Erich Hackl
Die Hochzeit
von Auschwitz
Eine Begebenheit
Diogenes
Umschlagillustration:
Rene Magritte,
›Die Lieb...
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Erich Hackl
Die Hochzeit
von Auschwitz
Eine Begebenheit
Diogenes
Umschlagillustration:
Rene Magritte,
›Die Liebenden‹, 1928
Copyright © 2002 ProLitteris, Zürich
Foto: Copyright © G. Westermann/Artothek
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2002
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
250/02/52/1
ISBN 3 257 06324 5
Die Geschichte von zweien, die sich lieben, durch die politischen Ereignisse immer wieder getrennt werden und dann diese Liebe endlich legalisieren dürfen – unter den denkbar widrigsten Umständen. »Ich weiß nicht, wo Hackl seine Stoffe findet. Sie klingen anvertraut: Jemand hat seine Geschichte dem Autor in die Hand gelegt in der Hoffnung, die Geschichte werde, beleuchtet von seiner Sprache, ihr wahres Gesicht zeigen.« Margrit Irgang/Bayerischer Rundfunk, München »Hackl ist einer der wenigen deutschsprachigen Autoren, denen es gelingt, Literatur und Politik zu vereinigen. Seine politische Literatur geht unter die Haut und ins Hirn, sie überzeugt und ermutigt.« Sabine Peters/Basler Zeitung ERICH HACKL, 1954 in Steyr geboren, studierte Germanistik und Hispanistik in Salzburg und Malaga. Ab 1977 Lektor und Lehrer in Madrid und Wien, seit 1983 freier Schriftsteller und Übersetzer sowie Herausgeber von Werken unbekannter oder an den Rand gedrängter Autoren. Seinen Erzählungen liegen authentische Fälle zugrunde.
Ich kenne die Wahrheit nicht – sofern es sie überhaupt gibt. Vielleicht hat jemand von den Erzählern gelogen. Auch das Gegenteil ist möglich: daß alle nur das gesagt haben, was sie für wahr hielten. Oder vielleicht haben sie im angeborenen Bedürfnis, eine Geschichte auszuschmücken, hin und wieder etwas dazuerfunden. Oder es gilt die Vermutung, daß sich der Schleier des Erinnerns über die Tatsachen legt und die Berichte der Augenzeugen allmählich ebenso verzerrt, verwandelt, verdichtet wie die Schlußfolgerungen der Historiker. Sergio Atzeni, ›Il figlio di Bakunin‹
1
Das Gewitter
Heute nacht werde ich von Rudi Friemel träumen. Er wird ein weißes Gesicht haben, wie aus Wachs, und weit aufgerissene Augen, als sei er zu Tode erschrocken. Er wird eine dünne gestreifte Häftlingshose tragen, die seine Frostbeulen verbirgt, und ein weißes Hemd, das mit Rosen bestickt ist. Ein Geschenk, von wem? Er wird lächeln, wie er immer gelächelt hat. Ich werde das Grübchen an seinem Kinn sehen. Er wird sagen: Alle haben mich vergessen, die Frauen, die Freunde, die Genossen. Blödsinn, werde ich sagen. Ach Marina, kleine forsche Schwägerin. Kennst du mich noch, wird Rudi antworten. Er war ein lieber Junge. Automechaniker, Motorradnarr. Ein überzeugter Sozialist. Ein bißchen verrückt. Ein Draufgänger, verwegen, abenteuerlustig. Im Februar vierunddreißig soll er sich in Wien tapfer geschlagen haben. Er ist dann nach Brunn geflohen. Später hat er bei uns in Spanien gekämpft. Was wohl aus ihm geworden wäre? Seltsam, daß ich gerade von ihm träumen werde. Nach so vielen Jahren. Von Toten zu träumen bedeutet nichts Schlechtes. Aber wieso ist er mir nicht früher erschienen? Soll ich seine Geschichte erzählen? Willst du sie hören? Ich warne dich: Da sind nur Bruchstücke seines Lebens, und in meinem Kopf ergeben sie kein klares Bild. Die Jahre vergehen wie im Flug, und wenn man Rückschau hält, ist es zu spät, Einbildung und Wirklichkeit auseinanderzuhalten. Besser, du
fragst andere nach ihm. Obwohl, viel werden sie dir auch nicht sagen können. Lebt überhaupt noch einer von denen, die ihn gekannt haben? Es sind so viele umgekommen. Und die nicht umgekommen sind, sind im Bett gestorben, wie es sich für Menschen gehört. Und die weder umgekommen noch im Bett gestorben sind, können sich nicht erinnern, weil sie sich nicht erinnern wollen. Aber auch unter denen, die sich nicht erinnern wollen, wirst du keinen mehr finden, der ihn gekannt hat.
Friemel. Friemel Edeltrude. Trude. Ich bin mit keinem Rudolf Friemel verwandt. Aber hier im Haus, auf Stiege 7, wohnt einer, der so heißt. Wie alt mag er sein, zweiunddreißig, fünfunddreißig? Eher zweiunddreißig, und sein Vater geht auf die Sechzig zu. Soviel ich weiß, haben sie kein Telefon. - In unserer Verwandtschaft gibt es keinen Rudolf. Schon seit hundertfünfzig Jahren nicht. Achtundzwanzig Friemel, und kein einziger Rudolf. Ich betreibe Ahnenforschung, deshalb. Mich würde interessieren, ob er in Wien geboren ist. Alle meine Friemel stammen nämlich aus Schlesien. - Friemel, Maria. Hat ihren Anschluß per 30. Juni abgemeldet. - Nein, Therese. Therese Friemel. Ein Rudolf Friemel ist mir nicht bekannt. Ich kann ja nicht jeden Friemel kennen. Haben Sie es schon in Graz versucht? Dort soll noch eine Familie Friemel wohnen. - Friemel oder Frieml. Oder mit kurzem i, Frimmel. Spanien, Frankreich, Polen? Hören Sie, ich bin kein Reisebüro. - Ich kann mich dunkel an einen Friemel erinnern. Nicht, daß ich ihm persönlich begegnet wäre. Aber sein Name ist mehrmals gefallen, bei konspirativen Zusammenkünften mit Jugendführern der Revolutionären Sozialisten. Wir haben uns auf der Straße getroffen, um gemeinsame Kampagnen
abzusprechen, eine illegale Kundgebung zum Ersten Mai oder eine Streuzettelaktion am Jahrestag des Februaraufstandes. In diesem Zusammenhang ist der Name Friemel immer wieder aufgetaucht. Man hat gewußt, der existiert. Der treibt sich irgendwo herum. Vor sechsundsechzig Jahren. - Ein Griff, und ich hab ihn. Freytag, Friedmann, Friedrich, Friemel. In der Archivbox ist alles enthalten, was ich über ihn in Erfahrung bringen konnte. In Spanien war er bei der Transmission, Kabel verlegen für die Nachrichtenverbindungen. Strippenträger hat das geheißen. Kennengelernt habe ich ihn aber erst in Frankreich, im Lager. Er ist mir nie unangenehm aufgefallen. Im Gegenteil, er war ein patenter Kerl, und dazu noch ein fescher Bursch. - Ein Frauenheld, würde ich sagen. An jedem Finger eine. Ich weiß nicht, was sie an ihm gefunden haben. Vielleicht war es seine Entschlossenheit, der Mut gepaart mit Unschuld, die Hingabe für eine Sache, die er als richtig erkannt hat. Oder sie haben auf seiner Stirn oder zwischen seinen Augen ein Zeichen eingebrannt gesehen, das uns Männern entgangen ist. Jedenfalls haben sie ihn um schwärmt wie die Motten das Licht. - Der Name ist für mich noch heute ein rotes Tuch. Friemel hat mich schlaflose Nächte gekostet. Stundenlang habe ich seine Wohnung beschattet, die Wohnung seines Vaters und die Wohnung seiner Schwester, die mit einem gewissen Korvas verheiratet war, auch so ein radikales Element. Nichts. Am nächsten Tag habe ich erfahren, er ist da und dort gesehen worden. Also war er doch in der Wohnung! Er hat mit mir Katz und Maus gespielt. Aber früher oder später geht jeder in die Falle. Der Arm des Gesetzes ist lang. - Er war mein Vater. Ich habe ihn kaum gekannt. Die wenigen Erinnerungen sind verblaßt. Aber irgendwo muß noch eine Schuhschachtel herumstehen, die ist von meinem
Großvater auf mich übergegangen. Darin sind Briefe und Fotos. Nicht viele, nach dem, was ich in der Eile sehen konnte. Die zweite Frau meines Großvaters war gestorben, die Wohnung mußte geräumt werden, die Hausverwaltung hat gedrängt. Ehrlich gesagt, ich habe mich bis heute nicht durchringen können, die Schachtel zu öffnen. Heute werde ich auch von meiner Schwester träumen. Jahrelang träume ich nicht, oder mir träumt nur dummes Zeug, das ich beim Aufwachen bereits vergessen habe. Aber meistens komme ich gar nicht zum Träumen, weil der Mann neben mir Nacht für Nacht schnattert. Im Schlaf schwingt er gewaltige Reden. Fernando, sage ich dann, wirst du wohl still sein! Wenn endlich Ruhe ist, kriege ich mit Sicherheit einen Stoß in die Rippen, Marina, du schnarchst, sagt Fernando und wälzt sich auf die andere Seite, aber ich liege wach und kann bis zum Morgen nicht einschlafen. Und jetzt will ich, daß folgendes geschieht: kein Gequatsche und kein Rippenstoß in zwei aufeinanderfolgenden Nächten, und in der einen Nacht zeigt sich Rudi, in der anderen Margarita. Ich glaube, sie wird mir im Traum erscheinen, weil sie eifersüchtig ist. Ich doch nicht, du bist eifersüchtig, wird sie sagen. Red keinen Unsinn, werde ich antworten. Arme Marga.
Die Geburtsurkunde, ausgestellt von der Pfarre zur Heiligen Familie in Neu-Ottakring. Demnach ist er am 11. Mai 1907 in Wien, Habichergasse 9, geboren und tags darauf auf den Namen Rudolf Adolf getauft worden. Vater, steht da: Clemens Friemel, römisch-katholisch, Zimmerputzer, geboren am 21.12.1881 in Prag. Mutter: Stefanie, geborene Spitzer, römisch-katholisch, Dienstmädchen, geboren am 20.12.1882 in Wien.
Sein Abgangszeugnis, ausgestellt von der dreiklassigen fachlichen Fortbildungsschule für Mechaniker in Wien VI. Mollardgasse 87. Das Zeugnis, wonach er die Gesellenprüfung am 4. Juli 1925 mit gutem Erfolg bestanden hat. Sein Zulassungsschein zum Lenken von Kraftwagen mit Explosionsmotor und von mehrspurigen Motorrädern. Zeugnisse der Firmen Steyrermühl, Vereins-Molkerei, OEWA, Neues Wiener Tagblatt und Productiv-Gesellschaft der Wiener Fleischselcher. Ihnen zufolge hat er alle Arbeiten gewissenhaft erfüllt, muß aber in Anbetracht der schlechten Auftragslage leider entlassen werden. Die Fotos. Als erstes ein Mädchen im Sommerkleid, mit Armreifen und Stirnband. Meine Tante. Sie hat dunkle Augen. Lächelt sie? Eher nicht. In ihrem Schoß liegen Blütenzweige. Forsythien oder Rittersporn. Viel kann ich nicht erkennen. Das Foto ist etwas unterbelichtet. Auf der Rückseite steht: »Deine Schwester Steferl. 17. XI. 1923. 1. Schönheitspreis.« Dann drei Bilder meines Vaters, aufgenommen in einem Fotoatelier. Ich finde schon, daß ich ihm ähnlich sehe. Abgesehen davon, daß ich größer und stämmiger bin und viel älter, als er damals war; auch abgesehen davon, daß ich das runde Kinn meiner Mutter habe – die hohe Stirn, der dichte Haaransatz, die gewellten Haare sind von ihm. Nur sein Blick ist anders. Nicht arrogant, aber irgendwie herausfordernd, trotzig, renitent. Ein kräftiger junger Mann in Anzug und Krawatte, einmal sitzt er, einmal steht er, einmal ist er barhäuptig, einmal trägt er Hut und Spazierstock. Im Mai 1927 war das, an seinem zwanzigsten Geburtstag. Ich weiß nicht, was mich an den Fotos stört. Ist es die elegante Kleidung oder die künstliche Beleuchtung oder die orientalische Kulisse? Die Art, wie er gleichsam erstarrt, oder die Gewißheit, daß ich ihn nie einholen werde. Auf dem dritten Foto trägt er eine
Strickjacke. Da gefällt er mir besser, auch wenn er ein ernstes Gesicht macht. Er wirkt nicht so abweisend. Er könnte mich annehmen, so wie ich bin. Meine Mutter. Schnappschuß. Sie schaut ziemlich erschöpft aus. In ihrer Jugend ist sie schon lustig gewesen. Sie hat gern gelacht, ist viel ausgegangen, hat auch in einem Mandolinenorchester gespielt. Nachher ist ihr das Lachen eher vergangen. Zehn oder zwölf Gedichte, teils handgeschrieben, teils auf Maschine getippt. Ich wußte nicht, daß er auch gedichtet hat. Sonst lese ich keine Gedichte. Aber die da gefallen mir. Sie sind gereimt und humorvoll. Nicht alle, es gibt auch ernste. Eins über die Vergänglichkeit der Jahreszeiten, eins über ein armes Waisenkind, das als Hure endet, eins über eine ferne Geliebte, zwei über die Sehnsucht nach mir: »Mein Söhnchen«, »An Norbert!«. Die hat er offenbar in der Emigration geschrieben. Also hat er doch an mich gedacht. »Ich höre im Traum und im Wachen kristallklar Dein kindliches Lachen.« Dann gibt es auch politische Gedichte, die handeln vom Volk in Ketten und vom Kampf um Freiheit und vom siegreichen Entfalten der purpurnen Fahne.
Rot ist immer noch meine Lieblingsfarbe, werde ich zu ihm sagen. Denn als Rote bin ich geboren, zur Zeit der großen Oktoberrevolution, und als Rote werde ich in die Grube fahren. Ich rechne mir das nicht als Verdienst an, es hat sich einfach ergeben, ich hab mir meine Eltern und meine Umstände nicht ausgesucht. Meine Mutter stammt aus Madrid. Ihr Vater war Jose Rey, ein wichtiger Mann bei den Sozialisten, die Nummer zwei hinter Pablo Iglesias. Er ist früh gestorben. Meine Großmutter
auch. Mit fünf war meine Mutter Vollwaise. Sie war Hemdennäherin. Ihr Handwerk hat sie bei einer Tante gelernt. Mein Vater ist in Menorca aufgewachsen. Die Ferrer hatten jüdische Vorfahren. Irgendwann waren sie also Verfolgte. Das hinderte sie nicht daran, jeder Kutte hinterherzulaufen und mit den Geldsäcken auf der Insel gemeinsame Sache zu machen. Erst mein Vater ist aus der Reihe getanzt. Mit siebzehn ist er nach Madrid gekommen, zum Studieren. Aber bevor er sich an der Universität eingeschrieben hat, ist eine Stelle beim Zoll frei geworden. Er hat die Ausschreibung gewonnen und den Posten angetreten. Damit hat er sich das Studium finanziert. Denn seine Eltern, die sich mit ihrer Apotheke dumm und dämlich verdient haben, waren nachtragend. Sie haben ihm nie auch nur einen Duro zugesteckt, weil er revolutionär gesinnt war, anders als sie, und weil er um jede Kirche einen großen Bogen gemacht hat. Während des Studiums hat er in der Calle Montera gewohnt, wo jetzt die Huren herumstehen, in einer Pension, in der meine Mutter Geschirr gespült hat. So haben sie sich kennengelernt. Meine Mutter war damals acht Jahre alt. Neun oder zehn Jahre später klopfte er an eine Ladentür in der Calle Encomienda, Ecke Mesón de Paredes. Auch keine gute Gegend, bis heute nicht. Dort hielten die Anarchisten ihre Versammlungen ab. Meine Mutter war mit der Schwester eines Anarchisten befreundet. Und zufällig war sie an jenem Abend zu Besuch, als sich die Anarchisten trafen, darunter auch mein Vater, und sofort hat es zwischen ihnen gefunkt. Wie zwischen dir und Margarita, werde ich zu Rudi sagen. Mein Vater war neun Jahre älter als meine Mutter. Rudi war auch um einiges älter als Margarita. Wie heißt du, fragte mein Vater. Rosario. Ach wirklich? Ich hab einmal eine Rosario gekannt.
Das war ich. So hat alles angefangen. Es hat damit angefangen, daß sich meine Eltern nach dem Maiaufmarsch der Sozialdemokraten kennengelernt haben. Das war 1930, im Prater. Meine Mutter hat Pauline geheißen, Pauline Fucka, aber alle haben Paula gesagt. Sie hat mit der Partei sympathisiert, nur war sie nicht so engagiert wie er. Er war Monusfahrer, er hat Zeitungen ausgeliefert. Monus war ein Motorrad mit drei Rädern, vorne zwei, hinten eins, vorne war eine Kiste, für die Zeitungen. Er ist nur tageweise eingestellt worden. Dazwischen war er immer wieder arbeitslos. Meine Mutter hat als Verkäuferin bei den Hammerbrotwerken gearbeitet. Dann ist auch sie abgebaut worden. Ich kann mich erinnern, einmal haben wir die Arbeitslose abgeholt, das waren zwölf Schilling. Beim Nachhausefahren mit der Tramway haben wir das Geld verloren. Meine Mutter war verzweifelt. Ihre Schwester, sie war alleinstehend, hat uns dann ausgeholfen. Sie hat auch sonst immer geholfen. Er war ja nie da. Wenn er doch einmal da war, brauchte ich mich nicht zu fürchten. Zu mir war er immer nett. Manchmal hat er zwar einen scharfen Ton angeschlagen, aber ich habe von ihm nie eine Ohrfeige gekriegt. Bemüht hat er sich allerdings nicht um mich. Die ganze Last hat meine Mutter getragen, er hat sie finanziell nie unterstützt. Sie hat auch keinen Wert darauf gelegt. Die Mutter Tochter eines führenden Sozialisten, der Vater Anarchist, dann Kommunist. Wir sind also aus gutem Holz geschnitzt. Ich war gerade vierzehn geworden, als ich zu meiner ersten Versammlung ging. Das war 1931 oder 1932. Eher zweiunddreißig, Januar 1932. Damals hatten die Arbeiterführer noch eine andere Art, einem den Klassenkampf zu erklären. Drastisch, und vielleicht auch ein wenig naiv. Sie zogen über die Bourgeoisie her, die es auszurotten gilt. Sie
sagten, den Bourgeois erkennt man am Hut (und ich erschrak, denn mein Vater trug einen Hut), man erkennt ihn am Stock (und ich erschrak wieder, denn mein Vater trug einen Stock), man erkennt ihn an der Krawatte (und ach!, mein Vater trug auch eine Krawatte). Sie sagten, der Bourgeois würde den Arbeitern das Blut aussaugen. Ich war wie gelähmt, richtiggehend gelähmt war ich. Ich habe kein Wort herausgekriegt. Ich wagte keinen anzusehen, ich zitterte vor Angst, daß einer sagt, seht mal, da sitzt die Tochter eines Blutsaugers, schlagt sie tot. In der Schuhschachtel meines Großvaters habe ich einen Bericht der Bundespolizeidirektion Wien gefunden, wo eine ganze Reihe von Vorstrafen angeführt sind: Jugendgericht Wien, 19.5.1924, nach §460 STG. 5 Tage strengen Arrest bedingt; Bezirksgericht 1, 16.7.1926, nach §431 STG. 48 Stunden Arrest; Landesgericht 1, 6.4.1933, nach § 197, 199d STG. 14 Tage strengen Arrest, bedingt bis 6. April 1935 samt Rechtsfolgen; Bezirksgericht X, 2.1.1934, nach §411 STG. 16 Schilling, im Nichteinbringungsfall 24 Stunden Arrest. Es ist auch vermerkt, daß mein Vater am 21. November 1932 wegen Verletzung des öffentlichen Anstandes durch Beschimpfung eines Passanten, der ein nationalsozialistisches Plakat las, über Aufforderung festgenommen und nach Anzeigeverständigung vom Wachzimmer entlassen wurde. Friemel, steht da, trug das Abzeichen der sozialdemokratischen Partei, während der Aufforderer kein Parteiabzeichen trug. Davon wußte ich nichts. Mir persönlich war nur eine Vorstrafe bekannt: Mein Vater hatte sich ein Motorrad gebaut und wollte es bei einer Probefahrt testen. Zu diesem Zweck bastelte er aus einem Stück Pappe ein Nummernschild. Ein Polizist hielt ihn an und erstattete Anzeige. Ich glaube, das war schon nach meiner Geburt, während der Unfall vorher passiert ist, dreißig oder einunddreißig. Da sind meine Eltern mit dem
Motorrad weggefahren. In der Steiermark hat er eine unbeleuchtete Baustelle übersehen. Sie sind schwer gestürzt, meine Mutter hat einen Schädelbasisbruch erlitten und sich alle Schneidezähne ausgeschlagen. Sie hat also schon mit vierundzwanzig Jahren eine Brücke bekommen, die hat sie getragen, bis sie sechzig wurde, dann erst hat ihr der Dentist eine Prothese angepaßt. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hat der Arzt gesagt: Jetzt fahren Sie aber nicht mehr auf einem Motorrad mit, und sie hat geantwortet: Schauen Sie aus dem Fenster, da steht er schon. Also ist sie wieder zu ihm aufs Motorrad gestiegen, und sie sind davongebraust, heim nach Favoriten. Favoriten war ein hartes Pflaster für jeden, der auf Recht und Ordnung achten mußte. Entweder es wurde gerauft und gesoffen, oder es wurde politisiert und geschossen. Das Ergebnis war dasselbe: raus aus der Wachstube, hin zum Ort des Geschehens, Protokoll aufnehmen, Zeugen einvernehmen, Verhaftungen vornehmen. Das ging nie ohne Schimpf und Spott vor sich. Die Zeugen hatten nichts gesehen, die Delinquenten leisteten Widerstand oder entzogen sich der Festnahme durch Flucht. Tätlichkeiten waren an der Tagesordnung. Mistelbacher, schleich dich, oder ich stech dich ab. Mehr als einmal haben sie mir die Kappe vom Kopf geschlagen. Wenn ich mich nach ihr gebückt habe, haben sie den Fuß draufgestellt. Und gegrinst. Sie waren zwanzig und wir zu zweit. Schon die Kinder waren verhetzt. Und die Weiber. Die Alten. Die Arbeitslosen. Die Ziegeleiarbeiter von Oberlaa. Rotes Gesindel, über das die Parteibonzen drinnen im Rathaus ihre schützende Hand gehalten haben. Am Wochenende ist der Schutzbund aufmarschiert, hat am Laaerberg seine Manöver abgehalten, in voller Montur, mit Waffen, und wir haben zuschauen dürfen. Aber dreiunddreißig hat sich das Blatt gewendet. Dollfuß hat das Parlament
ausgeschaltet, die Todesstrafe eingeführt, den Schutzbund verboten. Wir haben gewußt, jetzt gilt es, hart durchzugreifen. Sie sind in die Enge getrieben. Wir müssen sie zermürben. Dann erhielten wir den Befehl, ihre Waffenverstecke ausfindig zu machen. In den Sektionslokalen haben wir Kohlen umgeschaufelt, wieder und wieder. Natürlich haben wir nichts gefunden. Schwarz von oben bis unten, so sind wir nach Stunden abgezogen, ausgelacht und verhöhnt. Na, Mistelbacher, hast den Rauchfang geputzt. Dann, wie es ihnen an den Kragen gegangen ist, haben sie losgeschlagen. Aber die Exekutive war auf der Hut. Da ist ihnen das Lachen vergangen. Friemel war einer der Rädelsführer. Ein besonders aufrührerisches Individuum, aber eines, darauf lege ich Wert, das mit offenem Visier gekämpft hat. Es gab andere, die es sich gerichtet haben. Die das Maul weit aufgerissen und den Schwanz eingezogen haben. Das kann ihm keiner nachsagen. Allerdings hätte er rechtens gehenkt werden müssen. Er hat nämlich im Zuge der Kampfhandlungen am 12. Februar 1934 als Führer einer Alarmabteilung des Schutzbundes meinen Kollegen, den Rayonsinspektor Schuster, angeschossen. In der Kudlichgasse war das, gegen siebzehn Uhr, vor dem Friseurgeschäft Sobotka. Ein Bauchschuß aus nächster Nähe. Ein zweites Sicherheitsorgan, Oberwachmann Reimer, glaube ich, ist mit zwei Steckschüssen im Oberschenkel davongekommen. Aber Schuster ist am nächsten Tag verstorben. Daraus ersieht man, daß die Roten vor nichts zurückgeschreckt sind. Friemel hat sich seiner Verhaftung durch Flucht entzogen. Er ist hinüber in die Tschechoslowakei und hat von dort aus eine rege Korrespondenz unterhalten, die teils abgefangen, teils von den Adressaten an uns übergeben wurde. Angeblich soll auch seine Frau ein Schreiben den Behörden zugänglich gemacht haben. Ob das stimmt, entzieht sich meiner Kenntnis. Mir war allerdings bekannt, daß das
Ehepaar Friemel nicht im besten Einvernehmen lebte. Es gab da auch eine junge Frau im Bezirk, von der es hieß, sie sei Friemels Geliebte. Ob sie es war, weiß ich nicht. Jedenfalls fanden wir bei ihr illegales Propagandamaterial. Friemel ging uns erst Ende August in die Falle. Das war sein Glück. Da hatte sich die politische Lage verändert, die Exempel waren statuiert, die Hauptsorge galt nicht mehr den Sozialisten, sondern den Nazis, die immer stärker wurden. Außerdem verteidigte sich Friemel vor Gericht äußerst geschickt. Selbstbewußt war er ja, das muß man ihm lassen, und das gefiel offenbar auch dem Richter. Die Anklage wegen Mordes wurde fallengelassen, und so kam er wegen des Verbrechens des Aufruhrs und der öffentlichen Gewalttätigkeit mit einer Gefängnisstrafe davon. Der Prozeß erregte relativ großes Aufsehen. Ich erinnere mich, daß wir in der Nacht davor mehrerer Kommunisten habhaft wurden, die in Favoriten Flugzettel gestreut hatten: »Rettet den Schutzbundführer Rudolf Friemel vor lebenslangem Kerker!«, »Nieder mit dem italienischen Faschismus!« Ich glaube, Friemel wurde nach der Urteilsverkündung in das Zuchthaus Stein eingeliefert, von dort nach Wöllersdorf überstellt. Was weiter mit ihm geschah, entzieht sich meiner Kenntnis. Ob er später mit den Nazis oder gegen sie… Jud war er ja keiner. Ich persönlich bin mit den Nazis gut ausgekommen. Ich hab ja selbst mitgemacht.
Als wir noch Kinder waren, meine Schwester und ich, hat sich mein Vater jeden Mittag mit ein paar Arbeitern in unsere Küche zurückgezogen. Dort haben sie abwechselnd ›Das Kapital‹ und die Bibel gelesen. Und an den geraden Tagen hat er Marx und an den ungeraden Gott interpretiert.
Mein Vater war Biologe und Mediziner. Er hatte beides studiert, und dann war er dabei, auch das Studium der Astronomie abzuschließen. Als Arzt hat er nur während des Krieges praktiziert, nachmittags von zwei bis sechs. Sein eigentliches Fach war die Biologie. Er war auf Einzeller spezialisiert. Weiß der Teufel, was er an ihnen gefunden hat. Mehrzeller haben ihn gelangweilt. Aber eine Zelle allein, dafür ließ er alles andere liegen und stehen. Er ist viel gereist, nach England, nach Deutschland, ans Rote Meer. Sogar nach Indien. Alles nur wegen seinen geliebten Einzellern. Er hat auch viele Bücher geschrieben. Das Institut für Meereskunde hat ihm einen Lehrstuhl angeboten, deshalb sind wir nach Barcelona übersiedelt. Als Biologe besaß er Weltruf. Jahre nach seinem Tod hat Hitler ein Foto von ihm angefordert, und mein Großvater hat es nach Berlin geschickt. Ein spanischer Anarchist und Kommunist, und dazu noch mit jüdischen Vorfahren, hängt im Naturhistorischen Museum der Nazis! Ich will mir besser nicht vorstellen, was er dazu gesagt hätte. Meine Mutter ist nie zur Schule gegangen. Sie war sehr fleißig, sie war eine gute Arbeiterin, aber kein großes Licht, ehrlich gesagt. Einfältig war sie, bei allem Respekt. Ich erinnere mich, daß ihr mein Vater eines Tages den Sternenhimmel erklärt hat. Er versuchte ihr beizubringen, daß sich der Mond um die Erde dreht, daß er weit entfernt ist und daß er sehr groß ist. Und sie sagt, wie groß, wie dieser Waschtrog? Eine erwachsene Frau! Sie war sehr schüchtern, sehr verschreckt, weil sie es als Kind schwer hatte. Später nicht. Meine Schwester ist nach ihr geraten. Margarita war scheu, unsicher, sehr feminin. Sie hat jede Entscheidung anderen überlassen. Obwohl, sie konnte ziemlich stur sein. Was sie sich
in den Kopf gesetzt hat, hat sie erreicht. Wenn auch auf Umwegen. Ich glaube, mein Vater hat die Politik noch vor die Familie gestellt. Meine Mutter hat da nicht mitgemacht. So haben sie sich auseinandergelebt. Angeblich ist mein Vater auch ziemlich locker im Umgang mit Frauen gewesen, er soll nebenher immer wieder ein Verhältnis gehabt haben, und dadurch ist die Feindschaft zwischen meiner Mutter und meinem Großvater entstanden. Sie haben nicht mehr miteinander geredet. Sie hat ihm die Schuld gegeben, daß mein Vater fremdgegangen ist, angeblich hat er ihm andere Frauen zugeführt. Ich weiß nicht, inwieweit das stimmt. Mein Großvater hat vis-à-vis von uns in der Ernst-LudwigGasse gewohnt. Wir haben von unserer Wohnung hinübergesehen. Und da haben mein Vater und mein Großvater vereinbart, im Fall einer Hausdurchsuchung oder Festnahme stellt der Großvater irgendwas ins Fenster. Was, weiß ich nicht mehr. Und ich kann mich erinnern, da ist mein Vater einmal aufgestanden, er hat sich gerade die Hose angezogen, schaut hinüber und schreit: Verdammt, sie sind da! Er hat den Gürtel genommen und ihn aufs Bett geschlagen. Das hat sich bei mir eingeprägt. Sonst fallen mir nur Bruchstücke ein. In der Früh, wenn ich aufgestanden bin, hat er als erstes gefragt: Wo ist dein Taschentuch? Es war sozusagen meine Pflicht, die Etikette zu wahren. Ich hatte einen Pyjama mit einer Brusttasche, und in der Brusttasche hat das Taschentuch stecken müssen. Ich hab einen Brief von ihm, da schreibt er an meine Mutter, sie soll mich nicht überfüttern, sie soll mich zweckmäßig ernähren, und er gibt ihr verschiedene Anleitungen, wie ich mich zu verhalten habe, daß ich fleißig turnen, laut grüßen, aufrecht gehen soll.
Noch einmal ist mein Vater nach Hause gekommen, da haben sie gestritten, immer heftiger gestritten, bis er zu meiner Mutter gesagt hat, ich erschieß dich! Und sie hat gespottet, ja, mit einer Knackwurst. Zwei Tage ist er damals bei uns gewesen, dann ist er für immer weg. Ich glaube, das war Anfang achtunddreißig, ein paar Wochen vor dem deutschen Einmarsch.
Mein Bruder Paco und ich waren stark politisiert. Margarita nicht; sie war mehr wie unsere Mutter, zurückhaltend und ein wenig ängstlich. Paco hatte Geologie studiert. Und ich wollte Lehrerin werden. Dann begann der Bürgerkrieg. Paco war schwer asthmakrank. Das hielt ihn nicht davon ab, mit einer Miliz an die Front zu ziehen. Später wurde er von der sowjetischen Nachrichtenagentur angestellt. Er las alle spanischen Zeitungen und wählte die Artikel aus, die in Rußland nachgedruckt werden sollten. Margarita hatte eine Handelsschule besucht. Sie konnte sehr schnell auf der Schreibmaschine schreiben. Sonst war es mit ihrem Können nicht weit her. Mit den Zahlen stand sie auf Kriegsfuß. Sie war ganz verzagt, ich tauge nichts, ich bin dumm, aber nein, Marga, dafür liegen dir andere Gebiete, jeder nach seinen Fähigkeiten. Ich wollte für den Widerstand arbeiten. Deshalb habe ich nach Kriegsausbruch eine Stelle als Lehrerin im Orfelinato Rivas angenommen, in Barcelona. Das Rivas war vor dem Krieg ein Waisenhaus gewesen, dann wurde es in ein Lazarett umgewandelt, das für Milizsoldaten mit Kopfverletzungen bestimmt war. Dort habe ich jeden Tag gearbeitet, bei dem Chirurgen Dr. Ley. Viele Patienten hatten ihr Augenlicht verloren. Sie versuchten, sich nichts anmerken zu lassen, aber ich wußte, wie es um sie stand. Sie waren verzweifelt und
warteten auf die erstbeste Gelegenheit, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie brauchten irgend etwas, das sie mit der Welt verband. Es gelang mir, einen Blindenlehrer aufzutreiben, der sie nach dem Braillesystem unterwies. So lernten sie, sich allein zurechtzufinden. Während sie übten, die Buchstaben in der Blindenschrift zu ertasten, nahm ich mir die anderen vor, die sehen konnten, aber auf eine andere Art blind waren. Es gab ja so viele Analphabeten unter den Milizionären. Schrecklich viele. Später, im Gefängnis, sollte ich wiederum anderen das Lesen und Schreiben beibringen. Diesmal waren meine Schützlinge Frauen, Häftlinge wie ich. Spanien, dieses gottverdammte Land, war von der Geißel der Ignoranz geschlagen. Margarita hat als Sekretärin meines Vaters gearbeitet. Nachmittags war er in seiner Praxis, aber am Morgen hat er seine Forschungen betrieben. Er hat auch ein paar Vorlesungen gehalten. Sein Institut lag unten am Hafen, und er hat Margarita mitgenommen, sie war seine Lieblingstochter. Sie hat gezittert, denn der Hafen wurde täglich bombardiert, mein Lazarett nicht, es lag ja oben am Berg. Weibliche Soldaten hat es in Spanien nur in den ersten Monaten nach Kriegsausbruch gegeben. Ende sechsunddreißig, mit der Aufstellung der regulären Volksarmee, war es damit aus und vorbei. Frauen sind nicht mobilisiert worden, sind nicht einberufen worden, sind nicht an die Front gekommen, selbst die nicht, die darauf bestanden haben. Eine richtige Entscheidung zweifellos. Wenn ich bloß daran denke, was sich im Schützengraben abspielt. Schrecklich. Ich rede nicht nur von den Läusen. Der Schützengraben ist dein Haus und dein Klo und dein Bett und deine Wäscherei. Aber du bist nie mit dir allein. Immer schaut einer zu. Du hockst dich hin, kackst, und dann nimmst du eine Schaufel und wirfst den Dreck hinaus. So ist das Leben im Schützengraben. Wenn es an
deinem Frontabschnitt ruhig ist, suchst du Läuse. Waschen kannst du dich nicht, weil es kein Wasser gibt, es sei denn, du gehst es nachts holen. Wenn du Pech hast, erwischt dich ein Scharfschütze. Aber bitte. Was es da für Lieder gibt vom schönen Soldatenleben, das ist doch lauter Holler! Das schöne Soldatenleben ist ein Scheiß. Mist. Dreck. In der Früh stehst du neben deinem Kameraden auf, und am Abend ist er weg. Tot. Mit aufgerissenen Gedärmen. Oder verstümmelt. Aber bitte, lassen wir das. Darüber brauche ich nicht zu reden. Das hat der Friemel auch erlebt. Margarita und ich, wir haben Rudi gleichzeitig kennengelernt. Er war nach Spanien gekommen, um mit den Internationalen Brigaden gegen Franco zu kämpfen. Im Frühjahr achtunddreißig lag sein Bataillon am Ebro. Eines Tages hat es geheißen, die Mujeres Antifascistas besuchen eine Stellung von Internationalen bei Falset, an der Ostfront. Das ist oft vorgekommen. Es war unsere Aufgabe, die Soldaten zu unterhalten, sie von trüben Gedanken abzubringen, den Kriegsalltag wenigstens für ein paar Stunden vergessen zu lassen. Meine Schwester hat gern bei solchen Ausflügen mitgemacht. Ich nicht, mir war das verhaßt. Ich bin damals zum ersten und einzigen Mal mitgefahren. Wir werden an die hundert Mädchen und junge Frauen gewesen sein, verteilt auf vier oder fünf Lastwagen. Wir mußten die Fahrt immer wieder unterbrechen. Luftalarm, Feindbeschuß. Als wir ankamen, hatten die Männer eine lange Tafel hergerichtet, mit einem Imbiß, den sie sich vom Mund abgespart hatten. Mir hat das sehr weh getan. Denn die kämpfen für uns, haben nichts zu beißen, und da kommen wir aus dem Hinterland angefahren, adrett gekleidet, wie aus dem Ei gepellt, und lassen uns verwöhnen. Ja, wenn wir mit Gewehren gekommen wären! Wenn wir an ihrer Seite gekämpft hätten!
Es waren Freiwillige aus aller Herren Länder. Ungarn, Holländer, Deutsche, Polen, Nordamerikaner. Die Verständigung war kein Problem. Sie haben sehr schnell Spanisch gelernt. Mit vier Wörtern konnten sie sich schon verteidigen. Einer hat ständig ein kleines Wörterbuch aus der Tasche gezogen, ein Österreicher, Rudi. Der war der lustigste von allen. Natürlich freust du dich über ihren Besuch. Du freust dich schon, wenn du eine Frau nur anschauen darfst. Du freust dich auch über die Geschenke, die sie mitgebracht haben, Zigaretten und Schokolade, obwohl dich das Gewissen drückt, weil diese Geschenke Mangelware sind, die sie sich eventuell vom Mund abgespart haben und die in den Städten kaum noch zu kriegen ist, aber die du dir, wenn deine Einheit abgelöst wird und auf ein paar Tage in Ruhestellung geht, mit dem ersparten Sold ohne weiteres leisten kannst. Du freust dich und schaust und hörst zu, und dann ist der offizielle Teil des Besuches zu Ende, und weil du noch ein dummer Bub bist und dich nicht traust, junge Frauen anzureden, die vielleicht nur darauf warten, angeredet zu werden, vielleicht aber auch nicht, weil sie verlobt sind oder gar verheiratet, oder weil sie schlagfertig sind, was dir gefällt, was dich aber auch beunruhigt, oder weil du zwar kein dummer Bub mehr bist, aber dem Mädchen treu bleiben willst, das in Österreich oder auf der Flucht irgendwo sonst möglicherweise gerade jetzt an dich denkt, oder weil du Grundsätze hast, die vorgehen, nämlich wachsam sein im Kampf gegen den Faschismus, wachsam und diszipliniert, deshalb also stehst du nach der Fahnenübergabe und nach dem Absingen der Lieder noch ein wenig herum, rauchst eine von den mitgebrachten Zigaretten, lächelst verlegen, vertrittst dir die Beine und gerätst, ohne daß du es dir vorgenommen hättest, wieder in deinen Schützengraben, wo du nach dem Feldstecher greifst und den Horizont über den kahlen grauen
Hügeln nach Junkers und Caproni absuchst, weil, sagst du dir, Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Und du unterscheidest kaum noch die hohen und tiefen Stimmen, das Lachen und Kichern dann und wann, hörst nicht einmal mehr das Starten und Aufheulen der Motoren. Der Krieg hat dich wieder. Aber bitte, lassen wir das. Das hat der Friemel auch erlebt. Um vier ist plötzlich der Befehl zum Einsatz gekommen. Da mußten wir zurück. Sie halfen uns noch, ritterlich wie sie waren, auf die Lastwagen. Zum Abschied hat mich Rudi umarmt. Dabei hat er mir gesagt, daß er sich in meine Schwester verliebt hat. Ich war ja nie auf den Mund gefallen. Aha, habe ich gesagt, Cupido hat einen Pfeil abgeschossen. Er hat gelacht und in seinem Wörterbuch geblättert. Ah du, spitze Zunge, spitze Zunge! Das hat mir sehr gefallen. Er war mir gleich sympathisch. Weil er Sinn für Humor hatte. Margarita war auch verliebt. Sie hat es mir noch während der Rückfahrt gestanden. Cupido hat also zwei Pfeile abgeschossen. Einen auf Rudi, den andern auf meine Schwester. Er hat ins Schwarze getroffen. Eine andere Erklärung finde ich nicht, für eine Liebe, die binnen vier Stunden entflammt. Obwohl, verwunderlich war es nicht. Du warst sehr charmant, Rudi. Du warst auch attraktiv. Du hast wie ein Filmstar ausgesehen. Immer ein Lächeln auf den Lippen, freundlich, kräftig, nicht allzu groß, aber auch nicht klein. Warum bist du nachher bloß nicht in Frankreich geblieben? Du warst stark, du hattest Arbeit, ihr wärt über die Runden gekommen. Ich habe Friemel erst beim Rückzug der Interbrigaden kennengelernt. Das war in Bisaura de Ter. Dort, in Katalonien, wurde ich Funktionär der Kommunistischen Partei. Ich habe begonnen, die politische Tätigkeit zu entfalten, und bin dabei auf die Sozialisten gestoßen und habe mit ihnen diskutiert,
auch mit dem Friemel Rudi, das war ein netter Kerl, und das war ein wichtiger Kontakt. Mich hat erstaunt, wie gut er die Situation gemeistert hat. Wir waren ja eigentlich in einer beschissenen Lage. Wir waren das Bauernopfer. Die Regierung der spanischen Republik hat uns von der Front zurückgenommen und einer internationalen Kommission vorgeführt. Sie wollte die Gunst der demokratischen Staaten gewinnen: Seht her, auf unserer Seite gibt es keine ausländische Intervention! Franco dagegen stützte sich auf marokkanische Söldner, auf Soldaten Mussolinis, auf die Nazilegion Condor. Die Rechnung ging nicht auf. Dem Ausland war der Kampf des spanischen Volkes längst gleichgültig. Ihm ging es bloß darum, den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Es sperrte sogar die Grenzen. Nur Mexiko war bereit, uns aufzunehmen, seine Regierung schickte sogar ein Schiff nach Bordeaux, bekam dann aber offenbar Angst vor der eigenen Courage. Wir wußten nicht, wie es mit uns weitergehen sollte. Entsprechend mies war unsere Verfassung. Sogar meine eigenen Genossen ließen jede Disziplin vermissen. Einen führenden Funktionär stöberte ich auf einem Dachboden auf, wo er Tag und Nacht Karten spielte. Zwei andere gerieten sich wegen einer Lappalie in die Haare. Ein vierter war darauf bedacht, daß die Flasche Wein vor ihm nie leer wurde. Friemel dagegen ließ sich nicht unterkriegen. Jedenfalls konnte ich nichts dergleichen feststellen. Er war immer gut gelaunt, heiter, beinahe euphorisch. Er war oft weg. Wenn er wiederkam, lag ein Leuchten auf seinem Gesicht. Wir haben damals in der Calle Villamari gewohnt. Jedesmal, wenn er in Barcelona war, hat Rudi angerufen und sich mit Marga verabredet. Dann mußte ich mit ihr runtergehen, bis zur nächsten Straßenecke, wo er schon gewartet hat. Ich war sozusagen der Anstandswauwau. Ein Kuß, ein Händedruck, und dann hab ich sie allein gelassen. Bis neun. Denn Punkt
neun mußten wir zu Hause sein. Meine Eltern hatten keine Ahnung. Doch eines Tages läutet es an der Tür, mein Vater geht aufmachen, und draußen steht Rudi und bittet ihn um die Hand seiner Tochter. Er wollte Marga gleich mitnehmen. Wann wird das gewesen sein? Im Herbst sind die Internationalen von der Front zurückgezogen worden. Kurz davor war es, im September also, September achtunddreißig. Mein Vater hat ihn zum ersten Mal gesehen. Steht plötzlich einem Mann gegenüber, der auf spanisch radebrecht und schon über dreißig ist, fast zehn Jahre älter als meine Schwester. Er hat Rudi ohne viel Federlesens vor die Tür gesetzt. Meine Schwester hat geheult. Sie war ja bis über beide Ohren verliebt. Aber sie war auch das Liebkind meines Vaters, und einem Vater, der in seine Tochter vernarrt ist, ist nicht beizukommen. Die Affenliebe meines Vaters rührt von meiner Geburt her. Marga ist vierzehn Monate älter als ich. Als meine Mutter mit mir schwanger wurde, mußte sie Marga abstillen. Von da an hat ihr mein Vater das Fläschchen gegeben, Nacht für Nacht. So hat er sie in sein Herz geschlossen. Und sein Herzliebstes wollte er nicht hergeben, schon gar nicht einem Unbekannten, der gleich mit der Tür ins Haus fällt. Dabei war mein Vater fortschrittlich gesinnt. Aber er war eben eine andere Generation. Ein Beispiel: Am Vorabend des Bürgerkriegs, am 17. Juli 1936, bin ich statt um neun um fünf nach neun nach Hause gekommen. Da hat mir mein Vater eine Ohrfeige gegeben, daß ich quer durchs Zimmer geflogen bin. Doch nur einen Tag später gibt er mir den Wohnungsschlüssel. Ich sollte nämlich meinen Bruder suchen gehen, an der Front, hinter den Barrikaden. Meine Mutter hatte nichts zu sagen. Aber auch gar nichts. So war es damals. Die Männer haben sich ihre Freiheit genommen, wann immer es ihnen paßte. Aber die Frauen… Ach, die Frauen! Um neun im Haus, um zwölf im Bett.
In Alfambra war das, nördlich von Teruel, knapp an der Front. Am Hauptplatz war Paseo. Da haben Burschen und Mädchen ihre Runden gedreht. Die einen sind linksherum gegangen, die anderen rechtsherum. Wenn sie sich getroffen haben, haben sie sich was zugerufen. Mehr nicht! Keins von den Mädchen ist mit den Burschen gegangen, und keiner von den Burschen ist mit den Mädchen gegangen. Immer nur im Kreis herum. Du hast zugeschaut, am Hauptplatz von Alfambra. In Castelserás war das, zwanzig Kilometer hinter der Front. Die Bevölkerung hat das Vierte Bataillon begeistert empfangen, es war die Sensation. Ausländer! Internationale! Rusos! Die Verpflegung ließ nichts zu wünschen übrig, allerdings war das ganze Dorf kollektiviert, die Anarchisten haben dort den Ton angegeben. Geld hat nichts gegolten, aber die Internationalen durften mit Pesetas bezahlen. Als sie einmarschiert sind, ist eine Frau an dich herangetreten, an dich und noch einen, ob ihr ein Quartier sucht, sie kann euch ein schönes Zimmer anbieten. Ihr seid mitgegangen. Sie haben in einem Haus neben der Kirche gewohnt, die Frau und ihr Mann und zwei Töchter, die vielleicht achtzehn und zwanzig Jahre alt waren. Die Kammer der Mädchen ist für euch geräumt worden, ihr habt euer Gepäck abgestellt, und dann hat die Frau gesagt: Also gut, Sie werden uns einige Tage mit Ihrer Anwesenheit beehren, meine Töchter werden versuchen, Ihnen den Aufenthalt möglichst angenehm zu gestalten. Wenn Sie es wünschen, werden sie auch mit Ihnen ausgehen. Aber mehr nicht! Und für den Fall, daß Sie Bedürfnisse haben, hier sind zehn Pesetas, und unten an der Straße ist ein Bordell. Das hat sie zu euch gesagt, vor der ganzen Familie, vor ihren Töchtern. Die waren überhaupt nicht schockiert, sagst du. Man hat über alles mit den Mädchen reden können, über die intimsten Dinge, wo jede Frau bei uns rot wird und sagt, gehen S’, das
sagt man doch nicht. Reden, nur reden, mehr nicht. So war das damals in Castelserás. In Sitges, vierzig Kilometer hinter der Front, bist du eines Abends aus purer Neugier in ein Bordell gegangen. Du hast einen Kaffee getrunken und ein Stück Kuchen gegessen und mit den Mädchen geredet, die alles mögliche von dir wissen wollten und politisch sehr klug waren, wie du sagst, viel klüger als der Durchschnitt. Wie sie dann gefragt haben, was ist, Compañero, gehen wir aufs Zimmer, hast du abgewunken, nein, danke, ich bin müde, mehr nicht, und sie haben nicht weiter gedrängt, in diesem Bordell in Sitges. Im Ebrobogen war das, unmittelbar an der Front. Dort hat dir ein Soldat auf die Schulter geklopft, schau mal, Sargento, da drüben ist ein Bordell. Und er deutet auf eine kleine gekalkte Scheune aus Lehm. Du läufst hin, stehen in einer Schlange Soldaten an. Du reißt die Tür auf, oder das Gatter, oder es hängt keine Tür mehr an den verrosteten Angeln, und siehst etwas Stroh auf dem Boden liegen und vier Frauen, eine in jeder Ecke, auf jeder ein Mann mit heruntergelassener Hose. An der Tür, sagst du, vor der Schlange standen zwei Männer, Zivilisten, die haben kassiert. Du hast sie abführen lassen, die beiden Zuhälter und die vier Frauen, und die Soldaten in ihre Stellungen geschickt. Einen Augenblick lang hast du noch gerätselt, wie es ihnen gelungen sein mag, unbehelligt über den Ebro zu kommen. Mehr nicht.
Es hat mehrere Freiwillige gegeben, die sich mit Spanierinnen angefreundet haben. Das war eine eigenartige Situation: Wir hatten Kontakt zu Frauen, vor allem zu der FrauenOrganisation von Barcelona, die sozusagen die Patenschaft über uns übernommen hat. Ich kann mich erinnern, wir sind einmal an die Front gekommen, und dann sind wir
zurückgezogen worden, und da haben sie uns besucht. Aber die Mädchen waren überhaupt nicht zugänglich. Zugänglich waren eventuell Frauen. Also für den Geschlechtsverkehr, meine ich. Mit den Mädchen hast du alles machen dürfen, nur nicht schlafen. Das war eine tiefsitzende Einstellung. Nach dem Krieg habe ich mich gewundert, in Paris, wenn ich mit Spanierinnen zusammengekommen bin, da war das ganz anders. Aber damals hast du bei den Mädchen nur dann eine Chance gehabt, wenn du versprochen hast, sie zu heiraten. Und es gab einige Österreicher, die bereit waren, die Mädchen, die sie kennengelernt hatten, auch zu heiraten. An konkrete Fälle kann ich mich nicht erinnern. So bedeutungsvoll war das nicht für mich. Wir sind vorsichtig gewesen, wir haben darauf geachtet, daß wir moralisch nicht negativ auffallen, waren also zurückhaltend gegenüber Frauen, sofern sie nicht von sich aus die Initiative ergriffen haben. Aber wie gesagt, einige haben sich auf eine feste Bindung eingelassen. Und Friemel soll damals sogar geheiratet haben. Noch in Spanien.
Ich weiß, werde ich zu ihm sagen, du hättest Marga am liebsten vom Fleck weg geheiratet. Denn du hast sie geliebt, wirklich geliebt. Ich kann es bezeugen, auch wenn mich dabei mein altes dummes Herz immer noch schmerzt. Du hast sie geliebt, aber du hattest Angst, ihr die Wahrheit zu sagen. Weil sich meine Schwester dann nicht für dich interessiert hätte. Sonnenklar. Rudi war nämlich verheiratet, mit einer Österreicherin. Und die Österreicherin hatte ein Kind von ihm. Einen Jungen. Das ist auch sonnenklar. Aber damit ist Rudi erst viel später herausgerückt. Überhaupt hat er wenig von sich erzählt. So gesprächig er sonst war, so zurückhaltend wurde er, wenn es um seine Familie ging. Es hatte schon seinen guten Grund, daß
man ihm alles aus der Nase ziehen mußte. Denn sein Vater war ein Nazi. Er hat seine eigene Frau denunziert, so muß es wohl gewesen sein, anders kann ich es mir nicht erklären, daß die Frau in ein Konzentrationslager gekommen ist. Dort wurde sie ermordet. Warum, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß Rudi einmal gesagt hat, daß sie getötet wurde. Das ist absoluter Blödsinn. Ich kann mir nicht vorstellen, daß mein Vater solche Lügen verbreitet hat. Doch, das hast du gesagt, Rudi. Ich hab’s mit meinen eigenen Ohren gehört. Oder hat es mir meine Schwester erzählt? Hab ich es geträumt? Das Verhältnis zwischen meinem Vater und meinem Großvater ist immer sehr gut gewesen. Die beiden haben sehr viel miteinander unternommen, politisch und wahrscheinlich auch privat. Die Großmutter war eher zu Hause. Ob die Ehe meiner Großeltern glücklich war, vermag ich nicht zu sagen. Eher nein, nach meinem Empfinden, aber beschwören kann ich es nicht. Bei politischen Veranstaltungen war sie nie mit. Sie ist 1936 gestorben, als mein Vater im Anhaltelager Wöllersdorf eingesperrt war. Aus seinen Briefen geht hervor, daß sie an einer schweren Krankheit gelitten hat. Vielleicht Krebs. Jedenfalls ist sie lange vor dem deutschen Einmarsch eines natürlichen Todes gestorben, und mein Großvater hat sie auch nicht denunziert. Aus seinem Lebenslauf, den ich in der Schuhschachtel gefunden habe, geht einwandfrei hervor, daß er weder mit den Schwarzen noch mit den Braunen je sympathisiert hat. Er stand immer auf seiten der Linken. Wäre es anders gewesen, hätte meine Mutter sicher eine Bemerkung fallenlassen.
Und daß sich die Schwester umgebracht hat. Rudis Schwester. Im Konzentrationslager. Das hat er auch gesagt.
An meine Tante Steffi kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur, daß sie einmal einen Selbstmordversuch unternommen hat. Sie hat Tabletten geschluckt oder den Gashahn aufgedreht, und meine Mutter hat gesagt, die Steffi ist ein durchtriebenes Luder, die weiß genau, wie sie es anstellen muß, damit sie allen leid tut. Aber meine Tante muß es doch ernst gemeint haben, denn im März achtunddreißig hat sie sich aus dem Fenster gestürzt, und es ist niemand zur Stelle gewesen, um sie zurückzuhalten. Es gibt da einen Brief meines Vaters, auch in der Schuhschachtel, in dem er meinen Großvater zu trösten versucht. Offenbar ist er in großer Sorge, denn er beschwört ihn, nicht zu verzweifeln. Und dann erinnert er sich an ein Kindheitserlebnis, an einen Herbsttag 1916, als seine Mutter mit Steffi und ihm auf der Floridsdorfer Brücke stand und in die Donau unter ihnen starrte. »Sie wollte endlich unserer furchtbaren Not entrinnen«, schreibt er. »Lange, lange hat sie mit sich gerungen, weinend hat sie uns beide immer wieder angesehen, mit Blicken, die ich nie vergesse! Und dann hat sie doch weitergekämpft, bis der verfluchte Dreck zu Ende war. Du darfst nicht schwächer sein, als Deine Frau damals war, Vater; Du mußt Dich durchbeißen, so zäh wie bisher! Für uns darf es keine Flucht aus dem Leben geben.« Die beiden hatten ein eigenartig enges Verhältnis zueinander, nicht wie Vater und Sohn, eher wie zwei Brüder oder wie Blutsbrüder, die einander ewig treu sind.
Jedenfalls war Rudi bis über beide Ohren verliebt, und zwar in Margarita, daran ist nicht zu rütteln. Ich bin überzeugt, er hätte sie am liebsten noch in Barcelona geheiratet. Aber er war schon verheiratet. Getrennt, aber verheiratet. Und seine Frau, die Österreicherin, hat nicht in die Scheidung eingewilligt.
Eigentlich hat meine Mutter nie schlecht über ihn geredet. Wenn sie über jemanden schlecht geredet hat, dann über ihren Schwiegervater. Aus ihrer Sicht war er schuld, daß mein Vater sich mit anderen Frauen abgegeben hat. Aber von sich aus hätte sie die Scheidung nie betrieben. Ich erinnere mich, ein gewisser Herr Baburek vom Haus hat einmal gesagt, hören Sie, was soll denn das! Warum lassen Sie sich nicht scheiden? Ich brauch mich nicht scheiden lassen, hat sie geantwortet, ich nehm mir eh keinen anderen Mann.
Sie war böse, die Österreicherin. Rudi hat es mir selbst gesagt. Daß sie ihn sogar bei der Polizei angezeigt hat. Die eigene Frau. Es gibt da einen Brief meines Vaters, den er ihr nach seiner Flucht geschrieben hat, aus Prag, im April vierunddreißig. Darin beschuldigt er sie, der Polizei einige Fotos übermittelt zu haben, wodurch etliche seiner Genossen identifiziert und verhaftet werden konnten. Ferner sei ihm zu Ohren gekommen, schreibt er, daß sie seinen Eltern die Wohnung sowie den Umgang mit mir verboten habe. Und daß sie beabsichtige, mich taufen zu lassen. Er droht ihr unverhohlen. »Es ist nicht ungefährlich«, schreibt er, »sich gegen mich zu stellen. Es hat einige gegeben, denen das nicht gut bekommen ist. Also überlege wohl, was Du tust!« Dann wirft er ihr vor, von der Polizeifürsorge Geld angenommen zu haben. Er zählt einige Verräter auf und wie es ihnen wegen ihres Verrats ergangen ist. Tot, erschlagen. Tot, erschossen. Im Spital. Niedergestochen und schwer verprügelt. Er nennt meine Mutter: Dreckseele. Ich weiß nicht, was ich von diesem Brief halten soll. Ich wollte, ich hätte ihn nie gelesen.
Ein halbes Jahr später sind die Francotruppen in Barcelona einmarschiert. Unter dieser schrecklichen Fahne, mit dieser schrecklichen Marschmusik, unter diesem schrecklichen Gebrüll. Die Leute waren nicht wiederzuerkennen. Sie jubelten wie verrückt. Sie hatten wohl Angst, vielleicht waren sie auch nur froh, daß der Krieg endlich vorüber war. Der Hunger und die Armut und die Fliegerangriffe jeden Morgen, jeden Mittag, jede Nacht. Sie haben geklatscht, bis ihnen die Hände schmerzten. Sie haben noch geklatscht, als Francos Legionäre, die Mauren, schon über Frauen hergefallen sind. Und als andere Frauen sich schon hergegeben haben, für ein Abendessen, für ein Paar Strümpfe oder für den Segen der Kirche. Prostitution also und Vergewaltigungen und Mißhandlungen und Verhaftungen und Exekutionen am laufenden Band. Und noch immer das Klatschen von Händen, der Jubel überzeugter Republikaner, Katalanisten, Sozialisten, die vor lauter Angst und Begeisterung zur Feldmesse gerannt sind. Mein Vater war tot, schon seit ein paar Wochen. Er starb fast von einem Tag auf den andern. Eines Nachts, bei Verdunkelung, hat ihn ein Radfahrer niedergestoßen. Er bekam Blutvergiftung, daraus wurde Wundbrand, er ist elend zugrunde gegangen. In seiner letzten Stunde hat er nach mir verlangt, ich mußte ihm seine Pfeife ins Krankenhaus bringen, kurz vor neun Uhr abends, so wie er es gewünscht hatte, ich hab sie ihm noch gestopft, angezündet und zwischen die Zähne gesteckt, er hat einen Zug gemacht, gelächelt, gehustet, dann ist er gestorben. Mein Vater war kräftig, er wog fast achtzig Kilo. Am Ende hatte er kaum fünfzig. Paco floh um vier Uhr nachmittags, als die Francotruppen schon in der Stadt waren. Marga und ich hatten eigentlich auch fliehen wollen. Es war bekannt, daß wir bei der Roten Hilfe waren. Ich war im Lazarett zum Leutnant befördert worden.
Wir mußten also weg. Aber meine Mutter besaß viel Silber, Schmuck, Bleikristall, das wollte sie alles mitnehmen. Ich werde es doch nicht zurücklassen, sagte sie. Einen Mantel und eine Decke, mehr brauchst du nicht, sagten wir. Aber sie konnte sich von nichts trennen. Da kam natürlich viel Gepäck zusammen, und dafür war kein Platz auf dem Lastwagen. Fahrt nur, sagte sie, ich bleibe hier. Kommt nicht in Frage. Also sind wir geblieben. Nachdem die Faschisten die Stadt eingenommen hatten, bereute sie es, nicht geflohen zu sein. Ich bin euch nur im Weg, sagte sie, ich mach euch das Leben schwer. Wieso machst du uns das Leben schwer, was würden wir ohne dich anfangen. Aber es war ihr nicht auszureden, daß sie für uns eine Last sei. Außerdem hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, mit meinem Vater zusammenzukommen. Im Himmel gibt es ein Wiedersehen, sagte sie. Das ist Gottes Wille. Wenn das wirklich sein Wille ist, erwiderte ich, wieso hat er euch dann nicht gemeinsam getötet. Darauf sie: Weil Gott im Jenseits wohnt. Und ich: So, im Jenseits? Und wo im Jenseits, wenn ich fragen darf. Wo wohnt er denn, dein Gott, in einer Villa oder in einer Hütte? Ach Marina, sag nicht so was. Das ist Gotteslästerung. Aber ich konnte nicht anders, ich konnte sie nicht ernst nehmen. Meine Mutter war nie Kommunistin. Sie war Sozialistin, und zwar eine ziemlich beschränkte. Das Konzept der freien Liebe zum Beispiel hat sie nie begriffen. Alles was
recht ist, sagte sie. Aber die Kinder gehören zur Mutter. Davon war sie nicht abzubringen. Und jetzt war sie davon besessen, sich umzubringen. Damit ich gleich in den Himmel komme, sagte sie, wo Francisco auf mich wartet. Für sie war mein Vater gleichzeitig ihre Mutter, ihr Vater, ihr Onkel, ihre Schwester, ihr Großvater, ihr ein und ihr alles. Ohne ihn war sie nichts. Ich behielt sie im Auge. Nachts fesselte ich sie ans Bett, nachdem sie zweimal aufgestanden war, um sich aus dem Fenster zu stürzen. Außerdem gelang es ihr, meine Schwester rumzukriegen: Eines Nachts hör ich Geräusche, spring aus dem Bett, mach das Licht an, da sehe ich die beiden schon auf dem Balkon stehen. Ich pack sie, zerre sie zurück ins Zimmer, werfe beide aufs Bett. Tatsächlich, auch meine Schwester wollte sich umbringen, weil ihr meine Mutter eingeredet hatte: Du bist wie ich, Margarita, hilflos und allein, was willst du noch auf dieser Welt. Meine Schwester hat später einige Male versucht, sich zu töten. Trotz ihrer Liebe zu Rudi wollte sie nicht weiterleben. Daran bin ich nicht unschuldig, weil mir die Worte herausgerutscht sind, in meiner Verzweiflung, ich habe es nicht so gemeint. Es geschah am 1. Mai 1939, und das hat mir jeden ersten Mai verdorben, auch wenn ich Jahr für Jahr auf die Straße gehe, demonstrieren, seit mich mein Vater als kleines Kind zur Kundgebung mitgenommen hat. Am ersten Mai lag meine Mutter schon im Bett. Sie war noch wach. Ich habe sie nämlich jeden Abend zuerst zu mir genommen, in mein Bett, bis sie sich beruhigt hat, dann erst habe ich sie in ihr Zimmer geführt und ans Bett gefesselt. Aber jetzt lag sie noch in meinem Bett. Und ich mußte dringend aufs Klo. Deshalb bat ich meine Schwester, auf sie achtzugeben, paß gut auf, sagte ich, sie darf sich nicht von der Stelle rühren. Aber kaum war ich aus dem Zimmer, schon hat meine Mutter
angefangen, ihr zu schmeicheln: Margarita, du bist besser als Brot, nicht so böse wie Marina, sei lieb, mein hübsches kleines Mädchen, komm, gib mir einen Kuß, ich will schlafen. Laß mich allein. Und meine dumme Schwester geht ihr doch tatsächlich auf den Leim. Dabei war es erst ein paar Stunden her, daß meine Mutter versucht hatte, sich vom Balkon zu stürzen. Margarita deckt sie also zu, geht raus, und sofort verriegelt meine Mutter die Tür. Margarita merkt es, rüttelt an der Klinke, ich höre ein dumpfes Geräusch, ein Aufprallen unten auf der Straße, laufe aus dem Klo und schreie: Du hast sie auf dem Gewissen, Margarita. Diesen Satz hat sie nie vergessen. Und deshalb hat sie in den Nächten danach versucht, sich das Leben zu nehmen. Immer wieder ist sie zum Fenster geschlichen, ich habe kein Auge zugemacht. Eine ganze Woche lang, Nacht für Nacht. Dann hat eine Kusine sie bei sich aufgenommen und mit ihr in einem Bett geschlafen, Margarita an der Seite zur Wand. Sie ist schon als Kind sehr labil gewesen. Mein Vater hat uns ja nie in den Religionsunterricht geschickt, aber einmal ist sie in ein Ferienlager gefahren, und dort haben sie die Erzieher mit dem Märchen vom Satan, vom Höllenfeuer und von der Ewigen Verdammnis ganz verrückt gemacht, sie ist lange nicht davon losgekommen, und etwas ist wohl hängengeblieben. Im August hat mich einer verpfiffen, der mich von früher her kannte. Da war mir klar, wir müssen weg. Und wir haben uns nach Frankreich aufgemacht, zu Fuß, über die Pyrenäen. Zuvor habe ich alles verkauft, das Tafelsilber meiner Mutter und die Bibliothek meines Vaters, und mit dem Erlös habe ich einen Führer bezahlt und einen Polizisten bestochen. Gleich hinter der Grenze sind wir in ein Gasthaus gegangen, statt uns zwei Fahrscheine für den Autobus zu kaufen. Aber wir hatten drei Tage lang nichts gegessen. Das speckige Gesicht werde ich nie
vergessen. Den Seehundbart des Wirtes. Er hat uns mit ausgesuchter Höflichkeit bedient. Als wir den letzten Bissen runtergeschluckt haben, stehen zwei Gendarmen neben uns. Zurück nach Spanien oder ins Lager! Also ins Lager. Zuerst nach Saint-Cyprien. Dann nach Argelès. Es war beschissen dort. Margarita war nahe daran aufzugeben. Sie ist mit jedem Tag schwächer geworden. Bis mich ein paar Frauen gebeten haben, ihnen Lesen und Schreiben beizubringen. Bezahlt haben sie mich mit einem halben Kilo Weißbrot, ein Stück habe ich einem kleinen Jungen zugesteckt, das andere meiner Schwester. So sind wir über die Runden gekommen. Eigentlich war ich mein Leben lang in der Rolle der älteren Schwester, dabei war ich ein Jahr jünger als Marga. Aber ich war immer die Stärkere. Am neunten Februar haben wir bei Port-Bou die Grenze überschritten. Die Garde mobile hat uns schon erwartet. Wir waren Teil einer geschlagenen Armee und Vertreter einer verlorenen Sache. Das eine haben wir gewußt, als wir die Waffen niederlegten. Das andere ist uns erst allmählich gedämmert. In Saint-Cyprien, wo wir mit dem nackten Überleben beschäftigt waren, hatten wir kaum Zeit zum Nachdenken. Das Lager war ein langer, schmaler, mit Stacheldraht umzäunter Streifen am Meer. Als wir ankamen, gab es keine Baracken, keine Unterstände, keine Toiletten. Wir mußten uns jeden Bissen Brot und jeden Schluck Wasser erkämpfen. Die Franzosen weideten sich an unserer Not. Sie dachten, ihre Offiziere, die uns für die Fremdenlegion ködern wollten, hätten leichtes Spiel. Aber bis auf ganz wenige Ausnahmen widerstanden wir ihrer Werbung. Heute heißt es, die Parteileitung hätte uns verboten, das Angebot anzunehmen. Sie hätte den großen Krieg, der sich ankündigte, als Auseinandersetzung zwischen den imperialistischen Mächten gedeutet, die uns nichts anging. Mag sein, daß dies zum
damaligen Zeitpunkt den Interessen Stalins entsprach. Aber das war nicht der Grund unserer Weigerung; wir hatten nie als Söldner gekämpft, nicht in unseren Heimatländern, nicht in Spanien, und wir wollten auch jetzt nicht fremden Herren dienen. Ganz zufällig besaßen wir neben blindem Kadergehorsam noch etwas, das Historikern meistens entgeht und das uns heute niemand zugestehen will. Um dieses Etwas zu retten, wollten wir zusammenbleiben. Oder andere Möglichkeiten finden, ein Leben außerhalb des Drahtverhaus zu fristen: Emigration nach England, Skandinavien, Mexiko. Ich erinnere mich, daß Friemel seinen Namen auf die Liste sozialistischer Spanienkämpfer setzen ließ, die um Exil in Schweden baten. Mir ist nicht bekannt, daß er in diesem Zusammenhang seine Spanierin erwähnt hätte. Ich wußte auch gar nichts von ihrer Verbindung. Aber das will nichts bedeuten. Entgegen einem landläufigen Glauben lernst du den andern in Zeiten höchster Bedrängnis kaum kennen. Was hätte es gebracht, wenn er ihren Namen auf die Liste geschrieben hätte? Stand er mit ihr überhaupt in Verbindung? Wußte er, daß sie dabei war, auch nach Frankreich zu fliehen? Es gab Ehepaare unter den spanischen Republikanern, die zeitgleich in Saint-Cyprien eingesperrt waren, nur durch einen mannshohen Zaun getrennt, und es erst Jahre später erfuhren. Neunzigtausend Menschen waren wir, zusammengepfercht auf einem Quadratkilometer. Eine mittelgroße Stadt, aber ohne Straßen und Häuser, mit eisigem Wind, der von den Pyrenäen herunterpfiff, feinem Sand, der zwischen den Zähnen knirschte. In Saint-Cyprien waren wir von Februar bis April neununddreißig. Dann wurden alle Spanienkämpfer nach Gurs überstellt. Friemel war sowohl in Saint-Cyprien als auch in Gurs Repräsentant der Revolutionären Sozialisten. Er war sehr beliebt, alle haben ihn geschätzt, mit ihm konnte man vieles
besprechen. Gut, er hatte seine eigene Linie, seine eigenen Vorstellungen, das war normal, aber er hat sich nicht an der Kampagne gegen uns beteiligt. Denn es gab doch einige Spanienkämpfer, wenn auch kaum unter den Österreichern, die schlichtweg demoralisiert waren und alle Schuld bei den Kommunisten suchten. Die Lagerverwaltung hat den Haß und das Mißtrauen geschürt. Nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt wurde es besonders schlimm. Die Kommunisten galten dann bei den Franzosen als Mörder und Gauner und Diebe und Pülcher, so ungefähr. Natürlich hat es auch unter uns Meinungsverschiedenheiten gegeben, der Pakt, war er notwendig, war er nicht notwendig, Verrat hin und Stalin her – darüber ist schon diskutiert worden, aber nicht sehr intensiv, was auch verständlich ist. Denn die Garde mobile hat uns verprügelt, nicht Hitler oder Stalin. In Gurs gründeten wir eine Volkshochschule, nach dem Vorbild des Roten Wien. Wir boten Sprachkurse an, Kurse in Literatur, Stenographie, Geographie, Geschichte, Mathematik, wer bestand, erhielt ein Zeugnis. Ich weiß nicht, ob Friemel mitgemacht hat, wahrscheinlich schon, es haben ja fast alle mitgemacht. Es ging uns nicht nur um Weiterbildung; wichtiger waren der Zusammenhalt und das Bedürfnis, uns von den Vorgängen draußen in der Welt und von der Ungewißheit, was die eigene Zukunft betraf, abzulenken. Österreich gab’s nicht mehr, und den Franzosen machte es offensichtlich Spaß, uns daran zu erinnern. Nationalité, fragten die Offiziere, und wenn wir antworteten: Autrichien, sagten sie: Ah, un autre chien! Nachdem es mit der Fremdenlegion nicht geklappt hatte, wollten sie uns in ihre Arbeitskompanien zwingen. Zuerst haben wir uns geweigert. Aber im Lauf der Zeit haben wir nachgeben müssen. Dann haben sich viele zum Dienst gemeldet, fast jeder zweite Österreicher. Von der Schweizer
Grenze bis hinauf zum Ärmelkanal, überall haben wir für die Franzosen geschuftet. Mir ist nicht bekannt, wie es Friemel gelungen ist, aus Gurs herauszukommen. Vielleicht hat er sich als Préstataire gemeldet. Vielleicht hat er eine Bewilligung erhalten, weil er nachweisen konnte, daß seine Frau auf ihn wartet, so was ist vorgekommen. Vielleicht ist er auch in ein anderes Lager überstellt worden, wo Frauenbesuch gestattet war. Oder er ist einfach stiftengegangen, nachts heimlich über den Zaun oder unter dem Zaun hindurch. Eines Tages war er jedenfalls weg. Dann wurde unser Lager aufgelöst. Wer arbeiten kann, muß arbeiten! Ich wurde genommen, weil ich stark war, aber meine Schwester nicht, sie war zu zart und gebrechlich. Wenn sie nicht arbeiten darf, geh ich auch nicht! Also gut, sagten sie. Die Franzosen steckten uns in Viehwaggons, das werde ich nie vergessen, in jeden Wagen vierzig Frauen. In Savoyen, nicht weit von der Schweizer Grenze, wurden wir ausgeladen. Dort sollten wir als Mägde arbeiten. Ich wurde einer Gräfin zugeteilt, die wohnte in einem richtigen Schloß, und neben dem Schloß stand das Wirtschaftsgebäude, mit Stall und Scheune. Marga kam bei einer Bäuerin unter, in Sillingy, einem Dorf dreißig Kilometer entfernt. Dort konnte sie sich wenigstens satt essen. Ich weiß nicht, wie es Rudi gelungen ist, sie ausfindig zu machen. Jedenfalls hat er sie eines Tages besucht. Er war damals nicht mehr eingesperrt, er konnte sich frei bewegen. Irgendwie sind sie einander in die Arme gelaufen. Dann ist Margarita schwanger geworden. Als mein Arbeitsvertrag abgelaufen war, habe ich sie geholt. Ihre Dienstherrin wollte mich gleich behalten. Ich bin immer aufsässig gewesen, widerspenstig, ich habe mich nie unterkriegen lassen. Marga dagegen war das typische Frauchen. Sie hat sich gern hübsch angezogen, geschminkt, die
Lippen angemalt. Aber sie war zimperlich. Ihr stand nicht der Sinn nach Stallausmisten, Melken oder Kartoffelklauben. Und die Bäuerin hatte von ihr die Nase gestrichen voll. Schade, sagte sie, als sie mich sah. Hätte ich bloß eine wie Sie gehabt! Ich habe auch wirklich fest zugepackt, dort auf dem Land. Als ich das erste Mal die Kühe auf die Weide treiben sollte, sind mir alle vierzehn durchgebrannt, in gestrecktem Galopp die Straße hinunter, hinein in die Kirche. Das ganze Dorf mußte mithelfen, sie wieder rauszukriegen. Damit will ich sagen, daß meine Arbeit kein Honiglecken war. Von Annecy sind wir mit dem Zug bis Montauban gefahren. Zwei Tage lang quer durch Frankreich, ohne Papiere! Überall war schon Gestapo. Die Deutschen. Meine Schwester hat vor Angst geschlottert. Vor jeder Kontrolle habe ich sie auf die Toilette geschickt. Schieb den Riegel vor, habe ich zu ihr gesagt, und mach erst auf, wenn ich es dir sage. Wenn dann die Deutschen gekommen sind, hab ich mein strahlendstes Lächeln aufgesetzt. Excusez-moi, monsieur. Die Papiere hat leider meine Schwester eingesteckt. Sie ist gerade auf einem stillen Örtchen. Wenn Sie so lange warten wollen… Es hat jedesmal geklappt. Nur einmal hat so ein Quadratschädel an der Klotür gerüttelt. Aufmachen, Kontrolle! Ich bin raus aus meinem Abteil, wie eine Furie habe ich mich auf ihn gestürzt: Nehmen Sie Ihre Pfoten von der Klinke! Meiner Schwester ist übel geworden. Sie erwartet ein Kind. Der Deutsche hat mich angeglotzt, dann hat er sich in den nächsten Wagen verzogen. Sein Glück! Ich hätte ihm sonst die Augen ausgekratzt. In Montauban sind wir am zweiten Oktober angekommen, an meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag. Wir haben uns ein möbliertes Zimmer genommen. Marga hat an Rudi geschrieben. Er war damals schon Bergmann, Hauer in den Kohlegruben von Carmaux. Am dritten Tag ist er sie holen gekommen. Dann habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Bis
meine Schwester entbunden hat, am 26. April I941. Da habe ich sie besucht. Ich habe meinen kleinen Neffen ans Herz gedrückt. Nach einer Weile ist Rudi gekommen. Wir haben uns umarmt. Dann mußte ich auch schon zurückfahren. Margarita hat in Albi entbunden, in einer Geburtsklinik, wie ich. Wir hatten beide kein Glück. Denn sie wurde getreten, damit der Junge endlich rauskam, und mich mußten sie beinahe aufschneiden, mit der Zange haben sie mir meinen Jungen rausgeholt. Es gibt auch leichte Geburten, aber wir haben ewig lang gelitten. Bei mir haben die Wehen drei Tage gedauert, bei ihr zwei. Da sagt man sich, wenn die Geburt schon so schlimm ist, soll man dem Kind wenigstens ein gutes Leben bieten. Alles tun, um es nicht zu verlieren. Aber Rudi hat das nicht begriffen. Er hat seinen Jungen verloren. Nur in den ersten Wochen ist er bei ihm gewesen und dann die eine Nacht, die sie gemeinsam verbringen durften. Sonst hat er ihn nie gesehen. Die Frage nach der Repatriierung ist mit dem Waffenstillstand zwischen Frankreich und Deutschland aktuell geworden. Nachdem die Wehrmacht die französischen Stellungen überrannt hatte, war das Land zweigeteilt. Die Lager befanden sich im Süden, in der freien Zone, die gar nicht so frei war. Eines Tages mußten wir antreten, und da standen deutsche Offiziere, die uns zur Rückkehr in die Heimat aufforderten. Ihr habt nichts zu befürchten, sagten sie, ihr seid ja Ostmärker, ihr habt nicht gegen deutsche Gesetze verstoßen, das Reich braucht jeden Volksgenossen! Allerdings werdet ihr zu Hause umgeschult. Was das bedeutet, haben sie uns nicht gesagt. Also was ist, wer meldet sich? In Le Vernet, wo ich damals war, hat sich ein einziger gemeldet. Alle anderen haben gesagt, nein, wir bleiben. Dann hat die Partei umgeschwenkt. Vielleicht hat sie sich wegen des deutsch-sowjetischen Pakts Hoffnungen gemacht,
daß Kommunisten bei den Nazis ungeschoren bleiben. Jedenfalls ist von draußen die Weisung gekommen, man muß die Kader retten, in Frankreich gehen alle zugrunde, es gibt keine Perspektive. Wir müssen in Betracht ziehen, uns über kurz oder lang zu melden. Heimzufahren. So unsinnig war das nicht. Tschechische und jugoslawische Spanienkämpfer hatten sich schon früher für den Arbeitsdienst in Deutschland gemeldet. Sie waren zu Hunderten abgefahren. Und sie hatten tatsächlich Arbeit gefunden. Das wußten wir, weil wir von ihnen Briefe erhielten. Sie schrieben uns, daß sie in dieser oder jener Fabrik arbeiten und daß es ihnen in Deutschland bessergeht als in diesen Scheißlagern in Frankreich.
Vierzehn Tage später habe ich sie wieder besucht. Um meiner Schwester zur Hand zu gehen mit dem Kleinen. Da hat mir Rudi erzählt, daß er beabsichtige, nach Österreich zurückzukehren, und zwar samt Marga und dem kleinen Edi. Das muß man sich vorstellen! Mein Schwager ist aus Österreich geflüchtet. Er hat sich mit den Nazis angelegt. In Spanien hat er gegen die Faschisten gekämpft. Und dieser Mensch will sich freiwillig den Deutschen ausliefern. Ich hab geglaubt, mich trifft der Schlag. Hast du den Verstand verloren! Willst du unbedingt krepieren! Wenn schon, dann fahr heimlich zurück, als Fremdarbeiter getarnt, mit falschen Papieren. Aber doch nicht offiziell! Wir haben gestritten, daß die Fetzen flogen. Ich sagte, wie kommst du nur auf den Gedanken, deine Frau mitzunehmen, dein neugeborenes Kind. Willst du, daß sie euch alle umbringen? Und er, fuchsteufelswild: Margarita, du kannst wählen. Entweder deine Schwester oder ich. Gut, sagte ich, ich nehme meine Schwester gleich mit. Aber sie hat sich natürlich
für ihn entschieden. Sie war bis über beide Ohren in ihn verliebt. Er war der Vater ihres Kindes. Am liebsten hätte ich ihn erwürgt. Erwürgt oder geküßt. Bitte bleib, hätte ich gesagt. Länger zu bleiben war sinnlos. Wir gewöhnten uns deshalb an den Gedanken, heimzufahren. Allerdings gab die Partei folgende Losung aus: Keiner darf fahren, der unter die Nürnberger Rassegesetze fällt. Aber einer von uns, der als Halbjude von diesen Gesetzen betroffen war, hat sich trotzdem gemeldet. Ein bekannter Funktionär, seinen Namen sage ich nicht, denn er ist tot, und Toten soll man nichts Schlechtes nachsagen. Wir haben ihn jedenfalls ausgeschlossen, weil er sich über den Parteibeschluß hinweggesetzt hat. Also, keiner darf fahren, der unter die Nürnberger Gesetze fällt, und keiner, an dem sich die Nazis rächen wollen. Wir hatten zum Beispiel einen Spanienkämpfer, der in eine Schießerei mit ihnen verwickelt gewesen war, im Hausruckviertel, es hatte dabei sogar ein paar Tote gegeben. Der hat sich auch nicht gemeldet. So war es. Und alle anderen sollten für sich entscheiden, ob sie in Frankreich bleiben oder ob sie sich für den Rücktransport melden. Aber einen eindeutigen Befehl hat es nicht gegeben. Es war jedem einzelnen überlassen, ob er nach Hause fahren will oder nicht. Wobei ich betonen möchte, die überwältigende Mehrheit hat entschieden, ja, ich fahr. Nicht alle. Ja, ich fahr. Dann haben wir an die Deutsche Waffenstillstandskommission nach Toulouse geschrieben und um Rückführung nach Deutschland ersucht. Jeder für sich. Oder auch nicht. Manche haben nicht geschrieben. Ich verstehe bis heute nicht, warum er zurück nach Deutschland gegangen ist. Das will mir nicht in den Kopf. Er war nicht der einzige, viele haben sich gemeldet, darunter ein gewisser Hans. Hans war sehr attraktiv, ein Hüne, eins neunzig oder so. Der wollte mich aufs Standesamt schleppen und vom Standesamt gleich weiter nach Deutschland. Ich sagte: Ohne
mich. Nicht einmal gefesselt komme ich mit. Obwohl ich ja auch zurückgegangen bin, nach Spanien, in die Diktatur, freiwillig. Auch ich bin samt meinem Jungen hierhergekommen. Ich habe mir gesagt, wenn sie mich erschießen – sollen sie mich halt erschießen. Aber meinen Jungen kriegen sie nicht, Julian wird sich schon durchboxen. Sollen sie mich ruhig erschießen, die Faschisten. Daß sie mich nicht erschossen haben, liegt nur daran, daß ich erst 1945 verurteilt wurde. Da war Deutschland schon besiegt, und Franco hatte Schiß vor den Alliierten. Und trotzdem wollte mich das Gericht zur Höchststrafe verdonnern. Ich will damit sagen, ich bin auch freiwillig gegangen, aber nach Deutschland hätten mich keine zehn Pferde gebracht. Also gut, wenn einem die Faschisten nichts nachweisen können, meinetwegen. Aber so wie Rudi, mit seiner roten Vergangenheit, verfolgt, zur Fahndung ausgeschrieben, aus Wien geflüchtet… Nein, nein und nochmals nein. Ich weiß nicht, ob es sein Sohn weiß, ich jedenfalls hab ihm nie ein Sterbenswörtchen verraten. Ich war überzeugt, der Mann ist übergeschnappt.
Natürlich ist darüber viel debattiert worden. Es kamen ja auch gewichtige Gegenargumente. Erstens, du fährst ins Ungewisse. Zweitens, einem Nazi darfst du nie trauen, der verspricht alles mögliche und hält nie Wort. Drittens, du kommst ins KZ oder wirst sonstwo eingesperrt. Solche Überlegungen haben bei jedem von uns eine Rolle gespielt: Muß ich das riskieren? Ja oder nein. Aber da war auch die Hoffnung: Vielleicht kriegen wir Arbeit, so wie die Jugoslawen. Und überhaupt, wie soll es in Frankreich mit uns weitergehen? Sollen wir zugrunde gehen, verhungern? Oder untertauchen? Das war auch keine Lösung, oder nur für einige wenige. Denn die Deutschen hätten uns überall aufgespürt, und wenn nicht sie, dann
Franzosen, die mit ihnen kollaboriert haben. Wer sich nicht gemeldet hat, den hat die Gestapo mit anderen Mitteln in ihre Gewalt gebracht. Ich will nicht behaupten, daß ich seine Entscheidung nicht verstanden hätte. Viele sind heimlich zurückgekehrt, nach Spanien oder nach Deutschland oder nach Österreich, das es damals nicht gegeben hat. Ich habe sehr gut verstanden, warum sie das getan haben. Ich hätte es auch verstanden, wenn er heimlich nach Deutschland gefahren wäre, bewaffnet, um im Widerstand zu kämpfen. Wir haben so gedacht, damals. Wir haben unser Leben riskiert, unser Glück, unsere Gesundheit, alles für die Freiheit. Ich habe es riskiert. Ich habe es nicht bereut. Aber ich war nicht so naiv wie Rudi. Meldet der sich doch offiziell zurück, samt Frau und Kind.
Friemel hat das Ansuchen gestellt. Ich bin sicher, daß er seine eigene Rolle im Kampf gegen den Nationalsozialismus möglichst heruntergespielt hat, wie jeder von uns. Wir haben zum Beispiel unsere Gegnerschaft zum Dollfußregime betont, das auch bei den Nazis verhaßt war, und daß wir deshalb nach Spanien gegangen sind, weil wir in Österreich keine Arbeit gefunden haben. Friemel wird auch geschrieben haben, daß er sich so lange vor dem Rücktransport gedrückt hat, weil er seine Frau nicht allein zurücklassen wollte. Und daß er hofft, in Deutschland in seinem erlernten Beruf Arbeit zu finden. Aber er wird nicht gelogen haben. Ein Treuebekenntnis zum Deutschen Reich wird er sich nicht abgerungen haben. Er wird sein Ansuchen am 1. Juni 1941 gestellt haben. Eine Woche später wird ihm ein Schreiben des Rückführungsbeauftragten der Deutschen Waffenstillstandskommission in Toulouse zugegangen sein: »An Herrn Rudolf Friemel in Place de l’Église 9, Arthes
(Tarn). Ich habe heute bei den französischen Behörden Ihre Überstellung an die deutschen Behörden an der Demarkationslinie veranlaßt. Die Überstellung wird durch französische Gendarmeriebeamte in Civil erfolgen. Gleichzeitig geht Ihnen 1 Rückführungsausweis zu, der für Sie als Bescheinigung sämtlichen Behörden gegenüber dient, daß Sie Reichs- oder Volksdeutscher sind und von mir als Rückführungsbeauftragter der Deutschen Waffenstillstandskommission zurückgeführt werden. Dieser Ausweis berechtigt Sie jedoch nicht zum eigenmächtigen Verlassen Ihres derzeitigen Aufenthaltsortes und zum selbständigen Überschreiten der Demarkationslinie. Ich ersuche Sie, den anhängenden Abschnitt bei der Überstellung abzutrennen, mit Ihrer Unterschrift und dem Überstellungsdatum zu versehen und ihn unter Benutzung des beiliegenden Freiumschlags sofort an mich zurückzusenden. Dies ist unbedingt zu beachten. Lutz. DRK-Feldführer.« Friemel wird den Anweisungen Folge geleistet haben.
Rudi hat seinen Entschluß verteidigt. Ich muß kämpfen, hat er gesagt. Ich habe gesagt, wie willst du kämpfen, wenn sie nur auf dich warten. Du läufst ihnen geradewegs in die Arme. Und wenn schon, ich muß helfen, mein Land zu befreien. Da bin ich wütend geworden. Wenn du schon in dein Unglück rennen willst, dann allein. Tu, was du nicht lassen kannst. Es ist dein Leben. Aber laß den Jungen und meine Schwester hier. Und er: Das ist meine Familie. Sie gehören zu mir. Ich habe sonst niemanden. Ich werde für sie sorgen. Sie bleiben da! Sie kommen mit! Und dann sagt er: Margarita, du mußt dich entscheiden. Entweder deine Schwester oder ich.
So war es. Er hat mich rausgeworfen. Klar, ich habe seine Argumente entkräftet. Margarita hat geschwankt. Das hat er bemerkt, und deshalb ist er wütend geworden. Später einmal hat meine Schwester gesagt, du hattest recht, Marina, ich hätte dir folgen sollen. Er war besessen vom Wunsch, Österreich vom Faschismus zu befreien. Gut, das sehe ich ein. Aber warum ist er dann nicht allein zurückgegangen, auf Probe? Wenn ihm nichts zugestoßen wäre, hätte er Margarita nachkommen lassen können. Dann wäre vieles nicht geschehen. Es war deine Schuld, Rudi, bei allem, was du mir bedeutest. Du warst verrückt. Wenn man ein Kind hat, muß man sich jeden Schritt genau überlegen. Zuerst das Kind, denke ich. Das habe ich ihnen auch gesagt: Habt ihr den Verstand verloren, der Junge ist doch erst drei Monate alt. Um ein Haar wäre ich ihm an die Gurgel gesprungen, nur um Marga und das Kind zu retten. Dabei hatte ich Rudi gern, lieber noch als gern. Aber ich hatte eine Mordswut, wegen des Jungen, vor allem wegen des Jungen. Denn meine Schwester war jung, gesund, kräftig, aber der kleine Edi? Das arme Wurm. Gerade erst auf der Welt. Du bist natürlich auch gefragt worden: Was sagt der Rudi dazu? Er muß es ja wissen. Was will denn die Partei? Hat sie wirklich entschieden, daß wir fahren sollen? Und du hast deine persönliche Meinung geäußert: Es ist gescheiter, wir fahren nach Deutschland, als wir gehen in Frankreich vor die Hunde. Es ist zwar gefährlich und ungewiß, aber immerhin, wir kommen raus aus dem Dreck, so schlimm wird es schon nicht sein, und Heimat ist Heimat. Fahren wir nach Hause! So einfach.
Beim Abschiednehmen haben wir uns wieder versöhnt. Rudi hat mich umarmt. Ich habe den kleinen Edi geküßt, dann meine
Schwester. Sie hatten ein Abteil für sich allein. Den Jungen haben sie ins Gepäcknetz gelegt. Wie der Zug angeruckt ist, haben sie sich aus dem Fenster gebeugt, lachend, als würden sie geradewegs ihrem Glück entgegenfahren. Es war ein schwüler Julimorgen, Juli einundvierzig. Am Nachmittag ist ein Gewitter aufgezogen.
2
Der Beweis
Alle Toten ruhen, in der Unruhe eines vielleicht unnötigen Todes. Du kennst diesen Satz. Er geht mir oft durch den Kopf. Ich bereue nichts, oder wenig. Allerdings räume ich ein, ich war zu ungestüm. Es ist nicht so, daß ich geglaubt hätte, der Zeit davonlaufen zu können. Ich wußte schon damals, das ist aussichtslos, sie kommt nach. Ich glaubte auch nicht, daß die Liebe mich vor ihr retten würde. Liebe und Zeit sind einander zugetan oder spinnefeind, die eine kann ohne die andere nicht bestehen. Ich glaubte an die Zeit, an meine Zeitzeugenschaft, inbrünstig, so wie ich voller Inbrunst an unsere Liebe geglaubt habe. Weshalb hätte ich daran zweifeln sollen? Aber immer ist die Zeit stärker als die Liebe. Das ist auch so ein Satz, den ich, in der Unruhe meines vielleicht unnötigen Todes, nicht hinnehmen will. Sieh mich an. Ich lächle. Ich trage eine dünne gestreifte Häftlingshose. Ich trage ein mit Rosen besticktes Hochzeitshemd. Zeit wie Liebe. Mehr ist nicht zu sehen.
Eine Hochzeit, in Auschwitz? Zwischen einem Häftling und einer Frau von draußen? Mit Brautbukett und Hochzeitsmarsch? Wer hat dir diesen Bären aufgebunden? - Ich habe davon gehört, Jahre später. Nicht gehört, gelesen. Wo, weiß ich nicht mehr. - So was hätten die Nazis nie zugelassen. Und wenn, dann nur aus Spaß. Um sich über die armen Teufel lustig zu
machen. So wie sie die aufgegriffenen Flüchtlinge im Leiterwagen zurückgebracht haben, mit einem Schild um den Hals: »Ich bin wieder da!«, und die Häftlingskapelle mußte dazu aufspielen: »Kommt ein Vogel geflogen…« - Warum nicht? In der Hölle ist alles möglich, auch der Himmel. - Ausgeschlossen. Es gab zwar ein Standesamt im Lager, aber das war nur mit dem Registrieren der Toten befaßt. - Jedes Standesamt hatte drei Funktionen: Verzeichnis der Geburten, Verzeichnis der Hochzeiten, Verzeichnis der Todesfälle. - Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine reguläre Trauung genehmigt worden wäre. Außer zur Beschwichtigung, damit sich die Nazis brüsten konnten: Seht her, wie gut es unseren Schutzhäftlingen geht. Die Gerüchte über Massenvernichtung, Greuelpropaganda unserer Feinde. Aber vierundvierzig war niemand mehr an der Wirkung eines solchen Ereignisses interessiert – die Mörder hatten sich längst mit ihrem schlechten Ruf abgefunden, die Mitläufer mit ihrem schlechten Gewissen und die Gegner mit ihrer Ohnmacht. - Moment! Der Propagandafilm über Theresienstadt ist auch erst 1944 gedreht worden, Herbst vierundvierzig. Warum also keine Hochzeit in Auschwitz. Höß wurde im November dreiundvierzig als Lagerkommandant abgelöst. Sein Nachfolger Liebehenschel bemühte sich, den Terror zu mildern. Er brach die Vormachtstellung der kriminellen Kapos. Zum ersten Mal wurde einer mit rotem Winkel, ein politischer Häftling also, Lagerältester. Liebehenschel erließ eine Bunkeramnestie. Er ordnete an, den Stehbunker und die Schwarze Wand niederzureißen. Er schaffte die Todesstrafe ab. Er untersagte das Schlagen bei Vernehmungen. Er ging auch gegen das Spitzelunwesen der Politischen Abteilung vor. Vermutlich ist
es ihm zu verdanken, daß die Trauung genehmigt wurde. Nein? - Der Vater des Bräutigams soll gute Verbindungen nach Berlin gehabt haben, bis hinauf zu Himmler. Nein? - Die Braut war Spanierin. Denkbar also, daß sich Franco als Verbündeter Hitlers für die Hochzeit stark gemacht hat. Auch nicht? - Die SS-Männer erkannten allmählich, daß der Krieg verloren war. Einige von ihnen wurden scheißfreundlich. Sie fingen an, Pluspunkte zu sammeln. Die Hochzeit war ein dicker Pluspunkt. Oder etwa nicht? - Wir dürfen nicht davon ausgehen, daß die Nazis logisch gehandelt haben. Logisches Denken war ihnen fremd. Die Entscheidung über Leben und Tod fiel völlig willkürlich. Ich wurde zum Beispiel wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt, aber nicht hingerichtet. Gleichzeitig wurden andere wegen absolut harmloser Vergehen sofort unter das Fallbeil geschleppt. Im Lager war es nicht anders. Neunhundertneunundneunzig wurden erschlagen, der tausendste kam mit einem blauen Auge davon. Versuchen wir nicht, hinter jeder Genehmigung und hinter jeder Ausnahmeregelung und hinter jedem Furz eines Nazis eine Absicht zu erkennen. Die Hochzeit fand statt. Soviel steht fest. Sicher ist nur, daß sie gleich nach ihrer Ankunft in Vierzon, noch auf dem Bahnsteig, getrennt wurden. Die Geheime Feldpolizei hat ihn abgeführt, und Marga ist gezwungen worden, mit Edi nach Deutschland weiterzufahren. Vielleicht haben ihnen die Männer noch gestattet, voneinander Abschied zu nehmen. Ich glaube nicht, daß es ein tränenreicher Abschied war. Tränen brauchen Zeit, und ihnen blieben nur dreißig Sekunden. Außerdem hat er gehofft, sie bald wiederzusehen. Es ist ihm gar nicht in den Sinn gekommen, daß die Geschichte, kaum angefangen, ein böses Ende nehmen könnte.
Es ist auch nicht richtig, daß die Männer sie angeherrscht oder gar geschlagen haben. Wahrscheinlich sind sie sogar höflich gewesen. Trotzdem ist Marga tief erschrocken. Wohin bringen sie dich, Rudi, könnte sie gesagt haben. Was wird aus uns. Weshalb trennen sie uns. Wie sollen wir ohne dich auskommen. Hab keine Angst, wird er geantwortet haben. Gib gut auf Edi acht. Und vergiß nie zu sagen, daß wir verheiratet sind. Das ist wichtig! Sei nicht traurig, es dauert nur ein paar Tage. Ich liebe dich. Ich liebe dich auch. Zum letzten Mal hat sie ihn gesehen, als er, zwischen den deutschen Polizisten, quer über die Gleise gegangen ist. Er hat sich umgewandt und den Arm gehoben. Sie hat zurückgewunken. Dann hat sie sich ein wenig zur Seite gedreht, damit er auch Edi, den sie an die Brust gedrückt hat, noch einmal sehen konnte. Das war am 31. Juli 1941. Zwei Wochen später ist Rudi ins Gefängnis von Dijon eingeliefert worden. Das hat er in sein Notizbuch eingetragen: Ankunft Dijon, 15. VIII. 16.30 Uhr. Aber wie ist es ihm in der Zwischenzeit ergangen, und was ist nachher geschehen? Gut möglich, daß sie ihn noch am selben Abend oder tags darauf nach Bourges überstellt haben. Dort wäre er vierzehn Tage lang eingesperrt gewesen, im Gefängnis oder in einer Kaserne, zusammen mit anderen Spanienkämpfern. Denn auch das hat er in sein Notizbuch eingetragen: Abfahrt Bourges, 12. VIII. 12 Uhr. Die jungen Rekruten, die zur Bewachung abgestellt waren, hätten ihn korrekt behandelt und heimlich nach seinen Erlebnissen in Spanien ausgefragt. Nur ein Feldwebel hätte ihn angeschnauzt, strammstehen lassen und als Judenknecht, Bolschewisten, Kommunebruder beschimpft. Aber bellende Hunde beißen nicht, hätte er gedacht. Einmal hätte er sich nach Marga erkundigt. Für
Familienangelegenheiten ist die Wehrmacht nicht zuständig, hätte er zur Antwort bekommen. Wer dann? Die Auslandsorganisation der Partei. Wo? In Paris. Auch diese Eintragung findet sich in seinem Notizbuch: 7. VIII. 41. Ausl.Org. der N.S.D.A.P.: Paris, 15, rue Beaujon. Allmählich hätten sich die Zellen mit weiteren Heimkehrwilligen gefüllt, mit Dieben auch, Schiebern, aufgegriffenen Fremdenlegionären, Wehrkraftzersetzern, Fahnenflüchtigen, Befehlsverweigerern. Eines Morgens wären sie zum Bahnhof getrieben und auf einem Nebengleis, abgeschirmt von Zivilisten, in einen Waggon gepfercht worden. Rudi hätte Glück gehabt, denn er wäre als einer der ersten in den Güterwagen geklettert, so hätte er sich einen Platz an einer vergitterten Luke sichern können, mit freier Sicht auf ein besetztes Land. In einem Verschlag weiter vorne wäre die Begleitmannschaft gesessen, hätte Skat gespielt und Wein gesoffen. Sie wären nur langsam vorangekommen, hätten immer wieder gehalten, einmal wäre der Waggon sogar abgekoppelt worden, und sie hätten einen ganzen Tag lang auf einem Verschiebebahnhof warten müssen, in Hitze und Gestank, ohne Erlaubnis, den Kübel zu entleeren, in den sie ihre Notdurft verrichteten. Erst nach drei Tagen hätten sie Dijon erreicht. Und von Dijon aus wäre er, über mehrere Zwischenstationen in deutschen Gefängnissen, nach Wien gebracht worden. Oder auch nicht. Es ist nämlich auch denkbar, daß ihn die Feldpolizei nur für eine Nacht in Dijon behalten und schon am Morgen darauf nach Paris überstellt hat, in die Santé. Vielleicht ist er sogar in derselben Zelle gelandet, Zelle 23, in der ich ein halbes Jahr zuvor gefroren und gehungert hatte. Der Wärter hat ihm, wie mir, einmal am Tag einen Napf durch den Türspalt geschoben, gefüllt mit drei Zehntelliter Wasser, in dem eine verrunzelte Karotte und eine halbe Kartoffel schwammen. Ich weiß nicht,
wie er mit dem Hunger, dem Alleinsein und der Sorge um Frau und Kind fertig geworden ist. Vielleicht hat es ihn plötzlich siedendheiß überkommen, daß er in der Eile vergessen hatte, Marga die Adresse seines Vaters aufzuschreiben. Möglich, daß er dann aufgesprungen ist und mit den Fäusten gegen die Tür gehämmert hat. Aber er hat, noch bevor der Wärter nachschauen kam, seine Fassung wiedergewonnen. Er hat gebeten, ein Buch lesen zu dürfen. Tags darauf hat der Mann ihm, wie mir, ein zerfleddertes Exemplar von Schillers ›Wilhelm Tell‹ in die Zelle geworfen. Wieder Tage später hat er an die Tür geklopft, arbeiten, mich nützlich machen, und wirklich ist ein altes Männchen im blauen Anzug erschienen, in der Hand eine Rolle Draht, und hat ihm, wie mir, gezeigt, wie man eine Rattenfalle baut. Er hat sich gleich an die Arbeit gemacht und in drei Tagen vierzig Fallen angefertigt. Zur Belohnung hat der Alte ihm, wie mir, ein Päckchen Tabak, Papier und Streichhölzer zugesteckt. Ich habe alles aufgeraucht, aber er hat ein Blatt Zigarettenpapier zurückbehalten, um darauf ein Gedicht zu schreiben, in winziger Schrift, auf spanisch für seine spanische Frau, und er hat das Gedicht »Mi dulce mujer« genannt. Noch während er am Schreiben war, hat er draußen auf dem Gang rufen hören: Vingt-trois!, und der Wärter hat aufgeschlossen und ihn in ein Zimmer geführt, in dem zwei Männer der Gestapo warteten. Dann ist noch eine Frau hereingeschleppt worden, blaß und geduckt, mit gehetztem Blick. Im Gefängnishof sind sie in ein Taxi gestoßen, dann durch menschenleere Straßen zum Verhör gebracht worden, in die Avenue Foch. Während der Fahrt hat einer der Bewacher zur Frau gesagt: Hoffentlich bist du diesmal gesprächiger, und sie ist bei diesen Worten zusammengezuckt. Und zu ihm, wie zu mir, hat der Mann gesagt: Na, du Rübezahl. Gleich bekommst du eine Abreibung. Da geht der Bart ab wie nichts.
Trotz der Drohung ist das Verhör glimpflich abgelaufen. Zuerst haben ihm die Gestapobeamten eine bessere Verpflegung in Aussicht gestellt. Einer hat ihm sogar ein Jausenbrot geschenkt. Trotzdem hat er auf den ersten Schlag gewartet, und er hat seine Muskeln angespannt, um nicht gleich in die Knie zu gehen. Aber die Schläge sind ausgeblieben, auch dann, als er, wie ich, ihre Fragen ausweichend beantwortete. Er hat gemerkt, daß sie einiges über ihn wußten, nur nicht, daß er in Spanien Politdelegierter war, und das hat er ihnen wohlweislich verschwiegen. Im Grunde waren sie nur an seinen ehemaligen Gefährten vom Schutzbund interessiert, die 1934 in die Sowjetunion emigriert und von dort in den Spanischen Bürgerkrieg gezogen sind. Sie haben ihm, wie mir, Namen vorgelesen, Tränkler, Tesar, Barak, Beyer, Distelberger… und er hat wie ich jedesmal den Kopf geschüttelt, kenn ich nicht, kenn ich auch nicht, mir unbekannt, oder bei denen genickt, denen er nicht mehr schaden konnte, weil sie vor Madrid oder bei Teruel oder während der Ebrooffensive gefallen waren oder weil sie sich in Saint-Cyprien zur Fremdenlegion gemeldet hatten. Vergessen Sie nicht, hat er gesagt, daß sich die meisten Freiwilligen in Spanien falsche Namen zugelegt haben. Mit dieser Auskunft haben sie sich zufriedengegeben. Oder auch nicht. Wenn nicht, dann haben sie ihn geohrfeigt, ausgepeitscht, zu Boden geschlagen, an den Haaren hochgerissen, mit kaltem Wasser übergossen. Er hat geschwiegen. Ich weiß nicht, ob sie ihm eine Hilfe war. Ich weiß nicht, ob er sein Schweigen gehalten hat, weil er gewußt hat, daß sie ihn liebt. Ich weiß nur: Ankunft Dijon, 15. VIII. Ankunft Wien, 14. IX. Ob sie ihn nach Compiègne überstellt haben? Dijon war der Sammelplatz für alle Deportierten aus der Gegend, ehe sie nach Compiègne gebracht wurden. Der Schriftsteller Jorge Semprún hat davon berichtet, später einmal. Er hat geschildert,
wie er oder seine Romanfigur vor dem Transport von Dijon nach Compiègne mit einem älteren Mann zusammengefesselt wurde, einem Polen, der gebrochen französisch sprach und immer nur einen Satz flüsterte: Jetzt ist es soweit, jetzt bringen sie uns alle um. Semprún oder sein Held, ein Spanier jedenfalls namens Manuel oder Gerard, habe versucht, den Polen zu beruhigen, keine Angst, Kamerad, niemand will uns umbringen. Nachts habe der Zug mitten auf der Strecke gehalten, und da habe der Mann neben ihm gekeucht: Hörst du? Er habe nichts gehört, nur die Atemzüge der Mitgefangenen. Was, habe er geflüstert. Die Schreie. Welche Schreie. Die Schreie von denen, die niedergemetzelt werden, da, unter dem Zug. Er habe geschwiegen, denn es sei sinnlos gewesen, den anderen zu beruhigen, der nach einigen Sekunden wieder zu sprechen anfing: Das Blut, hörst du nicht das Blut fließen. Unter dem Zug, da, Ströme von Blut, ich höre sie fließen. Ruhe, Scheißkerl!, habe ein deutscher Soldat gerufen und dem Polen den Gewehrkolben in die Brust geschlagen, so heftig, daß der Geschlagene, während er Schleim und Blut erbrach, nach vorn gekippt sei und ihn, da sie mit Handschellen aneinandergefesselt waren, mit sich gerissen habe. Ob Rudi dort gewesen ist, im Zug von Dijon nach Compiègne, nachts, gemeinsam mit dem Polen und mit Manuel-Gerard, Margas Landsmann? Er ist nie nach Compiègne überstellt worden. Statt dessen ist er gemeinsam mit seinen Landsleuten nach Hause gefahren, von Frankreich aus über Trier, Regensburg, Nürnberg, Würzburg nach Wien. Oder nach Wien über Karlsruhe, Bruchsal und Linz. Vielleicht ist er wie ich am Bahnhof von Karlsruhe in einen Arrestantenwagen gesperrt worden, in eine schmale Zelle mit einem kleinen Spalt zur Nachbarzelle, und durch den Spalt hat er sich, wie ich, mit einem deutschen Kriminellen verständigt, der anstelle der linken Hand einen
eisernen Haken trug, wie ein Pirat. Der Mann hat ihm, wie mir, erzählt, daß er sich selbst die Hand abgehackt habe. Er war, hat er geflüstert, von den Nazis in ein Moorlager gesteckt worden, in dem die Häftlinge Torf stechen oder den Torf mit der Schubkarre wegfahren mußten, und wer von den Torfstechern das geforderte Tagespensum an Kubikmetern nicht schaffte, wurde halbtot geprügelt, und deshalb hackte er sich – und nicht nur er: Viele hackten sich die Hand ab, bekamen nach der Genesung einen eisernen Haken an den Armstumpf geschraubt und waren dann überglücklich, und auch er sei überglücklich, denn mit einem Haken tauge er nur noch zum Schubkarrenfahren, und das Fahren mit dem Schubkarren sei, verglichen mit dem Torfstechen, das reinste Vergnügen. Friemel hat sich von diesen Äußerungen nicht schrecken lassen. Er hat sich gedacht, vielleicht lügt der Mann, vielleicht hat er seinen Arm bei einem Arbeitsunfall verloren, und überhaupt – wir Spanienkämpfer sind keine Verbrecher, wie der Mann mit dem Haken. Uns wird man besser behandeln. Er ist auch besser behandelt worden, in Wien, im Polizeigefängnis an der Elisabethpromenade, das er von früher her kannte, aus den Jahren vierunddreißig oder fünfunddreißig, als er dort auf seinen Prozeß gewartet hatte. Ich weiß nicht, wer sein zuständiger Referent in der GestapoLeitstelle am Morzinplatz war. Der Zufall könnte es gewollt haben, daß jener frühere Kriminalinspektor mit Rudi befaßt war, der schon 1934 auf ihn angesetzt worden war, im Austrofaschismus, und sich rechtzeitig auf die Seite der Nazis geschlagen hatte. Die gemeinsame Vergangenheit von Jäger und Gejagtem weckte in dem Mann ein vertracktes Gefühl von Waffenbrüderschaft; so könnte es gewesen sein, das würde erklären, warum Rudi schon wenige Tage nach seinem Eintreffen die Erlaubnis erhielt, seinem Vater eine Karte zu schreiben. Zwischen den Gestapoleuten und den
Justizwachebeamten auf der Liesl, wie wir das Gefangenenhaus fast zärtlich genannt haben, bestand eine gewisse Konkurrenz. Sie neideten einander ihre Häftlinge. Ein Beispiel: Als ich nach einem Verhör von einem Gestapobeamten vom Morzinplatz zurück zur Liesl geführt wurde, bedeutete mir der Mann, vor einer Trafik stehenzubleiben. Er drückte mir eine Bezugsmarke in die Hand. Kauf dir eine Schachtel ›Sport‹, sagte er, und als ich wieder aus der Tür trat: Laß sie dir vom Käs nicht abknöpfen. Käs, das war die österreichische Bezeichnung für den Kalfaktor. Rudi wird das gegenseitige Mißtrauen zwischen Gestapo und Polizeiaufseher für sich ausgenutzt haben. Außerdem ist denkbar, daß er auf der Liesl alte Bekannte wiedersah – den einen oder anderen pensionierten Wachmann, der nun, da die jüngeren Aufseher zur Wehrmacht eingezogen wurden, wieder seinen Dienst versehen mußte. Denn Rudi ist auch in der Liesl bevorzugt behandelt worden. Schon in seiner ersten Karte schreibt er seinem Vater, daß er Hausarbeiter ist. Eine wichtige Stellung, Hausarbeiter mußten tagsüber nicht in der Zelle bleiben, sie brauchten nicht zu hungern, weil beim Essenausteilen immer ein Schlag für sie übrigblieb, sie konnten Zigaretten schmuggeln, Zeitung lesen und Kassiber weitergeben. Nicht alle Hausarbeiter haben sich anständig verhalten. Ich erinnere mich an einen Häftling, der wie die Kriminellen pro Zigarette eine Mark verlangt hat. Ein Spanienkämpfer, aber ein Arschloch, im Gegensatz zu Rudi. Den letzten Brief an meine Mutter hat er im Juli neununddreißig geschrieben, als er noch im Lager Gurs inhaftiert war. Es ist ein kühler, beherrschter Brief, in dem er sie, wie mit zusammengepreßten Zähnen, um die Scheidung im beiderseitigen Einvernehmen bittet. Er begründet sein Ersuchen damit, daß die Ehe ohnehin nur mehr auf dem Papier besteht, daß er von seinem Weg unter gar keinen Umständen
abschwenkt und daß an ein Heimkommen angesichts der Gegebenheiten überhaupt nicht zu denken ist. Er werde sich selbstverständlich seiner materiellen Pflichten nicht entziehen; sollte sie diesbezüglich Bedenken haben, dann gebe er ihr die Möglichkeit, die Trennung aus seinem Verschulden herbeizuführen. Die Sache sei dringlich, schreibt er, denn nur als Unverheirateter habe er Chancen wegzukommen, nach Mexiko oder Argentinien, und damit auch Aussicht auf Arbeit und Verdienst. Eine weitere Begründung hat er ihr nicht gegeben. Irgendwie hat sie dann erfahren, daß er mit einer anderen Frau liiert war. Sie hat nie davon gesprochen. Ich nehme an, daß es ihr weh getan hat. In seinem Brief beteuert mein Vater auch, daß er mich nie vergessen habe. Er liebe mich, schreibt er, heute mehr als zuvor. Er würde mich so gerne bei sich haben, um mir sein Leben zu zeigen, das nicht so böse sei, wie sie vielleicht glaube. Er hoffe, daß sie mich zu einem Menschen erziehe, dessen sich sein Vater so wenig zu schämen brauche wie seine Mutter. »Und wenn ich einmal nicht mehr lebe, dann sage ihm, daß sein Vater immer an ihn gedacht hat, daß er gerne bei seinem Sohn geblieben wäre, wenn es hätte sein können; Großvater soll ihm dann erzählen, wie mein Leben von der Seite war, die Du nie kanntest und nicht kennen konntest.« Auf sein Verlangen hat meine Mutter dann die Scheidung eingereicht, im beiderseitigen Einverständnis. Sie hat also auf Alimente verzichtet. Mich wundert, daß sie den Brief überhaupt angenommen hat. Die Post ist normalerweise über meinen Großvater gelaufen, der hat sie dann meiner Mutter geschickt, und meine Mutter hat die Briefe oft zurückgehen lassen. Sie hat die Kuverts gar nicht aufgemacht. Im Nachlaß meines Großvaters habe ich einen Vermerk gefunden: »Letzter Brief an Paula wurde nicht angenommen.«
Jedenfalls war die Ehe geschieden. Das Scheidungsdekret wurde am 16. August 1941 vom Landesgericht Wien ausgefertigt. In dieser Hinsicht war mein Vater, als er am 14. September ins Polizeigefängnis eingeliefert wurde, also ein freier Mann. Als er eingelocht wurde, hatte ich den Weg nach Dachau schon hinter mich gebracht. Ihn steckten sie in Zelle 78 a, die im vierten Stock lag, und mich hatten sie ein paar Wochen zuvor aus 44 a geholt, aus dem zweiten Stock. Ich nehme an, daß seine Zelle sich kaum von der meinen unterschieden hat: ziemlich groß, ein Saal eigentlich, mit vier oder sechs Pritschen und einem guten Dutzend Gefangener. In einer Ecke, frei einsehbar, der Lokus. Diejenigen, die kein Bett hatten, schliefen auf Matratzen, die tagsüber in einer Ecke aufgestapelt waren. Wir waren eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft, alles politische Häftlinge zur Verfügung der Gestapo: fünf oder sechs Spanienkämpfer, ein Fabrikarbeiter, der sich beim Skifahren zu Ostern den Knöchel gebrochen hatte und bei seiner Einlieferung ins Krankenhaus wegen kommunistischer Zellenbildung verhaftet worden war, ein Hochstapler, der sich am Semmering als Hauptsturmführer ausgegeben hatte, obwohl er weder der NSDAP noch der SS angehörte, ein sogenannter Wirtschaftssünder, an dessen Delikt ich mich nicht mehr erinnere, ein serbischer Diplomat, der nach Hitlers Überfall auf Jugoslawien verhaftet worden war, ein französischer Landstreicher, der aus unerfindlichen Gründen Nazideutschland zu seinem Reiseziel erkoren hatte, ein pensionierter Oberst, den seine Hausgehilfin wegen Abhörens von Feindsendern angezeigt hatte, und ein österreichischer Kommunist jüdischer Herkunft, den die sowjetische Geheimpolizei an die Gestapo ausgeliefert hatte. Er hieß Franz Koritschoner, war noch keine fünfzig Jahre alt, wirkte aber wie ein Greis. Während die anderen
Spanienkämpfer von ihm wie von einem Aussätzigen abrückten, richtete ich es so ein, daß wir abends nebeneinander zu liegen kamen; so erfuhr ich von Koritschoners Erlebnissen in der Sowjetunion, wo er als angeblicher Nazispion oder Trotzkist – was uns damals keinen Unterschied machte – mehrere Jahre in verschiedenen Lagern am Eismeer verbracht hatte. Dort war er an Skorbut erkrankt, wodurch ihm alle Zähne ausgefallen waren. Trotz seines Schicksals war er nicht verbittert. Er glaubte fest daran, daß die Fehlentwicklung in der Sowjetunion – so nannte er es: Fehlentwicklung – korrigiert werden würde. Was seine eigene Zukunft betraf, so war er gedämpft optimistisch. Schlimmer als an der Petschora und in Workuta könne es auch in einem deutschen Konzentrationslager nicht zugehen. Die Gestapo hatte seiner Schwester mitgeteilt, daß er nach Mauthausen überstellt werde. Aber wie ich nach dem Krieg erfahren sollte, war Koritschoner schließlich in Auschwitz gelandet. Einen Tag nach seiner Ankunft, am 8. Juni 1941, wurde er als verstorben gemeldet. Rudi hat ihn also nicht mehr angetroffen, weder da noch dort. Rudis Zelle, stelle ich mir vor, war von ähnlichen Menschen belegt, Gefährten aus Spanien, die ihr Mut auch jetzt nicht verließ, Widerstandskämpfern, die mit dem Schlimmsten rechneten und unseres unzulänglichen Trostes bedurften, Ganoven, die sich angesichts der großen Zeiten zu kleinen Geschäften hatten verführen lassen, die sie Kopf und Kragen kosteten. Nur einer wie Koritschoner wird nicht in Zelle 78 a gewesen sein, und ich weiß nicht, ob sich seine Anwesenheit auf Rudis Befinden günstig, ungünstig oder gar nicht ausgewirkt hätte. Ob Rudi damals schon mit Auschwitz rechnete, vermag ich nicht zu sagen. Vermutlich hat er gehofft, nach Mauthausen überstellt zu werden. Wir haben uns alle nach Mauthausen gesehnt, dumm, wie wir waren, zuversichtlich in unserem
Patriotismus. Vom Todessteinbruch, von der Todesstiege, von den Todesstollen ahnten wir nichts. Jedenfalls wußte er, daß ihm ein KZ blühte, denn in seiner Karte vom 24. September schrieb er seinem Vater, daß er wahrscheinlich nur für einige Wochen da sein werde. Er bat ihn um Tomaten, grüne Paprika, etwas Obst, ferner um eine kleine Tube Zahncreme, ein altes Nachthemd und ein Paar Schuheinlagen. Er wies ihn an, an einem Dienstag um 14 Uhr bei seinem Referenten in der Gestapo-Leitstelle, Morzinplatz 4, Zimmer 274 vorzusprechen. Er ersuchte ihn, die Schmutzwäsche abzuholen (ebenfalls dienstags, zwischen 17.30 und 18 Uhr). Am dringlichsten aber, das verrät selbst der absichtsvoll muntere Ton, erscheint seine Bitte, bei der Auslandsorganisation der NSDAP in Paris die Adresse von Margarita Friemel-Ferrer herauszufinden. »Bist überrascht?« schreibt er. »Macht nichts! Meine Adr. an die ›A.-O.‹ bekanntgeben mit der Bitte, sie an Margarita weiterzuleiten. Retourporto beilegen.« Ich nehme an, daß sein Vater, der in solchen Dingen geübt war, bei der Gestapo umgehend eine Besuchserlaubnis erwirken konnte. Die Begegnungen zwischen Gestapohäftlingen und ihren Angehörigen fanden, im Beisein eines Aufsehers und eines Gestapobeamten, in der Regel im Parterre des Gefangenenhauses statt, nach dem Eingang links, im sogenannten Gesperre. Ein Scherengitter trennte die Häftlinge von ihren Besuchern. Die Besuchszeit war auf drei Minuten begrenzt. An ein offenes Gespräch war unter diesen Umständen nicht zu denken. Im Fall Rudi Friemel halte ich es allerdings für möglich, daß er sich lang über die Zeit hinaus mit seinem Vater besprechen durfte. Oder es war ihnen möglich, über einen schneidigen Justizwachebeamten, der den Kurier machte, Nachrichten auszutauschen. Rudis zweite Karte an seinen Vater, vom 10. November, läßt jedenfalls Rückschlüsse auf eine eingehende
Erörterung seiner Lage zu. Aus Paris wurde Clemens Friemel offenbar aufgefordert, zur Ausforschung von Frau Margarita Friemel-Ferrer nähere Daten nachzureichen, denn Rudi schreibt, er hoffe, daß sein Vater die verlangten Angaben schon erhalten und weitergeleitet habe. »Du weißt nicht, welch ungeheure Last Du mir abnehmen würdest, wenn es Dir gelingen sollte, Margas Aufenthalt zu eruieren.« Ferner bezieht er sich auf »das besprochene Gesuch«, das er abgegeben, auf das er »bis jetzt jedoch keinerlei Antwort erhalten« habe. »Werde noch um die Erlaubnis bitten, möglichst lange hier in Wien bleiben zu dürfen, wenn das Gesuch abgelehnt werden sollte.« Keiner von uns hat in der Gestapohaft irgendein Gesuch gestellt. Es wäre auch nicht angenommen worden. Ich vermute also, Rudi hat seine Absicht, die Spanierin zu heiraten, vom ersten Augenblick an mit derartigem Nachdruck verfochten, daß er sogar die Leute von der Gestapo beeindrucken konnte. Denn um nichts anderes muß es sich bei dem Gesuch gehandelt haben als um den Antrag zur Eheschließung. Daß darüber nicht entschieden wurde, steht auf einem anderen Blatt. So ein Papier haben sie jedem von uns vorgelegt. Immer trug es den gleichen Briefkopf, die gleiche Unterschrift, den gleichen Hauptsatz: Reichssicherheitshauptamt Berlin, PrinzAlbrechtstraße 8. Gez. Heydrich. »Begründung des Schutzhaftbefehls: Er gefährdet nach dem Ergebnis der staatspolizeilichen Feststellungen durch sein Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes…« Der feine Unterschied lag in der Formulierung des Nebensatzes, aber selbst dafür hatten die Schreibtischhengste in Berlin nur vier oder fünf Varianten in petto. Die für ihn, wie für mich, bestimmte Variante lautete: »… indem er dadurch, daß er sich in erheblichem Umfange marxistisch betätigt und am Bürgerkrieg in Spanien auf Seite der Roten teilgenommen hat,
zu der Befürchtung Anlaß gibt, er werde bei Freilassung unter Ausnutzung der Kriegsverhältnisse sich eventuell zum Schaden des Reiches betätigen.« Sein Schutzhaftbefehl ist schon am 11. Oktober 1941 ausgestellt worden. Er hat ihn am zwölften Dezember, um fünfzehn Uhr, abgeschrieben, in der Sammelzelle im Parterre des Gefangenenhauses, in die wir kurz vor unserer Abfahrt verlegt wurden. Das würde bedeuten, daß er am dreizehnten, spätestens am sechzehnten Dezember auf Transport gegangen ist. Er war also lange und auf Umwegen unterwegs. Der Rußlandfeldzug war voll im Gang, die Gleisanlagen Richtung Osten waren überlastet. Alle Räder rollen für den Sieg, hieß es. Rudi war keiner, der am Siegen war, er mußte auf der Strecke immer wieder warten. Denn es ist erwiesen, daß er erst am 2. Jänner 1942 mit einem Sammeltransport in Auschwitz eingetroffen ist. Die achtzehn Häftlinge erhielten die Nummern 25167 bis 25184. Rudolf Friemel war Nummer 25173. Anfang Oktober einundvierzig bin ich zurück nach Spanien. In Montauban war mir die Gestapo dicht auf den Fersen. Mein Bruder kämpfte in der Résistance, und seine Gruppe wurde über mich mit Geld und Flugblättern versorgt. Die Deutschen schöpften bald Verdacht. Zum ersten Mal verhörten sie mich in der Geburtsklinik. Um fünf Uhr früh hatte ich entbunden, und um acht standen sie an meinem Bett. Vier Wochen später stellten sie mein Zimmer auf den Kopf, fanden aber nur Belege über neun Geldüberweisungen. Und das da, fragten sie. Ach nichts, sagte ich, das sind bloß Unterhaltszahlungen. Was, von neun verschiedenen Männern? Sie wollen doch nicht behaupten, daß Sie mit allen ein Verhältnis haben! Allerdings, sagte ich. Sie wollten es schriftlich haben. Also bestätigte ich, die Konkubine von allen neun zu sein. Am übernächsten Tag
machte ich mich aus dem Staub. Ich wußte, wenn ich abwarte, kriegen sie mich. Eigentlich gab es zwei Gründe, über die Grenze zu gehen. Erstens hatte auch die spanische Partei die Losung ausgegeben, jeder, der es riskieren kann, soll zurückkehren. Mir haben sie das so dargestellt, als gäbe es da nichts zu überlegen. Ich hab auch nicht lang überlegt. Wenn sie gesagt hätten, du mußt um Schlag Mitternacht in einer getupften Unterhose am Cibelesbrunnen stehen, dann wär ich in der getupften Unterhose auch wirklich dort angetanzt. So war das damals. Außerdem wollte ich meinen Jungen in guten Händen wissen. Julian war gerade einen Monat alt. Und mit der Gestapo im Nacken konnte ich es mir nicht erlauben, in Frankreich zu bleiben. Ich war gar nicht scharf darauf, ein Kind zu haben. Fernando ist schuld daran. Er hat nicht aufgepaßt. Wie der Junge dann da war, habe ich mich gefreut, natürlich, aber zuerst… Ich wußte ja, wie es um uns stand. Jedenfalls war mir klar: Ab sofort trage ich Verantwortung für ein Kind, das an den Verwicklungen und Kämpfen seiner Eltern keine Schuld trifft. Genau das ist es, was ich Rudi vorwerfe, daß er nicht an das Kind gedacht hat. Ich habe dafür gesorgt, daß mein Junge geschützt ist, daß sich jemand seiner annimmt, falls sie mich erwischen sollten. Und sie haben mich erwischt. Am ersten Oktober habe ich mich also auf den Weg gemacht. Am zweiten war ich in Perpignan, bei Fernando, um mich zu verabschieden und damit er endlich sein Kind in die Arme nehmen konnte, und am vierten bin ich bei Port-Bou über die Grenze. Kaum hatte ich einen Fuß auf spanischen Boden gesetzt, schon liefen mir eine Schar Nonnen und ein Trupp Guardia civil über den Weg. Spanien war damals von Nonnen und Guardias überschwemmt, wie Heuschreckenschwärme haben sie sich niedergelassen und das Land kahlgefressen. Die Gendarmen haben mich gleich verhört. Aber das hat ihnen
nichts genützt. Ich habe sie nach Strich und Faden belogen. Ich glaube, ich hab nie so gut gelogen wie unter Franco. Kein Wort davon, daß ich die Kriegsjahre in Barcelona verbracht hatte. Ich war Hilfspflegerin, habe ich gesagt, in einem Krankenhaus in Madrid. Aber in Madrid hatte ich nur bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr gewohnt. Logisch, daß sie in ihren Karteien nichts über mich gefunden haben. Sie haben mich also laufenlassen. Und ich bin nach Menorca gereist, wo Onkel und Tanten von mir lebten, die Geschwister meines Vaters. Sie hatten Geld wie Heu. Um so besser für meinen Jungen, habe ich mir gesagt. Dort konnte ich mich um ihn kümmern, es gab Milch, es gab Brot, es gab Gemüse, es gab sogar ein warmes Bett. Ich blieb in Menorca, bis der Kleine sieben Monate alt war. Dann bin ich mit ihm nach Madrid gefahren. Natürlich, die Eltern meines Mannes wollten ihr Enkelkind endlich zu sehen kriegen. Außerdem war auch Fernando inzwischen nach Spanien zurückgekehrt, mit einem Invalidentransport. Sie haben ihn hereingelassen, obwohl er an der Grenze nichts Besseres zu tun wußte, als aus vollem Hals die Marseillaise zu schmettern. Die französischen Gendarmen sind strammgestanden, als sie ihn singen hörten, aber ein Falangist, der im Nachbarwagen die Ohren spitzte, wollte ihn als Provokateur gleich festnehmen lassen. Von Rudi und Margarita hatte ich seit ihrer Abreise kein Lebenszeichen erhalten. Ich erfuhr erst viel später, daß meine Schwester in einer Ortschaft irgendwo im Schwarzwald gelandet war. Dort war sie täglich vierzehn oder sechzehn Stunden lang auf den Beinen, als Mädchen für alles in einer Metzgerei, und der kleine Edi war in einem Hort oder in einem Heim für ledige Mütter untergebracht. Sie durfte ihn nur einmal pro Woche sehen. Wegen ihrer schwarzen Haare wurde sie als Jüdin angefeindet, die Heimleiterin kommandierte sie herum, der Metzgersfrau war sie zu langsam, von Rudi hatte sie keine
Nachricht. Sie war ganz verzweifelt und schrieb deshalb an unsere Verwandten in Menorca. Sie hoffte wohl, sie würden ihr Unterschlupf gewähren, ihr und dem kleinen Edi. Aber die lieben Verwandten wollten nichts davon wissen, wahrscheinlich glaubten sie, ihr Pensum an christlicher Nächstenliebe schon mit mir erfüllt zu haben. Immerhin waren sie so gnädig, Marga mitzuteilen, daß ich unter der Adresse meiner Schwiegereltern zu erreichen sei, Madrid, Calle Embajadores Nummer 16, und meine Schwester schickte mir eine Nachricht in der Hoffnung, daß ich ihr helfen würde. Aber wie sollte ich ihr helfen, mir ging es selber dreckig, ich saß hinter Gitter. Als ihr Brief in Madrid eintraf, war ich schon verhaftet worden. Meine Schwiegermutter hat ihn mir in Segovia vorgelesen, im Frauengefängnis, während der Besuchszeit. Fernando saß auch hinter Gitter. Und um unseren Jungen kümmerte sich seine Mutter. Julian war noch keine zwei Jahre alt. Ein Jahr und elf Monate. Ich war einundzwanzig Jahre und zehn Monate alt, als unser Transport im Lager eintraf, am 6. Oktober 1942, neun Monate nach Rudi Friemel, von dessen Existenz ich damals keine Ahnung hatte. Woher sollte ich ihn auch gekannt haben? Wien ist kein Dorf, ich bin dreizehn Jahre jünger als er, und Politik hatte mich bis dahin wenig interessiert. Allerdings hatte ich ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, schon als Kind, und habe damit meine Mutter mehr als einmal zur Verzweiflung gebracht. Aber einer Partei bin ich nie beigetreten. Mein Vater war Jude, und weil Trauungen zwischen Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften nicht stattfinden durften, nahm meine Mutter, die aus einer Dresdner Baptistenfamilie stammte, den jüdischen Glauben an. Ich war erst drei, als sie sich trennten und einen erbitterten Kampf um das Sorgerecht für mich führten. Mein Stiefvater, den ich sehr gern hatte, war ein bekannter Strafverteidiger. Er starb früh,
und damit war es mit dem Wohlstand zu Hause vorbei. Bis zur vierten Klasse konnte meine Mutter noch das Gymnasium bezahlen, dann mußte ich austreten. Gleich darauf wurde meine Großmutter von einem Auto überfahren, und ich reiste für drei Monate nach Dresden, um sie zu pflegen. Von einem angeheirateten Onkel abgesehen, waren alle Geschwister meiner Mutter eingefleischte Nationalsozialisten, zwei von ihnen seit den frühen zwanziger Jahren. Das änderte nichts daran, daß sie mich gern hatten. Auch die Nachbarn waren weiterhin freundlich zu mir; erstens kannten sie mich schon als Baby, zweitens betrachteten sie mich als Ausländerin, für die das, was in Deutschland geschah, keine Bedeutung hatte, drittens war das Wohnviertel meiner Großmutter früher eine kommunistische Hochburg gewesen und gegenüber den Nazis immer noch ziemlich resistent. Nach meiner Rückkehr brachte mich meine Mutter als Bürolehrling in der Keramikfabrik Goldscheider unter. Dort lernte ich so nützliche Dinge wie den Angestellten das Gabelfrühstück holen, Tee oder Kaffee kochen, die Schreibmaschinen und Büromöbel abstauben und im Keller alte Ordner stapeln. Wenn das alles ist, dachte ich und brach die Ausbildung kurzerhand ab. Nun wollte mich meine Mutter in eine private Handelsschule stecken. Das Vorhaben verzögerte sich um ein Jahr, weil ich mich wieder um die Oma in Dresden kümmern mußte. Im Herbst 1937 begann endlich der Schulbetrieb, aber das Vergnügen dauerte nur ein Semester. Für den Abend des 11. März 1938 hatte ich mich mit einem Freund im Café Börse verabredet. Irgendwo im Hintergrund lief das Radio, das wir nicht weiter beachteten, bis kurz vor acht das Programm unterbrochen wurde. »Ich stelle fest vor der Welt.« Es war Schuschniggs Abschiedsrede. Der Gewalt weichen, um keinen Preis deutsches Blut vergießen, deutsches
Wort, Herzenswunsch, und Gott schütze Österreich. Völlig verdattert verließen wir das Kaffeehaus. Da war die Ringstraße bereits mit Stacheldrahtrollen abgesperrt. Ich begleitete meine Mutter noch in derselben Nacht zum Café Herrenhof, in den Tanzkeller, wo sie ihre jüdischen Freunde warnen wollte. Feuerwehrmänner waren gerade dabei, die Transparente der Vaterländischen Front herunterzureißen, die zum Ja für Österreich aufriefen. An der Ecke Schottengasse kam uns ein dunkelhaariger Mann entgegen, Brillenträger, mit einer etwas größeren Nase, und ein anderer, ein Nazi mit Armbinde, stürzte sich auf ihn, du Saujud, dir werd ich’s geben, und schlug ihm ins Gesicht, daß die Brille in weitem Bogen wegflog. Da packte der Dunkelhaarige den Schläger an der Krawatte, schmierte ihm links und rechts eine und sagte ganz ruhig: Ich bin kein Jud, auch kein Saujud, aber für die Ohrfeige, die du eigentlich einem Juden hast geben wollen, kriegst du jetzt zwei zurück. Dann bückte er sich nach der Brille, setzte sie auf und schlenderte weiter. Am nächsten Morgen ging ich zur Schule. Vor dem Eingang in der Rauhensteingasse, der von SA-Männern abgeriegelt wurde, hatten sich schon etliche Mitschüler eingefunden. Es hieß, die Handelsschule werde gesperrt, weil ihre Inhaber, die Brüder Allina, Juden seien. Anderthalb Stunden lang standen wir unschlüssig herum, dann machten wir uns auf den Heimweg. In der Auslage der Konditorei Lehmann am Graben hing ein Schild: »Juden und Hunden ist der Zutritt verboten«, und weiter vorne sah ich auch schon Juden auf dem Pflaster knien, neben ihnen lachende, johlende Passanten, die sie zwangen, mit Zahnbürsten das Kruckenkreuz wegzureiben. Noch am selben Tag läutete es an unserer Wohnungstür, und draußen stand wieder einer mit Hakenkreuzbinde und verlangte den Saujuden Kurt Rosenfeld zu sehen, also meinen Stiefvater, worauf meine Mutter kalt lächelnd sagte: Da
müssen Sie sich schon zum Zentralfriedhof bemühen, Viertes Tor, dort liegt er seit dem Jahr einunddreißig. Im obersten Stock wohnte ein Teppichflicker, ein gewisser Tesar. Beim Greißler gegenüber hatte er erst ein paar Wochen zuvor verkündet, er sei mit drei Parteibüchern – dem sozialdemokratischen, dem christlich-sozialen und dem der illegalen Nazis – für alle Fälle gerüstet; jetzt war er damit beschäftigt, die Familie Wassermann im ersten Stock um Schmuck, Tafelsilber und Wanduhr zu erleichtern. Wir hatten das Glück, daß ein Bruder meiner Mutter, der den Einmarsch als Soldat mitgemacht hatte, nach vier Tagen bei uns Quartier nahm, und das machte im Haus gehörigen Eindruck. Onkel Alfred war entsetzt von den Ausschreitungen, die alles, was er in Deutschland gesehen hatte, an Brutalität übertrafen. Dir wird nichts zustoßen, sagte er zu meiner Mutter, aber Dagmar hat einen jüdischen Vater. Draußen im Altreich, im Schutz der Familie, wäre ich fürs erste besser aufgehoben. Als er Wien auf seinem Motorrad wieder verließ, fuhr ich, mit Militärmantel und Käppi verkleidet, im Beiwagen mit. Zwei Jahre arbeitete ich ohne jede Beanstandung in Dresden in einer Kleiderfabrik, dann wurde ich von Zeiss-Ikon zwangsverpflichtet, in einer geschlossenen jüdischen Abteilung, mußte den Judenstern tragen und in eine jüdische Sammelwohnung ziehen. Ein Gestapobeamter, der mir dauernd nachstellte, warnte mich, jeden Kontakt zu jüdischen wie zu arischen Männern zu unterlassen. Ich hielt mich nicht daran. Aber zum Verhängnis wurde mir meine Quartiergeberin, deren Tochter eine Arbeitskollegin von mir war. Beim Verhör durch die Geheime Staatspolizei verriet sie, daß ich von einem öffentlichen Fernsprecher aus – was mir als Halbjüdin streng verboten war – mit meiner Mutter gesprochen hatte. Im August 1942 wurde auch ich zur Gestapo vorgeladen. Die Beamten versicherten meinem Onkel, der mich in seiner
Wehrmachtsuniform begleitet hatte, man werde mich bloß für eine Woche festhalten. Die Zelle im Gestapogefängnis füllte sich, von Entlassen war keine Rede mehr. Eines Nachts Ende September wurde ich gerufen, um meinen Schutzhaftbefehl zu unterschreiben. Ich landete in Berlin-Alexanderplatz, dann in Ravensbrück. Von dort ging drei Tage später ein großer Judentransport ab. Es war ein normaler Personenzug, die Türen wurden versperrt, und an beiden Wagenenden nisteten sich SS-Männer ein. Wir fuhren über flaches Land, düster und nackt kam es mir vor, in einer Station, in der Wasser zugeladen wurde, waren zwischen dem Stiefelknirschen der Wachtposten polnische Stimmen zu hören, und auf einmal fiel das Wort, das Stichwort. Seine Bedeutung erkannte ich erst nach unserer Ankunft, als wir früh am Morgen, zwischen vier und fünf, von einer Hundestaffel in ein Stacheldrahtgeviert gejagt wurden. Wir mußten uns in Reih und Glied aufstellen, vor uns SSMänner, unter ihnen einer, der gut zwei Meter groß war, und hinter ihnen Baracken und Hütten, und zwischen und vor den Baracken tummelten sich Gestalten, schemenhaft, mit geschorenen Köpfen, ein Männerlager, dachte ich, sie haben uns in ein Männerlager gebracht, und allmählich wurde es hell, allmählich wurde ich schwach, halt durch, gleich lassen sie uns abtreten, und dann tauchte ein Berg ins fahle Grau, fast so hoch wie eine dieser Baracken, und der Berg war aus Reisig, seltsam, woher die vielen Äste, und das Grau lichtete sich, ich sah, im Reisig bewegt sich was, da regt sich was, flüstere ich, und dem Mädchen neben mir zittern die Lippen, still, und dann seh ich, das Reisig, die Äste, den Leichenberg, dürre, knorrige Leichen, gestapelt, nein übereinandergeworfen, aber jetzt waren alle tot, nichts hat sich bewegt.
Los, los, bewegt euch!, riefen die SS-Männer, als unser Transport, sechzehn Monate nach Rudis Ankunft, im Bahnhof der Ortschaft eintraf. Es war stockfinster, es war Nacht, es war Verdunkelung angeordnet. Im Schnellschritt haben sie uns zum Lager getrieben, wo wir, außerhalb der Mauer, ins Empfangsgebäude gesperrt wurden, das damals noch im Bau war. Erst im Morgengrauen sind wir durch das Eingangstor marschiert. Rein in einen Block, dann duschen, scheren, registrieren. Kleider fassen, in Holzpantinen schlüpfen. Die Verwandlung, vom Volksfeind zur Nummer. Aber es wäre falsch anzunehmen, daß wir das ganze Ausmaß des Schreckens gleich mitbekamen. Dabei waren wir nicht ahnungslos. Wir wußten, andeutungsweise, wie es in den Konzentrationslagern zuging. Ich wußte es schon seit 1933, als ich in österreichischen Zeitungen gelesen hatte, daß dort Menschen zu Tode geschunden oder erschlagen werden, daß es offiziell aber heißt: auf der Flucht erschossen. (Doch den Lieblingssport der SS-Männer, das Mützewerfen, kannte ich nicht.) Ich wußte auch, daß Häftlinge, die zu fliehen versuchten, gehenkt wurden. (Doch das Verhungernlassen im Stehbunker, die Genickschüsse an der Schwarzen Wand, die Boger-Schaukel bei den Vernehmungen kannte ich nicht.) Ich glaube mich auch zu erinnern, schon während des Transports von den Judenvernichtungen gehört zu haben. Ein Mitgefangener hatte behauptet, daß Thomas Mann im amerikanischen Rundfunk davon gesprochen habe. Aber vielleicht trügt mich mein Gedächtnis, deshalb mißtraue ich ihm: Es mengt Erlebtes und Gehörtes, hält sich an keine Abfolge, gehorcht nicht dem Kalender, sondern den Jahreszeiten. So habe ich den Tag, der mir immer dann, wenn ich an Rudi Friemel denke, in den Sinn kommt, auch als typischen Allerheiligentag in Erinnerung behalten: kalt und grau, mit kahlem Geäst, vereinzelten Schneeflocken. Jedenfalls
hielt sich mein Entsetzen anfangs in Grenzen. Erst mit der Zeit erfuhr ich, wo ich eigentlich gelandet war. Die ersten Tage brachten wir im Quarantäneblock zu. Ein paar politische Häftlinge nutzten jeden Vorwand, um Kontakt mit uns aufzunehmen. Von ihnen hörte ich zum ersten Mal, daß es Gaskammern gab. Mit Schlägen, Fußtritten, auch mit dem Galgen hatte ich gerechnet. Damit aber nicht. Und der zweite Schrecken kam mit der Gewißheit: Die SS spritzt Häftlinge tot. Mit Phenol. Allerdings: Auschwitz ist nicht Auschwitz allein. Das Stammlager, in dem ich und vor mir schon Rudi Friemel gelandet war, gehörte nach offizieller Diktion zur Lagerstufe 1. Es war also kein Massenvernichtungslager, im Unterschied zu Birkenau. Auschwitz 1 konnte man als sogenannter Arier mit Glück und Geschick überleben. Außerdem waren wir Privilegierte; als Reichsdeutsche standen wir in der Rangordnung der Nazis ganz oben, noch über den Tschechen und Westeuropäern, Franzosen und Belgiern, die wiederum größere Überlebenschancen hatten als Jugoslawen, Polen oder gar Russen. Wir durften Briefe und sogar Pakete empfangen. Wir verstanden, was die SS-Männer brüllten. Es gereichte uns zum Vorteil, wenn der Klang unserer Stimmen sie an ihre Kindheit erinnerte. Wichtig war auch der Zusammenhalt der politischen Häftlinge. Bei meinem Eintreffen gehörten der Widerstandsbewegung, der Kampfgruppe Auschwitz, wie wir sie nannten, schon Vertreter mehrerer Nationen an, nicht mehr nur Polen und Österreicher. Sie traf sich in Block 4, in einem Verschlag unter der Kellerstiege, in dem Kübel, Besen und Putzfetzen aufbewahrt wurden. Allein, daß die Politischen auf einen zugingen, ihm sagten, wie er sich zu verhalten habe, konnte ein Menschenleben retten. Ich kam als Jusstudent nach Auschwitz. Noch im Quarantäneblock schärfte mir ein Graphiker aus Wien ein, vor der Kommission, die einem das
Arbeitskommando zuwies, als Beruf nicht Student anzugeben, sondern Maler und Anstreicher. Dabei hatte ich in meinem ganzen Leben keinen Malerpinsel in der Hand gehalten. Na und, sagte er, das wirst du schnell lernen, und wenn nicht, fällt’s keinem auf. Auf diese Weise wurde ich einem guten Kommando zugeteilt; ich mußte nicht im Freien arbeiten, kam viel herum, konnte bald Rasierklingen oder Zwirnspulen organisieren, die sich gegen Socken oder Margarinewürfel eintauschen ließen, und galt bei der SS als Fachkraft, deren Leben schwerer wog als das der meisten anderen. Rudi Friemel hatte erst gar nicht zu lügen brauchen. Als Automechaniker war er fein heraus. Vielleicht hat er von Anfang an in der SS-Fahrbereitschaft gearbeitet. Sein Kommando lag außerhalb des eigentlichen Lagers, hinter der Blockführerstube. Es war eine mit Wellblech gedeckte, langgestreckte Holzbaracke in einem umzäunten Areal, auf dem Lastautos, Personenkraftwagen und Motorräder gewartet wurden. Im Herbst vierundvierzig standen dort sogar Panzerwracks der SS-Division Hitlerjugend, die wieder einsatzbereit gemacht werden sollten. Die Fahrbereitschaft war ein Spitzenkommando. Friemel ist selbst am Steuer gesessen, er hat die Autos gestartet und eingefahren. Es ist gut möglich, daß auch sein Kommandoführer Automechaniker war. Dann hätten sich also Kollegen gefunden, der SS-Mann hätte bald erkannt, daß Friemel bestens qualifiziert war. Er hätte ihm seine Hochachtung nicht versagt, zumal Friemel selbstbewußt auftrat, nicht überheblich, aber auch nicht demütig. Ich erinnere mich, daß einmal ein Unterscharführer vom Kommando Elektriker, der an der Sola ein Motorboot liegen hatte, zu ihm kam: Du, mein Boot rührt sich nicht. Schau’s dir an. Du verstehst ja was von Motoren. Und die beiden sind raus und runter zum Fluß, und Rudi hat den Motor zerlegt und wieder zusammengebaut, und dann hat er ihn angeworfen, und
die beiden haben ein Freudengeheul angestimmt, das weithin zu hören war. Ich erinnere mich auch, daß er mir Frauenwäsche und Brot zusteckte, als ich nach Birkenau beordert wurde, um Baracken zu numerieren und Parolen zu malen wie: »Eine Laus, dein Tod« oder »Es gibt nur einen Weg zur Freiheit. Die Meilensteine sind: Fleiß, Vaterlandsliebe, Sauberkeit, Gehorsam…« Rudi war nicht so wie manch andere von der Lagerprominenz, die ihre Schätze horteten, und wehe, du hast sie einmal um einen Gefallen ersucht. Er war bekannt, beliebt, ein Begriff: Das ist einer, von dem du was haben kannst. Einmal, an einem Sonntagnachmittag, hat er mir eine Handvoll Medikamente geschenkt, für kranke Österreicher, die mit einem Transport eingeliefert wurden. Medikamente! Wer ein Kopfwehpulver besaß, galt im Lager als wohlhabend. In der Fahrbereitschaft war die Verpflegung besser, wahrscheinlich haben sie sich was aus der SS-Küche verschaffen können, und der Friemel sah gut genährt aus, auch der Vesely, ein fideler Bursch, der dort Schreibarbeiten machte, so eine Art Adjutant vom Friemel, die beiden galten als unzertrennlich, und mir scheint, daß sich der Friemel irgendwie verantwortlich fühlte für den jungen Spund, der ihn vielleicht an seine eigene Jugend erinnerte. Also, Friemel war guter Laune, er war frohgemut, er war ein kräftiger Mann mit festem Glauben, daß es eine Perspektive gibt, dieses Höllenlager zu überleben. Ein überzeugter Marxist, moralisch absolut gefestigt, der ist nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit der Partei beigetreten, sondern hat aus tiefer Überzeugung mit der Politik der Sozialisten gebrochen und sich zur KP bekannt. Wann, weiß ich nicht. Wahrscheinlich 1941, nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Also nicht, weil er sich was davon erwartet hat. Jedenfalls: Der Friemel war Kommunist. Der Ernstl Burger, den ich sehr gern
hatte, weil er ein gescheiter Arbeiterbub war, hat mir von Friemel und seiner Arbeit erzählt, daß Friemel eine wichtige Tätigkeit ausübt, die anderen mit Informationen versorgt, weil er die Möglichkeit hat, Radio zu hören. Später hat mir Friemel die Stimmung in der Fahrbereitschaft geschildert. Sie hatten ein relativ gutes Verhältnis zu den SSMännern, das hat sich im Lauf der Zeit so ergeben, und es gab einen schrecklichen Hang zur Sauferei. Einmal haben sie nichts zum Saufen gehabt, ich erinnere mich, als hätte er mir das erst gestern erzählt, da haben die kriminellen Häftlinge Methylalkohol gesoffen, den sie künstlich hergestellt haben, aus Benzin oder Petroleum, irgendein Gemisch. Daraufhin sind zwei erblindet, und ein paar andere sind in den Krankenbau gekommen und krepiert. Das war die Folge der Demoralisierung, der Aussichtslosigkeit, die nach der Niederlage von Stalingrad unter den Deutschen um sich gegriffen hat. Als ich nach Auschwitz überstellt wurde, im August 1942, war er schon da. In Dachau hatte mir ein Landsmann gesagt, paß auf, in Auschwitz gibt’s eine Orientierung, das ist der Ernst Burger. Ich wurde Schreiber im Krankenbau, und dort hatten sie eine Riesenkartei, in der hab ich den Burger gefunden. Nach ein paar Tagen bin ich ihn suchen gegangen. Er war damals an Bauchtyphus erkrankt, ist aber von polnischen Pflegern entlassen worden, weil die geahnt haben, daß eine Selektion kommt, und er war auf seinem Block. Dort habe ich ihn besucht, im Block 4, zuerst war er noch nicht ansprechbar, aber dann hat er gesagt, da sind zwei Österreicher, der Ludwig Vesely und der Rudi Friemel, auf die ist Verlaß. Hin und wieder konnten wir uns kurz unterhalten. Friemel hat in einem Block geschlafen, in dem viele Franzosen waren. Sie haben ihn sehr gern gehabt. Er war übrigens auch bei den Polen recht beliebt.
Friemel hat mir einmal Mut zugesprochen, in einer Phase, in der ich völlig verzweifelt war und nahe daran, in den Draht zu gehen, weil ich keinen Ausweg sah. Tu’s nicht, sagte er, halt durch. Laß uns nicht allein. Dieser Bitte – und meinem Verlangen, sie nicht auszuschlagen – verdanke ich mein Leben. Ich habe diesen Friemel nicht gekannt, und ich hätte ihn auch nicht kennenlernen wollen. Nach allem, was ich von ihm wußte, war er unerschütterlich, ruhig, stark, vollgepumpt mit Kameradschaft. Sagt: Trost und Wehr, und denkt wirklich, beides sei möglich an diesem Ort, von dem ich nie losgekommen bin. Damit du verstehst, was ich meine, nehme ich dich mit an die Rampe. Das ist ein Privileg, vergiß es nicht, du verdankst es der Tatsache, daß ich einen Narren an dir gefressen habe. Ich habe mit dem Kapo gesprochen, er hat dich auf die Liste gesetzt. Im Gegensatz zu mir brauchst du dir den Einsatz also nicht teuer zu erkaufen, mit Gunstbezeugungen oder Gegengeschäften, die unter deiner Würde sind. Ich zeige dir alles, was du wissen mußt. Die gleißende Hitze und den höllischen Durst. Das stramme Marschieren vorbei an den Baracken, den Laufschritt auf der Landstraße, den Befehl: Rührt euch!, das Warten im schmalen Schatten der Böschung. Die dichte Postenkette, den Schienenstrang über uns, die hohen Kastanienbäume ringsum. Die Motorräder, auf denen die Unteroffiziere angebraust kommen, die Kantine, in der sie sich die Zeit vertreiben, mit Mineralwasser Marke Apollinaris und mit Familienfotos, die von Hand zu Hand gehen. Die wachsende Spannung, als wir unserer Beute ansichtig werden: die ersten Güterwagen, die aus der Kurve kriechen, ganz hinten die Lokomotive, ihr langes durchdringendes Pfeifen, ihre dicke Dampfwolke. Die blassen Gesichter mit den weit aufgerissenen Augen hinter den kleinen vergitterten Fenstern. Das Hämmern von Fäusten, von innen gegen die Bretter, und
die Schreie, nach Wasser und Luft. Die kurze Salve aus der Maschinenpistole, über die Waggons hinweg, die sie zum Verstummen bringt. Das Rasseln der Schiebetüren, das Drängen der Eingepferchten. Den Befehl, ihr Gepäck mitzunehmen und vor den Waggons abzulegen. Die angstvollen Fragen der Angekommenen, noch während sie nach Luft japsen, die wir nicht erwidern oder mit einer Gegenfrage beantworten: Woher kommt ihr? Die rasch wachsenden Berge von Koffern, Taschen, Rucksäcken, Ranzen, Bündeln, Mänteln und Jacken. Die pfeifenden Gerten der SS-Männer, ihre Aktentaschen, die Gold und Schmuck aufnehmen. Die Türme aus Brot, Schinken, Wurst, die in der Sonne leuchtenden Gläser mit Marmelade, Powidl und eingelegtem Gemüse. Den Tumult. Die Schwachen, die straucheln und niedergetreten werden. Die Handtaschen, Banknoten, Uhren. Das Geschrei der Frauen, das Weinen der Kinder. Das betretene Schweigen der Männer. Den Rotkreuzwagen, der mit seiner Giftgasfracht vorüberrast. Unsere Schwerstarbeit, die Waggons leer zu machen von den totgetrampelten und erstickten Kindern, den Krüppeln und Greisen. Den Gleichmut, mit dem wir die kleinen Leichen am Hals, Arm oder Bein packen und hinaus auf die Rampe schleudern. Die Befriedigung, daß uns alles so leicht von der Hand geht. Die Wut, die in uns aufsteigt, als wir aus dem Augenwinkel eine junge Frau beobachten. Die Frau, die ahnt, was Müttern und Kindern bevorsteht, und deshalb vorwärts hastet, nur weg von den dröhnenden Lastwagen, weg von ihrer kleinen pausbäckigen Tochter, die schluchzend hinter ihr hertrippelt. Mama, Mama. Dich oder mich, der die Frau anfährt. Nimm endlich das Kind auf den Arm! Die Frau, die gesund ist und schön. Das ist nicht mein Kind! Dich oder mich, der sie zu Boden stößt, aber noch im Fallen an den Haaren hochreißt. Miststück. Vor dem eigenen Kind
davonlaufen. Dich oder mich, der sie mit ungeahnter Kraft auf den Lastwagen schleudert, und das Kind hinterher. Unsere nächste Wut, auf ein Mädchen, das aus dem dritten Waggon springt und forschend um sich blickt, dann das schwere dunkle Haar aus der Stirn wirft und dich oder mich fragt: Hör mal, wohin bringt man uns? Ihre Batistbluse, den Rock, den sie zurechtstreicht, die schmale goldene Uhr an ihrem Handgelenk. Ihre klugen braunen Augen. Sag doch was. Dein, mein wütendes Schweigen. Ihren hochmütigen Satz: Ich weiß schon, und ihre federnden Schritte, mit denen sie auf den Lastwagen zugeht, die Hand wegschiebt, die sie zurückhalten will, und die Stufen hinaufspringt. Dich oder mich, der ihr nachblickt. Die rotlackierten Fingernägel auf ihren im Fahrtwind flatternden Haaren. Dann wieder das Bücken und Zerren, Leiche, Leiche, Gepäckstück. Kinder, die wie verirrte Hunde auf der Rampe herumlaufen. Einen alten Mann im Frack, mit Armbinde, der den Herrn Kommandanten zu sprechen verlangt. Seinen Kopf, der auf dem Boden aufschlägt. Ein Mädchen mit nur einem Bein, das herbeigetragen wird. Dich und mich, die es an den Händen und am Bein halten. Oh, das tut weh, meine Herren. Dich und mich, die sie zu den Leichen werfen, zum alten Mann im Frack. Ein anderes Mädchen, zwei oder drei Jahre alt, das sich nach dem Öffnen der siebten Waggontür weit hinauslehnt, das Gleichgewicht verliert und vornüber auf den Schotter fällt, eine Weile betäubt liegenbleibt, sich dann erhebt und im Kreis dreht, immer schneller. Seine Arme, die dabei wie Flügel schlagen, sein Mund, der nach Luft schnappt, sein monotones Wimmern. Einen SS-Mann, der ihm einen Tritt versetzt. Wie die Kleine stürzt, wie er sie mit dem Stiefel gegen den Boden drückt, seine Pistole zieht, zweimal schießt. Das Strampeln der dünnen Beine, ihr Scharren über den Schotter. Den nächsten Waggon, das Warten, den nächsten Transport. Den
Sonnenuntergang, die Dämmerung, das Funkeln der Sterne, das Verblassen der Sterne. Das Abklingen der Wut, die Vorfreude auf das, was für uns abfällt. Den Befehl, Abmarsch ins Lager. Unseren Kapo, der Seide, Gold und Kaffee in einen großen Teekessel stopft, für die Wachtposten am Tor, damit sie uns ohne Kontrolle passieren lassen. Mich, der in ein Paar Lederschuhe schlüpft, dich, der ein Seidenhemd ergattert hat. Mich, der sich eine Stange Salami in den linken Ärmel schiebt. Dich, der heimlich die Pillen an sich nimmt, die er gegen zwei Zitronen und eine gebrauchte Zahnbürste eintauschen wird, und irgendwann landen sie bei Friemel, der sie weiterschenkt, ehe er die Lastwagen wartet, die für den nächsten Transport benötigt werden. Hier gibt es keine Helden, nur das wollte ich dir zeigen. Und mir klarmachen, weshalb ich ihn so sehr hasse, ihn und seine Frau und ihre Hochzeit hier, bei uns in Auschwitz.
Zuerst zogen wir nach Rotterdam. Dann nach Amsterdam. Dann sind die Deutschen einmarschiert. Dann sind wir eines Nachts weg, um heimlich nach England überzusetzen, aber der Frachter war heillos überladen, und wir hatten Angst. Als wir zurückkamen, brachte ich meinen kleinen Sohn zu Bett. Am nächsten Morgen war er ganz fröhlich und sprach gleich von unserem Ausflug an die Küste und von den anderen Leuten, die flüchten wollten, und von dem Boot, das wir letztlich nicht bestiegen hatten. Da sagte mein Mann, du hast das alles nur geträumt, und er widersprach, und ich sagte auch, das war ein Traum, und da schaute er mich an, und ich hielt seinem Blick stand, ein Traum, den du keinem erzählen darfst, und er lächelte und sagte, du hast recht, es war nur ein Traum. In unserem Pelzgeschäft verkehrten viele Offiziere, die sich einen Deut darum scherten, daß wir Juden waren, Hauptsache, sie
bekamen, was sie suchten, Nerze, Persianer, Silberfüchse für ihre Frauen und Freundinnen zu Hause, aber als der Feldzug gegen Rußland begann, sollte mein Mann die Wehrmacht in großem Umfang mit Pelzwesten beliefern, und das war der Moment, wo wir uns sagten, jetzt oder nie. Die Idee war, uns nach Spanien durchzuschlagen und dort ein Schiff nach Übersee zu nehmen, denn mein Schwager hatte inzwischen kubanische Visa besorgt. Er fand auch einen Deutschen, der im Auftrag der Wehrmacht regelmäßig nach Frankreich fuhr und sich bereit erklärte, uns bis Paris zu schmuggeln. Das ging nicht auf einmal. Zuerst fuhren die Männer, mit meinem Sohn, tags darauf die Frauen mit den anderen Kindern. Mein Sohn weinte, als ich ihn gegen sechs Uhr morgens aus dem Schlaf riß. Draußen regnete es in Strömen, und die Zeit drängte, da drückte ich ihm unseren großen schwarzen Regenschirm in die Hand, und er hörte endlich auf zu weinen. Die Grenze nach Belgien passierten wir im Kofferraum eines Autos. In Brüssel stiegen wir in einen Lastwagen um. Der Fahrer versteckte uns im Hohlraum hinter der Ladung, die aus tausend Stangen Zigaretten bestand. Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. In Paris erwartete uns schon ein junger Mann. Mit der Bahn fuhren wir alle gemeinsam in ein Dorf wenige Kilometer vor der Demarkationslinie. Unser Begleiter ging gleich nach der Ankunft den Chauffeur des Postautos suchen, das zwischen den beiden Landesteilen verkehrte, wir sollten in einem Gasthaus auf ihn warten. Dort war eine Frau, die uns scharf musterte und dann aufstand und ging, und mir schwante nichts Gutes, aber ich schwieg, um die anderen nicht zu beunruhigen, und was hätten wir auch tun können. Als dann unser Führer mit dem Chauffeur zurückkam, fuhren wir gleich los, kamen aber nicht weit, denn mitten auf der Straße stand ein deutscher Soldat, stoppte den Wagen und befahl uns auszusteigen.
Ein paar Tage lang saßen wir im Untersuchungsgefängnis von Angoulême, mein Mann und mein Schwager im Männertrakt, wir Frauen mit meinem Sohn in einer Zelle mit zwanzig anderen Grenzgängerinnen, dann wurden wir zu zehn Wochen Haft verurteilt und nach verbüßter Strafe in ein Lager überstellt. Meinen Sohn hatte die Schwester unseres Fluchthelfers schon vorher zu sich genommen, wir erfuhren, daß sie ihn bei einem Ehepaar in Marseille untergebracht hatte und daß es ihm dort gutging, da fiel mir ein Stein vom Herzen. Dann wurden alle arbeitsfähigen Männer deportiert, und einige Zeit später gingen auch die Frauen, die älteren Männer und die Kinder auf Transport. Im Waggon war es so eng, daß wir uns nicht umdrehen konnten. Bei jedem Halt bettelten wir um Wasser. Am Abend des fünften Tages erreichten wir den Ort. Der Zug fuhr noch ein Stück über den Bahnhof hinaus, dann wurden wir mit Stöcken ins grelle Licht getrieben. Alle Frauen mit Kindern wurden auf Lastwagen wohin abtransportiert, und ich war selig vor Glück, meinen Sohn nicht bei mir zu haben. Am vierten Tag im Außenkommando wünschte ich mir den Tod herbei, aber am Abend des zehnten lebte ich immer noch und vermochte die Blockälteste und dann einen Sturmbannführer zu überzeugen, daß ich eine gute Bürokraft sei. So kam ich in die Schreibstube. Später wurde ich in die Politische Abteilung überstellt, und zwar ins Standesamt II. In der Stadt gab es das Standesamt I, das Geburten und Trauungen registrierte. Unsere Abteilung hielt ausschließlich Todesfälle fest. Meine Arbeit bestand darin, die Totenscheine mit den fingierten Todesursachen in ein großes Buch zu übertragen. Bis 1943 wurden auch die Juden individuell erfaßt, außer die in der Gaskammer Ermordeten. Bei jedem Transport aus Frankreich schnürte es mir die Kehle zu, mich quälte die Vorstellung, auf der Liste den Namen der Familie aus Marseille zu finden, die meinen Sohn zu sich genommen hatte,
aber eines Tages endlich hielt ich seinen ersten Brief in den Händen, meinem Bruder war es gelungen, ihn in die Schweiz zu holen. In unserer Baracke fanden auch die Vernehmungen statt. Ich hörte die Häftlinge schreien, ich sah sie nachher auf dem Boden liegen. Der Direktor der Politischen Abteilung war damals der Niederösterreicher Maximilian Grabner. Walter Quackernack aus Bielefeld leitete das Standesamt, sein Stellvertreter hieß Bernhard Kristan und stammte aus Königsberg. Quackernack tat immer ganz vornehm; wenn Kriegsgericht gehalten wurde, trug er weiße Handschuhe zu seiner eleganten Uniform. Einmal beobachtete ich von meinem Bürofenster aus, wie er einen Kindertransport zur Gaskammer brachte. Als die Kinder vom Lastwagen getrieben wurden, ging ein kleines blondes Mädchen auf Quackernack zu. Ich sah, wie es das Gesicht zu ihm hob und ihn lächelnd etwas fragte. Ich sah auch, wie er dem Mädchen mit aller Kraft einen Fußtritt versetzte. Erst blieb es eine Weile benommen liegen, dann rappelte es sich weinend auf. Auch ich weinte, ich hatte schon lange nicht mehr geweint. Kristan liebte das Töten. Er war immer gut gelaunt, wenn er von den Exekutionen zurückkam. Er liebte ebenso die Topfpflanzen in seinem Büro. Einmal war er zärtlich zu einem Kätzchen, Besseres kann ich nicht über ihn sagen. Die beiden, Quackernack und Kristan, gerieten in Aufregung, als kurz hintereinander zwei Anfragen bei uns eingingen. Ein Standesamt in Oldenburg mißtraute den statistischen Zahlen, die sie nach draußen meldeten: »Es erscheint unmöglich, daß eine kleine Gemeinde wie Auschwitz eine derart hohe Zahl von Todesfällen aufweist.« Auch ein Amt irgendwo in Thüringen vermutete fehlerhafte Angaben. Der Beamte dort äußerte den Verdacht, das Standesamt von Auschwitz würde kumulativ alle Verstorbenen seit der Einführung von Zivilregistern im Jahre 1870 erfassen.
Quackernack vermied weitere Beanstandungen, indem er von da an die Zahl der Toten für seine Berichte durch 180 dividierte. Ich war die letzte aus diesem Transport von 521 Mädchen, die tätowiert wurde, und erhielt die Nummer 21946. Wahrscheinlich verdanke ich es meinem losen Mundwerk, daß ich nicht gleich durch den Rauchfang wanderte. Beim Verlesen der Transportliste stellte sich nämlich heraus, daß mein Name fehlte, und daraufhin sagte ich zu dem SS-Mann, wenn das so ist, dann schicken Sie mich wieder nach Hause. Das geschah zwar nicht, aber meine Unverfrorenheit hatte ihn anscheinend beeindruckt, denn nach einem Tag im Außenkommando Baumschule kam ich auf seine Anordnung hin von Birkenau nach Auschwitz, ins Standesamt. Es war in einer Holzbaracke neben dem Krematorium untergebracht, und meine Aufgabe bestand Tag für Tag darin, auf den Sterbeurkunden mit Tusche und Lineal Striche zu ziehen. Mein unmittelbarer Vorgesetzter war Unterscharführer Kristan, der aussah, als wäre er einer germanischen Heldensage entsprungen. Er konnte sich wahnsinnig über blonde und blauäugige Juden ärgern, und ganz besonders zuwider waren ihm Mischlinge wie ich, die sein Rassenkonzept durcheinanderbrachten. Kristan war der erste, der mich schlagen wollte, und zwar mit einem Aktendeckel. Er hatte den Arm schon erhoben, aber ich schaute ihm ganz fest in die Augen, und er bekam auch so einen starren Blick, sekundenlang fixierten wir einander, dann ließ er seinen Arm sinken. Viel später, als die Spanierin zu uns in die Schreibstube gebracht wurde, vor der Trauung, war er die Liebenswürdigkeit in Person. Wegen dem Kind mußten wir heiraten, und zwar kirchlich, weil Franco die katholische Trauung zwingend vorgeschrieben hatte. Aber ich war ja nicht getauft, und um mir diesen Humbug zu ersparen, behauptete ich, ich sei in der Kirche der
Virgen de la Paloma getauft worden, die während des Krieges ausgebrannt war. Was für eine glückliche Fügung, rief der Pfarrer von San Cayetano, bei dem wir das Aufgebot bestellt hatten, die Kirche steht nicht mehr, aber die Pfarrchronik ist dank der Fürbitten unserer Heiligen Jungfrau unbeschadet geblieben! Also war’s Essig mit meinem Plan, und mir blieb nichts übrig, als den ganzen Zirkus mitzumachen, Taufe, Trauung und wieder Taufe, denn Julian durfte ja kein Heidenkind bleiben. Zuerst wohnten wir bei meinen Schwiegereltern, dann machten wir eine Erbschaft und konnten uns eine Wohnung in der Colonia Moscardo, am anderen Ufer des Manzanares, leisten. Im selben Monat, Juli dreiundvierzig, gelang es Fernando auch, in einer Bank unterzukommen. Ich sorgte in dieser Zeit schon für die Verbindung zwischen der Parteileitung in Madrid und der Zentrale in Frankreich. Nicht, daß ich darauf scharf gewesen wäre. Es gab etliche, die mehr Grips hatten als ich. Aber so, wie die Situation damals war, kam es nicht allein auf den Verstand an. Jemand mußte es tun. Also ich. Und Ende Juli schickte mein Bruder diesen Jungen zu uns, Juan Ros, den ich von Frankreich her kannte. Am dritten August sollte er im Retiropark einen Kontaktmann treffen. An dem Tag konnte ich nicht zu Hause bleiben, ich mußte einem Genossen eine dringende Nachricht ins Gefängnis bringen, verschlüsselt natürlich, Fernando war schon zur Arbeit gegangen, und da sagte ich zu Juan, ich laß den Jungen hier, wenn du dann weggehst, bringst du ihn zu Fernandos Kusine. Das wollte er auch, aber die Kusine war nicht zu Hause, und er mußte um Punkt zehn im Retiro sein, also nahm er Julian kurzerhand mit. Und im Park wartete schon die Polizei auf ihn. Wenn unser Junge nicht bei ihm gewesen wäre, hätte Juan sicher gefeuert. Sie hätten ihn erschossen, aber vorher hätte noch der eine oder andere von ihnen ins Gras gebissen. Er hat versucht, Zeit zu gewinnen.
Dreimal schickte er sie an eine falsche Adresse, aber beim vierten Mal packten sie Julian an einem Bein und machten Anstalten, ihn mit dem Kopf gegen die Wand zu schmettern. Da gab er ihnen, was sie wissen wollten. Zu mir hatte er noch gesagt, wenn ich bis vier nicht zurück bin, weißt du, was zu tun ist. Er hatte ja eine Menge Flugblätter mitgebracht. Um zehn vor vier stürmten sie die Wohnung. Sie machten sich nicht die Mühe, vorher zu läuten. Als sie den Schrank öffneten, fiel ihnen der Stapel schon entgegen. Na, Marina, was ist denn das. Keine Ahnung, das gehört unserem Gast, ich schnüffle doch nicht in fremden Sachen herum. Mehr brachten sie nicht aus mir heraus. Ich weiß von nichts, immer wieder. Sag, bist du wirklich so blöd. Ja, ich bin blöd. Und dabei blieb ich. Denn mir war klar, sowie ich rede, bin ich verloren. Schweigen und Dummstellen. Sie wußten ja nichts von mir. Ich war mit dem Kerl da neben mir verheiratet, und seine Eltern, anständige Leute, waren einfache Arbeiter, gegen die nichts vorlag. Fernando war auch nicht belastet. Dabei hatten sie sogar ein Foto von ihm, mit Schnauzer, das auf der Straße aufgenommen worden war, von der Seite, es sah aus, als würde ihm eine Hand fehlen. Sie fragten mich, wer ist der Krüppel, den hab ich noch nie gesehen, antwortete ich, vielleicht ein Freund meines Mannes. Dann hatten wir das Glück, daß der Wärter unten im Keller der Sicherheitsdirektion insgeheim Kommunist war. Der kam zu Fernando in die Zelle, nimm, Bruder, wird dir guttun, und wie Fernando das Brot aufklappt, findet er darin einen Fetzen Papier und einen Bleistiftstummel. Dank diesem Genossen konnten wir unsere Aussagen aufeinander abstimmen. Ich schrieb Fernando, daß ich nichts zugegeben hatte, und weil er Bescheid wußte, tappte er ihnen auch in keine Falle, diesen Dummköpfen, die sich für besonders schlau hielten und in ihrer Schlauheit selbst
austricksten. Heute lache ich darüber. Aber damals habe ich vor Angst gezittert. Wer sagt, daß er bei den Verhören keine Angst gehabt hat, lügt. Sogar Fernando, der nie was zugibt, sagt, er habe Blut geschwitzt, und zwar nicht wenig. Es war der reinste Horror. Schlimmer als Angst. Diesen Jungen, Juan Ros, haben sie hingerichtet. An einem Karfreitag, als brave Katholiken. Er war erst zwanzig. Im Gerichtssaal hab ich ihn noch einmal gesehen. Sein Gesicht war von den Folterungen entstellt, ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Er bat mich um Verzeihung. Da gibt’s nichts zu verzeihen, mein Sohn. Du hast nichts Unrechtes getan. Du konntest Julian doch nicht wegzaubern. Der Staatsanwalt forderte auch für mich die Höchststrafe, den Paragraphen 38 oder 238. Erschießen also. Fernandos Mutter, die bis dahin jedem Pfaffen aus dem Weg gegangen war, rannte gleich in die Kirche und warf die Gebetsmühle an. Fernando und ich, wir bekamen am Ende sechs Jahre aufgebrummt. Sechs Jahre und einen Tag, um genau zu sein. Seine Mutter hatte sich schon vorher von Jesus Christus persönlich versichern lassen, daß man uns nicht hinrichten werde. Als sie mich einmal im Gefängnis besuchte, sagte sie: Sei unbesorgt, euch beiden passiert nichts, ich hab den Heiland von Medinaceli befragt, und er hat den Kopf geschüttelt. Die Arme hat das allen Ernstes geglaubt. Da sieht man, was Einbildung aus einem Menschen machen kann. Ich hab auch im Gefängnis nicht klein beigegeben. Ob in Ventas, in Segovia oder in Soria – es gab immer eine Gelegenheit, den Aufseherinnen die Hölle heiß zu machen. Wir waren eine gute Truppe, Julia, Nieves, Lolita, La Peque, die in Segovia getürmt ist. Den Strick, mit dem sie über die Mauer kletterte, haben wir ihr aus Schnüren zusammengedreht, die wir von unseren Angehörigen erbettelt haben, zum Seilspringen, haben wir ihnen gesagt. La Peque floh eines
Abends, um neun, während die Gefängnisdirektorin das Klavier traktierte und das Personal andächtig döste. Als wir dann gezählt wurden, vor der Nachtruhe, war sie schon über alle Berge. Die Aufseherinnen gebärdeten sich wie Furien. Eine Rote ist abgehauen! Schlagt sie tot, wenn ihr sie findet! Nach einiger Zeit wurde sie wieder aufgegriffen und erschossen. Das war 1945. Ihr wirklicher Name war Asunción Cano. Fernando kam im März siebenundvierzig frei. Mich behielten sie wegen schlechter Führung ein Jahr länger. Kein Wunder, wo sie mich doch neunmal in die Strafzelle steckten. Ich war die erste, die ihnen den Teller vor die Füße warf. Der Fraß, den sie uns vorsetzten, war voll Würmer. Hungerstreik, dann noch einmal, weil sie die Gefangenen prügelten. Anfangs zwangen uns die Aufseherinnen noch, beim Appell mit gestrecktem Arm zu grüßen. Und sie tobten, wenn sie den Anisschnaps rochen, den wir in die Tonkrüge schütteten, ein paar Tropfen nur, damit das Wasser nicht so sehr nach Lehm schmeckte. Auf Margas ersten Brief, in dem sie mir ihr Herz ausschüttete, antwortete ich mit vier Zeilen. Julian ist gesund und munter, uns geht’s soweit ganz gut, Fernandos Eltern sind wohlauf. Wie geht es Dir, was macht Edi. Es umarmt Dich Deine Schwester Marina. Mehr durfte ich nicht schreiben, die Aufseherinnen hätten die Karte zerrissen und Besuchsverbot über mich verhängt, und meine Schwiegereltern wollte ich in die Sache nicht reinziehen, sie hatten schon genug am Hals. Marga konnte auch nicht schreiben, wie sie wollte. Manchmal kamen Briefe an, in denen die Zensur ganze Absätze gestrichen hatte. Eingeschwärzt, es ließ sich nur vermuten, was da eigentlich stand. Sie war todunglücklich. Klar, sie hatte es schwer, aber hatten es damals nicht alle schwer? Immerhin durfte sie ihren Jungen bei sich haben. Aber ich. Eine Mutter ohne Kind, schlimmer geht’s nicht. Ein Schmerz ist das, nicht
auszuhalten. Sei still, Fernando, davon versteht ein Mann nichts. Ich mußte damit leben, mir blieb auch keine Wahl. Julian, der zu seiner Großmutter Mama sagte, und als ich endlich entlassen wurde, war er fast sieben und kannte mich nicht mehr. Irgendwann schickte sie das Hochzeitsfoto. Sie sind gut getroffen, alle beide. Ein Paar schöner als im Kino. Margarita hat ein trauriges Gesicht, voll Kummer, aber er lächelt. Mit dem Foto kam auch das Buch, ein Roman von Pereda, ›Peñas arriba‹. Das war Rudis Geschenk für mich, er hat es mir gewidmet: »Für meine kleine Schwägerin Marina.« Ich hab keine Ahnung, wie es Marga gelungen ist, das Buch aus Auschwitz rauszuschmuggeln. Sie war damals sehr schlank, vielleicht hat sie es am Körper versteckt, unter der Bluse. In Segovia hab ich es wohl ein dutzendmal gelesen, nicht wegen der Geschichte, in der mir zuviel Weihrauch und Natur vorkommt, sondern wegen ihm. Wegen dir, Rudi. Ich schwör dir, ich war nie verliebt, aber ich hab dich auch nie vergessen. Fernando… Er hat nicht viel hergemacht, rein physisch, meine ich. Aber wie ich dann gespürt habe, was für ein herzensguter Mensch er ist, hat mich sein Äußeres nicht weiter gestört. Dein Buch. Jahre später hat Julian einen Freund mit nach Hause gebracht, der hat sich gleich darauf gestürzt, das wollte ich immer schon lesen, borgst du es mir. Natürlich hat er es nie zurückgegeben. In Kirchheim/Teck, dieser fleißigen kleinen Schwabenstadt, hat Margarita Ferrer wenig Spuren hinterlassen. Ich war dort, ich habe mich umgesehen, mir im Rathaus einen Stadtplan und eine Informationsbroschüre geben lassen, die zu einem Bummel in die Vergangenheit einlädt, von der Martinskirche über dreiundzwanzig Stationen zurück zum Kirchplatz. Das Wächterheim liegt außerhalb der empfohlenen Route, an der Schlierbacher Straße, die zur Wangerhalde und dann weiter
Richtung Göppingen führt. 1961 wurde das zweistöckige Gebäude, das man seit 1894 als Versorgungshaus für erstmals schwangere ledige Mädchen nutzte, generalsaniert und mit mehreren Anbauten versehen. Ab den frühen dreißiger Jahren diente das Heim auch als Entbindungsstation für Frauen aus der Stadt und der Umgebung, heute liegt der Schwerpunkt der Tätigkeit auf der Altenbetreuung und der Jugendhilfe. Ich bilde mir ein, Margarita auf einem Foto zu erkennen, das in der Broschüre ›100 Jahre Stiftung Wächterheim‹ abgedruckt ist, im Abschnitt über die Zeit zwischen 1933 und 1945. Die Bildlegende verweist auf einen Muttertag, eine Schar Kinder, die Mädchen mit Blumenkränzen im Haar, zwei Ordensschwestern von den Diakonissen in Schwäbisch-Hall mit Häubchen und Schürze, sechs Mütter oder Helferinnen. Die in der Mitte steht, kurzes Haar, karierte Bluse, und lächelt, die muß es sein. Auch das Kind, das sie im Arm hält, scheint zu lächeln. Es hat ein markantes kleines Kinn. Edi, glaube ich. Hausmutter – also Heimleiterin – war damals Schwester Berta Wurst, eine zähe, willensstarke Frau offenbar, die wegen des Verbots von Haustaufen einen Kleinkrieg gegen die nationalsozialistischen Behörden führte. Margarita war sie keine Stütze. Am Ziegelwasen nebenan, wo das Aufstellen von Wohnwagen behördlich verboten ist, gibt es die Metzgerei Feinkost Kübler, gab es sie damals schon, und wenn ja, hat Margarita dort ausgeholfen, von sieben Uhr früh bis elf Uhr nachts? Ich nehme an, der ihr zustehende Lohn wurde vom Wächterheim einbehalten, gegenverrechnet mit den Kosten für ihre Unterkunft und Edis Verpflegung, und sie war immer im Minus. Das Stadtarchiv ist auf dem sogenannten Freihofgelände untergebracht. Hier sind Margaritas Anmeldebogen und ihre Aufenthaltsbescheinigung verwahrt. Familienname Friemel, Familienstand verheiratet, Staatsangehörigkeit Spanien. Aber
auf der Einwohnermeldekarte wird auf ein Schreiben des städtischen Wohlfahrtsamtes Stuttgart verwiesen, wonach sie deutsche Staatsangehörige sei. Das Wohlfahrtsamt wiederum begründete seine Auskunft mit dem Hinweis, daß Frau Margarete Friemel von der Auslandsorganisation, Zweigstelle Stuttgart, am 26. 8. 1941 einen grünen Rückwandererausweis erhalten habe, der nur an Deutsche ausgegeben wird. Margarita und Edi sind also bis dahin in Stuttgart eingetroffen. Dem Anmeldebogen zufolge waren sie im dortigen Rückwandererheim, Hotel Central, Schloßgasse 16, untergebracht, ehe sie am sechsten Oktober im Kirchheimer Wächterheim einquartiert wurden. An diesem Tag meldete ›Der Teckbote‹ das günstige Fortschreiten der Angriffsoperationen, in der Südukraine wurden über 12000 Gefangene gemacht, England war wieder um 56000 Bruttoregistertonnen und 476 Flugzeuge armer, der Führer hielt eine mitreißende Rede und stiftete den Kriegsorden des Deutschen Kreuzes, Kreisleiter Groß sprach in Weilheim über den Sinn des heutigen Geschehens, in Linsenhofen zog ein Arbeiter beim Glücksmann Kirchner einen Gewinn von 500 Reichsmark, und der VFB Kirchheim errang in Nürtingen einen knappen, aber verdienten Sieg. Am Montag, dem 3. Mai 1943, war ›Der Teckbote‹ verhaltener im Ton und dünner im Umfang. Ein Bergmann »Pionier der Arbeit«, Alle bolschewistischen Angriffe abgewiesen, Eichenlaub für einen tapferen Oberfeldwebel, Erdbeben in Südwestdeutschland. Das nächtliche Beben, das auf der Schwäbischen Alb die Stärke sieben auf der zwölfteiligen Mercalliskala erreichte, zog ganz Württemberg und Baden in Mitleidenschaft; Uhren blieben stehen, Bettladen und schwere Schränke rückten von der Stelle, Türen sprangen auf, Vasen fielen von den Tischen, in den Ställen brüllte das Vieh. Selbst wenn das Epizentrum direkt unter dem Wächterheim gelegen wäre, hätte Margarita
den Vorfall nur als Teil einer größeren Katastrophe empfunden; ihr Schrecken war anderer Natur. Am 3. Mai 1943 verließ sie mit Edi die Stadt; laut Einwohnermeldekarte war ihre nächste Station Wien X. 75, Ernst-Ludwig-Gasse 10. Das ist alles, was in Kirchheim/Teck über sie vorliegt. Verzweiflung ist nicht aktenkundig. Ich kannte Rudi schon, bevor ich ihn zum ersten Mal sah. Es gab eine dicke Geheimakte über ihn, aus der hervorging, daß er auf seiten der Revolutionäre am Krieg in Spanien teilgenommen und dort auch geheiratet hatte. Die Trauung wurde von den Behörden nicht anerkannt, und er setzte alles daran, seine Frau nochmals heiraten zu dürfen. Zu diesem Zweck kam er oft vorsprechen, zum Leiter der Politischen Abteilung, und dann auch zu Quackernack oder Kristan. Keiner von ihnen konnte sich seinem gewinnenden Wesen auf die Dauer entziehen. Für uns hatte er immer ein freundliches Lächeln, und wenn gerade kein SS-Mann im Zimmer war, fragte er, ob wir irgendwas benötigten, Strümpfe oder Schuhcreme, oder ein Stück Seife. Eine Freundin von mir arbeitete in der Zensurstelle und fand manchmal Gelegenheit, seine Briefe an die Spanierin zu lesen. Sie konnte ganze Absätze daraus aus dem Gedächtnis wiedergeben. So hatten wir an seiner Liebe teil und waren bald ebenfalls verliebt. Rudi kämpfte um das Vertrauen seiner Frau, vielleicht war es das, was uns überwältigt hat, inmitten des Sterbens ringsum und der Totenlisten, die uns über den Kopf wuchsen, und der Gewißheit, daß wir, die Totenschreiberinnen, nicht überleben würden. Das war uns klar, das brauchten uns Kristan und die anderen nicht erst einzutrichtern: Im besten Fall werdet ihr hier an Altersschwäche sterben. Aber wenn ihr doch rauskommt, wird euch keiner glauben.
Aus Rudis Briefen war zu erkennen, daß die Spanierin mutlos war und beschlossen hatte, in ihr Land zurückzukehren. Er hatte Angst, sie und ihren gemeinsamen Sohn dann für immer zu verlieren, versuchte sie umzustimmen und versprach ihr »die Erfüllung Deines Sommernachts-Traumes aus Sillingy«. Was für ein Traum mag das gewesen sein, fragten wir uns, in einer lauen französischen Nacht am Feldrain, auf der Lagerstraße, Blätterrauschen, Grillenzirpen, süßer Duft von Heu oder verbranntem Fleisch. Unten im Tal blinken die Lichter der Ortschaft, der Bogenlampen zu uns herauf, herein in den Keller des Stabsgebäudes. Oder Sommernacht im Zimmer am Marktplatz, leises Gewirr aus dem Fenster gegenüber, helles Lachen manchmal, der Vorhang, der sich bauscht, das Knistern von Wäsche im Dunkeln und der Traum von der Hand an meiner Gurgel, aus dem ich schweißgebadet hochschrecke, das Ächzen, Stöhnen, Weinen auf den Pritschen ringsum und ein tiefes Gefühl der Geborgenheit, das glauben macht, Wünsche gehen in Erfüllung. Wir konnten nicht genug davon kriegen. Nicht von den Sorgen, nicht von den Träumen, nicht von den Kosenamen. Meine tapfere arme Frau! Meine liebe Spanierin! Meine liebe, liebe Marga! Süßer kleiner Liebling! Unser Leben, und wie schön es sein wird. Sei nicht verzagt, hab Geduld, ich bin stolz auf dich und auf Eduardito, der mir ähnlich sieht, aber Deine Augen hat, und die tragen ihre sonnige Heimat in ihrem Blick (ein Foto des Jungen, das sie ihm schickte, das wir nicht sahen). Ich weiß, schrieb er, daß Du aus Deiner schweren Situation herauswillst, und mit Traurigkeit fühle ich, daß Du mit unserem Söhnchen weit weg willst von mir – aber ich kann nichts anderes tun, als Dir zu sagen: Bleibe fest, und kämpfe mit mir um unsere gemeinsame Zukunft. Es ist das härteste Stück Weg, aber das letzte vor unserem Ziel.
Bleib fest, schrieben wir im Geiste mit, fahr nicht zurück nach Spanien, ich habe Euch unendlich lieb, Marga, glaub ihm, und unser Wiedersehen wird eine Feier sein wie nie zuvor eine; Du mußt nur durchhalten, wenn es auch noch so schwer ist. So viele Umarmungen, so große Sehnsucht, so schöne große dunkle Augen. Tausend Küsse. Mir ist unklar, wie es Margarita Ferrer gelingen konnte, zu dieser grünen Rückwandererkarte zu kommen. Vielleicht war sie doch nicht so hilflos, wie es den Anschein hat. Vielleicht lag es auch nur am Irrtum einer Schreibkraft und an der Unachtsamkeit ihres Vorgesetzten, der das Dokument gedankenlos unterschrieb. Margarita hatte ja nichts vorzulegen, was Beweiskraft besaß. In seinem Gesuch an das Reichssicherheitshauptamt in Berlin, das er am 29. September 1942 einbrachte, behauptet Friemel, sie im Jänner 1939 geheiratet zu haben. Die Ehe sei jedoch, wie viele ähnliche, von der nachfolgenden spanischen Regierung für ungültig erklärt worden. Das einzige Ehedokument, eine Bescheinigung der örtlichen Militärbehörde, sei in den folgenden Ereignissen verlorengegangen. In Frankreich habe er keine Ehe schließen wollen, sondern erst in seiner Heimat, in die er mit Frau und Kind bei erstbester Gelegenheit freiwillig zurückgekehrt sei. Als dringlichen Grund seines Antrags nennt Friemel Margaritas Absicht, bei Fortdauer der derzeitigen Situation mit dem gemeinsamen Sohn nach Spanien zurückzukehren, wodurch ihm die Möglichkeit genommen wäre, das Kind in seiner Heimat erziehen zu lassen und die Familienverhältnisse zu legalisieren. »Bei Erreichung der Reichsdeutschen Staatsbürgerschaft durch eine Ehe wäre meine Frau in der Lage, zu meinen Eltern nach Wien zu reisen, um dort zu wohnen u. Arbeit zu nehmen, wodurch ihr Lebensunterhalt u.
der des Kindes gesichert wäre, bis ich selbst die Obsorge für beide übernehmen kann.« Schon zuvor hatte Clemens Friemel versucht, eine Beurkundung der nie geschlossenen Ehe zu erreichen. Zu diesem Zweck wandte er sich an den Reichsstatthalter in Wien, der es für unerläßlich hielt, zur Abklärung des Sachverhalts Margaritas Staatsangehörigkeit festzustellen, und den Herrn Landrat in Nürtingen anwies, die Genannte zu verhalten, die Heiratsurkunde ehest anher zu übermitteln. Der Landrat gab die Anweisung an den Bürgermeister von Kirchheim/Teck weiter, der damit das Städtische Zeugnisamt beauftragte, das seinerseits beim Städtischen Wohlfahrtsamt in Stuttgart vorstellig wurde, welches die Abteilung für die Deutschen aus dem Ausland zu Rate zog, die Margaritas Behauptung als Tatsache wertete: Frau Friemel habe durch Eheschließung im Jahr 1939 die deutsche Staatsangehörigkeit erworben und von der Auslandsorganisation Zweigstelle Stuttgart den grünen Rückwandererausweis Nr. 14779 erhalten. Daraufhin schrieb der Herr Bürgermeister von Kirchheim/Teck an den Herrn Landrat in Nürtingen, daß der Frau Friemel die Beibringung der Heiratsurkunde nicht möglich sei, weil ihre Eheschließung angeblich von der nationalen Regierung nicht anerkannt wird, weshalb gebeten werde, die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen. Kirchheim unter Teck, den 24. 8. 1942. Die Angelegenheit wurde tatsächlich nicht weiter verfolgt. Denn Friemel brachte am 16. Dezember 1942 ein zweites Gesuch ein, in dem er nochmals seiner Befürchtung Ausdruck gab, Frau und Kind zu verlieren. In einem Brief vom 10. ds. habe Margarita ihn gebeten, ihrer Heimreise zuzustimmen. Er habe weder das Recht noch die Möglichkeit, ihr dies zu verweigern. In dieser verzweifelten Lage bitte er dringendst um positive Erledigung seines Gesuches vom 29. September, mindestens aber um konkreten Bescheid bezüglich seiner Bitte.
Er werde versuchen, seine Frau zu bewegen, ihr Vorhaben bis dahin aufzuschieben. Im Frühjahr 1943 muß ein positiver oder zumindest ermutigender Bescheid ergangen sein, da Friemel am dritten März in einem Sonderbrief an seinen Vater vermerkt, daß die Sache – »wie Du aus beiliegenden Zeilen an Marga ersiehst« – weit gediehen sei. Diese Zeilen sind nicht erhalten geblieben, es läßt sich nur vermuten, daß das Amt in Berlin Margaritas Übersiedlung nach Wien genehmigt und für die Bearbeitung des Antrags die Vorlage mehrerer Personaldokumente verlangt hat. Friemel bemühte sich, alle denkbaren Einwände seines Vaters und seiner Stiefmutter – Clemens Friemel hatte zwei Jahre zuvor wieder geheiratet – gegen die Übersiedlung zu entkräften; Marga werde die beiden in finanzieller Hinsicht sicher nicht beanspruchen, da Arbeitskräfte rar seien. »Hauptsorge bleibt das Kind u. die Wohnung. Falls M. im Betrieb arbeitet, wie würde das Kind untergebracht sein? Wenn der Kleine in ein Heim kommt, kann sie ihn täglich sehen od. gar mit heim nehmen? In punkto Wohnung: welche konkrete Möglichkeit besteht?« Offenbar stand sein Vater dem Anliegen sehr reserviert gegenüber. In einer biographischen Skizze, die sie Jahrzehnte später verfaßt hat, erwähnt Margarita einen Brief, in dem Clemens Friemel ihr nahelegte, mangels Unterkunft nicht nach Wien zu kommen. Sie zerriß den Brief, schickte ein Telegramm, in dem sie ihm ihre Ankunftszeit mitteilte, und setzte sich mit Edi in den nächsten Zug. In Wien fand sie rasch Arbeit in der Rüstungsindustrie, aber das Wohnungsproblem blieb ungelöst, bis sich endlich Frau Vesely ihrer erbarmte. In einem Brief vom 11. September 1943 hatte Ludwig seine Mutter gebeten, Margarita und das Kind bei sich aufzunehmen: Rudi und er seien gute Freunde. »Wir arbeiten beisammen,
schlafen nebeneinander, teilen alles, kurz Kameraden wie sie nur an der Front oder sonst wo, wo Not ist, entstehen.« Ein halbes Jahr lang zog sich die Angelegenheit noch hin. Sowohl in den Briefen an Marga als auch in den Eingaben an das Reichssicherheitshauptamt bändigte Friemel seine Gefühle. Ich habe den Eindruck, daß er jedes Wort sorgfältig prüfte, ehe er es zu Papier brachte. Er biederte sich nicht an, machte keine Konzessionen an die Gepflogenheiten nationalsozialistischen Schriftverkehrs. Nur seinem Vater gegenüber ließ er hin und wieder durchblicken, daß er mit seinen Nerven am Ende war. In einem undatierten Brief, vermutlich vom Dezember 1943, schrieb Friemel nach Wien, er werde noch einmal beim Lagerkommandanten vorsprechen; »gibt es da kein Resultat, dann habe ich mit allem abgeschlossen. Ich bedauere nur M. die umsonst so viel gelitten hat.« Fünf Wochen später traf die ersehnte Bewilligung ein; Friemels zweitem Antrag, zum Zwecke der Eheschließung nach Wien reisen zu dürfen, wurde allerdings nicht stattgegeben. Am 6. März 1944 schrieb der Standesbeamte in Vertretung Kristan an Clemens Friemel: »Laut Mitteilung des Konzentrationslagers Auschwitz hat das Reichssicherheitshauptamt Berlin die Genehmigung erteilt, daß Sie und Ihr Sohn Klemens der Trauung als Zeugen beiwohnen dürfen. Damit Sie alle Vorbereitungen in Ruhe treffen können, habe ich im Einvernehmen mit Ihrem Sohne die Trauung auf den 18. März 1944 um 11 Uhr verlegt. Ich bitte Sie, hier pünktlich einzutreffen. Ihr Sohn Klemens wurde durch mich, Frau Ferrer y Rey durch das Konzentrationslager Auschwitz verständigt.«
Mir hat sie nichts davon erzählt. Aber aus Gesprächen, die meine Mutter mit Nachbarn oder Bekannten geführt hat, habe ich gewußt, daß er eingesperrt war. In einem Lager, der Name
des Lagers ist nie gefallen. Das war auch nicht notwendig – ich hab gewußt, auf welcher Seite wir stehen. Ich bin zum Beispiel nicht bei der Hitlerjugend gewesen. Meine Mutter hat das nicht erlaubt. Einmal ist ein Brief gekommen, in dem sie mir mit Repressalien gedroht haben für den Fall, daß ich mich nicht binnen einer Woche bei ihnen melde. Also bin ich hingegangen. Kaum war ich dort, haben sie ein Rollkommando gebildet und mich an Ort und Stelle verprügelt. Da hab ich mir gesagt, ihr könnt mich gern haben, ohne mich! Meine Mutter hat überhaupt nicht mit den Nazis sympathisiert, im Gegenteil. Sie hat bei jeder Gelegenheit schwarzgehört und die Ansprachen der Parteibonzen mit spitzen Einwürfen kommentiert. Mein Onkel Klemens war der einzige von der Familie Friemel, zu dem sie noch sporadisch Kontakt hatte. Er hat mit einer Frau zusammengelebt, die eine Tochter von einem andern hatte, die Reli. Als Kind war ich öfter bei ihnen, sie wohnten in einer Seitengasse zur Erdberger Straße, sie hatten ein Detektorradio, sie waren immer sehr nett zu mir. Klemens hat es auch verstanden, mit Späßen meine Mutter abzulenken, wenn sie wieder einmal wütend auf meinen Großvater war. Später ist er sehr krank geworden. In seiner Jugend hatte er geboxt und sich dabei eine langwierige Fußverletzung zugezogen. Weil er gehinkt hat, wurde er nicht zur Wehrmacht einberufen. Er hat bei der Post gearbeitet. Ich kenne ihn eigentlich nur als Witzbold und als Schmähführer. An politische Äußerungen kann ich mich nicht erinnern. Sicher war er vom Elternhaus geprägt, also Sozialdemokrat, aber nicht so aktiv wie die anderen Männer in der Familie. Vielleicht hat meine Mutter durch ihn von der Hochzeit erfahren. Gewußt hat sie es jedenfalls.
Der Rudi Friemel wird heiraten. Ich war sprachlos. Ja, der wird heiraten, eine Spanierin, mit der er schon ein Kind hat. Heiraten im KZ. Wo alle nur sterben. Und zwar in Block 24, keine Ferntrauung, seine Frau wird extra hierherkommen, und ein richtiger Standesbeamter wird sie trauen, und sie wird einen Tag bei uns im Lager verbringen, und damit hat das Kind auch einen Vater. Einen rechtmäßigen Vater zu haben, das war damals unerhört wichtig. Dann hörte ich noch: Dem machen wir ein Hochzeitsgeschenk! Ein weißes Hemd wird bestickt.
Eines Tages hat es geheißen: Zu uns kommt jetzt eine spanische Zivilistin, die heiratet den Rudi Friemel. Gleich darauf wurde sie von einem SS-Mann hereingeführt. Sie sah aus, wie man sich eine typische Spanierin vorstellt, schmales Gesicht, schwarze Haare, schwarze Augen. Sie trug ein dunkles Kostüm, darunter eine weiße Bluse. Auf dem Kopf hatte sie ein weißes Hütchen mit Blümchen. Jemand hat ihr einen Stuhl angeboten, aber sie ist stehen geblieben. Sie war verlegen und aufgeregt, und sie sagte kein Wort. Wahrscheinlich hatte man ihr eingeschärft, mit uns nicht zu sprechen. Ich nehme an, sie wurde deshalb in die Schreibstube gebracht, weil vom Lageralltag hier nicht viel zu sehen war. In den Vernehmungszimmern schon. Dann ist Friemel aus dem Männerlager herübergekommen. Er war festlich gekleidet, mit Anzug, Schuhen und Krawatte aus der Kleiderkammer der SS. Sie haben sich nicht umarmt. Sie waren befangen, alle beide, und wußten nicht recht, wo sie sich hinstellen sollen. Auch Quackernack wirkte gehemmt; um
seine Unsicherheit zu überspielen, drängte er zum Aufbruch. Also los, wir gehen. Ich höre erst jetzt, daß Friemels Bruder und sein Vater und auch sein Kind bei der Trauung anwesend waren. Bei uns in der Schreibstube hab ich sie jedenfalls nicht gesehen. Möglich, daß sie in der Stadt gewartet haben, oder draußen vor der Baracke. Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, daß man eine ganze Familie dort stehenläßt. Vielleicht haben sie vor dem Zaun gewartet, bei der Villa des Lagerkommandanten.
Als Schreiber im SS-Revier hatte ich einen Passierschein, der es mir erlaubte, ohne Begleitung eines Wachtpostens das Lager zu betreten. Ich trug immer eine Aktentasche, vollgestopft mit Papieren, um bei etwaigen Kontrollen Eindruck zu schinden. So auch an diesem Tag, an dem schönes Vorfrühlingswetter herrschte, das für den Anlaß wie geschaffen war. Ich wußte, es ist der Hochzeitstag, hab aber nicht weiter daran gedacht und bin durchs Tor gegangen, untertags, wann genau, weiß ich nicht, jedenfalls war das Lager ziemlich leer, und seh da eine Frau mit einem Kind gehen und denk mir, das müssen sie sein. Ich hab nichts gesagt, sie wurde ja von einem SS-Mann begleitet. Vielleicht hab ich was geflüstert. Felicidades. Und ich habe den Kopf des Buben gestreichelt, da bin ich mir ganz sicher. Anstelle von Quackernack, der versetzt worden war, spielte Kristan den Standesbeamten in Vertretung. Er sorgte dafür, daß Rudi rechtzeitig vor seinen Angehörigen erscheinen konnte. Wir waren so aufgeregt, wie wenn wir selbst heiraten sollten, und drängten uns an die Fenster, als das Paar Arm in Arm zum Ausgang schritt, gefolgt von Vater und Bruder des Bräutigams, die das Kind in die Mitte genommen hatten. Den Abschluß machten Kristan und ein SS-Mann. Auf dem
Standesamt der Stadt Auschwitz wurde die Ehe nach deutschem Recht nochmals geschlossen. Wenig später kehrte die Hochzeitsgesellschaft in unsere Abteilung zurück. Während sich Vater und Bruder verabschiedeten, schickte Kristan unseren Büroleiter zum Kapellmeister der Häftlingskapelle, die den frisch Vermählten aufspielen sollte. Weil der Lagerführer vorher nicht um Erlaubnis gebeten worden war, kam das Konzert nicht zustande. Dreimal daneben! Erstens war es ein Spanier, der geheiratet hat. Er hatte Madrid verteidigt, dann war er nach Frankreich geflohen, dort hatte er sich eine Französin aufgegabelt und ihr ein Kind gemacht. Dann haben ihn die Deutschen gefaßt und hierhergebracht. Als das Kind schon etwas größer war und der Spanier immer noch im Lager saß, fing die Frau zu zetern an, daß sie geheiratet werden wollte. Also erging eine Bittschrift an den Herrn Reichsführer SS höchstpersönlich. Himmler war empört: So eine Unordnung im neuen Europa! Sofort wird geheiratet! Zweitens, die Französin wurde samt Kind umgehend ins Lager geschleppt, wo sie dem Spanier inzwischen die gestreifte Kluft vom Leib rissen. Sie steckten ihn in einen eleganten Anzug, den der Lagerkapo eigenhändig in der Wäscherei gebügelt hatte, schlangen ihm eine Krawatte um den Hals, farblich bestens abgestimmt, und schon konnte die Hochzeit über die Bühne gehen. Drittens, das Orchester hat sehr wohl aufgespielt, und zwar nach der Trauung, als die Neuvermählten für die Hochzeitsfotos zum Erkennungsdienst geschickt wurden: sie mit einem Hyazinthenstrauß und dem Kind auf dem Arm, er mit stolzgeschwellter Brust. Hinter ihnen marschierte die Musikkapelle und spielte, was das Zeug hielt, unbeirrt von dem SS-Mann aus der Küche, der wie ein Rohrspatz schimpfte: statt Kartoffeln zu schälen während der Arbeitszeit musizieren! Das werde ich euch heimzahlen! Meine Suppe steht da ohne Kartoffeln! Ihr könnt mich alle
kreuzweise… Seine Kumpane versuchten ihn zu beruhigen: Das ist doch ein Befehl direkt aus Berlin! Und die Brühe kann auch mal ohne Kartoffeln auf den Tisch kommen. Die Aufnahmen von den Neuvermählten waren inzwischen fertig, und die beiden durften sich ins Puff zurückziehen, das für die eine Nacht geräumt worden war. Am nächsten Tag wurde die Französin zurück nach Frankreich gejagt, und der Spanier machte sich in seiner fadenscheinigen Jacke wieder im Arbeitskommando zu schaffen. Aber überall im Lager stolzierten sie herum, als hätten sie einen Stock verschluckt: Bei uns in Auschwitz kann man sogar heiraten.
Das Lagerbordell war in Block 24 untergebracht, im ersten Stock. Es bestand aus achtzehn Zellen, in denen zwölf deutsche und sechs polnische Freudenmädchen ihren Dienst versahen. Die meisten Frauen trugen den schwarzen Winkel, sie hatten schon früher als Prostituierte gearbeitet. Aber es gab auch welche, die sich aus reiner Verzweiflung gemeldet hatten. Das Essen war besser, und nachts brachten die Männer Geschenke mit. Da war der Fall eines siebzehnjährigen Mädchens, die den Leiter des Frauenlagers Birkenau, Hauptsturmführer Hößler, anflehte, sie ins Bordell einzuweisen. Sie habe noch nie mit einem Mann geschlafen, sei aber nun, um ihr Leben zu retten, fest dazu entschlossen. Hößler war von seinem eigenen Mitleid so gerührt, daß er das Mädchen in ein besseres Kommando versetzen ließ. In einem anderen Fall sah ein Pole, als er eines Abends von der Arbeit einrückte, seine Frau im Fenster des Bordells sitzen. Bis dahin hatte er nicht einmal gewußt, daß sie im Lager war. Unter den politischen Häftlingen galt es als unehrenhaft, das Bordell aufzusuchen. Man brauchte einen Kupon, den man an der Tür abgeben mußte. Damit bedachten die Kapos nur
diejenigen, die für sie etwas organisiert hatten. Im Empfangsraum saß ein SS-Mann im Sanitätsrang, der den Freiern eine Spritze verpaßte. Nach einer Viertelstunde hatten sie wieder draußen zu sein. Ich wußte, wie es dort aussah, weil unser Kommando im Herbst dreiundvierzig die Zimmer ausmalen mußte. Ein jüdischer Häftling aus Holland, ein sehr begabter Künstler, zeichnete auf Befehl des Lagerkommandanten nackte oder halbnackte Frauen an die Wände – was sich die Nazis halt unter Erotik vorgestellt haben. Ich nehme an, die SS hat sich köstlich über den Einfall amüsiert, das Hochzeitspaar gerade im Bordell unterzubringen. Uns hat das nicht geniert, im Gegenteil, die Hochzeit war wie das Eintauchen in eine Normalität, die uns längst abhanden gekommen war. Wir verbuchten sie auch als patriotischen Gewinn, als Akt der Selbstbehauptung, vielleicht sogar als nachträgliche Korrektur unserer Niederlagen. Wir haben nicht bedacht, wie niederschmetternd das alles auf unsere polnischen Kameraden wirken mußte. Auf euer Wohl, Rudi! Plötzlich war alles ganz anders. Wir saßen im Keller der Bekleidungskammer, hatten die Fenster verhängt und die Blocktür zugesperrt. Es gab was zu essen. Es gab was zu trinken. Ich zündete mir sogar eine Zigarette an. Seine Augen leuchteten. Auch Ludwig strahlte übers ganze Gesicht. Wie war’s, Rudi, erzähl endlich, von vorn und schön der Reihe nach. Bis daß der Tod euch scheidet. Aber an jenem Abend war er weit weg. Ich hatte nie an Flucht gedacht. Wer flüchtet, gefährdet die Zurückgebliebenen.
Doch als Ernst Burger und ich spät nachts über die Lagerstraße zu unserem Block gingen, stand der Entschluß fest. Wir würden fliehen, denn wir wußten jetzt, daß wir lebten. Die Hochzeit war der unwiderlegbare Beweis unserer Existenz.
3
Die Stille
Daran denkt sie manchmal, täglich, in jeder Minute, immer seltener, noch in vierzig Jahren. Dann fällt ihr wieder einiges ein, aber die Nähe ist weg, das Begehren, das Begehrtsein. Einmal setzt sie sich hin, nachts, mit festem Vorsatz. Da horcht sie angestrengt, mit angehaltenem Atem. Wie froh sie ist über die Stille. Nur das leise gefahrlose Gluckern in den Heizungsrohren. Der Mann ist schon zu Bett gegangen. Es wäre ihr unangenehm, würde er sie beim Aufschreiben ertappen. Als wäre es Verrat an ihm, als stünde ihr ein schlechtes Gewissen zu, seinetwegen und noch wegen des Sohnes, der längst erwachsen ist. Deshalb findet sie sich auch so schwer zurecht: weil sein Schatten Rudis Bild verdüstert. Und weil die Jahre seither die Zuversicht gefressen haben, die Lebenskraft, die Gewißheit, daß die Dinge den Lauf nehmen, den sie ersehnt hat. Sie zählt auf: vier komplizierte Operationen, Bluthochdruck, Edis schwere Erkrankung, die sie sehr mitgenommen hat, der plötzliche Tod ihres Bruders, das enttäuschende Ende der großen Revolte, das Ausbleiben eines echten Umschwungs dort, wo sie herkommt. Und das Schlimmste, schreibt sie, das man überhaupt erleiden kann: der Vertrauensverlust, in die Güte der Menschen, und die Einsicht, daß Ideale nichts weiter sind als Hirngespinste oder Karrieresprossen. Damit – und mit der Tatsache, daß sie nicht mehr zwanzig sei (neunundzwanzig, als der Krieg zu Ende ging) – entschuldigt sie ihr wirres, armseliges Geschreibsel, das doch vom großen Tag, von der letzten Nacht, von der
Abwesenheit kündet. Nirgends, schreibt sie, war ich so unglücklich. Nirgends war ich so unglücklich wie in dieser rohen kleinen Stadt, bei dieser knurrenden, keifenden Frau Metzger Sowieso, für die ich immer nur die dreckige Hündin war, jedes deutsche Wort ist mir entfallen, nur diese Anrede nicht, und ich wollte nichts wie weg, irgendwohin, wo ich keine dreckige Hündin bin, aber es ging nicht, keiner wollte mich und Edi haben, und in meiner Erschöpfung und Verlassenheit war ich einverstanden, nach Wien zu fahren. Rudis Vater war dagegen, er schrieb mir, seine Wohnung sei viel zu klein für uns alle, aber ich bin trotzdem losgefahren, und in Wien gab es nichts zu essen, in Wien gab es nichts zu kaufen, in Wien gab es nichts zu heizen, schon gar nicht für eine Fremde mit Kind, und einmal wurde ich aus der Straßenbahn gestoßen, da hatte ich noch Glück. Das Haus wurde bombardiert, und Edi und ich waren die einzigen, die in der Ruine wohnen blieben, aber das war später, vorher kam das Telegramm. Ich hatte doch nichts zum Anziehen, und die gute Frau Vesely, die ich nie vergessen werde, nahm mich mit zu ihrer Freundin, der Schneiderin, die so viel Sehnsucht hatte nach ihrem deportierten Mann. In ihrer winzigen Kammer sah ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Bett, das sich mit einem Handgriff im Nu in einen Schrank verwandelt, und neben diesem Bettschrank schneiderte sie mir das Kostüm, und Frau Vesely schenkte mir die Bluse aus Nylon, die wie Rohseide schimmerte, und für Edi den Pullover und die Trägerhose, die er dann trug. Wir mußten die Nacht vor der Abfahrt bei meinem Schwiegervater verbringen, um rechtzeitig am Bahnhof zu sein, im Morgengrauen oder nach Sonnenuntergang, in der Dämmerung jedenfalls, und wie schon einmal hatten wir ein Abteil für uns allein, Edi schlief auf der Bank neben mir, er lächelte im Schlaf, und ich glaubte schon, wir würden nie ankommen.
Dort am Bahnsteig in der Kälte der anderen Stadt wartete ein Soldat, der den Auftrag hatte, uns ins Lager zu bringen. Wir gingen zu Fuß, nein, wurden in einem Auto hingebracht, und am Straßenrand waren viele Frauen in dünnen Kitteln, die mit Hacken und Spaten Gräben zogen, und ich schämte mich, ihre grauen Gesichter und rotgefrorenen Hände zu sehen. Dann stiegen wir aus und gingen durch das Tor, da las ich die Losung und sah den Draht und dahinter die Türme mit den Gewehrmündungen und davor die Gefangenen, die uns betrachteten, ihre argwöhnischen Blicke taten mir weh. Als wir ein paar Schritte gemacht hatten, begann die Musikkapelle zu spielen, und ihre Klänge trieben mich ins Büro, wo Offiziere herumstanden in Stiefeln. Sie sagten, wir sollten auf einer dieser Amtszimmerbänke Platz nehmen, in der ersten Reihe, dann wurden wir mit Namen aufgerufen, traten vor und unterschrieben. Rudi zog unversehens zwei goldene Ringe aus der Tasche, einen steckte er mir an den Finger, den anderen ich ihm. Nun fiel ich ihm um den Hals. Nachdem auch Rudis Vater und sein Bruder die Urkunde unterzeichnet hatten, hieß es, die Trauung ist vollzogen. Als wir das Büro verließen, spielte die Kapelle wieder einen Marsch, und mir kam vor, daß die Gefangenen schon freundlicher blickten, wie wenn die Feinde ihrer Feinde einen Sieg errungen hätten. Dann gingen wir in den Speisesaal, in dem nur für uns gedeckt worden war, und die Häftlinge, die das Essen auftrugen, flüsterten mir zu, wie froh sie seien über diese einmalige Hochzeit. Nach dem Essen besichtigten wir die Zimmer, die uns für die Nacht zugeteilt worden waren, eines für meinen Schwiegervater und meinen Schwager, das andere für uns drei. Während wir die Treppe hochgingen, sagte Rudi, ärgere dich nicht, daß sie uns gerade hier einquartiert haben, in diesem Haus sind nämlich die Prostituierten untergebracht. Auf einem langen Flur im ersten Stock, von
dem viele Türen abgingen, wurden wir schon von mehreren politischen Häftlingen erwartet. Sie gratulierten, scherzten und schenkten uns Zeichnungen, die sie eigens für diesen Anlaß angefertigt hatten. Einer von ihnen war besonders groß, einsneunzig oder mehr. Er umarmte uns und drückte mir einen Blumenstrauß in die Hand. Das war der Fotograf, der dann die Hochzeitsbilder machte. Ehe er sich verabschiedete, gab er mir die Adresse seiner Eltern. Er bat mich, sie in Wien zu besuchen, sie sollten sich um ihn keine Sorgen machen, er sei gesund und guter Dinge. Ich bin auch wirklich zu ihnen gegangen, bald nach unserer Rückkehr, und habe ihnen alles gesagt, von da an luden sie mich und Edi einmal pro Woche zu sich nach Hause ein, teilten ihre Mahlzeiten mit uns und gaben mir sogar noch Eßpakete mit auf den Weg. Nach der Begegnung mit seinen Freunden machten Rudi und ich einen langen Spaziergang durch das Lager. Dabei erzählte er mir, was in Wien keiner wußte, und wer es wußte, hielt es geheim: daß man hier die Juden zu Abertausenden tötete, in Gaskammern, und wenn Gas knapp war, warf man sie ins Feuer. Rudi vertraute mir auch an, daß die geheime Widerstandsgruppe einen Ausbruch plante. Er sagte, du mußt verstehen, daß ich da mitmache, auch wenn ich dich geheiratet habe, damit unser Kind meinen Namen trägt. Chiquita, sagte er, falls mir was zustößt, falls wir uns nie wiedersehen. Nach dem Abendessen gingen wir auf unser Zimmer. Rudi war ganz vernarrt in seinen Jungen, kein Wunder, wo Edi doch ein richtiger Schlingel war, aufgeweckt, zutraulich und bildhübsch mit seinen Locken. Sie spielten und tollten herum und balgten sich, bis Edi schließlich die Augen zufielen. Rudi und ich, wir redeten noch stundenlang. Er war so anders, und irgendwas fehlte.
Am nächsten Morgen mußten wir früh aufstehen. Das Auto wartete schon, das uns zur Bahn bringen sollte. Ich hatte tief geschlafen, aber Rudi war, sagte er, die ganze Nacht wach gelegen. Er durfte uns noch bis ans Tor begleiten, wo er seinen Vater, dann seinen Bruder umarmte. Dann küßte er Edi, wieder und wieder. Zuletzt drückte er mich ganz fest an sich, sei stark, kleine Frau, flüsterte er, wandte sich jäh ab und ging zurück ins Lager. Ich schaute ihm lange nach in der Hoffnung, er werde sich noch einmal umdrehen. Mir stand noch das Bild der zwölf Polen vor Augen, die im Juli 1943 gehenkt worden waren. Ihr Kommando hatte außerhalb der großen Postenkette Vermessungsarbeiten durchgeführt, diese Gelegenheit hatten drei Männer zur Flucht genutzt. Alle anderen baumelten eines Abends an der Traverse, die vor der Küchenbaracke auf zwei massive Holzpfosten geschraubt worden war. Beim Einrücken mußten wir an ihnen vorübergehen. Sie hatten gelbe Gesichter, unnatürlich gedehnte Hälse, Speichelfäden hingen ihnen aus dem Mund. Wir wußten also, daß wir nicht nur das eigene Leben riskierten. Trotzdem, die Hochzeit hatte uns Auftrieb gegeben, wenn uns die Sanktionen abschreckten, würden wir nie was unternehmen. Und es war höchste Zeit, die Front rückte immer näher, schon mit der nächsten Offensive konnte die Rote Armee bis in unsere Gegend vorstoßen. Dann würde die SS sich nach Westen absetzen, aber vorher noch alle Häftlinge liquidieren. Das war keine bloße Vermutung von uns, im nachhinein sollten wir erfahren, daß Höß im Auftrag Himmlers bei der Lagerleitung angefragt hatte, welche Mittel nötig seien, um Birkenau dem Erdboden gleichzumachen und jede menschliche Spur zu tilgen. Dieses Vorhaben ließ sich unserer Meinung nach nur durch eine gemeinsame Aktion mit den polnischen Partisanen vereiteln. Es blieb uns gar keine andere
Wahl, als den Kopf der Kampfgruppe nach draußen zu verlegen. Rudi war in den ersten Wochen todunglücklich. Aber dann verliebte sich meine Freundin Sari, die auch bei uns im Standesamt arbeitete, Hals über Kopf in ihn. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, daß sogar die SS bis hinauf zum Lagerkommandanten seinem Charme erlegen war. Ich glaube, es gab einen weiteren Grund für Saris Verliebtheit, der gar nicht so viel mit Rudis Auftreten oder mit seinem Ruf als Herzensbrecher zu tun hatte: Wir hatten in all den Jahren soviel nutzlose Liebe gespeichert, und durch das Erleben der Hochzeit wurde sie freigesetzt und auf den Bräutigam gerichtet. Zuerst sträubte sich Rudi, ich merkte, daß er Sari aus dem Weg ging, zurückwich, wenn sie sich in seiner Nähe zu schaffen machte, und es tunlichst vermied, ihre Blicke zu erwidern. Er tat sogar ein wenig hölzern oder abweisend, was meine Freundin keineswegs abschreckte, im Gegenteil, sie hatte nur noch Augen für ihn. Auf die Dauer konnte er sich ihren Annäherungsversuchen nicht entziehen, und zuletzt war die Zuneigung gegenseitig. Rudi fand bald eine gute Ausrede, um regelmäßig unser Büro aufzusuchen. Er machte Kristan klar, daß er aus Dankbarkeit dem Standesamt gegenüber einen Kübel Öl organisiert habe. Jeden Samstagnachmittag kam er nun mit einer großen Kanne in die Baracke, um die rohen Holzböden einzureiben. Der Zeitpunkt war günstig, weil da unsere Vorgesetzten – bis auf einen Posten – frei hatten. Trotzdem ergab sich nur selten die Gelegenheit, Zärtlichkeiten auszutauschen. Hin und wieder konnte Rudi meiner Freundin hinter einer Tür oder in der Ecke neben einem Schrank einen Kuß geben. Wir Büromädchen taten alles, um den beiden zu ihrem Glück zu verhelfen. Sari zeigte mir heimlich die Liebesgedichte, die er für sie schrieb, und gab alle
Informationen über die militärischen und politischen Vorgänge, mit denen er sie versorgte, an uns weiter. Es war also beschlossene Sache: Ernst Burger und ich türmen. Zusammen mit Zbyszek Raynoch, der mit mir im SSRevier arbeitete. Wir mußten jemanden bei uns haben, der Polnisch sprach, sonst wären die Überlebenschancen draußen auf ein Minimum gesunken. Über Zivilarbeiter erhielten wir genaue Angaben über den Fluchtweg, die erste Anlaufstelle, die Verpflegung und die Kontaktaufnahme mit den Partisanen. Wir brachten auch in Erfahrung, wann und wo SS und Polizei verstärkt nach uns fahnden würden. Im Krankenrevier besorgten wir uns schmerzstillende und kreislaufstärkende Mittel. Dazu noch Giftkapseln, falls das Vorhaben scheitern sollte. Das Problem war, daß wir nicht einmal den engsten Freunden Bescheid geben durften. Die würde unsere Flucht unvorbereitet treffen. Auch unsere Angehörigen mußten mit Repressalien rechnen. Bestenfalls konnten wir sie in Briefen, die aus dem Lager geschmuggelt wurden, vorsichtig darauf vorbereiten. Und es stellte sich die Frage, wer nach uns in die Leitung der Kampfgruppe aufrücken sollte. Friemel, sagte ich. Der andere Österreicher, an den wir dachten, war mir nicht geheuer. Nicht, daß ich an dessen Mut gezweifelt hätte. Er hat viel gewagt. Aber er lebte als Kapo der Kleiderkammer wie die Made im Speck. Er hatte ein eigenes Zimmer, das mit Wäsche vollgestopft war. Einmal klopfte ich an bei ihm, da saß er gerade mit dem Rapportschreiber beim Abendessen und ließ sich von zwei jungen Häftlingen bedienen. Der Tisch bog sich schier unter den Leckerbissen: Braten, Gemüse, Gebäck, Alkohol, alles, was das Herz begehrt. Komm her, sagte er zu mir, halt deine Mütze auf. Sein Großmut empörte mich. Nein, der nicht. Rudi. Einverstanden, sagte Ernst Burger. Ich rede mit ihm.
Zwei Tage vor der geplanten Flucht kam Friemel zu mir. Ich wollte noch mit dir sprechen, sagte er, weil du mich doch schon von Spanien her kennst. Ich weiß, welche Verantwortung auf mich zukommt. Ehrlich, ich habe kein gutes Gefühl. Ich hab früher manches nicht ganz richtig gemacht. Red keinen Unsinn. Wir kennen deine Arbeit hier im Lager. Wir vertrauen dir. Es gibt keinen Besseren. Er schwieg eine Weile und starrte auf seine Schuhspitzen. Dann hob er den Kopf. Er sah mich an, aber mir war, als blickte er durch mich hindurch ins Leere. Gut, daß ich das noch höre, sagte er, bevor ihr geht. So war es ja nicht. Da vergißt er eine Kleinigkeit. Nämlich, ich bin schon vorher geflüchtet. Und vor mir der Alfred Klahr, auf meine Veranlassung hin. Wir waren die einzigen Nichtpolen, denen die Flucht aus dem Stammlager gelungen ist. Klahr ist zwei oder drei Wochen später in Warschau von einer deutschen Streife erschossen worden, angeblich bei einer Razzia, kurz vor dem Aufstand. Bleib immer noch ich. Aber das hat er einfach verdrängt. Unlängst hör ich ihn im Radio sagen, vor einer Schulklasse, daß keinem einzigen Österreicher die Flucht aus Auschwitz geglückt ist. Treff ihn kurz danach auf der Straße, sprech ihn darauf an: Wieso erzählst du so einen Scheiß? Bin ich etwa nicht geflohen, bin ich ein Gespenst oder was? Darauf er: Schon, nur du bist ja ein Jud. Diese blöde Antwort hat mich gleich auf hundertachtzig gebracht, dabei hat mir der Arzt jede Aufregung verboten. Am liebsten hätte ich die Sache an Ort und Stelle bereinigt. Lassen wir die Fäuste sprechen, lieber Hermann. Aber wie schaut das aus, zwei alte Kracher, die sich auf der Straße die Schädel einhauen. Zurück zu Klahr. Das war der Genosse, der in der Besenkammer von Block 4 hockte und in winziger, fast
unleserlicher Schrift seine Abhandlung zur nationalen Frage verfaßte. Die hat der Friemel dann nach Wien geschickt, mit einem SS-Mann, einem gewissen Karl Hölblinger, der offenbar schwer in Ordnung war. Der hat dem alten Friemel laufend Post gebracht, angeblich hat er ihn sogar im Betrieb aufgesucht, bei Brown Boveri, wo der Senior als Portier gearbeitet hat. Klahr also. Die deutschen Brüder waren nicht davon abzubringen, daß Österreich auf ihrer Erbsensuppe dahergeschwommen ist. Sogar in Auschwitz ist es deshalb zu gehässigen Auseinandersetzungen gekommen, unter den Häftlingen! Es ist ja kein Zufall, daß Klahr schreibt, die KPD sei in das Schlepptau der Faschisten geraten. Gut, und ich weigerte mich zu flüchten, bevor nicht Alfred Klahr geflüchtet war. Immerhin war er unser großer Theoretiker, Lehrer auf der Leninschule, bewährt im illegalen Kampf, ein Mann mit tausend Verdiensten. Mit Müh und Not hab ich die Sache durchgeboxt. Heute denk ich mir, was hab ich dem bloß eingebrockt, wär er in Auschwitz geblieben, würde er vielleicht noch leben. So aber ist er zugrunde gegangen. Bei mir lag der Fall anders. Ich sollte auf Anweisung der Gestapo Wien bei der erstbesten Gelegenheit liquidiert werden. Deshalb hat mich der Ernstl Burger auch als dringenden Fall vorgezogen. Am 22. Juli bin ich abgehauen, zusammen mit dem Polen Szymon Zaydow. Auf der Flucht ist alles gutgegangen, wir haben uns dann getrennt, er ist nach Krakau, aber die Tatsache, daß er Jude war, hätte ihn fast das Leben gekostet. Nicht wegen den Nazis, die eigenen Landsleute haben ihn im Stich gelassen. Ihr verfluchter Antisemitismus. Nach dem Krieg haben wir uns zweimal gesehen, Polen Volksrepublik, das war für mich was Besonderes, ich hab ihn beneidet, am Aufbau des Sozialismus mitwirken zu dürfen, aber er war skeptisch, beim letzten Zusammentreffen schon richtiggehend demoralisiert, klar, er kannte die Realität dort,
und ich Vollidiot hab mich ihm gegenüber als der SuperStalinist aufgespielt. 1956 ist er nach Australien emigriert, ich hab ihm ein paarmal geschrieben, er hat nicht geantwortet. Aber ich greife vor. Wir sind ja im Juli 1944 stehengeblieben, im Hochsommer. Ich bin längst über alle Berge. Und der Kopf der Gruppe ist immer noch im Lager. Die Liebelei ging so über zwei Monate, bis ich eine große Nervosität an meiner Freundin entdeckte. Sie weinte in einem fort, und ihre Hände zitterten. Ich nahm sie ins Gebet, und da vertraute sie mir an, daß Rudi fest entschlossen sei, mit einigen Kollegen zu fliehen. Und er wollte sie unbedingt mitnehmen. Sari hatte aber Angst, sie konnte sich nicht gleich entschließen und bat um einige Tage Bedenkzeit. Rudi gab nicht nach: entweder gleich oder gar nicht. Du weißt, was sie mit euch machen, wenn das Lager geräumt wird. Außerdem ist unsere Organisation aufgedeckt worden. Es ist nur noch eine Frage von Stunden, höchstens Tagen, bis sie uns alle haben. Sari zögerte. Dann war es zu spät. Mag sein, daß die Hochzeit allerhand bewirkt hat, psychologisch, meine ich. Aber die Erkenntnis, daß es pressiert, kam erst Ende Juli. Da stand eines Tages ein kleiner Haufen vor dem Tor, Gestalten mit blutiggelaufenen Füßen, in Fetzen, hohlwangig, sterbenskrank, sie konnten sich kaum auf den Beinen halten. Das war, was die Nazis von Majdanek übriggelassen hatten. Alle anderen Häftlinge dort waren an Ort und Stelle liquidiert worden oder während des Gewaltmarsches umgekommen. Da wurde uns schlagartig bewußt, daß wir handeln mußten. Damit es in Auschwitz nicht auch so endet. Von außen einen Aufstand herbeiführen oder zumindest den bewaffneten Widerstand organisieren. Oder soll ich es zynisch formulieren: die Kader rechtzeitig in Sicherheit bringen. Denn die werden noch gebraucht, die Politischen, nach dem Ende der Naziherrschaft, wenn es um den Kampf für den hehren
Sozialismus geht. Obwohl für uns damals noch gar nicht ausgemacht war, wie es weitergehen wird in Europa. Ich erinnere mich, daß Friemel ungefähr in dieser Zeit eine Analyse lieferte, die irgendwer aus dem Lager schmuggeln konnte. Darin stellte er Überlegungen zur Nachkriegsordnung an. Er hielt es durchaus für möglich, daß die westlichen Alliierten sich noch mit einem nazistischen Deutschland (ohne Hitler, das schon) gegen Stalin verbünden könnten. So unrecht hatte er gar nicht. Sagen wir: postnazistisches Deutschland, dann stimmt seine Prognose. Kein dummer Bursche, der sich das alles auf Grundlage der Sendungen im Radio zusammengereimt hat, dort in seinem Arbeitskommando. Darüber ist dann diskutiert worden. Eifrige Wortmeldungen über die richtige Strategie, Bündnispolitik, Aufteilung der Einflußsphären. Quatsch, Klugscheißerei. Mitten unter uns wurden die Juden vernichtet. Der Massenmord an ihnen fiel, so oder so, aus dem politischen Kalkül.
Zwei Tage vorher sagt er also zu mir: Gut, daß ich das höre, bevor ihr geht. Zwei Tage später sind wir immer noch da. Wir haben nämlich Nachricht erhalten, daß die Partisanen, die draußen auf uns gewartet haben, überfallen worden sind. Die Verbindung ist abgerissen. Die Flucht muß verschoben werden. Und als es endlich soweit ist, sitze ich längst in einem anderen Lager, ein paar hundert Kilometer weiter nordwestlich. Die ursprüngliche Idee war nicht ohne Reiz: Ich hätte in einer gestohlenen SS-Uniform und mit einem gefälschten Passierschein die Schutzhäftlinge Burger und Raynoch aus dem Lager führen sollen. Wir hätten uns dann innerhalb der großen Postenkette, die tagsüber aufgezogen wurde, im
Aufzugsschacht eines ehemaligen Getreidesilos versteckt. In der Regel blieb nach einer Flucht diese Postenkette drei Nächte lang besetzt. In der vierten Nacht hätten wir versucht, uns zu der ersten Anlaufstelle durchzuschlagen. Der neue Plan, aber das habe ich erst später erfahren, wich vom alten in allen Punkten ab. Erstens einmal gab es keinen fluchtwilligen und fluchtfähigen Häftling, der sich so wie ich in einen SS-Mann hineinversetzen konnte, zweitens war davon auszugehen, daß die große Postenkette diesmal länger als drei Nächte stehen würde. Wie lange, das ließ sich nicht voraussagen. Dadurch schied aber eine Flucht in zwei Etappen, über das Zwischenversteck im Lagerbereich, als Möglichkeit aus. Also war guter Rat teuer. Und da kommt wieder Rudi Friemel ins Spiel.
Und zwar hat er die Flucht organisiert. Er hat einen SS-Mann, einen Chauffeur, zum Mitmachen überredet. Der Mann sollte mit einem Lastauto aus dem Lager hinausfahren, mit Kisten, und in den Kisten war der Burger Ernstl versteckt und ein Pole und – ich glaube, drei waren es. Und dieser SS-Mann, Frank hieß er, hat einen zweiten SS-Mann eingeweiht, einen Sudetendeutschen, der hat gesagt, er macht auch mit. Der hat bei den Fluchtvorbereitungen tatkräftig geholfen. Als Termin ist der 27. Oktober, Punkt zehn Uhr vormittags festgelegt worden. Treffpunkt ist der Platz vor der Kleiderkammer. Von dort fahren die Lastwagen mit der Schmutzwäsche ab. Einer der Flüchtlinge, der Pole Edek, muß vorher noch eine Meldung in die SS-Küche bringen. Das ist jeden Tag seine Aufgabe, er kann sie aus Sicherheitsgründen auch diesmal nicht sausenlassen. Er geht also in die Küche und wartet auf den SS-Mann, dem er die Meldung übergeben soll. Dreiviertel zehn, und noch immer keine Spur von dem andern.
Zehn vor zehn. Edek wird unruhig. Um sechs vor zehn legt er die Meldung auf den Schreibtisch des Deutschen, dann rennt er zur Baracke mit der Kleiderkammer. Es ist kurz nach zehn, als er dort eintrifft. Von seinen Kameraden ist nichts zu sehen. Ob sie sich schon auf einem Lastwagen versteckt haben? Er hat das Kennzeichen des Fluchtautos vergessen, und er weiß auch nicht, wer von den Fahrern der richtige ist. Unschlüssig steht er da und sieht zu, wie die Lastwagen der Reihe nach wegfahren. Edek ist enttäuscht. Sie haben also nicht auf ihn gewartet, die paar Minuten. Mit hängenden Schultern geht er zurück in sein Kommando. In einer, höchstens zwei Stunden wird die Flucht entdeckt sein, dann wird die Alarmsirene heulen, dann werden SS-Männer mit Spürhunden das Lager durchsuchen, dann wird die Politische Abteilung anordnen, alle der Fluchthilfe Verdächtigen in den Bunker zu sperren. Aber nichts passiert, Edek. Keine Sirene ist zu hören. Deine Freunde werden schon weit gekommen sein. Plötzlich wird die Tür der Schreibstube aufgestoßen. Ein Läufer stürzt herein. Er stößt die Namen der Geflüchteten hervor: Ernst, Zbyszek, Benek, Piotr, Czesiek, der in letzter Minute für Edek eingesprungen ist. Der Läufer berichtet, abgehackt, er ist immer noch außer Atem. Die Neuigkeit. Edek hört zu. Man kann nicht sagen, daß er sich wie neugeboren fühlt. Der SS-Mann, den Friemel angeworben hat, sollte mit einem Lastwagen nach Bielsko fahren, in die Wäscherei. Oder nein, er wollte ja auch fliehen, also ist der andere, der Sudetendeutsche Johann Roth, am Steuer gesessen, und Frank war wie die Häftlinge in einer Kiste auf der Ladefläche versteckt. Roth hätte sie dann unterwegs rausgelassen. So war es geplant. Aber Roth hat der Gestapo alles verraten. Wer in den Kisten steckt und wo die Partisanen auf sie warten, nämlich im Dorfwirtshaus von Leki. Der Lastwagen ist dann
wirklich losgefahren und am Kontrollposten angehalten worden. Mehrere bewaffnete SS-Männer sind aufgestiegen, der Wagen hat gewendet und ist direkt bei Block II vorgefahren. Die Flüchtlinge sind aus den Kisten geholt worden. Ich nehme an, sie haben schon vorher gemerkt, daß die Flucht gescheitert ist, und Gift eingenommen. Die Ärzte haben bei ihnen sofort eine Magenresektion vorgenommen. Zbyszek und Czesiek sind trotzdem gestorben. Inzwischen hat die SS das Wirtshaus in Leki umstellt, dort ist es zu schweren Schießereien gekommen, dabei sind zwei Partisanen getötet und drei verhaftet worden. Und gleich darauf haben sie auch den Friemel abgeführt, weil dieser Roth, der Verräter, ausgesagt hat, daß er und Vesely die ganze Aktion geplant haben. Daß sie falsche Passierscheine besorgt und den Kontakt zu den Partisanen hergestellt haben. Also sind der Friemel und der Vesely kassiert worden. Daß sie auch fliehen wollten, höre ich jetzt zum ersten Mal. Ich kann mir das nur so zusammenreimen, daß ihre Flucht zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden sollte. Dann wäre fast die ganze illegale Leitung draußen gewesen. Es paßt zu Friemel, daß er seine Freundin unbedingt dabeihaben wollte. Der Vesely war ja ebenfalls bis über beide Ohren verliebt, in Jolana, eine Jüdin aus der Slowakei, die er in Birkenau kennengelernt hatte. Wahrscheinlich wollte er die auch mitnehmen. Zwei Liebespaare, wie romantisch. Unverantwortlich, wenn Sie mich fragen. Kämpfen oder schmusen. Beides gleichzeitig geht nicht. Ich will mir über den Friemel ja nicht das Maul zerreißen, aber es war sträflicher Leichtsinn, einem SS-Mann zu vertrauen. Warum wollte er überhaupt weg? Ihm wäre in Auschwitz mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nichts geschehen. Er hatte von uns allen die besten Karten: Er galt als Reichsdeutscher, er war gut genährt, stark, motiviert, in die Lagerstruktur involviert, er verfügte über gute Beziehungen
bis ganz hinauf. Sein Mädel in der Schreibstube? Ja, für die hätte es schlecht ausgehen können. Rudi hat also schon geahnt, daß es böse enden wird. Ein SSMann war in letzter Minute umgefallen, das erfuhren wir, und auch, daß Rudi beschuldigt wurde, im Lauf der Zeit Lebensmittel, Kleidung, Karten und Medikamente hinausgeschmuggelt zu haben. Aber am schlimmsten waren natürlich der Fluchtversuch und die Verbindung zu den Partisanen. Rudi wurde zur Vernehmung mehr als einmal in unsere Abteilung gebracht. Er wurde im Nebenzimmer gefoltert, wir wußten es, aber wir hörten durch die dünne Wand weder die Schläge noch das Schnaufen des Schlagenden, noch die Schmerzensschreie Rudis. Oder bilde ich mir das nur ein. Bin ich in einen Film geraten, der nicht aufhört, der ohne Ton weiterläuft: Rudi, Sari, die Totenscheine vor mir und das Totenbuch und die Briefe aus der Schweiz, von meinem Sohn, den ich einst wiedersehe, auf der Brücke von Sankt Margrethen. Für gewöhnlich ließen sich die SS-Männer viel Zeit. Oft mußte Rudi sechs oder acht Stunden lang auf sein Verhör warten. Das war für Sari besonders belastend. Aus Angst, sich zu verraten, wagte sie es nicht, ihm auch nur den geringsten Liebesdienst zu erweisen. Mit blutleerem Gesicht und niedergeschlagenen Augen kauerte sie an ihrem Schreibtisch. Hin und wieder gelang es mir, Rudi oder einem seiner Leidensgefährten ungesehen ein Glas Wasser zu geben. Die fünf verteidigten sich sehr klug. Deshalb konnte man ihnen trotz der belastenden Indizien ihre Schuld nicht einwandfrei nachweisen. Außerdem entbrannte um ihre Köpfe ein unerwarteter Kampf zwischen dem Leiter der Politischen Abteilung und dem Lagerkommandanten Baer. Brose, der Chef der Gestapo Kattowitz, sprach bei Baer vor, um für die
Angeklagten zu plädieren. Er meinte, man möge doch in Betracht ziehen, daß Rudi ein bevorzugter Häftling sei und seine Heirat im Lager als humanitäre Geste propagandistisch genutzt werde. Sogar Lagerleiter Hößler war gegen eine Hinrichtung. Baer hatte aber für die Aufdeckung des Komplotts den SS-Mann Roth befördert, und da ging es um sein Prestige. Eine Begnadigung betrachtete er als persönliche Niederlage. So wartete alles auf das Urteil. Immer wieder schweiften unsere Gedanken zu Block II, wo der Bunker war. Eigentlich hieß er Jakob Kozelczuk, aber alle nannten ihn nur den Bunkerjakob. Er war der Kalfaktor, er mußte die Häftlinge vernehmungsfähig machen oder vor dem Erschießen entkleiden. Im Lager ging das Gerücht, er sei Trainer des Boxweltmeisters Max Schmeling gewesen, Schmeling hat das später einmal dementiert. Aber er hätte es sein können, kein Zweifel. Ein Riesenkerl mit Pranken und Bärenkräften, der ein seltsames Gemisch aus Polnisch, Deutsch, Jiddisch, Russisch und Englisch sprach. Trotz seiner scheußlichen Funktion war er unter uns ziemlich beliebt. Nach dem Krieg wanderte er nach Israel aus, dort schlug er sich als Schausteller und Kraftmann durchs Leben. Ein Verfahren gegen ihn wurde aufgrund entlastender Aussagen eingestellt. Er hat es verstanden, Prügelstrafen, die er zu exekutieren hatte, furchterregend und schonend zugleich auszuführen. Irgendwer behauptete, Jakob habe vor allem seinen Glaubensgenossen, Juden also, geholfen. Gegenüber allen anderen sei er weniger großzügig gewesen. Aber das stimmt nicht. Mir zum Beispiel hat er zweimal das Leben gerettet. Zuerst, als er mich auf Befehl eines Angehörigen der Politischen Abteilung durchsucht und dabei den Zettel mit den Nummern jüdischer Häftlinge in meiner Brusttasche geflissentlich übersehen hat. Hätte er ihn dem SS-Mann gezeigt, wären wir alle
drangekommen. Das zweite Mal, als er mich bei einer Bunkerselektion in eine dunkle Ecke stellte, so daß mich Grabner nicht bemerkte. Jakob saß wegen seiner gütigen Eskapaden oft genug selbst im Bunker. Weil er dabei ertappt wurde, wie er Zigaretten, Medikamente und Decken verteilte, weil er uns vor Spitzeln warnte, weil er Häftlinge in der Stehzelle mit Nahrung versorgte, weil er Nachrichten von Komplizen weitergab. Mehrmals mußte er auch als Henker einspringen. Bei einer dieser Hinrichtungen riß der Strick. Jakob glaubte, die SS werde dem solcherart Geretteten das Leben schenken, wie es im Mittelalter angeblich Brauch war. Aber das Opfer wurde ein zweites Mal gehenkt. Und Jakob saß dieses Mal sehr lange im Bunker, um ein Haar wäre auch er aufgeknüpft worden. Aber dafür war er den SS-Männern zu wertvoll. Da er zu sämtlichen Magazinen Zutritt hatte, konnten sie sich über ihn alles beschaffen. Jakob. Jakob Kozelczuk. Und Rudi Friemel. Burger, Vesely, die beiden Polen. Ich kann mir gut vorstellen, daß er dem Befehl zuwiderhandelte und ihnen sofort Gelegenheit gab, sich zu besprechen. So konnten sie ihre Aussagen aufeinander abstimmen. Erwiesen ist, daß alle fünf über den Bunkerjakob Nachrichten nach draußen schickten, nicht nur zu den Mitgliedern der Kampfgruppe. Ich vermute, es war wieder dieser Hölblinger, der ihre Post nach Wien mitnahm. Von Vesely ist mindestens ein Brief bei seiner Mutter und ein anderer bei seiner Freundin in Birkenau angekommen. In letzterem bedankt er sich für die warmen Socken und den Pullover, die sie ihm in den Bunker schmuggeln ließ. Ohne Jakob wäre das nicht gegangen.
Unsere verstohlenen Blicke, hinüber zum Bunker, hinaus auf den Appellplatz. Dort wird der Galgen gezimmert, dort wird er
abgebaut und weggeräumt, als aus Berlin die Weisung eintrifft, das Urteil vorläufig auszusetzen und die Ermittlungen weiterzuführen. Dort wird er ein zweites Mal aufgestellt, wieder abgebaut. Wuchtige Hammerschläge, lautlos in meinem Ohr. Diese Ruhe ringsum, dieses Schweigen, dieses Horchen und Warten auf etwas, das nicht kommt, diese Stille, die die Stille zerreißt.
4
Neunzig Prozent
28. X. 44 – Liebste Marga, meine Befürchtung ist wahr geworden: ich bin im Bunker. Ich weiß nicht, ob Dich diese Zeilen je erreichen werden; trotzdem schreibe ich Dir, es ist für mich in diesen Stunden eine ungeheuer große Erleichterung. Hoffentlich geht alles gut aus! Gestern wollten einige Kameraden fliehen. Sie wurden gefaßt, weil ein Soldat sie verraten hat. Gleich darauf sind auch Ludwig und ich abgeführt worden. Ein erstes schreckliches Verhör haben wir schon hinter uns. Wenn sie so weitermachen, werde ich mich umbringen müssen. Bis jetzt gibt es zwei Tote. 1. XI. – Heute haben sie mit dem Verhör weitergemacht, dieses Mal war es nicht ganz so schlimm. Ludwig ist außer Gefahr. Sie haben ihn nicht sehr geschlagen. Mein Eindruck: es schaut etwas besser aus, aber noch ist ungewiß, ob ich überleben werde. Wir haben schon drei Tote. Heute nachmittag haben sie uns in eine Zelle gesperrt, wir sind noch zu fünft – der Rest. 5. XI. – Wir haben erfahren, daß die Erhebungen abgeschlossen sind, jetzt schicken sie den Akt nach Berlin. Wir haben bei den Verhören einen guten Eindruck hinterlassen, ihnen imponiert unsere feste Haltung. Keiner hat ein böses Wort über die anderen gesagt, jeder nimmt die Schuld auf sich. Trotzdem ist mir die Lage nicht geheuer. Ich kenne das. Wir müssen mit einer extrem strengen Strafe rechnen. Erschießen oder henken. Sobald es Neuigkeiten gibt, schreibe ich weiter.
12. XI. – Wir leben immer noch. Sie sagen, die Sache wird gut enden. Der Lagerführer wird zu unseren Gunsten intervenieren. Ein Trost, denn unser Schicksal hängt jetzt von Berlin ab. Die anderen hier rechnen mit dem Todesurteil. Wir sind zwei Polen und drei Wiener. Ludwig wird davonkommen und Dir diese Zeilen schicken. Er ist nicht sehr belastet, aber Ernst und ich sind als »unverbesserliche Rote« bekannt, und die anderen sind eben Polen. 20. XI. – Arme kleine Frau, es ist an der Zeit, ein sehr ernstes Wort mit Dir zu wechseln. Heute haben sie uns mitgeteilt, daß der Akt aus Berlin zurückgekommen ist. Kurz und bündig hieß es: »Ihr müßt mit dem Schlimmsten rechnen.« Das bedeutet, sie werden uns hinrichten. In den letzten Tagen habe ich über mein Leben nachgedacht. Wenn man mit dem Ende rechnet, blickt man tief in die eigenen Abgründe. Ohne falsche Sentimentalität kann ich meine Fehler und die Schwächen meines Charakters erkennen. Schon sehr früh – mit sechzehn Jahren – habe ich die Frauen kennengelernt. Als für die anderen gerade erst die Liebe begann, wußte ich schon fast alles über ihre schönen und häßlichen Seiten. Ich habe die Frauen genommen, wie sie gerade kamen, und nicht allzu sehr geschätzt. Es gab nie eine Tragödie, aber ich fühlte auch nie das, was man wahre Liebe nennt. So ging das jahrelang dahin. Erst im Gefängnis habe ich beschlossen, diese flüchtigen Beziehungen sein zu lassen und mich ganz meiner Arbeit und dem politischen Kampf hinzugeben. Und es ist mir nicht schwer gefallen, diese Entscheidung in die Tat umzusetzen. Bis Du gekommen bist. In Dir habe ich die Frau gesehen, der ich mein Herz schenken kann, und zum ersten Mal habe ich gespürt, was Liebe ist, nicht nur sexuelles Verlangen. Aber wir konnten nie ein normales Leben führen. Zu den hinlänglich bekannten Umständen kamen die schlechten Seiten meines
Charakters, der Rest des Lebens, das ich hinter mir gelassen hatte. So haben wir nicht wirklich zueinander gefunden. Deine große Verletzlichkeit sowie Deine seelische und körperliche Erschöpfung im Kampf um unser Überleben haben die innere Distanz noch größer gemacht. Und die erzwungene Trennung drohte uns für immer auseinanderzureißen. In der Zwischenzeit war mir klargeworden, wie viel Du mir bedeutest. Aber auch Du hast zu mir gefunden. Nach Deinen Erfahrungen mit anderen Männern bist Du den gleichen Weg wie ich gegangen: hin zu einem gemeinsamen Leben. Diese Erfahrungen haben mich schwer getroffen, durch sie habe ich aber auch eine Familie gewonnen: meine Frau und mein Kind. Auch wenn ich Deine Liebe noch nicht besaß, war ich doch unendlich glücklich. Jetzt konnte ich mir genaue Vorstellungen bezüglich unseres Kindes und seiner Zukunft machen; ich konnte Dich als meine wahre Frau ansehen. Und Du bist zum gleichen Ergebnis gekommen, das zeigt mir Dein Brief, den ich am Tag vor meiner Verhaftung erhalten habe. In Sorge und Angst verfolgte ich die Nachrichten über die Luftangriffe auf Wien. Aber immer hatte ich die Hoffnung, Dich und unseren kleinen Sohn eines Tages wiederzusehen. Das Leben hier ist weitergegangen, auch der Kampf Ich konnte nicht aufhören zu kämpfen, das verstehst Du. Und jetzt hat das Schicksal mich ereilt, wie vor mir schon Millionen andere. Hier und so endet mein Leben. Ich bin nicht traurig, und Du sollst es auch nicht sein, Marga. Ich habe meine Aufgabe erfüllt. Ich sterbe aufrecht und für meine Ideale. Es ist nur schmerzlich, schon das Ende des menschlichen Leidensweges zu sehen, ohne noch helfen zu können, ohne am Aufbau einer neuen Welt mitzuarbeiten, ohne mit Euch den Ertrag so großer Opfer genießen zu können. Wenn der Krieg zu Ende ist, wirst Du nach Spanien zurückkehren, meine zweite über alles geliebte Heimat.
Kümmere Dich um unseren Sohn, erziehe ihn zu einem Menschen, der für die anderen Menschen da ist. Suche für Dich eine Lösung, die Dich vergessen läßt, wie schlimm es war, mit mir zu leben. Verzeih mir alles, was ich Dir angetan habe. Dann kann ich ruhig fortgehen. Bis zum letzten Augenblick werde ich an Dich und an Edi denken. Ich umarme Euch und küsse Dich, Dein Rudi. 1. XII. – Liebste, bis jetzt weiß ich nichts Genaues über unser Schicksal. Schrecklich diese Ungewißheit. Natürlich hoffen wir, dem Schlimmsten zu entrinnen, und vielleicht haben wir Glück, auch wenn die Chancen sehr klein sind. Genau betrachtet ist die Lage gar nicht so schlecht: der Krieg könnte noch dieses Jahr zu Ende sein. »Könnte«, sage ich, eher glaube ich, daß er noch bis Februar oder März dauern wird. Die Feiertage stehen vor der Tür. Du wirst allein mit meinem geliebten Buben sein. Nächstes Jahr feierst Du Weihnachten schon mit Deinen Geschwistern oder mit mir, falls die Sache hier gut endet. Sei mir nicht böse, wenn ich Dir in diesen Tagen nicht mehr schreibe. Du verstehst, ich hab keine Nerven dazu. In diesem Augenblick will ich hart bleiben, und die sentimentalen Gedanken machen schwach. Von ganzem Herzen, aus ganzer Liebe wünsche ich Euch das Allerbeste, Frieden und Glück. Vor allem sollt ihr unbeschadet die Bombenangriffe überstehen, das ist jetzt meine größte Sorge. Besser, Du schreibst mir ab jetzt nur noch normale Briefe. Morgen oder übermorgen will ich versuchen, diesen da aufzugeben, später wird es vielleicht nicht mehr möglich sein. Schick mir keine Pakete, auch nicht zu den Feiertagen. Statt dessen bitte ich Dich, mir jede Woche einen Brief oder eine Karte zu schicken, damit ich weiß, wie es Euch geht. Vater soll an den Lagerkommandanten schreiben, ihn fragen, ob ich noch am Leben bin. Mach Du es auch. Versprochen?
3. XII. – Liebe arme Marga. Der Akt ist retour gekommen, weil er nicht vollständig war. Das heißt, daß wir wieder verhört werden. Das ist keine schlechte Nachricht, im Gegenteil, es bedeutet, daß dem Antrag auf Todesstrafe bis jetzt nicht stattgegeben worden ist. Der Kampf um unser Leben geht weiter. Er wird noch Wochen dauern, und Zeit ist Leben. Marga, vielleicht bist Du mir böse, weil ich Dir das alles geschrieben habe. Aber dafür gibt es zwei Gründe: erstens sollst Du alles über mein Leben und Leiden in diesen entscheidenden Tagen wissen, damit Du stark bist, wenn eines Tages ein Brief mit Trauerrand bei Dir eintrifft. Zweitens ist es für mich eine riesengroße Erleichterung, Dir mein Herz ausschütten zu dürfen. (Morgen werde ich versuchen, diesen Brief abzuschicken, hoffentlich kommt er an.) Marga. Ich möchte in Deine Hände weinen, um diese große Müdigkeit loszuwerden, die ich schon spüre. Ich habe keine Angst, Du kennst mich gut genug, um mir das zu glauben. Aber das alles dauert schon so lange. Und ich will Dich endlich für immer in meine Arme schließen. Wenn ich überlebe, werde ich alles daransetzen, Dich bald wiederzusehen. Woran Du jetzt wohl denkst, Liebste. 7. XII. – Unsere Lage ist heute etwas besser. Abwarten, wie es weitergeht. Eines ist sicher: Weihnachten werde ich erleben, deshalb mußt Du mir versprechen, daß Du an diesem Tag ein bißchen an Deinen Quälgeist denkst. – In unendlicher Sehnsucht umarme ich Dich, Dein R. Küß mir meinen hübschen Jungen! 14. XII. – Liebste Marga, am 8. konnte ich den Brief nicht aufgeben, aber morgen wird’s klappen. Es gibt gute Neuigkeiten. Sie werden uns nicht hinrichten, sofern es nicht noch zu Komplikationen kommt. Zu 90 % sind wir gerettet. Wenn sie uns nicht töten, werden wir 25 Hiebe auf den Hintern kriegen – vielleicht 50 – und aus dem Bunker
entlassen. Wahrscheinlich werden sie uns in ein anderes Lager überstellen. Wäre das nicht großartig? In zwei bis drei Wochen wissen wir mehr. Bis dahin ist noch alles unklar. Hoffen wir das Beste! Ludwig ist schon ganz außer Gefahr. Er wird in Bälde aus dem Bunker kommen. Du mußt das seiner Mutter sagen, und zwar mit Nachdruck, damit sie es auch wirklich glaubt. Laß sie von ihm grüßen, er wünscht ihr zu den Feiertagen alles Gute. Sie soll sich nicht sorgen, ihrem Wickelkind geht es gut, wie übrigens auch den anderen. Ernst ist in derselben Lage wie ich. Es wäre wichtig, das alles seiner Schwester zu erzählen. Aber weder sie noch Frau Vesely dürfen in ihren Briefen an die beiden auch nur ein Wort darüber verlieren. Vielleicht kannst Du mir in einiger Zeit wieder auf Spanisch schreiben, aber dann mußt Du Deinen Brief sofort bei Übergabe meines nächsten Schreibens abgeben. Also gut, dann kann ich jetzt doch von unserem Wiedersehen träumen. Ach Mädchen, wie sehr ich mich danach sehne! Wirst Du dann noch die Meine sein? Denk ein bißchen an mich, süße Frau, vergiß mich nicht ganz. Schrecklich, von Dir keine Nachricht zu haben. Ich habe bis jetzt auch keine normalen Briefe bekommen. Schreibst Du mir nicht mehr? Meine liebe, liebe Marga, ich umarme Dich voll Leidenschaft und wünsche Dir zu den Feiertagen das Allerbeste. Für immer Dein R. Was macht mein kleiner Dickkopf? Schreib mir viel über ihn, Mädchen. Einen ganz dicken Kuß für Euch beide!
5
Die Narbe
Es ist sehr schwer, einen wie dich zum Vater zu haben. Was soll ich sagen? Natürlich habe ich versucht, mich an dir zu messen. Aber letztlich habe ich wenig von dir gewußt. Eigentlich gar nichts. Ich habe mich auch nicht bemüht, mehr über dich in Erfahrung zu bringen, über dein Leben, denn du warst ein Held, und in diesem Krieg hat es viele Helden gegeben, von denen niemand gesprochen hat. Für mich warst du einer mehr, mit dem ich zufällig verwandt bin, und was hätte ich schon tun können, um mit ihm mitzuhalten. Besser, ich rede nicht von mir, und wenn, dann nur aus Höflichkeit dir gegenüber: Ich habe Psychologie studiert, ich bin Dozent für Statistik, an einer Universität, ich bin verheiratet, meine Frau ist Ärztin, Sportmedizinerin, wir haben zwei Kinder, wir sind schon Großeltern. Wir besitzen ein Haus bei Paris, wir besitzen ein Ferienhaus auf Menorca, wahrscheinlich besitzen wir auch ein Auto und einen Hund. Wir sind unbescholten und kreditwürdig. Meine Frau heißt Franchise. Ihr Vater ist während der deutschen Besatzung hingerichtet worden. Die Gestapo hat die Druckerei ausgehoben, in der er ›L’Humanité‹ und andere illegale Schriften hergestellt hat. Das gilt nicht. Das habe ich jetzt nur gesagt, damit du zufrieden sein kannst. Aber es stimmt. Unsere Tochter Laura ist Anfang Dreißig, zweifache Mutter, sie arbeitet in einer Beratungsstelle für arbeitslose Jugendliche, ich glaube, sie führt eine glückliche Ehe. Unser Sohn ist noch ledig, er ist Energietechniker,
Ingenieur, er schreibt an seiner Dissertation, in seiner Freizeit baut er kraftsparende Fahrräder, eines exzentrischer als das andere. Statt den Militärdienst abzuleisten, hat er als Entwicklungshelfer in Kamerun gearbeitet. Er trägt übrigens deinen Namen: Rodolphe. Ich wollte meiner Mutter eine Freude machen.
Frag ihn, ob er sich an mich erinnert. Er muß sich erinnern. - Es ist lange her. Er war zu jung. - Er kann mich nicht vergessen haben. - Er war ein dreijähriges Kind. - Er war dabei. Er ist auf meinen Knien geritten. Fällt er in den Sumpf, macht der kleine Reiter. Er hat gejubelt. Noch einmal! Alle haben uns gehört. - Es sind Jahre vergangen, Jahrzehnte. Sehen Sie ihn an, er hat graue Haare. - Schau mich an. Ich habe mich nicht verändert. Nichts ist vergangen. Er muß sich erinnern. - Er sagt, die Zugfahrt. - Jaja, das Abteil. Und weiter? - Der Ruß, sagt er. Die vielen Lieder. Damals, als die Fahrt nicht enden wollte. - Weiter! Er soll sich erinnern. Ich weiß nicht, wann ich davon erfahren habe. Irgendwann im Fünfundvierziger Jahr, glaub ich. Meine Mutter hat es erfahren. Von meinem Großvater, nehme ich an. Da war ich dreizehn Jahre alt, aber die näheren Umstände sind mir entschwunden. Ich hab einen Brief gefunden, auch von 1945, da schreibt der Großvater noch an den Lagerkommandanten, er ist besorgt, weil er lange nichts von seinem Sohn gehört hat. Da war ja auch schon was im Gang mit Entlassen und so, und sie haben ihm versprochen, wenn die Russen weiter
vormarschieren, wird nichts mehr aus der Hinrichtung. Dann hat er gute Chancen. Das haben sie angeblich meinem Großvater gesagt. Später habe ich Näheres erfahren. Ich hab mir gedacht, hätte es mehr Leute von seinem Schlag gegeben, wäre uns vieles erspart geblieben. Das war mein Empfinden. Nur bin ich mir nicht sicher, ob ich selber der Typ dazu gewesen wäre. Obwohl ich mich in diese Richtung gern auch engagiert hätte oder engagieren will. Aber ob ich trotz Familie so wie er gehandelt hätte? Vielleicht hätte die Familie mitgezogen, und es wäre ähnlich gegangen. Vielleicht auch nicht. Aber ansonsten – daß er was falsch gemacht hat, kann ich nicht sagen. Seine Entschlossenheit würde ich ihm nie ankreiden. Für mich ist er ein Vorbild. An die Zugfahrt erinnere ich mich. Es ist nicht meine erste Erinnerung. Mit der ersten verbinde ich die Vorstellung von meinem Großvater in Wien: Ich sitze auf dem Küchenstuhl und stecke mir ein Stück Brot in den Mund. Es ist hart, und ich muß kräftig kauen. Plötzlich steht der Großvater vor mir, klein und mager, eine leere Hautfalte hängt ihm über den zugeknöpften Hemdkragen. Er macht ein zorniges Gesicht, er rüttelt mich, weil ich sein Brot gegessen habe. Meine zweite Erinnerung, das ist der weit geöffnete Mund meiner Mutter. Sie hockt vor mir auf dem Boden und versucht, mir auf deutsch die Namen der Wochentage beizubringen. Sie spricht laut und deutlich, mit übertriebener Mimik. Da muß ich lachen. In meiner dritten Erinnerung laufe ich vom Kindergarten nach Hause. Ich will meine Mutter überraschen. Ich mache die Tür auf, strecke den Arm aus und rufe: Heil Hitler! Ich sehe die schmale Gestalt meiner Mutter, die sich wie unter einem Peitschenschlag krümmt. Meine vierte Erinnerung, das Heulen der Sirene vor einem Luftangriff.
Meine fünfte Erinnerung, ein Gefühl, das alle Wahrnehmungen auslöscht: Angst. Meine sechste Erinnerung, das Brummen eines Bombengeschwaders, ferne Detonationen, das Klirren der Fensterscheiben. Meine siebte Erinnerung, ich gehe wie jedesmal mit einem schwarzen Köfferchen in den Luftschutzkeller. Ich bin schon an der Kellertür. Es kracht, das Treppenhaus zerfällt zu Schutt, meine Mutter stürzt inmitten einer dichten Staubwolke zu mir herab. In meiner zehnten oder elften Erinnerung liege ich in einem Krankensaal. Ein anderer Junge, mein Bettnachbar, stiehlt die Kekse, die mir meine Mutter gebracht hat. Einmal sehe ich sie im Türrahmen stehen, am anderen Ende des Saals, die rote Baskenmütze auf ihrem dunklen Haar, und rufe nach ihr und heule und strample, und auch sie weint, während sie von zwei Krankenschwestern weggedrängt wird, denn sie ist zu spät gekommen, jetzt ist keine Besuchszeit. Eine Erinnerung zwischendurch, die ich nicht einzuordnen vermag: Meine Mutter kniet oder steht auf dem Fensterbrett, die Flügel sind weit geöffnet, sie macht Anstalten, sich aus dem Fenster zu stürzen. Wer oder was sie zurückhält. Eine spätere Erinnerung, Tote auf der Straße. Noch später, Sowjetsoldaten, sie schenken mir ein Stück Schokolade. Dann die letzte Erinnerung vor der Erinnerung an die Zugfahrt: das Schloß Wilhelminenberg am Rand des Wienerwalds, weit über der Stadt. Dicke Gemäuer, hohe Räume, Gipsverzierungen, Messingbeschläge. Kampfergeruch. Krankensäle. Auch die Gänge sind mit Betten verstellt. Da sind viele Spanier, sie lachen und singen. Einer sagt, ich soll den Arm heben und die Faust ballen.
Und dann? Was war dann? - Dann kam die lange Zugfahrt, sagt er. - Das kann nicht stimmen. Das war vorher. Er meint sicher die Reise nach Deutschland. Oder die nach Wien. Oder von Wien nach Auschwitz, zu unserer Hochzeit. - Die Fahrt weg von Wien. - Nach Spanien? Ich hab also recht behalten. Ich war überzeugt, daß Marga in ihr Land zurückgeht. - Nicht nach Spanien, nach Frankreich. Mit diesem Mann. Paco. - Ihr Bruder Paco? Ist er sie holen gekommen? - Nicht Paco Ferrer. Paco Suárez. - … - Sind Sie eifersüchtig? - Ich stell hier die Fragen. Er soll mir gefälligst antworten. Ich will wissen, wer dieser Suárez ist.
Margarita und Suárez haben sich in Wien kennengelernt. Meine Schwester war bei Kriegsende völlig abgemagert und entkräftet. Deshalb wurde sie in ein Sanatorium gebracht. Und dort waren spanische Republikaner, die Mauthausen überlebt hatten, dort war auch Suárez. Ob es Liebe gewesen ist? Wahrscheinlich das Gefühl, allein dazustehen. Margarita hat immer jemanden gebraucht, der sie beschützt hat. Ich hab sie erst viele Jahre später wiedergesehen, sie und meinen Neffen Edi und meinen Bruder Paco, der nach Kriegsende in Frankreich geblieben ist und in einer Nonnenschule Spanisch und Latein unterrichtet hat. Sie wußten nicht, daß ich fünf Jahre lang eingesperrt war. Erst 1954 bekam ich einen Reisepaß. Und Paco und Marga luden mich nach Paris ein, sie bezahlten mir die Reise, ich hatte ja keinen lumpigen Duro übrig, wovon auch. Als Rote fand ich keine Arbeit, schon gar
nicht als Lehrerin, ich gab Privatstunden, für weniger als nichts. Fernando war die Anstellung in der Bank natürlich auch los. Er schlug sich als Vertreter durch, von Flaschenkorken. Ein sauer verdientes Geld. Später gelang es ihm, Waren mit besseren Handelsspannen zu vertreiben, Spitzen, Schultertücher, Weißwäsche, chirurgische Geräte. Dafür mußte er in ganz Spanien herumfahren. 1953 wurde er endlich fix angestellt, als Buchhalter in einem Verlag, der auf moderne Musik spezialisiert war. Notenblätter und so. Und vierzehn Jahre später hat er begonnen, die Liga der Versehrten und Kriegsinvaliden der Republik aufzubauen. 1954 fuhr ich also nach Paris und sah meine Geschwister wieder und erzählte ihnen, wie es mir in der Zwischenzeit ergangen war. Ich weiß noch genau, der politische Verantwortliche ihrer Parteizelle hatte sie vor mir gewarnt: Vorsicht bei der, die kommt aus der faschistischen Zone! Vielleicht ist sie ein Spitzel. Sagt einer, der nie erfahren hat, was es heißt, Gefängnisluft zu atmen. Aber so war das Klima damals, überall Angst und Mißtrauen. Suàrez war mir vom ersten Moment an nicht geheuer. Dabei war er im Grunde kein schlechter Mensch. Verschroben war er, einsilbig und halb verrückt, ehrlich gesagt. Er war ein uneheliches Kind. Seine Mutter stammte aus Leon. Aber er kam erst in Madrid zur Welt, in Carabanchel. Er ist bei einem Onkel aufgewachsen, der ihn oft geschlagen hat. Ich glaube, diese Kindheit und die Jahre im KZ haben ihn für immer geprägt. Er war verdammt jung, als ihn die Deutschen geschnappt und nach Mauthausen verschleppt haben. Ich will gar nicht wissen, was er dort alles mitgemacht hat. Er hat auch nie davon gesprochen, kein Wort. Sie werden ihm das Gehirn gewaschen haben, klar, er hatte ein Trauma, er war verbittert, aber das ist kein Grund, dem Jungen und meiner Schwester das Leben schwerzumachen. Den ganzen Tag lang hagelte es
Befehle. Ordnung war die höchste Tugend. Jahrelang mußten sie auf Kisten hocken, weil er Stühle für einen entbehrlichen Luxus hielt, jahrelang den Frühstückskaffee aus Blechbüchsen trinken. Ich war länger als er eingesperrt, aber mir wäre nie auch nur im Traum eingefallen, mich mit den jämmerlichen Knastschikanen abzufinden. Am Tag meiner Entlassung hab ich als erstes Kaffee aus einer richtigen Tasse getrunken. Es ging bei ihnen also zu wie im Gefängnis. Und Marga hat das anstandslos hingenommen, mir hat schon die Hand gejuckt, am liebsten hätte ich sie geohrfeigt, weil sie zu allem ja und amen gesagt hat. Mir ist beim bloßen Zusehen übel geworden. Ich blieb vier Tage bei ihnen, schließlich hatte ich meine Schwester sehr gern, aber das war’s dann auch, ich wußte, entweder zerkratze ich diesem Suárez das Gesicht, oder ich mach mich aus dem Staub. Vielleicht ist sie mit ihm ganz glücklich gewesen, sie war ja schon immer so, hat sich vor jeder Entscheidung gedrückt. Obwohl sie durchaus ihren eigenen Kopf hatte, ließ sie ihn gewähren, aus Bequemlichkeit oder wer weiß warum. Mein armer Neffe. Er war damals dreizehn. Und es tat mir weh, mit ansehen zu müssen, wie sie ihn herumkommandiert haben. Edi, tu dies, Edi, laß das, Edi, um Punkt sieben bist du zu Hause! Nicht auszuhalten. Wien-Paris, daran erinnere ich mich. Es war eine lange Fahrt, zwei oder drei Tage oder mehr, der Zug hat oft mitten auf der Strecke gehalten. Für mich war die Reise anfangs ein großes Erlebnis, das Abteil war überfüllt, nur Spanier, fröhlich, sie haben Volkslieder gesungen, revolutionäre Lieder, Lieder aus dem Bürgerkrieg. Allmählich ist die Euphorie der Erschöpfung gewichen. Ich glaubte schon, wir würden nie ankommen. Wir hatten schwarze Gesichter, vom Ruß aus der Lokomotive. Das war noch im Herbst, 1945. Die französischen Behörden haben uns in Montrouge einquartiert, einem Vorort im Süden der Stadt, in einem alten,
baufälligen Haus. Wir haben zu dritt ein kleines Zimmer bekommen. Dort stand ein großes Ehebett. Es muß noch ein zweites Bett gegeben haben, für mich, aber ich erinnere mich nur an das große Bett in dem kleinen Zimmer. Da war auch eine Küche, mehrere Küchen. Ich erinnere mich, daß die Männer auf Arbeitsuche gegangen sind. Nach und nach haben alle was gefunden. Ich erinnere mich, daß die Frauen gemeinsam Kartoffeln geschält haben. Ich erinnere mich an die Kinder, fast alle waren älter als ich. Mein Stiefvater Paco hat erzählt, daß wir einander nicht verstanden haben, weil ich nur Deutsch konnte. Daß ich eines Tages geweint habe und er mich gefragt hat, warum ich lache, denn er kannte das Wort weinen nicht, und nach jedem Mal fragen bin ich noch wütender geworden und habe noch mehr geheult. Daran erinnere ich mich nicht. Ich weiß nur, daß ich in Montrouge sehr schnell Spanisch gelernt habe. Und daß ich dort zum Bettnässer geworden bin. Daß Paco mich deshalb bestraft hat, er hat mich gezwungen, stundenlang mit erhobenen Armen dazustehen. Ich habe es nicht gewagt, sie zu senken, auch wenn er gar nicht im Zimmer war. Auch daran erinnere ich mich. Nach ein paar Wochen sind wir nach Cachan gezogen, nicht weit von Montrouge. Der Besitzer eines heruntergekommenen Pavillons hat für uns zwei Zimmer im Erdgeschoß frei machen müssen. Das Haus stand in einem verwilderten Park mit prächtigen alten Bäumen, Linden und Kastanien, und es gab auch Flieder und Rosen. In Cachan haben wir bis Mitte der fünfziger Jahre gewohnt. Paco war Metallarbeiter. Seine Firma befand sich im Norden von Paris. Er hatte also einen langen Weg zur Arbeit, quer durch die Stadt, mußte mehrmals umsteigen, das kostete ihn jedesmal zwei Stunden. Ich hab ihn nie vor acht Uhr abends gesehen. Meine Mutter hat ebenfalls gearbeitet, ihr Leben lang.
Sie hat Leuchtschriften gemalt, mit Goldstaub, toxischen Farben. Sie hat auch bei einem Kürschner und in einer Färberei gearbeitet. Bei Flammarion hat sie Gasfeuerzeuge abgefüllt. Zuletzt ist sie als Putzfrau gegangen. Abends sind die beiden oft weggewesen, bei Versammlungen, Schulungen oder Vorträgen der Partei, und ich mußte allein zu Hause bleiben. In Cachan gab es viele Ratten. Ich fürchtete mich vor ihnen, und wenn ich aus Angst nicht einschlafen konnte, begann ich, vor mich hinzusingen, Wiegenlieder meiner Mutter. Sie waren mir lieber als die Kampflieder aus dem Bürgerkrieg, die Paco fein säuberlich in ein Heft eingetragen hatte. Mit fünf kam ich in die Maternité. Da war ich gezwungen, Französisch zu lernen. Wahrscheinlich sprach ich auch nach einem Jahr noch mit Akzent oder verwendete hin und wieder ein deutsches Wort, jedenfalls wurde ich in der Schule mehr als einmal verprügelt. Boche, sagten die anderen Jungen zu mir. Sale boche. Cachan war eine ärmliche Wohngegend. Allerdings hatte jedes Kind in der Schule ein paar Farbstifte und auch eine richtige Füllfeder, während ich mit einem Bleistift auskommen mußte. Als ich ihn eines Tages verlor, hatte ich nichts zum Schreiben, weil mir meine Mutter nicht gleich einen neuen kaufen konnte. Deshalb mußte ich zur Strafe in der Ecke stehen. Aber im allgemeinen sind mir kaum Unterschiede zwischen mir und meinen Mitschülern aufgefallen. Das änderte sich erst, als ich aufs Lycée Louis Le Grand kam, eine Eliteschule im Zentrum von Paris, wo die Bourgeoisie ihre Kinder hinschickte. Dort fühlte ich mich ziemlich verloren. Meine Eltern hatten mich angemeldet, weil der Volksschullehrer ihnen dazu geraten hatte, ich sei sehr fleißig und begabt, sie sollten es versuchen. Und ich bestand die Aufnahmeprüfung. Die Schule hatte damals einen guten Ruf.
Mit elf Jahren fiel mir also auf, daß nicht alle Menschen gleich sind. Erstens waren meine neuen Mitschüler besser gekleidet. Zweitens unterhielten sie sich über Dinge, die mir unbekannt waren, Kreuzfahrten, Seebäder, Dienstpersonal. Drittens konnten sie sich Schulbücher, Mappen, Federhalter, Zirkel leisten. Ich hingegen hatte nie ein Lateinwörterbuch. Es war viel zu teuer, deshalb benutzte ich immer die Wörterbücher meiner Kameraden. Überhaupt habe ich möglichst wenig Bücher gekauft. Und auch mit Papier bin ich sparsam umgegangen. Das ist mir bis heute geblieben; es widerstrebt mir nach wie vor, weiße Blätter zu verwenden. Immer greife ich nach beschriebenem Papier. Ich habe unter diesem Mangel nicht gelitten, im Gegenteil, er hat mich in meiner Haltung bestärkt. Gestört hat mich jedoch, mit siebzehn, achtzehn Jahren, daß ich keine Heimat hatte. Als Spanier habe ich mich nie empfunden, weil mir das Lärmen, das Laute, das Gesellige fremd ist. Ich bin dafür zu diskret, zu verhalten. Und gegen alles Französische hatte ich ziemlich viel Widerwillen. Schließlich habe ich gesehen, wie schäbig sich die Leute hier gegenüber Ausländern verhalten. Auch gegenüber den Spaniern, zumindest in der Anfangszeit. Die sind zu faul, die Sprache zu lernen, hieß es. Noch nach zehn Jahren mußte sich meine Mutter beim Bäcker an der Ecke demütigen lassen, wenn sie ein Baguette kaufen wollte. Die Verkäuferinnen stellten sich dumm. Sie taten, als würden sie die Frau nicht verstehen. Wir waren nicht integriert. Wir hatten keine französischen Freunde. Nicht einen. Ich habe so oft gehört, daß wir endlich abhauen sollen. Daß wir ihnen doch nur auf der Tasche liegen. Ich habe auch gesehen, wie sie die Leute aus den Kolonien behandelt haben. Deshalb war ich nie stolz darauf, Franzose zu sein. Ich hab mir gesagt, also gut, hab ich eben keine Heimat, hab ich nur ein Vaterland: Österreich. Mit
achtzehn bin ich aufs Konsulat gegangen, um endlich einen Reisepaß zu bekommen. Geht nicht, haben sie dort gesagt. Daraufhin habe ich ihnen zwei Dutzend Urkunden vorgelegt, und sie haben mir wohl oder übel die österreichische Staatsbürgerschaft verleihen müssen. Mit einundzwanzig wurde ich doch Franzose. Ich konnte nachweisen, daß ich schon mehr als zehn Jahre im Land lebte. Aber froh war ich nicht. Es mag ja stimmen, daß die Spanier vorwiegend unter sich verkehrten. Sie lebten wie auf Abruf. Sie waren überzeugt, daß Franco sich nicht lange halten würde, und dann wollten sie zurück in ihr Land. Zu Silvester wurde darauf angestoßen: Nächstes Jahr in Spanien! Die Hoffnung hielt sich bis Mitte der fünfziger Jahre. Irgendwann war Schluß mit dem Trinkspruch. Es war trotzdem schön, sie wiederzusehen. Wir haben viel gelacht, Marga und ich, während wir einander traurige Geschichten aus unserem Leben erzählten. Von Rudi hat sie mir kaum was gesagt. Weil der andere immer dabei war. Paco, Paco Suárez. Nur einmal, da ist er abends zu einer Parteisitzung gegangen. Da hat sie eine Mappe hervorgeholt, mit Fotos und Rudis Briefen, und ich konnte sie endlich lesen. Auch wenn wir einkaufen gegangen sind, hat Margarita von Rudi erzählt, aber wenig, sehr wenig, denn meistens waren wir nicht allein. Entweder wir hatten den Jungen dabei oder diesen Stubenhocker Suárez, der das Maul nie aufbrachte.
Ich war neun, als mir meine Mutter zum ersten Mal von meinem Vater erzählt hat. Es war bei uns zu Hause, im Beisein meines Stiefvaters. Ich hab wenig behalten – daß Rudi Politkommissar in den Internationalen Brigaden war, daß er dann nach Auschwitz deportiert wurde, daß er dort am
Widerstand gegen die Lagerleitung teilnahm. Meine Mutter hat ihn mir als große Persönlichkeit geschildert, als Mensch mit außerordentlichen Tugenden. Er sei besonders sympathisch gewesen, er habe immer gelacht, er habe seinen Humor selbst in schwierigen Situationen nicht verloren. Er besaß einen sehr guten Charakter, hat meine Mutter gesagt. Sie hat behauptet, ich würde ihm ähnlich sehen. Wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hat mir auch das Gedicht gezeigt, das er für mich geschrieben hatte. Ich soll meine Mutter auf Händen tragen, ihr kein Leid zufügen, meinen Mann stehen, seinem Weg folgen, für den Fortschritt kämpfen. Was konnte ich mit diesen Geboten schon anfangen? Niemand hat mir beigebracht, wie man einem Helden hinterherlebt.
Und weiter! - Sie quälen ihn. - Nicht ich bin es, der ihn quält. Er ist es, er selbst. - Was wollen Sie noch von ihm? Sie wissen fast alles. - Nichts weiß ich. Er soll erzählen. - Wozu? Es ist vorbei. - Nichts ist vorbei. Er muß mir helfen, indem er weiter spricht. Ich will wissen, ob sie mich vergessen hat, - Sie sind ihre große Liebe gewesen, sagt er. Gerade deshalb habe sie selten von Ihnen gesprochen. Es wäre ihm peinlich gewesen, sie zu bitten, mehr von Ihnen zu erzählen. Er wollte ihr nicht weh tun. - Wegen dem andern? Weil sie mit ihm unglücklich war? - Wegen Suárez, ja.
Marga und Suárez haben überhaupt nicht zusammengepaßt. Ich hab mich gefragt, warum sie sich überhaupt mit ihm eingelassen hat. Sie war überzeugt, sie würde es allein nicht schaffen. Wie soll ich mich und mein Kind durchbringen. Ganz einfach, indem du tust, was du schon bisher getan hast. Arbeiten. Schuftest du nicht ohnehin acht oder neun Stunden am Tag? Na also. Weiterschuften und für den Jungen dasein. Keiner redet dir drein. Keiner schafft an. Du bist unabhängig. Du kommst wunderbar zurecht. Aber sie brauchte offenbar einen Kerl an ihrer Seite. In dieser Hinsicht war sie das Abziehbild unserer Mutter, ohne Mann im Haus ging für sie die Welt unter. Für mich war das nie ein Problem. Aber sie: Der Junge braucht einen Vater. Ich habe geahnt, was passieren wird. Daß sie dann doch geheiratet haben, war letzten Endes meine Schuld. Ich war dagegen. Aber wenn schon, dann bin ich für klare Verhältnisse. Und weil ich gemerkt habe, daß sie sich danach sehnte, habe ich diesem Suárez tüchtig eingeheizt. Ich hab zu ihm gesagt, ich geb dir zwei Jahre. Wenn du sie bis dahin nicht geheiratet hast, komm ich zurück. Dann schmeiß ich dich hochkantig raus, und wenn du nicht freiwillig gehst, hol ich meinen Bruder. Zwei Tage später bin ich abgereist. Und er hat sie prompt geheiratet. Sie hätte es nie gewagt, ihn darum zu bitten. Sie hat mir dann das Hochzeitsfoto geschickt. Ich an ihrer Stelle hätte ihn an die frische Luft gesetzt. Aber sie war überzeugt, ein Mann muß her, das gibt Autorität. Eine alleinstehende Frau setzt sich nicht durch. Unsinn! Er hat sie ausgenutzt. Ich hab sie einfach nicht verstanden. Später dann, als sie schon krank war, hat er sich sehr um sie gekümmert. Das muß man ihm lassen. Er hat sie gepflegt, aufopferungsvoll. Dazu hat er getaugt. Aber sonst. Meine Mutter war ihrem Wesen nach typisch spanisch: sehr emotional, sehr dramatisch, sehr tragisch. Sie hat oft geweint.
Sie hat mir Schuldgefühle eingeimpft. Anfang der fünfziger Jahre hatte sie alle Symptome einer Schwangerschaft; sie war gar nicht schwanger, aber ihr war schlecht, sie nahm zu, unvermutet überkam sie ein Heißhunger nach sauren Gurken oder hartgekochten Eiern. Dabei hätte sie gar kein Kind von Paco bekommen können, mein Stiefvater war unfruchtbar. Er hatte tagelang Kopfschmerzen, litt unter Depressionen, vielleicht wegen Mauthausen. Bei seinen Kollegen war er durchaus beliebt, im Umgang mit anderen konnte er liebenswürdig und entgegenkommend sein. Aber zu Hause hat er oft eine ganze Woche lang kein Wort mit uns geredet. Einmal hat er mir eine Ohrfeige gegeben, die Backe war tagelang geschwollen. Als ich schon erwachsen war, hat mich meine Mutter gefragt, ob sie sich von ihm scheiden lassen soll. Ich habe ihr abgeraten. Das war ein Fehler. Aber er hat mir leid getan. Er hatte nämlich immer das Bild seines Vaters vor Augen, der Frau und Kinder verlassen hatte und nach Frankreich ausgewandert war, wo er im Alter verarmt und vereinsamt in einem Kellerloch hauste. Paco hatte Angst, daß ihn das gleiche Schicksal ereilen würde. Deshalb war ich dagegen, daß sich meine Mutter von ihm trennt. Außerdem hatte mich ihre Schwester erschreckt, Marina, die uns einmal besucht hat. Sie war überdreht, sie wußte alles besser, sie hat sich mit allen Männern angelegt. Da ist mir Paco als das kleinere Übel erschienen. Ich habe nie gesehen, daß er den Jungen geschlagen hat. In dieser Hinsicht war Suárez in Ordnung. Aber vielleicht ist es für ein Kind sogar besser, hin und wieder einen Klaps zu kriegen und dann umarmt zu werden und geküßt, als ständig diese korrekte Behandlung zu erfahren. Korrekt, aber ohne Liebe, ohne Leidenschaft. Freiheit war bei Suárez ausgesperrt. Es gab einen fixen Tagesablauf, der durfte unter keinen Umständen umgeworfen werden. In Cullera zum Beispiel, wo
sie später eine Ferienwohnung hatten, mußte man um Punkt fünf Uhr Spazierengehen, im August, am Mittelmeer, in der Affenhitze. Um sieben mußte man zurück sein. Um halb neun mußte das Abendessen auf dem Tisch stehen, und um zehn mußten alle ins Bett kriechen. Oder: Einmal haben wir gemeinsam Urlaub gemacht, auf dem Campingplatz von Hendaye, im Baskenland. Da sind meine Schwester und ich eines Tages über die Grenze nach San Sebastian gefahren. Am Hafen haben wir ein paar Garnelen gegessen. Ohne ihn zu fragen! Er hat getobt, auf seine Art: indem er kein Wort mehr mit uns gewechselt hat. Nicht einmal angesehen hat er uns. Einen ganzen Monat lang hat er meine Schwester zappeln lassen. Sein Glück, daß er nicht mit mir verheiratet war. Ich hätte es ihm mit gleicher Münze heimgezahlt. Ich hätte gesagt, was du kannst, kann ich schon lange. Ich hätte auch geschwiegen. Dann hätte ich sein Bett eigenhändig in die Rumpelkammer getragen, hier, hätte ich gesagt, hast du ein schönes Plätzchen zum Schlafen. Mit vierzehn bin ich an Tuberkulose erkrankt. Die Ärzte waren ratlos; sie konnten keinen rechten Grund für den Ausbruch der Krankheit nennen. Mir ist heute klar, daß sie eine Krankheit des Loslösens war, des Aufruhrs gegen die Welt der Eltern, die mich eingeschnürt hat. Aber bewußt habe ich mich ihnen nie widersetzt. Ihre politischen Ideale sind auch die meinen geworden. Für mich war immer klar, daß man den Kampf weiterführen muß, auch wenn man am Ende allein dasteht, und womöglich mit leeren Händen. Vielleicht hatte ich schon vorher was auf der Lunge. Denn mit acht durfte ich einen Sommer in Norwegen verbringen, im Rahmen einer Hilfsaktion für achtzig spanische Flüchtlingskinder. Meine Gastfamilie, das Ehepaar Land, lebte auf einem Bauernhof, neben einem Wald, das nächste Anwesen war weit entfernt. Es gab Milch und Butter und
Fleisch im Überfluß. Ich durfte die Kühe auf die Weide treiben und in einem See baden. In der Nähe war eine Sprungschanze. Und mitten im Wald gab es eine Hütte, in der Frau Land Garn zu Wolle gesponnen hat. Ich lernte ein paar Sätze Norwegisch. Ich lernte auch radfahren, auf einem dieser großen schweren Räder. Eines Tages sind sie sehr erschrocken, weil ich zum Abendessen nicht zurück war, und haben mich mit einem Pferdegespann gesucht. Es war wie im Märchen, ein wunderbarer heißer Sommer, den ich dort verlebt habe. Die Lands, deren Kinder damals schon erwachsen waren, hätten mich am liebsten adoptiert. Sie schrieben uns mindestens zwei Jahre lang. Sicher haben ihnen meine Eltern nur ein einziges Mal geantwortet, und so ist der Kontakt abgerissen. Ich glaube, es war wegen meines Stiefvaters. Paco war ein Mensch, der schnell Beziehungen knüpft und ebenso schnell wieder abbricht. Ich erinnere mich, daß wir immer einsamer wurden, weil er sich nach und nach mit allen Bekannten verkracht hat. Meine Mutter hat darunter gelitten, er hat ihr sogar untersagt, die Freunde in Paris zu treffen. Keine Besuche erwidern, keine Briefe beantworten, kein Lebenszeichen geben. Ich bin leider auch so geworden. In der Schachtel meines Großvaters habe ich ein Bündel Briefe gefunden, samt Durchschlägen, die zwischen Wien und Paris hin und her gegangen sind. Die ersten tragen noch den Zensurstempel der Alliierten. Offenbar wollte er die Vormundschaft über meinen Halbbruder übernehmen, aber seine Schwiegertochter meinte, das sei nicht nötig. Am Anfang schreibt sie noch auf deutsch, in einer Art Lautschrift, und Eduard kritzelt ein paar Sätze dazu, dann reißt die Verbindung offenbar auf Jahre ab, denn einmal beklagt sich Großvater, daß er ihnen alle zwei Monate geschrieben, aber nie Antwort erhalten habe.
Die späteren Briefe aus Paris, von der zweiten Frau meines Vaters und von meinem Halbbruder, sind dann schon auf spanisch abgefaßt. Mein Großvater hatte einen Bekannten, der mit einer Spanierin verheiratet war, die hat ihm die Briefe übersetzt. Es ging um einen Erholungsurlaub für meinen Halbbruder in Zakopane, den mein Großvater beim KZVerband beantragt hatte. Ich weiß gar nicht, ob er je zustande kam. Zuerst wurde der Antrag zu spät gestellt, im Jahr darauf bekam die Frau für den vorgesehenen Termin keinen Urlaub, ein drittes Mal mußte Eduard für die Matura büffeln. So viele Briefe, so große Mühe, so viel vergeudete Zuwendung. Einmal schreibt die zweite Frau meines Vaters betrübt, daß Edi nicht mehr deutsch sprechen will, weil ihn die Buben dort in Frankreich einen Nazi schimpfen, einmal meldet sie voll Stolz, daß er tüchtig lernt, einmal gesteht sie verschämt, daß sie ziemlich dick geworden ist, einmal verrät sie, daß sie sich mit dem Gedanken trägt, wieder zu heiraten. Mein Großvater hat nichts dagegen, im Gegenteil, er ermuntert sie sogar. Die Korrespondenz ist auf beiden Seiten durchaus herzlich. Irgendwann bricht sie ab.
Mit siebzehn oder achtzehn war ich in Wien. Ich fuhr damals kreuz und quer durch Europa und nutzte die Gelegenheit, meinen Großvater zu besuchen. Er hatte geschrieben, daß er krank sei und bald sterben werde, und er wolle mich noch einmal sehen. Wien kam mir sehr bürgerlich vor, vollgestopft mit Denkmälern, versteckt hinter vornehmen Fassaden. Ein bißchen wie Genf. Ich hatte mir die Stadt schöner vorgestellt, lebendiger. Ich erinnere mich an einen Park, dort spielte ein Orchester, dem hörte ich eine Weile zu. Die Restaurants waren nicht teuer, ich konnte es mir leisten einzukehren, allerdings gab es überall das gleiche zu essen, Schnitzel.
Auf einem Foto, das er uns bald nach dem Krieg geschickt hatte, war mein Großvater sehr dick. Als ich ihn in Wien besuchte, war er wieder so schlank, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Er trug die Anzüge aus seiner Jugend auf. Wir konnten uns kaum verständigen, weil ich Deutsch längst verlernt hatte. Mir scheint, er hatte eine Stelle bei der Stadtverwaltung, er war Gemeinderat oder etwas Ähnliches. Seine Frau schlug mir die Karten auf. Sie sagte, mir würden zwei Frauen zustehen, eine blonde und eine schwarze. Den Bruder meines Vaters habe ich nicht zu Gesicht bekommen. Überhaupt niemanden sonst von der Familie. Ich war auch nicht weiter interessiert, weil mir meine Mutter erzählt hatte, daß sie von Rudis Angehörigen sehr schlecht aufgenommen worden sei. Ich glaube nicht, daß ich bei meinem Großvater übernachtet habe. Vielleicht bin ich überhaupt nur einen Tag lang in Wien geblieben.
Meine Mutter hat die zweite Frau meines Vaters nie kennengelernt. Ich schon, ich hab sie einmal beim Großvater gesehen, ganz kurz, nach dem Krieg. Ich hab auch meinen Halbbruder gesehen. Wann, weiß ich nicht. Ich weiß ja nicht einmal, wann er geboren ist. Ich hab überhaupt keine Erinnerungen an ihn. Ich glaube, daß seine Mutter sehr viele Sommersprossen hatte, aber ich bin mir nicht sicher. Ich glaub es. Aber ich weiß es nicht.
Ende der fünfziger Jahre bin ich auch zum ersten Mal nach Spanien gefahren, gemeinsam mit meiner Mutter. Ich dachte, es sei auch für sie die erste Reise seit ihrer Flucht. Erst bei ihrem Begräbnis sollte ich erfahren, daß sie schon zuvor illegal über die Grenze gegangen war, mit Propagandamaterial gegen
das Francoregime. Sie war also doch nicht so zaghaft, wie es den Anschein hatte. In meiner Erinnerung verwandelt sich der Aufenthalt in Madrid in ein einziges endloses Fest. Ich lernte meine Verwandten kennen. Alle waren gut gelaunt, offen, unbekümmert, überall in der Wohnung standen oder saßen Leute herum, jeder hat auf den andern eingeredet. Auch das Viertel Lavapiés, wo meine Tante damals wohnte, vibrierte vor Lebensfreude, bis spät in die Nacht hinein waren die Gassen voller Menschen, sie schrien, lachten, sangen, klatschten in die Hände, schoben einander vorwärts. Wenn sie sich miteinander unterhalten wollten, blieben sie stehen. Das ist mir damals aufgefallen: daß die Spanier zum Reden stehen müssen. So wie die Hähne beim Krähen die Augen schließen.
Als mein Junge und Margaritas Junge achtzehn waren, fuhren wir nach Menorca. Ein Cousin in Sevilla warnte uns, er sagte, sobald euch die Verwandten in Mahón sehen, verrammeln sie die Tür. Denn sie hatten viel Geld, waren aber sehr knausrig. Geizig waren sie. Unser Großvater, der Apotheker, hatte schon das Zeitliche gesegnet. Ein wichtiger Mann auf der Insel, im nachhinein haben sie ihm einen hohen Orden verliehen, den ›Alfonso x El Sabio‹. Mag sein, daß er ihn verdient hat. Aber menschlich gesehen war er eine Katastrophe. Hochmütig, jähzornig und unbeherrscht. Er hat seine Kinder mit einer Peitsche geschlagen. Ich erinnere mich, daß er einen Cousin von mir, der erst drei Jahre alt war, aus Wut gegen einen Baum geschmettert hat. Ich war damals vierzehn. Bestie!, hab ich zu ihm gesagt. Von da an haben wir nie wieder miteinander gesprochen. Der Rest der Sippschaft konnte mir eigentlich auch gestohlen bleiben. Als ich seinerzeit mit Julian bei ihnen untergetaucht bin, nach meiner Rückkehr nach Spanien, haben
sie mich zwar aufgenommen, aber die Ausgaben für Wäsche und Verpflegung fein säuberlich aufgeschrieben und von den dreißigtausend Pesetas abgezogen, die mir als Erbschaft zustanden. Und das Geld schickten sie dann selbstverständlich an Fernando, obwohl ich die Begünstigte war, Frauen zählten nicht für sie. Marga sagte, was vorbei ist, ist vorbei, und was können ihre Kinder dafür. So war sie, meine Schwester. Immer auf Ausgleich bedacht. Julian meint, sie sei sehr hübsch gewesen und sie habe immer gelächelt. Hübsch war ich auch. Nur war ich mein Lebtag lang eine Feministin, mir wäre nie eingefallen, mich mit Klunker zu behängen. Mit zwölf hab ich den ganzen Krempel – Ringe, Armreifen, Halsketten – meiner Mutter über den Tisch geschoben und gesagt, weg damit, ich bin doch keine Kuh, die geschmückt werden muß, damit sie auf dem Viehmarkt einen guten Preis erzielt. Wir sind in Menorca freundlich aufgenommen worden. Die Insel hat mir auf Anhieb gefallen. Von der Erbschaft meiner Mutter haben wir uns Jahrzehnte später ein Stück Grund gekauft, Anfang der Achtziger ein Haus bauen lassen. Seither besuche ich unsere Verwandten einmal im Jahr. Sie sind sehr diskret, sehr wortkarg. Ich weiß nicht, ob das für alle Menorquines gilt, ich glaub schon, daß es typisch für die Inselbewohner ist, sie machen nicht viel Worte. Angenehme, aber reservierte Menschen. Meine Onkel und Tanten trifft keine Schuld am Verhalten ihrer Eltern, die meine Mutter damals im Stich gelassen haben. Deshalb rede ich auch nie davon. Mein Großvater ist Anfang der sechziger Jahre gestorben. Nach dem Krieg war er ein paar Monate lang kommunistischer Bezirksvorsteher von Favoriten. Dann hat er in Feichtenbach gearbeitet, als Verwalter eines Kindererholungsheims der
Gemeinde Wien. Von diesem Posten ist er 1950 abgelöst worden. Bis zu seinem Tod hat er eine kleine Rente bezogen. Manchmal hab ich ihn und seine Frau besucht. Laß dich bald wieder anschauen, haben sie beim Abschied gesagt. Aber ich bin selten hingegangen. Weil ich gespürt habe, daß es meine Mutter kränkt. Obwohl sie mich nie davon abgehalten hat, im Gegenteil, sie hat gesagt: Na, wennst willst, schau halt hin. Sie hatte noch ein oder zwei Verehrer, nichts Ernstes, wenigstens von ihrer Seite aus. Ich hab so das Gefühl, sie wollte wegen mir nicht mehr heiraten. Sie ist ja immer für mich dagewesen, bis zu ihrem Tod, 1986. Ob mein Vater ihre große Liebe gewesen ist? Ich glaub schon. Aber er war vor allem ihre große Enttäuschung. Im Mai achtundsechzig, unter de Gaulle, brodelte es in der Innenstadt von Paris. Zum ersten Mal blieben die Menschen auf den Straßen stehen, diskutierten miteinander, vertraten lautstark und mit Nachdruck ihre Meinung, änderten sie im Verlauf der Debatten auch. Es kam zu Massenkundgebungen, die Herrschenden fühlten sich bedroht. Andererseits blieb die Revolte ein Spiel, das war mir bald klar. Ich hatte nämlich gesehen, daß die Polizei nicht eingeschritten ist, als die Demonstranten Straßenbarrikaden errichteten, fünf oder sechs mannshohe Barrikaden in einer Nacht, am zehnten oder achten Mai. Ich bin in meinem Leben zu vielen Protestaktionen gegangen, gegen den Algerienkrieg zum Beispiel, wo es bei einer einzigen Demonstration dreizehn Tote gab, ich weiß also, daß die Polizei, wenn sie es ernst meint, jeden Platz und jede Straße im Handumdrehen räumen kann. Ich habe mich gefragt, weshalb sich die Polizeitrupps mit Steinen bewerfen ließen, weshalb sie bloß Tränengasgranaten abgefeuert und Wasserwerfer eingesetzt haben, weshalb sie so lange gezögert haben, weshalb sie fast behutsam vorgegangen sind. Ich bin zur Antwort gekommen, daß die revoltierenden Studenten
Kinder der Bourgeoisie waren, die wollten sie nicht niederknüppeln, und die haben sie auch nicht niedergeknüppelt. Aber es war ein schönes Schauspiel. Ich habe daran teilgenommen. Von den Kommunisten bin ich deshalb kritisiert worden, als Spalter und ultralinker Abenteurer. Ich habe mich gegen diese Vorwürfe verteidigt, ein Kommunist, hab ich gesagt, muß auf seiten der Massen stehen. Interessant war der kulturelle Umschwung. Der Wechsel in der Mentalität. An den Universitäten haben die Professoren ein wenig von ihrer absoluten Macht eingebüßt. Früher mußten an der Sorbonne alle Studenten aufstehen, wenn ein Professor den Hörsaal betrat, ein paar klatschten sogar, wir durften uns erst setzen, nachdem die Professoren es gestattet hatten. Es war auch nicht erlaubt, sie ohne weiteres anzusprechen. Ich erinnere mich, einmal war ich auf dem Pissoir, da trat ein Professor ein. Er schlug neben mir sein Wasser ab, und ich beging das Verbrechen, ihn anzureden. Er war außer sich. Was erdreisten Sie sich! Wer glauben Sie eigentlich, daß Sie sind! Einen Professor spricht man nicht auf der Toilette an. Die Umgangsformen haben sich nach den Straßenkämpfen gelockert, das war ein Fortschritt. Auch der Feminismus war positiv. Aber eine Revolution war nicht in Sicht. Es war alles sehr romantisch, wie die Wiederkehr einer sozialen Erhebung des neunzehnten Jahrhunderts, mit Pflastersteinen und roten Fahnen und allen sieben Strophen der Internationale. Und es war auch gefährlich. Ich glaube, wenn die Kommunistische Partei sich nicht abseits gehalten hätte, wenn sie sich der Bewegung angeschlossen oder gar die Macht übernommen hätte, wäre es zu einem Blutbad gekommen. Für meine Mutter war 1968 das Jahr der großen Enttäuschung. Sie war überzeugt, daß ein radikaler Wandel bevorstand. Ebenso mein Onkel, der bald darauf starb. Sie
verstanden nicht die Zurückhaltung der französischen Partei. Daß sie die Gunst der Stunde nicht zu nutzen wußte. Diese Auffassung war unter den Spaniern weit verbreitet. Ein Junge, ein spanischer Genosse, der nach Paris geflüchtet war, hat uns verwünscht, weil wir bei der Mairevolte keine führende Rolle gespielt hatten. Für mich war er ein Trotzkist.
Mit Kommunisten hatte ich nie was zu tun. Ich war zwar nach Kriegsende kurz bei der Freien Österreichischen Jugend, aber das war mehr wegen den Mädeln. Von der Mutter her war ich sozialdemokratisch gesinnt. Ich bin es immer noch. Es hat sich letzten Endes auch gezeigt, in den Oststaaten, daß der Kommunismus nicht der richtige Weg war, vorsichtig ausgedrückt. Ich denke selten an meinen Vater. Jetzt mehr als früher, das macht das Alter. Bei den großen politischen Ereignissen wie der Ungarnkrise, dem Prager Frühling oder dem Zerfall der Sowjetunion ist er mir immer schon in den Sinn gekommen: Was meint er dazu. Wie würde er sich verhalten. Ist er verbittert.
Meine Eltern waren glücklich, nach Francos Tod wieder nach Spanien fahren zu können. Zu Beginn meines Studiums hatten sie gehofft, ich würde mich später wie viele Emigrantenkinder im Land ihrer Vorfahren niederlassen. Aber als sie sahen, daß ich eine Französin heiratete und in Paris blieb, verwarfen sie die Idee, für immer nach Spanien zurückzukehren. Das schon, es wurde ihr einziges Urlaubsziel, und als sie etwas Geld beisammen hatten, kauften sie sich in Cullera, einem Badeort bei Valencia, eine Wohnung. Sie beteiligten sich sogar an den Aktivitäten der lokalen Parteiorganisation, gingen zu den
Treffen ihrer Sektion und verkauften die Parteizeitung. Der ganze Einsatz hat sich nicht gelohnt. Es war traurig für mich, sehen zu müssen, wie meine Mutter gegen Ende ihres Lebens alle Illusionen verlor, wie sie erkennen mußte, daß die Spanier zwar die wiedergewonnene Freiheit begrüßten, jedoch von Politik nichts wissen wollten. Am schlimmsten aber war, daß ihr nach den Illusionen auch die Erinnerungen abhanden kamen. Gegen die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gibt es immer noch keine Abhilfe. Damals hieß es, sie wird von einem Virus ausgelöst, heute weiß man, daß Prionen daran schuld sind. Die Eiweißkörper sorgen für Ausfallserscheinungen im Gehirn und bei der Motorik. Es beginnt mit Schlaf- und Gedächtnisstörungen, im weiteren Verlauf kommt es zu Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur. Der Ausbruch der Krankheit ist nicht vorhersehbar. Im Durchschnitt, sagen die Ärzte, trifft sie von zwei Millionen Menschen einen. Meine Mutter war die eine. Im August 1987 hatte sich ihr Zustand in Cullera plötzlich derart verschlechtert, daß sie mit dem Flugzeug zurückgebracht werden mußte. Sie war nicht mehr ansprechbar, wirkte abwesend, starrte ins Leere. Mein Stiefvater war verzweifelt. Er ertrug es einfach nicht, daß sie auf nichts mehr reagierte.
Margaritas Krankheit ist mir zum ersten Mal hier in Madrid aufgefallen. Ich wurde gegen den grauen Star operiert, und da reiste sie aus Paris an, um mir bei der Hausarbeit ein wenig zur Hand zu gehen. Sie kam mir gleich sehr sonderbar vor, aber ich konnte ohne Brille ja nicht gut sehen. Am ersten Tag ging sie mit Fernando einkaufen. Danach mußte sie sich sofort ausruhen. Sie war vollkommen erschöpft. Und dann brauchte
sie drei Stunden, um einen Fisch zu braten, drei Stunden, wozu man zehn Minuten benötigt. Sie verwechselte das Besteck, wollte die Suppe mit der Gabel essen. Sie war ständig müde. Kaum saß sie irgendwo, schon fielen ihr die Augen zu. Wir stritten uns nicht. Aber ehe sie wegfuhr, sagte sie, ich werd nie vergessen, was du einmal gesagt hast. Daß ich unsere Mutter auf dem Gewissen habe. Marga ist auf dem Friedhof von Créteil begraben. Auf dem Grabstein steht: Margarita Ferrer 1916-1987 Das Grab ist mit einer Marmorplatte verschlossen. Auf der Platte liegt ein aufgeklapptes Buch aus Stein. Auf die linke Buchseite sind eine Rose und fünf Buchstaben gemeißelt: MARGA. Auf der rechten Seite steht: Jamás
Te olvidaré
Paco
»Nie werde ich Dich vergessen.« Er hat sie um knapp fünf Jahre überlebt.
Weiter! Ich will alles wissen. - Das ist schon alles. - Sie hat von mir nicht mehr gesprochen? - Sie hat von keinem mehr gesprochen. - Dann hat sie mich doch vergessen. - Er sagt, sie hat sich ihr Leben lang schuldig gefühlt. Ihnen gegenüber. Das wollen Sie doch hören, nicht.
- Schuldig wieso. Weil Sie damals, gegen Ende des Bürgerkriegs, die Möglichkeit sahen, nach Mexiko zu emigrieren. Sie war da gegen, weil sie ihre Mutter nicht zurücklassen wollte. Da sind Sie auch geblieben. Deshalb, sagte sie, sei alles so gekommen. Und noch was. Edi sagt, Suárez wollte ihn unbedingt adoptieren. Sie hat es nicht zugelassen. - Wegen mir? - Ja. Es war ihr Wunsch, daß er für immer Ihren Namen trägt.
Ich habe jung geheiratet, mit zwanzig. Da war das Kind schon unterwegs, ein Bub. Wir haben ihn Rudolf genannt, nach meinem Vater. Warum, das kann ich schwer erklären. Es war ein Impuls von innen her. Weder er noch mein Stiefsohn, den meine zweite Frau in die Ehe mitgebracht hat, haben sich je für die Welt ihres Großvaters interessiert. Das ist vielleicht mein Versäumnis. Ich wollte sie nicht in eine bestimmte Richtung drängen. Ich hab mir eingebildet, irgendwann kriegen die Kinder schon mit, worauf es im Leben ankommt.
Vor ein paar Jahren war ich auf einem Psychologenkongreß. Auf der Teilnehmerliste ist außer mir ein zweiter Friemel gestanden. Zur selben Zeit habe ich die Tickets für die Fähre nach Menorca bestellt. Das Reisebüro hat sie mir unter einem falschen Vornamen geschickt, unter dem des anderen dort auf dem Kongreß. Ich glaube, er war ein Mann in meinem Alter. Ich habe ihn mir nicht zeigen lassen, ich bin nicht auf ihn zugegangen, ich habe ihn nicht angesprochen. Ich möchte nicht sagen, daß ich meine Familiengeschichte abgelehnt hätte. Ich habe mich nur deshalb wenig gekümmert,
weil ich immer das Gefühl hatte, meiner Mutter ist das eigentlich nicht recht, auch wenn sie es nie offen gesagt hat. Ich hab mich nicht bemüht. Und mit dem Tod des Großvaters ist sowieso jede Verbindung abgerissen. Heute wären da auch die Sprachprobleme. Ich könnte mich mit meinem Halbbruder gar nicht verständigen. Trotzdem würde ich ihn gern kennenlernen. Mit klopfendem Herzen.
Ich habe mich oft gefragt, weshalb ich nichts über Rudi, über seine Jugend in Wien, über die Verwandten in Österreich erfahren will, nichts über die Spanier von Mauthausen, nichts über die Freunde meiner Eltern in Paris. Zu keinem von ihnen habe ich noch Kontakt. Vielleicht ist das eine Art Selbstschutz. Ich trage eine Narbe, die nicht aufbrechen soll.
6
Das Hemd
Am Morgen des 30. Dezember 1944 traf Himmlers Depesche an den Lagerkommandanten ein, wonach dem Antrag stattgegeben worden sei. Im Lauf des Vormittags wurden die fünf Galgen zum dritten Mal aufgebaut. - Um sechzehn Uhr war Einrücken, dann hieß es: Antreten zum Zählappell, zu dem wir vor den Baracken in Fünferreihen Aufstellung nehmen mußten, dann: Abtreten, Abendessen fassen. Aber an jenem Abend warteten wir nach dem Zählappell vergeblich auf den Befehl zum Abtreten. Wir, die fünfzehntausend Häftlinge des Männerlagers. - Wie üblich sind die Verurteilten vom Arzt untersucht worden, ob ihr Gesundheitszustand der kommenden Aufregung gewachsen sei, und wie üblich ist der Arzt zu einem positiven Ergebnis gekommen. - Es hatte sich auch die SS eingefunden, die sich ein solches Schauspiel nie entgehen ließ. - Dann wurden die fünf Männer aus dem Bunker von Block II geschleppt. Sie waren nur mit Hemd und Hose bekleidet und trotz der Kälte barfuß. - Mit erhobenem Haupt, wenn auch kreidebleich, schritten die Unglücklichen zum Appellplatz, der von Scheinwerfern beleuchtet war. Den ganzen Weg lang haben sie politische Losungen gerufen. Sie wurden ständig geschlagen, hörten aber nicht auf zu rufen. - Jeder von ihnen wurde vor einen Galgen gestellt. Schräg hinter den Galgen stand der Christbaum, eine riesige Fichte,
die alles andere überragte. Die elektrischen Kerzen brannten. Der Lagerführer verlas den Befehl, der in Berlin genehmigt worden war. Demnach seien die polnischen Schutzhäftlinge Piotr Piaty und Bernard Swierczyna und die reichsdeutschen Schutzhäftlinge Ernst Burger, Rudolf Friemel und Ludwig Vesely wegen Fluchtversuchs, Diversionstätigkeit und Kontakten zu Partisanen zum Tod durch den Strang verurteilt worden. Der Befehl sei sofort auszuführen. - Noch ehe der Lagerführer das Zeichen zum Vollzug der Todesstrafe geben konnte, richteten sich Piaty und Swierczyna auf und riefen über den weiten Platz, so laut, daß man es bis in den letzten Winkel hören konnte: Niech zyje Polska! Niech zyje wolnosz! Die Nazischergen stürz ten sich auf die beiden, schleppten sie zum Galgen und schreckten nicht davor zurück, auch jetzt noch mit Fäusten und Gewehrkolben auf sie einzuschlagen. - Ich mußte etwa drei Schritt entfernt stehen. Ich sah, wie die SS-Männer vor Wut jede Beherrschung verloren. Boger und Kaduk mißhandelten die bereits Hängenden. Sie gaben ihnen Ohrfeigen, versetzten ihnen Tritte und zogen sie an den Füßen nach unten. - Ich bin weiter hinten gestanden. Ich habe nicht gut gehört. Aber ich glaube gesehen zu haben, wie einer von ihnen dem SS-Mann vor ihm ins Gesicht getreten hat und von selbst in die Schlinge geschlüpft und sofort gesprungen ist. - In diesem Moment rief Ernst Burger: Nieder mit dem Faschismus! Es lebe ein freies, unabhängiges Österreich! Und Rudi Friemel hob die gefesselten Hände über den Kopf und schrie: Nieder mit der braunen Mordpest! Es lebe – . Seine Worte erstarben in einem Röcheln, als ihm ein SS-Mann die Schlinge über den Kopf warf. Dann war der junge Vesely an der Reihe. Seine letzten Worte lauteten: Heute wir, morgen ihr.
- Ich glaube, es war Rudi, der gerufen hat: Heute wir, morgen ihr! Die vier anderen ließen Polen, Österreich, die Rote Armee hochleben. Der Rapportführer hat, zornrot im Gesicht, mit der Peitsche auf sie eingeschlagen. - Es war ein Gefühl der Demütigung, der Scham und der Ohnmacht: Du kannst nichts tun. Du glaubst, sie schauen dir tief in die Augen. Ich hatte den Eindruck, gerade Rudi, der ganz in meiner Nähe stand, schaut mir tief in die Augen. Dann wurde die Kiste unter seinen Füßen weggestoßen, der Strick straffte sich, einige Sekunden zuckte der Körper, ich sah noch die Zunge lang und länger, die weit aufgerissenen Augen, dann konnte ich nichts mehr unterscheiden. - Alle Häftlinge, die zum Appell angetreten waren, haben nach der Hinrichtung die Mützen abgenommen. - Etwas habe ich zu sagen vergessen: Sie trugen alte Hosen und verschlissene Hemden, nur Rudi nicht. Heinz Dürmayer, der Lagerälteste, hatte veranlaßt, daß ihm das Hemd in den Bunker gebracht wurde, das er bei seiner Trauung getragen hatte. Ich weiß nicht, ob es Rudis letzter Wille war. Ich weiß nur, er wurde in seinem Hochzeitshemd gehenkt, das mit Rosen bestickt war. Seine Frau, die Spanierin, hat es nie erfahren.
7 Danach und davor
Jener Überlebende, der kurz vor seiner geplanten Flucht im August 1944 ins Lager Neuengamme überstellt wird, so daß er erst nach seiner Befreiung im Mai fünfundvierzig von Rudis Tod erfährt, und der die Nachricht, die ihn schwer trifft, nach Auschwitzer Art, wie er sagt, zur Kenntnis nimmt: Es ist geschehen, da hilft kein Jammern, und der in Wien, bald nach seiner Rückkehr, einen Vortrag über Auschwitz hält, damit die Welt endlich die ganze Wahrheit… und so weiter. Eine junge Frau, die auf ihn zukommt, nachdem er den Vortrag beendet hat, und ihn fragt, ob er in Auschwitz zufällig einen gewissen Rudi Friemel kennengelernt habe. Er, der Überlebende, der nickt. Sie, die fragt: Was aus Rudi geworden sei. Er, der antwortet: Daß Friemel Ende Dezember des Vorjahres auf dem Appellplatz gehenkt worden sei. Die junge Frau (die der Überlebende nie zuvor gesehen hat und der er auch nie wieder begegnen wird), die mit einem Weinkrampf zusammenbricht. Der Bruder des Überlebenden, der der jungen Frau beisteht, ihr auf die Beine hilft, sie wegführt, der Obhut anderer übergibt und dann dem Überlebenden Vorwürfe macht, weil er so hart mit der Frau umgesprungen sei: Hast du denn kein Herz, keine Seele! Und wieder und endgültig der Überlebende, der erwidert: Wer in Auschwitz war, hat für den Rest seines Lebens eine Hornhaut auf der Seele.
Franz Danimann, Marina Ferrer Rey, Édouard Friemel, Norbert Friemel, Kurt Hacker, Ferdinand Hackl, Hans Landauer, Hermann Langbein, Josef Meisel, Dagmar Ostermann, Alois Peter, Erich Wolf. Das sind die Namen derer, die mir ihre Erinnerungen anvertraut haben. Vier von ihnen sind in der Zwischenzeit verstorben. Auch Leopold Spira ist tot, der mir diese Geschichte aufgetragen hat, Francisco Cornelias, der mir als erster weitergeholfen hat, und Fernando Escribano Checa, der liebenswerte Schweiger an Marinas Seite. Das Museum Auschwitz und das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes haben mir unter anderem Protokolle der ehemaligen Häftlinge Jan Dziopka, Stanislaw Klodzinski, Viktor Lederer, Erwin Olszówka, Ludwig Soswinski und Alfred Woycicki zugänglich gemacht. Sie waren mir ebenso hilfreich wie die Dokumente in dem von Hans Landauer eingerichteten Archiv österreichischer Spanienkämpfer, die Auskünfte von Julian Escribano Ferrer und die einschlägigen Arbeiten von Hermann Langbein, Danuta Czech und Lore Shelley. Tadeusz Borowskis Erzählband Bei uns in Auschwitz ist in der Übersetzung von Vera Cerny im Piper Verlag erschienen, Jenny Spritzers Bericht Ich war Nr. 10291. Als Sekretärin in Auschwitz im Rothenhäusler Verlag. Darin findet sich folgende Bildlegende: »Man rechnet damit, daß es im Jahr 2010 keine AuschwitzÜberlebenden mehr gibt.« Nicht nur des falschen Datums wegen will ich diese Prognose nicht wahrhaben.