Oliver Kessler Die Internationale Politische Ökonomie des Risikos
Oliver Kessler
Die Internationale Politische Ökono...
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Oliver Kessler Die Internationale Politische Ökonomie des Risikos
Oliver Kessler
Die Internationale Politische Ökonomie des Risikos Eine Analyse am Beispiel der Diskussion um die Reformierung der Finanzmärkte
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Monika Mülhausen / Marianne Schultheis Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15490-9
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1.1 Einleitung
für Sophie und Jakob
1.1 Einleitung
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Vorwort
Am Beginn dieser Arbeit stand eine Unzufriedenheit darüber, wie die Asienkrise und die darauf einsetzenden Turbulenzen innerhalb der Wirtschaftswissenschaften und der Internationalen Beziehungen diskutiert wurden. Obwohl ich dieses Gefühl zuerst nicht greifen konnte, schließlich fehlte mir als Ökonom das politikwissenschaftliche Vokabular, erschien mir die gesamte Debatte um die Reformierung der Finanzmärkte als zu kurz gegriffen. Der Versuch, die Politik am Staat festzumachen und gleichzeitig die Quelle der Instabilität in einer asymmetrischen Informationslage zu verorten ist doch so trivial wie falsch. Dennoch hat die Idee der asymmetrischen Information die Diskussion nachhaltig geprägt. Ohne die dadurch implizierten Bemühungen zu erhöhter Transparenz und weniger Korruption in Abrede stellen zu wollen, stellt sich doch die Frage, ob eine Welt vollkommener Transparenz sowohl möglich oder auch nur erstrebenswert ist. Die Arbeit versucht aber nicht eine alternative Lösung für die Probleme der Finanzmärkte zu entwerfen, sondern fragt im Gegenteil nach den disziplinären Strukturen und Grenzen dieser Diskussion: wieso wird Instabilität in genau dieser Art und Weise konzipiert? Dieses Buch versteht sich demnach nicht als eine Beobachtung erster, sondern zweiter Ordnung. Das heißt ich versuche nicht unmittelbar praxisrelevantes Wissen zu produzieren, sondern vielmehr zu beobachten, wie handlungspraktisches Wissen, zum Beispiel durch die Verwendung einer spezifisch ökonomischen Risikosemantik, möglich wird. Das hier vorliegende Buch ist die gekürzte und überarbeite Fassung der vom Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit dem Titel ‚Die Internationale Politische Ökonomie des Risikos am Beispiel der Diskussion um die Reformierung der Finanzmärkte’ angenommenen Dissertation. Natürlich ist es nicht möglich eine Dissertation ohne entsprechendes Umfeld zu schreiben. So danke ich meinem Doktorvater Friedrich Kratochwil für die immer wieder aufbauende und freundschaftliche Betreuung. Obwohl ich als Volkswirt eine andere Sprache gelernt hatte, fand ich in München eine Gemeinschaft von Promovenden, der ich sicherlich mehr verdanke als dies mit Worten auszudrücken möglich ist. Neben ihrer Freundschaft haben sie mir in endlosen Gesprächen die Tür zur Politikwissenschaft eröffnet. Hier möchte ich stellvertretend für alle vor allem Alexander Börsch, Markus Lederer, Philipp Müller, Mariano Barbato und Thomas Teichler danken. Dank gebührt ebenfalls Andreas Paulus und Björn Bartling für ihre zahlreiche Unterstützung. Insbesondere möchte ich Benjamin Herborth danken, der mir durch hilfreiche Diskussionen und zahlreiche Vorschläge bei der Überarbeitung des Textes geholfen und noch stilistische Mängel beseitigt hat. Charlie Dannreuther und Tim Sinclair danke ich für zahlreiche Gespräche in Warwick und die Freundschaft, die sich seit dem entwickelt hat. Lars-Erik Cederman danke ich für seine Einladung nach Harvard und die schöne Zeit, die ich dort mit ihm verbringen durfte. David Kennedy danke ich dafür, dass er in Harvard seine faszinierende Sicht der Welt mit mir teilte und viele Gedanken schärfte – oder es zumindest versucht hat. Ebenso danke ich Martti Koskenniemi und dem gesamten Eric Castrén Institute in Helsinki. Im letzten Jahr
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Vorwort
meiner Dissertation haben sie mich äußerst freundlich in ihre Gemeinschaft aufgenommen und die Sorgen eines Polit-Ökonomen geteilt. Für finanzielle Unterstützung danke ich vor allem der Universität München, die mir ein Landesstipendium gewährt hat, dem DAAD, der mir den Aufenthalt in Harvard ermöglichte und dem Förderverein Kurt Fordan e.V., der mir die Beendigung und weitere Feldarbeit in England ermöglichte. Den größten Anteil trugen meine Eltern. Auch diesen Kredit werde ich wohl nie zurückzahlen können. Gewidmet ist diese Arbeit meiner Frau, Sophie von Hayek, sowie unserem ersten Sohn Jakob von Hayek. Beide haben die Höhen und insbesondere Tiefen dieser Zeit erduldet.
1.1 Einleitung
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Inhalt
Einleitung ............................................................................................................................. 11 1
Zu einer Politik der Weltgesellschaft .........................................................................23 1.1 Einleitung ......................................................................................................23 1.2 Die gesellschaftstheoretische Öffnung der Internationalen Beziehungen ....25 1.3 Sinn, Selbstreferenz und sozialer Wandel.....................................................34 1.4 Die Politik der Weltgesellschaft....................................................................37 1.5 Die Politik der Argumentation ......................................................................44 1.6 Zusammenfassung.........................................................................................48
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Währungskrisen und das Problem der Selbstreferenz.............................................51 2.1 Einleitung: Die Frage nach der Systemstabilität...........................................51 2.2 Währungskrisen als Phänomen .....................................................................53 2.2.1 Modelle der ersten Generation ......................................................................55 2.2.2 Modelle zweiter Generation..........................................................................58 2.2.3 Modelle der dritten Generation: Strukturelle Schwächen.............................60 2.2.4 Zusammenfassung.........................................................................................63 2.3 Ausbreitung ...................................................................................................64 2.3.1 Definitionen...................................................................................................64 2.3.2 Ursachen der Ausbreitung.............................................................................68 2.4 Zusammenfassung.........................................................................................76
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Über Wahrscheinlichkeit – eine Topologie ................................................................79 3.1 Einleitung ......................................................................................................79 3.2 Objektiv aleatorische Wahrscheinlichkeiten: relative Häufigkeiten.............81 3.3 Subjektiv aleatorische Wahrscheinlichkeiten: ..............................................83 3.4 Objektiv epistemologische Wahrscheinlichkeiten: John M. Keynes............86 3.5 Subjektiv epistemische Wahrscheinlichkeit: soziale Wahrscheinlichkeit ....93 3.6 Zusammenfassung.........................................................................................98
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Risiko als Ungewissheit..............................................................................................101 4.1 Einleitung ....................................................................................................101 4.2 Die objektive Erwartungsnutzenhypothese.................................................104 4.3 Kritik und Alternativen ...............................................................................108 4.3.1 Das Allais-Paradox und die Ausfächerungshypothese ...............................111 4.3.2 Präferenzumkehr und die Theorie des Bedauerns (Regret Theory)............115 4.3.3 Zusammenfassung der objektiven Erwartungsnutzentheorie .....................118
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Inhalt
4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5
Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie.......................................................119 Das Ellsberg-Paradox..................................................................................127 Noch einmal: Präferenzumkehr...................................................................129 Zusammenfassung der subjektiven Erwartungsnutzenhypothese...............131 Zusammenfassung.......................................................................................134
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Risiko vs. Unsicherheit...............................................................................................137 5.1 Einleitung ....................................................................................................137 5.2 Objektiv-epistemische Wahrscheinlichkeit: John M. Keynes ....................138 5.2.1 Das Vertrauen in die Wahrscheinlichkeit ...................................................140 5.2.2 Der Unsicherheitsbegriff.............................................................................142 5.3 Subjektiv-epistemologische Wahrscheinlichkeit: F. August von Hayek....145 5.3.1 Das Wissen der Gesellschaft.......................................................................147 5.3.2 Praxis und Regeln .......................................................................................151 5.3.3 Institutionen und Spontane Ordnung ..........................................................153 5.3.4 Zusammenfassung.......................................................................................156 5.4 Schlussbetrachtung......................................................................................158
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Unsicherheit, Rationalität, Institutionen .................................................................161 6.1 Möglicher Einwand: Spiele unvollkommener Information ........................161 6.2 Wissen, Rationalität und Institution............................................................165 6.3 Die Struktur der ökonomischer Argumentation..........................................171 6.4 Die Politik ökonomischer Argumentation: Die Kritik von Stiglitz ............176
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Selbstreferenz und Finanzmarktstabilität ...............................................................181 7.1 Einleitung ....................................................................................................181 7.2 Beobachtung unter Ungewissheit................................................................182 7.2.1 Kapitalkontrollen.........................................................................................186 7.2.2 Wechselkurs ................................................................................................192 7.2.3 Die Reform des Internationalen Währungsfonds........................................195 7.2.4 Zusammenfassung: Finanzmärkte zwischen Universalismus und Partikularismus............................................................................................203 7.3 Beobachtung unter Unsicherheit .................................................................205 7.3.1 Desintermediation .......................................................................................207 7.3.2 Die Emergenz neuer Spieler........................................................................209 7.3.3 Basel II: Nichtwissen und private Autoritäten............................................215 7.4 Schlussfolgerung: Die Grenzen der Transparenz........................................220
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Fazit .............................................................................................................................223
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Bibliografie..................................................................................................................225
Einleitung
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Einleitung
Die Turbulenzen auf den globalen Finanzmärkten zwischen 1997 und 2001 läuteten nicht nur das Ende des Monetarismus ein, sondern führten auch innerhalb der Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ) zu einer nachhaltigen Zäsur. Ganz analog zum Fall der Berliner Mauer, als die Unzulänglichkeit neorealistischer Modelle offenbar wurde und damit post-positivistischen Perspektiven den Weg ebnete, zeichnet sich ab, dass die Asienkrise mit den Standardmodellen der Politischen Ökonomie nicht zu greifen ist. In der Konsequenz kann ein erstarktes Interesse an einer soziologisch-konstruktivistisch informierten Analyse der Finanzmärkte festgestellt werden,1 das auf die gesamte IPÖ ausstrahlt.2 Wie tief und weit reichend diese Zäsur die IPÖ in ihren Grundüberzeugungen herausfordert und neu positioniert, wird deutlich, wenn wir uns kurz grundlegende Strukturen dieser Teildisziplin anschauen. Die IPÖ entwickelt sich seit den 1970er Jahren im Rahmen der Internationalen Beziehungen (IB), als sich die Unzufriedenheit über die engen Grenzen, welche diese sich durch ihre Reduktion auf militärische Fragestellungen in den 1950er Jahren selbst gesteckt haben, in einen konzertierten Wiederbelebungsversuch der IPÖ übersetze. Sowohl der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems als auch die sozialen Folgen der zwei Ölkrisen verwiesen auf einen politischen Bereich jenseits der klassisch definierten internationalen Politik, der in seiner Prägnanz und Nachhaltigkeit zur Rekonzipierung disziplinärer Grenzen geradezu einlud. Gleichzeitig erlaubte die IPÖ eine Kritik am analogen Versuch seitens der Ökonomik internationale Wirtschaftsbeziehungen von politischen Fragestellungen lösen zu wollen. Mit anderen Worten, die Internationale Politische Ökonomie definiert sich über die Überzeugung, Probleme internationaler Beziehungen seien nicht im Gedankenkomplex geschlossener Systeme adäquat analysierbar, wie es Kenneth Waltz für die Politik oder Paul Samuelson für die Wirtschaftswissenschaften noch anstrebten.3 Vielmehr bedarf eine adäquate Analyse internationaler Beziehungen der Überwindung disziplinärer Grenzen. Folgerichtig platziert sich die Internationale Politische Ökonomie zwischen den Wirtschaftswissenschaften und der traditionellen Internationalen Politik. Ihre Vertreter, die aus der Theorie der internationalen Politik,4 der Wirtschaftsgeschichte,5 der neogramscianischen Rich1
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Karin Knorr-Cetina und Alex Preda (Hrsg.), The Sociology of Financial Markets (Oxford: Oxford University Press, 2004), Donald MacKenzie und Yuval Millo, „Constructing a Market, Performing Theory: The Historical Sociology of a Financial Derivatives Exchange“, American Journal of Sociology, Vol. 109 No. 1 (2003), Seite 107-45. Bezeichnenderweise sind die ersten Arbeiten zu einer konstruktivistischen IPÖ, die nun eine Prägekraft auf die gesamte Disziplin ausüben, aus dem Bereich der Finanzmärkte. Siehe z.B. Wesley Widmaier, „Keynesianism as a Constructivist Theory of the International Political Economy“ Millennium: Journal of International Studies, Vol. 32 No. 1 (2003), Seite 87-107. Paul A. Samuelson, Foundations of Economic Analysis (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1947), Kenneth Waltz, Theory of International Politics (Reading, Mass.: Addison-Wesley, 1979). Neben den frühen Vertretern des Realismus, vor allem neoliberal geprägte Autoren: Judith Goldstein und Robert O. Keohane, Ideas and Foreign Policy: Beliefs, Institutions, and Political Change (Ithaca: Cornell University Press, 1993), Robert O. Keohane, After Hegemony: Cooperation and Discord in the World Po-
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Einleitung
tung6 oder des Neomarxismus7 bzw. der Dependenztheorie8 stammen, verleihen ihr eine konstitutive Interdisziplinarität.9 Innerhalb dieser Rahmensetzung definiert sich die IPÖ als ein Komplex von Fragen, der sich aus dem Aufeinandertreffen von Hierarchie (Staat) und organisierter Anarchie (Markt) in einer Umwelt der unorganisierten Anarchie (internationales System) ergibt.10 Diese Definition, deren Geschichte sich grob anhand von drei zentralen Debatten nachvollziehen lässt, gibt bis heute die Entwicklungen des Fachs vor. Die erste Generation von Theorien der IPÖ, geprägt von Susan Strange, Robert Gilpin, Robert Keohane, John Ruggie und Friedrich Kratochwil, entwickelte sich aus der Regimedebatte der Internationalen Beziehungen heraus11 und ist durch die Diskussion um die ‚Theorie der Hegemonialen Stabilität’ geprägt.12 Diese Debatte konzentriert sich auf die Frage nach einer möglichen Rolle internationaler Regime innerhalb des anarchischen bzw. anomischen internationalen Systems. Das Grundphänomen der gesteigerten Interdependenz zwischen Staaten wird hier als eine zunehmende Herausforderung für die Existenz des
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litical Economy (Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1984). Siehe auch: Robert O. Keohane und Joseph S. Nye, Power and Interdependence: World Politics in Transition (Boston: Little Brown, 1977). Einen guten Überlick findet man in: Richard Stubbs und Geoffrey R. D. Underhill, Political Economy and the Changing Global Order (Don Mills, North York Ontario; New York: Oxford University Press, 2000), C. Roe Goddard, Patrick Cronin und Kishore C. Dash, International Political Economy: State-Market Relations in a Changing Global Order, 2. Edition, (Boulder, Colo.: Lynne Rienner, 2003), Jeffry A. Frieden und David A. Lake, International Political Economy: Perspectives on Global Power and Wealth, 4. Edition, (Boston: Bedford/St. Martin's, 2000). Barry J. Eichengreen, The Gold Standard in Theory and History (New York: Methuen, 1985). Barry J. Eichengreen, Globalizing Capital: a History of the International Monetary System. (Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1996), James Harold, International Monetary Co-operation since Bretton Woods (Washington: International Monetary Fund, 1996), Fred L. Block, Origins of International Economic Disorder (Berkeley: University of California Press, 1977). Robert W. Cox und Timothy J. Sinclair (Hrsg.), Approaches to World Order (Cambridge; New York: Cambridge University Press, 1996). Siehe auch: Timothy J. Sinclair und Kenneth P. Thomas, Structure and Agency in International Capital Mobility (Houndmills, Basingstoke, Hampshire; New York: Palgrave, 2001). Terence K. Hopkins und Immanuel Maurice Wallerstein, World-Systems Analysis: Theory and Methodology (Beverly Hills, Calif.: Sage Publications, 1982) und insbesondere Maurice Wallerstein, The Modern WorldSystem: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century (New York: Academic Press, 1976). Für einen Überblick siehe David G. Hays, An Annotated Bibliography of Publications on Dependency Theory (Santa Monica, Calif.: Rand Corp, 1965). Carlos Johnson, Dependency Theory and the Capitalist/Socialist Process (Montreal: Centre for Developing-Area Studies McGill University, 1979) Dudley Seers, Dependency Theory: a Critical Reassessment (London: Pinter, 1981). Dabei wird eine zunächst vom Realismus geprägte Forschungsfrage nicht verneint. Siehe vor allem die herausragenden Mitbegründer des Fachs: Robert Gilpin, Technology, Economic Growth, and International Competitiveness (Washington: U.S. Govt. Print. Off, 1975), Robert Gilpin, The Political Economy of International Relations (Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1987), Susan Strange, States and Markets (London: Pinter Publishers, 1994), Susan Strange, Paths to International Political Economy (London; Boston: G. Allen & Unwin, 1984), Susan Strange, Sterling and British policy: a Political Study of an International Currency in Decline (Oxford: Oxford University Press, 1971). Für eine Diskussion über den Neorealismus siehe vor allem David A. Baldwin, Neorealism and Neoliberalism : The Contemporary Debate (New York: Columbia University Press, 1993) und Robert O. Keohane (Hrsg.), Neorealism and Its Critics (New York: Columbia University Press, 1986). Siehe Robert Gilpin, The Political Economy of International Relations, op. cit., Seite 8. Andreas Hasenclever, Peter Mayer und Volker Rittberger, Theories of International Regimes (Cambridge; New York: Cambridge University Press, 1971), Volker Rittberger und Peter Mayer, Regime Theory and International Relations, (Oxford: Oxford University Press, 1993). Siehe zum Beispiel hierfür Isabelle Grunberg, „Exploring the Myth of Hegemonic Stability” International Organization, Vol. 44, No. 4. (1990), Seite 431-477 und Susan Strange, „The Persistent Myth of Lost Hegemony”, International Organization, Vol. 41, No. 4. (1987), Seite 551-574.
Einleitung
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Nationalstaates selbst verstanden. Diese Herausforderung bestimmt den Grundtenor der Debatte, in der sich Staaten und Märkte diametral gegenüber stehen. Für die Befürworter der Globalisierung zeigt der Nationalstaat erste Auflösungserscheinungen. Er sei für die großen Probleme zu klein und für die kleinen Probleme zu groß geworden.13 Für die Kritiker sitzt der Nationalstaat hingegen immer noch im ‚Fahrersitz der Globalisierung’.14 Mit den Beiträgen von Philip Cerny15 setzt eine Veränderung dieser Debatte ein. Die Opposition zwischen Staat und Markt wird zugunsten einer pluralistischen Sicht aufgegeben.16 Multinationale Unternehmen sowie Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen versuchen öffentliche Güter bereitzustellen, deren Struktur sich durch die technischen Rahmenbedingungen verändert.17 Dabei wird in dieser Debatte zwischen einem Keynesianischen und Schumpeter-Wohlfahrtstaat unterschieden. Diesen unterschiedlichen Typen von Wohlfahrtsstaaten korrespondieren je spezifische Produktionsweisen (Fordismus vs. Post-Fordismus/Wissensbasierte Produktion). Neuere Beiträge zu dieser Debatte beobachten eine Veränderung vom Wohlfahrtsstaat zum ‚Wettbewerbsstaat’18 – mit der Konsequenz, dass nicht mehr ‚Government’, sondern nur noch ‚Governance’ möglich sei.19 Die dritte Debatte entzündet sich an der post-positivistischen Wende,20 die mit einer soziologischen,21 linguistischen,22 ästhetischen,23 rhetorischen,24 oder historiographischen25 13 14
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Siehe z.B. Susan Strange, The Retreat of the State, (Cambridge: Cambridge University Press, 1986), Kenichi Ohmae, The End of the Nation State (New York: Free Press, 1995), Robert Gilpin, The Political Economy of International Economic Relations, op. cit. Eric Helleiner, States and the Reemergence of Global Finance: From Bretton Woods to the 1990s (Ithaca: Cornell University Press, 1994), Paul Hirst und Gerald Thompson, Globalization in Question: The International Economy and the Possibility of Governance (London: Polity Press, 1996), John Zysman „The Myth of a Global Economy: Enduring Foundations and Emerging Regional Realities”, New Political Economy, Vol. 1 No. 2 (1996), Seite 157 – 84 und Linda Weiss, The Myth of the Powerless State (Ithaca: Cornell University Press, 1998). Philip G. Cerny, The Changing Architecture of Politics: Structure, Agency, and the Future of the State (London: Sage, 1990), Philip G. Cerny, Finance and World Politics: Markets, Regimes, and States in the Post-Hegemonic Era (Aldershot: E. Elgar, 1993). Natürlich lassen sich die Veränderungen der Debatte anhand der Autoren nur ungenau abstecken. So war vor allem Susan Strange auch für die zweite Debatte tonangebend, siehe insbesondere The Retreat of the State op.cit. Philip G. Cerny, „Globalization and the Changing Logic of Collective Action“, International Organization, Vol. 49 No. 4 (1995), Seite 595 – 625. An dieser Stelle wird auch die Varieties of Capitalism Diskussion relevant. Siehe hierfür u.a. John Zysman, Governments, Markets, and Growth : Financial Systems and the Politics of Industrial Change, Cornell Studies in Political Economy (Ithaca N.Y.: Cornell University Press, 1983) und Peter A. Hall und David W. Soskice (Hrsg.), Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage (Oxford: Oxford University Press, 2001). Siehe zum Beispiel Majone Giandomenico, Deregulation or Re-Regulation? : Regulatory Reform in Europe and the United States (London: St. Martin’s Press, 1990). James N. Rosenau und Ernst Otto Czempiel, Governance without Government : Order and Change in World Politics (Cambridge: Cambridge University Press, 1992). Siehe aber auch: Robert O’Brien et. al., Contesting Global Governance: Multilateral Economic Institutions and Global Social Movements (Cambridge: Cambridge University Press, 2000) und Rorden Wilkinson und Steve Hughes, Global Governance: Critical Perspectives. (London: Routledge, 2002). Für die hier vertretene Auffassung des Positivismus siehe Mark Neufeld, Restructuring of International Relations Theory (Cambridge: Cambridge University Press, 1995), Kapitel 2. Stefano Guzzini, „A Reconstruction of Constructivism in International Relations“, European Journal of International Relations, Vol. 6 No.2 (2000), Seite 147 – 182. Richard Rorty (Hrsg.), The Linguistic Turn: Recent Essays in Philosophical Method (Chicago: Chicago University Press, 1967). Roland Bleiker, „The Aesthetic Turn in International Political Theory”, Millennium: Journal of International Studies, Vol. 30 No. 3 (2001), Seite 509-533.
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Einleitung
Umstellung der Prämissen identifiziert wird und so zu einem wissenschaftstheoretischen Pluralismus führt.26 Mit der post-positivistischen Wende übersetzt sich die These der sozialen Konstruktion von Welt in eine Loslösung von der konstitutiven Staat-Markt Unterscheidung,27 da es logisch inkonsistent ist, die ko-evolutionären Veränderungen von Staaten und Märkten analysieren zu wollen und dabei gleichzeitig bei der Selbstbeschreibung von gegebenen Staaten und Märkten auszugehen. In diesem Sinne versuchen gerade neuere Beiträge eine Neudefinition der IPÖ. Während in den ersten zwei Debatten Politische Ökonomie als die Analyse politischer Ursachen ökonomischer Dynamiken verstanden wurde,28 tendieren neuere Arbeiten dazu, die Politische Ökonomie als eine besondere Kritikform anzusehen, die die vermeintliche angenommene Objektivität des polit-ökonomischen Vokabulars hinterfragt. Damit wird eine funktional bestimmte Expertise durch Disziplinen – und damit eine einfache Legitimationsbasis ökonomischen Wissens auf der Grundlage eines ‚besseren’ Wissens ökonomischer Sachverhalte – in Zweifel gezogen. Vielmehr wird über eine Analyse der konstitutiven Grenzziehungen die Art und Weise des Sprechens und Schreibens der Disziplinen genau als disziplinäre Kraft problematisiert.29 Das bedeutet jedoch bezogen auf den Gegenstand dieser Untersuchung: wenn die Asienkrise zu einer Öffnung der IPÖ für konstruktivistische Theoriebildung führt, dann muss letztlich genau dieser Schritt einer ‚Endogenisierung’ der Staat-Markt Unterscheidung und damit einer Neubestimmung der IPÖ selbst vorgenommen werden. Diese ‚Kritik’ bezieht sich auch auf den Versuch, ökonomische Modelle, samt der ihnen eingeschriebenen Semantik, für eine Beschreibung politischer Prozesse nutzbar zu machen. Die Radikalität dieser Forderung – und damit die Anforderungen, die eine konstruktivistische Analyse der Asienkrise stellt – wird erst ersichtlich, wenn man sich nochmals vor Augen führt, wie sehr die Diskussionen in den IB und der IPÖ durch ökonomische Modelle geprägt ist. Sei es durch Analogien, wie die mit der Theorie der Firma bei Kenneth Waltz oder der Konsumententheorie bei Robert Gilpin, oder durch die direkte Anwendung ökonomischer Methoden wie in der Spieltheorie. Umso mehr drängt sich die erst in Konturen sichtbare Frage auf, wie eine auf dem Konstruktivismus aufbauende IPÖ überhaupt 24 25 26
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Herbert W. Simons (Hrsg.), The Rhetorical Turn: Invention and Persuasion in the conduct of Inquiry (Chicago: Chicago University Press, 1990). Auch: Josef Kopperschmidt (Hrsg.), Politik und Rhetorik (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995). Siehe vor allem Duncan S. A. Bell, „International Relations: The Dawn of a Historiographical Turn?”, British Journal of Politics and International Relations, Vol. 3 No. 1 (2001), Seite 115 – 126, der in der Nähe zu Quentin Skinner argumentiert. Für einen Überblick siehe beispielsweise: Yosef Lapid, „The Third Debate: On the Prospects of International Theory in a Post-Positivist Era“, International Studies Quarterly, Vol. 33 No. 3 (1989), Seite 235-254; für das heute sehr weit verbreitete Selbstbildnis der Theorie der Internationalen Politik in die berühmten drei Debatten siehe Steve Smith, „The Self Image of a Discipline: A Genealogy of International Relations Theory Today“, in: Ken Booth and Steve Smith (Hrsg.), International Relations Today (Cambridge: Polity Press, 1995), Seite 1-37 und Steve Smith, „Positivism and Beyond“, in: Steve Smith u.a. (Hrsg.), International Theory: Positivism and Beyond (Cambridge: Cambridge University Press, 1996), Seite 11-44. Ben O’Loughlin, „Conceptions of the Political and the Economic in Post-States and Markets International Political Economy”, Review of International Political Economy, Vol. 9 No. 2 (2002). Barry Eichengreen, Globalizing Capital: A History of the International Monetary System (Princteon: Princeton University Press, 1994), Kapitel 8; Eric Helleiner, States and the Reemergence of Global Finance: From Bretton Woods to the 1990s (Ithaca: Cornell Universty Press, 1994), Seite 207. Jacqueline Best, The Limits of Transparency: Ambiguity and the History of International Finance (Ithaca: Cornell University Press, 2005), Marieke de Goede, Virtue, Fortune and Faith (Minnesota: University of Minnesota Press, 2005), Timothy J. Sinclair, The New Masters of Capital: American Bond Rating Agencies and the Politics of Creditworthiness (Ithaca: Cornell University Press, 2005).
Einleitung
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aussehen kann. Diese Frage ist schon deswegen schwierig zu beantworten, weil die vorgelagerte Frage, was denn nun eigentlich den Konstruktivismus von anderen Ansätzen unterscheidet, keine konsistente Antwort erfährt. So findet man auf der einen Seite einen gemäßigten Konstruktivismus von Alexander Wendt, Emanuel Adler und Thomas Risse.30 Sie gehen von einem Primat ontologischer Fragen aus und versuchen den Positivismus und Konstruktivismus miteinander ins Gespräch zu bringen. Checkel beispielsweise streicht folgende Punkte für diesen Strang des Konstruktivismus als bedeutsam heraus: „It is important to note that constructivists do not reject science or causal explanation; their quarrel with mainstream theories is ontological, not epistemological. The last point is key, for it suggests that constructivism has the potential to bridge the still vast divide separating the majority of IR theorists from postmodernists. With the latter, constructivists share many substantive concerns (role of identity and discourse, say) and a similar ontological stance; with the former they share a largely common epistemology. Constructivists thus occupy a middle ground between rational choice theorists and postmodern scholars.”31
Dagegen betonen John Gerard Ruggie, Nicholas Onuf, Stefano Guzzini und Friedrich Kratochwil32 die epistemologische Dimension, um sich damit vom ontologischen Denken des wissenschaftlichen Realismus abzusetzen. Das Projekt des Konstruktivismus ist hier als die Ablösung der cartesianischen Philosophie und ihrer Kategorien zu verstehen. Die strikte Trennung von Leib und Seele, Subjekt und Objekt, von Sein und Sollen, und deren Weiterentwicklungen in der Subjektphilosophie in Form einer Bewusstseinsimmanenz innerhalb der Philosophie werden mit Bezug auf die Sprache überwunden. In Folge dessen findet eine Umorientierung von Identität auf Differenz statt. Erkenntnis ist kein gegenständlicher Prozess, in dem wir uns fest vorgegebenen Identitäten gleichsam wie Gegenständen oder Per30
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Siehe zum Beispiel Emmanuel Adler, „Seizing the Middle Ground: Constructivism in World Politics“, European Journal of International Relations, Vol. 3 No.3 (1997), Seite 319 – 63, Thomas Risse-Kappen, „Ideas do not Float Freely: Transnational Coalitions, Domestic Structures, and the End of the Cold War”, International Organization, Vol. 38 No. 2 (1994), Seite 185 – 214 und Alexander Wendt, Social Theory of International Politics (Cambridge: Cambridge University Press, 1999). Jeffrey Checkel, „The Constructivist Turn in International Relations”, World Politics, Vol. 50 No. 2 (1998), Seite 327. Für die Frage, in wie weit sich Konstruktivismus und Positivismus unterscheiden siehe Gunther Hellmann (Hrsg.), „Are Dialogue and Synthesis Possible in International Relations?“ International Studies Review Vol. 5 No. 1 (2003), Seite 124 – 151, Friedrich Kratochwil, „Constructivism as an Approach to Interdisciplinary Study,” in: Karin M. Fierke und Knud Erik Joergensen (Hrsg.). Constructing International Relations: the next generation. (Armonk, N.Y./London: M.E. Sharpe, 2001), Seite 13-35. Siehe John Gerard Ruggie, „What Makes the World Hang Together? Neo-utilitarianism and the Social Constructivist Challenge”, International Organization, Vol. 52 No. 4 (Autumn 1998), Seite 855-885, Nicholas G. Onuf, World of Our Making: Rules and Rule in Social Theory and International Relations (Columbia: University of South Caroline Press, 1989), Stefano Guzzini, „A Reconstruction of Constructivism in International Relations”, European Journal of International Relations, Vol. 6 No. 2 (June 2000), Seite 147- 182 und Friedrich Kratochwil, „Constructing a New Orthodoxy? Wendt’s ‘Social Theory of International Politics’ and the Constructivist Challenge“, Millennium: Journal for International Relations, Vol. 29 No. 1 (2000), Seite 1- 25. Siehe auch die sehr gute Analyse von Karin Fierke, „Links Across the Abyss: Language and Logic in International Relations.“ International Studies Quarterly Vol. 46 No. 2 (2002), Seite 331- 351. Eine allgemeine Einführung in den Konstruktivismus bieten Heinz von Förster, Ernst von Glasersfeld, Peter M Heijl, Siegfried J. Schmidt und Paul Watzlawick, Einführung in den Konstruktivismus, 6. Auflage (München: Pieper 2002). Für eine Kritik siehe Maja Zehfuß, „Constructivism and Identity“ European Journal of International Relations Vol. 7 No.3 (2001), Seite 315-348 und Ole Jacob Sending „Constitution, Choice and Change: Problems with the ‚Logic of Appropriateness’ and its Use in Constructivist Theory.“ European Journal of International Relations Vol. 8 No. 4 (2002), Seite 443-470.
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sonen nähern. Um überhaupt erkennen zu können, müssen Dinge voneinander abgegrenzt und unterschieden werden. Jeder Antwort auf die Frage was ist gehen qualitative Grenzziehungen, Kategorisierungen, voraus, die diesen Gegenstand konstruieren. Eine konstruktivistische Epistemologie, die Selbstreferenz und Reflexivität von sozialen Kategorien nicht einbezieht, bleibt unvollständig.33 Wie Michael Polanyi betont: „As human beings, we must inevitably see the universe from a centre lying within ourselves and speak about it in terms of a human language shared by the exigencies of human intercourse. Any attempt rigorously to eliminate our human perspective from our picture of the world must lead to absurdity.”34 Die Sprache als Grenze unseres Wissens erlaubt zwar die Spekulation über das ‚Ding an sich’, jedoch sind wir nicht in der Lage dieses wahre Ding, die endgültige Wahrheit jemals zu erkennen. Diese Sicht bringt Nick Onuf auf den Punkt, wenn er schreibt „we construct worlds we know in a world we do not.”35 Denn jeder Versuch eines ‚Fortschritts’, einer Annäherung an die Wahrheit ist letztlich in den gleichen sprachlichen Grenzen gefangen, wie Thomas Kuhn treffend zeigte.36 Aus diesem Grund betonen radikalere Konstruktivisten eine begriffsorientierte Rekonstruktion der Bedingungen der Möglichkeit von Praktiken, in denen Sinn – und damit die Welt, die wir kennen, erst entstehen.37 Diese Zweiteilung des Konstruktivismus in eine moderaten und eine radikale Variante führt dazu,38 dass die Frage nach einer konstruktivistischen IPÖ sich in drei Dimensionen ausdifferenziert: zum einen die Frage nach den Grenzziehungen des Konstruktivismus im Allgemeinen, zweitens die Frage nach der Selbstbeschreibung der IPÖ, und drittens die Analyse der Finanzmärkte selbst. Entsprechend versucht diese Arbeit diese drei Dimensionen gleichzeitig im Blick zu behalten und unterbreitet dabei folgende Vorschläge: Zu 1. Wie gerade gezeigt, führt die dritte Debatte und der allgemeine Wandel vom Positivismus zu post-positivistischen Ansätzen innerhalb der Internationalen Beziehungen bzw. der Internationalen Politischen Ökonomie zu einer Verflüssigung der genauen Grenzen zwischen Konstruktivismus, Positivismus und der Postmoderne. Hier argumentiere ich, dass die Unterschiede zwischen Positivismus und Konstruktivismus ernst zu nehmen und nicht über eine Position des Mittelwegs zu verwischen sind. Über eine durch die System33 34 35 36 37 38
Bezeichnenderweise wird dies mit Steve Fuller als soziale Epistemologie bezeichnet. Siehe Steve Fuller, Social Epistemology, 2. Edition, (Bloomington: Indiana University Press, 2002). Siehe auch David Bloor, Wittgenstein: A Social Theory of Knowledge (New York: Columbia University Press, 1984). Michael Polanyi, Personal Knowledge: Towards a Post-Critical Philosophy (Chicago: Chicago University Press, 1958), Seite 3. Nicholas Onuf, World of Our Making: Rules and Rule in Social Theory and International Relations (Columbia: University of South Caroline Press, 1989), Seite 38. Siehe Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (Chicago: Chicago University Press, 1962). Siehe Stefano Guzzini, „The Concept of Power: a Constructivist Analysis”, Millennium: Journal of International Studies, Vol 33 No. 3 (2005), Seite 510. Die zwei sich gegenseitig ausschliessenden Ansätze lassen sich auch anhand der Agent-Struktur Debatte festmachen. Dabei beziehen sich moderate Konstruktivisten explizit auf die Agent-Struktur Problematik, um den Konstruktivismus als einen Vermittler zwischen dem Positivismus und der Postmoderne zu platzieren. Während der Konstruktivismus die intersubjektive Ontologie mit der Postmoderne teilen würde, würde sich diese Ontologie jedoch nicht in eine inter-subjektive Epistemologie übersetzen. Diese Positionierung sehen radikalere Konstruktivisten als problematisch an. Vielmehr fokussieren sie auf die gegenseitige Konstitution von Ordnung und Sprache, um die Prozesse von semantischen Wandel und der Konstitution gesellschaftlicher Realität zu analysieren Siehe vor allem hier tonführend Alexander Wendt, „The Agent-Structure Debate in International Relations Theory“, International Organization, Vol. 41 No. 3 (1987), Seite 335- 370. Siehe auch David Dessler, „What’s at Stake in the Agent-Structure Debate“, International Organization Vol. 43 No. 3 (1989), insbesondere Seite 453.
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theorie inspirierte Analyse von Wahrscheinlichkeitstheorien zeige ich, dass dies auf eine begrifflich konsistente Weise auch gar nicht möglich ist. Denn ein solcher Mittelweg würde unterschiedliche Logiken miteinander verbinden und so zu einem Kategorienfehler führen, bei dem die intersubjektive Ontologie in einem Widerspruch zur individualistischen Epistemologie steht. Entsprechend schlage ich vor, die Systemtheorie für die begriffsorientierte Rekonstruktion von Praktiken konstitutiver Grenzziehungen nutzbar zu machen. Eine konstruktivistische IPÖ hat demnach die primäre Aufgabe, zu einem alternativen Verständnis zentraler polit-ökonomischer Konzepte zu gelangen. An dieser Stelle wende ich mich dem Risikobegriff zu und greife auf die allgemeine Sozialtheorie des Risikos zurück.39 Gerade jüngere Arbeiten zum Begriff des Risikos lösen diesen Begriff zunehmend aus dem Verständnis einer von den gesellschaftlichen Bedingungen und Kontexten unabhängigen dinghaften Erkenntnis heraus, um die gesellschaftstheoretische Dimension dieses Begriffs zu betonen. Damit wird gezeigt, dass sich zum einen die Risikosemantik mit den gesellschaftlichen Ordnungen verändert, zum anderen aber auch die Grenze zwischen der territorialen und der funktionalen Ordnung neu verhandelt wird. Denn in einer ‚Weltgesellschaft’, in der sich die zuvor national formierten Funktionssysteme aus den Grenzen des Nationalstaates herauslösen und in einem globalen Kontext neu vernetzen, verändern sich die Rahmenbedingungen des politischen Lebens.40 Nachdem der Nationalstaat sein Recht auf die letzte Interpretation von Daten verloren hat und damit nicht mehr die letzte Instanz der Genese, Akzeptanz und Rechtfertigung von Wissensansprüchen darstellen kann, rücken internationale Autoritätsstrukturen ins Blickfeld.41 Hier beanspruchen vor allem RatingAgenturen, global agierende Unternehmen, Medienkonzerne, Investmentbanken, Beraterfirmen und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, Nichtregierungsorganisationen, intergouvernementale Organisationen wie die WTO, sowie ein sich global konstituierendes Universitätssystem das Recht auf Interpretation und Wissensschaffung. Diese Heterogenität der 39
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Für erste deutschsprachige Einführungen in die interdisziplinäre Risikoforschung siehe Gotthard Bechmann (Hrsg.), Risiko und Gesellschaft. Grundlagen und Ergebnisse interdisziplinärer Risikoforschung (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1993), Wolfgang Krohn und Georg Krücken (Hrsg.), Riskante Technologien: Reflexion und Regulation: Einführung in die sozialwissenschaftliche Risikoforschung (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993), Sheldon Krimsky und Dominic Golding (Hrsg.), Social Theories of Risk (London: Preager, 1992). Richard C. Schwing und Walter A. Albers (Hrsg.), Societal Risk Assessment: How Safe is Safe enough? (New York: Plenum Press, 1980) und Klaus Peter Japp, Risiko (Bielefeld: Transcript, 2000). Sozialtheoretische Überlegungen zu Risiko finden sich vor allem in Deborah Lupton, Risk and Sociocultural Theory: New Directions and Perspectives (Cambridge: Cambridge University Press, 1999), Barbara Adam, Ulrich Beck, Jan Van Loom (Hrsg.), The Risk Society and Beyond: Critical Issues for Social Theory (London: Sage, 2000) und Niklas Luhmann Soziologie des Risikos (Berlin: de Guyter, 1991). Eine kurze Zusammenfassung ist zu finden unter Niklas Luhmann „Risiko und Gefahr,“ in Wolfgang Krohn und Georg Krücken (Hrsg.), Riskante Technologien: Reflexion und Regulation (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993), Seite 138-85. Die Einführung von ‚Risiko’ in das Fach der Internationalen Beziehungen erfolgt unter anderem in Christopher Daase et. al. (Hrsg.), Internationale Risikopolitik: Der Umgang mit neuen Gefahren in den Internationalen Beziehungen, (Baden Baden: Nomos, 2002). Für einen geschichtlichen Überblick siehe Peter L. Bernstein, Against the Gods: The Remarkable Story of Risk (New York: Wiley, 1996). Für eine aktuelle Diskussion siehe Helmut Willke, Atopia: Studien zur atopischen Gesellschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001). ders., Dystopia: Zur Krisis der atopischen Gesellschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002). Dies wird in der Theorie der Internationalen Politischen Ökonomie unter dem Stichwort der ‚privaten Autorität’ behandelt. Siehe A. Claire Cutler, Virginia Haufler und Tony Porter (Hrsg.), Private Authority in International Affairs (New York: State University of New York Press, 1999), sowie A. Claire, Cutler, „Locating ‘Authority’ in the Global Political Economy”, International Studies Quarterly, Vol. 43 No. 1 (1999), Seite 59 – 81.
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Wissensinstitutionen spannt das Netz auf, in dem mögliche „Modelle, Einrichtungen und Regelsysteme“42 diskutiert werden können. Wenn Louis Pauly fragt: ‚Who elected the bankers?’, ist die politische Implikation dieser Entwicklung auf den Punkt gebracht.43 Ebenso tragen neue technologische Entwicklungen dazu bei, dass Fragen der Veränderung von intellektuellen Eigentumsrechten, der Möglichkeit einer Wissensgesellschaft und ihrer politischen Folgen, der Rolle des ökonomischen Diskurses für wirtschaftliche Zusammenarbeit,44 sowie der veränderten Legitimationsbasis internationaler Akteure45 zum Gegenstand der Betrachtung werden.46 Diese Veränderungen führen zu einer Überlagerung von segmentären und der funktionalen Formen der Differenzierung und damit zu Konflikten zwischen territorialen und funktionalen Grenzen, die über risikobasierte Argumentationen neu verhandelt werden. Zu 2. Diese neuen internen Grenzverschiebungen zwischen der segmentären und der funktionalen Differenzierung erlauben und erfordern die Einbettung der IPÖ in einen gesellschaftstheoretischen Rahmen, der zwar als Versprechen der IPÖ formuliert, bis heute jedoch nicht eingelöst wurde.47 Auf dieser Basis lassen sich auch grundsätzliche Überlegungen zur allgemeinen These der ‚sozialen Konstruktion’ der Wirklichkeit durch genauere Analysen der Bedeutung eben des Sozialen und der Intersubjektivität weiter präzisieren. Diese Überlegungen sind sowohl für die IB als auch für die IPÖ relevant und zeigen doch gleichzeitig, dass die konstruktivistische Suche innerhalb der IPÖ nach einem Selbstverständnis jenseits der Unterscheidung von Staat und Markt auch die künstliche Grenze zwischen IB und IPÖ einreißt. Hier plädiere ich für eine gesellschaftstheoretische Perspektive, in der die IPÖ sich als eine reflexive Analyse von disziplinären Argumentationsstrukturen versteht.48 Diese Definition lenkt den Fokus auf die performative Dimension von Argumentationen. Wenn Fakten ein Produkt derjenigen grenzziehenden Prozesse sind, durch die sie erkannt, klassifiziert und kategorisiert werden, zeigt sich über eine Analyse dieser Grenzziehungen, wie Modelle nicht gegen eine externe Realität getestet werden, sondern in der Tat ihre eigene Realität kreieren. Dies eröffnet die Frage, anhand welcher Unterscheidungen Risikomodelle ‚ihre eigene Realität’ kreieren und damit die segmentäre Ordnung neu definieren.49 Dieser genuin politische Prozess lässt sich durch eine Rekonstruktion des funktio42 43 44 45 46
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Helmut Willke, Atopia: Studien zur atopischen Gesellschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000), Seite 148. Louis W. Pauly, Who Elected the Bankers? Surveillance and Control in the World Economy (Ithaca: Cornell University Press, 1997). Peter A. Hall (Hrsg.), The Political Power of Economic Ideas: Keynesianism across Nations (Princeton: Princeton University Press, 1989). Louis W. Pauly, Who Elected the Bankers: Surveillance and Control in the World Economy (Ithaca: Conrell University Press, 1997). Charlie Dannreuther und Rohit Lekhi, „Globalization and the Political Economy of Risk“, Review of International Political Economy, Vol. 7 No. 4 (2000), Seite 574 – 594. Für eine Diskussion zu Risiko siehe auch Alexander Wendt, „Driving with the Rearview Mirror: On the Rational Science of Institutional Design“, International Organization Vol. 55 No. 4 (2001), Seite 1019-1049. Susan Strange, 1994, op. cit., Kapitel 1, Robert Gilpin, 1987, op. cit., Kapitel 1, Siehe hierfür auch Karl Polanyi, The Great Transformation (Toronto: Farrar & Rinehart inc., 1944). Siehe Stefano Guzzini, „A Reconstruction of Constructivism in International Relations”, op.cit. Hier schließt die Diskussion an zwei Knotenpunkte an: Zum einen kann nach der Rolle von ‚Ideen’ im generellen Sinne gefragt werden. Im engeren Sinn nimmt diese Arbeit an dieser Stelle auf eine Diskussion bezug, die in den letzten Jahren als Performativity – Debatte behandelt wird. Die zentrale Frage lautet hier mit welchen Folgen Theorien performed – reproduziert und angewendet werden. D.h. auch, wie sich Theorien ihre eigne Realität schaffen und diese nicht einfach abbilden. Siehe hierfür Judith Butler, Excitable Speech: a Politics of the Performative (London: Routledge, 1997), Donald Mc Kenzie und Yuval Millo, „Negotiating a Market, Performing Theory: The Historical Sociology Of a Financial Derivates Exchange”, op.cit.
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nalen Zusammenhangs von Semantik und Sozialstruktur analysieren. Überleitend zur Frage nach den Finanzmärkten, stellt sich hier als prominentes Beispiel die Frage nach dem politischen Argument, die Instabilität der Finanzmärkte, bzw. die Existenz von Systemrisiken, sei auf eine asymmetrische Informationsverteilung zurückzuführen. Die performative Dimension des Risikodiskurses lässt sich anhand der Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen rekonstruieren. Diese Unterscheidung bietet sich an, da die Rede vom Risiko genau diese Grenze bezeichnet. In diesem Verständnis bestimmen Institutionen wie und welches Nichtwissen in Wissen, wie das Unbekannte in das Bekannte überführt wird. Wie Wissen und Nichtwissen sind demnach die beobachteten und die ignorierten Risiken in einen gesellschaftlichen Diskurs eingebunden, der Praktiken, Akteure und Organisationen konstituiert. Indem diese Akteure eine noch unbekannte Zukunft interpretieren, strukturieren und in Entscheidungsprobleme und institutionelle Entscheidungen übersetzen, wird der politische Möglichkeitsraum konstruiert. Hiermit kann die Frage nach der Finanzstabilität präzisiert werden: Welche Formen von Wissen und Nichtwissen sind in die Definition systemischer Risiken als Resultat der asymmetrischen Informationsverteilung eingeschrieben, wie strukturiert diese Definition den Möglichkeitsraum und welches Wissen wird hierbei ausgeschlossen? Zu 3. Anhand des empirischen Phänomens der Währungskrisen und der anschliessenden Diskussion um die Reformierung der Finanzmärkte zeigt sich, dass der von den radikalen Konstruktivisten identifizierte Konflikt zwischen Ontologie und Epistemologe innerhalb moderaterer Ansätze auch empirische Relevanz entfaltet: Der Konflikt zwischen intersubjektiver Ontologie und subjektivistischer Epistemologie übersetzt sich hier in die Unterscheidung von universeller Gültigkeit mathematischer Logik und das kontextabhängige Wissen der Praxis. Über die Definition von Systemrisiken als Resultat asymmetrischer Informationsverteilung erfolgt der Wiedereintritt der Unterscheidung in die Unterscheidung auf der Seite des Universalismus – und daher auf der Seite ökonomischer Rationalität. Aus dem Blick fallen damit jedoch kategoriale Verschiebungen aufgrund einer sich abzeichnenden Ablösung der segmentären Ordnung. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Positivismus und der Konstruktivismus von zwei vollständig unterschiedlichen Systemverständnissen und daher von zwei unterschiedlichen Konzeptionen von Stabilität ausgehen. Innerhalb positivistischer Theoriebildung wird das internationale System als die Summe der Einzelteile definiert. Das primäre Problem der Politik besteht aus diesem Grund im Management der Grenzen zwischen territorial verfassten Staaten. Die Frage nach der Stabilität im internationalen System übersetzt sich hier immer in eine Art Gleichgewicht, in einen stabilen Zustand. Radikalkonstruktivistische Ansätze betonen dagegen die selbstreferenzielle Strukturbildung. Das bedeutet, dass sich die Dynamiken und Veränderungen im Finanzmarkt durch das System gegenseitiger Beobachtungen und Erwartungen der Teilnehmer ergeben. Der selbstreferenzielle Reproduktionsprozess der Finanzmärkte führt zu einem prozessorientierten Stabilitätsbegriff, der gleichzeitig eine zweifache ökonomische Reduktion der aktuellen Diskussion identifiziert: zum einen sind Finanzmärkte nicht ein Problem der Information, sondern des (Nicht)Wissens, zum anderen ist die Idee der Asymmetrie allein schon aus evolutionären und heterodoxen Gesichtspunkten ein selbstverständliches Resultat von Lernen und Kommunikation: Jede Kommunikation setzt eine asymmetrische Informationsverteilung voraus. Um diese drei Dimensionen zu verfolgen gehe ich wie folgt vor: Das erste Kapitel beschreibt die durch den Konstruktivismus vorangetriebene gesellschaftstheoretische Öffnung
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der IB und IPÖ. Das Grundproblem liegt darin, dass zwischen gesellschaftstheoretischen Kategorien, die vor dem Erfahrungshintergrund des Nationalstaats formuliert worden sind und einer von der Anarchie geprägten Theorie des Internationalen eine Sozialtheorie des Internationalen bis heute fehlt. Dieses Kapitel stellt die Grenzen und Möglichkeiten der Systemtheorie für eine soziologische Theorie des Internationalen dar. Das zentrale Argument kann wie folgt formuliert werden: Die Systemtheorie Luhmanns vereint alle Hoffnungen und Enttäuschungen. Sie ist Hoffnung, da ihr Theoriegebäude über die System/Umwelt-Unterscheidung eine echte Alternative zu IB-Theorien darstellt, welche die soziologische Öffnung über die Integrationsproblematik von Teilen zu einem Ganzen verfolgen. Sie enttäuscht jedoch in ihrer politischen Soziologie, wie sie von Luhmann skizziert wurde, da diese untrennbar mit dem Staat verwoben ist und die ‚IB’ erstaunlich unbeobachtet bleibt. Jedoch kann meines Erachtens die Hoffnung überwiegen, wenn man innerhalb der Systemtheorie zwei Politikbegriffe unterscheidet. Während der erste Politikbegriff sich an der Politischen Soziologie orientiert, stellt der zweite Politikbegriff die Konstruktion des Möglichkeitsraumes durch Argumentationen in den Vordergrund. Dieser zweite Politikbegriff lässt sich aus den konstruktivistischen Annahmen der Systemtheorie ableiten und fragt nach dem Zusammenhang von Semantik und Sozialstruktur. Das zweite Kapitel bietet einen Überblick über das Phänomen der Währungskrisen. Die Frage nach den Währungskrisen untergliedert sich in die zwei Teilaspekte ‚Auslöser’ und ‚Ausbreitung’. Zuerst differenzieren sich in der ökonomischen Diskussion drei Generationen von Währungskrisenmodellen heraus. Nach Modellen der ersten Generation sind Währungskrisen auf eine zum festen Wechselkurs widersprüchliche makroökonomische Wirtschaftspolitik zurückzuführen. Die Währungskrise kündigt sich in den Fundamentaldaten als ein Mix von steigendem realen Wechselkurs, einem defizitären Staatshaushalt, steigendem Geldangebot und abnehmenden Devisenreserven ab. Die Modelle zweiter Generation führen die Währungskrisen auf eine selbsterfüllende Prophezeiung zurück, in der sich die Verschlechterung der Erwartungen internationaler Investoren ex post selbst bewahrheiten kann. Mit der Asienkrise kommt eine dritte Generation von Modellen auf. Hier steht die politische Rahmensetzung – genauer: eine unzulängliche staatliche Regulierung – im Mittelpunkt. Im zweiten Abschnitt wird die Phänomenologie der Krisenausbreitung anhand der möglichen Kanäle von Realwirtschaft, Finanzmärkten und Politiksystem analysiert. Dabei werden Prozesse selbstreferenzieller Strukturbildung auf drei Ebenen identifiziert: zum einen wird betont, dass ökonomische Phänomene aus dem System gegenseitiger Erwartungen der Akteure und nicht aus der Beobachtung der Fundamentaldaten selbst resultieren. Das heißt zweitens, dass die Antizipation der Akteure über mögliche zukünftige Gegenwarten selbst auf das gegenwärtige Verhalten rückwirkt und eine Dynamik der selbsterfüllenden Prophezeiung auslöst. Drittens zeigt sich vor allem bei der Ausbreitung über die Finanzmärkte, dass Risikobeobachtungen keine passiven Beschreibungen ökonomischer Fakten sind, sondern diese Fakten mit konstitutieren. Dies eröffnet die modelltheoretische Frage, wie Modelle sich selbst beobachten können. Im dritten Kapitel schlage ich eine Topologie von Wahrscheinlichkeitstheorien vor, in der vier und nicht wie sonst üblich nur zwei oder drei Positionen unterschieden werden. Ein Großteil meines Arguments stützt sich auf folgende These: der Begriff ‚Überzeugungsgrad’ kann quantitativ und qualitativ konzipiert werden. Wird er quantitativ konzipiert, geht man von der prinzipiellen Benennung numerischer Wahrscheinlichkeiten aus. Eine qualitative Auflösung betont dagegen die begrenzte Aussagekraft eines quantitativen Vergleiches von
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Wahrscheinlichkeiten. Aus der Sicht der epistemischen Definition von Wahrscheinlichkeit ist die Bayesianische Statistik auf einem Kategorienfehler aufgebaut: sie benutzt einen aleatorischen Wahrscheinlichkeitsbegriff, um ihn auf Situationen der epistemischen Wahrscheinlichkeit anzuwenden. Sie wechselt, unter den Annahmen des Additions- und Multiplikationssatzes von einer de dicto auf eine de re Interpretation. Diese Unterscheidung führt in Kapitel 4 zu einer Rekonstruktion der Beobachtung unter Ungewissheit. Dieser Position wird in Kapitel 5 der Begriff der Unsicherheit gegenübergestellt. Der Unterschied zwischen Ungewissheit und Unsicherheit wird in Kapitel 6 nochmals anhand einer vertiefenden Diskussion der Begriffe Wissen, Rationalität und Institution näher erläutert. Hier wird zudem die theoretische Diskussion des Risikobegriffs auf die aktuelle Frage nach einer konstruktivistischen IPÖ rückbezogen. Kapitel 7 stellt diese zwei Beobachtungsperspektiven für eine Analyse der aktuellen Reformdebatte gegenüber. Der Positivismus und der Konstruktivismus bauen auf zwei unterschiedlichen Systemverständnissen auf und kommen demnach zu einer verschiedenen Einschätzung der Frage nach der Finanzmarktstabilität. Innerhalb der positivistischökonomischen Diskussion zeigt sich eine Systemtheorie geschlossener Systeme, innerhalb deren Gleichgewicht als ein Zustand definiert wird. Entsprechend werden Instabilitäten auf die asymmetrische Informationsverteilung zwischen Akteuren zurückgeführt. Mit der Konsequenz, dass über die asymmetrische Information die intersubjektive Ontologie mit einer individualistischen Epistemologie verbunden wird und sich in einen Konflikt zwischen universellen Kriterien der funktionalen Ordnung und partikularen Wissens der territorialen Ordnung übersetzt. Dieser Konflikt zwischen Universalismus und Partikularismus taucht über die Konzepte der Transparenz und des Good Government innerhalb des Universalismus selbst wieder auf. Mit Hilfe dieses Wiedereintritts ist es zwar möglich, die ökonomische Expertise als weiterhin zentral für das Management der Instabilitäten anzusehen. In der Konsequenz wird aber Finanzmarktregulierung als Grenzmanagement territorialer Grenzen konzipiert, so dass genau die Konflikte zwischen der territorialen und der funktionalen Ordnung, die in den Währungskrisenmodellen der zweiten und dritten Generation deutlich werden, negiert werden. Hier zeigt sich dann auch die performative Dimension von Risiko: die aktuelle Reformierung der Finanzmärkte passt die Realität den Modellen asymmetrischer Information an und übersetzt so über die grundsätzliche Definition der Basisproblematik meist stille Annahmen dieser Modelle in den Raum möglicher Politikoptionen. Wenn Argumente immer in einen offenen Möglichkeitsraum hinein geäußert werden, bleibt zu hoffen, dass auch die hier vorgetragenen Argumente aus ganz unterschiedlichen Gründen auf Interesse stoßen. Je nachdem, welcher der drei zentralen Fragekomplexe – nach den Konturen der konstruktivistischen IPÖ, der Performativen Dimension von Risikomodellen und der Heuristik der Systemtheorie für die IPÖ – insbesonders interessiert, bieten sich drei verschiedene Lektürestrategien an. Für diejenigen, die sich nur für die Unterscheidung zwischen Positivismus und Konstruktivismus interessieren, schlage ich die Lektüre von Kapitel 1, 3 und 6 vor. Für diejenigen, die sich nur für die aktuelle Finanzmarktdiskussion interessieren, ist vor allem Kapitel 2 und 7 in Verbindung mit der Analyse der Risikosemantik in den Kapiteln 4 und 5 interessant. Für die Frage nach der positiven Heuristik der Systemtheorie – sowohl für die IB als auch die IPÖ – sind vor allem Kapitel 1, 3 und 7 relevant.
1.1 Einleitung
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1 Zu einer Politik der Weltgesellschaft
1.1 Einleitung In den Theorien der internationalen Beziehungen dient die Annahme der Anarchie als strukturprägendes Merkmal internationaler Prozesse nie allein der Beschreibung empirischer Tatsachen. Vielmehr kann mir ihr auf besondere Naturgesetze internationaler Prozesse plädiert und damit schließlich auch auf die Eigenständigkeit der Disziplin hingewiesen werden.50 Doch in dem Maße, in dem die intersubjektive Dimension von Regeln internationaler Beziehungen theoretisch ernst genommen wird, verliert die Annahme einer anarchischen Struktur internationaler Politik an Erklärungskraft. Wenn schon der Gebrauch einer gemeinsamen Sprache regelbasiert ist, wird die Annahme einer ‚regelfreien’ Zone logisch paradox, da die Bedeutung von ‚regelfrei’ selbst schon auf gemeinsamen Regeln aufbaut. In der Konsequenz befinden sich die Selbstbeschreibung und die Selbstdefinition des Fachs in einem Umbruch, der sich anhand einer thematischen und einer semantischen Grenzverschiebung nachzeichnen lässt. Während mit der Anarchie der souveräne Staat als Akteur einfach vorausgesetzt wurde, wird dessen natürliche Akteursqualität zunehmend hinterfragt. Damit öffnet man den thematischen Blick auf Fragen der Transformation von Staatlichkeit und Governance als Regierungsformen jenseits des Nationalstaates. 51 Freilich gibt es Versuche, quasi als Paradoxielösung, hier der Globalisierung durch eine Gegenüberstellung von Staat und Markt genau die gleiche anarchische Qualität zuzuschreiben und damit das Modell des Selbsthilfesystems einfach auf die polit-ökonomische Dimension auszuweiten. Setzt man jedoch die Akteursqualität der Staaten nicht einfach voraus, sondern rekonstruiert sie als Resultat sozialer Prozesse, zeichnet sich auch eine gesellschaftstheoretische Öffnung IB-Theorien ab, die es erlaubt, die internationale Sphäre jenseits der klassischen Unterscheidung von innen und außen52 beschreiben zu können. Das hier einsetzende Interesse an soziologischen Ansätzen steht jedoch vor einem analogen Problem: eine einfache Übersetzung soziologischer Überlegungen ist nicht möglich, da die soziologischen Grundbegriffe selbst vor dem Erfahrungshintergrund des Nationalstaates entstanden sind und sich daher als unfähig erweisen, zwischengesellschaftliche Prozesse auf den Begriff zu bringen.53 Gefangen zwischen national bestimmten sozialen Kategorien und einer von Anarchie geprägten Theorie des Internationalen fehlt eine Sozialtheorie des Internationalen noch heute. Genau aus diesem Grund drängt sich die Frage auf, wie politische Prozesse in der postnationalen Konstellation zu beobachten sind und wie die Konturen einer zu diesem Zweck formulierten Sozialtheorie aussehen könnten. Für die Bestimmung dieser Grenzen 50 51 52 53
Stanley Hoffmann, „International Relations: the Long Road to Theory,” World Politics, Vol. 11 No 3 (1959), Seite 346. Mathias Albert, „Politik der Weltgesellschaft und Politik der Globalisierung: Überlegungen zur Emergenz von Weltstaatlichkeit”, Zeitschrift für Soziologie (Sonderheft 2005), Seite 232. R.B.J. Walker, Inside/Outside. International Relations as Political Theory (Cambridge: Cambridge University Press, 1993), Seite 7. Justin Rosenberg, „Why is There No International Historical Sociology”, European Journal of International Relations Vol. 12 No.3 (2006), S. 313.
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1 Zu einer Politik der Weltgesellschaft
und Möglichkeiten bietet sich eine begriffsorientierte Analyse von Intersubjektivität an, die sich anhand zweier Fragen formulieren und verfolgen lässt. Um die theoretische Perspektive zu schärfen stellt sich zuerst die Frage, wie innerhalb der IB-Theorien der Begriff der Intersubjektivität konzipiert wird. Zum anderen muss aber gleichzeitig die Frage im Blick behalten werden, inwieweit sich durch die Einbeziehung gesellschaftstheoretischer Kategorien das Verständnis politischer Prozesse grundlegend verändert. Damit zeigt sich dann auch, ob und wie ein soziologisch orientierter Konstruktivismus eine genuin neue Analyse politischer Prozesse erlaubt, oder ob nicht doch nur der alte, realistische Wein mit einem neuen Etikett versehen wurde. Dieser Frage werde ich anhand einer Diskussion der Systemtheorie Luhmanns nachgehen. Niklas Luhmanns Systemtheorie ist in ihrer Selbstbeschreibung eine auf dem radikalen Konstruktivismus aufbauende Gesellschaftstheorie, welche die Herausforderungen selbstreferenzieller Theorien durch eine Reformulierung der Systemtheorie aufnimmt.54 Sie bietet daher eine plausible und begriffliche hoch entwickelte Alternative, um über eine soziologisch informierte Theorie des Internationalen nachzudenken. Es zeigt sich, dass die Systemtheorie über ihre Unterscheidung von System/Umwelt eine echte Alternative zu den klassischen Quellen konstruktivistischer Überlegungen darstellt. Mit dieser Unterscheidung gelingt es ihr, aus der Semantik von Teil und Ganzem auszubrechen und damit neue Perspektiven auf intersubjektive Prozesse anzubieten. Sie enttäuscht jedoch bislang in ihrer politischen Soziologie, wie sie von Luhmann skizziert wurde, da diese untrennbar mit dem Staat verwoben ist und die internationale Politik erstaunlich unbeobachtet bleibt.55 Jedoch kann meines Erachtens über die Identifikation von zwei ganz unterschiedlichen Politikbegriffen innerhalb der Systemtheorie die Hoffnung auf neue Erkenntnisse überwiegen. In diesem Kapitel werde ich wie folgt vorgehen. Der erste Teil bietet einen kurzen Überblick über die aktuellen Tendenzen einer gesellschaftstheoretischen Öffnung der Internationalen Beziehungen. Dabei wird auf die Englische Schule, die Normforschung, und die Agent-Struktur-Debatte hingewiesen. In diesen drei Ansätzen gewinnt der Begriff der Intersubjektivität eine zentrale Stellung in den Versuchen, sich von traditionellen Ansätzen abzugrenzen. Diese Ansätze teilen das Ziel einer Umdeutung der internationalen Sphäre jenseits der klassischen Unterscheidung von interner und externer Souveränität. Gleichzeitig zeigt sich, dass die grundlegende Konzipierung der internationalen Sphäre in Einheiten von Teilen erfolgt, die sich dann zu einem Ganzen zusammensetzen. Dies hat nicht nur methodologische Konsequenzen, indem etwa Bedeutungsstrukturen und Ideen sichtbar gemacht werden, sondern es ist auch für die Konzipierung der intersubjektiven Geltung von Normen von zentraler Bedeutung. Diese Diskussion soll dabei nicht als wertend missverstanden werden. Vielmehr soll sie nur darstellen, dass die Herausforderungen auf der systemischen Ebene liegen. Der zweite Abschnitt stellt die grundsätzlichen Weichenstellungen der Systemtheorie Luhmanns vor. Einer Systemtheorie, die mit der Unterscheidung zwischen Teil und Ganzem operiert, setzt Luhmann die Unterscheidung von System und Umwelt entgegen. Mit der weiteren Unterscheidung von sozialen und psychischen Systemen gelingt es Luhmann, aus dem Paradigma der individuellen Handlung auszubrechen und damit Sinn nicht länger auf die Motivlage der Akteure zu reduzieren. Im dritten und vierten Abschnitt diskutiere ich die beiden Politikbegriffe, die sich innerhalb der Systemtheorie unterscheiden lassen. 54 55
Siehe vor allem Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984). Hier vor allem: Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000).
1.2 Die gesellschaftstheoretische Öffnung der Internationalen Beziehungen
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Der erste Politikbegriff bestimmt die Politik der Weltgesellschaft als durch Kommunikation konstituiertes Funktionssystem, dass sich über den Code Machtüberlegenheit/Machtunterlegenheit organisiert und durch eine segmentäre Zweitdifferenzierung auszeichnet.56 Wie Mathias Albert weiter erklärt: „Das politische System stellt [...] für die Gesellschaft die Kapazität für kollektiv verbindliches Entscheiden bereit. Diese Kapazität bleibt dabei vorrangig an den Staat als Form der Selbstbeschreibung des politischen Systems gebunden, der die Möglichkeit kollektiv verbindlichen Entscheidens über die Figur der Souveränität als Formel zur Paradoxieauflösung absichert.“57 Politik wird also über kollektive bindende Entscheidung definiert und innerhalb der Systemtheorie Luhmanns an den Staat gebunden. Der zweite Politikbegriff leitet sich, wie in diesem Kapitel zu zeigen sein wird, aus der Konstruktion von Möglichkeitsräumen ab. Hier finden sich die Prozesse, anhand derer politische Probleme als solche definiert werden. Einerseits durch die in Konzepte und Begriffe eingeschriebenen Verzerrungen, andererseits aber auch durch die Politik der Expertise. Eine solche Beobachtung politischer Prozesse grenzt sich gegen zwei Alternativen ab: zum einen gegen rationalistische Ansätze, die Politik immer in der Aktualität gegebener Alternativen lokalisieren. Andererseits aber auch gegen die Formel der ‚kollektiv bindenden Entscheidung’, da hier die Frage nicht adressiert wird, wer überhaupt das Kollektiv bildet und konstituiert. Die Konstruktion von funktionalen Räumen, innerhalb deren kollektiv bindend entschieden werden kann, lässt sich nicht mit einem funktionalen Politikbegriff beobachten. Dieses Politikverständnis leitet sich vielmehr aus dem Zusammenspiel und dem Verhältnis der Funktionssysteme untereinander ab. Politische Fragen stellen sich nicht nur im Rahmen des Funktionssystems Politik über Machtkommunikation vor dem Hintergrund eines Nationalstaats, sondern es lassen sich genuin politische Prozesse finden, die ‚zwischen’ den Funktionssystemen angesiedelt sind. Natürlich verlangt die Identifikation und Akzeptanz dieses zweiten, erweiterten und orthogonal zum ersten liegenden Politikbegriffs einen freieren Umgang mit der Systemtheorie. Er findet sich weder in der Politik der Gesellschaft, noch in Luhmanns Schriften zur Weltgesellschaft im engeren Sinne. Wie ich zeigen möchte, lässt sich dieser zweite Politikbegriff aber aus Luhmanns konstruktivistischen Grundannahmen ableiten – mit der Konsequenz, dass Fragen der gegenseitigen Anerkennung, Identitätsbildung und Realitätskonstruktion nicht mehr als genuin soziologisches Problem, sondern als politisches Problem verstanden werden. Damit würde die Gesellschaft der Gesellschaft zur eigentlichen Politik der Gesellschaft. Ist man bereit diese Umstellung zu akzeptieren, so ergeben sich Anknüpfungspunkte, die zu neuen Fragen und Einsichten eröffnen können. 1.2 Die gesellschaftstheoretische Öffnung der Internationalen Beziehungen Die Disziplin ‚internationale Beziehungen’ trägt ihren Beobachtungsgegenstand im Namen: Beziehungen zwischen territorial organisierten Nationalstaaten, die sich als autonome poli56
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Siehe auch Rudolf Stichweh, „Politik und Weltgesellschaft”, in: Kai-Uwe Hellmann und Rainer SchmalzBruns (Hrsg.), Theorie der Politik. Niklas Luhmanns politische Soziologie (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002), Seite 287-296 Siehe auch ders. „Dimensionen des Weltstaats im System der Weltpolitik”, in: Mathias Albert und Rudolf Stichweh (Hrsg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit: Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung (Wiesbaden: VS Verlag, 2006), Seite 25-36. Mathias Albert, „Politik der Weltgesellschaft und Politik der Globalisierung: Überlegungen zur Emergenz von Weltstaatlichkeit”, Zeitschrift für Soziologie (Sonderheft 2005), Seite 228-29.
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tische Einheiten unter Bedingungen der Anarchie gegenüberstehen. Dass es sich dabei um eine historisch kontingente Konstellation handelt, ließ sich im Kontext einer bipolaren Blockkonfrontation leicht verdrängen. Heute stellen die Herausbildung von teils hierarchischen, teils heterarchischen Herrschaftsstrukturen jenseits des Nationalstaats, die fortschreitende Entgrenzung der Ökonomie, der zunehmende Einfluss zivilgesellschaftlicher und privater Akteure (einschließlich privater Gewaltunternehmer) und die Emergenz von Bedrohungen, die sich nicht territorial lokalisieren lassen, die Einheit von Fachbezeichnung und Gegenstand allerdings zunehmend in Frage. Die daraus resultierenden Irritationen übersetzen sich in eine Umstellung der dominanten Theoriesprache, denn in den hergebrachten Begriffen von Anarchie und Souveränität, Öffentlichkeit und Privatwirtschaft bilden sich die aktuellen Gegebenheiten globaler Politik nur unzureichend ab.58 Wenn Mathias Albert von einer doppelten Entgrenzung des Fachs und seines Gegenstands spricht,59 ist die Öffnung der Theorielandschaft daher auf den Begriff gebracht. Entsprechend sehen sich die Theorien der Internationalen Beziehungen einer fast undurchdringlichen Flut an ‚Wendungen’ gegenüber, die als Ausweis eines Theorienpluralismus gelten können, der sich im Zuge der dritten Debatte herausgebildet hat und inzwischen breit akzeptiert ist.60 Der Wandel von Staatlichkeit geht einher mit einer Anforderung an die Theorie, die soziale Bedingtheit der Staaten über eine Neubestimmung der ‚inter-subjektiven’ Sphäre zu begreifen. Hier lassen sich vor allem drei Ansätze identifizieren: die Englische Schule, die Normforschung und die Agent-Struktur-Debatte. Sowohl aus geschichtlichen als auch theoretischen Gründen zeigt sich in den letzten Jahren eine deutliche Wiederbelebung der Englischen Schule.61 Ihr zentraler Begriff der internationalen Gesellschaft markiert vor allem eine Differenz zum Neorealismus, deren methodische Konsequenzen die zweite Debatte strukturierte.62 Wie allgemein bekannt, basiert die Neubestimmung der Internationalen Beziehungen nach Waltzscher Prägung auf einer mikroökonomischen Analogie von Staat und Anarchie zu Firma und Markt.63 Auf 58 59
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Siehe auch Benjamin Herborth, „Verständigung verstehen: Anmerkungen zur ZIB-Debatte”, in: Peter Niesen und Benjamin Herborth (Hrsg.), Anarchie der kommunikativen Freiheit (Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007), Seite 147-172. Mathias Albert, „Entgrenzung und internationale Beziehungen: Der doppelte Strukturwandel eines Gegenstandes und seines Faches“, in: Gunther Hellmann, Klaus Dieter Wolf und Michael Zürn (Hrsg.), Die neuen Internationalen Beziehungen. Forschungsstand und Perspektiven in Deutschland (Baden-Baden: Nomos, 2003), Seite 555-576. Für einen Überblick siehe beispielsweise: Yosef Lapid, „The Third Debate: On the Prospects of International Theory in a Post-Positivist Era“, International Studies Quarterly, Vol. 33 No. 2 (1989), Seite 235-254; für das heute sehr weit verbreitete Selbstbild der Theorie der Internationalen Politik und die berühmten drei Debatten siehe Steve Smith, „The Self Image of a Discipline: A Genealogy of International Relations Theory Today“, in: Ken Booth und Steve Smith (Hrsg.), International Relations Today (Cambridge: Polity Press, 1995) Seite 1-37; Steve Smith, „Positivism and Beyond“, in: Steve Smith et. al. (Hrsg.), International Theory: Positivism and Beyond (Cambridge: Cambridge University Press, 1996), Seite 11-44. Für einen historischen Abriss der intellektuellen Entwicklung siehe Tim Dunne, Inventing International Society: a History of the English School (Basingstoke: Macmillan, 1998). Immer noch eines der besten Bücher hierzu ist: Herbert Butterfield, Martin Wight und Hedley Bull (Hrsg.), Diplomatic Investigations: Essays in the Theory of International Politics (London: Allen and Unwin, 1966). Für eine Analyse der zweiten Debatte siehe Friedrich Kratochwil, „History, Action and Identity: Revisiting the ‘Second’ Great Debate and Assessing its Importance for Social Theory”, European Journal of International Relations Vol. 12 No. 1 (2006), Seite 5-29. Immer noch instruktiv ist auch Hedley Bull, „International Theory. The Case for a Classical Approach”, in: Klaus Knorr und James Rosenau (Hrsg.), Contending Approaches to International Politics (Princeton: Princeton University Press, 1969), Seite 20-38. Kenneth Waltz, A Theory of International Politics (New York: Mc-Graw-Hill 1979), Seite 79
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Basis dieser Analogie war Waltz in der Lage seine Positionslogik auf Basis der Verteilung von Möglichkeiten zu proklamieren und damit deduktiven, rationalistischen Modellen Tür und Tor zu öffnen. Diesem, auf einem nun doch schon sehr traditionellen Verständnis von Naturwissenschaften aufbauendem Systemverständnis setzt Hedley Bull die gemeinschaftlichen Kriterien einer internationalen Gesellschaft entgegen. „A society of states (or international society) exists when a group of states, conscious of common interests and common values, form a society in the sense that they conceive themselves to be bound by a common set of rules in their relations with one another, and share in the working of common institutions. If states today form an international society … this is because, recognising certain common interests and perhaps some common values, they regard themselves as bound by certain rules in their dealings with one another, such as that they should respect one another’s claims to independence, that they should honour agreements into which they enter, and that they should be subject to certain limitations in exercising force against one another.”64
Sobald Eigentumsrechte garantiert, Versprechen gehalten und ein Regime der Gewaltregulation etabliert werden, geht die Politik über eine rein systemische Logik hinaus, da sie historisch spezifische Institutionen wie Diplomatie und internationales Recht ausbildet. Diese Institutionen beruhen offensichtlich auf einer wechselseitigen Anerkennung der Staaten untereinander und lassen sich nicht aus der Logik eines Selbsthilfesystems heraus begründen. Aus diesem Grund folgen die Institutionen der internationalen Gesellschaft auch nicht der Logik der natürlichen, sondern der Logik der ‚sozialen’ Fakten. Das hat zur Folge, dass z.B. der Krieg eben nicht mit einer Abwesenheit von Regeln gleichgesetzt, sondern als regelgebundene Möglichkeit der internationalen Politik konzipiert werden muss. Das heißt aber vor allem, dass sich die strukturprägende Kraft der Anarchie, aus der Rationalisten ihre Präferenz für deduktiv-nomologische Theorie ableiten, nicht mehr begründen lässt und folglich ersetzt werden muss durch eine historisch-philosophisch orientierte Forschung, die für die Rekonstruktion sozialer Fakten sensibel ist.65 Dennoch basiert die Englische Schule auf einem Konstruktionsfehler, der sich sowohl bei Hedley Bull als auch in aktuellerer Fassung bei Barry Buzan zeigt. Zuerst läuft die Kooperationsproblematik, wie Bulls Begriff der anarchischen Gesellschaft schon nahe legt, in einer durch Anarchie geprägten Staatengesellschaft als Hintergrundfolie mit und wirkt sich strukturprägend auf das Vokabular aus. So wird, ausgehend von einer Heterogenität von Staaten, die Integrationsleistung durch die Etablierung gemeinsamer Normen vollbracht. „A common feature of … historic international societies is that they were all founded upon a common culture or civilisation, or at least some of the elements of such a civilisation: a common language, a common epistemology and understanding of the universe, a common religion, a 66 common ethical code, a common aesthetic or artistic tradition.”
Diese Gemeinsamkeit konstituiert sich jedoch nur auf Basis individueller, das heißt staatlicher Normbefolgung. Der genuin inter-subjektive Charakter gesellschaftlicher Normen 64 65 66
Hedley Bull, The Anarchical Society: A Study of Order in World Politics (London: Macmillan, 1977), Seite 13, Hervorhebung im Original. Hedley Bull, „International theory: the case for a classical approach”, in: Klaus Knorr und James N. Rosenau (Hrsg.), Contending Approaches to International Politics (Princeton: Princeton University Press, 1969). Hedley Bull, Anarchical Society, op.cit, Seite 16
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wird reduziert auf die individuelle Motivation der Normbefolgung, wie Hedley Bull betont: „Most states at most times pay some respect to the basic rules of co-existence in international society.”67 Damit stellt man zwar die Frage, ob sich die internationale Gesellschaft ausweitet68 und ob man zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen einen gerechten Krieg gegen diejenigen führen darf, die sich eben nicht an die gemeinsame Werteorientierung halten,69 vergisst aber, dass nicht nur die Produktion von Gemeinsamkeiten, sondern auch die Produktion von Gefahren, Instabilitäten und kriegerischen Auseinandersetzungen ‚gesellschaftliche’ Prozesse ausmacht. Aus diesem Grund stehen diejenigen ‚außerhalb’ der Gesellschaft eben genau nicht ‚außerhalb’ der Gesellschaft. Diese Kritik an einer Konzipierung von Gesellschaft als eine durch verschiedene Teile konstituierte Einheit wird auch bei Barry Buzans Begriff der Weltgesellschaft deutlich.70 Im Gegensatz zur internationalen Gesellschaft lässt sich eine zunehmende Orientierung hin zu den Rechten und Pflichten einzelner Individuen identifizieren, die Fragen einer transnationalen Solidarität auf die Agenda setzt.71 Doch auch hier zeigt sich, dass die Konzipierung der drei Begriffe System, internationale Gesellschaft und Weltgesellschaft entlang der drei Rechtsphilosophien von Hobbes, Locke und Kant das Motiv der Normbefolgung in den Vordergrund rückt. Als Folge fehlt jedoch ein konzeptioneller Platz für die Frage, woher diese Normen kommen und woraus sich der inter-subjektive Charakter der Normen eigentlich speist, wenn deren inter-subjektive Qualität als individuelle Befolgung verstanden wird. Um diesen Punkt näher und genauer darzulegen, möchte ich nun ausführlicher auf den Normbegriff zu sprechen kommen. Die Normforschung hat sich in den letzten zehn Jahren zu einem sehr produktiven und wichtigen Ansatz innerhalb der Theorie der Internationalen Beziehungen entwickelt. Definiert werden Normen vorwiegend als kollektive Erwartungen über angemessenes Verhalten von Akteuren mit einer gegebenen Identität.72 Auf der Grundlage dieser Definition nimmt 67 68 69 70
71 72
Hedley Bull, Anarchical Society, op.cit, Seite 42 Hedly Bull und Adam Watson, The Expansion of International Society (Oxford: Clarendon Press, 1984). Hedley Bull, Benedict Kingsbury und Adam Roberts (Hrsg.), Hugo Grotius and International Relations (Oxford, Clarendon Press, 1990). Barry Buzan, From International to World Society? English School Theory and the Social Structure of Globalisation (Cambridge: Cambridge University Press, 2004). Siehe auch Chris Brown, „World Society and the English School: an ‘international society’ perspective on world society”, European Journal of International Relations, Vol. 7 No. 4 (2001), Seite 423-441. John Williams, „Pluralism, Solidarism and the Emergence of World Society in English School Theory”. International Relations, Vol. 19 No. 1 (2005), Seite 19-38. Peter Katzenstein, ‘Introduction: Alternative Perspectives on National Security, in Peter Katzenstein (Hrsg.), The Culture of National Security. Norms and Identity in World Politics (New York: Columbia University Press, 1996), Seite 5, siehe auch Stephen Krasner (Hrsg.), International Regimes (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1993), Seite 3. Diese Definition soll nur den Einfluss von Ideen und die Selbstreferenz von Normen anzeigen. Dies bedeutet nicht, dass es keine anderen Definitionen gibt. Ganz im Gegenteil sogar. Verschiedene philosophische Denkrichtungen beeinflussen die Definition signifikant. So definiert Gregory Raymond eine Norm als „generalised standards of conduct that delineate the scope of a state’s entitlements, the extent of its obligations, and the range of its jurisdiction”. Siehe Gregory A. Raymond, „Problems and Prospects in the Study of International Norms”, Mershon International Studies Review, Vol. 41 No. 2 (1997), Seite 128. Stephen Krasner selbst definiert die Norm in Einheiten von ‚Rechten und Pflichten’; um nur zwei zu nennen. Weitere Definitionen finden sich u.a. in: Gary Goertz und Paul Diehl, „Towards a Theory of International Norms: Some Conceptual and Measurement Issues”, Journal of Conflict Resolution, Vol. 36 No. 4 (1992), Seite 634-64, Ethan Nadelmann, „Global Prohibition Regimes: The Evolution of International Norms”, International Organization Vol. 44 No 4 (1990), Seite 479-526, und Friedrich Kratochwil, Rules, Norms and Decisions: On the Conditions of Practical and Legal Reasoning in International Relations and Domestic Affairs (Cambridge: Cambridge University Press, 1989).
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die Normforschung den Einfluss von Ideen und Argumentationen in den Blick73 und bricht damit aus den engen Grenzen des Rationalismus aus. Ihren Anfang fand die Normanalyse in der Regime-Debatte in den Internationalen Beziehungen. Stephan Krasners klassische Krasner-Definition von Regimen als „principles, norms, rules and decision-making procedures around which actor expectations converge in a given issue-area“74 zeigt schon an, wie notwendig die Klärung von Normen für das Verständnis von internationalen Regimen ist. Durch sehr innovative und detailgetreue Analysen zu Themen wie Apartheid, das Ende des Kalten Krieges, Menschenrechte, Waffensysteme oder Sklavenhandel, konnte der Einfluss von Normen auf das Handeln der Staaten bewiesen werden.75 Natürlich muss konstatiert werden, dass sich die Regime-Debatte weiter entwickelt hat und sich ebenfalls von ihrer Fokussierung auf den Staat, wie sie in der Krasner-Defintion zum Ausdruck kommt, löst. Auch die Regime-Debatte erkennt, dass heute private Akteure und private Selbstbindungsinitiativen wie der Global Compact wichtige Einflussfaktoren sind. Regime regulieren nicht nur die Interaktion zwischen Staaten, sondern eine ganze Anzahl an nichtstaatlichen Akteuren wie NGOs, Kirchen, SME, MNU, Banken, Versicherer, Airlines und Postunternehmen.76 Dennoch bleibt bei der Analyse und Erklärung von sozialem Wandel der Staat Ausgangs- und Endpunkt normtheoretischer Überlegungen. Wie Finnemore und Sikkink es formulieren: „Shared ideas, expectations, and beliefs about appropriate behavior are what give the world structure, order, and stability. The problem for constructivists thus becomes the same problem facing realists – explaining change….Norm shifts are to the ideational theorist what changes in the balance of power are to the realist.” 77 Vor allem Kathryn Sikkink und Martha Finnemore haben zur Beantwortung dieser Frage ein LebenszyklusModell entwickelt, das die Emergenz, Verbreitung und Internalisierung von Normen sukzessive in den Blick nimmt.78 Theoretisch innovativ ist hier die Idee des Normunternehmers, der eine starke Rolle bei der Erklärung von Varietät und Innovation von Normen einnimmt.79 Wichtige systemische Veränderungen folgen also nicht einer Logik der Staats73
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Thomas Risse-Kappen, „Ideas do not Float Freely: Transnational Coalitions, Domestic Structures, and the End of the Cold War”, International Organization, Vol. 48 No. 2 (1994), Seite 185-214, Thomas Risse, „‘Let’s Argue’: Communicative Action in World Politics” International Organisation, Vol. 54 No. 1 (2000), Seite 1-39, Harald Müller, „Arguing, Bargaining and all that: Communicative Action, Rationalist Theory and the Logic of Appropriateness in International Relations”, European Journal of International Relations Vol. 10 No. 3 (2004), Seite 395-435. Stephen Krasner, „Structural Causes and Regimes Consequences: Regimes as Intervening Variables“, International Organisation, Vol. 36 No. 2 (1982), Seite 185. Wieder abgedruckt in Stephan Krasner (Hrsg.,), International Regimes, (Ithaca: Cornell University Press, 1983). Audie Klotz, Norms in International Relations: The Struggle against Apartheit (Ithaca: Cornell University Press, 1996), Thomas Risse-Kappen 1994, op.cit., Thomas Risse und Kathryn Sikkink (Hrsg), The Power of Human Rights: International Norms and Domestic Change (Cambridge: Cambridge University Press, 1999), Richard Price und Nina Tannenwald, „Norms and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons Taboos”, in: Peter Katzenstein (Hrsg.), 1996, op.cit., Seite 114-52, James Lee Ray, “The Abolition of Slavery and the End of International Law,” International Organization, Vol. 43 No. 3 (1989), Seite 409-39 und Martha Finnemore „International Norms Dynamics and Political Change”, International Organization, Vol. 52 No. 4 (1998), Seie 887-917. Arts Bas, „Regimes, Non State Actors and the State System: A Structurational Regime Model“, European Journal of International Relations, Vol. 6 No. 12 (2000), Seite 513-542. Finnemore und Sikkink 1991, op.cit, Seite 894. Martha Finnemore, „Norms, Culture, and World Politics: Insights from Sociology's Institutionalism”, International Organization, Vol. 50 No. 2 (1996), Seite 325- 47, siehe auch Finnemore und Sikkink 1991, op. cit. Siehe auch Margaret Keck und Kathryn Sikkink, Acivist Beyond Borders: Advocacy Networks in International Politics (New York: Ithaca, 1998); Richard Price und Nina Tannenwald, „Norms and Deterrence: the
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räson oder sind allein dem Machtkalkül von Staaten geschuldet, sondern resultieren aus den Überzeugungen von Individuen mit starker Überzeugungskraft über angemessenes Verhalten oder die Notwendigkeit, ein bestimmtes Thema oder einen bestimmten Sachverhalt auf die Agenda zu bringen. Wichtiges Beispiel ist hier Henry Dunant, der über individuelle Überzeugungsarbeit das Internationale Komitee des Roten Kreuzes gründet und wichtiger Impulsgeber für den Abschluss der 1. Genfer Konvention ist. Die Rolle der Normentrepreneurs ist somit: „to change the utility functions of other players to reflect some new normative commitment”.80 So lenken Normunternehmer meist nicht nur die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten, bereits gegebenen Sachverhalt, sondern sind oft maßgeblich daran beteiligt, die Problemlage zu definieren, denn wie Sikkink und Finnemore betonen: „in constructing their frames, norm entrepreneurs face firmly embedded alternative norms and frames that create alternative perceptions of both appropriateness and interest.”81 Die ‚Logik’ der Normemergenz jedoch bedarf der Staaten als wichtigste Akteure im internationalen System. Die dominante Interaktion ist die Überzeugungsarbeit von Normunternehmern gegenüber staatlichen Akteuren: Erst wenn ein Schwellenwert überschritten wird, kommt es von der Überzeugung zur kaskadenartigen Verbreitung und letztlich zur Internalisierung der Norm. In zunehmendem Maße verschiebt sich die Blickrichtung von den einzelnen Personen hin zur Institutionalisierung durch Organisationen. Zunehmende Institutionalisierung verdeutlicht, wie der Norm gefolgt werden soll und welche Handlungen der Norm widersprechen bzw. einen Normverstoß oder Normverletzung konstituieren. So theoretisch innovativ diese Arbeiten auch sind, so zeigen sie doch eine ähnlich gelagerte Problematik, wie wir sie bei der Englischen Schule beobachten konnten. Auch hier wird der Staat in einer Teil-Ganzheit-Logik konzipiert, in der letztlich die Normen zwar die Interaktionen zwischen den Akteuren strukturieren, jedoch die Akteure selbst nicht konstituieren. So nimmt die Normforschung über das Lebenszyklusmodell eine implizite Trennung von öffentlicher und privater Sphäre an, die über die Normunternehmer verschränkt wird. Da der souveräne Staat als Akteur logisch vor der Interaktion mit dem Normunternehmer existiert, wird zweitens über Teil-Ganzheit-Unterscheidung die dem Begriff der Souveränität eingeschriebene Idee der Trennung zwischen nationaler und internationaler Politik vorausgesetzt bzw. reproduziert. Es fällt auf, dass sich die Literatur ausschließlich für den Einfluss von einzelnen inländischen Normen auf das internationale System oder Wirkungen von spezifischen internationalen Normen auf inländische Strukturen interessiert.82 Bei der Erklärung der Normwirkung zeigt sich, dass sich die intersubjektive Konstruktion von Normen zu einer objektiven Kraft verdichtet, mit der Normen und neue Akteure den Staat in die Zange nehmen können. Es erscheint fast schon als logisch richtig, dass die Frage, welche Normen sich ausbreiten und welche eben nicht, mit dem Verweis
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Nuclear and Chemical Weapons Taboos“, op.cit. Für die plötzliche Emergenz von Normen wurde in den Internationalen Beziehungen auch Erklärungen über spontane Praxis, Angebot/Nachfrage und evolutionäre Prozesse angeboten. Siehe Amy Gurowitz, „Mobilising International Norms: Domestic Actors, Immigrants and the Japanese State“, World Politics, Vol. 51 No. 3 (1999), Seite 413-445; Robert O. Keohane, After Hegemony: Corporation and Discord in the World Political Economy (Princeton, N.J.: Princeton University Pres, 1984) und Edna Ullmann-Margalit, The Evolution of Norms (Oxford, 1977) respektive. Siehe Sikkink and Finnemore, 1998, op.cit, Seite 914. Ibid, Seite 897. Siehe auch die Diskussion hierzu bei Andrew Cortell und James Davis, „When norms clash: international norms, domestic practices, and Japan's internalisation of the GATT/WTO“, Review of International Studies, Vol. 31 No. 1 (2005), Seite 3-25.
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auf Interessen oder Sponsoren der Akteure beantwortet wird.83 Genauso wird der oben angeführte Schwellenwert über die Anzahl der ‚überzeugten’ Staaten definiert, die dann eine Normführerschaft übernehmen können. Doch dieser Verweis auf Motive von Akteuren verliert die intersubjektive Qualität der Normen aus dem Auge.84 Hier schließt sich die Konzipierung von ‚Intersubjektivität’ innerhalb der AgentStruktur-Debatte als dritter Diskussionsstrang an. Auf den ersten Blick scheint Alexander Wendt ein ähnlich gelagertes Erklärungsmuster für die Frage nach Normen und sozialem Wandel anzubieten.85 Ausgehend von einer Anerkennung mehrerer möglicher ‚Kulturen der Anarchie’ fragt Wendt in seinem letzten Kapitel nach der Veränderung und der Transformation solcher ‚Kulturen’. Dafür bietet Wendt ein Modell mit drei Internalisierungsstufen an. Jede seiner Internalisierungsstufen korrespondiert wieder mit der spezifischen Motivation einer Regelbefolgung. Das heißt auf der ersten Stufe wird die Norm zwar als Norm erkannt, die Befolgung der Norm basiert aber allein auf Gewalt;86 auf der zweiten Stufe folgen Staaten der Norm aus eigenem Interesse, um schließlich auf der dritten Stufe die Befolgung als legitim anzuerkennen und normativ zu unterstützen. Unabhängig davon, dass bei Wendt Normen nur durch zwischenstaatliches Handeln reproduziert wird und der Staat einer Person gleichkommt, zeigt sich hier wieder der Versuch, die intersubjektive Qualität von Normen über den Verweis auf klassische Rechtsphilosophien in Motive individueller Akteure zu übersetzen. Um zu klären, wie dieser Übergang vollzogen wird und welche Probleme damit verbunden sind, ist es notwendig, diese Lösung aus dem Hintergrund der Agent-Struktur Problematik heraus zu interpretieren. Die Agent-Struktur-Debatte selbst hat sich als wichtiger Referenzpunkt für methodische Überlegungen entwickelt.87 Zentraler Punkt der Auseinandersetzung zwischen Wendt und Hollis-Smith ist die Frage, ob subjektive Gründe als objektive Ursachen angesehen werden können. Während Hollis und Smith eine Position des Verstehens im Unterschied 83 84
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So Kathryn Sikkink, Ideas and Institutions: Developmentalism in Argentina and Brazil (Ithaca, Cornell University Press, 1991). An dieser Stelle ist der bemerkenswerte und ganz hervorragende Aufsatz von Nicole Deitelhoff und Harald Müller zu nennen, in dem sie die Umdeutung der kommunikativen Handlung von Habermas innerhalb der IB diskutieren. Deitelhoff Nicole und Harald Müller, „Theoretical Paradise – Empirically Lost? Arguing with Habermas“, Review of International Studies, Vol. 31 No. 1 (2005), Seite 167-179. Alexander Wendt, Social Theory of International Politics (Cambridge: Cambridge University Press, 1999). Wendt, Social Theory, op. cit., Seite 268. Inzwischen können zwei Generationen von Diskussionen identifiziert werden. Die zweite Generation zentriert sich um eine Diskussion im European Journal of International Relations zwischen Roxann Lynn Doty, „Aporia: A Critical Exploration of the Agent Structure Problematique in International Relations Theory“, European Journal of International Relations, Vol. 3 No. 3 (1997), Seite 365-392, ders., „A Reply to Colin Wight“, European Journal of International Relations, Vol. 5 No. 3 (1999), Seite 287-390, und Colin Wight, „They Shoot Dead Horses Don’t They? Locating Agency in the Agent-Structure Problematique“, European Journal of International Relations, Vol. 5 No. 1 (1999), Seite 109-142, ders., „Interpretation all the way down? A Reply to Rocanne Lynn Doty“, European Journal of International Relations, Vol.6 No. 3 (2000), Seite 423-430. Charakteristisch für diese zweite Generation ist die offene theoretische Pluralität, die eine Lösung der Agent-Struktur Debatte negiert. Neuere Beiträge versuchen daher das Problem zu kontextualisieren und eine Beschreibung aus unterschiedlichen Perspektiven anzubieten, wobei Doty aus dem Poststrukturalismus, Andreas Bieler und Adam David Morten, „The Gordian Knot of Agency Structure in International Relations: A Neo-Gramscian Perspective“, European Journal of International Relations, Vol. 7 No. 1 (2001), Seite 5-35 aus der Neo-Gramscianer und Wight aus der Position des kritischen Realismus argumentiert. Obwohl die Einsichten dieser Debatte sicherlich wichtig sind, möchte ich mich in den nächsten Abschnitten mit der ersten Generation, der Wendt – Hollis/Smith Kontroverse beschäftigen, da diese offener die methodologischen Konsequenzen von sozialen Fakten auszuloten versucht.
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zur Erklärung etablieren möchten, möchte Alexander Wendt die dort implizierte Unterscheidung von externer und interner Perspektive durch die Unterscheidung von Konstitution und Kausalität ersetzen. Wendt versucht daher zu zeigen, dass sowohl die konstitutionslogische als auch die kausallogische Perspektive in der Naturwissenschaft ebenso präsent ist wie in der Sozialwissenschaft und daher ihre Abgrenzung problematisch wird.88 Damit kappt Wendt die Verbindung zwischen Verstehen und Post-Positivismus, um Raum für eine Topologie von Fragestellungen zu schaffen: „we cannot assess the relative merits of Explanation and Understanding, then, in abstraction from the particular types of question that we want to ask. To do otherwise risks letting meta-theoretical methodological commitments determine what counts as a legitimate question (and research agenda) and what does not, closing off a priori important substantive questions that cannot be addressed by a particular favoured method.”89 Fragen nach der Angemessenheit von theoretischen Perspektiven werden daher nicht epistemologisch, sondern ontologisch begründet: „It is certainly the case that the natural and social worlds are at least in part made of different kind of stuff, and that these ontological differences require different methods and data for their study. We simply can’t study ideas in exactly the same way that we study physical facts because ideas are not the kinds of phenomena that are even directly observable. However, this does not imply different epistemologies for the natural and social sciences, since it is wrong to think that material conditions imply causal theorizing and ideas imply constitutive theorizing. Both kinds of stuff have both causal and constitutive effects. Ideas have constitutive effects insofar as they make social kinds possible; ...But those shared understandings have also causal effects on masters and slaves, functioning as independently existing and temporally prior mechanisms motivating and generating their behaviour. … some of the most important theories in the natural sciences are constitutive rather than causal: the double-helix model of DNA, the kinetic theory of heat, and so on.”90
Genau diesen Punkt versucht Alexander Wendt durch das Beispiel des ersten Kontakts zu untermauern. Sein Ziel hier ist zu zeigen, dass ein epistemologischer Ansatz immer sowohl repräsentationale als auch relationale Fragen in sich birgt und damit letztlich die Epistemologie nicht gegen einen Materialismus sprechen könne: „the main problem with the relational theory of reference is that it cannot account for the resistance of the world to certain representations, and thus for representational failures of misinterpretations.“91 Die Fehleinschätzung von Montezuma zeigt, dass man sich eben in seiner Einschätzung irren kann. Überzeugungen speisen sich nicht nur aus dem Diskurs, sondern auch aus der Referenz zur Natur. Bedeutung kann daher nicht allein im Gebrauch liegen, wie es Kratochwil mit Wittgenstein formulieren würde, sondern wird durch eine dem Bewusstsein externen, eine vom Diskurs unabhängige Realität reguliert. 92 Doch wie sieht dieser erste Kontakt aus? Ego und Alter als zwei unabhängige Akteure treffen sich zum ersten Mal und haben kein gemeinsames Wissen oder gemeinsame Ideen. Aber:
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Siehe Alexander Wendt, „On Constitution and Causation in International Relations”, Review of International Studies, Vol. 24 No. 5 (1998), Seite 104 ff. Siehe Wendt, Social Theory, op. cit., Seite 391. Ibid., Seite 107. Ibid., Seite 56, Betonung im Original. Ibid., Seite 58.
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„they bring two kinds of baggage, material in the form of bodies and associated needs, and representational in the form of some a priori ideas about who they are. Through further interaction, they ascribe each other rules and functions […] on the basis on their representation of Self and Other, Alter and Ego each construct a ‘definition of the situation’. The accuracy of these definitions is not important in explaining action (though it is in explaining outcomes): it is a core tenet of interactionism that people act towards objects, including other actors, on the basis of the meaning those objects have for them, and these meanings stem form how the situation is understood.”93
Auch hier zeigt sich eine Ambiguität zwischen den ‚gegebenen’ Akteuren und der Unterscheidung von Ego und Alter, die die Akteure konstituieren soll. Da diese Unterscheidung den Hintergrund für seine drei Kulturen der Anarchie und ihre partikularen Normen liefert, überträgt sich diese Spannung auch auf seine Lösung der Anarchieproblematik. Wie allgemein bekannt, speisen sich diese drei Anarchien aus den Rechtsphilosophien von Hobbes, Locke und Kant – und beziehen daher die Frage, warum ein Akteur eine gegebene Norm befolgen sollte: Macht, Interesse oder Legitimität. Freilich entwickelt Alexander Wendt diese Rechtsphilosophien unter dem Aspekt von Sicherheitsproblemen. Er kann jedoch nicht das zentrale Problem verdecken: dass die intersubjektive Geltung von Normen über individuelle Motive erschlossen wird. Notwendigerweise verteidigt Wendt den souveränen Staat als ‚Person’ der internationalen Politik und behauptet demnach immer noch, dass Souveränität die aktuellen Prozesse am besten abbildet. Was Wendt damit voraussetzt ist, dass diese individuellen Akteure erstens eine gemeinsame Sprache, ein gemeinsames Symbolsystem haben, auf deren Basis die individuellen Motive kommuniziert werden können, und zweitens, dass sich diese Sprache auf individuelle Akteure reduzieren lässt.94 Er setzt damit voraus, was eigentlich noch zu beweisen wäre: die intersubjektive Geltung von Regeln, die Emergenz eines gemeinsamen Signalisierungssystems als ein emergentes Phänomen sozialer Prozesse. 95 Zusammenfassend lässt sich erkennen, dass alle drei diskutierten Ansätze das internationale System in einer Logik von Teilen und Ganzem konzipieren96, in dem dann die Frage nach der Integration über gemeinsame Normen beantwortet wird. Da diese Konzeption die Akteursqualität von Staaten als gegeben voraussetzt, wird der Begriff der Intersubjektivität, bzw. der intersubjektiven Geltung von Normen über die individuelle Rationalität von Normbefolgung aufgelöst. Damit nimmt der Begriff jedoch eine sehr positivistische Wendung, da grundlegende Theorieentscheidungen epistemologische Fragestellungen als ein Repräsentationsproblem eines Raums ‚zwischen’ zwei Akteuren definieren. Die Kommunikation zwischen den Akteuren basiert auf einem Sender-Empfänger-Modell, in dem ‚intersubjektive Geltung’ dann zu einem ‚Ding’ wird, das zwischen den zwei Akteuren ausgetauscht werden kann. Freilich muss zugestanden werden, dass der Rückgriff auf Verstehen
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Ibid, Seite 330. Ibid., Seite 330. Ein Problem, das schon in Alexander Wendt, „Anarchy is what States Make of It: The Social Construction of Power Politics”, International Organization, Vol. 46 No. 2 (1992), Seite 391-425, deutlich wird. Friedrich Kratochwil, „Constructing a New Orthodoxy? Wendt’s ‚Social Theory of International Politics’ and the Constructivist Challenge“, Millenium: Journal of International Studies, Vol. 29 No. 1 (2001), Seite 73-101. Siehe auch Robert Jervis, System Effects: Complexity in Political and Social Life (Princeton: Princeton University Press, 1997), Seite 12.
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als Emphatie unglücklich ist.97 Da bereits Max Weber sich gegen dieses Bild ausspricht, scheint dieses Verständnis als problematisch. Was Max Weber jedoch zeigt und wo eine soziologische Theorie der internationalen Beziehungen sicherlich anschließen könnte, ist dass soziale Handlung sich über die gegenseitige Bezugnahme der Akteure aufeinander konstituiert. Doch können Normen als Bedingung der Möglichkeit für einen Horizont möglicher Handlungen nicht über die Motive einzelner Akteure gemessen werden. Wie Friedrich Kratochwil gezeigt hat, ist die Geltungsfrage nicht auf die Angemessenheit von Handlungen reduzierbar.98 Vielmehr definieren Normen Situationen und damit auch, wer auf Basis welcher Kriterien als Akteur anerkannt wird. Da Sozialität also von psychologischen Kategorien zu unterscheiden ist, sollte die Rolle von Ideen nicht über endogene Präferenzbildung abgeleitet werden. Das ergibt sich auch aus der konstruktivistischen Einsicht, dass Wahrheit nicht die Eigenschaft von Objekten oder Individuen, sondern von semantischen Systemen ist. Erst mit der Lösung von gegebenen Akteuren lässt sich der Staat nicht als Ausgangspunkt sozialer Wandlungsprozesse sehen, sondern ist dann selbst eingebunden in und Resultat von sozialen Prozessen. 1.3 Sinn, Selbstreferenz und sozialer Wandel Die Frage lautet jedoch: bieten die im ersten Abschnitt diskutierten Ansätze hierfür genügend Luft? Meines Erachtens nicht, denn eine Handlungs- oder Systemtheorie in Einheiten von Teil und Ganzem kann das nicht mehr leisten; es bedarf vielmehr einer Umstellung der Grundbegriffe, in denen das internationale System konzipiert wird. Genau an dieser Stelle bietet sich die Systemtheorie Luhmanns an. Luhmann beschreibt die Gesellschaft als komplexes, aus Kommunikation bestehendes Sozialsystem. Dabei trifft er zwei theoretische Entscheidungen, die eine Neukonzipierung der Ordnungsproblematik erlauben.99 Die TeilGanzheit-Semantik wird durch die Unterscheidung von System und Umwelt abgelöst. Damit verschiebt sich die grundlegende Problematik: nicht die Integration von Teilen steht im Vordergrund, sondern die partikulare Form der Grenzziehung zwischen Systemen und ihrer Umwelt und deren Reproduktion und gegebenenfalls Veränderung. Damit werden sinnhafte Bedeutungsmuster vom Akteur abgetrennt.100 Sinn wird demnach nicht in der Form von ‚gemeintem Sinn’ gebraucht, welche sofort auf eine partikulare Form von Rationalität und einen Akteur schließen lassen würde. Sinn wird rein formal als die Einheit der Unterscheidung Aktualisierung/Möglichkeit, als die Aktualisierung einer Möglichkeit in einem Verweisungszusammenhang zu anderen Alternativen, verstanden.101 Diese Formulierung er97
Siehe Alexander Wendt, „The Agent-Structure-Problem in International Relations Theory,“ in International Organization, Vol. 41 No. 3, Seite 340, Martin Hollis und Steve Smith Explaining and Understanding in International Relations (Oxford: Oxford University Press, 1991), insbesondere Kap 2. 98 Friedrich Kratochwil, „The Force of Prescriptions”, International Organization, Vol. 38 No. 4 (1984), Seite 305-320. 99 Natürlich übersteigt eine vollständige Darstellung der Systemtheorie Luhmanns die Anforderungen eines Kapitels. Aus diesem Grund konzentriere ich mich auf die Punkte der doppelten Kontingenz und der Kommunikation, um die Unterschiede zu den im ersten Abschnitt diskutierten Ansätzen zu verdeutlichen. 100 Siehe auch Niklas Luhmann, „Interpenetration: Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme.“ Zeitschrift für Soziologie, Vol. 6 No.1 (1977), Seite 2-76. 101 Die ausführlichsten Diskussionen finden sich in Niklas Luhmann, „Meaning as Sociology’s Basic Concept”, in Niklas Luhmann, Essays on Self-Reference (New York: Columbia University Press, 1990a), ders. „Sinn als Grundbegriff der Soziologie“ in: Niklas Luhmann und Jürgen Habermas, Theorie der Gesellschaft oder
1.3 Sinn, Selbstreferenz und sozialer Wandel
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fasst die Aktualität des Erlebens gleichzeitig in ihrer Komplexität und Kontingenz: jedes Erleben verweist gleichzeitig auf andere Möglichkeiten und jede Aktualisierung des Erlebens hätte auch anders aktualisiert werden können. Operationen, die das Medium Sinn benutzen, zerstören in ihrem Vollzug nicht die Komplexität, sondern bauen auf ihr auf und regenerieren sie. Sinn ist somit eine selektive Strategie unter komplexen Bedingungen: Nicht aktualisierte, weitere Möglichkeiten werden dabei weiter als ‚Horizont’ mitgeführt, um bei Bedarf noch zur Verfügung zu stehen. Das heißt, das Mögliche steht weiterhin zur Revitalisierung zur Verfügung, es kann aktualisiert werden und/oder in neue Horizonte mit übernommen werden. Die Definition hat somit eine negative, eine differenztheoretische Form: Sinn kann sich nur im Gegensatz zu nicht realisierten Möglichkeiten hervorheben. Zum anderen richtet sich Luhmann gegen das Sender-Empfänger-Modell von Kommunikation. Für ihn besteht der Kern von Kommunikation in der Produktion zweier Informationen innerhalb eines Kommunikationsprozesses: Da jede Informationsverarbeitung ein interner Prozess ist, der nicht von außen determiniert werden kann, und die Kommunikationspartner Ego und Alter unabhängig voneinander sind, bei Luhmann zwei psychische Systeme, ist die Übereinstimmung von gesendeter und aufgenommener Information nicht notwendig gegeben und daher zu trennen.102 Damit kann Kommunikation in der autopoietischen Systemtheorie nicht als ‚Übertragung’ von Wissens- oder Informationspartikeln verstanden werden. Vielmehr wird jede Information neu interpretiert, oder eigen-selektiv verarbeitet. Genau aus diesem Grund unterscheidet Luhmann klar zwischen psychischen und sozialen Systemen. Obwohl beide im Medium Sprache operieren, unterscheiden sie sich in ihren Basiselementen: Psychische Systeme vollziehen die Autopoiesis durch Gedanken, soziale Systeme durch Kommunikation. Mit der Unterscheidung zwischen psychischen und sozialen Systemen sind psychische Systeme, und damit alle Motive und Absichten von Akteuren, in der Umwelt sozialer Systeme angesiedelt. Die Trennung von denkendem Subjekt und gegenständlichem Objekt wird in Folge dessen aufgegeben. Das heißt nicht, dass es keine Akteure gibt, aber es heißt, dass die Konstitution von Akteuren schon eine Leistung von sozialen Systemen ist.103 Die Kennzeichnung als Subjekt oder Objekt ist schon eine Leistung der Kommunikation. Das heißt nicht, dass psychische und soziale Systeme sich nicht interpenetrieren oder füreinander konstitutiv sein können, doch sind sie eben nicht identisch. Luhmann erkennt somit die Möglichkeit der Selbstreferenzialität sowohl für das Subjekt als auch für das Objekt an. Letztlich wird damit die so wichtige Unterscheidung von Subjekt und Objekt durch die Form Selbstreferenz/Fremdreferenz und damit durch die Unterscheidung von System und Umwelt abgelöst:104 alles was ist, kann nur auf der Basis einer vorherigen operativen Geschlossenheit erkannt werden. Erst diese Geschlossenheit ermöglicht es, das Selbst und das Andere zu identifizieren. Sozialtechnologie: was leistet die Systemforschung? (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971), Seite 25-100. Siehe auch Niklas Luhmann, Soziale Systeme, (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984), Seite 93, wo besonders der Rückgriff auf Edmund Husserl, aber auch Berücksichtigung von George Herbert Mead deutlich wird. 102 Luhmann spricht hier von Kommunikation als Synthese von Mitteilung, Information und Verstehen. Für eine weiterführende Diskussion siehe vor allem Niklas Luhmann, Soziale Systeme (Frankfurt am Main: 1984), Seite 191ff. 103 Niklas Luhmann, Wissenschaft der Gesellschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990b), Seite 13. 104 Diese autopoietische Schließung kann von einem Beobachter beschrieben werden. Auch das System kann, in der Beobachtung zweiter Ordnung, also in der Reflexion, ein Beobachter sein und seine eigenen Grenzen selbst-beschreiben.
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Mit diesen zwei Entscheidungen ist Luhmann in der Lage, die soziale Ordnung nicht über das Normschema von Konformität und Abweichung zu definieren, sondern über die Konnektivität und Anschlussfähigkeit von Kommunikationen. Er fragt nicht nach den Gründen für abweichendes Verhalten, sondern nach den Gründen für Konformität, er fragt nicht, wie die Welt ist, sondern wie es sein kann, dass sie so ist, wie sie ist. Er fragt, wie es möglich ist, dass eine Ordnung das Unwahrscheinliche ins Wahrscheinliche, das Unmögliche in Mögliches transformiert, in der die Unwahrscheinlichkeit durch ständige Reproduktion zur Selbstverständlichkeit wird. Um derartige Prozesse zu beobachten, ist es nötig das Alltägliche, die Routine, das Vertraute, die Sicherheit, das Normale ins Unwahrscheinliche wieder aufzulösen. Oder in den Worten von Niklas Luhmann: „Wenn man die Natur als überwundene Unwahrscheinlichkeit begreift, gewinnt man ein anderes Maß für die Beurteilung des Erreichten, und des zu Verbessernden; dann wird zumindest klar, dass jede Auflösung einer Ordnung in die Unwahrscheinlichkeit einer Rekombination zurückführt.“105 An dieser Stelle verweist Luhmann auf die doppelte Kontingenz als Grundproblem der Ordnung. Das heißt der gegenseitige Bezug von Erwartungen steht am Ausgangspunkt sozialer Systeme und damit sozialer Ordnungen. Doppelte Kontingenz charakterisiert eine Situation, in der sich Ego und Alter gegenseitig in ihrer Kontingenz erkennen, das heißt in der Ego seine Kommunikation in Abhängigkeit von Alter und zugleich Alter in Abhängigkeit von Ego wählen muss und sich damit der eigenen Kontingenz gewahr wird. Die doppelte Kontingenz ist sowohl für Ego als auch für Alter real. Obwohl das gegenseitige Verhalten abgestimmt werden muss, werden beide in Abhängigkeit des anderen entscheiden: jedes Ego erfährt Alter als alter Ego.106 Wie ist Ordnung angesichts dieser Dynamik wechselseitiger Abhängigkeit und gegenseitiger ‚Beobachtungen’ möglich? Über Zeit: selbst wenn nicht kommuniziert wird, wird dies über die Zeit als Signal und damit als Kommunikation wahrgenommen. Es findet eine Asymmetrisierung der Zeit statt, da ein erneutes Aufeinandertreffen dann eben nicht mehr einen Neustart erlaubt, sondern an vorangegangene Kommunikation erinnert. Kommunikationen verhaken sich und das System schließt sich autopoietisch ab. Ein Vergleich zum Gefangenendilemma verdeutlicht den spezifischen Zugang zu Fragen der sozialen Ordnung: Wie im Gefangenendilemma befindet sich jeder in einer Situation, in der das eigene Verhalten durch mögliches Verhalten des Gegenspielers beeinflusst wird. Dies kann er aber nur wissen, wenn er weiß, welche Strategie dieser Gegenspieler bevorzugt in Abhängigkeit von seiner eigenen Strategie. In der ökonomischen Theorie wird die Blockade der gegenseitigen Beobachtung jedoch durch die Annahme gemeinsamen Wissens (common knowledge) gelöst. Mit der Annahme, die Spielstruktur, die Auszahlungsfunktion und Informationsstruktur sei common knowledge, kann jeder Spieler ex ante die bestmögliche Antwortstrategie für sich sowie für seinen Gegenspieler formulieren und darauf aufbauend handeln. Der Prozess des gegenseitigen Beobachtens wird über die Annahme fixer Kategorien und Zeichen über die Gleichgewichtsrechnung zum erliegen gebracht. Damit wird das Problem von der Unwahrscheinlichkeit der sozialen Ordnung (oder ‚Normalität’) in das Problem der Unwahrscheinlichkeit des Gleichgewichts überführt. In der Politikwissenschaft folgt damit, in einer speziellen Interpretation von Hobbes’ Leviathan, die Formulierung der sozialen Ordnung in Einheiten des Sicherheitsdilemmas; als die 105 Niklas Luhmann, „Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation“, in: ders., Aufsätze und Reden, (Stuttgart: Reclam 2001), Seite 77. 106 Niklas Luhmann, Soziale Systeme, op. cit. Seite 148 ff.
1.4 Die Politik der Weltgesellschaft
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Angst um die gefährdete Gesundheit/Unversehrtheit der Staaten. Die dieser Auflösung entgegengesetzte Theorie der doppelten Kontingenz sieht diese gegenseitige Orientierung als (Auto-)Katalysator sozialer Systeme. Sobald sich Ego und Alter gegenseitig in Betracht nehmen, entstehen Nichtbeliebigkeiten. Zwar haben Ego und Alter noch die Freiheit wieder auszusteigen, doch dies ist immer mit sozialen Kosten verbunden. Das Entstehen von Nichtbeliebigkeiten ist das Entstehen von Systemen, die sich gegenüber ihrer Umwelt abgrenzen. Das Problem der doppelten Kontingenz bleibt dabei unter dem Stichpunkt der Komplexität erhalten und besteht als Kontingenzproblem fort. Doppelte Kontingenz „erklärt allenfalls, dass überhaupt soziale Systeme an Zufällen entlang entstehen und eine nicht mehr zufällige Ordnung festlegen.“107 Damit kann Luhmann den Weltgesellschaftsbegriff und auch das Politische System neu definieren. 1.4 Die Politik der Weltgesellschaft Dass sich der Staat im Zeitalter der Globalisierung und des globalen Terrorismus wandelt, darüber besteht allgemeiner Konsens. In der Tat, die Frage nach dem Wandel von Staatlichkeit, nach der zukünftigen Rolle des Staates, ist seit zehn Jahren eine der Grundfragen der Internationalen Beziehungen.108 Prognosen reichen von einer weiterhin prägenden Rolle des Nationalstaates109 bis zu einer völligen Transformation der Art und Weise, wie sich die Weltpolitik organisiert.110 Bisher wurde jedoch über die Anbindung von politischen Fragestellungen an den Nationalstaat dieser Wandel als eine Verfallsgeschichte, als ein Verlust und eine Herausforderung erzählt. Über die handlungstheoretischen Grundlagen wird Globalisierung als Gefahr der ‚Willensbildung’ und ‚Willensdurchsetzung’ von zuvor national definierten Interessen begriffen. Ein differenzierteres Instrumentarium bietet sich an, wenn man nicht vom Nationalstaat, sondern vom System ausgeht. Damit kann Staatlichkeit nicht nur in Einheiten von mehr oder weniger, sondern auch als Transformation, als Neudefinition auf Basis einer Veränderung der Formen sozialer Differenzierung analysiert werden. Hier bietet sich die Weltgesellschaftsforschung an.111 Da soziale Systeme sinnkonstituierte und durch Kommunikation reproduzierte Systeme sind, ist es völlig ausreichend, 107 Niklas Luhmann, „Zu einer Theorie sozialer Systeme“, in: Aufsätze und Reden (Stuttgart: Reclam, 2000), Seite 15. 108 Für einen wunderbaren Überblick über die Globalisierungsdebatte siehe Jan Aart Scholte, Globalization: a critical introduction (New York: 2005) und James H. Mittelman, Globalization: critical reflections (Boulder: Colo, 1996). 109 Robert Boyer und Daniel Drache (Hrsg.), States against Markets - The Limits of Globalization (London: Routledge, 1996), Eric Helleiner, States and the Reemergence of Global Finance: From Bretton Woods to the 1990s (Ithaca: Cornell University Press, 1994), Linda Weiss, The Myth of the Powerless State (Ithaca: Cornell University Press, 1998). 110 Siehe Susan Strange, Mad Money: When Markets Outgrow Governments (Ann Arbor: University of Michigan Press, 1998), Susan Strange: Casino Capitalism (Oxford: Blackwell, 1986), auch: Helmut Willke, Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2001). 111 Für neuere Analysen innerhalb der IB zur Weltgesellschaft siehe: Mathias Albert, Zur Politik der Weltgesellschaft: Identität und Recht im Kontext internationaler Vergesellschaftung (Weilerswist, 2002); Chris Brown, „World Society and the English School“, European Journal of International Relations, Vol. 7 No. 4 (2001), Seite 423-441; Barry Buzan, From International to World Society? English School Theory and the Social Structure of Globalisation (Cambridge; New York, 2004); Dietrich Jung, Klaus Schlichte und Jens Siegelberg, Kriege in der Weltgesellschaft: strukturgeschichtliche Erklärung kriegerischer Gewalt (19452002) (Wiesbaden, 2003); Klaus Schlichte, Der Staat in der Weltgesellschaft: politische Herrschaft in A-
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Weltgesellschaft im Sinne von füreinander erreichbaren Kommunuikationen zu definieren.112 Der Begriff der Weltgesellschaft in der heutigen Bedeutung weist demnach nur auf globale Kommunikationsmuster hin.113 Er setzt dezidiert keine normative Integration über Werte und Normen voraus, wie es Barry Buzan vorschlägt. Jedoch verlangt dieser Begriff die Welt als eine genuine Analyseebene anzuerkennen und Weltgesellschaft als umfassendes soziales System zu verstehen. Zum einen bedeutet dies, dass jeder Versuch die Weltgesellschaft theoretisch zu greifen schon Weltgesellschaft voraussetzt und mit reproduziert. Zum anderen zieht dieser Begriff jeden Versuch, ein Jenseits der Weltgesellschaft festzustellen auf deren interne Seite und konzipiert daran anschließende Strukturbildungsprozesse als interne Grenzziehung. Nur innerhalb der Gesellschaft können sich Subsysteme wie Funktionssysteme etablieren.114 Damit kann die Konstruktion politischer Räume wie Polis, Imperien, Dynastien oder Nationalstaaten als Resultat interner Prozesse der Weltgesellschaft angesehen werden, die auf je spezifischen Unterscheidungen und semantischen Feldern basieren. Strukturen erklären sich nicht aus der Interaktion zwischen Akteuren/Staaten, sondern Staaten selbst sind nur historisch kontingente, durch interne Grenzziehung entstandene, Artefakte der organisierten Weltpolitik. Auf dieser Basis lässt sich ein differenziertes Instrumentarium zur Beschreibung von sozialem Wandel etablieren. Der an dieser Stelle unglückliche und missglückte Versuch von Kenneth Waltz eine systemzentrierte Analyse der Weltpolitik auf Basis einer alles beherrschenden Anarchie zu beschreiben zeichnet sich nicht nur durch theoretische Schließungen, sondern vor allem durch eine völlige Fehldeutung der grundlegenden Problematiken aus. An dieser Stelle ist es nicht notwendig, die alles beherrschende Diskussion zwischen Neoliberalen und Neorealisten der 1980er Jahre wieder aufleben zu lassen. Deren zu einfach geratene Logik mitsamt ihren fatalen Konsequenzen für die disziplinäre Diskussion wurde von Alexander Wendt deutlich herausgearbeitet.115 Von Wendt selbst nicht identifiziert wurde jedoch der auch von ihm vertretene Primat der Politik bzw. des Nationalstaates. Für eine Beantwortung der Frage, wie Wandel von Staatlichkeit beschrieben werden kann, muss gerade diese vorherrschende Stellung der Politik gegenüber anderen Feldern, Akteuren oder ‚Funktionssystemen’ endogenisiert und problematisiert werden: sie muss sich aus dem ‚Modell’ ableiten, und kann nicht einfach über die Formel Souveränität angenommen werden. Symmetrisch gedacht ist aus diesem Grund auch der Weltsystemansatz von Immanuel Wallerstein als zweiter ‚systemischer’ Ansatz unbrauchbar, da er weltweite Interaktionen auf ökonomische Kriterien reduziert und somit die Wirtschaft der Politik voranstellt. Der Wandel von Staatlichkeit wird immer wieder reduktionistisch auf eine einfache Logik zurückgeführt. Hilfreich wäre es, stattdessen das Verhältnis von Politik und Ökonomie in
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sien, Afrika und Lateinamerika (Frankfurt am Main; New York, 2005); Rudolf Stichweh, Die Weltgesellschaft: Soziologische Analysen (Frankfurt am Main, 2000); Stiftung Weltgesellschaft, World society studies (Frankfurt; New York: Campus Verlag, 1990); Klaus Dieter Wolf, Die neue Staatsräson: zwischenstaatliche Kooperation als Demokratieproblem in der Weltgesellschaft: Plädoyer für eine geordnete Entstaatlichung des Regierens jenseits des Staates (Baden-Baden, 2000). Siehe Niklas Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, Band 1 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997), Seite 92 ff. Ibid, Seite 147 Bettina Heintz und Jens Greve, „Die 'Entdeckung' der Weltgesellschaft. Entstehung und Grenzen der Weltgesellschaftstheorie“, in: Bettina Heintz, Richard Münch, Hartmann Tyrell (Hrsg.), Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen, Sonderheft „Weltgesellschaft“ der Zeitschrift für Soziologie, Stuttgart: Lucius & Lucius (2005), Seite 101. Alexander Wendt, Social Theory, op. cit,
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einen größeren gesellschaftstheoretischen Analyserahmen einzubetten. Hier zeigt sich, dass die grundlegende theoretische Herausforderung nicht allein in der Einnahme einer systemischen Perspektive besteht. Vielmehr stellt sich auch die Frage, wie der Gesellschaftsbegriff global zu denken ist, um daran anknüpfend Grenzverschiebungen bzw. Prozesse sozialen Wandels zu bestimmen. Nach Niklas Luhmann lassen sich von der Perspektive der Weltgesellschaftstheorie aus die aktuellen Veränderungen der Globalisierung und der Welt der Global Governance als funktionale Differenzierung der Weltgesellschaft beschreiben. Funktionale Differenzierung bedeutet, dass sich zuvor nationalstaatlich organisierte Funktionssysteme global vernetzen.116 Funktionssysteme lassen sich dadurch charakterisieren, dass sie sich an ihrer eigenen Autopoiesis, ihrer eigenen Reproduktion, Anschlussfähigkeit, Selbstbeschreibung und Logik orientieren. Im Gegensatz zum territorial verfassten Nationalstaat klassischer Prägung sind zwar territoriale Grenzen sicherlich auch weiterhin wichtig. Sie sind jedoch nicht einfach eine natürliche Grenze, aus deren Natürlichkeit sich die Prozesse der Weltpolitik als eine Art Grenzmanagement generieren. Sondern die Bedeutung von Territorialität kann sich nur aus den eigenen, funktionssystemspezifischen Prozessen der Weltkonstruktion ergeben. Territoriale Grenzen, so wichtig für die segmentäre Ordnung, können also innerhalb einer funktional differenzierten Weltgesellschaft nur insoweit eine Rolle spielen, als sie innerhalb der Funktionssysteme thematisiert werden und hier Programme beeinflussen. Jedoch werden sie weder den funktionsspezifischen primären Code wie Zahlung/Nichtzahlung des Wirtschaftssystems verändern, noch einen zweiten Code etablieren. Luhmann selbst beschreibt Politik als ein Funktionssystem der Weltgesellschaft, dass sich durch eine segmentäre Zweitdifferenzierung auszeichnet. Um zu sehen, wie Luhmann Politik konzipiert, bedarf es einer kurzen Erläuterung. Nachdem Luhmann Unsicherheitsabsorption, positive Sanktion und negative Sanktion als drei Arten der Einflussnahme in der Politik der Gesellschaft identifiziert hat,117 kommt er zu dem Schluss, dass die „Unterscheidung von positiven und negativen Sanktionen [...] eine unerlässliche Voraussetzung für die Differenzierung von Wirtschaft und Politik [ist], auch wenn in den so gebildeten Systemen dann wieder alle Einflussformen eingesetzt werden können.“118 Politik konstituiert sich daher aus der Logik negativer Sanktionen heraus, denn „erst wenn wir zur Einflussform übergehen, die sich auf negative Sanktionen stützt, kommen wir zum spezifisch politischen Medium Macht“.119 Mit dem Medium der Macht ist dann der Weg für Luhmann frei, die Funktion der Politik über die Sicherstellung kollektiv bindender Entscheidungen zu definieren.120
116 Hier muß angemerkt werden, dass innerhalb der systemtheoretischen Forschung Uneinigkeit über diesen Punkt besteht. Die klassische Leseart würde wohl betonen, dass es immer nur eine strukturprägende Differenzierungsform gibt, die die Funktion und Bedeutung anderer Differenzierungen vorgibt. D.h. entweder gibt es funktionale Differenzierung oder aber nicht. Ein mehr oder weniger ist nicht möglich. Helmut Willke, 2001, op.cit, folgend verstehe ich jedoch gerade die Weltgesellschaft hier in einem Wandlungsprozess, in dem sich die funktionale Differenzierung mit der segmentären Differenzierung überlagert und zu deutlichen Grenzverschiebungen führt. Siehe auch Gunther Teubner und Andreas Fischer Lescano, Regimekollisionen (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006), Seite 92. Für eine gegenteilige Meinung siehe Rudolf Stichweh, Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2001). 117 Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000), Seite 41. 118 Ibid, Seite 46. 119 Ibid, Seite 45. 120 Ibid, Seite 84.
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Luhmann selbst stellt also den binären Code von Machtüberlegenheit und Machtunterlegenheit, der sich in Demokratien eben in den Code von Regierung und Opposition übersetzt, in das Zentrum des Politiksystems. Sicherlich gewinnt Luhmann damit interessante Einsichten und bietet eine deutliche Herausforderung für rein liberale Dogmen. Dennoch stellen sich zwei weitere Fragen. Der Wandel von Staatlichkeit durch Herausbildung von GlobalGovernance-Regimen selbst wird bei Luhmann nicht gesondert analysiert.121 Das heißt aber auch: die von Luhmann vertretene (beobachter-zentrierte) Position des radikalen Konstruktivismus übersetzt sich bei ihm nicht in eine weitergehende Diskussion darüber, inwieweit der Konstruktivismus auch von traditionellen Politikbegriffen abweichen muss. Zugegeben, das ist eine Fragestellung die wahrscheinlich nur innerhalb der IB besondere Relevanz entfaltet. Gleichwohl stellt sich aber für die IB die Frage, inwieweit der Konstruktivismus in den Internationalen Beziehungen mit seinem partikularen Zugriff auf Fragen der Weltpolitik eben auch einen Politikbegriff impliziert, der über das positivistische Sanktionsmodell und damit letztlich auch über den klassischen Realismus à la Morgenthau hinaus geht. Zweitens scheint die Gleichsetzung von Politik mit negativer Sanktion und Macht für Luhmann selbst ein zu unsicheres Fundament für seine weiteren Analysen darzustellen. Zum einen vermischt er im weiteren Verlauf seiner Diskussion unterschiedliche Traditionen politischen Denkens: so wird ohne weitere Rechtfertigung die Politik der Zeit von Macchiavelli mit der Politik des Raumes von Hobbes verbunden.122 Zum anderen geht er mit seinen Diskussionen zum Gedächtnis der Politik, zu Selbstbeschreibungen und strukturellen Kopplungen selbst über die Grenzen der negativen Sanktion heraus, da mit diesen Themen prinzipiell auch Fragen der Identitätsbildung angesprochen sind, die zwar Teil des ‚politischen’ Systems sind, sich jedoch nicht über ‚negative’ Sanktionen greifen lassen.123 Diese Spannung zwischen der Politik der negativen Sanktion und der Politik der Identität und Realität überträgt sich auch auf sein Verständnis der Politik globaler Prozesse. Der Grund hierfür liegt meines Erachtens in dem bemerkenswerten Desinteresse Luhmanns an den Kerndiskussionen der Internationalen Politischen Theorie. Nicht nur verschließt sich der Machtbegriff Luhmanns gegenüber differenzierteren Machtanalysen124 und poststrukturalistischen Alternativen, er reduziert das Verständnis von politischen Prozessen zudem auf sein in neue Schranken gewiesenes Politiksystem, das in seinen Begrifflichkeiten eben rein von der nationalen Politik geprägt ist. Will die Systemtheorie für die Internationale Politische Theorie nützlich sein, muss sie eine Interpretation Luhmanns vorschlagen, die an dieser Stelle eine alternative Sicht ermöglicht. Interessanterweise wird genau diese Notwendigkeit sowohl bei Mathias Albert als auch bei Helmut Willke deutlich, die die zwei am weitesten ausgereiften Versuche vorge121 Siehe auch Albert 2005, op.cit. 122 Für eine Diskussion der Unterschiede siehe R.B.J. Walker, Inside/Outside: international relations as political theory (Cambridge: Cambridge University Press, 1993). 123 Als Soziologe ist Luhmann natürlich daran interessiert, Identitätsfragen als soziologisches Problem zu begreifen. Diese Frage kann unter dem Blickwinkel der internationalen Beziehungen nicht unterschätzt werden. Negiert man sie, negiert man gleichzeitig die Relevanz von Ideologien, Weltanschauungen und die gesamte Nationalismusfrage für politische Prozesse. Hier bietet vor allem Michel Foucault mit seinem Konzept der Governmentalität eine Alternative an. Siehe Michel Foucault, Graham Burchell, Colin Gordon und Peter Miller (Hrsg.), The Foucault Effect: studies in governmentality: with two lectures by and an interview with Michel Foucault (Chicago: Chicago University Press, 1991). Gerade an der Nationalismusforschung zeigt sich, dass Selbstbeschreibungen und Identitätsfragen miteinander verbunden und gleichzeitig das Resultat politischer Projekte sind. 124 Steven Lukes, Power: A Radical View, 2nd edition, (London: Macmillan, 2004).
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legt haben, die Systemtheorie auf Internationale Beziehungen anzuwenden. Sicherlich, beide zeigen wie die Systemtheorie Luhmanns über die Konzepte der funktionalen Differenzierung, der Weltgesellschaft und der Sinnstrukturen eine Begrifflichkeit anbietet, die es erlaubt, Fragen der Transnationalität, von hybriden Rechtsstrukturen und von einer sich verändernden Staatlichkeit besser zu greifen, als dies für klassischen Theorien der internationalen Politik bzw. der Internationalen Politischen Ökonomie mit ihrem Fokus auf Anarchie und Kooperation möglich ist. Jedoch brechen beide dafür aus den Grenzen einer engen Lesart Luhmanns heraus. So nutzt Mathias Albert das Konzept der funktionalen Differenzierung, um über Analysen von Migration und der lex mercatoria Bedeutungsverschiebungen von Territorium und damit letztlich die Veränderungen der modernen, territorial definierten Staatlichkeit und ihrer Inklusions- und Exklusionsmechanismen besser in den Blick zu bekommen. Damit zeigt er einen Weg auf, wie systemtheoretische Untersuchungen für die Leitfrage der gegenwärtigen Diskussionen über einen Umbruch des internationalen Staatensystems in Richtung auf ein ‚post-westfälisches’ System wichtige Hinweise geben können: „Ein Verständnis der Konstruktion kollektiver Identität [...] zeigt, dass es im globalen Strukturwandel keinesfalls darum geht, ob Territorialität von Bedeutung ist oder nicht; sie gibt sich aber auch nicht mit der Feststellung zufrieden, dass sich die Bedeutung von Territorialität wandelt, sondern erlaubt auf eine exakte und unmittelbar anschlussfähige Weise, nachzufragen, wie dies geschieht“.125 Albert folgt Luhmann insofern, als er einerseits Politik mit dem politischen System identifiziert. Andererseits ist sowohl für Luhmann als auch für Albert methodisch der Zusammenhang von Semantik und Sozialstruktur erkenntnisleitend. Insbesondere die Europäische Union als ein politisches System, das mit dem traditionellen Verständnis von Souveränität nur unzureichend charakterisierbar ist, stellt für Albert und Kopp-Malek einen äußerst interessanten Testfall dar, an dem sie diskursive Veränderungen von territorialen Grenzen festmachen (Albert und Kopp-Malek 2002). Andererseits plädiert er explizit für einen pragmatischen Umgang mit den theoretischen Verankerungen der Systemtheorie, um diese für die IB zu öffnen (Albert 1999). Im Gegensatz zu Albert postuliert Helmut Willke gleich zu Anfang das Ende der Territorialität und den Beginn einer atopischen Gesellschaft, um über sein Konzept der lateralen Weltsysteme126 den Raum für eine reflexive Steuerungstheorie zu schaffen. Dabei steht vor allem die Frage im Vordergrund, welche Formen von Wissen und Nichtwissen für Steuerungsfragen bedeutsam werden, wenn sich moderne Sicherheiten bezüglich Territorium, Wissen, und Ordnung auflösen.127 Auf der einen Seite ist seine Steuerungstheorie deutlich ausgefeilter als bei Luhmann selbst; auf der anderen Seite unterscheidet sich dafür auch seine theoretische Architektur deutlich von Luhmann. Obwohl in ihren Ansätzen unterschiedlich, deuten sowohl Albert als auch Willke bei ihren Beschreibungen aktueller Veränderungsprozesse auf das Problem hin, dass eine politikwissenschaftliche Interpretation der Luhmannschen Systemtheorie ihren Rahmen entweder deutlich ausweiten, oder diesen gar – zumindest in Teilbereichen – reformulieren muss. 125 Mathias Albert, 2002, op.cit., Seite 315, Hervorhebung im Original. 126 Helmut Willke, 2001, op. cit., Seite 73. 127 Siehe insbesondere die zwei weiteren Bände der Atopia-Triologie, Helmut Willke, Dystopia: Zur Krisis der atopischen Gesellschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002) und Helmut Willke, Heterotopia: Studien Zur Krisis Der Ordnung Moderner Gesellschaften (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003).
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Schärfer formuliert: die Politik der Gesellschaft und das daran ansetzende Verständnis von Politik als Möglichkeit ‚kollektiv bindender Entscheidungen’ im Sinne von ‚negativen Sanktionen’ greift für eine adäquate Beschreibung aktueller globaler politischer Prozesse zu kurz. Dies ist insbesondere bei Helmut Willke erkennbar. Schon zu Beginn seiner AtopiaTrilogie fasst Willke die Konsequenzen der funktionalen Differenzierung der Weltgesellschaft für politisches Handeln programmatisch zusammen: „Die weitreichendsten neuen Restriktionen politischer Steuerung sind die beiden Komplexe von Umwälzungen, die sich gegenwärtig als die Dynamik der Wissensgesellschaft und der Weltgesellschaft bündeln. Die treibende Kraft der Wissensgesellschaft ist organisierte Komplexität, die auf spezialisiertem Wissen beruht und zugleich von der ubiquitär werdenden Wissensbasierung aller sozialen Prozesse rekursiv verstärkt wird. Das treibende Moment der Weltgesellschaft ist Globalisierung, verstanden als ein Prozess, der auf der Basis neuer globaler Infrastrukturen für Kommunikationen und Transaktionen nationale Grenzen unterspült und brüchig macht und zugleich mit jedem gelingenden globalen Teilmarkt eine rekursive Selbstverstärkung füttert.“128
Sein Konzept der lateralen Weltsysteme beschreibt dabei die aktuellen Prozesse, mit denen sich zuvor national definierte Funktionssysteme aus den Grenzen des Nationalstaates herauslösen und auf globaler Ebene neu vernetzen. Die Konsequenzen für politische Steuerung zeigen sich nun darin, dass einerseits der Wohlfahrtsstaat seiner territorialen Basis beraubt, andererseits im globalen Kontext eine neue Restabilisierung noch nicht erkennbar ist, da die Kapazitäten für eine Selbststeuerung nicht institutionalisiert bzw. institutionalisierbar sind. Anforderungen für eine Institutionalisierung werden von Willke mit den innovativen Konzepten wie ‚kollektive Intelligenz’ und ‚Kontextsteuerung’ weiter präzisiert. Die Rolle der Politik wird dabei aus ihrer Träumerei einer hierarchischen Weltordnung herausgerissen. An die traditionelle Auffassung internationaler Politik adressiert, negiert Willke das realistische Weltbild und seine dominante Sorge um militärische Gewalt: „In Frage steht damit nicht mehr in erster Linie die Macht oder der Reichtum einer sozialen Einheit als Praxisgemeinschaft, sondern ihre systemische Intelligenz, denn nur diese ist die kritische Ressource, aus der alles andere folgt. Die Leitfrage ist nicht mehr, wie viele Divisionen Japan hat oder über wie viel Devisenreserven Russland oder Indien verfügen. Die Leitfrage für die Einschätzung der ‚Qualität’ einer sozialen Form oder eines gesellschaftlichen Kontexts ist, über welche systemische Intelligenz diese Form verfügt, welche Lernfähigkeit und welches Innovationspotenzial ihr zuzutrauen sind.“129
Die dafür notwendige Wissensgenerierung findet jenseits nationalstaatlicher oder universitärer Strukturen statt: „....communities of practice – geh[en] nicht vom Philosophen aus, sondern von hybriden Gemeinschaften aus Praktikern, Erfindern, Wissenschaftlern und Geschäftleuten, die neue Geschäftsideen realisieren. Die vorrangige Transformation betrifft den Begriff des Wissens, und erst danach ändert sich mit der neuen Idee des Wissens die praktische Bedeutung der Ressource Wissen“.130 Die Vorstellung Politik könne die notwendigen Strukturen hierarchisch herstellen, wie das staatszentrierte Ansätze annehmen, wird von Willke als fragwürdig eingeschätzt. 128 Helmut Willke, 2001, op.cit., Seite 17. 129 Ibid, Seite 87. 130 Ibid, Seite 87.
1.4 Die Politik der Weltgesellschaft
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„Sie [Funktionssysteme, O.K.] entzogen sich nachdrücklicher dem Zugriff der Politik, indem sie eigene Steuerungskompetenzen und Ansätze interner Steuerungsregimes aufbauten, und sie dienten sich in Konzertierten Aktionen, Runden Tischen und anderen Verhandlungssystemen der Politik als Partner der Gestaltung politischer Steuerung an und legten genau damit offen, wie grundsätzlich die Politik ihre Fähigkeit souveräner Gestaltung gesellschaftlicher Einheit verloren hatte.“131
Die sich im Zuge der zunehmenden funktionalen Differenzierung durchsetzende Heterogenität der Wissensinstitutionen spannt somit das Netz auf, in dem mögliche „Modelle, Einrichtungen und Regelsysteme“132 einer möglichen Steuerung oder Governance diskutiert werden können. Damit bleibt für die Politik die Möglichkeit, in der Krisis des Regierens133 das Management der Heterogenität zu übernehmen und über neue Ordnungskonzepte neue Kompetenzen der Sicherstellung von Strategiefähigkeit, Lernfähigkeit und Innovationskompetenz zu erreichen. An dieser Stelle wird der Konflikt zwischen den radikalen Implikationen der These einer funktionalen Differenzierung der Weltgesellschaft und Luhmanns Begriff von Politik als ‚Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen’ deutlich. Denn angesichts einer sich funktional differenzierenden Weltgesellschaft, die eine segmentäre Differenzierung des politischen Systems überwinden will, stellt sich nun erneut die Frage nach der Mitgliedschaft. Wenn sich im Zuge der funktionalen Differenzierung Mechanismen der Inklusion und Exklusion also nicht nur verschieben, sondern auch die Frage berühren, wer auf welcher Basis über diese zu entscheiden hat, dann zeigt dies, dass sich politische Prozesse innerhalb der Funktionssysteme finden lassen, die nicht gleichzusetzen sind mit den politischen Prozessen im politischen System. Anders ausgedrückt: sollten sich ‚multiple’ territorial oder funktional definierte Kollektive herausbilden, stellen sich genuin politische Fragestellungen, die nicht mit der Definition von Politik als Herstellung von kollektiv bindenden Entscheidungen greifen lassen. Vielmehr stellen sich hier vorgelagerte Fragen der ‚Anerkennung’ und Mitgliedschaft – zum Beispiel danach, was genau passiert, wenn funktionale und territoriale Grenzen konfliktiv aufeinander treffen. Diese Fragen werden bei Luhmann nicht weiter thematisiert, sondern stillschweigend als beantwortet vorausgesetzt. Im globalen Kontext ist es aber gerade eine der wichtigsten politischen Fragen, ob Taiwan, Palästina, oder Kurdistan Akteure oder Nichtakteure sind. Auch ist es für das Verständnis von aktuellen politischen Prozessen wichtig, wie und unter welchen Bedingungen IBM, Microsoft, oder amnesty international anwesend sind und damit als Kommunikationsadressaten anerkannt und akzeptiert werden; oder aber ob und wie sich innerhalb der Finanzmärkte private Autoritätsstrukturen herausbilden und eigene Legitimitätskriterien entwickeln. Diese zentralen politischen Prozesse zu negieren kann sich keine Theorie der ‚inter-nationalen’ Politik leisten. Genau aus diesem Grund sind Albert und Willke jeweils auf ihre eigene Art und Weise gezwungen, das starre Korsett Luhmanns zu verlassen, um genauere Analysen von politischen Prozessen jenseits national-staatlicher Politik anstellen zu können.
131 Ibid, Seite: 203. 132 Ibid, Seite 148. 133 Ibid, Seite: 86-123.
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1 Zu einer Politik der Weltgesellschaft
Eine Möglichkeit für einen neuen Ansatz bietet sich durch die Unterscheidung von Politik und dem Politischen, wie sie unter anderem von Urs Stäheli vorgeschlagen wurde.134 Damit kann der Kurzschluss von ‚politischen Prozessen’ auf die Politik aufgehoben werden. Der Preis ist jedoch die Anerkennung einer Pluralität von Politikbegriffen. Auch wenn Helmut Willke seine eigene Einsicht nicht weiter verfolgt, erkennt er diese Notwendigkeit eines anderen Politikbegriffs an einer Stelle beiläufig an, wenn er schreibt: „Die entscheidende Prüfoperation, die unter Bedingungen der Konkurrenz etwas über die relative Potentialität und Zukunftsfähigkeit einer Einrichtung aussagen kann, ist mithin nicht die Befragung eines Systems auf seine kollektive Handlungsfähigkeit, sondern auf die Qualität seiner kollektiven Intelligenz....[d]ie Leistung der Politik besteht also nicht allein in der Bereitstellung kollektiv bindender Entscheidungen: bindende Entscheidungen werden nun innerhalb der Funktionssysteme getroffen. Die Leistung der Politik ist die Einheit – nicht im Sinne von Ganzheit vs. Teilen – sondern das in-betracht-ziehen multipler Realitäten als Charakteristikum moderner Gesellschaften.“135 Genau dieser zweite Politikbegriff, der auf das ‚in-betracht-ziehen’ multipler Realitäten abzielt, könnte sich als ein möglicher Ansatzpunkt für eine breitere Interpretation der Systemtheorie darstellen. Die Frage ist nur: Wie sieht dann das Programm einer konstruktivistischen IB aus? Um diese Ideen weiter zu verfolgen, bietet sich vor allem die eine Untersuchung der Rolle der Sprache für ein besseres Verständnis politischer Prozesse an. 1.5 Die Politik der Argumentation Die Sprache als Ort politischer Prozesse ist natürlich ein bekanntes Thema innerhalb der IB.136 Gerade die kommunikative Konstruktion von politischen Räumen wird sowohl von Habermas und von Luhmann vertreten. Ohne hier jedoch auf die breitere Literatur zum kommunikativen Handeln und die verschiedenen Diskurstheorien einzugehen, möchte ich in diesem Abschnitt nun den zweiten Politikbegriff aus den Annahmen Luhmanns ableiten. Als erster Referenzpunkt dienen hier seine Ausführungen zur Argumentation. Die Argumentationstheorie Luhmanns ist in seine Gesellschaftstheorie, insbesondere der Gesellschaftsdifferenzierung, eingewoben. Die Philosophie sei selbst nur das Resultat einer hierarchischen Weltsicht. Denn „wer auf Begründung insistiert, muss eine trichterförmige Vorstellung der Ordnung des Wissens haben, also mehr oder weniger hierarchisch denken; es darf nur relativ wenige Gründe von hinreichender Evidenz geben...“137 Die Theorie der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft folgt der Logik der Heterarchie.138 Denkt man eher heterarchisch und zirkulär, wird Begründung zur Argumentation.139 Die Argu134 Siehe Urs Stäheli, Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie (Weilersvist: Velbrück, 2000) 135 Helmut Willke, 2001, op.cit, Seite 203 und 207. 136 Siehe James Der Derian und Michael Shapiro (Hrsg.), International/Intertextual Relations: Postmodern Readings of World Politics (Lexington, Mass.: Lexington Books, 1989). Siehe auch R.B.J. Walker, Inside/Outside. International Relations as Political Theory (Cambridge: Cambridge University Press, 1993). Diese Abschnitt basiert auf Oliver Kessler, „Politikberatung, eine Systemtheoretische Rekonstruktion?“ in Gunther Hellmann (Hrsg), Forschung und Beratung in der Wissensgesellschaft (Baden-Baden: Nomos, 2006). 137 Niklas Luhmann, Wissenschaft der Gesellschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993), Seite 435. 138 Für eine tiefere Diskussion, siehe Kyriakos Kontopoulos, The Logics of Social Structure (Cambridge: Cambridge University Press, 1993). 139 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., Seite 436.
1.5 Die Politik der Argumentation
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mentation selbst kann, da sie immer ein Prozess ist, der zwischen Ignoranz und Sicherheit verläuft, keine letzten Begründungen liefern. Das Bild der Argumentation (Differenz) ersetzt das Bild der Begründungssuche (Einheit). Die Argumentationstheorie ist damit Luhmanns radikale Antwort auf die Grundlagenkrise der Logik, denn „wenn man aber die Frage nach der Bedeutung von Wissenschaften für die heutige Gesellschaft nicht mehr als Frage nach dem Grund der Wahrheit ihrer Erkenntnis stellt, verschwindet mit den Grundlagen auch die Krise und man wird frei sich nach den Sachverhalten umzuschauen.“140
Die Argumentation ist somit ein Darstellungsprozess, innerhalb dessen zwar Geltungsansprüche formuliert werden können, der aber selbst nicht notwendig begründet werden kann. Demnach kann es auch kein letztes Wort geben, das die absolut letzten Begründungen liefern kann. Argumentation zieht neue Argumentationen nach sich. Es geht nicht um erfolgreiches vs. nicht erfolgreiches argumentieren. Ebenso ist die Argumentation selbst nicht normativ, denn „sie darf enttäuschen und aus Enttäuschungen lernen. Aber ihr Ertrag kann zu normativen Regeln oder Prinzipien gerinnen.“141 Somit kann auch die Argumentation nicht mit einem Telos einer letzten Begründung oder eines Idealzustandes wie Konsens ausgestattet sein. Die Argumentation ist vielmehr zu sehen „...als massenhaftes, und gleichzeitiges Geschehen in einem komplexen System – ohne klare Linienführung, mit Clusterbildungen anhand bestimmter Texte, aber ohne Hierarchiebildung und ohne Teleologie bezogen auf das Gesamtsystem.“142 Die Formulierung und der Widerstreit von Geltungsansprüchen, zum Beispiel von Wissen über Naturgesetze oder von Autorität, ist nur innerhalb von Argumentationen möglich. Die Argumentation forciert das Bild der Konversation, innerhalb dessen Wissen formuliert und akzeptiert wird. Dabei ist die Notwendigkeit von ‚Wissen’ oder ‚Wahrheit’ nicht außerhalb der Argumentation zu verstehen. Die Akzeptanz von Wissen ist die Akzeptanz vorheriger Argumentationen. Analog sind logische Schlüsse und mathematische Beweise ebenfalls als Argumentationen zu verstehen, die zu überzeugen versuchen und sich damit neuen Argumentationen ausliefern. Eine Argumentation selbst ist in ein Netzwerk früherer und späterer Argumentationen, in Themen und Beiträge eingebettet, auf die sie sich beziehen, deren sie sich erinnern oder die sie antizipieren kann. Argumentationen haben somit die Aufgabe, Anschlussfähigkeiten bereitzustellen, um die weitere Autopoiesis der Gesellschaft zu ermöglichen. Auch hier geht es um Evolution und die Veränderung nicht nur der Inhalte, sondern auch um die Veränderung ihrer Form. Die für die Evolution notwendige Varietät kann sie selbst bereitstellen. Argumentation wendet eine Regel sowohl auf einen als auch auf andere Fälle an. Sie kann jeder vorherigen Argumentation, jeder Regel neue Seiten abgewinnen. Ebenso, wie mathematische Beweise, Theorien oder Methoden entweder durch ihre Anwendung auf neue empirische Fälle oder durch die Anwendung anderer, neuer Methoden auf diese Beweise, Theorien und alten 140 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit. Seite 435. 141 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, op. cit., Seite 366. Innerhalb der Argumentation werden Normen, Werte und Prinzipien zu kommunikativen Realitäten, die innerhalb des Kommunikationsakts real sind – und über Kommunikation Entscheidungen beeinflussen können. Ihre Wirklichkeit zeigt sich nur im Kommunikationsprozess. Werden Normen nicht adressiert, wie z.B. Art. 51 oder Art. 2(4) der UN Charta, haben sie keine eigenständige Realität. Sie bieten keinen inhärenten Widerstand und melden nicht selbst Ansprüche an. Erst eine (andere, neue) Argumentation kann mit einem Hinweis darauf Widerstand erzeugen. Die alte Kritik, Realität würde sich am Widerstand zeigen, kann zugestimmt werden. Doch es wird sich immer um kommunikativen Widerstand handeln. 142 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, op. cit. Seite 376.
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1 Zu einer Politik der Weltgesellschaft
Methoden selbst, neue Einsichten genieren und dabei Regeln verändern können. Der Blick auf Argumentationen erlaubt es, die Rolle von Zeit und Sequenz, von Strategie und von Lernmöglichkeiten in die Definition der (Argumentations-)Situation mit einzubeziehen und damit Veränderungen zu analysieren. Begriffe sind hier das perfekte Beispiel. Über Kondensierungen und Konfirmierung speichern Begriffe Unterscheidungen und ermöglichen damit die Wiederverwendung für eine Vielzahl unterschiedlicher Kommunikationen.143 Begriffe sind Kondensate und Kondensatoren für Erwartungen. Sie reduzieren die für das Verständnis nötige Informationsverarbeitung und erzeugen damit im System Redundanzen, das heißt das Ausmaß, in dem durch die Kenntnis des einen Elementes Kenntnis über die anderen Elemente gewonnen wird. Man denke nur an ‚Souveränität’ und ‚Globalisierung’. Gleichzeitig sind Begriffe historische Artefakte, deren Entwicklung über gesellschaftliche Evolution bestimmt wird. Durch ihre Etablierung und Stabilisierung führen sie eine Bifurkation im System durch und geben der Kommunikation neue Struktur. Sie dienen als Referenzpunkt oder Attraktoren und bieten sich als Identität der Erinnerung an. Sie erlauben Erfahrungswerte und ‚haken sich ein’. Damit üben sie eine Anziehungskraft aus und sind Hilfestellungen bei der Wiederaufnahme geschichtlicher Erfahrungen. Jedoch, und das ist für mich der kritische Punkt, kann eine hierauf aufbauende Methode für Politik nicht einfach ‚schauen’, worüber gesprochen wurde, sondern muss gerade die Unterscheidungen, die Abgrenzungen und das Verschwiegene, den unmarkierten Raum verdeutlichen. Sozialer Wandel zeigt sich demnach gerade an den Abgrenzungen. Man redet immer noch über Arbeit, doch grenzt man sie nun von Arbeitslosigkeit, anstatt dem schönen Leben und dem Müßiggang ab. Dieses Primat der Grenzziehung verändert das Verständnis von Semantik. Luhmann leitet die Semantik, im Gegensatz zu Carnap oder Tarski, aus dem Sinnbegriff ab und entreißt ihn der Zeichentheorie.144 Die Analyse von Semantik bricht mit der in der Subjektphilosophie dominanten Fragestellung der Bewusstseinsimmanenz, aus der man zu Erkenntnissen der Welt in der Form der Subjekt/ObjektTrennung gelangen musste, und ersetzt sie durch eine Analyse des sozialen Gedächtnisses. Dieses in die Semantik eingeschriebene Gedächtnis kondensiert Identitäten, Schemata, ‚Interpretationsrahmen’. Der ‚unmarkierte Raum’ der Kommunikation kann durch eine semantische Analyse sichtbar oder rekonstruiert gemacht werden: „Gedächtnis ist gleichsam die Funktion, die für Wiederholung sorgt. Semantik ist ihr Ergebnis“.145 Damit kann nun der letzte Baustein eingesetzt werden: die Aufgabe besteht nun darin, die Unterscheidungen unterschiedlicher Positionen oder unterschiedlicher Beobachter und ihre partikularen Standpunkte zu kennzeichnen und zu verdeutlichen, welche Annahmen und Voraussetzungen beim Benutzen bestimmter Unterscheidungen eingegangen werden. Damit muss der Politikwissenschaftler in der Lage sein, das in die semantischen Unterscheidungen eingeschriebene spezifische Erinnerte zu kennzeichnen – um den Vorschlag über die Zukunft zu verstehen. Bezogen auf die Diskussion um das soziale Gedächtnis und die Semantik wird es darum gehen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen Kommunikationen erinnert werden – und auf welche Art und Weise dies geschieht. Das heißt: welche Themen und Beiträge mit welchen Unterscheidungen wie zu überzeugen versuchen. 143 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., Seite 33. 144 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, op.cit., Seite 627. 145 Elena Esposito, Soziales Vergessen: Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002), Seite 22
1.5 Die Politik der Argumentation
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Internationale Beziehungen als Disziplin sind in dieser Perspektive immer auf die (Welt-) Gesellschaft und in der (Welt-)Gesellschaft reflektiertes Wissen. Luhmann hat meines Erachtens die Aufgabe einer konstruktivistischen Theorie internationaler Beziehungen wunderbar zusammengefasst: „Aber zu klären wäre zunächst einmal, weshalb bestimmte Unterscheidungen überhaupt bevorzugt werden – und andere nicht. Wir benötigen dafür eine Theorie, die über das bloße Beobachten und Erklären von Kontinuitäten und Diskontinuitäten, von nachhaltigen Einflüssen oder markierten Umbrüchen hinausgeht und die Frage stellen kann, wie es möglich ist, in einem schon evoluierenden System solche Unterscheidungen zu treffen, und wovon es abhängen mag, dass Unterscheidungen in bestimmter und nicht in anderer Weise getroffen werden.“146
Die Aufgabe besteht also darin, benutzte und vergessene ‚Unterscheidungen und Bezeichnungen’, Beobachtungen im Sinne Luhmanns, zu identifizieren. Sie muss deren Wechselspiel, die Veränderungen der internen Beziehung der Unterscheidungen analysieren und somit verdeutlichen, was mit dieser Unterscheidung ‚gesehen’ werden kann. Das schließt die Analyse von Metaphern und Analogien ein. Über diese Art der Analyse kann das Politische im Sinne einer ‚Managerin’ multipler Realitäten verdeutlicht werden. Weiterführend kann dies nun entweder auf spezifische Fälle mit bestimmten Beobachtern, aber auch insbesondere auf die Konstruktion von Wissen und Expertise Anwendung finden. Gerade hier lässt sich verdeutlichen, wie disziplinäre Unterscheidungen Wissen und gerade aber auch das Nichtwissen strukturieren. Disziplinen bestimmen bei Wissensfragen die primären Unterscheidungen und geben den Argumentationsrahmen vor. Ironisch meinte einmal David Kennedy: Wenn Gewalt ausbricht, macht es einen Unterschied, ob man Ökonomen, Juristen oder Priester in das Krisengebiet schickt. Dabei gibt es, wie oben angemerkt, keine bevorzugten Unterscheidungen. Innerhalb dieser Disziplinen „sehen [wir] ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.“147 Als Politikwissenschaftler möchte man wissen, wie jede Disziplin ihre Welt strukturiert, damit Gesellschaft abbildet und wie diese Strukturierung sich in die Strukturierung von Alternativen und Entscheidungen übersetzt. Im Unterschied zu ähnlichen diskurs- oder konzepttheoretischen Überlegungen innerhalb der IB, ist die Politik der Sprache durch ihre Verbindung zur Autopoeisis der Gesellschaft, und daher dem sinnhaften Aufbau sozialer Systeme, stärker strukturiert: semantische Systeme und die Sach-, Zeit-, und Sozialdimension stehen in einem ko-konstitutiven Verhältnis. Dies bedeutet aber vor allem, dass sich semantische Systeme durch Veränderungen der Kommunikationsmedien, Evolutionsmechanismen und der sozialen Differenzierung verändern: die funktionale Differenzierung der Weltgesellschaft, die die segmentäre Ordnung der klassischen internationalen Politik ablöst, führt zu einem semantischen Wandel. Über die Hypothese der funktionalen Differenzierung erlaubt es eine systemtheoretisch orientierte Forschung, Grenzverschiebungen in einen evolutionären Zusammenhang zu stellen. Auch hier geht es um den Verzicht auf Rationalität, Konsens und unikausale Erklärungen. Mit ihrem evolutionstheoretischen Ansatz erkennt die Systemtheorie dagegen die Unmöglichkeit einer Kontrolle der Systeme über ihre eigene Evolution an. Sie spricht dem Zufall die Möglichkeit zu, sich zu Strukturen des Systems zu verfestigen, um dabei die 146 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, op.cit., Seite 577. 147 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Frankfurt am Main. Suhrkamp, 1984), §66.
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1 Zu einer Politik der Weltgesellschaft
Möglichkeit neuer Zufälle gleichzeitig zu beschränken und wieder auszuweiten. Denn welcher Zufall innerhalb sinnkonstituierter sozialer Systeme Veränderungen bewirken kann, hängt vom System selbst ab. Im Vokabular der Evolutionstheorie heißt dies: die Umwelt ist für das System nicht exogen gegeben, sondern das System konstituiert oder ändert die Umwelt im Prozess ihrer eigenen Veränderung. 1.6 Zusammenfassung Luhmann vermeidet eine Diskussion der dominanten Theorien der Internationalen Beziehungen oder eine Darstellung möglicher Konsequenzen seiner Theorie für das Verständnis internationaler Beziehungen. Sein Verständnis von politischen Fragestellungen ist klar durch seine auf nationale Politik gemünzte Begrifflichkeit bestimmt. Es fehlt jedes Verständnis für die Eigenart von internationaler Politik, in der Politik der Gesellschaft sucht man vergeblich nach einem Registereintrag zu Anarchie oder nach Referenzen zu Klassiker der Internationalen Beziehungen wie Carr, Morgenthau oder Hedley Bull. Mit Blick darauf, dass schon Morgenthau mit einem allgemeinen Begriff der Politik als ‚Kampf um Macht’ beginnt, um im Anschluss aber genau die Unterschiede zwischen nationaler und internationaler Politik abzuleiten, verwundert es, dass Luhmann diese Fragestellung völlig außen vor lässt. Wie auch Stefano Guzzini feststellte, ist bei der Klärung zentraler Begriffe wie Macht die Politik der Gesellschaft erstaunlich ignorant gerade konstruktivistischen Ansätzen in den Internationalen Beziehungen gegenüber.148 Dennoch plädierte dieses Kapitel für eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Systemtheorie. Die besondere Nützlichkeit zeigte sich anhand der Diskussion um die Konzeptualisierung von Intersubjektivität. Der erste Teil dieses Kapitels zeigte, dass die dominanten Ansätze konstruktivistischer Theoriebildung dahingehend Ähnlichkeiten aufweisen, dass sie von einer Teil/Ganzheit-Systemdefinition ausgehen und damit Fragen der Normgeltung in der Etablierung einer gemeinsamen Lebenswelt sehen. Wie sich zeigte, kann innerhalb dieses Rahmens jedoch die soziale Konstitution der Akteure nicht ausreichend analysiert werden, da es immer nur ‚zwei’ Geschichten gibt. Diesem Verständnis von Komplexität, verstanden als die Zusammensetzung der Teile, setzt Luhmann seinen Begriff von Komplexität als Selektion entgegen. Damit eröffnen sich Fragen des Differenzparadoxons, das heißt die Möglichkeit der unterschiedlichen Interpretation einer Einheit und damit in der Einheit eine Vielheit zu sehen. Hier schlage ich die Konzepte der Argumentation und des sozialen Gedächtnisses als Alternativen vor. Folglich kann mit dem spezifischen Hinweis auf sinnkonstituierte Systeme eine Antwort auf die Frage nach dem, was ist, nur mit dem Verweis auf andere (negierte) Möglichkeiten und damit mit dem Verweis auf das Ausgeschlossene, gegeben werden. Die gegenständliche Erkenntnis des was wird so zum Problem der Grenzziehung der wie–Frage. Denn jeder Beschreibung eines Fakts, auch jedem Versuch über quantitative Regelmäßigkeiten kausale Gesetze etablieren zu wollen, gehen qualitative Entscheidungen voraus, die eine Einheit der zu analysierenden Objekte erst etablieren. Wenn aber für die Analyse von politischen Prozessen vorgegebene Objekte nicht einfach zur Verfügung stehen und diver148 Stefano Guzzini „Constructivism and International Relations: an analysis of Niklas Luhmann’s conceptualisation of power”, in: Mathias Albert und Lena Hilkermeier (Hrsg.), Observing International Relations: Niklas Luhmann and World Politics (London, New York: Routledge, 2004), Seite 208-222.
1.6 Zusammenfassung
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gierende Überzeugungen nicht unter der Annahme eines Supersubjekts zusammengeführt werden können, ohne gleichzeitig das Politische aus dem Auge zu verlieren, dann müssen die Widersprüche und Gegensätze unterschiedlicher Ansichten in das Zentrum des politischen Interesses gerückt werden. Ein Verständnis politischer Prozesse muss der Logik der Polykontextualität folgen. Es muss eine Pluralität gleichberechtigter ‚Modelle’ erlauben, die jeweils die Welt unterschiedlich beschreiben. Denn, wo Überzeugung und Verständigung möglich sein sollen, müssen Interessen und Identitäten wandelbar sein und daher ihres vermeintlichen ontologischen Status beraubt werden. Anders ausgedrückt: die Politik ist das unendliche Projekt, einer ungewissen Zukunft zu begegnen. Die ungewisse Zukunft qua Neuheit stattet die Entscheidungen mit Unsicherheit aus. Die Frage, wie diese Zukunft aussehen soll und wie ihr zu begegnen sei, wird aufgrund ihres Status als ‚Potentialität’, als Möglichkeit zum Sein, angesehen. Die Politik findet gerade an dieser Stelle der Überführung der Potentialität in eine Aktualität statt. Ein Verständnis des Politischen muss die Strukturierung von Alternativen, mit all ihren Analogieschlüssen, Metaphern und Themenverbindungen inkorporieren. Aus diesem Grund wurde das politische Moment auf der Ebene von Problemdefinitionen lokalisiert – das heißt, die Frage, wie über semantische Unterscheidungen Disziplinen Realität strukturieren. Die Disziplinen strukturieren unser Wissen, unsere Sicht der Welt, mit der wir Phänomene interpretieren und zu verstehen versuchen. Sie bestimmen die primären Unterscheidungen und geben den Argumentationsrahmen vor. Als Politikwissenschaftler möchte man wissen, wie jede Disziplin ihre Welt strukturiert, damit Gesellschaft abbildet und wie der Kampf zwischen Disziplinen den ‚öffentlichen’ Raum strukturiert und sich in die Strukturierung von Alternativen und Entscheidungen übersetzt. In den nächsten Kapiteln wird entlang dieser Linien eine Analyse von Währungskrisen durchgeführt, bei der die Frage nach der Stabilität von Finanzmärkten im Vordergrund steht. Dabei wird die Frage verfolgt, welche Funktion die spezielle Konzeption von Finanzmarktinstabilität als Resultat asymmetrischer Informationsverteilung erfüllt. Es wird sich zeigen, dass diese Konzeption einen Kategorienfehler zwischen der intersubjektiven Ontologie und der individualistischen Epistemologie verdeckt. Dieser Kategorienfehler übersetzt sich innerhalb der Analyse der Finanzmärkte in einen Konflikt zwischen Universalismus und Partikularismus. Die Idee der asymmetrischen Information übersetzt sich in eine Forderung von Transparenz und Standardisierung und wird damit zum universellen Mittel, um die partikularen Gegebenheiten in der Problem- und Wissensdefinition wieder auszuschließen. Das zweite Kapitel beginnt mit der Untersuchung von Währungskrisen. Zentrale Fragestellung ist hier, wie Währungs- und Finanzkrisen die Frage nach der genauen Definition von Finanzstabilität wieder aufwerfen. Hier wird vor allem darauf hingewiesen, dass selbst in den Wirtschaftswissenschaften Fragen der Selbstreferenz und der radikalen Unsicherheit angesprochen werden, die theoretisch eine interpretative Methode verlangen würden. Die Frage, wie diese selbstreferenzielle Strukturbildung mit Hilfe des Risikobegriffs wieder ausgeklammert wird, verlangt eine genauere Analyse des Verhältnises von Modellbildung und Sprache. Dies wird über eine Topologie von Wahrscheinlichkeitstheorien in den Kapiteln 3-5 beantwortet. Kapitel 6 und 7 rekonstruieren schließlich die Konsequenzen und die strukturprägende Kraft disziplinärer Wissensstrukturen bei der Frage nach der Reformierung der globalen Finanzmärkte.
2.1 Einleitung: Die Frage nach der Systemstabilität
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2 Währungskrisen und das Problem der Selbstreferenz
2.1 Einleitung: Die Frage nach der Systemstabilität Als am 2. Juli 1997 der feste Wechselkurs zwischen dem US-Dollar und dem thailändischen Baht aufgehoben werden musste, ahnte niemand, welche Bedeutung dies später einmal haben würde. Ausgehend von der sich im Anschluß ausbreitenden Asienkrise sah sich die Finanzwelt mit mehreren globalen Schockwellen von Währungskrisen konfrontiert, deren Ausmaß das bisherige Vorstellungsvermögen überstieg.149 Weltweite Kursverluste und einbrechende Bruttosozialprodukte nährten die Angst eines globalen Kollaps des Finanzsystems. Gleichzeitig wurde damit aber auch offensichtlich, dass die Liberalisierung und höhere Integration der Finanzmärkte mit einer potenziell höheren Instabilität des Gesamtsystems einhergeht.150 Inzwischen wird das Jahr 1998 als Wendepunkt der Finanzmärkte angesehen. Wenn Joseph Stiglitz 1998 fragt: „Must Currency Crises be this frequent and this painful?“,151 ist die Notwendigkeit einer erneuten Diskussion um die Rahmenbedingungen globaler Finanzmärkte auf den Punkt gebracht.152 Jedoch findet diese Debatte unter veränderten Vorzeichen statt: Eine Rückkehr zum Bretton-Woods-System 149 Michael Bordo, Barry Eichengreen, Daniela Klingebiel und Maria Martinez-Peria, „Is the Crisis Problem Growing More Severe?” Economic Policy, Vol. 16, Issue 32 (2001), Seite 51-82. 150 So zählen Park und Lee seit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods Systems 1971 und 1997 insgesamt 160 Währungskrisen, die dabei die spektakuläre lateinamerikanische Schuldenkrise, die EWS- Krise 1992 und vor allem die Asienkrise mit ihren Ausläufern nach Russland und Brasilien mit umfasst. Interessanterweise nimmt die Anzahl der Währungskrisen mit fortschreitender Integration der Finanzmärkte zu: von 33 in den 1970ern, zu 72 in den 1990ern. Insgesamt waren dabei nach Park und Lee insgesamt 96 Länder betroffen. Siehe Yung Chul Park und Jong-Wha Lee, „Recovery and Sustainability in East Asia”, NBER Working Paper No. 8373 (Cambridge, MA: NBER, 2001), Seite 5. Dieser Zusammenhang von Liberalisierung und Finanzkrisen wurde ebenfalls von Graciela Kaminsky und Carmen Reinhart festgestellt. Von ihren 26 beobachteten Bankenkrisen wurde in 18 Fällen der Finanzsektor weniger als 5 Jahre zuvor liberalisiert. Siehe Graciela L. Kaminski und Carmen M. Reinhart, „The Twin Crises: The Causes of Banking and Balance of Payments Problems”, American Economic Review, Vol. 89 No. 3 (2001), Seite 473- 500. Neben der oben genannten Zahl von Park identifzieren z.B. finden Kaminsky und Reinhart 71 Krisen für 20 Länder zwischen 1970 und 1995; siehe Graciela Kaminski und Carmen Reinhart, „Financial Crisis in Asia and Latin America: Then and now“, American Economic Review: Papers and Proceedings, Vol. 88 No 2 (1998), Seite 444-48. Eichengreen, Rose und Wyplosz identifizieren 77 Krisen für 20 Industriestaaten zwischen 1959 und 1993. Siehe Barry Eichengreen, Andrew Rose und Charles Wyplosz. „Speculative Attacks on pegged Exchange Rates”, NBER Working Paper No. 4989 (Cambridge, MA: NBER, 1996). Siehe auch Caroline Van Rijckeghem und Beatrice Weder „Financial Contagion: Spillovers through Banking Centers.” (Washington, D.C.: International Monetary Fund, 1999). 151 Joseph Stiglitz, „Must Financial Crises be this Frequent and this Painful?”, wieder abgedruckt in: PierreRichard Agénor, Marcus Miller, David Vines und Axel Weber (Hrsg.), The Asian Financial Crisis Causes, Contagion and Consequences (Cambridge: Cambridge University Press, 1998). 152 Die Tequila Krise 1994 oder die Argentinienkrisen sollen dadurch nicht abgewertet werden. Für gute Überblicke über die Literatur um die Finanzkrisen siehe Joseph R. Bisignano, William C. Hunter und George G. Kaufman (Hrsg.), Global Finanical Crises: Lessons From Recent Events (Dordrecht: Kluwer, 2000), Geoffrey Underhill und Xiaoke Zhang (Hrsg.), International Financial Governance Under Stress: Global Structures versus National Imperatives (Cambridge: Cambridge University Press, 2003), Morris Goldstein, „The Asian Financial Crisis: Causes, Cures, and Systemic Implications“, Policy Analyses in International Economics, No. 55 (Washington, DC: Institute for International Economics, 1998).
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2 Währungskrisen und das Problem der Selbstreferenz
und damit einer staatszentrierten Organisation globaler Finanzmärkte scheint ausgeschlossen. So haben Norbert Walter und Bernhard Speyer, wie viele andere zuvor, darauf hingewiesen, wie sehr sich die Risikostrukturen der Finanzmärkte verändert haben: „Institutionelle Strukturen der Finanzmärkte, von den Akteuren präferierte Instrumente sowie Struktur und Richtung der grenzüberschreitenden Finanzkapitalströme ändern sich rasch. Entscheidend dabei ist, dass sich durch diese Innovation Umfang, Natur und Verteilung der Risiken auf den internationalen Finanzmärkten ändern – was eine Reaktion der Aufsichts- und Regulierungsbehörden erforderlich macht, wenn und soweit diese die neue Risikostruktur als unerwünscht empfinden. Ein Ansatz, der versuchte, für einen derart dynamischen Markt Governance-Strukturen mit Hilfe von internationalem ‚hard law’ festzulegen, muss daher bereits im Ansatz als unangemessen betrachtet werden.“153
Finanzmarktakteure haben demnach gegenüber öffentlichen Regulierungsbehörden einen Wissensvorsprung erlangt, der die hierarchische Vorstellung (staatlicher) Steuerung durch hard law, wie es noch zur Zeit von Bretton Woods möglich war, obsolet macht. Nach Walter und Speyer muss man aus diesem Grund davon wegkommen, Regulation substanziell und quantitativ zu denken. Statt dessen sollte auf prozessorientierte, qualitative und hybride Aufsichts- und Regulationsformen umgeschaltet154 oder mit privaten Autoritätsstrukturen gearbeitet werden.155 Die daran ansetzende Frage lautet natürlich, wie dieser neue, prozessorientierte Stabilitätsbegriff zu definieren und konzipieren ist. Hier fällt auf, dass theoretische Überlegungen zum Stabilitätsbegriff selbst nicht vorhanden sind. Wie Gerald Schinasi feststellt: „Without a good working definition [of financial stability, O.K.], the growing financial stability profession will find it difficult to develop useful analytical frameworks for examining policy issues. Unfortunately, there is not a single, widely accepted and used definition of financial stability.”156
Ohne an dieser Stelle bereits vertiefend auf die Lösungsvorschläge einzugehen,157 führt dieses Kapitel in die Problematik ein und beschreibt das Phänomen der Währungskrisen im Detail. Die Frage jedoch, was genau Währungskrisen sind, findet keine leichte Antwort.158 153 Norbert Walter und Bernhard Speyer, „Zwischen Governance und Polymorphie“, WeltTrends, Vol. 13 No. 46 (2005), Seite 16. 154 Siehe auch Günther Teubner, „Hybrid Laws: Constitutionalizing Private Governance Networks”, in: Robert Kagan und Kenneth Winston (Hrsg.) Legality and Community: on the intellectual legacy of Philip Selznick. (Berkeley: Berkeley Public Policy Press, 2002). 155 Siehe Fußnote 41. Siehe auch David Held und Andrew McGrew (Hrsg.), Governing Globalization: Power, Authority, and Global Governance (Malden, Mass.: Polity Press, 2002) und Miles Kahler und David Lake (Hrsg), Governance in a Global Economy: Political Authority in Transition (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2003). 156 Garry J. Schinasi, „Defining Financial Stability“, IWF Working Paper, No WP/04/187, (Washington, D.C.: International Montetary Fund, 2004), Seite 3 157 Diese werden in Kapitel 6 besprochen. 158 Unterschiedliche Definitionen von ‚Währungskrise’ finden sich u.a. als ‚bedeutsame Abwertung’ bei Jeffrey Frankel und Andrew Rose, „Currency crashes in Emerging Markets: Empirical Indicators“, Journal of International Economics, Vol. 41 No 3-4 (1996), Seite 352; als ‚signifikante Abwertung’ mit gleichzeitiger signifikanter Abnahme der Devisenreserven bei Barry Eichengreen, Andrew Rose und Charles Wyplosz, „Speculative Attacks on pegged Exchange Rates“, NBER Working Paper No. 4989 (Cambridge, MA: NBER, 1996), oder auch als ein starker ‚Währungsdruck’ bei Reuven Glick und Andres Rose, „Contagion
2.2 Währungskrisen als Phänomen
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Einerseits werden die diesbezüglich geschaffenen Modelle in regelmäßigen Abständen von der Praxis überholt, andererseits liegt auch keine eindeutige oder einheitliche Definition dieser Phänomene zu Grunde. Zu widersprüchlich sind empirische und theoretische Erkenntnisse. Es ist bezeichnend, dass Paul Krugman das von ihm herausgegebene Buch zu diesem Thema eröffnet mit dem Satz: „[W]e recognise currency crises when we see them.“159 Es erscheint daher ratsam von der ‚was ist’- zu der ‚wie’-Frage zu wechseln und die grundlegenden Grenzziehungen zu beobachten. Dafür stehen prinzipiell zwei verschiedene Möglichkeiten offen: eine empirisch angeleitete Diskussion, die über eine Beschreibung einzelner Währungskrisen induktiv zu generellen Aussagen kommen möchte, und eine theoriegeleitete Diskussion, die verdeutlicht, wie sich das Problem innerhalb der ökonomischen Theorie darstellt. Ich habe mich für die zweite Alternative entschieden und das Phänomen der Währungskrisen in zwei Teilaspekte aufgeteilt: a) die Mechanismen der Währungskrisen selbst und b) die Ausbreitung von Währungskrisen. Dabei soll es vornehmlich um die jeweilige Intuition dieser Modelle gehen. Aus diesem Grund habe ich auch auf eine formale Darstellung dieser Modelle verzichtet. 2.2 Währungskrisen als Phänomen Die Krise, die im Juli 1997 in Thailand ihren offiziellen Anfang findet, zieht innerhalb weniger Monate Indonesien, Hongkong, Korea, Malaysia, die Philippinen, Singapur und Taiwan in ihren Bann. In der ersten Woche der Asienkrise sehen sich neben Thailand vor allem die Philippinen, Singapur, Malaysia und Indonesien einem hohen Abwertungsdruck gegenüber, der als Resultat die Freigabe des philippinischen Peso (11. Juli) und des malaiischen Ringitt (14. Juli 1997) nach sich zieht. Am 24. Juli veröffentlicht der malaiische Premierminister Mahatir seine bittere, wenn auch legendäre, Attacke gegen internationale Spekulanten, setzt damit aber gleichzeitig ein neues Momentum der Abwärtsspirale in Bewegung. Indonesien folgt mit der Freigabe seiner Währung am 14. August und erlebt einen freien Fall von über 80% des ursprünglichen Wertes. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind vor allem die hier einsetzenden Plünderungen gegen die chinesische Minderheit. In Folge der Währungs- und Finanzkrise brechen sowohl das Regime Suhartos als auch die territoriale Integrität Indonesiens zusammen. Wie prekär die Lage selbst für die Industrienationen war, zeigt sich an der damals einsetzenden diplomatischen Aktivität. Der amerikanische Präsident Bill Clinton versuchte über vertrauliche Telefonate den indonesischen Präsidenten Suharto zu wirtschaftlichen Reformen zu überreden. US Verteidigungsminister William Cohen und US Vize-Finanzminister Lawrence Summers versuchten das Gleiche vor Ort.160 Um die acht Mrd. EURO an Forderungen der deutschen Banken zu retten, wurde der damalige Sparkassenpräsident und jetzige Bundespräsident Horst Köhler von der damaligen Regierung entsendet, um direkt ein Umschuldungsabkommen zu verhandeln. and Trade: Why are Currency Crises Regional?“, Journal of International Money and Finance, Vol. 18 No. 4 (1999), Seite 604. Dagen betonen Kaminski und Reinhart, 1998, op.cit, dass eine abgewehrte spekulative Attacke ohne Währungsabwertung ebenfalls eine Krise darstellen kann. 159 Paul Krugman, „Introduction“, in: Paul Krugman (Hrsg.), Currency Crisis (Cambridge, MA: National Bureau of Economic Research, 2000), Seite x. 160 „Schockwellen aus Fernost“, Der Spiegel, Nr. 4 (1998), Seite 76.
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Eine zweite Welle der Asienkrise, die mit der Attacke auf die Hongkong-Börse Ende des Jahres anfängt, führt zu einer erneuten Abwärtsbewegung in Indonesien, Thailand, Korea, Singapur, Malaysia, und schließlich Japan, die sich in Folge dessen nach Russland ausbreitet. Als am 17. August 1998 Russland die Nichterfüllung der Zahlungsverpflichtungen bekannt gibt, breiten sich erneut Schockwellen aus. Diese nehmen in Amerika die Form der Krise um Finanzinvestoren wie die Long-Term Management Capital (LTMC) an und lösen ein Erdbeben nicht nur in Indonesien, Korea, Philippinen, Thailand, sondern auch in Mexiko und schließlich in Brasilien aus.161 Dabei ist folgendes festzuhalten: Obwohl Russlands Handel mit den meisten Schwellenländern insignifikant ist, stand die Russlandkrise in einem direkten Zusammenhang mit Lateinamerika, da als Reaktion darauf Brasilien am 13. Januar die Anbindung des Real an den US Dollar nicht länger aufrecht halten konnte. Ebenso zeigt vor allem Mexiko eine besondere Reaktion gegenüber Veränderungen sowohl in Asien 1997 als auch in Russland 1998.162 Doch während die negativen Konsequenzen der Asienkrise für Mexiko, sich paradoxerweise zum Guten für Mexikos Exportsituation auswirkten, war es vor allem die Ausbreitung der Russlandkrise auf Lateinamerika, die tiefe Furchen in das Finanzgefüge Mexikos zog.163 Wie sind diese paradox anmutenden Phänomene zu erklären? Hier versuchen die Währungskrisen- und Ausbreitungsmodelle eine Antwort zu geben. Die ökonomischen Währungskrisenmodelle können in drei Kategorien eingeteilt werden. 164 Das Modell der ersten Generation erklärt Währungskrisen über sich verändernde Fundamentaldaten des betroffenen Landes.165 Diese Veränderung wird auf eine mit dem festen Wechselkurs inkonsistente makroökonomische Wirtschaftspolitik zurückgeführt. Diese nimmt dabei häufig die Form eines Fiskaldefizits an, welches über eine expansive Geldpolitik finanziert werden soll und somit zu einer stetigen Abnahme der Devisenreserven führt. Die zweite Generation von Modellen versucht die Währungskrisen nicht über Fundamentaldaten, sondern über die Existenz mehrerer möglicher Gleichgewichte auf den Kapitalmärkten zu erklären.166 Hier manifestieren sich Währungskrisen als eine selbsterfül161 Für eine genauere Diskussion der Russlandkrise siehe Neil Robinson, „The Global Economy, Reform and Crisis in Russia“, Review of International Political Economy, Vol. 6 No. 4 (1999), Seite 531 – 564. 162 Santiago Bazdresch und Alejandro M. Werner, „Contagion of International Financial Crises: The Case of Mexiko“, in: Stijn Claessens und Kristin Forbes (Hrsg.), International Financial Contagion (Dordrecht: Kluwer, 2001), Seite 301 – 328. 163 Siehe auch Taimur Baig und Ilan Goldfajn, „The Russian Default and the Contagion to Brazil“, in: Stijn Claessens und Kristin Forbes (Hrsg.), International Financial Contagion (Dordrecht: Kluwer, 2001), Seite 267 – 300. 164 Die Zahlen in diesem Absatz stammen aus International Monetary Fund: World Economic Outlook: Interim Assessment (Washington, DC: International Monetary Fund, Dec. 1997); sowie aus Corsetti, Giancarlo; Pesenti, Paolo and Roubini, Nouriel. „What caused the Asian currency and financial crisis? Part I: Macroeconomic Overview“, NBER Working Paper No. 8003 (September 1998); Markus Miller and Pongsak Luagnam „Financial Crisis in East Asia: Bank Runs, Asset Bubbles and Antidotes“, Centre for the study of Globalisation and Regionalisation, Working Paper No 11/98 (Juli 1998); sowie Steven Radalet und Jeffrey Sachs, „The Onset of the East Asian Financial Crisis“ in: Paul Krugman (Hrsg.) Currency Crises (Cambridge, MA: National Bureau of Economic Research), Seite 105-163. 165 Dieses Verständnis basiert hauptsächlich auf dem Papier von Paul Krugman, „A Model of Balance of Payments Crises“, Journal of Money, Credit and Banking, Vol. 11 (August 1979), Seite 311-325; sowie Robert Flood und Peter Garber, „Collapsing Exchange Rate Regimes: some Linear Examples“, Journal of International Economics, Vol. 17 No1 (1984), Seite 1-13. 166 Maurice Obstfeld, „The Logic of Currency Crises“, Cahiers Economique et Monetaires, No. 43 (1994); Banque de France, Seite 189-213 und Paul Krugman, „Are Currency Crisis Self-fulfilling?“, National Bureau of Economical Research, Macroeconomic Annual (Cambridge, MA: NBER, 1996), Seite 345- 377.
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lende Prophezeiungen. Motiviert durch die Asienkrise führt die dritte Generation Währungskrisen auf eine ungenügende Regulierungskapazität in Schwellenländern zurück.167 2.2.1 Modelle der ersten Generation Ein erstes Modell zur Erklärung von Währungskrisen wurde bereits 1979 von Paul Krugman entwickelt und später durch Flood und Garber 1984 grundlegend erweitert.168 Die grundlegende Intuition dieses Modells führt die Existenz von Währungskrisen auf eine Inkonsistenz zwischen der Geldpolitik innerhalb eines festen Wechselkursregimes und einer exzessiven makroökonomischen Wirtschaftspolitik zurück. Ausgangspunkt ist demnach ein Zielkonflikt der Wirtschaftspolitik zwischen konjunkturellen und währungspolitischen Zielen. Der empirische Hintergrund dieses Modells findet sich in den lateinamerikanischen Währungskrisen der 70er Jahre. Hier zeigt sich, dass den Krisen der Versuch einer Monetarisierung des primären Haushaltsdefizits vorausgeht. Gepaart mit einer expansiven Fiskal- und Geldpolitik führt dies zu einer Überkonsumption im Inland, die sich in ein Leistungsbilanzdefizit übersetzt.169 Erschwerend kommt in diesem Szenario hinzu, dass sich das erweiterte Geldangebot ohne Produktivitätszuwachs in Inflation übersetzt. Da bei einem festen Wechselkurs der Nominalwert festgeschrieben wird, führt die Inflation zu einer realen Wechselkursaufwertung. Zur Stützung des Wechselkurses sieht sich die Zentralbank zum Verkauf von Devisen gezwungen. Als Folge ist eine Abnahme der Devisenreserven bei gleichzeitiger Anhebung der Leitzinsen zur Stützung der Währung zu beobachten. Aus diesem Grund kündigen sich Währungskrisen nach dem Krugman-Flood-Garber Modell bereits im Vorfeld durch einen Mix aus einem steigenden realen Wechselkurs, abnehmende Devisenreserven und einem staatlichen Fiskaldefizit an. Bei einem hinreichend niedrigen Niveau dieser Reserven antizipieren internationale Spekulanten die drohende Unfähigkeit einer weiteren Stützung seitens der Zentralbank. Die darauf einsetzenden spekulativen Attacken führen dann zu einer völligen Entleerung der Reserven, in deren Folge die Währung freigegeben werden muss. Dabei muss betont werden, dass der Regimewechsel aufgrund makroökonomischer Rahmenbedingungen unausweichlich war. Somit schreibt dieses Modell eine ganz einfache Medizin vor: Sparprogramme für den öffentlichen Haushalt und eine Anhebung der Zinsen, um die durch die Monetarisierung der Defizite verursachte Inflation zu reduzieren und das Vertrauen in die Währung wieder herzustellen. Sachs et al. zeigen in einer Querschnittsregression, dass ein steigender realer Wechselkurs, ein schwaches Bankensystem und niedrige Reserven in der Tat die prägenden Ele-
167 Hieran schließt sich die jüngste Debatte um Indikatoren der Verletzlichkeit an. Siehe zum Beispiel International Monetary Fund, „Financial Soundness Indicators: Policy Paper,” June 2001, http://www.imf.org/external/np/mae/fsi/2001/eng/pp.pdf; und International Monetary Fund, „Macroprudential Analysis: Selected Aspects Background Paper,” June 7, 2001, http://www.imf.org/external/np/mae/fsi/2001/eng/bkg.pdf . 168 Robert P. Flood and Peter M. Garber, „Collapsing Exchange-Rate Regimes: Some Linear Regimes”, Journal of International Economics, Vol. 17 No. 1-2 (1984), Seite 1-13. 169 Die Leistungsbilanz ist definiert, werden Transferzahlungen für einen Moment ausgeklammert, als die Differenz der Exporte und Importe von Gütern und Dienstleistungen und gibt die finanzielle Position eines Landes im internationalen Rahmen an. Ein Leistungsbilanzdefizit bedeutet demnach eine Nettoverschuldung des Landes, die über zukünftige Leistungsbilanzüberschüsse zurückgezahlt werden muss. Das heißt, im unendlichen Horizont, ist für jedes Land die Summe der einzelnen Konsummengen in jeder Periode gleich der Summe aller produzierten Waren (intertemporale Budgetrestriktion).
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mente der Mexikokrise 1994 waren.170 Tornell weist ebenfalls auf die Signifikanz dieser Erklärung für die Mexikokrise 1994 sowie für die Asienkrise 1997 hin.171 Auch Corsetti, Pesenti und Noubini legen in ihrer Diskussion der makroökonomischen Rahmenbedingungen der asiatischen Volkswirtschaften dieses Modell zu Grunde.172 Schauen wir uns die Daten etwas detaillierter an. Betrachten wir zunächst den realen Wechselkurs. Sowohl die lateinamerikanischen Länder vor der Mexikokrise sowie die südostasiatischen Länder vor der Asienkrise sahen sich mit einer Situation konfrontiert, die sich aus einer sich abkühlenden konjunkturellen Lage und einer Aufwertung des realen Wechselkurses zusammensetzte. Doch wie Chinn bereits zeigte,173 reagieren die Schätzungen des Wechselkurses sensibel auf den zu Grunde gelegten Preisindikator und die Modellspezifikationen. Werden Produzentenpreise als Basis genommen, waren die Währungen von Thailand mit 7%, Malaysia 8%, Philippinen 19% überbewertet, während die Währungen von Indonesien 6% und Korea 9% unterbewertet waren. Nimmt man die Konsumentenpreise als Grundlage, war der indonesische Baht mit 30% überbewertet.174 Dieses widersprüchliche Ergebnis lässt darauf schließen, dass die Frage nach der Überbewertung und folglich die Wirkung des realen Wechselkurses als auslösende Kraft nur gering sein kann. Überbewertete Wechselkurse können nicht erklären, warum Indonesien und Korea zu den am stärksten betroffenen Ländern gehörten. Auch ein wesentlicher Indikator für den realen Wechselkurs, die Inflation, kann die reale Wechselkursaufwertung nicht hinreichend erklären. Kurz vor der Krise lag die Inflationsrate in Thailand bei 5,9%, 6,6% in Indonesien, 5% in Korea, 3,6% in Malaysia und 8,4% in den Philippinen, und damit etwas unter dem Vorjahresniveau. Ein weiterer Indikator nach dem Modell der ersten Generation ist die Leistungsbilanz. Hier zeigt sich in der Tat eine klare Beziehung zwischen Leistungsbilanzdefizit und der Stärke der Abwertung der Währung.175 Das Leistungsbilanzdefizit belief sich in Thailand auf über 6% des BSP. Ähnliche Zahlen finden sich in Malaysia und den Philippinen. Nur Indonesien (4%) und Korea (5%) konnten ein geringeres Defizit vorweisen. Im Gegensatz dazu sahen sich Länder mit einem geringfügigen Leistungsbilanzdefizit oder sogar Leistungsbilanzüberschuss nur einer geringfügigen Abwertung ihrer Währungen entgegen: Hongkong (Parität gehalten), China (18%), Singapur (18%) und Taiwan (18%). Hinzu kommt, dass sich die Erwartungen bezüglich der Defizite aufgrund einer sich abkühlenden Exportsituation verschlechterten. Hier muss man beachten, dass vor der Asienkrise Thailand, Singapur, Malaysia, Korea und Indonesien ihre Währungen an einen Währungskorb gebunden hatten, wobei der höchste Anteil an den US-Dollar fiel.176 Als 170 Jeffrey Sachs, A. Tornell und A. Velasco, „The Mexican Peso Crisis: Sudden Death or Death Foretold?” Journal of International Economics, Vol 41 No 3 (1996), Seite 265-283. 171 Aaron Tornell, „Common Fundamentals in the Tequilla and Asian Crisis“, NBER Working Paper No. 7139 (Cambridge, MA: NBER, 1999). 172 Siehe Giancarlo Corsetti, Paolo Pesenti und Nouriel Roubini, „What caused the Asian currency and financial crisis? Part I: Macroeconomic Overview“ NBER Working Paper No. 6833 (Cambridge, MA: NBER, 1998). 173 Menzie Chinn, „Before the Fall: Were the East Asian Curriencies Overvalued?” Emerging Markets Review, Vol. 1 No. 2 (2000), Seite 101-26. 174 Chinn zeigt jedoch auch, dass die Währungen von Thailand, Malaysia und Philippinen auch unter Konsumentenpreise überbewertet waren. Siehe ibid. 175 Siehe Giancarlo Corsetti, Paolo Pesenti und Nouriel Roubini, „What caused the Asian currency and financial crisis? Part II: The Policy Debate“, NBER Working Paper No. 6834 (Cambridge, MA: NBER, 1998). 176 Der US Dollar fiel zwischen 1991 und 1995 gegenüber dem Yen um nach den Frühjahr 1995 von einer Marke von 80 Yen pro Dollar um 56% bis zum Sommer 1997 zu steigen. Mit der Aufwertung ging auch ei-
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sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre der Yen gegenüber dem US-Dollar verteuerte, stiegen die asiatischen Exporte. Jedoch fiel der Yen gegenüber dem US-Dollar in den Jahren 1995–97. Hier überwogen die negativen Effekte auf die allgemeine Exportsituation. Da die Wachstums- und Entwicklungsstrategie der asiatischen Staaten vor allem auf dem Exportsektor beruhte, zog diese neue Situation ein geringeres Wachstum nach sich. So fielen die Wachstumsraten in Thailand von 8,8% auf 5,5%, in Malaysia von 9,5% auf 8,6%, in Singapur von 8,7% auf 6,8% und in Korea von 8,9% auf 7,1%. Jedoch verkürzt eine Anwendung des ersten Modells die Problematik der Asienkrise. Dreh- und Angelpunkt der Modelle der ersten Generation ist die zu Grunde liegende Inkompatibilität zwischen expansiver Geldpolitik bzw. unsolider Haushaltspolitik und einem festen Wechselkursregime. Für die lateinamerikanischen Krisen der 1980er Jahre mag diese Annahme noch zutreffen, da sich das Fiskaldefizit hier auf 15% in Mexiko, 8% in Argentinien, 7,5 % in Peru und ca. 4% in Venezuela und Brasilien bezifferte. Jedoch waren die südostasiatischen Staaten nicht durch eine übermäßige öffentliche Verschuldung gekennzeichnet. In Prozentzahlen des BSP belief sich der Haushaltsaldo 1996 auf 1,2% in Thailand, 1% in Indonesien, 0,5% in Korea, 0,8% in Malaysia und 0,3 % in den Philippinen. Wieso der IWF hier den asiatischen Staaten eine ähnliche Konditionalität anbot wie damals den lateinamerikanischen Staaten, bleibt wohl weiter ein Rätsel. Ein wirklich auslösendes Moment hingegen scheint die Überschuldung des privaten Sektors im Verhältnis zu den Devisenreserven zu sein. Ein Aspekt, der in diesem Modell keine Berücksichtigung finden kann. Die Devisenreserven bestimmen die Verteidigungsmöglichkeiten der Zentralbanken. Bisher galt ein Devisenniveau in Höhe von drei Importmonaten als angemessen. Dieses Kriterium wird heute nicht mehr vertreten. Die Mechanismen des ersten Modells lassen sich auch empirisch zeigen. Sachs et al.177 schlagen als adäquate Höhe das Verhältnis der Geldmengen M1 oder M2 zu den Devisenreserven vor.178 Je höher dieses Verhältnis, desto höher ist die Erfolgswahrscheinlichkeit einer spekulativen Attacke. Häufiger wird in der Literatur heute das Verhältnis von öffentlichen und privaten kurzfristigen Fremdwährungskrediten zu den Devisenreserven als Maßstab für eine adäquate Reservenhöhe favorisiert. Das heißt die Devisenreserven werden nicht in ein Verhältnis zu den Import-und Exportströmen, sondern in ein Verhältnis zu den existierenden kurzfristigen Kreditforderungen aus dem Ausland gesetzt. Im Jahr 1996 bezifferte sich das Verhältnis kurzfristiger Kredite zu Devisenreserven auf 100% in Thailand, 180% in Indonesien, 203% in Korea, 41% in Malaysia und 80% in den Philippinen. Wenn zusätzlich der Schuldendienst in Form von Zinszahlungen mit berücksichtigt wird, erhöhen sich die Zahlen auf 123% für Thailand, 294% für Indonesien, 243% für Korea, 70% für Malaysia und 137% für die Philippinen. Kritisch führen Radelet und Sachs179 dagegen an, dass die Zinsniveaus in den letzten Jahren ungewöhnlich gering waren, so dass die Bedienung der Auslandsschulden nicht erschwert wurde. Bis auf den Halbleitermarkt waren auch die Preise der Exportgüter stabil und die US-Ökonomie auf einem ungewöhnlichen Wachstumspfad. Fassen wir nochmals zusammen: nach dem Modell der ersten Generation gehen empirisch den Währungskrisen ein steigendes Budgetdefizit, ein steigendes Geldmengenwachsne Verschlechterung der Leistungsbilanz einher Zahlen sind bei Corsetti/Pesenti/Roubini, op.cit. , Seite 21 zu finden. 177 Siehe Jeffrey Sachs, Aaron Tornell und Andres Velasco, op. cit. 178 Siehe auch z.B. Corsetti et al., 1998, op. cit. 179 Radalet und Sachs, „On the Onset“, op. cit.
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tum und Inflation voraus, die von einer graduellen Abnahme der Devisenreserven begleitet wird. Der Wechselkurs wird daraufhin im zunehmenden Maße überbewertet mit negativen Auswirkungen auf die Handelsbilanz. Die Diskussion hat gezeigt, dass sich hier höchstens eine erhöhte Verschuldung des privaten Sektors ausmachen lässt, die jedoch paradoxerweise vom Modell selbst nicht berücksichtigt wird. Theoretisch einschränkend muss ein eindimensionaler Aktionsradius staatlicher Akteure konzediert werden. Der Regierung und der Zentralbank werden innerhalb des Modells nur eine passive Rolle gegenüber privaten Akteuren zugestanden, da sie lediglich an einer inkonsistenten Politik festhalten können, bis sie letztlich, durch den spekulativen Druck, die Währung freigeben müssen. Innerhalb des Modells ist die Regierung nicht in der Lage, entweder eine Verteidigungsstrategie aufzubauen oder ihre Ziele und Strategien der sich langsam verändernden Situation anzupassen. Ebenso sind andere wirtschaftspolitische Möglichkeiten seitens der Regierung zur Bekämpfung des Budgetdefizits außer Sparen und Gelddrucken unberücksichtigt. Für eine Darstellung der grundlegenden Dynamik mag diese Konzeptualisierung ausreichend sein, für ein vollständiges Bild polit-ökonomischer Prozesse greift sie jedoch deutlich zu kurz. Hier schließen die Modelle der zweiten Generation an. 2.2.2 Modelle zweiter Generation Diese passive Rolle des Staates wird in den Modellen der zweiten Generation modifiziert. Im Gegensatz zu den Modellen der ersten Generation ist die Regierung hier nicht einfach ein Mechanismus, sondern ein Agent, der eine eigene Verlustfunktion zu minimieren versucht. Die Regierung muss sich entscheiden, ob der Wechselkurs weiter verteidigt wird oder ob er aufzugeben ist. Hier zeigte vor allem die Europäische Währungssystemkrise 1992 die Notwendigkeit für Regierungen, miteinander in Konflikt stehende Politikziele zu verfolgen: eine Verteidigung des Systems hätte eine deutliche Zinsanhebung erfordert, die angesichts hoher Arbeitslosenzahlen politisch untragbar war.180 Um dies zu zeigen, betrachtet Obstfeld ein dynamisches Spiel der ‚Zeitinkonsistenz’, in dem die Regierung in einer ersten Stufe den Wechselkurs festlegt und darauf in der zweiten Stufe die Verlustfunktion minimiert. Diese Verlustfunktion wird aufbauend auf Barro/Gorden und Masson181 als eine um Erwartungen erweiterte Lukas-Angebotsfunktion definiert, die ein Wechselspiel von Arbeitslosigkeit, Inflation und der Veränderung des Wechselkurses (der Preis der ausländischen Währung) darstellt. Nachdem die privaten Akteure ihre Inflationserwartungen gebildet haben, hat die Regierung in diesem Modell demnach die Möglichkeit, durch inflationäre Politik, den Gesamtoutput zu erhöhen und dadurch die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Diese Möglichkeit internalisieren die privaten Akteure bei der Bildung ihrer Inflationserwartungen. Dennoch liegt die zentrale theoretische Innovation nicht in der Modellierung politischer Entscheidungsprozesse, sondern im veränderten Verständnis von Währungskrisen. Im Gegensatz zu den Modellen der ersten Generation können die makroökonomischen Funda180 Siehe auch die Diskussion in Paul Krugman, „Are Currency Crises Self-fulfilling?” National Bureau of Economical Research, Annual Macroeconomics, (Cambridge, MA: NBER), Seite 345-378. 181 Paul Masson, „Gaining and losing ERM credibility: The case of the United Kingdom,” Economic Journal, Vol. 105 Issue 405 (1995), Seite 571-582; Robert Barro und David B. Gordon, „A positive theory of monetary policy in a natural rate model”, Journal of Political Economy, Vol. 91 No. 4 (1983), Seite 589-610.
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mentaldaten durchaus konsistent mit einem festen Wechselkursregime sein.182 Vielmehr manifestieren sich die Krisen als selbsterfüllende Prophezeiungen der gerichteten Erwartungen seitens der privaten Akteure.183 Die einfachste Interpretation für das Phänomen der selbsterfüllenden Prophezeiung basiert auf der Existenz mehrerer Gleichgewichte, in der eine Währungsattacke, analog eines Ansturms auf die Kasse, einen Wechsel des Gleichgewichts auslöst.184 Im ersten Gleichgewicht kann die ursprüngliche Situation aufrechterhalten und eine Währungskrise abgewendet werden. Da hier keine erfolgreiche Attacke durchgeführt wird, verändern sich auch die Fundamentaldaten nicht. Im zweiten Gleichgewicht wird die Regierung über eine spekulative Attacke gezwungen, eine expansivere Wirtschaftspolitik zu verfolgen, die zu einer Selbstvalidierung der zuvor gehegten Erwartungen der internationalen Spekulanten führt. Es ist diese erwartete Veränderung der Fundamentaldaten aufgrund der Attacke, nicht die Fundamentaldaten selbst, die inkompatibel mit dem festen Wechselkursregime sind. Das grundlegende Problem liegt demnach darin, dass sich eine Regierungen nicht glaubhaft an einen festen Wechselkurs binden kann, bzw. nicht die unbedingte Bereitschaft zeigt, dieses Regime zu verteidigen. Sollte die Bindung unglaubwürdig werden, werden auf der Grundlage der Fundamentaldaten und der vorhandenen Devisenreserven entsprechende Erwartungen seitens der Spekulanten gebildet. Dieses Modell scheint die Europakrise 1992 besser zu erklären als Modelle der ersten Generation, denn „at the time speculators attacked, none of the […] exchange rates were unsustainable in the sense the classical crisis model postulates.”185 Charakteristisch für die Europakrise 1992 war ein politisches Vertrauensproblem in eine bedingungslose Verteidigung der bestehenden Paritäten. Die daran ansetzenden spekulativen Attacken führten über dramatische Zinserhöhungen zu Investitionsrückgängen und steigenden Arbeitslosenzahlen. Letztlich wurde aufgrund der politischen Kosten weiter sinkender Wachstumsraten und steigender Arbeitslosenzahlen der feste Wechselkurs aufgegeben. Auf den ersten Blick scheint das Obstfeld-Modell auch auf die Asienkrise anwendbar. So argumentieren Radelet und Sachs,186 dass die vorhandenen makroökonomischen Ungleichgewichte das Ausmaß der Asienkrise nicht rechtfertigen könnten. Vielmehr sei eine Erwartungsveränderung der internationalen Investoren von großem Optimismus zu Panik als Ursache der Asienkrise anzusehen. Dies zeigt sich in der Veränderung der Kapitalströ182 Maurice Obstfeld, 1986, 1994, op. cit. 183 Um dies zu modellieren werden die Modelle zweiter Generation sowohl mit einem Modell einer optimierenden Regierung oder mit Modellen multipler Gleichgewichte gleichgesetzt. Jedoch können Modelle auf einer optimierenden Regierung basierend nicht mit multiplen Gleichgewichten gleichgesetzt werden. Allan Drazen und Paul Masson, „Credibility of Policies Versus Credibility of Policymakers“, International Monetary Fund, Working Papers, No.WP 94/49 (Washington, D.C.: International Monetary Fund, 1994); wird als Modell zweiter Generation mit einem eindeutigen Gleichgewicht behandelt, während nicht-optimierende Modelle durchaus multiple Gleichgewichte aufweisen können, wie Krugmann (1996) bestätigt. Siehe auch die Diskussion in Robert Flood and Nancy Marion, „New Perspectives on the Literature on Currency Crisis”, NBER Working Paper No. W6380 (Cambridge, MA: NBER, 1998). 184 Die Betrachtung von multiplen Gleichgewichten ist, wie Olivier Jeanne betonte, mit der Überzeugung kompatibel, dass das Verhalten der Spekulanten nicht durch Fundamentaldaten hinreichend erklärt werden kann.Olivier Jeanne, „Curreny Crises: A Perspective on recent theoretical developments“, Princeton: Special Papers in International Economics, No. 20 (March 2000), Seite 45. Siehe hier auch. Oliver Jeanne und Paul Masson, “Currency crises, sunspots and Markov-switching Regimes”, Journal of International Economics Vol. 50 No.2 (2000), Seite 327 – 50. 185 Obstfeld, 1996, op. cit., Seite 2. 186 Steven Radalet und Jeffrey Sachs, „The East Asian Financial Crisis: Diagnosis, Remedies, Prospects“, Brookings Paper, Vol. 28 No. 1 (1998), Seite 1-74.
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me. Noch im Jahr 1996 konnten die asiatischen Länder einen signifikanten Kapitalbilanzüberschuss, einen Nettokapitalzustrom, in Höhe von ca. 10% des BSP aufweisen.187 Wie diese Kapitalströme zusammengesetzt waren, zeigt eine Studie vom Januar 1997, die vom International Institute of Finance veröffentlicht wurde. Wie sich hier zeigt, spielten bei dem ursprünglichen Zustrom von 221 Mrd. US-Dollar zwischen 1994 und 1996 längerfristige Direktinvestitionen eine unwichtige Rolle. Hingegen war der kurzfristig gebundene Zustrom aus den Quellen kommerzieller Banken und Portfolio-Mangements mit 129 Mrd. US-Dollar sehr viel gewichtiger. Die hohe Elastizität des Kapitals erlaubte es, innerhalb weniger Monate einen Zustrom von 93 Mrd. in einen Abfluss von 12,1 Mrd. USDollar zu verändern. Die Differenz von 105 Mrd. US-Dollar entspricht bei einem BSP von 935 Mrd. US-Dollar immerhin 11% der gesamten Wirtschaftsleistung. Auch hier ist die deutlichste Veränderung bei den Bankenkrediten von + 55,5 Mrd. auf - 21,3 Mrd. USDollar erkennbar. Portfolio-Investitionen fielen um knapp 200%, von +12,1 Mrd. zu - 11,6 Mrd US-Dollar. Als Folge schrumpfte die Wirtschaft im Fall von Indonesien um über 10%. Diese Veränderung der Kapitalströme ist über eine Veränderung der Fundamentaldaten, wie sie sich oben zeigt, nicht erklärbar. 2.2.3 Modelle der dritten Generation: Strukturelle Schwächen Um das Phänomen der Asienkrise adäquat zu beschreiben betonen nun die Modelle der dritten Generation strukturelle Schwächen als auslösendes Moment.188 In diesem Zusammenhang wird vor allem auf die durch ausländisches Kapital finanzierte Immobilienblase verwiesen. Der starke Zustrom von ausländischem Kapitel führt zu einer Ausweitung des Geldangebots und sorgt für günstig verfügbare Kredite. Die nun einsetzende Verschuldung des privaten Sektors schränkt den Aktionsradius der Zentralbank ein, da Kredite, ebenso wie der gesamte Immobiliensektor, auf Zinsänderungen sehr sensibel reagieren. Als Resultat führte demnach der Kapitalzustrom so zu einer Schwächung der Bankenregulierung.189 Genau dieser Zusammenhang zwischen internationalen Finanzmärkten und Bankenregulierung steht im Zentrum dieser Modelle. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass in Schwellenländern vermehrt Währungskrisen und Bankenkrisen – als so genannte Zwillingskrisen – gemeinsam auftreten.190 Der zentrale Übersetzungsmechanismus basiert auf der doppelten Funktion des Zinssatzes. National dient der Zinssatz zur Regulierung des 187 Intitute for International Finance, „Capital Flow to Emgerging markets economies“, Institute of International Finance (Januar 1998). 188 Swati Ghosh und Atish Ghosh, „Strucutral Vulnerabilities and Currency Crises”, International Monetary Fund Working Paper, No. WP 02/9 (Washington, D.C.: International Monetary Fund, 2002). 189 Siehe zum Beispiel auch. Hali Edison, Ponsak Luangaram und Markus Miller, „Asset Bubbles, Domino Effects and ‘Lifeboats’: Elements of the East Asian Crisis”, International Finance Discussion Papers, No. 606, (Washington,D.C.: Board of Governors of the Federal Reserve System, 1998), Guillermo Calvo, Leonardo Leiderman und Carmen Reinhart, „Inflows of Capital to Developing Countries in the 1990s”, Journal of Economic Perspectives, Vol. 10 No. 1 (1996), Seite 123 – 139, Michael P. Dooley und Jeffrey A. Frankel (Hrsg.), Managing Currency Crises in Emerging Markets (Chicago: Chicago University Press, 2003). Interessant in diesem Kontext ist auch Michel Flandreau, „Central Banks Co-operation in Historical Perspective: A Skeptical View“ Economic History Review, Vol. 50 No 4 (1997), Seite 735-763. 190 Dieses Phänomen wurde von Kaminsky und Reinhart als Zwillingskrise benannt. Siehe Graciela Kaminski und Carmen Reinhart, „Twin Crises”, op. cit. Siehe auch Reuven Glick und Michael Hutchinson, „Banking and Currency Crises: How Common are Twins?“ Pacific Basin Working Paper Series No 99-07, (San Francisco: Federal Reserve Bank of San Francisco, 1999).
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Geld- und Kreditmarktes; im internationalen Währungsmarkt bestimmen vor allem Zinsunterschiede und Abwertungs- und Aufwertungserwartungen das Anlageverhalten der internationalen Investoren. Eine Erhöhung des Zinssatzes steigert somit die Attraktivität der Währung, verteuert aber auch Kredite und hat damit einen negativen Effekt auf die Konjunktur. Die hohen Zinssätze als Folge der Verteidigung der Währung übersetzen sich auf Grund niedriger Investitionsaktivitäten und höherer (Refinanzierungs-)Zinsen in eine erhöhte Verwundbarkeit des Bankensektors. Aufgrund der starken Abwertung der inländischen Währung sind Fremdwährungskredite zusätzlich schwerer zu bedienen. Sollte eine Einlagensicherung nicht vorhanden sein, kann diese Situation eine panische Reaktion seitens der Investoren auslösen. Der einsetzende Ansturm auf die Kasse und eine herdenhafte Flucht in andere Währungen erhöhen dabei den Druck auf die inländische Währung und macht eine Währungskrise wahrscheinlich. An dieser Stelle sind mehrere mögliche Kanäle denkbar, innerhalb derer sich eine Währungskrise in eine Bankenkrise übersetzen kann. Die erste Möglichkeit baut auf dem Modell von Diamond und Dybvig191 auf und konzentriert sich auf das Phänomen des Ansturms auf die Kasse (Bank Runs). Jede Bank verleiht langfristig Geld, obwohl sie nur kurzfristige Einlagen erhält. Diese für die Volkswirtschaft extrem wichtige Funktion der Intermediation führt zu einem Liquiditätsrisiko: Spareinleger können kurzfristig genau das Geld zurückfordern, das Banken als Investitionskredite langfristig gebunden haben. Im normalen Alltagsgeschäft stellt dieses strukturelle Risiko keine besondere Gefahr dar. Sollten jedoch auf Grund von Gerüchten über eine mögliche Verschlechterung der Bonität der Bank eine hinreichende Anzahl von Spareinlagen zurückgefordert werden, kann die Bank unter Umständen diesen Anforderungen nicht nachkommen: sie wird illiquide. Gerade weil die Bank Gelder langfristig bindet, kann ein Abzug kurzfristiger Einlagen trotz prinzipieller Lebensfähigkeit als ‚selbsterfüllende Prophezeiung’ zu einer Insolvenz führen. Dabei nimmt das Risiko die Form eines Vertrauensproblems an: kein Sparer kann wissen, ob andere Sparer ihr Konto auflösen. Daher kann es in Abhängigkeit der gegenseitigen Erwartungshaltungen gegebenenfalls individuell rational sein, ebenfalls die eigenen Einlagen aufzulösen, obwohl gleichzeitig ein kollektiv irrationales Ergebnis erzielt wird. Über Netzwerkeffekte kann sich dies zu einer systemischen Krise ausweiten. Die einsetzende Bankenkrise führt dann zu einer Negativspirale, wenn sich internationale Investoren ihre nun negativen Erwartungen mit einer erhöhten Rendite in Form von höheren Zinsen vergüten lassen. Höhere Zinsen kompensieren das Risiko internationaler Investoren, führen aber gleichzeitig zu höheren Refinanzierungskosten der Banken. Eine zweite Verbindung lässt sich über die makroökonomische Wirtschaftspolitik der Regierung bzw. Zentralbank feststellen. Um den Kapitalabfluss zu stoppen und damit die Währungskrise zu bekämpfen, wird kurzfristig der Zinssatz erhöht. In einer Finanzkrise wird dagegen auf expansive Geldpolitik und niedrigere Zinsen gesetzt, um den Druck auf die Banken zu reduzieren. Konfrontiert mit einer Zwillingskrise befindet sich die Regierung in einem Dilemma. Eine Zinssenkung erleichtert den Druck auf die Banken, eine Zinserhöhung verschlechtert die Lage der Banken signifikant, senkt aber, wie sich in Asien zeigte, das Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit des Landes. Eine dritte Verbindung zeigt sich über Fremdwährungskredite inländischer Banken. Eine Abwertung der Währung erschwert die Bedienung dieser Kredite. Der Absturz einer 191 Diamond Doulgas W. und Philip H. Dybvig, „Bank Runs, Deposit Insurance, and Liquidity“, Journal of Political Economy, Vol. 91 No.3 (1983), Seite 401- 419.
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2 Währungskrisen und das Problem der Selbstreferenz
Währung kann Banken in die Insolvenz führen, da Fremdwährungskredite meist kurzfristige Verträge sind, die in langfristige Projekte investiert wurden und das Währungsrisiko von der Bank getragen wird. Diese exzessive Fremdwährungskreditaufnahme ist sowohl in Mexiko 1994 als auch in Asien 1997 erkennbar. Das Verhältnis von Fremdwährungskrediten zum BSP belief sich 1996 auf 50% in Thailand, 57% in Indonesien, 29% in Korea, 40% in Malaysia und 50% in den Philippinen. Der Anteil kurzfristiger Kredite lag bei 41% in Thailand, 25% in Indonesien, 50% in Korea, 28% in Malaysia und 20% auf den Philippinen. Die Modelle der dritten Generation zeigen damit auf, dass sich ein liberalisierter Kapitalmarkt bei ungenügenden Regulierungskapazitäten von Schwellenländern negativ auswirken kann. In ähnlicher Weise argumentiert z.B. auch Mishkin, dass ein erhöhter Kapitalzustrom das nationale Geldangebot ausweitet und somit die Finanzierung riskanter und eventuell mehr prestige- als investitionsorientierter Projekte erleichtert. Das internationale Kapital übersetzt sich somit vor allem in ein höheres Risiko für notleidende Kredite und damit auch eine Schwächung des Bankensektors.192 Die Betonung kurzfristiger Kredite stellt jedoch nur einen kleinen Teil der momentan diskutierten strukturellen Schwächen dar. Hier schließt sich die gesamte Diskussion um Good Governance an. So betonen Ghosh und Gosh193 vor allem auch rechtliche Probleme. Hier ist die Rede vom allgemeinen Fehlen eines ausgebildeten Rechtsstaates, von Korruption, unsicheren Eigentumsrechten, der Effizienz des Rechtssystems sowie der Anwendung von rechtlichen Standards und betriebswirtschaftlichen Bilanzierungsregeln. Der wichtige Punkt dieser Modelle ist demnach nicht, ob nun eine Bankenkrise der Währungskrise notwendigerweise vorausgehen muss, sondern sie leiten einen Perspektivwechsel innerhalb der ökonomischen Diskussion ein: Die Betonung von Leistungsbilanzund Kapitalbilanzungleichgewichten im ersten Modell oder der Hinweis auf die Möglichkeit von selbsterfüllenden Prophezeiungen sind einem Fokus auf Bankenregulierung, Corporate Governance, Insolvenzverfahren und allgemeine Vertragsdurchsetzung gewichen. Damit wird die grundlegende monetaristische Metapher der Kapitalmärkte als ‚Fluss’, das heißt als selbstregulierender, um ein Gleichgewicht zirkulierender Strom, aufgegeben. Das alleinige Betrachten von Kapitalströmen und Bilanzpositionen reicht nun nicht mehr für das Verständnis von Kapitalmärkten aus, es wird um eine Analyse von institutionellen Strukturen, z.B. der Bankenregulierung oder des Rechtssystems, eines Landes erweitert. Auf der anderen Seite bedeutet dieser Wandel gleichzeitig, dass an dieser Stelle eine Kollision zwischen territorialen und funktionalen Grenzen erkennbar ist. Die Frage, was noch im Bereich des souveränen Staates liegt und was nun zu einer Notwendigkeit internationaler Regulierung wird, um die Funktionsfähigkeit des globalen Finanzmarktes zu garantieren, findet eine Neuverhandlung. 192 Ilan Goldfaijn und Rodrigo Valdés, „Capital Flows and the Twin Crises: the Role of Liquidity”, International Monetary Fund Working Paper No. WP/97/87 (Washington, D.C.: International Monetary Fund, 1997), Morris Goldstein, „Coping with too much of a good thing: Policy Responses for Large Capital Inflows to Developing Countries”, Policy Research Working Paper No. 1507 (1995), The World Bank, Private Capital Flows To Developing Countries. The Road to Financial Integration (Washington, D.C.: The World Bank, 1997), Barry Eichengreen und Andrew Fishlow, „Contending with Capital Flows: What is different about the 1990s?” , in: Miles Kahler (Hrsg.), Capital Flows and Financial Crises (Manchester: Manchester University Press, 1998), Jese De Gregorio und Rodrigo O. Valdés, „Crisis Transmission: Evidence from the Debt, Tequila and Asian Flu Crises ”, World Bank Economic Review, Vol. 15 No.2 (1999), Seite 289-314. Siehe auch Rüdiger Dornbusch, Ilan Goldfajn und Rodrigo O. Valdés, “Currency Crises and Collapses,” Brookings Papers on Activity, No. 2 (1995), Seite 219 – 93. 193 Swati Gosh und Atish Ghosh, op. cit., Seite 4.
2.2 Währungskrisen als Phänomen
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2.2.4 Zusammenfassung Möchte man die Diskussion um die drei Währungskrisenmodelle zusammenfassen, so zeigt sich doch vor allem eins: man muss sich von der Idee verabschieden, man könne das Phänomen der Währungskrisen in einem einheitlichen Modell erfassen. Innerhalb der Asienkrise lassen sich für jedes Modell Belege und Gegenbeweise finden. Jedes Modell betont einen Aspekt und kann doch nicht alle relevanten Aspekte einfangen. Empirisch lassen sich Währungskrisen nicht einfach einem Modell zuordnen. Erklärungen, die bei der Überbewertung des Wechselkurses ansetzen, mögen für Russland oder Brasilien zutreffen, doch sicherlich nicht für Süd Korea. Ein unausgeglichener Staatshaushalt wurde für die Krisen in Lateinamerika in den 1980er Jahren und im Russland der 1990er Jahre verantwortlich gemacht. Für die Asienkrise ist dies schlicht das falsche Modell. In Russland war der öffentliche Sektor verschuldet, in Asien der private Sektor. Vielmehr sind diese Modelle zum Teil bei der Beobachtung äquivalent. Das heißt bei der aktuellen Entfaltung einer Währungskrise kann nicht bestimmt werden, welches Modell passt, da das gleiche Phänomen gleichzeitig mehreren Modellen zugeschrieben werden kann. Das spricht nicht gegen die erzielten Fortschritte in der Erklärung zentraler Dynamiken von Währungskrisen. Doch kann man im Gegenzug sicherlich nicht einfach von einer ‚Vorhersehbarkeit’ von Währungskrisen ausgehen, von der sich eine Rationalität oder ein bestimmter Mechanismus einfach wiederholt. Dies würde nur zu einer Vorbereitung auf die letzte Krise führen, ohne ein Mittel für die nächste Krise zu finden. Auf theoretischer Ebene zeigt sich hingegen, dass die Modelle untereinander im Widerspruch stehen. Die Hoffnung, ein Modell für Währungskrisen zu finden, das es erlaubt, die drei Generationen in ein Gesamtbild zu setzen, bleibt sicherlich unerfüllt. Das heißt aber auch, dass man sich von der modelltheoretischen Annahme der Repräsentationsfunktion eines Modells verabschieden muss. Es gibt mehrere Modelle, mit denen eine Währungskrise analysiert werden kann. Hier zeigt sich auf der Ebene der Modelltheorie eine wichtige Kontingenz. Welches Modell Anwendung findet und welches eben nicht, lässt sich nicht aus einer Notwendigkeit des Phänomens selbst belegen. Natürlich zeigt sich, dass bestimmte Modelle ‚angemessener’ in einer Situation sind als andere, es zeigt sich aber auch, dass hier demnach diagnostische Prozesse nötig sind, die erst einmal festlegen, in welcher Situation man sich eigentlich befindet. Diese diagnostischen Prozesse liegen vor der Anwendung ökonomischer Modelle und deuten auf eine Selbstreferenz ökonomischer Modellbildung hin: erst mit Hilfe der Modelle ist es möglich, die Komplexität der empirischen Phänomene zu reduzieren. Diese Komplexitätsreduktion steigert jedoch auf der anderen Seite die Komplexität in der Form, dass eben die Frage des ‚Anderssein-Könnens’ gestellt werden muss: ist das Modell eine adäquate Beschreibung oder benötigt man ein anderes Modell? Und vor allem: inwieweit resultieren die daraus folgenden Politikimplikationen aus dem Modell selbst, inwieweit schaffen Modelle ihre Realität eher, als sie zu repräsentieren? Dieser Frage soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Doch gilt es, die Frage festzuhalten, wie die diagnostischen Prozesse jenseits ökonomischer Modellbildung in die Modelle selbst inkorporiert sind, bzw. wie sie innerhalb der Diskussion thematisiert werden.
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2 Währungskrisen und das Problem der Selbstreferenz
2.3 Ausbreitung Der spekulative Druck auf andere lateinamerikanische Länder in der Folge der Mexiko Krise 1994 hat die Frage nach den möglichen Kanälen der Ausbreitung von Währungs- und Finanzkrisen eröffnet. Gerlach und Smet,194 Valdés,195 Sachs, Tornell und Velasco196 sowie Agénor und Aizenmann197 waren die ersten Ökonomen, die eine Antwort darauf geben wollten. Bereits Eichengreen, Rose und Wyplosz198 haben die Fragestellung auf die Europakrise 1992 ausgeweitet. Doch erst in der Folge der Asienkrise 1997 und der Ausbreitung der Russlandkrise über die LTCM-Affäre auf Brasilien 1998, wurde das Augenmerk auf die Mechanismen der Ausbreitung von Krisen gelenkt. Auf den ersten Blick scheint die Frage nach der Ausbreitung eine einfache Angelegenheit: Marktstörungen überschreiten die Grenzen in Folge gemeinsamer Bewegungen von Wechselkursen, Aktienindizes und Kapitalströmen. Dies ist bei jeder größeren Währungskrise zu beobachten. Doch was genau bestimmt diese gemeinsamen Bewegungen? Warum sind Währungskrisen selten isolierte Ereignisse? Wie ich in diesem Abschnitt zeigen möchte, erhärten die Ausbreitungsmuster die Annahme, dass die Frage nach den Währungskrisen nicht auf die staatliche Ebene des makroökonomischen Managements reduziert werden kann, sondern dass Währungskrisen vielmehr eine systemische Komponente haben. Dieser Abschnitt gibt zunächst einen Überblick über die bisher dominanten Erklärungen der Ausbreitung von Währungskrisen, die sich in Erklärungen über den Realsektor, den Finanzsektor und das politische System aufteilen.199 2.3.1 Definitionen Obwohl sich die Ausbreitung von Währungskrisen offen vollzieht, entziehen sich die jeweiligen Prozesse einer einheitlichen Definition. Die theoretische Schwierigkeit ergibt sich aus einer klaren Abgrenzung eines kausalen Zusammenhangs gegenüber zufällig parallel liegenden Prozessen, wie der bezeichnende Titel „No contagion only interdependence“200 wunderbar verdeutlicht. Die clusterhafte Phänomenologie von Krisen findet vier Erklärungen. Zum einen könnte angenommen werden, voneinander unabhängige Schocks würden die Ökonomien gleichzeitig treffen. Das simultane Auftreten der Währungskrisen wäre somit reiner Zufall. Diese Definition kann im weiteren unberücksichtigt bleiben. Eine glaubwürdigere Erklärung rekurriert auf einen gemeinsamen externen (globalen) Schock,
194 Stefan Gerlach und Frank Smets, „Contagious Speculative Attacks“, European Journal of Political Economy, Vol. 11 No. 1 (1995), Seite 45-63. 195 Rodrigo Valdés, „Emerging Market Contagion: Evidence and Theory”, Working Paper Central Bank of Chile No. 7 (Santiago: Central Bank of Chile, 1997). 196 Tornell Sachs und Velasco, op. cit. 197 Pierre-Richard Agénor und Joshua Aizenman, „Contagion and Volatility with Imperfect Market Credit”, NBER Working Paper No. 6080 (Cambridge, MA: NBER, 1997). 198 Barry Eichengreen, Andrew Rose und Charles Wyplosz, „Exchange Market Mayhem: The Antecedents and Aftermath of Speculative Attacks”, Economic Policy, Vol. 10 Issue 21 (1995), Seite 249-312. 199 Siehe insbesondere Stijn Claessens und Kristin Forbes (Hrsg.), International Financial Contagion (Dortrecht: Kluwer Academic Press, 2001). 200 Kristin J. Forbes und Roberto Rigobon, „No Contagion, only Interdependence: Measuring Stock Exchange Market Co-movements”, The Journal of Finance, Vol. 57 No. 5 (2002), Seite 2223 – 2261.
2.3 Ausbreitung
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einen Monsun-Effekt,201 der die Volkswirtschaften je nach ihrer internen Struktur und Anfälligkeit trifft. Die Zinspolitik der USA in den 1980er und die Ölkrisen in den 1970er Jahren wären hier Beispiele. Drittens ist es möglich, dass ein länderspezifischer Schock durch die Veränderung der Fundamentaldaten der betroffenen Volkswirtschaft einen Spill-overEffekt auf die Fundamentaldaten einer anderen Ökonomie auslöst.202 Viertens kann eine Krise ohne Erklärung der Fundamentaldaten auf eine andere Volkswirtschaft wirken. Hier sind Erklärungen über Herdenverhalten oder Informationskaskaden denkbar. An dieser Stelle möchte ich vor allem die letzten zwei Mechanismen näher diskutieren. Spill-over-Effekte Als ein Spill-over-Effekt breitet sich ein globaler oder lokaler Schock auf Grund der realen und finanziellen Verbindungen der Volkswirtschaften aus. Die gemeinsamen ökonomischen Bewegungen sind dabei auf eine Veränderung der Fundamentaldaten zurückzuführen.203 So verändert zum Beispiel die Abwertung der Währung eines Landes die Wettbewerbssituationen seiner Konkurrenten, die sich in deren Handels- und der Kapitalbilanz niederschlägt. In Abhängigkeit der vorliegenden Struktur der Handelsbeziehungen, z.B. ob es sich bei den Exportgütern um strategische Komplemente oder Substitute handelt, kann diese Abwertung einen positiven oder negativen Effekt ausüben. Sollte es sich z.B. um Substitute handeln, wird eine Abwertung der Währung von Land A auf Land B schlechtere Handelsbedingungen, ein größeres Handelsdefizit und sinkende Devisenreserven zur Folge haben. Damit wird die Währung von Land B anfälliger für eine Währungsattacke. Bezogen auf Asien wurde an dieser Stelle oft auf die spezifische Entwicklungsform des ‚Entenschwarmes’ (flying geese) thematisiert. Die führende Rolle spielt zweifelsohne die technologische Überlegenheit Japans. Über Handelsbeziehungen und die besondere internationale Arbeitsteilung im pazifischen Raum, geprägt durch japanische multinationale Unternehmen, wird das technologische Know-how an die südostasiatischen Länder weitergegeben. Diese südostasiatischen Länder konkurrieren dann gemeinsam einerseits um den japanischen, andererseits mit Japan um den amerikanischen Markt. Erklärungen innerhalb dieses Spill-over-Rahmens, die auf internationale Finanzbeziehungen abstellen, betonen veränderte Rentabilitäten eines gemeinsamen finanziellen Investors. So führt eine sich verschlechternde Rentabilität finanzieller Anlagen in einem Land zur Anpassung von Positionen in einem anderen Land, um die Risikostruktur des Portfolios zu wahren. Ein fallendes Aktienpaket in Indonesien, das sich z.B. auf den Immobiliensektor konzentriert hat, kann so zu einer Positionsschließung in Thailand führen. Der Nachteil dieser Definition der Ausbreitung als Spill-over ist eine zu breite Fassung des Phänomens. Bei einer genauen Lesart löst sich der Begriff der Ausbreitung in dem Begriff der Interdependenz auf. Damit ist die Ausbreitung nicht mehr auf eine Krisensituation bezogen, son-
201 Siehe auch die Diskussion in Paul Masson, „Contagion: Monsoonal Effects, Spillovers, and Jumps between Multiple Equilibria”, International Monetary Fund, Working Paper No. 98/142 (Washington, D:C.: International Monetary Fund, 1998). 202 Dies entspricht dem Bild des Krugman-Flood-Garber Modells, wie es oben besprochen wurde. 203 Guillermo Calvo und Carmen Reinhardt, „Capital Flows to Latin America: is there Evidence of Contagion Effects?“ in: Guillermo Calvo, Morris Goldstein und Eduard Hochreiter (Hrsg.), Private Capital Flows to Emerging Markets After the Mexican Crisis (Washington D.C.: Institute for International Economics, 1996).
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2 Währungskrisen und das Problem der Selbstreferenz
dern auf die Beschreibung alltäglicher Veränderungsprozesse anwendbar. Damit verliert der Begriff aber auch an Überzeugungs- und Erklärungskraft. Um den Begriff der ‚Ausbreitung’ stärker auf die Krisensituation zu beziehen, wird eine etwas engere Definition gewählt, in der diese Ausbreitung als eine, auf Fundamentaldaten bezogene, überverhältnismäßige Korrelation der Veränderungen von Variablen bei gleichem exogenen Schock definiert wird.204 Der Übergang von einer ruhigen Phase zu einer Krisensituation verändert die Korrelationen der Variablen. Dieser exogene Schock kann z.B. eine veränderte Handelspolitik der Industrieländer oder eine reduzierte Fördermenge der OPEC darstellen. Die Konsequenzen sind für mehrere Länder je nach ihrer internen Produktionsstruktur unterschiedlich. Empirische Tests messen hier aufgrund der Krise veränderte Korrelationen, um eine Erklärung für den übertragenden Mechanismus zu finden. Wie Drazen zeigte,205 ist auch diese Argumentation nicht vollständig, da die Informationswirkungen und das veränderte Anlageverhalten ohne die Annahme eines beobachtbaren Schocks erklärt werden kann. Es wäre demnach nötig zu zeigen, welche spezifische und relevante Information der Kollaps der ersten Währung für die zweite Währung darstellt. Ausbreitung ohne Veränderungen der Fundamentaldaten Von einer Ausbreitung kann demnach nur gesprochen werden, wenn eine Währungskrise nicht auf sich verändernde Fundamentaldaten zurückzuführen ist. Nur dann, in einem dem Modell der zweiten Generation naheliegenden Szenario, liegt eine ‚Ausbreitung’ im engen Sinne vor. Um den Unterschied zwischen einem gemeinsamen Schock, in dem verschiedene Länder durch gleichermaßen verletzliche Strukturen gemeinsam betroffen sind, wie zum Beispiel während der Ölkrise in den 1970er Jahren, und einer ‚Ausbreitung’ im engen Sinn zu verdeutlichen, tendieren Ökonomen in neueren Beiträgen dazu, diese noch engere Definition zu favorisieren. Mit dieser Diskussion wird versucht, die Krise als Sprechakt zu konzipieren: eine Währungskrise erhöht als Krise in einem Land die Wahrscheinlichkeit einer Währungskrise in einem anderen Land. Hier wird der Fokus auf die Mechanismen gelegt, die durch das Auftreten einer Krise im Gegensatz zu anderen gemeinsamen Schocks ins Spiel kommen.206 Mögliche Erklärungen diskutieren an dieser Stelle das Konzept des ‚observational learning’, wie es in Informationskaskaden und Herdenverhalten verwendet wird: Akteure lernen allein durch das Beobachten von anderen Akteuren. So baut die generelle Idee der ‚Informationsexternalitäten’ auf einer Ungewissheit in Form von asymmetrischer Information auf, wie sie bei der Selbstbindung von Politikern an die Verteidigung eines festen Wechselkurses zum Tragen kommt. Hier konstruiert eine uninformierte Partei eine Information sequenziell durch Beobachtung anderer Parteien, die sie für besser informiert hält. Dieses beobachtende Lernen verbreitet sich dann kaskadenförmig innerhalb einer großen Population. Unter diesen Bedingungen können Investoren von dem Kollaps eines Wechselkurses in einem Land, auf die Möglichkeit eines Kollapses in einem anderen 204 Siehe Paul Masson, 1998, op. cit., Siehe auch ders. „Multiple Equilibria, Contagion, and the Emerging Market Crises”, Working Paper of the International Monetary Fund, Working Paper 99/164 (Washington, D:C.: International Monetary Fund, 1999). 205 Allan Drazen, ‘Political Contagion in Currency Crises”, in Paul Krugman (Hrsg.) Currency Crises, op. cit, Seite 51. 206 Siehe ibid.
2.3 Ausbreitung
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Land schließen und ihr Verhalten anpassen, ohne dass sich Fundamentaldaten verändert haben oder ein gemeinsamer Schock vorausgeht.207 Dabei wird in der Literatur die Existenz mehrerer Gleichgewichte akzeptiert. Entsprechend definiert Masson die ‚Ausbreitung einer Krise als „a situation of an economy subject to multiple equilibria where the news of a crisis elsewhere triggers a move from the stable and ‚good’ equilibrium to the crisis or ‚bad’ equilibrium.”208 Diese Definition von Ausbreitung bietet einen konzeptionellen Rahmen für die Analyse von Herdenverhalten. Die hier anschließende Literatur über ‚Behavioural Finance’ führt das zu beobachtende Herdenverhalten auf eine asymmetrische Informationsverteilung zwischen den Akteuren zurück. Unter diesen Bedingungen verändert sich das Kalkül der Investoren: wenn alles zur Tür raus rennt, kann es rational sein mitzurennen, anstatt auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben und rational über Fundamentaldaten zu diskutieren. Fassen wir nochmals zusammen: In der Literatur finden sich mehrere Definitionen der genauen Ausbreitungsmechanismen. Eine breite Definition über Spill-over-Effekte sieht die Ausbreitung als die grenzüberschreitende Transmission eines Schocks, der auf veränderte Fundamentaldaten zurückzuführen ist. Diese Definition ist nicht explizit an den Krisenbegriff gebunden. Eine mittlere Definition grenzt die Ausbreitung gegen Spill-over-Effekte ab und sieht sie im Verhältnis zu den fundamentalen (Handels- oder Finanz-)Verbindungen. Diese Definition sieht die Ausbreitung als eine Überreaktion in den Kovarianzen. Die Ausbreitung im engen Sinne fragt nach der Wirkung der Krise als Sprechakt auf die Einschätzung anderer Länder. Gleichzeitig ist die Nähe zu den Währungskrisenmodellen deutlich. Die Erklärung über Fundamentaldaten sieht sich in der Gefolgschaft der ersten Generation. Analog fokussieren Beiträge hier auf die Identifikation und Messung von Erwartungen, die sich an diesen Fundamentaldaten, wie Fremdwährungskrediten oder Zinssätze, orientieren.209 Beziehen sich die Erwartungen der Marktteilnehmer auf die Erwartungen anderer Markteilnehmer, so dass das Phänomen der selbsterfüllenden Prophezeiung auftreten kann, kann eine Erklärung auf Basis der Spill-over-Effekte nicht genügen. Eher muss darauf verwiesen werden, dass ein Auftreten der Währungskrise diese Erwartungshaltung ohne eine vorhergehende, genaue Studie der Fundamentaldaten verändern kann. Währungskrisen sind demnach das Resultat eines Koordinationsproblems unter der Bedingung, dass mehrere Gleichgewichte möglich sind. Die Menge der existierenden Gleichgewichte kann durchaus, wie Obstfeld210 und Masson211 betonen, von den Fundamentaldaten abhängig sein. Letzlich 207 Hieran schließt sich die Diskussion um das Herdenverhalten an. Siehe vor allem: Sushil Bikhchandani, David Hirshleifer und Ivo Welch, „A Theory of Fads, Fashion, Custom, and Cultural Change as Informational Cascades,“ Journal of Political Economy Vol. 100 No. 5 (1992), Seite 992-1026, die hier grundlegend sind. Siehe auch Guillermo Calvo und Enrique G. Mendoza, „Rational Herd Behaviour and the Globalization of Securities Markets.” Journal of International Economics Vol. 51 No.1 (2000), Seite 79-113 und Guillermo Calvo, „Varieties of Capital-Market Crises”, in: Guillermo Calvo und Martin King (Hrsg.), The Debt Burden and its Consequences for Monetary Policy (London: Macmillan, 2005). Siehe auch Graciela Kaminski und Sergio Schmukler „What Triggers Market Jitters? A Chronicle of the Asian Crisis.” Journal of International Money and Finance, Vol. 18 No. 4 (1999); Seite 537-560. 208 Paul Masson „Contagion: Monsoonal Effects, Spillovers, and Jumps between Multiple Equilibria”, International Monetary Fund, Working Paper No WP 98/142 (Washington, D.C.: International Monetary Fund,1998), Seite 4. 209 hierfür erneut: Paul Krugman, „Dutch Tulips and Emerging Markets“, Foreign Affairs, Vol. 74 No. 4 (1995), Seite 28-44. 210 Maurice Obstfeld, „Models of currency crises”, 1996, op. cit. Siehe aber auch ders, “Rational and SelfFulfilling Balance of Payments Crises,” American Economic Review, Vol. 76 No. 1 (1986), Seite 72 – 81.
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2 Währungskrisen und das Problem der Selbstreferenz
kann die Idee der Informationskaskaden oder des Herdenverhaltens ebenfalls nicht im Rahmen der Modelle der ersten Generationen erklärt werden. Informationskaskaden sind nicht mit der Bewegung von Fundamentaldaten verbunden. Eher sind Informationskaskaden ein Ausdruck der sich verändernden Erwartungen unter unvollständiger und asymmetrischer Information, die zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung führen können. Was dabei jedoch ins Auge springt, ist ein selbstreferenzieller Zirkel: die Dynamik und Struktur der gegenseitigen Beobachtung der Akteure – und nicht die rationale Wahl der Akteure in Bezug auf Fundamentaldaten – liegt dem Phänomen der Ausbreitung zu Grunde. Eine Erklärung der Ausbreitungsdynamik erfordert also eine nähere Analyse der institutionellen Vernetzung der Ökonomien. Diese Vernetzung möchte ich nun im Folgenden diskutieren. 2.3.2 Ursachen der Ausbreitung Ausbreitung über den Realsektor Eine Erklärung der Ausbreitung über den Realsektor und damit die Struktur des internationalen Handels kann, neben einem allgemeinen globalen Schock,212 drei Effekte unterscheiden: ein Wettbewerbseffekt, ein Einkommenseffekt (Importnachfrage) und ein Cheapimport-Effekt (positiver Schock auf die Angebotskurve).213 Der Wettbewerbseffekt kann innerhalb weniger Tage einsetzen. Durch eine Abwertung werden die Exporte des Landes billiger. Dies zieht Nachfrage von Konkurrenzprodukten zu den nun billigeren Exporten ab. Selbst wenn ein Land nicht direkt mit Exporten des von der Krise betroffenen Landes konkurriert, wird die Exportfähigkeit der gesamten Außenwirtschaft betroffen. Ein zweiter Einkommenseffekt braucht eine längere Inkubationsphase. Sobald die Krise das Einkommensniveau eines Landes beeinflusst, und damit die Wachstumsrate, hat dies Auswirkungen auf die Nachfrage nach Importen. Länder, die in das Krisenland direkt exportieren, werden eine veränderte, meist reduzierte Nachfrage bemerken. Es ist jedoch auch eine Situation möglich, in der durch das niedrigere Einkommensniveau qualitativ niedrigere Güter nachgefragt werden und somit die Nachfrage sogar steigt. Wenn man sich den Automarkt anschaut, wird deutlich, dass höhere Mittelklassewagen weniger gefragt sein werden; dafür könnte diese Nachfrage sich hin zu Kleinwagen orientieren und zu einem positiven Impuls auf dem Kleinwagenmarkt führen. Drittens wird noch ein Cheap-Import-Effekt diskutiert. Eine Abwertung kann zu einer Verbesserung der Terms of Trade führen. Importe, die nicht von der Krise betroffen sind, können damit billiger bezogen werden, so dass 211 Paul Masson, „Multiple Equilibria, Contagion, and the Emerging Market Crises,“ op .cit. 212 Die Ausbreitung von Krisen über den Realsektor kann unter Umständen auf einen gemeinsamen globalen exogenen Schock zurückgeführt werden, der die Länder simultan trifft. So könnte, z.B. die Zinserhöhungen in den 1980iger in den USA als globaler Schock für die Lateinamerikanischen Staaten angesehen werden. Diese erhöhten dabei nicht nur die Attraktivität des US Dollars, sondern erschwerten die Bedienung der ausländischen Schulden. Zu Beginn der Asienkrise sind ebenfalls globale Schocks erkennbar. So wirkte die Stagnation der japanischen Wirtschaft als Dämpfer des Exportwachstums. Ebenso können die Auswirkungen des Plaza Akkords und der chinesischen Abwertung des Renminbi um 50% als globaler Schock gesehen werden. 213 Siehe für eine tiefere Diskussion dieser drei Effekte Kirstin J. Forbes, „Are Trade Linkages Important Determinants of Country Vulnerability to Crises?” NBER Working Paper No. 8194 (Cambridge, MA: NBER, 2001), siehe auch dies., „The Asian Flu and Russian Virus: Firm Level Evidence on How Crises are Transmitted Internationally.“ Journal of International Economics, Vol. 63 No. 1 (2004), Seite 59-92.
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diese Länder ein höheres Konsumniveau erreichen können. So profitiert z.B. Deutschland durch billigere Importe aus Asien. Um die Ausbreitung von Krisen zu analysieren, reicht daher eine Fokussierung auf den Wettbewerbseffekt völlig aus. Um den Wettbewerbseffekt zu veranschaulichen, entwickeln Gerlach und Smets214 ein Modell, bei dem der Einfluss einer Abwertung der Währung des Landes A auf die Handelsströme und damit der zunehmende Abwertungsdruck auf die Währung des Landes B deutlich wird. Dabei betrachten Gerlach und Smets zwei Volkswirtschaften (Finnland und Schweden), die ihre Währungen an ein drittes Land (Deutschland) angebunden haben. Die Abwertung der finnischen Markka reduziert die Nachfrage nach schwedischen Produkten. Die gesunkene Wettbewerbsfähigkeit Schwedens erzeugt einen deflationären Druck auf schwedische Gehälter und folglich über reduzierten Konsum ein niedrigeres Outputniveau. Die sich verschlechternde konjunkturelle Lage und die damit verbundene Reduktion der schwedischen Kapitalnachfrage führt zu einem Abstrom von Kapital. Dies erhöht den Druck auf die schwedische Krone, der unter dem festen Wechselkursregime durch die Zentralbank aufgefangen werden muss. Als Resultat sind abnehmende Devisenreserven zu beobachten, die schließlich den oben beschriebenen Auslösermechanismus aktivieren. Dieses Modell wurde von Corsetti et. al bei ihrer Erklärung der Asienkrise angewandt.215 Auch hier zeigt sich die Erklärung der Krisen durch kompetitive Abwertungen. Dies könne einen größeren Abfall der Währungen verursachen, als dies ursprünglich hätte der Fall sein müssen. Wenn Marktteilnehmer eine Abwertungsrunde als Antwort auf eine länderspezifische Währungskrise erwarten, dann werden sie folglich ihre Wertpapiere verkaufen und die Umschuldung kurzfristiger Forderungen reduzieren. So betonen Corsetti et. al, dass Taiwan und Singapur aufgrund der Höhe ihrer Devisenreserven durchaus dem spekulativen Druck hätten standhalten können, es jedoch aufgrund der verzerrten Wettbewerbssituation als besser ansahen, ebenfalls ihre Währung abzuwerten. Diese Entscheidung kann als rationale Handlung angesichts irrationaler Kapitalbewegungen angesehen werden. Die Freigabe der Währungen verhinderte schließlich weitere spekulative Attacken seitens der Investoren. Eine mögliche Erklärung der Ausbreitung über den Realsektor wurde mehrfach empirisch überprüft. Eichengreen, Rose und Wyplosz216 und Eichengreen und Rose217 untersuchen dabei anhand von zwanzig Industriestaaten zwischen 1959 und 1993 die Frage, ob sich in Abhängigkeit der bestehenden Handelsbeziehungen die Wahrscheinlichkeit einer Krise in einem gegebenen Land verändert, wenn in einem anderen Land eine Krise ausbricht, das heißt ob die Anfälligkeit in einem spezifischen Land mit dem Auftreten einer spekulativen Attacke in einem anderen Land zu der gleichen Zeit korreliert. In ihrem Modell testen sie zwei Matrizen: eine ‚Handelsmatrix’, die sie auf der Grundlage bilateraler Handelsströme bilden und eine Matrix, die sich aus den Fundamentaldaten der einzelnen Ökonomien zusammensetzt. Während die Handelsmatrix als signifikant und robust getestet wird, wird von ihnen die Matrix mit den Fundamentaldaten als insignifikant geschätzt. 214 Gerlach, Stefan und Frank Smets, „Contagious Speculative Attacks“, European Journal of Political Economy, Vol. 11 No. 45 (1995), Seite 63. 215 Siehe Corsetti, Pesenti, Roubini, 1998, op. cit.. 216 Barry Eichengreen, Andrew Rose und Charles Wyplosz, „Speculative Attacks on Pegged Exchange Rates”, NBER Working Paper No. 4989 (Cambridge, MA: NBER, 1996). 217 Barry Eichengreen und Andrew K. Rose, „Contagiuos Currency Crises: Channels of Conveyance”, in: Takatoshi Ito und Anne Krueger (Hrsg.), Changes in Exchange Rates in Rapidly Developing Countries (Cambridge, MA: National Bureau of Economic Research, 1998).
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Nach Eichengreen und Rose bestimmen demnach die Handelsbeziehungen und nicht die makroökonomischen Ähnlichkeiten die Ausbreitung der Krise. Es ist demnach empirisch nachweisbar, dass sich Währungskrisen zwischen Handelspartnern selbst dann ausbreiten können, wenn die Fundamentaldaten durchaus konsistent mit dem Wechselkursregime sind.218 Glick und Rose untersuchen die Daten von 161 Ländern innerhalb fünf großer Währungskrisen zwischen 1971 und 1997, die auch Handelsströme an gemeinsame Drittmärkte mit einschließen.219 Ihr Ergebnis ist den Einsichten von Eichengreen, Rose und Wyplosz sehr ähnlich: wiederum können Handelsbeziehungen als signifikant für die Ausbreitung von Krisen nachgewiesen werden, während Fundamentalanalysen insignifikant bleiben. Da Handelsbeziehungen mehr intra-regional als inter-regional sind, würde sich daher auch der regionale Charakter der Währungskrisen erklären. So seien die während der Asienkrise am härtesten betroffenen Länder, Thailand, Malaysia, Indonesien, Korea und die Philippinen, vor allem Konkurrenten in ihren Exportmärkten gewesen.220 Das bestätigt auch eine Analyse von Kaminski und Reinhart.221 Jedoch betonen sie dabei, die Bedeutung von Handelsbeziehungen sei in Asien weniger relevant gewesen als für Lateinamerika. Ein Grund dafür sei der höhere intra-regionale Handel zwischen lateinamerikanischen Staaten.222 Masson argumentiert jedoch, dass Handelsbeziehungen die Ausbreitung während der Mexikokrise und der Asienkrise nicht erklären könnten, da nur ein geringfügiger Anteil an den Exporten aus den unmittelbaren Nachbarstaaten stammen würde.223 So würden Mexiko und Thailand nur relativ geringe Mengen an Exportgütern von ihren Nachbarn beziehen. Daher könne die Handelsstruktur die Ausbreitung der Krisen während der Mexikokrise 1994 und der Asienkrise 1997 nicht hinreichend erklären. Darüber hinaus sei die Einschränkung der Wettbewerbsfähigkeit durch die Veränderung des realen Wechselkurses nur als gering einzuschätzen. Masson charakterisiert die Ansteckung über Handelsbeziehungen als Spill-over daher als unzureichende Erklärung der Ausbreitung von Währungskrisen.224 Dieser Ansicht schließen sich Baig und Goldfajn an: der Exportanteil thailändischer Produkte konstituiere weniger als 4% der gesamten Exporte für jedes der vier besonders betroffenen Länder. Auch Drittmärkte wie Japan oder USA könnten nicht den enormen Druck,
218 Ibid, Seite 50. 219 Reuven Glick und Andrew Rose, „Contagion and Trade: Why are Currency Crises Regional?”, Journal of International Money and Finance, Vol. 18 No. 4 (1999), Seite 603- 617. 220 Jedoch hat diese Interpretation immer noch zu klären, warum Korea in den Strudel mitgerissen wurde und nicht Australien oder Saudi Arabien – dem viertwichtigsten Handelspartner. 221 Graciele Kaminksy und Carmen Reinhart, „Financial Crisis in Asia and Latin America: Then and now“, American Economic Review papers and proceedings, Vol. 88 (1998), Seite 444-48. Siehe auch Graciela Kaminski und Carmen Reinhart, „On Crises Contagion and Confusion”, Journal of International Economics, Vol. 51 No. 1 (2000), Seite 145-168. 222 Siehe Taimur Baig und Ilan Goldfajn, „Financial Market Contagion in the Asian Crisis”, International Monetary Fund Working Paper, No. WP/98/155 (Washington, D:C.: International Monetary Fund, 1998). Kaminski und Reinhart untersuchen, nachdem die Handelsbeziehungen als insignifikant zurückgewiesen wurden, die Kreditkanäle als mögliche Ursache. Hier achten sie besonders auf gemeinsame Kreditgebern in Indonesien, Malaysia und Thailand. Ihrer Meinung nach führte die Abhängigkeit dieser Länder von den japanischen Krediten dazu, dass eine Währungskrise in einem dieser Länder die Wahrscheinlichkeit einer möglichen Krise für die anderen Länder erhöhe. Das Gleiche gelte für Latein Amerika und die enge Beziehung zu den amerikanischen Banken. 223 Siehe Paul Masson, 1998, op. cit., Seite 3. 224 Ibid, Seite 3.
2.3 Ausbreitung
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dem sich diese Länder ausgesetzt sahen, erklären. Daher könnten die direkten Handelströme zwischen den asiatischen Staaten die Ereignisse nicht rechtfertigen.225 Forbes bricht die Handelsbeziehungen in ihren Analysen auf das Firmenniveau herunter.226 Sie kritisiert berechtigterweise, dass Handelsströme allein nichts über die Wettbewerbssituation aussagen. Die Tatsache, dass Brasilien und Saudi-Arabien Kaffee bzw. Öl in ein Drittland exportieren würden, sagt noch nichts über deren Wettbewerbssituation aus. Forbes möchte die veränderte Wettbewerbssituation an dem Aktienkurs der Firmen festmachen und analysiert die Veränderungen von Börsenkursen. Ihre Datenbank enthält Informationen von über 10.000 Firmen in der Welt während der Asien- und der Russlandkrise. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass direkte Handelsbeziehungen sowie die Wettbewerbssituation selbst wichtige Transmissionsmechanismen während der Asienkrise und der Russlandkrise waren. Firmen, die in unterschiedlichen Ländern aber in gleichen Industrien tätigen waren, mussten nachweislich Einbußen bei ihren Aktienkursen hinnehmen. Handelsbeziehungen können sowohl signifikante als auch nachhaltige Spuren hinterlassen. So schätzt Forbes den Einkommenseffekt der achtwöchigen Russlandkrise auf 12% in Polen und 20% in Finnland. Wiederum schätzt sie die makroökonomischen Fundamentaldaten als irrelevant für die Ausbreitung der Krisen ein227 und bemerkt interessantanterweise, dass die Ausbreitung von Krisen im entscheidenden Maße von der ersten Reaktion der betroffenen Länder abhängt. Ob Land A abwertet oder die Zinsen anhebt, bestimmt dann den weiteren Verlauf. Damit betont sie den offenen und höchst kontingenten Verlauf von Währungskrisen und verneint die Möglichkeit einer Vorhersage ihrer Ausbreitung. Ausbreitung über den Finanzsektor Die ausführlichste und bis dato einflussreichste Analyse möglicher Ausbreitungskanäle über den Finanzmarkt wurde von Matthew Pritsker vorgelegt.228 Pritsker verfolgt die Frage, wie sich ein realer Schock über die Finanzmärkte ausbreiten kann.229 Dabei steht das Zusammenspiel von Volkswirtschaften (i und j) und ihren Real- und Finanzsektoren, sowie von Banken und Nicht-Banken (k, l) im Mittelpunkt. Zu Grunde legt Pritsker die Definition der Ausbreitung als Spill-over. Jede Bank kann innerhalb des Modells Einlagen annehmen und dieses Geld an Firmen und weitere Banken verleihen. Damit kann sie als Händler oder Konsortialmitglied aktiv in die Finanzmärkte eingreifen. Nichtbanken (non bank financal market participants, NBFMP) wie Kleininvestoren, Investmentfonds oder Hedge Funds können sich von Banken Geld leihen, um damit spekulativ tätig zu werden. Auf Basis dieser Rahmenbedingungen erkennt Mattew Pritsker sieben mögliche Ausbreitungskanäle: 225 Siehe Baig und Goldfajn, 1998, op. cit., Seite 7. 226 Kirstin J. Forbes, „Are Trade Linkages Important Determinants of Country Vulnerability To Crises?“. NBER Working Paper No. 8194 (Cambridge, MA: NBER, 2001). 227 Forbes 2001, op.cit. Seite 30. 228 Mathew Pritsker, „The Channels of Financial Contagion”, in: Stijn Claessens und Kristin Forbes (Hrsg.), International Financial Contagion (Dordrecht: Kluwer, 2001), Seite 67 – 98. 229 Obwohl in den Analysen von Pritsker ein realer Schock der Ausgangspunkt der Überlegungen ist, so müssen diese darauf nicht reduziert werden. Vielmehr ist es gut denkbar, dass ich vor allem über Fehlspekulationen in unprofitable Investitionen die Risikolage eines Finanzinstituts oder eines NBFMP verschlechtert, so dass eine Adjustierung des Portfolios notwendig erscheint. Wird dies von uninformierten Investoren beobachtet und als Schwäche des betroffenen Landes interpretiert, so kann auch hier eine Währungsattacke das Resultat sein.
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2 Währungskrisen und das Problem der Selbstreferenz
Tabelle 1: Kanäle der Transmission eines realen Schocks Kanäle 1 2 3 4 5 6 7
Transmissionsweg Realer Sektori (RS) -> Realer Sektorj RSi Æ Bankk Æ RSj RSi Æ Bankk Æ Bankl Æ RSj RSi Æ Bankk Æ FMj Æ RSj RSi Æ FMiÆ Bankl Æ RSj RSi Æ FMiÆ NBFMPl Æ FMj Æ RSj RSi Æ FMiÆ Bankk Æ FMj Æ RSj
Typenbezeichnung Reale Ausbreitung Gemeinsamer Schuldner Ausbreitung via Finanzinstitute Interaktion von FI und FM Interaktion von FM und FI Ausbreitung via NBFMP Ausbreitung via Bank
Der erste Kanal beschreibt die direkte Ausbreitung von einem Realsektor zu dem anderen via Handelsbeziehungen. Dies schließt nach Pritsker Währungsattacken nach dem Mechanismus des Währungskrisenmodells der ersten Generation mit ein. Kanal 2 stellt, analog zu Kaminski und Reinhart230 und Van Rijckeghem und Weder,231 ein gemeinsames Finanzinstitut zweier Volkwirtschaften (i und j) in den Mittelpunkt der Ausbreitung. Hier verändert ein realer Schock in dem Land i negativ die Kapitalposition einer internationalen Bank k, die ihr Geld Firmen in Land i geliehen hat. Wenn die gleiche Bank auch Posten in Land j offen hat, dann kann es für die Bank k optimal sein, die Höhe des an das Land j geliehenen Kapitals zu reduzieren.232 Empirisch überprüft wurde diese These eines ‚gemeinsamen Kreditgeber-Effekts’ von Van Rijeckeghem und Weder anhand von Daten aus über 30 Schwellenländern. Ebenso analysieren Froot, O’Connell und Seasholes233 die Kapitalströme von internationalen Investoren in und aus 44 Ländern zwischen 1994 und 1998. Beide Studien sehen ein starkes positives Feedback zwischen Investoren. Dies lässt auf TrendInvestitionsverhalten schließen und unterstützt die These eines positiven Einflusses der institutionellen Investoren bei der Transmission von Schocks. Die gleiche Intuition kommt auch bei Kanal 3 zum Tragen, mit dem Unterschied, dass eine zweite Bank l zwischengeschaltet ist und damit die Ausbreitung über die Vernetzung der Finanzinstitute erklärt wird. Ob und wie sich die Krise ausbreitet, hängt also von dem Muster ab, das durch die gegenseitige Beteiligungen und Kredite entstandenen ist. Ein realer Schock wirkt auch hier wieder negativ auf die Bilanz von Bank k. Bank k hat Einlagen bei einer anderen Bank l, die ihrerseits in Land j investiert ist. Der negative Schock veranlasst Bank k ihre Einlagen von Bank l zurückzufordern. Bank l sieht sich nun gezwungen ihre Investitionen oder ihr Portfolio zu verändern. Analog analysieren Franklin Allen und Douglas Gale die überlappenden Ansprüche innerhalb des Bankensektors. Ist eine Region von einer Bankenkrise betroffen, führt dies über eine Minderung der Ansprüche, die Banken aus anderen Regionen an diese Region haben, zu einem Verlust und kann,
230 Graciela Kaminsky und Carmen M. Reinhard, „On Crisis, Contagion and Confusion”, op. cit. 231 Caroline Van Rijeckeghem und Beatrice Weder, „Sources of Contagion: is it Finance or Trade?”, International Monetary Fund Working Paper No. WP 99/146 (Washington, D:C.: International Monetary Fund, 1999). 232 Mattew Pritsker, op. cit., Seite 8. 233 Kenneth Froot, Paul O’Connell und Mark S. Seasholes, „The Portfolio Flows of International Investors“ Journal of Financial Economics, Vol. 59 No. 2 (2001), Seite 151-193.
2.3 Ausbreitung
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sollte die Integration der Bankensektoren hinreichend sein, zu einer Ausbreitung der Krise führen.234 Die Kanäle 4 und 5 verdeutlichen die Möglichkeit einer Ausbreitung auf Basis der Interaktion von Finanzinstituten und Banken mit Finanzmärkten.235 Hier führt ein realer Schock in Land i zu einer Erhöhung des Kreditrisikos und der Kreditausfälle der Bank k. Ist diese Bank gleichzeitig ein einflussreicher Spieler, kann sie durch die restriktivere Kreditvergabe in Land j dessen realen Sektor direkt beeinflussen (Kanal 4). Analog kann sich zuerst der reale Schock auf den Kapitalmarkt von Land i ausdehnen und über die zu realisierenden Verluste die Kreditvergabe der Bank in Land j verändern (Kanal 5). Die Kanäle 6 und 7 weisen auf die mögliche Rolle einer Nichtbank (NBFMP) hin. Wiederum wird ein realer Schock in Land i betrachtet, der sich auf den Kapitalmarkt auswirkt. Eine Nichtbank kann sich durch die hier realisierten Verluste veranlasst sehen, entsprechend ihres Risikomanagements und ihrer Positionierung nicht nur die Positionen in Land i, sondern auch in Land j zu verändern, falls diese korreliert sein sollten (Kanal 6). Das als ‘cross market hedging’ bezeichnete Verhalten kann auch für eine Bank rational sein (Kanal 7).236 Zusammenfassend lassen sich drei Motive für das Anlageverhalten identifizieren. Kanal 2 deutet auf einen Effekt durch gemeinsame Kreditgeber hin. Die Kanäle 3, 4 und 5 argumentieren mit einer Logik von ‚wake up calls’. Diesen Mechanismus überprüfte etwa Masson für die Asienkrise,237 ohne jedoch zu positiven Ergebnissen zu gelangen. Obwohl eine Reevaluierung der Investitionschancen sicherlich stattgefunden hat, sei nicht klar, was genau denn die Investoren habe aufwachen lassen. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Mechanismus des wake-up calls in allen Ländern kontextunabhängig wirksam ist. Schon die Ökonomien von Mexiko, Argentinien und Brasilien unterscheiden sich deutlich, die Unterschiede fallen jedoch noch weit gravierender aus, wenn man zusätzlich Länder wie Indonesien, Süd Korea oder Malaysia in den Blick nimmt. Letztlich ist auch die Existenz ‚schlafender’ Investoren mit der Annahme von rational handelnden Akteuren schwer vereinbar. Der Einfluss globaler oder inter-regionaler Risikomodelle durch institutionelle Investoren und Spekulanten wird vor allem in den Kanälen 6 und 7 betont. Dies wird weiter unten noch unter dem Stichpunkt der Hedge Funds zu besprechen sein: durch Kapitalverluste in einem Land sieht sich ein Fonds genötigt, andere Positionen ebenfalls zu schließen, um das Risikoprofil intakt zu halten.238 Kaminski und Reinhart haben diese erwartete Veränderung des Portfolios, die bei Global Funds oder spezialisierten Emerging Funds vorkommen soll, analysiert.239 Der Währungsmarkt als möglicher Träger der Ansteckung und Ausbreitung wurde weiter von Calvo, Chang und Velasco untersucht.240 Die Veränderung 234 Allen Franklin und Douglas Gale, „Financial Contagion“, in: Charles Goodhart und Gerhard Illing (Hrsg.), Financial Crises, Contagion, and the Lender of Last Resort: A Reader (Oxford: Oxford University Press, 2002), Seite 379 – 406. 235 Siehe auch hierfür Franklin Allen und Douglas Gale, „Innovations in Financial Services Relationships and Risk Sharing“, Management Science, Vol. 45 No 9 (1999), Seite 1239-1253. 236 Siehe Pritsker, op.cit. 237 Paul Masson, 1999, op. cit. 238 Garry J. Schinasi und R. Todd Smith, „Portfolio Diversification, Leverage, and Financial Contagion”, International Monetary Fund Working Paper No.WP 99/136 (Washington, D:C.: International Monetary Fund,, 1999). 239 Kaminski und Reinhart, op.cit. 1998; 240 Guillermo Calvo, „Reflections on Mexico’s balance-of-payments crisis: A chronicle of a death foretold”, Journal of International Economics, Vol. 21 No.1-2 (1996): 235-64. Siehe auch ders. „Varieties of capitalmarket crises”, in Guillermo Calvo und Martin King (Hrsg.) The Debt Burden and its Consequences for
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2 Währungskrisen und das Problem der Selbstreferenz
Wertpapiere wird über die Korrelationen der Veränderungskoeffizienten von Zinsraten, Aktienpreisen und Sovereign Spreads unterschiedlicher Ökonomien gemessen. In diesem Ansatz wird eine gesteigerte Korrelation als Beweis der Ausbreitung angesehen.241 Baig und Goldfajn zeigen, dass die Korrelationen der Währungen und Sovereign Spreads von Indonesien, Korea, Malaysia, die Philippinen und Thailand zwischen Juli 1997 und Mai 1998 signifikant gestiegen sind und sich die Ausbreitung nicht über Fundamentaldaten erklären lassen.242 Auch wenn Dornbusch, Park und Claessens daraus schließen, dass „financial markets facilitate the transmission of real or common shocks, but do not cause them,“243 so muss letztlich dennoch zugestanden werden, dass die viel beschriebene Integration der Finanzmärkte weitere Kanäle der möglichen Ausbreitung eröffnet. Dies soll nicht gegen liberale Kapitalordnungen sprechen, sollte aber in der Konzeption einer neuen Architektur berücksichtigt werden. Politische Ausbreitung Vor allem Allan Drazen kritisiert die bisherigen Modelle der zweiten Generation und die Ausbreitungsmodelle als zu sehr auf die Ökonomie zentriert.244 In den Modellen sei die Entscheidung zu einer Abwertung der Währung als eine rein ökonomische Frage konzipiert. Jedoch gilt: „[e]conomic decisions are often made on the basis of largely political goals.”245 Die Entscheidung für die Aufrechterhaltung eines festen Wechselkurses mit dem Ziel, politische Integration zu fördern, ist eben nicht eine rein ökonomische. Bei der Bewertung einer Währung spielen auch Vor- und Nachteile eine Rolle, die sich aus einer Mitgliedschaft in bestimmten politischen Clubs, wie z.B. einer Freihandelszone oder Strategien politischer Annäherung, ergeben. So sei das Ziel der politischen Integration für die Europakrise 1992 ein sehr dominantes Moment gewesen. Die Entscheidung, einen festen Wechselkurs zu etablieren und zu verteidigen, ging mit einer politischen Annäherung und Vertrauensbildung einher. Dies kann als Club-Mitgliedschaft verstanden werden, bei der eine der Bedingungen dieser Mitgliedschaft der Erhalt des festen Wechselkurses ist.246 Der Vor-
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Monetary Policy. (London: Macmillan, 1998)´, Robert Chang und Andres Vélasco, „Financial crises in emerging markets: A canonical model”, C.V. Starr School of Business, Working paper, (New York: New York University, 1998). Siehe vor allem Rüdiger Dornbusch, Yung Chul Park und Stijn Claessens, „Contagion: How it spreads and How it can be steopped” World Bank Research Observer, (May 2000), Seite 11, Kristin Forbes und Robert Rigobon, „Measuring Stock Market Contagion: Conceptual Issues and Empirical Tests,“ in: Stijn Claessens und Kristin Forbes (Hrsg.), International Financial Contagion (Dordrecht: Kluwer, 1999); Guillermo Calvo und Carmen Reinhart: „Capital Flows to Latin America: is there Evidence of Contagion Effect?” in: Guillermo Calvo, Morris Goldstein und E. Hochreiter (Hrsg.) Private Capital Flows to Emerging Markets After the Mexican Crisis (Washington, D.C.: Institute for International Economics, Washington, D.C, 1996). Baig und Goldfajn, 1998, op. cit. Erwähnt werden sollte auch das Modell von Edison, Pongsak und Miller, op. cit., 1998, die das Modell von Kiyotaki und Moores Kreditzyklus-Modell verwenden, um Finanzkrisen durch Ausschlandsschulden – und damit ebenfalls über den Kapitalmarkt – erklären. Siehe Nobuhiro Kiyotaki und John Moore, „Credit Cylces“ ,Journal of Political Economy, Vol. 105 No.2 (1997), Seite 211-48. Rüdiger Dornbusch, Yung Chul Park und Stijn Claessens, „Contagion: How it spreads and How it can be steopped“, World Bank Research Observer, (Washington,D.C.: The World Bank, 2000), Seite 6. Allan Drazen, „Political Contagion in Currency Crises”, in: Martin Feldstein (Hrsg.), Financial Contagion: How it Spreads and How it Can be Resolved (Cambridge, MA: NBER, 2002), veröffentlicht ebenfalls in Paul Krugman (Hrsg.), Currency Crises, op. cit., Seite 47 – 66. Allan Drazen, „Political Contagion in Currency Crises” in Paul Krugman, Currency Crises, op. cit., Seite 53. Ibid., Seite 53.
2.3 Ausbreitung
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teil der Mitgliedschaft hängt davon ab, wer noch Mitglied im Club ist. Wenn ein Land A lernt, dass ein anderes Mitglied diesen Club weniger schätzt und weniger gewillt ist, die Kosten des Erhalts zu tragen, verändern sich die Vor- und Nachteile des ersten Landes. Auf der Seite der Spekulanten besteht hingegen Ungewissheit darüber, inwieweit die politische Motivation der Integration Bestand hat. Spekulanten kennen nicht die Gewichtung verschiedener politischer Ziele einer Regierung, sie wissen jedoch, dass die Mitgliedschaft in einem Club ein wichtiger Einflussfaktor ist. Diese asymmetrische Information zwischen Spekulanten und der Regierung sowie zwischen den Regierungen untereinander, ist der treibende Faktor dieses Modells. Sollte eine spekulative Attacke gegen ein Mitglied des Clubs erfolgreich gewesen sein, offenbart dies eine geringere tatsächliche Verpflichtung als ursprünglich erwartet. Dies führt zu einer Reevaluierung der eigenen Interessen im Sinne einer verminderten Verpflichtung, was sich wiederum in eine erhöhte Anfälligkeit und in der Folge noch aggressiveres Spekulationsverhalten übersetzt. Drazen spricht daher von Mitgliedschafts-Ausbreitung (membership contagion). Wie sieht diese Situation nun genau aus?247 Die Höhe der notwendigen Anhebung der Zinsen für eine Verteidigung des Wechselkurses wird bestimmt durch die Abwertungserwartungen der Spekulanten. Die Erwartungen der Spekulanten bestimmen den minimalen Zinsatz, zu dem eine Verteidigung der Devisenreserven möglich ist. Sieht sich die Regierung in der Verpflichtung den fixen Wechselkurs zu verteidigen, wird sie die Zinsen auf diesen minimalen Level anheben und die inländischen politischen Kosten dieser Zinserhöhung tragen. Die Kosten dieser Zinserhöhung sind vierfach: eine Reduktion der wirtschaftlichen Aktivität, höhere Hypothekenzahlungen seitens der Konsumenten, eine Erhöhung der Zinslast für das Budgetdefizit, sowie eine Destabilisierung des Bankensektors. Sollte eine Attacke nicht ernsthaft abgewehrt werden und somit erfolgreich sein, offenbart dies Informationen über den Zusammenhalt innerhalb dieses Clubs. Andere Mitglieder des Clubs werden somit anfälliger für Attacken. Den Beweis für die politische Ausbreitung sucht Drazen im Europäischen Währungssystem. So wird die politische Rolle an der restriktiven Geldpolitik Frankreichs trotz Rezession deutlich: es war eine Demonstration eines politischen Willens gegenüber internationalen Anlegern, aber vor allem gegenüber Frankreichs europäischen Nachbarn. Eine Schwäche war zu diesem Zeitpunkt nicht akzeptierbar. Als am 14. September 1992 England aus dem EWS ausstieg, übersetzte sich dieser Schritt in einen scharfen Fall der Futureskontraktpreise für die italienische Lira, die spanische Peseta und das irische Pfund. Dies lässt auf die veränderten Erwartungen internationaler Spekulanten schließen. Die Aufgabe der Verteidigung des Pfunds durch die Bank of England erhöhte den Druck auf andere Mitglieder des Währungssystems, veränderte die politischen Kosten und läutete damit dessen Ende ein. Obwohl die Betonung der politischen Natur ökonomischer Entscheidungen sicherlich beachtlich und zu befürworten ist, so muss Carmen Reinhart darin zugestimmt werden, dass gerade Süd Korea dachte, es wäre dem Club der OECD beigetreten und obwohl es prinzipiell bereit gewesen wäre hier die Mitgliedschaftskosten zu tragen, dies eben nicht möglich war. Dieser Ausbreitungsmechanismus lässt, trotz seiner höheren Sensibilität für polit-ökonomische Überlegungen, daher immer noch Fragen bei der Erklärung der Asienkrise unbeantwortet.248 247 Diese Passage ist eine Zusammenfassung des Artikels von Allan Drazen, op. cit., insbesondere der Seiten 55–59. 248 Siehe Carmen Reinhart, „Comment“, in: Paul Krugman, 2000, op. cit., Seite 67 – 70.
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2 Währungskrisen und das Problem der Selbstreferenz
2.4 Zusammenfassung Die deutlichsten Neuerungen in der Literatur über Währungskrisen ergeben sich meines Erachtens aus der Anerkennung einer autonomen Rolle der finanziellen und ‚politischen’ Ausbreitungsmechanismen. Die finanziellen Indikatoren wie Wechselkurse und Aktienindizes bilden den realen Sektor nicht nur einfach ab, sondern gewinnen ein Eigenleben und beeinflussen diesen signifikant. Matthew Pritsker formulierte dies wie folgt: „Because the real sectors are actually correlated and financial markets should reflect the value of assets in the real sector, it is not necessarily undesirable for the financial markets to be correlated. However, as noted earlier, the information asymmetry has the additional effect of causing shocks in the financial market of one country to cause price movements in the other country that are excessive relative to the other country’s full information fundamentals. The most straightforward way for a country to reduce its own vulnerability to this form of contagion from other financial markets is to improve the quality of information about the assets in its own market.”249
An dieser Stelle wird oft darauf hingewiesen, dass die Anfälligkeit für finanzielle Ausbreitungen entscheidend von der Verletzlichkeit und Empfindlichkeit des Real- und des Finanzsektors abhängen würde.250 Dornbusch, Park und Claessens sehen ja genau darin die Notwendigkeit struktureller Reformen und die Selbstverpflichtung zu vernünftiger Wirtschaftspolitik seitens der Regierungen.251 Gleichzeitig wird jedoch auch, vor allem von Allen und Gale, darauf hingewiesen, dass die Art der Verbindung zwischen den unterschiedlichen Akteuren im Finanzmarkt für ein Verständnis des Transmissionsmechanismus notwendig ist. Ohne hier eine letzte Antwort einzufordern, zeigt sich doch, dass eine kleine Anzahl von signifikanten Verbindungen zwischen Banken bedeutender für die allgemeine Fragilität des Systems ist, als eine große Anzahl von insignifikanten Verbindungen. Gleichzeitig zeigt sich hier die Relevanz neuer privater Akteure wie Spekulanten oder Investoren. Mir geht es nicht darum, ein bestimmtes Verhalten als gut oder schlecht darzustellen, sondern darum aufzuzeigen, dass eine adäquate Beschreibung der Finanzmärkte, und daher auch eine adäquate Konzeption von Finanzstabilität, diese Akteure und ihre Interaktionen berücksichtigen muss. Denn die Diskussion hat gezeigt, dass die gegenseitigen Beobachtungen und Erwartungshaltungen der Akteure den Verlauf realwirtschaftlicher Prozesse beeinflussen. Nicht die einfache Beobachtung von Fundamentaldaten, sondern ein komplexes Geflecht wechselseitiger Beobachtungen bringen die Währungskrisen hervor. Systemrisiken resultieren aus genau diesen Prozessen wechselseitiger Beobachtung und Erwartungsbildung. Ein dynamisches Verständnis von Finanzstabilität verlangt demnach ein theoretisches Instrumentarium, mit dem aktuelle strukturelle Veränderungen in den Finanzmärkten und der Wandel von Systemrisiken in Verbindung gebracht werden können. Was die Europakrise 1992 und die Ausbreitung von Russland nach Brasilien deutlich vor Augen führen, ist die Tatsache, dass die Betrachtung der Krise als Sprechakt zu einer Neuinterpretation bisheriger Daten führt, bei der Daten in ein neues Narrativ eingebettet werden und somit neue Informationen gewonnen werden. Dabei werden Erwartungen nicht 249 Mattew Pritsker, Channels of Financial Contagion (Washington, D.C.: Federal Reserve Board, 2000), Seite 16. 250 Ibid., Seite 13. 251 Stiijn Claessens, Rüdiger Dornbusch und Yung Chul Park, „Contagion: Why Crises Spread and How This can be Stopped”, in Stijn Claessens und Kristin Forbes (Hrsg.), Interantional Financial Contagion, op. cit., Seite 43 – 66.
2.4 Zusammenfassung
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einfach angepasst, sondern das gesamte Bild des aktuellen Falles wird verändert. Es geht also nicht um eine rationale Anpassung bestehender Überzeugungen, sondern um eine Neuinterpretation vergangener und zukünftiger Erwartungen. Gleichzeitig zeigt sich an dieser Stelle, dass die jeweiligen Muster zufällige Ereignisse sind, die sich in den Wirtschaftsstrukturen festsetzen können. Diese zwei Aspekte der selbsterfüllenden Prophezeiung252 und der Wissensheterogenität der Akteure mit der Konsequenz der gegenseitigen Beobachtung weisen auf eine Problematik selbstreferenzieller Strukturbildung hin. Währungskrisen bauen daher auf einer intersubjektiven Ontologie auf. Sie lassen sich nicht auf bilaterale oder individuell rationale Entscheidungen zurückführen, sondern haben immer auch eine systemische Komponente, die sich als strukturprägende Kraft des Zufalls äußert. Insgesamt zeigt sich also, dass durch die Ausbreitung von Währungskrisen und die sich hier zeigende selbstreferenzielle Strukturbildung auf den Finanzmärkten, bei der Fundamentaldaten die Wirtschaftssituation eben nicht nur abbilden sondern auch generieren, der verbreitete Glaube an die Effizienz der Finanzmärkte deutlich in Frage gestellt wird. Die Frage, ob die bisherige Fokussierung auf Transparenz, asymmetrische Information und die Koordinations- und Selbstbindungsproblematik adäquat einer intersubjektiven Ontologie angemessen ist, verlangt eine detailliertere Analyse des Verhältnisses von Modell und Realität. Aus diesem Grund wird es notwendig, sich das Verhältnis von Modell, Sprache und Realität näher anzuschauen um in Anschluss daran feststellen zu können, wie dieses Verhältnis die Finanzmarktstabilität beeinflusst.
252 Maurice Obstfeld, „The logic of currency crises”, Cahiers Economiques et Monetaires (Banque of France), Vol. 43 (1994), Seite 189-213.
3.1 Einleitung
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3 Über Wahrscheinlichkeit – eine Topologie
3.1 Einleitung Das letzte Kapitel identifizierte das Problem selbstreferenzieller Strukturbildung innerhalb der Finanzmärkte anhand zweier feed-back Schleifen: auf der Mikroebene zeigt sich die intersubjektive Ontologie polit-ökonomischer Phänomene. Erwartungen richten sich demnach nicht auf eine exogen gegebene Situation, sondern auf andere Akteure. Währungskrisen resultieren aus diesem System gegenseitiger Erwartungen. Das heißt, die Erwartungen und die Ideen über die gegenwärtige Zukunft, die sich in ihnen ausdrücken, wirken auf das Verhalten und damit auf die mögliche zukünftige Gegenwart ein. Dieser Zirkel wurde auch unter dem Stichwort der selbsterfüllenden Prophezeiung als Resultat asymmetrischer Informationsverteilung zwischen den Akteuren sichtbar. Zweitens wurde auf der Makroebene eine genau platzierte Kontingenz zwischen Modell und Realität deutlich. Modelle selbst sind nicht eine einfache Repräsentation gegebener Fakten. Vielmehr lassen sich entweder die empirischen Fakten durch mehrere Modelle erklären, so dass immer qualitative, diagnostische Prozesse zur Bestimmung der ‚Was-ist’-Frage von Nöten sind. Oder aber die Risikomodelle wirken sich – wie bei der portfolioinduzierten Ausbreitung – konstitutiv und strukturprägend auf die Ausbreitung der Krise selbst aus. Risikomodelle sind demnach keine einfache passive, sondern eine performative Beschreibung ökonomischer Sachverhalte. Die Frage, die sich daraus ableitet, lautet demnach ob und wie diese performativen Charakteristika in den ökonomischen Modellen angesprochen werden. Wie beobachten sich die Modelle selbst – und wenn sie das nicht tun: welche Dynamiken werden dann nicht beobachtet und welche Konsequenzen hat dies für die Konzeption von Finanzstabilität? Hier bietet sich eine semantische Analyse des Risikobegriffs an. In der Sprache des Risikos wird es uns möglich, über eine kontingente Zukunft nachzudenken. Der Risikobegriff ist aus diesem Grund in ein sehr modern geprägtes Verständnis von Zukunft eingebettet, in dem sich die Zukunft eben als Kontingenz und nicht als Fortuna darstellt. Mit der Semantik des Risikos versuchen wir also, die zukünftige Gegenwart von der gegenwärtigen Zukunft aus in Begriffen der Wahrscheinlichkeit zu greifen.253 Der Begriff der Wahrscheinlichkeit hat demnach die performative Funktion, den Schritt von der Gegenwart in die Zukunft zu konzeptualisieren. Er erlaubt die Beschreibung zukünftiger Ereignisse aus der Perspektive der Gegenwart. Hier sind die zentralen Annahmen über das zu Grunde liegende System und damit auch die Annahmen und Konzeptualisierungen von Wissen und Zeit eingeschrieben. Das Ziel dieses Kapitels ist es also, über den Wahrscheinlichkeitsbegriff die Grundannahmen und Grenzen der ökonomischen Position bei der Beobachtung selbstreferenzieller
253 Für den Zusammenhang von Risiko und Zukunft, siehe Charlie Dannreuther and Rohit Lekhi, „Globalization and the Political Economy of Risk”, Review of International Political Economy, Vol. 7 No. 4 (Winter 2000), Seite 574-594, auf Seite 575. Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos (Berlin, New York: Walter de Gruyter & Co, 1991). Für die Unterscheidung gegenwärtige Zukunft – zukünftige Gegenwart siehe ebenfalls Niklas Luhmann, Soziolgoie des Risikos; op. cit, aber auch Reinhart Kosselleck, Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979).
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3 Über Wahrscheinlichkeit – eine Topologie
Prozesse zu rekonstruieren.254 Dafür schlage ich eine Topologie von Wahrscheinlichkeitsbegriffen vor, die sich aus zwei Unterscheidungen ableitet. Zuerst können Wahrscheinlichkeiten danach unterschieden werden, ob sie sich auf eine Verteilung oder auf einen Einzelfall beziehen. Diese Unterscheidung stützt sich auf zwei Lesearten von ‚gleich wahrscheinlich’ und geht auf Leibniz zurück.255 Leibniz meint, man könne zu Wahrscheinlichkeitsaussagen auf zweifache Weise kommen. Die erste Argumentation baut auf seinem Prinzip der hinreichenden Vernunft auf, bei der ‚gleich möglich’ einen Wissensstand bezeichnet. Hier verwendet Leibniz die Begriffe opinio und aestimatio, die zwei Kategorien der scholastischen Epistemologie. Die Wahrscheinlichkeit als Ausdruck der Überzeugung (opinio) resultiert aus einem ungenügenden Wissen. Hieraus hat sich vor allem die epistemische Definition der Wahrscheinlichkeit als partielle Überzeugung herausgebildet, in der die subjektive Einschätzung von Einzelfällen im Zentrum steht. Fragen wie, z.B. ob Charles nun König von England wird, ob Horst Köhler noch eine zweite Amtszeit erhält etc. In der zweiten Argumentation verwendet Leibniz den Ausdruck Wahrscheinlichkeit als Grad der Möglichkeit als aeque faciles seu aeque possibiles. Hier nimmt der Ausdruck ‚gleich möglich’ die Bedeutung von ‚einen Zustand der Welt herbeiführen’ an. Dabei fällt auf, dass Leibniz Formen von facile benutzt und damit Bezug nimmt auf Aristoteles Konzept der potentia. Dieses Verständnis entwickelt sich weiter zur Wahrscheinlichkeit als Verhältnis von günstigen zu möglichen Fällen. Da sich Wahrscheinlichkeit demnach prozentual angeben lässt als Häufigkeit des Eintretens eines Ereignisses in wiederholten Spielen, wird sie oft auch aleatorisch genannt (von alea = lat. Würfel). Etwas kann demnach auf zwei sehr unterschiedliche Arten ‚gleich wahrscheinlich’ sein: zum einen sind zwei Zustände der Welt mit gleicher Wahrscheinlichkeit herstellbar (ontologische Aussage, Interpretation de re), zum anderen können zwei Wahrscheinlichkeiten als ein Ausdruck einer Überzeugung gleich wahrscheinlich sein (epistemisches Argument, Interpretation de dicto).256 Diese zwei Verständnisse sind strikt auseinander zu halten, um ungerechtfertigte Wechsel zwischen epistemologischer und ontologischer Ebene zu vermeiden.257 Sie definieren den Rahmen dieser heutigen Diskussion: wir können Wahrscheinlichkeit aleatorisch als Ausdruck einer Verteilung oder epistemisch als ‚Überzeugungsgrad’ verstehen. Als zweite Unterscheidung können Wahrscheinlichkeiten entweder objektiv oder subjektiv sein. Hier dreht sich die Diskussion um die Instanz, die letztlich die Zuschreibung
254 Es geht hier also nicht um vier Definitionen von Risiken, sondern um vier Konzeptionen, die jeweils eine unterschiedliche Sicht auf Risiko erlauben. 255 zitiert in Ian Hacking, Emergence of Probability (Cambridge: Cambridge University Press, 1975), op. cit., Seite 125. Gute Einführungen in die Philosophie der Wahrscheinlichkeitstheorie sind: F.C. Benenson, Probability, Objectivity and Evidence (London: Routledge and Keagan Paul, 1984), L. Jonathan Cohen, Introduction to the Philosophy of Induction and Probability (Oxford: Clarendon Press, 1984), und Roy Weatherford Philosophical Foundations of Probability Theory (London: Routledge and Keagan Paul,1982). 256 Siehe vor allem Hacking, 1975, op. cit. Siehe aber auch seine neuen Veröffentlichung: Ian Hacking, An Introduction to Probability and Inductive Logic (Cambridge: Cambridge University Press, 2001), die einen sehr schönen Überblick über die diskutierten Probleme bietet. Doch obwohl Ian Hacking die Unterscheidung hervorragend herausarbeitet, weicht diese Darstellung hier fundamental von der Ian Hackings ab, da Ian Hacking nur zwei – nicht vier Wahrscheinlichkeitsverständnisse erkennt. Vgl. dazu den nächsten Abschnitt. 257 Für eine generelle Diskussion von de re und de dicto und epistemologischer und ontologischer Ebene siehe zum Beispiel Godehard Brüntrup, Mentale Verursachung (Stuttgart: Kohlhammer, 1996); diese Diskussion folgt hier Ian Hacking, „All Kinds of Probability“, The Philosophical Review, Vol. 84 No. 3 (July 1975), Seite 321-337, sowie Ian Hacking, „Possibility“, The Philosophical Review, Vol. 76 No. 2 (April 1967), Seite 143-168.
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3.2 Objektiv aleatorische Wahrscheinlichkeiten: relative Häufigkeiten
des Wahrscheinlichkeitswertes bestimmt:258 die Entscheidungssituation selbst oder das Individuum, das sich in der Entscheidungssituation befindet. Vertreter der objektiven Wahrscheinlichkeitstheorie sehen Wahrscheinlichkeit als eine Eigenschaft der Situation an. Für sie ist es möglich, diesen Wert von einer objektiven Position aus zu beschreiben. Der wahre Wahrscheinlichkeitswert ist demnach unabhängig von subjektiven Einschätzungen. Vertreter dieses Ansatzes reden oft davon, Wahrscheinlichkeiten würden ‚entdeckt’. Vertreter der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie bezweifeln die Existenz eines eindeutig gegebenen Wahrscheinlichkeitswertes. Die Wahrscheinlichkeitswerte können von Individuum zu Individuum einen unterschiedlichen Wert annehmen, je nach dem, welchen Wert die Individuen dieser Situation zuschreiben.259 Ein objektiver Standpunkt, von dem aus eine neutrale Beschreibung möglich wäre, existiert nicht. Wahrscheinlichkeiten werden demzufolge nicht entdeckt; vielmehr schreiben Agenten Situationen bestimmte Wahrscheinlichkeiten zu. Die Verbindung der zwei Unterscheidungen von a) aleatorisch und epistemologisch und b) objektiver und subjektiver Wahrscheinlichkeit lässt insgesamt vier unterschiedliche Positionen innerhalb der Wahrscheinlichkeitstheorie zu, und nicht nur eine Dichotomie, wie sonst vermutet wird. Abbildung 1:
objektive subjektive
Topologie von Wahrscheinlichkeiten aleatorische
epistemische
relative Häufigkeit (von Mises) subjektive Wahrscheinlichkeit (Savage)
logische Wahrscheinlichkeit (Keynes) gesellschaftliche Wahrscheinlichkeit (Wittgenstein)
3.2 Objektiv aleatorische Wahrscheinlichkeiten: relative Häufigkeiten Die Theorie der relativen Häufigkeit kann direkt auf Leibniz und natürlich Laplace zurückgreifen. Sie entwickelt sich vor allem durch Georg Bohlmann, Ugo Broggie und Emile Borel, Antoine Augustin Cournot, John Venn, Georg Helm, Ernst Nagel, und Richard von Mises zum heute dominanten Ansatz der Wahrscheinlichkeitstheorie.260 Wahrscheinlichkeit wird hier definiert als der Grenzwert der relativen Häufigkeit des Auftretens eines Merkmals innerhalb eines Kollektivs.261 P( A C ) limn of m( A) / n , wobei P(·) die Wahrscheinlich-
258 Häufig wird subjektiv und epistemologisch synonym gebraucht. Doch das kann nicht richtig sein: Epistemologie ist die Theorie über Wissen, subjektiv eine Verankerung von Bewertungen/Bedeutungen. 259 Die Diskussion der objektiven vs. subjektiven Wahrscheinlichkeit wird weiter unten deutlich tiefer angeführt. 260 Richard von Mises, Wahrscheinlichkeit, Statistik und Wahrheit (Wien: Springer, 1928), als 2. erweiterte Auflage von 1936 vorliegend. Für eine gute Zusammenfassung seiner Position: Richard von Mises, „On the Foundations of Probability and Statistics”, Address delivered on September 11 1940 at a meeting of the Institute of Mathematical Statistics in Hanover. Genannt werden sollte in diesem Zusammenhang auch Helmut Reichenbach, Wahrscheinlichkeitstheorie, Gesammelte Werke Band VIII (Braunschweig: Vieweg, 1977). 261 Siehe von Mises, op. cit., Seite 79.
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3 Über Wahrscheinlichkeit – eine Topologie
keit, A das Merkmal, C das Kollektiv, m die Anzahl der beobachteten Fälle mit dem Merkmal A, und n die Anzahl der beobachteten Fälle des Kollektivs darstellt. Wahrscheinlichkeit wird aus der Messung einer unendlichen Sequenz von Experimenten oder Beobachtungen empirisch gewonnen. Natürlich wird nicht die tatsächlich unendliche Beobachtungsreihe vorausgesetzt, sondern sie wird ersetzt durch eine mathematische Grenzwertbetrachtung. Da in diesem Rahmen keine qualitative Veränderung der Frequenz auftreten kann und gleichzeitig die Rahmenbedingungen des Experiments über die Zeit stabil bleiben müssen, ist das Herausnehmen einer Teilsequenz aus der Gesamtsequenz grenzwertinvariant. Der Grenzwert einer Funktion verändert sich nicht, wenn nur ein Teil der möglichen Daten betrachtet wird, solange die Funktion die gleiche ist. Die Motivation dieses Ansatzes ist klar durch die moderne Physik gekennzeichnet. So möchte von Mises eine Theorie zur Beschreibung von ‚Massenphänomenen’ und kopierbaren Fällen etablieren, um die systematischen Beziehungen zwischen Sequenzen mit Hilfe von Variablen und der Mengentheorie zu beschreiben.262 Die Aufgabe der Wahrscheinlichkeitsrechnung besteht also darin, aus einem oder mehreren gegebenen und vollständig bekannten Kollektiv(en) über die vier möglichen Operationen – Auswahl, Mischung, Teilung und Verbindung – die Wahrscheinlichkeiten gesuchter Kollektive zu errechnen, denn „[p]robability theory is the study of transformations of admissible numbers, particularly the study of the change of distributions implied by such transformations.“263 Voraussetzung hierfür sind wohl definierte Mengen (Kollektive im Sinne von Mises). Aus diesem Grund seien Wahrscheinlichkeiten immer mit dem Zusatz ‚innerhalb dieses bestimmten Kollektivs’ zu versehen. Übertragen auf die Sozialwissenschaft heißt dies: um Wahrscheinlichkeiten zu berechnen ist eine genaue Definition von Kategorien und Konzepten eine unbedingte Voraussetzung. Kategorien werden analog zu einer ‚Schachtel’ oder einer ‚Box’ verstanden. Die Zuschreibung von Phänomenen zu diesen Kategorien erfolgt dem Modell des geordneten Ablegens von Akten: genau, eindeutig und exakt. Aus diesem Grund findet sich stets die Annahme wieder, dass man jedes Element immer nur genau einer Menge zuordnen kann. Innerhalb der Schachtel kann und muss es Variation geben. Zwischen den Schachteln jedoch ist eine klare Trennung nötig. Hieraus leitet sich die Annahme ab, dass Modelle die Realität repräsentieren. Modelle bilden demnach die Realität nur ab und kreieren sie nicht. Das heißt, aus der Grundannahme einer klar und objektiv gegebenen Einteilung der Welt in nach intrinsischen Eigenschaften geordnete Kategorien leitet sich die Grundüberzeugung einer eindeutigen Beschreibbarkeit der Realität ab. Die Wahrscheinlichkeiten, als Eigenschaft der Objekte, sind durch die Eigenschaften der Objekte eindeutig bestimmt und beschreiben universell wahre Gesetze. Hier verändern sich Wahrscheinlichkeitswerte weder durch neue Informationen noch durch subjektive Einschätzungen. Sind die Eigenschaften eines Objektes bekannt, so sind auch die Wahrscheinlichkeiten bekannt. Erfahrungswerte selbst sind keine notwenige Bedingung, ein Glücksspiel zu verstehen oder erfolgreich zu beenden. Eine Münze wird genauso sicher mit einer Wahrscheinlichkeit p = 0,5 Kopf zeigen, wie ein Stein auf den Boden fällt – unabhängig davon, ob jemand das nun möchte oder nicht. Wahrscheinlichkeiten sind keine Erfindungen der Modelle, sondern entsprechen empirischen, natürlichen Fakten. Ontologisch wird hier ein physikalischer Reduktionismus vertreten. Wahrscheinlichkeiten 262 von Mises, „On the foundations of Probability and Statistics“, op. cit., Seite 1; Wahrscheinlichkeit, Statistik und Wahrheit, op.cit., Seite 75 für eine Zusammenfassung der Wahrscheinlichkeitstheorie. 263 von Mises, 1940, op.cit., Seite 193.
3.3 Subjektiv aleatorische Wahrscheinlichkeiten:
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sind eine empirische Aussage über die physikalische Natur wie sie ist. Einzig und allein die materielle Welt existiert und ist kausal geschlossen. Erklärungen über Ideen oder immaterielle Erklärungen sind in Einheiten des physikalischen Vokabulars vollständig beschreibbar und darauf reduzierbar. Damit löst sich die Wahrscheinlichkeitstheorie von der spekulativen Metaphysik: „In my opinion – the calculus of probability has nothing to do with metaphysics, at any rate not more than geometry or mechanics has”264 – eine klassische empirizistische Auffassung von Wissenschaft.265 Dieser Ansatz verneint somit explizit jegliche epistemische oder subjektive Konnotation des Begriffs. Die Wahrheitswerte werden allein von der Natur festgelegt. Die in der Sprache benutzten Kategorien bezeichnen das Objekt direkt und bilden es perfekt ab. Das übersetzt sich in eine zweiwertige Semantik und Logik. Der Übergang von der Ebene der Logik (Theorie) zur Realität ist möglich über die Annahme der in beiden Gebieten gleichen Gesetzmäßigkeiten, wie sie von der klassischen zweiwertigen Logik vertreten wird. 3.3 Subjektiv aleatorische Wahrscheinlichkeiten: Die subjektiv-aleatorische Wahrscheinlichkeit entwickelt sich vor allem mit den Arbeiten von Frank Ramsey, Leonard Savage und Bruno de Finetti.266 Ausgehend von der Definition der Wahrscheinlichkeit als Ausdruck des subjektiven Überzeugungsgrades in eine Proposition gilt es hier, die Gültigkeit der wahrscheinlichkeitstheoretischen Axiome über den Zusammenhang von Wahrscheinlichkeit und individuellem Wissen abzuleiten und somit die Wahrscheinlichkeitsrechnung als eine Logik des partiellen Glaubens zu etablieren. Das zentrale Problem liegt in der Überführung subjektiver Überzeugungen in quantitativ messbare Wahrscheinlichkeiten. Die einfachste Methode würde natürlich auf einer Direktbefragung der Individuen nach ihren subjektiven Einschätzungen aufbauen. Dabei kommt die Beantwortung der Fragen einer Ziehung einer Zahl zwischen Null und Eins gleich. Jedoch übersieht dieser Ansatz, dass bereits die Formulierung der Frage einen signifikanten Einfluss auf die zu erwartenden Antworten haben kann. Gleichzeitig zeigt sich auch, dass die befragten Individuen unter Umständen systematisch lügen, um ein möglichst positives Bild von sich abzugeben. Die direkte Befragung führt daher zu einer verzerrten Darstellung. Aus diesem Grund schlägt Ramsey in seinem berühmten Artikel ‚On the Probability of Truth’ eine Methode der indirekten Befragung vor, aus der sich folgende Präferenzordnung ableiten lässt:267 Wenn Entscheidungsträger danach befragt würden, wie und was sie auf Ereig264 Ibid, Seite 191. 265 Siehe zum Beispiel das Heft von der Zentralbibliothek für Physik in Wien, Österreichische Mathematik und Physik. (Wien: 1993). Die Position von Richard von Mises wird m.E. in Richard von Mises, Kleines Lehrbuch des Positivismus: Einführung in die empiristische Wissenschaftsauffassung (The Hague: W.P. van Stockum und Zoon, 1939) erklärt. 266 Siehe Frank Plumpton Ramsey, „Truth and Probability“, The Foundations of Mathematics and Other Logical Essays (London: Routledge, 1931), Kapitel 7. Leonard J. Savage The Foundations of Statistics, Ausgabe von 1972, (New York: Dover, 1954), Bruno de Finetti „Foresight: its Logical Laws, its Subjective Sources“, Annales de l’Institut Henri Poincaré 1937; Übersetzte Version in Henry Kyburg and Howard Smokler (Hrsg.), Studies in Subjective Probability (New York: Wiley, 1964), Seite 93-158, Francis J Anscombe und Robert J. Aumann, „A Definition of Subjective Probability,“ Annals of Mathematical Statistics Vol. 34 No. 1 (1963), Seite 199-205, Michael Friedman und Leonard Savage, „The Utility Analysis of Choices involving Risk“, Journal of Political Economy Vol. 56 No. 4 (1948), Seite 279-304. 267 Frank Ramsey, op.cit., Seite 161.
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3 Über Wahrscheinlichkeit – eine Topologie
nisse wetten, wäre es möglich, die subjektiven Wahrscheinlichkeiten aus dem Verhalten der Individuen abzuleiten. Dieser Ansatz basiert auf einem einfachen Trick: Sind die möglichen zukünftigen Zustände der Welt und die daraus resultierenden Konsequenzen bekannt, können diesen Auszahlungen Nummern als Ausdruck der Wahrscheinlichkeiten zugewiesen werden. Da die möglichen zukünftigen Zustände der Welt bekannt sind, wird dem Nutzen aus der für das Individuum besten Auszahlung der Wert 100 und dem Nutzen aus der schlechtesten Auszahlung der Wert 0 zugeordnet. Ganz analog zu den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie wird zusätzlich ein sicher eintretendes Ereignis mit der Zahl 1 und ein nicht mögliches Ereignis mit der Zahl 0 beschrieben. Darauf aufbauend wird nun ein möglicher Zustand der Welt se benannt, in dem das Individuum gerade indifferent zwischen dem Eintritt und dem Nichteintritt ist. Ramsey spricht hier von einem ‚moralisch neutralen’ Zustand.268 Diesem Zustand der Welt wird die Wahrscheinlichkeit p(se) = 0,5 zugeordnet. Da im moralisch neutralen Punkt die Nutzen aus den zwei Alternativen mit den Wahrscheinlichkeiten von Zustand der Welt se und Zustand der Welt ¬se mit jeweils 50% gewichtet werden, kann dieser Lotterie ein Nutzenniveau von 0.5 (100) + 0,5 (0) = 50 zugeschrieben werden.269 Damit erhält man den Mittelpunkt der Skala. Der Spieler wird nun gefragt, ob er eine sichere Auszahlung bevorzugt, welche ihm das Nutzenniveau von 50 bringen würde, oder ob er lieber Lotterie spielen möchte. Durch Veränderungen der Eintrittswahrscheinlichkeiten kann für diese Lotterie das jeweilige und für den Spieler spezifische Sicherheitsäquivalent ermittelt werden, das heißt die minimale sichere Auszahlung, für die der Spieler gerade indifferent ist zwischen der sicheren Auszahlung und der erwarteten Auszahlung aus der Lotterie. Durch die Wiederholung dieses Prozesses mit veränderten Eintrittswahrscheinlichkeiten können alle weiteren Punkte auf der Skala ermittelt werden. Somit ist es schließlich möglich, jeder Lotterie einen Nutzenwert zuzuschreiben und damit die subjektiven Wahrscheinlichkeiten abzuleiten, die sich in der Form eines Verhältnisses zweier Nutzendifferenzen darstellt: p (u3 u2 ) /(u1 u2 ) . Dieser Prozess basiert auf zwei zentralen Annahmen: zum einen wird die Gültigkeit der Booleschen Algebra und ihrer Operationen angenommen. Ohne die Annahme einer linearen Additivität der Wahrscheinlichkeiten wäre dieser Prozess in dieser Form nicht möglich. Zum anderen wird eine klare Trennung von Subjekt und Objekt vorausgesetzt. So ist es eine Grundvoraussetzung, dass die Problemdefinition bereits klar formuliert ist. Die Situation und die möglichen Zustände der Welt sind wohldefiniert und der Befrager steht außerhalb des Experiments. Auf nicht entscheidbare Fragen kann nicht in der Form einer Wette geantwortet werden. Fragen wie die, warum es etwas gibt und nicht nichts, oder aber auch alle geschichtlichen Fragen, sind daher für die Entscheidungstheorie uninteressant. Fragen müssen sich auf Entscheidungen beziehen und die Form einer Problemlösung an268 Ibid., Seite 177. 269 Der erwartete Nutzen U(x) wird definiert als die mit den Eintrittswahrscheinlichkeiten gewichtete Summe des erwarteten Nutzens:
u3
pu1 (1 p )u 2 . Dies ist keine schwer wiegende Formel. Brennt das
Haus ab, verändert sich das erreichbare Nutzenniveau eines Individuums. Die Veränderung des Nutzenniveaus berechnet sich in diesem Fall aus der gezahlten Versicherungsprämie, den erhaltenen Versicherungszahlungen und der Wertminderung des Hauses. Brennt das Haus nicht ab, wird ein anderes Nutzenniveau erreicht. Hier errechnet sich das Nutzenniveau aus dem vorhandenen Vermögen minus der zu zahlenden Versicherungsprämie. Das erwartete Nutzenniveau ist einfach die mit den Eintrittswahrscheinlichkeiten gewichtete Summe dieser zwei Fälle.
3.3 Subjektiv aleatorische Wahrscheinlichkeiten:
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nehmen. Freilich wird diese Fiktion einer klaren Trennung von Subjekt und Objekt schon dahingehend problematisch, dass der Befrager strukturierend auf die zur Auswahl stehenden Alternativen und Lotterien wirkt. Doch da es hier primär um die Konturen der jeweiligen Position geht, soll uns das erst später beschäftigen. Wichtiger ist es an dieser Stelle, nochmals die zwei Attribute dieser Position hervorzuheben. Dieser Ansatz distanziert sich von dem objektiven Pendant dahingehend, dass sich Wahrscheinlichkeiten über subjektive Einschätzung ableiten. Die einzige Bedingung ist hier die interne Konsistenz der Entscheidung. Allein auf dieser Basis kann daraus die Notwendigkeit der algebraischen Grundregeln und damit eine numerische Funktion abgeleitet werden, die einem Ergebnis E eine Entscheidung w(Ei) zuordnet. Auf der anderen Seite ist die Wahrscheinlichkeit über die Definition von Erwartungen als mathematischer Erwartungswert als eine Distribution definiert, da die Möglichkeit einer stetigen Wiederholung des Experiments in die Definition der Wahrscheinlichkeit mit eingeschrieben ist. So schreibt Ramsey: „suppose; his degree of belief in p is m / n ; then his action is such as he would choose it to be if he had to repeat it exactly n times in m of which p was true, and in the others false.”270 Hier wird deutlich, dass potenziell dem Befragten n mal eine identische Lotterie vorgeschlagen werden kann, ohne die Einstellungen des Individuums selbst zu verändern, das heißt er darf nicht von Erfahrungswerten profitieren. Zusammenfassend lässt sich für die aleatorische Wahrscheinlichkeitstheorie festhalten, dass beide Stränge über das Bild des Spiels argumentieren. Zum einen bestimmt sich hieraus das Wissenschaftsideal der Kausalerklärung beider Ansätze. Der Unterschied liegt nur in der Verortung der kausalen Kraft. Zum anderen ist hier bereits die diskutierte Annahme wohldefinierter Situationen impliziert und bestimmt damit die weitere theoretische Ausrichtung. Denn beide Ansätze beschreiben Wahrscheinlichkeiten aus einer objektiven Position, aus der Position eines neutralen Beobachters heraus, in der die Modelle als ein Abbild der Realität zu verstehen sind.271 Das Beobachten alleine verändert daher auch nicht den Gegenstand, denn die Situation ist den Erwartungen ontologisch vorangestellt: ohne die genaue Definition möglicher Zustände der Welt und einer dazugehörigen Auszahlungsfunktion wäre die Bildung eines mathematischen Entscheidungswertes und damit auch die Bildung eines Erwartungsnutzens, als Produkt einer Wahrscheinlichkeitsverteilung über diese möglichen Zustände der Welt, nicht möglich. Aus diesem Grund ist mit diesem Modell nur die regulative, aber nicht die konstitutive Funktion von Normen und Regeln beobachtbar.272 Die Frage, warum bestimmte Möglichkeiten keine Option oder Alternative darstellen, findet hier keine Antwort. Warum es keine Option ist, in Gerichtsverfahren ein Wahrheitsserum zu verabreichen, obwohl es ökonomisch sehr effizient wäre, oder warum Beschuldigte nicht obligatorisch einem Lügentest unterzogen werden, sind Fragen, die logisch vor der Entscheidungstheorie angesiedelt sind. Situationen sind zu nehmen, wie sie sind und sind daher nicht auf ihre konstitutiven und normativen Strukturen zu hinterfragen.
270 Ibid., Seite 174. 271 Siehe L. Cohen, op cit., Seite 63. 272 Für die Rolle von Konventionen siehe für eine ökonomische Analyse Ekkehard Schlicht, On Custom in the Economy (Oxford: Clarendon Press, 1998); auf der politologischen Seite: Friedrich Kratochwil, Rules, Norms, and Decisions (Cambridge: Cambridge University Press, 1989).
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3 Über Wahrscheinlichkeit – eine Topologie
3.4 Objektiv epistemologische Wahrscheinlichkeiten: John M. Keynes Die logische Wahrscheinlichkeitstheorie richtet sich gegen diese Grundannahmen der aleatorischen Ansätze. Sie entwickelt sich aus der frühen analytischen Philosophie heraus und definiert Wahrscheinlichkeit als eine logische Relation zwischen Beweis und Schlussfolgerung. Die zwei herausragenden Theoretiker der logischen Wahrscheinlichkeitstheorie sind Rudolf Carnap273 und John Maynard Keynes.274 Ausgangspunkt für beide ist eine Unzufriedenheit mit der deduktiven Logik als Sinnbild wissenschaftlichen Denkens. Von beiden ist der berechtigte Vorwurf zu hören, die Deduktion könne nur wissenskonservierend wirken: Sie könne nur erkenntlich machen, was implizit in den Obersätzen enthalten sei. Damit könne einerseits nicht die Existenz wirklicher Innovation und neuen Wissens erklärt werden, andererseits könnten auch keine Regeln aufgestellt werden, mit denen neues Wissen als solches analysiert werden könne. Um die Grenzen der deduktiven Logik hinter sich zu lassen, ersetzen beide den Sicherheitsbegriff durch den Begriff der Unsicherheit als Reflexionsbegriff der Wahrscheinlichkeitstheorie. Die Sicherheit deduktiver Schlüsse wird damit als nicht mehr erreichbar und als ‚metaphysischer Aberglaube’ abgelehnt. Vor allem der Ansatz von Keynes ist instruktiv für die hier verfolgte Diskussion. Keynes studierte in Cambridge, dem intellektuellen Zentrum der logischen Wahrscheinlichkeitstheorie, bei Bertrand Russell und George Edward Moore. Der Einfluss von Russell und Moore und damit die Einflüsse der Common-Sense-Philosophie und des ethischen Intuitionismus von Moore auf der einen und die Nähe zur symbolischen Logik der frühen analytischen Philosophie auf der anderen Seite, sind innerhalb des Treatise deutlich erkennbar.275 Von Russell übernimmt Keynes das Ziel, die Logik als Lehre von ‚gültigem Denken’276 auf eine neue Basis stellen zu wollen.277 Von Moore übernimmt Keynes den Begriff der Intuition. Dieser theoriegeschichtliche Kontext, verbunden mit einer für die analytische Philosophie typischen Kritik an der Metaphysik, führt bei Keynes zu einem erstarkten Interesse an dem Problem der ‚Praxis’. Nicht theoretische, notwendig wahre Sätze sollen im Mittel273 Rudolf Carnap, Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit (Wien. Springer Verlag, 1959). Die metatheoretischen Grundlagen werden besonders deutlich in: Rudolf Carnap, „Empiricism, Semantics and Ontology”, in Rudolf Carnap, Meaning and Necessity: A Study in Semantics and Modal Logic. 2nd edition, (Chicago: University of Chicago Press, 1956) und ders. „On the Application of Inductive Logic“. Philosophy and Phenomenological Research, Vol. 8 No. 1 (1947), Seite 133-148. Eine spezifische Diskussion seiner Wahrscheinlichkeitstheorie findet sich in ders. „The Two Concepts of Probability”. Philosophy and Phenomenological Research Vol 5. No. 4 (1945), Seite 513-532. Siehe auch Thomas Mormann, Rudolf Carnap (München: Beck Verlag, 2000). Siehe in diesem Kontext auch Alfred Tarski „The Semantic Conception of Truth and the foundations of semantics,“ Philosophy and Phenomenological Research Vol. 4: No 3 (1944), Seite 341-375. 274 John Maynard Keynes, Treatise on Probability (London: Macmillan, 1921). 275 Die von ihnen geleitete Diskussionsgesellschaft ‚Die Apostel (The Apostle)’ konnte neben Russell und Moore unter anderem John Maynard Keynes und Ludwig Wittgenstein zu ihren Mitgliedern zählen. Eine fragwürdige Nähe zu Wittgenstein über den Nominalismus wird sogar unter anderem von Robert J. Skidelski vorgeschlagen. Siehe seine dreibändige Biographie über Keynes. Robert. J. Skidelski, Keynes, 3 Vol. (London: Papermac, 1986-2000). Siehe auch Roy F. Harrod, The Life of John Maynard Keynes (London: Macmillan, 1951). 276 Für eine Interpretation über Keynes Wahrscheinlichkeitsphilosophie, die über die Definition der Logik als Lehre vom ‚gültigem Denken’ [Valid Thought] den Einfluß seines Vaters John Neville Keynes, Logikprofessor, betont, sieh Ronald M. O’Donnell: Keynes: Philosophy, Economics and Politics: the Philosophical Foundations of Keynes’s Thought and their Influence on his Economics and Politics, (New York: St. Martin’s Press: 1989). 277 John Maynard Keynes, A Treatise on Probability (London: Macmillan, 1921).
3.4 Objektiv epistemologische Wahrscheinlichkeiten: John M. Keynes
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punkt der Analyse stehen, damit würde Praxis auf technische Probleme reduziert und durch eine Demonstration der Lösung gleichzeitig erledigt, sondern vielmehr praktische Urteile, die im Alltag, in der Wissenschaft und auch in der Politik unter unvollständigem Wissen gefällt werden müssen. Mit ‚unvollständigem Wissen’ wird hier eine Situation verstanden, in der die vorliegenden Daten, Beweise und Indikatoren kein sicheres Bild abgeben können und damit unterschiedliche Interpretationen der Daten zulassen. Die Frage, die sich für Keynes stellt, ist nun die nach der Auffindung möglicher Regeln, einer Art Diagnostik, mit deren Hilfe diese Daten, Beweise und Indizien interpretiert werden können.278 Entsprechend folgt Keynes der Definition von Wahrscheinlichkeit als Ausdruck einer Überzeugung. Im Gegensatz zu den aleatorischen Ansätzen jedoch bettet er die Wahrscheinlichkeitstheorie in eine breitere Argumentationstheorie und damit nicht in die Metapher des Spiels ein. Nach Keynes besteht ein Argument aus einer Menge von Prämissen, die das Wissen darstellen, und einer Schlussfolgerung, die auch neues Wissen generieren kann. Jeder praktische Schluss a ist demnach nur auf Basis einer bestimmten Anzahl von Annahmen oder eines bereits gebildeten Hintergrundswissen (h) sinnvoll. Nun besteht: „between propositions […] a relation, in virtue of which if we know the first, we can attach to the latter some degree of rational belief. This relation is the subject matter of the logic of probability.”279 Eine Wahrscheinlichkeit drückt also das logische Verhältnis zwischen Prämissen und Schlussfolgerung aus. Der Überzeugungsgrad bezieht sich nicht auf eine bereits gegebene oder dem Entscheidungsträger bekannte Aussage, sondern auf eine Beziehung zwischen Sätzen. Damit gibt es für Keynes keine intrinsische Wahrscheinlichkeit einer Aussage oder eines Ausdrucks a. Die Wahrscheinlichkeit selbst ist keine Eigenschaft der Aussagen und Sätze, sondern sie ist immer eine rein logische Beziehung zwischen Aussagen. Erst in dieser Relation kann Wahrscheinlichkeit etwas aussagen. Die Aussage ‚die Wahrscheinlichkeit von a ist unendlich’, hat demnach keine Bedeutung. Nur ‚die Wahrscheinlichkeit von a gegeben h ist unendlich’, hat eine Aussagekraft. Dabei gilt weiterhin die zentrale Einsicht für die Wahrscheinlichkeitstheorie, dass die Prämissen h sowohl die Aussage a als auch ¬a (nicht a) unterstützen können. Sie können bestenfalls nur eine partielle Unterstützung der Aussage a darstellen. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit drückt demnach eine objektiv-logische Beziehung zwischen einem Wissensstand, der in den Prämissen/Propositionen enthalten ist, und einer Aussage in Situationen aus, in denen eine ‚Demonstration’ nicht möglich ist. Dieser Ausdruck a/h steht folglich sowohl für die partielle Inferenz, zu welchem Grad a von h abgeleitet werden kann, als auch für den rationalen Überzeugungsgrad, das heißt zu welchem Grad es rational ist, gegeben den Wissensstand h, von der Aussage a überzeugt und demnach relativ sicher zu sein. Aus dieser Definition wird ersichtlich, dass die Basis der Entscheidung nicht mehr der Begriff der Sicherheit, sondern der Begriff der Wahrscheinlichkeit ist.280 Dieser Punkt sollte nochmals betont werden: der Grundbegriff der Logik ist nicht mehr Sicherheit, sondern Kontingenz. Ob a/h=1, a/h =0 oder a/h= ]0,1[, ist unerheblich 278 Für eine einführende Diskussion in die Wahrscheinlichkeitstheorie von Keynes siehe Roy Wheatherford, op.cit., siehe auch Tony Lawson, „Probability and Uncertainty in Economic analysis”, Journal of PostKeynesian Economics, Vol. 11 No.1, (Fall 1988), Seite 38 – 65, Fernando J. Cardim de Carvalho, „Keynes on Probability, uncertainty and decision making”, Journal of Post Keynesian Economics, Vol. 11 No 1 (Fall 1988), Seite 66-81, Roy J. Rotheim, „Keynes and the language of probability and uncertainty”, Journal of Post Keynesian Economics, Vol. 11 No. 1 (Fall 1988), Seite 82- 99. 279 John Maynard Keynes, 1921, op.cit., Seite 7. 280 Keynes, Treatise on Probability, op.cit., Seite 1 – 12.
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3 Über Wahrscheinlichkeit – eine Topologie
für die Analyse der logischen Beziehung, da sie nur noch eine Frage des unterschiedlichen Grades, jedoch nicht mehr eine Frage qualitativer Unterschiede ist.281 Sicherheit ist nur eine Beziehung zwischen Aussagen und ist daher von dem Begriff der Wahrheit als Eigenschaft einer Aussage zu trennen.282 Die deduktive Logik zeigt gerade an dieser Stelle eine Vermischung von Sicherheit und Wahrheit und verschließt sich somit durch ihre Wahrheitswerte von [0,1] der Mehrheit möglicher Aussagen. Mit diesen ersten Umrissen verdeutlicht sich die Abgrenzung von den aleatorischen Ansätzen. Keynes Ablehnung der relativen Häufigkeit geht schon auf seine Lehrzeit bei George Edward Moore zurück. Schon in einem frühen Seminarpapier 1907 widerspricht Keynes der utilitaristischen Auffassung Moores, man könne die Resultate eigener Handlungen vollständig erfassen und solle daher einer Maximierungsregel für das Glück nach der größten Anzahl befolgen. Die Betonung der Befolgung von sozialen Konventionen als durchschnittlich erfolgreicher als andere Strategien zur Maximierung des größten Glücks kritisiert Keynes als eine falsche Interpretation von Wahrscheinlichkeit. Dieses Verständnis im Sinne relativer Häufigkeit sollte moralischen Sätzen nicht zu Grunde liegen.283 So hat der Treatise auch die Motivation, die Ethik Moores zurückzuweisen. Der offensichtliche Gegensatz zu den Anhängern der Theorien der relativen Häufigkeit stellt sich also im angedachten Verhältnis von Wahrscheinlichkeit und Wissen dar. Denn wie bereits bei Richard von Mises besprochen, wird innerhalb der relativen Häufigkeitstheorie die Wahrscheinlichkeit selbst als unabhängig von Wissen konzipiert. Wie oben beschrieben, sieht Richard von Mises als Vertreter der relativen Häufigkeitstheorie die Wahrscheinlichkeit als eine Eigenschaft des Objektes und weigert sich, Wahrscheinlichkeit relativ zu Wissen oder Informationen zu sehen. Wahrscheinlichkeit ist weder relativ zum Wissen der Akteure, noch verändert sie sich bei fortschreitendem Wissensstand. Freilich kann man seine Überzeugungen einem neuen Wissensstand anpassen. Doch dieser Prozess stellt sich als eine Annäherung an die richtige Wahrscheinlichkeit dar, denn Wahrscheinlichkeit ist eben gerade nicht eine Eigenschaft des Wissens über das Objekt, sondern eine Eigenschaft des Objekts. Für Keynes hingegen ist die Wahrscheinlichkeit keine Eigenschaft der Welt, sondern eine Eigenschaft unserer Interaktion mit der Welt. Wahrscheinlichkeit als Überzeugungsgrad ist eine Eigenschaft unseres Nachdenkens über die Welt und somit auf der Ebene des Wissens angesiedelt. Es besteht daher ein Unterschied in dem Erklärungsziel. Während für von Mises Wahrscheinlichkeit etwas über die Welt aussagt, eine Art sicheres Wissen über die Frequenz, ist die relative Häufigkeit für Keynes nicht die Wahrscheinlichkeit selbst. Nach Keynes sollen wir die Frequenz ‚angemessen’ mit in unser Wahrscheinlichkeitsurteil einfließen lassen. Die Erkenntnis über die mögliche statistische Wahrscheinlichkeitsverteilung geht in das Hintergrundwissen h mit ein und ist wiederum 281 Für diese Distanzmetapher oder Grad-Metapher’ siehe auch Tony Lawson, op. cit., 1988,. Sicherheit bietet den Referenzpunkt für Wahrscheinlichkeitsaussagen. Wahrscheinlichkeiten als Beziehung zwischen zwei Punkten haben, wie Aussagen über eine Distanz oder Länge, ohne den Hinweis auf einen fixen Referenzpunkt, kein Aussagegehalt. 282 Man beachte wie hier die zwei Ebenen der Epistemologie und Ontologie auseinandergezogen werden: Sicherheit ist ein epistemologischer Begriff (‚Certainty’); Notwendigkeit (notwendig wahr) das ontologische Gegenstück. Im üblichen Sprachgebrauch gehen wir davon aus, dass sichere Aussagen auch notwendig sind, so wie Notwendigkeit mit Sicherheit einhergeht. Diese Verbindung ist hier unterbrochen. 283 Robert Skidelsky, „Keynes’s Philosophy of Practice and Economic Policy”, in: Rod M. O’Donnell (Hrsg.), Keynes as philosopher economist (London: Macmillan, 1991), Seite 104 – 123; Tony Lawson, „Keynes and the Analysis of Rational Behaviour”, in: Rod M. O’Donnell (Hrsg.), Keynes as Philosopher Economist (London: Macmillan, 1991), Seite 184 – 226.
3.4 Objektiv epistemologische Wahrscheinlichkeiten: John M. Keynes
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ein Teil unseres Wissens über die Welt, jedoch nicht ein Teil der Welt: Wahrscheinlichkeiten bezeichnen epistemologische und nicht ontologische Aussagen. Doch unser Wissen über Wahrscheinlichkeiten beschränkt sich nicht nur auf Bruchzahlen oder Verhältnisse von Fällen. Aus diesem Grund wehrt sich Keynes, wie so oft in seinem Werk, gegen eine statistische Theorie der Wahrscheinlichkeit, in der Wahrscheinlichkeit zum ‚Erbenzählen und Kombinationskünsteleien’ verkommt, um Hypothesen zu testen. Gegen diesen kruden Empirismus schreibt Keynes in einer Rohfassung des Treatise on Probability 1907, der Empirismus habe: „entirely lost sight for all practical purposes of the relational nature of the conception [of probability]. Under the aegis of an empirical philosophy they have sought in probability a quantity belonging to the entities of phenomenal experience and have imagined that events have probabilities just as men belong to nations. This realist view has been one of the most dangerous disillusions in the past and is not even now eradicated from English philosophy” 284
Wie im Kapitel 5 zu diskutieren sein wird, übersetzen sich diese zwei Auffassungen unterschiedliche Konzeptualisierungen des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Das Ziel des Programms von Keynes ist es, unterschiedliche logische Systeme bzw. eine Vielzahl von Modellen aufzubauen, die einer in der Welt vorgefundenen Entscheidungssituation mehr oder weniger ähnlich sein können. Der Zugang zur Praxis wird nun am konkreten Einzelfall gesucht: welches Modell findet in der praktischen Entscheidung seine Anwendung – und welche Rückschlüsse lassen sich auf die in der Praxis gemachten Annahmen, Analogien und Bilder ziehen? Dennoch bezeichnet die Wahrscheinlichkeit eine objektive Beziehung. Wie Keynes betont: „A proposition is not probable because we think it so. Once the facts are given which determine our knowledge, what is probable or improbable in these circumstances has been fixed objectively, and is independent of our opinion. The theory of probability is logical, therefore, because, it is concerned with the degree of belief which it is rational to entertain in given conditions, and not merely with the actual beliefs of particular individuals which may or may not be rational.”285 Tony Lawson unterstreicht das wie folgt: „For Keynes a probability is in some sense relative. Just as no place is intrinsically distant – it is so many miles away from a given position – so not proposition is intrinsically probable; a proposition has a certain probability relative to given evidence or background knowledge. At the same time, however, the probability in a given proposition is not arbitrary, subject to human caprice, merely relative. Rather, once the background knowledge or evidence is given, the probability in the given proposition is fixed and in this sense it is objective and absolute.”286 Die Verbindung zwischen einem partikularen Wissensstand einerseits und einer objektiv-logischen Beziehung ‚Wissen’ andererseits konzipiert Keynes über den Begriff der Intuition. Die Intuition erlaubt eine temporäre Überwindung von Subjekt und Objekt und damit direktes Wissen über die logische Beziehung von Prämisse und Schluss. Wie Henri Bergson es treffend formulierte: „By intuition is meant the kind of intellectual sympathy by 284 Zitiert in Anna M Carabelli, „Keynes on Cause, Chance and Possibility”, in: Tony Lawson and H. Pesaran (Hrsg.), Keynes Economics, Methodological Issues. (London and Sydney: Groom Helm, 1985), Seite 156. 285 John M. Keynes, Treatise on Probability (London: Macmillan, 1921), Seite 4. 286 Tony Lawson, „The Relative/Absolute Nature of Knowledge and Economic Analysis“, The Economic Journal, Vol. 97 No. 951 - 970 (1987), Seite 956.
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which one places oneself within the object in order to coincide with that which is unique in it and consequently inexpressible.”287 Wie wichtig der Begriff der Intuition für Keynes hier ist, zeigt sich anhand der Bedeutung des Begriffs der Wahrscheinlichkeit. Hier unterscheidet Keynes zunächst direktes und indirektes Wissen. Dabei ist direktes Wissen in drei Bereichen möglich: wir erfahren unsere Sinneseindrücke, und wir verstehen Ideen und Bedeutungen: „The most important classes of things with which we have direct acquaintance are our own sensations, which we may be said to experience, the ideas or meanings about which we have thoughts and which we may be said to understand, and facts or characteristics or relations of sense data or meanings, which we may be said to perceive; experience, understanding and perception being three forms of direct acquaintance.”288
Direktes Wissen basiert auf Kontemplation über die Objekte. Da Wahrscheinlichkeiten der geistigen Ebene angehören, können wir keine Sinneseindrücke von Wahrscheinlichkeiten haben. Unser direktes Wissen über Wahrscheinlichkeiten nährt sich aus der Intuition. Intuition lässt uns die geistige Welt ‚sehen’. Intuition ist hier also das geistige Äquivalent zur optischen Wahrnehmung der materiellen Welt. Schön zu sehen ist dies am englischen Begriff ‚insight’. Direktes Wissen muss dann in eine sprachliche Form übersetzt werden und die Form von Aussagen annehmen, aus denen sich dann indirektes Wissen über Prozesse der Argumentation ableiten lassen. Damit möchte Keynes, so scheint es mir, gleich den Wahrheitswert des indirekten Wissens, als praktisches Wissen, relativieren. Indirektes Wissen ist als eine Ableitung nie sicher. Praktische Entscheidungen sind immer mit Kontingenz behaftet. An dieser Stelle tritt nochmals der Unterschied zur Theorie der relativen Häufigkeit deutlich zu Tage. Direktes Wissen ist nicht auf beobachtbare Daten beschränkt, sondern schließt Vorgänge des Verstehens und der Wahrnehmung mit ein. Die relative Häufigkeit ist nur eine Information, die in das Hintergrundwissen h mit einfließt. Üblicherweise wird die Wahrscheinlichkeit statistisch aus den beobachteten Daten abgeleitet, besteht also aus indirektem Wissen, und ist somit auf Beobachtung beschränkt. Dieser Rahmen ist für Keynes zu eng, um die Wahrscheinlichkeit angemessen zu analysieren. Im Weiteren unterscheidet Keynes zwischen zwei Arten von Aussagen: Die primäre Aussage bezeichnet nach Keynes die Schlussfolgerung a. Sie wird zu den Prämissen h in Beziehung gesetzt und ist eine Aussage von a. Dagegen grenzt sich die sekundäre Aussage ab. Die sekundäre Aussage bezieht sich auf das gesamte Argument P= a/h. Die sekundäre Aussage ist eine Aussage über a, sie drückt die Wahrscheinlichkeitsbeziehung a/h aus. O’Donnell zeigte,289 dass diese Unterscheidung Wissen von a und Wissen über a parallel zur Unterscheidung von Wahrscheinlichkeit und Gewichtung der Wahrscheinlichkeit liegt.290 So sei der Überzeugungsgrad in a/h unabhängig vom Wahrheitswert von a, sei aber abhängig von dem Wahrheitswert über a (sekundäre Aussage). Das heißt obwohl a falsch sein kann, kann die Aussage über a richtig und wahr sein. An dieser Stelle muss man sich nur an die logischen Paradoxa erinnern, wie z.B. ‚dieser Satz ist falsch’ oder ‚Epidemides der Kreter sagt: alle Kreter sind Lügner. Ist der Satz falsch, ist er richtig; ist er richtig, ist er 287 Henri Bergson, Introduction to Metaphysics, (London: Palgrave, 1913), Seite 6 –7, zitiert in Dermot Moran, Introduction to Phenomenology (London: Routledge, 2000). 288 Keynes, Treatise, Collected Works Vol. VIII, op. cit. Seite 12. 289 O’Donnell, 1991, op. cit. Seite 22. 290 Eine weiterführende Diskussion über die Gewichtung von Aussagen erfolgt in Kapitel 5.
3.4 Objektiv epistemologische Wahrscheinlichkeiten: John M. Keynes
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falsch. Die Beziehung zwischen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit ist somit zweiseitig: der Wahrheitswert eines Arguments bzw. einer Wahrscheinlichkeit a/h ist in Abhängigkeit von h wahr. Eine sichere Deduktion (a/h =1) muss also nicht wahr sein. Entsprechend ist eine Unterscheidung von Wahrheit und Sicherheit zu treffen. Unter Berücksichtigung beider Unterscheidungen lokalisiert Keynes nun Wahrscheinlichkeitsaussagen als direktes Wissen sekundärer Aussagen: „Although it is with knowledge by argument that I shall be mainly concerned in this book there is one kind of direct knowledge, namely of secondary propositions, with which I cannot help but be involved. In the case of every argument, it is only directly that we can know the secondary proposition which makes the argument itself valid and rational. When we know something by argument this must be through direct acquaintance with some logical relation between the conclusion and the premise. In all knowledge, therefore, there is some direct element; and logic can never be made purely mechanical.”291
Ohne nun vertieft auf den platonischen Hintergrund dieser Aussage einzugehen, lässt sich anhand dieser zwei Unterscheidungen das Verhältnis von Wissen und Objektivität der Logik leicht verstehen: Ist der Wahrheitswert von h bestimmt, ist die wahre Wahrscheinlichkeit objektiv und logisch gegeben, beschrieben als a/h. Modelltheoretisch ausgedrückt: innerhalb eines Modells, innerhalb eines Vokabulars und einer Praxisgemeinschaft erscheint ein direktes Wissen von Daten möglich. Doch, so schreibt Keynes fort: „ ... as to when we are knowing propositions about sense-data directly and when we are interpreting them – it is not possible to give a clear answer”.292 Jedoch gibt es immer mehrere Modelle, die die gleichen Daten in unterschiedliche Referenzsysteme einbetten und damit über unterschiedliche logische Regeln unterschiedliche Informationen genieren. Doch, so verstehe ich Keynes und schließe mich der Meinung Tony Lawsons an, ist direktes Wissen nicht unabhängig von Zeit und Raum. Diese Textstellen deuten somit auf einen wichtigen Aspekt hin. Auf der einen Seite glauben wir, direktes Wissen von empirischen Daten haben zu können. Doch jede Erfahrung beinhaltet auch ein Urteil und damit eine Interpretation der verstandesmäßigen Kategorien. Diese Interpretationsleistung, so verstehe ich den zweiten Hinweis, ist uns im alltäglichen Umgang mit Daten und Mannigfaltigkeit nicht bewusst. Daten werden erst durch diese aktive, erfahrungsabhängige Leistung der Kategorien bzw. auch der Kategorisierung von Wissen zur Information. Die Akquirierung von Wissen ist demnach ein endloser Prozess, in dem neues Wissen über Daten und Informationen in bisheriges Wissen eingebettet wird. Das ‚Gegebene’, die Sinneseindrücke, und das Konstruierte können ultimativ nicht getrennt werden.293 Innerhalb dieser Wahrscheinlichkeitsbeziehung ist das Wissen absolut. Innerhalb eines gegebenen Rahmens, eines Modells, ist das Wissen absolut. Doch zwischen den Modellen ist das Wissen relativer Natur. Ein analoger Gedanke wurde bereits oben erwähnt: nach Keynes kann der Begriff der ‚gleichen Wahrscheinlichkeit’ nur relativ als ein Abstand zu einem Referenzpunkt absoluter Sicherheit (a/h=1) definiert werden. Gewissheit ist, nach Keynes, demnach nur der höchste Grad rationalen Glaubens. An dieser Stelle möchte ich kurz nochmals auf den Unterschied zur subjektiven Theorie eingehen. Keynes wehrt sich gegen eine subjektive Interpretation seiner Theorie, wie das Zitat deutlich macht. Er wehrt sich gegen Versuche, Wahrscheinlichkeit auf psycholo291 Keynes 1921, op. cit. Seite 15, meine Hervorhebung. 292 Keynes, 1921, op. cit., Seite 14. 293 Tony Lawson, The Relative/Absolute Knowledge, op. cit., Seite 961.
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gische Argumente aufzubauen. Der Treatise ist generell sehr ablehnend gegenüber mathematisch-psychologischen Theorien formuliert.. Dennoch gibt es bei Keynes ein subjektives Element. Individuen, die sich einer Entscheidungssituation ausgesetzt sehen, wählen ein Modell, das die Situation zu repräsentieren scheint. Die Wahrscheinlichkeit selbst ist aber unabhängig von dieser Wahl des Modells. Die Wahrscheinlichkeitstheorie interessiert sich nicht für die Wahl der richtigen Prämissen, sondern für deren Übersetzung in eine Schlussfolgerung. Wahrscheinlichkeit ist objektiv, wie die Gesetze der Mathematik und Logik unabhängig von subjektiven Einschätzungen ist. Das Individuum kann gegebenenfalls eine falsche Einschätzung vertreten und das falsche Modell seiner Analyse zu Grunde legen. Doch die Wahrscheinlichkeitsbeziehung wird dadurch nicht berührt. Ein Satz sei nur auf der Grundlage von Beweisen als wahrscheinlich zu beurteilen, unabhängig davon, ob und wie wir dies wahrnehmen oder nicht. Sobald die Fakten gegeben sind und unser Wissensstand bestimmt ist, ist die Wahrscheinlichkeitsbeziehung objektiv gegeben. Im Gegensatz zum subjektiv-aleatorischen Ansatz sind Individuen nicht frei, einer Situation irgendeine Wahrscheinlichkeit zuschreiben zu können. Die Wahrscheinlichkeitsbeziehung zwischen Prämisse und Schlussfolgerung ist durch die Logik objektiv gegeben. Vertreter der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie erlauben unterschiedliche Zuschreibungen von Wahrscheinlichkeiten in ein- und derselben Situation. Nach Keynes ist dies nicht möglich. Damit sollte geklärt sein, dass die Position von Keynes, zumindest in der Fassung von 1921, nicht mit der subjektiven Positionen zu verwechseln ist. Keynes spricht von Graden an Überzeugungen und Wissen; er spricht nicht von unseren Überzeugungen oder unserem Wissen. Dennoch wird momentan eine Diskussion geführt, die sich um den Begriff der ‚menschlichen Logik’ dreht und daran anschließend fragt, ob Keynes seine Position selbst als ungenügend betrachtet hat und zur Position Ramseys gewechselt ist. So stützt Bateman294 sein Argument auf Keynes Nachruf für seinen Freund Ramsey, der im Alter von 26 Jahren überraschend starb. Darin sieht er einen Wandel von der logischen zur subjektiven Position. O’ Donnell hält dagegen, dass das spätere Werk Keynes die Grundgedanken des Treatise beibehalten würde.295 Eine Veränderung hätte nicht in Richtung der subjektiven, aleatorischen Wahrscheinlichkeitstheorie, sondern in Richtung der Betonung der Unsicherheit stattgefunden. Eine Stelle in den Essays on Biography ist an dieser Stelle hilfreich, in der Keynes sein Interesse am Begriff der Menschlichen Logik von Ramsey erläutert: „So far I yield to Ramsey - I think he is right. But in attempting to distinguish ‚rational’ degrees of belief from belief in general he was not yet, I think, quite successful… Yet in attempting to distinguish a ‚human’ logic from formal logic on the one hand and descriptive psychology on the other, Ramsey may have been pointing the way to the next field of study, when formal logic has been put into good order and its highly limited scope properly defined.” 296
Hier wird es deutlich, dass sich das Augenmerk auf das nächste Projekt bezieht, nachdem die Logik geordnet und vor allem das Problem der Russellschen Antinomien – und der 294 Bradley.W. Bateman, „Keynes’s Changing Conception of Probability”, Economics and Philosophy, Vol. 3 No 1. (1987), Seite 102, Robert Skidelski „Keynes’s Philosophy of Practice and Economic Policy,” In Rod M. O’Donnell (Hrsg.), Keynes as Philosopher Economist (London: Macmillan, 1991), Seite 104 –124, sowie Bradley W Bateman. und John Davis (Hrsg.), Keynes and Philosophy: Essays in the Origins of Keynes Thought,(Edward Elgar, 1990). 295 O’ Donnell, 1991, op. cit. 296 John Keynes, Essays on Biography (London: Rupert Hard Davis, 1951), Seite 244.
3.5 Subjektiv epistemische Wahrscheinlichkeit: soziale Wahrscheinlichkeit
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Selbstreferenz – gelöst ist. Der Fokus der menschlichen Logik bezieht sich auf das Problem der Praxis. Wie oben gezeigt wurde, setzt aber somit die menschliche Logik, im Gegensatz zur formalen Logik, ein Vertrauen in die Argumente und Beweise, in die Gewichtung von Argumenten, voraus. Unter diesen Aspekten ist die Logik nie ein rein mechanisches System, wie die Unterscheidung zwischen ‚sehr unsicher’ und ‚sehr unwahrscheinlich’ von Keynes verdeutlicht. Diese Unterscheidung kann Ramsey so nicht treffen. Wenn es eine Annäherung der Positionen gegeben haben könnte, dann nur eine Annäherung von Seiten Ramseys. Wahrscheinlicher ist aber, dass der gleiche Begriff in beiden Systemen eine unterschiedliche Bedeutung erlangt hat. Zusammenfassend muss sicherlich ein subjektives Element bei Keynes konstatiert werden, besonders wenn es zur Anwendung und Evaluierung der Ergebnisse seiner Theorie kommt. Doch folgt aus der epistemologischen Definition von Wahrscheinlichkeit noch nicht notwendigerweise der Subjektivismus. Subjektivisten gehen, anders als Keynes, von kopierbaren Situationen, von Massenphänomenen aus und schreiben die Wiederholbarkeit in die Definition der Wahrscheinlichkeit zu finden. Bei der logischen Wahrscheinlichkeitstheorie ist die Wahrscheinlichkeit über den Einzelfall definiert. Die Wiederholung selbst ist nicht innerhalb der Definition von Wahrscheinlichkeit zu finden. Die Position Keynes ist demnach nicht mit einer subjektiven Position zu verwechseln. 3.5 Subjektiv epistemische Wahrscheinlichkeit: soziale Wahrscheinlichkeit Diese Position lässt sich an der sprachphilosophischen Wende von Ludwig Wittgenstein festmachen. Ohne hier eine vertiefte Darlegung dieser Wende selbst anzubringen, lässt sich diese Position durch ihre Ablehnung der Notwendigkeit a priori logischer Operationen charakterisieren. Entsprechend werden, über einen Zusammenhang von Semantik und Sozialstruktur, die gesellschaftlichen Bedingungen der Wahrscheinlichkeitstheorie betont. Das bedeutet vor allem, dass sich die Konzeption der Wahrscheinlichkeit mit den Veränderungen der gesellschaftlichen Sinndimensionen nachhaltig wandelt. Konsequenterweise bezieht sich hier die Wahrscheinlichkeit auf sich selbst und nimmt sich des Problems der Selbstreferenz an: dieser Ansatz fragt nach der Möglichkeit der Wahrscheinlichkeit – der ‚Wahrscheinlichkeit der Wahrscheinlichkeit’, wenn man so will – um die historischsemantischen Veränderungen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs herauszuarbeiten. Entsprechend ist die ‚Was-ist’-Frage durch die ‚Wie’-Frage zu ersetzen, um die konstitutiven Grenzen der Wahrscheinlichkeitssemantik zu rekonstruieren. Damit wird deutlich, dass nicht die Intuition, die Einsicht in eine höhere Ideenwelt, sondern die sozialen Bedingungen der Erkenntnis sowohl die Entstehung als auch die Rechtfertigung von wahrscheinlichem Wissen bestimmen. Die Bedeutungen der Begriffe, die Wahrheitswerte in der Wahrscheinlichkeitssemantik werden also allein durch den Gebrauch bestimmt. Wir haben einen Begriff verstanden, wenn wir bestimmte Behauptungsbedingungen erlernt haben, wenn wir wissen, wie wir ihn gebrauchen können. Der Gebrauch vermittelt die Referenz. Wie beobachtet oder interpretiert wird, ist entscheidend. So zeigt sich mit der Herausbildung moderner Gesellschaften im 17. Jahrhundert eine grundlegende Transformation der Wahrscheinlichkeitssemantik, die sich in den Bemühungen von Bernoulli, Leibniz, Pascal, und Laplace äußert, ein neues Vokabular aus einem Material zu schaffen, das noch nicht Wahrscheinlichkeit ist, das aber zur heutigen Wahr-
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scheinlichkeit werden sollte. Diese Bemühungen sind durch eine nachhaltige Veränderung der Kategorien ‚Wissen’, ‚Meinung’ und ‚Wissenschaft’ möglich. Sie stehen in einem kokonstitutiven Verhältnis zu der sich neu etablierenden Sozialordnung, die sich vor allem durch eine Neuorientierung in der Zeitdimension auszeichnet: Die Vergangenheit büßt ihre Dominanz in den Legitimationsformeln ein, die Zukunft rückt stärker ins Zentrum. In Folge dieser Veränderung wird die Unterscheidung von ewig/beweglich (aeternitas/tempus) von der Unterscheidung Vergangenheit/Zukunft abgelöst.297 Diese Veränderungen wirken direkt auf den Wahrscheinlichkeitsbegriff.298 Erst durch diese Veränderung wird das moderne Verständnis von ‚Wahrscheinlichkeit’ ermöglicht. Erst hier erhält Wahrscheinlichkeit die Bedeutung von Möglichkeit.299 In der Scholastik hat das lateinische Wort probabilis noch die Bedeutung von Zustimmung. Bestimmend für das damalige Wissenschaftsverständnis ist die Ideenlehre Platons. Die platonische Unterscheidung von Idee und Phänomen wird übersetzt in die Unterscheidung von scientia und opinio. Scientia, Wissenschaft, ist gleichbedeutend mit der Suche nach dem ewig wahren Sein in den Gesetzen der Funktionsweise unserer Welt. Die Probleme der (klassischen) Metaphysik, der Suche nach dem Sein des Seienden, nach universalen, notwendig wahren Gesetzen, bestimmt sowohl die Menge an zugelassenen Fragen, als auch die Beweisführung und Rechtfertigung von Wissensansprüchen in der Form der ‚Demonstration’. Dies erfolgt durch die Anwendung der richtigen Kategorien und durch den Rekurs auf (antike) Autoritäten.300 Hierfür konnte man sich auf primäre Qualitäten und damit direktes Wissen von den Ursachen stützen. Die niederen Wissenschaften hingegen, wie unter anderem die Geologie und Medizin, mussten Zeichen und Symptome, so genannte sekundäre Qualitäten, analysieren, um mögliche Ursachen zu erkennen. In dieser Welt der Phänomene kann es nur Opinio geben. Einer Meinung kann nur zugestimmt werden, sie kann nicht demonstriert werden. Diese Zustimmung beschreibt der Begriff probabilis. In den höheren Wissenschaften der (Meta-) Physik findet man keinen Hinweis auf probabilis. Opinio deutet auf eine Überzeugung, aestimatio, die aus Überlegungen, Argumentationen, Disputationen resultiert.301 Diese Beweisführungen müssen sich der Form der höheren Wissenschaften beugen: eine Meinung ist probable, wenn sie durch Autorität unterstützt wird, wenn sie durch alte Bücher bezeugt werden kann. Die interpretationsbedürftigen Zeichen der niedrigen Wissenschaften werden bestimmt durch den Rückgriff auf die Vergangenheit.302
297 Siehe Elena Esposito, Soziales Vergessen: Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002). 298 Siehe auch hierfür: Gottfried Wilhelm Leibniz, Samuel Clarke, Der Leibniz Clarke Briefwechsel, übersetzt und herausgegeben von Volkmar Schüller, (Berlin: Akademie Verlag, 1991). 299 Dieser Abschnitt beieht sich auf Ian Hacking, The Emergence of Probability (Cambridge: Cambridge University Press, 1975). Siehe auch hierfür: Irving J. Good, Good Thinking: The foundations of probability and its applications (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1987) und Irving J. Good Probability and the Weighing of Evidence, (London: Charles Griffin, 1950). 300 In der scholastischen Philosophie wurde Wissen durch ‚Autoritäten’ abgesichert. Bücher selbst wurden nicht als Text sondern als sprechende Personen angesehen. Siehe zum Beispiel Niklas Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft (Frankfuhrt/Main: Suhrkamp, 1997), Kapitel 5. 301 Ian Hacking, op.cit. 1975, Kapitel 2. 302 Man beachte die Dominanz der Vergangenheit im Gegensatz zur Zukunft – wie sie auch damals für die dynastische Politik bestimmend war. Siehe Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft: zur Semantik geschichtlicher Zeiten (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1979).
3.5 Subjektiv epistemische Wahrscheinlichkeit: soziale Wahrscheinlichkeit
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Die von der opinio heraufsteigende Wahrscheinlichkeit verändert über eine Neuinterpretation der Natur das Verständnis von scientia und damit von wissenschaftlichem Wissen. Die Zeichen der niederen Wissenschaften werden zur Ursache der höheren Wissenschaften: durch Zeichen und Wahrscheinlichkeit kann nun Wahrheit demonstriert werden. Diese Transformation von scientia und opinio, in der die Innovationskraft aus den niederen Wissenschaften heraus die Restriktionen der scientia einreißt, ist auch ausschlaggebend für die Veränderung der Wahrscheinlichkeit. Probabilis der Zeichen und niedrigen Wissenschaften wird zur Möglichkeit, die Natur zu lesen. In diesem Übergang zu einem neuen Verstädnis von Natur verändert sich die Bedeutung der Wahrscheinlichkeit von ‚Zustimmung durch Autorität’ in ‚Möglichkeit’, die Zeichen der Natur richtig zu deuten. Innerhalb der Literatur von vor 1662, dem Erscheinungsdatum der Logik von Port Royale, steht Wahrscheinlichkeit noch fest im Zusammenhang mit ‚Zustimmung’. Erst nach 1662 wird Wahrscheinlichkeit mit ‚Möglichkeit’ verbunden und erhält dadurch unser modernes Verständnis. Ian Hacking hat in diesem Zusammenhang eine zentrale Kritik an der logischen Wahrscheinlichkeitstheorie formuliert: „Viele moderne Philosophen behaupten, Wahrscheinlichkeit sei eine Beziehung zwischen einer Hypothese und der Evidenz. Diese Behauptung, wahr oder falsch, bleibt eine Erklärung für die späte Entwicklung der Wahrscheinlichkeit schuldig: das dafür relevante Konzept der Evidenz existierte nicht vor [1662].“ 303
Die vermeintliche Objektivität der logischen Wahrscheinlichkeit der Entstehung und Rechtfertigung von Wahrscheinlichkeitsaussagen ist abhängig von der Objektivität der Beweise und damit der objektiven Wahrheitsfindung. Wenn jedoch die Frage nach der Möglichkeit eines Beweises vor allem eine historische Dimension hat, eine Dimension, die sich im 17. Jahrhundert grundlegend verändert, worauf kann sich dann eine unterstellte Objektivität und Notwendigkeit logischer Operationen stützen? Bricht die Verbindung der Logik mit der Welt in der Einheit logischer a priori Prinzipien, deutet die Selbstreferenz der Logik nicht auf die Logik, sondern auf soziale Bedingungen der Erkenntnis. Mit der Widerlegung der Objektivität der Beweisführung, wie sie von Ian Hacking für den Fall der Wahrscheinlichkeit und generell durch Wittgenstein vollzogen wurde, bedeutet das vor allem, dass es keinen ‚Beweis’ des ‚Beweises’ gibt. Der Beweis kann sich nicht selbst beweisen, gerade da das dritte Axiom der klassischen Logik, das Tertium non datur, auch nicht mit Vollständigkeit aus den mathematischen Prinzipien abgeleitet werden kann. Beweise sind demnach nicht objektiv gegeben, sondern werden erst in und durch eine Diskussion bzw. Argumentation festgestellt, mit allen daraus resultierenden ‚politischen’ Dimensionen der Beweisführung – und der Beweisakzeptanz. Innerhalb der Wissenschaftstheorie findet diese Diskussion ihr Pendant in der Diskussion um die Grenzen und Möglichkeiten einer Diskussion zwischen Paradigmen – eine Diskussion, die über eine vertiefte Rezeption von Thomas Kuhns The Structure of Scientific Revolutions auch die Internationalen Beziehungen nachhaltig beeinflusst hat.304 Thomas 303 Ian Hacking, 1975, op. cit., Seite 31; eigene Übersetzung. 304 Thomas Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (Chicago, London: University of Toronto Press, 1962). Für weitere Analysen siehe vor allem Ludwig Wittgenstein, Remarks on the Foundations of Mathematics. (Oxford. Blackwell, 1978), der die Notwendigkeit logischer Schlüsse im Sprachspiel auflöst, sowie George Lakoff und Rafael E. Nâuänez, Where mathematics comes from: how the embodied mind brings mathematics into being (New York: Basic Books, 2000). Ein Überblick über Konstruktivismus und Mathe-
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Kuhn wurde für die Sozialwissenschaften interessant, da er für die Naturwissenschaften zeigte, dass ein Paradigmenwechsel nicht als ein linearer Prozess der Anpassung oder des Fortschritts verstanden werden kann. Vielmehr bestimmt ein Paradigma, wie die Welt gesehen wird. In den Sozialwissenschaften wurde dies in die These von unterschiedlichen, parallel existierenden Paradigmen modifiziert: gleichberechtigte, jedoch unterschiedliche Paradigmen existieren nebeneinander, ohne die Fähigkeit zu erlangen, sich gegenseitig zu inkorporieren. Die gleichen Daten sind somit unter der Bedingung dieser ‚Polykontextualität’ für unterschiedliche Interpretationen offen, die sich in divergierende Erkenntnisse und Forderungen übersetzen. Hier kann es aber nicht mehr um die Möglichkeit einer gemeinsamen Basis gehen, sondern um die Rekonstruktion von Argumentationen und von Beweislasten. Der Wandel von und zwischen Paradigmen und Vokabularen zeigt sich nicht als Fortschritt oder als eine Annäherung einer uns letztlich unbekannten Grenze absoluter Wahrheit. Wir befinden uns nicht in einem rationalen Dialog, der uns näher an die Wahrheit bringt.305 Auch hier zeigt sich die primäre Stellung der Kontingenz gegenüber der Notwendigkeit und eröffnet damit den Blick auf zwei Feed-back-Schleifen: auf der Mikro-Ebene die Rolle der Interpretation und auf der Makro-Ebene die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. Eine Interpretation wird hier als kognitive Aktivität verstanden. Hans Lenk formuliert dies wie folgt: „Interpretieren ist das Bilden, Stabilisieren und Aktivieren von kognitiven Konstrukten, Konstituten, Mustern überhaupt (Schemata).“306 Diese Muster werden zur Bestimmung von Situationen mit ihren Konsequenzen unbewusst oder bewusst eingesetzt. Mit ihnen werden Situationen so strukturiert und kategorisiert, dass ihnen Bedeutung zugeschrieben werden kann. Der Begriff der Kognition unterscheidet sich hier von dem Kognitionsverständnis der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie. Die psychologisch motivierte subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie konzipiert die Erkenntnis passiv als Erleiden eines Eindrucks. Das zu Erkennende bewirkt die Erkenntnis. So wie die Experimente ‚für sich selbst sprechen’ können müssen, so bewirkt die Realität, erkannt als ein Widerstand, eine gegenständliche Erkenntnis. In beiden Fällen geht man davon aus, dass Gleiches gleich wirkt: ein Stimulus ruft genau eine Reaktion hervor, genau wie in der Wahrscheinlichkeitstheorie ein Ereignis genau nur zu einem Ergebnis führt. Höchstens kann unter der aleatorisch subjektiven Position eine (systematische) Verzerrung des ansonsten objektiven Idealbildes zugestanden werden. Jedoch funktioniert die Interpretation hier anders. Interpretieren ist das Feststellen von Ähnlichkeiten, Gleichheiten und Verschiedenheiten. Ohne Interpretation ist es nicht möglich, Sinn zu fixieren: „Jede Entität ist als solche, das heißt als erfasste oder erfassbare, ein Interpretationskonstrukt oder zumindest interpretationsimprägniert...[d]as Diskriminieren, Kontrastieren, Vergleichen, „Vorstellen’ oder ‚Erkennen’ im weiteren Sinne, das Wahrnehmen, Wiedererkennen, Reidentifizieren bzw. Identifizieren ist jeweils ein Prozeß der Anwendung von Schemata, der ebenfalls einen Konstitutionsprozeß darstellen kann, nämlich der Konstitution von Gegenständen, Daten, Merkmalen, von Konstellationen aus matik findet sich in Paul Ernest, Social Constructivism as a Philosophy of Mathematics (New York: State University of New York Press, 1998). 305 Siehe hier vor allem Ole Wæver, „The Rise and Fall of the Inter-Paradigm Debate“, in: Steve Smith, International Theory: Positivsm and Beyond (Cambridge: Cambridge University Press, 1996), Seite 158. 306 Hans Lenk, Interpretation und Realität: Vorlesungen über Realismus in der Philosophie der Interpretationskonstrukte (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995), Seite 10.
3.5 Subjektiv epistemische Wahrscheinlichkeit: soziale Wahrscheinlichkeit
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Merkmalen, Ereignissen, Prozessen usw.“ Dabei ist es immer möglich, einen Sachverhalt unterschiedlich zu interpretieren. Es gibt letztlich keine endgültige, letzte Interpretation.308 Der für mich interessante Punkt ist jedoch nicht die Realismus/Anti-RealismusDebatte, die in diesem Zusammenhang wenig relevant erscheint, sondern das sich daraus ableitende veränderte Verständnis von Dynamik.309 Die Anpassung kann sich hier in der Form einer Gestaltveränderung einstellen.310 Der gleiche Text, das gleiche Bild, die gleichen Daten und Anomalien werden nun anders interpretiert – und damit anders gesehen. Der Text wird in einen anderen Zusammenhang gestellt und erhält dadurch einen völlig neuen Charakter, das Bild wird neu interpretiert – und auf einmal sieht man etwas, was einem vorher verborgen war. Die gleichen Daten werden nun einer neuen Geschichte zugeordnet. Die Betonung der Interpretation legt das Augenmerk auf nichtlineare Veränderungsprozesse und zeigt gleichzeitig damit Grenzen einer Anwendung von Bayes’ Regel der bedingten Wahrscheinlichkeiten. Da sie jeder Information einen ex ante vorgegebenen ‚Informations- und Anpassungswert’ zuschreibt, klammert sie gerade diese nichtlinearen Prozesse aus.311 Doch selbst in der Ökonomik zeigt sich ja, dass die Disziplin nicht dem Ideal der rationalen Anpassung folgt: Man erinnert sich an alte ‚Prophezeiungen’, obwohl sie Jahre lang niemanden interessiert haben. Paul Krugmans Artikel von 1994 über eine mögliche Asienkrise mag hier ein gutes Beispiel sein.312 1994 warnte Krugman vor falschen Hoffnungen in Bezug auf das asiatische Wunder. Die Wachstumsraten seien nicht auf Produktivitätswachstum, sondern allein auf Inputerhöhung zurückzuführen und damit auf unsolide Füße gestellt. Drei Jahre lang blieb der Artikel vergessen. Ein paar Wissenschaftler nahmen sich des Artikels an, schließlich war es ein Artikel von Paul Krugman, mit dem Ziel jedoch, ihn zu widerlegen. 1997, nachdem die Asienkrise schon entbrannt war, erscheint sein Artikel nun als Prophezeiung. Ein anderes Beispiel ist der Artikel von Ronald Coase von 1937, auf dem die heutige Transaktionskostenökonomik fußt. Über 30 Jahre lang blieb der Artikel in Vergessenheit, bevor man sich seiner wieder erinnerte und er seine heutige Bedeutung erhielt. Auf der Makroebene führt dieser aktive Kognitionsbegriff zur These der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit. Spätestens mit der sprachphilosophischen Wende muss der Einsicht Rechnung getragen werden, dass das Individuum schon in der Welt ist, wenn es nach dem Sein fragt und auch damit die Anerkennung anderer Individuen als erkennende Subjekte zu akzeptieren hat. In der Welt sein heißt mit anderen sein. Dies legt das Augenmerk auf, um es mit Luhmann zu sagen, das ‚Beobachten von Beobachtungen’, das den Rahmen des Identitätsprinzips sprengt. Mit der autopoietischen Systemtheorie kann man 307 Hans Lenk, op.cit, Seite 11. 308 Dies entspricht dem Löwenheim-Skolem Theorem, wie es z.B. von Putnam in ‚Models and Reality’ benutzt wurde. Für eine Diskussion siehe Godehard Brüntrup, Mentale Verursachung: Eine Theorie aus der Perspektive des semantischen Anti-Realismus (Stuttgart: Kohlhammer, 1994), Seite 159-162. 309 Für eine sehr gute Zusammenfassung der aktuellen Diskussion im Verhältnis zum Leib-Seele Problem, siehe Godehard Brüntrup, op.cit. . 310 Ich bin mir völlig der Unzulänglichkeiten der Gestaltpsychologie bei der Beschreibung der hier beschriebenen Phänomene bewusst. Jedoch verdeutlicht das Wort ‚Gestalt’ die Sprunghaftigkeit, die Nichtlinearität des Bildwechsels. Siehe dazu analog das Hase-Ente Bild von Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1984). 311 Darin stimmen Realisten und Anti-Realisten überein. Siehe zum Beispiel Hans Lenk, Interpretation und Realität: Vorlesungen über Realismus in der Philosophie der Interpretationskonstrukte (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995), Günter Abel, Interpretationswelten (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995). 312 Paul Krugman, „Dutch Tulips and Emerging Markets“, Foreign Affairs, Vol. 74 No.4 (1995), Seite 28-44.
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3 Über Wahrscheinlichkeit – eine Topologie
dann die Frage nach der Übereinstimmung mit der Außenwelt durch die Frage nach den Eigenbedingungen des Erkenntnisvorgangs ersetzten.313 Erst hier kann fremdes Erkennen als anderes Erkennen zusammen anerkannt werden. Doch es muss die Möglichkeit offen gehalten werden, dass sich das Selbstverständnis durch das Beobachten anderer Beobachtungen ändert. Dies erfordert eine klare Unterscheidung zwischen der Analyse gegenständlicher und sozialer Phänomene. Gerade soziale Phänomene erfordern die Berücksichtigung ihres Kontexts, um nicht der Versuchung zu erliegen, Entscheidungen der Individuen wie zeitlose Gegenstände zu behandeln. Vielmehr wird hier das Wissen der Praxis über die Analyse konstitutiver Grenzziehungen rekonstruiert. Die Praxis entzieht sich der Möglichkeit, die Zeit einzufrieren und in kopierbaren Experimenten durch eine Rückkoppelungsschleife laufen zu lassen. Wie Keynes bemerkte, kann das alleinige Verstreichen der Zeit eine wichtige Information darstellen und Wahrscheinlichkeitsbeziehungen verändern. Damit ist Zeit aber irreversibel zu denken. Die Zeit läuft, unaufhaltsam und irreversibel. Dies erfordert die Inkorporation von Zeitdimension und Sozialdimension als Bedingungen der Möglichkeit von Erkennen.314 3.6 Zusammenfassung Dieses Kapitel stellte eine Topologie von Wahrscheinlichkeitstheorien vor. Die jeweils unterschiedlichen Positionen der Wahrscheinlichkeitstheorie erlauben die Analyse bestimmter Phänomene mit ihren je eigenen Charakteristika, Problemen, und Lösungsvorschlägen. Vor allem der Unterschied der zwei mittleren Positionen ist interessant und soll für die weitere Diskussion von zentraler Bedeutung sein. Ein Großteil meines Arguments stützt sich auf folgende These: der Begriff ‚Überzeugungsgrad’ kann unterschiedlich, nämlich quantitativ und qualitativ, interpretiert werden. Wird Überzeugungsgrad quantitativ konzipiert, das heißt geht man von der prinzipiellen Benennung quantitativer Wahrscheinlichkeiten aus, wie es zum Beispiel bei Frank Ramsey und Leonard Savage der Fall ist, so wird die normale Gesetzmäßigkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie sie in den Axiomen von Andrej Kolmogorov dargestellt ist, angenommen.315 Innerhalb des Additionssatzes wird das Problem der epistemologischen Wahrscheinlichkeit aber notwendigerweise in Einheiten aleatorischer Wahrscheinlichkeiten beschrieben. Implizit wird mit dem Additions- und Multiplikationssatz der Wahrscheinlichkeitsrechnung die klassische Logik und damit das Identitätsprinzip und dessen Einheit von Denken und Sein akzeptiert. Die gleiche naturwissenschaftliche Methode ist sowohl für die objektive als auch für die subjektive Definition anwendbar. 313 Für eine ausführliche Diskussion, siehe Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft; op. cit. Insbesondere Kapitel 1 ‚Bewußtsein und Kommunikation’, Kapitel 5 ‚Richtige Reduktionen’, Kapitel 7 über Reflexionen. 314 Siehe Niklas Luhmann, Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit. Seite 499. 315 Andrej Nikolaevich Kolmogorov, Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung (Berlin: Springer, 1933), darunter vor allem a) einem Ereignis x aus einer Menge kann eine Wahrscheinlichkeit in Form einer reellen Zahl zugeordnet werden; b) die Summe der Wahrscheinlichkeiten addiert sich zu 1, dem sicheren Ergebnis. (man beachte wie Sicherheit in die Definition von Wahrscheinlichkeit eingespielt wird); aus zwei möglichen Ereignissen kann bei nicht eintreten einer Möglichkeit, sofort auf die Notwendigkeit des Eintretens der anderen Möglichkeit schließen. c) zusammengesetzte Wahrscheinlichkeiten sind multiplikativ verbunden;
3.6 Zusammenfassung
99
Eine qualitative Auflösung betont dagegen die engen Grenzen der Möglichkeit eines quantitativen Vergleiches von Wahrscheinlichkeiten. Vertreter dieser Lösung, wie John M. Keynes, analysieren das Problem epistemischer Wahrscheinlichkeiten nicht im deduktiven, sondern in einem praktischen Syllogismus, der Wahrscheinlichkeit gegen die Gewichtung von Aussagen abgrenzt. Das Problem der Gewichtung hinterfragt die üblichen Annahmen der Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie und damit der klassischen Logik mit ihrem metaphysischen Weltbild. Die zentrale These lautete, dass sich die Unterscheidung zwischen aleatorischen und epistemologischen Ansätzen vor allem als ein Unterschied im zu Grunde liegenden Bild der Wahrscheinlichkeit zeigt: Während aleatorische Ansätze auf das Spiel zurückgreifen, setzen epistemologische Ansätze die Wahrscheinlichkeit in Verbindung zu sprachphilosophischen Überlegungen. Hier zeigt sich ein zentraler Unterschied. In der aleatorischen Wahrscheinlichkeitstheorie hinterlässt die Realität einen Ein-druck beim erkennenden Subjekt. Ganz analog zur Optik von Hobbes, wo Erkenntnis als das physikalische Aufeinandertreffen zweier Körper verstanden wird. In dieser Tradition hat die Subjektphilosophie die Terminologie des Wissens, Denkens und der Erkenntnis an das Individuum gebunden. Die Beschreibung erfolgt dann im Vokabular des kollektiven Singulars: ‚die Erkenntnis’, ‚der Mensch’, ‚die Vernunft’, ‚das Bewusstsein’ und ‚die Rationalität’. Aber das Problem der unterschiedlichen Wahrnehmung kann hier ungelöst bleiben. Die Unterscheidung von Erkenntnis und Gegenstand findet sich selbst auf keiner Seite, denn weder ist die Unterscheidung ein Gegenstand noch eine Erkenntnis. Weder mit dem Gegenstand noch mit der Erkenntnis ist die Unterscheidung selbst fassbar. Die Bezugnahme auf das Subjekt geht auf Distanz mit der Differenz und hält an der Einheit von Denken und Sein – und damit über die individualistische Epistemologie an einer gegenständlichen Ontologie fest. In epistemischen Ansätzen ist Erkennen dagegen nicht ein passives Erleiden eines Eindrucks, sondern ein aktives Erkennen von Schemata. Damit wird der Fokus auf nichtlineare Anpassungsprozesse und selbstreferenzielle Prozesse der Weltkonstruktion gelenkt, und es zeigt sich auch ein Spannungsverhältnis zwischen den selbstreferenziellen Strukturbildungsprozessen auf den Finanzmärkten und den Grundannahmen der ökonomischen Wahrscheinlichkeitstheorie und ihres wissenschaftstheoretischen Positivismus. Denn aus der Sicht der epistemischen Definition von Wahrscheinlichkeit ist die Bayesianische Statistik auf einem Kategorienfehler aufgebaut: Sie wechselt, unter der Annahme des Prinzips des unzureichenden Grundes inklusive der sich daran anschließenden Annahmen der Addition und Multiplikation von Wahrscheinlichkeiten von einer de dicto auf eine de re Interpretation. Das unstrukturierte Nichtwissen der epistemologischen Ansätze wird so als eine Eigenschaft eines Objekts in eine strukturierte Form gebracht, ohne zu klären, wie dieser Schritt aus der Epistemologie heraus erfolgen kann.316 In den nächsten zwei Kapiteln gilt es nun die Relevanz der hier identifizierten Unterschiede für ein tieferes Verständnis der Risikosemantik zu nutzen, um damit die performative Dimension von Risiko aufzuzeigen.
316 wie geschehen bei Ramsey, op. cit., Seite 177.
4.1 Einleitung
101
4 Risiko als Ungewissheit
4.1 Einleitung Dieses Kapitel soll die Annahmen, Voraussetzungen und Grenzen des ökonomischen Paradigmas der Risikoanalyse aufzeigen. Ziel ist es also, die Argumentationsstruktur sowie die ontologischen und epistemologischen Annahmen aufzuzeigen, die wenigstens implizit getroffen werden, wenn Risiko aus dem Blickwinkel der Ungewißheit beobachtet wird. Paradigmatisch hiefür ist die Erwartungsnutzenhypothese.317 Als Grundlage der heutigen Spieltheorie und Vertragstheorie ist die Erwartungsnutzenhypothese Voraussetzung für die Analyse ökonomischer Argumentationen und damit für ein Verständnis der akutellen Diskussion um die Finanzmarktarchitektur.318 In diesem Kapitel wird die These vertreten, dass die Erwartungsnutzenhypothese, sowohl in ihrer objektiven als auch subjektiven Fassung, einen aleatorischen Wahrscheinlichkeitsbegriff zu Grunde legt und dadurch ein reflexives Verständnis ihrer eigenen Tätigkeit unmöglich macht. Das grundlegende Ziel der Entscheidungstheorie ist die Etablierung eines auf Präferenzen und Nutzenfunktionen aufbauenden Formalismus, der es erlaubt, Fragen der Rationalität, der Effizienz und der Wohlfahrt unter Hinzunahme einer kontingenten Zukunft zu beantworten. Das hervorstechende Ergebnis der Entscheidung unter Ungewissheit ist der Erhalt zentraler Ergebnisse der Entscheidung unter Sicherheit, insbesondere die Erfüllbarkeit der Optimalitätsbedingungen eines allgemeinen Gleichgewichts, wenn die Beschreibung von Gütern sich nicht auf deren physikalische Eigenschaften reduziert, sondern in Abhängigkeit der zukünftig eintretenden Zustände der Welt erfolgt. Güter werden hier also als ‚kontingente Ansprüche’ umdefiniert, die über die Zeitperioden transferiert werden können.319 Was sich innerhalb der Entscheidungstheorie unter Ungewissheit grundlegend 317 Für einen Überblick über die Erwartungsnutzentheorie siehe Peter Diamond and Michael Rothschild (Hrsg.), Uncertainty in Economics: Readings and exercises (New York: Academic Press, 1978); Peter C. Fishburn, The Foundations of Expected Utility (Dordrecht: D. Reidel, 1982); Paul J.H. Schoemaker, „The Expected Utility Model: Its Variants, Purposes, Evidence and Limitations”, Journal of Economic Literature, Vol. 20 No. 2 (1982), Seite 529 – 563; John D. Hey (Hrsg.), Surveys in the Economics of Uncertainty (Oxford: Blackwell, 1987); Jean J. Laffont, The Economics of Uncertainty and Information (Cambridge, Mass: M.I.T. Press, 1989), Jack Hirshleifer und John Riley, The Analytics of Uncertainty and Information (Cambridge, UK: Cambridge University Press, 1992). 318 Für einen Überblick über die Vertragstheorie siehe Bernand Salanie, The Economics of Contracts: A Primer (Cambridge, MA: MIT Press, 1997), Jean-Jacque Laffont und D Martimort, The Theory of Incentives: The Principal-Agent Problem (Princeton: Princeton University Press, 2002), sowie Patrick Bolton und Mathias Dewatripont, Contract Theory (Cambridge, MA: MIT Press, 2003). Für das Agent-Struktur Problem siehe insbeonsdere Oliver D Hart und Sanford J. Grossman, „An Analysis of the Principal Agent Problem“, Econometrica Vol. 51 No. 1 (1989), Seite 7-46. Für Zeitinkonsistenzprobleme siehe Finn Kydland und Eward C. Prescott „Rules rather than Discretion: the Inconsistency of Optimal Plans”, Journal of Political Economy Vol. 85 No.3 (1977), Seite 473-491. Grundlegend für Ineffizienzen asymmetrischer Informationsverteilung natürlich auch George Aklerof, „The Market for Lemons: Quality Uncertainty and the Market Mechanism.” Quarterly Journal of Economics Vol. 84 No. 3 (1970), Seite 488 – 500. 319 Siehe Kenneth Arrow, „The Role of Securities in the Optimal Allocation of Risk-Bearing“, Econometrica; as translated and reprinted in 1964, Review of Economic Studies, Vol. 31 (1953) Seite 91-96, siehe auch Kenneth Joseph Arrow, General Equilibrium (Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1983).
102
4 Risiko als Ungewissheit
verändert, ist jedoch die Rolle der Information: während unter Bedingungen der Sicherheit das Wissen von relativen Preisen hinreichend für eine rationale Entscheidung ist, benötigt der Akteur unter Ungewissheit zusätzlich ein Wissen der Wahrscheinlichkeitsverteilung über die möglichen Zustände der Welt.320 Dieses Wissen über die exogene Variable ist abhängig vom Wissensstand des Akteurs. Je besser ein Akteur informiert ist, desto genauer können seine Erwartungen gebildet und desto leichter kann das Optimum erreicht werden. Das Wissen über Preise allein ist jedoch nicht mehr hinreichend für das Erreichen des Optimums.321 Anders ausgedrückt: während unter Bedingungen von Sicherheit ein Akteur doch beachtlich wenig wissen musste, werden unter Ungewissheit deutlich höhere Wissensanforderungen an ihn gestellt. Freilich wird Preisen weiterhin eine informationsgenerierende und übertragende Funktion zugesprochen. Doch wird diese Funktion nun um den Aspekt der Informationsverteilung erweitert. Die Literatur über die Entscheidung unter Ungewissheit hat ihr aktuelles Momentum 1944 durch John von Neumann und Oskar Morgenstern mit der Veröffentlichung ihres Buches Theory of Games and Economic Behavior erhalten.322 Darin leiten sie die Erwartungsnutzentheorie axiomatisch ab und sind damit in der Lage, die Rationalität dieses Entscheidungskriteriums zu beweisen.323 Doch stiftete das Buch von Neumann und Morgenstern zunächst große Verwirrung, die Arrow in seinem Artikel von 1951 deutlich vorführt.324 Erst Jacob Marschak reformulierte 1950 die von Neumann-Morgenstern-Axiome und brachte die Erwartungsnutzentheorie in ihre heutige Form.325 Mit den Publikationen von Kenneth Arrow „The Role of Securities in the Optimal Allocation of Risk Bearing’326 und Leonard J. Savages ‚An Axiomatisation of Reasonable Behaviour in the Face of Uncer320 In der Spiel- und Vertragstheorie wird diese Annahme beibehalten. Die Natur wird jedoch ersetzt durch einen anderen Spieler. 321 Die Möglichkeit über heutige Preise die Wahrscheinlichkeitsverteilung Informationen zu erhalten – ist genau der Kern der Signalisierungsspiele. 322 John von Neumann und Oskar Morgenstern, Theory of Games and Economic Behavior (Princeton: Princeton University Press, 1944). 323 Wie zu zeigen sein wird, wird dabei der Begriff der Rationalität unter Ungewissheit aus dem Blickwinkel der Konsistenz heraus definiert. Dies entspricht der Definition der Ökonomik als Wissenschaft effizienter Ressourcenallokation- und Entscheidung. Natürlich wird kein Ökonom die Existenz von irrationalem Verhalten verneinen. Doch rationales Verhalten sollte nach Ansicht von Ökonomen, im Durchschnitt, erfolgreicher sein als inkonsistentes Verhalten. Inkonsistentes Verhalten sollte sich entweder aus aggregierter Perspektive über alle Akteure ausgleichen oder im Laufe der Zeit verschwinden. Aus dieser ‚evolutionären’ Argumentation ist eine ‚als ob’ Rechtfertigung für Ökonomen ausreichend. Diese Formulierung trifft auch für den momentan stattfindenden Wandel zur Ökonomik als Studie von Anreizsystemen zu. Auch hier sind die Konzepte von Konsistenz in den Entscheidungen, Trade off und Gleichgewicht grundlegend. Siehe z.B. die Diskussion in Rober B. Myerson, „Nash Equilibrium and the History of Economic Theory“, Journal of Economic Literature, Vol. 37 No. 3 (1999): Seite 1067 - 1082. Siehe auch Matthew Rabin, „Psychology and Economics“, Journal of Economic Literature, Vol. 36 No. 1 (1998), Seite 11 - 46. 324 Siehe zum Beispiel Armen Alchian, „The Meaning of Utility Measurement.“ American Economic Review Vol. 43 No. 1 (1953), Seite 26-50, Jacque H Drèze, „Axiomatic Theories of Choice, Cardinal Utility and Subjective Probability: A review,” in Jacque Drèze (Hrsg.), Allocation under Uncertainty: Equilibrium and Optimality (New York: Wiley, 1974), Paul. A. Samuelson, „Probability, Utility and the Independence Axiom“, Econometrica, Vol. 20 No. 4 (Oct., 1952), Seite 670-8, Edmond Malinvaud „Note on von Neumann-Morgenstern’s Strong Independence Axiom“, Econometrica, Vol. 20 No. 4 (1952), Seite 679. 325 Jacob Maschak, „Rational Behavior, Uncertain Prospects and Measurable Utility“, Econometrica, Vol. 18 No. 2 (1950), Seite 111-41. 326 Kenneth J. Arrow, „Le rôle des valeurs boursières pour la répartition la meilleure des risques, Econometrié (1953), 41-47 , Paris: CNRS. Übersetzt als „The Role of Securities in the Optimal Allocation of RiskBearing“, Review of Economic Studies, Vol 31 No. 2 (1964), Seite 91-96.
4.1 Einleitung
103
tainty’327 startete die Erwartungsnutzentheorie ihren Siegeszug.328 Doch so populär die Erwartungsnutzentheorie und ihre Anwendungen in der Spiel- und Vertragstheorie sind, so häufig wurde sie Gegenstand kritischer Beobachtungen. George L.S. Shackle, Marc Machina Maurice Allais, Daniel Ellsberg und Daniel Kahnemann und Amos Tversky, um nur einige zu nennen, deckten Paradoxien der ökonomischen Entscheidungstheorie auf und forderten erhebliche Modifikationen ein, die sehr deutlich die Grenzen dieses Ansatzes offen legen.329 In diesem Kapitel werde ich in einem ersten Schritt nochmals die Grundzüge der Erwartungsnutzentheorie darstellen. Hier wird deutlich, dass diese deutlich auf der objektivaleatorischen Wahrscheinlichkeitstheorie der relativen Häufigkeit aufbaut. Die Diskussion um die Axiome der Erwartungsnutzentheorie wird, ausgehend vom Allais-Paradox, zu dem Phänomen der Präferenzumkehr führen. Obwohl die Präferenzumkehr unterschiedlich interpretiert werden kann, möchte ich zuerst auf die Theorie des Bedauerns eingehen, da hier die Grenze einer Erwartungsnutzenargumentation deutlich wird. In einem zweiten Schritt wird die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie von Savage dargestellt. Der zentrale argumentative Schritt dieser Arbeit wird hier erfolgen: denn obwohl Savage Wahrscheinlichkeit epistemisch als Ausdruck der persönlichen Überzeugung definiert, greift er an zentraler Stelle auf den aleatorischen Wahrscheinlichkeitsbegriff zurück, um so seine Annahmen der internen Konsistenz, Rationalität und die statistische Fundierung der Wahrscheinlichkeitstheorie zu rechtfertigen. Der Rückgriff auf den aleatorischen Wahrscheinlichkeitsbegriff impliziert die Annahme eines gegebenen intensionalen Rahmens. Dies wird besonders bei dem Ellsberg-Paradox deutlich. Die daran anschließende Diskussion um Kontexteffekte verdeutlicht nochmals die Spannung zwischen Fragen der Messung und der Kategorisierung. Diese Feststellung soll dann schon zum nächsten Kapitel überleiten, das sich spezifisch mit dem Unsicherheitsbegriff auseinandersetzt und genau nach der Etablierung des intensionalen Rahmens fragt. An dieser Stelle möchte ich nochmals hervorheben, dass diese Arbeit aus einer politikwissenschaftlichen Fragestellung argumentiert. Das heißt sie fragt nach den politischen Implikationen ökonomischer Analyse. Ich erlaube mir kein Urteil über ihren möglichen Nutzen für die Wirtschaftswissenschaften selbst. 327 Leonard J. Savage. „une axiomatisation du comportement raisonnable face à l’incertitude. Econométrie, Colloque International XL (Paris: CNRS). 328 für einen guten Überblick siehe den Sammelband Graciela Chichilnisky (Hrsg.), Markets, Information, and Uncertainty : Essays in Economic Theory in Honor of Kenneth J. Arrow (Cambridge: Cambridge University Press, 1999). 329 Siehe George L.S. Shackle, Expectations in Economics (Cambridge: Cambridge University Press, 1949). G.L.S. Shackle, Imagination and the Nature of Choice (Edinburgh: Edinburgh University Press, 1979).Mark Machina, „‘Expected Utility’ Analysis without the Independence Axiom”, Econometrica, Vol. 50 No. 2 (1982), Seite 277-324, Maurice Allais, „The So-Called Allais Paradox and Rational Decisions under Uncertainty,” in Maurice Allais and Ole Hagen (Hrsg.), Expected Utility Hypotheses and the Allais Paradox, (Dordrecht: D. Reidel, 1979), Daniel Ellsberg, „Risk, Ambiguity and the Savage Axioms”, Quarterly Journal of Economics, Vol. 75 No. 4 (1961), Seite 643-69, Daniel Kahneman und Amos Tversky „Prospect Theory: an analysis of decision under risk“, Econometrica, Vol. 47 No. 2 (1979), Seite 263-92. Ihre Kritik ist zentral für die heute erstarkende Richtung der ‚Psychologie und Ökonomie’, in der die anfängliche Kritik innerhalb sich zu einer Kritik des Erwartungsnutzenkalküls veränderte. Matthew Rabin, „Psychology and Economics“, Journal of Economic Literature, Vol. 36 No. 1 (1998), Seite 11 - 46. Siehe auch: Daniel Kahneman, Paul Slovic, und Amos Tversky, Judgment under Uncertainty : Heuristics and Biases (Cambridge: Cambridge University Press, 1982), Daniel Kahneman und Amos Tversky, Choices, Values, and Frames (Cambridge: Cambridge University Press, 2000), Amos Tversky und Daniel Kahneman, Reference Theory of Choice and Exchange (Stanford, Calif.: Stanford University Press, 1990), Amos Tversky and Eldar Shafir, Preference, Belief, and Similarity : Selected Writings (Cambridge, MA: MIT Press, 2003).
104
4 Risiko als Ungewissheit
4.2 Die objektive Erwartungsnutzenhypothese Der Ausgangspunkt der objektiven Erwartungsnutzenhypothese als Grundlage der Entscheidungstheorie findet sich bei Daniel Bernoulli. 1738 beobachtet er folgendes Problem: Einem Spieler wird eine Wette angeboten. In dieser Wette wird der Wurf einer fairen Münze so oft wiederholt, bis diese zum ersten mal ‚Kopf’ zeigt. Die mögliche Auszahlung für den Spieler soll dabei abhängig von der Anzahl der im Spiel gemachten Würfe sein. Sollte der n-te Wurf ‚Kopf’ zeigen und damit das Spiel beenden, erhält der Spieler eine Auszahlung von 2n Dukaten. Die Frage ist nun: wie viel wäre ein Spieler ex ante bereit, für die Teilnahme an diesem Spiel zu zahlen? Der faire Preis der Wette, definiert als die erwartete Auszahlung, wäre nach dem mathematischen Erwartungswert unendlich:
E ( w)
¦
f i 1
(1 / 2n ) 2n
(1 / 2) 2 (1 / 4) 22 ..... 1 1 ....
f
Geht man von der einsichtigen Annahme aus, dass der Erwartungswert des Spiels den fairen Preis der Wette wiedergibt, und ein Spieler ex ante diesen fairen Preis zahlen sollte, dann würde ein Spieler auf dieses windige Spiel sein gesamtes Hab und Gut einsetzen, obwohl er mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% das Spiel mit 2 Dukaten beendet. Dies ist eindeutig irrational. Daniel Bernoullis Lösung dieses Paradoxes ist heute noch paradigmatisch für die ökonomische Entscheidungstheorie und enthält zwei Ideen: a) der Nutzen von Geld steigt nicht linear, sondern logarithmisch und b) es wird erkannt, dass als Entscheidungskriterium nicht die erwartete Auszahlung des Spiels relevant ist, sondern der Nutzen des Erwartungswertes. 330
E (u )
¦
f i 1
(1 / 2n ) u (2n ) mit:
(1 / 2) u (2) (1 / 4) u (22 ) ..... f u ( x)
D log x
Die Suche nach dem rationalen Wetteinsatz wurde vom ‚erwarteten Gewinn’ auf den ‚erwarteten Nutzen aus dem Gewinn’ umgestellt. Dieser Gedankengang ist der Ausgangspunkt der modernen Entscheidungstheorie. Obwohl vereinzelt auch schon früher Referenzen von Ökonomen zu Bernoulli gemacht wurden,331 so waren es John von Neumann und Oskar Morgenstern, die die Rationalität des Erwartungsnutzentheorems durch ihre axiomatische Methode bewiesen und somit die zentrale Einsicht des St. Petersburg-Paradoxons für die Theorie der Entscheidung unter Ungewissheit nutzbar machen konnten. Um eine genauere Analyse zuzulassen, muss ich an dieser Stelle die gängige Notation einführen. Eine Entscheidungssituation unter Ungewissheit weist folgende Elemente auf: 330 Obwohl die Lösung Daniel Bernoulli zugerechnet wird, ist es doch angebracht die Leistung von Gabriel Cramer zu erwähnen, der die gleiche Lösung 10 Jahre früher formulierte. Für eine Kritik der Lösung des St. Petersburg Spiels siehe Karl Menger, „Das Unsicherheitsmoment in der Wertlehre: Betrachtungen in Anschluss an das sogenannte St. Petersburger Spiel“, Zeitschrift für Nationalökonomie, Vol. 5 No.4 (1934), Seite 459 – 85, der überzeugend die Unbestimmtheit dieser Lösung aufzeigt. 331 Siehe vor allem wiederum Karl Menger (1934), op. cit. , aber auch Oskar Morgenstern, „Das Zeitelement in der Wertlehre“, Zeitschrift für Nationalökonomie, Vol. 5 No.4 (1934), Seite 433-58.
105
4.2 Die objektive Erwartungsnutzenhypothese
(1) eine Menge von Handlungsalternativen, die dem Individuum bekannt sind und zur Verfügung stehen. Sei X die Menge aller möglichen Strategien, und xi eine Strategie innerhalb dieses Strategienraums mit xi X. (2) eine Menge von der Natur gewählter ‚Zustände der Welt’. S sei die Menge aller möglichen Ergebnisse und s ein mögliches Ergebnis mit s S. (3) eine Auszahlungsfunktion c, die für alle Handlungsalternativen und alle möglichen Zustände der Welt die zukünftige Auszahlung des Individuums festlegt. (4) eine Eintrittswahrscheinlichkeit von s, die mit p (s) beschrieben wird. Somit sei P (S) die Wahrscheinlichkeitsfunktion, mit welcher das Individuum jedem Zustand der Welt eine Eintrittswahrscheinlichkeit zuschreibt. Die Wahrscheinlichkeitsverteilung unterliegt den Gesetzen der Addition
¦
s
ps
1 und der Multiplikation.
(5) zwei Nutzenfunktionen u und v, mit denen die möglichen Auszahlungen bewertet werden. Dabei sind diese zwei unterschiedlichen Nutzenfunktionen strikt zu trennen: v(c) ist die Präferenzskalierungsfunktion definiert über Konsequenzen (Auszahlungen in Abhängigkeit der Zustände der Welt) U (x) ist die Nutzenfunktion über Handlungen. Diese Notation erlaubt die Darstellung einer Entscheidungssituation unter Ungewissheit, die wie folgt aussieht: Abbildung 2:
Entscheidungsmatrix Zustände der Welt p 11 p 12
s p21
Handlungen
p 22
x x
1 2
1
c11 c21
s
2
c12 c22
Wie in dieser Matrix deutlich wird, ist die Entscheidung, eine Handlung x zu wählen, gleichbedeutend mit der Wahl einer spezifischen Wahrscheinlichkeitsverteilung über die möglichen Zustände der Welt. Da die Individuen jedoch an den Auszahlungen interessiert sind und nicht an der Wahrscheinlichkeitsverteilung per se, ist die wichtige Frage, wie diese Wahrscheinlichkeitsverteilung und die Auszahlungen verknüpft werden. An dieser Stelle wird die Einsicht des St. Petersburg-Paradoxons wichtig, denn die Nutzenfunktion von Neumann-Morgenstern beschreibt den erwarteten Nutzen aus einer Handlung als die erwartete, das heißt die gewichtete Summe der einzelnen Nutzen:
U ( x) { pa v(cx1 ) p2v(cx 2 ) ..... pS v(cxS1 ) S
U ( x) { ¦ ps v(cxs ) s 1
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4 Risiko als Ungewissheit
Die Erwartungsnutzenhypothese von John von Neumann und Oskar Morgenstern332 besagt somit, dass der erwartete Nutzen der Auszahlung, nicht der Nutzen des Erwartungswertes maximiert wird.333 Anhand dieser Regel ist ein Vergleich der Handlungsalternativen möglich, da nun eine klare Zuordnung jeder Handlung in eine Besser-, Indifferenz- oder Schlechtermenge möglich wird. Für eine Entscheidung muss ein Akteur nach der Erwartungsnutzentheorie zuerst für alle möglichen Handlungen den Erwartungsnutzen berechnen und dann die Handlung wählen, die den höchsten Erwartungsnutzen aufweist. Das heißt, unter der Annahme ein Individuum kenne seine Nutzenfunktion, das heißt ein Akteur weiß, ob er verschiedene Einkommen zum Beispiel logarithmisch oder linear bewertet, kann in diesem Rahmen v(c) berechnet werden. Das Problem der Entscheidung unter Ungewissheit ist demnach analog zur Wahl verschiedener Lotterien. Die große Leistung von Neumann und Morgenstern liegt nun darin, dass unter den Bedingungen der allgemeinen ökonomischen Handlungstheorie der Vollständigkeit, Transitivität und Monotonie, sowie den Axiomen der Unabhängigkeit und Stetigkeit eine Nutzenfunktion analog zur Entscheidungstheorie unter Sicherheit konstruiert werden kann. Damit kann mit der Kombination aus Wahrscheinlichkeit und möglichen Zuständen der Welt, die Entscheidungssituation analog zur allgemeinen Kombinatorik gelöst werden.334 Das Charakteristikum dieses Ansatzes ist die Axiomatik. Aus diesem Grund sollen nun diese Axiome dargestellt werden. Axiom 1: Vollständigkeit Dieses Axiom ist bekannt aus der neoklassischen Mikroökonomie. Alle Warenkörbe x und y müssen vergleichbar sein. Dabei wird jeder Warenkorb eindeutig der Besser-, Indifferenz-, oder Schlechtermenge zugeordnet. Diese Aussage schließt die Bedingung der Reflexivität mit ein: ein Gut, oder eine Lotterie, ist mit sich selbst vergleichbar. Axiom 2: Transitivität Dieses Axiom fordert eine innere Konsistenz der Entscheidung: wenn x > y und y > z folgt unter der Annahme der Transitivität x > z. Transitivität stellt sicher, dass die Zuteilung zu den Besser-, Indifferenz-, oder Schlechtermengen konsistent ist und sich Indifferenzkurven folglich nicht schneiden. Axiom 3: Unabhängigkeitsaxiom Dieses Axiom besagt, dass Entscheidungen von irrelevanten Entscheidungen unabhängig sein sollen. Angenommen es gibt zwei Zustände der Welt A und A, zwischen denen ein Spieler zu wählen hat. Dabei muss sich der Spieler jeweils zwischen zwei zusammengesetzten Lotterien entscheiden. Wählt der Spieler die Lotterie A, so erhält er die gewichtete Auszahlung p D x (1 p ) D z ; das heißt die mit einer Wahrscheinlichkeit p gewichtete Auszahlung x plus die mit der Gegenwahrscheinlichkeit gewichtete Auszahlung z. Analog 332 John von Neummann und Oskar Morgenstern, 1944, op. cit., Seite 15 –31. 333 Im Gegensatz zu:
U ( x) { v(¦ ps cxs ) s 1
334 Für eine übersichtliche Darstellung des Beweises siehe Peter Fishburn, Utility Theory for Decision-Making (New York: Wiley, 1970).
4.2 Die objektive Erwartungsnutzenhypothese
107
erhält der Spieler unter A eine Auszahlung p D y (1 p ) z . Sollte der Spieler sich für die erste Alternative entscheiden, so kann diese Entscheidung geschrieben werden als:
p D x (1 p) D z ; p D y (1 p ) z Wie in dieser Gleichung ersichtlich ist, erhält der Spieler sowohl unter A als auch unter ¬A eine Auszahlung von (1 p ) D z . Das Unabhängigkeitsaxiom besagt nun, dass diese sichere Auszahlung für die Entscheidungsfindung unberücksichtigt bleiben sollte. Ob das Individuum Alternative A oder ¬A wählt hängt allein von x und y ab. Dieses Axiom stellt sicher, dass jede Alternative allein durch ihren Erwartungsnutzen beurteilt wird und die Zusammensetzung der Alternativen keinen Einfluss auf diese Beurteilung ausübt. Der Vergleich zwischen Alternativen ist klar und eindeutig durch den Erwartungsnutzen bestimmt. Dieses Ergebnis wird durch das Umstellen von Alternativen, rhetorische Mitteln, oder die Einführung einer irrelevanten Alternative nicht beeinflusst. Sonst müsste die zentrale Einsicht der Erwartungsnutzentheorie, höherer Erwartungsnutzen korreliere mit höherer Präferenz, in Frage gestellt werden. Axiom 4: Stetigkeit/Kontinuität in Wahrscheinlichkeiten Dieses Axiom besagt, dass jede Lotterie prinzipiell mit jeder anderen Lotterie vergleichbar ist. Nach dem Stetigkeitsaxiom kann jede Lotterie so modifiziert werden, dass es einen Zustand der Indifferenz gegenüber einer anderen Lotterie gibt. Es gibt also einen Zustand mit einer strikt positiven Wahrscheinlichkeit, innerhalb dessen eine Veränderung der Auszahlungsstruktur nicht die Präferenz für diese Handlung beeinflusst. Dieses Axiom ermöglicht es, jeder Lotterie ein Sicherheitsäquivalent zuzuschreiben. Für jede Lotterie gibt es eine sichere Zahlung, bei der ein Akteur indifferent zwischen der Lotterie und einer sicheren Zahlung ist. Um es an einem Beispiel zu zeigen: für drei Ergebnisse x1, x2, x3 und x3 ; x2 ; x1 gibt es eine Wahrscheinlichkeit p zwischen 0 und 1, so dass die Lotterie (p, 1-p, x1, x3) genauso attraktiv ist, wie eine sichere Zahlung von x2 mit Sicherheit. Von Neumann-Morgenstern zeigen, dass diese Axiome hinreichend sind für die Existenz einer Nutzenfunktion, die tatsächliche Präferenzen in eine Ordnung der Lotterien übersetzt. An dieser Stelle möchte ich kurz auf die Konzeption des ‚Zustandes der Welt’ eingehen. Die einzelnen Zustände der Welt sind für das Individuum als Teil der Umweltvariablen exogen gegeben. Jeder Zustand der Welt ist für sich, in seiner Realisierung, ‚gleich möglich’ wie alle anderen. Diese gleichmögliche Herstellbarkeit bzw. Realisierung kann nicht vom Individuum beeinflusst werden.335 Die Anzahl der möglichen Zustände der Welt ist dabei endlich und unterliegt den Bedingungen der Vollständigkeit und der gegenseitigen Ausschließbarkeit. Das heißt, die Anzahl der Zustände der Welt muss die Menge aller möglichen Zustände der Welt vollständig abbilden und der Eintritt eines Zustandes der Welt schließt den Eintritt eines anderen Zustandes der Welt aus.336
335 Die Aufhebung dieser Annahme wird in der Vertragstheorie unter dem moralischen Risiko behandelt. Siehe hierfür Bengt Holmstrom, „Moral Hazard and Observability”, Bell Journal of Economics, Vol. 10 No. 1 (1979), Seite 74 – 91. 336 Dies entspricht den Bedingungen des Indifferenzprinzips, wie es bei Keynes besprochen wird, siehe Kapitel 5.
108
4 Risiko als Ungewissheit
Grundsätzlich gilt auch, dass jedes Individuum die Zustände der Welt direkt beobachten kann: für alle Individuen existieren die gleichen Zustände der Welt und die Realisierung eines Zustandes der Welt ist für alle Individuen klar einsehbar.337 Es gibt keinen Dissens, welcher Zustand der Welt eingetreten ist. Die Beschreibung der Zustände der Welt ist abzugrenzen von der Zuschreibung der Wahrscheinlichkeiten über die Zustände der Welt. Individuen haben unterschiedliche Einschätzungen und werden daher unterschiedliche Erwartungen in Form von Wahrscheinlichkeitsverteilungen über die Zustände der Welt haben. Durch diese heterogene Einschätzung von zukünftigen Ereignissen ist gegenseitiger Handel und auch gegenseitige Versicherung möglich.338 Diese Konzeption des Entscheidungsverhaltens wird bei der späteren Diskussion wichtig sein. 4.3 Kritik und Alternativen Die Theorie von Neumann-Morgenstern wurde seit ihrer Einführung stark kritisiert. Die ersten Bedenken waren an die kardinalen Eigenschaften der von Neumann-MorgensternNutzenfunktion gerichtet. Kardinale Eigenschaften einer Nutzenfunktion widersprechen der Auffassung, Nutzen seien, aufgrund ihrer Subjektivität, interpersonal nicht vergleichbar. Dieser Diskussion möchte ich aber hier nicht nachgehen.339 Interessanter an dieser Stelle ist die Diskussion, die sich um das ‚Unabhängigkeitsaxiom’ entzündete. Um das Unabhängigkeitsaxiom näher zu beschreiben, ist es sinnvoll, die Marschak-Grafik einzuführen.340 Dieser Grafik liegt eine Lotterie mit drei möglichen Ergebnissen: X={x1, x2, x3}, mit x3 ; x2 ; x1 und einer dazugehörigen Wahrscheinlichkeitsverteilung P = (p1, p2, p3) über X zu Grunde.
337 Arrow, Kenneth J., „Alternative Approaches to the Theory of Choice in Risk-Taking Situations“, Econometrica, Vol. 19 No. 4 (1951), Seite 404-37. Siehe auch die Diskussion in Karl Borch, The Economics of Uncertainty (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1968). 338 Meines Erachtens löst sich für viele Ökonomen das Problem der subjektiven Erwartungen hier auf: obwohl die Zuschreibung der Wahrscheinlichkeiten individuell vollzogen wird, sind diese wie objektive Wahrscheinlichkeiten behandelbar. 339 Für eine nähere Diskussion siehe William J. Baumol, „The Neumann-Morgenstern Utility Index: an ordinalist view“, Journal of Political Economy, Vol. 59 No. 1 (1951), Seite 61-66; ders. „The Cardinal Utility which is Ordinal”, Economic Journal, Vol. 68 No. 272 (1958), Seite 665- 72; Paul A. Samuelson, „Probability and Attempts to Measure Utility”, Economic Review Vol. 1. No. 3 (1950), Seite 167 – 73. Paul A. Samuelson, „Probability, Utility and the Independence Axiom”, Econometrica Vol. 20 No. 4 (1952), Seite 670 – 78, Michael Friedman und Leonard Savage „The Expected-Utility Hypothesis and the Measurability of Utility,” Journal of Political Economy, Vol. 60 No. 6 (1952), Seite 463-74 und Nicholas GeorgescuRoegen, „Choice, Expectations and Measurability”, Quarterly Journal of Economics Vol. 68 No. 4 (1954), Seite 503 – 34, Daniel Ellsberg „Classic and Current Notions of „Measurable Utility,” Economic Journal, Vol. 64 No. 255 (1954), Seite 528-56. 340 Jacob Marschak,1950, op. cit..
109
4.3 Kritik und Alternativen
Abbildung 3:
Das Marschak-Dreieck
p3=1
U3 U2
U1
p2=1
p1=1
Das Dreieck repräsentiert den Wahrscheinlichkeitsraum. Die Seiten des Dreiecks sind auf 1 normiert und spiegeln die Konvention additiver Wahrscheinlichkeiten wider. Jede Lotterie p= (p1, p2, p3) ist durch einen Punkt in dem Dreieck gekennzeichnet, wobei die drei Eckpunkte sichere Ereignisse mit einer Wahrscheinlichkeit pi=1 darstellen. Der Punkt p2=1 kennzeichnet den Ursprungspunkt. Eine horizontale Bewegung innerhalb des Dreiecks hält p3 konstant. Eine Bewegung nach rechts hin zum Eckpunkt p1 erhöht die Wahrscheinlichkeit p1 auf Kosten von p2. Analog hält eine vertikale Bewegung p1, und eine Bewegung parallel zur Hypotenuse p2 konstant. Die Besserrichtung ist durch den Pfeil in Richtung Nordwesten repräsentiert. Die geraden Linien U1, U2, U3 sind von Neumann-MorgensternIndifferenzkurven. Zur Erinnerung: Innerhalb der Erwartungsnutzentheorie sind die Nutzen linear in den Wahrscheinlichkeiten. Wie oben gezeigt ist die Nutzenfunktion, ersetzt man p2 durch die Gegenwahrscheinlichkeiten (1-p1-p3), definiert über:
U
p1u ( x1 ) (1 p1 p3 )u ( x2 ) p3u ( x3 ) .
Eine Veränderung des Nutzenniveaus erhält man, indem man nach den Veränderungen der Wahrscheinlichkeiten total differenziert.
dU
[u ( x2 ) u ( x1 )]dp1 [u ( x3 ) u ( x2 )]dp3
0
110
4 Risiko als Ungewissheit
Die Veränderung des Wahrscheinlichkeitsverhältnisses ist somit gegeben durch:
dp3 / dp1 U
[u ( x2 ) u ( x1 )] /[u ( x3 ) u ( x2 )] ! 0
Das positive Vorzeichen resultiert aus der Ordnung x3>x2>x1, die der Ordnung u(x3) > u(x2) > u (x1) analog ist. Daraus folgt: Die Besserrichtung gibt nach Nordwesten das höhere Nutzenniveau an. Die Steigung der Indifferenzkurve ist strikt positiv. Dabei ist sie, wie in der Gleichung deutlich wird, von der Höhe der Wahrscheinlichkeiten unabhängig. Jede Wahrscheinlichkeit wird mit anderen Worten gleich bewertet. Somit sind die Indifferenzkurven in dem Machina-Dreieck gerade, parallele Linien. Zu sehen ist dies anhand eines einfachen Beispiels. Zwei Punkte auf einer Indifferenzkurve, A und B, das heißt zwei Lotterien mit gleichen erwarteten Nutzen aber unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten, geben das gleiche Nutzenniveau an, A ~ B. Wäre die Indifferenzkurve keine Gerade, würde folgendes gelten: Da A’ und B’ auf der gleichen Indifferenzkurve U3 zu finden sind, ist der Spieler zwischen diesen beiden Lotterien indifferent: A’ ~ B’. Eine konvexe Kombination dieser zwei Punkte ist beschrieben als: C = p1 A’ + (1-p1) B’. Wird diese konvexe Kombination mit dem Punkt B’ in Beziehung gesetzt, kann dies formuliert werden: p1 A’ + (1-p1) B’ ~ p1 B’ + (1 – p) BI = B’. Nach dem Unabhängigkeitsaxiom gilt nun, dass eine Entscheidung von (1– p) BI unabhängig sein sollte. Damit wird deutlich: diese Gleichung ist nur erfüllt, sollte sich die konvexe Kombination von A’ und B’ auf der gleichen Indifferenzkurve U3 befinden. Das Unabhängigkeitsaxiom verlangt also, dass jede konvexe Kombination zweier Punkte, die auf derselben Indifferenzkurve liegen, ebenfalls auf dieser Indifferenzkurve liegen muss. Dies ist genau die Bedingung linearer Indifferenzkurven. Nur hier kann sichergestellt werden, dass jede konvexe Kombination zweier Punkte ebenfalls Element auf der Indifferenzkurve liegt. Zu beachten ist, dass eine Linie eine konvexe Menge ist. So würde der Punkt C bei nicht-linearen Indifferenzkurven auf einem höheren Nutzenniveau als A’ und B’ liegen und somit das Unabhängigkeitsaxiom verletzen. Dies wird in der folgenden Grafik dargestellt:
111
4.3 Kritik und Alternativen
Abbildung 4:
Das Unabhängigkeitsaxiom
p3=1
U3 A’Ɣ
Ɣ
U2
C U1
Ɣ
B’
p2=1
p1=1
Bei zwei nicht parallelen Indifferenzkurven, die jedoch einen Punkt gemeinsam hätten, wäre es wiederum möglich, durch eine lineare Kombination Unterschiede in den Nutzenniveaus zu konstruieren, die nach dem Unabhängigkeitsaxiom ausgeschlossen sein müssen. Genau diese Annahme ist unvereinbar mit zahlreichen empirischen Anomalien und Paradoxien. 4.3.1 Das Allais-Paradox und die Ausfächerungshypothese Dieses Problem wurde zuerst von Maurice Allais beschrieben und ist seitdem mehrfach wiederholt dargestellt worden.341 Beim Allais-Paradox wird folgende Situation betrachtet:
341 Siehe zum Beispiel die Darstellungen in Mary Douglas, Risk Acceptability According to the Social Sciences (New York: Russell Sage Foundation, 1985); oder auch in Paul Anand, Foundations of Rational Choice under Risk (Oxford: Oxford University Press, 1993).
112
4 Risiko als Ungewissheit
Abbildung 5:
Zustände der Welt s1; : p = 0,01
s2 : p = 0,89
s3 : p = 0,10
Situation 1 Lotterie A (p2) Lotterie B (p1)
0 1
1 1
5 1
Situation 2 Lotterie A’ (q2) Lotterie B’ (q1)
1 1
0 0
5 1
Ein Spieler soll sich zwischen zwei Lotteriepaaren entscheiden. In Situation 1 hat ein Spieler die Wahl zwischen zwei Lotterien mit folgender Auszahlungsfunktion: Lotterie A: 5 Einheiten mit 10% Wahrscheinlichkeit, 1 Einheit mit 89% Wahrscheinlichkeit und 0 Einheiten mit 1% Wahrscheinlichkeit. Oder Lotterie B eine Einheit mit 100% Wahrscheinlichkeit. In Situation 2 wird die Auszahlungsfunktion etwas verändert: Die Lotterie A’ zahlt 5 Einheiten mit 10% Wahrscheinlichkeit. Die Lotterie B’ zahlt 1 Einheit mit 11% Wahrscheinlichkeit. Wie empirische Studien und gesunder Menschenverstand zeigen, wählen befragte Akteure mehrheitlich die Kombination B ; A und A’ ; B’. Doch diese Kombination steht in einem Widerspruch mit dem Unabhängigkeitsaxiom. In Einklang mit dem Unabhängigkeitsaxiom wäre nur die Kombination B ; A und B’ ; A’ erlaubt. Um dies zu sehen, können die Entscheidungen wie folgt beschrieben werden. Die Wahl der Lotterie B gegenüber Lotterie A bedeutet:
0,89 D 1 0,11 D 1 ; 0,89 D 1 0,1 D 5 0,01 D 0 Durch Umformulierung dieser Gleichung würde damit unter dem Unabhängigkeitsaxiom gelten:
1;
0,1 0,01 D5 D0 0,11 0,11
Wird diese Ungleichung wiederum in die vorherige Gleichung eingesetzt, ergibt dies:
0,01 º ª 0,1 D5 D0 0,89 D 0 0,11 D 1 ; 0,89 D 0 0,11« 0,11 »¼ ¬ 0,11 ; 0,10 D 5 0,90 D 0 Dies bedeutet aber B ; A' . Die Entscheidung für A’ gegenüber B’, würde ja formal heißen:
0,10 D 5 ; 0,11 D 1 Grafisch lässt sich das Allais-Paradox anhand der Maschak-Grafik darstellen.
113
4.3 Kritik und Alternativen
Abbildung 6:
Die Ausfächerungshypothese
p3=1
U3 U2
U1 ’
ƔA
p2=1
Ɣ
B
ƔA
Ɣ
B’
p1=1
In einem ersten Schritt sollte kurz der Ort der Lotterien in der Grafik erklärt werden. Lotterie B zahlt eine Einheit mit Sicherheit aus. Das heißt die Wahrscheinlichkeitsverteilung ist gegeben als (0, 1, 0), was dem Ursprungspunkt entspricht. Lotterie B’ (0,89, 0,11, 0) befindet sich auf der horizontalen Achse. Gleichwohl befindet sich A’ (0,90, 0, 0,10) auf der Hypothenuse. Die Lotterie A (0,01; 0,89; 0,10) befindet sich im Inneren des Wahrscheinlichkeitsraumes. Da die Lotterie A und die Lotterie A’ die Wahrscheinlichkeit von p3 = 0,10 gemeinsam haben, befinden sie sich auf einer horizontalen Geraden. Wie in der Grafik nun deutlich wird, liegen sowohl B und B’ links von den entsprechenden Indifferenzkurven und bezeichnen damit einen höheren erwarteten Nutzen. Dennoch wird, verständlicherweise, A’ gegenüber B’ vorgezogen: ein Widerspruch! Eine mögliche Lösung des Allais-Paradoxes besteht darin, die Indifferenzkurven auszufächern (gestrichelte Linien). Die unter dem Unabhängigkeitsaxiom notwendige Parallelität der Indifferenzkurven wird unter Beibehaltung ihrer Linearität aufgegeben. Dies bedeutet jedoch eine Aufgabe der Neutralitätsannahme der Wahrscheinlichkeitshöhe. Da die Steigung der Indifferenzkurven die Risikopräferenz angibt, werden bei einer Ausfächerung der Präferenzen niedrigere Wahrscheinlichkeiten nun höher bewertet als größere Wahrscheinlichkeiten. Der Nutzen einer Lotterie ist dann nicht mehr gegeben durch die Gleichung der Erwartungsnutzenhypothese: U(p) = E (u;p) = x p(x) u(x). Nach einem Vorschlag von Maurice Allais ist die Varianz der einzelnen erwarteten Nutzen in das Nut-
114
4 Risiko als Ungewissheit
zenkalkül mit einzubeziehen: U (p) = f [E (u,p), var (u,p)]. Es wird also das zweite Moment der Nutzenfunktion mit in die Analyse mit einbezogen.342 An dieser Stelle haben auch Kahnemann und Tversky argumentiert, Effekte wie common consequences (gemeinsame Ergebnisse) oder common ratio (gemeinsame Verhältnisse) könnten die Einschätzung der Situation verzerren. Unter Gültigkeit dieser Effekte könne die Einführung irrelevanter Alternativen die Präferenzordnung, entgegen der ursprünglichen Erwartungsnutzentheorie, doch beeinflussen. Interessant am Allais-Paradox ist die empirische Hartnächkigkeit. Empirisch hat sich gezeigt, dass Individuen trotz der dargelegten Inkonsistenz bei ihrer ersten Entscheidung bleiben.343 Der Vorschlag von Allais hat großen Anklang gefunden und zahlreiche Erklärungen wurden für das Allais-Paradox und die Ausfächerung vorgeschlagen.344 In dieser Richtung versuchen neuere Entwicklungen in der Entscheidung unter Ungewissheitstheorie diese Ausfächerungshypothese theoretisch genauer zu begründen. Von den verschiedenen Ansätzen, die diskutiert wurden, möchte ich die nichtlineare Erwartungstheorie von Mark J. Machina herausheben.345 Machina ist ein vehementer Kritiker des Unabhängigkeitsaxioms. Dementsprechend baute er seine Version der Erwartungsnutzentheorie ohne dieses auf und führte damit Gedanken der gewichteten Erwartungsnutzentheorie weiter.346 Machina erweitert die Ausfächerung der Nutzenfunktionen um die Aufhebung der Linearitätsannahme. Die weiteren Axiome bleiben erhalten und werden in drei Eigenschaften der Indifferenzkurven übersetzt: die Indifferenzkurven behalten ihre (schwach) positive Steigung, die Besserrichtung ist Nordwesten, und die Indifferenzkurven fächern aus.
342 Siehe die Diskussion in dem Sammelband von Ole Hagen und Maurice Allais (Hrsg.), Expected Utility Hypotheses and the Allais Paradox: Contemporary Discussions of Decisions under Uncertainty With Allais’ Rejoinder (Dordrecht: Kluwer, 1979). 343 weitere Anwendungen empirischer Ergebnisse und das Unabhängigkeitsaxiom werden diskutiert bei Paul Anand. 1993, op. cit., Seite 24 ff. 344 Siehe supra FN 221. 345 Mark Machina, „‘Expected Utility’ Analysis without the Independence Axiom”, Econometrica, Vol. 50 No. 2 (1982), Seite 277-324; Mark Machina „Choice under Uncertainty: Problems solved and unsolved”, Journal of Economic Perspectives, Vol. 1 No. 1 (1987), Seite 121-54. 346 Die gewichtete Erwartungsnutzentheorie wurde von Chew ausgebaut. Die zentrale Überlegung ist die Einführung einer Gewichtungsfunktion, die unterschiedlichen Nutzenniveaus unterschiedlich gewichtet. Ist die Gewichtungsfunktion linear, befinden wir uns wieder in der von Neumann Morgenstern Form. Ist die Gewichtungsfunktion nicht linear, kann über diese Gewichtung die Ausfächerung erklärt werden. Siehe S. H. Chew and K. MacCrimmon, „Alpha-nu choice theory: a generalization of expected utility theory”, Faculty of Commerce and Business Administration, University of British Columbia, Working Paper 669 (1979); überarbeitet in S. H. Chew „A generalization of the quasilinear mean with application to the measurement of income inequality and decision theory resolving the Allais Paradox”, Econometrica, Vol. 51 No (1987), Seite 1065-92. Weitere Entwicklung in diese Richtung zur Rangabhängigkeit, siehe John Quiggin, Generalized Expected Utility Theory: The Rank-Dependent Expected Utility Model (Amsterdam: Kluwer-Nijhoff, 1993).
115
4.3 Kritik und Alternativen
Abbildung 7:
nichtlineare Erwartungsnutzen
p3=1
●p
p2=1
p1=1
Die positive Steigung der Indifferenzkurven wird nun über das Konzept der ‚stochastischen Dominanz’ gewährleistet. Bei nicht-linearen und nichtkonvexen Indifferenzkurven ist es nicht mehr möglich von globalen Extrempunkten auszugehen. Kein Punkt wird für alle Wahrscheinlichkeiten die beste Lösung darstellen können. In der Grafik wird dies anhand zweier Punkte deutlich. Obwohl ein Punkt p für ein gegebenes Nutzenniveau ein lokales Maximum darstellen kann, kann eine Linearkombination aus mehreren Punkten ein höheres Nutzenniveau erreichen. Machina selbst spricht von ‚lokalen’ Erwartungsnutzen. Auch die Nutzenfunktion selbst ist nun nicht mehr eine gleichbleibende Funktion für alle Wahrscheinlichkeitsverteilungen, sondern für ein p spezifisch formuliert. Das Verhalten der Nutzenfunktion in der Nachbarschaft von p kann durch eine lineare Approximation, i.e. mit einer von Neumann-Morgenstern-Nutzenfunktion beschrieben werden. Je weiter man sich jedoch von dem Referenzpunkt entfernt, desto ungenauer wird die Approximation. Machina behauptet demnach, dass das Allais-Paradox bzw. die Effekte der gemeinsamen Konsequenz oder des gemeinsamen Verhältnisses durch diese einfachen Axiome erklärt werden können. 4.3.2 Präferenzumkehr und die Theorie des Bedauerns (Regret Theory) Wie oben beschrieben, werden das Allais-Paradox und die Effekte der gemeinsamen Konsequenz oder des gemeinsames Verhältnisses als Verletzung des Unabhängigkeitsaxioms
116
4 Risiko als Ungewissheit
betrachtet. Sarah Lichtenstein und Paul Slovic347 erweiterten diese Kritik an der Erwartungsnutzenstheorie um eine Kritik an der allgemeinen Annahme der Transivität. Dabei betrachten sie das Phänomen der Präferenzumkehr.348 Ausgangspunkt sind wiederum zwei Lotterien: Lotterie 1: zahlt €30 mit 90% Wahrscheinlichkeit (A), Lotterie 2: zahlt €100 mit 30% Wahrscheinlichkeit (B) Ein Spieler muss sich entscheiden zwischen einer Lotterie, die einen niedrigen Betrag mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auszahlt und einer Lotterie mit einer hohen aber eher unwahrscheinlichen Auszahlung. Slovic und Lichtenstein beobachten nun, dass die Probanden generell Lotterie 1 vorziehen, obwohl Lotterie 2 den höheren erwarteten Gewinn ausweist. Aber gleichzeitig würden die gleichen Probanden wiederum die Lotterie 2 zu einem höheren Preis verkaufen als Lotterie 1. Hier liegt offensichtlich eine Inkonsistenz vor. Ein ähnliches Ergebnis leitet Peter Fishburn349 über Sicherheitsäquivalente ab. Das Sicherheitsäquivalent einer Lotterie ist die Zahlung, die ein Proband erhalten muss, um gerade indifferent zwischen der sicheren Auszahlung und dem Spielen der Lotterie zu sein. Dabei stellt Fishburn fest, dass dieses Sicherheitsäquivalent bei Lotterie 1 €25 und bei Lotterie 2 €27 beträgt. Das heißt Befragte sind bei einer Zahlung von z.B. €26 bereit Lotterie 1 zu spielen, jedoch nicht Lotterie 2. Dies drückt sich in Nutzeneinheiten wie folgt aus: der Nutzen aus der Lotterie 1 ist gleich einer Zahlung von z.B. 20, das heißt U(Lotterie1) = U (20); gleichzeitig war jedoch die Zahlung der Lotterie 2 höher: U(Lotterie2) = U(25). Fragt man die Spieler direkt, ziehen sie jedoch Lotterie 1 vor. Wird die Lotterie in Einheiten möglicher Verluste präsentiert, dreht sich diese Präferenzordnung jedoch um. Befragte sind nun bereit, ihr Recht ‚spiele Lotterie 1’ für weniger Geld zu verkaufen, als das Recht ‚spiele Lotterie 2’. Das heißt obwohl Probanden Lotterie 1 eher spielen möchten, sind sie weniger gewillt das Recht auf Lotterie 2 zu veräußern.350 Dieses Phänomen kann jedoch ggf. durch einen Wohlstandseffekt erklärt werden: Bei der Wahl der Lotterie besitzt der Spieler die Lotterie nicht und kann nur etwas gewinnen. Bei der Ableitung der Präferenzordnung über Veräußerungsrechte ist der Spieler der Eigentümer der Lotterie – und kann unter Umständen eine Auszahlung verlieren. Insbesondere dann, wenn eine andere Person, welcher er das Recht verkauft hat, tatsächlich die hohe Auszahlung erhält. 347 Sarah Lichtenstein und Paul Slovic, „Reversal of Preferences Between Bids and Choices in Gambling Decisions”, Journal of Experimental Psychology, Vol. 89 No. 1 (1971), Seite 46-55; Sarah Lichtenstein und Paul Slovic „Response-Induced Reversals of Preference in Gambling: An extended replication in Las Vegas”, Journal of Experimental Psychology, Vol. 101 No.1 (1973), Seite 16-20. 348 Für eine tiefere Diskussion siehe David M. Grether und Charles R. Plott, „Economic Theory of Choice and the Preference Reversal Phenomenon”, American Economic Review, Vol. 69 No. 4 (1979), Seite 623-38. Charles A. Holt, „Preference Reversals and the Independence Axiom”, American Economic Review, Vol. 76 No 3 (1986), Seite 508-15. Edi Karni und Zvi. Safra, „‘Preference Reversal’ and the Observability of Preferences by Experimental Methods”, Econometrica, Vol. 55 No. 3 (1987), Seite 675-85. Auch: Amos Tversky, Paul Slovic und Daniel Kahnemann, „The Causes of Preference Reversal,“ American Economic Review, Vol. 80 No. 1 (1990), Seite 204- 217. 349 Peter C. Fishburn, Non-Linear Preference and Utility Theory (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1988). 350 Einen guten Überblick über die Diskussion verschafft der kurze Artikel von Peter Slovic und Sarah Lichtenstein, „Preference Reversals: a broader perspective“, American Economic Review, Vol 73 No.4 (1983), Seite 596-605.
117
4.3 Kritik und Alternativen
Diese letzte Anmerkung leitet zu einer Interpretation der Präferenzumkehr und der Theorie des Bedauerns über. Die Theorie des Bedauerns definiert das Bedauern als einen Vergleich zwischen ‚was ist’ mit ‚was hätte sein können’. Sie führt einen ex ante/ex post Vergleich durch. Spieler fühlen Bedauern, wenn sie mit weniger als erwartet aus dem Spiel herausgehen.351 Ein Spieler wählt Strategie 1 – und erhält x1. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass er x2 erhalten hätte können. Man kann sich entscheiden, doch nicht zu wetten, und das Ticket gewinnt. Da nicht gewettet wurde, kann auch keine ‚Gewinnerwartung’ verletzt werden. Ein Gefühl des Bedauerns kann daher nur bei einem Vergleich mit einer anderen möglichen Entscheidung in der gleichen Entscheidungssituation eintreten. Die Theorie des Bedauerns ist daher nicht eine Theorie der Wahl einer Lotterie, sondern eine Theorie des Vergleichs mehrerer Lotterien. In eine generelle Form gebracht, wird M(xi, xj) als das Nutzenmaß von zusammengesetzten Entscheidungssituationen/Erfahrungen definiert. Die Annahme, ein Individuum versuche den mathematischen Erwartungswert zu maximieren, hier definiert über M (.), bleibt erhalten. Betrachtet man zwei Lotterien p und q, dann ist die Wahrscheinlichkeit xi zu erhalten, und xj zu verpassen pi qj. Die modifizierte Erwartungsnutzenformel (über die Wahl von p im Gegensatz zu q) kann damit beschrieben werden als:
¦ ¦ p q M (x , x ) i
i
j
i
j
j
Die Theorie des Bedauerns erweitert nun die Kritik von Allais. Während Allais der Ansicht war, die Entscheidungstheorie müsse um das zweite Moment, die Varianz, erweitert werden, ist es der Vorschlag der Theorie des Bedauerns, das dritte Moment mit aufzunehmen.352 Eine generelle Form einer Funktion mit dritten Moment lautet: _
V (S 1 ,...,S n )
u f (M w , M 3 )
V (S 1 ,...,S n )
u DM 2 EM 3
V (S 1 ,...,S n )
_
¦S [u i
i
D (ui u ) 2 E (ui u )3 ]
i
Die entscheidende Charakteristik dieser Funktion ist die Bedeutung des Wendepunktes. Hier verändert sich, wie allgemein bekannt, das Kurvenverhalten – von konkav zu konvex (und umgekehrt). Mit der Einbeziehung des dritten Momentes ist es leicht, Lotterien zu konstruieren, die in kleinen Bereichen unterschiedliche Risikoeinstellungen widerspiegeln. Loom und Sudgen können den ‚common consequence’ und ‚common ratio’ Effekt damit theoretisch untermauern.353 Der Preis ist jedoch ein Plausibilitätsverlust: denn ein Verhältnis zweiter zu dritter oder dritter zu vierter Ableitung, ist schwerlich weder mit theoretischer Intuition noch mit praktischer Erfahrung zu verbinden. 351 Daniel E. Bell, „Disappointment in Decision Making under Uncertainty”, Operations Research, Vol. 33 No.1 (1985), Seite 1-27. 352 Siehe Daniel E. Bell, „Regret in Decision-Making under Uncertainty”, Operations Research, Vol. 30 No.5 (1982), Seite 961-81. Siehe auch Peter C. Fishburn, The Foundations of Expected Utility (Dordrecht: D. Reidel, 1982). 353 Graham Loomes und Robert Sugden, „Regret Theory: An Alternative Theory of Rational Choice under Uncertainty”, The Economic Journal Vol. 92 No. 368 (1982), Seite 805 – 824. Siehe auch dies. „Testing for Regret and Dissapointment in Choice under Uncertainty”, The Economic Journal Vol. 97 No. 388 Supplement: Conference Papers (1987), Seite 118 – 129.
118
4 Risiko als Ungewissheit
Ohne hier zu sehr auf Details einzugehen und das Kurvenverhalten bei dritten Ableitungen zu diskutieren, möchte ich eine weitere interessante Eigenschaft der Wahrscheinlichkeitskonzeption der Theorie des Bedauerns aufzeigen. Hebt man die Annahme der stochastischen Unabhängigkeit möglicher Zustände der Welt auf, ist es möglich einen Fall zu konstruieren, in dem die gleiche Wahrscheinlichkeitsverteilung über mögliche Lotterien (z.B. drei Zustände der Welt treten jeweils mit 1/3 ein) zu einer intransitiven Präferenzordnung führen kann. Ausgangspunkt ist eine Situation, in der ein Spieler zwischen drei Lotterien mit drei möglichen Zuständen der Welt wählen kann. Da Erwartungswerte und Wahrscheinlichkeitsverteilungen gleich sind, ist der Spieler nach der Erwartungsnutzentheorie indifferent zwischen den drei Alternativen. Stellen wir uns vor, wir können eine Funktion bestimmen, welche die Differenz zwischen dem, was ist und dem, was hätte sein können, betrachtet. Diese Funktion ist, gegeben allgemeine Annahmen, konkav. Bei relativer Betrachtung im Rahmen der Theorie des Bedauerns ist es leicht, dass die Konkavität dieser Vergleichsfunktion nicht zu einer Indifferenz sondern zu einem Zirkel intransitiver Präferenz führt.354 Loomes und Sudgen entwickelten eine Nutzenfunktion, in Form einer Differenzfunktion, welche die einzelnen Auszahlungen miteinander vergleicht: E (r( p,q)) =
¦
i
piu ( xi ) ¦ j q j u ( x j ) , mit r(x,y) = u(x) – u(y) kann somit angeben,
ob ein Spieler seine Wahl ‚bedauert’ – oder danach glücklich ist. Je theoretisch fundierter und auch empirisch plausibler die Entscheidungstheorie wird, umso mehr entfernt sie sich von ihrer ursprünglichen Formulierung. 4.3.3 Zusammenfassung der objektiven Erwartungsnutzentheorie Den Ausgangspunkt dieses Kapitels stellte das St. Petersburg-Paradox dar. Daniel Bernoulli baute seine Lösung des Paradoxons auf dem mathematischen Erwartungswert auf, mit dem Ratschlag, sich nicht von dem Erwartungswert der Auszahlung verleiten zu lassen. 200 Jahre später leiteten von Neumann und Morgenstern diesen Gedanken axiomatisch ab. Die Form des Erwartungsnutzens wurde dabei nicht von vornherein angenommen, sondern von ihren Axiomen abgeleitet. Ihr Bewertungsmaß für die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Alternativen ist dabei unzertrennlich mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit verbunden. Der Erwartungsnutzen ist definiert als eine Präferenzrelation über eine konvexe Menge von Wahrscheinlichkeitsmaßen. Durch die Kontinuitätsannahme kann über Sicherheitsäquivalente immer eine Wahrscheinlichkeitsverteilung gefunden werden, bei der das Individuum gerade indifferent zwischen einer sicheren Zahlung und der Lotterie ist. Die Ermittlung der objektiven Wahrscheinlichkeiten basiert auf einem einfachen Trick. Dem schlechtesten und besten Fall werden jeweils die Zahl u(cw) = 0 und u(cb) = 1 zugeordnet. Das gleiche Verfahren wird über die möglichen Konsequenzen angewendet. Der daraus resultierende Index ist die von Neumann-Morgenstern-Nutzenfunktion. In dem zweiten Schritt wird der Nutzen der Konsequenz mit den Eintrittswahrscheinlichkeiten gewichtet, um den erwarteten Nutzen für eine Aktion zu erhalten. Das Individuum verhält 354 Jacque H. Drèze, „Preface and Introduction“, in Jacque H. Drèze, Allocation under Uncertainty: Equilibrium and Optimality, op. cit, Seite xv.
4.4 Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie
119
sich rational, wenn es die Aktion mit dem höchsten erwarteten Nutzen wählt. Durch die vollständige Vergleichbarkeit kann die Menge möglicher Konsequenzen geordnet und mit dieser Standardlotterie verglichen werden (z.B. in aufsteigende Richtung). Diese Wahrscheinlichkeitsverteilung kann als Nutzenfunktion interpretiert werden. Dabei gehen alle psychologischen Faktoren wie Risikoaversion und Spielernatur in die Nutzenfunktion eines Individuums mit ein. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff der objektiven Erwartungsnutzentheorie basiert auf der relativen Häufigkeitstheorie der Wahrscheinlichkeit. „Probability has often been visualized as a subjective concept more or less in the nature of an estimation. Since we propose to use it in constructing an individual, numerical estimation of utility, the above view of probability would not serve our purpose. The simplest procedure is, therefore, to insist upon the alternative, perfectly well founded interpretation of probability as frequency in the long run.”355
Dabei werden die ontologischen und epistemologischen Annahmen mit übernommen. Von Neumann und Morgenstern wollen daher die Theorie nur als Durchschnittsanalyse und deskriptive Theorie verstanden wissen. Das heißt die Aussage, eine Wahrscheinlichkeit betrage von z.B. 1/6, ist eine Aussage über die Menge der Würfe. Ebenso verhält es sich mit den Wahrscheinlichkeiten über mögliche Zustände der Welt. Der Rückzug auf relative Häufigkeiten ist jedoch hier nicht ganz unproblematisch. In dem Moment, in dem die relativen Häufigkeiten und Konsequenzen bekannt sind, kann über eine Versicherung, deren Konditionen auf den relativen Häufigkeiten aufbauen, Einfluss auf individuelle Aktionen, auf den konkret nächsten Fall, ausgeübt werden. Hier wird auch oft im Vokabular des kollektiven Singulars gesprochen, das so zwei Interpretationen zulässt: auf der einen Seite kann der Entscheider als unbestimmtes, abstraktes Subjekt verstanden werden. Hier wird ‚normales’, standardisiertes Verhalten über eine große Beobachtungsmenge betrachtet, so dass individuelle Unterschiede nivelliert werden. Dies ist die Interpretation nach von Neumann und Morgenstern. Andererseits kann die Erwartungsnutzentheorie normativ als konkrete Handlungsanweisung verstanden werden, die jeder auch befolgen sollte. Genau aus diesem Grund ist die von Neumann-Morgenstern-Nutzenfunktion so reizvoll und Gegenstand so vieler Interpretationen. Sie ist in der Lage, unterschiedliche Wahrscheinlichkeitstheorien über den Versicherungseffekt mit einander zu verbinden. Die Versicherung gegen das Spiel wird zur Basismetapher der Entscheidung unter Ungewissheit. Darin liegen gleichermaßen ihr Erfolg und ihre Grenzen. 4.4 Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie Der vorherige Teil ging von ‚objektiven’ Wahrscheinlichkeiten aus. Unter der Annahme objektiv existierender Wahrscheinlichkeiten sind diese Wahrscheinlichkeiten als Eigenschaft der Natur klar identifizierbar. Dies entspricht der klassischen rationalistischen Weltauffassung, die Natur sei mathematisch aufgebaut und könne mit Hilfe der Mathematik eindeutig beschrieben werden. Gegen dieses Verständnis grenzt sich die subjektive Wahrscheinlichkeit ab. Da im letzten Kapitel bereits Frank Ramsey vertiefend besprochen wur355 John von Neumann und Oskar Morgenstern, Theory of Games, op.cit, Seite 19
120
4 Risiko als Ungewissheit
de, möchte ich an dieser Stelle die Axiome von Leonard Savage darstellen. Savage ist insofern interessant, als er neben einer Axiomatik der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie eine Übersetzung der Bayesianischen Statistik für die Entscheidungstheorie leisten möchte. Im Zentrum der Analyse steht eine fiktive, einer unsicheren Entscheidung ausgesetzte Person.356 Diese fiktive Person stellt das Prisma dar, durch das Savage seine Theorie aufbaut und seine Termini definiert. Das allgemeine Modell wird im zweiten Kapitel von The Foundations of Statistics aufgebaut, dessen Rahmen durch vier Begriffe gebildet wird: ‚Zustand der Welt’ (S. 8); ‚Ereignis’ (S. 10) , ‚Konsequenz’ (S. 13) und ‚Handlung’ (S. 13). Diese Begriffe möchte ich nun kurz darstellen. Die erste Begriffsbestimmung dient der Definition von ‚Zustand der Welt’. ‚Die Welt’ wird hier definiert als ein Objekt, als das Ding, auf das die Person ihre Überlegungen richtet. Ein ‚Zustand’ ist eine Beschreibung dieser Welt, die keinen relevanten Aspekt unberücksichtigt lässt. Der ‚wahre Zustand’ der Welt ist der Zustand, der sich tatsächlich manifestiert. Tabelle 2: Definition Zustand der Welt Term Welt Zustand Wahrer Zustand
Definition Objekt, das für die Person gerade von Interesse ist eine Beschreibung der Welt, die keinen relevanten Aspekt unberücksichtigt lässt der Zustand der Welt, der tatsächlich eintritt; die wahre Beschreibung der Welt.
Der Begriff ‘Zustand der Welt’ gibt den Rahmen für den engeren Begriff des ‚Ereignisses’ vor. Ein Ereignis ist eine Menge von Zuständen.357 Das Ereignis beschreibt einen Ausschnitt der Welt, der mögliche Zustände der Welt als Elemente hat – also festlegt, ob ein Ei aus einer Packung schlecht ist, ob ein Würfel die Zahl 3 zum Vorschein bringt, etc. In Einheiten der Mengentheorie definiert, kann das Ereignis alle Zustände oder keinen Zustand der Welt als Element aufweisen. Das universelle Ereignis, symbolisiert mit S, hat alle Zustände der Welt als Element. Das leere Element, symbolisiert mit einer Null {0}, dagegen keinen. Die Formulierung des Ereignisses als Menge erlaubt Savage, seine Theorie auf der Boolschen Algebra aufzubauen, und so Relationen, Komplemente, Schnitt- und Vereinigungsmengen darzustellen. Tabelle 3: Definition Ereignis Term Menge A,B,C S, s’, s’’ S 0
Definition Ereignis generisches Symbol für Ereignis generisches Symbol für Zustand der Welt universelles Ereignis leeres Ereignis
356 Leonard J. Savage, The Foundations of Statistics, 2. Edition (New York: Dover, 1972), Seite. 1. 357 Ibid. „ An event is a set of states.”; Seite 10 Kapitel 2 , Abschnitt 4
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Den Ereignissen werden Konsequenzen zugeordnet, die aufgrund einer Entscheidung und der darauf folgenden Handlung herbeigeführt werden. Eine Entscheidung setzt die Unterschiedlichkeit der möglichen Optionen voraus. Eine Entscheidung ist also eine Wahl zwischen verschiedenen Handlungen. Vor und während der Entscheidung müssen dabei die möglichen Zustände der Welt im Auge behalten werden. Jeder mögliche Zustand der Welt führt hier zu einer Konsequenz für den Entscheider. Eine Konsequenz ist offen definiert und kann prinzipiell alles sein, was einer Person passieren kann. Sie wird als Funktion f: S Æ F dargestellt. Das heißt jede Konsequenz ordnet einer Handlung einen Zustand der Welt zu. Tabelle 4: Handlung und Konsequenz Termini f, g, h f (s) , f’, f’’ F
Definition Konsequenzen: alles was einer Person passieren kann Handlung: Funktion, die jedem Zustand der Welt eine Konsequenz zuordnet
Nachdem der Rahmen des Modells durch diese Begriffe festgelegt ist, wird das Modell durch die Einführung von Präferenzen zwischen Handlungen zum Laufen gebracht. Savages Postulat 1 etabliert eine solche vollständige Ordnung von Lotterien oder Handlungen: P 1: Die Beziehung ist eine einfache Ordnung zwischen Handlungen Die Relation f g drückt sich in zwei Variationen aus: a) g ist mindestens so gut wie f; oder g wird gegenüber f präferiert. Ist diese Beziehung etabliert, leiten sich die Korrelate ‚größer’, ‚gleich’ und ‚zwischen’ ab.358 Dieses Postulat wird über die Definition von Rationalität als interne Konsistenz um zwei Dimensionen erweitert: zum einen wird eine Handlung nicht gleichzeitig präferiert und nicht-präferiert (Widerspruchsatz); zum anderen wird über die Transivität der Präferenzen eine Ordnung der Handlung etabliert. a) entweder f g oder g f; b) wenn f g und g h Æ f h.. Diese Ordnung leitet sich logisch aus Postulat 1 ab und erlaubt die Formulierung von Theorem 1:359 Theorem 1: If F is a finite set of acts, there exists f and h in F such that for all g in F fgh Theorem 1 erlaubt die Existenzannahme dieser Ordnung und zeigt gleichzeitig die Wichtigkeit der Annahmen von Transitivität, Einfachheit und Eindeutigkeit für die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie. Diese Ähnlichkeit zur objektiven Wahrscheinlichkeitstheorie wird im Postulat 2 verstärkt, das eine Version des Unabhängigkeitsaxioms etabliert. Savage 358 ibid., Seite 19. 359 Ibid., Seite 18.
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behandelt dies unter dem Titel ‚Sure Thing Principle’ und geht, analog, zu dem oben diskutierten Unabhängigkeitsaxiom, davon aus, dass „if the Person would not prefer f to g, either knowing that the event B obtained or knowing that the event aB obtained, then he does not prefer f to g.”360 Diese Grundidee wird von Savage wie folgt formalisiert: Nehmen wir an, f und g unterscheiden sich nur dann, wenn Fall B eintritt. Für alle anderen Fälle ~B sind beide Funktionen gleich, das heißt f (s) = g (s) für alle s ~B. Das ‚Sure Thing Principle’ sagt ja nun: wenn f gegenüber g unter ~B nicht präferiert wird, dann wird f gegenüber g auch dann nicht präferiert, sollte B bekannt sein. Postulat 2 stellt also sicher, dass zwei Handlungen, f und g in ~B, in der Art und Weise zu f’ und g’ modifiziert werden können, dass diese übereinstimmen, ohne dabei die Präferenzordnung zwischen diesen zwei Handlungen zu verändern. Die Addition einer Konstanten (zu einer Zeile oder Spalte) ändert nicht die Präferenzordnung zwischen den Handlungen. P 2: Sollten f, g, f’ und g’ folgende Eigenschaft haben: 1. in ¬ B, f stimmt mit g und f’ stimmt mit g’ überein, 2. in B, f stimmt mit f’, und g stimmt mit g’ überein. 3. sei f g dann folgt daraus: f’ g’ Das heißt: sollten zwei Handlungen, f und g in ~B übereinstimmen mit f g, und wenn f und g in ~B so modifiziert werden, dass f’ und g’ ebenfalls in ~B übereinstimmen, dann gilt ebenfalls: f’ g’. Die einfache Ordnung [] aus Postulat 1 kann somit um den Ausdruck ‚gegeben B’ erweitert werden. Mit dieser Erweiterung wird, um es in einem Paradox zu formulieren, eine ‚zeitlose Formulierung der Zeit’ möglich. Eine Person kann sich zwischen Handlungen (gegeben (~) B) entscheiden, und zwar unabhängig von Zeit und Raum. Über diese Formulierung ist es Savage nach einigen Erweiterungen, auf die ich hier nicht eingehen möchte, möglich, Präferenzen über Konsequenzen in Einheiten von Präferenzen über Handlungen zu diskutieren. Das heißt für zwei Konsequenzen g und g’, gilt g d g’ dann und nur dann wenn f { g und f’ { g’ mit f g.361 Zur Verdeutlichung ist es eventuell ratsam sich nochmals vor Augen zu führen, dass f (s) für eine Konsequenz und f für eine Handlung steht.362 Diese Beziehung zwischen Konsequenzen und Handlungen etabliert Postulat 3. P 3: Wenn f {g s B, f’ { g’ s B, und B keine leere Menge ist, dann f d f’ gegeben B dann und nur dann wenn g d g’. Mit Postulat 3 ist die Präferenzrelation etabliert: „If several different people agree in their preference among consequences, then they must also agree in their preferences among certain acts.“363 Savage beendet mit dieser technischen Sichtweise die Diskussion über die ‚Natur der Entscheidung’. In Kapitel 3 übersetzt Savage diese Erkenntnisse zuerst in quali360 361 362 363
Ibid., Seite 21. Ibid., Seite 25. Ibid., Seite 26. Ibid., Seite 26.
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4.4 Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie
tative und danach in quantitative Wahrscheinlichkeiten. Das dritte Kapitel beginnt mit einer Diskussion über die Generierung von Daten, die mögliche Beobachtung von Verhalten und den möglichen Rückschluss auf Präferenzen. Es ist die Wiederaufnahme der Gedanken Ramseys, wie sie oben besprochen wurden. Wie Ramsey plädiert Savage nicht für die direkte Befragung, sondern spricht sich für eine indirekte Methode unter Heranziehung von Wettverhalten und monetären Äquivalenten aus. Einen Preis in dem Fall einer Realisation von A zu zahlen drückt sich formal wie folgt aus:364 (1) fA(s) = f für s A fA(s) = f’ für s A mit f’ < f Einen Preis zu zahlen, ist gleichbedeutend mit einer höheren Auszahlung, sollte sich ein bestimmter Zustand der Welt realisieren. Als Funktion ausgedrückt, kann ohne Einschränkung angenommen werden, dass beide Funktionen sich nur in einem Punkt unterscheiden, genau in dem Fall eines Eintritts von A. Leicht zu sehen ist dies bei einem Losgewinn: nur bei einem Treffer (Fall A) erhält ein Spieler eine Auszahlung. Bei allen anderen Zuständen der Welt ist die Auszahlung eines Loses gleich Null. Dieser Schritt ist für die Ableitung von Postulat 4 notwendig, in dem der Zusammenhang von Präferenz und angebotenem Preis bzw. angebotenen Eintrittswahrscheinlichkeiten formalisiert wird. Dies übersetzt sich in ein System mit vier Gleichungen, zwei Handlungen und zwei Zuständen der Welt. P 4: Wenn f, f’, g, g’; A, B; fA , fB, gA, gB sind so dass: 1.
f’ < f ,
g’ < g
2a
fA(s) = f, gA (s) = g für s A;
fA(s) = f, gA (s) = g’ für s aA 2b
fB(s) = f, gB (s) = g für s B
fB(s) = f’, gB (s) = g’ für s aB A
3 fA d fB dann gA d gB Postulat 4 spezifiziert somit durch eine Trennung von Wahrscheinlichkeit und Auszahlung die Aussage ‚A ist nicht wahrscheinlicher als B’, abgekürzt mit A d B dann und nur dann, wenn f’ < f und fA, fB so dass fA(s) = f für s A;
364 Ibid., Seite 31.
fA(s) = f’ für s aA
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4 Risiko als Ungewissheit
fB (s) = f für s B;
fB (s) = f’ für s aB
und daraus folgt: fA d fB. Letztlich wird in Postulat 5 für die effektive Vergleichbarkeit zwischen Handlungen und damit die Etablierung eines qualitativen Wahrscheinlichkeitsmaßes noch das Stetigkeitsaxiom vorausgesetzt. Postulat 5 stellt sicher, dass über das Stetigkeitsaxiom immer ein Paar von Konsequenzen existiert, die miteinander in gewünschter Weise vergleichbar sind. P 5 f, f’ F so dass f < f’: es gibt für mindestens ein Paar von Konsequenzen/Auszahlungen; Mit Postulat 5 ist das System geschlossen und die Ordnung von Postulat 1 findet nun eine Interpretation als qualitative Wahrscheinlichkeitsbeziehung. Das heißt : Eine Beziehung d ist eine qualitative Wahrscheinlichkeit, wenn und nur wenn dann, wenn für alle Ereignisse B,C, D gilt: 1. d ist eine einfache Ordnung 2. B d C wenn und nur wenn B D d C D, gegeben die Mengen schneiden sich nicht; 3. 0 d B, 0 < S; Rekapitulieren wird nochmals die letzten Schritte. Postulat 1 etablierte eine einfache Ordnung (d) zwischen Handlungen. Postulat 2 erweitert diese einfache Beziehung auf Beobachtungen von Zuständen der Welt mit der Formel ‚gegeben B’. Postulat 2 stellt also sicher, dass eine Präferenzrelation zwischen Handlungen (f, g) existiert. Damit wurde, wie oben angemerkt, eine ‚zeitlose Zeit’ eingeführt. Postulat 3 stellt die monotone Verbindung zwischen der Präferenzordnung von Handlungen und der Präferenzordnung von Konsequenzen her. Damit werden Zustände der Welt (A,B,C,...) in Postulat 4 miteinander vergleichbar. Die Vergleichbarkeit der Konsequenzen wird über das Stetigkeitsaxiom in Postulat 5 sichergestellt.. Mit diesen 5 Postulaten ist es möglich, qualitative Wahrscheinlichkeitsaussagen zu treffen. Der entscheidende Schritt ist nun die Übersetzung dieser qualitativen Beziehung in ein quantitatives Wahrscheinlichkeitsmaß. Erst mit diesem Schritt ist es möglich, jedem Ereignis eine numerische Zahl zuzuordnen. Dies vollzieht Savage in zwei Schritten, die ich hier genauer nachvollziehen möchte. Zunächst wird für eine quantitative Wahrscheinlichkeitsbeziehung die Aufteilung des universalen Ereignisses in gleich wahrscheinliche Ereignisse benötigt. Diese Relation führt Savage über einen Vergleich mit einem Münzwurf ein: „But if, for example (following de Finetti), a new postulate asserting that S can be partitioned into an arbitrary large number of equivalent subsets were assumed, it is pretty clear (and de Finetti explicitly shows) that numerical probabilities could be assigned. It might fairly be objected that such a postulate would be flagrantly ad hoc. On the other hand, such a postulate could be made relatively acceptable by observing that it will obtain if, for example, in all the world there is a coin that the person is firmly convinced to be fair, that is, a coin such that any finite se-
4.4 Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie
125
quence of heads and tails is for him no more probable than other sequence of the same length; though such a coin is, to be sure, a considerable idealization.”365
Doch sollte hier beachtet werden, dass der epistemische Wahrscheinlichkeitsbegriff durch den ontologischen erklärt wird. Von einer Interpretation der Wahrscheinlichkeit als epistemologisches Problem des ersten Postulats (de dicto) wechselt Savage an dieser Stelle auf eine Erklärung der Wahrscheinlichkeit als ontologische Eigenschaft eines Dings (de re). Die Wahrscheinlichkeit als Überzeugungsgrad wird über das Symmetrieargument in einen aleatorischen Wahrscheinlichkeitsbegriff übersetzt. Der Rückgriff auf den aleatorischen Wahrscheinlichkeitsbegriff wird auch in dem zweiten Schritt deutlich. Savage führt als nächstes exogen (!) ein Wahrscheinlichkeitsmaß ein, das drei Charakteristika aufweisen kann:366 P(B) t 0 für jedes B P (S) = 1 P (B) + P(C) – P (B ŀ C) = P (B C) Begründet wird die Einführung dieses allseits bekannten Wahrscheinlichkeitsmaßes zuerst mit der Konvention dieser Rechnung: „This definition, or something very like it, is at the root of all ordinary mathematical work in probability” 367 An dieser Stelle nimmt Savage an, dass sich ein epistemischer Wahrscheinlichkeitsbegriff analog zu einem aleatorischaxiomatischen System verhält. Eine Antwort auf die Frage, ob und wie ein solcher Rückgriff möglich ist, bleibt Savage allerdings schuldig. Savage begründet seinen Rückgriff durch eine längere Diskussion über potentielle Einwände, die aber auf diese Frage selbst keine Antwort bietet. So könnte man sich etwa fragen, wie und woher die ersten Wahrscheinlichkeiten unter radikaler Unsicherheit, das heißt im Falle nicht gegebener oder unklarer Kategorien und Begriffsbedeutungen abzuleiten sind. Hier begründet Savage die Ableitung erster Wahrscheinlichkeiten über das bekannte Symmetrieargument, das wiederum über die Analogie mit Wetten und Glücksspielen in Wahrscheinlichkeitsbeziehung übersetzt wird. „Traditionally, the equality of the probabilities was supposed to be established by what was called the principle of sufficient reason, thus: Suppose that there is an argument leading to the conclusion that one of the possible combinations of ordered scores, say {1,2,3} more probable than some other say {6,3,4}. Then the information on which that hypothetical argument is based has such symmetry as to permit a completely parallel, and therefore equally valid, argument, leading to the conclusion that {6,3,4} is more probable than {1,2,3}. Therefore, it was asserted, the probabilities of all combinations must be equal.”368
Doch diese Annahme wird ohne eine Betrachtung ihrer epistemologischen Konsequenzen eingeführt. Die Annahme, alle Wahrscheinlichkeiten würden sich zu eins addieren, führt zu der Möglichkeit mit Gegenwahrscheinlichkeiten zu rechnen, denn entweder A oder A wird eintreten. Das Symmetrieargument bettet die Wahrscheinlichkeitstheorie in die zwei365 366 367 368
Ibid., Seite 31 Ibid., Seite 33. Ibid., Seite 33. Ibid., Seite 64.
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4 Risiko als Ungewissheit
wertige Logik klassischer Prägung ein und setzt sie als operationsfähig damit voraus. Durch diesen Schritt klammert Savage deutlich die Prozesse der Kategorisierung und der Semantik aus. Denn die Annahme der Additivität von Wahrscheinlichkeiten baut gerade auf der Annahme klar und deutlich (!) voneinander getrennter Fälle, Kategorien und Konzepte auf. Der scheinbar unproblematische Schritt, Fragen des intensionalen Rahmens zu ignorieren, ist fatal für die weitere Analyse politischer Prozesse. Eine Anerkennung dieses Kategorienfehlers, die simple Annahme fixer Kategorien, greift auch auf seine ersten Postulate zurück: „Of two acts f and g, it is possible that the person prefers f to g. ..This procedure for testing preference is not entirely adequate, if only because it fails to take account of, or even define, the possibility that the person may not really have any preference between f and g, regarding them as equivalent; in which case his choice of f would be regarded as significant.” (Hervorhebung im Original)369
Zum einen verwundert der stetige Rückgriff auf undefinierte Begriffe wie ‚Relevanz’ oder ‚Signifikanz’, deren Bedeutung für Savage a priori gegeben zu sein scheint. Doch sollte bekannt sein, dass die Begriffe ‚Signifikanz’ und ‚Relevanz’ nicht ohne eine zu Grunde liegende Theorie spezifiziert werden können. Diese Ebene der Theorieabhängigkeit der Beobachtung wird bei Savage jedoch nicht weiter berücksichtigt. Zum anderen legt diese Textstelle die simple Ontologie offen, die Savage seiner Wahrscheinlichkeitstheorie zu Grunde legt. Denn was ist, wenn f und g noch nicht auseinandergehalten werden können? Wenn diese Differenz erst durch weitere Untersuchungsschritte spezifiziert werden muss? Wenn also der Akteur zuerst unentschieden ist, wenn die Aussage unbestimmt ist, und er erst in der Zeit die Kategorien ist/ist-nicht zuschreiben kann? Selbst der Gebrauch des Ausdrucks ‚einfache Ordnung’ erscheint problematisch: ‚Einfach’ ist selbst kein einfacher Begriff, sondern kann vielfach und in unterschiedlicher Bedeutung benutzt werden.370 Einfachheit ist keine Eigenschaft eines Dings, sondern die Form einer Beobachtung. Zusammenfassend wird ersichtlich, dass im entscheidenden Schritt seiner Argumentation, dem Übergang von qualitativer zu quantitativer Wahrscheinlichkeit, Savage auf den aleatorischen Wahrscheinlichkeitsbegriff zurückgreift. Dies ist, wenn überhaupt, nur innerhalb eines gegebenen intensionalen Rahmens denkbar. Sonst liegt ein klassischer Kategorienfehler vor. Damit nimmt Savage aber an, was unter der epistemischen Definition von Wahrscheinlichkeit eigentlich noch zu beweisen wäre: die fixe Bedeutung der Kategorien und Zeichen, die der Möglichkeit der Unterteilung des Wahrscheinlichkeitsraumes vorausgeht. Erst dann können sich Wahrscheinlichkeiten zu eins addieren. Als Folge dessen ist Savage, wie die gesamte Theorie der subjektiven Wahrscheinlichkeit, nicht mehr in der Lage, Fragen des intensionalen Rahmens zu beantworten. Er muss annehmen, dass das, was uns als gleich erscheint (epistemologisch) auch gleich ist (ontologisch). Dies ist jedoch nicht ohne weitere Annahmen der Fall, denn der Bettler und der König können als unterschiedliche Figuren angesehen werden, auch wenn sie ein und dieselbe Person sind. Genau dieser intensionale Rahmen steht im Zentrum des bekannten Ellsberg-Paradoxons
369 Ibid., Seite 17. 370 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, op. cit., §44-46.
127
4.4 Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie
4.4.1 Das Ellsberg-Paradox In den üblichen Darstellungen wird das Ellsberg-Paradox als eine Inkonsistenz der Entscheidungsträger dargestellt.371 Doch eine genauere Lektüre des Artikels zeigt, dass Daniel Ellsberg hier auf die Grenzen des quantitativen Risikobegriffs zu sprechen kommt. Hier zeigt sich, dass Fragen des intensionalen Rahmens mit der Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit verbunden sind. Doch zuerst zum Paradox selbst: Die Standardrepräsentation des Ellsberg-Paradox sieht wie folgt aus: eine Urne beinhaltet 30 rote Bälle und 60 gelbe und schwarze Bälle.372 Das Verhältnis zwischen gelben und schwarzen Bällen ist dabei nicht bekannt. Nun soll ein Ball zufallsgeneriert gezogen werden. Die Farbe des Balles soll die mögliche Auszahlung der Lotterie bestimmen. Folgende Entscheidungssituation wird nun einem Spieler angeboten: Abbildung 8:
Das Ellsberg-Paradox Rot
Schwarz
30 Bälle
Gelb 60 Bälle
Lotterie A Lotterie B
€ 100 €0
€0 € 100
€0 €0
Lotterie A’ Lotterie B’
€ 100 €0
€0 € 100
€ 100 € 100
Zuerst werden dem Spieler die Lotterien A und B vorgeschlagen: Lotterie A ist eine Wette auf ‚Rot’ und zahlt nur in diesem Fall € 100. Lotterie B ist eine Wette auf ‚Schwarz’ und zahlt in diesem Fall die gleiche Summe aus. Als zweiter Schritt werden dem Spieler die Lotterien A’ und B’ vorgeschlagen. A’ und B’ unterscheiden sich von A und B durch die Auszahlung von € 100, sollte ein gelber Ball gezogen werden. Damit wird Lotterie A umdefiniert als eine Wette auf ‚Rot plus Gelb’; ebenso wird Lotterie B zur Wette ‚Schwarz und Gelb’. Wiederum ist nur das Verhältnis von Rot zu (Schwarz + Gelb) bekannt. Eine häufiges Resultat dieses Experiments ist folgende Relation: Lotterie A > Lotterie B; und Lotterie B’ > Lotterie A’. Eher seltener wird Lotterie B > Lotterie A; und Lotterie A’ > Lotterie B’ gewählt. Jedoch verletzen beide Antworten das ‚Sure Thing Principle’ von Savage. Nach dem Unabhängigkeitsaxiom sollte die zusätzliche Auszahlung von € 100 bei Gelb irrelevant sein und die Ordnung nicht verändern. Die Wahl Lotterie A > Lotterie B sollte so auch zur Wahl von Lotterie A’ > Lotterie B’ führen. Im ersten Fall war die Wahl von Lotterie A als ein Ausdruck zu verstehen, dass ‚Rot eher wahrscheinlich als Schwarz’ ist bzw. dass die Wahl der Lotterie B ebenso bedeutet: ‚Schwarz eher wahrscheinlich als Rot’. Da sich die Informationsstruktur in beiden Situationen nicht ändert, sollte sich dieser ‚Grad der Überzeugung’ bei der Wahl zwischen Lotterie A’ und B’ nicht ändern. Jedoch
371 Daniel Ellsberg, „Risk, Ambiguity and the Savage Axioms“, Quarterly Journal of Economics, Vol. 75, No. 4 (1961), Seite 643-69. 372 Dieses Beispiel wird diskutiert Ibid., Seite 653-656.
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4 Risiko als Ungewissheit
wurde hier nun Lotterie B’ aufgrund des bekannten Verhältnisses Rot zu (Schwarz + Gelb) gewählt. Im ersten Spiel sind die Gewinnwahrscheinlichkeiten bei Option 2 unbekannt, da nicht bekannt ist, wie viele schwarze Bälle im Spiel sind. Im zweiten Spiel wird Option 4 aus demselben Grund gewählt: Zwei Drittel aller Bälle sind entweder schwarz oder gelb. Somit gibt es eine ‚garantierte’ Gewinnchance von 66%. Option 3 wird gemieden, da hier die Wahrscheinlichkeit unbekannt ist. Nach dem Ellsberg-Paradox gibt es also eine Tendenz eine Optionen zu wählen, bei der die Wahrscheinlichkeiten bekannt sind. Diese Tendenz ist selbst nach Bekanntgabe der Inkonsistenz weiter vorhanden: „The important finding is that …a number of people… wish to persist in their choices. This includes people who previously felt a ‚first-order commitment’ to the axioms, many of them surprised and some dismayed to find that they wished, in these situations to violate the Sure-Thing Principle. Since this group included L.J. Savage, when last tested by me (I have been reluctant to try him again), it seems to deserve respectful considerations.”373
Doch diese Interpretation verdeutlicht nicht hinreichend, worin der genaue Unterschied zu dem Allais-Paradox liegt. Für eine adäquate Interpretation ist noch folgende Situation zu berücksichtigen: Angenommen, Urne 1 enthält 100 rote und schwarze Bälle. Das Verhältnis jedoch ist einem unbestimmten Spieler nicht bekannt. Urne 2 enthält genau 50 rote und 50 schwarze Bälle. Ein Beobachter befragt nun diesen Spieler nach seiner subjektiven Einschätzung. Nach Savage und Ramsey übersetzt sich die Frage ‚was ist eher wahrscheinlich’ in ‚wie viel bist Du bereit darauf zu setzen’. Angenommen dieser Spieler bekundet in beiden Fällen die gleiche Wahrscheinlichkeit von ½ und ½, lässt sich hier dennoch ein qualitativer Unterschied in der numerischen Verteilung erkennen: Daniel Ellsberg weist selbst auf eine dritte und vergessene Dimension der Entscheidung hin: „What is at issue might be called the ambiguity of this information, a quality depending on the amount, type, reliability, and ‚unanimity’ of information, and giving rise to one’s degree of ‚confidence’ in an estimate of relative likelihoods.”374
Ohne auf Keynes zurückzugreifen, spricht er doch einen zentralen Gedanken von Keynes aus: „This judgment of the ambiguity of one’s information of the over-all credibility of one’s composite estimates, of one’s confidence in them, cannot be expressed in terms of relative likelihoods or events…”375
Das Ellsberg-Paradox bezeichnet demnach die Glaubwürdigkeit unserer Interpretationen von Daten, nicht die Glaubwürdigkeit der Daten selbst.376 Es deutet also genau auf den Unterschied zwischen Frank Knight und Leonard Savage, auf die Unterscheidung von Ungewissheit und Unsicherheit hin. Dieser Unterschied wird im nächsten Kapitel von zentra-
373 374 375 376
Ibid., Seite 656. ibid., Seite 657. Ibid., Seite 659. Eine weiterführende Diskussion dieser qualitativen Dimension erfolgt im nächsten Kapitel.
4.4 Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie
129
ler Bedeutung sein. An dieser Stelle reicht es nächst aus, Daniel Ellsberg zu folgen, der Frank Knight wie folgt zitiert: „This action which follows upon an opinion depends as much upon the amount of confidence in that opinion as it does upon the favorableness of the opinion itself….Fidelity to the actual psychology of the situation requires, we must insist, recognition of these two separate exercises of judgement, the formation of an estimate and the estimation of its value.”377
Doch bevor das nächste Kapitel den Unterschied zwischen Unsicherheit und Ungewissheit analysiert, möchte ich aus der Perspektive des Ellsbergs-Paradoxons nochmals an das oben besprochene Phänomen der Präferenzumkehr anschließen und daraus eine spezielle Interpretation des Phänomens der Kontextabhängigkeit ableiten. 4.4.2 Noch einmal: Präferenzumkehr Das Phänomen der Präferenzumkehr basierte auf der folgender Situation: einem Spieler werden zwei Lotterien angeboten, wobei die Lotterie 1 einen mäßigen Betrag mit einer hohen Wahrscheinlichkeit und die Lotterie 2 einen hohen Betrag mit einer sehr niedrigen Wahrscheinlichkeit auszahlt. 378 Das hier zu beobachtende Phänomen war, dass Probanden die Lotterie 1 wählen würden, jedoch Lotterie 2 einen höheren Wert zusprechen. Dieses Verhalten erschüttert die Grundlagen der Erwartungsnutzentheorie. Vor allem erstaunt die Robustheit dieses Verhaltensmusters. So finden Grether und Plott „even when the subjects are exposed to strong incentives for making motivated, rational decisions, the phenomenon of preference reversal does not vanish.”379 Die oben bereits besprochene Interpretation wurde unter dem Stichwort der Theorie des Bedauerns erläutert. Hier wurde Präferenzumkehr als eine Verletzung des Transitivitätsaxioms interpretiert, auf die mit nichttransitive Entscheidungsmodellen reagiert wurde.380 So führen Sarah Lichtenstein und Paul Slovic381 das Phänomen auf folgende Bedingungen zurück:382 377 Siehe Knight, Risk, Uncertainty and Profit (Chicago: Chicago University Press, 1921), Seite 227, zitiert in Daniel Ellsberg , op.cit, Seite 660. 378 Paul Slovic and Sarah Lichtenstein, „Preference Reversals: A Broader Perspective“, The American Economic Review, 73, no. 4 (1983), Amos Tversky, Paul Slovic, and Daniel Kahneman, The Causes of Preference Reversal (Stanford, Calif.: Stanford Center on Conflict and Negotiation Stanford University, 1988), Amos Tversky, Paul Slovic, and Daniel Kahneman, „The Causes of Preference Reversal“, The American Economic Review, Vol. 80, No. 1 (1990), Amos Tversky and Richard H. Thaler, „Anomalies: Preference Reversals“, Journal of Economic Perspectives , Vol. 4, No. 2 (1990). Siehe auch Menhamen Yaari „Some Measures of Risk Aversion and Their Uses“, Journal of Economic Theory, Vol. 1 No. 2 (1969), Seite 315-29. 379 David M. Grether und Charles R. Plott, „Economic Theory of Choice and the Preference Reversal Phenomenon”, American Economic Review, Vol. 69 No. 3 (1979), Seite 623 – 38, zitiert in Paul Slovic und Sarah Lichtenstein, „Preference Reversals: A Broader Perspective”, op. cit., Seite 596. 380 Graham Loomes, „When Actions Speak Louder Than Prospects“, The American Economic Review, Vol. 78 No. 3 (1988), Graham Loomes and Robert Sudgen, „A Rationale for Preference Reversal“, The American Economic Review, Vol. 73 No. 3 (1983), Graham Loomes and Robert Sudgen, „Regret Theory: An Alternative Theory of Rational Choice under Uncertainty“, The Economic Journal, Vol. 92 No. 368 (1982), op.cit. 381 Paul Slovic and Sarah Lichtenstein, „The Relative Importance of Probabilities and Payoffs in Risk-Taking“, Journal of Experimental Psychology, Vol. 78 No. 11 (1968), Seite 1-18. 382 Sarah Lichtenstein and Paul Slovic, „Response-Induced Reservals of Preferences in Gambling: An Extended Replication in Las Vegas“, Journal of Experimental Psychology, Vol. 101 No. 11 (1973), Sarah Lichtenstein
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4 Risiko als Ungewissheit
Die Wahl zwischen Lotterien bestimmt sich durch die Wahrscheinlichkeitsverteilung über Gewinn/Verlust Die Preise über Kauf/Verkauf von Lotterien wird über die möglichen Preise der Lotterie bestimmt.
Wird die Wette als attraktiv eingeschätzt, korrelierten die Preise vornehmlich mit der Gewinnhöhe. Wird die Wette als unattraktiv eingeschätzt, korrelierten die Preise mit der möglichen Verlusthöhe. Dies wurde über die willkürliche Wahl eines Ankereffekts erklärt. Amos Tversky und Richard H. Thaler schlagen eine breitere Interpretation der Präferenzumkehr im Sinne einer allgemeinen ‚Kontextabhängigkeit’ vor.383 Dabei betrachten sie folgendes Beispiel: Angenommen, der Verkehrsminister möchte ein Autobahnsicherheitsprogramm initiieren. Zum gegebenen Zeitpunkt sterben jährlich 600 Menschen durch Autounfälle. Nun werden zwei Programme entworfen, um die Zahl der Unfälle zu reduzieren. Programm A reduziert voraussichtlich die Zahl der Todesopfer auf 570 pro Jahr. Die Kosten dieses Programms belaufen sich auf € 12 Mio. pro Jahr. Programm B würde die Anzahl der Todesopfer auf 500 pro Jahr senken. Jedoch fallen hier jedes Jahr Kosten in Höhe von € 55 Mio. an. Nun möchte der Minister wissen, welches Programm seine Wähler glücklicher machen würde und beauftragt zwei Marktforschungsinstitute. Die erste Firma fragt die Bürger danach, welches Programm sie lieber haben möchten. Es findet heraus, dass ca. 2/3 aller Befragten Programm B vorziehen, trotz der hohen Kosten. Die zweite Firma wählt eine andere Fragemethode. Sie bietet den Befragten die gleiche Information, hält die Kosten für Programm B jedoch zurück. Die Bürger werden nun gefragt, wie hoch die Kosten für Programm B sein dürften, um es gegenüber Programm A attraktiver zu machen. Mit einem Vergleich mit den tatsächlich anfallenden € 55 Mio. kann die zweite Firma die genaue Präferenzrelation der Bürger ableiten. Bei einer Zahl, die höher liegt als diese € 55 Mio., würden die Bürger sicherlich Programm B gegenüber Programm A vorziehen. Die Umfrage findet heraus, dass über 90 % der Befragten einen Wert kleiner als € 55 Mio. angeben. Damit schlussfolgert das Institut eine Präferenz der Bürger von Programm A gegenüber Programm B. Auch hier ist das gleiche Phänomen zu erkennen: werden die Optionen mit einem Preis bewertet, wird das Programm A vorgezogen; werden die Optionen frei zur Auswahl gestellt, wird Programm B vorgezogen. Daraus schließen Tversky und Thaler, dass unterschiedliche Methoden der Befragung zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Die Formulierung, das heißt die semantische Ebene, hat letztlich entscheidenden Einfluss auf das Wahlverhalten. Damit werden aber die Präferenzen der Bürger zum rhetorischen Spielzeug und sind nicht mehr Gegenstand ‚subjektiver Überzeugungen’. Dies wird umso deutlicher, wenn dem Spieler identische Lotterien mit unterschiedlicher Verpackung zur Auswahl gestellt werden. Hier wird besonders deutlich, dass die Verpackung, die Forand Paul Slovic, „Reversals of Preference between Bids and Choices in Gambling Decisions“, Journal of Experimental Psychology, Vol. 89 No. 1 (1971), Seite 46-55. Die Präferenzrelationen werden fast perfekt durch die Preise geordnet; wird jedoch die Präferenzordnung durch Wahl der Lotterien abgeleitet, gilt dies nicht mehr. 383 Tversky and Thaler, „Anomalies: Preference Reversals“ Journal of Economic Perspectives Vol. 4 No. 2 (1990), Seite 201-211. Siehe auch Amos Tversky, Paul Slovic, und Daniel Kahneman, „The Causes of Preference Reversal,“ op cit; sowie Amos Tversky und Daniel Kahnemann, „Rational Choice and the framing of decisions”, in: Robin M. Hogarth and Melvin W. Reder (Hrsg.), Rational Choice (Chicago: University of Chicago Press, 1986), Seite 67-94.
4.4 Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie
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mulierung wichtiger ist als die Sache selbst. Um das Beispiel von Tversky und Kahnemann wiederzugeben: In einem Experiment sollen Befragte über den Einsatz einer möglichen Rettungsaktion entscheiden. 600 Menschen sind von einer Krankheit betroffen. Zwei mögliche Rettungsaktionen oder Therapien stehen zur Auswahl. Unter Programm 1 werden 400 Menschen sterben und 200 leben. Unter Programm 2 sterben mit einer Wahrscheinlichkeit von 66% (2/3) alle 600 Menschen oder aber es werden alle gerettet. Formulierte man das Problem in Einheiten von potentiellen Rettungsmöglichkeiten (200 sicher zu 600 möglichen geretteten Menschenleben), zog eine Gruppe der Befragten das Programm 1 dem Programm 2 mit einem Verhältnis von 2.6 zu 1 vor. Formulierte man das Problem in Einheiten in potentielle Todesfälle (alle 600 oder niemand können mit 2/3 zu 1/3 sterben), wollte eine andere Gruppe im Verhältnis von 3.5:1 das Programm 2 implementiert sehen. Auch hier zeigt sich die Fiktion subjektiver Präferenzen. Es ist demnach entscheidend, ob eine Rettungsaktion positiv mit Rettungschancen und ‚geretteten Leben’ oder negativ mit möglichen Todesfällen formuliert wird.384 Logisch zu Ende gedacht, bedeutet dieser Framing Effect, dass jede beliebige Alternative, wenn nur richtig präsentiert, durchgesetzt werden kann. Damit wird der beobachtende und fragende Wissenschaftler zur aktiven Person bei der Entscheidungsfindung. Er ist nicht mehr der neutrale Beobachter, der die Entscheidungen notiert, sondern er ist immer durch die Art seiner Fragestellung am Entscheidungsfindungsprozess beteiligt. Er verändert notwendig den Beobachtungsgegenstand. Dies ist insofern beunruhigend, als das hier vertretene Rationalitätskonzept reine Abhängigkeit von Fakten und Zahlen verlangt, nicht aber eine Abhängigkeit von der Präsentation der Frage inkorporieren kann. Nach der Entscheidungsnutzenhypothese sollten verschiedene Repräsentationen der gleichen Entscheidungssituation natürlich zu der gleichen Präferenzrelation führen. Der Einfluss der Präsentation auf das Entscheidungsverhalten gibt der Rhetorik den dominanten Platz in der Entscheidungstheorie. Dieses ‚Reduktionsprinzip’ (für Entscheidungen ist es hinreichend, die Alternativen in Einheiten von Wahrscheinlichkeitsverteilungen über mögliche Ergebnisse zu formulieren) wird weitgehend als normative Annahme in der Entscheidungstheorie anerkannt. Das Reduktionsprinzip verlangt eine stochastische Neutralität zwischen Ereignissen und Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Das heißt die stochastische Abhängigkeit zwischen den Ereignissen, die die Wahrscheinlichkeiten zwischen den Alternativen generiert, sollte nicht die Präferenzen beeinflussen. 4.4.3 Zusammenfassung der subjektiven Erwartungsnutzenhypothese Fassen wir an dieser Stelle die subjektive Erwartungsnutzentheorie nochmals anhand dreier Punkte zusammen: Sowohl in der objektiven als auch in der subjektiven Version der aleatorischen Wahrscheinlichkeitstheorie nehmen Rationalitätsanforderungen als interne Konsistenz eine zentrale Stellung ein. Interne Konsistenz bezeichnet die Auswahl aus einer Menge gegebener Möglichkeiten. Auf der einen Seite ist die Annahme der internen Konsistenz eng verbunden mit dem Prinzip des unzureichenden Grundes. Auf der anderen Seite stellt es sicher, dass allein auf der Ebene des Verhaltens und der Entscheidungen argumentiert wird, ohne auf einen ‚metaphysischen’ externen Rahmen Bezug nehmen zu müssen. 384 Amos Tversky und Daniel Kahnemann, „The Framing of Decisions and the Psychology of Choice“, Science, Vol. 211 Issue 4481 (1981), Seite 453 – 58.
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4 Risiko als Ungewissheit
Im Rahmen der Entscheidungstheorie wird hier oft das ‚Dutch Book Argument’ angebracht: sollten die Bedingungen der internen Konsistenz nicht erfüllt sein, könnten Buchmacher dies ausnutzen. Folglich würde der Spieler eine Lotterie mit erwarteter negativer Auszahlung akzeptieren, was irrational wäre. Insbesondere Amartya Sen hat gegen diese Überzeugung argumentiert. Das Konsistenzargument würde auf einer Analogie aufbauen, in der Handlungen wie Aussagesätze behandelt würden.385 Jedoch sei die Aussage ‚A und nicht A’ in einer Weise widersprüchlich, wie es ‚wähle x von {x, y} und y von {x, y, z }’ nicht sein könnte. Doch die Wahl einer Lotterie selbst beinhaltet nicht die Aussage 1) x ist besser als y und 2) y ist besser als x. Diese Frage könne nur beantwortet werden, wenn wir wissen, was der Akteur versucht zu tun – wenn also der äußere Rahmen der Entscheidungssituation bekannt ist und sich dieser auch nicht ändert. Zweitens stellt sich eine besondere Problematik hinsichtlich der Frage nach den ersten Wahrscheinlichkeiten. Die Frage nach ersten Wahrscheinlichkeiten trifft das Herz der Wahrscheinlichkeitstheorie und zeigt die Einbettung der Erwartungsnutzentheorie in die Diskussion um den Wahrscheinlichkeitsbegriff. Das Prinzip des unzureichenden Grundes besagt hier, dass bei radikaler Unsicherheit jeder Alternative die gleiche Wahrscheinlichkeit zugeschrieben werden kann. Ramsey und Savage konstruieren diese ‚gleiche Wahrscheinlichkeit’ mit Bezug auf den aleatorischen Wahrscheinlichkeitsbegriff, der diesen somit durch die Hintertür wieder einführt. An dieser Stelle zeigt sich, wie bei dem EllsbergParadoxon deutlich geworden sein sollte, ein Bruch in der Argumentation. Als Folge dessen muss, wie gezeigt, der intensionale Rahmen der Entscheidungssituation als gegeben angenommen werden. Das heißt was uns als gleich erscheint muss auch wirklich gleich sein. Diese Frage muss beantwortet werden und darf nicht selbst bezweifelbar sein. Drittens verdient das Sicherheitsäquivalent besondere Aufmerksamkeit.386 Das Sicherheitsäquivalent findet sich direkt an der Schnittstelle von Subjektivität und Objektivität. Über das Sicherheitsäquivalent wird die subjektive Einschätzung in ein quasi-objektives Vokabular der monetären Äquivalente übersetzt. Dies deutet auf eine zweite Funktion des Sicherheitsäquivalents: nicht nur wird über das Sicherheitsäquivalent der Übergang von der subjektiven zur objektiven Wahrscheinlichkeit vollzogen, sondern auch die Zeit in eine Linie gebracht. Die Wahrscheinlichkeitsfunktion kann dann unabhängig von Zeit und damit ohne Referenz zur Vergangenheit oder Zukunft beschrieben werden. Als Grenze der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie wurde der Kontext als ein Konflikt zwischen Messung und Kategorisierung anhand der Präferenzumkehr identifiziert. Innerhalb des Vokabulars aleatorischer Wahrscheinlichkeiten, das bereits gegebene Kategorien und fixe Zeichen voraussetzt, ist der Kontext nicht greifbar. Die Frage nach dem Kontext verlangt, mit anderen Worten, ein anderes Vokabular, das jenseits der Annahme der ‚Handlung als Funktion’, zu suchen ist. Erst mit dem Begriff der Regel ist es möglich zu zeigen, welche qualitativen Urteile jeder quantitativen Messung von Wahrscheinlichkeit vorausgehen. Diese qualitativen Urteile sind jedoch ein inhärenter Bestandteil jeder Wahrscheinlichkeitstheorie. Hier scheint der grundlegende Konflikt zwischen Kategorisierung
385 Amartya Sen, „Internal Consistency of Choice“, Econometrica, Vol. 61 No. 3 (1993), Seite 499. 386 für einen Überblick siehe zum Beispiel Peter H. Farquhar, „Utility Assessment Methods“, Management Science, Vol. 30 No. 11 (1984), 1283-1300. Peter Wakker and Daniel Deneffe, „Eliciting Von NeumannMorgenstern Utilities When Probabilities Are Distorted or Unknown“, Management Science, Vol. 42 No. 8 (1996), 1131-1150.
4.4 Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie
133
und Messung auf, wie er auch von Amartya Sen diskutiert wurde.387 Sen beobachtet folgendes Verhalten: Individuum A zieht unter der Bedingung 1 (Zeitpunkt vor t) x gegenüber y vor: x ; y Individuum A zieht unter der Bedingung 2 (Zeitpunkt nach t) y gegenüber x vor: y ; x. Ist dieses Verhalten rational? Eigentlich kann ohne genauere Bestimmung der konkreten Situation keine hinreichende Aussage getroffen werden. Auch macht der Versuch einer Messung der Rationalität keinen Sinn, solange nicht bestimmt ist, was genau beobachtet wird. Die ökonomische Entscheidungstheorie würde sagen, Individuum A wird x gegenüber y vorziehen, wenn der Nutzen aus dem Konsum von x größer ist als der Nutzen aus dem Konsum von y; x ; y g.d.w. U(x) ; U(y). Diese Menge ist geordnet und transitiv. Das heißt Indifferenzkurven sollten sich nicht schneiden. Sollten wir ein Individuum beobachten, wie es zuerst x gegenüber y, dann aber y gegenüber x vorzieht, sollten wir daraus schließen, dass das Individuum sich nicht rational verhält. Einzige erlaubte Ausnahme: das Individuum hat seine Präferenzen geändert. Doch ein einfaches Beispiel verkompliziert diese einfache Regel. Zum Beispiel wissen wir sicher, dass das Individuum A Äpfel mag. Welchen Apfel es bekommt, ist dem Individuum prinzipiell egal. Jedoch mag es Äpfel so sehr, dass es mehr Äpfel immer weniger Äpfeln vorzieht. Diese Präferenz bleibt konstant. Es ist Sonntag und das Individuum ist zu einem Brunch eingeladen. Hier hat das Individuum die Wahl zwischen einem Apfel und zwei Äpfeln. Unter der Monotoniebedingung sollte der Verzehr zweier Äpfel (x) strikt besser sein als der Verzehr eines Apfels (y). Vor Zeitpunkt t gibt es mehrere Äpfel am Buffet und wir könnten beobachten, dass das Individuum wirklich den Verzehr von zwei Äpfel dem Verzehr eines Apfels vorzieht: x ; y. Nach Zeitpunkt t (entweder später am Sonntag – oder am nächsten Sonntag um die gleiche Zeit) gibt es insgesamt nur noch zwei Äpfel. Jeder kennt das Phänomen: bei Einladungen ist der Grenznutzen von der vorhandenen, nicht von der verzehrten Menge abhängig. Der letzte Apfel bleibt eine Zeit lang liegen. Derjenige, der den letzten Apfel nimmt, fragt zumindest höflichkeitshalber, ob jemand noch den Apfel für sich beanspruchen möchte. Natürlich wird ebenfalls erwartet, in diesem Fall nein zu sagen, um dem Vortrittsrecht des Fragenden nicht im Wege zu stehen. Zu beobachten ist nun, dass das Individuum nur einen Apfel nimmt, anstatt die letzten zwei Äpfel für sich alleine zu beanspruchen. Hat sich das Individuum nun inkonsistent oder irrational verhalten? Wie gesagt, die Präferenz für Äpfel hat sich nicht geändert und dennoch wurde ein verändertes Verhalten beobachtet. Jeder vernünftige Mensch würde hier dennoch die Frage verneinen. Natürlich hat sich das Individuum rational verhalten. Dieses Beispiel zeigt, dass unsere Konsistenzbedingungen einen konstanten Kontext benötigen, in denen diese Aussagen einen Wahrheitswert zugewiesen bekommen. Ändern sich die Rahmenbedingungen, ändern sich auch die Konsistenzansprüche. Erst der Verweis auf den Kontext gibt der Konsistenz Aussagekraft. Der Verweis selbst, mit dem deutlich wird, was der Fall ist, kann jedoch selbst nicht gemessen werden. Eine Kategorie wird gebildet, wenn eine Erwartung über ähnliches Verhalten vorliegt. Ähnlichkeitsbestimmungen und Kategorien – Aussagen darüber, was als ‚gleich’ und ‚ver387 Hier schließe ich wieder an das Beispiel von Armatya Sen an. Siehe Sen, „Internal Consistency of Choice“, op. cit.
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4 Risiko als Ungewissheit
schieden’ gilt – können nicht a priori gegeben sein.388 Diese Kategorien sind keine Eigenschaften der Dinge. All unsere Erwartungen sind hier nicht ‚abgesichert’. Der letzte Sicherheitshaken, auf dem unsere Erwartungen basieren, hängt in der Luft, denn Gleichheit wird zugeschrieben und nicht abgeleitet. Auf der anderen Seite wurde in der bisherigen Diskussion deutlich, dass das Konzept der statistischen Signifikanz, als Anwendung des Prinzips des unzureichenden Grundes, die benutzten Kategorien als a priori gegeben annehmen muss. Die Kategorienbildung- und Veränderung kann nicht erklärt werden. Die aleatorische Wahrscheinlichkeitstheorie kann ihre eigenen qualitativen Urteile nicht beobachten, sie kann sich nicht selbst erklären. Die Kontextabhängigkeit verweist auf das Referenzsystem, innerhalb dessen die Zuschreibung von Konsistenzbedingungen und damit von Rationalität vollzogen werden kann. Die Art und Weise, wie wir Daten interpretieren und sammeln, was wir als Beweise annehmen und was nicht, was eine ‚Anomalie’ im Gegensatz zu einem ‚Fehler’ bezeichnet, ist abhängig von dem Diskurs der Wissenschaft, den verwendeten Kategorien und dem Wert, den wir diesen Kategorien zuschreiben.389 Wenn Rationalität vom Kontext und von Normen abhängig ist, stellen sich somit andere Probleme, deren Antwort jenseits der ökonomischen Rationalität als Konsistenzvorschrift zu suchen ist. Übertragen auf die Interpretation von Daten kann man also behaupten: die Interpretation ist abhängig vom Kontext, in dem die Daten interpretiert werden. Ändern sich der Kontext oder der Interpretationsrahmen, ändert sich das Narrativ durch das die Daten zur Information werden. Die gleichen Daten werden nun anders interpretiert, werden anderen kausalen Faktoren zugeschrieben. Wird die Zeit und die Veränderung von Situationen anerkannt, zeigt sich, dass alte Theorien, die in der Vergangenheit funktionierten, heute falsch sein können. Schlimmer noch: der Vorschlag, sich an die alte Theorie zu halten, kann unter Umständen zu höherem Schaden führen. Auch bietet die Akkumulation von Daten und Wissen keine Erleichterung der Situation. Wir haben immer mit der Möglichkeit sich ausschließender, aber gleichermaßen gültiger Vorhersagen zu rechnen. Wie Nelson Goodman es ausdrückt: „No matter how fast or how long we run, we find we are still standing still at the starting line.”390 4.5 Zusammenfassung Das Ziel dieses Kapitels war es, sowohl einen Überblick über die Grundlagen der heutigen ökonomischen Risikotheorie zu geben als auch diese an den aleatorischen Wahrscheinlichkeitsbegriff zu binden. Sowohl in der objektiven als auch in der subjektiven Variante wird angenommen, dass auf Basis von rein quantativen Operationen Aussagen über empirisch nachweisbare und existierende Gesetzmäßigkeiten möglich sind. Die aleatorische Wahrscheinlichkeitsdefinition mit ihrem positivistischen Wissenschaftsverständnisses übersetzt sich in die theoretische Notwendigkeit, genuine Unsicherheit nicht zu berücksichtigen. Selbst unter absoluter Ignoranz ist es über das Prinzip des unzureichenden Grundes noch 388 Siehe hierfür auch Nelson Goodman, Mary Douglas und David L. Hull, How Classification Works: Nelson Goodman among the Social Sciences (Edinburgh: Edinburgh University Press, 1992). 389 Friedrich Kratochwil, „Constructing a New Orthodoxy: Wendt’s ‚Social Theory of International Politics’ and the Constructivist Challenge“, Millennium: Journal of International Studies, Vol. 29 No. 1 (2000), Seite 73 –101. 390 Israel Scheffler, „Inductive Inference, A new approach“, Science, Vol 127 No. 3291 (January 1958), Seite 180.
4.5 Zusammenfassung
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möglich, eigene Überzeugungen als eine quantitative Verteilung über mögliche Zustände der Welt darzustellen. Neue Beweise und Indikatoren erlauben dann eine Schrittweise Anpassung der Wahrscheinlichkeiten. In der Literatur findet sich häufig die Auffassung, dass die Bayesianische Statistik die Unterscheidung von Wahrscheinlichkeit als relative Häufigkeit und als Überzeugungsgrad, d.h. die Unterscheidung von objektiver und subjektiver Wahrscheinlichkeit, zu überwinden vermag. Dies ist meines Erachtens nicht der Fall. An den entscheidenden Stellen greift die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie auf den aleatorischen Wahrscheinlichkeitsbegriff zurück, um damit den epistemischen zu erklären. Die Bayesianische Statistik wechselt von einer de dicto zu einer de re Interpretation der Wahrscheinlichkeit und klammert in Folge dessen Fragen des intensionalen Rahmens aus. Dieser Schritt wird deutlicher, wenn die zu Grunde liegende Systemtheorie verdeutlicht wird. In der heutigen ökonomischen Risikotheorie werden Systeme als klassische mechanische Systeme konzipiert, die innerhalb der zweiwertigen Logik analysiert werden können. Dies erlaubt auf der Ebene der Logik die Anwendung der Booleschen Algebra; auf der Ebene des Selbstverständnisses erlaubt es, mathematische Beschreibungen bzw. Modelle als ein in sich geschlossenes reales Abbild der Wirklichkeit zu verstehen. Innerhalb dieser Gedankenwelt werden praktische Probleme auf technische Probleme reduziert, die durch die wissenschaftliche Methode und die spezielle Expertise des Ökonomen gelöst werden können.
5.1 Einleitung
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5 Risiko vs. Unsicherheit
5.1 Einleitung Wird heute von Unsicherheit gesprochen, wird üblicherweise auf Frank Knight verwiesen, der die Existenz von Gewinnen, Unternehmertum und Veränderungsdynamiken auf die Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit zurückführte.391 Jedoch wurde die konstitutive Rolle von Unsicherheit392 in der Ökonomie schon früher erkannt. Vor allem Carl Menger393 betont zu Beginn der Neoklassik die Möglichkeiten, welche die Begriffe Risiko und Unsicherheit für ein besseres Verständnis ökonomischer Prozesse haben könnten. In den 1930er Jahren wurde die Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit konstitutiv für viele ökonomische Abhandlungen. Wie Shackle meint: „Until the 1930s, economics was the science of coping with basic scarcity. After the 1930s, it was the account of how men cope with scarcity and uncertainty. This was far the greatest of the achievements of the 1930s in economic theory.”394 Prominente Ökonomen wie der für die Nachkriegsordnung mitverantwortliche John Maynard Keynes, Jacob Marschak, George J. Stigler, Gerhard Tintner, Albert Hartund Oskar Lange wandten sich der Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit zu, um ökonomische Phänomene wie Arbeitslosigkeit, Profite, Investitionsentscheidungen, Nachfrage nach liquiden Wertpapieren, die Struktur und Größe von Firmen oder Produktionsflexibilität sowie die Charakteristika der gesamten Marktwirtschaft zu erklären.395 An dieser Stelle soll es nicht um eine historische Rekonstruktion dieser Autoren, sondern um eine konzeptorientierte Analyse gehen. Das Ziel dieses Kapitels ist es, die Frage nach dem intensionalen Rahmen im Unsicherheitsgedanken auf der Ebene der Sozialtheorie wieder sichtbar und ihn für ein praktisches Verständnis von Politik, Wirtschaft und insbesondere 391 Frank H. Knight, Risk, Uncertainty and Profit (Chicago: Chicago University Press, 1921). 392 Siehe auch Jens Beckert, Grenzen des Marktes (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997). 393 Carl Menger, Grundsätze der Volkswirthschaftslehre (Wien: Baumüller, 1871). Für eine Einführung in das Deken von Carl Menger siehe vor allem Max Alter, Carl Menger and the Origins of Austrian Economics (Boulder: Westview, 1990), ders. „What do we know about Menger?”, in Bruce Caldwell (Hrsg.), Carl Menger and His Legacy in Economics. Annual Supplement to History of Political Economy Volume 22. (Durham: Duke University Press), Seite 313 – 348 und John Hicks Carl Menger and the Austrian School of Economics (Oxford: Clarendon Press, 1973). 394 George Lennon S. Shackle, The Years of High Theory: Invention and Tradition in Economic Thought 1926 – 1939, (Cambridge: Cambridge University Press, 1967), Seite 7. 395 John Maynard Keynes, A Treatise on Probability (London: Macmillan, 1921), auch als Vol. 8, Collected Writings. (New York: St Martin’s Press, 1973), ders. The General Theory of Employment, Interest and Money (London: Macmillan, 1936), ders. „The General Theory of Employment”, Quarterly Journal of Economics, Vol. 51 (1937), Seite 209-223, Jacob Marschak, „Money and the Theory of Assets”, Econometrica, Vol. 6 No. 4 (Oktober 1938), Seite 311-325. Jacob Marschak, „Role of Liquidity under Complete and Incomplete Information”, The American Economic Review: Papers and Proceedings, Vol. 39 No. 3 (May 1949), Seite 182- 195, George J. Stigler, „The Economics of Carl Menger”, The Journal of Political Economy, Vol. 45 No. 2. (Apr., 1937), Seite 229-250, Gerhard Tintner, „The Theory of Choice under Subjective Risk and Uncertainty“, Econometrica, Vol. 9 No. 3,4 (1941), Seite 298-304, Albert G. Hart, „Risk, Uncertainty and the Unprofitability of Compounding Probabilites”, in Oskar Lange (Hrsg.) Studies in Mathematical Economics and Econometrics (Chicago: University of Chicago Press, 1942), Oskar Lange, Price Flexibility and Employment (Bloomington, Ind.: Principia Press, 1944).
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5 Risiko vs. Unsicherheit
für die Politische Ökonomie nutzbar zu machen. Für diese Diskussion ist wiederum die Topologie ausschlaggebend, da es hier meines Erachtens nach einen wesentlichen Unterschied im Verständnis des Unsicherheitsbegriffes gibt. Aus diesem Grund komme ich zunächst auf die objektiv-epistemische Position, wie sie bei John M. Keynes und ebenfalls bei Frank Knight zu finden ist, zurück. Die ‚subjektiv-epistemische’ wird vor allem mit Friedrich von Hayek diskutiert. Dabei zeigt sich eine prominente, wenngleich auch ambivalente Stellung von Hayek, der wesentliche Einflüsse der Wiener Schule, und insbesondere ihrem Gründer Carl Menger, verdankt. Carl Menger wird heute allein unter dem Gesichtspunkt der Grenznutzenrevolution diskutiert. Mit dieser Interpretation wird der für seine Arbeiten gleichermaßen zentrale Gedanke der Unsicherheit vernachlässigt. Dies ist schon bei seinen Schülern festzustellen, die seine Gedanken mit dem Konzept des Gleichgewichts verbinden und somit der neoklassischen Kritik öffnen.396 Durch eine Betonung von Unsicherheit rückt die sozialtheoretische Dimension von Carl Mengers Werk wieder in den Vordergrund, die dann eine Interpretation der Arbeiten von Friedrich von Hayeks ermöglicht, die neue Anknüpfungspunkte für eine konstruktivistische Theoriebildung erlaubt. 5.2 Objektiv-epistemische Wahrscheinlichkeit: John M. Keynes Wahrscheinlichkeit ist bei Keynes definiert als die logische Beziehung zwischen Prämissen und einer Schlussfolgerung. Das heißt obwohl die Wahrscheinlichkeit abhängig ist von dem Hintergrundwissen bzw. den vorliegenden Beweisen, ist die Beziehung zwischen Wissen und Wahrscheinlichkeit durch die Logik objektiver Natur. Charakteristisch für diese Konzeption ist die Teilhabe an einer neuen Wahrscheinlichkeitsrelation mit sich veränderndem Wissensstand. Das Vorliegen eines neuen Beweises bedeutet die ‚Teilnahme’ an einer neuen Wahrscheinlichkeit, nicht die Anpassung der vorherigen Überzeugung. Hier zeigte sich, dass Keynes die ersten Wahrscheinlichkeiten nicht im Prinzip des unzureichenden Grundes, sondern über die Intuition generiert. Der Rückgriff auf die Intuition erlaubt es ihm, seine Theorie nicht auf gegebenen Kategorien aufbauen zu müssen. Die notwendige Bedingung bei von Mises, nur unter der Annahme klarer und wohlstrukturierter Kategorien, Mengen und Kollektive Wahrscheinlichkeitsaussagen treffen zu können, wird bei Keynes aufgehoben. Damit ist Keynes in der Lage, das Prinzip des unzureichenden Grundes zu reformulieren. Zur Erinnerung: das ‚Prinzip des unzureichenden Grundes’ gilt in der aleatorischen Theorie als Generator numerischer Wahrscheinlichkeiten. In der quantitativen Auffassung der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie wird ‚gleich wahrscheinlich’ mit identischen Werten definiert. z.B. p(A) = p(B) = 0,5. Hinsichtlich der Möglichkeit neuer Beweise und Informationen wird numerische Gleichheit mit ‚statistisch irrelevant’ gleichgesetzt. Das heißt zwei Fälle sind gleich wahrscheinlich, wenn unterschiedliche Informationen dennoch zur gleichen Wahrscheinlichkeit führen: das Verhältnis von a/h wäre gleich a/hh1, oder in der üblichen Schreibweise: p(A|B) = p(A). Nach der Wahrscheinlichkeitstheorie von Keynes ist diese Definition nicht möglich, da a/h eine strikt andere und nicht zu vergleichende Situation als a/hh1 darstellt. Selbst gesetzt den Fall, erste Wahrscheinlichkeiten wären quantitativ gegeben, können nachfolgende Wahrscheinlichkeiten theoretisch über statistische Inferenz aus den vorherigen angepasst, jedoch nicht revidiert werden. Es ist nicht möglich 396 Siehe Eugen von Böhm-Bawerk, Die Positive Theorie des Kapitals. Erster Band. 4. Auflage (Jena: Gustav Fischer, 1921). Friedrich Freihherr von Wieser, Der natürliche Werth (Wien: Hölder, 1889).
5.2 Objektiv-epistemische Wahrscheinlichkeit: John M. Keynes
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in der Zeit zurück zu gehen, um so Situationen miteinander zu vergleichen. Neue Beweise, eine neue Informationslage definieren eine neue Situation, in der alte Wahrscheinlichkeitsaussagen keine Gültigkeit mehr haben, selbst wenn alle numerischen Aspekte gleich sein sollten. Die Definition des Begriffs ‚gleich wahrscheinlich’ in rein numerischen Einheiten greift daher nach Keynes zu kurz. Es bedürfe daher einer Analyse, welche Form Wahrscheinlichkeitsaussagen unter welchen Umweltsbedingungen annehmen. Es bedarf einer Klärung sowohl darüber, unter welchen Bedingungen numerische Wahrscheinlichkeiten möglich sind, als auch, welche Form Wahrscheinlichkeitswerte jenseits dieser Bedingungen annehmen. Hier bietet Keynes eine Neudefinition des Prinzips des unzureichenden Grundes an – das Prinzip der Indifferenz: „this enables us to formulate the Principle of Indifference at any rate more precisely. There must be no relevant evidence relating to one alternative, unless there is corresponding evidence relating to the other. Our relevant evidence, that is to say, must be symmetrical with regard to the alternatives, and must be applicable to each in the same manner. ..if relevant evidence is of the same form for both alternatives, then the Principle authorises a judgement of indifference.”397
Der Ausdruck ‚gleich wahrscheinlich’ bedeutet demnach, dass ein neuer Beweis, eine neue Information, sowohl a als auch ¬a im gleichen Maße unterstützt. Keynes selbst sieht in dieser Umgestaltung des Ausdrucks ‚gleich wahrscheinlich’ keinen Bruch mit älteren Auffassungen. Aber er zeigt damit auf, dass die Anwendung des Prinzips des unzureichenden Grundes bei qualitativen Urteilen unzulässig ist. Denn: „it has always been agreed that a numerical measure can actually be obtained in those cases only in which a reduction to a set of exclusive and exhaustive equiprobable alternatives is practicable. … the principle of indifference is not applicable to a pair of alternatives, if we know that either of them is capable of being further split up into a pair of possible but incompatible alternatives of the same form as the original pair.”398 Wenn demnach qualitative Urteile relevant sind, ist ein quantitatives Wahrscheinlichkeitsmaß inadäquat. Würde man dennoch am Prinzip des unzureichenden Grundes festhalten, würde dies zu logischen Paradoxien führen. Wie Keynes festhält: „we broke up the field of possibility, as we may term it, into a number of areas by a series of disjunctive judgments. But the alternative areas were not ultimate. They were capable of further subdivision into other areas similar in kind to the former. The paradoxes and contradictions arose, in each case, when the alternatives, which the principle of indifference treated as equivalent, actually contained or might contain a different or an indefinite number of a more elementary unit”399
Indem Keynes die Grundannahme einer wohldefinierten Situation als notwendige Voraussetzung für das Prinzip des unzureichenden Grundes identifiziert, verneint er die Möglichkeit einer generellen quantitativen Spezifizierung der Wahrscheinlichkeit. In Situationen der Unsicherheit, in denen die Entscheidungssituation keinen Vergleich mit vorherigen Situationen erlaubt oder das zur Verfügung stehende Wissen für eine Identifikation der gleich wahrscheinlichen Alternativen nicht ausreicht, ist die Anwendung des Indifferenz397 Ibid., Seite 43. 398 Keynes, ‘Treatise on Probability’, Seite 62, 66. 399 Keynes, ‘Treatise on Probability’, Seite 64.
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5 Risiko vs. Unsicherheit
prinzips nicht richtig. Dennoch ist es auch hier möglich, Wahrscheinlichkeitsaussagen zu treffen. Freilich würde man nun an dieser Stelle eine Argumentation über notwendige oder hinreichende Bedingungen für numerische Wahrscheinlichkeiten erwarten. Aber im Sinne der Notwendigkeit qualitativer Urteile spricht Keynes hier jedoch vom Problem der Analogie, mit deren Hilfe Wahrscheinlichkeiten generiert und angepasst werden. Wahrscheinlichkeiten werden über ‚Ähnlichkeitsbestimmungen’ angepasst, die vom Individuum getroffen werden und dabei aber nicht im Bild der Enumeration greifbar sind.400 Damit ist die Theorie von Keynes für mehrere ‚Systemverständnisse’ offen: ein neuer Beweis, der Übergang von h zu hh1 würde innerhalb mechanischer Systeme den Gesetzen der Addition und Multiplikation genügen. Die einzelnen Beweise h und hh1 sind innerhalb dieser Systeme wie Atome, da jeder Beweis separat, unabhängig, linear und invariabel analysierbar ist. Die Veränderung des Ganzen ist durch die Summe der Veränderung der Einzelteile gegeben. Bei ‚organischen’ Systemen hingegen wird die Bedeutung von h mit dem Vorliegen von h1 umdefiniert. Einzelne Beweise stehen in einer ständig wechselnden Verbindung. Hier können Beweise nicht einfach separiert und wieder zusammengesetzt werden.401 Die Gründe für Überzeugungen können sich, nach Ansicht Keynes’, hier nicht aus der statistischen Inferenz speisen. Das heißt nicht, dass innerhalb organischer Systeme Beweise keine Rolle spielen, doch ist ihre Wirkung eine andere. Keynes ordnet seine Anpassungsregeln dem vorliegenden Problem, das heißt unter welchen Umständen und Bedingungen Wahrscheinlichkeitsaussagen getroffen werden können, nach. Welche Wahrscheinlichkeitswerte und welche Analogien und Beweisformen möglich sind, ist durch das zu beobachtende Problem bestimmt.402 Genau diese Verneinung eines rein quantitativen Maßes führt Keynes dann zum Konzept des Gewichts oder des Vertrauens in eine Aussage. 5.2.1 Das Vertrauen in die Wahrscheinlichkeit Für eine Annäherung an dieses Konzept ist folgendes Beispiel dienlich.403 Angenommen ein Spieler wird gefragt, mit welcher Wahrscheinlichkeit er das Ergebnis ‚Kopf’ bei einem Münzwurf erwartet. Bei völliger Ignoranz wird der Spieler dem Ereignis ‚Kopf’ aus Gründen des Indifferenzprinzips die Wahrscheinlichkeit von p(K) = 0,5 zuordnen. Nach einer 10 000facher Wiederholung wird der Spieler wieder über seine Überzeugung nach dem Ereignis ‚Kopf’ befragt. Noch immer gibt der Spieler seine Überzeugung mit p(K) = 0,5 an. Nach Auffassung subjektiver Wahrscheinlichkeitstheorie hat sich an unserer Überzeugung an dem Satz ‚die Wahrscheinlichkeit von Kopf ist ½’ nichts geändert. Aber offensichtlich hat sich etwas geändert: unser Vertrauen in den Satz ist nach der Beobachtung der Sequenz gestärkt, das Gewicht des Satzes hat sich erhöht. Das Problem liegt darin, dass der Ausdruck der primären Gleichverteilung auf der Basis einer völligen Unkenntnis der Situation – aber eben auch als ein positiver Ausdruck der Überzeugung – erfolgt.
400 Siehe zum Beispiel die Diskussion in Ibid, Kapitel XX. 401 Siehe auch Roy J. Rotheim, „Keynes and the Language of Probability and Uncertainty,” Journal of Post Keynesian Economics Vol. 11 No. 1 (1988), Seite 89. 402 Siehe z.B. John M. Keynes, 1921, op.cit., Seite 272, 291, 419. 403 Die Diskussion bezieht sich hier auf das Kapitel VI des Treatise. Keynes, 1921, op.cit.
5.2 Objektiv-epistemische Wahrscheinlichkeit: John M. Keynes
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Bei einer rein quantitativen Konzeptualisierung wird sowohl die Wahrscheinlichkeit, als Grad der Überzeugung, als auch unser Vertrauen in die Daten durch diesen einen numerischen Wert repräsentiert. Die Unterschiedlichkeit dieser zwei Dimensionen wird durch die Reduktion auf ein quantitatives Maß verdeckt – mit den Konsequenzen und Paradoxien, wie sie unter den Stichworten Präferenzumkehr, intensionaler Rahmen und Ellsberg-Paradox diskutiert wurden. Um diese zwei Dimensionen unterscheiden zu können, ist es notwendig, von der universellen Gültigkeit des Prinzips des unzureichenden Grundes abzusehen. Dies hat aber zur Folge, dass die Reduktion auf eine realistische Ontologie nicht mehr gelingt und ein epistemischer Wahrscheinlichkeitsbegriff seine Anwendung finden muss. Und zwar aus folgendem Grund: Die ‚Relevanz’ von Daten wird, bei einer quantitativen Auflösung der Bedeutung von ‚Überzeugungsgrad’ à la Savage, als ‚stochastische Unabhängigkeit’ definiert. Aber stochastische Unabhängigkeit bedeutet ja nur, dass sich die bedingte Wahrscheinlichkeit durch eine neue Information nicht verändert: P(X/A) = P(X). Die zweite Information aus der Beobachtung der Würfe in der Zeit geht in dem obigen Beispiel nicht in die Betrachtung mit ein.404 Keynes definierte das Gewicht daraufhin gerade nicht als die Relevanz im Sinne von stochastischer Abhängigkeit von h, sondern als die Größe von h: wenn h steigt, steigt das ‚Gewicht’ der Aussage. Die Wahrscheinlichkeit selbst kann bei steigender Informationslage aber fallen, gleich bleiben oder steigen. Neue Beweise verändern demnach nicht notwendig die logische Beziehung von a zu h, sondern nur die Größe von h. Das Gewicht einer Aussage kann als das Vertrauen in die Aussage verstanden werden. Vertrauen wird hier nicht über Wahrscheinlichkeit oder die Möglichkeit der Genauigkeit der Aussage über a/h definiert. Vertrauen heißt hier so viel wie ‚Begründetheit’ der Wahrscheinlichkeit als Größe der zu Grunde liegenden Informationen (h)405. Natürlich verneint Savage explizit diese Problematik. Sollte die Wahrscheinlichkeit als Entscheidungsgrundlage unsicher sein, so sollte man einen gewichteten Durchschnitt mit Wahrscheinlichkeiten (über diese Wahrscheinlichkeit) und mögliche Alternativen als Gewichtung berechnen, um eine neue Schätzung zu erhalten. Die veränderte Schätzung wird nun die gesamte Unsicherheit über die Relevanz/Gewichtung der Beweise/Informationen in dieser Situation abbilden und ggf. Wahrscheinlichkeiten höherer Ordnung bilden. Das weitere Feld ‚Wahrscheinlichkeiten höherer Ordnung’,406 das versucht ‚Vertrauen’ und ‚Gewicht’ mit zu umfassen, fasziniert besonders die aktuelle logische Wahrscheinlichkeitstheorie. Meiner Meinung nach übersieht Savage aber hier den entscheidenden Unterschied, der auf der Ebene des Akteurs/Beobachters zu suchen ist. Innerhalb der Theorie von Savage orientiert sich der Akteur an statistischen Durchschnittswerten. Der Grad der Überzeugung wird über eine Vielzahl von Lotterien abgeleitet. Das daraus quantitative Verständnis von ‚unvollständigem Wissen’ wird bei der subjektiven Theorie in Einheiten ‚psychologischer 404 Ramsey war, wie Nils Eric Sahlin gezeigt hat, deutlich offener bezüglich der Frage der Relevanz. Ich möchte zu der Debatte nichts hinzufügen – es ist nur interessant zu sehen, dass Ramsey 1926 offener war, sicherlich auch durch seine Freundschaft zu Keynes, als von Neumann und Morgenstern oder Savage 20 bzw. 30 Jahre später. Siehe Nils Eric Sahlin, „On Higher Order Beliefs“, in Jacques-Paul Dubucs (Hrsg.), Philosophy of Probability, (Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, 1993), Seite13-34. Siehe auch Peter Gärdenfors, „On the Logic of Relevance,“ Synthese Vol 37 No.3 (1973), Seite 351-367. 405 Siehe John Keynes, 1921, op. cit., Seite 73: „If we are to be able to treat ‘weight’ and ‘relevance’ as correlative terms, we must regard evidence as relevant, part of which is favourable and part unfavourable, even if, taken as a whole, it leaves the probability unchanged. With this definition, to say that a new piece of evidence is ‘relevant’ is the same thing as to say that it increases the ‘weight’ of the argument.” 406 Siehe wiederum Nils Eric Sahlin, „On Higher Order Beliefs“, in Jacques-Paul Dubucs, Philosophy of Probability, (Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, 1993), Seite 13-34.
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5 Risiko vs. Unsicherheit
Wahrnehmung’ formuliert: unvollständiges Wissen über die Situation und die Wahrscheinlichkeitsrechnung kann zu Fehleinschätzungen und Verzerrungen führen, wie Kahnemann und Tversky gezeigt haben. Eine subjektive Sichtweise haben, heißt hier soviel wie aufgrund psychologischer Faktoren entweder die ‚wahren’ Wahrscheinlichkeiten nicht richtig erkannt zu haben oder aufgrund psychologischer Gesetzmäßigkeiten eine Situation anders einzuschätzen. Das grundlegende Modell ist vorgegeben und menschliches Verhalten gilt in diesem Modell als passiv. Bei Keynes ist das Problem des Beobachtens auf einer anderen Reflexionsstufe angesiedelt. Die Frage stellt sich in Einheiten der ‚Selektion’: welches Modell wird zur Beschreibung der Situation gewählt bzw. welche möglichen Modelle werden gerade nicht gewählt und welche Schlussfolgerungen werden daraus sowohl für den Akteur als auch für den Beobachter gezogen. Beobachten heißt hier soviel wie ein Modell unter mehreren möglichen wählen. Im Gegensatz zum passiven Vokabular der Wahrnehmung selektiert der Beobachter hier aktiv. Erkennen ist ein aktiver Prozess. Aktiv heißt aber auch, dass durch den Prozess des Beobachtens das beobachtete Objekt verändert wird. Der Sachverhalt wird nach der Wahl eines beschreibenden Modells durch die Brille dieses Modells gesehen, dass damit ordnend aber auch verändernd eingreift. Sehr schön ist hier der Unterschied zu der subjektiven Theorie zu erkennen. Für die subjektiv-aleatorische Wahrscheinlichkeitstheorie im Spannungsverhältnis von Sicherheit-Wahrscheinlichkeit ist der Beobachter passiv, das Problem der Praxis ist formuliert als ein technisches Problem des richtigen Erkennens. Für Keynes resultiert durch die Unterscheidung von Unsicherheit und Wahrscheinlichkeit ein völlig anderes Spannungsgeflecht aus seiner Theorie, die den Akteur zwischen Modellen wählen lässt. Im Gegensatz zur subjektiv-aleatorischen Wahrscheinlichkeitstheorie ist die Theorie von Keynes nicht mechanisch. Festzuhalten ist demnach: Die Anerkennung unvollkommenen Wissens in praktischen Entscheidungen und die Umschaltung von Sicherheit auf Unsicherheit /Wahrscheinlichkeit erlaubt es uns, das Gewicht der Daten von den Wahrscheinlichkeiten der Daten zu unterscheiden: die Wahrscheinlichkeit ist die logische Beziehung zwischen Prämisse und Konklusion. Das Gewicht einer Aussage ist gleichgesetzt mit der absoluten Menge von relevantem Wissen und relevanter Ignoranz und bezeichnet die Größe von h alleine. Die Relevanz beschreibt damit gerade nicht, wie sonst üblich, einen Vergleich von günstigen zu ungünstigen Beweisen.407 5.2.2 Der Unsicherheitsbegriff Mit den Konturen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs bei Keynes ist nun auch eine genauere Bestimmung des Unsicherheitsbegriffs möglich.408 Wie in Kapitel 4 diskutiert, bezieht sich Wahrscheinlichkeit auf direktes Wissen sekundärer Aussagen. Im letzen Abschnitt wurden die qualitative Dimension und die restriktive Möglichkeit quantitativer Wahrscheinlichkeiten betont. Genau hier setzt der Unsicherheitsbegriff an: Unsicherheit bezeichnet im Ge407 Keynes, ‘Treatise on Probability’, op. cit. Seite 77. 408 Tony Lawson, Economics and Reality, (London: Routledge, 1997), Tony Lawson, „Probability und Uncertainty in Economic Analysis,“ Journal of Post-Keynesian Economics, Vol. 11 No. 1 (1988), Seite 38-65, Tony Lawson und M. Hashem Pesaran, Keynes’ Economics : Methodological Issues, (Armonk, N.Y.: M.E. Sharpe, 1985). Tony Lawson, „The Relative/Absolute Nature of Knowledge and Economic Analysis“, The Economic Journal, Vol. 97 No. 388 (1987), Seite 951-970 und Tony Lawson, „Uncertainty and Economic Analysis“, The Economic Journal Vol. 95 No. 380 (1985), Seite 909-27.
5.2 Objektiv-epistemische Wahrscheinlichkeit: John M. Keynes
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gensatz zu Risiko eine Situation, in der Wahrscheinlichkeiten unbekannt sind. Freilich gibt es auch in der ökonomischen Entscheidungstheorie die Möglichkeit unbekannter Wahrscheinlichkeiten. Doch diese Situation wird sofort über das Prinzip des unzureichenden Grundes in eine Situation des Risikos überführt. Unsicherheit bezieht sich jedoch immer auf die Bedingungen innerhalb eines Modells. Das heißt die Aussage, ‚die Wahrscheinlichkeiten sind unbekannt’ wird bei aleatorischer Wahrscheinlichkeit mit einer prinzipiellen Möglichkeit des Wissens dieser Wahrscheinlichkeiten begleitet. Nach Keynes ist dies nicht möglich, da eine neue Wissenssituation eine neue, mit der vorherigen Situation nicht vergleichbare Wahrscheinlichkeitsrelation bestimmen würde: 409 „we must be clear as to what we mean by saying that a probability is unknown. Do we mean unknown through lack of skill in arguing from given evidence, or unknown through lack of evidence? The first is alone admissible, for new evidence would give us a new probability, not a fuller knowledge of the old one; we have not discovered the probability of a statement on given evidence by determining its probability in relation to quite different evidence. We must not allow the theory of unknown probabilities to gain plausibility from the second sense.”410
Während in ökonomischen Modellen Unsicherheit immer in strukturierter Form vorliegt, bezieht sich der Begriff der Unsicherheit bei Keynes auf eine unstrukturierte Situation. Unsicherheit bezieht sich also auf die Wahl der richtigen Prämissen und Modelle, Wahrscheinlichkeit auf deren Entwicklung.411 Wichtig dabei ist, dass das Hintergrundwissen h die Gewichtung eines Arguments und damit den Grad an vorliegenden Informationen angibt. Unsicherheit ist nicht nur die Wahrscheinlichkeit, sondern bezieht sich gerade auf die mögliche Gewichtung des Arguments, „very uncertain is something different as very improbable:412 Wie die viel zitierte Textstelle von 1937 weiter ausführt: „By uncertain knowledge, let me explain, I do not mean merely to distinguish what is known for certain from what is only probable. The game of roulette, is not subject, in this sense to uncertainty; nor is the prospect of a Victory bond being drawn. Or, again, the expectation of life is only slightly uncertain. …The sense in which I am using the term is that in which the prospect of a European war is uncertain, or the price of copper and the rate of interest twenty years hence, or the obsolescence of a new invention, or the position of private wealth owners in the social system in 1970. About these matters there is no scientific basis on which to form any calculable probability whatsoever. We simply do not know.”413
An dieser Stelle wird wieder der Ursprung des Arguments in Keynes’ Kritik der Ethik Moores deutlich. Die kontextuale Einbettung des Urteils leitet das Augenmerk auf praktisches Wissen. Denn wie Keynes weiter ausführt: „Nevertheless […] the necessity for action and for decision compels us as practical men to do our best to overlook this awkward fact […]”414. Unsicherheit als die Abwesenheit von Wahrscheinlichkeiten erlaubt es somit, die 409 Tony Lawson, „Probability and Uncertainty in Economic Analysis,” op.cit., Seite 40. 410 Keynes, ‘Treatise on Probability’, op.cit, Seite 33. 411 Siehe neben Keynes Treatise auch Fernando J. Cardim de Carvalho, „Keynes on Probability, Uncertainty and Decision Making,” Journal of Post Keynesian Economics, Vol. 11 No 1 (1988), Seite 66-81. 412 John M. Keynes, 1936,op.cit , Seite 148, Fußnote 1. 413 John M. Keynes, „The General Theory of Employment”, Quarterly Journal of Economics, (Febr. 1937), Seite 213-214. 414 Ibid., Seite 214.
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5 Risiko vs. Unsicherheit
Kategorisierungsprozesse der Situation selbst zu beobachten, anhand deren dann Unsicherheit in Risiko absorbiert wird. Die zentrale Aussage bei Keynes lautet, dass man in Situationen von Unsicherheit auf bestehende Konventionen zurückfällt:415 „We are merely reminding ourselves that human decisions affecting the future, whether personal or political or economic, cannot depend on strict mathematical expectation, since the basis for making such calculations does not exist; and that it is our innate urge to activity which makes the wheels go round, our rational selves choosing between the alternatives as best we are able, calculating where we can, but often falling back for our motive on whim or sentiment of chance”416
Doch wie können Akteure etwas über ihr konventionales Wissen wissen? Durch Teilhabe am direkten Wissen, das heißt durch Erfahrung, Verstehen und Wahrnehmung. Keynes bezieht sich hier auf die Teilhabe an direktem Wissen. Das bedeutet jedoch, dass dieses ‚direkte Wissen’ und die Intuition keine ahistorischen Entitäten bezeichnen können. Denn Akteure haben erst durch ihre Teilhabe an den sozialen Praktiken ein Wissen über diese Praktiken. Ohne hier vertiefend auf die ethischen Implikationen oder die Nähe zu Wittgenstein eingehen zu können, soll an dieser Stelle nur das unterschiedliche Verständnis von Erwartungen bei Keynes und den aleatorischen Ansätzen betont werden. Bei mathematischen Erwartungswerten ist die Situation logisch der Entscheidung selbst vorangestellt. Erwartungen beziehen sich auf eine bereits existierende Situation. Bei Keynes kreieren diese Erwartungen die Situation selbst, wie dies wunderbar bei seinem Beispiel des Schönheitswettbewerbs deutlich wird. Da unsichere Situationen über Konventionen erst strukturiert werden müssen, kann sicherlich der Rationalitätsbegriff bei Keynes nicht im instrumentellen Sinne zu verstehen, sondern mit der Wahl der Ziele und Motive gleichzusetzen. Die Wahl der Motive ist selbst wieder Teil der Praxis: „the strength of these motives will vary enormously according to the institutions and organisations of the economic society which we presume, according to habits formed by race, education, convention, religion, and current morals, according to present hopes and past experience [...]“417 Menschen handeln nach dem ‚wahrscheinlichen Wert’, einem aggregierten Produkt von Wahrscheinlichkeit und Werten. Damit richtet sich Keynes gegen die Überzeugung, praktische Probleme seien technische Probleme, die sich in höflichen Aufsichtsratstreffen leicht lösen lassen: „I accuse the classical economic theory of being itself one of these pretty, polite techniques which tries to deal with the present by abstracting from the fact that we know very little about the future.”418
Natürlich sieht Keynes, dass in einem limitierten und berechtigten Kontext die Methode der relativen Häufigkeit ihre Berechtigung hat und es rational sein kann, sich an ihr zu orientieren. Doch ist diese Möglichkeit beschränkt, da es strukturelle Veränderungen, Brüche und qualitative Veränderungen der ‚relativen Häufigkeit’ oder sogar der Konventionen geben kann, die zum Beispiel dem Investitionsverhalten und der Spekulation zu Grunde liegen. 415 416 417 418
Ibid. Seite 215. John M. Keynes, 1936, op.cit, Seite 162. Ibid., Seite 109. Keynes, General Theory, 1937, op.cit., Seite 215.
5.3 Subjektiv-epistemologische Wahrscheinlichkeit: F. August von Hayek
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Aus diesem Grund sind für Keynes Institutionen und das Wirtschaftssystem nicht eine harmonisch und selbst-regulierend. Sie bedürfen der Regulierung. 5.3 Subjektiv-epistemologische Wahrscheinlichkeit: F. August von Hayek Interessanterweise ist es Keynes langjähriger Gegenspieler, Friedrich August von Hayek, der zwar ein anderes Unsicherheitsverständnis vertritt, jedoch die Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit teilt. In der nun folgenden Diskussion der Sozialtheorie von Friedrich von Hayek steht also der Unsicherheitsbegriff im Mittelpunkt der Analyse. Somit erfolgt kein expliziter Bezug auf die Sozialismus-Debatte, seine Konjunkturzyklustheorie oder Kapitaltheorie.419 Das Ziel dieses Abschnitts liegt darin, die Einbettung des Unsicherheitsbegriffs in seine Sozialtheorie zu zeigen. Dabei sollen zwei grundlegende Unterschiede verdeutlicht werden. Im Gegensatz zur objektiven Theorie von Keynes oder Knight, wird bei von Hayek, wie bei den Vertretern der Wiener Schule insgesamt, die Möglichkeit einer Reduktion von Unsicherheit auf beherrschbares Risiko verneint.420 Diese Reduktion ist nicht möglich, da Erfahrungen subjektiver Natur sind und das in der Zeit agierende Subjekt stets auf die sich neu stellenden Anforderungen mit neuen Entscheidungen zu antworten hat. Zweitens soll der Unterschied zur statischen Gleichgewichtskonzeption der Erwartungsnutzentheorie deutlich werden. Stellt man einen Begriff von Unsicherheit in Rechnung, der die Irreversibilität von Zeit impliziert, wird der Markt als eine Institution konzipiert, die mit den Begriffen ‚Entdeckungsverfahren’ und Gleichgewicht als Prozess charakterisiert wird. Natürlich hat eine Interpretation Friedrich von Hayeks seine intellektuelle Verwurzelung in die Wiener Schule zu würdigen. 421 Der Anfang der Wiener Schule, und ein großer Einfluss auf von Hayek, ist in den Ideen von Carl Menger mit der Veröffentlichung des Buches Die Grundzüge der Volkswirtschaftslehre zu finden.422 Heute wird Carl Menger meist im Zusammenhang mit den Namen Walras und Jevons als Mitbegründer der Grenz-
419 damit auch nicht ein extensiver Überblick der Debatte zwischen Keynes und Hayek, siehe dafür Jean Paul Cochran and Fred R. Glahe, The Hayek –Keynes Debate: Lessons for Current Business Cycle Research (New York: Edwin Mellen Press, 1999). Friedrich August von Hayek, Contra Keynes and Cambridge: Essays, Correspondence, Collected Works of F.A. Hayek Vol. 9, herausgegeben von Bruce Caldwell, (Chicago: Chicago University Press, 1995). 420 Wie gerade besprochen, wird bei Keynes und Knight Unsicherheit über die Strukturierung von Situationen durch z.B. Kategorisierung, Professionalisierung und spezifische Expertise, in Risiko absorbiert. Wie gleich zu sehen sein wird, wird dagegen Unsicherheit bei der Wiener Schule stetig reproduziert. 421 Für einen Überblick siehe Sandye Gloria Palermo, The Evolution of Austrian Economics: From Menger to Lachmann (London: Routledge, 1999) und Karin I Vaughn, Austrian Economics in America: The Migration of a Tradition (Cambridge: Cambridge University Press, 1994). 422 Friedrich von Hayek, „Carl Menger“, Economica, Vol.1 No. 4 (1934), Seite 393 – 420, wo er unter anderem auf Seite 393 schreibt: „wenn die Österreichische Schule einen fast einmaligen Platz in der Entwicklung der ökonomischen Wissenschaft inne hat, dann ist dies vollständig auf die Fundierungen dieses einen Mannes zurückzuführen.“ Siehe insbesondere auch Carl Menger, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre (Wien: Wilhelm Braumüller, 1871). Für eine Evaluation von Carl Menger siehe Bruce Caldwell (Hrsg.). Carl Menger and His Legacy in Economics. Annual Supplement to History of Political Economy Volume 22 (1991). Ein Lebenslauf ist auch auf der Webpage der Menger Collection der Duke University zu finden unter http://scriptorium.lib.duke.edu/cgi-bin/nph-dweb/dynaweb/findaids/menger/. Eine ausführliche Biographie findet sich auch unter: www.mises.org/mengerbio.asp (zuletzt besucht am 01.02.03).
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5 Risiko vs. Unsicherheit
nutzen-Revolution genannt.423 Doch schon ein kurzer Blick auf Walras und Menger genügt, um die Unterschiede zwischen Walras, Jevons und Menger zu entdecken.424 In den Grundzügen versucht Menger einen Neuanfang des ökonomischen Denkens, in dem er der Arbeitsteilung von Adam Smith eine Wissensteilung gegenüberstellt, die mit den Begriffen Wissen, Unsicherheit, und Zeit das Rückgrad seiner Theorie bildet. Das Konzept der Wissensteilung wird aus einer kantisch-epistemologischen Fragestellung mit einem ontologischen Dualismus verbunden, der sich, durch die Anerkennung der Bedeutung von Ideen und Geist, gegen den Rationalismus und steigenden Formalismus der Ökonomik wendet.425 Dabei wird die Frage nach der konstitutiven Rolle von Unsicherheit gestellt. Wie Carl Menger verdeutlicht: „die theoretische Volkswirtschaftslehre beschäftigt sich nicht mit praktischen Vorschlägen für das wirthschaftliche Handeln, sondern mit den Bedingungen, unter welchen die Menschen die auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse gerichtete vorsorgliche Thätigkeit entfalten.“426
Eingebettet in die Kantische Philosophie geht es Menger um die Rekonstruktion der Bedingung der Möglichkeit wirtschaftlichen Handelns, nicht um die Identifikation naturgesetzähnlicher Kausalzusammenhänge. Die Frage von Menger nach der Bedingung der Möglichkeit wirtschaftlichen Handelns aus der Perspektive einer primären Wissensteilung heraus bleibt bei von Hayek erhalten. Die Frage, wie Wissen in der Gesellschaft verteilt ist, wie Wissen auf der Grundlage gesellschaftlicher Ordnungen zwischen Akteuren entdeckt und kommuniziert und über die Zeit erhalten bleibt, steht im Mittelpunkt seiner über 50jährigen Forschungstätigkeit. Dabei macht Hayek in seinen Untersuchungen zu diesem Thema eine sehr deutliche Wandlung durch.427 Bis in die 1930er Jahre steht er dem neoklassischen Programm offen gegenüber. Doch in seinem 1936 erschienen Artikel „Economics and Knowledge“428 bricht von Hayek offen mit der Annahme, Wissen könne objektiv erklärt werden. Diese Auffassung würde Wissen als eine Eigenschaft, als einen Besitz der Akteure konzipieren, etwas, das sie ‚haben’ könnten. Hier unterscheidet er schon sehr deut423 Nach der von ihm etablierten subjektiven Werttheorie bestimmt sich der Wert eines Gutes allein durch den subjektiven Nutzen und lässt sich nicht durch objektive Merkmale wie Arbeit errechnen. Siehe die Diskussion in Kapitel 3 und 4 der Grundzüge, op. cit. 424 William Jaffe, „Menger, Jevons, and Walras De-Homogenized“, Economic Inquiry, Vol. 4 No. 4, (1976), Seite 511 – 524. 425 Methodisch wendet sich Menger folglich gegen eine Analogie mit der Naturwissenschaft: „Die bisherigen Versuche, die Eigentümlichkeiten der naturwissenschaftlichen Methode der Forschung kritiklos auf die Volkswirtschaftslehre zu übertragen, haben denn auch zu den schwersten methodischen Missgriffen und zu einem leeren Spiele mit äußerlichen Analogien zwischen den Erscheinungen der Volkswirtschaft und jenen der Natur geführt.... Es ist dies jene Methode der Forschung, welche in den Naturwissenschaften zur Geltung gelangt, zu so grossen Resultaten führte und desshalb in missverständlicher Weise die naturwissenschaftliche genannt wird, während sie doch allen Erfahrungswissenschaften gemeinsam ist und richtiger die empirische genannt werden sollte. Es ist diese Unterscheidung aber desshalb von Wichtigkeit, weile jede Methode durch die Natur des Wissensgebietes, auf welchem sie zur Anwendung kommt, ihren besonderen Charakter erhält und demnach von einer naturwissenschaftlichen Richtung in unserer Wissenschaft füglich nicht die Rede sein kann.“ Siehe Carl Menger, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre (Wien: Wilhelm Braumüller, 1871), Seite vii. 426 Ibid., Seite ix. 427 Einen guten Überblick bietet Steve Fleetwood, Hayek’s Political Economy: The socio economics of order (London: Routledge, 1995). 428 Friedrich August von Hayek, „Economics and Knowledge“ Economica New Series, Vol. 4 Issue 13, (1937), Seite 33-54.
5.3 Subjektiv-epistemologische Wahrscheinlichkeit: F. August von Hayek
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lich das Wissen der Akteure von dem Wissen des beobachtenden Wissenschaftlers. Diese Unterscheidung wird in dem 1945 veröffentlichten Artikel „The Use of Knowledge in Society“ weiter herausgearbeitet.429 Die Subjektivität der Daten, Überzeugungen und Informationen führt von Hayek ab 1960 zur Analyse von Regeln, Normen und Werte als Bindemittel der Gesellschaft.430 Mit dieser Wandlung gewinnt das Denken bei von Hayek eine evolutionäre Dimension, die ihn, insbesondere mit den Begriffen der spontanen Ordnung und der kulturellen Evolution, zu einen der Gründungsväter der evolutionären Ökonomik werden lässt. 5.3.1 Das Wissen der Gesellschaft Die konstitutive Funktion der Unsicherheit des handelnden Akteurs unter heterodoxen Bedingungen ist für von Hayek Ausgangspunkt und grundlegende Annahme seiner Überlegungen: „Die grundlegende Annahme ist hier wie überall die unbegrenzte Vielfalt der menschlichen Begabungen und Fähigkeiten und folglich die Unkenntnis des einzelnen Individuums um den größten Teil dessen, was sämtlichen weiteren Mitgliedern der Gesellschaft zusammengenommen bekannt ist.“431 Aus dieser Perspektive der Unsicherheit heraus leitet von Hayek seine Konzepte von Freiheit,432 Regel433 und Institution ab.434 Denn er verneint die Möglichkeit, Akteure könnten im wirtschaftlichen Handeln Dinge an sich erkennen. Für Hayek können Akteure nicht aus ihrer menschlichen Bedingtheit herauszutreten, um einen objektiven Standpunkt einzunehmen. Selbst der Wissenschaftler als stiller Beobachter kann nur beobachten und trifft bei der Beschreibung seines Untersuchungsobjekts auf ungeahnte Schwierigkeiten.435 So schreibt von Hayek, fast schon die AgentStruktur-Debatte vorwegnehmend: „the equilibrium relationships cannot be deduced merely from the objective facts, since the analysis of what people will do can only start from what is known to them. Nor can equilibrium 429 Friedrich August von Hayek, „The Use of Knowledge in Society” The American Economic Review Vol. 35 No. 4 (1945), Seite 519-530. 430 Siehe Friedrich August von Hayek, The Constitution of Liberty (London: Routledge and Keagan Paul, 1960); ders. Studies in Philosophy, Politics, and Economics (London: Routledge and Keagan Paul, 1967); ders. New Studies in Philosophy, Politics and Economics (London: Routledge and Keagan Paul, 1978); und vor allem natürlich ders. Law Legislation and Liberty (London: Routledge and Keagan Paul, 1982). 431 Friedrich von Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 2. Auflage, (Salzburg: Verlag Wolfgang Neugebauer, 1976), Seite 27. 432 „Freiheit bedeutet, dass wir in gewissem Maße unser Schicksal Kräften anvertrauen, die wir nicht beherrschen“ Friedrich von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 2, (München: Landesberg am Lech: Verlag Moderne Industrie, 1981), Seite 49. Ebenso: „...der Hauptzweck der Freiheit ist, sowohl die Gelegenheit als auch den Anreiz zu bieten, um die höchstmögliche Nutzung der Kenntnis zu sichern, die ein Einzelner erreichen kann.“ Friedrich von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 3. Auflage, (Tübingen, J.C.B. Mohr, 1991), Seite 100. 433 „Regeln sind ein Mittel, um mit unserer konstitutionellen Unwissenheit fertig zu werden.“ Friedrich von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 2, (München: Landesberg am Lech: Verlag Moderne Industrie, 1981), Seite 23. 434 Hierzu weiter unten die Konzipierung des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren, siehe auch Friedrich von Hayek, Freiburger Studien, (Tübingen: Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1969), Seite 249. 435 Siehe Friedrich August von Hayek, „Economics and Knowledge“, Economica, New Series, Vol. 3 Issue 13 (1937), Seite 33-54.; siehe auch seine vorherige Arbeit The Sensory Order (London: Routledge and Keagan Paul, 1952), Seite 4, die zwar zeitlich vorher geschrieben jedoch erst 1952 veröffentlicht wurde.
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analysis start merely from a given set of subjective data, since the subjective data of different people would be either compatible or incompatible, that is, they would already determine whether equilibrium did or did not exist.436
Im Zentrum des Wissensbegriffs steht demnach auch die Subjektivität der Erfahrung, über die der Wissenschaftler kein priviligiertes Wissen haben kann. Niemand kann vollständiges Wissen proklamieren, denn dies würde ja die Rolle der Verteilung von Wissen für die Ökonomie aufheben.437 Besonders bei der Analyse komplexer Phänomene wie Ordnungen bzw. Institutionen, in denen die Handlungen vieler Individuen zusammenkommen, in der jeder Akteur seine eigene Geschichte hat, das eigene Selbstverständnis voraussetzt und mit eigenen Erwartungen agiert, kann der Wissenschaftler nicht all dieses Wissen zusammenbringen und kalkulieren.438 Die Wissenschaft kann aufgrund ihrer ‚wissenschaftlichen Methode’ nur einen Teil des für die Wirtschaft relevanten Wissens erkennen. Wie von Hayek selbst meint: „Today it is almost heresy to suggest that scientific knowledge is not the sum of all knowledge. But a little reflection will show that there is beyond question a body of very important but unorganized knowledge which cannot possibly be called scientific in the sense of knowledge of general rules: The knowledge of the particular circumstances of time and place. It is with respect to this that practically every individual has some advantage over all others in that he possesses unique information of which beneficial use might be made.”439
Die Subjektivität des Akteurs entzieht sich dem wissenschaftlichen Zugriff klassischtheoretischer Prägung. Vielmehr gibt es hier ein Primat der Praxis vor dem theoretischen Wissen. So müsse man sich nur vorstellen, wieviel man noch lernen würde, nachdem man seine theoretische Ausbildung abgeschlossen hat: „We need only remember how much we have to learn in any occupation after we have completed our theoretical training ...and how valuable an asset in all walks of life is knowledge of people, of local conditions, and special circumstances.”440 In dem Artikel von 1936 sieht man die Spannungen, die von Hayek selbst durchwandert. Der Aufsatz ist noch davon geprägt, die Subjektivität der Erfahrung und die gegenseitige Bezugnahme von Erwartungen als Voraussetzungen für wirtschaftliches Handeln mit einem Gleichgewichtsdenken zu verbinden. So formuliert von Hayek schon hier sein dynamisches Verständnis von Gleichgewicht ‚in der Zeit’, das dem neoklassischen Gleichgewicht als Zustand, der außerhalb der Zeit steht, entgegensteht. 1945 erfolgt der vollständige Bruch mit der Neoklassik. Inzwischen sieht von Hayek die Bedingungen der Neoklassik als irrelevant für praktische Probleme der Wirtschaft an. So schreibt von Hayek gleich zu Anfang gegen die Formulierung der Neoklassik: 436 Ibid., Seite 43. 437 Friedrich von Hayek spricht hier über die Verteilung von Wissen als das ‘eigentliche Problem der Ökonomie’: Vergleiche „Economics and Knowledge“ sowie ders. „The Use of Knowledge within Society”, The American Economic Review Vol. 35 No. 4 (1945), Seite 519. 438 Friedrich von Hayek, „Die Anmassung von Wissen,“ Nobelpreis Rede; 11. Dezember 1974, in der es unter anderem heißt: „Als Fachleute haben wir Schlimmes angetan!“, wiederabgedruckt in die Friedrich August von Hayek: Die Anmassung von Wissen, herausgegeben von Wolfgang Kerber, (Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1996), Seite 3-15. 439 Friedrich von Hayek, „The Use of Knowledge in Society“, op. cit., Seite 521. 440 Ibid., Seite 522.
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„If we possess all the relevant information, if we can start out from a given system of preferences and if we command complete knowledge of available means, the problem which remains is purely on of logic… [t]his, however, is emphatically not the economic problem which society faces… [t]he peculiar character of the problem of a rational economic order is determined precisely by the fact that knowledge of the circumstances of which we must make use never exists in concentrated or integrated form, but solely as the dispersed bits of incomplete and frequently contradictory knowledge which all the separate individuals possess.”441
Unter diesen heterodoxen Bedingungen stellt sich für von Hayek nun die Frage, in welcher Art und Weise Wissen kommuniziert wird. Hier führt ihn die erste Antwort auf den Preismechanismus: „in a system where the knowledge of the relevant facts is dispersed among many people, prices can act to coordinate the separate actions of different people in the same way as subjective values help the individual to coordinate the parts of his plan.”442 Hieraus leitet sich später die berühmte Beschreibung des Preismechanismus als „Telekommunikationssystem” ab,443 die die Informationssuche und Kommunikation innerhalb der Märkte programmatisch auf den Punkt bringt und sein Konzept des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren anleitet.444 Interessant an dieser Stelle ist das Ende von „The Use of Knowledge“, das den Hinweis enthält: „We have developed these practices and institutions by building upon habits and institutions which have proved successful in their own sphere and which have in turn become the foundation of the civilization we have built up. …The price system is just one of those formations which man has learned to use.”445
Damit nimmt er 1945 bereits ein zentrales Thema seiner späteren Arbeit vorweg: der Markt ist nur eine Möglichkeit wirtschaftlicher Kommunikation und ist eingebettet in ein ganzes System von Kommunikationsmechanismen. Diese Einsicht führt ein Jahr später zu der Erkenntnis, der Wettbewerb sei ja gerade auch ein Wettbewerb um Reputation und „Goodwill”. Dies setzt jedoch ein Wissen voraus, das sich gerade nicht in den Preisen widerspiegelt, sondern die Einbettung des Marktes in ein breiteres gesellschaftliches Netzwerk markiert.446 Ab 1960 erkennt von Hayek, dass dieses Wissen sich in Regeln, in Gepflogenheiten und Institutionen manifestiert. Dabei vertritt er fast schon eine gesellschaftstheoretische Position und widersetzt sich dem Gedanken, die Wirtschaftswissenschaften könnten sich auf die Analyse der Funktionsweise des Marktes reduzieren lassen. Vielmehr muss die institutionelle Einbettung des Marktes in eine ‚ganze Ordnung’ erfolgen, die unter anderem Ausbildungsstätten wie Schulen und Universitäten, Büchereien, Forschungslabors, Banken, Aktionäre, Marktforschungsinstitute, Werbung, Analysten, Verbände, Medien, Berichte, Empfehlungen und das gesamte Rechtssystem umschließt.
441 442 443 444
Ibid, Seite 519. Ibid., Seite 526. Friedrich von Hayek, ibid., Seite 527-528. Man beachte: als Verfahren! Als ein Prozess – nicht als ein Zustand oder eine Bedingung. Siehe „Competition as Discovery Procedure,” in Friedrich von Hayek, New Studies in Philosophy, Politics and Economics and the History of Ideas (London: Routledge and Kegan Paul, 1978), Seite 179-190. 445 Friedrich von Hayek, „The Use of Knowledge in Society”, Seite 528. 446 Friedrich von Hayek, „The Meaning of Competition” [1946], in ders., Individualism and the Economic Order (London: Routledge and Keagan Paul, 1949), Seite 97.
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Hier schließt sich die Frage an, in welcher Art und Weise sich die Analyse der Wirtschaftsordnung mitsamt ihren Institutionen und Normen von dem Wissen der Preise unterscheidet. Diese Antwort, und hier muss ich an dieser Stelle die Diskussion im nächsten Abschnitt vorwegnehmen, versucht von Hayek epistemologisch zu begründen. Hayek betont in ‚Der Primat des Abstrakten’,447 dass die Beschreibung geistiger Phänomene oder ‚des anderen’ nur möglich sei, da „der Geist im Einklang mit abstrakten Regeln operiert, die in ihm schon vorhanden gewesen sein müssen, ehe wir jenen Einzelheiten wahrnehmen konnten.“448 Jede Beobachtung setzt Geist und Interpretation voraus. Der Primat des Abstrakten ist gleichbedeutend mit der Theorieabhängigkeit der Beobachtung. Dabei sind unseren Fähigkeiten und unserer Vernunft Grenzen gesetzt. Die grundlegenden Regeln, die sich durch den höchsten Abstraktionsgrad auszeichnen, entziehen sich unserer Reflexion und sind prinzipiell für uns nicht erkennbar. „Subjektiv leben wir von einer konkreten Welt und finden es oft schwierig, auch nur einige der abstrakten Relationen aufzufinden, die es uns ermöglichen, zwischen verschiedenen Dingen zu unterscheiden und verschieden auf sie zu reagieren. Um aber die Funktionsweise unserer Wahrnehmung zu erklären, müssen wir von den abstrakten Relationen ausgehen, die jene Ordnung bestimmen, in der die Einzeldinge ihren Platz finden.“449
Der Primat des Abstrakten, die Abhängigkeit unserer Erkenntnis von geistigen Abstraktionen, deren letzte Prinzipien aber für uns nicht erkennbar sind, führt von Hayek gegen die Formalisierung der Sozialwissenschaften an.450 Durch den kantischen Einfluss sieht von Hayek das Ziel der Wissenschaften nicht in der metaphysischen Spekulation, sondern in der Reflexion der eigenen Kategorien und Regeln, die unser Wissen leiten. Die alleinige Formalisierung ohne ihre Einbettung in philosophische Überlegungen wird sich als Holzweg erweisen müssen, weil sie die Abhängigkeit der Theorien von dem nicht beweisbaren Hintergrundwissen nicht erkennen. Nach von Hayek ist demnach die ‚wissenschaftliche’ Methode gerade in den Sozialwissenschaften eine sehr unwissenschaftliche. Sie impliziert die unkritische Anwendung einer Methode, die in ihrer Disziplin unter völlig anderen Voraussetzungen agiert, als dies in der Ökonomik selbst möglich ist.451 „Unwissenschaftlich da es eine mechanische und unkritische Anwendung von Denkgewohnheiten auf andere Gebiete, als in denen sie sich herausgebildet haben, zur Folge hat.“452 Dies führe dazu, dass „während in den Naturwissenschaften der Forscher das ihm auf der Grundlage einer prima facie
447 Friedrich August von Hayek, „The Primacy of the Abstract” [1968], in ders. New Studies in Philosophy, Politics and Economics (London: Routledge and Kegan Paul, 1978), Seite 35-49. Wieder abgedruckt als „Der Primat des Abstrakten“, in Friedrich von Hayek, Die Anmassung von Wissen (Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1996), Seite 114-129. 448 Ibid., Seite 116. 449 Ibid, Seite 116. 450 „Selbst auf dem Gebiet, auf dem die Suche nach neuem Wissen am bewusstesten geschieht, nämlich in der Naturwissenschaft, kann niemand voraussagen, was die Folgen seiner Arbeit sein werden.“ Friedrich von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, op. cit., Seite 51. 451 Dies ist die Aussage seines Aufsatzes, „Die Irrtümer des Konstruktivismus und die Grundlagen legitimer Kritik gesellschaftlicher Gebilde“, in Friedrich von Hayek, Anmassung von Wissen, op.cit., Seite 16 – 36; 452 Siehe Friedrich von Hayek, „Scientisim and the Study of Society”, in Economica, 9 Vol. No.35 (1942); wieder abgedruckt in The Counter-Revolution of Science: Studies on the Abuse of Reason, (Glencoe, Ill.: The Free Press, 1952). Siehe in diesen Kontext auch Stephen Toulmin Return to Reason (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2001).
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Theorie wichtig Erscheinende als messbar ansieht, wird in den Sozialwissenschaften oft das als wichtig behandelt, was gerade der Messung zugänglich ist.“453 Zusammenfassend können wir sagen, dass von Hayek Wissen weiter fasst, als dies üblicherweise in ökonomischen Arbeiten feststellbar ist, denn er erkennt unterschiedliche Arten von Wissen an.454 Neben dem Wissen über Ursache und Wirkung, das sich in der Ökonomie anhand von Preisen, Quantitäten und möglichen Zustände der Welt auszeichnet, wird bei von Hayek das Wissen über Verhaltensregeln, Traditionen und Institutionen angesprochen. Hierzu gehören die ‚Geschicklichkeiten’, wie zum Beispiel der besondere Umgang mit der Sprache, soziale Beziehungen, aber auch das handwerkliche Geschick. Das praktische Können besteht in der Fähigkeit nach Regeln zu handeln, deren Inhalte uns nur implizit gewahr sind. Damit unterscheidet von Hayek das Wissen als eine Fähigkeit gegenüber dem Wissen als eine Art Besitz. Mit dem Aufsatz „The Use of Knowledge in Society“ erkennt von Hayek, dass Wissen in Regeln, Praktiken, Gepflogenheiten und Institutionen eingebettet wird. Ab 1960 wird hier vermehrt mit Verweis auf Polanyi und Ryle die implizite Qualität des Wissens hervorgehoben, wobei gleichzeitig die Systemtheorie als Methode betont wird.455 Dies führt zu einem Primat der Praxis – einer Praxeologie. 5.3.2 Praxis und Regeln Für von Hayek besteht in seinen Analysen das Primat des praktischen Wissens. Das praktische Wissen besteht, wie es John Gray formulierte, „nicht aus Sätzen oder Theorien, sondern aus Fertigkeiten und Neigungen, in einer von Regeln beherrschten Art und Weise zu handeln.“456 Der Großteil dieses Wissens entzieht sich dem Bewusstsein, und ist zumeist implizit in Normen und Werten zu finden. Der Begriff des Wissens, der durch Unsicherheit geprägt ist,457 steht in enger Verbindung zu seinem Regelbegriff, bei dessen Konzeptualisierung auch sein Cousin Ludwig Wittgenstein einflussreich war.458 Die „Regel bedeutet in diesem Zusammenhang einfach eine Neigung oder Disposition, in einer bestimmten Art zu handeln oder nicht zu handeln, die sich in einer Praxis [...], wie wir es nennen, oder Gewohnheit [...] zeigt.“459 Die Regel ermöglicht das Handeln unter Unsicherheit. Der Regelbegriff bei von Hayek ist, wie bei Ludwig Wittgenstein, Ausdruck des praktischen Wissens in Form von Konventionen und Institutionen, die unser Leben leiten. Ähnlich wie bei Kant, bei dem die Urteilskraft dem Urteil vorausgeht, ohne dass wir uns dessen notwendig gewahr sind, steht bei von Hayek der Regelbegriff dem Wissen voran. Regeln leiten unser 453 Ibid. Seite 4 454 „Je zivilisierter wir werden, desto verhältnismäßig unwissender muss jeder einzelne über die Tatsache sein, von denen das Funktionieren seiner Zivilisation abhängt. Gerade die Teilung des Wissens erhöht die notwendige Unkenntnis des Individuums von größten Teil dieses Wissens.“ Siehe Friedrich von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, op. cit, Seite 35. 455 Ich stimme hier mit Steve Fleetwood überein; siehe Steve Fleetwood, op.cit., Seite 95; wobei ich sonst seiner philosophischen Darstellung doch widersprechen würde. 456 John Gray, Freiheit im Denken Hayeks, (Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1995), Seite 15. 457 Friedrich von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 2, op. cit., Seite 23. 458 Siehe Hayeks Erinnerungen „Remebering my Cousin Ludwig Wittgenstein“, Encounter; August 1977, wiederabgedruckt in The Fortunes of Liberty: Essays on Austrian Economics and the Ideal of Freedom, Collected Works of F.A. Hayek Vol 4, herausgegeben von Peter J. Klein, (Chicago: Chicago University Press, 1992), Seite 176 – 181. 459 Friedrich von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 1, op. cit., Seite 109.
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Wissen, unsere Wahrnehmungsprozesse und unser Denken. Zur Klärung dieses Punktes bietet Hayek eine Dreiteilung von unterschiedlichen Regeln an, bei der sich die einzelnen Regeln in ihrem Abstraktionsgrad, und damit auch in ihrer Artikulationsmöglichkeit, unterscheiden. Nach Hayek lassen sich also Regeln identifizieren als: 1. 2. 3.
solche die bloß tatsächlich befolgt werden, aber noch nie ein Worte gefasst wurden; solche, die zwar in Worten ausgedrückt wurden, aber damit doch nur aussprechen, was schon vorher allgemein im Handeln befolgt wurde; solche, die absichtlich eingeführt wurden und daher notwendig als Sätze der Sprache existieren.
Dass die abstraktesten und zugleich grundlegendsten Regeln sich unserer Reflexion entziehen, deutet auf eine Autonomie des Geistes, die eine Ablehnung des cartesianischen Rationalismus bedeutet. Der menschliche Geist ist sich selbst nicht rational zugänglich und kann demnach auch nicht beherrscht werden. Dies ist ein Korrelat zur Überzeugung, dass der Mensch nicht aus seiner Bedingtheit heraustreten und einen objektiven Standpunkt einnehmen kann. Wie oben erläutert, ist das Wissen von Institutionen als abstrakte Regeln meist nur implizit vorhanden. Implizite Regeln sind abhängig von den menschlichen Handlungen, ohne dabei menschlicher Planung zu unterliegen. Von Hayek betont in ‚Irrtümer des Konstruktivismus’: „...dass natürlich auch der Erfolg des Einzelnen in Erreichung seiner unmittelbaren Ziele nicht nur von seiner bewussten Einsicht in ursächliche Zusammenhänge sondern in hohem Masse auch von der Fähigkeit abhängt, sein Handeln nach Regeln ablaufen zu lassen, die er nicht in Worten ausdrücken kann, die aber, wenn wir sie beschreiben wollen, nur als Regeln ausgedrückt werden könnten“460.
Damit kann auch die Gesellschaft nicht als Ganzes überblickt, verstanden und eventuell neu geplant werden, denn „Die Vorstellung vom Menschen, der sich dank seiner Vernunft über die Werte seiner Kultur erhebt, um sie von einer höheren Warte von außen zu beurteilen, ist eine Illusion. Denn diese Vernunft ist selbst ein Teil jener Kultur und wir können stets nur einen Teil gegen den anderen ausspielen. Wir können die Wertgrundlagen unserer Zivilisation nie von Grund auf neu aufbauen, sondern immer nur von innen heraus entwickeln.“461 „Kultur [kann] nur innerhalb des Kontextes dieser Kultur kritisch geprüft werden [...]. Wir können niemals ein System von Regeln oder alle Werte als Ganzes auf eine bewusste Konstruktion zurückführen.“462
Die Regeln sind der Träger des impliziten Wissens. Sie erlauben die Formulierung und Bildung von Interessen und Präferenzen. Dabei gehen diese Institutionen, wie unsere Sprache, Verträge oder Eigentumsrechte, nicht auf die Planung eines einzelnen Individuums zurück. Aus diesem Grund kann die Regelbefolgung nicht in Einheiten einer rationalen Wahl verstanden werden. Tabus der Gesellschaft, die Achtung des Eigentums, das Halten 460 Siehe Friedich von Hayek, „Die Irrtümer des Konstruktivismus“, abgedruckt in von Hayek 1996, op.cit., Seite 21. Der Begriff ‚Konstruktivismus’ bezeichnet dabei den naiven Rationalismus, und nicht den Konstruktivismus als ein Ansatz innerhalb der Internationalen Beziehungen. 461 Friedrich von Hayek, Die Anmaßung von Wissen, op. cit., Seite 34. 462 Friedrich von Hayek, Recht Gesetzgebung und Freiheit, Bd 2, op. cit., Seite 43.
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von Verträgen sind keine rational begründbaren Tatsachen. Die Regeln stehen nicht unter einem instrumentellen Aspekt. Ihre Funktion hängt davon ab, dass sie unkritisch eingehalten werden.463 Die Rolle der Regelbefolgung ist tiefer angelegt als bei einem Regelutilitaristen. Es geht nicht um die Reduktion von Transaktionskosten oder abnehmende Such- und Informationskosten. Regeln sind nicht in Einheiten einer Strategie zu erklären. Das Befolgen der Regel nützt nur der Allgemeinheit, jedoch nicht notwendig dem Individuum und tritt in der Nutzenkalkulation, da ja zumeist nur implizit gewusst, auch nicht auf. Vielmehr wäre ein Verständnis dieser Institutionen als zur Disposition stehend und damit als ein Resultat rationaler Wahl extrem gefährlich. Sie zerstört, nach von Hayek, die Werte, auf denen die freie Gesellschaft mit ihrer Marktordnung basiert – ohne die Möglichkeit zu haben, durch den Markt diese Strukturen wieder schaffen zu können. Der Markt kann selbst nicht die Strukturen bereitstellen, auf denen er aufbaut.464 Sieht man die Regel aus der Perspektive der Praxis und der Veränderung gesellschaftlicher Strukturen, das heißt aus dem Zusammenhang von semantischen und sozialen Strukturen, so geht sie der „Zwillingsvorstellung von Evolution und der spontanen Bildung einer Ordnung“465 voraus, die ich nun besprechen möchte. 5.3.3 Institutionen und Spontane Ordnung Für eine genauere Diskussion der spontanen Ordnung bei von Hayek, lohnt es sich, sich für einen Moment den Ideen von Carl Menger zuzuwenden. Die Frage nach der Entstehung sozialer Institutionen steht im Zentrum der Mengerschen politischen Ökonomie. Menger ist daran interessiert wie Institutionen, obwohl sie dem Gemeinwohl dienen und signifikant für dessen Entwicklung sind, ohne einen generellen Willen, ohne ex ante gefassten Plan entstehen konnten.466 Seine Theorie der spontanen, unintendierten Ordnung wird vor allem im dritten Buch seiner Untersuchungen formuliert. Auch seine Abhandlungen über Geld sind diesem Interesse gewidmet. Nach Menger entstehen sozialer Institutionen – wie Geld, Recht, Sprache, Märkte, Staaten – indem Akteure ihren ökonomischen Interessen folgen und dabei Spill-over Effekte’ ausüben. So erklärt Menger ‚Geld’ aus der Absatzfähigkeit heraus. Mit der Orientierung zum ‚Markt’, werden Güter zur Ware und daher auf ihre Absatzfähigkeit hin bewertet. Die Produktion für einen abstrakten Markt geht einher mit einer Antizipation der notwendigen Suche nach Handelspartnern. Geld etabliert sich hier als eine Art Puffer gegen die mögliche Nichterfüllung von Erwartungen oder Plänen. Die Evaluation der Absatzfähigkeit ist natürlich abhängig von der Beurteilung anderer, und genau dies wird schon mit in Betracht genommen. Aus diesem ‚positiven Feedback’-Effekt heraus etabliert sich ein Gut als Geld. Was dabei als Geld funktioniert, Gold, Kupfer oder Papier, bleibt offen. Mit anderen Worten, und diese Antwort überrascht nur durch ihre frühe For-
463 vergleiche zum Beispiel die Formulierung von Searle, 1995, op. cit., in Kapitel 1, 30 Jahre später. 464 Von Hayek macht hier ein sehr soziologisches Argument. Siehe zum Beispiel die Diskussion von Jens Beckert, Die Grenzen des Marktes, op.cit. 465 Friedrich von Hayek: „Dr. Bernard Mandeville,“ In F.A. von Hayek, Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze, (Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1969), Seite 128. 466 Carl Menger, Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften, und der politischen Oekonomie insbesondere (Leipzig, Duncker & Humblot, 1893), Seite 164.
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mulierung: Institutionen etablieren sich durch Konventionen467 und verändern sich ‚organisch’.468 Durch diese organische Natur sozialer Institutionen steht Menger der Möglichkeit, soziale Institutionen planen oder ‚herstellen zu können’, kritisch gegenüber. Nach Menger besteht keine Interventionsmöglichkeit, denn Intervention würde mechanische Veränderung voraussetzen. Daher kann die für die Wirtschaftswissenschaften richtige Methode, „keine schlechthin der Physiologie oder Anatomie entlehnte, sondern stets nur eine socialwissenschaftliche im strengsten Sinne des Wortes sein; die Übertragung von Forschungsergebnissen der Physiologie und Anatomie per analogiam in die Politische Oekonomie ist aber ein solcher Widersinn, dass kein methodisch Gebildeter denselben auch nur einer ernstlichen Widerlegung würdigen wird.“…469 „wer übrigens den selbst heut noch höchst unvollkommenen Zustand der Naturwissenschaften, soweit sie sich auf die organische Welt beziehen, kennt, für den wird das oft mit dem Aufwande von unglaublichem Scharfsinn bethätigte Streben, das Unbekannte durch ein in nicht seltenen Fällen noch Unbekannteres zu erklären, der Komik nicht ganz entbehren“470
Hayek übernimmt diese Verbindung von organischer Ordnung und sozialwissenschaftlicher Methode. Auch er wendet sich gegen die Vorstellung einer herstellbaren Ordnung. Zur Beschreibung der spontanen Ordnung operiert von Hayek mit der Unterscheidung von mechanischer Organisation und organischer, evolutionärer Ordnung.471 Dabei formuliert von Hayek eine bis heute gültige Kritik an der Neoklassik: sie versucht die Ordnung in einem Vokabular der Organisationstheorie zu analysieren. Aber „it is because it was not dependent on organization but grew up as a spontaneous order that the structure of modern society has attained that degree of complexity which it possesses and which far exceeds any that could have been achieved by deliberate organization. In fact, of course, the rules which made the growth of this complex order possible were initially not designed in expectation of that result: but those people who happened to adopt suitable rules developed a complex civilization which often spread to others. To maintain that we must deliberately plan modern society because it has become so complex is therefore paradoxical, and the result of a complete misunderstanding of these circumstances. The fact is, rather, that we can preserve an order of such complexity not by the method of directing the members, but only indirectly by enforcing and improving the rules conducive to the formation of a spontaneous order.”472
Genau in dieser Vermischung liegt der Irrtum des ‚Konstruktivismus’. Von Hayek benutzt den Begriff der organisierten Komplexität, um diese komplexen Strukturen zu beschreiben. Die Eigenschaft dieser organisierten Komplexität ist, dass die Eigenschaften der Systeme nicht nur durch die Elemente und ihrer ‚relativen Häufigkeit’ erklärbar ist. Vielmehr schließt sie das Element einer Sozialintegration ein, das heißt die Art und Weise, wie diese
467 Hier wäre es weiter interessant zu Untersuchen, in wie weit der Neukantianismus, mit seinem Interesse an Kultur und Konventionen für Menger beeinflussend war. 468 Siehe Carl Menger, Untersuchungen, op .cit., Seite 140- 141. ; 469 Ibid, Seite 149-150. 470 Ibid, Seite 151. 471 für eine Diskussion dieser Unterscheidung siehe Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung (Opladen: Westdeutscher Verlag, 2001), Kapitel 1. 472 Friedrich von Hayek, Law Legislation and Liberty, Band 1, op. cit., Seite 50-51.
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einzelnen Elemente miteinander verbunden sind. Wie schon John Gray feststellte, basiert somit die Idee der spontanen Ordnung auf drei Säulen:473 a. b. c.
eine Theorie der unsichtbaren Hand: die Interaktion einer großen Anzahl von Akteuren ergibt eine nicht geplante und nicht planbare Ordnung, ein Primat des impliziten oder praktischen Wissens, das mit dem Interesse an Institutionen verbunden ist, sowie eine These der kulturellen Evolution, auf die ich gleich noch ausführlicher zu sprechen komme.
Obwohl jede Ordnung auf einer Verteilung von Wissen über eine unzählbare Anzahl von Akteuren beruht,474 ergibt das Zusammenspiel dieser Akteure dennoch eine abstrakte Ordnung, die über ‚Mustererkennung’ benannt und erkannt wird. Hier gilt es jedoch weiterhin zu berücksichtigen, dass die grundlegenden Regeln, die unsere Kategorien des Verstehens bilden, sich der bewussten Artikulation entziehen. Dies ist die zentrale Einsicht von Hayeks, die er auf die Politische Ökonomie überträgt. Doch bedeutet das nicht, dass es einen festen Bestand dieser impliziten Regel geben muss, denn die Regeln selbst unterliegen einem evolutionären Selektionsmechanismus. In diesem Kontext beschreibt die kulturelle Evolution den natürlichen Wettbewerb, einer Selektion von rivalisierenden Regeln und Verhaltensweisen, von Traditionen und Handlungsanweisungen. Die kulturelle Evolution ist ein Teil seiner Theorie der spontanen Ordnung. Kulturelle Evolution führt mit zur Bildung von Strukturen und Systemen, die sich nicht auf die Planung eines Individuums reduzieren lassen. Der kulturelle Entwicklungsprozess ist nicht das Wirken menschlicher Vernunft durch positives Recht. Denn „[w]ahrscheinlich ist es ebenso berechtigt zu sagen, dass der denkende Mensch seine Kultur erschaffen hat wie umgekehrt, dass die Kultur den denkenden Menschen erschaffen hat.“475 Gleichzeitig erlaubt die kulturelle Evolution im Befolgen gemeinsamer Regeln die Kooperation zwischen Menschen und ermöglicht dadurch den Prozess von der ‚Minigesellschaft’ der Familie und der Polis hin zu unserer Makrogesellschaft. „Ein Repertoire erlernter Regeln sagte ihm, was richtiges und was falsches Handeln unter verschiedenen Umständen war, und dies gab ihm in zunehmenden Maße die Fähigkeit sich an wechselnde Bedingungen anzupassen. – und insbesondere mit den anderen Mitgliedern seiner Gruppe zu kooperieren.“476
Die kulturelle Evolution zielt auf Regeln und Verhaltensweisen und nicht auf das Wissen über Ursachen und Wirkungen. Der Prozess der kulturellen Evolution ist für von Hayek durch Lamarcksche Evolution geprägt und beinhaltet Mechanismen der Imitation. Lamarcksche Evolution ist als Entwicklung von Handlungsweisen und Traditionen, im Gegensatz zur Evolutionstheorie Darwins, als reine Gruppenauswahl konzipiert. Von Hayek schlägt demzufolge die Analyse sich selbst erhaltender Strukturen vor: 473 John Gray, Freiheit im Denken Hayeks, übersetzt von Alfred und Hertha Bosch, (Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1995), Kapitel 2. 474 Siehe zum Beispiel: Friedrich von Hayek, „Economics and Knowledge“, op. cit., Seite 52. 475 Friedrich von Hayek, „Drei Quellen der menschlichen Werte“, in Friedrich von Hayek, Die Anmassung von Wissen, op.cit, Seite 41. 476 Ibid., Seite 44.
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„Adam Smiths größter Beitrag zum wissenschaftlichen Denken, seine Vorstellung eines sich selbst ordnenden Prozesses, der wie eine unsichtbare Hand komplexe Strukturen schafft, wurde zum Ausgangspunkt von Basiswissenschaften, die unter den Namen Kybernetik, allgemeine Systemlehre, Synergetik oder Autopoiesis bekannt sind. Sie ist aber bis zum heutigen Tag die Zielscheibe der Spottvögel geblieben, auch unter Ökonomen, die noch nicht begriffen haben, dass es das Hauptproblem ist, das jede Erklärung der Ordnung unserer Gesellschaft zu lösen hat.“477
Damit wendet er sich gegen eine sozialdarwinistische, somit gegen eine genetische oder individualistische Beschreibung des Evolutionsprozesses als natürliche Auslese.478 Ohne Zweifel ist ein funktionalistisches Element, ein Fortschrittsglauben der Evolutionstheorie zu einem besseren Zustand hin, in seiner Theorie deutlich vorhanden. Dieser Aspekt hat aber mit der Unsicherheit und Evolution nichts zu tun und kann getrost aus der Betrachtung ausgeschlossen werden. Dennoch hat das Denken von Hayeks diese Seite: die kulturelle Evolution ist ein Prozess der Selektion rivalisierender Regeln, Normen und Werte. Diese rivalisierenden Regeln werden durch die Praktiken und Institutionen im Wettbewerb stehender Gruppen vermittelt. Dieser Wettbewerb wird motiviert durch den Konflikt internalisierter Normen oder Handlungen im praktischen Leben. Die kulturelle Evolution wird angetrieben von einer Selektion unter wissensgenerierenden Institutionen, verstanden als Praktiken und Traditionen. Bricht von Hayek damit mit der Wiener Schule und ihrem methodologischen Individualismus, wie John Gray meint?479 Meines Erachtens nicht. Von Hayek bewegt sich immer mehr auf Menger zu und führt wichtige Gedanken weiter. Besonders wenn Individualismus nicht als Rationalismus verstanden wird, bei dem die Subjektivität des Individuums unter das Primat des Identitätsprinzips gezwungen wird, sondern die Anerkennung der Subjektivität in die Anerkennung des anderen in seiner Verschiedenheit führt. 5.3.4 Zusammenfassung Die Kommunikation von Wissen in einer durch Wissensteilung geprägten Volkswirtschaft steht im Mittelpunkt der Gedanken von Hayeks. Mit dem Begriff der Wissensteilung wird die Tatsache bezeichnet, dass jedes Mitglied der Gesellschaft, und demnach auch der beobachtende Wissenschaftler, nur über einen Bruchteil des in der Gesellschaft implizit oder explizit vorhandenen Wissens verfügen kann. Das heißt aber auch, dass jeder einzelne in Unkenntnis der meisten Tatsachen ist – insbesondere der Tatsachen, auf denen die Gesellschaft beruht und von deren Funktionieren sie abhängig ist. Von Hayek betont die epistemische Unsicherheit und die Notwendigkeit der Erwartungsbildung für das Entstehen sozialer Ordnungen. Die subjektive Werttheorie wird um eine subjektive Erwartungstheorie in der Entscheidungstheorie erweitert, innerhalb deren Normen eine Koordinationsfunktion übernehmen. Die subjektive Erwartungstheorie führt von Hayek zur Notwendigkeit eines Übergangs zur Systemtheorie, um die Subjektivität der Individuen wahren zu können. Erwartungsbildung ist nicht nur regulativ sondern auch konstitutiv, wenn sich Erwartungen durch 477 Friedrich von Hayek, „Die überschätzte Vernunft“, in Friedrich von Hayek, Die Anmassung von Wissen, op. cit, Seite 84. 478 Friedrich von Hayek, „Die überschätzte Vernunft,“ op. cit., Seite 85. 479 John Gray, 1995, op. cit, Seite 54.
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Institutionen bilden und Erwartungen die Struktur des Systems sind. Darin liegt, meines Erachtens, die Dynamik des Systembegriffs bei von Hayek. Diese Darstellung der Gedanken von Hayeks baut auf zwei Unterscheidungen auf: Die Unterscheidung von Organisation und Ordnung markiert bei von Hayek die Grenze der Gestaltbarkeit. Gleichzeitig wendet er sich gegen die Unterscheidung von Instinkt und Verstand. Instinkt wird nicht gegen Verstand sondern gegen Brauch und Tradition abgegrenzt.480 Diese Unterscheidung führt von Hayek einerseits in seiner Konzeption der kulturellen Evolution an, in der Verstand und Ordnung fast dialektisch zueinander stehen. Andererseits erlaubt diese Abgrenzung seine Formulierung der Regelabhängigkeit der Vernunft und begründet seinen Skeptizismus. Die Unterscheidung von Instinkt und ‚Brauch/Tradition’ führt von Hayek zu einer reduzierten Rolle der Vernunft bei der Anpassung von Erwartungen oder dem Sammeln von Erfahrungen. ‚Aus Erfahrung lernen’ ist bei von Hayek nicht primär ein Prozess des logischen Schlussfolgerns, sondern in der „Beachtung, Verbreitung, Übermittlung und Entwicklung von Praktiken, die sich durchgesetzt haben, weil sie erfolgreich waren – oft nicht, weil sie dem handelnden Individuum einen erkennbaren Vorteil verschafften, sondern weil sie die Überlebenschance der Gruppe erhöhten, der es angehörte.“481 Das Ergebnis dieser Entwicklung der kulturellen Evolution mit ihrer Zwillingsidee der spontanen Ordnung ist „nicht artikuliertes Wissen, sondern ein Wissen, das zwar in Form von Regeln beschreibbar ist, das das Individuum aber nicht in Worten ausdrücken kann, sondern nur in der Praxis zu befolgen fähig ist. Der Geist bringt nicht so sehr die Regeln hervor, sondern besteht vielmehr aus Regeln des Handelns, das heißt aus einem Komplex von Regeln, die er nicht gemacht hat, sondern die einfach deshalb jetzt die Handlungen der Individuen leiten, weil sich Handlungen in Übereinstimmung mit ihnen als erfolgreicher erwiesen haben als die der konkurrierenden Individuen oder Gruppen.“482 Dieser funktionalistische Grundzug in seiner Argumentation muss heute aufgegeben werden. Die Evolution ist kein Prozess einer Heilsgeschichte zu einem besseren Zustand hin. Die Kategorien von besser/schlechter stehen dem Evolutionsprozess nicht vor, sondern werden in ihm erst definiert. Ich führe den Funktionalismus seiner Argumentation auf seine Formulierung der Ordnung als Zusammensetzung von Teilen zu einer Ganzheit zurück. Dabei werden Individuen als Teil und die Gesellschaft als das System, das Ganze, verstanden. Der evolutionäre Aspekt seines Denkens erklärt demnach die Abneigung gegen den Wohlfahrtsstaat. Wenn die Verschiedenheit der Teile eine Ordnung hervorbringt, dann gilt für von Hayek, dass der Wohlfahrtsstaat die Heterogenität der Teile verhindere. Dass dies auf einer veralteten Sicht der evolutionären Mechanismen gesellschaftlicher Ordnung basiert, sollte hier zumindest erwähnt werden. Denn wie Luhmann deutlich zeigt, ist die für gesellschaftliche Evolution notwendige Varietät nicht zwischen den Individuen, sondern in der Sprache und der Kommunikation zu suchen.
480 Friedrich von Hayek, „Die überschätzte Vernunft,“, op. cit., Seite 82 481 Friedrich von Hayek, Recht, Gesetzgebung, und Freiheit, op.cit., Seite 34. 482 Ibid., Seite 34.
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5.4 Schlussbetrachtung Das Ziel dieses Kapitels war es, den Begriff der Unsicherheit gegen den Begriff der Ungewissheit abzugrenzen und ihn wieder in einen sozialdiskussionstheoretischen Diskussionszusammenhang einzubetten. Es sollte deutlich werden, dass dem Unsicherheitsbegriff eine epistemologische Fragestellung zu Grunde liegt, die in der Philosophie des Geistes ihre Verankerung findet. Die in diesem Kapitel diskutierten Perspektiven teilen die Ansicht, dass eine numerische Repräsentation von Wahrscheinlichkeit unzureichend für die Analyse gesellschaftlicher Prozesse ist. Numerische Wahrscheinlichkeit setzt die Möglichkeit der Messung voraus. Der prinzipiellen Möglichkeit der Messung, in der auch die Kategorien a priori gegeben sind und durch notwendige und hinreichende Bedingungen beschrieben werden, entspricht ein Wissenschaftsideal des allgemeinen Gesetzes. Jedoch ist diese Möglichkeit nicht vorhanden. Es gibt keinen privilegierten Ort, von dem aus die Welt objektiv betrachtet werden kann und diese Gesetze erkannt werden könnten. Als Folge wird die Praxis wieder entdeckt. Genau dies drückt der Begriff der Lebenswelt aus. Entsprechend können gegensätzliche Interpretationen der Welt gleichberechtigt nebeneinander stehen, ohne auf ein erstes Prinzip reduzierbar zu sein. Dieser Gegensatz wurde insbesondere von G.L.S. Shackle mit unterschiedlichen Zeitverständnissen verbunden. Objektive Zeit interessiert sich für Aussagen der großen Zahlen, sie interessiert sich für Durchschnittsaussagen und Aggregate, die mechanisch mathematischen Formeln gehorchen. Dynamik wird Übergang von einem Zeitpunkt zum nächsten verstanden. Dabei sind die Zeitpunkte durch die physikalische Zeit beschrieben, in der sich ein Zeitpunkt in einer endlosen Schleife an den nächsten setzt und in der Vergangenheit und Zukunft linear zusammengebracht werden. Die objektive Zeit, die physikalische Zeit der Uhrzeiger, die klassische Dynamik, wird von Theoretikern bevorzugt, die von sich selbst denken, sie seien nicht Teil ihres Untersuchungsgegenstands. Zeit ist hier eine Variable im Vokabular der Funktion. Die Idee einer zeitlosen Zeit, die den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft verwischt. Zeit wird auf den Raum reduziert.483 Fragen der Dauer, der subjektiven Zeit, verneinen nicht die physikalische Zeit, messen ihr aber nicht die entscheidende Rolle bei der Entscheidung und der Erklärung von Dynamiken bei. Dauer unterscheidet zwischen vergangenem Wissen, gegenwärtigen Wissen und zukünftigen Wissen. Im Zentrum steht dabei die Konstitution des einzelnen Zeitpunkts, wie er sich im Bewusstsein des Individuums manifestiert. Dieser Zeitpunkt ist eventuell mit Gedanken, Gefühlen, Vorstellungen durchsetzt. Dabei geht dieser Moment nicht als notwendige Konsequenz aus vorherigen Momenten hervor, noch geht er notwendig durch Vorhersage in den nächsten über: „the intuition which teaches that each such element of time is one of a set arranged as it were in linear sequence gives us several further ideas. There is first that of an ordered sequence of situations or events in which we may seek or think we see an inevitability, or perhaps several collateral strands of inevitability, or shall we say of necessary pattern. Order or sequence by itself is here distinct from unity of the pattern, from necessary sequence. Next there is greater or less remoteness of situations or events, there is distance in time. And thirdly there is the sense of 483 G.L.S. Shackle, Decision Order and Time in Human Affairs, 2nd edition, (Cambridge: Cambridge University Press, 1969), Seite 42.
5.4 Schlussbetrachtung
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cumulation of time-elements, the sense of duration. But this is not all. Experiences can occur, they can also be re-enacted in memory; thirdly they can be created in imagination, and fourthly this imagination can be constrained into a harmony with current and remembered experience so as to approach them in validity and become able to generate emotion, so that it can be called expectation.”484
Schon an dieser Stelle wird deutlich, wie sehr der Begriff der Subjektivität epistemologisch unterfüttert ist. Es stellt sich nun die Frage, wie diese zwei Momente des Entscheidens und des Nicht-Entscheidens im Bewusstsein des Individuums sich manifestieren und wie von dieser Bewusstseinsimmanenz Schlussfolgerungen über die externe Welt gemacht werden können. Shackle führt die Diskussion weiter, indem er fragt, wie Teile und Ganzheit unterschieden werden können, was die Einheit der untersuchten Gegenstände bestimmt. Ontologisch setzt Shackle mit dem Begriff der ‚Inspiration’ und der ‚Vorstellungskraft’ dem materialistischen Monismus zwei epistemologische Kategorien entgegen. Mit dem Unsicherheitsbegriff wird auf eine konstitutive Fragestellung verwiesen, die in Verbindung mit einem ontologischen Dualismus steht. Der Unsicherheitsbegriff mündet in eine Theorie der spontanen Ordnung, in der die organische Natur eine kontrollierte Evolution von Institutionen absurd erscheinen lässt. Dabei zeigte sich immer wieder die Verbindung von Unsicherheit zu den weiteren Debatten in der Sozialtheorie und der Philosophie, die an einer genuin sozialwissenschaftlichen Methode interessiert sind. Die Reduktion von Menger auf seine Rolle als einer der Begründer der Grenznutzentheorie, aber auch eine parallele Reduktion von Friedrich von Hayek auf den heutigen methodologischen Individualismus, würde die Rolle der Unsicherheit und damit die Rolle von Zeit und Evolution in wirtschaftlichen Phänomenen unterschätzen. Diese Prozesse bezeichnen keinen finalen Gleichgewichtspunkt, sondern einen andauernden Prozess. In der Formulierung der Unsicherheit als Prozess liegt der Unterschied zur modernen Spiel- und Vertragstheorie, die Probleme der endogenen Vertragsbildung in Prinzipal-Agenten-Modellen über ein Gleichgewicht als Zustand konzipiert. Die Unterscheidung von Ungewissheit und Unsicherheit, hat ihr Pendant in der Gleichgewichtskonzipierung, wenn es unter Unsicherheit überhaupt nützlich ist, von Gleichgewicht zu sprechen. Diesen Prozess möchte ich in dieser Zusammenfassung mit der Klärung der Zeitirreversibilität und der partikularen Bedeutung von ‚Subjekt’ von dem Vokabular der Erwartungsnutzentheorie abgrenzen. Carl Menger hat sich schon in den Grundzügen gegen die Auffassung gewehrt, Preise würden Gleichgewichtszustände beschreiben. Für seine Kritik führte Menger ein Zeitargument an. „Weil aber die Preise die einzigen sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen des ganzen Processes sind, ihre Höhe sich genau messen lässt und das tägliche Leben uns dieselben ohne Unterlass vor Augen führt, so war der Irrthum naheliegend, die Grösse derselben als das Wesentliche am tausche, und, in weiterer Consequenz dieses Irrthums, die im Austausch erscheinenden Güterquantitäten als A e q u i v a l e n t e zu betrachten... Hierdurch wurde aber der unberechenbare Nachteil für unsere Wissenschaft herbeigeführt, dass sich die Forscher auf dem Gebiete der
484 G.L.S Shackle, „The Complex Nature of Time as a Concept in Economics”, Economica Internatzionale, Vol. 7 No. 4, (1954), Seite 743-757 reprinted in ders. Time; Expectations and Uncertainty in Economics, ed. By James Lorne Ford, (Hants: Edward Eldgar), 1990, Seite 3.
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Preiserscheinungen auf die Lösung des Problems verlegten, die angebliche Gleichheit zwischen zwei Güterquantitäten auf ihre Ursachen zurückzuführen...“ 485
Der Irrtum besteht nach Menger darin, dass es, in moderner Terminologie, keine Vertragskurve gibt. Denn diese setzt interpersonelle Indifferenz und damit Vergleichbarkeit voraus: beide Tauschpartner müssten sowohl vor- als auch nach dem Tausch indifferent zwischen zwei Güterkörben sein. „Solche Aequivalente sind nun aber im wirthschaftlichen Leben der Menschen nirgends vorhanden. Gaebe es nämlich Aequivalente in diesem Sinne, so wäre es nicht abzusehen, warum nicht jeder Tausch...wieder rückgängig gemacht werden könnte.“486 Diese Zeitirreversibilität wendet sich gegen den Tantamount-Prozess von Walras und sein zentrale Figur des Auktionators. Der ontologische Dualismus verändert ebenso die Konzepte von Kausalität und Subjektivität. Der Begriff des Kausalzusammenhanges bezieht sich bei Menger nicht auf die Stellung des Menschen zur Natur, sondern auf die Rolle von Wissen im Produktionszusammenhang. Die Kategorie der Kausalität bezeichnet wiederum keinen ontologischen Monismus der Naturwissenschaft, sondern eine Position der mentalen Verursachung. Diese Formulierung der Produktionsprozesse in Einheiten der (mentalen) Kausalität, leitet direkt zu seiner Konzeption der Zeit über. Veränderungen wie Produktion oder Tausch finden nach Menger nur in der Zeit statt. Die Zeit in den Veränderungsprozessen ist bei Menger, und das ist der wichtige Punkt, nicht reversibel. Produktion bindet Zeit und ist mit Unsicherheiten verbunden. Die Einzelteile eines Autos sind von anderer Qualität und auch von anderem Wert als das gefertigte Auto. Je länger die Produktionskette, desto höher ist dabei die Unsicherheit. Unter dem Blickwinkel des ontologischen Dualismus wird das Wort ‚subjektiv’ umgedeutet. Das Leib-Seele Problem wird in der Bewusstseinsphilosophie häufig auch mit den Begriffen objektiv/subjektiv umschrieben. Mit Subjektivität wird somit nicht das Individuum bezeichnet, sondern die geistige, die immaterielle ‚Natur’ der Gedanken, wie sie heute oft in der Gefolgschaft von Brentano mit dem Begriff der Intentionalität beschrieben wird. Die Betonung Mengers, Bedürfnisse seien nicht messbar, kann hier als ein Indikator angesehen werden, denn ein Charakteristikum der Gedanken ist gerade ihre Nichtmessbarkeit. Es macht keinen Sinn zu sagen, ein Gedanke sei schwerer als ein anderer oder er sei fünf cm lang. Diese Unmöglichkeit des Messens ist der entscheidende Unterschied zwischen Ideen und der Materie. Um Ideen zu untersuchen, wandte sich Menger dem Individuum zu, um Bedingung der Möglichkeit ökonomischen Verhaltens und damit ökonomischer Phänomene in der Sozialität des Menschen zu verorten, wie sie in den organischen Institutionen zum Ausdruck kommt. Für das vom Neukantianismus geprägte 19. Jahrhundert ist dies sicherlich eine naheliegende Strategie gewesen. Auch der Funktionalist von Hayek benutzt hier das subjektive Vokabular des Neukantianismus. Heute, nach der sprachphilosophischen Wende von Wittgenstein, wissen wir aber, dass Institutionen nicht auf das Individuum reduziert werden können. Vielmehr gilt es, Methoden und Konzepte zu entwickeln, die eine Rekonstruktion der inter-subjektiven Bedeutungsstrukturen erlauben.
485 Carl Menger, Grundsätze, op. cit., Seite 172. Kursive Hervorhebung durch mich; andere Hervorhebung im Original. 486 Ibid., Seite 174.
6.1 Möglicher Einwand: Spiele unvollkommener Information
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6 Unsicherheit, Rationalität, Institutionen
Nachdem in den letzten Kapiteln eine begriffsorientierte Analyse erfolgte, soll dieses Kapitel die prinzipielle Unvereinbarkeit von Ungewissheit und Unsicherheit verdeutlichen. Damit werden zwei Ziele verfolgt. Zum einen soll gezeigt werden, dass der PostPositivismus ohne eine epistemische Dimension nicht zu denken ist. Eine Verbindung von Rationalismus und Konstruktivismus auf Basis ontologischer Überlegungen baut auf einem Kategorienfehler auf der Ebene der Wahrscheinlichkeitstheorie auf, in dessen Folge sich ein Konflikt zwischen der intersubjektiven Ontologie und der individualistischen Epistemologie zeigt. Zum anderen erfolgt an dieser Stelle der Wechsel von der Semantik auf die Beobachtung von Strukturen. Im Anschluss kann dann im 7. Kapitel zweierlei gezeigt werden: welche Dynamiken rationalistische Ansätze nicht beobachten können und wie die aktuelle Diskussion um die Reformierung der Finanzmärkte sich als ein Versuch darstellt, das aleatorische Vokabular, die damit eingeschriebenen Ansprüche an Wissen und Wissenschaft mit eingeschlossen, auf das Phänomen der Währungskrisen auszuweiten in dessen Folge Modelle asymmetrischer Information eben nicht die ‚Realität’ abbilden, sondern strukturierend hier auf sie einwirkt. 6.1 Möglicher Einwand: Spiele unvollkommener Information Die Arbeiten von Kenneth Arrow487 gelten als Ausgangspunkt einer kritischen Haltung gegenüber der Unterscheidung von Unsicherheit und Risiko, in deren Nachfolge Autoren wie zum Beispiel Laffont488 oder Hirshleifer und Riley489 diese Unterscheidung als unsystematisch und von geringen heuristischem Wert ansehen.490 Somit wendet sich Arrow vor allem gegen die Unterscheidung von aleatorischer und epistemischer Wahrscheinlichkeit. Schließlich wäre bei vollständigem Wissen die Frage nach Risiko gar nicht zu stellen. In diesem Sinne sind alle Wahrscheinlichkeiten Ausdruck von Unwissen. Da aber das Gesetz der großen Zahlen gilt, lässt sich dieses Unwissen am besten durch den Formalismus der Bayesschen Induktion beschreiben: neue Informationen und Erfahrungswerte zeigen sich dann in einer Veränderung der Wahrscheinlichkeiten. Die erste Zuschreibung von Wahrscheinlichkeiten wird gleichzeitig über das Prinzip des unzureichenden Grundes garantiert: 487 Kenneth J. Arrow, „Alternative Approaches to the Theory of Choice in Risk-Taking Situations”, Econometrica, Vol. 19 No 4 (1951), Seite 404-437. Siehe auch ders., Aspects of the Theory of Risk-Bearing (Amsterdam: North Holland, 1970). 488 Jean J. Laffont, The Economics of Uncertainty and Information (Cambridge, Mass: M.I.T. Press, 1989). 489 Jack Hirshleifer und John G. Riley, „The Analytics of Uncertainty and Information: An expository survey”, Journal of Economic Literature, Vol. 17 No 4 (1979), Seite 1375-421; dies. The Analytics of Uncertainty and Information (Cambridge, UK: Cambridge University Press, 1992). 490 In den Internationalen Beziehungen wird diese Auffassung zuletzt vertreten durch Barbara Koremenos, Charles Lipson, Duncan Snidal (Hrsg.), „Rational Design of International Institutions”, International Organization, Vol. 55 No. 4 (2001), special issue.
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6 Unsicherheit, Rationalität, Institutionen
selbst im Falle einer Situation völliger Ignoranz, sei es immer noch möglich, verschiedenen Zuständen der Welt die gleiche Wahrscheinlichkeit zuzuschreiben.491 Arrow zeigt damit deutlich, welcher argumentative Stellenwert der Bayesianischen Statistik hier zukommt. Sie bietet einen möglichen Ansatzpunkt, um Ungewissheit bei gleichzeitiger Anerkennung von Unsicherheit zu konzeptualisieren. Wie Harsanyi zeigt, ist die Konstruktion eines (perfekten) Bayesianischen Gleichgewichts auch in den Fällen möglich, in denen die Nutzenfunktion, Auszahlungsfunktion oder Kostenstruktur meines Gegenspielers nicht bekannt ist.492 Selbst in Situationen genuiner Unsicherheit braucht man, nach Harsanyi, nicht auf die Anforderungen der internen Konsistenz und Wissenschaftlichkeit zu verzichten. Schauen wir uns die Grundform eines Spiels mit unvollkommener Information an. Ausgangspunkt scheint in der Tat eine Situation der Unsicherheit zu sein: „Some or all of the players lack full information about the ‚rules’ of the game or equivalently about its normal form (or about its extensive form). For example they may lack full information about other player’s or even their own pay-off functions, about the physical information and strategies available to other players or even to themselves, about the amount of information the other players have about various aspects of the game situation.”493
Wie also Harsanyi zu zeigen versucht, ist selbst unter dieser Bedingung die Konstruktion eines Gleichgewichts möglich, das den Rationalitätsanforderungen genügt. Der Trick, den Harsanyi anwendet, ist die Überführung der Spiele mit unvollkommener Information in Spiele mit unvollständiger Information.494 Dabei geht er wie folgt vor:
Alle privaten Informationen werden zu einem Typ zusammengefasst, der sich aus einem Typenraum ergibt Die Typenrealisierung wird durch die Natur vorgenommen. Das heißt bevor das eigentliche Spiel beginnt, zieht die Natur für jeden Spieler, also sowohl für Spieler i als auch die Spieler i, den Typen aus dem Typenraum. Dabei lernt jeder Spieler nur seinen eigenen Typen. Die Ziehung der Natur ist durch eine jedem Spieler bekannte Wahrscheinlichkeitsverteilung beschrieben. Alle Spieler gehen von derselben a priori gegebenen Wahrscheinlichkeitsverteilung aus.
Die Erwartungen eines Spielers hinsichtlich der wahrscheinlichen Verteilung der Typen unter seinen Gegenspielers in Abhängigkeit von seinen eigenen Typ werden als Überzeugung (‚Belief’) definiert. Diese common-prior-Annahme ist dabei von zentraler Wichtigkeit, da eine solche Wahrscheinlichkeitsverteilung jedem Spieler bei Beginn des Spiels bekannt sein muss. Gleichzeitig nimmt Harsanyi im weiteren Verlauf seiner Argumentation die numerische Repräsentation der Wahrscheinlichkeit(-sverteilung) an. Wie Harsanyi 491 Jedoch, das wurde bei Keynes diskutiert, setzt dies bereits voraus, dass die Situation strukturiert ist: es muss schon feststehen, was als Beweis und als Signal gelten kann, welche Alternativen möglich sind, und wie Alternativen und Signale zueinander stehen. 492 John Harsanyi, „Games with Incomplete Information Played by ‚Bayesian’ Players, Parts I, II, III, Mangement Science, Vol. 14 No. 3 (1967), Seite 159 – 182; Management Science, Vol. 14 No. 5, Theory Series (1968), Seite 320-334; Management Science, Vol. 14 No. 7 (1968), Seite 486-502. 493 Harsanyi, Part I, Seite 163. 494 Ibid., Seite 166.
6.1 Möglicher Einwand: Spiele unvollkommener Information
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selbst schreibt: „It is necessary also that each player I in either game should always assign the same numerical probability p to any given specific event E.”495 In Spielen mit unvollständiger Information repräsentiert diese Wahrscheinlichkeit die subjektive Einschätzung, die sich innerhalb des Bayesiansichen Spiels mit unvollständiger Information in eine objektive, bedingte Wahrscheinlichkeit übersetzt. Diese Übersetzung und Gleichbehandlung begründet sich über geteilte Erwartungen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeitsverteilung.496 Harsanyi fasst dies wie folgt zusammen, während er die Äquivalenz seines veränderten Spiels (G*) mit der Ausgangssituation (G) vergleicht: „This postulate follows from the Bayesian hypothesis, which implies that every player will use his subjective probabilities exactly in the same way as he would use known objective probabilities numerically equal to the former. The only difference is that in G the probabilities used by each player are subjective probabilities whereas in G* these probabilities are objective (conditional) probabilities. But by the Bayesian hypothesis this difference is immaterial.”497
Die logische Rechtfertigung für diesen Schritt sieht Harsanyi darin, dass „The logical justification for replacing the original game containing subjective probability distributions with a probabilistic game model involving only objective probabilities is the well known fact that any Bayesian decision maker (or player) will always act exactly the same way, regardless whether he interprets the numerical probabilities he assigns to various events as objective probabilities corresponding to long-run frequencies or as subjective probabilities expression merely as his personal beliefs.”498
Diese zwei Textstellen zeigen deutlich, dass Harsanyi von der Unterscheidung von epistemischer und aleatorischer Wahrscheinlichkeit – und damit einer Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit absieht. Meines Erachtens zeigt sich aber hier wieder der gleiche argumentative Schritt, wie er bei Savage identifiziert wurde. Denn wie die Textstellen von Harsanyi ebenfalls verdeutlichen, baut die Bayesianische Statistik auf der Annahme numerisch vorliegender Wahrscheinlichkeiten auf, die nur über das aleatorische Verständnis des Prinzips des unzureichenden Grundes a priori generiert werden können. An dieser Stelle argumentiert Harsanyi selbst aber ebenfalls mit dem aleatorischen Wahrscheinlichkeitsbegriff. Meiner Vermutung nach ist der aleatorische Wahrscheinlichkeitsbegriff mit der Vorstellung exogen gegebener Heterogenität verbunden. Denn nur durch diese Annahme wird die Übersetzung von unvollkommener in unvollständige Information ermöglicht. Dabei wird, wie bereits betont, von einer de dicto auf eine de re, von einer epistemologischen zu einer ontologischen Fragestellung übergegangen. Illustrativ fügt Harsanyi an dieser Stelle an: „Even Leonard Savage, whose view comes closest to extreme subjectivism among distinguished Bayesian statisticians, has always admitted that in some situations (viz. those involving random devices with suitable physical symmetries, such as fair coins or fair dice, etc.) all reasonable people will use the same probability distribution.”499 495 496 497 498
Ibid., Seite 174, meine Betonung. Ibid., Seite 174. Ibid., Seite 174. John C. Harsanyi, „Subjective Probabililty and the Theory of Games: Comments on Kadane and Larkey’s Paper,“ Management Science Vol. 28 No. 2 (1982), Seite 121 –22. 499 Ibid., Seite 120.
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6 Unsicherheit, Rationalität, Institutionen
So ist auch die common-prior-Wahrscheinlichkeitsverteilung ein ontologisches Konzept, dass der Natur zugeschrieben wird und für alle Spieler gleich ist. Diese common-priorAnnahme, wie auch die Heterogenität möglicher Typen, wird exogen in das Modell eingeführt. Die Typen stehen zu Beginn des Modells fest und die Interessen und Identitäten der Akteure können sich nicht durch die Interaktion verändern. Die Zuschreibung der Typen erfolgt durch die Natur als eine Art Lotterieziehung, die Harsanyi mit einem externen Beobachter vergleicht: „More particularly, the prior-lottery model pictures this social process as it would be seen by an outside observer having information about some aspects….In other words, the hypothetical observer must have exactly all the information common to the n players, but must not have access to any additional information private to any other player”500
Die Reduktion von Unsicherheit auf Risiko zeigt sich besonders deutlich bei Signalisierungsspielen. Innerhalb der Signalisierungsspiele stehen potentielle Signale und mögliche Erwartungsveränderung in einem funktionalen Zusammenhang. Ein Signal wird die Erwartungen auf spezifische und ex ante vorbestimmte Weise des Gegenübers verändern. Ein bekanntes Beispiel ist das job market signalling von Michael Spence.501 In dieser Situation hat ein Personalmanager aus einer Menge von Bewerbern einen sehr qualifizierten für das Unternehmen auszuwählen. Die Qualität der Bewerber, ihre Intelligenz und Effizienz ist vor dem Vertragsabschluß nicht beobachtbar. In dieser Situation wird der Personalmanager auf Signale in der Bewerbung achten, die ihm Informationen über die Qualität erlauben. Wird ein Signal beobachtet, z.B. ein Prädikatshochschulabschluss, und kann dieses Signal auf einen Typen zurückgeführt werden, hebt dieses Signal die Situation der asymmetrischen Information auf. Nur wenn es kein separierendes Gleichgewicht geben kann, und es sich für mehrere Typen lohnt, das gleiche Signal zu senden, hat die Sendung eines Signals keinen Informationswert. Die Idee ist somit die gleiche wie beim Nash-Gleichgewicht: jeder Spieler muss in Abhängigkeit von der Strategie seines Gegenspielers die beste Antwort wählen. Erweitert wird dies nun dadurch, dass jeder Spieler seine Strategie typenspezifisch formulieren und Erwartungswerte über mögliche Typen seiner Gegenspieler bilden muss. 502 Es wird aber gerade nicht hinterfragt, wie Typen sich im Spielverlauf verändern. Ebenso wird nicht gefragt, wie sich Beweise oder Funktionen evolutionär über intersubjektive Prozesse verändern. Hier könnte beobachtet werden, dass ein Signal meist nur dann Wirkung hat, wenn es gerade nicht common knowledge ist und die Internalisierung des Signals als common knowledge gleichzeitig die Bedingung der Möglichkeit für das Signal unterminiert. Keynes’ Schönheitswettbewerb ist hier natürlich wieder ein klassisches Beispiel. Jedoch kann man auch an die Zinssenkungen Ende der 1990er Jahre denken. Eine Zinssenkung als Signal führte eben nicht über eine zu erwartende Erholung der konjunkturellen Lage zu steigenden Aktienpreisen, wie dies in Textbüchern gerne beschrieben wird. Da jeder Spieler diesen Zusammenhang internalisiert hat, wurde dieses Signal nun als Zeichen der Schwäche interpretiert, als Zeichen einer Abkühlung der Wirtschaftslage. 500 John C. Harsanyi, „Games – Part I“ Seite 176-177. 501 Michael Spence, „Job Market Signalling”, The Quarterly Journal of Economics, Vol. 87 No. 3 (1973), Seite 355-374. 502 John G. Riley, „Silver Signals: Twenty-Five Years of Screening and Signalling,“ Journal of Economic Literature 39, No. 2 (2001), Seite 432-478.
6.2 Wissen, Rationalität und Institution
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Letztlich gelingt es auch der Bayesianischen Theorie des Lernens nicht, die Unterscheidung von Unsicherheit und Ungewissheit hinter sich zu lassen, sondern nur, über das Prinzip des unzureichenden Grundes, die epistemologische durch eine ontologische Frage zu ersetzen. Freilich fällt hier die Nähe zu der in den IB dominanten Frage nach dem Konstruktivismus als Mittler zwischen Positivismus und Postmoderne auf, denn auch hier stellt sich die Frage, ob denn dem Konstruktivismus eine epistemologische Dimension zugestanden werden muss, oder ob es sich um eine rein ontologische Problematik handelt. Aus der semantischen Analyse der drei letzten Kapitel zeigt sich deutlich, dass eine Reduzierung des Konstruktivismus auf die Ontologie nicht gelingen kann. Die intersubjektive Ontologie würde dann der individualistischen Epistemologie widersprechen mit der Folge, dass der Konstruktivismus vom Positivismus nicht mehr zu unterscheiden wäre. Denn auch Spieltheoretiker können glaubhaft eine intersubjektive Ontologie proklamieren, ohne ihre theoretischen Prämissen in Frage stellen zu müssen. Dass diese Option gerade den für den Konstruktivismus wichtigen Fokus auf die Kontextabhängigkeit von Wahrheitsbedingungen wieder ausklammert, wurde deutlich. 6.2 Wissen, Rationalität und Institution Um diesen Punkt nochmals zu verdeutlichen, wird in diesem Abschnitt, vor dem Hintergrund der Risikosemantik, eine Grenzziehung zwischen dem Positivismus und dem Konstruktivismus entlang der Begriffe Wissen, Rationalität und Institution vorgeschlagen. Hierbei soll deutlich werden, dass die These, der Konstruktivismus würde die Epistemologie mit dem Positivismus teilen, falsch ist. Genau aus diesem Grund ist auch die Metapher des Konstruktivismus als Mittelweg höchst problematisch. So hat sich besonders bei den Verweisen auf den Wissensbegriff gezeigt, dass die Konzeption von Wissen im aleatorischen Verständnis zweiwertig ist: entweder etwas gilt als Wissen oder nicht. Das heißt Wissen steht in einer engen Verbindung zur Wahrheit. Analog zum Wahrheitsbegriff der klassischen Logik wird die Wahrscheinlichkeitstheorie als System notwendiger Sätze konzipiert. Analog zu Naturgesetzen, sind wahre Sätze und das ihnen eingeschriebene Wissen demnach unabhängig von Zeit und Raum definiert. Gravitation, so die Meinung, sei eben unabhängig von der menschlichen Zeitrechnung oder von kulturellen Kontexten. Das Vokabular ist um den Begriff der Funktion gruppiert, das den Handlungsbegriff und in dieser Konzeption auch den Risikobegriff festlegt. Ist dieser Rahmen des Wissensbegriffs gefestigt, werden dem Wissen die drei Eigenschaften Homogenität, Harmonie, und Hierarchie zugeschrieben. Wissen ist homogen, da alles Wissen mit dem ‚wahren Wissen’ oder Ideen wesensgleich ist. Aus diesem Grund kann Wissen auch nicht konfliktiv sein. Zwei unterschiedliche Aussagen, die gleichzeitig einen Wahrheitsanspruch proklamieren, können nicht gleichzeitig wahr sein. Die Trennung von ‚Sein’ und ‚Schein’ erlaubt es hier, eine objektive Position einzufordern, von der aus Wahrheitsansprüche losgelöst von subjektiven Einschätzungen klar und eindeutig, das heißt als wahr, entdeckt werden. Dieser objektive Standpunkt erlaubt es auch, Wissen als hierarchisch geordnet zu sehen, denn das theoretische Wissen ist dem praktischen vorangestellt. Wissen kann so von höchsten oder ersten Prinzipien abgeleitet werden, aus denen durch die Wissenschaft weitere wahre Sätze erkannt werden.
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6 Unsicherheit, Rationalität, Institutionen
Die Konzeption von Wissen als homogen, hierarchisch und harmonisch ist in dem Begriff der Funktion zu finden und entspricht einer quantitativen Wissensauffassung. Das heißt Prozesse des Lernens werden als linear progressive verstanden, in denen Daten einen inhärenten Informationsgehalt haben und somit in das bereits vorhandene Wissen eingehen. Paradigmatisch dafür ist, wie gerade besprochen, die Theorie der bedingten Wahrscheinlichkeiten der Bayesianischen Statistik und ihre Lerntheorie, wie sie in den Signalisierungsspielen und anderen Modellen der rationalen Erwartungen zum Ausdruck kommt. Die epistemologische Wahrscheinlichkeitstheorie betont dagegen die Möglichkeit unterschiedlicher Wissensformen. Neben dem theoretischen Wissen haben wir ein praktisches Wissen, das sich in der Regelbefolgung ausdrückt. Dieses Wissen findet sich in den Konventionen und Regeln einer gesellschaftlichen Ordnung. Hier zeigt sich jedoch, dass Regeln kontrafaktisch gültig sind. Die Gültigkeit der Regeln kann sich nicht aus der einfachen Beobachtung der Akteure in ihrer Regelbefolgung selbst ableiten, sondern muss das Wissen der Praxis rekonstruieren. Formal ausgedrückt: Die kontrafaktische Gültigkeit der Regel sprengt den Rahmen der zweiwertigen Logik mit der Folge, dass unter dem Primat der Praxis über die Einbeziehung des Kontextes und der Zeit die Unbestimmtheit als eigenständige Kategorie aus dem ‚Nichtsein’ herausgelöst wird. Somit wird der Unbestimmtheit der ihr gebührende Raum gewehrt, denn was etwas ist, bleibt doch letztlich ebenso unbestimmbar, wie die Unbestimmbarkeit von Sätzen ebenso Wissen ist. Unter dem Regelbegriff wird folglich Wissen als Praxis verstanden. Dies eröffnet den Blick auf zweierlei: Zum einen werden qualitative Veränderungen von Wissen wie Paradigmenwechsel sichtbar. Für die Beschreibung der für die Politik so wichtigen Polykontextualität, das heißt für die Möglichkeit, dass ein gleiches Phänomen in unterschiedlichen Kontexten oder Modellen etwas anderes ist und eine unterschiedliche Bedeutung hat, müssen wir Wissen als Praxis verstehen, um so vom Gedanken des Modells als Repräsentation der Welt zu abstrahieren. Zweitens wird deutlich, dass selbst die Frage, was Wissen ist, abhängig ist von zu Grunde gelegten Unterscheidungen, also von der Frage wie über Wissen nachgedacht und kommuniziert wird. Dabei haben sich mehrere Möglichkeiten herausgebildet: Wissen vs. Glauben in der Scholastik, Wissen vs. Macht in der poststrukturalistischen Kritik Foucaults an Kant, oder Wissen vs. Nichtwissen innerhalb systemtheoretischer Überlegungen. Wie dieses Verständnis den Rahmen des Prinzips der doppelten Negation sprengt ist leicht zu sehen. Der Satz ‚wir können nicht nicht wissen’ hat ja gerade nicht die Bedeutung von ‚wir können wissen’. Die Unterscheidung Wissen/Nichtwissen kann mit dem Begriff der Unbestimmtheit also anders konzipiert werden: wir haben Wissen, Wissen über Nichtwissen, sowie Wissen, wie Nichtwissen verarbeitet wird, wie dies letztlich auch in den Risikomodellen zum Ausdruck kommt. Denn Nichtwissen ist. Das Nichtwissen hat eine Geschichte und es ist möglich, Regeln und Hilfen zu etablieren, mit unserem Nichtwissen und der Ignoranz umzugehen. Das ‚ich weiß, dass ich nichts weiß’ wird so zum ‚ich weiß, weil ich nicht weiß’. Diese unterschiedlichen Konzeptionen von Wissen sind direkt mit der Frage nach den regulativen und konstitutiven Normen verbunden, und damit mit der Frage nach der Rolle von Institutionen. Auch hier zeigen der Positivismus und der Konstruktivismus, Risiko und Unsicherheit, einen zentralen Unterschied: über Modelle der Ungewissheit wird eine Insti-
6.2 Wissen, Rationalität und Institution
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tution als ein Allokationsmechanismus gesehen, während Ansätze der Unsicherheit den Markt als eine Institution konzipieren.503 Schauen wir uns zuerst die Institutionen aus Sicht der Ungewissheit an. Hier zeigt sich, dass bereits von Neumann und Morgenstern die Spieltheorie als eine Art Institutionenanalyse sahen, die fragt, wie sich Institutionen als standards of behavior in Abhängigkeit von einem sozialen oder ökonomischen Hintergrund herausbilden können. Die Spiel- und insbesondere die heutige Vertragstheorie grenzen sich von der Neoklassik gerade dadurch ab, dass sie spezifische institutionelle Arrangements nicht einfach annehmen, sondern sie als Gleichgewichte verstehen, die sich aus den Strategien der Spieler heraus etablieren können. Institutionen sind also die abhängige und nicht die unabhängige Variable der Spiel– und Vertragstheorie.504 Dabei leiten sich die Eigenschaften der Institutionen aus den Strukturen und Eigenschaften des Gleichgewichts ab. Institutionen sind damit letztlich eine Ressourcenallokation, die im Gleichgewicht durch eine Output-Funktion beschrieben werden und dabei die gleichgewichtige Handlungen (Signale, Botschaften) in gleichgewichtige Allokationen übersetzen kann. Die grundlegende Fragestellung dieser Denkrichtung entspricht daher dem Vokabular des ‚Herstellenkönnens’, wie es in den Titeln wie Institutional und Mechanism Designs zum Ausdruck kommt. Hier wird jedoch Praxis auf die Frage der Technik reduziert.505 Wie müssen Anreize gesetzt werden, damit Kooperation zur dominanten Strategie wird. Ein Mechanismus ist anreizkompatibel, wenn für alle Agenten die Wahrheit zu sagen eine dominante Strategie ist. Begründet in der modernen Spiel- und Vertragstheorie sind Institutionen, trotz ihrer Abgrenzung zur traditionellen Mikroökonomik, eben doch immer noch nur regulativer Natur. Sie werden verstanden als Allokationsmechanismus, innerhalb dessen sich die grundlegenden Fragen auf mögliche Verteilungsfunktionen, Optimalitäts- und Gleichgewichtsbedingungen richten. In ähnlicher Weise ist die Funktion von Institutionen in den Internationalen Beziehungen vor allem durch Robert Keohane dargestellt worden, der diese Sicht zusammenfasst: „The principle motor of action in this view is self-interest, guided by rationality, which translates structural and institutional conditions into payoffs and probabilities and therefore incentives.”506 Institutionen basieren demnach auf einem rationalen, regelutilitaristischen Kalkül. Sie existieren, da sie über die Strukturierung von Erwartungen das kollektive Handlungsproblem lösen können und ein abweichendes Verhalten den Akteur schlechter stellt. So baut der ‚Neoliberale Institutionalismus’, wie in Keohanes After Hegemony deutlich wird, auf den ökonomischen Theorien der Firma und der Marktfehler auf. Die Hauptaufgabe der Institutionen ist die Reduktion von Transaktionskosten und die Verteilung der Eigentumsrechte. Institutionen reduzieren die Unsicherheit dadurch, dass sie bestimmten Rollen oder Situationen spezifische Erwartungsstrukturen zuschreiben. In diesem Bild reduziert sich die Aufgabe der Institutionen auf die Veränderung der Auszahlungsfunktion durch die 503 Siehe vor allem Robert O. Keohane, After Hegemony? (Princeton: Princeton University Press, 1984) sowie ders. Power and Governance in a Partially Globalized World (London: Routledge, 2002). 504 Siehe auch Andrew Schotter, The Economic Theory of Social Institutions, (Cambridge: Cambridge University Press, 1981). 505 Siehe auch den wunderbaren Überblick von Andrew Schotter und Gerard Schwödiauer, „Economics and the Theory of Games”, Journal of Economic Literature, Vol. 18 No. 2 (1980), Seite 479- 527, insbesondere Seite 481. 506 Keohane, 2002, op. cit., Seite 1. Für eine Kritik siehe Alexander Wendt, „Driving with the Rearview Mirror: On the Rational Science of Institutional Design“, International Organization Vol. 55 No. 4 (2001), Seite 1019-1049.
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6 Unsicherheit, Rationalität, Institutionen
Stabilisierung von Erwartungen.507 Institutionen reduzieren die Kosten, die erforderlich sind, um Regeln zu etablieren, zu überwachen und durchzusetzen. Sie verändern die Auszahlungsfunktion des ursprünglichen Gefangenendilemmas internationaler Anarchie und können damit in ihrem Rahmen Kooperation zwischen Staaten erleichtern und ermöglichen. Innerhalb dieser Institutionen ist die militärische Stärke nicht mehr die richtige Machtressource, sondern Reziprozität und Reputation.508 Keohane formuliert die Frage nach den Institutionen aus einer objektiven Position heraus. Es geht ihm nicht um die Bedeutung der Institution, sondern um deren kausalen Einfluss auf die Motivationen staatlicher Akteure. Die Rationalitätsanforderungen entsprechen daher der internen Konsistenz individueller Akteure. Zentral ist und bleibt demnach die durch Anarchie geprägte Weltpolitik. Diese Sicht der Institutionen baut daher auf klassischen Politikverständnissen auf im Sinne von Lasswells Who Gets What When and How, oder Susan Stranges cui bono? 509 Entsprechend nehmen die für Keohane zentralen Fragen eine rein regulative Form an:510 „Should NATO expand? How can the United Nations Security Council assure UN inspectors access to sites where Iraq might be conducting banned weapons activity? Under what conditions should China be admitted to the World Trade Organisation (WTO)?”511 Eine vollständig andere Sicht auf Institutionen ergibt sich aus der Perspektive der Unsicherheit, die sich am besten durch die Arbeit von John Searle erklären lässt. Es lohnt sich, ein Beispiel anzuschauen: „I go into a café in Paris and sit in a chair at a table. The waiter comes and I utter a fragment of a French sentence. I say „un demi, Munich, à pression, s’il vous plait’’. The waiter brings the beer and I drink it. I leave some money on the table and leave. An innocent scene, but its metaphysical complexity is truly staggering…Notice that we cannot capture the features of the description I have just given in the language of physics and chemistry. There is no physical-chemical description adequate to define ‚restaurant,’ ‚waiter,’ ‚sentence of French,’, ‚money,’ or even ‚chair’ and ‚table,’ even though all restaurants, waiters, sentences of French, money, and chairs, and tables are physical phenomena. Notice, furthermore, that the scene as described has a huge invisible ontology: the waiter did not actually own the beer he gave me, but he is employed by the restaurant, which owned it. The restaurant is required to post a list of the prices of all the boissons, and even if I never see such a list, I am required to pay only the listed price. The owner of the restaurant is licensed by the French government to operate it. As such, he is subject to a thousand rules and regulations I know nothing about. I am entitled to be there in the first place only because I am a citizen of the United States, the bearer of a valid passport and I have entered France legally….[i]f, after leaving the restaurant, I then go to listen to a lecture or attend a party, the size of the metaphysical burden I am carrying only increases; and one sometimes wonders how anyone can bear it.”512
Analog zu den Positionen von Keynes oder von Hayek ist die Funktion der Institutionen hier konstitutiver Natur. Institutionen sind die Bedingung der Möglichkeit für Handlungen 507 Siehe daher die Betonung der Erwartungen in der Regimedefinition von Stephan Krasner. 508 Siehe Robert Keohane, 1984, op. cit., Kapitel 1. 509 Harold Dwight Lasswell, Politics; Who Gets What, When, How, (London McGraw-Hill, 1936), Susan Strange, States and Markets (London: Pinter Publishers, 1994). 510 Für eine Kritik siehe Friedrich Kratochwil, „The Limits of Contract“, European Journal of International Law Vol.5 No.4 (1994), Seite 465–91. 511 Keohane, 2002, op. cit., Seite 27. 512 John R. Searle, The Construction of Social Reality (New York: Free Press, 1995), Seite 3-4.
6.2 Wissen, Rationalität und Institution
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und spannen als solche immer einen Horizont möglicher Handlungen auf. Freilich zeigt sich hier die Nähe zur Agent-Struktur-Debatte und damit zur wechselseitigen Konstitution von Akteuren und Strukturen. Dies soll hier nur am Rande erwähnt sein, wichtiger ist die logische Form der Selbstreferenz, die Institutionen als soziale Fakten nun annehmen.513 Konzepte wie ‚Geld’ oder ‚Macht’ können nicht in eine logische Definition gebracht werden, die alle Phänomene der Anwendung dieses Begriffes erklärt, ohne sich dabei selbst schon vorauszusetzen.514 Analog setzen die ökonomischen Definitionen der Geldmengen von M1, M2, M3 bereits die Institution Geld in all seinen Variationen voraus. Sie definieren also verschiedene Formen von Geld, jedoch nicht, was Geld ist. „the very definition of the word ‚money’ is self-referential, because in order that a type of thing should satisfy the definition, in order that it should fall under the concept of money, it must be believed to be, or used as, or regarded as, etc., satisfying the definition. For these sorts of facts, it seems to be almost a logical truth that you cannot fool all the people at one time. If everybody always things that this sort of thing is money, and they use it as money and treat it as money, then it is money.” 515
Die Institution als generelle Praxis basiert auf einem intersubjektiven Glauben in diese Institution. Institutionen haben kein materiellen Gegenpart. Man denke nur an Wahlen, Eigentumsrechte, Krieg, Versprechen, Heirat, etc.516 Natürlich kann man nun einwenden, gerade Geld würde über die verwendeten Materialien oder den offiziellen Stempel der Zentralbank definiert. Doch dieser Hinweis auf das verbriefte Recht, Gold in Geld zu tauschen oder ähnliches, verweist wiederum nur auf eine andere Institution: die staatliche Ordnung und muss einmal die Existenz von ‚Währungen’ wie Zigaretten erklären.517 Institutionen weisen nach Searle somit zwei besondere Charakteristika auf: zum einen erlauben sie performative Äußerungen, bzw. Sprechhandlungen. Die konstitutiven Regeln der Institution finden ihren Ausdruck in den Sprechakten, indem mit einer Äußerung eine Handlung vollzogen und die Institution dadurch aktiviert und reproduziert wird. Die Äußerung ‚ich will’ vor dem Standesbeamten hat andere Konsequenzen als beim Zeitungskauf am Kiosk. Die richtigen Worte müssen von der richtigen Person im richtigen Kontext ausgesprochen werden, um die Handlung vollziehen zu können. Freilich kann man sich trefflich über die Konturen von Intersubjektivität, von Intentionalität und die Unterscheidung von Handlung und Kommunikation und von Text und Kontext streiten. Diese weiterführenden Fragen habe ich bewusst an dieser Stelle außen vor gelassen,518 um das Augenmerk auf die zentrale These zu lenken: Wenn man Institutionen unter dem Gesichtspunkt der Praxis versteht, stehen der performative Akt und damit die konstitutiven Regeln eines Sprachspiels im Mittelpunkt. 513 514 515 516
Ich beziehe mich wieder dabei auf John Searle, ibid., Kapitel 2 und Kapitel 6. Steven Lukes, Power: A Radical View, (London: Macmillan, 1974). John R. Searle, 1995, op. cit., Seite 32. John Searle setzt hier seine Unterscheidung zwischen Typen und Token an. Jedoch bleibt das Tokenvokabular in der cartesianischen Formulierung des Leib-Seele Problems verhaften. Siehe Godehard Brüntrup, Mentale Verursachung (Stuttgard: Kohlhammer, 1994), Teil 1 für einen Überblick anhand des Bieri-Trilemmas. 517 Für eine politikwissenschaftliche Analyse über mögliche Konsequenzen des Internet für die Institution ‚Geld’, die genau auf diesen Sachverhalt abzielt, siehe Benjamin J. Cohen, „Electronic Money: new day or false dawn“, Review of International Political Economy Vol. 8 No. 2 (2001), Seite 197 – 225. 518 Für eine glänzende Kritik siehe vor allem Jacques Derrida ‚Signature Event Context’ in Jacques Derrida, Limited Ltd (Evanston, IL: Northwestern University Press, 1988).
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6 Unsicherheit, Rationalität, Institutionen
Institutionen zeigen die logische Struktur der Selbstreferenz, da sie selbst vorausgesetzt werden müssen, um überhaupt analysierbar zu sein. Diese für Akteure konstitutiven Institutionen zeigen sich somit in einer in Lebenswelt und Gesellschaft eingebetteten Sprache und verändern sich mit dieser. Fragen der Semantik, des sozialen Gedächtnisses und der Argumentation gewinnen hier an zentraler Bedeutung. Foucault würde hier auf die produktive Kraft des Diskurses und auf diskursive Handlungen verweisen.519 Dieser produktive Diskurs umschließt auch den Markt, das Medium Geld und die wirtschaftlichen Akteure. Nimmt man die Sprache weg, bleibt vom Fußballspiel, vom Standesbeamten, vom Kiosk nichts mehr übrig. Ohne die Sprache würde es keine Zentralbanken, Regierungen, Hedge Fonds und Währungen geben, die ihre in dem Diskurs festgelegten Rollen spielen könnten. Institutionen sind, wie bei Hayek und Keynes diskutiert wurde, eingebettet in die konstitutiven Normen und Konventionen einer politischen Ordnung und müssen in ihrer Bedeutung für das Subjekt gesehen werden. Der Institutionenbegriff ersetzt genau den Gleichgewichtsbegriff der heutigen Wirtschaftswissenschaften, indem die Identitäten, Präferenzen u.ä. über einen Prozess endogen bestimmt werden (Erfahrung als endogenes Wissen) und nicht einen vorgegebenen Zustand beschreiben. Während demnach der ‚rationale Institutionalismus’ die Frage der Institutionen nach der Etablierung der Kategorien und ihrer Messung analysiert, gehen dem sozialkonstruktivistischen Verständnis nach die Institutionen den Kategorien voraus. Diesem Verständnis nach erlauben Institutionen kollektive Repräsentationen und Symbole, die Bedeutung erst zulassen und somit der Formung und der Formulierung von Interessen vorausgehen. Mit diesem Fokus auf Sprache verbindet sich ein zweites Charakteristikum von Institutionen: sie lassen sich nicht durch eine naturalistische Epistemologie adäquat beschreiben, da die ihre Funktion sich nicht durch ihre Materialität erklärt. „But the truly radical break with other forms of life comes when humans, through collective intentionality impose functions on phenomena where the function cannot be achieved solely in virtue of physics and chemistry but requires continued human co-operation in the specific forms of recognition, acceptance, and acknowledgement of a new status to which a function is assigned. This is the beginning point of all institutional forms of human culture, and it must always have the structure X counts as Y in C.”520
Der Schritt von der physikalischen zur sozialen Welt wird bei Searle über die ‚kollektive Intentionalität’ vollzogen. „The central span on the bridge from physics to society is collective intentionality, and the decisive movement on that bridge in the creation of social reality is the collective intentional imposition of function on entities that cannot perform those functions without that imposition.” 521 Auch hier gibt es sicherlich berechtigte Kritikpunkte. Doch selbst in dieser moderaten Fassung zeigt sich, dass die Bedeutung von Institutionen, die Beantwortung der Wahrheitsbedingungen, eben nicht durch die Natur erfolgt. Aus diesem Grund ist ein rein auf die interne Konsistenz abzielendes Rationalitätsverständnis ohne die Klärung dieses institutionellen Kontexts sinnentleert. Rationalität und Konsistenz sind 519 Siehe auch Robert Castel, „From Dangerousness to Risk,” in: Michel Foucault, Graham Burchell, Colin Gordon, und Peter Miller (Hrsg.). The Foucault Effect: Studies in Governmentality -- With Two Lectures by and an Interview with Michel Foucault (Chicago: University of Chicago Press, 1991), Seite 281 – 98 und François Ewald, „Insurance and Risk,“ in ibid., Seite 197-210. 520 John Searle, op.cit., Seite 40. 521 John Searle, 1995, op. cit., Seite 31.
6.3 Die Struktur ökonomischer Argumentation
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somit zwei völlig voneinander zu trennende Konzepte, wenn der Begriff der Rationalität überhaupt in dieser Form aufrecht erhalten werden kann. Die Subjektivität, die von der Österreichischen Schule so forciert wird, versucht den Menschen als homo sapiens, nicht als homo oeconomicus zu verstehen. Als homo sapiens ist der Mensch ein sprachbegabtes, ein soziales und damit ein politisches Wesen. Aus diesem Grund ist der Begriff des methodologischen Individualismus nicht mit dem ökonomischen Individualismus zu vergleichen. Im Gegensatz zu einer Reduktion des Individuums auf den kleinsten gemeinsamen Nenner menschlichen Lebens, wird versucht, den Menschen in seiner Lebenswelt und Individualität zu begreifen. Es ist eine besondere Ironie, dass die Individualität nicht durch das direkte Hinschauen auf das Individuum analysiert werden kann, da es sich hier an den Objekten festmacht. Vielmehr wird die Sprache analysiert und darin versucht, die Individualität am Horizont wieder sichtbar werden zu lassen. Institutionen sind daher nicht die rationalen Konstruktionen, die sie sein sollen, sondern sind inter est, zwischen dem Menschen und in der Sprache zu finden. Die einzige Objektivität, die sie erhalten können, ist durch diesen Rahmen gegeben. So wie das Subjekt, beim Versuch es zu greifen, sich in die Objektivität verflüchtigt, so geht der Objektivität Subjektivität voraus. Subjekt und Objekt können nicht auf ein Prinzip reduziert werden, sondern finden sich im Gegenüber wieder. Mit Hilfe dieser gerade diskutierten Unterscheidungen von Theorie und Praxis, Wissen und Institution anhand der aleatorischen und epistemischen Perspektive öffnet sich nun der Blick für die Frage nach der Politik ökonomischer Argumentation. 6.3 Die Struktur ökonomischer Argumentation Die Wirtschaftswissenschaften entwickeln sich, wie jede Disziplin, innerhalb selbst gesetzter disziplinärer und disziplinierender Grenzen. Diese Grenzen, mit denen ein spezielles Argument eben als ökonomisches und nicht als juristisches oder soziologisches identifiziert wird, bestimmen die Strukturen und Veränderungsdynamiken ökonomischer Argumentationen. Gleichzeitig legen sie damit auch die argumentativen Kompetenzen und die Bedeutung des wissenschaftlichen Vokabulars fest, das heißt was eben als hervorragend, gut, als Anomalie oder auch als falsch erkannt wird. Bei der Bestimmung der ökonomischen Argumentation fällt zuerst auf, dass eine funktionale Definition der Ökonomik als die ‚Wissenschaft des wirtschaftlichen Handelns’ sowohl zu kurz als auch zu weit greift. Zum einen kann dieses funktionale Verständnis den viel zitierten ökonomischen Imperialismus nicht hinreichend erklären. Zum anderen lässt die Ökonomik viele Phänomene wirtschaftlichen Handelns unberücksichtigt, da diese soziologische oder polit-ökonomische Argumente erfordern würden. Die Ökonomik ist heute also nicht auf die Wirtschaft reduzierbar. Vielmehr erscheint sie als eine partikulare Perspektive auf ‚Kommunikationsmedien’ generell: Macht, Geld, Liebe oder Wahrheit können gleichermaßen Gegenstand ökonomischer Argumentation sein. Wenn man den Fokus auf Geld legen würde, könnte man sagen, die Ökonomik zeichnet sich durch eine bestimmte Rationalität aus, die sich über das Kommunikationsmedium Geld repräsentieren lässt, jedoch auf alle Kommunikationsmedien anwendbar ist. Aus diesem Grund erscheint es überzeugender, mit Gary Becker, die Ökonomik als eine spezifische Methode zu erkennen. Diese Bestimmung lässt die funktionalen Grenzen hinter sich und konzentriert sich allein
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auf die Grenzen des mathematischen Kalküls.522 Das heißt die ökonomische Argumentation lässt sich am besten beschreiben als diese seltsam anmutende und doch gleichzeitig wunderschöne, wenn auch etwas einfache Welt der instrumentellen Rationalität, der Trade-offs und der Nutzen-Kosten-Analyse. Die Form der ökonomischen Argumentation in Einheiten der Nutzen-Kosten-Analyse erklärt dann auch, warum Heirat, Wahlresultate und die Wahl der richtigen Glaubensgemeinschaft ökonomisch relevante Fragen sind, während die Frage nach der Entwicklung des Kapitalismus an die Soziologie und die Politische Ökonomie ausgegliedert wurde. Die Hoffnungen, die in dieser Definition steckt, wurden jüngst von Edward Lazear im Quarterly Journal of Economics wie folgt zusammengefasst: „Economics is not only a social science, it is a genuine science. Like the physical sciences, economics uses a methodology that produces refutable implications and tests these implications using solid statistical techniques. In particular, economics stresses three factors that distinguish it from other social sciences. Economics use the construct of rational individuals who engage in maximizing behavior. Economic models adhere strictly to the importance of equilibrium as part of any theory. Finally, a focus on efficiency leads economists to ask questions that other social sciences ignore. These ingredients have allowed economics to invade intellectual territory that was previously deemed to be outside the discipline’s realm.” 523
Wie in diesem Zitat deutlich, kennzeichnet eine ökonomische Argumentation drei Bestandteile: exogen gegebene Präferenzen; einen Trade-off in der Grenzbetrachtung und ein Gleichgewicht, dass die Kriterien einer (sub-)optimalen Allokation identifiziert.524 Das Zusammenspiel zwischen Trade-off und Gleichgewicht ist das Prisma, durch das die Welt strukturiert und wahrgenommen wird. Das Gleichgewicht ist dabei konstitutiv für die ökonomische Theorie. Wie Lazear es ausdrückt: „as in the physical sciences, equilibrium is a central concept in economics….Although the behaviour of individuals who lie behind the supply and demand curves is inherently interesting, it is the interest in equilibrium itself that distinguishes economics from other social sciences.”525
In den Wirtschaftswissenschaften wird aus diesem Grund angenommen, dass Gleichgewichte nicht nur heuristische Mittel sind, die eine Reduktion der Komplexität erlauben, sondern dass sie existieren. Diesem objektiven Element steht das subjektive Element der Präferenzen gegenüber. Diese Präferenzen sind durch den methodologischen Individualismus für die Modelle selbst exogen gegebenen. Jedoch unterliegen die Präferenzen einem Systemzwang. Da die ökonomische Welt eine Welt der Knappheit ist, sind Akteure gezwungen, rational und effizient zu handeln. Dabei wird angenommen, dass die handelnden Individuen die Folgen ihres Handelns im Prinzip überschauen können.
522 Siehe vor allem: Gary Stanley Becker, The Economic Approach to Human Behavior, (Chicago: University of Chicago Press, 1976). 523 Edward P. Lazear: „Economic Imperialism”, Quarterly Journal of Economics, Vol. 115 No. 1 (2000), Seite 99-146. 524 In einer Welt multipler Gleichgewichte ist die Verbindung von Optimalität und Gleichgeiwcht gekappt. Jedoch ist die Funktion des Gleichgewichts, die Zusammenführung heterogener Präferenzen zu einem homogenen Ganzen immer noch gültig. 525 Ibid., Seite 102.
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„We may permit imperfect information, transaction costs, and other intervening variables to muddy the waters, but we do not model behaviour as being determined by forces beyond the control of the individual.”526
Innerhalb der Erwartungsnutzentheorie führt diese Überzeugung zur Annahme, dass Individuen ihre eigene Zukunft und Evolution kontrollieren können. Die Formel ‚zu wissen, was man nicht weiß’, ist die unweigerliche Folge der aleatorischen Wahrscheinlichkeitstheorie, die hier wieder deutlich wird. Das Unbekannte, das Nichtwissen wird durch die gewusste Existenz von Wahrscheinlichkeitsverteilungen in das Bekannte übersetzt. Die heutige Definition der Ökonomik als spezielle Rationalitätsform, als eine Methode, führt die Veränderungen vor Auge, die sich seit den 1940ern ergeben haben. Aus der Sicht der Topologie erfolgte diese Veränderung in zwei Schritten. Zu einen hat sich die ökonomische Argumentation auf die Position der objektiv-aleatorischen Position der relativen Häufigkeit reduziert, wie sie in der Theorie der rationalen Erwartungen besonders deutlich wird. Damit wurden die entsprechenden epistemologischen und ontologischen Annahmen, sowie das Wissenschaftsverständnis (und die Struktur der Expertise) mit übernommen.
Schaubild 7.1 Die Evolution des ökonomischen Diskurses, Teil I Diese Reduktion zeigt sich anhand der zwei diskutierten Kontroversen zwischen subjektiven und objektiven Wahrscheinlichkeitskonzeptionen sowie in der Ausgrenzung des Unsicherheitsgedankens aus dem ökonomischen Diskurs.527 Die Kontroverse innerhalb der aleatorischen Wahrscheinlichkeitstheorie findet zwar mit der Bayesianischen Statistik ein vorläufiges argumentatives ‚Gleichgewicht’, doch gerade neuere Analysen innerhalb der Behavioural Economics und empirischer Spiel-und Vertragstheorie sind im Begriff das bisherige Patt neu herauszufordern. Durch den Siegeszug der neukeynesianischen Synthese und den damit verbundenen Verschiebung disziplinärer Grenzen wird die Idee der radikalen Unsicherheit durch eine neue Technokratie makroökonomischer Argumentation ersetzt. Das Resultat dieses Prozesses ist eine Definition der Ökonomik als Methode und nicht als 526 Ibid., Seite 100. 527 Siehe gerade hier die Rolle des Neukeynesianismus. Für eine Diskusssione siehe Jacqueline Best, op.cit, 2005.
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Lehre von wirtschaftlichen Praktiken im engen Sinne. Es ist bezeichnend, dass gerade innerhalb der Soziologie und der Politischen Ökonomie die Wiederbelebung der Unsicherheit forciert wird, da die vorher in der Ökonomik diskutierten Fragen der sozialen Einbettung, die Fragen nach der Evolution und Veränderung des Kapitalismus heute im Grenzbereich zwischen Soziologie und Internationaler Politischer Ökonomie lokalisiert sind. Auf der anderen Seite kann gleichzeitig auch eine erneute Ausweitung der Theorie der rationalen Erwartungen beobachtet werden, die mit ihrem entwickelten Vokabular Phänomene zu bezeichnen versucht, die vorher durch ein polit-ökonomisches Vokabular besetzt waren. Daher sehe ich die Theorie der asymmetrischen Information als den Versuch, Probleme der Heterogenität rational lösen zu wollen. Menschen sind nicht gleich und haben, je nach Erfahrung und Position, unterschiedliche Informationen. Jedoch ist die Heterogenität der Individuen exogen vorgegeben. Gleichzeitig nimmt meines Erachtens das Vokabular der multiplen Gleichgewichte Ideen der Semantik ‚mehrerer Welten’ in sich auf. Zum einen wird konzediert, dass selbst innerhalb eines deterministischen Kosmos (oder Systems) nicht mit einer ex ante Bestimmungen des erreichten Gleichgewichts bzw. einer möglichen Vorhersage gerechnet werden kann. Die Welt kann sich entlang mehrerer möglicher Welten entwickeln. Diese Ausweitung der Theorie rationaler Erwartungen, und damit einhergehende neue Grenzziehungen der disziplinären Struktur der Ökonomik, lässt sich meines Erachtens anhand der Graphik wie folgt darstellen: ‘Kulturtheorie’ Multiple GG, Asy, Infor.
Behavioural Economics
Informationskaskaden Sozialpsychologie Psychoanalyse
Komplexitätstheorie neue Kognitionsforschung Schaubild 7.2: Die Evolution des ökonomischen Diskurses, Teil II
Die linke Graphik verdeutlicht den aktuellen Versuch das semantische Vokabular rationaler Erwartungen anhand bestimmter Konzepte auf die Phänomene und Fragestellungen auszuweiten, die sich eigentlich aufgrund ihrer ontologischen und epistemologischen Grundannahmen jenseits der aleatorisch-objektiven Wahrscheinlichkeitstheorie finden. So nimmt das Vokabular multipler Gleichgewichte zentrale Gedanken der Semantik möglicher Welten bei Keynes wieder auf. Behavioural Economics hinterfragt durch empirische Experimente die Rationalitätsannahmen und die Idee der Informationskaskaden zeigt auf, wie sich
6.3 Die Struktur ökonomischer Argumentation
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Informationen in großen Populationen oder Netzwerke durch die gegenseitige Inbezugnahme der Akteure verbreiten. Gerade diese Modelle versuchen zur Zeit wichtige Einsichten der Wiener Schule mit Hilfe der Komplexitätstheorie wieder aufzunehmen. Gleichzeitig lässt sich mit Hilfe der Topologie auch das jenseits der ökonomischen Argumentation genauer identfizieren. Ohne hier vertiefend darauf einzugehen ist doch leicht ersichtlich, dass sich Sozialpyschologische Analysen nicht im Paradigma individueller Entscheidungen ansiedeln. Ebenso lassen sich Analysen im Sinne von Freud, Jung aber auch Lacan nicht mit der Idee eines autonomen, rational handelnden Subjekts vereinbaren. Aus Sicht epistemischer Wahrscheinlichkeitskonzeptionen zeigt gerade die Kulturtheorie von Aron Widsavsky und Mary Douglas, wie sich die Idee multipler Realitäten oder Welten jenseits ökonomischer Argumentation verstehen lässt. Zuletzt betont gerade eine radikal-konstruktivistische Komplexitätstheorie und neue Kognitionsforschung, wie sie der Systemtheorie zu Grunde liegt, hier eine Gegenposition zu ökonomischer Argumentation. An dieser Stelle soll es nicht darum gehen, die unterschiedlichen Diskussionsstränge in ihrer Unterschiedlichkeit tiefer darzustellen. Vielmehr soll hier nur nochmals verdeutlicht werden, dass diese externen und internen Debatten die spezifische Form ökonomischer Argumentation strukturiert. Bevor ich nun nach der Etablierung von Sozialstrukturen aufgrund von Beobachtungen frage, möchte ich daher nochmals die Struktur der ökonomischen Expertise hervorheben. Diese möchte ich mit den Begriffen charakterisieren:
Praxis als Technik Sicherheit durch Kalkulierbarkeit Primat des theoretischen Wissens
Praxis als Technik bezeichnet die Überzeugung, praktische Probleme seien technischer Natur. Das Charakteristische bei technischen Problemen ist die Lösungsvorgabe durch das Problem selbst. Wenn das Rohr leckt hat es keinen Sinn zu fragen, was denn ein Rohr an sich sei. Ebenso macht es keinen Sinn nach der Natur der Realität zu fragen, wenn der Stein auf den Fuß fällt. Dies ist das Verständnis, wie es in der klassischen Mechanik gesucht wurde und wie es in der Theorie der relativen Häufigkeit zum Ausdruck kommt. Wie Lazear so schön sagte: „Economics is not only a social science, it is a genuine science. Like the physical sciences, economics uses a methodology that produces refutable implications.“528 Ebenso spricht Harsanyi von ‚fellow phycisists’. An dieser Stelle zeigt sich auch, wie eng die Frage der Wissenschaftlichkeit in den Wirtschaftswissenschaften an die Frage der disziplinären Identität geknüpft ist. „Would Kadane and Larkey propose that our physicist colleagues should give up this extremely fruitful approach merely in order to conform to some arbitrary dogmatic subjectivist orthodoxy for no good reasons whatever?”529
Die notwendige Voraussetzung dieses Verständnisses sind Massenphänomene, bei denen die Rahmenbedingungen stabil bleiben und Fragen der Interpretation ausgeklammert sind. Die charakteristische Eigenschaft der aleatorischen Wahrscheinlichkeitstheorie zeigt sich, wie oben gezeigt, am Wissensbegriff. Die relative Häufigkeit ist Wissen. Sie ist keine Un528 Lazear, op. cit.; Seite 99, meine Betonung. 529 Ibid., Seite 121.
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sicherheit, sondern nur Ungewissheit. Doch ist diese Ungewissheit bekannt und findet im Wissen ihren Wiedereintritt. Wie in Kapitel 4 diskutiert wurde, ist der Sicherheitsbegriff für die Wahrscheinlichkeitstheorie grundlegend. Die Zuschreibung quantitativer Wahrscheinlichkeiten ist konstitutiv für diese Sicherheit. Dies wird mit dem Schlagwort ‚Sicherheit durch Kalkulierbarkeit’ ausgedrückt. Das für diese Sicherheit notwendige Wissen, wird über die Wissenschaft und die Theorie bereitgestellt. Der wissenschaftliche Experte kann dem Politiker nicht nur beratend zur Seite stehen, indem er die Ziele des Bogenschützen markiert, er schießt auch besser als der Bogenschütze selbst und kann dessen Funktion übernehmen. Die Theorie rechtfertigt gleichzeitig die zu treffenden Maßnahmen als technische Probleme, so dass sich an dieser Stelle der Kreis schließt. Theorie ist aufgrund des besseren Wissens Rechtfertigung und Legitimierung für handelndes Eingreifen in bestehende Situationen. Eine Frage der Gerechtigkeit im öffentlichen Raum muss nicht explizit gestellt werden, da die Lösung der Probleme gerecht genug ist: sie erlaubt einen ‚sozialen Überschuss’, der an alle verteilt werden kann. Diese drei Punke spiegeln sich in der ökonomischen Argumentation wieder und liegen ökonomischer Argumentationen zugrunde. Dieses bessere Wissen ist die Basis der ökonomischen Repräsentationsansprüche an die Gesellschaft in der Gesellschaft. Vor dem Hintergrund des bislang entfalteten Argumentationsgangs lässt sich eine kritische Pointe im ökonomischen Diskurs anhand der Kritik von Stiglitz am IWF besonders gut verdeutlichen.530 Wie Stiglitz zeigt sind das Partikulare, die gesellschaftlichen Verhältnisse eines Landes, mit seinen spezifischen Normen, seinem impliziten Wissen und seinem spezifischen Vokabular Aspekte, die beständig und systematisch in der ökonomischen Argumentation ausgeklammert wurden. Diese Exklusion wird durch den Anspruch besonderer Expertise wieder inkludiert und legitimiert damit den Wissens- und Machtanspruch ökonomischer Rationalität. 6.4 Die Politik ökonomischer Argumentation: Die Kritik von Stiglitz Die Kritik von Stiglitz findet zwei Ansatzpunkte: die Doppeldeutigkeit politischer Handlungen und die Anwendung von falschem Wissen seitens des IWF. Zum einen zeigt Stiglitz, dass Korruption überhaupt der Grund war, warum in die asiatischen Länder investiert wurde. Denn neben einer höheren Erwartungssicherheit als bei westlichen Demokratien erlaubten sie eine höhere Rendite für die Investoren. Über 30 Jahre lang wären diese Länder in der Lage gewesen, so Stiglitz, sich stetig weiterzuentwickeln. Die Verwundbarkeit, die heute im Zentrum der Debatte um die Asienkrise steht, ist in der Tat eine importierte, die auf das Drängen des Internationalen Währungsfonds zurückgeht. So schreibt Stiglitz: „if the East Asian countries were as ‚highly vulnerable’ as the IMF and the Treasury claimed, it was a new found vulnerability based not on an increased lack of transparency but on another familiar factor: the premature capital and financial markets liberalization that the IMF had pushed on these countries.”531 Stiglitz stellt eigentlich die rhetorische Frage, wer denn von den zwei die Verantwortung zu tragen hat: derjenige, der sich mit dem Dolch selbst verletzt, oder derjenige, der
530 Joseph Stiglitz, Globalisation and its Discontents, (London: Allen, 2002). 531 Ibid., Seite 211-212.
6.4 Die Politik ökonomischer Argumentation: Die Kritik von Stiglitz
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ihm den Dolch in dem Wissen gibt, dass er sich damit Schaden zufügen wird. Die Antwort findet sich in einer der bemerkenswertesten Stellen dieses Buches: „The IMF first told countries in Asia to open up their markets to hot short-term capital. The countries did it and money flooded in; but just as suddenly flowed out. The IMF then said interest rates should be raised and there should be a fiscal contraction, and a deep recession was induced. As asset prices plummeted, the IMF urged affected countries to sell their assets even at bargain basement prices. It said that companies needed solid foreign management […], and that this would only happen if the companies were sold to foreign financial institutions that had pulled out their capital, precipitating the crisis. These banks then got large commissions from their work selling the troubled companies or splitting them up, just as they had got large commissions when they had originally guided the money into the countries in the first place. As the events unfolded, cynicism grew even greater: some of the American and other financial companies didn’t do much restructuring, they just held the assets until the economy recovered, making profits from buying at the fire sale prices and selling at more normal prices.”532
Dieses Spiel zieht sich nach Stiglitz wie ein roter Faden durch die jüngste Wirtschaftsgeschichte. Nachdem der IMF dafür verantwortlich zu machen ist, dass die russische Mittelschicht ausgelöscht und durch ein Oligarchensystem ersetzt wurde, ist die amerikanische Antwort auf die gepredigte Liberalisierung russischer Märkte die Etablierung des Aluminiumkartells. Was für Stiglitz zurückbleibt ist ein zynisches Bild liberaler Rhetorik, denn „if the West’s preaching is not taken seriously everywhere, we should understand why. It is not just past injuries, such as the unfair trade treaties referred to in earlier chapters. It is what we are doing today. Others look not only at what we say, but also at what we do. It is not always a pretty picture.”533….. „the critics of Globalization accuse Western countries of hypocrisy, and the critics are right.”534
Diese von ihm angesprochenene Doppeldeutigkeit politischer Handlungen soll hier insofern relevant sein, als sie sich in eine Kritik des IWF einfügt, die auf die Anwendung eines ‚falschen’ Wissens abzielt. So erklärt Stiglitz, während er den Unterschied zwischen der Weltbank und dem IWF erläutert, Expertise habe mit Verstehen zu tun, und um Verständnis zu erlangen, bedürfe es der Zeit. Die Weltbank habe aus diesem Grund „worked hard to make sure that a substantial fraction of its staff live permanently in the country they are trying to assist.”535 Die Ökonomen des Internationalen Währungsfonds fliegen dagegen für drei Wochen ein, sitzen in ihrem Hotel und sagen dann den Regierungen was zu tun ist, ohne sich auch nur annäherend mit den Bedingungen ‚vor Ort’ vertraut gemacht zu haben. Stiglitz vergleicht diese Methode sogar mit der modernen Kriegsführung, bei der man ebenfalls nicht mehr ‚fühlen’ müsse, wenn man die Bomben loslasse; denn: „from one’s luxury hotel one can callously impose policies about which one would think twice if one knew the people whose lives one was destroying.”536 Diese Einstellung zeigt sich in den vorgebrachten Ratschlägen, denn das nicht vorhandene Interesse an dem je konkreten Land geht einher mit schlechter Beratung: 532 533 534 535 536
Ibid., Seite 129-130. Ibid., Seite 179. Ibid., Seite 6. Ibid., Seite 24. Ibid., Seite 25.
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„It is unlikely that an IMF mission, on a three-week trip to Addis Ababa,…could really develop policies appropriate for that country. Such policies are far more likely to be crafted by highly educated, first-rate economists already in the country, deeply knowledgeable about it and working daily on solving that country’s problems.” 537
Diese Kritik bezieht Stiglitz jedoch nicht auf grundlegende Unterschiede zwischen westlichen Institutionen und asiatischen Staaten. Denn: „I often felt that the IMF’s limited understanding of the US economy had led it to make misguided policy recommendations for America…. Fortunately the Fed paid no attention to the IMF recommendation. Other countries could not ignore it so easily.“538 Nachdem dieses Problem erkannt wurde, könnte nun eingewandt werden, Ökonomen sollten sich einfach nun nicht mehr drei Wochen, sondern mehrere Monate in einem Land aufhalten. Ich bin jedoch der Meinung, dass Stiglitz einen gewichtigeren Punkt anspricht, denn die Lösung für die Wissensproblematik liegt im praktischen Wissen: „There is more than symbolism in this difference [between World Bank and IMF, OK]: one cannot come to learn about, and love, a nation unless one gets out to the countryside.”539 Stiglitz wirft in diesen Passagen dem IWF mangelnde Empathie vor. Aber wenn es ein Wissen in dem Alltagsleben eines Landes zu finden gibt, das sich nicht in den mathematischen Modellen wiederfindet, und dieses Wissen relevant für Expertise und die Veränderung von Strukturen ist, dann gibt es ein Wissen jenseits der Mathematik. Dieses Wissen ist etwas, was den Weltbankökonomen zu einem guten Ratgeber und den IWF- Ökonom zu einem Dogmatiker macht. Beide Ökonomen hatten die gleiche Ausbildung, beide haben die gleichen Modelle gelernt. Es muss eben ein Wissen sein, dass vor der Mathematik und vor Fragen der Messung steht. Wenn praktische Probleme sich auf technische how to-Fragen reduzieren ließen, dann wäre ein Verständnis der Besonderheiten eines Landes irrelevant. Dies wird in der folgenden Passage noch deutlicher: „We have placed our bets on favoured leaders and pushed particular strategies of transition. Some of those leaders have turned out to be incompetent, others to have been corrupt, and some both. Some of those policies have turned out to be wrong, others have been corrupt, and some both. It makes no sense to say that the policies were right, and simply not implemented well. Economic policy must be predicated not on an ideal world but on the world as it is. Policies must be designed not for how they might be implemented in an ideal world but how they will be implemented in the world in which we live.”540
In dieser Passage werden ökonomische Modelle nicht nach ihrer Vorhersagekraft beurteilt, wie es zum Beispiel Friedman noch vorschlug, sondern die Kritik richtet sich darauf, dass diese Modelle im Abstrakten bleiben und nicht in der Lage sind die Welt zu sehen, um das Partikulare, die Differenz mit in Betracht zu ziehen. Stiglitz betont: „The criticism of the IMF is not just that its predictions were not borne out. After all, no one, not even the IMF, could be sure of the consequences of the far-ranging changes that were entailed by the transition from communism to a market economy. The criticism is that the Fund’s vision 537 538 539 540
Ibid., Seite 35. Ibid., Seite 34. Ibid., Seite 24. Ibid., Seite 194.
6.4 Die Politik ökonomischer Argumentation: Die Kritik von Stiglitz
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was too narrow – it focused only on the economics – and that his employed a particularly limited economic model.” 541
Doch das Wissen jenseits der Modelle, in dem Wissen in den Zusammenhang der gesellschaftlichen Verhältnisse steht, verlangt ein Verständnis der Praxis. So könnte sich die folgende, bereits zitierte Passage von 1945 ebenfalls in Globalization and its Discontents wiederfinden: „Today it is almost heresy to suggest that scientific knowledge is not the sum of all knowledge. But a little reflection will show that there is beyond question a body of very important but unorganized knowledge which cannot possibly be called scientific in the sense of knowledge of general rules: The knowledge of the particular circumstances of time and place. It is with respect to this that practically every individual has some advantage over all others in that he possesses unique information of which beneficial use might be made.” ...“We need only remember how much we have to learn in any occupation after we have completed our theoretical training, ...and how valuable an asset in all walks of life is knowledge of people, of local conditions, and special circumstances.” 542
Ist dieses ‚unorganized knowledge’ nicht gerade das Wissen, nach dem Stiglitz sucht? Dieses Zitat von Friedrich von Hayek verweist meines Erachtens auf sein zentrales Anliegen: die Heterogenität des Wissens, die sich implizit in der Sprache ausdrückt.543 Diese tacit dimension findet sich nur in der Regelbefolgung und in der Sprache. Die kontrafaktische Gültigkeit der Regel sprengt den Rahmen der entweder/oder bzw. der wenn/dann-Logik. Praxis kann somit nicht auf die Frage reduziert werden, was zu tun ist. Die Analyse der Praxis und damit Fragen der argumentativ konstituierten politischen Ordnung bedürfen gerade der eigenständigen Analyse selbstreferenzielle Analyse der Sprache und des ökonomischen Vokabulars. Da dieses Wissen häufig implizit vorhanden ist, kann es nur in der Sprache in der Wie-Fragen, das heißt, durch die Frage danach, wie wir handeln, lernen, uns verhalten und die Welt beobachten, überhaupt thematisiert werden. Dies schließt die Verwendung und Performanz theoretischer Konzepte mit ein. 544 Denn das ökonomische Vokabular ist gerade nicht neutral, sondern strukturiert die Welt und ist damit letztlich politischer Natur. Die Bedeutung polit-ökonomischer Begriffe wie Bankenwesen,545 Kapital,546 oder der Begriff der Wirtschaftens547 selbst, haben nur in ihrem Gebrauch ihre Bedeutung und damit in ihren partikularen gesellschaftlichen Ausdrucksformen. Eine unreflektierte Verwendung dieses Vokabulars wird die entscheidenden polit-ökonomischen Prozesse nicht erkennen können. Erst durch diese Anerkennung des Kontextes wird Stiglitz’ Kritik auf fruchtbaren Boden fallen können. Doch dies setzt vor allem ein anderes Verständnis von Theorie und der 541 Ibid., Seite 187, Betonung hinzugefügt. 542 Friedrich von Hayek, „The Use of Knowledge in Society“, op. cit., Seite 521 und 522. 543 Natürlich muss hier der Unterschied zu von Hayek betont werden. Obwohl Hayek ein evolutionäres Verständnis der Ökonomie befürwortet, sucht er die ‚Variation’ bei den Individuen und ist in Folge dessen gegen den Sozialstaat, der diese Variation verhindern würde. Die von mir hier vertretene Sicht sieht die Variation in der Sprache, d.h. welche Bedeutungen im Gebrauch verwendet werden. 544 Siehe John Searle, The Construction of Social Reality, 1995, op. cit. 545 Muhammad Yunus: Banker to the poor: the autobiography of Muhammad Yunus founder of Grameen Bank (Oxford: Oxford University Press, 2001), Alex Counts, Give us Credit (New York: Times Book, 1996). 546 Hernando de Soto: The Mystery of Capital: Why Capitalism Triumphs in the West and Fails Everywhere else (New York: Basic Books, 2000). 547 John Stephen Lansing: Priests and Programmers: Technologies of Power in the Engineered Landscape of Bali (Princeton: Princeton University Press, 1991).
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6 Unsicherheit, Rationalität, Institutionen
Bedeutung der Mathematik für die Theorie voraus, als dies in der heutigen Ökonomik – und in einem zunehmenden Maße in der Politikwissenschaft – zu beobachten ist. Von einer Perspektive des praktischen Wissens, ist die Mathematik nur eine Sprache unter vielen. Sie ist nicht wertneutral und durchsetzt mit ontologischen Annahmen. Aus diesem Grund vollzieht sich auch die sprachphilosophische Wende nicht in der Logik, sondern in der Logik in ihrem Zusammenhang mit der Ontologie. Für mathematisch orientierte Ökonomen birgt der Formalismus die Hoffnung praktische Probleme eben als technische Probleme lösen zu können. Es ist der Glaube an eine für Politikoptionen hinreichende Expertise. Hinter dieser Exklusion der Praxis steht ein Misstrauen gegenüber der Politik. Der Vorschlag von Stiglitz ist aus diesem Grund ein polit-ökonomisches Argument. Stiglitz kritisiert in seinem Buch eigentlich die Grundannahmen der Wirtschaftswissenschaften mit all ihren ästhetischen und moralischen Kriterien und Urteilen, mit denen Themen und Beiträge, Karrieren und Institutionen bewertet werden. Da aber die Methode gerade die kollektive Identität der Ökonomen ausmacht, wird diese Kritik nicht auf fruchtbaren Boden fallen. Wie sich diese Unterscheidung von Ungewissheit und Unsicherheit in der aktuellen Diskussion um die Finanzmarktarchitektur und Fragen der Steuerung sozialer Systeme zeigt, soll nun im nächsten Kapitel durch eine Rekonstruktion der Diskussion um die Reformierung der Finanzmarktarchitektur erfolgen.
7.1 Einleitung
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7 Selbstreferenz und Finanzmarktstabilität
7.1 Einleitung Im zweiten Kapitel habe ich gezeigt, dass Finanzmarktakteure durch Wissensheterogenität und die Finanzmärkte durch die strukturbildende Bedeutung des Zufalls gekennzeichnet sind. Die Ausbreitung der Krisen gehorcht keiner ökonomischen Gesetzmäßigkeit, hinterlässt jedoch tiefe Furchen im Gefüge nationaler wie internationaler Finanzmärkte. Die durch die Kapitalströme induzierte Veränderung des Bruttosozialprodukts sowohl in Mexiko 1994 als auch in Asien 1997 von über 10% innerhalb eines Jahres, kann ihre Rechtfertigung nicht in den Fundamentaldaten finden. Vielmehr weisen die beobachtbaren Dynamiken auf eine selbstreferenzielle Strukturbildung im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung hin. Wird die selbstreferenzielle Struktur zugestanden, bilden Fundamentaldaten nicht mehr einfach nur den vermeintlich wahren Zustand der Ökonomie ab, sondern generieren ihn vielmehr. Fundamentaldaten können deshalb ihre Abbildungsfunktion nicht erfüllen und eine Behandlung der Fundamentaldaten als ob sie es könnten, führt in die Irre. Gleichzeitig zeigte sich, dass sich die Finanzmarktakteure durch eine Wissensheterogenität auszeichnen, die dazu führt, dass Daten immer mehrere Interpretationen zugleich erlauben, so dass ein a priori zugewiesener Informations- oder Signalwert nicht angenommen werden kann. Vielmehr resultiert die Bedeutung von Daten aus der gegenseitigen Beobachtung der Akteure. Die Überzeugungen und Erwartungen samt ihrer Modelle und Ideen werden nicht gegen eine Natur getestet, sondern gegenüber anderen Theorien und Überzeugungen. Nachdem in den letzten Kapiteln eine Semantikanalyse erfolgte, lautet die nun zu stellende Frage: Welche Konsequenzen hat das für die Frage nach den systemischen Risiken bzw. der Bedingung der Möglichkeit von Finanzmarktstabilität? Welche Formen von Wissen und Nichtwissen werden mit einer speziellen Konzeption von Stabilität wichtig – und welche politischen Implikationen trägt diese Definition in sich? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, argumentiere ich in diesem Kapitel in zwei Schritten. Im ersten Schritt erfolgt eine Rekonstruktion der aktuellen Reformbemühungen aus der Perspektive der Ungewissheit. Unter Bedingungen der Ungewissheit werden Systemrisiken auf eine Problematik der asymmetrischen Informationsverteilung zwischen den Akteuren zurückgeführt und gleichzeitig wird das Augenmerk auf Transparenz und Standardisierung gelenkt. Innerhalb dieses Rahmens wird die Frage nach einem umfassenden Rahmen finanzieller Transaktionen als Grenzmanagement zwischen territorial verfassten Staaten verstanden. Darin zeigt sich auch, dass hier die souveräne Ordnung logisch den Finanzmärkten vorgelagert ist. Fragen nach dem Wandel von Staatlichkeit, wie auch die gesamte Problematik praktischen Wissens, wird wieder aus der quasi-ökonomischen Analyse ausgeklammert. Der Grund liegt darin, dass die identifizierte inter-subjektive Ontologie ökonomischer Phänomene über die Formel der asymmetrischen Information in ein Vertrauens- und Selbstbindungsproblem nationaler Staaten umdefiniert wird. Die Auflösung der asymmetrischen Information hat vornehmlich auf der Ebene staatlicher Politik stattzufinden – mit der Folge, dass Finanzmarktregulierung als eine Art Grenzmanagement zwischen territorialen Staaten konzipiert wird. Dies mag zwar dann wieder kompatibel mit dem wissenschaftlichen Realismus indi-
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7 Selbstreferenz und Finanzmarktstabilität
vidualistischer Epistemologien sein, verpasst jedoch genau die eigentliche Problematik: die Veränderung konstitutiver Grenzen der staatlichen Ordnung. Diese werden in einem zweiten Schritt rekonstruiert. Aus der Perspektive der Unsicherheit, in der sich die Krisen aus der gegenseitigen Beobachtung der Akteure bestimmt, zeigen sich exemplarisch drei Grenzverschiebungen: Desintermediation der Banken, das Auftauchen neuer Spieler und eine Neudefinition des relevanten Nichtwissens innerhalb des Basel II-Regimes. 7.2 Beobachtung unter Ungewissheit Der unerschütterliche Glaube an die Kraft und Effizienz der internationalen Finanzmärkte der 90er Jahre ist seit 1998 passé. Dem Hype um die Globalisierung folgt seit ca. fünf Jahren eine Phase der Ernüchterung.548 Die Folgen der verordneten Schocktherapie in Russland, die Asienkrise und die Bilanzskandale in Amerika der letzten Jahre richten heute das Augenmerk auf die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen nicht nur der Weltwirtschaft, sondern auch der nationalen Volkswirtschaften.549 Der dominante Glaube, die Sturmböen der Globalisierung würden eine offene Weltgesellschaft mit sich bringen, hat sich als falsch erwiesen. Die Vorhersage Susan Stranges, der Monetarismus lasse die Finanzmärkte zum Casino verkommen, scheint sich dagegen zu bewahrheiten.550 Vor diesem Hintergrund scheint es einen allgemeinen Konsens darüber zu geben, dass es einer Neuordnung des globalen Finanzmarktes bedarf. Unklar ist, welche Form diese Adjustierung annehmen soll: Ist das existierende Netz rechtlicher Regulierung im Prinzip fähig, den Herausforderungen gerecht zu werden und bedarf daher nur einer punktuellen Modifikation? Oder ist ein völlig neuer Ansatz notwendig, innerhalb dessen auch neue Prinzipien und die Neuverhandlung normativer Fragen erforderlich sind. Für eine Beantwortung dieser Frage bedarf es einer grundlegenden Diskussion darüber, welche Funktion das Finanzsystem eigentlich erfüllen soll.
548 Schon erscheinen erste Bücher zum ‚Ende der Globalisierung’. Siehe Harold James, The End of Globalization (Princeton: Princeton University Press, 1996). Justin Rosenberg hat jüngst ein post mortem der Globalisierung veröffentlicht. Siehe Justin Rosenberg, „Globalisation: A Post-Mortem“, International Politics, Vol. 42 No. 1 (2005), Seite 2-74. Siehe auch ders. „Why is There No International Historical Sociology“, European Journal of International Relations, Vol.12 No.3 (2006), Seite 307-340. 549 Fred Bergsten„Reforming the International Financial Institutions: A Dissenting View.” Testimony before the Senate Committee on Banking Housing, and Urban Affairs. 9.März, 2000, Barry Eichengreen, James Tobin und Charles Wyplosz. „Two Cases for Sand in the Wheels of International Finance.” Economic Journal Vol. 105 No 2 (1995), Seite 162 – 172, Martin Feldstein, „Self Protection for Emerging Market Economies,” NBER Working Paper 6907 (Cambridge, MA: National Bureau of Economic Research, 1999), Randall D Germain „Reforming the International Financial Architecture: The New Political Agenda,” in Rorden Wilkinson und Steve Hughes. Global Governance: Critical Perspectives (London: Routledge, 2002), Seite 17 – 35, .Martin Feldstein (Hrsg.) Economic and Financial Crises in Emerging Market Economies (Chicago: Chicago of University Press, 2003), Frederic S Mishkin „Understanding Financial Crises: A Developing Country Perspective.” NBER Working Paper 5600 (Cambridge, MA: National Bureau of Economic Research, 1997), Morris Goldstein, The Case for an Iinternational Banking Standard (Washington: The Institute for International Economics, 1997), Miles Kahler, „Institutional Choice in International Monetary Affairs: Bretton Woods and its Competitors.” In: David Andrews, Randall Henning und Louis Pauly (Hrsg.), Organization of the World Economy: A Festschrift in Honor of Benjamin Cohen (Ithaca: Cornell University Press, 2003), Manmohan S. Kumar, Paul Masson and Marcus Miller, „Global Financial Crises: Institutions and Incentives” IMF Working paper 00/105 (Washington: International Monetary Fund, 2000). 550 Susan Strange, Casino Capitalism, op .cit.
7.2 Beobachtung unter Ungewissheit
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Innerhalb der ökonomischen Theorie haben Finanz- und Kapitalmärkte zuerst und vornehmlich eine allokative Funktion. Über einen funktionierenden Finanzmarkt werden die finanziellen Ressourcen für produktive Investitionsmöglichkeiten nicht nur bereitgestellt, sondern auch effizient verteilt. Der globale Finanzmarkt wird dabei als ein geschlossenes System konzeptualisiert, das ganz analog zu einem mechanischen System funktionieren soll. Wenn diese Funktion aufgrund von Ineffizienzen oder strukturellen Störungen nicht erfüllt werden kann, werden dadurch die Effizienz und die Wachstumsmöglichkeiten des realen Sektors beeinträchtigt.551 Entsprechend gibt die Finanzmarktarchitektur den Rahmen vor, wie finanzielle Mittel verpackt, gehandelt, beurteilt und durch eine Phalanx institutioneller Regelungen und Organisationen überwacht werden. Die Finanzarchitektur ist das Produkt der komplexen Interaktion zwischen Marktteilnehmern, Finanzinstitutionen und öffentlichen Organisationen. Die unterschiedlichen Präferenzen und Erwartungen zwischen Staaten und internationalen Akteuren beschreiben demnach die finanzielle Interaktion und damit auch die Gesamtdynamik der Finanzmärkte. Schauen wir uns diese Interaktion und die Präferenzen der Akteure nochmals genauer an. Das Ziel der Regierung ist es, die Wohlfahrt der Volkswirtschaft zu maximieren. Im monetären Bereich kann sie vor allem das Währungsregime bestimmen und, in Abhängigkeit der zugelassenen Autonomie der Zentralbank, den festen Wechselkurs verteidigen oder diesen freigeben. Beide Alternativen sind mit Kosten verbunden. Für eine Verteidigung eines festen Wechselkurses ist die Regierung gezwungen, die Zinsen zu erhöhen, um damit die internationale Attraktivität der Währung zu steigern und somit den internationalen Anlegern eine erhöhte Risikoprämie zuzugestehen. Gleichzeitig erhöhen steigende Zinsen die Gefahr einer Rezession – mit der Folge, dass über erhöhte Refinanzierungskosten sonst solvente Firmen in die Insolvenz geführt werden. Weitere Kosten ergeben sich über den Einfluss auf Hypothekenzinsen, besonders wenn die Zinsen nominal an den internationalen Geldmarktzins angebunden sind. Zum einen trifft eine Anpassung hier vor allem die Arbeiter- und Mittelschichten, aber höhere Zinsen bedeuten auch höhere Zinslast für den Staat bei der Begleichung seiner Zinsschuld. Veränderungen des Zinssatzes haben deutliche Auswirkungen auf den Verschuldungsgrad eines Landes, der dann über höhere Steuern wieder vor allem an untere Schichten einer Gesellschaft weitergegeben wird. Den Wechselkurs nicht zu verteidigen, ist ebenfalls mit Kosten verbunden. Eine Abwertung der Währung bedeutet eine höhere Kreditlast für in Fremdwährung notierte Schulden inländischer Firmen. Durch die erhöhte Insolvenzgefahr steigt auch hier die Wahrscheinlichkeit einer Rezession. Im Falle Südostasiens hatten diese Schulden eine Höhe von bis zu über 50% des BSP und überstiegen bei weitem die Devisenreserven der Zentralbanken. Politische Kosten einer Abwertung sind vor allem Reputationskosten, die sich u.a. direkt in sinkende Direktinvestitionen übersetzen können. Die Verteilung der Nutzen und Kosten hängt sicherlich auch vom politischen System ab: ob Wahlen anstehen, wie Koalitionen zusammengesetzt sind, wie Hoch die vorhandenen Devisenreserven oder die politischen Kosten einer primären Budgetrestriktion (Sozialstaat etc.) sind, aber auch davon, wie stark die internationale Attacke selbst ist. Je höher der Druck auf die Währung ist, desto höher ist der minimal benötigte Zinssatz, den die Zentralbank für die Verteidigung der Währung anbieten muss – mit der Folge wiederum steigender politischer Kosten.
551 Für einen Überblick siehe Olivier J. Blanchard, „Why Does Money Affect Output? A Survey.” National Bureau of Economic Research, Working Paper 2285, (Cambridge, MA: NBER; 1991).
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7 Selbstreferenz und Finanzmarktstabilität
Die Zentralbanken haben jeweils eine nationale sowie eine internationale Rolle zu erfüllen. International ist die Zentralbank bei festen Wechselkursen der Hüter der Währung und des Wechselkurses. Bei festen Wechselkursen hat die Zentralbank diesen Wechselkurs aktiv zu verteidigen, während bei flexiblen Wechselkursen diese Notwendigkeit nicht gegeben ist. Die internationale Rolle bestimmt sich also, wie im Mundell-Fleming-Modell diskutiert, in Abhängigkeit von dem Wechselkursregime.552 National ist die Zentralbank der Geldgeber der letzten Instanz. Das Konzept des ‚Lender of Last Resort’ (Geldgeber der letzten Instanz, im folgenden abgekürzt mit LOLR) entwickelt sich im beginnenden 19. Jahrhundert, als Hamilton Thornton die ersten Prinzipien einer vernunftgeleiteten Zentralbankpraxis formulierte. 553 Walter Bagehot, häufig als der Initiator der modernen LOLR-Literatur gerühmt, rechtfertigte die Notwendigkeit der Zentralbank um die Vertrauensproblem der Banken und somit die berüchtigten Bank Runs zu überwinden.554 Um sowohl hinreichende Garantien an die Sparanleger als auch gleichzeitig die notwendige Disziplin der Banken zu garantieren, sollten Zentralbanken (1) in Krisenzeiten ohne Restriktionen, temporär und frei Geld an (2) einen Gläubiger mit Sicherheiten (3) zu einem Strafzinssatz zur Verfügung stellen dürfen. Banken ohne hinreichende Sicherheiten, so Bagehot, sind als insolvent anzusehen und dürfen und sollen insolvent bleiben. In der neueren Literatur wurde daran anschließend die Rolle der Zentralbank aus Modellen der asymmetrischen Informationsverteilung und der multiplen Gleichgewichte formal abgeleitet, die über die Zeitinkonsistenz zwischen den Aktiva und Passiva der Bankenbilanz die Bank als anfällig für selbsterfüllende Prophezeiungen sehen. Das heißt durch diese strukturelle Eigenschaft in der Erfüllung ihrer Funktion als Intermediator kann eine solvente und effiziente Bank allein durch eine veränderte Erwartungshaltung einer hinreichend großen Anzahl der Anleger in die Insolvenz geführt werden. Obwohl der Mechanismus der Bank Runs prinzipiell seit dem 19. Jahrhundert bekannt ist, wurde der formale Beweis in der Spieltheorie erst durch Diamond und Dybvig erbracht.555 Konkret beweisen sie, dass Koordinationsprobleme einen Bank Run auslösen können. Jeder Anleger befürchtet, dass andere Anleger ihr Geld früher abheben könnten als er. Selbst wenn es common knowledge sein sollte, dass die Bank prinzipiell solvent ist, kann der frühe Abruf einer Gruppe von Anleger dazu führen, dass die Bank illiquide Wertpapiere mit Verlust verkaufen muss und somit die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Insolvenz erhöht wird. Diamond und Dybvig beschreiben dies als ‚sunspot-Gleichgewicht’, bei dem jeder exogene Schock, wie zum Beispiel eine Währungskrise, ein solcher Auslöser sein kann. Im Herzen dieses Signalisierungsspiels steht also der Zusammenbruch der Vertrauensstruktur, auf der die Erwartungen über den Erhalt der eigenen Anlagen beruhen. Diese Ideen finden sich in der Finanzmarktarchitektur wieder, insbesondere wenn vorgeschlagen wird, der IWF solle die Rolle einer Zentralbank der Zentralbanken annehmen.
552 Siehe zum Beispiel die tiefere Diskussionen in Mark P. Taylor, „Exchange Rate Economics“, Journal of Economic Literature, Vol. 33 No. 1 (1995), Seite 13- 47. 553 Hamilton Thorton, An Enquiry into the Nature and Effects of the Paper Credit of Great Britain, (London Hatchard, 1802). 554 Walter Bagehot, Lombard Street: A Description of the Money Market (London: William Clowes and Sons, 1873). 555 Peter Diamond and Philip Dybvig, „Bank Runs, Deposit Insurance and Liquidity”, Journal of Political Economy, Vol 91. No. 3 (1983), Seite 401- 419. Für eine Erweiterung dieses Modells siehe Stephen Morris und Hyung Song Shin, „Co-ordination Risk and the Price of Debt“, mimeo, Yale University, 1999.
7.2 Beobachtung unter Ungewissheit
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Die internationalen Anleger sind nur an einer möglichst effizienten Investition ihres Kapitals interessiert. Dennoch spielen sie eine gewichtige Rolle: in der Theorie der Währungskrisen ist das minimal notwendige Zinsniveau durch die Erwartungen der internationalen Anleger bestimmt.556 Je höher die Anleger das Abwertungsniveau und Risiko der Währung sehen, desto höher ist die zu zahlende Risikoprämie und somit der nominale Zinssatz. Die diesem Verständnis zugrunde liegende Gleichung ist die ungedeckte Zinsparität. In der Währungskrisenliteratur wird ihre Position analog zur asymmetrischen Information zwischen Banken und Schuldnern konzipiert. Das heißt die internationalen Investoren sind die uninformierte und die Staaten die informierte Partei. Aus dieser strukturellen Gegebenheit kann es zu Koordinationsproblemen zwischen den Investoren kommen, die ein Herdenverhalten nach sich ziehen können. Vor diesem Hintergrund ist nun eine Beantwortung der Frage nach den Systemrisiken möglich, denn innerhalb dieser Grenzen wird Stabilität mit der Formel ‚im Gleichgewicht’ charakterisiert. Gleichgewichtsdefinitionen gehen davon aus, dass im Gleichgewicht kein Anreiz zur Abweichung besteht und daher das Gleichgewicht einen Zustand von Transaktionen beschreibt. Das System selbst wird als stabil angesehen, solange keine Systemrisiken vorliegen. Sicherheit ist die Abwesenheit von Risiko. Wie Michael Dillon feststellt: „It is evident that any discourse of security must always already, simultaneously and in a plurality of ways, be a discourse of danger too. For example, because security is engendered by fear (fundamentally aroused by the uncanny, uncertain, different, awesome, and uncalculable), it must also teach us what to fear when the secure is being pursued…Because security is engendered by fear it also calls for counter-measures to deal with the danger which engenders fears. Hence, it teaches us what we are threatened by, it also seeks in its turn to proscribe, sanction, punish, overcome – that is to say, in its turn endanger – that which it says threatens us.”557
Wie die Diskussion über die Interaktion zwischen den Finanzakteuren zeigte, resultieren Systemrisiken selbst aus Informationsasymmetrien. In einer treffenden Formulierung von Frederick Mishkin: „Focusing on information problems lead to a definition of financial instability: Financial instability occurs when shocks to the financial system with information flows so that the financial system can no longer do its job of channeling funds to those with productive investment opportunities. Indeed, if the financial instability is severe enough, it can lead to almost a complete breakdown in the functioning of financial markets, a situation which is then classified as a financial crisis.”558
Dieser Rückgriff auf die asymmetrische Information strukturiert die daran ansetzende Diskussion um eine Restabilisierung der globalen Finanzmärkte. Dies soll nun anhand einer vertiefenden Diskussion von vier Punkten verdeutlicht werden: a) die Rolle von Kapitalkontrollen; b) die Wahl eines Wechselkursregimes, c) die Frage nach der zukünftigen Rolle des IWF sowie d) die Standardisierung der Finanztransaktionen. Ich gehe explizit nicht auf die Frage nach dem Sovereign Default, sowie die Frage nach dem ‚Bail in vs. Bail out’ ein. 556 Für eine wunderschöne Erklärung der Rolle der Erwartungen siehe, Paul Krugman, „Dutch Tulips and Emerging Markets“, Foreign Affairs Vol. 74 No.4 (1995), Seite 28-44. 557 Michael Dillon, The Politics of Security (London: Routledge, 1996), Seite 120-121. 558 Frederic S. Mishkin, „Global Financial Instability: Framework, Events, Issues,” The Journal of Economic Perspectives, Vol. 13 No. 4 (1999), Seite 6.
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Eine explizite Analyse dieser zwei Fragen würde nur erweitern, ohne die zentrale Argumentation in der Sache zu verändern. 7.2.1 Kapitalkontrollen Bis in die 1990er Jahre hinein galt der Monetarismus als grundlegende Ideologie des Zeitalters der Globalisierung. Da auch Währungen nichts anderes als Preise seien, gibt es, nach der Lehre des Monetarismus, keinen rationalen Grund, warum die Staaten diese Preise festsetzen sollten. Selbst die seit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems beobachtbare Volatilität der nominalen Wechselkurse war ja nach dem berühmten DornbuschModell letztlich auch nicht auf die Irrationalität oder Ineffizienz des Finanzmarktes, sondern auf die rigiden Preise des Gütermarktes zurückzuführen.559 Die dem Monetarismus zugrunde liegende Analogie zwischen Freihandel und freiem Kapitalverkehr wird in der Frage der Kapitalkontrollen neu verhandelt. Zum einen lässt sich die im Monetarismus unterstellte positive Korrelation zwischen freien und integrierten Kapitalmärkten und wirtschaftlichem Wachstum und Entwicklung empirisch nicht eindeutig nachweisen.560 Zum anderen hat sich deutlich gezeigt, dass durch eine Liberalisierung der Finanzmärkte bei ungenügender staatlicher Regulierungskapazität das Gesamtsystem instabiler wird. Die Öffnung der Volkswirtschaften für kurzfristige Kapitalströme ohne Berücksichtigung der institutionellen Situation des Landes wird heute als riskant bis falsch eingestuft. Man findet heute weniger das Argument einer nötigen Schocktherapie als vielmehr das einer Notwendigkeit von sequenzieller Liberalisierung.561 Damit finden der Kontext, der Raum und die Zeit der je aktuellen institutionellen Gegebenheiten Einzug in die ökonomische Argumentation.562 Hier zeigt sich, dass diese Anerkennung von Zeit und Raum zum Versuch einer Endogenisierung der politischen Ökonomie der Kapitalkontrollen führt, mit der die Überlegungen und Kosten der Regierung selbst explizit angezeigt und diskutiert werden. Die Frage für oder wider Kapitalkontrollen findet daher keine leichte und allgemein gültige Antwort mehr, sondern muss sich über die partikularen, länderspezifischen Pro- und Kontra559 Rüdiger Dornbusch, „Expectations and Exchange Rate Dynamics,” Journal of Political Economy, Vol. 84 No. 6 (Dec.1976), Seite 1161- 1176, siehe auch die Diskussion in Kenneth Rogoff, „Dornbusch’s Overshooting Model After Twenty-Five Years”, IMF Staff Papers Vol. 49 special issue, Mundell Fleming Lecture, 2002. Abrufbar unter: http://www.imf.org/External/Pubs/ft/staffp/2001/00-00/pdf/kr.pdf (zuletzt besucht, 31.06.03). 560 Hali J. Edison; Michael W. Klein, Luca Ricci, Torsten Sloek, „Capital Account Liberalization and Economic Performance: survey and synthesis”; NBER Working Paper No 9100 (Cambridge, MA: NBER, 2002), Barry Eichengreen; David Leblang; „Capital Account Liberalization and Growth: Was Mr. Mahatir right?” NBER Working Paper No. 9427, (Cambridge, MA: NBER, 2002). 561 Siehe auch Stanley Fisher, Richard Cooper, Rudi Dornbusch, Peter Garber und Dani Rodrick, „Should the IMF Pursue Capital Account Convertibility?” Essays in International Finance, No. 207 (Princeton: Princeton University Press, 1998). 562 Hier möchte ich nochmals auf die zweifache Bedeutung des Institutionenbegriffs hinweisen. In der heutigen ökonomischen Diskussion wird Institution als Markt definiert. Ansätze die eine politische Ökonomie der Währungskrisen mit diesem Institutionenbegriff versuchen sind z.B. David Leblang, „The Politics of Speculative Attacks in Industrial Democracies,“ International Organization, Vol. 54 No.2 (Spring 2000), Seite 291-324; Andrew MacIntryre, „Institutions and Investors: The Politics of Economic Crisis in South East Asia,“ International Organization, Vol. 54 No.1 (2001), Seite 81-122. Ich sehe diese Definition als unzureichend für ein Verständnis der Politischen Ökonomie, an, da er die Verschiebungen von Semantiken, Bedeutungen und Kategorien nicht in den Blick bekommt.
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Argumente bestimmen. Innerhalb dieser Argumentation findet eine Umkehr der Beweislast statt. Während im Zeitalter des Monetarismus die Befürworter von Kapitalkontrollen die Beweislast hatten, müssen heute die Befürworter liberalisierter Kapitalbilanzen ihre Position rechtfertigen. Hier lassen sich drei gewichtige Argumente für Kapitalkontrollen identifizieren.563 Das Stabilitätsargument sieht in Kapitalkontrollen die Möglichkeit einer kontrazyklischen Wirtschaftspolitik. Hier ist das Mundell-Fleming-Modell mit der damit verbundenen ‚unheiligen Dreieinigkeit’ (unholy Trinity) von unabhängiger Geldpolitik, festen Wechselkurs und Kapitalmobilität der wichtigste Bezugspunkt.564 Eines dieser Ziele muss jeweils für das Erreichen der zwei anderen Ziele aufgegeben werden. So zeigt das Mundell-FlemingModell, wie unter flexiblen Preisen und perfekter Kapitalmobilität die Geldpolitik ihre stabilisierende Wirkung verliert. Veränderungen des inländischen Kapitalstocks führen hier zur sofortigen proportionalen Änderung aller Nominalpreise. Bzw. eine Steigerung der inländischen Geldmenge wird durch eine proportionale Verminderung der Devisenreserven ausgeglichen, ohne jedoch dabei die Konjunktur beeinflussen zu können. Die typische Verzerrung, zu deren Milderung Kapitalkontrollen eingeführt werden könnten, ist innerhalb dieses Modells die Rigidität der Preise. Im Idealfall flexibler Preise trifft die Analogie zwischen intratemporalem und intertemporalem Handel zu: in einem Maximierungsmodell der intertemporalen Entscheidung mit flexiblen Preisen sind Güter, die einem Haushalt zu verschiedenen Zeitpunkten zur Verfügung stehen, analog zu verschiedenen Gütern zu einem Zeitpunkt.565 Unter der Gültigkeit dieser Analogie entspricht die Einführung von Kapitalkontrollen einer staatlichen Verzerrung von Relativpreisen und wirkt immer wohlfahrtsmindernd. Nur unter der Annahme, dass entweder Preise rigide sind, oder der Markt nicht in der Lage ist, über Löhne und Preis den Markt zu räumen, gibt es Raum für Stabilisierungspolitik. Für die Frage nach der Liberalisierung der Kapitalbilanz, bzw. für die Einführung von Kapitalkontrollen, gibt es hier ein einfaches Kriterium: solange die Kapazitäten und die Möglichkeiten für Fiskalpolitik gegeben sind, ist eine Liberalisierung der Kapitalbilanz wünschenswert. Das bedeutet jedoch im Umkehrschluss, dass von der Existenz von Kapitalkontrollen auf Probleme der Fiskalpolitik geschlossen werden könnte und somit die ex ante intendierte Stabilisierung fehlschlägt. Eine zweite Argumentation basiert auf der Ökonomik des Zweitbesten. Der Ausgangspunkt hier ist eine Verzerrung in den institutionellen Strukturen. Die heutige Dominanz kurzfristiger Kapitalströme ist selbst ein Resultat dieser Verzerrung und stellt keineswegs ein Abbild optimal funktionierender Kapitalmärkte dar. Bei kurzfristigen Anlagen ist nicht mehr die Effizienz oder Rentabilität des Investitionsprojekts grundlegend für die Investitionsentscheidung, sondern gerade das Verhalten anderer Investoren. Dies führt notwendigerweise zu spekulativen Blasen, bei deren Zerplatzen ein Herdenverhalten einsetzt. Kapitalkontrollen wirken hier nicht wohlfahrtsmindernd, sondern bieten die Möglichkeit, ein erstbestes Gleichgewicht zu erreichen. An dieser Stelle wird auch auf die Tobin Tax, das
563 Siehe auch Micheal Dooley „A Survey of Literature on Controls over International Capital Transactions”, NBER Working Paper No 5352 (Cambridge, MA: National Bureau of Economic Research, 1995). 564 Benjamin Cohen, „The Triad and the Unholy Trinity: Lessons for the Pacific Region”, in Richard Higgott, Richard Leaver und John Ravenhill (Hrsg.), Pacific Economic Relations in the 1990s: Co-operation or Conflict? (Boulder, Colo.: Lynne Rienner, 1993), Seite 147. 565 Siehe die Diskussion in Kapitel 5.
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heißt auf die Besteuerung kurzfristiger Kapitalströme verwiesen, die durch die Arbeiten von Eichengreen, Tobin und Wyplosz ein erneutes Interesse fand.566 Ein drittes Argument basiert auf der dritten Generation der Währungskrisenmodelle. Angesichts von ‚moral hazard-Problemen’ in nationalen Bankensystemen sei eine Liberalisierung der Kapitalmärkte mit Risiken verbunden. Insbesondere ein starker Kapitalzustrom könne die Regulierungsbehörden überfordern und die Anreize einer staatlichen Einflussnahme erhöhen. Aus diesem Grund sei eine frühzeitige Reduzierung der Kapitalkontrollen bei unzureichender Regulierungskompetenz, wie sie z.B. die Schocktherapie in den frühen 1990er noch vorschlug, als gefahrvoll einzustufen. 7.2.1.1 Malaysia 1998 An dieser Stelle lohnt es sich, die Einführung der Kapitalkontrollen in Malaysia näher zu betrachten.567 Nochmals zur Erinnerung die Situation Malaysias im Jahre 1998. Nach einem Wirtschaftswachstum von über 9% des BSP in den Jahren 1994 und 1995, das sich auf 8,6% und 7,7% in den Jahren 1996 und 1997 abkühlt, schrumpft das BSP in den ersten Quartalen 1998 um 6,7 %. Im Jahr 1997 reduziert sich ebenso das Leistungsbilanzdefizit von 10,5% 1995 auf 5,1% und 5,4% in den Jahren 1996 und 1997. Die Reserven decken über vier Monate die Importe ab, die Fälligkeitsstruktur der Kredite scheint damaligen Standards zu entsprechen, und der Schuldendienst lässt mit unter 7% des BSP (6,5; 6,9; und 5,5 für die Jahre 1995-1997) nicht auf eine übermäßige Verschuldung schließen. Mit den Krisen in Thailand und Indonesien, die Malaysia zuerst noch relativ unbeschadet übersteht, dramatisiert sich die Lage jedoch zunehmend. Angesichts der sich ausweitenden Asienkrise gibt sich Finanzminister Anwar Ibrahim zu Beginn der Spannungen sehr marktkonform, um seine Regierung als vertrauenswürdig darstellen zu können. Zuerst sieht es so noch aus, als würde Malaysia ebenfalls den Internationalen Währungsfonds für Kredite anrufen. Die von Anwar initiierten Programme gleichen den Standardrezepten des IWF, da die Staatsausgaben um 18% gesenkt werden und die Reduktion des Leistungsbilanzdefizits als Politikziel festgelegt wird. Anwar gibt sich ebenso kritisch gegenüber inländischen Banken und Finanzinstitutionen, die er nicht künstlich am Leben erhalten möchte. Jedoch führt die sehr kritische Haltung von Ministerpräsident Mahatir den ‚internationalen Spekulanten’ und Märkten gegenüber auch zu innenpolitischen Spannungen über den weiteren Kurs. Die sich kontinuierlich verstärkenden innen566 Siehe auch Barry Eichengreen, Towards A New International Financial Architecture: A Practical Post-Asia Agenda (Washington DC: Institute for International Economics, 1999). 567 Dieser Abschnitt basiert auf Stephan Haggard und Linda Low, „The Political Economy of Malaysian Capital Control,“ Mimeo, University of California San Diego, 2000, sowie Ethan Kaplan and Dani Rodrik, „Did the Malaysian Capital Controls work?”, National Bureau of Economic Research, Working Paper 8142 (Cambridge, MA: NBER, 2001). Einen sehr guten Überblick über das asiatische Wirtschaftssystem findet sich bei Stephen Haggard, Pathways from the Periphery : The Politics of Growth in the Newly Industrializing Countries (Ithaca: Cornell University Press, 1990). Interessant in diesem Zusammenhang ist auch Kalpana Kochnar „Malaysia: Selected Issues,“ International Monetary Fund Staff Country Report 86 (Washington: International Monetary Fund, 1999), sowie der Vergleich zu anderen Ländern. Hier insbesondere Stephan Haggard und Jongryn Mo, „The Political Economy of the Korean Crisis,” Review of International Political Economy, Vol. 7 No. 2 (2000), Seite 197 – 218, Florio Massimo, „Economists, Privatization in Russia and the waning of the ‘Washington Consensus,’” Review of International Political Economy, Vol. 9 No. 2 (2002), Seite 374 – 415.
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politischen Spannungen zwischen Anwar und Mahatir lösen sich am 27. August 1997 mit der Veröffentlichung des 2. Quartalsbericht der Zentralbank auf. Die darin beschriebene schlechte Entwicklung nimmt Mahatir zum Anlass, sich öffentlich gegen Anwar auszusprechen und dessen Rücktritt zu fordern, den er schließlich ohne Wissen von Anwar durchsetzt. Als Ministerpräsident Mahatir am 1. September 1998 nach heftigen Attacken gegenüber internationalen Spekulanten Kapitalkontrollen einführt und den Ringgit bei US$ 3,80 fixiert, hat er einen langen innenpolitischen Kampf gewonnen. Die Hauptcharakteristika dieser Kapitalkontrollen sahen wie folgt aus:568
Der Wechselkurs wird bei RM 3,80 pro US$ fixiert Der Handel von Ringgit durch Ausländer bedarf der vorherigen Zustimmung durch die Zentralbank. Ausgenommen sind: Kauf von Ringgit in Malaysia und die Erträge aus längerfristigen Investitionen. Der Verkauf von inländischen Wertpapieren muss über malaysische Banken laufen. Der Zahlungsausgleich von Importen und Exporten muss in Fremdwährungen notiert sein.
Um den Handel in ausländischen Märkten zu unterbinden, verlangte die Regierung die Abwicklung von Devisengeschäften über inländische Intermediäre. Im Ausland gehaltene Ringgits waren zu repatriieren. Im Ausland gehandelte Ringgit waren durch diese Maßnahmen kein legales Zahlungsmittel mehr. Damit war es Mahatir möglich, den ausländischen Handel von Ringgit, vor allem in Singapur, zu unterbinden und somit die Zinsunterschiede zu kappen. Gleichzeitig war die Regierung darauf bedacht, Dividendenzahlungen aus längerfristigen Investitionen nicht zu beeinflussen. Die intellektuelle Rechtfertigung für diese kapitalexportorientierten Kontrollen kam von Paul Krugman. Paul Krugman bemerkte in einem kurzen Artikel, dass es innerhalb einer Krise und bei Kapitalflucht rational sein kann, Kapitalkontrollen auf dieses fliehende Kapital einzuführen. Die Einführung von Kapitalkontrollen würde sowohl eine Reduktion der inländischen Zinsen, als auch die Bereitstellung billiger Kredite ermöglichen. Beide Mittel sollten, unter dem Schutzmantel der Kapitalkontrollen, die interne Erholung der Unternehmen und Märkte erlauben.569 Die sich erholende Wirtschaftsaktivität wäre dann wieder in der Lage, das Vertrauen in die Währung und die Zukunft des Landes zu stützen. In der Tat konnten malaiische Banken, auch unter den Garantien und Aufforderungen von Mahatir, sich selbst und ihre Kunden vor der Insolvenz retten. Natürlich nutzte Mahatir seine politische Stellung auch, um große malaiische Firmen wie Petronas von der Notwendigkeit von Investitionen in gefährdete Industriezweige (Mahatirs geliebte Autoindustrie –) zu ‚überzeugen’.570 568 Haggard und Low, op.cit., Seite 36. 569 Paul Krugman, „Time to get radical,“, mimeo Princeton University, abrufbar unter: www.mit.edu/~krugman/ 570 Für eine tiefere Diskussion von verschiedenen ‚Geschäften’ siehe Simon Johnson und Todd Mitton. „Cronyism and Capital Controls: Evidence from Malaysia”, NBER Working Paper No. 8521, (Cambridge, MA: NBER, 2001), Seite 2. Siehe auch Raymond Fisman, „Estimating the Value of Political Connections”, American Economic Review, Vol. 91 No. 4 (2001), Seite 1095-1102. Siehe auch Frederic Mishkin „Understanding Financial Crises: A Developing Country Perspective.” NBER Working Paper 5600 (Cambridge, MA: National Bureau of Economic Research, 1997), sowie Stephan Haggard und Fred C. Bergsten (Hrsg.), The Political Economy of the Asian Financial Crises (Washington: Institute for International Economics, 2000).
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An dieser Stelle ist es weniger wichtig, danach zu fragen, ob die Methoden der Einführung der Kapitalmarktkontrollen akzeptabel waren. Entscheidend ist vielmehr, dass sich anhand dieser Aktion von Mahatir das gesamte damalige Unverständnis entzündet. Internationale Organisationen und Investoren reagierten mit einer ausgesprochenen Feindseligkeit auf diese Schritte.571 Die Ratingagentur Moody’s stufte die Kreditwürdigkeit von Malaysia drastisch herab. Morgan Stanley verbannte Malaysia von seinem Internationalen Index mit der Bemerkung, die Aufnahme sei sowieso von vornherein ein Fehler gewesen, so dass dieser Ausschluss auch als endgültig zu betrachten sei. Nachdem aber die apokalyptischen Prophezeiungen ausblieben und sich die Situation in Malaysia sogar deutlich stabilisierte, änderte sich diese negative Einstellung. Kaplan und Rodrik bestätigen dies anhand von Zitaten aus dem World Economic Outlook: „[T]he introduction by Malaysia in early September of exchange and capital controls may also turn out to be an important setback not only for that country’s recovery and potentially to its future development, but also to other emerging market economies that have suffered from hightened investor fears of similar actions elsewhere”572 „Despite stimulative monetary and fiscal policies introduced last year, however, domestic demand is expected to strengthen only gradually…:”573 „…a strong economic recovery is also underway in response to fiscal and monetary stimulus and the pegging of the exchange rate at a competitive level.”574
Kaplan und Rodrik kommen in ihrer Analyse zur Überzeugung, dass der Rückgriff auf Kapitalkontrollen in Malaysia kurzfristig erfolgreich war, da er eine schnellere Erholung erlaubte, als dies durch die vom IWF induzierten Programme in den Nachbarländern der Fall war. Sicherlich erlaubten die Kapitalkontrollen Mahatir, seine politische Ziele gegen seinen potentiellen Gegner Anwar durchzusetzen und insbesondere seine politischen Verbindungen und Netzwerke für seinen eigenen Machterhalt zu nutzen.575 Die politische Dimension der Kapitalkontrollen wird auch im Verhältnis Malaysia und Singapur deutlich. Die politischen Entscheidungen von Ministerpräsident Mahatir wurden mit einem nationalistischen Unterton begründet und durchgesetzt. Als Folge manifestierte sich nicht nur die averse Einstellung gegenüber ausländischen Investoren, sondern es flammte auch die alte Rivalität mit Singapur wieder auf.
571 dieser Abschnitt stützt sich auf Kaplan und Rodrik 2001, op. cit., insbesondere Seite 11ff., die diese Reaktionen wunderbar zusammengetragen haben. 572 International Monetary Fund, World Economic Outlook, (October 1998), Seite 4, zitiert in Kaplan und Rodrik, op.cit., Seite 11. 573 International Monetary Fund, World Economic Outlook (May 1999), Seite 19, zitiert in Kaplan und Rodrik, op.cit.,Seite 11. 574 International Monetary Fund, World Economic Outlook, (October 1999),Seite 19, zitiert in Kaplan und Rodrik, op.cit., Seite 11. 575 Kaplan und Rodrik, op. cit.
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7.2.1.2 Zusammenfassung Die Währungskrisen der letzten Jahre haben die Frage nach den Kapitalkontrollen neu gestellt und öffnen den Raum für neue Argumentationen. Im Sinne des dritten Währungskrisenmodells, das die schwache Regulierungskapazität von Entwicklungsländern betont, erhöht die frühzeitige Liberalisierung der Finanzmärkte die Verletzlichkeit des Landes für internationale Schocks, da diese mit dem Management der komplexen Risiken überfordert sein wird. Da Regierungen ebenfalls die Risiken nicht managen können, ist die Einführung von Kapitalkontrollen eine Lösung, die es erlaubt, die Regulierungskapazitäten erst noch aufzubauen. Die zweite Argumentation legt besonderes Augenmerk auf die Zeitdimension. Die Einführung von Kapitalkontrollen erlaubt eine drastische Zinssenkung und Infusion von Liquidität in die Ökonomie. Die Spirale der Abwertungserwartungen und Zinserhöhungen, die so charakteristisch für die Währungskrisen ist, findet in den Kapitalkontrollen ihre Grenze. Kapitalkontrollen können so die Ökonomie vor einem Kollaps bewahren und die Situation stabilisieren. Kapitalkontrollen erlauben daher eine Wiedererlangung der Kontrolle über die Ökonomie, wie es in Malaysia zu beobachten war. Freilich stellt sich die Frage, ob Kapitalkontrollen ihr Ziel überhaupt noch erreichen können, wie erfolgreich sie Kapitalströme unterteilen und lenken können. Hier spielt vor allem die ständige Innovation von Finanzprodukten, die sich der genauen Regulierung entziehen, eine besondere Rolle. An dieser Stelle macht sich eine gewisse Skepsis breit, inwieweit Staaten in der Lage sind, bestimmte Ströme zu beschränken. Wie Sebastian Edwards betont, hatten 1996 trotz einer Kapitalkontrolle mehr als 40% der Kredite an Chile eine laufende Fristigkeit von unter einem Jahr.576 Edwards sieht somit keinen Effekt der chilenischen Kapitalkontrollen auf den Wechselkurs und den Zinssatz..577 Dennoch lässt sich festhalten, dass die Einführung von Kapitalkontrollen heute eine breitere Unterstützung findet.578 So zeigen sich, nachdem die destruktive Kraft der kurzfristigen Kapitalströme als Folge der Asienkrise Anerkennung findet, auch Ökonomen gegenüber der Politik Chiles toleranter.579 Dieser Wandel verweist meines Erachtens auf einen Wandel der grundlegenden Metapher freier Kapitalmärkte. Die Metapher der internationa576 Sebastian Edwards, „How Effective are Capital Controls,” The Journal of Economic Perspectives, Vol. 14 No. 4 (1999), Seite 65-84, Reuven Glick und Michael Hutchinson, „Capital Controls and Exchange rate Instabilities in Developing Economies,” Journal of International Money and Finance, Vol. 24 No. 3 (2005), Seite 387-412. Siehe auch Barry Eichengreen, „Capital Controls: Capital Idea or Capital Folly?” University of Berkeley, Mimeo 2005, http://www.econ.berkeley.edu/~eichengr/policy/capcontrols.pdf 577 Trotz dieser Unsicherheit, ob der Erfolg Chiles letztlich auf die Kapitalkontrollen zurückgeführt werden kann, steigt die Anzahl der Befürworter dieser Zustrom orientierten Kapitalkontrolle. Neben Barry Eichengreen, 1999, op. cit. und Joseph Stilgitz, 1999, op. cit., siehe vor allem Richard N. Cooper, „Should Capital Controls be banished?” Brookings Papers on Economic Activity, No.1 (1999), Seite 89-141. 578 Jagdish Bhagwati, „The Capital Myth: The Difference between Trade in Widgets and Dollars”, Foreign Affairs, Vol. 77 No. 3 (1998a), Seite 7-12. Jadish Bhagwati, „Why Free Capital Monility may be Hazardous to Your Health: Lessons from the Latest Financial Crisis,” Paper prepared for the Conference on Capital Controls, November 7 1998, National Bureau of Economic Research, siehe auch Dani Rodrik, „Exchange Rate Regimes and Institutional Arrangements in the Shadow of Capital Flows”, mimeo Harvard University, September 2000, siehe auch Paul Krugman, „It’s time to get radical,” op.cit. 579 Chile führte zwischen Mai 1992 und Mai 1998 Kontrollen auf Kapitalzuströme ein. Dabei waren alle Kapitalinvestitionen, die nicht dem Bereich des Eigenkapitals zuzurechnen waren, mit einer zinslosen Einlage von 30% des Investitionswertes für ein Jahr zu hinterlegen. Kurzfristige Investitionen wurde eine Steuer von 30% erhoben, während langfristige Investitionen steuerfrei waren. Für eine Diskussion siehe Sebastian Edwards, „How Effective are Capital Controls?“, op.cit.
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len Finanzmärkte als Fluss, der sich im gleichgewichtigen Flussbett selbst reguliert, wird durch das Bild der Tasse ersetzt. Ein Steinwurf im Fluss schlägt zwar Wellen, langfristig kehrt der Fluss aber doch zum ursprünglichen Gleichgewicht zurück. Ein Steinwurf auf eine Tasse hingegen kann diese zerstören – mit der Folge, dass die sich darin befindende Flüssigkeit verschüttet und eine Rückkehr zum vorherigen Gleichgewicht unmöglich ist. Diese Veränderung reduziert die universalistischen Ansprüche, indem dem Kontext wieder Raum gegeben wird. Die Vor- und Nachteile der Liberalisierung der Kapitalbilanz bestimmen sich nun durch den konkreten Zustand der Volkswirtschaft und nicht durch die Utopie eines unpolitischen Marktes. Hier zeigt das jüngste Interesse am Herdenverhalten von Investoren seine besondere Wirkung, da Kapitalkontrollen diesem Herdenverhalten entgegenwirken können. 7.2.2 Wechselkurs Die Währungskrisen verändern auch die Diskussion um die Wechselkurspolitik.580 In der Frage, was vor allem Schwellenländer tun können, um dem Schicksal einer erneuten Währungsattacke zu entgehen, findet der alte Streit zwischen flexiblen und festen Wechselkursen, zwischen Keynesianern und Monetaristen, eine Neuauflage. Dabei war diese Diskussion in den 1970er Jahren durch die Ölschocks und die Phillipskurve motiviert, das heißt durch Schocks, die ihren Ursprung in der Handelsbilanz und nicht in der Kapitalbilanz haben. Auch die Schuldenkrise der 1980er Jahre wurde noch auf das Fehlmanagement der Länder zurückgeführt und nicht als eine Herausforderung der grundlegenden Annahme einer effizienten Allokation von Kapital. Erst mit der Mexikokrise 1994 und insbesondere nach der Asienkrise und der Russlandkrise 1998, wird die der bisherigen Literatur zugrunde liegende Annahme der Neutralität der Kapitalmärkte aufgegeben und monetären Variablen langfristige Auswirkungen auf den Realsektor zugestanden. Mit der Konsequenz, dass sich hier die Frage nach den Vor- und Nachteilen von Wechselkursregimen neu stellt. Ich will an dieser Stelle weniger auf die Unterscheidung zwischen flexiblen und festen Wechselkursen eingehen.581 Wichtiger ist in diesem Zusammenhang, dass das Zusammenspiel des nationalen und internationalen Gleichgewichts über die asymmetrische Information in eine Vertrauensproblematik der Regierungen – und damit der staatlichen Ordnung – übersetzt wird. Unter Bedingungen asymmetrischer Information muss sich die Regierung selbst glaubhaft an den festen Wechselkurs binden können, um negative Erwartungen internationaler Investoren erst gar nicht aufkommen zu lassen. Selbst wenn, oder sogar gerade wenn 580 Für eine Einführung in die Problematik siehe Willem Buiter und Vittorio Grilli, „Anomalous Speculative Attacks on Fixed Exchange Rate Regimes: Possible Resolutions of the „Gold Standard Paradox,” in Paul Krugman und Markus Miller (Hrsg.). Exchange Rate Targets and Currency Bands (Cambridge: Cambridge University Press, 1992), Guillermo Calvo und Christine Reinhart, „Fear of Floating,” Quarterly Journal of Economics, Vol. 107 No. 2 (2002), Seite 379-408, , Robert Chang und Andres Vélasco, „Financial Fragility and the Exchange Rate Regime.” C.V. Starr School of Business Working Paper (New York: New York University, 2002). 581 Siehe Barry Eichengreen, Towards a new international financial architecture: a practical post-Asia agenda, op. cit., insbesondere Kapitel 5. Für eine aktuelle Untersuchung siehe Guillermo A. Calvo. „Fixed Versus Flexible Exchange Rates: Preliminaries of a Turn- of Millennium Rematch,” University of Maryland Mimeo, May 16. 1999. . http://www.bsos.umd.edu/econ/ciecalvo.htm. Siehe auch Maurice Obstfeld und Kenneth Rogoff. “The Mirage of Fixed Exchange Rates.” Journal of Economic Perspectives Vol. 9 No.4 (1995), Seite 73-96.
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die nationalen Bedingungen eigentlich einer expansiven Geldpolitik verlangen würden. Der Grund liegt darin, dass die asymmetrische Informationsverteilung die Automatik des internationalen Anpassungsprozesses untergräbt. Jedes Wechselkursregime, sei es der Goldstandard I oder II, Bretton-Woods oder das heutige Nichtsystem flexibler Wechselkurse, ist durch das partikulare Verhältnis des nationalen und internationalen Gleichgewichts gekennzeichnet.582 So wird heute der Goldstandard primär als ein System mit glaubhafter Bindung an den jeweiligen Wechselkurs verstanden, das über eine Vernachlässigung des nationalen Gleichgewichts einen automatischen Anpassungsmechanismus garantieren konnte. Durch den Aufstieg des Wohlfahrtsstaates ist jedoch die Vernachlässigung des nationalen Gleichgewichts politisch nicht mehr tragbar. Mit dem Verlust der Automatizität des Anpassungsmechanismus unterliegen Regierungen einem Zeitinkonsistenzproblem. Aus diesem Grund müssen sich Regierungen nun glaubwürdig an den Wechselkurs binden können. Wie in der Europakrise 1992 deutlich wurde, löst eine Unfähigkeit der Selbstbindung unmittelbar spekulative Attacken aus, die das Regime fester Wechselkurse beenden können. Die aktuelle Diskussion um das richtige Wechselkursregime ist durch diese Konzipierung des Vertrauensproblems im Zusammenspiel von Erwartungen und Zinsen geprägt. Es verwundert also kaum, dass die aktuell diskutierten Alternativen vor dem Hintergrund der Möglichkeit einer Selbstbindung interpretiert werden.583 So gewinnt die Idee eines Currency Boards an Bedeutung, da hiermit für Schwellenländer eine stärkere Form der Selbstbindung hergestellt werden kann, als dies mit einem einfachen Wechselkurs möglich wäre.584 Ein Currency Board zeichnet sich durch zwei Punkte aus. Zum einen unterliegt die Kontrolle des festen Wechselkurses nicht mehr der Zentralbank, sondern dem Board. Dieses Regime soll demnach als Form der Selbstbindung an eine nichtinflationäre Wirtschaftspolitik das Vertrauensproblem der internationalen Märkte lösen, da die Entscheidung nicht mehr nationalen Behörden untersteht.585 Der Vorteil dieses Regimes zeigt sich in der Praxis. Innerhalb eines Monats konnte z.B. der nationale Zinssatz in Argentinien von 12,5% auf 1,5% reduziert werden. Der offensichtliche Nachteil, und dies ist das zweite Charakteristikum, ist die fehlende Möglichkeit einer aktiven Geldpolitik. In diesem Regime bestimmt die ausländische Währung das nationale Geldangebot. Die Reduktion von Devisenreserven würde zu einer Reduktion des Geldangebots und damit zu einer Anhebung der Zinsen führen, solange bis internationale Anleger wieder bereit sind, die inländische Währung zu halten. Die stärkste Form der Selbstbindung ist eine Substitution der nationalen Währung durch eine ‚harte’ Währung. Dies kann entweder über eine Dollarisierung oder die Einführung einer neuen, internationalen Währung erfolgen, wie wir es am Beispiel des Euro beobachten konnten. Kennzeichen ist hier die Abschaffung der nationalen Währung und damit ein Verzicht auf eine eigene Geldpolitik. Dies ist dem Verzicht auf eine eigene Zentralbank gleichzustellen. Eine autonome Veränderung der Zinsen ist nicht mehr möglich, da Zinsen auf in Dollar festgeschriebene Kredite in der Währungsregion gleich sein müssen. Angesichts einer angespannten Haushaltslage kann dies zu einem zu teuren Instrument werden. Die Geldpolitik wird, wie im Falle Ecuadors, ausschließlich nach amerikanischen Bedingungen reguliert. Eine amerikanische Re582 Siehe vor allem Barry Eichengreen, Globalizing Capital, op. cit. 583 Siehe Barry Eichengreen, Towards 1999, op. cit. Siehe die Diskussion im International Monetary Fund, World Economic Outlook (October 1997), Seite 78-97. 584 Ein frühes Beispiel ist Brunei seit 1968 und Hong Kong 1983. In den 90er wurde diese Option unter anderem von Argentinien, Lithauen und Bulgarien gewählt. 585 Bezeichnenderweise definiert der IWF ein Currency Board als Selbstverpflichtung. Siehe ibid., 84.
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zession und die darauf folgende Zinssenkung führt zu einer Überhitzung der abhängigen Wirtschaft, ohne dass diese Externalität von der dominierenden Zentralbank internalisiert wird. Analog argumentiert auch Martin Feldstein, dass angesichts eines hohen Anteils notleidender Kredite die Einführung einer Währungsunion nicht ratsam sei. So habe Mexiko einen Anteil an notleidenden Krediten von bis zu 20% des BSP. Das mexikanische Bankensystem würde nur deshalb nicht kollabieren, weil Anleger im Notfall auf die Geldschaffungsfunktion der Bank von Mexiko vertrauen könnten. Bei einer Währungsunion mit dem amerikanischen Dollar würde die Bank von Mexiko aufhören zu existieren. Obwohl der Anpassungsmechanismus stark an den Goldstandard erinnert und das Vertrauensproblem in die Währungspolitik durch eine eingebaute Automatizität der Anpassungsregeln überwinden möchte, eröffnen diese Optionen dennoch Glaubwürdigkeitsüberlegungen. Eine notwendige Bedingung für deren Funktionieren ist das Primat des internationalen Gleichgewichtes. Eine Regierung muss bereit sein, passiv den internen Druck steigender Zinsen zu ertragen. Bei einsetzenden politischen Unruhen lastet ein Schatten der Unsicherheit auf der weiteren Glaubwürdigkeit dieser Entscheidung, da sie eben auch eine politische und nicht nur eine rein ökonomische Entscheidung ist. Argentinien ist hier ein nützliches Beispiel. Argentinien führte ein Currency Board ein, um die Hyperinflation in den Griff zu bekommen. Domingo Cavallo, der ehemalige Finanzminister Argentiniens, zeichnete verantwortlich für die Etablierung des Currency Boards. Die jüngste Abwertung des Brasilianischen Real erhöht, über ein in Argentinien steigendes Handelsdefizit, den Abwertungsdruck auf den argentinischen Peso. Das Currency-Board-System übersetzt diesen Druck über Fremdwährungskredite in ein steigendes Haushaltsdefizit und reduziert damit die Wachstumsraten. Angesichts der direkten Übersetzung von realen Schocks und dem damit steigenden inländische Druck auf eine Regierung, zeigt sich das Currency Board dann als nicht stabil genug, um in einer Krisensituation das Vertrauensproblem lösen zu können. Analog zeigt sich, dass diese zwei Optionen genau das voraussetzen, was sie eigentlich erst bewirken sollen: ein stabiles Bankensystem. Denn kann die Zentralbank ihre Funktion als Geldgeber der letzten Instanz nicht mehr erfüllen, eröffnet dies die Möglichkeit für selbsterfüllende Prophezeiungen. Freilich gibt es eine Vielzahl von hybriden Architekturen, die uns an dieser Stelle jedoch nicht weiter interessieren sollen. Wichtig ist die Struktur der Argumentation: die asymmetrische Information übersetzt die Stabilitätsfrage in ein Koordinations- und Vertrauensproblem. Je stärker die Staaten sich an die Regeln vernünftiger Governance binden, desto eher kann das Vertrauensproblem gelöst werden. Die Frage nach der Systemstabilität wird reduziert auf die quasi-individuelle Ebene staatlicher Politik, in der dann die Mechanismen eines Frühwarnsystems greifen können.586 Der souveräne Staat geht damit der Wahl eines Wechselkursregimes voraus, da die Mechanismen und Wirkungen der Regime selbst von Zeit und Raum unabhängig zu sein scheinen: die Form des grundlegenden Problems ist die Gleiche, nur die inhaltliche Ausgestaltung unterscheidet sich. Die staatliche Ordnung ist aus diesem Grund auch genau der blinde Fleck dieser Konzeption: da die grundlegende Thematik wieder als eine ökonomische Frage rückgebunden werden kann, wird gerade die politische Dimension erneut ausgeklammert, obwohl sie sowohl bei der Auslösung als auch bei der Ausbreitung von Währungskrisen eine gewichtige Rolle spielt. Selbst die Aufgabe der eigenen Währung lässt immer noch die Frage offen, wie glaubwürdig dieser Verzicht 586 Morris Goldstein Graciela Kaminsky und Camren Reinhart, Assessing Financial Vulnerability: An Early Warning System for Emerging Economies (Washington DC: Institute for International Economics, 2000).
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letztlich ist, gerade da die Wahl des Regimes eben eine politische und keine rein ökonomische Frage ist. 7.2.3 Die Reform des Internationalen Währungsfonds Der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems verbunden mit dem starken Anstieg der privaten Kapitalströme unterminierte die ursprüngliche Legitimität des IWF. Die ursprüngliche Legitimität aus dem Konsens der Staaten wird daraufhin durch eine auf besseres Wissen abgestellte Formel ersetzt. Der IWF entwickelt sich vor allem in den 1990er Jahren zu dem zentralen Krisenmanager, der die Führung der konzertierten Hilfsaktionen übernimmt. Damit ist der IWF das zentrale Diskussionsforum und der Moderator der unterschiedlichen Interessen und Überzeugungen. Die Frage der Konditionalität ist damit an Fragen der politischen Natur des Internationalen Währungsfonds und der spezifischen Charakteristika der aktuellen Finanzmarktarchitektur angebunden. Nicht nur aus diesem Grund ist die Reformdiskussion um den Internationalen Währungsfonds die emotionalste dieser Debatten. Auch in der jüngsten Debatte verändert sich der Tenor, obwohl die ökonomische Theorie wiederum widersprüchliche Signale gibt. Das Modell der zweiten Generation, das auf selbsterfüllende Prophezeiung abstellt, betrachtet die generell angenommene Legitimität der Konditionalität als fragwürdig. Soll eine selbsterfüllende Prophezeiung verhindert oder gestoppt werden, kann nicht langwierig über Konditionen verhandelt werden. Dem wirkt die aktuelle Betonung von strukturellen Schwächen (Modelle der 3. Generation) entgegen. Mit dem Argument der ‚Anfälligkeit’ von Wirtschaftssystemen lässt sich eine Kompetenz des IWF begründen, die bis dato nicht vorhandene Ausmaße annehmen kann. Wenn die Sicherheit des internationalen Finanzsystems zu den Kernaufgaben des IWF gehört, dann schließt dies die Kompetenz zur möglichen und dafür als notwendig erachteten Veränderung der nationalen Wirtschaftssysteme mit ein. An dieser Stelle trifft sich diese Analyse mit den Vorwürfen, der IWF hätte besonders in der Asienkrise die ihm zustehenden Kompetenzen überschritten.587 In der Tat zeigt sich hier, dass die Konditionalität der Kreditvergabe tief in die Strukturen der jeweiligen Souveränitätsrechte der Staaten eingriff. Dieser Vorwurf kann mit der Annahme einer strukturellen Schwäche der Bankenregulierung als Ausgangspunkt der Asienkrise zwar gemildert, aber nicht revidiert werden: die Konditionalität beschränkte sich gerade nicht auf die Sicherheit der Banken, sondern schloss Eigentumsrechte und Sozialprogramme mit ein. Das angebliche Ziel dieser Restrukturierung war der Versuch, das Vertrauen des Marktes zurückzugewinnen, um über eine reduzierte Risikoprämie die nationalen Zinsen senken zu können. Das Ziel der IWF-Programme in Asien wurde von Michel Camdessus wie folgt zusammengefasst: „As soon as it was called upon, the IMF moved quickly to help Thailand, then Indonesia, and then Korea formulate reform programs aimed at tackling the roots of their problems and restoring investor confidence. In view of the nature of the crisis, these programs had to go far beyond addressing the major fiscal, monetary, or external balances. Their aim is to strengthen financial
587 Siehe Martin Feldstein, „Refocussing the IMF“, Foreign Affairs, Vol. 78 No. 2 (1998), Seite 93-109.
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systems, improve governance and transparency, restore economic competitiveness, and modernize the legal and regulatory environment.588
Zur Sicherstellung der Zielerreichung wurde ein Hilfspaket von insgesamt US$ 117 Mrd. geschnürt; wobei auf Südkorea US$ 57 Mrd., Indonesien US$ 34 Mrd. und Thailand US$ 17 Mrd. entfielen.589 Im Gegenzug hatten die Regierungen ein Reformprogramm zu initiieren, das durch drei Eckpunkte charakterisiert ist: Hochzinspolitik, Fiskalpolitik und strukturelle Reformen. Um die jeweiligen Währungen angesichts der zugespitzten Risikosituation für internationale Investoren attraktiv zu machen, drängte der IWF trotz drohender Rezession auf eine drastische Zinserhöhung. Die darauf einsetzende Insolvenzwelle und der Rückgang wirtschaftlicher Aktivität schwächten jedoch das erhoffte Vertrauen und zwangen die Volkswirtschaften in eine weitere Abwärtsspirale.590 Die seitens des IWF geplanten Strukturreformen „were intended to address structural problems that had contributed to the crisis and to provide the foundations for a return to sustainable growth.“591 Dabei wurden Veränderungen eingefordert, die von der Umstrukturierung insolventer Finanzinstitute, der Förderung von Wettbewerb, der Bankenaufsicht592 und andere Regulierungsdefizite über die Zulassungsbeschränkung ausländischer Firmen, diskriminierende Werbegesetze bis hin zur Abschaffung von Nahrungsmittelzuschüssen reichten.593 Umstrukturierungen im Regierungssektor und in der Wettbewerbspolitik sollten dabei das Problem der Vetternwirtschaft und Korruption, also Themen, die besonders durch die Modelle der dritten Generation thematisiert wurden, angehen.594 Überwacht werden sollten die Veränderungsprozesse durch speziell geschaffene Institutionen, wie die Indonesian Bank of Restructuring Agency (IBRA) oder die Financial Restructuring Agency (FRA) in Thailand. Rechtliche Probleme und Kompetenzfragen verursachten jedoch ein Fiasko. Es dauerte über vier Monate bis diese Institutionen geschaffen wurden und weitere 18 Monate vergingen bis zur Klärung ihrer rechtlichen Kompetenzen. Die Einsetzung der Programme dauerte für eine Restabilisierung der Situation einfach zu lange. Drittens verlangte der IWF eine deutliche Reduktion der Staatsausgaben. Wie die Diskussion der Fundamentaldaten in Asien jedoch gezeigt hat, war gerade das primäre Staatsdefizit nicht das Problem dieser Staaten. Somit ist Paul Krugman zuzustimmen, wenn er schreibt: „there is no question that the fund, like almost everyone, underestimated the depth of and risks involved in the Asian crisis. And there is also no question that the initial in588 Michel Camdessus, „The IMFs Role in todays Globalized World“, Rede an das IMF-Bundesbank Symposium, Frankfurt, Deutschalnd (Juli 1998). Man beachte die Gleichsetzung von Moderne und gesteigerte Stabilität. 589 Allan H. Meltzer, „Asian Problems and the IMF“, Cato Journal, Vol. 17 No.3 (1998), Seite 268. 590 Dies ist natürlich derselbe Effekt wie oben besprochen.. Siehe auch Paul Krugman: „Dutch Tulips and Emerging Markets“, op cit. Siehe auch: Corsetti, Giancarlo; Pesenti, Paolo and Roubini, Nouriel. „What caused the Asian currency and financial crisis? Part II: The Policy Debate“, op.cit., Seite 2-3 591 Timothy Lane et al., IMF -Supported Programs in Indonesia, Korea and Thailand: A Preliminary Assessment (Washington: IMF, 1999), Seite 101. 592 Die Finanzsektoren sollten auf das Niveau des Basler Abkommens gebracht werden, siehe Ibid., Seite 109. 593 Siehe Ibid., Seite 110. 594 Dieser Begriff bezieht sich auf Organisation der Ökonomie in asiatischen Ländern, die sich durch eine nicht vorhandene Trennung des öffentlichen und privaten Sektors auszeichnet. Statt dessen findet man ein komplexes Netzwerk von formalen und informellen Bindungen zwischen Regierung, Finanzinstitutionen und Unternehmen vor, die Korruption und Intransparenz fördern sollen. Beschrieben wird dies in Timothy Lane et al., IMF -Supported Programs in Indonesia, Korea and Thailand: A Preliminary Assessment (Washington: IMF, 1999), Seiten 112-115.
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stincts of the Fund were to grab standard programs from the shelf (like Mexico 1995) - to demand fiscal austerity from countries that did not have budget problems.“595 Vor allem Stanley Fisher versucht eine Rationalisierung dieser offensichtlichen Inkonsistenz über die notwendigen Umstrukturierungskosten des Finanzsektors. Da diese bis zu 15% des BSP betragen würden, wäre es notwendig gewesen, diese Kosten über Sparprogramme zu antizipieren. Denn nur über solche Sparpakete war die Finanzierung dieser Programme gewährleistet. Doch dieses Argument geht schon aus dem Grund fehl, dass die Umstrukturierung erst nach der Lösung der Krise selbst ansetzen kann. Doch die primäre Aufgabe des IWF war die Lösung der Krisensituation, nicht die Etablierung einer nachgelagerten Vision. Das offensichtliche Missmanagement der Asienkrise seitens des IWF entzündet eine breite Diskussion um notwendige Reformen. Vor allem die Notwendigkeit einer schnelleren Kreditvergabe und eine sinnvolle Ausgestaltung der Konditionalität stellen sich als zentrale Herausforderung für den IWF dar, die sich anhand relevanter Berichte gut rekonstruieren lässt.596 Die besprochenen Berichte sind der Report der International Financial Institutions Advisory Commission (Meltzer Report),597 sowie die Antwort des US Treasury,598 der Report des Independent Task Force Council on Foreign Relations (1999),599 die G7 Statements,600 der Genf Report, der gemeinsam vom International Center for Monetary and Banking Studies und dem Centre for Economic Policy Research (CEPR) in London veröffentlicht wurde601 und der Report des Overseas Development Council, der deutlich die Handschrift von Joseph Stiglitz trägt.602 Diese Berichte stimmen in der grundlegenden Überzeugung überein, dass der IWF weiterhin die zentrale Rolle in der Prävention und Lösung von Währungskrisen übernehmen soll. Obgleich die Vorstellungen der individuellen Ausgestaltung der Kompetenzen des IWF natürlich deutlich auseinanderliegen,603 wird die Kompetenz zur Kreditvergabe selbst nicht hinterfragt. Deutlich ausgeweitet werden soll die Überwachungsfunktion des IWF.604 Da die 595 Paul Krugman, „Will Asia bounce back?“, op cit., Seite 4. 596 John Williamson, „The Role of the IMF: A Guide to the Reports,” Internatioanl Economics Policy Briefs, Number 00-5 (Washington DC: Institute for International Economics, May 2000). 597 International Financial Institutions Advisory Commission, Report of the International Financial Institutions Advisory Commission (Washington, April 2000) (Meltzer Report). 598 US Treasury, Response to the Report of the International Financial Institution Advisory Commission (Washington DC: US Treasury, June 2000). Abrufbar unter: www.treasury.gov/press/releases/docs/response.pdf (zuletzt besucht am 01.04.2007. 599 Council on Foreign Relations Independent Task Force, Safeguarding Prosperity in a Global Financial System: The Future International Financial Architecture (Washington, D.C.: Council on Foreign Relations,1999), Abrufbar unter: http://www.cfr.org/content/publications/attachments/Safeguarding_Prosperity.pdf (zuletzt besucht am 01.04.2007) 600 Group of Seven Finance Ministers, Strengthening the International Financial Architecture. Report to the Heads of State and Government (Fukuoka, July 2000), Group of Seven Finance Ministers and Central Bank Governors, Statement (Palermo, Italy, February 17). Für eine Analyse der G7 selbst siehe C. Fred Bergstein und C. Randall Henning, Global Economic Leadership and the Group of Seven (Washington, D.C: Institute for International Economics, 1997). 601 International Center for Monetary and Banking Studies. An Independent and A countable IMF. London: Centre for Economic Policy Research, 1999. 602 Overseas Development Council, The Future Role of the IMF in Development (Washington: ODC, 2000). [ODC Report]. 603 wie gleich gezeigt wird, ist der Meltzer Report der einzige, der aufgrund von Moral Hazard Überlegungen die positive Auswirkung der Existenz des IWF für die zwischenstaatliche Koordination bezweifelt. 604 Hier ist die ‚allgemeine’ Überwachung durch die Veröffentlichung des World Economic Outlook und des International Capital Markets Reports von der speziellen oder individuellen Überwachung der Artikel IV Konsultationen zu unterscheiden.
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strukturellen Schwächen der einzelnen Staaten als Ursache der Krisen angesehen werden müssen, so die dominante Meinung, müssen neben der Überwachung der traditionellen makroökonomischen Standards auch finanzielle Standards und die allgemeine Verletzlichkeit bzw. Anfälligkeit des Finanzsystems beachtet werden. Zur schnellen Bereitstellung von Krisenkapital wurde nach einem Vorschlag der G7 im Oktober 1998 die Contingency Credit Line (CCL) eingeführt.605 Diese erweiterte Kreditlinie soll Regierungen schnell zur Verfügung stehen, unter der Bedingung, dass sich diese Staaten mit ihrer Verpflichtung zur Einführung und Einhaltung spezieller makroökonomischer und regulativer Standards ‚vorqualifizieren’. Nur Länder mit ‚guter’ makroökonomischer Wirtschaftspolitik, die sich gleichzeitig den international angesehenen Standards fügen606 und ‚gesunde’ Beziehungen zu ihren Gläubigern unterhalten, können sich hierfür qualifizieren. Die Idee der Vorqualifizierung für den finanziellen Beistand ist ein neuer Gedanke, der in den Berichten durchweg sehr positiv aufgenommen wird und seine Überzeugungskraft aus der Selbstbindungsproblematik unter Bedingungen asymmetrischer Information erhält.607 Die Vorqualifizierung soll Spekulanten ‚abschrecken’. Interessant an dieser Stelle ist der CFR Report, der eine klare Trennung zwischen ‚Länderkrisen’ und ,systemischen’ Krisen’ vornimmt. Im ersten Fall ist das Volumen der Hilfspakete auf die Höhe der Ziehungsrechte zu reduzieren. Im zweiten Fall hingegen sollen die bis jetzt erfolglose CCL und die SRF durch ein New Agreement on Borrow ersetzt werden. Opfern von unrationalisierbaren und unkontrollierbaren Krisenausbreitungen sollte eine spezielle Contagion Facility zur Verfügung stehen. Doch drängt sich hier der Verdacht auf, dass es ein Problem in der Zeitdimension gibt. Denn ex ante ist es nicht möglich festzustellen, ob die je aktuelle Ausbreitung als Länderkrise oder als systemische Krise beschrieben werden soll. Vor dem Hintergrund, dass selbst heute keine Einigkeit darüber besteht, ob die Asienkrise nicht eine ‚irrationale’ Ausbreitung erfuhr und somit als systemische Krise begiffen werden kann, erscheint diese Trennung ein frommer Wunsch zu sein.608 Im Weiteren möchte ich in den nächsten Abschnitten auf die Frage der Funktion des IWF im Finanzgefüge und die Rolle der Konditionalität eingehen. 7.2.3.1 International Lender of Last Resort Provisions Die Diskussionen über einen internationalen Kapitalgeber der letzten Instanz (International Lender of Last Resort ILOLR)609 stellt die Frage, ob es ein Äquivalent zu einer nationalen 605 Jedoch hat sich, wie Fischer feststellte, bis jetzt kein Land um eine Qualifizierung bemüht, da eine angestrebte Qualifizierung das Signal aussenden könnte, dass das Land eine Schwäche erwartet und gerade dadurch eine selbsterfüllenden Prophezeiung in Gang gesetzt werden könnte. Stanley Fischer, On the need, op. cit. 606 Siehe Punkt 4 in diesem Kapitel. 607 Ausnahme ist der Genfer Report, Seite 44. 608 Wie Stanley Fischer feststellte, ist dies eigentliche eine unmögliche Aufgabe, da die Grenze zwischen insolvent und illiquid durch den Verlauf der Krise bestimmt wird und kann nicht vor der Krise feststehend angenommen werden kann. Siehe Stanley Fischer, On the need, op. cit. 609 Siehe hierfür vor allem, Charles Goodhart und Gerhard Illing (Hrsg.), Financial Crises, Contagion and the Lender of Last Resort (Oxford: Oxford University Press, 2002). Siehe auch Jeffrey Sachs, „ Do We Need a Lender of Last Resort?“ in Nouriel Roubini (Hrsg.), The New International Financial Architecture (Aldershot: Edward Elgar, 1995), Curzio Giannini „Enemy of None but a Common Friend of All? An International Perspective on the Lender of Last Resort Function.” Princeton Essays in International Finance, No. 214 (Princeton: Princeton University Press, 1999), Xavier Freixas, Curzio Giannini, Glenn Hoggarth und Farou
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Zentralbank auf der internationalen Ebene geben kann. Vor allem wird darüber nachgedacht, ob der IWF in eine Zentralbank der Zentralbanken transformiert werden kann. Die Aufgabe einer Zentralbank ist es, nach Walter Bagehot, in Krisenzeiten „frei, mit einem Strafzinssatz und mit Sicherungsrechten“610 Geld zur Verfügung zu stellen. Erst dann werden die Erwartungen der Sparanleger dahingehend verändert, dass die Gefahr einer selbsterfüllenden Prophezeiung gebannt ist. Diese Diskussion verläuft entlang zweier Fragestellungen: Benötigt der IWF, analog der Zentralbank, eine Gelddruckkapazität, um diese Funktion erfüllen zu können, und zweitens, wirft nicht die Existenz des IWF Probleme des moralischen Risikos auf? Das Herdenverhalten in den Währungskrisen, das heißt der Sturm auf die Kasse und der Aufruf zu höheren Liquiditäts- und Kapitalanforderungen an Banken, zeigen deutlich, dass momentan von einem vollständig existierenden ILOLR nicht gesprochen werden kann. Der Internationale Währungsfonds hat in seinem Statut zwar die Aufgabe zugeschrieben bekommen, bei der Lösung von temporären Ungleichgewichten finanziell und beratend zur Seite zu stehen, doch gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen nationalen Zentralbanken und dem Internationalen Währungsfonds. Für eine Zentralbank ist das Geldangebot endogen, da sie selbst nach Bedarf Geld drucken kann. Diese Kapazität hat der IWF sicherlich nicht, da für ihn das internationale Geldangebot exogen bestimmt ist. Zwar hat der IWF über die Sonderziehungsrechte (SDR) eine begrenzte Geldschöpfungskompetenz. Jedoch kann nicht ernsthaft von Offenmarktoperationen, Reservepolitik oder Liquiditätsentzug durch den IWF gesprochen werden. Der Fonds finanziert sich hauptsächlich über Mitgliedsbeiträge und ist, formal gesehen, durch diese Quoten gebunden. Aus diesem Grund kann der IWF auch nicht die Erwartungen der Anleger in der gleichen Weise strukturieren, wie dies eine Zentralbank kann. Ferner sind die IWF-Kredite an Konditionalität gebunden. Selbst wenn dies als der notwendige Strafzinssatz bzw. als Strafmaßnahme interpretiert wird, um Marktdisziplin durchzusetzen,611 kann der IWF ex ante eine Garantie für Kredite nicht aussprechen. Somit sind zwar Erwartungen der privaten Akteure vorhanden, dass der IWF in Krisenzeiten die notwendigen Kredite bereitstellt (Spekulationsmotiv), jedoch kann dies nicht mit der Erwartungsänderung eines existierenden ILOLR verglichen werden. Mit anderen Worten: der IWF kann sich selbst nicht binden. Die aktuelle Erwartungshaltung von internationalen Anlegern führt daher nicht zu weniger aggressivem Verhalten, sondern zeichnet sich durch höhere spekulativere Positionen aus. Klassische Beispiele sind hier die Europakrise 1992 und die Brasilienkrise 1998. Dagegen argumentiert Stanley Fisher, dass die Kapazität der Geldschaffung für die erfolgreiche Ausübung der ILOLR Funktion nicht zwingend notwendig sei. Nicht die Schaffung, sondern das ‚zur Verfügung stellen können’ von Kapital sei das entscheidende Kriterium. 612 Entsprechend könne der IWF diese Rolle adäquat ausüben.613 Stanley Fisher argumentiert demnach, dass die Analogie zwischen dem IWF und einer Zentralbank nicht zwingend eine ‚eins zu eins Übersetzung’ beinhaltet. Die zentralen Aufgaben als Geldgeber und Krisenmanager sind nicht notwendig an eine Zentralbank gebunden. Daher wären die
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Soussa, „Lender of Last Resort: A Review of the Literature.” Bank of England’s Financial Stability Review (London: Bank of England, 2000). Siehe Walter Bagehot, op.cit. Siehe nächsten Abschnitt über ‚Konditionalität’. Stanley Fischer, On the Need for an International Lender of Last Resort, op.cit. Ein anderer Vertreter dieser Lösung ist Alan Greenspan, Federal Reserve Board Testimony on 2/12/98.
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Zweifel auf Grundlage der fehlenden finanziellen Ressourcen unbegründet. Schließlich: „[p]anics caused by a demand for currency are rare.”614 Freilich lässt sich nun gegen diese Idee einwenden, dass das genau der falsche Weg wäre. Bei einer automatischen Hilfeleistung würde den Schwellenländern und den Spekulanten eine Versicherung angeboten. Ein klassisches Problem des moral hazard (moralisches Risiko).615 Mit dem Begriff moral hazard werden Situationen asymmetrischer Information bezeichnet, bei denen die Informationsasymmetrie nach dem Vertragsabschluss weiter besteht. Agenten haben durch die Unbeobachtbarkeit ihrer Handlungen und Motive die Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeitsverteilung über die möglichen Zustände der Welt zu beeinflussen. In der Folge sind Risiken und Chancen des eigenen Handelns nicht mehr symmetrisch verteilt: Während Person A wählen kann, wie viel Risiko eingegangen wird und dabei alle Chancen auf sich vereinigt, hat Person B die Kosten zu tragen, wenn der gewünschte Erfolg einer Strategie ausbleibt. Übernehmen wir das Bild zur Situation in Asien, wird dem IWF vorgeworfen, genau diese Situation zu generieren, denn „expectations of a bail-out can lead investors and creditors to refrain from effectively monitoring their investment and lending strategies. Also, officials in debtor countries may pursue excessively risky courses of action, leaving a country more vulnerable to sudden shocks to fundamentals and shifts in market sentiment.“616
Vor allem der Meltzer-Report führt die Instabilität der Internationalen Finanzmärkte auf moral hazard – und demnach auf Probleme asymmetrischer Informationsverteilung – zurück. Dies schließt gerade die Hilfspakete des IWF mit ein: „...at the time of a crisis, it is often tempting and necessary to bail out the economy. To the extent that private investors who made bad decisions are bailed out in the process, their incentives will be distorted, exacerbating the problems governments face in trying to stabilize capital flows. This is the problem is typically referred to as the moral hazard problem.“617
Ein erweiterter Kompetenzkatalog und ein IWF mit ‚tiefen Taschen’ seien aus diesem Grund kontraproduktiv. Wenn aus dieser Perspektive nicht überhaupt die gesamte Arbeit des IWF in Frage gestellt werden muss, so verlangt die Betonung des Moral-HazardProblems eine sehr restriktive und regelgebundene Kreditpolitik. Die Position eines ILOLR kann und soll der IWF aus diesem Grund auch nicht einnehmen.
614 Stanley Fisher, On the need, op. cit., S. 88. Wie Stanley Fisher weiter ausführt, hätte die Bank of England unter den Goldstandards, zur Zeit Bagehots, ebenfalls keine Gelddruckautorität gehabt. Denn die Regeln des Goldstandards machten das national zirkulierte Geldvolumen vom Goldbestand abhängig – und die Bank of England hatte nicht die Fähigkeit Gold zu drucken. Jedoch war es der Bank of England möglich die Regeln zu brechen und Geld ‚so gut wie Gold’ innerhalb einer Krisensituation bereitzustellen. Es besteht die Notwendigkeit Liquidität bereitstellen zu können, nicht Geld drucken zu können. Diese Funktion kann der IWF sehr wohl erfüllen. 615 Paul Krugman, What happened to Asia? Mimeo, Princeton University, web.mit.edu/krugman/www/DISINTER.html, Seite 1. 616 Giancarlo Corsetti, Paolo Pesenti und Nouriel Roubini, „What caused the Asian Crisis Part II -The Policy Debate”, op cit., Seite 20. 617 Joseph Stiglitz, Statement to the Meeting of Finance Ministers of ASEAN plus 6 with the IMF and the World Bank (December 1997), Seite 3.
7.2 Beobachtung unter Ungewissheit
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7.2.3.2 Konditionalität Die Frage nach der Konditionalität ist als funktionales Äquivalent zu den Sicherungsrechten einer Zentralbank zu sehen. Während der IWF, wie eine Zentralbank, in einer Krisenzeit Gelder bereitstellt, kann er im Gegensatz zu einer nationalen Zentralbank keine Sicherungsrechte beanspruchen. An der Stelle der Sicherungsrechte stehen Bedingungen der Kreditvergabe, die das Land für die Bereitstellung zu leisten hat. Diese Bedingungen waren ursprünglich so konzipiert, um den Kreditnehmern einen Anreiz zu geben, Leistungsbilanzungleichgewichte auszumerzen und so die Rückzahlung der Kredite zu erleichtern. Die Annahme der Konditionalität gilt als Signal für die Solvenz des Kreditnehmers, der sich zur Rückzahlung und vernünftigen Mittelverwendung verpflichtet fühlt. Diese Bedingungen erstrecken sich auf die Felder der makroökonomischen Wirtschaftspolitik und der Wechselkurspolitik ebenso wie auf strukturelle Veränderungen. Obwohl die Konditionalität tief in der institutionellen Selbstbeschreibung des IWF und seiner Geschichte verwurzelt ist,618 besteht ein breiter Konsens darüber, dass heute die strukturellen Anforderungen des IWF an Empfängerländer übertrieben sind und das ursprüngliche Ziel aus dem Auge verloren haben. Im Fall Indonesiens 1997 z.B. umfasste der Maßnahmenkatalog über 100 Punkte, wie die Abschaffung einer Steuererleichterung von 2% für Spenden an gemeinnützige Organisationen, die Abschaffung von restriktiven Werbegesetzen für Zement sowie die Beendigung von Nahrungsmittelsubventionen. Der OCD-Bericht spricht sich hier für eine Refokussierung auf die Kernkompetenz in makroökonomischen Fragen aus. Der IWF habe vornehmlich die Funktion der Vorsorge zu erfüllen und ein schnelles Krisenmanagement zu gewährleisten. Die Vorsorge wird über die Beratungs- und Überwachungskompetenz erfüllt. Die bisherige Funktion der Aufbereitung und Dissemination von makroökonomischen Daten sei jedoch auf eine neu zu gründende Internationalen Statistik Organisation zu übertragen. Der Meltzer-Report sieht den IWF als Quasi-Geldgeber der letzten Instanz für Schwellen- und Entwicklungsländer an, der Daten zusammenträgt, veröffentlicht, verbreitet und den Ländern beratend zur Seite steht.619 Der Meltzer-Report schlägt dagegen eine radikale Veränderung der jetzigen Konditionalitätspraxis vor. Die zu offene Kreditvergabe generiert Moral-Hazard-Probleme, die das besondere Augenmerk bei der Reformierung des IWF verdienen. Nach den Vorstellungen des Meltzer-Reports zieht sich der IWF aus den meisten makroökonomischen und strukturellen Konditionen zurück. Im Gegenzug müssen sich Länder für IWF-Kredite vorqualifizieren. Die dazu vorgeschlagenen Kriterien sind:620
618 Siehe hierfür neben Joseph Gold, Conditionality , Pamphlet Series No.31 (Washington, D.C.: International Monetary Fund, 1979) vor allem Louis Pauly „The League of Nations and the foreshadowing of the International Monetary Fund”, Essays in International Finance No. 201 (Princeton: Princeton University, International Finance Section, 1996), sowie ders. „Good Governanc and Bad Policy: the Perils of International Organizational Overextension,” Review of International Political Economy, Vol. 6 No. 4 (1999) Seite 401-424. Für einen historischen Abriß des IWF siehe vor allem Sigheo Horie, The International Monetary Fund: Retrospect and Prospect (London: Macmillan, 1964), Seite 72-73; Armand Van Dormeal, Bretton Woods (London: Macmillan, 1978), Seite 34. 619 Meltzer Report, Seite 42-43. 620 Meltzer Report, Seite 44-45.
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Freier Zugang und weitgehend ungehinderte Operationen von ausländischen Finanzinstitutionen. Reguläre und pünktliche Veröffentlichungen der Fälligkeitsstruktur ausstehender öffentlicher Kredite sowie eingegangener Garantieverpflichtungen. Adäquate Kapitalisierung der kommerziellen Banken – das heißt vor allem Befolgung internationaler Standards hinsichtlich Mindestkapitalanforderungen und Reserven. Angemessene Haushaltslage.
Entwicklungsländer, die sich hierzu verpflichten und qualifizieren könnten, können sich ohne langwierige Verhandlungen kurzfristiger Kredite (max. 120 Tage mit einmaliger Umschuldung) sicher sein. Die Artikel-IV-Konsultationen sowie die Verpflichtung zur Einhaltung internationaler Standards soll sowohl im Internet veröffentlicht werden als auch Basis der Kreditvergabe sein. Die Idee der Vorqualifizierung wird beim Meltzer-Report zum Prinzip erhoben. Staaten, die sich hierfür nicht qualifizieren, können nur in äußersten Ausnahmefällen dennoch Kredite beantragen, wenn die Krise eine globale Bedrohung für die Ökonomie darstellt.621 Hier widerspricht der CFR-Bericht deutlich: „As costly as the Asian Crisis has been, no doubt we would have seen even deeper recessions, more competitive devaluations, more defaults, and more resort to trade restrictions, if no financial support had been provided by the IMF to the crisis countries…there can be legitimate differences of view about IMF advice on fiscal and monetary policy in the crisis countries…But we had a look in the 1930s at how serious global instability is handled without an IMF, and few would want to return to that world.”622
Doch zeigt die Idee der ‚Vorqualifizierung’ eine interessante Verbindung von Konditionalität mit der Frage nach Good Governance. Wie der Genfer Report ebenfalls bemerkte,623 geht dieser Gedanke auf die Problemstellung des moralischen Risikos und damit auf die asymmetrische Informationsverteilung nach einem Vertragsabschluss zurück. Die Vorqualifizierung funktioniert als Lösung der asymmetrischen Information ganz analog zur staatlichen Selbstverpflichtung bei Wechselkursen. Somit wird die Verpflichtung zu den Standards einer guten Governance als das Signal interpretiert, das die Informationsasymmetrie aufzuheben vermag. Denn schon eine Ablehnung der Qualifizierung zeigt an, dass ein Staat zur vernünftigen Governance nicht bereit ist.624 621 hier kann wieder das gleiche Gegenargument gemacht werden: dass die Asienkrise weltweite Auswirkungen haben wird, konnte nun wirklich nicht ex ante auch nur erahnt werden. Ebenso wenig, wie die Ausbreitung der Russlandkrise nach Lateinamerika. Sollte hingegen mit der Kreditvergabe bis zur vollen Manifestierung der Krise gewartet werden, so reichen die zur Verfügung stehenden Kreditlinien zur Behebung der Schäden nicht aus. Insbesondere wird somit auch keine Abschreckungswirkung gegenüber selbsterfüllenden Prophezeiungen erzielt und verfehlt letztlich die Problematik. Siehe auch US Treasury (2000), Seite 17. 622 CFR Report, Seite 88, zitiert in Morris Goldstein, An Evaluation, op.cit, Seite 26. 623 Siehe Genf Report, Seite 44. 624 Dieser Aspekt entwickelt eine besondere Dynamik. Als Überwachungsbehörde und nun zentraler Krisenmanager gibt sich der IWF, bzw. das Board of Governors 1996 hier ein explizites Mandat. Die Declaration on Partnership for Sustainable Global Growth, das von dem Interim Committee am 29. September 1996 verabschiedet wurde betont dabei insbesondere Rechtstaatlichkeit, Verantwortlichkeit und Anti-Korruption als wesentliche Bestandteile einer guten Regulierung. Die Richtlinien wurden von dem Rat am 25. Juli 1997 verabschiedet und als Pamphlet veröffentlicht. Für eine gute Zusammenfassung der Selbstbeobachtung, siehe International Monetary Fund, Good Governance – The IMF’s Role, (Washington, D.C.: International Monetary Fund, 1997).
7.2 Beobachtung unter Ungewissheit
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7.2.4 Zusammenfassung: Finanzmärkte zwischen Universalismus und Partikularismus Der Diskurs über die Reformierung der Finanzmarktarchitektur zeigt eine Spannung zwischen den funktionalen Anforderungen eines globalen Finanzmarktes und den partikularen Anforderungen der staatlichen Ordnung. Diese Spannung findet sich in der grundlegenden Zuschreibung der primären Funktion der globalen Finanzmärkte wieder. Zum einen sind diese primär funktional definiert. Der Finanzmarkt gehorcht seiner eigenen Logik, in der die territorial verfassten Staaten nur die Umwelt der Finanzmärkte repräsentieren. Gleichzeitig aber ist die Verteilung der Ressourcen primär territorial organisiert. Die daran anschließende Frage nach den Ursachen für Instabilitäten wird in den Wirtschaftswissenschaften mit dem Verweis auf die strukturelle Informationsasymmetrie zwischen Staaten und Investoren beantwortet. Damit wird das grundsätzliche Problem auf der politischen Ebene lokalisiert, die über Praktiken der Selbstbindung – entweder in Form von Wechselkursregimen oder über eine Vorqualifizierung für IWF-Kredite – ins Spiel kommt. Dabei fällt auf, dass sowohl die nationale Seite der Regulierungsfragen in Form von Kapitalkontrollen und Wechselkursen, aber auch die genuin internationale Seite in Form einer Reformierung des IWF diese Regulierungsbemühungen als Grenzmanagement zwischen den Anforderungen globaler Finanzmärkte und den souveränen Staaten konzipiert werden. Die Grenzkonflikte zwischen funktionalen und territorialen Anforderungen werden letztlich zu einem Grenzmanagement territorial verfasster Staaten. Damit fügt sich der Staat als Akteur in die individualistische Epistemologie ökonomischer Rationalität wieder ein, mit der Konsequenz, dass die inter-subjektive Ontologie der Währungskrisen selbst verloren geht: man spricht noch von Systemrisiken, doch die Hoffnung wird in die Bereitstellung von Daten seitens der Staaten gesetzt. Obwohl doch gleichzeitig deutlich wurde, dass die Bedeutung der Daten sich erst durch die gegenseitige Beobachtung der Finanzakteure selbst ergibt. Daten per se sind eben noch keine Information. Somit lässt sich eine doppelte Reduktion der Diskussion um die Finanzmärkte feststellen: zum einen verwischt sie den Wandel von Staatlichkeit über die Formel der Staaten als Akteure. Zum anderen definiert sie die Instabilität als Informationsproblem und legt ihr Augenmerk dabei aber auf die Bereitstellung von Daten. Die Wissensproblematik selbst bleibt außen vor, gerade weil über den der individualistischen Epistemologie eingeschriebenen Wissenschaftsrealismus die Unterscheidung von Daten, Information und Wissen nicht getroffen werden kann. An dieser Stelle fällt der konstante Verweis auf Fragen der Good Governance im Sinne von Transparenz und Standardisierung auf.625 Wie ein Kommentator bemerkte: „there is a general enthusiasm for data collection (if not necessarily by the Fund), transparency, publication and continued surveillance. This is rather remarkable […].”626 Unter Bedingun625 Siehe International Monetary Fund “The Role of the IMF in Governance Issues: Guidance Notes Accepted by the IMF,” Executive Board on 4 August 1997 und International Monetary Fund The IMF’s approach to Promoting Good Governance and Combating Corruption – A Guide (Washington: IMF, 2005), zu finden unter http://www.imf.org/external/np/gov/guide/eng/index.htm. Siehe auch Louis Pauly „Good Governance and bad policy: the perils of international organizational overextension.” Review of International Political Economy, Vol. 6 No. 4 (1999); Seite 401 – 424 und insbesondere Samuli Seppänen, Good Governance in International Law (Helsinki: Eric Castrén Institute of International Law and Human Rights, 2003), der eine ausgezeichnete Kritik zu diesem Begriff bietet. Für eine klassische Sicht siehe insbesondere World Bank, World Development Report: Building Institutions for Markets (Oxford: Oxford University Press, 2002). 626 John Williamson, „The Role of the IMF: A Guide to the Reports“, International Economics Policy Briefs, No. 00-5, Washington DC: Institute for International Economics (2000), Seite 5.
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7 Selbstreferenz und Finanzmarktstabilität
gen einer transparenten Finanzwelt, so wird angenommen, funktioniert der Finanzmarkt effizient und weist die gewünschte Stabilität auf. Dies zeigt sich auch in dem Modell der dritten Generation, das ungenügende Regulierung, Korruption und eine unzulässige Vermischung von Regierung und Wirtschaft anprangert. Die Transparenz selbst wird über Standardisierung hergestellt. Das heißt über Standardisierung soll es gelingen, den staatlichen Aktionen einen Informationswert zuschreiben zu können. Im Hinblick auf die im letzten Kapitel formulierte These der Struktur ökonomischer Argumentation lässt sich dieser Rückgriff auf Standards als Wiedereinführung des aleatorischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs identifizieren, dessen Anwendungsbereich dadurch auf epistemologische Fragestellungen ausgeweitet wird. Daraus folgt, dass in dieser Formel der Standardisierung die Frage nach dem praktischen, kontextgebundenen Wissen staatlicher Ordnungen – wie auch die Frage nach der Praxis von epistemischen Gemeinschaften innerhalb der Finanzmärkte – in eine universell gültige Strategie übersetzt wird. Die Frage nach der Kontextsteuerung stellt sich nicht mehr, da die Frage der Praxis zu einer Frage der Etablierung von Standards und Transparenz wird. Gerade das Argument einer notwendigen Transparenz weist eine veränderte Struktur auf. Während Kapitalkontrollen, Wechselkursregime, Kreditvergaben, die hier nicht besprochenen Kreditumstrukturierungen von Staaten oder Banken, ja sogar die Vor- und Nachteile der Globalisierung in Einheiten von Nutzen und Kosten im Rahmen von Gleichgewichtsmodellen besprochen werden, ist Transparenz nicht an ein Kostenkalkül gebunden: ein mehr an Transparenz ist strikt besser. Die Vorteile der Transparenz sind deutlich: Transparenz überwindet die asymmetrische Information und die damit verbundenen Probleme der adversen Selektion und des moralischen Risikos. Transparenz fixiert die Zeichen, da nur unter symmetrischer Information die individualistisch-epistemologische Verbindung von Aktion, Signal, Interpretation, gegeben ist. Barry Eichengreen hat diese Hoffnung wie folgt ausgedrückt: „the only feasible approach to this problem is for national governments and international financial institutions to encourage the public and private sectors to identify and adopt international standards for minimally acceptable practice. National practices may differ, but all national arrangements must meet minimal standards if greater financial stability is to be achieved.”627
Gleichzeitig sind die institutionellen Konsequenzen erhöhter Transparenz deutlich sichtbar. Spezifisch private (wie die oben genannten Accounting Organisationen, IOSCO, oder das International Corporate Governance Network) und öffentliche Organisationen und Netzwerke (G7, G 22, IWF) sollen im gemeinsamen Dialog Standards erarbeiten.628 Der IWF übernimmt hier über das General Data Dissemination System (GDDS) und die Special Data Dissemination Standards (SDDS)629 die Koordinationsfunktion und zertifiziert die Standards als best practice. Denn „[t]o give teeth to its advice, the Fund should condition the disbursal of assistance on program countries meeting those standards; it will need to 627 Ibid., Seite 21. 628 An dieser Stelle gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob private oder öffentliche Organisationen die Führung übernehmen sollen. Der IWF selbst deutet auf die G7 und G22 als geeignete Institutionen. Der Meltzer Report sieht die Sachlage anders: der Report schlägt vor, dass die Bank für internationalen Zahlungsausgleich internationale Finanzstandards setzt und ihre Implementierung überwacht. Die Entscheidung über die Annahme und Implementierung soll den inländischen Regulierungsbehörden und Gesetzgebern überlassen bleiben. Der CFR Report sieht wiederum den IWF in der Pflicht, die Befolgung zu überwachen und Anreize durch niedrigere Zinssätze zu setzen. 629 Siehe vor allem die Webpage http.dsbb.imf.org
7.3 Beobachtung unter Unsicherheit
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encourage countries to apprise the market of their compliance.”630 Zusätzliche Anreize sollen durch die Veröffentlichung der Reports on the Observation of Standards and Codes (ROSC) im Internet entstehen.631 Die Arbeit des International Accounting Standards Committee, das Repräsentanten aus über 100 Ländern beherbergt, die International Federation of Accountants und die International Organisation of Supreme Audit Institutions, sind dabei nur ein kleiner Ausschnitt einer ganzen Transparenzindustrie. Der IWF selbst wirkt über die Special Data Dissemination Standards (SDDS-Initiative) unterstützend mit. Mit deren Hilfe will der IWF die vorgeschlagenen Standards über die Veröffentlichung von Daten so vollständig wie möglich etablieren. Denn nach Michel Camdessus, sei Transparenz die goldene Regel globaler Finanzmärkte: „Markets cannot work efficiently, and they will remain vulnerable to instability in the absence of adequate, reliable, and timely information from all quarters.”632 Flankiert wird diese Transparenzbewegung durch die institutionelle Überwachungsinstanz des Financial Stability Forum und das Committee of the Global Financial System, die beide unter dem Dach der BIS beheimatet sind. Diese Diskussion soll nicht andeuten, dass eine transparente Welt nicht prinzipiell ihre Vorteile hätte – wobei hier die Nachteile auch zu diskutieren wären – aber es stellt sich die Frage, ob die Diskussion um Transparenz nicht ein Scheingefecht ist und am zentralen Problem vorbeigeht: an kategorialen Verschiebungen innerhalb der Finanzmärkte selbst. Diese sich abzeichnenden Grenzverschiebungen verweisen jedoch auf das Problem der Unsicherheit, auf das ich nun zu sprechen kommen möchte. 7.3 Beobachtung unter Unsicherheit Mit einer Abgrenzung gegenüber der Ungewissheit zeigt sich eine Funktionserweitung der Finanzmärkte. Wie gerade gesehen, schreibt der ökonomische Ansatz den Finanzmärkten die Funktion der Ressourcenallokation zu. Damit wird letztlich eine apolitische Lesart des Risikos vorausgesetzt, die über spezifische Wissensanforderungen und Charakteristika mit dem Verständnis des Finanzmarkts als geschlossenes System kompatibel ist. Der Rückgriff auf die individualistische Epistemologie reproduziert damit die klassische Trennung zwischen Politik und Wirtschaft, Staat und Markt, mit der konstitutive Grenzziehungen unbeobachtet bleiben. Als Folge bleibt eine selbstreflexive Analyse seitens der Ökonomik über ihre eigene Wirkungskraft aus. Es wird weiterhin angenommen, dass die Modelle die Realität abbilden. Wie die Diskussion um die Ausbreitung der Währungskrisen gezeigt hat, organisiert das Finanzsystem aber nicht nur die Allokation von Kredit und Finanzmittel, sondern auch von Risiken. Wie Daniel Ben-Ami zusammenfasst: 630 Barry Eichengreen, Toward A New International Financial Architecture. A Practical Post-Asia Agenda (Washington, D. C. 1999), Seite 19-35, Seite 23. Siehe auch Kenneth Rogoff, „International Institutions for Reducing Global Financial Instability,” The Journal of Economic Perspectives, Vol. 13 No. 4 (1999), Seite 21 – 42 und International Monetary Fund, World Economic Outlook (Washington: IMF, Dec. 1998), Seite 17-18. 631 Charis Christofides, Christian Mulder und Andrew Tiffin, „The Link between Adherence to International Standards of Good Practice, Foreign Exchange Spreads and Ratings”, IMF Working Paper No. 03/74 (Washington, D.C.: International Monetary Fund, 2003), International Monetary Fund,. „Assessing the Implementation of Standards – an IMF Review of Experience and Next Steps”, Public Information Notice No. 01/17, 3.5. 2001. 632 Michel Camdessus, „From Crisis to a New Recovery: Excerpts from Selected Addresses by Michel Camdessus” (Washington, D.C.: International Monetary Fund, 1999), Seite 16.
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„Traditionally the financial markets were largely concerned with transferring capital from those with a surplus to those with a deficit. Such transfers took several different forms. For example, the stock market provided a way for investors to finance companies, while banks channelled cash from savers to borrowers. In contrast, the modern financial system… is more about the allocation of risk than of capital.”633
Die Funktion des Risikomanagements erkennt, dass der Finanzmarkt ein Wissensbereich ist, in dem spezifisches Wissen über die Schaffung und den Handel von Kredit und Risiken produziert wird. Kredit wiederum, ist ebenfalls keine Entität, sondern eine Ressource, zu der man Zugang haben oder auch nicht haben kann.634 Dies ist kein simples scholastisches Wortspiel, sondern eine Fundamentalkritik der in der Literatur zentralen Metapher des Bank Runs. Denn die Konzeption des Finanzmarkts als geschlossenes System übersieht, dass der Finanzmarkt über modernes Risikomanagement und die Theorie der asymmetrischen Information eine tief greifende Veränderung vollzieht, die die Geltungsgrundlagen der klassischen Theorien in Zweifel zieht. Vielmehr wird mit Hilfe des Risikobegriffs nun die selbstreferenzielle Strukturbildung der Finanzmärkte anerkannt und für rekonstruktive Methoden eröffnet. Mit dem epistemologischen Primat der Grenzziehung vor der Abbildungsfunktion ist der Weg frei, diese Grenzen zu beobachten und damit gleichzeitig die Neutralitätsannahme der Risikobeobachtung aufzugeben. Die Notwendigkeit eines solchen Perspektivwechsels resultiert aus den Erkenntnissen des zweiten Kapitels. Denn was an dieser Stelle auffällt, ist die Diskrepanz zwischen den Ergebnissen der Finanzmarktliteratur und den Einsichten in die Ausbreitungsproblematik. Die Erklärungen von Währungskrisen und ihren Ausbreitungen tendieren immer mehr zu den Problemfeldern des ‚observational learning’. Das heißt die Akteure lernen und passen ihre Erwartungen durch das Beobachten und die Interpretation des Verhaltens anderer Akteure an. Jedoch sind die Modelle nicht in der Lage, diese intersubjektive Epistemologie anzuerkennen, gerade weil sie auf der Idee der asymmetrischen Information und damit auf der Bayesianischen Statistik aufbauen. Kennzeichen ist hier, dass der Prozess der gegenseitigen Beobachtung über die Gleichgewichtsbedingungen abgeschnitten wird, um das Gleichgewicht letztlich als Zustand zu definieren, in dem kein Akteur einen Anreiz hat, von seiner Strategie abzuweichen. So wird zwar die Rolle von Signalen und deren Interpretationen erkannt, ihnen jedoch gleichzeitig ein a priori gegebener Informationswert zugeordnet. Damit entwischt die generative Macht der Interpretation den ökonomischen Modellen. Mit der Folge, dass das zentrale Kennzeichen der Polykontextualität und die daran ansetzenden Systemdynamiken ignoriert werden. Das gleiche Verhalten, die gleiche Beobachtung, hat eine andere Bedeutung, je nachdem, in welchem Kontext diese gesehen wird. Was zu analysieren wäre, ist demnach die Etablierung der Signale und Interpretationsmuster über den Prozess der gegenseitigen Beobachtung – jenseits des Zustandsvokabulars. Der Zusammenbruch von Erwartungen jedoch wäre dann nicht durch eine rationale Anpassung an neue Informationen erklärbar. Vielmehr müsste hier der Blick auf die Absorption und 633 Daniel Ben Ami, „Cowardly Capitalism” (Baffins Lane: John Wily and Sons, 2001), Seite 69. Sinclair spricht hier von einem ‚New Global Finance’. Siehe Timothy Sinclair “The Infrastructure of Global Finance: Quasi Regulatory Mechanisms and the New Global Finance,” Global Governance Vol. 7 No. 4 (2001), Seite 441-451 und ders. „Reinventing Authority: Embedded Knowledge Networks and the New Global Finance,” Environment and Planning C: Government and Policy (2000) Vol. 28 No. 4, Seite 487-502. 634 Siehe Randall Germaine, The International Organization of Credit: State and Global Finance in the World Economy (Cambridge: Cambridge University Press, 1997).
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7.3 Beobachtung unter Unsicherheit
Reproduktion von Unsicherheit durch Risiko in den Blick geraten. Dies setzt eine unstrukturierte Komplexität voraus, in der qualitative Veränderungen möglich sind. Das heißt es eröffnet sich der Blick auf Prozesse, in denen neue Signale an Bedeutung gewinnen und alte Signale als irrelevant erkannt werden. Hier bestimmen Institutionen, unter welcher Bedingung und in welchem sich wandelnden Kontext etwas als ein Signal gelten kann. Die gleichen Daten werden, aufgrund der zusammengebrochenen Erwartungen, neuen Geschichten zugeordnet. Damit ist jedoch der Rahmen der Spieltheorie, der objektiven Erwartungen und der gegebenen Signale durchbrochen. Nun könnten Anhänger der Bayesianischen Statistik einwenden, Präferenzumkehr sei bei veränderten Erwartungen durchaus im Rahmen der Spieltheorie erklärbar. Doch hat die Diskussion gezeigt, dass Fragen eines sich wandelnden Kontexts über Ungewissheit hinausgehen und Unsicherheit voraussetzen. Das heißt es stellt sich die Frage nach dem Strukturwandel, anhand dessen Daten in Informationen und dann in Wissen darüber transformiert werden, wie Akteure von ihrem Nichtwissen wissen. Im Folgenden möchte ich auf drei kategoriale Veränderungen hinweisen: Desintermediation, die Existenz neuer Spieler, sowie das Problem von Nichtwissen. 7.3.1 Desintermediation Die grundlegenden Überlegungen zur Intermediation der Bank wurde mehrfach besprochen und soll hier nur nochmals graphisch festgehalten werden. Das traditionelle Bild sieht die Bank als Intermediär zwischen Sparen und Investition und beinhaltet drei Risiken für die Bank: 1) unterschiedliche Fristigkeit der Zahlungen auf der Sparer- und auf der Kreditnehmerseite wie sie bei dem Fall des Bank Runs diskutiert wurde; 2) das Kreditrisiko auf der Aktivseite der Bankenbilanz beschreibt die potentiell fehlende Rückzahlung der Kredite durch den Kreditnehmer; 3) Das Zinsrisiko vergleicht die erhaltenen mit den an den Sparer/Haushalt gezahlten Zinsen.635 Abbildung 9:
Das traditionelle Bild der Kommerzbank636 Kredit
Einlagen Sparer/
Zinsen
Bank
Zinsen
Kreditnehmer
Haushalt
Interessant an dieser Stelle ist jedoch, dass die Finanzierung von Investitionsprojekten im zunehmenden Maße nicht über Banken, sondern direkt über den Kapitalmarkt erfolgt. Gleichzeitig lenken Nichbanken ihre Ressourcen nicht über Banken, sondern stellen diese direkt dem Kapitalmarkt zur Verfügung. Damit gibt das traditionelle Bild der Bank die 635 Ibid., Seite 82. 636 Daniel Bel-Ami, Cowardly Capitalism (Baffins Lane: John Wily and Sons, 2001), Seite 82.
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7 Selbstreferenz und Finanzmarktstabilität
heutigen Praktiken nur unzureichend wieder. Durch Konsortialgeschäfte am Primärmarkt oder den An- und Verkauf von Wertpapieren auf dem Sekundärmarkt durch beteiligte Mergers and Aquisitions, etc. stellen heute die Gebühren einen erheblichen Teil ihrer Einnahmen dar. Durch den Prozess der Desintermediation verliert der Zinsüberschuss gegenüber den Gebühren im Investmentbanking und am Kapitalmarkt deutlich an Bedeutung. Ausgabe und Handel von Wertpapieren, nicht Kredite, generieren im Prozess der Securitisation die Einnahmequellen, in denen Kredite, bzw. jede Art von Forderungen ebenfalls sekurisiert und am Kapitalmarkt handelbar werden. Abbildung 10: Die veränderte Situation Kapitalmarkt/Institutionelle Investoren
Bonds
Zinskupon
Beratung Bank
Kreditnehmer Gebühr
Nicht mehr die Allokation von Kapital, sondern die Allokation von Risiken zeichnet den heutigen Kapitalmarkt aus. Die heute betonte Überwachung der Kreditnehmer durch die Bank wird über die Profite aus dem Investmentgeschäft aufgeweicht. Das Risikomanagement der Bank, nicht die Kapitalnachfrage nach Kredit, kennzeichnet das Verhalten der Banken. Als Folge weicht die Grenze zwischen ,Banken’, ,Versicherungen’ und anderen Firmen auf. Es genügt nur ein kurzer Blick auf Enron. Enrons Expansion in Derivatgeschäfte machte das Unternehmen zum Marktführer von Wetterderivaten. Die Rolle von Enron glich im Finanzmarkt der Rolle einer großen Investmentbank. Gleichzeitig entzog sich Enron durch seinen Status als Energieunternehmen den Bankenaufsichtsregulierungen.637 Enrons Ambitionen zeigen aber deutlich, dass heute Akteure als Bank auftreten, ohne eigentlich eine Bank zu sein. Damit soll nur deutlich werden, wie die Grenzziehung zwischen Unternehmen und Banken eine Unsicherheit auf der Ebene der (wissenschaftlichen) Beobachtung und der Regulierung nach sich zieht, die aufgrund des heute dominanten Diskurses nur unzureichend thematisiert wird. Die Veränderungen des Kapitalmarktes stehen in einem konfliktiven Verhältnis zur Möglichkeit einer umfassenden Bankenaufsicht. Diese qualitativen Grenzverschiebungen möchte ich nun nachzeichnen.
637 Für eine weiterführende Diskussion siehe Marieke de Goede, 2002, op. cit.
7.3 Beobachtung unter Unsicherheit
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7.3.2 Die Emergenz neuer Spieler Im Rahmen der letzten Währungskrisen wurde immer wieder auf die dominante Rolle der ‚Hedge Fonds’638 verwiesen, die aufgrund ihrer Kapitalstärke auf der Suche nach kurzfristigen Profiten ganze Volkswirtschaften um ihre Entwicklungschancen bringen können.639 Ihre zentrale Rolle bei der Europakrise 1992,640 sowie bei den Turbulenzen der internationalen Bondmärkte 1994, lässt heute in unruhigen Zeiten fast automatisch eine neue Verschwörungstheorie um Hedge Fonds kursieren. Die Turbulenzen der internationalen Finanzmärkte in den letzten Jahren haben diese Aufmerksamkeit verstärkt. 1997 wurden während der Asienkrise Informationen bekannt, Hedge Fonds hätten nicht nur eine gezielte und abgesprochene Attacke initiiert,641 sondern während dem Hong Kong Double Play, bei dem Hedge Funds gleichzeitig auf eine fallende Währung und fallende Aktienkurse spekulierten, ihre Attacken angeblich vorher bereits angekündigt.642 Nochmals vor Augen geführt wurde die Macht der ‚Highly Leveraged Institutions’ (HLI), neue Spielregeln einzuführen, durch den drohenden Bankrott von Long Term Capital Management (LTCM) der Nobelpreisträger Morton und Scholes. Innerhalb weniger Tage verlor LTCM das Gros seines Eigenkapitals. Über gegenseitige Beteiligungen hätte sich ein Bankrott von LTCM zu einer systemischen Krise ausweiten können, so dass sich die FED gezwungen sah, die Moderation für eine konzertierte Hilfsaktion zu übernehmen. Nach 1997 zeichnet sich ein erhöhtes Interesse an einer möglichen Regulierung dieser HLI ab.643 Dabei stellen sich drei Fragen: Was sind HLI? Wie wirken sie? Und lässt sich die ihnen zugesprochene Machtstellung auch empirisch belegen? 638 Der erste Hedge Fund wurde von Albert Wislow Jones 1949 gegründet. Ihre aktuelle Position im Finanzmarkt nahmen sie erst in der zweiten Hälfte der 1980er ein. Siehe William Fung und David A. Hsieh, „A Primer on Hedge Funds“, Journal of Empirical Finance, Vol 6 No. 3 (1999), Seite 309-331. Unter diesen Spielern sind Hedge Funds ein junges, jedoch gleichzeitig das prominenteste Phänomen. Die Einschätzungen über die Größe und Anzahl der Hedge Funds variieren zwar, doch wird allgemein ihre Anzahl heute auf 4000 – 5000, ihr vorhandenes Kapitel auf US$ 400 – 500 Mrd. geschätzt. Siehe vor allem den FSF Bericht (2000) und IMF (1998). 639 Der malaiische Präsident Mahathir Mohamad schrieb am 23. September 1997 im Wall Street Journal: „Whole regions can be bankrupted by just a few people whose only objective is to enrich themselves and their rich clients…”, zitiert von Stephen J. Brown und William Goetzmann, „Hedge Funds with Style”, National Bureau of Economic Research Working Paper No. 8173 (Cambridge, MA: NBER, 2001), Seite 1. 640 Barry Eichengreen, „The EMS Crisis in Retrospect.”, National Bureau of Economic Research, Working Paper No. 8035 (2000). Barry Eichengreen und Charles Wyplosz, „The unstable EMS”, Brooking Papers of Economic Activity, 1 (1993), Seite 51-143. Siehe auch Timothy Lane und Liliana Rojas-Suarez, „Credibility, Capital Controls, and the EMS,” Journal of International Economics Vol. 32 No. 3-4 (1992), Seite 321 – 337, Andrew Rose und Lars Svensson, „European Exchange Rate Credibility before the Fall.” European Economic Review Vol. 38 No. 6 (1994), Seite 1185-1216 und Andres Vélasco, „Fixed exchange rates: Credibility, Flexibility, and Multiplicity.” European Economic Review, Vol. 40 No.3 (1996), Seite 1023 – 35. 641 Siehe auch Stephen Brown, William Goetzman und James Park, „Hedge Funds and the Asian Currency Crises of 1997“, NBER Working Paper No. 6427 (Cambridge, MA: NBER, 1998). 642 Sujit Chakravorti und Subir Lall, „The Double Play: Simultaneous Speculative Attacks on Currency and Equity Markets.” Federal Reserve Bank of Chicago, (Chicago: Federal Reserve Bank, 2000). 643 Siehe hierfür insbesondere die Reports des Financial Stability Forums, wie „Report of the Working Group on Highly Leveraged Institutions”, 5. April 2000; „Progress in Implementing the Recommendations of the Working Group on Highly Leveraged Institutions (HLIs)”: Note to the FSF by the Chariming of theHLI Working Group , March 2001; Financial Stability Forum; 11. March 2002; „THE FSF Recommendations and Concerns Raised by Highly Leveraged Institutiosn (HLIs): An Assessement; The President’s Working Group on Financial Markets (1999). „Hedge Funds, Leverage, and the Lessons of Long-Term Capital Management”, April, http://www.ustreas.gov/press/releases/docs/hedgfund.pdf
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Der Versuch einer Kategorisierung kann am Begriff ‚hedgen’ ansetzen. Hedgen ist eine weit verbreitete Möglichkeit sich gegen Preisschwankungen am Markt abzusichern, wie sie von allen Finanzabteilungen vollzogen werden kann und auch vollzogen wird.644 Dabei geht man eine Wette auf mögliche Verluste einer ursprünglichen Position ein und kann somit die ursprüngliche Position absichern. Zum Beispiel können Exporteure sich so gegen Währungsrisiken versichern, indem sie eine Verkaufsoption für einen kleinen Prozentsatz des eingesetzten Kapitals auf ausländische Währungen kaufen und somit, im Falle einer sinkenden Devise, den komparativen Verlust durch niedrigere ausländische Güterpreise mit dem Gewinn der Verkaufsoption kompensieren. Durch die Hebelwirkung muss für diese Art von Versicherung nur ein kleiner Teil des zur Disposition stehenden Betrags eingesetzt werden. Aus diesem Grund ist die Möglichkeit des hedgen äußerst positiv zu bewerten und ein Verbot wäre alles andere als produktiv. Es kann also in dieser Diskussion nicht um das Instrument selbst gehen. Der qualitative Unterschied ergibt sich einerseits aus der Höhe des eingesetzten Hebels sowie der Tatsache, dass Hedge Funds meist nicht hedgen, sondern schlicht und ergreifend wetten. Durch den Hebel können sie dabei ein Vielfaches (im Bereich des mehr als zehn-fachen) des real zur Verfügung stehenden Kapitals einsetzen. Damit haben sie die positive Eigenschaft, wenig entwickelte Märkte mit Liquidität versorgen zu können. Auch aufgrund einer besseren Informationslage in ihren Spezialgebieten haben die Fonds die Möglichkeit, effizienzsteigernd auf den Preismechanismus zu wirken. Der Einfluss auf die Liquidität eines Marktes versetzt große Spieler aber auch in die Lage, langfristig Wertpapierpreise zu manipulieren und so preisverzerrend zu wirken. Dies wiederum kann negative Folgen haben, insbesondere wenn in Währungsmärkten eine nicht notwendige Währungskrise forciert wird. Dabei fällt auf, dass sich Hedge Fonds der staatlichen Regulierung in den USA weitgehend entziehen können, da sie ein privater Investmentpool mit weniger als 100 Investoren sind. Ferner sind die meisten Hedge Fonds in so genannten ‚off-shore’ Gegenden wie den Cayman Islands ansässig, in denen die staatliche Regulierung minimal ist. Hedge Funds können sich so den Vorschriften des Securities Act 1933, des Securities Exchange Acts 1934, des Investment Company Act von 1940, aber auch der Prospekthaftung entziehen.645 Dies erlaubt ihnen eine höhere Flexibilität und Schnelligkeit gegenüber ihren Mitspielern. Aufgrund dieser Eigenschaften sind sie gleichzeitig schwer fassbar. Weder ist eine genaue Definition noch eine exakte Nachkonstruktion ihrer Aktivitäten möglich.646 Aus 644 daher auch der Name Hedge Fonds: die Investitionsphilosophie der ersten Hedge Fonds verfolgte Marktneutralität durch lange Positionen in unterbewerteten und leerverkäufe in überbewerteten Papieren. 645 Siehe auch Barry Eichengreen, Donald Mathieson, et al., „Hedge Fonds and Financial Market Dynamics“, IMF Occasional Paper 166 (Washington: IMF, 1998), sowie auch IMF, World Economic Outlook (Washington: International Monetary Fund, Mai 1998), Box 1 auf Seite 4. 646 Hedge Fonds lassen sich nach Investitionszielen, Strategien und Methoden charakterisieren. Über Investitionsziele sieht Einteilungen in ‚Globale Fonds’, ‚Emerging Markets Fonds’, ‚Asian Fonds’ etc.. Die zweite Möglichkeit, nach Art der eingesetzten Instrumente, würde nach einfachen oder komplexen Derivaten, Standard-Fonds, etc. einteilen. Siehe Barry Eichengreen und Donald Mathiesen, „Hedge Funds and Financial Market Dynamics,” IMF, Occasional Paper No. 166, op.cit. Barry Eichengreen und Donald Mathiesen versuchen eine Charakterisierung über die Art der zugrunde liegenden Analysemethode und unterscheiden neben den Global Fonds zwischen ‚Makro’ und ‚Relativwert’ Fonds’. Der Unterschied liegt darin, ob ein Fonds prinzipiell seine Investititonsstrategien über makroökonomische Fundamentaldaten oder über technische Analysen basiert. Diese Unterscheidung scheint sich in der Literatur als Standard durchzusetzen. Den ausdifferenziertesten Versuch, anhand der Kriterien des Anlagegebietes, Handelsobjekten und Zeithorizont
7.3 Beobachtung unter Unsicherheit
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diesem Grund halten unter institutionellen Investoren Hedge Funds die Position der stillen Prominenz inne. Doch allein aus dieser Position heraus lässt sich eine negative Externalität auf das Finanzgefüge noch nicht erkennen. Hier präsentieren Corsetti, Pesenti und Roubini eine sehr interessante Analyse jenseits der Verschwörungstheorien, wie Hedge Funds durch ihre Existenz das Verhalten kleinerer Anleger verändern.647 Dabei steht die Heterogenität der Informationslage im Zentrum des Interesses, so dass sich aus einem Netz gegenseitiger Beobachtungen internationaler Investoren Autoritätsstrukturen entwickeln. Auf Basis spezieller Expertisen und Informationsvorteile orientieren sich Investoren aneinander. So können große Spieler aufgrund höherer Ressourcen mehr in Forschungsabteilungen und Beobachtungen investieren und sich somit einen Informationsvorsprung erarbeiten. Jedoch gibt es auch kleine Spieler, die sich in Nischen spezialisieren und dadurch in diesem Gebiet auch großen Spielern in ihrer Informationslage überlegen sind. Um die Rolle von großen Spielern bei unterschiedlicher Informationsstruktur zu analysieren, präsentieren sie zwei Modelle: ein Modell multipler Gleichgewichte und ein Modell asymmetrischer Information. Ohne hier vertiefend auf die Modellstruktur648 im Einzelnen eingehen zu müssen, lassen sich die zentralen Ergebnisse festhalten:649 In beiden Fällen führt die alleinige Präsenz großer Spieler zu einer höheren Fragilität des festen Wechselkurses, selbst wenn die Portfolio-Entscheidungen des großen Spielers nur erraten werden können, denn die alleinige Präsenz des großen Spielers verändert das Kalkül der anderen Spieler entscheidend: „here mere presence influences the equilibrium portfolio strategies in the market as a whole.“650 Zwei weitere Beobachtungen sind in unserem Zusammenhang wichtig: Zum einen zeigen Corsetti, Pesenti und Roubini, dass sich im Gleichgewicht die Händler unter Anwesenheit großer Spieler aggressiver verhalten. Die Präsenz eines besser informierten großen Spielers erhöht die Fragilität des Marktes. Da der große Spieler über bessere Informationen verfügt, wird er beim alten Optimum auf jeden Fall angreifen. Dadurch wird die Bandbreite der Fundamentaldaten, in der ein Wechselkurs erfolgreich attackiert werden kann, größer. Damit sind auch kleine Anleger bereit, einer aggressiveren Strategie zu folgen.651 Je mehr Marktmacht der große Spieler verfügt, desto eher wird eine spekulative Attacke durchgeführt. Zweitens steigert ein großer Spieler die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Attacke, wenn er seine Portfolioentscheidung veröffentlicht: „by letting people know her portfolio position, she may increase the probability that her strategy be successful.“652 Dies kann z.B. durch Veröffentlichung seiner Entscheidungen, gezielte Streuung von Gerüchten, oder eine Vorreiterrolle erreicht werden. Durch diese Signalwirkung kann der große Spieler somit Herdenverhalten auslösen. Transparenzbemühungen wirken in diesem Falle paradox, da sie die Stabilität nicht erhöhen, sondern das System eher destabilisieren.
647
648 649 650 651 652
bietet die Hennessee Group www.hennesseegroup.com; weitere Quellen sind u.a. www.tassresearch.com; www.vanhedge.com; www.tretmont.com; www.marhedge.com; Giancarlo Corsetti, Paolo Pesenti, Nouriel Roubini, „Role of large Players in currency crises”, NBER Working paper 8303 (May 2001). Siehe auch Stephen J Brown, William N. Goetzmann und Roger G. Ibbotson, „Offshore Hedge Funds: Survival and Performance 1989-1995“ NBER Working Paper No. 5909 (Cambridge: National Bureau of Economic Research, 1997). Ibid., Seite 6. Ibid., Seite 14. Corsetti, Roubini und Pesenti, op.cit, Seite 18. Das Ergebnis hält auch, wenn auch in abgeschwächter Form sollte der große Spieler über schlechtere Informationen verfügen. Vgl. Corsetti, Pesenti, Roubini (2001), Seite 17, für eine nähere Diskussion. Ibid., Seite 19.
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Empirisch lässt sich die Marktmacht der Hedge Funds nur in Konturen rekonstruieren. Eine Analyse des Internationalen Währungsfonds (1998) kommt zu dem Ergebnis, dass Hedge Funds ebenso von den Ereignissen überrascht waren, wie andere Markteilnehmer auch. Während der IWF (1998) somit nur eine marginale Rolle der Hedge Funds bei der Asienkrise konstatiert, schreibt das Financial Stability Forum (FSF) ihnen in seinem Bericht über Hedge Fonds im Jahr 2000 eine bedeutende Rolle zu.653 Fung und Hsieh654 zeigen, dass 25% des Nettowertgewinnes (NAV, net asset value gain) des Quantum Fonds auf die Spekulation gegen das Britische Pfund zurückzuführen sind. Ebenso ist allgemein bekannt, dass Sumitomo’s Yasua Hamanaka den Kupfermarkt mehrere Jahre manipulierte. Von offizieller Seite hört man aus Malaysia, Hongkong und Australien, dass Hedge Fonds eine beachtliche Rolle in den spekulativen Attacken geführt haben sollen. Dabei ist teilweise von reiner Erpressung, einer systematischen Weitergabe von Fehlinformationen und Gerüchten, Verzerrungen im Preisgefüge, bis zur gezielten Initiierung von Herdenverhalten zu hören. Doch sind diese Vorwürfe nur schwer nachzuweisen und basieren meist nur auf Spekulationen. Alle verfügbaren Informationen stützen sich allein auf Anekdoten.655 Die Tatsache jedoch dass der LTCM 4 Milliarden US $ Eigenkapital auf mehr als eine Trillion hebelte, lässt die Idee, eine Handvoll Manager könnte opportunistisch agieren, nicht mehr ganz so abwegig erscheinen, wie es Ökonomen immer behauptet haben.656 Doch eine Intuition ist kein Beweis. Auch in der akademischen Literatur besteht kein Einvernehmen in dieser Frage, da eine empirische Überprüfung dieser Thesen aufgrund der nicht vorhandenen Daten fast nicht möglich ist.657 Dennoch gibt es ein paar Versuche, das Verhalten der Hedge Funds empirisch zu rekonstruieren. Brown, Goetzmann und Park (BGP)658 betrachten die Dollar-Positionen der zehn größten Global Hedge Funds659 kurz vor und während der Asienkrise, um deren Korrelation mit den Wechselkursen zu testen. Dabei betrachten sie einen gleitenden viermonatigen Durch653 Siehe zum Beispiel: International Monetary Fund, World Economic Outlook May 1998. Reports des Financial Stability Forums, wie „Report of the Working Group on Highly Leveraged Institutions”, 5. April 2000; „Progress in Implementing the Recommendations of the Working Group on Highly Leveraged Institutions (HLIs)”: Note to the FSF by the Chariming of theHLI Working Group, March 2001; Financial Stability Forum; 11. March 2002; „THE FSF Recommendations and Concerns Raised by Highly Leveraged Institutiosn (HLIs): An Assessement”; The President’s Working Group on Financial Markets (1999). „Hedge Funds, Leverage, and the Lessons of Long-Term Capital Management”, April, http://www.ustreas.gov/press/releases/docs/hedgfund.pdf 654 Fung, William und David A. Hsieh, „A Primer on Hedge Funds“, Journal of Empirical Finance, Vol. 6 No. 3 (1999), Seite 309-331. 655 Siehe zum Beispiel Paul Krugman, „I know what the Hedge Funds did last Summer“, mimeo, MIT 2000. zu finden unter www.pk-archive.com 656 Die wohl berühmteste Kehrtwende hat Paul Krugman vollzogen. Noch 1996 bestand er auf der Wichtigkeit der Fundamentaldaten und der Effizienz des Kapitalmarktes. Seine Auseinandersetzung mit George Soros füllte ganze Wirtschaftsteile. Doch 1998 akzeptierte Paul Krugman das Modell von Maurice Obstfeld – und damit indirekt die Position von George Soros, ist doch Obstfelds Modell nichts anderes als eine formalisierte Version der Thesen Soros. Siehe für den ‚neuen’ Paul Krugman, „The Return of Dr. Mabuse“, mimeo Princeton University, abrufbar, www.pk-archive.com. 657 Die nächsten Ausführungen stützen sich auf Stephen J. Brown, William N. Goetzmann und James Park, „Hedge Funds and the Asian Currency Crisis of 1997“, National Bureau of Economic Research, Working Paper 6427 (Cambridge, MA: NBER, 1998). Ihre Daten haben sie von TASS – einer Beratungsfirma und Datenverkäufer, und Paradimg Asset Management. 658 Brown, Goetzmann und Park, op. cit. 659 Im einzelnen: International Emerging Market Fund, Everst Capital International Limited, Hausmann Holdings NV, Jaguar Fund, Orbis Global Equity Fund, Orbis Optimal Equity Fund, Quantum Fund, Quasar Fund, Quota Fund, Swiss Bank Corporation Currency Portfolio LTd.
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schnitt des Ringgit. So sehen sie im Februar 1996 eine Short Position von über 200 Mrd. US$. Dennoch sei der Wechselkurs um weniger als 1% gegenüber dem Dollar gefallen. Zwischen Juni und September 1997 fiel der Ringgit um über 10%. Dabei hätten Hedge Funds über vier Monate eine netto ausgeglichene Position gehalten. Selbst der Soros-Fund habe hingegen zweistellige Verluste verkraften müssen. Im September 1997 hatten diese zehn Global Hedge Funds eine Marktkapitalisierung von mehr als 29 Mrd. US-Dollar. Ein überraschend kleiner Betrag im Gegensatz zu den täglichen Strömen im Fremdwährungsmarkt. Wie die Weltbank meinte: „Although these numbers are large, they pale in comparison with the capital of other institutional investors such as pension funds, mutual funds, insurance companies, and investment and commercial banks, which, in the mature markets alone, exceeds US$ 20 trillion.” 660 Nach Brown, Goetzmann und Park spekulierten Hedge Funds zudem in beachtlichem Ausmaß gegen den thailändischen Baht. Dabei sehen sie die Hauptaktivität der Hedge Funds im Mai 1997. Selbst wenn das darauf einsetzende Herdenverhalten die Situation dramatisch verschlechterte, so scheinen Hedge Funds ebenso davon überrascht worden zu sein. Die wichtigsten Short Seller in Indonesien, Malaysia und den Philippinen seien Investmentbanken und inländische Investoren gewesen. Jedoch sind, wie oben angemerkt, genaue Zahlen nicht verfügbar. So können Intermediäre und Scheinkonten oder ähnliches die Zahlen signifikant verwässern. BGP führen das negative Image der Hedge Funds auf unzureichende Informationen zurück. Ihr Politikvorschlag lautet daher: „hedge funds industry would benefit from changes in regulation that would allow wide and public distribution of audited monthly or weekly returns.“ Dieser Vorschlag scheint auf den ersten Blick sinnvoll. Da aber gerade die Veröffentlichung von Informationen natürlich auch informelle Absprachen von Marktteilnehmern begünstigen kann, da das gegenseitige Beobachten der Hedge Funds dadurch erleichtert wird und abweichendes Verhalten besser bestraft werden kann, glaube ich eher, dass angesichts multipler Gleichgewichte ein Zwang hier kontraproduktiv wäre und Hedge Funds mehr Marktmacht erhalten würden. Eine Gegenposition zu diesem Bild formulieren Corsetti, Pesenti und Noubini, indem sie mehrere Episoden analysieren und einen sehr schönen Überblick über insbesondere Thailand 1997, Hongkong 1998 und Australien 1998 bieten. Sie kommen zum Schluss, dass „our analysis does not contradict the conventional wisdom that large players are better informed; are able to build sizable short positions via leverage, tend to move first based on an assessment of fundamental weaknesses; contribute to currency pressures in the presence of weak or uncertain fundamentals; are closely monitored by smaller investors prone to herd on their observed or guessed positions, even when the small traders would act as contrarians based on the private information available to them; may recur to aggressive trading practices.”661
Sie widersprechen damit direkt dem IWF mit seiner Einschätzung der Hedge Funds und weisen ihm einen Widerspruch nach. Obwohl der IWF argumentiert, die Hedge Funds seien ebenso überrascht worden, zeigt eine genauere Analyse der Daten, dass „some large HF had already taken significant short positions against the Thai baht in the spring of 1997; presumably based on a negative economic assessment of Thai fundamentals; (estimated net short position of the HFs in Thailand was about $7 billion).”662 Diese Short-Positionen 660 IMF; World Economic Outlook, May 1998, op. cit. Seite 4; 661 Corsetti, Pesenti und Noubini, 2001, op. cit., Seite 48. 662 Ibid., Seite 39.
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werden auch von Fung und Hsieh663 in einem etwas differenzierteren Bild bestätigt. Ebenfalls habe Stanley Druckenmiller diese Shortpositionen in einem Interview im Wall Street Journal am 5. September 1997 bestätigt. So sei bezeichnend, dass der Quantum einen Gewinn von 11,4% im Juli 1997 verbuchte, während der Thai Baht um 23% fiel. Jedoch räumen Fung und Hsieh ein, dass statistisch die Gewinne mit dem S&P stärker korrelieren als mit asiatischen Währungen. Ihrer Ansicht nach sei die Shortposition zügig abgebaut worden und „for the remainder of 1997, the group as a whole held both long and short positions in the Thai Baht several times, but never exceeding US$ 2 billion in either direction.”664 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass es nicht möglich ist, das Verhalten der Hedge Funds mit Sicherheit zu rekonstruieren, obwohl theoretisch wie auch empirisch Indizien für das ihnen nachgesagte Verhalten vorhanden sind. Damit könnte sich mit den Risikomodellen großer Spieler wie Hedge Fonds die paradoxe Ausbreitung von Währungskrisen erklären. Sollten jedoch Hedge Funds wirklich die ihnen zugeschriebene Macht und marktinterne Autorität besitzen, würde sich in den Risikomodellen großer Spieler wie Hedge Funds eine alternative Erklärung für die Ausbreitung von Währungskrisen zeigen. Damit werden weitere Fragen bezüglich der Anforderungen an die Politik für eine Regulierung dieser Währungskrisen aufgeworfen. Wie Calvo feststellte,665 müssten für die Überwindung asymmetrischer Information Beobachtungskosten aufgebracht werden. Damit ist es sehr wahrscheinlich, dass sich die Finanzindustrie um ‚Cluster von Spezialisten’ organisiert.666 Die Annahme einer Clusterbildung scheint bei täglicher gegenseitiger Beobachtung unter Bedingungen von Informationsasymmetrien, wie sie bei großen Finanzportalen im Internet geschieht, gerechtfertigt. Das bedeutet aber, dass Hedge Fonds das System gegenseitiger Erwartungen innerhalb der Finanzmärkte, aus deren Dynamik dann ökonomische Phänomene wie Währungskrisen resultieren, modifizieren. Diese marktinterne Dynamik stellt sich demnach als primäres Problem vor der Regulation staatlicher Regulation dar. Wenn Hedge Fonds keine Fundamentaldaten, sondern nur quantitative Relationen analysieren, die sich aufgrund der Annahme quantitativer Wahrscheinlichkeiten auch nicht qualitativ verändern können, und wenn Hedge Funds die ihnen zugeschriebene Macht haben, dann ist die Annahme, Fundamentaldaten würden die Reichweite möglicher Gleichgewichte bestimmen, fragwürdig. Wenn sie nicht für Hedge Fonds relevant sind, und uninformierte Investoren sich an den informierten Hedge Fonds orientieren, für wen sollen sie dann noch eine Rolle spielen?667 Damit stellen sich neue Fragen und neue Anforderungen an die Politik und das Verständnis der internationalen Finanzmärkte, wie vor allem der Fall des LTCM gezeigt hat.668 Doch aufgrund der ungenauen Informationen ist es schwer, ein genaues Bild zu zeichnen. Interpretationen schwanken von einer stabilisierenden Wirkung durch Arbitragege663 William Fung und David A. Hsieh, „Measuring the Market Impact of Hedge Funds“, Journal of Empirical Finance, Vol. 7 (2000), insbesondere Seite 28. 664 Ibid., Seite 29. 665 Guillermo A. Calvo, Contagion in Emerging Markets: when Wall Street is a Carrier, in Guillermo Calvo. Emerging Capital Markets in Turmoil: Bad Luck or Bad Policy? (Cambridge, MA: MIT Press, 2005). 666 Siehe auch die weiteren Analysen in Guillermo A Calvo und Enrique G. Mendoza, „Rational Herd Behaviour and the Globalization of Securities Markets,” Journal of International Economics, Vol. 51 No.1 (2000), Seite 79-113. 667 Siehe Nicholas Dunbar, Inventing Money : The Story of Long-Term Capital Management and the Legends Behind It (Chichester ; New York: Wiley, 2000). 668 Siehe FSF Report, op.cit., Paragraph 45 und 46. ;
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schäfte, der Bestrafung von Verhaltensweisen, die von den Imperativen des Marktes abweichen, bis hin zur Manipulation und Ausnutzung ihrer marktinternen Autorität. Eine abschließende Antwort steht noch aus. Es verwundert also nicht, dass bisherige Regulierungsbehörden, insbesondere die besonders an diesem Thema interessierte Bank für den Internationalen Zahlungsausgleich, bisher davor zurückschrecken, konkrete Empfehlungen auszusprechen. Wie die BIZ schreibt: „an assessment of the costs, benefits, and effectiveness of such direct measures would require a comprehensive review of the potential impact on financial markets and market participant…moreover, the formulation of any such regulatory approach would clearly extend beyond the competency of bank supervisors and require a political initiative.”669 Sollten Wege gefunden werden, ihre Aktionen nachvollziehbar zu machen, zeigt sich jedoch, dass der heute auf Standardisierung und Transparenz abzielende Ansatz kontraproduktiv erscheint. 7.3.3 Basel II: Nichtwissen und private Autoritäten670 Die Basel-Prinzipien gelten in der Literatur als das Paradebeispiel für eine privat initiierte Standardisierung von Praktiken, die die Möglichkeit einer Selbstregulierung der Finanzmärkte belegen könnte. Gleichzeitig ist sicherlich eine Reform des Basler Abkommens notwendig, da unter dem jetzigen Regime die Risikogewichtung an die Zeitdauer eines Kredits an Nicht-OECD Länder gekoppelt ist. Somit besteht ein übergroßer Anreiz, nur kurzfristiges Kapital an Länder, die nicht zu dem OECD-Club gehören, zu verleihen. Also eine Zunahme genau der Art von Investitionen, die für die Währungskrisen mit verantwortlich gemacht werden. Aus diesem Grund ruhen die Hoffnungen auf Basel II,671 das diese Anreizverzerrung reduziert werden soll. Basel II baut dabei auf drei Säulen auf:672 Mindestkapitalanforderungen, Bankenaufsicht und Überwachungsprozess, sowie schließlich eine erweiterte Offenlegung. Mit diesen drei Säulen soll ein neues System des Risikomanagements und der Gewichtung von Risiken etabliert werden. Vor allem durch die Etablierung neuer Mindestkapitalanforderungen werden den Banken nun drei Methoden zur Verfügung gestellt, die sich in einen standardisierten externen Ansatz und einen internen Standard unterteilen lassen. Ohne hier vertiefend auf die einzelnen Mechanismen zu sprechen zu kommen, zeigt sich hier eine qualitative Veränderung von Regulierung: Der markante neue Mechanismus von Basel II ist die Einführung von Regulationsanforderungen im Bereich des intra-organisationalen Risikomanagements. Wie Michael Powers bereits 1997 feststellte: „the subject of internal control, once a guaranteed remedy for sleeplessness, has made a spectacular entry onto regulatory and political agendas”.673 Damit soll die Bindung 669 Bank for International Settlements, “Banks’ Interactions with Highly Leveraged Institutions,” Basle Committee Publications No. 45 (Basle: Bank for International Settlement, 2000); http://www.bis.org/pubp/bcbs45.htm. 670 Dieser Abschnitt basiert auf Oliver Kessler, „Eine systemtheoretische Rekonstruktion von Beratung?“, in Gunther Hellmann (Hrsg.), Wissenschaft und Beratung in der Wissensgesellschaft (Baden-Baden: Nomos, 2006). 671 Das Dokument, sowie weitere Diskussionsbeiträge zum New Basel Capital Accord können eingesehen werden unter: http://www.bis.org/publ/bcbs30a.htm 672 Siehe die Erklärung der Bundesbank auf http://www.bundesbank.de/bank/bank_basel.php. Das englische Dokument ist abrufbar unter: http://www.bis.org/publ/bcbsca.htm mit Links zu deutschen Übersetzungen. 673 Michel Powers, The Audit Society: Rituals of Verification (Oxford: Oxford University Press, 1997), Seite 57.
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zwischen Mindestkapitalanforderungen und politischen Clubs gekappt und über die Messung des eingegangenen ökonomischen Risikos neu justiert werden.674 Damit zeigt sich, zumindest auf den ersten Blick, eine deutliche Ausweitung der beobachteten Risiken: während Basel I in seiner ursprünglichen Fassung mehr oder minder einem ‚one-size-fits-all-Ansatz’ für Kreditrisiken darstellt, zeigt die Bandbreite an adressierten Risiken unter Basel II, z.B. neben den Kredit- und Zinsrisiken auch das operationelle Risiko und Marktvolatilitätsrisiken, eine deutliche Ausdifferenzierung und Anpassungsfähigkeit. Das neue Übereinkommen baut auf drei Säulen auf:675 die erste Säule bietet eine Reformulierung der Mindestkapitalanforderungen; der bankenaufsichtliche Überwachungsprozess der zweiten Säule stellt Policy-Optionen für Regulationsbehörden zur Verfügung und wird komplementiert durch die erweiterte Offenlegung der dritten Säule. Die erste Säule versucht die Regelungen dahingehend zu verändern, dass Regelungen der Dynamik und Komplexität der heutigen Finanzmärkte gerecht werden und somit neuere Entwicklungen mit berücksichtigen. Hierfür bietet die erste Säule zwei qualitativ unterschiedliche Ansätze zur Bewertung von Kreditrisiken an. Beim Standard-Ansatz, einer modifizierten Version bisheriger Regelungen, sollen nicht politische Faktoren, sondern internationale Ratingagenturen oder weitere ‚qualifizierte’ Bewertungsinstitute und ihre externen Risikobewertungen die Grundlage für die Mindestkapitalanforderungen bilden. Daneben wird der auf internen Ratings basierende Ansatz (IRB = Internal Rating Based Approach) der Bank die Nutzung interner Risikomodelle erlauben. Voraussetzung dafür ist, dass diese entsprechenden Mindestanforderungen genügen und durch nationale Regulierungsbehörden anerkannt sind.676 Die zweite Säule, die Aufsichtlichen Überprüfungsverfahren (Supervisory Review Process) erfüllt zwei Aufgaben: zum einen soll sie helfen, die Reichweite der beobachteten Risiken und die hier vorgeschlagenen Prozesse zu unterstützen. So gingen ja bisher externe Faktoren wie Zinsrisiken aufgrund von konjunkturellen Veränderungen nicht in die Berechnung von Mindesteigenkapitalanforderungen mit ein. Zum anderen soll sie die Einhaltung der erweiterten Mindeststandards- und der Offenlegungsanforderungen bewerten.677 Die Mechanismen der Säule Zwei sollen dabei Banken ermutigen, die eigenen internen Risikobewertungen ständig weiter zu entwickeln. Die zweite Säule erscheint als das tragende Moment einer ‚qualitativen’ Regulierung, das heißt der Einsicht, dass eine rein statische Regulierung notwendigerweise den Dynamiken und Gegebenheiten der Finanzmärkte hinterherhinkt. Genau aus diesem Grund zielt die zweite Säule auf die Regulierung der Qualität des Risikomanagements, das heißt unter anderem den Grad, zu dem das Risikomanage674 Die Basel I Prinzipien gelten in der Literatur als das Paradebeispiel für eine privat initiierte Standardisierung von Praktiken, um damit auch auf die Möglichkeit einer Selbstregulierung der Finanzmärkte hinzuweisen. Gleichzeitig ist sicherlich eine Reform des Basler Abkommens notwendig, da unter dem jetzigen Regime die Risikogewichtung an die Zeitdauer eines Kredits an nicht-OECD Länder gekoppelt ist. Somit besteht ein übergroßer Anreiz, nur kurzfristiges Kapital an Länder, die nicht zu dem OECD Clubgehören, zu verleihen. Also eine Zunahme genau der Art von Investitionen, die für die Instabilitäten der 1990ger mit verantwortlich gemacht werden. Aus diesem Grund geruhen die Hoffnungen auf Basel II, das diese Anreizverzerrung reduzieren soll. 675 Das englische Dokument ist abrufbar unter: http://www.bis.org/publ/bcbsca.htm mit Links zu deutschen Übersetzungen. 676 Siehe hierfür insbesondere: Basel Committee on Banking Supervison (=BCBS), Consultative Document: The Internal Ratings-Based Approach, (Basel: Bank for International Settlement2001). 677 BCBS, „Sound Practices for the Management and Supervision of Operational Risk,” (Basel: Bank for International Settlement, 2003), Seite 3.
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ment in organisationale Lernprozesse eingebunden ist. Begleitet wird diese interne Bewertung durch eine externe Überwachung durch nationale Regulationsbehörden, denen im Falle einer unzureichenden Kapitalvorsorge oder einer sich verschlechternden Qualität der Risikomanagementprozesse eine weite Bandbreite an Mitteln an die Hand gegeben wird. Wie das Komitee zusammenfasst: „Supervisors should review and evaluate banks’ internal capital adequacy assessments and strategies, as well as their ability to monitor and ensure their compliance with regulatory capital rations. Supervisors should take appropriate supervisory action if they are not satisfied with the result of this process.”678 Die dritte Säule verlangt eine frühe und hinreichende Offenlegung der Aktivitäten der Bank. Natürlich ist die Kommentierung dieses neuen Übereinkommens in der funktionalistisch interessierten Literatur äußerst ausgiebig behandelt, kommentiert und kritisiert worden. Ich möchte auf eine Rezeption dieser Literatur an dieser Stelle verzichten. Vielmehr soll eine einfache Frage verfolgt werden: Was ist die Einheit dieser Unterscheidung der drei Säulen von Basel II? Welche Gefahren versuchen die neuen Regelungen zu adressieren? Diese Frage zielt auf die Bilder, die die Funktionsweise der Finanzmärkte symbolisieren und damit auf die konstitutiven Unterscheidungen und die blinden Flecke dieser Regelung. An den Begriff der Unsicherheit anschließend, kann damit ganz analog danach gefragt werden, wo die Grenzen verlaufen, was nun in den Hintergrund gerät und wo sich neue Heterogenitäts- und Nichtwissensstrukturen etablieren. Hier zeigt sich, dass der einheitliche Faktor der drei Säulen das Bild einer selbsterfüllenden Prophezeiung im Sinne eines Ansturms auf die Kasse ist, der das statische Stabilitätskonzept charakterisiert und auf dem Programm der ‚ontologischen Ungewissheit’ aufbaut. Dieses Programm definiert die Begrifflichkeit, die notwendige Expertise und dadurch die Grenzen des Regimes. So verwundert es nicht, dass jede dieser drei Säulen von Basel II eine spezifische Antwort auf Probleme asymmetrischer Information darstellt. Mit Hilfe der Standardisierung soll sich das institutionelle Vertrauen zwischen den Parteien etablieren. Ein geeignetes Überwachungsregime stellt die Qualität sicher und garantiert damit die Stabilität der Finanzmärkte. Aus dem Zusammenhang von Stabilität und asymmetrischer Information ergeben sich drei Folgeprobleme, die bisher nur durch einen reflexiven Ansatz kenntlich gemacht werden können: zuerst ist der Ansatz reduktionistisch; er ersetzt Fragen qualitativer Veränderung durch quantitative Messung. Das heißt genau an der Stelle, an der Fragen des Kontexts, des Framings und der Heterogenität von Wissensformen auftreten, wird nun zweitens verstärkt auf quantitative Messung verwiesen. Drittens verändert Basel II die Funktion von Kreditratingagenturen, da diese nun nicht nur eine rein marktinterne Autorität sind, sondern vielmehr Regulierungsfunktionen übernehmen. Das neue Baseler Übereinkommen ist reduktionistisch, da es Fragen von systemischen Risiken auf die Ebene der Akteure reduziert. Es versucht, das System zu stabilisieren, indem jeder einzelne Akteur über Standardisierung und Transparenz von Risikobeurteilungen gestärkt wird. Man kann sogar ein Argument der ‚unsichtbaren Hand’ erkennen: das verteilte Wissen über interne Risikoverarbeitung führt zu einer Ordnung, die sich durch höhere Stabilität auszeichnet. Der Versuch Qualität durch Quantität zu ersetzen, wird in der Behandlung von operationellen Risiken deutlich. Diese wurden im Komitee definiert als: „the risk of loss resulting from inadequate or failed internal processes, people and systems or from external 678 Ibid., Seite 7.
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events”.679 Das Konzept der operationellen Risiken bietet ein Sammelbecken für eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Risiken: angefangen von Serverausfällen, Fehlkommunikation, verfehlten Deadlines, Betrug, bis zu Risiken, die aus dem Geschäftswachstum resultieren wie z.B. die Integration neuer Akquisitionen, Mergers, Outsourcing etc. Es scheint schon fast trivial zu sein, dass sich diese Kategorie gerade durch ihre Heterogenität auszeichnet. Die Kategorie der operationellen Risiken könnte aus diesem Grund einen natürlichen Einstieg für Untersuchungen über das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Wissensstrukturen und Wissensformen bieten und damit genau die Wichtigkeit von Erfahrung im Aushandeln unterschiedlicher ‚Realitäten’ beleuchten. Somit könnte gerade hier der Einfluss von qualitativen Veränderungen auf die Charakteristika von Systemrisiken, auf die Finanzmarktstruktur oder die interne Risikobeurteilung berücksichtigt werden. Dies wurde auch zu Anfang von dem Baseler Komitee erkannt: „Operational risk can be more pronounced where banks engage in new activities or develop new products (particularly where these activities or products are not consistent with the bank’s core business strategies), enter unfamiliar markets, and/or engage in businesses that are geographically distant from the head office. Moreover, in many such instances, firms do not ensure that the risk management control infrastructure keeps pace with the growth in the business activity. A number of the most sizeable and highest-profile losses in recent years have taken place where one or more of these conditions existed. Therefore, it is incumbent upon banks to ensure that special attention is paid to internal control activities where such conditions exist.”680
Z.B. gerade der Aufstieg von Derivaten veränderte die Rolle von operationellen Risiken für Banken insofern, als Derivate nicht Auswirkungen auf Praktiken des Risikomanagements wie die Verbriefung von Risiken haben, sondern auch auf die organisationale Selbstwahrnehmung und institutionelle Entscheidungen wie z.B. Outsourcing beeinflussen. Gerade die zuletzt genannten Beispiele erzeugen operationelle in Form von juristischen Risiken, eine erhöhte Verletzlichkeit der Firma für Marktschwankungen und eine erhöhte Abhängigkeit von anderen Firmen. Wie das Komitee erklärt: „Deregulation and globalisation of financial services, together with the growing sophistication of financial technology, are making the activities of banks and thus their risk profiles (i.e. the level of risk across a firm’s activities and/or risk categories) more complex. Developing banking practices suggest that risks other than credit, interest rate and market risk can be substantial.”681
Andrew Tickell hat jüngst nochmals darauf aufmerksam gemacht, dass die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in einem gemeinsamen Papier mit der International Organization of Securities Commissions (IOSCO) noch im Jahr 1995 die Notwendigkeit von quantitativen und qualitativen Urteile für die Regulierung von Derivaten und operationellen Risiken betont.682 An dieser Stelle hat auch Marieke de Goede gezeigt, dass die zuvor aner-
679 BCBS, Working Paper on the Regulatory Treatment of Operational Risk, (Basel: Bank for International Settlement, 2001), Seite 2. Siehe auch Basel Committee on Banking Supervision, Operational Risk Data Collection Exercise (Bank for International Settlement, Basel, 2002). 680 BCBS, 2003, op.cit., Seite 17. 681 Ibid., Seite 1. 682 Bank for International Settlement und International Organisation of Securities Commissions, “Framework for supervisory information about the derivatives activities of banks and securities," (Basel: Bank for Inter-
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kannte Notwendigkeit zu qualitativen Urteilen bei operationellen Risiken über die Zeit durch Kritik seitens der Finanzwelt systematisch ausradiert wurde.683 Die Kritik konzentrierte sich, treffenderweise, genau auf diese nicht-quantitative Dimension von operationellen Risiken. Dieses Verschwinden qualitativer Urteile bedeutet, dass hieran ansetzende epistemologischen Fragen systematisch durch ontologische Kategorien ersetzt werden. Heute wird nur noch von einer Quantifikation von Risiken gesprochen.684 Das hat fundamentale Auswirkungen auf das Wissen und Nichtwissen innerhalb dieses Regimes: Neue Informationen können nicht über qualitative Erhebungen, Erfahrungen und ‚Geschichten’, sondern nur in Form von Zahlen und Statistiken emergieren. Das ist nicht notwendigerweise schädlich, sondern zeigt nur auf, dass dieses Modell eine bestimmte Art der Komplexitätsreduktion bereitstellt, die im Weiteren die Emergenz und Verarbeitung von Informationen strukturiert. Letztlich wird Basel II die Rolle von Kreditratingagenturen verändern. Obwohl Kreditratingagenturen immer häufiger Gegenstand kritischer Fragen werden,685 ist ihre genaue Funktion unklar. Die ökonomische Beratung würde hier sicherlich auf die gesteigerte Transparenz durch diese Agenturen verweisen, und betonen, dass sie eine Überwachungsdistanz darstellen, die es erlaubt, die notwendige Selbstbindung der Akteure durchzuführen. Mit anderen Worten: nachdem sich die Instabilität des Systems aus asymmetrischer Informationsverteilung speist, bieten Ratingagenturen einen Überwachungsmechanismus, der diese Asymmetrie aufheben kann. Die Agenturen kreieren eine interne Öffentlichkeit, sie bieten einen Referenzpunkt und eine symbolische Ordnung, die für jeden leicht einsehbar ist und einen daran anschließenden Lernmechanismus, der über die Veränderungen des Ratings eindeutig nachzuvollziehen ist. Gerade die Einstufungen und ihre Veränderungen sind für alle ‚objektiv’ einsehbar und strukturieren somit das System gegenseitiger Erwartungshaltung. Reflexiv müsste man nach den Gründen und Grenzen für diese Überzeugung fragen. Hier zeigt sich, dass eine Überwachung durch Kreditratingagenturen kategoriale Veränderungen im Finanzmarkt nicht endogen bestimmen kann. Die mögliche Überwachung durch Kreditratingagenturen basiert auf einer angenommenen positiven Korrelation zwischen Transparenz und Stabilität. Die Frage, wie Kreditratingagenturen selbst z.B. operationelle Risiken der Banken und damit auch die gegenseitige Beobachtung der Banken und die Struktur von Systemrisiken verändern, wird jedoch systematisch ausgeblendet. Die angenommene universale Gültigkeit von Ratings stößt ja genau dann an ihre Grenzen, wenn sich die Rahmenbedingungen vergangener Zahlen und Managementkonzepte aufgrund einer qualitativen Veränderung der Umwelt als obsolet erweisen. Doch diese qualitativen Veränderungen kennzeichnen gleichzeitig die Grenzen des heute verfolgten Ansatzes: es scheint schon fast absurd über Bankenregulierung als ein autonomes Feld zu sprechen, wenn die wichtige Strukturveränderungen national Settlement, 1995). Siehe auch Andrew Tickell, „Dangerous Derivatives: Controlling and Creating Risks in International Money”, Geoforum, Vol. 31 No. 1 (2000), Seite 87-99. 683 Marieke de Goede, „Repoliticising Financial Risk”, Economy and Society Vol. 33 No. 2 (2004), Seite 197-217. 684 Siehe neben BCBS 2001, op.cit, auch BCBS, „Consultative Document: The New Basel Capital Accord,” (Basel: Bank of International Settlement, 2003) und BCBS, „Outsourcing in Financial Services: Consultative Document,” (Basel: Bank for International Settlement, 2004). 685 Siehe auch Timothy Sinclair und Michael King, „Private Actors and Public Policy: A Requiem for the New Basel Capital Accord“, International Political Science Review, Vol. 24 No. 3 (2003), Seite 345- 362 und Brieuc Monford und Christian Mulder, „Using credit ratings for capital requirements on lending to emerging marke economies – possible impact of a new Basle accord.” IMF working paper 00/69 (Washington, D.C.: International Monetary Fund, 2000).
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7 Selbstreferenz und Finanzmarktstabilität
durch ENRON oder Hedge Fonds ausgelöst wurden, die zwar wie Banken auftreten, aber nicht Subjekt der Regulierung sind. 7.4 Schlussfolgerung: Die Grenzen der Transparenz Wenn die Politik des Risikos mit der Legitimation und Autorität von Wissen und Expertise verbunden ist, zeigt sich hier die Autorität der ökonomischen Argumentation, die auf praktische Probleme gerichteten Fragen und Alternativen ausgrenzen zu können. Die Ausgrenzung des Unsicherheitsbegriffs muss letztlich dazu führen, dass die Adressierung dieser Frage nach der Praxis, als Konsequenz des empirischen Phänomens und der theoretischen Annäherung an den Unsicherheitsbegriff, zu einer Spannung innerhalb der ökonomischen Argumentation führt. Das Vokabular der Ungewissheit, die Modelle der asymmetrischen Information mit ihrer Konzeption von Praxis als Technik und Wissen, sollen auf partikulare Fälle angewendet werden. In der Tat verändert sich der ökonomische Diskurs an dieser Stelle durch eine Neubetonung des Kontextes nachhaltig. Jedoch wird in der aktuellen Diskussion versucht, das Vokabular und die Konzepte des aleatorischen Wahrscheinlichkeitsbegriffes auf ein neues, noch nicht vollständig bezeichnetes Phänomen auszuweiten. Das heißt der aleatorische Wahrscheinlichkeitsbegriff soll auf den Bereich des epistemologischen ausgeweitet werden. Das benutzte Vokabular hält jedoch dem Glauben an universale Gesetzmäßigkeiten und an die ‚wissenschaftliche Methode’ der Idealsprachenphilosophie aufrecht, so dass die ökonomischen Expertise weiterhin ihre Anwendung finden kann. Es geht in dieser Diskussion ausdrücklich nicht darum, die Grenzen des disziplinären Wissens, die Anerkennung anderer Wissensformen und Expertisen und deren Grundlage, die hier hinterfragt werden, zu diskutieren. Es geht nicht darum, dem epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriff, dem Begriff einer radikale Unsicherheit mit seiner Betonung der Praxis und des Politischen seinen Platz einzuräumen und sich so einer politischen Diskussion um den öffentlichen Raum zu stellen. Dies wird bei der Frage der Good Governance deutlich, die heute in den Mittelpunkt der Diskussion rückt und die verschiedenen Aspekte der Reformvorschläge für eine neue Finanzmarktarchitektur integriert. An dieser Stelle zeigt sich eine Inkongruenz zwischen den bezüglich Wissen und Nichtwissen getroffenen Annahmen und den grundlegenden Problem der Finanzmärkte. Wissen ist nicht hierarchisch und harmonisch, sondern heterogen und konfliktreich, ja sogar innerhalb der Ökonomik widersprüchlich. Der Versuch eine Wissenshierarchie institutionell zu etablieren, um damit eine Interpretation der Signale festzulegen, mag zwar als Lösung des Problems der asymmetrischen Information dienen, übersieht jedoch gleichzeitig, dass kategoriale Verschiebungen im Finanzmarkt sich der Ungewissheit entziehen. Vielmehr verweist die intersubjektive Ontologie und Epistemologie von Währungskrisen auf eine sich ständig verändernde Konstellation von asymmetrischer Information: asymmetrische Information ist kein Zustand, sondern alltägliche Erfahrung. Jeder Versuch einer durch Regulation verordneten Symmetrisierung übersieht, dass genau dieser Versuch zu neuen Asymmetrien führt. Mit anderen Worten: die vom ökonomischen Diskurs aufgeworfenen Fragen gehen nicht weit genug. Der ökonomische Diskurs fordert an dieser Stelle, wie schon bei der Diskussion der Wahrscheinlichkeitsbegriffe gesehen, mehr, als er selbst bereitzustellen in der Lage ist. Jedoch werden diese inhärenten Wider-
7.4 Schlussfolgerung: Die Grenzen der Transparenz
221
sprüche noch als ‚eine an die Wahrheit approximierende’ Deliberation verstanden, nicht als eine Anerkennung mehrerer nicht-reduzierbarer Alternativen. Somit lässt sich festhalten: der aktuelle Diskurs über eine Reformierung der Finanzmärkte beruht auf einem Narrativ der Asienkrise, das ein nur unzureichendes Bild abgibt. Nicht nur wird in dieser Diskussion die Europakrise 1992 ausgeblendet (Transparenz), sondern auch die Lehren des Hongkong Double Plays und die Diskussion um die Hedge Funds, die jede für sich die Legimitation des dritten Modells hinterfragen. Konsequenterweise wird die Dynamik der Erwartungszusammenbrüche innerhalb der Währungskrise nicht über die produktive Kraft der Interpretation, sondern über die Anpassung an neue Informationen erklärt. Entsprechend haben sich in der Diskussion drei Einwände gegen eine simple Korrelation zwischen Transparenz und Stabilität ergeben. Erstens traf die Europakrise 1992 vor allem die skandinavischen Länder, denen mangelnde Transparenz nicht vorgeworfen werden kann. Ebenso kann das Hong Kong Double Play nicht auf Korruption und eine Vermischung von Politik und Wirtschaft zurückgeführt werden. Gleichzeitig zeigen die Skandale um LTCM und Worldcom, dass auch Industriestaaten nicht in dem Maße ‚transparent’ sind, wie es die Theorie fordert. Zweitens erklärt sich die Ausbreitung von Krisen unter anderem durch die Portfoliostruktur der ‚großen Spieler’. Dass Australien und Neuseeland relativ unbeschadet aus der Asienkrise herausgegangen sind, erklärt sich auch daraus, dass sie aus Sicht der Portfoliomanager keine asiatischen Schwellenländer sind. Der Rückschluss auf Transparenz ist damit nicht gültig. Drittens ist es nicht möglich, selbst bei völliger Transparenz, alle Unsicherheiten und Asymmetrien auf dem Kapitalmarkt zu eliminieren, so dass sich immer noch Bank Runs manifestieren können.686 Wie Joseph Stiglitz in Bezug auf die Asienkrise meint: „In East Asia much of the important information was available, but it had not been integrated into the assessment of the market.“687 Die Netzwerke aus Politik und Wirtschaft waren bekannt und wurden für den eigenen Vorteil benutzt. Es ist fraglich, ob die Asienkrise mit einer transparenteren Politik hätte verhindert werden können. Wieder ist es Joseph Stiglitz, der in der Forderung nach besseren Statistiken einen Widerspruch entdeckt: aggregierte Kapitalbewegungsdaten sind unter der Annahme eines effizienten Kapitalmarktes nicht nötig. Dass diese Daten nun eingefordert werden, deutet auf jene Marktfehler hin, die gerade gegen die Effizienzhypothese sprechen, die dem Transparenzargument zugrunde liegen.688 Schließlich wird auch von Automobilfirmen nicht verlangt, aggregierte Statistiken über den Markt zu veröffentlichen (das heißt aber nicht, dass sie dazu nicht Erwartungen abgeben können). Die Ineffizienz ist auf fehlende Märkte für Futures und Risikoinstrumente zurückzuführen, die, nach Stiglitz, Fragen nach nationalen öffentlichen Gütern aufwerfen. Letztlich ist der Streit über die Transparenz ein Täuschungsmanöver, das qualitative Veränderungen aus dem Blick geraten lässt. Damit kommen allerdings auch Zweifel an der Berechtigung ökonomischer Expertise auf, die diese qualitativen Veränderungen, wie oben diskutiert, nicht abbilden kann. Damit wird der politische Charakter der Struktur ökonomischer Argumentation deutlich. Transparenz ist das universale Argument, das die Hoffnungen der Ökonomen auf sich vereint. Um die Transparenzansprüche zu legitimieren, wird ein Narrativ über die Asienkrise aufgebaut, das auf die 686 Joseph Stiglitz, Must financial Crisis be this frequent and this painful?, op. cit., Seite 8. 687 Joseph Stiglitz, Statement to the Meeting of Finance Ministers of ASEAN plus 6 with the IMF and the World Bank, mimeo, (Washington: World Bank, December 1997), Seite 5. 688 Siehe Joseph Stiglitz, 1999, op. cit.
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7 Selbstreferenz und Finanzmarktstabilität
strukturellen Schwächen der Entwicklungsländer abzielt. Nach den Erfahrungen des Hong Kong Double Plays und der Europakrise 1992 ist es fraglich, ob die Forderung nach Transparenz nicht selbst kontextualisiert werden müsste.
7.4 Schlussfolgerung: Die Grenzen der Transparenz
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8 Fazit
Die Arbeit verfolgte die Frage nach den Konturen einer durch den Konstruktivismus inspirierte IPÖ. Hierbei wurden drei Dimensionen verfolgt. Zum einen stellte sich die Frage nach dem es vertretenen Verständnis von konstruktivistischer Theoriebildung. Hier wurde deutlich, dass die von den radikalen Konstruktivisten betonte inter-subjektive Epistemologie, die methodisch eben auf interpretative und rekonstruktive Methoden abstellt, von zentraler theoretischer Wichtigkeit ist. Ihre Nichtbeachtung löst die Grenze zwischen dem Positivismus und dem Konstruktivismus auf. Dagegen betonte diese Arbeit, im Anschluss an Niklas Luhmann, die performative Dimension von semantischen Unterscheidungen, die sich an eine Rekonstruktion der Begriffe von Risiko, Ungewissheit und Unsicherheit anschloss und somit den Weg für die empirische Überprüfung des Widerspruchs zwischen intersubjektiver Ontologie und individualistischer Epistemologie frei macht. Natürlich lag die primäre Motivation der Arbeit in einer Beobachtung: bei der Behandlung von Währungskrisen werden offensichtlich systematische Fehler gemacht. Obwohl die praktischen Veränderungen die theoretische Entwicklung bestimmen und eine überzeugende Gesamterklärung fehlt, wird das Phänomen als ein Gegenstandsproblem aufgefasst. Folglich diskutieren Ökonomen nicht ihre Beobachterrolle, sondern sehen sich immer noch als neutrale Beobachter. Die Möglichkeit, die eigenen Grundannahmen in Frage zu stellen, ist nicht mehr gegeben. Die Ruhe im ökonomischen Diskurs erklärt sich aus einem Ritus des blinden Hinterherlaufens: es wird versucht die letzte Krise zu erklären, um dann festzustellen, dass auch nur Lösungskonzepte für die letzte Krise vorhanden sind. Entsprechend ist die heutige Diskussion um die Reformierung der Finanzmärkte durch die Asienkrise geprägt. Diese Methode des ‚Rennen um Stillzustehen’ ist für die Etablierung einer Architektur, einer Ordnung, unzureichend. Dies wurde durch den Verweis auf eine Diskrepanz zwischen dem Phänomen der Währungskrisen, wie es sich innerhalb der ökonomischen Diskussion darstellt, und dem polit-ökonomischen benutzen Vokabular erläutert. Während Währungskrisen durch die Charakteristika des Unsicherheitsbegriffs bestimmt sind, bauen die Modelle auf dem Begriff der Ungewiss auf. Es wird versucht, diese Diskrepanz über Konzeptionen der asymmetrischen Information zu überwinden, die die unterschiedlichen Reformvorschläge, etwa im Konzept der Good Governance, auf sich vereint.689 Diese Diskrepanz führt dazu, dass die Wirtschaftswissenschaften das falsche Problem identifizieren. Das Problem ist nicht die Verzerrung durch asymmetrische Information, sondern eine Homogenisierung der Strategien durch die Idee, Risiko könnte als Zahl berechenbar sein. Die von der Ökonomik angestrebte Sicherheit wird letztlich zu gesteigerter Unsicherheit führen. Wie Stiglitz verdeutlichte, zeigt sich hier ein Problem des systematischen Nichtlernens – wobei sich allerdings die Frage stellt, wo die Wurzeln dieses Nichtlernens zu finden sind. Diese Arbeit suchte die Antwort durch eine Beobachtung von Wissen und Nichtwissen und stellte fest, dass die 689 Joseph Stiglitz, Globalization and its Discontents, op. cit.
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8 Fazit
Konzipierung des Nichtwissens besonderes Augenmerk verdient. Wie geht man mit Unwissen um? Die Risikodiskussion diente hier als Prisma, um das Modellverständnis der heute dominierenden ökonomischen Theorien zu untersuchen, und es stellte sich heraus, dass das dominante Risikoverständnis Nichtwissen als Ungewissheit und nicht als Unsicherheit konzipiert. Um darin das politische Element zu erkennen, musste weiter ausgeholt werden und der Zusammenhang von Modellverständnis, Sprache und Begriff analysiert werden, so dass Wissenschaft als Beobachter sichtbar gemacht werden konnte. An dieser Stelle zeigte sich eine Reduktion der Wissenschaft durch die Ökonomien auf das Reflexionsniveau einer zweiwertigen Logik. Sie träumt den Traum eines Ideals von Wissenschaftlichkeit, das selbst in der Naturwissenschaft nicht mehr gegeben ist, denn auch hier wurde in der Popper-Kuhn-Debatte deutlich, dass der Motor der Wissenschaft, als Teil der Beobachtung, gerade die Unentscheidbarkeit von Sätzen ist. An dieser Stelle ist ein Perspektivwechsel von Nöten, der nur in einer Politischen Ökonomie zu finden sein wird.
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