Buch Lauren Dane kehrt in ihre Heimatstadt Cat Creek zurück und kauft das Haus, in dem sie geboren wurde. Hier findet s...
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Buch Lauren Dane kehrt in ihre Heimatstadt Cat Creek zurück und kauft das Haus, in dem sie geboren wurde. Hier findet sie einen großen, mit schwarzer Farbe bemalten Spiegel vor. Neugierig entfernt sie die Farbe - und erblickt eine fremdartige Landschaft. Von einem seltsamen Drang getrieben, den sie weder verstehen noch unterdrücken kann, tritt sie durch den Spiegel in die Parallelwelt Oria ein. Zur gleichen Zeit gelangt auch Molly McColl in dieses magische Reich, doch sie tut es nicht freiwillig: Sie wird aus ihrem Trailer-Heim in die andere Dimension entführt. Dort enthüllt ihr Seolar, der Meister des Kupferhauses, dass sie über große magische Kräfte verfügt. Sowohl Molly als auch Lauren, die sich in ihrem bisherigen Leben völlig fremd waren, müssen erkennen, dass sie Teil einer vielschichtigen schicksalhaften Verstrickung sind. Ihre Entscheidungen können für die Erde wie für Oria, ja sogar für das ganze Universum, katastrophale Auswirkungen haben ... Autorin Holly Lisle wurde 1960 in Salem, Ohio, geboren und wuchs in den USA, in Costa Rica und Guatemala auf. Zunächst arbeitete Holly Lisle als Musikerin, bevor sie sich in enger Zusammenarbeit mit Marion Zimmer Bradley auf das Schreiben konzentrierte und schon bald ihre ersten Erfolge als Autorin feierte. Von Holly Lisle bereits erschienen: DER MAGISCHE SPIEGEL: 1. Der Schlaf der Zauberkraft (26550), 2. Die Weissagung (26551), 3. Der Flug der Falken (26552)
Holly Lisle
Die Höllenfahrt Das Gesetz der Magie 1
Aus dem Englischen von Michaela Link BLANVALET Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Memory of Fire. The World Gates, Book 1« bei EOS, an imprint of HarperCollins Publishers, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2005 Copyright © der Originalausgabe 2002 by Holly Lisle Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Luserke/Ivanchenko Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Verlagsnummer: 24126 Redaktion: Sabine Wiermann UH • Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24126-X www.blanvalet-verlag.de Für Matthew Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Memory of Fire. The World Gates, Book 1« bei EOS, an imprint of HarperCollins Publishers, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2005 Copyright © der Originalausgabe 2002 by Holly Lisle Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Luserke/Ivanchenko Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Verlagsnummer: 24126 Redaktion: Sabine Wiermann UH ■ Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24126-X www.blanvalet-verlag.de
Für Matthew 1 Ballahara, Nuue, Oria Als Molly McColl erwachte, war es dunkel - und mehrere Männer zerrten sie aus ihrem Bett und zur Tür ihres Schlafzimmers. Die Tür erglühte in einem beängstigenden, grünen Licht. Sie verschwendete keine Zeit darauf zu schreien; sie wehrte sich. Sie trat beherzt zu; es fühlte sich an, als hätte sie gegen einen Stein getreten, aber sie hörte das befriedigende Bersten von Knochen unter ihrem Fuß und anschließend einen schrillen Schmerzensschrei. Sie rammte einem anderen Mann ihren rechten Ellbogen in die Rippen und in den Magen und konnte ihre Hand aus den dünnen, heißen starken Fingern des Mannes befreien, der sie von hinten festhielt. Dann drehte sie sich um und biss in die Finger, die ihr linkes Handgelenk umklammerten, und wurde mit einem Aufheulen belohnt. Sie kratzte, sie trat um sich, sie biss und kämpfte mit jedem Trick, der ihr zur Verfügung stand, und mit der ganzen Kraft ihres Körpers und der Angst und dem Zorn, die in ihr tobten. Aber die Männer waren in der Überzahl, und obwohl sie diejenigen, die sie verletzt hatte, zusammengekrümmt auf dem Boden liegen sah, zerrten die übrigen ihrer Angreifer sie nach wie vor auf diese Mauer aus Feuer zu. Sie schrie, aber als die Gruppe hoch gewachsener Männer um sie herum sie in die Flammen hineindrängte, erstarb ihr Schrei und mit ihm alle anderen Geräusche. Kein Schmerz. Keine Hitze. Die Flammen, die über ihre Haut strichen, verletzten sie nicht - im Gegenteil, das kalte 7 Feuer fühlte sich wunderbar an, es war erfrischend und belebend gleichzeitig. Während ihre Entführer sie mit Gewalt in den gewölbten pulsierenden Tunnel zerrten, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf »Ja«. In der Sekunde oder der Ewigkeit -, in der sie an jenem seltsamen Ort schwebte, hielt niemand sie fest, niemand versuchte, ihr wehzutun, und zum ersten Mal seit langer Zeit löste sich aller Schmerz in ihrem Körper vollkommen auf. Sie hatte keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte; auf der einen Seite hatte sie das Gefühl, um ihr Leben kämpfen zu müssen, und auf der anderen Seite kam es ihr so vor, als bewege sie sich in etwas ganz und gar Wunderbares hinein. Und dann wurde sie aus dem Tunnel grünen Feuers in eine Welt aus Eis und Schnee und Dunkelheit katapultiert, und alle Zweifel waren vergessen. Die Männer hielten sie nach wie vor gefangen, und einer von ihnen rief jetzt: »Holt Seile und einen Wagen - sie hat Paith und Kevrad und Tajaro verletzt. Wir werden sie fesseln müssen.« Sie steckte in Schwierigkeiten; was immer hier vorging, es konnte nichts Gutes dabei herauskommen. »Es sind nur zwei Leguas bis zum Kupferhaus.« »Das wird ihr genügen, um einen von uns umzubringen. Fesselt sie.« »Aber der Imallin hat gesagt, sie dürfe nicht verletzt werden.« Jetzt griffen andere Hände nach ihr, hielten ihre Füße fest, umklammerten ihre Ellbogen und Handgelenke, die Knie und die Waden.
»Du sollst sie auch nicht verletzten«, sagte der Mann, der ihrem Kopf am nächsten war. »Du sollst sie lediglich fesseln, damit sie uns nicht verletzen kann, verdammt. Und wo ist dieser nutzlose Torhüter geblieben, den der Imallin damit beauftragt hat, das Tor zu schaffen? Einige unserer Leu8 te sind immer noch drüben! Schick jemanden zu ihnen, der sie herausholt, bevor er das Tor schließt!« Molly wehrte sich aus Leibeskräften, aber die Männer -dünn und hoch gewachsen, aber stark - zwangen sie, weiterzugehen. Immer mehr von ihnen packten ihre Arme und Beine, bis sie sich einfach nicht mehr bewegen konnte. Als sie einsah, dass sie sich nicht mehr wehren konnte, entspannte Molly sich vollkommen. Zum einen wollte sie ihre Energie nicht sinnlos verschwenden. Zum anderen würde sich ihr, wenn sie ihre Gegenwehr einstellte, vielleicht die Möglichkeit bieten, die Männer zu überraschen und auf diese Weise zu entkommen. »Torhüter - kannst du das Tor noch ein Weilchen offen halten?«, rief jemand hinter ihr. »Wir gehen noch einmal hinüber, um die anderen zurückzuholen!« »Er taugt nichts«, murmelte einer ihrer Entführer. »Näher konnte er uns an die Stadt nicht heranbringen. Ein guter Torhüter hätte uns das Ding fast auf den Hof gestellt.« »Mir gefällt die Atmosphäre hier im Wald heute Nacht auch nicht«, sagte der Mann, der ihr am nächsten stand. »Sorgt dafür, dass die Soldaten einen engen Ring um uns bilden.« Molly stand mit ihren nackten Füßen auf festgetretenem Schnee, und sie trug nichts als einen Flanellpyjama. Als sie ihren Widerstand aufgab, kam ihr diese Tatsache mit erschreckender Deutlichkeit zu Bewusstsein. »Wenn ihr mir nicht ein Paar Stiefel und einen Mantel beschaffen könnt und vielleicht auch eine Mütze und Handschuhe, braucht ihr euch keine Sorgen mehr darum zu machen, wie ich dorthin komme, wohin ihr mich bringen wollt, weil ich nämlich an Ort und Stelle erfrieren werde.« Jemand zerrte ein großes, schnaubendes Tier durch die Dunkelheit auf Molly zu, und hinter dem Tier erkannte sie einen großen hölzernen Wagen, wie Bauern ihn benutzten. 9 Aber was zum Teufel war das für eine Kreatur, die den Wagen zog? Es war kein Pferd, und es war auch nichts, was Ähnlichkeit mit einer Kuh gehabt hätte; es sah ungefähr so aus, wie man sich eine Kreuzung aus einem Elch und einem Karibu vorstellen musste, und Molly glaubte Knochen zu erkennen, wo sie nicht hingehörten. Alles in allem hatte das Geschöpf keine Ähnlichkeit mit irgendeinem Lasttier, das Molly je gesehen hatte. Und seine Augen glühten in der Dunkelheit wie rote Höllenfeuer. »Du brauchst weder die Schuhe noch den Mantel«, sagte der Mann, der bisher am meisten mit ihr gesprochen hatte. »Du wirst auf dem Heuwagen fahren, eingehüllt in ein paar Decken. Falls du beschließen solltest, einen Fluchtversuch zu unternehmen, kannst du barfuss durch den Schnee laufen.« »So kannst du doch nicht mit der Vodi reden«, protestierte einer der anderen Männer. »Bisher weiß niemand, ob sie wirklich die Vodi ist. Vorerst ist sie die Kreatur, die Byarriall die Brust zerschmettert und Loein ein Bein gebrochen hat. Welche Vodi würde so etwas tun?« Molly wusste nicht, was eine Vodi war. Es interessierte sie auch nicht. »Vielleicht eine, die mitten in der Nacht aus ihrem Bett entführt wurde?«, sagte sie, aber die Männer schienen ihr nicht mehr zuzuhören. Der Mob hob sie hoch und stieß sie auf die Ladefläche des Wagens, und die meisten der Männer kletterten ebenfalls hinauf. Dann bückten einige von ihnen sich, um ihr ein weiches Seil um die Knöchel zu schlingen und dann ein weiteres um ihre Handgelenke. Als sie sie gefesselt hatten, packten sie sie in dicke Decken und schoben sie tief zwischen die Heuballen auf dem Wagen. Sofort wurde ihr wärmer. Verdammt, sie fror wirklich nicht mehr. Aber als der Wagen sich schlingernd und knarrend in Bewegung setzte, hörte sie, dass sich links und 10 rechts von ihr Soldaten formierten. Die Geräusche waren ihr zutiefst vertraut: das Knarren von Stiefeln und Rucksackriemen, die leisen Flüche, die rhythmischen Schritte von Menschen, die schwer an Ausrüstung und Waffen zu tragen hatten. Sie erinnerte sich nur allzu gut an ihre Grundausbildung - auch wenn sie es bei der Luftwaffe ziemlich einfach gehabt hatte im Vergleich zu den Rekruten bei der Armee oder der Marineinfanterie, war sie doch lange genug marschiert, um den Drill zu kennen. Sie hatte eine Militäreskorte. Was zum Teufel ging hier vor? Aber die Männer, die sie entführt hatten, waren keine Soldaten. Sie waren zu selbstsicher gewesen, zu wenig auf Widerstand gefasst. Soldaten wussten, dass sie überall mit Ärger rechnen mussten, und ergriffen entsprechende Vorsichtsmaßnahmen. Mehr noch beschäftigte sie jedoch der Gedanke an das Gefühl dieser Hände auf ihrem Körper -heißer, dünner, trockener Hände. Sie beschloss, nicht einfach darauf zu warten, dass diese Männer sie dorthin schleppten, wo sie hinwollten, und ihr dann ... anzutun, was immer sie mit ihr vorhatten. Sie hatte bei der Luftwaffe gelernt, dass man eine Gefangennahme als Geisel am ehesten überlebte, wenn man keine Geisel blieb. Also machte sie sich daran, sich von dem Seil um ihre Handgelenke zu befreien, was ihr durch Beharrlichkeit und eine hohe Schmerztoleranz gelang. Es ging nicht ganz ohne Verletzungen - Molly trug Kratzer und Schürfwunden von den Metalldrähten davon, die sich unter der weichen Außenhülle ihrer Fessel verbargen, und sie spürte die warme Feuchtigkeit von Blut, das ihr über die Hand sickerte -, aber das alles bekümmerte sie nicht weiter. Ich wickele mir eine Decke um jeden Fuß und binde sie mir mit dem Seil fest, dachte sie. Nur ein schwacher
Ersatz für Stiefel, aber es wird genügen, um nach Hause zu kom11 men. Die anderen Decken benutze ich als Poncho, und dann nichts wie weg hier. Sie konnte den Spuren im Schnee folgen. Allerdings gab es da noch ein paar lästige Kleinigkeiten. Sie hatte sich nicht gestattet, darüber nachzudenken, während sie kämpfte, während sie sich von den Fesseln um ihre Hände und Füße befreite, während sie aus den Decken Stiefel faltete und sie festband. Seit sie aus dem Tunnel aus Feuer herausgekommen war, hatte sie kein Motorengeräusch gehört, sie hatte kein Auto vorbeifahren hören oder irgendetwas gesehen, das auch nur im Entferntesten an elektrisches Licht erinnerte; ebenso wenig hatte sie ein Flugzeug am Himmel gehört. In der Dunkelheit konnte sie vage die Umrisse von Bäumen erkennen, aber das war auch so ziemlich alles. Kein Stern leuchtete vom Himmel herab, der ihr sehr nah schien und von weiterem Schnee kündete. Wenn es ihr gelang, den Soldaten zu entkommen, die zu beiden Seiten des Wagens marschierten, und wenn sie es außerdem fertig brachte, die Wagenspuren bis zu der Stelle zurückzuverfolgen, an der sie aus dem Tunnel aus Feuer herausgekommen war, würde dieser Tunnel wahrscheinlich nicht mehr da sein. Und sie hatte große Angst, dass es keinen anderen Weg nach Hause gab. Sie lauschte dem Gespräch der Männer, die die Wagen fuhren, und konnte es ohne Mühe verstehen, aber wenn sie sich zwang, auf die einzelnen Worte zu achten, so hörte sie ein Übermaß an miteinander verschmelzenden Vokalen, die mit denen der englischen Sprache wenig Ähnlichkeit hatten. Die Hände auf ihren Armen hatten sich sehr seltsam angefühlt, und zwar nicht nur wegen ihrer Trockenheit, ihrer Wärme und ihrer Zartheit. Als Molly die Augen schloss, ihre Atmung beruhigte und sich auf ihre Entführung konzentrierte, wurde ihr klar, dass die Hände dieser Männer zu viele Finger gehabt hatten. Und als sie sich zur Wehr gesetzt 12 hatte, hatte sie mit den Ellbogen Rippen getroffen, wo gar keine Rippen hätten sein dürfen. Wenn die Sonne aufging oder sie an einen Ort mit Lichtern kamen, so dass sie ihre Entführer zum ersten Mal richtig sehen konnte, ging es Molly durch den Kopf, würde ihr dieser Anblick nicht gefallen. Denn wenn sie wirklich darüber nachdachte, hatte sie das starke Gefühl, dass sie nicht länger auf der Erde war - und dass diese Männer keine Menschen waren. Sie hatte ihre improvisierten Stiefel an den Füßen und ihren Deckenponcho um die Schultern gelegt und verknotet, aber sie würde nirgendwo hingehen. Noch nicht. Sie machte sich bereit, bei der ersten Gelegenheit loszurennen, aber nicht in einen kalten, dunklen, weglosen Wald, über dem sich ein Schneesturm zusammenbraute und in dem sie nirgends ein Zeichen von Zivilisation entdeckt hatte. Sie legte sich wieder in das Heu und ließ sich von der Wärme, dem Schaukeln des Wagens und den Stimmen um sie herum einlullen, ohne wirklich zu schlafen. Eilige Schritte und im Zorn erhobene Stimmen rissen sie aus ihrem Dämmerzustand. Ein Streit! Sie wünschte, sie hätte gewusst, wo sie sich hinwenden musste, denn ein Streit würde ihr eine perfekte Gelegenheit liefern, um sich in die Dunkelheit davonzustehlen. Aber dann sprang jemand zu ihr auf den Wagen. Jemand riss ihr die Decke vom Gesicht. In der Dunkelheit, die weder vom Mond und den Sternen noch von irgendeiner künstlichen Lichtquelle erhellt wurde, sah sie nicht mehr, als sie vorher unter ihrer Decke hatte sehen können. Schnee wehte ihr ins Gesicht, und die dichten, stetig fallenden Flocken ließen einen unmittelbar bevorstehenden Schneesturm ahnen. »Vodi - oh, Vodi - ich bringe dir mein Kind«, sagte der 13 Mann, der auf den Wagen gesprungen war. Er kniete im Stroh neben Molly nieder, und sie machte die Umrisse eines in eine weiße Decke gehüllten Bündels in seinen Armen aus. Es war klein. Reglos. Stumm. Er legte das Bündel neben Molly und drückte die Stirn auf den strohbedeckten Boden des Wagens. »Sie stirbt, Vodi«, sagte er. »Du kannst sie mit einem Wort retten. Mit einer einzigen Berührung.« Molly hätte schweigen können. Sie hätte das Gesicht abwenden können. Aber plötzlicher Zorn wallte in ihr auf, und sie schrie: »Ihr habt mich entführt, mich gefesselt und mich den ganzen Tag und einen Teil der Nacht ohne Wasser und Nahrung auf diesem kalten Wagen gefangen gehalten! Und jetzt bittest du mich, dir zu helfen? Wer wird denn mir helfen?« Der Mann sagte nichts. Stattdessen berührte er mit zitternden Fingern ihre Hand. »Meine anderen vier Kinder sind in den vergangenen drei Tagen gestorben. Ewilla ist mein letztes. Ein Wort von dir ist alles, worum ich bitte. Ein einziges Wort, um sie zu heilen, sie zu retten, damit meine Gefährtin und ich nicht alles verlieren, was wir lieben. Verfluche mich, und ich werde die Last deines Fluchs mit Freuden tragen - selbst wenn es der Tod sein sollte. Aber sprich ein einziges Wort für ein sterbendes Kind.« Mollys Magen krampfte sich zusammen. In ihr tobten Furcht und Zorn, aber gleichzeitig wusste sie auch, dass dies ihre Bestimmung war. Es war ihr Beruf, es war ihr Leben. Sie streckte die Hand aus, und der Mann legte ihr das reglose Kind auf den Schoß. Molly berührte die trockene Haut von Ewillas Gesicht und spürte schreckliches Fieber und eine unbarmherzige Verkrampfung des Fleisches über Knochen, die sich bereits tot anfühlten. Was sie nicht fühlte was sie bisher immer in der Gegenwart der Kranken und der Sterbenden gefühlt hatte -, war der Schmerz des Lei14
denden. Sie spürte nur ihre eigene Wange dicht über dem Gesicht des Kindes und die schnellen, heißen Atemstöße, die über ihre Haut strichen und ihr sagten, dass Ewilla noch lebte. »Ich kann ihre Krankheit nicht fühlen«, erklärte Molly. »Sie ist krank. Sie ist dem Tode sehr nah.« »Du verstehst mich nicht. Ich kann ihren Schmerz nicht fühlen. Ich kann nicht fühlen, was sie fühlt, ich weiß nicht, ob ich ihr helfen kann.« »Bitte. Oh, bitte. Sie ist alles, was ihre Mutter und ich noch haben.« Molly schloss die Augen, und ihre Finger, die noch immer auf Ewillas Wange ruhten, zitterten. Seit ihrer Kindheit hatte Molly den Kranken geholfen, indem sie die rasiermesserscharfen Schmerzen ihrer Krankheit aufgenommen und ihren unmittelbar bevorstehenden Tod in ihren eigenen Körper gezogen hatte, und sie hatte das Grauen dieser Menschen gefühlt, wenn es durch sie selbst hindurchströmte. Jetzt fühlte sie nichts; ein gewisses Mitleid mit dem Vater, ja. Einen gewissen Zorn über ihre eigene Situation, auch das. Aber keinen Schmerz. Keine Furcht. Kein ... kein Gift. »Genese«, flüsterte sie ohne echte Hoffnung, ohne wirklich zu erwarten, dass es etwas nutzen würde, nur erfüllt von der vagen Entschlossenheit, dass sie, wenn sie helfen konnte, es auch tun würde. Sie berührte das Gesicht des Kindes. An der Stelle, an der ihre Finger Ewillas Haut berührten, erglühte ein winziger Punkt grünweißen Feuers, das sich schnell ausbreitete. Es war das Feuer des Tunnels, der sie an diesen Ort gebracht hatte, und es erschreckte und ängstigte sie. Molly riss ihre Hand zurück, aber die Verbindung blieb bestehen. Sie konnte das kühle, belebende Dahinfließen eines mächtigen Stroms bei Flut spüren, und dieser Strom 15 floss durch sie und das Kind hindurch, er umspülte sie beide, dann fuhr er in das Kind hinein und veränderte es. Er veränderte Ewilla Zelle um Zelle, Molekül um Molekül und ersetzte Krankheit durch Gesundheit, Schwäche durch Stärke, Tod durch Leben, entriss sie dem Tod, als sei dieser nicht mehr als ein oberflächlicher Makel. Leben floss in das Kind hinein, so rein und kraftvoll wie die Schöpfung selbst. Molly, die wie gebannt war von dieser unvorstellbaren Macht, dieser aberwitzigen Magie, konnte kaum atmen. Sie hatte das Gefühl, dass sie aus dem Nichts einen Wirbelwind heraufbeschworen und Götter wie Dämonen herbeigerufen und ihnen zu tanzen befohlen hatte, und sie hatten ihr gehorcht. Berauscht überließ sie sich dem Strudel der Macht, der sie umfing und liebkoste. Und dann sah sie zum ersten Mal das Kind, das in ihren Armen lag, wirklich an. Es war eingehüllt von grünem Feuer, von Licht umstrahlt wie das Zentrum einer unirdischen Sonne. Und all ihre Ängste wurden Wirklichkeit durch den Anblick dieses Gesichtes. Es war keine bloße Krankheit, und es war auch keine Entstellung; Molly konnte das kleine Geschöpf unmöglich betrachten und sich einreden, dass das Kind im Mutterleib verformt worden war. Die Kleine war ein wunderschönes Geschöpf. Aber sie war kein Mensch, war es nie gewesen. Ihre Augen, die schräg standen wie die einer Siamkatze und so groß waren wie Limonen, waren von einem Winkel zum anderen smaragdgrün, ohne Lederhaut, ohne Pupille, ohne Iris. Es waren zwei polierte Edelsteine, eingefasst von einem Gesicht mit hohen Wangenknochen und federgleichen Brauen, einem Gesicht, das ebenso liebreizend wie erschreckend war. Als das Kind seine winzige Hand aus der weichen Decke, die es einhüllte, herauszog, hatte diese Hand zu viele Finger, und jeder Finger hatte zu viele Gelenke. Molly blickte in das Gesicht des Vaters auf, und die gleichen 16 Augen, die gleichen spitzen, verbogenen, fremdartigen Gesichtszüge sahen ihr entgegen. Dann wurde das letzte Gift aus dem kleinen Mädchen herausgespült, und das Feuer, das durch Molly floss und nicht länger benötigt wurde, strömte zurück in das Herz des Universums, das es hervorgebracht hatte, und das Licht erstarb. Das Kind richtete sich auf, sah sich um und stieß mit den so weich fließenden Lauten, die Molly merkwürdigerweise ohne Schwierigkeiten verstand, mit unglaublicher Geschwindigkeit einen wütenden Wortschwall aus. Die Kleine rutschte von Molly weg und streckte die Arme nach ihrem Vater aus. Molly konnte den Vater weinen hören. Seine Stimme klang rau, und hätte sie jemals einen Menschen auf diese Weise schluchzen hören, hätte sie es vielleicht für ein Würgen gehalten. Aber Molly verstand. Der Vater des Kindes schlang beide Arme um seine Tochter und drückte sie fest an sich, als wolle er sie durch seine Brust hindurch in sein Herz ziehen. Schluchzend sagte er: »Ich muss sie nach Hause bringen - aus der Kälte heraus.« Für einen kurzen Augenblick löste er sich von seiner Tochter und fügte hinzu: »Wenn du mich am dringendsten brauchst, werde ich für dich da sein. Ich schwöre es.« Molly, die immer noch unter Schock stand, starrte ihre Hände an, als gehörten sie nicht zu ihr. Grünes Feuer war aus ihrer Berührung erwachsen, und ein unirdisches Monstrum schwor ihr Treue. Sie wollte sich verstecken. Sie wollte schreien oder ohnmächtig werden. Stattdessen flüsterte sie ihm zu: »Bring mich nach Hause.« »Du bist bei Freunden«, antwortete er. »Du musst uns vertrauen. Man wird dich jetzt in deine Burg bringen. Du wirst eine Göttin sein, Vodi. Und solltest du mich jemals brauchen, sprich nur meinen Namen. Sag >Yaner, Yaner<, und denke mit aller Kraft an deinen Wunsch, dann werde 17 ich zu dir kommen.« Er nahm seine Tochter in seine Arme, sprang aus dem Wagen und lief davon. Molly legte sich wieder in das Heu, zu benommen, um etwas anderes zu tun, als ins Leere zu starren, zu benommen, um sich auch nur wieder in die Decke zu hüllen. Sie hatte die Wahrheit geahnt, stellte nun aber fest,
dass es um ein Vielfaches beängstigender war, diese Wahrheit über jeden Zweifel hinweg bestätigt zu sehen. Sie befand sich nicht in einem Entwicklungsland, sie war keine politische Gefangene und auch nicht die Geisel eines Terroristen, der einen ideologischen Kreuzzug führte. Sie hatte das grüne Feuer gespürt, aber sie hatte keinen Schmerz gespürt. Molly McColl starrte auf ihre Hände und versuchte zu begreifen, was mit ihr geschah. Der Tunnel aus grünem Licht, die Geschöpfe, die keine Menschen waren. In dem seltsam gedämpften Zischen des fallenden Schnees nahm Molly plötzlich ein Geräusch wahr, das nicht an diesen Ort gehörte. Es klang wie langsame Schläge eines Baseballschlägers auf eine Lederjacke, und es kam von oben. Ohne eine weitere Vorwarnung wurde sie gepackt, und die Männer, die sie ergriffen hatten, rannten mit ihr durch den Wald, so lautlos, als seien sie Geister. Hinter ihr brach die Hölle los, und sie hörte laute Schreie: »Rrön, Rrön!« Dann vernahm sie das plötzliche Donnern riesiger, ledriger Flügel und ein Brüllen, das den Schnee von den Bäumen fegte und alle anderen Laute verschlang. Dann das Klirren von Metall, die Schreie von Toten und Sterbenden, den Gestank von Kot und Blut. Ihre Retter ließen sie fallen und warfen sich dann neben ihr auf den Boden. »Kein Laut«, flüsterte eine Stimme in ihr Ohr, aber wer immer diesen Rat gab, hätte ihn sich sparen können; sie hörte die Hölle hinter sich, und sie hätte dieses 18 Grauen ebenso wenig auf sich herab beschworen, wie sie sich in ein Feuer geworfen hätte, um festzustellen, was passieren würde. Sie tat, was sie konnte, um ihr eigenes Überleben zu sichern; sie atmete durch den Mund, weil man dabei weniger Geräusche produzierte als beim Atmen durch die Nase; sie zwang sich, sämtliche Muskeln zu entspannen, und sie dachte darüber nach, ob sie irgendetwas tun konnte, um ihr eigenes Überleben sicherzustellen, falls man sie und ihre Retter entdeckte. Sie würde allerdings nicht viel ausrichten können. Mit einer M-16 und ein paar tausend Schuss Munition hätte sie gewiss einen positiven Beitrag zu dem Kampf leisten können, aber das Einzige, was sie zu bieten hatte, waren zwei in Decken gewickelte Füße, zwei bloße Hände und keine wie auch immer geartete Waffen. Und was immer auf dem Wagen gelandet war - es war groß. Wirklich groß. Sie konnte das Zittern der beiden Kreaturen neben sich spüren. In dem Brüllen, das vom Himmel herabgefahren war, konnte sie Worte ausmachen, auch wenn sie diese Worte nicht verstand. Bäume zerbarsten mit gewaltigem Donnern, Wagen und Zugtiere flogen durch die Luft und landeten um sie herum auf dem Waldboden. Männer schrieen und kämpften und starben, und Molly hörte Schreie. Dann wurden die Schreie seltener und erstarben schließlich ganz. Abermals erfüllte das Donnern ledriger Schwingen die Luft, und das Brüllen brach ab. Stille. Das Raunen von Schnee, der auf Schnee fiel, das Ächzen von Zweigen, die in dem zu Eis erstarrten Wald aneinander kratzten, und nicht einmal ein Stöhnen, ein Wispern, das Schluchzen eines Opfers, das um Gnade oder Erlösung flehte. Lange Zeit lag Molly reglos zwischen den beiden Männern, die sie aus dem Wagen gezogen hatten. Als die beiden 19 sich endlich regten, richtete Molly sich langsam auf, zog die Decke von ihrem Gesicht, so dass sie sehen konnte, und blickte vom einen zum anderen. »Rron«, sagte der Mann zu ihrer Linken mit kaum hörbarer Stimme. »Sie haben die Heilung gespürt. Sie sind gekommen.« Der andere sagte: »Du wirst jetzt zu Fuß gehen müssen. Von den Wagen wird keiner mehr übrig sein. Aber bleib bei uns, denn die Rron könnten die Straße beobachten - du willst gewiss nicht, dass sie dich finden.« »Müssen wir nicht den Überlebenden helfen?«, fragte sie. »Den Verletzten?« »Die Rron lassen keine Überlebenden zurück. Die Verletzten sind tot.« »Dann haben sich außer uns vielleicht noch andere in Sicherheit bringen können?« »Wenn irgendjemand sich versteckt hat, statt zu kämpfen, um dich zu beschützen, dann sollte er sich besser den Rron ergeben, als jemals ins Kupferhaus zurückzukehren.« Einer der Männer untersuchte ihre Füße und stellte fest, dass sie nicht länger barfuss und gefesselt war. Dann sah er sich ihre Handgelenke an. Sie hörte, wie er scharf die Luft einsog, und spürte seinen durchdringenden Blick. Nach einem kurzen Schweigen sagte er: »Es sind nur noch zwei von uns übrig geblieben. Wirst du mit uns kommen?« Molly räusperte sich und sagte: »Ja.« Dann hielt sie einen Moment lang inne. »Wie viele sind gestorben?«, fragte sie schließlich, als die beiden Männer sie von der Straße wegführten, tiefer in den Wald hinein. »Mehr als hundert. Andere aus unserer ... Einheit ... werden morgen hierher kommen, um die Leichen zu holen, bevor die Yaresh sie davonschleppen, um sie zu verkaufen. Oder zu essen.« Molly beschloss, dass sie heute Nacht keinen Fluchtver20 such unternehmen würde. Heute Nacht nicht und vielleicht noch sehr lange nicht.
Cat Creek Lauren Dane kratzte den Rest schwarzer Farbe von dem Glas des antiken Spiegels. Ein letztes Mal verfluchte sie den unbekannten Vandalen, der ihn übermalt hatte, dann seufzte sie und stand auf. Ihre Beine schmerzten vom langen Knien - sie reckte sich, hörte das Knarren in ihren Gelenken und in ihrer Wirbelsäule, und es ging ihr durch den Kopf, dass einem mit fünfunddreißig alles sehr viel schwerer fiel als mit fünfundzwanzig. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie klüger wurde, aber sie vermutete, dass es mit ihrem Körper im gleichen Maße bergab ging. Wenn das so weiterging, war sie mit siebzig ein Genie und gleichzeitig zu klapprig, um mit ihrem hart erkämpften Wissen auch nur das Geringste anfangen zu können. Aber zumindest sah der Spiegel nun annehmbar aus. Er wirkte ein wenig fehl am Platz, an der hinteren Dielenwand dieses alten Südstaaten-Bauernhauses; mehr als drei Meter hoch reichte er vom Fußboden bis zur Decke hinauf. In den Ritzen des kunstvoll geschnitzten dunklen Holzrahmens sammelte sich der Staub, aber er sah sehr schön aus, wenn man ihn mit Öl polierte. Alles in allem ein zu prächtiges Stück für dieses alte Bauernhaus. Aber der Spiegel war immer hier gewesen. Lauren erinnerte sich daran, dass sie als Kind furchtbare Angst davor gehabt hatte - sie hatte sich geweigert, im Dunkeln daran vorbeizugehen oder bei Tageslicht hineinzublicken, in der festen Überzeugung, dass sie in seinen silbrigen Tiefen Geister umgehen sehen konnte. Sie lächelte über ihre kindliche Torheit, und der Anblick dieses Lächelns, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, gefiel 21 ihr. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein wenig auf und ab zu stolzieren; dieser spezielle Spiegel war schon immer sehr freundlich mit den Bildern umgegangen, die er zurückwarf, ganz anders als der Schrankspiegel in ihrem alten Appartement, der ihr zwanzig Pfund zusätzlich auf die Hüften mogelte und ihre Haut grün erscheinen ließ, ungeachtete der Tageszeit oder der Beleuchtung. Sie fand, dass sie für ihr Alter immer noch ganz ordentlich aussah. Sie hatte noch keine grauen Strähnen, keine richtigen Falten im Gesicht - obwohl sie sehen konnte, wo sie in einigen Jahren Krähenfüße um die Augen herum bekommen würde -, und wenn sie sich im Profil betrachtete, war ihr Bauch ziemlich flach, und ihr Po sah in Jeans immer noch ganz gut aus. Das letzte Jahr hatte ihr innerlich schwer zugesetzt, aber äußerlich hatte es kaum Schaden angerichtet. Sie betrachtete ihre Augen im Spiegel und sah ein schwaches grünes Licht darin aufblitzen. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und sie lächelte nervös. Dann drehte sie sich um und ließ ihren Blick durch den Flur wandern, um festzustellen, woher das Licht gekommen war. Aber die Oberlichter aus facettiertem Glas zu beiden Seiten der Haustür ließen nichts Ungewöhnliches draußen erkennen. Es war ein für North Carolina typischer Novembernachmittag, die Eichen hielten ihre braunen Blätter immer noch fest, die Birken am Fluss waren kahl, die ledrigen Blätter der Magnolien von einem so dunklen Grün, dass sie beinahe schwarz wirkten. Ein paar Federwolken zogen hoch oben über den bleichen Himmel, und im Westen sah sie die schuppenförmigen Wolken aufziehen, die ihr Vater immer »Makrelenwolken« genannt hatte. Nichts regte sich außer einem Blauhäher; er saß auf dem Vogelhäuschen aus Zedernholz, das sie am Tag ihres Einzugs draußen aufgehängt hatte, und funkelte sie an, als mache sie ihm das Recht auf die dort ausgelegten Maiskörner und Sonnenblumensamen streitig. 22 Die Straße war menschenleer, in dem Haus auf der anderen Straßenseite war alles still, und in den Nachbargärten tollten noch keine Kinder herum, die sich nach der Schule austoben mussten. Kein grünes Licht. Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf, und sie schauderte. Dann drehte sie sich wieder um, vermied es aber, zu dem Spiegel hinüberzusehen, geradeso, wie sie es als kleines Mädchen getan hatte ... Und als sie sich dabei ertappte, schüttelte sie den Kopf und zwang sich dazu, in ihre eigenen Augen im Spiegel zu schauen. Ein grüner Blitz, nur ein Funke, ein Fünkchen, aber er schien aus dem Innern des Spiegels zu kommen. Natürlich, dachte sie, der Belag dieser alten Spiegel läuft an und blättert ab, und an einer dieser abgeblätterten Stellen wird das Licht auf eine sonderbare Weise zurückgeworfen. Wenn ich mich bewege, wird es nicht wieder passieren ... Eine einzelne grüne Flammenzunge flackerte links von ihrem Kopf auf. Ihr Herz raste, ihr Mund wurde trocken, und sie wich einen Schritt zurück. Dies hier ließ sich nicht mit einem Stückchen verblichenen Spiegelglases erklären. Der Spiegel schien an ihr zu ziehen; sie trat näher heran, obwohl sie plötzlich die gleiche panische Furcht verspürte wie als Kind, starrte tief in ihre eigenen Augen, und in ihrem Spiegelbild sah sie grünes Feuer spielen. Licht züngelte ihr entgegen, hypnotisch und wunderschön und irgendwie lockend. Sie streckte eine Hand aus und legte sie auf den Spiegel. Das kühle Glas summte und vibrierte unter ihren Fingerspitzen und wurde langsam wärmer. Erinnerungen umspülten sie - eine Erinnerung an Feuer, das sie umarmte, sie aber nicht verbrannte, an Bilder, die in dem weichen, grünen Glühen im Herzen der sanften Flammen tanzten: eine Wiese, die sich in alle Richtungen ausdehnte, soweit das Auge reichte, mit Blumen, die ihr bis 23 zum Kinn gingen und sich wie ein Meer aus dunklem Rot und Weiß bis zum Horizont erstreckten. Da war eine Frau, jung und mit braunem Haar, ihr Kleid war weiß und weit ausgestellt, und es war über und über mit
riesigen, roten Mohnblumen bedeckt; ihre weißen Schuhe hatten hohe Absätze und liefen an den Zehen in einer scharfen Spitze zusammen. Helle, lachende Stimmen riefen sie zum Spielen, komm spielen, komm spielen, komm spielen. Und im Nacken spürte sie Brians Lippen, als er ihren Hals küsste, und Brians weiche, tiefe Stimme klang in ihrem Ohr und versprach ihr, dass er bald heimkommen werde. Drüben im Wohnzimmer fuhr Jake schreiend aus dem Schlaf auf. Lauren riss sich von dem Spiegel los; der Bann war gebrochen. Tränen strömten ihr über die Wangen und brannten in ihrer Kehle; die Frau, die ihr von der anderen Seite des Spiegels aus entgegengeblickt hatte, sah verloren aus, benommen und zutiefst unglücklich, als hätte man ihr den Zutritt zum Himmel verwehrt, wo seine Tore doch schon zum Greifen nahe gewesen waren. Lauren drehte sich um und floh - rannte ins Wohnzimmer, um Jake in die Arme zu schließen. Sie hielt ihn fest, klopfte ihm auf den Rücken und flüsterte ihm zärtlich ins Ohr, dass alles gut sei, gut, gut, gut, bis ihr eigenes rasendes Herz ruhiger wurde und das Zittern in ihren Händen nachließ und sie wieder atmen konnte. Sie trug Jake in sein neues Zimmer hinauf, um seine Windel zu wechseln, aber sie nahm den langen Weg, durch das Esszimmer und die Küche und den Nebenkorridor und von dort aus über die Hintertreppe nach oben, vorbei an ungezählten, übereinander gestapelten Kisten, die darauf warteten, ausgepackt zu werden. Sie nahm den Umweg in Kauf, weil sie nicht mit Jake auf dem Arm an dem Spiegel vorbeigehen wollte. 24 Törichter Aberglaube, sagte sie, während sie den Zweijährigen die steile, schmale Treppe hinauftrug. Kindisches Benehmen. Es gab keinen Grund, warum sie Jake nicht über die Vordertreppe nach oben tragen sollte. Keinen. Es war die Erschöpfung, die von dem anstrengenden Umzug kam, von den großen Veränderungen, die sie endlich vollzogen hatte, von der Ungewissheit der Zukunft, die sie endlich als Herausforderung statt als Bedrohung ansehen konnte - all das hatte sie verletzlich und müde gemacht. Ihre Fantasie war mit ihr durchgegangen. Sie hatte sich an den Spiegel erinnert, hatte sich an ihre kindliche Angst davor erinnert, und in ihrer Erschöpfung hatte ihr Verstand ihr einen Streich gespielt. Wenn sie sich das nächste Mal im Spiegel ansah, würde sie dort nichts Ungewöhnliches finden. Eine fünfunddreißig Jahre alte Mutter mit dem schwarzen Haar ihres Vaters und den grünen Augen ihrer Mutter, die Diele ihres Elternhauses, das Licht, das durch die Türen fiel. In einem entlegenen Winkel ihres Bewusstseins grollte Donner, und grünes Licht flackerte über eine Landschaft, die keinem Ort auf Erden glich, und hohe Stimmen riefen nach ihr, riefen nach ihr, riefen nach ihr, komm spielen. Und Brian wartete. Irgendwo. »Mama. Bitte - Kekse?« Jake war es müde geworden, mit Holzlöffeln auf Töpfe zu schlagen, und jetzt stand er mit einem hoffnungsvollen Ausdruck auf seinem runden Gesicht hinter ihr. »Bitte - Broccoli?« Er sprach das Wort in drei sorgfältig geformten, gleich betonen Silben aus: Brock Koll Li. »Bitte - Butterkekse?« Sie richtete sich über der halb ausgepackten Kiste mit Gläsern auf und strich sich mit staubigen Fingern das Haar aus der Stirn. Aus alter Gewohnheit blickte sie zu der Stelle über dem Spülbecken hinüber, wo früher die Uhr ihrer 25 Mutter gehangen hatte, aber die war natürlich nicht mehr da, verschwunden mit allem anderen, was vor zehn Jahren im Haus gewesen war. Aber ein Blick aus dem Fenster sagte ihr, was sie wissen wollte - es war fast dunkel draußen, und die Zeit, da sie das Abendbrot für sie beide hätte machen müssen, war lange verstrichen. »In Ordnung. Also Kekse sollen es sein, Äffchen. Willst du mir helfen?« Er strahlte sie an. »Nein.« Vorsichtig trat er den Rückzug an, bereit, loszulaufen, falls sie auf die Idee kam, die Sache weiter zu verfolgen. Ah, zwei. Das Alter, in dem alles ein Test und die einzige Person, die durchfallen konnte, Mom war. Lauren hatte andere Mütter Horrorgeschichten über ihre zweijährigen Kinder erzählen hören und vermutet, dass ein solches Fehlverhalten lediglich die mangelnden Erziehungskünste der Berichterstatterin widerspiegelte. Gott rächte sich an Menschen, die solche Gedanken hegten - er gab ihnen Kinder wie Jake und sagte: »Nun mach es besser, du kluges Mädchen.« Sie blickte lächelnd auf Jake hinab und sagte: »Braver Junge. Geh und hol mir den Broccoli aus dem Kühlschrank«, als hätte er »Ja« gesagt, und kehrte ihm dann den Rücken zu. Wenige Sekunden später hörte sie, wie die Kühlschranktür geöffnet wurde, und im nächsten Moment hielt er ihr zwei Stängel Broccoli hin. »Danke«, sagte sie. »Jetzt musst du noch den Fußboden für mich fegen. Hol den Besen und das Kehrblech.« Wenn Jake für sie den Fußboden fegte, war das für sie etwa eine genauso große Hilfe, als striche er das Haus - er würde seine Sache in beiden Fällen gleich gut machen. Aber er fegte gern und würde mit Freuden den ganzen Tag lang Schmutz über den Boden schieben, wenn sie ihm außerdem erlaubte, das Kehrblech zu benutzen. Wenn er dabei ein paar Din26 ge umwarf - nun, das war der Grund, warum sie nichts Zerbrechliches in weniger als zwei Metern Höhe lagerte. Er brüllte: »Feden!« und sauste los, um den Besen zu holen. Sie hörte seine Turnschuhe über altes Linoleum quietschen. Dann ein anderes Geräusch auf den Holzdielen.
Noch mehr Holz. Das Sicherheitsgatter würde ihn daran hindern, die Vordertreppe hinaufzugehen; die hintere Treppe konnte sie von der Küche aus sehen, und sie hatte bisher in keinem der Zimmer irgendetwas ausgepackt, das er nicht anfassen durfte. Also ließ sie ihn laufen. Sie holte den Dampfkochtopf aus dem Schrank, gab den Broccoli mit zwei Tassen Wasser hinein, schloss sorgfältig den Deckel und schob den Topf auf die hintere Platte. Es war ein anderer Herd als zu der Zeit, als ihre Eltern noch hier lebten, dachte sie, eins von diesen weißen Dingern, die genau zum Kühlschrank, zur Mikrowelle, zur Spülmaschine und zu den neuen hellen Schränken mit Glastüren passten, die die gemütlichen Kiefernmöbel ihrer Mutter verdrängt hatten. Nun gut, wenigstens waren diese anders als die alten Schränke, nicht avocadogrün, und das war gut so. Aber sie verströmten auch nicht die behagliche Vertrautheit der Kiefernmöbel. Selbst wenn sie dann mit dem Avocadogrün hätte leben müssen, wäre es ihr lieber gewesen, die letzten Besitzer des Hauses hätten die Küche nicht neu eingerichtet. Sie war nur dankbar, das die Leute hatten umziehen müssen, bevor sie noch mehr verändern konnten. Jake war schrecklich still. »Jake - Besen!«, rief sie, aber sie hörte keine Schritte mehr. Das bedeutete, dass er etwas gefunden hatte, in das er hineinklettern konnte. Wahrscheinlich hockte er in einer der leeren Kisten, die sie an der Haustür aufgestapelt hatte. Im Gegensatz zu ihr schien Jake Umzüge himmlisch zu finden. 27 Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie sowohl den Besen als auch das Kehrblech neben dem Spiegel in der Diele stehen gelassen hatte. Sie hatte die Bröckchen abgeblätterter Farbe, die sie von dem Glas abgekratzt hatte, zusammengekehrt, damit sie sich nicht in dem alten Holzboden festsetzten. Etwas Kaltes und Beängstigendes kroch ihr den Rücken hinunter, und sie schrie: »Jake, komm hierher!« Dann hört sie ihn lachen und »Hallo!« sagen. Sie sprang über Kisten, rutschte auf ihren Strümpfen über den glatten Holzfußboden und rannte um die Ecke. Jake stand vor dem dunklen Spiegel, lächelte und streckte seine pummelige kleine Hand nach etwas aus, das er in dem Spiegel sah. Sie kreischte: »NEIN, Jake!«, und sprang auf ihn zu. Er drehte sich hastig um, doch die Angst, die sie in seinen Augen las, war nicht durch den Spiegel ausgelöst worden, sondern durch ihren plötzlichen, irrationalen Ausbruch. Er verzog das Gesicht und begann zu weinen. »Baby«, schluchzte er und zeigte auf den Spiegel. »Baby.« Sie folgte seinem Blick. Keine grünen Blitze. Keine Ungeheuer. Keine Felder mit roten und weißen Blumen, keine hübsche Frau in einem Jackie-Kennedy-Kleid und Sommerschuhen, kein Brian. Nur eine Idiotin in Jeans und einem grauen Sweatshirt mit einem Kleinkind auf dem Arm. Jake gefiel das Kind in dem Spiegel. Er redete immer gern mit dem Baby im Spiegel. Sie drehte ihn um, so dass er auf ihrer Hüfte sitzen konnte, dann griff sie nach Besen und Kehrblech und trug ihre Last mit zitternden Händen und pochendem Herzen in die Küche. Aus einem Impuls heraus drückte sie auf dem Weg durch den Flur mit dem Ellbogen auf den Lichtschalter, und die Diele hinter ihr war mit einem Mal strahlend hell. Damit Jake in der Dunkelheit nicht hinfiel und sich wehtat, sagte sie sich. Na klar. 2 Ballahara Die Toten lagen am Straßenrand wie zerfetzte Spielzeugpuppen, die ein unbarmherziges Kind fortgeworfen hatte. In der Dunkelheit, die die Morgendämmerung erst ganz allmählich linderte, bildete das Blut noch immer eine schwarze Schicht auf dem weißen Schnee. Zerschmetterte Wagen, abgeschlachtete Tiere, Waffen, die mit unvorstellbarer Zerstörungskraft zerbrochen und verbogen worden waren. Molly hatte selbst nie eine Schlacht erlebt; sie hatte die Toten gesehen, aber niemals die Leichen dort, wo sie zu Boden gefallen waren, noch dampfend in der Kälte. Dieses Antlitz des Todes betäubte sie, nahm ihr die Luft zum Atmen und ließ ihr trotz der bitteren Kälte Schweiß über den Rücken rinnen. »Warum ist das passiert?«, flüsterte sie. »Wer hat das getan und warum?« Der Soldat zu ihrer Linken antwortete ihr. Er überragte Molly um mehr als einen halben Meter und trug eine Robe, die seine Knöchel umflatterte, während er durch diese Landschaft des Grauens schritt. Er hielt Ausschau nach irgendetwas - sie wusste nicht, was es war - und wandte sich nicht einmal zu ihr um, als er sagte: »Die Rrön spüren Magie, und sie machen Jagd auf deren Quellen, um sie zu zerstören.« Magie. Ihre Heilung des Kindes? »Das heißt, als ich den Tod von dem Kind genommen habe ...« »... haben die Rrön dich gespürt. Ja.« 29 »Warum hat mich dann niemand aufgehalten? Warum hat niemand den Vater des Kindes aufgehalten?« »Die Rrön sind nicht immer in der Nähe. Außerdem glaubten wir, wir seien geschützt. Wir tragen Kupfer bei uns, jeder von uns hat Kupfer am Leib, du hast Kupfer am Leib. Dein Versuch, Magie zu wirken, hätte keine Folgen haben dürfen.« Molly runzelte die Stirn. »Ich will ja nicht widersprechen, aber ich trage kein Kupfer.«
»Du hast welches getragen. Deine Hände waren mit einem kupferdurchwirkten Seil gefesselt - wir dachten, sie seien damit gefesselt. Auf diese Weise wollten wir dich schützen, wollten uns schützen, um dich sicher ins Kupferhaus zu bringen. Niemand hat damit gerechnet, dass deine Willenskraft oder deine Macht stärker sein könnten als Kupfer.« Aber sie hatte sich die Fessel abgenommen, und hundert Soldaten waren gestorben. »Sind das Kind und sein Vater entkommen?«, fragte sie, und kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, befürchtete sie, dass sie die Antwort gar nicht wissen wollte. Aber ihr Wächter, der Einzige, der bisher mit ihr gesprochen hatte, sagte: »Ja.« Gut. Das zumindest war gut. »Und die anderen Leute in dieser Karawane? Sie waren Zivilisten?« »Wir waren alle Soldaten.« Dann fügte er hinzu: »Wir haben uns alle freiwillig gemeldet. Wir wussten um die Risiken, als wir dem Imallin unsere Dienste anboten.« Der andere Wächter sagte: »Du bist die Vodi. Du hast dem Tod ein Kind gestohlen, und das Vodifeuer ist auf deinen Ruf hin herbeigekommen. Das ist das Wunder, auf das wir gewartet haben, und du hast bereits bewiesen, dass du zu all dem imstande bist, was der Imallin uns versprochen hat. Wir alle haben es gesehen; das ist der Grund, warum sie 30 alle ...«Er zeigte mit der Hand auf die am Boden liegenden Leichen. »Warum sie für dich gestorben sind. Das ist der Grund, warum Birra und ich dich in Sicherheit gebracht haben.« Ihre Begleiter verfielen in Schweigen. Seite an Seite gingen sie weiter, vorbei an all den Toten. Molly war es nur recht, dass die beiden Männer schwiegen; ihr war nicht länger nach Reden zumute. Die Leichen im Wald waren keine Menschen, aber dennoch waren diese Geschöpfe gestorben, um sie vor etwas Schrecklichem zu retten, etwas, dass das Blut in ihren Adern gefrieren ließ und ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Sie hatte die Kreaturen, die auf sie Jagd gemacht hatten, gefühlt; sie konnte ihren Hunger, ihren Zorn und ihre Wachsamkeit noch immer als Echo in ihren Eingeweiden spüren, als setzten sie aus der Ferne die Suche nach ihr fort. Die Bemerkungen der Männer über das Kupfer verstand sie nicht. Ebenso wenig wie sie begreifen konnte, dass all das Wirklichkeit war: die nicht menschlichen Gesichter dieser Geschöpfe, ihre seltsame Sprache, die beinahe unterwürfige Haltung, die sie ihr gegenüber an den Tag legten und die so gar nicht zu der Tatsache passen wollte, dass sie sie entführt, gefesselt und auf einen Heuwagen geworfen hatten. Irgendwie war sie noch nicht bereit, endgültig zu akzeptieren, dass das, was sie gerade erlebt hatte, wirklich geschehen war. Sie hätte sich vielleicht sogar einreden können, dass das Ganze ein böser Traum war, wären da nicht die Leichen am Straßenrand gewesen, der metallische Gestank von Blut in der Luft, die vor Entsetzen geweiteten Augen, die ins Leere starrten und die die Kälte bereits mit einer trüben weißen Schicht überzogen hatte, die Gesichter, die zu Grimassen verzerrt waren und von einem Schmerz zeugten, der unabhängig von Rasse oder Spezies war. 31 Molly ging zwischen ihren Wächtern und schauderte im Angesicht dieses Gemetzels. Sie hatte niemals gewollt, dass irgendjemand um ihretwillen starb. Mensch und Veyär standen auf dem Wehrgang einer solide gebauten, steinernen Burg, von der aus man einen Blick auf riesige Wälder, einen schönen, kalten, felsigen Fluss und wilde Wiesen hatte. Der Veyär sagte: »Entspricht dies hier deinen Vorstellungen?« »In etwa, abgesehen von dem Problem mit den Mäusen. Gehört das Land dazu?« Der Veyär nickte. »Die Zahl der Einwohner ist klein, aber die jährlichen Steuern an Ernten und Vieh bringen genug ein, um einen annehmbaren Haushalt führen zu können. Und wie du siehst, wirst du mehr Holz haben, als du brauchst, und sowohl der Fluss als auch der kleine See im Süden sind voller Fische. Falls du dich dafür entscheidest, das Angebot anzunehmen, werde ich dir die Steuerurkunden aushändigen und dir für die ersten ein oder zwei Jahre einen Verwalter zur Seite stellen, der dir helfen kann, die Urkunden zu verstehen, und der außerdem sicherstellen wird, dass du deinen Zehnten rechtzeitig und in vollem Umfang erhältst.« Der Mensch legte beide Hände auf die Brustwehr. »Du verlangst viel.« »Das ist richtig. Aber wie du siehst, bin ich auch bereit, eine Menge dafür zu geben.« »Und die Leute hier würden einen Menschen als ihren Herrn akzeptieren?« »Du stammst von den Alten Göttern ab. Sie würden dir mit bedingungslosem Gehorsam dienen.« Der Mensch lachte. »Diesen bedingungslosen Gehorsam kenne ich, und ich möchte mich lieber nicht darauf verlassen. Aber das spielt keine Rolle, denke ich. Das Land und 32 die Burg werden für das, was ich vorhabe, genügen.« Eine Maus kroch, dicht an den Stein gepresst, an der Mauer der Brustwehr entlang, und der Mensch runzelte die Stirn und zeigte mit dem Finger auf das kleine Tier. Einen Augenblick lang umschlang grünes Feuer die Maus. Dann erstarb das Leuchten, und die Maus rannte mit einem leisen Fiepen davon, ohne sich länger zu bemühen, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Ich dachte, du würdest sie töten«, bemerkte der Veyär. Der Mensch zuckte die Achseln. »Es wäre vollkommene Zeitverschwendung, eine einzelne Maus zu töten.« »Stimmt. Das ist der Grund, warum es Katzen gibt, nehme ich an.« Er zuckte die Achseln und deutete auf die Burg und die Ländereien dahinter. »Also - du wirst es tun?« »Ich werde dir geben, was du verlangst.«
»Sobald ich sie unversehrt und in guter Verfassung habe, wirst du die Burg bekommen und voll ausgebildetes Personal, das dir dient. Der Einzige von diesen Leuten, der nicht auf unbegrenzte Zeit hier bleiben wird, wird der Verwalter sein, aber ich werde dir genug Zeit geben, einen eigenen Verwalter auszubilden, bevor ich meinen zurückhole.« »Dann haben wir eine Abmachung.« Der Mensch wandte sich zum Gehen, dann sagte er: »Vielleicht wäre es das Beste, du würdest mich hinausbegleiten. Ich fürchte, es wird ein wenig dauern, bis ich all die Flure und Korridore hier kenne.« Molly wehrte sich nicht gegen die Augenbinde, die ihre Wächter ihr überstreiften. Sie hatte einen flüchtigen Blick auf eine Mauer werfen können, und in der stillen Morgenluft hatte sie Geräusche gehört, die wie das Erwachen einer kleinen Stadt klangen. Sie wollte jetzt nichts als Wärme und ein Dach überm Kopf an einem Ort, wo sie vor diesen monströsen geflügelten Gräueln sicher war, die sich brül33 lend vom Himmel herabstürzten. Bevor sie beschloss, welche weiteren Schritte sie ergreifen wollte, würde sie zunächst einmal abwarten und feststellen, was hier eigentlich vorging. Sie ließ sich blind von den beiden Männern auf etwas zuführen, das klirrte und klapperte. Sie dachte »Zugbrücke«, bezweifelte diesen ersten Eindruck jedoch sofort, bis sie dann tatsächlich über klirrendes Metall ging und unter ihren Füßen fließendes Wasser wahrnahm, das zu schnell dahinströmte, um selbst in dieser bitteren Kälte zu gefrieren. »Wir sind fast da«, sagte einer ihrer Wächter, und sie stolperte über eine holprige Straße, dann hörte sie jemanden flüstern und eine schwere Metalltür, die geöffnet wurde -und endlich kam sie aus der eisigen Luft in die Wärme. Sie gingen über Stein und dann über Metall. »Es tut uns sehr leid, Vodi«, sagte eine der Kreaturen und drückte sie sanft in einen behaglichen Sessel. Sie hörte Türen, die hinter ihr zuschlugen, Riegel, die vorgeschoben wurden, Schlösser, die mit einem Klicken geschlossen wurden. Metall, Metall und Metall. Ich bin in einer Zelle, dachte sie. Einem Gefängnis. Vielleicht hätte sie versuchen sollen zu fliehen, als die Männer ihr die Augenbinde überstreiften - nur dass sie immer noch nicht wusste, wohin sie hätte laufen sollen. Wo konnte sie Sicherheit finden? Sie hatte keine Ahnung, wie sie nach Hause kommen sollte, denn ihr Problem ging weit über die Frage hinaus, in welchem Land sie umherirrte. Sie hätte nicht einmal sagen können, in welcher Welt sie sich befand. Jetzt erklärte einer ihrer Wächter: »Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, um diesen Raum so angenehm wie möglich für dich zu gestalten. Es wird dir an nichts mangeln; du wirst keinen Schaden nehmen und keine Unbequemlichkeit erfahren.« Ihre Augen waren noch immer bedeckt. Sie dachte an Bil34 der von Amerikanern, die in ausländischen Gefängnissen festgehalten wurden, mit Kapuzen über dem Kopf und an Stühle gefesselt. Wenn man ihr das antat, glaubte sie, dass sie den Verstand verlieren würde. Das Geiseltraining bei der Luftwaffe hatte sie eine Menge über sich selbst gelehrt. Aber das Geiseltraining hatte sie unter der Annahme absolviert, dass der Gefangene zumindest eine gewisse Vorstellung davon haben würde, an welchem Ort in der Welt er sich befand, wer ihn festhielt oder warum man ihn entführt hatte. Sie wusste nichts von alledem, und das Ungreifbare ihrer Situation gab ihr nichts, woran sie sich hätte festhalten können. Einer ihrer Wächter nahm ihr die Augenbinde ab, und einen Moment lang blendete sie das helle Licht. Dann konnte sie ihre Wächter zum ersten Mal richtig sehen. Drei der Kreaturen blickten auf sie hinab. Die Schattierungen ihres pastellfarbenen Fleischs reichten von cremigem Gelbgold bei dem Mann, der ihr die Augenbinde abgenommen hatte, über ein sanftes Grün bei dem, der an der Tür stand, bis hin zu hellem Blau bei dem Dritten, der neben ihr kniete und eine wunderschöne Schale mit dampfendem, wohlriechendem Wasser und ein dickes, weiches Tuch hielt, damit sie sich Gesicht und Hände waschen konnte. Ihr langes, dichtes Haar war von der gleichen Farbe wie ihre Haut, nur um einige Schattierungen dunkler, so dass sie Molly plötzlich an übergroße, magere Küken erinnerten, die man für Ostern gefärbt hatte. Sie trugen ihr Haar zu kunstvollen Zöpfen geflochten oder zu Knoten frisiert im Nacken, und ihre riesigen, mandelförmigen, smaragdgrünen Augen - die in diesem Licht nun doch Pupillen aufwiesen, aber immer noch keine sichtbare Lederhaut - beobachteten Molly mit einer beängstigenden Eindringlichkeit und ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Alle drei trugen prächtige Roben aus Samt, die über und über bestickt waren mit Satingarn und 35 besetzt mit Gold- und Silberborten. Die Säume und Ärmel waren umgeschlagen, so dass darunter in mehreren Schichten gearbeitete Unterkleider aus bestickter Seide zum Vorschein kamen. Ziemlich prunkvoll für Entführer. Alle drei trugen außerdem kunstvolle Gesichtstätowierungen. Sie gehörten in den Raum, in dem Molly sich befand - aber es war kein Raum. Es war eine Suite, und Welten trennten dieses Gemach von ihrem Mobilheim in Cat Creek. Sie saß auf der Kante eines prächtig geschnitzten Holzbetts; über ihr erhob sich die Kupferdecke in fünfbögigen Spitzgewölben, in denen je eine silberne Lampe hing, deren zahlreiche Flammen den Raum in ein warmes Leuchten tauchten. Säulen, ebenfalls aus Kupfer und so geformt, dass sie wie Bäume mit einer glatten Borke aussahen, reckten Zweige hinauf und über jeden Bogen, und jeder Zweig war behangen mit Tausenden silberner Blätter, die bei jedem noch so schwachen Luftzug ein
leises Klirren von sich gaben. In die Kupferlatten der Decke und in die Rahmen aller Türen waren Emaillearbeiten eingelegt, strahlend smaragdgrüne Blätter, Blüten, Früchte und Gemüse. Der kupferne Fußboden war so zurechtgehämmert worden, dass er wie gefliest wirkte. Aber nur die Wände, die Decke, die Türen und der Boden bestanden aus Kupfer; die Möbel waren aus Holz mit Intarsien und mit Öl poliert, so dass sie sanft schimmerten. Für die übrigen Einrichtungsgegenstände - Laternen, Teller, Becher und Essgeschirr - hatte man Silber verwendet, das sorgfältig blank poliert war. Auf dem Bett lagen seidene Decken, und die Bettvorhänge waren üppig bestickt. Auf dem weich gepolsterten Sofa und dahinter sah Molly Wandbehänge, die der Burg eines Königs Ehre gemacht hätten. Schwere Spitzengardinen hingen vor den Fenstern. Hübscher Raum. Hübsches Gefängnis. Aber Molly wollte keine Gefangene sein, und ihre Wärter waren nachlässig. Sie schlug dem Gelben die Wasserschale aus der Hand, 36 schlang einen Arm um seinen Hals und riss seinen Kopf nach hinten, bis ihm nichts anderes übrig blieb, als aufzustehen, den Rücken beinahe zu einem Bogen gewölbt, um zu verhindern, dass sein Hals brach. »Ich will nach Hause«, sagte Molly. »Ich weiß nicht, was ihr für Leute seid, und ich weiß nicht, was ihr von mir wollt... Und ich möchte es auch nicht herausfinden. Schafft mir den Burschen her, der den grünen Tunnel gemacht hat, und sag ihm, er soll noch einen weiteren machen, und zwar jetzt sofort, oder ich werde diesem mageren Bastard den Hals brechen. Habt ihr mich verstanden?« Die Kreatur, die sie festhielt, wehrte sich nicht. Der Mann sah sie traurig und resigniert an und sagte: »Wenn ich mein Leben lassen muss, damit du hier bleibst, dann gehört mein Leben dir.« Und die beiden anderen nickten. »Ein jeder von uns wäre drüben im Wald für dich gestorben. Er würde auch jetzt noch für dich sterben. Wenn du meinst, ihn töten zu müssen, dann wirst du es tun - aber wir können dich noch nicht nach Hause zurückbringen. Noch nicht. Nicht bevor du verstanden hast, warum wir einen so furchtbaren Preis gezahlt haben, um dich hierher zu holen.« Und wie zum Teufel sollte man mit so etwas streiten? Sie wollte den gelben Burschen nicht töten. Sie wollte einfach einen Angriffspunkt - und sie hatte nichts dergleichen. Wenn sie ihren Gefangenen tötete - wenn sie alle drei Kreaturen in diesem Kupferzimmer tötete -, würde sie das immer noch nicht nach Hause bringen. Sie würde dadurch keinen Deut mehr wissen, als sie es jetzt tat. Die Entfernung zwischen der Welt, die sie kannte, der Welt, in der die Dinge einen Sinn ergaben, und diesem Ort, der jenseits von Vernunft und Begreifen lag, schmerzte sie bis auf die Knochen. Sie sehnte sich nach einem Zeichen. Nach irgendetwas, an dem sie sich festhalten konnte. 37 Sie ließ ihren Gefangenen los und blickte von einer der hoch gewachsenen, tätowierten Kreaturen zur nächsten. Dann holte sie tief Luft, damit ihre Stimme nicht zitterte, und sagte: »Was seid ihr?« »Mein Name ist Birra.« »Nein, nicht deinen Namen. Ich meine ... was seid ihr? Außerirdische? Elfen? Ärzte in einer psychiatrischen Abteilung? Bin ich verrückt geworden? Es kommt mir jedenfalls so vor.« Birra lachte. Es war ein seltsames Geräusch, trocken und papieren. »Es ist nichts von alledem. Wir sind die Bewohner dieser Welt. Deiner neuen Welt. Deiner wahren Heimat.« »Meine Heimat ist Cat Creek in North Carolina. Man braucht niemanden zu entführen, um ihn in seine wahre Heimat zu bringen.« »Wir haben dich hierher gebracht, um dich zu retten ... und um uns zu retten.« »Ich bin durchaus imstande, mich selbst zu retten - meistens jedenfalls. Also erspart mir eure schönen Worte zum Lobpreis meiner Gefängniszelle.« Sie sah sich um. »Auch wenn es eine hübsche Zelle ist. Sagt mir einfach, was ihr wollt, von wem ihr es wollt und was das Ganze mit mir zu tun hat. Ich habe keine reichen Freunde. Ich kenne niemanden, der eine Machtposition innehat, und ich habe keinen Einfluss auf Politik oder Militär.« Sie stützte die Hände auf die Knie und sagte: »Also, es geht jetzt folgendermaßen weiter: Ihr werdet mir erzählen, dass ihr mich entführt habt, um eine Art Hebel zu bekommen. Und ich werde euch meinerseits erklären, dass ihr auf diese Weise keinerlei Hebel bekommen werdet, und dann werdet ihr euch entschuldigen und mir erklären, dass ihr mich nach Hause bringen werdet.« Birra schüttelte den Kopf. »Deine Welt hat dich verletzt 38 sie hat dich zerstört. Warum bist du so versessen darauf, dorthin zurückzukehren? Hier wirst du die Liebe und die Anerkennung finden, die du verdienst. Du gehörst hierher, Molly. Du gehörst zu uns.« Molly stand auf und schob sich an den drei Männern vorbei; sie stolzierte zum Fenster hinüber und blickte hinaus. Liebe und Anerkennung klangen natürlich gut, aber die Sache musste einen Haken haben. Und es konnte auch kein angenehmer Haken sein, denn ihre Fenster waren vergittert. Und obwohl es sehr hübsche Gitter waren - dicke Kupferstäbe in der Form von Diamanten -, sagten Gitter ihr, dass sie irgendwann ein so starkes Bedürfnis haben würde, von hier fortzugelangen, dass sie es in Erwägung ziehen würde, durch die Fenster zu fliehen. An der glasglatten Wand eines Turms hinab, der mindestens fünf Stockwerke hoch war. Die Dinge konnten erheblich schlimmer stehen, als sie ihr auf den ersten Blick erschienen waren. Oder dienten die Gitterstäbe dazu, etwas draußen zu halten ... Wie hatten ihre Wächter sie genannt? Die Rrön?
Allein die Vorstellung jagte ihr einen Schauder über den Rücken, und sie ließ die Idee gleich wieder fallen. Wenn es hier so wunderbar war und sie selbst ein so geschätzter Gast, warum hatte man sie dann nicht einfach eingeladen? Wozu die Mühe, sie zu entführen, zu fesseln und auf einen Heuwagen zu werfen? Und warum taten diese Leute so furchtbar geheimnisvoll? Sie wandte sich vom Fenster ab und sah ihre drei Wächter vor der Tür stehen. Sie war davon überzeugt, dass diese Tür aus der Zelle herausführte. Die drei beobachteten sie, wie Singvogelküken eine Schlange beobachten würden, die ihren Baum hinauf gekrochen kam. Zur Hölle mit ihnen Molly kehrte ihnen den Rücken zu und machte sich daran, die verschiedenen, großzügig bemessenen Räume ihres Ge39 fängnisses zu erkunden. Neben einem riesigen, kunstvoll ausgestatteten Schlafzimmer hatte sie einen Salon, eine kleine Speisekammer, ein entzückendes Esszimmer, einen begehbaren Schrank voller prächtiger Kleider, die so aussahen, als würden sie ihr passen, und ein sehr schönes Badezimmer. Letzteres betrachtete sie in diesem Augenblick als ein echtes Gottesgeschenk - sie war dem Platzen nahe. Keine Küche, keine Kochgeräte. Also würde sie, was die Mahlzeiten betraf, von ihren Wärtern abhängig sein. Aber in der Speisekammer fand sie Trockenfrüchte und Gläser mit Delikatessen, die so gegessen werden konnten, wie sie waren, und außerdem einen großen Vorrat ihrer beiden Lieblingsspeisen - Peter-PanErdnussbutter und zartbittere Dove-Schokolade. Bei diesem Anblick schauderte sie jedoch; zartbittere DoveSchokolade war für sie eine der größten Leckereien auf der Welt, aber sie hatte sich seit wie lange - sechs Monaten? acht Monaten? - keine mehr gekauft. Vielleicht sogar noch länger nicht. Wie lange also mussten ihr diese Leute nachspioniert haben, bevor sie sie entführt hatten, und wie viel wussten sie über sie? Im Salon fand sie eine große Auswahl an Strickwolle in Regenbogenfarben vor, außerdem Stricknadeln in allen Größen, einen beträchtlichen Vorrat an Aquarellfarben und eine Staffelei. In einer Ecke des Schlafzimmers lehnte eine zwölfseitige Gibson-Akustikgitarre, und daneben stand ein wunderschöner Notenständer aus massivem Holz, der offenbar handgemacht und sehr alt war. Und ihr besonderes Notenpapier - auch das jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Schlimm genug, dass diese Leute wussten, dass sie Gitarre spielte, schlimmer noch, dass sie wussten, dass sie eine zwölfseitige Gitarre besaß, obwohl sie ausschließlich in ihrem Wohnwagen spielte, nur für sich allein, niemals mit Zuhörern. Das Schlimmste von allem aber war, dass sie sie offensichtlich so genau beobachtet hatten, dass sie noch etwas 40 anderes über sie wussten: Sie konnte keine Noten lesen und musste all ihre Kompositionen daher anders notieren. Sie hatten sie entführt, sie gefesselt, ihr die Augen verbunden und sie in ein luxuriöses Gefängnis gesperrt, sie waren zu Dutzenden gestorben, um sie vor Ungeheuern zu retten, und sie wollten nett zu ihr sein. Schizophrene Bastarde. All diese Aufmerksamkeit bedeutete, dass sie etwas von ihr wollten - etwas, das sie ihnen vorenthalten konnte. Ihre heilende Magie? Natürlich. Man würde sie bitten, sich zu opfern. Sie würden von ihr verlangen, dass sie Tod aß, Schmerz verschlang. Dieser lange Alptraum der Gefangenschaft würde von neuem beginnen. Und vielleicht wollten sie noch etwas anderes von ihr, etwas, das sie erst recht nicht freiwillig zu geben bereit war. Offensichtlich waren diese Kreaturen nicht ihre Freunde. Sie würde jedoch mehr über sie in Erfahrung bringen müssen, bevor sie sich ein Urteil darüber bilden konnte, mit welcher Art von Feinden sie es zu tun hatte. Cat Creek In ihrem Traum war Lauren immer noch in dem Haus. Donner grollte über den Horizont, und als sie hinausblickte, zogen schwarze Gewitterwolken über eine weite, goldene Ebene, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem hatte, was sie aus ihren Fenstern sehen konnte, wenn sie wach war. Die Wolken flogen dicht über die Erde hinweg und wehten Staub, Papierfetzen und andere Trümmer vor sich her. Zu Anfang war der Traum lautlos, abgesehen von dem Grollen des Donners. Dann zuckte der erste Blitz über den Himmel - grün und leuchtend wie ein Neonschild - und als der Blitz mit einem lauten Bersten in den Boden einschlug, konnte sie mit einem Mal auch den Wind spüren. 41 Binnen weniger Augenblicke gebaren die Wolken den ersten Tornado. Eine Spitze schnellte herab wie ein Python, der sich von einem niedrigen Baum fallen ließ, auf dem Boden aufprallte und sich dann mit geschmeidigen Bewegungen auf Lauren zuschlängelte. Dann kam eine weitere Schlange, noch eine und noch eine und noch eine, bis die Masse der sich windenden Leiber auf sie zukam wie das Haar der Medusa, und Lauren war wie versteinert vor Angst, geradeso wie ein Krieger in der Mythologie es gewesen sein musste. Zwanzig Tornados oder mehr peitschten über den Boden, und alle jagten direkt auf sie und das Haus zu. Endlich konnte sie sich in dem quälenden Zeitlupentempo der Träume vom Fenster losreißen und rannte auf Jake zu, aber als sie ihn erreicht hatte, gab es keinen Ort, an den sie sich hätten wenden können. Dann hörte sie Brians Stimme. Er sagte ihr, sie solle zu dem Spiegel laufen, dass sie und Jake in dem Spiegel in Sicherheit wären. Ja. Der Spiegel. Sie spürte die Echos des grünen Blitzes darin - aber die Tornados gehörten zum Hier und Jetzt; der Spiegel bot
zumindest eine gewisse Sicherheit. Sie presste Jake an sich, rannte die Treppe hinunter und trat vor den hohen alten Spiegel; es machte ihr keine Angst, dass sie ihr Bild darin nicht sehen konnte. Irgendwie schien es so richtig zu sein. Sie drückte die Hand auf das Glas. Und es öffnete sich, wie eine Tür sich öffnen würde, und Lauren rannte hindurch, in die Dunkelheit hinein. Die Dunkelheit fühlte sich nicht richtig an. Sie hatte einen Fehler gemacht, hatte irgendetwas falsch gemacht. Brian rief immer noch nach ihr, aber sie konnte ihn nicht finden, und plötzlich wurde ihr klar, dass auch Jake nicht mehr da war. Sie hatte ihn in dem Haus zurückgelassen, bei den 42 Tornados, die auf ihn zujagten. Sie hatte ihn im Stich gelassen. Aber als sie sich umdrehte, um wieder durch den Spiegel hindurchzugehen und ihren Sohn zu holen, hielt die Dunkelheit sie gefangen. Sie konnte nicht erkennen, wohin sie hätte gehen können, es gab keine Tür. Sie schrie nach Jake, dann nach Brian ... In diesem Augenblick erwachte sie und richtete sich mit hämmerndem Herzen in ihrem Bett auf. Im Hintergrund ihres Bewusstseins grollte noch immer der Donner, näher jetzt und Unheil verkündend, auch die Bedrohung durch die Tornados war noch spürbar. Sie blickte aus dem Schlafzimmerfenster, aber dort waren natürlich keine Gewitterwolken, keine Tornados. Es war November, das Licht des vollen Mondes schimmerte auf dem frostbedeckten Boden, und die Sterne leuchteten von einem samtschwarzen Himmel herab. Kein Donner, außer in ihren Gedanken. Keine Blitze. Sie ging durch den Flur in Jakes Zimmer und spähte hinein. Er lag fest schlafend in dem zu großen Erwachsenenbett, im Arm das riesige weiße Kaninchen, das Brian ihm im Jahr seiner Geburt zu Ostern geschenkt hatte. Jake schien zu wissen, dass es etwas Besonderes war, obwohl er sich an Brian nicht erinnern konnte. Diese Tragödie hatte ihr das Herz gebrochen; sein Vater hatte ihn mehr geliebt als sein eigenes Leben. Und Jake war ein ausgesprochen schönes Kind. Wenn sie ihn ansah, sah sie Brian - er war alles, was ihr von Brian geblieben war. Sie biss sich auf die Unterlippe und kämpfte gegen die Tränen. Das hatte sie in letzter Zeit ziemlich häufig getan. Sie hatte nicht geglaubt, dass sie Brians Tod überleben würde, aber Jake hatte sie gezwungen, weiterzumachen, und dann war das Haus ihrer Kindheit gerade zu der Zeit zum Verkauf angeboten worden, als Brians Versicherung - die Gruppenlebensversicherung für Militärangehörige - ihr das 43 Geld ausgezahlt hatte, und das war ihr wie ein Zeichen erschienen. Sie musste aus Pope weg, weg von all den Ehefrauen, deren Männer noch nach Hause kamen, weg von all den Freunden, die in ihrer Gegenwart plötzlich verlegen waren und auf Distanz gingen, als sei der Witwenstand eine ansteckende Krankheit. Sie musste irgendwo hingehen, wo sie sich sicher fühlte, an den letzten vertrauten Ort in ihrem Leben aus der Zeit vor Brian. Sie würde Jake nach Hause bringen, in das einzige Zuhause, das sie ohne Brian je gekannt hatte. Damals schien es eine gute Idee zu sein. Und jetzt? Jetzt wusste sie es nicht mehr. Aber zumindest war der Albtraum kein unterschwelliges Signal gewesen, dass Jake in Gefahr sein könne. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass es ihm gut ging, schloss sie vorsichtig seine Tür und ging in den Flur hinunter. Als sie jedoch wieder vor der Tür zu ihrem eigenen Zimmer stand, konnte sie sich nicht dazu überwinden, hineinzugehen. Diese Wand aus Tornados war immer noch da, erleuchtet von dem grünen Feuer von Blitzen aus einer anderen Welt; die starken Eindrücke des Traums wollten einfach nicht verblassen, obwohl sie jetzt wach war. Sie würde nicht wieder einschlafen können. Keine Chance. Und Brians Stimme klang ihr noch deutlich in den Ohren, sein Befehl, zu dem Spiegel zu gehen. Sie lief die Vordertreppe hinunter, obwohl sie selbst nicht wusste, was sie eigentlich vorhatte. Sie war eine erwachsene Frau und hatte keinen Grund, sich vor dem Spiegel zu fürchten, aber genauso wenig hatte sie einen Grund, ihm um drei Uhr morgens einen Besuch abzustatten. Sie zog ihren Bademantel fester um sich, und einen winzigen Augenblick lang sah sie wieder die Frau in dem weißen Kleid mit den großen Mohnblumen darauf. Sie sah den Reißverschluss im Rücken des ärmellosen Tops, sah das 44 Mieder, das sich eng um den Oberkörper der Frau schmiegte, den weit ausgestellten Rock, der von einem Reif rock zusätzlich gebauscht wurde, und die Mohnblumen, die so rein und gesund wirkten. Hausfrauenglamour der sechziger Jahre, dachte sie. Die Frau trug Nylonstrümpfe, und obwohl es seltsam erschien, war Lauren fest davon überzeugt, dass die Nylonstrümpfe genau richtig waren. Außerdem trug sie hohe Absätze, ihr dunkles Haar war kurz und gelockt und roch ganz schwach nach Haarspray. Dann verschwand die Erinnerung, und Lauren schüttelte den Kopf. Wirklich merkwürdig - sie konnte sich an niemanden erinnern, der ein solches Kleid besaß, dabei war es genau die Art von Kleid, die einem Kind im Gedächtnis bleiben würde. Diese riesigen roten Blumen ... Sie lächelte schwach. Nach dem Umzug in das Haus, in dem sie als Kind gelebt hatte, hätte sie eigentlich damit rechnen müssen, dass sie von einigen Geistern aus der Vergangenheit heimgesucht wurde. Sie konnte nur dankbar dafür sein, dass die Geister die Gestalt von Erinnerungsfetzen annahmen und nicht als etwas wirklich Beängstigendes daherkamen, wie zum Beispiel als körperliche Manifestationen von Exfreunden. Von dieser Sorte musste es in Cat Creek zweifellos noch den einen oder anderen geben; sie hoffte, dass diese Männer, wo
sie auch sein mochten, inzwischen alle glücklich verheiratet waren und Dutzende von Kindern hatten. Und dann stand sie wieder direkt vor dem Spiegel. In der Dunkelheit konnte sie kaum etwas von ihrem eigenen Spiegelbild darin erkennen. Das Mondlicht fiel durch die Oberlichter aus facettiertem Glas und erleuchtete den Flur gerade so weit, dass Lauren nicht mehr war als eine schwarze Gestalt, formlos in ihrem Bademantel, ohne Gesichtszüge oder besondere Merkmale. Der Spiegel zeigte ihr ein Bild von dem geschliffenem Glas, von der silbernen Welt jenseits 45 der Haustür und der Inneneinrichtung der Diele, die mit ihren Schatten und den vereinzelten Mondstrahlen an eine Szene eines Film noir erinnerte. Die Tatsache, dass sie sich selbst nicht deutlich sehen konnte, ließ den Albtraum umso realer erscheinen. Lauren schauderte und sagte sich, dass diese Regung auf die Kälte in der Diele zurückzuführen war. Es war nur ein Spiegel. Aber trotz der Dunkelheit und obwohl sie ihr Gesicht nicht sehen konnte, konnte sie dennoch das Unwetter hinter diesem alten, silbrigen Glas spüren. Es rief nach ihr, so wie Gewitterstürme schon immer nach ihr gerufen hatten. In ihrer Kindheit hatte es sie bei solchem Wetter stets auf die Veranda gezogen, wo sie den Wind durch die Bäume peitschen sah und die Regentropfen auf ihre nackten Beine klatschten. Sie ließ die Beine über das Geländer baumeln, so dass das Ungeheuer sie gerade eben erreichen konnte. Und dann lauschte sie auf den Tanz des Wassers auf dem Blechdach, und ein Schauder des Entzückens überlief sie, wenn der Donner direkt über ihr grollte und die Blitze so nah einschlugen, dass sie das Zittern der Erde unter ihrer Wucht spüren konnte. Sie hatte gierig die Gewitterluft eingesogen, obwohl sie beinahe zu feucht war, um sie zu atmen, und so schwer und greifbar, als könne sie sie verschlucken. Andererseits war diese Luft so frisch, so rein, so lebendig, dass Lauren sich fragte, wie sie jemals wieder atmen sollte, wenn das Gewitter vorüberzog. Und irgendwann entdeckte sie dann ihre arme Mutter, die eine Todesangst vor Gewittern hatte, dort draußen auf der Veranda und kam schreiend herbeigestürzt, um sie ungeachtet ihrer Proteste ins Haus zu zerren, fort von der wilden Schönheit der Welt, die am äußersten Rand des Chaos tanzte und lockte. Und innerhalb des Spiegels wartete dieses Unwetter jetzt auf sie. Was für eine aberwitzige Vorstellung. 46 Lauren streckte die Hand nach dem Glas aus, und als ihre Finger sich ihm näherten, nahm sie ein seltsames Vibrieren wahr. Sie zögerte und wagte es kaum, zu atmen. Sie konnte den Regen auf ihren Beinen spüren, die winzigen, brennenden Tröpfchen, die der stürmische Wind ihr in die Augen und in die Nase trieb; sie konnte das Ozon in der Luft riechen und Tannin und Staub und nasse Erde. Mein Unwetter. Mein Unwetter. Sie hielt ihre Hand nur Millimeter über die Oberfläche des Spiegels; das Vibrieren wurde stärker, und plötzlich wusste sie - sie wusste es einfach -, dass sie den Spiegel aus gutem Grund gefürchtet hatte. Sie war ein fantasievolles Kind gewesen, hatte aber keineswegs zu unvernünftigen Ängsten geneigt. Sie hatte weder ein Nachtlicht gebraucht noch verlangt, dass jemand in ihre Schränke sah, ob sich dort Ungeheuer versteckt hätten. Sie hatte sich in geschlossenen Räumen vollkommen wohl gefühlt, hatte große Höhen geliebt und sich im Wasser bewegt wie ein Fisch, und auch als sie in die Schule kam, hatte sie nur die üblichen Ängste beklagt, und die hatte sie schnell zerstreut, indem sie dem ersten Großmaul, das in ihr eine leichte Beute witterte, einen kräftigen Hieb versetzte. In der Grundschule hatte sie als Draufgängerin gegolten. Eine intelligente Draufgängerin, aber dennoch ein Mädchen, das man lieber nicht an den Zöpfen zog. Und doch war sie während ihrer ganzen Kindheit stets durch die Küchentür ins Haus gegangen und hatte lieber die Hintertreppe benutzt, als dem Spiegel zu nahe zu kommen. Ich war kein dummes Kind, dachte sie. Sie blickte in die Tiefen des Spiegels und sah abermals ein winziges, kaum wahrnehmbares Aufblitzen von grünem Feuer darin. Diesmal wurde sie nicht von Erinnerungen überflutet, es gab keinen Brian, keine Stimmen, keine Dame im Mohnblumenkleid. Aber in weiter Ferne flackerte das Feuer, tief im Spiegel verborgen, und Lauren schob 47 ihre Hand immer näher und näher an das Glas heran, spürte den Sog, spürte einen unbeschreiblichen, unerklärlichen Hunger nach etwas, an das ihr Körper sich erinnerte, das ihr Verstand jedoch sich einzugestehen verweigerte. Es hatte etwas mit dem Spiegel zu tun. Lauren drückte die Hand auf das Glas, und das Vibrieren wurde deutlicher, der Blitz flackerte schneller und rückte näher, und sie konnte erste Silhouetten in der Dunkelheit ausmachen - einen Horizont, Bäume, ein einzelnes einsames Haus, mit Brettern zugenagelt und verlassen; es wirkte seltsam rund und gleichzeitig zu hoch und zu schmal, aber irgendwie, davon war Lauren überzeugt, war es genau so, wie es sein musste. Das Glas fühlte sich warm an - so warm wie ein lebendiges Wesen, so warm wie eine Katze, die sich in einem Sonnenstrahl badete -, und in dem Teil ihres Wesens, der noch am Hier und Jetzt festhielt, dem Teil, der wusste, wie die Dinge sein sollten, begriff sie, dass etwas nicht stimmte, dass das Glas kalt sein sollte. Im Flur war es kalt, ihre nackten Füße auf dem Holzboden froren, und ihre Nase kribbelte in der kühlen Luft. Das Glas hätte sich wie Eis anfühlen müssen. Etwas in ihr sagte: »Ich müsste jetzt Angst haben«, aber sie hatte keine Angst.
Und das Wissen, dass sie keine Angst hatte, obwohl es einen guten Grund dazu gab, erschreckte sie mehr als das, was mit dem Spiegel geschah, denn irgendwo tief in ihrem Inneren wusste sie über den Spiegel Bescheid. Das grüne Feuer erreichte sie, küsste die Innenfläche ihrer Hand, kroch zwischen ihren Fingern hindurch und breitete sich aus, bis die ganze Oberfläche des Spiegels zu glühen begann. Lauren starrte in das Feuer und durch das Feuer hindurch, und auf der anderen Seite sah sie so deutlich, als schaute sie durch grünes Tageslicht, einen gewaltigen, schneebedeckten Wald, der von Gestrüpp halb überwuchert war. In diesem Wald stand das einsame kleine Haus, 48 und kein Fußabdruck im Schnee ließ darauf schließen, dass niemand mehr an dieses Haus dachte. Im nächsten Moment sah sie in das Haus hinein, sah staubige Fußböden, mit Spinnweben überzogene Decken und mit Brettern zugenagelte Fenster, durch die dennoch ein wenig Licht sickerte, und sie konnte einen runden Tisch in der Mitte des Raums erkennen, und plötzlich erinnerte sie sich, ohne dass sie eine Erklärung dafür gehabt hätte, mit einem Bleistift unter diesem Tisch gehockt zu haben. Sie hatte ihren Namen auf die Unterseite geschrieben, als ihre Mutter nicht hinsah. Mein Unwetter. Mein Unwetter. Und ihre Hand glitt durch das Glas, bis zum Ellbogen hinauf, und sie konnte den Sog jenes Ortes spüren, den Sog, der nach ihr rief. Ein einziger Schritt - durch den Spiegel. Sie war schon einmal dort gewesen, vor vielen Jahren. War durch den Spiegel gegangen und hatte es irgendwie vergessen, aber jetzt war sie wieder da. Beinahe wieder da. Dies gehörte ihr; ein vergessenes und wieder gefundenes Geburtsrecht, ein Zauber, den man ihr gestohlen hatte, den sie jetzt aber beinahe wieder gefunden hatte. Sie brauchte nur zuzugreifen; die Magie könnte wieder ihr gehören, wenn sie nur ... hindurch ... trat... Und sie fand noch etwas dort. Sie konnte Brians Hand spüren, die sich um ihre schloss, seine Finger, die sich durch ihre fädelten, wie sie es getan hatten, als sie zusammen durch die Wälder von North Carolina gestreift waren. Sie konnte ihn fühlen, seine Wärme, seine Kraft, die Sicherheit seiner Gegenwart, als sei er lebendig, als sei er mit ihr in diesem Raum. Als hätte er sie niemals verlassen. Sie konnte ihn nicht sehen, aber sie konnte ihn fühlen. Wenn sie hindurchtrat, würde sie ihn dort finden? War er gesund und unversehrt und wartete einfach auf sie, auf der anderen Seite der Magie? Und dann wäre sie beinahe hindurch getreten. Sie wäre 49 durch die Hölle gegangen, um Brian zurückzubekommen sie würde ohne Bedenken durch einen Spiegel treten. Aber in diesem Augenblick fiel ihr der andere Teil ihres Albtraums wieder ein, der Teil, in dem sie von Jake getrennt worden war. Ihr Körper versteifte sich, und der Spiegel verlor einen Teil seiner Macht über sie. Vielleicht würde sie Brian auf der anderen Seite finden, vielleicht aber auch nicht. Wahrscheinlich nicht. Mit ziemlicher Sicherheit nicht, ganz gleich, was sie denken mochte. Ebenso wenig wusste sie, wo dieses Haus stand. Sie wusste nicht, wie sie nach Cat Creek zurückkommen sollte, wenn sie erst einmal dort drüben wäre und sie wusste, dass dieses andere Haus, wo immer es sein mochte, nicht in Cat Creek stand. Sie konnte Jake nicht oben in seinem Bett zurücklassen und zu einem unbekannten Haus in einem fremden Wald gehen. Sie würde durch den Spiegel treten. Sie musste es tun. Sie musste herausfinden, ob Brian noch irgendwo war; sie musste sich jenen Teil ihrer selbst zurückholen, von dem sie gerade erst erfahren hatte, dass er ihr verloren gegangen war. Dieses Geburtsrecht der Magie, dieses Geschenk des Staunens - sie brauchte es, das wusste sie. Sie hungerte danach. Es war die Antwort auf die Frage, die sie in all den Jahren ihrer rastlosen, entwurzelten Suche angetrieben hatte. Aber sie würde nicht ohne Jake gehen. Obwohl ihr rechter Arm in dem grünen Feuer jenseits des vibrierenden Glases steckte und ihr Körper ihr zurief: »Geh weiter! Geh weiter!«, hielt sie inne. Sie fühlte sich wie damals mit neunzehn Jahren, als sie halb nackt auf dem Rücksitz eines Chevy Nova gesessen und gesagt hatte: »Ahm, warte.« Bei näherem Nachdenken fand sie, dass die Angelegenheit in dem Chevy rückblickend angenehmer war. Aber genau darum ging es schließlich beim Erwachsenwerden, nicht wahr? 50 Sie zog ihren Arm zurück und sah, dass das Glas nach wie vor glühte. Der Spiegel wartete auf sie. Ja, dachte sie. Es war richtig, dass er wartete. Aber woher wusste sie das? Irgendwo in ihrem Hinterkopf erklang die Stimme ihres Vaters. »Sobald du ein Tor öffnest, bleibt es offen, bis eins von zwei Dingen geschieht. Entweder, es geht etwas hindurch - sei es von hier nach dort oder von dort nach hier -, oder das Tor wird zusammenbrechen. Du darfst niemals, niemals ein Tor offen stehen lassen.« Wieder lief es ihr kalt über den Rücken, und ihre Zähne schlugen aufeinander. Sie blickte durch den Spiegel hindurch in diese verschneite Landschaft, hinüber zu dem Haus mit den zugenagelten Fenstern, und sie dachte, dass sie vielleicht auch besser nicht barfuss und im Pyjama hindurchgehen sollte. Warme Kleidung. Stiefel. Mütze. Handschuhe. Benimm dich wie eine Erwachsene, Lauren. Aber wenn sie sich wirklich wie eine Erwachsene benehmen wollte, sollte sie vielleicht überhaupt nicht durch den Spiegel gehen. Ihre Vernunft sagte ihr, dass sie wieder ins Bett gehen und gleich morgen früh jemanden kommen lassen sollte, der den Spiegel fortschaffte. Es würde ein hartes Stück Arbeit sein, ihn zu bewegen, aber nicht unmöglich. Und mit Sicherheit würde sie für einen mehr als drei Meter hohen antiken Spiegel gutes Geld
bekommen. Aber wenn man erwachsen war, bedeutete das nicht, dass man Magie aus seinem Leben ausschließen musste. Es bedeutete, wohlerwogene Risiken einzugehen, sich abzusichern, wo es nur möglich war, und die Dinge gründlich zu überdenken, bevor man sie in die Tat umsetzte. Erwachsen sein bedeutete nicht, dass man Risiken grundsätzlich aus dem Weg ging - wenn man das tat, war man bereits tot. Und Teile ihres Lebens, von denen sie bisher nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte, waren mit diesem Spiegel verbunden 51 und mit dem, was dahinter lag, worin es auch bestehen mochte. Sie musste hindurchgehen. Aber sie würde es mit warmer Kleidung und einem vollen Picknickkorb tun, und sie musste sich vorher überlegen, was sie mit Jake machen wollte. Ihn bei einem Babysitter lassen, so dass ihm nichts zustoßen konnte? Ihn mit durch den Spiegel nehmen? Es gab zwei Lehrmeinungen zu der Frage, was Eltern in ungewissen Situationen mit ihren Kindern machen sollten. Sie hatte viele Jahre Zeit gehabt, beide Meinungen zu hören. Die Schwester ihrer Mutter, Caroline, und Carolines Mann, Ed, waren voll auf Jesus abgefahren - so sehr, dass sie sich berufen gefühlt hatten, in die Dritte Welt zu gehen, um von einem Sündenpfuhl zum nächsten zu ziehen. Sie wollten Menschen, die in Schmutz und Elend lebten, davon überzeugen, dass es besser war, mit Jesus zu verhungern als ohne ihn. Als sie zu ihrer Mission in Sachen Jesus aufbrachen, nahmen sie ihre Kinder mit. Lauren musste sich jedes Mal die Dias ansehen, wenn sie auf Heimaturlaub kamen. »Hier sind wir von einem Wasserbüffel angegriffen worden; Jimmy, erinnerst du dich noch an diesen großen Wasserbüffel? Und hier sind wir bei den Guerillas, die uns oben in den Bergen gefangen gehalten haben - sie haben uns nur deshalb nicht erschossen, weil wir ihnen erzählten, wir seien Reporter von Rolling Stone. Gott sei Dank hatte Katie eine Ausgabe der Rolling Stone bei sich. Hast du diese Zeitschrift nicht sogar aufgehoben, Schätzchen? Ach ja, stimmt, die ist mit dem Rest unserer Sachen in dem Haus verbrannt. Hier sind wir während des Eingeborenenaufstands, als sie die Häuser von Ausländern angezündet haben. Ganz rechts hat unser Haus gestanden wo die Flammen so richtig hochschießen. Genau, das ist es. Meine Güte, war das aufregend. Hier ist das neue Haus, das wir gebaut haben. Hübsch, nicht wahr? Und hier ist ein Bild von dem Haus direkt nach dem Erdbeben Dad musste 52 Jimmy aus den Trümmern bergen - sein Schlafzimmer ist über ihm eingestürzt. Weißt du noch, Jimmy?« Diese Diavorführungen hatten Lauren fasziniert. Sie lebte in Cat Creek und ging niemals irgendwohin oder erlebte irgendetwas (und in ihrem Hinterkopf wisperte eine Stimme: »Selbst als du noch klein warst, wusstest du, dass das nicht stimmte«), während ihr Vetter und ihre Cousine es mit Wasserbüffeln aufnahmen, mit Guerillakämpfern, die Maschinengewehre auf sie richteten, mit Erdbeben und weiß Gott was sonst noch. Laurens Eltern hatten Caroline und Ed in ihrer Meinung bestärkt: »Was ihr auch tut, behaltet die Kinder bei euch. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als von ihnen getrennt zu sein und keine Möglichkeit zu haben, wieder zusammenzukommen.« Die Freunde ihrer Eltern waren entsetzt gewesen. »Warum schicken sie die armen Kinder nicht ins Internat? All diese furchtbaren Dinge werden sie für ihr Leben zeichnen.« Lauren dachte darüber nach. Sie hatte reichlich Zeit gehabt, den Ausgang des Experiments ihrer Tante und ihres Onkels zu beobachten, die ihre Kinder an ihren Abenteuern teilhaben ließen. Jim war inzwischen freiberuflich als Fotograf tätig - er war viel für die National Geographie unterwegs und arbeitete nun tatsächlich gelegentlich auch für Rolling Stone. Wilde Tiere, Kerle mit Maschinengewehren in der Dritten Welt, Katastrophen. Wenn diese Dinge ihn gezeichnet hatten, war es ihm jedenfalls gelungen, sich ein hübsches Auskommen damit zu verschaffen. Kate nutzte die vielen Fremdsprachen, die sie gelernt hatte, als Modeeinkäuferin für Sak's auf der Fifth Avenue und reiste durch die ganze Welt auf der Suche nach dem perfekten Cocktailkleid. Eine andere Gattung wilder Tiere, vermutete Lauren, nicht gar so viele Kerle mit Gewehren, Katastrophen von gänzlich anderer Art und anderem Ausmaß -, aber auch 53 Kate schien glücklich zu sein. Keiner der beiden war dem Weg Jesu gefolgt, was ihre Eltern tief bestürzte, aber soweit Lauren wusste, waren Jim und Kate auch nicht zu Psychopathen oder Serienmördern geworden. Wie aus weiter Ferne konnte Lauren die weiche Stimme ihrer Mutter im Gespräch mit Caroline hören: »Was ihr auch tut, behaltet die Kinder bei euch. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als von ihnen getrennt zu sein und keine Möglichkeit zu haben, wieder zusammenzukommen«, und Lauren dachte, wie wahr, Mom. In diesem riesigen Wald zu sein und nicht wieder zurückzukönnen, ich dort und Jake hier ... nein. Also würde sie Jake mitnehmen. Für ihn würde es eine ... interessante Erfahrung sein. Ja. Genau das hatten Caroline und Ed immer gesagt; sie hatten ihren Kindern Erfahrungen mit auf den Weg gegeben, die man für Geld nicht kaufen konnte. Und Jahre später sah es so aus, als hätten sie Recht behalten. Was bedeutete, dass jetzt nur noch die Frage des offen stehenden Tores geklärt werden musste, und zwar schnell. »Du darfst nie, niemals ein Tor offen stehen lassen«, hatte ihr Vater gesagt, ein gemütlicher Postbote und Beamter mit Pensionsanspruch, der nur zu selten eine so entschiedene Meinung zu irgendeinem Thema vertrat. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann er das gesagt hatte oder warum er es zu ihr gesagt hatte. Genau genommen konnte sie sich an gar nichts erinnern, und je mehr sie es versuchte, umso seltsamer fühlten sich die
leeren Flecken in ihrer Vergangenheit an. Aber sie wusste mit Bestimmtheit, dass ihr Vater diese Worte gesprochen hatte. Und obwohl sie nicht sagen konnte, was sie zu befürchten hatte, wusste sie sehr genau, dass sie es lieber nicht herausfinden wollte. Sie holte einen Stuhl aus dem Wohnzimmer, da dies dem 54 Flur am nächsten lag, trug ihn in die Diele hinaus und schob ihn, ohne allzu genau über ihr Tun nachzudenken, durch die Oberfläche des Spiegels. Der Stuhl verschwand mit einem leisen, saugenden Geräusch, und das grüne Feuer flackerte auf und verwandelte sich in einen Strudel, der seine Spiralen immer enger und enger zog, wie glühendes Wasser, das in einen Abfluss lief. Sie gestattete sich nicht, ihr Tun allzu genau zu hinterfragen; es war, als beherberge ihr Körper zwei Personen, eine, die wusste, was sie tat, und eine, die vollkommen ratlos war. Eines jedoch ahnte sie langsam: Irgendjemand hatte der Ahnungslosen für den größten Teil ihres Lebens die Zügel überlassen. Jetzt bekam sie Hinweise, dass ihr etwas gefehlt hatte - etwas Großes -, und der Teil von ihr, der wusste, was hier geschah, wollte es nicht verraten, während die Ahnungslose eine Todesangst hatte, Fragen zu stellen, weil sie wusste, dass ihr die Antworten nicht gefallen würden. Die Eingeweihte dachte: »Ich habe gerade einen Stuhl durch einen Spiegel in eine andere Welt gestoßen, damit keine Ungeheuer ins Haus kommen können, während wir schlafen«, und die Ahnungslose begann, laut zu pfeifen, um derart erschreckende Gedanken nicht hören zu müssen. Während die beiden Personen in ihr die Sache untereinander ausmachten, verbannte Lauren beide Seiten aus ihren Gedanken und lauschte stattdessen auf die Stimme der Vernunft. Diese Stimme sagte ihr klar und deutlich, dass ihr energiegeladener Zweijähriger in sehr kurzer Zeit aufwachen und nach Taten dürsten würde. Wenn sie nicht vorher ein wenig Schlaf bekam, würde er sie fix und fertig machen. Also tat sie so, als hätte sie nichts Außerordentliches bemerkt, und ging zu Bett. 55 Cat Creek »Eric? Tut mir Leid, dass ich zu dieser gottlosen Stunde anrufe, aber wir haben wieder ein Echo gehabt. Ein ziemlich übles diesmal.« Eric MacAvery drehte sich um und sah auf seinen Wecker. Halb vier Uhr morgens. Er setzte sich hin, knipste aber keine Lampe an. Vielleicht würde er ja doch weiterschlafen können. »Wie übel?« »Alle Tore im Ring haben geflackert. Nach dem Ausmaß des Echos zu urteilen, haben wir nur wenige Erklärungsmöglichkeiten, und die meisten davon ergeben keinen Sinn. Entweder ist etwas aus den Oberwelten hereingekommen ...« »Unmöglich.« »Oder etwas aus den Unterwelten hat ein Tor aufgesprengt ...« »Ein Tor aufgesprengt...?« »Oder jemand ist gerade durch ein verschlossenes Tor gebrochen oder hat ein neues aufgerissen.« »Scheiße.« Eric rieb sich die Augen und klemmte sich das Telefon zwischen Kinn und Schulter, so dass er gleichzeitig reden und nach den Kleidungsstücken angeln konnte, die neben seinem Bett lagen. »Du hast >Echo< gesagt. Du hast >Flackern< gesagt. Für mich ist ein >Echo< ein winziges Vorkommnis, das ohne irgendwelche Konsequenzen wieder vergeht, und das Wort >Flackern< lässt auf eine minimale Fluktuation im Torf luss schließen. Diese Worte beschreiben kein Ereignis wie >Aufsprengen< oder >Durchbrechen<.« Tom Watson, der jung und ernst und noch nicht allzu lange mit der Nachtwache betraut war, klang zerknirscht. »Hm, vielleicht beschreibt der Ausdruck Echo nicht ganz das, was ich gespürt habe - und ich schätze, die Tore haben 56 auch nicht direkt... geflackert. Das Tor der Tubbsens ist zusammengebrochen. George Mercers Tor ist so instabil, dass er bereits Willie zu sich gerufen hat, um es wieder aufzubauen. Bei den anderen ist inzwischen wieder halbwegs Normalität eingekehrt ... Soweit ich das der Deutung des Rings entnehmen kann ... aber was auch immer uns da getroffen hat, es war groß. Ich war zu der Zeit im Ring, und oh, Mama ...« Als Tom sagte, »das Tor der Tubbsens ist zusammengebrochen«, hatte Eric leise zu fluchen begonnen, und bei dem »oh Mama« trug er bereits die erste Hose, die er in dem Haufen annehmbar sauberer Kleider gefunden hatte, und das erste Hemd und die beiden ersten Socken, die er herausgefischt hatte, obwohl er nicht wusste, ob sie zusammenpassten. Jetzt tastete er gerade nach seinen Schuhen. »Peilung?« »Ja, ich habe ... irgendwie ... hm. Die Öffnung des Tores hat mich mit solcher Wucht getroffen, dass ich ... na ja. Ich bin irgendwie durcheinander geraten. Ich dachte, du hättest mir die Nachtschicht gegeben, weil sie so ruhig ist, und als das alles dann passierte, habe ich ... ich habe ein paar Minuten gebraucht, um klar denken zu können ... Der Schlag kam aus der Stadt. Es tut mir leid. Mehr weiß ich nicht.« »Es war also kein Ringtor.« »Nein.« »Es muss mit dem Ereignis von gestern zusammenhängen.« »Nicht unbedingt. Ich meine, bei der Sache gestern könnte es sich einfach um eine natürliche Strömung gehandelt haben. Wir haben keine wirklichen Beweise dafür, dass irgendetwas Molly McColl in die Unterwelten
gezogen hat. Es ist immer noch möglich, dass sie wieder auftaucht. Sie war ja schon ein bisschen ... durchgeknallt... als sie hierher gezogen ist.« 57 »Tom.« Eric spürte zwei Arbeitsschuhe auf. Er hoffte, dass sie zusammengehörten, aber wenn nicht, würde er damit leben können. In kleinen Städten waren die Menschen daran gewöhnt, dass der Sheriff irgendwo auftauchte und so aussah, als sei er gerade aufgewacht und hätte sich im Dunkeln angezogen. Was regelmäßig vorkam. »Du bist auf Station, ja?« »Ja.« »Bleib, wo du bist. Geh wieder in den Ring und streck deine Fühler aus, falls sich irgendetwas verändern sollte. Ich werde Willie Locklear abholen - er dürfte jetzt entweder bei George sein oder auf dem Weg dorthin, und dann komme ich sofort zu dir. Wenn du irgendwelche Koordinaten auffängst... irgendetwas ... zeichne sie sofort ein. Es ist mir egal, ob sie schwach sind, ob du dir nicht sicher bist... ich will keine Ausreden hören. Das sind jetzt zwei Torstörungen in zwei Tagen, und eine Frau ist verschwunden. Hast du mich verstanden?« »Ja, Sir.« Wenn man Tom nur laut genug anbrüllte, wurde er immer sehr höflich. Dieser Mechanismus erstaunte Eric stets aufs Neue. Seine Reaktion auf den gleichen Reiz war das genaue Gegenteil. Er ließ den Hörer auf die Gabel krachen und rannte aus dem Haus, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, hinter sich abzuschließen. Es gab Dinge, die sein Amt als Sheriff betrafen und die sich in Cat Creek im Allgemeinen im Spazierschritt erledigen ließen und manchmal sogar von einer Hängematte aus. Und dann gab es Dinge, die sein Amt als Wächter betrafen. Und dies hier gehörte zur letzten Kategorie. Willie war bereits bei George und mitten in der Arbeit, als Eric seinen Wagen mit quietschenden Reifen in der Einfahrt zum Stehen brachte. George kam auf die Veranda hinaus, als er die Scheinwerfer draußen aufblitzen sah. Sein 58 Bademantel flatterte um ihn herum wie die Lumpen um eine Vogelscheuche; mit seinen mageren Beinen, den knotigen Knien und den knochigen Füßen in den losen Pantoffeln sah er seltsam verletzlich aus. Jetzt schaute er kurzsichtig durch seine dicke, randlose Brille zu Eric hinüber, und als er den Ausdruck auf dessen Gesicht sah, rief er: »Ich hole ihn« und lief ins Haus zurück, ohne dass Eric auch nur ein Wort gesagt hatte. Als Willie herauskam, schien er auf einem nur ihm zugänglichen Meer der Gelassenheit zu segeln. »Alles halb so schlimm«, sagte er und sah Erics Gesicht. Er kicherte - dabei geriet sein ganzer Körper in Bewegung, angefangen von seinem Gesicht mit dem weißen Bart, über die breiten Schultern hinweg bis zu dem recht erheblichen Bauch. Dann strich er sich mit seiner massigen Hand durch sein immer noch dichtes, weißes Haar und fügte hinzu: »Tom hat dich ganz schön aufgeschreckt, was? Der Junge brennt auf Abenteuer, seit wir ihn aufgenommen haben - heute Abend hat er dann Bammel gekriegt, und es würde mich nicht wundern, wenn er sich dabei in die Hose geschissen hätte ...« »Das war mehr als Bammel«, erwiderte Eric und hob die Hand. »Hat dir schon jemand Bescheid gegeben, dass das Tor der Tubbsens zusammengebrochen ist?« »Zusammengebrochen?« »Wie ich gehört habe, ja.« »Hm, das ist ziemlich ernst. Das sind beides sehr stabile Tore; George kümmert sich um seins, als sei es sein neugeborenes Baby, und ich glaube nicht, dass Ernest und Nancine jemals einen Absturz hatten ...« »Und Tom meinte, die übrigen Tore aus dem Ring hätten geflackert, obwohl er sagt, dass sich inzwischen alles wieder beruhigt zu haben scheint.« »Ein Tor eingestürzt ... eins verdreht ... und der ganze Ring erschüttert...?« 59 »Ja.« Willie schwieg lange, aber so war er eben. Eric stellte sich immer vor, dass ein Gedanke ziemlich lange brauchte, um durch Haare und Bart und durch diese friedliche Mauer der Gelassenheit bis an die Stelle zu gelangen, an der die eigentliche Arbeit getan wurde. Nach einer ganzen Weile sagte Willie schließlich: »Dann habe ich mich geirrt«, obwohl er immer noch unerschütterliche Selbstsicherheit ausstrahlte. Er war der älteste der Wächter - mit seinen siebzig Jahren hatte er mehr erlebt als die anderen, und er sagte immer, es sei sein Schicksal, die Stimme der Ruhe zu sein, wenn alle anderen in Panik gerieten. »Eric, ich nehme mal an, dass du die ganze Truppe zusammentrommeln musst.« »George kann ihnen Bescheid geben, dass wir uns auf der Station treffen. Ich möchte, dass wir beide sofort rüberfahren.« George sah Eric an. Eric nickte. George, der mit weit aufgerissenen Augen zugehört hatte, antwortete: »Dann setze ich mich am besten sofort ans Telefon« und eilte von der Veranda ins Haus hinein. Eric sah ihm nachdenklich nach. »Andererseits ... vielleicht erführen wir ja ein paar interessante Dinge, wenn wir die anderen unangemeldet besuchen«, meinte Willie. Eric warf ihm einen langen Seitenblick zu. »Vielleicht. Und vielleicht kommt auch gar nichts dabei heraus und wir verlieren auch noch die letzte kleine Chance, irgendwelche Informationen aus dem Ring herauszuholen,
solange die Störung noch frisch ist.« Willie stellte seine Werkzeugtasche auf die Veranda und rieb sich geistesabwesend den Rücken. »Hast du dich verletzt?« Willie sah ihn an, und als ihm klar wurde, was er tat, wirkte er ein wenig überrascht. »Der Rücken? Das ist bloß 60 der Preis des Alters, mein Sohn. Der Preis des Alters.« Er griff wieder nach seiner Werkzeugtasche und hob sie mit der Mühelosigkeit langer Übung hoch. »Aber du denkst, es könnte einer von uns sein, nicht wahr?« »Verdammt, Willie, du weißt, dass ich das denken muss. Aber wenn wir einen Verräter in unseren Reihen haben, werde ich ihn bald finden, verlass dich drauf. Falls jedoch etwas aus Oria hier hereingebrochen ist oder wir es hier mit irgendeiner Art von ... Ausreißer zu tun haben ... oder, mein Gott, ich weiß nicht einmal, was im Moment mein schlimmster Albtraum wäre. Was ich sagen will, ist Folgendes: Wir müssen zunächst einmal unverzüglich herausfinden, was es nicht ist. Sobald wir die Möglichkeiten eingegrenzt haben, werden wir schon dahinter kommen, womit zum Teufel wir es zu tun haben.« »Dann lass uns fahren.« Neue Grippewelle fordert Opfer VON LISA BANNISTER, LEITENDE REDAKTEURIN (Richmond County Daily Journal, Rockingham, NC) Das Richmond Memorial Hospital ist bis zum letzten Bett belegt mit Grippepatienten im Alter zwischen zwanzig und vierzig Jahren. Krankenhaussprecher Rick Press erklärte, es handle sich um »den schwersten Ausbruch von Grippe, den wir seit 1918 im Bezirk Richmond erlebt haben.« Die ortsansässigen Ärzte empfehlen jedem, der in diesem Jahr noch keine Grippeimpfung bekommen hat, sich unverzüglich impfen zu lassen. Die Ärzte des Bezirks Richmond erklären übereinstimmend, dass sie eine starke Zunahme an neuen Grippefällen zu verzeichnen haben und dass diese neuen Fälle sehr ernst seien. Zu den Symptomen gehören 61 plötzliche Kopfschmerzen und starke Leibschmerzen, gefolgt von Fieber bis zu 40,5 Grad C und einem Befall der Atemwege, der mit Schnupfen, Husten und Atembeschwerden beginnt. »Das große Problem bei dieser neuen Grippe ist die Entzündung des Atmungsapparates«, erklärt Dr. Wilson Tilley, Chefarzt des Richmond Memorial. »Die Lungen der Patienten verschleimen sehr schnell; im einen Augenblick husten und keuchen sie noch, im nächsten ertrinken sie. Und diese Krankheit befällt nicht die gewohnte Risikogruppe - die ganz Alten und ganz Jungen. Am schlimmsten betroffen sind Menschen zwischen zwanzig und vierzig.« Dr. Tilley und andere ortsansässige Ärzte empfehlen ... (Fortsetzung auf Seite B-8) Cat Creek Als die letzten Wächter ihre Autos hinter Nancine Tubbs Blumenladen, Daisies and Dahlias, versteckten, hatte das Ganze Ähnlichkeit mit einer Szene aus einem alten Abbott-und-Costello-Film. Was fehlte, dachte Eric, war die Komik. Wie oft er die Vorgänge auch überdenken mochte, am Ende deutete stets alles auf eine Katastrophe hin. Er hatte am vergangenen Abend einen Anruf von June Bug Täte bekommen, die ihm mitteilte, dass eine unerwartete Bewegung den Ring getroffen hatte - sie deutete das Geschehen als ein schnelles Öffnen und Schließen eines Tores. Nichts Großes, sagte sie, und es könne sich möglicherweise um ein natürliches Tor handeln, das sich nur zufällig mit dem Ring geschnitten habe - aber Eric hatte von Anfang an gewusst, dass die Größe des Problems nicht zwangsläufig etwas mit der Größe der Wellen zu tun hatte, die es schlug. Es war wie bei... untergetauchten U-Booten und weißen Haien, dach62 te er. Sie wirbelten das Wasser an der Oberfläche kaum auf, konnten aber ungeheuren Schaden anrichten. Und mitten am Tag hatte eine Frau Molly McColl besuchen wollen und sie nicht angetroffen. Die Tür ihres hell erleuchteten Wohnwagens hatte offen gestanden, und die Dame hatte auf dem Revier angerufen und dabei ziemlich nervös geklungen. Eine Durchsuchung des Wohnwagens hatte nichts Auffälliges ergeben; es war nichts zerstört worden, und es schien nichts zu fehlen. Außer Molly natürlich. Eric hatte ihre Kurzwahlnummern überprüft und dabei festgestellt, dass Mollys Prioritäten im Leben frei Haus gelieferte Pizza, frei Haus geliefertes chinesisches Essen und frei Haus geliefertes Brathuhn waren, die sie allesamt aus Laurinburg bezog. In ihrem Telefon war nicht eine einzige Privatnummer eingespeichert. Irgendwie erschreckte ihn das. Er kannte die junge Frau vom Sehen, aber in einem Dorf mit nur gut tausend Einwohnern hätte er schon entweder dumm oder nachlässig sein müssen, wenn er Mollys Namen und ihr Gesicht nicht gekannt hätte. Seine behagliche Überzeugung, dass er die Dinge in Cat Creek im Griff hatte, wurde jedoch böse erschüttert, als er gezwungen war, unter die Oberfläche zu schauen. Ihm wurde bewusst, dass er keine Ahnung hatte, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente, wer ihre Freunde waren, wo ihre Familie lebte oder wie er irgendjemanden finden sollte, der ihm vielleicht eine Antwort auf diese Fragen geben konnte. Er wusste nicht mit Bestimmtheit, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen war - sein Instinkt sagte ihm, dass sie in Schwierigkeiten steckte, aber andererseits galt sie tatsächlich als exzentrisch. Als Einzelgängerin. Die Menschen in der Stadt kannten sie nicht und nahmen keinen Anstoß an dieser Tatsache. Seit sie vor drei Jahren in die Stadt gezogen war, hatte niemals irgendjemand etwas Abfälliges über
63 sie gesagt. Es schien überhaupt niemand viel von ihr zu sprechen. Er hatte den ganzen Tag an Mollys Verschwinden gearbeitet, weil es das Einzige war, was an diesem Tag geschah. Als Pete Stark, sein einziger Stellvertreter, ihn ablöste, konnte er ihm nicht viel berichten. Und natürlich konnte er Pete nicht die Wahrheit sagen oder das, was er für die Wahrheit hielt - dass die junge Frau entweder aus freien Stücken nach Oria gegangen oder dorthin entführt worden war. Die Wächter im Büro des Sheriffs gingen niemandem etwas an. Sie durften es nicht, wenn ihnen daran lag, dass der Planet sich auch weiterhin halbwegs gesund um sich selbst drehte. Eric hatte seinen Verdacht für sich behalten. Aber Mollys Wohnwagen war tipptopp in Ordnung gewesen. Alles aufgeräumt, das Bett gemacht, die schmutzige Wäsche in einem Wäschekorb, kein Durcheinander in der Küche, die Nahrungsmittel sorgfältig in der winzigen Speisekammer untergebracht, die Gewürze alphabetisch geordnet. Nichts ließ auf einen Kampf schließen. Aber die Tür war nicht abgeschlossen gewesen, was seiner Meinung nach nicht zu einem Menschen passte, der sich die Zeit nahm, Pfeffer vor Pizzagewürz und hinter Petersilie einzuordnen. Von weitem hatte es so ausgesehen, als sei die Tür geschlossen, hatte die Frau gesagt, die Mollys Verschwinden gemeldet hatte. Aber als sie anklopfen wollte, hatte sie hinzugefügt, sei die Tür nur angelehnt gewesen. Sie habe daraufhin in den Wohnwagen geschaut und laut gerufen, als niemand auf ihr Klopfen reagierte. Sie hatte auch auf den Boden gesehen, falls dort jemand gelegen hätte, aber sie hatte den Wohnwagen nicht betreten. Für sie hatte diese offene Tür Ärger bedeutet. Für Eric ebenfalls. Und zwei Ärgernisse binnen zwei Tagen, die die Wächter und ihre Arbeit betrafen - vielleicht sogar bedrohten -, das war ein zu großer Zufall, als dass 64 Eric daran geglaubt hätte. Sie würden den Ring bilden nach Hinweisen auf die Koordinaten suchen, nach Verbindungen oder Lecks oder Ankern. Sie würden darauf warten, dass irgendetwas, das nicht hierher gehörte, sich noch einmal durch den Torfluss bewegte. Sie würden das Problem finden, sagte er sich, und dann würden sie es bereinigen. Der Anfang vom Ende würde nicht in seine Dienstzeit fallen. 3 Kupferhaus, Ballahara Durch das vergitterte Fenster ihres hübschen Gefängnisses beobachtete Molly den Anfang ihres zweiten Tages in dieser neuen Welt. Ihre Wärter waren schon vor dem ersten Morgengrauen erschienen, um ihr Kleider herauszulegen und ihr eine herzhafte Mahlzeit zu bringen. Bei ihrem Eintreten war Molly aufgestanden, was die Männer zu überraschen schien, aber in den Jahren beim Militär hatte sie sich an frühes Aufstehen gewöhnt. Sie probierte die Badewanne aus, legte die komplizierte Kleidung an, dann wartete sie. Überhaupt wartete sie die meiste Zeit darauf, dass sie endlich begriff, was hier eigentlich gespielt wurde. Mit jeder verstreichenden Minute war sie sich sicherer, dass es sich als irgendetwas Gigantisches erweisen würde. Man hatte die großen Türen von draußen verriegelt. Molly hatte sowohl den beiden Türen vorn als auch der hinteren Tür einen kräftigen Stoß versetzt, aber nichts Geringeres als Dynamit würde eine dieser Türen bewegen. Sie fühlten sich an, als wögen sie jede eine Tonne, und Molly dachte, dass sie ohne Übertreibung durchaus das Doppelte oder Dreifache wiegen mochten: Sie hatte durch die Lücke zwischen Tür und Rahmen gespäht und die Dicke geschätzt. Die Angeln befanden sich natürlich auf der Außenseite; es hatte keinen Sinn, ein Gefängnis zu entwerfen und dem Gefangenen auch nur den winzigsten Schlüssel an die Hand zu geben. Hätte sie die Achsen aus den Angeln ziehen können, hätte die Tür sie höchstwahrscheinlich unter sich begraben und zerquetscht, so dass sie möglicherweise von Glück sa66 gen konnte, dass sie nichts Derartiges tun konnte. Aber sie fand es grässlich, in einer Situation zu sein, in der sie nichts tun konnte, als zu warten. Ihre Wärter hatten ihr den ganzen vergangenen Tag Zeit gegeben, um sich auszuruhen, zu essen und in ihrem Käfig auf und ab zu laufen, aber sie glaubte nicht, dass sie sie noch sehr lange würden warten lassen. Sie brannten gewiss darauf, die erste Gegenleistung für ihre beträchtliche Investition zu bekommen; sie würden von ihr verlangen, dass sie anfing, ihre Kranken zu heilen, ihren Lahmen die Kraft ihrer Beine zurückzugeben und ihren Blinden das Augenlicht. Es war ihr Schicksal im Leben, dass sie den Kranken und den Sterbenden niemals entkommen konnte. Ihr zutiefst verhasstes Talent hatte von Kindheit an jede Facette ihrer Existenz verzerrt, verstümmelt und verwundet. Sie spürte den Schmerz anderer, als sei es ihr eigener: Sie hatte nicht einmal durch einen Supermarkt gehen können, ohne einen Teil des Leidens in sich aufnehmen zu müssen, das ihr dort begegnete: Sie spürte jede Arthritis, jedes Stechen in den Lenden, jeden pochenden Knochenbruch, jedes sich heimlich ausbreitende Krebsgeschwür. Ihr Leben lang war sie ein Magnet für die Qualen anderer gewesen, und als sie herausfand, dass sie einen Leidenden nur zu berühren brauchte, um seine Qualen in ihren eigenen Körper aufzunehmen und ihnen beiden dadurch Erleichterung zu verschaffen, wurde alles nur noch schlimmer statt besser. Als sie lernte, Tod zu essen, begriff sie auch, dass sie nur über begrenzten Appetit verfügte, der Tod jedoch ein endloses Festmahl vor ihr ausbreitete. Ihr Körper machte das nur bis zu einem gewissen Grad mit - sie konnte einen Sterbenden heilen oder einige wenige, die furchtbar krank waren, oder viele, deren Gebrechen weniger
schlimm waren, aber wenn sie an ihre Grenze kam, brach sie zusammen. Sie konnte sich erst wieder bewegen, wenn ihr Körper mit dem 67 Grauen, das sie geschluckt hatte, getan hatte, was immer er tun musste. Stunden um Stunden lag sie dann da, wo sie hingestürzt war, geschüttelt von Schmerzen, vergiftet von einem Tod, der nicht der ihre war, bis ihr Körper ganz allmählich den fremden Tod aus ihr herausspülte und ihn ... anderswohin schickte. Sie hatte den Schmerz anderer Menschen schon immer spüren können - Jimmy und Betty McColl, ihre Adoptiveltern, waren es müde geworden, sie von einem Arzt zum anderen zu bringen, weil sie plötzlich schrie, sich erbrach oder Durchfall bekam, noch bevor sie auch nur alt genug war, um zu sprechen. Als sie sechs war, hatten die beiden zum tausendsten Mal darüber diskutiert, ob sie sie nicht in ein Kinderheim geben sollten - aber sie hatten sie behalten, mit demselben Widerstreben und derselben Einstellung, mit der sie auch den Welpen behielten, den sie aus dem Tierheim geholt hatten. Der Welpe, der Mollys Spielgefährte sein sollte, war zu nervös und zu dumm gewesen, um ihn stubenrein zu machen. Dann, als sie sieben war, veränderte sich alles. Sie hatte den albtraumhaften Schmerz der alten Frau gespürt, die in der Kirche neben ihr auf der Bank saß. Sie krümmte sich vor Qual, sagte aber nichts, denn mit ihren sieben Jahren wusste sie bereits, dass es schlimmere Dinge gab, als das Leiden anderer zu ertragen. In der Kirche zu schreien wäre zum Beispiel schlimmer gewesen, denn der Schmerz und die Demütigung, die sie damit auf sich herab beschworen hätte, würden kommen, sobald sie wieder zu Hause war, wo kein Fremder mit ansehen konnte, wie grausam ihre Adoptiveltern sie bestraften. Also hatte sie, statt aufzuschreien, ihre Hand auf die der alten Frau gelegt und sich gewünscht, ihr Schmerz würde aufhören. Sie hatte gedacht, dass sie alles darum geben würde, dass dieser Schmerz verschwand. Und der Schmerz und 68 der Tod, die die alte Frau verschlangen, hatten zugehört. Sie strömten durch die Hand der alten Frau in Mollys jungen Körper hinein - Herzversagen und Nierenversagen, Arthritis und inoperabler Magenkrebs. Molly konnte sich nicht daran erinnern, was direkt danach geschah; ihre Adoptiveltern erzählten ihr später, sie sei furchtbar grau geworden und in Ohnmacht gefallen. Die alte Frau, sagten sie, sei aufgestanden und mit den Worten: »Ich bin geheilt worden, ich bin geheilt worden«, aus der Kirche gelaufen. Jimmy und Betty McColl trugen das Kind nach Hause und staunten über den seltsamen Zufall, dass Molly gerade in dem Augenblick ohnmächtig geworden war, in dem die alte Frau neben ihr plötzlich den Verstand verlor und glaubte, auf wundersame Weise geheilt worden zu sein. Aber Molly war in ihrem kurzen Leben so oft an Dingen erkrankt, die keine besonderen Folgen nach sich zogen, dass ihre Adoptiveltern den Zusammenhang erst Tage später erkannten, als es Molly wieder besser ging und sie erfuhren, dass die Frau tatsächlich geheilt worden war und dass ihre Ärzte sich ihre plötzliche Genesung nicht erklären konnten. Eine kurze Phase des Experimentierens folgte, während Molly lernte, Tod zu essen, indem man sie ständig damit fütterte. Nach außen hin hatten Jimmy und Betty McColl den Eindruck gemacht, gute Menschen zu sein, aber unter der Tünche waren sie Ungeheuer; sie fanden in der Person ihrer Adoptivtochter eine unerwartete Goldmine, und ihre relative Armut zusammen mit der Aussicht auf gewaltigen Reichtum erwies sich als eine zu große Versuchung für sie. Sie begannen, Mollys Dienste unter der Hand anzubieten; sie machten Mollys Heilkräfte zu einer Schwarzmarktware, die nur gegen Bargeld zu haben war, und Mollys Schmerz machte sie reich, sehr reich. Als sie fünfzehn war, lief sie von zu Hause weg, aber Jimmy fand sie und brachte sie zurück. Von diesem Zeitpunkt 69 an war sie buchstäblich eine Gefangene. Ihre nächste Chance, zu fliehen, bot sich ihr erst, als sie achtzehn wurde und Jimmy und Betty darüber nachdachten, wie sie sie im Haus festhalten konnten, nachdem sie nun volljährig geworden war. Schließlich hatten sie einen gewissen Lebensstandard zu wahren. Molly setzte Himmel und Erde in Bewegung und schaffte es, eine Anmusterungsstelle zu erreichen und der Luftwaffe beizutreten. Das war der Tag, an dem sie aufhörte, Säufertod zu essen. Sollten sie doch zur Hölle gehen, die Trinker, die Pillensüchtigen, die Fresser, die Schlemmer, die Kotzer, die Fixer und der Rest dieser zwielichtigen Gestalten, die sich vor der Welt versteckten. Wer sein eigenes Gift kaufte, sollte doch daran verrecken. Sie konnte die Welt nicht retten, und sie würde es auch nicht versuchen. Sie benutzte ihre Zeit beim Militär und fast jeden Penny, den sie verdiente, um nach ihren richtigen Eltern zu suchen. Nach vier Jahren hatte sie Erfolg, aber sie erfuhr nur, dass die beiden bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, als sie fünfzehn war. Sie besuchte ihre Gräber und stellte fest, dass ihr die Stadt, in der ihre Eltern gelebt hatten und gestorben waren, gefiel. Sie war klein, sie war ruhig, und Molly stellte fest, dass sie ihren Bewohnern mühelos aus dem Weg gehen konnte. Als sie aus dem Militärdienst ausschied, kaufte sie sich einen kleinen Wohnwagen in Cat Creek und setzte alles daran, ihre Spuren zu verwischen. Aber anscheinend war sie nicht gründlich genug gewesen. Sie ging in ihrer entzückenden Wohnung auf und ab, rastlos, voller Energie. Diese Kreaturen würden von ihr verlangen, zu heilen. Sie würden sie in diesem Käfig festhalten, so wie Jimmy und Betty sie in einem Käfig gehalten hatten. Sie würden von ihrem Talent profitieren, sie benutzen, bis sie zusammenbrach, und dann
abwarten, bis sie wieder aufstehen konnte, damit sie sie weiter benutzen konnten. 70 Ganz gleich, wie ehrerbietig ihre Wärter waren, ganz gleich, wie hübsch ihr Käfig war, das war es, was man von ihr wollte. Sie würden mit ihrem Schmerz zu ihr kommen und mit ihrem Tod, und weil Schmerz und Tod kein Ende hatten, würden sie niemals zufrieden sein. Nichts, was sie tat, würde je genügen. Sie würden sie mit einem Fingerhut vor den Ozean setzen und von ihr verlangen, ihn zu leeren, und wie sie es schon einmal getan hatte, würde sie sich bei diesem Versuch selbst leeren. Es sei denn, sie fand einen Weg in die Freiheit. Sie hörte leise Stimmen durch das Glas und blickte aus dem Fenster. Weit unter ihr sah sie Kreaturen wie ihre Wärter in einem steinernen Innenhof. Sie standen in einer langen Schlange an. Einige dieser Geschöpfe hielten Babys oder Kinder in den Armen. Einige stützten gebrechliche Greise. Einige humpelten auf Krücken herbei, andere hinkten, wieder andere husteten. Und hinter sich hörte sie jetzt Schritte in dem mit Metall ausgekleideten Korridor vor ihren Türen. Sie kamen sie holen - um sie zu zwingen, die ersten Tropfen aus ihrem Ozean zu trinken. Sie biss sich auf die Lippen und wartete auf den Schmerz der Wellen. Sechs Soldaten kamen - prächtig gekleidet, freundlich, geduldig. Sie führten sie aus der Suite, und sie setzte sich nicht zur Wehr. Noch nicht. Zuerst musste sie diesen Ort ein wenig besser kennen lernen. Sie würde Gefügigkeit heucheln, bis sie genug wusste, um sich in Sicherheit bringen zu können. Die Soldaten waren wachsam. Sie trugen keine Waffen bei sich, soweit Molly sehen konnte, aber sie hatten den Gang und die Haltung von Kampfsportlern und die Angespanntheit jener, die aus gutem Grund paranoid waren. Sie hatten von ihrem Kampf mit dem blauen Wärter gehört und wollten offensichtlich keine zweite derartige Vorstellung miterleben. 71 Sie brachten sie in einen riesigen, steinernen Raum mit Wandteppichen und dicken, dunkelblauen Teppichen auf dem Boden, und sie führten sie zu einem Stuhl, den man nur als Thron bezeichnen konnte. Der hohe, breite Stuhl war mit Samt gepolstert, bestand aber davon abgesehen entweder aus reinem Gold oder war mit einer dicken Schicht davon bedeckt. Molly setzte sich, als man sie dazu aufforderte, und arbeitete die ganze Zeit über an einem Angriffsplan, falls die Dinge sich so schlimm entwickeln sollten, dass eine Flucht notwendig wurde. Dann erschienen die ersten Bittsteller, die Heilungsuchenden, die Erlösungsuchenden. Sie krochen über den Boden auf sie zu, die Köpfe gesenkt, voller Angst. Molly wartete darauf, dass der Schmerz kam, wartete auf die erste Berührung durch die Gifte, die diese Kreaturen zerstörten. Der Schmerz dieser Fremden würde in ihr Fleisch schneiden und den Drang in ihr wecken, laut aufzuschreien, sobald eins dieser Geschöpfe nach ihrer Hand griff. Aber die erste Kreatur - eine Frau - trat auf sie zu, kniete vor ihr nieder und murmelte einige Worte in ihrer eigenen Sprache, und Molly fühlte nichts. Keine Qual. Kein Leiden. Keinen Tod. Es war wie bei dem Kind, das man zu ihr gebracht hatte, als sie auf dem Heuwagen fuhr. »Sie sagt«, übersetzte der Soldat zu ihrer Rechten, »dass eine große Schlange sich durch ihren Leib frisst, und sie kann nicht essen oder schlafen, und sie hat Angst, dass sie sterben wird.« Kein Schmerz. Kein Schmerz - Molly spürte nur das Schlagen ihres eigenen Herzens, die Bewegung der Luft in ihren eigenen Lungen, das mühelose Arbeiten ihres eigenen Fleischs. Zaghaft streckte sie die Hand aus und berührte die Frau und sah ein flüchtiges Bild in ihren Gedanken aufblitzen, die gewundenen, weißen Stränge eines riesigen Krebsgeschwürs, die sich durch die Gedärme und die lebenswich72 tigen Organe der Frau schlangen und sie erstickten. Die Vision löste sich auf, und Molly befahl dieser vielarmigen Krake, sich selbst zu zerstören, dann sagte sie: »Genese.« Wieder sprang das grüne Feuer, das sie gesehen hatte, als sie das kleine Mädchen berührte, aus ihren Fingern und breitete sich von dem Kontaktpunkt an der Schulter der Frau in deren ganzen Körper aus. Die Frau keuchte, aber es war kein Schmerzenslaut. Molly hatte schon früher diese plötzliche, überglückliche Erlösung gesehen, aber immer nur mit Augen, die getrübt waren von Qual. Jetzt betrachtete sie das Wunder, als sei sie nur eine Beobachterin. Das Feuer brannte und brannte und brannte - und dann erstarb es. Und die Frau, deren Gesicht strahlte und jetzt, da ihr Schmerz von ihr genommen war, um Jahre jünger wirkte, warf sich Molly zu Füßen und stieß einen Wortschwall aus, den die Soldaten anscheinend unverständlich fanden. Zwei von ihnen halfen der geheilten Frau auf die Beine und begleiteten sie zu der Tür, die aus der Halle hinausführte. Der Soldat zu Mollys Rechten sagte: »Sie wollte dir danken.« »Das habe ich vermutet«, erwiderte Molly. Ihre Gedanken waren jedoch nicht bei der Frau, der sie geholfen hatte. Sie dachte über sich selbst nach. Sie fühlte sich gut. Stark. Lebendig. Voller Energie, als könnte sie hundert Meilen laufen, als könnte sie fliegen. Sie hatte geheilt, aber das Feuer, das durch die sterbende Frau geflossen war, war auch durch sie hindurchgeströmt und hatte sie mit einer Stärke erfüllt, die sie noch nie zuvor verspürt hatte. Eine andere Frau trat näher, mit einem Kind auf den Armen. Ein Junge, vermutete Molly. Ein kleiner Junge. Er hatte die Größe eines achtjährigen Menschenkindes. Was, wie Molly wusste, nichts bedeutete, denn sie hatte keine Ahnung, wie der Alterungsprozess bei diesen Geschöpfen ver73
lief oder wie schnell sie vom Kind zum Erwachsenen heranwuchsen. Aber etwas an der Größe dieses Kindes und an der Art, wie es in den Armen seiner Mutter lag, weckte in Molly eine Erinnerung, die sie kaum ertragen konnte. Sie hätte alles darum gegeben, diese Bilder für immer vergessen zu können. Während sie in Pope stationiert gewesen war, hatte sie zwei Wochen lang für Freunde deren Haus gehütet. Sie genoss diese Zeit außerhalb des Stützpunkts, außerhalb ihres Schlafsaals, vor allem an den Wochenenden, die ihre Kameraden dazu nutzten, sich endlos zu betrinken, und sie anschließend das ganze Ungemach ihres Katers in ihrem eigenen Körper spüren zu lassen. Aber außerhalb des Stützpunkts war sie ungeschützt; kein Tor und keine Wachposten standen zwischen ihr und den Menschen, die wussten, wer und was sie war. Jemand, der sie aus ihren Tagen bei den McColls kannte, hatte sie entdeckt - in einem Lebensmittelladen oder in einer Buchhandlung vielleicht - und war ihr gefolgt. Und hatte ihren Aufenthaltsort preisgegeben. Mitten in der Nacht hatte es an der Tür geklingelt. Als Molly öffnete, sah sie ein Kind vor sich und eine Mutter mit eingefallenen Augen und Lippen, die dünn und blutleer waren von den ungezählten Stunden, in denen sie hilflos über den Schmerz ihres Kindes gewacht hatte. Die Metzger und die Giftmischer hatten den Jungen mit ihren Bestrahlungen und ihrer Chemotherapie verseucht, obwohl sie der armen Mutter erklärt hatten, dass bei der Krebsart ihres Sohnes weder durch Chemotherapie noch durch Bestrahlung Besserung zu erwarten sei. Sie hatten das Kind in ein Skelett verwandelt - ein haarloses, gequältes, von endlosem Erbrechen ausgezehrtes Skelett -, und als sie sicher waren, dass der Junge keine Kraft mehr in sich hatte, um jemals wieder einen Atemzug genießen zu können, als sie sicher waren, dass er zu schwach und zu gebrochen war, um jemals wie74 der zu gehen oder zu lachen, da sagten sie: »Wir können nichts mehr für ihn tun.« Die Mutter hatte keine andere Hoffnung, also fuhr sie zu Molly - in der Dunkelheit, mit einem Wagen, der fünfzehn Jahre alt war, von dem die Farbe abbröckelte und dessen rechter Kotflügel herunterhing. Sie stand in dieser Tür, mit ihrem Sohn in den Armen, einem Jungen, der ihr bis zur Schulter gereicht hätte, hätte er allein stehen können, aber er war so dünn, dass sie ihn trug, ohne dass es ihr Mühe zu bereiten schien. In der Sekunde, als Molly die Tür öffnete, traf der Schmerz des Jungen sie wie Nägel, die man in jedes Organ ihres Körpers rammte, von innen und außen gleichzeitig. Molly sah das Kind an, krümmte sich und erbrach sich, und sie konnte erst aufhören, als sie auf Händen und Knien lag und ihr Kopf beinahe den Boden berührte. Das Kind hatte sie mit traurigen, wunderschönen Augen angesehen, und sie hatte den Jungen gehasst - hasste ihn für den Schmerz, den sie um seinetwillen würde durchleiden müssen, hasste ihn dafür, dass er sie mit solchem Bedauern und solcher Hoffnung ansah, hasste ihn dafür, dass er von ihr verlangte, zu leiden, damit er leben konnte -, und sie hatte zu der Mutter gesagt: »Ich bin zu krank, um mich heute Nacht um ihn zu kümmern. Bring ihn nach meiner Schicht wieder her. Um fünf. Kommt um fünf Uhr wieder her.« Die Mutter kam nicht zurück. Ihr Sohn starb in dieser Nacht. Molly hätte ihn retten können. Eine Berührung, ein Wort, und sein Gift wäre für eine Weile ihres gewesen, und dann hätte er weitergelebt. Die Welt war voller Menschen, die sie retten konnte, und sie hatte einen harten Kampf hinter sich, um sich damit abzufinden, dass sie sie nicht alle retten konnte. Aber diesen 75 Jungen hätte sie retten sollen. Sie versuchte, sich einzureden, dass sie keine Verantwortung für ihn trug, nur weil er in der letzten Nacht seines Lebens vor ihrer Tür aufgetaucht war, aber sein Geist ritt auf ihrem Rücken und flüsterte ihr ins Ohr: »Wenn du mich berührt hättest, wäre ich heute noch am Leben.« Er war im Tod um ein Vielfaches schwerer, als er es im Leben jemals gewesen war. Sie kannte nicht einmal seinen Namen. Sie berührte das Kind vor ihr und sagte: »Genese«, und die grüne Flamme flackerte durch seinen Körper und über ihn hinweg, und er war gesund. Ich tue dies als Wiedergutmachung für den einen, den ich nicht gerettet habe, sagte sie sich. Als Buße. Aber sie spürte keinen Schmerz - der Tod, der dieses ausgezehrte, grünhaarige Kind verschlang, konnte sie, Molly, nicht berühren, und irgendwie wusste sie, dass sie für jenen lang vergangenen Augenblick der Grausamkeit keine Buße tun konnte, wenn sie keinen Schmerz fühlte und kein Opfer brachte. Vielleicht würde sie diesem Geist niemals entkommen. Aber dieses Kind zumindest, dieses Kind hatte sie gerettet. Der Junge umarmte Molly und rannte davon, seine weinende Mutter hastete hinter ihm her, in dem verzweifelten Versuch, mit ihm Schritt zu halten. Und ein weiterer von Hoffnung erfüllter Bittsteller kam näher. Vielleicht versuchte sie immer noch, das Meer mit einem Fingerhut zu leeren, dachte Molly. Vielleicht konnte sie hier genauso wenig allen Tod und allen Schmerz abwehren, wie sie es in ihrer eigenen Welt vermocht hätte. Aber hier zumindest war der Fingerhut nicht ihr eigener Körper. Energie strömte in sie hinein, bis sie glaubte, bersten zu müssen. Vielleicht konnte sie hier ihre dunklen Erinnerungen abstreifen - ihre Vergangenheit vergessen. Hier konnte sie etwas Gutes in dem Fluch finden, der ihr bei ihrer Geburt auf76 erlegt worden war. In diesem Augenblick schäumten Glück und Freude durch ihre Adern und sangen unter ihrer Haut. Selbst der letzte Rest von Müdigkeit, die sie beim Eintritt in die Halle verspürt hatte, war verflogen, bezwungen von dieser herrlichen Überflutung durch die Magie. Eine lange Reihe der Kranken und der Verkrüppelten, der Verzerrten, Verstümmelten und Sterbenden erstreckte
sich, so weit das Auge reichte und wahrscheinlich noch darüber hinaus. Und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie frei von dieser grauenvollen Angst. Während sie dasaß, all diese leidenden Geschöpfe vor sich, streifte sie ein wenig von ihrer Dunkelheit ab und verspürte das erste schwache Aufflackern von Hoffnung, dass ihre Zukunft, entgegen allen Erwartungen, die sie jemals gehabt hatte, vielleicht doch besser sein würde als ihre Vergangenheit. »Bringt sie her«, wisperte sie. »Bringt sie her.« Cat Creek Als Lauren erwachte, pulsierte das elektrisierende Gefühl von Magie durch ihr Blut. Der Spiegel rief nach ihr, schmerzhaft laut und unausweichlich. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und ihre Finger krallten sich in die Laken; sie richtete sich auf und fürchtete das, was nun kommen würde, fühlte sich aber gleichzeitig seltsam belebt dadurch. Ein ganzes Leben der Ungewissheit lag hinter ihr. Vor ihr lagen, das spürte sie, die Antworten, nach denen sie gesucht hatte. Sie lief in Jakes Zimmer. Er war bereits hellwach und saß mitten auf dem Fußboden, umringt von Holzklötzen und Büchern. Als sie die Tür öffnete, sprang er auf die Füße, rannte auf sie zu und umschlang ihre Knie. »Morgen, Mama.« Sein Lächeln war so breit, dass sie beide Grübchen sehen konnte. Sie hob ihn hoch und drückte ihn fest an sich. 77 »Guten Morgen, Äffchen.« »Sekimos?« Sekimos waren Eskimoküsse - sie rieben einander die Nase. Jake stellte noch immer Konsonanten vor die meisten Wörter, die mit Vokalen begannen, etwas, das Lauren vermissen würde, wenn er dieser Gewohnheit entwuchs, das wusste sie. Sie sagte: »Darauf kannst du wetten, Eskimos.« Sie rieb ihre Nase an seiner, und dann nahmen sie einander auch noch fest in die Arme und küssten sich auf die Wange. Schließlich hatte Jake genug von der ganzen Küsserei und kam direkt zur Sache. »Windel. Nass. Teine. Lampe. Kekse?« Lauren übersetzte das grob als: »Meine Windel ist nass, ich habe mit meinen Steinen gespielt, ich konnte die Lampe in meinem Zimmer nicht anmachen, und ich habe Hunger.« Sie lachte und machte sich daran, die Dinge in seiner sehr konkreten Welt gerade zu rücken. Eine Stunde später standen sie und Jake in winterlicher Kleidung mit einem vollen Picknickkorb vor dem Spiegel. Ich kann immer noch zurück, dachte sie. Eine verantwortungsbewusste Mutter tut so etwas nicht. Ich habe keine Ahnung, was auf der anderen Seite ist, und es ist reiner Wahnsinn, hindurchzugehen. Aber immer noch rangen zwei verschiedene Personen in ihr miteinander - die Vernünftige, die keine Ahnung hatte, worauf sie sich da einließ, und die andere, die um die Geheimnisse wusste und nur eines davon preisgab: dass sie durch den Spiegel gehen musste. Lauren hatte sich den größten Teil ihres Lebens von Zwängen getrieben gefühlt, die sie nicht verstand und sich nicht erklären konnte; sie hatte nach Dingen gesucht, die sie weder zu definieren noch zu finden vermochte. Im Laufe der Zeit hatte sie so viele verschiedene Jobs gehabt, dass sie sie nicht mehr zählen konnte: Sie hatte gekellnert und Drinks gemixt, in Res78 taurants gesungen und Tanzunterricht gegeben, in einer Buchbinderei gearbeitet und maßgefertigte Schränke für neue Häuser hergestellt, ein Handwerk, das sie von ihrem Vater gelernt hatte. Sie war rastlos von Wohnung zu Wohnung gezogen, von Stadt zu Kleinstadt zu Dorf und von einem Staat zum anderen, geleitet von einem Hunger nach irgendetwas, das sie nirgendwo fand, das sie nicht benennen, ja, sich nicht einmal vorstellen konnte. Sie wollte so viel, dass allein das Wollen wehtat, aber was sie auch ausprobierte, nichts konnte dieses verzehrende, dumpfe Verlangen stillen. Dann hatte sie Brian kennen gelernt, und die Dumpfheit war für drei Jahre von ihr gewichen. Während dieser drei manchmal glückseligen, manchmal lauten Jahre hatte sie geliebt und gelacht und gestritten und eine Familie gegründet, und sie war davon überzeugt gewesen, gefunden zu haben, wonach sie gesucht hatte. Aber Brians Tod hatte sie nicht nur in tiefe Trauer gestürzt, sondern auch jenen brennenden, namenlosen Schmerz aufs Neue heraufbeschworen. Sie hatte nur einen einzigen Gedanken gehabt: Ich muss nach Hause gehen. Ich muss nach Hause gehen. Das Geld von der Versicherung war ungefähr zu der Zeit gekommen, als die damaligen Besitzer ihres Elternhauses versuchten, es auf einem sehr flauen Markt loszuwerden. Lauren hatte das Haus gekauft, ohne wirklich darüber nachzudenken, was es für sie und Jake bedeuten würde, in dem winzigen Cat Creek zu leben; sie war an den Ort zurückgekehrt, an dem sie groß geworden war, getrieben von der blinden Gewissheit, dass sie das Richtige tat. Sie hatte nur gewusst, dass sie dieses Haus haben musste, dass ihr Leben ohne das Haus niemals vollständig sein würde. Blinder Instinkt. Wie Lachse, die zu ihren Laichgründen zurückkehren. 79 Oder wie die Schwalben von San Capistrano, die heimkehrten, um zu brüten. Oder wie Lemminge, die sich selbstmörderisch zu Millionen ins Meer stürzten. Blinder Instinkt. Nicht unbedingt gut. Dies war jedoch mehr als blinder Instinkt, mehr als ein Befehl, mehr als bloßes Wollen. Dies, glaubte sie, war
ein Teil der Antwort, nach der sie ihr Leben lang gesucht hatte. Sie musste wissen, was auf der anderen Seite des Spiegels lag. Sie musste hindurchgehen, auch wenn der vernünftige Teil ihres Ichs glaubte, nur eine Verrückte könne so etwas tun. Sie musste durch den Spiegel gehen, denn solange sie es nicht getan hatte, würde sie keinen Tag mehr in diesem Haus leben können. Sie setzte sich Jake auf ihre linke Hüfte, stellte den Picknickkorb voller Nahrungsmittel und anderer wichtiger Dinge auf ihren rechten Fuß und drückte mit der rechten Hand gegen den Spiegel. Gleichzeitig durchzuckte sie der bange Gedanke, dass die vergangene Nacht vielleicht ihre letzte Chance gewesen sein könnte. Wenn die Magie erloschen war ... Aber sie war nicht erloschen. Unter Laurens Hand begann der Spiegel zu vibrieren. In dem gespiegelten Bild ihrer Augen leuchteten die ersten Funken grünen Feuers auf, und nach diesen Funken kamen die langen, leuchtenden Blitze, und tief in ihrem Bewusstsein konnte Lauren das dumpfe, schwere Grollen von Donner hören, der sich in der Ferne aufbaute ... ... und dann gab das Glas unter ihrer Hand nach, und Lauren drückte ihren Sohn noch ein wenig fester an sich, bückte sich nach dem Picknickkorb und trat durch den Spiegel. Ein Augenblick, in dem alle Geräusche erstarben, in dem sie und Jake vollkommen eintauchten in kühle, belebende, 80 elektrisierende grüne Flammen, ein Augenblick, in dem sie das Gefühl hatte, dass alle Zellen ihres Körpers gleichzeitig voneinander getrennt waren und von kraftvollem Leben erfüllt. In diesem Moment spürte sie Brian an ihrer Seite, fühlte die sanfte Berührung seiner Lippen im Nacken und hörte ihn flüstern: »Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich niemals verlassen würde.« Und dann standen sie und Jake in vollkommener Dunkelheit. Jakes helles, aufgeregtes Lachen drang an ihr Ohr und seine Stimme, die plötzlich sehr laut klang, als er sagte: »Bitte ... mehr?« Und sie dachte, aber sicher doch, Schätzchen. Das war das Zweitbeste nach Sex. Ihr blieb jedoch nur Zeit für diesen einen, staunenden Gedanken, dann trafen die Erinnerungen sie, und mit ihnen kam das Erschrecken. Magie. Die Magie war ihr Erbe, sie war eine geborene Torweberin, sie war das Kind von Wächtern - obwohl sie sich in diesem Moment nicht darauf zu besinnen vermochte, was Wächter taten oder warum sie so wichtig waren. Man hatte ihre Fähigkeiten vor allen Menschen geheim gehalten, sogar vor ihr selbst, und in gewisser Weise war sie eine Geheimwaffe. Ihre Mutter war nicht nur Lehrerin gewesen, ihr Vater nicht nur Postbote; ihre Vergangenheit, wie sie ihr seit fast fünfundzwanzig Jahren im Gedächtnis war, war ein Gewebe aus sorgfältig konstruierten Lügen. Ihre Eltern - ihre eigenen Eltern - hatten sie hierher gebracht, als sie zehn Jahre alt gewesen war, und sie hatten die Magie dieses Ortes dazu benutzt, um sie ihrer Erinnerungen zu entkleiden und ihr das Verständnis der Magie zu nehmen. An die Stelle dieser Erinnerungen - ihrer Erinnerungen, gottverdammt, dass sie, solange sie ein Kind war, den Torspiegel in der Diele fürchtete und dass sie glaubte, ihn immer gefürchtet zu haben. Zweitens, dass sie, wenn sie alt genug und dazu imstande wäre, den Weg hindurch wieder81 finden würde. Um nach ... Oria zu gehen, dachte sie. Plötzlich wusste sie den Namen der Welt, in der sie sich befand. Ihre Rückkehr nach Oria war der Auslöser gewesen, der den Bann brach. Oder besser, dessen zweite Hälfte aktivierte, den Teil, der den ersten unwirksam machte. Und das war der Grund, warum sie durch den Spiegel gehen musste. Warum sie nicht warten konnte, warum sie es nicht wagte, Fragen zu stellen. Und dies war es, wonach sie ihr Leben lang gesucht hatte, weshalb sie von Ort zu Ort und von Job zu Job gezogen war, in ständig wachsender Verwirrung und Hilflosigkeit. Dies - dieser Ort auf der anderen Seite des Spiegels - war die ganze Zeit über ihre Bestimmung gewesen. Plötzlich fügten sich die seltsamen Bilder zusammen, die die erste Berührung des Spiegels in ihr wachgerufen hatte. Die lachenden Stimmen waren Freunde gewesen, Freunde aus dieser Welt, die sie einmal sehr gemocht hatte. Die Frau in dem weißen, geblümten Kleid war ihre eigene Mutter, obwohl Lauren sich nicht daran erinnern konnte, sie jemals so schön oder so jung gesehen zu haben. Dieses flackernde, grüne Licht... pure Magie. Ihre Magie. Noch andere Erinnerungen überfluteten sie. Ihr Vater, als er wirklich glücklich, idealistisch und voller Hoffnung gewesen war. Und die Art, wie sie sich selbst damals gesehen hatte, als einen Menschen mit einer Bestimmung, einem Plan, einem Platz in der Welt. Den größten Teil der letzten fünfundzwanzig Jahre hatte sie ohne diese Dinge gelebt, ohne Bestimmung, Plan oder festen Platz. Sie war durch ihr eigenes Leben geirrt wie ein ruderloses Boot in einem Taifun, und alles, was sie getan hatte, war umsonst gewesen, denn sie hatte eine Lüge gelebt. Eine riesige, abscheuliche Lüge, die ihr wie die Vergewaltigung ihres eigenen Lebens erschien. Warum hatten ihre Eltern sie auf eine solche Weise zerstört? 82 Der Grund, warum sie ihr das angetan hatten ... Sie konnte sich nicht darauf besinnen, aber der Grund musste da sein, bei all den anderen Erinnerungen, die sie gerade erst wieder gefunden hatte. Der Grund, warum sie ihr das angetan hatten ... Lauren kämpfte sich durch all die Erinnerungen, die sie aus den dunklen Nischen ihres Geistes
heraufbeschwören konnte, sie verfolgte jedes flüchtige neue Bild von ihren Eltern, von Oria, von der Magie. Sie stöberte in den hintersten Winkeln ihres Gedächtnisses, sie suchte und forschte voller Verzweiflung. Es war wichtig, es war etwas von so ungeheurer Bedeutung, dass sie um seinetwillen ihre eigene Identität und die Dinge, die sie liebte, aufgegeben hatte. Der Grund, warum ihre Eltern ihr das angetan hatten ... War wie ausgelöscht. Und das, begriff sie, war der teuflischste Verrat überhaupt. Es hatte einen Grund gegeben. Er war wichtig gewesen. Beängstigend für eine Zehnjährige, deren Eltern ihr erklärten, was sie tun mussten, und die nichts dagegen unternehmen konnte. Stattdessen hatte sie diesem Grauen zugestimmt, hatte zugestimmt, dass man ihr das Schreckliche antat. Sie war damit einverstanden gewesen, dass ihre Eltern ihr ihre Erinnerungen nahmen und sie ihrer Magie entkleideten, weil sie ihr versprochen hatten, dass sie all diese Dinge zurückbekommen würde wenn es vorbei wäre. Und mit der Magie hätte sie ihre Bestimmung zurückbekommen, ihren Platz in der Welt... und den Plan. Der Plan, an dem ihre Eltern gearbeitet hatten, der Plan, der so wichtig war, dass sie für fünfundzwanzig Jahre die wahre Lauren in einer Hülle ihrer selbst versteckt hatten. Und der Plan war nicht da. Lauren stand in einem mit Brettern zugenagelten, eiskalten Haus mitten in einer Welt, die sie einmal geradeso gut 83 gekannt hatte wie die Erde. Sie umklammerte mit einem Arm ihren Sohn und mit dem anderen den Picknickkorb, und sie weinte - Tränen des Zorns und der Trauer, des Verlusts und des Schmerzes. Tränen über den Verrat. Wenn ihre Eltern nicht bereits tot gewesen wären, hätte sie sie ermorden können für das, was sie ihr angetan hatten. Sie legte den Kopf in den Nacken und stieß ein lautes Heulen aus. Ihr Atem gefror um sie herum, und Jake streichelte ihr Gesicht. »Mama ... okay ... Mama ... okay ...«, sagte er, und als er sie nicht trösten konnte, brach Jake seinerseits in Tränen aus. Das brachte sie schneller wieder zu sich, als jeder Schlag ins Gesicht es vermocht hätte. Sie rang nach Luft, zwang ihre Tränen mit einem Schluckauf zu versiegen und setzte den Korb ab. Dann drückte sie ihren Sohn an sich. »Jake, Schätzchen ... oh Liebling ... es ist gut... es ist gut... es ist gut...« Sie wiegte ihn hin und her, und er bettete schniefend seinen Kopf an ihre Schulter, und kurz darauf schlang er seine kleinen Arme um ihren Hals und streichelte sie. »Gut...«, flüsterte er. »... Mama gut.« Sie standen lange so da, hielten einander umschlungen und trösteten einander. Wie gewöhnlich war Jake derjenige, der schließlich fand, genug sei genug. Er hob den Kopf, sah ihr in die Augen und sagte: »Bitte ... runter.« Sie wollte ihn noch nicht loslassen, aber sie wollte sich auch nicht an ihm festhalten. Die Tatsache, dass sie mehr Trost brauchte, als er geben konnte, war ihr Problem. Sie wollte es nicht zu seinem machen. Sie musste ihn absetzen und ihm erlauben, für eine Weile zwei Jahre alt zu sein, aber sie konnte ihn auch nicht im Haus herumlaufen lassen, bevor sie selbst es näher erkundet hatte. »Warte mal«, sagte sie. »Wir gehen zusammen durchs Haus, und dann schaue ich mal, ob ich dich hier irgendwo spielen lassen kann.« 84 »Warte mal«, murmelte er. »Warte.« Das war eins der Worte, die er am wenigsten schätzte; Lauren hörte manchmal, dass Jake genau das zu dem großen weißen Plüschhasen sagte, kurz bevor dem etwas Unangenehmes widerfuhr. Lauren zweifelte nicht daran, dass Jake in solchen Augenblicken an sie dachte. Deshalb beeilte sie sich. Das Haus war staubig und voller Spinnweben, davon abgesehen aber in bemerkenswert gutem Zustand. Wenn es seit dem Tag, an dem ihre Eltern ihr ihre Erinnerungen geraubt hatten, leer stand, befand es sich in einem unmöglich guten Zustand. Sie machte einen schnellen Rundgang durch die insgesamt vier Räume. Der Spiegel hatte sie seltsamerweise in das ebenerdige Schlafzimmer ihrer Eltern gebracht; auch der Stuhl, den sie in der vergangenen Nacht durch das Glas gestoßen hatte, war noch hier. Außer dem Elternschlafzimmer gab es im Haus noch ihr eigenes Zimmer, ein sehr primitives Bad und schließlich einen großen Raum, der gleichzeitig als Küche, als Wohnzimmer und als Speisezimmer diente. In der Mitte dieses Raums stand ein riesiger schwarzer Holzofen aus Gusseisen; auf der einen Seite, in der Nähe der Haustür, befand sich ein kleiner Klapptisch mit zwei Bänken, und auf der anderen Seite gruppierten sich einige Schaukelstühle um einen Flickenteppich. Hinter dem Ofen stand eine Wäschewanne, und an der Wand darüber war ein Trockengestell angebracht. Eine Vorrichtung mit zwei Gummiwalzen zum Trockenquetschen von Wäsche war an einer langen Arbeitsplatte befestigt. Im Haus gab es so etwas wie fließendes Wasser - aus einer Handpumpe in der Arbeitstheke, die mit einem Steigrohr bis in den hauseigenen Brunnen reichte. Wenn die Rohre auftauten, dachte Lauren, und falls die Pumpe nach all den Jahren, in denen sie nicht benutzt worden war, noch funktionierte, konnte sie wahrscheinlich für sich und Jake ein Glas Wasser heraufpumpen. Sie erinnerte sich daran, 85 dass das Wasser in diesem Haus wunderbar schmeckte. Sie konnte nichts entdecken, das nicht hierhin zu gehören schien, nichts, das ihr gefährlich vorkam.
Jake sagte noch einmal: »Bitte ... runter«, diesmal lauter und weniger geduldig. Er wurde langsam zappelig. Lauren wischte mit dem Ärmel ihres Mantels den Staub von einem der Schaukelstühle, setzte Jake darauf und sagte: »Schaukel, Schaukel.« Während sie nach Putzmitteln suchte, hörte sie das beruhigende, stete Knarren des Schaukelstuhls und Jake, der zufrieden vor sich hin sang: »Schaukel ... Schaukel ... das Baby. Schaukel... Schaukel... das Baby.« Da die Fenster zugenagelt waren, war es ziemlich dunkel im Haus. Dennoch kam von irgendwoher Licht. Lauren sah sich um. Es war ein diffuses, fahles Licht, und es schien von überall und nirgends zu kommen. Sie runzelte die Stirn. Wenn es nur ein klein wenig heller wäre, würde sie die Quelle dieses Lichts finden können, dachte sie. Sie wollte, dass es heller wurde. Und plötzlich war es heller. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und blickte sich suchend um, um zu sehen, ob Jake etwas angestellt hatte, aber Jake schaukelte immer noch und sang dabei glücklich vor sich hin. In dem Zimmer war es jetzt hell und sonnig, als stünde sie mitten am Tag auf einer Wiese. Und noch immer konnte sie die Lichtquelle nicht finden. Sie runzelte die Stirn, als eine weitere Erinnerung langsam in ihr aufstieg. Es war ein Schlüssel. Etwas zu wollen, war ein Schlüssel. Sie wollte, dass das Licht schwächer wurde. Und als sie es sich gewünscht hatte, wurde es schwächer. Richtig. Die Magie. Sie wurde von Wünschen gesteuert. Von der Willenskraft. Von der Konzentration auf einen bestimmten Gegenstand. Ich will, dass es hier drin schön warm ist, dachte sie. So 86 warm, dass man gern seinen Mantel auszieht und ein Weilchen bleibt. Und es war warm. Ja, genau. Sie streifte ihren Mantel ab und legte ihn über den Zeichentisch. »Schaukel... Schaukel... das Baby«, sang Jake. Der Stuhl knarrte. Sie dachte: Ich möchte, dass es hier drin sauber ist, und sie stellte sich das Haus in sauberem Zustand vor. Der Staub und die Spinnweben verschwanden, der Fußboden, der Tisch und die Schaukelstühle glänzten, als hätte man sie poliert, und der ganze Raum verströmte einen schwachen Duft nach Möbelpolitur und getrocknetem Lavendel. Perfekt. Dann dachte sie: Ich will, dass es hier drin hübscher ist. Sie stellte sich den großen, warmen, freundlichen Raum vor, den sie auf dem Titelblatt einer Zeitschrift gesehen hatte - breite Balken, leuchtende, weiße Decken, weiche, tiefe, rehbraune Teppiche, eine hölzerne Wendeltreppe, die ein Wunderwerk der Zimmermannskunst gewesen war, massive, dick gepolsterte Möbel, die nicht zu wuchtig für dieses Haus waren, einen riesigen, anheimelnden Kamin mit einem fröhlichen Feuer hinter einem Kamingitter. Mit Flammen und allem, was dazugehörte. Und im nächsten Augenblick war alles da. Hinter ihr flüsterte Jake: »Wo-o-o-o-ow!« Lauren wirbelte im Kreis herum, begeistert und voller Ehrfurcht und Bewunderung für ihr Werk. Einfach perfekt. Dann hörte sie einen leisen Aufprall. Und Jake sagte: »Oh, Jake!«, mit einer Stimme, die halb klagend, halb scheltend klang, und sie dachte: Zerrissen? Zerbrochen? Oder verschüttet? Und drehte sich um, um zu sehen, was er angestellt hatte. Und entdeckte, dass es sich um keine der obigen Untaten handelte. 87 Jake hockte Nase an Nase vor einem blassblaugrünen Geschöpf mit gelben Augen, die die Größe von Pflaumen hatten. Das Geschöpf war nicht viel größer als ein durchschnittlicher Cockerspaniel, aber was ihm an Größe fehlte, machte es an Hässlichkeit wett. Verfilzte Haarbüschel sprossen ihm aus der Stirn und zogen sich wie ein Hahnenkamm in einem Streifen über den ansonsten kahlen Schädel bis hinunter zum Nacken. Seine Haut hing ihm in Runzeln und Fetzen und Lappen vom Leib, es hatte die dünnen Schultern zusammengezogen, und sein knotiges Rückgrat war zu einer ständigen Verbeugung gekrümmt. Es trug jedoch ein elegantes wollenes Gewand, Hosen und mit wunderschönen Perlen besetzte Stiefel mit dicken Ledersohlen; der Ausdruck »Perlen vor die Säue werfen« schoss ihr durch den Kopf, bevor sie es verhindern konnte. Das Geschöpf leckte sich die Lippen und blickte zwischen Jake und ihr hin und her. »Niedliches Kind, Lauren«, sagte es, und die Stimme hätte Orson Welles gehören können. Lauren erstarrte. Hin- und hergerissen zwischen einem Schrei und tiefer Verwirrung, starrte sie das Ding in der Mitte des Raums an und versuchte, es einzuordnen ... ihn ... ja. Ihn. »Embar?«, flüsterte sie. »Wer sonst?« Während sie ihn noch sprachlos anstarrte, warf er einen einzigen wachsamen Blick auf den magisch verschönerten Raum und schüttelte den Kopf. »Du musst vorsichtig sein mit solchen Dingen, Lauren. Der Rückstoß kann ziemlich übel sein. Oder hast du das vergessen? Und warum zum Teufel hast du so lange gebraucht, um hierher zurückzukommen? « Sie saßen hinter geschlossenen Türen im oberen Stockwerk von Nancines Blumenladen - fünfzehn Männer und Frauen, die in einem Halbkreis auf Metallklappstühlen hockten. Ihr 88
Torweber saß halb innerhalb des Torspiegels, halb außerhalb. Dieser Spiegel an der Nordwand reichte vom Fußboden bis zur Decke und erglühte in grünem Feuer. Sie hielten sich an den Händen, als befänden sie sich mitten in einer Seance eines alten spirituellen Kultes, und sie hatten alle die Augen fest geschlossen. Auch sie verströmten ein schwaches grünes Licht. Sie warteten und wachten mit Sinnen, die nichts mit den Augen zu tun hatten - sie hatten schon stundenlang gewartet und gewacht. Von Zeit zu Zeit stand einer von ihnen auf, um zur Toilette zu gehen; das choreografierte Ritual, das dann folgte, erinnerte ein wenig an die Reise nach Jerusalem. An den Wänden stapelten sich Styroporquader und -Zylinder, Kartons mit Vasen und in Plastik eingewickelte Bündel mit Seidenblumen. Die einzigen übrigen Einrichtungsgegenstände, ein flacher Aktenschrank und ein alter Arbeitstisch aus Eichenholz, waren beiseite geschoben worden, neben den Spiegel. Die Menschen im Raum schwiegen, und die Luft um sie herum war zum Schneiden dick, stickig und erfüllt von Furcht, Spannung und Erschöpfung. Eric nahm das Flackern eines unautorisierten Tors wahr, das sich öffnete und viel zu schnell wieder schloss. Er hatte nur ein denkbar vages Gefühl, aus welcher Richtung es kam, aber er ließ sofort die Hände der Wächter neben sich los, schlug die Augen auf und zeichnete mit einem Stück Kreide hastig einen Pfeil auf den Boden. Dann bemerkte er, dass auch andere Wächter ihre Eindrücke auf diese Weise festhielten. »Ziemlich nah«, sagte Willie. »Nicht so stark, wie ich erwartet hatte«, meinte »June Bug« (Junikäfer) Täte. Tom machte ein Gesicht, als müsse er sich verteidigen. »Das war nichts im Vergleich zu dem, was beim letzten Mal passiert ist. Das jetzt konnte man kaum wahrnehmen. Da89 vor ... hat es mich förmlich aus dem Spiegel geschleudert. Ich bin auf den Arsch gefallen.« Er errötete. »Pardon«, entschuldigte er sich mit einem schnellen Blick auf die anwesenden Frauen. June - »June Bug« - Täte, inzwischen Ende sechzig, die seit ihrem zwölften Lebensjahr Zigarren geraucht hatte, sah die anderen vier Frauen im Ring an und verdrehte die Augen. »Wir haben das Wort >Arsch< alle schon mal gehört, Junge. Wir haben sogar jede selber einen. Tu uns den Gefallen und lass die Entschuldigungen.« Ihre Schwester, Bethellen, Toms Mutter, wurde ebenfalls rot und sagte: »Ich dachte, ich hätte dich besser erzogen«, und Louisa, die dritte Tate-Schwester, schnaubte nur und schürzte missbilligend die Lippen. Nancine kicherte, aber das war Nancines übliche Reaktion. Debora Bathingsgate blickte ergeben zur Decke, sagte jedoch nichts. Tom seufzte. Eric hatte inzwischen ein Blatt Papier hervorgeholt, trug darauf sämtliche Richtungsangaben seiner Leute ein und fasste sie zu einem einzigen Vektor zusammen. »Als Erstes werden wir eine Beobachtung von einem zweiten Standort aus brauchen, damit wir, wenn das nächste Echo durchkommt, die Koordinaten bestimmen können. Als Nächstes brauchen wir eine Entfernungsmessung. Ich weiß es nicht mehr auswendig. Wer außer mir und Willie hat schon einmal mit Erfolg die Entfernung zu einem Ziel bestimmt?« Denjenigen, denen das früher bereits gelungen war, sagte er: »Dann werdet ihr euch ebenfalls für Außenwachen bereithalten, bis wir wissen, was hier vorgeht.« Er beugte sich vor und blickte von einem grimmigen Gesicht zum nächsten. »Wir haben keine Ahnung, womit wir es zu tun haben. Wir wissen nicht, ob es mit dem Verschwinden von Molly McColl zusammenhängt. Ich muss euch noch einmal daran erinnern, dass ihr euch nicht darauf vorbereiten müsst, was 90 der Feind vielleicht tun wird, sondern auf das, was er tun kann. Wenn ihr nicht wisst, wer der Feind ist, müsst ihr auf alles gefasst sein, was irgendein Feind tun kann - denn die schlimmste aller denkbaren Möglichkeiten könnte die sein, mit der ihr fertig werden müsst. Und vergesst nicht, dass hier mehr als euer eigenes Leben auf dem Spiel steht. Alle Menschen, die ihr liebt, liegen in eurer Hand, und wenn ihr versagt, werden sie fallen. Bis zum Beweis des Gegenteils müssen wir davon ausgehen, dass der Feind mit dieser verdeckten Operation einen Krieg begonnen hat und wir das Glück hatten, frühe Warnsignale aufzufangen. Aber im Augenblick weiß der Feind alles, und wir wissen nichts. Und wir stehen im Krieg. Das müsst ihr vor allen anderen Dingen im Kopf behalten und euch entsprechend benehmen.« Er stand auf, und die anderen Wächter standen mit ihm auf. »Also, wer hat die erste Wache?«, fragte Deever Duncan. »Bist du ausgeruht?«, fragte Eric zurück. Deever gähnte und reckte sich, dann drückte er die Schultern durch. Sein Haar, das er sich über die kahle Stelle auf dem Schädel gekämmt hatte, lag wie eine fettige Spinne auf seinem Kopf, sein Bauch wackelte, und die Tränensäcke unter seinen Augen waren im Licht der einen nackten Glühbirne des Raums deutlich zu erkennen. Er wirkte müde, und obwohl er erst Anfang vierzig war, sah er zehn Jahre älter aus; er sah so aus, als wäre eine ganze Woche Schlaf nicht mehr als ein guter Schritt in die richtige Richtung. Aber er nickte. »Besser wird's nicht, schätze ich.« »Dann wollen wir dich nicht länger aufhalten.« »Ich kann die Wache bis zwei übernehmen - um drei muss ich zur Arbeit.« Deever gehörte die Haushaltswarenhandlung von Cat Creek, und er hatte Probleme, verlässliche Angestellte zu finden. Aber der Junge, der im Augenblick für ihn arbeitete, wirkte viel versprechend.
91 Eric füllte schnell den neuen Dienstplan aus und sagte dann: »Geht nach Hause. Oder zur Arbeit - was auch immer. Aber bleibt in der Nähe eurer Telefone. Der Erste, der etwas hört, ruft die anderen an.« Willie ließ die übrigen Wächter vorgehen, so dass er den Raum zusammen mit Eric verlassen konnte. Er lächelte schwach. »Ein Positives hat die Sache jedenfalls.« Eric zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ich kann beim besten Willen nichts Positives daran entdecken.« »Wir waren alle da, als das Tor diesmal geöffnet und geschlossen wurde. Also sieht es so aus, als hätten wir keine Verräter in unseren Reihen - und das ist doch immerhin eine Erleichterung.« Eric schüttelte den Kopf. »Das entlastet niemanden von uns, Willie. Nicht einen Einzigen.« Willie sah ihn unter seinen buschigen grauen Augenbrauen hinweg an und fragte: »Warum nicht?« »Wenn es ein Mensch ist, der durch die Tore bricht, dann muss es einer von uns gewesen sein, der ihm beigebracht hat, wie man ein Tor öffnet. Die Tatsache, dass so ziemlich jeder lernen kann, ein Tor zu öffnen, bedeutet nicht, dass es auch jeder lehren kann.« Willie schwieg, während er diese Bemerkung gründlich überdachte. Schließlich sagte er: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von ihnen ein Verräter ist - dass einer von ihnen seine eigene Rasse und seine eigene Welt an die Orianer verkaufen würde.« »Wir wissen nicht, ob die Orianer in die Sache verwickelt sind. Es könnte ein Verräter sein, der sich mit Flüchtlingen aus den Oberwelten eingelassen hat, oder ein anderes Wächternetz, das sich betriebsbereit macht. Es wäre auch möglich, dass wir es mit Außenseitern zu tun haben, die zufällig über ein Tor gestolpert sind, wie die Heidelmann-Gruppe damals in den Dreißigern. Wir wissen rein gar 92 nichts«, sagte Eric. Er stieß die Hände in seine Hosentaschen und ging mit gesenktem Kopf weiter, den Blick auf den Kies gerichtet, mit dem der Weg zum Parkplatz belegt war. »Abgesehen von der Tatsache, dass jeder nach einer Weile der Versuchung erliegen könnte. Jeder von uns könnte umfallen. Arbeite mal ein paar Jahre als Gesetzeshüter, und der Glaube an deine Mitmenschen verringert sich beträchtlich - vor allem dein Glaube an Mitmenschen, die Götter sein könnten und dafür keinen höheren Preis als ihre Ehre zu bezahlen hätten ... Ich garantiere dir, du würdest auch verdammt skeptisch werden.« »Ich beneide dich nicht um deinen Zynismus, mein Freund. Du könntest Recht haben - aber um mit dem, was ich tue, weitermachen zu können, muss ich einfach an den Triumph des Guten über das Böse glauben.« Eric stand jetzt vor seinem Wagen und öffnete die Tür. Er stellte einen Fuß auf das Trittbrett und bedachte Willie mit einem müden Lächeln. »Du kannst glauben, was du willst. Solange du nicht vergisst, dir über die Schulter zu blicken.« 4 Kupferhaus, Ballahara Birra betrat die grüne Kammer und machte sich mit einem leisen Räuspern bemerkbar. Der Große Hohe Imallin Seolar, der Herr des Kupferhauses, hatte an seinem Schreibpult gesessen und über einem der dicken Bände aus seiner Bibliothek gebrütet, Feder und Schreibpapier in der Hand. Als er jetzt aufblickte und sah, dass es Birra war, schob er seine Notizen, die Schreibutensilien und das Buch zur Seite. Sein Lächeln war zaghaft. »Wie läuft es?« »Was die Heilungen betrifft, ist sie alles, was du dir von ihr erhofft hast, Imallin. Selbst die geringste ihrer Berührungen ist Magie; die Kranken, die Sterbenden, die Verkrüppelten, die Wahnsinnigen - alle werden auf ein Wort von ihr wieder gesund. Wenn man ihr genug Zeit und Möglichkeiten gibt, könnte sie jeden heilen, den dieses neue Gottesgift berührt.« Seolar nickte. »Aber das könnten wir von jedem Menschen bekommen.« »Ich habe bisher noch keine Zeichen dafür gesehen, dass sie irgendetwas anderes ist als ein Mensch.« Birra zuckte die Achseln. »Aber andererseits weiß ich auch nicht, nach welchen Zeichen ich Ausschau halten müsste.« »Ebenso wenig wie ich.« Seolar erhob sich, und seine schwere seidene Beya raschelte. »Ist sie glücklich hier?« Birra hüstelte. »Sie ist... schwierig. Ihr wisst, dass sie sich in der Nacht, in der wir sie herbrachten, von ihren Fesseln befreit hat, und Ihr wisst auch von ihrem Angriff auf mich, der Erfolg gehabt hätte, wäre ich in diesem Augenblick nicht wahrhaft bereit gewesen zu sterben. Und jetzt ... 94 sie ... ah ... sie beäugt jeden von uns, als dächte sie darüber nach, welches die schnellste Möglichkeit wäre, uns den Hals zu brechen, unsere Waffen zu stehlen und zu fliehen. Es ist äußerst beunruhigend. Alle Dokumente über frühere Vodis lassen darauf schließen, dass sie vernünftige Frauen waren - mitfühlend, ungeheuer gütig und geduldig und ... nun ja, lenkbar, Herrlichkeit. Sie dagegen wirkt eher wie ein hungriger Tiger im Käfig.« »Ist ihr Quartier nicht nach ihrem Geschmack?« »Nichts ist nach ihrem Geschmack, zumindest nicht, soweit wir das erkennen konnten. Sie geht im Raum auf und ab, misst die Riegel aus und die Dicke der Türen, sie plant Fallen, um uns außer Gefecht zu setzen, wenn wir den Raum betreten - ohne das Guckloch, das Ihr in der Decke über der Tür habt anbringen lassen, hätten wir die ungemein raffinierte Falle übersehen, die sie aus Teilen ihres Bettes, den Decken und einigen der Kleiderbügel in ihrem Schrank konstruiert hat. Sie verfügt über ein bemerkenswertes Talent, Dinge auseinander zu nehmen, Euer Herrlichkeit; wir haben ziemliche Angst davor, dass dieses Talent sich in naher Zukunft auch auf uns erstrecken
wird, wenn Ihr nicht, ah, mit ihr redet.« »Das Instrument? Die Wolle und die Seidenstoffe? Die Farben? Sie hat sich mit nichts von alledem beschäftigt?« »Nun, sie hat einige Mischungen von Farben und anderen Dingen ausprobiert, um festzustellen, ob sie damit eine Explosion bewirken könnte, denke ich, aber für die Zwecke, für die sie gedacht sind, hat sie sie bisher noch nicht benutzt. Außer den Süßigkeiten.« »Dove-Schokolade. Unsere Spione haben sich in dieser Hinsicht sehr genau ausgedrückt. Nun ...« Seolar seufzte. »... bringt ihr noch mehr Schokolade. Lasst die Köche Speisen zubereiten, die sie gern isst. Unterhaltet sie. Bringt sie dazu, diesen Ort zu mögen.« 95 »Solange wir sie gegen ihren Willen in der Kupfersuite festhalten, glaube ich nicht, dass sich an ihrem Verhalten etwas ändern wird. Ihre Persönlichkeit ist nicht von der Art, einen Käfig mit Freuden zu akzeptieren.« »Aber sobald sie nicht mehr in der Kupfersuite ist, kann ich nichts tun, um sie hier festzuhalten.« Er seufzte. »Birra ... belüge sie. Sag ihr, dass ich nicht im Kupferhaus bin dass du bis zu meiner Rückkehr unter Androhung der Todesstrafe dazu verpflichtet bist, sie vor jenen, die sie zerstören wollen, zu schützen. Erinnere sie an die Rrön. Sag ihr, sie lebe hinter Kupfer, weil nur Kupfer ihr die Garantie gibt, dass die Rrön sie nicht in ihre Macht bekommen. Es ist eigentlich gar keine allzu große Lüge - wenn die Rrön wüssten, dass sie überlebt hat und hier ist, würden sie uns Tag und Nacht belagern. Sag ihr, dass ich sie nach meiner Rückkehr gleich als Erstes aufsuchen werde und dass man ihr dann gewiss die Freiheit des gesamten Intal - von den Wäldern bis zum Meer - gewähren wird, aber bis dahin muss sie sich gedulden.« Birra nickte. »Und wann wirst du zurück sein von deiner ... Reise?« Seolar seufzte und trat ans Fenster. Er blickte in den Innenhof hinab und schüttelte den Kopf. »Wenn sie so weit ist, dass sie ihre Zukunft in Oria sieht.« Natta Cottage, Ballahara »Du musst vorsichtig sein mit solchen Dingen, Lauren. Der Rückstoß kann ziemlich übel sein. Oder hast du das vergessen? Und warum zum Teufel hast du so lange gebraucht, um hierher zurückzukommen?« Jake streckte die Hand aus, griff nach einem von Embars riesigen Ohren und sagte: »Ohr.« Dann stieß er einen seiner 96 kleinen Finger fast in Embars Gesicht, und das Geschöpf zuckte zurück. »Auge!« Er wollte nach der gewaltigen Unterlippe greifen, wobei ihn die vorstehenden Eckzähne offenkundig nicht im Mindesten beeindruckten, und rief: »Mund!« In Jakes Augen war Embar offensichtlich das perfekte Spielzeug. Lauren glaubte, sich daran erinnern zu können, selbst einmal genauso empfunden zu haben. »Ich erinnere mich nicht einmal an die Hälfte der Dinge, die ich eigentlich wissen müsste«, gestand Lauren und nahm Jake vom Boden auf, bevor er dem armen Geschöpf etwas antun konnte. Goroth, sagte eine beharrliche Stimme in ihren Gedanken. Embar ist ein Goroth. Sie ärgerte sich darüber, dass sie sich daran erinnern konnte, was Embar war, aber vergessen hatte, was so wichtig gewesen war, dass ihre Eltern mit ihrem Einverständnis ihre Erinnerungen ausgelöscht hatten, um sie vor jemandem zu verbergen, der sie vielleicht in ihren Gedanken hätte finden können. »Oh«, flüsterte sie. Denn das war ihr plötzlich eingefallen. Es gab jemanden, der ihre Gedanken lesen konnte jemanden, der sehr böse war -, und dieser Jemand hatte keine Ahnung davon, dass sie Tore schaffen konnte. »Oh, was?« Lauren setzte sich mit Jake auf dem Schoß auf einen der Schaukelstühle und begann zu schaukeln. Jake würde eine Weile bei ihr sitzen bleiben, bevor er die Geduld verlor. Vielleicht würde er auch einschlafen. »Mir ist gerade eingefallen, dass meine Eltern meine Fähigkeiten als Torweberin vor jemandem verbergen wollten, der meine Gedanken lesen konnte. Es war jemand, der mich töten wollte. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, wer es war.« »Deine Eltern haben es nie herausgefunden«, sagte Embar. »Aber damals starben Torweber wie die Fliegen. In Cat Creek gab es zwei von ihnen, als plötzlich alles schief ging. Das Schwesternetz von Cat Creek in Hope Mills hatte sogar 97 drei Torweber. Jetzt gibt es seit fünfundzwanzig Jahren keinen Torweber mehr in Hope Mills, und der letzte Torweber von Cat Creek wird langsam alt, ohne dass ein Ersatz in Sicht wäre. Das haben sie mir erzählt, als sie mich baten, auf dich Acht zu geben.« Lauren sagte: »Was haben sie getan?« Das kleine Geschöpf ihr gegenüber legte mit Jammermiene den Kopf in die Hände. »Sie haben mich gebeten, auf dich Acht zu geben. Als die Wächter sie hinauswarfen, haben sie sich Sorgen gemacht, dass ihnen etwas zustoßen könnte und dass du dann verletzbar wärest. Und es ist ihnen etwas zugestoßen. Und ich nehme an, der Tod deiner Eltern hat dich tatsächlich verletzbar gemacht, obwohl du ja recht gut ohne mich überlebt hast. Ich habe bei meiner Aufgabe jämmerlich versagt - ich habe deine Spur verloren, als du von der Universität abgegangen und umgezogen bist.« »Direkt, nachdem sie starben?«
»Direkt, nachdem ...? Ja, ich habe jahrelang versucht, dich zu finden, aber wann immer es so aussah, als hätte ich endlich Erfolg, musste ich feststellen, dass du gerade eben wieder umgezogen warst. Schließlich bin ich hierher gekommen, um zu warten. Ich hatte gehofft, du würdest den Weg zurück durch das Tor finden; deine Eltern haben gesagt, dass du das tun würdest.« Lauren war vollkommen ratlos. »Also schön, du wirst mir die ganze Sache noch einmal und sehr langsam erklären müssen. Fang am Anfang an und erzähl mir alles. Warum schüttelst du den Kopf?« »Ich kann dir nicht alles erzählen. Ich kann dir überhaupt nicht viel erzählen. Deine Eltern waren Wächter. In dieser Welt heißt das, dass sie wie ... wie Götter waren. Ich war nur ein kleiner Plagegeist, mit dem sie sich angefreundet hatten, weil ich ständig in ihrer Nähe herumlungerte. Ich hatte nämlich gehofft, dass etwas von ihrer Magie auf mich 98 übergehen würde. Und gerade die Tatsache, so erzählten sie mir später, dass sie mich und andere wie mich wie Freunde behandelten, ist der Grund, warum die Wächter sie verstoßen und ihr Haupttor geschlossen haben. Götter sollten sich wohl nicht mit Sterblichen abgeben, denke ich. Das schadet dem Geschäft.« »Sie waren keine Götter.« Embar zwinkerte ihr zu. »Aber wenn sie sich nicht mit mir abgegeben hätten, hätte ich das nie erfahren, oder? Die Wächter verlieren ein wenig von ihrer geheimnisvollen Aura, wenn wir eine Ahnung davon bekommen, wer und was sie sind.« »Ja, schön. Dann erzähl mir eben, wer und was die Wächter sind.« Embar kicherte. »Auch das weiß ich nicht genau. Ich hatte gerade erst eine Ahnung davon gewonnen. Das ist etwas anderes, ein Ahnung. Ich weiß, dass die Wächter damit zu tun haben, eure Welt vor der Magie dieser Welt zu schützen. Ich weiß, dass sie weder Götter noch Unsterbliche sind - sie sind einfach Leute. Das allein ist mehr, als irgendjemand aus meiner Welt wissen dürfte. Was deine Eltern betrifft, weiß ich, dass sie an etwas Wichtigem gearbeitet haben, aber ich weiß nicht, was es war. Ich weiß nicht, wer hinter den Torwebern her war; ich weiß nicht, warum deine Eltern das getan haben, was sie taten, statt einfach fortzuziehen; was du nicht weißt, kann ich dir leider auch nicht sagen.« Lauren legte den Kopf an die Rückenlehne des Schaukelstuhls und schloss die Augen. »Klar. Wunderbar. Wie soll ich dann herausfinden, was vorgeht und was so wichtig ist, dass ich bisher den größten Teil meines Lebens dafür aufgegeben habe, ohne überhaupt zu wissen, was ich tat?« »Nun, deine Eltern haben ihre Notizbücher in deinem Haus versteckt. Du brauchst sie nur zu finden.« 99 Lauren starrte ihn ungläubig an. »Warum hast du mir das nicht sofort gesagt?« »Du hast nicht danach gefragt.« Cat Creek und der Ring der Wächter, Ballahara Das Telefon klingelte, klingelte, klingelte, und schließlich schlug Eric die Augen auf. Fünf Minuten, dachte er. Ich habe nicht länger als fünf Minuten geschlafen. Er griff nach dem Telefon. »Was?« »Wir haben einen Rückstoßdurchbruch der Stärke fünf. Wir brauchen dich hier. Sofort.« Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, legte Eric auf. Er zog sich die Jeans nur deshalb an, weil sie direkt neben dem Bett lag. Die Mühe, nach einem Hemd oder Socken zu suchen, sparte er sich. Seine Schuhe zog er nur deshalb an, weil sie neben der Tür standen und er ohnehin kurz stehen bleiben musste, um seine Schlüssel vom Haken zu nehmen - wenn die Schuhe nicht dort gewesen wären, hätte er das Haus barfuss verlassen. Die Kälte, die ihm draußen jäh entgegenschlug, machte ihn hellwach, und alles, woran er denken konnte, war Stärke fünf ... Stärke fünf ... Ich muss mich verhört haben. Während er fuhr, überlegte er kurz, ob er Blaulicht einschalten sollte, aber die Sache hatte nichts mit seinem Job als Sheriff zu tun, und er wollte keine Gaffer. Stärke fünf. Heilige Scheiße. Die wirklich nützlichen Leute waren bereits im Arbeitsraum, als er dort ankam. Ernest und Nancine Tubbs, June Bug Täte, Willie Locklear, Debora Bathingsgate, Granger Baldwyn und Deever Duncan bereiteten das Tor vor und sammelten Werkzeug zusammen. 100 »Stärke fünf?«, fragte er. June Bug blickte nicht einmal von dem Handspiegel auf, mit dessen Hilfe sie die Quelle des Rückstoßes zu finden versuchte. »Ja. Ich habe den Rückstoßeffekt auf einhundertundachtzig Millionen Tote in den USA berechnet, drei Milliarden weltweit. Das ist die beste Schätzung, die ich nach der ersten Messung abgeben kann.« »Drei Milliarden? Menschen?« Seine Worte klangen erstickt, selbst in seinen eigenen Ohren. »Plus minus ein paar hundert Millionen.« »Gott sei uns gnädig«, wisperte er. »Zeitrahmen?« »Etwa drei Monate bis zum Höhepunkt. Plus minus ein paar Tage. Die Messung wird zur Peripherie hin ziemlich verschwommen - die genaueste Aussage, die ich anhand dieser Daten machen kann, ist, dass wir es weltweit mit einer Verlustrate von etwa fünfzig Prozent zu tun haben werden, dass es etwa zwei bis zweieinhalb Monate dauern wird, bis die Hälfte aller Menschen, die an der Primärauswirkung sterben werden, gestorben ist, dass dann eine Mammutbeschleunigung einsetzt und innerhalb der nächsten fünfzehn Tage die andere Hälfte stirbt ...
Und ich bekomme keinerlei Werte, wie hoch die Zahl der Opfer sein wird, die an den sekundären Folgen sterben werden.« Eric biss sich auf die Lippen. »Aber das heißt ja, dass die gesamte Infrastruktur des Planeten ausgelöscht wird. Wenn die Hälfte der Menschen auf der Erde an dem Primäreffekt stirbt, muss man davon ausgehen, dass fünfzig Prozent der Überlebenden binnen eines Jahres an Sekundäreffekten sterben werden. Es wird Kinder geben, die den Tod ihrer Eltern überleben, aber allein nicht zurechtkommen werden, ganze Industrien werden aufgrund von Arbeitskräftemangel zusammenbrechen, Menschen werden in Situationen geraten, in denen sie verhungern oder verdursten werden, es wird Mord und Totschlag geben ...« Er schüttelte den 101 Kopf, als wolle er die düstere Zukunft aus seinen Gedanken verscheuchen. »Und was immer übrig bleiben mag, es wird ganz anders sein als das, was wir heute haben.« Jetzt sah June Bug doch noch von ihrem Spiegel auf. Ihre Blicke trafen sich eine Sekunde lang, und die Trostlosigkeit, die er in June Bugs Augen sah, entsetzte Eric. Sie sagte: »Ich glaube, du schätzt die Dinge zu optimistisch ein.« »Vielleicht.« Er verfügte nicht über June Bugs statistisches Hintergrundwissen. Es war möglich, dass die Katastrophe noch furchtbarer werden würde, als er es sich ausmalte, obwohl er sich im Grunde nichts Schlimmeres vorstellen konnte. Ihm wurde klar, dass sein Verstand die Ungeheuerlichkeit dessen, was er mit Gewissheit wusste, nicht ermessen konnte. »Warum haben ausgerechnet wir diesen Schlamassel am Hals?« »Weil der Rückstoß in Rockingham durchgebrochen ist.« Eric rieb sich die Stirn. »Das fällt in unseren Bereich, allerdings.« Willie sagte: »Ich habe den Wächtern von Hope Mills Bescheid gegeben. Sie haben noch keinen Torweber, daher können sie uns nur in begrenztem Maß helfen, aber Richard meinte, sie würden so schnell wie möglich herkommen. Ich habe auch mit Carolina in Ellerbe gesprochen. Sie will selbst herkommen und dann alle, die wir brauchen, nachkommen lassen. Und ich habe Deever den Auftrag gegeben, Kontakt zu der Gruppe in Vass aufzunehmen.« »Das heißt, wir werden in Kürze Verstärkung haben.« Willie nickte. Eric breitete die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken. »Was zum Teufel ist da bloß passiert? Wer hat das getan? Konntet ihr den Auslöser lokalisieren?« June Bug antwortete: »Nein. Aber es gibt noch eine weitere schlechte Neuigkeit: Was immer da passiert ist, es hatte bereits Zeit, sich langsam aufzubauen. Meine Messung 102 hat ergeben, dass wir den ursprünglichen Durchbruch verpasst haben - die ersten Auswirkungen machen sich bereits bemerkbar. Möglicherweise war der Anfang des Ganzen die große Erschütterung, die Tom Watson nicht richtig fassen konnte. Vielleicht haben wir es aber auch mit etwas zu tun, das erheblich subtiler war. Der Durchbruch selbst macht mir keinen allzu schwerwiegenden Eindruck, aber er hat einen Beschleunigungsfaktor, wie ich ihn noch nie erlebt habe.« »Haben wir schon eine Ahnung, wie der Rückstoß sich manifestieren wird? Terroristen mit Atomwaffen? Der schwarze Tod? Veränderte Flugbahnen von Kometen, Meteoreinschläge, eine Verlagerung der Erdachse? Was?« »Wir haben keine Vorstellung davon«, antwortete Willie. Seine Stimme war so grimmig und erregt, wie Eric sie nur selten gehört hatte. »Wir wissen nur, dass es groß und schnell und hässlich ist.« »Und es wird die Hölle los sein, wenn wir es nicht aufhalten können.« Willie nickte, und zum ersten Mal, seit Eric sich erinnern konnte, wirkte der alte Mann ehrlich erschüttert. Willie sagte: »Das Tor ist fertig.« Eric blickte in die Runde. »Wo sind denn die anderen?« »Wir mussten ihnen Nachrichten hinterlassen«, erwiderte June Bug. »Meine beiden Schwestern besuchen jemanden außerhalb der Stadt, und Toms Freundin sagte, er sei angeln gegangen ... Solche Dinge.« Solche Dinge. Sie mussten eine Katastrophe der Stärke fünf aufhalten, und die Hälfte seiner Truppe fehlte. »Nun, das hier kann nicht warten. Willie, sorg dafür, dass das Tor für alle offen bleibt, die noch kommen.« Willie nickte. »Du ziehst dir besser einen Mantel an«, sagte er. »In Oria ist es kälter als hier, und es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um mit Wärmezaubern herumzuspielen.« 103 Eric zuckte die Achseln. »Ich habe keinen dabei.« »Ich habe einen zweiten Mantel draußen im Kofferraum«, sagte Ernest. »Mein Arbeitsmantel. Riecht wie ein Chemieklo, aber ...« »Ich nehme ihn. Danke.« Sie gingen in großer Eile durch das Tor, so wie sie es bei hundert Übungen getan hatten, und sobald sie auf der anderen Seite waren, bildeten sie Rücken an Rücken einen engen Kreis. Diejenigen Wächter, die Werkzeuge oder andere Gegenstände mitgebracht hatten, um ihre Magie zu bündeln, stellten diese jetzt auf. Ernest rammte ein vierzölliges Bleirohr, das zu einem Dreifuß verlötet war, vor sich in den Boden; June Bug griff nach ihrem Handspiegel; Granger legte sich eine silberne Kette mit einem großen Medaillon um den Hals - das Medaillon selbst war eine sieben oder acht Zentimeter große Messingscheibe, auf die er Flussdiagramme und Pfeile hatte
gravieren lassen; Nancine zog eine verkratzte Digitaluhr aus Plastik aus der Tasche, die auf der Erde schon seit Jahren nicht mehr funktioniert hatte. Debora hielt einen klobigen alten Taschenrechner von Texas Instruments in Händen - die Art, die früher einmal leuchtend rote Ziffern gehabt hatte und mit Batterien betrieben worden war. Der Deckel des Batteriefaches und die Batterien selbst fehlten. Eric hatte seinen Sheriffstern in der linken Hand. Willie benutzte weder Werkzeuge noch irgendeinen anderen Fokus, und Deever, sein Schüler, folgte seinem Beispiel. Die Wächter standen auf einer Lichtung inmitten einer Mauer gewaltiger, uralter Bäume vor ihrem Torspiegel, einem rechteckigen Spiegel, der zweieinhalb Meter hoch und zwei Meter breit war. Frühere Wächter hatten ihn in einen steinernen Bogen eingebaut und ihn mit einem kleinen Pavillon mit einem Schieferdach vor Wind und Wetter geschützt. Die Lichtung erstreckte sich etwa dreißig Meter in alle Richtungen. Das Stammtor der Wächter von Cat Creek 104 lag im Herzen des Trauerwaldes. Weder Straße noch Weg führte in die Nähe der Lichtung, kein Fußabdruck durchbrach die glatte Oberfläche des Schnees. Nicht einmal wilde Tiere drangen in den mit einem Zauber belegten Ring ein. Eric umklammerte den Sheriffstern fester und konzentrierte seine Gedanken auf das, was er in diesem Moment am dringendsten benötigte. Er sagte: »Schutzschild«, und schon hatte sich eine Blase aus grünem Feuer um sie herum gebildet. Deever sagte: »Verteidigung«, und das grüne Feuer erblasste, schimmerte und sah plötzlich stabiler aus. Debora sagte: »Späher.« Winzige Lichttropfen lösten sich von Erics Schutzschild ab und schössen in alle Richtungen davon, um nach Dingen Ausschau zu halten, die möglicherweise Ärger bedeuten konnten. Willie blieb dicht neben dem Tor. »Das Tor ist stabil«, meldete er. Nancine blickte auf die kaputte Uhr in ihrer Hand. Sie sagte: »Uhr.« In der Wölbung der Blase, die sie beschirmte, erschien eine Digitalanzeige, deren rotes Glühen in dem grün gefärbten Licht seltsam unheimlich wirkte. Das Licht teilte sich in sieben identische Anzeigen, von denen jeweils eine vor einem der Wächter in Position ging, so dass keiner von ihnen sich umdrehen musste, um festzustellen, wie viel Zeit sie in Oria verbracht hatten. Die Zeittafel der Uhr begann bei 0:00:00, aber das Verstreichen der Zehntelsekunden war mit bloßem Auge nicht wahrzunehmen, und die Sekunden selbst summierten sich bereits. Ernest sagte: »Leichte Füße.« Sein Zauber schien nichts zu bewirken, war aber vielleicht der wichtigste von allen. Solange sie in Oria waren, würde Ernest den Magieverbrauch der Wächter kontrollieren - er würde all ihre Zauber durch einen sehr engen magischen Tunnel fließen lassen, so dass sie daheim auf der Erde nicht genau jene Art von Rückstoß auslösten, die sie umzukehren versuchten. June Bug, die immer noch ihren Spiegel in der Hand hielt, 105 sagte: »Zeig mir die Quelle«, und eine Flamme aus weißem Licht brach aus ihrem Spiegel hervor. Die übrigen Wächter warteten. »Das ist zum Gotterbarmen trüb«, erklärte sie nach einigen Sekunden. Niemand sagte etwas. Die anderen blieben an ihrem Platz, hielten ihre Zauber aufrecht und warteten weiter. »Suche die frische Magie«, befahl June Bug. Eine kurze Pause folgte, dann sagte sie: »Die Quelle liegt in östlicher Richtung - ganz in unserer Nähe. Ein großer Ausbruch von Magie, und er ist erst vor kurzem erfolgt.« »Wie frisch ist die Magie?« »Maximal zwei Stunden.« »Das ist zu frisch«, sagte Eric. Willie sah über die Schulter hinweg zu Eric hinüber. »Richtig. Aber wer oder was auch immer diesen jüngsten magischen Ausbruch verursacht hat, dürfte sehr wahrscheinlich mit dem Problem zusammenhängen, das wir zu korrigieren versuchen.« »Ich weiß. Aber wir können uns nicht sicher sein.« Deever sagte: »Ich bin dafür, dass wir uns zuerst mit dem Magieausbruch beschäftigen, den June Bug entdeckt hat, und feststellen, ob das Problem damit gelöst ist. Wenn es nötig ist, können wir wieder hierher zurückkommen.« June Bug stimmte ihm zu. »Die Uhr läuft. Wir haben bereits fünf Minuten hier verbracht.« Ich kann selbst die verdammte Uhr lesen, dachte Eric, sprach seinen Gedanken aber nicht aus. Stattdessen sagte er: »Nach Osten ausrichten. Wir werden den Schild senken, die Abwehr umstellen und die Späher auf unser unmittelbares Umfeld beschränken. Granger, du übernimmst den Zauber zur Umkehr des Primäreffektes. Nancine, Jane Bug, Deever und ich werden den Rücklauf abfangen. Debora hält die nahe Umfeldkontrolle aufrecht. Willie, du sorgst dafür, 106 dass das Tor stabil bleibt, und Ernest bleibt bei seinem Tunnel... Ernest, pass auf, dass es uns nicht entgleitet. Fertig?« Zustimmendes Murmeln. »Dann werfen wir bei sieben Minuten unser Extragepäck ab, und du, Granger, bist bereit, zehn Sekunden später diesen Zauber zu wirken.« »In Ordnung«, sagte Granger.
»Ich wünschte, wir hätten mehr Leute hier, um mit dem Rücklauf fertig zu werden«, murmelte June Bug. Von den anderen sagte niemand etwas. Sie alle hatten den Blick auf die leuchtend roten Anzeigetafeln geheftet, die vor ihnen in der Luft hingen. Während der zehn Sekunden, die ihnen noch blieben, wappnete Eric sich gegen das Kommende und konzentrierte sich auf das Glühen des Schutzschilds, der sie alle umringte. Fünf ... vier ... drei... zwei... eins ... Eric sagte: »Schutzschild senken«, und im gleichen Augenblick gaben auch die anderen betroffenen Wächter ihre Kommandos. Deever sagte: »Abwehr senken«, Debora sagte: »Späher in Nahbereich.« Nancine sagte: »Uhr auf Automatik.« Es war riskant, einen Zauber auf Automatik laufen zu lassen, aber June Bug hatte Recht gehabt - sie waren nicht genug Leute, um einen großen Rücklauf gefahrlos abpuffern zu können; sie brauchten Nancines Hilfe. Die beruhigende, schimmernde grüne Blase verschwand, und eine Hand voll winziger grüner Sterne kam aus dem Wald und schoss im Kreis um den Rand der Lichtung herum. »Wappnet euch«, sagte Granger leise. Alle Augen waren auf die Uhr gerichtet, auf die dahinrasenden Ziffern. »Suche im Osten, nah und frisch«, sagte er kryptisch. »Identifiziere; sequentiere; bestimme Stärke, mache rückgängig; gleicher Rücklauf auf Eric, Nancine, Deever, June Bug und mich.« Der Zauber, den er im Kopf hatte, würde 107 um einiges komplexer sein, aber Magie hatte wenig mit Worten zu tun und sehr viel mit klaren Bildern und klarer Absicht. Die Worte gaben der Absicht und den geistigen Bildern lediglich einen Brennpunkt und dienten ihnen als Auslöser. Anhand dieser wenigen Worte konnte Eric sich jedoch vorstellen, wie Granger den Zauber strukturiert hatte. Grangers Zauber würde an den Ort gehen, an dem diese jüngste Störung aufgetreten war, und die Magie identifizieren, die benutzt worden war, sowie die Dinge, auf die damit eingewirkt worden war. Dann würde er mit Hilfe der noch nachwirkenden Echos dieser Magie einen Gegenzauber aufbauen, der die einzelnen an diesem Ort zuvor gesetzten Zauber Schritt für Schritt wieder rückgängig machen würde. Dabei würde Grangers Gegenzauber genau ermitteln, wie viel Kraft er benötigen würde, und diese Kraft von den sieben Wächtern abziehen, um wirksam zu werden und den Rückfluss durch Ernests Tunnel zu ihnen zurückleiten. Die Wächter mussten dann mit dem Rücklauf fertig werden, so gut sie es vermochten. Es war ein komplexer Zauber, sauber strukturiert und ökonomisch, etwas, worauf Granger sich hervorragend verstand. Eric spürte, wie die ersten kleinen Fasern der Magie sich nach Osten schlängelten. Er wartete und wartete. Die Uhr vor ihm zeigte, dass fünf Sekunden verstrichen waren, dann zehn, dann fünfzehn. Er versuchte zu verhindern, dass seine Zähne klapperten - die Kälte setzte ihm zu, aber schlimmer als die Kälte war die nackte Angst vor dem, was ihm und den anderen bevorstand. Je länger Grangers Sondierung brauchte, um den Gegenzauber aufzubauen, umso schlimmer würde das Ergebnis wahrscheinlich ausfallen. Plötzlich ergoss sich eine gewaltige Woge von Energie in Ernests Tunnel. Als Eric spürte, wie sie hineinströmte, konnte er nur denken: Das wird die Hölle sein, wenn es zurückkommt. 108 Er zählte zehn Sekunden auf der Uhr - zehn geschlagene Sekunden, in denen sie darauf warteten, dass der Rücklauf einsetzte. Eric kam es vor, als seien es zehn Stunden. Dann traf sie die Magie; eine Mauer aus Energie wie ein Tsunami, der Ernests Tunnel verzerrte und verbog und über Eric und die vier anderen Wächter, die den Rückfluss auffingen, zusammenschlug. Eine Explosion von weißem Licht blendete Eric, und direkt danach machte ihn ein Donnerschlag, der in seinem Schädel explodierte, taub. Ich bin vom Blitz getroffen worden, dachte er, aber das war der einzige klare Gedanke, den er fassen konnte; umgeben von Dunkelheit und absoluter Stille fiel er auf Hände und Knie nieder, während ein Feuer in seinem Körper explodierte und jede einzelne Zelle versengte, um die Grenzen seines Körpers zu verlassen. Sterben, dachte er. Sterben. Er rollte sich zu einem engen Ball zusammen und schrie lautlos, während seine schmelzenden Knochen in seinem lodernden Fleisch gegen sein kochendes Blut kämpften. Sterben. Sterben. Lass mich sterben. Er konnte wieder atmen. Immer noch blind, immer noch taub, verebbte der schlimmste Schmerz langsam. Er konnte sich nicht bewegen. Konnte keinen Teil seines Körpers spüren. Und er dachte, vielleicht bin ich wirklich tot. Das wäre nicht das Schlechteste. Und dann kam das unverkennbare, plötzliche, Leben spendende Aufwallen von Wohlsein, das das Durchschreiten eines Tores mit sich brachte. Dann Dunkelheit. Stille. Die Zeit verstrich, und Eric konnte sich nicht bewegen, konnte nicht sehen, konnte nicht hören. Das ist es, dachte er. Den Rest meines Lebens gefangen in einem Körper, der nicht funktioniert. Und dann, ganz allmählich, bemerkte er einen ersten 109 Lichtschimmer. Als Nächstes eine Bewegung. Nach langer Zeit konnte er Gestalten ausmachen. Und dann blinzelte er, und Willie und Debora standen vor ihm in dem Raum im oberen Stockwerk des Blumenladens und unterhielten sich lebhaft. Er hörte ein leises Dröhnen, wenn Willie sprach. Dann konnte er Debora ganz deutlich verstehen. »Bist du dir sicher, dass er keinen dauerhaften Schaden
davongetragen hat?« »Ich habe alle genau untersucht, bevor ich sie durch das Tor gebracht habe. Ich habe sie untersucht. Wir hätten nichts für sie tun können, wenn ihnen etwas zugestoßen wäre, aber ich bin mir ganz sicher, dass es allen gut geht.« »Ich bin in Ordnung, denke ich«, sagte Eric. Debora zuckte zusammen, und Willie drehte sich um, einen Ausdruck der Erleichterung in den Augen. »Eric, du bist wieder bei uns.« »Was ist passiert?« »Wer auch immer diese Folge von Zaubern gewirkt hat, war ... unwirklich. Soweit Debora und ich sehen konnten, war der ursprüngliche Zauber ziemlich klar - die Dreingaben waren so übel. Mitten in Grangers Umkehrung sind plötzlich zwei Geister aufgetaucht. Ich meine, sie wären mir bekannt vorgekommen, aber ich habe sie nur flüchtig gesehen, bevor sie verschwunden sind. Außerdem sind für kurze Zeit Bilder aus verschiedenen Teilen der Welt aufgeblitzt. Es war fast wie eine Diavorführung. Ein gut aussehender Bursche in Luftwaffenuniform und ein kleiner Junge. Und während der ganzen Umkehrung tobte ein Unwetter über der Lichtung. Absolut beängstigend. Überall haben sich Tornados gebildet. Der Sturm kam als Erstes und hörte als Letztes wieder auf. Das Schlimmste, was ich in siebzig Jahren gesehen habe.« »Dann sind also der Donner und die Blitze ...« »Mitten durch dich hindurchgegangen. Wenn es echte 110 Blitze gewesen wären und nicht eine Art magisches Kunstprodukt, wärest du mausetot gewesen.« »Warum zum Teufel sollte jemand ein Gewitter mit einem anderen Zauber verbinden?« Willie sagte: »Eine Signatur, vermute ich. Wir haben einmal einen Burschen aufgespürt, der seine Arbeiten mit einem Wolf signiert hat. Das war lange vor deiner Zeit, Eric, obwohl June Bug sich daran erinnern wird. Eine scheußliche Angelegenheit. Wann immer wir einen seiner Zauber umgekehrt haben, tauchte zum Schluss ein großer, weißer Wolf auf und ging uns sofort an die Kehle. Hat uns ziemlich nervös gemacht, wie du dir vorstellen kannst.« »Warum hat der Mann das getan?« »Es hat sich herausgestellt, dass er sich selbst so gesehen hat. Der einsame Wolf, der mächtige Jäger. Er hatte sich die Magie selbst beigebracht - er wusste nicht einmal, dass er den Wolf zu einem Teil seiner Zauber gemacht hatte.« Eric legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Sein Körper fühlte sich noch immer so an, als sei er in einen Betonmischer geraten. »Also, haben wir die Sache in Ordnung gebracht?« »Das wissen wir nicht. June Bug ist noch nicht wieder zu sich gekommen, und weder Debora noch ich haben die Koordinaten, die sie durch den Handspiegel verfolgt hat. Um das herauszufinden, müssen wir warten, bis sie aufwacht und sich wieder halbwegs erholt hat.« Natta Cottage, Ballahara Als Erstes und ohne jede Vorwarnung nahm das Haus wieder seinen alten Zustand an. Lauren drückte Jake fester an sich. Er sah sich um und sagte noch einmal leise: »Wow.« Dann kehrten der Staub und der Schmutz zurück. 111 Dann wurde es eiskalt im Raum. Dann gingen die Lichter aus. »Das kann nichts Gutes bedeuten«, murmelte Embar. »Ich denke, es wird Zeit, nach Hause zu gehen.« Lauren nahm Jake auf den Arm und eilte zum Schlafzimmer hinüber. Embar lief ihr nach. »Du wolltest doch nach den Unterlagen deiner Eltern suchen! Ich kann dir helfen.« »Wir reden später«, sagte Lauren. Sie hatte bereits die Hand auf das Tor gelegt, und das grüne Feuer kam. »Ich kann ebenfalls hindurchgehen, wenn du willst. Ich verstehe mich aufs Suchen.« Laurens Hand glitt durch das Glas, und sie machte den ersten Schritt in das grüne Feuer hinein. »Tu das«, sagte sie. »Dann komme ich gleich nach«, rief er hinter ihr her. Und dann stand sie wieder in der Diele ihres Hauses. 5 Cat Creek Terry Mayhew hätte den Nexus, die Region, für die die Wächter verantwortlich waren, eigentlich gar nicht beobachten müssen. Eigentlich hätte er unterwegs sein und einer Frau in Maxton eine Lebensversicherung verkaufen sollen. Er hatte sich ernsthafte Hoffnungen gemacht, dass die Frau mehr von ihm wollte als eine Versicherung, aber sie hatte ihm in letzter Minute abgesagt, und da er das Büro bereits verlassen hatte, fuhr er stattdessen nach Hause. Er machte sich einen Imbiss, ging in das Gästezimmer, in dem sein Haustor stand, und öffnete es gerade so weit, dass er auf dem Spiegelrahmen sitzen konnte. Auf diese Weise musste die Magie, die zwischen den beiden Welten hin und her strömte, durch ihn hindurchfließen. Er schloss die Augen und kostete das prickelnde Gefühl aus, das er inmitten dieses Energiestroms immer verspürte. Er saß einfach da und ließ das grüne Feuer durch sich hindurchfluten. Im Nexus war nichts auszumachen außer dem üblichen Rauschen; wahrscheinlich verschwendete er nur seine Zeit. Eric hatte darauf bestanden, dass alle Wächter jede freie Minute damit verbrachten, mögliche Störungen aufzuspüren, zumindest bis sie herausgefunden hatten, was Molly McColl zugestoßen war. Falls das Mädchen sich nicht einfach irgendwo ein paar schöne Tage machte, was Terry durchaus für möglich hielt. Wie groß waren die Chancen, dass
er derjenige sein würde, der den Entführer dingfest machte? An den Glücksspielapparaten in Vegas hätte er vermutlich bessere Chancen gehabt. 113 Aber es war durchaus ein angenehmer Zeitvertreib und immer noch besser, als sich die Reden des Managers anzuhören, der ihnen jeden Nachmittag irgendwelche Verkaufsstrategien erläuterte. Als sich das Tor öffnete und wieder schloss, geschah es so schnell und mit so wenig Aufhebens, dass Terry um ein Haar versäumte, eine Peilung vorzunehmen. Das sanfte Klicken durchlief ihn in drei Dimensionen, auch wenn er sich nur zwei davon zunutze machen konnte; es waren Schwingungen, die durch ihn hindurchgingen wie Musik durch einen guten Stereokopfhörer. Und gerade so, als hätte er einen Kopfhörer getragen - mit dessen Hilfe er sich vorstellen konnte, an welcher Stelle der Schlagzeuger und an welcher der Gitarrist stand -, bekam er ein Gefühl für den Ort, an dem das Tor geöffnet wurde. Aber damit endete der Vergleich mit dem Kopfhörer auch schon, denn wenn er den Kopf innerhalb des Energieflusses des Tors drehte, bewegte sich auch der ferne Punkt, auf den er sich konzentrierte. Und dieser Punkt lag nicht in der Nähe des Haupttors der Wächter oder in der Nähe eines ihrer Haustore, und das bedeutete, dass es sich möglicherweise um die Störung handelte, die Eric aufspüren wollte. Mit hämmerndem Herzen griff Terry nach einem Drahtkleiderbügel, der in seiner Nähe lag, und zeichnete mit der Spitze einen Richtungspfeil auf dem Holzfußboden. Dann schloss er sein Haustor, holte sich schnell Papier, Bleistift und Kompass und legte sie neben den Pfeil, den er gezeichnet hatte, auf den Boden. Als er den oberen Rand seines Blattes genau nach Norden ausgerichtet hatte, markierte er diesen Rand mit einem »N« und kopierte dann den Pfeil mit einem Lineal sauber auf das Papier. Die Linie war nur eine Schätzung, das wusste er, aber er glaubte, dass es eine gute Schätzung war. Vielleicht war es der letzte Vektor, den Eric brauchte, um den Standort der Störung bestimmen zu können. 114 Vielleicht habe ich ihn erwischt, dachte Terry und sah in Gedanken einen einarmigen Banditen vor sich, der haufenweise silberne Münzen ausspuckte. Der Jackpot. Vielleicht habe ich den Entführer gefunden. Mit dem Blatt Papier in der Hand lief er aus dem Haus, sprang in seinen Wagen und raste quer durch die Stadt zu Nancine Tubbs Blumenladen. Er versteckte die Corvette hinter dem Blumenladen, dann überlief ihn ein jähes Frösteln, als er sah, wie viele der anderen Wächter ihre Autos dort bereits abgestellt hatten. Niemand konnte den Laden von zu Hause aus schneller erreichen als er - das hieß also, die Wächter waren nicht wegen der Störung hier, die er gerade bemerkt hatte. Und wenn sie mitten an einem Arbeitstag zusammenkamen, bedeutete das nichts Gutes. Terry lief durch die Hintertür ins Haus, vorbei an Maycine Meyers, die gerade an einem großen Trauerkranz mit Chrysanthemen und etwas abscheulichem Purpurnem arbeitete. Sie begrüßte ihn mit einem koketten Lächeln, und es gelang ihm gerade noch, »Hey, Maycine«, zu murmeln, aber er war zu schnell um die Ecke und die Treppe hinaufgelaufen, um zu hören, was genau sie als Nächstes sagte. Es war auch nicht wichtig. Sie würde es wiederholen, wenn er wieder herunterkam. Die Frau war etwas eingleisig veranlagt, und wenn sie ihn sah, schien dieses Gleis immer genau in seinen Bahnhof zu führen. Er platzte in den Arbeitsraum der Wächter hinein, und sieben Augenpaare wandten sich ihm zu. »Wo zum Teufel hast du gesteckt?«, fuhr Eric ihn an, und Debora, die aussah, als hätte man sie durch einen Fleischwolf gedreht, fauchte: »Typisch, dass du jetzt auftauchst.« Verblüfft von dieser Feindseligkeit sagte Terry: »Ich habe den Vektor.« Er hielt sein Blatt Papier in die Höhe. Jetzt sahen ihn alle sieben Wächter verwirrt an. »Vektor?«, fragte Willie. 115 »Für das Tor, das sich gerade geöffnet und geschlossen hat. Ich saß gerade in meinem Peilrahmen, als es passiert ist. Es war keins von unseren Toren, und ich habe den Vektor von meinem Haus aus.« »Was ist mit dem Rückstoß ...«, sagte June Bug, aber Eric fiel ihr ins Wort. »Nicht jetzt, June Bug. Deever, die Karten.« Deever lief zu dem Stapel mit topografischen Karten der Region, die Eric im Aktenschrank der Wächter aufbewahrte. »Wann ist das Tor geöffnet worden?«, fragte Willie. »Erst vor ein paar Minuten. Hat denn keiner hier Wache gehalten?« Willie sagte: »Wir hatten alle Hände voll mit anderen Dingen zu tun. Einen Moment lang dachte ich, wir hätten fünf Wächter verloren - der Rückstoß war schlimm, sehr schlimm. Jetzt versuchen wir herauszufinden, ob all diese Schmerzen zu irgendetwas nutze waren. June Bug hat immer noch keine Werte darüber ermittelt, ob der Gegenzauber gewirkt hat.« Terry spürte, dass sein Blut noch einmal um zehn Grad kälter wurde. »Verloren ...«, sagte er, aber Eric unterbrach auch ihn. »Nicht jetzt. Gib mir dein Papier.« Terry reichte es ihm ohne ein weiteres Wort. Während Eric Terrys Pfeil auf die Karte übertrug, fragte Terry Willie, was eigentlich los sei. Als Willie ihm von der Rückstoßreaktion der Stärke fünf erzählte und ihm June Bugs geschätzte Zahl der Todesopfer nannte, glaubte er, sich übergeben zu müssen. »Ich war gerade unterwegs zu einer Kundin«, sagte er leise. »Mann, ich hatte ja keine Ahnung - mein Handy hat nicht geklingelt, und mein Pieper ist auch nicht losgegangen. Es war reines Glück, dass ich zu Hause war und
das Tor bewacht habe. Einfach Glück.« 116 »Sieht so aus, als wäre es ein verdammt großes Glück gewesen«, sagte Eric von seinem Tisch aus. Terry blickte zu ihm hinüber; das flaue Gefühl der Panik, das bei Willies Meldung in ihm aufgestiegen war, war noch keineswegs verflogen. »Wie meinst du das?« »Dein Vektor schneidet sich mit dem, den wir von hier aus eingezeichnet haben, genau im Zentrum dieser alten Häuser auf der Herndon Street, zwischen der Guthrie Street und der 381.« »Den Häuserblock kenne ich«, sagte Terry. »Ich bin auf dem Weg hierher daran vorbeigekommen.« »Ich auch«, sagte June Bug. »In der Mitte dieses Blocks liegt das alte Hotchkisshaus.« »Stimmt«, sagte Eric. Erwartungsvoll blickte er in die Runde. Willie sagte: »Mit diesem Tor, das wir vor fast zwanzig Jahren versiegelt haben.« »Stimmt.« Deever nickte aufgeregt. »Und Tom hat erzählt, dass die erste Störung sich so anfühlte, als würde ein Tor aufgesprengt.« Eric brachte die Karten in den Aktenschrank zurück. »Will irgendjemand Wetten darauf abschließen, woher unsere Probleme kommen?« »Dort wohnt doch nicht einmal jemand«, wandte June Bug ein. »Das stimmt nicht.« Eric drehte sich mit einem grimmigen Lächeln zu den anderen um. »Es stimmt nicht. Das Haus hat eine Ewigkeit zum Verkauf gestanden, aber vor ein oder zwei Monaten hat jemand es gekauft. Und ich habe an den vergangenen Abenden, wenn ich Streife gefahren bin, Lichter dort brennen sehen.« »Weißt du, wer jetzt da wohnt?«, fragte Willie. »Keine Ahnung. Pete und ich hatten während der letzten 117 Tage alle Hände voll zu tun, ich bin der Sache also bisher nicht nachgegangen. Aber ich werde es herausfinden.« Lauren, die mit Jake in der Diele Umzugskartons auspackte, spürte hinter sich das sanfte Vibrieren von Energie, das auf das Öffnen eines Tores hindeutete. Sie packte Jake, drehte sich voller Angst um und überlegte, wohin sie laufen konnte, falls eine Flucht notwendig werden sollte - und dann trat Embar durch das Tor. Zumindest ein Teil von Embar trat hindurch. Lauren konnte seine Gestalt zwar deutlich erkennen, konnte aber gleichzeitig durch ihn hindurch den Spiegel und ihr eigenes Bild darin sehen. Instinktiv wich sie einen Schritt zurück. Jake lächelte jedoch und sagte: »Hallo, Hündchen.« Dann zupfte er an Laurens Bluse und fügte hinzu. »Bitte ... runter.« »Kommt noch etwas durch dieses Tor?«, fragte sie Embar. »Der Rest von dir vielleicht? Oder irgendetwas anderes?« Embar grinste über ihr offensichtliches Unbehagen. »Das hast du auch vergessen, wie?« Seine Stimme klang schwach und heiser, als käme sie aus weiter Ferne. »Was soll ich vergessen haben?« »Dass wir, wenn wir in die Oberwelten gehen, alle - dünn werden.« »Du bist nicht dünn. Du existierst praktisch gar nicht.« »Ich bin ganz und gar hier. Dasselbe würde mit dir passieren, wenn du dich in die Welt über deiner wagtest. Es ist ein bisschen problematisch, wenn man etwas aufheben will, macht es aber dafür sehr leicht, sich umzusehen.« Zur Demonstration sickerte er durch ihren Fußboden. Jake schrie vor Angst laut auf, und Embar tauchte sofort wieder aus den Dielenbrettern auf. »Tut mir Leid«, sagte er reuig. »Ich wusste nicht, dass es ihn erschrecken würde.« Lauren klopfte Jake auf den Rücken und wiegte ihn sanft hin und her. Jake hatte die Arme um ihren Hals geschlun118 gen und seinen Kopf an ihre Schulter gelegt, aber jetzt beruhigte er sich schnell wieder. »Es gab da ein paar Dinge, die ich dir erzählen wollte«, sagte Embar. »Ich habe versucht herauszufinden, wie ich es am besten anfange...« Er schloss die Augen und rieb sich mit einer seltsam menschlich anmutenden Geste die eingedrückte Nase. »Aber als du weggelaufen bist, hatte ich irgendwie die richtigen Worte noch nicht gefunden. Ich habe ein Weilchen über das Ganze nachgedacht und bin dann nachgekommen. Am besten, wir bringen es gleich hinter uns, ja?« Lauren wartete ab. Als er nicht weitersprach, fragte sie schließlich: »Also ...?« »Sieh mal.« Embar seufzte, ein Laut, der seltsam zart und schwer fassbar klang. »Suchen wir erst mal nach den Notizen deiner Eltern. Ich gehe durch Wände und Fußböden, und du nimmst dir die Zimmer vor. Klopf die Mauern ab und such nach versteckten Türen, Vertäfelungen und Geheimfächern in Regalen und Einbauschränken. Und während du das tust, überlege ich mir, wie ich dir all die anderen Dinge erzählen kann, die du wissen musst.« Eine beinahe greifbare Kälte ging von ihm aus, ein grimmiges, unglückliches Gefühl, wie ein grauer, eisiger Regentag, der nur in ihrem eigenen Kopf existierte. »Schlechte Nachrichten, ja?« Embar nickte. »Aber alte schlechte Nachrichten«, sagte er mit einem Anflug von Hoffnung in der Stimme. »RUNTER!« Jake war es müde geworden, geduldig zu warten, und begann, auf ihrem Arm zu strampeln.
Lauren stellte ihn auf den Boden, und er lief zu Embar und schob eine Hand durch den Körper des Goroths. Kreischend zog er die Hand zurück und begann das Spiel von neuem. Diesmal lachte er. Embar zog seine buschigen Augenbrauen in die Höhe und sah ihn an. 119 Lauren fragte: » Tut dir das weh?« »Nein. Es kitzelt ein bisschen.« Jake hatte die Hand inzwischen jedoch wieder zurückgezogen und sah den Goroth jetzt nachdenklich an. Ohne ein weiteres Wort kehrte er zu Lauren zurück und setzte sich zu ihren Füßen hin. »Es ist wirklich kein Problem. Ich habe ihn lediglich davon überzeugt, dass er keine Lust mehr zu diesem Spiel hat.« »Meines Wissens nach ist es bisher noch niemandem gelungen, Jake dazu zu bringen, etwas zu tun, das er nicht wirklich tun wollte.« »Bei allen Göttern, du hast aber wirklich viel vergessen.« Embar schüttelte traurig den Kopf. »Das sind ganz elementare Dinge. Tore, Lauren. Die natürlichen Tore öffnen und schließen sich ständig, und die Kraft, die all diese Universen am Leben erhalten, fließt durch diese Tore hindurch. Inspiration fließt weltenauf; Energie fließt weltenab.« Lauren runzelte die Stirn. »Versteh ich nicht.« »Wenn du - und das gilt für jeden - durch ein Tor in die Welt unter der deinen reist, wirst du ein Zauberer. Du kannst praktisch alles Materielle beeinflussen und die Energie der unteren Welt dazu benutzen, Magie zu wirken. So wie du es in Oria getan hast. Aber wenn du in eine obere Welt reist, hast du auch nicht den mindesten Einfluss auf materielle Dinge. Dort steht dir keinerlei Zauber zur Verfügung, du kannst nicht einmal Gegenstände bewegen.« Zur Demonstration ging er zu einem Spielzeuglaster hinüber, den Jake in der Diele auf dem Boden liegen gelassen hatte. Er versuchte, das Spielzeug aufzuheben, und Lauren sah, wie er sich abmühte. Nach ein paar Sekunden hoben sich die Hinterräder des Lasters vom Boden ab. Embar stieß dagegen, und der Laster rollte langsam ein paar Zentimeter weiter. »Du siehst, was ich meine. Aber in der Welt über der deinen hast du dafür andere Möglichkeiten. Du kannst den Geist und die Seele beeinflussen. Du wirst ... eine Muse, 120 auch wenn dieser Ausdruck den Kern der Sache vielleicht nicht ganz trifft, aber deine Sprache kennt kein besseres Wort dafür. Wie dem auch sei, in der Welt über der deinen kannst du direkt in die Seelen jener hineinsprechen, zu denen du Kontakt aufnimmst. Du kannst ihnen etwas zuflüstern, wenn sie dich sehen, aber wenn du willst, kannst du es auch tun, ohne dass sie dich dabei sehen.« Um ihr zu verdeutlichen, was er meinte, ließ er seine Gestalt verblassen, bis er unsichtbar war. »Das ist manchmal ganz praktisch«, sagte er. Seine Stimme überspülte sie wie ein kaum wahrnehmbares Wispern. »Außerdem ist es nicht so anstrengend.« »Aber es ist ziemlich unheimlich.« Er wurde wieder sichtbar, und Lauren hatte das Gefühl, mit anzusehen, wie Wasserfarben in einen Krug flössen, der Embars Gestalt trug. »Unheimlich, ja. Nützlich, auch. Ich habe Jake davon überzeugt, dass er keine Lust hatte, weiter durch mich hindurchzugreifen, und dass es ihm viel mehr Spaß machen würde, auf dem Fußboden zu sitzen und friedlich zu spielen.« »Hm, ein schöner Trick«, sagte sie. »Ich wünschte, ich könnte das auch. Aber darum geht es im Moment gar nicht. Kommen wir zu dem zurück, was du mir erzählen wolltest. Ich mag keine Beschönigungen. Wie wär's, wenn du mir die alten schlechten Nachrichten sofort mitteilst, damit ich mich nicht die ganze Zeit davor fürchten muss, während wir suchen? Dann durchkämmen wir so lange das Haus, bis wir die Notizen meiner Eltern gefunden haben. Und wenn dir noch etwas anderes einfällt, das ich wissen müsste, möchte ich es hören, sobald es dir durch den Kopf geht.« Embar seufzte. »Du warst schon als Kind ungeduldig.« Er zuckte die Achseln. »Also gut. Die schlechten Nachrichten, ohne Beschönigung. Deine Eltern sind ermordet worden. Meine Freunde und ich denken, dass einer der Wächter sie 121 getötet hat oder dass die Wächter zumindest bei der Vertuschung ihrer Todesursache die Hände im Spiel hatten.« Er sah sie an, und seine Körperhaltung und der Trotz in seinen Augen sagten ihr, dass er eine Szene erwartete; dass sie ihm mit ihrem Verhalten beweisen würde, wie richtig er mit seiner Idee gelegen hatte, um den heißen Brei herumzureden und den Schlag zu mildern. Lauren hatte nicht die Absicht, zusammenzubrechen. Allerdings glaubte sie ihm auch nicht. »Blödsinn. Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen; ihre Bremsen haben versagt, und ein neunachsiger Laster hat sie überrollt.« »Ihre Bremsleitungen waren durchgeschnitten worden. Als sie zum vereinbarten Zeitpunkt nicht in Oria erschienen, sind wir durch ihr geheimes Tor hierher gekommen und haben erfahren, dass sie tot waren; meine Freunde und ich haben, soweit es uns möglich war, Nachforschungen angestellt, um herauszufinden, warum sie gestorben waren, und wer dafür verantwortlich war.« Lauren setzte sich neben Jake, der immer noch ungewöhnlich still war, auf den Boden. »Aber eine durchgeschnittene Bremsleitung wäre doch sicher irgendjemandem aufgefallen.« »Irgendjemandem ist sie auch aufgefallen. Aber wenn der Betreffende an dem Mord beteiligt war, wird er wohl kaum etwas darüber gesagt haben. Stimmt's?«
»Wer ist es denn gewesen? Wer hat sie getötet und warum?« »Das weiß ich nicht. Wir haben keine Hinweise gefunden, die zu dem Täter geführt hätten. Aber ich weiß, dass du in dieser Stadt niemandem trauen darfst. Niemandem. Lass keinen deiner Freunde auf Jake aufpassen, erzähl deinen Nachbarn nichts von deinen Geheimnissen, verlier kein Wort darüber, dass du den Verdacht hast, beim Tod deiner 122 Eltern könne etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Wer immer deine Eltern ermordet hat, er könnte noch in der Stadt sein. Wenn er weiß, dass du nach ihm suchst, könnte er dir etwas antun. Dir und Jake.« Lauren schauderte. Embar starrte plötzlich an ihr vorbei. »Ärger«, sagte er kategorisch und verblasste, bis er unsichtbar war. »Ich hoffe bei allen Göttern, dass du eine gute Lügnerin bist.« Lauren sah das Spiegelbild eines Mannes in einer braunen Uniform mit einem silbernen, sechszackigen Stern an der Brust. Gleichzeitig hörte sie schwere Schritte auf der Veranda. Der Mann kam ihr bekannt vor - stämmig, kraftvoll, mit dunklem Haar und einem unauffälligen, ehrlichen, müden Gesicht, von dem sie wusste, dass sie es kannte. Und dann wurde ihr klar, dass sie Eric MacAvery vor sich sah, der in der Schule zwei Jahre unter ihr gewesen war. Er arbeitete jetzt also für den Sheriff. Sie hätte eher erwartet, dass er auf der anderen Seite des Gesetzes enden würde. Als er anklopfte, drehte sie sich um. Sie nickte, stand auf und ging durch die Diele, um ihn zu begrüßen, und auf seinem Abzeichen konnte sie das Wort »Sheriff« lesen. Er arbeitete also nicht nur für den Sheriff; er war selbst der Boss. Was sie noch mehr überraschte. Sie hatte geglaubt, dass der alte Paulie Darnell in Cat Creek noch im Amt war. Sie öffnete die Tür und lehnte sich an den Rahmen. »Eric MacAvery«, sagte sie und schenkte ihm ein freundliches Lächeln. »Ich hatte keine Ahnung, dass du Sheriff geworden bist.« Er sah sie mit einiger Verwirrung an. »Ich bin jetzt seit drei Jahren im Amt«, sagte er, und plötzlich trat Unsicherheit an die Stelle seiner Überraschung. »Lauren Hotchkiss?« »Inzwischen Lauren Dane, aber ja - die bin ich.« »Gott steh uns bei. Ich hätte dich niemals wieder erkannt.« 123 Sie lächelte. »Ich habe all die Jahre, seit ich von hier weggegangen bin, darauf verwandt, mich neu zu erfinden.« »Ich fand dich eigentlich ganz in Ordnung, so wie du warst.« In seinen Augen sah sie unverhohlene Bewunderung, die jedoch im nächsten Moment wieder von der Sorge verdrängt wurde, die so deutlich auf seinem Gesicht gestanden hatte, als er auf die Tür zugekommen war. »Ich wusste nicht, dass du nach Cat Creek zurückgekommen bist, und erst recht hatte ich keine Ahnung davon, dass du diejenige warst, die das alte Haus deiner Eltern gekauft hat. Aber wie dem auch sei... Könnte ich kurz mit dir und deinem Mann sprechen?« »Mein Mann ist tot«, sagte sie und brachte es fertig, diese verhassten Worte über die Lippen zu bekommen, ohne über sie zu stolpern. »Du kannst mit mir reden. Möchtest du ins Warme kommen?« Er nickte. »Gern, danke.« Er trat über die Schwelle und ließ seinen Blick sofort umherschweifen, ins Wohnzimmer, in den Salon, den Flur hinunter zum Spiegel. Er sah noch einmal in den Salon, und im selben Augenblick wurde Lauren bewusst, dass Jake verschwunden war. In der nächsten Sekunde unterzog Eric den Spiegel zum zweiten Mal einer gründlichen Musterung. »Eine deiner Nachbarinnen glaubt gesehen zu haben, wie jemand in dein Haus eingebrochen ist«, sagte er, aber sein Blick irrte immer wieder von ihrem Gesicht ab und zum Spiegel hinüber. »Ich habe den Anruf etwa vor fünf Minuten bekommen.« Wo war Jake, dachte sie und schaute erst in den Salon, dann ins Wohnzimmer. »Eingebrochen«, sagte sie geistesabwesend. »Eine dunkle Gestalt an der Hintertür, meinte deine Nachbarin. Sie habe durch die Büsche nicht viel sehen können, fand aber, ich solle der Sache nachgehen.« Er lächelte 124 schwach. »Marcelle ist vielleicht nicht die zuverlässigste Zeugin, aber es wird seit zwei Tagen jemand aus der Stadt vermisst, daher nehme ich alle Anrufe sehr ernst - selbst solche von Leuten, die dazu neigen, tanzende Elefanten zu sehen, wenn du verstehst, was ich meine.« Lauren sagte: »Ich habe nichts gehört.« Wo war Jake? Sie hatte ihn nicht die Treppe hinaufgehen hören, sie hatte nicht gespürt, dass das Spiegeltor geöffnet wurde, er war nicht im Salon, er war nicht im Wohnzimmer. Blieb nur die Küche. Wie zur Bestätigung hörte sie Jake sagen: »Bitte, Hündchen! Hallo, Hündchen.« Eric zuckte unmerklich zusammen und sah zur Küche hinüber, wo im gleichen Augenblick ein unglaubliches Getöse losbrach. Jake hatte sich einen Löffel genommen und schlug damit auf Töpfe und Pfannen, während er aus Leibeskräften sang: »Spinn-ne! ... Spaa-aß! ...Rre-gen! ...NASS!« »Mein Sohn«, versuchte sie, den Lärm zu übertönen, und eilte in die Küche. »Ich fürchte, das ist einer der Gründe, warum ich nicht viel hören konnte.« Eric folgte ihr, ein erstauntes Lächeln auf dem Gesicht. »Ich schätze, wenn die Elefantenparade mit einer hundert Mann starken Marschkapelle über deinen Dachboden gelaufen wäre, hättest du das auch nicht mitbekommen«,
schrie er zurück, und Lauren riss Jake den Löffel aus der Hand. Jake, sichtlich gekränkt und außer sich vor Zorn, brüllte: »Löppel! Löppel!« »Du kannst den Löffel jetzt nicht haben. Ich rede mit jemandem.« Jake warf Sheriff MacAvery einen argwöhnischen Blick zu, rappelte sich mit der ganzen mangelnden Anmut eines Zweijährigen hoch und versteckte sich hinter Laurens Beinen. »Sag hallo, Jake«, befahl sie ihm. Jake betrachtete Eric kurz, dann winkte er unbeholfen, sagte: »Hallo«, kam aber nicht hinter Laurens Beinen hervor. 125 »Ich dachte, ich sehe mich mal um, wenn du erlaubst«, bemerkte Eric. »Hallo«, wiederholte Jake, ein wenig lauter diesmal. »Hallo«, antwortete Eric. Er lächelte Jake an und winkte, und Jake winkte zurück. »Wie alt ist er?« »Er ist zwei. Er ist sehr zwei.« »Ein süßer Kerl.« »Danke. Er ist... ganz okay.« Sie dachte über Erics Bitte, sich im Haus umsehen zu dürfen, nach, und in diesem Moment stiegen alte Erinnerungen aus der Tiefe des Gedächtnisses auf. Erics Vater war ein Freund ihrer Eltern gewesen, damals, als sie sieben oder acht gewesen war. Ein guter Freund, vermutete sie, denn er war ständig im Haus gewesen. Und er war, das wurde ihr nun mit einem Schlag klar, ein Wächter gewesen. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Eltern sich manchmal über James »Mac« MacAvery unterhalten hatten, auch wenn ihr von dem Inhalt dieser Gespräche nichts im Gedächtnis geblieben war. Aber sie wusste, dass die beiden über Mac gelacht und im gleichen Atemzug über Tore gesprochen hatten. Diese Erinnerung, zusammen mit Erics offenkundigem Interesse an dem Spiegeltor, verstärkte ihren Argwohn, was sein plötzliches Erscheinen an ihrer Haustür betraf. Seine Anwesenheit hing irgendwie mit ihrer Benutzung des Tors zusammen und vielleicht auch mit den Dingen, die in ihrem Haus in Oria geschehen waren. Sollte er sich ruhig umsehen - sie hatte nichts zu verbergen. Noch nichts. Aber sie hatte nicht die Absicht, ihn allein durchs Haus gehen zu lassen. »Nur zu«, sagte sie und legte eine Spur Unsicherheit in ihre Stimme. »Ich nehme Jake auf den Arm und komme mit dir.« »Mir wäre es lieber, du würdest hier bleiben. Falls jemand da sein sollte ...« »Du hast eine Waffe«, unterbrach sie ihn. »Wenn tatsäch126 lieh jemand in mein Haus eingebrochen ist, möchte ich nicht, dass er hier unten auftaucht, während du oben auf dem Dachboden bist.« Er nickte, ohne den Blick von ihr abzuwenden - und sie sah einen Abglanz ihres eigenen Argwohns in seinen Augen aufschimmern. Vertraue niemandem, hatte Embar gesagt. Eric schien sich eine ähnliche Warnung zu Herzen genommen zu haben. »Also schön. Aber lass mich vorgehen«, erklärte er. »Ich möchte keinen von euch beiden in der Schusslinie haben.« Sie gingen hastig durchs Haus, aber Lauren bemerkte, dass Eric an den falschen Stellen stutzte, in Räumen, in denen man am wenigsten einen Eindringling vermuten würde. Seine Körpersprache sagte ihr, dass er durch Türen und um Ecken ging, ohne mit irgendeiner Gefahr zu rechnen, aber wann immer sie an einem Spiegel vorbeikamen, zog er die Schultern hoch und versteifte sich. Und bei jedem Spiegel im Haus richtete er es so ein, dass er dicht daran vorbeiging - um mögliche Vibrationen zu spüren, dachte sie. Allerdings war sein Verhalten kaum auffällig. Wenn sie das Spiegeltor in ihrer Diele nicht entdeckt hätte, hätte sein Verhalten niemals ihren Argwohn erregt. Aber sie wusste um das Tor, und sie begriff, was er tat. Sie hatte irgendeinen Fehler gemacht, hatte irgendetwas ausgelöst, und deshalb war er hier. Und suchte. Aber offensichtlich fand er nichts. Schließlich sagte er: »Scheint alles in Ordnung zu sein. Aber du solltest für ein Weilchen Fenster und Türen geschlossen lassen - zumindest, bis wir herausgefunden haben, was der vermissten Frau zugestoßen ist.« Lauren nickte nur, bedankte sich bei ihm, begleitete ihn zur Tür und sah ihm nach, als er davonfuhr. »Ihm ist nichts entgangen«, sagte Embar hinter ihr, und Lauren zuckte zusammen. 127 »Hündchen!«, kreischte Jake glücklich, und Lauren stellte ihn auf den Boden. »Nein?« »Er weiß, dass das alte Tor deiner Eltern wieder geöffnet wurde. Das ist nicht gut. Er ist sich nicht sicher, ob du es getan hast, was ein Glück für dich ist, und er weiß nicht einmal, ob du in irgendeiner Weise mit den Dingen zu tun hast, die hier vorgehen, aber er weiß, dass hier etwas vorgeht, und er denkt, dass du diejenige bist, die dahinter steckt. Und er hat Angst.« Lauren starrte den geisterhaften Goroth an. »Wie um Himmels willen hast du das alles herausgefunden?« »Ich bin in seine Gedanken eingedrungen, als er durch mich hindurchgegangen ist. Er war so sehr mit anderen Dingen beschäftigt, dass er mich nicht bemerkt hat, obwohl er wusste, wonach er Ausschau halten musste. Es ist irgendetwas sehr Schlimmes im Gange, Lauren, und er denkt, dass du es verursachst. Du und Jake, ihr müsst sehr vorsichtig sein.« »Im Augenblick muss ich vor allem eins, nämlich verstehen, was hier los ist.« »Dann würde ich vorschlagen, dass wir als Erstes die Notizen deiner Eltern aufspüren.«
6 Der Wächternexus, Cat Creek »Das alte Hotchkiss-Tor ist wieder offen und funktioniert perfekt«, berichtete Eric den versammelten Wächtern. »Die Tochter der Hotchkissens ... jetzt Lauren Dane ... ist eingezogen. Sie und ihr kleiner Sohn sind mit mir zusammen durch das Haus gegangen. Ich habe das Gefühl, dass sie etwas verbirgt, aber ich konnte nichts finden, das ich ihr zur Last legen könnte. Kein Zeichen von Molly. Kein Zeichen von irgendetwas Ungewöhnlichem.« Er seufzte. »Aber sie ist noch beim Auspacken. Die Sache wird vielleicht anders aussehen, wenn sie damit fertig ist. Wenn wir sie nach Oria bringen könnten, könnten wir sie auf Restmagie untersuchen und feststellen, ob sie den Zauber gewirkt hat, den wir heute umgekehrt haben. Und wo wir gerade beim Thema sind ...« Er wandte sich an June Bug. »Was gibt es Neues über den Rückstoßdurchbruch? Haben wir ihn neutralisiert?« June Bug hatte, das sah er jetzt, die graue Haut und die toten Augen eines Leichnams. Mit sehr leiser Stimme antwortete sie ihm: »Die Dinge in Oria sind ein einziges verworrenes Chaos. Ich arbeite noch dran.« Eric kaute einen Moment lang auf seiner Unterlippe, dann sagte er: »Mach weiter, und gib mir Bescheid, wenn du etwas herausfindest.« Dann drehte er sich zu den übrigen Wächtern um. »Irgendwelche Rückwirkungen von unserer Arbeit in Oria, die wir nicht vollkommen abpuffern konnten?« Granger seufzte. »Unglücklicherweise ja. Wir haben ein 129 bereits genehmigtes Erschließungsprojekt in Laurinburg praktisch in Nichts aufgelöst.« George Mercer, der in Erics Abwesenheit angekommen war, sagte: »Vor ungefähr zehn Minuten hat mich einer meiner Kunden über meinen Pager angefunkt; als ich ihn zurückrief, war er kurz davor, jemanden umzubringen. Die Siedlung Blues Farm war baureif - Genehmigungen, Geld, Rückfinanzierung, alles bestens geregelt. Und unmittelbar nach unserer Rückkehr ist das ganze Projekt komplett ins Wasser gefallen. Die Kredite sind gekündigt worden, die Finanziers haben sich zurückgezogen, dann erreichten Billy die ersten Anrufe, dass seine Baugenehmigungen widerrufen wurden und dass er alles wieder neu beantragen müsse, dass er aber damit sicherlich nicht viel erreichen würde, weil seine Anträge beim ersten Mal alle fehlerhaft gewesen seien. Bloß dass dem nicht so war. Er könnte sich in den Hintern beißen.« »Wir haben ein Erschließungsprojekt ruiniert?« »Das macht durchaus Sinn«, sagte Granger, »jedenfalls auf gewisse Weise. Als ich die fremde Magie entwirrt habe, schien es sich dabei im Wesentlichen um die Renovierung eines Hauses zu handeln. Der Weg des geringsten Widerstandes musste den Teil des Rückstoßes, den wir nicht abgefangen haben, zu einem Bauprojekt leiten.« »Gott steh uns bei«, flüsterte Eric. »Dieses Gewitter, die Explosionen und alles andere sind darauf zurückzuführen, dass jemand sein Haus verschönert hat?« »Wer immer den Zauber gewoben hat, war ein blutiger Anfänger«, sagte Granger entschieden. »Zu viel Energie, ungerichtet, und alles bis auf die Küchenspüle hat sich zu einem einzigen Chaos verheddert.« Er brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Oder in diesem Falle, alles einschließlich der Küchenspüle.« »Aber wie war es möglich, dass der Zauber eines Anfän130 gers, der sein Haus renoviert hat, einen Rückstoßdurchbruch der Stärke fünf ausgelöst hat?« »Das hat er nicht«, sagte June Bug aus ihrer Ecke, wo sie immer noch in den glühenden Handspiegel starrte. »Es sieht so aus, als hätten wir dieses Problem nicht einmal gestreift.« Für einen langen, furchtbaren Augenblick schien die ganze Welt in vollkommenes Schweigen getaucht zu sein. Drei Milliarden Menschen, dachte Eric und versuchte, sich klar zu machen, womit er und die anderen Wächter es zu tun hatten. Drei Milliarden Menschenleben würden innerhalb der nächsten drei Monate ausgelöscht werden, wenn sie die Quelle der Rückstoßreaktion nicht finden und deren Wirkung umkehren konnten. Etwa jeder Zweite, den er kannte, würde sterben - und wie das Leben spielte, bestand eine gute Chance, dass jeder, den er kannte, sterben würde. Vielleicht würde er selbst sterben. Und diese üble Geschichte in Oria zu entwirren wobei sich fünf erfahrene Wächter vor Angst fast in die Hose gemacht hätten - hatte überhaupt nichts genutzt. »Wir haben die Magie aus dieser Quelle völlig neutralisiert?«, fragte er. »Ja. Und jetzt versuche ich, ein Riesenchaos zu entwirren.« June Bugs Stimme klang kalt, hart und zornig. »Was für eine Art von Chaos? Was hast du entdeckt?« »Wir haben südwestlich von uns eine Quelle massiver magischer Aktivität. Absolut gigantisch. Die Magie ist deutlich erkennbar, nicht abgeschirmt und weist darauf hin, dass ein Anfänger am Werk ist. Aber ich kann keine Spuren eines Durchbruchs dieser Magie feststellen, nicht einmal einen Rückstoß. Auf der anderen Seite kann ich sehr schwache, sehr dunkle Spuren einer vollkommen anders gearteten Magie ausmachen, andeutungsweise in Richtung Nord bis West. Diese Magie fühlt sich so an, als sei sie die Quelle unseres Problems; sie ist klein und dicht und äußerst profes131 sionell. Aber sie ist auch sehr sorgfältig abgeschirmt und verborgen worden.« »Nordwesten«, unterbrach Eric sie. »Das wäre Rockingham.« »Mehr oder weniger«, pflichtete June Bug ihm bei, »aber es wird mörderisch schwierig sein, die Quelle aufzuspüren. Wer auch immer diese Zauber gewirkt hat, weiß genau, was er tut und wie er seine Spuren
verwischen muss.« »Was auf einen abtrünnigen Wächter hindeutet«, machte Willie Locklear sich bemerkbar. »Das wäre eine Möglichkeit«, stimmte Eric ihm zu, und nun verstand er auch den Zorn in June Bugs Stimme. Das war die wahrscheinlichste Möglichkeit. Einer aus ihren eigenen Reihen arbeitete gegen sie. Einer von ihnen hatte seinen Eid gebrochen und einen Zauber gewirkt, der einen großen Teil der Welt auslöschen würde. Und der Schuldige wusste es und hatte seine Spuren verwischt, weil es ihm gleichgültig war, ob die Welt weiterlebte oder nicht. »Einer von uns?«, fragte Nancine. Eric konnte den Schmerz in ihrer Stimme hören. »Einer von uns in diesem Raum?« Eric versuchte, ruhig zu bleiben. »Nicht unbedingt einer von uns. Vielleicht ist es jemand aus einem anderen Nexus, der in unser Territorium übergesiedelt ist, um noch ein Weilchen unerkannt zu bleiben. Vielleicht ein Zivilist, der ein Tor gefunden hat, hindurchgegangen ist und dann die Feinheiten der Magie erlernt hat.« Obwohl das selbst in seinen eigenen Ohren ein wenig dünn klang. »Vielleicht hat auch einer der Alten Götter sich in der Gegend niedergelassen.« Ein Stöhnen lief durch die Reihen bei der Vorstellung, sie könnten es mit den Alten Göttern zu tun haben - die nur halb scherzhaft gemeinte Bezeichnung der Wächter für Geschöpfe aus der Oberwelt, Geschöpfe, die auf der Erde über dieselbe Macht geboten, die den Menschen in Oria zur Ver132 fügung stand. Selbst unter den besten Umständen konnte es noch ein Martyrium sein, mit Alten Göttern fertig werden zu müssen. »Und vielleicht«, sagte June Bug leise, »ist es auch einer von uns hier. Wir dürfen uns nichts vormachen.« »Du hast Recht«, stimmte Eric ihr zu. »lasst uns einfach uns selbst als mögliche Ursache des Problems ausschließen. Auf diese Weise können wir weiter zusammenarbeiten, ohne darüber nachzudenken, dass einer von uns ein Ungeheuer ist, das die ganze Welt auslöschen will. Wir gehen noch einmal zurück nach Oria, weben einen Offenbarungszauber und stellen fest, ob einer von uns nebenbei Magie gewirkt hat.« »Schuldig bis zum Beweis der Unschuld«, murmelte Terry Mayhem. Alle Anwesenden sahen ihn mit schmalen Augen an, und Eric sagte: »Chaos-Mayhem, das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um auf deine Bürgerrechte zu pochen. Es ist unsere Aufgabe, die Zivilisten und unsere Welt zu schützen, und unsere Rechte sind zweitrangig, sobald eine Gefahr für die Erde oder die Zivilisten droht. Das weißt du. Du hast es gewusst, als du unseren Eid abgelegt hast.« »Ich habe nur einen Witz gemacht«, sagte Terry. »Und es hat niemand gelacht«, antwortete Willie. Terrys Wangen wurden rot. »Dann gehen wir also alle rüber«, sagte Eric. »Was ist mit denen, die noch nicht wieder da sind? Bethellen und Louisa, Jimmy und Tom?« »Sie werden nachkommen, sobald sie hier auftauchen«, erwiderte Eric. »Sie werden sich ebenfalls einem Offenbarungszauber unterziehen. Mir wäre es lieber, wir würden alle gleichzeitig rübergehen, aber so viel Zeit haben wir nicht. Es wartet eine Menge Arbeit auf uns, und wir müssen wissen, ob wir einander trauen können.« 133 »Und wer soll den Offenbarungszauber wirken?«, wollte June Bug wissen. Eric runzelte die Stirn und dachte nach. »Willie Locklear übernimmt den ersten Zauber, Granger den zweiten. Ich übernehme den dritten. Sind alle damit einverstanden?« »Drei Offenbarungszauber?« »Damit ein möglicher Verräter seine Tat nicht verschleiern kann.« »Und wenn ihr alle drei dahinter steckt?«, fragte June Bug, und der Zorn, den sie verspürte, lag immer noch deutlich hörbar in ihrer Stimme. »Du willst ebenfalls einen Offenbarungszauber wirken?« »Ja.« »In Ordnung. Ich meine sogar, dass du den ersten Zauber übernehmen solltest, da du diejenige warst, die die Rückstoßreaktion aufgedeckt hat. Und Nancine, ich möchte, dass du die Uhr laufen lässt. Wir sollten uns beeilen, damit wir möglichst wenig Schaden anrichten. Und noch ein Wort an diejenigen, die die Offenbarungszauber wirken: Legt euch euren Zauber genau zurecht, bevor wir nach Oria gehen. Er sollte schlank, sauber und präzise sein. Kalkuliert die Magie ein, die Ernest braucht, um seinen Tunnel zu schaffen, und die Magie, mit deren Hilfe Nancine unsere Uhr aufrechterhält, und das war's - keine Extras. Ihr habt fünf Minuten für die Vorbereitung und dann jeweils eine Minute, um euren Zauber zu wirken, wenn wir drüben sind. Wir werden diesmal ohne Schilde oder Umfeldspäher auskommen müssen - der ständige Schutz um den Ring muss genügen. Ich möchte, dass keine zusätzlichen Zauber die Deutung verunreinigen. Und ich will, dass wir in fünf Minuten wieder hier sind.« Er sah erst June Bug, dann Willie, dann Granger an. »Alles klar?« Die drei nickten. In den nächsten Minuten herrschte vollkommene Stille im Raum. Eric, der für den Notfall stets ei134 nen Offenbarungszauber parat hatte, benutzte die Vorbereitungszeit, um seine Mitstreiter zu beobachten. Er
konnte keine klaren Hinweise auf Schuldgefühle entdecken. Sie alle wirkten verängstigt, sie alle wirkten nervös, sie alle sahen so aus, als würden sie am liebsten weglaufen, aber da auch er Angst hatte und nervös war und sich wünschte, er sei in einem anderen Universum, konnte er diesen Dingen keinerlei Bedeutung beimessen. Willie ergriff als Erster das Wort. »Mein Offenbarungszauber wird verdächtige Spuren von Magie als ein rotes Glühen zeigen.« June Bug war als Nächste so weit. »Mein Zauber wird Verräter mit einem Ring aus Feuer einhüllen.« »Nicht tödlich«, sagte Eric. »Wenn du darauf bestehst.« »Ich bestehe darauf.« June Bug zuckte die Achseln. Granger lachte nervös. »Meine Methode wird sich von selbst erklären, wenn wir einen Schuldigen unter uns haben.« Eric sagte: »Nichts Tödliches.« »Nein.« »Dann wäre also alles klar.« Er nickte. »Auch mein Zauber wird keiner weiteren Erklärung bedürfen. Also los.« Zum zweiten Mal an diesem Tag gingen sie durch das Tor, das zu der Lichtung in Oria führte. Ohne Schilde hatten sie keinen Schutz gegen den Wind, und die Kälte drang ihnen sofort bis auf die Knochen. Diesmal blickten sie in den Kreis hinein, eine kleine Gruppe von Männern und Frauen, die alle den gleichen unglücklichen Gesichtsausdruck zeigten. Willie schloss das Tor. Nancine beschwor die Uhr herauf, und Ernest schuf den Tunnel, durch die jeder Eröffnungszauber hindurchfließen und auf diese Weise kontrolliert werden würde. 135 June Bug übernahm den ersten Offenbarungszauber. »Finde die Spur, finde Verborgenes, finde die Umkehr. Offenbare dich.« Eric hielt Ausschau nach Zeichen von Nervosität, nach Wächtern, die auf ihre eigenen Füße blickten - und alle blickten zuerst auf ihre eigenen Füße, dann auf die der anderen, und Eric konnte nur mit Mühe einen Fluch unterdrücken. Er wusste, dass sie nicht alle Verräter waren - aber es lag nun mal in der Natur des Menschen: Der Schuldige würde feststellen wollen, ob man ihn ertappt hatte, und der Unschuldige würde sich davon überzeugen, dass man ihn nicht zu Unrecht anklagte. Aber vor niemandem züngelten Flammen auf. Eric sah auf die Uhr - der Zauber arbeitete planmäßig, und er sagte: »Zufrieden, June Bug?« Sie antwortete nur: »Einen haben wir hinter uns, drei liegen noch vor uns.« »Ich bin an der Reihe«, sagte Willie. Er schloss die Augen, und Eric spürte die ersten Bewegungen seines Zaubers, bevor der ältere Mann auch nur ein Wort sprach. Und das Einzige, was Willie schließlich sagte, war: »Offenbare dich.« Eric hatte keine Ahnung, was Willies Zauber bewirkte. Es war ihm nie gelungen, die Gestalt zu erkennen, die die Magie des Torwebers annahm - aber wäre er dazu in der Lage gewesen, hätte er wohl selbst die feinen Linien der Kraft gesehen, die die Universen durchliefen und miteinander verbanden, und dann wäre er ebenfalls ein Torweber gewesen. Willies Zauber nahm die Gestalt eines geisterhaften Mannes an, der von einem Wächter zum nächsten ging. Er blieb vor einem jeden kurz stehen, legte ihm eine Hand auf die Stirn und sah dem Betreffenden in die Augen. Als er zu Eric kam und er diese feuchte, körperlose Hand auf seiner Stirn spürte und diese albtraumhaften toten Augen 136 in seine blickten, stellten sich die feinen Haare auf Erics Armen und seinem Nacken auf, und sein Mund wurde trocken. Der Geist sah direkt in sein Gehirn hinein - und dann ging er weiter und nahm das Grauen, das er ausgelöst hatte, mit sich fort. Gütiger Gott, dachte Eric. Willie hatte wahrhaftig eine dunkle Seite in sich. Dieser Zauber war beängstigend gewesen. Aber als er nun seinen Blick durch den Ring wandern ließ, konnte er niemanden rot glühen sehen. Granger war der Nächste. »Folge den Fasern nach Nordwesten, Hochgeschwindigkeitslauf, apportiere Fingerabdrücke. Offenbare dich.« Eric konnte gerade noch die Gestalt des Zaubers ausmachen, den Granger in Gang gesetzt hatte. Sie war ausgesprochen elegant - ein schlanker kluger Greyhound im Vergleich zu dem unbeholfenen Bluthund, den er selbst parat hielt. Der Zauber preschte los, kam wieder zurückgejagt und schoss mit erstaunlicher Geschwindigkeit und minimalem Energieverbrauch um den Ring der Wächter herum. Eric selbst hatte Granger und Debora aus Ontario geholt, dem Hauptnexus Kanadas; er hatte damals eine Menge Kritik ertragen müssen, weil er Fremde und Ausländer nach Cat Creek geholt hatte, wo das Amt des Wächters in den meisten Fällen von Generation zu Generation vererbt wurde und man Außenstehenden mit großer Skepsis begegnete. Aber er hatte von den beiden ungeheuer viel über andere Methoden der Magie gelernt, und die übrigen Wächter hatten Granger und Debora schließlich akzeptiert. Eric konnte nur hoffen, dass er keine Verräter in den Nexus geholt hatte.
Er spürte drei Wärmestöße von Grangers Zauber, konnte aber keine sichtbare Veränderung an sich oder an irgend jemandem sonst wahrnehmen. Als Grangers Minute vorüber war, lächelte er Eric erleichtert zu. »Alles klar.« 137 Drei Wächter hatten ihre Arbeit getan. Jetzt blieb nur noch sein Offenbarungszauber - aber Eric würde nicht versuchen, die Magie zu ihrem Schöpfer zurückzuverfolgen. Er suchte nach gänzlich anderem. Er suchte nach Schuld. Die Parameter, die er sich zurechtgelegt hatte, waren klar definiert - sein Zauber sollte alle Wächter nacheinander überprüfen und sie dazu zwingen, ihre Gedanken im Zusammenhang mit der Katastrophe preiszugeben, die in Rockingham ihren Anfang genommen hatte. Der Schuldige sollte dazu gezwungen werden, seine Tat vor den anderen Wächtern einzugestehen. Seinen Sheriffstern fest in der Hand, konzentrierte er sich auf seinen Plan, schob alle Gedanken bis auf seinen Zauber beiseite und sagte: »Schuld, Geständnis, Offenbarung.« Ein winziger Stern aus jenem bleichen grünen Feuer, das die Magie von Oria war, flackerte auf. Er bewegte sich zu dem Wächter, der rechts von Eric stand, Nancine Tubbs, und ließ sich über ihrem Kopf nieder. Ihre Augen weiteten sich, und panischer Schrecken spiegelte sich in ihren Zügen wider. Eine Sekunde später öffnete sie den Mund und sagte: »Ich bin schuldig«, und Erics Herz setzte einen Schlag aus. Aber ihre nächsten Worte hatten nichts mit irgendeinem Zauber, mit verbotener Magie oder einem Verrat an den Wächtern zu tun. Stattdessen sagte sie: »Sieben Jahre nach meiner Hochzeit mit Ernest habe ich mit Deever Duncan geschlafen - wir hatten fast ein Jahr lang ein Verhältnis. Wir waren zusammen, wenn ich in Deevers Laden ging, um irgendwelche Teile für Ernest zu kaufen, wenn er beruflich unterwegs war oder wenn Deever zu mir in den Laden kam, um Blumen für seine Frau zu kaufen. In diesem Kühlraum hat es nicht nur Blumen gegeben.« Deevers Gesicht nahm einen stumpfen, fleischigen Rot138 ton an, der nichts Gutes für seinen Blutdruck verhieß, und er fuhr sich mit den Fingern durch das über die kahle Stelle auf seinem Kopf gekämmte Haar, so dass es mehr denn je aussah wie eine ölige Spinne, die auf seinem nackten Schädel hockte. Ernest dagegen ballte seine massigen Hände zu Fäusten, aus denen die Knöchel weiß hervortraten, und senkte den Kopf wie ein Stier, der sich zum Angriff bereitmachte. Seine Augen drohten Deever einen langsamen und qualvollen Tod an. Eric dachte: Das kann nicht sein. Der Zauber kann das unmöglich bewirken. Ich habe mich auf die Rückstoßreaktion konzentriert, auf Rockingham, auf den Tod, der die Hälfte der Menschheit auslöschen würde. Der Brennpunkt war so klein wie nur möglich. Nancines Affäre hat nichts mit alledem zu tun - nicht einmal entfernt. Er zwang seine Gedanken zur Ruhe und ergänzte den Zauber durch eine klare, komprimierte Neudefinition. Der Zauber hob sich von Nancines Kopf, und sie schauderte. »Ich habe die Sache in Ordnung gebracht«, sagte Eric, und das magische Licht bewegte sich abermals nach rechts, zu Granger hinüber. Aber als es sich über Grangers Kopf niederließ und Granger sagte: »Ich bin schuldig«, krampfte Erics Magen sich zusammen. Und Grangers nächste Worte bestätigten seine Befürchtungen. »Damals im College«, sagte Granger, »hatte ich einen One-Night-Stand mit einer Studentin, die mir später sagte, sie sei von mir schwanger. Sie wollte, dass ich sie heirate, aber ich habe ihr stattdessen das Geld für eine Abtreibung gegeben. Später habe ich gehört, sie sei wirklich schwanger gewesen und habe das Kind behalten, aber ich habe niemals nach ihr gesucht, um festzustellen, ob es die Wahrheit war und ob das Kind wirklich von mir war.« Sein Gesicht war grau, als das Licht sich von ihm entfernte. Eric sagte: »Irgendetwas stimmt nicht mit dem Zauber. 139 Aus irgendeinem Grund ist die Magie aus dem Ruder gelaufen. Mein Zauber sollte lediglich nach Schuld suchen, die mit dem Rückstoßdurchbruch zu tun hat.« Die übrigen Wächter starrten ihn wütend an. Der Zauber schwebte über Ernest Tubbs Kopf, und Eric sah pure Panik in Ernests Augen auflodern. Welches schmutzige kleine Geheimnis hatte er vor Nancine verborgen, das jetzt vor ihnen allen offenbart werden würde? Erstklassiger Sex mit jemandem, den sie alle kannten? Eric wollte es nicht wissen. Er brauchte es nicht zu wissen. »Stopp«, sagte er, und der Zauber erstarrte mitten in der Luft und prallte dann auf ihn zurück. Er fing den Schlag ganz allein auf, pufferte die gesamte Magie ohne Hilfe von außen ab. Der Zauber traf ihn mit voller Wucht, und im nächsten Augenblick platzte er heraus: »Ich bin schuldig. Als ich zur High School ging, habe ich Marihuana genommen, und ich habe inhaliert. Und ich war derjenige, der damals Willie Löcklears Auto für eine Spritztour gestohlen hat. Ich war vierzehn und habe den Wagen auf der Railroad Street in einen Graben gesetzt und kaputtgefahren. Und Janie Thompson und ich sind mit einer Flasche Jack Daniel's und einer Decke in die High School eingebrochen, als wir beide in der Abschlussklasse waren, und wir haben auf der Bühne in der Aula miteinander geschlafen und dann auf Mrs McCormicks Schreibtisch. Und vor zwei Jahren habe ich mein Bareinkommen nicht ordnungsgemäß versteuert - meine Tante oben in High Point hatte mir zweitausend Dollar
geschenkt, von denen ich nichts gesagt habe. Und in der neunten Klasse war ich in Mrs Brandt verknallt, und in der siebten Klasse habe ich Shannon Breeley in die Bluse gegriffen, und ...« An dieser Stelle ging dem Zauber endlich die Energie aus, und Eric brach auf dem harten Boden zusammen. Trotz der 140 eisigen Temperaturen und des schneidend kalten Windes auf der Lichtung lief ihm der Schweiß in Strömen übers Gesicht, und er übergab sich. Das entsetzte Schweigen nach Erics Ausbruch war so dick, dass man es mit einer Kettensäge hätte schneiden können. Dann räusperte sich George Mercer, der in jeder Lebenslage Steuerberater blieb. »Du hättest kein schlechtes Gewissen haben müssen«, sagte er, »weil du dieses Geschenk von deiner Tante nicht angegeben hattest. Es liegt noch unterhalb des Freibetrages für Geschenke, hätte in diesem Jahr also nicht als Einkommen mitgezählt.« »Und ich wusste, dass du meinen Wagen genommen hattest«, meldete Willie sich zu Wort, und Eric konnte einen schwachen Hauch von Erheiterung in seiner Stimme erkennen. »Das weiß ich schon seit Jahren.« Die übrigen Wächter jedoch waren immer noch zu entsetzt, um ihr Schweigen zu brechen. Schließlich krächzte Terry: »Gott sei Dank, dass das Ding nicht bis zu mir gekommen ist.« Woraufhin Eric von verschiedenen anderen Wächtern im Kreis ein nervöses Kichern hörte. »Wenn wir uns deine Liste von verheirateten Frauen hätten anhören müssen, mit denen du schmutzigen Sex hattest, wären wir den ganzen Tag hier gewesen, was, Mayhem?«, sagte June Bug, aber selbst sie, von der Eric geschworen hätte, dass sie in ihrem ganzen Leben nicht einmal einen unrechten Gedanken gedacht hatte, wirkte unaussprechlich erleichtert, dass der Zauber sie nicht erreicht hatte. »Der Zauber hätte das nicht bewirken dürfen«, sagte Eric noch einmal. »Irgendetwas ist schief gegangen.« June Bug sah ihn plötzlich wachsam an. Sie ließ ihren Spiegel fallen, bückte sich mit der ganzen Steifheit einer alten Frau und legte die Finger einer Hand auf den gefrorenen Boden, während sie mit der anderen den Spiegel aufhob. Eric fing ein winziges Flackern aus dem Spiegel auf; dann 141 rappelte June Bug sich leise stöhnend wieder hoch. »Du hast die Sache einfach vermasselt, Eric. Das kann jedem mal passieren, sogar dir.« Sie sah ihm bei diesen Worten jedoch direkt in die Augen, und plötzlich war er davon überzeugt, dass sie etwas entdeckt hatte, etwas, das sie allerdings nicht in der Anwesenheit der übrigen Wächter preisgeben wollte. Er wischte sich mit seinem Ärmel über den Mund, stand mühsam auf und nickte. »Tut mir Leid. Ich entschuldige mich - bei euch allen.« Er sah Nancine an, die weinte, und Ernest, der ihr einen Arm um die Schultern gelegt hatte und sagte, es sei in Ordnung, solche Dinge würden eben manchmal vorkommen, aber, fügte er hinzu, er würde ihr verzeihen, wenn sie nur versprach, dass sie ihn nie wieder betrügen würde. Und Eric dachte: Welches Skelett wäre aus deinem Keller herausgekrochen, Ernest? »Dann ist es also keiner von uns«, sagte Debora mit einem zittrigen Lächeln. »Keiner von uns«, stimmte Eric ihr zu. »Also, kehren wir nach Hause zurück.« Sie gingen einer nach dem anderen durch das Tor, und irgendwie brachte Terry es fertig, so lange zu warten, dass er, Eric und Willie die letzten drei Wächter in Oria waren. Terry wandte sich zu Eric um und sagte: »Auf Mrs McCormicks Schreibtisch. Sie hätte einen Herzinfarkt bekommen, wenn sie das gewusst hätte. Diese Frau hat sogar die Türklinke des Klassenzimmers mit Alkohol abgeputzt, bevor sie die Tür auch nur aufgemacht hat.« »Ich weiß«, sagte Eric. »Deshalb haben wir ja gerade ihren Schreibtisch benutzt. Ich hatte sie in Algebra und Geometrie, und ich konnte sie nicht ausstehen.« Terry sagte: »Das war wirklich witzig.« Eric sah ihn von der Seite an und sagte: »Findest du? Und welche witzigen Geschichten hättest du erzählt?« 142 Terrys Lächeln wirkte ein wenig angespannt. »Man nennt mich nicht umsonst Mayhem, >Chaos<.« Als Eric durch das Tor trat, hielt June Bug ihren Spiegel in der Hand und studierte etwas, das sie darin sah. Sie winkte ihn zu sich. »Was hast du herausgefunden?« Sie hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Nur winzige Spuren rund um Rockingham. Hier - sieh es dir an.« Sie hielt ihm den Spiegel hin und trat ihm gleichzeitig fest gegen das Schienbein. »Au«, murmelte er und blickte in den Spiegel. Das Bild, das sich ihm dort bot, lag nicht einmal in der Nähe von Rockingham. Tatsächlich handelte es sich um den Kreis, den er und die anderen Wächter soeben verlassen hatten. Er sagte nichts, sondern wartete nur ab. »Erkennst du die schwarzen Bereiche hier ... und hier ... und hier?«, fragte sie ihn. Sie ließ das Bild des Spiegels um den Kreis herumfliegen, und Eric sah präzise, geometrische, rautenförmige tote Bereiche an Stellen, an denen ein stetiges, ja sogar grünes Glühen hätte sein müssen. Stellen, an denen Magie ... überlagert worden war. Aufgehoben. Stellen, an denen die unmittelbar angrenzende Strömung umgeleitet worden war, um Magie einzusaugen oder umzuwandeln oder ... »Das bedeutet nichts Gutes«, flüsterte Eric.
June Bug sah ihn fest an. »Nein.« Diese Rauten markierten die Stellen - genau die Stellen -, an denen ein jeder der Wächter während der Offenbarungszauber gestanden hatte. Er selbst hatte auf einer solchen Raute gestanden, ebenfalls June Bug, Debora, Willie ... Sie alle hatten auf einem abgeschirmten Bereich gestanden. Das bedeutete wirklich nichts Gutes. 143 Erst nach und nach wurde ihm klar, wie furchtbar das war, was sie entdeckt hatten. Diese schwarzen, toten Stellen konnten unmöglich vor der Ankunft der Wächter auf der Lichtung dort platziert worden sein - ihre Platzierung war viel zu genau, und es gab nur jeweils ein solches Kraftfeld für jeden der Wächter, die dort gewesen waren, keine zusätzlichen Felder für diejenigen, die noch fehlten. Und das bedeutete, dass einer aus ihrer eigenen Gruppe durch das Tor gegangen war und in Anwesenheit der anderen Wächter einen Zauber gewoben hatte - aber so schnell und geschickt, dass niemand es bemerkt hatte -, und dann hatte er oder sie seinen Platz in dem Kreis eingenommen, wohl wissend, dass sein ... oder ihr ... Verrat vor den missglückten Offenbarungszaubern verborgen bleiben würde. Und alle Zauber mussten missglücken. Erics Zauber war jedoch der einzige gewesen, der es auf eine so durchschaubare Art und Weise getan hatte - und diese kindliche Durchschaubarkeit, die er bei der Konstruktion seines Zaubers an den Tag gelegt hatte, musste die eine Variable gewesen sein, die der Verräter nicht hatte einkalkulieren können. Eric war davon überzeugt, dass alle Offenbarungszauber versagt hatten, manipuliert von dem Verräter - aber nur seiner hatte auf eine so ungeheuerliche, demütigende Art und Weise versagt, dass niemand es übersehen konnte. Niemand konnte glauben, dass Eric diese Wirkung beabsichtigt hatte. Hätte er nicht so spektakulär versagt, hätte June Bug keinen Verdacht geschöpft, dass das Ganze manipuliert worden war. Sie hätte nach ihrem Aufbruch aus Oria vielleicht nicht nach Überresten von Magie in dem Kreis auf der Lichtung gesucht. Sie wären fest davon ausgegangen, dass der Schuldige nicht in ihren eigenen Reihen zu suchen sei. Stattdessen wusste Eric jetzt, dass die Wächter von einem ihrer eigenen Leute verraten wurden. 144 Aber von wem? Die Einzige, der er trauen konnte, war June Bug. Und sie war zu dem Schluss gekommen, dass er seinerseits der Einzige war, dem sie vertrauen konnte. Eric dachte, dass das wahrscheinlich Sinn machte. Wäre er derjenige, der den Ablenkungszauber konstruiert hätte, hätte er mit Sicherheit nicht einen Offenbarungszauber benutzt, der auf so spektakuläre Weise scheitern musste, einen Zauber, der ihn zu einem demütigenden öffentlichen Eingeständnis zahlreicher heimlicher Sünden gezwungen hatte. »Ich denke«, sagte June Bug, »wir beide, du und ich, sollten mal nach Rockingham rüberfahren. Wir könnten ein bisschen in der Gegend herumlaufen und mal sehen, ob wir dahinter kommen können, was der Grund für diese schwarzen Flecken ist.« »Braucht ihr mich dabei?«, fragte Willie. Er lehnte an der Wand auf der gegenüberliegenden Seite des Raums, die Augen halb geschlossen, mit tiefen Furchen der Erschöpfung auf dem Gesicht. »Ruh dich ein wenig aus«, erwiderte Eric. »Du siehst so aus, als hättest du es nötig, und wir werden für diese Erkundungsfahrt keine Tore benötigen. Wir wollen uns erst mal nur umsehen und feststellen, ob wir ein paar von diesen Energiespuren, die June Bug entdeckt hat, aufspüren können. Wenn wir dann tatsächlich etwas unternehmen, brauchen wir ohnehin mehr Leute als dich, mich und June Bug dort.« »Meinetwegen.« Willie stieß einen schweren Seufzer aus. »Ich habe seit ungefähr einer Woche keine Nacht mehr richtig geschlafen. Wahrscheinlich fahre ich einfach nach Hause und lege mich hin. Wenn ihr mich braucht ... ruft mich einfach an. In Ordnung? Meldet euch, sobald ihr etwas gefunden habt.« Eric sagte: »Darauf kannst du dich verlassen.« »Dann sehen wir uns also später.« Willie ging, und Debo145 ra schloss sich ihm an. Die anderen Wächter blieben zurück. Eric gab Mayhem die nächste Wache, zusammen mit Deever Duncan als Verstärkung, dann schickte er alle anderen dorthin zurück, woher sie gekommen waren, ermahnte sie aber noch einmal eindringlich, in der Nähe ihrer Telefone zu bleiben. Kurz darauf machten er und June Bug sich auf den Weg zu seinem Streifenwagen, angeblich um nach Rockingham zu fahren. Lauren klopfte die Wände im alten Nähzimmer ihrer Mutter ab - in dem immer noch dieselbe cremeweiße Tapete mit den winzigen Kornblumen hing, die aufzukleben sie ihrer Mutter als Kind geholfen hatte -, als Embar plötzlich aus dem Wandregal auftauchte; ihr Vater hatte das Regal angefertigt, damit ihre Mutter Platz für all ihre Stoffe hatte. »Ich hab's gefunden«, sagte er. »Das Notizbuch? Einfach so?« »Du musst es selbst herausholen. Es liegt versteckt in einem Geheimfach in den Regalen.« Jake saß auf dem Boden, für den Augenblick vollauf damit zufrieden, ein großes Plastikauto gegen die Fußleiste krachen zu lassen. Das monotone Geräusch würde Lauren ziemlich bald unter die Haut gehen, davon war sie überzeugt, aber solange Jake nicht herumlief und versuchte, Kleiderbügel in Steckdosen zu schieben oder alles über seinem Kopf auf seinen Kopf herunterzureißen, wollte sie den lästigen Lärm gern hinnehmen und sogar dankbar dafür sein.
»Kannst du erkennen, wie man das Fach öffnet?« »Ich kann dir zeigen, wo es sich befindet. Du wirst selbst herausfinden müssen, wie man es aufmacht.« Embar schwebte an ihre linke Seite und verschmolz zur Hälfte mit einem der Regale. »Das Notizbuch liegt genau hier«, sagte er. »Ich stehe drauf.« 146 Lauren hockte sich vor das Regal, auf das Embar deutete, wartete, bis er aus dem Weg gegangen war, und drückte gegen das Regal und die Rückwand. Dann klopfte sie auf das schöne alte Hartholz und lauschte auf eine Veränderung des Klangs, die ihr vielleicht einen Hinweis darauf geliefert hätte, wie sie an das Geheimfach herankam. Sie zog und klopfte und hielt Ausschau nach irgendwelchen Gebrauchsspuren. Sie konnte nichts entdecken. Ihr Vater hatte Holzarbeiten geliebt. Wenn er von seiner Arbeit als Postbote nach Hause kam, verbrachte er oft Stunden in seiner Werkstatt und schuf mit Handsäge und Hobel, Stemmeisen und Raspel wunderschöne Schaukelpferde, Bücherregale, Tische und Schränke. Im ganzen Land gab es Menschen, die Arbeiten von ihm besaßen; er hatte auf jedes einzelne Stück am unteren Rand seine Unterschrift eingeritzt und das Datum, an dem er die Arbeit beendet hatte. Das kleine, frei stehende Bücherregal, das in Laurens Kinderzimmer gestanden hatte, war sein Werk gewesen, ebenso wie das Schmuckkästchen, das sie immer noch besaß. Jetzt legte sie den Kopf schräg und dachte an dieses Schmuckkästchen. Es war ein Rätselkästchen, ein wunderschönes kleines Stück, das so aussah wie ein liegendes Buch, auf dem eine Reihe Bücher stand, die wiederum durch ein darüber liegendes Buch abgedeckt wurde. Man konnte es nur mit einem bestimmten Trick öffnen: Man musste eine Leiste des Fußschnitts des unten liegenden Buches zu dessen Seitenschnitt hin verschieben. Dadurch entsicherte man den Buchrücken dieses Buches, der nun so weit wie möglich nach links, zum Kopfschnitt hin, herausgeschoben werden musste. Als Nächstes schob man die Buckrücken des dritten und achten Buchs der Reihe nach unten in die Lücke, die der zur Seite geschobene Rücken des unten liegenden Buchs hinterlassen hatte. Die Titel auf diesen beiden Buchrücken waren Der Schwarze Hengst und Misty. Das Pony von 147 Chincoteague - ihre beiden Lieblingsbücher damals, als ihr Vater das Kästchen für sie gemacht hatte. Wenn man die kleinen Holztäfelchen bewegte, kamen darunter ein versteckter Schlüssel und ein winziges Schlüsselloch zum Vorschein. Nichts an dem Schmuckkästchen klapperte oder wackelte, und ihr Vater hatte darauf geachtet, dass keins der beweglichen Teile jemals Zeichen von Benutzung aufwies; nach all den Jahren konnte man, wenn das Kästchen geschlossen war, immer noch nicht erkennen, dass es etwas anderes war als eine entzückende Holzschnitzerei, die einen Bücherstapel darstellte. Den Entwurf dieses kleinen Kästchens vor Augen, sah Lauren sich die Regale genau an. Sie endeten am Fenster und wurden auf der anderen Seite davon weitergeführt. Ihre Mutter hatte in der Lücke zwischen den Regalen stets einen Farn auf einem Messingständer stehen gehabt, und plötzlich erinnerte Lauren sich daran, dass der Farn immer wieder an anderen Stellen im Raum gestanden hatte. »Er hat zu viel Licht bekommen«, hatte ihre Mutter gesagt, als Lauren sie einmal danach gefragt hatte - aber das Fenster ging nach Norden hinaus. Ihr Vater hatte die einzelnen Paneele längs ihrer Kanten mit von der Decke bis zum Boden durchgehenden, flachen Nuten verziert und die Vorderkanten der Regalbretter sowie der Seitenbretter abgerundet. Als sie sich das Ganze näher ansah, kam ihr der Gedanke, dass die Nuten und Abrundungen eine gute Möglichkeit waren, wenn man einzelne Teile der Konstruktion verschieben wollte, und gleichzeitig verhindern würden, dass regelmäßige Bewegungen der Teile allzu leicht sichtbare Spuren hinterließen - ebenso wie die gerundeten, teilweise etwas vorstehenden Buchrücken ihres Schmuckkästchens dessen Geheimnis wohl verborgen hielten. 148 Sie strich mit den Fingern über die Rille in dem senkrechten Paneel an einer der Schmalseiten der Fensternische und versuchte, es sanft zu sich hin zu ziehen. Embar stand neben ihr und beobachtete sie. »Die Bücher sind in der mittleren Abteilung«, sagte er. »Ich weiß. Du hast es mir gezeigt.« Lauren ließ die Finger weiter nach unten gleiten. Embar seufzte. Lauren strich über die Linie, an der das Paneel auf die Fußleiste traf - und die Fußleiste bewegte sich. Lauren zog ein wenig fester, und die kurze Leiste glitt lautlos aus der Fensternische heraus. Lauren nickte. Hinter der Fußleiste wurde eine solide Holzvertäfelung sichtbar - aber das hatte sie erwartet. Als Nächstes drückte sie die Hände gegen die Fußleiste neben der Fensternische; sie wies keine Rillen oder sonstigen Merkmale auf, die sie von den anderen unterschieden hätte. Dann versuchte sie, sie nach links zu schieben. Nach anfänglichem Widerstand glitt sie mühelos nach links und blieb erst nach fast anderthalb Metern stehen. Wieder nickte Lauren. Unter dem mittleren Regal klaffte jetzt eine Lücke, wo vorher die Fußleiste gesessen hatte. Das Regalbrett direkt über der Lücke hatte an der Unterseite direkt hinter der Vorderkante eine Griff leiste, an der Lauren das ganze Regal herausziehen konnte. In dem Versteck dahinter lag ein Notizbuch, ein simples Ringbuch mit Ledereinband. Es war bis zum Bersten gefüllt mit vergilbten Seiten, die sich sicherlich bei der erstbesten Gelegenheit wie Schneeflocken im ganzen Raum verteilen würden. »Gütiger Gott«, murmelte sie. »Was ist das denn?« Sie nahm das Notizbuch aus seinem Versteck und schlug es
aufs Geratewohl irgendwo auf. Die Seite zeigte ein Diagramm irgendeiner mechanischen Vorrichtung - ihre Mutter hatte 149 es mit blauem Kugelschreiber gezeichnet und in ihrer sauberen, winkligen Schrift Namen und Zweck der einzelnen Bestandteile angegeben. Das Ganze trug die Überschrift: »Universalrechtschreibung«. Lauren las einige der Erklärungen: Psychischer Equalizer - 999er Silber, wenigstens drei Unzen für optimale Dämpfung; das Kupferdrahtgeschirr muss sowohl mit dem Quattingkuppler als auch mit der Blackbox fest verbunden sein. Thram - (4) in Serie geschaltet - Silberdraht mit Gummimantel. Die Thrams dürfen NICHT den Babbler berühren. Quattingkuppler Lauren runzelte die Stirn und blätterte die anderen Seiten durch. Noch mehr Diagramme. Noch mehr Notizen, die keinen Sinn ergaben und in denen Begriffe aus dem Wortschatz einer Disziplin vorkamen, die sie nicht kannte. Sie konnte nicht herausfinden, was das Gerät tun sollte oder wie es funktionieren sollte, und einen Augenblick lang befiel sie der beinahe hysterische Verdacht, dass sich jemand auf ihre Kosten einen Riesenspaß erlaubte. Was hatte dieser ganze Unsinn zu bedeuten? Außerdem enthielt das Ringbuch etliche Seiten mit datierten Tagebucheintragungen. Diese waren weniger bizarr als die Diagramme und sowohl von ihrer Mutter als auch von ihrem Vater niedergeschrieben worden. Allerdings war darin oft von dem »Projekt« die Rede, ohne dass einmal erklärt wurde, worum es sich dabei eigentlich handelte. »Das muss doch irgendetwas bedeuten«, sagte sie zu Embar. 150 Er nickte. »Du kannst dir keinen Reim darauf machen?« »Es sieht so aus, als hätten sie das Ding in der Annahme geschrieben, dass die Menschen, für die es bestimmt war, ohnehin wissen würden, woran sie arbeiteten. Und wahrscheinlich wollten sie verhindern, dass Unbefugte aus ihren Notizen schlau wurden.« »Hm ... die Wächter ... deine Eltern wollten gewiss nicht das Risiko eingehen, dass ihre Arbeit den Wächtern in die Hände fiel, nicht nach all den Unannehmlichkeiten, die sie durch die Wächter erfahren hatten. Das würde erklären, warum sie sich so unverständlich ausgedrückt haben«, murmelte Embar. »Du kannst dich nicht daran erinnern, worin ihr Plan bestand?« »Nein. Und selbst wenn es anders wäre, ich wüsste nicht, was das Ganze hier zu bedeuten hat. Waren die beiden verrückt, Embar? Mir wird langsam klar, dass ich sie gar nicht richtig gekannt habe - ist es möglich, dass sie alle beide den Verstand verloren hatten?« Embar seufzte. »Es ist wahrscheinlich alles möglich. Aber ich glaube nicht, dass es so war. Die beiden schienen mir vollkommen vernünftig zu sein. Was sie getan haben, hat auch funktioniert. Und ... die Menschen machen sich selten die Mühe, harmlose Spinner oder Verrückte zu ermorden. Sie ermorden nur Leute, die eine Bedrohung für sie darstellen.« Lauren biss sich auf die Lippen und nickte langsam. »Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass ich einfach nicht intelligent genug bin, um die Notizen zu verstehen.« Embar legte die Stirn in Falten und warf ihr ein nervöses Lächeln zu. »Du wirst das schon schaffen«, sagte er, und seine Stimme, die wie ein Raunen klang, machte Lauren klar, dass er sich keineswegs sicher war. »Lies die Notizen einfach durch. Sie müssen irgendwelche Erinnerungen in dir wachrufen. Deine Eltern hätten dir ihre Notizen nicht 151 ohne irgendeine Art Schlüssel hinterlassen, mit dessen Hilfe du herausfinden kannst, woran sie gearbeitet haben.« Er wandte sich ab, und sie hörte ihn Worte murmeln, die gewiss nicht für sie bestimmt waren. »Das können sie nicht getan haben.« »Ma-aaa-ma-aaa«, jammerte Jake. »Kekse. Büüüüüte, Kekse?« Lauren sah ihren Sohn an, der nun offensichtlich genug von Spielzeugautos hatte und nicht gewillt war, sich noch länger in Geduld zu fassen. »Gleich kriegst du Kekse«, sagte sie. Sie schloss das Versteck wieder, legte das Notizbuch aber nicht dorthin zurück. »Ich werde es mir später ansehen«, sagte sie zu Embar. Er nickte. »Lass dir Zeit. Fang einfach vorne an und arbeite dich bis zum Ende durch. Irgendwann musst du einfach anfangen, Dinge wieder zu erkennen.« Er stand auf. »Ich gehe jetzt zurück nach Hause. Das ... das Gewicht dieses Ortes macht mir nach einer Weile doch zu schaffen.« »Das Gewicht des Hauses?« »Des ganzen Universums.« Embar zuckte die Achseln. »Ich bin in dem alten Haus deiner Eltern in Oria. Wenn du so weit bist, komm einfach rüber und ruf nach mir. Ich werde dich hören.« Lauren stand auf, das Notizbuch unter dem Arm, hob Jake vom Boden hoch und setzte sich ihn auf die Hüfte. »Das mache ich. Gib mir ein paar Tage Zeit, um herauszufinden, ob ich irgendwie aus dem Ganzen schlau werden kann.« »Dann sehen wir uns also bald wieder«, sagte Embar. Dann versank er im Boden und war verschwunden. »Tschüss, Hündchen«, rief Jake ihm nach.
7 Kupferhaus, Ballahara Molly gähnte, reckte sich und strampelte sich aus den dicken Seidenbetten frei. Die Morgensonne strömte in den Raum und füllte ihn vom Fußboden bis zur Decke mit herrlicher Wärme. Es wäre so einfach gewesen, nachzugeben und sich einzureden, all dieser Luxus gehöre ihr. Es war ihr nie schwer gefallen, sich etwas Besseres für sich selbst vorzustellen als ihre Behausung in Cat Creek, die zwar sauber und ausreichend, aber wahrhaftig alles andere als luxuriös war. Sie schlüpfte in mit Perlen bestickte und mit Kaschmir gefütterte Pantoffeln und hüllte sich in einen Morgenmantel. Sie fühlte sich großartig, und sie musste sich den Grund dafür vor Augen halten; sie hatte seit Tagen nicht mehr unter dem Schmerz anderer leiden müssen, und es war nicht schwierig zu vergessen, dass der Schmerz auf sie warten würde, wenn sie nach Hause zurückkehrte. Aber sie wollte nicht daran denken, denn zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, fühlte sie sich inmitten anderer genauso gut, wie sie es tat, wenn sie allein war. Sie ließ Wasser in die kunstvolle Badewanne ein und fragte sich, was so etwas daheim wohl kosten würde. Mehr als sie sich leisten konnte, das stand fest. Während das Wasser leise hinter ihr in den Zuber plätscherte, trat sie ans Fenster und blickte auf diese Welt hinab, an die sie noch immer nicht recht glauben konnte. Es war durchaus keine Märchenwelt; von ihrem Platz aus konnte sie sowohl die gut gepflegten Häuser als auch die baufälligen Hütten im Dorf 153 sehen, die hinter hohen Steinmauern standen. Aber dennoch fand sie das Bild, das sich ihr bot, malerisch, die gepflasterten Straßen, die seltsamen Rundbauten, die beinahe wie aus Holz geschnitzte Pilze aussahen und aus der harten Erde emporgewachsen zu sein schienen. Die Leute auf den Straßen waren keine Menschen, aber sie waren Leute. Sie liebten ihre Kinder, sie liebten einander, sie hofften und träumten und arbeiteten hart, und schließlich kamen sie an das Ende ihrer Zeit und starben. Die Hände flach auf das kühle kupferne Fenstersims gelegt, blickte Molly durch das dicke Kupfergitter und versuchte sich vorzustellen, an diesen Ort zu gehören, an dem nichts wehtat. Sie versuchte, sich einen Grund zum Bleiben vorzustellen. Am Abend zuvor war Birra, der Blaue, zu ihr gekommen, um mit ihr zu reden. Er hatte ihr erzählt, dass die Beya, sein Volk, starben - dass die Rrön sie verflucht hätten und dass all die Kranken, die sie geheilt hatte, Opfer der Rrönmagie waren. Sie wusste nicht, ob sie ihm glauben sollte, obwohl sie Magie durch ihre eigenen Fingerspitzen hatte fließen sehen. Die Vorstellung, ein Fluch könne auf einem ganzen Volk lasten, wirkte so entsetzlich archaisch und so lächerlich paranoid. Aber die Vorstellung, eine Frau zu berühren und grünes Feuer durch ihren Körper fließen zu lassen, das ihr Krebsgeschwür verschlang, wirkte oberflächlich betrachtet ebenso unmöglich. Dies hier war nicht Cat Creek. Sie konnte die Welt von Oria nicht aufgrund dessen, was sie wusste, beurteilen. »Du bist heute Morgen aber sehr weit fort.« Es war wieder Birra. Molly zuckte beim Klang der Stimme des Veyär nicht zusammen, obwohl sie ihn nicht hatte hereinkommen hören. Sie brauchte dringend irgendetwas an der Tür, das sie vor dem Auftauchen eines Besuchers 154 warnte. Vielleicht nicht die Tigerfalle, die sie gebaut hatte, obwohl sie die in Reserve halten würde. Aber irgendetwas. »Ich bin hier«, sagte sie. »Ich habe mich nur gefragt, wie lange ich hier sein werde.« Sie wandte sich vom Fenster ab. Er war ihr häufigster Besucher, obwohl der meerschaumgrüne - Laath - fast jeden Abend vorbeikam, nur um festzustellen, ob sie neue Schokolade brauchte. Sie bot ihm jedes Mal ein Stück davon an, und jedes Mal nahm er es. Die anderen Besucher wechselten von Tag zu Tag ab, und keiner von ihnen trug Gewänder, die so kostbar waren wie die von Birra oder Laath, und keiner dieser anderen hatte so kunstvolle oder so schöne Gesichtstätowierungen wie diese beiden. »Ah. Eine vernünftige Frage. Nach unserem Gespräch gestern Abend haben wir endlich eine Nachricht von Seiner Herrlichkeit bekommen; seine Verhandlungen haben eine unerwartete Wende genommen, und er wird noch einige Tage fortbleiben. Er wünscht dir Glück und Wohlbehagen und sagt, dass er bei seiner Rückkehr ein Festmahl zu deinen Ehren geben wird.« Birra trat neben sie und blickte nun ebenfalls zum Fenster hinaus. Und er stellte ihr eine seltsame Frage. »Hast du irgendetwas gespürt, das nach dir gerufen hat? Das dich drängte, ans Fenster zu gehen?« Molly drehte sich um, verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn so lange an, bis er ihren Blick erwiderte. »Ich befinde mich gut und gern zwanzig Meter über dem Erdboden in einem Turm mit vollkommen glatten Wänden. Was genau sollte mich ans Fenster rufen?« Sie konnte seine Miene nicht deuten. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht im Mindesten. Er sagte: »Nun, in Oria gibt es eine Anzahl intelligenter Spezies, die fliegen können.« »Wie die Rrön.« Jetzt zuckte er sichtlich zusammen. »Nicht einmal hier 155 solltest du diesen Namen allzu laut aussprechen. Wir glauben, dass man sie herbeiruft, wenn man ihren Namen
ausspricht; du verstehst sicher, warum das nicht wünschenswert wäre.« Sie nickte. »Hast du Angst, sie könnten um mein Fenster herumflattern? Sind sie es, die dir Sorgen machen?« »Nicht mehr als ...«Er schloss die Augen und holte tief Luft. »... als andere. Ich wage es nicht einmal, ihren Namen zu flüstern. Sie sprechen niemals laut, aber sie können direkt zu unseren Seelen sprechen. Sie sind schön; sie sind böse; sie können alle sterblichen Geschöpfe dazu bringen, zu tun, was sie wollen, und die Gedanken zu denken, die sie uns eingeben. Und sie würden eine Vodi besitzen wollen, wenn sie herausfänden, dass sich eine hier aufhielt.« Molly wandte sich wieder zum Fenster um. »Und Kupfer hält sie fern?« »Sie können ihre Magie nicht durch Kupfer wirken. Aber ihre Seelensprache lässt sich nicht durch äußere Schranken hemmen. Sollten sie nach dir rufen, würdest du alles in deiner Macht Stehende tun, um ihnen zu gehorchen. Nun, vielleicht würdest du es auch nicht tun, weil du eine Vodi bist. Aber sei vorsichtig. Vertraue keinem Impuls, der dich aus der Sicherheit deiner Gemächer fortlocken würde.« »Verstanden. Ich werde es mir merken.« Molly drehte sich um, warf einen vielsagenden Blick auf ihre Wanne, die sich inzwischen gefüllt hatte, und bemerkte: »Ich muss jetzt baden.« Birra verneigte sich. »Ja, Vodi. Ich mache mich auf den Weg. Läute bitte, wenn du angekleidet bist; im Wintergarten erwartet dich ein wunderbares Frühstück, zusammen mit Verbündeten der Veyär, die hergekommen sind, um dich kennen zu lernen. Du brauchst heute keine Heilungen vorzunehmen - wir haben den sechzehnten Mondtag, und ganz Ballahara ruht.« 156 Molly badete und kleidete sich an, und die ganze Zeit dachte sie darüber nach, ob Birras Geschichte von den Geschöpfen, die zur Seele sprechen konnten, eine echte Warnung gewesen war oder ein Märchen, das er ersonnen hatte, um sie von weiteren Fluchtversuchen abzuhalten. Irgendwie erinnerte sie das Ganze doch ein wenig an das Spiel »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann«. Aber andererseits hätte sie ihm auch die Rrön nicht abgenommen, hätte sie nicht mit eigenen Augen das Blutbad gesehen, das sie angerichtet hatten. Sie schob sich ein Stück Schokolade in den Mund und suchte sich Kleider für den vor ihr liegenden Tag aus. Die Kleider an diesem Ort waren so kompliziert, dass sie sich beinahe eine Zofe wünschte, die ihr beim Anziehen half. Sie war sich zwar ziemlich sicher, dass sie alles richtig machte, aber da sie nur die äußeren Gewänder der anderen sehen konnte, konnte sie, was den Verwendungszweck einiger der merkwürdigeren Unterkleider betraf, nur raten. Im Zweifelsfall ließ sie einige Dinge einfach weg. Sie schlüpfte in weiche Pluderhosen aus gekämmter Baumwolle, legte eine Brustbinde an und versuchte sich noch einmal an einem korsettähnlichen Ding, das alles andere zusammenhielt. Dabei fiel ihr auf, dass die Schnüre viel zu locker waren - also hatte sich jemand an ihren Kleidern zu schaffen gemacht, während sie schlief. Die Tigerfalle, zum Teufel. Niemand würde sich in ihr Zimmer schleichen, während sie schlief. Das würde sie nicht zulassen. Sie zog die Bänder zusammen und befestigte ihre Röcke an den Hakenreihen, die von der Hüfte bis in die Taille reichten. Die Röcke waren allesamt aus Seide, allesamt durchsichtig und sehr leicht, aber als sie die siebte Lage übergestreift hatte, konnte sie doch das Gewicht des Stoffes spüren. 157 Dann kamen zwei duftige Seidenblousons, eine schwarze Unterziehbluse und zu guter Letzt eine aus einem zarten, weißen Stoff. Jede dieser Blusen hatte einen Rüschenkragen, der sorgfältig über den darunter liegenden gezogen werden musste. Dann kam schließlich der Umhang - für dieses Treffen wählte sie ein Gewand, das ebenso kupferrot war wie ihr Zimmer, mit einem Unterton von kräftigem Mahagoni und bestickt mit smaragdgrünen Ranken. Am Ende einer jeder dieser Ranken prangte als Knospe ein Edelstein - ihr tiefes Rot deutete darauf hin, dass es Rubine sein konnten, aber Molly nahm an, dass es ebenso gut Granat sein könnte. Die Ärmel wirkten ein wenig zu kurz - ihre Handgelenke ragten daraus hervor. Sie seufzte, denn sie hatte keine Lust, sich der Mühsal des Ankleidens aufs Neue zu unterziehen, also krempelte sie die Ärmel kurzerhand auf. Zu guter Letzt zog sie noch baumwollene Strickstrümpfe an und gewebte, flache Schuhe, und nachdem sie alle Bän: der an den richtigen Stellen verschnürt und ihr Haar zu einem Zopf im Nacken geflochten hatte, warf sie einen abschließenden Blick in den bodenlangen Spiegel. Und runzelte die Stirn. Ihr Haar, das immer einen satten Braunton gehabt hatte, sah im Spiegel jetzt beinahe kupferfarben aus. Ihre Augen, die immer haselnussbraun gewesen waren, wirkten jetzt wie purer Bernstein, und ihre einst blasse Haut hatte ebenfalls einen bernsteinfarbenen Schimmer angenommen. All das hätte sie noch auf das Licht zurückführen können, das der kupferne Raum widerspiegelte, nur dass sie deutlich sehen konnte, dass sich auch die Knochenstruktur ihres Gesichts verändert hatte. Ihre Augen liefen an den äußeren Winkeln nach oben hin spitz zu, ihre Wangenknochen traten deutlicher hervor, und ihr Hals wirkte länger und schlanker als früher. Was das betraf, war sie überhaupt zu 158 groß für den Spiegel. Am Abend zuvor hatte er noch gereicht, aber jetzt musste sie ihn etwas nach hinten neigen, um sich ganz darin betrachten zu können; in seiner alten Position schnitt er gut fünfzehn Zentimeter von ihrem Kopf ab. Außerdem konnte sie ihre Knöchel unter den Röcken hervorlugen sehen, die bisher nur gut einen
Zentimeter über dem Boden gehangen hatten. Sie starrte in den Spiegel, und etwas, das sie während ihres Gesprächs mit Birra unterschwellig beschäftigt hatte, ging ihr plötzlich mit aller Deutlichkeit auf. Als sie mit ihm gesprochen hatte, hatte sie ihm in die Augen gesehen, aber sie hatte dazu nicht wie früher den Kopf weit in den Nacken legen müssen. »Ich habe aufgehört zu wachsen, als ich sechzehn war«, murmelte sie, aber ihr Spiegelbild sagte ihr etwas anderes: Sie war gewachsen. Und zwar beträchtlich. Sie war größer und dünner geworden, und das war über Nacht geschehen. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Sie läutete nach Birra. Sie hoffte, dass er eine Erklärung für dieses Phänomen hatte, obwohl ihr wahrhaftig nicht der Sinn nach weiteren Überraschungen und Merkwürdigkeiten stand. Cat Creek Lauren machte gerade einen kleinen Imbiss für Jake zurecht, als sie Eric mit einer der unheimlichen Schwestern in seinem Streifenwagen vorbeifahren sah. Lauren spähte durch das Fenster. June Bug. Die ältere der Schwestern. Sie fragte sich, was die beiden im Schilde führen mochten. June Bug war eine Wächterin, also taten sie etwas, von dem Lauren erwarten konnte, dass es für sie nichts Gutes bedeutete. Trotzdem fiel es ihr sehr schwer, Eric als Feind 159 anzusehen. Sie waren in der High School niemals Freunde gewesen - er ein Halbstarker, wie er im Buche stand, und sie das sprichwörtliche brave Mädchen -, aber manchmal waren sie nach dem Unterricht zusammen nach Hause gegangen, wenn Eric sich wieder einmal das strikte Verbot eingehandelt hatte, den Wagen seiner Familie zu fahren. Sie hatten miteinander geredet, und bei ihren Gesprächen war es niemals um Klassenkameraden gegangen oder um die erbärmlichen Leistungen der Fußballmannschaft. Sie hatten wirklich geredet. Komisch. Sie strich Erdnussbutter und Marmelade auf das Vollkornbrot und schnitt die Scheiben in Dreiecke; Jake nannte sie »Deiecke« und bestand darauf, seine Brote in dieser Form serviert zu bekommen. Lauren konnte sich noch immer an einige ihrer Gespräche mit Eric erinnern. Er hatte von seinen Träumen erzählt, nach West Point zu gehen und zur Reinkarnation einiger seiner Helden zu werden: Robert E. Lee, George Patton, Douglas MacArthur, Dwight D. Eisenhower und natürlich Leutnant Alexander R. Nininger, der gute Junge aus Georgia, dessen Soloeinsatz auf den Philippinen in Erics Augen für den perfekten militärischen Einsatz stand. Er hatte mit großer Begeisterung Bücher über Militärgeschichte verschlungen, etwas, das Lauren erstaunte, da Eric niemals irgendetwas las, was mit dem Unterricht zusammenhing, und aus Prinzip keine Hausaufgaben machte. Was wahrscheinlich der Grund gewesen war, warum ihm die Tore von West Point verschlossen geblieben waren. Oder lag es eher daran, dass es ihm bestimmt war, ein Wächter zu werden - dass sein Vater ihm nicht gestattet hatte, eine Karriere beim Militär auch nur in Erwägung zu ziehen? Sie erinnerte sich daran, dass die beiden sich oft darüber gestritten hatten. Und sie und Eric hatten auch über die Ungewissheit ihrer eigenen Zukunft gesprochen, von ihrer felsenfesten Ent160 schlossenheit, nicht tippen zu lernen, weil sie nicht die Absicht hatte, irgendwo für irgendjemanden als Schreibkraft zu arbeiten. Sie hatte ihm von ihrer Sehnsucht nach fremden Ländern erzählt, von ihrem rastlosen Gefühl, dass sie etwas versäumte - dass sie etwas Wichtiges mit ihrem Leben anfangen sollte, aber nicht die leiseste Ahnung hatte, was das sein konnte. Eric hatte traurig gelächelt, als sie ihm von dieser Sehnsucht erzählte, und sie hatte das Gefühl gehabt, dass er sie verstand. Dafür hatte sie ihn gemocht. Sehr gemocht. Sie konnten natürlich nicht miteinander gehen - denn in einer kleinen Stadt wie Cat Creek hielten die Menschen an ihren Rollen fest. Ihre Rolle war die des braven Mädchens, jungfräulich und eifrig, und er musste die Rolle des Halbstarken spielen, der zu schnell fuhr, der trank und in den Pausenräumen rauchte und mit Mädchen Umgang hatte, deren Namen Eltern nur im Flüsterton aussprachen. Selbst als sie noch sehr jung gewesen waren, hatten sie beide um die Wichtigkeit von Rollen gewusst. Aber einmal hatten sie sich geküsst, als sie vor der Werkstatt ihres Vaters hinterm Haus gestanden hatten. Eigentlich hatten sie nur geredet, und als das Gespräch für einen Moment abgebrochen war, den Fehler gemacht, einander in die Augen zu sehen. Und dann hielt er sie in den Armen, und sie erwiderte seine Umarmung vorsichtig und zaghaft. Und als sie jetzt, so viele Jahre später, in der Küche stand und die Augen schloss, konnte sie sich noch immer an diesen Kuss erinnern. Dann hatten sie sich voneinander gelöst, denn sie wäre nicht gut gewesen für seinen Ruf und er nicht für ihren. Und nicht lange danach bekam er die Erlaubnis, wieder mit dem Wagen zur Schule zu fahren, und nicht lange danach hatte sie ihren Abschluss gemacht und war weitergezogen. Sie hatte mit Brian nie über Eric gesprochen. Es hatte nur 161 diesen einen Kuss gegeben, und der hatte weder für ihn noch für sie etwas bedeutet. Und doch stand sie jetzt hier in der Küche, und trotz all dessen, was sie über die Wächter wusste, über Eric und über ihre Eltern, konnte sie sich, als Eric im Wagen vor dem Haus vorbeifuhr, immer noch an den Jungen mit den Träumen erinnern und das Gefühl der Sonne auf ihren Wangen, als er sie geküsst hatte.
Kupferhaus, Ballahara Birra konnte Molly keine Erklärungen geben. »Du magst größer wirken, aber das liegt nur an deinen Schuhen.« Sie zeigte ihm die flachen Absätze. »Hm, dann sind es vielleicht doch nicht die Schuhe.« »Ich bin größer«, sagte sie. »Mein Gesicht hat sich verändert, mein Haar hat eine andere Farbe, meine Augen haben eine andere Farbe. Ich will wissen, was hier vorgeht!« Birra legte sich eine Hand auf die Stirn - einmal mehr fiel Molly auf, wie lang seine Finger waren - und schloss die Augen. »Der Imallin wird bald zurückkommen. Bald. Vielleicht hat er die Antworten, nach denen du verlangst. Aber ich, Vodi, ich habe sie nicht. Ich bin nur ein bescheidener Diener des Hauses ...« »Komm mir nicht mit diesem Mist. Du bist weder ein Diener, noch bist du bescheiden. Ich würde sagen, du bist der stellvertretende Kommandant, und wenn du nicht das Kommando über die bewaffneten Streitkräfte hast, dann stehst du im Rang doch zumindest so hoch, dass sich alle Anwesenden vor dir verneigen, und du verneigst dich vor niemandem. Außer vor mir. Ich kenne mich aus mit Bürokratien, ich kenne mich aus mit militärischen Hierarchien. Und ich erkenne Mist, wenn man mich damit füttert.« 162 Birras Verhalten veränderte sich. Er richtete sich höher auf, holte tief Luft und nickte ernst. »Also schön. Du hast vollkommen Recht; an deiner Stelle würde ich dieselbe Ehrlichkeit wünschen, die du verlangst. Hier ist also die Wahrheit. Ich habe den Befehl bekommen, nicht mit dir über die Natur der Veränderungen zu sprechen, die du erlebst; das ist die Pflicht und das Privileg des Imallin. Du verstehst Befehle?« Molly nickte. »Befehle verstehe ich, allerdings.« »Dann bitte - begleite mich, erfreue dich daran, unsere Gäste kennen zu lernen, erfreue dich an dem Festmahl, das man für dich vorbereitet hat, und ich werde alles in meinen Kräften Stehende tun, um den Imallin dazu zu bewegen, so schnell wie möglich zurückzukehren. Ich werde ihm zu verstehen geben, dass die Situation dringlich ist und seine baldige Aufmerksamkeit verlangt.« »Du gibst mir dein Wort?« »Mein Ehrenwort.« »Das akzeptiere ich.« Molly hatte vermutet, dass die Gäste ebenfalls Veyär sein würden. Aber es waren andere Geschöpfe, die sie erwarteten. Drei kleine, rundliche Kreaturen mit wundervollem Pelz saßen am Ende einer langen Tafel. Sie trugen elegante, gegürtete Waffenröcke, nippten anmutig an ihren Tassen und unterhielten sich mit einem halben Dutzend runzliger, grauhäutiger, muskulöser Wesen, deren Sprache für Molly so klang, als versuchten sie, gleichzeitig zu gurgeln und zu singen. Als sie und Birra den Raum betraten, brach das Gespräch ab, und alle Anwesenden erhoben sich. Die Grauhäute verbeugten sich so tief, dass sie mit ihrem spitzen Kinn ihre nackten, knotigen Knie berührten. Sie flüsterten: »Willkommen, willkommen, Vodi«, und hielten den Blick auf den Boden gerichtet, als wagten sie es nicht einmal, sie anzusehen. Die kleinen Pelzgeschöpfe waren 163 weniger scheu; auch sie verneigten sich tief, aber als sie sich aufrichteten, hoben sie den Kopf und sahen Molly direkt an. »Du siehst nicht aus wie die Vodi«, sagte einer von ihnen und wurde schnell von dem Veyär und den grauhäutigen Geschöpfen zum Schweigen gebracht. Birra zeigte auf die drei pelzigen Geschöpfe. »Dies sind Der Dunkle, Der Helle und Der Tiefe vom Volk der Tradona.« Er zeigte mit dem Kopf auf die immer noch gebeugten grauen Leute und sagte: »Und dies sind Nachbar-Winter, Sohn von Fluss-Winter und Unten-Am-Langen-Pfad, Tochter von Feuer-Höhle von den Faolshe.« Molly verneigte sich nun ihrerseits vor den Geschöpfen, die sie begrüßt hatten. Dann wandte sie sich an Birra und flüsterte ihm zu: »Sind das Namen - Der Dunkle, Der Helle, Der Tiefe?« »Die niederen Tradona haben Namen«, erklärte Birra ihr, »aber diese hier gehören zu den Höchsten der Hohen Tradona. Sie haben Orte - Der Dunkle herrscht über die Tradona-Kolonie im Trauerwald, der Helle über diejenige in der Weißen Feste im fernen Ayem, und Der Tiefe herrscht über Grimarr, die Hauptstadt der Tradona in der Silbernen Kette. Dies sind die drei Höchstgestellten der Tradona, was man an den schlichten Bezeichnungen erkennen kann, unter denen sie bekannt sind.« Molly nickte und ging zu dem Platz am Kopfende der Tafel, den man ihr zugewiesen hatte. Die Faolshe waren ein weiteres Rätsel; Molly fragte sich, warum sie solche Angst vor ihr hatten. Wer war sie in den Augen dieser Wesen? Das waren im Grunde die Fragen, die sie in Bezug auf ganz Oria stellen musste. Für wen hielten diese Leute sie, und was genau erwarteten sie von ihr? Sobald sie Platz genommen hatte, erschienen Diener mit Tabletts voller dampfendem Gemüse und einer großen Tas164 se Tee, die sie vor Molly hinstellten. Die beiden Faolshe starrten ihre eigenen Teller an, als erwarteten sie ihre Erlösung vom Essen. Die Tradona dagegen musterten Molly ohne einen Wimpernschlag und mit einem seltsam beunruhigenden Blick.
»Du bist dir sicher, dass sie diejenige ist?«, fragte Der Dunkle Birra. Birra neigte den Kopf. »Großer Dunkler, wir sind uns so sicher, wie wir wissen, dass die Sonne im Osten aufgeht, dass das Meer tief ist und kalt und dass der Wald groß ist und todbringend.« Molly hätte schwören können, dass diese letzte Feststellung irgendeine Spitze enthielt, so scharf hatte seine Stimme geklungen, aber sein Gesicht verriet keine Regung, und seine Haltung war so entspannt wie zuvor. »In der Tat«, sagte Der Dunkle, »sind die Gefahren, die uns allen drohen, nicht auf das Reich des Waldes beschränkt«, und die Anspannung in seinem Tonfall war noch deutlicher herauszuhören als bei Birra. Dann hatte es also eine Spitze gegeben - aber eine, mit der sie nicht viel anfangen konnte. Molly schwante jedoch langsam, dass sie nicht das war, was diese Leute erhofft hatten; die Tradona waren offensichtlich nicht mit ihr einverstanden, und den Faolshe machte sie Angst. »Wie sollte eine Vodi denn eigentlich sein?«, fragte sie sie. Sie sah Birra zusammenzucken, und die Faolshe krümmten sich. Die Tradona jedoch brachen in Gelächter aus. »So sicher, wie das Meer nass ist, hm?«, fragte Der Helle. »Du möchtest uns glauben machen, dass sie unsere Welt von dem unnatürlichen Sterben befreit, das Wahre Volk wieder an die Macht bringt und Rrön und Keth wieder in die Höllen zurückschickt, aus denen sie hervorgegangen sind?« Die beiden Faolshe begruben das Gesicht in den Händen und stießen daraufhin ängstliche Schreie aus, während die 165 beiden anderen Tradona sich umdrehten und ihren Landsmann anstarrten. Selbst Birra erbleichte und sagte: »Solche Worte dürfen in diesem Haus nicht gesprochen werden. Was Ihr auf Eure eigenen Häuser herabbeschwört, das entscheidet Ihr allein. Aber sie werden hier nicht noch einmal erwähnt.« Der Dunkle zuckte die Achseln. »Was ich zu sagen habe, bleibt dasselbe, ob ich ... sie« - er nickte Birra herablassend zu - »bei ihrem Namen nenne oder nicht. Du möchtest uns glauben machen, sie sei die Vodi. Es sieht ja ganz so aus, als könne sie herabgefallene Sterne wieder an ihren Platz setzen oder mit einer Bewegung ihrer Hand das Licht des Mondes zum Verlöschen bringen? Sie weiß ja nicht einmal, was die Vodi ist.« »Sie hat jeden Test bestanden, dem wir sie bis jetzt unterzogen haben.« »Sie ist keine von uns. Sie ist eine Fremde.« »Du kennst sie nicht. Du hast sie nicht gesehen. Du kannst nicht begreifen. Sie ist eine von uns.« »Das wird die Zukunft beweisen. Wenn sie diejenige ist, als die du sie ausgibst, wird es schon sehr bald deutlich werden, nicht wahr?« Birra rieb sich die Schläfen, eine Geste, die Molly auf seltsame Weise an ihren Adoptivvater erinnerte, damals, als sie noch klein war und er einen großen Teil der Zeit damit verbrachte, sich Sorgen zu machen, wie er die Rechnungen bezahlen sollte. Seltsamerweise verstörte diese Erinnerung sie nicht so, wie sie es erwartet hätte stattdessen spürte sie, nur für einen kurzen Augenblick, Mitleid mit dem Mann, der zumindest in den frühen Jahren ehrlich versucht hatte, sie großzuziehen, obwohl sie nicht leicht großzuziehen oder nicht einmal leicht zu lieben gewesen war. Sie klopfte sanft auf Birras Arm, und er drehte sich mit erstaunter Miene zu ihr um, als ob ... 166 ... als ob sie ihn geheilt hätte. Es war derselbe Gesichtsausdruck, den sie auf den Gesichtern der Bittsteller sah, die jeden Tag zu ihr kamen. ... als hätte Gott ihn berührt. Das ist ein Teil dessen, wer oder was ich bin, begriff sie plötzlich. Bisher hatte sie niemals wirklich darüber nachgedacht, wie ihre Wächter über sie dachten. Sie waren zu fremd für Molly; außerdem lastete sie ihnen zum einen ihre Entführung an, und zum anderen hatten sie zu viel Macht über ihr gegenwärtiges und zukünftiges Schicksal, als dass Molly sich hätte gestatten können, über ihre »menschliche« Seite nachzudenken. Und doch sah sie Birra plötzlich an und fragte sich, ob er eine Frau und Kinder zu Hause hatte und was es war, das er sich von ihr für sich selbst und für seine Welt erhoffte, das zu tun er selbst nicht imstande war. Plötzlich ärgerte sie sich über diese selbstgefälligen kleinen Bastarde von Tradona, die die Unverschämtheit besaßen, an ihr zu zweifeln - und dabei wusste sie nicht einmal, warum sie überhaupt in Oria war. Sie hatte davon gehört, dass Menschen sich mit ihren Wächtern identifizierten. Sie hatte ein Überlebenstraining mitgemacht und gelernt, wie man mit Verhören und Folter und ähnlichen Dingen umging und wie man aus einer solchen Sache halbwegs unversehrt wieder herauskam - immer vorausgesetzt natürlich, dass man überlebte. Sie erkannte Zeichen an sich selbst, die ihr nicht gefielen - Zeichen, dass sie sich mit ihren Wächtern identifizierte. Sie musste weg von hier, und zwar schnell. Aber sie war sich nicht mehr ganz sicher, ob sie das wirklich wollte. 167 Cat Creek Eric und June Bug saßen in dem Streifenwagen etwa zwei Meilen außerhalb von Cat Creek, auf einem unbefestigten Weg, der parallel zur Hepner's Road und den Baumwollfeldern der alten MaCready verlief. »Näher fahren wir nicht an Rockingham heran?«, fragte June Bug ihn. »Noch nicht. Ich bin mir nicht sicher, was wir hier vorfinden werden, und ich möchte meine Feinde nicht im
Rücken haben, wenn ich mich darum kümmere.« June Bug nickte. »Ich weiß, dass du nicht derjenige warst, der diesen Zauber benutzt hat, und ich weiß, dass ich es nicht war. Hast du irgendwelche Hinweise darauf gefunden, wer es gewesen sein könnte?« Eric schüttelte langsam den Kopf, den Blick auf seine Hände gerichtet. Er hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass die Knöchel weiß wie gedämpfte Mandeln hervortraten. »Dieser Hurensohn, wer immer es ist, hat uns mit dem Rücken an die Wand gedrängt. Er kann hingehen, wohin er will, tun, was er will...« »Es könnte auch eine Sie sein«, warf June Bug ein. »Ich benutze das Personalpronomen er ganz allgemein.« »Also schön. Lass es dich nur nicht blind machen gegen die verschiedenen Möglichkeiten.« »Ich wollte sagen ...« Er sah zu ihr hinüber, um sicherzustellen, dass sie ihn diesmal aussprechen lassen würde. Sie erwiderte seinen Blick ohne einen Wimpernschlag und sagte nichts. Er räusperte sich. »Ich wollte sagen ... wer immer das getan hat, kann hingehen, wohin er will, tun, was er will, und weil er ... oder sie ... weiß, wer wir sind, wo wir sind und wie wir arbeiten, kann er sich benehmen, als wären wir gar nicht da. Wir sind blind, und er hat die Augen ei168 nes Scharfschützen und ein gottverdammtes Radar-, Sonar- und Nachtsichtgerät.« »Im Augenblick wissen wir durchaus etwas, das er nicht weiß«, erwiderte June Bug. »Und was soll das sein?« »Dass er einer von uns ist.« Eric lehnte sich in das Polster, schloss die Augen und massierte sich die Schläfen. Hinter seinen Augäpfeln machten sich Kopfschmerzen breit; der Druck baute sich langsam auf und drückte ihm von innen gegen den Schädel, als ballten sich dort Gewitterwolken zusammen. Er bekam nicht genug Schlaf. Und der Schlaf, den er bekam, schenkte ihm keine Erholung. Die Albträume, die ihn des Nachts plagten, hatten sich in die reale Welt verlagert, und wenn er nicht schnell dahinter kam, was hier vorging - und wie er es auf der Stelle beheben konnte -, würde die Welt, wie er sie kannte, untergehen. Und es würde seine Schuld sein. »Einer von ihnen ist einer von uns«, pflichtete Eric ihr bei. »Wenn wir verhindern können, dass der Betreffende erfährt, dass wir das wissen, können wir vielleicht herausfinden, was er getan hat, und es wieder gutmachen.« »Einen Moment mal.« June Bug wirkte ehrlich verwirrt. »Einer von ihnen ist einer von uns? Was bringt dich auf den Gedanken, es könnte mehr als eine Person dahinter stecken?« »Verschiedene Dinge. Lauren Dane ist plötzlich in der Stadt aufgetaucht; in ihrem Haus öffnet sich ein Tor, das bis zu ihrem Erscheinen geschlossen war; ihre Eltern haben die Wächter verraten; und kaum ist sie hierher gekommen, ist Molly McColl verschwunden, und das Problem in Rockingham hat seinen Anfang genommen.« »Lauren hatte niemals auch nur einen Funken Begabung für Magie. Ich bin diejenige, die sie damals getestet hat. Sie 169 hat schon als Kind Schwierigkeiten geradezu magisch angezogen, aber sie konnte nichts von den Dingen tun, zu denen ihre Eltern in der Lage waren. Das war eine der größten Enttäuschungen für die beiden.« »Was ist, wenn sie es doch könnte?« »Ich habe es dir doch gerade erklärt, sie kann es nicht. Kinder können solche Dinge nicht verbergen.« »Nein. Normalerweise nicht. Aber wenn ihre Eltern Verräter sind, könnten sie es vielleicht doch.« June Bug sagte: »Als ich Lauren getestet habe, genossen ihre Eltern bei den Wächtern immer noch hohes Ansehen. Erst danach sind dann all unsere Torweber gestorben, und wir haben überall nach Ersatz für sie gesucht; wir hätten sogar kleine Kinder ausgebildet, wenn wir nur eine Verstärkung für Willie hätten finden können.« Eric warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Sie runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?« »Du bist selbst nie Mutter gewesen. Stell dir einmal vor, du hättest eigene Kinder. Stell dir vor, dass überall Torweber sterben wie Fische in einem vergifteten Fluss, und du hättest ein Kind mit dem Potenzial zum Torweber - ein Mädchen -, das in späteren Jahren in der Lage sein würde, ein Tor aufzusprengen, das von den besten und erfahrensten Torwebern, die die Wächter jemals gehabt haben, verschlossen und versiegelt wurde. Du liebst deine Tochter. Du möchtest nicht, dass ihr etwas zustößt - und solange niemand weiß, dass sie Torweberin werden könnte, wird ihr wahrscheinlich auch nichts geschehen. Was würdest du tun?« June Bug dachte nach. »Ich würde eine Möglichkeit finden, ihr Potenzial zu verbergen. Aber du verstehst nicht Erwachsene können Dinge vor anderen Erwachsenen verstecken, aber Kinder sind lausige Lügner. Man hatte Lauren nicht manipuliert. Ich hätte es gemerkt.« 170 »Nach allem, was ich gehört habe, waren ihre Eltern brillant. Sie hätten im Nördlichen Rat sitzen können; sie hätten Repräsentanten im Europäischen Rat sein können ... Sie waren viel zu gut, um hier zu bleiben. Aber sie sind geblieben. Selbst nachdem die Wächter sie ausgestoßen hatten, sind sie geblieben.« »Du willst sagen, dass sie Lauren manipuliert haben, dass sie ihre Sache so hervorragend gemacht haben, dass ich niemals einen Hinweis entdeckt habe, dass sie schon damals bestimmte Pläne mit ihr hatten, und dass sie
jetzt hier ist, um eine ungeheuere Verschwörung in die Tat umzusetzen, die ihre Eltern vor einem Vierteljahrhundert eingefädelt haben, und dass sie mit einem von unseren Leuten unter einer Decke steckt... Was bedeuten würde, dass wir seit mindestens fünfundzwanzig Jahren einen Verräter in unserer Mitte haben.« »Nein. Ich sage lediglich, dass sie hier und ihr Tor offen ist. Und soweit ich das beurteilen kann, ist sonst niemand in ihrem Haus gewesen. Und ich sage, dass seit ihrer Rückkehr in die Stadt furchtbare Dinge geschehen sind.« Erics Kopf fühlte sich so an, als würde er buchstäblich explodieren. Er legte sich die Hände über die Augen und drückte sich mit den Fingern auf die Augäpfel, um den Schmerz zu vertreiben, aber es half nichts. »Mehr kann ich dazu nicht sagen, ohne mit ihr gesprochen zu haben. Aber ich denke, dass ein solches Gespräch dringend notwendig ist.« »Und wenn sie nichts über die Wächter weiß oder über die Tore oder den Fluss von Magie zwischen den Welten ...?« »Dann wird sie denken, ich hätte Drogen genommen. Genau das hat sie wahrscheinlich schon gedacht, als wir noch zusammen zur Schule gingen.« »Damals lag sie mit ihrer Vermutung nicht ganz falsch.« Eric öffnete die Augen und ließ den Motor an. »Ganz Un171 recht hatte sie nicht, nein, ich war kein Musterknabe. Ich bilde mir allerdings gern ein, dass ich zu einem anständigen Mann herangewachsen bin.« June Bug lachte leise und tätschelte seine Hand. »Du hast dich gut gemacht, das stimmt.« Dann fügte sie hinzu: »Ich habe übrigens über deinen Zauber nachgedacht, der vorhin drüben in Oria so danebengegangen ist.« »Allmächtiger.« »Keine Bange. Aber ich hätte mir beinahe gewünscht, der Zauber hätte mich auch erreicht.« Eric hatte bereits den Gang eingelegt, aber jetzt nahm er die Hand von der Gangschaltung und sah June Bug an. »Es gibt etwas, dass du jemandem erzählen möchtest?« »Nicht jedem. Aber irgendjemandem schon, denke ich. Geheimnisse, die man zu lange mit sich herumträgt, können irgendwann eine ziemliche Belastung darstellen.« »Wenn du es mir erzählen willst, werde ich das als eine Ehre betrachten und es niemandem erzählen, es sei denn, du bittest mich darum.« Er beobachtete, wie sie sich abwandte und aus dem Fenster starrte. Dann spielte sie mit dem Reißverschluss ihrer Jacke herum und zog ihn auf den kleinen Metallzähnen auf und ab. »Ich weiß. Ich möchte, dass jemand es erfährt. Verdammt noch mal, wie lange kennst du mich eigentlich?« »Mein ganzes Leben lang.« »Hast du dich je gefragt, warum ich nicht geheiratet habe?« »Eigentlich nicht. Ich habe mal gehört, dass ein junger reisender Vertreter dir den Hof gemacht hat, damals, zur Zeit der Wirtschaftskrise. Man hat mir erzählt, er sei später wieder dorthin zurückgekehrt, woher er gekommen war, und dass es dir das Herz gebrochen hätte und du ein und für alle Mal die Nase voll hattest von der Liebe.« »Das war eine meiner besseren Geschichten.« 172 Als Eric sich jetzt zu ihr umdrehte, sah sie ihn direkt an, einen seltsam trotzigen Ausdruck in den Augen. »Wenn es eine Geschichte ist, dann ist es eine gute. Einige unserer braven alten Burschen aus der Stadt haben mir den Mann beschrieben und auch erzählt, dass dein Vater sich mit einer Schrotflinte auf die Suche nach ihm gemacht habe. Ich habe alle möglichen Dinge gehört.« »Man braucht eine Lüge nur oft genug zu wiederholen, und die Menschen glauben am Ende wirklich, es sei die Wahrheit. Und dann schmücken sie die Geschichte selbst noch ein wenig aus. Es hat keinen Vertreter gegeben. Es hat niemanden gegeben. Niemals.« »Das ist traurig.« June Bug schürzte die Lippen und wandte den Blick ab. »Ja. Hm. Ich war ein paar Mal im Leben verliebt. Ich konnte die betreffenden Personen nur nicht haben - nicht, wenn ich in Cat Creek bleiben und meine Pflicht als Wächterin tun wollte.« Eric, der Klatschgeschichten genauso liebte wie jeder andere auch, fand dieses Geständnis faszinierend. »Wer war es?«, fragte er und erwartete, den Namen eines katholischen Priesters aus Laurinburg zu hören oder den eines verheirateten Mannes, der June Bug niemals eines zweiten Blickes gewürdigt hatte. Sie sagte: »Damals, als sie noch lebte, Marian Hotchkiss. In den letzten paar Jahren Charlise Tubbs.« Sie sprach so leise, dass er zuerst nicht recht wusste, ob er richtig gehört hatte oder ob seine Fantasie mit ihm durchgegangen war. »Laurens Mutter und Nancines ältere Schwester?« »Genau die.« Er dachte lange über diese Enthüllung und all ihre Konsequenzen nach. »Nun«, sagte er schließlich, und dann fiel ihm nichts ein, was er noch hätte hinzufügen können. 173 June Bug sah ihn von der Seite forschend an. »Wirst du mir von jetzt an auf der Straße aus dem Weg gehen?« Eric lächelte schwach. »Ganz und gar nicht. Es ist nur ein bisschen komisch, mir vorzustellen, dass wir beide, du und ich, vielleicht dieselbe Frau ansehen und uns dabei dieselben Dinge durch den Kopf gehen.«
»Ich habe meine Gefühle niemals ausgelebt«, sagte June Bug nach einem kurzen Schweigen. Sie blickte hinaus auf die braunen Stoppeln, die alles waren, was von der Baumwollernte des Sommers noch übrig geblieben war. »Es liegt wohl an meiner Erziehung, ich dachte, es sei nicht recht. Jetzt... irgendwie wünschte ich, ich hätte mich anders entschieden. Wenn die Welt ohnehin untergehen wird, wäre es schön gewesen, es ... erlebt zu haben. Nur ein einziges Mal.« Als Jake endlich eingeschlafen war, streckte Lauren sich mit einem Seufzer der Erleichterung mit dem Notizbuch ihrer Eltern, einem Kugelschreiber und einem eigenen Block auf ihrem Bett aus. Sie hatte sich vorgenommen, das Vermächtnis ihrer Eltern zu entschlüsseln, Licht in das verworrene Durcheinander ihrer Vergangenheit zu bringen und die Wahrheit zu finden, die am Ende all dieser Lügen lag. Wenn man das Notizbuch von vorn bis hinten durchlas, war es nicht mehr ganz so unverständlich wie zuvor, als sie einfach in der Mitte angefangen hatte, und das zumindest beruhigte sie ein wenig. Ihre Eltern beschrieben, was sie vorhatten; sie wollten eine Methode entwickeln, um magische Energie aus Oria durch die Erde hindurch in die Welt zu leiten, die sie Kerras nannten, und das ohne Verluste oder Mutation. Das ergab einen gewissen Sinn für sie - sie wusste, wo die Erde war, sie wusste, wo Oria war, und sie verfügte inzwischen über eine gewisse persönliche Erfahrung mit Magie. Das Wort Kerras sagte ihr nichts, aber es 174 war eine seltsame Art von Leere, die der Name in dieser Welt in ihr auslöste. Sie konnte die Manipulationen in ihrem Gehirn spüren, wann immer sie daran dachte, und ihr wurde klar, dass ihre Erinnerungen in Bezug auf Kerras hinter der Barriere, die ihre Eltern aufgerichtet hatten, unversehrt war. Um an diese Erinnerungen heranzukommen, brauchte sie nur das Werkzeug zu finden, mit dessen Hilfe sie die Mauer entfernen konnte. Sie las weiter. Der Abend schritt voran, und die Stille um sie herum wurde so absolut, dass sie ihre eigene Art von Dunkelheit verströmte. Jenseits des gelben Lichts, das ihre Lampe auf ihren Nachttisch warf, draußen, wo die Kälte herrschte, wo bleiche Sterne vom Himmel herabblinkten und der Mond den Raureif auf den Gräsern schimmern ließ, konnte sie das Gewicht von Bewegung spüren, die reglose Musterung von Augen, die sie beobachteten, den geduldigen Atem von irgendjemandem oder irgendetwas, das darauf wartete, dass sie in eine Falle tappte. Sie durchforschte die vergilbten Seiten, untersuchte ihre Gestalt und ihre Beschaffenheit und hielt Ausschau nach dem Mechanismus der Falle, die man ihr gestellt hatte. Wenn sie einen Moment lang die Augen schloss, konnte sie die Magie wieder spüren, das Grollen des Gewitters in der Ferne, die zuckenden grünen Blitze, auf denen sie von einer Welt zur nächsten reiten konnte. Und aus dem Herzen des Gewitters lächelte ihr Brian entgegen. Er schien so nah zu sein, dass sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um ihn zu berühren - so nah, dass sie die Kluft des Todes überwinden und ihn zu sich zurückholen konnte. So nah, dass sie sich beinahe in seiner Umarmung verlieren konnte. Sie gab sich der Geborgenheit dieser Nähe hin, die sie mit einem Gefühl der Sicherheit umgab, bis sie beinahe Brians Gesicht sehen konnte ... beinahe seine Stimme hören konnte. 175 Er stand dicht neben ihr. Noch ein Schritt, ein paar Zentimeter weiter, sie brauchte sich nur ein klein wenig vorzubeugen, die Hand auszustrecken, den Atem anzuhalten und es zu versuchen. Sie drängte weiter, kämpfte um dieses winzige Etwas, das sie zu ihm führen würde, und als befinde sie sich in einem Traum, stolperte sie plötzlich. Und fing sich wieder. Und die Illusion, er sei bei ihr, zersprang wie Zuckerglas. Sie fuhr hoch und riss die Augen auf. Tränen strömten ihr über die Wangen. Sie schluchzte, wie sie es in der Nacht getan hatte, als die Nachricht von seinem Tod gekommen war; in diesem Augenblick war ihre Trauer so frisch wie am ersten Tag, und sie konnte kaum atmen vor Verzweiflung. Man hatte ihr Brian ein zweites Mal entrissen. Als ihr Atem wieder ruhiger ging und sie sich die Augen trocknen konnte, ohne dass sie sich sofort wieder mit Tränen füllten, sah sie zu Brians Bild hinüber, das ihr vom Nachttisch aus entgegenlächelte. Sie hatte niemals eine Nacht verbracht, in der sie dieses Bild nicht sehen konnte. Nicht vor seinem Tod. Nicht danach. Auch jetzt sah sie ihn an, und er schien weiter fort zu sein als je zuvor, als hätte sie in irgendeiner Art von Prüfung versagt, und aufgrund ihres Versagens wurden nun selbst ihre Erinnerungen an ihn dünn und blass und hohl. Auf seiner blauen Uniform prangten Bänder von Aufenthalten in Deutschland, Italien und Saudi-Arabien Zeugnis für seine Liebe zu seinem Land; der kecke Winkel seiner Fliegerkappe kündete von seinem unzerstörbaren Optimismus; und das warme Leuchten in seinen Augen sprach von seiner Liebe zu ihr. Er hatte ihr einmal erzählt, dass er an sie gedacht hatte, als das Foto gemacht worden war; dass er sie wissen lassen wollte, dass er sie liebte und immer bei ihr sein würde. Dieses Lächeln und diese Augen waren ihr wie ein Verrat 176 vorgekommen in jener Nacht, als sie die Nachricht von seinem Tod erhalten hatte. Es war ein dummer, sinnloser Unfall gewesen. Brian war mit dem Bus vom Stützpunkt nach Hause gefahren, und der Bus war auf einer vereisten Straßenstelle ins Rutschen geraten, so dass der Fahrer die Kontrolle verlor. Der Bus sah wie eine Blechdose aus, die unter einen Lastwagen geraten war. Aber alle Fahrgäste waren wieder herausgekommen - oder zumindest gekrochen -, alle bis auf Brian. Es hätte jeden anderen treffen können. Es hätte einen anderen treffen sollen. Aber so war es nicht gewesen. Der Arzt sagte ihr, dass Brian sofort tot gewesen sei, dass er nicht gelitten habe; der Pfarrer des Stützpunkts bot
ihr das wenige an Trost an, das er zu bieten hatte; Brians Freunde weinten und erzählten ihr, was für ein großartiger Kerl er gewesen sei; die anderen Soldatenfrauen waren mit selbst gebackenem Kuchen, Umarmungen und Tränen zu ihr gekommen. Bei der Beerdigung war der Sarg schon zu gewesen, aber sie wusste, dass Brian wirklich darin lag. Wirklich tot war. Sie wusste es, weil sie die Leere des Planeten spürte, die Leere in ihrem Herzen, weil es nicht mehr genug Luft auf der Welt zu geben schien. Brian war tot, sein Versprechen gebrochen, und der Traum, der so verlockend vor ihr gelegen hatte, war eine Lüge. Und plötzlich hatte sie hier, auf diesem Bett, etwas von ihm ganz in ihrer Nähe gespürt, hatte die Magie gespürt, die ihr Geburtsrecht war und durch ihre Adern floss, und sie hatte geglaubt, dass sein Versprechen vielleicht doch mehr bedeutete als die Worte, die Liebende einander zuflüsterten, um die Dunkelheit fern zu halten - dass sie Brian vielleicht doch zurückbekommen, dass sie den Tod betrügen und ihn buchstäblich aus den Fängen des Todes zurückgewinnen konnte. 177 Doch der Tod lachte sie nur aus. Brian war für immer fort, und sie war eine Närrin gewesen, zu glauben, dass die Magie ihr vielleicht die Möglichkeit geben könnte, ihn wieder zu sehen, ihn wieder zu berühren und ihr noch einmal das Gefühl der Ganzheit geben könnte, das sie nur zu der Zeit verspürt hatte, als er ein Teil ihres Lebens gewesen war. Die Echos, die sie von ihm spüren konnte, wenn sie sich zwischen den Welten bewegte, waren eben genau das, Echos. Sie hätte am liebsten geschrien und das Buch ihrer Eltern quer durch den Raum geschleudert. Einen winzigen Augenblick lang wünschte sie sich zu sterben. Sie wollte glauben, dass Brian auf der anderen Seite des Todes auf sie wartete. Sie wollte ihn dafür hassen, dass er sie allein zurückgelassen hatte, nachdem sie nach einem Leben voller Leere und Einsamkeit endlich die Liebe gefunden hatte, nach der es sie so sehr verlangte. Wenn die Magie ihr Brian nicht zurückgeben konnte, wozu war sie dann gut? Sie stand aus dem Bett auf und ging vor Kälte zitternd zum Fenster hinüber. Die kahlen Bäume vor ihr streckten ihre Zweige nach dem Mond aus; jetzt hatten sie nichts Sanftes oder Freundliches mehr. Kein Laut hallte in dem Brunnen aus Schweigen wider, in dem sie stand. Sie betrachtete die Dunkelheit draußen, die eisige, grimmige Welt jenseits ihres kleinen Teichs aus Wärme und Licht. Sie starrte zu den Sternen empor, die durch die unendliche samtene Schwärze des Raums blinkten und Welten und Wunder jenseits ihrer Reichweite versprachen. Sie dachte, ich habe nie viel gewollt. Meinen kleinen Anteil an Zeit und Raum, mein kleines Fleckchen, an dem Ordnung und Liebe herrschen, die wenigen Menschen, die meinem Universum Grenzen und Schranken geben und einen Grund, warum ich existiere. Brian ... Jake ... ich. Ich habe den Verlust meiner Eltern akzeptiert. Ich habe akzeptiert, dass wir drei alles waren, was wir hatten. 178 Aber ich will ihn zurückhaben, und ich kann ihn dort draußen spüren, und ich werde nicht einfach müßig dastehen und mich geschlagen geben, wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, irgendeine, die schreckliche Ungerechtigkeit wieder gutzumachen, die ihn mir genommen hat. Sie verstand den griechischen Sänger, der in die Hölle gegangen war, um seine Geliebte zurückzuholen. Sie hätte mit Freuden die Gefahren eines solchen Unternehmens auf sich genommen, das klare Ziele und klare Regeln hatte. Geh in die Hölle, hol dir, was du willst, erkämpfe dir den Rückweg und sieh dich nicht um. Sie hätte es tun können. Sie hätte es getan. Sag mir nur, was ich machen soll. Es würde jedoch nicht geschehen - in dem Buch ihrer Eltern stand nichts davon, dass man Tote zum Leben erwecken, einen verlorenen Geliebten zurückholen oder einem Geist einen Körper geben konnte. Es gab keinen einfachen Weg in die Hölle, keine klar formulierten Regeln, nichts als das schwer fassbare Gefühl, dass sie irgendetwas ... tun könnte. Sie reckte das Kinn vor und drückte die Schultern zurück. »Ich könnte etwas tun.« Wie viele Witwen hatten jemals auch nur das bekommen? Sie schlüpfte in ihre Frotteepantoffeln, zog sich einen dicken Morgenmantel über und ging die Vordertreppe hinunter. Sie trat vor den Spiegel in der Diele, starrte hinein und versuchte, das grüne Feuer herbei zu zwingen. Zuerst blieb der Spiegel dunkel; vielleicht hungerte sie nicht genug nach der Berührung der anderen Welt, oder vielleicht war sie noch zu sehr erschüttert von ihrem Traum, in dem Brian da gewesen war. Sie berührte den dunklen Spiegel und trat so nahe vor das Glas, dass sie in die dunklen Teiche ihrer Augen sehen konnte. Welches Wissen hatten ihre Eltern in ihrem Kopf versteckt? Welche Geheimnisse lagen in ihrer 179 verletzten Erinnerung verborgen? Und welche Bedeutung hatte ihr Wissen für andere? Embar zufolge waren ihre Eltern deswegen gestorben. Und er hatte auch gesagt, dass es Menschen gebe, die sie, Lauren, dafür töten würden. Sie musste herausfinden, was es war. Sie dachte an Jake und fragte sich, was mit ihm geschehen würde, wenn jemand ihr in die andere Welt nachkäme. Furcht kämpfte mit Wut - in den Augen ihres Spiegelbilds knisterte das grüne Feuer, und ferner Donner grollte.
Diesmal hielt sie das Feuer auf Abstand - sie ließ es nicht ganz bis zu ihr vordringen. Das Tor blieb geschlossen, aber als sie die Hände vor den Spiegel hielt, konnte sie die knisternde Energie in ihren Fingern spüren, die sie näher heranziehen wollte, die sie zwingen wollte, mit dem Feuer eins zu werden. Sie wollte lediglich die Magie spüren und dem Sturm lauschen, der durch ihre Adern strömte. Während das kalte grüne Feuer unter ihren Fingerspitzen vibrierte, schloss Lauren die Augen und überließ sich einfach den Bewegungen der Magie. Zuerst spürte sie nichts als das Aufwallen und Prickeln des kleinen Stücks Magie, das über ihre Hände strich - aber dann veränderte es sich langsam, und sie hielt weiter die Augen geschlossen und die Sinne weit geöffnet. Ganz im Bann einer einzelnen Welle, gestattete sie sich nach und nach, das Krachen der Brandung zu hören, und sie stellte fest, dass sie, wenn sie sich von dem Fluss der magischen Energie tragen ließ, diese als ein Gewebe sehen konnte, das um sie herum verlief, Linien einer feineren Energie, die sich in alle Richtungen zogen. Sie hätte die winzige Spinne im Herz eines riesigen Netzes sein können, aber die Spinnweben, die sie kannte, folgten einer zarten Ordnung, einer erkennbaren Form, einem Gefühl von Richtung und Ziel. Das Gewebe der Magie, das sie umschloss, verfügte über nichts von alledem. Die helleren Bereiche 180 waren alle miteinander verbunden und überkreuzten ihre eigene Welt bis hinab nach Oria, ohne dass Lauren irgendeine Barriere hätte erkennen können. Aber die Linien erstreckten sich nicht nur bis nach Oria, sondern auch weiter hinab. Außerdem erstreckte sich das Netz gleichzeitig nach oben, aber die Fäden, die in diese Richtung führten, wirkten verkrüppelt und verdorrt und auf eine Art und Weise erschreckend, die Lauren weder definieren noch begreifen konnte. Sie konzentrierte sich auf das eine, das sie innerhalb des Energieflusses suchte: Sie rief nach Brian. Die Energie strömte unter ihren Fingerspitzen dahin, brandete auf, schwoll an, summte. Lauren nahm Verbindung mit dieser Magie auf, bot ihr alles an, was sie von Brian wusste, alles, woran sie sich erinnerte, alles, was sie je geliebt hatte. Sie bat die Leere und die Unendlichkeit, die sich vor ihr erstreckten, nur um eines: Wenn er dort ist, wenn er noch immer existiert, wenn er mich noch immer kennt und mich liebt, so wie ich ihn kenne und ihn liebe ... dann bring ihn her zu mir. Wenn sie in das Tor hineintrat, dessen war sie gewiss, würde sie die Antwort deutlicher spüren können; sie zweifelte nicht daran, dass die Magie direkt zu ihr sprechen würde, wenn sie wirklich durch ihr Fleisch, ihre Nerven, ihre Sehnen und ihr Blut strömen konnte. Aber solange Jake im oberen Stockwerk in seinem Bett schlief, klein und hilflos, würde sie sich nicht so weit von ihm trennen. Sie würde die Antwort der Magie nur mit den Fingerspitzen lesen, nur aus der Ferne. Und wenn die Leere ihr keine Antwort gab, würde sie am Morgen Jake mitnehmen und die Frage noch einmal stellen. Sie wartete, beobachtete das magische Gewitter im Spiegel und konnte in dem lautlosen Knarren des Hauses den Donner in einer anderen Welt und einer anderen Zeit 181 spüren. Sie zitterte vor Kälte, die doch vielleicht nicht der einzige Grund für ihr Zittern war. Und plötzlich blickten ihr aus dem Spiegel Augen entgegen, die nicht ihre waren, aber ihr genauso vertraut wie die eigenen. Kein Laut, keine Warnung; im einen Moment sah sie nur sich selbst, im nächsten sah sie Brian. Um ein Haar hätte sie laut aufgeschrien. Er legte die Hände auf die andere Seite des Spiegels, als blicke er durch ein rechteckiges Fenster zu ihr hinüber. Er sah genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte; groß und schlank und attraktiv, bekleidet mit dem schwarzen T-Shirt und der Uniform, die er getragen hatte, als sie ihn das letzte Mal lebend gesehen hatte. Er lächelte sie an, und sie begann zu weinen. »Brian.« Seine Lippen bewegten sich, aber sie konnte ihn nicht hören. »Ich kann dich nicht verstehen«, sagte sie, und dann konnte sie plötzlich von seinen Lippen lesen. Er sagte: »Ich kann dich nicht verstehen.« Die Mauer eines ganzen Universums stand zwischen ihnen, aber wenn sie hindurchgehen konnte, konnte er es dann auch? Das Tor funktionierte in beide Richtungen. Wenn man es offen ließ, würde es sich erst wieder schließen, wenn etwas in die eine oder andere Richtung hindurchgegangen war. Wenn dieses Etwas, das hindurchkäme, Brian war... Sie drückte beide Hände auf die Oberfläche des Spiegels und zwang das Tor ungeachtet aller möglichen Gefahren, sich zu öffnen. Einen Augenblick lang stand sie im Zentrum des Gewitters. Das grüne Feuer blitzte über die Oberfläche des Spiegels und beleuchtete den Raum, das einschläfernde Summen der Magie flehte sie an, mit ihm zu verschmelzen. Aber 182 diesmal trat sie zurück und bedeutete Brian, zu ihr zu kommen. Das Glas wölbte sich unter dem Druck seiner Hände nach außen und zog sich dann von ihm zurück, als er hindurchtrat, beinahe als stiege er aus einem See mit einer spiegelglatten Oberfläche. Das grüne Feuer erstarb, und Brian stand vor ihr, so nah, dass sie die Wärme seiner Haut spüren, so nah, dass sie den Geruch seines Rasierwassers riechen konnte, so nah, dass sie die Hand ausstrecken und ihn berühren konnte. Mit zitternden
Fingern tat sie es, und zitternd strich sie mit den Fingern über das warme, feste Fleisch seines Unterarms - sie spürte die weichen, goldenen Härchen, die harten Muskeln, die glatte, makellose Haut. Plötzlich konnte sie nicht mehr atmen und nicht mehr sehen, ihre Kehle war wie zugeschnürt, und Tränen quollen aus ihren Augen. »Oh Brian«, wisperte sie, schlang die Arme um seinen Hals und schluchzte in sein Hemd. »Oh Gott, Brian, du bist wirklich hier.« Sie spürte die Kraft der Arme, die sie umfangen hielten, die Brust, an die sie sich drückte, und sie legte den Kopf in den Nacken, um ihn zu küssen, wie sie es sich erträumt hatte, wie sie es ersehnt hatte. Und er löste sich von ihr und schüttelte langsam den Kopf. »Brian«, flüsterte sie benommen. »Ich bin nicht dein Brian«, erklärte er ihr mit einer Stimme, die sie niemals vergessen würde, die zu lieben sie niemals aufhören würde. »Das bist du. Das bist du. Du bist jetzt wieder bei mir, und alles wird gut werden.« Aber er schüttelte den Kopf. Nein. Nein. Sie wollte schreien. »Ja!«, sagte sie. »Ich habe dich zurückbekommen. Du gehörst jetzt mir. Der Tod verliert. Ich brauche dich nicht gehen zu lassen.« Und er sagte: »Ich war nicht tot. Ich bin niemals tot gewesen.« Er runzelte die Stirn, und sie konnte den Schmerz in 183 seinen Augen sehen, als er erklärte: »Du bist eine Lauren, aber du bist nicht meine Lauren. Meine Lauren ist im sechsten Monat schwanger mit unserem zweiten Kind. Ich nehme in drei Wochen meinen Abschied von der Luftwaffe, und wir gehen zurück nach Charlotte, wo ich einen Sicherheitsdienst aufmachen will.« Brians Sicherheitsdienst. Sein Traum, das, was er tun wollte, wenn sein Dienst bei der Luftwaffe zu Ende war. Er hatte pausenlos davon gesprochen. Und jetzt sagte er, dass es Wirklichkeit werden würde. Nur nicht mit ihr. Mit einer anderen Lauren. Einer schwangeren Lauren. »Wie kann das sein?«, flüsterte sie. »Wo bist du gewesen, und was soll das heißen, du seiest nicht mein Brian, du hättest eine andere Lauren. Sieh mich an.« Sie breitete die Arme aus. »Sieh mich an.« Er sagte: »Meine Lauren ist eine Torweberin. Du bist ebenfalls eine, sonst wäre ich nicht hier. Ich bin viele Male mit ihr durch die Tore gegangen.« Er lächelte. »Sie wird für ein Weilchen damit aufhören - damit wir Zeit für die Kinder haben, für ihre Eltern, meine Eltern ...« »Ihre Eltern?« »Aber ja.« »Meine Eltern sind tot.« »Das tut mir leid. Anderes Universum, andere Regeln.« Sie zitterte. »Erzähl mir. Erzähl mir, was du weißt.« Er nickte. »Ich habe nicht viel Zeit. Je länger ich hier bleibe, umso näher zieht meine Anwesenheit deine Welt und meine zusammen - ich bin eine Abnormität. Du weißt Bescheid über Oberwelten, Unterwelten, Nachwelt, Vorwelt, Seitenwelten?« »Oberwelt und Unterwelt. Ich war bisher nur in der Unterwelt, soweit ich mich erinnern kann, aber damals war ich noch ein Kind. Der Rest...« Sie zuckte die Achseln. Brian runzelte die Stirn. »Du solltest über diese Dinge 184 Bescheid wissen. Als du mich gerufen hast, hättest du die Gefahr, die dir drohte, kennen sollen.« »Es hat Probleme gegeben«, sagte sie, gab aber keine näheren Erklärungen ab. »Dann müssen wir uns beeilen. Die Nachwelt ist die Welt, die deiner Welt in der Zeit folgt, die in der Zukunft liegt, aber auf derselben Spur. Du kannst in dieser Welt nur Zeitpunkte erreichen, die nach deinem Tod liegen aber diese Grenze ändert sich ständig. Wenn du heute anfängst zu rauchen, kannst du danach vielleicht eine Stelle in der Nachzeit erreichen, die zwanzig Jahre vor dem Punkt liegt, den du gestern Abend als frühesten erreichen konntest - das Ergebnis deiner Entscheidung wird dein Leben, wenn die Dinge so bleiben, wie sie sind, um zwanzig Jahre verkürzen. Wenn du morgen dann mit dem Rauchen wieder aufhörst, wirst du vielleicht feststellen, dass diese zwanzig Jahre in der Nachwelt für dich wieder unzugänglich geworden sind. Es ist gefährlich, in die Nachwelt einzudringen - du erreichst sie in körperlicher Gestalt, und du kannst handeln und Veränderungen vornehmen ... Aber wenn du das tust, kannst du nicht mehr zurück. Alle Zeit vor dem Augenblick, in dem du die Dinge verändert hast, wird zu deiner Vergangenheit. Mit der Vorwelt ist es genauso. Du kannst in ihr nur die Zeit bis zum Augenblick deiner Empfängnis erreichen. Alles, was sich danach ereignet, ist dir verschlossen. Und du erreichst die Vorwelt nicht in körperlicher Gestalt - du bist beinahe ein Geist, gerade so, als würdest du in die Oberwelt gehen.« »Über die Oberwelt weiß ich Bescheid.« »In Ordnung. In der Vorwelt kannst du keine körperlich greifbaren Veränderungen vornehmen, aber du kannst manchmal Entscheidungen beeinflussen, Vorschläge machen. Aber dir steht keine Magie zu Gebote; weder in der Vorwelt noch in der Nachwelt kannst du tun, wozu du hier in der Lage bist.« 185 »Und die Seitenwelten?« »Aus einer davon hast du mich herbeigerufen. Es sind Welten, die parallel zu deiner existieren. Diejenigen, die
ganz in deiner Nähe sind, sind fast genauso wie deine eigene Welt. Je weiter du dich von deiner Welt entfernst, umso größer werden die Unterschiede. Du kannst in keine Seitenwelt eindringen, in der du bereits lebst.« »Was der Grund ist, warum du hier bist, aber du bist nicht mein Brian.« Er nickte. »Tut mir Leid. Und du kannst in keiner deiner Seitenwelten bleiben. Die Verbindung zwischen den beiden würde an der Wirklichkeit zerren.« »Das heißt, selbst wenn ich einen Brian fände, der seine Lauren verloren hat und der mit mir zusammen sein wollte ...« »Es würde nicht funktionieren. Ihr hättet bestenfalls ein paar Stunden zusammen, bevor irgendwelche Dinge durchbrechen würden. Ihr dürft einander nur selten sehen, mehr wäre zu gefährlich.« »Wie selten?« »Ein paar Mal im Jahr, schätze ich. Wiederholte Übertritte lassen das Gewebe der Wirklichkeit zwischen den beiden Welten dünn werden, und Durchbrüche würden immer häufiger werden, während die Dauer eurer gefahrlosen Zusammenkünfte von Mal zu Mal kürzer würde.« »Gibt es irgendeine Möglichkeit, wie ich ihn zurückbekommen kann?« Brian biss sich auf die Unterlippe. »Nicht in irgendeiner Gestalt, in der du ihn würdest haben wollen.« »Aber ich kann manchmal seine Gegenwart spüren. Ich kann ihn spüren, wenn ich von einer Welt zur anderen gehe. Dann wacht er über mich. Ich kann seine Stimme hören. Ich kann seine Berührung fühlen.« »Dafür habe ich keine Erklärung. Ich weiß nicht mehr als 186 du darüber, was nach unserem Tod mit uns geschieht. Aber von Lauren - meiner Lauren - weiß ich Folgendes: Der Tod ist das Tor, das du auf keinen Fall öffnen darfst.« »Brian ist ganz in meiner Nähe, und ich kann ihn spüren, und ich kann ihn nicht zurückbekommen? Ich kann ihn mit keiner Magie ganz zurückholen?« »Nein.« »Es gibt eine unendliche Anzahl von Welten, in denen er lebt...« »Und eine unendliche Anzahl von Welten, in denen er gestorben ist. Diese Wahrheit ist für uns alle dieselbe.« »Unendlich.« »Ja.« »Und ich kann ihn nicht zurückbekommen?« »So ist es.« »Ich würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um wieder mit ihm zusammen zu sein.« Brian - der Brian, der nicht ihr Brian war, der sie voller Mitgefühl, aber ohne die Liebe ansah, die ihr Brian für sie empfunden hatte - sagte: »Und jenseits von Himmel und Hölle wartet er vielleicht auf dich. Aber du kannst ihn von dort nicht zurückholen. Du kannst nur hinübergehen, um ihn zu treffen.« »Ich kann sterben.« »Eines Tages. Nicht heute. Nicht jetzt.« »Ich kann sterben.« »Das ist alles.« »Ich kann mit einem Atemzug, mit einem Gedanken Dinge erschaffen, ich kann mit einem bloßen Wunsch und einem Wimperschlag bauen und zerstören. Ich kann zwischen den Welten umhergehen, ich kann Gewitter herbeirufen und Berge einebnen. Und du sagst mir, dass ich meinen Brian nicht zurückbekommen kann?« »Du und deine Welt und dein Universum, ihr zahlt einen 187 Preis für jede eurer Handlungen. Du kannst zwischen den Welten wandeln, und du kannst Gewitter heraufbeschwören und Berge einebnen, Lauren, aber du ... bist... kein ... Gott.« Seine Stimme wurde weich. Er legte ihr die Hände auf die Schultern, und es waren die Hände, die sie gekannt und geliebt und verloren hatte, und ihre Knie wurden schwach, und ihr Blick trübte sich von Tränen. Es waren die Hände, die sie zurückhaben wollte, und mit der Stimme, die sie für den Rest ihres Lebens jeden Morgen beim Aufwachen neben sich im Bett hören wollte, sagte der Mann, der nicht ihr gehörte: »Du bist nur ein Mensch, aber weil du über deine eigene Welt hinausgreifen kannst, kannst du furchtbaren Schaden für dich und alle anderen in deiner Welt anrichten, einen so furchtbaren Schaden, dass der ganze Planet daran zugrunde gehen könnte. Deine Tat könnte ihn zerstören.« »Den ganzen Planeten?« Er nickte. Lauren hätte am liebsten herausgeschrien: Das ist nicht fair! Sie wollte mit dem Finger auf ihn zeigen und sagen: Du wirst von jetzt an mein Brian sein. Sie wollte die Welt, in der sie lebte, auflösen und sie neu schaffen, als eine Welt, in der ihr Brian noch existierte. Aber sie war kein Gott. Und irgendwo in den verborgensten Winkeln ihres Seins, in denen noch immer nicht all die begrabenen Erinnerungen zum Vorschein gekommen waren, wusste sie mit absoluter Sicherheit, dass dieser Mann ihr die Wahrheit sagte. Sie konnte die Toten nicht zum Leben erwecken - oder vielleicht konnte sie es doch, aber das, was sie dann erweckte, wäre nicht das, was sie wollte. Ihr Brian war tot, fortgegangen an irgendeinen Ort, den sie nicht erreichen konnte. Nichts, was sie tun konnte, würde ihn wieder zu dem machen,
was er gewesen war, zu dem, was sie wieder an ihrer Seite haben wollte. Er war sterblich 188 gewesen, und er war gestorben, und sie war sterblich, und sie würde mit dieser Wahrheit leben müssen und mit diesem Schmerz, bis auch sie starb und herausfand, ob jenseits der dunklen Leere des Todes irgendetwas auf sie wartete. Sie ließ den Kopf sinken und versuchte mit Macht, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen. Sie ballte die Fäuste, knirschte mit den Zähnen und presste die Augen zusammen, bis sich keine neuen Tränen darin bildeten. »Warum bist du gekommen, als ich dich gerufen habe?«, fragte sie, als ihre Stimme ihr endlich wieder gehorchte. »Weil ich meine Lauren von ganzem Herzen und ganzer Seele liebe, deinen ... nun, nennen wir sie deinen Zwilling, weil mir kein besserer Ausdruck einfällt. Weil sie dich gehört hat und mich gebeten hat, dir zu antworten, bevor irgendjemand - oder irgendetwas - an meiner Stelle hergekommen wäre.« Lauren bekam eine Gänsehaut bei seinen Worten, und ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken. »Wie meinst du das?« »Jeder Brian aus einer unendlichen Anzahl von Welten hätte auf deinen Ruf antworten können, je nachdem wie laut du gerufen hättest und wie viel Nachdruck du in deinen Ruf gelegt hättest. Aber nicht jeder Brian liebt dich. Nicht jeder, der auf deinen Ruf hin gekommen wäre, würde es gut mit dir meinen. Für jeden Brian, der Himmel und Erde bewegen würde, um dich zu lieben, wenn er könnte, gibt es einen Brian, der Himmel und Erde bewegen würde, um dir wehzutun. Und wenn du rufst, kannst du niemals im Voraus wissen, wer kommen wird.« Sie dachte an Jake, der unschuldig und vertrauensvoll oben in seinem Bett lag, dachte daran, wie bereitwillig sie den Mann in ihr Haus eingelassen hatte, der wie Brian aussah. Wie bereitwillig sie ihm vertraut hatte, ihn gewollt hatte. Er hätte irgendjemand sein können, irgendetwas ... aber 189 weil sie Brian so unbedingt zurückhaben wollte, hätte sie nicht an ihm gezweifelt, bevor es zu spät gewesen wäre. Hätte er ihr wehtun wollen, hätte dieser Brian durch den Spiegel treten, sie und Jake töten und ohne eine Spur wieder verschwinden können. Sie schauderte, und Brian nickte. »Du erkennst die Gefahr.« »Ja«, flüsterte sie, schlang die Arme um sich und sah ihn an. »Gut.« Er drehte sich um. »Ich wage es nicht, noch länger zu bleiben. Die Dinge fallen in beiden Welten schnell auseinander, wenn wir in die Seitenzeit gehen - ich will meine Lauren und meinen Jake nicht in Gefahr bringen. Ich muss zurück.« Sie nickte wortlos. Sie betrachtete seinen Rücken, und seinen Nacken, der so verletzbar wirkte, den kurz geschnittenen Haaransatz. Sie hätte die Umrisse seines Körpers im Schlaf nachzeichnen können; sie konnte die Augen schließen und wusste, wie es sich anfühlen würde, neben ihm im Bett zu liegen, das Gesicht an diese Stelle in seinem Nacken gedrückt. Sie konnte seinen Duft einatmen. Er war so nahe. So nahe, dass sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um ihn zu berühren, aber er war nicht ihr Brian, und er würde ihr nie wieder gehören. »Muss ich dich nach Hause schicken?« »Wenn du das Tor für mich öffnen würdest, finde ich allein heim.« Sie ging an ihm vorbei, wobei sie darauf Acht gab, ihn nicht zu berühren; in diesem Augenblick konnte sie den Gedanken daran nicht ertragen, das Wissen, dass es die letzte Berührung sein würde. Sie drückte beide Hände auf den Spiegel und beschwor das Feuer und den Sturm auf sich herab, und als die anderweltlichen Flammen das Glas überhauchten, trat sie zurück. 190 »Danke«, stieß sie hervor. Sie hatte ihre Stimme wieder unter Kontrolle, hatte die Schultern durchgedrückt und den Kopf hoch erhoben. Sie versuchte nicht, zu lächeln - das wäre über ihre Kräfte gegangen. Er legte ihr sachte eine Hand auf die Schulter und sagte: »Für jede Tür, die sich schließt, öffnet sich irgendwo anders ein Fenster.« Brians Redensart. Die Redensart ihres Brian. Wieder ballte sie die Hände zu Fäusten, und sie nickte, außerstande, zu sprechen. Dann war er fort. 8 Cat Creek Eric blieb vor dem kleinen renovierten Lagerhaus stehen, das dem Sheriff von Cat Creek als Hauptquartier diente, und warf einen Blick durch das vordere Fenster. Pete Stark hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und die Nase in einem Buch vergraben. Bis jedoch die Tür hinter ihm zugeschlagen war, standen Petes Füße auf dem Boden, und er hatte Papiere vor sich ausgebreitet. »Ich habe nichts dagegen, dass du liest.« Pete errötete. »Ich weiß.« »Ich bin allerdings nicht übermäßig begeistert, wenn du die Füße auf den Schreibtisch legst - macht keinen guten Eindruck auf die Leute, die dich im Vorbeifahren sehen. Und da sie diejenigen sind, die dein Gehalt zahlen - und meins ...« Pete seufzte. »Ich bin etwas früher gekommen, weil ich gehofft habe, du hättest vielleicht im Molly-McColl-Fall
irgendetwas gehört.« »Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob wir wirklich einen Fall haben. Das Mädchen war noch nicht wieder zu Hause, aber das heißt nicht, dass sie nicht einfach für eine Woche weggefahren sein könnte, um Verwandte zu besuchen. Vielleicht hat sie nur vergessen, die Tür hinter sich abzuschließen.« »Ich weiß. Aber irgendwie fühlt es sich für mich nicht so an.« Eric nickte. »Geht mir genauso. Ich habe heute ein paar Dinge zu erledigen; du musst noch für ein Weilchen allein die Stellung halten.« 192 »Was Großes?« Eric zuckte die Achseln. »Größtenteils eher nicht. Ich habe eine mögliche Spur, die uns in dem Molly-McCollFall weiterhelfen könnte, sofern wir überhaupt einen Fall haben, und ich will der Sache später einmal nachgehen, aber vor allem habe ich zu Hause einiges zu erledigen.« »Ich rufe dich an, falls etwas Interessantes passiert.« Eric zog eine Augenbraue in die Höhe. »Was verstehst du unter etwas >Interessantem« »Straßenkrawalle, Vagabunden auf den Parkbänken, nackte Frauen auf dem Marktplatz.« Pete grinste schwach und sagte: »Obwohl ich mit nackten Frauen auf dem Marktplatz wahrscheinlich selber fertig würde.« Pete war ledig, wie Eric, aber im Gegensatz zu Eric war er nie verheiratet gewesen. Er war ein gut aussehender Bursche, stämmig und umgänglich, und Eric gab ihm noch zwei Jahre in Cat Creek, bevor die Langeweile und der Mangel an jungen, ledigen Frauen ihn in eine größere Stadt trieben. »Was die nackten Frauen betrifft, setze ich volles Vertrauen in dich.« Er gähnte und schüttelte den Kopf. »Bei allem anderen gibst du mir Bescheid, in Ordnung?« Pete tippte sich an die Stirn und sah Eric mit schmalen Augen an. »Ist mit dir alles in Ordnung, Boss?« »Ich habe in letzter Zeit nicht allzu gut geschlafen.« »Hattest du Gesellschaft?« »Schön wär's.« »Fahr nach Hause und ruh dich etwas aus, ich halte hier die Stellung.« »Danke für das Angebot, aber heute ist nicht der richtige Tag dafür.« Als Eric wieder im Wagen saß, steckte Petes Nase wieder in dem Buch. Zumindest hatte er diesmal nicht die Füße auf dem Schreibtisch. 193 Granger hatte Wachdienst, als Eric in den Raum über dem Blumenladen kam. »Alles ruhig?« »Nicht in meiner Schicht. Ich habe um eins von Willie übernommen - er meinte, er hätte nicht ein einziges Echo gehabt. Aber während meiner Wache hat sich zweimal ein wildes Tor geöffnet, und wir hatten einen Energiestoß. Die Vektoren zeigen auf dasselbe Haus.« »Lauren Dane.« »So sieht es jedenfalls aus.« Eric schnitt eine Grimasse. Eine Verräterin aus einer Familie von Verrätern. Das passte. Er sah sie zwar nicht gern in dieser Rolle, aber es half nichts. Die Menschen waren, was sie waren, und Teenagerschwärmereien hatten noch niemals etwas an einer elementaren Wahrheit geändert. »Ich übernehme die nächste Wache. Du kannst tun, was immer du ursprünglich vorhattest.« Er hatte einen Plan, aber da er nicht wusste, welcher der Wächter mit Lauren zusammenarbeitete, wollte er nicht, dass irgendjemand von seinem Vorhaben erfuhr. Er konnte sich Granger kaum in der Rolle des Verräters vorstellen, ebenso wenig wie er sich vorstellen mochte, dass er selbst dafür verantwortlich sein könnte, dass er eine potenzielle Katastrophe nach Cat Creek geholt hatte, aber er musste den Tatsachen ins Auge sehen. Er war nicht der Verräter, und June Bug war nicht der Verräter. Aber alle anderen könnten es sein. »Ich gehe nach Hause und schlafe ein bisschen«, erwiderte Granger. »Wahrscheinlich mit Hilfe einer guten Dosis Seconal. Ich habe keine Minute mehr richtig ausspannen können, seit...« Seine Stimme verlor sich, und Eric nickte. »Ich auch nicht. Ich hoffe, dass dein Schlaf besser wird als meiner.« Als Granger gegangen war, öffnete Eric das Tor im 194 Spiegel und ließ sich darin nieder, einen Notizblock, ein Lineal, einen Kompass und einen Bleistift auf dem Schoß. Er würde die Vektoren mit größter Genauigkeit einzeichnen; er wollte Lauren Dane nicht des Verrats bezichtigen, ohne sich so sicher wie möglich zu sein, dass sie für Mollys Verschwinden verantwortlich war. Dazu musste er mit einer Genauigkeit von einem Grad feststellen, dass ihr Haus die Quelle der Störungen war und dass Lauren diese Störungen auslöste. Er würde vielleicht ziemlich schnell zu Werke gehen müssen, aber er hatte den Plan, er hatte das Werkzeug dafür, und dank Pete hatte er auch die Zeit dazu. Umflutet von der Energie des Tors, erholte er sich langsam. Er nahm ein wenig von der Kraft in sich auf, die zwischen den Welten floss; im Allgemeinen versuchten die Wächter, nichts zu nehmen und nichts zurückzulassen, aber wenn er sich nicht wach halten konnte, würde er nichts erreichen. Als er spürte, dass das Tor sich öffnete, war er fit, gut ausgeruht und auf alles vorbereitet. Er skizzierte hastig den Vektor und sank ein wenig in sich zusammen. Es war Laurens Tor. Wenn er sich beeilte, konnte er
rechtzeitig in ihrem Haus sein, um sie zu erwarten, wenn sie durch das Tor zurückkam. Einen Moment lang dachte er darüber nach, ob er ihr nach Oria folgen sollte, aber die Erinnerung an den Sturm, der mit Laurens Zauber verknüpft war, hielt ihn davon ab. Wenn er sie zur Rede stellte, wollte er nicht gegen irgendeine Art von Magie kämpfen müssen, die sie ihm vielleicht entgegenschleudern würde. Er ging über die Hintertreppe nach unten, winkte Nancine flüchtig zu, sagte ihr, dass sie sich wegen der Wache keine Sorgen zu machen brauche - er habe die Schicht übernommen -, und machte sich auf den Weg zu Laurens Haus. Er ließ den Streifenwagen laufen und klopfte zuerst an die Haustür. Immerhin war es möglich, dass das Tor sich geöff195 net hatte, weil Lauren zurückgekehrt war, nicht weil sie fortgegangen war. Aber sie öffnete nicht, obwohl ihr Wagen unter dem Carport stand. Eric stieg wieder in den Streifenwagen, fuhr ihn auf die Rückseite des Hauses und parkte außer Sichtweite der Straße hinter der baufälligen alten Werkstatt. Dann brach er in Laurens Haus ein. Er fühlte sich nicht wohl dabei, aber er musste sie stellen, wenn sie durch den Spiegel trat. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Er musste mit eigenen Augen sehen, dass sie diejenige war, die das Tor öffnete, dass kein Irrtum möglich war - denn er würde dem Verräter, der seine Welt mit dem Untergang bedrohte, weder freundlich noch verständnisvoll begegnen, und er wollte nicht die falsche Person beschuldigen. Sobald er im Haus war, schloss er die Hintertür wieder ab und suchte sich einen bequemen Sessel, von dem aus er einen guten Blick auf den Spiegel in der Diele hatte, ohne dass jemand, der aus dem Spiegel trat, ihn sofort bemerkte. Dann machte er sich bereit für eine Wartezeit, die sehr lang werden konnte. Natta Cottage, Ballahara Mit Jake auf der Hüfte und dem Notizbuch ihrer Eltern unter dem Arm ging Lauren durch das Tor, um nach Embar zu suchen. Sie musste mit irgendjemandem über Brian sprechen, und Embar war das einzige lebende Geschöpf, mit dem sie wagen konnte, darüber zu reden. Aber in dem alten Cottage ihrer Eltern in Oria stimmte etwas nicht. Sie hätte durch den Spiegel in das Innere des Hauses gelangen müssen, fand sich stattdessen aber in einer Schneeverwehung hinter dem Haus wieder, mit Blick auf die mit Brettern vernagelte Hintertür. Rund um das Haus herum war der einst makellose weiße Schnee niedergetram196 pelt worden, und unter einem der zugenagelten Fenster sprenkelten gefrorene, hellrote Tropfen den Boden, Tropfen, die sie unangenehm an Blut erinnerten. Sie drückte Jake fester an sich, verharrte reglos und lauschte auf Eindringlinge, aber die einzigen Geräusche auf der Lichtung waren das Pfeifen des Windes über dem Schornstein und das unregelmäßige Knarren der Vordertür. Die Eindringlinge mussten die Tür offen gelassen haben. Sie überlegte kurz, ob sie auf der Stelle durch das Tor zurückkehren sollte, aber in Oria gebot sie über beträchtliche Magie. Falls irgendjemand in ihrem Haus auf sie lauerte, würde sie ihn mit einem einzigen Wort vertreiben können. Allerdings dachte sie gründlich darüber nach, welches Wort es sein würde, falls tatsächlich jemand aus der Dunkelheit auf sie zugestürzt käme; sie legte sich einen Zauber zurecht, der einen etwaigen Eindringling gefrieren lassen würde, wie die Eiszapfen, die von den Dachgiebeln herabhingen. Dann konnte sie ihn lange genug in dieser Erstarrung festhalten, um ihn auf geziemende Weise loszuwerden. Dieses Wort, das ihren Zauber aufrufen würde, auf den Lippen, stapfte sie durch den niedergetrampelten Schnee zur Vordertür hinüber und trat mit hämmerndem Herzen vorsichtig hindurch. Ein Bild der Zerstörung bot sich ihr. Jemand hatte die alten Möbel zerschmettert, den Schaukelstuhl, den Tisch, die anderen Stühle. Jemand hatte die alten Decken zerfetzt, die zusammengefaltet im Schlafzimmer gelegen hatten, und die Fetzen mitsamt den Polstern wie ein Wahnsinniger im Raum zerstreut. Jemand hatte jeden einzelnen der schweren, braunen Keramikteller auf den Boden geworfen, hatte die Keramikbecher zerschmettert und die kleine Handpumpe, die die Küche mit Wasser versorgte, mit einem Hammer zerschlagen. Das Wasser war schließlich gefroren, aber nicht, bevor es einen großen Teil des Fußbodens mit einem glasigen Teich überzogen hatte. 197 Die Zerstörung war sehr gründlich gewesen. Sie war außerdem sehr ... auffällig. Lauren runzelte die Stirn. Wer immer in ihr altes Haus eingebrochen war, war methodisch von Schrank zu Schrank gegangen, von Schublade zu Schublade, und er hatte jeden Gegenstand im Haus hervorgeholt und zerstört. Nichts war verschont geblieben, nichts übersehen worden. Aber es fehlte auch nichts. Wer immer das getan hatte, hatte das größtmögliche Chaos zurücklassen wollen - er hatte nicht nach etwas Bestimmtem gesucht oder auch nur nach etwas, das zu stehlen sich gelohnt hätte. Die Zerstörung selbst war das Ziel gewesen. Aber warum hatte der Betreffende das Haus nicht einfach angezündet und es dabei bewenden lassen? Lauren drang tiefer in das Haus ein, wobei sie die eisigen Stellen auf dem Fußboden mied und sich auf einen Angriff, auf irgendeine Bewegung gefasst machte. Die Schlafzimmertür war geschlossen. Das gefiel ihr nicht. Es passte nicht ins Bild; geschlossene Türen weckten den Eindruck von Ordnung, obwohl sie dahinter gewiss weitere Zerstörung erwarten würde. Eine geöffnete Tür hätte es ihr möglich gemacht, das Ausmaß der
Verwüstung mit einem Blick zu erkennen. Vorsichtig, das Wort, das ihren Zauber aufrufen würde, auf den Lippen, öffnete sie die Tür. Und hielt Jake hastig eine Hand vor die Augen, damit er nicht sah, was hinter dieser Tür lag. Embar war in dem Raum - oder das, was von ihm übrig war. Man hatte ihm an einem Dutzend Stellen ein Messer in den Leib gerammt, ihn verstümmelt und an die gegenüberliegende Wand genagelt. Neben seinem Leichnam standen mit Blut die Worte geschrieben: »Glaubst du, du bist so weit, dass du in unserer Liga spielen kannst?« Embar war tot, erfroren, und auf seinen geöffneten Augen hatte sich bereits eine weiße Frostschicht gebildet. 198 Sie konnte ihm nicht helfen. Tot war tot, wie Brian ihr erst wenige Stunden zuvor erklärt hatte, das Einzige im Universum, das sich nicht korrigieren ließ, das nicht einmal in der Macht von Göttern stand. Sie konnte ihn nicht retten, aber sie konnte sich und ihren Sohn in Gefahr bringen, wenn sie hier blieb. Und das würde sie nicht tun. Später, versprach sie Embar, während sie rückwärts aus dem Raum ging. Später würde sie eine Möglichkeit finden, noch einmal hierher zu kommen, sie würde ihn von der Wand abnehmen, ihm ein anständiges Begräbnis geben und einige Worte sagen, die ihrer Trauer Ausdruck verliehen, der Trauer um ihre einzige Verbindung zu ihrer wahren Kindheit, der Trauer um einen Freund, den sie gerade erst wieder gefunden hatte. Später. Zuerst musste sie ihren Sohn retten und sich selbst. Cat Creek Ihren kleinen Sohn fest an sich gedrückt und ein dickes, schwarzes Notizbuch unterm Arm, trat Lauren durch den Spiegel. Ihre Augen waren wild und ihr Haar zerzaust, und von seinem Sessel in der Ecke des Wohnzimmers aus konnte Eric ihre Furcht spüren. Sie ließ das Notizbuch fallen, das über den glatten Holzfußboden auf ihn zurutschte, dann drehte sie dem Spiegel, aus dem sie gerade herausgetreten war, den Rücken zu, als sei ein Feind ihr dicht auf den Fersen, stieß mit der Hand gegen das Glas und verschloss das Tor hinter sich. Als würde sie von etwas verfolgt, dachte Eric. Er wartete und gab keinen Laut von sich, aber seine Hand lag auf dem Griff seiner Pistole, und jetzt entsicherte er sie lautlos. In seinen Gedanken flackerten Bilder von Kreaturen auf, die Lauren durch den Spiegel verfolgen könnten. 199 Ihr Komplize; eins der vielen lästigen Geschöpfe Orias; oder etwas, das wirklich durch und durch böse war. Wie Renegaten aus den Reihen der Alten Götter. Seitenspringer. Oder vielleicht das Ding, das hinter dem fehlgegangenen Zauber steckte, der für die Ausbreitung der Grippeepidemie auf der Erde verantwortlich war. Eric beobachtete sie, wie sie ihren kleinen Sohn auf ihre andere Hüfte schwang und direkt an ihm vorbeistürzte, um im Laufschritt die Treppe hinaufzueilen. Er hörte, wie sie vor sich hin murmelte: »Wir werden jetzt packen, Schätzchen, und dann werden wir sofort von hier verschwinden. Sofort. Wir können uns für ein Weilchen ein Hotelzimmer nehmen - nur für kurze Zeit, bis wir irgendwo eine Wohnung finden, die wir mieten können. Wir werden schon zurechtkommen.« Er hörte, dass ihre Stimme brach, als sie die Treppe hinauflief, und ihm wurde klar, dass sie weinte. »Es gibt noch andere Plätze auf der Welt. Ich verspreche es dir. Bessere Plätze als diesen.« Eric hörte sie nach oben laufen, hörte Türen, die so heftig aufgerissen wurden, dass sie von den Wänden abprallten, er hörte, wie sie Schubladen aufriss und ihren Inhalt auf den Boden kippte. Ein Auge auf dem Spiegel, schob er sich vorsichtig zu dem Notizbuch hinüber, das auf dem Fußboden lag. Er schlug es auf und überflog es, sah sich die sorgfältig gezeichneten Diagramme und die säuberlich daneben notierten Instruktionen an, und als er begriff, was er da in Händen hielt, schlug sein Herz schneller, und sein Mund wurde trocken. Die Wächter hatten den Verdacht gehabt, dass die Hotchkisses unerlaubte Experimente mit Magie durchführten, aber diese Anklage hatte sich im Gegensatz zu den anderen niemals beweisen lassen. Jetzt jedoch lag dieser Beweis vor ihm. Was er in Händen hielt, war eine vollständige Aufzeichnung ihrer Verstöße. Diesen Aufzeichnungen mussten 200 etliche Jahre des Experimentierens zugrunde liegen, Risiken, die die beiden wissentlich eingegangen waren, obwohl jeder Wurf des Würfels das Ende der Erde oder zumindest ihres Anteils daran bedeuten konnte. Er hatte - noch - nicht genug, um Lauren Molly McColls Entführung zur Last zu legen, aber er hatte gewiss genug, um sie zu einem Verhör aufs Revier zu bringen. Allerdings ohne großes Aufhebens. Er wollte ihren Komplizen in den Reihen der Wächter nicht auf den Plan rufen. Lauren war in heller Panik gewesen, als sie durch den Spiegel getreten war, und Eric glaubte, einen guten Plan zu haben, wie er sie ohne das geringste Aufsehen aus dem Haus bekommen konnte. Er stand direkt hinter der Tür, den Blick auf den Fuß der Treppe gerichtet, als sie auf der obersten Stufe erschien. Sie hatte leichtere Kleidung angezogen und sich ihren Sohn wieder auf die Hüfte gesetzt. In der freien Hand trug sie eine Reisetasche, auf die der Name Dane aufgedruckt war. Es war eine Armeetasche. Die des toten Ehemanns. Sie ging vorsichtig die Treppe hinunter und passte gut auf, wo sie hintrat, denn die Tasche war offensichtlich sehr schwer; sie hatte ihn immer noch nicht gesehen. Ihre Wangen waren tränenüberströmt, aber sie weinte nicht mehr. Er sagte: »Lauren, wir müssen reden.«
Sie riss den Kopf hoch, starrte ihn an und öffnete den Mund zu einem Schrei - aber sie schrie nicht. Stattdessen wurden ihre Augen hart und kalt und gefährlich, und sie sagte: »Wenn du derjenige bist, der hinter dieser Schweinerei steckt ...« Sie zeigte mit dem Kopf auf den Spiegel. »Dann geh mir einfach aus dem Weg. Du hast gewonnen. Wir verschwinden von hier. Aber wenn du versuchst, meinem Sohn auch nur ein Haar zu krümmen, dann werde ich dir, so wahr mir Gott helfe, mit den Fingern die Augen auskratzen und dir mit bloßen Händen den Kopf abreißen.« 201 Sie klang ernst. Mehr noch, sie sah beinahe überzeugend aus. Er würde sie lieber nicht auf die Probe stellen, dachte er, es sei denn, es blieb ihm absolut keine andere Wahl. Frauen konnten üble Gegner abgeben. Stattdessen sagte er: »Ich weiß, was du bist.« Und sie fauchte: »Das beruht auf Gegenseitigkeit, Schätzchen. Ich weiß auch, was du bist. Und deine Eltern und einige der anderen Ungeheuer in dieser abscheulichen, schrecklichen Stadt. Ich hätte niemals zurückkommen sollen. Niemals.« Sie hatte inzwischen den Fuß der Treppe erreicht, und Eric stellte fest, dass er ihr direkt in die Augen sehen konnte. Sie war größer, als ihm bewusst gewesen war; ihre Größe überraschte ihn immer ein wenig, denn sie war ihm immer sehr zierlich vorgekommen, eine Beschreibung, die seiner Meinung nach nicht zu einer hoch gewachsenen Frau passte. »Nun, du hättest es wahrscheinlich nicht tun sollen, aber du hast es getan. Und jetzt wirst du mich für ein Weilchen aufs Revier begleiten; wir müssen reden.« »Und ich werde mit meinem Sohn in deinen Wagen steigen, und das wird das Letzte sein, was irgendjemand je von uns gesehen hat.« Jetzt erst bemerkte sie, dass er ihr Notizbuch in der Hand hielt. »Gib mir das zurück. Es gehört dir nicht.« »Für den Augenblick doch. Und es wird dir nichts zustoßen, wenn du mich begleitest. Das schwöre ich. Ich weiß nicht, wovor du wegläufst, obwohl ich mir einige der Möglichkeiten durchaus vorstellen kann. Eins weiß ich jedoch mit Gewissheit, dass ich dir oder deinem Sohn nichts antun werde, und ich werde auch nicht zulassen, dass ein anderer es tut.« Sie war eine Verräterin, dachte er. Eine Verräterin an ihrer Spezies, an ihrer Welt, an ihrem Universum - geradeso wie ihre Eltern Verräter gewesen waren. Aber wenn er 202 sie ansah, sah er keine Verräterin. Er sah ein siebzehn Jahre altes Mädchen mit Träumen von fernen Ländern, mit einem unstillbaren Hunger danach, die Welt kennen zu lernen; und er sah einen Frühlingsnachmittag vor sich, als er, nur ein einziges Mal, den Mut aufgebracht hatte, ihr einen Kuss zu stehlen. Und festgestellt hatte, dass sein Kuss erwidert wurde. »Verhaftest du mich?« »Noch nicht. Aber wenn du nicht freiwillig mitkommst, werde ich es tun. Freiwillig wäre besser.« Sie musterte ihn mit diesen gehetzten, angstvollen Augen, dann sah sie ihren Sohn an, der sich an sie klammerte. »Lass uns gehen.« Pete sprang auf, ließ sein Buch fallen und nahm hastig seine Stiefel vom Schreibtisch. »Ich habe dich gar nicht reinkommen hören«, sagte er und hatte zumindest den Anstand, verlegen dreinzuschauen. »Ich bin durch die Hintertür gekommen.« Eric hängte die Schlüssel des Streifenwagens neben seine Kaffeetasse an das Schlüsselbrett und sagte: »Wir sind für ein Weilchen hinten, um zu reden. Du kümmerst dich um alles, es sei denn, es handelt sich um einen Notfall.« Pete zog eine Augenbraue in die Höhe, zeigte mit dem Kopf auf die Frau und ihren Sohn, erwiderte jedoch nichts. »Der Molly-McColl-Fall.« Jetzt rutschten Petes Augenbrauen beinahe von seinem Gesicht herunter. »Sie?« »Keine Ahnung. Deshalb will ich sie ja verhören.« »Gütiger Gott.« Pete schüttelte den Kopf. »Dann gebe ich dir also Bescheid, wenn sich irgendetwas tut ...« Eric spürte, dass sein Deputy ihn leidenschaftlich gern gefragt hätte, warum er eine junge Mutter mit ihrem kleinen Sohn auf der Hüfte zum Verhör geholt hatte. Eric konnte es ihm 203 nicht erzählen. Jedenfalls nicht auf irgendeine Art und Weise, die ihn nicht wie einen Verrückten hätte dastehen lassen. Also warf er Pete lediglich einen einschüchternden Blick zu und bedeutete Lauren, ihm durch den Flur in den Pausenraum zu folgen, den sie gelegentlich auch für Verhöre benutzten. Er hätte wahrscheinlich auch in einer der beiden Zellen mit ihr reden können, aber er wollte, dass sie sich wohl fühlte. Wenn sie glaubte, dass er ihr vertraute, wäre sie eher bereit, ihm die notwendigen Informationen zu geben, und er brauchte diese Informationen. Er brauchte sie dringend - und schnell. Als Lauren mit einer Tasse Kaffee für sich und einem Becher Saft für Jake im Pausenraum saß, entschuldigte Eric sich für einen Augenblick und ging noch einmal zu Pete hinüber. »Wir sind nicht da«, sagte er zu Pete. »Falls irgendjemand - und ich meine irgendjemand - fragen sollte, wo ich bin oder was ich tue, dann gehe ich in Rockingham Spuren im Fall Molly McColl nach. Du hast die Frau niemals gesehen, sie ist niemals hier gewesen, und du weißt von nichts. Verstanden?« Er nickte. »Wer ist sie?«
»Lauren Dane. Im Augenblick ist sie die Hauptverdächtige in der Entführungssache.« »Sie? Du machst Witze.« »Ganz bestimmt nicht.« »Dieses kleine Mäuschen würde keiner Fliege etwas zuleide tun.« Eric dachte an den rasenden Zorn, den er bei ihr gesehen hatte, als sie ihm drohte, ihm die Augen auszukratzen, und er warf Pete ein wissendes Lächeln zu. »Denk, was du willst. Die Menschen brauchen ihre Illusionen.« »Wie geht es dir?«, fragte er Lauren, als er in den Pausenraum zurückkehrte. 204 »Es ginge mir besser, wenn ich wüsste, was hier los ist.« »Nun, warum fängst du nicht einfach damit an, dass du mir erzählst, was du in Oria gemacht hast. Und warum du in solcher Panik zurückgekehrt bist, dass du von zu Hause weglaufen wolltest.« »Ich denke, ich sollte einen Rechtsanwalt verlangen.« Eric schüttelte langsam den Kopf. »Nicht dafür, Lauren. Rechtsanwälte sind für Kleinigkeiten da - aber die Geheimnisse der Wächter und der Tore bleiben unter uns. Immer. Sobald du einen Schritt in ein anderes Universum setzt, verlieren die Gesetze von North Carolina ihre Gültigkeit für dich. Und du bist wegen etwas hier, das nicht in dieser Welt seinen Anfang genommen hat. Also. Wovor hattest du dort drüben Angst?« »Wenn du mich nicht verhaftest, musst du mich gehen lassen.« Eric sah sie finster an. »Ich kann dich vierundzwanzig Stunden unter Verdacht hier behalten, und während dieser Zeit brauche ich dir nicht zu gestatten, irgendjemanden wissen zu lassen, dass du hier bist. Denn ich vertraue deinen Komplizen nicht, und wenn du nicht langsam anfängst, mir ein paar Antworten auf meine Fragen zu geben, werde ich von meinem Recht Gebrauch machen, dich einen Tag lang einzusperren. Ich bin sehr freundlich, Lauren. Ich bin freundlich trotz all der Schwierigkeiten, die du verursacht hast. Und diese Freundlichkeit hat ihren Grund vor allem darin, dass ich mich daran erinnere, wer du früher warst. Ich habe keine Ahnung, wer zum Teufel du jetzt bist.« Sie reagierte nicht so, wie er es erwartet hatte. Er sah kein Schuldbewusstsein auf ihrem Gesicht aufblitzen, sie stotterte nicht, sie wirkte nicht wütend. Einen Augenblick lang sah sie einfach nur verloren aus. »Meine Komplizen?« Sie schüttelte den Kopf. »Hör mal, Eric MacAvery - du bist derjenige, der Komplizen hat. Deine wunderbaren Wächter 205 sind die Menschen, die meine Eltern ermordet haben, die meinen Freund in Oria getötet haben und die jetzt hinter mir und Jake her sind. Also erzähl mir keinen Blödsinn über irgendwelche Komplizen. Jake und ich haben niemanden mehr auf der Welt, wir haben nur einander.« Jetzt war es an Eric, verwirrt aufzublicken. »Deine Eltern sind nicht ermordet worden. Sie sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen.« »Jemand hat die Bremsleitungen zerschnitten und die Lenkung manipuliert.« »Das ist doch lächerlich. Der Tod deiner Eltern ist untersucht worden.« »Von Wächtern.« »Von ...« Er wollte sagen: »Vom Sheriff«, aber der damalige Sheriff war ebenfalls ein Wächter gewesen. In Cat Creek sorgten die Wächter dafür, dass sie an der Macht blieben. Sie konnten es sich nicht leisten, dass die Behörden sich näher mit ihren Aktivitäten beschäftigten. Das bedeutete, dass sie die Behörden sein mussten. Von Zeit zu Zeit führte das System zu Missbrauch. »Hast du Beweise dafür?«, fragte er stattdessen. »Die hatte ich. Bis heute Morgen. Ich habe meinen Zeugen im Haus meiner Eltern in Oria gefunden. Jemand hatte ihn an die Wand genagelt.« Eric starrte sie ungläubig an. »Im Haus deiner Eltern ist jemand an die Wand genagelt worden, und wir sitzen hier und plaudern? Wann genau hattest du die Absicht, das zu erwähnen?« »Überhaupt nicht«, sagte sie. »Wenn du bereits davon wusstest, brauchte ich es nicht zu erwähnen. Wenn du nichts davon wusstest, gibt es nichts, das du tun könntest.« »Wer ist tot? Wer war dein Zeuge?« »Embar. Ein Freund aus meiner Kindheit.« »Embar was? Ich kenne den Namen nicht.« 206 »Einfach nur Embar. Er war ein Goroth.« Eric rieb sich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken, um den Kopfschmerzen Einhalt zu gebieten, die sich von neuem aufbauten. »Also schön ... Und was ist ein Goroth?« »Du bist ein Wächter. Du bist in Oria gewesen, stimmt's?« »Das sind geheime Informationen. Außerdem reden wir hier nicht von mir.« »Spiel keine Spielchen mit mir, Eric. Bist du in Oria gewesen?« Er sah ihr fest in die Augen. Irgendetwas war ihr zugestoßen. Sie wusste etwas Wichtiges. Er konnte es sich leisten, ihr selbst einige Informationen zu geben, um Antworten zu bekommen. »Ja. Natürlich.« »Dann kennst du die Goroths. Obwohl du vielleicht einen anderen Namen für sie benutzt. Kleine Burschen mit großen Ohren, hässlich wie nur was, runzlig und irgendwie grau...« Er hob die Hand, um ihr Einhalt zu gebieten. »Du redest von einem Mitglied einer der einheimischen Spezies von Oria.« »Allerdings.« »Die Wächter halten ihre Gegenwart vor der einheimischen Bevölkerung verborgen. Zumindest sollten sie das
tun. Wenn man sich mit den Leuten von drüben einlässt, kann man genau die Art von Schwierigkeiten bekommen ...« Er starrte sie an, als ihm plötzlich etwas klar wurde. »Genau die Art von Schwierigkeiten, mit der wir es jetzt zu tun haben. Du hast Kontakt zu ihnen gehabt.« »Nur zu einem. Und jetzt ist er tot. An die Wand meines Elternhauses dort genagelt, mit einer Warnung an mich, die jemand mit seinem Blut geschrieben hat.« Eric wurde blass. »Was stand dort?« »>Glaubst du, du bist so weit, dass du in unserer Liga spielen kannst?<... etwas in dieser Art.« 207 »Unterschrieben?« »Nein.« »In welcher Sprache geschrieben?« »Englisch. Der einzigen Sprache, die ich spreche.« Eric nickte, um seine Verwirrung zu verbergen. »Und du kennst diesen ... Goroth ... seit wann?« »Seit ich alt genug war, um zu laufen. Vielleicht noch länger. Aber ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit ich ...« Sie geriet ins Stocken, und er sah einen ausweichenden Ausdruck in ihren Augen. »Seit ich ein Kind war. Das heißt, bis ich zurückgekommen bin und den Spiegel entdeckt habe.« »Und er war tot, als du in Oria angekommen bist?« »Schon seit einer ganzen Weile. Auf seinen Augen hatte sich eine Eisschicht gebildet.« »Was noch?« »Das Haus war verwüstet worden. Es wurde nichts gestohlen, soweit ich das erkennen konnte, aber alles, was sich im Haus befand, ist auf eine Art und Weise zerstört worden, als hätte jemand so viel Aufmerksamkeit wie nur möglich darauf lenken wollen.« »Jemand versucht, dich abzuschrecken.« »Offensichtlich.« »Wovon will man dich abschrecken, Lauren?« Sie sah ihm in die Augen und sagte: »Ich weiß es nicht.« Obwohl er sich nicht erklären konnte, warum, glaubte er ihr. »Also bedroht dich jemand. Jemand, der dich vielleicht sogar verfolgt.« »So sieht es aus.« »Sag mir, mit wem du zusammenarbeitest. Sag mir, wer dein Spitzel ist - es ist sehr wahrscheinlich, dass dieselbe Person hinter all diesen Vorfällen steckt.« »Mein Spitzel?« Lauren lehnte sich auf ihrem Stuhl zu208 rück, legte den Kopf zur Seite und sah ihn stirnrunzelnd an. »Mein Spitzel. Und was soll er bespitzeln?« »Jetzt bist du diejenige, die Spielchen spielt, Lauren. Dein Leben und das Leben deines Kindes könnten in Gefahr sein. Du musst mir sagen, was du weißt.« »Das tue ich. Aber du wirst mir ebenfalls einige Dinge erklären müssen. Ich bin gerade erst wieder nach Cat Creek gekommen, nachdem ich viele Jahre fort war. In all dieser Zeit hatte ich keinen Kontakt zu irgendjemanden in der Stadt. Ich bin nur deshalb hierher zurückgekommen, weil das Haus meiner Eltern im Internet zum Verkauf angeboten wurde, als ich gerade Brians Lebensversicherung ausgezahlt bekommen hatte. Ich hatte das Gefühl, mit Brian ein Zuhause zu haben, aber nachdem er tot war ...« Sie zuckte die Achseln und wandte den Blick ab. »Damals schien es mir eine gute Idee zu sein, nach Cat Creek zurückzugehen.« »Es ist dir also nie in den Sinn gekommen, dass es eine ... merkwürdige ... Entscheidung sein könnte, in eine Wächterstadt zurückzukehren, in der deine Eltern als Verräter gebrandmarkt waren?« Sie seufzte, sah wieder zu ihm hinüber und sagte: »Das wusste ich damals nicht.« »Aber jetzt weißt du es.« »Ja.« »Was hat sich geändert?« Sie blieb lange still und forschte in seinem Gesicht nach etwas, das sie allein wissen konnte, aber was immer es war, ihre Miene sagte ihm, dass sie es nicht fand. Mit einem deutlichen Unterton von Verärgerung in der Stimme sagte sie schließlich: »Ich kenne dich nicht, Eric. Ich dachte, ich hätte den Eric gekannt, der du warst, als wir zusammen zur Schule gingen, aber das ist lange her, und die Dinge verändern sich. Meine Eltern sind in dieser Stadt ermordet worden, und die Tatsache, dass ihr Tod vertuscht wurde, weist 209 eindeutig darauf hin, dass der Sheriff damit zu tun hatte. Und das ist gleichbedeutend mit den Wächtern. Du warst damals noch nicht im Amt, aber du bist es jetzt - daraus kann ich nur den Schluss ziehen, dass du hier die Fäden ziehst. Was wiederum bedeutet, dass du mit dem Mörder meiner Eltern befreundet sein musst, auch wenn du selbst mit ihrem Tod nichts zu tun hattest.« Wieder wandte sie den Blick von ihm ab. »Willst du damit sagen, dass du mir nicht vertraust?« »Ich will damit sagen, dass ich dir nicht vertrauen kann. Das ist etwas anderes.« »Du kannst mir vertrauen.«
Sie beobachtete ihren Sohn, der von ihrem Schoß heruntergerutscht war und jetzt eine Schachtel mit Donuts beäugte, die neben der Kaffeemaschine stand. »Bleib davon, Jake.« Jake drehte sich zu ihr um, schob die Unterlippe vor und sagte: »Nein.« Und dann griff er nach der Schachtel. Lauren war schnell. Sie war von ihrem Stuhl gesprungen und hatte Jake von den Donuts und der Kaffeemaschine weggerissen, bevor Eric mehr tun konnte, als sich von seinem Platz zu erheben. Das Kind schrie wie am Spieß. Es war ein zorniges Heulen, und Eric hielt mitten in der Bewegung inne. »Ich habe gesagt, du sollst davonbleiben«, erklärte Lauren ihrem Sohn, aber Eric kam es so vor, als hörte er jemanden mit einer Luftalarmsirene reden. Eric hatte noch nie so viel Lärm aus einer so winzigen Quelle kommen hören. Dann saß Lauren wieder auf ihrem Stuhl, den schreienden, um sich tretenden Zweijährigen fest auf dem Schoß. Eric überlegte, was er als Nächstes sagen sollte, aber der Lärm machte ihm das Denken mit der Gründlichkeit einer chinesischen Wasserfolter unmöglich. Er konnte nur einen einzigen klaren Gedanken fassen: Es soll aufhören. 210 »Er kann einen von den verdammten Donuts haben«, schrie er. »Nicht bevor er zu brüllen aufhört und lieb fragt, oh nein«, schrie Lauren zurück. Wovon träumst du nachts, dachte Eric, gib ihm endlich den gottverdammten Donut. Dem Kind rannen immer noch die Tränen über das Gesicht. »Hör auf zu weinen und sag bitte«, erklärte Lauren Jake jetzt mit normaler Lautstärke und gerade so, als spräche sie mit einem Menschen, der seine Sinne beisammen hatte. »Sag: >Bitte, Plätzchen.<« Wunderbarerweise drehte das Kind den Tränenstrom ab. Schaltete die Luftalarmsirene aus. Eric hatte das Gefühl, als hätte jemand seinen Kopf aus einem Schraubstock befreit. Laut schniefend und mit zitternder Unterlippe sagte Jake: »Bitte ... Plätzchen?« »Jetzt darf er einen Donut haben.« Eric zog einen aus der Schachtel - einen einfachen -, legte ihn auf einen Styroporteller, schnappte sich eine Hand voll Papierservietten und reichte das Ganze Jake. »Sag Danke schön«, sagte Lauren. Jake beäugte Eric mit dem ganzen Argwohn, mit dem ein Schakal einem Löwen begegnet wäre, der seinem Abendessen allzu nahe kam. Der Kleine dachte gründlich über alle Aspekte dieses Handels nach, und erst als Eric sich hinsetzte und Jake sicher sein konnte, dass man ihm den Donut nicht wegnehmen würde, sagte er tatsächlich: »Danke ssön.« »Keine Ursache.« Jake griff nach dem Donut, biss hinein und lächelte, den Mund voller Krümel. Ein Jammer, dass es nicht genauso einfach sein würde, die Mutter glücklich zu machen. Wenn er sie doch nur davon überzeugen könnte, dass er auf ihrer Seite stand, dann würde er vielleicht erfahren, was sie wusste. Er hatte keine Zeit, 211 um den heißen Brei herumzureden - was immer in Rockingham seinen Anfang genommen hatte, forderte vielleicht bereits die ersten Todesopfer. Jedes Menschenleben, das an einem seidenen Faden hing, lastete schwer auf ihm; wenn er die meisten von ihnen retten konnte, würde es ihm trotzdem nicht gelingen, sie alle zu retten, und jeder einzelne Mensch war für irgendjemanden wichtig, irgendwo. »Und nachdem ich jetzt wieder in der Lage bin, mein eigenes Wort zu verstehen«, sagte er und grinste, um zu zeigen, dass er ein netter Kerl war, der im Umgang mit kleinen Kindern Humor bewies, »lass uns reden.« Lauren sagte: »Gib mir mein Notizbuch zurück, lass mich meinen Sohn irgendwo in Sicherheit bringen, und ich erzähle dir, was ich kann.« »Das kann ich nicht tun, Lauren. Es steht zu viel auf dem Spiel. Du weißt, was auf dem Spiel steht, nicht wahr? Dein Partner hat es dir sicher erzählt.« Sie schob Jake ein wenig zur Seite und beugte sich vor. »Hör mir zu. Ich ... habe ... keinen ... Partner. Ich weiß nicht, worin ich deiner Meinung nach verwickelt sein soll, aber ich bin es nicht. Ich bin eine verwitwete, allein erziehende Mutter mit einem kleinen Kind, das sich an einem gefährlichen Ort befindet, und ich weiß nicht, was hier los ist, und ich habe keine Antworten für dich, aber für wen du mich auch halten magst, Sheriff, du hast die Falsche erwischt.« »Ich wünschte, ich könnte dir glauben, Lauren. Ich wünschte es wirklich. Als wir noch Kinder waren, habe ich dich immer irgendwie gemocht... aber jetzt habe ich einen ganzen Haufen Beweise, die auf dich deuten. In diesem Augenblick kann ich dich mit einer Entführung in Zusammenhang bringen, mit Verstößen gegen den Kodex der Wächter und mit einer drohenden Katastrophe von so gewaltigen Ausmaßen, dass ich sie mir noch immer nicht auch nur ansatzweise vorstellen kann.« 212 »Ich bin kein Wächter, also gilt der Wächterkodex, was immer das sein mag, nicht für mich.« »Er gilt für jeden Menschen, der durch die Tore geht, denn jeder Mensch kann die Art von verheerenden Veränderungen bewirken, die du bewirkt hast.« Ihre Miene verschloss sich; sie verkreuzte die Arme vor der Brust, drückte Jake fest an sich und starrte Eric
wütend an. »Wenn du dir deine Meinung bereits gebildet hast, schlage ich vor, du erhebst am besten Anklage gegen mich oder was zur Hölle du zu tun beabsichtigst.« Sie würde ihm nichts erzählen. »Ich werde dich so lange hier festhalten, wie ich von Rechts wegen dazu befugt bin. Währenddessen kannst du an all die Menschen denken, die sterben werden, wenn du mir nicht sagst, was hier vorgeht und wer dahinter steckt. Denk gründlich darüber nach, Lauren, denn was immer du glaubst, das du tust, einer dieser Menschen könnte er sein.« Er zeigte mit dem Kopf auf Jake. »Einer von ihnen könntest du sogar selbst sein. Ich muss jetzt weg, aber Pete wird mir Bescheid geben, wenn du beschließen solltest, dich daran zu erinnern, dass deine erste Pflicht dem Rest der menschlichen Rasse gilt, mit der du diesen Planeten teilst, und nicht demjenigen, der dich in dieses ... verzerrte Machtspiel hineingebracht hat, das du spielst.« »Fick dich ins Knie«, sagte Lauren leise. Jake drehte sich um und sah sie voller Interesse an. Eric rief durch den Flur nach Pete. »Sie und der Junge werden die Nacht in Nr. 2 verbringen. Sorge dafür, dass niemand erfährt, dass sie hier sind - sie darf nicht telefonieren, sie darf keine Besucher empfangen, und falls jemand nach ihr fragen sollte, hast du sie nie gesehen und weißt auch nicht, wo sie sein könnte. Verstanden?« »Wir halten sie zum Verhör fest?« 213 »Die vollen vierundzwanzig Stunden, wenn nötig.« »Geht in Ordnung«, rief Pete zurück, und Lauren hörte das Klirren von Schlüsseln und schwere Schritte im Flur. »Du willst Jake und mich in eine Zelle sperren.« »Ich muss. Solange du unter Beobachtung stehst, weiß ich, dass du deinem Komplizen keinen Wink geben kannst.« »Ich habe keinen Komplizen!« »Ich wünschte, das wäre die Wahrheit.« Er zeigte ihr den Weg durch den Korridor, zu den beiden Zellen hinüber. »Gib ihnen alles, was sie brauchen«, wies er Pete an. »Aber keine Spiegel. Und falls sich jemand nach ihnen erkundigen sollte, du weißt nichts, und du rufst mich unverzüglich an, um mir zu berichten, wer sich nach ihr erkundigt hat. Ich bin rechtzeitig zurück, um dich um Mitternacht abzulösen.« Lauren beobachtete Pete, der wiederum sie beobachtete. Er sah aus wie ein typischer braver Bursche aus dem Süden, der mit Tiefkühlhühnchen und Brathühnchensteak groß geworden war; ein wenig rund um die Ecken und ein wenig langsam in seinen Bewegungen. Aber die Blicke, die er gelegentlich in ihre Richtung wandern ließ, waren kühl, abschätzend und intelligent. Die Tatsache, dass sie eine Frau war und attraktiv, beeindruckte ihn keineswegs. Ein kokettes, kleines Flehen um einen ungestörten Ausflug in einen Ruheraum oder eine tränenreiche Nummer zum Thema, wie sehr sich der Sheriff in ihr irrte, dürfte bei ihm kaum Wirkung zeigen. Eric irrte sich tatsächlich, aber der Deputy würde, dachte Lauren, seinen Befehl buchstabengetreu ausführen. Sie lagen auf einer schmalen Matratze, und Jake kuschelte sich zufrieden an Laurens Bauch und schlief tief und fest. Es musste kurz vor Mitternacht sein - es wurde Zeit, dass der Deputy mit dem Sheriff die Rollen tauschte -, und es 214 war still. Der Deputy hatte die ganze Zeit auf seinem Stuhl im Korridor gesessen und gelesen und nur gelegentlich in Laurens Richtung geblickt. Metamagical Themas von Douglas Hofstadter; Lauren hatte dieses Buch selbst einmal gelesen - es war faszinierend: Fraktale und eine fremdartige Mathematik. Kein einfaches Buch. Also war Pete kein Einfaltspinsel, selbst wenn er ein wenig so aussah. Jung, clever und vorsichtig. Langsam glitt sie in den Schlaf hinüber. Keine Chance, dass er sie aus den Augen lassen würde, nicht einmal für eine Minute. Das war wirklich Pech. Ein unbewachter Ausflug ins Badezimmer zusammen mit Jake, und sie konnte durch einen Spiegel und nach Oria gehen, bevor das Wasser einmal zur Spülung durch die Toilette gerauscht war. 9 Kupferhaus, Ballahara In der Bogentür zu Mollys Gemächern stand ein Veyär, der schlichter gekleidet war als alle Übrigen, die Molly bisher gesehen hatte. Er war nicht größer als die anderen Veyär, aber seine ganze Körperhaltung verströmte eine Aura von Macht. Seine Haut war von einem sanften Goldton, sein Haar von einem dunkleren Gold, und seine Augen waren von einem Winkel zum anderen von einem undurchdringlichen, tiefen Schwarz. Er war über die Maßen schön, beinahe engelhaft. Ein Engel mit schmutzigen Stiefeln. »Holde Molly«, sagte er, »ich bitte um deine Nachsicht und Vergebung. Ich war zu lange fern von zu Hause und bin gerade erst zurückgekehrt; ich bin sofort hergekommen, um dich persönlich in meinem Haus und meinem Reich willkommen zu heißen.« Molly hatte auf dem Bett gesessen und mit Fingern, die im Laufe der letzten Tage beweglicher und stärker geworden waren, an einem Musikstück gearbeitet. Jetzt legte sie das Instrument beiseite und stand auf. »Du bist also der Besitzer dieses Hauses?« »Seolar, der Große Hohe Imallin des Kupferhauses und der Domäne am Sheren.« Er verneigte sich. »Ich bin nicht nur der Besitzer dieses Hauses, sondern sehr viel mehr. Du darfst mich Seolar nennen. Vielleicht, wenn wir
Freunde werden, wirst du mich Seo nennen. Und du bist Molly McColl. DieVodi.« »Das hat man mir gesagt. Hättest du etwas dagegen, mir zu verraten, was das überhaupt ist, eine Vodi?« 216 »Wir werden heute Abend bei dem Festmahl, das ich für dich vorbereiten lasse, darüber reden. Keine Menschenmengen, kein Lärm, keine Verwirrung - nur du und ich und vorzügliches Essen und eine Gelegenheit für dich, Fragen zu stellen, und für mich, sie zu beantworten. Wir werden in einigen Tagen natürlich ein offizielles Bankett zu deinen Ehren abhalten, aber ich dachte, du würdest den heutigen Abend vielleicht gern dazu nutzen, um ... einiges in Erfahrung zubringen.« Er lächelte. Molly erwiderte sein Lächeln nicht. Sie beobachtete ihn, schätzte die Entfernung zwischen ihnen ab und fragte sich, wie schwer es wohl wäre, diese wenigen Schritte zu tun, den Mann zu packen und als Geisel zu nehmen, um ihre eigene Freilassung zu erzwingen. Sie konnte es tun. Aber sie tat es nicht. Vielleicht weil sie die Antworten hören wollte. Vielleicht weil sie sich den Schauplatz für ihren Kampf selbst aussuchen wollte und nicht den Wunsch hatte, in ihrer mit kupfernen Wänden versehenen Zelle zu kämpfen. Vielleicht, weil sie sich nicht länger vollkommen sicher war, dass es die beste Entscheidung wäre, in ihren Wohnwagen in Cat Creek zurückzukehren, zu dem Schmerz, den sie in der Nähe der Kranken und Sterbenden litt, zu der Einsamkeit. »Ich könnte ein paar Antworten gebrauchen, ja.« Seolars Lächeln verblasste. Nach einem kurzen Schweigen nickte er und ging langsam rückwärts auf die Tür zu, ohne Molly aus den Augen zu lassen. »Birra wird dir deine Kleidung bringen«, sagte er. »In der Zwischenzeit habe ich ein Geschenk für dich.« Er streckte eine Hand aus. Etwas Goldenes, Glitzerndes lag darin. Molly trat vor und sah nun auch die Wachen, die direkt hinter der Tür standen und den Imallin beobachteten. Allzu vertrauensvoll war er also doch nicht gewesen. Sie nahm sein Geschenk entgegen und spürte das kühle Ge217 wicht von massivem Gold in ihrer Hand. Dann sah sie sich das Geschenk an: Es war eine Kette, ein atemberaubendes Kunstwerk, und jedes Glied der Kette war so perfekt gearbeitet und fügte sich so nahtlos in das Ganze ein, dass sie glaubte, ein lebendes, atmendes Etwas vor sich zu haben und nicht die Schöpfung eines Juweliers. In der Mitte lag, eingefasst von geschliffenen Saphiren, ein goldenes Medaillon mit der Darstellung einer geflügelten Frau, die sich, die Arme weit ausgebreitet, einen gelassenen, ermutigenden Ausdruck im Gesicht, aus einem sturmgepeitschten Meer erhob. »Gütiger Gott«, murmelte sie. »Das Ding ist mehr wert als mein Haus drüben auf der Erde.« Seolar lachte leise. »Auf seine Weise ist es noch kostbarer als mein Haus. Und es gehört dir. Bitte, trage es und lass mich sehen, wie es dir steht.« Aber Molly war nicht mit Schmuck zu gewinnen. Das hatten die Jungs von der Luftwaffe nicht geschafft, und es würde auch jetzt nicht funktionieren. »Vielleicht später.« Sie betrachtete die Kette und dachte, dass sie das prachtvollste Schmuckstück war, das sie je gesehen hatte. Es war von einer maßvollen Schlichtheit, die ihr gefiel - auch wenn sie es schwer vorstellbar fand, dass ein Schmuckstück von drei Pfund Gold maßvoll erscheinen konnte. »Wirst du es zum Abendessen tragen?« »Ich werde darüber nachdenken.« Seolar machte kein Hehl aus seiner Enttäuschung. Nun, damit würde er wohl leben müssen. Sie wollte die Kette zuerst genau untersuchen und sich davon überzeugen, dass nicht irgendwo eine kleine Vorrichtung versteckt war, aus der ihr eine Droge injiziert werden konnte oder irgendetwas anderes, das sich ein kranker, aber talentierter Juwelier ausdenken konnte. Es kam ihr so vor, als würde die Kette zu 218 schnell in ihrer Hand warm, und sie glaubte, ein kaum wahrnehmbares Summen zu spüren, wenn sie den Schmuck berührte, was ihrer Meinung nach ein schlechtes Zeichen war, Sie wollte nicht paranoid sein, fand aber andererseits, dass sie dazu durchaus das Recht hatte. »Nun, Birra wird kurz vor Einbruch der Dämmerung herkommen, um dir zu helfen, dich zurechtzumachen. Und ich möchte mich jetzt bis heute Abend entschuldigen. Auf mich warten noch viele Pflichten, denen ich Genüge tun muss.« Er drehte sich um und verschwand - zu schnell, wie Mol-" ly fand - den Korridor hinunter. Sie sah ihm nach. Auch der Wachtposten, der an ihrer Tür Dienst tat, beobachtete Seolars Weggang, dann wandte er sich zu Molly um und senkte unendlich langsam den Kopf, bis er fast den Boden berührte. Anschließend schloss der Mann ohne ein weiteres Wort die Tür zwischen ihnen und schob den Riegel wieder vor. Molly hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie von alledem halten sollte. Cat Creek Eric hatte die ganze Nacht lang Lauren beobachtet und war entsprechend erschöpft, als das Telefon klingelte. Er warf einen Blick auf die Uhr, die an der Wand gegenüber seinem Schreibtisch hing - fünf Uhr morgens. »Im Sumpf ist eine Leiche ... sie schwimmt! Ich war zum Angeln draußen, und ... o mein Gott, das Boot ist mit ihr zusammengestoßen, und ich wusste nicht, was es war, und ich habe mit meiner Taschenlampe draufgeleuchtet, und sie war unter Wasser und hat direkt zu mir aufgeblickt!« Eric war plötzlich hellwach. »Wer ist da ... Tom? Du hörst dich an wie Tom Watson.«
219 »Ich bin's wirklich, Sheriff. O Gott, sie schwamm einfach mit weit aufgerissenen Augen im Wasser, und ihr Haar hatte sich in einem Zweig verheddert, der ins Wasser hing, und sie sah aus, als wollte sie die Hand nach mir ausstrecken, nur dass sie tot war.« »Atme tief durch, Tom. Beruhige dich.« Es folgte ein Augenblick, in dem er am anderen Ende der Leitung nur ein gehetztes Schluchzen hören konnte. Dann: »Tut mir Leid, Sheriff. Ich komme schon klar.« »Gut. Haben Sie die Tote erkannt?« »Es ist Debora. Debora Bathingsgate.« Die Nachricht traf Eric wie ein Hieb in den Magen. Er bekam eine Gänsehaut, und ein eisiger Schauder kroch ihm über den Rücken. Das Ohr ans Telefon gepresst, suchte er auf seinem Schreibtisch hektisch nach den notwendigen Papieren, seiner Ausrüstung zum Sammeln von Beweisen und nach einem Film für den Fotoapparat. »Gott verdammt, Gott verdammt, Gott VERDAMMT ... Gib mir die Position durch.« »Etwa eine Meile auf der 79 nach Osten aus der Stadt heraus, dann rechts auf die Sally Brown Road, dann noch einmal rechts ab auf den zweiten Sandweg und von dort aus in den Sumpf.« Tom bekam einen Schluckauf. »Was in Dreiteufelsnamen hatte sie in dem gottverdammten Sumpf zu suchen?« »Keine Ahnung.« »Was hattest du so früh am Morgen im Sumpf zu suchen?« Eric zog sich ein Hemd über und knöpfte es zu. »Scheiße, wir haben keinen Film mehr. Ich muss Pete anrufen, damit er hier aufpasst. Du ... wo bist du im Augenblick?« »In der Telefonzelle bei Sweeneys Autoverwertung auf der 79.« »Beweg deinen Arsch zurück in den Sumpf und warte dort auf mich. Bleib in deinem Wagen, rühr nichts an, be220 weg nichts von der Stelle und halte die Autotüren geschlossen und den Kopf unten. Wenn das ein Unfall ist, schön. Wenn nicht ... nun, ich möchte nicht, dass du der Nächste auf der Abschussliste des Täters wirst.« »Geht in Ordnung«, sagte Tom. »Ich werde dort sein.« Als Nächstes rief Eric Pete an. »Steh auf und komm her. Wir haben eine Wasserleiche im Sumpf, und ich brauche dich als Babysitter für die Gäste.« »Verdammter Mist.« »Du sprichst mir aus dem Herzen.« »Wer ist es? Weißt du das schon?« »Debora Bathingsgate.« »Die Yankeefrau.« »Sie ist Kanadierin. Oder war es. Ja. Genau die.« »Was zur Hölle hatte sie draußen im Sumpf zu suchen?« »Das ist eine der Fragen, auf die wir eine Antwort suchen müssen.« »Gib mir zehn Minuten.« »Wenn du länger brauchst als fünf, trete ich dir in den Hintern, wenn du hier auftauchst. Und bring mir einen Film für den Fotoapparat mit.« Pete schaffte es in weniger als vier Minuten aufs Revier. »Muss ich irgendetwas Näheres über die beiden wissen?«, fragte er und zeigte mit dem Kopf auf den Korridor. »Sie haben die ganze Nacht geschlafen. Genau genommen schlafen sie immer noch. Ich habe die eine Hälfte der Nacht mit Papierkram zugebracht und in der anderen Hälfte dieses verdammte Buch gelesen, das du hier liegen gelassen hast. Bring nächstens was Besseres mit. Ich hätte zum Beispiel nichts gegen Zane Grey einzuwenden.« Pete lachte leise. »Ich auch nicht. Den habe ich früher immer gern gelesen.« »Ich habe den Leichenbeschauer schon angerufen. Du brauchst uns nur noch den Rücken freizuhalten.« Eric 221 seufzte. »Und auf unser, ahm, Gepäck aufzupassen. Sprich mit niemandem darüber, was passiert ist. Und soweit du weißt, bist du mutterseelenallein auf dem Revier. Wenn das bedeutet, dass du Besucher verscheuchen musst, damit sie das Kind nicht hören können, dann tust du es eben. Verstanden?« Pete schwieg einen Augenblick lang. »Kommt mir etwas merkwürdig vor, aber ja, das schaffe ich schon.« »Ich bin so schnell wie möglich wieder da.« Sie sah gar nicht allzu schlimm aus, als sie sie herauszogen. Carlin Breedy, der Leichenbeschauer, meinte, sie sei erst seit zwei Stunden tot, maximal drei. Sie sah blass aus. Blau. Keine Schwellungen, keine Anzeichen dafür, dass schon Fische oder irgendetwas anderes an ihr geknabbert hatten. Carlin hatte ein Thermometer an einer Stelle stecken, an der Thermometer nichts zu suchen hatten. »Noch ganz frisch«, sagte Carlin zu Eric. Eric suchte den Schauplatz ab, obwohl Tom, Willie und sogar June Bug aufgetaucht waren und bereits den Boden rund um den Sumpf niedergetrampelt hatten. Vielleicht gab es doch noch irgendwelche Beweise, die er retten konnte. »Ich würde sagen, unser junger Freund hätte sie um ein Haar noch untergehen sehen können. Ich wüsste bloß gerne, wie sie hierher gekommen ist.« Eric nickte und blickte zu Tom hinüber, der sich lebhaft mit Willie und June unterhielt. Scheinwerfer blitzten auf
und kamen langsam über den unbefestigten Weg näher, der zum Sumpf führte, dann rutschte Mayhems Wagen durch das hohe Gras. Die anderen würden wahrscheinlich auch bald hier sein, ging es Eric durch den Kopf. »Todesursache? Ertrinken?« »So sieht es aus ... auf den ersten Blick jedenfalls. Hier.« Carlin leuchtete mit seiner Taschenlampe auf den Leichnam 222
der jungen Frau. »Aber die da gefallen mir nicht besonders.« Er zeigte auf mehrere dunkle Flecken zu beiden Seiten des Halses. »Die sehen für mich wie Fingerabdrücke aus. Wenn ich mich nicht schwer irre, hat da jemand kräftig nachgeholfen, um sie zu ertränken. Es dürfte interessant werden, einen Blick auf ihre Lungen zu werfen.« »Warum?« »Um festzustellen, ob da guter brauner Sumpftee drin ist oder klares Leitungswasser aus der Stadt.« »Sie ist ermordet worden.« »So sicher wie die Tatsache, dass heute Morgen die Sonne aufgehen wird.« Carlin hatte sich auf ein Knie niedergelassen und tastete jetzt die Rückseite von Deboras Kopf ab. »Komisch«, sagte er. »Ihr Hinterkopf fühlt sich ganz schwammig an. Da hat jemand ziemlich kräftig zugeschlagen.« Er blickte zu Eric auf, dann fügte er leise hinzu: »Aber wenn man ihr den Kopf eingeschlagen hat, dürfte sie sich nicht allzu heftig gewehrt haben, als man sie ins Wasser warf. Warum also die blauen Flecken auf ihrem Hals?« Erics Antwort fiel genauso leise aus wie Carlins Bemerkung. »Veranlassen Sie eine Autopsie in Laurinburg, ja? Und machen Sie denen Dampf.« »Wird erledigt. Sie dürften ein paar merkwürdige Ergebnisse bekommen.« »Meinen Sie?« »Jede Wette. Ich vermute, der Täter hat nicht damit gerechnet, dass diese blauen Flecken am Hals sichtbar werden würden.« »Sprechen Sie nicht darüber. Mit niemandem.« »Ich habe nichts gesehen.« »Gut. Ich auch nicht.« Tom, June Bug, Willi und Mayhem kamen durch das Gras auf Eric zu. Er scheuchte sie zurück und sagte zu Carlin: 223 »Decken Sie sie zu und bringen Sie sie von hier weg.« Dann ging er zu den anderen Wächtern hinüber. »Was ist passiert?«, wollte Willie wissen. »Schwer zu sagen, bevor wir eine Autopsie haben. Sie könnte ertrunken sein, es könnte aber auch etwas anderes gewesen sein.« »Was hatte sie hier draußen zu suchen?« Eric schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht sagen.« »Kann nicht oder will nicht?«, hakte June Bug nach. Eric runzelte die Stirn. »Im Augenblick kann ich es nicht. Sobald ich etwas weiß, will ich es nicht. Das ist eine Angelegenheit des Sheriffs, und es hat nichts mit den Wächtern zu tun, es sei denn, es stellt sich etwas anderes heraus. Ihr versteht, was ich meine?« Er blickte von einem gehetzten, trostlosen Gesicht in das nächste und sagte: »Alle außer Tom fahren jetzt nach Hause. Wir haben Probleme hier, aber auf der anderen Seite der Tore haben wir noch viel größere Probleme.« Er rieb sich die Schläfen. Ihm war übel. »Wie viele Leute hast du angerufen, Tom?« »Jeden von uns, den ich erreichen konnte. Granger ist nicht an den Apparat gegangen. Jimmy Norris auch nicht. Aber ich meine, Norris hätte etwas von einem Rendezvous gestern Abend erzählt, daher streunt er vielleicht noch irgendwo rum.« »Scheiße. Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, alle anzurufen? Jetzt habe ich überall Fußabdrücke und niedergetrampeltes Gras, und Willies gottverdammte Zigarettenkippen liegen auf dem Boden, wo sie nichts zu suchen haben, und es wird eine Ewigkeit dauern, bis ich festgestellt habe, was ein Beweis ist und was nicht.« »Sie war eine von uns. Ich dachte, die anderen sollten Bescheid wissen.« »Hast du auch darüber nachgedacht, dass einer von ihnen 224 derjenige gewesen sein könnte, der sie getötet hat? Deine kleine Party hier draußen hat es dem Mörder nur umso leichter gemacht, sich zu verstecken.« »Vielleicht ist sie ja einfach nur ertrunken.« »Nicht mit eingeschlagenem Schädel, o nein.« Toms bereits graues Gesicht wurde schneeweiß. »O mein Gott.« Eric war immer noch wütend. »Also darf ich damit rechnen, dass so ziemlich jeder hier auftauchen wird, bevor ich wieder fahre?« »Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Tom. »Die meisten von ihnen mussten zur Arbeit; sie haben gesagt, was sie
wissen müssten, würden sie von dir schon erfahren.« »Dann hat also zumindest irgendjemand noch einen Funken Verstand im Kopf. Warte bei deinem Wagen. Ich will noch kurz mit dem Leichenbeschauer reden und alle anderen von hier wegschaffen. Dann müssen wir beide, du und ich, uns mal unterhalten.« Als die drei anderen Wächter abgefahren waren, kam der Krankenwagen. Eric ging zu Carlin hinüber, um zuzusehen, wie die Sanitäter den Leichnam einluden. »Achten Sie auf alles, was Ihnen merkwürdig vorkommt, ja?« »Ich habe schon etwas gefunden.« Carlin drehte sich um, so dass weder die Sanitäter noch Tom sehen konnten, was er tat, und gab Eric ein Stück Papier. »Das habe ich in ihrer Tasche gefunden.« Eric warf einen Blick darauf. Carlin hatte das durchweichte Blatt aufgefaltet. Die Schrift war immer noch vollkommen leserlich. Kommen Sie um Mitternacht zu mir nach Hause. Ich weiß, wer der Verräter ist, und ich habe Beweise. - Lauren Dane. 225 »Heilige Scheiße«, flüsterte Eric. »Genau das habe ich auch gedacht.« »Falls irgendjemand fragt, das hier haben Sie auch nicht gesehen, ja? Listen Sie es in Ihrem Bericht unter persönliche Habe des Opfers< auf, aber bevor ich diese Information freigeben kann, bleibt das unter uns. Das ist... Dynamit.« Eric schob das Blatt in einen Plastikbeutel, beschriftete ihn in aller Eile und steckte ihn sich dann in die Manteltasche. »Und dann könnten Sie mir noch verraten, warum zur Hölle irgendein Idiot bei dieser gottverdammten Kälte in aller Frühe auf den Gedanken kommt, im Sumpf angeln zu gehen«, murmelte er. »Ich beneide Sie nicht um Ihre Aufgabe, mein Sohn«, sagte Carlin. »Ich besorge Ihnen Ihre Informationen, so schnell ich kann. In der Zwischenzeit... passen Sie auf sich auf, hören Sie? Das hier hat für mich einen eindeutig unangenehmen Beigeschmack.« Eric nickte. »Das mache ich.« Als der Krankenwagen Debora abtransportiert hatte und auch Carlin auf den Sandweg eingebogen war, schlenderte Eric zu Tom hinüber. »Also schön. Was ist passiert?« »Ich habe schon ganz früh mein Boot rausgebracht. Ich wollte ein paar Stunden angeln, bevor ich zur Arbeit musste.« »Warum wolltest du bei dieser Kälte angeln gehen?« »Ich hatte Lust auf eine Portion Bratfisch. Kälte macht mir nichts aus - mein Daddy und ich haben immer im Sumpf geangelt, auch wenn es kalt war. Die Fische schmecken besser als die, die man bei warmem Wetter fängt.« »Und wann musst du heute zur Arbeit?« »Um drei Uhr nachmittags. Ich dachte, ich fange mir eine hübsche Portion Katzenfische, nehme einen Teil davon aus und friere sie ein. Dann wollte ich mir zum Mittagessen ein paar braten und hätte immer noch Zeit gehabt, zu duschen 226 und mich zu rasieren, um nicht wie ein toter Wal zu stinken, wenn ich zur Arbeit gehe.« »Dann bist du also mit deinem Boot hier rausgekommen und ... was?« »Ich habe es da drüben zu Wasser gelassen.« Er zeigte auf eine flache Stelle im hohen Gras, eine Stelle, die bei vielen Sumpfanglern beliebt war. Eric nickte. »Und?« »Ich wollte zu den Sumpfzypressen rüberrudern - die Fische sammeln sich gern an ihren Wurzeln, und mit einem Glas Würmer und vielleicht ein paar Schwimmern kann man da einen guten Fang machen.« »Und ...?« Tom machte abermals ein Gesicht, als würde ihm gleich übel werden. »Das Boot ist gegen irgendetwas gestoßen. Und daran entlang gerutscht. Du weißt schon. Wenn man gegen einen festen Gegenstand stößt, kann man den Ruck bis in die Knochen spüren, und wenn etwas gegen das Boot stößt, das nicht befestigt ist, dann ... dann rutscht es irgendwie an dem Boot entlang. Ein abscheuliches Gefühl.« »Ich weiß«, stimmte Eric ihm zu. »Ich bin gegen etwas Großes gestoßen und ahnte schon, dass es kein Katzenfisch war. Bei Gott, ich habe gehofft, dass es kein Alligator war, der sich zu uns verirrt hatte, aber bei diesem Wetter mache ich mir keine allzu großen Sorgen wegen der Alligatoren. Ich habe mit meiner Taschenlampe ins Wasser geleuchtet, und da starrte Debora mich an, das Gesicht unter Wasser und das Haar um ihren Kopf herum ausgebreitet. Ich habe mir vor Schreck die Hosen nass gemacht. Um ein Haar wäre ich sogar aus dem Boot gefallen.« Eric warf einen Blick auf Toms Hose, leuchtete mit der Taschenlampe darauf und sah Tom in die Augen. »Bist du zum Umziehen nach Hause gefahren, bevor du mich angerufen hast?« 227 »Nein. Danach.« Eric überschlug kurz, wie lange Tom für die verschiedenen Dinge gebraucht haben musste, und nickte. Es war möglich, wenn auch nur ganz knapp. Es war allgemein bekannt, dass Tom mit Bleifuß fuhr. »Du wusstest, wer
sie war?« »Auf den zweiten Blick. Sie sah nicht so aus wie sie selbst, aber als ich noch einmal hingeschaut habe, konnte ich sie erkennen.« »Du hast versucht, sie aus dem Wasser zu ziehen?« »Ja.« »Aber du hast es nicht geschafft.« »Es waren drei Männer nötig, du, Carlin und ich, und dieser Greifhaken, um sie von dem Zweig loszubekommen, an dem sie festhing, und in dein Boot zu ziehen. Ich weiß nicht, wie du auf den Gedanken kommst, ich hätte das allein schaffen können. Aber versucht habe ich es, das steht fest.« »Ich werde dein Boot beschlagnahmen müssen«, sagte Eric. »Als Beweismittel.« »Was?« »Im Augenblick bist du mein Hauptverdächtiger.« »Das kann doch nicht dein Ernst sein!« »Ich habe nicht gesagt, dass ich glaube, dass du es gewesen bist - nur dass du mein Hauptverdächtiger bist. Tut mir Leid. Du warst sicher nur zur falschen Zeit am falschen Ort - aber bevor ich bessere Beweise habe, muss ich dein Boot einbehalten.« Tom musterte ihn, überraschend gelassen für einen Mann, der unter Mordverdacht stand. »Hm ... in Ordnung. Ich denke, du wirst ein paar echte Beweise finden. Die Unschuldigen brauchen sich keine Sorgen zu machen. Aber ich muss sagen, ich finde es ziemlich übel, dass ich, nachdem ich lediglich versucht habe, das Richtige zu tun, jetzt des Mordes angeklagt werde.« 228 »Bisher klagt dich niemand an, Tom. Ich habe noch keinen Autopsiebericht. Ich habe keine Beweise. Ich habe weder ihre Leiche noch ihr Haus oder ihren Wagen durchsucht oder ihren Anrufbeantworter abgehört oder sonst irgendetwas unternommen. Ich habe lediglich eine tote Frau in einem Leichensack auf dem Weg zur Autopsie und den Mann, der sie gefunden hat - viel zu schnell, nachdem jemand sie in einen Sumpf gekippt hat, um sie zu verstecken.« Tom starrte ihn an. »Du wirst mir das doch nicht anhängen, oder, Eric? Ich weiß, dass du viel um die Ohren hast -komm nur nicht auf die Idee, ich sei die einfachste Antwort auf das kleinste Problem, das du hast, nur weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort war, ja?« »Ich habe noch nie irgendjemandem etwas angehängt«, erwiderte Eric steif. »Aber es ist schön zu wissen, was du von meiner Berufsethik hältst.« Er zeigte mit dem Kopf auf Toms Wagen. »Fahr nach Hause. Ich melde mich, wenn ich dich brauche. Bleib einfach nur in der Stadt.« Eric verbrachte den Vormittag damit, Gipsabgüsse von Autoreifen, Fußabdrücken und allem anderen zu nehmen, das er in der Nähe des Sumpfs finden konnte, allem, das sich vielleicht als Beweis entpuppen konnte. Dann fuhr er zu Deboras Wohnung. Dort herrschte eine behagliche Unordnung - vor dem abgesessenen Sofa stapelten sich einige Bücher, eins lag aufgeschlagen auf dem Couchtisch, daneben stand eine halb volle Kaffeetasse. Nichts ließ auf Gewalt schließen, nichts deutete darauf hin, dass jemand in der Wohnung gewesen war, der dort nichts zu suchen hatte. Eric nahm von jeder in Frage kommenden Stelle Fingerabdrücke, bezweifelte aber, dass er auf diese Weise etwas Nützliches finden würde. Als er fertig war, hörte er den Anrufbeantworter ab. Es waren keine Nachrichten aufgezeichnet. Er sah in ihre Schränke, durchstöberte ihre 229 Schubladen und nahm ihr Tagebuch und einen Stapel Notizbücher als Beweisstücke mit. Dann fiel ihm das Stück Papier wieder ein, das der Leichenbeschauer bei ihr gefunden hatte. Diese kurze Nachricht verursachte ihm Übelkeit. Er ging in Deboras Schlafzimmer, trat vor den bodenlangen Spiegel, der an der Wand befestigt war, und fuhr mit den Fingerspitzen sachte über das Glas. Das Tor summte leise. Aber während er dort stand, überfiel ihn die Gewissheit, dass er beobachtet wurde, ein Gefühl, bei dem sich seine Eingeweide zusammenkrampften. Die feinen Härchen in seinem Nacken stellten sich auf, und er schmeckte den metallischen Geschmack von Angst in seinem Mund. Er widerstand dem Drang, Hals über Kopf die Flucht zu ergreifen, drehte sich stattdessen lässig um, ging in die Küche und wählte Willies Nummer. »Hallo. Ich brauche dich in Deboras Wohnung, um das Tor hier für mich zu schließen.« Er lauschte einen Augenblick lang Willies müdem Gemurmel, dann sagte er: »Es muss wirklich sofort sein. So wie die Dinge liegen, möchte ich kein unbewachtes Tor irgendwo haben. Wenn wir jemanden gefunden haben, der ihren Platz einnehmen kann, wirst du eben ein neues Tor aufbauen müssen, daran lässt sich nichts ändern. Ich weiß nicht, ob wir einen Ersatz für sie finden werden ... ja. Ich werde hier sein.« Als er in Deboras Wohnung fertig war, fuhr er aufs Revier, gab Pete die nötigen Anweisungen und konzipierte dann einen raffinierten Plan. Es war nicht ganz einfach einzufädeln, aber Eric sorgte dafür, dass seine List nach außen hin einen guten Eindruck machte. Pete fuhr in einem Streifenwagen auf der Rückseite von Laurens Haus vor, während er selbst mit dem anderen Wagen auf der vorderen Seite hielt. 230 Sie hatten beide ihr Blaulicht eingeschaltet. Sie mussten eine regelrechte Show daraus machen; es musste überzeugend wirken. Denn irgendjemand beobachtete sie.
Nachdem Pete seine Position bezogen hatte, ließ Eric noch ein paar Sekunden verstreichen, dann ging er langsam die Treppe zur Veranda hinauf, löste seine Pistole im Halfter und drückte auf die Klingel. Er sorgte dafür, dass jeder, der ihn von der Straße aus beobachtete, das Stück Papier sehen konnte, das er in der linken Hand hielt. Er drückte auf den Klingelknopf, und kurz darauf kam Lauren an die Haustür, ihren Sohn auf dem Arm. Er zeigte ihr das Papier und nahm ihr den Jungen ab, während Pete gleichzeitig mit einem Karton durch die Hintertür kam. Das war, wie Eric fand, eine hübsche Idee gewesen. Pete stellte den Karton ab und legte Lauren Handschellen an. Jake fing an zu weinen und streckte die Arme nach seiner Mutter aus. Es muss überzeugend aussehen. Es muss wirklich überzeugend aussehen. Denn irgendwo ist ein Mörder, der uns beobachtet. Eric trug das Kind zum Wagen; Pete führte Lauren, mit auf dem Bauch gefesselten Händen, aus dem Haus, öffnete die Wagentür und schob Lauren auf die Rückbank. Eric setzte ihr ihren Sohn auf den Schoß. Pete schlug die Tür zu, ging noch einmal zurück zum Haus, verschloss es und brachte den Karton zu dem anderen Streifenwagen hinüber. Dann fuhren beide Wagen, immer noch mit eingeschaltetem Blaulicht, zum Revier zurück. Erst als sie sicher dort angelangt waren, weit weg von irgend jemandem, der sie beobachten konnte, nahm Eric Lauren die Handschellen ab. »Würdest du mir freundlicherweise sagen, was das Ganze zu bedeuten hat?«, fragte Lauren. Sie strich Jake übers 231 Haar. Der Junge klammerte sich an sie, und obwohl er den Kopf auf ihre Schulter drückte, brachte er es fertig, Eric zornige Blicke zuzuwerfen. »Du hast einfach ein unerschütterliches Alibi«, antwortete Eric. »Ich weiß jetzt, dass du nicht mit den Wächtern zusammenarbeitest und dass du keinen Partner in unseren Reihen hast, der dir Informationen liefert.« »Vielen Dank für dein Vertrauen. Das habe ich dir alles schon erzählt, bevor du auf die Idee gekommen bist, diese Nummer abzuziehen. Welchem Umstand verdanke ich diesen Gesinnungswechsel?« »Jemand hat einen der Wächter getötet - eine Freundin von mir - und das Verbrechen mit deinem Namen signiert. Die Tatsache, dass du die Nacht unter meinen Augen im Gefängnis verbracht hast, hat dir eine Menge Scherereien erspart.« »Was sollte dann das Theater mit der Verhaftung, wenn du weißt, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der das Verbrechen bestimmt nicht begangen hat?« Eric beobachtete sie genau, während er sprach. »Es wird erheblich einfacher sein, dich am Leben zu halten, wenn Deboras Mörder, wer immer das sein mag, glaubt, ich sei auf seinen Trick hereingefallen. An deiner Geschichte über deine Eltern könnte etwas dran sein, vielleicht sind sie wirklich ermordet worden, obwohl mir beim besten Willen nicht einfällt, wie sich das zu diesem späten Zeitpunkt beweisen lassen soll. Aber angenommen, es ist wahr. Angenommen, deine Eltern sind ermordet worden. Auch Debora ist ermordet worden, von jemandem, der will, dass ich dich für ihren Tod verantwortlich mache - um dich aus dem Weg zu schaffen. Also, ich mag keine Zufälle. Cat Creek ist eine sehr kleine Stadt, und wenn jemand Wächter ermordet, neige ich zu der Auffassung, es könnte sich um dieselbe Person handeln, die schon früher Wächter getötet hat.« Er lehnte 232 sich an die Wand und hängte beide Daumen in seine Uniformhose. »Stell dir vor, dass der Mörder oder die Mörder mich beobachten, um festzustellen, was ich tue. Wenn es so aussieht, als hätte ich dich wegen Deboras Ermordung verhaftet, wird das den Schuldigen vielleicht beruhigen. Ich habe seinen Köder geschluckt, ich blicke in die falsche Richtung, der Betreffende weiß, dass du mir nichts erzählen kannst, das ihn verraten könnte, und aus welchem Grund auch immer, du kannst ihm nicht mehr in die Quere kommen. Auf diese Weise kann er seinen Plan, was zur Hölle das auch sein mag, weiterführen. Zumindest für eine Weile wird er glauben, vor irgendwelchen Störungen sicher zu sein.« Lauren war bei seinen Worten sehr blass geworden. Sie drückte Jake fest an sich, und Tränen quollen unter ihren geschlossenen Augen hervor und liefen ihr langsam über beide Wangen. Aber ihr Weinen war vollkommen lautlos. Eric hätte sie am liebsten in die Arme genommen. Stattdessen rief Pete aus dem vorderen Raum: »Wir kriegen Gesellschaft, Boss.« Lauren öffnete die Augen und sah Eric direkt an. »Versteck uns«, sagte sie. Er nickte. »Die Gefängniszelle. Man kann sie von vorne nicht einsehen. Übrigens, sprich mit Pete nicht über die Wächter. Er weiß nichts darüber.« Lauren nickte, folgte ihm in die Zelle und setzte sich mit Jake auf die schmale Pritsche. Die Türglocke läutete, und Eric hörte Pete sagen: »Nein, Sir, er wird jetzt keine Presseerklärung abgeben.« Gütiger Himmel. Das musste entweder Jim Mulrooney vom dreimal die Woche erscheinenden Laurinburg Exchange sein oder Baird McAmmond aus Rockingham. Wer es auch war, er war verdammt schnell gewesen. Als hätte ihm jemand einen Tipp gegeben. 233 »Ich habe gehört, dass ihr schon eine Verhaftung in eurem Mordfall vorgenommen habt.« Eric ging nach vorn und fand Jim dort vor. Die Mütze in den Nacken geschoben, lehnte er an der Rezeption. Er hatte den Reißverschluss seines Wintermantels nicht zugezogen, und in seinem Mundwinkel hing eine Zigarette.
»Hier drin darfst du nicht rauchen, Jim«, sagte er. »Städtisches Gebäude - du kennst die Regeln. Und ich wüsste liebend gern, woher du deine Informationen hast, da wir den Mord offiziell noch gar nicht bekannt gegeben haben. Nicht einmal die nächsten Angehörigen sind bisher verständigt worden, und mit tödlicher Sicherheit haben wir die Verhaftung nicht bekannt gegeben.« »Ein anonymer Hinweis.« »Na, das überrascht mich aber.« »Komm schon, Eric. Du hast einen Mordfall, du hast nur wenige Stunden später jemanden verhaftet ... Du bist gut, du bist mehr als einmal für den Posten des Polizeichefs von Laurinburg vorgeschlagen worden, der demnächst pensioniert wird. Arbeite in dieser Sache mit mir zusammen. Ich werde dich groß rausstreichen. Mit so einer PR kann man hier in der Gegend Karriere machen.« »Und auch eine ganze Menge Zeitungen verkaufen, stimmt's?«, sagte Eric mit einem dünnen Lächeln. »Ich habe die Verdächtige, ich habe Beweise, und im Augenblick kann ich nicht mehr dazu sagen. Du kennst den Ablauf, du weißt, was erlaubt ist und was nicht. Und bevor die Anwälte nicht hier sind, darf ich dir nicht mal einen Namen nennen.« »Ich habe einen Namen. Du brauchst lediglich zu nicken und Ja oder Nein zu sagen. Spekulieren darf ich dann nach Herzenslust...« »Und dir und deiner Zeitung eine Klage einhandeln, wenn wir nicht vorsichtig sind, Jim. Lass das Thema noch ein paar Stunden ruhen.« 234 Jim grinste. »Ich habe Zeit. Die heutige Ausgabe haben wir sowieso verpasst, und für die nächste Ausgabe gehen wir nicht vor morgen Nachmittag in Druck.« »Dann komm morgen noch mal her. Vielleicht haben wir bis dahin etwas mehr für dich.« Lauren hatte Angst. Sie hatte schon seit Tagen Angst. Seit sie zum ersten Mal durch den Spiegel gegangen war, und ihre Angst war noch gewachsen, als sie Embar im Haus ihrer Eltern in Oria an die Wand genagelt vorgefunden hatte. Diese Angst war inzwischen zu einem ständigen Begleiter geworden ... Jake war in ihren Armen eingeschlafen, und sie sah in sein schönes schlafendes Gesicht hinab und dachte: Da draußen ist jemand, der ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, töten würde. Ihr Blut fühlte sich wie Eis in ihren Adern an. Eric kam durch den Korridor in ihre Zelle. Er schüttelte den Kopf. »Pete sitzt vorne und wird alle Besucher mit der Bemerkung >Kein Kommentar< abfertigen. In der Zwischenzeit werden wir beide das Notizbuch deiner Eltern durchgehen, und du wirst mir erzählen, woran die beiden gearbeitet haben.« »Das kann ich nicht.« Eric hatte einen Klappstuhl mitgebracht, den er jetzt aufklappte und neben Lauren auf den Boden stellte. Ihr fiel auf, dass er sich große Mühe gab, Jake nicht zu wecken, und dass er leise und überlegt sprach. »Lauren, du und ich, wir sind im Augenblick aufeinander angewiesen. Du bist unschuldig, das weiß ich. Und ich bin derjenige, der zwischen dir und demjenigen steht, der Debora getötet hat und der versucht hat, dir den Mord anzuhängen.« »Das weiß ich. Ich war hier, und du warst hier, wer immer sie also getötet hat, wir waren es nicht. Es ist nicht so, dass ich dir nicht helfen will, Eric. Ich sage nur, dass ich es nicht 235 kann. Ich habe die Notizbücher durchgelesen. Ich weiß nicht, was sie bedeuten.« »Wie ist es möglich, dass du das nicht weißt? Deine Eltern müssen dir doch irgendetwas erzählt haben ...« »Sie haben mir alles Mögliche erzählt. Dann haben sie mich nach Oria gebracht, als ich zehn war, und meine Erinnerung gelöscht, damit ich nicht verraten konnte, dass ich eine ... dass ich die Tore benutzen konnte, denn ...«Es war alles da. Sie konnte es spüren. Der Grund, warum ihre Eltern ihre Erinnerung gelöscht hatten, lag auf der Hand. Sie hatten es getan, weil ihr Leben in Gefahr sein würde. Weil... Weil... Weil sie eine Torweberin war. Aber warum war das so schlimm? Weil jemand die Torweber getötet hatte und sich mit Freuden ein kleines Mädchen vom Hals schaffen würde, bevor es groß genug war, um ein echtes Problem darzustellen. Lauren sah Eric an und sagte: »Ich habe gerade erst ein winziges Bruchstück meiner Erinnerungen zurückbekommen. Als ich zehn war, haben Cat Creek und die anderen Wächternexus in der Nähe ihre Torweber verloren. Sie starben auf viele verschiedene Arten und an vielen verschiedenen Orten, aber alle waren sich ziemlich sicher, dass sie ermordet wurden. Meine Eltern wussten bereits, dass ich Tore weben konnte, aber sonst wusste es niemand. Normalerweise hätten die Wächter mich erst im Teenageralter ausgebildet, aber ich war von allein dahinter gekommen, wie Tore funktionierten, daher brachten meine Eltern mir bei, wie ich sie richtig benutzen musste, damit ich nicht mich selbst und sie und alle anderen tötete. Als die Probleme begannen, haben die beiden, um mein Leben zu retten, meine Fähigkeiten vor allen verborgen, sogar vor mir selbst.« »Du bist eine Torweberin?« Eric schauderte. Lauren nickte. »Wann ist dir das wieder eingefallen?« 236 Lauren erzählte ihm von ihrem ersten Erlebnis mit dem Spiegel ihrer Eltern und gab ihm einen kurzen Bericht über ihre erste Reise nach Oria. Als sie fertig war, saß er einen Moment lang einfach nur da und schüttelte den Kopf. »Und du weißt immer noch nicht, woran sie gearbeitet haben?«
»Noch nicht, nein. Und die Notizen ergeben nicht den geringsten Sinn für mich.« »Für mich ergeben sie einen gewissen Sinn, aber ich sehe irgendwie das große Ziel nicht, das die beiden erreichen wollten. Ich habe den größten Teil der vergangenen Nacht damit verbracht, die erste Hälfte ihrer Niederschrift zu lesen, ich habe mir Notizen gemacht und versucht, die einzelnen Stücke zusammenzufügen. Glaubst du, die beiden haben dir verraten, was es mit ihrem großen Plan auf sich hatte?« »Ich bin davon überzeugt. Aber die Erinnerung ist ausgelöscht.« Eric seufzte. »Vielleicht ist sie nur auf die gleiche Art und Weise ausgelöscht wie die anderen Erinnerungen auch. Vielleicht brauchst du nur etwas, das deinem Gedächtnis auf die Sprünge hilft.« Sie nickte ohne große Hoffnung. »Vielleicht. Es wäre schön, wenn ich all das zurückbekommen könnte, was ich verloren habe. Aber ich verlasse mich nicht darauf.« »Ich auch nicht«, stimmte er ihr zu. »Wir werden schon noch dahinter kommen. Und wir werden einander Rückendeckung geben, du und ich, denn ich habe das schreckliche Gefühl, dass wir beide bis zum Hals in Schwierigkeiten stecken. Es könnte mit der Sache zu tun haben, an der deine Eltern gearbeitet haben. Mit Sicherheit hängt es mit den Wächtern zusammen und mit dem, was in Rockingham seinen Anfang genommen hat.« »Was ist in Rockingham passiert?«, wollte Lauren wissen. 237 Er zögerte. Dann erzählte er es ihr. Sie schauderte bei dem Gedanken daran, dass die Welt untergehen könnte, dem Gedanken daran, dass sie und Jake in wenigen Tagen oder Wochen an etwas sterben konnten, das über sie hereinbrechen würde wie die vier Reiter der Apokalypse. Jetzt wünschte sie sich inbrünstig, sie hätte nicht danach gefragt. Aber sie sagte: »Ich werde dir den Rücken decken, Sheriff, solange du mir meinen deckst.« Eric hielt ihr eine Hand hin, und Lauren löste mit großer Vorsicht einen Arm von Jake, um ihn nicht zu wecken, dann besiegelten sie den Pakt mit einem Händedruck. 10 Sechzehn neue Opfer erhöhen die Zahl der Grippetoten auf fünfunddreißig von Lisa Bannister aus unserer Redaktion (Richmond County Daily Journal, Rockingham, NC) Im Richmond Memorial Hospital sind, wie das Krankenhaus meldet, sechzehn weitere Personen an der bisher noch nicht identifizierten Grippe gestorben, die im County Richmond wütet. Alle Todesfälle haben sich während der letzten vierundzwanzig Stunden ereignet; damit ist diese Grippeepidemie die tödlichste, die das County in den letzten dreißig Jahren heimgesucht hat. Die Tatsache, dass alle Opfer zwischen zwanzig und vierzig waren, macht die Ärzte besonders ratlos ... Ärzte im County Scotland von neuartiger Grippe überrollt von Jim Mulrooney (Laurinburg Exchange, Laurinburg, NC) Die Bewohner des Countys Scotland werden derzeit von einer Grippewelle überflutet, der Geißel dieses Winters, berichten die Ambulanzärzte Mark Rogers und David Moore. »Unsere Ambulanz kann sich kaum noch retten vor Grippefällen, von denen viele im Krankenhaus behandelt werden müssen«, sagt Moore. »Ich habe noch nie einen so schnellen Anstieg unserer Patientenzahl miterlebt.« Andere Ärzte aus dem County, 239 deren Wartezimmer randvoll mit Grippeopfern sind, stimmen dieser Einschätzung zu. »Dies ist die schlimmste Grippesaison, die ich je mitgemacht habe«, sagt ein Arzt, der darum bittet, ungenannt zu bleiben. »Und es fängt gerade erst an ...« Kupferhaus, Ballahara Molly schritt in der Mitte einer Kolonne prächtig gekleideter Soldaten zum Abendessen; sie alle gaben noch immer vor, Dienstboten des Hauses zu sein. Sie trug die Kette, die der Imallin ihr geschenkt hatte, aber obwohl ihre gründliche Untersuchung des Schmuckstücks nichts Verdächtiges ergeben hatte, fühlte sie sich dennoch zutiefst unwohl. Die Kette hatte ein Gewicht, das sich nicht allein mit der Schwere ihres Goldes erklären ließ. Molly spürte Erinnerungen in dem Schmuckstück - es waren die Erinnerungen anderer, und es waren keine glücklichen Erinnerungen. Wenn sie es trug, hatte sie das Gefühl, als könne sie aus den Augenwinkeln Geister sehen, die neben ihr hergingen, dort, wo die Soldaten waren. Sie ertappte sich dabei, dass sie sich Feuersbrünste und Schlachtfelder ausmalte, Trauer und Zerstörung und den Tod in endlosen Reihen und endlosen Gestalten. Obwohl es doch ein wirklich hübsches Schmuckstück war, stellte Molly fest, dass sie es nicht besonders mochte. Aber wenn sie daran dachte, es abzunehmen, stellte sie ebenfalls fest, dass sie auch das nicht wollte. Auf eine Art und Weise, die sie nicht beschreiben konnte, fühlte sich die Kette um ihren Hals wie ein Schild an. Wie Sicherheit. Und um Sicherheit war es in ihrem Leben in letzter Zeit ein wenig schlecht bestellt gewesen. Sie hatte nicht gewusst, was sie von ihrem Essen bei dem 240 Imallin erwarten sollte; halb hatte sie mit einem festlich gedeckten und mit allen möglichen Speisen beladenen Tisch gerechnet, mit Küchenmägden, die hin und her liefen, vielleicht mit einem prasselnden Feuer an einem Ende eines großen Saals und Musikanten am anderen Ende. Sie stellte sich vor, dass der Imallin alle Register ziehen würde, um sie zu beeindrucken. Um sie mit einer gewaltigen Zurschaustellung von Macht und Wohlstand
zum Bleiben zu bewegen. Aber die große Bogentür, durch die ihre Eskorte sie schließlich geleitete, führte nicht in einen prächtigen Saal, sondern in ein hübsches kleines Atrium. Selbst mitten im Winter gab es dort eine Fülle süß duftender Blumen, die sie nicht benennen konnte, einen winzigen Wasserfall und einen Teich mit leuchtend bunten Fischen, die sie ebenfalls nicht zu bestimmen vermochte. Außerdem stand in der Mitte des Raums ein entzückender runder Tisch, der für zwei Personen gedeckt war. Überall im Garten waren Lichter und Laternen verteilt, und über ihr funkelten die Sterne. Seolar, der immer noch schlicht gekleidet war, jetzt aber saubere Schuhe trug, verneigte sich tief. »Vodi«, sagte er, »du ehrst meine Welt mit deiner Gegenwart.« Molly sah ihm in die Augen und erwiderte seinen Gruß mit einer genau berechneten Verbeugung, die der seinen ähnelte. »Imallin. Ich danke dir für die Einladung - aber ich habe noch nicht vergessen, wie deine Welt in den Genuss meiner Gegenwart gekommen ist.« Er lachte leise. »Natürlich nicht. Das hatte ich auch nicht erwartet.« Er bot ihr einen Stuhl am Tisch an, zog ihn aber nicht für sie hervor; andere Kulturen, andere Sitten, vermutete sie. Sie nahm Platz, und Seolar setzte sich ebenfalls, bevor er sagte: »Javichi, bitte. Und den ersten Gang.« Ein Diener erschien auf dem Gehweg. In der einen Hand trug er einen mit Eis gefüllten Eimer mit einer großen Fla241 sehe darin, und in der anderen balancierte er ein kleines goldenes Tablett mit zwei goldenen Kelchen und einem winzigen Becher zum Verkosten. Der Diener schenkte das Getränk, das hellgrün war und leicht schäumte, zuerst in den kleinen Becher und trank davon. Dann reichte er dem Imallin die Kelche. Seolar holte ein schwarzes Tuch hervor, mit dem er das Innere eines jeden Gefäßes auswischte. Dann betrachtete er den Stoff kurz, nickte, sah den Diener an und nickte abermals. Der Diener schenkte das Getränk ein. Eine Welle kleiner Schauder glitt über Mollys Hals und zwischen ihren Schulterblättern hinab, und die Haare auf ihren Armen stellten sich auf. Willkommen in der gemütlichen Welt der Mächtigen. Der Imallin nippte an jedem Glas, wischte dann den Rand von ihrem ab und bot ihr das Glas mit einer feierlichen Geste dar. »Hast du immer solche Angst davor, vergiftet zu werden, oder dienen diese Vorsichtsmaßnahmen ausschließlich mir?« Der Imallin seufzte. »Du bist die Neunte Vodi.« Er legte eine besondere Betonung auf diese beiden letzten Worte, und als er sie aussprach, hatte Molly einen Augenblick lang das Gefühl, als vibriere die Kette um ihren Hals. »Die Veyär - und mit ihnen alle Wahren Völker von Oria - begrüßen dein Erscheinen mit großer Freude. Aber die Wahren Völker sind nicht die einzigen Bewohner Orias: Es gibt in dieser Welt auch solche, die alles tun würden, um deinem Leben ein Ende zu machen und mit ihm die Prophezeiungen, die dich umgeben.« »O Himmel. Prophezeiungen?« Molly schob ihren Stuhl vom Tisch zurück. »Nein. Diese kleinen Burschen haben ebenfalls von Prophezeiungen gesprochen. Der Dunkle, der Tiefe und der Helle.« 242 »Die Tradona.« »Ja. Die. Sieh mal - ich weiß nicht, wofür ihr hier mich haltet, aber ich bin es nicht. Ich habe ein Talent, das gebe ich zu. Ich bin eine seltsame Art von Heilerin, aber das macht mich noch lange nicht zur Retterin von irgendwem. Wenn ich Ärztin wäre, würde niemand so viel Aufhebens um mich machen, also betrachte mich doch einfach als eine Ärztin mit einer überdurchschnittlich hohen Überlebensrate ihrer Patienten.« Der Imallin runzelte die Stirn. »Es ist unmöglich, dass du überhaupt nichts weißt. Deine Mutter hat dir doch gewiss irgendetwas über deine Rolle in Oria erzählt. Sie muss dir erklärt haben, was die Neunte Vodi sein und was sie tun würde.« Molly nahm einen Schluck von ihrem Getränk und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass es keinen Alkohol enthielt und dass es köstlich war. »Ich habe meine Mutter nie kennen gelernt. Meinen Vater übrigens auch nicht. Die beiden haben mich gleich nach meiner Geburt zu fremden Leuten gegeben, und sie starben, als ich noch ein Kind war, lange bevor ich herausfinden konnte, wer sie waren, lange bevor ich sie aufspüren konnte.« Sie lächelte traurig. »Als ich sie endlich fand, konnte ich nur noch ihre Gräber besuchen.« Seolars Augen wurden noch größer - etwas, das Molly nicht für möglich gehalten hätte. »Sie ist tot?«, flüsterte er. »Meine Mutter? Schon lange.« »Und du hast sie nie kennen gelernt? Sie hat dir niemals irgendetwas erzählt?« »Nein.« »Das erklärt viel. Sehr viel. Bei den wahren Göttern, was für eine Katastrophe. Wir können von Glück sagen, dass wir dich überhaupt gefunden haben. Du hättest sonst wo sein können.« 243 »Das wäre schlecht gewesen?« »Das wäre das Ende der Veyär gewesen.« Während Molly an ihrem Glas nippte, beugte Seolar sich vor und
sagte: »Die Prophezeiungen Chu Huas haben die Veyär nun schon seit siebentausend Jahren geleitet. Vor dieser Zeit, als die Alten Götter kamen, haben wir sie irrtümlich für Wahre Götter gehalten und ihnen gehuldigt, was natürlich genau das war, was sie wollten. Doch während des Aufstiegs des großen Veyärreichs von Tasaayan Seeli zeugten eine Frau aus deiner Welt und ein Mann aus meiner Welt die Erste Vodi, und diese Vodi, Chu Hua - die Visionen von der Zukunft heraufbeschwören konnte -, offenbarte den Wahren Völkern von Oria die Natur der Alten Götter, und sie sagte eine Frau voraus in einer fernen Zukunft, da die Alten Götter vom Antlitz unserer Welt vertrieben und in die Höllen zurückgeschickt würden, aus denen sie hervorgegangen waren. Und sie prophezeite, dass diese Zeit mit der Ankunft der Neunten Vodi beginnen würde. Mit dir.« Molly seufzte. »Wie seid ihr darauf verfallen, dass von allen Leuten ausgerechnet ich nicht nur in einer, sondern in zwei Welten eure Neunte Vodi sein soll?« »Es war nicht unsere Idee. Du bist als die Neunte Vodi geboren worden.« »Ja. Das hast du schon einmal gesagt, aber ich bin immer noch nicht überzeugt.« »Dann werde ich versuchen, dich zu überzeugen. Während der gesamten uns bekannten Geschichte sind neun Frauen aus der Verbindung zwischen einer menschlichen Frau und einem Veyärmann hervorgegangen. Wenn es noch andere gab, und möglich wäre es, haben sie entweder die Kindheit nicht überlebt, oder sie sind nicht nach Oria gekommen, wenn es an der Zeit dazu war - oder haben sich, falls sie doch gekommen sind, versteckt gehalten. Die Vodi sind immer Frauen - wenn aus der Verbindung zwischen ei244 ner menschlichen Frau und einem Veyärmann ein lebender Nachkomme hervorgeht, ist es immer ein Mädchen. Warum das so ist, weiß ich nicht.« »Klingt wie eine genetische Sache, nur dass ich dir deine Geschichte nicht abkaufe. Erstens: Ich weiß, wer meine Eltern waren, und sie waren beide Menschen. Also kann ich keine Vodi sein. Zweitens: Was du da behauptest, ist ohnehin unmöglich, denn eine menschliche Frau und ein Veyärmann stammen von vollkommen unterschiedlichen Evolutionsketten auf unterschiedlichen Welten, die durchaus auch noch in unterschiedlichen Universen liegen könnten. Sie können unmöglich Chromosomen gemeinsam haben, die einander ähnlich genug wären, um Nachkommen hervorzubringen. Die Wahrscheinlichkeit, dass unzählbare Millionen evolutionärer Veränderungen sich in zwei Welten gleichzeitig vollzogen haben, um zwei Spezies hervorzubringen, die vollkommen unterschiedlich sind, aber doch ein lebensfähiges Kind hervorbringen können? Allmächtiger Gott! Ich habe nur meine Biologiekenntnisse aus der High School, aber selbst ich weiß, dass das unmöglich ist. Und drittens: Ich habe das Werk einiger deiner Alten Götter gesehen, und ich werde niemandes Armee gegen sie in den Kampf führen. Ich habe meinem Land gedient, und ich bin in Ehren entlassen worden und hege keinerlei Ehrgeiz mehr, die Welt vor irgendetwas zu retten. Tut mir Leid.« Einige Diener brachten schweigend Tabletts herbei und stellten sie vor Molly und den Imallin, und ein Vorkoster trat vor und nahm einen Bissen von jeder Speise von jedem Teller, dann deckte er die Speisen wieder zu und wartete dort. Molly begriff plötzlich, dass sie darauf warteten, ob er sterben würde - wenn das kein aufregender Job war! Minimale Beförderungschancen, der einzige Vorteil die Tatsache, dass man einige ziemlich wohlschmeckende Speisen zu essen bekam - und sie konnte nur hoffen, dass seine Fami245 lie eine gute Pension bekam, wenn er in Erfüllung seiner Pflicht den Löffel abgab. Aber er tat es nicht - jedenfalls diesmal nicht. Als er sich schließlich davon überzeugt hatte, dass das Essen keine Gefahren barg, griff der Imallin, immer noch schweigend, nach seiner zwei zinkigen Gabel und nahm einen Bissen. Molly tat es ihm nach. Das Essen war gut. Verlegenes Schweigen folgte. Als sie endlich das Mahl beinahe beendet hatten, sagte der Imallin: »Als du heute in den Spiegel gesehen hast, sind dir Veränderungen in deiner Erscheinung aufgefallen, stimmt das? Birra hat mir berichtet, du seist ein wenig außer dir gewesen.« »Das ist noch ziemlich milde ausgedrückt.« »Und diese Veränderungen deines Äußeren sagen dir gar nichts?« »Was sollten sie mir denn sagen? Ich vermute, dass ihr mich irgendeiner Art Magie unterzogen habt.« Der Imallin schüttelte langsam den Kopf. »Wir sind von dieser Welt. Wir können keine Magie wirken. Nur die Alten Götter, die aus anderen Welten kommen, können Magie wirken. Und du natürlich, aber du bist die Neunte Vodi.« »Klar. Ich bin die Vodi, der es prophezeit ist, deine Welt von den Alten Göttern zu befreien. Und ich kann Magie benutzen. Und ich werde gegen meinen Willen hierher geschleppt, und plötzlich werde ich größer und dünner, und mein Haar nimmt eine merkwürdige Farbe an, meine Augen verfärben sich ebenfalls und ...« Sie hielt inne und dachte einen Moment lang darüber nach. Ihre Augen waren inzwischen so grün wie die der Veyär. Wenn sie auch nicht ganz so groß war wie ein Veyär, lag sie jetzt doch gut im Mittel zwischen der Größe von Menschen und der Größe der Veyär. Ihre Hände hatten noch immer die richtige Anzahl von Fingern und die richtige Anzahl von Gelenken für ei246 nen Menschen, aber die Farbe ihres Haares ähnelte sehr viel mehr den Farben der Veyär als denen der Menschen.
Konnte vielleicht doch etwas Wahres an Seolars Geschichte sein? War es möglich, dass sie ein Kind beider Welten war? Er beobachtete ihre Augen und sah in ihnen anscheinend etwas, das ihm gefiel, denn er lächelte zufrieden. »Du verstehst langsam, nicht wahr?« Molly fuhr sich entnervt mit beiden Händen durchs Haar. »Ich begreife einfach nicht, wie das, was du mir erzählst, die Wahrheit sein kann. So funktioniert die Wissenschaft einfach nicht.« »Ah. Wissenschaft.« Der Imallin nickte weise. »Wir haben von einer Wissenschaft gehört. Es geht um einfache Gesetzmäßigkeiten wie Masse und Gewicht, Aktion und Reaktion. Es geht um Logik und Dinge, die man messen kann, Dinge, die man sehen kann, und die Wissenschaft liefert Ergebnisse, die jeder, der die Anweisungen genau befolgt, genau wiederholen kann.« »Ja.« »Du bist kein Kind der Wissenschaft. Deine Mutter hat dich durch Magie in ihren Schoß gerufen. Sie und dein Vater - dein wahrer Vater - haben drei Jahre lang versucht, dich zu zeugen, denn diese Welt brauchte dich so verzweifelt. An deiner Empfängnis war nichts Einfaches, und es war nichts Einfaches an den Opfern, die deine Mutter gebracht hat, um dir das Leben zu geben.« »Es fällt mir schwer, zu glauben, dass ich ihr so viel bedeutet haben soll, denn schließlich hat sie mich fremden Leuten überlassen.« »Ich kann mir nur einen Grund vorstellen, warum sie das getan hat, dass nämlich dein Leben in Gefahr war, und sie glaubte, du wärest sicherer, wenn sie dich versteckt.« Molly nahm noch einen Schluck aus ihrem Glas, dann 247 leerte sie es und schob es zu Seolar hinüber, damit er ihr nachschenken konnte. Sie fing langsam an, ihm zu glauben, aber das bedeutete nicht, dass sie ihn auch verstand. Sie zuckte die Achseln. »Mag sein. Ich könnte besser von ihr denken, wenn das der Fall wäre.« »Vielleicht weiß dein Vater mehr. Ich werde ihn fragen.« Endlich drang die Bedeutung dieser kleinen Information wirklich zu Molly durch. »Einen Moment mal. Du kennst meinen Vater? Er lebt noch?« »Und ob. Er ist der Imallin einer Domäne, die ein gutes Stück von dieser entfernt liegt. Er wird älter, und sein Sohn wird zurzeit zu seinem Nachfolger ausgebildet.« Molly hob die Hand. »Sein Sohn. Mein - Bruder?« »Halbbruder. Aber ja. Du hast auch noch eine Halbschwester.« »Ich habe also nicht nur einen Vater, den ich niemals kennen gelernt habe, sondern auch noch Geschwister?« Seolar musterte sie mit einem Ausdruck, den sie nur als Sorge deuten konnte. »Hast du damit Schwierigkeiten?« »Ich habe viel Zeit damit zugebracht, einsam zu sein. Viel Zeit, mich nach einer Familie zu sehnen, die ich nie gehabt habe. Das hier ist - ahm, es ist ziemlich hart.« Seolar legte sachte eine Hand auf ihre. »Ich bedauere dein Leiden und deine Einsamkeit. Hätten wir dich finden können, hätten wir dich früher hergeholt. Wir suchen dich, seit du nicht zu dem Zeitpunkt aufgetaucht bist, an dem wir dich erwartet hatten. Ich wünschte, wir hätten ein wenig mehr tun können.« Sie lachte leise. »Ja, das wünschte ich auch. Aber ich habe immer noch eine Chance - zumindest mit meinem Vater und meinem Bruder. Das ist mehr, als ich jemals erwartet hätte.« Sie nahm einen letzten, langen Schluck von ihrem Javichi und seufzte. »Ich weiß nicht, wie ich in diese Welt hineinpasse, aber langsam glaube ich, dass ich es tue. 248 Es macht mir Angst, aber mit Angst werde ich fertig. Ich habe schon oft Angst gehabt. Ich ... ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.« Er füllte ihr Glas wieder auf und gab es ihr zurück. »Du gehörst hierher. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit du dich hier zu Hause fühlst. Wir wollen dich hier haben, Molly. Ich will dich hier haben. Ich werde dir helfen, deinen Platz in Oria zu finden.« Sie sah ihn über den Tisch hinweg an; sie stellte fest, dass sie diesen Mann mochte. Die kunstvollen Gesichtstätowierungen wirkten in dem flackernden Lampenlicht sehr zurückhaltend. Er wirkte nicht wie ein Mensch auf sie, aber auf eine Art und Weise, die sie nicht recht verstand, wirkte er echt. Cat Creek Eric ging zu Lauren in die Gefängniszelle, stellte zwei Klappstühle auf und sah dann einen Moment lang Jake zu, der einen Ball über den Fußboden rollte; wann immer der Ball von den Gitterstäben abprallte und zu ihm zurückrollte, stieß Jake ein wildes Kichern aus. Lauren blickte zwischen Eric und dem zusätzlichen Stuhl hin und her. »Pete wird gleich nachkommen. Er muss erst noch die Tür abschließen, um sicherzustellen, dass wir nicht gestört werden. Unsere ganze schöne Tarnung wäre im Eimer, wenn jemand beobachtet, dass Pete und ich uns mit dem Feind verbrüdern.« Er bedachte sie mit einem kleinen Lächeln. »Dann hast du Pete also alles erklärt?« »Noch nicht. Diesen Themenbereich werden wir auslassen. Aber ich habe den Autopsiebericht bekommen; die Ge-
249 richtsmedizin hat sich höllisch beeilt, und ich fand, dass ihr beide hören solltet, was der Pathologe festgestellt hat.« Pete trat ein, nickte Lauren ziemlich steif zu und nahm auf dem freien Stuhl Platz. »Alle Türen abgeschlossen, Anrufbeantworter eingestellt, ein Schild an der Tür mit der Aufschrift: >Bin in fünfzehn Minuten wieder da.< Wenn wir länger brauchen, dürfte das wohl kaum ein Problem werden.« Eric nickte. »Eine Viertelstunde sollte reichen. Ich beeile mich. Also, zunächst einmal, Lauren, erkennst du das hier?« Er reichte ihr einen Umschlag. Sie drehte ihn um, nickte und sagte: »Das ist einer von etwa tausend Briefen, die ich an Brian geschrieben habe, während er in Übersee TD gemacht hat.« Sie warf einen schnellen Blick auf Pete. »TD - das heißt temporärer Dienst. Tut mir Leid. Ich denke immer noch in Armeeabkürzungen. Sie waren ein Teil von Brians und meinem Leben, solange wir ein Leben hatten.« Dann wandte sie sich wieder an Eric. »Ich werde dich nicht fragen, wie du zu dem Brief gekommen bist.« »Ich musste dein Haus durchsuchen. Ich werde dir gleich zeigen, warum, und ich entschuldige mich auch dafür, aber es war ... es ging um Leben oder Tod. Ich werde den Brief jetzt auch Pete zeigen. Pete, du sollst den Brief nicht lesen, sondern dir nur die Handschrift ansehen, in Ordnung?« Pete nahm den Brief entgegen, faltete ihn vorsichtig auf, sah ihn kurz an, dann faltete er ihn wieder zusammen und gab ihn Eric zurück. Lauren versuchte, sich nicht darüber zu ärgern, dass er den Brief nicht ihr gegeben hatte. Immerhin war er ihr Eigentum, und selbst wenn er ihr nicht so viel bedeutete wie der Stapel Briefe, die Brian an sie geschrieben hatte, war er dennoch ein Teil von dem, was ihr aus ihrem gemeinsamen Leben mit Brian übrig geblieben war. Eric schob den Brief in einen Plastikbeutel, dann zog er einen anderen, bereits versiegelten Beutel aus der Tasche und sagte: »Ich darf das hier nicht aus der Plastiktüte he250 rausnehmen. Aber sieh es dir bitte an, Lauren, und sag mir, was es ist.« Lauren nahm die Plastiktüte entgegen und blickte auf das Stück Papier, auf dem geschrieben stand: »Kommen Sie um Mitternacht zu mir nach Hause. Ich weiß, wer der Verräter ist, und ich habe Beweise.« Die Unterschrift lautete: »Lauren Dane.« Aber sie hatte das Papier noch nie zuvor gesehen, ebenso wenig wie die Handschrift, und konnte sich nicht vorstellen, was es zu bedeuten hatte. Sie blickte zu Eric auf. »Ein schlechter Scherz?« Eric nahm den Beutel von ihr entgegen und reichte ihn an Pete weiter. »Was hältst du davon, Pete?« Pete las die Notiz durch, sah sie sich genau an und sagte: »Das hat sie nicht geschrieben.« »Ganz deiner Meinung. Debora hatte es in der Tasche, als wir sie aus dem Sumpf gefischt hatten - der Leichenbeschauer hat es entdeckt und mir gegeben. Dieses Beweisstück hat mich zu dem Entschluss gebracht, dass es für den Augenblick wahrscheinlich für uns alle das Sicherste wäre, dich zu verhaften.« Pete runzelte die Stirn. »Am Abend des Tages, an dem Debora ermordet wurde, war einer von uns beiden die ganze Zeit über bei ihr. Und die ganze Nacht auch.« »Genau. Aber das wusste der Mörder nicht. Niemand außer dir und mir wusste, dass Lauren in dieser Nacht auf dem Revier eingesperrt war. Ich bin mir noch nicht sicher, aber ich denke, der Mörder hat gewusst, dass Lauren meine Hauptverdächtige in dem Molly-McColl-Fall war, und er glaubte, es müsse ziemlich einfach sein, ihr auch ein zweites Verbrechen in die Schuhe zu schieben.« Pete nickte. »Hast du noch irgendwelche anderen Parallelen zwischen Molly McColls Verschwinden und dem Tod von Debora Bathingsgate gefunden?« »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann ich nur sagen, dass 251 wir in den Wohnungen beider Opfer keine Spuren eines Kampfes entdeckt haben. Falls wir Mollys Leiche finden, werden wir wahrscheinlich noch weitere Zusammenhänge feststellen können. Aber zunächst einmal will ich euch beiden erzählen, was der Pathologe, der Debora Bathingsgate untersucht hat, herausgefunden hat. Der Zeitpunkt des Todes wird mit etwa vier Uhr morgens angegeben. Die Leiche wurde gegen fünf Uhr gefunden das heißt, wer auch immer sie in den Sumpf geworfen hat, hat nicht viel Zeit verschwendet, und als Tom die Leiche gefunden hat, hatte sie noch nicht lange dort gelegen.« »Falls er sie nicht selbst dorthin gebracht hat.« »Dieser Gedanke ist mir auch durch den Kopf gegangen, aber der Experte von der Gerichtsmedizin in Laurinburg sagt, Toms Boot sei vollkommen sauber gewesen - kein menschliches Blut, keine übereinstimmenden Stofffasern, keine einzelnen Haare -, Dinge, die höchstwahrscheinlich aufgetaucht wären, wenn man an den Zustand ihres Körpers denkt.« Pete sagte: »In Ordnung. Ich wollte nur sichergehen, dass wir nichts übersehen.« »Das Wasser in Deboras Lungen war Leitungswasser, und die Fingerabdrücke an ihrem Hals sowie die Ligaturen an ihren Handgelenken deuten darauf hin, dass man sie in einer Badewanne oder etwas Ähnlichem unter Wasser gedrückt hat und dass sie sich wie wahnsinnig gewehrt hat. Nach ihrem Tod hat ihr der Mörder mit einem großen, schweren Gegenstand den Kopf eingeschlagen. Nach der Form der Schädelfraktur zu urteilen, handelte es sich höchstwahrscheinlich um eine gusseiserne Bratpfanne, und diese Bratpfanne werden wir mit ziemlicher Sicherheit in Laurens Küche finden, wenn wir ihr Haus durchsuchen. Ich gehe davon aus, dass der Täter die Pfanne dort hingeschafft hat.«
Lauren wurde übel. Sie blickte zu Pete hinüber und sah, 252 dass er sie beobachtete. Zum ersten Mal konnte sie in seinen Augen Mitgefühl entdecken. »Da will Ihnen wohl jemand mächtige Scherereien machen«, sagte er leise. Sie nickte. »Aber wer? Ich wüsste nicht, wen ich derart gegen mich aufgebracht haben könnte.« »Dazu kommen wir später. Ich habe ein paar Ideen«, sagte Eric. »Zurück zu Debora. Nachdem der Mörder ihr den Kopf eingeschlagen hatte, hat er die Leiche zum Sumpf geschafft und ins Wasser geworfen.« »Wollte der Mörder es so aussehen lassen«, fragte Pete, »als sei sie bei einem Unfall ertrunken, oder sollten wir glauben, sie ist zuerst mit einer Pfanne erschlagen und dann ertränkt worden? Oder was?« »Ich bin mir nicht sicher.« Eric nahm die Autopsiefotos heraus. »Der Mörder wollte offensichtlich keinen Zweifel aufkommen lassen, dass Debora ermordet wurde. Und er wollte offensichtlich das Verbrechen Lauren in die Schuhe schieben. Aber ich habe keinen Schimmer, was der Täter mit alledem bezweckt hat. Ich vermute, er wollte uns glauben machen, dass Lauren versucht hat, ihr Verbrechen zu vertuschen, indem sie es so aussehen ließ, als sei Debora ertrunken. Vielleicht wollte er uns auch auf die Idee bringen, dass Debora noch lebte, als sie in den Sumpf ging, und dass sie dort ertrunken sei ...«Er zuckte die Achseln. »Er hatte mit Sicherheit keine Ahnung, dass diese Fingerabdrücke am Hals sichtbar werden würden.« »Warum glaubst du das?«, fragte Lauren. »Weil sie ein todsicherer Beweis dafür sind, dass du Debora nicht umgebracht hast. Die Hand, von der diese Abdrücke stammen, ist um ein Drittel größer als meine.« Er hielt Lauren eine Hand hin. Nach einem kurzen Zögern legte sie ihre eigene Hand darüber. Ihre Hand war winzig im Vergleich zu seiner. 253 Sie zuckte bei der Berührung zusammen und krümmte sich innerlich. Die Wärme seiner Haut tat ihr gut. Hastig zog sie die Hand wieder zurück. »Dann war sie es also mit Sicherheit nicht«, sagte Pete. »Aber das wussten wir bereits.« »Also werden wir Laurens Haus beobachten. Mal sehen, ob zufällig jemand mit einer Bratpfanne vorbeikommt. Außerdem werden wir einige Leute, die wir kennen, beobachten, und wir werden uns die Fragen, die man uns zu der Verhaftung stellt, genau anhören. Wir wollen feststellen, wer sich besonders hartnäckig für den Fall interessiert; zu diesem Zeitpunkt wird mir jeder verdächtig erscheinen, der ein plötzliches Interesse an Polizeiarbeit bekundet.« Lauren sagte: »Aber warum ich?« Eric warf einen kurzen Seitenblick auf Pete, dann sah er wieder zu Lauren hinüber. »Deine Eltern hatten einige Feinde.« Sein Tonfall war sehr vorsichtig. »Ich kann nur spekulieren, aber diese Sache könnte irgendwie mit ihnen zu tun haben.« »Dann war...« Sie hätte um ein Haar von dem Notizbuch gesprochen, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig bremsen. »Dann war die Geschichte, die ich gehört habe, vielleicht doch wahr? Dass die beiden ermordet wurden?« Eric nickte. »Könnte sein. Im Augenblick könnten wir eine Spur wirklich gut gebrauchen.« Das Telefon klingelte. Alle drei zuckten zusammen. »Willst du den Anrufbeantworter drangehen lassen?«, fragte Pete. »Nein.« Eric sprang auf und ging durch den Korridor. Lauren hörte ihn antworten, hörte einige kryptische Erwiderungen und dann das Kritzeln eines Bleistifts auf Papier. Wenige Sekunden später kam er durch den Korridor zurück, und seine Miene sagte deutlich, dass er schlechte Nachrichten hatte. 254 »Das war Ernest Tubbs«, erklärte er langsam. »Er war auf der Jagd und hat ein paar Bussarde aufgeschreckt. Er glaubt, er hätte draußen bei der Tucker-Farm Molly McColls Leiche gefunden.« »Oh, verdammt«, sagte Pete leise. »Soll ich das übernehmen?« »Nein. Ich habe eine ungefähre Vorstellung davon, wonach ich suche, und ich war auf dem Schauplatz des letzten Verbrechens. Ich fahre rüber. Du bleibst hier bei Lauren und Jake, und lass niemanden - niemanden - in ihre Nähe, ganz gleich aus welchem Grund.« Pete nickte. »Wer immer zu ihnen will, muss zunächst mal mich erledigen, Boss.« Er zog das Wort »Boss« mit einem breiten Grinsen in die Länge, und Lauren begriff, dass die beiden Männer eher Kollegen waren als Boss und Angestellter. »Dann mache ich mich mal auf den Weg.« Eric blieb noch einmal stehen und drehte sich zu Pete um. »Hast du noch Ersatzfilme? Den letzten habe ich im Sumpf verknipst, und ich habe ihn bisher noch nicht mal aus dem Apparat genommen.« »Nein, ich habe leider auch keine mehr. Aber lass mir den vollen Film hier, damit ich ihn einwerfen kann - damit er nicht eine Woche in deinem Wagen herumrollt. Du kannst unterwegs einen neuen kaufen. Du kommst an zwei oder drei Läden vorbei, in denen es Filme gibt.« Eric drehte sich um und ging weiter. »Halt uns auf dem Laufenden«, rief Pete ihm nach. »Wir sitzen hier fest und haben nichts anderes zu tun, als unseren Bauchnabel anzustarren und Lagerfeuerlieder zu singen.«
Lauren hörte Eric, der bereits an der Tür stand, lachen, obwohl es eher wie ein Bellen klang. »Ich bin beinahe versucht, mit dir den Platz zu tauschen, Pete. Beinahe.« Dann läutete die Türglocke, die Tür fiel krachend ins 255 Schloss, und Pete und Lauren musterten einander abschätzend. Kupferhaus, Ballahara Molly kostete das Sonnenlicht aus, das durch das Fenster ihrer neuen Wohnung fiel. Hier gab es kein sichtbares Kupfer, obwohl sie vermutete, dass irgendwo welches versteckt war. Die Erbauer dieser Häuser waren wahrscheinlich so paranoid, dass sie überall Kupfer haben wollten, um die Rrön fern zu halten. Die größeren Räume, die aus Stein gebaut waren, mit hellen Holzfußböden, Wandvertäfelungen und wunderschönen Seidenteppichen überall, stellten eine große Verbesserung gegenüber der Kupfersuite dar. Es gab keine Gitter an den Fenstern, und Molly befand sich auch nicht mehr in einem Turm, sondern nur ein Stockwerk über dem Boden. Die Türen waren aus kunstvoll geschnitztem Holz, und die Räume verströmten eine Wärme, die in ihrem früheren, über und über mit Metall ausgekleideten Quartier einfach nicht hatte aufkommen wollen. Seolar hatte zu seinem Wort gestanden. Sie konnte die Türen öffnen und hinausgehen. Sie hatte nur einfach keine Ahnung, wohin sie gehen sollte oder wie sie sich hier zurechtfinden würde, daher unternahm sie nur einen kurzen Ausflug durch den Korridor, um sich eine gewisse Orientierung zu verschaffen, dann kehrte sie in die Wohnung zurück und spielte ein Weilchen Gitarre. Sie war so darin vertieft, Beethovens Für Elise zu verstümmeln, dass sie das Klopfen an der Tür beinahe überhört hätte. In der Erwartung, Birra oder einen ihrer anderen Wächter dort vorzufinden, drehte sie sich um, aber stattdessen stand Seolar in der Tür, bekleidet für einen Ausflug ins Freie und mit einem Bündel Kleider über dem Arm. 256 »Ich würde gern mit dir ausreiten«, sagte er. »Das Wetter ist nicht mehr ganz so kalt, die Tiere brauchen unbedingt Bewegung, und ich würde dir gern etwas von dieser Welt zeigen, die die deine sein wird. Begleitest du mich?« Raus aus den Mauern. Raus aus der Enge. Raus in die frische Luft, in die Freiheit. »Mit Freuden«, sagte Molly. »Wann?« »Sobald du Reitkleidung angezogen hast. In der Halle warten Mäntel auf uns, aber wir sollten sie auch erst dort anziehen. Es würde uns sonst zu warm werden.« Er lächelte und reichte ihr die Kleider. Eine gesteppte Hose, die an den Innenseiten der Oberschenkel und der Waden mit Leder bedeckt war; hohe, gefütterte Stiefel mit klobigen Absätzen, ein dickes Baumwollhemd, eine Steppweste und pelzgefütterte Lederhandschuhe. Nachdem Seolar den Raum verlassen hatte, zog Molly sich um, und sie bewunderte sich gerade im Spiegel, als er zurückkam. Sie sah sehr - sehr smart aus, wie die Bilder in Illustrierten, die vornehme Engländerinnen auf ihrem Landsitz zeigten. Sie hatte diesen Stil bei Frauen, die ihn tragen konnten, stets bewundert, und jetzt stellte sie zu ihrem Entzücken fest, dass sie eine dieser Frauen war. Es schadete nie, größer und schlanker zu sein, selbst wenn ihr Busen etwa um eine Körbchengröße geschrumpft war. »Bist du bereit?« »Du ahnst gar nicht, wie bereit. Gehen wir.« Draußen half Seolar ihr auf ein riesiges, braunes Pferd und ließ sie zunächst einmal langsam im Kreis um ihn herumreiten. Bei der Luftwaffe war sie in ihrer Freizeit ein wenig geritten und hatte ihre Leidenschaft dafür entdeckt; die Kosten dafür hatten sie jedoch nach ihrem Abschied von der Luftwaffe davon abgehalten, sich ein Tier anzuschaffen. Außerdem hätte sie wahrscheinlich nicht einmal genug Zeit dafür gehabt, um es zu bewegen. Allerdings hatte sie nicht 257 vergessen, wie man sich auf dem Rücken eines Pferdes hielt, obwohl sie definitiv nur eine Sonntagsreiterin war. »Du hast einen guten Sitz«, bemerkte Seolar. »Wir sollten es trotzdem langsam angehen lassen. Ich bin nicht lange genug geritten, um wirklich gut galoppieren oder springen zu können.« Er nickte. »Wir machen einen gemütlichen Ausritt über Land in bequemer Gangart. Die Packpferde tragen Picknickkörbe; wir werden uns irgendwo ein schönes Mittagessen gönnen, und du wirst herausfinden, wie wunderbar Oria sein kann.« »Ich frage wirklich nicht gern, aber was ist mit den ... äh, den Problemen, von denen du gestern Abend gesprochen hast? Und die ich bereits in Aktion gesehen habe?« »Sie werden mich nicht bemerken. Und da du die Kette trägst, werden sie dich auch nicht bemerken. Nach allen historischen Informationen, die wir zu diesem Thema gesammelt haben, wird die Kette dich vor allen Angriffen schützen, magischen wie nichtmagischen, solange du sie trägst.« »Entzückend - aber dann überrascht es mich doch, dass die Kette nicht schon lange von irgendjemandem beschlagnahmt worden ist. Sie scheint mir doch recht praktisch zu sein.« Seolar zuckte die Achseln. »Nur eine Vodi kann sie tragen.« Diese Antwort fand sie ungemein interessant. »Hat es irgendjemand mal versucht?« »Ja. Es gab einen Grund, warum wir so lange gewartet haben, bis wir sie dir gegeben haben. Wir mussten uns
zuerst davon überzeugen, dass du wirklich die Vodi warst.« Er ging nicht weiter auf das Thema ein, aber sie entnahm seinem Gesichtsausdruck, dass sie lieber keine Einzelheiten wissen wollte. Voller Staunen betrachtete sie jetzt die großen Bastkör258 be, die auf den Packpferden festgezurrt waren. Sie nahmen genug zu essen mit, um ein ganzes Regiment durchzufüttern. Und sie hätte darauf wetten mögen, dass es keine Standardverpflegung war oder das orianische Äquivalent dazu. Sie warf einen Blick auf Seolar und dachte: Das ist ein Mann, dem noch nie im Leben ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade untergekommen ist. Sie kam zu dem Schluss, dass ihr das an ihm gefallen konnte. Seolar und Molly und ihre sechs Pferde überquerten eine riesige, hölzerne Zugbrücke, ritten aus der gemauerten Umfriedung heraus und über einen gerodeten Weg in den Wald hinein. Sie ritten Seite an Seite und schwiegen die meiste Zeit, falls Seolar sie nicht gerade auf eine Besonderheit in der Landschaft aufmerksam machte oder auf ein interessantes Tier oder Molly keine Fragen stellte. Sie genoss ihren Ausritt; sie sahen einen prachtvollen Wasserfall, den unglaublichen Wald und schöne, schneebedeckte Farmen, die am Rand kleiner, gerodeter Lichtungen standen. Von Zeit zu Zeit sahen sie auch deren Bewohner, aber obwohl die Leute ihnen zuwinkten, kam keiner von ihnen näher. Während die Sonne am Himmel aufstieg, dachte Molly immer häufiger über ihren Begleiter nach. »Erzähl mir von dir«, sagte sie schließlich. »Bisher hast du mir eine Menge über mich erzählt und eine Menge über deine Welt, aber so gut wie gar nichts über dich selbst.« Er zuckte beiläufig die Achseln. »Da gibt es auch wenig zu erzählen. Ich bin das einzige überlebende Kind meiner Eltern - mein Vater war bis zu seinem Tod der Imallin dieser Domäne, und meine Mutter hat ihn um ein halbes Dutzend unglücklicher Jahre überlebt und sich jeden einzelnen Tag danach gesehnt, sich jenseits des Schleiers wieder mit ihm zu vereinen. Als mein Vater starb, wurde ich Imallin; ich musste hilflos zusehen, wie mein Volk starb, und ich habe mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln nach dir ge259 sucht. Das waren die einzigen und beherrschenden Faktoren in meinem Leben: die Führung meines Volkes, die Rettung meiner Welt und meine Suche nach dir. Alles in allem ist es wohl ziemlich langweilig, über mich zu sprechen.« »Was ist mit eigenen Kindern? Einer Ehefrau, einer Geliebten? Hobbys und Interessen?« Er seufzte. »Ich war zu beschäftigt, um eine Frau kennen zu lernen, die ich lieben konnte, außerdem hätte ich furchtbare Angst davor gehabt, Kinder zu zeugen, die ich vielleicht würde sterben sehen, so wie ich meine Brüder und Schwestern habe sterben sehen. Ich habe ein geschlagenes Dutzend Geschwister verloren«, sagte er leise, und Molly blickte zu ihm hinüber, in der Erwartung, in seinen Augen dieselben Gefühle zu finden, wie sie sie aus seiner Stimme heraushörte. Sein Gesicht verbarg seine Gefühle jedoch weitaus besser als seine Stimme; Molly las in seiner Miene nichts als die gleiche Heiterkeit, die sie den ganzen Tag über dort gesehen hatte. »Das tut mir sehr Leid.« »Danke«, sagte er. »Ich war also nicht allzu erpicht darauf, mein Glück mit einer Familie zu versuchen, bis ich dich gefunden hatte.« • »Weil ich den Krankheiten ein Ende machen kann.« Er sah sie von der Seite an. »Das auch.« Sie lächelte ihm unsicher zu. »Das auch?« Er zuckte die Achseln. »Wir haben die ganze Zeit über daran geglaubt, dass du hier mehr tun würdest, als lediglich unsere Krankheiten zu heilen - dass du eine von uns werden und unserer Welt Magie bringen würdest. Ich wollte zuerst sehen, was für eine Art von Magie das ist, bevor ich irgendwelche Entscheidungen traf.« »Was wäre geschehen, wenn ihr mich nie gefunden hättet?«, fragte Molly. Der Ausgang seiner Suche nach ihr war vollkommen ungewiss gewesen, und es erstaunte Molly, 260 dass er von dem Ausgang seiner Mission praktisch einen großen Teil seines Lebens abhängig gemacht hatte. »Dann hätten die Veyär in meiner Generation aufgehört zu existieren, ebenso wie einige unserer Brudervölker und was hätte mein Glück im Angesicht dieser Tatsache schon bedeutet?« In der Tat, was? »Hast du denn jemals Gelegenheit, dich ein wenig zu amüsieren?«, fragte sie ihn nach einer Weile. »Ich tanze gern«, antwortete er. »Ich reite gern - was ein Glück für mich ist, da ich es so häufig tun muss. Ich züchte in den Hausteichen Petai, sehr hübsche Zierfische. Du hast gestern Abend einige davon gesehen. Im Sommer gärtnere ich ein wenig, wenn ich die Gelegenheit habe.« Er zuckte die Achseln. »Und ich lese sehr gern.« »Ich arbeite auch gern im Garten. Dasselbe gilt für das Lesen. Mit dem Tanzen habe ich es nie versucht.« »Es gibt auch einige Dinge, die dich betreffen, von denen du mir bisher nichts erzählt hast«, sagte Seolar, »Dinge, die ich auf anderem Wege nicht in Erfahrung bringen konnte. Hast du irgendwo einen Ehemann? Kinder? Ich weiß natürlich über deine Interessen Bescheid - zumindest über die Malerei und das Musikinstrument. Ich weiß, dass du gern Schokolade isst, und ich muss zugeben, dass ich ein paar Stücke davon probiert habe und sie mir ebenfalls sehr gut schmeckt. Aber ich habe mich oft gefragt, wie dein Privatleben ausgesehen haben mag.«
Molly seufzte. »Ich habe einige Jahre beim Militär verbracht, was mir Spaß gemacht hat, und ich habe einige Jahre allein gelebt, weil es mir ebenfalls Spaß gemacht hat. In puncto Privatleben habe ich nicht viel zu bieten. Es hat ein paar kurze Beziehungen gegeben, aber Männer finden meine Reaktion auf Menschen an öffentlichen Orten ein wenig befremdlich.« 261 »Warum das?« »Nun, hier passiert mir nichts, wenn ich in die Nähe von jemandem komme, der schwer krank ist. Aber zu Hau ... auf der Erde«, korrigierte sie sich, »werde ich in solchen Fällen todkrank. Ich halte mir den Leib, ich übergebe mich, ich rolle mich zu einem Ball zusammen und werde ganz grau ...« Sie lachte leise. »Dadurch ist jedes Rendezvous zu einem Abenteuer geworden, denn ich konnte nie vorher wissen, wann ich einem wirklich kranken Menschen allzu nahe kommen würde. Ich habe meine Bemühungen in dieser Richtung dann ziemlich bald eingestellt.« »Aber das passiert dir hier nicht. Hier kannst du also ein normales Leben führen.« Molly betrachtete die Pferde, die vollen Picknickkörbe und ihre kostbare Kleidung und dachte an ihre schöne Wohnung in dem prächtigen Schloss hinter ihr, und wieder lachte sie. »Ein bisschen besser als normal, denke ich.« »Gut.« Er sah sie hocherfreut an, sagte aber nichts mehr. 11 Carolina-Grippe erreicht die Westküste LOS ANGELES, Kalifornien (AP) Die Grippe, die gegenwärtig an der Ostküste wütet, hat mit plötzlicher, schockierender Wucht nun auch die Westküste erreicht. Binnen sechs Stunden nach der ersten positiven Diagnose von Carolina-Grippe im Hospital Zum barmherzigen Samariter haben die Ärzte sechsundfünfzig weitere Fälle diagnostiziert und neunundzwanzig Todesfälle gemeldet. Es wird mit einem dramatischen Anstieg von Erkrankungen im Laufe der nächsten Tage gerechnet. Zurzeit wird sowohl darüber diskutiert, den Notstand auszurufen als auch eine regionale Quarantäne zu verhängen ... Ballahara Das Picknick, falls man eine solche Mahlzeit mit einem so profanen Ausdruck bezeichnen konnte, fand auf einer geschützten Lichtung statt, wo die Sonne den größten Teil des Schnees geschmolzen hatte und ein Ring von Bäumen jeden noch so geringen Windhauch fern hielt. Das Essen war herrlich; raffinierte Isolierschalen hielten die warmen Gerichte heiß, das Getränk - auch dieses ohne Alkohol - war kühl und frisch und schmeckte leicht nach Äpfeln, und die Desserts waren köstlich und mannigfaltig. 263 Molly und Seolar plauderten über belanglose Dinge, erzählten einander Geschichten aus ihrem Leben und entspannten sich einfach, und irgendwann im Laufe des Gesprächs hörten sie auf, der Imallin und die Vodi zu sein, und begannen, einander Seolar und Molly zu nennen. Jedem Gang ihres Picknicks folgte eine noch größere Köstlichkeit, und infolgedessen schenkte keiner von ihnen dem Wetter auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Was ein Fehler war. Die ersten dicken Flocken landeten auf Mollys Wangen. Sie blickte auf und bemerkte, dass die Sonne fort war und der Himmel ein Unheil verkündendes metallisches Grau angenommen hatte. »O nein«, sagte sie. Seolar sah sich um. »Wir müssen schnellstens alles zusammenpacken und zurückreiten.« Er pfiff, und im nächsten Augenblick erschienen auf der abgeschiedenen Lichtung mehrere berittene Veyär. Molly stöhnte auf. Seolar sagte: »Ich wage es nicht, allein zu reisen, niemals - und es wäre doppelt töricht von mir gewesen, ohne eine Eskorte mit der einzigen Hoffnung für die Zukunft meiner Welt auszureiten. Auch wenn deine Kette dich schützt, braucht meine Welt mich immer noch, um dafür zu sorgen, dass du die Leute kennen lernst, die du kennen lernen musst, und Zugang zu den Dingen hast, die du brauchen wirst, um deine Mission als Neunte Vodi zu erfüllen. Meine Männer haben Abstand gehalten, aber sie haben die ganze Zeit über uns gewacht.« Seolars Soldaten packten das Mittagessen in die Körbe, und sie waren bereits auf dem Weg in eine andere Richtung, bevor Molly wirklich begreifen konnte, was es bedeutete, den Rest ihres Lebens von bewaffneten Soldaten bewacht zu werden, und sei es auch nur aus diskreter Entfernung. Keine echte Privatsphäre mehr, nie mehr. Sie würde nie 264 mehr einer Laune folgend allein hingehen können, wo immer es sie hinzog. Es würde keine Spontanität mehr für sie geben. Aber gegen diesen Verlust ihrer Spontanität musste sie die Tatsache in die Waagschale werfen, dass sie sich hier nicht vor Menschenmengen zu verbergen brauchte. Ebenso wenig brauchte sie plötzliche, qualvolle Begegnungen mit unheilbar kranken Fremden zu fürchten. Keine nutzlosen Versuche mehr, den Ozean mit einem Fingerhut leer zu schöpfen; was sie hier tat, bedeutete für die einzelnen Personen, denen sie half, sehr viel, aber es bedeutete auch viel für die Welt. Und was war ihr das wert: zu wissen, dass ihr Leben nicht sinnlos war?
Eine Menge. Außerdem hatte sie ohnehin nie eine große Neigung gehabt, von einem Augenblick auf den anderen irgendwohin zu fahren, sagte sie sich, während die Gruppe über einen gut gerodeten Weg trabte. Der Gipfel ihrer impulsiven Taten waren spätnächtliche Streifzüge auf der Suche nach Imbissbuden gewesen, an denen sie Pommes frites kaufen konnte, nach denen sie manchmal ein unerträgliches Verlangen entwickelte. Darüber brauchte sie sich hier keine Gedanken zu machen; sie war eine ganze Welt und wahrscheinlich sogar ein ganzes Universum weit von der nächsten fettigen Fritte entfernt. Es schneite jetzt heftiger. Molly war es nach wie vor angenehm warm ... aber sie konnte kaum noch etwas sehen. Seolar, der neben ihr in der Mitte der Gruppe von Spähern und Vorreitern ritt, sagte: »Wir werden unser Tempo beschleunigen müssen, Molly. Das Wetter verschlechtert sich zunehmend. Wir haben eine sichere Unterkunft in der Nähe, aber die wird uns wenig nützen, wenn wir den Weg nicht mehr erkennen können.« Es graute ihr davor, sich an ihren Sattel klammern zu 265 müssen, was mit Sicherheit geschehen würde, wenn ihr Pferd eine schnellere Gangart anschlug als diesen leichten, weichen Trab. »Ich weiß nicht, ob ich schneller reiten kann.« »Dann wirst du bei mir mit aufsitzen müssen«, antwortete Seolar. »Wir müssen das Haus unbedingt erreichen Schneestürme können hier tagelang anhalten.« Sie stellte sich vor, wie sie sich in einem gestreckten Galopp an Seolar klammerte, ohne Steigbügel, um das Gleichgewicht zu halten, und ohne einen Sattel, an dem sie sich festhalten konnte. »Ich schaffe das schon«, sagte sie grimmig und trieb ihr Pferd an. Der Ritt versetzte sie in panische Angst. Es war ein Albtraum, in dem der Schnee ihr in den Augen brannte und sie fast blind machte, neben sich das gedämpfte Donnern der Hufe von einem Dutzend Pferden, die schnaubend über den Schnee galoppierten. Gelegentlich schlug ihr ein Ast ins Gesicht, und die ganze Zeit über hatte sie entsetzliche Angst, vom Pferd zu fallen und von den Tieren, die hinter ihr ritten, niedergetrampelt zu werden; keins der Tiere würde rechtzeitig stehen bleiben können, um ihr auszuweichen. Durchgefroren und in Todesangst, glaubte sie, ein Vibrieren der schweren Kette um ihren Hals spüren zu können, und unmittelbar danach verfiel sie in eine Art Trance - aber vielleicht war es auch eine Vision oder eine Halluzination. Was es auch war, sie verwandelte sich in eine Frau, die zu Fuß durch eben diesen Wald irrte, Gefangene eines Schneesturms, allein in der Dunkelheit, frierend und schließlich sterbend. Dieser Zustand endete erst, als die Frau ihren letzten Atemzug tat. Die Vision verlieh dem ohnehin albtraumhaften Ritt noch einen zusätzlichen Anstrich von Grauen. Als der Reiter an der Spitze endlich »Halt« rief und sie alle ihre Tiere zügelten, musste Molly gegen Tränen der Erleichterung ankämpfen. 266 Aber sie waren nicht ins Kupferhaus zurückgekehrt. Stattdessen hatten sie ein großes Blockhaus erreicht, das von einem fünf Meter hohen Zaun aus zugespitzten Pfählen umringt war. Ein weniger einladender Anblick hatte sich Molly noch nie in ihrem Leben geboten. »Das ist Grauwind«, sagte Seolar. Er saß schnell ab, reichte die Zügel seines Pferdes einem seiner Männer und fing dann Molly auf, als sie sich von ihrem Reittier schwang. »Gehen wir hinein«, sagte er. »Meine Männer werden sich um die Pferde kümmern; du und ich, wir müssen das Haus öffnen und die Feuer entzünden.« Er trat auf eine Stelle der Palisade zu, die für Molly genauso aussah wie alle anderen, berührte das Holz in einer schnellen Folge flinker Bewegungen seiner Hände, und eine Tür öffnete sich. Er ließ Molly als Erste eintreten; seine Männer folgten ihnen. »Grauwind?« Sie zitterte, aber daran war, wie sie vermutete, nicht nur die Kälte schuld, sondern vor allem das tiefe Grauen, das der wilde, halb blinde Ritt in ihr geweckt hatte. Seolar führte sie durch den immer dichter fallenden Schnee zu einer massiven, wettergegerbten Haustür, schloss sie mit einem riesigen Schlüssel auf und schob sie hindurch. »Das ist eins von einer ganzen Anzahl von Häusern, die ich unterhalte, damit ich notfalls überall auf meiner Domäne schnell eine Zuflucht erreichen kann, die sich gut verteidigen lässt. Grauwind mag ich vielleicht von allen Häusern am liebsten; ich mag es noch lieber als das Kupferhaus, aber es macht nicht genug ... hm, genug her, um das offizielle Domizil eines Imallin zu sein. Ich muss schließlich einen gewissen Anschein von Macht aufrechterhalten, um die Macht als solche aufrechterhalten zu können.« Er hielt einen Feueranzünder in ein Häufchen Zunder und schlug damit ein paar Funken. Im Licht der winzigen Flamme, die daraufhin aufzüngelte, konnte Molly sehen, dass bereits 267 Anzündmaterial sowie kleine und größere Holzscheite im Kamin bereitlagen. Binnen Minuten hatte sich von diesem einen Funken ein herrliches Feuer in der Herdstelle ausgebreitet. Und im flackernden Licht der Flammen konnte sie zum ersten Mal einen klaren Blick auf Grauwind werfen. Man hätte es als Blockhütte bezeichnen können, aber in der Tat war es ein gewaltiges Gebäude mit Holzbalken, einer Kuppeldecke und großen Feuerstellen an beiden Enden des lang gestreckten, schmalen Hauptraums. Von ihrem Platz aus konnte sie eine Wendeltreppe erkennen, die zu einem offenen zweiten Stockwerk hinaufführte, einer Art Dachboden, der offensichtlich als gemeinsames Schlaflager diente. Rechts und links von ihr lagen geschlossene Türen. Seolar folgte ihrem Blick und sagte: »Hinter dieser Tür haben wir eine gute Küche und eben
solche Lagerräume, und dort befinden sich ein Bad und eine Toilette ...« Er zeigte nach links. »Da drüben liegen Schlafzimmer und Ankleideräume«, fügte er hinzu und deutete mit dem Kinn auf die Türen zu ihrer Rechten. »Die meisten der Männer werden oben schlafen. Zwei von ihnen werden in der Scheune schlafen, um die Pferde zu bewachen.« Er warf einen kurzen Blick auf Molly. »Wir sind hier ziemlich sicher. Grauwind ist natürlich keine uneinnehmbare Festung wie das Kupferhaus, aber das Dach hier ist aus Kupfer, ebenso wie alle Anker und Bolzen in den Wänden. Und ich habe dafür gesorgt, dass auch dem Putz Kupfer zugesetzt worden ist. Natürlich haben wir auch hier einen kupferfreien Arbeitsraum.« Molly runzelte die Stirn. »Kupferfrei? Warum braucht ihr denn so etwas? Können die...« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »... können die Rrön nicht in Räume eindringen, die kein Kupfer haben?« Er sah sie mit offenkundiger Überraschung an. »Die Rrön? Du hast den Zusammenhang zwischen Kupfer und Magie noch nicht verstanden. Du hast bisher ja auch noch 268 keine Streifzüge in die Magie unternommen, abgesehen von den Heilungen, die du in der Großen Halle vorgenommen hast, und dort gibt es natürlich auch kein Kupfer.« Er schüttelte den Kopf. »Kupfer ist nicht nur eine undurchdringliche Barriere gegen die Rrön. Und gegen die Keth.« Bei diesem letzten Wort senkte er die Stimme. Die Keth mussten also Geschöpfe sein, die noch schlimmer waren als selbst die Rrön. Wunderbar. »Kupfer ist eine undurchdringliche Barriere gegen Magie. Du warst vollkommen sicher vor Angriffen von unseren Feinden, solange du in der Kupfersuite geblieben bist, aber hättest du dort versucht, deine eigene Magie zu wirken, wärest du nicht einmal zu dem simpelsten Zauber imstande gewesen. Hier sind wir weniger gründlich geschützt; trotzdem habe ich festgestellt, dass Grauwind genügt, und es ist bereits zweimal in meinem Leben auf die Probe gestellt worden.« »Also könnte ich innerhalb dieser Mauern keine Magie wirken?« »Nein. Du könntest auch niemanden heilen, es sei denn, du brächtest ihn in den Arbeitsraum. Natürlich könntest du auch hinausgehen und dich ein kleines Stück von den Wänden entfernen. Die genaue Reichweite von Kupfer kann ich dir nicht nennen, aber ich weiß, dass selbst die mächtigsten der Alten Götter einen gewissen Abstand davon brauchen.« Molly blickte nachdenklich auf ihre Handgelenke. Als sie dieses erste Kind geheilt hatte, hatte sie ein mit Kupfer durchwirktes Seil an den Füßen getragen. Die Alten Götter konnten in der Nähe von Kupfer keine Magie wirken, aber sie konnte es, auch wenn sie welches am Körper trug? Zwar nicht direkt an der Hand, mit der sie das Kind geheilt hatte, aber dennoch - interessant. Einer nach dem anderen kamen die Soldaten herein, klopften sich an der Tür den Schnee ab, hängten Mäntel und Stiefel an die Haken an der Wand und unterhielten sich leb269 haft über das plötzliche Unwetter, über die Pferde, über den Ritt. Sie schienen froh darüber zu sein, ein Dach über dem Kopf zu haben, obwohl die plötzliche Verschlechterung des Wetters sie ein wenig erstaunte. Nach dem Essen scharten sie sich um das Feuer, zogen sich Stühle heran, dann förderten drei von ihnen Instrumente zutage: Holzflöten, tiefstimmige Vettern der Blockflöte aus dunklem Holz, und eine Art Zwitter aus Gitarre und Laute mit vielen Saiten. Sie stimmten ein Lied an, das sie alle gut zu kennen schienen, und mehrere andere begannen zu singen und zu klatschen, und kaum dass sie wusste, wie ihr geschah, fragte Seolar sie: »Möchtest du tanzen?« »Ich war nie eine große Tänzerin.« »Das hast du mir erzählt. Jetzt wäre der ideale Zeitpunkt, um es zu lernen.« Sie zuckte die Achseln. Schwindelig von dem Wein, den es zu dem wunderbaren Abendessen aus den Resten des Picknicks gegeben hatte, erleichtert darüber, dem Schneesturm entkommen zu sein und nicht mehr auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen, beschloss sie, mutig zu sein. Sie lachte. »Warum nicht? Wenn ich dir auf die Zehen trete, brauchst du nur zu schreien.« Seolar griff nach ihrer Hand und brachte ihr die Schritte eines Tanzes bei. Ein Sprung nach links, ein Sprung nach rechts, ein Tritt nach vorn, ein Tritt nach hinten, in die Hände klatschen und drehen ... Es überraschte sie, wie viel Spaß ihr das Tanzen machte. Die drei Musikanten waren sehr vielseitig, und sie spielten abwechselnd schnelle, erregende Tänze und langsamere Melodien, die es ihr und Seolar gestatteten, ein wenig Atem zu schöpfen. Schließlich jedoch hatte sie das Gefühl, als könne sie sich keinen Augenblick länger auf den Beinen halten. »Das muss für heute Abend genügen«, sagte sie zu Seolar. 270 »Dann zeige ich dir jetzt dein Zimmer.« Er fasste sie an der Hand und griff mit der anderen Hand nach einer kleinen Öllampe. Dann führte er sie durch eine der Türen auf der rechten Seite des Hauses. Aber sie kamen nicht, wie Molly erwartet hatte, direkt in einen anderen Raum, sondern in einen Korridor. Seolar wählte die letzte von vier Türen auf der Linken und sagte: »Falls morgen früh die Sonne scheinen sollte, wirst du in diesem Zimmer das meiste davon haben.« Im Kamin prasselte bereits ein Feuer; davon abgesehen gab es keine andere Lichtquelle in dem behaglichen Raum. Jemand hatte die Decken auf dem schmalen Bett aufgeschlagen und einen dicken Pyjama aus weißer Baumwolle zurechtgelegt und warme, weiße Pantoffeln auf den Fußboden gestellt. »Woher kommen denn die Kleider?«, wollte Molly wissen.
»Wir halten immer Kleidung vorrätig«, antwortete Seolar. Er stand in der Tür und beobachtete Molly. »Wahrscheinlich haben wir fast alles hier, was du brauchst. Oder alles, was du willst.« Bei den letzten Worten veränderte seine Stimme sich ein wenig, und Molly, die bisher den kleinen Raum bewundert hatte, drehte sich zu ihm um. Er musterte sie, und die Eindringlichkeit seines Blicks sandte ihr einen keineswegs unangenehmen Schauder über den Rücken. Sie brachte ein Lächeln zustande und hoffte, dass er nicht bemerken würde, wie sehr ihre Lippen dabei zitterten. Dann sagte sie: »Das ist gut zu wissen.« »Wenn du etwas brauchst ... irgendetwas ... mein Zimmer liegt gleich deinem gegenüber auf der anderen Seite des Korridors.« Sie nickte, außerstande, etwas darauf zu erwidern. Er sah sie noch einige Sekunden lang an, dann hatte er of271 fensichtlich eine Entscheidung getroffen. »Gute Nacht, Molly«, sagte er. »Gute Nacht, Seolar.« Er ging und zog die Tür leise hinter sich zu. Sie starrte töricht auf das Holz und versuchte, sich Klarheit über ihre Gefühle zu verschaffen. Vor allem versuchte sie zu begreifen, was soeben geschehen war. Was war denn geschehen? Hatte er die Möglichkeit einer Beziehung zwischen ihnen angedeutet? Konnte es sein, dass er einen Annäherungsversuch unternommen hatte? Hatte er die Tatsache, dass sein Zimmer ihrem direkt gegenüberlag, lediglich zu ihrer Information erwähnt? Oder war es eine Einladung gewesen? Würde sie ... konnte sie ... jemals an einem solchen Antrag interessiert sein, wenn es denn wirklich einer gewesen war? Er ist kein Mensch, sagte sie sich. Aber die Antwort darauf lag auf der Hand. Auch sie war kein Mensch. Und vielleicht war jede ihrer kurzlebigen, hoffnungslosen Beziehungen zu menschlichen Männern nicht deshalb gescheitert, weil die Männer nicht ihren Ansprüchen entsprachen oder mit ihr selbst etwas nicht stimmte, sondern weil sie die ganze Zeit über am falschen Ort gesucht hatte. Vielleicht ... vielleicht konnte sie mit Seolar die Chance auf Glück finden, die sie bisher nie gehabt hatte. »Vielleicht. Aber nicht heute Nacht«, flüsterte sie, schlüpfte in den viel zu großen Pyjama, den man ihr hingelegt hatte, und stieg in das schmale Bett. Das Feuer prasselte, das brennende Holz verströmte einen angenehm süßen Geruch, und es dauerte nicht lange, bis sie einschlief. 272 Cat Creek »Ich habe nicht behauptet, dass ich gut Schach spiele«, sagte Lauren. »Ich habe lediglich behauptet, dass ich weiß, wie man die Figuren setzen muss.« Pete lachte. »Nun ... Sie waren gar nicht so schlecht.« Er stellte die Spielfiguren wieder auf. »Wie wär's mit Dame? Hätte ich da vielleicht eine Chance?« Jake, der zu ihren Füßen hockte, sah auf und sagte: »Wie wär's mit Dame? Wie wär's mit Dame? Wie wär's mit Dame? Wie wär's mit DAME? Wie wär's mit Dame?« »Vielleicht lassen wir das lieber«, sagte Lauren. Pete blickte grinsend auf Jake hinab, der gerade mit einem Lineal eine Rolle Klebeband über den Boden schob. »Das muss Sie doch innerhalb von Minuten in den Wahnsinn treiben.« »So ist das eben, wenn man Kinder hat«, stimmte sie ihm zu. »Haben Sie welche?« »Ich schätze, da würde ich wohl zuerst eine Frau brauchen, und die werde ich hier in Cat Creek wohl kaum finden. Zumindest habe ich bisher noch keine kennen gelernt, die meine Aufmerksamkeit über längere Zeit hätte fesseln können.« »Suchen Sie nach einer Schönheitskönigin oder nach einer, die kochen kann? Oder beides?« »Keins davon.« Pete lächelte sie an. »Ich suche nach einer Frau, die im vergangenen Jahr mehr als drei ganze Bücher ohne Bilder gelesen hat und die den Unterschied zwischen einem schwarzen Loch und einem roten Zwerg kennt und die nicht jeden Satz mit dem Wort >äh< beginnt.« »Sie sind aber wählerisch.« »Treffer. Ich hätte allerdings gern Kinder. Aber es liegt 273 noch ein langer Weg vor mir, bevor ich daran auch nur denken kann.« »Wenigstens wissen Sie, was Sie wollen.« Er kicherte. »Ich weiß, was ich in diesem Augenblick will: dass der Boss anruft und mir sagt, dass er vor Ort und dort alles in Ordnung ist.« »Das wäre schön. Ich frage mich, warum er so lange braucht?« »Keine Ahnung, aber wenn ich in der nächsten Viertelstunde nichts von ihm höre, denke ich, ich sollte Sie und Jake auf der Rückbank des Streifenwagens verstecken und mal rüberfahren, um zu sehen, was da los ist.« Lauren warf einen Blick auf die Uhr. »Wollen Sie ihn nicht anrufen?« Pete schüttelte den Kopf. »Wenn er nicht im Wagen sitzt und irgendwo mit eingeschaltetem Walkie-Talkie
herumläuft, wo er Ruhe braucht, und ich die Funkstille breche, könnte ich ihn damit in Lebensgefahr bringen.« »In einem solchen Fall würde er sein Funkgerät doch sicher abstellen, oder?« »Kommt drauf an. Wie dem auch sei, noch fünfzehn Minuten.« Eric bog auf die unbefestigte Straße ein, die zur Tucker-Farm führte. Bis vor zwanzig Jahren hatte die Farm Baumwolle und Tabak produziert. Nach dem Tod des letzten Tuckers war es jedoch immer weiter bergab gegangen mit der Farm, während die Erben sich um das Testament stritten. Am Ende hatte die siegreiche Partei den größten Teil des Landes verkauft, aber für das Haus selbst hatte sich kein Interessent gefunden. Es war ein Vorkriegsmonstrum, das, um es wieder halbwegs bewohnbar zu machen, zwei Vermögen verschlungen hätte. Was von dem Haus übrig geblieben war, lag ein gutes 274 Stück abseits der Straße inmitten von Pekanbäumen. Inzwischen hatten Kopoubohnen sowohl die Bäume als auch die Ruinen des alten Hauses überzogen und verliehen ihm beinahe eine Aura von efeuumrankter Respektabilität, die das Haus nicht verdiente. Es gab zwei Wege hinein - den vorderen Weg, wo man sein Erscheinen vom Haus aus beobachten konnte, und den hinteren Weg, der durch dichtes Gestrüpp führte. Dieses Gestrüpp säumte eine gewisse Strecke lang ein Sojabohnenfeld. Logischerweise hätte er einfach den kurzen, offenen Zugang benutzt, aber er blieb noch eine Sekunde sitzen, besah sich das Dach des Hauses und den Schild der Pekanbäume, und seine Gedärme verkrampften sich. Schließlich bog er mit einem Achselzucken auf den vor Sicht geschützten Weg ein. Jeder Sheriff, der längere Zeit überlebt, lernt, dass es Zeiten gibt, in denen man auf diese leise, zarte Stimme im Unterbewusstsein hören sollte. Und Erics Stimme schrie ihm in diesem Augenblick zu, dass etwas an dem Anruf von Ernest Tubbs falsch geklungen hatte. Seine Nerven waren so gespannt, dass er auf ihnen hätte Geige spielen können, während er sich den Anruf noch einmal ins Gedächtnis rief. Ernest war außer sich gewesen. Er hatte Angst gehabt - seine Stimme hatte die Anspannung verraten, die man bei Menschen erlebt, die ganz kurz davor stehen, laut loszuschreien. Eric dachte über den phlegmatischen Ernest nach, einen Mann, der einen großen Teil seines Lebens damit zugebracht hatte, durch die Sümpfe und Sandhügel der näheren Umgebung zu stapfen, um Hirsche, Tauben und anderes Wild zu jagen. In all den Jahren, die Eric ihn kannte, hatte er niemals erlebt, dass Ernest wirklich Angst vor irgendetwas gehabt hätte, außer vor den Dingen, die an dem die Wächter betreffenden Ende des Universums schief gehen konnten. Bis zu diesem Telefonanruf. Ernest hatte eine Lei275 che gefunden. Er war wie ein fünfzehnjähriges Mädchen zusammengebrochen. Jetzt, wo Eric die Gelegenheit hatte nachzudenken, konnte er ihm die Sache nicht abkaufen. Der überhängende Baldachin von Krüppeleichen, Dogwood und Kiefern, die im Würgegriff der Kopoubohnen langsam starben, passte hervorragend zu der Ruine, was Stimmung und äußere Erscheinung betraf. Die grauen Krallen der kahlen Bäume reichten in den Himmel hinauf und hingen gleichzeitig zur Erde hinunter. Er wünschte, er hätte ein Dutzend Mann Verstärkung anfordern können. Er machte sich daran, Pete anzurufen, um ihn zumindest wissen zu lassen, wo er war und was er tat, beschloss aber, damit noch ein paar Minuten zu warten. Er würde warten, bis er etwas wusste - sobald er über Funk seinen Standort bekannt gab, würden sich überall in Cat Creek die Neugierigen, die mit einem Ohr dem Polizeifunk lauschten, auf den Weg zur Tucker-Farm machen, um sich an der jüngsten Katastrophe und dem Klatsch und Tratsch zu ergötzen. Also fuhr er die Einfahrt hinunter, hörte die hohen Gräser unter der Karosserie schleifen und Dornensträucher und Zweige zu beiden Seiten den Lack seines Wagens zerkratzen. Er grübelte über Jäger nach und was für ein seltsamer Haufen sie waren, dass sie aus freien Stücken zu solchen Orten fuhren, als ein heller Lichtstrahl seine Aufmerksamkeit erregte, und zwar von einer Stelle aus, wo das Gestrüpp ans Feld grenzte - an einer Stelle, an der ein solches Aufblitzen von Licht nichts zu suchen hatte. Er bremste den Wagen, nahm sein Fernglas heraus und musterte die verdächtige Stelle sorgfältig. Er brauchte eine Minute, um zu erkennen, was es war, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte, und als er die Lösung gefunden hatte, krampfte sich sein Magen abermals zusammen. Irgendjemand hatte einen Truck unter Gräsern und Zweigen 276 Brennnesseln und ähnlichem Gestrüpp versteckt. Wer auch immer ihn dort hingeschafft hatte, er hatte den Wagen geradezu meisterhaft versteckt - während seiner Dienstzeit bei der Nationalgarde hatte er dergleichen auch getan. Er hätte den Wagen gar nicht bemerkt, hätte nicht ein winziges, ungetarntes Stückchen Glas der Windschutzscheibe das Sonnenlicht zurückgeworfen. Er überlegte, ob er erst zur Farm gehen und sich später um den Truck kümmern sollte, nachdem er mit Ernest gesprochen und einen Blick auf die Leiche geworfen hatte. Aber der Weg zum Truck war viel kürzer als der zur Farm, und die Leiche würde ihnen schon nicht weglaufen. Der Truck dagegen, so unwahrscheinlich das in diesem Augenblick auch erscheinen mochte, konnte sehr wohl verschwunden sein, wenn er von der Farm zurückkehrte. Ernest würde damit leben müssen, dass er etwas später kam. Er zog den Zündschlüssel des Streifenwagens ab, pirschte durch das Unterholz zu dem Truck hinüber - und wäre um ein Haar über ein halbes Dutzend anderer Autos gestolpert, die alle gleichermaßen gut getarnt waren. Wer
auch immer diese Tarnung angebracht hatte, er hatte seine Sache gut gemacht. Wer auch immer verantwortlich dafür war, hatte keine gerade Linie sichtbar gelassen, hatte alle leuchtenden Stellen bedeckt und dem Ganzen ein völlig natürliches Aussehen verschafft. Und das machte Eric stutzig. Vielleicht hatte er es mit Jägern zu tun, vielleicht mit Männern einer Spezialeinheit der Armee oder aus der paramilitärischen Szene, aber wer auch immer die Autos versteckt hatte, Erics Gefühl sagte ihm, dass der Betreffende gefährlich war. Die Sache ließ keinen Spielraum für Interpretationen, es gab keine akzeptable Erklärung dafür, keinen erdenklichen Grund, nichts, das darauf schließen ließ, das alles bedeute vielleicht nichts Besonderes. Das hier war übel, wirklich übel. Es war erschreckend, und es war hässlich. 277 Eric blickte zum Haus hinüber. Ernest, der dort oben wartete, konnte durchaus bis zum Hals mit in der Sache stecken. Er konnte ein Opfer sein, oder er konnte ein Verräter sein, der Debora und Molly getötet und versucht hatte, Lauren als die Schuldige dastehen zu lassen. Eric würde möglicherweise in etwas hineintappen, das zu groß für ihn war, um unversehrt wieder herauszukommen. Er griff nach dem Funkgerät an seiner Hüfte. Einerseits hätte er gern Pete Bescheid gesagt, andererseits wollte er die Funkstille nicht brechen. Pete wusste, wo er war. Wenn er sich nicht bald meldete, würde Pete Lauren und Jake auf den Rücksitz des anderen Streifenwagens verfrachten und herkommen, um nachzusehen, was los war und wenn er kam, würde er mit Kanonen kommen. Pete hatte einen starken Überlebenswillen. Eric konnte eins der Nummernschilder erkennen - und erlebte zum zweiten Mal einen üblen Schock. Der Wagen gehörte Mayhem; das Nummernschild, CHAOS-1, war unverkennbar. Hastig ging Eric von einem Wagen zum anderen. Sie gehörten allesamt Wächtern. Neben Mayhems roter Corvette fand Eric Willies alten weißen Chevy Pick-up vor, den braunen Chrysler der Tubbsens und sogar den kleinen blauen Sunbird von June Bug. Die Wagen sämtlicher Wächter standen hier, bis auf Grangers, Deboras ... und seinen. Eric schluckte. Dann ging er zu dem Streifenwagen zurück, öffnete den Kofferraum und holte seine großkalibrige Schrotflinte, seine Schutzausrüstung, seine Tränengasgranaten und den Granatwerfer heraus. Die Waffen legte er auf den Beifahrersitz, die Schutzausrüstung legte er an. Er versuchte, sich daran zu erinnern, auf welchen Wegen er bis zum Haus gelangen konnte, ohne gesehen zu werden. Wenn sie nicht im Haus selbst waren, konnte er den alten viktorianischen Turm an der vorderen rechten Ecke des 278 Hauses als Ausguck benutzen. Wenn sie im Haus waren, konnte er sich anschleichen und herauszufinden versuchen, was zum Teufel dort vorging. Aber so oder so, er würde einen Teil der Strecke ohne Deckung zurücklegen müssen, und er musste davon ausgehen, dass er außer den Verrätern noch einige Geiseln dort vorfinden würde; er konnte nicht einfach die Tür auftreten und anfangen, um sich zu schießen. Und er konnte nicht warten. Der Verräter hatte bereits bewiesen, dass er nicht davor zurückschreckte, Menschen zu töten. Eric musste davon ausgehen, dass es noch weitere Opfer geben würde, und dass dies der letzte Schritt des Plans war, den der Verräter verfolgte, worin immer dieser Plan bestehen wollte. Und zu diesem Zweck musste er die Wächter aus dem Weg schaffen, die ihm vielleicht in die Quere kommen würden. Mit trockenem Mund und feuchten Händen fuhr er so dicht an das Haus heran, wie er es wagte. Er ließ den Wagen im Schutz einiger Kiefern stehen und arbeitete sich zu Fuß langsam bis zum Haus vor. Die Krüppeleichen hatten ihre braunen Blätter noch nicht abgeworfen und boten zusammen mit den Kiefern eine nützliche Deckung. Die Brombeersträucher und das Dogwood waren jedoch nutzlos. Nackt und kahl wie sie waren, boten sie ihm keinerlei Schutz. Über lange Strecken hinweg kroch er auf dem Bauch durch das hohe Gras, den Kopf gesenkt und die Waffen schussbereit. Als er dem Haus näher kam, hörte er Stimmen. Tom Watson schrie jemanden an: »Er musste inzwischen hier sein. Irgendetwas stimmt da nicht, verdammt noch mal. Er ist uns auf die Schliche gekommen.« »Herrgott noch mal, Tom, er ist davon überzeugt, dass die junge Frau im Gefängnis die Mörderin ist. Er ist uns nicht draufgekommen. Er lässt sich lediglich Zeit. Weshalb sollte er sich auch beeilen? Er kommt schließlich her, um sich eine 279 Leiche anzusehen, nicht wahr? Die gar nicht da ist.« Deever Duncans Stimme. Eric mochte seinen Ohren nicht trauen. Tom, dem die Sache der Wächter über alles ging, und Deever, der seit Erics Kindheit zu den Wächtern gehörte und der so loyal war wie ein Sommertag lang. Das waren die Menschen, die die Welt und all ihre Bewohner zerstörten? Wie war das möglich? Er kroch zum Haus hinüber, und mit hämmerndem Herzen erhob er sich schließlich und spähte durch eine Lücke in einem der mit Brettern zugenagelten Fenster. Überall auf dem Boden lagen Wächter - gefesselt, geknebelt und, wie es aussah, bewusstlos. Bisher schien jedoch keiner von ihnen tot zu sein; er sah, dass sie noch atmeten. Deever stand an der Frontseite des Hauses am Fenster und blickte nach draußen. Tom hockte neben einem an die Wand genagelten glühenden Spiegel. Die Einzigen, die fehlten, waren June Bug Täte, Willie Locklear und Granger Baldwyn. Auf dem Sims über einem mit Brettern zugenagelten Kamin blinkten die Lichter eines Polizeifunkscanners. Sie hörten also den Funk ab. Scheiße. »Wir könnten doch einfach noch einen durchschieben«, meinte Deever, ohne sich vom Fenster abzuwenden.
»Dann hätten wir weniger zu tun, wenn wir erst Eric erledigt haben.« »Ja«, sagte Tom, packte George Mercer unter den Achseln und zog seinen schlaffen Körper über den Boden zum Spiegel hinüber. Eric hatte eine Idee. Den Rücken an die Hausmauer gedrückt, ließ er sich in die Hocke nieder und schaltete sein Funkgerät ein. »Pete«, sagte er, wobei er so leise sprach, dass man im Haus nur das Funkgerät hören würde. »Ich bin immer noch 10-17 zu meinem früheren Bestimmungsort - ich habe einen 10-68 auf der Scraggs Road, der die Straße versperrt.« 280 »10-68? Du machst Witze.« »Schön wär's. Scraggs gesamte Herde steht gemütlich wiederkäuend mitten auf dem Weg, und Scraggs kriegt sie nicht allein von der Straße. Der Zaun ist kaputt, und es kommen immer mehr Tiere dazu. Wenn wir sie nicht wegschaffen, wird es noch einen Unfall geben, deshalb werde ich wohl ein Weilchen hier bleiben und ihm helfen. Fahr du schon rüber zur Tucker-Farm und sag Ernest, dass ich so schnell wie möglich nachkomme.« »10-4. Was mache ich mit unserem ... Gast?« »Sperr sie ein und wirf den Schlüssel weg. Sie hat schon zwei Menschen getötet. Wir wollen nicht, dass es drei werden. Behandle die Angelegenheit als ein Signal zwanzig.« Signal zwanzig war ein Privatcode, den er und Pete verabredet hatten. Es bedeutete: »Alles, was ich gerade gesagt habe, ist Schwachsinn, ich stecke in ernsten Schwierigkeiten, komm her, so schnell und so unauffällig, wie du nur kannst.« Pete schwieg einen Augenblick lang. Dann sagte er: »Signal zwanzig ... verstanden. Ich bin 10-4 und kann in zwei Minuten anrollen. Wo soll ich reingehen?« »Nimm einfach den Vordereingang. Ernest wird dort auf dich warten.« »Bist du dir sicher?« Pete würde wissen, dass er durch den Hintereingang kommen sollte. »Absolut. Ich bin 10-7, bis ich mit meiner Kuhjagd fertig bin. Over.« Er schaltete das Funkgerät aus und sah sich den Raum noch einmal gründlich an, in dem sich die Geiseln und ihre Wärter aufhielten. Eine Tür von außen führte auf direktem Weg in den vorderen Teil des Raums. Durch die andere Tür kam man von hinten herein, musste vorher aber durch die Küche und über eine Veranda gehen. Er konnte sich des Überraschungseffekts sicherer sein, wenn es ihm gelang, 281 einfach ungesehen über die vordere Veranda zu gehen und die Tür dort einzutreten - aber Deever blickte genau in diese Richtung. Der Gedanke, von hinten ins Haus zu gehen, machte ihn nervös. Alte Türen quietschten, und auch wenn die Hintertür benutzt worden war, so war sie doch geschlossen und konnte durchaus auch verriegelt sein. Es würde ihm mit ziemlicher Sicherheit nicht gelingen, sie lautlos zu öffnen. Und wenn er es geschafft hatte, musste er immer noch durch die Küche kommen, ohne entdeckt zu werden. Die Vordertür? Oder die hintere? Tom schob einen Wächter nach dem anderen durch das Tor. Wahrscheinlich waren Willie und June Bug bereits zusammen mit George Mercer in Oria. Granger war ein Fragezeichen, aber da sein Wagen nicht bei den übrigen versteckt war, nahm Eric an, dass Granger aus dem einen oder anderen Grund nicht da war. Und bei allen anderen wusste er, wo sie sich aufhielten. Die Vordertür? Oder die hintere? »Sie kennen sich nicht zufällig mit Waffen aus?«, fragte Pete Lauren. Er reichte ihr eine kugelsichere Weste und sagte: »Sie müssen mich begleiten. Möglicherweise müssen Sie uns helfen.« »Ich habe zu Hause eine großkalibrige Mossberg-Schrotflinte, eine Browning High Power und eine Remington 30.06. Meine Treffsicherheit ist mit allen dreien ganz ordentlich, am besten mit der Browning.« »Hübsche Sammlung.« »Sie haben Brian gehört. Ich habe allerdings viel mit den Waffen geübt.« Pete blickte auf Jake hinab und sagte: »Ich ziehe Sie beide da nur schrecklich ungern mit rein, aber Eric hat keinen Zweifel daran gelassen, dass Sie mitkommen sollten.« »Ich habe die Zahlen nicht alle verstanden, aber ich weiß, 282 dass er gesagt hat, Sie sollen mich einsperren und den Schlüssel wegwerfen.« »Das war Signal zwanzig. Er meinte, ich solle genau das Gegenteil dessen tun, was er gesagt hat. Er hat da draußen irgendwelche Schwierigkeiten, und bis ich aus Laurinburg oder der SWI oder von sonst wem Verstärkung bekommen habe, könnte er tot sein. Ich muss mich um diese Sache kümmern, und ich kann Sie beide nicht hier lassen. Eric hat Angst, dass, wer auch immer hinter dieser Geschichte steckt, einbrechen und Sie und Jake töten könnte. Außerdem würde ich mich etwas besser fühlen, wenn ich weiß, dass Sie mit einer Waffe in der Hand am Funkgerät bleiben und mir den Rücken decken.« Lauren nickte. »Das kann ich tun. Aber die Codes kenne ich nicht.« »Das brauchen Sie auch nicht. Wenn wir da rauskommen, werden wir erst mal feststellen, was eigentlich los ist, dann schalte ich Ihr Funkgerät auf die Frequenz von Laurinburg. Sie sagen der Vermittlung, dass ein Polizeibeamter Hilfe braucht, dann müssen Sie denen nur noch mitteilen, wo Sie sich befinden.« »In Ordnung.«
Er zeigte mit dem Kopf auf die Tür. »Wir haben keine Zeit, um bei Ihnen vorbeizufahren und Ihre Waffen abzuholen. Sie werden sich mit einem unserer Gewehre begnügen müssen.« Lauren nickte. Sie hatte Jake inzwischen seine Jacke angezogen und setzte ihn sich jetzt auf die Hüfte. »Ich bin so weit.« Pete warf ihr ein dünnes Lächeln zu. »Sie sind in Ordnung.« »Wenn statt Eric der verdammte Deputy kommt, können wir die da doch einfach umbringen und rübergehen«, mein283 te Tom. »Wir bekommen den gleichen Lohn, ganz gleich, ob wir ihnen alle bringen oder nur ein paar - und es wird einfacher sein, wenn wir nur einige von ihnen transportieren müssen.« »Ich finde, das sollten wir sowieso tun«, sagte Deever. »Es wäre natürlich praktisch gewesen, wenn wir ihn mit den Geiseln hätten erpressen können, damit er uns die Zugangscodes gibt, aber wir hätten ohnehin nicht gewusst, ob er uns die richtigen Codes gegeben hat.« »Dann willst du sie also einfach umbringen?« »Ah, Scheiße.« Deever schnaubte, und Eric hörte, dass er vom Fenster wegging. »Ich hasse solche Schweinereien.« »Es würde weniger Ballast für uns bedeuten, Deever.« Die Hintertür, beschloss Eric. Und zwar schnell. Die überdachte Veranda sah ziemlich solide aus, und die Scharniere der Tür wirkten nicht allzu verrostet. Vielleicht konnte er es so einrichten, dass Deever und Tom sich gerade unterhielten, wenn er auftauchte. Ihr Gespräch und die Tatsache, dass sie glaubten, er jage fast fünf Meilen entfernt Kühe, würden seinem Auftritt vielleicht einen gewissen Überraschungseffekt verleihen. Er konnte von der Küche aus eine Tränengasgranate ins Wohnzimmer rollen, hinterherlaufen und zuerst Deever Handschellen anlegen, dann Tom. Er rückte seine Maske zurecht und schwang sich auf die Veranda. Dort bewegte er sich so schnell wie möglich, ohne ein Geräusch zu verursachen. Er wagte kaum, zu atmen. Aber seine Einschätzung der hinteren Veranda war korrekt gewesen. Er bewegte sich praktisch lautlos. Und die Hintertür war nicht abgeschlossen. Wunderbar. Er zwängte sich in die Küche, und nur ein winziges Knarren war zu hören. Eine Tür in der Küche führte zu anderen Räumen, wahrscheinlich dem Esszimmer, dachte Eric, und dahinter lagen vermutlich die Schlafzimmer, falls es im unteren Stockwerk überhaupt welche gab. Die andere Tür führ284 te ins Wohnzimmer, wo die Geiseln und ihre Wärter warteten. Er entsicherte die Tränengasgranate, warf sie ins Wohnzimmer, ging in die Hocke und sprang dann in den Raum hinein. »Hände hoch«, rief er, »lasst eure Waffen fallen, und bewegt euch nicht, sonst schieße ich.« Deever und Tom husteten. Durch den gelben Nebel sah Eric ihre Hände in die Luft schnellen. Tom ließ seine Pistole fallen, krümmte sich keuchend zusammen und humpelte dann zur Tür hinüber. Fluchend und brüllend kam Deever ihm zuvor. Eric lief den beiden nach. Er hörte kaum, dass sich hinter ihm eine weitere Tür öffnete. Er hatte nur den hundersten Bruchteil einer Sekunde Zeit, um zu begreifen, dass es einen dritten Verschwörer gab. »Verfluchter Mist«, hörte er Willie Locklear sagen. Gleichzeitig hörte er einen Pistolenschuss und spürte das Feuer in seinem Rücken, seiner Wirbelsäule, seinen Lungen - der Aufprall schleuderte ihn nach vorn. Er stürzte, und die Welt wurde zuerst rot, dann grau, sein Gesichtsfeld hinter der Gasmaske verengte sich, und plötzlich klang alles so, als befände er sich unter Wasser. Und dann fühlte er sich herrlich warm und gelöst, als sei er eingehüllt in flauschige, weiße Baumwolle, und tiefe Stille verdrängte jedes Geräusch. 12 Grauwind, Ballahara Rastlose Träume - sie war umhüllt von grünem Feuer; eine zierliche, geflügelte Frau in einem glitzernden, goldenen Kleid rannte durch den Korridor von Grauwind und bog am Ende des Gangs ab. Sie riss die Arme hoch, um die Schläge abzuwehren ... Schnitt. Sie lag in der Dunkelheit, stark und weiblich und satt, an einen Mann geschmiegt, dessen Körper ihr so vertraut war wie ihr eigener Atem, umgeben von Wärme und den wunderbaren Gerüchen von Seife, Sonne und dem Versprechen von Sex. Das Feuer prasselte in der Herdstelle, und alles war gut, als aus der dunkelsten Ecke des Raums ein in Schatten gehüllter Schatten vortrat, und trockene Schuppen knarrten, und etwas zischte ... Schnitt. Eine Lichtung, Sonnenlicht und Schatten auf hohen Gräsern und wilden Blumen, und sie war ein Kind, das hinter seiner Mutter spielte, und hoch über ihr schwebte ein dunkler Schatten. Ihre Mutter schrie und nahm ihren kleinen Bruder auf den Arm und ihre jüngere Schwester, und sie schrie ihren Namen, und die ganze Zeit über stand sie selbst im Herzen eines Schattens, der immer größer wurde, wie eine schwarze Sonne, die explodierte ... 286 Mollys Kehle war trocken und wie zugeschnürt von ihrem Versuch zu schreien, als sie sich entsetzt von den Albträumen freimachte. Ein seltsames Schnurren vibrierte schwer und katzenhaft in ihrer Brust. Sie versuchte, sich hinzusetzen und das Ding von ihrer Brust wegzustoßen, stellte aber schnell fest, dass da gar nichts war. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren; sie lag im Bett in Grauwind, bekleidet mit dem zu großen Pyjama, den sie am Abend zuvor angezogen hatte, und sie trug noch immer das Medaillon, das Seolar ihr
geschenkt hatte. Schweigen hielt das Haus umfangen, und die Schwärze in den Fenstern sagte ihr, dass sie vor Sonnenaufgang aufgewacht war. Ihr Feuer war bis auf die Kohlen heruntergebrannt. Als sie barfuss über den kalten Holzfußboden tappte, um sich die Tür anzusehen, war diese nach wie vor von innen verschlossen. Plötzlich hörte sie ein leises, ungleichmäßiges Kratzen an ihrem Fenster. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie konnte plötzlich nicht mehr atmen. Sie rannte quer durch den Raum, warf sich vor ihrem Bett bäuchlings zu Boden und kroch darunter. Weitere leise Kratzgeräusche, und jetzt, als Molly genau hinhörte, konnte sie auch die Stimme des Windes ausmachen. Ein kaum merklicher Luftzug drang durch den Schornstein in den Raum, eine scharfe Kälte, die in Molly den Wunsch weckte, sie läge immer noch sicher eingehüllt in ihren Decken. Leise Kratzgeräusche. Molly starrte zu den Fenstern hinauf und zwang ihre Augen, etwas zu erkennen. Ein dünner, gekrümmter Schatten. Die Umrisse eines Zweigs von einem Busch oder einem kleinen Baum, der offensichtlich unter dem Fenster wuchs. Der Wind hatte ihn bewegt, und ihre Fantasie, die noch aufgewühlt war von Albträumen, ließ das Geräusch bedrohlich wirken. 287 Sie konnte nicht über sich selbst lachen, dafür war sie noch immer zu zittrig, aber sie kroch mutig unter dem Bett hervor. Dann legte sie kleine Stöcke und zwei Holzscheite auf die Glut im Kamin und lächelte schwach, als das Feuer wieder aufloderte. Schließlich stieg sie wieder ins Bett, zog sich die Decken über den Kopf und ignorierte das Kratzen des Zweigs auf dem Glas. Nach einer Weile schlief sie wieder ein, und diesmal fand sie im Schlaf nichts als Ruhe. Das Böse, das Molly folgte, konnte sie nicht erreichen - davor schützte sie die Magie des Amuletts, das sie trug. Aber das Böse folgte ihr dennoch; es wartete auf eine Gelegenheit; es wartete geduldig. Bisher war es ihm noch nicht gelungen, zum Zuge zu kommen. Es war alt - sehr alt -, und am Ende war ihm das Glück noch immer hold gewesen. Seolar, der draußen vor Mollys Fenster stand, betrachtete die einzelne irisierende Schuppe, die er auf einer Schneewehe entdeckt hatte, und mit zitternden Fingern hob er sie auf. Als Molly ihm von ihrem Traum erzählt hatte und von dem Zweig, der sie so erschreckt hatte, hatte er Bescheid gewusst. Molly hatte gelacht, und es war ihm gelungen, ein Lächeln hervorzubringen, als erheitere ihn ihr Bericht, aber er hatte Bescheid gewusst - denn innerhalb der Mauern von Grauwind gab es keine Bäume, keine Büsche, nicht einmal hohe Pflanzen. Das Gelände wurde stets freigehalten, damit die Bewohner des Hauses sich im Falle eines Angriffs verteidigen konnten. Bäume und Büsche würden dem Feind Deckung bieten. Molly wusste von nichts. Und es würde ihr auch niemand etwas erzählen; dieses Geheimnis gedachte Seolar für sich zu behalten. Die Rrön konnten ihr nichts anhaben, aber wenn sie ihr Angst machten, würde sie vielleicht darauf bestehen, auf die Erde zurückzukehren. Und dann würden die 288 Rrön siegen und die Städte der Veyär ihnen zufallen - und danach die Städte und die Länder der übrigen Völker Orias. »Es gibt keine Büsche oder Zweige vor meinem Fenster«, sagte Molly direkt hinter ihm. Er zuckte zusammen, drehte sich um und ließ die Schuppe fallen, um hastig darauf zu treten, damit Molly sie nicht sehen konnte. »Du - hast mich erschreckt«, sagte er und lachte. Sein Gelächter klang selbst in seinen eigenen Ohren falsch; er hoffte, dass sie ihn nicht gut genug kannte, um diese Falschheit wahrzunehmen. Sie lächelte. »Das habe ich bemerkt.« »Nun, ich bin nur nach draußen gegangen, um festzustellen, ob wir heute reiten können... aber du siehst selbst, dass es viel zu heftig geschneit hat...« Sie hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, und schüttelte den Kopf. »Seolar. Ich habe in meinem Leben einige Dinge gelernt. Perlen der Weisheit, wenn du so willst. Eine davon lautet: Verwechsle niemals Gegner und Feinde. Du und ich, wir sind, vermute ich, Gegner. Es gibt etwas, das du von mir willst und von dem du mir nichts erzählt hast, etwas, das zurückzuhalten in meiner Macht steht. Und du denkst, dass ich es zurückhalten werde, was bedeutet, dass wir uns auf gegnerischen Seiten eines großen Zauns befinden. Aber ich bin nicht der Feind. Ich bin nicht diejenige, vor der du etwas verborgen halten musst. Und zweitens, nur weil sie da draußen sind, um dich zu finden, bedeutet das nicht, dass sie immer draußen sind und auf der Suche nach dir. Was immer du da unter deinem Fuß versteckst, es ist vielleicht gar nicht wichtig.« Er sagte: »Ich verstecke nichts ...« Abermals fiel sie ihm ins Wort. »Lügen verbessern deine Verhandlungsposition nicht gerade.« Sie schob die Hände 289 unter die Achseln, um sie zu wärmen, und erst da wurde Seolar klar, dass sie ohne Mütze oder Handschuhe nach draußen gekommen war. Sie hatte sich nicht einmal ihren Mantel richtig zugeknöpft. »Ich werde ehrlich zu dir sein. Ich mag dich. Ich mag die Veyär. Ich mag diese Welt, und ich bin hier hundert Mal glücklicher, als ich es auf der Erde je war. Ich denke sogar, dass eine gewisse ... eine gewisse Anziehung zwischen dir und mir existiert, obwohl ich mir in dieser Hinsicht erst noch Klarheit verschaffen muss. Mein erster Instinkt rät mir, hier zu bleiben, dir zu helfen und zu tun, was immer meine Eltern für mich geplant haben.«
Ein Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus, aber Molly schüttelte den Kopf. »Das ist mein erster Instinkt. Aber«, fügte sie hinzu, »du verheimlichst mir einige Dinge. Große Dinge. Diese Kette, die du mir geschenkt hast, hat irgendetwas zu bedeuten, das Ding unter deinem Fuß hat etwas zu bedeuten, und es gibt einen Grund, warum du an einem Tag ausgeritten bist, an dem das Wetter sich so rapide verschlechtert hat - und einen Grund, warum wir in dem Sturm vom Kupferhaus weggeritten sind, statt darauf zu. Grauwind war weiter entfernt, nicht wahr?« Er sah sie an und suchte fieberhaft nach einem Winkel, in dem er untertauchen konnte, einem Ausweichmanöver, das es ihm gestatten würde, die Wahrheit vor ihr verborgen zu halten, ohne sie direkt anzulügen. Es fiel ihm nichts ein. Also nickte er. »Es war erheblich weiter.« »Danke. Das dachte ich mir. Ich finde, du schuldest mir die Wahrheit.« »Du hast wahrscheinlich Recht.« Er blickte nervös zum Himmel auf, aber dort bewegte sich nichts als die Wolken. Trotzdem würde er sich unter einem Dach wohler fühlen. Einem mit Kupfer ausgekleideten Dach. »Komm mit«, sagte er und führte sie zu der Scheune hinüber. Während sie 290 durch den Schnee trotteten, erklärte er: »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« »Diese Kette«, erwiderte sie. »Sie beschert mir Albträume. Und auch Tagträume.« Er seufzte. »Ich werde dir sagen, was ich weiß. Eine der Alten Göttinnen hat sie für ein Kind geschaffen, das sie mit einem Mann aus meinem Volk gehabt hatte. Nach allem, was man weiß, ist das ungefähr siebentausend Jahre her. Den genauen Zeitpunkt kenne ich nicht; ich glaube, niemand kennt ihn, mit Ausnahme der anderen Alten Götter vielleicht, und sie werden es gewiss niemandem verraten.« »Vor langer Zeit, in einem weit, weit entfernten Universum ...«, murmelte Molly. »Verstanden. Sprich weiter.« »Die Kette hat sie beschützt. Solange sie sie trug, konnten die Alten Götter sie nicht töten, sie konnten sie nicht verletzen oder irgendeine Art von Magie gegen sie benutzen. Solange sie sie trug, konnte sie damit stets sicher nach Oria zurückkehren.« »Sie war wie ich?«, fragte Molly. »Halb Veyär und halb etwas anderes?« »Halb Veyär, halb Mensch. Die Vodi waren alle halb Veyär, halb Mensch. Es hat Kreuzungen zwischen den Veyär und anderen der Alten Götter gegeben und zwischen den Alten Göttern und anderen Wahren Völkern, aber keiner dieser Abkömmlinge ist eine Vodi geworden. Ich weiß nicht, warum nicht.« Er zuckte die Achseln. »Es ist Magie, und die Magie kenne ich nur aus Geschichten.« »Dann ist diese Kette also eigens für die Erste Vodi gemacht worden, von ihrer Mutter.« »So geht die Geschichte. Die Erste Vodi stand als Vermittlerin zwischen den Veyär und den Alten Göttern. Sie hat ihre Flüche abgefedert, aber sie hat auch in den Gerichten und Räten der Alten Götter für die Veyär gesprochen.« »Und nachdem sie - wie lange, Hunderte von Jahren? 291 erfolgreich als Vodi tätig war, starb sie in hohem Alter in ihrem Bett, nach einem erfüllten und wunderbaren Leben.« Seolar warf einen Seitenblick auf Molly und sah ihre schmalen Augen und das zynische Lächeln auf ihren Lippen. »Nicht direkt.« »Oh, verstehe. Woher wusste ich das bloß?« Sie gingen in die Scheune, und Molly suchte sich einen Heuballen aus und setzte sich darauf. Sie betrachtete die Pferde in ihren Boxen, die Wachen an den Türen und schließlich Seolar. Seolar stand ihr gegenüber. Er wollte sich nicht hinsetzen und ihr direkt in die Augen sehen müssen. »Es gibt verschiedene Geschichten über ihren Tod. Einige von ihnen behaupten, sie sei erfroren, andere berichten davon, dass sie in dem ersten Gebäude, das an diesem Platz stand, ermordet wurde, wieder andere erzählen, sie sei in einer Welt, weit fort von zu Hause, gestorben. Die meisten Geschichten jedoch besagen, dass sie eines Tages die Kette in eine Schachtel gelegt, die Schachtel verschlossen und in den tiefsten Lagerraum im Kupferhaus gebracht hat. Dann, so erzählt man sich, habe sie den Lagerraum abgeschlossen und sei fortgegangen.« »Und das war das Letzte, was man jemals von ihr gehört hat.« »Nicht direkt. In den Geschichten heißt es, sie sei anschließend in den Wald draußen vor dem Kupferhaus gegangen und unverzüglich ermordet worden. Von den ...« Er sah sich um und flüsterte das Wort. »... den Keth.« »Wie hübsch.« »Seither haben sieben weitere Vodi die Kette getragen. Alle sieben haben ein langes Leben gelebt.« Er beobachtete, wie Molly mit den Fingern über das glatte, schwere Gold strich und ins Leere blickte. Er betete, dass 292 sie nicht aufgrund seiner Erzählungen Hals über Kopf in ihre eigene Welt zurückflüchten würde. Sie kannte die Keth nicht - sie wusste nicht, was es bedeutete, das Bindeglied zwischen den Alten Göttern und den Veyär zu sein. Aber ihm war klar, dass sie bereits ahnte, dass es kein sicherer Job war. »Ist auch nur eine von ihnen friedlich gestorben?«, fragte Molly schließlich. Seolar hätte sie so gern belogen. Aber nichts, was er tun konnte, würde sie in Oria halten, wenn sie nicht
freiwillig blieb. Und wenn er sie belog, davon war er überzeugt, und sie die Wahrheit entdeckte, würde sie das schneller vertreiben als alles andere. »Nein«, sagte er, ohne näher auf das Thema einzugehen. »Aha.« Sie ließ die Kette los und blickte lange auf ihre Füße hinab. »Also schön. Ich habe jetzt eine genauere Vorstellung davon, womit ich es zu tun habe. Also ... warum hast du es für nötig gehalten, mich aus dem Kupferhaus fortzuschaffen, obwohl ein Schneesturm aufkam?« »Wenn du zwischen den Veyär und den Alten Göttern stehen sollst, musst du ihnen ebenbürtig sein. Du musst die Magie zu beherrschen lernen, nicht nur, um zu heilen, sondern auch um zu kämpfen, um Dinge zu verändern, um wieder umzukehren, was immer sie dir entgegenschleudern mögen. Wenn du ihrer Magie Einhalt gebieten kannst, können sie dich nicht einschüchtern.« »Das klingt vernünftig.« »Ich weiß nicht, wie die Magie funktioniert, Molly. Keiner der Veyär weiß es. Ich weiß nur, dass ich in den Welten unterhalb von Oria dazu imstande wäre. Ich weiß, dass es etwas ist, das du gerade hier in dieser Welt zu tun vermagst. Da ich dich nicht lehren kann, was du wissen musst, habe ich ... Lehrer ... für dich bestellt.« »Und die Lehrer kommen hierher?« 293 »Nein. Die Lehrer werden ins Kupferhaus kommen.« »Warum sind wir dann hier und nicht dort?« »Weil ich nicht wollte, dass du in die Nähe der Leute kommst, die deine Lehrer zu dir bringen. Sie sollen nicht wissen, dass du existierst. Und außerdem - sie sind ... Alte Götter. Wenn du bei ihrer Ankunft im Kupferhaus gewesen wärest, hätte ich befürchten müssen, dass sie irgendwie erfahren hätten, dass du dort bist.« Er spürte, dass sie ihn durchdringend musterte, während er sprach, aber er konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Ich denke, das entspricht so halbwegs der Wahrheit«, sagte Molly nach kurzem Schweigen. »Aber du hast mir keineswegs alles von diesen Lehrern erzählt, nicht wahr?« Er blickte zu ihr auf und lachte. »Ein furchtbarer Gedanke, mein Leben könnte von meiner Fähigkeit abhängen, dir etwas geheim halten zu müssen.« »Worin besteht denn das Geheimnis?« »Ich habe ein paar ziemlich verabscheuenswürdige Männer damit beauftragt, deine Lehrer von der Erde zu entführen. Sie sind Wächter - sowohl die Männer, die ich beauftragt habe, als auch die Leute, die sie hierher bringen. Ich schäme mich dessen, was ich getan habe, aber mein Volk und meine Welt sind von dir abhängig. Du brauchst Lehrer, die dich wahrhaft unterweisen können. Du darfst nicht unvorbereitet sein, wenn du den schlimmsten der Alten Götter gegenübertrittst. Viele Alte Götter können schwierig sein. Einige sind böse. Aber die Rrön ... und die Keth ...« »Du bist wirklich voller Überraschungen, nicht wahr?«, sagte Molly. Sie beobachtete ihn mit einem Blick, den er nicht deuten konnte. Er fragte sich, was sie wohl von ihm halten mochte. Er fragte sich, ob sie bleiben würde oder ob sein unehrenhaftes Benehmen sie derart abstoßen würde, dass sie Oria verlassen wollte. Ihm graute davor, es herauszufinden - aber allzu bald würde das auch nicht passieren, 294 denn Molly stand auf und sagte: »Ich denke, ich brauche etwas zu essen und einen Mittagsschlaf.« Cat Creek Lauren saß im Wagen und umklammerte mit der einen Hand das Gewehr und mit der anderen Jake. Pete verschwand gerade in dem verfallenen alten Haus. Sie versuchte, überall gleichzeitig hinzusehen, versuchte, sicherzustellen, dass niemand hinter Pete und Eric das Haus betreten konnte, so dass sie dort in der Falle gesessen hätten. Außerdem musste sie das hohe Gras im Auge behalten, denn sie hatte Angst, dass dort plötzlich jemand erscheinen würde, um sie oder Jake zu töten. Sie wartete; das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie hatte solche Angst, dass sie am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Und dann erwachte das Funkgerät im Wagen zum Leben, und pure Panik klang ihr entgegen. »Achtung! Achtung! Hier spricht Deputy Pete Stark, 10-20 zur Tucker-Farm, westlich von Cat Creek auf der Neunundsiebzigsten. Beamter niedergeschossen! Wiederhole, Beamter niedergeschossen! Signal einhundertzwei, Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet. Brauche einen Krankenwagen und Verstärkung.« Bis zu diesem Punkt war es ihm gelungen, ruhig zu bleiben. Aber bei seinen nächsten Worten brach seine Stimme. »Ich brauche Hilfe, und zwar schnell!« Wiederbelebung? Lauren blickte auf Jake hinab, auf das Gewehr in ihrer Hand und wieder zum Haus hinauf. Sie hätte dort drin sein sollen, nicht hier draußen. Sie konnte Pete helfen, damit er eine Herzmassage machen konnte. Sie wusste, wie man jemanden beatmete, das musste doch irgendetwas wert sein. Und Jake ... ihr würde schon etwas einfallen, was sie mit Jake machen konnte. 295 Pete führte Wiederbelebungsmaßnahmen bei Eric durch. Sie starrte auf das Mikrofon, und ihr wurde klar, dass der einzige Mensch in Cat Creek, dem sie wirklich vertrauen konnte, der Einzige, der wusste, wer sie war und dass sie diese Verbrechen nicht begangen hatte, der Einzige, auf den sie sich verlassen konnte, in der alten Farm im Sterben lag. Denn wenn Pete Wiederbelebungsmaßnahmen traf, dann starb Eric. O Gott! Eric durfte nicht sterben. Er durfte sie in Cat Creek nicht allein lassen, bei Menschen, die sie und ihren Sohn töten wollten. Sie packte Jake mit einem Arm und schob sich durch die Tür. Das gesicherte Gewehr unter den Arm geklemmt, rannte sie zum Haus hinüber. Sie jagte die Treppen hinauf, stürmte hinein und sah Pete, der über Eric kniete. Er zerrte an einer kugelsicheren Weste, die nicht kugelsicher gewesen war, und hinter ihm lag eine blutverschmierte
Gasmaske auf dem Boden. Den Daumen auf dem Sicherungshahn, fuhr sie in panischer Angst herum - aber sie und Pete und Jake schienen mit dem reglosen Eric allein im Haus zu sein. »Ich kann ihn beatmen«, sagte sie. Sie versuchte, an der Blutlache unter Eric vorbeizuschauen. Sie hatte noch nie in ihrem Leben so viel Blut auf einmal gesehen. Pete, der mit beiden Händen auf Erics Brust drückte, nickte nur. Er zählte leise. »Dreizehn ... vierzehn ... fünfzehn ...« Dann veränderte er seine Position ein wenig, fühlte Erics Puls, blies mehrere Atemzüge in seine Lungen hinein und wandte sich dann wieder Erics Brust zu. »Setzen Sie Jake auf den Boden. Und dann helfen Sie mir.« Sie sah sich in dem Raum um, legte das Gewehr auf den Kaminsims, wo Jake nicht herankommen konnte, und erklärte ihrem Sohn: »Babymauer.« Sie zog die Couch von der Wand weg, und sofort wirbelte dichter Staub auf. Eine Maus schoss unter dem Sofa hervor, flitzte durch den Raum 296 und unter der Tür hindurch in die Küche. Dann schob Lauren zwei Sessel zwischen Wand und Sofa. Ein improvisierter Lauf stall. »Bleib da sitzen«, sagte sie zu Jake, während sie ihn in den kindersicheren Bereich hob. »Du kannst spielen. Oder aus dem Fenster sehen.« Mit einem schnellen Blick versicherte sie sich, dass nichts vorhanden war, mit dem Jake sich hätte verletzen können: herunterbaumelnde Schnüre, mundgerechte Gegenstände, Steckdosen und irgendwelche Dinge, die man hineinschieben konnte. Sie konnte nichts dergleichen entdecken. Mit einem hastigen Stoßgebet, dass sie nichts Tödliches übersehen haben mochte, eilte sie durch den Raum und ließ sich neben Pete auf den Boden fallen. Eine warme Flüssigkeit sickerte durch ihre Jeans, aber sie gestattete sich nicht, darüber nachzudenken, woher diese Wärme und die Feuchtigkeit kamen. Sie und Pete würden Eric retten. Er würde überleben. Er musste überleben. »Zählen Sie bis vier. Sie atmen, wenn ich bei vier die Hände hebe, und ziehen sich zurück, wenn ich sie bei eins wieder senke«, sagte Pete, während er mit den Fingern Erics Oberkörper abtastete, um die richtige Stelle am Brustbein zu finden. Er legte den linken Handballen auf das Brustbein, den rechten Handballen seitlich darüber und verschränkte die Finger. »Fertig?« Lauren nickte, legte eine Hand unter Erics Kinn, hielt ihm die Nase zu und öffnete seinen Mund. Er war noch warm. Seine Haut war von einem entsetzlichen Blaugrau, und seine Augen starrten ins Leere. Aber er war noch warm. Er wird überleben, sagte sie sich und atmete in seine Lungen. Sie spürte, dass seine Brust sich hob, und versagte es sich entschlossen, an einen sonnigen Tag zu denken und an einen Teenagerkuss, der niemals eine Wiederholung gefunden hatte. Er wird überleben. 297 Du musst leben. Du darfst mich jetzt nicht mit Jake allein lassen - nicht in dieser Stadt, in der uns jemand tot sehen will. Du musst uns beschützen. Du musst leben. Sie hörte Petes Stimme dröhnen: »Eins eintausend ... zwei eintausend ... drei eintausend ... atmen eintausend ...« Sie atmete, wieder und wieder. Zwischen den einzelnen Atemzügen blickte sie über ihre Schulter, dorthin, wo sie Jakes Beine und Füße hinter der Couch sehen konnte. Mit allen Fasern ihres Seins lauschte sie auf das erste schwache Heulen der Krankenwagensirene. Sie betete. Ungezählte Male sagte sie Eric, dass er weiterleben werde. Und dann, noch ehe sie wirklich begriff, was geschah, kamen die Sanitäter, und starke Männer und Frauen zogen sie aus dem Weg; sie schoben ein Röhrchen in Erics Luftwege, legten ihm eine Kanüle in die Vene, schockten ihn mit einem Defribillator, injizierten ihm Medikamente und banden ihn auf einer Trage fest. Und dann waren die Sanitäter und Eric fort, und sie und Pete starrten einander an, beide blutverschmiert, während die Cops aus Laurinburg sich im Haus verteilten und Fragen stellten, auf die keiner von ihnen Antworten hatte. Der Einzige, der wusste, was geschehen war - der Einzige, der auch nur einen blassen Schimmer davon hatte, was er auf der Farm vorgefunden hatte -, befand sich in eben diesem Augenblick auf dem Weg ins Scotland Memorial Hospital, zusammen mit einer Frau, die mit einem großen, blauen Plastikbeutel Luft in seine Lungen presste, und einem Mann, der auf seine Brust drückte, damit sein Herz die Arbeit tat, die es getan hätte, hätte es noch geschlagen. Lauren wandte dem Polizisten, der ihr Fragen stellte, den Rücken zu und nahm Jake auf die Arme. Sie klammerte sich an ihn, ließ sich mit ihm zusammen auf die Couch sinken 298 und schloss die Augen. Sie spürte die Tränen, die ihr brennend über die Wangen liefen, sie schmeckte das Salz in ihrer Kehle und konnte kaum atmen. Seit Brians Tod hatte sie sich nicht mehr so verlassen gefühlt. Grauwind, Ballahara Seolar stand lange in der Tür und beobachtete Molly, die im Wintergarten saß. Das Licht des Feuers ließ ihr Haar in einem leuchtenden Rotgold erstrahlen. Sie blickte in den fallenden Schnee hinaus; sie war so still gewesen, dass er sich Sorgen gemacht hatte, ihr könne etwas zugestoßen sein. Plötzlich drehte sie sich um und sagte: »Warum kommst du nicht einfach rein?«
»Ich wollte dich nicht stören.« »Ich denke bloß nach. Da gibt es nicht viel zu stören.« Sie lächelte, aber der Ausdruck in ihren Augen war immer noch ernst. Seolar trat neben sie. »Es tut mir Leid, dass ich dir so viel Ungemach bereitet habe ...« Molly hob die Hand, um ihn am Weitersprechen zu hindern. »Nicht das. Nicht jetzt. Ich habe über die Bitterkeit des Lebens nachgedacht und die Ungerechtigkeit der Entscheidungen, die zu treffen ein jeder von uns gezwungen ist, bis ich meine eigenen Gedanken nicht länger ertragen konnte. Wir werden später über den Zustand unserer beiden Welten sprechen, darüber, was sie brauchen und was wir tun müssen. Aber nicht jetzt. Im Augenblick würde ich mich einfach über deine Gesellschaft freuen.« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und zitterte, so kühn erschien ihm sein Verhalten. »Wirklich?« Sie lächelte ihn an und zuckte nicht vor seiner Berührung zurück. »Wirklich.« 299 Sie waren einander so nah, dass er ihre Wärme spüren konnte, so nah, dass er den süßen Duft ihrer Haut riechen konnte. Er lächelte, und sein Gesicht wurde heiß vor Nervosität. Sie machte einen halben Schritt auf ihn zu und sagte: »Was bedeuten die Tätowierungen auf deinem Gesicht?« Sie strich mit einem Finger über seine Karayar. »Karayar«, sagte er. »Sie sind eine Chronik meines Lebens von der Zeit an, da ich das Alter der Entscheidungen erreicht habe; sie verzeichnen jeden Rang, jede Ehre. Und einige andere Dinge.« Sie zeichnete mit dem Finger die Linie seiner Wange nach. »Sie sind hübsch.« Er lachte leise; wenn er an seine Tätowierungen dachte, dachte er immer nur an den Schmerz, den er gelitten hatte, wann immer eine neue hinzugekommen war. »Es sind Worte in einer sehr, sehr alten Sprache - der ersten geschriebenen Sprache der Veyär. Wir benutzen sie für nichts anderes mehr.« Er wollte ihr mehr über die Karayar erzählen, brach dann aber ab. Er kam sich töricht vor, weil er aus reiner Nervosität einfach drauflosplapperte. Er wusste nicht, was er ihr sagen sollte, aber er glaubte nicht, dass er mit einem Vortrag über die Gesichtstätowierungen der Veyär erreichen würde, was er wollte. Aber was wollte er denn erreichen? Er sah in ihre Augen; es waren keine Veyäraugen, aber sie waren auch nicht ganz menschlich. Sie war exotisch, aber wunderschön. Er legte ihr eine Hand um die Taille und trat ein wenig näher an sie heran. Nicht so nah, dass sie einander berührten, aber nah genug, um die Wärme zwischen ihnen spüren zu können. »Molly«, flüsterte er. »Seo.« Sie ließ ihre Hand von seiner Wange über seinen Hinterkopf wandern, zog sein Gesicht näher an ihres heran und berührte ganz sachte mit ihren Lippen die seinen. 300 Er küsste sie langsam. Sie schloss die Augen, und er fuhr ihr mit der Hand durchs Haar und zog sie so fest an sich, dass ihre Körper beinahe miteinander verschmolzen; in diesem Augenblick konnte er sie sich ohne weiteres neben ihm im Bett vorstellen. Er wollte erleben, wie sie beide sich im Fleisch vereinigten. Er wollte sie entkleiden, sie für sich beanspruchen. An der Tür hinter ihnen räusperte sich jemand. Molly fuhr erschrocken zurück, und Seolar drehte sich um, erfüllt von dem Wunsch, den Störenfried zu töten, wer immer er sein mochte. Birra stand mit dem Rücken zu ihnen an der Tür. »Was ist?«, fragte Seolar. »Das Wetter hat sich endlich gebessert. Wir müssen sofort aufbrechen.« Seolar drehte sich wieder zu Molly um. Sie schenkte ihm ein winziges Lächeln und zuckte kaum wahrnehmbar die Achseln. »Ah, hm. Wir haben immer noch das Kupferhaus.« Obwohl sein Körper von unerfüllter Leidenschaft brannte, verneigte Seolar sich höflich vor ihr und sagte: »Dann werden wir eine andere Gelegenheit finden. Bald.« »Versprochen?« »Versprochen.« Scotland Memorial Hospital, Laurinburg Lauren saß neben Pete auf der Intensivstation. Frisch geduscht und mit sauberer Kleidung, glaubte sie noch immer, Erics Blut auf der Haut spüren zu können. Die Nachrichten waren durch und durch schlecht - der Arzt hatte Eric an ein Beatmungsgerät angeschlossen, und das Personal versuch301 te, ein Familienmitglied aufzuspüren, das entscheiden sollte, ob die künstliche Beatmung aufrechterhalten werden sollte oder nicht. Lauren, die den schlafenden Jake in ihren Armen hielt, dachte an Oria. Wenn dies in Oria geschehen wäre, hätte sie etwas tun können, um Eric zu helfen. Sie hätte es mit Magie versuchen können. Sie konnte Brian nicht von den Toten zurückholen, aber Eric war noch nicht tot, und es wäre ihr sicher gelungen, ein Einschussloch wegzuzaubern. Aber das einzige Tor, das sie kannte, lag in Cat Creek, und sie glaubte nicht, dass das Personal in der Notaufnahme ihr gestatten würde, Eric und seine Apparate nach Cat Creek zu schleppen, damit sie ihn durch einen Zauberspiegel stoßen konnte.
Sie warf einen Seitenblick auf Pete, der immer wieder auf der Intensivstation aufgetaucht war, seit sie endlich mit der Polizei von Laurinburg fertig waren. »Pete?« »Ja.« Er hatte lange Zeit schweigend auf den Fußboden gestarrt. Als sie ihn ansprach, hob er kaum den Kopf. »Gibt es in Erics Zimmer irgendwelche Spiegel?« Er zuckte die Achseln und sah sie an, ein wenig neugierig zwar, aber in Gedanken dennoch offensichtlich in seiner eigenen Welt versunken. »Spiegel? Ja ... zwei, glaube ich. Einer über dem Waschbecken und ein bodenlanger Spiegel an der Badezimmertür.« Sie wusste, wie sie nach Oria kommen konnte. Sie würde auch das Haus ihrer Eltern dort finden. Selbst jetzt, als sie auf dem Sofa saß, konnte sie spüren, dass es nach ihr rief. Wenn sie einen Spiegel hätte, irgendeinen Spiegel, der groß genug war, um ein menschliches Wesen hindurchzuziehen, konnte sie ein Tor schaffen. Sie hatte es seit ihrem zehnten Lebensjahr nicht mehr getan, aber sie wusste, dass sie es konnte. 302 Das Problem würde darin bestehen, es in den mit Glaswänden versehenen Räumen der Intensivstation zu tun, unter den wachsamen Blicken der Pfleger. »Pete?« Irgendetwas an ihrer Haltung oder ihrem Tonfall hatte seine Aufmerksamkeit erregt, denn er sah sie plötzlich konzentriert an, sagte jedoch nichts. »Ich kann ihn retten.« Die kühlen, intelligenten Augen musterten sie abschätzend. »Hat das irgendetwas mit Erics großem Geheimnis zu tun?« »Was wissen Sie darüber?« »Nicht genug. Aber man kann nicht den größten Teil seines Lebens in einer so kleinen Stadt wie Cat Creek verbringen, ohne manchmal das Gefühl zu haben, dass da Dinge im Gange sind, die niemand zugeben will. Darum geht es also.« »Ja.« »Lassen Sie mich helfen.« Sie nickte. »Ohne Sie kann ich es nicht tun.« »Und Sie werden mich in das Geheimnis einweihen müssen.« Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Ich werde es bestimmt nicht vor Ihnen verbergen können. Nur ... versprechen Sie mir, dass Sie nicht... ahm, ausflippen werden. Oder es mit der Angst bekommen. Oder ... sonst irgendwas.« »Das ist nicht mein Stil.« »Nein. Ich weiß.« Sie räusperte sich, sah auf Jake hinab, der so schön schlief, und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Sie müssen eine Möglichkeit finden, uns alle drei in sein Zimmer zu bekommen. Und Sie müssen es so einfädeln, dass die Krankenschwester und die Ärzte und alle anderen sein Zimmer verlassen. Ich brauche ...« Sie runzelte 303 die Stirn und versuchte zu schätzen, wie viel Zeit sie benötigen würde, »...zehn Minuten. Vielleicht mehr. Wenn wir so weit sind, dass wir ihn nach ... ahm, dass wir ihm helfen können, müssen Sie dafür sorgen, dass niemand in den Raum herein kann. Denn die Maschinen, an denen er hängt, werden allesamt Alarm schlagen.« Er sah sie an, nickte nachdenklich und starrte dann wieder zu Boden. Jetzt jedoch schien er nicht länger verzweifelt zu sein. Er sah einfach aus wie jemand, der sich einen Plan zurechtlegte. Kurz darauf nickte er abermals. »Ich hab's. Nehmen Sie Jake, und kommen Sie mit.« 13 Scotland Memorial Hospital Pete hatte herausgefunden, wann der Schichtwechsel stattfinden würde, und sie versteckten sich bis zu diesem Zeitpunkt in der Cafeteria. Dann brachte er Lauren und Jake nach oben, präsentierte sie und sein Polizeiabzeichen an der Tür und erklärte der Krankenschwester, die gerade Dienst tat: »Ich habe seine Verlobte und ihren kleinen Sohn gefunden. Haben Sie schon andere Angehörige ausfindig machen können?« Die Krankenschwester, die die Tür geöffnet hatte, warf Lauren und Jake einen mitleidigen Blick zu. »Wir haben bisher noch niemanden erreichen können. Wegen der Grippe sind wir unterbesetzt, und alle Betten in unseren Stationen sind belegt, so dass die Oberschwester ständig irgendwo einspringen muss. Wenn sie seine Frau wäre, könnten wir sie die Papiere unterschreiben lassen, aber... die beiden sind nicht verheiratet, also kann sie nicht... aber wenn Sie oder die junge Frau ein Familienmitglied erreichen könnte ...« Ihr Blick wanderte immer wieder zu Jake hinüber. »Sie sind seine Verlobte?« Lauren nickte. »Ah, Sie Arme«, sagte die Krankenschwester, »Sie gehen am besten gleich zu ihm.« Lauren nickte abermals, ohne etwas zu erwidern. Trotzdem versperrte die Krankenschwester ihnen nach wie vor den Weg; offensichtlich kämpfte sie noch mit sich. Schließlich sagte sie: »Wir dürfen den Jungen nicht reinlassen. Kinder sind auf der Intensivstation nicht erlaubt.« 305 »Sein Sohn«, sagte Pete mit belegter Stimme.
Die Krankenschwester zuckte leicht zusammen. »Ach, zum Teufel damit. Die Oberschwester hat unten in der Notaufnahme mit Grippefällen alle Hände voll zu tun. Es wird eine Ewigkeit dauern, bis sie wieder raufkommt. Fünfzehn Minuten, und ich habe nichts gesehen.« »Vielen Dank«, antwortete Lauren. Den Schmerz in ihrer Stimme brauchte sie nicht zu heucheln. Eric sah grauenhaft aus. Seine Haut war trotz der Infusionen und der Bluttransfusionen immer noch grau. In seinem Hals steckte ein großer Plastikschlauch, der mit Klebeband befestigt und an einen Apparat von der Größe von Laurens Waschmaschine angeschlossen war. Darin verrichteten eine Art Blasebälge stoisch ihre Arbeiten, und die Digitalanzeige blinkte wie billige Weihnachtsreklame. Der ganze Apparat zischte und klickte und piepte und gurgelte. Eric waren die Augenlider mit Mull und Pflaster zugeklebt, und seine großen, starken Hände lagen schlaff auf der säuberlich eingeschlagenen Decke. »Sein Arzt ist im Augenblick im Sprechzimmer; die Notaufnahme hat uns einen neuen Fall raufgeschickt«, erklärte die Krankenschwester. »Es hat noch ein anderer Arzt Bereitschaftsdienst, aber ich weiß, dass Dr. Sakamurja lieber selbst mit Ihnen reden würde, sobald er frei ist. Wenn Sie warten können.« Lauren nickte. »Ich habe nicht die Absicht, irgendwo hinzugehen. Was können Sie mir über ihn sagen? Über das alles hier?« Sie zeigte auf die Apparate, die Monitore, die Infusionsautomaten. Die Krankenschwester schnalzte mit der Zunge. »Es geht ihm nicht gut. Wir haben ihn an ein Beatmungsgerät angeschlossen - er kann nicht selbst atmen. Sein Herz schlägt im Augenblick ziemlich kräftig, aber es war ein furchtbarer Kampf, es überhaupt in Gang zu halten. Wie es aussieht, ha306 ben die Medikamente in seinem Tropf den Herzschlag stabilisiert, aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es so bleiben wird.« Sie holte tief Luft, dann fügte sie hinzu: »Das ist noch nicht alles. Eine der beiden Kugeln ist am dritten Wirbel durch die Wirbelsäule gegangen. Sie ... hat das Rückenmark verletzt.« »Wie schwer?« »Der Arzt wird Ihnen Näheres dazu sagen, aber es ist ernst. Abfluss von Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit sowie Gewebeschwellungen erschweren die Behandlung.« »Aber er wird nicht wieder laufen können, selbst wenn er wieder aufwachen sollte, nicht wahr? Er wird von Glück sagen können, wenn er selbst essen oder seinen eigenen Namen aussprechen kann. Habe ich Recht?« »Nun ...« Lauren konnte sehen, dass die Krankenschwester mit sich rang - sie überlegte, wie viel sie sagen, wie viel sie zurückhalten sollte. Sie suchte nach einer Möglichkeit, die schlimmen Nachrichten zu beschönigen. Lauren beschloss, es ihr leichter zu machen. »Ahm ... Ms Baldwyn ...« »Nennen Sie mich Nancy.« »Nancy... Deputy Stark hat mir gesagt, er sei ziemlich sicher, dass Eric sterben würde. Ich will einfach nur wissen, falls ein Wunder geschieht und er überlebt, wie viel wird von ihm übrig bleiben?« Die Krankenschwester nickte. »Neurologische Verletzungen sind ... schwer einzuschätzen, selbst unter günstigsten Bedingungen. Aber die Beschädigung seines Rückgrats ist... nun, ernst. Ich habe die Röntgenaufnahmen gesehen die ... ahm ... Verletzung ...« »Die Kugel«, sagte Lauren ruhig. »Ja. Die Kugel. Sie hat das Rückgrat vollkommen zerschmettert und durchtrennt und eine seiner Lungen schwer beschädigt, außerdem seine Leber, die Gallenblase und Tei307 le des Darms. Die andere Kugel hat die Aorta gestreift, die linke Niere und weitere Organe zerstört oder beschädigt.« Lauren schloss die Augen. »Dieser Bastard«, flüsterte sie. Sie drehte sich zu Pete um. »Warum hat seine kugelsichere Weste ihn nicht geschützt? Er hat sie doch angehabt. Sie mussten sie ihm ausziehen, um Wiederbelebungsversuche zumachen.« »Viele Kugeln durchdringen so eine Weste«, sagte Pete. »Alle Geschosse aus Gewehren, und panzerbrechende Geschosse ohnehin, ganz gleich, aus welcher Waffe sie abgefeuert werden. Die Weste hilft manchmal, aber sie ist keine Garantie.« »Dieser Bastard«, wiederholte Lauren. Sie berührte Erics Hand, die sich kühl und leblos anfühlte. Lauren schloss die Augen. Die Tränen, die sie zu unterdrücken versucht hatte, kamen nun doch. »Er hat etwas Besseres verdient.« »Seine Chancen stehen nicht gut«, gab die Krankenschwester ihr Recht, die immer noch darum bemüht war, taktvoll zu sein. »Ich meine, es geschehen natürlich Wunder. Man kann immer auf ein Wunder hoffen. Weiß Gott, ich habe ein paar Fälle erlebt, von denen ich gedacht hätte ...« »Ich würde gern ein paar Minuten mit ihm allein sein«, unterbrach Lauren die aufmunternden Worte der Krankenschwester. Sie sah die Frau an und machte sich nicht die Mühe, die Tränen wegzuwischen, die ihr über beide Wangen rannen. »Ich würde gern nur ein paar Minuten für Jake und mich haben ... hm, und Pete. Wenn Pete nicht gewesen wäre, wäre Eric bereits tot.« »Ein paar Minuten kann ich Ihnen geben«, sagte die Schwester. Sie nagte an ihrer Unterlippe und warf einen Blick über die Schulter durch die riesige Glaswand zum Schwesternzimmer hinüber, wo andere Schwestern saßen, Monitore beobachteten, Karteikarten ausfüllten und mit
308 anderen Krankenhausangestellten redeten, die hastig durch den breiten, hell erleuchteten Flur liefen. »Allzu lange kann ich Ihnen aber nicht geben, denn wir müssen ihn bald wieder frisch versorgen, aber ...« Lauren nickte. »Vielen Dank. Ich bin Ihnen für jede Minute dankbar, die wir bekommen können.« Die Schwester zog einen abscheulichen grünblauen Vorhang vor das Fenster, verließ den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Lauren legte Jake sofort in Petes Arme und sagte: »Das hier wird ziemlich unheimlich, Pete. Flippen Sie mir nur nicht aus.« »Ich komme schon klar. Nur ... retten Sie ihn.« »Ja. Beten Sie, okay?« Pete sagte: »Ich habe nichts anderes getan, seit das passiert ist.« »Ich auch nicht.« Lauren trat vor den bodenlangen Spiegel an der Badezimmertür. Er war schmal, aber sie glaubte, dass sie Eric seitlich hindurchschieben konnten. Ihre Hauptsorge galt der Frage, wie viel Zeit ihr blieb, nachdem sie seine Infusionen herausgezogen und ihn von dem Beatmungsgerät abgetrennt hatte, bis er ihr unter den Händen sterben würde. Sie vermutete, dass sie nur ein schmales Zeitfenster haben würde, um ihn, Jake, Pete und sich selbst von der Intensivstation nach Oria zu bringen und irgendeinen Zauber zu wirken, um den Schaden zu beheben, den die Kugeln angerichtet hatten. Er war noch nicht tot. Das war ihr einziger Trost. Brians Zwilling aus der Unterwelt hatte gesagt, dass sie niemanden von den Toten zurückholen könne. Aber solange Eric nicht tot war, hätte sie darauf gewettet, dass sie in Oria mehr für ihn tun konnte als Ärzte und medizinische Technologie auf der Erde. Was ihr Angst machte, war die Zeit. Sie war immer der 309 Feind. Lauren legte die Hände flach auf den Spiegel, starrte hinein und konzentrierte sich mit aller Macht auf die schneebedeckte Lichtung, auf der das Haus ihrer Eltern in Oria stand. Sie tastete nach jener Verbindung, der vertrauten Gestalt, nach einem Funken, der sie mit dem Ort verbinden würde, den sie in Oria am besten kannte. Sie atmete tief ein, und im nächsten Augenblick sah sie das erste Aufblitzen von grünem Licht und spürte den prickelnden Kitzel von Energie in ihrem Rückgrat, der ihre Verbindung zu dem wilden Sturm darstellte. Dem Sturm, der die beiden Welten miteinander verband. Sie zog den Sturm näher zu sich heran, hieß den Donner und den Blitz willkommen, den peitschenden Regen, und im Herzen dieses Sturms erkannte sie langsam die Umrisse des alten Hauses, umringt von der Dunkelheit der Nacht, die alten Bäume, deren verschneite Äste sich dem Himmel entgegenstreckten. Sie zog das Bild noch näher heran und blickte in die Küche, wo immer noch furchtbares Durcheinander herrschte. Hinter ihr hörte sie Pete merkwürdige kleine Geräusche von sich geben, die wie ein Quieken klangen. Sie ließ sich nicht ablenken. Sie konzentrierte sich auf das Bild, beschwor mit aller Gewalt eine Straße herauf, die von der Intensivstation zu dem kleinen, in Schnee und Dunkelheit verlorenen Haus führte, und mit dem Summen der Energie beider Welten in ihren Adern drehte sie sich zu Pete um. »Ich habe es«, sagte sie. »Sie sind stärker als ich. Den nächsten Teil müssen Sie übernehmen.« Er nickte. Reichte ihr Jake zurück. Schnappte sich einen von Erics dick besohlten Arbeitsschuhen, der zusammen mit seinen anderen persönlichen Dingen auf der Fensterbank aufgestapelt war, schob ihn unter das Bein von einem der kräftigen Besucherstühle und klemmte die hölzerne Rückenlehne des Stuhls unter den Türgriff. Nachdem er den 310 Schuh so fest verkeilt hatte, dass der Stuhl nicht mehr wegrutschen konnte, trat er ein paar Mal leise gegen den improvisierten Türpfosten und sagte: »Das wird ein paar Minuten halten. Falls Ihre Sache da nicht funktionieren sollte, wandern wir wegen versuchten Mordes ins Gefängnis. Das wissen Sie doch, oder?« »Ich weiß es.« Pete griff sich eine Rolle Pflaster und etwas Mull und entfernte sehr fachkundig die erste intravenöse Kanüle. Lauren staunte. »Wo haben Sie das denn gelernt?« »Ich habe einige Erfahrung auf medizinischem Gebiet... im Ausland gemacht. Ich habe noch nicht alles vergessen.« Auf die gleiche Weise zog er jetzt die andere Infusion heraus. »Solange die Pumpen dieses Zeug weiter ins Bett tropfen lassen, wird kein Alarm ausgelöst. Aber dem verdammten Beatmungsgerät werden wir nicht das Maul stopfen können.« Dann lächelte er. »Wie dumm von mir. Vergessen Sie, dass ich das gesagt habe.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Wir werden ihn also durch den Spiegel schieben. Sie sind sich ganz sicher?« Statt einer Antwort schob Lauren ihre Hand bis zum Ellbogen direkt durch den grün glühenden Spiegel hindurch. Auf der anderen Seite konnte sie Brians Finger spüren, die sich um ihre schlössen - ein einziger schneller Händedruck, der ihr sagte, dass er für sie da sein würde. Sie blinzelte gegen die Tränen an und versuchte, nicht daran zu denken, dass Eric sich Brian an diesem verlorenen Ort zwischen den Welten zugesellen könnte. »Ich bin mir sicher«, sagte sie. Pete nickte, und sie sah, dass er heftig schluckte. »Ja. Okay. Also, das hier muss jetzt wirklich schnell gehen. Wenn er nicht selbst atmen kann, haben wir zwischen dem Abschalten des Beatmungsgerätes bis zum Tod etwa vier Minuten, und wahrscheinlich werden Hirnschädigungen noch vorher eintreten.«
311 Lauren schluckte. Vier Minuten. Das war ein weitaus kleineres Zeitfenster, als sie es sich vorgestellt hatte. Aber mehr hatte sie nicht. Sie nickte. Pete ging zu der Seite des Betts, die dem Spiegel am nächsten stand, dann beugte er sich über das Bett und drückte einen Schalter. Das Beatmungsgerät verfiel mitten in einem Atemzug in Schweigen; seine Lichter waren plötzlich dunkel, die Blasebälge standen still. Dann löste Pete den blauen, flexiblen Schlauch der Maschine von dem Plastikrohr, das in Erics Hals führte. Er blies in das jetzt offene Ende dieses Rohrs, und Erics Brust hob und senkte sich dann wieder. »Das Beste, was ich tun kann, bis wir drüben sind«, sagte Pete. Er hob Eric hoch, so dass es aussah, als umarme er ihn kräftig, dann schleifte er ihn das kurze Stück vom Bett bis zur Badezimmertür hinüber. »Schieb ihn rein, lass ihn nicht los, und streck die linke Hand nach mir aus«, sagte Lauren. »Ja.« Pete wirkte auf eine unheimliche Weise bleich und verängstigt in dem grünen Licht. Der Herzmonitor hinter ihnen, der jetzt mit nichts anderem mehr als herabbaumelnden Elektroden verbunden war, gab heulend Alarm. »Wir müssen schnell machen.« Pete schob Erics schlaffen Körper seitwärts in das grüne Feuer. Mit weit aufgerissenen Augen trat er dann selbst in den Spiegel, wobei er sich ebenfalls seitwärts drehen musste. Außerdem musste er die Brust einziehen, um durch den Spiegel zu kommen. Seine linke Hand ragte aus dem Glas heraus. Hinter ihnen hörte Lauren Menschen an die Tür hämmern, dagegen treten oder rufen. Sie packte Petes Hand und, Jake fest an sich gepresst, trat sie nun ihrerseits hindurch. Sie spürte das wunderbare Summen von Energie, die sie durchströmte, und Brians Arme um sie und Jake, und hinter ihr hörte sie, wie eine Tür eingetreten wurde, und hörte auch ein ungläubiges Aufheulen, in dem auch 312 Schock und Furcht lagen. Und dann stand sie in dem eiskalten Haus ihrer Eltern in Oria, Eric lag zu ihren Füßen, und Pete kniete über ihm, atmete in den weißen Schlauch und fühlte den Puls an Erics Kehle. Hinter ihr schloss sich das Tor. »Schnell«, sagte Pete. »Sein Herz gefällt mir gar nicht.« »Licht«, sagte Lauren. Und es war hell. Pete schnappte nach Luft, dann drehte er sich entschlossen zu Eric um und beatmete ihn noch einmal. Lauren ließ sich auf die Knie nieder und - den zappelnden, um sich tretenden Jake unter dem linken Arm geklemmt -breitete die Finger ihrer rechten Hand auf Erics Brust aus. »Pass auf«, sagte sie. »Wenn das hier funktioniert, wird er sehr schnell aufwachen, und er könnte in Panik geraten.« Pete nickte nur. »Heile«, sagte sie und schloss die Augen und stellte sich Eric wieder gesund und munter vor, stehend, plaudernd, ohne Narben, ohne Blut, ohne Schaden genommen zu haben. Sie spürte, wie ihr Arm festgehalten wurde, spürte, wie der schmale Spalt zwischen ihrer Hand und Erics Brust sich mit einem elektrischen Kribbeln füllte, und einen Moment lang konnte sie sich nicht bewegen. »O mein Gott«, hörte sie Pete wispern. Sie wagte es, die Augen zu öffnen. Die grünen Flammen der Magie loderten über Erics Körper, der vollkommen starr geworden war und jetzt wild den Rücken durchbog - sein Kopf, die Fersen und die Innenseiten seiner Hände berührten den Boden, aber sein Rumpf bog sich so heftig durch, dass Lauren glaubte, seine Wirbelsäule könne brechen. »Was geht hier vor?« Lauren, die Hand noch immer fest auf seine Brust gedrückt, sah, dass Feuer zwischen ihnen floss, aber sie konnte ihren Mund nicht dazu bringen, Worte zu bilden, oder 313 auch nur ihre Kehle, Laute zu formen. Sie konnte kaum atmen. Sie hielt ihre Position bei und konzentrierte sich einzig darauf, Eric wieder gesund und voller Leben zu sehen. Plötzlich erlosch das Feuer, und Eric riss die Arme vor die Augen, zerrte an den Pflastern, seine Knie schnellten hoch, und er trat mit den Füßen um sich. Lauren stolperte hastig von ihm zurück. Pete, der entweder auf einen solchen Zwischenfall gefasst war oder aufgrund seiner Erfahrung als Sanitäter besser auf etwas Derartiges vorbereitet war, übernahm die Initiative und riss das Ende des winzigen Schlauchs, das seitlich aus Erics Hals hing, heraus. Als Eric hustete, glitt der große Schlauch mühelos aus seinem Mund. Und dann nahm Pete das Klebeband von Erics Augen ab und sagte: »Mann, ich bin ja hier, halte durch. Du darfst nicht um dich treten, und du darfst mich nicht schlagen; ich bin's, Pete, halte einfach nur durch, halte einfach durch, und alles wird wieder gut.« Tränen rannen ihm über die Wangen. Eric, der verzweifelt hustete und dabei seinen Hals umklammert hielt, richtete sich auf. »Wo zur Hölle sind meine Kleider, und was ist hier los, und was mache ich mit nacktem Hintern in diesem ... diesem Ding?«, verlangte er zu wissen. Pete umarmte ihn weinend. »Und was zur Hölle ist mit dir bloß los«, schrie Eric und zuckte zurück. Dann sah er sich um. »Und wo sind wir?
... Und, gütiger Gott, warum ist es so kalt hier?« »Wärme«, sagte Lauren. Plötzlich war es nicht mehr kalt. Erics Kopf fuhr herum, und sein Blick traf den Laurens, und mit einer tiefen und gefährlichen Stimme sagte er: »Was zum Teufel hast du getan?« »Sie hat dir das Leben gerettet«, sagte Pete leise. Eric sah an seinem blauen Krankenhausgewand hinab, 314 das ihm nur bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, dann legte er eine Hand auf seinen Magen. Mit der anderen Hand tastete er seinen Rücken ab, wo er vom Hals abwärts bis über die Hüften bandagiert war. Mit spitzen Fingern zog er sein Nachthemd in die Höhe. »Wow!« Er wurde flammend rot, riss das Hemd hastig wieder herunter und sagte: »Wo ist meine Unterwäsche abgeblieben? Und wofür sind all diese Verbände?« »Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?«, fragte Lauren. Eric schwieg einen Moment lang. »Wir waren auf dem Revier. Und dann habe ich den Anruf bekommen Deboras Leiche. Nein ... Es war Molly. Und ich bin zu dem alten Haus rübergefahren. Und alle Wächter waren dort - sie lagen gefesselt auf dem Fußboden, und Tom Watson und Deever Duncan haben sie nach ...« Er warf einen schnellen Blick auf Pete. »Nach Oria hinübergestoßen. Und sie haben davon gesprochen, ob sie die Übrigen nicht einfach töten sollten, und ich bin ins Haus ... gestürmt.« Eine lange, entsetzte Pause folgte. »Ich war leichtsinnig. Ich dachte, ich wüsste, wo alle seien. Aber einen hatte ich übersehen - er kam hinter mir aus der Küche und hat mich in den Rücken geschossen ...« »Wer war es?«, fragte Pete. »Willie«, sagte Eric. Er schüttelte den Kopf, als könne er seine eigenen Worte nicht glauben. »Willie Locklear. Und dann ist alles schwarz geworden, und ich bin hier wieder aufgewacht.« »Du hast im Sterben gelegen«, erzählte Pete ihm. »Du warst an ein Beatmungsgerät angeschlossen, dein Rückenmark war durchtrennt, dein Herz arbeitete nicht mehr richtig, und das Personal von der Intensivstation hat versucht, deine nächsten Angehörigen zu ermitteln, weil niemand damit gerechnet hat, dass du durchkommen würdest.« 315 Eric sah Lauren an. »Wo sind wir jetzt?« »Das ist das alte Haus meiner Eltern in Oria.« »Wie viel hast du ihm erzählt?« »Nicht viel. Er hatte bereits einen Verdacht.« Eric sah verblüfft zu Pete hinüber. »Ist das wahr?« »Du bist sehr vorsichtig gewesen. Aber selbst die größte Wachsamkeit bekommt manchmal Risse. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass du mit etwas derart Verrücktem zu tun haben könntest. Aber ich wusste, dass da irgendetwas war.« Eric nickte. »Kleider«, sagte er, und ein Häufchen zerknitterter Kleider tauchte vor ihm auf. »Ich hätte zumindest saubere Kleider gemacht«, sagte Lauren. »Ich habe sie nicht gemacht«, erwiderte Eric. »Ich habe lediglich das Zeug neben meinem Bett hierher geholt. Auf diese Weise bringt man die Dinge nicht allzu sehr durcheinander.« Dann fügte er hinzu: »Würde es dir etwas ausmachen, dich kurz umzudrehen?« Lauren drehte sich um, und Jake trat ihr in die Seite und brüllte: »Runter! Ich ... RUNTER!« »Noch nicht.« Sie setzte ihn sich auf die Hüfte, obwohl er wie ein Wolfsjunges kämpfte. Dann sprach sie einen Zauber, der die Unordnung im Haus beseitigte, alles wieder an seinen richtigen Platz räumte und reparierte, was zerstört gewesen war. »Lass das!«, brüllte Eric. »Hast du eine Ahnung, was eine solche Energieverschwendung auf der Erde anrichten kann?« »Nein«, sagte Lauren. »Scheiße. Lass das. Ich ziehe mich schnell um, dann überlegen wir, was wir tun werden, und ich versuche, dir zu zeigen, warum ein solcher Umgang mit Magie eine so schlechte Idee ist.« 316 »Ich wünschte, ich könnte das auch«, sagte Pete sehnsüchtig. »Du kannst es«, erwiderte Eric, »aber bitte, tu's nicht. Die Probleme, mit denen wir im Augenblick zu kämpfen haben, würden sich nur noch verschlimmern - erheblich verschlimmern -, wenn jetzt auch noch ein Haufen Amateure anfängt, hier herumzuzaubern. Sie ist schon schlimm genug.« Lauren wusste, dass er sie meinte. »Vergessen wir doch einfach, dass du ohne mich immer noch im Sterben lägest oder vielleicht schon tot wärest.« »Ich habe nicht gesagt, dass ich dir nicht dankbar bin.« »Ich habe dich aber auch nicht >Danke< sagen hören.« Schweigen. »Danke.« Sie hörte, wie er die Verbände abriss, dann folgte ein anerkennendes Murmeln sowohl von Pete als auch von Eric. »Nicht mal die Spur einer Narbe«, sagte Pete. »Verdammt, das wird schwer zu erklären sein.«
»Ich nehme an, mein plötzliches Verschwinden von der Intensivstation dürfte auch einigen Wirbel verursacht haben.« Pete kicherte leise. »Ich wette, da drüben ist im Moment die Hölle los.« »Das ist kein Grund zum Jubeln. Das Überleben der Welt hängt davon ab, dass die Menschen nicht dahinter kommen, dass man durch Spiegel gehen oder von Intensivstationen verschwinden kann.« Lauren hörte, wie er aufstand und dann ein leises Rumoren, als er sich anzog. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Ich bin fertig. Jetzt lasst uns überlegen, was wir als Nächstes tun.« Sie gingen zu dem alten Tisch ihrer Eltern hinüber, und Lauren fügte einen winzig kleinen Zauber hinzu; sie sorgte dafür, dass sie alle gesund waren. Dieses Gerede von Grippe auf der Intensivstation und der Anblick der nebeneinander aufgereihten Betten in den Krankenhausfluren, in de317 nen hustende, um Luft ringende Menschen lagen, hatten sie nervös gemacht. Natta Cottage und Cat Creek Pete ließ sich nicht mit Ausflüchten abspeisen. Er wollte Näheres über Oria wissen, und er wollte wissen, was die Wächter waren und was sie taten - und als er das herausgefunden hatte, wollte er eine eingehende Erklärung, warum Eric ihn nicht für diese Aufgabe rekrutiert hatte. Er war sehr höflich, aber er verlangte Erklärungen. Lauren dagegen wollte wissen, warum sie die Magie, die ihr in Oria zu Gebote stand, nicht benutzen durfte. Eric erklärte ihr, was für eine Bewandtnis es mit dem Energiefluss zwischen den Welten hatte und dass jeder in Oria durchgeführte Zauber Energiewellen aussandte, die die Ereignisse auf der Erde beeinflussten. Während er sprach, stiegen in Lauren vage Erinnerungen an Gespräche mit ihren Eltern über dieses Thema auf. Aber die beiden hatten sie nicht nur auf die Gefahren aufmerksam gemacht, das fiel ihr jetzt ebenfalls wieder ein, sie hatten ihr auch erklärt, dass der Rückstoß nicht so ein furchtbares Problem war, wie alle glaubten. Die Absicht, hatten sie gesagt, sei der wichtigste Faktor, was den Rückstoß betraf. Lauren glaubte, sich daran erinnern zu können, dass sie dies irgendwo in dem Notizbuch ihrer Eltern niedergeschrieben gesehen hatte. »Das heißt also, dass die Welt, wie wir sie kennen, in etwa einem Monat zu existieren aufhören wird«, sagte Pete. »Aber du weißt nicht genau, was ihren Untergang heraufbeschwören wird?« Eric stützte die Ellbogen auf den Zeichentisch und nickte. »Und jetzt sind die übrigen Wächter in Cat Creek entweder Verräter oder Opfer einer Entführung und wahr318 scheinlich tot, und meine Chancen, das Problem zu finden und zu beheben, stehen etwa bei null.« Er zuckte zusammen und murmelte: »Scheiße. Willie hat gesagt, er habe Verstärkung von den anderen Wächternexus angefordert, aber er war einer der Verräter. Und Deever auch. Mit anderen Worten, es wird keine Verstärkung geben, wenn wir nicht darum bitten.« Er legte den Kopf in die Hände und sagte: »Verdammte Scheiße.« Jake, der auf dem Fußboden mit Kugelschreibern und einem Notizblock aus Laurens Handtasche gespielt hatte, blickte auf. »Verdammte Sseiße!«, sagte er. »Verdammte Sseiße! Verdammte Sseiße! Verdammte SSEISSE!« »Vielen Dank, Jake. Sehr schön. Aber das reicht jetzt.« Lauren brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Was ist mit dem Notizbuch meiner Eltern?«, fragte sie. »Hattest du schon Gelegenheit, reinzuschauen? Hast du irgendetwas dort gefunden, das uns helfen könnte?« »Ich weiß nicht. Sie haben da ein paar ziemlich merkwürdige Dinge geschrieben. Und einige ihrer Notizen kann ich überhaupt nicht entziffern; ich habe das Gefühl, dass wir das ganze Notizbuch durchgehen müssen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, woran genau sie gearbeitet haben. Vielleicht ist etwas dabei, das uns helfen kann, aber haben wir die Zeit, es gründlich durchzuarbeiten, nur um am Ende feststellen zu müssen, dass es uns nicht weiterhilft?« »Dürfen wir das Risiko eingehen, das Notizbuch unbeachtet zu lassen, wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass es eine Lösung bereithält?«, fragte Lauren. »Wahrscheinlich nicht. Einige Dinge müssen wir allerdings sehr schnell in Angriff nehmen - wir müssen die Verräter finden. Wir müssen in Erfahrung bringen, was sie getan haben, damit wir es korrigieren können. Wir müssen die verschwundenen Wächter retten, falls sie noch leben. Wenn 319 wir unsere Leute zurückhaben, dann sollten wir uns das Notizbuch deiner Eltern ansehen, um festzustellen, ob es uns irgendwie weiterhelfen kann.« »Habe Aa«, stellte Jake, der immer noch auf dem Boden saß, ebenso laut wie plötzlich fest. »Und wir müssen uns Windeln und Feuchttücher besorgen und Winterkleidung und Essen und andere Vorräte, wenn wir von hier aus arbeiten wollen. Oder werden wir nach Cat Creek zurückkehren?« »Das dürfte nicht so leicht sein«, meinte Eric. »Nach allem, was man als Letztes von mir gehört hat, habe ich im Sterben gelegen. Irgendwann müssen wir den Leuten zu Hause natürlich beibringen, dass ich noch lebe und obendrein unverletzt bin, aber ich würde das lieber nicht jetzt tun. Das würde uns bei unseren wirklichen Problemen nur in die Quere kommen.« »Aber du willst die Dinge, die wir brauchen, nicht einfach durch Magie erschaffen oder sie von irgendwo herbeiholen, nicht wahr?«, fragte Lauren. Eric schüttelte den Kopf. »Ich möchte so wenig Aufsehen wie möglich auf unsere Anwesenheit hier lenken und
auch so wenig Magie wie nur möglich benutzen, und sei es aus keinem anderen Grund als dem, dass die Verräter größere magische Signaturen auffangen und sie zu uns zurückverfolgen könnten. Ich will ihnen keinen Fingerzeig geben, dass ich noch lebe oder dass wir ihnen auf der Spur sind.« »Einverstanden. Dann müssen wir noch einmal zurückgehen und Vorräte holen.« »Ich bleibe bei euch und helfe«, erklärte Pete. Eric sah ihn an, dann seufzte er. »Ja. Wir werden dich brauchen. Aber du wirst vorsichtig sein müssen; diese Welt ist erheblich gefährlicher als die Erde. Ich muss mir etwas überlegen, wie ich dich vor Magie schützen und verhindern kann, dass du unbeabsichtigt irgendwelche eigenen Zauber 320 produzierst.« Einen Moment lang blickte er ins Leere, dann nickte er jäh. »Ich werde mir etwas ausdenken, das auf jeden Fall funktioniert. In der Zwischenzeit kehren wir auf die Erde zurück und holen uns, was wir brauchen. Lauren -das Tor führt in dein Haus, nicht wahr?« Sie nickte. »Ja, aber ich kann den Spiegel benutzen, um uns an einen anderen Ort zu bringen, wenn du nicht zuerst zu mir nach Hause gehen willst.« »Dann bring uns in mein Büro. Das Notizbuch liegt im Safe, und das will ich mir definitiv holen, bevor uns ein anderer zuvorkommt.« Lauren schnupperte. »Aber die nächste Station sollte dann wirklich mein Haus sein. Jakes Windel muss eindeutig gewechselt werden.« Lauren kam nur bis zu dem zweiten Schritt, der notwendig war, um ein Tor zu schaffen. Sie hatte die Magie heraufbeschworen und im Spiegel das Revier des Sheriffs visualisiert. Aber dort wimmelte es von Männern in Uniform. »Es gibt ein Problem«, sagte sie zu Eric. Er trat hinter sie, warf einen Blick auf das, was sie im Spiegel sah, und sagte: »Das ist die Bezirkspolizei. Verdammt. Sie sind überall.« »Damit musste man wohl rechnen«, meinte Pete gedehnt. »Oh?« »Der Sheriff der Stadt wird angeschossen und ins Krankenhaus gebracht. Sein Deputy, seine angebliche Verlobte und sein Sohn tauchen an seinem Totenbett auf, und nur wenige Minuten später lösen sich der Deputy, die Verlobte, das Kind und der Komapatient hinter einer abgeschlossenen Tür in Luft auf. Das dürfte wohl die eine oder andere Frage aufgeworfen haben. Außerdem hat inzwischen sicher jemand festgestellt, dass auch andere Leute aus der Stadt verschwunden sind. Die Jungs von der Bezirkspolizei gehen der Sache wahrscheinlich nach.« 321 »Hm, ins Büro können wir also nicht zurück.« »Wohl kaum.« »Ich möchte das Notizbuch nicht dalassen«, sagte Lauren. »Die Kollegen können nicht an den Safe heran. Nur Pete und ich haben die Kombination, und wir haben sie nirgendwo aufgeschrieben. Sie müssten schon einen ziemlich außerordentlichen Beweggrund haben, um sich die Erlaubnis zu verschaffen, den Safe aufzubrechen.« Lauren und Pete sahen ihn nur an. »Nun ja, wahrscheinlich haben sie schon einen Burschen mit einem Bohrer dort«, räumte Eric ein. »Ich habe Aa, JETZT«, jammerte Jake. »Nach Hause«, sagte Lauren. Sie veränderte das Bild in dem Spiegel, und als sie in ihre eigene Diele blickte die zu ihrer unendlichen Erleichterung nicht voller Männer in Uniform war -, öffnete sie das Tor, und sie traten hindurch. Sie spürte Brian, der ihr Mut machte und Jake zärtlich berührte, dann war sie auf der anderen Seite, gestärkt und dankbar. Während sie Jake sauber machte und anschließend die Vorräte für die Rückreise nach Oria zusammensammelte, überließ sie sich ein paar Minuten lang dem einfachen Glück ihrer behaglichen Häuslichkeit. Aber die Sorgen waren trotzdem da. Die Menschen, die versucht hatten, Eric zu töten und vielleicht an der Ermordung ihrer Eltern beteiligt gewesen waren, waren irgendwo in Oria; sie hatten Gefangene; das Zählwerk einer Bombe, die sie noch nicht aufgespürt hatten und die den Untergang der Erde bedeutete, tickte unablässig weiter; und die Welt würde nie wieder der vernünftige, erklärbare Ort sein, für den sie sie gehalten hatte, als sie und Brian all ihre hoffnungsvollen Pläne schmiedeten. So gern sie sich eingeredet hätte, dass sie in dem alten Haus in Sicherheit war, sie konnte es sich nicht gestatten. Stattdessen packte sie ihre Sachen, und sie tat es 322 mit der schnellen, unbarmherzigen Routine einer Soldatenfrau, die sich mit einer plötzlichen Verlegung der Truppen konfrontiert sah. Sie wusste, was zu tun war, und spulte ihr Programm wie im Schlaf herunter. Warme Kleidung, Waffen und Munition, leichte, getrocknete Nahrungsmittel, Streichhölzer und Seile. Brians persönliche Überlebensausrüstung, die zum Zeitpunkt seines Todes fertig gepackt gewesen war, lag immer noch bereit, und Lauren nahm auch sie mit. Jakes Kleidung machte ihr Sorgen; die Winter in North Carolina ließen sich nicht einmal annähernd mit der brutalen Kälte vergleichen, die sie in Oria erlebt hatte. Aber Erics Vortrag über Magie in allen Ehren, sie beschloss, dass sie in einem Notfall eben gegen seine Anweisungen verstoßen musste und alles tun würde, um Jake warm und trocken zu halten. Und sie, Eric und Pete - und die Welt - würden eben mit den Konsequenzen
leben müssen. Als sie nach unten ging, saß Pete auf dem Fußboden und ließ mit Jake Autos zusammenkrachen, während Eric in ihren Spiegel starrte. Er sah sich noch einmal die Männer in seinem Büro an. »Wie ich sehe, sind sie immer noch nicht weg«, sagte Lauren. »Noch nicht. Und sie arbeiten sich durch die Akten. Außerdem ist der Bursche mit dem Bohrer gerade angekommen. Das Einzige im Safe, das uns Probleme bescheren könnte, ist dieses Notizbuch. Glaubst du, dass du es beschaffen könntest?« »Was soll ich tun - zu ihnen gehen und sagen: Entschuldigen Sie bitte, meine werten Herren, aber als Sheriff Mac-Avery mich zum Verhör holte, hat er mein Notizbuch beschlagnahmt, und ich hätte es gern zurück?<« Eric schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Ich möchte, dass du es stiehlst.« Lauren lachte. 323 »Das ist mein Ernst. Du kannst den Safe von hier aus sehen.« Er zeigte auf einen Wandsafe hinter seinem Schreibtisch. »Du brauchst nur ein kleines Tor in der Seite oder an der hinteren Wand des Safes aufzumachen, das man von vorn nicht sehen kann, und das Notizbuch herauszuziehen.« Lauren sah ihn an, und mit dem Begreifen kam eine wilde Erregung. »Die Versuchung, dir einfach zu nehmen, was immer du haben willst, muss manchmal doch überwältigend sein.« »Mit dieser speziellen Versuchung haben nur Torweber zu kämpfen«, sagte er kühl. »Die meisten von uns können keine Tore schaffen, wir können lediglich solche, die bereits geschaffen wurden, benutzen und aufrechterhalten.« »Ah. Und ich bin eine Torweberin. Und Willie Locklear ist ein Torweber. Warum ist er zum Verräter geworden?« Eric schüttelte mit ausdrucksloser Miene den Kopf. »Ich weiß es nicht. Das ist eine Frage, die mich nicht loslässt. Er hat mir ein paar Mal das Leben gerettet; er ist ein wahrer Held. Und doch hat er mich von hinten niedergeschossen. Warum hat er das getan? Er war mein Leben lang mein Freund.« »Jetzt nicht mehr, schätze ich«, bemerkte Pete. »Nein. Jetzt nicht mehr.« Eric beobachtete die Männer in seinem Büro; sie saßen an seinem Schreibtisch, durchstöberten seine Papiere, lasen eine Zeitung, aßen Donuts und tranken Kaffee aus seiner Maschine, und sie lachten und schwatzten miteinander, als gehörte das Revier ihnen, als hätten sie ein Recht, dort zu sein. Lauren sah, wie Erics Miene sich verdüsterte. »Fühlt euch nur ganz wie zu Hause!« »Ich hole dann das Notizbuch!«, sagte sie. Sie führte das Unternehmen akkurat und schnell durch und fügte nur einen einzigen kleinen selbstsüchtigen Schnörkel hinzu. Während das Tor geöffnet war, legte der 324 Beamte, der die Zeitung gelesen hatte, sie weg. Überwältigt von Neugier und einem koboldhaften Bedürfnis nach Rache, schuf Lauren ein winziges sekundäres Tor unter der Zeitung und riss die Zeitung hindurch. Von ihrem Standort aus sah es so aus, als hätte die Zeitung sich einfach in Luft aufgelöst. Da keiner der Männer es beobachtet hatte, spielte das magische Verschwinden keine große Rolle. Aber die kurze Verwirrung und der unüberhörbare Ärger des Mannes, der die Zeitung gelesen hatte, brachten sie und Eric herzlich zum Lachen. Sie konnten den Polizisten sehen, wie er die Männer, die bei ihm waren, beschuldigte, sie hätten die Zeitung genommen, und sie konnten all die ehrlich unschuldigen Cops sehen, die abstritten, mit deren Verschwinden etwas zu tun gehabt zu haben - gleichzeitig sahen sie einander argwöhnisch an, um festzustellen, wer von ihnen diesen heimlichen Streich gespielt hatte. »Du hast eine schelmische Ader«, sagte Eric grinsend. »Allerdings. Aber vor allem wollte ich wissen, ob hier irgendetwas über dich steht.« »Ah. Ich hatte noch gar nicht daran gedacht, meine Kritiken zu lesen.« »Willst du mal sehen?« Er nickte und überflog die erste Seite der gestohlenen Laurinburg Exchange. »Gleich unter dem Falz: Verletzter Sheriff, Deputy und mysteriöse Frau verschwinden.« »Das steht unter dem Falz? Wow. Was sind denn die wirklich großen Nachrichten?«, fragte Lauren. »Zwei Storys. Die erste lautet: Elf Personen aus Cat Creek vermisst. Verlassene Autos liefern erste Spur.« »Das kann ich verstehen«, pflichtete Lauren bei. »In puncto Nachrichten ein großer Tag für Laurinburg.« Sie lachte. »Was ist die zweite Story?« »Die Zahl der Grippetoten am Ort steigt durch Leichenfund.« 325 »Wow. Wirklich? Ich wusste gar nicht, dass es in diesem Jahr schlimm genug ist, um für die Schlagzeilen zu reichen.« Eric antwortete ihr nicht. Er las den Artikel. Sie beobachtete ihn, wie er die Lippen schürzte, dann wurde sein Gesicht blass. »O mein Gott«, flüsterte er, als er die Seite umblätterte. Und einen Augenblick später: »Nun, ich schätze, diesmal ist er nicht aus der Stadt gefahren.« Er legte die Zeitung weg. »Was? Wer?« »Mehr als hundert Menschen sind in den letzten vierundzwanzig Stunden im Bezirk Scotland an der Grippe gestorben. In derselben Zeit sind mehrere tausend neuer Fälle gemeldet worden. Überall in den USA gibt es zehntausende von Grippefällen und anscheinend auch im Ausland. Die Namen derer, die im Bezirk gestorben
sind, werden in einer getrennten Spalte aufgeführt, denn in einigen Fällen sind ganze Familien gestorben, und die nächsten Angehörigen sind unbekannt. Granger Baldwyn steht auf der Liste als einer dieser Toten. In der Notiz neben seinem Namen steht, dass er vermutlich schon seit einigen Tagen tot ist.« »Hast du nicht gemerkt, dass er nicht da war?« »Granger ist viel allein losgezogen. Irgendwie passte er nie so recht zu den braven alten Jungs, und er wollte sich nicht verstellen. Also hat er sich Freunde in Fayetteville oder irgendwo anders gesucht und den größten Teil seiner Freizeit dort verbracht.« Lauren sagte: »Du denkst also, dass das, was die Welt zerstören wird, die ... die Grippe ist?« »Es wird nicht wirklich die Grippe sein. Ich gehe jede Wette ein, dass die Gesundheitsbehörde vollkommen ratlos ist und dass es bisher nicht gelungen ist, aus den Körpern der Toten und Erkrankten das verantwortliche Virus zu kultivieren.« 326 »Aber es sieht aus wie die Grippe.« »Viele Dinge sehen aus wie die Grippe. Das hier ist jedoch magischen Ursprungs, und alle Impfungen und Antibiotika der Welt werden im Kampf gegen diese Krankheit versagen. Wenn wir keinen Umkehrzauber dagegen finden, wird mehr als die Hälfte der Menschheit daran sterben.« 14 Trauerwald, Ballahara Tröste dich nicht mit der Lüge, dass dein Feind schwach oder dumm oder böse ist. Manchmal ist der Feind ehrenwert. Manchmal ist seine Sache gerecht. Manchmal haben beide Seiten auf ihre Weise Recht -und in der Stunde, da gerechte Anliegen einander entgegenstehen, werden gute Männer sich erheben und sich in die Schlacht stürzen, und wenn sie aufeinander treffen, wird der Himmel unter dem Klirren ihrer Waffen erbeben. Und ihr Blut wird in Strömen fließen. Seolar beendete das Zitat und blickte mit seltsam ausdruckslosen Augen zu Molly hinüber. »Nun, das ist ein beängstigender Gedanke«, sagte Molly. Sie und Seolar und die Wachen ritten unter einem sonnigen Himmel über rasch schmelzenden Schnee zum Kupferhaus zurück. »Wer hat das gesagt?« »Der Krieger Tarmin. Im Krieg der Drei Fische führte er die Armee der Windveyär gegen die Eisenveyär. In unserer ganzen Geschichte hat es niemals eine so blutige Schlacht gegeben, und niemals haben beide Seiten einen so hohen Preis gezahlt.« »Weil beide Seiten im Recht waren?« »Ja. Traurigerweise. Jede Seite hat für ihre eigene Freiheit gekämpft, für das Wegerecht durch Gebiete, die sie unbedingt brauchen, um Zugang zu lebenswichtigen Feldern, Fischgründen und Wäldern. Sie haben beide um ihr Überleben gekämpft. Beide Parteien wollten - und das mit gu328 tem Recht - die begrenzten Schätze der Natur, die ihrem Volk in einer brutalen Umgebung Nahrung gaben. Beide Seiten wussten, dass sie nicht ausreichten, um das Überleben aller zu sichern, und dass die Verlierer gewiss umkommen würden - Männer, Frauen und Kinder. Es konnte keinen Waffenstillstand geben, kein Teilen und keine Ergebung. Wer diesen Krieg gewann, würde überleben, wer verlor, würde entweder daheim umkommen oder im Exil, gejagt von den Feinden, die rund um dieses Gebiet lauerten.« »O Gott, wie schrecklich. Wer hat gesiegt? Was ist passiert?« »Niemand hat gesiegt. Es haben vielmehr beide Seiten gleichermaßen und uneingeschränkt verloren. Die Krieger haben eine Abfolge furchtbarer Schlachten ausgefochten, zuerst hat die eine Seite gesiegt, dann hat die andere ihre Verluste wieder wettgemacht, bis die Kräfte beider Lager vollkommen erlahmt waren. Die überlebenden Generäle haben alte Männer, kinderlose Frauen und Kinder in den Kampf geschickt, sie haben Zuflucht genommen zu verzweifelten Strategien und einander niedergemetzelt. Schließlich waren nur noch die Verletzten, die Verkrüppelten und Mütter mit kleinen Kindern auf den Armen übrig geblieben, um das Land gegen Eindringlinge von außen zu verteidigen. Da kamen die Keshak, die schlimmsten Feinde der Veyär aus dem Kreis der Wahren Völker, von den Hügeln herunter und überzogen das Land mit Tod. Nicht ein Einziger der Völker entkam, weder ein Windveyär noch ein Eisenveyär. Und das Gebiet der Drei Fische fiel an die Keshak, die es bis zum heutigen Tag bewohnen.« »Mein Gott«, murmelte Molly. »Die Geschichte ist ein finsterer und blutiger Ort«, sagte Seolar. »Um sie nicht zu wiederholen, tun wir manchmal Dinge, die uns nicht gefallen und auf die wir nicht stolz sind.« 329 »Du versuchst, dein Volk zu retten, Seolar.« Lange, unbehagliche Sekunden ritten sie schweigend weiter. Schließlich sagte Seolar: »Mein Falke hat mir heute Morgen eine Nachricht gebracht. Die Verräter erwarten mich im Kupferhaus.« »Du wusstest, dass sie kommen würden.« »Ja. Aber ich verbünde mich zu meinem persönlichen Gewinn mit dem Bösen und schade dem Guten. Diese Männer, die ich mit dieser abscheulichen Aufgabe beauftragt habe, haben sie aufs Beste erfüllt. Ich werde sie reich belohnen für ihre Dienste. Aber sie sind böse, und indem ich mit ihnen Geschäfte mache und sie für ihre Tat belohne, werde ich wie sie, werde ein Teil von dem, was sie getan haben.« Molly zog ihre Finger durch das
lange, raue Haar ihres Pferdes und dachte über Seolars Worte nach. »Du bist ein guter Mann, Seolar. Du tust, was du tun musst, und es mag nicht schön sein. Aber wenn diese Wächter irgendetwas taugten, hätten sie den Veyär schon vor langer Zeit geholfen.« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Was ist, wenn ihre Absichten genauso rein sind wie meine? Wenn sie, indem sie den Veyär helfen, das Überleben ihres Volkes und ihrer Welt gefährden?« Molly lachte. »Es gibt Milliarden Menschen, Seolar - und wir ... sie ... verfügen auf ihrer Seite über Technologie und gewaltige Bodenschätze. Das Universum könnte ihnen nichts entgegenschleudern, womit sie nicht fertig würden. Die Menschheit wird nicht untergehen.« Seolar sah sie an und versuchte zu lächeln. »Deine Gewissheit ist ein Segen. Ich habe so lange mit diesem Dilemma gerungen, und ich weiß noch immer nicht, ob ich meine eigenen Entscheidungen billigen kann. Mein Volk stirbt, und meine Pflicht ist es, es zu retten. Ich kann sterben, ohne dass meine Ehre Schaden gelitten hätte, und mein Volk wird mit mir sterben - und ich hätte versagt. Oder ich kann 330 Schande über mich bringen und den Veyär die Chance geben, zu überleben. Die Geschichte ist voller ehrenhafter toter Männer, denen es nicht gelungen ist, ihre Schutzbefohlenen vor Schaden zu bewahren.« Diesmal sah er Molly direkt in die Augen, bevor er fortfuhr: »Ich muss die Schande wählen. Aber ich hasse mich dafür, dass ich dazu in der Lage bin.« Molly dachte kurz nach. Dann sagte sie: »Ich hasse dich nicht. Und ich werde deine Schande teilen. Meine Eltern haben an das, was du tust, geglaubt. Der Mann, den ich für meinen Vater hielt, glaubte so sehr daran, dass er einem Mann aus einer anderen Welt gestattete, das zweite Kind seiner Frau zu zeugen. Ich bin hier - ich wurde dazu geboren, hier zu sein. Und hier gehöre ich hin.« Sie seufzte. »Ich habe noch nie zuvor irgendwo hingehört.« Sie konnte die Erleichterung auf Seolars Gesicht sehen, konnte sie in der Haltung seines Körpers und sogar in der Art, wie er atmete, erkennen. »Wenn du dich aus freien Stücken unserer Sache anschließt, werde ich um nichts sonst bitten.« Mollys Herzschlag beschleunigte sich. Sie lächelte ihn nervös an und sagte: »Du könntest durchaus darum bitten. Ich denke, ich würde vielleicht Ja sagen.« Einen Augenblick lang sah er sie verwirrt an. Dann hellte seine Miene sich auf, als ihm klar wurde, dass sie auf eine mögliche gemeinsame Zukunft für sie beide anspielte. »Wenn ich die Ehre deiner Liebe haben könnte, welche andere Ehre würde ich jemals brauchen?«, erwiderte er schließlich. »Diese Frage brauchen wir jetzt noch nicht zu beantworten.« 331 Kupferhaus, Ballahara Seolar gestattete es Molly nicht, dabei zu sein, als er die Verräter auszahlte. Die Verräter wussten nicht, warum er die Wächter von der Erde hatte entführen lassen, und es interessierte sie auch nicht - und er wollte nicht, dass sie von Molly erfuhren, die gewiss von einigem Interesse für sie wäre. Glücklicherweise hatten die drei Menschen jedoch ausschließlich ihre eigenen Belange im Sinn; sie wollten ihre Burg, ihre Diener und ihre Rechte und Privilegien als Grundherren in ihrem eigenen Reich - und diese Dinge bekamen sie. »Ist einer von ihnen verletzt worden?«, fragte Seolar. Der Jüngste der drei antwortete: »Nein. Sie sind bewusstlos und werden es noch einige Stunden lang sein, aber sie sind alle gesund. Wir waren vorsichtig.« »Wir werden sie zusammen untersuchen und sicherstellen, dass sie sich nicht befreien können, und dann werdet ihr eure Länder und Titel empfangen.« »Und die Burg, nicht wahr? Kalt Sternenfest.« »Ihr habt sie ja schon benutzt«, sagte Seolar. »Ich würde nicht im Traum daran denken, die Bedingungen unseres Abkommens jetzt noch zu ändern.« Er erhob sich und gab seinen Wachen ein Zeichen, und die Soldaten postierten sich um Seolar und die Verräter herum. Er hätte sich allein auf den Schutz der ungeheuren Mengen von Kupfer verlassen können, mit dem Mauern, Decken und Fußböden im Kupferhaus ausgekleidet waren, aber er glaubte nicht, dass Magie die einzige Bedrohung war, die von diesen Menschen ausgehen konnte, sollten sie beschließen, auch ihn zu verraten. Die Männer machten ihn nervös. Ungezählte Male hatte Seolar darüber nachgedacht, dass er sie, wenn es so weit 332 war, töten lassen könnte; dass Verräter, die ihr eigenes Volk und ihre eigene Welt hintergingen, nichts Besseres verdienten. Aber das Wenige, was ihm an Ehre noch verblieben war, gestattete ihm ein derartiges Verhalten nicht; er hatte sein Wort gegeben, und er würde dazu stehen - selbst Männern gegenüber, denen ihre eigenen Gelübde offensichtlich nichts bedeuteten. Er würde jedoch dafür sorgen, dass er zu keiner Zeit mit ihnen allein war. Wenn den Verrätern die demonstrative Anwesenheit der Wachen missfiel, ließen sie sich jedenfalls nichts anmerken. Sie folgten Seolar ohne ein weiteres Wort in die Gemächer, die Molly bis vor kurzem bewohnt hatte. Dort lagen auf dem Fußboden bewusstlose Männer und Frauen. Alle atmeten offensichtlich noch, und Seolar konnte bei keinem von ihnen Verletzungen ausmachen. »Wie sind sie in diesen Zustand geraten?«, fragte er. »Wir haben ihnen eine ... Medizin verabreicht«, sagte der älteste der Männer. »Sie werden sich in einigen Stunden davon erholen. Möglicherweise wird ihnen am Anfang übel sein - manchmal übergeben die Leute sich oder klagen über Verwirrung oder Schwindel, aber das vergeht schnell.«
»Sehr gut«, sagte Seolar. »Wenn sie aufwachen und ich erkennen kann, dass sie gesund sind, werdet ihr die Urkunden für euer Land bekommen und die Diener, die euch in euer neues Reich begleiten werden. Bis dahin könnt ihr in einigen unserer schönsten Gemächer Quartier nehmen, und wir werden dafür sorgen, dass es euch an nichts mangelt.« Der dritte Mann, der bis zu diesem Zeitpunkt nichts gesagt hatte, bemerkte: »Ich dachte, wir könnten uns auf den Weg machen, sobald wir euch die Leute gebracht haben.« »Unsere Abmachung«, erwiderte Seolar, »sah vor, dass ich die Leute in einer guten Verfassung bekomme. Möglich, 333 dass sie gesund sind, aber vielleicht sind sie es auch nicht; das kann ich nicht feststellen, solange sie wie tot in meinem Haus liegen.« »Wir versichern dir, dass sie gesund sind.« »Ihr habt auch ihnen versichert, dass ihr für dieselben Ziele arbeitet. Ich muss mich davon überzeugen, dass sie aufwachen und dazu imstande sein werden, zu tun, was ich von ihnen will. Sollte das Medikament, das ihr ihnen verabreicht habt, irgendwelche Nebenwirkungen zeigen, möchte ich, dass ihr euch darum kümmert. Solange ich mir nicht sicher sein kann, dass mein ... Besitz ... sich zur Gänze in dem vereinbarten Zustand befindet, würde ich es vorziehen, euch als meine Gäste hier zu behalten.« »Wir wollen nicht deine Gäste sein. Und ich möchte dich daran erinnern, dass wir Nachbarn sein werden - unser Wohlwollen wird zukünftig von einigem Belang für dich sein.« Seolar dachte einen Moment lang nach. »In der Tat«, antwortete er schließlich, »das Wohlwollen meiner Nachbarn war für mich immer von großem Belang.« Er sah die drei Verräter an, verneigte sich leicht - so leicht, dass jeder Veyär tödlich gekränkt gewesen wäre - und fügte hinzu: »Lasst uns eure Diener zusammenrufen. Ich werde mich mit eurem Wort begnügen.« Er wandte sich dem Hauptmann der Wache zu und sagte: »Bring sie bitte in die Große Halle und mache sie mit Tonnil bekannt. Tonnil hat den Befehl über die Diener, die euch in euer neues Reich begleiten werden«, fügte er mit einem Blick auf den ältesten der Verräter hinzu. An den Hauptmann der Wache gewandt, sagte er: »Ich werde inzwischen die Urkunden und Siegel für die Ländereien holen. Ich komme mit den übrigen Dienern in die Große Halle und werde sie formell mit ihrer Domäne belehnen.« »Hier entlang, bitte«, sagte der Hauptmann, dann for334 mierten er und die übrigen Wachen sich um die Verräter herum. Die drei Menschen gingen den Korridor hinunter. Seolar glaubte keinen Augenblick lang, dass sie ihr Versprechen, ihm gute Nachbarn zu sein, halten würden. Diese Männer hatten keine Ehre; sie waren wie wilde Hunde, und er würde sie genau beobachten müssen. Aber er hatte auch eine kleine Überraschung für sie bereit. Ihre Domäne lag direkt in der seit jüngstem benutzten Einfallschneise der Rrön. Sobald die Verräter sich dauerhaft in ihrem neuen Domizil niederließen und dort für Unruhe sorgten, würden sie feststellen, dass sie größere Probleme hatten als eine etwaige Abneigung gegen ihn. Sie würden einen guten Puffer gegen die Rrön abgeben - drei meineidige Alte Götter und der größere Teil der Gefangenen aus Seolars Kerker würden in Zukunft zwischen seinem Land und seinem schlimmsten Problem stehen. Birra, dem die Pflicht zufiel, die Wächter im Auge zu behalten, bis sie wieder bei Kräften waren, begleitete Seolar in die Bibliothek. Birra wartete, bis die Menschen und die Soldaten außer Hörweite waren, dann sagte er: »Du gibst ihnen Tonnil mit?« »Sie werden sich im Schwarzbeinhaus niederlassen, in unmittelbarer Nähe unserer neuen Probleme. Sie haben der Burg den Namen Kalt Sternenfest gegeben. Hätte ich dich dort hinschicken sollen?« »Das mögen die Götter verhüten! Aber ... Tonnil?« »Er wird auf die anderen Gefangenen aufpassen. Jeder Gefangene, der diese Verräter begleitet, hat sich freiwillig gemeldet. Als Gegenleistung habe ich ihre Hinrichtung ausgesetzt. Wenn sie uns weitere Dienste erweisen, haben sie Aussicht auf einen vollen Straferlass.« Birra lächelte schwach. »Und wissen unsere drei zukünftigen Imallins, dass ihnen die niedrigsten und verkommensten Verbrecher dienen werden?« 335 »Nein. Aber die Verbrecher wissen, dass sie verräterischen Zauberern dienen werden und dass sie ihnen im Schwarzbeinhaus dienen werden. Sollten sie sich irgendetwas zuschulden kommen lassen, das wissen sie, werden sie sich höchstwahrscheinlich in Aschenhäufchen verwandeln. Und sie wissen, dass sie sich zu jeder Zeit in der Macht der niedersten und ehrlosesten der Alten Götter befinden werden. Und wenn sie fliehen wollen, dann wissen sie, dass sie in die Jagdgründe der Rrön fliehen werden. Ich habe jeden Mann und jede Frau, die um diese Chance gebeten haben, über die damit verbundenen Gefahren in Kenntnis gesetzt. Trotz allem war eine ganze Reihe von ihnen bereit, sich auf Gedeih und Verderb verräterischen Zauberern auszuliefern und es mit den Rrön und ... nun ja, noch Schlimmerem ... aufzunehmen. Besser ein zweifelhaftes Schicksal in den Händen von Verrätern als ein gewisses unter den Händen des Henkers, scheinen sie zu denken.« June Bug Täte erwachte als Erste, und es war ein unangenehmes Erwachen. Sie träumte, dass sie sich mit
verzweifelten Schwimmzügen aus dem Maul eines riesigen, mit scharfen Zähnen bewehrten Seeungeheuers zu befreien versuchte, und dass sie, wie sehr sie sich auch bemühte, nicht an die Oberfläche vordringen konnte, wo Luft und Sicherheit warteten. Sie konnte nicht atmen und konnte nicht atmen und konnte nicht atmen ... Und dann konnte sie es plötzlich doch, und der scharfe Schmerz der Luft in ihren Lungen, das brennende Licht in ihren Augen und die unerträgliche Hitze waren schließlich mehr, als ihr Magen verkraften konnte. Würgend beugte sie sich vor und lauschte auf die schrecklichen Geräusche, die sie verursachte. Ein ekelhafter Gestank hüllte sie ein, und mit ihm kam das Gefühl der Verlegenheit, das sich stets in ihr regte, wenn sie die Kontrolle über ihren Körper verlor. 336 Wie aus dem Nichts erschien etwas Kühles und Feuchtes in ihrem Nacken, und eine beruhigende Stimme erklang: »Man hat dir ein Medikament verabreicht, das Übelkeit verursacht. Aber es wird dir bald besser gehen. Wir kümmern uns um dich.« »Danke«, stieß sie hervor und musste abermals würgen. Sie versuchte, sich an dieses Medikament zu erinnern. Sie konnte sich überhaupt an nicht viel erinnern. Sie wusste, wer sie war und welches ihr Platz in der Welt sein sollte. Aber wie es dazu gekommen war, dass sie ein Übelkeit erregendes Medikament eingenommen hatte, obwohl sie überhaupt keine Medikamente einnahm niemals -, auf diese Frage fand sie beim besten Willen keine Antwort. Endlich hob sich der Nebel vor ihren Augen, und ihr Magen war leer. Sie stellte fest, dass um sie herum schlafende Wächter lagen, und sie befanden sich in einem sehr schönen, wenn auch übertrieben prunkvollen Raum. Einer der Eingeborenen von Oria stand vor ihr; seine Kleidung wirkte lächerlich vornehm, und er sah aufgeregt und eindeutig zu groß und zu blau aus. Bei seinem Anblick regte sich etwas in ihrem benommenen Geist, und sie erinnerte sich plötzlich an den verzweifelten Ruf, der an alle Wächter ergangen war. »Oh, Scheißdreck«, murmelte sie. »sie haben uns drangekriegt.« Der Orianer hatte die Schweinerei, die sie veranstaltete, bereits unauffällig und prompt beseitigt. Jetzt wandte er sich zu ihr um und fragte: »Drangekriegt? Wovon sprichst du?« »Die Bastarde haben uns eine Falle gestellt. Es gab überhaupt keinen Torbruch. Es gab auch keinen Zufluss aus der Seitenwelt. Wir sind alle rübergefahren, und sie haben uns Kaffee angeboten, während Willie, dieser Hurensohn, so getan hat, als pfusche er mit einem Tor herum, um uns zu dem Kreuzbruch zu bringen, und kaum hatten wir den Kaf337 fee getrunken, sind wir von der gottverdammten Erde runtergefallen.« »Man hat euch in der Tat verraten«, pflichtete der Orianer ihr bei. »Aber ihr seid unsere Gäste, und ich weiß, dass der Imallin bereits Vorkehrungen getroffen hat, damit ihr in eure eigene Welt zurückkehren könnt.« Ihr Kopf hämmerte. »Schön. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für den Imallin, um genau das zu tun. Wir haben zu Hause große Probleme, und wenn wir nicht schnell dorthin zurückkehren, werden wir vielleicht bald überhaupt kein Zuhause mehr haben, in das wir zurückkehren können.« »Ich werde nach dem Imallin schicken«, sagte der Orianer höflich. »Er ist im Augenblick in einer Besprechung, aber sobald er fertig ist, kann er euch unsere Situation erklären.« Unsere Situation, hatte er gesagt. Nicht eure Situation. Was bedeutete, dachte June Bug, dass niemand sie allzu bald nach Hause schicken würde. Unsere Situation bedeutete, dass diese Orianer irgendetwas brauchten, dass sie eine Möglichkeit gefunden hatten, einige Wächter zu bestechen, um ihr Ziel zu erreichen, und dass diese unglücklichen, leidgeprüften Außerirdischen sie und ihre Freunde zu ihrer großen Hoffnung auserkoren hatten. Die Orianer hatten sie entführen lassen, und jetzt würden sie mit ziemlicher Sicherheit irgendeine Art von Lösegeld verlangen. Nun, zum Teufel damit. Sie konzentrierte sich darauf, das nächste mit der Erde verbundene Tor ausfindig zu machen, und richtete all ihre Gedanken auf einen unmittelbaren Erfolg. Sie murmelte ein einziges Zauberwort - »Suche« - und visualisierte eine Karte, die vor ihr in der Luft erscheinen und die sie zu dem Tor führen würde, das ihr Zauber ausfindig gemacht hatte. Nichts geschah. »Suche«, befahl sie noch einmal und konzentrierte sich mit aller Kraft auf die Kernpunkte des Zaubers. 338 Wieder geschah überhaupt nichts. Der Orianer hinter ihr räusperte sich. »Was soll ich suchen?« »Eine gottverdammte Erklärung«, fauchte June Bug. »Es gibt keinen Grund, warum dieser Zauber nicht funktionieren sollte.« »Nun ... eigentlich«, sagte der Orianer. Dann räusperte er sich noch einmal und deutete mit einer weit ausholenden Gebärde auf die Wände des Raums. Da erst wurde ihr klar, wie sehr sie und die anderen Wächter wirklich in der Klemme saßen. Ihr war aufgefallen, dass der Raum schön war, aber Schönheit beeindruckte sie nicht, erst recht nicht, wenn sie sich übergeben musste. Sie hatte nicht viel übrig für Schnickschnack, und davon gab es hier wahrhaftig mehr als genug. Wahrscheinlich konnte sie das Medikament dafür verantwortlich machen oder ihr Alter oder die Krankheit, aber
Tatsache war, sie war nachlässig gewesen. Zuerst und vor allem war sie eine Kriegerin, und ihre Stellung als Kriegerin verlangte absolute Wachsamkeit von ihr. Die Tatsache, dass sie mitten in einem Raum aus massivem Kupfer saß - in dem kein Zauberspruch, den sie jemals benutzen würde, eine Wirkung hatte -, hätte das Erste sein müssen, das sie nach dem Erwachen bemerkte. »Vielleicht werde ich langsam zu alt dafür«, murmelte sie. »Ich sollte einen Nachfolger ausbilden und machen, dass ich wegkomme, solange es noch geht. Ich sollte nach Südflorida ziehen, mir eine Eigentumswohnung kaufen und Shuffleboard spielen lernen. In den letzten zwanzig Jahren haben sie es in Südflorida nicht geschafft, ein Tor länger als für eine halbe Sekunde offen zu halten.« Sie starrte die Kupferwände an, die dekorativen Kupfergitter vor den Fenstern, die kupfernen Decken, die kupfernen Fußböden, die massive, gewölbte Kupfertür und fluch339 te ausgiebig und mit beachtlicher Selbstbeherrschung. Dann stand sie auf, funkelte den Orianer wütend an und zischte: »Aber Shuffleboard würde ich grässlich finden, und ich würde kleine, blauhaarige alte Damen grässlich finden, und ich würde es grässlich finden, den Rest meines Lebens nutzlos zu verplempern.« Der Orianer wich einen Schritt zurück, aufgeschreckt von ihrer heftigen Reaktion. »Ja, Narra.« »Ich heiße nicht Narra. Ich heiße June Bug.« »Ich bitte um Vergebung. Narra ist ein Ehrentitel - er ist ausschließlich den lebenden Göttern vorbehalten.« »Also schön. Ich bin keine Göttin, ich bin eine Wächterin. Es ist uns nicht gestattet, Götter zu werden - das steht im Kleingedruckten.« Er sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, als ringe er mit der Frage, wie er auf diese Bemerkung reagieren sollte - ob er höflich über einen Scherz lachen sollte, den er nicht verstand, oder höflich einer Feststellung beipflichten sollte, die ihm rätselhaft war. Sie seufzte. Um ihm weitere Bemühungen zu ersparen, fragte sie: »Hast du eine Ahnung, wann die anderen aufwachen werden?« »Nein. Eure Entführer meinten, wir müssten vielleicht einige Stunden warten, und sie haben auch angedeutet, dass euch allen wahrscheinlich beim Aufwachen ziemlich übel sein würde.« »Diese Bastarde.« »Ja, Narra.« »June Bug. Verdammt noch mal. Ich habe diese idiotischen Titel nie ausstehen können.« »Ich ... verstehe.« Er verstand offensichtlich nicht. Höflichkeit schien sein oberstes Lebensprinzip zu sein. »Kann ich dir irgendetwas anbieten?«, fragte er schließlich. »Oder irgendetwas für dich tun?« 340 »Ich nehme an, dein Angebot bezieht sich nicht auf die Möglichkeit, mir die Tür zu öffnen und mich herausspazieren zu lassen.« »Nein, Nar ... nein, June Bug. Aber wenn ich dir irgendetwas bringen kann, um deinen Aufenthalt angenehmer zu machen ...« Sie nickte. »Eine Zigarre. Eine Zahnbürste und Zahnpasta. Eine schöne heiße Tasse Kaffee, extra stark, schwarz und mit unverringertem Koffeingehalt.« Einen Moment lang blickte sie nachdenklich zur Decke empor, dann fügte sie hinzu: »Und ein Schluck Whisky zu dem Kaffee wäre ganz nett, angesichts dieses verfluchten Schlamassels. Danach ... wir werden sehen.« Er nickte, ging zur Tür, öffnete ein kleines Paneel darin und flüsterte jemandem, der auf der anderen Seite stand, etwas zu. Als er kurz darauf zu ihr zurückkehrte, sagte er: »Es wird ein paar Minuten dauern. Aber wir werden dir die gewünschten Dinge so schnell wie möglich verschaffen.« »Vielen Dank. In der Zwischenzeit würde ich gern feststellen, ob ich die anderen wecken kann.« Sie versuchte, die anderen Wächter wachzurütteln, und als das nicht funktionierte, kniff sie sie und schrie ihnen ins Ohr. Nach einer Weile wachte Mayhem auf und erbrach sich prompt über alles in seiner Reichweite - mit Reflexen, die sie selbst überraschten, brachte June Bug sich in Sicherheit und bekam nicht einmal den kleinsten Spritzer ab. Nancine Tubbs war die Nächste - sie klagte über Kopfschmerzen, kotzte aber niemanden voll. Nach ihr regten sich auch die meisten anderen Wächter. Ernest Tubbs und George Mercer erwachten mehr oder weniger gleichzeitig, und obwohl beide desorientiert waren, hatten sie die Tortur ohne Übelkeit überstanden. Was man von June Bugs Schwester, Louisa, nicht sagen konnte, die sich erbrach, bis sie nur noch trocken würgte, oder von Jimmy Norris, der 341 bei der Entleerung seines Körpers so erstaunliche Geräusche von sich gab, dass er bei den übrigen Wächtern eine Kettenreaktion auslöste. Aber June Bugs andere Schwester, Bethellen, wachte überhaupt nicht auf. Ihre Atmung wurde immer tiefer und langsamer, bis June Bug klar wurde, dass sie sie verlieren würden, wenn es ihnen nicht gelang, sie irgendwohin zu bringen, wo einer von ihnen ihr mit Magie helfen konnte. June Bug packte den Orianer am Arm. »Wir müssen sie von dem Kupfer wegbringen, sofort. Wir können ihr nur noch mit Magie helfen, sonst wird sie sterben.« »Einen Augenblick«, sagte er. »Der Imallin ist auf dem Weg hierher, und ich glaube, die Vodi begleitet ihn ...«
Die massiven Doppeltüren wurden geöffnet, und ein Trupp gut bewaffneter orianischer Soldaten trat ein. Sie machten Platz für einen Orianer in einer unglaublichen Aufmachung und eine Frau, die June Bug ebenfalls für eine Orianerin hielt ... bis sie ihr Gesicht genauer musterte. Da wurde ihr klar, dass sie entweder die verschwundene Molly McColl vor sich hatte oder jemanden, der ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war - aber die Zeit in Oria hatte die junge Frau sehr verändert. »Donnerwetter! Molly?«, fragte June Bug. Die junge Frau drehte sich zu ihr um und nickte. »Ich ... kenne Sie. Aus ... aus der Bibliothek.« »June Bug Täte. Ich freue mich, dass Sie nicht tot sind. Aber was zum Teufel machen Sie hier?« »Ich ...« Molly zuckte die Achseln. »Das ist eine lange Geschichte, und ich habe gehört, dass eine Ihrer, ahm, Wächterinnen in Schwierigkeiten ist.« »Wir müssen sie hier rausschaffen«, sagte June Bug. »Sagen Sie denen ...« »Ich werde sie heilen«, erwiderte Molly leise. »Es wird nur einen Augenblick dauern.« 342 Einige der Soldaten waren näher gekommen und hoben die sterbende Bethellen mitsamt ihrem Bett an, um sie zur Tür zu tragen. »Sie braucht jemanden, der sich damit auskennt«, protestierte June Bug. »Nicht jemanden, der sie als Versuchskaninchen benutzt und alles vermasselt.« Aber Molly nickte nur und sagte: »Das ist der Grund, warum ich es tun werde.« Dann trat sie zusammen mit der Phalanx von Wachen aus dem Raum, die Tür wurde geschlossen, und der größere Teil der Soldaten und der prunkvoll gekleidete Orianer blieben zurück. »Ich bin Seolar, der Große Hohe Imallin von Kupferhaus und der Domäne am Fluss Sheren. Die Vodi, die ihr unter dem Namen Molly McColl kennt, wird eure Gefährtin heilen, und die beiden werden so bald wie möglich wieder zu uns stoßen. Inzwischen möchte ich euch sowohl unsere Situation als auch die eure erläutern.« Er holte tief Luft und blickte* von einem Wächter zum anderen. »Ich habe einen hohen Preis gezahlt, um euch hierher zu holen. Ich entschuldige mich dafür, dass das notwendig war, aber ich hatte einfach keine andere Wahl. Hätte ich versucht, euch darum zu bitten, unsere Vodi in den Dingen auszubilden, die sie lernen muss, hättet ihr meine Bitte abgeschlagen. Hätte ich euch gedroht, ihr hättet mich ausgelacht. Hätte ich an eure Barmherzigkeit appelliert, hättet ihr eurem Bedauern Ausdruck verliehen und euch abgewandt. Das alles weiß ich, denn meine Vorfahren und ich haben viele Jahre lang all diese Methoden benutzt, um die Unterstützung der Wächter zu gewinnen, und das sind die einzigen Antworten, die wir bekommen haben.« »Du hast also unsere eigenen Leute dafür bezahlt, uns zu verraten, und du hast uns betäuben und gegen unseren Willen hierher bringen lassen.« »Ich entschuldige mich noch einmal - ich hätte niemals 343 freiwillig zu solchen Mitteln gegriffen, und gewiss hätte ich nichts getan, das euer Leben gefährdet hätte. Die Männer, die euch hergebracht haben, haben ihre eigenen Methoden gewählt, und ich bin bestürzt über den Mangel an Respekt, den sie euch gegenüber an den Tag gelegt haben, und eure Verfassung bei eurer Ankunft bekümmert mich. Die Verräter werden ihre eigene Gerechtigkeit finden, wenn sich die Zeit erfüllt hat, denke ich. So ergeht es Verrätern meistens. Ich kann mich jedoch nicht dafür entschuldigen, dass ich euch hierher geholt habe. Mein Volk stirbt, und wir haben endlich die Person zurück gewonnen, die geboren wurde, uns zu retten, und um das zu tun, muss sie Dinge lernen, die nur ihr sie lehren könnt. Wenn sie weiß, was ihr wisst ... dann wird es euch freistehen, zu gehen. Je schneller und gründlicher ihr sie in die Handhabungen der Magie in dieser Welt einführt und ihr zeigt, was sie tun muss, um die Magie zu beherrschen und gefahrlos benutzen zu können, umso eher werdet ihr in eure eigene Welt zurückkehren und dort tun können, was ihr tun müsst. Von den Verrätern weiß ich, dass es Dinge von großer Dringlichkeit gibt, die auf der Erde auf euch warten. Ich möchte vorschlagen, dass ihr das im Sinn behaltet, wenn ihr unsere Vodi ausbildet.« »Ihr fügt unserer Entführung nun also auch noch Erpressung hinzu.« »Keineswegs. Ich vertrete lediglich die Stimme der Vernunft; ihr würdet lieber an einem anderen Ort sein, und ich sage euch, was ihr tun müsst, um dort hinzugelangen.« »Der Inbegriff der Vernunft«, murmelte June Bug. »Und wir sollen sie also unterrichten, eure ... Molly?« »Ja.« »Was ist ihr zugestoßen? Warum sieht sie so verändert aus?« »Weil«, sagte Seolar, »sie zum Teil von unserer Welt ist, aber sie ist auch zum Teil von eurer. Ihre Mutter war eine 344 eurer Wächterinnen - Marian Hotchkiss. Ihr Vater war einer von unseren Imallins: Nerämi, der Imallin der Weißen Feste.« »Das ist unmöglich«, sagte Nancine Tubbs. »Man kann sich nicht einfach mit jeder x-beliebigen Rasse paaren. Ein Pferd kann keine Katze schwängern, und ein Orianer kann keine Kinder mit einer Menschenfrau zeugen. Außerdem hätte Marian so etwas nie getan. Ich habe sie gekannt. Sie war so tugendhaft wie ... wie ... gütiger Gott. Allein die Vorstellung! Und Walt hätte etwas Derartiges niemals zugelassen; die beiden haben einander geliebt, daran hat nie jemand gezweifelt...«
Seolar hob die Hand, und Nancine hielt stotternd inne. »Ich habe Marian Hotchkiss selbst nicht gekannt, aber ich habe von ihr gehört. Sie und ihr Mann sind Helden für die Veyär, denn sie haben begriffen, dass wir Hilfe brauchten, und als sie sich auf keine andere Möglichkeit besinnen konnten, um uns zu retten, haben sie uns ein Kind gegeben, das in der Lage sein würde, zu tun, was getan werden musste. Molly wurde durch Magie empfangen und mit voller Absicht. Ihre Empfängnis ist sorgfältig geplant worden, geradeso sorgfältig wie auch Schwangerschaft und Geburt geplant wurden. Das Einzige, das niemand planen konnte, war der Umstand, dass Mollys Mutter starb, bevor sie sie großziehen, ausbilden und hierher bringen konnte, um uns zu helfen.« »Auf der Erde hat sie nicht so ausgesehen«, sagte June Bug. Sie bekam das Bild dieser neuen Molly einfach nicht aus dem Kopf ... Aber andererseits hatte sie auch das Bild der alten Molly niemals aus dem Kopf bekommen können sie war ein Abbild ihrer toten Mutter gewesen. »Das ist richtig. Solange sie im Bann eurer Welt blieb, konnte sich nur ihre menschliche Seite ausdrücken. Ihre Veyärseite war ... ich weiß nicht. Zu schwach? Unsichtbar? 345 Wenn nicht unsichtbar, dann doch zumindest verborgen. Aber ihre Veyärkräfte hatte sie schon immer. Auch auf der Erde konnte sie heilen. Sie hat einen furchtbaren Preis dafür gezahlt, aber weil sie Veyärblut und Bindungen an diese Welt hatte, konnte sie dennoch Magie wirken. Hier ... hier kann sie alles tun, und ihre Magie hat keinen Preis. Es gibt keine Gegenreaktion. Sie ist von eurer Welt und von unserer Welt, und hier ist sie das Beste von beidem.« June Bug, die älteste unter den anwesenden Wächtern, wusste etwas darüber, was Molly war. Die Wächter untersagten aus einem sehr guten Grund jedweden Kontakt zu den einheimischen Völkern anderer Welten, mit denen sie in Berührung kamen. Die Orianer waren nicht die Ersten, die eine interessante Entdeckung machten: Wenn jemand aus ihrer eigenen Rasse mit einem Mitglied der Oberweltrassen ein Kind zeugte, würde dieses Kind Magie wirken können, ohne einen Preis dafür zu zahlen. Auch die Erde war von Alten Göttern heimgesucht worden - die Mythologie war voller Geschichten über Alte Götter, die sich in schöne, junge Menschen verliebten und mit ihnen Kinder zeugten. Und die Kinder waren ein Problem. Während der letzten tausend Jahre war es die Politik der Wächter gewesen, solche Kinder zu töten, bevor sie in ihren Welten Unheil stiften konnten. Die Alten Götter waren größtenteils tiefer in die Unterwelten hinabgestiegen, zu grüneren Weiden, als die Welten oberhalb der Erde starben und klar wurde, dass die Erde ihrer eigenen Selbstzerstörung nahe war. Daher konnte June Bug sich während der letzten hundert Jahre nur auf zwei Fälle besinnen, von denen man in Wächterkreisen gemunkelt hatte. Beide Kinder kamen kurz nach der Geburt mit ihrem menschlichen Elternteil bei notwendigen Unfällen ums Leben. June Bug hatte nie von einem Fall gehört, bei dem ein menschliches Elternteil die Rolle des »Alten Gottes« über346 nahm und der andere Elternteil ein Bewohner einer Unterwelt war. Und sie hätte niemals damit gerechnet, dass es sich bei dem menschlichen Elternteil um eine Wächterin handeln könnte, nicht einmal eine solche, die schließlich in Ungnade geriet und wegen heimlicher Aktivitäten als Verräterin gebrandmarkt wurde. Ein solches Mischlingskind auf die Erde zu bringen und es direkt unter den Augen jener großzuziehen, die mit der Eliminierung all solcher Kinder beauftragt waren ... Aber Marian und Walt hatten genau das nicht getan, nicht wahr? Marian, daran erinnerte June Bug sich jetzt wieder, war vor etwa fünfundzwanzig Jahren für fast ein Jahr verschwunden, um in Raleigh eine sterbende Tante zu pflegen. Als sie zurückkehrte, sah sie verhärmt und aufgeschwemmt aus, und sie hatte monatelang geweint. Ein seltsames Verhalten für eine Frau, die eine Tante verloren hatte. Nicht gar so seltsam für eine Frau, die ein kleines und innigst geliebtes Kind in die Obhut anderer hatte geben müssen. Und das brachte June Bug in eine gehörige Klemme. Gemäß den Regeln der Wächter, die im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelt worden waren, um die Welt vor der Selbstzerstörung zu bewahren und die Menschen zu beschützen, durfte Molly McColl nicht weiterleben. Weil June Bug die Regeln kannte - im Gegensatz zu den meisten der jüngeren Wächter, abgesehen von Eric MacAvery -, oblag es ihr, Mollys Tod herbeizuführen. June Bug hatte sich in Molly verliebt - dem Abbild ihrer Mutter -, als diese zum ersten Mal in die Bibliothek gekommen war, um sich etwas über Lautenmusik und Aquarelltechniken auszuleihen. Jetzt begriff June, dass sie in eine Frau verliebt war, die zu töten ihre Ehre von ihr verlangte. Die übrigen gefangenen Wächter würden es nicht erfahren, wenn sie bei dieser Pflicht versagte, aber wenn Molly ihre Welt zerstörte, weil June Bug ihre heilige Pflicht auszufüh347 ren versäumt hatte, würde die Tatsache, dass nur sie allein die Wahrheit kannte, kein Trost sein. Den Kopf in den Händen begraben, saß sie auf ihrer Pritsche und schloss die Augen. Sie hätte sich nichts mehr gewünscht, als durch Fußboden und Erde und Stein und geschmolzene Lava in die Feuer der Hölle hinabzufahren. Dann wäre sie wenigstens an der richtigen Stelle. Ich bin eine alte Frau, sagte sie sich. Darf ich denn nicht mit einer unversehrten Liebe, rein und unbesudelt, sterben? Bin ich dazu verdammt, mit ansehen zu müssen, dass jeder, den ich liebe, vor mir stirbt, und eine davon
von meiner eigenen Hand und durch mein Wort? Ist das Gottes Strafe dafür, dass ich die bin, die ich bin? Molly kehrte mit Bethellen zurück. Bethellen - die strahlend und frisch und vollkommen gesund aussah. Und jetzt verdanke ich ihr auch noch das Leben meiner Schwester. Wenn es einen Gott gab, so hatte er jedenfalls einen perversen Sinn für Humor, befand June Bug. 15 Cat Creek Eric, Lauren und Pete versammelten sich um Laurens Küchentisch. Sie hatten die Jalousien heruntergelassen und mit Klebeband befestigt, damit auch nicht der kleinste Lichtstrahl ihre Anwesenheit verraten konnte. Jedes Mal, wenn in dem alten Haus etwas knarrte oder Jake von einer Stufe sprang, zuckten sie nervös zusammen, und Lauren hatte das Gefühl, als seien sie Diebe und nicht Menschen, die ein gutes Recht hatten, dort zu sein. Sie alle stießen einen leisen Seufzer der Erleichterung aus, als Jake endlich in einem kleinen Nest aus Handtüchern einschlief, das Lauren ihm unterm Tisch zurechtgelegt hatte. Als der Junge endlich still war, brauchten sie nur noch mit dem Knacken fertig zu werden, das im Haus gelegentlich zu hören war, und dem Verkehr auf der Straße draußen. Diese Dinge waren jedoch gerade schlimm genug. Es war ihnen nicht gelungen, die Wächter zu retten. Eric hockte über einem kleinen Handspiegel, den er in Laurens Kommode gefunden hatte, und suchte ganz Oria ab. Im Laufe der Stunden waren seine Bemühungen immer verzweifelter geworden. »Nichts«, murmelte er. »Selbst wenn sie tot sind, müsste ich doch in der Lage sein, ihre Leichen zu finden -aber es sieht so aus, als hätten sie sich einfach aufgelöst.« Lauren sagte: »Ich weiß, dass das nicht mein Spezialgebiet ist, aber wenn du mir einfach erklären würdest, was du vorhast, finde ich vielleicht eine Möglichkeit, dir zu helfen.« »Es ist ganz einfach«, sagte Eric. »Ich versuche, die entführten Wächter zu finden. Oder wenigstens die Verräter. 349 Ich habe nach ihnen allen gesucht, einzeln, in Gruppen und sogar nach allen zusammen, und sie sind einfach ... nicht... da.« »Hast du versucht, dort nach ihnen zu suchen, wo sie zuletzt gewesen sind? Vielleicht würdest du auf diese Weise wenigstens einen Ansatzpunkt finden.« »Nein, das habe ich nicht getan«, fuhr Eric sie an. »Wenn ich den Ort nicht finden kann, an dem sie sich aufhalten, warum sollte ich dann einen Ort finden können, an dem sie sich nicht aufhalten?« »Keine Ahnung. Es war nur so eine Idee.« Sie zuckte gekränkt die Achseln und fragte Pete: »Möchten Sie etwas zu trinken? Ich habe Sojamilch da und einen anständigen Wein. Ich könnte Ihnen auch eine Kantalupe oder ein paar Orangen auspressen.« »Haben Sie ein Bier?« »Nein. Tut mir Leid.« »Könnten Sie ein Bier bekommen?« Sie warf ihm einen Seitenblick zu, sah das Grinsen auf seinem Gesicht und sagte nach kurzem Nachdenken: »Ja. Ich könnte ein Bier ... bekommen ... schätze ich.« »Sie wissen, wo mein Appartement ist?« »Nein.« »Wissen Sie, wo die alte Baptistenkirche auf der East Road ist?« »Die Erste Baptistenkirche, die mit den Säulen?« »Genau die.« »Die kenne ich.« »Meine Wohnung liegt im obersten Stockwerk des alten Hauses, das früher das Pfarrhaus war - gleich nebenan. Ich habe im Kühlschrank ein gutes Bier und ein paar Stücke leckeren Käse, und ich fände es schade, wenn das alles verkäme.« Sie brachte Pete zu dem Spiegel im Flur, legte die Hände 350 auf das Glas und beschwor Bilder der Baptistenkirche und des alten Pfarrhauses herauf, bevor sie sich auf die Wohnung im obersten Stockwerk und das Innere von Petes Kühlschrank konzentrierte. »Sie wissen, wo die einzelnen Sachen liegen. Ich kann das Licht nicht anknipsen, ohne hindurchzutreten und die Tür zu öffnen, und es wäre immerhin möglich, dass die Jungs von der Spurensicherung auch in Ihrer Wohnung auf die Pirsch gehen. Also werde ich lediglich das Tor offen halten, und Sie greifen hindurch und holen Ihr Bier und Ihren Käse und was immer Sie sonst noch haben wollen.« Er nickte. Lauren beschwor das grüne Feuer herauf, und Pete griff hindurch und zog einen Pappkarton mit Bierflaschen heraus, deren Etiketten und Namen Lauren noch nie gesehen hatte. Als Nächstes kam eine Vielzahl von Käsesorten, etwas selbst gebackenes Brot und eine ganze Pastete zum Vorschein. »Ich habe keine Lust, mit der Bezirkspolizei zu teilen, falls sie tatsächlich alles in meiner Wohnung durchsucht.« Lauren starrte das Bier an. »Die Flaschen sehen aber komisch aus, Pete.« Sie las die Namen - Wychwood Brewery Company Ltd's. Hobgoblin Extra Strong Ale, dessen leuchtend blaues Etikett ein grimmiges, langnasiges, spitzohriges Geschöpf zeigte, das mit einer Furcht erregenden Axt durch ein mondbeschienenes Dorf tappte; Black Sheep Ale mit einem stolzen Widder auf einem Pergamentetikett; Badger Brewery Export
Ale, dessen Etikettmaskottchen ein Dachs war; Brakspear Special Traditional Ale - heller in der Farbe als die anderen, mit einem grünen Schild als Etikett, was in Lauren den Gedanken an Ritter und Turniere heraufbeschwor; und schließlich einige Flaschen, deren Etiketten sie zweimal lesen musste. »St. Austell's Dartmoor Cockleroaster?«, fragte sie. Pete lächelte. »Sehr stark, voller Geschmack ... ein wun351 derbares Gebräu. Sie haben dieses Bier übrigens nie gesehen. Es ist nicht hier, es ist nie hier gewesen, solches Bier gibt es nirgendwo in Amerika.« Pete senkte die Stimme. »Ich habe einen Freund, der regelmäßig nach England fliegt, und er schmuggelt ein paar von den wirklich guten Sachen für mich rüber. Das St. Austell's kommt aus Corn-wall. Badger wird in Dorset gebraut, Brakspear in Henley on Thames. Black Sheep kommt irgendwo aus dem Norden, und die Wychwood Brauerei liegt in der Nähe von Oxford.« Er seufzte, und ein sehnsüchtiger Ausdruck malte sich auf seinen Zügen ab. »Ken, ein Freund von mir, der in einem hübschen kleinen Pub namens White Heart als Barkeeper arbeitet, empfiehlt mir manchmal Dinge, von denen er weiß, dass sie mir schmecken werden, und mein ... anderer ... Freund packt sie in Kisten und schmuggelt sie mit dem Flugzeug für mich rüber. Das Wychwood ist eins meiner Lieblingsbiere - sie machen dort verschiedene Sorten, und sie sind allesamt einfach himmlisch.« »Warum illegales englisches Bier?«, fragte Lauren. »Weshalb die ganze Mühe, wo Sie doch in jedem kleinen Supermarkt an der Ecke Bier kaufen können?« »Nein, das kann man eben nicht. Amerikanisches Bier ist kein richtiges Bier. Ich habe während meines Aufenthalts in England festgestellt, dass es nur auf der anderen Seite des Atlantiks Bier gibt, das sich zu trinken lohnt. Als ganz junger Mann habe ich mich so oft wie möglich in Pubs voll laufen lassen. Jetzt gönne ich mir mein ausgezeichnetes Bier und wünsche mir nur, ich säße in einem Pub.« »Dieses Zeug kann man nirgendwo in Amerika kaufen?« »Lassen Sie es mich mal so ausdrücken - man kann dieses Zeug hier nicht kaufen. Und hier bin ich nun mal. Jedenfalls für den Augenblick.« Sie lachte und half ihm, seine Beute in die Küche zu tragen. 352 Als sie hereinkamen, saß Eric kopfschüttelnd am Tisch. »Es hat funktioniert«, sagte er. Lauren zog die Augenbrauen in die Höhe. »Was hat funktioniert?« »Die Suche von der Stelle aus, an der sie sich zuletzt befunden haben.« Er zeigte auf den Spiegel, und Lauren und Pete beugten sich vor. Sie sahen eine prächtige, befestigte Stadt auf einem Hügel, in deren Mitte sich eine gewaltige, metallverkleidete Burg erhob. Eric zeigte mit dem Zeigefinger auf das Bild der Burg und sagte: »Deshalb habe ich keine Spuren von ihnen finden können.« Lauren hatte nicht den leisesten Schimmer, wo das Problem lag, und sagte das auch. »Die ganze Burg ist mit Kupfer ausgekleidet«, erklärte Eric ihr. Sie breitete die Hände aus. »Und das heißt...?« »Du hattest noch keine Probleme mit Kupfer?« »Nein.« »Kupfer schützt gegen Magie. Wenn man einem Wächter kupferne Handschellen anlegt, wird er sie ausschließlich mit mechanischen Hilfsmitteln öffnen können - einem Dietrich, einer Säge ... Wenn du deinen Schatz in einen kupfernen Safe legst, kann kein Wächter - und auch sonst niemand, der mit Magie umzugehen weiß - hindurchgreifen. Und wenn du eine ganze Gruppe von Wächtern in eine Kupferzelle steckst, können sie nicht mit Magie wieder heraus, und die anderen Wächter können keine Magie benutzen, um hinein-zugelangen. Oder um sie auch nur ausfindig zu machen.« Er seufzte. »Was bedeutet, dass wir nicht einfach von deiner Diele aus ein Tor für sie öffnen können. Wir werden höchstpersönlich nach Oria gehen und sie herausholen müssen.« »Das ist keine gute Nachricht«, meinte Lauren. »Die Burg sieht mir nicht danach aus, als wäre es übermäßig leicht, dort einzubrechen.« 353 »Ganz deiner Meinung.« Pete sah sich das Bild an, seufzte und fragte Eric: »Willst du ein Bier?« »Klar. Vielleicht hilft mir das beim Denken.« Pete machte zwei Flaschen auf und reichte eine Eric hinüber. »Lauren, was ist mit dir?« »Ich halte mich an die Sojamilch, aber trotzdem vielen Dank.« Während sie in ihren Schränken nach ihrem Lieblingsglas suchte, ließ Pete sich auf dem Stuhl rechts von Eric nieder. »Das heißt also, du musst uns entweder direkt hinter das Tor bringen, wo wir von der Sekunde unserer Ankunft bis zur Sekunde unseres Aufbruchs unter Beobachtung stehen werden, oder du bringst uns irgendwo in den Wald außerhalb der Stadt hinein - vielleicht irgendwo in diese Gegend hier ...« Er zeigte mit dem Finger auf den Spiegel. »... aber dann müssen wir immer noch über den Graben und durch das Tor kommen und wissen trotzdem nicht, wie wir in die Burg hineingelangen sollen.« »Das ist mir klar«, sagte Eric und nahm einen Schluck von dem Bier. Und würgte. Und ächzte. Und hustete. »Heilige Maria, Mutter Gottes, was zum Teufel ist das?«., ächzte er und wischte sich mit dem Ärmel den
Schaum vom Mund. »Britisches Bier.« »Das ist kein Bier«, murmelte Eric. Lauren sah, dass er Pete wütend anfunkelte. »Dieses Zeug hat Zähne und Beine ... und Haare. Grundgütiger Gott.« »Man sollte es eigentlich auf Zimmertemperatur trinken«, belehrte Pete ihn. »Ich sollte es nicht im Kühlschrank lagern, aber ich habe mich seit meiner Rückkehr hierher an kaltes Bier gewöhnt.« »Wenn es aufgetaut wäre, hätte ich Angst, dass es mich trinken würde, statt umgekehrt. Du schaffst es tatsächlich, mit diesem Zeug im Haus nachts zu schlafen? Es überrascht 354 mich, dass es nicht aus dem Kühlschrank herausgekrochen ist und dich in deinem Bett ermordet hat.« »Was du meinst, ist Belfaster Bier«, sagte Pete. »Das hier ist englisches Bier. Seine Manieren sind eine Spur besser. Es fängt lediglich morgens um drei vor deiner Schlafzimmertür an, laut zu singen.« »Haha.« Lauren goss ihre Sojamilch in ein Glas und setzte sich neben Eric. »Also, was machen wir jetzt?« »Wir debattieren darüber, was uns lieber ist: von diesen Burschen, die mit Armbrüsten auf der Mauer herumspazieren, erschossen zu werden oder uns in den Wald fallen zu lassen und dann auszuknobeln, wie wir die netten Herren dazu überreden, die Zugbrücke für uns herunterzulassen«, sagte Eric. »Mir gefallen unsere Erfolgschancen nicht, ganz gleich, was wir tun.« Lauren fragte: »Kannst du außerhalb der Burg irgendeine Art von magischer Abschirmung entdecken?« »Nein«, sagte Eric zögerlich. »In Ordnung. Das heißt, wenn wir von hier aus zuerst in den Wald gingen, könnten wir einen Zauber wirken, der uns an den Wachen vorbeibringt.« »Theoretisch. Wir müssten immer noch auf nichtmagischem Wege in die Burg hineinkommen und unsere Leute dort finden, ebenfalls mit nichtmagischen Methoden.« »Hm, dann brauchen wir eine Art ... körperlicher Tarnung. Wir müssten, ich weiß nicht, vielleicht so aussehen wie jemand, der dort hingehört. Stimmt's?« Eric sagte: »Aber ein Illusionszauber hätte innerhalb der Burg keinen Bestand. Er würde in der Sekunde zusammenbrechen, in der wir das Tor durchschreiten.« »Ist eine echte körperliche Verwandlung denkbar? Eine, die auch Bestand hätte, wenn die Magie nicht funktioniert?« 355 »Theoretisch ja. Ich habe noch nie etwas Derartiges getan. Ich habe keine Ahnung, wie viel Magie dazu notwendig wäre oder wie groß der Rückstoß wäre, den wir dadurch verursachen würden.« »Bleibt uns eine andere Möglichkeit, als deine Leute zurückzuholen?« »Nein. Ohne sie habe ich keine Chance, den Zauber der Verräter, worin immer dieser bestehen mag, aufzuhalten.« »Dann reden wir also von möglichem Schaden auf der einen Seite und der Zerstörung unseres Planeten auf der anderen.« Pete nahm einen langen, tiefen Schluck von seinem Bier und schloss die Augen. Eric biss sich auf die Unterlippe. »Ich nehme an, es spielt keine große Rolle, welche Risiken wir eingehen, wenn wir diese Schweinerei in Ordnung bringen wollen«, sagte er leise. »Da es nichts mehr in Ordnung zu bringen gibt, wenn wir das Risiko nicht eingehen.« Lauren nickte. Eric nippte vorsichtig an seinem Bier und zuckte leicht zusammen, als er schluckte. »Ich kann einen Verwandlungszauber durchführen«, sagte er. »Ich kann auch eine ganze Anzahl anderer theoretisch verbotener Dinge tun. Ich kann die Gedanken der Leute dort lesen und herausfinden, wen man am ehesten ohne Widerspruch in die Burg hineinlassen würde. Wenn jemand außerhalb der Tore weiß, wo die Gefangenen festgehalten werden, kann ich eine nicht magische Karte schaffen, mit deren Hilfe wir unsere Leute finden können. Wenn wir uns keine Gedanken um den magischen Preis machen, kann ich sie da rausholen. Möglicherweise bricht dann die Hölle los - und der Teufel könnte uns ziemlich dicht im Nacken sitzen.« »Wir werden schon damit fertig«, sagte Lauren. Pete nickte. »Zeig mir, in welche Richtung ich schießen soll und worauf. Ich gebe dir Rückendeckung.« 356 »Also schön«, sagte Eric. »Wir werden von hier aus tun, was wir nur können, und uns zum Ziel setzen, so schnell wie möglich in die Burg hinein- und wieder herauszukommen.« Ballahara Die Beteiligung von Zivilisten flößte Eric eine Todesangst ein. Es war schon schlimm genug, ein kleines Kind dabeizuhaben, aber das war noch keineswegs das größte seiner Probleme. Allein dadurch, dass sie jetzt von den Wächtern wussten, gefährdeten Lauren und Pete die Sicherheit einer Gruppe, der es über hunderte von Jahren hinweg gelungen war, ihre Geheimnisse - und damit ihre Sicherheit - zu wahren, mit nur wenigen wirklich schlimmen Zwischenfällen.
Dies war ein wirklich schlimmer Zwischenfall. Lauren und Pete wussten nicht nur von den Wächtern. Sie spielten eine aktive und entscheidende Rolle bei einer verzweifelten Rettungsmission, und ohne sie konnte er nicht tun, was er tun musste, und wenn er es nicht tat, würde der größte Teil der Menschheit sterben. Aber. Oh, aber. Lauren hatte sie auf eine Lichtung so nahe bei der umfriedeten Stadt geführt, wie sie es wagen konnte. Jetzt gab er den beiden letzte Anweisungen. »Es funktioniert genauso wie ein Automatikgewehr«, sagte er zu Pete und reichte ihm die Waffe, die er geschaffen hatte, damit Pete ihnen Deckung geben konnte. »Schalter links ist Dauerfeuer. Mittlere Stellung heißt Einzelschuss. Bei Schalter nach rechts ist die Waffe gesichert. Die Munition wird niemals ausgehen, so dass du nicht nachzuladen brauchst, und wenn ich die Sache nicht gründlich vermasselt habe, wird sich die Waffe auch nicht überhitzen.« 357 Er holte tief Luft. »Aber betrachte jeden Schuss so, als müsstest du die Kugeln für das verdammte Ding selbst herstellen. Wir zapfen Energie von der Erde ab, um diese Waffe zu betreiben, und je mehr du sie benutzt, umso größer ist das Risiko, dass wir etwas anrichten, das wir nicht wieder in Ordnung bringen können, wenn wir nach Hause zurückkehren.« Pete nickte. »Wird die Waffe töten?« Eric legte Pete eine Hand auf die Schulter und sagte: »Das musst du entscheiden.« Pete runzelte die Stirn. »Wie?« »Wenn du jemanden nur betäuben willst, dann wird die Waffe auch nur das tun. Wenn du in Schwierigkeiten steckst und töten musst, wird sie töten.« »Woher weiß die Waffe das?« Eric seufzte. »Magie. So funktionieren die Dinge hier eben. Also sei ... maßvoll. Klar? Denn der Tod hat einen Preis. Unsere Welt zahlt mit Gegenreaktionen dafür, und sie zahlt viel.« Pete hielt die Waffe vor sich hin und starrte sie an, als könne sie sich in eine Schlange verwandeln. Eine Möglichkeit, die Eric wohlweislich für sich behielt; wenn Pete die falschen Dinge dachte, konnte er das Gewehr im schlimmsten nur denkbaren Augenblick tatsächlich in eine Schlange verwandeln, und Eric hielt es nicht für klug, ihn auf derart unglückliche Ideen zu bringen. Stattdessen wandte er sich zu Lauren um. »Du hältst nur das Tor offen und störungsfrei. Wir werden ziemlich schnell hindurchgehen müssen.« Er blickte von Lauren zu Jake hinüber, der neben ihr in einem großen, warmen Nest aus Decken in einem Bastkorb schlief. Sie hatte den Korb eigens für ihn geschaffen, und jetzt schnarchte er leise, jenes Kleinkinderschnarchen, das so klang wie das Schnurren einer Katze neben einem Heizgerät. Er war ein 358 süßer kleiner Junge, und im Schlaf sah er aus wie ein Engel. »Wenn du uns kommen hörst, stößt du ihn zuerst durch das Tor. Hm, überzeug dich vorher davon, dass wir es auch wirklich sind, dann schiebst du ihn durch. Danach gehe ich mit den Wächtern durch. Dann Pete und dann du.« »Was ist, wenn die Verräter bei den Gefangenen sind?« »Das wird nicht passieren. Möglich, dass sie uns verfolgen, aber sie werden nicht bei uns sein.« Sie warf einen Blick auf den Bogen, den sie mit zwei Setzlingen geformt und mit einer Seidenschnur zusammengebunden hatte. In dem Bogen schimmerte das grüne Feuer der Anderwelt, und in seinen Schatten konnte Eric noch immer Laurens Diele sehen. Leer. Leer war gut. »Ich werde bereit sein«, sagte sie. »Wirst du deine ... deine neue Gestalt schon hier annehmen oder erst, wenn du direkt vor den Mauern der Stadt stehst?« »Ich werde mich hier verwandeln. Ich möchte, dass ihr wisst, wie ich aussehe, denn so werde ich immer noch aussehen, wenn ich mit den anderen zurückkomme.« Er schloss die Augen und schluckte hörbar. »Wenn ich nicht zurückkomme ...« Er wollte diese Worte nicht aussprechen, aber er musste es tun. »Wenn ich nicht zurückkomme, bleibt ihr am besten hier. Es wird keinen Monat dauern, dann wird es keine Heimat mehr geben, in die ihr zurückkehren könntet. Wenn ihr das Risiko eingehen wollt, Menschen, die ihr liebt, hierher zu holen, dann tut es. Selbst wenn sie schon erkrankt sind, solltet ihr in der Lage sein, sie hier zu heilen. Aber verschwendet keine Zeit damit, darüber nachzudenken, was ihr tun wollt. Es ... würde nicht schaden, wenn ihr euch jetzt schon einen Plan für den Notfall zurechtlegt, damit ihr ihn dann einfach in die Tat umsetzen könnt.« »Du wirst zurückkommen«, sagte Pete. 359 »Ich hoffe es.« Lauren fragte ihn: »Wenn du ... ah, nicht zurückkommst ... gibt es dann jemanden, den wir für dich retten sollen?« Er dachte an seine Eltern, seine Geschwister, seine Neffen und Nichten, an gute Freunde. Er wollte Ja sagen. »Nein.« »Nein?« Lauren musterte ihn eindringlich. »Nein. Das wird mein Anreiz sein, Erfolg zu haben.«
»Viel Glück«, sagte Pete. Eric nickte. Dann kniete er sich auf den gefrorenen Boden und starrte zu dem schwarzen Himmel hinauf, zu den Sternbildern, die fast, aber nicht genauso aussahen wie die an seinem heimatlichen Himmel. Lass mich hören, was ich hören muss, dachte er mit großer Konzentration. Lass mich sehen, was ich sehen muss. Bilder ergossen sich in die Stille des nächtlichen Himmels. Stimmen wisperten. Eric betrachtete nichtmenschliche Gesichter und Gestalten, forschte in unirdischen Gedanken, Hoffnungen und Ängsten und richtete seinen Geist auf die Aufgabe, alle Dinge auszublenden, die ihm keinen Schlüssel für die Burg geben konnten. Das Geplapper wurde zu einem stetigen, pulsierenden Strom, dann zu einem dünnen Rinnsal, und schließlich sah er die drei geeignetsten Bilder vor sich - drei Geschöpfe, denen die Wachposten ohne Fragen die Tore der Stadt öffnen würden, drei Gestalten, für die die Soldaten bereitwillig die Türe in der Burg aufschließen würden und denen keine Antwort verweigert werden würde. Drei Gestalten, deren Befehle man jederzeit ausführen würde, ohne zuvor die Zustimmung eines anderen einzuholen. Das erste Bild zeigte ihm den Herrn der Burg - aber er hielt sich zur Zeit dort auf. Und er reiste niemals ohne ein Gefolge. Die zweite Gestalt war ein seltsames vierschröti360 ges kleines Ungeheuer mit Fledermausflügeln und einem abgrundhässlichen, tief verrunzelten Gesicht, jemand, der regelmäßig allein unterwegs war und der häufig unangemeldet erschien. Er wäre perfekt gewesen, wenn Eric nicht Bedenken gehabt hätte, was die Erhaltung seiner Körpermasse betraf. Er konnte sich ein wenig zurechtstutzen, aber gewiss nicht um die sechzig oder siebzig Prozent seines eigenen Körpers, die er würde abwerfen müssen, um sich in das hässliche kleine Ungeheuer zu verwandeln. Das dritte Bild war ... Eric wusste nicht, was sie war. Ein atemberaubend schönes Geschöpf, dünn wie Seidenfäden, aber fast zweimal so groß wie ein Mann. Sie hatte das Gesicht einer chinesischen Göttin - riesige, mandelförmige Augen, einen winzigen Mund, eine fast unsichtbare Nase -, und ihr Haar war so rot wie Blut und zu zehntausend perlenbesetzten, mit Bändern geschmückten Schnüren geflochten. Ihr Gewand umwogte sie, als sei es lebendig. Und aus den Gedanken derer, die ihr begegnet waren, entnahm Eric, dass sie niemals sprach. Sie gestikulierte nur, und wenn Gesten ihr nicht das beschaffen konnte, was sie wollte, gab sie der Person, deren Gehorsam sie wollte, ein Bild ein ... und diese Person gehorchte. Das, dachte Eric, würde funktionieren. Er konnte für eine Weile ein weibliches Wesen sein. Was für ein Wesen das war, wusste er nicht. Aber es war weiblich. Er holte die Magie tief in sich hinein und umarmte ihr Feuer mit jeder Zelle seines Körpers. Er hielt das Bild des liebreizendes Geschöpfs in seinen Gedanken fest, umhüllte sich mit dem Bild und dehnte sich aus, um zu dem Bild zu werden. Der Schmerz ... Der Schmerz verschlang ihn. Feuer brannte in seinen Gelenken, Feuer brannte in seinen Lungen, Feuer loderte in seinem Fleisch auf, in seinen Knochen und Nerven und in seinem Gehirn, bis er schreien wollte, bis er sterben und 361 sich selbst verzehren wollte, um das alles verschlingende, irrsinnige Grauen in sich zu erreichen und dem ein Ende zu machen. So scharf wie der erste Frost im Herbst, brach etwas in ihm entzwei, und der Schmerz war fort. »Gütiger, barmherziger Gott«, flüsterte Pete. »Oh ...«, seufzte Lauren. Wie gebannt erhob sie sich und machte einen Schritt auf Eric zu. »Bleib, wo du bist«, befahl er. »Ich komme so schnell wie möglich zurück. Das hier fühlt sich ... ziemlich seltsam an, und ich möchte in meine eigene Haut zurückkehren.« Zu seinem Entsetzen war seine Stimme seine eigene. Eine Männerstimme und durch und durch menschlich. Nun, er hatte ohnehin nicht die Absicht gehabt, mit irgendjemand anderem als den Gefangenen zu sprechen. Und wenn sie seine Stimme in diesem Körper hörten, würden sie ihm vielleicht glauben, dass er wirklich er selbst war, Eric. Er sagte: »Wartet bis Sonnenaufgang. Wenn ich bis dahin nicht zurück bin, werde ich nicht mehr kommen.« Lauren und Pete hoben die Hand, und er nickte ihnen ein letztes Mal zu, bevor er sich abwandte und auf die Stadt zugingKupferhaus Es war lächerlich einfach, in die Burg zu kommen - so einfach, dass es Eric Angst machte. Die Wachposten der Stadt überschlugen sich geradezu, um die Zugbrücke für ihn herunterzulassen; der Torhüter der Burg riss das Tor auf, noch bevor er es überhaupt erreicht hatte, und als er an dem Mann vorbeikam, sagte dieser: »Soll ich den Herrn für dich rufen, Glorreiche?« 362 Eric antwortete mit einem lautlosen Nein, das er in den Geist des Orianers legte. Der Torhüter ließ sich auf Hände und Knie nieder und kroch rückwärts über den Boden, wobei er mit der Stirn über die Steine schrammte. Verdammt. Wer oder was war diese Kreatur, die zu sein er vorgab? Langsam bekam er Angst vor sich selbst. Er ging durch die Burg, deren Bewohner zum größten Teil noch schliefen, und als er auf einen Wachposten traf der bei seinem Anblick aufkreischte, es aber fertig brachte, seinen Schrei zu ersticken, fast bevor er ihm über die Lippen kam -, berührte Eric den Soldaten und legte ein Bild von den Gefangenen in seine Gedanken.
Der Soldat, der unter seiner Berührung erzitterte, verneigte sich, zog sich unauffällig vor ihm zurück und eilte einen Korridor hinauf. Während Eric ihm folgte, dachte er, dass er für sein Eindringen in die Burg eindeutig die richtige Tarnung gewählt hatte - aber er konnte nur hoffen, dass er dem Original, was immer es war, niemals begegnen würde. Der Weg führte durch gewundene Steinkorridore, dann kamen sie durch einen Gang, dessen Fußboden, Mauern und Wände mit Kupfer ausgekleidet waren. Sein zu Tode erschrockener Führer brachte ihn zu einer Tür aus massivem Kupfer, die er ihm mit zitternden Händen öffnete. Das Geräusch weckte die Wächter, und im Licht der Laterne des Soldaten rieben sie sich die Augen und richteten sich auf. Sie wirkten verwirrt, müde und verängstigt. Und an dieser Stelle traf Eric auf ein Hindernis. Er musste den Soldaten loswerden ... aber er wagte es nicht, ihn zu weit weggehen zu lassen. Der Mann würde ihn und die Wächter durch das Labyrinth der Burg ins Freie führen müssen. Eric konnte jedoch nicht in die Gedanken des Mannes hineinsprechen und ihm seine Anweisungen geben, denn das Kupfer hinderte ihn daran, zu einer magischen 363 List Zuflucht zu nehmen. Andererseits konnte er auch nicht zulassen, dass der Soldat in Hörweite blieb, denn er musste den Wächtern sagen, wer er war und was er vorhatte, und sobald er zu sprechen begann, würde ihn seine Stimme verraten, eine Stimme, die eindeutig einem menschlichen Mann gehörte und nicht der nichtmenschlichen Göttin, die er zu sein vorgab. Eric sah den Soldaten an, dann die Wächter, dann wieder den Soldaten. Verdammt. Er saß in der Klemme. Und dann kam ihm eine Idee. Er zeigte mit dem Finger auf eine Stelle direkt hinter der massiven Kupfertür, und als der Wachposten seine Position dort einnahm, schob Eric die Tür hinter sich zu, ohne sie jedoch ganz zu schließen. Danach zeichnete er mit einem Finger eine Botschaft in die Luft: Ich bin es - Eric. Kommt mit mir. Sagt kein Wort. »Der Teufel soll mich holen«, murmelte June Bug, aber sie war die Einzige, die überhaupt einen Laut von sich gab. Eric stellte seine Gefangenen in Zweierreihen auf, öffnete die Tür und bedeutete dem Soldaten, ihn zum vorderen Tor zurückzubringen. Die Wächter zockelten hinter ihm drein wie Entenküken hinter ihrer Mutter. Sie hatten bereits die Hälfte des Weges zurückgelegt, als ein Mann herbeigelaufen kam. Eric erkannte in ihm den Burgherrn; als er seine Tarnung vorbereitet hatte, hatte er in den Gedanken der Wachposten das Bild dieses Geschöpfs gesehen. Jetzt rannte der Veyär mit rudernden Armen und Panik in den Augen auf ihn zu. »Nein«, flehte der Burgherr, nachdem er in halsbrecherischem Tempo um eine Ecke gebogen war. »Nein! Die da schulde ich dir nicht! Nimm etwas anderes! Nimm Schätze, wähle dir Sklaven unter meinen Untertanen aus, nimm ... alles andere, aber nimm mir nicht meine Zauberer. Ohne sie werden wir alles verlieren!« Eric hob eine langfingrige Hand und hoffte, dass der Burgherr sie als einen Befehl deuten würde, stehen zu blei364 ben. Der Veyär verlangsamte seinen Schritt, sprach aber weiter. »Wer hat dir erzählt, dass ich sie hier habe? Waren es die Rrön? Wissen sie Bescheid? Haben sie dir gesagt, dass ich Zauberer in meiner Burg habe, damit du sie mir wegnehmen konntest, und sie mich und mein Volk endgültig vernichten können? Die Zauberer stellen keine Verletzung unseres Abkommens dar, und du brauchst sie nicht. Was hast du vor? Willst du sie essen? Sie für dich arbeiten lassen? Du kannst deine eigene Magie vollbringen! Lass mir die Zauberer, ich flehe dich an. Ich werde die Bedingungen erfüllen, die du gestellt hast - ich werde dir die Waldstraßen geben. Alle Waldstraßen. Nur lass mir meine Zauberer ...« In Eric regte sich ein Gefühl des Mitleids. Die Panik und die Verzweiflung des Mannes waren so echt, dass Eric sich fragte, welchem Grauen der Herr der Burg und sein Volk gegenübergestanden hatten, dass sie glaubten, ihre einzige Rettung bestehe in der Entführung und Versklavung eines gesamten Wächterrings. Allerdings drohte dem Mann nicht die Zerstörung des Planeten Oria und der Tod all seiner Bewohner, und Eric schottete sein Herz gegen die Not des Mannes ab, worin diese auch bestehen mochte, und zeigte mit einem knochigen Zeigefinger den Korridor hinunter, in die Richtung, aus der der Burgherr gekommen war. Der Veyär ließ den Kopf sinken und drehte sich langsam um. Der Soldat stieß ein leises Wimmern aus, das aus den Tiefen seiner Kehle kam und hastig unterdrückt wurde, und als Eric abermals auf die Tür zeigte, führte er ihn und die Wächter ins Freie. Sobald sie aus der kupferbewehrten Burg heraustraten, beschwor Eric mit bloßer Willenskraft eine schwarze Wolke herauf, die sie hätte verschlingen sollen. Aber als die dunklen Strudel sich über dem Boden erhoben, kam der 365 Burgherr durch das vordere Tor gestürzt, begleitet von einer jungen Frau, die beinahe menschlich aussah. Die Frau zeigte mit dem Finger auf ihn und sagte: »Ich kann sein Inneres fühlen. Er ist ein Mensch - ein Wächter -, genau wie die anderen.« »Gib mir meine Zauberer zurück, falscher Keth! Gib sie zurück!«, heulte der Veyär. »Dieses Ding ist kein echter Keth! Wachen, zielt mit euren Armbrüsten auf den Betrüger. Tötet ihn! Er gibt vor, etwas zu sein, das er nicht ist!« »Scheiße!«, brüllte Eric. Er wob den Notfallzauber, den er hatte benutzen wollen, sobald die schwarze Wolke ihn verschluckt hätte. Eigentlich hatte er auf einen weniger dramatischen Abgang gehofft, aber das ließ sich jetzt
nicht mehr ändern. »Wächter, zum Tor!« Grünes Feuer umringte sie alle - und den Veyärsoldaten, der sie durch die Burg geführt hatte. Dann hob das Feuer sie hoch in die Luft und schleuderte sie mit Grauen erregender Geschwindigkeit auf Lauren und das Tor zu, wo sie, atemlos und zu Tode erschrocken, auf der Lichtung zu Boden fielen. »Jetzt!«, schrie Eric. »Bring uns hier weg!« Pete, der seine Waffe auf die Stadt gerichtet hatte, drehte sich nicht einmal zu ihnen um. »Ich gebe euch Deckung.« »Jake ist schon auf der anderen Seite!«, rief Lauren. »Wächter, zu mir!« Einer nach dem anderen liefen die Wächter durch das Tor, und jedes Mal, wenn einer von ihnen auf der anderen Seite angelangt war, lud Lauren das Tor für den nächsten neu auf. Sie war langsamer als Willie, aber Eric war dankbar dafür, dass sie die Tore überhaupt bedienen konnte. Ohne sie hätten er, die Wächter und die Welt keine Chance gehabt. »Sie kommen«, schrie Pete, und Eric hörte Schüsse des Gewehrs, das er Pete gegeben hatte, zuerst einige wenige, dann immer mehr. »Etwa hundert Personen nähern sich 366 über Land. Mein Gott, wie schnell die sind! Sie werden jetzt jeden Augenblick ihre Armbrüste benutzen können. Wir müssen schneller machen.« »Das Tor tut, was es kann«, schrie Lauren. »Gib mir meine Gefangenen zurück«, brüllte der Veyär, und direkt hinter Eric explodierte weißes Feuer, das ihn von den Füßen riss. Der unverkennbare Gestank und der gelbe Rauch von Sulfur, Salpeter und Kohle wälzten sich über den Boden. »Scheiße!«, schrie er. »Sie haben Schießpulver!« »Verdammt!« Das war Lauren gewesen. Als Eric sich nach ihr umdrehte, lag sie fünf Meter entfernt von dem Tor auf dem Boden, das Gesicht zerkratzt von Schutt, den Mantel geschwärzt und zerrissen von der Explosion. Voller Panik - ohne Lauren konnten sie nicht nach Hause zurück - lief er zu ihr hinüber. »Wo bist du verletzt?« »Mir geht es gut«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich habe eine Scheißangst, aber davon abgesehen geht es mir gut. Lass mich zum Tor zurück.« Er half ihr auf die Beine, und sie runzelte die Stirn. »Wer ist als Letzter durchgegangen? Es hat sich wieder geschlossen.« »Niemand. Die Explosion muss Trümmer hindurchgeschleudert haben.« Lauren schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, auf der anderen Seite hat niemand im Weg gestanden. Los - machen wir, dass wir hier wegkommen.« Eine zweite Explosion zerfetzte einen Baum, der drei Meter vom Spiegel entfernt gestanden hatte. »Die meinen es ernst. Pete! Stell die Waffe auf Dauerfeuer und mach reinen Tisch!« In einem Aufblitzen von grünem Feuer erschien eine identische Waffe in seinen Händen, und er entfernte sich von dem Spiegel und feuerte in den Teil des Waldes, der direkt hinter Pete lag. 367 Lauren, die mitten im Kampf einen bewundernswert klaren Kopf behielt, richtete das Tor wieder auf und stieß in Rekordzeit die letzten drei Wächter hindurch. Als sie »Jetzt du und Pete!« schrie, hätte Eric am liebsten jubiliert. Pete kam herbeigerannt und setzte mit einem Hechtsprung durch das Tor, während Eric seine Betäubungskugeln in die Bäume und auf seine Angreifer abfeuerte. »Wir beide gehen zusammen«, rief er Lauren zu und schoss noch ein paar Salven in den Wald. Die Schreie, die daraufhin laut wurden, sagten ihm, dass seine Schüsse ihr Ziel getroffen hatten, und er hoffte, dass er nur die Betäubung, nicht den Tod seiner Feinde im Sinn gehabt hatte. »Fertig«, sagte Lauren endlich. Dann griff sie nach seiner Hand, und sie traten Seite an Seite auf den Weg. In dem Augenblick, in dem sie zwischen den Welten hingen, spürte er eine kalte Wut, die sich zwischen ihn und sie drängte, ein körperloses Wesen, das seine Finger mit Gewalt von ihren löste. Eine Stimme wisperte ihm ins Ohr: »Sie ist nicht für dich bestimmt.« Und dann war der schaurige Augenblick vorüber, er erreichte das Ende des Wegs, zwängte sich durch den Spiegel und stolperte in Laurens Diele in Cat Creek, wo die übrigen Wächter, Pete und ein äußerst quengeliger Jake sie bereits erwarteten. 16 Cat Creek Als sie in ihre überfüllte Diele traten, drehte Lauren sich als Erstes wieder um, griff in das Tor, durch das sie soeben gekommen war, und zerstörte den Pfad, der sie nach Hause zurückgeführt hatte. Sie wusste nicht, ob einer ihrer Verfolger die Pfade benutzen konnte. Sie wusste nicht, welche Konsequenzen es hatte, wenn sie einen Pfad zerstörte, auf dem sich noch jemand befand. Aber sie wusste, welche Konsequenzen es hatte, wenn sie es nicht tat. Die Kreaturen, die ihr auf den Fersen waren, würden in ihr Haus gestürzt kommen, und sie würden ihr etwas antun und ihrem Kind. Also verbog und verzerrte sie, was hinter ihr lag, und die Wege zwischen den Universen krümmten und wanden sich, und der Pfad zerbarst in eine Million grüner, gläserner Scherben. Das Echo ihrer Tat brannte sich durch ihre
Synapsen und gellte in ihrem Schädel nach. Sie riss ihren Arm aus dem Spiegel und brach auf dem Fußboden zusammen. Den Kopf in ihren verschwitzten Händen geborgen, wiegte sie sich hin und her und zwang das Feuer hinter ihren Augäpfeln nieder. Endlich war es erloschen, und als sie die Augen aufschlug, sah sie einen Ring verschwommener Gesichter auf sich herunterstarren. Sie hörte eine Stimme, die eine Meile weit entfernt zu sein schien und deren Tonfall drängend und ängstlich war. »Harn eh orh ehery?« Sie umklammerte ihren Kopf, schüttelte ihn sachte und blickte mit zusammengekniffenen Augen zu den verschwommenen, weißen Ovalen empor. 369 Eine neuerliche, hohl klingende Frage aus weiter Ferne. »Da ngor ta ting beah rah?« Sie schloss die Augen wieder und atmete tief durch. Das Hämmern ihres eigenen Herzens und das Zischen ihres Bluts in ihren Adern übertönten die meisten anderen Geräusche. In ihrem Kopf heulte ein Schmerz, der schlimmer als jede Migräne war, die sie je erlebt hatte. Ihre Gedanken, die so zersplittert waren wie das grüne Feuer, das immer noch hinter ihren Augen loderte, tasteten verzweifelt nach Logik, nach einer Richtung, und fanden nichts dergleichen. Sie spürte kleine Arme, die sie umfangen hielten, und winzige Finger streichelten sie. Schließlich gelang es ihr, Jake fest an sich zu ziehen, während der Schmerz in ihr tobte. Sie schauderte und zwang sich, mitten in den schlimmsten Schmerz hineinzutreten, eins zu werden mit dem Schmerz. Diesen Trick hatte sie bei den Migräneanfällen kurz nach Brians Tod gelernt, und er leistete ihr auch jetzt gute Dienste. Der Schmerz nahm ab und zog sich zurück, ein Feigling, der einer Herausforderung nicht standhielt. Sie jagte ihm nach, und der Schmerz floh vor ihr. Endlich öffnete sie die Augen, und die Gesichter waren nicht länger umringt von dem Nebel eines Gewittermonds. Sie holte zittrig Luft, drückte Jake einen Kuss auf die Wange und sagte: »Was ist passiert?« »Du hast fast eine halbe Stunde lang zusammengerollt auf dem Boden gelegen. Bist du in Ordnung?« »Jetzt ja. Größtenteils«, fügte sie hinzu, denn sie konnte den lauernden Kopfschmerz spüren, gerade so, als warte er auf eine Chance, von neuem anzugreifen, wenn sie nicht darauf vorbereitet war. »Sie haben in den Spiegel gegriffen, Ihr Gesicht ist so weiß geworden wie ein Fischbauch, und dann ist Ihnen am ganzen Körper der Schweiß ausgebrochen. Ich dachte, Sie 370 hätten einen Herzinfarkt«, sagte Nancine. »So hat Ernest ausgesehen, als er seinen ersten Infarkt hatte.« »Ich habe den Pfad hinter uns zerstört. Sonst wären sie uns gefolgt.« »Sie haben einen Pfad zerstört, solange noch jemand darauf war?« June Bug Täte sah sie entsetzt an. »Wenn ich es nicht getan hätte, wären sie uns hierher gefolgt.« »Das war keine Kritik«, sagte sie. »Ich habe es nur nicht für möglich gehalten, dass man so etwas überhaupt tun kann. Ich dachte immer, dass nichts uns von unserem Ziel abhalten könnte, wenn wir erst einen Fuß auf die Pfade gesetzt haben.« »Es hat ... wehgetan«, sagte Lauren. »Sehr. Ich glaube nicht, dass jemand so etwas freiwillig tun würde, es sei denn, in äußerster Verzweiflung.« »Es ist etwas, das nur ein Torweber kann«, sagte Eric. Er beugte sich vor und hielt ihr eine Hand hin. Die Wächter starrten sie an. »Sie ist eine Torweberin?«, fragte June Bug. »Dazu kommen wir später«, antwortete Eric. »Die Erklärungen sparen wir uns noch ein Weilchen auf. Aber wir müssen reden - wir alle. Wir haben einige ernsthafte Probleme, und die Möglichkeit, dass die Verräter uns verfolgen und uns alle töten werden, dürfte nicht gerade das geringste dieser Probleme sein.« »Wenn wir der Seuche nicht Einhalt gebieten, werden sie sich die Mühe sparen können«, rief June Bug ihm ins Gedächtnis. »Das dürfte all ihre Schwierigkeiten bereinigen.« Jemand hatte Laurens Fernseher angestellt, und sie konnte die monotone Stimme eines Nachrichtensprechers hören. Statistiken - Opferzahlen. Sie stand auf, ging durch die Gruppe von Menschen, die sich in ihrer Diele zusammendrängten, und trat in ihr verdunkeltes Wohnzimmer. 371 Sie kam gerade rechtzeitig zu den stündlichen Meldungen von CNN. Der Nachrichtensprecher zeigte auf rote Punkte auf einer Weltkarte - Seuchenherde, erklärte er. Die ersten Opfer der Krankheit, die er als die CarolinaGrippe bezeichnete, waren in Rockingham gestorben, in North Carolina -aber das hatte Lauren bereits von Eric erfahren. Sie hatte jedoch nicht gewusst, dass die Krankheit sich sprunghaft ausgebreitet hatte. Sie tobte nicht nur in North und South Carolina, wo sich die Zahl der Todesfälle einer Million näherte, sondern auch in Kalifornien, New York und Kanada. Dort waren bereits Opfer in fünfstelligen Zahlen zu beklagen. Es hatte inzwischen, wie der Nachrichtensprecher erklärte, in schneller Abfolge Neuerkrankungen in Großbritannien, Deutschland und Zaire gegeben und selbst in so entlegenen Gebieten wie Alaska, Mittelsibirien und Hawaii. Alle Hoffnungen, die Krankheit eindämmen zu können, waren zunichte gemacht. Die gegenwärtige Zählung der weltweit bestätigten Todesfälle, berichtete der Nachrichtensprecher, belief sich bereits auf eine gute Million, und er fügte hinzu, dass es sich dabei nur um die bestätigten Todesfälle handle.
Eine kalte Welle lief durch Lauren hindurch, und einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, hilflos in der Falle zu sitzen, beinahe so, als sei sie eine Fremde in ihrem eigenen Kopf, als betrachte sie die Katastrophe mit den Augen eines anderen Menschen. Dann war die kalte Welle vorüber, und Lauren schaltete den Fernseher schaudernd aus. Kupferhaus, Ballahara Seolar konnte seinen Zorn nicht beherrschen. Seine gefangenen Zauberer waren entkommen, und die Götter allein wussten, wohin; die Verräter waren in ihrer Burg und außer 372 Reichweite, obwohl sie zumindest von einer Vielzahl von Dienstboten beziehungsweise Spionen beobachtet wurden; Molly hatte immer noch keine Ahnung von Magie, und all seine Pläne und Hoffnungen für das Überleben seines Volks und der Welt, die er liebte, hatten sich zerschlagen. Aber er hatte immer noch Molly. Molly, die jetzt neben ihm auf der Brustwehr über dem Kupferhaus stand und zusah, wie die aufgehende Sonne sich durch einen kalten, wabernden Nebel brannte. »Es tut mir Leid, dass ich sie nicht aufhalten konnte«, sagte sie. »Du hast herausgefunden, dass der Keth kein Keth war. Das war genug. Die Aufgabe, sie aufzuhalten, lastete auf mir und meinen Männern. Wir haben versagt - nicht du.« »Also, was machen wir jetzt?« »Wir warten. Ich habe noch einen letzten, winzigen Hoffnungsschimmer. Ich verspreche mir allerdings nicht viel davon; die Veyär haben seit mehr Jahren, als ich zählen kann, die Wächter um Hilfe gebeten, und die einzigen Menschen, die jemals bereit waren, uns zu helfen, waren deine Eltern. Aber einem meiner Männer ist es gelungen, in der Hitze des Kampfes durch ihr Tor zu gehen. Er ist jetzt dort, und vielleicht kann er etwas finden, das uns helfen wird.« »Wer ist der Mann?« »Sein Name ist Yaner. Er hat schon seit Jahren besondere Aufgaben für mich erledigt - er hat dich gefunden. Er versteht sich sehr gut darauf, unbemerkt zu bleiben, und er ist sehr klug. Du bist ihm übrigens begegnet.« »Ach ja? Ich erinnere mich an keinen Yaner.« »Er ist auch nicht besonders einprägsam. Aber du hast auf dem Heuwagen seine Tochter geheilt, als du auf dem Weg hierher warst.« Yaner. Für dessen einziges überlebendes Kind hundert Männer gestorben waren. Hundert Männer, deren Opfer 373 vergeblich sein würden, wenn er scheiterte. Wenn es jemals einen Mann gegeben hatte, der einen guten Grund hatte, erfolgreich zu sein, dann war er es. Molly drehte sich zu ihm um und sagte: »Wir warten also. Ich habe nicht die Absicht, in meinem Zimmer zu sitzen und Bilder zu malen, Seo. Irgendwie werde ich die Magie erlernen. Ich werde einen Weg finden, um etwas zu ändern, um zu tun, was ich tun muss, um zwischen den Veyär und den Alten Göttern zu vermitteln.« Er starrte sie an. »Du hast mich Seo genannt«, flüsterte er. Sie nickte. »Wenn du uns helfen kannst, Molly, werde ich der glücklichste Mann Orias sein. Wenn nicht - dann werde ich zumindest dich gefunden haben. Daraus muss etwas Gutes entstehen, ganz gleich, was in Zukunft geschieht.« Er strich mit einem Finger über ihre Wange. »Du bist so mutig. So stark. So schön. Was auch mir und meinem Volk widerfahren wird, ich werde dich immer lieben«, flüsterte er. Sie blickte lächelnd zu ihm auf, und ihr Gesicht war strahlend und jung und voller Zuversicht und Hoffnung. Und Liebe. »Meine Liebe zu dir ist der Grund, warum ich einen Weg finden werde, um zu tun, was ich tun muss.« Sie schüttelte den Kopf, und er sah, dass irgendetwas sie erstaunte. »Ich liebe dich. Ich habe noch nie in meinem Leben jemanden geliebt. Niemals. Ich konnte den Schmerz, den die Liebe mit sich brachte, nie überwinden, aber bei dir gibt es keinen Schmerz. Es gibt nur dieses Wunder: dass ich dich liebe und dass ich frei bin, dich zu lieben.« Er zog sie an sich und hielt sie in den Armen. Ganz gleich, was Yaner herausfand, ganz gleich, was Molly lernte, diese Erfahrung zumindest würde ihm niemand nehmen können. Auch er hatte noch nie zuvor geliebt. Molly McColl war sein ganz persönliches Wunder, nicht minder, als sie das Wunder seiner Welt war. 374 Cat Creek »Die Seuche ist ausgebrochen, weil diese Leute in der anderen Welt mit Magie herumgespielt haben«, sagte Pete. Lauren, die noch immer zutiefst schockiert von den Nachrichten war, die sie soeben im Fernsehen gesehen hatte, zuckte zusammen. Sie hatte nicht gemerkt, dass er hinter ihr in den Raum getreten war oder dass er so dicht bei ihr stand. »Ich weiß.« »Eric hat mir erzählt, dass das möglicherweise nicht einmal ihre Absicht war - dass solche Dinge einfach passieren können, wenn jemand unvorsichtig mit seiner Magie umgeht.« Sie nickte und rieb sich die Arme, auf denen sich die feinen Härchen aufgestellt hatten. Von irgendwoher kam ein Luftzug, der sie immer wieder streifte, auch wenn sie im Raum umherging, und die Kälte drang ihr bis auf
die Knochen. »Wir müssen herausfinden, was sie getan haben.« Lauren drehte sich um, und als sie seinen Blick sah, in dem sich Neugier und Bewunderung mit etwas anderem mischten, trat sie hastig einen Schritt zurück. Der Ausdruck, den sie in seinen Augen gesehen und der ihren Argwohn erregt hatte, verschwand sofort, und im nächsten Moment war er wieder Erics verlässlicher Deputy, der seinen Dienst tat. »Das Ganze hört sich so lächerlich an in meinen Ohren«, sagte er. »Allein der Gedanke an Magie ist verrückt, aber noch verrückter erscheint mir der Gedanke, dass Magie sich umkehren und eine Welt zerstören kann - und nicht einmal die Welt, in der sie benutzt wurde. Einfach idiotisch. Wenn ich an Magie denke, denke ich automatisch an ein weißes Kaninchen, das aus einem schwarzen Hut gezogen wird; an ein Mädchen in einem Flitterkos375 tum, das aus einer Kiste klettert, nachdem ich mit eigenen Augen gesehen habe, dass der Mann im Smoking sie in zwei Teile gesägt hat. Ich denke an miserable Kartentricks und seidene Taschentücher und Tauben, die über meinen Kopf fliegen, während ich nur hoffen kann, dass sie mich nicht voll scheißen. Ich denke nicht an einen sterbenden Mann, den jemand nur zu berühren braucht, und die Löcher in seiner Brust wachsen einfach wieder zusammen. Und ganz bestimmt denke ich nicht an eine Million Tote und weitere Millionen, die noch sterben werden. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass unsere Welt zu einem Häufchen Asche verbrennt, weil irgendjemand auf die falsche Art und Weise >Abrakadabra< gesagt hat.« Der Ausdruck in seinen Augen war plötzlich trostlos, er wirkte alt und gehetzt. »Es war auch nicht das, was ich erwartet habe«, stimmte Lauren ihm zu. »Verdammt, als ich hierher zurückgekehrt bin, konnte ich mich nicht einmal an irgendetwas von alledem erinnern.« »Nein?« Sie schüttelte den Kopf. »Beim ersten Mal wäre ich beinahe durch den verfluchten Spiegel gefallen. Beinahe wie Alice im Wunderland, aber im Gegensatz zu ihr bin ich nicht aufgewacht.« Sie sah zu den Fenstern hinüber, wo jemand die Rollos heruntergelassen und an den Rändern sorgfältig mit Klebeband befestigt hatte, damit kein einziger Lichtstrahl nach draußen drang und den Menschen, die nach den Wächtern suchten, ihre Anwesenheit hier verriet. »Es ist ein erschreckendes Gefühl, durch den Spiegel zu treten und feststellen zu müssen, dass man bereits hellwach ist.« Er lachte - ein leises, trockenes, freudloses Geräusch. »Scheiße. Ich hoffe immer noch, dass das Ganze sich als ein einziger, riesiger Albtraum entpuppt.« Lauren lächelte. Wenn er mit ihr allein redete, ver376 schwand sein gedehnter, südlicher Akzent, und an dessen Stelle traten die schärferen Vokale und härteren Konsonanten, die nördlich der Mason-Dixon-Linie benutzt wurden. Man hörte den Süden zwar auch dann noch aus seiner Stimme heraus, aber nur schwach. »Schon komisch«, sagte sie. »Ich weiß, dass Sie hier aus der Gegend stammen, und wenn Sie mit irgendjemand anderem reden, würde ich meinen, dass Sie jeden Tag Ihres Lebens hier verbracht haben. Aber wenn wir allein sind ...« Sie legte den Kopf schräg und musterte Pete. »... wenn wir allein sind, habe ich das Gefühl, dass von dem südlichen Akzent kaum etwas übrig geblieben ist - und dass Sie ihn, wenn Sie wollten, einfach völlig verschwinden lassen könnten.« Sie beobachtete seine Augen und bemerkte ein kurzes Aufflackern von Erschrecken und Wachsamkeit, das jedoch schnell hinter gelinder Erheiterung verborgen wurde. Er sagte nichts. Er lächelte nur. Aber sie wusste, was sie gehört hatte, und sie wusste, was sie gesehen hatte. Sie zuckte die Achseln und sagte: »Ich gehe jetzt rüber in die Küche, um nach Jake zu schauen und festzustellen, ob diese Leute uns erschießen werden oder ob sie uns ihr geheimes Erkennungszeichen lehren und uns in ihren Club aufnehmen werden. Wie steht's mit Ihnen?« Er lächelte noch immer, als sie sich an ihm vorbeischob, aber sie spürte seinen nachdenklichen Blick im Rücken, bis sie in der Diele um die Ecke ging und außer Sicht war. »Wir müssen unseren Stützpunkt nach Oria verlegen«, erklärte Eric gerade. »Hier können wir nicht bleiben - wir haben Granger bereits an die Seuche verloren, und solange wir hier sind, laufen wir Gefahr, uns anzustecken und ebenfalls zu sterben. Und wir werden jeden einzelnen Wächter brauchen, wenn wir diesen Kampf gewinnen wollen.« 377 »Es kommt mir feige vor, wegzulaufen.« Terry Mayhem wirkte verlegen und auch ein wenig wütend. »Es wäre dumm, hier zu bleiben und zu sterben«, entgegnete Eric. »Wenn wir sterben, werden alle anderen mit uns sterben. Wir können es uns nicht leisten, mutig der Gefahr ins Auge zu sehen. Dafür sind wir einfach nicht genug.« »Dann müssen wir nur noch eine Frage beantworten: Was machen wir mit den dreien da?«, meldete Jimmy Norris sich zu Wort. Sein Mark-Twain-Anzug aus weißem Leinen war zerknittert und schmutzig, aber sein volles, weißes Haar und der weiße Schnurbart waren sorgfältig gekämmt. Das Ergebnis seiner Bemühungen war eine Art heruntergekommene Eleganz, die Lauren beinahe rührend fand. Oder die sie rührend gefunden hätte, hätte sich in ihr nicht der Wunsch geregt, dem Mann eine Ohrfeige zu versetzen. »Es gefällt mir überhaupt nicht, dass Sie uns als >die drei da< bezeichnen, als wären wir lästige Gepäckstücke oder ein schrecklicher Fehler«, sagte Lauren steif. »Ich bin die einzige Torweberin, die Sie haben, da Ihr eigener zum Verräter geworden ist. Und Pete gehört ebenfalls dazu. Ohne ihn wäre Eric schon mehrmals gestorben.«
»Aber ihr seid keine Wächter.« Diese Bemerkung kam von Bethellen Täte, die Lauren nie gemocht hatte und die, als Lauren noch klein war, nicht einmal versucht hatte, diese Tatsache zu verbergen. Sie versuchte es auch jetzt nicht. »Wenn Sie verlangen, dass wir einen Schwur ablegen oder was immer dazu notwendig ist, dann sind wir einverstanden«, brauste Lauren auf. »Trotz allem, was meinen Eltern zugestoßen ist, bin ich bereit, eine Wächterin zu werden. Die Welt ist wichtiger als alte Rechnungen, die ich vielleicht zu begleichen hätte - und seien sie noch so berechtigt.« Sie hatte das Gefühl, als beobachte sie einen Haufen von Bürokraten, die an ihren Bleistiften kauten, während die Welt brannte, und heißer Zorn stieg in ihr auf. »Ihr wollt, 378 dass wir die Zauberworte sprechen? Werdet ihr dann besser schlafen können?« »Wenn ihr keine Wächter seid und über die Wächter Bescheid wisst, dann müssten wir ... äh, euer Gedächtnis verändern.« »Kenne ich«, knurrte Lauren. »Hab ich erlebt. Den Nächsten, der das versucht, bringe ich um.« Sie und Pete, beide Außenseiter, starrten zu den Menschen hinüber, die sich um ihren Küchentisch gesetzt hatten, als gehöre das Haus ihnen. Jake schlief in seinem Nest aus Decken in seliger Unwissenheit, ohne etwas von den Spannungen, dem Zorn und dem Misstrauen zu ahnen, die um ihn herum in der Luft lagen. »Ich verbürge mich für die beiden«, erklärte Eric. »Ich kenne Pete seit Jahren. Ich habe seine Familie gekannt, wie die meisten anderen von euch. Er ist ehrlich und verlässlich, er ist einer von uns, er ist ein guter Kerl, wie wir anderen. Er befolgt Befehle, er hört zu, und man kann auf ihn zählen, wenn man Rückendeckung braucht.« Das schien Lauren gerade nur die Oberfläche dessen anzukratzen, was sie in Pete zu sehen begann, aber die Feststellung, dass er ihrer Meinung nach weitaus mehr war als einfach ein »guter Kerl«, wäre taktisch unklug gewesen. Sie hielt den Mund. »Und was ist mit ihr?«, hakte Bethellen nach. »Mit ihren verräterischen Eltern und ihrem Torwebertalent, obwohl doch alle gesagt haben, sie sei nicht einmal fähig, ein Tor zu benutzen, geschweige denn, eins zu schaffen? Sollen wir auch ihr die Geheimnisse der Wächter anvertrauen?« Auf June Bug Tates Gesicht stand plötzlich ein komischer, beinahe schuldbewusster Ausdruck, als Laurens Eltern erwähnt wurden, und dieser Ausdruck verschwand auch dann nicht, als sie hastig zu Lauren hinübersah und dann den Blick auf ihre Hände senkte. Als Lauren sie jetzt 379 aus den Augenwinkeln ansah, wurde ihr klar, dass June Bug ein Geheimnis hatte. Die alte Frau wusste etwas über Laurens Eltern oder über Lauren selbst - etwas, das sie den übrigen ihrer kostbaren Wächter nicht erzählte. Interessant. Lauren beschloss, sich June Bug bei der ersten sich bietenden Gelegenheit allein vorzuknöpfen. In der Zwischenzeit funkelte sie Bethellen wütend an. Eric sagte: »Ja. Ich erwarte von dir, dass du ihr vertraust. Ich verbürge mich für sie beide. Wenn ich mich für sie verbürge, werdet ihr sie so behandeln, wie ihr mich behandeln würdet. Es sei denn, euch steht der Sinn nach einem verlängerten Urlaub in Charlotte.« »Wir haben dich zu unserem Führer gewählt. Das macht dich noch nicht zu einem Gott. Wir können dich jederzeit wieder abwählen.« »Ja, das könnt ihr«, sagte er zu ihr. Zu ihnen allen eigentlich. »Wollt ihr das alle?« Er sah sich am Tisch um, und niemand nickte. »Schön, Gott verdammt noch mal. Dann lasst mich führen.« Sie gaben klein bei. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, das wusste Lauren. Sie brauchten sie, und sie würden sie nicht ohne Pete bekommen. Sie war dabei, Pete war dabei, Eric führte die Gruppe noch immer, und sie alle würden von einem Stützpunkt in Oria aus arbeiten. »Abgesehen von den großen Problemen haben wir noch ein weiteres Problem«, sagte June Bug, und wieder starrte sie auf ihre Hände hinab. Lauren beugte sich vor, plötzlich gespannt, obwohl sie nicht wusste, warum. Eric sah sie an, ohne dass sein Gesichtsausdruck ihr irgendetwas verraten hätte. »Ein Problem?« »Molly McColl. Wir sind ohne sie weggegangen, aber wir werden noch einmal zurückgehen und sie holen müssen.« 380 Sein Gesicht wurde schneeweiß. »Sie war dort? Sie lebt, und sie war dort, und du hast mir nichts gesagt, damit ich auch sie hätte herausholen können?« Molly McColl, dachte Lauren seltsam enttäuscht. Die Frau, die gleich nach ihrem Umzug nach Cat Creek verschwunden war. Das hatte nichts mit ihr zu tun, überhaupt nichts. »Das ist noch nicht das ganze Problem«, sagte June Bug, die immer noch nicht den Kopf gehoben hatte, um den anderen in die Augen zu blicken. »Wir alle haben sie gesehen. Sie hat sich ... verändert. Sie, hm, sie gehört zu einem Teil dorthin. Wie es aussieht, war ihre Mutter Marian Hotchkiss, und ihr Vater war ein Veyär. Ihre Mutter ist fortgegangen, um sie zu bekommen, und sie hat sie entfernten Verwandten oder Freunden oder irgend] emandem in der Art gegeben, um sie großzuziehen, und Molly ist erst hierher zurückgekehrt, als sie herausfand, wer ihre leiblichen Eltern waren. Oder jedenfalls ihre leibliche Mutter.«
Lauren ließ sich diese Information durch den Kopf gehen, begriff, was sie bedeutete, und setzte sich auf den Fußboden, zu schwach und zittrig, um sich auf den Füßen halten zu können. Es bedeutete, dass Molly McColl ihre Schwester war - oder jedenfalls ihre Halbschwester. Dass sie und Jake doch nicht allein auf der Welt standen. Dass sie Familie hatten, eine Verwandte. Und so wie es sich anhörte, würde diese Verwandte ebenfalls glücklich sein, sie kennen zu lernen, denn wenn Molly nichts Besseres zu tun hatte, als in die Stadt zurückzukehren, in der ihre Mutter früher gelebt hatte, nur weil sie von dort stammte, dann konnte es auch in ihrem Leben nicht allzu viele Menschen geben. Ich habe eine Schwester, dachte sie und begriff jetzt auch, warum June Bug sie so merkwürdig angesehen hatte. Ihre Mutter hatte ein Kind mit einem Außenweltler gehabt. 381 Plötzlich ergab viel von dem Kummer in ihrem Haus, genau zu der Zeit, als sie zehn geworden war, einen Sinn und damit erklärte sich auch die lange Abwesenheit ihrer Mutter, an die sie sich erinnerte. Angeblich hatte sie sich monatelang um eine alte Frau oben in High Point gekümmert. Und Mamas untröstliche Trauer, als sie endlich nach Hause kam und berichtete, die alte Frau sei gerade gestorben. Wenn ich mich von Jake gleich nach seiner Geburt hätte trennen müssen, wäre auch ich beinahe gestorben. Eine Schwester. Eine Schwester, die zurückgeblieben war, eine Gefangene in dieser Burg. Und wie zum Teufel sollten sie es zuwege bringen, sie da rauszuholen? Sie hätten es ohne große Mühe tun können, aber sie hatten es vermasselt. Sie würden nicht einfach ein zweites Mal in die Burg hineinmarschieren und Molly fortholen können. »Sie ist ein Halbblut?«, fragte Eric, und der erstickte Klang seiner Stimme holte Lauren in die Gegenwart zurück. »Ja.« »Ihr habt sie alle gesehen? Ihr seid euch ganz sicher?« Zustimmendes Gemurmel rund um den Tisch wurde laut. »Der Herr der Burg hat Willie, Deever und Tom dafür bezahlt, uns zu entführen, damit wir sie in der Magie unterweisen konnten«, sagte Terry Mayhem. »Einer dieser Orianer hat mir erzählt, die drei hätten eine Burg bekommen und Diener und einen ganzen Haufen anderer Sachen als Gegenleistung.« June Bug starrte immer noch auf ihre Hände hinab. Eric umklammerte die Kante von Laurens altem Kieferntisch, bis seine Knöchel so aussahen, als würden sie aus der Haut herausplatzen. »O mein Gott«, sagte er und legte den Kopf auf den Tisch. »Warum wir? Warum jetzt?« »Was?«, fragte Lauren. »Es geht dich nichts an«, sagte Eric. »Dies ist ein Problem der Wächter.« 382 »Ich habe gerade erfahren, dass ich eine Schwester habe«, sagte Lauren leise. »Und sie ist eine Gefangene in der Burg, die wir soeben erst verlassen haben, und sie braucht unsere Hilfe. Ich finde, es geht mich verdammt viel an.« Eric sah sie an und schüttelte langsam den Kopf. »Sie ist nicht deine Schwester. Sie ist eine Katastrophe von unvorstellbaren Ausmaßen - wie der Vulkan, der Pompeji ausgelöscht hat, oder vielleicht wie der Komet, der die Dinosaurier ausgelöscht hat.« »So wie ich es sehe, ist sie meine Schwester.« Eric presste sich die Fingerspitzen auf die Schläfen und schloss die Augen. »Die Wächter haben ein Gesetz, das den Umgang mit Mischlingen zwischen Menschen und Außenweltlern regelt. Die Vorschriften der Wächter verlangen, dass eine solche Person - sei sie Mann, Frau oder Kind - getötet werden muss. Auf eine menschliche Art und Weise, wenn möglich, aber unverzüglich. Mischlinge sind Ketten, die zwei Universen miteinander verbinden, die nicht dazu bestimmt sind, aneinander gekettet zu werden. Die bloße Existenz solcher Geschöpfe hat verheerende Konsequenzen für beide Welten, die ihnen das Leben gegeben haben nicht durch Bosheit oder Schlechtigkeit ihrerseits, sondern einfach aufgrund der Tatsache, dass es ihnen niemals bestimmt war, zu leben.« »Was bedeutet, dass du die Absicht hast, sie zu töten.« »Oh mein Gott. Ich habe geschworen, die Gesetze der Wächter zu achten - das Wohl der gesamten Menschheit über das Wohl eines Einzelnen zu setzen. Das Leben als heilig zu achten ... Aber zuerst und vor allem habe ich geschworen, meine Welt vor dem zu schützen, das sie zerstören könnte.« »Was bedeutet, dass du die Absicht hast, sie zu töten«, wiederholte Lauren. 383 »Was bedeutet, dass ich keine Ahnung habe, was zum Teufel ich tun soll.« June Bug starrte noch immer auf ihre Hände, und Lauren sah Tränen über das faltige Gesicht der alten Frau rollen und ungehindert auf den Tisch fallen. Bethellen sagte: »Sie hat mir das Leben gerettet.« Andere Wächter pflichteten ihr bei. »Die Wächter haben meine Eltern ermordet. Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie ihr auch noch meine Schwester ermordet. Es kümmert mich nicht, was eure Gesetze vorschreiben.« Mehrere Köpfe fuhren zu ihr herum. »Die Wächter haben deine Eltern nicht getötet«, blaffte Bethellen sie an. Aber jetzt blickte June Bug endlich doch auf, und ihr Gesicht wirkte zerknittert und verfallen. »Einige von ihnen
haben es getan«, sagte sie. »Weil Laurens Eltern Orianer hierher gebracht hatten, weil sie regelmäßigen Umgang mit ihnen pflegten, und weil sie für die Orianer Magie gewirkt und sich in die Belange Orias eingemischt haben, geradeso, wie die Alten Götter es getan haben, als sie hierher gekommen sind. Und weil Walt und Marian sich nach ihrer Entlarvung weigerten, in eine große Stadt umzuziehen, in der sie kein Tor hätten offen halten können. Ich habe damals dagegen gestimmt, aber ich war in der Minderheit.« Alle anderen Wächter starrten sie an. Pete, der in der Tür stand, sah so aus, als traue er seinen Ohren nicht. Lauren, die immer noch auf dem Boden saß, war dankbar für diese Unterstützung. »Wer?«, fragte sie. »Wer hat meine Eltern getötet?« »Die meisten von ihnen sind selbst lange tot«, sagte June Bug. »Paulie Darneil, der alte Sheriff. Mac MacAvery.« Eric zuckte bei dem Namen seines Vaters zusammen und starrte June Bug ungläubig an. »Rulan Sweeney, der damals die 384 Autoverwertung hatte. Und natürlich Willie Locklear - der Letzte von ihnen, der noch lebt. Ohne Willie hätten sie es nicht tun können. Sie wussten nichts von Molly, sonst wäre auch sie gestorben.« June Bug holte tief Luft. »Sie glaubten auch nicht, dass du irgendetwas mit Toren anfangen könntest, Lauren, sonst hätten sie auch dich getötet.« June Bug legte den Kopf auf den Tisch, und ihre Schultern zitterten. »Sie war die gütigste, schönste und großzügigste Frau, die ich je gekannt habe, deine Mutter«, stieß sie schluchzend hervor. »Ich habe mit allem, was mir zu Gebote stand, gegen die anderen gekämpft. Als ich wusste, dass ich verloren hatte, habe ich deine Eltern angerufen und ihnen gesagt, dass sie fliehen müssten - dass die Wächter das Urteil über sie gesprochen hätten. Ich habe ihnen nicht gesagt, wer ich war, und versucht, meine Stimme zu verstellen, aber ich nehme an, sie haben es wahrscheinlich erraten. Nach allem, was ich weiß, taten Walt und Marian genau das, was ich ihnen geraten hatte, als sie getötet wurden. Die Bastarde hatten bereits ihren Wagen manipuliert.« »Und Sie haben niemals Anzeige erstattet?«, fragte Pete. »Das war eine Angelegenheit, die nur die Wächter etwas anging«, sagte die alte Frau, hob den Kopf ein wenig an und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Die Angelegenheiten der Wächter werden ausschließlich von Wächtern geregelt. Immer. Ganz gleich, was passiert. Ganz gleich, wie wir darüber denken. Manchmal ist es verdammt hässlich. Aber es ist die einzige Möglichkeit.« Pete drehte sich zu Eric um. »Hier sitzen Leute, die gestehen, dass sie Beihilfe zum Mord geleistet haben, und die über die Möglichkeit eines weiteren Mordes diskutieren. Und du nimmst an der Diskussion teil. Lieber Gott, Eric. Du hast laut darüber nachgedacht, ob du vielleicht eine junge Frau ermorden solltest, obwohl du noch vor wenigen Tagen 385 die ganze Stadt auseinander genommen hast, um sie zu finden. Was für ein Wahnsinn ist das hier?« Eric sah ihn ausdruckslos an. »Ich wusste nichts von Laurens Eltern. Ich weiß nicht, was wir wegen Molly McColl unternehmen sollen. Aber ich kenne den Preis, den wir alle zahlen werden - die ganze Welt -, wenn ich die falsche Entscheidung treffe.« Er wandte sich an Lauren. »Bist du irgendwann einmal in Willie Locklears Haus gewesen? Könntest du uns ein Tor machen, das dort hinführt?« Lauren, die immer noch mit der Tatsache rang, dass die Ermordung ihrer Eltern von den damaligen Wächtern abgesegnet worden war, starrte ihn nur ungläubig an. »Du bittest sie, dir einen Gefallen zu tun?«, fragte Pete. »Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich eure ganze verdammte Bande ohne mit der Wimper zu zucken umbringen.« »Ich weiß nicht, welche Lösungen die richtigen sind«, sagte Eric. »Aber ich werde euch zeigen, warum es so wichtig ist. Ich werde euch beide nach Kerras bringen. Aber Willie Locklear hat das einzige bereits eingestellte Tor nach Kerras in dieser Gegend - falls er es offen gelassen hat, als er geflohen ist. Möglich, dass wir feststellen müssen, dass er all seine Spiegel zerstört oder all seine Tore gelöscht hat. Ich weiß es nicht. Wenn er den Pfad vernichtet hat, kann ich uns nicht dort hinbringen. Aber wenn er noch da ist, werde ich mit euch beiden nach Kerras gehen.« »Was ist Kerras?«, fragte Pete, und Lauren sagte im selben Augenblick: »Du meinst, ich brauche mir diesen Ort nur anzusehen, um die Tatsache, dass deine Leute meine Eltern getötet haben, zu billigen? Dass ihr meine Schwester töten wollt? Ich sage dir hier und jetzt, dass du meine Schwester nicht töten wirst. Nicht jetzt, nicht zu irgendeinem anderen Zeitpunkt. Du tust so, als gebe es nur eine Alternative, als könnte nur meine Schwester überleben oder 386 die Welt. Ich sage dir, es sollte besser eine dritte Möglichkeit geben, eine, die sowohl die Welt als auch meine Schwester einschließt, denn wenn ihr mir nicht alle zusichert, dass ihr nichts geschehen wird - und mir und Jake auch nicht, wo wir schon mal dabei sind -, dann wird sie überleben, und Jake wird überleben, und ich werde überleben, und ihr könnt euch eure gottverdammten Tore selbst machen und eure gottverdammten Probleme auch selbst lösen. Oh, das könnt ihr nicht? Hm, Pech. Wirklich ein Jammer.« »Wir brauchen deine Hilfe nicht. Wir erwarten Verstärkung«, erklärte Bethellen, doch Eric unterbrach sie mit einem Kopfschütteln. »Willie, Deever und Tom haben gesagt, dass sie Verstärkung anfordern würden. Aber das haben sie nicht getan.
Und jetzt können wir keinen unserer Kontaktnexus erreichen. Unsere Kontaktpersonen sind entweder an der Grippe gestorben, oder sie verstecken sich. So oder so sind wir auf uns allein gestellt.« Lauren sah die Männer und Frauen, die in ihrer Küche saßen, wütend an. »Molly, Jake und ich - keine Mordkomplotte, keine bequemen Unfälle. Jetzt nicht und niemals. Seid ihr alle einverstanden?« Sie sahen einander an und nickten widerstrebend. »Oh, das war wirklich überzeugend«, sagte Lauren. »Sie werden ihr Wort halten«, sagte Eric. »Ich schwöre es bei meinem eigenen Leben. Aber ich will dir trotzdem zeigen, wofür du kämpfst. Ich will dir zeigen, warum das hier wichtig ist. Denn solange du nicht in Kerras gewesen bist, kannst du es unmöglich verstehen.« 387 Von Cat Creek nach Kerras Da Lauren noch nie in Willie Locklears Haus gewesen war, musste sie sich langsam heranschleichen. Zuerst formte sie das Tor auf der Straße, dann visualisierte sie es auf der Veranda, bewegte sich durch die Haustür und fand schließlich das Wohnzimmer. In dem vorderen Wohnzimmer gab es reichlich Platz, um alle herzuholen, und der Spiegel war einfach nur ein Spiegel - zumindest bis Lauren damit fertig war. Sie und Pete traten als Erste hindurch, den schlafenden Jake in einem Korb zwischen sich. Am östlichen Horizont zeichnete sich bereits ein heller, silberner Schimmer ab; es würde bald Tag werden, und mit dem Tag vergrößerte sich die Gefahr für sie, solange sie in Cat Creek waren. Aber niemand beobachtete Willie Locklears Haus. Wenn er nicht unerwartet aus Oria zurückkam, konnten sie sich während der nächsten Stunden dort gefahrlos verstecken. Sobald die Wächter sich im Wohnzimmer versammelt hatten, wandte Eric sich an Lauren. »Du und Pete, ihr begleitet mich. Die anderen können hier warten, bis wir zurückkommen. Sie alle wissen, wie es in Kerras aussieht.« Er machte einen Schritt auf den hinteren Teil des Hauses zu, und Lauren griff nach dem Henkel auf der einen Seite von Jakes Korb, während Pete den anderen nahm. »Du kannst ihn hier bei uns lassen«, sagte June Bug. Lauren starrte sie an, dann lachte sie. »Ich soll mein Kind bei Wächtern lassen? Nicht bevor ich in der Hölle Eis laufen kann«, erklärte sie und folgte Eric in Willies Arbeitszimmer, ohne Jakes Korb loszulassen. Eric fuhr mit den Fingern über jeden einzelnen von einem Dutzend bodenlanger Spiegel, die eine ganze Wand in dem Arbeitsraum säumten. Grünes Feuer flackerte hinter 388 dem Glas auf, wenn er es berührte, und unter seiner Berührung wurden Bilder lebendig, die sich sogleich schimmernd wieder auflösten, wenn Eric weiterging. »Es sieht so aus, als hätte Willie keins der Tore geschlossen«, sagte er. »Sie führen alle dorthin, wo sie hinführen sollen.« »Dann geh du voraus«, sagte Pete. »Es sei denn, das Ganze ist nur ein Trick, um uns irgendwo festzusetzen und dir damit ein Problem vom Hals zu schaffen, das du auf andere Art und Weise nicht lösen kannst.« Lauren sagte: »Ich könnte ihn mir sehr viel leichter vom Hals schaffen als umgekehrt. Ich kann Tore schaffen; er nicht.« Eric nickte. »Ich will euch weder überlisten noch euch etwas antun. Aber ihr könnt nicht begreifen, worum wir kämpfen, bevor ihr Kerras gesehen habt. Dann werdet ihr verstehen.« Er trat vor einen Spiegel, der genauso aussah wie alle anderen, und fügte hinzu: »Kerras kann euch keinen Schaden zufügen. Ihr werdet zwar physisch dort sein, aber ihr werdet keine ... nun ja, keine Substanz haben, in Ermangelung eines besseren Wortes. Kerras ist unsere Oberwelt, geradeso wie wir Orias Oberwelt sind. Unsere letzten Alten Götter sind von dort gekommen. Es war früher einmal eine wunderschöne Welt. Genau genommen ist das noch gar nicht lange her.« Er drückte die Finger seiner rechten Hand auf das Glas, und in der Ferne baute sich das grüne Feuer auf. Lauren hielt in dem Spiegel Ausschau nach Bildern, um sich gegen das zu wappnen, womit Eric sie auf der anderen Seite erschrecken wollte, was immer das sein mochte. Aber sie konnte nichts sehen. Abgesehen von dem grünen Feuer, das ihren Pfad bilden würde, spiegelte das Glas nichts von der Welt drüben wider. »Pete, Lauren, da ihr den Korb tragt, geht ihr am besten voran. Ich folge euch.« 389 Lauren zuckte die Achseln. Sie wusste, dass sie von überallher nach Hause kommen konnte. Sie machte sich keine Sorgen darüber, in eine Falle zu tappen. Pete schien ihre Zuversicht zu beruhigen; als sie eine Hand durch das durchlässige Glas schob und Jakes Korb abermals anhob, war Pete direkt hinter ihr. Sie schwebten zwischen den Welten, aber diesmal verspürte Lauren keinen Jubel, kein atemloses Staunen, während die Energie der Ewigkeit durch sie hindurchströmte - und keine Berührung von Brian. Wo immer er war ... hier war er nicht. Stattdessen nahm sie ein unterschwelliges, zerstörerisches Grauen wahr, das stärker und beharrlicher wurde, je weiter sie sich von der Erde entfernte und je näher sie Kerras kam. Lange bevor sie von dem Weg heruntertrat, wusste sie, dass etwas Furchtbares passiert war; ihr war übel, sie fühlte sich kraftlos und aller Lebendigkeit beraubt, und sie spürte einen beängstigenden Zorn, der aus allen Richtungen auf sie zuflog, in ihr Fleisch eindrang und ihre Knochen berührte und ihr Blut und ihren Geist. Aus weiter Ferne hörte sie Pete schreien: »Es ist etwas schief gegangen! Wir müssen umkehren!« Sie empfand genauso - aber der Pfad floss nur in eine Richtung, und wenn er sie nach Kerras brachte, konnte sie
es weder verhindern noch dagegen ankämpfen. An ihrem Ziel erwarteten sie Dunkelheit und eine Stille, die so absolut war, dass sie nicht einmal ihren eigenen Atem hören konnte. Sie hatte den Eindruck von grauenhafter, unvorstellbarer Kälte, aber sie konnte die Kälte nicht spüren. Sie fühlte Leere, aber sie konnte nichts sehen. Sie hielt noch immer den Tragegriff von Jakes Korb umklammert, ebenso wie Pete. Einen Augenblick später erschien Eric neben ihnen. Sie konnten nicht miteinander sprechen. Geräusche setzten sich einfach nicht fort. Wenn sie aus Leibeskräften ge390 schrien hätte, hätte sie ausgesehen wie eine Schauspielerin in der Ära der Stummfilme. Sie drehte sich langsam um ihre eigene Achse, und sie konnte immer noch nichts sehen, nichts als das kalte, weiße Strahlen einer Milliarde ferner Sterne, die über ihrem Kopf hingen und noch mehr Nichts beleuchteten. Dann zuckte ein scharfer, weißer Blitz über einen plötzlich erkennbaren Horizont, und einen Augenblick lang krochen deformierte Schatten durch die Welt auf sie zu. Sie konnte sehen, dass sie auf einer Ebene aus verzerrtem Glas stand, das unter unvorstellbaren Temperaturen geschmolzen und dann von einem der Hölle entsprungenen Dämon oder von Dämonen getriebenen Menschen wieder in erstarrten Zustand gebracht worden war. In der Ferne konnte sie verbogene Metallskelette ausmachen, die sich himmelwärts reckten oder sich der Erde entgegenkrümmten, besiegt von Schwerkraft und Mächten, die Lauren sich nicht einmal vorstellen konnte. Sie standen auf einem ölig glänzenden Schneefeld, aber als die Sonne höher stieg, begann der Boden unter ihnen zu dampfen und zu kochen, und ein tief liegender Nebel kroch über die Felder. Dieser wabernde Nebel war das Einzige, was sich auf dem Teil des Planeten bewegte, den sie sehen konnte. Und die entsetzliche Gewissheit stieg in ihr auf, dass das, was sie sah, kennzeichnend für den ganzen Planeten war. Sie wusste, was dieses Bild bedeutete: Dies war das Ende einer Welt, die vollkommene Zerstörung eines Planeten, das Krematorium, in dem das Leben, das Licht, die Hoffnungen und Ziele ungezählter Spezies, ungezählter fühlender Geschöpfe verbrannt waren. In der Stille um sie herum konnte sie den verzweifelten Versuch dieser Geschöpfe spüren, doch noch zu entkommen. Sie konnte die geisterhaften Stimmen der Toten hören, die um Absolution und eine zweite Chance flehten. Sie 391 konnte die Schatten und Gespenster von grünem Leben und einem blauen Himmel sehen, von fruchtbarer Luft und Wasser, das brannte und brodelte und vergewaltigte und mordete, und in den Knochen der Welt selbst las sie den Zorn über so viel ungerechten Tod, den Zorn über den Wahnsinn, der diesen Tod heraufbeschworen hatte. Die Hölle, dachte sie. Ich bin mittendrin - und wenn ich mich umsehen würde, könnte ich ein Fleckchen Eis finden und hier Schlittschuh laufen. Sie wusste nicht, auf welche Weise diese Welt ein so entsetzliches Ende genommen hatte. Aber sie wusste, dass sie alles tun würde, um ihre eigene Welt vor einem solchen Schicksal zu bewahren. 17 »Wir unterbrechen unser planmäßiges Programm ... ... für eine Ansprache des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.« »Meine Landsleute, Freunde und Nachbarn. Die Epidemie, die in unserem Land wütet, muss aufgehalten werden, und es liegt in unserer Macht, sie sowohl zu untersuchen als auch aufzuhalten. Um ihrer weiteren Verbreitung Einhalt zu gebieten, müssen wir vorläufig alle nicht unbedingt notwendigen Reisen unterlassen. Diese einfache, klare Tatsache vor Augen, rufe ich den nationalen Notstand aus, verhänge das Kriegsrecht und eine landesweite Quarantäne, bis wir gemeinsam diese furchtbare Krankheit besiegt haben. Ich versichere Ihnen, dass die Städte und Gemeinden alles in ihrer Kraft Stehende tun werden, um eine Notversorgung aufrechtzuerhalten. Die Verteilung von Lebensmitteln, Medikamenten und allem anderen Lebensnotwendigen wird fortgesetzt werden. Private Fahrten allerdings werden untersagt, und die Nationalgarde wird zum Einsatz kommen, um sicherzustellen, dass die Bestimmungen zur Quarantäne eingehalten werden. Ich erinnere Sie daran, dass Sie das, was Sie jetzt tun, nicht nur zum Wohle anderer, sondern auch um Ihrer selbst und Ihrer Familien willen tun. Der Leiter des militärischen Gesundheitsdienstes wird Ihnen jetzt die Maßnahmen erläutern, die Sie ergreifen können, um dazu beizutragen, Ihre Familien zu schützen ...« 393 Von Kerras nach Cat Creek Als sie auf den Pfad zurück nach Cat Creek traten, schluchzte Jake, und Lauren fragte sich, ob er auch schon geweint hatte, als sie auf Kerras gewesen waren, und sie ihn einfach nicht gehört hatte, weil Geräusche sich dort nicht verbreiten konnten. Es gab dort keine Atmosphäre mehr, dachte sie. Es war eine von Menschen geschaffene Hölle, die Postapokalypse, die niemals der Schauplatz von Romanen war, weil man Figuren gebraucht hätte, um darüber zu schreiben - und auf dieser verwüsteten Oberfläche konnten nicht einmal Bakterien existieren. Jetzt wünschte sie, sie hätte Jake nicht mitgenommen. Sie befürchtete, dass die vergiftete Energie dieses Planeten ihm Schaden zugefügt haben könnte. Trotzdem hätte sie ihn bei keinem Wächter auf Erden zurückgelassen, auch wenn man ihr noch so hoch und heilig gelobte, dass ihm nichts zustoßen würde. Sie würde sich nach wie vor so entscheiden. Lauren nahm ihn hoch und tröstete ihn, und er kuschelte sich an sie, die Arme fest um ihren Hals geschlungen.
»Es ist alles gut«, flüsterte sie ihm zu. »Es ist alles gut. Wir sind in Sicherheit, und uns kann nichts passieren.« Von Anbeginn der Zeit hatten Mütter ihre Kinder belogen, ging es ihr durch den Kopf. Nichts war gut, und vielleicht würde niemals mehr etwas gut sein - aber jetzt war gewiss nicht der richtige Zeitpunkt, um damit anzufangen, die Wahrheit zu sagen. Er sah sie mit großen Augen wortlos an, und Tränen liefen ihm über die Wangen. Dann schmiegte er den Kopf an ihren Hals, und ein Schluchzen ließ seinen ganzen Körper erzittern. Sie wusste genau, wie er sich fühlte. »Es sieht dort überall genauso aus«, sagte Eric. »Der gan394 ze Planet ... Wenn es dunkel ist, ist die ganze Atmosphäre auf dem Boden gefroren, und bei Sonnenlicht taut ein wenig davon auf, aber nichts könnte dort existieren. Nichts wird jemals wieder dort existieren. Und wenn du in die Oberwelt von Kerras gehst, findest du das Gleiche vor. Einen weiteren verwüsteten Planeten, der einmal grün und wunderschön gewesen ist. Und die Oberwelt dieses Planeten ... ebenfalls nur Schutt und Asche. So weit wir bisher hinaufreisen konnten, ist das alles, was wir vorgefunden haben. Tote Welten.« Er sah Pete an, dann Lauren und richtete den Blick schließlich wieder auf Pete. »Weißt du, wann Kerras aufgehört hat, eine schöne, grüne Welt zu sein und zu Asche geworden ist?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fügte er hinzu: »Am 22. Oktober 1962. In einer Zeit, an die deine Eltern sich noch erinnern können. An die du dich beinahe selbst noch erinnern kannst.« »Das Datum kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Lauren stirnrunzelnd. Pete starrte auf seine Schuhe hinab. »Das stimmt. Es war ... ah ... ja! Die Kubaraketenkrise - der Tag, an dem John F. Kennedy die Marineblockade Kubas erklärt hat, um die UdSSR an der Auslieferung weiterer Raketen zu hindern.« »Ja«, stimmte Eric ihm zu. »Überall auf der Welt haben die Wächter den Atem angehalten. Die Krise war nicht nur durch die Politik des Kalten Kriegs angefacht worden, sondern auch durch das Gift, das von einem Weltkrieg auf Kerras in die Erde hinunterfloss. Als die Kerraner ihre Atomraketen und ihre technologisch noch höher entwickelten Waffen abfeuerten und alles Leben auf dem Planeten auslöschten, war der Widerhall hier ein einziger Albtraum. Wir waren davon überzeugt, dass die Menschen, die in unserer Welt den Finger auf dem Abzug hatten, ebenfalls auf den 395 Knopf drücken würden. Das wäre dann das Aus für die Erde gewesen.« »Das heißt also, dass jede untergehende Welt die nächste mitreißt?«, fragte Pete. »Dominosteine«, sagte Eric. »Die Welten sind Dominosteine, und wir sind der nächste. Es ist nur eine Frage der Zeit. Wir können nicht den ganzen Planeten evakuieren. Wir könnten uns selbst retten, einige unserer Verwandten und Freunde ... aber das ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist nichts Geringeres als die Rettung der Welt, und wenn wir scheitern ...«Er zuckte die Achseln. »Das ist unsere Aufgabe. Es kann hart sein, aber wir haben gesehen, was geschehen wird, wenn wir versagen, und daneben kann das Leben Einzelner sehr klein und sehr bedeutungslos erscheinen.« Lauren sah ihn an und spürte das trostlose, tote Grauen jener Welt, spürte noch immer ihr Echo in ihrem eigenen Körper. Die Gifte von Kerras sickerten nach wie vor in die Erde hinein; sie brachten die Erde dem unausweichlichen Untergang immer näher. Und gegen das Gewicht all dieser Welten standen nur einige wenige Menschen, die überall auf dem Planeten in kleinen Städten saßen, isoliert voneinander und entschlossen, ihr eigenes kleines Stückchen Leben zu halten, bis der letzte von ihnen fiel. Wie Chamberlain auf dem Little Round Top im Bürgerkrieg, dachte sie. Der Yankeelehrer, dessen Männer in Reih und Glied gestanden und eine Attacke der Rebellen nach der anderen abgewehrt hatten, und als die Hälfte von ihnen tot war und sie keine Munition mehr hatten, hatten sie immer noch standgehalten. Und sie taten mehr als das. Sie pflanzten Bajonette auf und stürmten den Hügel hinunter, und die Rebellen gaben sich geschlagen, einige ergriffen die Flucht, andere ergaben sich und saßen den Rest des Krieges ab. 396 Laurens Familie hatte während jenes vergangenen Übels auf der Seite des Südens gekämpft - eine Hand voll grundbesitzloser, bitterarmer Pachtbauern, die ihre Häuser und ihre Familien verteidigt hatten. Ihr Vater hatte einmal zu ihr gesagt: »Das war der beste Krieg, den wir aus dem schlimmsten erdenklichen Grund je geführt haben - Helden und Ehre und Tragödien auf beiden Seiten, und wenn wir klug gewesen wären, hätten wir die Sklaven zuerst befreit und uns dann separiert. Damit hätten wir den Yankees das Spiel verdorben, bei Gott.« Er hatte ihr von Little Round Top bei Gettysburg erzählt, und seine Berichte hatten sich beinahe so angehört, als sei er selbst dort gewesen. Und so wie er davon erzählt hatte, hatte es auf beiden Seiten Helden gegeben und Ehre und Opfer, und das Ganze war eine Tragödie und eine Verschwendung besserer Männer, als man sie heutzutage noch finden konnte. In einer einzigen Schlacht waren mehr als fünfzigtausend von ihnen gestorben. Das Leben Einzelner kann sehr klein und sehr bedeutungslos erscheinen, hatte Eric gesagt. Und Lauren dachte, dass im Vergleich zu einer ganzen Welt das Leben ihrer Schwester nicht viel zählte. Aber sie würde trotzdem keinen Handel damit treiben. »Ich mache euch die Tore«, sagte sie zu ihm. »Ich werde euch helfen. Ich sehe ein, dass es wichtig ist - dies ist ein entscheidender Augenblick. Aber Molly wird weiterleben, und ich werde weiterleben, und Jake wird
weiterleben. Was das betrifft, werde ich meine Meinung nicht ändern. Ich werde die Tatsache vergessen, dass ihr auch mich ermordet hättet, weil ich eine Torweberin bin. Ich werde mich mit der Tatsache abfinden, dass ihr oder zumindest eure Leute - meinen Vater und meine Mutter ermordet habt. Aber ich bin nicht bereit, ein widerwilliges Nicken als Zustimmung von euch zu akzeptieren. Ich bin nicht bereit, euch zu vertrauen - ihr habt mein Vertrauen nicht verdient. Also werdet ihr 397 alle sowohl einen Eid ablegen als auch ein Stück Papier unterzeichnen, in dem ihr zusagt, dass ihr weder meiner Schwester noch mir oder Jake etwas antut. Wir drei sind für den Rest unseres Lebens heilig und unberührbar.« »Sie werden unterschreiben. Wir werden alle unterschreiben.« Kupferhaus, Ballahara Der Veyär Yaner erschien in dem kleinen Wintergarten, in dem Molly und Seolar ihre Mahlzeit einnahmen. Er war blass und zerzaust, er atmete schwer und hatte sichtliche Angst. Molly hätte ihn nach ihrer Begegnung in ihrer ersten Nacht auf Oria nicht erkannt, hätte Seolar sich nicht halb von seinem Platz erhoben und gesagt: »Yaner! Was ist mit dir geschehen?« Dies war also der Mann, dessen Kind sie zu einem so hohen Preis gerettet hatte. »Ich habe Neuigkeiten«, erklärte Yaner. »Wichtige Neuigkeiten.« Molly stellte ihr Glas ab und wartete. Ihr Magen krampfte sich zusammen; die Art, wie Yaner sie ansah, erschreckte sie. »Was hast du für uns herausgefunden?«, fragte Seolar ihn. Er zeigte auf einen Stuhl, dann bedeutete er einem der Diener, ihm etwas zu trinken zu bringen. »Sie wollten die Vodi töten«, sagte Yaner. »Aber deine Schwester hat um deinetwillen eingegriffen. Sie hat erklärt, dass sie eher ihre Welt sterben lassen wird, als den Wächtern zu gestatten, dich zu töten.« Mollys Puls flatterte, und sie bekam plötzlich kaum noch Luft. »Meine Schwester?« »Sie ist in Cat Creek. In dem alten Haus deiner Familie -es gehört jetzt ihr. Und sie ist eine Torweberin. Sie und der 398 Mann, der der Anführer der Wächter ist, wussten nicht, dass du hier warst, sonst hätten sie versucht, dich zusammen mit den Gefangenen zu befreien - aber jetzt weiß sie, dass du hier bist. Sie wollen sich zuerst die Verräter vornehmen und dann einer Krankheit Einhalt gebieten, die diese Männer verursacht haben. Danach haben deine Schwester und die Wächter die Absicht, noch einmal hierher zu kommen und dich zu holen. Sie denken, dass sie dich retten müssen.« Molly hörte Yaner kaum mehr zu. »Meine Schwester?«, flüsterte sie. »Sie kommt hierher?« »Sie muss zuerst andere Dinge erledigen, aber dann ja. Nur ...« Yaner streckte ihr mit einer flehentlichen Geste die Hand hin. »Du verstehst nicht, was ich sagen will. Sie und diese Leute wollen dich uns wegnehmen. Sie wollen dich von hier fortholen. Wenn sie kommen, darfst du nicht hier sein.« »Meine Schwester«, wiederholte Molly und wandte sich zu Seolar um, »meine Schwester wird hierher nach Oria kommen. Ich muss sie sehen. Ich muss sie kennen lernen.« »Die Leute, mit denen sie zusammen ist«, wandte Yaner ein, »wollten dich töten. Lauren hat ihnen das Versprechen abgenommen, es nicht zu tun, aber du darfst sie trotzdem nicht in deine Nähe lassen. Vielleicht haben sie deiner Schwester die Wahrheit gesagt, aber was ist, wenn sie gelogen haben?« »Ich muss zu ihr gehen. Wohin werden sie und die Wächter sich als Erstes wenden?« Seolar sagte: »Diese Frage darf er dir nicht beantworten, Molly. Wenn du zu ihnen gehen würdest, würdest du dich in Gefahr bringen. Und wir brauchen dich. Ich brauche dich. Du darfst kein Risiko eingehen.« »Er hat Recht«, sagte Yaner. »Das sind die Leute, die deine Mutter ermordet haben und deinen Vater - nun, er war nicht dein Vater, aber ... du weißt, was ich meine. Man kann ihnen nicht trauen.« 399 Molly erstarrte. »Meine Mutter und ... ihr Mann sind ermordet worden? Sie sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen.« »Es war kein Unfall. Ich habe gehört, wie eine alte Frau das zugegeben hat. Sie sagte, sie hätte die beiden gewarnt, damit sie fliehen konnten, aber es war zu spät. Diese Wächter sind sehr, sehr böse Menschen.« Aber ihre Schwester hatte für sie gekämpft. Und hatte gegen diese Leute gesiegt. Molly blickte auf ihre Hände hinab. Veränderte Hände, mit langen, schlanken Fingern. Sie hatte von der Existenz ihrer Schwester gewusst, aber niemals versucht, sie zu finden. Sie hatte angenommen, dass das Kind, das ihre Eltern behalten hatten, keine gute Meinung von dem Kind haben würde, das sie weggegeben hatten. Offensichtlich hatte sie sich geirrt. Sie und ihre Schwester teilten Blut und Geburtsrecht. Und diese Schwester, Lauren, hielt einen Teil von Mollys Vergangenheit in Händen, zu dem sie ohne Lauren niemals Zugang bekommen würde. Diese Schwester hatte ihre Mutter gekannt. Sie würde Geschichten zu erzählen haben. Sie konnte Fragen beantworten. Ihr Leben lang hatten Molly Fragen gequält - und jetzt konnte sie zumindest auf einige davon eine Antwort bekommen. Sie wandte sich von Seolar ab und sah Yaner durchdringend an. »Du hast gesagt, wenn ich dich am dringendsten brauchen würde, würdest du für mich da sein.« Yaner erbleichte, aber er nickte. »Ich schulde dir mehr als mein eigenes Leben.« »Ich brauche dich jetzt.«
»Ich verbiete dir, ihr zu sagen, was sie wissen will«, protestierte Seolar. »Sie werden sie töten, wenn sie sie finden.« Aber Yaner sagte: »Imallin, ich habe ihr mein Wort gegeben, und mein Leben wird verwirkt sein, wenn ich es breche. Du kannst mich töten, wenn du musst, aber wenn ich weiterlebe, werde ich tun, was sie befiehlt.« Er ließ sich auf 400 ein Knie nieder und neigte den Kopf. »Du kannst über mich verfügen, Vodi. Ich gehöre dir, mit Leib und Seele. Verlange von mir, was du willst.« Molly sah Tränen auf seinen Wangen glitzern, sah das Zittern seiner Schultern. Ihr Gewissen regte sich, aber sie musste ihn trotzdem darum bitten. »Du weißt, wo sie hingehen werden.« »Sie wollen in die Burg der Verräter.« »Dort sind die Rrön«, sagte Seolar, und das Grauen in seiner Stimme war deutlich zu hören. »Die Burg liegt am Rand ihrer Jagdgründe. Bei allen Göttern, wenn es einen Ort im Universum gibt, an den du auf keinen Fall gehen darfst, dann ist es dieser.« Molly sah Yaner weiter unverwandt an. »Wenn ich die Magie finden kann, die uns dort hinbringt, wirst du mich dann an die richtige Stelle führen?« »Bitte, Vodi«, wisperte Yaner. Er ließ den Kopf hängen und schluchzte lautlos. »Bitte, verlang das nicht von mir.« Molly schloss die Augen und ballte die Fäuste. »Ich muss zu ihr gehen. Die Wächter dürfen nicht hierher zurückkommen - sie könnten versuchen, Seolar etwas anzutun, weil er sie gefangen genommen hat. Vielleicht würden sie auch den anderen hier etwas antun. Ich muss zu ihnen gehen, und ich muss es sofort tun. Ich muss meiner Schwester sagen, dass ich hier bleiben will - dass mich niemand zu retten braucht. Dass ich meinen Platz im Universum gefunden habe. Ich muss dafür sorgen, dass sie mich verstehen werden - sie alle. Ich werde die Magie finden, die uns dorthin bringt. Wirst du mich führen?« »Du weißt, dass ich es tun werde«, sagte Yaner, und seine Stimme war so leise, dass Molly ihn kaum verstand. »Dann komm mit mir. Wir müssen nach draußen gehen.« Sie wandte sich zu Seolar um und küsste ihn. »Ich komme zurück«, sagte sie. »Ich verspreche dir, dass ich zu dir zurückkommen werde. Ich kann dir nicht erklären, wie ich es 401 anfangen werde, aber ich werde es tun. Du und ich, wir sind füreinander bestimmt.« »Mordgierige Zauberer, Rrön, Verräter und Magie treiben dort draußen ihr Unwesen, und du willst dich zu dem schlimmstmöglichen Zeitpunkt mitten hineinstürzen und glaubst, du könntest mich beruhigen, indem du mir versicherst, dass dir nichts zustoßen wird!« »Mir wird nichts zustoßen. Als ich mit der alten Frau gesprochen habe - mit June Bug -, sagte sie, dass Magie nichts anderes sei als die Konzentration des Willens auf den Gegenstand, den man haben will. Man muss in Gedanken ein Abbild davon schaffen. Ich weiß, wie ich vorgehe, wenn ich jemanden heile. Ich werde schon dahinter kommen, wie ich die Magie zum Reisen einsetzen muss oder zu meinem Schutz und zu allem anderen, was ich tun muss.« Sie fädelte ihre Finger durch seine und blickte lächelnd zu ihm auf. »Ich bin deine Vodi, nicht wahr?« Sie tippte auf die Kette um ihren Hals und fügte hinzu: »Ich bin nicht so weit gekommen, um jetzt zu verlieren.« »Dann geh«, sagte er. »Aber wenn du stirbst, wisse, dass dein Volk und deine ganze Kultur mit dir sterben werden.« Sie nickte. »Ich werde daran denken.« Sie küsste ihn noch einmal, dann löste sie sich von ihm. »Yaner, wir müssen ins Freie hinaus, weg von dem Kupfer. Wie viel Zeit haben wir?« »Nicht viel. Es war ein langer Weg von dem Tor, das ich benutzt habe, bis hierher.« »Dann sollten wir uns beeilen.« Von Cat Creek nach Oria Während Lauren sich mit Jake beschäftigte, verwandten Eric, Pete und die Wächter den Morgen darauf, sich Schlachtpläne, Taktiken und Strategien zurechtzulegen, 402 ihre Prioritäten zu regeln und Vorratslisten zu erstellen. Lauren musste immer wieder einspringen, um Tore zu allen möglichen Orten zu öffnen, damit sie stehlen konnten, was sie brauchten. »Nicht die Art, wie wir normalerweise vorgehen«, erklärte Eric ihr, »aber wenn wir zur Tür hinausgehen, fliegen wir alle auf, und wir haben keine Zeit, gerade jetzt zu erklären, warum wir verschwunden sind und wie es kommt, dass ich nicht tot bin.« Oberste Dringlichkeit hatte die Umkehr des Zaubers, der sich auf der Erde in Form der Carolina-Grippe manifestierte. Eric zufolge würde das Sterben in der Sekunde aufhören, in der sie den Zauber aufspürten und ihn neutralisierten. Nach letzten Rechnungen beliefen sich die Todesfälle inzwischen auf zwei Millionen. Nichts konnte die Menschen retten, die bereits gestorben waren, aber sie mussten alles daran setzen, die Milliarden zu retten, die noch übrig waren. Nur diese Hand voll Männer und Frauen konnten den Rest der Menschheit retten. Und die Uhr der Toten und Sterbenden tickte immer schneller. Wenn man das Ausmaß der Aufgabe bedachte, die vor ihnen lag, und die endlose Liste unbekannter Faktoren,
die sie in ihre Überlegungen mit einbeziehen mussten, kamen sie erstaunlich schnell voran. Kurz nach Mittag sagte Eric: »Das war's also. Mehr können wir von hier aus nicht tun.« Lauren öffnete ihr erstes Tor. Es würde sie vor die Burg führen, in der die drei Verräter Quartier genommen hatten. June Bug sagte, dass die wenigen Spuren der mit der Seuche zusammenhängenden Magie, die sie finden konnte, dort ihr Zentrum hatten. Sie würden die Seuchenzauber umkehren und sich dann die Verräter vornehmen. Und wenn das getan war, würden sie einen der beiden frei stehenden, bodenlangen Spiegel benutzen, die sie aus einem Antiquitätenladen in Laurinburg gestohlen hatten, um ein 403 temporäres Tor ins Kupferhaus zu öffnen, so dass sie Molly zurückholen konnten. Das Rettungsteam würde den zweiten Spiegel mitnehmen, und Lauren würde darin ein Tor schaffen, durch das sie wieder zu ihrem Stützpunkt gelangen konnten. Lauren schickte Eric als Ersten durch das Tor, dann sämtliche Vorräte, dann die übrigen Wächter und zu guter Letzt Pete. Schließlich stand sie allein mit ihrem zappelnden Sohn auf dem Arm vor dem Spiegel. Jake war begeistert, dass sie wieder durch das Tor gehen würden, und Lauren betrachtete das grüne Feuer und das hübsche Tal, die Burg, den Wald und den Fluss, die sie auf der anderen Seite erwarteten. Sie brachte Jake an einen Ort, den man nur als Kriegsgebiet bezeichnen konnte, aber wenn sie zurückblieb, würden sie beide möglicherweise an der Seuche erkranken. In Oria konnte sie sie zumindest durch Magie vor der Krankheit bewahren und vor allem anderen, was ihnen dort drohen mochte. Und sollten ihnen Gefahren begegnen, die sich mit Magie nicht ausräumen ließen - nun, dann hatte sie immer noch Brians Browning High-Power in dem Schulterhalfter unter ihrer Jacke. Sicherheit ist eine Illusion, rief sie sich ins Gedächtnis. Sie drückte Jake fest an ihre Brust und trat in das kühle, belebende Feuer hinein, und während dieses kurzen Augenblicks, in dem sie zwischen den Welten schwebte, war Brian wieder bei ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich liebe dich; ich werde dich immer lieben.« Und dann standen sie und Jake zusammen mit den Wächtern und Pete am Fuß eines steinigen Felsvorsprungs. Ein breiter Fluss strömte an ihr vorbei, eine prächtige, hohe, steinerne Burg bewachte von ihrem Platz auf einem Felsvorsprung das Land ringsum. Nichts bewegte sich außer dem Wasser - weder in der Burg noch auf dem Land. Die kahlen Bäume hoben sich schwarz gegen den schmelzen404 den Schnee ab, unter dem an mehreren Stellen schwarze Erde hindurchschimmerte. Blutrote, winzige Blumen streckten ihre Köpfe aus dem Schnee heraus. Nichts regte sich. Und dann bewegte sich doch etwas. Ein magerer Wolf kam aus dem Wald gelaufen, nahm auf dem gegenüberliegenden Flussufer seine Position ein und starrte die Menschen mit hungrigen, gelben Augen an. Er leckte sich die Lippen und stieß ein tiefes Geräusch aus, das wie ein Husten klang, und weitere Wölfe erschienen. »Sie haben normalerweise Angst vor Menschen«, sagt Eric. »Zumindest sind sie vorsichtig«, fügte June Bug hinzu. »Ich habe einmal eine Sonderausgabe der National Geographie über sie gelesen - sie fallen nur Menschen an, wenn die Nahrung in freier Wildbahn rar wird.« »Diese Burschen sehen mir nicht so aus, als hätten sie in diesem Winter schon eine anständige Mahlzeit gehabt«, meinte Lauren. »Mama ... Hündchen«, murmelte Jake und zeigte lächelnd auf die Tiere. »Das ist nicht ganz der richtige Ausdruck, Schätzchen«, erwiderte Lauren und schuf einen Zauber, den sie sich fest einprägte und der das ganze Rudel zu Staub verwandeln würde, sollten die Tiere auf die Idee kommen, die Menschen könnten vielleicht ein nahrhaftes Mittagessen darstellen. Aber sie taten es nicht. Stattdessen hustete der Leitwolf noch einmal, dann verschwand das ganze Rudel wieder im Wald. June Bug hatte ihren Spiegel aus der Tasche geholt und betrachtete etwas, das für Lauren so aussah wie eine grün leuchtende Karte, die von Regenwürmern gezeichnet worden war. Es waren endlose, sich ständig bewegende Kringel, die hierhin und dorthin wanderten, innehielten, sich kreuz405 ten und immer wieder an ihre Ausgangsplätze zurücksprangen. Als Lauren June Bug über die Schulter blickte, wurden drei der Spuren rot. »Willie, Deever und Tom sind im Augenblick in der Burg - aber sie sind nicht allein«, erklärte June Bug. »Ganz und gar nicht. Sieht für mich so aus, als wären zwanzig oder dreißig Leute bei ihnen.« »Was machen sie im Augenblick?«, fragte Eric. »Keine Ahnung. Sie haben sich meisterhaft getarnt -Löschzauber und falsche Spuren, die gleichzeitig in verschiedene Richtungen führen, und überall in der Burg finden sich äußerst energiesparsame Geräuschgeneratoren, die uns ablenken sollen. Und dann sind da noch ein paar andere Dinge, die ich nicht identifizieren kann. Aber sie haben einen Schild um die Burg gelegt. Ich kann spüren, dass sie dort sind und dass sie nicht allein sind, das ist aber auch so ziemlich alles.« Eric wandte sich zu Lauren um und sagte: »Ich werde einen Schild um Jake und um die Spiegel legen. Auf diese Weise werden unsere Tore geschützt sein, sobald du sie fertig gestellt hast. Dich und Pete kann ich nicht mit
einem Schild belegen - ihr werdet uns Deckung geben müssen, falls von der Burg aus auf uns geschossen werden sollte.« Lauren sah erst Jake an, dann wieder Eric. »Das gefällt mir nicht. Was ist, wenn mir etwas zustößt?« »Wir haben keine guten Alternativen«, sagte Eric. »Wenn wir das hier nicht in Ordnung bringen können, bedeutet das das Aus für die ganze Menschheit. Ich weiß nicht, was wir mit Jake machen sollen. Er sollte nicht hier sein, aber so wie die Dinge liegen ...« Eric zuckte die Achseln. »... so wie die Dinge liegen, kannst du dir nicht sicher sein, ob er in Cat Creek besser aufgehoben wäre.« »Ich weiß.« »Halt ihn aus der Schusslinie und hoffe das Beste.« 406 »Wir kommen schon klar«, sagte Lauren. »Ich werde die Tore fertig haben, bevor ihr sie braucht.« Die anderen Wächter hatten einen Halbkreis um June Bug herum gebildet, so dass sie einander und die hohen Steinmauern sahen. Jeder von ihnen hielt etwas in der Hand; einige der Gegenstände konnte Lauren erkennen, aber sie wusste nicht, welchen Zwecken sie dienen sollten. Als Lauren und Jake neben Pete traten, sagte er: »Er hat uns allen eins von diesen Dingern gegeben.« Er zeigte ihr eine Energiewaffe, wie er sie schon einmal benutzt hatte, um die Veyär aufzuhalten, als Eric die Wächter aus dem Kupferhaus befreit hatte. »Deine liegt bei den Vorräten.« Sie holte die Waffe, und Pete zeigte ihr, wie sie bedient wurde. Als er sicher war, dass sie die Waffe benutzen konnte, behielt er für ein Weilchen Jake im Auge, während Lauren die Tore aufbaute. Sie öffnete eins, das in ihre Diele in Cat Creek führte, und ein anderes, durch das man auf die Lichtung in dem Wald in der Nähe des Kupferhauses kam. Jake musste irgendwie beschäftigt werden. Er wollte herumlaufen, und Lauren gab ihm den Auftrag, außer Sichtweite der Burg Stöcke und Zweige zu sammeln. Das hatte durchaus auch einen praktischen Grund; die Luft hatte ihre schneidende, winterliche Kälte noch nicht verloren, und Lauren dachte, dass ihnen ein Feuer gut tun würde. Wenn sie Jake das Feuerholz sammeln ließ, bedeutete das zwar doppelt so viel Arbeit, als würde sie es selbst tun, aber zumindest konzentrierte er sich auf diese Weise auf sie und nicht auf die Halbkugel aus Licht, die ihn wie eine schimmernde Blase umgab, oder auf die Szene in der Nähe der Burg, wo die Wächter aussahen, als würden sie Feuerwerkskörper entzünden. Die Magie, die in der Luft lag, kribbelte auf Laurens Haut. »Ich wünschte, ich wüsste, was sie da tun«, sagte Pete, als er ihrem Blick folgte. 407 Sie nickte. »Ich wünschte, ich könnte ihnen helfen.« Pete schnaubte. »An deiner Stelle hätte ich nur den einen Wunsch, sie alle zur Hölle zu jagen.« »Das auch.« Vor Kalt Sternenfest Nachdem sie Jake und die Tore mit Schilden geschützt und Lauren und Pete mit Waffen zu ihrer Deckung versehen hatten, machten Eric und die Wächter sich daran, den Zauber aufzuspüren, der die Erde heimsuchte. »Wir arbeiten diesmal ohne Schilde«, sagte Eric. »Nehmt euch also in Acht. Pete und Lauren haben Waffen und werden uns decken, so gut sie nur können, aber wir sind Freiwild für jeden Zauber, den man in unsere Richtung schleudert. Haltet einen Schutzpuffer für euch bereit.« Nancine streckte ihre Armbanduhr aus, sagte: »Uhr«, und im nächsten Moment erschienen vor jedem Wächter leuchtende Ziffern, die die Zeit anzeigten. Bei dieser Operation war der Zeitfaktor weniger kritisch, denn die Wächter konnten Oria ohnehin nicht verlassen; wenn sie den Zauber umgekehrt hatten, würden sie es immer noch mit den drei Verrätern aufnehmen müssen, die ihn gewoben hatten. Dennoch, je schneller und sauberer sie vorgingen, umso weniger unwillkommene Aufmerksamkeit würden sie auf sich ziehen, und das konnte nur zu ihrem Vorteil sein. Ernest legte eine Hand auf seinen Dreifuß und sagte: »Leichte Füße.« Eric konnte die Magie spüren, die in Ernests Tunnel geleitet und fest unter Kontrolle gehalten wurde, und er atmete ein wenig auf. Solange Ernest ihre Arbeit kanalisieren konnte, sollte es ihnen gelingen, die Lage wenigstens nicht noch zu verschlimmern. Nachdem ihre Uhr lief und die Magie sorgfältig getunnelt 408 war, ließ George Mercer seinen Rechenschieber in der Luft kreisen. Er würde Deboras Spezialgebiet übernehmen und die Umfeldspäher aussenden. Es war nicht eben seine Stärke, und es gefiel ihm auch nicht besonders gut, aber sie hatten eine Menge Leute verloren. Er würde tun, was er tun musste. »Wachhunde, Rundenzeit?« Kleine Funken brachen rund um ihr Arbeitsfeld aus. Selbst wenn sie sich nicht mit Schilden schützen konnten, würden sie zumindest vorgewarnt sein, wenn sich ihnen irgendetwas näherte. Georges »Wachhunde« flogen wie verrückt gewordene Libellen umher und jagten einander durch den magischen Zirkel. Dann schwärmten sie mit ruckartigen Bewegungen etwa zwanzig Meter weit in alle Richtungen aus und schössen wieder zurück, sehr hübsch, ein wenig grell und nicht so elegant und unauffällig oder so sorgsam auf einen möglichst geringen Verbrauch an magischer Energie getrimmt, wie Deboras Schutzzauber es gewesen wäre. Aber es würde genügen. Terry Mayhem trat neben June Bug in die Mitte des Kreises, den winzigen Spiegel, den er an seiner Schlüsselkette trug, in der Hand. Der Spiegel wuchs auf die Größe einer Untertasse, und als Terry mit einem Finger über das Glas strich, schimmerte in seinen Tiefen grünes Feuer auf. Terry hatte bei June Bug das
Aufspüren von Magie gelernt, und er würde mit ihr zusammenarbeiten, um nach dem Ursprung der Seuche zu suchen, die die Menschheit auszulöschen drohte. Er sah June Bug an, und sie streckte die rechte Hand aus. Er umfasste sie mit seiner linken. Sie blickten in ihre jeweiligen Spiegel, und June Bug sagte: »Zeige die Quelle der Rückstoßseuche.« Mayhem wartete kurz, bis June Bugs Zauber klar wurde, dann sagte er: »Zeichne Pfad, Krankheitsvektor.« Der Ring der Wächter wartete mit angehaltenem Atem. 409 Als sie dies das letzte Mal versucht hatten, hatten Laurens umfassende Zauber zur Verschönerung ihres Hauses in Oria alle Spuren überlagert, die Willie, Deever und Tom hinterlassen haben mochten. Diesmal waren die Wächter ihren Zielen so nahe, wie sie es nur wagen konnten, sie standen mit dem Gesicht zum Feind, und sie hatten alle magischen Quellen aus anderen Richtungen gelöscht oder blockiert. Es müsste ihnen eigentlich gelingen, eine Peilung zu bekommen, dachte Eric. Selbst wenn der Urheber des Zaubers einen schweren Schild um die Magie gelegt hatte, die die Ursache des Problems war, müssten sie trotzdem eine Richtung und einen Hinweis auf die Quelle bekommen. Mit Hilfe dieser Informationen sollte es ihnen gelingen, herauszufinden, wie sie dem Problem entgegenwirken konnten. Eric wollte einen Erfolg - er musste gegen seine natürlichen Instinkte ankämpfen, den Erfolg nicht herbeizuzwingen. Damit würde er lediglich einen weiteren Zauber weben und alles vermasseln. Er versuchte, an nichts anderes zu denken als an die Unversehrtheit der Schilde, die er um Jake und die Tore errichtet hatte, und an den Notfallschild, den er für sich selbst bereithielt, und an seinen eigenen stetigen Atem. Das war das Schwierigste, wenn man im Team Magie betrieb - man musste im übertragenen Sinne von dem Teil des Zaubers lassen, der einem anderen oblag. Sie alle hatten Probleme damit. Manchmal verpatzte jemand einen Zauber, weil er zu sehr auf Ergebnisse bedacht war. Aber diesmal hielten alle stand. Wie es aussah, bezähmten sie alle ihren verzweifelten Wunsch nach Ergebnissen, indem sie sich vor Augen hielten, wie furchtbar die Konsequenzen wären, wenn sie diesmal versagten. Sie versagten nicht, und schließlich bemerkte Mayhem: »Ich habe hier eine Maus«, während June Bug im selben Moment herausplatzte: »Ich habe ein regelrechtes Spinnennetz von Spu410 ren, und sie sind alle mit anderen Spuren verbunden, und die meisten von ihnen brechen einfach plötzlich ab.« »Eine Maus?«, wiederholte Eric und blickte von einem Wächter zum anderen. »Eine Maus? Was hat eine Maus mit dem Ende der Welt zu tun?« In Kalt Sternenfest »Sie sind da draußen«, sagte Willie. Er beugte sich über die Brustwehr und zeigte auf den Fluss hinunter. Tom und Deever folgten seinem Blick. »Ich sehe nichts«, erwiderte Tom. »Du musst nach einem winzigen Ablenkungszauber Ausschau halten, der über dem Gebiet direkt vor und unter uns liegt. Dann suche nach den kleinen Schilden dahinter, an denen sie verankert sind.« Tom zeichnete einen kleinen Zauber in die Luft und hielt plötzlich eine winzige Scheibe aus klarem Glas in der Hand. Er kippte das Glas in die Richtung, in die Willie gezeigt hatte, und plötzlich tauchten zwei leuchtend grüne Blasen auf: eine standortfest, die andere in Bewegung. Er suchte nach dem Ablenkungszauber, von dem Willie gesprochen hatte, und als er den Zauber endlich durchdrungen hatte, sah er auch den Halbkreis von Wächtern, die ohne Schilde dort standen und zur Burg hinüberblickten. Leichte Ziele. »Sie müssen Verstärkung bekommen haben.« »Sie sind auf direktem Weg hierher gekommen - nicht über Land. Was bedeutet, dass sie einen Torweber haben«, sagte Willie. »Also müssen sie wohl Verstärkung geholt haben. Und das bedeutet, wir haben ein Problem.« Er ging auf der Brustwehr auf und ab. Er hatte keine große Ähnlichkeit mehr mit dem alten Willie Locklear. Zum einen wirkte er kaum älter als dreißig. Zum anderen waren 411 die tiefen Furchen, die der Schmerz während der vergangenen zwei Jahre in seine Züge gezeichnet hatte, vollkommen verschwunden. Als er endgültig seinen Bruch mit der Erde und den Wächtern besiegelt hatte, hatte er den Krebs, mit dem er insgeheim gekämpft hatte, ausgelöscht; das grauenvolle Etwas, das sich schon halb durch sein Rückgrat und tief in seine Leber und seine Knochen hineingefressen hatte, war einfach geschmolzen, und Willie hatte jubiliert. Und im selben Atemzug die Wächter verflucht, die es ihren eigenen Leuten untersagten, die wunderbaren Mächte, die ihnen zu Gebote standen, zu ihrem Vorteil zu benutzen. Man hätte ihm niemals erlaubt, seinen Krebs mit Hilfe von Magie zu bekämpfen; ebenso wenig hätten die Wächter jemals zugelassen, dass er sich seine verlorene Jugend zurückholte. Solche Dinge waren in ihren Augen eine unnötige und tödliche Verschwendung von Magie, und furchtsame Geschöpfe, die sie waren, fehlte ihnen der Mut, auch nur um einen einzigen Schritt von ihrem schmalen Pfad der Tugend abzuweichen. »Wir könnten sie angreifen«, meinte Deever. »Könnten wir. Aber ich denke nicht, dass wir es tun sollten. Im Augenblick haben sie es nicht auf uns abgesehen, obwohl sie mit Sicherheit früher oder später den Kampf suchen werden. Zunächst einmal versuchen sie, den Zauber aufzuspüren, der die Menschheit umbringt. Damit werden sie eine Weile alle Hände voll zu tun haben; wir sind noch einige Zeit sicher vor ihnen.«
»Dann wäre jetzt genau der richtige Zeitpunkt, um sie anzugreifen«, sagte Tom. Willie drehte sich um und sah seinen Schützling mit schmalen Augen an. »Meinst du?« »Natürlich. Solange sie noch vollauf auf etwas anderes konzentriert sind ...« »Sie versuchen, deine Welt zu retten, du Arschloch. Sie 412 versuchen, das Leben aller Menschen zu retten, die du je gekannt hast. Willst du sie etwa dabei stören?« »Was kümmert uns das? Wir kehren niemals mehr zurück«, antwortete Tom. Deever schüttelte den Kopf und wandte sich angewidert ab. Willie fragte: »Hast du eigentlich irgendetwas von deinem Wächterschwur ernst gemeint?« »Natürlich. Aber ich bin kein Wächter mehr.« Tom sah offensichtlich nicht ein, dass an seinem Vorschlag etwas auszusetzen war. »Die Werte, die du als Wächter hochhältst, lösen sich nicht einfach auf, wenn du kein Wächter mehr bist«, sagte Willie. »Wenn deine Welt und die Menschen dort dir jemals etwas bedeutet haben, dann tun sie's immer noch.« »Und das ist der Grund, warum du deine Freunde und Kameraden an einen Orianer verkauft hast? Das ist der Grund, warum du gegen jedes erdenkliche Gesetz der Wächter verstoßen hast - was den Kontakt mit Einheimischen betrifft, was die Benutzung von Magie zu persönlichen Zwecken betrifft, was das Verbot betrifft, dich zu einem Gott zu machen, um Himmels willen ...« Tom wandte sich von Willie ab und sah Deever an. »Und du, Deever, du hast wahrhaftig gut reden. Du hast dich in einen griechischen Gott mit goldenem Haar verwandelt und willst dich heimlich zurück auf die Erde schleichen, solange dort noch jemand übrig ist, um Frauen für deinen Harem zu sammeln. Ich bin nicht derjenige, der fand, dass er einen Schwengel wie einen Fahnenmast brauche. Ich habe mir keine neue Haarmähne wachsen lassen oder mich mit Muskeln bepackt, nicht wahr? Ich habe nicht einen einzigen Zauber für mich selbst benutzt. Aber ihr zwei überschlagt euch förmlich, um mir zu sagen, was für ein böser Bube ich bin.« Willie hatte immerhin den Anstand, zu erröten. Deever 413 machte nur ein finsteres Gesicht und blickte starr auf eine Stelle hinter den beiden anderen. Schließlich bemerkte Willie seine Geistesabwesenheit. »Was siehst du, Deever?« »Eine Maus.« »Tot?« »Für mich sieht sie verdammt lebendig aus.« Er zeigte in die gegenüberliegende Ecke des Turms, auf dem sie standen, und Willie und Tom folgten seinem Blick. »Ich dachte, wir hätten uns alle Mäuse vom Hals geschafft.« »Das ist vielleicht die letzte«, sagte Tom. »Wenn ja, dann könnte sie noch sehr lange leben. Ich habe den Zauber so eingerichtet, dass jede Maus erst dann stirbt, wenn sie zumindest eine weitere Maus infiziert hat, wenn dies also die letzte ist, sollten wir sie einfangen und über die Mauer werfen.« »Hast du diesen Zauber begrenzt?«, fragte Deever. »Ich habe ihn auf Mäuse begrenzt.« Deever dachte darüber nach, dann zuckte er die Achseln. »Das müsste reichen.« Er holte tief Luft und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Lager der Wächter unter der Burg. »Also, was machen wir jetzt mit denen?« 18 Kupferhaus, Ballahara Molly saß im Schneidersitz auf einer steinernen Bank in der Mitte einer der vielen Gärten des Kupferhauses. Yaner rutschte unruhig auf dem Platz neben ihr hin und her. Sie hatte Mittelfinger und Daumen beider Hände so fest aufeinander gelegt, dass sie das stetige Pochen ihres eigenen Pulses spüren konnte, und sie passte ihren Atem ihrem Puls an. Sechs Herzschläge lang einatmen, den Atem sechs Herzschläge lang anhalten, dann wieder sechs Herzschläge atmen und sechs Herzschläge den Atem anhalten. Sie konzentrierte sich darauf, ihren Herzschlag zu verlangsamen, immer tiefer und tiefer in ihren Bauch zu atmen und alles auszulöschen bis auf die ruhige, kühle Mitte, die sie zum ersten Mal während ihres M16Trainings bei der Luftwaffe gefunden hatte. Der Sergeant, der sie bei ihren Schießübungen beobachtete, hatte ihr erklärt, dass ihre Zielgenauigkeit größer werden würde, wenn sie ihre Atmung beherrschte. Er hatte Recht gehabt - wenn sie ihren Atem unter Kontrolle hatte, entspannte und beruhigte sich ihr Körper ebenso wie ihr Geist, und es war, als beträte sie ein Universum, das nur sie allein bewohnte, einen Ort, an dem nur sie und niemand sonst etwas geschehen lassen konnte. Diese Kontrolle benötigte sie auch jetzt. Seolar war auf ihre Bitte hin zurückgeblieben, aber sie konnte immer noch seine Panik angesichts ihres Aufbruchs spüren. Er war davon überzeugt, dass sein Volk aussterben würde, und er hatte furchtbare Angst, sie zu verlieren. Aber die Wächter konnten nicht ins Kupferhaus kom415 men, um sie herauszuholen. Die Veyär würden ihr eigenes Leben opfern, um sie zu retten, und gegen Wächter, die über die Macht von Göttern geboten, hatten sie keine Chance. Molly würde nicht zulassen, dass sie für sie starben. Außerdem wollte sie auch Lauren kennen lernen, sie musste sie kennen lernen. Es war derselbe Zwang, der sie
schon dazu getrieben hatte, nach ihrer Familie zu forschen, derselbe Zwang, der sie schließlich nach Cat Creek zurückgeführt hatte. Sie musste es tun. Und sie musste es sofort tun. Was bedeutete, dass sie die Beherrschung der Magie erlernen musste, und sie musste ihre Sache bei ihrem ersten Versuch gleich so gut machen, dass sie Yaner und sich selbst zu dem Ort bringen konnte, an dem Lauren und die Wächter sich für ihre Schlacht rüsteten. Hoch zielen, dachte sie mit einem Anflug von einem Lächeln. Und mit geschlossenen Augen blickte sie auf die Stelle in der Mitte ihrer Stirn, zählte ihre Atemzüge und konzentrierte sich darauf, zusammen mit Yaner dort hinzugehen, wo ihre Schwester war. Nach einer Weile hatte sie das Gefühl, leichter zu werden und der Realität ihres Körpers zu entrücken. Es war, als verlöre sie an Fleisch, um gleichzeitig an Geist zu gewinnen. Sie nahm die Energie wahr, die durch sie hindurchfloss, Energie, die aus der Bewegung der Welt wuchs, aus dem Leuchten der Sonne, aus dem Pulsieren ferner Sterne. All diese Energie gehörte ihr, wenn sie sie benutzen wollte. Sie konnte damit fliegen. Sie konnte mit dieser Energie Berge versetzen, Flüsse umleiten und Stürme heraufbeschwören. Sie brauchte nur eins zu tun, nämlich ... ... nämlich ... ... sie brauchte es nur ... ... zu wollen. 416 Ja. Ich will Yaner zu meiner Schwester, Lauren, mitnehmen, dachte sie. Aber sie dachte es nicht nur. Sie zwang es herbei, sie schuf in Gedanken ein Bild und nährte das Bild mit der Musik der Sterne und dem Feuer der Sonne und der langsamen, verlässlichen Kraft der dunklen, kühlen Erde. Ich will dort hingehen. Sie kehrte in ihren Körper zurück, und er fühlte sich genauso an wie immer - stark und fest und real. Aber als sie die Augen aufschlug, saß sie nicht länger auf der steinernen Bank. Sie wurde durch die Luft katapultiert, umringt von einem zarten, strahlenden Licht - und neben ihr schwebte Yaner, zusammengerollt wie ein Fötus, die Arme vors Gesicht gepresst. Er gab ein leises Wimmern von sich, wie ein neugeborenes Kätzchen. »O mein Gott«, flüsterte sie. Die Kraft ihres eigenen Willens, ihres eigenen Verlangens, ihre Existenz zu gestalten, war zu einem greifbaren, starken Werkzeug geworden. Unter ihr glitten Bäume, Hügel und Flüsse wie ein sich wiegender Teppich aus braunen, schwarzen und weißen Farbtönen dahin. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich schneller bewegte als je zuvor in ihrem Leben. Eine solche Geschwindigkeit hatte sie nicht einmal bei ihrem Flug mit der F-16 erlebt, als sie in Moody die Motoren gewartet hatte und man sie mit diesem Flug zu noch größeren Leistungen anspornen wollte. Aber nichts konnte die Lichtkugel durchdringen, die sie umgab, kein Geräusch, kein Wind, kein Geruch. Das Licht schirmte sie genauso sicher gegen die Außenwelt ab wie ein Cockpit. »Du musst die Augen aufmachen«, sagte sie zu Yaner. »Wir werden sterben«, kreischte er und presste die Lider noch fester zusammen. »Du musst mir sagen, ob wir uns in die richtige Richtung bewegen.« 417 »Ich dachte, du würdest uns ein Tor öffnen, und wir würden einfach hindurchtreten! Du hast uns fliegen lassen, und wir werden auf den Felsen zerschmettern oder von den Zweigen der Bäume aufgespießt werden. Oder die Alten Götter werden uns für unsere Unverschämtheit vom Himmel herunterschießen.« »Wir werden nicht sterben. Wir machen das großartig. Ich muss lediglich wissen, ob wir in die richtige Richtung unterwegs sind.« Yaner bewegte einen Arm um ein oder zwei Zentimeter nach unten und spähte mit einem Auge vorsichtig zu Molly hinüber. »Versprichst du es mir?« »Was soll ich versprechen?« »Dass wir nicht sterben werden.« »Wir werden nicht sterben. Jedenfalls jetzt noch nicht. Wenn wir unser Ziel erreicht haben, bringe ich uns nach unten. Kein Problem.« Yaner schauderte, nahm jedoch die Arme vom Gesicht und richtete sich aus seiner Embryohaltung auf. Dann blickte er auf den Boden, der unter ihnen dahinraste, wimmerte abermals und presste die Augen fest zusammen. »Wir fliegen in die richtige Richtung. Du wirst jetzt bald eine große Festung aus schwarzem Stein vor dir sehen. Das ist Schwarzbeinhaus, wohin die Verräter sich zurückgezogen haben und wohin die Wächter gehen wollten. Ich weiß nicht, ob deine Schwester schon dort ist oder nicht, aber wir sind auf jeden Fall zu dem Ort unterwegs, an dem sie in Kürze sein wird.« »Das ist alles, was ich wissen wollte«, antwortete Molly. »Gut.« Yaner rollte sich wieder zu einem kleinen Ball zusammen und legte abermals die Arme vor das Gesicht. »Sag mir Bescheid, wenn es vorbei ist.« 418 Vor Kalt Sternenfest »O nein«, sagte Lauren und zeigte auf eine riesige Lichtblase, die dicht über der Baumlinie auf sie zugerast kam. »Sieh nur.«
»Ich sehe es«, antwortete Pete. Lauren hielt verzweifelt nach einem besseren Versteck für Jake Ausschau, aber sie hatte nicht viele Möglichkeiten: auf der Lichtung, wo man ihn von der Burg aus sehen konnte; am Waldrand, wo die Tore standen und wo sie sich gerade befanden; oder mitten im Wald, wo sie weder Jake noch die Wächter im Auge behalten konnte. »Verdammter Mist«, murmelte sie und schuf ein kleines Zelt um die Spiegel und die Tore herum. Groß genug, um im Notfall nicht nur Jake eine Zuflucht zu bieten. Wenn sie wegen der Benutzung von Magie in Schwierigkeiten kam, kam sie eben in Schwierigkeiten. Ihre erste Sorge galt ihrem kleinen Sohn. »Jake. Lauf in das Zelt, Welpenjunge. Schnell. Lauf.« Jake lachte, als sein Spielzelt erschien, und rannte darauf zu, so schnell seine kurzen Beine ihn trugen. Dieses Spiel und die Wichtigkeit, die Lauren der Sache mit ihrem Tonfall beimaß, gefielen ihm. Er kreischte vor Vergnügen - dieses glückliche Kreischen, das Lauren normalerweise so gern hörte. Diesmal schauderte sie, und das lag nicht an der Kälte. Er war so vertrauensvoll, so vollkommen unfähig, sich vorzustellen, welche Albträume ihm das Leben im nächsten Augenblick entgegenschleudern konnte. Sie riss ihr Oriagewehr hoch und schaltete die Sicherung aus. Zu Pete, der seine Waffe ebenfalls bereithielt, sagte sie: »Eric hat dir erklärt, dass diese Dinger betäuben oder töten können, je nachdem, was du haben willst, nicht wahr?« Pete nickte. Er beobachtete die Lichtblase, die mit er419 schreckender Geschwindigkeit näher kam und dabei immer größer wurde. »Ja.« »Schießen wir?« »Um zu betäuben«, antwortete er mit einem Nicken. »Damit richten wir keinen Schaden an.« Sie feuerten beide gleichzeitig und sprangen den Kugeln aus dem Weg, die von dem Schild der näher kommenden Blase abprallten und zu ihnen zurückflogen. Pete kam ungeschoren davon. Lauren wurde am rechten Bein getroffen und stellte bei dieser Gelegenheit zwei Dinge fest. Erstens, sie konnte nicht wieder aufstehen, und zweitens, diese Betäubungsschüsse mochten zwar keinen dauerhaften Schaden anrichten, aber sie taten höllisch weh. Mit tränenden Augen lag sie auf dem Boden, umklammerte ihr Bein und kämpfte einen Schmerzensschrei nieder, weil sie Jake nicht erschrecken wollte. Pete kniete sich neben sie. »Oh, Scheiße. Gott sei Dank haben wir nur geschossen, um zu betäuben.« »Wir können mit dem Ding nicht umgehen, oder?« »Sieht so aus.« Die Blase wurde langsamer, Lauren richtete sich auf. Jetzt, da die Lichtkugel näher gekommen war, konnte sie in ihrem Strahlen eine Frau und einen Mann erkennen. Keiner von ihnen war menschlich. Aber sie trugen prächtige Gewänder und hatten nichts bei sich, das nach einer Waffe aussah, und beide winkten ihr und Pete wie wild zu, als seien sie alle gute Freunde. Lauren sagte: »Vielleicht sollten wir doch nicht auf sie schießen - falls wir überhaupt eine Gelegenheit dazu bekämen.« »Vielleicht nicht.« Die Blase senkte sich auf den Boden außerhalb des Schilds, und Jake kam aus seinem Zelt gestürzt und lief schreiend auf Lauren zu: »Zauberer! Zauberer, Mama!« 420 Laurens Bein war nach wie vor taub. Sie wollte aufstehen, aber es war unmöglich. Also blieb sie auf dem eiskalten Erdboden sitzen, obwohl sich spitze Steine in ihr Fleisch bohrten und der schmelzende Schnee ihre Jeans durchnässte. Sie beobachtete, wie die schöne Frau und der Mann aufstanden, dann löste die Blase sich schimmernd in Luft auf, und die beiden Fremden gingen auf Erics Schild zu, hielten kurz inne und traten dann einfach mitten hindurch. Jake sah die Frau mit zusammengekniffenen Augen an. »Gute Hexe? Oder böse Hexe?«, murmelte er. »Gute Hexe oder böse Hexe?« »Das ist überhaupt keine Hexe«, erklärte Lauren ihm. Ihm hätte die Frau wahrscheinlich besser gefallen, wenn sie ein rosafarbenes Ballkleid mit riesigen Puffärmeln getragen hätte, argwöhnte Lauren. Und eine gewaltige Krone. »Hallo«, sagte die Frau, und sie sprach mit einem südlichen Akzent. Einem Akzent, der dem Laurens ähnelte. Er klang allerdings merkwürdig aus dem Mund eines Menschen mit schräg stehenden Augen, golden schimmernder Haut und Haaren in einem metallischen Kupferton, die trotz der seltsamen Farbe natürlich wirkten. »Lauren, ich weiß, das Ganze ist sehr merkwürdig, aber wir haben wirklich nicht viel Zeit, und ich musste dich kennen lernen. Ich bin Molly. Deine Schwester.« Molly blickte in ein Gesicht, das große Ähnlichkeit mit ihrem eigenen hatte - oder zumindest hätte es diese Ähnlichkeit gehabt, wäre sie noch auf der Erde gewesen. Lauren starrte sie an. »Molly? Man hat mir gesagt, dass du dich verändert hast, aber ... bist du wirklich Molly?« Sie versuchte noch einmal, sich zu erheben, und Molly bemerkte, dass sie ihr rechtes Bein nicht bewegen konnte. »Ich würde ja aufstehen und Hallo sagen, aber ich kann nicht.« Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande. 421 »Was ist passiert?«
»Ich habe versucht, auf euch zu schießen, und der Schild, der euch umgeben hat, hat unsere Schüsse zurückgeworfen. Ich bin nicht schnell genug aus dem Weg gegangen. Als die Kugeln abgeprallt sind, hat eine davon mich getroffen.« Jetzt war es an Molly, sie anzustarren. »Ich ... Ich fürchte, ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll.« »Ich hoffe, du nimmst es uns nicht wirklich übel. Wir wollten euch nur betäuben, was der Grund ist, warum ich überhaupt noch lebe. Wir hatten keine Ahnung, wer ihr wart, aber nach allem, was hier los ist, mussten wir davon ausgehen, dass es sich um etwas handelte, das uns töten wollte.« Lauren umarmte den kleinen Jungen, der sich hinter ihr vor Yaner und Molly versteckte, und sagte: »Wir befinden uns nicht in der Position, um zuerst Fragen zu stellen.« »Ihr werdet doch jetzt nicht auf uns schießen, oder?« Der Mann, der neben Lauren stand, hatte seine Waffe sinken lassen, den Finger aber nicht vom Abzug genommen, und ließ sie auch nicht aus den Augen. »Seid ihr hier, um uns zu töten?«, fragte er. »Nein.« »Dann werden wir nicht auf euch schießen.« »Er ist einer von den Vernünftigen«, erklärte Yaner ihr. »Ich glaube, er heißt Pete.« Lauren und der Mann sahen einander wachsam an, und der Mann sagte: »Ich heiße Pete. Es sieht so aus, als hättest du mir etwas voraus. Ich hätte behauptet, dass wir uns nie begegnet sind.« »Sind wir auch nicht«, antwortete Yaner. »Ich bin euch durch das Tor beim Kupferhaus gefolgt und habe euch in Laurens Haus nachspioniert. Auf diese Weise habe ich auch herausgefunden, dass Molly eine Schwester hat und dass ... 422 diese Leute ...« - er zeigte auf den Halbkreis der Männer und Frauen, die alle zu der Burg der Verräter emporschauten - »... sie töten wollten.« »Das werden sie nicht tun«, sagte Lauren, deren Gesicht plötzlich grimmige Entschlossenheit zeigte. »Sie werden dir kein Haar krümmen. Ich habe ihnen einen Schwur abgenommen und sie ein Stück Papier unterschreiben lassen.« Sie streckte Molly eine Hand entgegen. »Hilf mir beim Aufstehen, ja? Ich komme mir wie eine Idiotin vor, hier auf dem Boden zu sitzen - vielleicht kann ich mir einen Stuhl oder etwas in der Art machen, damit wir halbwegs bequem miteinander reden können.« Molly beugte sich vor und streckte eine Hand nach Lauren aus ... ... und ihre Handflächen berührten sich ... ... und Licht explodierte hinter Mollys Augäpfeln, und ein Schmerz schrie in ihrem Kopf auf, als hätte eine mit Wärmesensoren ausgestattete Rakete ihr Ziel gefunden. Sie glaubte, dass sie schrie, konnte sich aber nicht sicher sein; das ohrenbetäubende Brüllen in ihrem Schädel übertönte alle anderen Geräusche. Sie wusste, dass sie stürzte, aber ihr Körper schien nicht länger ihr selbst zu gehören; sie konnte nicht einmal die Arme bewegen, um ihren Sturz zu mildern. Aber irgendjemand fing sie auf und ließ sie auf etwas Weiches hinunter. Und jemand drückte ihr ein warmes Tuch auf die Stirn und hielt ihr einen Becher Wasser an die Lippen. Sie konnte nichts sehen. Das Licht hinter ihren Augäpfeln machte sie so blind, als befände sie sich in undurchdringlicher Dunkelheit. Sie konnte nicht sehen. Konnte nicht hören. Konnte sich nicht bewegen. Konnte nicht sprechen. Konnte beinahe nicht denken. 423 Und dann verebbte der Schmerz langsam, und wie das Meer bei Flut ließ er Dinge zurück. Erinnerungen. Erinnerungen, die nicht ihr gehörten. Ihre Mutter und ihr Stiefvater waren plötzlich in ihrem Kopf, und sie wusste. Sie kannte sie, als hätte sie ihr ganzes Leben mit ihnen verbracht. Sie wusste, was sie für sie geplant hatten. Sie wusste, welche Pläne sie mit ihrer Magie gehabt hatten, mit der Welt. Sie, Molly, war Teil von etwas Großem - größer, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Ihr Blick wurde wieder klar, und sie sah Lauren an, die vornübergebeugt dasaß, sehr bleich und schweißüberströmt. Ihre Blicke trafen sich, und Lauren sagte leise: »Dich hat es auch getroffen, nicht wahr?« Molly nickte, und die beiden Schwestern umarmten einander, und Lauren flüsterte Molly ins Ohr: »Heilige Mutter Gottes, wir sitzen ganz schön in der Klemme.« Sie lösten sich voneinander, und sofort kamen Yaner und Pete herbeigestürzt und wollten wissen, was geschehen war. Lauren sah Molly an und schüttelte kaum merklich den Kopf. Molly blickte zu Yaner auf und sagte: »Das war ein Zauber, den meine Mutter für uns gewoben hat. Um sicherzugehen, dass wir einander erkennen würden.« Lauren pflichtete ihr bei. »Ich habe Erinnerungen an meine Eltern und an Molly zurückbekommen, als sie geboren wurde. Der Zauber hat mir gesagt, dass sie meine kleine Schwester sei und ich auf sie aufpassen solle.« Lauren rieb sich die Schläfen. »Und er hat es ziemlich laut getan. Mein Kopf fühlt sich immer noch so an, als
würde mir gleich die Schädeldecke weggesprengt.« Molly sah Yaner und Pete an und wünschte, sie hätten die beiden loswerden können. Sie und Lauren mussten reden. 424 Dringend. Einige der Pläne, die ihre Eltern - ihre menschliche Mutter, ihr menschlicher Stiefvater und ihr orianischer Vater - für sie und Lauren gemacht hatten, vertrugen sich nicht gut mit den Plänen, die Molly seit ihrer Ankunft in Oria für sich selbst ins Auge fasste. Sie spürte, wie ungeheuer wichtig der sorgfältig erarbeitete Plan ihrer Eltern war. Die Notwendigkeit des ganzen Unternehmens leuchtete ihr vollkommen ein. Aber sie hatte endlich ihren Platz gefunden, und sie musste mit Lauren darüber reden, wie sie an diesem Platz bleiben und dennoch die gewaltigen Aufgaben ausführen konnten, die ihrer harrten. Aber weder Pete noch Yaner machten Anstalten, sie allein zu lassen. Stattdessen blickten sie zu dem Ring der Wächter hinüber, und sie wirkten sehr besorgt. Und verängstigt. Also würde ihre Unterredung mit Lauren noch ein Weilchen warten müssen. Lauren lenkte das Gespräch mit bewundernswertem Geschick in eine gefahrlose Richtung. Sie sagte: »Ich bin überglücklich, dich kennen zu lernen, aber Schätzchen, du musst schnellstens hier weg. Einige dieser Leute würden dich am liebsten tot sehen, und obwohl sie versprochen haben, dir kein Haar zu krümmen, würde ich eher einem Haufen Politikern trauen als denen da.« Lauren rieb sich das rechte Bein und zuckte zusammen. »Wir holen dich so schnell wie möglich von hier weg. Aber, verdammt ... Ich bin wirklich froh, dass ich dich gefunden habe. Ich habe erst gestern von dir erfahren - ich kann nicht fassen, dass ich eine Schwester habe. Ich bin ziemlich lange allein gewesen.« »Das Gefühl kenne ich«, sagte Molly ernst. Sie zog ihre Schwester noch einmal an sich. »Ich bin froh, dass ich hierher gekommen bin.« Der kleine Junge sagte: »Mama ... Kekse. Bitte, Kekse. Und Auto.« 425 Molly blickte auf ihn hinab. »Dein Sohn?« Lauren nickte. »Jake.« »Ein süßes Kind. Und das ist sein Vater?« Sie zeigte mit dem Kopf auf Pete. »Sein Vater ist tot«, erwiderte Lauren. »Auf dem Heimweg von dem Luftwaffenstützpunkt in Pope hat er den falschen Bus genommen ... Er war zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort.« Molly zuckte zusammen. »Das tut mir Leid. Ich war selbst ein paar Jahre bei der Luftwaffe und habe einige Freunde verloren. Es ist... äh ... so etwas kann man niemals wirklich überwinden.« »Brian war ein wunderbarer Mann, und er hätte etwas Besseres verdient«, sagte Lauren. »Sein Tod hat eine furchtbare Lücke in meinem Leben hinterlassen, und ich glaube nicht, dass ich jemals aufhören werde, ihn zu vermissen.« »Jake muss dir ein großer Trost sein. Er ist ein entzückender kleiner Junge.« »Er ist alles, was mir von Brian geblieben ist«, sagte Lauren. »Aber gleichzeitig ist er auch vollkommen einzigartig ... Selbst wenn er bisweilen eine ziemliche Nervensäge sein kann.« Sie lächelte und zerzauste ihrem Sohn das Haar, und ein jäher Stich des Neids durchzuckte Molly, der sich gleich darauf in ein Gefühl des Staunens verwandelte. Vielleicht würden sie und Seo eines Tages ebenfalls ein Kind haben. Oder sogar mehrere Kinder. Molly spürte, dass Lauren sie eingehend musterte. »Selbst jetzt noch kann ich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen uns erkennen«, sagte sie. »Sie - die Wächter - sie haben mir ein wenig von dir erzählt. Dass du Moms Tochter bist, aber auch die Tochter eines der Orianer hier.« Molly nickte. »Auf der Erde hast du nicht so ausgesehen.« 426 »Nein. Ich habe niemandem in Cat Creek erzählt, wer ich bin, weil... nun ja, meine Eltern hatten mich zur Adoption freigegeben. Das ist nicht die Art Geschichte, mit der man hausieren geht. Aber die Bibliothekarin hat mir erzählt, ich sähe genauso aus wie deine ... unsere Mutter in ihrer Jugend.« »Klingt logisch«, sagte Lauren. »Wenn auf der Erde nur irdische Gene durchschlagen können, dann wäre das so, als hättest du lediglich die Gene unserer Mom. Ich wette, du hast genauso ausgesehen wie sie.« Dann fügte Lauren hinzu: »Ich wünschte, ich hätte dich dort sehen können.« Sie lächelte traurig. »Ich vermisse sie.« »Ich habe sie nie gekannt. Sie und dein Dad waren schon etliche Jahre tot, bevor ich auch nur in Erfahrung bringen konnte, dass sie meine richtigen Eltern waren. Nun, jedenfalls offiziell. Meinen leiblichen Vater habe ich auch noch nicht kennen gelernt.« »Mama und Dad waren gute Menschen.« Molly lächelte. »Das hat man mir erzählt. Wenn man die Veyär reden hört, waren sie praktisch Götter.« »Mama!«, brüllte Jake. »Kekse! Spielen! Auto! Wasser!« Lauren rieb sich noch einmal das Bein und erhob sich wackelig. »Verdammt, das tut weh«, sagte sie. Aber als sie dann zaghaft ihr Gewicht auf das Bein verlagerte, an dem sie getroffen war, hielt es der Belastung stand. »Entschuldige mich bitte«, sagte sie. »Meine Mutterpflichten rufen. Außerdem müssen Pete und ich die Wächter dort drüben im Auge behalten und dafür sorgen, dass niemand sie angreift, solange sie den Zauber der Verräter
umkehren. Aber wir werden später reden.« »Worauf du dich verlassen kannst.« »Lasst uns die Mausspur verfolgen«, schlug June Bug vor. »Es muss einen Grund dafür geben, dass sie sich uns gezeigt 427 hat. Irgendwie muss sie mit dem Zauber zusammenhängen, der das Problem verursacht hat.« »Es erscheint so ... unwichtig.« »Bedeutungslos«, meinte Bethellen. »Das könnte der Grund sein, warum es uns bisher nicht gelungen ist, die Spur zu finden. Vielleicht waren selbst kleine Zauber groß genug, um sie zu verbergen.« Jimmy Norris sagte: »Ich habe an meinem Entwirrungszauber gearbeitet. Ich denke, ich werde damit fertig.« Keiner der Wächter erwähnte, wie sehr sie Granger vermissten mit seinem ruhigen Selbstbewusstsein und der unerschütterlichen Kompetenz, wenn es darum ging, selbst die komplexesten Zauber in ihre Bestandteile zu zerlegen. Eine solche Bemerkung hätte Jimmy die Arbeit nur erschwert und die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs verringert. Aber Eric dachte es, und er hätte darauf gewettet, dass alle anderen Wächter es ebenfalls dachten. Höchstwahrscheinlich war dieser Gedanke keinem von ihnen so bewusst wie Jimmy selbst - er hatte diese spezielle Pflicht nur allzu gern abgegeben, als Granger und Debora seinerseits zu dem Nexus von Cat Creek gestoßen waren. Jetzt holte er die signierte Ausgabe von Tom Sawyer, seinen Talisman, aus seiner Werkzeugtasche und hielt das Buch vor sich hin. Mit geschlossenen Augen strich er mit dem Daumen über den abgegriffenen Ledereinband, leckte sich über die Lippen und konzentrierte sich. Als das Buch grün zu glühen begann, sagte er: »Maus. Entwirre.« Die Wächter hielten sich bereit. Der Zauber würde rückgängig machen, was immer die Verräter getan hatten, und gleichzeitig würde sich der magische Rückstoß aufbauen. Sie alle waren darauf vorbereitet, die Energie zu erden, die sie treffen würde; Ernests Rohr auf dem Dreifuß glühte leuchtend weiß, so sehr konzentrierte er sich auf seine Arbeit. 428 Nichts geschah. Das Warten wurde zur Qual, denn je länger es dauerte, den Zauber zu entwirren, je länger das Echo brauchte, um zu ihnen zurückzukehren, umso schlimmer würde es sein. Nancines Uhr tickte, und aus einer Minute wurden zwei, dann drei, dann vier, und die Ziffern schienen sich in Zeitlupe zu bewegen. Erics Magen krampfte sich zusammen, und seine Nerven flatterten. Fünf Minuten. Sechs Minuten. Gütiger Gott, er hatte noch nie einen Zauber erlebt, dessen Entwirrung so lange dauerte. Sieben Minuten. Acht. Selbst wenn sie zwanzig Wächter hier gehabt hätten, würden sie den Rückstoß von diesem Ding nicht gefahrlos auffangen können. Was zum Teufel war das? Was hatten die Verräter getan? Neun Minuten. »O Gott!«, flüsterte Jimmy. »Da kommt es.« Eric schmeckte Asche, roch seinen eigenen sauren Schweiß, zitterte vor Angst und Kälte und hatte plötzlich das verzweifelte Bedürfnis, seine Blase zu entleeren. Der erste Teil des Rückstoßes sickerte in sie alle hinein, ein weiches, leichtes Schwanken, das sie fast zu Fall gebracht hätte. Das war nichts - nichts. Sie waren darauf vorbereitet, dass die Sonne über ihren Köpfen explodieren würde, und stattdessen bewarf sie jemand mit Pappbechern. »Mausefalle«, sagte Jimmy überflüssigerweise. Sie konnten alle fühlen, was der Zauber war. Ein winzig kleiner, stetig dahinfließender Zauber, um die Burg der Verräter von Mäusen zu säubern; ein Wegwerfartikel, eine Spielerei. Der Zauber verbrauchte so gut wie keine Energie, so gut wie keine Magie. Er infizierte lediglich eine einzelne Maus mit einer Krankheit, an der sich nur andere Mäuse anstecken konnten, und dann hielt er das erste Tier am Leben, bis es mindestens ein weiteres Tier infiziert hatte. Eric hätte beinahe - aber nur beinahe - denken können, dass sie dem falschen Zauber auf der Spur waren, dass die429 se kleine Narretei unmöglich das sein konnte, was daheim bereits mehr als zwei Millionen Menschenleben ausgelöscht hatte und binnen einer oder zwei Wochen die Hälfte aller Menschen auf dem Planeten töten würde. Er hätte es beinahe glauben können. Beinahe. Denn so winzig der Zauber war, er barg einen unausweichlichen Tropfen Giftes in sich. Es war ein Zauber, der auf Tod basierte. Er tötete - und tödliche Magie kehrte auch in der Form von Tod zurück. Seines Wissens nach hatte noch nie jemand einen Todeszauber ersonnen, der sich beherrschen ließ: Ein solcher Zauber sprengte unweigerlich die Kanäle, die ihn in Schach halten sollten. Und der Zauber war noch nicht fertig mit ihnen. Ihnen stand noch immer der zweite Teil des Rückstoßes bevor, jene winzige Wendung, die für die Mäuse tödlich war, jener Teil des Zaubers, der sich in Orias Oberwelt, der Erde, in etwas Gewaltiges, Hässliches und für Menschen Tödliches verwandelt hatte. Der Rückstoß drang in sie ein, mit der Spitze voraus, wie ein Dolch, der ihnen zwischen die Rippen gestoßen wurde. Und obwohl sie geglaubt hatten, vorbereitet zu sein, obwohl sie sich gegen den Ansturm gewappnet und ihre Magie geerdet hatten, traf seine Wucht sie unerwartet. Sie waren auf den Schlag einer Keule vorbereitet gewesen - einen primitiven Hieb, der der logische Rückstoß einer Magie gewesen wäre, die die ganze Menschheit auszulöschen
imstande war. Sie waren auf den brutalen Schlag gefasst, daher durchstach das Stilett ihren magischen Kettenpanzer und drang in ihre Rippen ein, bevor sie wussten, dass es so weit war. Tödlich. Bethellen Täte war am schlechtesten vorbereitet gewesen. Ihr Sohn, Tom, hatte den Zauber gewoben, und sie hatte seine Berührung in der Magie gelesen und war außerstande gewesen, zu glauben, dass irgendein Zauber ihres Sohnes sie mit solcher Wucht angreifen könnte. Der 430 Rückstoß traf sie, und sie keuchte nur ein einziges Mal auf. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, und in ihren Zügen spiegelte sich das Grauen angesichts des Verrates wider, dessen ganzes Ausmaß sie jetzt erst begriff. Und noch bevor ihr Körper auf dem Boden aufschlug, war kein Leben mehr in ihr. Tödlich. Nancine Tubbs, rundlich und mit ihren einundfünfzig Jahren immer noch recht hübsch, die fröhliche Besitzerin des Blumenladens von Cat Creek, war die Nächste. Abgesehen davon, dass sie vor Ort für die Wächter ein Auge auf die Zeit hielt, bestand ihr wichtigster Beitrag als Magierin darin, als Puffer für Rückstoßmagie zu dienen, doch diesen Rückstoß spürte sie nicht einmal kommen. Die sanfte Berührung der ersten Hälfte des Zaubers hatte sie unvorsichtig gemacht. Sie hatte sich gestattet, an eine »Mausefalle« zu glauben, obwohl sie tief innerlich wusste, dass der große Bruder dieses Zaubers auf der Erde bereits Millionen Menschen getötet hatte. Sie dachte, dass sie dem falschen Zauber auf der Spur waren - ein so einfacher Akt der Selbsttäuschung. Und die zweite Hälfte des Zaubers bohrte sich in sie hinein und warf sie mit solcher Geschwindigkeit zu Boden, dass sie nicht einmal Zeit hatte, aufzuschreien. In der einen Sekunde stand sie noch da und beobachtete die magische Uhr der Wächter, in der nächsten war sie bereits tot. Mit weit aufgerissenen Augen und rudernden Armen stürzte sie zu Boden. Ihr Mann, Ernest, war besser gewappnet gewesen, besser geerdet, weniger unvorsichtig, aber er sah sie fallen, konzentrierte sich nicht mehr voll und sprang auf sie zu, um sie aufzufangen, und der Rückstoß traf ihn zwischen zwei Atemzügen, zwischen zwei Herzschlägen. Er stürzte neben ihr zu Boden. »Ruhig«, rief Eric. »Ruhig! Erdet die Magie. Kanalisiert sie. Lasst sie nicht entkommen!« 431 Mit Ernests Tod war auch sein Zauber zum Kanalisieren der Energie gestorben, und plötzlich kam der Rückstoß nicht einmal aus einer berechenbaren Richtung auf sie zu. Er wirbelte umher wie ein Derwisch und stürmte aus allen Richtungen auf sie ein, während sie breitbeinig und mit ausgestreckten Armen dastanden und versuchten, sich zu Blitzableitern zu machen, die die Energie durch ihre Körper in die Erde leitete, wo sie keinen Schaden mehr anrichten konnte. George Mercer hielt stand. Mit schmerzverzerrter Miene und in Todesangst, geriet er dennoch nicht ins Wanken. Er hatte den Vietnamkrieg miterlebt; während seiner zwei Jahre im Dschungel hatte er zu viele Nachtkämpfe überlebt, hatte wieder und wieder mit angesehen, wie links und rechts von ihm Männer zerfetzt wurden, war in einer besonders schlimmen Nacht selbst am Oberschenkel getroffen worden. Er hatte weitergekämpft und seinen überlebenden Kameraden Deckung gegeben, damit sie sich neu formieren konnten, und er hatte den Feind das Fürchten gelehrt; hatte sich, nachdem der Feind sich zurückgezogen hatte, einen Lumpen um seine Wunde gebunden und seine verletzten und toten Kameraden zum vereinbarten Platz geschafft, wo die Hubschrauber landen konnten. In seiner Schublade lag in einer Schachtel ein purpurnes Herz, das seinen Mut bezeugte. Während er zusah, wie seine Freunde und Nachbarn fielen, trat der Mann, der Zahlen liebte, der sich an dem wohltuenden Ausgleich seiner Arbeit als Steuerberater erfreute, in den Hintergrund, und der unerschrockene Krieger kam unter der Fassade ruhiger Wohlanständigkeit zum Vorschein und kämpfte. Louisa Täte, die unverheiratete alte Dame, die ihre einzige Liebe in demselben Krieg, aber in einer anderen Schlacht verloren hatte, hielt stand. Sie umarmte den Zorn um den Verlust des Geliebten und erschuf sich neu, wurde zu einer 432 rächenden Furie. Ohne den beruhigenden Einfluss von Ernest Tubbs und seiner gebündelten Tunnelung der Magie nahm sie sich, was sie brauchte, und streifte die hagere, grauhaarige Maus ab, um zu einer gewaltigen, heulenden Walküre zu werden. Die Rückstoßmagie traf sie mit voller Wucht, und Louisa absorbierte sie und verwandelte sie, sie nahm die Energie des Rückstoßes in sich auf und leitete sein Gift in den Boden weiter. Eric sah Blitze aus ihren Fingerspitzen schießen und Wolken, die sich über ihrem Kopf zusammenballten, und er musste den Drang niederkämpfen, den Kampf verloren zu geben und vor Louisa zu fliehen. Eric hielt stand. Er hatte die Möglichkeit, in Erfüllung seiner Pflichten zu sterben, schon vor langer Zeit akzeptiert; er hätte eigentlich bereits tot sein müssen und wäre es ohne Laurens Eingreifen gewesen. Jede zusätzliche Minute war für ihn geborgte Zeit. Und da er akzeptierte, dass er bereits tot war, konnte er seine Angst loslassen und nahm die Magie, die ihn traf, in sich auf und beugte sich ihr. Der gewaltige Baum bricht in der Flut, aber das Schilfrohr überlebt, dachte er. Wie ein Schilfrohr beugte er sich unter dem Sturm des Rückstoßes und nahm alles an, das der Sturm ihm entgegenschleuderte, und ließ die Wucht eines jeden Schlages durch seinen Körper in die Erde unter ihm abfließen. June Bug Täte hielt stand. Ihre Geheimnisse erschreckten sie mehr als selbst ein Tod durch Magie, und daher wankte sie nicht, als der Atem des Todes sie streifte. Sie akzeptierte ihn, kanalisierte ihn, ließ sich von ihm benutzen, ohne sich zerstören zu lassen. Selbst Terry Mayhem hielt stand. Er glaubte, ein Feigling zu sein, aber jetzt entdeckte er, dass Angst nicht
bedeutete, dass man unfähig war, zu kämpfen. Er zitterte vor Furcht; sein Mund war staubtrocken, seine Haut durchnässt von seinem eigenen Angstschweiß. Seine Muskeln krampften sich zusammen, und in seinen Därmen brodelte es. Aber et433 was in ihm hielt ihn aufrecht, die Füße mit dem Boden verschmolzen, die Arme dem Sturm entgegengereckt, der auf ihn einpeitschte. Er dachte an seine beiden Nichten, fünf und sieben Jahre alt, mit ihrem albernen Gekicher und ihren Freudenschreien, wann immer er in die Einfahrt ihres Hauses einbog und auf sie zulief. Sie verdienten noch einen weiteren Tag, noch eine weitere Woche, noch weitere sieben oder acht Jahrzehnte. Und nur wenn er standhielt, würde er wissen, dass er alles in seiner Macht Stehende getan hatte, um ihnen das zu geben. Wenn er überlebte, indem er floh, würde er den beiden nie wieder in die Augen sehen können. Jimmy Norris hielt nicht durch. Er hielt sich tapfer, als sein erster Zauber das Durcheinander entwirrte, das die Verräter ihnen hinterlassen hatten; aber als Ernest, Nancine und Bethellen tot zu Boden fielen, schrie er auf, ließ sein geliebtes Buch fallen und floh. Er kam nur bis zum äußeren Rand ihres Arbeitszirkels. Sobald er die Grenzlinie überschritt, die George Mercers libellengleiche »Wachhunde« bewachten, schoss ein Feuerblitz von der Brustwehr der Burg auf ihn herab und ließ ihn zu Asche verkohlen. Der Angriff war schnell, lautlos und so kalt und unbarmherzig wie der Biss einer Klapperschlange. Eric hatte die beste Position, um zu sehen, was geschah, und er stöhnte; Jimmys Tod bewies, dass die Verräter sie beobachteten und warteten. Sie würden den Wächtern vielleicht gestatten, den Schaden zu beheben, den sie angerichtet hatten, aber wenn die Wächter den Rückstoß der tödlichen Magie überlebten, würden sie anschließend mit den drei Verrätern kämpfen müssen. Und diese hatten unschätzbare Vorteile auf ihrer Seite: Sie hatten Zeit, um sich vorzubereiten, und sie hatten eine Festung, von der aus sie den Kampf führen konnten. Die Chancen der Wächter, diese Schlacht zu gewinnen, standen schlecht, dachte Eric. 434 Er hätte nichts tun können, um Jimmy zu helfen, aber er wollte Rache für seine Ermordung. Er wollte Rache für Bethellen, und auch für Nancine und Ernest. Und für Debora und Granger. Und die gesichtslosen Millionen, die grundlos gestorben waren, gestorben aufgrund von Dummheit, Leichtsinn und einem simplen Verstoß gegen die Lehren der Wächter - dass jedes magische Rinnsal in der Welt unter der eigenen in der Oberwelt zu einem breiten Fluss wird; das Gutes Gutes erzeugte und Böses Böses; dass die Wächter Leben schützten; und vor allem, dass die Wächter sich nicht in den natürlichen Lauf der Welten unter und neben ihrer eigenen einmischten, sondern lediglich den Magiestrom zwischen den Welten stabilisierten und das Gleichgewicht der Universen aufrechterhielten. Im Augenblick jedoch konnte er keine Rache üben; er konnte nur dastehen, die Schläge auffangen, die auf ihn niederhagelten, und sie in den Boden ableiten. Jeder einzelne Tod traf die überlebenden Wächter. Der Tod ungezählter Mäuse, eine jede für sich genommen winzig und bedeutungslos, aber wie Hagelkörner konnten sie in ihrer geballten Wucht Menschen niederstrecken, mächtige Bäume zerstören und alles zu Brei zermalmen, was sich ihrem Zorn entgegenstellte. Und mit dem Tod der Mäuse traf die Wächter der Tod von Millionen Menschen, Männern, Frauen und Kindern, die vor der Zeit aus ihrem Leben gerissen und in den Raum zwischen den Welten geschleudert worden waren. Dieses mannigfache Sterben brachte Zorn und Erschrecken mit sich, Entsetzen und Trauer, Sehnsucht und Verzweiflung, Wahnsinn und Hilflosigkeit. Wenn die toten Mäuse Hagelkörner waren, waren die toten Menschen Kometen, die aus dem Weltraum auf die Wächter herabgeschleudert wurden - ein Regen von mehr als zwei Millionen Kometen, deren Ansturm fünf zitternde Sterbliche traf. Sie standen da, Arme und Gesichter dem Himmel entge435 gengereckt, nahmen die Magie in sich auf und litten, und während der dämonenhafte Regen auf sie niederprasselte und sie an Leib und Seele verletzte und vernarbte, hielten sie stand. Endlich sickerte das letzte Gift in die Erde unter ihren Füßen, und die Furien der Toten zogen sich zurück, und einer nach dem anderen fielen die Wächter auf Hände und Knie nieder. Eric gelang es, den Schild um Lauren, Pete und Jake aufrechtzuerhalten. Er befestigte ihn, so gut er konnte, gegen magische Angriffe, und er schuf auch einen winzigen Schild um die am Boden liegenden Wächter, die Lebenden wie die Toten. Aber in diesem Augenblick hätte er ebenso wenig gegen die Verräter kämpfen können, wie er daheim auf der Erde über einen See hätte gehen können. Keiner der fünf Überlebenden würde kämpfen können; sie hatten keine Reserven mehr. Auf Händen und Knien taumelnd, blickte Eric zu der Burg hinauf. Er wusste, dass jetzt seine Feinde - die einmal seine Verbündeten und Freunde gewesen waren - angreifen würden. Und wenn sie es taten, würde er nicht einmal einen Finger krumm machen können, um sich zu verteidigen. Mit letzter Kraft drehte er sich auf den Rücken, damit er das Ende zumindest kommen sah, damit er nicht im Ungewissen über das Schicksal starb, das ihn besiegen würde. Er starrte in den frischen, blauen Himmel hinauf, zu den makellosen, weißen Federwolken, die über ihn hinwegstrichen, und er dachte: Zumindest wird meine Welt vielleicht weiterleben. Zumindest kann ich hoffen, dass wir das erreicht haben. 19 Vor Kalt Sternenfest
Lauren drückte Jake fest an sich und duckte sich hinter einen Baum; in ihrer freien Hand hielt sie die Energiewaffe, gesichert und immer noch auf Betäuben eingestellt. Pete ließ sich neben ihr auf einem Knie nieder. »Sie sind in Schwierigkeiten.« »Aber die Schwierigkeiten kommen nicht von den Verrätern. Das ist die Seuche auf der Erde, gegen die sie kämpfen. Deshalb sind sie hierher gekommen.« »Ich kann es spüren.« Lauren sah ihn überrascht an. »Wirklich?« »Ja.« »Ich weiß nicht, wie ich ihnen helfen soll. Ich bin mir nicht sicher, ob wir es überhaupt könnten, wenn wir es versuchten; irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir nur alles vermasseln würden.« »Wir müssen abwarten«, sagte Pete. »Sie sind noch nicht fertig, und die Verräter sind es auch nicht. Ich denke, wir brauchen jetzt nicht mehr lange auf unser Stichwort zu warten.« Lauren bemerkte eine Bewegung auf der Brustwehr der Burg und traf eine Entscheidung. »Das ist nichts, bei dem ich Jake dabeihaben will«, sagte sie leise. Sie umarmte ihn; er klammerte sich, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, so fest an sie, wie er nur konnte. Auch er spürte die Magie, und das gefiel ihm nicht. Molly und ihr Begleiter saßen auf einem am Boden liegenden Baumstamm direkt hinter Lauren. Lauren wandte 437 sich zu ihrer neu gefundenen Schwester um und sagte: »Dies hier ist schlimm, aber es wird noch schlimmer kommen. Ich kann nicht weg. Ich muss hier bleiben und mich um die Tore kümmern.« Molly sah sie ängstlich an. »Was hier passiert, ist furchtbar. Ich habe noch nie etwas Derartiges gespürt. Es ist durch und durch böse.« »Genau wie ich es vorhergesagt habe«, bemerkte Yaner. »Wir müssen nach Hause zurückkehren. Sofort. Seolar wäre außer sich, wenn er wüsste, in welcher Gefahr du dich befindest.« »Geh nicht«, sagte Lauren. »Du bist meine Schwester, nicht wahr?« »Natürlich.« »Du und ich, wir ... wissen ...« Sie hielt inne. »Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit. Eine gemeinsame Zukunft.« Molly nickte. »Du musst für mich auf Jake Acht geben. Du musst ihn zur Erde zurückbringen, bevor der nächste Kampf ausbricht.« Sie zeigte auf die drei Männer, die auf der Brustwehr auf der Burg standen und auf die am Boden liegenden Wächter hinunterblickten. »Pete und ich müssen die Wächter von hier wegschaffen und uns die Verräter vornehmen, und Jake soll nicht dabei sein.« Sie drückte ihn Molly in die Arme und sagte: »In dem Zelt dort drüben wartet bereits ein Tor. Bitte, nimm Jake und geh hindurch. Warte auf der anderen Seite auf mich.« »Wohin wird das Tor uns bringen?« »Zurück in mein Haus in Cat Creek.« »Nein.« »Wie meinst du das, nein? Es ist nicht perfekt, aber ihr werdet dort sicherer sein als hier.« Molly, die Jake festhielt, als hätte sie noch nie zuvor einen kleinen Jungen im Arm gehalten, schaute verängstigt drein. »Ich kann nicht auf die Erde zurückkehren«, sagte 438 sie. »Ich habe mich verändert. Der Teil von mir, der eine Veyär ist, wird ... er wird sich auflösen, wenn ich durch das Tor gehe. Ich muss in Oria bleiben.« Lauren legte ihrer Schwester die Hände auf die Schultern. »Bitte. Ich weiß, dass wir einander im Grunde nicht kennen - noch nicht. Aber Jake ist alles, was ich habe, und er darf nicht hier bleiben. Du kannst später zurückkommen. Wenn du dich einmal verändert hast, wirst du dich wieder verändern. Aber du musst gehen ... Und du musst dich beeilen. Versprich mir, dass Jake nichts passiert, solange er bei dir ist.« »Alles, was ich mir je gewünscht habe, ist hier«, flüsterte Molly. Lauren umklammerte die Hand ihres Sohnes und sagte: »Und alles, was mir geblieben ist, ist hier. Versprich es mir. Bitte. Wenn du jetzt gehst, kannst du zurückkommen, sobald hier alles vorüber ist. Ich kann ein Tor schaffen, das dich überall hinbringt. Aber der Schild, der Jake und die Tore schützt, bricht langsam zusammen, und diese Männer auf der Burg haben bereits mehrere Wächter getötet. Sie werden uns alle töten und jeden anderen, der noch nicht tot ist, es sei denn, Pete und ich finden eine Möglichkeit, um sie aufzuhalten.« Sie sah Molly eindringlich an. »Versprich es mir.« Molly erbleichte und biss sich auf die Unterlippe, aber sie nickte. »Geh. Tu, was du tun musst. Jake wird bei mir sicher aufgehoben sein. Ich schwöre es.« Yaner erhob sich zitternd. »Vodi, du musst gehen. Du darfst nicht hier bleiben - darfst das Kind nicht auf die Erde zurückbringen - darfst uns nicht verlassen. Wir brauchen dich. Die Veyär brauchen dich, wie die Menschen es nicht tun und niemals tun können. Und du gehörst jetzt zu uns.« Aber Molly legte ihm einen Finger auf die Lippen und sagte: »Sie ist meine Schwester. Ich habe mir mein ganzes 439 Leben lang gewünscht, eine Schwester zu haben. Mein ganzes Leben lang. Ich muss es für sie tun.« Lauren warf Yaner einen wütenden Blick zu, dann drehte sie sich unsicher zu Pete um. »Einer von uns muss sich
in die Schusslinie der Verräter wagen, während der andere die Wächter herüberzieht und sie durch das Tor schiebt.« Pete fragte: »Kannst du jemanden erschießen?« »Diese Dinger sind auf Betäuben eingestellt.« »Das weiß ich. Aber wenn das nicht funktioniert, kannst du jemanden erschießen?« Millionen Menschen daheim waren tot - und ihre Mörder standen auf der Brustwehr der Burg und bedrohten sie, ihr Kind und ihre Zukunft. Um sich zu retten - oder vielleicht nur deshalb, weil sie es wollten -, würden die Verräter sie töten. Die Wächter. Sie. Lauren dachte an Erics Warnung vor dem, was geschehen würde, wenn man in einer der unteren Welten Magie benutzte, um zu töten. Sie wusste, dass eine solche Tat Auswirkungen auf die Oberwelt haben würde. Wenn sie die Waffe nicht in der Absicht benutzte, zu betäuben, würden Menschen auf der Erde mit ihrem Leben dafür zahlen. Es konnten Fremde sein. Oder Menschen, die sie kannte. Sie sah Jake an, der sich an Molly klammerte. Jede Magie, die die Verräter anwandten, um zu töten, würde dieselbe Wirkung haben. Wenn sie die Wächter angriffen oder Pete und sie selbst, würde sie sofort handeln müssen, um sie daran zu hindern. Aber sie würde nicht töten, es sei denn, es blieb ihr keine andere Wahl. Sie wagte es nicht. »Ich kann es tun, wenn ich es muss«, antwortete sie Pete. »Aber ich werde dieses Ding so lange auf Betäubung halten, bis ich keine andere Wahl mehr habe. Der Preis, den wir zu Hause bezahlen müssen, könnte einfach zu groß sein.« »Es gibt keine einfachen Lösungen«, sagte Pete. Er sah über seine Schulter und zuckte zusammen, als sein Blick auf die Wächter fiel. Dann hob er seine Waffe. »Bring mich sicher nach Hause, wenn du kannst«, fügte er leise hinzu. »Ich gehe. Du gibst mir Deckung - ich werde die anderen hier rüberziehen. Ich bin größer und stärker als du, und es wird mir sehr viel leichter fallen als dir, einen ausgewachsenen Menschen zu tragen.« Er blickte zu Yaner hinüber. »Und wenn du mir hilfst, können wir deine Molly sehr viel schneller wieder hierher zurückbringen, wo sie hingehört.« Yaner wollte Ausflüchte machen, aber Molly beugte sich vor und flüsterte ihm etwas zu. Sie sprach so leise, dass Lauren sie beinahe nicht verstehen konnte: »Geh. Hilf ihm. Damit wirst du mir helfen.« Yaner erbleichte, aber er sagte: »Ich komme mit dir.« »Gut.« Pete drehte sich wieder zu Lauren um. »Schieß nicht daneben, ja? Mir hat der Gedanke, von freundlichem Feuer durchlöchert zu werden, nie besonders behagt.« »Ich bin eine gute Schützin«, erwiderte Lauren. »Ich decke dir den Rücken.« »Sorg nur dafür, dass er in einem Stück bleibt. Hast du übrigens eine Ahnung, wie man jemanden gegen mehrere feindliche Positionen deckt?« »Ich schieße auf sie, wenn ich sie sehe?«, fragte Lauren. »Nein. Du verfügst über unbegrenzte Munition, und die Waffe wird weder heiß noch kennt sie Ladehemmungen. Also feuerst du einfach permanent auf die Mauer. Sprüh das ganze Ding von einer Seite bis zur anderen ein. Mit unregelmäßigen Schlenkern, damit sie kein Muster erkennen und irgendwo auftauchen können, wo du mich oder Yaner nicht verteidigen kannst. Oder wahrscheinlicher noch, dich selbst. Du wirst ihr erstes Ziel sein.« »Ich weiß.« Sie blickten zu dem Schild hinauf, der um Jake herum schimmerte; der Schild verblasste, wurde stärker und ver440 441 blasste dann abermals. »Ich glaube nicht, dass er noch lange halten wird«, bemerkte Lauren. »Und dasselbe gilt für den Schutz unserer Tore.« »Ich beeile mich lieber, bevor hier alles zusammenbricht. Halt dich bereit, mir Deckung zu geben.« Lauren nickte und drehte sich zu ihrer Schwester um. »Molly, geh jetzt nach Cat Creek zurück. Ich komme nach, sobald ich kann. Und wenn ich es nicht schaffe ...« Sie blinzelte gegen die Tränen an, die ihr die Sicht zu rauben drohten, und sagte: »Du bist die einzige Familie, die er hat. Kümmere dich für mich um ihn. Okay?« Molly, die schneeweiß war vor Angst, nickte nur. »Das Tor ist in diesem Zelt.« Sie drückte ihre Schwester an sich, dann umarmte sie Jake. »O Gott. Da drin sind zwei Spiegel und zwei Tore, beide durchlässig. Ihr müsst den Spiegel auf der rechten Seite benutzen. Du brauchst lediglich eine Hand auf das Glas zu drücken, das ist alles. Du wirst eine Vibration in deiner Haut spüren, dann wird das Glas ... irgendwie nachgeben. Du musst hindurchtreten.« Molly sagte: »Ich werde ... ahm. Ja. Das kann ich tun. Ich kann es.« »Mama«, schluchzte Jake, der wusste, dass etwas nicht stimmte, aber keine Ahnung hatte, was es war. Als sie sich von ihm löste, streckte er die Arme nach ihr aus, und Laurens Verlangen, ihn an sich zu drücken und zu trösten, war in diesem Augenblick so gewaltig, dass es ihr den Atem raubte. Sie dachte, dass der Schmerz, ihn mit einem anderen fortgehen zu lassen - und sei es auch ihre Schwester - sie umbringen würde. »Geh«, sagte sie zu Molly. »Beeil dich. Bitte. Bring ihn weg von hier.« Molly drehte sich mit einem heulenden Jake auf dem Arm um und rannte auf das Zelt zu. Pete holte tief Luft und lief auf den Rand der Lichtung zu, wobei er vor den Männern auf der Burgwehr Deckung 442 suchte. Yaner blieb direkt hinter ihm. Die drei Verräter hatten bisher noch keinen von ihnen erspäht. Wenn sie es
taten, würde Lauren schießen müssen. Lauren schluckte hörbar und griff nach der Waffe. Sie schien schwerer zu werden, bis Lauren das Gefühl hatte, sie würde das Gewehr nicht lange genug halten können, um auch nur die ersten Schüsse abfeuern zu können. Sie fragte sich, ob Angst sich immer so auswirkte. »Dreifuß«, flüsterte sie, und mit der bloßen Kraft ihres Willens beschwor sie einen Dreifuß herauf. Dann befestigte sie die Waffe hastig an dem Dreifuß und zielte auf die Burgmauer, wo ihre Feinde standen und warteten. Sie wappnete sich gegen das, was sie würde tun müssen. Dann rief einer der Männer auf der Brustwehr etwas und zeigte auf den Wald, auf Pete und Yaner. Lauren zog den Abzug durch und feuerte die Waffe in einem kurzen, schnellen Bogen von einer Seite des Burgwehrs bis zur anderen. Sie sah, dass die Männer auf der Mauer in Deckung gingen. Ihr Magen war ein harter Knoten in ihrem Leib, ihr war übel vor Angst, die drei Männer dort oben erschießen zu müssen - aber sie hielt die Waffe nach wie vor auf Betäuben, und sie belegte die Burg mit einem stetigen Feuerhagel, feuerte mit bald schnellen, bald langsamen, unberechenbaren Salven auf die Brustwehr. Unter dem Schutz des Kugelhagels ihrer Waffe stürmten Pete und der Veyär aus dem Wald und rannten zu den am Boden liegenden Wächtern hinüber, griffen der Frau, die ihnen am nächsten lag, unter die Schultern und machten sich daran, sie zu Lauren hinüberzuschleifen. Plötzlich ließ Yaner los und zeigte auf den Himmel hinter Lauren, und in seinen Zügen malte sich ein Entsetzen ab, das an ein Albtraumbild von Edvard Munch erinnerte. Pete ließ die Wächterin nun ebenfalls los, riss seine Waffe hoch und schoss über Laurens Kopf. Lauren sah, dass einer der Verräter ebenfalls in ihre Rich443 tung zeigte, dann feuerten die drei Männer auf der Brustwehr in den Himmel. Lauren wusste, dass sie dem Feind nicht den Rücken zukehren sollte, aber sie konnte nicht dagegen an. Sie drehte sich um ... und wünschte, sie hätte es nicht getan. Sie hingen in der Luft wie Löcher im Raum - drei riesige, geflügelte Gräuel, deren Körper das Licht um sie herum verschlangen, es verzerrten und krümmten, so dass sie mitten am Tag in einer Blase aus Dunkelheit hingen. Laurens Gehirn weigerte sich, die drei Albtraumgestalten deutlich wahrzunehmen; sie hatte nur den Eindruck von Zähnen, von Schuppen und Krallen, aber die Art, wie diese Geschöpfe das Licht verzerrten, die Furcht, in die sie sich einhüllten wie in einen Mantel, jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken und ließ ihre Knie aneinander schlagen. Ohne nachzudenken, hob sie ihre Waffe und feuerte auf sie. Die Energieblitze zerplatzten in der Luft vor ihnen, als hätte Lauren Farbbeutel gegen eine Fensterscheibe geworfen, und die Wirkung, die ihre Munition auf diese Ungeheuer hatte, war ungefähr genauso groß wie die von Farbbeuteln. »Die Vodi ist hier«, sagte eins dieser Geschöpfe mit einer Stimme, die den Boden unter Laurens Füßen erzittern ließen. Und alle drei Ungeheuer wandten sich, ungehindert von Laurens Schüssen, Petes Schüssen und denen der drei Verräter, dem Zelt mit dem Tor zu. Molly und Jake waren natürlich lange fort, dachte Lauren. Aber das Tor würde immer noch offen sein. Sie durfte nicht zulassen, dass diese drei Geschöpfe Molly und Jake folgten. Sie gab ihrer Waffe den Befehl, zu töten, statt nur zu betäuben. Nichts änderte sich. Die drei Geschöpfe schwebten über dem Zelt, und es brach in Flammen aus, dann ließ jedes der drei Ungeheuer einen eiförmigen Gegenstand fallen. Drei Explosionen hallten durch die Lichtung und warfen Lauren zu Boden. Ihre 444 Waffe entglitt ihr - aber sie hatte immer noch die Pistole in ihrem Schulterhalfter. Brians Pistole. Sie nahm sie heraus, entsicherte sie und feuerte auf eins der Ungeheuer. Ihr erster Schuss, den sie sorgfältig auf den Kopf gezielt hatte, war ein Treffer. Schreiend und sich krümmend stürzte das Monstrum vom Himmel. Die beiden anderen Bestien wandten sich um, um Lauren anzustarren, und ihr Mund wurde trocken, und ihr Herz hämmerte in ihrer Brust wie das Herz eines Kaninchens, das unter dem Blick eines Jagdfalken erstarrte. Sie zielte noch einmal, diesmal auf den zweiten Gräuel, und obwohl ihre Finger zitterten, drückte sie ab. Diesmal traf die Kugel das Ungeheuer in der Mitte des Körpers - es kreischte, und die Dunkelheit um es herum schmolz, und im nächsten Augenblick war es zusammen mit seinem Gefährten verschwunden. Lauren sah auf den Boden, wo das erste Ungeheuer niedergefallen war, und stellte fest, dass auch dieses verschwunden war. Plötzlich explodierten in den Felsen zu ihrer Linken Schüsse. Nachdem die größere Gefahr gebannt war, hatten die drei Verräter beschlossen, Lauren auszuschalten. Sie sicherte ihre Browning und schob sie hastig wieder in das Halfter. Die Pistole hatte nicht genügend Reichweite, um die Burg treffen zu können. Lauren machte einen Hechtsprung hinüber zu dem magischen Gewehr, riss es hoch und hatte die Befriedigung, zu sehen, dass einer der Verräter fiel. Und dann erinnerte sie sich daran, dass die Waffe immer noch auf Töten eingestellt war. Molly war nicht durch den Spiegel auf die Erde zurückgekehrt. Sie hatte davor gestanden und versucht, sich einzureden, dass sie nicht wirklich gehen musste; dass sie alles, was getan werden musste, auch in Oria tun konnte. Und 445 dann hatte sie Yaner und Laurens Freund, Pete, näher kommen hören, und Lauren hatte gerufen, dass sie ihnen Deckung gäbe, und Molly war klar geworden, dass sie nicht mehr in dem Zelt sein durfte, wenn die Männer dort
ankamen, denn sie hatte es versprochen. Sie hatte es ihrer Schwester versprochen, und jetzt musste sie ihr Versprechen halten, auch wenn sie es nicht wollte, auch wenn es ihr noch so sehr widerstrebte, dieses um sich tretende, zappelnde, weinende Kind an einen Ort zu bringen, an den sie nie wieder hatte zurückkehren wollen. Sie hatte es versprochen. Sie hatte sich seitlich vor den Spiegel gestellt, damit sie und Jake gemeinsam durch das schmale Tor treten konnten. Und selbst nachdem Molly den ersten Schritt getan hatte, zögerte sie immer noch, denn sie konnte sich kaum dazu überwinden, auch den zweiten Schritt zu tun. Die untere Körperhälfte von Jake und ihre rechte Seite waren noch in Oria, als das Zelt plötzlich explodierte. Flammen züngelten auf. Molly spürte die Erschütterung, und die Kette um ihren Hals schien zu vibrieren. Die Hitze und die Wucht der Explosion berührten sie kaum. Jake jedoch blieb nicht unberührt. In der einen Sekunde hielt sie einen strampelnden kleinen Jungen im Arm und in der nächsten nur noch den zerfetzten Körper eines Kindes. Er schrie nicht einmal auf. Er lag schlaff in ihren Armen, ein blutiger, bebender Klumpen aus Haut und Knochen und Fleisch. Und während der Pfad sie durch das grüne Feuer hindurchzog, fort von Oria, zurück auf die Erde, drückte sie seinen blutüberströmten kleinen Körper fest an sich. Er atmete. Gegen alle Wahrscheinlichkeit, gegen alle Hoffnung atmete er noch, und Molly begriff, dass er nicht allein war. Dass irgendeine steinerne Macht, die Teil des Feuers selbst war, ihn umfasst hatte und mit seiner eigenen Lebenskraft nährte, ihn an diesem Ort zwischen den Wel446 ten am Leben erhielt, wo Mollys Magie ihn nicht retten konnte. Sie konnte Gedanken um sie herum spüren: »Halt durch, Jake. Du darfst nicht sterben. Deine Mutter braucht dich. Halt durch - ich bin bei dir ...« Aber sie konnte die Quelle dieser Gedanken nirgendwo entdecken. Nach allem, was sie sah, glitten sie und Jake allein zwischen den Welten hindurch, aber sie konnte diese Stimme hören. Sie konnte diese Kraft spüren. Und Jake lebte. In dem Augenblick und der Ewigkeit, in denen sie und das Kind ihrer Schwester an jenem Ort außerhalb der Zeit schwebten, wurde Molly bewusst, dass er, sobald sie durch die andere Seite des Tors trat, sterben würde. Die Kraft, die ihn nährte, heilte ihn nicht - er war immer noch bewusstlos, war immer noch tödlich verletzt, blutete immer noch. Sobald sie auf der anderen Seite durch das Tor traten, würde Jake sterben. Sie hatte noch Zeit, an Seolar zu denken. An ihr Versprechen, zu ihm zurückzukehren, an ihr Volk, die Veyär, die sie brauchten. Sie hatte Zeit, an ihr Versprechen Lauren gegenüber zu denken, dass sie auf Jake Acht geben würde. Sie hatte sogar Zeit, sich dafür zu hassen, dass sie nicht so schnell reagiert hatte, wie es notwendig gewesen wäre. Aber vor allem hatte sie Zeit, an den Jungen zu denken, dessen Mutter ihn in der letzten Nacht seines Lebens zu ihr gebracht hatte. Sie hatte ihn abgewiesen. Sie konnte noch immer seine Augen sehen. Und in den blicklosen Augen, die aus Jakes zerfetztem Körper zu ihr aufsahen, stand dasselbe stumme Flehen. »Hilf mir. Ich habe dies hier nicht verschuldet. Ich habe es nicht verdient. Ich habe nichts getan, das dieses Schicksal rechtfertigen könnte.« Echos ihrer Vergangenheit, der Schmerz ihrer Gegenwart, Geister einer Zukunft, die ihre hätte sein können. Sie konnte nicht nach Oria zurückkehren, wo sie ihn hätte heilen können, ohne den Preis dafür zu zahlen. Der Pfad 447 trug sie nur in eine Richtung, und wie sehr sie auch mit ihrer Willenskraft dagegen ankämpfte, sie und Jake bewegten sich weiter in diese Richtung. Sie würde keine Zeit haben, herauszufinden, wie sie noch einmal durch das Tor gehen konnte - ob es sie ein zweites Mal überhaupt einlassen würde. Zwischen Jake und dem Tod stand nur ein einziger Atemzug. Sie konnte es in jeder Zelle ihres Körpers spüren, und je näher sie der Erde kam, umso unerbittlicher wurde dieses Gefühl. Das Wesen, das bei ihm war, hielt den Atem mit purer Willenskraft in dem verwüsteten Körper des Kindes fest, aber Molly wusste aus irgendeinem Grund, dass die Macht und der Einfluss dieses Wesens am Tor enden würden, und dass sie und Jake dann auf sich allein gestellt waren. Sie konnte Jake retten, aber sie würde dafür mit allem zahlen, was sie hatte. Mit ihrer Zukunft, ihren Träumen, ihrer Pflicht und ihrem Leben. Sie konnte ihn sterben lassen und das Leben führen, das schöner war als alles, was sie sich jemals erträumt hatte - aber wenn sie ihn sterben ließ, würde sie nicht nur der Geist eines Kindes den Rest ihres Lebens begleiten, sondern zweier Kinder. Und dann blieb ihr keine Zeit mehr. Der Pfad entließ sie in die Diele eines hübschen alten Hauses, und der Schmerz von Jakes Verletzungen verschlang sie. Die Wahl lag bei ihr. Sie hatte nur Sekunden, um zu tun, was getan werden musste, sonst würde es unmöglich sein. Lauren schaltete die Waffe wieder auf Betäubung und feuerte weiter, aber sie wusste, dass sie jemanden getötet hatte. Die Luft um sie herum veränderte sich, und Wolken schoben sich vor die Sonne. Lauren wusste, dass sich ein Sturm zusammenbraute, und sie spürte, dass sie in seinem Zentrum stand. Eric hatte gesagt, es würde Konsequenzen haben, wenn sie Magie benutzten, um zu töten, und jetzt fühlte sie, dass diese Konsequenzen kamen.
448 Sie biss die Zähne zusammen, feuerte weiter und betete, dass die Verräter in Deckung bleiben würden, während Pete und Yaner die Wächter in Sicherheit brachten. »Ist das Tor noch da?«, brüllte sie Pete zu. »Moment!« Pete, den die Explosion ebenfalls zu Boden gerissen hatte, hatte Yaner beim Aufstehen geholfen, und zu zweit schleiften sie die Frau - June Bug, dachte Lauren - zu der Stelle hinüber, an der das Zelt gestanden hatte. Einen Augenblick später rief Pete: »Es ist noch hier. Und offen ist es auch noch. Der Rahmen ist verkohlt, aber das Tor selbst sieht so aus, als sei es unberührt geblieben.« »Dann beeil dich. Wir müssen hier weg.« Einige Sekunden lang hörte sie nichts, dann rannte er an ihr vorbei. »Ich werde sie alle rüberbringen. Der Einzige, von dem ich mir sicher bin, dass er es nicht schaffen wird, ist Jimmy Norris. Es ist nicht mal genug von ihm übrig geblieben, um einen Schuhkarton damit zu füllen.« Lauren hätte auf diese Information verzichten können, sagte aber: »Dann lauf. Wir kriegen Ärger.« »Scheiße«, brüllte Pete, nahm Lauren beim Wort und lief los. Yaner, dessen Beine bei weitem länger waren als die eines jeden Menschen, hatte bereits die halbe Strecke bis zum Tor zurückgelegt. Er trug einen weiteren Wächter auf dem Rücken, dessen Arme ihm wie Haltegriffe über die Schultern baumelten. Lauren hätte unmöglich sagen können, um wen es sich handelte. Pete jedoch packte sich als Nächsten Eric und hievte sich ihn auf den Rücken. Lauren konnte nur einen flüchtigen Blick auf die beiden werfen, als sie auf sie zukamen; dann sah sie einen Kopf über der Brustwehr auftauchen und schoss darauf. Pete und Yaner rannten hin und her, während sie Salve um Salve auf die Burg abfeuerte. Und dann wurde sie von einem Bolzen getroffen, und sengender Schmerz durch449 zuckte sie. Sie kippte zur Seite weg und starrte entsetzte auf den Stumpen, wo ihr Bein gewesen war. Der Schmerz wollte sie verschlingen - aber sie griff nach der Magie, ohne sich um einen späteren Preis zu scheren, um die Regeln der Wächter, um irgendetwas anderes als die Tatsache, dass sie niemals zu Jake zurückkehren würde, wenn sie auf diesem Schlachtfeld starb, und sie heilte den Stumpf. Beobachtete, wie ihr Bein sich aus grünem Feuer neu erschuf. Stand wieder auf, rief: »Zur Hölle damit! Soll der Sturm doch kommen!« Und stellte ihre Waffe wieder auf Töten. Und selbst wenn sie die Apokalypse selbst heraufbeschwor, sie würde zu Jake zurückkehren. Die Waffe in ihren Händen veränderte ihre Gestalt. Sie wurde größer und richtete mit jedem Treffer mehr Schaden an als mit dem letzten. Gleichzeitig wurde der Lauf des Gewehrs länger und die Zielgenauigkeit größer. Lauren begriff, dass sie das Gewehr mit bloßer Willenskraft zu ihren Zwecken verformte; sie wollte die Männer auf der Burg und die Burg selbst zerstören, und sie tat es. Die Brustwehr begann zu bröckeln, und eine dunkle Gestalt stürzte viele Meter in die Tiefe. Dann bewegte sich auf beiden Seiten etwas, während der letzte überlebende Wächter davonrannte, um sich eine neue Deckung zu suchen. Die Brustwehr der Burg regenerierte sich - und mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der sie das tat, zerschmetterte Lauren sie mit einem einzigen Treffer aus der Waffe, die jetzt so etwas wie ein Abwurf gerät für Nukleargranaten war. Zwei Salven grünen Feuers schössen auf sie zu, und sie sprengte beide vom Himmel weg. Sie war zu einem Racheengel geworden. Zu einer der Furien, deren einziges Ziel die vollkommene Vernichtung ihrer Feinde war. Der Sturm, der sich um sie herum aufgebaut hatte, brach jetzt mit voller Wucht aus - Blitz und Donner, peitschende Winde, die durch die Bäume heulten, Steine aus der Burg450 mauer rissen, den letzten der Verräter vom Dach fegten und Männer aus den unteren Stockwerken des Gebäudes nach oben saugten und sie hoch in die Luft schleuderten. Pete schrie ihr zu, dass sie damit aufhören solle, dass er immer noch einige Wächter retten müsse, aber der Sturm holte sich seine Nahrung aus den Tiefen ihres Wesens. Er hörte nicht auf Logik, auf Vernunft oder auf irgendetwas anderes als den maßlosen Zorn auf diese Menschen, die versucht hatten, sie ihrem Sohn wegzunehmen. Sie konnte ihren Zorn nicht abschalten, und so wurde der Sturm immer wilder. Sie hatte aufgehört zu schießen - die Männer hingen hoch in der Luft und kreisten hilflos in dem Wirbelsturm, dem sie das Leben gegeben hatte. Sie konnten ihr nichts mehr anhaben. Aber der Wirbelsturm konnte es, daher ließ sie ihre Waffe fallen und rannte mit Pete und Yaner zu den letzten Wächtern hinüber, um sie durch heulenden Wind und umherfliegende Trümmer zu ziehen, während Steine, Stöcke, Blätter und Äste auf sie hinabprasselten. Der Wirbelsturm hielt seine Position über der Burg - oder über dem, was von der Burg noch übrig war -, lange genug, um den dreien Zeit zu geben, alle Wächter durch das Tor zu stoßen. »Willst du es dabei belassen?«, schrie Pete, der Mühe hatte, den kreischenden Wind zu übertönen. »Nein! Ich muss es zu Ende bringen! Wir können unmöglich wissen, was der Sturm auf der Erde anrichtet, wenn ich ihn sich selbst überlasse. Wenn Magie, die hier gewirkt wird, immer ein Echo dort drüben hat, dann möchte ich nicht einmal daran denken, was das hier im Augenblick auslöst. Wenn ich einfach weggehe und den Sturm weiter wüten lasse ...«
»Wie kann ich dir helfen!«, rief Pete durch das Dröhnen der Elemente. Lauren schüttelte den Kopf. »Geh zurück! Hilf Molly mit 451 den Wächtern und Jake. Ich komme nach, so schnell ich kann.« »Der Sturm kommt von dir!«, schrie Pete. »Wenn du gehst, wird er sich vielleicht einfach von allein legen.« Lauren dachte darüber nach. Und nickte. »Lass uns gehen. Ich komme in einer Minute noch mal her, um nachzusehen, ob es funktioniert hat. Wenn nicht - dann werde ich mich später darum kümmern.« Yaner trat durch dem Spiegel. Dann Pete. Lauren folgte ihm. Einen Augenblick lang spürte sie die herrliche Umarmung des grünen Feuers, das zwischen den Welten brannte aber diesmal war sie allein. Sie konnte Brian nicht spüren, dessen Berührung sie jedes Mal wahrgenommen hatte, außer bei der einen Gelegenheit, als sie nach Kerras hinübergegangen war. Sie tastete nach ihm und versuchte, ihn in dem zeitlosen Augenblick zu finden, in dem sie durch das Feuer schwebte. Der Pfad spie sie in ihre Diele, bevor sie dazu bereit war - und schleuderte sie ins Chaos. Sie landete auf einem Haufen von Gliedmaßen, und aus der Tiefe dieses Gewirrs hörte sie schwaches Schluchzen. Und ein einziges, leises Wimmern. »Mama.« Pete und Yaner, die eine Sekunde vor ihr da gewesen waren, zogen bereits die ersten Menschen von dem Haufen herunter. Lauren tat es ihnen nach. Sie berührte warme Körper und solche, die so kalt waren, dass sie schauderte. Irgendwo unter ihnen lag Jake. »Was zum Teufel ist passiert?« »Keine Ahnung. Ich habe nach Molly gerufen, aber sie ist nicht hier.« »Sie wollte nicht zurück«, fauchte Lauren. »Sie hat Jake allein durch das Tor gestoßen - sie hat ein kleines Kind in diesem Haus allein gelassen ...« Sie zerrte an Leibern, ohne sich darum zu scheren, ob sie 452 lebten oder tot waren, ob sie sichtbare Verletzungen hatten oder nicht. »Mama!«, weinte Jake noch einmal. Und dann fand sie ihn und mit ihm Molly. Beide waren blutüberströmt. Jakes Kleider hingen ihm in Fetzen vom Leib. Mollys Kleider waren zwar blutdurchnässt, schienen allerdings unversehrt zu sein. Molly selbst rührte sich jedoch nicht. »Ma-MA!«, heulte Jake und streckte ihr die Arme entgegen. Lauren riss ihn zwischen den anderen Menschen heraus und untersuchte ihn. Er schien unverletzt zu sein. Zu Tode verängstigt. Blutüberströmt. Aber unverletzt. Sie presste ihn fest an sich, begrub das Gesicht in seinem Haar und bemerkte kaum, dass ihr Tränen über die Wangen strömten und dass sie kaum atmen konnte, so heftig weinte sie. Pete kniete neben Molly nieder, die Finger auf ihrem Puls. »Sie ist tot«, sagte er leise und blickte zu Lauren auf. »Ich kann keine äußerlichen Verletzungen sehen, aber sie hat aus dem Mund und den Ohren geblutet; ich würde sagen, sie ist an schweren inneren Blutungen gestorben.« Yaner, ein dünner Geist in dieser Welt, stieß ein Wimmern aus und warf sich neben Mollys jetzt wieder vollkommen menschlichen Körper zu Boden. Nebel erhob sich um ihn herum, und die Luft wurde eisig. Sein Wehklagen war so furchtbar, dass Laurens Zähne klapperten und Jake aufschrie. Lauren begriff nicht, was sie da vor sich sah. »Molly konnte heilen. Selbst hier auf der Erde verfügte sie über die Magie, um zu heilen. Warum sollte sie sterben?« »Das weiß ich nicht. Aber sie ist tot.« Pete sah Jake an, dann Lauren und schließlich den hysterischen Yaner. »Du musst den kleinen Burschen für ein paar Minuten von hier wegschaffen. Geh mit ihm nach oben und mach ihn sauber, während ich mich um das alles hier kümmere.« 453 Lauren nickte. Dann fiel ihr der Sturm wieder ein. »Scheiße. Ich muss noch einmal durch das Tor gehen, um mich davon zu überzeugen, dass der Sturm wirklich nachlässt. Und dann muss ich alle Wächter, die noch leben, nach Oria zurückbringen, um festzustellen, ob ich sie irgendwie heilen kann.« Pete zuckte zusammen. »Geh und sieh nach dem Sturm, und dann komm zurück und kümmere dich um deinen Sohn. Die anderen müssen ein paar Minuten warten. Diejenigen, die noch leben, haben alle einen starken Puls, warme Haut und keine Blutungen - wir werden keinen von ihnen verlieren, und je weniger Magie du dort drüben wirkst, umso besser ist es für uns hier auf der Erde. Habe ich Recht?« Lauren wusste, dass er Recht hatte. Die Ereignisse des Tages - der vergangenen Tage - erschreckten sie zu Tode, und sie hatte das Gefühl, von Dingen überrollt worden zu sein, die ihre Vorstellungskraft überstiegen. Sie wollte alles wieder gutmachen. Sie wollte in Ordnung bringen, was zerstört worden war. Nur dass sie dazu nicht in der Lage war. Sie konnte die Toten nicht zurückholen, sie konnte die Magie nicht auslöschen, die so viel Herzeleid und Kummer verursacht hatte, und sie konnte ihre tote Schwester nicht retten, die sie erst vor so kurzer Zeit gefunden hatte. Aber sie konnte nach dem Sturm sehen, den sie zurückgelassen hatte. Und dann konnte sie nach Hause gehen. Sie trat vor den Spiegel, mit Jake auf dem Arm, der sich an ihren Hals klammerte. Und als sie ihn an Pete übergeben wollte, schrie er, ein wortloses, schrilles Kreischen, das keinem Laut ähnelte, den sie je von ihm gehört hatte. Seine Arme lagen wie Schraubstöcke um ihren Hals, er hatte die Beine um ihren Körper
geschlungen, und er vergrub den Kopf an ihrer Wange. »Er hat Angst«, bemerkte Pete. 454 Lauren streichelte ihn, wiegte ihn sachte hin und her und sprach zärtlich auf ihn ein: »Es ist gut, es ist alles gut, du brauchst keine Angst zu haben.« Aber er ließ sie nicht los, und als sie versuchte, seine Arme mit Gewalt von ihrem Hals zu lösen, kreischte er abermals. Sie sah Pete an. »Er ist vollkommen in Panik. Ich kann sein Herz schlagen hören, er hat solche Angst. Ich kann ihn nicht bei dir lassen, und ich will ihn nicht noch einmal mit nach Oria nehmen. Nicht, wo die Dinge dort so ungewiss sind.« »Halte das Tor für mich offen. Ich gehe rüber und sehe nach«, sagte Pete. »Wenn es Probleme gibt, komme ich zurück und gebe dir Bescheid, dann können wir immer noch darüber nachdenken, was wir tun.« »Danke.« Sie legte die Hand auf das Tor, und es erwachte schimmernd zum Leben. »Geh. Und komm sofort wieder zurück. Ich halte offen, solange es sein muss, aber ich möchte nicht, dass dir da drüben etwas zustößt.« »Ich komme schon klar.« Er trat durch das Tor, und sie sah ihm nach, während er schimmernd über die Straße aus Feuer schwebte und das Tor in Oria wieder verließ. Sie konnte erkennen, dass er in die Hocke ging und die Augen mit der Hand beschirmte. Dann lief er auf etwas zu, beugte sich vor, und kurz darauf glaubte sie, dass er sich übergab, obwohl sie sich nicht sicher sein konnte. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. Er starrte noch einmal auf den Boden, aber Lauren konnte nicht erkennen, was er sah, ohne das Tor aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er nahm etwas aus der Tasche, machte eine schnelle Bewegung, lief ein Stück weiter, tat noch etwas anderes - immer den Rücken dem Tor zugewandt, so dass Lauren es nicht genauer beobachten konnte. Dann entfernte er sich von seinem Fund, worin immer dieser bestehen mochte. Einen Augenblick später kehrte er durch den Spiegel zu ihr 455 zurück. Als er die Diele wieder betrat, war er aschgrau im Gesicht und hatte Schweißperlen auf der Stirn und auf der Oberlippe. »Was hast du da drüben vorgefunden?« Sein Mund war eine dünne, grimmige Linie, und er mied ihren Blick. »Der Sturm hat sich gelegt. Es hat tatsächlich genügt, dass du Oria verlassen hast.« »Gut. Was hast du herausgefunden?« »Die Verräter sind alle tot«, erwiderte er. »Ebenso die Eingeborenen, die bei ihnen waren.« Sie konnte an seinem Gesicht ablesen, dass er ihr nichts Näheres erzählen würde. Und sie konnte in seinen Augen lesen, dass sie es auch nicht wissen wollte. Aber er hatte Blut an den Händen, Blut, von dem sie überzeugt war, dass es noch nicht da gewesen war, als er das Tor durchschritten hatte. Und sie sah Blutflecken auf seiner rechten Tasche, als hätte er seine blutverschmierte Hand hineingeschoben und wieder herausgezogen. Sie starrte ihn an, bis er ihr endlich in die Augen sah, aber sie sagte nichts, sondern wiegte Jake nur weiter schweigend hin und her. »Selbst tollwütige Hunde verdienen einen schnellen, barmherzigen Tod«, bemerkte Pete. Soweit Lauren sich erinnern konnte, war der Verräter und die Veyär in der Burg in die Luft hinaufgewirbelt, gefangen in dem Wirbelsturm. Sie dachte über den Sturm nach, der sich plötzlich gelegt haben musste, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Vielleicht war genau das geschehen. Vielleicht hatte der Wirbelsturm aber auch jedes seiner Opfer freigegeben, bevor er erstorben war. Hässlich. Ein hässliches Schicksal. Pete wandte sich in die Richtung, wo Eric, June Bug, die anderen Wächter und Molly immer noch lang ausgestreckt auf dem Fußboden lagen, und sagte: »Ich muss mich für eine 456 Weile irgendwie nützlich machen. Wie wär's, wenn ich mich um unsere Leute kümmere?« Lauren strich über Jakes blutverfilztes Haar und antwortete: »Ich bin oben und bade ihn, falls du mich brauchst.« Jakes Windel oder das, was davon noch übrig war - war blutdurchtränkt. Lauren zog sie ihm aus und setzte ihn in die Badewanne, dann starrte sie die Windel an und versuchte herauszufinden, was geschehen war. »Ihre Kleider sind voller Blut, aber ich kann keine Wunden entdecken, nicht einmal einen Kratzer. Es scheint ihr nichts zu fehlen, abgesehen davon, dass sie tot ist. Aber deine Kleider sind zerfetzt, deine Schuhe und Socken sind verschwunden, ein Teil deiner Hose und der Rücken deines Mantels sind herausgerissen worden, dein Hemd ist weg, und in deiner Windel ist genug Blut, um jemandem eine Transfusion zu geben. Das Blut auf Mollys Körper stammt nicht von ihr, nicht wahr?« Mit zitternden Händen massierte sie Shampoo in Jakes Haar. »Es ist dein Blut, nicht wahr? Deshalb hast du solche Angst. Etwas Schreckliches ist dir zugestoßen. Sie hat dich nicht gleich von dort fortgebracht, und dir ist etwas Furchtbares zugestoßen, und sie ist gestorben, als sie dich wieder gesund gemacht hat.« Jake wehrte sich nicht, als sie ihm das Haar wusch, und er wehrte sich auch nicht, als sie ihm das Blut von der Haut schrubbte. Das war so untypisch für ihn, dass Lauren am liebsten geschrien hätte. Er hasste es, wenn sie ihm das Haar wusch, er hasste es, geschrubbt zu werden, und er hatte noch nie in der Badewanne still gesessen. Jetzt saß er wie ein kleiner Zombie dort und zitterte in der warmen Luft und dem warmen Wasser. Er wirkte wie
ein Fremder auf sie, wie das Kind eines anderen. 457 »O Schätzchen«, flüsterte sie. »Es tut mir so leid. Ich wünschte, ich könnte ungeschehen machen, was du erlebt hast. Ich wünschte, ich könnte dafür sorgen, dass du es vergisst.« Einen Augenblick lang dachte sie über diese Möglichkeit nach. Sie konnte tatsächlich dafür sorgen, dass Jake diese Dinge vergaß - aber was würde er dabei sonst noch vergessen? Ihr Gedächtnis war nach dem Experiment ihrer Eltern nicht mehr in Ordnung gewesen, und die beiden hatten viel mehr Erfahrung mit Magie gehabt als sie. Es war gut möglich, dass sie nicht nur sein Gedächtnis auslöschte, sondern auch seine Persönlichkeit. Es war möglich, dass sie ihn zu einem seibernden, stumpfsinnigen Etwas machte und der temperamentvolle, nervtötende, entzückende kleine Junge, der er immer gewesen war, zu existieren aufhören würde. »Nein, das will ich nicht. Ich wünschte, ich könnte ungeschehen machen, was immer dir zugestoßen sein mag, aber ich kann es nicht. Und ich werde nicht mit deinem Gehirn Gott spielen.« Sie küsste ihn auf die Wange. »Wir werden damit fertig, du und ich. Wir werden dorthin zurückfinden, wo alles gut ist, wo du lachen und spielen kannst. Du bist jung, und du hast mich. Es wird dir bald wieder besser gehen. Ich verspreche es dir.« Sie hoffte nur, dass ihr Versprechen kein leeres war. Schließlich ging sie wieder nach unten, mit Jake auf dem Arm, der sich abermals wie eine Miesmuschel an ihr festsaugte. Auf dem Fußboden in der Diele saß Eric neben Louisa Täte. Beide sahen bleich und zittrig aus, aber beide redeten. Terry Mayhem, der bereits auf den Beinen war, half Pete, die Leichen auf die Veranda hinauszubringen. June Bug war auf Händen und Knien damit beschäftigt, das Blut von dem Parkett zu schrubben. George Mercer konnte Lauren nicht sehen, aber als sie am Fuß der Treppe ankam, hörte sie seine Stimme aus der Küche. 458 »... ja, so ist es. Weitere Grippeopfer. In Ordnung ... und einen Fall, bei dem wir uns nicht sicher sind. Der Deputy ist hier - ja, genau - Pete Stark. Wir haben von der Sache mit dem Sheriff gehört, aber der Deputy ist hier in der Stadt gewesen. Nein, Sir - er hat gerackert wie ein einarmiger Tapezierer. Ich glaube nicht, dass er Zeit hatte, den Sheriff zu kidnappen und sich in Luft aufzulösen.« Eine lange Pause. »... nun, ich habe gehört, dass einige Krankenschwestern verrückt spielen ... Pete hat bereits alles geklärt und die Leichen freigegeben ... eine Stunde oder länger? ... geht in Ordnung. Wir werden hier sein. Ich weiß, dass Sie sich zuerst um die Leute kümmern müssen, die noch eine Chance haben.« Lauren hörte seine Schritte im Flur. George war erst Mitte vierzig, aber in diesem Moment sah er sehr alt und gebrechlich aus. »Ich muss nach Hause und nach meiner Familie sehen«, sagte er. »Ich habe versucht, anzurufen, aber es ist niemand an den Apparat gegangen. Die Grippe ...« Mehr brauchte er nicht zu sagen. »Soll ich Sie begleiten?«, fragte Pete. »Sie sollten da nicht allein hinfahren.« »Ich komme schon klar. Ich ... möchte niemanden bei mir haben. Außerdem bleiben Sie besser hier. Sie schicken einen Krankenwagen vorbei, sobald sie können, aber die Frau in der Zentrale meinte, sie wären während der letzten vierundzwanzig Stunden pausenlos unterwegs gewesen und müssten zuerst die Lebenden holen.« »Sie sind draußen, und es ist kalt«, sagte Eric leise. »Sie werden nicht so schnell verwesen.« »Kommt mir nicht besonders respektvoll vor«, meinte George. »Ich werde sie zudecken«, sagte Pete. »Ich werde sie nicht einfach so dort liegen lassen. Davon abgesehen können wir nicht viel für sie tun.« 459 June Bug sagte: »Das genügt.« Lauren sah Tränen in ihren Augen und begriff in diesem Moment, dass sie eine Schwester verloren hatte. Sie ging neben June Bug in die Hocke und flüsterte: »Das mit Bethellen tut mir leid.« June Bug nickte. »Mir auch. Und Molly ... Sie war deiner Mutter so ähnlich, es war fast so, als hätten wir sie zurückbekommen.« Sie wrang ihren Schwamm in den Eimer mit blutrotem Wasser aus, tauchte ihn in den Eimer mit frischem Wasser und machte sich wieder über den Fußboden her. »Ich bin müde. Ich bin es müde, eine Wächterin zu sein, ich bin den Schmerz müde, das Leben. Ich weiß nicht, warum ich überlebt habe, aber im Augenblick wünschte ich mir, ich wäre ebenfalls gestorben.« Lauren ließ sich neben June Bug nieder, ohne Jake loszulassen, und legte der alten Frau eine Hand auf die Schulter. Dann wartete sie, bis June Bug den Blick von dem blutverschmierten Fußboden hob und sie ansah. »Es tut mir Leid. Es tut mir Leid, dass Sie die Menschen verloren haben, die Sie geliebt haben. Ich weiß, was für ein Gefühl das ist. Ich wünschte, ich wüsste es nicht - ich wünschte, ich würde hier nur Phrasen dreschen, um Sie zu trösten, aber ich weiß genau, wie Sie sich fühlen müssen. Ich habe viele Jahre auf Brian gewartet - Jahre, in denen ich eine Menge dummer Fehler gemacht habe, weil ich nach etwas gesucht habe, von dem ich nicht glaubte, ich würde es jemals finden oder auch nur definieren können. Brian hat mich gefunden, nicht umgekehrt.« Sie zog die Hand zurück und sah zu den Leichen auf der Veranda hinaus, dann wandte sie den Blick wieder ab, weil es wehtat, hinzusehen. »Es gibt einen Popsong, in dem der Sänger davon spricht, dass er nicht einschlafen möchte, weil er nicht eine einzige Minute seiner Zeit mit der Frau, die er liebt, verlieren will. Und bis Brian in mein Leben getreten ist, hätte ich gesagt, dass der Text dieses Songs 460 nichts als sentimentaler Schwachsinn sei. Dass es solche Gefühle einfach nicht geben könne.« Obwohl sie einen
Kloß in der Kehle hatte, kämpfte sie sich weiter. »Aber er fand mich. Ich erinnere mich an eine Nacht ganz am Anfang unserer Beziehung. Er kam nach einer vollen Schicht auf dem Flughafen in unsere kleine Wohnung nach Hause und blieb die ganze Nacht wach. Er hielt auch mich wach, denn er hatte Angst, dass er etwas versäumen würde, wenn er einschlief. Einen Monat lang schlief er nur zwei Stunden in der Nacht, bevor er zur Arbeit ging, dann wurde er nach Übersee versetzt, und ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, weil er fort war.« Sie schloss die Augen. »Wir haben einander ein paar Jahre lang gehabt, und jetzt ist er für immer fort, und seit seinem Tod konnte ich nicht mehr richtig atmen. Es gibt für mich nicht mehr genug Luft in der Welt, um zu atmen, und der einzige Grund, warum ich überhaupt noch lebe, ist Jake. Ohne ihn ...« Sie schüttelte den Kopf. Tränen liefen June Bug über die Wangen. Sie starrte auf ihre Hand hinab, in der sie noch immer den Schwamm hielt, und ihr graues Haar hing ihr wirr ums Gesicht. »Es wird nicht besser«, sagte sie. »Ein Jahr... fünf Jahre ... zehn Jahre. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es besser wird, aber es wird nie wieder genug Luft geben.« Lauren spürte Jakes Wange auf ihrer und schluckte den Kloß in ihrer Kehle herunter. Dann sagte sie: »Ich weiß es. Die wahre Liebe hat mich gefunden, und ich habe sie erkannt, und die ganze Zeit, während Brian in meinem Leben war, wusste ich, wie viel Glück ich hatte. Ich wusste es. Ich dachte immer, nur die Menschen, die die Liebe nicht zu schätzen wissen, würden sie verlieren - und ich wusste, was ich hatte, und ich war dankbar. Und weil ich wusste, was für ein Wunder Brian war, glaubte ich, ich werde ihn behalten können. Aber ich habe ihn trotzdem verloren.« Sie dachte 461 an den Ort zwischen den Welten, an dem Brian sie für eine Weile wieder gefunden hatte und dass er jetzt nicht mehr dort war. Er war fort. Sie konnte ihn nicht finden; sie hatte ihn noch einmal auf eine andere Art und Weise verloren. Plötzlich hob Jake den Kopf, beugte sich vor, küsste sie auf die Wange und strich ihr mit seiner kleinen Hand sanft über den Nacken. »Daddy hat Mama lieb«, erklärte er. »Daddy ... sagt... hat dich lieb, Mama.« Er zog das Gesicht zusammen und runzelte mit grimmiger Konzentration die Stirn. Dann fügte er hinzu: »Alles gut. Daddy sagt ... alles gut.« Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. Er gab sich große Mühe, die richtigen Worte zu finden, und sie konnte seine Anstrengung sehen. Schließlich blies er die Wangen auf, schüttelte den Kopf und sagte: »Daddy hier. Alles gut.« Er küsste sie noch einmal auf die Wange, legte den Kopf auf ihre Schulter und schlang ihr die Arme um den Hals. Lauren starrte June Bug an. »Er kann sich nicht an seinen Daddy erinnern«, flüsterte sie. »Er spricht niemals über Brian, es sei denn, er sieht sich das Bild an, das ich auf meinem Nachttisch stehen habe. Und das auch nur manchmal. Er ...« Was meinte Jake damit, Daddy sei hier? Dass alles gut würde? Was hatte das zu bedeuten? »Brian?«, flüsterte sie und sah sich in der Diele um. »Wenn du hier bist... gib mir ein Zeichen.« Jake, der in ihren Armen immer schwerer geworden war, war eingeschlafen. »Brian?« Und von Jakes Lippen kamen, mit einer Stimme, die teils Jake gehörte, teils einem anderen, klare, unmögliche Sätze. »Ich bin nicht umsonst gestorben. Heute war es wichtig. Ich kann nicht bleiben. Aber ... ich wollte Lebewohl sagen, Lauren. Es gibt eine andere Seite. Ich werde dort sein und warten. Auf euch beide.« 462 »Ich liebe dich«, wisperte sie. »Für immer«, sagte er. Dann schlössen Jakes Augen sich endgültig, und er atmete tief und mit gleichmäßigen Zügen ein und aus. Und Lauren wusste, dass ein Wunder seinen Lauf genommen hatte. 20 Tornados außerhalb der Saison verwüsten den Südosten Charlotte, NC - Reuters Ohne Vorwarnung bildeten sich gestern Nachmittag von Kansas bis hinüber zur Goldküste Floridas eine Reihe Tornados, die 734 Todesopfer und tausende Verletzte forderten. Viele Menschen werden noch vermisst. Die Meterologen im ganzen Land suchen bisher vergebens nach einer Erklärung für diese Anormalität. »Wir hatten über dem ganzen Gebiet seit der letzten Woche stabilen Hochdruck, und keine Messung und kein Radarbild deuteten auf irgendetwas Besonderes hin, bis die Stürme plötzlich losbrachen«, erklärte Steve Billings vom Nationalen Wetterdienst. »Keins unserer Wettermodelle bietet die geringste Erklärung für das, was gestern geschehen ist. >Sturm aus heiterem Himmel< ist die einzig passende Beschreibung.« Andere Experten konnten dem nur beipflichten. (Tornados - Fortsetzung auf S. 2-A) Grippewelle endet ebenso plötzlich, wie sie begann. UPI Praktisch über Nacht ist die Zahl der an der neuartigen Grippe Erkrankten auf normales Maß zurückgefallen. Die Carolina-Grippe, die in wenigen Wochen mehr als vier Millionen Todesopfer verursacht hat, gehört anscheinend der Vergangenheit an. Die Hospitäler, die inzwischen wegen Grippeverlusten knapp an Personal waren, vermerken dankbar, dass sich ihre überfüllten Flure leeren, und die übermüdeten Ärzte und Schwestern, die die Seuche überlebt haben, freuen sich darauf, heim zu ihren Familien und in ihre seit Tagen verwaisten Betten zu kommen. »Es kommt bei Viren mitunter vor,« sagte Dr. Fenton Willoughgy von der Mayo-Klinik, »dass sie abrupt zu
einem Seuchenausbruch führen, sich aber in der dafür anfälligen Population so schnell verbreiten, dass sie selbst mit dieser Geschwindigkeit nicht Schritt halten können, und dann ebenso schnell wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Wir sollten dankbar sein - so furchtbar es auch war, hätte es doch noch viel, viel schlimmer kommen können. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache«, fügte er hinzu, »dass dies seit der Epidemie von 1917 die Grippewelle mit den meisten Todesopfern war.« (Grippe, Fortsetzung S. B-4) 465 Friedensgespräche überraschend abgebrochen - Ägypten und Israel am Rande eines Krieges (Genf, Schweiz - AP) In einer abrupten Kehrtwendung haben Ägypter und Israelis, die, wie es hieß, kurz davor standen, ein Abkommen zur Zusammenarbeit zu unterschreiben, den Verhandlungstisch verlassen. Das Übereinkommen, das die beiden Nationen in weiten Bereichen von Gesundheitspolitik, Bildung und Erziehung sowie wissenschaftlichen Programmen zusammengebracht hätte, war nach Meinung vieler Beobachter die größte Hoffnung auf eine Stabilisierung der Region seit vielen Jahren. Konkrete Gründe für das Zerwürfnis wurden nicht genannt, aber beide Seiten haben Mitglieder ihrer eigenen Verhandlungsdelegation verhaftet und unter Anklage des Verrats gestellt. Unmittelbar nach dem Abbruch der Verhandlungen haben beide Staaten ihre Truppen in Bereitschaft versetzt und längs der gemeinsamen Grenze zusammengezogen. In der Folge kam es auch zu Ausschreitungen durch Zivilisten ... {Verrat in Nahost, Fortsetzung auf S. 9-D) Cat Creek Lauren begrub ihre Schwester Molly an einem strahlenden Morgen, als die ersten Krokusse aus der Erde lugten. Pete wohnte dem Gottesdienst bei, ebenso wie Eric und June Bug. Die übrigen Wächter waren zu Hause geblieben, und Lauren war erleichtert darüber. Sie und Pete hatten ihre 466 Gelübde abgelegt, aber sie fühlte sich noch immer nicht wie eine Wächterin, und sie glaubte nicht, dass sie die falschen Beileidsbekundungen von Menschen ertragen hätte, die ihre Schwester hatten tot sehen wollen. Sie und Jake standen nach dem Gottesdienst vor dem Grab, und sie sagte: »Ich danke dir, Molly. Du wirst mir fehlen, und ich wünschte, wir hätten all die Dinge tun können, die wir zusammen hätten tun sollen. Aber ich danke dir, dass du meinen Sohn gerettet hast.« Jake drehte sich zu ihr um und hob die Arme. »Rauf«, sagte er. Sie nahm ihn hoch, und er klammerte sich an sie. Er war noch immer nicht wieder er selbst. Unerwartete Geräusche erschreckten ihn, er hatte plötzlich furchtbare Angst vor hellen Lichtern, und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Angst vor Fremden. »Brauchst du Gesellschaft?«, fragte Eric sie, als sie über den Friedhof zu ihren Autos zurückgingen. »Ich komme schon klar. Ich muss nachdenken - unsere Eltern hatten einen Plan für Molly und mich, und jetzt muss ich herausfinden, was ich davon allein erledigen kann. Wir sehen uns später.« »Ich bin für dich da«, sagte Eric, und sie bemerkte eine neue Nuance in seiner Stimme und seinem Blick. Er würde in vieler Hinsicht für sie da sein, wenn sie ihm ein Zeichen gab. Sie sagte: »Danke. Das weiß ich zu schätzen.« Und behielt den freundschaftlichen Gesichtsausdruck und den neutralen Tonfall sorgsam bei. Sie hoffte, dass er verstanden hatte. Sie mochten früher einmal die Chance gehabt haben, Freunde zu sein, aber er war bereit gewesen, das Todesurteil über ihre Schwester zu sprechen, und das würde immer zwischen ihnen stehen. »Ruf mich an, wenn du mich brauchst«, sagte er, dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort ab und ging allein zu seinem Wagen. 467 »Das gilt auch für mich, hörst du«, bemerkte Pete. »Du brauchst nur ein Wort zu sagen, und ich werde da sein.« Sie lächelte. »Danke, Pete. Trink ein besonders gutes Bier auf mein Wohl, okay? Und lass dich von Eric nicht allzu sehr schinden. Diese Bemerkung, dass ein Wächter jetzt die Arbeit von vieren tun müsse, bis er Hilfe beschafft habe, klang nicht gerade viel versprechend ... Und mir ist aufgefallen, dass er dich angesehen hat, als er das sagte.« »Ist mir auch aufgefallen«, pflichtete Pete ihr bei. »Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Idee war, das Gelübde abzulegen, aber nach allem, was ich erlebt habe, konnte ich nicht einfach so tun, als sei nichts gewesen. Du verstehst, was ich meine?« Lauren hatte das Gelübde der Wächter zusammen mit Pete abgelegt. Sie nickte und schob Jake von einer Hüfte auf die andere. »Traurigerweise.« Pete beobachtete sie, während sie Jake in seinen Kindersitz setzte. »Wenn du mehr als nur einen Freund brauchst, Lauren ...« Er brach ab. »Ja. Ich schätze, ich werde mich heute nicht vollends zum Idioten machen. Aber wenn du irgendetwas brauchst, weißt du, wo du mich findest.« Sie nickte und ignorierte dabei die Tatsache, dass ihr Puls raste und ihr Mund trocken war. Brian hatte gesagt, dass er auf der anderen Seite auf sie warten würde. Und sie wollte, dass Jake wusste, wer sein Vater gewesen war. Sie wollte ihm alles geben, was sie von Brian hatte. Aber vielleicht hatte er ja mehr von Brian als sie selbst. Sie fühlte sich verloren. »Ich ... suche nicht wirklich, aber ...« Sie sah ihn mit einem winzigen Lächeln an, dann stieg sie in ihren Wagen.
Pete stand noch immer am Straßenrand und sah ihr nach, als sie um die Ecke bog. Für immer. Brian war von der anderen Seite des Todes gekommen, um ihr zu sagen, dass er auf sie warten werde 468 und dass er sie liebe, und er hatte ihr die Ewigkeit versprochen. Wie hätte sie hoffen können, noch einmal eine solche Liebe zu finden? Wie konnte sie es auch nur in Erwägung ziehen, danach zu suchen? Und wenn das Unmögliche wahr würde und sie jemanden fand, den sie ebenso sehr lieben konnte, wie sie Brian geliebt hatte, was dann? Würde Brian auch dann noch auf sie warten? Würde sie den anderen Geliebten zurücklassen müssen? Einen winzigen Augenblick lang konnte sie beinahe Brians Arme spüren, konnte beinahe seine Stimme in ihrem Ohr hören: »Hab keine Angst. Es wird alles gut.« Sie atmete tief durch und bog auf ihre Einfahrt ein. Hab keine Angst. Es wird alles gut. Im Augenblick brauchte sie jedenfalls nichts zu unternehmen. Mit Jake spielen, Essen kochen, ein wenig schlafen. Sie würde sich also keine Sorgen machen. Und vielleicht würde ja wirklich alles gut werden. Kupferhaus, Ballahara Seolar hatte das ganze Kupferhaus schwarz verhängen lassen und ein Trauerjahr ausgerufen - für Molly, für sein Volk, für die Zukunft, die es nun nicht mehr gab. Er saß in seinem Arbeitszimmer an seinem Schreibtisch mit einem aufgeschlagenen Buch vor sich, und wenn jemand vorbeikam, tat er so, als sei er in seine Lektüre vertieft, aber seit Yaner ihm die Nachricht von Mollys Tod überbracht hatte, hatte er nichts mehr gelesen. Mit einem einzigen Schlag hatte er alles verloren - seine Zukunft, sein Volk, seine Welt und seine Liebe. In seinen dunkelsten Augenblicken dachte er darüber nach, selbst den Tod zu suchen. Genau daran dachte er auch jetzt, als er eine Bewegung vom Balkon hörte und erstarrte. 469 Auf dem Balkon hätte nichts sein dürfen; nur sein Arbeitszimmer führte dorthin, und seine Türen waren abgeschlossen. Er warf einen Blick durch den Raum, um sich davon zu überzeugen. Ja. Alles abgeschlossen. Etwas klopfte an die Scheibe. Vorhänge versperrten ihm die Sicht - nach Mollys Tod hatte er alles Licht aus dem Raum verbannt, weil er nichts mehr von der verhassten Sonne sehen wollte. Feuerschein war genug und manchmal mehr als genug für seine Gemütsverfassung. Aber jetzt bedauerte er, dass er die Fenster verhängt hatte. Er hätte gern gesehen, was auf seinem Balkon war. Klopf. Klopf. Klopf. Beharrlich. Und dann eine Stimme. »Seolar? Bist du da drin?« Er glaubte, dass er diese Stimme unmöglich gehört haben könne, aber sie erklang noch einmal. »Seolar? Seo?« Seine Hände zitterten, und er dachte, dass er vielleicht vor Angst sterben würde, aber dann ging er doch zur Tür, schob den Vorhang beiseite und blickte hinaus. Dort stand Molly. Molly, mit der Vodikette um den Hals. Davon abgesehen war sie so nackt wie an dem Tag, an dem sie auf die Welt gekommen war. Ihr langes, kupferfarbenes Haar umwehte sie, leuchtend und feuerrot in der untergehenden Sonne. Sie sah mehr denn je wie eine Veyär aus, beinahe so, als sei alles Menschliche aus ihr heraus gebrannt worden. Aber sie war Molly. »Du bist tot«, stieß er heiser hervor. »Offensichtlich nicht. Würdest du mich bitte hereinlassen? Es ist eiskalt hier draußen.« Ihr Atem bildete eine weiße Nebelwolke um ihren Kopf. Sie rieb sich die Arme und stampfte mit den Füßen, und als er genauer hinsah, bemerkte er, dass sie eine Gänsehaut hatte. 470 Mit Fingern, die ihm beinahe den Dienst versagten, schloss er die Türen auf, und sie trat eilig ein und lief zur Feuerstelle. »Gott, es ist schrecklich, bei diesem Wetter ohne Kleider draußen festzusitzen. Ich hoffe nur, dass ich keine Frostbeulen bekommen werde.« »Du lebst«, sagte er. Sie wandte sich zitternd vom Feuer ab und rieb sich immer noch die Arme. »Zu meiner großen Überraschung.« Er nahm eins seiner Morgengewänder von dem Haken an der Wand, eilte an Mollys Seite und legte das Gewand um ihre Schultern. »Du lebst«, sagte er noch einmal. Sie zog das Kleidungsstück fest um sich und hielt es mit dem Gürtel zusammen. Dann sah sie zu ihm auf und sagte: »Ich habe dir versprochen, dass ich zurückkommen würde. Ich habe dir versprochen, dass ich dich nicht im Stich lassen würde. Dass ich die Veyär nicht sterben lassen würde. Also, hier bin ich.« Er nickte. »Du bist nicht gestorben. Yaner hat mir erzählt, du seiest tot. Alle haben dich für tot gehalten.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm und sah ihm in die Augen, und ein Schaudern durchlief ihn. »Ich war tot«, sagte sie. »Ich bin zurückgekommen. Ich bin hier, um bei dir zu sein, um den Veyär zu helfen, um den Plan meiner Eltern auszuführen. Aber ich war tot. Ich bin zurückgekehrt. Die Kette - nun, sagen wir nur, ich habe herausgefunden, woher all die Albträume, die ich von meinen Vorgängerinnen gehabt habe, gekommen sind. Die Kette bewahrt uns nicht wirklich davor, zu sterben - sie bringt uns lediglich anschließend wieder zurück. Und das ist ein Problem.«
Er ließ die Arme sinken und zitterte, obwohl er so gern mutig erschienen wäre. »Ein Problem?« »Es ist etwas Schlechtes, jemandem mit Hilfe von Magie von den Toten zurückzuholen. Etwas sehr Schlechtes. Was 471 zurückkommt, ist niemals ganz dasselbe, was vorher da war. Ich bin Molly - aber, Seo ... Diese Kette, die ich trage, darf ich niemals abnehmen. Niemals. Denn wenn ich sie abnehme, würde ich nicht länger Molly sein.« Er nickte. Ihm fiel kein einziges Wort ein, das er hätte sagen können. »Aber ich bin Molly. Jetzt und hier bin ich die Molly, die du kennst. Die Veyär sind in Sicherheit. Ich werde zwischen euch und den Alten Göttern stehen. Und ich liebe dich, Seo. Ich liebe dich.« Sie schlang die Arme um ihn und drückte ihn fest an sich, und er erwiderte ihre Umarmung. Sie hatte Recht. Er hatte seine Welt zurückbekommen. Sein Volk. Seine Zukunft. Seine Liebe. Aber er dachte auch an die Tatsache, dass sie tot gewesen war und wieder ins Leben zurückgekehrt war. Daran, dass ihre Rückkehr von den Toten etwas Schlechtes war - dass sie, wenn sie die Kette abnahm, irgendjemand (oder vielleicht irgendetwas) anderes sein würde. Er dachte, dass sie die einzige Frau war, die er je geliebt hatte, und dass sie den Tod selbst betrogen hatte, um zu ihm zurückzukehren. Und wenn es um sein Leben gegangen wäre, ihm fiel kein einziges Wort ein, dass er hätte sagen können. Nachwort der Autorin Ich habe noch nie zuvor ein Nachwort geschrieben, aber dieses Buch - oder zumindest die Existenz der kleinen Stadt namens Cat Creek - verlangt eine Erklärung. Ursprünglich wollte ich die Geschichte nämlich in Gibson in North Carolina spielen lassen, einer winzigen und absolut zauberhaften Stadt, in der zu leben ich einige Jahre lang das Glück hatte. Es war der perfekte Schauplatz für diese Geschichte, und ich habe frohen Mutes Gebäude, Straßen, Menschen und andere Dinge benutzt, die mir im Gedächtnis haften geblieben sind. Ich habe allerdings keine Möglichkeit gefunden, das Firehouse Restaurant unterzubringen, wo ich das Schild über der Tür gemalt und für arglose Gäste Gitarre gespielt habe. Als die Zahl der Todesopfer jedoch stieg und mir klar wurde, wie viele Leute ich umbringen würde, konnte ich das Buch plötzlich nicht mehr in Gibson spielen lassen. Ich mag die Stadt nämlich, und die Menschen, die dort leben, würden sicher einen anderen Eindruck gewinnen, wenn ich die Hälfte der Bewohner der Stadt mit einem Augenzwinkern auslöschte. Also habe ich Cat Creek geschaffen. Es liegt genau dort, wo Gibson liegt. Es hat viele Straßen (und Straßennamen) mit Gibson gemein. Viele Gebäude. Selbst einige Leute aus der Gegend, die ich besonders mochte, spielen wichtige Rollen in dem Roman (aber natürlich mit veränderten Namen). 473 Wenn Sie in der Stadt leben oder einmal in der Nähe sind und sich einen unterhaltsamen Nachmittag machen wollen, dann sollten Sie Folgendes wissen: Wenn Ihnen eine der Figuren gefällt, besteht eine etwa fünfundzwanzigprozentige Chance, dass der oder die Betreffende zumindest flüchtige Ähnlichkeit mit jemanden hat, den ich einmal dort gekannt habe; fünfundsiebzig Prozent der Guten sind rein imaginär. Die »Bösen« sind allesamt Fantasiegestalten. Ich habe eine feste Regel; ich bringe niemanden in ein Buch ein, den ich nicht mag. Warum jemanden unsterblich machen, den man nicht ausstehen kann? Machen Sie also einen Spaziergang durch Gibson, knobeln Sie aus, welches der schönen alten Häuser das von Lauren ist, welches Gebäude das Büro des Sheriffs beherbergt, und raten Sie, wer mir für einige meiner Helden Modell gestanden hat. Und richten Sie den Leuten aus, ich hätte gesagt, es sei eine schöne kleine Stadt. Und noch eine letzte Bemerkung, weil ich meine Freundin, Sarah Jane Eliot, ihres Zeichens Biologin, in einem Punkt schier in den Wahnsinn getrieben habe: Lemminge begehen keinen Massenselbstmord, indem sie sich von Klippen stürzen. Diese Legende entstand wohl, als zwei Fotografen einige Lemminge zusammentrieben, um interessantes Filmmaterial zu bekommen. Aber Lauren Dane weiß das nicht, und daher mag man ihr ihre irrige Metapher nachsehen. Sie jedoch wissen es jetzt besser (und ich tue es ebenfalls), wir haben also keine Entschuldigung. Und zu guter Letzt kann ich nur hoffen, dass Sie sich beim Lesen des Buches genauso gut amüsiert haben, wie ich es beim Schreiben getan habe. Holly Lisle 4. April 2001 474 Interview mit einem Drachen Man nimmt die Einladung eines Ungeheuers mit größter Vorsicht an und wenn möglich mit einem Notfallplan im Hinterkopf. Ich habe keinen Plan B. Der Rrön sieht mich an, lächelt und sagt: »Ich habe mich auf unser Plauderstündchen gefreut.« »Warum?«, will ich wissen. Die Frage, die die Maus der Eule stellt, und der Rrön lacht, gibt mir aber keine Antwort. Entnervt greife ich auf die Fragen zurück, die ich mir auf eine Karteikarte gekritzelt habe. Woher kamen die Rrön? Vom Rrakille. Meine Heimatwelt hing hunderte von Welten über Ihrer, und sie war unaussprechlich schön. Alle Rassen der Rrön lebten dort, von den Bergen bis zum Dschungel und vom Dschungel bis zur Wüste. Wir bauten große Städte und Jagdreservate; des Nachts sangen wir von Klippen und von den Türmen der Stadt; wir schufen
Kunst und Wissenschaft und Literatur und Magie. Wir lebten, wir liebten, wir jagten ... Und dann kamen die Alten Götter, verstrickt in furchtbare Schlachten, die sie aus Welten über der unseren mitbrachten. Binnen eines Tages starb unsere Heimat und nahm die meisten meiner Art mit in den Tod, ebenso die meisten der kriegerischen Alten Götter, die Rrakille als Schlachtfeld benutzten, und alle Freude, die die Rrön kannten. 475 Sie entsprechen vielen unserer Mythen über die Drachen - sind Sie und die Ihren die Wahrheit hinter unseren Mythen? Natürlich. Wir sind die Drachen, die strahlenden und die dunklen, aus den Geschichten der Menschen und den Geschichten, die von den Oberwelten hierher gelangt sind. Ihre Welt lag auf unserem Weg. Wir sind weltabwärts vor der Zerstörung geflohen. Einige von uns sind geblieben, andere sind weitergezogen. Zu guter Letzt sind die meisten von uns weitergezogen, als klar wurde, dass die Erde am Rand der Vernichtung stand. Einige sind natürlich immer noch da. Einige bleiben immer bis zum Ende. Es gibt immer noch Dra - äh, Rrön auf der Erde? Wo leben sie jetzt? (Der Rrön lächelt, zieht eine Augenfurche in die Höhe, sagt nichts. Ich stelle meine nächste Frage.) Was wollen Sie und die anderen Rrön? Wir wollen unsere Welt zurückhaben. Es gibt keine höllischere Diaspora als die Niederlassung einer Hand voll Überlebender von einem toten Planeten. Wir haben keine Hoffnung, dorthin zurückkehren zu können, wir behalten in Erinnerung, was von der Freude und der Schönheit geblieben ist, die uns einst gehörten. Und Erinnerungen verblassen. Vor allem für die Dunklen Götter ist die Erinnerung der große Verräter. Und doch gibt es Gerüchte. Ein Plan - der schon einmal ausprobiert wurde - wird zurzeit wieder verfolgt; die toten Oberwelten sollen wiederbelebt und die Kette stabilisiert werden. Wir ... gehen diesen Gerüchten nach. Wenn alles 476 gut läuft, nehme ich an, dass die Rrön für eine Weile viel zu tun haben werden. Was sind das für Gerüchte? Das ist ein Geheimnis. Diese Dinge werden nur in einem kleinen Kreis weitergegeben, an jene, die wissen, wie man Geheimnisse vor dem Feind hütet. Die Rrön wollen dem Sterben der Welt ein Ende machen - aber nicht alle teilen unsere Ansichten. Es gibt Namen, die nicht einmal wir nennen, aus Furcht, Schrecken heraufzubeschwören, die zu gewaltig sind, um sie zu ertragen. (Dinge, die den Rrön Angst machen? Ich wechsle das Thema.) Sind die Rrön besessen von Gold? Besessen? Nein. Aber kostbare Metalle dienen in den Händen jener, die sie zu benutzen wissen, ihren eigenen Zwecken. Kupfer beschirmt gegen Magie. Silber kanalisiert die Magie der Ordnung. Und Gold ... (Er lächelt mich an.) Gold kanalisiert die Magie des Chaos. Je mehr Gold man hortet, umso mehr Uneinigkeit und Zwietracht zieht man auf sich herab. Das ist nicht empfehlenswert, wenn man über die Wirkung nicht Bescheid weiß. Wenn man es tut, kann man jedoch mit einer großen Menge von diesem Zeug gewaltige Macht heraufbeschwören. Das würde bedeuten, dass Gold ... schlecht ist. 477 Gold ist chaotisch. Es wirbelt die Dinge auf. Das ist nicht zwangsläufig schlecht - aber man kann Gold dazu benutzen, um wahrhaft böse Dinge zu schaffen. (Er streckt eine Klaue aus, und ich bin davon überzeugt, dass unser Interview gleich auf die schlimmste nur denkbare Weise beendet wird, aber dann glitzert etwas. Ein kleiner Ring. Silber. Eine kunstvolle Schmiedearbeit, kein Stein.) Hier ist ein Abschiedsgeschenk für Sie. Es enthält ein klein wenig eigene Magie, es bietet etwas Schutz, um Sie vor dem Näherkommen jener Mächte zu warnen, die vom Chaos leben. Und während Sie schreiben, wird es Sie daran erinnern, was wichtig ist. Warum? Was ist wichtig? Dass Sie unsere Geschichte richtig erzählen. Vergessen Sie nicht - wir beobachten Sie. Wir wissen, wo Sie wohnen. Und wir sind nicht alle weitergezogen. Dann erhebt er sich mit einer flinken Drehung in die Luft - der Wind, den seine Flügel aufwirbeln, wirft mich um. Als ich mich wieder hochrappele, ist der Rrön fort, und alles, was übrig bleibt, ist das rasch leiser werdende Donnern seiner Flügel. Und ein glitzernder Ring aus Silber in meiner Hand. Danksagung Ich bedanke mich bei: Russ Galen für seine treffende Kritik meiner Weltentwürfe; er hat mir klar gemacht, was an meinem ursprünglichen Konzept wirklich gut war, und mir geholfen, alles Übrige loszuwerden; Bob Billing für seine freundliche Hilfe bei meinen Forschungen zum englischen Bier; den Lesern der Schlüssellochseite auf http://hollylisle.com für ihre Kommentare und Fragen zu den ersten Kapiteln des Entwurfs; sie haben mir für den Rest des Buches die beste Richtung gewiesen; Sarah Jane Elliot, Jim Mills, Beth Adele Long, Doug Dandridge, Chris Hughes, Jennifer St. Clair, Ron Brown, Tere-sa Hopper, Lazette Gifford und Sheila (S. L.) Viehl, die den gesamten Entwurf gelesen und kommentiert haben;
und meiner Familie, die meine ersten Leser und Helfer sind, exzellente Kritiker und wunderbare Gefährten ... und die mich selbst dann lieben, wenn ich nicht liebenswert bin was ein echtes Plus ist.