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Buch: Robert Claire weiß nicht einmal ungefähr, was auf ihn zukommt, als er von der Erde aus in fast geheimer Mission in Richtung Jupiter geschickt wird. Neben Professor Abele, der die Arbeitsstation im Weltraum seit langem selbstbewußt und erfolgreich leitet, gibt es dort auch Larson, den Kyborg, der sich größten Gefahren aussetzt, um die Menschen von sei ner Wahrheit über die MEWACONS zu überzeugen. Sollte er recht ha ben, daß diese Gebilde, aus denen der für die Energiebasis des Heimat planeten so wichtige metallische Wasserstoff gewonnen wird, einer Zivi lisation angehören, hätte das dramatische Folgen für die Menschheit … Unterhaltsam, anschaulich und mit phantasievoller Sachkenntnis erzählt der Autor von abenteuerlichen, couragierten Unternehmungen und den erstaunlichen Lebensformen einer fremdartigen, möglichen Intelligenz.
Bernd Hartmann
Die Jupitaner
Science-fiction-Roman
Mitteldeutscher Verlag
Halle • Leipzig
ISBN 3-354-00574-2 © Mitteldeutscher Verlag Halle • Leipzig 1989 Lizenz-Nr. 444-300/40/89 • 7004 Printed in the German Democratic Republic Reihengestaltung: Helmut Brade Umschlag: Stefan Duda Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30 Best. -Nr. 639 519 1 00600
1 Interview des »Umweltmagazins« (Lesli Whitman) mit Frau Delphine Jonas, Mitglied des Weltrates, Ministerin für Interplanetare Ressourcen, Direktor des Internationalen Jupiterinstituts, ausgestrahlt über Satelsys XL, Wortlaut direkt abrufbar unter Code P 217-2204-2273. L. W.: »Frau Ministerin Jonas, können Sie uns genauere Angaben über den gegenwärtigen Stand der Produktion von MEWA machen?« D. J.: »Wir nennen keine Zahlen, weil manche Institutionen und Admini strationen daraus abzuleiten versuchen, was für Ansprüche an metalli schem Wasserstoff sie an uns stellen können. Wir bekommen immer wieder solche Rechnungen vorgelegt. Das geht so weit, daß selbst Pri vatpersonen, denen bekanntermaßen Besitz an MEWA untersagt ist, schon Anträge auf metallischen Wasserstoff gestellt haben. Wie Sie wissen, sind die MEWA-Zuteilungen, die wir vergeben haben, von Jahr zu Jahr angestiegen. Trotzdem reißt der Strom der Klagen nicht ab. Erhalten wir immerfort Forderungen, die wir jetzt und auch in naher Zukunft nicht erfüllen können. Tatsache ist jedoch, daß wir unsere Erzeugung von MEWA im Jupiter ständig erhöht haben und bemüht sind, den strategischen Bedarf für die Erde zu decken.« L. W.: »Wenn Sie solche Fortschritte zu verzeichnen haben, warum ver weigern Sie die zweihundert Tonnen MEWA für das Ardennenkraft werk? Das Werk ist fertiggestellt. Nur sind die MEWA-Tanks leer ge blieben, und es kommt kein Strom. Die Flüchtlinge, die der seit Jahr zehnten ansteigende Meeresspiegel von der Atlantikküste ins Landesin nere vor sich hergetrieben hat, werden unruhig. In den Zeltstädten der Umsiedlerdistrikte breiten sich für überwunden gehaltene Seuchen aus. Ich frage Sie: Ist Ihnen die Lage der Flüchtlinge nicht bekannt?«
D. J.: »Sie sind hartnäckig, was das Angeben von Zahlen anbelangt. Also – es ist richtig, daß seit Jahren eine größere Menge MEWA für ein zu sätzliches Europakraftwerk im Plan steht, um das Los der Flüchtlinge und Umsiedler zu mildern. Ihnen ist weiter bekannt, daß Positionen sol cher Größenordnungen zweimal jährlich beim Weltrat verteidigt werden müssen. Ja, und der Internationale Rat hat eben nicht zugestimmt. Sie und vor allem die Betroffenen müssen damit leben. Wir haben so entschieden, gerade weil wir das harte Los der Flüchtlin ge kennen und weil wir eine zweite ähnliche Katastrophe verhindern wollen. Uns geht es darum, einer weiteren Erwärmung der Antarktis entgegenzuwirken und damit eine zweite Flutwelle abzublocken.« L. W.: »Gibt es neue Erkenntnisse über die Natur der MEWACONS?« D. J.: »Die Konzentrationen von metallischem Wasserstoff, jene struktu rierten Objekte im Jupiter, die wir MEWACONS nennen, sind inzwi schen unverzichtbare Grundlage unserer MEWA-Produktion geworden. Die eigentliche Natur der MEWACONS gibt uns jedoch noch Rätsel auf. Um unklare Phänomene zu erforschen, haben wir einige Arbeits gruppen gebildet, übrigens auch exobiologische. Unter Leitung von Pro fessor Abele widmen sich auf der Station GALILEI Tausende Wissen schaftler den MEWACONS. Und selbstverständlich bemühen wir uns im Internationalen Jupiterinstitut gleichfalls darum, die Natur der ME WACONS aufzuklären.« L. W.: »Immer wieder tauchen Gerüchte auf, daß es sich bei den ME WACONS um Jupitaner handelt, denen zumindest eine geringfügige Intelligenz nicht abgesprochen werden kann.« D. J.: »Es sind Gerüchte. Es gibt keine ernst zu nehmenden Hinweise darauf, daß es sich bei den MEWACONS um vernunftbegabte Wesen handeln könnte. Ich leugne jedoch nicht, daß es einige Wissenschaftler gibt, die die an den Objekten beobachteten Verhaltensweisen zum Teil
biologisch deuten. Wir lehnen solche Betrachtungen ab und stützen uns hierbei auf die bisherigen Ergebnisse von Professor Abele.« L. W.: »Frau Ministerin Jonas, können Sie uns etwas über den Gesund heitszustand von Larson sagen? Wann wird er der Öffentlichkeit vorge führt?« D. J.: »Ich verstehe Ihr Interesse. Immerhin hatte Larson den ersten Kontakt mit den MEWACONS. Einen ersten direkten, unfreiwilligen Kontakt. Während eines Probefluges wurde er schwer verletzt. Er hat sich noch nicht so weit erholt, daß eine Überführung zur Erde in Frage käme. Gestatten Sie mir, daß ich noch einige Worte zu unserer Berichterstat tung in der Öffentlichkeit sage, die ständig kritisiert wird. Ein berechtig tes Schutzbedürfnis bringt es mit sich, daß wir nicht alle Informationen weitergeben. Hinzu kommen die Entfernung und die Unwirtlichkeit des Jupiters. Wir brauchen uns nicht zu wundern, daß Gerüchte umgehen, nun auch wieder über die MEWACONS. Kurzum, wir haben einen Wis senschaftsastronauten eingeladen, der unsere Produktions- und For schungsstätten auf Ganymed und im Jupiter besichtigen wird. Wir hof fen, daß er nach seinem Besuch mit einer umfangreichen Serie in den Medien aufwarten wird.« L. W.: »Darf man jetzt schon erfahren, wen Sie damit beauftragt haben?« D. J.: »Es handelt sich um Robert Claire, den Wissenschaftskorrespon denten des TV-Magazins ›Internationale Flutberichte‹ …« Stopp. Ich kannte den Wortlaut, hatte ihn oft genug gehört. Trotzdem wurde ich nicht klug daraus, was den letzten Teil des Interviews betraf. Da war die Warum-gerade-ich-Frage. Selbstverständlich fühlte ich mich vom Angebot des Ministeriums geschmeichelt. Wann schon bekam man eine solche Chance geboten, Ganymed oder den Jupiter zu besuchen, wo
möglich gar die Plattformen ATLAS und PROMETHEUS. Gut, ich war astronautisch ausgebildet, und ich hatte in unserem TV-Magazin einige Beiträge über die MEWACONS fabriziert. Auch war mein populärwis senschaftliches Interesse an den MEWACONS unersättlich. Doch des halb war ich noch längst kein Experte für diese Fragen. Wenn überhaupt, war ich Sachverständiger für Probleme, die die Flut betrafen. Nun würde ich mich wieder mit den MEWACONS befassen. Man hat te Tausende von diesen MEWACONS erbeutet. Man hatte sie nach allen Regeln der Wissenschaft untersucht. Das angesammelte Wissen war kaum noch zu überblicken. Aber die Grundfesten des wissenschaftlichen Gebäudes waren gelegt. Es waren Objekte, Anhäufungen von metalli schem Wasserstoff in der Jupiteratmosphäre. Leblose Materie. Natürlich waren den Objekten einige Prozente Fremdsubstanzen beigemengt, sili katische Stoffe, auch Kohlenwasserstoff und andere Elemente, Verun reinigungen, wie sie die Natur nun einmal hervorbringt. Der extreme Fall der absoluten Reinheit wäre verdächtig erschienen. Die Untersuchungsergebnisse ließen keinen Raum für Jupitaner. Das heißt, falls man nicht so weit gehen wollte, die Jupiterbakterien, die die MEWACONS besiedelten, als solche zu bezeichnen. So weit zu gehen wäre lächerlich. Warum aber nahm Frau Jonas in ihrem Interview so deutlich Bezug auf die hier und da von Minderheiten geäußerten Beden ken? Gab es neue Erkenntnisse? Aber nein: »Es gibt keine ernst zu neh menden Hinweise, daß es sich bei den MEWACONS um vernunftbe gabte Wesen handeln könnte …« Die MEWACON-Modelle waren schwierig zu verstehen. Es waren keine Bilderbuchmodelle. Vielleicht hatte dieser Umstand dazu beigetra gen, daß hier und dort von Jupitanern gesprochen wurde. Die verrückte Idee tauchte in Zuschriften an unsere Redaktion auf, in Diskussionen, auch in eindringlichen Beiträgen als seriös bekannter Wissenschaftler. Die Argumente waren verschwommen. Von ernst zu nehmenden Bewei sen fehlte jede Spur. Ausstrahlung besaßen sie allerdings, diese Geschich ten. Ich löschte den Text des Interviews auf dem Monitor. Dann präparier te ich den automatischen Videophonbeantworter. Der Kontrollbild schirm leuchtete auf. Ich prüfte mein Gesicht und wählte schließlich aus
dem Archiv ein zweites Foto, das mehr Ernst ausstrahlte und meiner künftigen Mission besser entsprach.
2 Das Turbinengeräusch des Tragflügelgleiters nahm eine tiefere Tonlage an. Ich blickte durch die Rauchglasscheibe der Kabine über den Genfer See. Kleine Kräuselwellen fleckten die Oberfläche. Langsam drehte sich der aufgereckte Bug unseres Gleiters uferwärts, bis wir auf das pyramida le Hauptgebäude des Internationalen Jupiterinstituts zuhielten. Es war ein imposanter Bau, der in seiner Wuchtigkeit mit den ansteigenden Bergketten im Hintergrund konkurrierte und das Münster, das Schloß und die anderen Wahrzeichen von Lausanne zu erdrücken schien. Ich stand auf und ging zur Bugscheibe des Gleiters. Der Pyramiden stumpf mit seinem in den Himmel weisenden IJI-Symbol wurde rasch größer. Die beiden sichtbaren Fassaden des Monumentalbaues schim merten rot und blau, und schneebedeckte Gipfel und dahinziehende Wolken spiegelten sich in ihnen wider. Die auf der obersten Plattform in rascher Folge startenden und landenden Hubgleiter und Lastenballons vermittelten den Eindruck höchster Geschäftigkeit. Später schwammen wir in langsamer Fahrt durch ein Gewölbe und ein überdachtes Becken. Die Anlegestelle war sauber gefliest. Informations tafeln leuchteten auf. Über Lautsprecher wurden zusätzliche Meldungen durchgegeben. Als einer der ersten Passagiere verließ ich das Schiff und eilte zum Empfang. Ich warf mein Kennungsmedaillon in den Schlitz einer Automatenwache und wartete, bis Kennung und Schlüsselticket für die Kabinenbahn in den Ausgabebehälter fielen. In rasantem Tempo fuhr ich mit einer der Kleinkabinen durch ein Tunnelsystem. Eine Mitarbeiterin des Ministeriums für Interplanetare Ressourcen holte mich ab und führte mich in ein Kabinett. Ich lief die Reihe der Vitrinen ab, die den Raum teilten. Auf Schauta feln krümmten sich die Kurven der Produktivität nach oben und warben für das Institut. Ich betrachtete die Modelle der Jupiterstationen: die ATLAS mit ihrer Schutzglocke und die röhrenförmige PROMETHEUS. Schließlich wurde ich auf die zimmerbreite Scheibe eines Aquariums aufmerksam, hinter der sich ein Wald von Wasserpflanzen wiegte. Ein kuhähnliches Wesen fraß von den dicken Blättern. Ich lief hin und her
und versuchte vergeblich, das Tier zu necken. Auch einige andere Lebe wesen hinter der dicken Glasscheibe waren offensichtlich Produkte eines computergesteuerten Gentransfers. Es machte mir Spaß, ihre einzelnen tierischen Bestandteile herauszufinden, doch nicht immer erriet ich die Absicht des Komponisten. Frau Jonas betrat das Kabinett. Sie war eine auffällige Erscheinung. Man sah ihr die Anfang Sechzig nicht an. Lachend sagte sie, daß die Wasserkuh eine Sonderanfertigung wäre, extra für das IJI. Wir nahmen Platz. Mit ausgesuchter Höflichkeit und eleganten Gesten belehrte sie mich über Grundlegendes, worüber alle Welt Bescheid wuß te. Sie nannte die für den Herbst zu erwartenden Pegel der Flutwellen sowie die gegensteuernden Maßnahmen des Umweltministeriums, die soundso viele Tonnen MEWA erforderten, wobei die und die Mengen Energie erzeugt werden müßten. Mir gefiel ihre Stimme, aber sie sprach zu schnell. Eigentlich bewegte sich in ihrem großflächigen Gesicht nur der Mund. Ihre ernsten dunklen Augen wanderten über mich hinweg. Sie zündete sich einen Konzentra tor an und inhalierte ziemlich tief. Dann schob sie mir einen hochkaräti gen Informationskristall über die Tischplatte. Die Personalkartei der Station GALILEI sei darunter gespeichert, meinte sie nebenbei. Ehe ich mich recht versah, war ich zum Geheimnisträger des Weltrates gewor den. Endlich sprach sie auch über meine Mission. »Schnüffeln Sie ein wenig auf den Stationen herum«, sagte sie, eine Idee vertraulicher. »Und geben Sie uns einen schonungslosen, ungeschminkten Bericht. Wir stellen Ih nen einen Kanal zum IJI zur Verfügung. Und für die öffentlichen Sen dungen …« Sie beschrieb mit dem Arm einen Bogen. Ich nickte. »Sie möchten zwei Fassungen.« Ich wußte, was an Abstri chen und Zusätzen für den anderen Bericht erforderlich sein würde. »Der Weltrat«, begann sie zu klagen, »soll mit einer Stimme sprechen, ist aber ein aus vielen Staaten und Meinungen zusammengewürfeltes Organ. Metallischer Wasserstoff, MEWACONS, das bedeutet Spitzen technologie. Die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten des Weltra tes glaubt, daß von diesem merkwürdigen Stoff das Schicksal der Erde abhängt. Das Thema ist brisant, auch im Hinblick auf die Flut. Trotzdem
haben wir die Pflicht, auch jenen Meinungen nachzugehen, die vor dem derzeitigen alternativlosen Einsatz von MEWA warnen, solange die Na tur der MEWACONS nicht restlos aufgeklärt ist. Immer wieder sorgen sie für Überraschungen, stoßen wir auf unverständliche Erscheinungen«, schloß sie leise. Auf einer weiten Spirale hatte sie sich dem Kern der Angelegenheit ge nähert, wenn sie es auch bei Andeutungen bewenden ließ. Ich sollte mich also um die Rätsel kümmern, die uns die MEWACONS aufgaben. »Wenn es Geheimnisse gibt«, sagte ich, »sollten diese nicht besser von den Exobiologen und MEWA-kundlern, den Kybernetikern und Jupito logen angegangen werden?« »Wir glauben, daß Sie uns helfen können. Sie überblicken einigermaßen die MEWACON-Problematik und haben Flugerfahrung. Das ist doch schon etwas. Sie werden sich fragen, warum wir für diese Mission nicht Leute aus Abeles Team herangezogen haben. Wir wissen, daß Professor Abele die Lage aus einem sehr festen anderen Blickwinkel betrachtet. Oder sagen wir einfach, daß er betriebsblind ist.« »Denkt man bereits an einen Schiedsspruch des Weltrates?« fragte ich weiter. »Nein. Es gibt zu wenig Informationen.« »Was habe ich für Kompetenzen?« »Ein Berichterstatter besitzt keine Kompetenzen. Keine Kompetenzen, keine Unterstützung«, sagte sie mit ironischem Unterton. »Aber es ist doch üblich, daß für den Notfall eine Kontaktperson be nannt ist.« Frau Jonas lachte auf. »Wir werden prüfen«, meinte sie schließlich, »ob unser Sicherheitsbeauftragter Steiner auf GALILEI Sie unterstützen kann.« Meine nächste Frage war heikel, aber ich mußte die Antwort wissen. »Ist Professor Abele eingeweiht?« »Daß wir uns verstehen«, sagte Frau Jonas gereizt, »die Rolle des Kommissars sollten Sie vergessen. Wir haben Sie nicht damit betraut, auf der Station eine Untersuchung durchzuführen. Ihr Auftrag läuft in Rich
tung Studie oder Gutachten, was nicht heißen soll, daß Ihre Recherchen für die Öffentlichkeit bestimmt sind.« »Gut, gut«, sagte ich beschwichtigend. »Professor Abele wurde unterrichtet.« »Können Sie mir irgendwelche konkreten Fakten nennen, die Sie ver anlaßt haben, äh, eine solche Aktion zu beschließen?« fragte ich unbeirrt weiter. »Nein.« »Sie hegen nur einen – gewissen Verdacht?« Frau Jonas blickte auf ihre Uhr. »Am besten, Sie sehen sich zuerst un sere Plattform PROMETHEUS an.« Sie stand auf und reichte mir die Hand. »Ich wünsche Ihnen viel Glück.« Halb im Weggehen sagte sie noch, daß das Aquarium mit dem Genfer See in Verbindung stünde und die Wasserkuh ein geschlechtsloses Wesen wäre. Ich jedoch dachte bereits an meine künftigen Abenteuer. Und an die erforderlichen Berichte. Zwei Fassungen also. Nahm ich meine Erfah rungen zusammen, war es wohl angebracht, ganz für mich allein einen dritten Bericht zu beginnen …
3 Die Automatik straffte den Stirngurt, ließ mir keine andere Wahl, als auf den Schirm zu blicken. Da lag er vor mir, der Jupiter. Der Große Rote Fleck, zum Greifen nahe! So, wie die hellgrauen Wolkenfelder, die sich vor dem rubinroten Plateau stauten und schließlich abgedrängt wurden. Ein Teil von ihnen quoll im Zeitlupentempo auf den dunklen Strudel zu. Und während sie der Hexenkessel des Hurrikans aufsaugte, glommen sie an den Rändern violett auf. Die Farbe der Wolken schlug in tiefes Rot oder dunkles Braun um. Manche Gebilde faserten auf. Turbulenzen tru gen sie fort, und sie trudelten, leicht und luftig wie Watte, weiter ins Zen trum des Großen Roten Flecks, bis auch sie von der enormen Schwer kraft in den gigantischen Zyklon hineingerissen wurden. Die anliegenden Lautsprechermuscheln zwangen mich, das technische Kauderwelsch zu verfolgen, das auszustoßen die elektronischen Vorrich tungen im Cockpit wohl programmiert worden waren. Dazwischen war noch die leierige Stimme von Kortel zu hören, der meinen Flug vom Leitdeck der Station GALILEI aus begleitete. »Zielgebiet deiner Fähre ist festgelegt«, sagte Kortel. Ein Sehstrahl auf dem Schirm zeichnete eine Ellipse in den Großen Roten Fleck. »Das Wetter ist stürmisch, Windspitzen um vierhundertzwanzig Kilometer pro Stunde. Es herrschen laminare Strömungsfelder vor, soweit man das beurteilen kann. Du kannst zufrieden sein. Nicht jeder hat eine so gün stige Prognose für den ersten Flug.« Kortel hatte mich vor den Turbulenzen gewarnt. Dort stünden die Gewitter, die Lightnings. Das wären die übelsten Flecken in der Jupiter atmosphäre. Und trotz aller Wetterprognosen käme es vor, daß dort Schiffe zum Teufel gingen. Er sei zwar ein leidenschaftlicher Abenteurer, hatte er beteuert, zu einem Flug in den Jupiter aber würde man ihn nicht überreden können. Auf einem seitlichen Schirmabschnitt schwamm Kortels blanker, spit zer Schädel wie ein kieloben liegendes Boot. Er zwinkerte mir zu. Ich antwortete mit einem optimistischen Lächeln. Gottlob, noch flog ich bloß im freien Fall auf den Strudel zu. Trotz meines zähen Naturells
hatten mich die vorgeschriebenen Trainingsstunden im Simulatorraum daran zweifeln lassen, ob ich den künftigen Torturen tatsächlich gewach sen sein würde. Und auch die Äußerungen Kortels über die gelegentli chen Schiffsverluste verstärkten meine Angst. Plötzlich hatten meine Glieder Gewicht bekommen. Ich hörte das kräfti ge Brummen der Antischwerkraftgeneratoren, das allmählich in Vibrie ren überging. Rote, braune und weiße Strukturen brodelten über den Schirm. Die Räumlichkeit des Jupiters trat hervor. Wolken quollen aus dem Gasozean des Planeten auf, türmten sich zu hellen, lebenden Mau ern und flossen strahlenförmig zum Rand des Bildschirms. Die Kabine begann sich zu drehen. Alles, was nicht mit der kardani schen Aufhängung meines Lagers verbunden war, wanderte aus dem Blickfeld. Der Diskus meiner Fähre veränderte seinen Anstellwinkel, um wie, eine Messerschneide in die Atmosphäre einzudringen. Unter die quellenden Wolken mischten sich Schleier: schlierende Ne bel, die von der Plasmaglut der aerodynamischen Stoßwelle hervorgeru fen wurden, die vor uns herraste. Ein grauenvolles Schlagen erfaßte das Schiff, das nadelscharf bis ins Mark meiner Knochen drang, an Einge weiden und Muskeln sägte und wie ein Echo im Körper nachhallte, als wir schon unter der dritten Wolkenschicht des Jupiters flogen. Längst hatte sich der Sichtschirm verdunkelt, und die Lichtdetektoren hatten Mühe, die Richtung der Sonneneinstrahlung festzustellen. Die klebrige Schwere, die ziemlich genau das Zweikommasiebenfache der Erdschwere betrug, setzte mir zu. Ich schluckte von der Droge, ohne die es in nächster Zeit nicht gehen würde. Augenblicklich fühlte ich mich erleichtert. Nach mehreren Drogeneinheiten war ich gelöst genug, um mit Interes se aus dem Bordfenster zu blicken. Die unruhigen Lichtspiele ferner Lightnings brachten die Wolken, unter denen ich hinwegschwamm, zum Leuchten. Es war ein grauweißes, gespenstisch flackerndes Licht, das überhaupt nicht mit dem gewohnten Anblick der oberen farbigen Wol ken zu vergleichen war. Die untere Wolkengrenze war wider Erwarten glatt und eben. Wir bewegten uns unter den Turbulenzen hinweg wie ein U-Boot unter der stürmischen See.
Auf den Bildschirmen erschien ein fremdes Gesicht. Lotse Tao stellte sich vor. Erst jetzt fiel mir auf, daß die Verbindung zu Kortel unterbro chen war. Ich schluckte erneut von der Droge, um den Brechreiz zu mil dern, der auf mir lastete. Langsam näherten wir uns der Plattform PROMETHEUS. Es war eine endlos lange, lineare Konstruktion. Die schlanke Röhre wurde periodisch von wuchtigen Scheiben unterbrochen, in denen die Antischwerkraftan triebsmodule installiert waren. Die Strahlen unzähliger Scheinwerfer streiften über die Station. Dampfende Bäche stürzten von der Plattform in die Tiefe und erinnerten mich daran, daß es hier fast unaufhörlich regnete. Am Panzer einer Rohrsektion klebte ein regellos geformter, massiger Körper, glasig stumpf wie ein ausgewaschener Eisberg. »Der Rest von einem MEWACON«, sagte Tao nebenher. Ich verdrehte unter Qualen meinen Hals, um so viel wie möglich zu erkennen. Hohlräume drangen unterschiedlich weit ins Innere des Körpers vor und schimmerten grün auf. So etwas wie die äußere Hülle des MEWACONS hing in krustigen Lappen seitwärts herab, Hautfetzen, wie verschont geblieben vom An griff einer Bestie. Ein dünner Schlauch stieß in eine der Höhlungen vor. Andere Schläuche lagen fest und förderten die kostbare Substanz des Körpers in Tanks der PROMETHEUS. Die Szene wirkte brutal. Meine Übelkeit verstärkte sich und lokalisierte sich im Oberbauch. Erschöpft und widerwillig schluckte ich von der Droge. »Ein kräftiger Brocken«, sagte Tao und hob stolz seinen Blick. »Ein MEWACON von der letzten Jagd, waren achtzig Tonnen.« Die Fähre schwamm weiter, unter großen Transportern und Jagdschif fen hinweg, die schwer an Tellerankerplätzen hingen, so daß ich fürchte te, sie könnten die PROMETHEUS mit in die Tiefe ziehen. Ein Kopplungstrichter löste sich von der Plattform und stülpte sich schwarz über die Luke und die Bordfenster meiner Fähre. »Achtung, Robert!« rief Tao. »Druckausgleich auf fünf Komma zwo atü. Atmung bitte bewußt kontrollieren!«
Ich war bereit und würde es schon ertragen. Die Luft, die in die Kabi ne eindrang, war heiß und verbraucht. Aus dem Innern der Plattform flutete Licht, weit oben, über dem dunklen Kopplungsschacht. In dem hellen Loch tauchten die Oberkörper von Männern auf. Manchmal wa ren es nur Köpfe, Silhouetten von Köpfen, die über dem Rand der Öff nung vorbeizuschwimmen schienen. Eine Hydraulik beförderte mich samt Liege zu den Männern hinauf. Zur Begrüßung versuchte ich, lässig einen Arm zu heben. Es gelang mir nicht, als hätte eine Lähmung meinen Körper erfaßt. Mehrere Männer umringten mich und hantierten in routinemäßiger Betriebsamkeit an meiner Liege herum. Ich sah, daß ihre Gesichter abgemagert waren. Ihre Arme, die ich mir muskulös vorgestellt hatte, waren dürre Gestänge. Als hätte sie die Hitze, die ich brennen spürte, in Dörrfleisch verwandelt. Die weitere Prozedur bestand darin, mich von der Liege auf ein Gestell umzubetten, das aus elastischen Gurten, Gummiröhren und einem mas siven Unterteil zusammengesetzt war. Die Männer überhäuften mich mit Fragen, und ich antwortete gleichgültig mit Ja oder mit Nein. Mehrmals fiel das Wort »Erdratte«. Natürlich meinten sie mich, aber es berührte mich nicht. Dankbar saugte ich an der Flasche, die mir ein glatzköpfiger Mann mit weißem Kinnbart an die Lippen hielt. »Drupadante«, las ich laut von seinem Namensschild auf der Brustta sche. »Danke.« »Kannst mich Inder nennen«, sagte der Kinnbärtige. Er schob mich aus dem Kopplungsraum heraus. Dann erklärte er mir die Handhabung des Gestells. Es erwies sich als Rollstuhl und Magnetbahnschlitten, und es unterstützte einige Körperbewegungen. Ich senkte meinen Oberkör per ab, bis ich bequem auf dem Rücken lag. Wir fuhren los, vor mir der Inder. Wir glitten durch einen einspurigen Schacht am Boden der Plattform. Hilflos ertrug ich die schweren Er schütterungen, die beim Überfahren der Sektionsgrenzen auftraten. Es gab keine Kraft, die ich dagegenzustellen hatte. Meine Übelkeit verstärk te sich. »Da fehlte nicht viel, und die Statistik hätte Sie unter der Rubrik ›Früh ausfälle‹ verbucht. Ja, ja, der Schock. Der simple Anfängertod. Einfacher
geht’s wirklich nicht, Mann. Andere warten wenigstens noch auf ein Lightning oder auf einen speziellen Jagdunfall weiter unten im Jupiter.« Aus dem Nichts aufgetaucht, war ich hellwach geworden, sah eine flach gewölbte Decke über mir und hörte die rauhe Stimme eines Man nes. Um den Sprecher sehen zu können, drehte ich mich auf der nach giebigen Unterlage auf die Seite. »Plattformarzt Wille«, stellte er sich vor. Er saß neben meiner Liege statt, lehnte bequem in einem jener Gestelle, in dem ich meine erste Fahrt auf PROMETHEUS angetreten hatte. Er hatte ein jungenhaftes Gesicht und blickte mich aus hellblauen, leicht hervortretenden Augen an. »Mann«, fuhr er fort und schob mir ein pralles elastisches Kissen unter den Kopf, »wie konnten Sie nur. Hat man Sie denn nicht gewarnt?« »Wovor sollte man mich denn gewarnt haben?« erwiderte ich so leb haft wie möglich. Wille lachte schallend. »Von der Droge zu naschen. Mal einen Schluck, wenn’s nicht mehr weitergeht, nun gut, aber doch nicht wie Limonade saufen …« Er warf einen vielsagenden Blick auf die fast leere Flasche, die ich am Gürtel trug. »Und sich dann wie ein Held zu benehmen, wenn Sie genügend von dem Zeug geschluckt haben, wie es viele tun, die das erste Mal uns besuchen kommen! Die Droge macht euphorisch. Aber unsere Knochen haben nur eine begrenzte Festigkeit. Sie werden unvor sichtig, und ehe Sie sich versehen, liegen Sie mit gebrochenen Gräten da. – Auf PROMETHEUS sitzen Sie oftmals in der Falle, mein Herr. Die Heilung verläuft schlecht, und wenn Sie dann nicht transportfähig sind …« Der Arzt, der sich bisher wie ein Feldscher benommen hatte, widmete sich seiner Injektionspistole. Er zog das Magazin aus dem Schaft und füllte es mit verschiedenfarbigen daumendicken Plastpatronen. »Blicken Sie einmal in unsere Krankenstation. Dort liegt so ein armer Wicht. Mit gebrochenen Rippen, beatmet von Maschinen. Das macht man nicht lange mit.« Wille steckte die Pistole in ein Hüftfutteral. »Sie sind fit und können aufstehen!« sagte er im Befehlston. »Immer bewegen, viel bewegen!« Ich versuchte mich aufzurichten. Da es mir nicht gelang, rollte ich über die gepolsterte Kante des Lagers ab. Wille wies mit der Hand auf das
freie Gestell neben sich. Er nickte anerkennend, nachdem ich fachge recht zwischen den Gestängen Platz genommen hatte. Wir saßen uns gegenüber. Aus der Nähe sah ich, daß das Weiße in seinen Augen gelb lich schimmerte und sein Gesicht und sein magerer Hals von einem fei nen Faltennetz überzogen waren. »Selbstdisziplin und Härte sind vonnöten, um PROMETHEUS zu er tragen«, belehrte er mich. »Auch wenn Sie nur als Beobachter zu uns gekommen sind.« »Ich bin gekommen, um hier unten herumzuschnüffeln«, sagte ich im lässigen Tonfall Willes. »Nur zu. Muß auch sein. Manchmal geht’s hier tatsächlich drunter und drüber, haben wir Verluste, auch unter der Besatzung. Einmal schickte man uns einen Inspekteur auf die Plattform. Halbtot ist er wieder abge flogen. Es läge in der Natur der Sache, daß Verluste auftreten, resümierte er. Das hätte ich denen auch sagen können. – Nun, ich hoffe, daß Sie nicht wegen ein paar lumpiger Aufzeichnungen in die Knie gehen.« Er blickte mich aus seinen hervorquellenden Augen neugierig an. Er gab sich aber keine Mühe, etwas aus mir herauszuholen. »Gut, Claire«, meinte er schließlich, »ich verschreibe Ihnen einen Pilo ten, der mit allen Wassern gewaschen ist. Er ist durch alle Siebe ge schlüpft und hat alle Prüfungen absolviert. Folglich muß er etwas taugen. Ich halte Pauls für einen der besten MEWACON-Jäger. Außerdem stammt der Vorschlag von Abele.« »Abele kümmert sich um solche Einzelheiten?« Ich mußte lachen. Wollte man mir vom ersten Tage an einen Aufseher verpassen? Ein er fahrener Pilot wäre da schon geeignet. »Details können auf PROMETHEUS lebenswichtig werden. Ich rate Ihnen, halten Sie sich an Pauls. Tun Sie, was er sagt. Und nehmen Sie sich in Zukunft vor der Droge in acht.« Wille nickte kurz. Dann setzte er ein sparsames Abschiedslächeln auf. Wille hatte mit seinem Elektrogestell den Raum gerade verlassen, da hangelte ich mich schon, ächzend wie ein alter Mann, an der hüfthohen Gummibettkante und weiter am Griffstangenband entlang zum Display. Wozu besaß ich den Informationskristall des Ministeriums! Ich legte die
flache Schachtel des Speichers in die Vertiefung der Dateneingabe und tippte Wille ein. Er hatte einen Kurs für Sanitäter besucht. Mehr nicht. Daß man sich auf der Plattform einen Arzt nicht leisten würde, hätte ich mir denken können. Ansonsten war Wille einer der Plattformingenieure, die im Wechsel die Einsätze im Jupiter leiteten.
4 Die Treibmarken – man nannte sie auf der Plattform Köder – waren vor drei Stunden in der Nähe der PROMETHEUS abgeworfen worden. Ein unbemanntes Schiff, das von GALILEI aus gestartet war, hatte sie aus geklinkt. Die Körper der Treibmarken waren aerodynamisch geformt, und ihr Flug wurde von vier kräftigen Flossen stabilisiert. Nach dem Ausklinken sanken die zentnerschweren Köder auf Arbeits tiefe ab. Diese Ebene lag weit unterhalb der Jupiterwolken. Ihr Pro gramm sah vor, dort unten herumzuschweben und mit den MEWA CONS zu »wechselwirken«, wie es im wissenschaftlichen Sprachge brauch hieß. Eine bestimmte Anzahl der Köder wurde von den zu ja genden Objekten angenommen. Ein kleiner Neutrinosender begann in diesen Fällen Impulse auszustrahlen, so daß die Objekte für Jagdmann schaften und Beobachtungscomputer markiert waren. Die Jagd auf MEWACONS hatte also begonnen. Jetzt saßen ein halb Dutzend Piloten einsatzbereit in ihren Roll- und Gleitstühlen. Ich klebte an Pauls’ Seite und beobachtete wie er die Computerkarte, die von der gewölbten Decke der Flugleitsektion herabhing. Im Schirm leuchteten verschiedenfarbige Markensymbole. Zeichen und zu den Marken gehörende Linien wurden immerfort eingeblendet. Ein dreidi mensionales Netz von Plankuben erleichterte die Orientierung auf der Karte. Die für die Jagd am besten geeigneten MEWACONS bewegten sich zu den Wolken hinauf. Aber es waren auch schwierige Fälle unter den Ob jekten, so die Nummern drei und sieben. Sie hatten komplizierte Bahnen durchflogen, im Trend durchaus aufwärts, aber es waren schubweise horizontale Bewegungsabläufe eingelagert. Ich entnahm den Gesprä chen, daß keiner der Piloten diese schwierigen Fälle gern übernehmen wollte. Es gab auch sinkende Objekte, die ohne viel Federlesen von der Liste gestrichen wurden, weil sie sich in Tiefen verloren, die kein Schiff mehr erreichen konnte. Einer der Dialogschirme zur Station GALILEI erhellte sich, und Pro fessor Abeles massiger Kopf tauchte auf. Er hatte ein breites, markantes
Gesicht mit hervorspringendem Kinn und strähniges, schwarzes Haar. Aus sicherer Entfernung warf er forsche Blicke in unsere Runde, gab einige Ratschläge und erkundigte sich auch nach meinem Befinden. Dann erteilte er den Einsatzbefehl. Wille richtete sich auf. »Die erste Staffel: Scheller übernimmt MEWA CON zwei. Drupadante die Sieben. Pauls und Claire, ihr fliegt zur Acht.« Wir fuhren zu seinem Leitpult und nahmen den Codestecker für unser Jagdschiff in Empfang. Wille erhob mahnend einen Finger. Ich wußte, er meinte die Drogen. Ehe wir zu den Ankerplätzen am langen Ende des Plattformstranges aufbrachen, blieben wir noch einmal vor der Compu terkarte stehen. »Die Acht ist nicht übel«, sagte Pauls und rieb sich die Hände. Regentropfen perlten über die Sehschlitze aus Quarz, funkelten im Scheinwerferlicht. Ich lag neben Pauls auf einem nachgiebigen Mattenge stell, von der Schwerkraft wie angenagelt. In einer Spiegelleiste über mir sah ich seinen Kopf mit dem hufeisenförmigen Haarkranz und der Vo gelnase. Pauls’ Finger wartete vor der Taste mit dem Ankersymbol. Er grinste. »Noch kannst du aussteigen«, sagte er und weidete sich an mei nem verstörten Blick. Augenblicke später sahen wir von der kilometerlangen PROME THEUS nur noch einen verblassenden Balken. Dann schien es mir, als könnte ich einen diffusen Schein wahrnehmen, graues Licht, das durch die Atmosphäre sickerte, der trübe Rest des Sonnentages jenseits der Wolken. Wir sackten durch, antriebslos. Die Geschwindigkeit pegelte sich rasch ein. Der Druck betrug an die hundert bar und lief immer schneller hoch. Das Gas der Jupiteratmosphäre wurde heißer, dichter, eine schwarze zähe Suppe. Ein Heulen drang in unsere Kabine, das nach dem Zünden der Triebwerke in Dröhnen überging. Langsam wurde unsere Flugbahn flacher. Die zu den Geschützen spitz zulaufende Nase des Jagdschiffes visierte unser Objekt an: MEWACON M 8. Auf dem Radarschirm blinkerte das Telemetriesignal, das der Köder uns lieferte.
»Wenn du genau hinsiehst«, sagte Pauls, »erkennst du außerdem flä chenhafte Radarreflexe, die von großräumigen MEWA-Feldern herrüh ren.« Ich konzentrierte mich auf den Radarschirm und sah jetzt auch die Schlieren, die den Schirm durchzogen. »Vor kurzem noch haben wir uns mit diesem feinverteilten metalli schen Wasserstoff begnügt, haben wir dieses Zeug mit unseren Fabrik schiffen zusammengekratzt. Vorn am Schiff hing ein monströser Staub sauger. Pro Schiff förderten wir eine Tonne MEWA täglich. Ein Einsatz dauerte Wochen.« »Schwere Zeiten!« ermunterte ich ihn. »Heute hängen mit einem Mal … zig Tonnen MEWA am Haken«, sag te Pauls. »Du wirst es dann erleben. – Trotzdem ist die Arbeit gefährli cher geworden.« Ich starrte auf den sich langsam vergrößernden Bildfleck, in dessen Zentrum das Telemetriesignal des Köders pulsierte. »Das Objekt ist kugelförmig. Das ist gut«, sagte Pauls zufrieden. »Was soll daran gut sein?« » … Erfahrungswerte. Erklären kann ich es nicht. Aber frage die ande ren Piloten. Sie werden mir zustimmen.« »Die reinste Empirie!« sagte ich entrüstet. Pauls warf mir über die Spiegelleiste einen unfreundlichen Blick zu und widmete sich dem Bildschirm. Ich akzeptierte sein Schweigen. Für end lose Diskussionen war jetzt nicht die Zeit. Und schließlich hatte ich er wartet, hier unten auf rätselhafte Erscheinungen zu stoßen. Andererseits wurde ich das Gefühl nicht los, daß Pauls nicht alles sagte. Hatte er sich nicht eben um eine Erklärung herumgemogelt? Oder war er nur mißtrau isch? Oft genug hatte ich Menschen getroffen, die Berichterstattern arg wöhnisch begegneten. In sicherer Entfernung zu M 8 gingen wir in Warteposition. Das Ob jekt füllte den Bildraum. Es rotierte schwerfällig. Seine Hülle schien un versehrt und war bis auf einen äquatorialen Streifen strukturlos. »Objekt zeigt keine bedenklichen Reaktionen«, meldete Pauls. »Masse etwa fünf zehn Tonnen. Entfernung dreihundert Meter.«
»Gut, Phil«, antwortete Wille, »erteile dir Genehmigung für Probe schuß.« Pauls flüsterte, daß wir gleich mehr wüßten. Ein Lächeln, von der Schwerkraft verzerrt, entstellte sein Gesicht. Ich wußte nicht, was in ihm vorging. Er zögerte und setzte den Jäger um einige Längen zurück. Dann gab er den Probeschuß ab. Die Granate riß ein Loch in den Körper des MEWACONS. Das kugelförmige Objekt reagierte nicht. Unverändert wälzte es sich um sich selbst herum und stieg langsam aufwärts. Es hinterließ unter sich eine spiralige Schleppe einer Substanz, die aus dem Einschuß auslief und sich weiter entfernt wie Rauch auflöste. Pauls hatte offenbar nichts anderes erwartet. Ich dachte an eine Wun de, an Blut. Helles, grünes Blut erfüllte den Schirm. Das Neutrinosignal des Köders zuckte im Bild wie ein schlagendes Herz. »Was für eine Granate war das?« erkundigte ich mich. »Ein Reizprojektil mittlerer Stärke.« »Und worauf beruht seine Wirkung?« »Frage mich nicht nach Einzelheiten!« lenkte er ab. »Aber Phil, du mußt doch wissen, was für Reagenzien da hineinge schossen werden!« Ich vermutete, daß er wieder nicht mit der Sprache herausrücken wollte. »Die Geschützmagazine sind mit Explosiv-, Reiz- und Markierungs granaten bestückt«, sagte Pauls, nun gleichfalls aufgebracht. »Sie werden in den Laboratorien Abeles hergestellt, und wenn du dich nach deren Beschaffenheit erkundigst, bekommst du eine dumme Antwort. Mit dem Reizschuß jedenfalls prüfen wir, ob in den Viechern noch ein Fünkchen Leben steckt.« »Leben?« fragte ich. Wir hatten uns dem MEWACON wieder genähert. Der grüne, wallende Nebel, der immer noch aus dem Einschußkanal floß, überflutete den Radarschirm. Wir drifteten in der Tiefenströmung des Großen Roten Flecks. Über uns schwamm das Objekt. Die Steuerung des Jagdschiffes
hielt auf konstanten Abstand. »Es dehnt sich aus wie ein aufsteigender Ballon«, erklärte Pauls. »Und platzt?« »Irgendwann platzen einige Kammern. Das Ding verliert an Auftrieb und verschwindet auf Nimmerwiedersehen in der Tiefe. – Es wird Zeit, daß sie uns die Erlaubnis zum Harpunieren erteilen, sonst verpassen wir noch den geeigneten Augenblick.« »Aber es schwebt doch nicht nur infolge seines Auftriebs in der Atmo sphäre?« »Schlauberger«, sagte Pauls. Er hantierte an der Harpunenzieleinrich tung. »Natürlich haben die MEWACONS ein zweites Auftriebssystem parat. Sie reiten auf den Magnetfeldern des Jupiters. Sie benutzen dazu den metallischen Wasserstoff auf dieselbe Weise, wie wir ihn auch ver wenden: Supraleitung, Magnetfelder. Auf Magnetkissen ruhn sie aus. Mit Hilfe magnetischer Schirme segeln sie durch ihre Welt. Und das funktio niert so glänzend, weil das tragende Magnetfeld des Jupiters um so vieles stärker ist als das der Erde.« Pauls bewegte die Zieleinrichtung der Harpune hin und her. »Ich weiß nicht«, sagte er, »wer sich diese Raffinessen ausgedacht hat. Bewun dernswert, was diese Objekte leisten. Nimm zum Beispiel den aktiven Hitzeschutz, der in einer wenige Zentimeter starken Außenhülle realisiert wird. In den Labors auf GANYMED wird das Verfahren bereits kopiert. Die nächste Generation der Jagdschiffe wird mit diesem Hitzeschild versehen werden.« Ich drückte wie Pauls ein Kraftbonbon aus der Folie und ließ es in der Wangentasche zergehen. »Man redet von Tieren und solchem Kram«, sagte er. »Andere wiederum spinnen etwas von hochge züchteten Maschinen zusammen. Offiziell sind es strukturierte Objekte, die sich nach der Hagelkorntheorie bilden.« »Und was glaubst du, was sie sind, diese MEWACONS? Du könntest dir doch ein Urteil erlauben!« »Glauben …«, wiederholte er gedehnt. »Alle diese Hypothesen interes sieren mich nicht sonderlich. Ich weiß, daß die MEWACONS gefährlich sind. Sie sind unberechenbar. Mich kümmert, wie ich die MEWACONS erlege und wie ich sie und mich und dich nach oben bringe.«
Das Flugleitdeck auf PROMETHEUS erteilte den Befehl zum Harpu nieren. Pauls schoß. Es ging alles sehr schnell. Die Trosse straffte sich, und M 8 hing an unserem Schiff. Pauls flog mit voller Kraft einen Bo gen, bis wir uns über dem MEWACON befanden. Schlagartig wurde die Sicht auf dem Schirm besser. Ich sah deutlich die pendelnde Trosse, die unseren Jäger zum Schlingern brachte, und das sich immer noch drehen de Objekt. Nach wie vor quollen Wolken aus den Einschüssen. Die Hitze der Jupiteratmosphäre sickerte durch die Wandungen der Kabine. Der Schweiß brannte in den Augen. Ich fühlte mich ausgelaugt. Aber mit einer gewissen Genugtuung betrachtete ich die Beute, die wir hinter uns herzogen. Pauls hatte die Pause genutzt und machte ein Nickerchen. Sein Kinn war heruntergeklappt. Ein fettiger Film überzog seine Gesichtshaut. Es war für ihn ein schweres Stück Arbeit gewesen, die Beute bis zur Plattform zu bugsieren. Jeder Handgriff, und sei es nur das Berühren eines Tasten symbols auf der Gerätekonsole, war qualvoll gewesen. Jedes Rucken des tonnenschweren Objekts an der Trosse, jeder Beschleunigungsschub hatten Schmerz bedeutet. Er lag halbnackt neben mir im Cockpit. Sein Körper war schlank und zäh wie der eines Marathonläufers – das Produkt von Schwerkraft, Dro gen, Training und vielleicht Veranlagung. Ich blickte nach draußen. Über uns tobte ein Gewitter. Ununterbro chen zuckten Lightnings auf. Ein Grollen erfüllte unsere Kabine. Der Jäger, der an der PROMETHEUS ankerte, schwang fühlbar auf und nieder. Während Pauls schlief, studierte ich die Computerkarte, die wir vom Leitstand der Plattform übernommen hatten. Es waren neue Objekte hinzugekommen. Ich tippte darauf, daß man uns M 11 als zweites Ziel zuweisen würde. Mit halber Aufmerksamkeit verfolgte ich die Gespräche auf der Kommunikationswelle, die ständig mitlief. Drupadante führte einen aufgeregten Dialog mit der Zentrale. Offenbar hatte sein MEWA CON den Probeschuß abgewehrt. Ich drehte die Lautstärke höher. Pauls erwachte.
»Habe neue Schußposition erreicht«, sagte Drupadante.
»Empfehle dir, zu warten und M drei zu beobachten«, rief der Sprecher
auf PROMETHEUS. »Erbitte zweiten Schuß!« drängte Drupadante. »Erteilt!« rief Stationschef Wille. Er hatte jetzt das Kommando über nommen. »Ich schicke dir einen Jäger zur Unterstützung!« »Pauls! Macht euch fertig und fliegt nach M drei!« befahl Wille. »Sind bereits unterwegs!« antwortete Pauls und tippte die Startbefehle ein. »Tut mir leid, Pauls«, begründete Wille seinen Befehl, »aber Scheller hat etwas am Haken, und die Piloten der zweiten Staffel sind zeitlich weiter als ihr vom Inder entfernt. Andererseits wollen wir M drei mal nicht vor schnell sausen lassen. Es sind immerhin fünfundvierzig Tonnen MEWA, die auf dem Spiel stehen.« Wieder stürzten wir in die bodenlose Tiefe des Gasozeans. Freier Fall. Ich mußte mich übergeben. Pauls konnte sich ein Grinsen nicht verknei fen. Erst allmählich gewann der Druck der Jupiterschwerkraft wieder die Oberhand. Nachdem wir bis auf die Hälfte des Weges herangekommen waren, meldete der Inder aufgeregt, daß er den zweiten Schuß ins Ziel gebracht hatte. Das Objekt würde zwar eine geringe Reizwirkung zeigen, er jedoch bitte um die Erlaubnis zum Harpunieren. »Entscheide nach eigenem Ermessen!« sagte Wille unentschlossen! »Empfehle dir, auf Distanz zu gehen.« »An seiner Stelle würde ich abhauen«, murmelte Pauls. »M drei sinkt, wenn auch nur geringfügig. Der Druck dort unten liegt bei zwölfhundert bar, so daß er kaum noch Spielraum nach unten hat. Allein dieser Fakt würde mir zum Aufgeben genügen.« Pauls studierte die Computerkarte. »Ziemlich viel Betrieb in deiner Nähe! Sei vorsichtig!« sagte er, direkt an den Inder gewandt. Der Inder schnalzte mit der Zunge. »M drei hängt bereits am Haken – melde gehorsamst!«
Wir waren inzwischen so nahe an seinen Standort herangeflogen, daß die elliptische Kontur von M 3 und auch das Jagdschiff des Inders auf unserem Fernradar zu sehen waren. An die zehn nichtmarkierte Objekte schwebten durch das matte Dunkel des Schirms. Es waren langgestreck te, grünschimmernde Schatten, die scheinbar ziellos herumschwammen. Pauls unterbrach die Sprechverbindung zur gemeinsamen Kommuni kationswelle. »Er weiß selbst, daß er sich in einer ziemlich unklaren Si tuation befindet. Ich nehme an, er ist gierig auf die Abschußprämie. Ver ständlich, bei den fünfundvierzig Tonnen, die an seiner Trosse hängen. Das lockt. Jeder will den großen Erfolg. Nach zehn Abschüssen bist du ein gemachter Mann. Hast du fünfzig erlegt, bist du ein Held! – Aber wehe, du begehst da unten einmal einen Fehler.« Ich starrte in den Schirm. Massige, nichtmarkierte Objekte trieben durch das Bild. Warum schoß man nicht darauf? Ich wußte auch nicht, worin das Besorgniserregende der Situation denn lag, in der sich der In der befand. Die Anzeigen an der Gerätekonsole waren wohl eher ein Grund zur Beunruhigung. Die Ziffern waren fetter geworden. Sie blin kerten. 1 100 bar. Ein Druck, der am Grund des Mariannengrabens herrschte. Und das bei Temperaturen leichter Rotglut. Unerwartet schaltete sich Professor Abele in den Funkverkehr ein. »Befehl an Jäger zwei: Sofort stoppen!« Pauls war zusammengefahren, führte dann aber ohne Erwiderung den Befehl aus. Er fing den Jäger in einer engen Kurve ab und schaltete auf Antischwerkraftschweben. »Auf keinen Fall näher an Drupadante heranfliegen!« wiederholte Abe le. Über dem harpunierten MEWACON hatten sich vier langgestreckte Objekte zusammengezogen. Ihre Annäherung war unmerklich vor sich gegangen. Plötzlich waren sie da und kreisten über dem Schiff des In ders. Einen halben Kilometer über ihm langgestreckte riesige MEWA CONS. Und weitere Objekte schwammen auf die Szene zu. »Was soll ich tun?« fragte der Inder kopflos. »Bewahren Sie die Ruhe!« herrschte Abele ihn an. »Lassen Sie die Tros se locker hängen, so daß Sie beweglicher sind.«
Der Inder begann von sich aus, auf die Objekte zu schießen, die sich ihm weiter genähert hatten und ihn langsam umkreisten. Wie grüne Speere huschten die abgefeuerten Granaten über unseren Schirm und explodierten als leuchtender Ring in einiger Entfernung der Objekte. »Du zielst genau«, sagte Pauls leise, »und trotzdem triffst du sonstwo hin. Diese Viecher sind wahrscheinlich von einem Kraftfeld umgeben, das die Granaten ablenkt. Totale Reflexion. Eine Wirkung ist bei denen aber nur zu erreichen, wenn das Geschoß im Innern der Körper explo diert.« Die vier mächtigen MEWACONS, die den Inder bedrängten, waren um ein mehrfaches größer als sein Jagdschiff. Sie schwammen aufeinan der zu, als wollten sie das Objekt M 3 und das Schiff zusammen in ihre Mitte nehmen. Der Inder begann zu fluchen. Er schoß weiter um sich und wechselte wahllos die Art der Munition. Wie Pauls vorhergesehen hatte, blieb seine Schießerei ohne jeden Erfolg. »Die MEWACONS haben ihn in die Zange genommen«, sagte Abele, obwohl Drupadante mithörte. »Die Winkel und die Abstände zwischen den MEWACONS sind gleich. Ich nehme an, daß wir hier eine stabile Struktur dieser Objekte vor uns haben, eine Superstruktur.« Pauls blickte mißbilligend zu mir herüber. Die merkwürdigen, besorgniserregenden Ereignisse nahmen kein En de. Vier weitere mächtige MEWACONS schwammen auf den Tetra ederkäfig zu und lagerten sich an. Sie bildeten einen zweiten Käfig, der den ersten verstärkte. Der Inder hatte aufgehört, um sich zu schießen. Er gab keinen Laut von sich. Er hatte wohl begriffen, daß es keine Chance gab, zu entkom men, falls diese überraschend aufgebaute Struktur ihm galt. Und die Struktur galt ihm. Der Inder war isoliert, eingekreist, einge keilt. Zweimal hatte er die Triebwerke eingeschaltet, ohne daß er sich aus dem Käfig befreien konnte. Irgendeine Katastrophe lag in der Luft. Auf der Kommunikationswelle herrschte bedrückendes Schweigen. Dann wanderte das harpunierte MEWACON langsam aus dem Käfig heraus. Die Trosse straffte sich. Wir hielten den Atem an. Es schien, als könnte der Jäger nun gleichfalls diesen Raum verlassen, den die acht
mächtigen Körper gebildet hatten, doch das Tor, durch welches das MEWACON geschlüpft war, hatte sich bereits wieder geschlossen. Augenblicke später war das Kräftemessen entschieden. Der keramische Außenpanzer zersprang, und die heiße Jupiteratmosphäre umspülte die nun schutzlose Kabine. Jetzt konnte keiner mehr helfen. Drupadante stammelte unsinnige Befehle. Es war ein Wunder, daß wir ihn überhaupt noch hören konnten. Ein klirrendes Geräusch war das letzte, was uns sein Sender übermittelte. Im Bruchteil einer Sekunde war seine Kabine wie eine implodierende Vakuumröhre zersplittert. Endlich erhielten wir den Auftauchbefehl. Wir stiegen langsam höher. Das Wrack des Jagdschiffes verschwamm in der Ferne zu einem hellen Fleck. Und auch der langsam rotierende grüne Kristall verblaßte, den die rätselhaften Objekte aufgebaut hatten. »Es war ein Versuch gewesen«, sagte Abele, als müßte er sich für den katastrophalen Ausgang des Geschehens entschuldigen. »Drupadante wollte sich von M drei aus dem Gitter ziehen lassen. Auch wenn er die Trosse gekappt hätte, wäre er nicht aus der Klammerung herausgekom men. Das sind eben die Risiken, mit denen wir …« Pauls schaltete den Empfänger ab. »Ich mag das jetzt nicht hören«, sag te er. Die Jagd ging weiter. Der metallische Wasserstoff war viel zu kostbar, durch nichts zu ersetzen. Der Bau der Fusionskraftwerke verschlang diesen Stoff gleich hunderttonnenweise. Wille hatte uns M 11 zugewie sen. Pauls studierte sorgfältig die Bahn des Objekts in der Computerkar te. Nach der Art und Weise, wie es aus der Tiefe des Jupiters emporge stiegen war, dürften wir bei der Jagd kaum Probleme haben. Aber konn ten wir wissen, ob diese Erfahrungswerte jetzt noch Gültigkeit besaßen? »Also los«, sagte Pauls, »knöpfen wir uns die reizende Beute mal vor.« Er lachte. Griesgrämig öffnete sich sein Mund. Seine Augen blickten weinerlich. Es war das typische »Schwerkraftlachen«, das die Gesichter hier unten verzerrte. Und wieder tauchten wir in die Tiefe des Großen Roten Flecks hinab und belauerten eines dieser rätselhaften, einzelgängerischen Objekte, beschossen wir es mit einer Reizgranate und beobachteten es aus siche rer Entfernung. Aus dem Einschuß quollen Wolken aus flüssigem ME
WA. Abermals verankerte Pauls die Trosse im Leib des MEWACONS und zog den sich gemächlich drehenden tonnenschweren Körper zur Plattform herauf. Pauls arbeitete verbissen. Anfangs erklärte er mir alles, was er tat. Aber das Reden fiel ihm allmählich schwerer. Nach einer Nahrungsaufnahme – sie war nicht viel mehr als ein schmerzhafter technischer Vorgang, in dessen Verlauf ein bleischwerer Brei durch die Kehle drang – schwieg er vollends. Mehrmals schlief ich ein. Dann verfolgte mich die Jagd bis in meine Träume. Ich sah mich in einem zerbrechlichen Boot stehen. Die See war bewegt. Neben uns schwamm ein mächtiger plumper Fisch. Ich stand auf einer seitwärts überhängenden Plattform des Bootes. Pauls reichte mir unablässig Harpunen zu, die ich in den Körper des Tieres schleuder te. Aus den Wunden des Tieres schossen grüne Fontänen in den Him mel. Und es schien mir selbstverständlich zu sein, daß sich die schweren flächigen Sterne im Himmelsraum zu tetraedrischen Gebilden zusam mengeschlossen hatten.
5 Ich hatte mich eingelebt. Ich konnte mit dem multiplen Fahrstuhl umge hen und hatte bald die richtige Dosierung der schmerzausschaltenden Droge in den Griff bekommen. Auch wenn ich mich die meiste Zeit sehr elend fühlte, war ich mir wenigstens gewiß, die Strapazen auf PROMETHEUS zu überstehen. An Pauls’ Seite hatte ich an weiteren zwei Jagden teilgenommen. Glücklicherweise gab es bei diesen Einsätzen keine derartig tragischen Vorkommnisse wie im Fall Drupadante. Zwei Wochen waren vergangen, und die Piloten betrachteten mich mittlerweile als einen ihresgleichen. Ich paßte mich an das Milieu vor Ort immer besser an. Auch ließ ich mich von der jungenhaften Schnoddrigkeit der Besatzung anstecken. Wer von den Piloten und Technikern war denn schon über fünfund zwanzig! Trotzdem begann mein Sinnen und Trachten sich unter der Schwer kraft, unter der ständigen Einwirkung von Hitze und drohenden Gefah ren auf das Überleben zu reduzieren. Ich hatte das Gefühl, langsam zu verrohen. Während meine physischen Kräfte von Tag zu Tag zunahmen, schrumpfte mein geistiger Horizont. Ich sah zwar eine neue, brutale Wirklichkeit, ich sah zwar, daß alles ganz anders war, als ich es bisher gewußt hatte, aber ich konnte dieses Anderssein nicht begreifen. Da wa ren auch die oberflächlichen Berichte der Piloten, die mich verwirrten, Berichte, in denen sie sich brüsteten, die schwierigste Beute aufgebracht zu haben. Sie machten kein Hehl daraus, daß sie einige der Objekte für ausgekochte Bestien und Killer-MEWACONS hielten. Vor allem aber ging mir Drupadantes Kampf gegen die geordnete Übermacht der acht MEWACONS ständig im Kopf herum und brachte mich durcheinander. Ich gierte nach Ablenkung. Als Pauls mich eines Tages fragte, ob ich mit ihm eine Partie Fantasy spielen würde, stimmte ich sofort zu. Wir rollten auf unseren Fahrstühlen in den Freizeitraum der PROME THEUS, in dem sich fast alle Piloten und einige Techniker des Kontroll zentrums aufhielten. Sie lebten schon Wochen länger als ich auf der Plattform, und man sah es ihnen auch an: Es waren abgerissene Gestal
ten, die da herumlungerten. Ihre Haut war gelb und ausgetrocknet, ihr Blick müde, gequält. Sie waren reif, abgelöst zu werden. Aber ein Einsatz auf PROMETHEUS rentierte sich erst dann, wenn sich die Piloten län gere Zeit auf Station aufhielten. Erst dann hatten sich ihre Körper auf die extremen Bedingungen eingestellt. Fantasy war ursprünglich für Kinder entwickelt worden. Gewiefte Computer-Programmierer hatten es bald zu einem faszinierenden Spiel für Erwachsene erweitert. Der Witz des Spiels war, daß Elemente der Handlung und des Umfeldes gewisse Freiheitsgrade aufwiesen und von beiden Parteien beeinflußbar waren. Nach jedem Befehl eines Spielers änderte sich in der Pseudorealität des Monitors das gesamte Geschehen, und nach einiger Übung war man in der Lage, spannende Kämpfe zu inszenieren. Wir saßen uns gegenüber. Vor uns breitete sich das variable dreidimen sionale Feld des Monitors aus. Ich schaute aus der Vogelperspektive auf die stürmische Oberfläche eines Ozeans, die Pauls vorgewählt hatte. »Was wollen wir denn spielen?« fragte ich ihn. Pauls ließ vom Rechner einige altertümliche Schlachtschiffe auf den Ozean setzen. Er hatte es also auf ein Match zu Wasser abgesehen. Alarm. Ich fuhr aus dem Schlaf hoch. »Ein Leck!« sagte Pauls, nachdem er sich das Signal nochmals angehört hatte. Der Monitor in unserer Unterkunft hellte auf. »Ein Leck im Verarbei tungskomplex«, sagte Wille ruhig. Dann grinste er. »Claire wollte ja schon immer mal einen Blick in diese Sektion werfen. Jetzt habt ihr die Gelegenheit dazu.« »Druckabfall?« erkundigte sich Pauls. »Bislang gering. Wir haben auch nur Spuren von Wasserstoff festge stellt.« Wir rollten zum Transportschacht. Das Leitsystem dirigierte uns schnell zu den fernab liegenden Sektionen. Vor den Schleusen des Ver arbeitungskomplexes überprüften wir unsere Skaphander. Wir besprüh
ten uns mit einer übelriechenden Flüssigkeit. Ich schnupperte, aber mein Anzug war dicht. Das Leck war schnell gefunden. Wir entdeckten es im elastischen Balg, der zwei starre Plattformelemente miteinander verband. Es war mit den Augen kaum zu erkennen. Die eigentliche Gefahr bestand auch nicht im Entweichen von Atemluft, sondern in einem Eindringen von Wasser stoff aus der Jupiteratmosphäre, was im Extremfall zur Knallgasexplosi on führen könnte. Während Pauls auf den undichten Balg die Schutzschichten aufspritzte, schaute ich mich um. Durch den zylindrischen Raum lief kreuz und quer ein Rohrleitungssystem, dessen Verworrenheit durch vier ordnende Farbanstriche gemildert wurde. Zwischen den beiden Verkehrstunneln, die aus dem Fußboden herausragten, waren Druckgefäße, Kugeltanks und Wannen aufgestellt. Einige Behälter waren mit Klarsichthauben ab gedeckt. Der Raum war mit schmatzenden und gurgelnden Geräuschen angefüllt. Ich beugte mich über einen Trog. Durch die rotierende Wanne glitschte MEWA. Ich schaltete einen großflächigen Bildschirm ein. Unmittelbar unter der schmalen Scheibe einer Antigravitationskammer, von einem Kranz brei ter Krallen gehalten, hing ein bereits zu einem Drittel verarbeitetes MEWACON. Mehrere dünne Schläuche bewegten sich konvulsivisch zuckend über den noch übriggebliebenen Teil des massigen Körpers. Ich löschte das Bild. Dann sah ich mich in der Verarbeitungshalle um. Ich orientierte mich an den Etiketts, die an den Ventilen und Behältern angebracht waren. Später übernahm Pauls die Führung. Er lehnte in seinem Stuhl, und sein Blick fungierte als Zeigestock. »Rot – Sammler.« Kopfnickend schaute er auf das nächste Gefäß. »Zentrifuge …, Abscheider eins und zwei sowie Vor- und Hauptwaschgang, wieder Sammler … Schließlich Kloake.« Er machte eine Grimasse und blickte danach wieder gelangweilt und müde zu den Dingen hin, die er gerade erklärte. »Was uns an den MEWA CONS nicht interessiert, kippen wir an Ort und Stelle wieder hinaus. – Mehr ist dann hier wirklich nicht zu sehen. Die außenbords liegenden Tanks vielleicht noch. Sind sie gefüllt, werden sie von der Station AT LAS aus abgeholt.«
Pauls fiel nach seiner Führung in Lethargie. Ich ließ ihn in Ruhe und fuhr noch einmal durch den Verarbeitungskomplex. Vor einem Reaktor gefäß mit dem Schild »MEWA flüssig« blieb ich stehen und schaute nachdenklich in die fad-grüne kreisende Flüssigkeit. Ein Pfeil machte mich auf eine Besonderheit aufmerksam: Probenentnahme. Ich entnahm ein Röhrchen voll »MEWA flüssig« und, an anderer Stelle, auch »MEWA fest«. Diese zweite Modifikation des metallischen Wasserstoffs, gleich wertvoll und gleichermaßen supraleitend, wirbelte ebenfalls in einem Behältnis unter einer durchsichtigen Haube im Kreis herum. Schließlich fuhr ich zur Kloake, um auch dort eine Probe zu entnehmen. »Was erwartest du noch für Geheimnisse zu finden?« fragte Pauls. »Das ist ein Stoff, den bereits die halbe Welt eingesetzt hat und der schon viele tausend Male analysiert worden ist. Außerdem könntest du Schwierigkeiten bekommen, wenn man bei dir MEWA finden würde. Man könnte das als Entwendung internationalen Eigentums auslegen. MEWA ist um etliches teurer als Gold!« Ich legte die MEWA-Patronen zurück, behielt allerdings die Kloaken probe. »Fertig?« fragte Pauls müde. Sein Gesicht war spitz und eingefallen. Ein Wunder war es nicht, diese Auszehrung nach wochenlangem Auf enthalt auf PROMETHEUS. Nun, in zwei Tagen kam die Ablösung, und auch ich würde die Plattform verlassen. Ich hing in meinem Universalgestell, von Gurten und Riemen gehalten und von Rohrgestängen gestützt. Ich überwand meinen Ekel und schal tete noch einmal den Bildschirm ein. Die Verarbeitung des MEWA CONS war fortgeschritten. Radial verlaufende Strukturen machten neu gierig auf ein Zentrum, das jedoch von den Bewegungen der Schläuche verdeckt und von den an der Oberfläche zurückbleibenden Saugkratern bis zur Unkenntlichkeit zerstört wurde. Ich hatte ein solches Zentrum allerdings schon auf Filmaufnahmen gesehen: Es war MEWA, wiederum MEWA, kompakt wie der Kern einer Frucht. Die sonst vorhandenen Hohlräume fehlten. Aber hatte das wirklich etwas zu bedeuten? Nach dem Schlachtfeld hatte ich also das Schlachthaus gesehen. Hatte ich etwas anderes erwartet? Das große, vorwurfsvoll blickende Auge
eines sterbenden Tieres vielleicht? Oder eine exotische Struktur, die mir überraschend das Wesen der MEWACONS enthüllte? Die MEWACONS wanderten also in die Fässer. Es war banal. Ich er stickte an Eindrücken, hatte aber nichts Wesentliches zu wissen bekom men. Ich hoffte, daß ich auf GALILEI mehr erfahren würde. Dort liefen alle Fäden zusammen. Dort gab es exzellent ausstaffierte Labors, waren die Experten versammelt. Und wenn ich Glück hatte, kam ich an Larson heran. Larson und sein Pilot Gray waren die einzigen Menschen, die unmittelbaren Kontakt zu einem MEWACON gehabt hatten. Gray war tot. So gesehen wäre es ein logischer Schritt, mich an Larson heranzu machen. Wille meinte, daß der gar. nicht so krank wäre, wie es in der Öffentlichkeit behauptet wurde. »Fertig?« mahnte mich Pauls zum Aufbruch. »Ja, ja, Phil!« rief ich ihm zu. »Und dann spielen wir noch eine Partie Fantasy!« Ich sah, daß er auf lebte.
6 Ganymed, der größte Mond des Jupiters, ein Mond aus Eis. Ich stand neben Pauls im Kommandoraum der wuchtigen Jupiterfähre, die uns von der Plattform ATLAS ausgeflogen hatte. Wir blickten über das Eis feld des erleuchteten Hafengeländes. Bis an die flachen Hänge des Kra terwalls heran waren die Lastraketen aufgereiht, die den metallischen Wasserstoff zur Erde transportierten. Pauls rekelte sich wohlig. Ich lief von einem Bordfenster zum anderen und kostete die Leichtigkeit aus, die uns Ganymed mit seiner geringen Schwerkraft verschaffte. Neben uns auf dem Eis stand das auf dem Kopf stehende Ypsilon eines interplanetaren Transporters. Das Schiff war kurze Zeit vor uns gelandet. Menschen in Skaphandern bewegten sich schnell in Richtung der Schutzräume am Hang des Kraterwalls. »Da, sieh nur, wie sie springen!« belustigte sich Pauls. Ich hörte, daß der Hafendispatcher die Dienstreisenden zur Eile an trieb und ihnen offenbar viel zu hohe, gefährliche Außenstrahlungspegel nannte. Solche Scherze gehörten zu den Vergnügungen, die sich die Alt eingesessenen nicht nehmen ließen. Die Gestalten verschwanden in ei nem dunklen Loch in der Eiswand des Kraters. Ein Kettenfahrzeug bog in den Kessel des Hafens ein, gefolgt von mehreren schwerfälligen Fahrzeugen auf Ballonreifen. Sie stoppten vor unserer Fähre. »Fertigmachen zum Verlassen des Schiffes!« schrie Pauls in den Schacht, der zur Mannschaftskabine führte. »Hermetisierung überprüfen! Unsere Kolonne ist da!« Aus der unteren Etage drang ohrenbetäubender Lärm herauf. Bis auf den Stationssekretär Wille und zwei Techniker wurde die gesamte Besat zung von PROMETHEUS ausgewechselt. Pauls drückte noch etwas Luft zwischen die Hüllen meines Anzuges und ließ meinen Außenhelm einrasten. Aus der Kabine des Kettenfahr zeugs sprangen Männer und begannen unsere Fähre zu entladen. Vor sichtig betrat ich das Eis Ganymeds, lief prüfend einige Schritte. Dann
bückte ich mich, faßte in den Eisstaub des Mondes und ließ ihn durch die Finger rieseln. Trotz den über unserem Zielkreuz ausgelegten Wärmedämmatten war beim Landen Eis geschmolzen, das in den Unebenheiten des Hafenge ländes wieder gerann. Ich hackte mit dem Stiefelabsatz ein Loch in die Kruste einer Pfütze. Augenblicklich überzog es sich wieder mit einer frischen Haut aus Eis. Pauls winkte mich zu einem der klobigen Ballonfahrzeuge. Vom Dispatcher hatte er sich die Erlaubnis erbettelt, sofort, und nicht erst im Konvoi, mit mir loszufahren. Im grellen Gegenlicht der Hafenlampen raste er über das unebene Ge lände und bog links in eine Fahrspur ein. Abrupt verloschen die Lichter des Hafens. Die Lichtbündel, die unsere Wagenscheinwerfer in die Dun kelheit strahlten, geisterten über die Fahrbahn. Regelmäßig huschten auf die Straße gespritzte Pfeile unter uns hinweg. Die Leitstrahlen auf der Kabinenscheibe und die Fluoreszenzen der nächsten Richtungspfeile beherrschten unser Blickfeld. »Die Rima Discoursi«, sagte Pauls. »Sie führt zur Station GALILEI.« Er beschleunigte nochmals. Meine Hände lagen auf den Haltegriffen. Ich konzentrierte mich auf die graubraune, schmutzig wirkende Trasse. Es war fast alles Eis, worüber wir fuhren. Aus dem Nichts heraus goß eine Nebelbank einen Kübel Milch über die Frontscheibe des Wagens. Zum ersten Mal orientierte sich Pauls nach dem Bildschirm. Sekunden später hatten wir den Nebel bereits durchquert. »Eine seltene Erscheinung zu dieser Tageszeit«, sagte er un bekümmert, ohne sein mörderisches Tempo zu ändern. Aus der Ferne wuchs ein kaltes Leuchten auf, ein diffuser Schein. Übergangslos blendete uns eine der künstlichen Sonnen, die den Kessel der Station GALILEI in Tageslicht tauchten. »Die Zahnlücke«, erklärte Pauls. Er zeigte auf zwei Eisfelsen, an deren Rändern sich die Lichter der Station wie in Kristallglas brachen. Zwei Wächter in der Einfahrt, die die Fahrspur einengten. Trotzdem standen sie unter Naturschutz. »Vor Jahren ist darüber abgestimmt worden, ob die beiden Eissäulen stehenbleiben dürfen oder nicht.« Ein ironisches
Lächeln huschte über seine Lippen. Es war allzu klar, wie er über die Zierde der Station dachte. Er nahm die Zahnlücke mit siebzig. Tief unter uns begann sich der Kessel der Station wie ein überdimensionales Fußballstadion auszustrek ken. Die breite Rima Discoursi, der wir gefolgt waren, setzte sich da un ten fort und zerteilte den Krater in ein ungenutztes Reststück und ein wohlgeordnetes Areal. Ohne hinzusehen, beschrieb Pauls die Land schaft: tief im Hintergrund, am gegenüberliegenden Wallhang – das fla che Felsmassiv mit dem Hauptgebäude. Davor – die Radiatoren des Kraftwerks mit ihren erstarrten Libellenflügeln und die Silos aus ge schäumtem Eisbeton. Schließlich benannte Pauls die kreuz und quer angelegten Verbindungsstraßen, auf die wir uns zubewegten, spiegelnde Flächen, die wie die Lösung einer geometrischen Aufgabe anmuteten. Pauls stoppte vor dem flachen Felsen. Ich kletterte aus der Kabine und stand einen Augenblick im Freien, in Licht und Eis, in einer kalten, zeit losen Kulisse. Wenige Schritte vor mir ragte die betonierte Einfahrt wie ein Abflußrohr aus dem Felsen. In die sichtbare Front des Hauptgebäudes waren sechseckige bleigraue Spiegel eingearbeitet. Sie bildeten ein kompliziertes Muster metallischer Waben, dessen Ordnungsprinzip nur schwer zu erfassen war. Ein Bie nenhaus, kam mir in den Sinn. Ich sah Pauls nach, bis er mit seinem Bal lonfahrzeug in einer glitzernden Wolke aus Eismehl verschwunden war. Das Wecksignal holte mich aus dem Schlaf. Ich lief zum Fenster meines Appartements und betätigte die Jalousieautomatik. Der graue Filter des Fensters zerfloß, und der vom Scheinwerferlicht erleuchtete Kessel des Eiskraters blinkte ins Zimmer. Enttäuscht betätigte ich die Löschtaste. Nach dem langen Schlaf hatte ich instinktiv den Anblick der Sonne er wartet und nicht daran gedacht, daß die Nacht auf Ganymed ihre 86 Stunden dauert. Auf dem Bildschirm leuchteten noch Teile des Textes, den ich bis tief in die Nacht hinein bearbeitet hatte. Ich hatte geschrieben, gesprochen, dann wieder gestrichen und von vorn begonnen, hatte versucht, meine Erinnerungen, die mich wie Alpträume bedrückten, zu ordnen. Ich war in Gedanken wieder in die Welt der PROMETHEUS eingetaucht, hatte
Hitze und Durst, Schmerzen, Schwerkraft und die Wirkung der Drogen nacherlebt und über den rätselhaften Käfig nachgedacht, in dem Drupa dante den Tod gefunden hatte. Je länger ich mich diesen Erinnerungen überließ, um so mehr war ich davon überzeugt, daß dort ein Kampf stattgefunden hatte, eine Ausein andersetzung, bei der es vielleicht mehr um das Leben des harpunierten MEWACONS gegangen war und weniger um den Tod des Piloten Dru padante. Ich frühstückte eine Kleinigkeit. Dann setzte ich mich wieder an den Bildschirm. Aus dem Archiv von GALILEI forderte ich Material über die MEWACONS an. Ich studierte die nüchternen Beschreibungen so wie die Hypothesen, mit denen alle diese Erscheinungen erklärt wurden. Insbesondere beschäftigte ich mich mit der sogenannten Hagelkorn hypothese, die die Anlagerung von atmosphärischem MEWA an vor handene MEWA-Kerne darstellte, und erläuterte, wie sich diese Objekte dann immer weiter vergrößerten. Gerade dieses Modell war es, das die Entstehung von unbelebten MEWACONS plausibel machte und mich erneut daran zweifeln ließ, ob ich meine Erlebnisse auf PROMETHEUS richtig bewertete. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Dann fiel mir ein, den Computer nach einer vollständigen Liste der Vorfälle zwischen MEWACONS und den Jagdmannschaften zu befra gen. Eine solche Aufstellung war nicht zu erhalten. Ich fragte nach den in diesem Jahr verunglückten Piloten. »Kein freier Datenzugriff«, antwortete das Archiv. Ich sprang auf und lief wütend durch mein Appartement. Ich beschloß, mich zu beschweren und bei dieser Gelegenheit Steiner etwas auf den Zahn zu fühlen. Immerhin hatte Frau Jonas mir seine Unterstützung in Aussicht gestellt. Ich tippte seinen Namen in das Ruffeld des Video phons. »Ja – Sicherheitsbüro, Steiner«, sagte er, ohne seine Mimik zu bemü hen. Er blickte mich aus ausdruckslosen grauen Augen an. Auch seine Gesichtshaut hatte einen Stich ins Graue, als sei die Farbwiedergabe des Videophons gestört. »Claire, der neue TV-Korrespondent«, stellte ich mich vor.
»Robert Claire«, wiederholte er. »Wenn Sie mich nicht angewählt hät ten, hätte ich demnächst selbst gerufen.« Ich horchte auf. »Für Neuankommende, wie Sie es sind, die zum ersten Mal unsere Sta tion besuchen, sind einige Belehrungen unerläßlich. Bevor Sie das Fels massiv des Hauptgebäudes verlassen, informieren Sie sich auf Kanal elf des Stationsfunks über Eisbewegungen, Strahlungspegel und so weiter, das ist Grundregel eins. Schalten Sie den Armbandsender ein. Persönli che Mitteilungen erhalten Sie auf Kanal zwölf. Vergessen Sie nicht, den Computerkursus über Stationssicherheit zu besuchen.« »Ich habe keinen Zugriff zum Speicher!« unterbrach ich seinen Rede fluß. »Ihr Zugriff ist festgelegt und begrenzt, so, wie es meiner ist. Oder ha ben Sie etwas anderes erwartet? Sie können sich hier bei uns ziemlich frei bewegen. Sie können Fragen stellen, Claire …« »Nun, mich interessieren die Vorfälle, bei denen Piloten während ihrer Einsätze auf PROMETHEUS verunglückt sind, vor allem die der letzten Zeit.« Er zog eine Grimasse. Ich sah, daß die Beweglichkeit seines Gesichts durch mehrere tiefliegende Narben eingeschränkt war. »Verstehen Sie doch, Steiner: Wenn Wille anstelle von Drupadante uns das Objekt M drei zur Jagd zugewiesen hätte …«, bekräftigte ich meine Frage. »In diesem Jahr waren es vier Piloten und zwei Techniker, die wir ver loren haben, leider. Und auf GALILEI gab es drei Todesfälle.« »Und wo starb Gray?« »Gray verunglückte zusammen mit Larson während eines normalen Testfluges auf der anderen Seite des Ganymed. Ehe wir helfen konnten, hatte Gray eine letale Strahlungsdosis erhalten. Er starb hier auf Station. – Tod durch Strahlung. Das ist übrigens die häufigste Todesursache auf Ganymed.« »Und Larson überlebte?«
»Larson hat einfach mehr Glück gehabt.«
»Ich interessiere mich für seine Flüge in den Jupiter.« Mein Anliegen schien Steiner ganz natürlich zu sein. »Larson lebt«, wiederholte er im ruhigen Tonfall, »wenn man das so nennen darf. Ob Ihnen die Ärzte erlauben, mit ihm zu sprechen, bezweifle ich allerdings.« Ich erklärte Steiner mein Interesse. Daß Larson als einziger Mensch möglicherweise einen positiven Kontakt zu den MEWACONS gehabt hatte. Daß deshalb ein Gespräch mit ihm für mich sehr wichtig sei. Wir blickten uns schweigend an. Steiners Gesicht nahm wieder aus druckslose, fast brutale Züge an. Dann fiel mir ein, daß er auf meine letzte Frage bereits geantwortet hatte. »Ja, wenn Sie keine weitere Nach richt für mich haben …«, sagte ich noch. Er verneinte und wünschte mir einen angenehmen Aufenthalt auf GALILEI. Das Videophon verlosch. Steiner war offenbar noch nicht davon unterrichtet, daß er vorgesehen war, mich zu unterstützen. Vielleicht hatte es sich Frau Jonas auch an ders überlegt. Nach den Daten des Informationskristalls gehörte Steiner zur Stammbesatzung der Station. Er befand sich seit acht Jahren auf GALILEI, von kurzen Unterbrechungen abgesehen. Er war Glaziologe und Geologe. Er hatte den weiteren Ausbau der Station geleitet, bis er vor drei Jahren während Sprengungsarbeiten im Flughafengelände ver letzt wurde. Später übernahm er das Ressort Sicherheit. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Ich wählte Kanal 12 des Stationsfunks an. Auch hier war vom Ministe rium keine Nachricht für mich eingespeichert. Eine spröde Mädchen stimme forderte mich nochmals auf, den Sicherheitslehrgang zu besu chen. Dann lagen noch zwei Termine an: ein Arztbesuch, sobald wie möglich, und ein Gespräch bei Professor Abele um 11 Uhr GAN-Zeit. Ein Viertel nach 11 Uhr, und ich wartete noch immer. Ich saß auf einer Bank vor einer Balustrade, hinter der sich Frau Gyen beschäftigte, eine der Sekretärinnen Abeles. Das Sekretariat war ein flacher, fensterloser Raum wie die meisten Zimmer des Felsmassivs. Mühsam war er aus dem Gestein herausge schmolzen worden. Es herrschte chronischer Platzmangel. Regale und
Schränke waren aufgestellt, wo sie nur untergebracht werden konnten. Ein Windzug, der von der Klimaanlage herrührte, leckte kalt an meinem Gesicht. Seit ich das Zimmer betreten hatte, stand auf einem der Videoschirme das verrauschte Testbild einer Erdorbitalstation. Auf den anderen Schirmen herrschte Hochbetrieb. Frau Gyen bediente voller Schwung die Videokanäle. Unbekümmert beantwortete sie Fragen von Bedeutung. Eine gewisse Hektik war jedoch nicht zu verkennen. Immer wieder tauchte eine auffallend korpulente Person auf, die die Sekretärin mit Ge neral Amon titulierte. Einige Male huschte Professor Abeles dunkelhaa riger Kopf über die Bildschirme. Später winkte sie mich zu einem der Apparate heran. »Abele«, flüsterte sie. »Ich bitte Sie um Verständnis, Herr Claire«, sagte Abele ernst, »aber wir müssen unser erstes Treffen verschieben – wir haben erneut einen Pilo ten verloren.« »Ein Jagdunfall?« fragte ich bestürzt. »Ja, Pilot Haller.« »Doch nicht wieder so ein – Käfig?« platzte ich heraus. »Nein, keine Wiederholung des Falles Drupadante. Es scheint hier kei ne Wiederholungen zu geben. Diesmal wurde der Jäger von einem merkwürdigen Kontinuum eingeschlossen.« Frau Gyen schob einen Stuhl an meine Kniekehlen. Ich setzte mich. »Diesmal waren überhaupt keine Objekte beteiligt. Völlig überraschend und aus dem Nichts heraus hatte sich eine dichte MEWA-Wolke gebildet und den Jäger eingehüllt. Dann brach die Verbindung Hallers zur Station ab.« »Gibt es noch Chancen für seine Rettung?« fragte ich, obwohl ich ahn te, daß sie gleich Null sein mußten. »Wir hatten zwei Jäger hinuntergeschickt. Sie fanden weder Hallers Schiff vor noch die MEWA-Wolke. Jetzt lassen wir einige Radarbojen treiben, auf dem Zweihundertfünfzig-Kilometer-Niveau, weit unterhalb der Ereignistiefe. Beim geringsten Verdacht lassen wir eine Staffel star ten. Ansonsten werten wir die Radarsignale des Jägers aus, die wir noch
haben aufnehmen können.« Abele lehnte sich zurück und führte über die Schulter ein kurzes Gespräch. »Erst entsteht Materie scheinbar aus dem Nichts, dann verschwindet sie wieder«, begann ich zu philosophieren. »Vielleicht war es eine RadarFata-Morgana? Oder versuchten die MEWACONS nur, ihr Vorgehen hinter einer tar nenden Wand zu verbergen?« Abele blickte mich aufmerksam an. Seine großen schwarzen Pupillen glänzten. Er lächelte ironisch. »Wir können zwar die Phänomene nicht verstehen, sollten uns aber nicht in Spekulationen verlieren. Wir befin den uns in der Lage von Wilden, die sich die Natur erklären möchten. Sicherlich haben Sie schon einmal das Auftürmen einer Gewitterwolke beobachtet. Aus dem Nichts heraus entsteht ein beeindruckendes Gebil de. Da haben Sie Ihr mysteriöses Ereignis: unsichtbarer Wasserdampf kondensiert zu Wasser. Ein Wechsel des Aggregatzustandes. Eine Bana lität.« »Glauben Sie, daß sich die MEWA-Wolke so oder ähnlich gebildet hat?« »Es wäre eine Erklärung«, meinte er nachdenklich. Ich bat Professor Abele, mich an der Auswertung der letzten Signale von Hallers Jagdschiff teilnehmen zu lassen, doch er lehnte ab. Ich ließ mir meine Enttäuschung nicht anmerken. Insgeheim hatte ich gehofft, daß mich Abele bei meiner Arbeit unterstützen würde. Schließlich kann te er meinen Auftrag. »Wenn Sie wollen«, bot er mir an, »können wir unsere Unterhaltung nachmittags fortsetzen, im Trainingszentrum. Wol len Sie?«
7 Wer war Professor Abele? Was hatte er für eine Entwicklung genom men? Seit ich von meiner Mission nach GALILEI erfahren hatte, be schäftigte ich mich mit diesen Fragen. Vom Weltinformationszentrum ließ ich mir Unmengen von Materialien überspielen, Unterlagen über die Stationen, über die MEWACONS und auch über Abele. Filme, Zeit schriften, Reden und Aufsätze überschwemmten die Redaktion des TVMagazins. Ganze Bibliotheken wanderten in die Speicherkristalle. Hinzu kamen die Daten, die mir Frau Jonas zugesteckt hatte. Ich würde Jahre brauchen, um mich durch diesen Wust von Informationen durchzufres sen. Abeles Werdegang war eine geradlinige Aufwärtsentwicklung vom ma thematisch begabten Wunderkind zum genialen Wissenschaftsorganisa tor gewesen. Achtundzwanzigjährig erhielt er seine erste Professur in Ottawa. Es folgten Lehrstühle in Paris und Leningrad. Einige Jahre spä ter berief man ihn zum Leiter für Technologieentwicklung beim Weltrat. Bis er dann um die Mitte der Vierzig GALILEI übernahm. Als er dieses Amt antrat, befand sich die Station in einer Krise. Die MEWA-Gewinnung war zurückgegangen, obwohl ständig mehr Mittel nach hierher geflossen waren. Hinzu kam, daß der Weltrat gerade wieder einmal eine drastische Erhöhung der MEWA-Produktion forderte. Das Projekt »Tiefenwasser« wurde spruchreif. Künstliche Meeresströmungen aus kaltem Tiefseewasser sollten wie ein eisiger Gürtel um den antarkti schen Kontinent gelegt werden, um die Temperaturen dieser Region zu senken und ein nochmaliges katastrophales Abgleiten antarktischer Eis massen in die Ozeane zu verhindern. Doch um die Energie für das Pro jekt zu erzeugen, mußte zusätzlich MEWA bereitgestellt werden. Abele ahnte, daß er näher an die MEWA-Quellen im Innern des Jupi ters heranfliegen mußte, um die Forderungen des Weltrates zu erfüllen. Folgerichtig setzte er auf die Entwicklung von Schiffen, die für größere Tiefen tauglich waren. In Chefkonstrukteur Larson hatte er dafür den richtigen Partner gefunden.
Jahre später, nachdem Larson die MEWACONS entdeckt hatte, bestä tigte sich nochmals Abeles sicheres Gespür für künftige Erfordernisse. Er stellte die MEWA-Gewinnung radikal um und brachte Larsons bahn brechende Entdeckung zum Tragen. Nur Monate nach seinem histori schen Flug waren vergangen, als es Abele gelang, von einem provisorisch umgerüsteten Fabrikschiff aus das erste MEWACON einzufangen. Und heute wurden im Gebiet der PROMETHEUS an die hundert dieser Ob jekte in einem Monat erbeutet. Abeles Einfluß war ständig gewachsen. Das ursprüngliche Stammper sonal auf GALILEI hatte sich vervielfacht. Das Personenzählwerk in der Eingangshalle registrierte gelegentlich bis zu fünftausend Menschen, Besucher eingeschlossen. Doch GALILEI stellte nur die Spitze einer Pyramide dar. Die Superlative verbargen sich an der Basis. Das Hinter land, über das Abele verfügte, schien unermeßlich. Seine Projekte be schäftigten Menschen nicht nur auf allen Kontinenten der Erde, sondern auch in den orbitalen Megastädten und lunaren Werkstätten. Man schätz te, daß Abele ein Unternehmen leitete, das zehn Millionen Menschen Arbeit gab. Ich lief durch die Schwimmhalle im dritten Kellergeschoß. Im Becken und am Rand ragten Reihen von Stützpfeilern auf, die sich zur Decke hin gewölbeartig verbreiterten. Manchmal glaubte ich, eine Vielzahl von Grotten vor mir zu haben, dann wieder öffnete sich der Blick durch die Halle. Im Wasser, das der Schatten des allgegenwärtigen Felsens dunkel erscheinen ließ, tummelten sich Badende. Einige von ihnen nutzten die geringe Schwerkraft und schnellten wie springende Fische aus dem nas sen Element, um sich dann jauchzend und schreiend zurückklatschen zu lassen. Ja, sie konnten sich hier diesen Luxus leisten. Auf dem Eismond Ganymed gab es Wasser im Überfluß. Der Weg zum Trainingszentrum war gut ausgeschildert. Viele Übungs boxen waren belegt. In Nummer vier kämpfte der Professor gegen die Kräfte einer Maschine. Er strampelte mit Armen und Beinen. Als Lohn dieser Anstrengungen leuchteten auf einer Bildwand in seinem Blickfeld Zahlen über vollbrachte Leistung und verbrauchten Sauerstoff sowie Kreislaufparameter und Bio-Feedbackkurven auf.
Schweißnaß kletterte er aus dem Trainingsphantom. Er winkte mir zu und huschte in ein Sauerstoffzelt. Er machte einen durchtrainierten Ein druck, bis auf kleine Speckwülste an den Hüften, die es wohl noch aus zumerzen galt. »Sie sollten auch – regelmäßig trainieren!« sagte Abele keuchend. »Ach was, mir steckt noch immer PROMETHEUS in den Gliedern!« wehrte ich ab. »Sie haben sich tapfer geschlagen. Ich weiß, was das bedeutet: PRO METHEUS! So, wie Sie mit einem Jäger in den Jupiter hinunter stoßen – das habe ich allerdings noch nicht fertiggebracht.« Er atmete noch schwer. Lichtblitze flammten auf und warfen den Schatten seines ge drungenen Körpers gegen die milchige Folie des Zeltes. Ein Ventilator begann zu laufen und beulte das Zelt aus. »Gibt es ein Zeichen von Haller?« fragte ich Abele. »Von den Horchbojen haben wir keine Signale empfangen. Das war vorauszusehen. Haller ist tot.« »Verdammt hart für einen Jagdflieger da unten!« »Und trotzdem melden sich immer mehr Männer freiwillig zu den Jagdstaffeln.« Abele schlüpfte durch den Zeltschlitz und legte sich einen Umhang über die Schultern. »Auf ein Bad verzichte ich heute«, meinte er und kam auf mich zu. Seine Gesichtshaut war gerötet. »Was man nicht seinem Körper zuliebe alles tut, nur, damit der Geist richtig arbeitet!« Wir standen uns gegenüber. Abele musterte mich mit seinen dunklen Augen, dann sagte er: »Februar dreiundsechzig, Amsterdam, Rundflug im Heliokopter. Sie saßen mit der Kamera neben dem Piloten. Es stimmt! Keine Widerrede!« Er lachte kräftig. »Stimmt!« sagte ich und überlegte. »Nur, daß ich mich nicht mehr an Sie erinnern kann.« Es war der Tag nach der Katastrophe gewesen. Knapp 3 Millionen Kubikkilometer antarktischen Eises waren ins Rut schen gekommen und hatten sich in die Südpolarbecken ergossen. In jener Nacht ertranken und erfroren allein in Amsterdam an die zehntau send Menschen. Abele deutete in die Richtung, in die er zu gehen beabsichtigte. Wir lie fen an weiteren Trainingsgeräten vorbei, an Ultraschallvibratoren, an
Phantomen und Spiralfederkonstruktionen. Abdrücke von Fußsohlen markierten Wiegeplätze. Der Untersuchungstrakt begann. An den Wän den hingen Analysatoren. Abele nahm ein frisches Mundstück und steck te es auf das biegsame Rohr eines Gastesters. Er atmete tief ein und blies in das Rohr, sich krümmend, bis er die Spitze seiner Lungen entleert hatte. Interessiert schaute ich zu. Dann pustete ich gleichfalls in den Analysa tor. Wie Abele legte ich die Stirn an die kühle, vergoldete Hirnstromplat te. Wie er preßte ich einen Finger auf eine helle Öffnung, bis das Licht die Kuppe rot färbte. Über die Mattscheibe des Analysators schossen zeilenweise die Ergeb nisse der Untersuchungen, die Inhaltsstoffe des Blutes und die Elemente des körperlichen Zustandes. Eine Münze schepperte in eine muschel förmige Pfanne, ein Papierstreifen ringelte sich aus einem Schlitz. Abele entrollte die Streifen und interpretierte mit viel Humor die Zah lenkolonnen und Symbole. Wir liefen zum Toleranzausgleich und warfen unsere Münzen in den Spalt des Pegelkorrektors. An der Ausgabeeinheit empfingen wir eine schwach gelb gefärbte Mixtur. Zuletzt fiel eine oran gefarbene Tablette ins Glas und quirlte zischend über die Oberfläche. Wir saßen uns gegenüber. Ein ausgehöhlter Steinwürfel mit polierter Platte diente uns als Tisch. Dichtes, immergrünes Blattwerk rahmte un seren Ausblick zur Schwimmhalle. Ein Schwimmer zog längs der Stütz pfeiler seine Bahnen. An der Wende vollführte er jedesmal einen klat schenden Sprung, dessen hohles Geräusch die Halle erfüllte. Abele führte das Glas an die Lippen, das wir am Pegelkorrektor emp fangen hatten. Auf seinen Wangen bildeten sich Gräben aus, die ich von seinem selbstbewußten Lachen her schon kannte. Er trank. Die Pille auf dem Grund des Glases war zu einem mehligen Häufchen zerfallen, das beim Schlucken zerwirbelte. Mit einer abschließenden Handbewegung, die vom Ansatz seines dichten schwarzen Haares über das herrisch vor springende Kinn bis zum Hals reichte, glättete er die Haut seines Gesich tes. »Ich gebe zu«, sagte Abele, »daß ich mich anfangs dagegen gesträubt hatte, Sie hier zu haben. Ich halte nichts von freien, unkontrollierten
Reportagen über die MEWA-Gewinnung. Sie können viel Schaden an richten. Und erst recht halte ich nichts von einer MEWACON-Studie, oder was es auch immer sei, die irgend jemand über unsere Köpfe hin weg für den Weltrat abfaßt.« Ich war über Abeles Offenheit erstaunt und verärgert. »Schließlich ha ben Sie ja doch noch zugestimmt«, entgegnete ich aufgebracht. »Nun bin ich hier, und Sie werden mich tolerieren müssen!« »Aber Herr Claire, meine Bemerkungen waren nicht persönlich ge meint«, lenkte Abele ein. »Wir haben eben auf GALILEI unser eigenes Pressezentrum. Auch wenn es klein ist, es ist mit unserer Spezifik ver traut und hat sich bewährt.« »Herr Krause«, sagte ich und verbiß mir ein Lächeln. Ich hatte mich mit Abeles Sprachrohr schon bekannt gemacht. Aus einem unerschöpfli chen Vorrat an Informationskristallen stellte er die täglichen TV-Berichte für die Sendestationen auf der Erde zusammen. Für selbständige Beiträ ge fehlte ihm die Zeit. Er kam nicht heraus aus seinem Felsenloch. Wir beobachteten beide, wie der Schwimmer sich erneut dem Bassin rand näherte, sich aufbäumte und die Wende vollführte. Abele begann, die Berichterstattung meines TV-Magazins zu loben. Er war wie verwandelt. Er kannte einige der karitativen Aktionen, die wir kreiert hatten, um die Opfer der Flut zu unterstützen. Er nannte mich den Vater der Bewegung »Der Flut den Zehnten«. Dem Aufruf hatten sich tatsächlich Millionen Menschen angeschlossen, so daß vielen Betrof fenen geholfen werden konnte. »Das war nur ein Bruchteil der staatlichen Programme!« warf ich be scheiden ein. »Aber, es schafft Klima!« sagte Abele. »Trotzdem, hätten wir nicht MEWA, diesen magischen Stoff …« Abele blickte mich freundlich an. »Und das nicht nur im Hinblick auf die Flut!« begann er zu schwärmen. »Ohne MEWA bröckelt unsere energetische Basis. Ohne MEWA bliebe der Sahara-Raumflughafen auf der Strecke, und zwar für alle Zeiten.«
»Nicht zu vergessen die geplanten Abschußrampen auf dem Mond zur Versorgung der Megastädte in den Librationspunkten Terra – Luna«, ergänzte ich seine Visionen. »Und – metallischer Wasserstoff wäre für chemische Raketentriebwer ke ein idealer Treibstoff. Ein Supertreibstoff. Das heißt, wenn wir nur genug davon besäßen. Zur Zeit können wir an einen solchen Einsatz noch nicht denken. Mühelos ließen sich weitere Projekte aufzählen, auf der Erde, im Orbit, bei uns auf der Station. Nehmen wir nur die RAY drei, die in unseren Werkstätten entwickelt wird. Dank diesem Stoff ent steht ein Raumschiff für den Jupiter, von dem manch einer nicht zu träumen gewagt hat. – Doch wir konnten und können den Bedarf an MEWA nicht decken. Wir haben es mit einer explodierenden Nutzens anwendung zu tun. Ehe wir es richtig begriffen hatten, war MEWA un verzichtbar geworden. Ein existentieller Stoff. Wir leben in einem neuen Zeitalter. Im Zeitalter des metallischen Wasserstoffs.« Abele war allmäh lich lauter geworden, und das Paar, das in der Nische uns gegenüber geturtelt hatte, blickte verstört durch die Lücken im Blattwerk zu uns herüber. »Und wie werden Sie den Stoff auch in Zukunft beschaffen?« fragte ich leise. »Ich glaube, auf Grund der Existenz der MEWACONS werden wir genügend MEWA produzieren können, auch in Zukunft. Wir planen eine zweite Plattform. Später werden wir auf dem Mond Europa eine automatische Station errichten. Wir wären näher am Jupiter heran, und vieles ließe sich schneller abwickeln. Es ist unsere Pflicht«, sagte er be schwörend, »die Menge MEWA zu produzieren, die man von uns for dert. Manchmal habe ich Lust, unsere Leute hier oben so etwas wie ei nen Hippokratischen Eid sprechen zu lassen.« Er klopfte mit den Fin gerspitzen auf die steinerne Tischplatte. Der Schwimmer hatte sein quälerisches Pensum geschafft. Nahe unse rer Nische stieg er aus dem Bassin. Mit zufriedenem Gesicht lief er bar fuß über den warmen, polierten Steinfußboden und verschwand im Un tersuchungstrakt.
»Einen Eid?« fragte ich und setzte das Gespräch fort. »Die Piloten füh ren doch auch so jeden Befehl aus. Oder spüren Sie Widerstände gegen Ihr Programm?« »Ja. Ich spüre Widerstand. Manch einer, mit dem ich vor Jahren noch Hand in Hand gearbeitet habe, macht sich noch nicht geklärte Fragen zunutze und teilt nicht mehr unseren Standpunkt.« »Ich verstehe, das Gerede über die Natur der MEWACONS macht Ihnen zu schaffen.« Abele nickte. »Plötzlich wird es modern, von mehr oder weniger ver nunftbegabten Jupitanern zu reden.« »Sie denken wohl vor allem an Larsons Ansichten?« »Ja, ich meine diesen Larson.« »Aber was kann er dann beweisen? Er kann doch nicht einfach so da herreden!« »Nichts kann er beweisen, nichts!« rief er unbeherrscht. »Es sind Ver mutungen, Hirngespinste! Larson ist ein Träumer, und das ist unverant wortlich hier.« Der Professor nahm sein Glas, versetzte den Inhalt samt Pillenrest in kreisende Bewegung und goß ihn mit einem Schluck hinun ter. Sekundenlang verzog er sein Gesicht. »Auf PROMETHEUS spricht man von Viechern, von lebenden We sen, von Schlachthaus und Blut«, sagte ich so sachlich wie möglich. »Na ja, die Piloten erzählen nun einmal gern über ihre Ungeheuer. Das ist verständlich.« Abeles Stimme hatte sich beruhigt. Er beugte sich über die Tischplatte und blickte mich eindringlich an. »PROMETHEUS ist eine Welt für sich, exotisch, brutal. Die Hölle. Man überlebt mit Hilfe von Drogen. Die Sinne werden getäuscht. So gesehen, sind diese phanta stischen Geschichten von Jupitanern und ihren Kampfmaschinen gar nicht mehr verwunderlich. Worüber redeten die Seefahrer aller Zeiten? Über Seeschlangen und andere Meeresungeheuer.« »Manche der Fabeltiere entpuppten sich später als existierende Lebe wesen!« Abele lehnte sich lächelnd zurück. »Wissen Sie, Professor Abele, es war eine verdammte Quälerei gewe sen, da unten vor Ort. Und es war beeindruckend. Den aussichtslosen
Kampf Drupadantes gegen die MEWACONS werde ich nicht vergessen können. Da stellt man Fragen …« »Fragen Sie!« »Die Köder …« »Sie meinen die Treibmarken!« »Richtig. Aber wie funktionieren sie? Was für Reagenzien enthalten sie?« »Es handelt sich um eine Art Konservenbehälter, von dessen Inhalt die MEWACONS angelockt werden. Wir setzen dafür jeweils an die hundert Kilogramm MEWA ein, auch wenn den Ökonomen deswegen jedesmal die Tränen kommen. Gleichzeitig schleusen wir zum Markieren der Ob jekte einen kleinen Neutrinosender ein. Und einige andere Stoffe. Zum Beispiel bringen wir mehrere Kilo einer sauerstoffhaltigen Verbindung ein.« Abele schnippte zwei leichte Konzentratoren aus seinem Etui. Wir ent fernten die Versiegelungskappen von den Enden der Röhrchen, inhalier ten schweigend einige Züge und pafften weiße Wölkchen in das umlie gende Blattwerk. »Die MEWACONS spüren die Treibmarken auf und knacken sie. Auf Grund physikochemischer Vorgänge verringert sich die Aktivität der Objekte, entladen sich zum großen Teil die Ringströme, die durch die Körper der Objekte fließen. Hier probieren wir noch verschiedene Sub stanzen aus. Aber unsere Erfindung funktioniert. Meistens jedenfalls wird sie angenommen, und darauf kommt es schließlich an. Zufrieden?« Ich nickte und warf den leeren Konzentrator in den Abfallschacht in der Mitte der Steinplatte. »Und die Reizgranaten?« »Die A-Granaten sind ähnlich wie die Treibmarken zusammengesetzt. Eventuell vorhandene Restströme, die in den MEWACONS kreisen, werden entladen, wobei sich diese in Bewegung umsetzen. Das Objekt fängt schneller an zu rotieren oder verändert seine Bahn in der Jupiter atmosphäre.« Der Professor legte eine streichholzschachtelgroße Infor mationseinheit auf die Steinplatte und warf einen langen, unmißverständ lichen Blick auf seine Uhr.
»Und die Ergebnisse der exobiologischen Arbeitsgruppe?« fragte ich hastig und versuchte das Gespräch fortzusetzen. Doch Abele vertröstete mich auf einen Zwischenbericht, der zu gegebener Zeit vorgelegt werden würde. Er erhob sich und drückte mir fest die Hand. »Sie werden noch auf viele ungeklärte Fragen stoßen. Nehmen Sie nur die Rätsel des Großen Roten Flecks. Wir wissen immer noch nicht, warum er so stabil ist. Wo her nimmt er seine Rotationsenergie? Wie alt ist er? Tausend Jahre? Oder noch älter? – Ja, und auch von den MEWACONS wissen wir nur wenig. Es sind komplizierte Objekte. Es sind Strukturen, die im Jupiter unter Bedingungen entstanden, die wir in unseren Laboratorien nicht nachbil den können. Wir werden also noch lange Zeit auf Hypothesen angewie sen sein.« Ich setzte mich wieder. Nachdenklich schob ich Abeles Informationskri stall über die polierte Steinplatte. Ich hob die flache Schachtel vor die Augen und entzifferte den Titel: »Hagelkornhypothese – MEWAAgglomerationen in der Jupiteratmosphäre. Nur für den internen Ge brauch«. Abele hatte mich seine Überlegenheit spüren lassen. Er würde mich weder unterstützen, noch würden wir zusammenarbeiten. Das Gespräch hatte mich enttäuscht. Und Larson war ein Spinner. So einfach war das. Und über eine mögliche Intelligenz der MEWACONS hatten wir gar nicht erst gesprochen. Oder darüber, was für Versuche geplant oder schon durchgeführt worden waren, um mit ihnen in Kontakt zu treten, oder gar über Schlußfolgerungen. Andererseits: Alles, was Abele gesagt hatte, klang vernünftig, war klug, war rundum von einer organischen Natürlichkeit, die auf dem Boden der Realität gewachsen zu sein schien. Ich betätigte die Speisekarte. Auf dem hauchdünnen Belag der Tisch platte präsentierten sich in rascher Folge die Vorschläge des Tages. Aber ich fand kein Bestelltableau. Ich suchte es im ganzen Cafe und stieß auf Pauls, der in einer der zahlreichen Nischen saß und sich mit einer Frau in Arbeitskombination unterhielt.
Pauls ließ sich die Schlüsselzahlen meiner Gerichte sagen. Er schob ein Blatt der wuchernden Grünpflanzen beiseite und bestellte. Ich setzte mich zu ihnen an den Tisch. »Was hast du inzwischen über Gray in Erfahrung gebracht?« fragte ich Pauls leise. Die junge Frau musterte mich. »Ich könnte dir Näheres über den Un fall erzählen, den er auf der anderen Seite des Ganymed hatte«, sagte Pauls. Ich winkte ab. »Wer waren seine Freunde?« »Ich war sein Freund!« plusterte er sich auf. »Hat er mit dir nicht über den Flug mit der RAY eins gesprochen, je nen wichtigen, entscheidenden Flug, den er zusammen mit Larson ge macht hatte?« »Der MEWACON-Flug … Gray hat darüber nur Belangloses von sich gegeben, Stimmungen, einige Einzelheiten. Keinen zusammenhängenden Bericht. Er war damals auch sehr mit den Vorbereitungen zum Jungfern flug der RAY zwei beschäftigt. Wenn er freilich geahnt hätte, daß er da bei verunglücken würde, vielleicht hätte er mehr erzählt. Aber wer glaubt denn schon an so etwas.« Pauls legte die schmale Hand der Frau auf sei ne Schulter und streichelte sie. Mit einem Glockenspiel kündigten sich die bestellten Gerichte an. Zu dritt holten wir die Teller, Schüsseln und Gläser vom Essenaufzug zum Tisch. »Abele hat sich gewunden wie eine Schlange?« fragte Phil grinsend. Ich nickte. »Ich muß unbedingt mit Larson sprechen. Aber auf der Krankenstation läßt man mich nicht an ihn heran.« »Ich kann mit seiner Frau reden«, sagte Pauls, der es plötzlich eilig hat te. Sie ließen mich mit meinen Gerichten allein. Ohne Kombination, fand ich, sah Pauls unvorteilhaft hager aus. Vor allem an den Schultern war er eckig wie eine Vogelscheuche. Mit großem Appetit widmete ich mich den auserlesenen Speisen, ko stete von den saftigen Schwämmchen, zerdrückte sie mit der Zunge im Mund. Kühl lösten sie sich auf. Dann widmete ich mich dem Teller mit
dem auf einem Biogenerator gewachsenen, mehrere Zentimeter hohen Stück Fleisch. Es war zart und schmeckte nach gebratener Ente. Ich nahm von der lockeren, neutralen Füllmasse, genoß seine körnige Konsi stenz. Nippte an Schalen, an Gläsern und prüfte die köstlichen Früchte. Ich fühlte mich kräftig und ausgeglichen wie lange nicht.
8 Ich stand am sechseckigen Fenster meines Appartements und blickte hinaus. Die Landschaft war mir inzwischen vertraut. Wenn ich mich bis zur inneren Scheibe vorbeugte, sah ich links die beiden Eissäulen der Zahnlücke, die vor der dunklen Öffnung der Rima Discoursi glitzerten. Vor mir erstreckten sich Silos und Hangars, Kraftwerksblöcke und An tennenanlagen, eine weit in den Kraterkessel hineingestreute Stadt. Eine Zeitlang beobachtete ich den grauen Lichtschein, der sich über den rech ten Hang des Eiskraters beulte und den langen Tag auf Ganymed an kündigte. Endlich ertönte das Rufzeichen des Videophons. Ich betätigte den Ja lousiemechanismus. Die Landschaft draußen löste sich in einem blei grauen Schutzschild auf. Aus Höflichkeit trat ich einige Schritte näher an den Apparat heran. Auf dem Bildschirm war das Gesicht einer jungen Frau erschienen. So groß und klar, daß sich die Pickel auf ihrer vor Aufregung geröteten Haut abzeichneten. Sie sagte, daß sie Frau Larson sei. Sie zog den Mund ein wenig schief, als versuche sie ein kleines Lächeln. »Herr Claire, Sie haben versucht, meinen Mann …« Sie suchte ein pas senderes Wort für Mann und schwieg ratlos. »Die Ärzte lassen mich nicht zu ihm vor. Besonders jener lange Mensch mit der Narbe in der Stirn tut sich schwer und sperrt sich.« »Chefarzt Berger«, sagte sie lachend. Ich begann mein Interesse für Larson zu umschreiben. »Sie brauchen mir nichts zu erklären. Vor allem nicht am Video. Jan selbst hat um ein Gespräch mit Ihnen gebeten.« Ich blickte sie ungläubig an. »Noch vor seiner Operation?« fragte ich nach. »Wenn es Ihnen möglich ist, kommen Sie bitte sofort auf elf-null eins sechsundzwanzig bei mir vorbei.« Ich bedankte mich. Selbstverständlich würde ich kommen. Ich wußte, daß die Kyborgisierung Larsons genehmigt worden war und unmittelbar
bevorstand. Das Ärzteteam von der Erde weilte bereits auf GALILEI. Ich hatte nicht mehr so recht daran geglaubt, Larson vor dem großen Eingriff noch einmal sprechen zu können. Jetzt war ich doppelt über rascht, weil auf Larsons Seite ein ebenso dringender Wunsch nach einem Gespräch mit mir bestand. In mein Taschenbuchtableau tastete ich die dreidimensionalen Zielko ordinaten ein, aktivierte den Kommunikator und steckte ihn mit dem Mikro nach vorn in die Brusttasche, ganz so, wie ich es im Sicherheits kurs gelernt hatte. Draußen auf dem Flur, neben meiner Tür, leuchteten jetzt der erste Kreis und der erste Pfeil des Leitsystems auf, und wenige Meter weiter blinkerte bereits das nächste Zeichen. Ich betrat den quadratischen Vorraum ihres Appartements. Die übliche sparsame Ausstattung: einige Sitzflächen, in die Wand eingelassene Schränke, nur unter der Fernsehbildwand ein flaches Regal. Aber Frau Larson hatte es verstanden, farbige Pflanzen, die sie in der Biosektion gezogen hatte, so im Raum anzuordnen, daß der Eindruck von Behag lichkeit entstand. Auch die Handschrift ihres Mannes, des Chefkonstruk teurs, war zu erkennen. Anstelle des obligatorischen Bildes an der Innen seite der Eingangstür hing eine Magnetarbeitstafel, und im Regal stapel ten sich Computerausdrucke und Modelle von Raumschiffen. Frau Larson führte mich in das angrenzende Zimmer. Auf einem Schemel in der Ecke gleich neben der Tür hockte General Amon. Den Titel hatte man ihm verliehen, als er die Station noch geführt hatte. Jetzt war er Technischer Direktor von GALILEI, und er dachte daran, auch dieses Amt bald aufzugeben. »Ah, der Journalist!« sagte Amon und begrüßte mich mit einer schwer fälligen Geste. Wir kannten uns. Er hatte mir die Station gezeigt und während dieser Rundgänge über die Geschichte dieser riesigen Anlage geplaudert. Seine Schwerleibigkeit, hatte er mir verraten, wäre als kosmische Erkrankung anerkannt, und sein Aufenthalt bei der geringen Schwerkraft des Jupi termondes käme einer Kur gleich, die er sonst auf dem Erdmond neh men müßte. Ich sah, wie sich die Federbeine des Sessels unter seiner Last nach außen bogen.
Frau Larson hatte es eilig. Sie hatte sich mit einem farbigen Tuch ge schmückt und stand schon im Vorraum. Sie wirkte nervös. Der General fuhr sich mit einem zerknitterten Stück Stoff über sein fettiges Gesicht und erhob sich ächzend. »Mädchen, Anita, Kopf hoch!« sagte er und streichelte ihr väterlich die Wange. »Und grüße Jan noch mals von mir. Er soll uns nicht vergessen, wenn er aus der neuen Welt eines Kyborgs auf unsere beschränkte Existenz herabblickt.« Wir warteten vor der verschlossenen Tür der Krankenstation, irgendwo tief im Innern des Felsmassivs von GALILEI. Durch die Glasscheibe drang blaues Licht. Gelegentlich huschte hinter der Scheibe ein heller Schatten vorbei, ein Arzt oder eine Krankenschwester. Seit wir vor dieser Tür standen, ruhten Frau Larsons Augen nachdenklich auf den Schrän ken, in denen Kunstblut und Medizintechnik lagerten. Von innen öffnete Chefarzt Berger. Wir liefen einen Gang entlang. »Wir sind kaum ausgelastet«, meinte er und blickte leicht über uns hin weg. »Die Infektionsabteilung platzt allerdings aus den Nähten. Jupitani sche Influenza, trotz aller Filter. Nichts zu machen. Es wird Zeit, daß wir ordentliche Impfstoffe zur Verfügung haben.« Hinter den Scheiben, an denen wir vorüberliefen, sahen wir Patienten mit geröteten und geschwollenen Gesichtern. Dann betraten wir Larsons Zimmer. Von ihm selbst war nicht mehr als ein Hügel unter weißen La ken zu sehen. Ansonsten Geräte, die rhythmisch arbeiteten, im Takt der Atmung, im Takt des schlagenden Kunstherzens. Auch hier trennte uns vom Patienten eine Scheibe. Frau Larson, die in eine durchsichtige Hülle mit herausgestülpten Ar men gekrochen war und einen langen Ziehharmonikatunnel hinter sich herschleifte, beugte sich lange über sein Bett. Ihre Hände strichen über das Laken. Mir schien es, als ob Larson sich geringfügig bewegte. »Er befindet sich in einem kyborgähnlichen Zustand«, erklärte Berger. »Lunge, Herz und die meisten inneren Organe wurden durch Mechanis men ersetzt. Kunstblut. Seine Stimme ist synthetisch. Wir hatten uns entschlossen, die Versorgung seines Gehirns durch künstliches Blut ab zusichern.«
»Was blieb da noch von ihm übrig?« fragte ich Berger.
»Bei Jan sind es Augen, Gehör, Geruchssinn, ein Arm und, das Zen
trum nicht zu vergessen, sein Gehirn.« »Und, was haben Sie weiter mit ihm vor?« »Wir machen den totalen Schnitt. Im Grunde genommen bleibt dann nur noch sein Gehirn erhalten.« Larson konnte also seine Frau sehen und verstehen. Sie blickte einige Male zu mir hinüber. Der Arzt reichte mir Kopfhörer mit angesetztem Mikrofon, wie sie Piloten benutzen. »Nehmen Sie doch Platz«, hörte ich Larson in den Kopfhörern spre chen, mit einer dunklen Stimme, die natürlich und angenehm klang. »Ich kann Sie übrigens über Spiegel deutlich sehen.« Er sprach gleichförmig und schnell weiter, gelegentlich so schnell, daß ich gedanklich nicht folgen konnte. Als hätte er in seinem Inneren einen Geschwindigkeitsregler aufgedreht. Er redete über die MEWACONS. Über Details, die ich nicht verstand. Er schimpfte über Abele, sprach von Machenschaften. Pausen für Fragen und Einwände ließ er keine. Offensichtlich hatte er Rede und alle Gegenargumente lange Zeit mit sich herumgetragen und immer wieder durchgespielt. Der Chefarzt hatte den Raum verlassen. Anita saß wieder diesseits der Glasscheibe. Ab und zu hielt sie ihre Kopfhörer an das Ohr und lauschte Jans Stimme. Einmal fragte ich dazwischen, ob er nicht wichtige Fakten über die MEWACONS wüßte, die bisher nicht bekanntgemacht worden waren. »Mit Sicherheit«, sagte Larson, »waren in den Bordcomputern der RAY eins essentielle Unterlagen über die MEWACONS gespeichert. Ich hatte gehofft, nach einer genauen Analyse der Daten Aussagen über die Natur der MEWACONS machen zu können. Aber wie Sie wissen, versank das Schiff kurz nach unserem Erkundungsflug im Jupiter. Es löste sich unter nicht geklärten Umständen von einem der Telleranker der PROME THEUS. Angeblich zufällig, aber ich kann an keinen Zufall glauben. Sollten gleich drei voneinander unabhängige Sperren versagt haben?« Er machte eine Pause. Vielleicht hatte ihn sein Reden erschöpft. Man konnte es seiner synthetischen Stimme ja nicht anmerken. Frau Larson
blickte mich betroffen an. Wie oft hatte sie sich das schon angehört? Ich schwieg. Aus Taktgefühl verbarg ich meine Skepsis, obwohl ich nichts von solchen vagen Anschuldigungen hielt, wie sie Larson geäußert hatte. »Gray, mein Pilot, ist umgekommen«, sagte er weiter. »Auch infolge ei nes Unfalls, der nicht hätte sein müssen. Und rein zufällig überlebte ich. Ich habe Angst. Obgleich die mir bevorstehende Operation schon Tau sende von Malen erfolgreich durchgeführt worden ist, habe ich Angst, daß irgend etwas nicht klappt. Deshalb hatte ich Sie um ein Gespräch gebeten.« Ich fragte mich, ob seine Befürchtungen berechtigt waren oder nur Phantasiegebilde eines Kranken. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, wobei es mich Überwindung kostete, natürlich zu sprechen. Immer hatte ich das Gefühl, mich mit den lebenserhaltenden Apparaturen zu unterhalten, anstatt mit ihm. Ich versprach ihm, daß ich mir seinen Bericht anhören und ihn auch aufzeichnen würde. »Einverstanden«, sagte Larson. »Natürlich heißt das nicht, daß ich Ihre Meinung auch teilen werde.« »Einverstanden«, wiederholte er und gab ein unpassendes Lachen von sich. Offensichtlich waren die Möglichkeiten seiner Lautbildungseinrich tung überfordert worden. »Ja, die RAY eins, meine RAY, war ein gutes Schiff«, begann Larson zu erzählen. »Während unseres inzwischen spektakulären Fluges holten wir uns auf Anhieb einen Tiefenrekord. Warum sind wir damals geflogen? Sicher nicht, um einen Rekord aufzustellen, der übrigens heute immer noch gilt. Warum also? Ich werde ein wenig ausholen müssen … Nachdem in den fünfziger Jahren PROMETHEUS und die ersten Fa brikschiffe in Dienst gestellt worden waren, begann die MEWAGewinnung erst richtig anzulaufen. Die Fabrikschiffe waren damals nichts anderes als kleine, modifizierte Plattformstränge. Nur, daß sie bis zu den MEWA-Bänken hinabtauchten, wo sie ihre Riesenstaubsauger in Gang setzten und den hochverdünnt vorliegenden Stoff einsaugten. Die Besatzungen dieser Kolosse waren wochenlang unterwegs, ehe sie ihre. Ladungen auf PROMETHEUS löschten.«
»Pilot Pauls hat mir von den Torturen auf den Fabrikschiffen erzählt«, warf ich ein. Larson schwieg lange. Der Arzt, der vom Nachbarraum aus mithörte, und Anita blickten mich verärgert an. »Doch allmählich sanken die MEWA-Pegel in der Jupiteratmosphäre ab, und die Erträge gingen zurück. Heute vermuten wir, daß die Pegel langperiodisch schwanken, wie Eb be und Flut, mit Zeitkonstanten von einigen Jahrzehnten. Mich überra schen solche Rhythmen nicht. Wir sollten uns eher wundern, daß wir überhaupt MEWA in der Jupiteratmosphäre antreffen, liegt doch die Schale des metallischen Wasserstoffs unterhalb von siebzehntausend Kilometern. Was aber, fragten wir uns, wenn die MEWA-Pegel unter die Tauchtiefe unserer Schiffe absinken würden? So entwickelten wir einen kleinen, unbemannten Flugkörper mit kräftigen Druck- und Hitzeschilden. Wie es schien, hatten wir den Wettlauf zu unseren Gunsten entschieden. Doch bald hatten wir erneut gegen Kalamitäten anzukämpfen. Einige der modernen Flugkörper kehrten von ihren Einsätzen nicht zurück. Wir glichen die Verluste aus, aber es gab schließlich Grenzen der Effektivität! Und heute, wo wir von den MEWACONS wissen und sie jagen? Die Verluste steigen wieder an. Nur sind es diesmal auch Menschen, die wir verlieren. Hier findet ein Kampf statt, von dem keiner weiß, wie er en den wird.« Ich hütete mich, ihn noch einmal zu unterbrechen, obwohl ich Fragen hatte. Seine Frau war mit den Kopfhörern im Schoß eingeschlafen. Chefarzt Berger kontrollierte die Apparaturen, die Larson am Leben hielten. »Doch zurück zu unserem Erkundungsflug«, setzte Larson seine Er zählung fort. »Mit der RAY eins hatten wir ein Schiff in den Händen, um bis zu den Einsatzorten der unbemannten Fabrikschiffe vorzustoßen. Endlich hatten wir die Chance, die Ursachen für das rätselhafte Ver schwinden der Flugkörper aufzuklären. Mit Gray fand ich einen erfahre nen Piloten. Tollkühn war es schon … Wir starteten. Wir tauchten hinab. Vierhundertfünfzig Kilometer unter NN, der Außenpanzer der RAY glühte. Kühlgase strömten durch die
äußeren Schalen unserer Kabinenkugel. Wir hörten die Hochspannung knistern, die in der innersten Wand gegen den Druck der Tiefe gesetzt wurde. Ein Kurzschluß, und die aus Millionen piezoelektrischen Seg menten zusammengesetzte Kabinenkugel würde zersplittern. Wir ließen uns nach dem Standardprogramm der Fabrikschiffe treiben. Wir sammelten MEWA. Ich kontrollierte Meßwerte, verglich Betriebsda ten der RAY mit denen der unbemannten Flugkörper. Gray lag auf sei ner Matratze. Die Untätigkeit und die Schwerkraft gingen ihm auf die Nerven. Mehrmals schlug er vor, selbst zu jagen. Auch ich sah, daß die an das Suchradar gekoppelte Automatik viele MEWA-Brocken nicht berück sichtigte. Also schalteten wir die Handsteuerung ein. Auf dem Radar schirm, der die MEWA-Verteilung in der Umgebung der RAY wieder gab, markierte Gray mit dem Lichtfinger das erste Ziel. Und während kurze Zeit später Manipulatoren den mannsgroßen Brocken packten und in den Tank beförderten, suchten wir beide auf dem Schirmbild die nächste lohnende Beute, setzten wir das nächste Fadenkreuz. Das Jagd fieber hatte uns gepackt …« » … der untere Abschnitt des Radarschirms, der tiefer liegende Atmo sphärenschichten erfaßte, färbte sich intensiv grün. Erschrocken blickten wir uns an. So etwas hatten wir noch nicht gesehen. Eine MEWAZusammenballung mit Ausmaßen von einigen hundert Metern. Konnte es eine ergiebigere MEWA-Quelle geben? Gray zeigte sich ratlos. Ich deutete auf den Koordinatenschreiber. Wir brauchten uns nicht zu entscheiden, wir trieben von selbst auf die Zusammenballung zu. Gray sah sich das einige Augenblicke lang an, dann gab er volle Kraft auf alle Triebwerke. Die Leistungsmesser überschlugen sich, aber unser Schiff beharrte eigenwillig auf fremdem Kurs. Erstaunt blickten wir auf den Radarschirm und den Kurser. Gray riskierte es, die Antriebe zu pulsen. Schaukelnd schwangen wir weiter in die erzwungene Richtung. Doch etwas war stärker als unser Schiff. Der Abstand zu dem merkwürdigen Körper verringerte sich schnell. Der grellgrüne Lichtschein begann sich über den mittleren Teil des Ra darschirms auszubreiten, als stürzten wir in ein langes Tal aus purem
metallischem Wasserstoff. Gray versuchte unser Schiff zu drehen, um nicht mit der Breitseite aufzutreffen. Er scheiterte wie bei den vorherge henden Manövern, ohne erkennbaren Grund. Wir befanden uns auf Kollisionskurs. Mechanisch betätigte Gray die Steuerung, doch das Schiff reagierte nicht. Der Kampf gegen die unbe kannte Gefahr war offenbar entschieden, ehe er richtig losgegangen war. Unsere Situation war ausweglos. Ich zweifelte nicht daran, daß jene Ereignisse unmittelbar bevorstan den, auf Grund deren einige der unbemannten Fabrikschiffe nicht zu rückgekehrt waren. Ich lag auf meiner Matte, hellwach, die Hände über der Brust verkrampft. Kreischende Geräusche leiteten die Kollision ein. Interferenzgitter und dunkle Schatten huschten über das Radarbild. Ich hielt den Atem an. Ein schmerzhafter Stoß setzte ein. Danach herrschte Stille. Wir lebten, aber wir waren gefangen. Wir wußten nicht, wie weit wir in diesen Koloß eingedrungen waren. Wir fragten uns, ob wir die Antriebe starten sollten. Doch ein Ausbruchsversuch konnte nur Erfolg haben, wenn wenigstens die Richtung klar war, in der wir uns bewegen mußten. Sonst riskierten wir nur, noch tiefer einzudringen. Der Radarschirm, der uns hätte Auskunft geben können, leuchtete grün. MEWA, nichts als MEWA. Ich kroch zum Rechner, wechselte Programmierstecker aus, versuchte die Radarechos zu sortieren. Einige Male mußte ich meine Versuche unterbrechen, da sich die RAY ruckartig bewegte. Dann war es soweit. Wir konnten wieder sehen. Es war zwar nur eine wüste Grafik, grau in grau, aber ein Bild, eine unmittelbare Information über unsere Umgebung, das uns ein Gefühl von Räumlichkeit und Si cherheit gab. Wir sahen kräftige Linien und gekrümmte Flächen. Dazwischen schie nen Fasern eines Pilzmyzels zu wuchern. Wir sahen bläschenförmige Kammern und ausgedehnte Hohlräume. In der Mitte des Objekts befand sich ein kugelförmiger Kern. Wir waren überrascht und überfordert. Das Radarbild war vielschichtig überladen, und es war schwierig, alle Bild ebenen voneinander zu trennen. Doch deutlich erkannten wir die ab
schließende Schale, den Rand, hinter dem greifbar nahe die freie Jupiter atmosphäre lag. Das Objekt selbst hatte die Gestalt eines gestreckten Rotationsel lipsoids. Die RAY war etwa eine Schiffslänge weit eingedrungen. – Sie glauben mir?« »Ich glaube Ihnen!« beeilte ich mich zu erklären. Ich fürchtete, daß er plötzlich aufhören könnte weiterzuerzählen. »Aber wie zum Teufel sind Sie da wieder herausgekommen?« fragte ich, um seinen Bericht zu be schleunigen. Larson ließ sein Automatenlachen ertönen. »Nachdem wir uns orien tiert hatten«, fuhr er fort, »versuchten wir auszubrechen. Gray hämmerte pausenlos auf den Handstarter. Das Schiff vibrierte, schüttelte sich. Wir steckten fest. Ich hatte nichts anderes erwartet. Es war nicht schwer zu erraten, daß wir uns jetzt in der Lage jener Fabrikschiffe befanden, die von ihren Einsätzen nicht zurückgekehrt waren. Bei diesen Schiffen hatten wir für jede nur denkbare Gefahr den Befehl zum Auftauchen gegeben. Und, es waren Befehle gewesen, die nichts bewirkt hatten. Wir lagen grübelnd und wartend auf unseren Matten und beobachteten die Schirme. An Hand der Spur der zerstörten Hohlräume war der Weg, den die RAY genommen hatte, immer noch zu erkennen. Die Bahn führte geradewegs ins Innere. Wir wurden in eine der großen Kammern befördert, die mit Flüssigkeit gefüllt schien. Dann erfaßte uns eine Art Strömung und trug uns zum Zentrum des Objekts. Eine Weile passierte nichts. Wir klebten fest. Das massive, kugelförmi ge Zentrum war doppelt so groß wie unser Schiff. Es bestand aus ME WA, wie offenbar alles in diesem Objekt. Aus der neuen Perspektive erkannten wir, daß viele größere Hohlräume an der Oberfläche der Ku gel endeten. Dann erregte ein anderes Phänomen unsere Aufmerksamkeit. Wir beobachteten helle, unscharfe Gebilde, die ständig an Zahl zunahmen und umhertrieben. Sie waren meist scheibenförmig und metergroß. Ge legentlich zerflossen sie oder fügten sich zu komplizierten Formen zu sammen. Sie umkreisten und betasteten unser Schiff. Immer neue helle
Schatten schwammen auf uns zu und bildeten eine bewegliche Mauer, die die RAY wie eine Glocke umschloß. Beim Anblick dieser komplizierten Strukturen und amöbenhaften Ge bilde kam mir zum ersten Mal der Gedanke, daß wir hier ein Lebewesen vor uns hatten, daß wir im Innern eines Jupitaners gefangen waren. Die Ereignisse begannen sich erneut zu überstürzen. Die Hauptsiche rung sprach an. Gray drückte sie verwundert wieder ein. Die meisten Aggregate liefen doch unter Nennlast. Ein Kurzschluß? Glücklicherweise konnte die Hochspannung für die Druckstabilisierung der Kabine nicht zusammenbrechen, da sie nicht vom Kraftwerk versorgt wurde. Die Bordspannung sank weiter ab, obwohl das Kraftwerk mit immer höherer Leistung arbeitete. Dann setzte unser Neutrinosender aus, die letzte Verbindung zur Außenwelt. – In diesem Augenblick diagnostizierte der Bahnverfolgungscomputer auf PROMETHEUS unser vermeintliches Ende! ›Jemand zapft unsere Stromversorgung an!‹ sagte Gray entrüstet. ›Ich tippe auf die Amöben!‹ Ich konnte ihn gerade noch davon abhalten, das Kraftwerk abzuschal ten. Ohne fremde Hilfe konnten wir die Reaktoren nicht wieder anlaufen lassen. Das wäre tatsächlich das Aus gewesen. Dann kam mir die rettende Idee. ›Schalte die Lenzpumpen für den Ringtank ein!‹ brüllte ich Gray an. ›Und keine Fragen jetzt!‹ Widerstrebend führte Gray meine Anweisung aus, obwohl überhaupt kein Sinn dahinter zu stecken schien. Die Pumpen spuckten einige hun dert Liter MEWA aus, der wie Milch im Wasserbottich aufwolkte. Dann blieben die Pumpen stehen. ›Pumpen aus!‹ befahl ich weiter. ›Kraftwerk drosseln und Pumpen einschalten!‹ Dieses Mal förderten die Pumpen so viel MEWA aus dem Tank, daß sich der ausgedehnte Hohlraum, in dem wir uns befanden, weiß und scharf auf dem Radarschirm abzeichnete. Abermals blieben die Pumpen stehen, und abermals ließ ich Gray die Prozedur wiederholen, bis der letzte Liter MEWA aus dem Tank befördert war. Die Bordspannung stieg. ›Und nun die Antriebe‹, rief ich aufgeregt.
Das rätselhafte Objekt gab uns frei. Mit einem einzigen Anlauf durch schnitten wir den riesigen Körper. Wir lagen erschöpft auf unseren Mat ten und blickten verwundert auf den kleiner werdenden Fleck auf dem Radarschirm und auf die verblassende MEWA-Spur, die wir hinter uns herzogen. Das Auspumpen der Tanks, das uns den Weg nach draußen erschloß, ergibt einen Sinn und erlangt Bedeutung, wenn man es aus der Sicht eines Jupitaners betrachtet, eines Jupitaners, der selbst MEWA …« Chefarzt Berger stellte Larsons Stimme ab, wie man eine Lampe aus schaltet. »Genug geschwatzt«, sagte er zu mir. »Der Patient braucht Ru he. Sie haben ja Ihren Bericht, und diskutieren können Sie später.«
9 Wir liefen durch einen Eistunnel, der vom Hauptstollen abzweigte und zum Biolabor führte. Ein ausladendes Gewölbe, ein schwerer Elektro wagen hätte wohl durchfahren können. Wir liefen hart rechts. Mit der Hand hielt ich Kontakt zur lackglänzenden versiegelten Seitenfläche. Die Wand fühlte sich warm an. Durch den Lack schimmerte blasiger hell brauner Spritzbelag aus Eisbeton. Hin und wieder surrte ein unbemann tes Elektromobil vorüber. Ich drückte mich dann näher an die Tunnel wand heran. Der Mann, hinter dem ich hertrottete, ein Zweimetermann, der keinen Helm trug, weder am Gürtel der Kombination noch auf seinem glatten Schädel, war Kyborg Jan Larson. Jan lief gleichmäßig und schnell. Elektrochemische Muskeln, Linearund Schrittmotoren bewegten seinen Körper. Er drehte sich nach mir um und zeigte an, daß wir in den nächsten Querstollen einzubiegen hät ten. Er blickte freundlich, obwohl selbst die winzige Asymmetrie seiner Augenstellung konstruiert war. Ein Schaltkreis beherrschte die Mimik, die von Jan bewußt vorgewählt werden konnte oder auch vom Unterbe wußtsein gesteuert wurde. Eingebaute Filter schwächten negative emo tionelle Äußerungen ab. Jan blickte mehr oder minder ständig freundlich. Von Zeit zu Zeit wurde seine mimische Grundeinstellung überprüft. Ein Technikerteam betreute seine körperlichen Funktionen, befaßte sich mit turnusmäßigen Durchsichten. Ein Mentor, es war Chefarzt Berger, beriet ihn diskret in persönlichen Fragen. Mein Gott, dachte ich, als ich von diesen Dingen erfuhr, lauter Kommissionen, die in diesem Innersten herumwühlen und die Einhaltung von Verordnungen überwachen! Ei nem Kyborg wurden strenge Auflagen erteilt und viele Rechte aberkannt. Ein erweitertes Empfindungsspektrum und die Aussichten auf faszinie rende künftige Betätigungen – ergaben sich daraus für ihn nicht unge ahnte Möglichkeiten, sich zu entfalten? Waren das andererseits nicht Freiheiten, um die ihn mancher Mensch beneiden mochte?
Vor der Biolaborschleuse belehrte uns der automatische Wächter: Vi rulente Bakterien könnten unser Leben bedrohen. Unter den Bakterien befanden sich vor allem Arten, die die Wolken des Jupiters bevölkerten. Die Tore öffneten sich. Wir betraten einen Eispalast mit sternförmi gem Grundriß, dessen Gewölbe von einer einzigen starken Säule aus Eisbeton getragen wurde. Korridore führten zu den Labors. Anita Larson kam uns entgegen. Das ganze Elend, das die erzwungene Trennung von Jan mit sich brachte, stand ihr im Gesicht geschrieben. Das Kyborgisierungsverfahren forderte, daß bestehende Lebensgemein schaften aufgelöst wurden. Und das nicht nur, weil die Konstrukteure des Kyborgs erogene Körperzonen nicht vorgesehen hatten. Die fehlen de Geschlechtskraft war allerdings ein gravierender Eingriff und ein Grund für die ablehnende Haltung vieler Menschen gegenüber solchen Umwandlungen. Vieles an Jan war verändert worden: seine äußere Erscheinung, die Art, seine Gefühle zu zeigen, und manche der Gefühle selbst. Er war nicht wiederzuerkennen. Eine neue Persönlichkeit. Und trotzdem: Es gab viele Züge, die seinem ursprünglichen Ich ähnelten. Jan hatte Hirn, Wissen, Erinnerungen und Interessen behalten. Seine Handlungen, die aus seinen Erfahrungen und der Art seines Denkens folgten, waren die eines Jan Larson geblieben. »Hast du noch Schmerzen?« fragte Anita und blickte in seine dunklen, fast schwarzen künstlichen Augen. »Schmerzen?« wiederholte er sinnend, als wüßte er nicht, was das wäre. Er war sich nicht schlüssig, was er mit Anitas Hand anfangen sollte, die auf seiner Brust lag. Er bemerkte den Ring ihrer Partnerschaft, den sie früher nur selten getragen hatte. »Haben diese ewigen Körpereinstellungen endlich aufgehört?« fragte sie besorgt. »Ja, es wird weniger«, sagte er zerstreut. »Läßt man dir genügend Ruhe?« fragte sie weiter. »Aber ja …« »Und wie fühlst du dich?« Anita fragte nicht aus Neugierde. Sie glaub te, daß Jan gerade jetzt auf ihre Zuneigung angewiesen wäre.
»Ein wenig fremd noch in meiner Haut. Als müßte ich mich selbst noch zureiten. Oder auch einfahren.« Er lachte. »Ansonsten bin ich mit mir zufrieden.« Jan nahm schließlich ihre Hand von seiner Brust, hinter der sein Ge hirn plaziert worden war. Nicht nur eine vielschichtige Panzerung, auch ein besonderer Instinkt schützten das neue Zentrum seiner Persönlich keit. »Anita«, sagte Jan eindringlich, »du solltest von Ganymed Abschied nehmen, so, wie wir es vereinbart hatten. Ich brauche dich nicht. Denke an deine Kinder, die du schon immer haben wolltest. Ray und Tina. Wä re jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, sie dir einpflanzen zu lassen?« »Es sind unsere Kinder, unsere!« sagte sie entschieden. »Nach dem Gesetz …« »Es werden auch dann noch unsere Kinder bleiben!« »Streiten wir uns nicht«, sagte Jan versöhnlich. »Ich werde vorerst auf GALILEI bleiben. Niemand kann mich zwin gen, die Station zu verlassen.« »Ist die Probe analysiert?« fragte ich und erinnerte beide daran, daß wir in das Labor gekommen waren, um den Stoff zu untersuchen, den ich der Kloake des Verarbeitungskomplexes auf PROMETHEUS entnom men hatte. Wir liefen durch mehrere Räume, an Stahltüren vorbei, hinter denen in thermostatierten Behältern die jupitanischen Bakterienstämme lagerten, vor denen uns der Wächter gewarnt hatte. Jan setzte sich an das Mikro skop. Anita Larson kommentierte die Bilder. Gelegentlich starrte Jan sekun denlang auf den Monitor, als wollte er für einen seiner inneren Speicher einen Abzug kopieren. Aus einer homogenen Masse, die mit dem Untergrund verschwamm, schälte sich ein unregelmäßiges, lockeres Netz von Linien heraus, die sich umeinander wanden und sich kreuzten. Bei höherer Vergrößerung offenbarten sich die Fibrillen als Schläuche, die an Kreuzungspunkten ineinander mündeten. Die dünnen Wandungen der Schläuche waren teilweise zerbrochen, möglicherweise infolge der Prozeduren bei der MEWA-Extraktion aus den MEWACONS. Der metallische Wasserstoff,
der auf PROMETHEUS abgetrennt worden war, mußte diese Struktu ren erfüllt haben wie Wasser einen Schwamm. Schließlich wurden Fein strukturen sichtbar, Hohlräume im makromolekularen Bereich. »Platz für organische Moleküle, Platz selbst für Bakterien«, sagte Anita. »Wir haben Reste gefunden, verkohlte Bestandteile.« »Neue Fakten?« fragte Jan. »Wenn überhaupt DNA vorgelegen haben sollte, dann wahrscheinlich in hoher Verwandtschaft mit den Jupiterbakterien. Wir haben versuchs weise den häufigsten Stamm, den Ju-zweiundzwanzig, auf einem ähnli chen, schwammartigen Silikatsubstrat einer Temperatur von dreihundert Grad ausgesetzt.« Sie zeigte auch diese Bilder, die den vorhergehenden ähneln sollten. Es war nicht zu erkennen, ob Jan zufrieden war oder nicht. Sie diskutierten über Moleküle und Lebensformen, über DNASequenzen, über Probleme des kosmischen Gen-Imports. Ich konnte ihrem Gespräch nicht mehr folgen. Jan erhob sich abrupt. Er verabschiedete sich flüchtig von Anita. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er das Labor. Anita saß erschöpft neben der Hochspannungssäule des Mikroskops. »Wenn du Hilfe brauchst …«, rief sie Jan nach. »Heißt das«, erkundigte ich mich nach einer angemessenen Pause, »daß die MEWACONS von den Ju-zweiundzwanzig besiedelt werden?« »Möglich … vielleicht Symbiose«, sagte sie lustlos. »Vielleicht haben wir ein symbiontisches Leben vor uns, wie wir es bei Röhrenwürmern in heißen Tiefseequellen vorfinden. Diese Würmer besitzen weder Mund noch Verdauungssystem. Sie ernähren sich von den organischen Sub stanzen, die von den in ihrem Körpergewebe lebenden Bakterien gebil det werden.« »Dann wären die MEWACONS ein recht primitives Völkchen?« »Nicht unbedingt«, sagte Anita, »die Leistungsfähigkeit der Symbionten ist eine Frage der Evolution.« »Und Abeles Meinung?« Sie zuckte mit den Schultern. »Abele akzeptiert inzwischen eine bakte rielle Besiedelung der Objekte. Sie ist so gut wie erwiesen. Sie steht auch
nicht im Widerspruch zu seiner Hagelkornhypothese. Zu gegebener Zeit will er darüber offiziell berichten.« Ich bedankte mich. Ich vertraute ihr mehr als Abele und auch Jan. Selbst wenn ihr das Wissen beider fehlen mochte: ich spürte ihre Ehr lichkeit. Das Kyborgisierungsteam war abgereist, und Jan Larson würde von der Station aus betreut. Seine Funktion als Chefkonstrukteur durfte er erst nach einer Karenz von einem Jahr wieder ausüben, nach einer Zeitspan ne, die für Kyborgs allgemein als Kandidatenzeit betrachtet wurde. Jan nahm diese Verordnung gelassen hin und wandte sich statt dessen noch intensiver dem Studium der MEWACONS zu. Abele ließ ihn gewähren, wahrscheinlich mit gemischten Gefühlen. Ei nerseits schien er Larsons profundes Wissen über PROMETHEUS und die Jagdschiffe zu schätzen. Andererseits mußte ihn seine Hypothese einer hohen Intelligenz der MEWACONS natürlich beunruhigen – ob wohl Larson nichts beweisen konnte. Jans Arbeitszimmer war ein Billigraum außerhalb des Felsmassivs der Station. Die Versiegelung der Zimmerwände war zum Teil zerstört. Aus den Ecken und von der Decke quollen Eisraupen und hingen Eiszapfen. Versorgungsleitungen durchzogen den Raum. Ganz in der Nähe fauchte ein Sauglüfter. Die Temperatur lag nur wenig über Null. Doch Lärm und Kälte konnten ihm nichts anhaben. Es waren Zustandsgrößen, die er eben registrierte, und da sie seine Existenz nicht bedrohten, wurde er von ihnen nicht aus dem Gleichgewicht gebracht. Jan hatte die Wände mit Fotos bepflastert. Ein Bild, das an einem kräf tigen Eiszapfen lehnte, fiel durch die Struktur des dargestellten Objekts aus der Reihe. Es handelte sich um das aus dem Gedächtnis gezeichnete MEWACON, in dessen Innerem er und Gray mit der RAY gefangen gewesen waren und das er RAYON getauft hatte. Als ich sein Arbeitszimmer betrat, holte er gerade aus seinen inneren Speichern jene mikroskopischen Aufnahmen hervor, die wir im Biolabor gesehen hatten. »Ist es der Beweis, den du gesucht hast?« fragte ich ihn.
»O nein«, sagte er zögernd. »So einfach liegen die Dinge nicht. Was sol len solche Bilder schon beweisen können.« Überraschenderweise legte er seinen Arm um meine Schultern. Er führte mich durch seine Galerie. Einige der Bilder ähnelten den abgenag ten MEWACONS, die ich auf PROMETHEUS gesehen hatte. Er erläu terte mir sein System. Er unterschied die kleinen, relativ amorphen Kör per von den großen MEWACONS und den noch größeren Objekten, den RAYONEN. Und er sah eine sich vollziehende Entwicklung von dem kleinen Typ bis hin zu dem überdimensionalen Wesen mit dem Kugelzentrum und einer Makrostruktur, die einer Apfelsine ähnelte. Ich spürte noch immer den leichten Druck seines Armes. Augenblicke lang sann ich darüber nach, warum sich sein Mund rhythmisch öffnete und schloß, während er sprach. Dann konzentrierte ich mich wieder auf seine Rede. »Sind es kindliche Wesen, die zu mächtigen RAYONEN heranwach sen?« fragte Jan. »Entwickeln sich die RAYONEN zu noch gewaltigeren Gebilden? Vielleicht sehen wir auf diesem Bild hier einen jugendlichen Jupitaner, der während eines Ausfluges zum Großen Roten Fleck von unseren Köderschwärmen und Jagdkommandos grausam getötet wurde? Ich werde es noch herausfinden! Oder haben wir es mit einer Fülle von Arten zu tun, die sich voneinander unterscheiden wie Tintenfisch und Stubenfliege, Amöbe und Mensch? Seit zweihundert Jahren wissen wir, daß in der Jupiteratmosphäre in großen Mengen Biomoleküle produziert werden. Wir sehen es schon als selbstverständlich an, daß die Wolken des Jupiters von verschiedensten Bakterien besiedelt werden. Das ist Leben. Und der Jupiter hat diesem Leben über astronomische Zeiträume hinweg stabilere Bedingungen geboten als die Erde mit ihrer bewegten Vergangenheit: Krustenaufschmelzungen, Wandel der Atmosphäre, Wechsel von Land und Meer.« Er sprach dann noch weiter, von horizontalen und vertikalen Entwick lungslinien und vom rasanten Entwicklungstempo des Lebens, das im Brutschrank Jupiter anzutreffen sein würde. Jan hatte mich inzwischen zu seinem nüchternen Arbeitsplatz in einer angrenzenden Grotte geführt. Auf der Platte seines Schreibtisches be
wahrte er unter einer gläsernen Haube ein runzliges Stück MEWACONHülle auf, das sich wie dünne Rinde eines Baumes wölbte. »Robert, stell dir vor, irgendwo dort im Jupiter gleiten die MEWA CONS auf ihren Magnetschirmen durch den unendlichen Gasozean. Die Höllenglut ist ebenso ihr Element wie der mörderische Druck und die enorme Schwerkraft. Sie bewohnen ihre Sphären, die vielleicht schwe bende oder schwimmende Städte sind. Der Raum, den sie beherrschen, muß ihnen unendlich erscheinen.« Seine Stimme klang nach wie vor ru hig, nur der Gedankengehalt seiner Rede war mitreißender geworden. »Aber wie komme ich mit ihnen in Kontakt?« fragte er. »Über welchen Kanal? Visuell? Akustisch? Vielleicht Infraschall? Über Radar? Oder be vorzugen sie einen exotischen Kanal? Neutrinos, die alles durchdringen den Teilchen? Warum eigentlich nicht? – Mich verfolgt da eine Idee. Die MEWACONS werden mit kleinen Neutrinosendern markiert. Auch die jenigen, welche den Jagdschiffen entkommen, tragen die aktivierten Sen der in ihren Körpern. Wenn wir diese Signale verfolgten, könnten wir eine Menge über die MEWACONS erfahren. Auf der anderen Seite des Ganymed steht ein großes Neutrinoteleskop. Ich lade dich zu einem Ausflug zum Teleskop ein …« Ich zögerte. Die Bestimmtheit, mit der er von Jupitanern sprach, ver wirrte mich, verunsicherte mich. Man konnte der Faszination, die seine Hypothese ausstrahlte, auch verantwortungslos erliegen. Doch die Neu gier siegte. Ich stimmte zu. Und Abele würde mir den Ausflug nicht verweigern. »Wir brechen morgen auf«, sagte Jan. »Ein Köderschiff fliegt bereits zum Jupiter. Und ich verspreche dir, daß wir noch Zeit finden werden, um die Methanquellen zu besuchen und den Wasservulkan zu besichti gen.«
10 Ich legte ein Sensorenleinen an, schlüpfte in das Klimatorium, suchte in den Einbauschränken ein passendes inneres Schutzkleid und stieg dann in den schweren Skaphander. Aber auch jetzt war noch genügend Klein kram unterzubringen, ehe ich fertig gegürtet und gerüstet war. Anita besuchte mich. Sie blickte in den Früchtekorb, den sie mir tags zuvor ins Appartement gestellt hatte, und zeigte sich mit meiner Eßlust zufrieden. Sie schien mir froh gestimmt zu sein. »Ich freue mich, daß Sie Jan begleiten«, sagte sie ernst. Ich wehrte ab. »O doch! Und ich möchte Ihnen danken. Es gibt viele Menschen, die einem Kyborg gegenüber Vorbehalte haben, aus Furcht vor deren geisti ger und körperlicher Überlegenheit, wegen ihrer Undurchschaubarkeit oder einfach aus Neid.« Sie blickte mich an, wartete. Es wäre schwierig gewesen, ihr mein kompliziertes Verhältnis zu Jan auseinanderzusetzen. Sie kannte nicht meinen Auftrag. »Wo steckt denn Jan?« fragte sie schließlich. »Wir treffen uns auf dem Hof. Das Fahrzeug mit der Achtzehn auf dem Rücken …« Anita lief zum Fenster und schaute in den Kraterkessel. Unser gepan zerter Wagen parkte vor der Betonröhre des Felsenausganges. Die abgewrackte Lastrakete war nicht zu verfehlen. Um den Gitterturm gruppierten sich aufgeblasene Iglus. Die kleine, grelle Sonnenscheibe stand einige Grad über dem Horizont und warf aschgraues Licht über die Eisebene. Reifen- und Kettenspuren durchschnitten die Ebene. Ver einzelt glänzten frisch aufgeworfene kleinste Krater. Mutwillig wie ein Kind stapfte ich durch das Eispulver, genoß ich die Zerstörung der seit undenklichen Zeiten unberührt daliegenden Flächen. Dann folgte ich wieder Jan und den Spuren der Fahrzeuge, die sich mehr und mehr überlagerten, je näher wir an den Gitterturm herankamen.
Und der Jupiter? Ich blickte zu ihm hinauf wie zu einer Gottheit. Er füllte den Himmel, leuchtete in warmen Farben. Greifbar nahe schien er zu hängen, und ich bekam Lust, einen Eisbrocken hineinzuwerfen. Das Chaos seiner Wolken war zu weichen Mustern erstarrt. Blutrot glänzte der Große Rote Fleck. Auf den letzten Metern kam uns ein Mann im Skaphander entgegen. Es war Professor Ken Fox, der Leiter des Observatoriums. Über Metall treppen und einen schräg ins Eis führenden Stollen gelangten wir ins Innere einer hohen Kuppelhalle. In der Mitte des Raumes erhob sich der klobige Neutrinodetektor. Der Professor gab ein Zeichen. Wir legten die Helme ab. Sein Hals ragte wie ein Stiel aus der Rüstung und trug einen schmalen Kopf. Er grautes, gepflegtes Haar. »Wir sind an ein zweites Teleskop gekoppelt«, sagte Fox. Er artikulierte sorgfältig. »Die Basislänge beträgt mehr als zweitausend Kilometer.« »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, begann Jan um das Teleskop zu werben. »Leider habe ich keinen Auftrag. Und um ehrlich zu sein, Pro fessor Abele hätte uns auch keinen erteilt.« »Ausgeschlossen!« blockte Fox ab. »Wir arbeiten rund um die Uhr, zum Teil im Multiplexbetrieb. Internationale Programme, das Karto gramm der Tiefenströmungen des Jupiters …« Weiter miteinander diskutierend, entfernten sie sich von mir. Jan mit trotzigen, kraftvollen Gebärden. Ein überdimensionierter Samurai, der einen gebrechlichen Weisen umzustimmen versuchte. Ich beugte mich währenddessen über die Brüstung des schmalen Laufganges und ver suchte mir einen Reim auf die angehäufte Technik in der Maschinenhalle zu machen. »Wenn es sich nur um die Abrechnung Ihrer Forschungsstunden han delt«, hörte ich Jan sprechen, als sie wieder bei mir angelangt waren, »nehmen wir sie aus dem internationalen SETI-Fonds.« »SETI? – Das kann mich meine Stellung kosten!« sagte Fox entrüstet. »Im Gegenteil! Falls es sich herausstellen sollte, daß es sich bei den beobachteten Objekten um Jupitaner handelt, werden Sie wohl eher Ruhm ernten.«
Fox lachte auf. »Ich habe von diesen verrückten Ideen gehört – jeden falls ein vertracktes Problem!« »Falls wir Ihr Instrument überfordern«, sagte Jan, »bliebe uns nichts anderes übrig, als es von PROMETHEUS aus zu versuchen.« Fox lächelte. »Das kleine PROMETHEUS-Instrument ist nicht mehr als ein Spielzeug für Anfänger. Nein, nein. – Ich sähe durchaus einen Weg, vorausgesetzt, wir hätten die Zielkoordinaten. Eine schwache Quelle zu finden, das ist die Schwierigkeit. So schwer, wie ein fernes Flugzeug oder einen hoch fliegenden Vogel am Himmel zu suchen.« Fox war stehengeblieben und dirigierte uns mit einer einladenden Ge ste in ein Nebengelaß. Wir saßen im Kontrollraum. Im Dunkel vor uns spannte sich der ab grundtief flirrende Schirm der Teleskopanzeige auf. Aus den Lautspre chern drang der zwischen PROMETHEUS und GALILEI geführte Dia log, hektisch hervorgestoßene Sätze, unverständliche Kürzel, Störgeräu sche. Zu einzelnen Objekten wurden Massenangaben und Kurzcharakte ristiken durchgesagt. Alle Treibmarken waren inzwischen ausgesetzt worden, und die Jagd hatte begonnen. Jan registrierte jede Bemerkung und war bald in der Lage, so etwas wie eine Köderbilanz anzugeben. »Von den achtzig abgesetzten Treibmarken wurden fünfunddreißig an genommen. Eine schlechte Ausbeute. Vier Doppelannahmen, ein Tri plett. Bleiben vierundzwanzig einfach markierte Objekte übrig. Zur Jagd freigegeben wurden bislang neun und ein doppelt markiertes Objekt. Zwei MEWACONS wurden bereits an der Station festgemacht.« Jan fuhr fort, sich über die Statistik auszulassen, nannte gestrichene Objekte, die Namen der Piloten, Positionen. Der anwesende Techniker hatte die ganze Zeit über Larson aufdring lich gemustert, als sähe er zum ersten Mal einen Kyborg. Er starrte auf das K auf Larsons Handrücken und verfolgte alle Bewegungen seiner Gesichtszüge und Extremitäten. Immer wieder schaute er herausfor dernd in seine Augen. Am liebsten hätte er ihn wohl angefaßt.
Fox erteilte die ersten Kommandos an die Spracheingabe des Leitcom puters. Eine Sirene heulte. In der Tiefe des Detektorschirms glommen Lumineszenzen. Aus dem diffusen Leuchten formte sich ein Lichtball: die alles überstrahlende Neutrinoquelle der Sonne. Tausende von Licht punkten ferner Galaxien und Sterne flammten auf. Spuren freier Neutri nos blitzten durch den Schirm. »Instrumente! Achsen kippen auf PROMETHEUS-Position!« sagte Fox ungewohnt laut. Die chaotischen Lichteffekte lösten sich auf. Die Beobachtungsachsen der beiden Teleskope kreuzten sich im Raum PROMETHEUS und er faßten die einverleibten Neutrinosender der bereits an der Station veran kerten MEWACONS. Zwei pulsierende, leuchtende Tupfen. »Instrumente! Raum-Fächer – zweihundert Kilometer unter PROM gehen!« befahl Fox mit angestrengter Stimme. Dann drückte er mir das Mikrofon in die Hand. »Der Rest ist Ihre Sache.« Der Techniker, der neben mir saß, grinste. »Instrumente! Quellen durchnumerieren!« Ich sprach sehr deutlich. »Raum-Fächer erweitern!« Mein Mund war trocken. Ich wußte, daß eine fehlerhafte Bemerkung zur Spracheingabe des Teleskops das ideal einge stellte Instrument dejustieren könnte. Zahlreiche Lichtpunkte blinkerten und drifteten jetzt durch mein Blickfeld. Ein Lichterfest. Fast jeder Schein stellte ein erlegtes MEWA CON oder ein potentielles Opfer dar. Ich konzentrierte mich auf das Objekt M 7, ließ seinen Bahnverlauf wiederholen. Das Objekt, das die Piloten Pauls und Ablakov mit ihren Jagdschiffen verfolgten! Zweifach geködert und mit 65 Tonnen ein ungewöhnlich großes Exemplar. Lang andauernde schnelle horizontale Bewegungen wechselten mit passiven Phasen. Vergeblich versuchte ich, die Stimmen der Piloten aus dem Wirrwarr herauszufiltern, das die Lautsprecher von sich gaben. Dann übernahm Jan das Befehlsmikrofon. Er tilgte im Schirm alle Ob jekte, die sich regulär verhielten und gejagt wurden. Ihn interessierten die schwierigen Fälle, die von der Liste gestrichenen Objekte, die haken schlagenden, torkelnden und auf Spiralbahnen sich bewegenden ME WACONS.
Die Wiederholungen der Abläufe im Zeitraffer, die Jan immer wieder abrief, machten deutlich, daß den scheinbar ziellosen Abwärtsbahnen der Objekte eine Ordnung zugrunde lag. Irgendwann einmal fielen alle diese MEWACONS durch ein und denselben Raumbereich. Möglicherweise – das war bei diesem Maßstab nicht zu klären – strebten die Objekte einem Punkt zu, der irgendwo im Gasozean der Jupiteratmosphäre lag, um dann weiter in den Jupiter hineinzufallen, als glitten sie durch einen steil geneigten Schlauch. Das war bemerkenswert. Ihre chaotischen Bahnen glätteten und fügten sich. »Auch wir haben schon solche gewaltigen Strömungen in der Jupiter atmosphäre beobachtet«, sagte Fox. »Sie setzen ein und aus und gehören offenbar zu den großräumigen Verwirbelungen, die im Gebiet des Gro ßen Roten Flecks auftreten.« Nachdem Fox seinen Standpunkt dargelegt hatte, verlor er bald das In teresse am Geschehen und verließ den Leitstand. Auch die Pausen wur den länger, die der Techniker einlegte. Nur Jan arbeitete unverdrossen weiter, zog Kopien vom Schirm, wiederholte Bahnverläufe. Veränderun gen deuteten sich an, wurden zur erstaunlichen Gewißheit: Die Abwärts bewegungen der Lichtpunkte stoppten. Die Objekte sammelten sich, so nahe beieinander, daß sie die Raumlupe des Teleskops nicht mehr auflö sen konnte. »Krankenhaus«, sagte Jan lakonisch. »Was soll das heißen?« fragte ich verblüfft. »Die Reise der Objekte scheint dort zu enden. Ich bin davon über zeugt, daß alle diese MEWACONS an dem rätselhaften Ort auf irgend eine Weise behandelt werden, sich irgendeiner Prozedur unterziehen oder ihr unterzogen werden …« Jan war mit dem Ergebnis der Beobachtungen zufrieden. Er lehnte sich zurück und verfiel in einen Zustand der Starre. Ich zog das Be fehlsmikrofon zu mir heran und holte mir das Jagdgeschehen wieder in den Bildraum. Ich forderte den Bahnverlauf von M 7 an. Das MEWA CON, das Pauls und Ablakov verfolgt hatten, war an der Station inzwi schen angelandet worden. Beide waren mit heiler Haut davongekommen.
11 Jan lag auf dem Rücken. Er hielt die Augen geschlossen, in Selbstschau versunken. Er käute wieder. Wir hatten bedeutsame Verhaltensweisen der MEWACONS beobachtet, und nun bereitete er die Daten seiner körpereigenen Speicher auf, unterstrich oder löschte. »Der alte Fox hat uns seinen Schreiter zur Verfügung gestellt«, sagte ich, um ihn an sein Versprechen zu erinnern, den Wasservulkan zu besu chen. Jan richtete sich auf und blickte mich interessiert an. Der Wimpern schlag und der feuchte Glanz seiner Maschinenaugen waren täuschend echt. »Und wenn es sich um einen MEWACON-Friedhof handelt?« fragte ich nach einer Weile. »Einfach, weil die Objekte nicht weiter fallen kön nen, weil eine undurchdringliche Schale im Jupiter sie daran hindert …« Jan winkte mich heran. Ich löste mich mit einem Kippschwung meines Körpers von der rohen, buckligen Eiswand unserer Unterkunft und blickte in seinen Taschenholographen. Leuchtende Spuren wanderten durch den Pseudoraum. Noch einmal beobachteten wir das Einschleusen und Abgleiten der Objekte im Strömungsschlauch und das Erstarren sämtlicher Bewegungen auf engstem Raum. »Und jetzt paß auf!« sagte Jan. Aus dem leuchtenden Fleck löste sich ein glitzernder Punkt, entfernte sich, verharrte erneut, um dann schnell und geradlinig zu versinken. »Der Neutrinosender wird aus dem Körper eines MEWACONS gestoßen«, erklärte Jan, »sinkt abwärts im freien Fall und erreicht schnell die Grenzgeschwindigkeit, die dieser Tiefe des Jupi ters entspricht. Später, wenn sich die Hitze durch den Panzer des Sen ders gearbeitet hat, wird die Quelle verlöschen. So einfach fügt sich Stein auf Stein.« Die Krankenhaushypothese, die Jan aus diesen Irregularitäten ableitete, war faszinierend. Faszinierend oder verrückt. Verrückt und ausgefallen wie die Folgerungen, die er aus seinem MEWACON-Flug und den Ana lysen der Kloakenproben gezogen hatte. Und die Beweise für seine Ver
mutungen? Sie waren indirekt, unvollkommen, waren neue Hypothesen. Ich jedenfalls sah sie nicht, die Gewißheit, daß wir es mit intelligenten und zivilisatorischen Leistungen von vernunftbegabten Außerirdischen zu tun hatten, auch wenn sich die vagen Hinweise darauf summierten. »Jedenfalls ein außergewöhnliches Phänomen«, sagte ich nachdenklich. Jan ließ sich auf seine Liegestatt zurückfallen, schloß die Augen. Er mißbilligte meine schwankende, neutrale Haltung. »Ein Phänomen, dem wir unbedingt nachgehen sollten. Ich werde mit Abele darüber sprechen.« Jan lachte. Ich stellte mir vor, wie dieses Lachen ohne seine eingebau ten emotionalen Filter geklungen hätte: Höhnisch? Bitter? Fox hatte es sich nicht nehmen lassen, seinen Chefschreiter persönlich aus dem Hangar herauszulenken. Das Transportmittel mutete wie eine Kreuzung zwischen Insekt und Flußpferd an: sechs Schreitwerkzeuge und ein dazwischen aufgehängter ausufernder Leib. Ein Strahlenschutz schirm überdachte die Kabine. Auf einem mittig aufgesetzten Giraffen hals rotierte ein gegenläufiges Antennenpaar. Mit unerschütterlicher Geduld kontrollierte Fox die Sicherheitssysteme des Schreiters. Dann erteilte er letzte Ratschläge. Er sprach sorgfältig und dehnte die Worte. Wir nisteten uns im Bauchraum des Schreiters ein. Forsch beanspruch te ich den Platz des Piloten. Jan ließ mich gewähren und breitete sich auf der bequemen Fondbank aus, verfiel dort allmählich in den mir sattsam bekannten Zustand der inneren Einkehr. Ab ging die Post. Ich hatte die Beinfolge eins-fünf-vier, drei-zwei-sechs befohlen. Rhythmisch klickten und klackten die Hufe auf dem Eis. Wir schaukelten dahin. In den Behältern im Bauchraum schwappten Flüssig keiten. Wir marschierten mitten in das leuchtende Dreieck hinein, das Sonne, Kallisto und Jupiter über dem Horizont bildeten. Wir flogen über flache Wälle und durch sanfte Mulden, die in unermeßlichen Zeiträumen zur Unkenntlichkeit zerflossenen Krater im Eis. Die Beinfolge war stabil, aber langsam. Zu langsam, um mich von den Problemen zu befreien, die mich quälten, die mir wie eine Kralle im Hin
terkopf saßen. Offizielle Meinungen und Gerüchte – irgendwo dazwi schen hoffte ich meine Ansichten zu finden. Da waren die verführeri schen, fast wahnwitzigen Ideen Larsons und da die Anschauungen Abe les, die keines Beweises mehr zu bedürfen schienen, so viel Macht und solide Existenz war mit ihnen verbunden. Moralische Bedenken galt es gegen die Realität Tausender von Tonnen geförderten metallischen Was serstoffs abzuwägen. Auf der einen Seite stand ein bisher unerfüllt ge bliebener Menschheitstraum, möglicherweise Kontakt mit außerirdi schen, intelligenten Lebewesen aufzunehmen, auf der anderen Seite die MEWA-Spitzentechnologie, mit deren Hilfe man das Ansteigen der Meeresspiegel zu bändigen hoffte. Ich wählte die schnellste Gangart, Sprünge mit langer Flugphase in der Folge eins-zwei-drei-vier, drei-vier-fünf-sechs. Alarmschritt. Fast, daß wir uns überschlugen. Ich drehte mich kurz um. Larson lag hinter mir wie tot. Brust, Mund und Nasenflügel bewegten sich nicht. Eisstaub wirbelte auf und fiel schnell wieder zu Boden. In der Wolke, die wir zurückließen, glitzerte ein Regenbogen. Der weiße Streifen in der Ferne, den wir ansteuerten und schließlich entlangritten, war bereits das Bett des Methanflusses. Von Zeit zu Zeit hatte sich hier Methan entlang gewälzt. Jetzt lag es trocken. Zurückgeblieben waren helle Ablagerungen in Form einer Kruste wie Kesselstein. Das Bett mochte vierzig Meter breit sein. Es vertiefte sich, je länger wir ritten. Dunkle restfeuchte Flecken tauchten auf, dann erste Pfützen und Rinnsale wie totes, abgestorbenes Wasser. Ein ferner Dunst lag in Schwaden über dem Flußbett. Der Schreiter tapste durch Methan, das aufspritzte und sich brodelnd über die Kameralinsen ergoß. »Besser, wir klettern aus dem Fluß«, sagte Jan, »die Ufer werden stei ler.« »Mit Schwung?« fragte ich. Schließlich ritten wir Galopp. »Der Schreiter macht das schon. Da! Halte auf die nächste Biegung zu. Nimm das Steuer fest in beide Hände!« Der Schreiter nahm das Hindernis mit einem einzigen Sprung – sechs beinig.
Die Methanquelle speiste den See und dieser den Fluß. Wir zwängten uns aus dem Bauch des Fahrzeugs und traten näher an das glatte, ab schüssige Ufer des Sees heran. Auf dessen Oberfläche spiegelte sich in düsteren Farben die schmale Sichel des Jupiters. Auch hier lag Nebel in reglosen Schwaden über dem See. »Die Quelle liefert soviel Methan, um auf der Erde eine Großstadt mit Energie versorgen zu können«, sagte Jan. Wir liefen zum Schreiter zurück. Wieder flogen wir über die eintönige, eisstaubbedeckte Ebene. Langsam wuchs am Horizont der Kegel des Wasservulkans. Das Gelände stieg an. Erste stumme Zeugen vergange ner Wasserausbrüche tauchten auf. Wir ritten über blanke Eiszungen, nackte, starre Raupen und spiegelglatte Eisseen. Wir überquerten Spal ten. Die Formen, vom strömenden Wasser und von der gewaltigen Kraft gefrierenden Wassers hervorgebracht, waren gleichzeitig fließend und zerklüftet. Entlang einer Rinne, die das eruptive Tiefenwasser des Mon des erschmolzen hatte, drangen wir weiter vor. Schritt um Schritt gelang ten wir höher hinauf. Auf halber Höhe zum Gipfel mußten wir den Schreiter verlassen. Jan öffnete die hinteren Außentaschen des Fahrzeugs. Vor uns auf dem Eis türmten sich Ausrüstungen, die ein Bezwingen des Mount Everest er möglicht hätten: Pickel, Seile, Teleskopleiter, Sauerstoff, Verpflegungs päckchen, Notsender, zwei Mikrowellenrevolver, dazu je ein doppelter Satz Patronen, ein scharfes Nachtglas. Wir passierten ein Eistor und gelangten in eine Höhle, hoch wie ein Kirchenschiff. Durch Stollen und Grotten drangen wir weiter nach innen vor. Die Stollen waren Teil eines labyrinthischen Systems, das sich im mer weiter verästelte und in den Wänden zu versickern schien. Ja, der Vulkan entpuppte sich als reichlich hohles Gebilde. Das Eis, stellenweise klar und durchscheinend, so daß die Richtung der Sonne und die roten Farben des Jupiters auszumachen waren, funkelte anderenorts in Farb spielen. Unsere Pickel klirrten über das Eis. Hin und wieder gebrauchten wir den Mikrowellenrevolver. Mit seinem Energiestrahl schmolzen wir Stufen in das Eis, setzten wir Haken und verankerten wir die Leiter.
Veränderungen fanden statt. Die Lichtverhältnisse wechselten. Ich spür te Vibrationen, Geräusche. Aus den Wänden, aus den Ritzen im Boden sickerte Wasser. Hereinquellendes Wasser, das zu fließen begann. Ich lachte. Meine Füße froren fest, und das Lachen blieb mir im Halse stek ken. Jan riß mich los. »Bewegen! Laufen!« schrie er mich an. Er hakte an meinem Gürtel ein Seilende ein und zog mich aus der talwärts fließenden Hauptströmung heraus. Wir erreichten eine trockene Plattform. Aber es blieb uns keine Zeit, um Pläne zu schmieden. Aus einem hochgelegenen Stollen brach ein mächtiger Wasser-Strom in die Höhle ein. Im Zeitlu pentempo schwappte er an den Wänden hoch. Die reflektierte Welle überschüttete uns mit Wasser und klebrigem Eisschaum. Wir betätigten Skaphanderventile, und unsere Anzüge blähten sich auf. Eine Woge er faßte uns, wir trieben hilflos auf der Oberfläche der strudelnden Was sermassen. Das Wasser stieg. »Zwei Grad«, sagte Jan, »und es kocht!« Immer mehr Eis klebte an uns fest und schränkte unsere Bewegungsfreiheit ein. Ich sah, daß sich die große Höhle nach oben verjüngte. Jan zog mich am Seil von den Wandungen fort. Ich begriff, daß er vorhatte, uns von den stei genden Wassermassen aus dem Vulkan tragen zu lassen. Mit schwerfälli gen Beinbewegungen unterstützte ich seinen Plan. Aber die Strömung trieb uns immer wieder in seitwärts liegende Grotten. Dann waren sämtliche Bewegungen erstarrt. Der Ausbruch hatte auf gehört. Wir klebten im Eis, waren gefangen, waren Teil des Wasservul kans geworden. »Kannst du dich bewegen?« fragte Jan. Ich konnte nicht. »Irgendeinen Arm, ein Bein! Versuche es!« »Nein – doch, ein Bein!« Ich schwenkte es kräftig hin und her, ohne einen Widerstand zu spüren. »Kannst du den Mikrowellenstrahler am Gürtel fassen?« »Nein doch!« antwortete ich verzweifelt. »Gut, dann warte, ich hole dich! Keine Angst, ich hänge am anderen Ende des Seils!«
Lange Zeit passierte nichts. Dann spürte ich, daß Jan mit dem Strahler meinen rechten Arm freilegte. Ich biß die Zähne zusammen. Bald konn te ich den eigenen Strahler fassen. Ich schoß mit kurzen Energiestößen. Vorsichtig befreite ich mich aus der Umklammerung, bis ich nur noch mit Arm und Schulter an das Eis gefesselt war. Ich blickte in die Tiefe. Das Wasser hatte sich seinen Weg in die Ebene gesucht. Jan hing neben mir wie ein praller Ballon, wir öffneten die Skaphanderventile. Dann seilten wir uns ab. Wasser tropfte von der Decke und gefror, sobald es unsere Anzüge berührte. Das Höhlensystem des Vulkans war annähernd erhalten geblieben. Wir machten uns auf den Rückweg. Jans fotografisch genaues Gedächtnis leistete uns gute Dienste, und bald sichteten wir den Giraffenhals unse res Fahrzeugs. Der Schreiter selbst war unter frischem Eis begraben. Ich strich mit dem Energiestrahl über das Eis. Es schäumte auf und er starrte wieder. »Laß sein!« sagte Jan. Er nahm mir den Mikrowellenwerfer aus der Hand, öffnete das Magazin und zählte die restlichen Patronen. Dann streifte er mir den vollen Reservegürtel vom Anzug. Ich sah, daß er sei nen Patronenvorrat fast verbraucht hatte. »Setz dich! Entspanne dich!« befahl er und wies mich zu einer wenige Meter entfernten Grotte. »Und keine Angst, der Vulkan bricht nicht wieder aus. Der hat sein Pulver verschossen!« Ich lehnte mich gegen die Eiswand der Grotte. Natürlich wußte ich, was »entspannen« zu bedeuten hatte: der Sauerstoff wurde knapp. Den Schreiter bekamen wir nicht wieder flott, und bis zu den Unterkünften würden wir es zu Fuß nicht schaffen. Wir waren zwei Stunden über die Ebene geschritten und hatten uns neunzig Kilometer vom Observatori um entfernt. Jan stand über dem Schreiter und schmolz mit beiden Strahlern eine Mulde in das Eis. Mit den Händen schaufelte er das Wasser heraus, dann setzte er wieder die Strahler ein. Er stieß ganz plötzlich auf eine Röhre. Unter dem Eis war ein Teil des vulkanischen Wassers talwärts geflossen. Jan schob einige Kisten aus dem Loch. Sauerstoffbehälter waren nicht dabei. Später legte er eine metallische Folie aus und glättete sie. Eine
Antenne. »Wir brauchen Hilfe von GALILEI«, sagte er und reckte einen Arm in den dunklen Himmel. »Bald beginnt die Blaue Stunde.« Die Blaue Stunde – die Sonne würde hinter dem Jupiter verschwinden und seine Strahlungsgürtel verstärken und verschieben. Wir mußten uns schützen, wollten wir nicht von Schauern energiereicher Teilchen durch siebt werden. Zum zweiten Mal begaben wir uns in das Innere des Vulkans. Jan wählte mehrere abschüssige Stollen. Es dunkelte rasch, und wir schalte ten unsere Helmlampen ein. Schließlich erreichten wir den Zentralkrater, der sich wie ein ausgebeultes Trompetenrohr in den sternbesäten Him mel öffnete. Noch schien die Sonne, noch streute ihr trübes Licht in den Kraterschlund. In einer Grotte in der Nähe des Kraters schlugen wir unser Lager auf. »Ich werde dich jetzt in Kälteschlaf versetzen«, sagte Jan. »Es ist keine angenehme Prozedur, aber du bist nicht der erste, der sie über sich erge hen läßt, um auf diese Weise Sauerstoff zu sparen. Ich versichere dir, daß sie uns hier herausholen. Okay?« »Okay«, antwortete ich leise, »wenn es sein muß …« Ich schaltete die Heizung meines Raumanzuges ab. Jan legte mir eine walnußgroße Kapsel in die Skaphanderschleuse ein. Unter Verrenkungen fädelte ich mir den linken Arm die Anzughülle innen entlang in den Bauchraum und fingerte die Kapsel aus der Schleusentasche, quetschte sie durch die Halskrause und nahm sie mit den Lippen auf. Dann öffnete ich das innere und das äußere Klimatorium des Anzugs. Die Kälte begann in mich einzudringen. Ich wurde müde. Voller Angst sah ich dem Ablauf der weiteren Prozedur entgegen. Jan schob einen Eisbrocken unter meinen Helm. Er hantierte an meinem Skaphander herum und zog ein Kabel zu einer Diagnoseeinheit. Gelegentlich warf er einen kurzen Blick zu mir in die Helmöffnung. »Kyborg Larson – Notruf an GALILEI …«, hörte ich Jan rufen. Der wachhabende Computer der Station meldete sich. Später glaubte ich die Stimme General Amons zu erkennen. Ein kalter Panzer schnürte mich ein, begann sich gegen mein Herz zu schieben. Ich versuchte mich gegen die Lähmung meines Körpers zu
wehren. Meine Angst verstärkte sich. Ich konnte nicht mehr die Lippen bewegen und nicht mehr die Augen schließen. Ich wartete auf den näch sten Herzschlag und den nächsten Atemzug, zwischen denen sich grau envolle Ewigkeiten ausbreiteten.
12 Heiß floß es durch meine Adern, rann durch taubes Fleisch, durchflutete meinen Körper. Das Herz in meiner Brust tobte. Der Atem flog. Meine Muskeln zitterten, zuckten. Schmerzen verspürte ich nicht, nur Angst. Erschöpft lag ich da. Eine Schwester entfernte die dampfenden Mat ten, die auf meiner Haut lagen, und legte trockene Tücher auf. »Jetzt haben Sie es überstanden!« sagte sie. Ich gähnte – merkwürdig, daß ein Kälteschlaf so müde machte. Mit apathischen Augenbewegungen verfolgte ich die Schläuche und Kabel, die von meinem Körper aus zu einer Apparatur führten und die mich versorgten und überwachten. Zwischen den Sichtblenden tauchte die weiße Gestalt des Chefarztes auf. Er setzte sich zu mir. Wie üblich lächelte er nonchalant. Mein Blick blieb an der tiefen Narbe hängen, die über seine Stirn lief und unter der Haube verschwand. »Nun, wie fühlen Sie sich?« fragte Berger. Vorsichtig kontrollierte er den Sitz der Katheter. »O gut!« Mir klapperten beim Sprechen die Zähne, und ich atmete im mer noch schnell. »Ihre Körpertemperatur war auf fünfundzwanzig Grad gesunken. Jetzt sind wir dabei, Ihren Stoffwechsel wieder einzurichten.« Er lächelte wie der. Der Chefarzt betrachtete mich offenbar als stillgelegte Maschine, die es wieder in Gang zu setzen galt. Ihn schien es wenig zu kümmern, daß ich unter den Prozeduren der Konservierung gelitten hatte. »Wenn die ekelhaften Zustände nicht gewesen wären …«, sagte ich vorwurfsvoll. »Den nächsten Kälteschlaf werden Sie besser überstehen. Alles Routi ne! Für manche Piloten gehört diese Prozedur zum Alltag. – Aber was erzähle ich das Ihnen, einem Mann, der, ohne zu murren, PROME THEUS ertragen hat.«
Der Chefarzt erhob sich. Ich drückte mich tiefer ins Kissen zurück und schloß die Augen. Ich dachte an Larson. Sein Plan war aufgegangen, und ich empfand Dankbarkeit. Gewisse Einzelheiten waren mir im Gedächtnis geblieben. Ich erinner te mich an das Halbdunkel der Grotte, den grellen Schein von Jans Helmleuchte, der auf dem Funkgerät verharrte, unruhig über die Eis wände strich oder mich blendete. Ich konnte mich nicht darauf besin nen, was Jan gesprochen hatte. Er verschwand, tauchte wieder auf, han tierte an meinem Skaphander herum, gab mir Injektionen. Irgendwann einmal schleifte er mich durch einen Stollen. Ich sah einen sanften Licht ring, eine taumelnde Lichterkette. Jan schlang Seile um meinen gefühllo sen Leib, und dann schwebte ich nach oben auf die schwarze Öffnung des Lichtringes zu. Hoch über dem Krater sah ich für Augenblicke das blaue Flirren, das die Kanonade der schnellen Teilchen aus den Strah lungsgürteln des Jupiters hervorgebracht hatte. Ein flackernder blauer Sturm raste über die Eisebenen. Die Sonne war hinter dem Jupiter ver schwunden. Es war die Zeit der Blauen Stunde. Ich tauchte durch den Lichtring. Eine Luke schloß sich, und Finsternis umgab mich. Hier endeten auch meine Erinnerungen. Mein Gesicht hatte es an den Tag gebracht, jupitanische Influenza. Ich blickte in einen Spiegel und betastete die häßlichen Schwellungen. Schlimmer war, daß ich noch Tage in der geschlossenen Abteilung der Krankenstation zubringen mußte. Ich empfing die ersten Besucher. General Amon saß behäbig hinter der Glasscheibe und schilderte die Rettungsaktionen, die er geleitet hatte. Noch einmal ließ er den Bergungsgraviplan knapp über dem Krater schlund schweben und sein mächtiges Schutzfeld entfalten. Auch Steiner besuchte mich, dienstlich. Während er sprach und mich über den Hergang des Vulkanausbruchs befragte, blieb er kühl und sein Gesicht unbewegt. Wir belauerten uns, so kam es mir vor. Wir vertrauten uns nicht. Vergeblich versuchte ich aus seinen spärlichen Bemerkungen herauszuhören, ob er von Frau Jonas in meine Mission eingeweiht wor den war. Über eine seiner Sekretärinnen erhielt ich Grüße von Abele.
Auch Krause kam vorbei. Er meinte, daß das unter Kollegen doch selbstverständlich wäre. Er schwärmte von der neuen Pressestelle, die Abele in einer der oberen Etagen des Hauptgebäudes einrichtete. Seine Willfährigkeit berührte mich unangenehm. Er steckte mir einen Informa tionskristall in die Schleuse meines Krankenzimmers. Die Hagelkorn hypothese. Doch was sollte ich schon mit diesem Lehrfilm anfangen können. Die Stationsschwester rollte ein Videophon ins Zimmer. Zuerst hatte ich das schweißnasse, stopplige Gesicht Pauls’ auf dem Schirm. Er schimpf te auf die Vorgesetzten und die höllischen Zustände auf PROME THEUS. »Möchte bloß wissen, was ihr da im Vulkan angestellt habt«, herrschte er mich an. Phil sah mir aus verquollenen Augen entgegen. Sein Gesicht war einge fallen. Seine schmale Nase stach wie eine Klinge durch eine zerknitterte Maske. Er hatte sich noch nicht akklimatisiert. Er schwatzte über die Jagd. Dann berichtete er von Experimenten, mit denen einige von Abe les Leuten auf der Plattform beschäftigt waren. Phil hatte Zylinder gese hen, acht metallische, flugfähige Zylinder, mit denen seit Tagen ein Raumsektor unterhalb von PROMETHEUS markiert wurde. »Sie bilden ein großes und ein kleines Quadrat«, sagte er schwerfällig, »ich sehe es doch auf der Computerkarte. Keine Ahnung, was da vor sich geht. Die Beteiligten schweigen. Du wirst schon etwas damit anfangen können!« »Interessiert mich!« sagte ich dankbar. »Wie es heißt, dienen diese Maßnahmen unserem Schutz!« meinte er sarkastisch. Ich lachte auf. »Vielleicht ein Radarzaun – weiß ich doch nicht! Die Ebenen liegen weit unterhalb der Jagd, und die Felder oder was strahlen mit Sicherheit nach unten ab. Wir Piloten halten diese Maßnahmen für Schnickschnack. Acht dürre Zylinder gegen MEWACONS aufzustellen, das ist doch lä cherlich!« »Sei vorsichtig!« mahnte ich Phil.
Er nickte, mehr mit den Augen: Sein hagerer Kopf ruhte, vom Kinn band gehalten, zwischen den Ohrlehnen der Bewegungshilfe. »Habe bald meinen fünfzigsten Abschuß …«, sagte er noch. Ich sah, daß er zur Steuerung seiner fahrbaren Bewegungshilfe griff. Sein Gesicht verzerrte sich. Seine Lider schlossen sich halb, der Mund öffnete sich leicht. »Viel Glück!« rief ich ihm zu, ehe das Video verlosch. Ich war wütend. Langsam bekam ich Abeles Doppelspiel satt. Was sollte das nun wieder: Abwehr gegen anorganische Objekte? Kampf ge gen strukturierte Agglomerationen? – Gab Abele mit diesen Maßnahmen nicht unausgesprochen zu, daß er sich über die biologische Natur der MEWACONS im klaren war? Ich stöhnte auf. Eine Krankenschwester beugte sich über mich. »Nehmen Sie mir doch die verdammten Sensoren ab!« fuhr ich sie an. Ich riß die dicken Pflaster von Brust und Armen herunter und löste das Armband. Ein Tropfen Blut drang aus einem haarfeinen Sondenkanal. Die Schwester tupfte ihn schweigend ab. Frau Larson tauchte auf. Zeternd folgte ihr die diensthabende Schwester und zog sie aus dem Raum. Sie führten einen zähen Wortwechsel, dann tauchte Anita lächelnd und mit geröteten Wangen hinter der Glaswand auf. »Wo ist Jan?« fragte ich sie vom Bett aus. Anita sog an ihrer Unterlippe. Ihr dünnes blondes Haar hing wirr ins Gesicht. Eine Schwester trug mit beleidigter Miene einen Blumenstrauß herein. »Er hat mir das Leben gerettet. Warum besucht er mich nicht?« »Ich weiß nicht, wo Jan sich aufhält. – Muß ich das wissen?« Sie mu sterte mich und das Inventar und legte fest, was an Mobiliar, Büchern und Leckereien im Zimmer fehlte. Ich stand auf, warf mir einen Mantel über und lief zur gläsernen Trennwand. Anita erkundigte sich nach Details des Vulkanausbruchs. Ich zeichnete mit den Fingern einen Plan auf die Scheibe. Bald malten
wir beide. Ihre Bewegungen waren fahrig. Wir versuchten spiegelbildlich zu schreiben und jagten lachend unsere Finger über das Glas. »Auf wessen Seite stehst du?« fragte ich sie ernst. Sie hörte auf zu lachen. »Ich unterstütze Jan. Gibt es da einen Zwei fel?« Anita zog ihre Hand zurück. »Aber das weißt du doch!« »Die Piloten halten die MEWACONS für gefährliche Ungeheuer. Hier auf GALILEI gehen die Meinungen auseinander …« »Ein Interview?« »In Wirklichkeit gruppieren sich die Ansichten über die MEWACONS recht deutlich!« »Auch darin folge ich Jans Vorstellungen«, sagte sie kurz angebunden. Unser Gespräch begann sich hinzuschleppen. Ich stieß auf Mißtrauen. Enttäuscht zog ich mich ins Bett zurück. Die Schwester rollte einen Dia gnosewagen ins Zimmer, Anita tätschelte noch einmal die Glaswand und verließ mich. Ich hatte bald herausgefunden, daß Jan sich selbst in den Fängen der Mediziner befand, aber erst nach meiner Entlassung aus der Quarantäne durfte ich ihn im Kyborg-Untersuchungsraum besuchen. Ohne Scheu trat ich näher an den bewegungslosen Kyborg heran, der unbekleidet auf einem chromblitzenden Gestell lag. In seiner geöffneten Brust war der Hirnpanzer zu erkennen. Der Spalt klaffte bis zum Kinn. An den Rändern wölbte sich die speckige Masse der elektrochemischen Muskeln hervor. Gelenke und Schläuche lagen frei. Aus seiner Lende quoll ein Adapterkabel und ringelte sich zu einem Computer hin. Ein Techniker stocherte mit einer Sonde in der Brustöffnung herum, tupfte auf Zuruf über einzelne Kontakte. Der grelle Leuchtfleck, den der Licht finger an seiner Brille warf, geisterte über Jans Körper. Berger, der die Untersuchungen leitete, lehnte neben dem Computer. »Ernst?« fragte ich ihn leise. »Große Durchsicht«, meinte er lässig. Jan stieß einen Laut aus. Ich zuckte zusammen. Doch Jan lag ruhig und mit offenen starren Augen da.
Berger lächelte spöttisch. »Wußten Sie, daß er ein Simultankünstler ist? Er schafft zwanzig Kanäle parallel, zwanzig Gespräche, Sinneseindrücke, Bewertungen. Er ist uns überlegen und trotzdem ein Krüppel. Total ab hängig …« »Kennt er so etwas wie Glück?« »Aber natürlich kennt er das!« Diese Frage hatte Berger wohl bis zum Überdruß gehört. Trotzdem fragte ich weiter. Seine Antwort war mir wichtig. Ich sprach leise, es wäre mir peinlich gewesen, wenn Jan mich gehört hätte. »Kann man ihm trauen?« Der Chefarzt rümpfte die Nase. »Nicht mehr und nicht minder als al len anderen Menschen auch.« Wir waren durch die in den Felsen geschmolzenen Gänge gelaufen. Vor der Schleuse machten wir halt. Aus einer numerierten Box entnahm ich einen Integralhelm. Nachdem ich Sitz und Unversehrtheit der Sauer stoffpatronen geprüft hatte, hängte ich mir den Helm an den Gürtel. Jan hatte sich währenddessen zu den Wartenden gestellt und unterhielt sich mit einem Piloten. Ihn und sein Schicksal kannten hier wohl alle. Magisch zog er die Blicke auf sich, mißtrauische, aufdringliche, aber auch Blicke voller Anerkennung. Die Tore öffneten sich. Wir ruckten vor, eingekeilt zwischen Elektro mobilen. Schotten glitten herab, andere gaben den Weg frei. Wir ström ten in eine Eishalle. An ihrer Stirnwand schimmerte feuchtschwarz das Felsmassiv, in das schon die Gründer der Station ihre Unterkünfte hi neingetrieben hatten. In einer Eisnische bewachte ein Automat, der mit einem Mikrowellen werfer bewaffnet war, die kritische Grenzfläche zwischen Fels und Eis feld. Gelegentlich sprangen hier Risse auf, und wenn sie Anschluß an das endlose Spaltennetz des Eismassivs fanden, konnte es zu katastrophalen Luftausbrüchen ins Vakuum Ganymeds kommen. – Aber heute waren die Danger-Leuchtflächen blaß, und niemand drängte zu den aufgereih ten Sauerstoffzapfmasken.
Jan pfiff. Ein ehemaliger Mitarbeiter seines Konstruktionsteams, der in der Halle auf die Gegenpassage gewartet hatte, löste sich aus dem Pulk und blieb vor Jan stehen. Die RAY 3 hatte über Ganymed ihre ersten Probeflüge absolviert. Jan erkundigte sich nach den Ergebnissen, gab Hinweise. Er fühlte sich noch immer verantwortlich. Sein Gegenüber antwortete mit vor Aufregung geröteten Wangen. Wir liefen weiter. Das Stollensystem des Eismassivs verjüngte sich. Wir kamen am Biotrakt vorbei und an Labors, die zusätzlich mit Gittertoren gesichert waren. Die Abstände zwischen den Zapfmasken wurden grö ßer. Wir liefen längst allein. »Die RAY ist immer noch dein liebstes Kind?« fragte ich ihn. »Ja, ich komme nicht davon los.« »Und der neue Außenpanzer, hat er sich bewährt?« »Wir können ihn erst im Jupiter prüfen. Ich habe Abele einen Testflug vorgeschlagen und mich als Pilot zur Verfügung gestellt. Schließlich ken ne ich das Schiff wie kein anderer. Natürlich denke ich dabei vor allem an eine Wiederholung des Fluges, der uns damals auf die MEWACONS gebracht hatte.« »Und?«
»Abgelehnt!«
Ich fluchte. Das war ein vernünftiger Vorschlag gewesen. Ein Erkun
dungsflug mit Jan Larson hätte das MEWACON-Problem entwirren können. »Mit welchen Begründungen hat er verweigert?« »Abele hat Begründungen nicht nötig«, sagte Jan, »vor allem nicht ei nem Kyborg gegenüber.« Jan hatte die MEWACON-Bildergalerie erweitert. Seile waren kreuz und quer durch den Raum gezogen, an denen die hinzugekommenen Fotos aufgehängt worden waren. Eine junge Frau drückte die Pausentaste des Konstruktionscomputers und verschwand im Durcheinander der Gale rie. Auf dem Monitor verblaßte die Explosionszeichnung eines Jupiter raumschiffes. Computerausdrucke häuften sich auf einem Tisch.
»Es waren dubiose Vorgänge, die sich am Wasservulkan ereignet ha ben«, sagte Jan. »Ich habe recherchiert, mit dem Computer gespielt, mit Freunden gesprochen. Ich möchte dich nicht beunruhigen, aber …« Der Ausbruch des Vulkans war ein seltenes Ereignis. Natürlich hatte ich mir darüber Gedanken gemacht. »Aber?« fragte ich. »Es ist nicht ausgeschlossen, daß dort nachgeholfen wurde!« »Ein künstlich erzeugter Ausbruch, meinst du das?« Ich war er schrocken. Jan drückte mich auf den Stuhl vor dem Computer und musterte mich mit seinem unbestechlichen Maschinenblick. Von meinem Gesicht konnte er die Zweifel, die in mir aufgestiegen waren, wohl ablesen. »Du wirst Beweise von mir haben wollen«, sagte Jan, »doch ich habe keine. Wie sollte ich sie auch beschaffen.« Mein Gesicht brannte. »Also der Verdacht …« »Punkt eins«, sagte Jan, »vor rund einhundertzwanzig Jahren, es gab damals auf Ganymed gerade erst einige unbemannte Stationen, promo vierte der Glazeologe Lindström mit dem Thema ›Über die Verfügbar keit sauberen Wassers auf Ganymed unter besonderer Berücksichtigung des Tiefenwassers‹.« Ich lächelte. »Über das künstliche Wasserproblem …« »Ja, ein theoretisches Thema, zumindest damals. Computerspiele. Lindström schlug vor, mit Mikrowellenkanonen labile Krustenbereiche des Mondes zu beschießen, das unter Spannung stehende Eis zu spren gen. Das Tiefenwasser würde ausfließen und erstarren. Interessant, nicht?« »Punkt zwei«, fuhr Jan fort, ehe ich wieder antworten konnte. »Lind ström hatte seinen Titel, und das monströse Verfahren geriet in Verges senheit. Es gab nie ein Wasserproblem auf Ganymed. Was wir heute allerdings haben, sind starke Mikrowellenwerfer, montiert auf Gravipla nen. Sie sind täglich im Einsatz, schmelzen Trassen und Plätze, planieren Flughäfen. Einige sind im Einsatz, einige stehen in Reserve. Abele und der diensthabende Leiter der Station verfügen über diese Flotte, haben
einen Schlüssel für den Führungscomputer. – Ich komme zum hypothe tischen Ablauf, Punkt drei.« »Es reicht!« rief ich laut. Die Geschichte konnte ich allein zu Ende denken. In einem Anflug von Übelkeit erhob ich mich. Jan machte mir mit einer reflexhaften, ekligen Bewegung Platz. Ich lief durch das dürftig eingerichtete Raumstück und blickte auf eine Leinewand mit der Schnittdarstellung des Jupiters, ohne einen Sinn erfassen zu können. Vielleicht schwebte der Graviplan bereits über dem Krater, als wir den Vulkan betraten. Am dunklen sternbesetzten Himmel Ganymeds wäre der Graviplan nicht viel mehr als ein schwarzer Schatten gewesen. Ich hatte nicht darauf geachtet. Unser Aufenthaltsort war per Satellit be kannt. Für Abeles Führungscomputer wäre das alles und das Weitere ein Kinderspiel gewesen. Und es würde uns kaum gelingen, ihm etwas nach zuweisen. »Punkt vier«, sagte Jan. Ich war überrascht, daß er immer noch mit Ar gumenten aufzuwarten hatte. Jan griff auf die Tastatur des elektroni schen Konstrukteurs. Im Monitor bauten leuchtende Kurvenscharen ein vielgipfliges Gebirge auf. »Das wurde zur fraglichen Zeit von meinen Infrarotdetektoren aufge zeichnet.« Jan berührte mit den Fingerspitzen die Infrarotsensoren auf seinen Wangenknochen. »Es handelt sich um Streustrahlung, die durch das Eis des Vulkans gedrungen war.« Jan führte Berechnungen aus. Die Kurven veränderten ihre Form. Er zeigte auf mögliche Garben von M-Kanonen. Ich hörte nur halb hin. Was Jan da vorgebracht hatte, war eine ungeheuerliche Anschuldigung. Aber der Inhalt eines Kyborgspeichers war noch nie ein Beweismittel gewesen, allein schon deshalb, weil er gefälscht werden konnte. Das würde nicht einmal für die Einleitung eines Untersuchungsverfahrens genügen. Und letztlich mußte ich in Betracht ziehen, daß Jan seine Be gründung einfach konstruiert hatte, um mich auf seine Seite zu ziehen. »Wir sollten uns in Zukunft vorsehen …«, sagte ich ratlos. Jan löschte den Monitor und erhob sich schweigend.
13 Der große Holovisionssaal der Station besaß an die zweihundert Plätze. Seine Grundfläche war annähernd ein Halbkreis. Nach hinten stiegen die Sitzreihen an, verbreiterten sich. Über den Sitzen hingen die Säulen stümpfe mit den Holoprojektoren. Nach vorn, vom Boden bis in die Rundung der Decke übergehend, öffnete sich die Höhlung des Bilder zeugungsraumes, wölbte sich vor uns im Bogen, verjüngte sich parabo lisch in der Tiefe. Erwartungsvolle Unruhe. Die meisten Plätze waren inzwischen belegt worden. Frau Hansen, die Stationsökonomin, saß einträchtig neben Ge neral Amon. Laborantinnen schwatzten mit Piloten, die Damen von GALILEI waren überdurchschnittlich stark vertreten. Einige Praktikan ten warteten im Vorraum, um die letzte Lücke zu füllen. Sie blickten aufgeregt herein. Wer von ihnen würde noch einen Platz ergattern? Dann schritt Professor Abele in den Saal, gefolgt von Freunden und engsten Mitarbeitern. Sie belegten die vorderste Reihe. Seine Sekretärin war dabei, ebenso Frau Canara, die unlängst benannte Chefin des Infor mationszentrums der Station. Sie trug ein anliegendes schwarzsamtenes Kleid, darüber Flitterseide, kunstvoll um den Körper gelegt. Es sollte über die Natur der MEWACONS vorgetragen werden. Die Informationsveranstaltung wäre zugleich Jahresbericht der exobiologi schen Arbeitsgruppe der Station. Mehr war nicht zu erfahren gewesen. Die Sendung würde weltweit ausgestrahlt. Ich blickte zu den verglasten Sprecherkabinen hinauf. Hatte die Über tragung schon begonnen? Der Lärm verebbte. Abele trat vor das Auditorium. Hinter ihm wölbte sich der Bilderzeu gungsraum wie ein fokussierender Spiegel. Die Sitzreihen vor ihm liefen scheinbar auf seinen Standort zu, konzentrierten sich auf einen Punkt. Stille. Professor Abele – einundfünfzig, mittelgroß, stämmige, wohlpropor tionierte Erscheinung, korrekt gekleidet. Ich starrte zu ihm hinab. Wes
sen war er fähig? Über Leichen zu gehen … Nein, das hatte er gar nicht nötig. Niemand würde ernsthaft seine hohe Intelligenz bestreiten. Er war fleißig, zäh und starrköpfig. Natürlich ehrgeizig, aber auch ungeduldig, von sich eingenommen. Gesprächspartner irritierte er oft durch ein plötzlich auftretendes Lächeln. Vielleicht nahm er die unerwartete Wen dung des Gesprächs vorweg, die er in Gedanken bereits vollzogen hatte. Er begann zu sprechen. Allmählich erlag ich der Faszination seines Vortrages. Seine Worte schwebten wie schillernde Blasen heran und lö sten sich in den Hirnen der Zuhörer rückstandslos auf. Dann begann sich der Raum hinter ihm zu weiten, zu vertiefen. Die Projektoren liefen an. Blitze zuckten durch die Finsternis. Wolkenmassen stiegen blutrot aus der Tiefe auf. Schneidend und pfeifend setzte Donner ein, wurde über gangslos von der Filmmusik übernommen. Jetzt erklangen schwebende aufsteigende Akkorde, und die Sonne durchbrach den hochliegenden Nebel. Ihr Licht fiel in Schluchten dahinziehender Wolkenbänder. Der orangefarbene Grund des Canons lag noch im Dunkel. Die Kamerason de tauchte tiefer. Majestätisch glitt PROMETHEUS vorbei. Ein Choral jubelte auf. Die Projektoren zauberten Trickbilder in den Holoraum. Eine Kame rafahrt in die Tiefe des Jupiters begann. Die atmosphärischen Gase wur den zusammengepreßt, verdichteten sich, wurden heißer, zäher, verwan delten sich ohne Übergang in ein Medium, das sich wie eine Flüssigkeit verhielt. MEWA. Eine Stimme mit singendem Tonfall nannte extreme Drücke und Temperaturen. Computervisionen aus 17000 Kilometer Tiefe. Ein Ozean aus MEWA, glutflüssig wie Lava. Eine formenreiche, wabernde, atmende Landschaft. Unvorstellbarer Reichtum, irdische Maßstäbe zugrunde gelegt. Der Weg nach oben. Katastrophale Ausbrüche schleuderten MEWA empor, Konvektionsströme transportierten es weiter aufwärts. In stabi len Gebilden wie im Großen Roten Fleck gelangte MEWA in noch hö here Schichten hinauf, kristallisierte, verfestigte sich, lagerte sich an, dif ferenzierte und modifizierte sich weiter. Supraleitung, Hagelkornhypo these. Riesige Hurrikane wirkten wie Energiemaschinen, induzierten in
den schwebenden Agglomerationen Ströme, deren Magnetfelder sie bis unter die Wolken trieben. Den Bildraum durchpflügten quallige aufgeblähte Leiber. Andere Kör per, zackig wie Eisberge, bewegten sich schwerfällig vorbei. Aus den Augenwinkeln waren Computergrafiken wahrzunehmen, die weitere Erläuterungen brachten. Und dann der gegenläufige Prozeß, der Weg nach unten: Jupiterbakte rien und Biomoleküle, mit Trickaufnahmen sichtbar gemacht, gelangten ins Innere der MEWA-Körper. Sie fanden eine ökologische Nische vor und besetzten sie. Es kam vor, daß Lightnings die ausgebildeten Struktu ren zerstörten oder daß sie in große Tiefe zurücksanken und das Leben wieder ausgeglüht wurde. Aber die Natur hatte Zeit. Den Agglomerationen gelang es während ihrer Evolution, die elektri schen Ströme zu beeinflussen, die in ihrem Innern kreisten, sich mit ih rer Hilfe zu bewegen, sich Nahrung zu suchen, auf optimale Tiefe zu tauchen. Tiere in einer endlosen dreidimensionalen Weide. Langgestreckte, stromlinienförmige Körper drifteten durch das Bild. MEWACONS. Die Stimme des Moderators durchdrang die Stille des Zuschauerrau mes. »Zu den beiden bisher bekannten Typen extraterrestrischer Le bensweise gesellt sich nun eine dritte Variante hinzu, die der MEWA CONS.« Der fiktive Raum vor uns teilte sich in drei Unterräume auf. Links sa hen wir die kugelförmigen Aquarianer, primitive metergroße Einzeller, die sich zu Hunderten in Kolonien zusammenfanden und träge durch einen Ozean schwammen, der den Planeten vollkommen bedeckte, ki lometertief. Rechts krochen Landlebewesen über eine nackte Felsenlandschaft. Außenatmer. Auf ihren Silikatpanzern wuchsen Atemwerkzeuge. Ein Korallenwald wandelte vor unseren Augen dahin. Andere dieser Exoten, die den zweiten Planeten des Van-Maanens-Sterns bevölkerten, fächelten mit ihren sich ins Filigranzarteste verästelnden, flächigen Atmungsorga nen. In der Mitte des Bildraumes schwammen die MEWACONS.
Faszinierende Bilder. Viele im Saal und wohl die meisten der Millionen Zuschauer auf der Erde wurden zum ersten Mal so detailliert über die MEWACONS informiert. Die Erregung brach sich in kurzen Bemer kungen oder schnellen Seitenblicken Bahn, die dieser oder jener seinem Nachbarn zuwarf. Ich schloß für einen Moment die Augen, um mich von der magischen Kraft der Bilder zu befreien. Was wollte Abele mit diesen Enthüllungen erreichen? Gestern noch wären solche Darstellungen von seiner Presse stelle getilgt worden. Wieder Musik. Eine Jagdszene wurde gezeigt, gefahrvoll und siegreich; dann die zurückkehrenden Schiffe, die die erbeuteten MEWACONS an straffen Trossen hinter sich herzogen. Szenenwechsel. Die zylindrischen Sektionen von PROMETHEUS schwammen in den Bildraum. Scheinwerfer erfaßten einen rundlichen Körper, der wie ein Ball in einem Netz hing. »Ein lebend gefangenes MEWACON«, erklärte stolz der unsichtbare Sprecher. Es hing wie tot im Netz. Ein kleines MEWACON, zwei Meter im Durchmesser, das kleinste, das ich je gesehen hatte. Von allen Seiten schoben sich kupfern glänzende Kegel ins Bild, die wie Speerspitzen an langen Stielen gehalten wurden. Das Netz sprang unten auf, öffnete sich wie ein Trichter. Das kleine MEWACON sank langsam abwärts. Auf der Haut hatten die Trossen Muster hinterlassen, aus denen milchige Flüssigkeit sickerte. Das Kleine sackte bis zu einer fiktiven Ebene ab, die von vier Speerspitzen markiert wurde. Jetzt sah ich weiter oben vier weitere Eckpunkte. Ein Käfig. Ich war erschüttert. Es war anzunehmen, daß die Speerspitzen nach dem gleichen Prinzip funktionierten wie die schwebenden Zylinder, von denen Pauls gespro chen hatte. Eine Kugel wurde in die imaginäre Zelle herabgelassen. Das MEWA CON bewegte sich bald munter durch den Raum. An den unsichtbaren Wänden machte es kehrt. Aus einem Rohr quoll schaumige Masse. Das Kleine stülpte ein langes plattes Organ aus und saugte den Schaum ein.
Man spürte die Freßlust des Tieres. Dann schwebte es wieder durch den Käfig. Die schöne Frau an Abeles Seite wendete ihm mit einem Ruck ihr Ma donnengesicht zu und lächelte ihn an. Auch anderenorts im Saal wurde glückselig aufgeatmet. »Eine bestimmte Kombination von elektromagnetischen Impulsen er zeugt bei ihnen ein angenehmes inneres Milieu«, erklärte der Moderator. Um den Kontrast zu zeigen, geschah die Umpolung. Signale erzeugten Fluchtreaktionen. Die Ratte im Käfig, die sich in die Ecke drängt. Es war alles verständlich. Es war alles so selbstverständlich. »Wir haben die Wirkungen verschiedenster Reize getestet«, fuhr der Sprecher fort, während der Film weiterlief. »Das MEWACON reagierte nicht auf Schall oder Infraschall. Es besitzt sensible elektrische Sinneszel len – kein Wunder bei seiner supraleitenden MEWA-Struktur. Und, da es Magnetfelder erzeugt, wird es sie wohl auch messen können.« Verein zelt wurde gelacht. »Wie wir bei der Fütterung beobachten konnten, wir ken bestimmte chemische Substanzen sehr intensiv.« Wieder wurde ge lacht. Es folgten Bilder aus den Laboratorien Abeles. Weitere Rätsel wurden gelöst und Geheimnisse gelüftet. Und dann der effektvolle Abschluß des Filmvortrags – eine visionäre Zukunftsschau: Eine MEWACON-Farm driftete im Großen Roten Fleck. Von der Kontrollsektion aus blickten wir die Reihe der Boxen entlang, in denen die prallen Leiber der Zuchttiere schwammen. In den Gängen patrouillierten gezähmte Ordnungs-MEWACONS. Aus dicken Rohren quoll unaufhörlich Futterschaum, den die Tiere in den Boxen begierig aufnahmen. Pfleger in weißen Raumanzügen saßen vor Manipu latorschirmen und dirigierten über Sender gutmütige ArbeitsMEWACONS an ihre Einsatzorte. Oder sie sonderten kranke und ge reifte Tiere aus. Antennengespickte Flugbojen lotsten diese zu den Schlachtfabriken. Unaufhörlich war eine Flotte von Frachtschiffen un terwegs, um den aus den Tieren extrahierten metallischen Wasserstoff zur Basis auf Ganymed zu fliegen. Anhaltender Beifall brach aus, dem ich mich nicht entziehen konnte. Ich war begeistert. Die Visionen hatten auch mich berauscht. Doch mei
ne Gefühle waren zwiespältig. Ich war über Abeles Informationspolitik entrüstet. Die tierische Natur der MEWACONS, die gestern noch von Abele verleugnet wurde: heute erfuhr von ihr die ganze Welt.
14 Ich schlurfte über die polierten Steinplatten in der Halle, umrundete im mer wieder das Areal der Grünpflanzen. Inmitten der grünen Insel stand eine mannshohe Statue. Natürlich war es Galileo Galilei. Er blickte ernst und beherrscht in die Ferne. Über dem Standbild hatte man aus dem Felsen eine Kuppel herausgeschmolzen. Imitiertes Tageslicht fiel von oben auf Denkmal und Insel. Ich grübelte. Nun gut. Abele hatte Ordnung in sein Haus gebracht. Er war vorge prellt, hatte zugeschlagen und gesiegt. Der Film – über nichts anderes wurde seit Tagen auf der Station gesprochen – hatte seine Wirkung ge tan. Es zeigte sich, daß jetzt, wo es möglich war, offen über die MEWA CONS zu diskutieren, es so gut wie keine Abweichungen von Abeles neuem Standpunkt gab. Die wenigen, die die Tierhypothese vertreten hatten, gaben freudig zur Kenntnis, wann und wo sie bereits so gedacht oder gar gesprochen hatten. Fast alle anderen schwenkten jetzt ein und nahmen den Sinneswandel als geistige Bereicherung auf. Es herrschte Zustimmung und Begeisterung. Der Film hatte die Meinungen kanali siert. Ein junger Mann kam quer durch die Halle gehinkt. Ein Elektrokarren zuckelte wie ein Hund hinter ihm her. Er lancierte sein gesundes Bein zwischen die fleischigen Elefantenohren der Grünpflanzen, nahm die Nährstofflanze vom Wägelchen und stieß sie neben seinem Fuß in den Boden. Dann wiederholte er die Prozedur an einer anderen Stelle der Anlage. Ich schaute ihm zu. »Sie sind sicherlich der Gärtner?« fragte ich ihn. Er lachte und deutete mit dem Daumen auf das Hammersymbol seines Schulterschildes. »Also Werkstatt«, berichtigte ich mich. »Hat was drauf, dieser Abele, genial …«, sagte der junge Mann nach ei ner Weile und rammte erneut die Lanze in den künstlichen Boden. »Ich hatte schon immer so eine Ahnung, daß die CONS bloß gewöhn liche Tiere sind«, erzählte er weiter. Er schaute mich einen Moment lang
an. Der Schlauch in seiner Hand, durch den Nährlösung gepreßt wurde, straffte sich und vibrierte. »Und ich frage mich, warum man noch nicht solche Fallen aufgestellt hat, größere Fallen in entsprechender Tiefe.« »Sie meinen so etwas wie den Käfig für das MEWACON-Baby?« fragte ich ihn. »Genau!« Er nickte und stieß die Lanze in den Boden. »Sicherlich wurden im Film die Themen nicht erschöpfend behandelt«, sagte ich lustlos. »Abele wird schon noch einen Trumpf in Hinterhand haben.« »Die CONS sind dumme Lebewesen!« behauptete plötzlich der gärtne risch tätige Mechaniker. »Über ihre Intelligenz ist noch nichts bekannt«, sagte ich aufgebracht. »Hätten wir sie sonst so einfach überlisten können?« »Immerhin haben sie einige Jagdschiffe angegriffen und vernichtet«, gab ich zu bedenken, obwohl sich die MEWACONS in meinen Augen widersprüchlich verhielten – einerseits kämpften sie erfolgreich, anderer seits ließen sie sich zu Hunderten einfangen. Der junge Mann war jetzt fertig und warf den Schlauch über die Ga beln am Karren und die Lanze ins Futteral. »Man sollte Fallen aufstellen und sie aus den Tiefen nach oben locken. Dann würde auch nicht mehr so viel passieren.« Er hinkte weg. Zuckelnd folgte ihm das Wägelchen. Das Bronzestandbild auf dem Sockel trug anstelle des obligatorischen Fernrohrs eine Glaskugel in der Hand, die zur Hälfte mit MEWA gefüllt war. Eine Messingtafel verdeckte Schnabelschuhe und ein Stück der Beine. Auf dem polierten Schild standen einige lateinische Worte und die Jahreszahlen 1620 – 2260. Ich trat vorsichtig zwischen die speckig glän zenden Blätter und beugte mich zur gläsernen Kugel vor, die Galilei herrschaftlich in der Hand hielt. Mit den Fingerknöcheln klopfte ich gegen die Wandung. Über die rauhe Oberfläche der Substanz lief ein Zittern. Ich schlug kräftiger gegen die Kugel. Der Stoff wackelte wie Götterspeise in einer Puddingschale. Ich hörte Schritte und sprang aus der Grünanlage. Es war schon Abele. Er tadelte mich scherzhaft.
»Und wohin soll die Reise gehen?« fragte ich Abele. Ich hatte ihn um ein Gespräch gebeten, und er hatte mich ohne weitere Angaben zum Denkmal bestellt. »Zum Eispavillon! Sie kennen ja mein Faible für sportliche Betätigun gen!« Die Sohle des Eispavillons lag weit unter der Oberfläche des Ganymed. Die Kuppel überspannte eine Halle, in der ein Fußballfeld Platz gefun den hätte. Das Eis, das vormals hier lagerte, hatte über lange Zeit den Wasserbedarf der Station gedeckt oder war zu Eisbeton verarbeitet wor den. Jetzt übte man in der verbliebenen Höhle den Traumsport Men schenflug aus. Die geringe Schwerkraft ermöglichte das Fliegen mit Muskelkraft, ohne den auf der Erde sonst üblichen enormen technischen Aufwand zu treiben. Wir standen auf der Plattform des Startturmes, etwa zehn Meter über der Sohle des Pavillons. Im Hintergrund der Halle flogen einige Sportler. Ihre Flügelschläge wirkten ungeschickt. Taumelnde Jungvögel. Abele hatte die kräftigen Schwingen angelegt und half mir jetzt mit Hinweisen. Eine Schranke sperrte die Abflugkante. Aus irgendeinem Grund war die Halle für uns noch nicht freigegeben. »Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem filmischen Bericht über die ME WACONS«, sagte ich zu Abele. Abele tat erstaunt über meinen ironischen Tonfall. »Sie äußerten doch Ansichten über die MEWACONS, die Sie kürzlich noch verneinten«, sagte ich aufgebracht. »Erinnern Sie sich an unser Ge spräch im Cafe? Larson war ein gefährlicher Spinner, und die Erlebnisse der Piloten verbuchten Sie unter Seemannsgarn.« »Herr Claire«, sagte Abele, »alles braucht seine Zeit, das wissen Sie doch ebensogut wie ich.« »Ich werfe Ihnen falsches Spiel mit Informationen vor! Erst leugnen Sie die Tatsachen, dann prellen Sie mit ebendiesen Fakten vor, über schwemmen die Welt mit Ihren Informationen.« Abele blieb geduldig. »Wir haben Untersuchungsergebnisse über die MEWACONS angehäuft, haben sie geordnet, Unstimmigkeiten beseitigt,
haben sie neu interpretiert. Es ist berechtigt und völlig normal, wenn von Zeit zu Zeit eine Umbewertung der Fakten stattfindet. Genau das haben wir getan.« Er machte eine Pause. »Jetzt können wir uns wieder der Ge winnung von MEWA widmen.« »Mit Ihrer Utopie vom MEWACON als Haustier haben Sie sich den notwendigen Rückhalt für weitere beliebige Operationen geschaffen«, sagte ich grob. Abele hob den Kopf und sah mich fest an. »Sind wir nicht Larsons kri tischer Position entgegengekommen? Was wollen Sie denn noch?« Wir standen uns mit unseren leicht abgespreizten Flügeln und den flos sigen Rudern an den Beinen und auf dem Rücken wie zwei phantastische Vögel gegenüber. Die Schranke öffnete sich. Abele watschelte zur Ab flugkante und stellte sich auf. Langsam breitete er seine Schwingen aus. »Die Übereinstimmung, von der Sie sprechen, ist nur äußerlich«, sagte ich ärgerlich. »Und über den Grad der Intelligenz der MEWACONS vermitteln Sie im Film nur ein verwaschenes Bild. Wir können doch längst nicht mehr ausschließen, daß wir es mit vernunftbegabten Wesen zu tun haben!« »Wenn neue Fakten vorliegen, werden wir unsere Position sicher korri gieren«, sagte Abele schon halb im Wegfliegen. Die Nutzlosigkeit der Unterredung ging mir auf. Ich verzichtete auf ei ne Entgegnung. Abele flog ab, schwebte in die Halle, machte seine ersten Flügelschläge. Ich blickte aus schwindelerregender Höhe herab, redete mir Mut zu, sagte mir, daß die Wucht des Aufpralls auf der Sohle des Pavillons ja nur einer Höhe von zwei Metern entsprach, Erdbedingungen zugrunde ge legt. Ich stieß mich ab. Glitt dahin, es war ein Traum. Ich steuerte eine Linkskurve, verlor langsam an Höhe, bewegte die Schwingen. Ein an strengender Sport. Keuchend wechselte ich mit Abele einige Worte. Die Verständigung über Funk war gut, aber es kam kein vernünftiges Ge spräch zustande. Bald flog ich nur noch knapp über dem Boden der Hal le. Unter Aufbietung aller Kräfte drehte ich noch einige Runden. Dann setzte ich in der Nähe des Turms zur Landung an. Wir stiegen erneut hinauf und segelten und flatterten.
»Larson hat eine interessante Anregung gegeben«, sagte ich zu Abele während der Pause, die wir erschöpft einlegten. Abele nahm seinen Schutzhelm ab und blickte mich abwartend an. »Larson schlägt vor, mit der RAY drei einen Erkundungsflug zu unter nehmen. Er würde sich als Pilot zur Verfügung stellen …« »Eine Neuauflage seines ersten Erkundungsfluges?« fragte er eisig. »Abgelehnt!« »Ich bitte Sie, Herr Professor …« »Tut mir leid. Die RAY können wir nicht entbehren. Testen von Treibmarken, von Schutzfeldern. Das kleine MEWACON, es zeigt keine Reaktionen mehr. Wir haben vor, ein anderes einzufangen.« »Ein Erkundungsflug fände Zustimmung von Frau Jonas!« Abele lachte. »Sie sprechen sich mit Frau Jonas ab? – Solche Entschei dungen, Herr Claire, treffen wir hier auf GALILEI!« Ich hatte meine Argumente vorgebracht und schwieg. Abele würde sich nicht umstimmen lassen. Er war jetzt heiter gestimmt. Verständlich. »Noch einen Start vom Turm?« fragte er spöttisch. Ich lehnte ab. Der Drucklufttransporter kam zischend zum Stehen. Ich befand mich im Kellerraum des Kontrollturms, in dem Steiner tätig war. Ich stieg aus der schulterengen Kabine und machte einige Lockerungsübungen. Dann fuhr ich mit dem Aufzug nach oben. Ich hielt mich zum ersten Mal im Tower auf. Von hier aus, durch Bullaugen und über den Monitorenfries, vor allem über die elektronische Kontrollwand, wurden die Aktivitäten von Fahrzeugen und Personen, die sich im Außenfeld des Kraters aufhielten, überwacht. Symbole ruck ten über die Kontrolltafel. Meldungen kamen an und wurden vom Com puter quittiert, die knappen Gespräche tönten leise durch den Raum. Draußen, im grauen Licht der Sonne, rollte ein normaler Arbeitstag ab. Steiner, natürlich war er hier, saß mit verschränkten Armen vor den Monitoren. Larson stand in der Mitte des runden Raumes, als hätte er
auf mich gewartet. Seine Kunststoffhaut schien frisch geölt worden zu sein. Er strahlte die überlegene Ruhe und Kraft eines Feldherrn aus. »Abele hat einen Vorsprung gewonnen, mehr nicht!« setzte Jan sein Gespräch mit Steiner fort. »Die Wahrheit über die MEWACONS wird ihn jedoch eines Tages einholen.« Jan begann auf und ab zu laufen. »Betrachten wir zum Beispiel die In telligenzproblematik. Nehmen wir an, daß die Intelligenz der Jupitaner verschiedene Stadien durchläuft. Eine ganz normale Entwicklung des Individuums in der Zeit wäre denkbar, uns allen geläufig. Vielleicht ist ihre Intelligenz aber auch ausschließlich an ihre Größe gebunden, eine Funktion der Größe, als summierende Wirkung von Elementarintelli genzen, als Anlagerung von Intelligenzeinheiten zu verstehen. So könnte es eine kritische Größe der MEWACONS geben, von der aus sich über haupt erst Intelligenz ausprägt. In diesen Fällen dürfte die Entwicklung zu großen Individuen gegangen sein.« »Die sagenhaften RAYONEN«, warf Steiner ein. Er saß vor den Moni toren und blickte über das Geschehen – auf den Schirmen, das die Au ßenkameras wiedergaben. »Ja, ich dachte an die RAYONEN. – Im übrigen setze ich voraus, daß wir in der Lage sind, fremde Intelligenzen als solche erst einmal wahrzu nehmen, nicht unbedingt zu begreifen.« Steiner warf Jan einen Blick zu. Seit ich den Kontrollraum betreten hatte, ahnte ich, daß man Steiner aktiviert hatte, auch wenn er sich bis jetzt noch nichts hatte anmerken lassen. Jan nickte Steiner zu. »Frau Jonas wünscht«, erklärte Steiner, »daß wir etwas unternehmen. Wir brauchen Fakten und nochmals Fakten, also …« »Aber Abele …«, fuhr ich dazwischen. » … also werden wir sie beschaffen. Larson, erläutern Sie Ihren Plan!« Jans Gesicht überzog sich mit einem Lächeln, das erstaunlich natürlich wirkte. »Wir bringen die RAY in unsere Gewalt. Und du wirst mitfliegen, Robert, mit mir!« Ich konnte mir nicht verkneifen zu fragen, ob Frau Jonas dies so wünschte. Steiner quittierte mit einem verständnislosen Blick. In seinem
Gesicht begannen sich die tiefliegenden Narben als rosa Linien abzu zeichnen. Eine überraschende Wendung. Ich lief zu einem der Bullaugen im Tower und kämpfte mein Aufbegehren nieder, das der Befehl in mir ausgelöst hatte. Auf dem flachen Dach des Kraftwerksblocks unter mir im Kraterkessel bildeten die Libellenflügel einen exotischen Strauß. Auch sah ich die bleigrauen Waben der Fenster des Hauptgebäudes. Die Sonne stand hoch und schickte ihr blasses Licht auf das Gelände. Einige Gestalten in Skaphandern fielen auf, die sich hüpfend vorwärts bewegten. Ich hätte sie anhand der sich über die Kontrollwand schiebenden Symbole identi fizieren können. – Meine Gedanken gingen spazieren. Der Plan war toll kühn. Allein schon die technische Seite des Unternehmens war äußerst riskant. Und wie wir uns Abele und seinem Team gegenüber durchsetzen könnten, war mir rätselhaft. Steiner begann mit neutraler selbstsicherer Stimme auf mich einzure den. »Natürlich könnte Larson auch allein fliegen. Als Kyborg wäre er gerade prädestiniert für ein solches Unterfangen. Aber, Sie kennen ja die Kehrseite der Medaille …« Ich nickte. Man würde ihm nicht glauben. »Wir hielten es folglich für angebracht, Larson jemanden beizugeben. Sie werden sich hervorragend ergänzen.« Ich quälte mir ein Lächeln auf die Lippen. Mein Inneres überzog sich mit einer frostharten Haut und schmolz in der anbrandenden Welle aus Zorn und Auflehnung. Irgendwer hatte wieder einmal über meinen Kopf hinweg über mein Schicksal entschieden. »Soviel mir bekannt ist«, sagte ich nach einer Weile, »fliegt Xerxes in wenigen Tagen mit der RAY eine große Tour in den Jupiter. Die RAY wäre also belegt.« »Run Xerxes wird sich gedulden müssen. – Keine Angst, es wird ihm schon nichts passieren, Herr Claire.« Es war offensichtlich, daß Steiner eine führende Rolle in dem Unter nehmen spielte. Ich verzichtete auf weitere Fragen. Einzelheiten des Plans würde ich von Jan erfahren.
15 Unsere Gruppe, beauftragt durch das Ministerium für Interplanetare Ressourcen, hatte sich also gegen Professor Abele verschworen. Jonas, Mitglied des Weltrats, gegen Abele, direkt dem Weltrat unterstellt! Eine verworrene Situation. Ein fragwürdiges und beileibe nicht harmloses Unternehmen, in das wir uns da eingelassen hatten. Unsere kleine Gruppe, das waren: Steiner, der Verbindungsmann zur Erde, Jan Larson, Ideenlieferant, Hauptstütze und Mittelpunkt unserer Gruppe, und ich. Wir versammelten uns in Anitas Appartement. Oft verloren wir uns in Diskussionen, stießen wir auf Fragen, die wir nicht beantworten konn ten. Hatte Frau Jonas Abele denn wirklich nicht zu einem Erkundungs flug zwingen können? Oder war Abele vielleicht hinter unseren Rücken in das Vorhaben eingeweiht worden? Ging etwas daneben, konnte man uns die Schuld geben. Was aber würde passieren, wenn unser Erkun dungsflug Larsons Thesen bestätigte? »Dabei läge die Lösung auf der Hand«, sagte Jan. »Einstellung der MEWACON-Jagd und gewisser Experimente auf PROMETHEUS. Ehrliche Kontaktversuche …« »Wunschdenken!« sagte Steiner. Er erhob sich und ging langsam zum Fenster, von wo aus er das Geschehen auf dem Kraterfeld beobachtete, als befände er sich im Dienst. »Eine solche Entscheidung erforderte allerdings Mut!« entgegnete Jan. »Mut, den weder Abele noch Frau Jonas aufbrächten!« Steiner wandte uns wieder sein ausgemergeltes Gesicht zu. »Beide tra gen schließlich Verantwortung, bedenken die Konsequenzen. Die Wirt schaft käme in Schwierigkeiten. Auf MEWA basiert der Zuwachs an Energieerzeugung in der Welt. Als ob ich das hier darlegen müßte!« Er verbeugte sich knapp und verließ Anitas Wohnsektion. »Wenn Steiner sich so viele Gedanken über die Belange der Admini stration macht«, sagte ich nachdenklich, »warum unterstützt er dann uns?«
»Und warum unterstützt uns Frau Jonas?« entgegnete Jan. Er lächelte stereotyp. »Vielleicht ist es der Versuch, der Stimme der Vernunft und des Gewissens durch die Hintertür dennoch Geltung zu verschaffen …« »Mag sein …« Ich war nicht davon überzeugt. »Frage die Leute auf der Station«, sagte Jan nach einer Pause. »Sie spre chen über MEWA, von seinen Vorzügen, von den Vorteilen, die MEWA mit sich bringt.« »Abeles Film hat seine Wirkung getan!« »Schluß jetzt!« rief Anita. »Lange genug habt ihr euch die Köpfe heiß geredet!« Sie zog einen Servierwagen hinter sich her ins Zimmer. Leere Gläser klirrten. Überquellende Früchteschalen. Würziger Duft entström te einer Suppenterrine. Auf der gekühlten unteren Platte des Wagens lagen Flaschen alkoholfreien Weines. Obwohl Jan nichts zu sich nahm, machte er sich einen Spaß daraus, Speisen und Getränke mit seinen Zungensensoren zu analysieren. Anita und ich hingegen genossen reichlich von dem, was da über Transport mechanismen aus dem Versorgungsmagazin angeliefert worden war. Später installierten wir die Holoprojektoren. Dann legte Anita los: Jan, wie er früher war, Jan und Anita während ihres einzigen gemeinsamen Urlaubs auf der Erde, zwei glückliche Monate lang. Noch einmal erschufen die Projektoren Jan Larson. Er stand am Strand, hoch aufgeschossen, in Shorts, aus denen dünne Beine mit Kniewülsten ragten, und im klatschnassen Trikot. Die angegrauten Haare klebten auf der Stirn. Links schwappte und leckte die ruhige See, rechts wucherte Dickicht. – Anita nannte den Namen einer Südseeinsel. Jan ließ sich wie ein großer Junge neben Anita in den Sand fallen. Sie balgten sich und liefen dann, an den Händen gefaßt, ins Meer hinein. Es waren Bilder ihrer nachgeholten Hochzeitsreise. Sie hatten vor fünf Jahren geheiratet. Ansonsten hätte Anita die Station GALILEI verlassen müssen, da ihre Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen war. Anita verwaltete ihre Erinnerungen. Kristall um Kristall wanderte durch den Projektor. Sie streiften durch das Vergnügungsviertel von GALILEI. Natürlich hatten sie sich auch im Schwimmbad getummelt. Sie versuchten wie Delphine aus dem Wasser zu schnellen und kosteten
die weiten Flugphasen aus, wenn sie vom Beckenrand aus gestreckt ins Wasser schwebten. Alle Kapriolen schienen möglich zu sein. Sie turnten in verwegenen Sprüngen über gespannte Seile, ehe sie ins aufspritzende Naß fielen. – Oder sie wanderten einfach durch den tropischen Garten, saßen am Tümpel, in dem Alligatoren wie ausgestopft dalagen und in das diffuse Licht starrten. Allmählich wurden Anitas Kommentare karg, klang ihre Stimme wei nerlich. Die vielen Erinnerungen an ihre glückliche Zeit waren über ihre Kraft gegangen. »Zeige Robert doch mal die Holos von meinen Jupiterflügen«, schlug Jan vor, sicher auch, um Anitas Gedanken eine andere Richtung zu ge ben. Das war dann auch ein anderer Larson. Mit gesteigertem Interesse schaute ich hin. Sein Gesicht war breit, die Lippen schmal. Die kräftige Nase stand kaum merklich schief im Gesicht. Während er atemberau bend schnell und konzentriert sprach, wanderten seine Augen nervös zwischen den Gesprächspartnern und einem fern liegenden Punkt hin und her. Unverhofft schob er ein schalkhaftes Lächeln ein. Jan stellte seine damaligen Gesprächspartner vor. Als einzigen kannte ich Gerassimov, den grauhaarigen strengen Gerassimov, der jetzt den Flugsimulator im Ausbildungszentrum für Piloten unter sich hatte. Als die Projektoren die RAY in unser Appartement zauberten, sah ich Kyborg Jan zum ersten Mal in einen erregungsähnlichen Zustand gera ten. Er sprang auf und trat näher an das Bild seines Schiffes heran. Die quellenden Wolken des Jupiters schienen in unser Zimmer zu dringen. Düsteres Rot schluckte graue Gespinste von Ausläufern oben liegender Schichten. Zwischen den Wolken schwebte eine Armada von Jupiterschiffen, die sich zu einer Parade alter und neuer Technik aufreih te. Ein mächtiger Heißwasserstoffballon trug einen MEWASammelmechanismus, dessen Ansaugöffnung sich wie ein Rachen öffne te. An acht ebensolchen Kugelballons hing ein bemanntes Mutterschiff. Ich erkannte die Kabinen der Besatzung und die Tanks zur MEWAÜbernahme. Nach und nach hatte PROMETHEUS die Funktion der Mutterschiffe übernommen.
Zwischen den damals fast historischen Ballons flitzten kleine bemannte Schiffe umher, die ihren Auftrieb aus Antigravitation bezogen und aus denen später jene Generation von Flugkörpern folgte, mit denen man Jagd auf MEWACONS machte. Und schließlich schwamm dort ein Schiff der RAY-Serie. »Die RAY zwei?« fragte ich Jan. »Rühre doch die alten Geschichten nicht wieder auf!« bat Anita leise. Jan überging Anitas Bitte. »Ja, die RAY zwei. – Inzwischen kennt man die Ursache des damaligen Absturzes: ein Steuerfehler.« »Das sollte Gray passiert sein, einem so erfahrenen Piloten? Und das noch hier auf Ganymed?« fragte ich ungläubig. »Ja, ja, Gray. Ein Mann von altem Schrot und Korn. Und hat sich ver kalkuliert. Zuwenig gerechnet, zuviel gedacht. Die Gravitation ist nun mal eine schwache Kraft und der Antigravitationsantrieb in kleinen Fel dern, so über Ganymed, kompliziert zu fahren: der Einfluß von Jupiter und Sonne. Mehrkörperprobleme. Wie beim Schach ist man gezwungen, mehrere Züge vorauszuberechnen. Im Jupiterkraftfeld hingegen ist das alles ein Kinderspiel.« »Nun, die RAY drei wirst du selbst fliegen«, sagte ich erleichtert. Wir mußten uns über Run Xerxes informieren. Die Kassette, die über ihn Auskunft gab, schwelgte in Superlativen. Ein Testpilot neuen Typs. Sein bisheriges Leben bestand in einer ermüdenden Aneinanderreihung von Intensivkursen, Spezialprüfungen und Übungen zur Ertüchtigung von Körper und Geist. Das Repertoire, das er flog, reichte vom interpla netaren Transporter bis zur atmosphärischen Eintauchsonde. Er be herrschte den Antigravitationsflug und bediente klassische Fluggeräte und Landfahrzeuge. Trotz seines universellen Könnens kam er nur selten zum Einsatz, da es gut ausgebildete Spezialisten für den jeweiligen Typ in Hülle und Fülle gab. Xerxes war eben der Starpilot für den extremen Sonderfall, wie er offenbar mit dem geplanten Einsatz der RAY 3 vorlag. Und zwischen den Lehrgängen versuchte er, mittels fortgesetzter Repeti tionen das hohe Niveau seiner Ausbildung zu halten.
Zu einem Einsatz, der seine lebenslange Ausbildung gerechtfertigt hät te, war es noch nie gekommen. Woher schöpfte Xerxes nur die innere Energie für dieses triste und schwere Leben? Er war jetzt Mitte Dreißig. Aus Tabellen des Informationskristalls war zu entnehmen, daß bei ihm erster Leistungsabfall auftrat. Wurde er müde? Waren das bereits Ver schleißerscheinungen? Xerxes saß auf einer Bank vor dem Trainer. Ich hockte neben ihm. »Moment noch!« sagte er, ohne seinen Blick aus dem Simulatorfeld zu lösen. Dann begann er, sich einen Raumanzug anzulegen. »Gute Zeit!« meinte er, als er fertig war. Ehe wir zur RAY aufbrachen, hielt Xerxes eine kurze Zwiesprache mit seinem Computer, der seine Lebensführung festlegte, auch die Dosie rung gewisser Stoffe überwachte, die ein solches Leben erst effizient machte. Die RAY 3 befand sich in der Montagehalle. Ihr oberer Außenpanzer war aufgeklappt. Kabel und Schläuche führten ins Innere. In mehreren Etagen umklammerten Laufstege das Schiff. Zu den meist kugelförmigen Eingeweiden gelangte man über breite Leitern. Techniker eilten durch die Halle, turnten über die Laufstege oder hock ten vor Diagnosegeräten. Die Plastikvisiere ihrer Skaphander waren ge schlossen. Trotzdem fühlte ich mich beobachtet und versuchte die Rolle des Reporters so überzeugend wie möglich zu spielen. Xerxes kam mir unbewußt entgegen. Er war auskunftsfreudig und ließ sich gern filmen. Nebenbei stellte ich die Fragen, die Jan mir eingetrichtert hatte. Während ich eine Serie von Übersichtsaufnahmen schoß, gelang es mir, am vorge sehenen Ort hinter einem Schaltschrank einen Ultraschallreflektor anzu bringen. Wir schlenderten über die Laufstege. Xerxes stellte den vielbeschäftig ten Technikern hin und wieder Fragen. Bei mir beklagte er sich, daß die RAY keinerlei Waffen zur MEWACON-Abwehr besäße. Jedes Jagd schiff wäre besser ausgerüstet. Dabei würde er bis in unbekannte Tiefen vorstoßen. »Mir ist nicht bekannt, daß die Abwehrbewaffnung der Jäger ein einzi ges Mal erfolgreich eingesetzt worden ist«, gab ich zu bedenken. Er winkte ab, als hätte er die besseren Informationen.
»Die Geschosse werden abgewehrt, noch ehe sie ihr Ziel erreichen«, bohrte ich weiter. »Ebendeshalb dachte ich auch an Waffen mit größerer Fernwirkung, wenn möglich, sogar an Annihilationsgranaten. Und nicht an Spielzeug! So etwas gehört zur Ausrüstung einer solchen Expedition! In diesem Punkt kann ich Abele nicht verstehen …« Xerxes schimpfte vor sich hin. Schließlich stiegen wir die schmale Treppe zur Kabinenkugel hinab. Xerxes erläuterte mir die Steuersysteme. Während eines unbeobachteten Moments plazierte ich einige Steckaufsätze, um gewisse Speicherinhalte der Bordcomputer zu kopieren. Erleichtert zog ich die Steckerspione wieder ab. Endlich hatte ich Jans Auftrag erfüllt. Aber ich hatte ein ungutes Gefühl. Wir würden fliegen, ohne für den Notfall einen wirksamen Schutz zu haben.
16 Unsere kleine Karawane zuckelte durch die ins Eis geschmolzenen Gän ge. An der Spitze des Zuges stapfte Jan. Ihm folgte auf Gleitkufen ein Universalroboter. Zwischen ihm und mir lief Anita Larson. Hinter mir rollten als Nachhut ein dickbauchiges Energomobil und ein Kleintrans porter. Wir hatten alle unsere Kennung abgeschaltet. Aus diesem Grund sprach die Beleuchtung nicht an, nur unsere Helmlampen spendeten Licht. Ebenso nahmen wir das Leitsystem nicht in Anspruch, das uns zeitweilig hätte führen können: in den ausgebauten Stollenabschnitten zweiter Ordnung. Das Risiko einer Entdeckung wäre aber zu groß gewe sen. Die Kälte schnitt ins Gesicht. Wir hatten die Visiere unserer Anzüge geöffnet, um uns nicht über Helmfunk unterhalten zu müssen. Wir ka men gut voran. Anita tat fröhlich. Aber sie überspielte nur ihre Ängste. Sie sah nicht ein, daß wir uns schon wieder Gefahren aussetzen sollten. Es war genug. Es hatte sie den Mann gekostet. Wenigstens das, was von Jan noch geblieben war, wollte sie behalten, den Kyborg, den Freund. Einmal blieben wir stecken. Das Warnsignal des Energomobils tönte auf. Für den rollenden Energiespeicher war der Stollen zu flach. »Wir müssen zurückstoßen«, sagte Jan. »Der Stollen hier liegt tiefer. Irgendwann muß sich Schmelzwasser angesammelt haben.« Er bemüßigte sich aber noch hinzuzufügen, daß es innerhalb des Tunnelsystems gelegent lich zu Druckausgleichsströmungen käme. »Ministürme. Fließt längere Zeit zimmerwarme Luft durch einen eisblanken Stollen dritter Ordnung, kann es durchaus zu größeren Aufschmelzungen kommen. Leider sind diese Strömungen nur schwer zu modellieren oder zu berechnen.« Wir knieten nieder, beugten uns über Jans Taschenholographen und blickten alle drei auf den Plan des Gangsystems, den uns Steiner zuge steckt hatte. Hunderte von farbigen Linien durchkreuzten den Raum des Holographen. Numerierte Zielpunkte, Höhlen, Ventilationen, Schleusen. Übersichtlich, das Tunnelsystem erster und zweiter Ordnung. Verwir rend, was da sonst noch in den Jahren ins Eis geschmolzen worden war.
Wir wählten eine Ausschnittvergrößerung des Plans. Die neue Route war schnell gefunden. Dann stießen wir zurück und erreichten wieder einen Tunnel zweiter Ordnung. Im Eiltempo marschierten wir über den ebenen, versiegelten Boden. Der nächste in Frage kommende Verbindungsstollen schien pas sierbar zu sein. Schließlich kam auch das vor: Gänge wurden einfach wieder an den Enden verschlossen, vor allem, wenn größere Lecks auf getreten waren. Zur luftleeren Außenwelt durfte keine Verbindung be stehen. Später nahmen wir mit dem in der Montagehalle angebrachten Ultra schallreflektor Verbindung auf. Der Abstand zwischen Hangar und unse rem Eisgang betrug dreißig Meter. Jan sprühte ein Farbkreuz an die Wand. Mit Hilfe des Roboters legte er einen armstarken Schlauch aus. Beide verschwanden in der Dunkelheit. Erschöpft saßen wir nebeneinander. Anita hatte die Augen geschlos sen. Aus ihrer Helmöffnung hing eine blonde Strähne heraus. Das Eis hinter unseren Rücken war glatt geworden, und sie rutschte langsam an mich heran. Ich stemmte die Stiefel gegen das Energomobil, um nicht wegzugleiten. Anita gähnte. Sie erhob sich und kramte in den Taschen des Klein transporters nach der Kaffeeflasche. »Wenn das alles hier vorbei ist, werde ich Ganymed verlassen«, sagte sie leise. Ich schaute sie überrascht an. »Zusammen mit Jan?« Sie lächelte traurig. »Jan braucht mich nicht. Ich habe es eingesehen. Ich werde allein gehen, zu meinen Eltern nach Stockholm ziehen. Dort werde ich Arbeit finden, und dort möchte ich meine Kinder bekom men.« »Ray und Tina …« »Ja, natürlich!« »Mein Gott, so löse dich doch von Jan! Mache einen endgültigen Schnitt!« »Was willst du, es sind meine Kinder!« sagte sie aufgebracht. »Ich freue mich darauf.«
»Aber Anita, du könntest noch einmal von vorn beginnen, auch was Kinder anbelangt!« Anita rückte aus dem schwachen Lichtschein der Lampe in die Dun kelheit. »Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht. Ich bin sie benunddreißig! Siebenunddreißig! Hinzu kommen die Strahlenbelastun gen hier auf Ganymed, ein irreversibler Fakt! Ich habe gar keine andere Wahl. Ich weiß es nicht anders.« Ich griff nach ihrer Hand, aber Anita entzog sie mir heftig. »Und was ist mit dir?« fragte sie bissig. »Wohinter versteckst du dein Leben? Wo ist deine Familie, dein Zuhause? Wo sind denn deine Kin der?« Ich schwieg gekränkt. Anita wußte, daß ich meine nächsten Angehöri gen verloren hatte. Damals hatte ich blindwütig eine Aufgabe gesucht, irgendeine Aufgabe. Es war nicht Idealismus, weshalb ich mich für die Opfer der Flutwelle engagierte, sondern blanker Selbsterhaltungstrieb. Zumindest damals war es so gewesen. Ein Lichtschein kam näher, verspiegelte die Wände. Kettengeräusche. Jan tauchte auf, gefolgt von einem Stollenschmelzer. Wir entfalteten die Antennenschalen des Schmelzers und richteten sie gegen die Eiswand. Pumpen preßten das aufgeheizte Wasser zum nächstgelegenen Elevator stutzen, der es weiter zur Oberfläche des Ganymed beförderte. Nach zehn Minuten war die Schmelzmaschine im Eis verschwunden. Das Energomobil rollte hinterher. Frisch glänzte der neue Gang. Das Verfahren war ein Kinderspiel. Ich wunderte mich nicht mehr über das Chaos der in das Eismassiv getriebenen Stollen. Kaum eine Stunde später trennte uns nur noch ein schmaler Eisdamm von der Halle. Wir fuhren die Maschinen aus dem Gang, rollten den Wasserschlauch ein und entluden den Transporter. Jan schuftete für drei. Noch stand beiden der Rückweg bevor, und die Station würde bald er wachen. Jan schmolz mit einem Handstrahler ein Loch zur Halle. Minutenlang zischte Luft durch den Stichkanal. Druckausgleich. Vorsichtig erweiter ten wir die Öffnung. Ich schlüpfte durch.
Der Hangar lag wie ausgestorben. Jan gab mir letzte Anweisungen. Dann begann er den Einstieg zu verschließen. Ich nistete mich in der Kabinenkugel der RAY ein. Ein blinder Passa gier. Wenigstens lag ich bequem. Das Versteck hatte mir Jan am Kon struktionscomputer gezeigt. Probeweise waren wir durch das Gedärm des elektronischen Modells gezogen, hatten die sich drehenden, schrumpfenden oder schwellenden Innereien besichtigt, hatten durch sichtige und durchlässige Wände passiert. Nun lag ich im Versteck und kämpfte gegen die Phantome dieser Nacht an. Es war dunkel, es war still, und mich befiel lähmendes Unbehagen. Endlich ertönten die ersten Geräusche in der Halle. Vereinzelt hantierten Techniker in meiner Nähe. Es folgten die schweren Geräusche der un mittelbaren Startvorbereitungen: dumpfes Dröhnen wie in einer Kessel schmiede, Erschütterungen. Zischen von Preßluft, die Kabinentür wurde in die Lagersitze gedrückt, die Luke von innen und außen verkittet. Ich schaltete die Ohrhörer ein und vernahm Xerxes, der einen schnip pischen Dialog mit der Leitstelle führte. Es war genau seine arrogante, volltönende Stimme. Das war eine Möglichkeit, die ich nicht erwogen hatte. Was sollte ich denn mit Xerxes anfangen? Hatte Larsons Plan nicht funktioniert? Entgegen meinen Instruktionen verließ ich mein geheimes Nest. Aus der schützenden Dunkelheit heraus blickte ich in das vollgestopfte Cockpit der RAY und sah über dem Instrumententisch einen breiten, gekrümmten Pilotenrücken. Ich schmunzelte. Das konnte nur einem einfallen, sich die Stimme von Xerxes anzueignen. Und das konnte auch nur einer perfekt realisieren, sich für einen anderen Menschen aus zugeben: ein Kyborg, Kyborg Jan Larson. Jan war aufs Ganze gegangen. Er hatte eine fremde Stimme miß braucht und konnte damit rechnen, daß man ihm seinen Kyborg-Status aberkennen würde. Es würde Untersuchungen und Verhöre geben. Es wäre nicht der erste Kyborg, der auf Nimmerwiedersehen in einer ge schlossenen Abteilung verschwinden würde. Natürlich waren ihm diese Konsequenzen bekannt. Wie stark mußte sein Glaube an den Erfolg und an das Erfordernis dieses Fluges sein, daß
er das in Kauf genommen hatte. Wie stark mußten seine Vorstellungen über Recht und Unrecht menschlichen Tuns sein, daß er seine eigene, angreifbare Existenz aufs Spiel setzte. Kurios das alles: ein Kyborg als Anwalt moralischer Werte. Obwohl manche ihm gerade diese Qualitäten absprachen. Obwohl man sich mit Bestimmungen und Verordnungen vor Entgleisungen dieser Pseudomenschen schützen wollte. Ich schlich mich zum Versteck zurück. Was konnte jetzt noch schief gehen? Ich wußte es nicht. Auf einem Kanal meiner Bildschirmanlage war über uns schon der freie Himmel zu sehen. Wir schwebten aus eige ner Kraft, lautlos, traumhaft, ein Erlebnis, eine Entschädigung für bis jetzt schon ausgestandene Gefahren. Das offene Dach des Hangars schnürte sich zusammen. Das Hauptge bäude, der Krater kamen ins Bild. Die Rima Discoursi schnitt in den Kraterkessel. Der Flughafen mit seinen bauchigen Lastraketen schwamm in den Schirm. Dunkle Eisfelder folgten, schneeweiße Krater, das Muster der Grabenbrüche. Ganymed formte sich zum Himmelskörper. Wer sollte uns jetzt noch zurückholen können! »War doch alles ganz einfach!« sagte Jan. Er sprach noch immer mit falscher Stimme. »Stell doch bitte diesen Xerxes ab!« sagte ich gereizt. »Solange die Leitstelle noch ahnungslos ist, sollten wir ihren Service benutzen!« Wir lagen nebeneinander. Der Jupiter beherrschte in erdrückender Monumentalität die Schirme. Erste massive Bremsungen. Es war gar nicht so einfach, sich in den König der Planeten hineinfallen zu lassen. »Hat es mit Xerxes einen Kampf gegeben?« fragte ich neugierig. »Nein. Ich hatte leichtes Spiel. Ich kam an ihn heran, ohne Mißtrauen zu erregen.« »Xerxes hielt große Stücke auf dich! Er betrachtete dich für diesen Flug als geeignetsten Piloten!« Wir lachten. Jan wechselte einige Sätze mit der Flugleitung auf Gany med. »Heute morgen«, flüsterte er dann, »kurz vor dem Start, betäubte ich ihn mit Schlafgas. Ich nahm seine Kennung an mich und war damit ge
wissermaßen im Besitz des Schlüssels für das Flug- und Sicherheitssy stem.« Er zeigte mir seine ovale Plakette mit dem eingeprägten Kopf des Galilei auf der einen Seite. Die Plakette unterschied sich äußerlich nicht von der meinen. »Und seine Stimme!« sagte ich anerkennend. »Selbst mich hast du ge täuscht!« Jan winkte ab. »Einen Kyborg sollte man nicht unterschätzen!« imitier te er jetzt Abele. Ich staunte. Jan hatte sich auf diese Mission wahrlich gut vorbereitet. Vorläufig hielten wir noch den alten Kurs. Das Flugleitzentrum Ga nymed sagte uns fleißig das Wetter im Jupiter voraus, schlug günstige Einflugschneisen vor und bediente uns mit prognostischen Statistiken. Herausragende Meldung: Abele befand sich auf PROMETHEUS. Abele vor Ort. Abele leitete den vorgesehenen Experimentalfang der MEWA CONS selbst. Jawohl, sicherlich auch zur Kontrolle der Station. Genau – seit vielen Jahren war es das erste Mal, daß er dort weilte. »So haben wir ihn in unserer Nähe«, sagte Jan. »Auch gut.« »Könnte er uns abschießen lassen?« fragte ich. »Dort«, er zeigte auf die Wolken des Jupiters, »sind wir vor ihm ziem lich sicher.« Über unsere Monitoren geisterten die Gesichter von Abeles engsten Mit arbeitern. Wirre Anfragen. Der richtige Xerxes blickte uns böse an. Sein Gesicht war noch vom Schlafgas verquollen. Er schimpfte. Dann er reichte uns PROMETHEUS. »Ein Raumschiff entführen: Laßt doch diesen Blödsinn!« rief Abele är gerlich. »Sie sollten sich kurzfassen, Abele«, sagte Jan, »der Funkverkehr bricht bald zusammen!« Abele redete beschwörend auf uns ein, als wollte er Zeit gewinnen. Mehrmals gab er mit Blicken und Händen Zeichen in den für uns nicht einsehbaren Raum neben seinem Videophon. Seine Augen glänzten fieb rig. Er schwitzte. Wie alle Anfänger hatte er eifrig der schmerzausschal tenden Droge zugesprochen.
»Akzeptieren Sie unseren Flug!« riet ich ihm. »Es wäre für alle Beteilig ten das beste.« Abele überhörte meinen Vorschlag. Er zog für einen Augenblick eine wehleidige Miene, dann schwatzte er weiter. »Wir vergessen euer Husa renstück, Jungs. Fliegt ihr eben anstelle von Xerxes. Ob nun Xerxes oder Claire und Larson, ist letztlich egal. Durchaus interessant. Selbstverständ lich würdet ihr straffrei ausgehen! Überlegt’s euch!« »Finden Sie sich mit den Tatsachen ab!« wiederholte ich. »Ihr seid allein!« hielt er uns vor. »Keiner wird euch helfen. Im Gegen teil! – Jan! Ihr Ruf! Ihre Erfolge! Ihre weiteren Pläne! Kehren Sie um!« Abele fiel das Sprechen schwer. Er winkte mit Unterstützung seines Hilfsgestells in den Raum hinein. Jemand reichte ihm eine schmale Fla sche. Er klemmte das Mundstück zwischen die Zähne, schloß die Augen, schluckte, entspannte sich. Die Droge tat ihm sichtbar gut. »Ohne ME WA wird nichts mehr laufen«, fuhr Abele wie verwandelt fort. »Nir gendwo! Der Kampf gegen den Anstieg der Meeresspiegel nicht, und die anderen Ökoprogramme werden es auch nicht. Die Ressourcenlage wirkt seit langer Zeit zum ersten Mal entspannt. Vom Prognostiker bis zum letzten Angestellten hoffen sie auf MEWA, setzen sie auf MEWA. Sie träumen davon. Millionen Gehirne spielen mit den neuen Technologien …« Er legte eine Pause ein, atmete mehrmals schwer durch. Dann trug er noch einmal seine visionären Ansichten vor: die MEWACON-Farm. Die neue technologische Revolution. Der Mensch als Herrscher über das Sonnensystem … Unwillig versetzte ich Jan mit dem Ellenbogen einen leichten Stoß. Es hatte doch keinen Sinn, Abele noch länger zuzuhören. »Schalte ab!« drängte ich Jan. Jan wies mich zurück. Er wollte ebenfalls sprechen. »Wir haben die RAY in unsere Hände gebracht«, fiel er endlich Abele ins Wort, »weil wir keine andere Möglichkeit gesehen haben. Wir suchen den friedlichen Kontakt zu den MEWACONS. Es gibt Anzeichen für deren Intelligenz. Anzeichen, die Sie ignorieren. So, wie Sie von Anfang an versuchten, aus welchen Motiven auch immer, die biologische Natur der Jupitaner zu vertuschen. Nur daß Sie inzwischen von den Fakten gezwungen wurden, klein beizugeben! Mit diesem Flug werden wir die unwiderlegbaren Be
weise für die Intelligenz der Jupitaner erbringen. – Falls unser Flug schei tert«, sagte Jan leise, »wird man diesen Hinweisen nachgehen.« Ich hatte geahnt, daß Jan diese lange Erklärung nicht ganz uneigennüt zig abgegeben hatte. Sie war nicht so sehr für Abele bestimmt, sondern mehr für die Kyborg-Kommission, die sein Verhalten unter die Lupe nehmen würde. »Fakten? Beweise? – Hirngespinste eines Kyborgs!« Abele tobte. Er gab mit der Hand ein Zeichen. Die Telemetrie auf unseren Schirmen verlosch. Man hatte uns von der Flugleittechnik der Stationen getrennt. Jan blieb unbeeindruckt. Er löschte die Positionssender unseres Schif fes. Eine schwache Antwort. Mehr wohl ein Zeichen, daß die Auseinan dersetzungen in eine unerbittliche, letzte Phase getreten waren. Abele beriet sich kurz mit seinen Mitarbeitern. Dann richtete er sich auf und gab eine offizielle Erklärung ab. Er verhängte den Ausnahmezu stand über PROMETHEUS und unser Schiff, sicherte seine Position ab: RAY. 3 von außer Kontrolle geratenem Kyborg entführt, Robert Claire als Geisel an Bord … Ich schaltete die Empfänger aus. Jan übernahm die Steuerung des Schiffes. Vor uns wölbte sich der Jupiter.
17 Wir trieben in der ruhigen Strömung. Von unten drang kirschrotes Glü hen zu uns herauf, ein gleichmäßiges, dumpfes Leuchten der Tiefe, das sich über uns in der Lichtlosigkeit der Jupiteratmosphäre verlor. Irgendwo weiter oben schwamm PROMETHEUS: Die kilometerlange Station war längst nicht mehr sichtbar. Durch den optischen Schirm geisterten die Schatten dunkler Körper. Eine Gruppe von etwa dreißig MEWACONS driftete gleich uns im Großen Roten Fleck. Die entfernteren MEWACONS verloren sich im Flirren der glühend heißen Gase. Schon beim Anpirschen an die Herde war uns das veränderte Äußere der Tiere aufgefallen. Sie hatten ihre uns bekannte kuglige oder ellipsoide Form aufgegeben und sich entfaltet. Ein Großteil ihres Körpers war zu einem Schirm ausgebildet, an dem der Rest des Leibes hing. Zwischen Hut und balligem Unterleib schnitt sich eine Taille ein. Fliegende Pilze. Ihre Körper rotierten gemächlich um ihre Längsachse. Jan frohlockte. Die MEWACONS zeigten ihre eigentliche Form. Das konnte nur heißen, daß sie sich in ihrem natürlichen Milieu aufhielten. So, wie Schnecken ihr Haus verließen, wenn sie nicht gestört wurden. Die Wesen drifteten mit der Strömung. Mit Hilfe der Magnetfelder ih rer Schirme erzeugten sie den Auftrieb in der Atmosphäre. Die erforder lichen Ströme flossen durch ihre eigenen Leiber. Magnetfeldsegeln. Die größten Exemplare waren halb so groß wie unser Schiff, während die kleinsten etwa die Größe des von Abele vorgeführten gefangenen MEWACON-Babys erreichten. Ein Leit-MEWACON war nicht auszu machen, auch kein Kontakt der Wesen untereinander. Auch keine Indi vidualität, von ihrer unterschiedlichen Größe abgesehen. Exemplare mit noch gewaltigeren Ausmaßen, die RAYONEN, hatten wir noch nicht zu Gesicht bekommen. Die Rotation verbesserte die Fluglage der MEWACONS. Drallstabili sierung. Das war natürlich eine Vermutung. Ihr bauchiger Unterleib war mit Ausstülpungen besetzt. Vier schaufelige Öffnungen, die sie gegen
den Drehsinn in den heißen Wind strecken. Am unteren Ende ihrer Körper erkannten wir zu Düsen auslaufende Fortsätze. Die aufgenom menen Gase wurden wieder abgegeben, ein Antriebsschubstrahl. Zu gleich schienen wir die Stoffwechselorgane vor uns zu haben, die wir bislang vergeblich gesucht hatten und die es den MEWACONS ermög lichten, feinverteilten metallischen Wasserstoff aufzunehmen. Wir hatten uns der ersten MEWACON-Herde angeschlossen, auf die wir gestoßen waren, und weideten wie sie die MEWA-Bänke ab. Offen bar benutzten wir sogar ein analoges Verfahren, um den metallischen Wasserstoff zu gewinnen: Einstrudeln von Atmosphäre, Filtern und Sammeln, Ausstoßen der verarmten Gase. Ich war mir sicher, daß ein Vergleich der Effektivität beider Verfahren nicht zu unseren Gunsten ausfallen würde. Unser Flug verlief ruhig. Wir zuckelten mit der Herde. Ich lag auf einer Matte, vollgepumpt mit Drogen. Ich lag und erduldete die Schwerkraft, beobachtete die Schirme, grübelte. Führte nur die unerläßlichen Tätigkei ten aus, meistens waren es Handreichungen, um die Jan mich gebeten hatte. Jan vermaß und katalogisierte einzelne Exemplare der Gruppe, wobei er die Geschäftigkeit und Engstirnigkeit eines Sammlers an den Tag leg te. »Alles Bilder für deine Galerie im Eiszapfensalon«, spottete ich. »Aus dir wird nie ein ordentlicher Wissenschaftler!« entgegnete Jan. Er schien meine Nervosität zu spüren. »Soweit es möglich ist, wiederholen wir den Flug der RAY eins«, erklärte er geduldig. »Wir füllen unseren Tank mit MEWA. Gleichzeitig beobachten wir die Herde. Besser konn ten wir es gar nicht treffen!« »Um auf das Erscheinen der RAYONEN vorbereitet zu sein«, schloß ich ab. »Richtig.« »Wo sie nur bleiben mögen …«, sagte ich nachdenklich. Nicht, daß ich sonderlich scharf auf ein Treffen mit den RAYONEN gewesen wäre. Ich hatte Drupadantes Tod immer noch vor Augen.
Jan schaltete das Rundsichtradar ein. Durch die Herde lief eine Bewe gung. Sie stob nach allen Seiten auseinander, Hunderte von Metern. Die geflohenen MEWACONS hinterließen um unser Schiff einen leeren Raum, der mit uns wanderte, wenn wir durch die Herde schwammen. Jan schaltete wieder aus. Allmählich trieben die Geschöpfe mit ihren zum magnetischen Feld des Jupiters ausgerichteten Schirmen wieder an uns heran, als wäre nichts geschehen. Als hätte ein ungefährliches, lästi ges Naturereignis stattgefunden. »Du siehst, Robert, es bringt nichts. Wir stören sie nur. Die Radaremp fänger sind übrigens eingeschaltet.« Jan zeigte auf den Schirm. »Wie wir auch lauschen – nichts zu sehen und zu hören!« »Aber sie reagieren doch auf Radar!« »Ja, ja. – Senden und Empfangen müssen nicht auf einem Kanal statt finden«, sinnierte er. »Abele ist uns wieder einmal voraus«, jammerte ich. »Immerhin war es ihm gelungen, über Radar oder einen angrenzenden Kanal die MEWA CONS massiv zu beeinflussen. Sein Käfigtrick, mit dem er das MEWA CON-Baby eingeschlossen hatte, zeugt davon.« Jan steuerte die RAY aus der Herde heraus. Unweit erkannten wir eine zweite Ansammlung. Entferntere Gruppen leuchteten wie Galaxien im Dunkeln des Panoramaschirms. Dazwischen lag das blasse Grün der MEWA-Aerosolbänke, die sich wie fluoreszierende Gasnebel faserig in die heiße Strömung des Großen Roten Flecks streckten. Die Herden schienen aus stumpfsinnigen MEWA-Fressern zu beste hen. Von der vermeintlichen Intelligenz der MEWACONS, die wir auf zuspüren gedachten, hatten diese Wesen noch nichts preisgegeben. Wir ließen uns absinken. Hunderte von Kilometern unterhalb der PROMETHEUS stoppten wir die RAY. Die Treibmarken, die Abeles Experimentalfang einleiteten, waren inzwischen abgeworfen worden. Wir warteten und beobachteten den Radarschirm. Glitzernde Tröpfchen schwebten herab, ein Schwarm Glühwürmchen. Einzelne Köder sanken in unmittelbarer Nähe herab. Gebilde, die mit fingrigen Sensoren besetzt waren. Ein Köder fiel auf unser Schiff und rollte wieder herunter. Das
also war Abeles neue Fangstrategie: Anstelle weniger Großköder ver wendete er Tausende kleiner Treibminen. Der Schwarm durchsetzte die Herde, mit der wir in Tuchfühlung stan den. Die meisten Minen sanken an den Tieren vorbei. Schließlich beo bachteten wir, wie ein MEWACON einen der fußballgroßen, stachligen Ballons aus einer Entfernung von wenigen Metern in sich einstrudelte. Es war nicht zu übersehen, daß das MEWACON an dem Köder interes siert war. Es war ein kleines Geschöpf gewesen, zwei, drei Tonnen schwer. Mit dem Lichtfinger setzte ich einen Zeitgeber auf das Bild des Tieres. Die Stoppuhr lief. Was würde geschehen? Schon nach Minuten zeigten sich Reaktionen. Der breite, glatte Hut zerfranste, der ballige Unterleib verkrampfte sich, verschmolz mit dem Schirm. Das Tier verwandelte sich vor unseren Augen in eine klumpig deformierte Kugel. Die saubere Rotation geriet außer Kontrolle. Es tor kelte. Es pulsierte und stieß Flüssigkeit aus. »Die MEWACONS spüren die Treibmarken auf und knacken sie. Auf Grund physikochemischer Vorgänge … entladen sich zum großen Teil die Ringströme, die durch die Körper der Objekte fließen …«, zitierte ich noch einmal vorwurfsvoll Abele. »Physikochemischer Krieg!« sagte Jan sarkastisch. Ich blickte betroffen auf das schwer verwundete MEWACON. Viel leicht war es wirklich noch ein Baby. Das Wesen kämpfte mit ungebro chener Heftigkeit gegen den unsichtbaren inneren Feind an. Wir waren einige Schiffslängen entfernt, und die atmosphärischen Stoßwellen, die sein zuckender Leib hervorrief, übertrugen sich auf unser Schiff. Wir schlingerten. Mir wurde übel. Dann explodierte der tonnenschwere Leib. Die RAY wurde von einer Woge erfaßt und weggeschleudert. Die Gurte strafften sich und schlan gen sich schmerzhaft um meine Glieder und meinen Leib. Selbst Jan stieß einen Laut aus. Die Logik der Digitaluhr, die das Bild des Individuums nicht mehr fin den konnte, war bei 13:24 stehengeblieben. Es waren nur noch Rauch und Fetzen zu sehen.
»Der Mensch tötet«, sagte der Kyborg.
Es war schwer, ihm zu widersprechen. Der Mensch tötet, vernichtet,
zerstört – wie vor Tausenden von Jahren. »Nicht mehr ganz so viel und ganz so oft …«, entgegnete ich kleinlaut. Wir schwammen mitten in der Herde. Erst jetzt wurde uns bewußt, daß auch andere MEWACONS Köder aufgenommen hatten und mit ihnen kämpften. Wir schätzten, daß ein Drittel der Tiere betroffen war. Ein zweites kleines MEWACON wurde auseinandergerissen. Die größe ren Exemplare schienen widerstandsfähiger zu sein. Wir flohen aus der Kampfzone. Das Radarpanorama zeigte die grau same Wirkung des massenhaften Einsatzes der Köder. Ein Schlachtfeld. »Ich kann es mir nur so erklären«, sagte Jan, »daß die Köderreagenzien die Hirne der MEWACONS lahmlegen. Die Steuerzentren für ihre Energiemaschinen funktionieren nicht mehr, und die supraleitenden Ringströme in ihren Organen geraten außer Kontrolle. Oder sie kollabie ren wie bei den kleinsten MEWACONS. Wie groß die Freisetzung von gespeicherter Energie sein muß, haben wir ja soeben erlebt.« Die Herde fiel auseinander. Die meisten Tiere hatten ihre Schirme und Ausstülpungen eingezogen, formten sich zu den uns bekannten Körpern, rotierten. Einige der MEWACONS strebten zielgerichtet nach oben, schnell wie aufsteigende Luftblasen im Wasser. Als ob sie dort oben Linderung oder Rettung erwarten würde. Viele zogen eine rauchige, quir lige Schleppe hinter sich her. Wir folgten langsam den verwundeten Lebewesen, die auf die lauernden, harpunierbereiten Jagdschiffe in der oberen Atmosphäre zutrieben. Ihre Wehrlosigkeit beschämte mich. Und auch, daß sie keinen Wider stand leisteten. RAYONEN. Sie waren plötzlich da. Sie spannten über uns mit ihren langgestreckten, riesigen Körpern ein großes Netz auf, eine flirrende Mauer. Von unten schob sich ein zweites Netz herauf. Dazwischen krei selten und torkelten MEWACONS. Auch wir waren mit unserem Schiff gefangen. Eine Flucht, seitwärts entlang der Netze, versuchten wir erst gar nicht.
Die Ebenen hatten nichts mathematisch Exaktes an sich, und die RAYONEN waren beileibe keine Fixpunkte. Sie bewegten sich, und Dutzende MEWACONS schlüpften durch die hin und wieder entstan denen größeren Lücken. Wir flogen auf eine solche Netzmasche zu. Die Lücke empfing uns wie eine Sprungfedermatratze. Etwas knautschte sich zusammen, und wir federten zurück. Jan ließ unsere RAY äußersten Anlauf nehmen. Ein Bremsstoß schüttelte das Schiff, dann wurden wir zurückgeschleu dert. Wimmernd hing ich in den Gurten. Jan hatte bemerkt, daß einige MEWACONS auch durch das untere Netz schlüpften. Folgerichtig versuchte er, nach unten durchzubrechen. Ich schloß die Augen. Ich glaubte das Resultat schon vorher zu kennen. Auch machte mir Angst, daß sich die Netze einander weiter genähert hatten. »Der grüne Käfig!« sagte ich jammernd, nachdem der Bremsstoß über standen war. Befanden wir uns nicht in der gleichen Lage, in der Drupa dante den Tod gefunden hatte? Das alles hatte ich mir schon aus anderer Perspektive mit ansehen müssen. »Actio gleich reactio«, kommentierte Jan seinen letzten Versuch. »Das Feld war so stark, wie wir es forderten. Es setzte so viel Widerstand ent gegen, wie gerade notwendig war, um uns zurückzuhalten. Und es reflek tierte uns elastisch.« »Elastisch?« wiederholte ich höhnisch. »Ein außergewöhnliches Kraftfeld«, sagte er anerkennend. »Es wird uns zermalmen!« rief ich weinerlich. Ich nahm einen großen Schluck aus der Drogenflasche. Jan unterbrach seine Untersuchungen. Er mußte gemerkt haben, daß meine Nerven nicht länger mitspielen würden. »Glaubst du wirklich, daß diese RAYONEN, die offenbar mit ihren Körpern diese Felder hier aufspannen, mit uns einen solchen Aufwand treiben würden?« stauchte er mich zusammen. »Als ob wir keine Strafe verdient hätten!« »Strafe …« »Kannst du etwa diesen Aufmarsch deuten?«
»Alle diese Maßnahmen«, erläuterte Jan geduldig, »dienen dazu, die MEWACONS in drei Gruppen einzuteilen.« »Eine Sorte für Abele, die mittlere für uns, und was passiert mit denen, die durch das untere Netz schlüpfen?« »Bleib sachlich!« ermahnte er mich. Dann schlug er mir ein Schläfchen vor, aber ich lehnte unwillig ab. Jan richtete das Visier für den Zielanflug auf ein RAYON. Er hatte doch nicht das Kreuz, unser Schiff einem solchen Koloß anzubieten! Er wollte doch nicht etwa in unserer vertrackten Lage diese gewagte Annä herung, die er während seines ersten MEWACON-Flugs ausprobiert hatte, wiederholen? Ich protestierte eindringlich, aber vergebens. Noch ehe wir uns dem RAYON genähert hatten, schleuderte uns das ungewöhnliche Feld zurück. »Da siehst du es«, sagte er leicht dahin, »sie haben wirklich ganz andere Sorgen!« Der Tiger hatte tatsächlich die Maus verschmäht. Beruhigt schloß ich die Augen. Eine Kraftfeldschleppe schob die MEWACONS weiter. Auch wir wur den transportiert. An den Bordinstrumenten lasen wir ab, daß wir uns allmählich nach unten bewegten. Später formten sich die parallelen Net ze der RAYONEN zum Trichter, zum Schlauch. Das MEWACON, das vor uns abwärts sauste, wandte uns ständig sein lädiertes Oberteil zu. Aus seinem Körper drang Flüssigkeit, die verwirbelte und uns die Sicht nahm. Die RAYONEN zeigten sich jetzt seltener. Es sei denn, daß die ausei nandergezogene Kette der toroidalen Schachtsegmente, durch die wir nach unten verfrachtet wurden, auch nur speziell geformte RAYONEN waren. Auf solche Überraschungen mußten wir mittlerweile gefaßt sein. »Es dürfte sich eher um ein fest installiertes Kraftfeld handeln«, orakel te Jan. Und er gab zu bedenken, was wir am Neutrinoteleskop des Pro fessors beobachtet hatten: eine ähnliche Höllenfahrt der mit Sendern markierten MEWACONS. Sie führte zu einem Ziel, das Jan damals als »Krankenhaus« bezeichnet hatte.
Der Schlauch weitete sich wieder zum Trichter. Die Bewegungen, die uns aufgezwungen wurden, verlangsamten sich. Dann saßen wir fest. Eine unsichtbare Box. Die virtuellen Plätze um uns herum wurden rasch aufgefüllt. Ich zählte sechs gleichweit entfernte Nachbarn. Der Strom der MEWACONS nahm nicht ab. Die aneinanderstoßenden, belegten Boxen wölbten sich zu einem unvorstellbar großen Raum. War dieser Raum schon dagewesen, oder hatte er sich erst gebildet, während wir plaziert wurden? Warum wurden wir nicht als feindliche Objekte behan delt? – Zumindest bisher nicht? Die Kommentare des allwissenden Kyborgs zu den Erscheinungen wa ren immer spärlicher geworden. Vielleicht machte sich auch bei ihm eine gewisse Abstumpfung den Wundern gegenüber bemerkbar. Die Regie gönnte uns eine Atempause. Ich nutzte die Zeit für einen hastigen Imbiß nebst Droge. Ich wies Jan darauf hin, daß die Tempera tur im uns umgebenden Raum niedriger ausfiel, als es der enormen Tiefe von achthundert Kilometern entsprach. Ein erfreulicher Fakt, diese Kli matisierung. Ein neues Wunder. Hierzu dürfte auch die festliche Be leuchtung dieser Welt zählen. Das gelbe Licht durchsetzte die Raumku gel, ohne sie zu erwärmen. An der gegenüberliegenden Seite lagen ebenfalls MEWACONS. Das »Krankenhaus« schien gefüllt zu sein. Unsere Aufmerksamkeit, die sich ständig auf der Suche nach Trägern von Intelligenz oder vermutlichen Befehlszentralen befand, galt jetzt einer Kugel, die im Zentrum des Krankenhauses schwebte. Die Kugel schien zu pulsieren, zu leben. Erst das Teleskop offenbarte uns Einzelheiten. Von der Oberfläche des Zentralkörpers lösten sich Gebilde ab und flogen nach allen Seiten weg. An zwei Polen der Kugel waren trichterförmige Öffnungen zu sehen, in die unablässig ebensolche Gebilde einflogen. Der Kreislauf dieser Flugkörper war anscheinend geschlossen. Wir holten uns eine einzelne Wabe der facettierten Kugeloberfläche auf dem Schirm. Auf dem Grund des Körbchens wuchs ein Tropfen heran, der die Wabe schließlich ausfüllte. Er löste sich ab und formte sich zur Scheibe. Auf dem Boden der Wabe war der nächste Keimling
schon zu sehen. Ein Vorgang, der etwa eine Minute dauerte und sich wiederholte. »MEWAMÖBEN«, sagte Jan. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich diesen Wesen noch einmal begegnen würde.« In der Tat ähnelten diese Gebilde hier jenen unzähligen, metergroßen Scheiben, denen Jan während seines MEWACON-Flugs begegnet war. Und es gab noch andere Parallelen. Auch damals hatte er im Innern des RAYONS ein kugelförmiges Zentrum beobachtet, waren ihm die niedri gen Temperaturen aufgefallen, wurde sein Schiff von unbezwingbaren Feldern geführt. »Die unheimliche dritte Art, hier im Jupiter zu existieren …«, sagte Jan. »Oder, wir sind auf die kleinsten Bausteine des jupitanischen Seins ge stoßen«, ergänzte ich ihn. »Die Träger der Intelligenz, die wir suchen?« Voller Entsetzen sah ich, daß Jan das Radar, dessen Reizwirkung uns bekannt war, einschaltete. Tausende von MEWAMÖBEN, offenbar alles, was einen gewissen Reifestatus erreicht hatte, lösten sich von der zentralen Kugel und schwebten in unsere Richtung. Ich griff durch Jans Arme zur Gerätekonsole und boxte gegen den Schalter. »Deinen Forschergeist in allen Ehren«, schrie ich ihn an, »aber solche Kapriolen mache gefälligst, wenn du allein fliegst!« Die MEWAMÖBEN hatten sofort von uns abgelassen und verteilten sich. Ich atmete auf. Vielleicht waren Kyborgs so. So kindlich. Jan ließ die erbeuteten Aufnahmen ablaufen. Aus den Augenwinkeln erkannte ich, daß die MEWAMÖBEN die tiefgrüne Einfärbung des metallischen Wasserstoffs besaßen. Es hätte mich allerdings verwundert, wenn sie aus einem anderen Stoff gemacht gewesen wären. An die hundert dieser Scheibchen waren bis in die Nähe unseres Schif fes gelangt und begannen es zu beschnüffeln. Aber sie ließen bald wieder von uns ab. Sollten diese dienstbaren Geister wirklich nicht gemerkt haben, daß sie etwas anderes als ein MEWACON vor sich hatten? Ein feindliches Schiff oder wenigstens ein interessantes Objekt? Täuschten wir sie mit unserer Außenhülle der RAY so perfekt, daß sie keinen Un terschied zu den MEWACONS bemerkten?
Möglicherweise zog das MEWACON mit dem lädierten Oberteil, das in der Nachbarbox eingelagert war, die MEWAMÖBEN auf sich. Ich sah, wie wandelbar die gleichförmigen Scheiben sein konnten: Sie kro chen durch unscheinbare Ritzen in den Leib des Tieres oder bedeckten den zerfleischten Hut, indem sie zu einem Teppich miteinander ver schmolzen. Nach einigen Minuten flogen die Scheiben davon. Die äußerlich sicht baren Schäden waren behoben. Und es war anzunehmen, daß sie auch im Innern des MEWACONS für Ordnung gesorgt hatten. Das Wesen begann sich langsam zu drehen. Erwachen. Es schnürte sich ein, drehte sich schneller, drückte seinen erneuerten Schirm aus sich heraus. Nur noch die scheckige Färbung erinnerte an die frühere Verlet zung. Kurze Zeit später verschwand es vor unseren erstaunten Augen durch den Boden der Box. »Du solltest die RAY auch in Drehung versetzen«, schlug ich scherz haft vor. Unsere Stimmung verbesserte sich, obwohl wir nach wie vor an der Wandung des »Krankenhauses« festgehalten wurden. Gelegentlich suchten uns immer noch einzelne MEWAMÖBEN auf. Um sowenig wie möglich aufzufallen, hatten wir die meisten Aggregate der RAY so weit heruntergefahren, wie wir es gerade noch verantworten konnten. Die RAY schwieg und lauschte.
18 Wir fielen in die Tiefe. »Sie haben uns also aus dem ›Krankenhaus‹ entlassen«, sagte ich. Jan rieb meine schmerzenden Muskeln mit einer übelriechenden Paste ein. Ich freute mich über die offensichtliche Heilung der verwundeten MEWACONS. Auch wenn wir beide an der Massenschlächterei nicht beteiligt gewesen waren, hatte sich mein Gewissen gemeldet. Es war so etwas wie die Mitschuld des untätigen Beobachters und die des Nutznie ßers, die ich fühlte. »Nutznießer der neuen Technologien wollen wir alle gern sein«, hatte Abele einmal zum besten gegeben, »aber wenn das Tier chen geschlachtet werden soll, o Gott! Dann heben wir entrüstet die Hände.« In den Schwächen der anderen kannte Abele sich aus. Jan behandelte jetzt die Druckstellen an meinen Armen und Beinen, die von den Haltegurten stammten. Er hatte sich die Ärmel hochge streift. Rhythmisch kontrahierten seine elektrochemischen Muskeln. Sei ne fettige Kunststoffhaut hob und senkte sich, Atem vergleichbar. »Ich weiß zwar nicht, was die MEWAMÖBEN sonst noch auf Lager haben«, sagte ich, »ihre MEWACONS haben sie jedenfalls problemlos auskuriert.« Ihre Heilkünste hatten mich verblüfft. »Bis auf jene, die Abele ins Messer gelaufen sind!« sagte Jan. »Und die Toten werden sie auch nicht wieder erwecken!« fügte er hinzu. Jans Vorwurf kränkte mich. Manchmal tat er so, als wäre er der einzige Sympathisant der MEWACONS. Erschöpft wartete ich auf das Ende der Behandlung, die Jan mir angedeihen ließ. Mittlerweile war unser zweiter Flugtag angebrochen. Wir setzten unse re Mission fort. Vorsichtig umflogen wir das »Krankenhaus«, das unsere Neugierde erregte. Da wir nicht noch einmal gegen unseren Willen vom »Krankenhaus« behandelt werden wollten, achteten wir auf respektvollen Sicherheitsabstand.
Das Gebäude hatte überraschenderweise nicht die Gestalt einer Kugel, sondern ähnelte einem überdimensionalen Kessel, dem ein gewölbter Deckel aufgesetzt war. Eine fette Wulst schob sich über den Deckelrand. Wir schlossen nicht aus, daß wir bezüglich des kugligen Innenraumes einer optischen Täuschung erlegen waren. Wir schätzten das Volumen des Gebäudes auf drei Kubikkilometer. Eine imposante Größe! Selbst für jupitanische Verhältnisse. Die irdi schen Weltwunder begannen zu verblassen. Wir vermuteten, daß im Oberteil des Gebäudes die Auftriebsmechanismen installiert waren. Der Gedanke drängte sich auf: Der Deckel des »Krankenhauses« wölbte sich wie ein MEWACON-Schirm. »Gebäude und Tier aus demselben Material geschaffen, nach ähnlichen Prinzipien strukturiert und organisiert?« fragte ich erstaunt. »Das ›Kran kenhaus‹ – ein überdimensionales MEWACON?« »Warum nicht?« »Häuser aus Fleisch und Blut?« Ich mußte mich erst an diese Gedan ken gewöhnen. »Lebende Städte, durchaus möglich.« »Denkende Städte?!« »Vielleicht. Je größer die Wesen beziehungsweise die Objekte sind, auf die wir stoßen, um so leistungsfähiger und intelligenter scheinen sie zu sein. MEWACON, RAYON und KRANKENHAUS wären die Glieder dieser Reihe.« Ich lachte über Jans gewagten Schluß. »War auch nur so unter uns gesprochen«, sagte Jan. »Und in welches Schubfach stecken wir die MEWAMÖBEN?« »Ich weiß es nicht. Es fällt mir schwer, sie in diese Reihe einzuordnen. Sie scheinen eher zu vermitteln und zu verbinden, als Bausteine zu sein.« Wir umrundeten mit der RAY noch immer das »Krankenhaus«. Einige Male konnten wir beobachten, wie Nachzügler herausgeschleust wurden. Die MEWACONS wurden durch die Wandung katapultiert und schweb ten mit prachtvoll entfalteten Schirmen davon.
»Ich habe eher das Gefühl«, sagte ich, »daß wir hier automatische Ab läufe sehen, die uns natürlich beeindrucken, daß wir es aber mit instinkt haftem Verhalten zu tun haben und nicht mit intelligenten Leistungen. Die MEWAMÖBEN haben doch noch nicht einmal den Unterschied zwischen einem verletzten MEWACON und einem Raumschiff feststel len können! Und auch die RAYONEN und das KRANKENHAUS ha ben diesen Unterschied nicht bemerkt.« »Ach lassen wir das, Robert«, sagte Jan. »Was für einen Sinn soll es ha ben, intelligentes und instinktives Verhalten der Jupitaner auseinander halten zu wollen? Ab einer gewissen Höhe der Leistungsfähigkeit von Zivilisationen ist für mich dieser Unterschied belanglos. Liegt beim Men schen etwa Intelligenz in kristallener Reinheit vor? Und wer will sich vermessen, festzulegen, ab welchem Niveau wir geneigt sind, die Jupita ner als Partner zu akzeptieren oder als Freiwild zu betrachten?« schloß er schroff. »Am Vorhandensein oder Fehlen von Vernunft werden die Jupitaner gemessen werden. Falls es sich herausstellen sollte, daß wir es nicht mit denkenden Wesen zu tun haben, wird die MEWACON-Jagd fortgesetzt, wird der Weltrat seine Rechte geltend machen.« »Rechte?« fragte Jan grob. »Seine vermeintlichen Rechte«, korrigierte ich schnell. »Das ist Abeles Standpunkt!« »Es ist der zur Zeit gültige Standpunkt. Warum wohl sind wir bei Nacht durch Eisstollen geschlichen …« Jan erhob sich ärgerlich, lief im Cockpit umher, die wenigen Schritte, die möglich waren. Er ignorierte mich. Ich hatte ihn gekränkt, aber seine emotionalen Filter verhinderten, daß seine Gefühle ausbrachen. Unweit des »Krankenhauses« stießen wir auf eine senkrechte Röhre. Wir waren sicher, jene Transporteinrichtung vor uns zu haben, durch die wir in die Tiefe verfrachtet worden waren. Mit dem Manipulator der RAY wagten wir eine vorsichtige Analyse der MEWA-grünen Wandung des Schlauches. Wir fanden eine zäh-elastische, undurchdringliche Konsi stenz vor, die dem außergewöhnlichen Kraftfeld der Jupitaner zu eigen
war und die die Wandung zuverlässig armierte. In gleichen Abständen hoben sich toroidale Schachtsegmente ab, Verdickungen eigentlich bloß, die uns schon während unserer unfreiwilligen Reise zum »Krankenhaus« aufgefallen waren. Wurden in ihnen die Felder generiert, die kein irdi sches Labor bislang erzeugt hatte und über deren Natur wir im unklaren waren? Ich machte Jan auf eine Erscheinung im Raum des Weitsichtradars aufmerksam. In der Ferne, wenige Flugstunden entfernt, zog sich ein Objekt entlang, eine grüne Linie, horizontal, wie mit dem Lineal gezo gen, endlos. »In einigen Stunden könnten wir dort sein«, schlug ich vor. Jan zeigte statt dessen in die Tiefe, wo sich der Schlauch wie eine Per lenkette fortsetzte. Er bestand auf Tauchfahrt. Es drängte ihn, die Reser ven seines Schiffes auszuloten und zu demonstrieren. Er sprach auch von Ahnungen, die ihn erfüllten, von qualitativ neuen Möglichkeiten, die die Evolution hervorgebracht haben mußte, weiter unten, im Grenzge biet, wo die Jupiteratmosphäre allmählich in einen flüssigen Zustand überging. Absturz. Wir folgten der Kraftfeldröhre. In monotoner Sequenz huschten die Schachtsegmente vorbei. Zählmarken. Weit unten glänzte ein Tropfen Tau am grünen Strang, die erste Abweichung. Ein Pump werk an einer Pipeline? Ein Auftriebsorgan? Wir stoppten. Das Objekt ähnelte dem »Krankenhaus«: ein kesselför miger Bau, darüber sich ein Deckel wölbte. Kleiner zwar, aber groß ge nug, um erneut unser Erstaunen hervorzurufen. Jan griff den Evolutionsgedanken auf und schwärmte von den Bedin gungen im Jupiter, die es ermöglicht haben mußten, Gebäude und Transportsysteme ohne Zutun der Jupitaner gleich mit zu entwickeln und sie den Jupitanern zur Verfügung zu stellen. Ich erhob Einspruch. Waren wir doch ausgeflogen, um Fakten zu sammeln, und nicht, um Hypothesen zu mehren. Aber Jan war nicht zu bremsen. »Die Weichen für diese Entwicklungen wurden vor Milliarden Jahren gestellt. Länger überlebten damals wohl jene Bakterienstämme, denen es gelungen war, kleinste MEWA
Tröpfchen zu besiedeln, die nicht nur aus großer Tiefe heraufgefunden, sondern auch noch ihre Stabilität bewahrt hatten. In einer zweiten Phase lernten sie, die physikalischen Parameter des metallischen Wasserstoffs zu beherrschen, insbesondere die Supraleitung. Sie waren damit in der Lage, sich frei zu bewegen. Das waren die Urformen der MEWA CONS.« Ich warf ein, daß er wieder einmal Abeles Hagelkornhypothese recht nahekam. »Wieder einmal ist Abele mit seinen Vorstellungen an einem bestimm ten Punkt stehengeblieben«, entgegnete Jan. Wir hatten das Gebäude inzwischen umkreist und keine sichtbare Öff nung in der glatten Wandung gefunden, der wir hätten folgen können. Und einen Durchbruch wagten wir nicht. Auch war uns nicht entgangen, daß sich ein kapitales MEWACON genähert hatte und in einiger Entfer nung verharrte. Jan ließ die RAY abtreiben. »Vergegenwärtige dir die Unwirtlichkeit des Jupiters«, fuhr er fort. »Er hatte weder Seen noch festen Boden zu bieten. Da war nirgends eine Höhle zum Verstecken. Keine Depots von chemischen Verbindungen, die sie anzapfen konnten. In diesem eintöni gen Ozean aus Wasserstoff und Helium wurde MEWA zum wertvollsten Stoff.« »Und ist es noch heute.« »Ein Stoff von existentieller Bedeutung. Es wird die Gruppe der ME WA-Sammler gegeben haben, die die MEWA-Bänke abweideten. Im Gefüge der Nahrungsketten wird auch die Gruppe der Jäger vorhanden gewesen sein, die die Sammler erlegten. Raubtiere, große, unbesiegbare Einzelkämpfer. Und es wird wahrscheinlich eine dritte Entwicklungslinie vorgekommen sein, in welcher sich die Hüllen verselbständigten. Es waren lebende Häuser, die Symbionten für irgendwelche Gegenleistun gen Schutz vor Räubern anboten und vor der Höllenglut der Jupiterat mosphäre bewahrten. Natürlich werden sich die Gruppen bekämpft ha ben. Auseinandersetzungen, die die Evolution weiter ankurbelten. Und das Kraftfeld, das uns heute so in Erstaunen versetzt, wird einst eine mächtige Waffe gewesen sein. Vielleicht die mächtigste.«
»Dann sind die RAYONEN die Nachfahren jener Räuber? Und diese Pipeline vor uns mit der sie umgebenden Blase – das letzte Produkt der Evolution der lebenden Häuser?« »Ich glaube es!« sagte Jan. »Es scheint ja, als hätten sich die drei Gruppen irgendwann einmal friedlich geeinigt, als würden sie jetzt, was MEWA anbelangt, gemeinsa me Sache machen!« Anstatt zu antworten, zeigte Jan in den Bildschirm. Das MEWACON war soeben durch eine unsichtbare Öffnung der Wandung gedrungen und im Innern des Bauwerkes verschwunden. Unser sensorbestückter Manipulatorarm stieß ins Nichts. Vorsichtig folgten wir dem MEWACON, beließen jedoch einen Teil unseres Schif fes außerhalb des Einstiegs, um einen Rückzug zu erleichtern. Ein kugli ger Innenraum, durch dessen Mitte die gläsern wirkende Säule der Pipe line stieß. Der Raum war von beträchtlicher Größe und schien leer zu sein. Helligkeit flutete durch die Wände herein. »Alte Bekannte!« sagte Jan. MEWAMÖBEN. Am Ende eines spiralig gewundenen Kabels öffnete sich ein Kelch, in dem eine Kugel schwebte. Eine MEWAMÖBENKugel, an deren facettierter Oberfläche sich diese vielleicht rätselhafte sten Jupitaner tummelten. Kleinere, geschlossene Kelche bewegten sich wiegend an kurzen, ebenfalls gewundenen Stielen. Der Gedanke drängte sich auf, daß sie noch wachsen und reifen könnten. »Kein Radar«, bat ich Jan. Er gab mir das Versprechen. Das eingedrungene MEWACON verhielt sich ruhig. Es schwebte auf der Stelle, an seinem entfalteten Schirm hängend, sich schwerfällig um die eigene Achse drehend. Ein Schwarm MEWAMÖBEN umlagerte das Tier. Die gleichförmigen Scheiben waren nur schwer mit den Augen zu verfolgen. Es schien, als pendelten die meisten zwischen Kelch und MEWACON hin und her. Einer der Kelche näherte sich dem MEWACON und öffnete sich. Aus der Schirmmitte des MEWACONS wuchs und entfaltete sich eine Aus
stülpung, neigte sich dem Kelch entgegen. Im Trichter wurden jetzt helle und dunkle Ringe sichtbar. Jan gab unsere günstige Stellung innerhalb der Wandung des Gebäudes auf und dirigierte die RAY an den Kelch heran, um die Muster zu beo bachten und aufzuzeichnen. Das Muster pulsierte gemächlich. Dunkle Ringe wanderten zum Kelch rand oder zogen sich zum Mittelpunkt zusammen, verbreiterten sich oder verblaßten. Ein Dialog des MEWACONS mit der Schaltzentrale der Jupitaner? Eine Mitteilung der MEWAMÖBEN an das eingedrunge ne MEWACON? Jan führte den Manipulatorarm näher heran. Der Kelch zog sich in die Kehle zwischen der durchsichtigen Säule im Zen trum und der Gebäudewand zurück, sei es, daß wir störten, sei es, daß der Vorgang beendet war. Wenig später begann sich der Innenraum zu verkleinern, dann krampf artig zusammenzuziehen. Unser Schiff wurde gegen die Säule gedrückt, drehte sich auf die Seite. Allmählich wich die Wandung in die Ausgangs lage zurück, und die RAY schwamm wieder ruhig im Innenraum. Keiner hatte sich verletzt. Nur das MEWACON war verschwunden. Wir vermuteten, daß es durch die Säule gedrückt worden war. Aus dem Bildspeicher geholte Aufnahmen zeigten außerdem, daß es sich abwärts bewegt hatte. »Klar«, rief Jan. »Ein Transportmittel! Und Stationen zum Einsteigen! Wo und wie sie wieder herausgelangen, wissen wir nicht.« Jan begann, mit Hilfe des Manipulators den kleinen Kelch zu reizen. Der Kelch reckte seinen Trichter gegen den Sensorkopf. Jan projizierte mit dem Kopflaser ein statisches Ringmuster in den Kelch. Vor sich auf dem Schirm hatte er die Vorlage stehen, sicher eines der Muster, die er fotografiert hatte. Dann probierte er es mit einem zweiten, einem dritten Muster. Als ich begriffen hatte, was Jan da leichtsinnigerweise anstellte, prote stierte ich heftig. Schon begann der Kelch ihm zu antworten, indem er einen breiten Ring zeigte.
Jan war begeistert, auch wenn es immer nur dasselbe Muster war, mit dem der Kelch reagierte. »Du bist verrückt!« wimmerte ich. »Der erste Ansatz für einen Dialog mit den Jupitanern! Endlich haben wir es geschafft!« Mit der ihm eigenen Naivität experimentierte er weiter, versuchte er, die Muster, die wir gesehen hatten, nachzubilden und laufen zu lassen. »Willst du etwa, daß wir wie dieses MEWACON im Schlauch ver schwinden?« »Warum nicht? Die oberen Regionen des Jupiters haben wir soweit ab geklärt. Also, warum nicht abwärts?« Jan blickte mich aufmerksam an. Unter seinem andauernden Blick zog ich die Manipulatorsteuerung zu mir heran. In der Wandung ertastete ich die ersehnte Öffnung, die offenbar als umlaufender Spalt ausgebildet war. »Ich bin dagegen!« sagte ich entschieden und schob ihm die Steuerung wieder zu. »Robert! Dieser Schlauch ist ein einmaliges Geschenk für uns. Eine bequemere Straße, die uns ins Innere des Jupiters führen könnte, werden wir nicht finden!« »Ich bin dagegen«, wiederholte ich stur. »Es wäre unverantwortlich, uns noch einmal diesen unverständlichen Automatismen der Jupitaner auszuliefern. Wo würden wir denn diesmal landen? Tausend Kilometer tiefer? Noch tiefer? Die Kabinentemperatur steigt. Unser Schiff ist jetzt schon hart an seiner Belastungsgrenze angelangt. Nein! Die Risiken einer solchen Reise wären zu groß.« Ich griff mir an den Hals, der von der langen Rede zu bersten schien. »Ich bin dabei, den Aufzug bedienen zu lernen und die Risiken zu ver kleinern.« »Du drückst wahllos auf ein paar Knöpfe und freust dich, wenn irgend etwas passiert. Mehr ist das doch nicht!« »Die Räume und der Schlauch werden temperiert, ich nehme an, der Schlauch auf seiner ganzen Länge. Die Automatismen arbeiten für die
MEWACONS. Was ihnen guttut, wird uns auch genehm sein. Was ein MEWACON erträgt, wird unsere RAY schon verkraften.« »Wir sind aber doch keine MEWACONS!« sagte ich erschöpft. Jan hörte auf, den Kelch mit Hilfe des Lasers zu reizen. Endlich lenkte er ein. Die Muster im Kelch verblaßten. »Wir haben schließlich einen Auftrag«, sagte ich versöhnlich. »Ich bin sicher, das Geheimnis der Jupitaner wird sich dort unten auf klären.« »Später …« »Ich werde zurückkehren!« sagte Jan. Wir stießen schräg nach oben. Bald sichteten wir die ersten MEWA CON-Herden. Einige Male kreuzten wir die Bahn von RAYONEN. Sie flogen zum Teil mit erheblicher Geschwindigkeit und ordneten ihre langgestreckten Körper zu disziplinierten Formationen. Marke 400 Kilometer unter NN. Das horizontale Objekt, das wir vom »Krankenhaus« aus gesichtet hatten, entpuppte sich erneut als Schlauch: endlos, der Querschnitt eine stehende Acht, eigentlich ein Doppel schlauch. Der Durchmesser der unteren, dicken Röhre betrug einige hundert Meter. »Wird doch nicht schon wieder eine Transporteinrichtung sein«, sagte ich enttäuscht. Wir folgten der Doppelröhre, eine vorgezeichnete Bahn. Wir flogen mit Höchstgeschwindigkeit, aber nach einer Stunde hatten sich noch keine Veränderungen gezeigt. Wir hatten keinen Lift gefunden, der in die Tiefe führte. Als wir noch näher heranflogen, wurde unser Schiff wie ein flach über das Wasser springender Stein reflektiert. Die gesamte Anlage war von einem undurchdringlichen Kraftfeld umgeben. »Eine steilere Flugbahn hätte für uns böse Folgen haben können!« sag te Jan. »Eine Falle?« »Wohl kaum. Wir haben nur nicht die richtigen Augen für ihre Felder installiert.«
Ich hielt es selbst für wenig wahrscheinlich, daß man unser winziges Schiff so massiv abwehren würde. Eine einzige ihrer RAYONENKampfmaschinen hätte ausgereicht, uns zu vernichten oder abzuweisen. Und daß wir von ihnen beobachtet wurden, stand für mich außer Frage. Um das zu sehen, genügte der Blick auf einen unserer Schirme. Nein, diese Kraftfeldröhre dürfte wohl die Jupitaner selbst betreffen. Wenn man nur wüßte, wozu diese Anlage diente. »Eine Selbstschutzanlage«, sagte ich, schwer atmend. So lautete das Re sultat meiner Überlegungen. Ich gähnte. Der monotone Flug über dem endlos sich dahinziehenden Gebilde ermüdete. Mein Rücken war wundgelegen, ich wußte es. Ob wohl ich keine Schmerzen spürte. Der Flug hatte schon zu lange gedau ert. Ich hatte nur einen Wunsch, ich wollte dieses Lager verlassen, meine Muskeln strecken und schlafen, unbeschwert schlafen. »Nach deiner Evolutionstheorie«, sagte ich sarkastisch, »müßte dieser Doppelschlauch an Intelligenz alles in den Schatten stellen, was wir vor her sahen.« Jan schwieg. Gut, Kyborg Larson lehnte überflüssige Erörterungen ab. Oder schwieg er aus einem anderen Grund? Verachtete er mich? Ich war ein Klotz an seinem Bein, ein notwendiges Übel. Ohne mein Veto wäre er weiter in den Jupiter eingedrungen. Jan bremste die RAY ab, schwamm um das Kraftfeld herum, führte Messungen durch, rechnete. »Durch die innere Röhre fließt Strom!« sagte er. Ich starrte in den Schirm. »Immerhin einige Millionen Ampere!« Ich veränderte den Anstellwinkel meines Lagers, um besser sehen zu können. »So ein Quatsch! Wo sollte ein solcher Strom zurückfließen?« »Eben, ein Ringstrom!« Wie groß sollte denn dieser Ring sein. Der Kursschreiber wies eine ge ringfügige Krümmung der von uns durchflogenen Bahnkurve nach. Der Extrapolator berechnete einen Bahnradius von 6000 Kilometern! Wir hatten ein künstliches Gebilde von planetarer Dimension vor uns! Schlagartig erklärten sich die Magnetfeldanomalien im Gebiet des Gro
ßen Roten Flecks. Die Ursache war eine im Großen Wirbel schwimmende gigantische Energiemaschine. »Ich glaube, wir haben genug gesehen!« sagte Jan. Ausgerechnet Jan mahnte zum Aufbruch. Wir drehten ab. Die Anlage war einfach zu groß, um sie abfliegen zu können. Mit der vollen Kraft der Antischwerkraft ließ Jan die RAY nach oben schnellen. Ziel: der über PROMETHEUS verankerte MEWA-Umschlagplatz. Abele hatte die Positionssender der PROMETHEUS abgeschaltet. Aber wir würden unseren Weg schon finden. Ein Strom, ein Magnetfeld. Gut, soweit verständlich. Was aber bewirk te dieser Ring mit seinem Feld? Ein Bauwerk mit derartigen Ausmaßen mußte für die Jupitaner von lebenswichtiger Bedeutung sein. Wer waren die Erbauer? Die MEWACONS? Die RAYONEN? Oder hatten es die MEWAMÖBEN in mühevoller Kleinarbeit geschaffen? Oder sollte die ses Bauwerk das Produkt jener naturhaften Evolution sein, von der Jan gesprochen hatte, ein Ring, der um seiner selbst willen gewachsen war und der sich vielleicht noch immer vergrößerte? Wieder flogen wir an MEWACON-Herden vorbei. Ein friedliches Bild. Auch wenn die MEWACONS nicht die Bauherren dieser grandio sen Anlage waren, ein Glied in dieser Kette waren sie allemal, und sei es nur das letzte. Und sei es nur, daß sie unter dem Schutz der Jupitaner standen. »Wir sollten ziemlich bald den Ring in seiner ganzen Länge abfliegen«, schlug ich vor. Er bejahte. »Wenn wir die Zentrale fänden …« »Ich weiß nicht so recht.« »Die Chance, die Jupitaner anzutreffen!« »Wenn es so wäre, hätten wir sie längst getroffen!« Und nach einer Pause sagte Jan: »Mich würde es nicht wundern, wenn wir in tieferen Regionen weitere Ringe vorfänden. – Es waren immer zwei große Fra gen gewesen, die uns Wissenschaftler herausgefordert hatten und die bis heute nicht befriedigt beantwortet werden konnten: Was sind das für Mechanismen, die den Großen Roten Fleck über Jahrhunderte hinweg
und länger stabilisierten? Und, warum finden wir in der Jupiteratmosphä re solche Mengen metallischen Wasserstoff vor, wo doch die MEWASchale sich mehr als 10000 Kilometer unter der Oberfläche befindet? Dieses Bauwerk löst nun beide Rätsel. Der gigantische Hurrikan des Großen Roten Flecks ist nur ein künstliches Gebilde! Das ist es: Die riesenhafte Stromschleife erzeugt eine tiefreichende Konvektionssäule und letztlich den Wirbel. Daher seine Stabilität! Eine überdimensionale Schraube, die sich aus dem Jupiter herausdreht. Ein riesiger Bohrer, der die MEWA-Schale anzapft und diesen Stoff wie aus einer unversiegbaren Quelle fließen läßt, für die MEWACONS, die RAYONEN, die MEWAMÖBEN und für die BAUWERKE.« »Und nicht für uns …«, ergänzte ich Jan. Er hatte uns sicher nicht zu fällig in der Aufzählung vergessen.
19 MEWA-Umschlagplatz ATLAS. Wir hatten an der Station angedockt. Mißtrauisch verfolgten wir die weiteren automatischen Landeprozedu ren. Wir verließen die Kabinenkugel der RAY und fuhren über die men schenleere untere Etage der Station. Zeitweilig gab uns die halboffene Plattform den Blick frei auf die brodelnden Wolken des Großen Roten Flecks. Später nahm uns die Große Glocke, die sich schützend über die Hafenanlage wölbte, die Sicht. Das Leitsystem dirigierte uns auf Deck 5. Wir warteten. Die Menschen, die um uns herum tätig waren, von den Exoskeletten ihrer Bewegungs hilfen gestützt, beachteten uns nicht. Aber wenigstens waren wir wieder unter Menschen. Schließlich rollte Steiner auf uns zu. Jan, weit und breit die einzige aufrecht stehende Gestalt auf dem langsam auf und nieder schwingenden Deck, lief ihm entgegen. Jan gab einen ersten Überblick über unseren Flug. Steiner wirkte ner vös, unaufmerksam, stellte kaum Fragen. Dann sagte er zögernd: »Ihr seid an PROMETHEUS vorbeigeflogen … Dort ist etwas passiert. Die Station antwortet nicht mehr – nur noch ein Wrack.« »Ein Wrack?« fragte ich ungläubig. Wir hatten nichts bemerkt. Freilich waren auf dem Fernradar keine Einzelheiten auszumachen. Und daß PROMETHEUS auf unsere Fragen nicht geantwortet hatte, schrieben wir Abeles sicher noch geltenden Anordnung zu. Ahnungslos waren wir an der Plattform vorbeigeflogen. Sonden waren abgetaucht und lieferten Bilder von der hilflos unter den Wolken treibenden Station. Bergungsgraviplane und anderes Rettungsge rät waren in der Nähe des Unglücksortes zusammengezogen worden. Piloten des MEWA-Transportkommandos der ATLAS-Station umflogen die kilometerlange Röhre. Gezwungenermaßen hielten sie einen Abstand von vielleicht zwanzig Metern ein. »Wie wir auch sondieren«, sagte Stei ner, »ein lückenloser Panzer. Ein Kraftfeld umschließt die PROME THEUS. Ein unsichtbarer, undurchdringlicher Kokon. Wir kommen nicht hinein, und von drinnen käme man wohl auch nicht heraus!« Nun
brauchte uns Steiner nicht die Eigenschaften des jupitanischen Kraftfel des zu erklären. »Wann wurden die letzten Signale von PROMETHEUS empfangen?« fragte Jan. »Vor zweiundvierzig Stunden«, sagte er, nachdem er einen Blick in den Dispatcherraum geworfen hatte. Jan blickte mich an. »Ja, zu dieser Zeit hatten wir ebenfalls Berührun gen mit Kraftfeldern der Jupitaner.« – »Es war die Zeit der Jagd«, ergänz te ich bissig. »Hunderte von MEWACONS kämpften gegen Abeles Treibmarken. Dutzende MEWACONS wurden getötet!« »Es gibt Mitglieder der Untersuchungskommission«, sagte Steiner un gerührt, »die sehen Zusammenhänge zwischen eurer Mission und der Katastrophe. Vielleicht gibt es da doch etwas, was uns weiterhelfen könnte? Direkt gefragt: Gab es Kontakte zu den MEWACONS, die ge nannt werden müßten, die das Unglück uns vielleicht besser verstehen lassen?« »Solche Vermutungen sind doch unsinnig!« rief ich wütend. – Gut, Steiner leitete die Bergungsarbeiten, falls es da überhaupt etwas zu ber gen gab, und fernab liegende Möglichkeiten zu erwägen gehörte wohl in sein Ressort. Mit seinen Bemerkungen war er aber zu weit gegangen. Oder sollte nur in aller Eile ein Sündenbock für die Katastrophe gefun den werden? Steiner wechselte das Thema. »Aus der extrem großen Flughöhe der PROMETHEUS schließen wir, daß die Lagestabilisierung der Station ausgefallen ist. Die Antischwerkraftblöcke arbeiten im Zustand der Sätti gung. Ebenso gibt es Anzeichen für den Ausfall der Bordenergie. Alle Versuche, mit der Besatzung oder dem Kommunikationscomputer Ver bindung aufzunehmen, schlugen fehl.« Steiners Kopf lehnte zwischen den Ohren seiner Bewegungshilfe. Sein graues Gesicht machte seinem Namen alle Ehre. Ich fuhr in den abgedunkelten Dispatcherraum. Ich orientierte mich am Bildschirmfries, musterte die Aufnahmen von PROMETHEUS, die die Kamerasonden lieferten, und blieb vor den Empfängern der Erdsta tionen stehen. Die Techniker wurden mit Anweisungen überschüttet, auf deren Bestätigung die Erdstationen allein eine viertel Stunde zu warten
hatten. Überall glommen Rufzeichen. Auch General Amon, der einen der Krisenstäbe von GALILEI aus leitete, weil er den Strapazen auf ATLAS nicht gewachsen war, blickte geduldig wartend aus einem der Schirme heraus. Seine Haut war schlaff, Doppelkinn, hängende Wangen. Vor einem Großschirm hatten sich Techniker, Mediziner, Energetiker und Atmosphärenphysiker versammelt. Mit Hilfe eines Konstruktions computers unternahmen sie einen fiktiven Gang durch einzelne Sektio nen der PROMETHEUS, sondierten die Überlebenschancen der Einge schlossenen, spielten Rettungsaktionen durch. Auf einem Nebenschirm stand eine Namensliste geschrieben: Abele, Ablakov, Denström …, vierzehn Namen. Pauls war nicht dabei. Ich erkundigte mich bei einer Frau, die mit der Uniform des Medizini schen Dienstes bekleidet war, nach den Schicksalen der Piloten, nach Phil Pauls. »Sie finden ihn oben auf Deck zwölf, im Sanitätstrakt!« sagte sie, ohne von ihrem Med-Berichtsschirm aufzublicken. Ich rollte zum Aufzug, wartete. Müde lehnte ich mich zurück, tastete nach der Drogenflasche. »Während des Angriffs der Jupitaner, oder was es auch gewesen war, hatten wir zwei Jagdstaffeln im Einsatz«, erklärte Chefarzt Berger. »Also sechs Piloten …«, sagte ich. »Vier Piloten befinden sich in den Containern.« Ich sah die vier Metall behälter liegen. Mit Farbspray waren Namen an die Stirnflächen ge spritzt. Behältnisse, in denen gewöhnlich Schwerverletzte zur Erde transportiert oder auch Tote überführt wurden. Anabiose-Container oder nur Kühlboxen. »Wir haben die Piloten bewußtlos aus ihren trei benden Jagdschiffen geborgen«, sagte Berger. Wir fuhren mit unseren Elektrostühlen über Deck 12. Vorbereitungen waren getroffen worden, um eine größere Zahl von Verletzten zu ver sorgen. Berger hatte hier eine Kabine bezogen. Gurtbett, Terminals und Monitoren waren noch abgedeckt. Auf dem Fußboden lagerten verpack te medizinische Geräte. Ich bat Berger, mir den Hergang des Unglücks zu schildern.
»Ja, der Hergang …«, sagte Berger. »Die Jagd verlief erfolgreich. Beute tiere in Hülle und Fülle, darunter viele MEWACONS vom sogenannten Kugeltyp, ungefährliche, kaum noch mit Aktionspotential beladene MEWACONS. Ich verstehe nicht allzuviel davon. Grozzi hatte wohl Alarm gegeben. Später wurde sein Schiff zerrissen, weil er nicht schnell genug den Harpunenhaken ausgeklinkt hatte. Der arme Teufel! – Andere Jagdschiffe wurden von einer Woge erfaßt und nach oben geschleudert, immer wieder nach oben gestoßen, während die halbtoten MEWA CONS durch die Lücken schlüpften, die die anstürmenden Kolosse zwi schen ihren Körpern ließen.« »Das Netz der RAYONEN«, sagte ich. »So nennt man es wohl. – Hunderte dieser RAYONEN waren aufge taucht, näherten sich PROMETHEUS, umkreisten die Station und ver sanken wieder in die Tiefe. Ein fliegender Teppich. Zurück ließen sie das Kraftfeld, verwandelten unsere Plattform in eine für uns uneinnehmbare Festung. Nun, daß sie uns nicht gerade ein Geschenk hinterlassen wür den, war zu erwarten gewesen.« »Warum dieser Angriff?« fragte ich leise. »Aus Rache? War es eine di rekte Antwort auf die MEWACON-Jagd? Oder nur eine Abwehrreakti on auf die starken Sender der PROMETHEUS? Und warum erst jetzt dieser Angriff?« »Man hätte diese Fragen eher stellen sollen. In den Bulletins werden sie ausgeklammert, nicht ohne Grund: sie sind unangenehm. – Jedenfalls heizen die Jupitaner uns mächtig ein. Manche sagen, es wäre ein Spiel, das die Jupitaner mit uns treiben. Dann wären wir jetzt dran, den näch sten Zug zu tun!« »Einen Rückzug …!« Berger lachte. Er rollte zum Terminal des Computers, zog die Abdeck folien beiseite und tastete einige Befehle ein. »Ich habe meine eigenen Nüsse zu knacken«, sagte er. »Die Piloten, die den Angriff überlebten, sind bewußtlos. Und von der Besatzung der PROMETHEUS haben wir noch kein Lebenszeichen.« Ich beugte mich zum Sichtgerät. Einer der Piloten lag in einer gepol sterten Wanne, die Augen geschlossen, nackt. Ein Diagnoseroboter be treute zahlreiche Sensoren, die in seinen Körper eingepflanzt waren.
Offensichtlich war das zentrale Nervensystem des Piloten gestört. Berger zeigte Hirnstromkurven von gesunden Menschen im Wachzustand, wäh rend verschiedener Schlafstadien, blendete Verlaufsformen von Kranken und Bewußtlosen ein. Das Elektroenzephalogramm des Piloten wich von allen diesen Kurven ab: Es waren langsame, regelmäßige, extrem hohe Potentialschwankungen zu sehen, fast ein sauberer Sinus. »Schlafähnliche Zustände, die wir noch nicht beobachtet haben«, erklärte Berger. »Ge wisse Ähnlichkeiten in den Hirnstromkurven finden wir bei Probanten, die starken Magnetfeldern ausgesetzt werden.« Das alles hätte uns auch passieren können, dachte ich. Und was uns beschützt und davor bewahrt hatte, würden wir wohl nie erfahren. – Seltsamer Schlaf also. Die Heilungsaussichten waren sicherlich gering. »Ich mache mir Sorgen um die auf PROMETHEUS Eingeschlosse nen«, sagte Berger. »Vielleicht sind sie auf unsere baldige Hilfe angewie sen.« Steiner befand sich an Bord des Bergungsgraviplans G 100 und leitete die Rettungsmaßnahmen. Er hatte das Raumfahrzeug auf den Kraftfeld kokon aufsetzen lassen und versuchte nun, mit Hilfe verschieden be stückter Manipulatoren das Feld zu durchdringen. Wie zu erwarten, trotzte es diesen Versuchen. Auch wir waren mit der RAY 3 zur PROMETHEUS geflogen. Jan hat te das jupitanische Kraftfeld begutachtet. Es schien mit denselben Ei genschaften behaftet zu sein, die jenes Feld aufwies, das die Energiema schine im Großen Roten Fleck abkapselte. Unter anderen Umständen hätte sich eine Schar von Wissenschaftlern danach gedrängt, mit diesem interessanten Gebilde zu experimentieren. Später entfernten wir uns von der PROMETHEUS. Steiner zündete Sprengladungen, deren Schockwellen sich auf engstem Raum konzen trierten. Detonationen von zunehmender Stärke. Er wollte eine Bresche in das Kraftfeld sprengen. Er hoffte, die Instabilitäten würden es zerrei ßen, so wie Luftballons und Seifenblasen zerplatzten, wenn man hinein stach. Natürlich waren Steiner in der Kraft der Ladungen Grenzen ge setzt. Nach jeder Detonation schlingerte die PROMETHEUS bedenkli cher. Steiner ging dazu über, an den Enden der Feldröhre ringförmige
Sprengladungen anzubringen und gleichzeitig explodieren zu lassen, um »den Kokon zu kappen«, wie er sagte. Die Druckwellen dieser Detonationen versetzten unserem Schiff harte Schläge. Nur das Gebilde zerriß nicht und zerplatzte nicht. Doch Steiner gab nicht auf. Da sich die Außenhülle der PROMETHEUS aufzuheizen begann, reduzierte er die Stärke der Ladungen und legte längere Pausen ein. Jan meldete bei Steiner ein Gespräch über Funk an. »Aufhören?« wiederholte Steiner. – »Und was dann? Soll ich die Besat zung ihrem Schicksal überlassen?« – »Sinnlos?« ahmte er Jan erneut nach. »Ich versuche das Kraftfeld zu ermüden. Jeder Schlag, den das Feld pa riert, entzieht ihm Energie …« »Und wenn der umgekehrte Fall eintritt?« fragte Jan, »wenn das Feld aus jeder Schockwelle Energie herauszieht und sich stärkt?« »Ich kenne kein Feld mit solchen Eigenschaften!« sagte Steiner und ließ die nächste Explosion vorbereiten. Ganymed, Stationsflughafen. Der lange Tag mit seiner müden Helligkeit lag über der graubraunen Eisfläche des Hafengeländes. Am lichtlosen Himmel der stechende Leuchtfleck der Sonne. Ich verließ die Landefähre. Neben dem wuchtigen Raumfahrzeug wa ren vier Container aufgestapelt. Sie sollten zur Erde geflogen werden. Vielleicht würde es den irdischen Medizinern gelingen, den bewußtlosen Piloten ihren seltsamen Schlaf auszutreiben. Der Hafen platzte aus den Nähten. Parkende MEWA-Lastraketen – leer, fraglich, ob sie jemals wieder würden beladen werden. Die bizarre Konstruktion einer interplanetaren Expreßrakete fiel ins Auge. Nach der Katastrophe waren die ersten Spezialisten von der Erde eingetroffen. Ich sprang im Känguruhstil über das unebene Gelände. Ich hatte es ei lig, lief unsauber, korrigierte mich oft. Ich mußte erst wieder lernen, meine Kräfte richtig zu dosieren. Der Schutzraum im Kraterwall war überfüllt. An die hundert reiseferti ge Menschen drängten sich zusammen.
Die Ankommenden unterschieden sich von den Abreisenden durch ih re neuen Skaphander und ihre funkelnden Aluminiumkoffer. Es war nicht zu übersehen, daß deutlich mehr Raumfahrer Ganymed verlassen würden als eingetroffen waren. Eine Abreisewelle hatte die Station er faßt. Die wenigen Videophone im Bunker waren dicht umlagert. Ab schiedsworte, Begrüßungen. Ein beherzter Angestellter ordnete das Chaos und verteilte Nummernkärtchen. Jeder bekam zehn Minuten. Der nächste, bitte. Endlich rief mich der Dispatcher in der Kanzel des Wachturmes auf. Wenigstens hatte man mir ein Fahrzeug mit Piloten zur Verfügung ge stellt. Wir rasten über die Rima Discoursi. Tagsüber war zu sehen, wel che Anstrengungen erforderlich gewesen waren, um die Trasse zu nivel lieren: die tiefen Frässcharten an den Rändern des Grabens und die fri schen Narben an den Hängen, wo Eis abgetragen worden war, um Spalte und Mulden aufzufüllen. Voraus tauchten die beiden schlanken kantigen Eisfelsen der Zahnlük ke auf. Dann öffnete sich der Stationskessel. GALILEI breitete sich vor meinen Augen aus. Ich fühlte, daß ich hier bereits heimisch geworden war. Von der Erde war inzwischen Order eingetroffen, die MEWAGewinnung von PROMETHEUS aus vorläufig einzustellen. Die Verfü gung des Weltrates wurde viel belächelt – was sollte auf PROME THEUS wohl eingestellt werden. Die Anweisung wurde nicht begründet. Wie immer waren die Mitteilungen, die von diesem multinationalen Gremium kamen, sparsam und von magerem Inhalt. Hatten doch Hun derte von Menschen sich auf einen gemeinsamen Nenner einigen müs sen! Im Verhältnis der Menschen zu den Jupitanern war eine Wende einge treten, was auch immer dieses Umdenken bewirkt haben mochte, die Katastrophe oder die Ergebnisse unseres Fluges. Und es wurde wieder über die MEWACONS diskutiert. Die Bilder von den jupitanischen Bauwerken gingen um die Welt und erhitzten die Gemüter. Eine solche Leistungsfähigkeit der Jupitaner hatte niemand
erwartet. Selbst der Kraftfeldkokon um PROMETHEUS nötigte man chem Kommentator Respekt ab. In der Berichterstattung in den Medien war häufig von Partnerschaft die Rede, vom Willen zur Zusammenarbeit. Die alte Sehnsucht der Menschheit nach kosmischen Weggefährten, nach Brüdern im All flammte auf. Abeles Hypothesen wankten. Was nicht hieß, daß nicht in vielen Be richten die Vorstellungen zu finden waren, die Abele einst der Öffent lichkeit präsentiert hatte, liebgewordene Vorstellungen, von denen man sich nicht trennen wollte: zahme MEWACON-Babys und die MEWA CON-Farm der Zukunft mit ihren Zucht- und Arbeitstieren. Und der Mensch war noch Herr der Lage, das vor allem zählte. Die Welt blickte nach GALILEI. Von hier aus würden die nächsten Schritte unternommen werden. Auch wenn man vor Ort noch nicht wußte, wie es weitergehen sollte.
20 Ich schob die Speicherpille in den Recorderschlitz. Vor mir auf dem Schirm wurde Text geschrieben. »Weisungsvideophonat PW 217-2 … / Ministerium für Interplanetare Ressourcen / für Robert Claire – GALI LEI / bitte Entriegelungscode eingeben.« Jan erhob sich und machte Anstalten, mein Appartement zu verlassen. Ich bat Jan zu bleiben. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander. Frau Ministerin Jonas saß in ihrem Arbeitszimmer. Eine Handbiblio thek hinter Glas, die nach Größe sortierten Bände waren edel und gleichfarbig eingebunden, Computerterminals, Sichtschirme und Auf zeichnungsgeräte. Neben einem Aquarium war eine Sitzreihe eingerich tet. Ich schmunzelte. Frau Jonas blickte auf. »Herr Claire«, sagte sie, »Sie werden ab sofort und mit allen Vollmachten eine Gruppe leiten mit dem Ziel, Kontakt mit den Jupitanern zu suchen und aufzunehmen!« Ich war überrascht und ein wenig ratlos. Frau Jonas ließ mir Zeit. Sie zündete sich einen Konzentrator an – eine ausgeprägte Zeremonie – inhalierte. Jan, der neben mir saß, drückte mir den Arm. »Glückwunsch!« meinte er zufrieden. Frau Jonas richtete ihren ernsten Blick wieder auf mich. »Betrachten Sie es als Ausdruck unserer Zufriedenheit mit den Ergebnissen des letz ten Fluges der RAY. – Doch zu Ihren Aufgaben. Versuchen Sie, Kon takt zu finden, friedlichen, versteht sich. Nach Möglichkeit Kommunika tion. Sie sind berechtigt, falls es soweit kommen sollte, beliebige Infor mationen mit den Jupitanern auszutauschen. Ich sichere Ihnen absolute Priorität vor anderen Projekten zu, auch vor einer Rückführung der PROMETHEUS in unsere Hände.« Sie hatte schnell gesprochen und einige Stichpunkte mit Handbewe gungen unterstrichen. »Ich gehe davon aus«, sprach sie weiter, »daß Sie Larson in die Gruppe aufnehmen werden. General Amon wird Sie bei der Rekrutierung von Mitarbeitern unterstützen. Auf GALILEI werden Sie sicherlich Ihr Team auffüllen können. Unser Beitrag zum Team: Pro
fessor Mott. Er dürfte inzwischen auf Ganymed eingetroffen sein. In formatiker, Experte auf dem Gebiet der Decodierung von Signalen, die von Außerirdischen stammen könnten – falls Sie einen trächtigen Kanal finden sollten. – Ja dann, ich wünsche Ihnen viel Glück!« schloß sie leise und mit einem kleinen Lächeln. Text sprang auf den Schirm, Worte blinkerten. Ich bestätigte die Wei sung. Ich überflog noch einmal den ausgegebenen Text. Dann legte ich den Kristall in eine Rohrpostkugel und warf den Ball in den Schacht. »Einem weiteren Flug mit der RAY steht ja nun nichts mehr im Wege«, ging Jan augenblicklich sein Ziel an. »Wir folgen dem Transportschacht ins Innere des Jupiters. Besser noch: Ich werde allein fliegen, werde die Vorteile, die mein Körper bietet, ausspielen …« Ohne zu zögern, sagte ich zu. Tagelang war ich damit beschäftigt, die in Abeles Computern gespeicher ten, geheimen Informationen zu sichten und mich an den tatsächlichen Stand des Wissens über die MEWACONS heranzutasten. So erfuhr ich die genaue Zusammensetzung der Treibmarken und der Reizgranaten. Es waren Gifte enthalten, die auch auf die Jupiterbakterien wirkten, was nochmals die biologische Nähe der MEWACONS zu den Urformen jupitanischen Lebens verdeutlichte. Endlich stieß ich auch auf einige Aufzeichnungen, die mehr über das MEWACON-Baby verrieten, als Abele der Öffentlichkeit mitgeteilt hat te. Es waren Computerfilme, die den Fang eines lebenden MEWACONS durchspielten. Eine in der Tiefe der Jupiteratmosphäre treibende Boje wurde an ein MEWACON herangeführt. Ein umlaufender Radarstrahl umschrieb das Wesen mit einem scharfen offenen Kegel. Das MEWACON floh ent lang der Kegelachse, eine zweite Boje schloß jedoch den Raum mit ei nem Gegenkegel. Eine Radarfalle. Langsam tauchten die Bojen mit dem gefangenen MEWACON auf. Es war eine einfache Prozedur, die wir nach unserem letzten Flug mit der RAY auch hätten erarbeiten können. Techniken, die in der Luft lagen.
Was war Abele noch bekannt gewesen? Wußte er schon von der Exi stenz der MEWACON-Herden? Obwohl ich keine weiteren Aufzeich nungen über die Anwendung der Radarfalle fand, war ich mir ziemlich sicher, daß Abele daran gearbeitet hatte, diese Fangmethode zu vervoll kommnen und zur Jagdreife zu bringen. General Amon spürte unter der Besatzung von GALILEI einen Mitar beiter Abeles auf, der an der Betreuung des MEWACON-Babys beteiligt gewesen war – Doktor Lansky. Ich sah auf den ersten Blick, daß er sich lange Zeit auf PROMETHEUS aufgehalten hatte: dürre Gliedmaßen, eisenharte Muskeln; trockene, rissige Haut und die von den Drogen wäß rig gewordenen Augen. Lansky versuchte den Ahnungslosen zu spielen. Klar, er war zum Schweigen verpflichtet worden, gehörte zu Abeles verschworener Ge meinschaft. Doch der General entlockte ihm die Koordinaten eines ge heimen Versuchsgeländes. Der Ort war uns bekannt: ein Experimentierfeld nahe der unteren Wolkengrenze der Jupiteratmosphäre. Hier sollten Sektionen künftiger Plattformen getestet werden. Dahinter war nichts Aufregendes zu ver muten gewesen. Von ATLAS aus ließen wir umgehend eine TV-Sonde starten. Zwi schen Amon und mir saß der wortkarge Lansky und steuerte den Flug körper. Die aneinandergekoppelten Testsektionen tauchten auf dem Steuerschirm auf, und schon aus der Ferne sahen wir eine lange Reihe von Käfigen, die unterhalb der Plattformelemente befestigt waren. Wir zählten an die zwanzig MEWACONS, durchweg kleine Exempla re. Die meisten lagen reglos und platt auf den unteren Käfigrosten. Nur drei MEWACONS hatten ihre Schirme entfaltet und schwebten aus ei gener Kraft im Käfig. In vielen Boxen befanden sich Kugeln, Zylinder und andere einfache Körper. Sahen wir Versuchsinstrumente? Oder Spielzeug? »Bekamen die MEWACONS Nahrung?« fragte ich Lansky. »Die Atmosphäre durchflutet die Boxen«, antwortete Lansky kleinlaut. »Eine natürliche Umgebung, die den Tieren sonst auch zum Leben ge nügt.«
»Sie leben Hunderte von Kilometern tiefer!« sagte ich scharf. – »Im Film war von MEWA-Schaum die Rede …« »Sie nahmen kaum etwas an.« »Bis auf die drei schwebenden Exemplare lassen wir die MEWACONS frei!« sagte ich kurz entschlossen. »Doktor Lansky, öffnen Sie die Käfi ge!« »Bis auf drei?« fragte Amon verwundert. Ich wußte selbst, daß dies keine fundierte Entscheidung gewesen war. Aber so war es nun mal: Ich wollte den Kontakt zu den Jupitanern. Ich wollte weder Abeles angesammeltes Wissen unbesehen wegwerfen noch auf Versuche verzichten, mich mit den gefangenen MEWACONS zu verständigen. Ich erläuterte Amon meine Entscheidung. »Und Sie, Dok tor Lansky, werden dafür sorgen, daß es unseren kleinen MEWACONS an nichts fehlen wird.« »Von ATLAS aus?« fragte Lansky. Ich bejahte. Lansky fuhr mit der Hand in den offenen Handschuh der Manipulatorsteuerung der TV-Sonde und öffnete den ersten Käfig. Wir liefen durch den tropischen Garten der Station. Die Gewächse strotzten vor Kraft, wucherten zu den Kunstlichtbändern hinauf, rankten über den feuchten Felsen. Blaugrün schillernde Vögel huschten über uns hinweg und verschwanden im Dickicht. Papageien kreischten. Anita war wortkarg, sagte aber hin und wieder etwas zu den Eigenheiten der Pflan zen. Der feuchte Pfad führte zum Teich, über einen Steg und auf eine Insel. Wir setzten uns auf eine Bank. Hängende Zweige und Lianen schirm ten uns ab und ließen kaum einen Blick auf das dunkle, ruhige Wasser frei. »Koffer werden gepackt«, sagte Anita, »Anlagen werden konserviert, die MEWA-Produktionsabteilungen sind schon so gut wie aufgelöst – wie lange wird wohl dieser Garten noch bestehen?« »GALILEI wird bleiben!« sagte ich im Brustton der Überzeugung. »Seine Bedeutung wird sogar noch steigen, haben wir erst einmal den Kontakt …«
»Und du glaubst immer noch, daß die MEWACONS intelligent sind und die Träger einer hochentwickelten Zivilisation?« »Sie sind zumindest der Schlüssel zum Verständnis der jupitanischen Zivilisation!« »Haustiere der Jupitaner …«, zitierte Anita. Ich kannte diese Hypothe se. Sie wurde hauptsächlich benutzt, um die MEWACON-Jagd zu recht fertigen, im nachhinein, aber auch für den Fall, daß PROMETHEUS wieder in unsere Hände rückgeführt werden sollte, wie es im ministeriel len Sprachgebrauch hieß. »Es gibt sie, die Jupitaner!« sagte ich beschwörend. »Auch wenn, wir noch nicht wissen, wer sie eigentlich sind! – Ich bitte dich, Anita, bleib hier! Ein Vorschlag: Mit Lansky zusammen betreust du die Versuche, die wir mit den MEWACONS durchführen wollen, hauptsächlich Kommu nikationsexperimente.« »Ich bin hier, um mich zu verabschieden.« »Du besitzt unser Vertrauen!« »Wodurch unterscheiden sich eure Forschungen noch von denen Abe les?« fragte sie unverhofft. Ich schwieg betroffen. Ich hatte nicht erwartet, daß Anita meine Be mühungen um die MEWACONS derart auslegen würde. Oder sollte Anita jener Protestgruppe angehören, die die Auflösung von GALILEI und ATLAS forderte, die selbst unsere Kontaktbemühungen ablehnte? Anita hatte mich aus dem Konzept gebracht. Ich suchte ihren Blick, aber Anita wich mir aus und betrachtete ihre Schuhspitze. Ihr Haar war dunkler als sonst getönt und nach hinten zusammengenommen. Sie wirkte blaß. Vor wenigen Augenblicken hatte ich ihr noch sagen wollen, was für einen Verlust mir ihr Weggang bedeuten würde und daß ich sie gern in mein Team aufgenommen hätte. »Aber das ist doch nicht der Grund deiner Abreise!« sagte ich verär gert. Anita lenkte ein. »Diese Station im ewigen Eis hat mich müde ge macht.«
Der Kommunikator in meiner Brusttasche piepte. General Amon mel dete sich. »Die erste unbemannte Sonde hat den Großen Ring erreicht und sendet Bilder. Falls Sie dabeisein wollen …« Ich erhob mich. »Ich bleibe noch im Garten«, sagte Anita. Da der Wirbel des Roten Flecks schneller rotierte, als der Große Ring sich drehte, brauchten wir die Sonden nur treiben zu lassen, um die To pologie der gigantischen Stromschleife vollständig zu vermessen. Der Ringdurchmesser betrug 12000 Kilometer. In regelmäßigen weiten Ab ständen verdickte sich der Ring. An anderen Orten zweigten schräg nach innen Stränge ab. Man hatte sechs Knotenpunkte gezählt, gleichmäßig über den Umfang verteilt. Knoten und Verdickungen waren lückenlos von Kraftfeldern ummantelt. Es schien uns schon als die selbstverständ lichste Sache der Welt. Ich sah mir eine solche Abzweigung – oder auch Einmündung – auf dem Bildschirm näher an. Eine Energieeinspeisung wäre eine plausible Erklärung. Auch eine mechanisch-statische Funktion wäre denkbar. Sorgfältige Magnetfeldmessungen hatten ergeben, daß 2400 Kilometer unter NN ein zweiter, ein Achttausend-Kilometer-Ring existierte. Und: die schwachen Signale einer noch kleineren, dritten Stromschleife waren registriert worden. Wir benötigten keinen Kreativ-Computer, um aus dem sich verjüngenden Ringsystem die nächstfolgenden Elemente zu konstruieren. Ein gi gantischer Trichter. Ein Objekt planetarer Dimension. Die bohrende Spitze des Wirbels reichte bis in die MEWA-Schale des Jupiters. Ein grandioses Bauwerk, das seit undenklichen Zeiten metallischen Wasser stoff in die Atmosphäre des Jupiters förderte! Hier war eine Superzivili sation am Werke – ein ganzer Planet wurde umgestaltet! ATLAS, Deck 1. Der Jupiterhorizont schwankte. Weiße Wolkenbänke näherten sich der Station und hüllten sie ein. Dann wirbelte Nebel über das halboffene Deck und hinterließ einen hellen Ammoniakbelag, der bald wieder verdampfte.
Der Außenpanzer der RAY 3 war aufgeklappt, die Luke der Kabinen kugel geöffnet. Über der Luke hing ein massiger silberglänzender Kör per. Ein plattgedrückter Kloß, der über der Kabine pendelte und sie zu zerstören drohte. Einige Männer, von Exoskeletten gestützt, berieten sich, wie sie der eingetretenen Kalamität begegnen könnten. Es war Jan Larson, der da durch die Luke eingefädelt werden sollte. Mittlerweile kreiste sein gepanzerter Körper über der Öffnung. Berger, der neben mir am Beobachtungsmonitor saß und unter dessen Leitung Jan derart umgerüstet worden war, schaltete sich ein und sprach zu den Männern auf Deck 1. »So wird das nichts! Ihr müßt den Kyborg schon aktivieren!« Wenig später wuchsen aus der glatten Panzerung der Kyborghülle Ten takel und Gestänge heraus. Jan faßte mit einem elastischen Greifarm zur Rampe und dämpfte die Schwingungen. Dann wurde er in der Kabinen kugel abgesetzt. Die Luke schloß und wurde von außen verkittet. Die Countdown-Stimme in den Lautsprechern verkündete: »Flug RAY drei in sechzig Minuten.«
21 Mit wenigen Handgriffen verwandelte General Amon sein Arbeitszim mer in einen Holovisionssaal. Die Wand des Raumes teilte sich und ver schwand in Decke und Fußboden. Der nach hinten gewölbte Bilderzeu gungsbereich wurde sichtbar. Professor Fox, der mit seinem Team die Verbindung zur RAY unterhielt, gab uns ein Zeichen. Professor Mott, lang und hager wie Fox, aber wesentlich jünger als er, nahm sofort vor den Terminals seiner Decodiercomputer Platz. Die Projektoren liefen an. Die ersten Bilder gewannen an Schärfe. Sie zeigten Aufnahmen, die auch von unserer letzten Mission hätten stam men können: die wie mit blauen Perlen besetzte Pipeline, die in die Tiefe führte. Eingeblendete Daten und Jans sparsame Kommentare ergänzten die Aufzeichnungen. 420 Kilometer unter NN. Jan steuerte die RAY zielgerichtet durch die unsichtbare äquatoriale Öffnung eines jener Gebäude, die den zäh elastischen Schlauch umgaben. Ich ahnte, was jetzt passieren würde. »Geben Sie genau acht!« sagte ich leise zu Mott. Jan näherte sich mit der RAY dem Kelch, der die MEWAMÖBENKugel enthielt. Daneben hing die Traube der faltig geschlossenen Kelche wie ein Strauß verwelkter Blumen. Er achtete nicht auf die MEWAMÖBEN, die ihn zu Hunderten umkreisten. Mit dem Kopflaser des Manipu latorarms traktierte er einige der kleinen Trichter. Ein Kelch streckte sich ihm entgegen, öffnete sich. In seinem Innern pulsierten Ringmuster. Jan beantwortete die Signale, indem er die Ringmuster wiederholte. Augenblicke später zog sich der Innenraum des Gebäudes heftig zu sammen und drückte das Schiff durch die gläsern wirkende, zentrale Säule der Pipeline. Ich lehnte mich zurück und genoß die weiteren Aufzeichnungen, erleb te sie mit, ohne der quälenden Schwerkraft des Jupiters ausgesetzt zu sein.
Ein Sturz in die Tiefe begann. Die Kraftfeldschleppe der Transportein richtung überlagerte sich mit der Schwerkraft und beschleunigte das Schiff. Doch bald verschlechterte sich der Empfang. Die übermittelten Bilder verloren an Schärfe und Farbe. Zuletzt geisterten durch den Bildraum nur noch nebelhafte Schatten. Erst Tage später – wir hatten schon nicht mehr geglaubt, von Jan noch ein Lebenszeichen zu erhalten – wurde eine von der RAY abgesandte Informationsboje geortet und geborgen. Erneut liefen die Projektoren an. Die RAY sank. Die Pipeline war breiter geworden, ein mächtiger Strom. Vor und neben dem Schiff trieben große MEWACONS. Sie hat ten ihre Schirme gefaltet und eine strömungsgünstige Form angenom men. Sie schwammen in trüber Flüssigkeit. Ein gleichmäßiger gelbroter Schein durchsetzte den Innenraum der Pipeline. Ich blickte zu den eingespiegelten Flugdaten. Die Tiefe betrug 13200 Kilometer, der Druck annähernd eine Million bar. Ein Bauwerk, das solchen Parametern standhielt, setzte die Beherrschung uns nicht be kannter Technologien voraus oder, falls das Objekt tatsächlich natürlich gewachsen sein sollte, eine verblüffende Geschichte seiner Evolution. Jan hatte recht behalten. Der Schacht führte nicht in die Hölle. Die Ju pitaner hatten für die erforderlichen Lebensbedingungen der MEWA CONS vorgesorgt. Und wo sich MEWACONS aufhielten, würden auch unsere Schiffe gefahrlos operieren können. »Es übertrifft unsere kühnsten Erwartungen!« sagte General Amon. »Ein Schacht, der uns direkt zur Schale des metallischen Wasserstoffs führt!« Möglich, daß der General bereits an die Nutzung des Schachtes dachte. Wir übersprangen einige Aufzeichnungen. Zahlreiche MEWACONS schwammen jetzt mit einer horizontalen Strömung dahin. Die RAY nahm den gleichen Weg. Das Licht war dämmrig geworden, ein diffuser
roter Schein war geblieben. So etwas wie Boden und Decke eines unter irdischen Beckens waren zu erkennen. Jan hatte sich bisher einfach treiben lassen. Jetzt schaltete er kurzzeitig die Steuerantriebe ein und driftete zur Seite ab, bis er auch hier auf eine Wand von offenbar fester Konsistenz stieß. Das Leuchten verstärkte sich zu einem Rot, das an Fleisch denken ließ, aber es waren ja hier un ten keine Farben im gewöhnlichen Sinne. Es war, wenn auch unerklär lich abgedämpft, die Glut der Tiefe, die da leuchtete. In der Seitenwand waren hier und da Öffnungen zu erkennen, wäh rend Decke und Boden des Beckens geschlossen blieben. Abstände und Querschnittsformen der Eingänge schwankten geringfügig, wie das bei natürlich gewachsenen Formen oft zu beobachten ist. Die Gänge, die ins Innere des Wandkörpers führten, waren gewunden. Gelegentlich verschwand ein MEWACON in einem der Stollen, ohne je wieder zum Vorschein zu kommen. Jan begann das Phänomen gewis senhaft zu beobachten. Die MEWACONS verließen zielgerichtet den dahinfließenden Strom, ehe sie einschwammen. Es war anzunehmen, daß sie von Signalen geleitet wurden, die auf das Individuum zugeschnit ten waren. Jan folgte schließlich einem MEWACON ins Innere der kompakten Masse. Es wurde dunkler und kühler, und er schaltete die Infrarotwand ler ein. Dann öffnete sich der Gang zu einer flachen Höhle. An den Wänden und von der Decke hingen zottige Lappen, die sich langsam und fächelnd bewegten. Der Boden war von Hunderten von Mulden geformt. Manche ihrer Ränder gipfelten in scharfen, hohen Graten. Etwa ein Drittel der Vertiefungen war ausgefüllt, manche hatten unmäßige Größe angenommen, so, wie Teig aufgeht. Andere Senken kümmerten dahin, doch schien auch bei diesen ein gleiches Rastermaß zugrunde zu liegen. Über die Berg- und Tallandschaft breitete sich ein löchrig ausge franster Teppich aus, dünn wie ein Schleier. Das MEWACON war zielgerichtet auf eine freie, tiefe Grube zuge schwommen und hatte sich dort niedergelassen. MEWAMÖBEN stürz ten sich auf das MEWACON und spannten einen pulsierenden Schirm über seinen Körper und die Grube. Die RAY schwebte jetzt weiter in die flache Höhle hinein.
Auf dem Boden der unbesetzten Mulden schimmerten glatte Körper. Die Palette reichte von kleinen, kaum sichtbaren Perlen in kümmerlichen Vertiefungen bis zu metergroßen Kugeln in tief ausgeformten Höhlun gen. Es war anzunehmen, daß das, was hier nebeneinander lag, verschie denen Entwicklungsstadien entsprach und sich in uns unbekannten Zeit räumen vollzogen hatte. Wachstum und Reife. Irgendein Mechanismus signalisierte den Zustand der Vollendung, ein MEWACON schwamm herbei, vereinigte sich mit dem gereiften Körper, eine zweite Entwick lungsphase lief an, erneutes Wachstum. Aber wohin führte die Entwick lung? Jan kreuzte mit seinem Schiff über der Muldenlandschaft. Aus der Nä he betrachtete er eine etwa drei Meter große Kugel. Als ich die Facetten struktur an deren Oberfläche sah, ging mir endlich ein Licht auf. Das waren ja MEWAMÖBEN-Kugeln! Jan blendete eine Computerskizze ein. Es war ein Bild, das ich in seiner MEWACON-Galerie auf GALILEI gesehen hatte: die aus dem Ge dächtnis gezeichnete innere Struktur eines RAYONS mit seinem kugel förmigen Zentrum. Tief im Innern des Jupiters fand eine Metamorphose der MEWA CONS statt, die zu den RAYONEN führte. Hier also wurden diese mächtigen Körper gezeugt und mit Kräften ausgestattet, die uns schon das Fürchten gelehrt hatten. Aber warum hatte Jan noch keine RAYONEN angetroffen? Im hinteren Teil einer Höhle schwebte der stattliche Körper eines RAYONS. Er schwoll noch immer an, schien sich mit Flüssigkeit voll zupumpen. Jan hielt die RAY dicht an der Höhlenwand und wartete. Allmählich schnürte sich der Hohlraum ab. Wie ich Jan kannte, würde er auch jetzt nicht die Flucht ergreifen. Dann hatte sich die Einschnürung geschlossen. In der flüssigkeitsge füllten Blase drängten sich das RAYON und das Schiff. Ich übersprang ungeduldig einige Aufzeichnungen. Wieder strömten Leiber durch den Bildraum. Und doch war es eine andere Welt. Nicht nur, daß die Körper zehn- oder gar zwanzigmal grö
ßer als die mächtigsten MEWACONS waren. Die RAYONEN schwammen in geordneten Formationen, wie es schien, auch aus eigener Kraft. Die Flüssigkeit war klar. Decke und Boden waren glatt und er weckten den Eindruck künstlicher Gebilde. Jan steuerte die RAY zur Seitenwand des Beckens, die aus einem Stück gegossen zu sein schien. Er wartete. An einer Stelle wölbte sich die dun kelrot glühende Fläche vor, stülpte sich aus, platzte und gab ein RAYON frei. Die zerfransten Ränder flossen zurück, und die Wand heilte aus. Das RAYON verharrte bewegungslos vor der Wand. Sein gestreckter, symmetrischer Körper war mindestens zehnmal länger als die RAY und schien sich noch immer aufzublähen. Eine schwache Strömung kam auf, und mit ihr schwammen RAYONEN vorbei. Das aus der Wand gebore ne Wesen schloß sich einer Dreiergruppe an. Jan folgte der kleinen Schar. Später schwenkte die Formation nach oben. Die Decke bildete einen Trichter. Die Strömung verstärkte sich. Andere Gruppen kamen ins Blickfeld. Der Trichter ging in einen vertikalen Schacht über. Es war unverkennbar, daß die RAYONEN ausgeschleust wurden. Der Kreis hatte sich geschlossen. Wir hatten erwartet, daß Jan mit hinaufschwimmen würde. Aber er drehte ab. Stundenlang kreuzte er mit der RAY durch das Becken, schwamm dann entgegen der Zugrichtung der RAYONEN, als wollte er zur Quelle des unterirdischen Stromes vorstoßen. Und tatsächlich gingen allmählich Veränderungen vonstatten. Wände rückten zusammen. Es wurde wieder dunkler und kühler. Hier und da tauchten Strukturen auf, überdimensionale Kristalle, die wie Skulpturen auf die glatten Wände aufgesetzt waren. Die Kristalle mehrten sich, überzogen die Wände, schichteten sich übereinander. Sie schlangen sich wie Atome von Riesenmolekülen umeinander. Der Strom verzweigte sich. Nebenarme entpuppten sich als Sackgas sen. Die RAY kam nur noch langsam voran. Immer häufiger tauchten vielflächige Hohlräume auf, Pendants zu den überdimensionalen kristalli schen Skulpturen. Und wieder verhielt sich Jan anders, als wir, die wir das Geschehen am Bildschirm verfolgten, erwartet hatten. Anstatt nun umzukehren, klinkte
er eine Informationsboje aus. Er selbst würde noch bleiben. Die letzten Bilder, die uns die Sonde übermittelte, waren Aufnahmen von der RAY, die durch das labyrinthische Raumgefüge trieb. Wir schalteten die Projektoren aus. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß wir Jan nicht wiedersehen würden. »Aber warum denn?« fragte Berger. »Die Parameter da unten stellen für die RAY doch kein Problem dar. Und dann Larson. Ein Kyborg findet immer einen Ausweg.« Berger blickte zu Mott hinüber, der gedankenver loren vor seinen Decodierungscomputern saß. »Ein Kyborg …«, wiederholte Mott. »Es kristallisiert sich für die RAYONEN eine Art Kyborg-Modell heraus. Das zentrale Hirn ver pflanzt einen Teil seines Wissens in die organisch gewachsenen Hüllen der MEWACONS. Die RAYONEN werden geboren. Dann delegiert das zentrale Hirn diese programmierten Körper an die Orte des Gesche hens. Fliegende Werkzeuge, fliegende Kampfmaschinen. Ich hoffe, daß wir eines Tages auch auf fliegende Unterhändler stoßen werden!« Mott lachte. »Zentrales Hirn?« fragte Berger. »Ist nur so ein Gedanke …«
22 Zwei Wochen später hatten wir weder die RAY noch eine weitere Sonde von ihr geortet. Das Schiff blieb verschollen. Warum hatte sich Larson am Schacht nicht ausschleusen lassen? Wäre ich mitgeflogen, hätte ich darauf bestanden. Bis zum Schacht war alles gut verlaufen. Was hatte er noch zu finden gehofft? Die Aktionen der RAYONEN waren von jeher unberechenbar gewesen. Jan hatte die Ge fahren dort unten einfach unterschätzt. Chefarzt Berger versuchte mir einzureden, daß für Larson keine akute Gefahr bestünde. Die stofflichen Depots in seiner Kyborghülle, die seine Autonomie gewährleisteten, wären für eine Dauer von einem halben Jahr ausgelegt. Wir schlugen eine Rettungsaktion vor. Die Mannschaft des Such trupps: Robert Claire. Ein Pilot fände sich. Das zur Zeit einzige dafür in Frage kommende Schiff war die RAY 4. Doch sie stand uns nicht zur Verfügung. Einmal befand sie sich bereits auf dem Weg nach GALILEI, ein andermal wurde das Schiff gerade auf der Werft Lunagorod ausei nandergenommen, weil irgendwelche Systeme nicht funktionierten. Ich gewann den Eindruck, daß man die RAY für eine Rettungsexpedition nicht hergeben wollte. Schon zwanzig Minuten über die Zeit. Ich saß vor der Videowand mei nes Appartements und wartete. Gewöhnlich empfingen wir auf GALI LEI die Aufträge des Ministeriums gegen 14 Uhr GAN-Zeit. Frau Jonas verbreitete ihre kurzen Weisungen im Anschluß an die jetzt täglichen Zusammenkünfte des Ressourcen-Gremiums. Ich wartete, überflog eini ge Nachrichten vom World Information Centre. Die erste Meldung des WIC: Die Rote Blattseuche, die ganze Landstriche entlaubte und die vor zwei Jahren in Brasilien ihren Ausgang nahm, hat trotz aller Vorsichts maßnahmen Europa erreicht. Meldung zwei: Die Megastadt Minerva wird auf Reisen gehen. Sie wird den stationären Erdorbit verlassen und in einem der Librationspunkte zwischen Erde und Mond neue Heimat finden. An die zehn Prozent der Bewohner wollen umsiedeln, haupt
sächlich wegen des dann erschwerten Besuchs der Alten Welt. – Es folg ten Routinenachrichten vom Kampf gegen die vordringenden Weltmee re. – Nichts davon, daß es noch immer nicht gelungen war, eine Bresche in den PROMETHEUS-Kraftfeld-Kokon zu schlagen. Nichts von den Wundern der Jupitaner. Nichts mehr zu hören von kosmischer Partner schaft, von Brüdern im All … Das Informationszentrum der Station blendete sich ein. Die kühle Stimme von Frau Canara. Rechts oben öffnete sich ein Bildfenster und breitete sich über die Bildwand aus. Ich gab den Entriegelungscode ein. Frau Jonas wirkte erschöpft. »MEWA«, schimpfte sie, »ich kann das Wort nicht mehr hören! Natürlich sind die Vorräte verbraucht! Müssen wir eben aus bereits fertiggestellten Großanlagen MEWA abziehen! Herr Claire, ich erwarte von Ihrer Gruppe die entscheidenden Impulse! Der Kontakt zu den Jupitanern schließt doch die Möglichkeit ein, von ihnen MEWA zu bekommen. Und noch ein Hinweis«, schärfte sie mir ein: »Der Kontakt besitzt zwar Priorität, Sie sollten sich dennoch mit HARDSHIP abstimmen!« Ich stand auf und ließ mich auf meine Koje fallen. Ich überlegte, was sich hinter HARDSHIP verbergen mochte. Frau Jonas besprach jetzt unsere Versuchsprotokolle von gestern, die wie üblich heute morgen auf ihrem Monitor vorgelegen hatten, machte Anmerkungen, machte Wün sche geltend. Das Bild schrumpfte wieder in die obere Ecke zusammen. Ich bestätig te das Videophonat. Dann wählte ich General Amon an, der wie üblich seine Weisungen vor mir von der Erde empfangen hatte. Ich erkundigte mich nach HARDSHIP. »Der Weltrat und das Ministerium üben Druck auf uns aus«, sagte der General. »Was sollen wir machen …« Er erläuterte das Projekt. Man wollte die alte Technik aktivieren, soweit sie noch vorhanden war. Die MEWA-Riesenstaubsauger würden wieder flottgemacht und an Heißat mosphärenballons gehängt, um feinverteilten metallischen Wasserstoff einzusammeln, abseits von PROMETHEUS, in den Randzonen des Großen Roten Flecks. »Sie wollen bemannte Fangschiffe einsetzen?« fragte ich erschrocken.
»Unbemannt. Vorerst ein Versuch mit ein, zwei Einheiten. Wir hätten dann wenigstens einige Tonnen MEWA pro Tag.« Der General lächelte zufrieden. Er war davon überzeugt, daß mit HARDSHIP eine diplomatische Entscheidung getroffen worden war. Er richtete den kühlen Luftstrom der Klimaanlage auf Gesicht und Ober körper und atmete tiefer durch. »Und, was halten Sie von dem Projekt?« fragte er. »Ich bin nicht so kompromißfähig wie Sie!« sagte ich gereizt. »Mit HARDSHIP unterminieren Sie unser Kontaktprogramm. Wer garantiert uns denn, daß die Jupitaner den erneuten Einsatz von Schiffen nicht als Angriff auslegen werden?« Der General hob abwehrend die Hände. Die Metamorphose der MEWACONS zu den RAYONEN war eine recht drastische Umwandlung. Die RAYONEN gewannen enorm an Masse und besaßen eine gestreckte Form. Sie bewegten sich schneller. In der Bruthöhle hatte sich in ihren Körpern ein Kraftfeldorgan entwickelt, das sie differenziert zu gebrauchen wußten: unmittelbar als Waffe und zum Erzeugen eines stationären Kraftfeldkokons. Die Metamorphose hatte sie aber auch befähigt, koordiniert zu handeln. Sie waren intelligen ter geworden. Möglicherweise hatte Mott recht, und es war ihnen Wissen aus einem zentralen Hirn übergeben worden. Allzugern hätten wir ein zahmes, kontaktwilliges RAYON, das uns mit kurzen und langen Signalen das Eins-plus-eins-gleich-zwei herübermor ste oder über Farb- und Schallsynthesizer die Geschichte und die ewigen, fundamentalen Wahrheiten der Jupitaner herüberorgelte, in unserer Nä he gehabt. Tatsächlich war daran nicht zu denken. Notgedrungen nah men wir mit den drei MEWACONS vorlieb, die uns aus Abeles gehei mer Farm verblieben waren, wiederholten wir einige der Versuche, die er am MEWACON-Baby hatte durchführen lassen. Wir konnten auch nicht auf ein Mindestmaß an Radarexperimenten verzichten, obwohl wir ahnten, daß wir damit den MEWACONS Schmerz zufügten. Sie versuchten zu fliehen, drückten sich an die Gitter stäbe des Käfigs und zogen ihre äußeren Organe ein. Noch Stunden
nach der Bestrahlung verharrten sie reglos in einem Winkel des Käfigs und rührten nicht einmal Futterschaum an. Die Verhaltensforscher meinten, diese Fluchtreaktion hätte sich phylo genetisch herausgebildet. Die Urformen der MEWACONS lebten inner halb und unterhalb der Wolken des Jupiters. Die größte Gefahr für ihre Existenz ging wohl von den Gewittern aus. Es waren Naturkatastro phen, damals wie heute. Die Gewitter wurden von starken Radiostürmen begleitet, und ein entsprechendes Sinnesorgan, das die Tiere vor nahen den Unwettern warnte, mußte von großem Vorteil gewesen sein. Offen sichtlich funktionierte dieses Signalsystem noch heute. Weit ausgiebiger experimentierten wir mit Abeles Kugelapparatur, die eine Mischung aus hochfrequenten Impulsen ausstrahlte. Auf Knopf druck stellte sich bei unseren gefangenen MEWACONS Wohlbehagen ein. Sie öffneten ihre Hüte und nahmen Futterschaum auf. Was lag näher als der Versuch, auf diese Weise eine Kommunikation mit den Tieren aufzubauen, einfache Dressur- und Lernakte etwa, indem wir Nahrung hinter Rosten versteckten, die sie bewegen mußten. Doch da hatten wir offensichtlich schon zu hohe Anforderungen an die MEWACONS ge stellt. Auch andere Impulsmischungen brachten uns nicht weiter. Einmal schoben wir einen Impulsreflektor zwischen Kugelstrahler und MEWACON. Wir schalteten ein. Der Proband tat das Gegenteil von dem, was wir von ihm erwarteten: Er forderte Nahrung. Wir waren ent täuscht. Nur Mott war begeistert und rief: »Endlich!« Der blutjunge Professor lief gedankenverloren durch unseren Ver suchsleitstand. Dann trat er an das Befehlsmikrofon. »Doktor Lansky«, sagte er, »überprüfen Sie nochmals das Abstandsgesetz, gehen Sie auf doppelte Entfernung, regeln Sie die Leistung langsam hoch, finden Sie den Einsatzpunkt des Generators!« Mott trat zurück, wartete mit vornübergebeugtem Kopf die lästigen Si gnallaufzeiten zwischen GALILEI und ATLAS ab. Nach fast sieben Sekunden hob Lansky schwerfällig seinen Kopf zur Kamera und schob seine rechte Hand auf das Tableau der Sondensteuerung. Wir blickten zur Bildwand. Am fliegenden Geräteträger blitzten Trieb werke auf. Manipulatoren richteten den Kugelgenerator und den Schild des Impulsreflektors wieder auf das MEWACON am Ende der Käfig
reihe. Mott wünschte mehr Licht. Lansky beorderte eine zusätzliche Energosonde zum Testgelände. Die ersten Neugierigen strömten in unseren Leitstand und belagerten die Bildschirme. Die Nachricht, daß wir endlich eine heiße Spur verfolg ten, war wie ein Lauffeuer durch GALILEI geeilt. ATLAS, Deck 1. Unser Jagdschiff pendelte über der geöffneten Startlu ke. Rechts von mir lag Mott – Gesicht bleich, Augen verschleiert. Es wäre besser, er würde noch aussteigen. Auf der anderen Seite lag Gerassimov, der alte Gerassimov. Jahrelang war er selbst geflogen, dann hatte er Pilo ten ausgebildet. Er strahlte Ruhe aus. Besonnen testete er die Bordsy steme unseres Schiffes. Start. Gerassimov klinkte die Haltetrossen aus. Wir fielen in die Tiefe. Die Nase des Jägers zeigte steil nach unten. Die ersten Wolkenkämme flatterten an den Quarzfenstern vorbei. Turbulenzen erfaßten unser Schiff. Der baumlange Mott krümmte sich auf seinem Gurtbett. Der Pilot fing den Jäger ab. Horizontalflug. Die Triebwerke fraßen heulend den Wasserstoff der Jupiteratmosphäre. Buggeschütz und Harpuniereinrichtung des Jägers waren abmontiert und durch einen Zylinder ersetzt worden. Der Prototyp eines leistungs starken Generators. Das erste MEWATRON. Wochenlang hatte Mott an diesem Generator gearbeitet, hatte mehrere Produktionscomputer zuschanden gefahren. Die Frauen und Männer der Forschungswerkstätten flohen, wenn sie seiner ansichtig wurden. Das Innere des Zylinders barg eine schwammige Substanz, aufge schäumtes MEWA. Die Poren waren mit MEWA-flüssig gefüllt. Ein Elektronikblock erzeugte die Impulse für die Erregerwicklungen im Zy lindermantel. So einfach war der Aufbau des MEWATRONS. Professor Mott hatte sich gefragt, wie ein Sende- und Empfangsorgan der MEWACONS beschaffen sein müßte, um die hypothetische un sichtbare Strahlung auszusenden oder zu empfangen. Das Organ wäre wohl sicherlich aus metallischem Wasserstoff aufgebaut! Drei MEWAModifikationen waren bekannt: MEWA-fest und -flüssig und eine bisher
nur in Spuren nachgewiesene feste Form, MEWA-III. Mott prüfte die möglichen Reaktionen zwischen diesen Partnern. Es waren nicht allzu viele. Und schließlich stand ihm noch Abeles Sender zur Verfügung, der diese Strahlung auf unbekannte Weise erzeugte. Abele hatte gute Vorar beit geleistet. Am Ende reduzierte sich das Verfahren zur Herstellung der Mottschen Strahlung auf ein einfaches Wirkprinzip: Wurde ein Ge misch aus festem und flüssigem MEWA energiereichen elektromagneti schen Impulsen ausgesetzt, bildete sich unter Aussendung von MStrahlung die MEWA-III-Modifikation. Einfach, verblüffend. Wir waren jetzt von blauem Dämmerlicht umgeben. In der Ferne tauchten die Käfige von Abeles Farm auf. Gerassimov schaltete auf An tischwerkraftschweben. Er wies mit dem Kopf zum Professor. »Schlecht konditioniert«, sagte er. »Er hat den Generator gebaut, nun will er ihn unbedingt auch auspro bieren!« »Wollen Sie nicht die Versuche übernehmen?« fragte Gerassimov. Ich schaltete das MEWATRON auf mittlere Leistung, öffnete den er sten Käfig. Das MEWACON näherte sich unserem Jäger, von Neugierde, Lust oder einem anderen Urinstinkt getrieben. War es der Kanal, auf dem wir uns würden verständigen können? Wir flogen einige Runden um das Testgelände. Auch jetzt schloß sich das Tier uns an. Ich öffnete die beiden anderen noch besetzten Käfige. Die MEWACONS folgten unserem Jäger, als wären wir ein Muttertier. Eines Tages würden in den Tiefen des Jupiters Tauchsonden operie ren. Ganze MEWACON-Herden würden sich um ihre starken Sender gruppieren. Die Sonden stiegen auf, und Hunderte von Tieren würden zu den Farmen und MEWA-Fabriken geleitet. Eine schreckliche Vision. Eine Vision? Die Menschen waren süchtig nach MEWA. Hatten wir nicht mit dem MEWATRON Abeles Werk vollendet? – Ich blickte zu Mott, der sein Gesicht gegen die Matten preßte. Er würde nicht die Kraft haben, sich gegen seine eigene Erfindung zu stellen. Er war zu jung, um auf den Erfolg verzichten zu wollen. Ein Gedanke schoß mir durch den Kopf. Ich hätte die Möglichkeit zu handeln, hier – jetzt. Ein Augenblick würde genügen. Hastig bedachte ich die möglichen Folgen meines Tuns. Entschlossen zog ich das Befehl
stableau aus dem Armaturenbrett und schaltete das Rundsichtradar ein. Die drei kleinen MEWACONS stoben auseinander und versanken Se kunden später in der Tiefe. »Was ist bei Ihnen los?« fragte Lansky. Erschrocken blickte ich zum Kommunikationsschirm. Ich riß mich zu sammen. »Die MEWACONS sind geflohen«, sagte ich ruhig, »alle drei. Es war wohl nichts mit dem MEWATRON. Es hat sie wieder in die Tiefe gezogen, in die Wärme, in ihre Heimat.« Ich war dabei, mich mit den Anfangsgründen des Fliegens vertraut zu machen. Gerassimov trainierte mich. Aus Zeitgründen beschränkten wir unsere Übungen auf das RAY-Flugprogramm. Wir hatten nie wieder über den Vorfall nahe Abeles Experimentierfeld gesprochen. Ich hoffte nur, daß es stilles Einverständnis war, das uns verband. Gerassimov, der am Steuerpult des Flugsimulators saß, erhob sich und begrüßte mich mit Handschlag. Meine Hände waren feucht und kalt. Gerassimov hatte es wohl registriert. »Doch schon ganz ordentlich, was Sie heute vormittag gezeigt haben«, äußerte er sich lobend. Er sprach noch weitere tröstende Worte, daß meine astronautische Grundausbil dung fundiert wäre und daß ich Larson nicht nur einmal über die Schul ter gesehen hätte. »Manchmal fällt mir das Umdenken auf Antigravitationsflug noch schwer«, gestand ich ein. »Deshalb üben wir ja«, antwortete Gerassimov und stieg vor mir zur Simulatorkabine hinauf. Ich orientierte mich im Cockpit, checkte die Bordsysteme und meldete Startbereitschaft. Gerassimov sann vor sich hin. Ich legte mich auf die Pilotenmatte und zog den Steuerungsblock über meine Brust. »Wußten Sie schon«, fragte er nachdenklich, »daß nun auch im Saturn nach diesen Wesen gesucht wird?« »Der Jupiter ist bevölkert. Warum sollte der Saturn nicht auch lebens trächtig sein? Immerhin sind die MEWA-Wesen nicht auf die wärmende Kraft der Sonne angewiesen. Auch im Innern des Saturns fände sich mit Sicherheit eine ökologische Nische für ihre Existenz.«
»Im Grunde genommen wären dann wohl alle Riesenplaneten und nicht nur die unseres Sonnensystems in Verdacht geraten, Brutstätten von Leben zu sein.« Gerassimov schloß die Kabinentür, ohne meine Erwiderung abzuwarten. Der Panoramaschirm leuchtete auf. Vor meinen Augen brodelten graue Wolken, erstreckte sich das Oval des Großen Roten Flecks. Das Stirnband preßte meinen Kopf gegen die Matte. Vielleicht waren wir die Exoten im All. Vielleicht waren wir es, die sich vom kosmischen Nor malfall des Lebens auf der Basis von MEWA abhoben. War die Entwick lung des Lebens auf der Erde nicht eine einzige Gratwanderung in der Ökosphäre der Sonne gewesen? Unsere Evolutionsschübe hingen von den kleinen kosmischen Katastrophen ab, die sich in Hunderten oder gar Tausenden von Millionen Jahren wiederholten … Wir wundern uns über das Schweigen des Universums. Wir horchen, wir senden Signale und schicken intelligente Sonden zu den erdartigen Planeten der nächsten Sonnensysteme, und dabei leben sie vor unserer Haustür.
23 PROMETHEUS driftete noch immer führungslos in der Jupiteratmo sphäre. Immer noch war die Station von einem undurchdringlichen Kraftfeldkokon umgeben. In unmittelbarer Nähe des Plattformstranges lagerte Bergungsgerät, befanden sich Notunterkünfte für Piloten und ankerten einige der nicht wieder zum Einsatz gelangten Jäger und ME WA-Transporter. Sprossenbalken verstrebten die angehäufte Technik, Antischwerkraftblöcke sorgten für den erforderlichen Auftrieb. Auch als Wrack leistete PROMETHEUS noch gute Dienste: als Fixpunkt und Leuchtfeuer im endlosen Ozean der Atmosphäre. Inzwischen war HARDSHIP angelaufen, und was lag näher, als das Gebiet um PRO METHEUS als Ausgangsbasis für die wieder in Betrieb genommenen alten Saugschiffe und als provisorischen Umschlagplatz für MEWA zu nutzen. Das MEWATRON forderte uns zu neuen Experimenten geradezu heraus. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, daß wir die Mottsche Strahlung auch auf das jupitanische Kraftfeld ansetzten. Vor allem Stei ner drängte darauf. Ihm war es nicht gelungen, das Feld zu bezwingen, und seit HARDSHIP ausgebaut wurde, mußte er seine Sprengungen am Kraftfeld einstellen. Frau Jonas, einmal von den Möglichkeiten solcher Versuche in Kenntnis gesetzt, trieb uns zur Eile an. Und auch Professor Mott, wie sollte es anders sein, war von solchen Experimenten mit sei nem Generator begeistert. Skeptisch beobachtete ich die Vorbereitungen für den Großversuch. Nicht, daß ich nicht neugierig auf die Wirkung der Strahlung auf das jupitanische Kraftfeld gewesen wäre. Aber reizten wir mit solchen Ver suchen nicht die RAYONEN? Die Jupitaner hatten doch nicht ohne Grund die Plattform versiegelt! Gefährdeten wir nicht erneut unser Kon taktprogramm? Und das zu einer Zeit, da Larson irgendwo in extremen Tiefen des Planeten auf die Toleranz oder gar auf Hilfe der fremden Wesen angewiesen sein könnte?
Ich sah noch eine weitere Gefahr: Wäre PROMETHEUS wieder ver fügbar, würden wir die Station nicht wieder in Betrieb nehmen? Womög lich würden wir sogar wieder beginnen, MEWACONS zu jagen? Trotz meiner Bedenken lief der Großversuch an. Ich wagte keinen wei teren Einspruch, auch weil ich spürte, daß mir Mott seit der Flucht der drei MEWACONS mißtraute. Das MEWATRON hatte vor der unsichtbaren Barriere Stellung bezo gen. Mehrere Energosonden bildeten einen Kranz um den Arbeitszylin der des Generators. Professor Mott startete das Programm. Die Leistung des MEWATRONS wurde hochgeregelt. Der Abstand zur Barriere ver ringerte sich. Im Fokus der Strahlung schmolz das Kraftfeld auf. Auf unserem Versuchsleitstand im Hauptgebäude von GALILEI herrschte Hochstimmung. Es war nicht auszuschließen gewesen, daß die gesamte Feldenergie explosionsartig freigesetzt wurde. Und keiner hatte gewußt, wieviel Energie im Kraftfeld steckte. Doch diese Gefahr war gebannt. Die ersten unbemannten Sonden tauchten durch die entstandene Öffnung und schwebten durch den In nenraum des Kokons. Noch einmal kam Ratlosigkeit auf, als die Verbin dung zu den Sonden abbrach. Das Loch im Feld war wieder ausgeheilt. Erneut wurde das MEWATRON in Stellung gebracht und ein Zugang eröffnet. Vom Bergungsgraviplan löste sich ein birnenförmiger Körper und trieb mit dem dicken Ende nach oben auf die unsichtbare Öffnung im Kraft feld zu. Steiner selbst hatte sich in den kleinen Schweber gezwängt, der gewöhnlich als Notretter eingesetzt wurde. Er stieß mit dem Birnenhals durch die Öffnung, die das MEWATRON aufgeschmolzen hatte. Dann bewegte sich der bemannte Flugkörper schaukelnd entlang dem Platt formstrang wie ein Luftballon, der plötzlich in eine andere Strömung geraten war. Ohne den Selbstretter zu verlassen, drang Steiner ins Innere der Platt form ein. Von der Hauptschleuse aus fuhr er mit einem Gleitstuhl in die Zentrale. Doch der Befehlsstand lag wie ausgestorben. Äußere Schäden waren nicht zu erkennen, aber das Energiesystem war ausgefallen, und Leitcomputer und Diagnoseschirme sprangen nicht an.
»Sie sollten in der Sicherheitssektion suchen«, riet Amon. »Die Besat zung wurde vor der Katastrophe von den Piloten der Jagdschiffe ge warnt.« Tatsächlich hatte die Besatzung von PROMETHEUS damals noch Zeit gehabt, sich in den Sicherheitstrakt zurückzuziehen und die Gestelle ihrer Bewegungshilfen in die vorgesehenen Lafetten vorschriftsmäßig einrasten zu lassen. Drehungen und Stöße wurden pneumatisch ge bremst, etwa auf den zehnfachen Wert gedehnt. Amon, der im Versuchs leitstand neben mir saß, meinte, daß diese Konstruktion der Besatzung das Überleben sogar während eines schweren Gewitters ermöglichte. Das unruhige Blickfeld von Steiners Helmkamera strich über die Ge stalten im Raum. Sie saßen sich im Kreis gegenüber, zurückgelehnt, er starrte Ritter einer Tafelrunde. Vor ihnen befanden sich die Tische mit den Tableaus zur Bedienung der Bordanlagen. Die stumpfen Bildschirme auf der Instrumentenkonsole waren unversehrt geblieben. Hinter ihnen standen die Blöcke der biogenerativen Systeme. Zumindest einige der lebenserhaltenden Apparaturen schienen noch zu arbeiten, sieben Wo chen nach der Katastrophe. »Hier liegen zwölf Mann«, stellte Steiner fest. Berger, der bislang ruhig geblieben war, schaltete sich ein. »Wir werden sie einzeln bergen müssen. Das wird natürlich dauern. Ich schicke Ihnen weitere Selbstretter und Personal. Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir bei einigen von der Besatzung noch auf Lebensfunktionen treffen. So lange wir uns nicht vom Gegenteil überzeugt haben, werden wir sie wie Schwerverletzte behandeln.« Amon fragte Mott, wie lange er das Loch im Kraftfeld noch offenhal ten könne. »Energie haben wir zur Genüge«, antwortete Mott, »wie lange das MEWATRON den Dauerbetrieb verkraftet, darüber liegen noch keine Erfahrungen vor.« Steiner hielt jetzt seine Kamera auf eine der nächstliegenden Gestalten. Der Skaphander wölbte sich prall zwischen den Haltegurten vor. Die Scheibe des Helms war angelaufen, schien mit einer pilzigen Masse ver klebt zu sein. »Denström …«, las Steiner vor. Seine Kamera huschte über
das Namensschild und wanderte zum nächsten aufgeblähten Skaphan der. Ich wandte mich vom Bildschirm ab. »Er wird wohl Abele suchen«, sagte Berger und beugte sich näher zum Schirm. Ihm schienen diese Bilder nichts anhaben zu können. »Ein solches Ende hat Abele nicht verdient«, sagte ich leise. Amon nickte mir zu. »Abele nicht. Die anderen haben es nicht«, gab Berger unüberhörbar zu verstehen. »Abeles Hagelkornhypothese hat sich als falsch erwiesen. Seine Jagdmethoden – passe. PROMETHEUS – zuschanden gefahren. Seien wir doch ehrlich: Wer wird ihm schon eine Träne nachweinen?« Im Leitstand blickten alle zu Berger. Es war wohl jetzt nicht der richti ge Zeitpunkt, die Dinge so beim Namen zu nennen. Gut, Abele war gescheitert, aber er hatte einen besseren Nachruf verdient.
24 Mein Blick fiel ständig auf das Gegenbild der leeren Matte neben mir. Ich veränderte den Anstellwinkel der Spiegelleiste, die über meinem Kopf befestigt war. Da war mir die Aussicht auf mein Gesicht schon lieber. Prüfend betrachtete ich mich im Spiegel. Selbstgespräche. Kraft worte, die meine Tätigkeiten im Cockpit der RAY 4 begleiteten. Gele gentlich griff ich zur Drogenflasche. Ich flog allein. Mott fehlte jetzt, sein unruhiges Wesen. Er hätte wie üblich den Widerspruch gesucht, und die Zeit wäre schnell verflogen. Aber Berger hatte Mott noch kurz vor dem Start ausgemustert. Und Gerassimov hatte mir so viel beigebracht, daß man glaubte, ich würde mit dem Schiff schon fertig werden. Start und Eintauchphase wären ja automatisiert. Wozu auch zwei Menschen einer Gefahr aussetzen, wenn es einer ebenso schafft. Ich schwamm in knapp 14000 Kilometer Tiefe durch das unterirdische Becken. Der Strom der MEWACONS riß nicht ab. Ihre prallen Leiber glänzten im roten Licht, das von allen Seiten einfiel. Reife, majestätische Tiere, die zielsicher ihre Bruthöhle suchten und ihrer Metamorphose entgegenstrebten. Ein friedvoller, erhabener Anblick, der mir durch Lar sons Filme vertraut war. Wußten sie, wohin die Reise geht? Das MEWATRON starrte in den Bildschirm. Zusammen mit dem Bug der RAY 4 wurde es in den Schwarm der dahinströmenden Tierleiber hineinprojiziert. Ich verspürte Lust, das MEWATRON einzuschalten und mich seiner Wirkung zu versichern. Selbst RAYONEN machte es mit Hilfe seiner Strahlung gefügig. Sie unterbrachen ihre Flüge, um eine Art Begrüßungszeremoniell abzuhalten. Diese beruhigende Wirkung der Strahlung stellte mich mehr zufrieden als die Möglichkeit, das Kraftfeld der Jupitaner aufschmelzen zu können. Ich folgte Jans Fährte. Die Aufnahmen und Daten seiner Informati onsboje hatten es ermöglicht, den Weg zu rekonstruieren, den die RAY 3 genommen hatte. Ich blickte auf den Kurser. Die Bruthöhlen der ME WACONS mußten ganz in der Nähe liegen. Ich steuerte das Schiff durch die Gänge, die die Seitenwand des Beckens durchsetzten, drang in
die kühlen Bruthöhlen ein und suchte in der Muldenlandschaft nach einem gereiften Wesen, das seine Metamorphose bereits hinter sich ge bracht hatte. Ich drückte das Schiff an den Leib des aus seiner Brutgrube geschlüpften RAYONS, um mich auf die andere Seite des Beckens schmuggeln zu lassen. Eine belastende Prozedur, aber ein anderer Zu gang zur RAYONEN-Seite des Beckens war nicht bekannt. Dann zog ich stromaufwärts. Die ersten kristallischen Skulpturen tra ten aus der Beckenwand heraus. Decke und Boden wuchsen gelegentlich zusammen und zerteilten den Strom. Kein Zweifel, ich war auf dem Weg, den Jan genommen hatte. Vielflächige Hohlräume öffneten sich. Wände rückten zusammen. Gänge taten sich auf, winkelten ab, verzweigten sich oder endeten in flächig strukturierten Grotten. In einem der ausgehöhlten Riesenkristalle ent deckte ich Larsons Schiff. Ich versuchte näher heranzuschwimmen, stieß zurück, nahm einen benachbarten Arm des verästelten Stroms. Ich prall te mit dem Schiff gegen eine elastische Wand. Der Raum, der die RAY 3 barg, war mit einem Kraftfeld verschlossen. Das war ein klarer Fall für den Einsatz des MEWATRONS. Ich griff zur Steuerung des Strahlers, doch ein unbestimmtes Gefühl hielt mich davon ab, in das Feld eine Öffnung zu schmelzen. »Claire!« Ich zuckte zusammen. Es war Larsons Stimme. Sein Ruf überraschte mich mehr als die Tatsache, daß ich sein Schiff unversehrt vorgefunden hatte. »Robert Claire!« wiederholte die Stimme. »Du lebst?« fragte ich beklommen. »Warum antwortest du mir nicht?« Erst jetzt begriff ich, daß Jan über Funk zu mir sprach. Ich schaltete den Sender ein. »Bist du es selbst, oder überspielt der Bordcomputer deines Schiffes nur eine Nachricht?« Jan lachte. »Du sprichst tatsächlich mit mir!« »Wir hatten dich längst abgeschrieben.«
»Was siehst du?« verlangte er merkwürdigerweise zu wissen. »Bitte be schreibe es mir!« Ich blickte mich selbst erst einmal genauer um. Dann beschrieb ich sein Schiff, das wie ein Fremdkörper im Zentrum der kristallischen Höh le ruhte, an Strängen aufgehängt wie das Opfer im Netz der Spinne, mil lionenfach angekoppelt an den Ecken und Innenkanten des Kristalls. Hunderte von MEWAMÖBEN huschten durch den Raum, als wollten sie dieses Werk vervollkommnen. Jan bedankte sich. »Du solltest wissen, daß ich noch nicht wieder alle Sensoren meines Körpers und des Schiffes zu meiner Verfügung habe.« »Noch nicht wieder? – Ich verstehe dich nicht.« »Ich wurde in ein anderes … Medium versetzt. Die Verpflanzung ist möglicherweise noch nicht abgeschlossen. Zumindest muß ich wieder neu sehen lernen. Ich erkenne die Welt nicht mehr. Es fällt mir schwer, die Reizmuster, die auf mich einströmen, zu bündigen Bildern zusam menzufügen. – Dabei war es als Kyborg schon schwer gewesen, die Welt zu verstehen. Nicht, daß ich den Ton einer schwingenden Saite vom Geschmack einer Zitrone nicht hätte unterscheiden können. Doch zu den Standardempfindungen waren Dutzende andere hinzugekommen. Ob diese neuen Sensoren nun Infrarot oder Röntgenstrahlung nachwie sen, chemische Zustände prüften oder einfach Kräfte maßen, letztlich waren es unterschiedliche Impulsmuster, die auf mich einströmten und in mir zu exotischen Wahrnehmungen führten. – Und was passiert jetzt und hier? Tausende Kanäle, unverständliche Muster. Ich ersticke an un bekannten Eindrücken.« Ich hörte mir seine Klagen an, überlegte, ob ich ihm helfen könnte. »Bist du gefangen?« fragte ich ratlos. »Es trifft nicht den Kern der Sache …« »Aber das Kraftfeld, das dich einschließt! Ich könnte versuchen, dich zu befreien!« »Nicht eingreifen! Bitte!« rief Jan. »Ich mache mir Sorgen um deinen Zustand!« »Robert, du würdest mich zerstören! Es ist zu spät für eine Reversion. Begreife, daß es kein Zurück gibt! Und auch, wenn ich nicht freiwillig
hier bin, ich habe es mit mir geschehen lassen. Ich existiere. Ich habe Zugriff zu meinen Depots.« »Und diese Verpflanzung«, fragte ich nach, »kannst du es mir näher er klären?« »Der Übergang findet in ein Medium statt, das ich noch nicht genau beschreiben kann. Es scheint grenzenlos zu sein. Es stellt mir so viel Kapazität zur Verfügung, wie ich benötige. Es sichert mir Autonomie zu, aber ich spüre, daß ein Kontakt zu anderen besetzten Sektoren möglich sein wird. Ich taste mich vor. Ich breite mich im Medium aus. Vielleicht ist es sogar ein realer Wachstumsprozeß.« »Hast du Kontakt zu den Jupitanern oder nicht?« »Ich empfange Signale, eine Flut von Signalen …« »Jan, solltest du in Verbindung mit dem zentralen Hirn stehen: du kennst unsere Probleme und Sorgen, du könntest unsere Interessen ver treten!« »Ich bewege mich im äußeren Kreis. Ich breite mich in der äußersten Schale aus. Es sind viele Schalen, die das zentrale Wissen umgeben. Ich kann das Zentrum lokalisieren. Ich spüre den Kontaktwillen dieser fremden Macht wie einen Sog. Aber ich habe keinen Zugriff zum zentra len Wissen. Ich spüre auch Distanz, Hemmung, Kontrolle.« »Ein Prozeß der Annäherung.« Unwirsch faßte ich seine unklaren Aus führungen zusammen. »Und was meinen die Jupitaner zur Jagd auf die MEWACONS? Was hast du über die Umgestaltung des Jupiters erfah ren?« »Das sind keine Probleme dieser Schale«, sagte Jan nach langem Zö gern. »Und das Wissen der Menschen?« fragte ich wieder. »Können die Jupi taner es verwerten?« »Das Hirn braucht uns nicht!« »Aber wir brauchen die Jupitaner!« schrie ich ins Cockpit meiner Über lebenskugel. »Du bist erschöpft, Robert, und solltest ruhen.«
»Gut«, sagte ich leise. Ich war enttäuscht. Was für einen Sinn sollte die ser Kontakt mit den Jupitanern haben, wenn er sich allein auf eine Be rührung von Jan mit der Peripherie des zentralen Hirns beschränkte und uns nicht erreichte? Die Weckimpulse hämmerten auf mich ein. Noch sträubte ich mich ge gen das Auftauchen aus der Geborgenheit des Halbschlafes, aber das Weckprogramm zog die nächsten Register. Die bleierne Schwere des Jupiters begann mich zu quälen. Ich blickte auf den Schirm. MEWAMÖBEN schwammen durch den Innenraum des Kristalls, krochen über den Panzer meines Schiffes und scharten sich um das MEWATRON. Von den Ecken des Raumes zum Schiff führten Bündel glänzender Stränge. Ich erschrak. Mit dem Mani pulatorarm der RAY tastete ich den Raum ab. Meine Befürchtung be wahrheitete sich: Die Kristallsphäre hatte sich geschlossen. Ich war wie Jan ein Gefangener. Ich kochte vor Wut. So also rekrutierte das zentrale Hirn seine Kon taktpartner! Ich handelte rasch. Schaltete das MEWATRON auf höchste Leistung und richtete es auf den Kraftfelddeckel. Das Kraftfeld schmolz, die MEWAMÖBEN flohen, die Stränge, die um die RAY 4 gewuchert waren, zersplitterten. Jan stieß schrille Laute aus. Die Wirkung des Generators übertraf alle meine Erwartungen. Nach einigen Sekunden schaltete ich das MEWATRON ab. »Was war das eben gewesen?« fragte Jan schreiend. Ich antwortete nicht. Jan hatte mich verraten, der Gedanke ließ mich nicht los. Warum hatte er mich nicht vor den Gefahren hier unten ge warnt? Es war ihm doch sicherlich ebenso ergangen! Ich schloß nicht aus, daß Jan mich absichtlich in die Falle hatte kommen lassen. »Was war los?« fragte Jan drohend. Ich schaltete den Bordempfänger aus und steuerte das Schiff aus der Gefahrenzone. Allmählich hatte ich mich wieder beruhigt. Ich kehrte in die kristallische Sphäre zurück, vertrauend auf die Kraft des MEWATRONS. Es gab
eine Menge Fragen, auf die ich noch Antworten erhoffte. War Jan noch menschlicher Kyborg oder bereits ein Jupitaner? Hatte er am Wissen des zentralen Hirns Anteil, oder wurde er nur von den Jupitanern ausgefragt? Jan wußte nichts von der Mottschen Strahlung, und trotzdem hatte er sie wahrgenommen, vielleicht mit Hilfe von Sensoren, von deren Existenz er selbst keine Ahnung hatte. Das Erlebnis des MEWATRONS hatte Jan beeindruckt. »Ein inneres Licht durchdrang mich, erfüllte mich«, sagte Jan mit veränderter Stimme. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so stark empfunden zu haben. Sei ne emotionalen Filter waren übersteuert worden. Auch jetzt noch schien er von tiefster Befriedigung erfüllt zu sein. Ich versuchte Jan abzulenken. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn in das Geheimnis des MEWATRONS einweihen sollte. Ich berichtete ihm von den Bemühungen, MEWA in irdischen Labors zu synthetisieren. Aber Jan führte das Gespräch immer wieder auf das MEWATRONThema. Dabei gewann ich den Eindruck, daß er mehr wußte, als er ei gentlich hätte wissen können. Ich zögerte noch, ihm die Formel zur Er zeugung der Mottschen Strahlung mitzuteilen, da begann er sie bereits selbst zu entwickeln. Und dann umriß er ganz nebenbei das Wirkprinzip eines Empfängers der M-Strahlung, ein Verfahren, mit dem Professor Fox in unseren Labors auf GALILEI gerade die ersten Erfolge verbucht hatte. »Woher weißt du das alles?« fragte ich verblüfft. »Vor einer Stunde hat test du schließlich noch nicht die mindeste Ahnung von der Existenz der MEWATRONS!« »Ich hatte nur keine Kenntnis von der subjektiven Wirkung dieser Strahlung.« »Versuche es wenigstens, mir zu erklären«, bat ich ihn. »Ich beschrieb dir das Glücksgefühl, das diese Strahlung hervorgerufen hatte. – Seitdem gehen in mir und in meiner Umgebung Veränderungen vor sich. Ich spüre, daß die harte Kruste um mich herum aufschmilzt, daß ich Zugang zu Bereichen von Wissen finde, die mir bislang verwehrt waren, als wäre ein Damm gebrochen und ich überschwemmte nun mit meinem Ich einen gut vorbereiteten, kräftigenden Nährboden …«
»Sprich weiter!« ermahnte ich ihn. »Du kennst auch unsere Möglichkei ten, unseren Standpunkt. Du weißt, daß wir den friedlichen Kontakt suchen zu den Jupitanern oder dem Zentrum, was es auch sein möge. Was also sollen wir tun?« »Ihr sucht Kontakt. Bin ich euch nicht Beispiel genug? Schickt Kon taktpartner! Schickt Kyborgs! Wir werden einen eigenen, starken Kreis bilden! Eine Kolonie! Wir werden mit unserem Gedankengut und unse ren Wünschen nicht nur Anteil nehmen, sondern auch Einfluß ausüben. – Das ist meine Botschaft! Robert, verstehst du?« »Was für bedrückende Gedanken …«, sagte ich leise. »Versprich mir, daß du diese Botschaft verbreitest!« »Ich werde es tun. – Doch siehst du keinen anderen Weg?« »Ihr könntet versuchen, von außen in das Informationssystem der Ju pitaner einzudringen. Seid ihr nicht schon im Besitz der Strahlung? Baut Empfänger mit verbesserter Empfindlichkeit! Vielleicht gelingt es euch, Signale zu empfangen und zu entschlüsseln. Baut starke Sender! Viel leicht ist es sogar möglich, direkt mit dem zentralen Hirn in Verbindung zu treten …« Die MEWAMÖBEN hatten erneut begonnen, die RAY 4 zu belagern. Abermals begannen Bündel von Strängen auf mein Schiff zuzuwachsen. Aufs neue verschloß sich hinter mir die kristallische Sphäre, auch wenn es nur ein Kraftfeldhäutchen war, das zerplatzte, wenn ich mit dem Arm des Manipulators hineinstach. Ich zündete die Steuertriebwerke des Schiffes. Langsam schwamm ich aus der Sphäre heraus. Ich wollte das MEWATRON nicht noch einmal einsetzen, hier unten in der Nähe der Kristalle, in der Nähe dieser Nährmedien und intelligenten Schalen. Ich wollte nicht unbedacht Wir kungen auslösen, die im natürlichen Ablauf gar nicht vorgesehen waren. Und zugegebenermaßen war mir die ungewöhnliche Lernfähigkeit Jans unter dem Einfluß der Strahlung nicht ganz geheuer. Schien hier unten doch alles darauf angelegt zu sein, mich einzufangen! Was wäre, wenn Jan Macht über diese Mechanismen erlangen würde? »Bleib hier«, bat Jan.
»Meine Zeit hier unten ist abgelaufen«, sagte ich bestimmt. »Aber ich werde dich wieder besuchen, ich oder ein anderer von uns kommt. Schließlich bist du unser Kontaktmann!« Ich warf einen letzten Blick auf das von Millionen Strängen gehaltene und eingeschlossene Raumschiff, schaute noch einmal in das Innere des kristallischen Gehäuses, ein bizarrer Raum, der mit einer Kathedrale konkurrieren konnte. Der Kraftfelddeckel hatte sich bereits merklich eingetrübt. Die weitere Umwandlung der Zelle schien zu einer geschlos senen kristallischen Skulptur zu führen. Jan sprach weiter und unterbreitete mir seine Vorschläge zur Kontakt aufnahme, Visionen, die ich nicht verstand, die mir fremdartig waren. Ich ließ mich stromabwärts treiben, vorbei an geöffneten Riesenkristal len. War es deren Aufgabe, Besucher anzulocken? Waren es exotische Blüten, geschaffen vom Überfluß der jupitanischen Natur, um Kontakt mit Fremden aufzunehmen? »Dich schreckt die Tiefe, der lästige Schmerz der Schwere«, rief Jans Stimme aus dem Bordempfänger, während ich schon im breiten Becken schwamm. »Glaube mir, es ist alles ganz anders. Du fühlst dich leicht. Du bist ein Teil des universellen Wissens, Teil des Universums. Und es gibt die Wiedergeburt. Eines Tages wirst du dich in ein RAYON ver wandeln, wirst dich frei durch den Jupiter bewegen. Robert, bleibe …« Ich schaltete ab. Vor dem Schiff bewegte sich eine Formation von RAYONEN. Ich starrte auf den Schirm, voller Furcht, sie könnten den Auftrag haben, mich am Auftauchen zu hindern. Ich griff zur Drogenflasche, schloß die Augen. Die Automatik würde mich heil nach oben bringen. Ich dachte an GALILEI. Ich träumte von der Erde. Das hier unten war nicht meine Welt. Aber vielleicht würden sich Freiwillige finden, Kyborgs oder Men schen, die den Drang verspürten, sich dem fremden Hirn zu nähern, die bereit waren aufzugeben, was uns Menschen ausmacht, um der Erkennt nis willen.