenig höher war als die höchsten dunklen Schat ten um ihn herum – die Nicht-Bäume; die Verwur zelten; die Teile des Ganzen. Sie setzte den Helijet auf die Lichtung. Ihre Hände am Knüppel waren schlüpfrig, als seien sie mit Seife eingerieben. Es war eine schlechte Landung. Um sie herum war schwarzer, dunkler, schwei gender Wald. Tomiko kauerte sich zusammen und schloß die Augen. Eskwana stöhnte im Schlaf. Harfex' Atem 273
kam in kurzen, lauten Stößen. Er saß steif da, auch dann noch, als Osden an ihm vorbei zur Tür griff und sie aufschob. Osden stand auf. Sein Rücken und der bandagierte Kopf waren im sanften Schimmer des Instrumenten bretts nur schwach sichtbar, als er unter der Tür stand und sich bückte. Tomiko zitterte heftig. Sie vermochte nicht einmal den Kopf zu heben. »Nein, nein, nein, nein!« flüster te sie unaufhörlich vor sich hin. »Nein, nein, nein!« Osden bewegte sich schnell und lautlos, schwang sich durch die Tür, hinunter in das Dunkel. Er war weg. Ich komme! sagte eine erhabene Stimme, die kei nen Ton hatte. Tomiko schrie. Harfex hustete. Er schien aufste hen zu wollen, doch es gelang ihm nicht. Tomiko zog sich völlig in sich selbst zurück, in ih ren Körper, in ihr innerstes Sein; draußen war nichts als Angst. Sie ließ nach. Tomiko hob den Kopf, löste langsam ihre ineinan der verkrampften Hände. Sie setzte sich aufrecht hin. Die Nacht war dunkel, und die Sterne standen hoch und klar über dem Wald. Sonst war nichts, gar nichts. »Osden«, sagte sie, aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht. Wieder sprach sie; diesmal lauter, das Kräch zen eines einsamen Ochsenfrosches. Es kam keine Antwort. 274
Allmählich wurde sie sich darüber klar, daß mit Harfex etwas nicht stimmte. Sie versuchte in der Dunkelheit seinen Kopf zu finden, denn er war aus dem Sitz nach unten gerutscht. Unvermittelt kam aus dem hinteren Abteil des Jets, aus der Dunkelheit, ei ne Stimme. »Gut«, sagte sie. Es war Eskwanas Stimme. Sie knipste die Innen lichter an und sah den Ingenieur, der schlafend und zusammengekrümmt dalag, seine Hand halb über dem Mund. Dann öffnete sich der Mund und sprach. »Alles in Ordnung.« »Osden …« »Alles in Ordnung«, sagte die leise Stimme aus Eskwanas Mund. »Wo bist du?« Schweigen. »Komm zurück, Osden.« Der Wind hob sich. »Ich bleibe hier«, antwortete die leise Stimme. »Das kannst du nicht …« Schweigen. »Du wärst allein, Osden!« »Hört.« Die Stimme klang nun schwächer, ein wenig verwischt, verloren im Säuseln des Windes. »Hört, ich meine es gut mit euch.« Sie rief seinen Namen, doch keine Antwort kam. Eskwana lag still da. Harfex bewegte sich nicht, gab keinen Ton von sich. »Osden!« rief sie und lehnte sich weit zur Tür hin 275
aus in das dunkle, windverblasene Schweigen des Waldes von Wesenheiten. »Ich werde zurückkom men! Ich muß Harfex zum Basislager bringen. Osden, ich komme zurück!« Schweigen, nur der Wind in den Blättern. Sie beendeten die vorgeschriebene Inspektion der Welt 4470. Es waren nur noch acht. Sie brauchten noch einundvierzig Tage dazu. Asnanifoil und eine oder die andere von den Frauen gingen erst täglich in den Wald, um in der Region um den nackten Hügel nach Osden zu suchen, wenn auch Tomiko nicht ab solut sicher wußte, auf welchem nackten Hügel sie in jener Nacht mitten im Herzen und im Strudel der Angst gelandet war. Sie ließen ganze Stapel für Osden zurück, Nahrungsmittel, die für fünfzig Jahre reichten, Kleidung, Zelte, Werkzeug. Aber sie such ten nicht weiter, denn es gab einfach keine Möglich keit, einen einzelnen Mann zu finden, der sich ver steckte, wenn er sich in diesem endlosen Labyrinth zu verstecken wünschte, in diesen dämmrigen Gän gen, den rebenverflochtenen, wurzelbödigen Unend lichkeiten. Sie hätten auf Armlänge entfernt an ihm vorübergehen können und ihn doch nicht gesehen. Aber er war da; denn es gab keine Angst mehr. Tomiko versuchte mit dem Verstand zu begreifen, was Osden getan hatte, denn nach einem unerträgli chen Erlebnis unsterblicher Geistlosigkeit schätzte sie die Ratio über alles. Aber die Worte entzogen sich ihrer Kontrolle. Er hatte die Angst in sich selbst 276
aufgenommen, sie akzeptiert, sie überwunden. Er hatte sich selbst dem Fremden überantwortet, hatte sich so bedingungslos ergeben, daß kein Platz mehr für das Übel war. Er hatte die Liebe des ANDEREN erfahren, sein Selbst gegeben und es ganz zurückge wonnen. Aber das ist nicht das Vokabular der Ver nunft. Die Angehörigen des Inspektionsteams gingen un ter den Bäumen dahin, durch die riesigen Kolonien des Lebens, waren von träumerischer Stille umgeben, einer brütenden Ruhe, die sich ihrer halb bewußt war und ihnen gänzlich gleichgültig gegenüberstand. Es gab keine Zeit, und die Entfernung war bedeutungs los. Hätten wir nur Welten genug und Zeit … Der Planet drehte sich zwischen Sonnenlicht und großem Dunkel; Winde des Winters und des Sommers blie sen feine, blasse Pollen über die ruhigen Meere. Die Gum kehrte nach vielen Inspektionen, Jahren und Lichtjahren dorthin zurück, wo vor Jahrhunder ten Port Smeming auf Pesm gestanden hatte. Es gab dort noch Menschen, die – ungläubig – die Berichte der Gruppe entgegen nahmen und ihre Verluste regi strierten: Biologe Harfex, tot vor Angst, und Sensor Osden, als Kolonist zurückgelassen.
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