Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Thomas Brezina: Die Knickerbocker-Bande / Thomas Brezina. – Wien; Stuttg...
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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Thomas Brezina: Die Knickerbocker-Bande / Thomas Brezina. – Wien; Stuttgart: Neuer Breitschopf Verlag Die Höhle der Säbelzahntiger: Abenteuer in Afrika. – 1. Aufl. – 1996
ISBN 3-7004-3736-6
1. Auflage 1996 Porträtfoto: Michael Fantur Lektorat: Christa Gürtler Satz und Repro: Zehetner Ges. m. b. H., A-2105 Oberröhrbach Druck und Bindung: Ueberreuter Print
Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.
© hpt-Verlagsgesellschaft m. b. H. & Co. KG, Wien 1996 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe, der Übersetzung und der Übertragung in Bildstreifen, vorbehalten.
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Inhalt In großer Gefahr ..............................................................04 Darios Verschwinden .....................................................09 Schaurige Gestalten ........................................................ 14 Der Killerhund................................................................ 18 Banges Warten ............................................................... 23 Eine seltsame Frau...........................................................28 Brüllen aus der Tiefe .......................................................34 Unerwartete Begegnung ..................................................39 Messerlange Zähne..........................................................44 Feuertag ...........................................................................48 Wichtige Informationen ..................................................52 Richard Schotter ..............................................................56 Angriff der Säbelzahntiger ..............................................61 Vorsicht, Hyänen! ...........................................................65 Dario taucht wieder auf ...................................................96 Eine Höhle wie eine Gruft...............................................73 Hoffnungslos ...................................................................77 Der Einsturz ....................................................................82 Ein schreckliches Geheimnis...........................................87 Zu früh gefreut.................................................................92 Hyänenfutter ................................................................... 96 Eine gefährliche Tierstation ..........................................100 Wesen aus der Urzeit.....................................................104
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Der Name KNICKERBOCKER BANDE … … entstand in Österreich. Axel, Lilo, Poppi und Dominik waren die Sieger eines Zeichenwettbewerbs. Eine Lederhosenfirma hatte Kinder aufgefordert, ausgeflippte und knallbunte Lederhosen zu entwerfen. Zum großen Schreck der Kinder wurden ihre Entwürfe aber verwirklicht, und bei der Preisverleihung mußten die vier ihre Lederhosen vorführen. Dem Firmenmanager, der sich das ausgedacht hatte, spielten sie zum Ausgleich einen pfiffigen Streich. Als er bemerkte, daß er auf sie hereingefallen war, rief er den vier Kindern vor lauter Wut nach: „Ihr verflixte KnickerbockerBande!“ Axel, Lilo, Dominik und Poppi gefiel dieser Name so gut, daß sie sich ab sofort die Knickerbocker-Bande nannten. KNICKERBOCKER MOTTO 1: Vier Knickerbocker lassen niemals locker! KNICKERBOCKER MOTTO 2: Überall, wo wir nicht sollen, stecken wir die Schnüffelknollen, sprich die Nasen, tief hinein, es könnte eine Spur ja sein.
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In großer Gefahr „Ein Schuß!“ schrie Poppi erschrocken auf und ging zwischen den zerschlissenen Sitzen des Jeeps in Deckung. „Äh … was … ein Schuß? Hilfe!“ stammelte Dario. Er trat so heftig auf die Bremse, daß der Rest der Knickerbocker-Bande nach vor geschleudert wurde. „Der hat einen Doppelknall!“ stellte Axel fest, als er sich wieder in die Höhe kämpfte. Er war bei der Notbremsung gegen das metallene Handschuhfach geprallt, und sein ganzer Arm tat höllisch weh. „Ich wette, ich sehe aus wie eine Landkarte, so viele blaue Flecken habe ich jetzt!“ stöhnte er. Dario war ganz nach vorne gerutscht, als wollte er sich unter dem Lenkrad bei den Pedalen verstecken. „Aber … äh … aber die Kleine hat doch etwas von einem Schuß gerufen!“ versuchte er sich zu verteidigen. „Die ‚Kleine’ heißt Poppi, und wenn sie Schuß schreit, dann heißt das gar nichts!“ knurrte Axel. „Zu Silvester hält sie das Knallen der Sektkorken immer für den Angriff der Killertomaten!“ Poppi verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust und knurrte: „Du kommst dir wieder einmal sehr toll vor, du Westentaschen-Held!“ Axel ballte die Fäuste. „Du kannst von Glück reden, daß du ein Mädchen bist. Sonst hättest du jetzt zwei blaue Augen und eine Kartoffelnase.“ Lieselotte hatte sich den Streit lang genug angehört. Sie tippte sich an die Stirn und fragte: „Hat euch die Afrikasonne vielleicht das Hirn rausgebrannt? Regt euch beide ab.“ Dario kam vorsichtig aus seinem Versteck. Er reckte seinen langen Schildkrötenhals und spähte bei den Fenstern
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hinaus. Er war ein sonderbarer Mann. Groß, sehr dünn und ständig in Bewegung. Er hatte immer schweißnasse Hände, wischte sich alle paar Minuten über das Gesicht, war stets verlegen und konnte niemandem ins Gesicht sehen. Dario war Wildhüter im Elamo Nationalpark in Afrika, und kaum einer kannte die Wildtiere so gut wie er. Dario wußte immer, wo Elefanten gerade baden konnten, zu welcher Wasserstelle die meisten Zebras und Springböcke kamen, wo Krokodile zu sehen waren und wann sich die Giraffen blicken ließen. Für Tiere hatte er einen sechsten Sinn, auch wenn er sonst sehr schrullig war. Dominik putzte seine Brille, die quer durch den offenen Jeep geflogen, aber glücklicherweise ganz geblieben war, und meinte locker: „Es liegt mir fern, euch zu beunruhigen, doch ist das kleine Durcheinander durch einen Schuß ausgelöst worden. Verursacht es euch kein Unbehagen, daß jemand auf uns schießt?“ „Ich bekomme höchstens Zahnschmerzen, wenn du so hochgestochen quatschst, Herr Oberstudienrat Dominik!“ gab Axel zurück. Er war sehr schlecht aufgelegt, weil er vergessen hatte, das Moskitogitter zu schließen und von den kleinen Blutsaugern schlimm bearbeitet worden war. In der Früh fühlte er sich um mindestens einen Liter Blut leichter. Lieselotte sah Dominik von der Seite an. „He, du weißt doch etwas. Wenn es wirklich ein Schuß war, würdest du nicht so lässig dasitzen.“ Dominik deutete mit dem Daumen nach draußen. Jetzt bemerkte es auch Lieselotte. Der Jeep stand schief. „Ein Reifenplatzer, das war der Knall!“ seufzte sie. Dario fuhr sich durch die struppigen Haare, die büschelweise vom Kopf abstanden. „Reifenplatzer? Mitten in der Wildnis?“ Sein Entsetzen wuchs, als er feststellte, daß sogar zwei Reifen platt waren. Er hatte aber nur ein
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Reserverad mit. Sie saßen also fest. Die vier Knickerbocker bekamen alle ein mulmiges Gefühl. Nicht einmal 500 Meter zurück hatten sie eine Löwenfamilie unter einem Baum liegen gesehen. Dario hatte ihnen mit Kennerblick erklärt, daß das Männchen und die Weibchen auf Beute warteten. Sie bevorzugten langsame Tiere, damit sie sich bei der Jagd nicht so anstrengen mußten. Laut Dario waren die Löwen sehr hungrig. „In diesem Nationalpark leben bestimmt 2000 Löwen“, hatte Dario erklärt. „Jeder reißt pro Woche ungefähr ein Tier. Da die Männchen zu faul sind, lassen sie die Weibchen jagen.“ „Typisch!“ kommentierte Lilo mit einem Seitenblick auf Axel und Dominik. „Hier gibt es auch die seltenen Spitzmaulnashörner, die sehr gereizt reagieren, wenn sie einen Menschen sehen. Sie haben den Jeep eines Kollegen zu Schrott zertrampelt“, erzählte Dario. „Und was ist mit deinem Kollegen geschehen?“ wollte Dominik wissen. Dario sah zum Himmel hinauf. Hieß das, sein Kollege war jetzt dort, oder galt sein Blick dem kleinen Flugzeug, das dort oben brummte? Hastig kramte Dario in einer Kiste, die Werkzeug, ein Erste-Hilfe-Set und andere nützliche Dinge enthielt. Er wollte rote Leuchtkugeln abfeuern, um anzuzeigen, daß sie Hilfe benötigten. Doch bis er die Pistole fand, war das Flugzeug wieder verschwunden. Es war bereits Nachmittag, doch die Hitze hatte kein bißchen nachgelassen. Obwohl Axel, Lilo, Poppi und Dominik luftig angezogen waren und Tropenhelme mit kleinen Ventilatoren in der Krempe trugen, rann ihnen der Schweiß in Bächen über den Körper. Mit einem Fernglas suchte Dario die Umgebung ab. An
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einem olivgrünen Fleck blieb sein Blick hängen. „Äh … wußte gar nicht, daß wir so nahe bei ihm sind“, murmelte er. Er holte ein Gewehr unter dem Sitz hervor und entsicherte es. „Kinder, dort vorne ist das Haus von Old Zitterhand – äh – das ist natürlich nur ein Spitzname. Er heißt Richard Schotter, schreibt Bücher über Wildtiere und lebt hier ganz allein. Ich gebe ein paar Signalschüsse ab, dann kommt er uns bestimmt zu Hilfe.“ Dario feuerte zweimal in die Luft. Gespannt warteten die Knickerbocker ab. Minuten verstrichen, aber Herr Schotter ließ sich nicht blicken. Noch einmal drückte Dario ab. Axel beobachtete das Haus durch das Fernglas und meldete: „Ich sehe etwas. Da war jemand am Fenster, und jetzt wird die Tür geöffnet. Nein, sie wird wieder geschlossen.“ Danach geschah nichts mehr. Dario unternahm einen letzten Versuch und schoß dreimal. Nach einer kurzen Pause noch einmal. Im Park war das ein vereinbartes Notzeichen. Es bedeutete: Brauche dringend Hilfe. „Herr Schotter schaut zum Fenster raus … zu uns. Mit einem Fernglas“, berichtete Axel aufgeregt. Aber trotzdem kam er ihnen nicht zu Hilfe. Dario fuhr sich ununterbrochen durch die Haare, wischte sich den Schweiß vom Gesicht, rieb die Hände an der Hose ab und zupfte nervös an seinen Klamotten. „Da … da stimmt etwas nicht“, vermutete er. „Ihr … ihr wartet hier. Ich gehe nachsehen. Bewegt euch keinen Schritt aus dem Wagen.“ Er bestand darauf, daß sie das Stoffdach zumachten. Nur in einem völlig abgeschlossenen Jeep waren die vier sicher. Halbwegs zumindest. Dann stieg er aus und lief quer über die völlig
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ausgetrocknete Ebene auf das Haus zu. Ständig spähte er nach allen Seiten, ob er vielleicht von einem Tier angegriffen würde. „Dario ist dort … er klopft … und jetzt geht er hinein!“ meldete Axel, der noch immer das Fernglas vor den Augen hatte. Als der Wildhüter eine halbe Stunde später nicht zurückgekommen war, wußte die Bande, daß etwas passiert sein mußte.
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Darios Verschwinden Lieselotte knetete ihre Nasenspitze bereits auf Hochtouren. Sie zwirbelte sie und hoffte, ihre Gehirnzellen damit wieder auf Hochtouren zu bringen. Im Jeep war es brütend heiß geworden, stickig und feucht. Axel kurbelte die Fensterscheibe ein Stück hinunter, doch von draußen drang auch nur Hitze in den Wagen. Dominik nahm einen großen Schluck aus der Wasserflasche, die ihm von den anderen sofort aus der Hand gerissen wurde. „He, wir wollen auch was!“ riefen sie empört. Wieder warf Axel einen Blick durch das Fernglas. „Die Vorhänge am Fenster bewegen sich“, meldete er. Die Hoffnung der Knickerbocker stieg, daß Dario doch noch zurückkehren könnte. Aber die Tür blieb geschlossen. Lieselotte ließ zehn Minuten verstreichen und entschied dann: „Wir müssen etwas unternehmen. Wir können doch nicht einfach nur hier sitzenbleiben.“ „Können wir doch. Dario hat gesagt, daß man bei einer Panne wartet, bis ein anderer Wagen vorbeikommt!“ gab Poppi zu bedenken. Lilo nickte. „Stimmt. Das gilt aber nur für die Wege, die stark befahren sind. Du vergißt, daß er uns heute in einen abgelegenen Teil des Parks gebracht hat, in den höchstens alle paar Monate ein Jeep kommt.“ Axel warf einen Blick unter die Sitze und entdeckte noch ein Gewehr. Er hob es auf. Plötzlich löste sich ein Schuß, und durch die Windschutzscheibe zogen sich rund um das Durchschußloch Hunderte dünne Risse wie ein Spinnennetz. Eine Sicherheitsfolie im Inneren des Glases hielt die Splitter fest, damit niemand
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verletzt wurde. Durchsehen konnte man natürlich nicht mehr. „Bravo, Herr Großwildjäger!“ schnaubte Lieselotte. „Wieso feuerst du nicht gleich in den Tank, damit wir mit der Karre in die Luft fliegen?“ Axel schnitt bloß eine Grimasse und stellte mit Kennerblick fest: „Es ist noch ein Schuß in der Knarre. Sollen wir versuchen, zum Haus zu kommen?“ Die Juniordetektive wußten nicht, ob das ein guter Vorschlag war. Irgend etwas schien in dem Haus von Richard Schotter nicht zu stimmen. Es konnte gefährlich werden. Außerdem lauerten auf dem Weg sicher überall Löwen, für die sie ein leckeres Abendessen waren. Das Superhirn hatte einen Plan: „Axel und ich rennen zu dem Haus und sehen nach, was los ist. Vielleicht gibt es ein Funkgerät, über das wir Hilfe rufen können. Poppi und Dominik, ihr bleibt hier. Haltet die Leuchtpistole bereit und feuert sofort rote Kugeln ab, wenn ein Auto oder ein Flugzeug auftaucht. Rot bedeutet SOS.“ Alle Bandenmitglieder waren mit dem Vorschlag einverstanden. Lieselotte und Axel hatten weiche Knie, als sie den sicheren Jeep verließen. Draußen empfing sie die sengende Hitze Afrikas und fast bedrückende Stille. Um diese Tageszeit zirpten nicht einmal die Zikaden. Die beiden Juniordetektive sahen sich hastig um. Die verdorrten Grashalme standen gelb, braun und graugrün in die Höhe und reichten ihnen fast bis zur Hüfte. Sie boten anschleichenden Tieren eine gute Deckung. „He, aber für uns sind sie auch eine gute Tarnung“, sagte Lilo leise zu Axel. „Los, geh runter. Wir schleichen im Entengang zum Haus, dann sieht man uns nicht kommen.“ Axel gab Lilo recht, was er nicht gerne tat. Er hielt das Gewehr schräg im Arm, der Lauf zeigte in die
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Höhe. Falls sich noch ein Schuß löste, würde er in die Luft gehen. Geduckt bewegten sich die beiden Juniordetektive vorwärts. Immer wieder verharrten sie einen Moment ruhig und lauschten. Raschelte es in ihrer Nähe? Kam von irgendwo ein Tier auf sie zu? Hatte eine feine Nase ihre Witterung aufgenommen, waren Magennerven gereizt worden? Endlich rückte das Haus in greifbare Nähe. Es handelte sich um ein ebenerdiges Gebäude aus Holz mit schrägem Dach und einer Veranda. Eigenartig war nur der Anstrich, das fleckige Muster aus grün, schwarz und braun, wie es für militärische Tarnungen verwendet wurde. Als sie ungefähr noch 30 Meter entfernt waren, gab Lilo ihrem Kumpel mit dem Kopf ein Zeichen. Sie wollte nicht direkt zum Haupteingang, sondern lieber zu einer Seitenwand. Lautlos näherten sie sich einem vergitterten Fenster. Sie hielten die Luft an und hoben dann langsam die Köpfe. Von drinnen sauste ihnen ein fleischiges, blutunterlaufenes, geiferndes Maul entgegen. Schaum spritzte von innen auf die Scheibe, und zwei dunkle, böse funkelnde Augen glotzten sie an. Erschrocken kauerten sie sich wieder nieder. Ein Hund bellte drohend und wütend. Er war darauf abgerichtet, etwas zu verteidigen. Lilo wagte noch einen Blick und starrte in das verzerrte Gesicht des Hundes. Seine Nasenflügel waren gebläht, und die Lefzen nach hinten gezogen. Ein sehr schlechtes Zeichen. Das Bellen wurde immer wilder. Er sprang gegen das Fenster, als wollte er es zertrümmern. „Weg, der kommt raus!“ flüsterte Axel. Lilo schüttelte den Kopf. „Durch das Gitter kann er nicht!“
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Sie schlichen geduckt an der Hauswand weiter. Beim nächsten Fenster waren die Vorhänge zugezogen, so daß sie nicht hineinsehen konnten. An der Rückseite des Hauses erging es ihnen nicht besser. Die einzige Hoffnung war eine schmale Tür. „Warum rufen wir nicht einfach nach Dario und nach diesem Richard Schotter?“ fragte Axel leise. „Weil ich fürchte, daß uns dann jemand hört, der uns nicht bemerken soll.“ Axel verzog das Gesicht. Er hatte schon wieder genug von Afrika und dem Wildpark. Er sehnte sich zurück nach Hause, zu seiner Stereoanlage und seinen Computerspielen. Beides war nicht so gefährlich und bei weitem weniger anstrengend. Lilo preßte sich seitlich von der Tür gegen die Wand und lauschte. Axel sah sie gespannt an. Das Gesicht des Superhirns verriet Überraschung. „Es ist jemand drinnen. Es poltert, als würden die Möbel umgeworfen werden.“ Sie drehte den Türknauf und öffnete die Tür mit leisem Quietschen. Lieselotte traute sich kaum zu atmen, aber niemand reagierte auf das Geräusch. Ein ekeliger Geruch schlug ihr entgegen. Es stank wie in einer Gerberei, wo Leder bearbeitet wird. Lilo drehte sich fast der Magen um. Das Poltern war lauter geworden. Dazu kam jetzt auch noch das Krachen und Splittern von Holz. Glas zerbrach klirrend in Scherben, und hohle Blechgefäße donnerten gegen Wände und zu Boden. Vorsichtig steckte Lieselotte den Kopf in den Raum, der eine Art Küche war. Von Sauberkeit schien Herr Schotter aber nur wenig zu halten. In der Spüle türmte sich schmutziges Geschirr. Überall lagen Reste von Früchten,
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halb verfaultes Gemüse, offene Vorratsbehälter und verschimmelte Brotstücke. Die Tür zum nächsten Zimmer wurde aufgerissen. Lilo zuckte erschrocken zurück und drückte die Hintertür zu. Da sie vergessen hatte, den Knauf in der Hand zu behalten, gab es ein lautes Knacken. Lilos Herz raste. Im Haus mußte man das Geräusch gehört haben.
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Schaurige Gestalten Die Geräusche im Haus waren verstummt. Lilo hörte zu ihrer großen Erleichterung aber auch keine Schritte, die auf die Hintertür zusteuerten. Ganz im Gegenteil. Jemand schien in den vorderen Teil zu laufen. Lieselotte bewegte sich Im Watschelgang weiter und deutete Axel, wieder zur Vorderseite zu schleichen. Die Knickerbocker spähten um die Ecke, konnten aber nicht zum Eingang sehen, da ihnen die Brüstung der Veranda im Weg war. Die Tür wurde aufgerissen, und zwei Gestalten stürmten ins Freie. Axel und Lilo konnten nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken. Eine der beiden Gestalten hatte einen Büffelkopf. Die Augen waren tot und der Rand des Halses mit Blut verkrustet. Die andere trug einen Löwenkopf und ein Löwenfell, das aber stumpf und leblos wirkte. Der Gestank, der von beiden zu den Knickerbockern wehte, war bestialisch. In den äußerst menschlichen Händen hielten die schaurigen Wesen lange Dolche, mit denen sie sich gegen jeden zur Wehr setzen konnten, der sich ihnen in den Weg stellte. Stumm deutete Axel auf die schmutzigen Leinenhosen und die fleckigen Hemden, in denen die unheimlichen Wesen steckten. Sie sahen sich hastig um. Axel und Lilo konnten gerade noch rechtzeitig in Deckung gehen. Dumpf kamen Stimmen aus den Tierschädeln. Die Männer schienen einen afrikanischen Dialekt zu sprechen. Die Juniordetektive verstanden natürlich kein Wort.
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Die beiden Gestalten rannten geradewegs auf die Knickerbocker zu. Sie hasteten nur wenige Meter entfernt an ihnen vorbei. Axel und Lilo blieb fast das Herz stehen. Sie kauerten neben der Veranda und konnten jederzeit von den beiden entdeckt werden. Kein Busch, kein Gras, einfach nichts, was ihnen Schutz geboten hätte. Aus der Nähe erkannte Lilo, daß es sich um Männer handelte, die erlegte Tierköpfe wie riesige Masken aufgesetzt hatten. Der Anblick war ekelig. Die beiden blieben fast genau vor den Juniordetektiven stehen, drehten ihnen aber den Rücken zu. Axel zitterte am ganzen Körper und begann rückwärts wegzugehen. Lieselotte folgte ihm, ließ die beiden dabei aber keine Sekunde aus den Augen. Es hörte sich an, als würden die zwei beratschlagen. Als die Knickerbocker ungefähr die Mitte der Seitenwand erreicht hatten, drehten sich die grauenvollen Männer zu ihnen. Sie starrten den Bruchteil einer Sekunde in ihre Richtung, kehrten aber sofort wieder um. Axel und Lilo verdankten es den furchterregenden Masken, nicht entdeckt worden zu sein. Die Männer sahen wahrscheinlich darunter kaum etwas. Sie stürmten nach links, und wenige Augenblicke später wurde ein Wagen gestartet. Ein verbeultes, fast durchgerostetes Militärfahrzeug raste an ihnen vorbei und verschwand bald zwischen Baumgruppen. Die Juniordetektive brauchten eine Weile, bis sie sich halbwegs beruhigt hatten. Sie warfen einander stumme Blicke zu. Wer war das gewesen? Was hatten die Männer hier getan? Wozu die Verkleidung? Was war mit Richard Schotter geschehen? Was mit Dario?
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„Komm, wir müssen ins Haus!“ krächzte Axel. Der Schreck hatte seinen Hals in einen Schlauch aus Löschpapier verwandelt. Lilo nickte, und sie standen stöhnend auf. Drei Stufen führten auf die Veranda und zur Eingangstür, die noch immer offen stand. Dahinter bot sich der Anblick der totalen Verwüstung. Früher mußte es sich hier um ein gemütliches Wohnzimmer gehandelt haben. Eingerichtet mit alten Ledermöbeln, einem schweren Holzschreibtisch, alten Stühlen und schweren Schränken. Jetzt war nur noch eine Trümmerlandschaft übrig. Die Männer hatten alles auf den Kopf gestellt, die Polstermöbel aufgeschlitzt und die restlichen Einrichtungsgegenstände zerschlagen. Die Knickerbocker hörten den Hund in einem Nebenzimmer bellen und immer wieder gegen die Tür springen. Sie hatten aber Angst, ihn herauszulassen. Sie fanden noch ein Schlafzimmer, eine Vorratskammer und eine Art Badezimmer. Alles war zerstört. „Und wo ist dieser Richard Schotter? Wo ist Dario?“ wollte Lieselotte wissen. Axel zuckte mit den Schultern. Sie riefen nach den beiden Männern, bekamen aber keine Antwort. Nur der Hund bellte immer lauter. „Ob er sie … ob der Hund … sie … zerrissen hat?“ fragte Axel leise. Lilo erschrak bei der Vorstellung heftig. Sie bückte sich vor der Tür und versuchte durch ein kleines Astloch zu spähen. Das Zimmer war fast leer. Es befanden sich darin nur drei wuchtige, alte Holzschränke. Auf dem Boden war ein Teppich, den der Hund völlig zusammengeschoben hatte. Er schien Lilo zu wittern und fuhr mit dem offenen Maul
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und den gelben Zähnen zu dem Astloch hinauf. Lilo konnte seinen stinkenden Atem riechen und wich zurück. „Nein … der Hund hat ihnen nichts getan. Sie sind einfach nicht hier!“ „Keller!“ fiel Axel ein. „Vielleicht gibt es einen Keller, in dem sie sich verstecken.“ Sie klopften den Boden mit einem Holzstock ab, der in einer Ecke gelehnt hatte. Aber der Boden war an allen Stellen fest, und es gab kein Geräusch, das auf einen Hohlraum hingedeutet hätte. Draußen hupte es wild. Lilo lief vor das Haus und sah zum Jeep. Dominik und Poppi waren unruhig geworden. Vor allem, seit sie den grünen Militärwagen wegfahren gesehen hatten. „Ein Funkgerät“, rief Axel hinter ihr. Gleich darauf mußte er allerdings enttäuscht hinzufügen: „Es ist kaputt!“ Lilo war der Platz höchst unheimlich. Dario konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Wo steckte er? „Die Schränke im Hundezimmer. Vielleicht ist er in einem davon eingesperrt!“ fiel ihr ein. Aber wie sollten sie an diese herankommen? Der Hund würde sie zerfleischen. Sie mußten einen Weg finden.
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Der Killerhund „Los, hilf mir!“ bat sie Axel. Sie öffnete die Tür zur Küche und schob dann mit ihm das Bett aus dem Schlafzimmer auf den Gang. „Und jetzt stellen wir es senkrecht auf“, erklärte sie. Axel warf ihr einen erstaunten Blick zu. War sie verrückt geworden? „Keine Fragen, mach, du wirst gleich sehen, warum!“ knurrte Lieselotte. Das Bett versperrte den ganzen Gang. Es war unmöglich, seitlich vorbei- oder unten durchzuschlüpfen. Als nächstes brachten sie den Schrank aus dem Hauptraum bis zur Tür des Zimmers, in dem der Hund eingeschlossen war. Mit ihm verbarrikadierten sie den Zugang zum vorderen Zimmer. Lieselotte hatte in dem Durcheinander eine Rolle mit dünnem Draht entdeckt. Sie befestigte ein Stück an der Küchentür und leitete das Ende hinter den Schrank im Wohnzimmer. Ein zweiter wurde an der Tür zum Hundezimmer festgemacht. Sie drehte den Knauf und ließ sie aufspringen. Als der Hund sofort versuchte, seine Schnauze in den Spalt zu pressen, zog sie die Tür mit dem Draht wieder zu. Zwischen diese und den Türstock steckte sie einen gefalteten Zettel, der verhinderte, daß das Schloß wieder einrastete. Lilo kam mit dem Draht hinter den Schrank und schob ihn mit Axel noch näher zur Hundezimmertür. Der Zwischenraum zwischen Mauer und Schrank wurde schnell mit dem aufgestellten Schreibtisch verschlossen. „Jetzt kann’s losgehen!“ sagte Lilo und ließ eine Drahtschlinge locker.
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Der Hund erkannte seine Chance sofort und zog die Tür mit der Pfote geschickt auf. Er rannte zum Schrank, hinter dem die Knickerbocker standen. Geifernd schnüffelte er in den Spalt zwischen Boden und Schrank, wo er auf der anderen Seite die Beine von Axel und Lilo sehen konnte. Mehrere Male versuchte er seitlich vorbeizukommen. Als es nicht gelang, nahm er Anlauf und schaffte es bis zur Oberkante des Schreibtisches. Axel schrie auf, als der schwarze Hundekopf, zu einer grimmigen Fratze verzerrt, dort auftauchte. Mehrmals zog sich der Hund mit den Vorderpfoten hoch, doch er plumpste immer wieder zurück und suchte nach einem anderen Weg zu den beiden Knickerbockern. Dabei tat er endlich das, was sich Lilo erhofft hatte. Er lief in die Küche. Das Superhirn riß am Draht, die Tür flog zu, und das Schloß schnappte ein. Der Hund war wieder gefangen. Axel und Lieselotte atmeten erleichtert auf. „Jetzt aber schnell“, meinte Lilo. Sie schoben den Schrank zur Seite, und Axel kontrollierte die Küchentür. Der Hund hatte keine Chance herauszukommen. Hoffnungsvoll stürzten sich die Juniordetektive nun auf die drei Schränke. Sie fanden aber nur jede Menge muffiger Klamotten. Auch hier keine Spur von Dario. Wieder hupte es. Lilo stürmte auf die Veranda und schnappte nach Luft. Der Hund hatte sich aus der Küche befreit, sprang wie verrückt um den Jeep und fletschte drohend die Zähne. Poppi und Dominik saßen in der Falle. Als er erkannte, daß er von den Seiten nicht ins Wageninnere kam, schnellte der Hund auf die Motorhaube. Die Hitze des Blechs schien seinen Pfoten nichts auszumachen.
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Er kläffte wild gegen die zersprungene Windschutzscheibe und schnüffelte an dem Schußloch. Schließlich begann er, mit der Pfote gegen die zusammenhängenden Splitter zu schlagen. Er riß ein Loch in das Glas und brach sofort durch das Gebilde aus Sicherheitsfolie. „Das ist eine Killerbestie … ein Wahnsinn … wer hat diesen Hund so scharf gemacht … welcher Irre war das?“ schnaubte Lilo. Axel starrte das Superhirn mit offenem Mund an. „Halt da keine Reden, wir müssen Poppi und Dominik retten. Der Köter zerfleischt sie!“ Aber was sollten die beiden machen? Ein greller roter Blitz leuchtete im Wagen auf. Lilo und Axel konnten ihn sogar aus dieser Entfernung durch die Scheiben sehen. Der Hund jaulte so laut auf, daß sie es bis zum Haus hören konnten. Er wurde rücklings von der Motorhaube geschleudert, kam aber sofort wieder auf die Beine. Immer wieder wischte er sich mit den Vorderpfoten über die Nase und suchte in einem eigenartigen, seitlichen Gang das Weite. Aus dem Wagen quoll roter Rauch. Dominik mußte dem Hund eine Leuchtkugel auf die Schnauze gefeuert haben. Axel schnappte das Gewehr und rannte los. „Warn mich, wenn Löwen auftauchen!“ trug er Lilo auf. Sie holte rasch das Fernglas aus dem Haus. Hustend fielen Poppi und Dominik aus dem Jeep. „Schnell, kommt mit!“ rief ihnen Axel zu. Wie ein Ranger hielt er das Gewehr, jederzeit bereit, seine Freunde gegen wilde Tiere zu verteidigen. „Löwen … bei drei Uhr!“ schrie Lieselotte von der Veranda. Axel drehte sich nach rechts. Drei Uhr bedeutete eine Gefahr genau rechts von ihm. Sieben Uhr würde Gefahr von links hinten bedeuten. Axel sah keine Löwen.
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„Drei Uhr! Drei Uhr!“ brüllte sich Lilo die Seele aus dem Leib. In der Aufregung machte sie die Angabe aus ihrer eigenen und nicht aus Axels Sicht. Zum Glück erkannte er das und drehte sich nach links. Über den trockenen Spitzen der Grashahne tauchten die Köpfe mehrerer Löwinnen auf, die mit großer Neugier zu ihnen sahen. Sie wirkten angespannt und zum Angriff bereit. Axel gab den letzten Schuß in die Luft ab. Der Knall erschreckte die Löwen, und sie ergriffen die Flucht. Dominik, der sich normalerweise lieber langsam fortbewegte, rannte so schnell wie nie zuvor. Selbst Axel hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Endlich befanden sich alle vier Knickerbocker im Haus. Lieselotte schloß die Türen ab und überprüfte, ob alle Fenster verriegelt waren. Falls der Hund zurückkam, sollte er nicht ins Haus können. „Eins, zwei, drei, vier, Knickerbocker!“ riefen sie und schlugen die Hände in der Luft zusammen. Sie ließen sich auf den Boden sinken und versuchten alles zu verdauen, was sich in der letzten Stunde ereignet hatte. Wie schon oft zuvor, erzählte jeder von seinen Beobachtungen. „Ich habe Hunger!“ meldete sich Axel. „Ich auch!“ schloß sich Dominik an. „Ich auch!“ gab Poppi zu. In der verdreckten Küche fanden sie zwei Schränke, die Konservendosen mit allen möglichen Köstlichkeiten enthielten. Außerdem stießen sie auf einen großen Vorrat an Haltbarbrot. Sie belegten Sandwiches mit Ravioli, Bohnen und Tomatensoße, indischem Huhn und Thunfisch. Gierig verschlangen sie die tropfenden Brote und lachten, weil sich jeder von oben bis unten bekleckerte. „Und jetzt?“ fragte Axel und rülpste. Die anderen lachten auf. Es war befreiend und ließ die
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erlebten Schrecken ein wenig vergessen. „Jetzt … jetzt … jetzt durchsuchen wir noch einmal das ganze Haus. Von vorne nach hinten, von oben nach unten. Wir müssen eine Spur von Dario finden“, meinte Lieselotte.
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Banges Warten Genau 68 Minuten später wußten sie, daß es nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder Dario hatte sich in Luft aufgelöst oder sie tatsächlich im Stich gelassen. Die Sonnenstrahlen fielen fast waagrecht durch die Fenster. Die Sonne ging unter und färbte sich rot. „Müssen wir hier übernachten?“ fragte Poppi ängstlich. Lilo nickte langsam. Aber sie konnte ihre Freundin beruhigen. Sobald man im Camp feststellte, daß sie nicht zurückgekehrt waren, würde man sie zu suchen beginnen. Die Knickerbocker-Bande befand sich im Herzen von Afrika, in einem der kleinsten Staaten des riesigen Kontinents. Das Land hieß Olanga und war erst seit kurzer Zeit unabhängig und frei. Es gab zwei große Einnahmequellen. In vier riesigen Minen wurde Gold abgebaut, und zur großen Überraschung der Geologen vermehrten sich die Funde ständig. Die zweite Einnahmequelle war der Nationalpark, in dem Touristen Fotosafaris machen konnten. Um den riesigen Park zu durchqueren, brauchte man mit dem Jeep sechs Tage. In der unberührten Natur lebten die Tiere ungestört. Sie durften nur von den Wildpflegern gejagt werden, deren Hauptaufgabe aber darin bestand, gefährdete Tiere wie das Spitzmaulnashorn nachzuzüchten. Poppi hatte die Safari von ihrem Taufpaten geschenkt bekommen. Onkel Luis wollte außer ihr noch seine Frau – Tante Irmgard – und seine drei Töchter mitnehmen. Darüber hatte sich Poppi ganz und gar nicht gefreut, da die drei äußerst hochnäsig waren und nur über Klamotten und süße Jungs redeten. Drei Tage vor der Abreise kochte Tante Irmgard dann ein Pilzgericht, das ihr und Poppis Cousinen zum Verhängnis
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wurde. Die Pilze waren zwar nicht giftig, doch alle vier Damen reagierten allergisch. Ihre Gesichter schwollen an, und sie sahen schrecklich aus. Tante Irmgard und ihre Töchter wollten unter keinen Umständen so auf Safari gehen. Doch die Reise konnte nicht mehr abgesagt werden, weil es sich um ein Sonderangebot handelte. Aus diesem Grund schlug Poppi ihrem Onkel vor, den Rest der Knickerbocker-Bande mitzunehmen. Er war sofort einverstanden gewesen und sogar ein wenig froh, einmal Urlaub von seinen „Damen“ zu bekommen. Nach der Ankunft vor zwei Tagen fuhren sie in einem bequemen Range Rover in das Lager Soaha. Von dort brachen sie zu Halbtagestouren in den Nationalpark auf, um Tiere zu beobachten und zu knipsen. In der Früh hatten sie dann Dario kennengelernt, der sie an diesem Tag betreuen sollte. In seinen Wagen paßten aber nur fünf Personen, und deshalb war Onkel Luis mit einem anderen Wildhüter gefahren. „Ich wette, sie kommen noch in der Nacht und holen uns zurück!“ sagte Lieselotte. Axel grinste schief. „Ich wette, nicht. Keiner weiß, wo wir sind. Dario hat selbst gesagt, daß er bei der Abfahrt eine ganz andere Route angegeben hat. Aber unterwegs hat er in diesem Gebiet mehr Tiere vermutet. Zu Recht.“ Die Dunkelheit kam sehr schnell. Die Dämmerung dauerte im Herzen Afrikas nur wenige Minuten. Lieselotte warf einen Blick hinaus in die stockfinstere Nacht und schauderte. Wie lange würden sie in diesem Haus festsitzen? Kamen die Männer mit den Tierschädeln zurück? Würden sie dem Killerhund noch einmal begegnen? Welche anderen Gefahren lauerten draußen? Axel fiel etwas ein. „Du, Lieselotte … die komischen Männer … die haben nach etwas gesucht, oder?“ Lilo hatte noch nicht darüber nachgedacht, stimmte ihm
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aber zu. Alles deutete darauf hin, daß die Unbekannten in dem Haus etwas Bestimmtes finden wollten. „Ich glaube aber nicht, daß sie Glück gehabt haben. Wir haben sie gestört“, meinte Lilo. Die Gefahr, daß die Männer zurückkehrten, war also groß. Es gab keinen elektrischen Strom im Haus, und die Petroleumlampen waren alle zu Bruch gegangen. Dominik entdeckte in der Küche eine Schachtel mit Kerzen. Sie verwendeten Teller als Kerzenständer und zündeten in jedem Zimmer eine an. Plötzlich zog Dominik eine Pistole aus der Tasche seiner weiten Hose. Er fand schlabbrige Hosen in letzter Zeit sehr schick. „Zu meiner großen Freude kann ich euch mitteilen, daß ich die Leuchtpistole eingesteckt habe“, verkündete er. Mit ihr hatte er den Hund vertrieben und Poppi und sich gerettet. „Es sind noch drei Kugeln drinnen!“ stellte er fest. „Dann laß eine aufsteigen, jetzt gleich!“ rief Lilo. Da Dominik sich nicht in die Dunkelheit hinauswagte, übernahm Lieselotte diesen Job. Sie riß die Tür auf und stieß einen lauten Schrei aus. Sie hoffte, damit Tiere, die in der Nähe waren, zu vertreiben. Die Pistole krachte nicht, als der Schuß abgefeuert wurde. Es klang eher wie ein Korken, der aus einer Sektflasche flog. Grell glühte die rote Kugel am Nachthimmel und beschrieb einen großen Bogen, bevor sie wieder langsam zu Boden sank. Die Stille der afrikanischen Nacht war ungewohnt. Bis auf das unermüdliche Zirpen der Zikaden hörte man nichts. Keine Autos, keine Menschen, keine Tiergeräusche, keinen Wind, nichts. Lilo schloß hastig wieder die Tür und schob zur Sicherheit den Schreibtisch davor. Die Bande richtete sich aus Decken und Kissen auf dem Boden ein Lager. Axel hatte Mini-Karten dabei. Sie spielten
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Doppelkopf und vertrieben sich damit die Zeit. „Habt ihr das gehört?“ Poppi richtete sich auf und deutete den anderen, ruhig zu sein. Ein Auto kam langsam näher. „Alle Kerzen aus und ganz still sein!“ kommandierte Lieselotte. „Wieso?“ wollte Axel wissen. „Weil das auch die beiden Männer sein können, du Dumpfbacke!“ schnaubte Lilo. Sie pusteten alle Kerzen aus und versammelten sich im Hauptraum. Mit klopfenden Herzen warteten sie. Der Wagen hielt direkt vor dem Haupteingang. Lilo konnte durch einen kleinen Spalt zwischen den Vorhängen sehen, daß es sich um einen großen Geländewagen handelte. Wahrscheinlich einen Range Rover. Das Licht der Scheinwerfer bohrte sich wie zwei dicke Stangen durch die Dunkelheit und wurde von der hellen Erde des Bodens zurückgeworfen. Wer im Wagen saß, konnte Lieselotte nicht sehen. Der Motor wurde abgestellt. Sekunden verstrichen, aber niemand stieg aus. Aus den Sekunden wurden Minuten. Der Fahrer des Wagens schien die Geduld zu velieren. Er startete wieder. „Wir können ihn doch nicht wegfahren lassen!“ stieß Dominik hervor. „Aber wenn einer der Männer drinnen sitzt? Oder jemand, der uns hier nicht haben will oder denkt, wir hätten etwas, was er haben will?“ zählte Lieselotte alle Katastrophenfälle auf. „Vielleicht hat jemand unsere Leuchtkugel gesehen“, zischte Axel. „Wieso ist er dann nicht ausgestiegen und zum Haus gekommen?“ fragte Lilo zurück. „Weil alles dunkel ist! Es sieht aus, als wäre niemand
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hier“, erwiderte Axel genervt. Das Brummen des Motors entfernte sich schnell. Was jetzt?
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Eine seltsame Frau Axel riß die Tür auf und knipste seine Taschenlampe an. Er konnte das Licht zu einem dünnen, aber sehr starken Strahl bündeln und leuchtete auf die Rückscheibe des Range Rovers. Er hoffte, der Fahrer würde ihn bemerken. Aber der Wagen fuhr unbeirrt weiter. „Mist!“ fluchte Axel und versuchte mit dem grellen Licht den linken Außenspiegel zu treffen. Ein Blitz zuckte neben dem Wagen durch die Dunkelheit. Jetzt bremste der Fahrer und wendete. Axel blinkte mit der Taschenlampe dreimal lang, dreimal kurz, dreimal lang. SOS. Der Geländewagen rollte bis vor das Haus, aber niemand rührte sich. Von den Autoscheinwerfern geblendet, hielt Axel den Arm vor das Gesicht. Es beschlich ihn langsam das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. „Komm wieder rein, schnell!“ hörte er seine Freunde hinter sich. Die Wagentür wurde geöffnet, und jemand stieg aus. Um wen es sich handelte, war nicht zu erkennen. Der Unbekannte trat langsam in die Lichtkegel der Scheinwerfer. Die Knickerbocker sahen die Silhouette einer schlanken Gestalt in Stiefeln. Ihnen wurde eine Frage gestellt. Zuerst in dem afrikanischen Dialekt, dann auf Französisch, schließlich auf Englisch, und als sie noch immer nicht antworteten, auf Deutsch. „Was tut ihr hier? Wo ist Richard Schotter? Wer seid ihr?“ „Das ist eine Frau!“ raunte Lieselotte erstaunt den anderen zu. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie hatte fast weiße
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Haare, aber so jugendliche Kleider, daß Poppi die Sachen hätte anziehen können. Die Frau war mit erbsengrünen, hautengen Jeans bekleidet, die in schwarzen Westernstiefeln steckten. Diese waren mit glänzenden Nieten und einem geprägten Muster verziert. Über einer hellblauen Bluse trug sie eine kurze, sonnenblumengelbe Jeansjacke einer superteuren Marke. Ihre Haare waren zu unzähligen, dünnen Zöpfchen geflochten wie bei den Afrikanerinnen. Der Hut hing an einem Band auf ihrem Rücken. „Wir … wir hatten eine Autopanne … zwei Reifenplatzer, und Dario ist dann zu Herrn Schotter gegangen, aber verschwunden. Da waren nämlich ein Mann mit einem Zebrakopf und einer mit einem Löwenkopf“, stammelte Axel. Der Anblick der seltsamen Frau brachte ihn völlig durcheinander. Die Frau verzog das puppenhaft rosig geschminkte Gesicht und sah fragend zu den anderen Knickerbockern. Sie verstand kein Wort. Lieselotte sprang ein und erklärte mit wenigen Sätzen, was geschehen war. Die Frau wollte es noch immer nicht glauben und durchsuchte selbst das Haus. „Kinderleins, ihr scheint recht zu haben!“ zwitscherte sie dann. Sie kniff Dominik in die Wange und tätschelte Poppi den Kopf. „Meine armen Kleinen, ihr habt bestimmt fürchterliche Angst gehabt!“ „Halb so schlimm“, erklärte Axel großspurig, „wir sind das gewohnt.“ Dominik rieb sich die Wange, als hätte die Frau eine ansteckende Krankheit, und fragte etwas hochnäsig: „Halten Sie es nicht an der Zeit, sich endlich vorzustellen?“ „Wie unhöflich von mir. Natürlich. Mein Name ist Gerti Felsböck. Gerti von Felsböck, ich bin Anthropologin. Ich erforsche die Wurzeln der Menschheit.“
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Die Knickerbocker reichten ihr der Reihe nach die Hand und nannten ihre Namen. Ganz geheuer war ihnen diese Frau aber nicht. „Wir wohnen im Camp Soaha. Können Sie uns dorthin zurückbringen?“ fragte Lieselotte. Frau von Felsböck schüttelte so energisch den Kopf, daß ihre Rattenschwanz-Zöpfchen flogen. „In der Dunkelheit völlig unmöglich.“ Die Bande sah sich schon in dem stinkenden, unheimlichen Haus übernachten. Ein höchst unangenehmer Gedanke. „Ich nehme euch mit zu mir, und wir verständigen das Camp, daß ihr wohlauf seid, einverstanden, meine Kleinen?“ schlug Frau von Felsböck vor. Die Juniordetektive waren mit der Anrede „Kleine“ ganz und gar nicht einverstanden, ihren Vorschlag nahmen sie aber gerne an. „Morgen bringe ich euch zurück nach Soaha. Bei Tageslicht ist der Weg kein Problem“, versprach die Forscherin. Die vier Freunde stiegen in den bequemen Range Rover, der Sitze aus echtem Leder hatte. Wie Axel sofort feststellte, war er außerdem mit einer Klimaanlage, einem Kühlschrank, einem Funkgerät, einer Hi-fi-Anlage und jeder Menge weiterer Extras ausgerüstet. „Die Karre muß ein Vermögen gekostet haben. Wußte gar nicht, daß Forscher so reich sein können“, brummte Axel. Frau von Felsböck machte noch einen schnellen Kontrollgang durch das Haus und schloß dann die Eingangstür. Sie ließ den Motor an und fuhr los. „Wieso sind Sie eigentlich gekommen?“ fragte Lilo, die vorne saß. „Ich habe die rote Leuchtkugel gesehen“, antwortete die Wissenschafterin. „Die habt doch ihr abgeschossen, oder?“ Lieselotte nickte.
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Der Wagen war gut gefedert, trotzdem wurden die Knickerbocker kräftig durchgerüttelt. Es gab weder asphaltierte Straßen noch geschotterte Pisten. Sie mußten querfeldein fahren, was Frau von Felsböck nichts auszumachen schien. Sie kannte das Gebiet offensichtlich gut und fand sich auch in der Dunkelheit zurecht. Nachdem sie ungefähr 45 Minuten unterwegs waren, wurden Poppi und Dominik unruhig. Es dauerte ihnen einfach zu lange. „Sind wir … bald … bei Ihnen?“ fragte Poppi. „Nein!“ rief Frau von Felsböck. „Ihr müßt euch mindestens noch eine halbe Stunde gedulden. Es ist nämlich eine Brücke eingestürzt, und ich muß einen Umweg machen.“ Dominik beugte sich zu Axel und flüsterte: „Vielleicht hätten wir doch nicht mit ihr mitfahren sollen. Es könnte sich um eine Wahnsinnige handeln, die uns jetzt irgendwo aussetzt oder in einer versteckten Hütte gefangen hält.“ Axel legte die Hand auf Dominiks Stirn und zog sie schnell wieder weg. Er tat so, als hätte er sich verbrannt, und brummte: „Mindestens 52 Grad Fieber.“ „Blödmann!“ murmelte Dominik und verschränkte trotzig die Arme. Das Gerumpel ging weiter. Da draußen absolute Finsternis herrschte, konnten die vier Knickerbocker überhaupt nichts von der afrikanischen Landschaft sehen. Auch Lieselotte erkannte im Licht der Scheinwerfer nur vertrocknetes Gras, Baumstämme, da und dort einen großen Stein und einige aufgeschreckte Springböcke. Wie sich Frau Felsböck orientierte, war ihr ein Rätsel. Je länger die Fahrt dauerte, desto ungemütlicher wurde den Freunden zumute. Langsam bekam auch Axel Angst. „Sie sind Forscherin“, begann Lilo ein Gespräch. Frau von Felsböck hielt das Lenkrad fest umklammert und preßte die Nase fast an die Windschutzscheibe. Mit
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zusammengekniffenen Augen starrte sie in die schwarze Landschaft. „Jajajaja, Anthropologin. Ich erforsche die Ursprünge des Menschen. Hat euch jemand in der Schule beigebracht, daß Afrika die Wiege der Menschheit ist?“ Die vier antworteten etwas, das nach ja klang. „Hier wurde eines der ältesten und vor allem das zu einem Großteil erhaltene Skelett eines Menschen gefunden. Man nannte es Lucy, da es das Skelett einer Frau ist. Lucy hat vor drei Millionen Jahren gelebt und ist bereits aufrecht gegangen. Doch ich bin sicher, daß es hier noch mehrere gibt, und deshalb suche ich seit einigen Monaten am Fuße des Murandscharo, eines mächtigen Granitmassivs, das von einer dicken Schicht Kalkgestein umgeben ist. Ich werde Überreste von Menschen finden, die noch älter als Lucy sind. Mein Name wird berühmt werden, und ich werde in die Geschichte eingehen!“ dozierte Frau von Felsböck. Ihre Augen schienen plötzlich zu glühen. Sie war offenbar von dem Gedanken besessen. Am Funkgerät leuchtete eine rote Lampe auf, und es piepste mehrere Male. Gerti von Felsböck nahm das Mikrophon in die Hand und meldete sich: „Was gibt es?“ „Kommen Sie schnell zu Grabung 3. Es hat wieder begonnen!“ hörte sie eine aufgebrachte Männerstimme. „Bin schon unterwegs!“ funkte sie, ließ das Mikro fallen und verriß den Wagen. Die Knickerbocker wurden nach rechts geschleudert und schrien auf. „Tut mir leid, Kinderleins“, entschuldigte sich Frau von Felsböck. „Aber wir dürfen keine Sekunde verlieren.“ „Was ist denn los?“ wollte Axel wissen. Die Forscherin gab ihm keine Antwort. Sie fuhr wieder ganz verbissen, das Gesicht fast an der Scheibe. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest hielt sie das Lenkrad umklammert.
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Was hatte wieder begonnen? Frau von Felsböck konnte es kaum erwarten, ans Ziel zu gelangen. Sie trat aufs Gaspedal, und die Knickerbocker wurden tief in die Ledersitze gepreßt. Zur Sicherheit schnallten sie sich an. Dominik ging ein Gedanke immer wieder durch den Kopf. Wieso machte die Frau überhaupt keine Anstalten, die Polizei oder andere Sicherheitsbeamten zu verständigen? Schließlich waren Dario und Richard Schotter verschwunden, nachdem zwei Unbekannte das Haus auf den Kopf gestellt hatten. Wollte Frau von Felsböck vielleicht gar nicht, daß etwas unternommen wurde?
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Brüllen aus der Tiefe Die Fahrt endete bei einer zerklüfteten, rotbraunen Felswand. Die Knickerbocker erspähten den Eingang zu einer Höhle. Frau von Felsböck sprang aus dem Wagen und stöckelte mit den hochhackigen Stiefeln auf ihn zu. „Los, ich will sehen, was sich da tut“, sagte Lieselotte und gab das Zeichen zum Aussteigen. Der Höhleneingang war ungefähr drei Meter hoch und zwei Meter breit. Dahinter lag ein gewundener Gang. Die glatten Wände zeigten, daß er in vielen Jahrhunderten vom Wasser aus dem Stein gewaschen und nicht von Menschen angelegt worden war. Gerti von Felsböck rannte aufgeregt immer tiefer in den Berg und rief: „Berti, ich bin da, ist es noch immer zu hören?“ Die Knickerbocker verloren sie beinahe aus den Augen. Da sich der Gang verzweigte, mußten sie dicht hinter Frau von Felsböck bleiben. Zum Glück waren alle paar Meter Fackeln aufgestellt. Poppi erinnerten die Gänge mit den zahlreichen dünnen Säulen an Tropfsteinhöhlen. Sie hatte gar nicht gewußt, daß es so etwas auch in Afrika gab. Je weiter sie vordrangen, desto heißer wurde es. Die Luft war stickig, und sie hatten Mühe beim Atmen. „Nicht ungefährlich hier“, stellte Lieselotte fest. Endlich blieb die Forscherin stehen und begrüßte einen Mann, der sie um mindestens zwei Köpfe überragte. Er hatte eine stattliche Figur und wirkte sehr kräftig. Sein Overall mußte früher weiß gewesen sein. Jetzt war er von lehmgelb bis rußschwarz verschmiert. Er trug eine altmodische Brille, die ihm immer von der Nase rutschte,
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und schwitzte stark. Frau von Felsböck und er standen vor einer Wand am Ende des Ganges. Als der Mann das Licht einer Karbidlampe darauf richtete, erkannten die Knickerbocker, daß die Höhle an dieser Stelle eingestürzt war. Felsbrocken hatten sich übereinander getürmt und den Weg komplett versperrt. „Was ist denn eigentlich los?“ erkundigte sich Lilo. Der Mann drehte sich zu ihnen um und zischte: „Pssssst! Hört ihr das nicht?“ Die Laute kamen aus einer Höhle, die sich hinter der Einsturzstelle befinden mußte. Sie klangen stark gedämpft wie aus weiter Ferne. Zuerst hielten die Knickerbocker die Geräusche für das Rauschen eines Wasserfalls oder das Brausen des Windes, der sich in Felsritzen fing. Je länger sie aber lauschten, desto stärker wurde ein anderer Verdacht: In dem abgetrennten Teil der Höhle brüllten wahrscheinlich Raubkatzen. Keiner der vier wagte auszusprechen, was er dachte. Jeder hatte Angst, von den anderen ausgelacht zu werden. Es war Gerti von Felsböck, die als erste den Mund aufmachte. „Diesmal bin ich mir sicher. Es ist das Gebrüll von Raubtieren. Sie müssen sich dahinter befinden. Aber wie ist das nur möglich?“ „Akkustisches Phänomen, das öfter in Höhlen auftritt“, erklärte Dominik altklug. „Wahrscheinlich liegen irgendwo auf dem Berg ein paar Löwen. In ihrer Nähe befindet sich ein Loch, das wie ein Schornstein wirkt und das Gebrüll in die Tiefe leitet. Die Gänge übernehmen die Aufgabe von Schalltrichtern.“ Frau von Felsböck warf Dominik einen nachdenklichen Blick zu. „Das habe ich auch vermutet, aber es kann nicht sein. Erstens brüllen zu dieser Tageszeit keine Löwen. Zweitens nicht auf diesem Berg, weil sie nur in der Ebene
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leben. Drittens beginnt hier das Granitmassiv, in dem es keine Löcher gibt. Es muß etwas anderes sein.“ „Geht es dahinter überhaupt weiter?“ wollte Dominik wissen. Berti nickte. „Wir haben Untersuchungen angestellt. Die eingestürzte Stelle ist ungefähr zwanzig Meter lang. Dahinter befindet sich eine weitere Höhle, die sehr weit in die Tiefe zu führen scheint.“ „Aber wie sollen Raubtiere darin überleben? Die sind doch bestimmt nicht erst seit gestern dort eingeschlossen“, wunderte sich Poppi. „Nein, seit mindestens 20.000 Jahren!“ erklärte Berti mit sehr ernstem Gesicht. „Ein Rätsel … oder ein Naturwunder!“ murmelte Frau von Felsböck. Das Brüllen wurde leiser und verstummte dann ganz. Eines stand fest: Es war aus dem Gestein gekommen, oder besser gesagt, von dahinter. Die Forscherin deutete mit dem Stiefel auf die verschüttete Stelle und sagte: „Wir müssen die Höhle dahinter freilegen. Berti, organisieren Sie alles, was nötig ist. Ich bin vielleicht einer wissenschaftlichen Sensation auf der Spur.“ Berti nickte wieder eifrig. Frau von Felsböck ließ plötzlich die Schultern hängen und überlegte laut: „Und wenn die Kinderleins doch recht haben und wir einer Täuschung der Natur auf den Leim gehen? Dann bin ich alles los, was ich noch habe. Das Vorhaben kostet bestimmt Millionen.“ Nach einer Pause meinte sie: „Ich werde darüber nachdenken, wie wir vorgehen könnten.“ Mit ernstem Gesicht drehte sie sich um und machte sich auf den Rückweg. Berti nahm seine Brille ab, putzte sie, setzte sie wieder auf und starrte die Knickerbocker an, als wären sie vorhin nur Schmutz auf den Gläsern gewesen: „Wer seid ihr
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eigentlich?“ wollte er wissen. „Kinderleins, kommt, wir müssen zu mir und das Camp verständigen!“ zwitscherte Frau von Felsböck. Sie war bereits ein großes Stück voraus. Die vier liefen ihr stumm nach und ließen Berti einfach stehen. Als sie sich einer der Verzweigungen näherten, knirschte es vor ihnen. Es hörte sich an, als würde jemand auf sie zugehen. Sie blieben stehen und blickten einander fragend an. „Ist außer Ihnen und Berti noch jemand in der Höhle?“ fragte Lieselotte. Die Forscherin schüttelte den Kopf. Die Schritte kamen direkt auf sie zu. „Hallo? Wer ist da? Kommen Sie raus! Nur ich habe die Bewilligung, hier meine Forschungsarbeit zu machen!“ rief Frau von Felsböck. Der Unbekannte lief weg und verschwand in einem der Seitengänge. Die Knickerbocker und die Forscherin überlegten, was jetzt zu tun sei. Lilo hatte eine Idee. Sie deutete den anderen weiterzugehen. Lieselotte bewegte sich aber kaum vorwärts, sondern trat auf der Stelle. Sie gab ihren Freunden ein Zeichen, das gleiche zu tun. Indem sie immer leichter aufsetzten, hörte es sich an, als würden sie sich entfernen. In Wirklichkeit versteckten sie sich hinter einer dicken Tropfsteinsäule. Einige Augenblicke blieb alles still. Aus dem Seitengang kam kein Laut. Die Bande hielt die Luft an, und als Frau von Felsböck etwas sagen wollte, legte ihr Lilo schnell die Hand auf den Mund. Da waren die Geräusche wieder. Jemand ging durch den Gang in ihre Richtung. Der Lichtschein einer Fackel tauchte
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auf der glatten Felswand auf. Er warf den Schatten eines Menschen auf den Stein. Axel, Lilo, Poppi und Dominik rissen gleichzeitig den Mund weit auf und schnappten nach Luft. Sie trauten ihren Augen nicht.
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Unerwartete Begegnung Der Schatten zeigte eine nach vorne gebeugte Person in einem kuttenähnlichen Gewand. Ihr Kopf erschien groß und eckig, die Stirn ungewöhnlich hoch. „Ein Steinzeitmensch“, hauchte Dominik. Der Umriß erinnerte ihn an die Abbildungen von Neandertalern in seinen Büchern. „Er kommt auf uns zu!“ flüsterte Poppi. Sie hatte zu laut gesprochen. Der Urmensch flüchtete wieder in den Seitengang. Axel zögerte nicht, sondern rannte ihm nach. Er holte im Laufen seine Taschenlampe aus der Hosentasche und knipste sie an. Der Gang war verwinkelt, und Axel konnte den geheimnisvollen Menschen nicht mehr sehen. Doch seine Schritte hörte er genau und folgte ihnen. Axel war ein guter Sprinter, doch der rutschige, unebene Boden, die zahlreichen Biegungen und die herabhängenden Steinzacken bremsten ihn sehr. Das Knirschen der flüchtenden Schritte wurde leiser, der Abstand zwischen Axel und dem Unbekannten größer. „Ich krieg dich. Ich muß dich einholen“, redete sich Axel ein. Hatte er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt, war er nicht mehr davon abzubringen. Er war besessen von dem Gedanken, einem echten Steinzeitmenschen gegenüberzustehen. Keine Sekunde dachte er daran, wie verrückt die Idee war, daß es sich tatsächlich um einen Urmenschen handelte … Mit den Händen stützte sich Axel an den Felswänden ab, um nicht auszurutschen. Er kämpfte sich wild entschlossen voran, stoppte immer wieder, lauschte, ob die Schritte noch
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zu hören waren, und rannte dann weiter. Der Gang wurde enger und niedriger, die Klüfte und Felsspalten immer dunkler. Plötzlich verstummten die Geräusche des Urmenschen. Der Knickerbocker hörte zuerst nur das Rauschen seines Blutes in den Ohren, das Pochen seines Herzens und sein eigenes Keuchen. Er versuchte sich zu beruhigen, was ihm nur langsam gelang. Irgendwo vor ihm mußte der Steinzeitmensch sein. War er stehengeblieben? Oder gab es ein Versteck? Einen zweiten Ausgang? Oder lauerte er ihm auf? Axel schluckte mehrere Male kräftig und schlich dann auf Zehenspitzen weiter. Er hatte den Strahl der Taschenlampe auf den Boden gerichtet, damit ihn der Lichtschein nicht verriet. Auf beiden Seiten des Ganges war der Fels zerklüftet, und die Spalten führten weit in die Tiefe. Axel leuchtete in einige hinein und hatte das Gefühl, sie würden das Licht schlucken wie gierige Mäuler. Schritt für Schritt tastete sich Axel voran. Er hatte den Kopf zwischen den Schultern eingezogen und spürte, wie Angst und Anspannung in seinem Körper hochstiegen. Er zitterte leicht. Im hinteren Teil der Höhle wurde es heißer und heißer. Der Schweiß trat ihm aus allen Poren und lief über seinen Rücken. Der Urmensch war verschwunden. Axel entdeckte keine Spur mehr. Da! Ein leises Knirschen rechts hinter ihm. Er drehte sich erschrocken um und sah in einer der Felsspalten eine Bewegung. Bevor er noch etwas unternehmen konnte, traf ihn ein Stein aus der Dunkelheit hart auf die Brust. Axel ließ die Taschenlampe fallen. Sie rollte sofort weg. Rund um ihn wurde es stockfinster.
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Aus der Felsspalte stürzte etwas auf ihn zu und schleuderte Axel zu Boden. Dann wurde er an Hemd und Hose gepackt und hochgehoben. Er wehrte sich und schlug mit den Fäusten wild herum. Starke Arme beförderten ihn in die Felsspalte, aus der die Gestalt vorhin gekommen war. Er fiel hin und spürte einen stechenden Schmerz in seiner Brust. Axel rang nach Luft. Er konnte nicht mehr richtig einatmen und hatte das Gefühl, als ob ihn jemand in einen eisernen Panzer gesteckt hätte. „Hilfe … Hilfe!“ keuchte er fast tonlos. Er würde ersticken müssen, denn er schaffte es nicht, auch nur ein wenig Luft in seine Lunge zu pumpen. „Hilfe … bitte … Hilfe!“ flehte er. Etwas Hartes traf ihn am Kopf, und er verlor die Besinnung. Als er wieder zu sich kam, herrschte rund um ihn Dunkelheit. Er tastete nach seinen Augen und überprüfte, ob er die Lider offen oder geschlossen hatte. Offen. Trotzdem war alles schwarz. Stöhnend richtete sich Axel langsam auf. Sein Brustkorb war ein einziger Schmerz, aber wenigstens konnte er wieder vorsichtig einatmen, denn jedes bißchen Zuviel tat höllisch weh. Axel tastete um sich. Er fühlte den sandigen Boden und die Felswand. Auf der anderen Seite stieß er auf einen runden Gegenstand mit Löchern und Kanten. Außerdem war da ein Griff … nein, sogar zwei. Aaaaa! Axel schrie leise auf. Das war ein Schädel. Der kahle Totenschädel eines Tieres, an dem noch etwas klebte. Haut? Nachdem Axel es berührt hatte, roch er an seinen Fingern. Er hatte das Gefühl, als ob er sich übergeben müßte. Der Gestank war bestialisch. Es kostete ihn viel Mühe, sich hochzukämpfen. Dabei
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stieß er mit dem Kopf gegen die Höhlendecke und stöhnte auf. Soll ich den Schädel mitnehmen, überlegte er und kam zu dem Schluß, daß es ein wichtiger Fund sein könnte. Axel hob ihn deshalb auf. „Hallo … ich bin hier!“ Seine Stimme klang mehr wie Mäusepiepsen. Seine Freunde waren ihm doch bestimmt gefolgt. Wieso waren sie nicht bis zu ihm vorgedrungen? „Hallo … hierher!“ keuchte er. Keine Antwort. Hörten sie ihn nicht, weil er zu leise rief, oder waren sie gar nicht in der Nähe? In Axels Kopf tauchten Erinnerungsfetzen auf. Er spürte die kräftigen Hände wieder, die ihn in die Felsspalte befördert hatten. Axel tastete sich an der Wand entlang in die Richtung, wo er den Gang vermutete, durch den er gelaufen war. Bereits nach einigen Metern hatte er ihn erreicht und atmete erleichtert auf. Rund um Axel blieb es schwarz. Er hatte keine Ahnung, woher er gekommen war. Doch er mußte die richtige Entscheidung treffen, sonst würde er noch tiefer in die Höhle gehen und in der Dunkelheit womöglich abstürzen. „Hallo?“ Aus seinem Mund kam nur ein leises Stöhnen, das schon einige Meter weiter bestimmt nicht mehr zu hören war. Er wollte hinaus, und das auf dem schnellsten Weg. Aber wie sollte er das anstellen, ohne in noch größere Gefahr zu geraten? Axel wurde schwindlig. Er verlor in der Dunkelheit das Gefühl für oben und unten und ließ sich auf den Boden sinken. Ihm war nach Heulen zumute, aber das würde ihn keinen Zentimeter aus dieser verdammten Lage bringen. War er tatsächlich einem Urzeitmenschen begegnet? Und was hatte er für einen komischen Knochen in seiner Hand?
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Er stammte auf keinen Fall von einem Tier aus der heutigen Zeit. Die langen Stangen waren nämlich keine Hörner. Es schien sich um Zähne zu handeln. Stoßzähne? Unmöglich. Sie waren kaum gebogen, und außerdem war der Schädel für einen Elefanten zu klein. Ein Säbelzahntiger. Axel hatte das Bild dieses Tieres oft in einem Buch über die Urzeit gesehen. Aber Säbelzahntiger waren ausgestorben. Seit langer Zeit. Das hier war nur der Kopf von einem Tier, das schon einige Zeit tot sein mußte. Aber halt, wie lange eigentlich? Die Haut schien noch nicht ganz verwest. Die klebrige Masse an dem Knochen konnte verfaultes Fleisch sein, genau danach roch es nämlich. Das aber würde bedeuten, daß der Säbelzahntiger noch gar nicht so lange tot war! Das Brüllen im abgetrennten Teil des Berges. Der Schädel. Der letzte Fetzen Haut und Fleisch. Axel begann wieder zu schwitzen. Was ging in dieser Höhle vor?
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Messerlange Zähne Hier muß irgendwo meine Taschenlampe liegen, fiel Axel ein. Er tastete den Boden mit beiden Händen ab. Langsam kroch er auf allen vieren voran. Jede Bewegung tat weh, aber er wollte so schnell wie möglich die Höhle verlassen. Das Knirschen des Sandes unter seinen Knien und Schuhen schien vielfach von den Höhlenwänden zu hallen und verwirrte Axel. Immer schneller und hastiger wurde seine Suche, immer verzweifelter er selbst. Mit einem lauten Seufzer setzte er sich wieder hin, tastete nach der Felswand und lehnte sich dagegen. Nichts, keine Taschenlampe. Den Schädel hatte er liegengelassen. Aber wo war das gewesen? Ich muß dorthin zurück! Ich muß ihn wiederfinden! Die Gedanken trieben ihn wie Peitschenschläge an und ließen ihn durchhalten. Aber bald überkam ihn wieder die Verzweiflung. Axel hatte in der Dunkelheit die Orientierung verloren. Obwohl er sich zuredete, nicht aufzugeben, drückte ihn die Mutlosigkeit nieder wie ein tonnenschweres Gewicht. Warum suchten ihn seine Freunde nicht? Er hockte in der totalen Finsternis und schluckte immer wieder kräftig. Losheulen wollte er nicht, auch wenn ihm danach war. Axel wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Minuten, Stunden, vielleicht ein halber Tag. Plötzlich überfiel ihn neue Angst. Welche Gefahren konnten noch hier lauern? Gab es wirklich lebendige Raubtiere? Pirschten sie sich vielleicht schon an ihn heran? Er rechnete jede Sekunde mit Augen, die neben ihm
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aufglühten. Mit langen, gierigen Reißzähnen, die sich in seine Beine bohrten. Mit scharfen Krallen, die ihn zerfetzten. Da waren sie schon … Ein Kratzen … Sie kamen, um ihn zu jagen. Augen leuchteten auf und starrten ihn an. „Nein!“ brüllte Axel so laut es sein gequetschter Brustkorb erlaubte. Kampflos würde er nicht aufgeben. Mit aller Kraft, die er noch aufbringen konnte, warf er sich gegen die Raubtiere. Sie packten ihn mit dünnen Greifarmen, rissen ihn an den Haaren, versetzten ihm Ohrfeigen und rüttelten ihn. Er sah die weißen Zähne, die aufgerissenen Mäuler, er roch ihren Atem. Pfefferminze. Pfefferminze??? Wie aus weiter Ferne hörte er seinen Namen. So, als würde jemand hinter einer Wand nach ihm rufen. Die Stimme kannte er. Es war Lieselotte. Neben ihr standen Dominik und Poppi. Sie hielten ihn mit aller Kraft fest, weil er so wild um sich schlug. „Axel, hör auf. Reg dich ab!“ brüllte ihn Lilo an. Die schreckliche Angst und Verzweiflung fiel von ihm ab. „Wo wart ihr so lange?“ stieß er hervor. „Wir … wir haben dich gesucht. Aber plötzlich ist jemand aus dem Gang gestürmt. Er hat wie ein Tier gebrüllt. Es war totaler Horror!“ berichtete Poppi. „Wir gingen in Deckung und sahen eine Gestalt vorbeilaufen. Sie trug deine Kappe. Da wir nur ihren Schatten für Bruchteile von Sekunden erblickten, hielten wir ihn für dich!“ setzte Dominik fort. Axel betastete seinen Kopf. Die Kappe war weg. „Wir sind dem Brillier nach. Er ist aus der Höhle raus und in die Nacht gerannt. Frau von Felsböck hat den Wagen gestartet und wollte ihm nachfahren, aber er ist in der
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Dunkelheit untergetaucht. Deine Kappe hat er verloren“, erzählte Lieselotte. Sobald die Knickerbocker sicher waren, daß sich Axel noch in dem Gang befand, waren sie noch einmal hineingegangen. Dominik und Lilo stützten ihren Kumpel. Sie ermunterten ihn: „Los … komm, raus da.“ Axel schüttelte sie ab und schimpfte: „Ich bin kein alter Opa. Laßt mich!“ Er tastete sich mit der Hand an der Wand entlang und folgte ihnen. Jetzt, im beleuchteten Gang, fand er natürlich sofort den Weg zurück. Nach einer kurzen Strecke stieß er mit dem Fuß gegen etwas Hartes. Er bückte sich und hob es auf. Poppi leuchtete darauf und riß die Augen weit auf. „Das … das ist der Schädel eines Säbelzahntigers!“ Die Juniordetektive bestaunten die starken Reißzähne, die an Stelle der Eckzähne im Oberkiefer steckten. Sie waren mindestens 20 Zentimeter lang und fanden im geschlossenen Maul keinen Platz. Mit ihnen hatten die Säbelzahntiger ihre Beute erdolcht und aufgerissen. Von oben sollen sie sich auf ihre Opfer gestürzt und die Zähne dabei wie Messer eingesetzt haben. Im Licht bestätigte sich Axels Verdacht. An dem graugelben Knochen klebten noch Fetzen von Haut und Fleisch und sogar einige Büschel Haare. „Sie sind nicht ausgestorben. Sie leben noch in dieser Höhle. Es gibt noch Säbelzahntiger!“ keuchte Axel. Frau von Felsböck geriet beim Anblick des Schädels völlig außer sich. Sie sprang damit sofort in den Range Rover und wollte zu ihrem Haus. Auf die KnickerbockerBande hätte sie beinahe vergessen. Die Forscherin bewohnte eine schmucke Holzvilla, die von einem üppigen Gärtchen umgeben war. Die künstliche Bewässerung ließ hier alles blühen, während der Rest des
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Nationalparks reichlich dürr und ausgetrocknet war. Um diese Jahreszeit war das allerdings ganz normal. Völlig erschöpft ließen sich die vier Freunde im Wohnzimmer auf zwei weiche Sofas sinken, während Gerti Felsböck mit dem Schädel in einem Hinterzimmer verschwand. Axel, Lilo, Poppi und Dominik nickten bald ein, wurden aber von einem langgezogenen Schrei geweckt.
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Feuertag Das Licht im Wohnzimmer von Frau Felsböck war schummrig. Denn sie hatte bis auf eine Stehlampe alle Lichter gelöscht, als sie sah, daß die Knickerbocker schliefen. Lilo sah sich verwirrt um. Sie brauchte eine Weile, bis sie begriff, wo sie war. Noch ein Schrei. Er kam aus dem hinteren Teil des Hauses, den die Bande noch gar nicht kannte. Es bestand kein Zweifel: Frau von Felsböck schien vor etwas große Angst zu haben. Langsam richteten sich auch die anderen auf und fragten verschlafen: „Was … was ist denn?“ „Nehmt euch etwas Schweres, mit dem wir uns zur Not wehren können! Schnell!“ kommandierte das Superhirn. Poppi war sofort hellwach, die Jungen mußten sich erst gähnend strecken. Keiner stellte weitere Fragen. Axel schnappte einen Kerzenständer aus Messing, Poppi einen schweren Papierkorb, Lieselotte einen Golfschläger, und Dominik einen Briefbeschwerer in der Form eines grinsenden Goldfisches. So bewaffnet schlichen die vier in eine zentrale Halle, von der weitere Türen wegführten. Eine davon war nur angelehnt, und ein dünner Lichtstrahl fiel auf den Boden. Lilo spähte durch den Spalt. Dahinter befand sich eine Art Werkstatt mit großen Landkarten und Plänen an den Wänden. Auf Arbeitstischen lagen Steinbrocken, und in einer Ecke hatte sich Frau Felsböck ein Labor eingerichtet, mit verschiedenen Glaskolben, gewundenen Röhrchen, Bunsenbrennern und Chemikalien in braunen Raschen. Daneben standen Geräte, die wie Backrohre in Großküchen ausschauten.
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Frau Felsböck war nicht zu sehen. Sie mußte hinter der Tür stehen. Die Juniordetektive hörten die hohe, aufgeregte Stimme von Frau Felsböck und zwei tiefe Männerstimmen, die Fragen zu stellen schienen. Wieder schrie die Forscherin auf. Sie mußte von den Männern bedroht werden. Oder fügten sie ihr sogar Schmerzen zu, damit sie ihnen das sagte, was sie wissen wollten? Lieselotte trat mit dem Fuß fest gegen die Tür. Sie flog auf und gab die Sicht auf den Raum frei. Gerti von Felsböck drängte sich gegen ein Regal. Vor ihr standen zwei schwarze Männer. Sie hatten Tücher vor dem Gesicht und trugen khakifarbene Jeansanzüge. Waffen konnte Lilo keine erkennen, doch sie hatten die Arme in die Seite gestützt und den Brustkorb aufgebläht. Irgendwie erinnerten sie an Pfaue, die Räder schlugen, um zu imponieren. Vom Geräusch aufgeschreckt, drehten sie sich um. Als sie die Knickerbocker sahen, rief der eine dem anderen etwas zu, und sie ergriffen die Flucht. Drohend schwangen die Juniordetektive die schweren Gegenstände. Die Schwarzen hoben die Arme, stürmten aus dem Zimmer und versetzten den vieren völlig überraschend einen kräftigen Schubs. Sie verloren das Gleichgewicht und landeten auf dem Boden. Die Männer rannten aus dem Haus. Dominik hastete hinterher und ging neben einem Fenster in Deckung. Er beobachtete, wie die beiden Männer in einem verbeulten Militärjeep davonfuhren. „Wer … wer war das? Was wollten die?“ fragte Lieselotte. Frau von Felsböck preßte die Hände auf die Herzgegend und stammelte: „Ich dachte, die bringen mich um. Sie waren plötzlich da und haben mich an die Wand gedrückt.
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Sie haben mir mindestens zwanzigmal die gleiche Frage gestellt.“ „Und, wie hat die gelautet?“ wollte Dominik wissen. „Was wissen Sie über den ‚Feuertag’?“ „Sie meinen Feiertag!“ besserte Dominik aus. Die Forscherin schüttelte energisch den Kopf. „Nein Feuertag. Sie haben nach dem Feuertag gefragt. Ich habe jedesmal beteuert, keine Ahnung zu haben, aber das wollten sie nicht glauben. Sie behaupten, daß ich auf der Liste stehe und deshalb etwas wissen muß. Sie haben gedroht, mein Haus zu zertrümmern, wenn ich nicht rede.“ „Ja, das haben sie heute schon einmal getan“, meinte Lilo trocken. „Sie haben keine Vermutung, wer die Männer gewesen sein könnten?“ erkundigte sich Dominik. Frau von Felsböck überlegte. „Sie sprechen sehr gepflegt. Das heißt, sie kommen aus gutem Haus. Aber das ist schon alles, was ich sagen kann.“ Lilo knetete wieder einmal ihre Nasenspitze und meinte: „Und sie wollen unter keinen Umständen, daß jemand ihr Gesicht sieht.“ „Ihr seid im richtigen Augenblick gekommen. Vielen Dank, Kinderleins. Ihr habt einen Wunsch frei!“ versprach die Forscherin. „Ich weiß schon, was!“ platzte Axel heraus. Er erntete dafür überraschte Blicke. „Bitte nennen Sie uns nicht immer Kinderlein, das ist einfach unter unserer Würde.“ Gerti von Felsböck versicherte es. Lilo entdeckte den Säbelzahntigerschädel auf dem Tisch und fragte: „Haben Sie ihn untersucht?“ Die Forscherin erinnerte sich jetzt wieder an ihre Arbeit. Sie nickte so heftig, daß die Zöpfchen zitterten. „Ich habe sein Alter bestimmt. Meine Methode ist sehr exakt.“ „Und?“ Gespannt blickten sie die Juniordetektive an. „Der Schädel des Säbelzahntigers ist ungefähr – ein paar
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Jahre auf oder ab – 30 Jahre alt.“ „Ich glaub, mich knutscht ein Pavian“, stieß Axel hervor. Es gab also tatsächlich noch Säbelzahntiger. In der Höhle mußten noch welche leben, auch wenn sie überall sonst auf der Welt bereits seit Tausenden Jahren ausgestorben waren. „Und der Urmensch?“ warf Axel ein. Auf ihn hatten sie völlig vergessen. „Wir haben doch den Schatten gesehen. Er geht wie ein Neandertaler.“ Dominik nahm seine Brille ab und putzte sie hektisch: „Eine Höhle, in der längst ausgestorbene Lebewesen hausen?“ Über das Gesicht von Frau Felsböck huschte ein Strahlen. „Dann habe ich Daddys Geld doch nicht falsch investiert“, murmelte sie. Als sie die fragenden Gesichter der Knickerbocker-Bande bemerkte, erklärte die Forscherin: „Ich erbte von meinem Vater eine Menge Geld. Er war ein sehr angesehener Unternehmer. Hat einige wichtige Teile für Hochgeschwindigkeitszüge erfunden und ist damit reich geworden. Ich habe es mir in den Kopf gesetzt, eine bedeutende Entdeckung zu machen. Deshalb habe ich große Summen in dieses Projekt gesteckt und eine Bewilligung erstanden, zehn Jahre lang in diesem Gebiet forschen zu dürfen.“ „Gratuliere, Sie sind auf eine Goldmine gestoßen. Allerdings ist das Gold darin lebendig!“ stellte Dominik bewundernd fest. Lilo fügte leise, nur für die Bandenmitglieder hörbar hinzu: „Könnte mir allerdings vorstellen, daß auch andere auf dieses ‚Gold’ heiß sind.“ Was sie nicht aussprach, war nur ein dumpfes Gefühl. In dieser Höhle steckte noch etwas ganz anderes. Was es sein könnte, wußte sie aber nicht.
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Wichtige Informationen Das Haus von Frau Felsböck war bedeutend luxuriöser eingerichtet als die Hütte von Richard Schotter. Die Forscherin zeigte den Knickerbockern am nächsten Morgen ein Gartenhäuschen, in dem ein knatternder Motor lief. „Das ist mein eigenes Mini-Kraftwerk“, erzählte sie stolz. „Ein Generator erzeugt Strom, auf den ich hier in der Wildnis nicht verzichten möchte.“ Während sie im Wohnzimmer frühstückten, lief der Fernseher. Der Zwergstaat besaß ein eigenes Fernsehprogramm, in dem die Knickerbocker eine Krimiserie sahen, die sie von zu Hause kannten. Die Schauspieler sprachen Deutsch, und die Stimme eines Übersetzers erklärte dem afrikanischen Publikum, um was es ging. Nach dem Krimi kamen Zeichentrickfilme, und anschließend erschien ein stattlicher Schwarzer mit gekräuseltem grauen Haar auf dem Bildschirm. Er trug ein langes, buntes Gewand, wie es hier Tracht war, und saß auf einem geschnitzten, ausladenden Stuhl. „Das ist der Präsident von Olanga. Er ist sehr beliebt und hat viele Jahre lang für die Befreiung des Landes gekämpft. Es gehört nun wieder seinen Ureinwohnern, wird von ihnen bewirtschaftet und verwaltet!“ erklärte Frau von Felsböck. „Viele Weiße haben die schwarze Bevölkerung lange unterdrückt. Sie sind über diese Entwicklung nicht gerade begeistert. Einige haben in der Vergangenheit viel Geld auf Kosten der Schwarzen verdient. Sie haben ihnen für ihre Arbeit kaum etwas bezahlt und konnten auf diese Weise hohe Profite einstreifen.“ „Gemein!“ fand Poppi. Frau von Felsböck nickte. „Einige Weiße haben das Land verlassen, als es selbständig wurde. Aber es gibt auch
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Schwarze, die behaupten, früher wäre alles besser gewesen. Sie sind gegen Präsident Nonbuto. In letzter Zeit gab es zahlreiche Unruhen.“ „Was sagt Präsident Nonbuto?“ wollte Dominik wissen. Sie verfolgte die Rede eine Weile und übersetzte dann: „Er fordert die Bewohner von Olanga auf, am Aufbau des Landes mitzuarbeiten. Im Augenblick gibt es viele Probleme zu bewältigen, und die Lage ist nicht einfach, aber gemeinsam werde man es schaffen. Er ruft alle auf, die Auseinandersetzungen zu beenden. Im Land muß wieder Frieden herrschen. Meinungsverschiedenheiten sollten nicht mit Waffen, sondern im Gespräch bereinigt werden.“ „Sehr klug, aber das fällt vielen Erwachsenen am schwersten. Deshalb gibt es noch immer Kriege, obwohl alle dagegen sind“, meinte Axel. „Dario!“ fiel Lilo ein. „Was ist mit ihm geschehen? Und wir haben Poppis Onkel noch nicht angerufen.“ „Doch, doch, das habe ich alles schon erledigt“, beruhigte sie Frau von Felsböck. „Er weiß, daß ihr in Sicherheit seid.“ „Aber was ist mit Dario? Und mit Richard Schotter?“ erkundigte sich Lilo. „Wir fahren an Schotters Haus vorbei und werden nach ihm sehen“, schlug Frau von Felsböck vor. Nach dem Frühstück brachen sie auf. Die Knickerbocker hatten geduscht und waren nicht sehr begeistert in die verschwitzten Klamotten geschlüpft. „Ihr könnt mich gerne Stinkbombe nennen“, murmelte Axel. Während der Fahrt schärfte Frau Felsböck den Juniordetektiven ein: „Bitte, kein Wort über den Schädel des Säbelzahntigers zu irgend jemandem. Verstanden?“ Axel, Lilo, Poppi und Dominik gaben ihr Ehrenwort und ernteten dafür ein dankbares Lächeln der seltsamen Frau. „Ich habe heute schon mit meinem Assistenten Berti gesprochen. Ich werde mein ganzes Geld in die Erforschung
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der Höhle stecken. Auch wenn eine sorgfältige Freilegung des eingestürzten Ganges sehr viel kostet. Es muß nämlich mit größter Vorsicht an die Sache herangegangen werden, um die Lebewesen dahinter nicht zu erschrecken oder zu verletzen. Unter keinen Umständen darf gesprengt werden.“ Dominik fiel etwas ein: „Aber Frau von Felsböck, den Schädel haben wir in einem ganz anderen Gang gefunden. Dort ist auch der Urmensch herumgelaufen, der in die Nacht geflüchtet ist.“ Gerti von Felsböcks rosig geschminktes Gesicht erhellte sich. „Schlaues Kerlchen“, lobte sie Dominik. Der Rest der Bande feixte. Sie würden ihren Kumpel ab jetzt auch immer „schlaues Kerlchen“ nennen. „Es muß also einen Ausgang aus dem versteckten Höhlenteil geben“, überlegte sie laut: „Ich muß sofort mit Berti darüber reden.“ Sie riß das Steuer herum, so daß die Bande auf eine Seite geschleudert wurde, und raste zur Höhle. Als sie dort ankamen, war es kurz vor Mittag. Das Innere des Wagens war von der Klimaanlage angenehm gekühlt worden. Als sie jetzt ausstiegen, traf sie die heiße Luft wie ein Keulenschlag. Vor der Höhle standen mehrere klapprige Lieferwagen. Schwarze Männer in grauen Arbeitsoveralls luden Kisten und Plastikfässer ab und schafften sie in den Berg. Berti gab am Eingang genaue Anweisungen, wohin die verschiedenen Teile gebracht werden mußten. Sein Gesicht strahlte, und der frische Overall war noch fast sauber. „Guten Morgen, Boß!“ begrüßte er Frau von Felsböck. Sie trippelte auf ihn zu und hielt dabei das kleine Strohhütchen auf dem Kopf fest, das sie an diesem Tag trug. Da sie nicht wollte, daß jemand mithörte, winkte sie ihn zu sich herab. Der riesige Berti knickte nach vor und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. Wie ein aufgeregtes
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Mädchen flüsterte sie ihm alles ins Ohr. „Aber Boß, wie stellen Sie sich das vor! Nach unserem Funkgespräch heute morgen habe ich sofort alle Hebel in Bewegung gesetzt. Soll ich die Leute wieder heimschicken?“ Er deutete auf die zahlreichen Arbeiter und machte ein vorwurfsvolles Gesicht. „Zuerst müssen wir in den anderen Gängen suchen!“ bestimmte Frau von Felsböck. „Ich weiß nicht“, hörte die Bande Berti sagen. „Verzögerungen sind jetzt bestimmt nicht gut. Aber ich mache Ihnen den Vorschlag, daß wir die Sache von allen Seiten gleichzeitig angehen.“ „Nein!“ entschied Frau Felsböck. Berti atmete lautstark ein. Sein Brustkorb dehnte sich wie ein Ballon. „Na gut, ich sehe mir die Sache sofort persönlich an. Aber ich glaube nicht, daß es in den Nebengängen etwas zu entdecken gibt.“ Als Frau Felsböck zu den Knickerbockern zurückkam, fragte Lilo leise: „Haben Sie ihm nichts von dem Säbelzahntigerschädel und dem Urmenschen erzählt?“ Die Forscherin schüttelte den Kopf und legte einen Finger auf die Lippen. „Kommt, wir machen noch einen Abstecher zu Richard Schotter, dann bringe ich euch zu eurem Onkel zurück. Er hat mich sicher hundertmal gefragt, ob ihr wirklich alle wohlauf seid.“ Die Bande stieg wieder ein und beobachtete, wie Berti die Männer zu sich holte und ihnen etwas mitteilte. Es entstand eine heftige Diskussion. Nachdem sie ein kleines Stück gefahren waren, rief Lilo: „Mist, mein goldener Kugelschreiber! Ich habe ihn verloren. Könnten Sie bitte umkehren, Frau von Felsböck. Ich muß ihn wiederfinden!“ „Du hast doch gar keinen goldenen Kugelschreiber!“ raunte ihr Poppi zu. Lieselotte reagierte nicht. Sie schien etwas vorzuhaben.
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Richard Schotter „Ich habe ihn schon gestern in der Höhle verloren“, fügte Lilo hinzu. „Du beschreibst Berti, wie er aussieht, und er wird ihn suchen. Er muß ohnehin mit den Männern in den Gang, in dem ihr gestern gewesen seid“, meinte Frau von Felsböck. „Äh … ich will lieber selbst nachsehen.“ Lilo grinste entschuldigend. Die Forscherin war an diesem Tag sehr gereizt und schnaubte: „Wenn du meinst, Kindchen. Obwohl ich dein Verhalten etwas dickköpfig finde.“ „Warum fahren Sie in der Zwischenzeit nicht zum Haus von Richard Schotter?“ schlug Lilo vor. Sie mußte Zeit gewinnen. „Ich hätte nur gerne, daß einer von euch mitkommt!“ sagte sie zu ihren Freunden. Dominik erklärte sich sofort bereit. Die Mitglieder der Bande hatten verstanden, daß Lilo etwas Wichtiges eingefallen war. Sie wollte offenbar unbedingt einer Spur nachgehen. Vor der Höhle war es ziemlich ruhig. Die Wagen standen herum, aber die Arbeiter waren alle im Berg. Lilo und Dominik sprangen aus dem Range Rover, und Frau von Felsböck kündigte an, in spätestens einer Stunde zurück zu sein. Als der Wagen in einer großen Staubwolke verschwunden war, fragte Dominik: „Und was suchen wir wirklich?“ „Spuren des Steinzeitmannes und der Säbelzahntiger ui den Felsspalten. Falls es die Tiere hier wirklich gibt, müssen sie doch Pfotenabdrücke hinterlassen haben. Der Schädel kann doch nicht rausgeflogen sein – womöglich noch durch die Felswand.“ Dominik gab ihr recht.
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Sie betraten die Höhle und rannten zu der Stelle, wo der Urzeitmensch aufgetaucht war. Aus dem Gang, der ein Stück weiter vorne verschüttet war, kamen Stimmen. Lilo hörte unter ihnen auch Bertis dröhnendes Organ. Er kommandierte die Arbeiter in der Landessprache. Dominik und Lilo betraten den Gang, in den Axel in der Nacht gelaufen war. Sie suchten den Boden im Licht der Taschenlampen genau ab, fanden aber hauptsächlich die Abdrücke ihrer eigenen Schuhe. Durch das Netzwerk der Gänge und Löcher drangen laute Arbeitsgeräusche. Es wurde gehämmert, geklopft und geschaufelt. Schließlich erreichten sie den Platz, an dem Axel überfallen worden war. Lilo zwängte sich in die Felsspalte, wo sich der Angreifer versteckt hatte, und prüfte den Boden. „Und?“ fragte Dominik von draußen. „Sehr interessant“, murmelte Lieselotte. Irgendwo in der Ferne wurde ein Hörn geblasen. „Wozu soll das gut sein?“ überlegte Dominik und dachte angestrengt nach, woran ihn dieses Geräusch erinnerte. Er hatte es schon einmal in einem ganz bestimmten Zusammenhang wahrgenommen. Dieses Signal kündigte etwas an. Was war es nur? Als es ihm ein paar Minuten später einfiel, war es bereits zu spät. Eine Explosion in unmittelbarer Nähe erschütterte die ganze Höhle. Dominik wurde zu Boden geschleudert, vor ihm donnerten Steinbrocken herunter. Er schützte seinen Kopf mit den Armen und spürte eine Druckwelle, die wie eine Betonwalze über ihn hinwegrollte. In seinen Ohren gab es einen Knall, und er konnte nichts mehr hören. Obwohl der Berg bebte, herrschte rund um ihn absolute Stille. Er sah die Steine fallen, die Höhle stürzte ein. Er würde in ihr begraben werden.
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Ungefähr zur gleichen Zeit erreichte der Range Rover das Haus von Richard Schotter. Die Tür wurde geöffnet, und ein blasser Mann trat heraus. Er hatte links und rechts das Haar ganz kurz abrasiert, nur oben auf dem Kopf stand ein dichter, dunkler Haarschopf. Frau Felsböck sprang aus dem Wagen und begrüßte ihn. „Alles in Ordnung, Schätzchen?“ fragte sie. „In Ordnung? Da kann ich nur lachen. Hahahaha! Jemand hat mein Haus zerlegt. Meine ganze Einrichtung zertrümmert.“ Herr Schotter hatte eine schrille Stimme und redete mit Händen und Füßen. Es klang, als wäre seine Nase völlig verstopft, obwohl er keinen Schnupfen zu haben schien. Poppi und Axel stiegen aus und traten neben Frau Felsböck. „Äh … wir wissen, wer Ihr Haus so zugerichtet hat!“ sagte Axel. Herrn Schotters Kopf schoß nach vor, seine dunklen Augen starrten Axel an. „Wer war es? Sag es, damit ich den Kerlen den Hals umdrehen kann!“ Den beiden Knickerbockern kam Herr Schotter ein bißchen verrückt und sehr überdreht vor. Sie berichteten von den Ereignissen des vergangenen Tages, und Poppi fragte am Ende: „Haben Sie eine Idee, wo Dario geblieben sein könnte? Er hat das Haus betreten, aber nicht mehr verlassen.“ „Ich war gestern den ganzen Tag unterwegs. Soll für eine Zeitschrift eine Foto-Story machen. Knips, knips, knips, ein paar wilde Tierchen und schon schicken sie mir ein paar nette Scheinchen. Die brauche ich dringend. Bin erst heute morgen zurückgekommen und habe meine Bude als Trümmerhaufen vorgefunden.“ Hinter Richard Schotter tauchte der schwarze Hund auf. Er hatte eine deutlich sichtbare, rote Narbe neben der Nase. Die Juniordetektive wußten, wovon.
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Der Hund zog die Lefzen hoch und knurrte Axel und Poppi an. Herr Schotter versetzte ihm einen Klaps, worauf er sofort still war. „Hatten Sie geplant, so lange wegzubleiben?“ erkundigte sich Poppi. „Ja, natürlich. Knips-knips geht nicht in ein paar Minuten. Für wirklich gute Bilder muß ich oft stundenlang auf der Lauer liegen. Außerdem habe ich ein Problem mit meinen Händen!“ Er streckte sie aus und zeigte den Juniordetektiven, wie stark sie zitterten. Dario hatte mit dem Spitznamen Old Zitterhand also nicht übertrieben. „Was könnten die Männer bei Ihnen gesucht haben?“ fragte Axel. Herr Schotter zuckte heftig und übertrieben mit den Schultern. Über die trockene Ebene kam ein Jeep gerumpelt. Es war eines der weniger luxuriösen Modelle. Der Wagen hielt vor Schotters Haus, und zwei Männer stiegen aus. Beide trugen Safarikleidung, Sonnenbrillen und diese Hüte, die wie umgedrehte Rührschüsseln aus Stoff aussahen. „Herr Schotter?“ Sie blickten den Hausbesitzer fragend an. „Äh, ja …!“ „Wir haben telefoniert. Ich bin Egon Kühn, und das ist Franz Ebenholzer“, stellten sich die Männer vor. „Ah ja!“ Mehr antwortete Herr Schotter nicht. Er deutete den Männern zu warten. Die beiden kauten Kaugummi und stapften ziemlich großspurig vor dem Haus auf und ab. Sie sahen die Knickerbocker sehr von oben herab an und flüsterten sich grinsend etwas zu, nachdem sie Frau Felsböck von den grauen Zöpfchen bis zu den Stiefeln gemustert hatten. Poppi tat plötzlich so, als würde sie Tempelhüpfen und sprang mal einbeinig, mal beidbeinig auf.
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Richard Schotter kam wieder aus dem Haus. Er trug jetzt eine ärmellose Lederjacke und hatte eine große Tasche umgehängt. Er pfiff dem Hund, der sofort zu ihm kam. „Also dann, bis demnächst, und falls mir dieser Wildhüter begegnet, werde ich ihm sagen, er soll sich dringend bei euch melden!“ Er winkte zum Abschied und kletterte in den Jeep. Der Hund hechtete hinten durch die geöffnete Klappe auf die Ladefläche. Die Männer stiegen ein, und Axel hörte einen sagen: „So, jetzt sind Sie an der Reihe. Wohin müssen wir?“ Der Rest des Gesprächs ging im Lärm des Motors unter. Der Jeep war bald nur noch ein kleiner Punkt am Horizont. Axel und Poppi begannen fast gleichzeitig zu reden. Beide hatten denselben Verdacht: Mit Richard Schotter war etwas nicht in Ordnung. „Kein normaler Mensch sperrt seinen Hund einen ganzen Tag lang im Haus ein!“ sagte Poppi. Axel stimmte ihr zu. „Außerdem möchte ich gerne wissen, wie die Männer mit Herrn Schotter telefoniert haben. Er hat doch keinen Strom!“ Poppi ließ diese Vermutung nicht gelten. „Er kann es von einem der Camps aus erledigt haben. Aber worüber hat er mit ihnen geredet? Die haben nämlich Gewehre hinten im Wagen liegen. Sie sind unter Decken versteckt, ich habe sie gesehen.“ Frau von Felsböck riß die stark geschminkten Augen weit auf. „Gewehre? Aber hier ist Jagdverbot!“ „Sie stehen Schmiere, und wir gehen noch einmal in das Haus!“ beschloß Axel.
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Angriff der Säbelzahntiger „Nein, kommt nicht in Frage!“ entschied Frau von Felsböck. Poppi und Axel sahen sie überrascht an. „Das kann ich nicht erlauben. Ich will das nicht. Wir werden zu meiner Freundin Ruth Randall fahren. Sie lebt nicht weit von hier“, schlug sie vor. Nachdenklich wiederholte Poppi den Namen Ruth Randall. Sie hatte ihn schon irgendwo gehört. „Ruth Randall ist Verhaltensforscherin. Sie hat eine Beobachtungsstation ungefähr eine Autostunde von hier an einem See. Ganz in der Nähe beginnt ein Nebelwald, in dem Gorillas leben. Ruth ist gerade damit beschäftigt, Pläne zu entwickeln, wie die Gorillas vor dem Aussterben bewahrt werden können“, erklärte Frau von Felsböck. Poppi erinnerte sich nun. Sie hatte viel über diese ungewöhnliche Frau gelesen. Ruth Randall lebte völlig zurückgezogen nur für und mit ihren Tieren. Oft waren fünfzig und mehr in ihrer Station. Sie wurden von ihr beobachtet und erforscht. Frau Randall hatte auch einen kleinen Tick: Sie ließ sich nie fotografieren und gab Interviews nur schriftlich. Auch durfte niemals ein Fotoreporter zu ihr kommen. Sie machte die Bilder selbst und schickte sie an die Zeitungen. Poppi war schrecklich neugierig, die berühmte Tierforscherin kennenzulernen. Sie freute sich sehr darauf und vergaß sofort den Plan, den sie gerade gehabt hatten. Axel war nicht einverstanden. „He, bitte, dieser Herr Schotter spielt faul, und wir lassen ihn einfach laufen. Und wenn er mit dem Verschwinden von Dario zu tun hat?“ Frau von Felsböck wollte nichts mehr davon hören und ging zum Wagen. Sie stieg ein und startete. Axel und Poppi
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mußten sich beeilen, wenn sie nicht allein in der Wildnis zurückbleiben wollten. In der Höhle polterten nur mehr von Zeit zu Zeit einige Felsbrocken zu Boden. Dominik wußte nicht, ob er wach war oder träumte. Noch immer hatte er die Arme über dem Kopf verschränkt. Auf seinen Rücken drückte etwas. Es war aber kein Stein, sondern ein gleichmäßig verteiltes Gewicht. Vorsichtig versuchte er sich zu bewegen. Es gelang. Kleine Steine und Sand rieselten zur Seite. Sogar seine Taschenlampe hatte die Explosion unbeschadet überstanden. Sie lag griffbereit in der Nähe und leuchtete noch immer. Durch herabstürzende Felsen hatte Dominik keine Verletzungen erlitten. Dafür war aber etwas anderes mit ihm geschehen, das ihn völlig verwirrte und in Panik geraten ließ. Seine Ohren waren wie zugestopft. Er gähnte, riß den Mund auf, schnitt Grimassen und schluckte kräftig. Normalerweise halfen diese Tricks, wenn er mit der Seilbahn hinauffuhr oder im Flugzeug plötzlich verschlagene Ohren bekam. Diesmal blieben sie wirkungslos. Der Druck, der sich durch die Gänge ausgebreitet hatte, schien sein Trommelfell zerstört zu haben. Die Welt war für ihn totenstill. Er machte den Mund auf und sagte etwas, aber nicht einmal das konnte er wahrnehmen. Dominik sank auf dem Boden zusammen und preßte den Kopf zwischen die Knie. Er hatte das Gefühl, verrückt zu werden, so schrecklich war es für ihn, plötzlich nichts mehr zu hören. Er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sein Blick verschleierte sich, als er den Kopf hob und sich umsah. Sowohl vor ihm als auch hinter ihm war der breite Gang
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eingebrochen. Wie durch ein Wunder hatte der Fels über ihm ohne Schaden der Explosion standgehalten. Was nützte ihm das? Er war taub und eingeschlossen. Wie sollte er jemals von hier wegkommen? Plötzlich erlosch das Licht der Taschenlampe. Dominik hatte sie neben sich gelegt. Als er danach greifen wollte, war sie verschwunden. Dominik saß in völliger Dunkelheit. Wer hatte sie genommen? Und wo steckte Lilo? War die Felsspalte eingestürzt, in der sie sich befunden hatte? Etwas Kaltes legte sich an seinen Hals, und er brüllte auf. Wie laut sein Schrei war, konnte er aber nicht beurteilen. Dominik schlug um sich und berührte dabei etwas Haariges. Ein Säbelzahntiger? Einer der Urzeitmenschen? Etwas Langes, Dünnes streifte seinen Oberarm. Ein Säbelzahn! Die Tiger hatten ihn gefunden und schlugen jetzt die Beute. Unterwegs hatte Gerti von Felsböck mehrere Male versucht, Funkkontakt zur Station von Ruth Randall herzustellen. Zu ihrem großen Erstaunen meldeten sich aber weder die Forscherin noch einer ihrer Mitarbeiter. Sie fand das äußerst eigenartig. Es war vorher noch nie vorgekommen. Ruth Randall besaß eine Halbinsel, die mehr als einen Kilometer in den See hinausragte. Das Wasser des Sees war grünlich, was ihm den Spitznamen Jadesee eingebracht hatte. Dort, wo die Halbinsel in das Ufer überging, war sie am schmälsten. Frau Randall hatte deshalb einen Zaun über die gesamte Breite errichten lassen, der unerwünschte Besucher draußen und ihre Tiere drinnen halten sollte. Sie selbst lebte wie in einem Safaripark. Es gab kaum
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Gehege. Die Tiere, die sie meist aufnahm, weil sie verletzt waren, konnten sich frei bewegen. Sie hatte im Lauf der Jahre versucht, ihnen eine kleine Welt auf der Halbinsel zu schaffen, in der sie alle Lebensbereiche vorfanden – von der Savanne zum Laubwald, vom Süßwassersee bis zum Nebelwald. Frau Randall war nämlich besonders am Zusammenleben der Tiere interessiert, das sie seit vielen Jahren erforschte. Ihr eigenes Wohnhaus, in das nur die zahmen Tiere durften, war nochmals von einem hohen Zaun umgeben, um sie gegen Angriffe von Raubtieren, besonders von Hyänen, zu schützen. Gerti von Felsböck war schon öfter hier gewesen und wußte, wie man auf die Halbinsel kam. Das Tor war mit mehreren Fahrradabsperringen verschlossen, von denen sie aber die Zahlenkombinationen kannte. Sie gehörte nämlich zu den erwünschten Gästen. Als sie ausstieg, mußte sie jedoch feststellen, daß sie abmontiert worden waren. Statt dessen fand sie eine dicke Kette und mehrere Vorhängeschlösser vor. Kopfschüttelnd kam sie zum Range Rover zurück. „Ich verstehe das nicht Was ist nur mit Ruth los? Ich habe vor ungefähr 10 Tagen zum letzten Mal mit ihr gesprochen. Da schien sie aber noch ganz die alte zu sein. Wieso kapselt sie sich plötzlich von der Welt ab? Ist sie böse auf uns alle?“ fragte sich Frau Felsböck.
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Vorsicht, Hyänen! Ein verbeulter Jeep kam von innen zum Zaun gefahren. Ein Schwarzer stieg aus und öffnete die Schlösser. Er zog die Kette heraus und fuhr durch das Tor. Erst als er wieder hinter sich absperren wollte, bemerkte er den Range Rover. Zögernd kam er näher. Frau von Felsböck drückte auf die Taste, die das Fenster leise surrend versenkte. Axel hatte den Eindruck, daß der Schwarze leicht zusammenzuckte, als er sie sah. Oder hatte er sich getäuscht? War vielleicht das ungewöhnliche Outfit der Forscherin schuld daran? „Ich komme zu Ruth Randall“, sagte Frau Felsböck. Der Schwarze hatte ein sehr gutmütiges Gesicht und zwei leuchtende Augen. Er hob fragend die Schultern und sprach sie in der Landessprache an. Die Forscherin antwortete ihm. Wahrend ihr der Mann aufgeregt etwas erklärte, runzelte sie immer mehr die Stirn. „Er behauptet, Ruth wäre krank und könnte keine Besuche empfangen.“ Plötzlich schien dem Mann etwas einzufallen. Er ging zu seinem Wagen und funkte. Dabei beugte er sich weit ins Wageninnere und sprach leise, als wollte er nicht, daß sie mithörten. Danach kehrte er zu Frau Felsböck zurück und deutete ihr, daß sie hineinfahren solle. Die Anthropologin bedankte sich und ließ das Fenster wieder hinaufgleiten. „Ruth hat eine neue Funkfrequenz“, wunderte sie sich. „Wieso hat sie mir die nicht verraten, diese kleine Geheimniskrämerin?“ Zu den beiden Knickerbockern aber sagte sie: „Bitte, laßt jetzt die Fenster oben. Ruth hat zur Zeit ein Projekt mit Hyänen laufen. Sie leben im vorderen Teil der Insel. Bei diesen Tieren handelt
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es sich nämlich nicht um reine Aasfresser, wie immer behauptet wird. Mehr als drei Viertel ihrer Nahrung jagen sie selbst. Sie hetzen ein Tier so lange, bis sie es anfallen können und reißen ihm dann noch im Laufen den Bauch auf. Bricht es zusammen, stürzt sich das ganze Rudel darauf. Ich habe das einmal mitansehen müssen, und mir war danach zwei Tage übel.“ Poppi, die eine wirklich große Tierfreundin war, ließ sich von der Schilderung nicht erschrecken. „Na ja, das liegt eben so in der Natur“, meinte sie. Endlich erreichten sie den nächsten Zaun, der den Wohnbereich der Tierforscherin abtrennte. Automatisch öffnete sich ein Gittertor. Stacheldraht sicherte die Oberkante von Zaun und Tor, damit auch bestimmt kein Tier darüberklettern konnte. Das Haus war gemauert, weiß verputzt und hatte ein hohes Giebeldach aus Holz und Stroh. Alle Fenster waren mit Fliegengittern versehen. Frau von Felsböck drückte einmal kurz auf die Hupe, um ihr Kommen anzuzeigen. Die Tür war aus Gründen des Luftdurchzugs nur mit Fliegengitter bespannt Ein blasser, blonder Bursche kam heraus und schüttelte Frau von Felsböck herzlich die Hand. Er stellte sich als neuer Assistent von Ruth Randall vor. Die Forscherin würde sie bitten, zu ihr zu gehen. Als Axel und Poppi auch ausstiegen, streckte er abwehrend die Hand aus. Die beiden mußten draußen warten. „Ich … ich würde aber so gerne mit Frau Randall sprechen“, bat Poppi. „Das machen wir schon, Kinder!“ versprach Frau Felsböck und zwinkerte den beiden zu. Sie folgte dem Burschen ins Haus. Einige Minuten verstrichen, aber niemand kam heraus, um die Knickerbocker zu holen. Axel wurde unruhig.
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Endlich, nach fast einer Viertelstunde, trat eine schlanke Frau aus dem Haus. Sie hatte langes, schwarzes Haar und eine auffallend steife Haltung. Bekleidet war sie mit einem langen Morgenmantel aus dünnem Stoff, auf den prachtvolle Vogel gemalt waren. Sie winkte die Knickerbocker zu sich und krächzte mit heiserer Stimme: „Tut mir leid, daß ich euch nicht ins Haus bitten kann. Aber ich habe schlimmes Fieber und muß sofort wieder ins Bett. Drinnen sieht es ziemlich unordentlich aus. Ihr versteht?“ Poppi lächelte mitleidig. „Aber natürlich!“ Sie erzählte der Tierforscherin, wie sehr sie ihre Arbeit bewundere, und die Frau schien geschmeichelt. Hinter ihr kam nun Frau von Felsböck, die von dem Burschen begleitet wurde. „Ach, Kinder, ich glaube, ich bleibe noch ein wenig hier bei meiner Freundin. Sie braucht meine Hilfe. Aber Andreas“ – sie deutete auf den Blonden – „wird euch zum Camp bringen.“ „Na gut, wenn Sie meinen“, sagte Axel. „Aber … aber Herr Schotter …“ „Es ist alles in Ordnung mit ihm, hat mir Ruth versichert. Er ist nur ein bißchen verwirrt und außerdem ein Wichtigtuer, versteht ihr?“ „Wir müssen aber noch bei der Höhle vorbei und Lilo und Dominik abholen!“ gab Poppi zu bedenken. „Das wird doch kein Problem sein, oder?“ zwitscherte Frau Felsböck. Andreas schüttelte den Kopf. Die beiden Knickerbocker verabschiedeten sich und stiegen zu Andreas in einen Jeep mit Stoffdach. Er war bedeutend unbequemer als der Range Rover. Frau Randall wandte sich mit einem bittenden Blick an ihre Freundin, die sie sofort stützte und zurück ins Haus brachte. Andreas war anzusehen, wie wenig es ihn freute, die
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Knickerbocker zum Camp fahren zu müssen. Während er Frau Randall immer nur schleimig angegrinst und eine artige Verbeugung nach der anderen gemacht hatte, machte er jetzt ein verbissenes und mürrisches Gesicht. Poppi und Axel sahen nachdenklich aus den Wagenfenstern und hofften, Tiere zu entdecken. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um die Erlebnisse der vergangenen Stunden. Es waren da so viele Fragen, auf die sie noch immer keine Antworten hatten. Und das konnten die Knickerbocker überhaupt nicht leiden. Sie näherten sich einer Wiese, die von dichtem, aber noch kahlem Buschwerk umgeben war. Plötzlich sauste etwas Rotes aus dem Gebüsch und bewegte sich mit großer Geschwindigkeit vorwärts. Poppi und Axel erkannten entsetzt, daß der rote Klumpen genau auf den Jeep zusauste. Der Wagen blieb ausgerechnet in diesem Augenblick stehen, und der Motor starb ab. Andreas wurde hektisch und versuchte, ihn immer wieder zu starten, aber außer einem müden Blub-blub geschah gar nichts. Aus dem Gras tauchten struppige, grau-braune Köpfe auf. Zähne wurden gebleckt, Mäuler weit aufgerissen, Zungen leckten gierig über die Lippen. Die Hinterbeine der Tiere waren kürzer als die Vorderbeine, was ihnen etwas Verschlagenes und Hinterhältiges verlieh. Es waren Hyänen. Sie rannten dem roten Klumpen hinterher, sprangen in die Höhe, schafften es nicht, ihn zu erwischen und wurden dadurch noch aggressiver. „Fahr weg … das Ding trifft uns sonst!“ schrie Axel. Der rote Klumpen tropfte und spritzte nach allen Seiten und schien zu leben. Die Hyänen jagten immer schneller hinter ihm her. Sie rasten genau auf den Jeep zu. Neben Poppi knallte es, und die rote Masse wurde gegen den Wagen geschleudert.
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Dario taucht wieder auf Das Blut des Fleisches lief an der Scheibe hinunter und hinterließ grausige Schmierspuren. Die Hyänen hatten die Beute endlich erreicht und machten sich gierig darüber her. Sie leckten sogar über die Fenster. Ihre stechenden Augen glotzten dabei in das Innere. Poppi rückte näher zu Axel. Die Hyänen machten den Eindruck, als wollten sie auch noch die Beute aus dem Wagen holen. Ihr Schmatzen und Grunzen war deutlich zu hören. Sie zerrissen das Fleisch mit wilden Kopfbewegungen und kämpften erbittert um jedes Stück. Immer mehr Tiere starrten in den Jeep. Es sah aus, als würden sie sich zusammenrotten, um noch einmal zuzuschlagen. Andreas hatte bisher ständig versucht, den Wagen wieder in Gang zu setzen. Seine Hände hatten dabei gezittert, sein Gesicht war angstverzerrt gewesen. Nun aber drehte er sich nach hinten zu den Juniordetektiven und fragte: „Habt ihr genug oder wollt ihr noch mehr?“ Axel packte den Burschen an den Schultern. „Was soll das heißen?“ schrie er ihn an. „Ich wollte euch ein kleines Spektakel bieten. Es war nämlich Zeit für die Hyänenfütterung. Das Fleisch steckt auf einem Pflock, der automatisch über den Boden bewegt wird. Stößt er auf ein Hindernis, bleibt er sofort stehen. Hyänen jagen nämlich lieber bewegte Beute.“ „Du bist also absichtlich hier stehengeblieben?“ tobte Axel. Andreas grinste schmierig. Sein pickelübersätes Gesicht glänzte feucht, und seine Augen blitzten boshaft. „Ja, hat es
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euch nicht gefallen? Es ist eines der Projekte von Frau Randall. Sie will herausfinden, was man tun muß, um die Hyänen weniger angriffslustig zu machen und wie man die Aggression zwischen den Tieren senken kann. Hat aber bisher noch kaum etwas rausgefunden, wie ihr gerade gesehen habt. Jaja, die Tierchen sind die besten Wachhunde, die man sich nur wünschen kann. Ohne Wagen kommt hier niemand an ihnen vorbei.“ Er drehte den Zündschlüssel, und der Motor sprang sofort an. Die Hyänen wichen zur Seite und gaben dabei einen heulenden Ton von sich. Das Tor stand offen, worüber Andreas fluchte. Trotz der Hitze drückte sich Poppi an Axel. Die Knickerbocker hatten eine Technik entwickelt, sich leise zu unterhalten und dabei kaum die Lippen zu bewegen. Andreas konnte also nichts bemerken. „Wozu hat er das gemacht?“ grübelte Poppi. Axel zuckte mit den Schultern. „Angeber. Ärgert sich, weil er so häßlich ist, und muß sich mit solchen Aktionen wichtig machen.“ Stumm blickten die Knickerbocker aus den Fenstern. Am Nachmittag wollten sie eine lange KnickerbockerGeheimbesprechung abhalten. „Halt!“ schrie Poppi plötzlich. Andreas trat erschrocken auf die Bremse, und sie wurden nach vorne geschleudert. Der Helfer von Frau Randall drehte sich um und strich sich das lange Haar aus dem Gesicht. „Ich hoffe für dich, es gibt einen guten Grund für diese Notbremsung.“ Poppi deutete auf einen Jeep, der abseits von der Piste hinter einigen Büschen versteckt war. Es sah aus, als wäre er ins Schleudern geraten, von der etwas erhöhten Fahrbahn abgekommen und hinter dem Gestrüpp gelandet. Er lag auf dem Dach. Axel erkannte den Wagen. „Das ist der von Dario. Aber
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wie kommt er hierher?“ „Wer ist Dario?“ wollte Andreas wissen. „Ein Freund von uns, der gestern spurlos verschwunden ist. Aber da hatte sein Jeep zwei Platte und stand beim Haus von Richard Schotter.“ „Das ist ungefähr drei Meilen von hier!“ meinte Andreas. „Können wir aussteigen? Wir müssen doch nachsehen, was da los ist!“ sagte Poppi. Andreas nahm ein Gewehr und suchte die Landschaft ab. Tiere waren keine zu sehen. Er öffnete die Tür, und die Knickerbocker folgten ihm. Die Reifen am Wagen waren gewechselt. An der dunkleren Farbe war genau zu erkennen, welche es waren. Die Windschutzscheibe war so kaputt wie am Vortag. Der Jeep sah schrecklich aus. Das Blech der Karosserie war verbeult, als hätte jemand mit einem riesigen Hammer mehrere Male dagegen geschlagen. „Dario! Er liegt im Wagen!“ rief Poppi. Sie hatte durch das Loch gespäht, das der Hund mit den Pfoten in die Windschutzscheibe gerissen hatte, und den Wildhüter entdeckt. Er mußte den Jeep gefahren haben, denn er war hinter dem Steuer eingeklemmt. Sein Gesicht und seine Hände waren angeschwollen, und er schien sehr schwach zu sein. „Geh weg, du Geist … Gespenst …!“ fuhr er Poppi an. „Ich bin kein Gespenst. Ich bin es, Poppi!“ Andreas schob sie zur Seite, um sich die Sache selbst anzusehen. Er lief zurück zum eigenen Wagen und kam mit einer Zange, einer Metallstange, einem Wagenheber und dem Verbandskasten wieder. Mit Hilfe von Poppi und Axel entfernte er zuerst die Reste der Windschutzscheibe. Mit besorgtem Blick stellte er dann fest, daß die Türen verbogen waren und sich nicht öffnen ließen. Axel freute sich nach langem wieder einmal, daß er klein
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war. Er kroch durch die Öffnung der Windschutzscheibe in das Innere und tauchte zu den Füßen von Dario. Dort fand er, was er suchte: den Hebel, mit dem der Sitz entsichert werden konnte, damit er sich nach vor- und vor allem zurückschieben ließ. Axel mußte mehrere Versuche unternehmen, bis es ihm gelang, den Stahlstift endlich in die Höhe zu ziehen. Mit der Schulter preßte er sich gegen die Kante des gefederten Sitzes. Doch der rührte sich keinen Millimeter. „Kannst du dich mit den Beinen abstützen?“ fragte er Dario. „Ich … ich versuche es … aber meine Beine tun so weh … es ist so, als würden sie gar nicht mehr zu mir gehören!“ stöhnte Dario. Axel sah die angeschwollenen Knöchel des Wildhüters. Der Arme mußte sich schon längere Zeit in dieser schrecklichen Lage befinden. „Los, auf drei probieren wir es!“ preßte Axel hervor. „Eins … zwei … drei!“ Erst beim vierten Mal schafften sie es, den Sitz ein paar Zentimeter zu bewegen. Schließlich war er so weit zurückgeschoben, daß Andreas den Wildhüter mit Hilfe von Poppi und Axel aus dem Wagen ziehen konnte. Dario taumelte zuerst hinter das Gebüsch, weil er dringend pinkeln mußte. Danach keuchte er krächzend: „Wasser, Durst, bitte schnell …“ Andreas stützte ihn und brachte ihn zum Jeep. Dario machte es sich auf der Rückbank bequem, und Poppi und Axel teilten sich den Vordersitz. Nachdem der Wildhüter zwei ganze Flaschen Wasser in sich hineingeschüttet hatte, ging es ihm besser. Die Juniordetektive wollten unbedingt erfahren, was geschehen war, aber Dario schlief sofort völlig erschöpft ein. „Riecht ihr das?“ fragte Poppi Axel und Andreas. Sie hatte einen unglaublichen Verdacht.
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Eine Höhle wie eine Gruft Der Blonde schnupperte und schüttelte den Kopf. „Der Typ stinkt wie eine Mülltonne. Meinst du das?“ Poppi schnüffelte an Darios verschwitzten und verschmierten Klamotten und an seinem Gesicht. Sie hatte sich nicht getäuscht: Erstens roch Dario nach verfaultem Fleisch und zweitens nach einem Betäubungsmittel. Irgend etwas an ihm hatte Poppi an ein Krankenhaus erinnert. Nun wußte sie, was es war. „Wieso ist er mit dem kaputten Wagen weitergefahren und von der Straße abgekommen?“ wunderte sich Axel. „Und warum hatte er den Sitz ganz vorne? Das würde mich mehr interessieren!“ ergänzte Poppi. Axel blickte sie fragend an. „Schau, wie lang Darios Beine sind. Er hat den Sitz normalerweise viel weiter hinten!“ erklärte Poppi. „Schließlich hat er nicht so kurze Stummelbeine wie Andreas.“ Sie hatte das als Scherz gemeint, aber der Blonde brauste auf: „Du kannst gleich zu Fuß nach Hause gehen, wenn dir etwas nicht paßt!“ „Entschuldige“, murmelte Poppi. Wie konnte man nur so empfindlich sein? Offensichtlich war seine gedrungene Gestalt ein wunder Punkt. Axel kapierte. Er beugte sich zu Poppi und flüsterte: „Heißt das, jemand hat diesen Unfall nur vorgetäuscht und Dario im Wagen eingeklemmt?“ Poppi nickte. „Ich glaube sogar, Dario sollte darin verdursten. Die Sonne hätte ihn schnell gegrillt.“ „Und wer ist zu so einer Grausamkeit fähig?“ wollte Axel wissen. „Jemand, der Dario sehr haßt oder fürchtet, er könnte ihn
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verraten. Denk daran, daß Dario gestern die Männer gesehen hat. Ich nehme an, daß sie im Haus nicht maskiert waren. Er könnte sie erkannt haben.“ Axel stieß einen Pfiff aus. „Du bist ja fast schon so ein Superhirn wie Lieselotte.“ Das echte Superhirn wußte nicht mehr weiter. Vor der Explosion hatte es in der Felsspalte eine wichtige Entdeckung gemacht. Doch dann war diese Druckwelle durch die Gänge gerollt und hatte sie zu Boden gedrückt. Danach wurde alles rund um sie schwarz. Sie geriet in Panik, wollte flüchten und kroch dabei immer tiefer in die Felsspalte hinein. Mehr durch Zufall hatte sie sich umgedreht und einen Lichtschein gesehen und sich auf diesen zubewegt. Es war Dominiks Taschenlampe. Sie sah ihren Kumpel zusammengekauert vor sich und redete auf ihn ein. Doch dann fiel ihr die Lampe aus der Hand und ging aus. Sie konnte sie nicht mehr finden. Als sie Dominik am Hals zu fassen bekam, begann dieser auf sie einzuschlagen. Sie brüllte ihn an, aber er schien völlig ausgerastet zu sein. Der Knickerbocker, der sich sonst immer so kompliziert und verdreht ausdrückte, gab plötzlich nur grunzende Laute von sich. Es war, als ob er das Sprechen verlernt hätte. „Ich bin es, Lieselotte!“ schrie sie ihren Kumpel an und rüttelte ihn an den Schultern. Dominik wehrte sich noch immer. Doch dann bekam er einen ihrer Zöpfe zu fassen und beruhigte sich schlagartig. Er gab etwas von sich, das wie „kein Säbelzahntiger“ klang. „Nein, ich bin Lilo, wie oft muß ich das noch sagen!“ Dominiks Hände tasteten über ihr Gesicht. Sie legten sich auf ihre Lippen, und Lilo schmeckte etwas Bitteres, Salziges. „Wäää, gib die Hände weg!“ Sie wischte sich über den
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Mund. Mühsam formte Dominik die Worte: „Lio … i … ann ich ören!“ „Du kannst nichts hören?“ fragte Lieselotte entsetzt. Im nächsten Augenblick wußte sie, wie sinnlos dies war. In der Dunkelheit sah Dominik ihre Lippenbewegungen nicht. Sie drückte seine Hand. Dominik verstand und erwiderte den Druck. Plötzlich stiegen ihm aber wieder die Tränen auf, und er preßte sein Gesicht in ihre Hand. Das Superhirn der Bande legte den Arm um seine Schultern und strich ihm über das Haar. „Wir … wir schaffen das schon … wir haben schon ganze andere Sachen überstanden!“ wollte Lilo sich und ihm Mut zusprechen, doch Dominik konnte sie ja nicht verstehen. Sie waren von Tonnen von Gestein eingeschlossen, und niemand wußte, daß sie sich hier aufhielten. Lilo spürte, wie sie schwitzte. Kein Wunder, in den Gängen der Höhle war es heiß. Aber täuschte sie sich, oder wurde es noch wärmer? Ihr fiel auf, daß sie immer schneller atmete. Es war, als müßte sie jetzt dreimal Luft holen, um genügend Sauerstoff in ihre Lunge zu bekommen. Sie befanden sich offenbar in einem völlig abgeschlossenen Raum. Wenn nicht bald Hilfe kam, würden sie ersticken. Lilo preßte die Augen zusammen und biß sich auf die Lippe. Dominik lehnte an ihrer Schulter und schien von den Veränderungen nichts zu spüren. Aber auch er atmete schwerer. Viel Zeit blieb nicht. Das war Lieselotte klar. Nicht locker lassen. Nicht aufgeben. Nicht in Panik geraten, sagte sie sich leise vor. Die Höhle wird unsere Gruft, jagte es Lilo plötzlich durch den Kopf. Der Gedanke ließ sich nicht mehr vertreiben. Ihr kam vor, als wäre die Temperatur schon wieder
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gestiegen und der Sauerstoffvorrat noch kleiner geworden. Dazu machte der Staub in der Luft das Atmen immer schwieriger. Hoffentlich unternahmen Axel und Poppi etwas!
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Hoffnungslos Andreas wußte, wo sich die Höhle befand, in der Frau von Felsböck forschte. „Alte Tassen hat die Tante aber auch nicht im Schrank!“ sagte er während der Fahrt zu den Knickerbockern. Axel und Poppi schwiegen. Auch wenn Frau von Felsböck schrullig war, würden sie sich nie über sie lustig machen. Die Juniordetektive fanden sie nämlich ganz besonders freundlich und nett. Vor der Höhle parkten nur noch wenige Lastwagen, aber an den aufgeregten Gesichtern sahen die Knickerbocker sofort, daß etwas passiert sein mußte. Sie stiegen aus und gingen zu Berti, der mit einigen Schwarzen heftig diskutierte. „Was ist denn los?“ erkundigte sich Axel. Berti sah ihn durch eine völlig verdreckte Brille an, als wäre er gerade vom Himmel gefallen. „Ach, ihr seid das!“ Es klang, als wäre er jetzt lieber einer Klapperschlange begegnet. „Was ist denn?“ wiederholte Poppi. „Eine Explosion … genau das, was wir unter allen Umständen verhindern sollten. Plötzlich kam ein Signalton wie vor einer Sprengung. Die meisten Männer hier arbeiten normalerweise auf großen Straßenbaustellen und kennen das Signal. Sie haben die Höhle sofort verlassen. Und dann gab es einen mächtigen Knall, und die Erde hat gebebt.“ Axel konnte es nicht fassen. „Aber … aber wer hat da drinnen gesprengt?“ Berti zuckte mit den Schultern. „Das wüßte ich selbst gerne, dann würde ich dem Kerl nämlich den Hals umdrehen. Ich habe nur Geräte angefordert, die ohne Erschütterungen und ohne große Geräusche das Gestein
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lösen. Es darf nichts gefährdet werden. Ich rechne wie Frau von Felsböck mit einer wissenschaftlichen Sensation.“ „Ist … ist viel in der Höhle eingestürzt?“ wollte Poppi wissen. Berti schüttelte den Kopf. „Nein. Nur ein Teil, der für uns völlig unwichtig ist. Zum Glück habe ich mich nicht an die Anweisungen der Chefin gehalten. Die Männer und ich waren im Hauptgang, während die Explosion in den Nebengängen stattgefunden hat. Durch einen Zündungsfehler sind nur ganz wenige der versteckten Sprengstoffladungen hochgegangen. Sonst wäre wahrscheinlich der ganze Berg in die Luft geflogen!“ „Unsere Freunde Lilo und Dominik wollten in den Gängen etwas suchen. Lilo hat einen goldenen Stift verloren“, sagte Axel. Er hatte sich schon die ganze Zeit nach den beiden umgeschaut, sie aber nirgendwo entdecken können. „Eure Freunde? Die Kleine mit den Zöpfen und der noch Kleinere mit den Brillen? Die waren bestimmt nicht drinnen. Ich bin doch die ganze Zeit am Eingang gestanden, weil ich den Männer erklären mußte, was zu tun ist. Ich hätte sie gesehen.“ „Sind Sie sicher?“ fragte Poppi. Berti überlegte und nickte dann. „Mir wäre das nicht entgangen.“ „Aber wo sind die beiden dann?“ wunderte sich Axel. „Diese Frage kann ich dir nicht beantworten“, meinte Berti. Ein Schwarzer trat zu ihm und redete aufgeregt auf ihn ein. Berti hörte ihm zu, und sein rundes Gesicht schien sich immer mehr zu erhellen. Er gab dem Mann einige Anweisungen und wandte sich dann wieder den Knickerbockern zu. „Unsere Freunde …?“ gab ihm Axel als Stichwort. „Ach ja … die … die sind zurück zum Camp. Hat mir der
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Mann gerade gesagt. Es war ein Wagen des Camps da, und sie sind mitgefahren, weil sie nicht mehr warten wollten.“ „Sind sie bestimmt nicht mehr in der Höhle?“ fragte Axel nach. Berti beteuerte: „Ganz sicher, und ihr solltet jetzt auch schnellstens ins Camp zurückkehren.“ Andreas trat hinter sie und packte sie unsanft an den Schultern. „Also los, ihr habt es gehört. Weg da.“ Poppi ließ aber noch nicht locker: „Wann werden Sie wissen, ob dahinter tatsächlich … also … Sie wissen schon …?“ Berti rückte mit der Antwort ungern heraus. „Frühestens in ein paar Tagen. Aber es wird unter Ausschluß der Öffentlichkeit geschehen. Schließlich wissen wir noch immer nicht genau, was uns erwartet.“ „Abfahrt, Leute!“ drängte Andreas und schob die beiden Knickerbocker zum Jeep. Lieselotte ahnte in der Höhle nicht, was draußen vorging. Bestimmt hätte es ihr den Rest gegeben. Sie hockte noch immer neben Dominik und hatte den Arm fest um ihn gelegt. Normalerweise hätte ihr Kumpel das absolut blöd gefunden, aber in diesem Augenblick lehnte er sogar seinen Kopf gegen ihren. Wo waren sie da nur hineingeraten? Lilo kaute unermüdlich an den Spitzen ihrer Zöpfe und spuckte von Zeit zu Zeit die kleinen Haarstücke aus, die sie abgebissen hatte. Es mußte doch einen Ausweg geben. Steh auf und taste einmal ab, wie es rundherum aussieht, sagte sie sich in Gedanken. Als sie sich erheben wollte, packte Dominik sofort ihren Arm und zog sie zurück. Er stieß weinende Laute aus, weil er Angst davor hatte, in seiner Stille allein gelassen zu werden. Und ich kann ihm nicht einmal mitteilen, daß ich mich nur
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umschauen möchte. In der Dunkelheit kann er nicht einmal erkennen, was ich ihm deute, dachte Lieselotte verzweifelt. Plötzlich kam ihr die Gewißheit: Sie befanden sich diesmal wirklich in einer aussichtslosen Lage. Es gab keinen Weg hinaus. Es würde hier alles enden. Entsetzt bemerkte sie, wie Dominiks und ihr eigenes Keuchen immer schneller wurden. Es gelang ihnen nicht mehr, genug Sauerstoff aus der staubigen Luft zu holen. Sie spürte bereits, wie ihr schlecht und schwindlig wurde. Dominik gab krächzende Laute von sich, die immer lauter wurden. Schließlich brüllte er aus Leibeskräften. Drehte er durch? Andreas hatte eine Abkürzung genommen. Der Jeep rumpelte über den ausgetrockneten Boden. Immer wieder sackte einer der Reifen in ein tiefes Loch, und Andreas mußte viel Geschick aufbieten, um ihn wieder herauszuschaukeln. Nach einigen Malen zurückfahren und wieder Schwung holen gelang es meistens. Wenn nicht, mußte er sein Seil an einem Baum anbringen und den Jeep mit Hilfe der eingebauten Winde herausziehen. „Ob diese Abkürzung was bringt?“ zweifelte Poppi. „Halt die Klappe, kleine Klugscheißerin!“ fuhr Andreas sie an. Dario richtete sich hinten auf. Der Schlaf hatte ihm gut getan und das Wasser wieder neue Kraft in seinen Körper gebracht. „Ich … ich kenne mich hier aus. Soll ich fahren?“ bot er an. Andreas warf ihm einen kritischen Blick zu. „Geht es Ihnen dazu schon wieder gut genug?“ fragte er mißtrauisch. Dario wischte sich wie immer hektisch über das Gesicht und blickte zu Boden. „Ich denke schon.“ Andreas nahm das Angebot an, und sie tauschten Platz. Die Knickerbocker gingen nach hinten, Dario setzte sich auf den Fahrersitz und Andreas neben ihn.
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Endlich erreichten sie eine gewalzte Piste, auf der man bedeutend besser vorankam. Axel stellte fest, daß sie noch nicht sehr weit von der Höhle entfernt waren. Der Abschneider hatte sie nur Zeit gekostet. „Was soll das?“ wunderte sich Dario. Ein Militärjeep stand quer auf der Fahrbahn. Es war aber nirgendwo ein Lenker zu entdecken. Sie blieben stehen und warteten kurz. Dann stieg Andreas aus und ging auf das Fahrzeug zu. Er warf einen Blick hinein, doch es war leer. Plötzlich wußte Axel, wo er den Jeep schon einmal gesehen hatte. Er erinnerte sich an die beiden Rostlöcher in der Beifahrertür, die wie Schafe aussahen. „Weg!“ schrie er.
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Der Einsturz Es war der Jeep der beiden Schwarzen, die Richard Schotters Haus durchwühlt und Frau Felsböck überfallen hatten. „Fahr weg, schnell!“ schrie Axel und rüttelte Dario an den Schultern. „Aber ich kann doch nicht … äh … der ist doch noch draußen!“ stammelte der Wildhüter und zeigte auf Andreas. In diesem Augenblick sprangen die beiden Männer hinter dem Wagen hoch und packten Andreas links und rechts. Zum ersten Mal trugen sie keine Masken. Die beiden waren ungefähr dreißig Jahre alt und hatten sehr scharf geschnittene Gesichter. Sie sahen einander verblüffend ähnlich und schienen große Kräfte zu haben. Andreas hatten sie als Geisel genommen. Sie schleppten ihn zum Jeep und schrien Dario etwas zu. Der Wildhüter wurde immer unruhiger, und Poppi sah, wie seine Hände zitterten. Er antwortete, aber die Männer waren damit nicht zufrieden. „Sie wollen wissen, wann – äh – der Feuertag ist und wer der Anführer ist. Sie sind sicher, daß einer von uns mehr darüber sagen kann, und sie drohen, Andreas etwas anzutun, wenn wir nicht mit der Wahrheit rausrücken!“ Poppi hatte große Angst. Ihre Gesichter hatten etwas Wildentschlossenes und Drohendes. Trotzdem machten sie auf Poppi keinen bösen Eindruck. Sie konnte sich auch täuschen, aber die beiden Männer schienen verzweifelt und in großer Not. „Sie … sie sollen uns sagen, was dieser Feuertag überhaupt bedeutet!“ wandte sie sich an Dario. „Übersetz es, bitte!“ Dario mußte sich sehr zusammenreißen und brachte die
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afrikanischen Worte nur mühsam heraus. Die Schwarzen warfen einander Blicke zu und verständigten sich schnell. „Was sagen sie?“ fragte Axel. „Ich kann es – äh – nicht verstehen. Ich – äh – habe diese Sprache noch nie gehört!“ gestand Dario. Einer der Männer holte ein Springmesser aus der Tasche und ließ die Klinge mit einem scharfen Pling ausfahren. Er hielt es Andreas an die Kehle, der entsetzt zurückwich. Doch er hatte keinen Spielraum, denn die beiden Männer bildeten mit den Schultern eine Mauer. „Ich … ich weiß etwas“, keuchte er. Sein Gesicht war verzerrt, und der Schweiß strömte ihm über die Stirn. Das Funkgerät im Jeep krachte. Für einen Augenblick entspannte sich die Lage, und alle starrten zu dem Gerät neben dem Lenkrad. Dario übersetzte eine tiefe Männerstimme: „Ein Rundruf auf allen Frequenzen. Es besteht der Verdacht auf Wilderer im Nationalpark. Alle Wildhüter werden gebeten, wachsam zu sein und sofort einzugreifen.“ Andreas war über die Ablenkung sehr erfreut. Er versetzte den Männern völlig unerwartet mit den Ellbogen einen kräftigen Schlag in die Magengrube. Sie krümmten sich vor Schmerzen und bekamen einen Augenblick lang keine Luft. Der Blonde stürmte zu ihrem Jeep, sprang hinter das Steuer und ließ den Motor an. Er wendete und raste los. Die beiden Schwarzen rannten hinterher. „Los, weg, schnell weg!“ rief Axel. Dario drückte das Gaspedal fast bis zum Anschlag durch. Der Wagen schien über die Piste zu fliegen. Die beiden Männer blieben hilflos zurück. Sie tobten und stampften mit den Füßen auf, aber es half ihnen nichts. „Wer sind die?“ fragte sich Axel. „Was wollen sie?“ Lilo und Dominik saßen nicht mehr aufrecht. Sie lagen auf der Seite und rangen nach Luft. Sie hielten sich an den
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völlig verschwitzten Händen fest und warteten nur noch auf das Ende. Dominik hatte vorhin so geschrien, weil sich seine verlegten Ohren wieder geöffnet hatten. Er hörte wieder. Noch nicht sehr gut und alles nur leise, aber er nahm wieder Geräusche und Stimmen wahr. Es war ein Freudenschrei gewesen, der so laut sein mußte, damit er ihn selbst erleben konnte. „Lieselotte, ist alles aus?“ fragte er krächzend. Lilo wußte nicht, was sie darauf antworten sollte. Einige Augenblicke lang war nur ihr Keuchen zu hören. Dann erfolgte noch eine Explosion. Der Knall hörte sich entfernt und gedämpft an, doch die ganze Höhle wurde wie bei einem heftigen Erdbeben erschüttert. Die beiden Knickerbocker klammerten sich aneinander. Wieder rieselte es Steinsplitter und Sand. Irgendwo seitlich knirschte es zuerst heftig und donnerte dann laut. Die Höhle stürzte jetzt ganz ein. Sogar die drei im Jeep hörten die Detonation. Im Berg war also doch noch eine Sprengladung hochgegangen. Hoffentlich gab es keine Verletzten. Diesmal war eine Vorwarnung ausgeblieben. „Wißt ihr was, ich glaube, diese beiden Männer stecken dahinter!“ sagte Poppi. „Sie wollen alle aus der Höhle vertreiben.“ „Aber was reden sie ständig von einem Feuertag? Was soll das sein?“ überlegte Axel laut. Dario fuhr so schnell, wie es mit dem klapprigen Jeep möglich war. „Wieso bist du verschwunden gewesen?“ wollte Axel wissen. Der Wildhüter rutschte ratlos auf dem Fahrersitz herum. „Ich … ich weiß es eben nicht. Als ich das Haus betreten habe, wurde ich in ein Nebenzimmer geworfen. Direkt vor die Zähne dieses Hundes. Normalerweise ist er nicht so
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gefährlich – äh – ich habe ihn noch nie zuvor so erlebt. Hat mich wohl auch für einen Einbrecher gehalten. Ich bin von ihm fast zerfleischt worden. Äh – es war ein Alptraum. Ich habe mich gewehrt, jedoch nur Zähne und Geifer gesehen. Und dann – äh – war da eine Stimme. Mit einem Mal wurde der Hund ruhig. Ich wollte mich bedanken, aber ich bin nicht mehr dazugekommen. Es ist alles schwarz geworden rund um mich. Und – äh – als ich dann wieder aufgewacht bin, lag ich eingeklemmt in meinem Jeep und wußte nicht, wo oben und unten war.“ Axel überlegte fieberhaft. Was war mit Dario gemacht worden? Und woher kam die Stimme? „Bitte, fahr mit uns zum Haus von Richard Schotter“, bestürmten die Knickerbocker den Wildhüter. Dario wollte nicht. Poppi hatte plötzlich auch Bedenken. „Lilo wird es nicht recht sein, wenn wir auf eigene Faust suchen“, meinte sie. „Fahren wir zuerst ins Camp und besprechen alles mit ihr.“ Axel war dagegen. „Sie wollte doch auch allein in den Berg. Ich brauche sie nicht, wenn ich was rausfinden will“, erklärte er etwas großspurig. „Wir sollten zur Höhle zurück, vielleicht wurde jemand verletzt!“ schlug Dario vor. „Hätten sie dann nicht gefunkt?“ wollte Axel wissen. Der Wildhüter stimmte ihm zu. Poppi hatte eine andere Idee: „Dario, funk doch das Camp an. Wir möchten gerne mit Lilo und Dominik reden. Außerdem macht sich Onkel Luis sicher schon allergrößte Sorgen, wo Axel und ich bleiben.“ „Na ja, und meine Kollegen haben wohl auch die – äh – Vermißtenanzeige aufgegeben!“ vermutete Dario. Er nahm das Handmikrophon und drückte auf Senden. Aus dem Lautsprecher kam ein gleichbleibender, hoher Ton. Dario drückte zwei Tasten, um eine andere Frequenz
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einzustellen, aber es gelang ihm nicht. Kopfschüttelnd hängte er das Mikrophon wieder ein. „Der ganze Funkverkehr ist gestört.“ Poppi und Axel verstanden nicht ganz. „Ja, es ist so, als würde ein anderer Sender sehr starke Signale in den Park schicken, die das Funken unmöglich machen!“ „Aber das gibt es doch nicht. Vielleicht sind das Sonneneruptionen!“ rief Axel. Er hatte erst vor kurzem über Explosionen auf der Sonne gelesen, die so stark sind, daß sie den Funkverkehr auf der Erde stören. „Dann können wir eben nicht mit Lilo sprechen, müssen aber unbedingt zum Haus von Richard Schotter!“ entschied Axel. „Es ist wichtig. Vielleicht finden wir dort auch einen Hinweis auf diesen Feuertag.“ Dario willigte ein, war aber sehr unruhig dabei.
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Ein schreckliches Geheimnis Das Haus von Herrn Schotter war abgesperrt. Obwohl sie mehrere Male anklopften und nach ihm riefen, rührte sich nichts. „Sag, Dario, bist du mit diesem Richard Schotter befreundet?“ erkundigte sich Poppi. Dario zappelte hektisch hin und her. „Er ist ein Bekannter. Er lädt uns Wildhüter immer auf ein Glas Bier ein, wenn wir vorbeikommen. Irgendwie ist er schrill und ungewöhnlich. Aber er interessiert sich sehr für unsere Arbeit und läßt sich immer erzählen, welche Tiere wir gesehen haben und welche Projekte wir betreiben. Netter Kerl, wenn auch etwas – äh – seltsam. Aber das sind wir wohl alle!“ Dario grinste verlegen. Axel ging hinter das Haus zu der schmalen Tür, die in die Küche führte. Sie stand offen. Er pfiff mit den Fingern, damit Poppi nachkam, und betrat dann das Haus. Der ekelige Geruch war fast verschwunden, das Chaos aber geblieben. Die beiden Juniordetektive untersuchten das kleine Zimmer, in dem der Hund eingesperrt gewesen und Dario verschwunden war. Die Teppiche lagen wieder ordentlich auf dem Boden. Nur einige tiefe Kratzer im Holz zeugten vom Toben des Hundes. „Wieso hatten die beiden Männer die Tierhäute umgehängt, als sie aus dem Haus gelaufen sind?“ fragte sich Axel. „Vielleicht wollten sie jemanden damit erschrecken“, vermutete Dario. Poppi dachte angestrengt nach. Jetzt, wo Lilo nicht in der
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Nähe war, mußte sie selbst überlegen. Sonst verließ sie sich, wenn es ums Kombinieren und Tüfteln ging, immer sehr auf das Superhirn. „Dario kann sich nicht in Luft aufgelöst haben. Wer auch immer gerufen hat, muß in diesem Raum gewesen sein!“ „Und er kann weder zur Tür noch zum Fenster reingekommen sein. Beides hätte ich doch bemerkt!“ gab Dario zu bedenken. Axel war auch gerade etwas eingefallen: „Der Hund hat sich sofort beruhigt, als jemand zu ihm gesprochen hat. Das bedeutet, es kann nur eine bekannte Stimme gewesen sein. Dario, hat Herr Schotter eine Frau oder eine Freundin?“ Der Wildhüter schüttelte den Kopf. Soviel er wußte, nicht. „Das heißt, er muß es selbst gewesen sein. Kannst du dir vorstellen, daß es seine Stimme war?“ fragte Axel weiter. Dario zögerte etwas: „Also, möglich ist das schon.“ „Er war in diesem Raum, obwohl du ihn nicht gesehen hast. Und es ist fast anzunehmen, daß er dich betäubt hat.“ Das wollte Dario einfach nicht glauben. Fast gleichzeitig ließen sich Poppi und Axel auf den Boden fallen und begannen das Holz nach Ritzen abzusuchen. Beide hatten den gleichen Gedanken: Es mußte hier eine versteckte Tür geben. Aber im Boden war keine. Die Schränke! Die Knickerbocker rissen sie auf und warfen die Klamotten heraus. Sie untersuchten die Rückwände, fanden aber keinen Hinweis. Poppi bewegte das Gesicht ganz knapp über dem Boden und schnüffelte ihn fast wie ein Hund ab. „Moment mal“, rief Axel und scheuchte seine Freundin in die Höhe. Er packte einen der Schränke an der hinteren Kante und zog daran. Nichts! Beim Schrank in der Mitte klappte es. Nach einem leisen Klick ließ er sich nach vorne kippen. Er war an einer
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versteckten Tür montiert. Neugierig betraten die Knickerbocker einen dunklen Raum. Sie leuchteten ihn mit ihren Taschenlampen ab. Es handelte sich um ein verstecktes Büro mit einem Funkgerät und einem Satellitentelefon, mit dem man zu jedem Platz der Erde telefonieren konnte. Es gab auch einen Schreibtisch, auf dem die Juniordetektive einen großen Kalender fanden, in dem Namen notiert waren. Am heutigen Tag standen Kühn und Ebenholzer eingetragen, daneben: Wunsch: Elefant, Löwe, Büffel und Zebra. Außerdem war der Betrag von 20.000 US-Dollar vermerkt – als Anzahlung. Poppi stieß einen leisen Schrei aus, als sie die Pinwand entdeckte. Dort hingen Fotos von Jägern, die stolz ihre Beute präsentierten. Zum Großteil Tiere, die im Nationalpark unter strengstem Naturschutz standen und auch sonst kaum gejagt werden durften, weil nur noch wenige von ihnen am Leben waren. Herr Schotter war kein harmloser Schreiberling, sondern ein gerissener Geschäftsmann. Er vermittelte jagdlustigen, reichen Leuten ausgefallene Beute und kassierte dafür jede Menge Geld. Durch seinen guten Kontakt zu den Wildhütern wußte er immer, wo sich die schönsten Tiere aufhielten und wo Wildhüter die Jagd vielleicht stören könnten. „Die beiden Männer wollten bestimmt das Büro finden!“ kombinierte Poppi. „Sie haben es aber nicht entdeckt. Auf jeden Fall hat sich Herr Schotter hier versteckt und Dario betäubt, damit er es nicht sieht.“ Axel nickte und deutete auf ein Fläschchen Chloroform, das sich auf einem Regalbrett befand. In kleinen Kartons lagerten dort noch ganz andere Mittel, deren komplizierte Namen die Knickerbocker kaum aussprechen konnten. Betrieb Herr Schotter auch noch einen Drogenhandel? Dario las die Namen der Präparate und wurde noch
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aufgeregter. „Das sind alles Sachen, die normalerweise von Tierpräparatoren verwendet werden.“ Poppi zeigte auf eine quadratische Falltür im Boden. Sie klappten sie auf und stiegen eine steile Treppe in einen muffigen Gang hinunter. Er war mit Brettern und Pfosten abgestützt und ziemlich schmutzig. Axels Schätzungen nach führte er mindestens 50 Meter weg vom Haus und endete in einem niedrigen, aber sehr großen unterirdischen Raum. Poppi warf nur einen kurzen Blick hinein und drehte sich sofort wieder um. Hier ging Herr Schotter also seiner eigentlichen Arbeit nach: Er präparierte die Tiere, die Jäger geschossen hatten. Natürlich vor allem die Köpfe, die später an der Wand hängen sollten, als Beweis für das große Jagdkönnen. Besonders ekelig aber waren Hocker, die Herr Schotter aus Elefanten- und Nashornbeinen angefertigt hatte. In der Decke fand Axel eine Luke, durch die der Tiertransport stattfand. Der Gestank war fast unerträglich. „Dieses Drecksstück“, keuchte Dario. „Wir sind seit drei Jahren vergeblich hinter einem Wilderer her. Dabei waren wir alle mit ihm befreundet. Eine Schande für uns, daß wir das nicht bemerkt haben. Er hat uns sogar einige Male Tips gegeben, wo wir suchen sollen, und uns dabei in die Irre geschickt.“ Axel zog sein T-Shirt hoch und bedeckte damit die Nase, um den Gestank nicht direkt einzuatmen. Er fragte sich immer wieder, wie Richard Schotter die Arbeit aushielt. Wahrscheinlich waren seine Riechzellen bereits zerstört. Vielleicht redete er deshalb so seltsam durch die Nase. Axel leuchtete den hölzernen Arbeitstisch ab und wurde sehr nachdenklich. Wenn sein Verdacht stimmte, war hier irgendein Betrug im Gange. „Was ist los?“ fragte Dario.
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„Weiß nicht so recht“, murmelte Axel. Er konnte sich jetzt allerdings erklären, woher die Männer die Tierköpfe hatten. Herr Schotter war mit ihnen wahrscheinlich gerade nach Hause gekommen und von den beiden überrascht worden. Er hatte sie fallengelassen und sich versteckt. Der Hund mußte im Haus bleiben, um es zu verteidigen. Na ja, der Rest war bereits bekannt. Poppi lief aufgeregt durch den Gang. „Herr Schotter ist zurück!“ stieß sie hervor.
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Zu früh gefreut Der Regen aus Steinsplittern hatte aufgehört. Das Grollen und Dröhnen, das durch die Erschütterung des Berges entstanden war, verhallte. In den Höhlen wurde es so still wie vor Tausenden Jahren, als es hier noch keine Menschen gab. Der Schreck über die neuerliche Explosion hatte Lilo und Dominiks Bewußtsein ausgeschaltet. Ihr eigener Körper wollte sie offenbar vor Schmerzen und Angst schützen und hatte in ihren Köpfen dunkle Rollbalken herabsinken lassen. Ganz langsam begannen sie sich wieder zu heben. Die Hitze, die Luft, das Eingeschlossensein – alles kam den beiden Freunden wieder in den Sinn. Die Todesangst holte sie ein wie ein Raubtier seine Beute. Lieselotte hustete den Staub aus Lunge und Hals und schneuzte sich in die Finger. Sie richtete sich auf und spürte ein höllisches Brennen in der Kehle. Auch Dominik setzte sich auf, tastete aber sofort wieder nach Lilos Hand. „Bist du okay?“ fragte er laut, weil er immer noch glaubte, fast schreien zu müssen. „Ja, mir ist nur ein Stein auf das Bein gefallen. Aber … aber es blutet nicht. Zum Glück!“ antwortete Lieselotte leise. „Was?“ Dominik hatte sie nicht verstanden, und sie mußte es wiederholen. Das Superhirn spürte etwas Metallenes an seinen Fingerspitzen. Es war Dominiks Taschenlampe. Aber sie brannte nicht mehr. Trotzdem prüfte sie Lilo. Licht. Die Lampe war gar nicht kaputt, sie hatte nur einen Wackelkontakt. Was ist mit meiner eigenen geschehen, überlegte Lilo.
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Langsam fiel ihr wieder die Felsspalte ein, in der sie gesucht hatte. Die Lampe mußte dort zu Boden gefallen sein, als die Erde zum ersten Mal bebte. Was hatte sie dort entdeckt? Es war etwas Wichtiges gewesen, aber sie erinnerte sich nicht daran. Lilo atmete mehrere Male tief durch. Das regte die Hirntätigkeit normalerweise an. Die Hitze war zwar nicht geringer geworden, aber Lilo fühlte kaum mehr ein Schwindelgefühl und keine Übelkeit. „Dominik, Dominik, wir haben Luft! Wir werden nicht ersticken!“ jubelte sie. Aber wo kam sie her? Es mußte bei den Beben eine kleine Öffnung entstanden sein. War sie winzig oder groß genug, daß sie hinauskriechen konnten? Sie mußten sie finden. Die neue Hoffnung aktivierte ihre ganzen Kraftreserven. Sie begannen den unversehrten Teil des Ganges gründlich abzusuchen. Ihre Enttäuschung wuchs jedoch mit jedem Meter. Sie entdeckten zahlreiche Spalten zwischen den herabgestürzten Steinen, aber keine richtige Öffnung. Immer mehr erhärtete sich Lilos Verdacht, daß sich die Steine nur ein wenig verschoben hatten und dadurch Luft eingedrungen war. „Hiiiiiiilfe!“ schrie sie aus Leibeskräften. „Hiiiilfe, wir sind hier eingeschlossen!“ Würde sie jemand hören? Würde der Schall durch die Ritzen hinausgetragen werden? Die Chance war sehr klein. Geradezu winzig. Plötzlich zupfte sie Dominik am Ärmel. Er schien etwas gesehen zu haben. Richard Schotter brüllte wie ein verletztes Tier. Seine Stimme klang längst nicht mehr so hoch und schrill. Er brauchte sich nicht mehr verstellen. Nun zeigte sich der wahre Richard Schotter. Ein
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berechnender, geldgieriger Mann, der über Leichen ging. Seine Geschäfte waren aufgeflogen, aber er wollte nicht aufgeben. Poppi und Axel hörten ihn die enge Treppe heruntertrampeln. Als einziger Fluchtweg erwies sich der Arbeitsraum. Dario blieb wie angewurzelt stehen. Mit großen Augen starrte er dem Mann entgegen, mit dem er fast befreundet gewesen war. Die Knickerbocker packten ihn an der Hand und zerrten ihn mit in das stinkende Zimmer. Axel kommandierte: „Taschenlampen aus.“ Der Raum versank in Dunkelheit. Richard Schotter, der sich am Licht orientiert hatte, stoppte verdutzt im Gang. Sie hörten ihn zurückgehen und hofften schon, er würde verschwinden. Doch er holte nur eine starke Handlampe, deren Strahl fast den ganzen Gang durchleuchtete. Mit großen Schritten kam der Mann näher. Axel und Poppi standen links von der Tür, Dario rechts. Sie sahen den Lichtkegel in den Präparationsraum fallen und hielten die Luft an. Axel erinnerte sich an den ältesten Trick der Welt. Er nahm allen Mut zusammen. Herr Schotter stürmte in die Werkstatt. Mit einem lauten Knall landete er auf dem Boden. Axel hatte ihm das Bein gestellt. „Weg!“ zischte er und rannte in den Gang. Dario war so sehr in Panik, daß er Poppi durch eine ungeschickte Armbewegung zur Seite stieß. Sie stolperte und landete genau auf Richard Schotter. „Freunde, ich würde an eurer Stelle schnellstens zurückkommen!“ schrie er. „Sonst müßte ich eurer kleinen Freundin sehr wehtun.“ Axel und Dario erkannten sofort, daß sie verloren hatten.
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Richard Schotter preßte Poppi den Arm gegen die Kehle. Sie versuchte, sich davon zu befreien, hatte aber keinen Erfolg. Der Mann besaß Bärenkräfte. „Wir machen einen kleinen Ausflug“, kündigte er an. „Die Kleine fährt bei mir mit. Du nimmst den Jungen, Dario. Du wirst mir nachfahren, sonst mache ich die Kleine kalt, verstanden?“ Dario nickte gehorsam. Herr Schotter trieb Axel und den Wildhüter vor sich her nach oben. Der Knickerbocker sah sich nach einem Ausweg um und überlegte fieberhaft, wie er den Mann austricksen konnte. Doch es war wie verhext, es schien nichts zu geben. Richard Schotter zerstörte das Funkgerät im Jeep von Ruth Randall und drängte Poppi dann in seinen eigenen Wagen, der hinter dem Haus abgestellt war. Er fuhr los, und Dario folgte ihm. Was hatte er mit ihnen vor?
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Hyänenfutter „Lieselotte, sparst du das nicht?“ fragte Dominik aufgeregt. „Was?“ „Ein Luftzug … es zieht!“ Das Superhirn befeuchtete den Finger und hielt ihn in die Höhe. Dominik hatte recht. Es gab einen Luftzug, der deutlich stärker wurde. Wenn Lilo nicht alles täuschte, kam er aus der Felsspalte, in der sie gesucht hatte. „Los, los!“ sagte sie zu Dominik und zwängte sich in die enge Kluft. Jetzt endlich wußte sie auch wieder, was sie hier gefunden hatte. Es waren Pfotenabdrücke gewesen. Abdrücke von Raubtiertatzen. Ein weiterer Beweis, daß es die Säbelzahntiger hier also wirklich gab. Die beiden Knickerbocker mußten sich seitlich voranschieben, sonst wären sie in der Felsspalte steckengeblieben. Lilo trug ein kurzärmeliges T-Shirt und spürte auf ihrer nackten Haut den Luftzug immer stärker werden. Die Spalte führte tief in den Berg hinein. Lieselotte hatte plötzlich eine Vermutung, wieso es in den Höhlen so heiß war. Vielleicht gab es hier unterirdische heiße Quellen, die wie eine Art Fußbodenheizung wirkten. Die Knickerbocker kämpften sich über herabgefallene Steinbrocken, die an manchen Stellen fast bis zur Decke des engen Ganges reichten, rutschten auf der anderen Seite wieder hinunter und hatten das Gefühl, nie an ein Ziel zu gelangen. Schließlich erreichten sie es doch, aber es war anders, als sie es sich vorgestellt hatten. Dominik riß Lilo im letzten Moment zurück, sonst wäre
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sie in die Tiefe gestürzt. Der Gang mündete in eine riesige Höhle, deren Boden sich fünf Meter unter der Öffnung befand, in der die beiden Knickerbocker standen. Über ihnen waren es noch einmal sechs oder sieben Meter bis zur Decke. Lilo erkannte, daß sie in eine Granithöhle blickten, die durch Gesteinsbewegungen entstanden war. Der Berg mußte von dicken Kalksteinadern durchzogen sein, die im Laufe der Jahrtausende ausgewaschen worden waren. Die Gänge zogen sich also wie Wurmlöcher durch den viel härteren Granit. In Lilos Augen ein Naturwunder. Die Gesteinsschicht, die die Höhle vom Gang getrennt hatte, mußte bei der Explosion eingestürzt sein und dadurch einen Zugang freigelegt haben. „He, Moment mal“, stieß Lieselotte hervor. „Wenn Axel in dem Gang den Schädel gefunden hat und ich die Pfotenspuren gesehen habe, muß das hier die Höhle der Säbelzahntiger sein. Aus ihr kam das Gebrüll. Wir stehen jetzt auf einer anderen Seite.“ Gespannt blickten die Juniordetektive in die Tiefe. Im Augenblick aber war weder etwas zu sehen noch zu hören. „Nein … das … das gibt’s ja nicht!“ keuchte Lieselotte. Poppi traute ihren Augen nicht, als sie vor sich den langen Zaun und das hohe Gittertor auftauchen sah. Wieso brachte sie Richard Schotter zu Ruth Randall? Poppi hatte mit Schrecklichem gerechnet und atmete jetzt schon fast auf. Axel und Dario ging es ebenso. Selbstverständlich kannte der Wildhüter das Gelände der Tierforscherin, auch wenn er sie selbst noch nie getroffen hatte. Richard Schotter stieg aus und schloß das Tor auf. Nach der Durchfahrt versperrte er es wieder. Danach endete die Reise aber bald. Poppi und Axel erkannten entsetzt, wo der Mann hielt. Es war die Stelle, an der die Hyänen gefüttert worden waren.
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Herr Schotter beugte sich über Poppi und öffnete die Beifahrertür. „Raus!“ befahl er. Poppi blieb natürlich sitzen. Der Mann stieß sie einfach ins Freie. Er knallte die Tür zu und verriegelte sie von innen. „Schnell, komm zu uns!“ schrie Axel und zog seine Freundin in den Jeep. „Der … der ist wahnsinnig!“ keuchte Dario. Richard Schotter wendete und raste mit großer Geschwindigkeit auf ihren Jeep zu. Sein Wagen war größer als der, mit dem Dario unterwegs war. Er wirkte wie ein Rammbock und drückte die Motorhaube so stark ein, daß sie sich aufbog und die Sicht verstellte. Die drei im Jeep sahen ihn kurz darauf von hinten auf sie zusteuern. Sie konnten gerade noch rechtzeitig die Köpfe zwischen die Knie stecken, sonst hätten sie alle schlimme Nackenverletzungen davongetragen. Aber schon erfolgte der nächste Angriff. Diesmal von der Seite und mit so großer Geschwindigkeit, daß der Jeep mit Poppi, Axel und Dario bestimmt kippen würde. „Raus, raus!“ brüllte Dario. Die Knickerbocker und er schafften es gerade noch rechtzeitig, den Wagen zu verlassen. Richard Schotter schien ein Meister im Crashcar-fahren zu sein. Der Jeep wurde auf das Dach geschleudert, kurz darauf hörten sie einen Knall. Eine Stichflamme schoß heraus, und der Wagen brannte innerhalb von Minuten völlig aus. Herr Schotter beobachtete es mit zufriedenem Grinsen, winkte zum Abschied und gab Gas. „Aber der kann uns doch nicht einfach so stehen lassen!“ brüllte Axel. Dario hatte Schotters Plan durchschaut. Sie mußten zu Fuß weiter, um entweder den Ausgang oder das Haus zu erreichen. In keinem der Fälle würden sie lebendig
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ankommen. „Was … was machen wir jetzt?“ fragte Poppi leise. Auf der anderen Seite der Staubstraße tauchten bereits die ersten Hyänen auf. Es gab von ihnen hier sehr viele, und am Vormittag waren nur einige satt geworden. Sie blieben abwartend und lauernd stehen und beobachteten die Knickerbocker und Dario durch das hohe, trockene Gras. Das noch immer brennende Auto störte sie nicht im geringsten. „Kommt!“ sagte Dario und zog die beiden Knickerbocker mit sich. Sie schritten – so weit sie eben in diesem Augenblick die Ruhe bewahren konnten – auf ein kleines Wäldchen zu. Noch kamen ihnen die Hyänen nicht nach. Unter ihren Sohlen knackte das Holz, und das Laub raschelte. Immer wieder warfen sie ängstliche Blicke nach hinten. Wie auf ein stilles Zeichen stürzten einige der Hyänen los. Die Knickerbocker erkannten nicht, ob das Rudel aus vier, fünf, sechs oder mehr Tieren bestand. Doch das war jetzt auch unwichtig. Die Tiere zerstreuten sich und kreisten ihre Beute ein. „Lauft!“ schrie Dario. Das mußte er nicht zweimal sagen. Axel rannte wie nie zuvor in seinem Leben. Dario blieb dicht neben ihm. Poppi aber fiel zurück. Sie würde leichte Beute für die Hyänen sein.
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Eine gefährliche Tierstation Poppi hatte das Gefühl zu fliegen. Sie spürte ihre Beine nicht mehr. Wie ein Roboter setzte sie Fuß vor Fuß. Der Wind rauschte in ihren Ohren, ihre Lunge brannte, sie hatte Seitenstechen und schmeckte bereits Blut im Mund. Aber trotzdem kämpfte sie. Sie gab nicht auf. Nein, niemals. Rennen, rennen, rennen. Hinter sich hörte sie das geifernde Keuchen der Hyänen. Eine nahm Anlauf und sprang, um sich an Poppi festzukrallen und ihre Haut aufzureißen. Poppi nahm die Gefahr instinktiv wahr, wich einen halben Meter zur Seite, und die Hyäne verfehlte das Ziel. Weiter, weiter, nur nicht stehenbleiben. Sie sah nur noch eine verschwommene Fläche aus Ästen, einzelnen Blättern und Himmel vor sich. Ihre Augen waren voller Tränen und versagten mehr und mehr den Dienst. Sie konnte sich gerade noch orientieren, aber nichts mehr unterscheiden. Wieder unternahm eine Hyäne einen Angriffsversuch und streifte Poppi an der linken Seite. Doch sie bekam sie nicht zu fassen. Poppi war am Ende. Sie konnte nicht mehr. Das Seitenstechen war unerträglich geworden. Wenn sie weiterlief, würde sie ohnmächtig werden. Sie mußte stoppen. Todesmutig drehte sie sich um und sah fünf Tiere auf sich zuhetzen. Sie schlug die Arme vor das Gesicht und brüllte aus Leibeskräften. Neben ihr knallte es mehrmals. Etwas sauste durch die Luft. Jemand rief. Sie wagte einen Blick. Dario hielt zwei lange Prügel in der
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Hand und ging damit auf die Hyänen los. Er ließ die Stöcke durch die Luft sausen, schrie und rannte auf die verdutzten Tiere zu. Die Hyänen hatten mit diesem Gegenangriff nicht gerechnet und traten den Rückzug an. Knurrend verschwanden sie zwischen den Bäumen. Dario packte Poppi und zog sie weiter. „Ich … ich kann nicht!“ stöhnte das Mädchen. Dario zögerte keine Sekunde und warf sie wie einen Sack über die Schulter. Niemals hätte Poppi dem dünnen Mann so viel Kraft zugetraut. Sie liefen bis zum Ufer des Sees. Vor ihnen erstreckte sich ein weißer, sandiger Strand. Völlig erschöpft ließ sich Axel in den Sand sinken. Dario setzte sich neben ihn, nachdem er Poppi vorsichtig auf den Boden gestellt hatte. Die drei rangen nach Luft. Sprechen war unmöglich. Hinter ihnen raschelte es. Die Hyänen waren ihnen wieder auf der Spur. Neben ihnen rührte sich etwas. Auch im Wasser entstand Bewegung. Krokodile. Der See war bekannt als große Krokodilskolonie. Es gab hier Hunderte, ja vielleicht sogar Tausende. Auf der Flucht vor den Hyänen waren die drei in eines der Krokodilgebiete eingedrungen. Die Tiere hatten sie bereits umkreist und jeden Ausweg abgeschnitten. Axel, Poppi und Dario sprangen auf und preßten sich Rücken an Rücken aneinander. Als wollten sie die Tiere hypnotisieren, starrten sie auf die urzeitlich wirkenden Wesen, die schleichend näherkamen. Sie rissen die Mäuler auf und präsentierten die langen Zahnreihen. Ihre Schwänze schlugen unruhig. Sie duldeten keine Störungen und waren über leichte Beute nur dankbar. Plötzlich hörten sie das Geräusch eines Wagens lauter
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werden. Ein Jeep holperte zwischen den Bäumen durch den Wald und steuerte direkt auf die Knickerbocker und Dario zu. Schüsse wurden in die Luft abgegeben, und einige Krokodile kehrten sofort ins Wasser zurück. Der Jeep fuhr bis zu den drei Verzweifelten, und die Beifahrertür wurde aufgestoßen. „Frau Randall!“ keuchte Poppi erstaunt. Die berühmte Forscherin rief: „Los, schnell einsteigen!“ Das mußte sie nicht noch einmal sagen. Sie waren erleichtert, als sie im sicheren Wagen saßen. „Aber wie haben Sie gewußt, daß wir hier sind?“ fragte Axel überrascht. „Das Gebiet wird von meinen Mitarbeitern überwacht. Sie haben es mir gemeldet.“ „Und wieso sind Sie plötzlich wieder gesund?“ wunderte sich Poppi. Die dunkelhaarige Frau warf ihr einen wütenden Blick zu und sagte scharf: „Wer zuviel fragt, bekommt manchmal zu viele Antworten. Das kann ungesund sein, kleines Fräulein.“ Die Knickerbocker sahen einander erschrocken an. Was hatte das zu bedeuten? Aussteigen war jedenfalls nicht mehr möglich. Sie waren Frau Randall ausgeliefert. Während der ganzen Fahrt wurde kein Wort gesprochen. Schon tauchte das Wohnhaus der Forscherin zwischen den Bäumen auf. Sie kamen durch das automatische Tor, das sich hinter ihnen sofort wieder schloß, und Ruth Randall hielt an. „Frau Felsböck ist doch auch noch da, oder?“ wagte sich Poppi zu erkundigen. Die Forscherin nickte und lächelte. Axel, Poppi und Dario stiegen mit ihr aus. Sie hatten ein seltsames Gefühl. Irgendetwas stimmte hier nicht.
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Sie folgten Frau Randall ins Haus. Als sie durch die Tür traten, prallten sie erschrocken zurück. Frau von Felsböck stand vor ihnen, doch sie trug Handschellen. „Was … was hat das zu bedeuten?“ verlangte Dario eine Erklärung. „Sie werden es noch früh genug erfahren“, vertröstete ihn Ruth Randall mit spöttischem Grinsen. „Dieser Idiot von Richard hätte mich beinahe um drei ausgezeichnete Geiseln gebracht. Sie werden dabei sein dürfen, wenn wir die Höhle öffnen. Noch heute nacht ist es soweit. Die großzügige Spende meiner lieben Freundin Gerti hat nicht nur dies ermöglicht, sondern auch noch ein paar zusätzliche Anschaffungen. Ich habe das bereits letzte Woche erledigt und zu meiner großen Freude gehört, daß sie heute endlich die Schecks unterschrieben hat. Allerdings wird sie staunen, was sie erstanden hat.“ Mit einem Seitenblick auf die Gefangenen fügte sie hinzu: „Mit euch als Geiseln werden wir vor unerwünschten Störungen jedenfalls geschützt sein.“ Die Juniordetektive verstanden kein Wort. Als Frau von Felsböck etwas sagen wollte, fuhr sie Frau Randall an: „Du hältst die Klappe. Wir wollen deinen lieben Gästen doch die Überraschung nicht verderben. Denke immer daran, daß es ganz allein deine Schuld ist, daß es so kommen mußte. Wieso besuchst du mich auch, wenn ich es nicht wünsche.“
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Wesen aus der Urzeit Es folgten schreckliche Stunden, in denen die Gefangenen nichts miteinander reden durften. Sie wurden von Andreas bewacht, der nun eine Waffe hatte und die Knickerbocker spüren ließ, wie mächtig er damit war. Wenn jemand zu ihm hinsah, verzog er den Mund zu einem schmierigen Grinsen. Gerti von Felsböck richtete sich nicht nur jung her, sie hatte sich auch viel Jugendliches bewahrt. Zum Beispiel beherrschte sie noch immer die Fingersprache. Auf diese Weise war es ihr möglich, sich mit den Knickerbockern zu verständigen. Poppi erfuhr, daß Ruth Randall gar nicht die echte Ruth Randall war. Diese war in einem anderen Zimmer eingesperrt. Die Frau gab sich nur als Ruth aus, damit sie von aller Welt für die berühmte Tierexpertin gehalten wurde. Gerti von Felsböcks Besuch fand zum schlechtesten Zeitpunkt statt. Sie kannte nämlich die Forscherin und durchschaute den Schwindel sofort. Außer ihr hatte aber kaum jemand die echte Ruth je zu Gesicht bekommen, und deshalb mußte Frau von Felsböck schnellstens aus dem Verkehr gezogen werden. Sie wurde gezwungen, den Knickerbockern vorzutäuschen, bei ihrer „Freundin“ zu bleiben. Eines aber verstanden die Knickerbocker nicht: Wozu das Theater? In den frühen Morgenstunden, als die Sonne wie ein rotglühender Ball am Horizont aufstieg, wurden die Gefangenen in Jeeps verladen und zur Höhle der Säbelzahntiger gefahren. Mit unermüdlichem Einsatz hatten die Männer seit dem
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Vortag den verschütteten Zugang freigelegt. Müde saßen sie nun vor der Höhle und erwarteten die Ankunft der Frau, deren richtigen Namen die Knickerbocker noch immer nicht wußten. Berti steckte, genau wie alle anderen, mit ihr unter einer Decke. Stolz schüttelte er ihr die Hand und meldete, daß zum Durchstoß fast nichts mehr fehlte. Allerdings wollte man diese wichtige Aktion ihr überlassen. „Hat sich der Feind irgendwo blicken lassen?“ erkundigte sich die Frau. „Er versuchte gestern, uns mit den Sprengungen zu behindern, ist aber gescheitert“, meldete Berti. „Unseren Messungen nach ist durch die Explosionen kein Schaden entstanden. Der Feind dachte wohl auch eher, hier höchstens eine kleine, verbotene Versammlung zu stören.“ Die falsche Ruth Randall und er lachten künstlich. Danach ging es in die Höhle. Die Knickerbocker und die anderen Geiseln wurden von Andreas nachgestoßen. Sie marschierten durch den Gang, den sie bereits von ihrem ersten Besuch kannten, und gelangten schließlich zu der Stelle, wo die herabgestürzten Trümmer den Weg versperrt hatten. Die Frau bekam eine Spitzhacke in die Hand gedrückt und durfte gegen die letzten Steine schlagen. Sie waren von Berti und seinen Leuten bereits so vorbereitet worden, daß sie sofort nach innen fielen. Der Weg in eine Höhle, in der das Leben vor Tausenden von Jahren stehengeblieben zu sein schien, war frei. Batteriebetriebene Handscheinwerfer wurden angeknipst und der riesige, meterhohe Raum erleuchtet. Doch statt der urzeitlichen Tiere erblickten Axel und Poppi riesige Stapel von Kisten. Es handelte sich um ein Lager, das noch weiter in den Berg hineinreichte. Einige der Männer öffneten eine Kiste, die mit Waffen gefüllt war. Sie befanden sich also in einem versteckten
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Waffendepot! Axel kam ein Verdacht: Die Frau versuchte, die Machtverhältnisse des Landes wieder zu ändern. Sie wollte eine Revolution starten und den Präsidenten stürzen. Die alten Zustände sollten wiederhergestellt, die schwarze Bevölkerung abermals unterdrückt werden. „Mit den Millionen meiner lieben Freundin Gerti haben wir uns noch eine kleine atomare Waffe angeschafft, die wir hier aufstellen werden, nachdem alle Waffen an unsere Mitglieder und Helfer verteilt worden sind“, erklärte die Frau. „Und wenn unsere Forderungen nicht erfüllt werden, können wir das Land auslöschen!“ „Das ist doch verrückt! Das ist Wahnsinn!“ rief Frau von Felsböck aufgebracht. „Das ist der Feuertag!“ verkündete die Frau stolz. „Ich – Mirella Mantara – werde die neue Präsidentin von Olanga. Mein Vater, der Schwachkopf, hat nichts unternommen, als die Welt hier auf den Kopf gestellt wurde. Obwohl unsere Goldmine jetzt nur noch die Hälfte des Gewinns bringt. Aber ich werde das ändern. Ich werde es schaffen. Und wenn nicht, dann stirbt auch Frau Randall. Ich aber setze mich ab und beginne irgendwo auf der Welt ein neues Leben. Ein todsicherer Plan – für mich!“ In der Höhle wurde es still. Einige schwiegen ehrfürchtig, andere entsetzt. „Die Eingeborenen haben diesen Platz ‚Höhle des verlorenen Lebens’ genannt. Sehr passend, wenn ich mir den heutigen Inhalt ansehe!“ spottete Frau Mantara und brach in Gelächter aus. Ihre Leute lachten höflich mit. Im Augenblick schienen alle etwas unschlüssig zu sein und nur auf das Startzeichen zu warten, um die Waffen ins Freie zu transportieren. Aber plötzlich hörte man Laute. Es war ein Scharren und Kratzen. Aus der Tiefe des Berges kam jemand. Schweres
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Keuchen und Atmen schallte von den Wänden und hallte als Echo durch den riesigen Raum. Die Schwarzen waren zuerst starr vor Schreck, warfen sich dann zu Boden und senkten die Stirn. Als die Schritte immer näherkamen, ergriffen sie die Flucht. Frau Mantara sah Berti fragend an. „Was ist das? Ein Witz? War schon jemand vor mir herinnen?“ Berti schüttelte heftig den Kopf. „Aber … aber dann muß es noch einen Zugang geben.“ Auch den kannte niemand. Ein röchelndes Atmen und ein tiefer Schrei waren deutlich zu vernehmen. Entsetzt wichen die Anführer der Revolution zurück. Das war auch für sie zuviel. So schnell sie konnten, suchten alle das Weite. Die Angst vor dem absolut Unerklärlichen packte auch sie. Poppi faßte Axel an der Hand und zog ihn weg. „Warte!“ zischte Axel. Poppi und Axel blieben allein zurück. „Hör dir den Rhythmus an!“ raunte Axel Poppi zu. Jetzt bemerkte sie es auch. Die Wesen aus der Urzeit röchelten ein Geheimzeichen der Knickerbocker-Bande. Es bestand aus zwei kurzen, drei langen und dann wieder einem kurzen Laut. Axel antwortete sofort mit demselben Zeichen. Hinter den Kisten traten tatsächlich Lilo und Dominik hervor. Beide völlig verdreckt, zerschunden und so erschöpft, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Sie waren nur spärlich bekleidet, weil sie ihre Hosen und T-Shirts zerfetzt und zu einem Seil verarbeitet hatten. Dominik hob schwach die Hand und gab ein gekrächztes: „Tag!“ von sich. Das Wiedersehen fiel freudig, aber ohne große Umarmungen aus. Lilo und Dominik tat alles viel zu weh.
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Wie kamen sie nun aus der Höhle? Sie konnten und wollten die Waffen ja nicht benutzen. Vorsichtig schlichen sie nach vor, um auszukundschaften, was dort geschah. Draußen war es ruhig. Als Axel aus der Öffnung spähte, machte er eine höchst erfreuliche Entdeckung. Frau Mantara und ihre Leute waren festgenommen worden. Mit Hubschraubern waren Soldaten gelandet, angeführt von den beiden schwarzen Männern, die die Knickerbocker-Bande bereits mehrere Male getroffen hatte. Um wen handelte es sich bei ihnen? Erst drei Tage später erfuhren es die Juniordetektive. Die Männer waren die Zwillingssöhne des Präsidenten. Sie hatten einen anonymen Hinweis auf die Verschwörung erhalten und dazu eine Liste mit Namen von Leuten, die möglicherweise darin verwickelt waren. Die Aktion war gut vorbereitet gewesen. Aus diesem Grund hatten sie auch längere Zeit im dunkeln getappt. Ihr Vater wollte ihnen nicht glauben, solange sie keine Beweise in Händen hielten. Deshalb mußten sie fieberhaft danach suchen. Der Schädel des Säbelzahntigers war natürlich nicht echt, sondern eine Fälschung. Genauso wie die Pfotenabdrücke. Richard Schotter hatte den Schädel kunstvoll hergestellt und selbst in die Höhle gebracht. Dabei war er aber von Frau Felsböck und den Knickerbockern überrascht worden. Seine gebückte Haltung beim Zurückschleichen und seine eckige, hohe Frisur hatte seinem Schatten Ähnlichkeit mit einem Urzeitmenschen verliehen. Das Brüllen in der abgeschlossenen Höhle wurde von Berti erzeugt. Er hatte das Geräusch mit Hilfe eines Speziallautsprechers auf die Steine gelenkt, die den Gang versperrten. Es war zurückgeworfen worden und hatte dabei den Eindruck erweckt, als käme es aus der Höhle. Der Umsturz im Lande war verhindert, doch der Weg zu
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einem Leben in Frieden noch weit. Für die Knickerbocker gab es während ihres Aufenthaltes im Nationalpark noch zwei große Erlebnisse. Sie durften die echte Ruth Randall kennenlernen, und für Poppi war das wohl das Größte, was sie sich vorstellen konnte. An einem Nachmittag erfuhr sie mehr über Tiere als sonst in einem ganzen Jahr. Außerdem überreichte ihnen Gerti von Felsböck einen versteinerten Saurierknochen als Andenken. „Und der ist echt!“ versicherte sie mehrere Male. „Außerdem werde ich in der Höhle des verlorenen Lebens weiterforschen. Denn eine Sage erzählt, daß dort die ersten Menschen gelebt haben. Ich finde bestimmt Spuren und werde berühmt.“ „Sie könnten fast zu uns gehören!“ meinte Axel. „Weil ich Zöpfe habe wie Lilo?“ „Nein, weil Sie auch niemals lockerlassen!“ erklärte Axel lachend. Nicht lockerzulassen würde der Bande bei ihrem nächsten Fall aber schwerfallen. Sie begegnen nämlich einem Mann ohne Gesicht …*
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Siehe Knickerbocker-Abenteuer Nr. 45: „Der Mann ohne Gesicht“
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